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German Pages 633 Year 2010
Schriften zum Sozial- und Arbeitsrecht Band 291
Tarifdispositives Gesetzesrecht im Spannungsfeld von Tarifautonomie und grundrechtlichen Schutzpflichten
Von
Daniel Ulber
Duncker & Humblot · Berlin
DANIEL ULBER
Tarifdispositives Gesetzesrecht im Spannungsfeld von Tarifautonomie und grundrechtlichen Schutzpflichten
Schriften zum Sozial- und Arbeitsrecht Band 291
Tarifdispositives Gesetzesrecht im Spannungsfeld von Tarifautonomie und grundrechtlichen Schutzpflichten
Von
Daniel Ulber
Duncker & Humblot · Berlin
Gedruckt mit Unterstützung der Ludwig Sievers Stiftung Die Rechtswissenschaftliche Fakultät der Universität zu Köln hat diese Arbeit im Wintersemester 2009/2010 als Dissertation angenommen.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Alle Rechte vorbehalten
© 2010 Duncker & Humblot GmbH, Berlin
Fremddatenübernahme: Klaus-Dieter Voigt, Berlin Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0582-0227 ISBN 978-3-428-13362-8 (Print) ISBN 978-3-428-53362-6 (E-Book) ISBN 978-3-428-83362-7 (Print & E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706
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Meinen Eltern
Vorwort Die vorliegende Dissertation wurde im Wintersemester 2009/2010 von der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität zu Köln als Dissertation angenommen. Das Manuskript wurde im August 2009 abgeschlossen. Rechtsprechung und Literatur sind bis Dezember 2010 berücksichtigt, im Einzelfall noch darüber hinaus. Mein ganz besonderer Dank gilt Herrn Prof. Dr. Ulrich Preis. Er hat meinen gesamten wissenschaftlichen Werdegang begleitet und mich in außergewöhnlicher Weise gefördert. Ohne die Tätigkeit am Lehrstuhl und die vielen anregenden Gespräche über das Thema hätte die Arbeit in der vorliegenden Form nicht entstehen können. Mein besonderer Dank gilt auch Prof. Dr. Martin Henssler für die überaus zügige Erstellung des Zweitgutachtens und ein überaus angenehmes und interessantes Prüfungsgespräch. Zu Dank verpflichtet bin ich auch Prof. Dr. Dres. h. c. Peter Hanau, der mir während der Erstellung der Arbeit immer wieder mit Fragen, Ideen und Anregungen wichtige Impulse gegeben hat. Mein Dank gilt auch den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern am Institut für Deutsches und Europäisches Arbeits- und Sozialrecht, die mich während der Erstellung der Arbeit stets unterstützt haben. Zu nennen sind hier Dr. Wiebke Brose LL.M., Dr. Angie Genenger, Dr. Stefan Greiner, Dr. Felipe Temming LL.M., unsere Sekretärin Fr. Müller, sowie Dr. Astrid Weber und Piero Sansone, die nicht nur in bewundernswerter Weise die Lautstärke meiner Tippgeräusche erduldet haben, sondern mir auch immer wieder als Gesprächspartner zur Verfügung standen. Herrn Dr. Sven Persch danke ich für unzählige Gespräche und dafür, dass er mich stets an die wirklich wichtigen Dinge im Leben erinnert hat. Daniela Bentrup, Katrin den Brave LL.M., Karl Molle, Simone Meiburg, Tobias Römgens und Manuel Schönfeld danke ich für ihre Freundschaft und Unterstützung, sowie die vielen Gelegenheiten, bei denen sie mich von der Arbeit an dieser Dissertation abgehalten haben. Schließlich gilt mein ganz besonderer Dank meinen Eltern und Milena Rudolph für ihre Liebe und Unterstützung. Die vorliegende Arbeit ist mit Mitteln des Bundesministeriums für Bildung und Forschung gefördert worden. Dafür geht mein besonderer Dank an die Friedrich-Ebert-Stiftung, die durch die Vergabe eines Promotionsstipendiums die Erstellung der Arbeit in der vorliegenden Form überhaupt erst möglich gemacht hat. Zu danken habe ich weiterhin der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität zu Köln, die diese Dissertation mit dem CBH-Promotionspreis der Kanz-
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Vorwort
lei Cornelius, Bartenbach und Haesemann ausgezeichnet hat. Die Drucklegung der Arbeit wurde von der Ludwig Sievers Stiftung durch die Gewährung eines Druckkostenzuschusses großzügig gefördert. Köln, im Mai 2010
Daniel Ulber
Inhaltsverzeichnis Einleitung, Problemstellung und Gang der Untersuchung
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A. Einleitung und Problemstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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B. Gang der Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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1. Kapitel Begriff und historische Entwicklung des tarifdispositiven Gesetzesrechts
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A. Begriff des tarifdispositiven Gesetzesrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Dispositives Gesetzesrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Zwingendes Gesetzesrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Tarifdispositives Gesetzesrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Tarifoffenes Gesetz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Zulassungsnormen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Tarifdispositives Gesetzesrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
32 32 33 34 34 35 35 36 37
B. Historische Entwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Die Entwicklung tarifdispositiven Rechts bis 1945 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Die Entwicklung nach 1945 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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C. Die Wahrnehmung von Regelungsbefugnissen durch die Tarifvertragsparteien und ihre Grenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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2. Kapitel Verfassungsrechtliche Fragen des Verhältnisses der Tarifautonomie zum tarifdispositiven Gesetzesrecht A. Überblick über die Theorien zur Zulässigkeit tarifdispositiven Gesetzesrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Inhaltsverzeichnis I. II. III. IV. V.
Kritische Stimmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Vorrangtheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abgrenzung nach Sozial- und Schutzfunktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kompetenzparallelismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
64 64 69 70 72
B. Verhältnis von Tarifautonomie und staatlichem Gesetzesrecht . . . . . . . . . . . . 73 I. Rechtsprechung des BVerfG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 73 1. Der vorläufige Endpunkt: Die „Tariftreueentscheidung“ . . . . . . . . . . . . 74 2. Die Betätigungsgarantie und die Reichweite des Schutzes der tarifvertraglichen Regelungsbefugnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 75 3. Der verfassungsmäßige Schutz der tarifvertraglichen Regelungsbefugnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 76 4. Tarifdispositives Gesetzesrecht als Grundrechtseingriff . . . . . . . . . . . . . 77 5. Die dogmatische Lösung des BVerfG: Ausweitung der Eingriffsrechtfertigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 77 6. Konsequenz: Begrenzter tatsächlicher Schutz der Tarifautonomie . . . . 80 7. Die Rechtsprechung des BVerfG vor der Aufgabe der Kernbereichsrechtsprechung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81 8. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 86 II. Exklusivitätstheorie und fehlende Garantie der Tarifautonomie . . . . . . . . . 87 III. Differenzierende Auffassungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 92 1. Strenges Vorrangprinzip/strenges Subsidiaritätsprinzip . . . . . . . . . . . . . 93 2. Eingeschränktes Vorrangprinzip oder eingeschränktes Subsidiaritätsprinzip . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 97 3. Kompetenzparallelismus oder Günstigkeitsprinzip . . . . . . . . . . . . . . . . . 100 4. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 104 IV. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105 C. Grundrechtsdogmatische Vorbemerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Normsetzungsbefugnis und Regelungsbefugnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Eingriff und Ausgestaltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Grundrechtsauslegung und tarifvertragliche Regelungsbefugnis als natürliche Freiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Tarifautonomie als liberales Freiheitsrecht: Weite oder enge Tatbestandstheorien? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die Grundrechte zwischen formaler und materieller Freiheit . . . . . . . . 2. Enge oder weite Tatbestandstheorie zur Auslegung der Tarifautonomie? a) Zur Begründung der weiten Tatbestandstheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Kritik im Schrifttum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Stellungnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Inflation der Rechtfertigungstatbestände . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Entlastungsfunktion für das BVerfG ? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
106 106 107 109 110 112 115 117 118 120 120 123
Inhaltsverzeichnis
V.
c) Bagatellisierung des Grundrechtseingriffs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Schwächen mit Blick auf Art. 9 Abs. 3 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . e) Neuerer Ansatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . f) Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Rechtsprechung des BVerfG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Die Glykolweinentscheidung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Konsequenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Stellungnahme und Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tarifautonomie als Betätigungsgarantie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Grundrechtsträgerschaft der Koalitionen aus Art. 9 Abs. 3 GG . . . . . . 2. Tarifautonomie als Ausfluss der Betätigungsgarantie . . . . . . . . . . . . . . . 3. Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
D. Tarifautonomie als Kompensation der strukturellen Unterlegenheit des Arbeitnehmers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Strukturelle Unterlegenheit des Arbeitnehmers bei Abschluss des Arbeitsvertrags . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Privatautonomie und strukturelle Unterlegenheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Arbeitsvertragsschluss und strukturelle Unterlegenheit . . . . . . . . . . . . . . 3. Paritätsstörung bei Aushandlung der Vertragsinhalte . . . . . . . . . . . . . . . 4. Empirische Befunde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Soziale Rahmenbedingungen als Multiplikatoren für die strukturelle Unterlegenheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Einwände gegen das „Unterlegenheitstheorem“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Veränderte ökonomische Rahmenbedingungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Vergleichbare Personengruppen ohne vergleichbaren Schutz . . . . . . . . . 3. Fehlende Kompensationsbedürftigkeit struktureller Ungleichgewichte 4. Das Einzelfallargument . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Bedürfnis nach Individualisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Stellungnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Strukturelle Unterlegenheit des Arbeitnehmers als zeitloses Grundproblem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Funktion der Tarifautonomie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . E. Ordnungsfunktion des Tarifvertrags und Tarifautonomie . . . . . . . . . . . . . . . . I. Grundlagen der Ordnungsfunktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Einwände . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Bewertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Ordnungsfunktion und funktionsfähige Privatautonomie . . . . . . . . . . . . 2. Ordnungsfunktion oder Ordnungsaufgabe? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
11 123 124 125 125 126 127 127 129 133 133 134 137 137 138 138 141 143 144 145 146 147 147 148 148 149 150 151 153 153 153 154 155 155 156 157 158
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Inhaltsverzeichnis 3. Ordnungsfunktion und Privatautonomie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 158 4. Ordnungsfunktion und Autonomie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 159
F. Tarifautonomie und Subsidiaritätsprinzip . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Verfassungsrechtliche Verankerung des Subsidiaritätsprinzips? . . . . . . . . . 1. Katholische Soziallehre als Ausgangspunkt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Keine Verankerung im Verfassungstext . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Föderalismus und Subsidiaritätsprinzip . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Art. 72 Abs. 2 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Art. 23 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Ableitung aus dem Sozialstaatsprinzip . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7. Ableitung aus dem Rechtsstaatsprinzip . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8. Ableitung aus Art. 9 Abs. 3 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9. Ableitung aus Art. 6 Abs. 2 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Das Argument der Sachnähe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Anwendbarkeitsvoraussetzungen des Subsidiaritätsprinzips . . . . . . . . . . . . IV. Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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G. Tarifautonomie als Ausdruck des Sozialstaatsprinzips . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Sozialstaatsprinzip und Grundrechtsinterpretation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Einwände gegen die Berücksichtigung des Sozialstaatsprinzips . . . . . . 2. Stellungnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Das Sozialstaatsprinzip zwischen prozeduraler Korrektur, Ergebniskorrektur und Folgenbeseitigung von Defiziten der Privatautonomie . . . . . . . 1. Freiheitseffektivierende Funktion des Sozialstaatsprinzips . . . . . . . . . . . 2. Kompensation struktureller Unterlegenheit und Sozialstaatsprinzip . . . III. Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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H. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 186
3. Kapitel Gewährleistungsgehalt des Art. 9 Abs. 3 GG A. Wortlaut des Art. 9 Abs. 3 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Wortlaut der Weimarer Reichsverfassung und Art. 9 Abs. 3 GG . . . . . . . . 1. Restriktive Auffassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Fehlende Übernahme des Art. 165 Abs. 1 WRV . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Der Vereinigungszweck . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Vereinigungszweck als ausreichender Anknüpfungspunkt . . . . . . . . . . . 2. Vergleich des Wortlauts von Art. 159 WRV und Art. 9 Abs. 3 GG . . . . 3. Vereinigungszweck als Abgrenzungskriterium . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Inhaltsverzeichnis
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a) Restriktive Ansicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Stellungnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Wortlaut des Art. 9 Abs. 3 S. 3 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Bestätigung der Betätigungsgarantie durch Art. 9 Abs. 3 S. 3 GG . . . . 2. Ablehnende Ansicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Stellungnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V. Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
193 193 194 194 196 196 197 197 199 199
B. Entstehungsgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Kaiserzeit bis 1918 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Tarifautonomie als Schutzinstrument gegenüber staatlicher Untätigkeit 2. Ordnungsfunktion des Tarifvertrags . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Tarifautonomie als Korrektur von Fehlfunktionen der Privatautonomie 4. Aufhebung der Koalitionsverbote in der Gewerbeordnung . . . . . . . . . . . 5. Sozialistengesetze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Fehlende kompensatorische Sozialgesetzgebung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7. Normative und zwingende Wirkung des Tarifvertrags . . . . . . . . . . . . . . 8. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Die Weimarer Republik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Schutz der Koalitionen und Rechtsnatur der Art. 159 und 165 Abs. 1 S. 2 WRV . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Rechtsnatur des Art. 159 WRV . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Schutz der Koalitionen durch Art. 159 WRV . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Schutz der Koalitionen durch Art. 165 Abs. 1 WRV . . . . . . . . . . . . . d) Rechtsnatur des Art. 165 Abs. 1 WRV . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . e) Zuordnung des Schutzes zu Art. 159 oder Art. 165 WRV? . . . . . . . . f) Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Schutz der Betätigungsgarantie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Fehlende Gewährleistung des Streikrechts und Betätigungsgarantie b) Art. 159 WRV und Aufhebung des § 152 GewO . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Regelungs- und Normsetzungsbefugnis und Art. 159 WRV . . . . . . . d) Kompensation struktureller Unterlegenheit und Koalitionsfreiheit . . e) Art. 165 WRV und Betätigungsgarantie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . f) Legislative Eingriffe zur Weimarer Zeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . g) Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Regelungskompetenz für die Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen durch Art. 159 und Art. 165 WRV? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Diskussion in der verfassungsgebenden Konferenz . . . . . . . . . . . . . .
200 200 200 202 202 203 203 205 206 208 209 212 212 213 215 216 217 218 218 219 220 222 223 224 227 231 233 233
14
Inhaltsverzeichnis b) Koalitionsfreiheit und autonomes Arbeitsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Kompetenzparallelismus und Tarifautonomie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Bedeutung des Art. 157 WRV . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Tarifautonomie und Ende der Weimarer Republik/Tarifautonomie und Nationalsozialismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Bestandsaufnahme der Tarifautonomie am Ende der Weimarer Republik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Das Schlichtungswesen und staatliche Interventionen in den Tarifvertrag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Die Destabilisierung der Tarifautonomie in der Zeit der Weimarer Republik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Tarifautonomie und Machtübernahme der Nationalsozialisten . . . . . . . IV. Entstehung des Art. 9 Abs. 3 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Reinstallierung des Weimarer Tarifrechts durch das Tarifvertragsgesetz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die Verankerung der Tarifautonomie in den Landesverfassungen . . . . 3. Der Parlamentarische Rat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Übernahme des Wortlauts des Art. 159 WRV . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Die Vorentscheidung durch das Tarifvertragsgesetz . . . . . . . . . . . . . . c) Der Wegfall der Räte als Zäsur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Unterschiedliches Schutzkonzept der Grundrechte in GG und WRV e) Rückschlüsse aus der Diskussion um das Streikrecht . . . . . . . . . . . . f) Rückschlüsse aus der Diskussion um die negative Koalitionsfreiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . g) Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V. Die Notstandsverfassung in Art. 9 Abs. 3 S. 3 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VI. Der Staatsvertrag über die Schaffung einer Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VII. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
C. Systematische Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Bedeutung der Gesetzgebungskompetenz für das Arbeitsrecht aus Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Die Bedeutung des Art. 9 Abs. 3 S. 2 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Art. 12 Abs. 1 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Die Koalitionsfreiheit als vorbehaltloses Grundrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . V. Die Bedeutung der EMRK . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VI. Die Bedeutung der Charta der Grundrechte der Europäischen Union . . . . VII. Europäische Sozialcharta . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VIII. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
233 234 234 237 237 237 238 239 240 241 241 244 247 247 248 250 250 251 253 254 256 257 258 259 262 263 265 267 269 272 273 273 274
Inhaltsverzeichnis
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D. Teleologische Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 274 I. Die Kompensation struktureller Unterlegenheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 274 1. Die Tarifautonomie als Selbstaufhebungsnorm? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 275 2. Tarifautonomie als Herstellung von Privatautonomie . . . . . . . . . . . . . . . 275 3. Tarifautonomie als Grundrecht mit Zweckbindung . . . . . . . . . . . . . . . . . 276 4. Vorrangige Regelungsbefugnis als Widerspruch zu Sinn und Zweck der Tarifautonomie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 277 5. Die Tarifautonomie als dienende Freiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 279 II.
Der Schutz der tarifvertraglichen Normsetzungsbefugnis . . . . . . . . . . . . . . 280 1. Tarifautonomie als prozedurale Korrektur der Privatautonomie . . . . . . 280 2. Bedeutung der unmittelbaren und zwingenden Wirkung des Tarifvertrags . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 281
E. Konsequenzen der Bestimmung des Gewährleistungsgehalts des Art. 9 Abs. 3 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 283 I. Tarifautonomie als prozedurale Korrektur gestörter Privatautonomie . . . . 283 II.
Kein Abwehrrecht gegen staatliche Mindestarbeitsbedingungen . . . . . . . . . 286 III. Tarifautonomie als vorstaatliche Freiheit/Die dogmatische Sonderstellung der Koalitionsfreiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 288 IV. Tarifautonomie als Freiheit mit Zweckbindung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 290 V.
Subsidiaritätstheorie und Tarifautonomie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 293 VI. Zum Aushöhlungsschutz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 294 VII. Beeinträchtigung der Attraktivität der Verbände? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 296 VIII. Beeinflussung der Verhandlungsposition . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 299 IX. Das Sachnäheargument . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 306 X. Praxistauglichkeit eines funktionalen Verständnisses der Tarifautonomie . . 308 XI. Von den sogenannten Hausgütern der Tarifautonomie . . . . . . . . . . . . . . . . . 310 XII. Tarifautonomie und Grundrechtsausgestaltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 311 1. Das neuere Modell der Ausgestaltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 312 a) Der ausgestaltungsorientierte Ansatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 312 b) Kritik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 313 c) Konsequenzen für die Auslegung der Tarifautonomie . . . . . . . . . . . . 315 2. Das Abgrenzungsproblem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 316 XIII. Ergebnis: Tarifautonomie als Normsetzungsverfahren ohne vorrangige Regelungsbefugnis: Kompetenzparallelismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 320 F. Gesamtergebnis des Ergebnisses des 2. und 3. Kapitels . . . . . . . . . . . . . . . . . . 323 I. Trennung zwischen Normsetzungs- und Regelungsbefugnis . . . . . . . . . . . . 323 II.
Tarifautonomie als prozedurale Korrektur der Privatautonomie . . . . . . . . . 324 III. Zur Praxistauglichkeit des Kompetenzparallelismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 325
16
Inhaltsverzeichnis IV. V.
Verbesserter Grundrechtsschutz als Konsequenz des Kompetenzparallelismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 325 Kein Schutz der Tarifautonomie vor einseitig zwingendem Gesetzesrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 327
4. Kapitel Grenzen tarifdispositiven Rechts im Kontext staatlicher Schutzpflichten A. Zum Konzept der grundrechtlichen Schutzpflichten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Objektivrechtliche Herleitung grundrechtlicher Schutzpflichten (BVerfG) II. Staatstheoretischer Ansatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Art. 1 Abs. 1 GG als Quelle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Die eingriffsdogmatische Konstruktion der Schutzpflichten/Das abwehrrechtliche Modell . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V. Subjektivierung der Schutzpflichten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VI. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
328 329 331 331 332 333 336 336
B. Adressat der Schutzpflichten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 337 C. Umfang der grundrechtlichen Schutzpflichten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Zur Bedeutung der Frage für das Verhältnis von Tarifautonomie und staatlichem Gesetzesrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Schutzpflichtenauslösende Konstellationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Erforderlichkeit staatlicher Maßnahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Zeitpunkt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Art der Maßnahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . D. Anforderungen an die Tätigkeit des Gesetzgebers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Kriterium der Reversibilität der Grundrechtsbeeinträchtigung . . . . . . . . . . 1. Maßstab . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Konsequenzen für den tarifdispositiven Arbeitsschutz . . . . . . . . . . . . . . II. Kriterium der Transparenz und Rechtsfolgenklarheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Transparenz als Kriterium der Erfüllung grundrechtlicher Schutzpflichten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Grundsatz der Normenbestimmtheit und Normenklarheit . . . . . . . . b) Anwendbarkeit im Verhältnis zwischen Privaten . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Notwendige Grenzen der Transparenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Verfassungswidrigkeit von Generalklauseln bei klar erkennbaren Gefährdungslagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Die Möglichkeit des Rückgriffs auf Generalklauseln . . . . . . . . . . . . b) Kontrollmaßstab . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Konsequenzen für den tarifdispositiven Arbeitsschutz . . . . . . . . . . . . . .
338 338 340 341 341 342 342 343 343 345 345 346 346 346 347 348 348 348 349
Inhaltsverzeichnis
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III. Kriterium der Effektivität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Maßstab . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Tarifautonomie und Effektivitätsgrundsatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V. Kontrollmaßstab für legislatives Handeln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VI. Konsequenzen für das tarifdispositive Gesetzesrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . .
350 350 351 352 352 353
E. Anforderungen an die Rechtsprechung bei der Erfüllung staatlicher Schutzpflichten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Verfassungskonforme Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Grenzen des Verweises auf die Möglichkeit verfassungskonformer Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Grenzen des Rückgriffs auf Generalklauseln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Generalklauseln und 1:1-Transponierung der Grundrechte in das Zivilrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Transparenz- und Effektivitätsgebot als Grenze . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Grenzen der Leistungsfähigkeit der Rechtsprechung . . . . . . . . . . . . . 3. Gesetzesbindung und Gewaltenteilung als Grenzen judikativer Schutzpflichtenumsetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Vorlageverpflichtung nach Art. 100 Abs. 1 GG bei unzureichenden gesetzlichen Schutzvorschriften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Voraussetzungen der Vorlageverpflichtung nach Art. 100 Abs. 1 GG . . a) Rechtsprechung des BVerfG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Kritik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Das Beispiel Arbeitszeitschutzrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Richterliche Rechtsfortbildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Anwendbarkeit des Vorbehalts des Gesetzes im Verhältnis gleich geordneter Grundrechtsträger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Die Rechtsprechung des BVerfG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Die Kritik im Schrifttum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Stellungnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Legitimation durch den Justizgewährungsanspruch . . . . . . . . . . . . . . e) Lösungsvorschlag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Grenzen der Rechtsfortbildung zur Wahrung grundrechtlicher Schutzpflichten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Grenzen der Rechtsfortbildung als Problembegrenzung . . . . . . cc) Lösung bei fehlender Legitimation der Judikative – Richtervorlage nach Art. 100 Abs. 1 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Prozessuale Lösungsmöglichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Kritik im Schrifttum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (3) Zustimmende Auffassungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (4) Stellungnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
354 355 356 356 356 356 357 358 359 361 361 362 363 365 365 366 367 368 369 370 371 372 374 375 376 377 377
18
Inhaltsverzeichnis
IV.
(5) Vorlagemöglichkeit für unzureichende Umsetzungsnormen (6) Konsequenzen für das tarifdispositive Gesetzesrecht . . . . . (7) Ausgestaltung der Vorlagemöglichkeit nach Art. 100 Abs. 1 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Wesentlichkeitstheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Grundlagen der Wesentlichkeitstheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Anwendbarkeit der Wesentlichkeitstheorie im Verhältnis gleich geordneter Grundrechtsträger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Die Rechtsprechung des BVerfG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Die Kritik im Schrifttum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Eigenständigkeit der Wesentlichkeitstheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . e) Grenzen der Wesentlichkeitstheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . f) Anwendbarkeit im Bereich des tarifdispositiven Gesetzesrechts . . . g) Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . h) Inhaltliche Anforderungen der Wesentlichkeitstheorie . . . . . . . . . . . i) Anwendbarkeit der Wesentlichkeitstheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . j) Folgen für das tarifdispositive Gesetzesrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Der Gewaltenteilungsgrundsatz als Grenze der Rechtsfortbildung . . . . 4. Notfallkompetenz bei fehlenden gesetzlichen Anknüpfungspunkten für die Rechtsfortbildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Qualitative Grenzen der Rechtsfortbildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Die fehlende Transparenz der Umsetzung grundrechtlicher Schutzpflichten durch die Gerichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Die besseren Ressourcen des parlamentarischen Gesetzgebers zur Ermittlung des Schutzbedarfs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Demokratische Legitimation und Rechtsfortbildung . . . . . . . . . . . . . . . . 7. Ausgleich von Vorbehalt des Gesetzes, Wesentlichkeitstheorie und Justizgewährungsanspruch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8. Auswirkungen auf das tarifdispositive Arbeitsschutzrecht . . . . . . . . . . . 9. Rückgriff auf Art. 100 Abs. 1 GG bei fehlender Legitimation der Rechtsfortbildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
378 378 379 380 381 382 382 382 383 384 384 385 385 386 389 390 391 393 393 393 395 397 398 398 399 400 400
F. Gesamtergebnis zu A. bis E. und Konsequenzen für das tarifdispositive Gesetzesrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 401 G. Umfang der Maßnahme aus den grundrechtlichen Schutzpflichten . . . . . . . I. Wirksamkeit/Effektivität/Eignung/Erforderlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Optimierungsgebot . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Zustimmende Auffassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Restriktive Sichtweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
403 404 405 405 405
Inhaltsverzeichnis
19
3. Die Rechtsprechung des BVerfG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Grenze aus kollidierenden Grundrechtspositionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Gebot des mildesten Eingriffsmittels? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Zur Gleichwertigkeit grundrechtlicher Schutzansprüche . . . . . . . . . . . . IV. Ausgleich von Untermaß- und Übermaßverbot durch Verhältnismäßigkeitsprüfung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V. Einschätzungsprärogative . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Vorbemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Demokratieprinzip . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Einschätzungsprärogative und Demokratieprinzip . . . . . . . . . . . . . . . b) Schutzpflichten als Eingriffsrechtfertigung und Gefährdungen der Abwehrrechte durch die Einschätzungsprärogative . . . . . . . . . . . . . . c) Umfang und Grenzen der Einschätzungsprärogative . . . . . . . . . . . . . aa) Einschätzungsprärogative und „Ob“ der Schutzpflicht . . . . . . . . bb) Einschätzungsprärogative und „Wie“ der Schutzpflicht . . . . . . . cc) Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
405 406 407 408 408 409 410 410 410 411 412 413 413 414 417 417
H. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 418
5. Kapitel Wahrung staatlicher Schutzpflichten durch Bindung der Tarifvertragsparteien an die Grundrechte?
421
A. Tarifautonomie und staatliche Schutzpflichten für die Grundrechte . . . . . . 421 B. Zur Grundrechtsbindung der Tarifvertragsparteien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Der Begriff der Gesetzgebung nach Art. 1 Abs. 3 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Grundrechtsbindung privater Normsetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Delegationstheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Integrationstheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Legitimationstheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Realitätsnähe der Legitimationstheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Einfachrechtliche Widersprüchlichkeit der Legitimationstheorie . . c) Außenseiter und Legitimationstheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Grundrechtsverzicht durch Verbandsbeitritt? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Grenzen des Grundrechtsverzichts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Grenzen der Legitimation durch Beitrittserklärung . . . . . . . . . . cc) Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
422 427 429 430 431 436 437 440 441 442 443 444 445 446
20
Inhaltsverzeichnis
IV. V.
e) Widersprüche im Arbeitskampfrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . f) Zutreffende Ablehnung der Grundrechtsbindung der Tarifvertragsparteien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . g) Unzutreffende Konstruktion einer Schutzpflichtenbindung der Tarifvertragsparteien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Zur Verfassungswidrigkeit der Schutzpflichtenbindung der Tarifvertragsparteien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Die Schutzpflichtenbindung als unzulässige Rechtsfortbildung cc) Verhinderung der „Tarifzensur“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . dd) Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . h) Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Anerkennungstheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Eigener Ansatz: Tarifautonomie als prozedurale Sicherung der Privatautonomie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Grundrechtsschutz gegen den Gesetzgeber, nicht gegen den Tarifvertrag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Richtervorlage nach Art. 100 Abs. 1 GG bei fehlenden einfachgesetzlichen Regelungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
446 446 447 448 448 451 451 452 453 453 455 457 457 458 458
6. Kapitel Grenzen der Richtigkeitsgewähr des Tarifvertrags und Erfüllung staatlicher Schutzpflichten A. Richtigkeitsgewähr und Tariffähigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Soziale Mächtigkeit und Richtigkeitsgewähr . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die neuere Rechtsprechung zur Tariffähigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Relativierung des Erfordernisses der organisatorischen Leistungsfähigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Ausgangspunkt: Abgeschwächte Kontrolldichte . . . . . . . . . . . . . bb) Jüngere Rechtsprechung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Die Entwertung des Kriteriums durch Formalismus . . . . . . . . . . dd) Organisatorische Leistungsfähigkeit in Anbahnungs- und Durchführungsphase des Tarifvertrags . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ee) Organisatorische Leistungsfähigkeit und tarifdispositives Gesetzesrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ff) Folgerungen für das Konzept des tarifdispositiven Gesetzesrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Durchsetzungsfähigkeit und Teilnahme am Tarifgeschehen . . . . . . .
463 466 466 467 468 468 469 470 471 473 474 474
Inhaltsverzeichnis
21
aa) Konzeption bis zum CGM-Beschluss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Die Nivellierung des Kriteriums der Durchsetzungsfähigkeit im CGM-Beschluss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Anschlusstarifverträge und aktive Teilnahme am Tarifgeschehen dd) Die Gefahren einer Tariffähigkeit ohne Mitglieder . . . . . . . . . . . ee) Fehlende Indizwirkung von Gefälligkeitstarifverträgen als Korrektur? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Arbeitgeberseitige Gefälligkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Arbeitnehmerseitige Gefälligkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (3) Fehlende Justiziabilität und Rechtsfolgen eines Gefälligkeitstarifvertrags . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (4) Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ff) Die Entwertung des Kriteriums der Mitgliederzahl . . . . . . . . . . c) Rückwirkung auf die Richtigkeitsgewähr des Tarifvertrags . . . . . . . 2. Soziale Mächtigkeit und tarifdispositives Gesetzesrecht . . . . . . . . . . . . . 3. Fehlende Indizwirkung für die soziale Mächtigkeit bei Gebrauch von Tariföffnungsklauseln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Beeinträchtigung der Richtigkeitsgewähr des Tarifvertrags durch den CGM-Beschluss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Konsequenzen für die Verpflichtung des Gesetzgebers zur Wahrung grundrechtlicher Schutzpflichten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Sonderdogmatik der Tariffähigkeit bei tarifdispositivem Gesetzesrecht; Repräsentativitätsprinzip . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Denkbarer Korrekturansatz: Grundrechtsschutz durch immanente Schranken des tarifdispositiven Gesetzesrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
474
B. Richtigkeitsgewähr und funktionsgestörte Tarifautonomie . . . . . . . . . . . . . . . I. Anforderungen an die Sozialpartner . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Tatsächliches Bestehen von Tarifautonomie als Voraussetzung der Tarifdispositivität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Funktionsstörungen der Tarifautonomie und Leiharbeit . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
475 477 481 482 483 484 484 486 486 487 488 490 491 493 495 497 497 500 501 502 504 507
C. Richtigkeitsgewähr und Drittinteressen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 508 D. Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 510 7. Kapitel Gesamtergebnis zum 2. bis 6. Kapitel
512
22
Inhaltsverzeichnis 8. Kapitel Grenzen tarifdispositiven Gesetzesrechts am Beispiel des Arbeitszeitrechts
A. Grenzen der Delegation der Regelungsbefugnis vom Staat auf die Tarifvertragsparteien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Grundrechtliche Schutzpflichten für die tarifunterworfenen Arbeitnehmer am Beispiel des § 7 Abs. 2a Arbeitszeitgesetz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Bedeutung der Arbeitszeitgestaltung für die Gesundheit . . . . . . . . . . . . a) Befunde über die Nachtarbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Befunde über den Arbeitszeitrhythmus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Arbeitszeitlänge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Fehlende Möglichkeit der subjektiven Selbstkontrolle . . . . . . . . . . . e) Arbeitsbereitschaft, Bereitschaftsdienst und Schlaf . . . . . . . . . . . . . . f) Rechtstatsächliche Veränderungen des Schutzniveaus . . . . . . . . . . . . g) Der „Schutz“ durch den Tarifvertrag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . h) Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Inhalt des § 7 Abs. 2a ArbZG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Die von der Abweichungsbefugnis betroffenen Vorschriften des ArbZG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Abweichungsbefugnis hinsichtlich der Nachtarbeit nach § 6 Abs. 2 ArbZG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Ergänzender Schutz durch § 6 Abs. 1 ArbZG . . . . . . . . . . . . . . . bb) Umsetzungsanspruch nach § 6 Abs. 4 ArbZG . . . . . . . . . . . . . . cc) § 8 ArbZG als Sicherungsinstrument . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . dd) Überwachungsaufgabe der Aufsichtsbehörden . . . . . . . . . . . . . . ee) Besonderer Schutz für einzelne Personengruppen . . . . . . . . . . . b) Abweichungsbefugnis hinsichtlich werktäglicher Höchstarbeitszeit und Arbeitszeitausgleich nach § 3 ArbZG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Abweichungsbefugnisse hinsichtlich der Ruhezeiten nach § 5 Abs. 1 ArbZG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Verlängerung ohne Ausgleich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . e) Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Die Schranken der Abweichungsbefugnis nach § 7 Abs. 2a ArbZG . . a) Die tarifvertragliche Regelung selbst als Schutzpflichterfüllung . . . b) Regelmäßig und in erheblichem Umfang in die Arbeitszeit fallende Arbeitsbereitschaft oder Bereitschaftsdienst . . . . . . . . . . . . . . . c) Besondere Regelungen zur Verhinderung von Gesundheitsgefährdungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Einwilligungserfordernis nach § 7 Abs. 7 ArbZG . . . . . . . . . . . . . . . . e) Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
515
516 516 517 517 522 524 526 528 531 532 534 534 535 535 536 542 543 544 545 546 547 548 550 551 551 552 554 557 559
Inhaltsverzeichnis 5. Vereinbarkeit der tarifdispositiven Gestaltung des Arbeitszeitrechts in § 7 Abs. 2a ArbZG mit Art. 2 Abs. 2 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Effektivitätsgebot . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Transparenzgebot . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Begrenzte Zulässigkeit von Generalklauseln und unbestimmten Rechtsbegriffen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Die Unregelbarkeit als Ausflucht des Gesetzgebers . . . . . . . . . . (1) Die Regelungen in anderen EU-Mitgliedstaaten . . . . . . . . . (2) Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Die Statik einer gesetzlichen Regelung als Negativeffekt . . . . . d) Gebot konsequenter Zweckverfolgung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Systemwiderspruch zum Schutz besonderer Personengruppen . . bb) Systemwiderspruch zu § 7 Abs. 1 und 2 ArbZG . . . . . . . . . . . . . cc) Angemessenheitsprüfung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . e) Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Art. 6 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7. Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Grundrechtliche Schutzpflichten für der Arbeitsleistung ausgesetzte Dritte am Beispiel des Arbeitszeitrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Grundrechtliche Schutzpflichten für die Außenseiter . . . . . . . . . . . . . . . . . .
23 560 560 563 566 567 567 570 571 573 573 574 577 578 578 579 581 583
B. Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 585
9. Kapitel Zusammenfassung und Ergebnisse
587
A. Tarifautonomie und staatliches Gesetzesrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 587 B. Grundrechtliche Schutzpflichten und Tarifautonomie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 588 C. Konsequenzen für das tarifdispositive Gesetzesrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 589 D. Schlussthesen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 590 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
597
Sachwortverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Einleitung, Problemstellung und Gang der Untersuchung A. Einleitung und Problemstellung Die Öffnung gesetzlicher Schutzstandards für abweichende tarifvertragliche Regelungen durch tarifdispositives Gesetzesrecht ist ein traditionelles Instrument deutscher Arbeitsgesetzgebung. Bereits seit den 1920er Jahren kennt die Rechtsordnung zwingende Vorschriften, die eine Abweichung – auch zu Lasten der geschützten Arbeitnehmer – durch Tarifvertrag zulassen. Die praktische Bedeutung solcher Klauseln hat sich dabei mehrfach gewandelt. Ging es zunächst darum, von gesetzlichen Schutzstandards zu Gunsten der Arbeitgeber abzuweichen1, stand später skeptische Zurückhaltung gegenüber einer derart ausgeübten Tarifautonomie im Vordergrund.2 In jüngerer Zeit dominiert wieder die zunächst in der Weimarer Republik anzutreffende Erscheinung, dass tarifdispositives Gesetzesrecht zum Abbau zwingenden Arbeitnehmerschutzrechts durch tarifautonome Gestaltung genutzt wird. Die arbeitsrechtliche Gesetzgebung in der Bundesrepublik Deutschland hat sich in einem Nebeneinander von staatlicher Gesetzgebung und tarifautonomer Regulierung entwickelt. Dennoch hat das Verhältnis der beiden Normgeber zueinander in der wissenschaftlichen Diskussion stets massive Kontroversen hervorgerufen. Dabei wird oftmals auf den Vorrang der Tarifautonomie verwiesen, um staatliche Gesetzgebung im Arbeitsrecht zurückzudrängen. Andere Ansätze suchen dagegen die staatlichen Schutzpflichten stärker zu betonen. Im Ausgangspunkt sind drei Ansätze zur Bestimmung des Verhältnisses von staatlichem Gesetz und Tarifautonomie zu unterscheiden: Nach einer insbesondere im älteren Schrifttum vertretenden Sichtweise soll die Tarifautonomie eine exklusive Normsetzungsbefugnis für die Tarifvertragsparteien bilden.3 Staatliche Gesetzgebung, die nicht der Sicherung des Existenzminimums dient, soll danach unzulässig sein. Daraus müsste bei konsequenter Anwendung folgen, dass das bestehende Arbeitnehmerschutzrecht weitgehend 1 So maßgeblich im Arbeitszeitrecht zur Zeit der Weimarer Republik, vgl. dazu unter 1. Kap. B. I. 2 Däubler, Tarifvertragsrecht, Rn. 375; Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht, Bd. I, S. 698. 3 Biedenkopf, Grenzen der Tarifautonomie, 125, 152 ff., und passim; vgl. dazu unten 2. Kap. B. II.
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Einleitung
verfassungswidrig ist, da es in einen angeblich exklusiven Kompetenzbereich der Tarifvertragsparteien eingreift. Eine – insbesondere nach der Aufgabe der Kernbereichstheorie durch das BVerfG4 – im Vordringen befindliche Auffassung sieht staatliche Regelungen im Arbeitsrecht als rechtfertigungsbedürftigen Eingriff in die Tarifautonomie an.5 Bei dieser Sichtweise bleibt der Staat zwar zu eigenständiger Regelung befugt, muss sich aber auf kollidierende Grundrechtspositionen stützen, um Sachverhalte regeln zu dürfen, die auch einer Regelung durch die Tarifvertragsparteien zugängig sind. Schließlich findet sich eine Sichtweise, die Tarifautonomie und staatliche Gesetzgebung nicht als konfliktreich aufeinander bezogen begreift. Staatliche Gesetzgebung zieht nach dieser Auffassung nur die Außengrenzen tarifautonomer Regelungsbefugnis, innerhalb derer die Tarifvertragsparteien ihre Koalitionsbetätigung entfalten.6 Die Frage, welchem dieser Ansätze zu folgen ist, ist von grundlegender Bedeutung; sie weist über den Untersuchungsgegenstand dieser Arbeit, die das Verhältnis staatlicher Schutzpflichten zum Institut tarifdispositiven Gesetzesrechts bestimmen soll, hinaus. Bei den ersten beiden Sichtweisen erlangt das Problem Relevanz, ob staatliches Gesetzesrecht mit Blick auf die Tarifautonomie reduziert werden muss bzw. inwieweit die Tarifautonomie vor staatlichen Regelungen geschützt werden muss. Zieht der Staat aber nur die äußeren Grenzen für die Betätigung der Tarifautonomie, tritt die Frage in den Vordergrund, ob der Gesetzgeber seine Untätigkeit mit Hinweis auf die Tarifautonomie legitimieren kann. Welcher Sichtweise mit Blick auf das Verhältnis von Tarifautonomie und staatlichem Gesetzesrecht zu folgen ist, wird im 2. und 3. Kapitel untersucht. Dabei geht es vor allem darum, den Kerngedanken der Tarifautonomie für die Auslegung des Grundrechts fruchtbar zu machen. „Tarifautonomie ist darauf angelegt, die strukturelle Unterlegenheit der einzelnen Arbeitnehmer beim Abschluß von Arbeitsverträgen durch kollektives Handeln auszugleichen.“ 7 Diese Aussage des BVerfG umschreibt Entstehungs- und Geltungsgrund der Koalitionsfreiheit in Art. 9 Abs. 3 GG.8 Sieht man die historische Entwicklung der Tarifautonomie, so hat diese einen beachtlichen Beitrag zu Selbstbestimmung und Freiheit der Arbeitnehmer geleistet. Sie hat Schutzlücken des staatlichen Rechts gefüllt und sich stets an vielfältige gesellschaftliche und ökonomische Veränderungen angepasst. Insgesamt hat sich die tarifautonome Gestaltung als flexibles Gestaltungsinstrument zur Regelung der Arbeits- und 4 5 6 7 8
BVerfG 14.11.1995, NJW 1996, 1201; vgl. dazu unten 2. Kap. B. I. Dazu ausführlich 2. Kap. A. II. und 2. Kap. B. II., III. 1. und 2. Dazu ausführlich 2. Kap. A. IV. 2. BVerfG 26.06.1991, NJW 1991, 2549 (2551). Vgl. dazu ausführlich unten 2. Kap. D.
A. Einleitung und Problemstellung
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Wirtschaftsbedingungen erwiesen. Dennoch erzeugt die Tarifautonomie als System gesellschaftlicher Selbstorganisation nur einen Ausschnitt möglicher Regelungen der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen. Seit ihrer Anerkennung in der Weimarer Reichsverfassung hat sich die Tarifautonomie stets in einem Nebeneinander zum staatlich zwingenden Gesetzesrecht bewegt. Tarifautonomie ohne zwingendes staatliches Recht hat es in Deutschland nie gegeben. Mit der Entwicklung des Sozialstaats hat sich diese Erscheinung verstärkt und verfestigt. Die Zunahme staatlicher Regelungen ist im Verhältnis zur Tarifautonomie nie unumstritten gewesen. Und auch das Bedürfnis, die Tarifautonomie als Grundrecht zur Bekämpfung ihres eigenen Zwecks und Geltungsgrundes zu instrumentalisieren, ist seit der Arbeit Biedenkopfs zu den „Grenzen der Tarifautonomie“ immer wieder aufgeflammt.9 Zuletzt ist das Thema der Zweckentfremdung der Tarifautonomie in der Diskussion um die Einführung tarifgestützter Mindestlöhne aufgetreten.10 Tarifautonomie wird verbreitet – und verstärkt durch die Debatte um die Aufgabe der Kernbereichsrechtsprechung durch das BVerfG11 – zur Abwehr staatlichen Arbeitnehmerschutzrechts instrumentalisiert.12 Erkennt man die Zweckbestimmung der Tarifautonomie, erscheint diese Sichtweise paradox. Denn die strukturelle Unterlegenheit des Arbeitnehmers zu verfestigen oder zu erhalten, kann wohl schwerlich als verfassungsmäßiger Zweck der Tarifautonomie gesehen werden. Insofern eignet sich der Grundsatz der Tarifautonomie nur begrenzt dazu, staatlichen Regelungen, die dem Ausgleich und dem Schutz vor Machtimparitäten und strukturellen Ungleichgewichten von Grundrechtsträgern dienen, entgegengehalten zu werden. Wie sieht es aber im Zwischenraum zwischen staatlichen Regelungen und tarifautonomer Regulierung aus, wenn der Staat – mit Blick auf die Tarifautonomie – die zwingende Wirkung eigener Schutznormen zurückstellt und diese für die Tarifpartner zur Abweichung öffnet? Der Begriff, unter dem ein solcher „Abbau des gesetzlichen Arbeitnehmerschutzrechts durch kollektives Arbeitsrecht“13 vollzogen wird, ist der des tarifdispositiven Gesetzesrechts. Der dahinter stehende Zweck wird in der wissenschaftlichen Diskussion vielfach wohlklingend gewürdigt, durch tarifdispositives Gesetzesrecht solle Tarifautonomie ausgebaut oder geschont werden.14 Freilich wird die Gefahr immer deutlicher sichtbar, dass Zweck und Geltungsgrund der Tarifautonomie durch tarifdispositives Gesetzesrecht verfehlt werden. 9
Biedenkopf, Grenzen der Tarifautonomie, passim. Vgl. dazu Thüsing, ZfA 2008, 591 ff., m.w. N. 11 BVerfG 14.11.1995, NJW 1996, 1201. 12 Zuletzt eindrucksvoll Thüsing, ZfA 2008, 591 ff. 13 Buschmann, FS Richardi, S. 93. 14 Bock, Tarifdispositives Arbeitnehmerschutzrecht und Tarifautonomie, S. 301 ff.; Fischer, ZRP 2007, 20 ff.; Thüsing, ZfA 2008, 591 (595); Willemsen/Sagan, NZA 2008, 1216. 10
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Einleitung
Der Gesetzgeber hat freilich die Zahl und die Reichweite tarifdispositiver gesetzlicher Vorschriften immer weiter ausgebaut. Dies geschah bemerkenswerterweise zunächst unter dem Beifall und sogar nach der Forderung der Tarifpartner.15 Denn das tarifdispositive Gesetzesrecht hat dort, wo es der praxisnahen Umgestaltung von Arbeitnehmerschutzrecht und nicht dessen Abbau dient, durchaus eine positive Funktion. Diese Flexibiltät hat dann auch dazu geführt, dass die Tarifpartner und die Praxis gerade mit Blick auf das Bundesurlaubsgesetz eine weitreichende Öffnung für Abweichungen durch Tarifverträge forderten. Auf die Euphorie folgte freilich die Ernüchterung. Als Beispiel mag die Tariföffnung in §§ 3 Abs. 1 Nr. 3 und 9 Nr. 2 AÜG dienen.16 Hier wurden Funktionsdefizite der Tarifautonomie genutzt, um politisch unbequeme Entscheidungen auf die Sozialpartner abzuwälzen. Im Laufe der Zeit scheint sich der Zweck des tarifdispositiven Gesetzesrechts gewandelt zu haben. Stand einst die Öffnung für branchennahe flexible Regelungen im Vordergrund, scheint heute – immer weniger verdeckt durch vorgeblich andere Ziele – die Beseitigung gesetzlicher Schutzstandards in den Vordergrund zu treten. Dabei macht man sich Funktionsdefizite der Tarifautonomie ebenso zu nutze wie die Anfälligkeit des Tarifvertrags für Kompensationsgeschäfte. Sieht man die in den letzten Jahren zurückgegangene Organisationsstärke der Koalitionen, die zunehmende Zersplitterung der Gewerkschaftslandschaft durch kleinere Interessenverbände und den zumindest partiell zu beobachtenden sektoralen Funktionsverlust der Tarifautonomie, so wird erkennbar, weshalb die gesetzliche Konzeption des tarifdispositiven Gesetzesrechts überprüfungsbedürftig geworden ist. Ihre Funktionsfähigkeit hängt an den Prinzipien von Macht und Gegenmacht, die unter zunehmenden ökonomischen Zwangslagen einem strukturellen Wandel unterzogen sind. Besonders problematisch wird das tarifdispositive Gesetzesrecht, wenn es in Bereiche vordringt, die Grundrechtsrelevanz haben. Angesichts der strukturellen Unterlegenheit des Arbeitnehmers sind Regelungen zum Schutz nicht nur seiner Privatautonomie, sondern auch und gerade anderer grundrechtlich geschützter Positionen geboten. Das tarifdispositive Gesetzesrecht dispensiert von diesem Schutz, macht diese Positionen also partiell wieder zugriffsfähig. Während sich das Schrifttum bisher vor allem mit der Frage eines verfassungsrechtlich gebotenen Ausbaus tarifdispositiver Regelungen beschäftigt17, ist mittlerweile eher die Frage nach seinem verfassungsrechtlich gebotenen Rückbau zu stellen. Im Kern geht es dabei um eine Frage, die Richardi unlängst mit bemerkenswerter Schärfe 15
Vgl. zum BUrlG 1. Kapitel B. II. Zu den Auswirkungen vgl. Schüren, RdA 2006, 303 ff.; ders. RdA 2007, 231 ff.; ders. NZA 2008, 453 ff. 17 Zuletzt Bock, Tarifdispositives Arbeitnehmerschutzrecht und Tarifautonomie, S. 301 ff. 16
A. Einleitung und Problemstellung
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aufgeworfen hat. Wie weit darf der Gesetzgeber unter Verweis auf die Richtigkeit tarifvertraglicher Regelungen den gesetzlichen Schutz zurücknehmen? Richardi hat mit Blick auf § 310 Abs. 4 BGB darauf hingewiesen, eine solche Konzeption sei nicht zukunftsfähig, denn was der Gesetzgeber den Arbeitsvertragsparteien verbiete, könne schwerlich erlaubt bleiben, wenn sie die Bestimmung einem Tarifvertrag oder einer Betriebsvereinbarung entnehmen.18 Dies lenkt den Blick auf die Problematik, die regelmäßig durch Erstreckungsklauseln im tarifdispositiven Gesetzesrecht auftritt. Den Arbeitsvertragsparteien wird gegebenenfalls die Übernahme von Regelungen eines Tarifvertrags gestattet, die vom gesetzlichen Schutzstandard abweichen. Nimmt man in diesem Zusammenhang die grundrechtlichen Schutzpflichten in den Blick, so spitzt sich die Frage weiter zu: Darf der Gesetzgeber den Tarifvertragsparteien erlauben, was er mit Blick auf die grundrechtlichen Schutzpflichten den Arbeitsvertragsparteien verbietet oder gar verbieten muss? Dies alles rückt mehrere grundlegende Systemfragen des kollektiven Arbeitsrechts in den Blick. Zunächst geht es um das Verhältnis von staatlicher Gesetzgebung und Tarifautonomie. Zum anderen stellt sich die Frage der Grundrechtsbindung und Schutzpflichtenbindung der Tarifvertragsparteien. Gerade für diese Problematik sind grundlegende Fragen innerhalb der Schutzpflichtendogmatik zu klären, die mit Blick auf das Arbeitsrecht eine besondere Relevanz haben. Dabei geht es insbesondere um die Adressaten der grundrechtlichen Schutzpflichten und ihre unterschiedlichen Funktionen bei ihrer Umsetzung. Die Arbeitsgerichtsbarkeit betont seit langem – mit wohlwollender Duldung durch das BVerfG19 – eine extensive Befugnis zur Rechtsfortbildung20, auch und gerade im Bereich grundrechtlicher Schutzpflichten. Aber auch Inhalt und Umfang der grundrechtlichen Schutzpflichten sind bedeutsam, soweit es um den Rückbau gesetzlicher Schutzstandards durch Tarifvertrag geht. Dabei zeigt insbesondere die neuere Judikatur des BVerfG, dass die Schutzpflichtenbindung zunehmend strenger geprüft wird.21 Sowohl das Verhältnis von Gesetzgeber und Judikative als auch der Umfang der Schutzpflichtenbindung bestimmen in erheblichem Maße die Möglichkeiten des Gesetzgebers, grundrechtliche Schutzaufträge von sich zu weisen und sich ihrer Realisierung zu verweigern. In die gleiche Richtung weist die Frage, inwieweit sich der Gesetzgeber auf die Tarifautonomie als Reservesystem zur Wahrung grundrechtlicher Schutzpflichten stützen kann. Dieser Fragenkomplex rührt nicht nur an der Frage der Grundrechtsbindung, sondern auch an der, ob durch andere Elemente des bestehenden Tarifvertragssystems der Grundrechtsschutz durch den Tarifvertrag sichergestellt werden kann. Dabei gerät die Neu18 19 20 21
Richardi, NZA 2008, 1 (4). Dazu unten 4. Kap. E. III. 1. a). Dazu unten 4. Kap. E. III. Dazu unten 4. Kap. C., D., E.
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Einleitung
justierung der Rechtsprechung des BAG zur Tariffähigkeit ebenso in den Blick wie die Konsequenzen, die sich aus dieser für die sogenannte Richtigkeitsgewähr des Tarifvertrags ergeben. Sind diese systemimmanenten Schutzmechanismen untersucht, bleibt schließlich die Frage, ob einzelne tarifdispositive Vorschriften aufgrund einer Verletzung grundrechtlicher Schutzpflichten verfassungswidrig sind. Dabei gerät das Arbeitszeitrecht in den Blick. Es eignet sich deshalb besonders für die vorstehende Frage, weil es zum einen in erheblichem Umfang tarifdispositiv gestellt ist, zum anderen einen besonders deutlichen grundrechtlichen Bezug aufweist. Die Zurücknahme des zwingenden Charakters gesetzlicher Regelungen oder der vollständige Verzicht auf den Erlass von Schutzvorschriften durch den Gesetzgeber wirft aber nicht nur die Frage nach dem Verhältnis staatlicher Gesetzgebung und Tarifautonomie auf. Denn arbeitsrechtliche Schutzvorschriften sind regelmäßig auch Ausfluss grundrechtlicher Schutzpflichten. Deren Erfüllung steht nicht zur Disposition des Gesetzgebers. Umfang und Inhalt der grundrechtlichen Schutzpflichten sind nach wie vor nicht abschließend geklärt. Ob einer Sichtweise, die unter Verweis auf die Tarifautonomie eine Zurücknahme staatlicher Gesetzgebung im Arbeitsrecht verlangt, gefolgt werden kann, ist überprüfungsbedürftig. Angesichts akuter Funktionsdefizite der Tarifautonomie, die in der jüngeren Ausgestaltung des Arbeitnehmerüberlassungsrechts in Erscheinung treten, stellt sich eher die Frage, ob der Gesetzgeber nicht im Einzelfall auf Grund grundrechtlicher Schutzpflichten verpflichtet ist, einzelne Regelungsgegenstände zwingend zu regeln. Die Problemdefinition einer Sichtweise, die tarifdispositive Regelungen mit Blick auf die Tarifautonomie für geboten hält, wird damit im Ansatz umgekehrt. Zu klären ist damit, ob die Tarifdispositivität oder das Unterlassen gesetzlicher Regelungen im Arbeitsrecht verfassungswidrig ist, weil der Gesetzgeber auf Grund seiner Schutzpflichten verpflichtet ist, den entsprechenden Schutzstandard zwingend, und eben nicht tarifdispositiv, zur Verfügung zu stellen. Das 4. bis 8. Kapitel der Arbeit wenden sich dieser Frage zu.
B. Gang der Untersuchung Die Arbeit wird zunächst einen Überblick über das tarifdispositive Gesetzesrecht und seine Entstehung geben (1. Kapitel). Im Anschluss daran wird die grundrechtliche Gewährleistung der Tarifautonomie auf ihr Verhältnis zur staatlichen Gesetzgebung untersucht (2. Kapitel). Dabei geht es um die Frage, ob die überwiegend vertretene Sichtweise der Tarifautonomie als einer Vorranggarantie zugunsten der tarifautonomen Regelungsbefugnis überzeugt. Dazu ist die Entstehungsgeschichte des Art. 9 Abs. 3 GG ebenso in den Blick zu nehmen wie der bereits angesprochene Zweck der Tarifautonomie (3. Kapitel). Im Anschluss an die Klärung des Verhältnisses von staatlicher und tarifvertraglicher Regelungsbefugnis für die Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen werden die grundrechtlichen
B. Gang der Untersuchung
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Schutzpflichten im Kontext des tarifdispositiven Gesetzesrechts behandelt (4. Kapitel). Dabei geht es zunächst um das Verhältnis von Judikative und Legislative bei der Umsetzung grundrechtlicher Schutzpflichten. Da die Zulassung richterlicher Rechtsfortbildung in diesem Bereich erhebliche Bedeutung hat, wird der Frage der Gewaltenteilung bei der Umsetzung grundrechtlicher Schutzpflichten besonders nachgegangen (4. Kapitel unter D. und E.). Anschließend geht es um den Umfang der Bindungswirkung der grundrechtlichen Schutzpflichten und die Präzisierung ihrer Kontrollmaßstäbe. Sind die Schutzpflichten definiert, stellt sich die Frage, ob immanente Schutzmechanismen des Tarifvertragsystems bereits einen ausreichenden Grundrechtsschutz gewährleisten (5. Kapitel). Dabei liegt der Schwerpunkt auf der Grundrechtsbindung der Tarifvertragsparteien. Diese wird daraufhin untersucht, ob sie als richterrechtlicher Grundsatz Bestand haben kann. Dabei wird auch die Frage der Herleitung der tarifvertraglichen Normsetzungsbefugnis zu untersuchen sein, die von der tarifvertraglichen Regelungsbefugnis abzugrenzen ist. Schließlich sind in diesem Kontext die Anforderungen an die Tariffähigkeit und die sogenannte Richtigkeitsgewähr des Tarifvertrags daraufhin zu überprüfen, ob sie als schutzpflichtenrealisierende Instrumente angesehen werden können (6. Kapitel). Im Schlussteil geht es exemplarisch um die Konsequenzen für das Arbeitszeitrecht (8. Kapitel). Hier ist zunächst eine Bestandsaufnahme der arbeitsmedizinischen Erkenntnisse zu den Auswirkungen überlanger Arbeitszeiten auf die Gesundheit erforderlich, bevor die Abweichungsbefugnis des § 7 Abs. 2a ArbZG einer Kontrolle hinsichtlich ihrer Verfassungsmäßigkeit unterzogen wird. Im Nachgang werden die wesentlichen Ergebnisse der Arbeit zusammengefasst (9. Kapitel).
1. Kapitel
Begriff und historische Entwicklung des tarifdispositiven Gesetzesrechts A. Begriff des tarifdispositiven Gesetzesrechts Der Begriff des tarifdispositiven Gesetzesrechts wird in der Literatur nicht einheitlich verwandt. Teilweise ist von „Zulassungsnormen“1 oder von „tarifoffenen Gesetzen“2 die Rede. Diese Begriffsvielfalt resultiert nicht zuletzt daraus, dass die Wortbildung tarifdispositiv ein Adjektiv ist, „das ohne nähere Erläuterung niemand verstehen kann“.3 Die unterschiedlichen Begriffsbildungen sind Ausdruck des Versuchs der Klärung und Typisierung der unterschiedlichen Erscheinungsformen tarifdispositiven Gesetzesrechts. Im Folgenden soll – ausgehend von Begriff und Definition des dispositiven Gesetzes – der Begriff des tarifdispositiven Gesetzesrechts eingegrenzt werden.
I. Dispositives Gesetzesrecht Dispositive Gesetze regeln, zwingen aber nicht. Mit anderen Worten: Vereinbaren Vertragspartner eine Regelung, die der gesetzlichen Vorschrift nicht (voll) entspricht ist, so ist diese dennoch wirksam. Das Gesetz nimmt seinen Geltungsanspruch mit Blick auf die autonome Gestaltung der Parteien zurück. Es kommt lediglich ergänzend zur Anwendung, solange die Beteiligten keine abweichende Regelung getroffen haben.4 Der Gesetzgeber überlässt durch dispositives Gesetzesrecht mithin den Vertragsparteien die privatautonome Gestaltung ihrer Rechtsbeziehungen.5 Generell wird dieser Vorgang mit der Abweichung vom dispositiven Gesetz umschrieben.6 Damit ist freilich nicht gemeint, dass der Inhalt der gesetzlichen Vorschrift zur Disposition der Vertragsparteien stünde. Die vertragliche Vereinbarung schafft einen von der gesetzlichen Regelung abweichenden Zustand, weil 1 2 3 4 5 6
Däubler, Das Arbeitsrecht I, Rn. 236; Schiek in: Däubler TVG, Einl., Rn. 324. Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht, Bd. I, S. 698. Herschel, DB 1971, 2114 ff. Kempen in: Kempen/Zachert, TVG, Grundl., Rn. 283. Ulrici, JuS 2005, 1073 f. Ulrici, JuS 2005, 1073 (1064).
A. Begriff des tarifdispositiven Gesetzesrechts
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ihr dies vom Gesetz gestattet wird. Eine Abänderung der gesetzlichen Vorschrift selbst kann sie nicht vornehmen.7 Daher ist der Begriff der „Abdingung“ der Vorschrift oder des „abdingbaren Rechts“ zumindest unglücklich. Auch mit der Bezeichnung „Eventualvorschrift“8 ist in der Sache nichts gewonnen.9 Im Folgenden soll ausschließlich der Begriff des dispositiven Rechts verwandt werden. Dies dient zum einen der Vereinfachung der Darstellung und trägt zum anderen der Tatsache Rechnung, dass sich die arbeitsrechtliche Literatur, jedenfalls soweit es das Thema der vorliegenden Arbeit betrifft, überwiegend dieses Begriffs bedient.
II. Zwingendes Gesetzesrecht Im Gegensatz hierzu steht das zwingende Gesetz. Das zwingende Gesetzesrecht ist der Disposition der Vertragsparteien entzogen. Von seinem zwingenden Teil kann durch vertragliche Vereinbarung nicht abgewichen werden.10 Die Parteivereinbarungen entfalten, soweit sie der zwingenden gesetzlichen Regelung widersprechen, keine Wirkung – sie sind unwirksam.11 Dies folgt nicht erst aus § 134 BGB, sondern auch ohne explizite Anordnung aus der Norm selbst.12 Das Gesetz lässt für die Vereinbarung keinen Raum.13 Damit beschränkt das zwingende Gesetzesrecht die Privatautonomie, kann aber auch erst die Voraussetzungen schaffen, unter denen diese funktionsfähig wird.14 Nach der Rechtsprechung des BVerfG sind zwingende gesetzliche Vorschriften, die der Privatautonomie Schranken ziehen, unentbehrlich, um die Voraussetzungen privatautonomer Selbstbestimmung in Ungleichgewichtslagen zwischen den Vertragspartnern zu gewährleisten.15 Zwingendes Gesetzesrecht tritt in zweierlei Intensitätsstufen auf. Zum einen als zweiseitig zwingendes Gesetzesrecht, das jegliches Abweichen durch Vertrag verbietet,16 zum anderen als einseitig zwingendes Gesetzesrecht. Dieses verwehrt in der Regel nur Abweichungen in eine bestimmten Richtung. Nur diese trifft die Rechtsfolge der Unwirksamkeit.17 Solche Normen werden gelegentlich auch als 7
Herschel, DB 1971, 2114. Ennecerus/Nipperdey, Allgemeiner Teil 1, S. 301. 9 Vossen, Tarifdispositives Richterrecht, S. 19 f. 10 Ennecerus/Nipperdey, Allgemeiner Teil 1, S. 303. 11 Larenz/Wolf, BGB AT, § 40, Rn. 3; Ulrici, JuS 2005, 1073 (1074). 12 Medicus, BGB AT, Rn. 645; Ulrici, JuS 2005, 1073 (1074). 13 Medicus, BGB AT, Rn. 645. 14 BVerfG vom 7.2.1990, NJW 1990, 1469 (1470); Preis, Grundfragen der Vertragsgestaltung im Arbeitsrecht, S. 40; Stern, Staatsrecht, Bd. III/1, § 76 IV 8, S. 1594. 15 BVerfG vom 7.2.1990, NJW 1990, 1469 (1470); Preis, Grundfragen der Vertragsgestaltung im Arbeitsrecht, S. 40; vgl. dazu ausführlich unten 4. Kap. D. 16 Franzen in: ErfK, § 1 TVG, Rn. 13; Preis, Der Arbeitsvertrag, I C, Rz. 9. 17 Ulrici, JuS 2005, 1073 (1074). 8
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1. Kap.: Begriff und historische Entwicklung
halbseitig zwingend18 oder halb zwingend umschrieben.19 Das Arbeitsrecht als Arbeitnehmerschutzrecht 20 ist in der Regel einseitig zwingend ausgestaltet.21 Abweichungen zulasten des Arbeitnehmers sind im Regelfall ausgeschlossen. Dies entspricht dem verfassungsrechtlichen Gebot des Schutzes der unterlegenen Vertragspartei im Privatrechtsverkehr.22 Die Vertragsfreiheit des Arbeitnehmers bei Abschluss des Arbeitsvertrages ist regelmäßig dadurch beschränkt, dass er auf den Arbeitsplatz angewiesen ist und teilweise nicht unerheblichem Druck ausgesetzt ist, eine Beschäftigung aufzunehmen.23 Damit reduziert sich seine Vertragsfreiheit regelmäßig auf die Abschlussfreiheit. Aufgrund seiner fehlenden Einflussmöglichkeiten auf den Inhalt des Arbeitsverhältnisses bedarf der Arbeitnehmer daher des Schutzes des zwingenden Rechts.24 Abweichungen vom Gesetz sind in solchen Fällen nach dem Günstigkeitsprinzip nur zugunsten des Arbeitnehmers zulässig.
III. Tarifdispositives Gesetzesrecht 1. Einleitung An dieser Stelle setzt das tarifdispositive Gesetzesrecht an. Es gestattet die Abweichung von an sich zwingenden gesetzlichen Vorschriften durch Tarifvertrag.25 Diese werden zugunsten der Tarifvertragsparteien dispositiv gestellt. Naturgemäß kann von dispositivem Gesetzesrecht auch ohne ausdrückliche Anordnung durch die Tarifvertragsparteien abgewichen werden.26 Eine solche Konstellation ist aber nicht gemeint, wenn es um tarifdispositives Gesetzesrecht geht. Tarifdispositives Gesetzesrecht zeichnet sich dadurch aus, dass es für die Arbeitsvertragsparteien und für Vereinbarungen im Rahmen der Betriebsverfassung in der Regel einseitig zwingend ausgestaltet ist.27 Abweichungen sind den Ar-
18
Ulrici, JuS 2005, 1073 (1074). Larenz/Wolf, BGB AT, § 3, Rn. 117 ff. 20 Hueck/Nipperdey, Arbeitsrecht, § 7, S. 25 ff.; Vossen, Tarifdispositives Richterrecht, S. 20. 21 Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht, Bd. I, § 2, S. 22; Preis, Individualarbeitsrecht, § 1; Schiek in: Däubler, TVG, Einl., Rn. 310; Ulrici, JuS 2005, 1073 (1074). 22 BVerfG 7.2.1990, NJW 1990, 1469 (1470); Preis, Grundfragen der Vertragsgestaltung im Arbeitsrecht, S. 40; Stern, Staatsrecht, Bd. III/1, § 76 IV 8., S. 1594; vgl. dazu ausführlich unten 2. Kap. D. 23 Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht, Bd. I, § 2, S. 22; vgl. dazu ausführlich unten 2. Kap. D. I. 24 Vossen, Tarifdispositives Richterrecht, S. 20; vgl. dazu ausführlich unten 2. Kap. D. 25 Hromadka, FS Kissel, S. 417 (418); Knorr, RdA 1979, 201; Säcker/Oetker, Grundlagen und Grenzen der Tarifautonomie, S. 174; Stein, ArbuR 1998, 1 (2); Waas, FS Birk, S. 899. 26 Franzen in: ErfK, TVG, § 1 TVG, Rn. 14; Steinmeyer, BetrAV 2001, 727. 19
A. Begriff des tarifdispositiven Gesetzesrechts
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beitsvertrags- und Betriebsparteien nur zugunsten des Arbeitnehmers gestattet.28 Den Tarifvertragsparteien hingegen wird die Möglichkeit eröffnet, entweder die gesetzliche Lage abweichend auszugestalten oder – und dies sind die häufigeren und gravierenderen Fälle – vom gesetzlichen Standard zulasten des Arbeitnehmers abzuweichen oder solche Abweichungen durch Betriebsvereinbarung oder Arbeitsvertrag zuzulassen.29 Damit wird das Prinzip des Arbeitsrechts als Arbeitnehmerschutzrecht zugunsten des Verhandlungsspielraums der Sozialpartner aufgegeben. Die Dispositivstellung des an sich zwingenden Teils des Gesetzes erfolgt in unterschiedlichen Spielarten und mit unterschiedlicher Reichweite. Daraus ergibt sich auch die oben bereits angedeutete Begriffsvielfalt. Denn diese resultiert aus einer unterschiedlichen Reichweite des umschriebenen Sachverhalts. 2. Tarifoffenes Gesetz Bei Gamillscheg findet sich die Bezeichnung „tarifoffenes Gesetz“.30 Damit erfasst Gamillscheg Gesetze, die „Abweichungen zu Lasten des Arbeitnehmers (nur) durch Tarifvertrag“ gestatten. Der Begriff „tarifoffen“ ergibt sich in Anlehnung an den Begriff der Öffnungsklausel. Das tarifdispositive Gesetzesrecht enthält eine solche für Tarifverträge, sodass gegen die Bezeichnung tarifoffenes Gesetz grundsätzlich nichts einzuwenden ist. 3. Zulassungsnormen Problematischer ist der Begriff der „Zulassungsnorm“. Unter diesen Begriff fallen gleich mehrere völlig unterschiedliche Typen von Normen. Ein Teil des Schrifttums verwendet den Begriff in der gleichen Bedeutung wie „tarifdispositiv“ oder „tarifoffen“. Zulassungsnormen sind nach diesem Verständnis solche gesetzlichen Vorschriften, die die Möglichkeit eröffnen, durch Tarifvertrag zulasten der Arbeitnehmer vom an sich zwingenden arbeitnehmerschützenden Gesetz abzuweichen.31 Gleichzeitig wird der Begriff Zulassungsnorm aber auch ver27 Henssler in: HWK, TVG, Einl. Rn. 27; Knorr, RdA 1979, 201; Stein, ArbuR 1998, 1 (7); Ulrici, JuS 2005, 1073 (1074); Wiedemann in: Wiedemann, TVG, Einl., Rn. 378. 28 Stein, ArbuR 1998, 1 (7); Wiedemann in: Wiedemann, TVG, Einl., Rn. 378. 29 Buschmann, FS Richardi, S. 93 (95); Franzen in: ErfK, § 1 TVG, Rn. 14; Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht, Bd. I, § 16 V 1. a), S. 698; Heither, NZA 2001, 1275; Henssler in: HWK, TVG, Einl., Rz. 27; Hromadka, FS Kissel, S. 417 (418); Knorr, RdA 1979, 201; Schüren/Zachert, AuR 1988, 245 ff.; Steinmeyer, BetrAV 2001, 727; Wiedemann in: Wiedemann, TVG, Einl., Rn. 387. 30 Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht, Bd. I, § 16 V 1. a), S. 698. 31 Oetker in: Wiedemann, TVG, § 3, Rn. 260; Schiek in: Däubler, TVG, Einl., Rn. 324; Waas, FS Birk, S. 899; synonym verwandt wird der Begriff von Müller-Glöge in: ErfK, § 622 BGB, Rn. 42; Säcker, ArbuR 1994, 1 (5); Stahlhacke, DB 1969, 1651.
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1. Kap.: Begriff und historische Entwicklung
wandt, um die Normen in Tarifverträgen zu bezeichnen, die den Betriebsverfassungsparteien oder den Parteien des Arbeitsvertrags gestatten, vom Tarifvertrag abweichende Regelungen zu treffen.32 Ebenso werden Normen in Tarifverträgen bezeichnet, die auf der tarifdispositiven Vorschrift des Gesetzes beruhen.33 Schließlich soll der Begriff Zulassungsnorm solche gesetzlichen Vorschriften bezeichnen, die den Tarifvertragsparteien ein Abweichen von Gesetzesvorschriften gestatten, die einer individualvertraglichen Regelung von vorneherein nicht zugänglich sind. Als Beispiel wird hier das Betriebsverfassungsrecht genannt.34 Alternativ wird als Zulassungsnorm eine gesetzliche Vorschrift bezeichnet, die den Tarifvertragsparteien gestattet, eine Abweichung vom zwingenden Gesetzesrecht durch Betriebsvereinbarung oder Arbeitsvertrag zuzulassen.35 Diese erhebliche Vielfalt an Definitionen zeigt, dass die Verwendung des Begriffs Zulassungsnorm nicht hilfreich ist und daher vermieden werden sollte. 4. Tarifdispositives Gesetzesrecht Schließlich finden sich im überwiegenden Teil der Literatur die Begriffe „tarifdispositives Gesetz“ oder „tarifdispositives Gesetzesrecht“.36 Wie gezeigt, könnte man ebenso gut im Sinne Gamillschegs von tarifoffenen Gesetzen sprechen. Indes hat sich in der Lehre, was auch von Gamillscheg eingeräumt wird, bei identischer Definition der Begriff tarifdispositives Gesetz durchgesetzt.37 Dieser Begriff stellt stärker auf die tradierte Trennung zwischen dispositivem und zwingendem Recht ab. Dies ist eine nachvollziehbare Anlehnung. Da mit dem Begriff „tarifoffenes Gesetz“ in der Sache nichts gewonnen und zudem auch nichts anderes gemeint ist, als mit dem Begriff des tarifdispositiven Gesetzes, soll hier der letztere Begriff verwandt werden. Hinzuweisen ist darauf, dass, soweit vom tarifdispositiven Gesetz die Rede ist, nicht gemeint ist, dass das gesamte Gesetz tarifdispositiv gestellt ist. Vielmehr dient der Begriff der Qualifizierung solcher Gesetze und Vorschriften, die tarifdispositive Regelungen enthalten. 32 Herschel, RdA 1969, 211; Peters/Ossenbühl, Die Übertragung von öffentlichrechtlichen Befugnissen auf die Sozialpartner unter besonderer Berücksichtigung des Arbeitszeitschutzes, S. 101; Richardi in: Richardi, BetrVG, § 77, Rn. 303. 33 MüArbR/Anzinger, § 298, Rn. 73; Knorr, RdA 1979, 201 (202); gegen diese Qualifizierung Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht, Bd. 1, § 16 V 1. a), S. 699 und Reim in: Däubler, TVG, § 1, Rn. 329 ff. 34 Wiedemann in: Wiedemann, TVG, Einl., Rn. 378. 35 Stein, ArbuR 1998, 1 (7). 36 Buschmann, FS Richardi, S. 93 (95); Coester, Vorrangprinzip des Tarifvertrags, S. 75; Franzen in: ErfK, § 1 TVG, Rn. 14; Kempen in: Kempen/Zachert, TVG, Grundl., Rn. 287; Knorr, RdA 1979, 201; Löwisch/Rieble, TVG, § 1, Rn. 333; Säcker/Oetker, Grundlagen und Grenzen der Tarifautonomie, S. 174; Schiek in: Däubler, TVG, Einl., Rn. 310; Wiedemann in: Wiedemann, TVG, § 1, Rn. 378; MüArbR/Anzinger, § 218, Rn. 102. 37 Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht, Bd. 1, § 16 V 1. a), S. 699.
B. Historische Entwicklung
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Terminologisch richtiger wäre daher die Verwendung des Begriffs des tarifdispositiven Gesetzesrechts. Dennoch ist der Begriff tarifdispositives Gesetz in der Literatur häufig anzutreffen, sodass die Darstellung nicht ohne den Begriff auskommen wird. Die Arbeit wird sich ansonsten des Terminus des tarifdispositiven Gesetzesrechts bedienen. Dies ist dem mittlerweile gefestigten Sprachgebrauch geschuldet.38 5. Ergebnis Gestattet ein Gesetz eine Abweichung vom gesetzlichen Mindeststandard zulasten der Arbeitnehmer durch einen Tarifvertrag oder aufgrund der Zulassung von abweichenden Vereinbarungen durch einen Tarifvertrag, so ist dieses tarifdispositiv. Im weiteren Verlauf der Arbeit wird ausschließlich dieser Begriff verwandt.
B. Historische Entwicklung Tarifdispositives Gesetzesrecht ist in den letzten Jahren durch die arbeitsrechtliche Gesetzgebung verstärkt genutzt worden.39 Dennoch reicht seine Geschichte in Deutschland fast bis zu den Anfängen des kodifizierten Tarifvertragsrechts zurück.
I. Die Entwicklung tarifdispositiven Rechts bis 1945 Mit Inkrafttreten des § 152 Abs. 1 der Gewerbeordnung des Norddeutschen Bundes am 21. Juni 1869 wurde zum ersten Mal das Verbot der ,„Verabredungen [. . .] zum Behufe der Erlangung günstigerer Lohn- und Arbeitsbedingungen“ aufgehoben. Gleichzeitig ordnete § 152 der Gewerbeordnung aber in Abs. 2 die Unverbindlichkeit der getroffenen Absprachen an. Darüber hinaus wurden in § 153 der Gewerbeordnung die Druckausübung auf Außenseiter und Streikbrecher sowie deren Ehrverletzung unter Strafe gestellt.40 § 152 Gewerbeordnung wurde mit Bekanntmachung vom 26.7.1900 in die Gewerbeordnung für das Deutsche Reich übernommen. Die Anerkennung der Koalitionsfreiheit führte indes nicht zu einer toleranteren Haltung des Staates gegenüber dem Instrument des Tarifvertrags oder der Koalitionen. Vielmehr bediente sich der Staat des Vereinsrechts und später des Sozialistengesetzes, um die gewerkschaftliche Betätigung zu behindern.41 Dennoch gelang es den Gewerkschaften, in zunehmendem Maße Ta38
Mit dieser Begründung auch: Kempen in: Kempen/Zachert-TVG, Grundl., Rn. 287. Wiedemann in: Wiedemann, TVG, Einl., Rn. 380. 40 Konzen, ZfA 1991, 379 (381). 41 Kittner, Arbeitskampf, S. 263 f.; vgl. zur historischen Entwicklung auch unten 3. Kap. B. 39
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1. Kap.: Begriff und historische Entwicklung
rifverträge abzuschließen.42 Problematisch war jedoch die Rechtsprechung des Reichsgerichts in Strafsachen. Dessen Einordnung des Tarifvertrags als „Verabredung“ i. S. d. § 152 Abs. 2 Gewerbeordnung führte dazu, dass die Tarifverträge keinerlei Verbindlichkeit besaßen.43 Diese Rechtsprechung wurde von den Zivilsenaten des Reichsgerichts nicht geteilt. Diese gingen davon aus, dass Tarifverträge dem allgemeinen Vertragsrecht unterfielen.44 Allerdings war es auch nach der insoweit erfolgten Teilanerkennung des Tarifvertrags weiterhin möglich, den Tarifvertrag einzelvertraglich zu unterlaufen.45 Sinzheimer unternahm den Versuch, über die „Verbandstheorie“ eine verbindliche Wirkung des Tarifvertrags zu konstruieren, die es den Arbeitsvertragsparteien verwehren sollte, nach unten abzuweichen.46 Dieser Ansatz konnte sich allerdings auch aufgrund seiner mangelnden gesetzlichen Verankerung nicht durchsetzen. Den Gewerkschaften gelang es bis zum Ende des ersten Weltkriegs nicht, Tarifverträge in der Großindustrie abzuschließen. Schwerindustrie und die Zukunftsbereiche Chemie, Elektroindustrie und Maschinenbau waren gänzlich tariffrei. Das Fehlen von Tarifverträgen war Ausdruck der Schwäche der Gewerkschaften in diesem Bereich.47 Dies änderte sich erst mit der Novemberrevolution. Aus Angst vor weitergehenden Umwälzungen zeigten sich die Arbeitgeber verhandlungsbereit. Dies mündete im Stinnes-Legien-Abkommen vom 15.11.191848. Darin erkannten die Arbeitgeber die Gewerkschaften als die „berufenen Vertreter der Arbeitnehmer“ an. Neben anderen Grundforderungen der Gewerkschaften wie der Sicherung der Koalitionsfreiheit, der Nichtunterstützung gelber Gewerkschaften durch die Arbeitgeber und der Einführung des 8-Stunden-Tages wurde der Abschluss von Tarifverträgen für alle Wirtschaftszweige vereinbart.49 Das Verhandlungsergebnis wurde zur Grundlage des Arbeitsrechts der Weimarer Republik.50 Wenige Wochen nach Abschluss des Stinnes-Legien-Abkommens verabschiedete der Rat der Volksbeauftragten am 23.12.1918 die „Verordnung über Tarifverträge, Arbeiterund Angestelltenausschüsse und Schlichtung von Arbeitsstreitigkeiten“.51 Diese erkannte in § 1 die unmittelbare und zwingende Wirkung des Tarifvertrags sowie das Günstigkeitsprinzip an.52
42 43 44 45 46 47 48 49 50 51
Däubler in: Däubler, TVG, Einl., Rn. 24; Kittner, Arbeitskampf, S. 370. RG vom 30.4.1903, RGSt 36, 236 (240). RG vom 20.1.1910, RGZ 73, 92 ff.; vgl. hierzu Kittner, Arbeitskampf, S. 371 f. Kittner, Arbeitskampf, S. 372; Wiedemann in: Wiedemann, TVG, Geschichte, Rn. 3. Sinzheimer, Der korporative Arbeitsnormenvertrag, Zweiter Teil, S. 54 ff. Kittner, Arbeitskampf, S. 378 ff. Abgedruckt bei Kittner, Arbeitskampf, S. 400. RAbl. 1918, 874. Ramm, ZfA 1988, 157 (158). RGBl. 1918, 1456.
B. Historische Entwicklung
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Bereits vor der Verordnung über Tarifverträge war am 23.11.1918, ergänzt am 17.12.1918, die Verordnung zur Regelung der Arbeitszeit gewerblicher Arbeiter erlassen worden.53 Diese legte bereits die Grundkoordinate des deutschen Arbeitszeitrechts fest, die bis ins Arbeitszeitgesetz in der heutigen Fassung fortbesteht: Den Grundsatz des 8-Stunden-Tages. Die Regelung wurde am 18.3.1919 auch auf Angestellte erstreckt.54 Allerdings war in der Verordnung ein „Hintertürchen“ für den Gesetzgeber offen gelassen. Der 8-Stunden-Tag sollte erst dann dauerhaft eingeführt werden, wenn dieser „für alle Kulturländer durch internationale Vereinbarungen festgesetzt“ worden war. Dies geschah durch das „Washingtoner Abkommen über die Begrenzung der Arbeitszeit in gewerblichen Betrieben auf acht Stunden täglich und achtundvierzig Stunden wöchentlich“.55 Allerdings wurde dieses im Rahmen der Friedensverhandlungen geschlossene Abkommen von den meisten Industrienationen nicht ratifiziert. Die Verordnungen über die Arbeitszeit waren bereits von zahlreichen Ausnahmeregelungen zur Verlängerung der Arbeitszeit durchsetzt. Für das tarifdispositive Recht von besonderem Interesse ist § 7 der „Verordnung über die Regelung der Arbeitszeit der Angestellten während der Zeit der wirtschaftlichen Demobilmachung“56. Dieser lautet: „Abweichend von den Bestimmungen der §§ 1 bis 3 und 5 kann durch Tarifvertrag eine anderweitige Regelung der Arbeitszeit getroffen werden. Insbesondere kann durch Tarifvertrag vereinbart werden, dass an die Stelle der achtstündigen Tagesarbeitszeit die achtundvierzigstündige werktätige Wochenarbeitszeit oder die sechsundneunzigstündige werktätige Doppelwochenarbeitszeit tritt. Die Zahl der durch Tarifvertrag zugelassenen Überarbeitstage darf höchstens dreißig im Jahre betragen, sofern nicht durch Festlegung von ganz oder teilweise freien Tagen oder verkürzter Arbeitsdauer zu bestimmten Jahreszeiten für Ausgleich der Überstunden gesorgt wird.“
Dies war die „Geburtsstunde“57 des tarifdispositiven Rechts, auch wenn es noch in sehr begrenztem Umfang (30 Tage) geschaffen worden war. An der Vorschrift wird deutlich, dass der Kampf um den 8-Stunden-Tag mit der Verordnung zur Regelung der Arbeitszeit nicht beendet war. Die Arbeitgeber suchten alsbald nach Wegen, die gesetzliche Regelung des 8-Stunden-Tages auszuhebeln. Der Konflikt um den 8-Stunden-Tag reichte dabei weit über Fragen des Gesundheits-
52 Abgedruckt bei Kittner, Arbeitskampf, S. 408; vgl. zur Entwicklung des Tarifrechts in der Weimarer Republik auch unten 3. Kap. B. II. 53 RGBl. 1918, 1334, 1436. 54 RGBl. 1919, 315. 55 Ausführlich hierzu Bischoff, Arbeitszeitrecht in der Weimarer Republik, S. 42 ff. 56 RGBl. 1919, 315. 57 Bock, Tarifdispositives Arbeitnehmerschutzrecht und Tarifautonomie, S. 49.
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1. Kap.: Begriff und historische Entwicklung
schutzes oder der Interessen an flexiblen Produktionsbedingungen hinaus.58 Der 8-Stunden-Tag war Symbol der Errungenschaften der Novemberrevolution und wurde von den sie tragenden politischen Kräften daher vehement verteidigt.59 Für die Arbeitgeberseite war seine Abschaffung in erster Linie ein Mittel, um die wirtschaftlichen und politischen Machtverhältnisse der Vorkriegszeit wiederherzustellen.60 Insofern besaß die Frage symbolischen Charakter. Bereits auf Basis der Verordnungen über die Arbeitszeit gab es massive Arbeitskämpfe, die in den Jahren ab 1922 bereits zu Verlängerungen der Arbeitszeit in der Metallindustrie führten. Die Dimensionen der Arbeitskämpfe zeigen sich an der Zahl der beteiligten Arbeitnehmer. So wurden in Süddeutschland in der Metallindustrie über 200.000 Arbeitnehmer ausgesperrt und von Arbeitgeberseite mit der Vollaussperrung bedroht.61 Diese Konfliktlage führte zur Entstehung des tarifdispositiven Gesetzesrechts. Zwar war bereits in der Verordnung über den 8-Stunden-Tag für die Angestellten eine Ausnahmeregelung zur Überschreitung der Höchstarbeitszeit aufgrund Tarifvertrages enthalten. Auch der 8-Stunden-Tag an sich wurde zur Disposition der Tarifvertragsparteien gestellt, die diesen durch eine Wochenarbeitszeit von 48 Stunden, bzw. eine Doppelwochenarbeitszeit von 96 Stunden ersetzen konnten. Diese partiellen Angriffsmöglichkeiten auf den 8-Stunden-Tag wurden jedoch nunmehr zum generellen gesetzlichen Instrument erhoben, um ihn auszuhebeln. Dabei ist von Interesse, dass die Arbeitgeberseite neben der generellen Ablehnung gesetzlicher Regelungen zur Arbeitszeit immer wieder um eine weitgehende Tarifdispositivität der Arbeitszeitregelungen kämpfte, obwohl sie das Instrument des Tarifvertrags lange Zeit abgelehnt hatte.62 Dies lag maßgeblich daran, dass sich die Arbeitgeberseite durch arbeitgeberfreundliche gelbe Gewerkschaften oder zum Zweck der Vereinbarung von Tarifverträgen zur Arbeitszeitverlängerung gegründeten Werkvereine in der Lage sah, den Tarifvertrag als Instrument zur Beseitigung des gesetzlichen Mindeststandards zu nutzen.63 Die Verordnungen über die Arbeitszeit bedurften regelmäßig der Verlängerung. Sie waren als Übergangsregelungen für die unmittelbare Nachkriegszeit konzipiert und sollten lediglich den geordneten Übergang zu einer gesetzlichen 58 Bischoff, Arbeitszeitrecht in der Weimarer Republik, S. 53 ff.; dies macht deutlich, dass das Argument, die veränderten wirtschaftlichen Rahmenbedingungen erforderten eine flexiblere Gestaltung der Arbeitszeit, nicht auf veränderten Rahmenbedingungen beruht, sondern ein „zeitloser Stereotyp“ ist. 59 Bischoff, Arbeitszeitrecht in der Weimarer Republik, S. 80. 60 Bischoff, Arbeitszeitrecht in der Weimarer Republik, S. 106; Leuchten, Achtstundentag, S. 52 ff.; Tietje, Grundfragen des Arbeitszeitrechts, S. 33. 61 Kittner, Arbeitskampf, S. 476. 62 Vgl. dazu Bischoff, Arbeitszeitrecht in der Weimarer Republik, S. 74, 105 f. 63 Buschmann, FS Richardi, S. 93 (96); Matthes, ArbuR 1963, 367 (369); zur Bedeutung der Tariffähigkeitsrechtsprechung in diesem Zusammenhang siehe unten 6. Kap. A.
B. Historische Entwicklung
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Regelung gewährleisten.64 Solange die Verlängerungen aber regelmäßig erfolgten, verlief eine dauerhafte gesetzliche Regelung im Sande. Erst nachdem das erste Kabinett Stresemann am 3.10.1923 am Streit um die Arbeitszeitfrage zerbrochen war und die Arbeitgeber sowohl über das gesetzliche Mindestmaß hinausgehende Tarifverträge als auch den gesetzlichen Mindeststandard selbst missachteten65, war die politische Lage derart aufgeheizt, dass eine Verlängerung zunächst unterblieb. Dies traf mit massiven wirtschaftlichen Problemen, die durch einen Produktionsrückgang der Steinkohleförderung mitverursacht waren, zusammen.66 Die Konsequenz war eine partielle Anarchie im Arbeitszeitrecht. Nachdem die sogenannten Demobilmachungsverordnungen am 27.10.1923 letztmalig verlängert worden waren, liefen sie am 17.11.1923 aus. Damit trat, soweit keine Tarifbindung bestand, bei der täglichen Arbeitszeit ein regelungsloser Zustand ein.67 Dieser wurde von den Arbeitgebern genutzt, um längere Arbeitszeiten durchzusetzen.68 Nachdem der zweiten Regierung Stresemann vom Reichstag das Vertrauen entzogen worden war, erließ die bürgerliche Minderheitsregierung von Reichskanzler Marx am 21.12.1923 die Arbeitszeitverordnung (AZVO)69. Diese trat am 1.1.1924 in Kraft. Die Arbeitszeitverordnung hat Kittner als „die institutionelle Grundlage“ zur Ablösung des Achtstundentages beschrieben.70 Die AZVO sah zwar weiterhin den Grundsatz des 8-Stunden-Tages vor. Von diesem konnte jedoch durch Tarifvertrag, Genehmigung der Gewerbeaufsicht und für 30 Tage sogar durch Ausübung des Direktionsrechts durch den Arbeitgeber abgewichen werden. Daneben wurde er durch weitere Ausnahmeregelungen durchbrochen, die eine Erhöhung der täglichen Arbeitszeit auf bis zu 10 Stunden zuließen. Kernstück des Gesetzes war § 5 Abs. 1 AZVO. Dieser gestattete die Überschreitung der Arbeitszeithöchstgrenzen der AZVO durch Tarifvertrag71: „Wird durch Tarifvertrag die Arbeitszeit über die im § 1 Satz 2 und 3 festgelegten Grenzen ausgedehnt, so gelten für die Beschäftigung der Arbeitnehmer, für die der Tarifvertrag verbindlich ist, dessen Bestimmungen an Stelle der Vorschriften des § 1.“
§ 5 Abs. 1 AZVO wurde eingeschränkt durch § 9 AZVO, nach dem eine Verlängerung nur auf bis zu 10 Stunden täglich zulässig war. Daneben trat die Möglichkeit der Verlängerung der täglichen Arbeitszeit bei Arbeitsbereitschaft (§ 2 64
Bischoff, Arbeitszeitrecht in der Weimarer Republik, S. 33. Bischoff, Arbeitszeitrecht in der Weimarer Republik, S. 83 ff. 66 Bischoff, Arbeitszeitrecht in der Weimarer Republik, S. 76. 67 Tietje, Grundfragen des Arbeitszeitrechts, S. 34. 68 Tietje, Grundfragen des Arbeitszeitrechts, S. 34; Bischoff, Arbeitszeitrecht in der Weimarer Republik, S. 94 (99). 69 RGBl. 1923, 1249 ff. 70 Kittner, Arbeitskampf, S. 476. 71 Vgl. dazu Matthes, ArbuR 1963, 367 ff. 65
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1. Kap.: Begriff und historische Entwicklung
AZVO). Um den schnelleren Gebrauch von den neuen Vorschriften zu ermöglichen, wurde in § 12 AZVO nicht nur ein Sonderkündigungsrecht von 30 Tagen für alte Tarifverträge geschaffen, die geringere Höchstarbeitszeiten vorsahen, als nunmehr zulässig war. Darüber hinaus wurde den Arbeitgebern gestattet, Arbeitsverträge mit einer günstigeren Arbeitszeitregelung als der nunmehr im Gesetz verankerten mit derselben Frist zu kündigen. Durch die vielfältigen Ausnahmeregelungen wurde die Mehrarbeit schnell zum Regelfall.72 Verschärft wurde die gesetzliche Regelung durch eine Besonderheit des Tarifvertragsrechts der damaligen Zeit: das System der Zwangsschlichtung. Dieses folgte vereinfacht folgendem Grundprinzip: Wurde der Spruch einer von einer der Tarifvertragsparteien angerufenen staatlichen Schlichtungsstelle nicht von beiden Parteien akzeptiert, konnte er durch die Schlichtungsbehörde, i. d. R. dem Vorsitzenden der Schlichtungsstelle, für verbindlich erklärt werden und damit die Wirkung eines in freien Verhandlungen erzielten Tarifvertrages erlangen.73 Diese Möglichkeit der Zwangsschlichtung war in der ursprünglichen Fassung der Tarifvertragsverordnung vom 23.12.1918 noch nicht enthalten. Sie wurde erst nach einer breiten Streikwelle im Jahre 1919 durch die Demobilmachungsverordnung vom 3.9.1919 eingeführt74, welche in der „Verordnung über das Schlichtungswesen“ vom 30.10.1923 aufging.75 Diese begrenzte zwar die nahezu uferlosen Befugnisse der Demobilmachungsverordnung. Jedoch blieb die Möglichkeit zur Zwangsschlichtung erhalten (§ 6 Abs. 1 SchlVO). Darüber hinaus wurde dem Vorsitzenden der Schlichtungsstelle, soweit keine Mehrheit für einen Schiedsspruch zustande kam, ein Letztendscheidungsrecht zugebilligt (§ 21 Abs. 6 SchlVO). Zwar konnten die Sozialpartner den Schlichtungsspruch ablehnen. In diesem Fall griff aber die Möglichkeit der Zwangsschlichtung durch den Schlichter ein.76 Damit war faktisch ausgeschlossen, dass bei einer Tarifauseinandersetzung kein Tarifvertrag und damit keine tarifliche Arbeitszeitregelung zustande kam.77 Die Zwangsschlichtung wurde in den Folgejahren zunehmend zur staatlichen Steuerung von Lohnhöhe und Arbeitszeit genutzt.78 Von besonderer Bedeutung war, dass ein Streik nach einem solchen Schiedsspruch rechtswidrig wurde. Um längere Arbeitszeiten durchzusetzen, beschritten die Arbeitgeber nunmehr häufig den Weg in die Schlichtung. Dabei reichte oft bereits die drohende Verbindlicherklärung des Schiedsspruchs durch den Schlichter, um die Gewerkschaften zum Abschluss verschlechternder Tarifverträge zu drängen.79 72 73 74 75 76 77 78 79
Bischoff, Arbeitszeitrecht in der Weimarer Republik, S. 101. Kittner, Arbeitskampf, S. 454. Abgedruckt in Auszügen bei Kittner, Arbeitskampf, S. 456 f. RGBl. 1923, 1043; zitierte §§ abgedruckt bei Kittner, Arbeitskampf, S. 459 f. Tietje, Grundfragen des Arbeitszeitrechts, S. 36 f. Bischoff, Arbeitszeitrecht in der Weimarer Republik, S. 102. Bischoff, Arbeitszeitrecht in der Weimarer Republik, S. 95 f. Kittner, Arbeitskampf, S. 476.
B. Historische Entwicklung
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Mit dieser gesetzlichen Lage ging eine weitere für die Gewerkschaften fatale Entwicklung einher. Durch die Hyperinflation waren nicht nur die Streikkassen der Gewerkschaften zusammengeschmolzen, sondern sie verloren in den Jahren 1922 bis 1924 auch nahezu die Hälfte ihrer Mitglieder.80 Demgegenüber beschäftigten während der Weimarer Zeit die Mitglieder der Arbeitgeberverbände im Durchschnitt ca. 80% aller deutschen Arbeitnehmer.81 Gleichzeitig wurde über Absprachen zur wechselseitigen Unterstützung bei Arbeitskämpfen das Arbeitskampfrisiko für die Arbeitgeberseite gering. Nunmehr trafen also drei Elemente zusammen: erstens die massive organisatorische Schwäche der Gewerkschaften, die finanziell überlegenen Arbeitgeberverbänden gegenüber standen. Zweitens wurde durch Flexibilisierungsmaßnahmen des Gesetzgebers die Verhandlungsmasse der Tarifvertragsparteien um gesetzliche Mindeststandards erweitert. Und drittens konnte der Gesetzgeber über die Zwangsschlichtung regelnd auf die Inhalte der Arbeitsbedingungen Einfluss nehmen. Auch wenn die Arbeitgeberverbände der Zwangsschlichtung generell kritisch gegenüber standen, so nutzten sie sie doch zunächst einmal, um die Arbeitszeiten zu verlängern.82 Dieser Kampf der Arbeitgeber um längere Arbeitszeiten resultierte nicht nur im bis heute größten Tarifarbeitskampf der deutschen Geschichte. Das Jahr 1924 insgesamt ging als „Jahr des Arbeitskampfes“ in die deutsche Geschichte ein. Höhepunkt war die Aussperrung von 500.000 Bergarbeitern während Arbeitskämpfen im Mai 1924.83 Mittels der Kombination von Arbeitskampf und Schlichtung, sowie der sonstigen Abweichungsbefugnisse der AZVO wurde im Jahr 1924 die durchschnittliche wöchentliche Arbeitszeit auf 50 Stunden erhöht.84 Dies macht den Stellenwert der tarifdispositiven Regelung in § 5 Abs. 1 AZVO deutlich. Sie ermöglichte eine durchschnittliche wöchentliche Arbeitszeit, die über dem lag, was nach der AZVO an sich als absolute Höchstgrenze der Arbeitszeit angelegt war. Die Mehrarbeit wurde zur Regel.85 Die Eisen- und Stahlindustrie kam sogar auf 58–60 Stunden durchschnittliche Wochenarbeitszeit.86 Für über 70% der arbeitenden Bevölkerung bestand damit 1924 die achtstündige Normalarbeitszeit nur noch auf dem Papier. Dieses Resultat, das der Intention des Gesetzgebers entsprach, durch Verlängerung der Arbeitszeit die Wirtschaft zu fördern87, zeigt die ur80 Bischoff, Arbeitszeitrecht in der Weimarer Republik, S. 85; Kittner, Arbeitskampf, S. 463. 81 Kittner, Arbeitskampf, S. 466. 82 Kittner, Arbeitskampf, S. 468 (475 ff.). 83 Verbreitet „Maistreik“ genannt; dazu: Kittner, Arbeitskampf, S. 477. 84 Kittner, Arbeitskampf, S. 479. 85 Bischoff, Arbeitszeitrecht in der Weimarer Republik, S. 101. 86 Kittner, Arbeitskampf, S. 479. 87 Tietje, Grundfragen des Arbeitszeitrechts, S. 37.
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1. Kap.: Begriff und historische Entwicklung
sprüngliche Zielrichtung des tarifdispositiven Gesetzesrechts, welches die Abweichung vom zwingenden Gesetzesrecht „nach unten“ gestattet: den Abbau von sozialen Standards bei formaler Aufrechterhaltung des gesetzlichen Mindestschutzes. Die tarifdispositive Regelung der AZVO wurde weder durch das Arbeitszeitnotgesetz vom 14.4.192788 noch durch die „2. Notverordnung des Reichspräsidenten zur Sicherung von Wirtschaft und Finanzen“ vom 5.6.193189 abgeschafft. Abgesehen von einer weiteren Einschränkungsmöglichkeit für den Gebrauch von § 5 AZVO durch die Verwaltung, von der in der Praxis – auf Druck der Arbeitgeber – nie Gebrauch gemacht wurde, blieb sie unverändert.90 Mit Gesetz vom 16.7.1927 wurde auch die Verordnung über die Arbeitszeit in den Bäckereien und Konditoreien mit einer Tariföffnungsklausel ausgestattet.91 In der Zeit des Nationalsozialismus wurde die AZVO durch die am 26.6.1934 verabschiedete Arbeitszeitordnung (AZO) abgelöst.92 Bedingt durch die Abschaffung des Tarifvertrags als Regelungsinstrument und seine Ersetzung durch die sogenannte Tarifordnung, wurde § 5 AZVO angepasst und in den neuen § 7 AZO überführt. Die AZO wurde 1938 neu gefasst, wobei die „tarifdispositive“ Regelung in ihrem neuen Gewand nicht angetastet wurde, auch wenn sich die Zulassung von täglichen Arbeitszeiten über 8 Stunden durch Tarifordnung nunmehr auf die regelmäßige Arbeitszeit beschränkte (§ 7 Abs. 1 AZO 1938).93 Die AZO wurde während des Krieges weitestgehend außer Kraft gesetzt.94 Ihre eigentliche Wirkung entfaltete sie erst in der Nachkriegszeit. Sie erlangte nach dem Krieg erneut Geltung95 und galt gemäß Art. 123 Abs. 1, 125 GG als vorkonstitutionelles Bundesrecht fort.96 Nach ganz herrschender Meinung erstreckte sich die Weitergeltung auch auf § 7 Abs. 1 AZO, wobei der von diesem weiterhin verwandte Terminus Tarifordnung nunmehr wie Tarifvertrag gelesen wurde.97 Die Regelungen zur Arbeitszeit blieben nicht die einzigen tarifdispositiven Vorschriften, die in der Weimarer Republik geschaffen wurden. Die 192698 ein88
RGBl. 1927, 109 ff. RGBl. 1931, 279. 90 Scharf, Geschichte der Arbeitszeitverkürzung, S. 548; Tietje, Grundfragen des Arbeitszeitrechts, S. 40. 91 RGBl. 1927 I, 183; vgl. Tietje, Grundfragen des Arbeitszeitrechts, S. 35 f. 92 RGBl. 1934, 803; Matthes, ArbuR 1963, 367 (370). 93 Matthes, ArbuR 1963, 367 (370). 94 Neumann/Biebl, ArbZG, Einl., Rn. 7. 95 Dazu Neumann/Biebl, ArbZG, Einl., Rn. 7. 96 BVerfG 20.5.1952, BVerfGE 1, 283 (293); BAG 14.4.1966, JZ 1967, 538 (539); Zmarzlik, AZO, Einl. III., S. 32; zu weiteren Frage der Fortgeltung vgl. Neumann/Biebl, ArbZG, Einl., Rn. 8; Tietje, Grundfragen des Arbeitszeitrechts, S. 48. 97 Zmarzlik, AZO, § 7, Rn. 3, m.w. N.; kritisch hierzu: Matthes, ArbuR 1963, 367 ff. 98 RGBl. 1926, 507. 89
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geführten §§ 48 Abs. 2 und 91 Abs. 1 ArbGG99 enthielten zwar eine tarifdispositive Regelung, stellten aber im Gegensatz zu § 5 AZVO „neutrale“ tarifdispositive Vorschriften dar. Eine Abweichung vom gesetzlichen Mindeststandard wurde hier nicht gestattet. Die Tarifvertragsparteien erhielten lediglich die Befugnis, für Streitigkeiten aus und über Lehr- und Arbeitsverhältnisse die örtliche Zuständigkeit abweichend vom Gesetz zu regeln.
II. Die Entwicklung nach 1945 In den sechziger Jahren schuf der Gesetzgeber eine weitere tarifdispositive Regelung in § 13 BUrlG.100 Das Urlaubsrecht war lange Zeit gesetzlich nicht geregelt.101 Ansprüche auf Urlaub waren zuvor weitestgehend nur durch einzelvertragliche Vereinbarungen und nach dem ersten Weltkrieg vermehrt durch Tarifvertrag begründet worden.102 In enormem Tempo nahmen Bestimmungen von Urlaub in Tarifverträgen zu, sodass bereits im Jahr 1927 90% aller tarifgebundenen Arbeitnehmer und Angestellten einen tarifvertraglichen Anspruch auf Urlaub hatten.103 Erst nach dem Zweiten Weltkrieg begannen zunächst die Länder und später der Bund mit der gesetzlichen Regelung von Urlaubsansprüchen.104 Die Länder sahen dabei in der Regel einen unabdingbaren Anspruch auf Erholungsurlaub vor. Allerdings stellten sie die übrigen Regelungen des Urlaubsrechts weitestgehend tarifdispositiv.105 Dies geschah mit Blick auf die Tradition der Festlegung des Urlaubs durch die Tarifvertragsparteien. Mit Beginn des Gesetzgebungsverfahrens zum Bundesurlaubsgesetz brandete Entrüstung aufseiten der Sozialpartner auf, weil diese darin einen Eingriff in die Tarifautonomie und eine ihrer klassischen Aufgaben sahen.106 Diese Bedenken sollte § 13 des „Gesetz[es]
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Letzterer entspricht heute § 101 Abs. 2 ArbGG. BGBl. I 1963, 2. 101 Wolff, Das Bundesurlaubsgesetz und Tarifverträge, S. 1. 102 Boldt, FS Nipperdey II, 11 (13 ff.); Leinemann/Linck, BUrlG, Einl., Rn. 9; Wolff, Das Bundesurlaubsgesetz und Tarifverträge, S. 1. 103 Übersicht hierzu bei Boldt, FS Nipperdey II, 11 (13 ff.). 104 Wolff, Das Bundesurlaubsgesetz und Tarifverträge, S. 1. 105 § 3 Abs. 2 S. 2 UrlG BW (Wartezeiten); Art. 9 Abs. 3 UrlG i.V. m. Ziff. 14 DVO, sowie Art. 10 Abs. 3 i.V. m. Ziff. 18 DVO BY (Wartezeiten; Urlaubsentgeltberechnung); §§ 7, 13 UrlG Berlin (Urlaubsmarkensystem; Bezugnahme auf TV für die Entgeltberechnung); § 3 Abs. 3 UrlG HE (Wartezeit); § 5 S. 1 UrlG Nds (Urlaubsentgeltberechnung); § 10 Abs. 2 UrlG NW (Urlaubsjahr; Wartezeit; Berechnung des Urlaubs und des Urlaubsentgelts); § 12 Abs. 2 UrlG SH, der die §§ 4–10 UrlG tarifdispositiv stellte (Urlaubsjahr; Wartezeit; Art der Urlaubsgewährung; Urlaubsentgelt; Verbot der Urlaubsarbeit; zeitliche Festlegung des Urlaubs; Krankheit während des Urlaubs). Am weitesten ging das Land Berlin: § 6 UrlG Berlin legte einen generellen Tarifvorrang fest; vgl. dazu ausführlich Wolff, Das Bundesurlaubsgesetz und Tarifverträge, S. 8 f. 106 Wolff, Das Bundesurlaubsgesetz und Tarifverträge, S. 5. 100
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über den Mindesturlaub für Arbeitnehmer (Bundesurlaubsgesetz)“ vom 8.1. 1963107 ausräumen. Dabei wurde eine bemerkenswerte Kompromisslösung gefunden, die sich deutlich von der späteren Praxis (s. u.) des Gesetzgebers bei der Schaffung tarifdispositiven Rechts unterscheidet. Die Tarifvertragsparteien erhielten durch § 13 BUrlG die Befugnis, „mit Ausnahme der §§ 1, 2 und 3 Abs. 1“ vom Gesetz abzuweichen. Die §§ 1, 2 und 3 Abs. 1 umfassen aber den Kern der arbeitnehmerschützenden Regelungen108: Den Grundsatz des Anspruchs auf bezahlten Urlaubs (§ 1 BUrlG), den Geltungsbereich (§ 2 BUrlG) und den Mindesturlaub (§ 3 Abs. 1). Damit wurden die wesentlichen Grundsätze des gesetzlichen Urlaubsrechts einer Verschlechterung durch Tarifvertrag entzogen.109 Die gesetzliche Konstruktion ist dennoch geprägt von einem Verständnis, das den Spielraum der tarifvertraglichen Regelungsbefugnis weit fasst. Denn die unabdingbaren Vorschriften werden ausdrücklich festgelegt, das „Drum und Dran“110 können die Tarifvertragsparteien frei gestalten. Spätere tarifdispositive Gesetze beschreiten einen anderen Weg. Sie legen fest, von welchen Vorschriften abgewichen werden kann (vgl. z. B. § 7 ArbZG), während das BUrlG demgegenüber festlegt, welche Vorschriften „tariffest“ sind. Den Tarifvertragsparteien wird aber die weitere Ausgestaltung der Modalitäten der Gewährung des Anspruchs überlassen und damit zugunsten der Tarifvertragspartien Zurückhaltung geübt. Von Bedeutung für die Entwicklung des tarifdispositiven Rechts war, dass § 13 Abs. 1 S. 2 BUrlG erstmals ausdrücklich die Möglichkeit schuf, die tariflichen Regelungen, die auf Basis der tarifdispositiven Vorschriften vereinbart worden waren, auf Außenseiter zu erstrecken.111 Hintergrund und Problematik dieser abgestuften Regelungsbefugnis hat Boldt in beeindruckender Weise vorhergesehen: „Wenn auch gegenwärtig im Hinblick auf die Lage des Arbeitsmarktes und die allgemeine Wirtschaftslage die Gefahr einer Entwertung des Bundesurlaubsgesetzes als Arbeitnehmerschutzgesetz sicherlich nicht groß ist, so muss doch in Betracht gezogen werden, daß die künftige Entwicklung, namentlich bei Eintritt wirtschaftlicher Krisensituationen oder auch nur [!] bei einem Absinken der Vollbeschäftigung, nicht vorauszusehen ist.“112
Damit ist das Zusammenspiel von Verhandlungsparität und Tarifdispositivität analytisch erfasst.113 Die Bedeutung dieser Erkenntnis erschließt sich anhand der
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BGBl. I 1963, 2. Neumann/Fenski, BurlG, § 13 Rn. 2, nennen diese Vorschriften die „Grundnormen“ des BUrlG. 109 Hagemeier, ArbuR 1985, 144 (145). 110 Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht, Bd. 1, S. 702. 111 Bock, Tarifdispositives Arbeitnehmerschutzrecht und Tarifautonomie, S. 52. 112 Boldt, FS Nipperdey II, S. 11 (17, Fn. 24). 113 Vgl. hierzu unten 6. Kap. 108
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erheblichen Funktionsstörungen der Tarifautonomie, wie sie sich gegenwärtig in der Leiharbeit zeigen.114 Nunmehr begann sich das Konzept tarifdispositiven Rechts mehr und mehr zu etablieren.115 Mit § 2 Abs. 3 Lohnfortzahlungsgesetz (LFZG) ermöglichte der Gesetzgeber den Tarifvertragsparteien, die Berechnungsmethode des fortzuzahlenden Entgelts weitgehend eigenständig festzulegen. Art. 1 des Gesetzes „über die Fortzahlung des Entgelts im Krankheitsfalle und über die Änderung des Rechts der gesetzlichen Krankenversicherung“ vom 27.6.1969116, in dem das LFZG enthalten war, trat am 1.1.1970 in Kraft. Das Gesetz beendete die über Jahrzehnte andauernde Auseinandersetzung über die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall.117 Hintergrund der Schaffung des § 2 Abs. 3 LFZG dürfte der Konflikt zwischen SPD und CDU über die Frage gewesen sein, ob die Lohnfortzahlung nach dem Lohnausfallprinzip oder dem Referenzprinzip berechnet werden sollte. Die CDU konnte sich durchsetzen, sodass das Lohnausfallprinzip im Gesetz verankert wurde. § 2 Abs. 3 LFZG ermöglichte es aber den Tarifvertragsparteien, die Referenzmethode einzuführen, sodass die Vorschrift letztendlich eher einen politischen Konflikt entschärfte. Praktische Erwägungen118 standen mithin nicht im Vordergrund.119 Die Tarifdispositivität des § 2 Abs. 3 LFZG war – soweit ersichtlich – kein Streitpunkt bei der Einführung des Gesetzes. Sie bezog sich nur auf einen begrenzten Bereich. Die Regelung sollte lediglich ermöglichen, eine Abweichung hinsichtlich der Berechnungsmethode des Arbeitsentgelts vorzunehmen, nicht jedoch einzelne Entgeltbestandteile aus der Berechnung herauszunehmen.120 Eine weitere tarifdispositive Vorschrift stellte der mit dem ersten Arbeitsrechtsbereinigungsgesetz vom 14.8.1969 eingeführte § 622 Abs. 3 BGB dar.121 Dieser eröffnete die Möglichkeit, durch Tarifvertrag kürzere als nach § 622 Abs. 1 und 2 BGB vorgesehene Kündigungsfristen zu vereinbaren. Der neu gefasste § 622 BGB zog erstmals die über Einzelgesetze verstreuten Regelungen über die Kündigungsfristen in einem einheitlichen Gesetz zusammen.122 Bedeutsam war, dass die bestehenden Regelungen zur Kündigungsfrist weitgehend als tarifdispositiv angesehen worden waren.123 Daher war sogar ein vertraglicher 114
Dazu sogleich. Bock, Tarifdispositives Arbeitnehmerschutzrecht und Tarifautonomie, S. 53. 116 BGBl. 1969 I, 946. 117 Zu den Hintergründen vgl. Kempen/Zachert-Zachert, § 1 TVG, Rn. 8. 118 So aber Doetsch/Schnabel/Paulshoff, § 2 LFZG, Rn. 21. 119 Vgl. dazu Kehrmann/Pelikan, LFZG, Einl., S. 6. 120 BAG vom 3.3.1993, NJW 1993, 2397; vgl. dazu Vogelsang, Entgeltfortzahlung, Rn. 553. 121 BGBl. 1969 I, 1106; im folgenden § 622 Abs. 3 BGB 1969. 122 Spilger in: KR, § 622 BGB, Rn. 8. 123 Müller-Glöge, FS Schaub, S. 497 (498); Richardi, ZfA 1971, 73 (82); Spilger in: KR, § 622 BGB, Rn. 8. 115
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Ausschluss der Kündigungsfrist (sog. entfristete ordentliche Kündigung) möglich.124 Dadurch stand den Tarifvertragsparteien bereits vor Inkrafttreten des § 622 Abs. 3 BGB 1969 die weitgehend freie Vereinbarung von Kündigungsfristen offen.125 Somit war die tarifdispositive Regelung eher eine Kodifizierung der bestehenden Rechtslage als eine grundlegende Neuerung für die Tarifvertragsparteien. Für die Parteien des Arbeitsvertrags hingegen ergab sich eine deutliche Veränderung. Die Mindestkündigungsfristen waren nunmehr weitgehend zwingend ausgestaltet und konnten durch arbeitsvertragliche Vereinbarung nicht mehr verkürzt werden.126 Der Gesetzgeber hatte sich bei der Öffnung zugunsten der tarifvertraglichen Regelung ausweislich der Gesetzesbegründung von dem Gedanken leiten lassen, dass in bestimmten Branchen die Kündigungsfristen zu starr seien.127 Auch sei davon auszugehen, dass im Rahmen tarifvertraglicher Vereinbarungen kürzere Fristen nur vereinbart würden, wenn die Besonderheiten des Wirtschaftszweiges oder der Beschäftigungsart dies erforderten.128 Auch müsse dem auf Basis des bisher geltenden Rechts entstandenen Tarifgefüge Rechnung getragen werden.129 Von Bedeutung ist diese Überlegung des Gesetzgebers, weil die Gewerkschaften, obwohl das Gesetz grundsätzlich auf einem Konsens der Sozialpartner beruhte130, gegen die tarifdispositive Vorschrift Bedenken angemeldet hatten.131 Ebenfalls eingefügt wurde § 623 Abs. 3 S. 2 BGB 1969 und damit die Möglichkeit, für nicht tarifgebundene Arbeitsvertragsparteien im Geltungsbereich eines Tarifvertrags die Anwendung der abweichenden tarifvertraglichen Regelungen zu vereinbaren. Eine weitere tarifdispositive Vorschrift schuf der Gesetzgeber im „Gesetz zur Verbesserung der betrieblichen Altersversorgung“, das, mit hier nebensächlichen Ausnahmen, am 22.12.1974 in Kraft trat.132 Das Gesetz war notwendig geworden, weil die betriebliche Altersversorgung eine Vielzahl praktischer Probleme aufgeworfen hatte, die der Regelung bedurften. So verfielen etwa die Anwartschaften bei einem Wechsel des Arbeitsplatzes, die Versorgungsträger konnten in die Insolvenz gehen, gesetzliche Renten wurden auf die Betriebsrenten angerechnet und die Rentenansprüche waren der Abwertung durch Inflation ausgesetzt.133 124
Richardi, ZfA 1971, 73 (83). Richardi, ZfA 1971, 73 (83); einschränkend Wenzel, MDR 1969, 881 (884), der für die spezialgesetzlichen Regelungen (z. B. § 67 HGB) von zwingendem Charakter ausgeht. 126 Richardi, ZfA 1971, 73 (84); für Angestellte verblieb in § 622 Abs. 1 S. 2 BGB die Möglichkeit, die Mindestkündigungsfrist von 6 auf 4 Wochen zu verkürzen. 127 BT-Drs. 5/3913, S. 10. 128 BT-Drs. 5/3913, S. 10. 129 BT-Drs. 5/3913, S. 10. 130 Wenzel, MDR 1969, 881; BT-Drs. 5/3913, S. 8. 131 Wenzel, MDR 1969, 881 (885). 132 BGBl. 1974 I, 3610. 133 Blomeyer/Rolfs/Otto, BetrAVG, Einl., Rn. 7. 125
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Ziel der Neuregelung war, die betriebliche Altersversorgung für den begünstigten Arbeitnehmer sicherer und wirkungsvoller zu gestalten.134 Arbeitgeber und Gewerkschaften unterstützten einhellig die gesetzliche Regelung der betrieblichen Altersversorgung, wenn auch in unterschiedlicher Reichweite.135 Nachdem das ursprünglich rein steuerrechtlich angelegte Gesetzeskonzept aufgrund des Diskontinuitätsgrundsatzes nicht verwirklicht werden konnte, wurde am 4.4.1973 ein neuer Gesetzentwurf vorgelegt.136 Dabei wurde die mittlerweile ergangene Rechtsprechung des BAG berücksichtigt, die die Unverfallbarkeit von Versorgungsanwartschaften nach 20-jähriger Betriebszugehörigkeit anerkannt und die gesetzliche Regelung dieser Frage angemahnt hatte.137 Der Gesetzentwurf, der im Gesetzgebungsverfahren noch verschiedentlich modifiziert wurde, sah bereits die bis heute erhalten gebliebene Vorschrift des § 17 Abs. 3 BetrAVG vor.138 Dieser stellte die §§ 2–5, 16, 27 und 28 BetrAVG tarifdispositiv. Damit waren wesentliche Teile des Gesetzes für tarifliche Vereinbarungen geöffnet. Die Höhe der unverfallbaren Anwartschaft, die Abfindung einer Anwartschaft, die Übertragung der Anwartschaft auf andere Versorgungsträger, das Auszehrungs- und Anrechnungsverbot sowie die Anpassungsprüfung laufender Bezüge wurden tarifdispositiv gestellt.139 Interessant an der Regelung des § 17 Abs. 3 BetrAVG ist, dass diese nicht auf die größere Sachnähe der Tarifvertragsparteien gestützt wurde – was bei der Regelung der „betrieblichen“ Altersversorgung auch wenig überzeugend wäre, dort dürfte die größere Sachnähe im Betrieb liegen140 –, sondern auf den Gedanken der Parität. Der Gesetzgeber nahm an, die Tarifvertragsparteien seien gleich starke Partner im Aushandeln arbeitsrechtlicher Bedingungen, sodass staatlicher Schutz des Arbeitnehmers entbehrlich sei.141 Diese Betrachtungsweise weist eine andere Stoßrichtung als die der „Sachnähe“ auf. Denn letztere geht davon aus, dass sachgerechte Ergebnisse stets eintreten werden, wenn die Tarifpartner tätig sind. Aus dem Paritätsgedanken hingegen folgt, dass (nur) vergleichbar starke Partner sachgerechte Ergebnisse erzielen. Damit erhält die Frage der Paritätsstörung bei beiden Begründungsansätzen eine andere Bedeutung.142 Während tarifdispositive Regelungen bis Anfang der 80er Jahre nur sporadisch auftraten, wurden arbeitsrechtliche Vorschriften nunmehr häufiger mit Tariföffnungsklauseln versehen. 134
BT-Drs. 7/1281, S. 1 ff. Blomeyer/Otto, BetrAVG (3. Aufl.), Einl., Rn. 8. 136 Abgedruckt in BetrAV 1973, 112. 137 BAG 10.3.1972, AP Nr. 156 zu § 242 BGB, Ruhegehalt. 138 BT-Drs. 7/1281, S. 1 ff. 139 Vgl. Höfer, BetrAVG, Rn. 5650; Blomeyer/Rolfs/Otto, § 17, Rn. 167 ff. 140 Höfer, BetrAVG, Rn. 5648; Bock, Tarifdispositives Arbeitnehmerschutzrecht und Tarifautonomie, S. 54. 141 BT-Drs. 7/1281, S. 31. 142 Siehe dazu unten 6. Kap. B., sowie 3. Kap. E. VIII. 135
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Arbeitszeitrechtliche Regelungen waren Gegenstand des durch Gesetz vom 15.10.1984143 eingeführten § 21a Jugendarbeitsschutzgesetz. Im Rahmen der angestrebten Flexibilisierung der Arbeitszeitvorschriften des Jugendarbeitsschutzes sollten Ausbildungshemmnisse beseitigt werden.144 § 21a JArbSchG sollte den Tarifvertragsparteien die Möglichkeit bieten, „die Arbeitszeitvorschriften des Jugendarbeitsschutzgesetzes den konkreten Erfordernissen der Ausbildung und Beschäftigung Jugendlicher innerhalb des dort bestimmten gesundheitlichen Rahmens anzupassen“ 145. Den nicht tarifgebundenen Arbeitgebern im Geltungsbereich solcher Tarifverträge wurde die Übernahme durch Betriebsvereinbarung oder schriftliche Vereinbarung gestattet (§ 21a Abs. 2 JArbSchG). Damit wurde erstmals eine tarifdispositive Vorschrift geschaffen, die eine ausdrückliche Subdelegationsbefugnis zugunsten der Betriebspartner enthielt.146 Dabei war bezüglich der Neuregelungen die gesundheitliche Vertretbarkeit stark bezweifelt worden.147 Unbestreitbar stellten sowohl § 21a JArbSchG, als auch die weiteren neu gefassten Vorschriften einen „teilweisen Rückzug des Gesetzgebers aus der Verantwortung“148 für Teile des Jugendarbeitsschutzes dar. Die Abweichungsbefugnisse erfassen die Dauer der täglichen und wöchentlichen Arbeitszeit, die Dauer und Lage der Ruhepausen, die Dauer der Schichtzeiten, die 5-Tagewoche, Ersatzfreizeit für Wochenendarbeit und die beschäftigungsfreien Sonntage. Alle diese Tatbestände weisen jedoch bestimmte transparent umschriebene Grenzen auf.149 Die Grenzen der Abweichungsbefugnisse sind nicht als Generalklauseln gefasst, sondern jeweils vom Gesetzgeber selbst geregelt. Eine parallel zu den Regelungen des JArbSchG ausgestaltete Vorschrift hat der Gesetzgeber mit § 100a SeemG geschaffen. Im darauf folgenden Jahr wurde § 6 BeschFG 1985 geschaffen.150 Dieser ist mittlerweile durch die Einführung des TzBfG in den §§ 12 Abs. 3, 13 Abs. 4 TzBfG abgelöst worden.151 Der Hintergrund hierfür erschließt sich aus dem Wortlaut der Vorschrift: „§ 6 BeschFG 1985: (1) Von den Vorschriften dieses Abschnitts kann auch zuungunsten des Arbeitnehmers durch Tarifvertrag abgewichen werden.“
143
BGBl. 1984 I, 1277. Zmarzlik, DB 1984, 2349. 145 BT-Drs. 10/2012, S. 14. 146 Bock, Tarifdispositives Arbeitnehmerschutzrecht und Tarifautonomie, S. 55 f. 147 Vgl. Zmarzlik, DB 1984, 2349 ff. 148 Schoden, JarbSchG, § 21a, Rn. 2. 149 Molitor/Volmer/Germelmann, JarbSchG, § 21a, Rn. 4. 150 BGBl. 1985 I, 709. 151 Gesetz über Teilzeitarbeit und befristete Arbeitsverträge (Teilzeit- und Befristungsgesetz – TzBfG) vom 21.12.2000, BGBl. 2000 I, 1966. 144
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Damit stellte der Wortlaut die gesamten Schutzvorschriften zur Teilzeitarbeit (§§ 2 bis 5 BeschFG 1985) zur Disposition der Tarifvertragsparteien.152 Nicht tarifgebundenen Arbeitsvertragsparteien war die arbeitsvertragliche Bezugnahme auf die tarifvertraglichen Regelungen gestattet. Diese vollständige Nivellierung des zwingenden Rechts zugunsten tarifvertraglicher Regelungen war ausweislich der Gesetzesbegründung kein Redaktionsversehen, sondern Absicht.153 Damit gewann die Aushebelung des Arbeitnehmerschutzes durch tarifvertragliche Regelungen eine neue Qualität.154 Der Gesetzgeber berief sich auch hier darauf, „dass die Tarifvertragsparteien sachlich gerechtfertigte Ausnahmebestimmungen zu den gesetzlichen Regelungen, insbesondere branchenspezifische Regelungen, besser als der Gesetzgeber treffen können und dabei auch die Schutzinteressen der Arbeitnehmer ausreichend berücksichtigen.“ 155 Diese Begründung liefert ein anschauliches Beispiel für drei Stereotype zur Legitimation tarifdispositiven Rechts: Erstens die größere Sachnähe der Tarifvertragsparteien und den Respek vor der Tarifautonomie, zweitens die Notwendigkeit branchenspezifischer Regelungen und drittens die Annahme, dass die Tarifvertragsparteien den Schutzinteressen der Arbeitnehmer Rechnung tragen werden. Eine Substanziierung dieser Annahmen oder deren Überprüfung wurde weder beim BeschFG 1985 noch bei sonstigen Regelungen vorgenommen. Dass die Abweichungsbefugnisse für die Tarifvertragsparteien zu weit gingen, war in der Literatur sofort erkannt worden. Dies betraf vor allem die Dispositivstellung des Diskriminierungsverbots für Teilzeitbeschäftigte. 156 Das BAG hat diese mit dem aus heutiger Sicht zumindest als wohlwollend zu betrachtenden Hinweis, dass „es [. . .] nicht vorstellbar [sei], dass der Gesetzgeber eine unterschiedliche Behandlung der Arbeitnehmer zulassen wollte, auch ohne dass es für diese unterschiedliche Behandlung sachliche Gründe gibt“, abgelehnt.157 Hinzuweisen ist darauf, dass unter Teilzeitbeschäftigten generell ein geringer Organisationsgrad vorherrschte und sich bis heute nichts daran geändert hat.158 Der Gesetzgeber schuf damit in einer Situation, in der es aufgrund der geringen organisatorischen Repräsentation der Arbeitnehmer besonders fernliegend war, dass sie substanziell für ihre Interessen eintreten konnten, eine Tariföffnung be-
152
Hagemeier, ArbuR 1985, 144 (146). Hagemeier, ArbuR 1985, 144 (146); Preis in: ErfK (2. Aufl.), § 6 BeschFG, Rn. 1; BT-Drs. 10/2102, S. 17. 154 Hagemeier, ArbuR 1985, 144 (146). 155 BT-Drs. 10/2102, S. 26. 156 Hanau, NZA 1984, 345 (346); v. Hoyningen-Huene, NJW 1985, 1801 (1803); vgl. dazu Preis in: ErfK (2. Aufl.), § 6 BeschFG, Rn. 7 ff. 157 BAG vom 29.8.1989, AP Nr. 6 zu § 2 BeschFG 1985. 158 Vgl. dazu Preis in: ErfK (2. Aufl.), § 6 BeschFG, Rn. 2. 153
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1. Kap.: Begriff und historische Entwicklung
sonders weitgehender Art. Dass dies erkennbar zu einer Abweichung vom gesetzlichen Mindeststandard führen würde, hinderte den Gesetzgeber nicht daran, die Vorschrift tarifdispositiv zu gestalten. Hier zeigt sich erneut die Tendenz, die Verantwortung für den Abbau von Sozialstandards durch tarifdispositive Vorschriften auf die Sozialpartner abzuwälzen.159 Es kann kaum als Zufall angesehen werden, dass tarifdispositive Vorschriften dort geschaffen werden, wo ein angemessener Interessenausgleich und „sachgerechte“ Regelungen gerade nicht zu erwarten sind, weil es an einer organisatorischen Repräsentation der Regelungsunterworfenen weitgehend fehlt. Auch beim tarifdispositiven Gleichbehandlungsgrundsatz in §§ 3 Abs. 1 Nr. 3, 9 Nr. 2 AÜG zeigt sich eine vergleichbare Konstellation, worauf an späterer Stelle eingegangen wird.160 Neben der tarifdispositiven Ausgestaltung der Teilzeitarbeit wurde in § 15 Abs. 3 TzBfG der bereits zuvor anerkannte161 Grundsatz normiert, dass im befristeten Arbeitsverhältnis die Kündigung einzelvertraglich vereinbart oder durch einen anwendbaren Tarifvertrag ermöglicht werden kann. Die Vorschrift ist im weiteren Sinne tarifdispositiv, weil sie lediglich klarstellt, dass Befugnisse, die den Parteien des Arbeitsvertrags zustehen, notwendigerweise auch von den Tarifvertragsparteien wahrgenommen werden können. Insofern liegt hier keine Tarifdispositivität im klassischen Sinne vor, weil die Vereinbarung auch per Arbeitsvertrag erfolgen kann. Da allerdings die Vereinbarung per Betriebsvereinbarung unzulässig ist und insofern zumindest eine Beschränkung auf bestimmte Vertragstypen vorliegt, ist die Vorschrift hier der Vollständigkeit halber erwähnt worden. Das BeschFG 1985 schuf noch eine weitere tarifdispositive Vorschrift. Durch § 1 Abs. 3 Nr. 1 AÜG wurde den Tarifvertragsparteien ermöglicht, die Anwendung des AÜG auszuschließen, wenn zwischen zwei Arbeitgebern desselben Wirtschaftszweigs Arbeitnehmerüberlassung zur Vermeidung von Kurzarbeit erfolgte. Zweck der Vorschrift war, durch die Zulassung der Arbeitnehmerüberlassung auf die Schwierigkeiten bestimmter Branchen mit den Restriktionen des AÜG zu reagieren und Möglichkeiten zum dauerhaften Erhalt von Arbeitsplätzen zu schaffen.162 Durch die Koppelung an einen Tarifvertrag wollte der Gesetzgeber sicherstellen, dass von der Vorschrift keine Gefährdung des sozialen Schutzes der Arbeitnehmer oder der Ordnung auf dem Arbeitsmarkt eintritt.163
159
Schüren, FS Löwisch, S. 367 (369). Vgl. zum entsprechenden Zusammenhang bei der Arbeitszeit oben 1. Kap. B. I. und zum AÜG sogleich, sowie 6. Kap. B. III.; ebenso Schüren, RdA 2007, 231 ff. 161 Backhaus in: APS, § 15 TzBfG, Rn. 16; vgl. BAG 15.12.1955, AP NR. 1 zu § 67 HGB; BAG 19.6.1980, AP Nr. 55 zu § 620 BGB, Befristeter Arbeitsvertrag. 162 Ulber, J., AÜG, § 1, Rn. 225. 163 BT-Drs. 10/3206, S. 33. 160
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1993 wurde § 622 Abs. 3 BGB 1969 durch das „Gesetz zur Vereinheitlichung der Kündigungsfristen von Arbeitern und Angestellten“ vom 7.10.1993 in § 622 Abs. 4 BGB überführt.164 Die Regelung bezog sich nunmehr nicht nur auf die Kündigungsfristen, sondern auch auf die Kündigungstermine und den Anspruch auf längere Kündigungsfristen.165 Dies diente der Klarstellung der Reichweite der Tariföffnung in § 622 Abs. 3 BGB 1969. Auch hier wollte der Gesetzgeber ausweislich der Gesetzesbegründung den Tarifvertragsparteien die Möglichkeit belassen, die Besonderheiten einzelner Beschäftigtengruppen und Wirtschaftsbereiche zu berücksichtigen.166 Erforderlich geworden war die Neuregelung, weil das BVerfG die unterschiedlichen Kündigungsfristen für Arbeiter und Angestellte für verfassungswidrig erklärt hatte.167 Eine Ausweitung erfuhr die Tarifdispositivität im Bereich der Entgeltfortzahlung durch das „Gesetz über die Zahlung des Arbeitsentgelts an Feiertagen und im Krankheitsfall (Entgeltfortzahlungsgesetz)“ vom 26.5.1994, das am 1.6.1994 in Kraft trat.168 Das Gesetz entstand aus einem Motivbündel. Es sollte der Vereinheitlichung des zersplitterten Rechts der Entgeltfortzahlung dienen, aber ebenso die Ungleichbehandlung zwischen Arbeitern und Angestellten beseitigen.169 Auch sollte gemeinschaftsrechtlichen Vorgaben Rechnung getragen werden. Nicht zuletzt nahm der Gesetzgeber die einschränkende Auslegung des § 2 Abs. 3 LFZG durch das BAG170 zum Anlass, die Regelungsbefugnisse der Tarifvertragsparteien auszuweiten.171 Diese erhielten in § 4 Abs. 4 EFZG nunmehr ausdrücklich die Befugnis, neben der Berechnungsmethode auch die Berechnungsgrundlage für das fortzuzahlende Entgelt abweichend vom Gesetz zu regeln.172 Darüber hinaus wurde die Abweichungsbefugnis, die nur für Arbeiter galt, auf Angestellte erstreckt.173 Damit wurde die Regelungsbefugnis der Tarifvertragsparteien erheblich ausgeweitet.174 Die bereits angesprochene tarifdispositive Vorschrift des § 7 Abs. 1 AZO hat nach der Schaffung des Arbeitszeitgesetzes zum 1.7.1994175 ihren Standort in § 7 ArbZG gefunden. Dieser bündelt eine Vielzahl von neuen Abweichungsbefugnis164
BGBl. 1993 I, 1668. BT-Drs. 12/4902, S. 7; Müller-Glöge, FS Schaub, S. 497 (498); Preis/Kramer, DB 1993, 2125 (2128 f.). 166 BT-Drs. 12/4902, S. 7. 167 BVerfG 30.5.1990, NJW 1990, 2246 ff. 168 BGBl. 1994 I, 1014, 1065. 169 Schmitt, EFZG, Einl., Rn. 65 ff. 170 BAG 3.3.1993, NJW 1993, 2397 f. 171 BT-Drs. 12/5798 S. 26; Schmitt, EFZG, § 4, Rn. 178 f. 172 BT-Drs. 12/5798 S. 26; Schmitt, EFZG, § 4, Rn. 178 f. 173 Kunz/Wedde in: EFZR, § 4, Rn. 8. 174 Bock, Tarifdispositives Arbeitnehmerschutzrecht und Tarifautonomie, S. 58. 175 BGBl. 1994 I, 1170. 165
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sen für die Tarifvertragsparteien. Die zwingenden Vorschriften zur täglichen Höchstarbeitszeit, zu den Ruhepausen, zur Ruhezeit und Nachtarbeit wurden tarifdispositiv gestellt. Das ArbZG dient ausdrücklich der Verbesserung der Rahmenbedingungen für flexible Arbeitszeiten (§ 1 Nr. 1 2. Hs. ArbZG). Die Abweichungsbefugnisse zugunsten der Tarifvertragsparteien wurden mit diesem Ziel ausgeweitet.176 Auch wurde die bisher zwar praktizierte177, gesetzlich aber nicht geregelte Möglichkeit der Tarifvertragsparteien, die nähere Ausgestaltung der Abweichung vom Gesetz betrieblichen Regelungen zu überlassen, normiert.178 Durch § 12 ArbZG wurden Abweichungsbefugnisse für die Beschäftigung an Sonn- und Feiertagen eingeführt. Ebenso wurden für bestimmte Arbeitsformen (Bereitschaftsdienst) und Branchen (Landwirtschaft) gesonderte Abweichungsbefugnisse zugunsten der Tarifvertragsparteien geschaffen. Dies betrifft auch § 21 ArbZG, der für die Binnenschifffahrt eine weitgehende Abweichungsbefugnis vorsieht.179 Eine weitere Besonderheit weist § 7 Abs. 3 ArbZG auf. Dieser gestattet in Betrieben von nicht tarifgebundenen Arbeitgebern die Übernahme von Tarifverträgen i. S. d. § 7 Abs. 1–2 durch Betriebsvereinbarung.180 Auch im Seemannsgesetz wurde eine tarifdispositive Vorschrift zur Arbeitszeit eingeführt (§ 89a SeemG).181 Weitere tarifdispositive Vorschriften sind die mit dem gleichen Gesetz geschaffenen §§ 104 und 140 Abs. 2 SeemG. § 104 SeemG ist später geändert worden182 und erklärt nunmehr § 89a SeemG für Kapitäne für entsprechend anwendbar. Gegenstand der Regelungen ist die Verlängerung der täglichen Arbeitszeit, wobei § 89a SeemG insoweit eine Besonderheit darstellt, als er lediglich eine Erweiterung des Weisungsrechts des konkreten Vorgesetzten (Kapitän) enthält. Mit Inkrafttreten des TzBfG183 hat sich die Problematik des tarifdispositiven Rechts im Rahmen der Teilzeitarbeit entschärft. Durch §§ 12 Abs. 3 und 13 Abs. 4 wurde die Tarifdispositivität an konkrete Tatbestände gekoppelt und mit konkreten Anforderungen an die Tarifverträge versehen.184 Gleichzeitig wurde im Befristungsrecht eine neue tarifdispositive Vorschrift (§ 14 Abs. 2 S. 3 TzBfG) geschaffen.185 Diese ermächtigt die Tarifvertragsparteien, die Anzahl der zulässigen Verlängerungen eines sachgrundlos befristeten Arbeitsvertrages 176
MüArbR/Anzinger, § 218, Rn. 98. BAG 6.3.1956, BB 1956, 497. 178 Tietje, Grundfragen des Arbeitszeitrechts, S. 312; später erweitert worden auch auf Dienstvereinbarungen. 179 BT-Drs. 12/5888, S. 33; Baeck/Deutsch, ArbZG, § 21, Rn. 13, 3. 180 Vgl. dazu Wank in: ErfK, ArbZG, § 7, Rn. 19 f. 181 BGBl. I, 1994, 1170. 182 Neuregelung in Kraft getreten am 1.7.2002 (BGBl. I S. 1163). 183 In Kraft getreten am 1.1.2001, BGBl. I 1966. 184 Preis in: ErfK, § 12 TzBfG, Rn. 43; Buschmann in: TZA, § 22, Rn. 19. 185 Maschmann in: Annuß/Thüsing, TzBfG, § 14, Rn. 74. 177
B. Historische Entwicklung
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ebenso wie die Höchstdauer der sachgrundlosen Befristung abweichend vom Gesetz zu regeln. Auch hier war ausweislich der Gesetzesbegründung die Erleichterung branchenspezifischer Lösungen beabsichtigt.186 Durch das Altersvermögensgesetz vom 26.6.2001187 wurde der Anspruch auf Entgeltumwandlung in § 1a BetrAVG eingeführt. Der Gesetzgeber hatte diesen in der Tariföffnungsklausel in § 17 Abs. 3 BetrAVG aufgeführt und damit dem Wortlaut nach die gesamte Vorschrift des § 1a BetrAVG tarifdispositiv gestellt. Dies sollte den Tarifpartnern „größtmögliche Flexibilität“ gewähren.188 Die Streitfrage, ob die Tarifvertragsparteien den Anspruch per Tarifvertrag wieder „beerdigen“ dürfen, zeigt dass der Gesetzgeber bei der Schaffung tarifdispositiver Vorschriften eine immer großzügigere Handhabung pflegte.189 Eine weitere tarifdispositive Vorschrift wurde durch das Fünfte Gesetz zur Änderung des Hochschulrahmengesetzes und anderer Vorschriften vom 23.2.2002 geschaffen. Mit § 57a Abs. 1 S. 3 HRG wurde eine Tariföffnungsklausel in den bisher zweiseitig zwingenden § 57a HRG eingefügt. Von Relevanz ist die Vorschrift nur, soweit durch die Möglichkeit zur Abweichung von den Befristungshöchstgrenzen des § 57b HRG den Tarifvertragsparteien eine Ausweitung der Befristungsmöglichkeiten eröffnet wird. Aufgrund der bereits extrem weitgehenden Befristungsmöglichkeiten des § 57b HRG ist von dieser Möglichkeit in der Praxis nie Gebrauch gemacht worden. Die Regelung des § 57a HRG ist durch das Wissenschaftszeitvertragsgesetz, das durch das „Gesetz zur Änderung arbeitsrechtlicher Vorschriften in der Wissenschaft“ neu geschaffen wurde und am 18. April 2007 in Kraft getreten ist, in § 1 Abs. 1 S. 3 WissZeitVG übernommen worden.190 Mit §§ 3 Abs. 1 Nr. 3, 9 Nr. 2, 10 Abs. 4 AÜG durch das Erste Gesetz für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt191 setzte sich die Schaffung tarifdispositiver Vorschriften fort. Das Gesetz stellt eine tief greifende Reform der Arbeitnehmerüberlassung dar.192 Durch Aufhebung der Höchstüberlassungsgrenzen und der Beseitigung der Beschränkungen der Befristung von Arbeitsverträgen im Bereich der Arbeitnehmerüberlassung, ebenso wie durch die Beseitigung des ausdrücklichen Verbots, die Dauer des Arbeitsvertrages mit der Dauer des Arbeitnehmerüberlassungsvertrages zu synchronisieren193, wurde die Arbeitnehmer186
BT-Drs. 14/4374, S. 14. BGBl. 2001 I, 1310. 188 BT-Drs. 14/4595, S. 70. 189 Vgl. dazu Blomeyer/Rolfs/Otto, BetrAVG, § 17, Rn. 169 einerseits und Heither, NZA 2001, 1275 ff. andererseits. 190 BGBl. 2007 I, 506; vgl. dazu Preis, WissZeitVG, Einl., 32 ff. 191 BGBl. 2002 I, 4607. 192 Vgl. dazu Ulber, J., ArbuR 2003, 7; Seifert/Brehmer, WSI-Mitteilungen 2008, 335. 193 Dazu Ulber, J., ArbuR 2003, 7 (9); Seifert/Brehmer, WSI-Mitteilungen 2008, 335. 187
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1. Kap.: Begriff und historische Entwicklung
überlassung fundamental umgestaltet.194 Alle im Zuge der Reform beseitigten Schutzvorschriften dienten dazu, zu verhindern, dass die Verleiher das Beschäftigungsrisiko, das der Leiharbeit in Zeiten ohne Auftrag immanent ist, auf die Beschäftigten verlagern. In der Praxis waren die Vorschriften von den Verleihern allerdings häufig umgangen oder schlichtweg ignoriert worden.195 Als Kompensation für die weitgehende „Befreiung“ der Arbeitnehmerüberlassung von diesen arbeitnehmerschützenden Vorschriften196 wurde ein besonderes Diskriminierungsverbot für Leiharbeitnehmer („equal pay/equal treatment“) eingeführt (§§ 3 Abs. 1 Nr. 3, 9 Nr. 2, 10 Abs. 4). Dieses begründet für den Leiharbeitnehmer während des Einsatzes beim Entleiher einen Anspruch gegen den Verleiher auf die gleichen wesentlichen Arbeitsbedingungen einschließlich des Arbeitsentgelts, wie sie im Entleiherbetrieb gelten. Von diesem Grundsatz kann allerdings durch Tarifvertrag abgewichen werden (§§ 3 Abs. 1 Nr. 3, 9 Nr. 2).197 Dies hat wissenschaftliche Kontroversen mit völlig unterschiedlicher Stoßrichtung hervorgerufen. Zunächst sahen sich die Arbeitgeber der Zeitarbeitsbranche in verfassungswidriger Weise belastet.198 Die Vorschrift sei eine einseitige Privilegierung der Gewerkschaften und verstoße sowohl gegen die Koalitionsfreiheit, als auch die Berufsfreiheit.199 Darüber hinaus wurde befürchtet, die Leiharbeit werde sich in Zukunft nicht mehr lohnen und es sei mit einem massiven Arbeitsplatzabbau zu rechnen.200 Es wurde eine Verteuerung der Leiharbeit von bis zu 50% vermutet.201 Die Praxis hat sich indes anders entwickelt. Das BVerfG hat die Vorschriften mit Blick auf die von den Beschwerdeführern vorgetragenen Angriffspunkte für verfassungskonform erachtet.202 Zum Zeitpunkt der Entscheidung war die Kritik bereits verstummt. Denn in der Praxis wurden derartig niedrige Billigtarifverträge geschlossen, dass die Leiharbeitsfirmen mit diesen hervorragend leben können.203 Ursprünglich hatten die Arbeitgeber befürchtet, die Gewerkschaften könnten durch Drohung mit dem ohne tarifliche Regelung bestehenden gesetzlichen Anspruch auf Gleichbehandlung die Tarifverträge diktieren.204 Dabei wurde 194
Schüren, RdA 2006, 303; Seifert/Brehmer, WSI-Mitteilungen 2008, 335. Schüren, RdA 2006, 303. 196 BT-Drs. 15/25, S. 24. 197 Vgl. dazu Ulber, D., NZA 2008, 438 ff. 198 Dazu: Schüren, JArbR 2004, 49. 199 Bauer/Krets, NJW 2003, 537 (539); Hümmerich/Holthausen/Welslau, NZA 2003, 7 (10). 200 Bauer/Krets, NJW 2003, 537 (545); Hümmerich/Holthausen/Welslau, NZA 2003, 7 (10); Lembke, BB 2003, 98 (99). 201 Lembke, BB 2003, 98 (99). 202 BVerfG 29.12.2004, NZA 2005, 153 ff. 203 Schüren in: Schüren, AÜG, § 9, Rn. 110; zum Problem der Wirksamkeit der TV vgl. Ulber, D., NZA 2008, 438 ff., m.w. N.; sowie unten Fn. 213; sowie zuletzt ArbG Berlin 1.4.2009 NZA 2009, 740. 204 Schüren, RdA 2006, 303 (304), m.w. N. 195
B. Historische Entwicklung
57
und wird der Effekt der Tarifdispositivität in Verbindung mit der Zulassung der arbeitsvertraglichen Bezugnahme der tariflichen Regelungen übersehen.205 Denn anders als in Branchen mit hoher Organisationsstärke entfaltet der niedrigste Tarif in der Leiharbeitsbranche eine erhebliche Breitenwirkung. Die beiderseitige Tarifbindung ist in der Leiharbeitsbranche der absolute Ausnahmefall.206 Unmittelbar nach Inkrafttreten der Neuregelungen schlossen die „Tarifgemeinschaft Christlicher Gewerkschaften für Zeitarbeit und Personal-Service-Agenturen (CGZP)“ fast ohne Verhandlungen Tarifverträge mit den Arbeitgeberverbänden.207 Diese von der CGZP abgeschlossenen Tarifverträge werden im Schrifttum als Dumpingtarifverträge angesehen und zwangen die DGB-Gewerkschaften, deutliche Abstriche bei bereits erzielten Verhandlungsergebnissen zu machen, um überhaupt noch zu Tarifabschlüssen zu gelangen.208 Weitere Billigtarifverträge der CGZP folgten.209 Die Leiharbeit hat durch diese Entwicklung einen deutlichen Beschäftigungsaufbau erlebt.210 Dieser hat sich zumindest teilweise in Auslagerung von Tätigkeiten und Schaffung gespaltener Belegschaften, die teilweise aus Festangestellten und teilweise aus dauerhaft überlassenen Arbeitnehmern bestehen, realisiert.211 Es liegt nahe, dass es durch die Leiharbeit zu einer systematischen Blockade von Neueinstellungen in feste Dauerarbeitsverhältnisse gekommen ist, die sich nicht zuletzt in einem Nichtaufbau von regulärer Beschäftigung durch Unternehmen realisiert hat. Die Löhne dieser Beschäftigten liegen häufig mehr als 30%, teilweise bis zu 50% unter den im jeweiligen Sektor üblichen Tariflöhnen.212 Die Tarifverträge zur Arbeitnehmerüberlassung haben eine Vielzahl von neuen tarifrechtlichen Fragestellungen aufgeworfen, die von der Tariffähigkeit der abschließenden Verbände213 über die Frage nach Ausmaß und Umfang der Inhaltskontrolle von Tarifverträgen bis zur Auslegung tarifdispositiven Rechts im Allgemeinen reicht.214 Damit hat die Tarifdispositivität nicht nur juristisch, sondern auch praktisch ein bisher ungekanntes Ausmaß an Problemstellungen erzeugt. Besonders bedenklich ist dabei, dass auch die DGB-Gewerkschaften im Bereich der Leiharbeit nicht zu verantwortungsvoller Tarifpoli205 Vgl. dazu: Schüren/Riederer von Paar, AuR 2004, 241 (243); Schüren, FS Richardi, S. 367 (368 f.). 206 Lembke/Distler, NZA 2006, 952 (953); Schüren/Riederer von Paar, AuR 2004, 241 (242); Schüren, RdA 2006, 303 (304). 207 Schüren/Riederer von Paar, AuR 2004, 241; Schüren RdA 2007, 231 (233). 208 Schüren/Hamann-Schüren, § 9, Rn. 117. 209 Böhm, DB 2005, 2023. 210 Schüren, RdA 2007, 231 (232); Seifert/Brehmer, WSI-Mitteilungen 2008, 335. 211 Schüren, RdA 2007, 231 (232); Pomberger, WSI-Mitteilungen 2008, 223 (224). 212 Schüren, JArbR 2004, 49 (50); ders., RdA 2007, 231 (232). 213 Vgl. dazu Böhm, DB 2003, 2598; Schindele, AuR 2008, 31 ff.; Schüren, in: FS Löwisch, 2007, S. 367 (372); Ulber, D., NZA 2008, 438; Ulber, J., AÜG, § 9, Rn. 171 ff., 190 ff. 214 Vgl. dazu Ulber, J., AÜG, § 9, Rn. 130 ff.
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1. Kap.: Begriff und historische Entwicklung
tik in der Lage sind. Angesichts des geringen Organisationsgrades von Leiharbeitern und der faktisch nicht vorhandenen Durchsetzungsfähigkeit der Verbände erinnert die Situation in der Leiharbeit stark an die Situation, die zur Weimarer Zeit im Arbeitszeitrecht bestand. Eine weitere Fortentwicklung erfuhr das tarifdispositive Gesetzesrecht mit der Reform des ArbZG zum Jahreswechsel 2004.215 Nachdem der EuGH216 und das BAG217 die Ausgestaltung des ArbZG mit Blick auf die Bereitschaftsdienste für europarechtswidrig erklärt hatten, entschied sich der Gesetzgeber zu einer Ausweitung der tarifdispositiven Regelungen. Mit der Einführung des § 7 Abs. 2a ArbZG wurde eine in ihrer Reichweite bisher einzigartige Abweichungsbefugnis von nahezu allen zwingenden Vorschriften, die eine Begrenzung der täglichen und wöchentlichen Arbeitszeit vorsehen, geschaffen.218 Dies diente dazu, die bisherige Praxis der Bereitschaftsdienste in deutschen Kliniken in neuen Kleidern zu retten, weil durch die Neufassung des Arbeitszeitbegriffs eine Kostenexplosion und Personalmangel im Gesundheitswesen befürchtet wurde.219 Begrenzt wird die Regelungsbefugnis in § 7 Abs. 2a ArbZG durch die Vorgabe, dass nicht näher spezifizierte „besondere Regelungen“ sicherstellen müssen, dass die Gesundheit der Arbeitnehmer nicht gefährdet wird. Neuland wurde mit dem Einwilligungsvorbehalt des Arbeitnehmers für die Anwendbarkeit der auf Basis des § 7 Abs. 2a ArbZG getroffenen abweichenden Regelungen in § 7 Abs. 7 ArbZG betreten. Danach gelten auf Basis des § 7 Abs. 2a ArbZG geschlossene Tarifverträge nur dann für den Arbeitnehmer, wenn dieser in ihre Anwendung zuvor schriftlich eingewilligt hat.220 Eine weitere tarifdispositive Vorschrift im Bereich des Arbeitszeitrechts ist durch Art. 5 des Gesetzes zur Änderung personenbeförderungsrechtlicher Vorschriften und arbeitszeitrechtlicher Vorschriften für Fahrpersonal in § 21a Abs. 6 ArbZG geschaffen worden.221 Diese lässt, wenn auch in durch europarechtliche Vorschriften eng begrenztem Rahmen, Abweichungen hinsichtlich der Höchstund Nachtarbeitszeiten von Fahrpersonal zu222, die sich allerdings mit den ohnehin weitgehenden Vorschriften des ArbZG decken.223 Damit hat im Arbeitszeitrecht die zwingende Wirkung des Gesetzes eine immer weitergehende Abschwächung durch tarifdispositives Gesetzesrecht erfahren.
215 216 217 218 219 220 221 222 223
BGBl. I 2003, S. 3002. EuGH vom 9.9.2003, EuZW 2003, 655. BAG vom 18.2.2003, DB 2003, 1387 und BAG vom 18.2.2003, DB 2003, 2290. Ulber, D., ZTR 2005, 70 (79). Buschmann, ArbuR 2003, 1 (6); Linck, FA 2003, 97. Vgl. dazu ausführlich unten 8. Kap. A. I. 4. d). BGBl. 2006 I, 1962. Vgl. Buschmann/Ulber, J., ArbZG, § 21a, Rn. 1 ff. Didier, NZA 2007, 120 (123).
B. Historische Entwicklung
59
III. Zusammenfassung Die historische Entwicklung des tarifdispositiven Rechts zeigt eine gewisse Parallelität zum Ausbau zwingender arbeitsrechtlicher Vorschriften. Diese Parallele liegt darin, dass das zwingende gesetzliche Schutzniveau durch den Gesetzgeber zwar ausgebaut wird, gleichzeitig aber der Tarifvertrag durch tarifdispositive Vorschriften zu dem Instrument wird, um – offenbar ohne weitere Beschränkungen – von gesetzlichen Standards abzuweichen. Diese Korrelation führt mit zunehmendem Ausbau arbeitsrechtlicher Vorschriften zu einer immer weitergehenden Durchbrechung der zwingenden Wirkung arbeitsrechtlicher Vorschriften mit Hilfe von Tarifverträgen. Diese Entwicklung ist in den letzten Jahren so fortgeschritten, dass in der Literatur das tarifdispositive Recht als Möglichkeit zum „Abbau des gesetzlichen Arbeitnehmerschutzes durch kollektives Arbeitsrecht“ 224 gesehen wird. Die historische Entwicklung scheint sich dabei zu wiederholen. Insbesondere im Bereich der Arbeitnehmerüberlassung erinnert die gegenwärtige Situation an die Mitte der 1920er Jahre im Bereich der Arbeitszeit. Es treten Gewerkschaften auf den Plan, deren Gegnerfreiheit mehr als zweifelhaft ist.225 Die Organisationsschwäche der Gewerkschaften, die schwierige Situation auf dem Arbeitsmarkt und der gleichzeitige Ausbau der gesetzlich ermöglichten Nivellierung arbeitnehmerschützender Vorschriften durch Tarifvertrag erinnern an die Arbeitszeitproblematik der 1920er Jahre. Ob es tatsächlich gerechtfertigt ist, tarifdispositives Gesetzesrecht als „Vertrauen des Gesetzgebers in die dezentrale Wahrnehmung der Arbeitnehmer- und Arbeitgeberinteressen“ 226 zu betrachten, muss bezweifelt werden. Nicht durchgängig, aber durchaus signifikant ist die Erscheinung, dass tarifdispositives Gesetzesrecht auch mit der Erwartung der Unterschreitung gesetzlicher Mindeststandards geschaffen wird, ohne dass der Gesetzgeber sich hierzu politisch bekennen müsste.227 Dass er tarifdispositives Recht restriktiv228 handhabt, ist auf Basis der legislativen Tätigkeit seit Mitte der 90er Jahre nicht zu belegen und verharmlost das Instrument.229 Der Gesetzgeber macht in beträchtlichem Umfang von ihm Gebrauch.230 Der kritische Hinweis Boldts zur Tarifdispositivität des Bundesurlaubsgesetzes hingegen ist nach über 40 Jahren aktueller denn je.231
224
Buschmann, FS Richardi, S. 94 ff. Siehe zur GNBZ ArbG Köln 30.10.2008, ArbuR 2008, 100 ff.; LAG Köln 20.5. 2009, 9 TaBV 105/08. 226 So Bock, Tarifdispositives Arbeitnehmerschutzrecht und Tarifautonomie, S. 48. 227 Buschmann, FS Richardi, S. 94 (98 f.); Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht, Bd. I, S. 699. 228 So Bock, Tarifdispositives Arbeitnehmerschutzrecht und Tarifautonomie, S. 62. 229 Buschmann, FS Richardi, S. 94 (96 ff.). 230 Wiedemann in: Wiedemann, TVG, Einl. 380. 231 Vgl. oben 1. Kap. B. II. Fn. 136. 225
60
1. Kap.: Begriff und historische Entwicklung
C. Die Wahrnehmung von Regelungsbefugnissen durch die Tarifvertragsparteien und ihre Grenzen Tarifdispositive gesetzliche Vorschriften gestalten einerseits Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen. Ihren zwingenden Charakter gegenüber der tarifvertraglichen Normsetzung geben sie aber ganz oder teilweise auf. Der Gesetzgeber überantwortet damit durch tarifdispositive Regelungen einen Teil der Verantwortung für die Gestaltung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen auf die Tarifvertragsparteien. Ob darin eine Rückübertragung einer vorrangigen Normsetzungsbefugnis der Tarifvertragsparteien liegt oder eine Delegation von eigenen Normsetzungsbefugnissen durch den Gesetzgeber, ist umstritten.232 Im Ergebnis führt tarifdispositives Gesetzesrecht jedenfalls zu einem Zustand, in dem der Tarifvertrag ein weitreichendes Gestaltungsinstrument für die Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen darstellt. Werden die Gestaltungsmöglichkeiten exzessiv ausgeweitet oder zugelassen, so stellt sich nicht mehr die Frage, ob dem Gesetzgeber bei der zwingenden Ausgestaltung gesetzlicher Regelungen Grenzen gezogen sind. Vielmehr wird die Frage nach den Grenzen der Gestaltung von Arbeitsbedingungen durch tarifvertragliche Regelungen aufgeworfen, wenn sich die tarifvertragliche Regelungsbefugnis wenigstens potenziell auf grundrechtsverletzende oder grundrechtsgefährdende Zustände erstreckt. In diesem Zusammenhang erlangt die Frage nach der Grundrechtsbindung der Tarifvertragsparteien ebenso erhebliche Bedeutung wie die nach den immanenten Schranken tarifvertraglicher Regelungsbefugnisse im Bereich tarifdispositiven Rechts. Wie weit die gesetzgeberischen Gestaltungsmöglichkeiten gehen, ist damit nicht nur mit Blick auf die durch Art. 9 Abs. 3 GG gewährleistete Tarifautonomie zu klären. Vielmehr ist der Fokus auch und gerade auf die verfassungsrechtliche Kompetenz und gegebenenfalls auch Verpflichtung zur Schaffung zwingender Mindeststandards im Arbeitsrecht zu richten. Dies gilt gerade auch in Ansehung der fundamentalen Umwälzungen, vor denen das Tarifvertragssystem durch die Anerkennung der Tariffähigkeit von kleinen Gewerkschaften durch die Rspr. des BAG233 und die anstehende Aufgabe des Prinzips der Tarifeinheit steht. Die Frage, inwieweit die Tarifautonomie in ihrer bisherigen Funktionsfähigkeit durch diese Veränderungen beeinträchtigt wird, kann bei der Abschichtung staatlicher und tarifvertraglicher Regelungsbefugnisse nicht unberücksichtigt bleiben. Das Spannungsverhältnis der staatlichen und tarifvertraglichen Normsetzung ist damit im Bereich tarifdispositiven Rechts nicht allein durch eine einseitige Überbetonung der Tarifautonomie aufzulösen. Es bedarf einer differenzierten, nach Regelungsbereichen abgeschichteten Klärung der Grenzen und Bindungen, denen der Gesetzgeber bei der Schaffung tarifdispositiven Rechts unterliegt.
232 233
Dazu unten 2. Kap. und 3. Kap., sowie 5. Kap. B. BAG 28.3.2006, NZA 2006, 1112; vgl. dazu unten 6. Kap. A.
C. Die Wahrnehmung von Regelungsbefugnissen durch die Tarifvertragsparteien 61
Die Vielschichtigkeit der Probleme, die bei der Schaffung tarifdispositiven Gesetzesrechts entstehen können, wird durch die zunehmende Europäisierung des Arbeitsrechts verstärkt. Denn Tarifverträge werden in zunehmendem Maße bei der Anwendung und Gestaltung arbeitsrechtlicher Vorschriften mit europarechtlichem Einschlag als legislatives Instrumentarium gebraucht. Dies geschieht insbesondere im Bereich der Umsetzung von EG-Richtlinien. Diese rufen eine Normsetzungsverpflichtung des nationalen Gesetzgebers hervor. Gleichzeitig ermöglichen sie häufig die Beteiligung der Sozialpartner bei der Umsetzung. In welchem Ausmaß dies jedoch möglich ist oder, anders formuliert, in welchem Maße sich der Gesetzgeber durch Verweis auf Tarifverträge seiner Regelungsverpflichtung entziehen kann, ist von erheblicher Bedeutung. Auf Grund der Vielzahl der Fragen, die sich in diesem Zusammenhang stellen, müssen sie im Rahmen dieser Arbeit allerdings ausgespart werden. Es geht hier allein um den verfassungsrechtlichen Rahmen für tarifdispositives Gesetzesrecht. Vor dem Hintergrund der gegenwärtigen Diskussionen um das Verhältnis von staatlicher und tarifautonomer Regelungsbefugnis, gerade auch mit Blick auf die gegenwärtig geführte Mindestlohndebatte, sind diese Fragen jedenfalls gegenwärtig vorrangig. Beide Aspekte umfassend abzuhandeln war im Rahmen dieser Arbeit nicht zu leisten; auf eine oberflächliche Erörterung der Vollständigkeit halber, die der Vielzahl der europarechtlichen Probleme nicht gerecht würde, soll hier verzichtet werden. Tarifdispositives Recht nimmt damit in mehr oder weniger erheblichem Umfang die Tarifvertragsparteien in die Verantwortung für die Gestaltung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen. Dies bedeutet gleichzeitig, dass der Staat sich in den Bereichen tarifdispositiver Normsetzung weit aus seiner Verantwortung zurückzieht. Dieses Zurückweichen staatlicher Regulierung kann durchaus im Sinne einer liberalen Freiheitsordnung verstanden werden. Eine verantwortliche Wahrnehmung solcher Freiheiten ist damit aber nicht gewährleistet. Damit laufen nicht nur das tarifdispositive Recht, sondern auch deregulierte Rechtssysteme im Allgemeinen Gefahr, dass sie eine formale Liberalität etablieren, die sich materiell in der Zwangsbestimmung des einen Bürgers durch den anderen realisiert.234 Damit stellt sich die Frage nach den Rahmenbedingungen, die der Staat schaffen muss oder deren Vorliegen Voraussetzung ist, um Dritten die gesetzesvertretende oder -alternative Ausgestaltung von Lebensbereichen zu gestatten. Führt die liberale Konzeption in ihrer Konsequenz nicht zu verantwortlicher Gestaltung, sondern zu autoritär gesteuerter Degeneration des Gesetzes, wird das liberale Konzept als Legitimation der legislativen Ausgestaltung in Frage gestellt.235 Damit können dispositive Vorschriften im Allgemeinen und tarifdispositive Vorschriften im Besonderen, soweit die Ausgestaltung von Gesetzesrecht auf Dritte 234 235
Vgl. dazu unten 2. Kap. C. IV. Vgl. dazu unten 2. Kap. C. IV.
62
1. Kap.: Begriff und historische Entwicklung
übertragen wird, nicht ohne die Frage der Funktionsfähigkeit der ihnen zugrunde liegenden liberalen Sichtweise untersucht werden. Diese Betrachtung kann dazu führen, dass eine zu starke Liberalisierung von Schutzregelungen in bestimmten Lebensbereichen wegen funktionaler oder tatsächlicher Defizite der autonomen Rechtsetzung unzulässig sein kann. Anders formuliert kann in solchen Fällen gerade in der Beschränkung privatautonomer Befugnisse die Voraussetzung für die Sicherung der Privatautonomie liegen.236 Auch kann eine Frage für die Normunterworfenen eine so wesentliche Bedeutung erlangen, dass der Gesetzgeber selbst zur Rechtsetzung verpflichtet ist.237 Ob und in welchem Ausmaß die hier in Rede stehende Übertragung der Gestaltung des zwingenden Charakters gesetzlicher Vorschriften durch Tarifvertragsparteien zulässig ist, hat eine erhebliche Bedeutung für die Gestaltung arbeitsrechtlicher Vorschriften durch den Gesetzgeber. Die bisherige Auseinandersetzung fokussiert stark auf die Grenzen der Beschränkung der tarifautonomen Regelungsbefugnisse.238 Dies beruht häufig auf einem eher formalen Freiheitsverständnis. Die Frage nach dem Ausmaß seiner Funktions- und Leistungsfähigkeit sowie die freiheitsbeschränkenden Reflexe, die dies auf Dritte haben kann, werden dabei bislang eher nachrangig abgehandelt.
236
In diesem Sinne auch Löwisch, RdA 1969, 129 (131 f.); vgl. dazu unten 2. Kap. D. Kamanabrou, RdA 1997, 22 (31); vgl. dazu ausführlich unten 4. Kap. 238 Biedenkopf, Grenzen der Tarifautonomie, S. 150 ff.; Bock, Tarifdispositives Arbeitnehmerschutzrecht und Tarifautonomie, passim; mit Recht kritisch zu diesem eingeschränkten Ansatz Buschmann, FS Richardi, S. 93 (102 ff.). 237
2. Kapitel
Verfassungsrechtliche Fragen des Verhältnisses der Tarifautonomie zum tarifdispositiven Gesetzesrecht Die Frage, ob und in welchem Ausmaß tarifdispositives Gesetzesrecht verfassungsrechtlich zulässig oder erforderlich ist, ist umstritten. Der Diskussion liegt im Wesentlichen der Konflikt zwischen zwingenden staatlichen und tariflichen Regelungsbefugnissen zu Grunde. Diese Grundfrage nach dem Verhältnis von Tarifautonomie und staatlichem Gesetz ist daher als Vorfrage zwingend zu beantworten. Darauf aufbauend sind die verschiedenen Theorien zur Zulässigkeit und zum zulässigen oder erforderlichen Ausmaß tarifdispositiven Gesetzesrechts einer Bewertung zu unterziehen. Da alle Ansätze notwendigerweise einen Rückgriff auf die Tarifautonomie erfordern, ist aber auch diese selbst als Voraussetzung tarifdispositiven Gesetzesrechts zu untersuchen. Ist ihre Funktionsfähigkeit im Einzelfall nicht gewährleistet, stellt sich die Frage nach den Auswirkungen, die dies auf die Vereinbarkeit tarifdispositiven Gesetzesrechts mit der Verfassung hat. Nachdem auf Basis dieser Vorfragen die verfassungsrechtliche Zulässigkeit und die sich aus der Tarifautonomie ergebenden Anforderungen an tarifdispositives Gesetzesrecht untersucht sind, stellt sich die Frage nach seinen Grenzen.1 Dabei sind nicht nur die Schutzpflichten des Staates für Grundrechte der Arbeitnehmer, sondern auch für die von direkt oder indirekt betroffenen Dritten in den Blick zu nehmen. Grundlegend ist auch die Frage der Bedeutung und des Ausmaßes staatlicher Schutzpflichten im Bereich des Arbeitsrechts zu untersuchen.2 Dabei kann die Frage nach der Grundrechtsbindung der Tarifvertragsparteien, insbesondere im Anwendungsbereich tarifdispositiven Gesetzesrechts, nicht offen bleiben.3 Denn diese hat erhebliche Auswirkungen auf die Frage, inwieweit der Gesetzgeber sich auf normexterne Schutzmechanismen berufen kann, wenn er weitreichende tarifdispositive Regelungen schafft. Die Frage nach dem Ausmaß der gerichtlichen Kontrolle von Tarifvertragsnormen, die auf Basis tarifdispositiver Vorschriften erlassen werden, ist damit untrennbar verknüpft. Schließlich ist im Zusammenhang mit dem Ausmaß der Grundrechtsgefährdungen, die von ta1 2 3
Vgl. 4. Kap. Vgl. 4. Kap. Vgl. 5. Kap.
64
2. Kap.: Verfassungsrechtliche Fragen
rifdispositivem Recht ausgehen, nach der Bedeutung der Richtigkeitsgewähr tarifvertraglicher Regelungen im Bereich tarifdispositiven Gesetzesrechts zu fragen.4
A. Überblick über die Theorien zur Zulässigkeit tarifdispositiven Gesetzesrechts Zunächst sollen daher die grundsätzlichen Ansätze zur verfassungsrechtlichen Zulässigkeit tarifdispositiven Gesetzesrechts dargestellt werden.
I. Kritische Stimmen Nur von wenigen Autoren werden grundsätzliche Bedenken gegen tarifdispositives Recht geäußert. Es mache für die Schutzbedürftigkeit des Arbeitnehmers keinen Unterschied, ob sein Arbeitszeitschutz durch Tarifvertrag oder Arbeitsvertrag gemindert werde. Deshalb gebe es entweder schutzwürdige Interessen des Arbeitnehmers, die überhaupt nicht zur Disposition von Vertragsparteien gestellt werden dürften und dann eben auch nicht den Tarifvertragsparteien zur Regelung offen stehen oder solche Regelungen, für die kein Schutzbedürfnis besteht.5 Des Weiteren dienten tarifdispositive Gesetze der Schwächung der Verhandlungsposition der Gewerkschaften, die, um den im Gesetz gewährleisteten Schutz aufrecht zu erhalten, in anderen Bereichen Zugeständnisse machen müssten.6 Auch wird kritisch angemerkt, dass tarifdispositive Vorschriften für die Gewerkschaften regelmäßig ein Danaergeschenk7 darstellten. Zum einen müssten sie den Schutzstandard der staatlichen Mindestnorm stets neu gegen Abweichungswünsche der Arbeitgeberseite verteidigen und dies gegebenenfalls durch Zugeständnisse an anderer Stelle, zum anderen müssten sie jede Verschlechterung gegenüber ihren Mitgliedern verantworten.8
II. Vorrangtheorie Hingegen wird zwingendes Gesetzesrecht von anderer Seite als Eingriff in die verfassungsrechtlich gewährleistete Tarifautonomie gesehen. Die zwingende 4
Vgl. 6. Kap. Däubler, Tarifvertragsrecht, Rn. 375. 6 Däubler, Tarifvertragsrecht, Rn. 376; Gneiting in: Umbach/Clemens, GG, Art. 9 Abs. 3 GG, Rn. 131; vgl. zur Frage der Beeinflussung der Verhandlungsposition von Koalitionen durch einfaches Gesetzesrecht unten 3. Kap. E. VII. 7 Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht, Bd. I, S. 698; selbst dies sieht noch als „Untertreibung“ an, Buschmann, FS Richardi, S. 93 (98). 8 Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht, Bd. I, S. 698. 5
A. Überblick über die Theorien
65
Ausgestaltung gesetzlicher Regelungen auf dem Gebiet des Arbeitsrechts stelle einen Eingriff in die Tarifautonomie dar.9 Damit wird ein Vorrang des tarifdispositiven Gesetzesrechts vor dem zwingenden Gesetzesrecht postuliert. Löwisch/ Rieble meinen, dass die zweiseitige Tarifdispositivität bei gesetzlichen Arbeitsbedingungen stets die erste Wahl sein müsse.10 Auch sei der Gesetzgeber, wenn er durch zwingende staatliche Mindestarbeitsbedingungen in die Tarifautonomie eingreife, verpflichtet, diese auf ein Minimum zu beschränken.11 Gleichzeitig weisen sie aber auf den großen Gestaltungsspielraum hin, der dem Gesetzgeber beim Erlass tarifdispositiven Gesetzesrechts zukomme.12 Hanau hat verlangt, dass das gesamte zwingende Arbeitsrecht daraufhin durchgemustert werden müsse, ob es nicht in viel größerem Umfang tarifdispositiv gestellt werden müsse13, allerdings mit einer Einschränkung dahin gehend, dass sachlich gebotene Beschränkungen zulässig sein sollen. Die Frage, ob der dogmatische Umgang mit der Tarifautonomie und dem Eingriffsverständnis zutreffend ist, soll hier zunächst hintangestellt werden. Maßgeblich ist, dass von den Vertretern eines Vorrangs der tarifdispositiven Normgebung vor der zwingenden staatlichen Gesetzgebung ein bestimmtes Verständnis von Tarifautonomie zugrunde gelegt wird. Diese soll den Tarifvertragsparteien, wenn schon keine alleinige Regelungsbefugnis, so doch in gewissem Umfang ein Vorrangrecht oder ein Recht des primären Zugriffs auf tarifvertraglich regelbare Arbeitsbedingungen gewähren, das der Staat zu respektieren habe. Noch weiter als die Vertreter, die einen Schutz tariflicher Regelungsbefugnisse über einen Vorrang des tarifdispositiven Gesetzesrechts gewährleisten wollen, gehen einzelne Autoren mit Blick auf – unterstellte14 – Wirkungsweisen tarifdispositiver Gesetze. Die Tarifdispositivität sei nämlich unzureichend, Tarifautonomie und Koalitionsfreiheit in hinreichendem Maße zur Wirkung kommen zu lassen.15 Denn durch die tarifdispositive Gestaltung sei den Gewerkschaften ein Druckmittel in die Hand gegeben, mit dem sie Tarifvertragsverhandlungen in ihrem Sinne beeinflussen könnten. Der Abbruch der Verhandlungen sichere den Arbeitnehmern einen ordentlichen Mindeststandard, sodass die Arbeitgeberseite im Rah-
9 Bock, Tarifdispositives Arbeitnehmerschutzrecht und Tarifautonomie, passim; Butzer, RdA 1994, 375 (377); Willemsen/Sagan, NZA 2008, 1216 (1218). 10 MüArbR/Löwisch-Rieble, § 244, Rn. 59; Löwisch/Rieble, TVG, Grundl., Rn. 29; ähnlich Kempen in: Kempen/Zachert, TVG, Grundl., Rn. 275 und Henssler, ZfA 1998, 1 (18). 11 MüArbR/Löwisch-Rieble, § 244, Rn. 62. 12 Löwisch/Rieble, TVG, Grundl., Rn. 36. 13 Hanau, FS Rechtwissenschaftliche Fakultät Köln, S. 183 (199). 14 Vgl. zum spekulativen Charakter der Annahme der Beeinflussung der Verhandlungsposition unten 3. Kap. E. VII. 15 Kämmerer/Thüsing, Leiharbeit und Verfassungsrecht, S. 32 ff.; ähnlich Andelewski, Staatliche Mindestarbeitsbedingungen, S. 64 ff.
66
2. Kap.: Verfassungsrechtliche Fragen
men tarifdispositiver Vorschriften benachteiligt sei. Damit wird selbst die tarifdispositive Gestaltung gesetzlicher Vorschriften noch als Eingriff in die Tarifautonomie betrachtet. Diese Ansicht wird maßgeblich mit Blick auf den Gleichbehandlungsgrundsatz der §§ 3 Abs. 1 Nr. 3, 9 Nr. 2 AÜG vertreten.16 Das Besondere an diesem ist, dass durch die zwingende gesetzliche Vorschrift in der Tat ein für die Arbeitnehmer attraktiver Rahmen geschaffen wurde, bei dem es im Grunde nicht einzusehen war, warum sich Gewerkschaften, die Arbeitnehmerinteressen vertreten, auf abweichende Tarifverträge einlassen sollten. Damit waren die tarifdispositiven Regelungen in §§ 3 Abs. 1 Nr. 3, 9 Nr. 2 AÜG nach vorstehender Sichtweise eine Art legislativer Paritätsstörung.17 Ausdrücklich berufen sich Kämmerer/Thüsing auf die Beeinträchtigung des Rechts der Koalitionen und ihrer Mitglieder, die „Arbeitsbedingungen und Wirtschaftsbedingungen in eigener Verantwortung und im Wesentlichen ohne staatliche Einflussnahme zu gestalten“. Eine ähnliche Sichtweise klingt bei Biedenkopf an: „Soweit das Kollektiv als ebenbürtiger Partner des Arbeitgebers mit diesem eine Regelung vereinbaren kann, darf der Arbeitgeber für eben diesen Sachverhalt deshalb grundsätzlich nicht zugleich gesetzlich zugunsten des Arbeitnehmers gebunden sein.“18
Die staatliche Gesetzgebungskompetenz und die tarifautonome Regelungsbefugnis für einen Lebenssachverhalt werden damit in ein Alternativitätsverhältnis gesetzt.19 Soweit die Parteien des Tarifvertrags jedoch ebenbürtig seien, sei die Erstreckung des Günstigkeitsprinzips, womit Biedenkopf die Normierung einseitig zwingenden Gesetzesrechts meint, eine Verletzung des Grundsatzes der Neutralität des Staates.20 Einzig ausgenommen sind nach Biedenkopf gesetzliche Regelungen, die echte Existenzminima festlegen, nicht aber solche, die sich auf die adäquate Verteilung von Lasten und Vorteilen unter den Parteien des Arbeitsverhältnisses beziehen. Der Gedanke der Alternativität führt bei Biedenkopf dazu, dass das Arbeitsverhältnis außerhalb dieses Minimalbereichs nicht durch zwingendes Recht geordnet werden dürfe. Er kommt damit nicht nur zum zwingenden Erfordernis der Tarifdispositivität jenseits existenzsichernder Normen21, sondern verwahrt sich generell gegen die zwingende Ausgestaltung verteilender arbeitsrechtlicher Schutzgesetzgebung. Nach Biedenkopf besteht ein „Vorrang tarifvertraglicher Normierung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen durch die Tarifparteien.“ 22 Dieser führe dazu, dass jede zwingende, nicht tarifdispositiv ausge16 Kämmerer/Thüsing, Leiharbeit und Verfassungsrecht, S. 32 ff.; vgl. aber auch generell Kamanabrou, RdA 1997, 21 (29). 17 Kämmerer/Thüsing, Leiharbeit und Verfassungsrecht, S. 33, 35. 18 Biedenkopf, Grenzen der Tarifautonomie, S. 125. 19 Biedenkopf, Grenzen der Tarifautonomie, S. 157. 20 Biedenkopf, Grenzen der Tarifautonomie, S. 150. 21 Biedenkopf, Grenzen der Tarifautonomie, S. 156. 22 Biedenkopf, Grenzen der Tarifautonomie, S. 154.
A. Überblick über die Theorien
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staltete, arbeitsrechtliche Vorschrift eine das Gleichgewicht zwischen den Tarifvertragsparteien störende Intervention darstellt.23 Darüber hinaus sei es den Tarifvertragsparteien, sofern der Gesetzgeber im Rahmen verteilender Gesetzgebung Regelungen trifft, verwehrt, diese mit bindender Wirkung tarifvertraglich zu verbessern. Eine Ausnahme gelte nur, wenn der Gesetzgeber dies ausdrücklich gestatte, was aus der Unanwendbarkeit des Günstigkeitsprinzips in diesem Zusammenhang folgen soll.24 Im Ergebnis führt die von Biedenkopf vertretene Ansicht dazu, dass die Tarifautonomie überall dort tangiert wird, wo eine zwingende staatliche Ordnung im Rahmen verteilender Schutzgesetzgebung erfolgt.25 Daraus folgt, dass der Gesetzgeber nahezu das gesamte Arbeitsrecht unter einen Tarifvorbehalt stellen müsste, soweit ihm keine existenzsichernde Funktion zukommt. Daher sieht Biedenkopf auch die vollständige tarifdispositive Gestaltung des BUrlG als verfassungsrechtlich geboten an.26 Dabei rekurriert Biedenkopf stets auf einen „Kernbereich“ tarifvertraglicher Zuständigkeit, in den nicht eingegriffen werden dürfe. Dieser umfasst aber die gesamte Ordnung der materiellen Arbeitsbedingungen, soweit nicht durch Gemeinwohlinteressen eine staatliche Regelung zwingend erforderlich ist.27 Im Ergebnis ist es dem Gesetzgeber dann untersagt, gegenüber dem Tarifvertrag zwingende Vorschriften zu erlassen.28 Es gilt ein extensiver Subsidiaritätsgrundsatz.29 Zugespitzt formuliert wird die Tarifautonomie und damit Art. 9 Abs. 3 GG nach dieser Sichtweise in ein Destruktivgrundrecht gegenüber der staatlichen Ordnung umfunktioniert. Sie dient im Ergebnis der Abwehr der Schaffung für den Tarifvertrag irreversibler sozialer Mindeststandards durch den Gesetzgeber. Die von Biedenkopf vertretene Auffassung führt im Ergebnis dazu, dass der Gesetzgeber zur verbindlichen gesetzlichen Regelung im Bereich der „Sozialfunktion“30 des Arbeitnehmerschutzrechts nicht mehr berechtigt ist. Sie führt zu einem Zwang zur Tarifdispositivität. Scheinbar in eine ähnliche Richtung geht Säcker, wenn er ein Vorrecht31 der Tarifvertragsparteien zur Regelung im Kernbereich der arbeits- und wirtschaftsrechtlichen Regelungen postuliert und zu der Annahme gelangt, dass im Falle der Kollision mit anderen rechtlich verbindlichen Regelungen allgemeiner Arbeitsbe-
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Biedenkopf, Grenzen der Tarifautonomie, S. 172. Biedenkopf, Grenzen der Tarifautonomie, S. 174. 25 Biedenkopf, Grenzen der Tarifautonomie, S. 176 f. 26 Biedenkopf, Grenzen der Tarifautonomie, S. 184. 27 Biedenkopf, Grenzen der Tarifautonomie, S. 187. 28 Biedenkopf, Grenzen der Tarifautonomie, S. 188. 29 Biedenkopf, Grenzen der Tarifautonomie, S. 188; zum eingeschränkten Subsidiaritätsgrundsatz siehe 2. Kap. B. III. 2. 30 Vgl. dazu unter 2. Kap. A. III. 31 Säcker, Grundprobleme der Kollektiven Koalitionsfreiheit, S. 55. 24
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2. Kap.: Verfassungsrechtliche Fragen
dingungen sich stets der Tarifvertrag durchsetzt.32 Alle Regelungen allgemeiner Arbeitsbedingungen seien, auch ohne ausdrücklichen Vorbehalt, tarifdispositiv.33 Damit wird im Ergebnis die Tarifdispositivität bestimmter arbeitsrechtlicher Regelungsbereiche als verfassungsrechtlich verordnet angesehen. Säcker wendet sich dann auch ausdrücklich gegen eine Beschränkung des Kernbereichs im Sinne der Wesentlichkeitstheorie und gelangt damit im Ergebnis ebenfalls dazu, sämtliche Arbeitsbedingungen als vom Vorrecht der Tarifvertragsparteien erfasst anzusehen. Es bestehe in soweit eine Normsetzungsprärogative.34 Daher wird auch von Säcker später der Begriff Subsidiaritätsgrundsatz verwandt.35 Dennoch unterscheidet sich Säckers Ansatz fundamental von dem Biedenkopfs. Denn Säcker hat später deutlich gemacht, dass ein „Zwang zur Tarifdispositivität“ nur in einem Kernbereich tariflicher Normsetzung existieren soll.36 Einen zurückhaltenderen Ansatz vertritt Bock. Sie gelangt, ausgehend von der Hypothese, dass zwingendes Arbeitnehmerschutzrecht einen Eingriff in die Tarifautonomie darstellt, zu einer Pflicht zur Tarifdispositivität im Einzelfall. Diese solle nur dann entfallen, wenn der Gesetzgeber seine gesetzgeberische Aktivität auf kollidierendes Verfassungsrecht stützen kann und die angenommene Einschränkung der Tarifautonomie verhältnismäßig ist.37 Dabei soll die Verhältnismäßigkeitsprüfung in dem Maße variieren, in dem ein Regelungsgegenstand für die Tarifvertragsparteien zentral ist.38 Der Grundansatz, der Staat müsse, wenn er denn schon zwingende arbeitsrechtliche Regelungen schafft, diese in mehr oder weniger großen Umfang zugunsten der Tarifvertragsparteien mit Tariföffnungsklauseln versehen, tritt im Schrifttum weit verbreitet auf.39 Die Frage, wann jedoch tatsächlich ein Zwang zur tarifdispositiven Gestaltung bestehen soll, wird höchst uneinheitlich beantwortet. Dies resultiert aus einem teilweise hoch unterschiedlichen Verständnis des Gewährleistungsgehalts der Tarifautonomie, der Reichweite und Intensität ihres Schutzes, sowie der Anforderungen, die an die Legitimierung eines – angenommenen – Eingriffs gestellt werden.40 Auch die Frage, wie das Konkurrenzverhältnis von tarifautonomer Normsetzung und staatlicher Gesetzgebung aufzulösen ist, ist in hohem Maße umstritten. 32
Säcker, Grundprobleme der Kollektiven Koalitionsfreiheit, S. 55 ff. Säcker, Grundprobleme der Kollektiven Koalitionsfreiheit, S. 51. 34 Säcker, Grundprobleme der Kollektiven Koalitionsfreiheit, S. 50 f. 35 Säcker/Oetker, Grundlagen und Grenzen der Tarifautonomie, S. 36. 36 Säcker, ArbuR 1994, 1 (7). 37 Bock, Tarifdispositives Arbeitnehmerschutzrecht und Tarifautonomie, S. 348 ff. 38 Bock, Tarifdispositives Arbeitnehmerschutzrecht und Tarifautonomie, S. 350. 39 Bock, Tarifdispositives Arbeitnehmerschutzrecht und Tarifautonomie, S. 322 ff.; Löwisch/Rieble, TVG, Grundl., Rn. 29. 40 Vgl. dazu 2. Kap. B. II. ff. 33
A. Überblick über die Theorien
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Ohne eine Betrachtung des Verhältnisses von Tarifautonomie und staatlicher Gesetzgebung kommt die vorstehende Arbeit damit nicht aus. Dieser Frage soll im Anschluss an die Darstellung der weiteren Ansätze zu den verfassungsrechtlichen Vorgaben für tarifdispositives Recht nachgegangen werden.
III. Abgrenzung nach Sozial- und Schutzfunktion Nach Ansicht von Peters/Ossenbühl ist tarifdispositives Gesetzesrecht verfassungsrechtlich nicht geboten. Vielmehr hätten die Tarifvertragsparteien ein Recht des ersten Zugriffs auf Regelungsmaterien, allerdings mit erheblichen Einschränkungen. Zunächst soll der Gesetzgeber in Bereichen, die andere originäre Gesetzgebungszuständigkeiten berühren, wie etwa das Gefahrenabwehrrecht, abschließend und ohne Rücksicht auf die Tarifvertragsparteien gesetzlich tätig werden können, ohne dass dies die Tarifautonomie beeinträchtigt. Dies erwachse aus der Schutzfunktion, die das staatliche Gesetz insofern wahrnehme.41 Danach sei die Gestattung tariflicher Regelungen im Bereich der Schutzfunktion des Arbeitszeitschutzes verfassungswidrig.42 Auch sei zu unterscheiden, ob durch die gesetzgeberische Tätigkeit im Verhältnis zu den Tarifvertragsparteien gruppenübergreifende Interessen berührt würden. Eine Subsidiarität könne nur dort bestehen, wo nicht übergreifende Interessen bestünden, die das Gemeinwohl berühren.43 Von zentraler Bedeutung ist danach zunächst die Zuordnung des arbeitsrechtlichen Regelungskomplexes zu „staatsnahen“ Aufgaben, die über den kollektiven Ausgleich der Interessen von Arbeitnehmern und Arbeitgebern durch Tarifvertrag hinaus gehen, und „staatsfernen“ Aufgaben, die im Wesentlichen die „interne“ Ausgestaltung des Äquivalenzverhältnisses durch die kollektiven Interessenvertretungen von Arbeitnehmern und Arbeitgebern betreffen. Damit erfolgt zunächst eine kompetenzielle Abgrenzung von Zuständigkeiten des Gesetzgebers und der Tarifvertragsparteien und im Anschluss daran eine Zuordnung verbleibender überlagerter Zuständigkeiten in den staatlichen oder tarifautonomen Bereich. Diese Auffassung stützen Peters/Ossenbühl im Wesentlichen auf zwei strukturelle Defizite des Tarifvertrags. Er kann und soll notwendigerweise den Interessenausgleich der an seinem Abschluss Beteiligten gewährleisten. Damit entstehe ein notwendiges Defizit bezüglich der Berücksichtigung von Drittinteressen.44 Darüber hinaus könne die Schutzfunktion durch einen durch Kompromisse ge41 Peters/Ossenbühl, Die Übertragung von öffentlich-rechtlichen Befugnissen auf die Sozialpartner unter besonderer Berücksichtigung des Arbeitszeitschutzes, S. 47. 42 Peters/Ossenbühl, Die Übertragung von öffentlich-rechtlichen Befugnissen auf die Sozialpartner unter besonderer Berücksichtigung des Arbeitszeitschutzes, S. 49 ff., 66 ff. 43 Peters/Ossenbühl, Die Übertragung von öffentlich-rechtlichen Befugnissen auf die Sozialpartner unter besonderer Berücksichtigung des Arbeitszeitschutzes, S. 22. 44 Vgl. hierzu unten 8. Kap. B.
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2. Kap.: Verfassungsrechtliche Fragen
prägten Verhandlungsprozess nur unzureichend gewahrt werden.45 Der Bereich arbeitsrechtlicher Regelungen, der nicht der Gefahrenabwehr diene, bilde die Sozialfunktion. Die Abgrenzung soll sich dabei nicht, wie dies bei Biedenkopf anklingt, am Existenzminimum orientieren. Peters/Ossenbühl begreifen die Sicherung des Existenzminimums als unzureichend für eine vollständige Gefahrenabwehr. Daher sei nicht das Existenzminimum die Grenze zwischen Schutz- und Sozialfunktion, sondern das, was zur Gefahrenabwehr erforderlich sei. Diese Grenze soll allerdings variabel durch den jeweiligen Zivilisationsstand und die Wirtschaftslage beeinflusst werden.46 Die so abgegrenzte Sozialfunktion kann dann nach Peters/Ossenbühl den Tarifvertragsparteien überantwortet werden. Ob dies geschieht, sei dann allerdings eine rechtspolitische Entscheidung, die nicht durch die Verfassung determiniert werde, obwohl den Tarifvertragsparteien eine gewisse Vorhand im Bereich der Sozialfunktion zukomme.47
IV. Kompetenzparallelismus Eine weitere Ansicht in der Literatur sieht keine weitreichenden verfassungsrechtlichen Pflichten des Gesetzgebers, tarifdispositives Gesetzesrecht zu schaffen.48 Für eine Kompetenzverschiebung, wie Biedenkopf sie vertritt, gebe weder die Verfassung noch die sie konkretisierende Rechtsprechung einen Anhaltspunkt.49 Diese Auffassung stützt sich auch darauf, dass in Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG ein Kompetenztitel geschaffen ist, der bei einer Vorranggarantie zugunsten der Tarifvertragsparteien faktisch sinnlos wäre.50 Buschmann weist darauf hin, dass der Beitrag, den die Tarifautonomie zur Kompensation der strukturellen Unterlegenheit des einzelnen Arbeitnehmers beim Abschluss von Arbeitsverträgen leistet, in der Regel darin besteht, dass diese Mindestarbeitsbedingungen setzen. Dieser 45 Peters/Ossenbühl, Die Übertragung von öffentlich-rechtlichen Befugnissen auf die Sozialpartner unter besonderer Berücksichtigung des Arbeitszeitschutzes, S. 46 f. 46 Peters/Ossenbühl, Die Übertragung von öffentlich-rechtlichen Befugnissen auf die Sozialpartner unter besonderer Berücksichtigung des Arbeitszeitschutzes, S.64 ff. 47 Peters/Ossenbühl, Die Übertragung von öffentlich-rechtlichen Befugnissen auf die Sozialpartner unter besonderer Berücksichtigung des Arbeitszeitschutzes, S.66 f. 48 Friese, Kollektive Koalitionsfreiheit und Betriebsverfassung, S. 255 f.; Gellermann, Grundrechte im einfachgesetzlichen Gewande, S. 163 ff., 322; Kemper in: MKS, GG, Art. 9, Rn. 147; Oetker, ZG 1998, 155 (163 ff.); Preis/Greiner, As.-Drs. 16 (11), 771, S. 21; Schnorr, Das Arbeitsrecht als Gegenstand internationaler Rechtsetzung, S. 228. 49 Wiedemann, FS Stahlhacke, S. 675 (687); so auch Buschmann, FS Richardi, S. 93 (103). 50 Buschmann, FS Richardi, S. 93 (102); Friese, Kollektive Koalitionsfreiheit und Betriebsverfassung, S. 254 ff.; Gellermann, Grundrechte im einfachgesetzlichen Gewande, S. 164; Kemper in: MKS, GG, Art. 9, Rn. 147; Oetker, ZG 1998, 155 (166); Schnorr, Das Arbeitsrecht als Gegenstand internationaler Rechtsetzung, S. 228.
A. Überblick über die Theorien
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Beitrag zur Kompensation strukturellen Ungleichgewichts kann nach Buschmann in der Herabsetzung gesetzlicher Mindeststandards nicht erblickt werden.51 Die Auffassung, dass die Entscheidung, ob und inwieweit tarifdispositives Gesetzesrecht geschaffen wird, letztlich eine Ermessensentscheidung des Gesetzgebers ist, stützt sich auch auf die Überlegung, dass der Staat seine Verantwortung für die Arbeits- und Wirtschaftsordnung nicht aufgeben dürfe und den Interessen der Außenseiter und arbeitslosen Arbeitnehmer gerecht werden müsse.52 Im Ergebnis dürfe der Staat die tarifvertragliche Regelungsbefugnis lediglich nicht erdrosseln und muss den Tarifvertragsparteien damit einen hinreichenden Regelungsspielraum für eigene Regelungen belassen.53 Allerdings verlangt Wiedemann, dass die Gesetzgebung das Gemeinwohl oder von der Tarifautonomie verschiedene Rechtsgüter fördert und verhältnismäßig sein muss.54 Dies steht scheinbar im Widerspruch zu folgendem Zitat: „Aus Art. 9 Abs. 3 GG und der ihn weiterführenden Rechtsprechung lässt sich keine Pflicht des Gesetzgebers ableiten, die Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen allgemein oder von einem bestimmten Grad der Konkretisierung an den Tarifvertragsparteien zu überlassen“.55 Dabei muss man aber berücksichtigen, dass sich diese Ausführungen auf die Frage beziehen, ob eine Pflicht des Gesetzgebers zur Schaffung tarifdispositiven Gesetzesrechts besteht.56 Die Frage, ob zwingendes Recht im Allgemeinen einen Eingriff in die Tarifautonomie bedeuten kann, wird von ihm dennoch bejaht57, auch wenn dies nichts daran ändert, dass Wiedemann den staatlichen Gesetzgeber in erster Linie für die – zwingende – Regelung der allgemeinen Grundbedingungen der Arbeits- und Sozialordnung für verantwortlich erachtet.58 Damit kann es im Einzelfall durchaus denkbar sein, dass ein Regelungsbereich zugunsten des Tarifvertrags freigegeben werden muss. Allerdings wird diese Verhältnismäßigkeitsprüfung von Oetker, der im Wesentlichen dem Konzept Wiedemanns folgt, dahin gehend eingeschränkt, dass der Gestaltungsspielraum, den die Verfassung dem Gesetzgeber lässt, nicht unberücksichtigt bleiben dürfe. Die gesetzgeberischen Aktivitäten seien grundsätzlich zu akzeptieren und fänden erst dann eine Schranke, wenn der einfachgesetzliche Mindeststandard für die Tarifvertragsparteien nicht mehr hinzunehmen sei.59 Mit Blick auf das Kündigungs51
Buschmann, FS Richardi, S. 93 (103). Oetker, ZfA 2001, 288 (297). 53 Wiedemann, FS Stahlhacke, S. 675 (691); in diesem Sinne auch Oetker, ZfA 2001, 288 (297). 54 Wiedemann, FS Stahlhacke, S. 675 (691); anders Wiedemann in: Wiedemann, TVG, Einl., Rn. 105 ff. (Eingriff, der zu rechtfertigen ist). 55 Wiedemann in: Wiedemann, TVG, Einl., Rn. 387. 56 Wiedemann in: Wiedemann, TVG, Einl., Rn. 387. 57 Wiedemann in: Wiedemann, TVG, Einl., Rn. 104. 58 Wiedemann in: Wiedemann, TVG, Einl., Rn. 373. 59 Oetker, ZfA 2001, 288 (309); in diesem Sinne auch Butzer, RdA 1994, 375 (383). 52
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2. Kap.: Verfassungsrechtliche Fragen
recht wird ein verfassungsrechtlicher Zwang zur tarifdispositiven Gestaltung konsequent abgelehnt.60 Da allerdings Fallkonstellationen, in denen das Gemeinwohl oder andere Rechtsgüter nicht gefördert werden, kaum denkbar sind, kann auch Wiedemanns Sichtweise darauf hinaus laufen, dass es letztendlich im Ermessen des Gesetzgebers steht, wie stark er die Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen zwingend gestaltet. In die gleiche Richtung gehen auch die Ausführungen Gamillschegs, der eine verfassungsrechtliche Angreifbarkeit gegenwärtiger zwingender arbeitsrechtlicher Vorschriften unter dem Gesichtspunkt der Tarifautonomie als nicht gegeben sieht.61 Ein neuerer Ansatz im Schrifttum sieht die Definition der Außengrenzen der tarifautonomen Regelungsbefugnis durch das staatliche zwingende Gesetzesrecht nicht als Eingriff in die Tarifautonomie an. Vielmehr wird nach diesem Ansatz die tarifautonome Regelung nur hinsichtlich ihres Bestandes innerhalb der staatlichen Rechtsordnung geschützt, solange Letztere die tarifautonome Regelungsbefugnis nicht vollkommen aushöhlt.62
V. Zusammenfassung Die Positionen zum tarifdispositiven Gesetzesrecht sind damit weitgehend uneinheitlich und trotz Klärungsversuchen in der letzten Zeit63 nach wie vor von grundlegenden Streitigkeiten geprägt. Während ein Teil der Literatur über mehr oder weniger ausdifferenzierte Vorschläge zu einem verfassungsrechtlichen Modell gelangt, in dem die Tarifdispositivität arbeitsrechtlicher Schutzvorschriften zum verfassungsrechtlichen Gebot wird, wird dem von anderen eine weitgehende Freiheit des Gesetzgebers bei der Ausgestaltung der Arbeits- und Sozialordnung entgegen gehalten. Der Kern der Streitigkeiten dreht sich dabei nicht um die Ausgestaltung bestimmter Gesetze, sondern um das Verhältnis von staatlicher Gesetzgebungskompetenz und Tarifautonomie. Dabei erlangt die seit jeher umstrittene Frage des Gewährleistungsgehalts der Tarifautonomie eine erhebliche Relevanz (hierzu im 3. Kapitel). Ohne diese Vorfragen zu klären, kann der verfassungsrechtliche Rahmen für das tarifdispositive Gesetzesrecht nicht gezogen werden. Gerade für die Frage, ob es generell oder im Einzelfall eine Pflicht zumindest zur Tarifdispositivität gibt, ist das Verständnis von Tarifautonomie von entscheidender Bedeutung. Denn bei einer solchen Sichtweise dient sie zumindest zum Teil als Destruktivgrundrecht gegen ihren eigenen Geltungsgrund, die 60
Oetker, ZfA 2001, 288 (309 f.). Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht, Bd. I, S. 299 f. 62 Engels, JZ 2008, 490; Preis/Greiner, As.-Drs. 16(11), 771, 21. 63 Bock, Tarifdispositives Arbeitnehmerschutzrecht und Tarifautonomie, passim; Buschmann, FS Richardi, S. 93. 61
B. Verhältnis von Tarifautonomie und staatlichem Gesetzesrecht
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strukturelle Unterlegenheit der Arbeitnehmer zu kompensieren. Diesen Zweck verwirklicht aber die sozialstaatlich motivierte Gesetzgebung, gegen die die Tarifautonomie nach diesem Ansatz als Abwehrgrundrecht in Stellung gebracht wird. Diese Konsequenz sucht zwar ein Teil der Befürworter der weitgehenden Gewährleistung der Normsetzungsbefugnis der Tarifvertragsparteien durch weitgehende Korrekturen im Bereich der Eingriffsrechtfertigung zu vermeiden. Grundlegender ist jedoch, ob in der zwingenden Ausgestaltung arbeitsrechtlicher Vorschriften tatsächlich ein Grundrechtseingriff in Art. 9 Abs. 3 GG gesehen werden kann oder ob sich vor dem Hintergrund von Geltungsgrund und Entstehungsgeschichte der Tarifautonomie ein anderes Bild ergibt.
B. Verhältnis von Tarifautonomie und staatlichem Gesetzesrecht Damit stellt sich die Frage nach dem Verhältnis von Tarifautonomie und staatlichen Gesetzesrecht. Denn die Tarifautonomie steht in einem „permanenten Spannungsverhältnis mit dem sozialstaatlichen Gestaltungsmandat des Gesetzgebers“.64 Die Diskussion um das Verhältnis von Tarifautonomie und staatlichem Gesetz zieht sich wie ein roter Faden durch die Nachkriegsgeschichte des deutschen Arbeitsrechts. Dabei ist nahezu jede denkbare Frage umstritten. Die Argumentationsansätze sind in hohem Maße „heterogen“.65 Dies beginnt bei der Frage von Ausmaß und Umfang des Schutzes der Tarifautonomie durch Art. 9 Abs. 3 GG.
I. Rechtsprechung des BVerfG Vorab soll hier zunächst die Rechtsprechung des BVerfG zum Verhältnis tarifvertraglicher und staatlicher Regelungsbefugnisse im Arbeitsrecht dargestellt werden. Die Rechtsprechung des BVerfG zum Verhältnis von Tarifautonomie und staatlicher Gesetzgebung ist widersprüchlich. Dies resultiert zum einen aus der Aufgabe der Kernbereichsrechtsprechung durch das BVerfG, zum anderen daraus, dass verfassungsrechtliche Angriffe gegen die staatliche Gesetzgebungstätigkeit in der Vergangenheit primär wegen (angeblichen) Verletzungen der negativen Koalitionsfreiheit geführt wurden.66 Das BVerfG hat die Erfolgsaussichten derartiger Angriffe durch eine konsequente, dem Schutzkonzept der Tarifautonomie entsprechende Konturierung des Schutzbereichs der negativen Koalitions64
Höfling in: Sachs, GG, Art. 9, Rn. 135; Stein, ArbuR 1998, 1 (3). Dietlein in: Stern, Staatsrecht IV/1 , § 112 IV 1. c), S. 2006. 66 Vgl. BVerfG 11.7.2006, NJW 2007, 51 ff.; BVerfG 29.12.2004, NZA 2005, 153; BVerfG 3.4.2001, NZA 2001, 777. 65
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2. Kap.: Verfassungsrechtliche Fragen
freiheit begrenzt. Ob die Rechtsprechung zur positiven Koalitionsfreiheit sich parallel entwicklen wird, bleibt abzuwarten. Rechtsprechung des BVerfG hierzu ist bislang nur vereinzelt ergangen, sodass noch Unklarheiten bestehen. Auch lassen die Formulierungen des BVerfG regelmäßig einen erheblichen Interpretationsspielraum zu. Dennoch hat sich das BVerfG vor allem in jüngerer Zeit verstärkt mit der Konturierung des Schutzbereichs der Tarifautonomie befasst. Diese Rechtsprechung soll im Folgenden dargestellt und auf ihre Aussagen zum Schutzumfang der Tarifautonomie hin untersucht werden. 1. Der vorläufige Endpunkt: Die „Tariftreueentscheidung“ Die Rechtsprechung des BVerfG hat eine Entwicklung durchlaufen, die den Schutzbereich der Tarifautonomie immer weiter präzisiert hat. Diese mündet in folgenden Formulierungen des BVerfG vom 11.7.200667: „Die gesetzliche Regelung einer Tariftreueerklärung berührt auch nicht die in Art. 9 III GG enthaltene Bestands- und Betätigungsgarantie der Koalitionen. Das Grundrecht der Koalitionsfreiheit schützt auch die Koalition selbst in ihrem Bestand, ihrer organisatorischen Ausgestaltung und ihren Betätigungen, sofern diese der Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen dienen (. . .). Der Schutz erstreckt sich auf alle koalitionsspezifischen Verhaltensweisen und umfasst insbesondere auch die Tarifautonomie, die im Zentrum der den Koalitionen eingeräumten Möglichkeiten zur Verfolgung ihrer Zwecke steht (. . .). Das Aushandeln von Tarifverträgen ist ein wesentlicher Zweck der Koalitionen (. . .). Der Staat enthält sich in diesem Betätigungsfeld grundsätzlich einer Einflussnahme (. . .) und überlässt die erforderlichen Regelungen der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen zum großen Teil den Koalitionen, die sie autonom durch Vereinbarungen treffen (. . .). Zu den der Regelungsbefugnis der Koalitionen überlassenen Materien gehören insbesondere das Arbeitsentgelt und die anderen materiellen Arbeitsbedingungen (. . .). bb) Weder Betätigungsfreiheit noch Bestand derjenigen Koalitionen, deren Tarifverträge infolge der Tariftreueverpflichtung des erfolgreichen Bieters arbeitsvertraglich in Bezug genommen werden, sind betroffen. Ihre sich aus der Betätigungsfreiheit ergebende Normsetzungsbefugnis ist schon deshalb nicht berührt, weil sich dieses Recht ohnehin nur auf die tarifgebundenen Arbeitgeber und Arbeitnehmer und nicht auf Außenseiter bezieht (. . .). Außerdem führt die Tariftreueverpflichtung auf der Grundlage des § 1 Abs. 1 Satz 2 VgG Bln nicht zu einer staatlichen Normsetzung in einem Bereich, in dem den tarifautonom gesetzten Absprachen der Sozialpartner ein Vorrang zukommt. Die örtlichen tarifvertraglichen Entgeltabreden werden nicht kraft staatlicher Geltungsanordnung Inhalt der Arbeitsverträge der bei der Auftragsausführung eingesetzten Mitarbeiter, sondern nach individualvertraglicher Umsetzung der Tariftreueverpflichtung durch den Arbeitgeber.
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NJW 2007, 51 ff.
B. Verhältnis von Tarifautonomie und staatlichem Gesetzesrecht
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Konkurrierende Rechtsetzungskompetenzen des Staates und der Tarifvertragsparteien treffen nicht aufeinander. Den tarifvertragsschließenden Koalitionen erwächst deshalb aus Art. 9 Abs. 3 GG auch kein verfassungsrechtlich geschütztes Interesse an einer Beteiligung am Verfahren der Tariftreueerklärung.“
2. Die Betätigungsgarantie und die Reichweite des Schutzes der tarifvertraglichen Regelungsbefugnis Die Entscheidung ist ein Bausatz aus der bisherigen Rechtsprechung des BVerfG zur Reichweite des Schutzes der Betätigungsfreiheit der Koalitionen. Die Tarifautonomie wird vom BVerfG mehrfach als Bestandteil dieser Gewährleistung angesehen: „Der Schutz erstreckt sich auf alle koalitionsspezifischen Verhaltensweisen und umfasst insbesondere auch die Tarifautonomie, die im Zentrum der den Koalitionen eingeräumten Möglichkeiten zur Verfolgung ihrer Zwecke steht.“68
Aus einer Gesamtbetrachtung der neueren Rechtsprechung des BVerfG ist damit, auch wenn die Terminologie der Entscheidungen teilweise unterschiedlich ist, abzuleiten, dass das BVerfG vom Schutzbereich der Koalitionsfreiheit alle koalitionsspezifischen Verhaltensweisen69 oder koalitionsmäßigen Betätigungen70 als erfasst ansieht. Bestandteil dieser Gewährleistung ist die Tarifautonomie. Damit wird sie vom BVerfG jedenfalls auch71 als Bestandteil des grundrechtlichen Schutzbereichs betrachtet. Allerdings beschränkt sich die vorstehende Formulierung auf eine verfahrensmäßige Komponente. Die Tarifautonomie wird nämlich als Möglichkeit zur Zweckverfolgung, mithin als Tätigkeit begriffen. Dies ist eher eine auf das Verfahren zur Tarifnormsetzung, denn eine auf eine materielle Regelungsbefugnis bezogene Formulierung. Die Tarifautonomie schützt damit nach der Rechtsprechung des BVerfG die Normsetzungsbefugnis der Tarifvertragsparteien. Dies wird aus mehreren Entscheidungen des BVerfG deutlich. Besonders die Formulierung „Ihre sich aus der Betätigungsfreiheit ergebende Normsetzungsbefugnis ist schon deshalb nicht berührt [. . .]“ 72 spricht dafür, dass die Normsetzungsbefugnis der Tarifvertragsparteien vom Schutzbereich der Tarifvertragsparteien erfasst ist.
68 BVerfG 29.12.2004, NZA 2005, 153; BVerfG 3.4.2001, NZA 2001, 777 (778); BVerfG 27.4.1999, NJW 1999, 2033 (3034); ähnlich BVerfG 24.4.1996, NJW 1997, 513. 69 BVerfG 29.12.2004, NZA 2005, 153; BVerfG 3.4.2001, NZA 2001, 777 (778); BVerfG 27.4.1999, NJW 1999, 3033 (3034). 70 BVerfG 24.4.1996, NJW 1997, 513. 71 Zur Frage der Ausgestaltung vgl. unten 2. Kap. C. II., 3. Kap. E. XII. 72 BVerfG 11.7.2007, NJW 2007, 51 (53), Rz. 73.
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2. Kap.: Verfassungsrechtliche Fragen
3. Der verfassungsmäßige Schutz der tarifvertraglichen Regelungsbefugnis Diese Normsetzungsbefugnis ist nach dem Verständnis des BVerfG aber auch eine materielle Regelungsbefugnis. Denn das BVerfG sieht in einer staatlichen Regelung des Inhalts von Arbeitsverhältnissen einen Eingriff in die Tarifautonomie. Dies ergibt sich vor allem aus den Entscheidungen des BVerfG zur Verfassungsmäßigkeit der Berliner Tariftreueregelung73 und zur Verfassungsmäßigkeit des Gleichbehandlungsgrundsatzes für Leiharbeitnehmer (§§ 3 Abs. 1 Nr. 3, 9 Nr. 2 AÜG).74 Dort heißt es: „Art. 9 Abs. 3 GG verleiht den Tarifvertragsparteien in dem für tarifvertragliche Regelungen zugänglichen Bereich zwar ein Normsetzungsrecht, aber kein Normsetzungsmonopol. Der Gesetzgeber bleibt befugt, das Arbeitsrecht zu regeln (vgl. Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG). Damit verbundene Beeinträchtigungen der Tarifautonomie sind verfassungsgemäß, wenn der Gesetzgeber mit ihnen den Schutz der Grundrechte Dritter oder anderer mit Verfassungsrang ausgestatteter Belange bezweckt und wenn sie den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit wahren (. . .).“75 „Ihre [die der Koalitionen] sich aus der Betätigungsfreiheit ergebende Normsetzungsbefugnis ist schon deshalb nicht berührt, weil sich dieses Recht ohnehin nur auf die tarifgebundenen Arbeitgeber und Arbeitnehmer und nicht auf Außenseiter bezieht (. . .). Außerdem führt die Tariftreueverpflichtung auf der Grundlage des § 1 Abs. 1 Satz 2 VgG Bln nicht zu einer staatlichen Normsetzung in einem Bereich, in dem den tarifautonom gesetzten Absprachen der Sozialpartner ein Vorrang zukommt. Die örtlichen tarifvertraglichen Entgeltabreden werden nicht kraft staatlicher Geltungsanordnung Inhalt der Arbeitsverträge der bei der Auftragsausführung eingesetzten Mitarbeiter, [. . .].76
Die Entscheidungen können so verstanden werden, dass den Tarifvertragsparteien eine Normsetzungsbefugnis nicht nur als verfahrensmäßiger Schutz zukommt, sondern auch die inhaltliche Gestaltung des Arbeitsverhältnisses vom Schutzbereich der Tarifautonomie erfasst wird. Auch zum Umfang dieser Gewährleistung äußert sich das BVerfG: „Zu den der Regelungsbefugnis der Koalitionen überlassenen Materien gehören insbesondere das Arbeitsentgelt und die anderen materiellen Arbeitsbedingungen (. . .), wie etwa die Dauer von Arbeit und Urlaub.“77
Danach stellt die zwingende staatliche Regelung von Gegenständen, die Inhalt des Arbeitsverhältnisses sein können, nach der Rechtsprechung des BVerfG einen Eingriff in die Tarifautonomie dar. 73
BVerfG 11.7.2007, NJW 2007, 51 (53). BVerfG 29.12.2004, NZA 2005, 153 (154). 75 BVerfG 29.12.2004, NZA 2005, 153 (154). 76 BVerfG 11.7.2006, NJW 2007, 51 (53). 77 BVerfG 3.4.2001, NZA 2007, 777 (778); ähnlich, aber ohne Erwähnung von Arbeitszeit und Urlaub: BVerfG 11.7.2006, NJW 2007, 51 (53); BVerfG 29.12.2004, NZA 2005, 153 (154). 74
B. Verhältnis von Tarifautonomie und staatlichem Gesetzesrecht
77
4. Tarifdispositives Gesetzesrecht als Grundrechtseingriff Für tarifdispositives Gesetzesrecht hat das BVerfG die Entscheidung offen gelassen. Teilweise wird dies bestritten und sogar für tarifdispositive Gesetze ein Eingriff angenommen.78 Dies lässt sich aber aus der in Bezug genommenen Entscheidung gerade nicht herleiten, weil das BVerfG die Frage ausdrücklich offen lässt.79 5. Die dogmatische Lösung des BVerfG: Ausweitung der Eingriffsrechtfertigung Das BVerfG löst den Konflikt zwischen staatlicher Normsetzungsbefugnis und Art. 9 Abs. 3 GG auf der Rechtfertigungsebene. Dies folgt aus folgenden Ausführungen: „Die in Art. 9 Abs. 3 GG garantierte Koalitionsfreiheit kann zum Schutz von Gemeinwohlbelangen eingeschränkt werden, denen gleichermaßen verfassungsrechtlicher Rang gebührt (. . .). Dem Gesetzgeber ist es, wenn solche Gründe vorliegen, grundsätzlich nicht verwehrt, Fragen zu regeln, die Gegenstand von Tarifverträgen sein können (. . .). Art. 9 Abs. 3 GG verleiht den Tarifvertragsparteien in dem für tarifvertragliche Regelungen zugänglichen Bereich zwar ein Normsetzungsrecht, aber kein Normsetzungsmonopol. Der Gesetzgeber bleibt befugt, das Arbeitsrecht zu regeln (vgl. Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG). Damit verbundene Beeinträchtigungen der Tarifautonomie sind verfassungsgemäß, wenn der Gesetzgeber mit ihnen den Schutz der Grundrechte Dritter oder anderer mit Verfassungsrang ausgestatteter Belange bezweckt und wenn sie den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit wahren (. . .).“
Danach kann der Gesetzgeber den Eingriff in die Tarifautonomie, den er durch die Regelung von Gegenständen, die Gegenstand von Tarifverträgen sein können, vornimmt, verfassungsrechtlich rechtfertigen. Dies ist der Fall, wenn er sich auf den Schutz von Grundrechten Dritter oder andere mit Verfassungsrang ausgestattete Belange stützen kann und den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit wahrt. Die Anforderungen an Letzteren ergeben sich maßgeblich aus der Wirkkraft des Grundrechts, die das BVerfG wie folgt bestimmt: „Der Grundrechtsschutz ist nicht für alle koalitionsmäßigen Betätigungen gleich intensiv. Die Wirkkraft des Grundrechts nimmt vielmehr in dem Maße zu, in dem eine Materie aus Sachgründen am besten von den Tarifvertragsparteien geregelt werden kann, weil sie nach der dem Art. 9 III GG zugrundeliegenden Vorstellung des Verfassungsgebers die gegenseitigen Interessen angemessener zum Ausgleich bringen können als der Staat. Das gilt vor allem für die Festsetzung der Löhne und der anderen materiellen Arbeitsbedingungen. Die sachliche Nähe einer Materie im Bereich von Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen zur Tarifautonomie wird äußerlich an dem 78 So Bock, Tarifdispositives Arbeitnehmerschutzrecht und Tarifautonomie, S. 313 f., die dies fälschlicherweise aus der Entscheidung BVerfG 29.12.2004, NZA 2005, 153 (154) folgert. 79 BVerfG 29.12.2004, NZA 2005, 153 (154).
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2. Kap.: Verfassungsrechtliche Fragen Umfang erkennbar, in dem die Tarifvertragsparteien in der Praxis von ihrer Regelungsmacht Gebrauch machen. [. . .] Bestehende tarifvertragliche Regelungen genießen grundsätzlich einen stärkeren Schutz als die Tarifautonomie in Bereichen, die die Koalitionen ungeregelt gelassen haben. Die Abstufung des Schutzes, den Art. 9 III GG gewährt, wirkt sich in den Anforderungen aus, die an die Rechtfertigung von Eingriffen zu stellen sind. Je gewichtiger der Schutz, den Art. 9 III GG insofern verleiht, desto schwerwiegender müssen die Gründe sein, die einen Eingriff rechtfertigen sollen.“80
Dieser Kontrollmaßstab scheint zunächst streng zu sein. Allerdings weicht das BVerfG ihn in verschiedenen Entscheidungen massiv auf. Dies geschieht im Wesentlichen über zwei dogmatische Figuren. Zum einen über die staatliche Schutzpflicht für die Berufsfreiheit der Arbeitnehmer81 und zum anderen über das Sozialstaatsprinzip und die damit verbundene Aufgabe des Gesetzgebers, die Massenarbeitslosigkeit zu bekämpfen.82 Das BVerfG erweitert bei deren Prüfung deutlich die Möglichkeiten der Eingriffsrechtfertigung. An sich würde man bei diesen beiden Gesichtspunkten eine normale Prüfung der Verhältnismäßigkeit erwarten. Nicht so das BVerfG: „Bei der Umsetzung eines solchen Programms hat der Gesetzgeber im Bereich arbeitsrechtlicher Regelungen einen großen Gestaltungsspielraum (. . .). Sozialstaatlich motivierte, zum Schutz der abhängig Beschäftigten eines Wirtschaftszweiges vernünftige und zweckmäßig typisierende Regelungen zulässiger Formen unselbstständiger Arbeit muss der Einzelne als Grenzen seiner unternehmerischen Tätigkeit grundsätzlich als zumutbar hinnehmen. Zwingende Regelungen des Arbeitsrechts schaffen erst den Rahmen, in dem die mehrheitlich abhängig Beschäftigten ihre Grundrechte aus Art. 12 Abs. 1 GG unter angemessenen Bedingungen verwirklichen können. Sie rechtfertigen sich daraus, dass der Individualarbeitsvertrag vielfach ein unzureichendes Instrument zur Begründung eines sozial angemessenen Arbeitsverhältnisses darstellt (. . .). Dies gilt für die hier angegriffenen Gesetzesnormen umso mehr, als sie nicht als zwingende, sondern als tarifdispositive Regelungen ausgestaltet sind. Den Tarifvertragsparteien soll nach dem Willen des Gesetzgebers gerade die Möglichkeit gegeben werden, „die Arbeitsbedingungen flexibel zu gestalten“ (. . .).“
Sodann führt es zur Geeignetheit des Eingriffs aus: „Dabei ist vor allem zu berücksichtigen, dass dem Gesetzgeber auf dem Gebiet der Arbeitsmarkt-, Sozial- und Wirtschaftsordnung ein besonders weitgehender Einschätzungs- und Prognosevorrang zukommt (. . .). Es ist vornehmlich seine Sache, auf der Grundlage seiner arbeitsmarkt-, sozial- und wirtschaftspolitischen Vorstellungen und Ziele und unter Beachtung der Sachgesetzlichkeiten des betreffenden Sachgebiets zu entscheiden, welche Maßnahmen er im Interesse des Gemeinwohls ergreifen will.“83 80
BVerfG 24.4.1996, NJW 1997, 513 (514). BVerfG 29.12.2004, NZA 2005, 153 (154). 82 BVerfG 29.12.2004, NZA 2005, 153 (154); BVerfG 3.4.2001, NZA 2001, 777 (778); BVerfG 27.4.1999, NJW 1999, 3033 (3034). 83 BVerfG 29.12.2004, NZA 2005, 153 (154). 81
B. Verhältnis von Tarifautonomie und staatlichem Gesetzesrecht
79
In einer anderen Entscheidung wird der Kontrollmaßstab auch bei der Erforderlichkeit und der Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne aufgeweicht: „Es ist jedoch nicht von Verfassungs wegen zu beanstanden, dass der Gesetzgeber die Gesamtheit der von ihm angestrebten Entlastungseffekte durch solche Maßnahmen geringer eingeschätzt hat als die einer Anrechnung von Kurtagen auf den Erholungsurlaub [. . .]. Demgegenüber stellt die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit in Verbindung mit der Gewährleistung der finanziellen Stabilität des Systems der sozialen Sicherung ein besonders wichtiges Ziel dar, bei dessen Verwirklichung dem Gesetzgeber gerade unter den gegebenen schwierigen arbeitsmarktpolitischen und haushaltspolitischen Bedingungen ein relativ großer Entscheidungsspielraum zugestanden hat.“84
Diese Grundsätze werden in der Tariftreueentscheidung des BVerfG noch weiter aufgeweicht.85 Hier findet sich auf allen Ebenen der Rechtfertigung eines Grundrechtseingriffs die Betonung des weiten Einschätzungs- und Ermessensspielraums des Gesetzgebers.86 Diese Entscheidung sollte allerdings vorstehend nicht zum Schwerpunkt der Ausführungen gemacht werden, weil sie sich mit den vorstehenden Rechtfertigungstatbeständen im Rahmen eines Eingriffs in die Berufsfreiheit befasst. Genau in dieser Frage liegt aber die Brisanz und der entscheidende Wandel in der Rechtsprechung des BVerfG. Denn keine der vom BVerfG nach der erstmaligen Entscheidung zum Eingriff in die Tarifautonomie durch zwingendes Gesetzesrecht87 für die grundrechtliche Rechtfertigung in Bezug genommenen Entscheidungen beschäftigte sich mit Eingriffen88 in die Tarifautonomie. Vielmehr ist die Dogmatik zu den mobilisierten Rechtfertigungstatbeständen nahezu ausschließlich der Rechtsprechung zu Art. 12 Abs. 1 GG oder 2 Abs. 1 GG entlehnt.89 Sie betrifft lediglich in einem einzigen Ausnahmefall, der 84
BVerfG 3.4.2001, NZA 2001, 777 (779). BVerfG 11.7.2006, NJW 2007, 51; Höfling/Rixen, RdA 2007, 360 (365); Preis/ Ulber, D., NJW 2007, 465 (470); sowie Preis/Greiner, ZfA 2009, 825 (834 ff.). 86 BVerfG 11.7.2006, NJW 2007, 51. 87 BVerfG 24.4.1996, NJW 1997, 513 ff. 88 BVerfG 1.3.1979, NJW 1979, 699 ff., beschäftigt sich mit der Ausgestaltung der Tarifautonomie, nicht mit einem Eingriff in diese, und betrifft auch primär nur die Anforderungen an die Prognose des Gesetzgebers hinsichtlich der Effekte der Ausgestaltung. 89 In Bezug genommen werden in BVerfG 3.4.2001, NZA 2001, 777 (778): BVerfGE 25, 1 = BVerfG vom 18.12.1968, NJW 1969, 499 (Mühlengesetz), betrifft einen Eingriff in Art. 12 Abs. 1 GG; BVerfGE 37, 1 (20) = BVerfG 5.3.1974, NJW 1974, 1317 (Weinwirtschaftsgesetz), betrifft einen Eingriff in Art. 2 Abs. 1 GG; die Ausführungen in BVerfGE 51, 193 (208) = BVerfG vom 22.5.1979, NJW 1980, 383 (Lagenamen von Weinen), betreffen Art. 12 Abs. 1 GG; BVerfGE 77, 84 (106 f.) = NJW 1989, 1195 (Verbot der Arbeitnehmerüberlassung im Baugewerbe), betrifft Art. 12 Abs. 1 GG; BVerfGE 87, 363 (383) = NVwZ 1993, 878 (Nacht- und Sonntagsbackverbot), betrifft Art. 12 Abs. 1 GG. BVerfG 29.12.2004, NZA 2005, 153 (154), verweist lediglich auf die obenstehende Entscheidung und die in ihr enthaltenen Nachweise. 85
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2. Kap.: Verfassungsrechtliche Fragen
die Anforderungen an die Einschätzungsprärogative betrifft, die Ausgestaltung, nicht aber einen Eingriff in die Tarifautonomie durch das Mitbestimmungsgesetz.90 Daraus wird der rechtliche Reflex, den Erweiterungen von grundrechtlichen Schutzbereichen auslösen, noch einmal besonders transparent ersichtlich: sie lösen eine Korrektur über die grundrechtliche Rechtfertigung aus.91 Im Falle der Tarifautonomie hat das BVerfG einen zu Art. 12 Abs.1 GG entwickelten Rechtfertigungstatbestand in die Koalitionsfreiheit transplantiert, weil es sich durch die von ihm vorgenommene Ausweitung des Schutzbereichs in einen Rechtfertigungsnotstand versetzt hatte. Dies ist, wie noch zu zeigen ist, nicht unproblematisch.92 6. Konsequenz: Begrenzter tatsächlicher Schutz der Tarifautonomie Das BVerfG nimmt den faktischen Schutz der Tarifautonomie, soweit es die Regelungsbefugnis für den Inhalt des Arbeitsverhältnisses betrifft93, stark zurück. Es ist schwer vorstellbar, dass zwingende arbeitsrechtliche Regelungen, die dem Schutz des Arbeitnehmers oder dem Sozialstaatsprinzip dienen, an den Kontrollmaßstäben des BVerfG scheitern.94 Damit wird der scheinbar weitgehende verfassungsrechtliche Schutz der Tarifautonomie vom BVerfG wieder deutlich zurück gefahren. Oetker hat den Effekt der Ausweitung des Schutzbereichs und eines daraus folgenden Rückgriffs auf das Sozialstaatsprinzip als Eingriffsrechtfertigung treffend umschrieben. Denn „bei diesem Ansatz ist allerdings die Gefahr nicht von der Hand zu weisen, dass das bewusst offen formulierte Sozialstaatsprinzip zum Transmissionsriemen denaturiert, der jedwede Gemeinwohlerwägung des Gesetzgebers in den Rang eines verfassungsrechtlich geschützten Rechtsguts erhebt.“ 95 Die Frage, ob damit ein Gewinn gegenüber einer restrikDie von BVerfG 27.4.1999, NJW 1999, 2033 (3034) in Bezug genommene Rspr. zum Sozialstaatsprinzip beschäftigt sich ebenfalls nicht mit der Tarifautonomie, insbes. betrifft BVerfGE 84, 133 (155), NJW 1991, 1667 (Arbeitsverhältnisse im öffentlichen Dienst der DDR), lediglich Art. 12 Abs. 1 GG. 90 BVerfGE 50, 290 (338) = BVerfG vom 1.3.1979, NJW 1979, 699 ff., wird von BVerfG 3.4.2001, NZA 2001, 777 (779) in Bezug genommen. 91 Zu dieser Gefahr Böckenförde, Der Staat 42 (2003), 165 (190); Pieroth/Schlink, Grundrechte, Rn. 228 ff.; vgl. dazu unten 2. Kap. C. IV 3. a), sowie Rusteberg, Der grundrechtliche Gewährleistungsgehalt, S. 65; vgl. auch Bryde in: Arbeitsmarkpolitik im Spannungsfeld von Gesetzgebung und Tarifautonomie, S. 68. 92 Vgl. unten 2. Kap. C. IV. 93 Die vorstehenden Grundsätze sind auf eine Ausgestaltung der Tarifautonomie keinesfalls übertragbar, weil diese das Verfahren der Tarifeinigung, nicht ihren Inhalt betrifft. Die Rechtfertigungstatbestände können damit keinesfalls für die Umgestaltung des Tarifvertragssystems oder ähnliche Maßnahmen des Gesetzgebers herangezogen werden. 94 Preis/Ulber, D., NJW 2007, 465 (470); Sansone/Ulber, D., AuR 2008, 125 (131); sowie Preis/Greiner, ZfA 2009, 825 (834 ff.). 95 Oetker, ZG 1998, 155 (162).
B. Verhältnis von Tarifautonomie und staatlichem Gesetzesrecht
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tiveren und klarer konturierten Fassung des Schutzbereichs bei restriktiver Anwendung von Rechtfertigungstatbeständen besteht, muss erlaubt sein.96 Denn eine qualitative Verbesserung oder Verschlechterung des Grundrechtsschutzes hängt weniger an der Frage der Ebene, auf der das Sozialstaatsprinzip berücksichtigt wird, als daran, welche konkreten Vorgaben und Ergebnisse aus seiner Berücksichtigung für das staatliche Handeln erwachsen. Die Frage, ob sozialstaatliche Elemente auch auf der Auslegungsebene von Grundrechten zu berücksichtigen sind oder exklusiv der Rechtfertigungsebene zuzuordnen sind, ist damit aufgeworfen. Ihr wird im weiteren Verlauf mit Blick auf die Tarifautonomie noch nachzugehen sein.97 7. Die Rechtsprechung des BVerfG vor Aufgabe der Kernbereichsrechtsprechung Für das Verständnis der Rechtsprechung sei hier noch auf die Rechtsprechung des BVerfG vor Aufgabe der Kernbereichsrechtsprechung eingegangen. Die Rechtsprechung vor Aufgabe der Kernbereichstheorie durch Urteil vom 14.11.199598 trägt das neue „Schutzkonzept“ des BVerfG nicht. Zunächst einmal beschränkt diese sich auf die Gewährleistung des verfahrensmäßigen Schutzes der Tarifautonomie. Exemplarisch hierfür folgende Ausführung des BVerfG: „Das Grundrecht beschränkt sich auch nicht auf die Freiheit des einzelnen, eine derartige Vereinigung zu gründen, ihr beizutreten oder fernzubleiben oder sie zu verlassen. Es schützt vielmehr ebenso die Koalition selber in ihrem Bestand, ihrer organisatorischen Ausgestaltung und ihrer Betätigung, soweit diese gerade in der Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen besteht. Das ist zwar im Gegensatz zur Weimarer Verfassung nicht ausdrücklich ausgesprochen, ergibt sich aber aus der Aufnahme des Vereinigungszwecks in den Schutzbereich des Grundrechts (. . .). Ein wesentlicher Zweck, der von Art. 9 III GG geschützten Koalitionen, ist der Abschluss von Tarifverträgen. Darin sollen die Vereinigungen nach dem Willen des Grundgesetzes frei sein (. . .).“99
Darin kommt zunächst einmal lediglich der Schutz des Abschlusses, nicht aber des Inhaltes der Tarifvereinbarungen zum Ausdruck. Denn von einer inhaltlichen Komponente ist hier keine Rede. Diese Sichtweise durchzieht auch die vorhergehende Rechtsprechung des BVerfG, auch wenn diese nicht immer präzise formuliert ist. So hört sich eine Passage des Mitbestimmungsurteils100 bei oberfläch-
96
Vgl. dazu 2. Kap. IV. 2. Siehe dazu unten 2. Kap. G. 98 BVerfG 14.11.1995, NJW 1996, 1201. 99 BVerfG 26.6.1991, NJW 1991, 2549 f. 100 BVerfG 1.3.1979, NJW 1979, 699 (708 f.). 97
82
2. Kap.: Verfassungsrechtliche Fragen
licher Betrachtungsweise nach der Gewährleistung einer materiellen Regelungsbefugnis an: „Elemente der Gewährleistung sind die Gründungs- und Beitrittsfreiheit, die Freiheit des Austritts und des Fernbleibens sowie der Schutz der Koalition als solcher (. . .) und ihr Recht, durch spezifisch koalitionsmäßige Betätigung die in Art. 9 III GG genannten Zwecke zu verfolgen (. . .]). Hierzu gehört der Abschluss von Tarifverträgen, durch die die Koalitionen insbesondere Lohn- und sonstige materielle Arbeitsbedingungen in einem Bereich, in dem der Staat seine Regelungszuständigkeit weit zurückgenommen hat, in eigener Verantwortung und im Wesentlichen ohne staatliche Einflussnahme regeln (. . .); insofern dient die Koalitionsfreiheit einer sinnvollen Ordnung des Arbeitslebens (. . .).“101
Die Formulierung „hierzu gehört der Abschluss von Tarifverträgen“ beschränkt die Gewährleistung aber wiederum nur auf eine Verfahrenskomponente. Was die Tarifvertragsparteien durch diese Gewährleistung in eigener Verantwortung regeln, bezieht sich nicht auf diese Gewährleistung102, sondern stellt lediglich die Rechtswirklichkeit, in der sich die Entscheidung bewegt, dar. Auch geht es hier vorrangig um die Ausgestaltungskompetenz des Gesetzgebers für die Tarifautonomie, die das BVerfG sehr weit fasst: „Das Nebeneinander von Tarifvertragssystem und Mitbestimmung, das sich damit ergibt, kann zu Gewichtsverlagerungen, aber auch zu Konkurrenzen führen, die einen Ausgleich erforderlich machen. Einen solchen herzustellen ist der Gesetzgeber aufgrund seiner Regelungskompetenz befugt. Das schließt die Zulässigkeit von Beschränkungen der Tarifautonomie ein, wenn diese im Prinzip erhalten und funktionsfähig bleibt.“103
Dass das BVerfG hier eben keine Gewährleistung der inhaltlichen Gestaltung (außerhalb des Kernbereichs) festlegen wollte, ergibt sich auch aus den in Bezug genommenen Entscheidungen. So formuliert BVerfGE 44, 322 (340)104: „Den frei gebildeten Koalitionen ist durch Art. 9 III GG die im öffentlichen Interesse liegende Aufgabe zugewiesen und in einem Kernbereich garantiert, insbesondere Löhne und sonstige materielle Arbeitsbedingungen in einem von staatlicher Rechtsetzung frei gelassenen Raum in eigener Verantwortung und im Wesentlichen ohne staatliche Einflußnahme durch unabdingbare Gesamtvereinbarungen sinnvoll zu ordnen (. . .). Der Gesetzgeber hat den Koalitionen auf der Grundlage dieser historisch gewachsenen Bedeutung des Grundrechts der Koalitionsfreiheit im Tarifvertragsgesetz das Mittel des Tarifvertrags an die Hand gegeben, damit sie die von Art. 9 III GG intendierte autonome Ordnung des Arbeitslebens verwirklichen können (. . .).“
101 102 103 104
BVerfG 1.3.1979, NJW 1979, 699 (708 f.). Auf diesen Unterschied verweist auch Otto, FS Zeuner, S. 121 (131). BVerfG 1.3.1979, NJW 1979, 699 (708 f.). = BVerfG 24.5.1977, NJW 1977, 2255.
B. Verhältnis von Tarifautonomie und staatlichem Gesetzesrecht
83
Hier wird wiederum der Schutz des Normsetzungsverfahrens erwähnt, allerdings mit einer Zweckverknüpfung. Jene bezieht sich auf die autonome Ordnung des Arbeitslebens, die Art. 9 Abs. 3 GG intendiert. Jedoch sind in der Entscheidung wesentliche Einschränkungen enthalten. Zunächst wird dieses Recht nur auf eine im Wesentlichen ohne staatliche Einflussnahme erfolgende Normsetzung bezogen. Die entsprechende Passage der Entscheidung ist aber auf das Verfahren, das zur Tarifeinigung führt, gemünzt. Wesentlich bedeutsamer ist die stereotype Formulierung des BVerfG, die Garantie der Vereinbarung materieller Arbeitsbedingungen und des Entgelts erstrecke sich nur auf einen Kernbereich. Diese weist darauf hin, dass grundsätzlich die staatliche Regelung von Gegenständen, die Inhalt eines Tarifvertrags sein können, nicht vom Schutzbereich des Art. 9 Abs. 3 GG erfasst wird. Vielmehr wird nur der Kernbereich dieser Normsetzung gewährleistet. Das ist aber nichts anderes, als der bereits durch die Verfahrensgarantie gewährleistete Schutz vor Aushöhlung der Tarifautonomie durch weitgehende Konsumtion tarifvertraglich regelbarer Gegenstände durch zwingende staatliche Gesetzgebung. Deutlich näher an der inhaltlichen Gestaltung des Arbeitsverhältnisses orientiert ist die Entscheidung des BVerfG zum Heimarbeitsgesetz. Dort wird – und die zeitliche Nähe zur Schrift Biedenkopfs105 dürfte nicht rein zufällig sein – wie folgt formuliert: „Das grundlegend Besondere in diesem Bereich ist, dass der Staat seine Zuständigkeit zur Rechtsetzung, soweit es sich um den Inhalt von Arbeitsverträgen handelt, weit zurückgenommen hat. Er hat kraft der Grundentscheidung des Art. 9 Abs. 3 GG die Bestimmung über alle regelungsbedürftigen Einzelheiten des Arbeitsvertrages den in den Tarifparteien organisierten Arbeitnehmern und Arbeitgebern zu überlassen. Dieses Prinzip setzt voraus, daß es „überall“, wo ein Bedürfnis dafür besteht, also der Individualarbeitsvertrag ein unzureichendes Instrument zur Begründung eines sozial angemessenen Arbeitsverhältnisses darstellt, solche organisierten Tarifparteien gibt. Die durch die Vereinbarung der Tarifparteien begründeten und nach Maßgabe des Tarifvertragsgesetzes verbindlichen Regeln für den Inhalt der davon erfaßten Arbeitsverträge sind, wie immer man das im einzelnen begründen mag (. . .), Rechtsregeln („normative Bestandteile des Tarifvertrages“) kraft Anerkennung durch die staatliche Gewalt, vorbehaltlich ihrer hier nicht weiter interessierenden Begrenzung durch die staatlichen Gesetze. Dieses Zurücktreten des Staates zugunsten der Tarifparteien gewinnt seinen Sinn ebensosehr aus dem Gesichtspunkt, daß die unmittelbar Betroffenen besser wissen und besser aushandeln können, was ihren beiderseitigen Interessen und dem gemeinsamen Interesse entspricht, als der demokratische Gesetzgeber, wie aus dem Zusammenhang mit dem für die Gestaltung nicht öffentlich-rechtlicher Beziehungen charakteristischen Prinzip der „Privatautonomie“, im Grunde also der Entscheidung des Grundgesetzes zugunsten des freiheitlich-demokratischen Rechtsstaates.“106
105 106
„Grenzen der Tarifautonomie“ wurde 1964 veröffentlicht. BVerfG 27.2.1973, NJW 1973, 1320 (1321 f.).
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2. Kap.: Verfassungsrechtliche Fragen
Hier findet sich ein Bezug auf die inhaltliche Gestaltung des Arbeitsverhältnisses und die klassischen Argumente der Subsidiaritätslehre. Die Sachnähe wird ebenso heran gezogen wie der Autonomiegedanke. Auch die weite Zurücknahme der Zuständigkeit zur Gesetzgebung, also des „ob“ eines Gesetzes, nicht seines „wie“, wird angesprochen. Dennoch findet sich auch hier der Vorbehalt, dass der Tarifvertrag nur innerhalb der Begrenzung durch die staatlichen Gesetze gilt. Die Entscheidungen des BVerfG zur Mitgliederwerbung von Personalratsmitgliedern107, sowie zur Tariffähigkeit von Handwerksinnungen108 operieren wieder mit dem Begriff des Schutzes des Kernbereichs. Allerdings wird hier eine wichtige Beziehung hergestellt: „Den Koalitionen ist durch Art. 9 Abs. 3 GG die Aufgabe zugewiesen und in einem Kernbereich gewährleistet, die Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen in eigener Verantwortung und im Wesentlichen ohne staatliche Einflußnahme zu gestalten. Sie erfüllen dabei eine öffentliche Aufgabe.“
Die Tätigkeit der Koalitionen ist nach diesem Verständnis die Verwirklichung einer staatlichen Aufgabe. Mithin sind Tarifverträge mit ihrer Ordnungsfunktion für das Arbeitsverhältnis nach dieser Entscheidung nicht etwa eine aus verfassungrechtlicher Sicht optionale Einwirkung auf das Arbeitsverhältnis. Die durch den Tarifvertrag entstehende Ordnung des Arbeitslebens verwirklicht eine von der Verfassung vorgesehene öffentliche Aufgabe. Ihre Erfüllung steht damit nicht zur Disposition des Gesetzgebers.109 Über die Mittel, derer sich der Gesetzgeber dabei bedienen kann, ist damit allerdings noch nichts gesagt. Die Tarifautonomie ist dann aber auch lediglich Option zur Verwirklichung der öffentlichen Aufgabe. Der Staat kann sich zur Erfüllung der öffentlichen Aufgabe aber auch auf andere Instrumente stützen. Eine weitaus stärkere Betonung der Grenzen der tariflichen Regelungsmacht, was den Inhalt des Arbeitsverhältnisses betrifft, enthält die Entscheidung des BVerfG zum Gewerkschaftsbegriff i. S. d. TVG: „Ausdrücklich spricht das Grundgesetz dabei allerdings weder von Tarifverträgen noch von Tariffähigkeit. Indes ist die Koalitionsfreiheit nur dann sinnvoll, wenn die Rechtsordnung den Koalitionen auch die Erreichung ihres in Art. 9 Abs. 3 GG bezeichneten Zweckes, nämlich die Arbeitsbedingungen und Wirtschaftsbedingungen ihrer Mitglieder zu wahren und zu fördern, gewährleistet; das tut sie nur, wenn sie der Koalition das Recht gibt, diesen Zweck durch spezifisch koalitionsgemäße Betätigung zu verwirklichen. In der modernen Marktwirtschaft und für den zu ihr gehörigen freien Arbeitsvertrag hat sich im In- und Ausland der Tarifvertrag als das rechtliche Mittel herausgebildet, durch das die Koalitionen im Verein mit dem sozialen Gegenspieler die Arbeitsbedin107 108 109
BVerfG 26.5.1970, NJW 1970, 1635. BVerfG 19.10.1966, NJW 1966, 2305. A. A. Friese, Kollektive Koalitionsfreiheit und Betriebsverfassung, S. 53.
B. Verhältnis von Tarifautonomie und staatlichem Gesetzesrecht
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gungen, soweit sie in der arbeitsrechtlichen Gesetzgebung offengeblieben sind, insbesondere die Löhne und Gehälter für die verschiedenen Wirtschaftszweige und Berufe sowie für räumlich begrenzte Bezirke und jeweils bestimmte Zeitspannen festlegen; [. . .]. . . . Beide rechtlichen Möglichkeiten führen letztlich zu der gleichen Frage, nämlich ob gerade die Kampfbereitschaft generell so wesentlich ist, daß ohne sie die im öffentlichen Interesse den Koalitionen übertragene Aufgabe, im Verein mit dem sozialen Gegenspieler das Arbeitsleben zu ordnen und zu befrieden, nicht erfüllt werden kann.“110
Hier findet sich wieder die Beschränkung auf die Bereiche, die die arbeitsrechtliche Gesetzgebung offen gelassen hat. Auf eben diese Bereiche beschränkt sich dann auch die verfassungsmäßig geschützte Tätigkeit der Koalitionen. Auch wird wiederum der öffentliche Charakter der Aufgabe der Ordnung und Befriedung des Arbeitslebens betont. Diese steht und fällt nach der Rechtsprechung des BVerfG nicht mit der tatsächlichen Tätigkeit der Koalitionen, sondern ist davon unabhängig durch den Staat zu gewährleisten. In der Ausgangsentscheidung des BVerfG zum Schutzbereich der Koalitionsfreiheit findet sich dann der Ausgangspunkt aller weiteren Entscheidungen im Form von drei Weichenstellungen. Zunächst sind auch die Koalitionen Grundrechtsträger aus Art. 9 Abs. 3 GG. Des Weiteren ist ein funktionsfähiges Tarifvertragssystem mit normativem und zwingendem Charakter des Tarifvertrags durch Art. 9 Abs. 3 GG gewährleistet. Schließlich ist einer der Zwecke des Tarifvertragssystems die sinnvolle Ordnung des Arbeitslebens: „Das Grundrecht der Koalitionsfreiheit betrifft nicht nur den Zusammenschluss als solchen, sondern den Zusammenschluss zu einem bestimmten Gesamtzweck, nämlich zu einer aktiven Wahrnehmung der Arbeitgeber- (Arbeitnehmer-)Interessen. Dies bedeutet zugleich, dass frei gebildete Organisationen auf die Gestaltung der Löhne und Arbeitsbedingungen Einfluss nehmen, insbesondere zu diesem Zweck Gesamtvereinbarungen treffen können. Die historische Entwicklung hat dazu geführt, dass solche Vereinbarungen in Gestalt geschützter Tarifverträge mit Normativcharakter und Unabdingbarkeit abgeschlossen werden. Wenn also die in Art. 9 Abs. 3 GG garantierte Koalitionsfreiheit nicht ihres historisch gewordenen Sinnes beraubt werden soll, so muss im Grundrecht des Art. 9 Abs. 3 GG ein verfassungsrechtlich geschützter Kernbereich auch in der Richtung liegen, dass ein Tarifvertragssystem im Sinne des modernen Arbeitsrechts staatlicherseits überhaupt bereitzustellen ist und dass Partner dieser Tarifverträge notwendig frei gebildete Koalitionen sind. [. . .] Gleichwohl kann es nicht der Sinn der in Art. 9 Abs. 3 GG gewährleisteten Koalitionsfreiheit sein, dass der Gesetzgeber schlechthin jede Koalition zum Abschluß von Tarifverträgen zulassen, also als tariffähig behandeln muss. Geht man nämlich davon aus, daß einer der Zwecke des Tarifvertragssystems eine sinnvolle Ordnung des Arbeitslebens, insbesondere der Lohngestaltung, unter Mitwirkung der Sozialpartner
110
BVerfG 6.5.1964, NJW 1964, 1267.
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2. Kap.: Verfassungsrechtliche Fragen sein soll, so müssen die sich aus diesem Ordnungszweck ergebenden Grenzen der Tariffähigkeit auch im Rahmen der Koalitionsfreiheit wirksam werden.“111
Hier findet sich mit der Wendung, dass die sinnvolle Ordnung des Arbeitslebens, insbesondere die Lohngestaltung unter Mitwirkung der – nicht vorrangig durch die – Sozialpartner erfolgen soll. Der Ordnungszweck des Tarifvertragssystems kann daher auch Einschränkungen der Koalitionsfreiheit – eine Aussage über die Ebene, auf der diese verwirklicht werden, lässt sich der Entscheidung nicht entnehmen – rechtfertigen. Betrachtet man die ältere Rechtsprechung des BVerfG, so wird die Frage eines Eingriffs in die Tarifautonomie durch die zwingende staatliche Gesetzgebung hier nicht ausdrücklich ausgesprochen. Vielmehr spricht vieles dafür, dass das BVerfG Staat und Gewerkschaften in einem aufeinander bezogenen sich gegenseitig ergänzenden Zusammenwirken zur Ordnung des Arbeitslebens berufen sieht. Die Entscheidungen sind in ihrer Diktion teilweise etwas uneinheitlich. Der Kern der Entscheidungen dreht sich aber häufig auch nicht unmittelbar um Fragen des Schutzes der Tarifautonomie vor staatlicher Gesetzgebung in Bereichen, die Inhalt des Tarifvertrags sein können. Der Verweis auf die weite Zurücknahme staatlichen Handels dürfte daher eher tatsächlicher Befund des BVerfG, denn Aussage zum Gewährleistungsgehalt der Tarifautonomie sein. 8. Zusammenfassung Die neuere Rechtsprechung des BVerfG darf, auch wenn die Rechtsfrage selbst nie ganz ausdrücklich entschieden wurde, so verstanden werden, dass den Tarifvertragsparteien eine Normsetzungsbefugnis nicht nur als verfahrensmäßiger Schutz zukommt, sondern auch die inhaltliche Gestaltung des Arbeitsverhältnisses vom Schutzbereich der Tarifautonomie erfasst wird.112 Die Eingriffsanforderungen sind allerdings gering und liegen bei einem sozialstaatlich motivierten Ziel faktisch immer vor. Das BVerfG ordnet die Frage des Schutzes der Tarifautonomie vor konkurrierender staatlicher Rechtsetzung damit als eingriffsdogmatisches Problem ein, das über die Rechtfertigungsebene gelöst wird. Diese Konzeption ergibt sich aus der neueren Rechtsprechung des BVerfG nach Aufgabe der Kernbereichsrechtsprechung. Bemerkenswert ist allerdings die Flexibilität die sich das Bundesverfassungsgericht gerade bei der staatlich verantworteten Setzung von Mindestarbeitsbedingungen bewahrt hat. Es konstatiert zwar einen grundsätzlichen Schutz der Tarifvertragsparteien in diesem Bereich, dieser tritt aber regelmäßig hinter der staatlich verantworteten Regulierung des Arbeitsrechts zurück. Damit lässt sich aus der Rechtsprechung zwar nicht hinsichtlich des dogmatischen Grundkonzeptes, aber sehr wohl hinsichtlich der Vorgaben für 111 112
BVerfG 18.11.1954, BVerfGE 4, 96 (106 f.). Vorsichtiger Kamanabrou, RdA 1997, 22 (30).
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seine Anwendung ableiten, dass die staatliche Regulierung im Zweifelsfall das höhere Gewicht hat, solange sie der Verwirklichung sozialer Schutzziele dient. Dies ist aber das Wesen arbeitsrechtlicher Regulierung, sodass diese im Ergebnis immer den Vorrang haben dürfte. Damit zeigt sich, dass auch den Überlegungen des Bundesverfassungsgerichts implizit die Wertung zu Grunde liegt, dass die Tarifautonomie nicht als Destruktivgrundrecht gegenüber dem Arbeitnehmerschutzrecht konzipiert ist, sondern hinter der Verwirklichung dieses Zieles regelmäßig zurücktreten muss. Dies relativiert möglicherweise auch etwas die Bedenken gegenüber den Ausweitungen der Rechtfertigungsebene. Denn sofern sich zeigen sollte, dass das Bundesverfassungsgericht die dort vorgenommenen Relativierungen nur in Konstellationen eines Gleichlaufes des Zwecks der Tarifautonomie und der gesetzlichen Regelung aktiviert, für Konstellationen in denen der Gesetzgeber diesen Schutzzweck missachtet, wie beispielsweise der Antastung der normativen und zwingenden Wirkung des Tarifvertrags aber strenge Maßstäbe anlegt, so wären die Prüfungsmaßstäbe in ihren Ergebnissen durchaus sachgerecht. Damit bleibt dem BVerfG für die Zukunft ein Spielraum. Und damit bleiben auch die nachfolgend dargestellten, teilweise abweichenden Sichtweisen in der Literatur bedeutsam.
II. Exklusivitätstheorie und fehlende Garantie der Tarifautonomie Ganz vereinzelt wird in neuester Zeit bestritten, dass die Tarifautonomie überhaupt durch Art. 9 Abs. 3 GG geschützt wird.113 Auch wenn diese Auffassung 113 Burkiczak, Grundgesetz und Deregulierung des Tarifvertragsrechts, S. 284 ff.; a. A. die ständige Rspr. des BVerfG, des BAG und die allgemeine Ansicht in der Literatur: BVerfG 11.7.2006, NJW 2007, 51 (53); BVerfG 29.12.2004, NZA 2004, 153; BVerfG 10.9.2004, NZA 2004, 1338 (1339); BVerfG 3.4.2001, NZA 2001, 777 (778); BVerfG 27.4.1999, NJW 1999, 3033 (3034); BVerfG 6.5.1964, NJW 1964, 1267 (1268); BVerfG 19.10.1966, NJW 1966, 2305 (2306); BVerfG 24.5.1977, NJW 1977, 2255 (2257); BVerfG 1.3.1979, NJW 1979, 699 (708 f.); BVerfG 4.7.1995, NZA 1995, 754 (755); BAG 22.9.2009 – 1 AZR 972/08 –; BAG 19.6.2007, NZA 2007, 1055 (1056); BAG 15.11.1967, DB 1968, 315; Andelewski, Staatliche Mindestarbeitsbedingungen, S. 48 ff.; Badura, RdA 1974, 129 (130); ders., ArbR d. Ggw. 15 (1977), 17 (20 f.); Bock, Tarifdispositives Arbeitnehmerschutzrecht und Tarifautonomie, S. 250; Dieterich, RdA 2002, 1 (8); ders., ArbuR 2001, 390; ders. in: ErfK, GG, Art. 9, Rn. 51 ff.; Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht, Bd. I, S. 287; Gellermann, Grundrechte im einfachgesetzlichen Gewande, S. 161 ff.; Gneiting in: Umbach/Clemens, GG, Art. 9 III GG, Rn. 112; Hanau, RdA 1993, 1 (4); Henssler, ZFA 1998, 1 (13); ders. in: HWK, TVG, Einl. Rn. 5; Hergenröder in HWK, GG, Art. 9 GG, Rn. 107; Höfling, Vertragsfreiheit, S. 18; Höfling in: Sachs, GG, Art. 9 GG, Rn. 83; Jarass in: Jarass/Pieroth, GG, Art. 9 GG, Rn. 39; Kamanabrou, RdA 1997, 22 (29); Kempen, ArbuR 1996, 336 (337); Kemper, Die Bestimmung des Schutzbereichs der Koalitionsfreiheit S. 137; Konzen, NZA 1995, 913 (915); Löwisch, RdA 1969, 129 (130 ff.); Müller, Die Tarifautono-
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weitgehend isoliert im Literaturspektrum steht114, sei ihr in der gebotenen Kürze nachgegangen. Eine Betrachtung der These von der fehlenden verfassungsrechtlichen Verankerung der Tarifautonomie ist losgelöst von ihren praktischen Bezügen nicht möglich. Die These wird im Zusammenhang mit einer Aufhebung und/oder Relativierung der zwingenden Wirkung von Tarifnormen nach §§ 4 Abs. 1 und 3 TVG, 77 Abs. 3 BetrVG vertreten.115 Dabei wird der gegenwärtigen Diskussion um Umfang und Reichweite der Tarifautonomie schlicht ihre dogmatische Grundlage entzogen und bereits die verfassungsrechtliche Verankerung der Tarifautonomie in Frage gestellt. Eine Betrachtung, wie sich diese These in das Gesamtsystem des kollektiven Arbeitsrechts einfügt, wird dabei unterlassen. Nüchtern betrachtet degeneriert sie Art. 9 Abs. 3 GG zu einem qualifizierten Vereinigungsrecht ohne materielle Komponente, weil sie ihn seiner „wichtigsten Garantien“116 und seines historischen Sinnes117 beraubt. Sie steht im Widerspruch zu Wortlaut, Entstehungsgeschichte, Systematik und Sinn und Zweck des Grundrechts. Auf den ersten Blick in völligem Widerspruch zur These der nicht gewährleisteten Tarifautonomie steht die These, die Tarifautonomie sei nicht nur durch Art. 9 Abs. 3 GG gewährleistet, sondern sie beinhalte auch einen weitgehenden Exklusivitätsstatus im Sinne eines Normsetzungsmonopols für die Regelung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen. Dieser Ansatz verwendet ebenso wie die Vorrangtheorie118 den Begriff der Normsetzungsprärogative. Der Begriff ist daher nicht klar genug, um die beiden Positionen zu trennen. Dies führt zum Beispiel dazu, dass Säcker, der zwar einen Vorrang der tariflichen Normsetzung, mie in der Bundesrepublik Deutschland, S. 333; ders., RdA 1988, 4 (12); Neumann, RdA 2007, 71; Plander, ArbuR 1986, 65; Preis, B., ZfA 1972, 271 (282); Richardi, RdA 1971, 334 (335); ders., FS Konzen, S. 791 ff.; Rieble/Klebeck, ZIP 2006, 829 (830); Rüfner, RdA 1985, 193 (195); Säcker/Oetker, Grundlagen und Grenzen der Tarifautonomie, S. 33 (36); Säcker, ArbuR 1994, 1 (4); Stein, ArbuR 1998, 1 (3); Thüsing/ Lembke, ZfA 2007, 87 (108); Vossen, Tarifdispositives Richterrecht, S. 44; Waltermann, ZfA 2000, 53 (58 ff.); Wiedemann in: Wiedemann, TVG, Einl., Rn. 82 ff.; Zachert, ArbuR 2004, 121 (123). 114 Vgl. schon Galperin, FS Molitor, S. 143 (156); ähnlich Zachert, ArbuR 2004, 121 (123), sowie die Nachweise in Fn. 115. 115 Burkiczak, Grundgesetz und Deregulierung des Tarifvertragsrechts, S. 284 ff.; vgl. dazu Säcker, ArbuR 1994, 1 (10); Dieterich, RdA 2002, 1 ff. 116 Höfling in: Sachs, GG, Art. 9 GG, Rn. 83; ähnlich Badura, RdA 1974, 129 (131); Müller, Die Tarifautonomie in der Bundesrepublik Deutschland, S. 22; vgl. dazu unten 3. Kap. 117 Kemper in: MKS, GG, Art. 9 GG, Rn. 124; vgl. dazu bereits Mill, Grundsätze der Politischen Ökonomie, der bereits damals feststellte, dass die Gewerkschaften kein Hindernis für die Freiheit des Arbeitsmarktes seien, sondern vielmehr der notwendige Weg zu deren Gewährleistung; siehe dazu auch unten 3. Kap. D. I., II.; 2. Kap. D. 118 Dazu 2. Kap. B. II., III.
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aber eben gerade nicht deren Exklusivität vertritt, häufig der Position Biedenkopfs zugeordnet wird, obwohl sich sein Ansatz inhaltlich von diesem unterscheidet. Denn Säcker vertritt gerade nicht, dass für den Regelungsbereich außerhalb des Existenzminimums stets gesetzliche Regelungen unzulässig sind. Er beschränkt dies explizit auf einen Kernbereich der Normsetzungstätigkeit.119 Ansonsten soll eine verfassungsmäßige Rechtfertigung erforderlich, aber auch ausreichend sein. Auf diese Ebene gelangt Biedenkopf auf Basis seines Exklusivitätsansatzes aber gerade nicht mehr, weil er die Kompetenz des Gesetzgebers „absolut“ beschneidet. Daher soll hier der Begriff der Exklusivität verwendet werden, um die Ansätze der beiden Theorien besser zu trennen. Da allerdings maßgeblich die Rechtsprechung immer wieder mit dem Begriff der Normsetzungsprärogative operiert und auch in der Lehre der Begriff häufig verwandt wird, kann auf ihn in den weiteren Ausführungen nicht vollständig verzichtet werden.120 Die Exklusivitätstheorie wird regelmäßig nicht gegen die Regelungskompetenz der Tarifvertragsparteien, sondern gegen die des Staates in Stellung gebracht. In der weitgehendsten Variante soll nach dieser These der Staat Gegenstände, die einer tariflichen Regelung zugängig sind, überhaupt nicht mehr als zwingendes Recht erlassen dürfen.121 Dies fußt im Wesentlichen auf der Annahme, dass die Tarifautonomie den Arbeitnehmer vor einer disparitätischen Ausgestaltung der Arbeitsbedingungen schützt. Biedenkopf geht davon aus, dass im Verhältnis von Arbeitnehmer- und Arbeitgeberkoalitionen Ebenbürtigkeit bestehe. Würde der Gesetzgeber ebenfalls zur Regelung der Sachverhalte, die die Koalitionen regeln, befugt sein, käme es zu einer Art Überkompensation der Unterlegenheit der Arbeitnehmerseite. Dies endet in dem Bild, dass in dieser Konstellation die Tarifvertragsparteien zwei Mannschaften gleichen, die sich im Tauziehen an einem Seil messen, das sich nur in einer Richtung bewegen lässt.122 Ausgenommen hiervon soll nur die Sicherung von Existenzminima sein.123 Betrachtet man nun die Ergebnisse beider Ansätze, so wird deutlich, dass diese ein hohes Maß an Parallelität aufweisen. Sie plädieren für eine formale Vertragsfreiheit und bekämpfen gleichzeitig die materielle Vertragsfreiheit sowie die Regelungsbefugnis des Sozialstaates.124 Betrachtet man, ohne dass hier der Frage 119
Säcker, ArbuR 1994, 1 (7). Vgl. zur Abgrenzung Butzer, RdA 1994, 375 (379). 121 Biedenkopf, Grenzen der Tarifautonomie, S. 125, 152 ff., und passim; ähnlich Coester, Vorrangprinzip des Tarifvertrags, S. 87 f. 122 Biedenkopf, Grenzen der Tarifautonomie, S. 151; ähnlich Henssler, ZfA 1998, 1 (18); zur Unzulänglichkeit des Arguments vgl. unten 3. Kap. D. I.; 3. Kap. E. VII. 123 Biedenkopf, Grenzen der Tarifautonomie, S. 154 ff.; ähnlich Henssler, ZfA 1998, 1 (18). 124 In diesem Sinne gegen die Exklusivitätstheorie, Preis, B., ZfA 1972, 275 (293); vgl. auch Badura, DÖV 1989, 491 (495). 120
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nach Sinn und Zweck der Koalitionsfreiheit vorgegriffen werden soll, den Effekt tariflicher oder gesetzlicher zwingender Normsetzung, so bedeuten diese in der Regel die – verfassungsrechtlich gebotene – Kompensation der Unterlegenheit der schwächeren Vertragspartei.125 Der Tarifvertrag wirkt dieser Unterlegenheit entgegen, indem er aufgrund seiner zwingenden Wirkung verhindert, dass der Arbeitgeber dem Arbeitnehmer im Rahmen der Vertragsverhandlungen die Bedingungen einseitig diktiert. Das Gesetz tut dies, indem es durch seine zwingende Wirkung verhindert, dass der Arbeitgeber dem Arbeitnehmer im Rahmen der Vertragsverhandlungen die Bedingungen einseitig diktiert.126 Die beiden vorgenannten Ansichten bekämpfen nun gerade, wenn auch auf völlig unterschiedlichem Terrain, abstrakt zwingende Rechtsregeln, die auf das Arbeitsverhältnis einwirken. Sie laufen damit im Ergebnis auf einen weitgehenden Gestaltungsspielraum der Parteien des Arbeitsvertrags hinaus, der im Regelfall nur von einer Seite, nämlich dem Arbeitgeber, genutzt werden kann.127 Es sei hier noch ergänzend auf Säcker verwiesen, der zu Funktions- und Ordnungsaufgabe der Koalitionsfreiheit ausführt: „Diese Ordnungsvorstellung lässt sich dahin gehend konkretisieren, dass durch Gewährleistung der freien Bildung gegengewichtiger Marktmacht auf dem Arbeitsmarkt, die Voraussetzungen für einen den zivilrechtlichen Grundsätzen der Verkehrsund Tauschgerechtigkeit entsprechenden Arbeitsvertragsschluss und damit für eine menschenwürdige materielle Existenzgrundlage der Arbeitnehmer geschaffen werden sollen, [. . .]. Die Garantie der Tarifautonomie durch Art. 9 Abs. 3 GG wird damit zur Funktionsbedingung für einen nicht nur im Sinne formaler Erklärungskonkordanz, sondern im Sinne substanzieller Einigung über die Arbeitsbedingungen real freien Arbeitsvertragsschluss.“128
Die Annahme, die Tarifautonomie sei nicht durch Art. 9 Abs. 3 GG gewährleistet, verstößt nicht nur gegen Art. 9 Abs. 3 GG.129 Sie ist mit elementaren, von der Ewigkeitsgarantie erfassten Verfassungswerten (Art. 1, 79 Abs. 3 GG) unvereinbar130 und beseitigt die grundlegenden Funktionsbedingungen der Privatautonomie im Arbeitsrecht.
125 Preis, B., ZfA 1972, 271 (282); Küchenhoff, RdA 1969, 97 (102); Plander, ArbuR 1986, 65; Schnorr, Das Arbeitsrecht als Gegenstand internationaler Rechtsetzung, S. 226 f.; vgl. dazu ausführlich unten 2. Kap. D.; 3. Kap. D. I. 126 Vgl. auch 2. Kap. D. 127 Zur Konsequenz eines stärkeren Rückzugs auf die Privatautonomie vgl. Gast, BB 1990, 1637 (1639). 128 Säcker, Gruppenautonomie und Übermachtkontrolle im Arbeitsrecht, S. 236 f., m.w. N. 129 Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht, Bd. I, S. 287. 130 Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht, Bd. I, S. 131. In diesem Sinne wohl auch Küchenhoff, RdA 1959, 201 (205); ähnlich Säcker, Grundprobleme der kollektiven Koalitionsfreiheit, S. 45; Henssler, ZfA 1998, 1 (13); anders Butzer, RdA 1994, 375 (385), der sogar eine Streichung des Art. 9 Abs. 3 GG für zulässig hält.
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Das BVerfG hat den Zweck der Tarifautonomie denn auch wie folgt interpretiert: „Tarifautonomie ist darauf angelegt, die strukturelle Unterlegenheit der einzelnen Arbeitnehmer beim Abschluss von Arbeitsverträgen durch kollektives Handeln auszugleichen und damit ein annähernd gleichgewichtiges Aushandeln der Löhne und Arbeitsbedingungen zu ermöglichen.“ 131 Umgekehrt formuliert: Die Ablehnung des verfassungsrechtlichen Schutzes der Tarifautonomie ist darauf angelegt, den Ausgleich der strukturellen Unterlegenheit der einzelnen Arbeitnehmer durch kollektives Handeln zu verhindern und damit ein einseitiges Diktat von Löhnen und Arbeitsbedingungen durch die Arbeitgeber zu ermöglichen.132 Auf ein ähnliches Ergebnis läuft auch die Exklusivitätstheorie hinaus. Dem mag man entgegenhalten, dass auf den ersten Blick die These, den Tarifvertragsparteien komme eine exklusive Regelungskompetenz zu, im Ergebnis zwar auf das Element des (Tarif-)Vertrags zurückgreift, dieser ja aber aufgrund seiner zwingenden Wirkung eben doch eine Kompensationswirkung hinsichtlich der unterlegenen Partei hat. Jedoch würde dies voraussetzen, dass die Tarifvertragsparteien flächendeckend sämtliche denkbaren Vertragsgestaltungen an sich ziehen und damit ebenfalls nur einen sehr begrenzten Raum für die freie arbeitsvertragliche Gestaltung belassen. Auch wenn man den Entstehungszeitpunkt der These der Normsetzungsexklusivität betrachtet, wird deutlich, dass diese vor dem Hintergrund eines nur partiell gesetzlich geregelten Arbeitsrechts entstanden ist. Damit wäre der Arbeitnehmer dort, wo die Gewerkschaften keine zwingenden Mindeststandards hätten erkämpfen können, weitgehend auf die individualvertragliche Ebene verwiesen gewesen, um seine Arbeitsbedingungen zu gestalten.133 Allerdings muss der Exklusivitätsthese zugute gehalten werden, dass sie zumindest für die Existenzsicherung des Arbeitnehmers gesetzliche Regelungen zulässt. Ansonsten ist nach dieser jedoch der Tarifvertrag das einzig zulässige rechtliche Instrumentarium, um Arbeitsbedingungen zu regeln. Aber auch mit Blick auf den Tarifvertrag darf nicht verkannt werden, dass dieser vor Disparitäten bei seiner Aushandlung nicht geschützt ist.134 Das Gleiche gilt für solche Bereiche des Arbeitsmarktes, die aufgrund ihrer Struktur oder mangelnder Organisationsstärke der Gewerkschaften tariflose Zonen bilden.135 Nach der Exklusi131 BVerfG 26.06.1991, NJW 1991, 2549 (2551); ähnlich: BVerfG 4.7.1995, NZA 1995, 754 (755); BAG 19.6.2007, NZA 2007, 1055 (1057); ebenso Stein in: Kempen/ Zachert, TVG, § 2, Rn. 88; Papier, Brennpunkte des Arbeitsrechts 2005, 5 (6); Säcker, Gruppenautonomie und Übermachtkontrolle im Arbeitsrecht, S. 236 f.; ders., ArbuR 1994, 1 (4); vgl. auch Lotmar, Der Arbeitsvertrag (2. Aufl.), Bd. 1, S. 43; Söllner, AuR 1966, 257; Weber, Rechtssoziologie, S. 170. 132 Vgl. dazu Wolter, NZA 2003, 1317 (1320); sowie unten 2. Kap. D.; 3. Kap. D. I.; 3. Kap. E. I., II. 133 Stein, ArbuR 1998, 1 (3). 134 Vgl. dazu unten 6. Kap. 135 Vgl. dazu unten 6. Kap. B.
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vitätsthese dürfte der Gesetzgeber solche Disparitäten nur sehr eingeschränkt auflösen. Damit wird von beiden „extremen“ Theorien im Wesentlichen die arbeitsvertragliche Ebene als Gestaltungsinstrument in den Vordergrund gerückt und zwar gerade dort, wo die Schutzbedürftigkeit der Arbeitnehmer besonders hoch ist. Die Kompensation von gestörter Vertragsparität im Arbeitsverhältnis136 wird mit der Verfassung bekämpft, wenn auch auf unterschiedlichen Ebenen. Ob dies dem Bild des Grundgesetzes als freiheitlicher Ordnung entspricht, ist fraglich und kann bei der Entscheidung von Art und Umfang der Gewährleistung der Tarifautonomie nicht unberücksichtigt bleiben. Neben dieser Problematik ist aber der Exklusivitätstheorie die Existenz der Gesetzgebungskompetenz aus Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG entgegen zu halten.137 Diese ist sachlich nicht eingeschränkt. Im Übrigen ist die Vorstellung einer nicht von der demokratisch legitimierten Staatsgewalt abgeleiteten Normsetzungsbefugnis sowohl mit dem Demokratieprinzip als auch mit dem Rechtsstaatsprinzip unvereinbar.138 Für ein Monopol der Tarifvertragsparteien ist daher in der Verfassung kein Raum.139 Dies gilt auch mit Blick auf das verfassungsrechtlich verankerte Sozialstaatsprinzip.140 Letztlich ist auch auf den Einwand Kempers zu verweisen, dass „ein Ausschluss des Staates von jeglicher Gesetzgebung im Ergebnis schädlich für die Tarifautonomie wäre, weil die Tarifparteien vollkommen überfordert wären, in ihrem Zuständigkeitsbereich die alleinige Zuständigkeit für sämtliche normativen Regelungen auszuüben, die zur Gestaltung des Arbeits- und Wirtschaftsrechts mit Blick auf die Verhältnisse abhängiger Arbeit notwendig sind“.141
III. Differenzierende Auffassungen Dass die Tarifautonomie durch Art. 9 Abs. 3 GG geschützt wird, wird von der nahezu allgemeinen Auffassung im Schrifttum und der ständigen Rechtsprechung von BAG und BVerfG vertreten.142 Was allerdings den Gewährleistungsgehalt, Ausmaß und Intensität des Schutzes betrifft, so zeigt sich eine kaum überschaubare Vielfalt von Sichtweisen. Dies beginnt bereits beim dogmatischen An136
Vgl. Wolter, NZA 2003, 1317 (1320). Butzer, RdA 1994, 375 (384); Stein, ArbuR 1998, 1 (3); Wiedemann, FS Stahlhacke, S. 675 (686). 138 Gellermann, Grundrechte im einfachgesetzlichen Gewande, S. 162; vgl. zur Grundrechtsbindung der Tarifvertragsparteien unten 5. Kap. B. 139 Nahezu allgemeine Auffassung: BVerfG 29.12.2004, NZA 2005, 153 (154); Butzer, RdA 1994, 375 (384); Dietlein in: Stern, Staatsrecht IV, S. 2006; Dieterich, ArbuR 2001, 390 (391); Franzen in: ErfK, TVG, § 1, Rn. 7; Gellermann, Grundrechte im einfachgesetzlichen Gewande, S. 162; Höfling in: Sachs, GG, Art. 9, Rn. 137; Wiedemann, FS Stahlhacke, S. 675 (686). 140 Preis, B., ZfA 1972, 275 (292); Wiedemann, FS Stahlhacke, S. 675 (686). 141 Kemper in: MKS, GG, Art. 9 GG, Rn. 148. 142 Vgl. dazu oben Fn. 113. 137
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knüpfungspunkt der Tarifautonomie. Oder anders bei der Frage: Was ist Tarifautonomie? Die neuere Lehre sieht sie überwiegend als „kollektiv ausgeübte Privatautonomie“.143 Mit der Frage des Bezugspunktes der tariflichen Normsetzungsbefugnis ist die Frage des konkreten Gewährleistungsgehalts der Tarifautonomie aber nicht gelöst. Er dient vielmehr als Ausgangspunkt, der jedoch die Ergebnisse allein nicht determinieren kann. Denn auch dann, wenn die Tarifvertragsparteien nicht selbst kraft Delegation staatlicher Normsetzungsbefugnisse sondern durch die mitgliedschaftliche Legitimation zur Normsetzung befugt sind, bleibt die Zuordnung des materiellen Regelungsgehalts der Tarifnormen offen. Es stellt sich nicht so sehr die Frage, ob die Tarifvertragsparteien mit der tariflichen Normsetzung eine öffentliche Aufgabe wahrnehmen, auch wenn die Beschäftigung mit der Frage verdienstvoll ist. Vielmehr stellt sich primär die Frage, ob sich aus der Verfassungsordnung ergibt, dass das im Arbeitsverhältnis bestehende Machtgefälle durch zwingende Regelungen, die von außen (!) auf dieses einwirken, aufgehoben werden müssen. In diesem Falle verwirklicht die Tarifautonomie sehr wohl eine öffentliche Aufgabe. Dies aber nicht, weil den Tarifvertragsparteien diese Aufgabe kraft Verfassung übertragen wäre, sondern weil ihre verfassungsmäßig geschützte Betätigung gleichsam eine sich aus der Verfassung ergebende Pflicht des Staates erfüllt.144 Und damit gelangt man dann zu der für das tarifdispositive Gesetzesrechts virulente Grundfrage: Welche Befugnisse zur Gestaltung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen müssen den Tarifvertragsparteien gewährt werden und welche Regelungen muss der Gesetzgeber selbst treffen? Diese wird mit Blick auf die Tarifautonomie von denjenigen, die sie in Art. 9 Abs. 3 GG verankert sehen, ohne hieraus ein Exklusivitätsverhältnis herzuleiten, wie folgt beantwortet. 1. Strenges Vorrangprinzip/strenges Subsidiaritätsprinzip Weitgehend, wenn auch die Exklusivitätstheorie ausdrücklich ablehnend145, ist die Annahme, die Tarifautonomie gewährleiste eine vorrangige Regelungsbefugnis im Sinne eines Subsidiaritätsprinzips. Dabei zeigen sich allerdings sowohl Sichtweisen, die dieses Prinzip eher großzügig handhaben, als auch solche, die staatlichen Regelungen kritischer gegenüberstehen. Hier soll zunächst das Sub143 Bayreuther, Tarifautonomie als kollektiv ausgeübte Privatautonomie, passim; Dieterich in: ErfK, GG, Art. 9 GG, Rn. 55 ff. 144 Vgl. dazu unten 2. Kap. D.; 3. Kap. D. I. 145 Badura, RdA 1974, 129 ff.; Butzer, RdA 1994, 375 (379, 384); Franzen in: ErfK, TVG, § 1 TVG, Rn. 7; Küchenhoff, RdA 1959, 201 (203); Löwisch/Rieble, TVG, Grundl., Rn. 26; Höfling in: Sachs, GG, Art. 9 GG, Rn. 137; Säcker/Oetker, Grundlagen und Grenzen der Tarifautonomie, S. 177; Säcker, Grundprobleme der kollektiven Koalitionsfreiheit, S. 50; Stein, ArbuR 1998, 1 (3); ein Unterschied der nicht immer hinreichend herausgearbeitet wird, vgl. dazu Vossen, Tarifdispositives Richterrecht, S. 43, inbes. Fn. 46.
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sidiaritätsprinzip in seiner strengen Form dargestellt werden. Dabei bestehen in terminologischer Hinsicht erhebliche Unsicherheiten, weil sich die Vertreter der Subsidiaritätslehre in einer nahezu unüberschaubaren Vielfalt von Einzelmeinungen verlieren.146 Daher beschränkt sich die folgende Darstellung auf die Grundannahmen dieser Theoreme. Eine starke Auffassung im Schrifttum und die Rechtsprechung des BAG stehen auf dem Standpunkt, die Tarifautonomie gewährleiste den Tarifvertragsparteien eine Normsetzungsprärogative im Sinne einer Vorranggarantie.147 Im Verhältnis von staatlicher und tariflicher Normsetzung gelte ein (sektorales) Subsidiaritätsprinzip zugunsten der tariflichen Regelung.148 Staatliche Regelungen werden damit grundsätzlich als rechtfertigungsbedürftiger Eingriff in die Tarifautonomie eingestuft. Dabei ist zu beachten, dass die Vertreter dieser Auffassungen sich in einer kaum überschaubaren Vielfalt von unterschiedlichen Spielarten dieser Grundposition verlieren.149 Dies betrifft – neben der dogmatischen Herleitung des Vorrangprinzips oder des Subsidiaritätsprinzips – vor allem deren Grenzen. Subsidiaritätsgedanke und die Theorie der Normsetzungsprärogative sind bislang weitgehend ohne klare Konturen geblieben.150 Die Vertreter des Subsidiaritätsgrundsatzes lassen sich in zwei Grundströmungen einteilen. Die eine vertritt einen sehr weitgehenden Subsidiaritätsgrundsatz und lässt Einschränkungen nur in sehr engen Grenzen zu (strenge Vorrang- oder Subsidiaritätstheorie). Die andere ist großzügiger was die Voraussetzungen für ein Zurücktreten des Vorrangs der tariflichen Regelung betrifft (eingeschränkte Vorranggarantie). Die „strenge“ Vorrang- oder Subsidiaritätstheorie soll hier zunächst dargestellt werden, bevor
146 Vgl. dazu eindrucksvoll den Fußnotenapparat von Andelewski, Staatliche Mindestarbeitsbedingungen, S. 66, der die meisten Quellen aus dem Schrifttum zumindest zu zwei Positionen zuordnen kann. 147 BAG 27.5.2004, AP Nr. 5 zu § 1 TVG Gleichbehandlung unter B. II. 2.; Butzer, RdA 1994, 375 (379); Dietlein in: Stern, Staatsrecht IV/1, S. 2006; Dieterich, Tarifgestützte Mindestlöhne, S. 116 f.; Fahrtmann/Coen in: Benda/Maihofer/Vogel, Handbuch des Staatsrechts, § 19, Rn. 97 ff.; Fischer, ZRP 2007, 20; Gneiting in: Umbach/Clemens, GG, Art. 9 III GG, Rn. 113; Kempen, ArbuR 1996, 336 (341); Kempen in: Kempen/Zachert, Grundl., Rn. 61, 113, 272, 274 ff.; Kittner/Deinert in: Kittner/Zwanziger, Arbeitsrecht,§ 16, Rn. 40; Otto, FS Zeuner, S. 127 (137 ff.); Neumann, RdA 2007, 71 (72); Säcker/Oetker, Grundlagen und Grenzen der Tarifautonomie, S.177; Säcker, ArbuR 1994, 1 (7); ders., RdA 1969, 291 (199); ders., Grundprobleme der kollektiven Koalitionsfreiheit, S. 50. 148 Coester, Vorrangprinzip des Tarifvertrags, S. 90 und passim; Dieterich, Tarifgestützte Mindestlöhne, S. 116 f.; Dietlein in: Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland IV/1, § 112 IV 1. c), S. 2006; Kempen in: Kempen/Zachert, TVG, Grundl., Rn. 61, 113, 272, 274 ff.; Küchenhoff, RdA 1959, 201 (202 ff.); Müller, RdA 1988, 4 (12); Otto, FS Zeuner, S. 127 (137 ff.); Säcker/Oetker, Grundlagen und Grenzen der Tarifautonomie, S. 176; Waas, FS Birk, S. 899 (901); Wlotzke, RdA 1963, 44 (50). 149 Dietlein in: Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland IV/1, § 112 IV 1. c), S. 2006. 150 Stein, ArbuR 1998, 1 (5).
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im Anschluss die Unterschiede zur eingeschränkten Vorrangtheorie herausgearbeitet werden. Im Ausgangspunkt wird von den Vertretern der strengen, ebenso wie von denen der eingeschränkten Vorrang- oder Subsidiaritätstheorie angenommen, die staatliche Rechtsetzung sei gegenüber der tariflichen nachrangig. Der Unterschied beider Positionen zeigt sich bei den Grenzen dieses Prinzips. Die Subsidiaritätstheorie151 geht von einer Normsetzungsprärogative152 der Tarifvertragsparteien aus, die jede staatliche Rechtsetzung im tariflich regelbaren Bereich als konkurrierende Tätigkeit zur Tarifautonomie begreift, die nur in bestimmten Grenzen legitimiert werden kann.153 Dies basiert auf der Annahme, der Gesetzgeber höhle ansonsten die Tarifautonomie aus und taste ihren Bestand an.154 Dabei werden teilweise auch tarifdispositive Vorschriften als Eingriff gesehen. Dies stützt sich wesentlich auf die Annahme, dass diese das Ergebnis von Tarifverhandlungen vorprägen könnten.155 Es müsse stets gewährleistet sein, dass den Tarifvertragsparteien ein „beachtlicher“ oder „erheblicher“ Betätigungsraum verbleibt.156 Dies wird teilweise noch restriktiver gesehen. Säcker fordert zwar keine Exklusivität für die gesamten Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen, sieht aber im Kernbereich tariflicher Normsetzung deren absoluten Vorrang als gegeben an.157 Bei dieser Sichtweise bewirkt das Subsidiaritätsprinzip auch einen quantitativen Schutz. Entscheidender ist aber der qualitative Schutz den es vermittelt. Danach soll jegliche staatliche arbeitsrechtliche Normsetzung zunächst einen Eingriff in Art. 9 Abs. 3 GG darstellen, der gerechtfertigt werden muss.158 Ein Eingriff in die Tarifautonomie sei 151 Zur fehlenden verfassungsrechtlichen Verankerung des Subsidiaritätsprinzips vgl. unten 2. Kap. F. 152 Kittner/Deinert in: Kittner/Zwanziger, Arbeitsrechtshandbuch, § 16, Rn. 40; Säcker/Oetker, Grundlagen und Grenzen der Tarifautonomie, S. 176; Säcker, ArbuR 1994, 1 (7); Gneiting in: Umbach/Clemens, GG, Art. 9 III, Rn. 113. 153 Dieterich, Tarifgestützte Mindestlöhne, S. 116 f.; Franzen in: ErfK, TVG, § 1 TVG, Rn. 7; Gneiting in: Umbach/Clemens, GG, Art. 9 III GG, Rn. 113; Kempen, ArbuR 1996, 336 (340); Waltermann, ZfA 2000, 53 (62). 154 Däubler, Grundrecht auf Mitbestimmung, S. 205; Humbert, Staatliche Regelungsbefugnisse für Arbeitsentgelte und -bedingungen, S. 77, 83 ff.; Säcker, Grundprobleme der kollektiven Koalitionsfreiheit, S. 55; ders., JZ 1970, 775; zur Kritik an dieser Annahme vgl. Preis, B., ZfA 1972, 275 (291); sowie unten 3. Kap. E. V. 155 Kamanabrou, RdA 1997, 22 (29); vgl. dazu unten 3. Kap. E. VII. 156 Müller, RdA 1988, 4 (12); Butzer, RdA 1994, 375 (383), der diesen Gedanken freilich nicht im Rahmen der Dimension der Grundrechtsschutzes, sondern als Grenze der Rechtfertigung begreift; kritisch zur Annahme der Aushöhlung der Tarifautonomie: Preis, B., ZfA 1972, 271 (291). 157 Säcker, ArbuR 1994, 1 (7). 158 Butzer, RdA 1994, 375 (377); Franzen in: ErfK, TVG, § 1 TVG, Rn. 7; Kamanabrou, RdA 1997, 22 (31); Oppolzer/Zachert, BB 1993, 1353 (1355); Waltermann, ZfA 2000, 53 (62).
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2. Kap.: Verfassungsrechtliche Fragen
nur zum Schutze kollidierender Grundrechte oder anderer Rechtsgüter mit Verfassungsrang zulässig.159 Dabei wird teilweise ein strenger Kontrollmaßstab verlangt, der es in einer Vielzahl von Fällen dem Gesetzgeber versagt, einen Regelungsbereich an sich zu ziehen.160 Dies gilt dann auch für Bereiche, in denen tarifliche Regelungen überhaupt noch nicht existieren, weil diese bereits den potenziellen Regelungssektor der Tarifautonomie einengen würden.161 Insbesondere die Berechtigung des Staates, die Entgelte durch Lohnleitlinien zu gestalten, wird als absolut unzulässig angesehen. Dies greife in den Kernbereich der Tarifautonomie ein und sei nicht zu rechtfertigen.162 Neben diesen Restriktionen werden auch die Anforderungen an die Rechtfertigung des angenommenen Grundrechtseingriffs durch die gesetzliche Regelung tariflich regelbarer Gegenstände durch die Normsetzungsprärogative modifiziert.163 Dies liegt daran, dass der Gesetzgeber sich im Rahmen der arbeitsrechtlichen Normsetzung regelmäßig auf das Sozialstaatsprinzip berufen kann.164 Hierfür ist aber der Kontrollmaßstab durch die sogenannte Einschätzungsprärogative des Gesetzgebers erheblich aufgeweicht.165 Demgegenüber wird von den Vertretern der strengen Vorrangtheorie eine restriktive Prüfung mit Blick auf die Normsetzungsprärogative befürwortet. Damit lässt sich das strenge Vorrangprinzip wie folgt zusammen fassen. Es geht von einem Vorrang der Tarifautonomie gegenüber der staatlichen Gesetzgebung für das Arbeitsrecht aus. Damit ist jedes arbeitsrechtliche Schutzgesetz ein Eingriff in die Tarifautonomie. Dieser Grundrechtseingriff kann unter Berufung auf den Schutz anderer Rechtsgüter mit Verfassungsrang gerechtfertigt werden. Der Kontrollmaßstab bei der Verhältnismäßigkeitsprüfung soll dabei streng sein.
159 Butzer, RdA 1994 (375, 382); Franzen in: ErfK, TVG, § 1 TVG, Rn. 7; Humbert, Staatliche Regelungsbefugnisse für Arbeitsentgelte und -bedingungen, S. 83; Kempen, AuR 1996, 336 (342); ders., FS Schaub, S. 357 (362 f.); Kamanabrou, RdA 1997, 22 (31); Kittner/Deinert in: Kittner/Zwanziger, Arbeitsrechtshandbuch, § 16, Rn. 40; Oppolzer/Zachert, BB 1993, 1353 (1355); Zachert, ArbuR 2004, 121 ff.; ähnlich Henssler, ZfA 1998, 1 (39), aber mit ansonsten zur Koalitionsfreiheit anderem Ansatz. 160 Bock, Tarifdispositives Arbeitnehmerschutzrecht und Tarifautonomie, S. 298. 161 Kempen, AuR 1996, 336 (342); ders. in: Kempen/Zachert, TVG, Grundl., Rn. 275. 162 Mayer, ArbuR 1993, 309 (314). 163 Kittner/Deinert in: Kittner/Zwanziger, Arbeitsrechtshandbuch, § 16, Rn. 40. 164 Dazu siehe oben bereits 2. Kap. B. I. 5. 165 Vgl. dazu Butzer, RdA 1994, 375 (383); Neumann, RdA 2007, 71 (73); Preis/Ulber, D., NJW 2007, 465 (469); sowie oben 2. Kap. B. I. 5; sowie Preis/Greiner, ZfA 2009, 825 (834 ff.).
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2. Eingeschränktes Vorrangprinzip oder eingeschränktes Subsidiaritätsprinzip Das Subsidiaritätsprinzip wird jedoch auch in einer eingeschränkten Variante vertreten. Danach wird zwar ebenso wie von den Vertretern der strengen Subsidiaritätstheorie eine grundsätzliche Vorrangstellung des Tarifvertrags verlangt. Allerdings werden die Voraussetzungen für ein Tätigwerden des Gesetzgebers weitaus großzügiger betrachtet. Diese Auffassung betont im Gegensatz zum strengen Vorrangprinzip stärker die Zuständigkeit des Gesetzgebers für das Allgemeinwohl. Daher wird zwar die staatliche Normsetzung grundsätzlich als subsidiär begriffen, allerdings nicht soweit der Gesetzgeber sich im Bereich der Wahrung des Allgemeinwohls – wie unterschiedlich die Anforderungen im Einzelfall auch definiert sein mögen166 – hält. Im Grundansatz wird – damit steht die eingeschränkte Vorrangtheorie eher jenen nahe, die für einen Kompetenzparallelismus167 plädieren – die „Letztverantwortlichkeit“168 der staatlichen Gewalt für die Sicherung des Allgemeinwohls weitaus stärker betont, als dies bei den Vertretern der strengen Vorrangtheorie der Fall ist.169 Dabei wird der Schutz des Vorrangs der Tarifautonomie in zweierlei Hinsicht enger gefasst als durch das strenge Vorrangprinzip. Zunächst wird das Vorrangprinzip teilweise in seinem Umfang eingeschränkt. Vossen schränkt die Vorranggarantie dahin gehend ein, dass sie lediglich die Lohnfindung betreffe.170 Daraus ergibt sich ein recht weiter Spielraum für den Gesetzgeber. Eine Normsetzungsprärogative zugunsten der Tarifvertragsparteien bestehe nur im Bereich der Lohnfindung.171 Ansonsten folge aus dem Sozialstaatsprinzip, das ansonsten nicht verwirklicht werden könne, die umfassende Möglichkeit des Gesetzgebers, für alle Arbeitnehmer verbindliche Schutznormen zu schaffen.172 Eine ähnliche Trennung findet sich bei Hueck/Nipperdey. Hueck/Nipperdey gehen davon aus, dass das Subsidiaritätsprinzip nur für Maßnahmegesetze, d.h. Einzelfälle betreffende Regelungen der Arbeitsbedingungen gilt. Handelt es sich hingegen um „auf bestimmten Wertungen und Interessen beruhendes, der Rechtseinheit dienendes allgemeines Dauergesetz, so kann der Gesetzgeber auch entsprechende zwingende arbeitsrechtliche Normen erlassen, an die auch die Tarifverträge gebunden sind“.173 Dies gelte jedenfalls dann, wenn die zwingenden Normen im 166
Dazu sogleich. Dazu unten 2. Kap. B. III. 3. 168 Rüfner, RdA 1985, 193 (195); Wlotzke, RdA 1963, 44 (50). 169 Badura, RdA 1974, 129 (135); Otto, FS Zeuner, S. 138 f. 170 Vossen, Tarifdispositives Richterrecht, S. 55. 171 Vossen, Tarifdispositives Richterrecht, S. 55; in diesem Sinne auch Preis, B., ZfA 1972, 285 (291); Rüfner, RdA 1985, 193 (195). 172 Vossen, Tarifdispositives Richterrecht, S. 55; ähnlich Rüfner, RdA 1985, 193 (195). 173 Hueck/Nipperdey, Arbeitsrecht II/1, S. 371. 167
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2. Kap.: Verfassungsrechtliche Fragen
sozialen Interesse erforderlich sind und den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit nicht überschreiten. Derselbe Maßstab soll auch für zweiseitig zwingende Normen gelten.174 Die Auffassung von Hueck/Nipperdey läuft aber – aufgrund der zumindest partiellen Geltung des Subsidiaritätsgrundsatzes – nur im Ergebnis auf ähnliche Ergebnisse hinaus, wie sie auch auf Basis des Prinzips des Kompetenzparallelismus erzielt werden.175 Der Gesetzgeber erhält ein umfassendes Normsetzungsrecht für die allgemeine Rahmengesetzgebung im Arbeitsrecht, ohne dass ein Vorrang tariflicher Normsetzung aufgerufen wird. Die tarifliche Normsetzung findet damit in den Grenzen der arbeitsrechtlichen Schutzgesetzgebung statt, ohne dass diese, sofern sie sich hinreichend allgemein hält, die Tarifvertragsparteien in ihrer Normsetzungsbefugnis tangieren soll. Anders ist dies nur dann, wenn der Gesetzgeber sich zu umfassenden Detailregelungen entschließt, mithin die Ergebnisse der Tarifverhandlungen in einer Weise vorbestimmt, dass den Tarifvertragsparteien kein Raum zur Gestaltung mehr verbleibt. Diese Annahme sieht den Tarifvertrag als Einzelfallgesetz, das eine konkretisierende Funktion gegenüber dem Gesetz, nicht aber eine originäre Rahmenkompetenz ausfüllt. Damit wird von vorneherein der Gewährleistungsumfang der Normsetzungsprärogative eingegrenzt. Diese Einschränkungen auf tatbestandlicher Ebene stützen sich maßgeblich auf das Sozialstaatsprinzip, aber auch auf den Gedanken des Allgemeinwohls.176 Damit unterscheiden sie sich – trotz des scheinbar identischen dogmatischen Anknüpfungspunktes – von den Vertretern, die das Sozialstaatsprinzip im Rahmen der verfassungsmäßigen Rechtfertigung von Eingriffen in die Tarifautonomie heranziehen. Denn im einen Falle ist der Teil sozialstaatlicher Tätigkeit zu umreißen, der nicht in den Schutzbereich der Tarifautonomie fällt und damit die Normsetzungsprärogative selbst eingrenzt. Im anderen Fall wird die Eingriffsrechtfertigung aufgerufen.177 Die zweite Einschränkung des Subsidiaritätsprinzips durch die restriktivere Sichtweise findet nicht hinsichtlich des Umfangs der Gewährleistung der Normsetzungsprärogative statt, sondern bei den Anforderungen, die an einen Übergriff des Gesetzgebers in diese gestellt werden. Diese resultieren maßgeblich aus der Erkenntnis, dass durch die vorgenommene Ausweitung des Schutzbereichs der Tarifautonomie vor konkurrierender staatlicher Rechtsetzungstätigkeit ein Widerspruch zu der ansonsten vorbehaltlosen Gewährleistung der Koalitionsfreiheit entsteht.178 Dieser wird durch eine Modifikation der Rechtfertigungsebene wie174
Hueck/Nipperdey, Arbeitsrecht II/1, S. 371. Vgl. auch Preis, B., ZfA 1972, 275 (297), der in deren Rahmen die identische Ansicht vertritt. 176 Badura, RdA 1974, 129 (135). 177 Vgl. zum Rückgriff auf das Sozialstaatsprinzip unten 2. Kap. G. 178 Henssler, ZfA 1998, 1 (4) und passim; Höfling, JZ 2000, 44 (46); Kamanabrou, RdA 1997, 22 (33); Wank, Anm. zu BVerfG vom 10.1.1995, AP Nr. 76 zu Art. 9 GG; Säcker, Grundprobleme der kollektiven Koalitionsfreiheit, S. 56. 175
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der eingefangen. Auch hier bestehen vielfältige Ansätze. Weitgehend wird, wie bei der strengen Vorranggarantie, die Lohnfindung als der Regelungsbefugnis des Staates entzogen angesehen.179 Auch die Möglichkeit, die Tarifautonomie zum Schutz anderer Grundrechte und Werte mit Verfassungsrang einzuschränken, wird akzeptiert.180 Jedoch werden geringere Anforderungen an Ausmaß und Qualität der „Gegengründe“ gestellt, die der Gesetzgeber mobilisieren muss, um einen Eingriff zu rechtfertigen. Teilweise wird vertreten, diese müssten nicht zwingend Verfassungsrang haben.181 Auch wird ein nach Regelungsbereichen abgestuftes Modell vertreten, das im Einzelfall aber nicht generell kollidierendes Verfassungsrecht verlangt.182 Zwischenzeitlich hatte sich Höfling für eine Eingriffsbefugnis aufgrund der Gesetzgebungskompetenz aus Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG ausgesprochen, ansonsten aber kollidierendes Verfassungsrecht verlangt.183 Das zu lösende Spannungsproblem zwischen staatlicher Gesetzgebungskompetenz und tarifautonomer Gestaltung des Inhalts des Arbeitsverhältnisses wurde von ihm auf Rechtfertigungsebene aufgelöst. Soweit von den Vertretern der eingeschränkten Vorrangtheorie das Sozialstaatsprinzip herangezogen wird, wird darauf hingewiesen, dass dieses dem subsidiär zuständigen Gesetzgeber die Möglichkeit biete, zwingende gesetzliche Regelungen von tarifvertraglich regelbaren Gegenständen zu treffen, wenn dies zur Verwirklichung des Sozialstaatsprinzips erforderlich sei. Teilweise wird für diese Möglichkeit aber ein Versagen der Tarifautonomie verlangt.184 Ausreichend soll dabei aber sein, dass das entsprechende Schutzniveau durch die Tarifvertragsparteien nicht erreicht werden kann, weil diese nicht alle Arbeitnehmer erreichen können.185 Ansonsten lassen sich die Ansätze weitestgehend auf die Rechtfertigung durch Gründe des Allgemeinwohls und die Wahrung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes zurückführen, auch wenn hier die einzelnen Ansätze unterschiedlich ausgeprägt sind.
179 Kamanabrou, RdA 1997, 22 (33); Löwisch, RdA 1969, 129 (130); Rüfner, RdA 1985, 193 (196); Vossen, Tarifdispositives Richterrecht, S. 55; Wank, Anm. zu BVerfG vom 10.1.1995, AP Nr. 76 zu Art. 9 GG; a. A. Löwisch/Rieble, TVG, Grundl., Rn. 26 f., die dies aber zum Schutz von Rechtsgütern mit Verfassungsrang für zulässig halten. 180 Höfling, JZ 2000, 44 (46); Kamanabrou, RdA 1997, 22 (33); Löwisch/Rieble, TVG, Grundl., Rn. 26 ff.; Otto, FS Zeuner, S. 121 (137 ff.). 181 Kamanabrou, RdA 1997, 22 (33); Löwisch/Rieble, TVG, Grundl., Rn. 26 ff.; Wank, Anm. zu BVerfG vom 10.1.1995, AP Nr. 76 zu Art. 9 GG. 182 Löwisch/Rieble, TVG, Grundl., Rn. 26 ff. 183 Höfling, JZ 2000, 44 (46); die Ansicht wurde mittlerweile aufgegeben: Höfling in: Sachs, GG, Art. 9 GG, Rn. 136. 184 Wlotzke, RdA 1963, 44 (50); dazu ausführlich unten 6. Kap. B. 185 Wlotzke, RdA 1963, 44 (50).
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Der Teil der Lehre, der das Vorrangprinzip auf der Rechtfertigungsebene einschränkt, sieht entweder einen oder alle der folgenden Rechtfertigungstatbestände als möglich an: • Erfüllung des Sozialstaatsprinzips186, allerdings in einem weiteren Sinne als dies die strenge Vorrangtheorie187 tut, • Schutz höherwertiger oder sozialer Interessen der Allgemeinheit, bzw. des Allgemeinwohls188, • Schutz ansonsten durch die Tarifvertragsparteien wahrgenommener Interessen oder von Interessen, die jenseits der Interessen der Tarifunterworfenen liegen189, • Interesse an einer einheitlichen Ordnung der Arbeitsbedingungen190, • Gesetzgebungskompetenz aus Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG191 und ganz allgemein Sachgründe192. Häufig wird auf den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz verwiesen, der bei der Wahrnehmung dieser Rechtfertigungstatbestände zu beachten sei.193 Hinsichtlich des Ergebnisses des Abwägungsprozesses besteht aber Einigkeit darüber, dass die Tarifautonomie nicht ausgehöhlt werden darf und den Tarifvertragsparteien ein ausreichender Spielraum zur eigenständigen Regelung verbleiben muss.194 3. Kompetenzparallelismus oder Günstigkeitsprinzip Eine andere Sichtweise im Schrifttum billigt dem Gesetzgeber einen weitaus größeren Spielraum zu. Sie geht davon aus, dass Tarifautonomie und staatliche 186 Preis, B., ZfA 1972, 275 (293 f.); Vossen, Tarifdispositives Richterrecht, S. 55; Wlotzke, RdA 1963, 44 (50). 187 Vgl. exemplarisch die Einschränkungen der Rechtfertigung bei Butzer, RdA 1994, 375 ff. 188 Badura, RdA 1974, 129 (135); Hueck/Nipperdey, Arbeitsrecht II/1, S. 371; Küchenhoff, RdA 1959, 201 (205); Löwisch, RdA 1969, 129 (130); Otto, FS Zeuner, S. 212 (137 ff.); Rüfner, RdA 1985, 193 (195). 189 Kamanabrou, RdA 1997, 22 (33). 190 Badura, RdA 1974, 129 (135). 191 Höfling, JZ 2000, 44 (46); mittlerweile aufgegeben, vgl. Höfling in: Sachs, GG, Art. 9 GG, Rn. 136. 192 Löwisch/Rieble, TVG, Grundl., Rn. 27; hiergegen aber ausdrücklich Otto, FS Zeuner, S. 121 (138). 193 Hueck/Nipperdey, Arbeitsrecht II/1, S. 371; Kamanabrou, RdA 1997, 22 (33); Löwisch, RdA 1969, 129 (130); Rüfner, RdA 1985, 193 (195); Wank, Anm. zu BVerfG vom 10.1.1995, AP Nr. 76 zu Art. 9 GG; eher streng: Badura, RdA 1974, 129 (135). 194 Wank, Anm. zu BVerfG vom 10.1.1995, AP Nr. 76 zu Art. 9 GG; Löwisch/Rieble, TVG, Grundl., Rn. 26, 33, allerdings im Sinne eines Abstandsgebots.
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Gesetzgebungskompetenz nebeneinander existieren.195 Das entstehende Konkurrenzverhältnis basiere auf dem Unterschied zwischen staatlicher Kompetenz und grundrechtlichem Freiheitsschutz.196 Scholz folgert daraus, es liege in diesem Fall keine kompetenzielle Konkurrenz vor.197 Dennoch soll diese Sichtweise hier im folgenden „Kompetenzparallelismus“ genannt werden. Denn es bestehen nebeneinander in der Verfassung verankerte Normsetzungsbefugnisse198 auch dann, wenn die eine die andere verdrängt. Der Ausdruck Kompetenzparallelismus soll lediglich zum Ausdruck bringen, dass kein Vorrang einer der beiden Regelungsbefugnisse besteht. Denn der Gesetzgeber kann im Rahmen des Kompetenzparallelismus zwar neben den Tarifvertragsparteien umfassend zur Regelung arbeitsrechtlicher Sachverhalte tätig werden. Grenze soll aber auch hier die Aushöhlung der Tarifautonomie sein.199 Diese Sichtweise wird teilweise „Günstigkeitsprinzip“ genannt200, weil der Tarifvertrag nach dieser Theorie lediglich die Verbesserung der geltenden Gesetzeslage gewährleiste. Da aber hier die Frage des Umfangs der Garantie der Tarifautonomie und nicht der Folgen ihres Inhalts in Rede stehen, soll hier der Begriff des Kompetenzparallelismus verwendet werden. Auch nach der Theorie des Kompetenzparallelismus bleibt eine Restkompetenzgarantie für die Tarifautonomie. Diese wird allerdings nicht im hypothetischen Sinne einer Gefährdung, sondern im objektiven Sinne der weitgehenden Verdrängung tariflicher Regelungsmöglichkeiten gesehen (Erdrosselung).201 B. Preis will daher im Anschluss an die oben dargestellte Ansicht von Hueck/Nipperdey die Tarifautonomie dann als verletzt ansehen, wenn ein Maßnahmegesetz sich speziell gegen eine tarifrechtliche Gestaltung der Arbeitsbedingungen richtet, nicht aber, wenn es sich um allgemeine Dauergesetze handelt.202 Es reicht dabei aber aus, wenn den Tarifvertragsparteien „noch etwas übrig bleibt“.203 Ein weitergehender Ansatz unterstellt die Definition des Tätigkeitsbereichs der Tarifvertragsparteien der Kompetenz des Gesetzgebers. Von diesem Ausgangspunkt her sind sämtliche arbeitsrechtlichen Schutzgesetze und Vorschriften zuläs195 Friese, Kollektive Koalitionsfreiheit und Betriebsverfassung, S. 255 f.; Gellermann, Grundrechte im einfachgesetzlichen Gewande, S. 163 ff., 322; Kemper in: MKS, GG, Art. 9 GG, Rn. 147; Preis/Greiner, As.-Drs. 16(11), 771, 21; Schnorr, Das Arbeitsrecht als Gegenstand internationaler Rechtsetzung, S. 228. 196 Scholz in: Maunz/Dürig, GG, Art. 9 GG, Rn. 259. 197 Scholz, Koalitionsfreiheit als Verfassungsproblem, S. 330. 198 Oetker, ZG 1998, 155 (164). 199 Oetker, ZG 1998, 155 (166); Kemper in: MKS, GG, Art. 9 GG, Rn. 148; ähnlich Gellermann, Grundrechte im einfachgesetzlichen Gewande, S. 166, 322. 200 Scholz in: Maunz/Dürig, GG, Art. 9 GG, Rn. 259. 201 Kemper in: MKS, GG, Art. 9 Abs 3 GG, Rn. 148; Oetker, ZG 1998, 155 (166); Wiedemann, FS Stahlhacke, S. 675 (691). 202 Preis, B., ZfA 1972, 275 (297). 203 Oetker, ZG 1998, 155 (166); Wiedemann, FS Stahlhacke, S. 675 (691); ähnlich Kemper, Die Bestimmung des Schutzbereichs der Koalitionsfreiheit, S. 122 f.
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sig. Diese fallen nicht in den autonomen Regelungsbereich der Tarifvertragsparteien, sie definieren ihn.204 Danach sind Mindestschutzvorschriften wie Mindesturlaub, Mindestarbeitsbedingungen, technische Schutzvorschriften und Höchstarbeitszeiten als staatliche Grenzziehungen der Tarifautonomie zu betrachten. Reuss formuliert seinen Grundansatz prägnant: „Weiter, als der Staat den autonomen Bereich zieht, geht das autonome Recht nicht. Der Staat kann also eine untere Grenze für den Bereich autonomer Normsetzung ziehen.“ 205 Damit wird im Ergebnis das Günstigkeitsprinzip zwischen Gesetz und Tarifvertrag statuiert. Für Reuss ist die zwingende staatliche Regelung von Mindestarbeitsbedingungen kein Eingriff in die Tarifautonomie. Dieser Ansatz läuft darauf hinaus, die Ausübung staatlicher Normsetzungsbefugnisse als Ausgestaltung der Tarifautonomie zu begreifen und die staatliche Rechtsetzung lediglich den Grenzen der Ausgestaltung zu unterwerfen.206 Die Tarifautonomie kann dann innerhalb des gezogenen Rahmens betätigt werden. Die entsprechende Position wird im Ergebnis von einem Teil des Schrifttums geteilt. Dieses gelangt maßgeblich unter Berufung auf das Sozialstaatsprinzip207, die Gesetzgebungskompetenz aus Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG208, sowie der staatlichen Schutzpflicht für die Privatautonomie des Arbeitnehmers209 zu einem Kompetenzparallelismus im Verhältnis von staatlicher und tarifautonomer Regelungsbefugnis. In diesem Zusammenhang wird auch auf die Notwendigkeit der Ausgestaltung der Tarifautonomie hingewiesen. Diese bestehe nur in den Grenzen des einfachen Gesetzesrechts.210 Demnach könne der Gesetzgeber aufgrund der Verfassungs204 Gellermann, Grundrechte im einfachgesetzlichen Gewande, S. 161 ff., insbes. S. 166; Schnorr, Das Arbeitsrecht als Gegenstand internationaler Rechtsetzung, S. 224 ff.; Reuss, ArbuR 1958, 321 (322); vgl. allerdings Reuss, ArbuR 1975, 1 (5), der die Auffassung scheinbar aufgibt; ähnlich Oetker, ZG 1998, 155 (164 f.) und Scholz in: Maunz/Dürig, GG, Art. 9 GG, Rn. 259, 269 ff., letzterer aber anders für Teilgewährleistungen; vgl. dazu umfassend unten 3. Kap. 205 Reuss, ArbuR 1958, 321 (326); vgl. allerdings Reuss, ArbuR 1975, 1 (5). 206 In diesem Sinne vor allem Oetker, ZG 1998, 155 (163 f.), der als Grenzen – und hier liegt eine Parallele zur eingeschränkten Tatbestandstheorie (vgl. 2. Kap B., C. IV.) – den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz, sowie die Bedeutung der Materie für die augenblicklich verwirklichte Koalitionsfreiheit, mithin die Frage, ob sie aktuell tarifvertraglich geregelt ist, heranzieht. Ausreichend sei es, wenn der Gesetzgeber schutzwürdige Rechtsgüter heranziehen kann. 207 Preis, B., ZfA 1972, 275 (295 ff.); Wiedemann, FS Stahlhacke, S. 675 (686). 208 Gellermann, Grundrechte im einfachgesetzlichen Gewande, S. 164; Oetker, ZG 1998, 155 (166); Schnorr, Das Arbeitsrecht als Gegenstand internationaler Rechtsetzung, S. 228; Wiedemann, FS Stahlhacke, S. 675 (686); Scholz in: Maunz/Dürig, GG, Art. 9 GG, Rn. 259, 269 f.; Kemper in: MKS, GG, Art. 9 GG, Rn. 147. 209 Buschmann, FS Richardi, S. 93 (102); Friese, Kollektive Koalitionsfreiheit und Betriebsverfassung, S. 254 ff. 210 Preis/Greiner, As.-Drs. 16 (11), 771, 21; Gellermann, Grundrechte im einfachgesetzlichen Gewande, S. 163 ff.; Engels, JZ 2008, 490.
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ordnung nicht beschränkt sein, die arbeitsrechtlichen Gegenstände, auch soweit sie tariflich regelbare Umstände erfassen, umfassend zu regeln.211 Die entsprechende Ansicht wird insbesondere mit Blick auf die Festlegung von sozialen Mindeststandards vertreten212, zu denen der Gesetzgeber vielmehr als verfassungsrechtlich verpflichtet angesehen wird.213 Dabei wird allerdings teilweise eine zweiseitig zwingende Regelung arbeitsrechtlicher Schutzstandards für verfassungsrechtlich rechtfertigungsbedürftig gehalten, weil solche Regelungen nicht dem Sozialstaatsprinzip dienen würden.214 Zulässig seien aber sowohl Mindestlöhne als auch Höchstarbeitszeiten und zwar auch dann, wenn es zu Überschneidungen mit tatsächlichen oder potenziellen tariflichen Regelungen kommt.215 Dabei wird die Annahme eines wie auch immer gearteten Vorrangs der Tarifautonomie damit angegriffen, sie stehe im Widerspruch zum Sozialstaatsprinzip.216 Das Sozialstaatsprinzip könne nicht durch die Tarifautonomie allein, sondern nur durch die komplementäre staatliche Normsetzung realisiert werden. Dieser komme aufgrund der verfassungsmäßigen Verpflichtung des Gesetzgebers, das Sozialstaatsprinzip zu verwirklichen, die Aufgabe einer arbeitsrechtlichen Grundsicherung zu, die über die Sicherung von Existenzminima hinausgeht.217 Auch die Wesentlichkeitstheorie und der Vorbehalt des Gesetzes verpflichten den Gesetzgeber, grundlegende Entscheidungen in Gesetzesform zu treffen.218 Auch deshalb wird eine staatliche Allzuständigkeit angenommen.219 Oberhalb dieser Mindestnormen bleibt nach der Theorie des Kompetenzparallelismus ohnehin ein hinreichend großer Regelungsbereich für die Tarifvertragsparteien. Von einer Aushöhlung der Tarifautonomie könne daher keine Rede sein, selbst wenn diese Grenze abstrakt akzeptiert würde. Auch könne sich der Staat nicht generell darauf verlassen, dass die Tarifvertragsparteien im Rahmen der Tarifverhandlungen nicht doch Kompensationsgeschäfte schließen, deren Regelungen im Widerspruch zu zwingend zu gewährleistenden staatlichen Schutzpositionen stehen.220 Darüber hinaus wird 211 Preis, B., ZfA 1972, 275 (293 ff.); Gellermann, Grundrechte im einfachgesetzlichen Gewande, S. 163 ff.; Scholz in: Maunz-Dürig, GG, Art. 9 GG, Rn. 17, 259, 269; Kemper in: MKS, GG, Art. 9 GG, Rn. 148; Wiedemann, FS Stahlhacke, S. 675 (686 ff.). 212 Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht, Bd. 1, S. 299; Wiedemann, FS Stahlhacke, S. 675 (686); ähnlich im Ansatz, aber anders im Ausmaß des Schutzes der Tarifautonomie, Däubler, Grundrecht auf Mitbestimmung, S. 214. 213 Buschmann, FS Richardi, S. 93 (102); diese Frage stellt sich bei den verfassungsrechtlichen Grenzen tarifdispositiver Gesetze und wird dort erörtert, vgl. 4. Kap. 214 Stein, ArbuR 1998, 1 (7 f.). 215 Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht, Bd. I, S. 296; Kemper in: MKS, GG, Art. 9 GG, Rn. 150; Wiedemann, FS Stahlhacke, S. 675 (686). 216 Preis, B., ZfA 1972, 275 (295). 217 Preis, B., ZfA 1972, 275 (293). 218 Vgl. dazu unten 4. Kap. E. III. 1. und 2. 219 Wiedemann, FS Stahlhacke, S. 675 (690). 220 Preis, B., ZfA 1972, 275 (295).
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2. Kap.: Verfassungsrechtliche Fragen
darauf verwiesen, der Staat könne schon deshalb, weil er auch die Interessen Dritter nicht am tariflichen Einigungsprozess beteiligter Personen zu berücksichtigen habe, nicht nachrangig gegenüber der tariflichen Normsetzung befugt sein, arbeitsrechtliche Regelungen zu erlassen.221 Des Weiteren wird von Kemper darauf verwiesen, dass es Sinn und Zweck der Tarifautonomie sei, den Koalitionen die autonome Ordnung des Arbeitslebens zu ermöglichen. Ein Ausschluss des Gesetzgebers von der Normsetzungstätigkeit sei aber für die Tarifautonomie in diesem Sinne nicht nützlich, sondern schädlich. Denn die Tarifvertragsparteien seien überhaupt nicht in der Lage, die umfassende Ordnung sämtlicher Regelungskomplexe, die zur Gestaltung des Arbeits- und Wirtschaftsrechts mit Blick auf die Verhältnisse abhängiger Arbeit notwendig sind, zu gewährleisten.222 Der Gesetzgeber sei nicht auf Fälle beschränkt, in denen die Tätigkeit der Koalitionen durch von ihm verfolgte kollidierende Verfassungsrechtsgüter ihre Grenzen finde.223 Nach der Theorie des Kompetenzparallelismus ist damit die Tarifautonomie, soweit es das Verhältnis zur staatlichen Gesetzgebung betrifft, nur vor einer Aushöhlung durch umfassende Regelung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen geschützt, ohne dass es dabei Tabuzonen224 für die staatliche Normsetzung gibt. Vielmehr ist im Rahmen einer Gesamtbetrachtung existierender gesetzlicher Regelungen zu überprüfen, ob den Tarifvertragsparteien ein hinreichendes Betätigungsfeld verbleibt. Dies betont unter Umständen stärker die Rolle der Tarifautonomie als Verfahrensgarantie, mithin die grundrechtsdogmatische Figur der Grundrechtsausgestaltung. Werden arbeitsrechtlich zwingende Vorschriften erlassen, kann die Verfahrensgarantie weiterhin ausgeübt werden. Wird hingegen eine vollumfängliche zweiseitig zwingende Regelung erlassen, läuft sie leer. Dies bildet dann konsequenterweise die Grenze der Regelungsbefugnis des Staates. 4. Zusammenfassung Die gesamte Diskussion um das Verhältnis tarifautonomer und gesetzlicher Normsetzungskompetenz wird durch heteronome Interessen und Vorverständnisse geprägt. Teilweise resultiert die starke Betonung der (tarif-)autonomen Regelungsbefugnisse aus der Diskussion über die Zulässigkeit zweiseitig zwingenden Gesetzesrechts, damit also eher aus dem Bedürfnis der Abwehr legislativer Regelungen. Das gleiche Problem stellt sich bei nahezu allen anderen theoretischen Ansätzen. Sie sind stets vor einem praktischen Hintergrund konzeptioniert,
221 Wiedemann, FS Stahlhacke, S. 675 (686); ähnlich Gellermann, Grundrechte im einfachrechtlichen Gewande, S. 161 ff. 222 Kemper in: MKS, GG, Art. 9 GG, Rn. 148. 223 Kemper in: MKS, GG, Art. 9 GG, Rn. 148, 93. 224 Kemper in: MKS, GG, Art. 9 GG, Rn. 148.
B. Verhältnis von Tarifautonomie und staatlichem Gesetzesrecht
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in dem die gesetzliche Regelung tariflich regelbarer Sachverhalte mal zugunsten, mal zuungunsten der Arbeitnehmer wirkt. Je nachdem, welche praktische Lösung präferiert wird, werden die einzelfallbezogenen Vorstellungen auf die Verfassungsebene „hochgezont“ und verallgemeinert, ohne dass eine in sich konsistente Gesamtbetrachtung stattfindet. Daher ist die Diskussion um das Verhältnis der staatlichen Gesetzgebungskompetenz und Tarifautonomie zunächst aus ihren praktischen Zusammenhängen herauszulösen. Dabei soll nicht verkannt werden, dass dies sicher nicht vollständig möglich ist, weil eine solche theoretische Annäherung notwendigerweise auf die tatsächlichen und auch rechtlichen Verhältnisse zurückgreifen muss.
IV. Zusammenfassung Es zeigt sich, dass die Diskussion um das Verhältnis von staatlicher Gesetzgebung und Tarifautonomie eine Vielzahl von Ansätzen hervorgebracht hat. Diese sind in hohem Maße heterogen. Dennoch lassen sich einige Leitmotive erkennen, die die gesamte Diskussion durchziehen und die auch weitestgehend unstrittig sind. Zunächst sind sowohl der staatliche Gesetzgeber als auch die Tarifvertragsparteien von der Verfassung mit einer Kompetenz ausgestattet, im Bereich der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen Normen zu setzen. Die Tarifautonomie wird dabei durch Art. 9 Abs. 3 GG geschützt und darf nach allgemeiner Ansicht durch den Gesetzgeber nicht ausgehöhlt werden. Über das darüber hinausgehende Ausmaß des Schutzes hingegen besteht Uneinigkeit. Allerdings wird verbreitet der Lohnfindung und in weiten Teilen der Literatur auch der Arbeitszeit als Regelungsmaterie ein besonderer Schutz zugesprochen. Der Gedanke der unterschiedlichen Schutzintensität der Tarifautonomie gegenüber verschiedenen Regelungsmaterien ist weit verbreitet. Nahezu jede andere Frage ist umstritten. Dies gilt zunächst maßgeblich für die Frage, ob sich aus der Tarifautonomie eine irgend geartete Privilegierung der tariflichen Normsetzung gegenüber der gesetzlichen Regelung ergibt. Dabei sind bereits die Prüfungsmaßstäbe und das methodische Vorgehen uneinheitlich. Teilweise wird eine Trennung zwischen ausgestaltender und eingreifender Gesetzgebung mit Blick auf die Tarifautonomie vorgenommen, teilweise werden diese beiden Kategorien vermengt oder völlig neuartige Stufenmodelle entwickelt. Die Rechtsprechung hat einen dynamischen Verlauf hin zu einer Ausweitung des Schutzumfangs der Tarifautonomie bei gleichzeitig extrem aufgeweichtem Kontrollmaßstab durchlaufen. Kernfrage bleibt aber, wie der Schutzumfang der Tarifautonomie mit Blick auf die staatliche Gesetzgebung zu bestimmen ist. Dazu sind vor allem die Begründungsmuster der verschiedenen Auffassungen, maßgeblich das Subsidiaritätsprinzip, auf ihre Stimmigkeit zu untersuchen. Ist
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2. Kap.: Verfassungsrechtliche Fragen
die Validität der verschiedenen Begründungsansätze untersucht, soll auf dieser Basis der Schutzbereich der Tarifautonomie mit Blick auf den Schutz vor zwingender staatlicher Regelung von Gegenständen, die Inhalt des Arbeitsverhältnisses sein können, erfolgen.
C. Grundrechtsdogmatische Vorbemerkungen Die Auslegung von Inhalt und Umfang der grundrechtlichen Garantie der Tarifautonomie bereitet traditionell Schwierigkeiten und ist traditionell von einer Vielzahl grundlegender Streitigkeiten geprägt. Der Bereich, in dem es um das Verhältnis von staatlichem Gesetz und Tarifvertrag geht, zeichnet sich dabei durch eine besondere Meinungsvielfalt aus. Hinzu kommt, dass die Tarifautonomie sowohl natürliche Handlungen, wie etwa das kollektive Niederlegen der Arbeit (Streik), als auch von rechtlichen Vorschriften abhängige Regelungs- und Normsetzungsbefugnisse enthält.
I. Normsetzungsbefugnis und Regelungsbefugnis Für die folgenden Betrachtungen ist eine Trennung zwischen der Normsetzungsbefugnis und den mit ihr verbundenen Betätigungen der Koalitionen und ihrer Regelungsbefugnis für die Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen erforderlich.225 Diese Differenzierung lässt sich auch in die Begrifflichkeiten der formellen und materiellen Tarifvertragsfreiheit kleiden.226 Worum es bei der Normsetzungsbefugnis im weiteren Sinne geht, sind die Verfahren und das Zustandekommen der tarifvertraglichen Normen sowie die mit diesen verbundenen Betätigungen der Koalitionen zur Interessenvertretung ihrer Mitglieder (formelle Tarifvertragsfreiheit). Die Regelungsbefugnis oder materielle Tarifvertragsfreiheit demgegenüber betrifft die Frage der sachlich-gegenständlichen Kompetenz. Die Frage der Kompetenz zur Normsetzung ist damit die Befähigung zur Rechtsetzung im Allgemeinen, während die Regelungsbefugnis die Frage der dieser Normsetzungsbefugnis zugeordneten Gegenstände betrifft. Im Folgenden ist immer von einer Regelungsbefugnis oder der Regelung von Gegenständen, die auch Inhalt von Arbeitsverträgen sein können, die Rede, soweit es das Verhältnis der staatlichen Gesetzgebung zur sachlich-gegenständlichen Kompetenz der Koalitionen betrifft. Hingegen wird von einer Normsetzungsbefugnis gesprochen, soweit es die formelle 225 Zum Erfordernis der Trennung auch Söllner, NZA Beil. Heft 24/2000, S. 33; Waltermann, FS 50 Jahre BAG, S. 913 (914); ders., ZfA 2000, 53 (56); ders., Rechtsetzung durch Betriebsvereinbarung zwischen Privatautonomie und Tarifautonomie, S. 54 ff. 226 Kemper in: MKS, GG, Art. 9 GG, Rn. 144, 147.
C. Grundrechtsdogmatische Vorbemerkungen
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Berechtigung zur Setzung von Normen für das Arbeitsverhältnis durch Tarifvertrag geht.
II. Eingriff und Ausgestaltung Die entscheidende Problematik ist dabei, ob sich die jeweiligen Regelungen als Gestaltung des rechtlichen Rahmens der Tarifautonomie, als Beschränkung von natürlicher Freiheit oder schlicht als grundrechtlich neutral darstellen. Selbst dann allerdings, wenn eine Zuordnung im letzteren Sinne erfolgt, besteht keinesfalls Klarheit über die grundrechtlichen Konsequenzen. Denn einerseits sind die Grenzen dieser Ausgestaltungsbefugnis des Gesetzgebers zu bestimmen, wenn man von einer normgeprägten Freiheit ausgeht, also davon, dass alle oder jedenfalls bestimmte Teilbereiche der Tarifautonomie der gesetzlichen Ausgestaltung bedürfen. Andererseits ist, sofern man von einer natürlichen Freiheit ausgeht, die Reichweite des Schutzbereichs zu bestimmen. Dafür sind die verschiedenen Inhalte der Tarifautonomie zu trennen. Die Arbeitskampffreiheit ist, ohne dass hier auf den Umfang eingegangen werden soll, grundsätzlich als natürliche Freiheit, also als solche, die von keinen rechtlichen Voraussetzungen abhängig ist, zu betrachten.227 Daher sind gesetzliche oder richterrechtliche Einschränkungen des geschützten Verhaltens stets als Grundrechtseingriffe zu qualifizieren und bedürfen der verfassungsrechtlichen Rechtfertigung. Anders stellt sich dies möglicherweise mit Blick auf die Regelungs- und Normsetzungsbefugnis der Tarifvertragsparteien dar. Weithin anerkannt ist, dass der Abschluss von Tarifverträgen zum Inhalt der Tarifautonomie gehört. Die Frage allerdings, ob und in welchem Umfang dieser der Ausgestaltung und der Eingriffsrechtfertigung zuzuschlagen ist, ist weniger einfach zu beantworten. Auch wenn mittlerweile die Betätigungsgarantie der Koalitionen weithin anerkannt ist228, bedarf der Umfang des Schutzes einer Klärung.229 Dabei sind mehrere Aspekte von Relevanz. Zunächst einmal wurde, insbesondere in der älteren Literatur, die Normsetzungs- und Regelungsbefugnis der Tarifvertragsparteien als unmittelbar durch Art. 9 Abs. 3 GG verliehen angesehen.230 In diesem Falle erübrigen sich weitere Überlegungen zur grundrechtsdogmatischen Einordnung, weil gesetzliche Regelungen entbehrlich wären. Die Regelungs- und Normsetzungsbefugnis wären von der Verfassung verliehene originäre Rechtsetzungskompetenzen, die vom staatlichen Recht unabhängig wären. Es lässt sich aber auch eine Trennung dahin gehend vornehmen, dass die Regelungsbefugnis unmittelbar durch Art. 9 Abs. 3 GG gewährleistet wird, während die Normsetzungsbefugnis 227
Engels, Verfassung und Arbeitskampfrecht, S. 257 ff. Kemper in: MKS, GG, Art. 9 GG, Rn. 117, m.w. N. 229 Kemper in: MKS, GG, Art. 9 GG, Rn. 117. 230 Biedenkopf, Grenzen der Tarifautonomie, S. 102 ff.; Galperin, FS Molitor, S. 143, 153 ff., insbes. S. 158. 228
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2. Kap.: Verfassungsrechtliche Fragen
der gesetzlichen Ausgestaltung bedarf. Schließlich ist es auch denkbar, davon auszugehen, dass aufgrund der durch das Gesetz gewährten Normsetzungsbefugnis erst die Regelungsbefugnis entsteht und daher auch diese der Grundrechtsausgestaltung zuzuschlagen ist. All diese Konstruktionen haben allerdings die Problematik der Bipolarität des Grundrechts zu eigen. Denn eine Ausgestaltung wird regelmäßig nur von einer Seite der Grundrechtsträger, nämlich der Arbeitgeberoder Arbeitnehmerseite als neutral oder nicht belastend empfunden werden.231 Ebenso wird die Annahme eines Grundrechtseingriffs durch ein bestimmtes staatliches Verhalten regelmäßig von einer der beiden Seiten als Bevorzugung oder Benachteiligung empfunden werden. Gleichzeitig ist auch die grundrechtliche Ausgestaltung kein Deckmantel zur Denaturierung der grundrechtlichen Gewährleistungsgehalte.232 Auch die Ermittlung der Vorgaben für eine Grundrechtsausgestaltung bedarf der Begründung, ganz genauso wie sich jede weite oder restriktive Fassung des Schutzbereichs eines Grundrechts argumentativ begründen lassen muss. Erst bei der Anwendung der entsprechenden dogmatischen Konstrukte auf die zuvor durch Auslegung ermittelten verfassungsrechtlichen Vorgaben, erlangt die dogmatische Konstruktion ihre Bedeutung. Sieht die Tarifautonomie als eigentliches Kernelement ein Tarifvertragssystem mit unmittelbarer und zwingender Wirkung vor, so spielt die Frage, über welches dogmatische Modell die Normsetzungsbefugnis erfasst wird, eine nachrangige Rolle. Im Ergebnis ist daher für die Anwendung der beiden grundrechtsdogmatischen Konzepte eher die Frage zu stellen, was das eigentliche Schutzgut der Tarifautonomie ist und welche konkreten Vorgaben sie für gesetzgeberische Tätigkeiten impliziert. Ist diese Entscheidung getroffen, kann das Ergebnis kein anderes sein, nur weil ein Fall der Eingriffs- oder Ausgestaltungsdogmatik vorliegt. Die Dogmatik kann damit die Entscheidung über die Vorgaben der Verfassungsnorm nicht überspielen. Ebenso wenig dispensiert sie von wertenden Erwägungen und dem Bekenntnis dazu, welchen tatsächlichen Schutzumfang das Grundrecht gewähren soll, unabhängig davon, welchem dogmatischen Ausgangspunkt man folgt. Ob damit die Abgrenzungsfrage zwischen Eingriff und Ausgestaltung gänzlich sinnlos und undurchführbar ist233, kann hier einstweilen dahinstehen. Jedenfalls ist die betreffende Streitfrage geeignet, den Blick auf den entscheidenden Gesichtspunkt, der nach beiden grundrechtsdogmatischen Ansätzen relevant ist, zu verstellen. Gleichgültig, welchem Konzept man folgt, ist für die vorliegende Problematik die Reichweite des verfassungsrechtlichen Schutzes der tarifvertraglichen Regelungsbefugnis zu bestimmen. Sofern danach bei beiden Betrachtungsweisen 231
Bayreuther, Tarifautonomie als kollektiv ausgeübte Privatautonomie, S. 27 ff. Vgl. dazu auch unten 3. Kap. E. XII. 233 Bayreuther, Tarifautonomie als kollektiv ausgeübte Privatautonomie, S. 30; Henssler, ZfA 1998, 1 (11); Schwarze, JuS 1994, 653 (658). 232
C. Grundrechtsdogmatische Vorbemerkungen
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(Ausgestaltung oder Eingriff) das gleiche Ergebnis erzielt wird, erübrigt sich allerdings eine Entscheidung über die grundrechtsdogmatische Einordnung. Damit ist die Frage nach der Reichweite des verfassungsrechtlichen Schutzes der Tarifautonomie die unverzichtbare Voraussetzung für die hier stehende Abgrenzungsfrage zwischen tarifvertraglicher Regelungsbefugnis und staatlicher Regelungsbefugnis für Gegenstände, die auch Inhalt von Tarifverträgen sein können. Im Anschluss daran lässt sich auch die Frage nach der Bedeutung der Grundrechtsausgestaltung und ihrer Grenzen für die hier zu untersuchende Frage angehen.
III. Grundrechtsauslegung und tarifvertragliche Regelungsbefugnis als natürliche Freiheit Geht man davon aus, dass es sich bei der tarifvertraglichen Regelungsbefugnis um eine natürliche Freiheit handelt, die nicht rechtsgeprägt ist oder jedenfalls als handlungsbezogen anzusehen ist, ist sie nach den Prinzipien der Eingriffsgesetzgebung zu betrachten. In diesem Sinne muss wohl die Rechtsprechung des BVerfG verstanden werden.234 Bei dieser Betrachtungsweise stellt sich die Frage nach der Auslegung des Schutzbereichs der Tarifautonomie. Die Sichtweisen und Interpretationen des Gewährleistungsgehalts der Tarifautonomie sind – wie gezeigt – hochgradig unterschiedlich. Dies basiert nicht zuletzt auf heteronomen Begründungsmustern und Interpretationshilfen, die die Vertreter den unterschiedlichen Auffassungen zugrunde legen. Je nachdem, welches argumentative Werkzeug verwandt wird, werden zwar scheinbar vergleichbare Ergebnisse erzielt. Diese sind aber in ihrer Begründung hochgradig unterschiedlich. Es ist daher erforderlich, zunächst die – teilweise auch nur implizit herangezogenen – Argumentationsmuster zum Verhältnis staatlicher Normsetzung und Tarifautonomie auf ihre Überzeugungskraft zu untersuchen. Denn eine Vielzahl der Streitigkeiten resultiert aus unterschiedlichen verfassungsrechtlichen Vorverständnissen.235 Diese müssen zunächst einmal transparent gemacht werden, bevor sie auf ihre Stichhaltigkeit untersucht werden können. Im Anschluss daran soll auf Basis der Ergebnisse ein eigenständiger Ansatz zur Auslegung von Gewährleistungsumfang und Inhalt der Tarifautonomie entwickelt werden. Die Auslegung des Schutzbereichs von Grundrechten ist traditionell besonders konfliktträchtig. Dies resultiert aus ihrer notwendigerweise offenen und generalisierenden Formulierung sowie aus der Durchdringung der Auslegung mit allgemeinen Verfassungsprinzipien. Der Wortlaut von Grundrechten ermöglicht in der Regel eine erhebliche Weite und Vielfalt in der Auslegung.236 Dass diese zu einer 234
Vgl. dazu oben 2. Kap. B. I. Vgl. allgemein Neuner, Privatrecht und Sozialstaat, S. 5; sowie Böckenförde, NJW 1976, 2089 (2092, 2098). 236 Böckenförde, NJW 1976, 2089 (2091). 235
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2. Kap.: Verfassungsrechtliche Fragen
gewissen Ideologieanfälligkeit führt, ist einem offen formulierten Rechtssystem immanent.237 Das Augenmerk bei der Auslegung ist deshalb besonders auf implizite Begründungsmuster zu legen, die transpartent gemacht werden müssen. umihre Überzeugungskraft zu überprüfen. Dies gilt im Besonderen für die in Art. 9 Abs. 3 GG verankerte Koalitionsfreiheit. Die vorliegende Betrachtung beschränkt sich dabei auf deren Gewährleistungsgehalt, soweit er das Verhältnis von staatlicher und tariflicher Regelungsbefugnis betrifft. Im Sinne der geforderten Transparenz von Begründungsmustern ist auch der eigene Ausgangspunkt zu entwickeln und offen zu legen. Dies folgt in erster Linie aus dem Bemühen, der Verfassung objektivierbare Leitlinien für die Interpretation der Tarifautonomie abzuringen, da diese durch ihre unpräzise verfassungsrechtliche Verankerung solche Maßstäbe alleine nur begrenzt erzeugen kann. Dabei soll nicht verschwiegen werden, dass solche Leitlinien wiederum nur begrenzte Objektivität herstellen können, weil ein Begründungsmuster stets auch einem subjektiven Vorverständnis entspringt.238 Dennoch ist nach Wegen zu suchen, die argumentativen Muster, die zur Auslegung der Tarifautonomie herangezogen werden, so weit möglich aus der Verfassungsordnung zu gewinnen und sie in dieser in einer Weise zu verankern, die ein gewisses Maß an Rückführbarkeit auf die geschriebene Verfassungsordnung beinhaltet. Dass hier aufgrund der Offenheit der Verfassung Interpretationsspielräume bleiben, lässt sich nicht vermeiden. Es lässt sich aber eine verlässlichere Grundlage für die Auslegung von Art. 9 Abs. 3 GG bilden, weil bestimmte Argumentationsmuster abstrakt auf ihre Überzeugungskraft überprüft werden und daher die Auslegung zumindest von belastbareren Prinzipien durchdrungen wird, als dies derzeit der Fall ist. Dabei ist es nicht das primäre Ziel der folgenden Ausführungen, allgemeine Aussagen über die Verfassungsauslegung zu treffen. Allerdings lässt es sich nicht vermeiden, die eine oder andere verfassungstheoretische Vorfrage aufzugreifen, soweit diese für die Auslegung von Art. 9 Abs. 3 GG herangezogen wird.
IV. Tarifautonomie als liberales Freiheitsrecht: Weite oder enge Tatbestandstheorien? Einer grundrechtsdogmatischen Grundsatzfrage kann allerdings nicht ausgewichen werden: dem Streit über die weite oder enge Fassung des Schutzbereichs von Grundrechten. Allerdings sei auch darauf hingewiesen, dass die nachfolgenden Ausführungen primär auf Art. 9 Abs. 3 GG ausgerichtet sind. Dennoch muss 237 Neuner, Privatrecht und Sozialstaat, S. 3, 5; Rusteberg, Der grundrechtliche Gewährleistungsgehalt, S. 170. 238 Dazu Volkmann, JZ 2005, 261 (262).
C. Grundrechtsdogmatische Vorbemerkungen
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auf die Frage grundsätzlich eingegangen werden, weil sich in der Diskussion um den Gewährleistungsumfang der Tarifautonomie der Verweis auf die liberale Grundrechtskonzeption des Grundgesetzes findet. Aus dieser wird gefolgert, es sei ein möglichst umfassender Schutz der tarifautonomen Regelungsbefugnis vor konkurrierender staatlicher Gesetzgebungstätigkeit erforderlich.239 Häufig wird dabei jedoch nicht zwischen der Gewährleistung eines Tarifvertragssystems durch die Tarifautonomie einerseits und des Umfangs der tariflichen Regelungsbefugnis andererseits differenziert. Dabei wäre gerade mit Blick auf den Sinn und Zweck der Tarifautonomie hier eine differenziertere Betrachtungsweise wünschenswert. Es geht nämlich im Kern darum, ob durch die Abwehr staatlicher zwingender Regelungen im Arbeitsrecht tatsächlich eine Beschränkung von Freiheit der Koalitionen erfolgt. Der seit Längerem wieder verstärkt geführte grundrechtsdogmatische Streit über die richtige Fassung und Bestimmung grundrechtlicher Schutzbereiche240 muss in diesem Zusammenhang beachtet werden.241 Weil gerade die sogenannte weite Tatbestandstheorie unreflektiert als Argument für einen verfassungsrechtlichen Schutz der Tarifvertragsparteien vor staatlichen zwingenden Regelungen im Arbeitsrecht herangezogen wird242, muss auf den grundrechtsdogmatischen Streit eingegangen werden. Denn nicht nur die Frage der verfassungsrechtlichen Legitimation entsprechender Regelungen, auch wenn sie für diese Arbeit von vorrangiger Bedeutung ist, wird durch diese Sichtweise beeinflusst. Auslegung und Anwendung des bestehenden Arbeitsrechts werden durch sie gesteuert. Und dies nicht nur dort, wo es um das kompetenzielle Verhältnis zur Regelung bestimmter Materien geht. Auch die Frage, inwieweit tarifvertragliche Vorschriften in gesetzliche Ansprüche übergreifen können, wie dies beispielsweise bei tarifvertraglichen Ausschlussfristen für gesetzliche Ansprüche der Fall ist, wird durch die entsprechende Sichtweise mitbeeinflusst. In einer Vielzahl tarifrechtlicher Fragestellungen schwingen Auswirkungen der Frage nach dem Ausmaß des verfassungsrechtlichen Schutzes der tarifvertraglichen Regelungsbefugnis mit. Insofern geht es um eine gewichtige Vorfrage. Dabei soll sich die Betrachtung aber an den Auswirkungen orientieren, die der entsprechende Theorienstreit und die jeweiligen Auffassungen für die Auslegung der Tarifautonomie haben. Der Untersuchungsgegenstand ist insofern von vorneherein eingegrenzt.
239
Bock, Tarifdispositives Arbeitnehmerschutzrecht und Tarifautonomie, S. 298. Wobei ein Teil der Lehre sich bereits an der Begrifflichkeit stört, Hoffmann-Riem, Der Staat 43 (2004), 203 (226). 241 Vgl. hierzu neuerdings ausführlich Rusteberg, Der grundrechtliche Gewährleistungsgehalt. 242 Bock, Tarifdispositives Arbeitnehmerschutzrecht und Tarifautonomie, S. 298. 240
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2. Kap.: Verfassungsrechtliche Fragen
1. Die Grundrechte zwischen formaler und materieller Freiheit Soweit die liberale Konzeption des Grundgesetzes als Argument für einen weitreichenden Schutz der tarifvertraglichen materiellen Normsetzungsbefugnis herangezogen wird, bleibt – wie auch im Rahmen der weiten Tatbestandstheorie – der Frage nachzugehen, ob hier tatsächlich ein freiheitsverstärkendes Ergebnis erzielt wird. Dabei sind einige Besonderheiten der Koalitionsfreiheit zu berücksichtigen. Untersucht man den liberal-offenen Charakter der Verfassung, so sind auch die historischen Erfahrungen, die diesen geprägt haben, in den Blick zu nehmen. Dies waren zum einen die nationalsozialistische Diktatur, die das Bedürfnis nach einer Verfassungsordnung auf den Plan rief, um die freiheitsbeeinträchtigenden Übergriffe des Staates abzuwehren, und zum anderen die Erfahrung eines „Systems ungebundener formaldemokratischer Freiheitlichkeit, das sich als unfähig erwiesen hatte, eine dauerhafte Ordnung zu stiften.“ 243 Dies führte zu einer Geisteshaltung, die Isensee als „doppeltes Misstrauen“ 244 bezeichnet hat. Einerseits gegen die Macht des Staates und die in ihr liegenden Missbrauchsgefahren und andererseits gegen die sich selbst überlassene ungeordnete Freiheit, die die Gefahr in sich birgt, sich selbst aufzuheben.245 Die Vorstellung des autarken und autonomen Bürgers, wie sie im Liberalismus des 19. und frühen 20. Jahrhunderts vorherrschte, hat der Realität nie entsprochen.246 Dies gilt insbesondere im Arbeitsrecht.247 Im Laufe des 20. Jahrhunderts hat sich die Erkenntnis durchgesetzt, dass der Staat nicht nur in die Freiheit des Einzelnen möglichst wenig eingreifen soll, sondern dass er auch verpflichtet ist, die Voraussetzungen für die Wahrnehmung von Freiheiten durch den Bürger zu schaffen.248 Die grundrechtlichen Gewährleistungen weisen damit eine über die Funk243 Isensee, Subsidiaritätsprinzip und Verfassungsrecht, S. 109; vgl. auch Kahl, Der Staat 43 (2004), 167 (187) und Böckenförde, Der Staat 42 (2003), 165 (188). 244 Isensee, Subsidiaritätsprinzip und Verfassungsrecht, S. 109. 245 Isensee, Subsidiaritätsprinzip und Verfassungsrecht, S. 109; ähnlich Dieterich, WSI-Mitteilungen 2007, 411 (414); Dieterich in: ErfK, GG, Art. 9 GG, Rn. 18; Gast, FS Kissel, S. 249 (251); Dürig, JZ 1953, 193 (196); Müller, AuR 1972, 1 (2); von Gierke, Die soziale Aufgabe des Privatrechts, S. 23; kritisch Picker, GS Knobbe-Keuk, S. 879 (917). 246 Dieterich, RdA 1995, 129 (131); Dieterich in: ErfK, GG, Art. 9 GG, Rn. 18, 33; Fastrich, FS Kissel, S. 193 (198); Pieroth/Schlink, Grundrechte, Rn. 77; Preis, RdA 1005, 333; Voswinkel, WSI-Mitteilungen 2007, 427 (428). 247 Vgl. zusammenfassend: Heinrich, Formale Freiheit und materielle Gerechtigkeit, S. 495 ff.; sowie Annuß, ZfA 2004, 285 (287); Dorndorf, FS Kissel, S. 139 (140 ff.); Gast, BB 1990, 1637 (1640); ders., FS Kissel, S. 249 (251); Picker, GS Knobbe-Keuk, S. 879 (888 ff., 892); Voswinkel, WSI-Mitteilungen 2007, 427 (428); zu den Disfunktionen denen Handwerker und kleine Gewerbetreibende ausgesetzt waren vgl. Fastrich, FS Kissel, S. 193 (198). 248 Böckenförde, NJW 1974, 1529 (1538); Bryde in: Merten/Papier, Handbuch der Grundrechte, § 17, Rn. 54; Dieterich, RdA 1995, 129 (131); Kirchhof in: Merten/Papier, Handbuch der Grundrechte, § 21, Rn. 28; Krebs in: Merten/Papier, Handbuch der Grundrechte, Bd. II, § 31, Rn. 97 ff.; Pieroth/Schlink, Grundrechte, Rn. 77; Scholz,
C. Grundrechtsdogmatische Vorbemerkungen
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tion als Eingriffsabwehrrechte hinausreichende „Intentionalität hin zu einer umfassenden Realisierung grundrechtlicher Freiheit“249 auf. Dies gilt insbesondere mit Blick auf die Privatautonomie. Hier können staatliche Regelungen sogar verfassungsrechtlich geboten sein, um die Freiheit des Bürgers zu sichern.250 Die rein liberale Sichtweise blendet damit aus, dass die Grundrechtsordnung nicht nur von liberalen sondern auch von weiteren Prinzipien, maßgeblich dem Sozialstaatsprinzip geprägt wird. Danach sollten die Elemente der „laissez faire“Ordnung durch das Konzept des „demokratischen und sozialen Bundesstaats“ (Art. 20 Abs. 1 GG) gerade überwunden werden.251 Dürig verweist darauf, dass die grundrechtlich gewährleisteten Freiheiten nicht so aufgefasst werden dürfen, dass sie eine vorgegebene Ordnung darstellen, die gleichsam „von Außen“ durch das Sozialstaatsgebot begrenzt wird.252 Das Sozialstaatsprinzip führe vielmehr dazu, dass der klassische liberale Freiheitsbegriff sich im Grundgesetz gewandelt hat. Er sei von vorneherein durch die sozialstaatliche Haltung des Grundgesetzes beeinflusst und in seiner klassischen Form zumindest modifiziert253, wenn nicht im Sinne von Dürig sogar neu.254 Diese Erkenntnis ist Teil und Ausdruck des Sozialstaatsprinzips. Der Staat ist damit nach diesem Verständnis des Grundgesetzes nicht nur Feind der Freiheit, sondern auch ihr Garant.255 Ein anderes Verständnis nehme billigend in Kauf, dass einzelne Bürger die verbürgten Freiheiten
Koalitionsfreiheit als Verfassungsproblem, S. 188 ff.; Stern, Staatsrecht III/1, § 76 IV. 8., S. 1595; Volkmann, JZ 2005, 261 (263); Waltermann, ZfA 2000, 53 (70); dies gilt insbesondere in Fällen gestörter Machtverhältnisse im Bereich der Privatautonomie: Hoffmann-Riem in: Kolloquium Bryde, S. 53 (56, 61); vgl. auch BAG 16.3.1994, NZA 1994, 937 (939). 249 Dietlein, Die Lehre von den grundrechtlichen Schutzpflichten, S. 63. 250 BVerfG 23.11.2006, NJW 2007, 286 (287); BVerfG 15.7.1998, NZA 1999, 194 (197); BVerfG 6.2.001, NJW 2001, 957 (958). 251 Dürig, JZ 1953, 193 (197); Pieroth/Schlink, Grundrechte, Rn. 77; Preis, B., ZfA 1972, 271 (196); Schnorr, Das Arbeitsrecht als Gegenstand internationaler Rechtsetzung, S. 224 f., vgl. auch Dieterich, RdA 1995, 129 ff. 252 Dürig, JZ 1953, 193 (197); Böckenförde, NJW 1974, 1529 (1538); Scholz, Koalitionsfreiheit als Verfassungsproblem, S. 188 ff.; a. A. Höfling/Rixen, RdA 2007, 360 (366); Rixen, Sozialrecht als öffentliches Wirtschaftsrecht, S. 240 ff., dazu umfassend unten 2. Kap. G. 253 Badura, DÖV 1989, 491 (492); Böckenförde, NJW 1974, 1529 (1538); Preis, B., ZfA 1972, 271 (296); Scholz, Koalitionsfreiheit als Verfassungsproblem, S. 188 ff. 254 Dürig, JZ 1953, 193 (197); ähnlich Schnorr, Das Arbeitsrecht als Gegenstand internationaler Rechtsetzung, S. 225. 255 Böckenförde, NJW 1074, 1529 (1538); Schnorr, Das Arbeitsrecht als Gegenstand internationaler Rechtsetzung, S. 224; ähnlich: Franzius, Der Staat 42 (2003), 494 (515); Pieroth/Schlink, Grundrechte, Rn. 77; Krebs in: Merten/Papier, Handbuch der Grundrechte, Bd. II, § 31, Rn. 97 ff.; Kirchhof, P. in: Merten/Papier, Handbuch der Grundrechte, § 21, Rn. 28; Hoffmann-Riem, Der Staat 43 (2004), 203 (227 ff.); ders. in: Kolloquium Bryde, S. 53 (56); Merten, GS Burmeister, S. 227 (232); Schubert, RdA 2001, 199 (206); Stern, Staatsrecht III/1, § 76 IV. 8., S. 1595.
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2. Kap.: Verfassungsrechtliche Fragen
weder wahrnehmen noch ausüben können.256 Freiheitsgewährleistungen dürften nicht von ihrer praktischen Realisierbarkeit abgekoppelt werden. Damit handele es sich bei der Grundrechtsordnung des Grundgesetzes aus ihrer historischen Betrachtung heraus nicht um eine puristisch liberale, sondern um eine freiheitliche Ordnung, die der Effektivierung und Ermöglichung des Freiheitsgebrauchs verpflichtet ist.257 Sie sei nicht einem streng formalistischen Freiheitsbegriff verpflichtet, der die Fragen der Realisierung(smöglichkeiten) von Freiheit und die Motive, aus denen heraus diese gewährleistet wird, ausblendet.258 Ein derartiges Modell von Scheinfreiheit, die sich in praktischer Unfreiheit realisiere, stehe im Ergebnis nicht mehr auf den Füßen des Liberalismus, sondern schlage in eine autoritäre Gesellschaftsform, in der Fremdbestimmung – wenn auch nicht durch staatliche Hand259 – und nicht Freiheit das gesellschaftliche Leben prägen, um. Solche Modelle formaler Freiheit sind von ökonomischer Seite längst ihres freiheitlichen Etiketts entkleidet und in ihrer realen unfreiheitlichen Gestalt umfassend analysiert.260 Hoffmann-Riem verweist auf folgenden Zusammenhang: „Rechtlich stehen Grundrechte Machtstarken und Machtschwachen gleichermaßen zu. Werden Grundrechte in erster Linie als Abwehrrechte eingesetzt, so nutzen sie vor allem den Machtstarken, deren Rechtsposition durch die Möglichkeit der Abwehr von Beschränkungen ihrer Entfaltung grundrechtlich verstärkt ist. Sie können die Grundrechte als Abwehrmittel gegen den Staat auch dort in Stellung bringen, wo er durch seine Gewährleistungsgesetzgebung und andere Maßnahmen der Grundrechtsvoraussetzungsvorsorge, z. B. Machtasymmetrien zugunsten Machtschwacher abbauen will oder muss.“261
Grundrechte dienen der Sicherung der Selbstbestimmung des Trägers, nicht aber der Fremdbestimmung anderer.262 Diese Grundsätze gelten auch und insbe256
Vgl. Bäuerle, Vertragsfreiheit und Grundgesetz, S. 23 ff. Hoffmann-Riem in: Kolloquium Bryde, S. 53 (56); Krebs in: Merten/Papier, Handbuch der Grundrechte, Bd. II, § 31, Rn. 99. 258 Gast, BB 1990, 1637 (1640); Schnorr, Das Arbeitsrecht als Gegenstand internationaler Rechtsetzung, S. 218; Hoffmann-Riem in: Kolloquium Bryde, S. 53 (60); ähnlich Dieterich, RdA 1995, 129 (130); Thüsing, FS Wiedemann, S. 559 (563); kritisch Höfling, Vertragsfreiheit, S. 44 ff.; Picker, GS Knobbe-Keuk, S. 879 (917). 259 Dieterich, WSI-Mitteilungen 2007, 411 (414); ders., RdA 1995, 129 ff.; vgl. auch Gast, FS Kissel, S. 249 (251); ders., BB 1990, 1637 (1638); Preis/Rolfs, DB 1994, 261 ff.; Preis, FS Dieterich, S. 429 (440 f.); Säcker, Gruppenautonomie und Übermachtkontrolle im Arbeitsrecht, S. 206, m.w. N.; kritisch Picker, GS Knobbe-Keuk, S. 879 (917 ff.), dessen Ausführungen allerdings partiell eine etwas paranoide Furcht vor den Auswirkungen gewerkschaftlicher Organisation zum Ausdruck bringen und die freiheitsgewährleistende Funktion des Tarifvertragssystems vollkommen negieren. 260 Sen, Ökonomie für den Menschen, Kapitel 1, S. 28 f. und passim; vgl. auch Dieterich, WSI-Mitteilungen 2007, 411 (414); Preis, Grundfragen der Vertragsgestaltung im Arbeitsrecht, S. 41, 134; Fischer, DRiZ 1974, 209 (212). 261 Hoffmann-Riem in: Kolloquium Bryde, S. 53 (75); i. E. führt dies zu Zuständen wie sie auf den Arbeitsmärkten im 19. Jahrhundert geherrscht haben. Anschaulich dazu Heinrich, Formale Freiheit und Materielle Gerechtigkeit, S. 495 f.; ähnlich Gast, FS Kissel, S. 249 (250 f.); Stern, Staatsrecht III/1, § 76 IV. 8., S. 1595. 257
C. Grundrechtsdogmatische Vorbemerkungen
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sondere für die Privatautonomie.263 Diese setzt voraus, dass die Bedingungen freier Selbstbestimmung nicht nur formal, sondern tatsächlich gegeben sind.264 So versteht denn auch das BVerfG die Verbürgung von Freiheiten als die Gewährleistung realer Entscheidungsmöglichkeiten.265 Die Entwicklung vom „liberalen zum sozialen Rechtsstaat“, den das Grundgesetz und zumindest in Teilen auch die Weimarer Reichsverfassung vollzogen haben, ist jedoch stets auf die Optimierung der Freiheit gerichtet. Bei oberflächlicher Betrachtungsweise wäre damit trotz der sozialstaatlichen Einflüsse, denen die Grundrechtsdogmatik sich nicht entziehen kann266, eine Auslegung der Tarifautonomie dahin gehend, dass sie einen Schutz der Tarifvertragsparteien vor konkurrierender staatlicher Gesetzgebung enthält, denkbar. Diese Vorstellung ist indes, soweit sie die Setzung von zwingenden arbeitsrechtlichen Mindeststandards erfasst, nicht unproblematisch. Dies gilt sowohl mit Blick auf die historische Entwicklung der Tarifautonomie, als auch den Zweck der tariflichen Regelungsbefugnis.267 2. Enge oder weite Tatbestandstheorie zur Auslegung der Tarifautonomie? Bevor auf diese Fragen eingegangen wird, ist hier eine weitere grundrechtsdogmatische Vorfrage in den Blick zu nehmen: Die der Bestimmung des Schutzbereiches von Grundrechten im Allgemeinen. Hier haben sich verschiedene Grundkonzeptionen gebildet. Während die Vertreter der sogenannten weiten Tatbestandstheorie davon ausgehen, dass ein freiheitliches Staatsverständnis gerade einen weiten Begriff des Schutzbereichs von Grundrechten erfordere268, werden 262 Gast, BB 1990, 1637 ff.; Gellermann, Grundrechte im einfachrechtlichen Gewande, S. 218; Isensee, FS Sendler, 39 (58); ähnlich Preis/Rolfs, DB 1994, 261; Suhr, JZ 1980, 168; Thüsing, FS Wiedemann, S. 559 (563); vgl. auch BVerfG 7.2.1990, NJW 1990, 1469 (1470); BVerfG 23.11.2006, NJW 2007, 286 (287); BVerfG 23.10.2006, JZ 2007, 576 (577); BAG 16.3.1994, NZA 1994, 937 (939). 263 BVerfG 23.10.2006, JZ 2007, 576 (577); Stern, Staatsrecht III/1, § 76 IV. 8., S. 1595. 264 BVerfG 7.2.1990, NJW 1990, 1469 (1470); Badura in: Merten/Papier, Handbuch der Grundrechte, Bd. II, § 29 Rn. 17; Dieterich, RdA 1995, 129 (130); Gast, FS Kissel, S. 249 (251 ff.); ders., BB 1990, 1637 (1639); Fischer, DRiZ 1974, 209 (212); Preis, Grundfragen der Vertragsgestaltung im Arbeitsrecht, S. 18 f., 40 f., 134. 265 BVerfG 19.10.1993, NJW 1994 S. 36 (38); BVerfG 5.8.1994, NJW 1994, 2749 (2750); Dieterich, RdA 1995, 129 (133); kritisch Picker, GS Knobbe-Keuk, S. 879 (917). 266 Zum Verhältnis von Sozialstaatsprinzip und Tarifautonomie s. u. 2. Kap. G. Dort auch zum Streit über die Frage, in wie weit das Sozialstaatsprinzip bei der Grundrechtsauslegung herangezogen werden darf. 267 Siehe unten 3. Kap. B. und D.; sowie 2. Kap. D. 268 Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 278 ff. (290 ff.); Hufen, NJW 1999, 1504 (1508); Kahl, Der Staat 43 (2004), 167 (199); v. Münch in: v. Münch/Kunig, Vorb.
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2. Kap.: Verfassungsrechtliche Fragen
diese von den Vertretern enger(er) Tatbestandstheorien präziser bestimmt.269 Auch die Rechtsprechung des Ersten Senats des BVerfG scheint in diese Richtung zu tendieren.270 Dennoch ist mit einer Entscheidung für die eine oder andere Theorie nicht notwendigerweise ein Ergebnis der Grundrechtsauslegung vorbestimmt. Die Akzeptanz einer wie auch immer gearteten Tatbestandstheorie entbindet nicht von der Interpretation des Grundrechtstatbestandes anhand der konkreten Grundrechtsnorm.271 Dies geht in der zum Teil emotional geführten Diskussion bisweilen unter. Es geht bei dem Streit damit um eine, zugegebenermaßen erhebliche, methodische Vorfrage. Daher greift unabhängig davon, welcher Sichtweise man hier folgt, ein pauschaler Verweis auf die eine oder andere Theorie zu kurz. Im Kern geht es darum, ob bereits auf der Ebene des grundrechtlichen Schutzbereiches Verhaltensweisen, die in irgendeinem Zusammenhang mit dem vom Grundrecht erfassten Lebensbereich stehen, aus der grundrechtlichen Gewährleistung ausgeschieden werden und ob hinterfragt werden darf, ob ein Verhalten tatsächlich durch das Grundrecht geschützt wird, nur weil es irgendwie mit ihm zu tun hat. Die weite Tatbestandstheorie geht davon aus, dass der Schutzbereich von Grundrechten im Zweifel weit, und zwar im Sinne eines Rechts auf beliebiges Verhalten auszulegen ist.272 Garantiert werden danach durch die Grundrechte Sphären natürlicher Freiheit des Einzelnen, die als negative Kompetenznormen gegenüber dem Staat wirken.273 Ziel ist es dabei, einen lückenlosen grundrechtlichen Schutz vor staatlichen Maßnahmen zu gewährleisten, ohne dass dabei Rücksicht auf kollidierende Grundrechte oder Verfassungsprinzipien genommen wird.274 Diese seien erst im Rahmen der grundrechtlichen Rechtfertigung zu be-
Art. 1–19 GG, Rn. 51; Höfling, Offene Grundrechtsinterpretation, S. 175 ff.; ders., FS Rüfner, S. 329 (339); allerdings neuerdings mit Blick auf die Koalitionsfreiheit anders Höfling/Burkiczak, AP Nr. 123 zu Art. 9 GG; dann aber wieder anders Höfling/Engels, ZG 2008, 250 (255); Schmidt-Jortzig in: Merten/Papier, Handbuch der Grundrechte, Bd. I, § 10, Rn. 42. 269 Böckenförde, Der Staat 42 (2003), 165 ff.; Hoffmann-Riem, Der Staat 43 (2004), 203 ff.; ders. in: Kolloquium Bryde, S. 53 ff.; Isensee, FS Sendler, S. 39 (56 ff.); Pieroth/Schlink, Grundrechte, Rn. 228; Rusteberg, Der grundrechtliche Gewährleistungsgehalt, passim; Volkmann, JZ 2005, 261 ff.; vgl. allerdings zu den konzeptionellen Unterschieden der verschiedenen Vertreter dieser Position, maßgeblich zwischen Böckenförde und Hoffmann-Riem, Rusteberg, Der grundrechtliche Gewährleistungsgehalt, S. 98 ff. 270 Vgl. dazu unten unter 2. Kap. C. IV. 4. 271 Hoffmann-Riem, Der Staat 43 (2004), 167 (200 f.). 272 Dazu Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 278 ff. 273 Sachs in: Sachs, GG, Vor Art. 1 GG, Rn. 63 ff. 274 Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 278 ff.; Höfling, Offene Grundrechtsinterpretation, S. 175 ff.; Lübbe-Wolff, Die Grundrechte als Eingriffsabwehrrechte, S. 87 ff.; Schmidt-Jortzig in: Merten/Papier, Handbuch der Grundrechte, Bd. I, § 10, Rn. 42.
C. Grundrechtsdogmatische Vorbemerkungen
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rücksichtigen. Einschränkungen bereits innerhalb des Schutzbereiches seien abzulehnen.275 a) Zur Begründung der weiten Tatbestandstheorie Für diese Sichtweise spreche das Menschenbild des Grundgesetzes, das vermittelt über die Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 GG) den Menschen in seiner Individualität, Autonomie und Gleichheit anerkenne.276 Dieser müsse seine Freiheit daher selbstbestimmt und ohne Vorentscheidungen durch die Verfassung bestimmen können. Eine Verkürzung der sachlichen Schutzbereiche von Grundrechten gerate mit der Respektierung von Subjektivität und Autonomie des Einzelnen in Kollision.277 Außerdem drohe bei einer engen Fassung der Schutzbereiche die Gefahr von Lücken im Grundrechtssystem, auch wenn durchaus gesehen wird, dass hier u. U. Art. 2 Abs. 1 GG als Auffanggrundrecht fungieren könnte.278 Aber selbst mit dieser Einschränkung wird gegen eine enge Fassung grundrechtlicher Schutzbereiche geltend gemacht, dass diese den Art. 2 Abs. 1 GG überstrapaziere und ihn seiner historischen Funktion als Auffangtatbestand entkleide.279 Im Übrigen seien dessen Schranken-Schranken eher schwach, woraus i. E. eine Schwächung des Grundrechtsschutzes resultiere.280 Es sei ein Widerspruch zur Grundentscheidung des Parlamentarischen Rats für einen größtmöglichen Freiheitsschutz, diesen nur für ein schwächeres allgemeines Freiheitsrecht, nicht aber für die als leges speciales aus diesem fließenden besonderen Freiheitsrechte gelten zu lassen.281 Darüber hinaus sei die Abwägung, die nach der weiten Tatbestandstheorie auf der Rechtfertigungsebene des Grundrechtseingriffs erfolge, weitaus transparenter, weil sie Abwägungsvorgänge und ihre Anwendung auf den Einzelfall offen lege.282 Die Vertreter der weiten Tatbestandstheorie räumen zwar ein, dass diese 275
Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 272; Höfling, Offene Grundrechtsinterpretation, S. 175 ff.; Höfling/Engels ZG 2008, 250 (255). 276 Kahl, AÖR 131 (2006), 597 (610); Martins, DÖV 2007, 456 (462). 277 Kahl, Der Staat 43 (2004), 167 (185); ähnlich Martins, DÖV 2007, 456 (462). 278 Kahl, Der Staat 43 (2004), 167 (185); so auch Böckenförde, 42 (2003), 165 (188). Allerdings wird dies uneinheitlich gesehen vgl. Hoffmann-Riem, Der Staat 43 (2004), 203 (214 ff.); Volkmann, JZ 2005, 261 (268); vgl. zum Ganzen ausführlich Rusteberg, Der grundrechtliche Gewährleistungsgehalt, S. 146 ff. 279 Kahl, Der Staat 43 (2004), 167 (188). 280 Kahl, Der Staat 43 (2004), 167 (188). 281 Kahl, Der Staat 43 (2004), 167 (188). 282 Engels, Verfassung und Arbeitskampfrecht, S. 248; Engels/Höfling, ZG 2008, 250 (255); Höfling, Offene Grundrechtsinterpretation, S. 173 ff.; Kahl, AÖR 2006 (131), 597 (606), Fn. 157, (610); Martins, DÖV 2007, 456 (462); vgl. auch die Kritik von Höfling, FS Rüfner, S. 329 (333), am Osho-Beschluss des BVerfG 26.6.2002, NJW 2002, 2626; als „widerlegt“ sieht dieses Argument hingegen Rusteberg, Der grundrechtliche Gewährleistungsgehalt, S. 166, an.
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2. Kap.: Verfassungsrechtliche Fragen
letztendlich anfällig für subjektive Vorstellungen sei. Die entsprechende Anfälligkeit sei aber auch bei einer engen Fassung von Schutzbereichen gegeben und auf dieser Ebene schlimmer.283 Denn ein enges Tatbestandsmodell führe zu einer Tatbestandsbeschränkung anhand lediglich vorgeblich abwägungsfreier Kriterien.284 Dies sei intransparent, weil eine abwägende Prüfung im Rahmen der Eingriffsrechtfertigung ausbleibe und stattdessen auf die Tatbestandsebene vorverlagert werde.285 Hingegen entfalte das Wechselspiel von Grundrechtstatbestand und Grundrechtsschranken eine freiheitssichernde Funktion, die durch eine enge Tatbestandsfassung beeinträchtigt werde.286 Im Übrigen biete die weite Tatbestandstheorie eine höhere Gewähr für Einzelfallgerechtigkeit, weil sie stärkere Differenzierungen zulasse.287 Mit der These, die weite Tatbestandstheorie sei weniger oder gleich stark von subjektiven Vorstellungen geprägt als die enge Tatbestandstheorie und gewährleiste Rechtssicherheit und Transparenz288, beißt sich dieses Argument allerdings ein wenig.289 Denn Einzelfallgerechtigkeit resultiert aus einer stärker subjektivierten Betrachtung des Rechts, weil sie nach den konkreten Umständen des Einzelfalles fragt und sich von diesen leiten lässt. Dennoch geht es sehr weit, wenn der Argumentation der Vertreter der weiten Tatbestandstheorien mit der Einzelfallgerechtigkeit damit entgegengetreten wird, eine solche Argumentation bedeute den „Nullpunkt einer juristischen Dogmatik“ 290. Im Ergebnis läuft die weite Tatbestandstheorie auf eine weite Fassung grundrechtlicher Schutzbereiche hinaus, die allerdings nicht grenzenlos ist. Sie akzeptiert es, wenn im Rahmen der Verfassungsauslegung ein eindeutiges Ergebnis erzielt wird, das die Regel – in dubio pro libertate291 – widerlegt. Damit bleibt auch hier die Grundrechtsauslegung zulässig und erforderlich. b) Kritik im Schrifttum Die weite Tatbestandstheorie wird in der Literatur maßgeblich mit dem Argument angegriffen, dass der Grundrechtsschutz im Ergebnis nicht verbessert292, 283
Kahl, Der Staat 43 (2004), 167 (192). Engels, Verfassung und Arbeitskampfrecht, S. 248; Höfling, Offene Grundrechtsinterpretation, S. 173 f. 285 Kahl, Der Staat 43 (2004), 167 (192). 286 Murswiek, Der Staat 45 (2006), 473 (474 ff.). 287 Engels, Verfassung und Arbeitskampfrecht, S. 249; Kahl, Der Staat 43 (2004), 167 (193); ähnlich ders., AÖR 2006 (131), 579 (606), Fn. 157. 288 Engels/Höfling, ZG 2008, 250 (255). 289 Hoffmann-Riem, Der Staat 43 (2004), 203 (204, Fn. 8). 290 Volkmann, JZ 2005, 261 (267); so auch Rusteberg, Der grundrechtliche Gewährleistungsgehalt, S. 166. 291 Vgl. dazu aber Rusteberg, Der grundrechtliche Gewährleistungsgehalt, S. 167 f. 292 Hoffmann-Riem, Der Staat 43 (2004), 203; Rusteberg, Der grundrechtliche Gewährleistungsgehalt, S. 145, 155, 168. 284
C. Grundrechtsdogmatische Vorbemerkungen
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sondern gefährdet werde.293 Denn eine extensive Fassung grundrechtlicher Schutzbereiche führe dazu, dass im Ergebnis für jedes bagatellhafte Staatshandeln eine Eingriffsrechtfertigung mobilisiert werden müsse. Die Ausweitung der Grundrechtstatbestände führe unweigerlich zu einer Ausweitung der Schranken.294 Dies deformiere die Maßstäbe der verfassungsrechtlichen Rechtfertigung und diese werde zu „billiger Münze“.295 Die enge Tatbestandstheorie sei rechtsklarer und gebe präzisere Auskunft über den grundrechtlichen Schutz einer Rechtsposition. Aber auch ansonsten führe die weite Tatbestandstheorie zu einer erheblichen Versubjektivierung des Grundrechtsschutzes.296 Sie mache die Grundrechtsprüfung rechtsunsicher und anfällig für Willkür, weil der Prüfer seine persönlichen Wertvorstellungen innerhalb der Verhältnismäßigkeitsprüfung von konkreten inhaltlichen Bindungen an die Verfassungsordnung entkoppeln könne.297 Die Rationalisierungs- und Strukturierungsleistung der Grundrechtsdogmatik lasse dadurch nach.298 Daher gehe auch die Behauptung, die weite Tatbestandstheorie sei rationaler, ins Leere. Die Grundrechtsprüfung werde vielmehr unkalkulierbar und anfällig für irrationale Erwägungen, wenn man ihr die weite Tatbestandstheorie zu Grunde lege.299 Durch die verstärkte Mobilisierung verfassungsimmanenter Schranken bei Grundrechten ohne Gesetzesvorbehalt würden die grundrechtlichen Freiheitsgewährleistungen relativiert.300 Im Übrigen gehe der Hinweis der Vertreter der weiten Tatbestandstheorie auf angebliche Lücken im grundrechtlichen Schutzsystem ins Leere, weil stets das Auffanggrundrecht aus Art. 2 Abs. 1 GG heranzuziehen sei.301 Hier zeigt sich allerdings ein partiel-
293 Böckenförde, Der Staat 42 (2003), 165 (180); Hoffmann-Riem in: Kolloquium Bryde, S. 53 (54 und passim). 294 Hoffmann-Riem, Der Staat 43 (2004), 203 (210); ders. in: Kolloquium Bryde, S. 53 (54); Klein in: Merten/Papier, Handbuch der Grundrechte, § 6, Rn. 70. 295 Böckenförde, Der Staat 42 (2003), 165 (180); Pieroth/Schlink, Grundrechte, Rn. 228; auf die Gefahr einer Banalisierung von Verfassungswerten durch argumentativen Rundumeinsatz weist in anderem Zusammenhang auch Neumann, RdA 2007, 71 (73), hin. 296 Klein in: Merten/Papier, Handbuch der Grundrechte, § 6, Rn. 71. 297 Volkmann, JZ 2005, 261 (270). 298 Volkmann, JZ 2005, 261 (264); vgl. aber zur Wechselseitigkeit des Vorwurfs, Höfling, Offene Grundrechtsinterpretation, S: 173 ff. und Rusteberg, Der grundrechtliche Gewährleistungsgehalt, S. 154. 299 Böckenförde, Der Staat 42 (2003), 165 (190); Klein in: Merten/Papier, Handbuch der Grundrechte, § 6, Rn. 70; dies wird freilich von den Vertretern der weiten Tatbestandstheorie genau umgekehrt gesehen, vgl. Kahl, Der Staat 43 (2004), 167 (192). 300 Böckenförde, Der Staat 42 (2003), 165 (168 ff.); Hoffmann-Riem: in: Kolloquium Bryde, S. 53 (54 f.; 64); ähnlich Klein in: Merten/Papier, Handbuch der Grundrechte, § 6, Rn. 71. 301 Böckenförde, Der Staat 42 (2003), 165 (188); Rusteberg, Der grundrechtliche Gewährleistungsgehalt, S. 156, 167 f.; Allerdings ist darauf hinzuweisen, dass über diesen Punkt unter den Vertretern der weiten Tatbestandstheorie Uneinigkeit besteht, vgl. Hoffmann-Riem, Der Staat 43 (2004), 203 (214 ff.); ders. in: Kolloquium Bryde, S. 53 (73).
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2. Kap.: Verfassungsrechtliche Fragen
ler Dissens. Denn ein Teil der restriktiveren Position möchte auch diesen nicht als Auffanglösung zur Anwendung bringen.302 Das scheint vor dem Hintergrund umfassenden und vor allem lückenlosen Grundrechtsschutzes nicht zwingend. Denn eine Leistung kann die restriktivere Fassung von grundrechtlichen Schutzbereichen bereits dadurch vollbringen, dass sie Schutzbereiche von vorbehaltlos geschützten Grundrechten restriktiv fasst303 und damit die Produktion von zusätzlichen Rechtfertigungstatbeständen einschränkt. Im Übrigen sei eine grundsätzliche Vorentscheidung für die enge oder weite Fassung von Schutzbereichen im Grundgesetz nicht enthalten.304 Auch werde verkannt, dass Freiheit eben auch den Schutz von Entfaltungschancen und Lebensbedingungen von Personen bedeute, die den Staat als Garanten für ihre Freiheit benötigen. Das Grundgesetz gewährleiste keine von jedweder Bindung befreite Beliebigkeit des Individuums, die es namentlich den Inhabern normtextlich vorbehaltloser Garantien erlauben würde, rücksichtslos über die grundrechtlich geschützten Güter und Interessen Dritter hinweg zu schreiten.305 Freiheit müsse real ausübbar sein und dieser Aspekt werde von der weiten Tatbestandstheorie ausgeblendet.306 Sie führe damit im Ergebnis dazu, Machtasymmetrien zwischen Bürgern zu verstärken und einseitig machtstarke Bürger zu privilegieren. Sie wirke damit für den Teil der Bevölkerung, der zur Freiheitsausübung auf staatliche Schutzgesetzgebung angewiesen sei, freiheitsfeindlich.307 3. Stellungnahme a) Inflation der Rechtfertigungstatbestände Das grundsätzliche Problem der weiten Tatbestandstheorie ist deutlich: Sie hat eine Vielzahl von Rechtfertigungstatbeständen zur Folge, die zur Rechtfertigung von Bagatelleingriffen verwendet werden.308 Dies gilt insbesondere für Rechtfertigungsgründe, die aus dem Schutz kollidierender Grundrechte Dritter erwachsen. Denn bei weitem Tatbestandsverständnis sind diese fast immer vorhanden.309 Ist ein Rechtfertigungstatbestand aber einmal in der Welt, so kann er grundsätzlich
302
Hoffmann-Riem in: Kolloquium Bryde, S. 53 (73). Zu dieser Notwendigkeit vgl. Rusteberg, Der grundrechtliche Gewährleistungsgehalt, S. 130. 304 Hoffmann-Riem, Der Staat 43 (2004), 203 (229). 305 Ausführlich dazu: Gellermann, Grundrechte im einfachgesetzlichen Gewande, S. 216 f.; ähnlich Suhr, JZ 1980, 166 (168). 306 Hoffmann-Riem, Der Staat 43 (2004), 203 (229). 307 Hoffmann-Riem in: Kolloquium Bryde, S. 53 (75). 308 Rusteberg, Der grundrechtliche Gewährleistungsgehalt, S. 153. 309 Hoffmann-Riem in: Kolloquium Bryde, S. 53 (64 ff.); vgl. auch Rusteberg, Der grundrechtliche Gewährleistungsgehalt, S. 153. 303
C. Grundrechtsdogmatische Vorbemerkungen
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gegenüber allen Arten von Eingriffen mobilisiert werden. Er kann in einer Art verfassungsrechtlichem „Dual-Use“310 auch für solche Eingriffe herangezogen werden, für die er ursprünglich nicht konzipiert war. Hier muss dann im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung eine Abwägung stattfinden, die unbestreitbar subjektiven Maßstäben zugängig ist und vermittelt über intransparente und inhaltlich kaum determinierte Abwägungsentscheidungen durchgeführt werden muss.311 Schwammige Schutzbereiche ziehen damit schwammige Rechtfertigungstatbestände nach sich. Ein Beispiel für die zumindest nicht unproblematischen Konsequenzen einer weiten Tatbestandsfassung vor allem bei vorbehaltlos gewährleisteten Grundrechten bieten Pieroth/Schlink312 für die Gewissensfreiheit. Dieses Ergebnis kann man vermeiden, wenn man die Rechtfertigungstatbestände im Sinne der freiheitsgewährleistenden Funktion der Grundrechte restriktiv auslegt. Fatale Folge könnte aber dann ein „Laissez-faire“-Liberalismus sein313, der im Ergebnis Unfreiheit und eine Paralysierung staatlicher Freiheitsgewährleistung bewirken kann. Die dafür sprechenden historischen Zusammenhänge sind bereits oben unter C. IV. 1. dargelegt worden. Konfliktlagen, in denen die grundrechtliche Gewährleistung für den einen Bürger notwendigerweise eine Freiheitsverkürzung für den anderen bedeutet, sind bei einer Ausweitung der Schutzbereiche und einem restriktiven Rechtfertigungsverständnis nicht ohne Schwierigkeiten aufzulösen.314 Das BVerfG hat dieses Problem durch eine nicht 310 Dual Use (engl. mit doppeltem Verwendungszweck) ist ein dem Englischen entlehnter Begriff der im Export-Warenverkehr verwandt wird. Er bezeichnet die prinzipielle Verwendbarkeit einer Technik, einer Maschine oder von Aggregaten sowohl zu zivilen wie auch militärischen Zwecken. Die entsprechenden Genehmigungsbehörden behalten sich vor, in Fällen der nicht eindeutigen Verwendung der zu exportierenden Güter als Zivilgüter die Ausfuhr dieser Dual-Use-Produkte zu untersagen (Quelle: Wikipedia). 311 Isensee, FS Sendler, S. 39 (56 f.). 312 Grundrechte, Staatsrecht II, Rn. 229. Verstehe man den Gewissensbegriff weit, so sei davon jedes Handeln erfasst, das von festen Überzeugungen geleitet ist. Damit wäre der Schutzbereich des Art. 4 Abs. 1 GG eröffnet. Da in Art. 4 Abs. 1 GG keine Eingriffe oder ähnliches vorgesehen seien, wäre jede Schranke, die dem aus fester Überzeugung Handelnden gezogen wird, eigentlich eine Verletzung der Gewissensfreiheit. Dies führe dazu, dass bereits das Überqueren einer Roten Ampel in der festen Überzeugung, man könne selbst beurteilen, wann der Verkehr gefährlich ist und wann nicht, geschützt sei. Ein weiter Schutzbereich erfordere daher in einer Vielzahl von Situationen die Konstruktion in Art. 4 Abs. 1 GG nicht vorgesehener Rechtfertigungstatbestände und den Rekurs auf die an sich als letzte und behutsam einzusetzende Möglichkeit konzipierte Rechtfertigung mit kollidierendem Verfassungsrecht. Diese verlöre dadurch ihren Ausnahmecharakter und damit ihren Wert. Damit kann die weite Tatbestandstheorie zu einem lediglich potenziellen Grundrechtsschutz werden, der sich praktisch nicht realisiert. Einen substantiellen Freiheitsgewinn für den Bürger verfehlt sie dann aber. 313 Klein in: Merten/Papier, Handbuch der Grundrechte, § 6, Rn. 70. 314 Hoffmann-Riem in: Kolloquium Bryde, S. 53 (54); Gellermann, Grundrechte im einfachgesetzlichen Gewande, S. 216 ff.
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2. Kap.: Verfassungsrechtliche Fragen
unproblematische Modifikation des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes zu lösen gesucht, die das „plus“ an grundrechtlichem Schutz in einer Weise konsumiert, die auch bisher stark geschützte Verfassungspositionen erheblich gefährden kann.315 Denn es hat zu den schrankenlosen Grundrechten eine Vielzahl von verfassungsrechtlich geschützten Gütern entwickelt, die nicht unbedenklich sind.316 Im Ergebnis kann die weite Tatbestandstheorie dazu führen, dass die Rechtfertigungslast für Grundrechtseingriffe herabgeschraubt wird. Was sie dem Bürger auf der einen Seite an vorgeblicher Freiheit gewährt, entzieht sie ihm im Rahmen der Rechtfertigung wieder.317 Und noch dazu lässt sich dieses Ergebnis vom Bürger kaum vorhersehen. Denn auf Basis der weiten Tatbestandstheorie lässt sich potentiell alles Rechtfertigen, je nachdem mit welchen subjektiven Wertungen die Verhältnismäßigkeitsprüfung ausgefüllt wird. Die Transparenz, auf die sich die weite Tatbestandstheorie beruft, stellt sie nämlich immer erst bei einer ex-post Betrachtungsweise her. Demgegenüber können klarer gefasste Tatbestandsmodelle dem Bürger, ebenso wie dem Staat, weitaus verläßlicher Auskunft über das voraussichtliche Ergebnis einer Grundrechtsprüfung liefern. Damit sind die staatlichen Maßnahmen, die sich in Ansehung der Grundrechte nicht rechtfertigen lassen, bei einer engen Tatbestandstheorie ex ante transparenter zu erkennen. Der Vorteil mit Blick auf die Rechtssicherheit ist deutlich. Ebenso wird auch das Übergriffsrisiko im Grenzbereich gemindert, weil klarer erkennbar ist, was zulässig ist und was nicht. Und auch die Gefahr, dass der Staat erst einmal „austestet“, was er darf, ist bei Anwendung der weiten Tatbestandstheorie nicht von der Hand zu weisen. Gleichzeitig wird er wegen der fehlenden Vorhersehbarkeit womöglich vor Schutzmaßnahmen für den Bürger zurückschrecken, wenn er sich über deren Zulässigkeit im unklaren ist. Darüber hinaus – und das dürfte wohl der erheblichste Kritikpunkt an einer unreflektierten Heranziehung der weiten Tatbestandstheorie sein – können im Ergebnis auch die Kernbereiche der Grundrechte relativiert werden.318 Denn durch die Verstärkung der Rechtfertigungsgründe werden Lebensbereiche dem Zugriff des Gesetzgebers ausgesetzt, die dieser bei den, bei einer restriktiveren Fassung durchaus möglichen, strengeren Rechtfertigungsanforderungen nicht erreichen kann. Will man das vermeiden, lässt sich über die entsprechenden Konstrukte der Staat nahezu vollständig paralysieren. Dass solche Negativeffekte durch die weite Tatbestandstheorie nicht intendiert sind, nimmt diesen Kritikpunkten nichts von ihrem Gewicht. Denn letztendlich werden die Fragen des verfassungsrechtlichen 315 Siehe dazu oben 2. Kap. C. IV. 3. a), 2. Kap B. I. 5. f) und Hoffmann-Riem in: Kolloquium Bryde, S. 53 (64). 316 Wank, FS 50 Jahre ZVK Bau, S. 141 (145). 317 Hoffmann-Riem in: Kolloquium Bryde, S. 53 (54 f. und passim); kritisch auch: Klein in: Merten/Papier, Handbuch der Grundrechte, § 6, Rn. 71. 318 Böckenförde, Der Staat 42 (2003), 165 (175); Hoffmann-Riem in: Kolloquium Bryde, S. 53 (54, 55, 66); Pieroth/Schlink, Grundrechte, Rn. 228.
C. Grundrechtsdogmatische Vorbemerkungen
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Schutzes in der Tat sehr stark auf Verhältnismäßigkeitserwägungen reduziert, die nur begrenzt objektive Kriterien produzieren.319 Vielmehr führen diese zu einem Maximum an verfassungsgerichtlicher Prüfreichweite bei einem „Minimum an inhaltlicher Determination“ 320. Ein Beispiel hierfür ist die Rechtsprechung des BVerfG zur Rechtfertigung von Grundrechtseingriffen durch den Tatbestand „Bekämpfung der Massenarbeitslosigkeit“.321 b) Entlastungsfunktion für das BVerfG ? Wenig überzeugend wird indes argumentiert, eine enge Fassung von Schutzbereichen würde das BVerfG entlasten.322 Solche Überlegungen von Rechtsschutz unter Kapazitätsvorbehalt sind inakzeptabel und können Entscheidungen der hier in Rede stehenden Reichweite nicht legitimieren.323 Es geht bei der Bestimmung von Schutzbereichen von Grundrechten nicht um die Festlegung der zumutbaren Arbeitsbelastung des BVerfG. Dies gilt im Übrigen nicht nur für die Frage der Grundrechtsauslegung, sondern auch der Konzeption grundrechtlicher Schutzpflichten und der Frage der Anwendung von grundrechtsrelevanten Theorien, wie der Wesentlichkeitstheorie und dem Vorbehalt des Gesetzes.324 c) Bagatellisierung des Grundrechtseingriffs Es ergeben sich aber weitere Bedenken gegenüber der weiten Tatbestandstheorie vor allem im Hinblick auf vorbehaltlos gewährleistete Grundrechte. Zunächst einmal kann sie dazu führen, dass die Warnfunktion, die ein Grundrechtseingriff gegenüber dem Gesetzgeber eigentlich haben sollte, entwertet wird. Denn da der Gesetzgeber, sobald er überhaupt handelt, sich dem Vorwurf des Grundrechtseingriffs ausgesetzt sieht, braucht er sich eigentlich bei einem Gesetzgebungsverfahren nicht mehr mit der Vermeidung eines Eingriffs zu befassen. Dass ihm dann gleichzeitig ein kaum überschaubares Arsenal von „Gegengründen“ zur Verfügung gestellt wird, die in einer mehr oder weniger beliebigen und dann gelegentlich auch noch zu seinen Gunsten modifizierten Verhältnismäßigkeitsprüfung enden, stellt im Ergebnis nicht gerade ein eingriffshemmendes Element dar. Eine erhöhte Effektivität des Grundrechtsschutzes vermag die weite Tatbestandstheorie jedenfalls nicht zu verzeichnen.325
319 320 321 322 323 324 325
Böckenförde, Der Staat 42 (2003), 165 (180). Rusteberg, Der grundrechtliche Gewährleistungsgehalt, S. 35. s. o. unter 2. Kap. B. I. 5. Schneider, NJW 1996, 2630 (2631); ders., NJW 1999, 1497 (1500). Kahl, Der Staat 43 (2004), 167 (189), m.w. N. in Fn. 131. Vgl. dazu unten 4. Kap. E. IV. 1. und 2. Rusteberg, Der grundrechtliche Gewährleistungsgehalt, S. 168.
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2. Kap.: Verfassungsrechtliche Fragen
d) Schwächen mit Blick auf Art. 9 Abs. 3 GG Dass die weite Tatbestandstheorie zumindest nicht allgemein mobilisierbar ist, zeigt ihre Anwendung im Bereich des Art. 9 Abs. 3 GG. Würde man die weite Tatbestandstheorie anwenden, lässt sich bei oberflächlicher Betrachtungsweise326 durchaus eine Schutzbereichsdefinition bilden, die die Koalitionen vor konkurrierenden staatlichen Regelungen schützt. Aus der Ausweitung des Schutzbereichs der Tarifautonomie hin zum Schutz vor zwingender staatlicher Gesetzgebung auf dem Gebiet des Arbeitsrechts entsteht aber ein nicht unerhebliches verfassungsrechtliches Problem, das sich bis heute nicht überzeugend auflösen lässt. Die Koalitionsbildung ist gegenüber den Rechten Dritter neutral. Für die Koalitionsbetätigung ist dies häufig nicht der Fall.327 Insofern wird auch die Konfliktlage gegenüber den Rechten Dritter ausgebaut. Daneben zeigen sich auch im Ergebnis nicht hinnehmbare Widersprüche zum Sinn und Zweck der Tarifautonomie.328 Insofern stellt sich bei einer restriktiven Fassung des Schutzbereichs das Problem von Grundrechtskollisionen nur in eingeschränktem Umfang. Erweitert man den verfassungsrechtlichen Schutz der Tarifautonomie über das Verfahren der Koalitionsbetätigung hinaus auf eine vorrangige materielle Regelungsbefugnis, so stellt sich das Problem der verfassungsmäßigen Rechtfertigung. Denn die Koalitionsfreiheit ist vorbehaltlos geschützt. Dies macht auch Sinn, weil bei der klassischen Garantie der Koalitionsbildung und des Verfahrens tariflicher Normsetzung Kollisionen mit Rechten Dritter nur begrenzt auftreten können. Völlig anders sieht dies bei einer materiellen Tarifvertragsfreiheit aus.329 Mit Recht weist Bryde darauf hin, dass diese mit Blick auf Art. 9 Abs. 3 GG bedenklich erscheint.330 Die entsprechende Problematik versucht ein Teil der Lehre durch die Schaffung neuer Rechtfertigungstatbestände oder der Implementierung neuer Schrankenvorbehalte für den Grundrechtstatbestand zu korrigieren.331 Dies spricht dafür, dass auch von denjenigen, die eine weite Fassung des Schutzbereichs der Tarifautonomie konstatieren, gesehen wird, dass die eigene Schutzbereichsfunktion sich in die Verfassungsordnung nicht widerspruchsfrei einfügt und im Ergebnis der Korrektur bedarf.332 326 Bei genauerer Betrachtungsweise zeigt sich, dass auch die weite Tatbestandstheorie, so weit sie ihre liberalen Wurzeln ernst nimmt, nicht zu einem solchen Ergebnis kommen dürfte, dazu Bock, Tarifdispositives Arbeitnehmerschutzrecht und Tarifautonomie, S. 298. 327 Seiter, RdA 1986, 165 (172 f.); zum Problem der Reflexwirkung der weiten Tatbestandstheorie auf Grundrechte Dritter vgl. auch Hoffmann-Riem in: Kolloquium Bryde, S. 53 (54). 328 Vgl. dazu unten 3. Kap. D. und E. 329 Auf diesen Unterschied weist mit Recht Gellermann, Grundrechte im einfachgesetzlichen Gewande, S. 165 hin; vgl. dazu Kap. C. IV. 3. a). 330 Bryde, Redebeitrag in: Arbeitsmarktpolitik im Spannungsfeld von Tarifautonomie und Gesetzgebung, S. 68 f. 331 Henssler, ZfA 1998, 1 (32 ff.); Höfling, JZ 2000, 42 (44).
C. Grundrechtsdogmatische Vorbemerkungen
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e) Neuerer Ansatz In der neueren Literatur ist ein Versuch unternommen worden, die beiden Tatbestandssichtweisen miteinander auszusöhnen, indem das Freiheitsverständnis, über das sich beide Ansätze im Kern streiten, mit Blick auf die grundrechtliche Ebene und ihr Verhältnis zum staatlichen Recht modifiziert wird. Danach ist die gesellschaftliche Ordnung von vorneherein nicht staatsfrei. Vielmehr ist auch dort, wo der Staat einer scheinbar natürlichen Freiheit die Anerkennung durch die Rechtsordnung verleiht, bereits eine Einschränkung der Freiheit anderer gegeben. Und zwar eine Einschränkung im Sinne eines Eingriffs in grundrechtliche Freiheit. Die rechtliche Ordnung wird damit selbst zum Eingriff in die Grundrechte derjenigen, deren defizitäre Freiheit sie erst durch die rechtliche Anerkennung der Belastung durch Dritte in die Rechtswirklichkeit befördert. Die rechtliche Einrichtung und Sicherung gesellschaftlicher Macht ist damit selbst Eingriff in die Grundrechte. Damit wird die Schutzpflichtenkonstruktion aufgegeben und diese dogmatisch in das Gewand eines unmittelbaren Grundrechtseingriffs gekleidet. Dieser Ansatz stützt sich maßgeblich auf die Überlegung, dass Freiheit stets in einer staatlichen Ordnung ausgeübt wird, die diese in größerem oder geringerem Umfang anerkennt. Führe aber anerkannte Freiheit zur Belastung der Grundrechte Anderer, so sei diese rechtliche Anordnung selbst verfassungsrechtlich rechtfertigungsbedürftig.333 Damit bliebe es aber nach wie vor erforderlich, einen grundrechtlichen Schutzbereich zu definieren. In grundrechtlichen Konfliktlagen lässt sich aber die Zulassung von Freiheitsbeschränkungen durch Dritte selbst als unmittelbarer Grundrechtseingriff denken. Dies beseitigt aber noch nicht die Einwände gegen die grundrechtliche Rechtfertigungsdogmatik auf Basis der weiten Tatbestandstheorie. Daher kann dieser Ansatz zwar den wechselseitigen Vorwurf der Illiberalität weitgehend auflösen, aber den dahinter stehenden Streit über den nach wie vor zu bestimmenden Umfang des grundrechtlichen Schutzbereichs nicht befrieden. Allerdings erlangt der vorstehende Ansatz bei der Frage der Verletzung staatlicher Schutzpflichten für Grundrechte durch die Schaffung tarifdispositiven Gesetzesrechts Relevanz.334 f) Fazit Aufgrund der bestehenden Bedenken erscheint es durchaus denkbar, den Schutzbereich, jedenfalls bei der vorbehaltlos gewährleisteten Koalitionsfreiheit, klarer abzugrenzen.335 Es wird also nicht allein, weil ein Lebensbereich, der ir332 Zu diesem Automatismus vgl. auch Rusteberg, Der grundrechtliche Gewährleistungsgehalt, S. 153. 333 Poscher, Grundrechte als Abwehrrechte, S. 131. 334 Vgl. dazu unten 4. Kap. A. IV. 335 Böckenförde, Der Staat 42 (2003), 165 (191).
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2. Kap.: Verfassungsrechtliche Fragen
gendwie mit den Koalitionen zusammenhängt, vorliegt, „blind“ in den Schutzbereich integriert, sondern es wird der Bereich aus dem Lebensbereich des Grundrechts ausgeschnitten, dessen Schutz, Freiheit oder Teilhabe das Grundrecht gewährleisten soll.336 Diese Abgrenzung führt zu einem Sach- (oder Lebens-)bereich eines Grundrechts einerseits und zum Gewährleistungsgehalt andererseits.337 Der Gewährleistungsbereich beinhaltet dabei die konkreten, durch das Grundrecht gewährleisteten Freiheitspositionen.338 Durch diese Differenzierung wird der Schutzbereich hinsichtlich seines Umfangs einer Auslegung wieder zugängig gemacht339, worauf die weite Tatbestandstheorie zwar nicht verzichten will, dies aber doch abschwächt. Andererseits wird der Zweck des Grundrechts stärker in den Blick genommen340, worauf es mit Blick auf die Tarifautonomie auch maßgeblich ankommt. 4. Rechtsprechung des BVerfG Die neuere Rechtsprechung des BVerfG bewegt sich – wenn auch unter starker Kritik341 – wieder stärker auf eine Konturierung der grundrechtlichen Schutzbereiche zu.342
336 Böckenförde, Der Staat 42 (2003), 165 (168 ff.); Rusteberg, Der grundrechtliche Gewährleistungsgehalt, S. 173. 337 Böckenförde, Der Staat 42 (2003), 165 (168 ff.); Hoffmann-Riem in: Kolloquium Bryde, S. 53 (60); ders., Der Staat 43 (2004), 203 (226 ff.); Pieroth/Hartmann, DVBl. 2002, 421 (425); Volkmann, JZ 2005, 261 (265); zur Kritik an diesem Prüfprogramm vgl. Höfling/Engels, ZG 2008, 250 (255). 338 Rusteberg, Der grundrechtliche Gewährleistungsgehalt, S. 173. 339 Hoffmann-Riem, Der Staat 43 (2004), 203 (215); vgl. auch Rusteberg, Der grundrechtliche Gewährleistungsgehalt, S. 76, „Statt auf Abwägung ist wieder vermehrt auf Auslegung zu setzen.“, sowie S. 171 ff. 340 Dies allerdings ist ebenfalls Gegenstand massiver Kritik, weil die damit verbundene Orientierung an Sinn und Zweck der Freiheit die einzelne grundrechtliche Freiheit durch eine Wertebeziehung relativiere, Höfling, NJW 1983, 1582 (1584). Zu den Fragen der objektiven Dimension der Grundrechte unten 4. Kap. A. I. 341 Höfling, FS Rüfner, S. 329 (337); Huber, JZ 2003, 290 (292 f.); Möllers, NJW 2005, 1973 (1975); Murswiek, NVwZ 2003, 1 (4); Rixen, Sozialrecht als öffentliches Wirtschaftsrecht, S. 244; Sachs, FS Selmer, S. 209 (213 ff.). 342 Umfängliche und kritische Darstellung bei Kahl, Der Staat 42 (2003), 167 (170 ff.), unter Verweis unter anderem auf BVerfG 17.12.2002, NJW 2003, 1232; BVerfG 16.8.2002, NJW 2002, 3458; BVerfG 26.6.2002, NJW 2002, 2626; BVerfG 26.6.2002, NJW 2002, 2621; BVerfG 18.1.2002, NJW 2002, 1485; BVerfG 24.10.2001, NJW 2002, 1031; BVerfG 12.7.2001, NJW 2001, 2459; BVerfG 24.1.2001, JZ 2001, 704 ff.; BVerfG 12.12.2000, NJW 2001, 591; BVerfG 13.4.1994, NJW 1994, 1779; BVerfG 11.1.1994, NJW 1994, 1781; BVerfG 9.10.1991, NJW 1992, 1439; BVerfG 19.3.1984, NJW 1984, 1293; BVerfG 22.6.1982, NJW 1983, 1415; BVerfG 3.6.1980, NJW 1980, 2072; vgl. auch die Darstellung bei Martins, DÖV 2007, 456 (458).
C. Grundrechtsdogmatische Vorbemerkungen
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a) Die Glykolweinentscheidung Eine Entscheidung, die diese Entwicklung maßgeblich zum Ausdruck bringt343 und deswegen auch Gegenstand massiver Auseinandersetzungen ist, ist die Glykolweinentscheidung des BVerfG344. Hier ging es um die Frage des Umfangs der Wettbewerbsfreiheit. Ein Aspekt der Entscheidung war die Frage, ob Marktteilnehmer vor staatlichen Regelungen und Maßnahmen geschützt sind, die den Wettbewerb beeinflussen. Das BVerfG hat hier eine differenzierende Entscheidung getroffen. Die Teilnahme am Wettbewerb ist zwar vom Grundrecht der Wettbewerbsfreiheit aus Art. 12 Abs. 1 GG geschützt, allerdings nicht vor der Einflussnahme auf wettbewerbsbestimmende Faktoren.345 Diese Rechtsprechung des BVerfG kann mittlerweile als gefestigt angesehen werden. Sie wurde mehrfach bestätigt.346 Dabei ist auch die längere Zeit strittige Frage, ob die Rechtsprechung des BVerfG lediglich einen Eingriff ablehnt oder bereits den Schutzbereich als nicht berührt ansieht, im letzteren Sinne entschieden.347 Das BVerfG geht davon aus, dass das Recht auf Teilnahme am Wettbewerb nur nach Maßgabe seiner Funktionsbedingungen geschützt wird. Dies sind aber maßgeblich eben die rechtlichen Rahmenbedingungen. Mit anderen Worten: Die Wettbewerbsfreiheit schützt nicht vor gesetzlichen Regelungen des Wettbewerbs348, solange diese dessen Existenz nicht infrage stellen. b) Konsequenzen Die Vertreter der weiten Tatbestandstheorie haben mit dieser Entscheidung naturgemäß Probleme. Denn hier liegt eine deutlich abgegrenzte subsumtionsfähige Schutzbereichsbestimmung vor, die nach Ansicht der Vertreter der weiten Tatbestandstheorie tendenziell grundrechtsunfreundlich ist. Akzeptiert man hingegen
343 In der Lehre wird neben der Glykolweinentscheidung auch dem Osho-Beschluss des BVerfG vom 26.6.2002, NJW 2002, 2626, eine „zentrale Bedeutung“ zugesprochen; Kahl, Der Staat 43 (2004), 167 (175); Sachs, FS Selmer, S. 209 (213 ff.); HoffmannRiem in: Kolloquium Bryde, S. 53 (73 ff.); als Wechsel hin zu einer gewährleistungsstaatlichen Betrachtungsweise rezipiert die Entscheidung Rusteberg, Der grundrechtliche Gewährleistungsgehalt, S. 85 f. 344 BVerfG 26.6.2006, NJW 2002, 2621; dazu Böckenförde, Der Staat 42 (2003), 165 (178 ); zu staatlichem Informationshandeln nach dem Beschluss allgemein: Bumke, Die Verwaltung 37 (2004), S. 3 ff.; vgl. auch die ausführliche Darstellung bei Rusteberg, Der grundrechtliche Gewährleistungsgehalt, S. 77 ff., insbes. S. 85 ff. 345 BVerfG 26.6.2006, NJW 2002, 2621 (2622). 346 BVerfG NJW 2007, 51, Rz. 78; BVerfG NJW 2006, 3701 (3702); BVerfG 17.12. 2002, NJW 2003, 1232 (1233); BVerfG 26.6.2002, NJW 2002, 2621; zur Rspr. des BVerfG vgl. auch Faßbender, NJW 2004, 816. 347 BVerfG 11.7.2006, NJW 2007, 51, Rz. 78; Preis/Ulber, D., NJW 2007, 465 (469). 348 Diese Bewertung teilt auch Rusteberg, Der grundrechtliche Gewährleistungsgehalt, S. 108.
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2. Kap.: Verfassungsrechtliche Fragen
die Rechtsprechung des BVerfG, so stellt sich die Frage nach den Auswirkungen und der Übertragung der Rechtsprechung auf andere Grundrechte. Eine solche kann nicht ohne Weiteres angenommen werden. Denn die Übertragung von Wertungen aus anderen Grundrechten setzt zumindest die Vergleichbarkeit der Situation voraus, auf die sie übertragen werden soll. Im Rahmen der Rechtsprechung zur Wettbewerbsfreiheit werden durch den Staat Grenzen für die Betätigung von Marktteilnehmern gesetzt. Dass ein Markt ohne staatliche Regelungen weder funktionieren noch überhaupt stattfinden kann, dürfte mittlerweile allgemein akzeptiert sein. Deswegen stellen die staatlichen Regelungen jedenfalls teilweise sicher, dass eine Freiheitsbetätigung von Bürgern überhaupt stattfinden kann. Nunmehr führt die staatliche Regelung aber dazu, dass nicht mehr sämtliche denkbaren Marktverhalten möglich sind, sondern nur noch diejenigen, die die Rechtsordnung frei lässt. Ein vollkommener Marktverschluss ist dem Gesetzgeber aber nur in ganz engen Grenzen gestattet. Die Parallele zur staatlichen Gesetzgebungstätigkeit und ihrem Verhältnis zur Tarifautonomie liegt nahe. Auch hier wird ein Sektor, bei dem staatliche Regelungen jedenfalls partiell Funktionsvoraussetzung für die Freiheitsbetätigung sind, reguliert. Staatliche Regelungen lassen nur einen Teil der denkbaren Regelungen übrig, die die Tarifvertragsparteien innerhalb der gesetzlichen Grenzen aber frei treffen können. Die Frage ist also, ob nicht die Rechtsprechung zur Wettbewerbsfreiheit nahelegt, auch für die Tarifautonomie das Schutzbereichskonzept zu übertragen. Dann muss zwar „Tarifautonomie sein“349, aber der Umfang der tarifvertraglichen Regelungsbefugnis beschränkt sich auf den Teil, den der Staat freigelassen und nicht selbst geregelt hat. Und hier ist man dann wieder bei der Rechtsprechung des BVerfG zur Tarifautonomie: „Den frei gebildeten Koalitionen ist durch Art. 9 III GG die im öffentlichen Interesse liegende Aufgabe zugewiesen und in einem Kernbereich garantiert, insbesondere Löhne und sonstige materielle Arbeitsbedingungen in einem von staatlicher Rechtsetzung frei gelassenen Raum in eigener Verantwortung und im Wesentlichen ohne staatliche Einflußnahme durch unabdingbare Gesamtvereinbarungen sinnvoll zu ordnen“.350
Der Staat definiert bei diesem Verständnis also den Raum, innerhalb dessen die Koalitionen in der Tat frei von staatlicher Einflussnahme die Aufgabe der Ordnung der Löhne und der materiellen Arbeitsbedingungen wahrnehmen. Allerdings ginge der Transfer aus der Wettbewerbsfreiheit in einem Punkt zu weit. Die Wettbewerbsfreiheit geht davon aus, dass der Markt insgesamt einer Ordnung bedarf, weil die denkbaren Funktionsstörungen vielfältig sein können. Im Rahmen der Tarifautonomie gilt es jedoch zu beachten, dass diese primär dem Zweck dient, die strukturelle Unterlegenheit des Arbeitnehmers bei Abschluss des Ar349 350
Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht, Bd. 1, S. 308. BVerfG 24.5.1977, NJW 1977, 2255.
C. Grundrechtsdogmatische Vorbemerkungen
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beitsvertrages zu kompensieren.351 Von daher ist der „Markt“ grundsätzlich nur nach einer Seite regelungsbedürftig, nämlich in Form von Mindestarbeitsbedingungen. Man mag eine solche Übertragung auch ablehnen, insbesondere dann, wenn man, wie dies verbreitet der Fall ist, die zugrunde liegende Rechtsprechung des BVerfG kritisch sieht.352 Im Kern kann sie eine entsprechende Auslegung des Schutzbereichs der Tarifautonomie ohnehin nur bestätigen, nicht aber begründen. Für eine Übertragung der Überlegungen könnte auch sprechen, dass das BVerfG im Rahmen des Tariftreuebeschlusses eine restriktivere Auslegung der Koalitionsfreiheit präferiert hat353, nachdem im Zuge der Aufgabe der sogenannten Kernbereichsrechtsprechung ein eher weites Verständnis der Koalitionsfreiheit als Betätigungsfreiheit zu erwarten stand. Dass das BVerfG sich wieder der Kernbereichsrechtsprechung zuwenden wird, erscheint ausgeschlossen. Die Aufgabe der Kernbereichsrechtsprechung kann aber nach der Tariftreueentscheidung nicht per se als Argument für ein weites Verständnis des Schutzbereichs der Koalitionsfreiheit reklamiert werden. In jedem Fall streitet die Rechtsprechung gegen ein generell weit gefasstes Tatbestandsmodell der negativen Koalitionsfreiheit und zwar – wie bereits oben angedeutet – weil dieses mit Sinn und Zweck des Grundrechts und des darin enthaltenen kollektiven Schutzmodells unvereinbar ist.354 5. Stellungnahme und Zwischenergebnis Insgesamt geht es bei dem Streit zunächst um die Frage, ob die Schutzbereiche von Grundrechten, die notwendigerweise abstrakt-generell geprägt sind, bereits Vorentscheidungen für die Zulässigkeit staatlichen Handelns treffen dürfen. Im Ergebnis sind zunächst einmal die Gemeinsamkeiten beider Auffassungen darzustellen. Beide halten weitgehend an der Grundrechtsprüfung auf drei Ebenen fest. Auch wenn dies teilweise umstritten ist, lassen sich die gegenwärtigen Streitfragen durchaus in die bisherigen Prüfungsebenen Schutzbereich-Eingriff-Rechtfertigung integrieren.355 Unterschiede bestehen in der Frage, auf welcher Stufe der Grundrechtsprüfung die Schwerpunkte der Prüfung liegen und in der Terminologie. Kern des Streits ist die Frage, wie viel von einem Lebensbereich, den ein Grundrecht begrifflich erfasst, tatsächlich auch unter verfassungsrechtlichem Schutz steht. Hier mag man sich mit Fug und Recht streiten und so ringen auch alle Ansätze in redlicher Weise um Rationalität bei der Grundrechtsanwendung. 351
Siehe unter 2. Kap. D.; 3. Kap. D. I. Vgl. dazu oben die Nachweise in Fn. 341. 353 BVerfG 11.7.2006, NJW 2007, 51 ff.; sowohl die negative als auch die kollektive Koalitionsfreiheit werden hier restriktiv gehandhabt. 354 So mit Recht Dieterich in: ErfK, GG, Art. 9 GG, Rn. 36. 355 Volkmann, JZ 2005, 261 (266). 352
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2. Kap.: Verfassungsrechtliche Fragen
Ein Grundsatz „Lebensbereich gleich Schutzbereich“ ist aber abzulehnen. Hier wird die Verfassungsordnung überdehnt. Die Frage, ob ein in den Lebensbereich eines Grundrechts fallendes Verhalten tatsächlich unter dessen Schutz fällt, man mag die Anforderungen noch so weit ziehen, muss erlaubt sein356 und nach den Regeln der Auslegung ermittelt werden dürfen, was eben auch ein Negativurteil bedeuten kann, wenn auch nicht muss. Grundrechtliche Schutzbereiche sind weder von vorneherein eng oder weit zu ziehen. Sie sind schlicht und einfach auszulegen.357 Dabei sollte man sich eher am Grundrecht selbst als am pauschalen Verweis auf eine grundrechtliche Tatbestandstheorie orientieren. Dies wird weder der Vielschichtigkeit noch den spezifischen Besonderheiten einzelner Grundrechte gerecht.358 Insbesondere vor dem Hintergrund, dass sich häufig die Lebensbereiche von Grundrechten überschneiden, wäre eine zurückhaltendere Definition grundrechtlicher Schutzbereiche auch nicht per se mit grundrechtsschutzfreien Räumen verbunden. Wenn emotional vor vermeintlichen „Entsicherungen“ des Staates gewarnt wird, wird teilweise übersehen, dass es sich häufig eher um die Zuordnung eines Verhaltens zum Schutzbereich eines Grundrechts, als um eine Negation von Schutz handeln wird.359 Damit ist die Reichweite grundrechtlicher Schutzbereiche Frage der Auslegung des konkreten Grundrechts und seiner Einbettung in die Verfassungsordnung. Es gibt jedenfalls hinreichend Bedenken gegen die weite Tatbestandstheorie, dass ein pauschaler Verweis auf sie kein durchschlagendes Argument für eine Auslegung des Art. 9 Abs. 3 GG bilden kann. Dies gilt jedenfalls für die Tarifautonomie auch und gerade dann, wenn man die Optimierung von Freiheit als Ziel der Grundrechtsauslegung betont. Das denkbare Ergebnis der weiten Tatbestandstheorie im Anwendungsbereich der tariflichen Regelungsbefugnis, nämlich das eines grundrechtlichen Schutzes vor staatlicher Gesetzgebung, die dem Arbeitnehmer erst den Gebrauch seiner arbeitsvertraglichen Freiheit in Freiheit und Autonomie ermöglicht, zeigen nicht ihre grundsätzliche Disfunktionalität und stellen sie auch für andere grundrechtliche Gewährleistungen nicht infrage. Die weite Tatbestandstheorie muss aber im Bereich der Tarifautonomie scheitern, wenn sie auf identische Ziele gerichtete Verfahren zur Herstellung und Gewährleistung von Freiheit in den Händen von zwei Normgebern vorfindet und die Regelungsbefugnis einer Seite unter grundrechtlichen Schutz stellt. Denn hier würde der grundrechtliche Schutz der Betäti-
356 Volkmann, JZ 2005, 261 (266), meint weitergehend, dass sich diese Trennung von Gegenstand und Befugnis vernünftigerweise nicht bezweifeln lässt. 357 Für eine Rückbesinnung auf die Auslegung auch Rusteberg, Der grundrechtliche Gewährleistungsgehalt, S. 166. 358 Krings, Grund und Grenzen grundrechtlicher Schutzansprüche, S. 167. 359 Vgl. z. B. BVerfG 11.7.2006, NJW 2007, 51; fehlende negative Tarifvertragsfreiheit, damit kein Schutz vor Erstreckung von Tarifnormen, aber abwehrrechtlicher Schutz gegen die Erstreckung der Tarifnormen wegen Eingriffs in die Arbeitsvertragsfreiheit (Art. 12 Abs. 1 GG).
C. Grundrechtsdogmatische Vorbemerkungen
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gung des einen Normgebers vor der des anderen unmittelbar zur Beeinträchtigung des Schutzzwecks des Grundrechts führen. Wenn man mit dem BVerfG den Zweck der Tarifautonomie in der Kompensation gestörter Vertragsparität begreift360, dann kann die Tarifautonomie nicht davor schützen, dass dieses Ziel erreicht wird. Die Grundrechtsinterpretationen die für eine sorgfältigere Prüfung des grundrechtlichen Schutzbereichs plädieren, werden unter dem Begriff des „Gewährleistungsstaates“ – wobei der Begriff selbst mit Vorsicht zu genießen ist361 –, den diese als Leitbild haben sollen, kritisch gesehen.362 Denn die liberal konzipierten Grundrechte sollen nach dieser Position staatliches Handeln nicht erleichtern, sondern erschweren. Sie seien als konstitutionelle Störfaktoren konzipiert, auch und gerade dann, wenn der Staat „Gutes im Schilde“ führe.363 Dies wird auch mit Blick auf die Koalitionsfreiheit so vertreten, weil diese auch nach der Rechtsprechung des BVerfG ein Freiheitsrecht sei.364 Um genau zu sein, sei aber auch darauf hingewiesen, dass das BVerfG wie folgt formuliert: Die Koalitionsfreiheit ist [lediglich] „in erster Linie ein Freiheitsrecht“.365 Weitere Dimensionen sind ihr also nach Ansicht des BVerfG immanent. Wie bereits gezeigt ist die Berufung auf das liberale Grundkonzept des Grundgesetzes mit Blick auf die Tarifautonomie als Ausschnitt der Koalitionsfreiheit ohnehin nicht in einer derart weitreichenden Weise anwendbar.366 Die Frage der sozialstaatlich beeinflussten Grundrechtsauslegung mit Blick auf die Tarifautonomie wird noch isoliert aufzugreifen sein.367 Die scheinbar grundrechtsfreundliche weite Fassung des Schutzbereichs kann sich im Ergebnis als Grundrechtsgefährdung darstellen, weil sie den Zugriff auf die Substanz des Grundrechts erleichtert. Dies gilt insbesondere deshalb, weil sie 360 BVerfG 26.06.1991, NJW 1991, 2549 (2551); ähnlich: BVerfG 4.7.1995, NZA 1995, 754 (755); ebenso Papier, Brennpunkte des Arbeitsrechts 2005, S. 5 (6); Säcker, Gruppenautonomie und Übermachtkontrolle im Arbeitsrecht, S. 236 f.; ders., ArbuR 1994, 1 (4); vgl. dazu ausführlich unten 3. Kap. D. I., E. und 2. Kap. D. 361 Höfling/Rixen, RdA 2007, 360 (366); zum Begriff vgl. auch Franzius, Der Staat 42 (2003), 493 ff.; Ladeur/Gostomzyk, Die Verwaltung 36 (2003), 141 (150 ff.). 362 Rixen, Sozialrecht als öffentliches Wirtschaftsrecht, S. 244. 363 Höfling/Rixen, RdA 2007, 360 (366); anderseits weisen Höfling/Burkiczak neuerdings darauf hin das der Schutzbereich der Koalitionsfreiheit restriktiv zu bestimmen sei AP Nr. 123 zu Art. 9 GG. 364 Höfling/Rixen, RdA 2007, 360 (366); unter Berufung auf die Entscheidungen BVerfG 14.6.1983, NJW 1984, 1225; BVerfG 4.7.1995, NJW 1996, 185; BVerfG 24.2.1999, NJW 1999, 2657, die sich allerdings – was für die hier in Rede stehende Problematik nicht unwichtig ist – allesamt nicht mit der Regelungsbefugnis der Tarifvertragsparteien als Gewährleistungsdimension der Koalitionsfreiheit befassen. 365 BVerfG 4.7.1995, NJW 1996, 185 (186); Hervorhebungen und Einschübe vom Verfasser. 366 Dürig, JZ 1953, 193 (196 ff.); vgl. oben 2. Kap. C. IV. 1., 2. und 3. 367 Siehe unten 2. Kap. F.
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2. Kap.: Verfassungsrechtliche Fragen
für nahezu alles staatliche Handeln, auch im Bereich vorbehaltlos gewährleisteter Grundrechte, eine verfassungsimmanente Schranke mobilisieren muss. Diese schlägt dann aber im „Dual-Use“-Verfahren auf Gewährleistungsbereiche durch, die vollkommen unstrittig sind. Denn die Eingriffsmodifikationen, die in der Lehre angedacht werden, haben zumindest teilweise noch den Gedanken der Abschichtung nach Gewährleistungsgehalten für sich. Der Rechtsprechung des BVerfG hingegen fehlt es an einem solch ausdifferenzierten Sperrmechanismus. Besonders deutlich wird dies am in seiner konkreten Prüfungskonzeption sehr weitgehenden Rechtfertigungstatbestand „Bekämpfung der Massenarbeitslosigkeit“368. Die vom BVerfG entwickelten Rechtfertigungstatbestände und der modifizierte Verhältnismäßigkeitsgrundsatz sind dem Grunde nach universell einsetzbar. Der Sache nach ist die Ausweitung des Schutzbereichs der Tarifautonomie auf die inhaltliche Gestaltung des Arbeitsverhältnisses durch die Tarifvertragsparteien also kein Beitrag zum effektiven Grundrechtsschutz. Vielmehr stellt sie den Anwender vor die Wahl den Gesetzgeber in seiner Rechtsetzungstätigkeit weitgehend zu paralysieren369 oder im Bereich der verfassungsmäßigen Rechtfertigung ausufernde Relativierungen vorzunehmen, um dieses von der Verfassungsordnung (Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG) nicht gedeckte Ergebnis zu vermeiden. Diese Problematik ist auch der maßgebliche Grund, aus dem Säcker die Regelungsbefugnis der Tarifvertragsparteien auf einen Kernbereich beschränken wollte.370 Angesichts dieser Konsequenzen scheint dem Verfasser eine pauschale Erweiterung des Schutzbereichs der Tarifautonomie auf inhaltliche Gestaltung des Arbeitsverhältnisses zu weitgehend und im Sinne eines effektiven Grundrechtsschutzes kontraproduktiv. Dies gilt umso mehr, als auch das weite Tatbestandsmodell akzeptieren müsste, dass Sinn und Zweck des Grundrechts hier gegen eine entsprechende Garantie streiten.371 Weder aus dem Rückgriff auf die weite Tatbestandstheorie noch aus der liberalen Prägung der Grundrechtsordnung lässt sich ein zwingendes Argument für die Annahme ziehen, die Tarifautonomie schütze vor der einseitigen zwingenden gesetzlichen Regelung von Gegenständen, die auch Inhalt von Tarifverträgen sein können. Die weite Tatbestandstheorie kann darüber hinaus zu einer nicht von der Hand zu weisenden Gefährdung des effektiven Grundrechtsschutzes führen. Die Tarifautonomie weist insofern eine Besonderheit auf, als ihr Zweck die Herstellung von Freiheit ist. Sie korrigiert eine ansonsten vorzufindende illiberale vorstaatliche Unfreiheit. Ihre Auslegung hat dabei auch diesen Zweck zu berücksichtigen. Dabei ist darauf hinzuweisen, dass der liberale Charakter des Grund368
Höfling/Rixen, RdA 2007, 360 (364 f.); Preis/Ulber, D., NJW 2007, 465 (469 f.). In diesem Sinne Bock, Tarifdispositives Arbeitnehmerschutzrecht und Tarifautonomie, S. 301 ff. 370 Säcker, Grundprobleme der kollektiven Koalitionsfreiheit, S. 50. 371 Vgl. dazu noch ausführlich unten 3. Kap. D. I; 3. Kap. E. 369
C. Grundrechtsdogmatische Vorbemerkungen
133
rechts weniger in der Vereinigung von Arbeitnehmern und Arbeitgebern besteht, sondern in der Interessenvertretung gegenüber dem sozialen Gegenspieler.372 Da weder bei einer engen noch einer weiten Sichtweise grundrechtlicher Tatbestände die Erforderlichkeit der Auslegung des in Rede stehenden grundrechtlichen Tatbestandes überflüssig wird, soll im Folgenden auf den Streit nur dann eingegangen werden, wenn er für einen bestimmten Gesichtspunkt Relevanz erlangen sollte.
V. Tarifautonomie als Betätigungsgarantie Vor dem Hintergrund des Streits um die methodische Fassung grundrechtlicher Schutzbereiche wird die Frage des Inhalts des Schutzbereichs der Koalitionsfreiheit aufgeworfen. 1. Grundrechtsträgerschaft der Koalitionen aus Art. 9 Abs. 3 GG Mit Blick auf Art. 9 Abs. 3 GG ist umstritten, ob die Koalitionen selbst in ihrem Bestand, ihrer organisatorischen Ausgestaltung und ihrer Betätigung, soweit diese gerade in der Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen besteht, durch Art. 9 Abs. 3 GG unmittelbar geschützt sind. Das BVerfG, das BAG und die überwiegende Ansicht im Schrifttum sehen in der Koalitionsfreiheit aus Art. 9 Abs. 3 GG ein Doppelgrundrecht, das auch den Koalitionen selbst zusteht.373 Ein Teil des Schrifttums sieht die Koalitionen erst 372
Schwarze, Der Betriebsrat im Dienste der Tarifvertragsparteien, S. 63. BVerfG 27.4.1999, NJW 1999, 3033 (3034); BVerfG 24.2.1999, NZA 1999, 713; BVerfG 24.4.1996, NJW 1997, 513; BVerfG 14.11.1995, NJW 1996, 1201; BVerfG 10.1.1995, NJW 1995, 2339; BVerfG 2.3.1993, NJW 1993, 1379; BVerfG 26.6.1991, NJW 1991, 2549 f.; BVerfG 23.4.1986, NJW 1987, 827 (828); BVerfG 1.3.1979, NJW 1979, 699 (708); BVerfG 26.5.1970, NJW 1970, 1635; BVerfG 18.11.1954, BVerfGE 4, 96 (101); BAG GS 29.11.1967, AP Nr. 13 zu Art. 9 GG unter VI. 4 a); BAG 31.5.2005, NJW 2005, 3019 (3021); BAG 18.7.2006, NZA 2006, 1225 (1230); Andelewski, Staatliche Mindestarbeitsbedingungen, S. 49; Bauer in: Dreier, GG, Art. 9 GG, Rn. 69; Biedenkopf, Grenzen der Tarifautonomie, S. 102 ff.; Däubler in: Däubler, TVG, Einl., Rn. 68; Dieterich in: ErfK, GG, Art. 9 GG, Rn. 39; ders., RdA 2002, 1 (8); Döttger, Der Schutz tariflicher Normsetzung, S. 101 f.; Friese, Kollektive Koalitionsfreiheit und Betriebsverfassung, S. 37 ff.; Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht, Bd. I, § 4 II 2. a), S. 181 ff.; Gneiting in: Clemens/Umbach, GG, Art. 9 GG, Rn. 98; Henssler, Soziale Mächtigkeit und organisatorische Leistungsfähigkeit als Voraussetzungen der Tariffähigkeit von Gewerkschaften, S. 12; Hueck/Nipperdey, Arbeitsrecht II/1, § 3 IV 3., S. 40; Jarass in: Jarass/Pieroth, Art. 9 GG, Rn. 44; Löwer in: von Münch/Kunig, Art. 9 GG, Rn. 68; Kempen in: Kempen/Zachert, TVG, Grundl., Rn. 74 f.; Peters/Ossenbühl, Die Übertragung von öffentlich-rechtlichen Befugnissen auf die Sozialpartner unter besonderer Berücksichtigung des Arbeitszeitschutzes, S. 13; Richardi, Kollektivgewalt und Individualwille bei der Gestaltung des Arbeitsverhältnisses, S. 77 f.; Rüfner, AÖR 89 (1964), 261 (304); Rüfner, FS 50 Jahre BVerfG, Bd II, S. 55 (58); Rüthers, RdA 1968, 161 (167); Sachs, Verfassungsrecht II, Grundrechte, B. 9., Rn. 38; Säcker, Grundprobleme der kollektiven Koalitionsfreiheit, S. 37; Säcker/Oetker, Grundlagen und Grenzen 373
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2. Kap.: Verfassungsrechtliche Fragen
durch Rückgriff auf Art. 19 Abs. 3 GG in Verbindung mit Art. 9 Abs. 3 GG als geschützt an.374 Diese Sichtweise hat jedenfalls die Entstehungsgeschichte der Koalitionsfreiheit gegen sich.375 Der Streit hat für die hier zur Diskussion stehende Frage des Umfangs des Schutzes der tariflichen Normsetzungsbefugnis indes nur dann Relevanz, wenn sich daraus ergeben würde, dass die Betätigung der Koalitionen bei einer Konstruktion über Art. 19 Abs. 3 GG i.V. m. Art. 9 Abs. 3 GG nicht zu einer Betätigungsgarantie der Koalitionen führen würde. Dem ist nicht der Fall. Die Koalitionen sind auch nach dieser Betrachtungsweise Grundrechtssubjekte, deren Betätigung dem Schutz des Art. 9 Abs. 3 GG untersteht376, soweit die entsprechende Betätigung grundrechtlichen Schutz genießt. 2. Tarifautonomie als Ausfluss der Betätigungsgarantie Dass die Tarifautonomie als Betätigungsform von der Koalitionsfreiheit geschützt wird, entspricht abgesehen von ganz vereinzelten Stellungnahmen allgemeiner Auffassung.377 Der abweichenden Position braucht an dieser Stelle nicht der Tarifautonomie, S. 31 f.; Schaub in: Schaub, Arbeitsrechtshandbuch, § 188, Rn. 13; Schnorr, FS Molitor, S. 229 (230); Schubert, RdA 2001, 199 (203); Schwarze, Der Betriebsrat im Dienste der Tarifvertragsparteien, S. 62 ff.; Sodan/Zimmermann, ZfA 2008, 527 (536); Spelge in: Fachanwaltkommetar Arbeitsrecht, GG, Art. 9 Rn. 5; Thüsing, FS 50 Jahre BAG, 889 (891); Waltermann, ZFA 2000, 53 (59). 374 Höfling in: Sachs, GG, Art. 9 GG, Rn. 67; Scholz, Die Koalitionsfreiheit als Verfassungsproblem, S. 53, 121. 375 Rüthers, Der Staat 6 (1967), 101 (106); Schwarze, Der Betriebsrat im Dienste der Tarifvertragsparteien, S. 62 ff.; vgl. dazu unten 3. Kap. B. 376 Höfling in: Sachs, GG, Art. 9 GG, Rn. 67. 377 Ständige Rspr. des BVerfG, des BAG sowie die allgemeine Ansicht in der Literatur: BVerfG 11.7.2006, NJW 2007, 51 (53); BVerfG 29.12.2004, NZA 2004, 153; BVerfG 10.9.2004, NZA 2004, 1338 (1339); BVerfG 3.4.2001, NZA 2001, 777 (778); BVerfG 27.4.1999, NJW 1999, 3033 (3034); BAG 19.6.2007, NZA 2007, 1055 (1056); BVerfG 6.5.1964, NJW 1964, 1267 (1268); BVerfG 19.10.1966, NJW 1966, 2305 (2306); BVerfG 24.5.1977, NJW 1977, 2255 (2257); BVerfG 1.3.1979, NJW 1979, 699 (708 f.); BVerfG 4.7.1995, NZA 1995, 754 (755); BAG 15.11.1967, DB 1968, 315; Andelewski, Staatliche Mindestarbeitsbedingungen, S. 48 ff.; Badura, RdA 1974, 129 (130); ders., ArbR d. Ggw. 15 (1977), 17 (20 f.); Bock, Tarifdispositives Arbeitnehmerschutzrecht und Tarifautonomie, S. 250; Dieterich, RdA 2002, 1 (8); ders., ArbuR 2001, 390; Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht, Bd. I, S. 287; Gellermann, Grundrechte im einfachgesetzlichen Gewande, S. 161 ff.; Gneiting in: Umbach/Clemens, GG, Art. 9 III GG, Rn. 112; Hanau, RdA 1993, 1 (4); Henssler, ZFA 1998, 1 (13); Hergenröder in: HWK, GG, Art. 9 GG, Rn. 107; Höfling, Vertragsfreiheit, S. 18; Jarass/ Pieroth, Art. 9 GG, Rn. 39; Kamanabrou, RdA 1997, 22 (29); Kempen, ArbuR 1996, 336 (337); Kemper, Die Bestimmung des Schutzbereichs der Koalitionsfreiheit, S. 137; Löwisch, RdA 1969, 129 (130); Müller, Die Tarifautonomie in der Bundesrepublik Deutschland, S. 333; Neumann, RdA 2007, 71; Plander, ArbuR 1986, 65; Richardi, FS Konzen, S. 791 ff.; Rieble/Klebeck, ZIP 2006, 829 (830); Rüfner, RdA 1985, 193 (195); Höfling in: Sachs, GG, Art. 9 GG, Rn. 83; Säcker/Oetker, Grundlagen und Grenzen der Tarifautonomie, S. 33, 36; Säcker, ArbuR 1994, 1 (4); Stein, ArbuR 1991, 1 (3); Thüsing/Lembke, ZfA 2007, 87 (108); Vossen, Tarifdispositives Richterrecht, S. 44; Walter-
C. Grundrechtsdogmatische Vorbemerkungen
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nachgegangen zu werden, da diese unproblematisch dazu führt, dass der Staat sämtliche Gegenstände, die auch Inhalt von Tarifverträgen sein können, gesetzlich festschreiben kann, da er insofern nicht im grundrechtlichen Schutzbereich operiert. Die folgende Untersuchung geht von einer Betätigungsgarantie aus Art. 9 Abs. 3 GG aus, die Einwände werden aufgegriffen, soweit sie für die Ermittlung des Schutzumfangs relevant sind. Damit stellt sich die Frage nach der Reichweite der Betätigungsgarantie. Das BVerfG hat nach Aufgabe der Kernbereichsrechtsprechung378 zur Umschreibung der Betätigungsgarantie den Begriff der koalitionsspezifischen Betätigung geprägt.379 Damit ist zunächst einmal jedes Verhalten, das im Zusammenhang mit der Koalition steht, grundsätzlich von der Betätigungsgarantie erfasst. Traditionell wird auch der Abschluss von Tarifverträgen zum Inhalt der Betätigungsgarantie gezählt. Insofern erscheinen das Aushandeln und der Abschluss des Tarifvertrags als Ausübung natürlicher Freiheit von der abwehrrechtlichen Dimension der Tarifautonomie erfasst zu sein.380 An dieser Stelle entfaltet sich nun die bereits oben angedeutete Problematik, inwieweit neben der Normsetzungsbefugnis auch eine Regelungsbefugnis geschützt wird und in welchem Umfang dies der Fall ist.381 Sieht man die Rechtswirkungen des Tarifvertrags als Gegenstand gesetzlicher Ausgestaltung an, so besteht die Regelungsbefugnis in den Grenzen der zulässigen Ausgestaltung.382 Sieht man hinsichtlich der Regelungsbefugnis eher einen Zusammenhang mit der Grundrechtsausübung, so stellt sich die Frage, in welchem Umfang die Regelungsbefugnis durch die Tarifautonomie geschützt wird. Der letzteren Frage soll hier nachgegangen werden. Für die vorstehende Frage des Verhältnisses von tarifvertraglicher Regelungsbefugnis und staatlichem Gesetzesrecht ist die Feststellung erforderlich, dass den Tarifvertragsparteien aufgrund ihrer Betätigungsgarantie auch eine Normsetzungsbefugnis für die Arbeitsverhältnisse der Koalitionsmitglieder zukommt. Denn wird verfassungsrechtlich lediglich ein Kompetenzbereich geschützt, ohne dass dieser eine normative und zwingende Wirkung des Tarifvertrags beinhaltet, so bestehen erhebliche Bedenken gegenüber einer subsidiären Regelungskompetenz des Staates. Die Tarifautonomie dient dem Zweck der Kompensation struktureller Unterlegenheit des Arbeitnehmers bei Abschluss des Arbeitsvertrages.383 Vor diesem Hintergrund wird, maßgeblich aufgrund der sogenannten Richtigmann, ZfA 2000, 53 (59, 85); Wiedemann in: Wiedemann, TVG, Einl., Rn. 82 ff.; Zachert, ArbuR 2004, 121 (123); a. A. Burkiczak, Grundgesetz und Deregulierung des Tarifvertragsrechts, S. 284 ff. 378 BVerfG 14.11.1995, NJW 1996, 1201. 379 BVerfG 14.11.1995, NJW 1996, 1201; BVerfG 29.12.2004, NZA 2005, 153 ff. 380 Höfling in: Sachs, GG, Art. 9 GG, Rn. 68; Waltermann, ZfA 2000, 53 (59). 381 Vgl. dazu oben 2. Kap. C. I. 382 Vgl. dazu unten unter 3. Kap. E. XI. 383 Vgl. dazu unten 3. Kap. D. I.
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2. Kap.: Verfassungsrechtliche Fragen
keitsgewähr des Tarifvertrages384, den Tarifvertragsparteien die autonome Regelung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen übertragen. Die Kompensationswirkung kann aber dann nicht mehr eintreten, wenn der Tarifvertrag nicht mehr unmittelbar und vor allem auch zwingend auf das Arbeitsverhältnis einwirkt.385 Man mag den Schutzzweck der Tarifautonomie anders sehen. Dann wäre aber eine Auseinandersetzung mit der ständigen Rechtsprechung des BVerfG, des BAG sowie dem absolut herrschenden Schrifttum notwendig, welche die Tarifautonomie als „darauf angelegt [sehen], die strukturelle Unterlegenheit der einzelnen Arbeitnehmer beim Abschluss von Arbeitsverträgen durch kollektives Handeln auszugleichen und damit ein annähernd gleichgewichtiges Aushandeln der Löhne und Arbeitsbedingungen zu ermöglichen.“ 386 Es wäre der Nachweis zu führen, dass auch ohne eine unmittelbare und zwingende Wirkung der Tarifverträge ein solcher Zweck erreicht werden kann. Dies ist nicht nur deshalb ein wenig Erfolg versprechendes Unterfangen, weil naheliegend ist, dass der Druck auf die einzelnen Arbeitnehmer und die Betriebsverfassungsorgane so groß ist, dass diese ohne die zwingende Wirkung des Tarifvertrags nicht in der Lage sind, die eigenen Interessen zu wahren. Auch zeigt die Entstehungsgeschichte der Tarifautonomie, dass die unmittelbare und zwingende Wirkung des Tarifvertrags einer der zentralen verfassungsrechtlichen Inhalte der Tarifautonomie und in sofern Bestandteil ihres Wesensgehalts ist.387 Dispositive Tarifnormen sind unzureichend, um den Schutzzweck der Tarifautonomie zu erfüllen und stellen damit von vorneherein eine defizitäre Erfüllung des Schutzzwecks der Tarifautonomie dar.388 Auf die teleologischen Gesichtspunkte und ihren historischen Zusammen384 Die allerdings eher als Richtigkeitschance zu begreifen ist, vgl. dazu unten 6. Kap. A. I. 385 Waltermann, FS Söllner, S. 1251 (1252). 386 BVerfG 23.11.2006, NJW 2007, 286 (287 f.); BVerfG 26.06.1991, NJW 1991, 2549 (2551); ähnlich: BVerfG 4.7.1995, NZA 1995, 754 (755); BAG 19.6.2007, NZA 2007, 1055 (1057); BAG 28.3.2006, NZA 2006, 1112 (1116); BAG 17.2.1998, NZA 1998, 754 (756); vgl. auch Arnold, Betriebliche Tarifnormen und Außenseiter, S. 239; Dorndorf, FS Kissel, S. 139 (140 ff., 146 ff.); Fechner, RdA 1955, 161 (164); Friese, Kollektive Koalitionsfreiheit und Betriebsautonomie, S. 250; Gast, BB 1990, 1637 (1641); Hönn, Kompensation gestörter Vertragsparität, S. 192 f.; Kittner, FS Kissel, S. 497 (513 ff.); Oppolzer, ArbuR 1998, 45 (48); Säcker, Gruppenautonomie und Übermachtkontrolle im Arbeitsrecht, S. 95; Schubert RdA 2001, 199 (206); Vaupel, Die Kompensation von Ungleichgewichtslagen im Arbeits- und Verbraucherrecht, S. 52 ff.; Witt, Der Firmentarifvertrag, S. 144; Zachert, ArbuR 2002, 41 ff.; zu den historischen Zusammenhängen vgl. Dorndorf in: Die Entstehung des Arbeitsrechts in Deutschland, S. 231, 244 und passim; zusammenfassend Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht, Bd. I, S. 3 ff.; zu den Begründungsansätzen bei Sinzheimer und Lotmar vgl. Zachert, RdA 2004, 1 ff. 387 Dieterich, RdA 2002, 1 (12); Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht, Bd. 1, § 18 I, 1. b), S. 791; vgl. auch BVerfG 24.5.1977, NJW 1977, 2255 (2256); vgl. zur historischen Entwicklung unten 3. Kap. B. 388 Dieterich, RdA 2002, 1 (12); Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht, Bd. 1, § 7 II 1. b) 2), S. 287, spricht mit Recht von einer „verfassungsfesten“ Rechtslage; Hanau,
D. Tarifautonomie als Kompensation der strukturellen Unterlegenheit
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hang wird hier noch einzugehen sein. Die vorstehende Problematik kann hier nur angerissen werden. Es sei aber darauf hingewiesen, dass unabhängig davon, ob man die Tarifautonomie jedenfalls teilweise für ausgestaltungsbedürftig hält oder sie einer anderen Grundrechtsdimension zuordnet, die unmittelbare und zwingende Wirkung unerlässlich ist, damit die Tarifautonomie überhaupt in funktionsfähiger Weise existiert.389 Auch wenn diese Problematik vorwiegend im Rahmen der Ausgestaltung der Tarifautonomie diskutiert wird, war es erforderlich, die entsprechenden Fragen hier kurz anzureißen. Im Ergebnis ist von einer Betätigungsgarantie aus Art. 9 Abs. 3 GG auszugehen. 3. Ergebnis Geht man auf Basis der vorstehenden Ausführungen davon aus, dass der Abschluss von Tarifverträgen zur Regelung von Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen als Betätigung der Tarifautonomie anzusehen ist, stellt sich die Frage nach dem Umfang dieses Schutzes. Da, wie bereits gezeigt, der pauschale Verweis auf eine weite Fassung des Schutzbereichs nicht überzeugt, ist im Folgenden im Rahmen der Auslegung des Schutzbereichs der Umfang des Schutzes der tarifvertraglichen Regelungsbefugnis zu bestimmen.
D. Tarifautonomie als Kompensation der strukturellen Unterlegenheit des Arbeitnehmers Wie bereits angedeutet, erlangt für die Auslegung des Gewährleistungsgehalts der Tarifautonomie ihre Funktion in der Verfassungsordnung eine besondere Bedeutung. Ausgangspunkt aller Überlegungen zur Tarifautonomie ist und bleibt die ihre Entstehung bedingende und den Kampf um ihre Anwendung erklärende Funktion. Diese lässt sich mit dem BVerfG auf folgende Kurzformel bringen: „Tarifautonomie ist darauf angelegt, die strukturelle Unterlegenheit der einzelnen Arbeitnehmer beim Abschluss von Arbeitsverträgen durch kollektives Handeln auszugleichen und damit ein annähernd gleichgewichtiges Aushandeln der Löhne und Arbeitsbedingungen zu ermöglichen.“390 RdA 1993, 1 (9 f.); Herschel, AuR 1981, 265 (266); Hueck/Nipperdey, Arbeitsrecht II/ 1, § 13 VII, 2. c), S. 232; Müller, AuR 1992, 257 (258); Schwarze, Der Betriebsrat im Dienste der Tarifvertragsparteien, S. 80; Waltermann, FS Söllner, S. 1251 (1252); a. A. Burkiczak, Grundgesetz und Deregulierung des Tarifvertragsrechts, S. 198 ff.; Höfling in: Sachs, GG, Art. 9 GG, Rn. 93a; Rieble, ZfA 2004, 1 (39). 389 Waltermann, FS Söllner, S. 1251 (1252). 390 BVerfG 23.11.2006, NJW 2007, 286 (287 f.); BVerfG 26.06.1991, NJW 1991, 2549 (2551); ähnlich: BVerfG 4.7.1995, NZA 1995, 754 (755); BAG 19.6.2007, NZA 2007, 1055 (1057); BAG 28.3.2006, NZA 2006, 1112 (1116); BAG 17.2.1998, NZA 1998, 754 (756); vgl. auch Arnold, Betriebliche Tarifnormen und Außenseiter, S. 239; Bauer in: Dreier, GG, Art. 9 GG, Rn. 83; Bayreuther, Tarifautonomie als kollektiv aus-
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2. Kap.: Verfassungsrechtliche Fragen
I. Strukturelle Unterlegenheit des Arbeitnehmers bei Abschluss des Arbeitsvertrags Der Ausgangspunkt der Tarifautonomie, ebenso wie einer Vielzahl arbeitsrechtlicher Gesetze ist die Annahme, dass der Arbeitnehmer sich bei Abschluss des Arbeitsvertrags in einer strukturellen Unterlegenheit gegenüber dem Arbeitgeber befindet und daher die Arbeitsbedingungen nicht selbstbestimmt gestalten kann.391 Diese strukturelle Unterlegenheit wird für kompensationsbedürftig erachtet, um dem Arbeitnehmer die Möglichkeit zu geben, die Arbeitsbedingungen mitzugestalten. 1. Privatautonomie und strukturelle Unterlegenheit Diese Sichtweise rechtfertigt sich aus den Grundprinzipien der Privatautonomie.392 Denn das bürgerlich-rechtliche Vertragsmodell ist nur dann funktionsfähig, wenn die Selbstbestimmung des Einzelnen und damit seine rechtsgeschäftliche Entscheidungsfreiheit gesichert ist.393 Dabei muss man nicht so weit gehen, geübte Privatautonomie, S. 58; Dorndorf, FS Kissel, S. 139 (140 ff., 146 ff.); Fechner, RdA 1955, 161 (164); Friese, Kollektive Koalitionsfreiheit und Betriebsautonomie, S. 250; Gast, BB 1990, 1637 (1641); Hönn, Kompensation gestörter Vertragsparität, S. 192 f.; Houben, Die Rückwirkung von Tarifverträgen, S. 89; Hueck/Nipperdey, Arbeitsrecht II/1, S. 235; Kittner, FS Kissel, S. 497 (513 ff.); Oppolzer, ArbuR 1998, 45 (48); Richardi, FS Konzen, S. 791 (792); ders. In: MüArbR, § 152 Rn. 24; Schubert, RdA 2001, 199 (206); Vaupel, Die Kompensation von Ungleichgewichtslagen im Arbeits- und Verbraucherrecht, S. 52 ff.; Witt, Der Firmentarifvertrag, S. 144; Säcker, Gruppenautonomie und Übermachtkontrolle im Arbeitsrecht, S. 95; Schaub, RdA 1995, 65 (67); Schwarze, Der Betriebsrat im Dienste der Tarifvertragsparteien, S. 64; Söllner, NZA Beil. Heft 24/2000, S. 33 (34); Söllner/Waltermann, Arbeitsrecht, Rn. 335; Wiedemann in: Wiedemann, TVG, Einl., Rn. 3; Zachert, ArbuR 2002, 41 ff.; zu den historischen Zusammenhängen vgl. Dorndorf in: Die Entstehung des Arbeitsrechts in Deutschland, S. 231, 244 und passim; zusammenfassend Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht, Bd. I, S. 3 ff.; zu den Begründungsansätzen bei Sinzheimer und Lotmar vgl. Zachert, RdA 2004, 1 ff. 391 BAG 16.3.1994, NZA 1994, 937 (940); BAG 25.4.2007, NZA 2007, 853 (854); BAG 6.9.1995, NZA 1996, 437 (439); Dieterich in: ErfK, GG, Art. 9, Rn. 18; Dorndorf, FS Kissel, S. 139 (140 ff.); ders., FS Gnade, S. 39 (40); Fastrich, Richterliche Inhaltskontrolle im Privatrecht, S. 184 ff.; ders., RdA 1997, 65 (77); Fechner, RdA 1955, 161 (164); Gamillscheg, RdA 2005, 79 (81); ders., Kollektives Arbeitsrecht I, S. 3 ff.; Kempen, Sonderbeilage zu Heft 3/NZA 2000, S. 7 (8); Kittner, FS Kissel, S. 497 (498); Olbersdorf, AuR 1955, 129 (133); Raiser, JZ 1958, 1 (3); Schubert, RdA 2001, 199 (206); Thüsing, FS Wiedemann, S. 560 (562); Vaupel, Die Kompensation von Ungleichgewichtslagen im Arbeits- und Verbraucherrecht, S. 45 ff.; Weber, Rechtssoziologie, S. 170; Wißmann, RdA 1999, 152; Wolter, NZA 2003, 1317 (1320); Zachert, FS Richardi, S. 1111 (1113); ders., ArbuR 2002, 41 ff.; vgl. auch Benda, RdA 1979, 1 (4). 392 Den Privatautonomen Bezug betont auch Richardi, FS Konzen, S. 791 (792). 393 BVerfG 23.11.2006, NJW 2007, 286 (287); BVerfG 15.7.1998, NZA 1999, 194 (197); BVerfG 19.10.1993, NJW 1994, 36 (38); BVerfG 7.2.1990, NJW 1990, 1469 (1470); BAG 16.3.1994, NZA 1994, 937 (939); BAG 23.9.2003, NZA 2004, 440 (443);
D. Tarifautonomie als Kompensation der strukturellen Unterlegenheit
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die Vertragsfreiheit als Freiheit zu inhaltlicher Beliebigkeit zu sehen. Aber dass überhaupt irgendein „Belieben“ im Sinne eines Einflusses auf den Vertragsinhalt oder dessen Abschluss zu selbst mitbestimmten (nicht irgendwelchen) Konditionen vorhanden sein muss, soll die Vertragsfreiheit nicht vollkommen entwertet werden, ist zwingend. Die Vertragsfreiheit sichert zwar weder einen Anspruch auf erfolgreiche Durchsetzung eigener Interessen noch einen Anspruch Dritter, dass potenzielle Vertragspartner keine vertragliche Verpflichtungen eingehen, die die Erfolgschancen Dritter im Privatrechtsverkehr schmälern. Dass die Vertragsfreiheit kein Grundrecht auf Erfolg, sondern lediglich auf autonome Willensbildung ist, ändert aber nichts daran, dass sie eben diese individuelle Willensfreiheit im Innenverhältnis von Vertragsparteien schützt. Allein durch das Vertragsprinzip sind Freiheit, Gleichheit und Persönlichkeitsschutz des Arbeitnehmers aber nicht zu gewährleisten.394 Vielmehr gestattet es typischerweise die Marktmacht des Unternehmers, diesem, die Arbeitsbedingungen nach seinem Ermessen festzusetzen. Das formale Recht des Arbeitnehmers, einen Arbeitsvertrag jeden beliebigen Inhalts einzugehen, bedeutet für diesen keine Freiheit in der Gestaltung der eigenen Arbeitsbedingungen und garantiert ihm auch keinen Einfluss auf deren Inhalt.395 Diese strukturelle Unterlegenheit setzt sich auch im bestehenden Arbeitsverhältnis fort.396 Der tiefere Grund für die Tarifautonomie liegt also in der Annahme, dass zwischen den Parteien des Arbeitsvertrags eine Paritätsstörung besteht und durch die Tarifautonomie die Möglichkeit eines freien Vertragsschlusses gefördert wird.397 Wäre diese PräDieterich, RdA 1995, 129 (130 ff.); Gast, BB 1990, 1637; ders., BB 1992, 1634 (1636 f.); Preis, Grundfragen der Vertragsgestaltung im Arbeitsrecht, S. 18; 133 ff.; Preis/Rolfs, DB 1994, 261; Säcker, Gruppenautonomie, S. 205 f., m.w. N.; zweifelnd Rittner, NJW 1994, 3330. 394 Fastrich, Richterliche Inhaltskontrolle im Privatrecht, S. 186; Arbeitskreis Deutsche Rechtseinheit im Arbeitsrecht, Gutachten D zum 59. Deutschen Juristentag, S. 83; Kittner, FS Kissel, S. 497. 395 Vgl. auch Böcklerimpuls 12/2007, in Großbetrieben gibt es bei 96% der Nichtakademischen Arbeitnehmer keinerlei Vertragsänderungen vor Abschluss des Arbeitsvertrags. Bei Akademikern lag die Quote immerhin nur bei 73%. Allerdings wurde nicht die Qualität der Änderungen berücksichtigt. Im Ergebnis zeigte sich, dass in kleineren Betrieben stärkere Änderungsmöglichkeiten bestanden; vgl auch Preis, Grundfragen der Vertragsgestaltung im Arbeitsrecht, S. 55 ff., mit einer empirischen Untersuchung der Vertragsgestaltung; Fechner, RdA 1955, 161 (164); Weber, Rechtssoziologie, S. 170; Olbersdorf, AuR 1955, 129 (133); Oppolzer, ArbuR 1998, 45 (48 ff.); Dieterich in: ErfK, GG, Art. 12, Rn. 33, der aber für eine differenzierende Position im Bereich der Inhaltskontrolle wirbt, so auch Hanau, FS 50 Jahre Arbeitsgerichtsbarkeit Rheinland-Pfalz, S. 115 (119, 122); vgl. auch Dieterich, RdA 1995, 129 (134 f.); Zöllner, AcP 176 (1976), 221 (235 ff.), hält die fehlende Einflussmöglichkeit für unproblematisch. 396 BVerfG 23.11.2006, NJW 2007, 286 (287 f.). 397 Heinze, NZA 1991, 329 (331); so auch: Bayreuther, Tarifautonomie als kollektiv ausgeübte Privatautonomie, S. 58 und Richardi, FS Konzen, S. 791 (792), die die Tarifautonomie freilich auf diese Dimension beschränken; vgl. auch Schlachter, JArbR 40 (2003), 51 (53).
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2. Kap.: Verfassungsrechtliche Fragen
misse unzutreffend, könnte dies Rückwirkungen auf ihren Gewährleistungsgehalt haben. Aber auch dann, wenn man mit BVerfG, BAG und dem überwiegenden Schrifttum von einer solchen Paritätsstörung ausgeht, stellt sich die Frage, ob sich aus der Art der Funktionsstörungen des Vertragsmechanismus Erkenntnisse für die Tarifautonomie gewinnen lassen. Daher sollen hier zunächst die tragenden Gründe für die strukturelle Unterlegenheit der Arbeitnehmer als Vertragspartei dargestellt und die Überzeugungskraft der hiergegen erhobenen Einwände untersucht werden. Gleichzeitig ist zu fragen, welche Ableitungen sich aus den jeweiligen Umständen für das Verhältnis von tariflicher Normsetzungsbefugnis und zwingendem staatlichen Gesetzesrecht ergeben. Das BVerfG hat sich mehrfach mit der Problematik gestörter Vertragsparität beschäftigt und weist in ständiger Rechtsprechung darauf hin, dass diese von Verfassungs wegen zu kompensieren ist.398 Das BVerfG führt dazu aus: „Die verfassungsrechtliche Gewährleistung der Privatautonomie basiert darauf, dass freies und eigenverantwortliches Handeln in Beziehung zu anderen maßgeblich durch das Instrument des Vertrags verwirklicht wird. Die Vertragspartner bestimmen selbst, wie sie ihre individuellen Interessen zueinander in einen angemessenen Ausgleich bringen. Ihr übereinstimmender Wille lässt deshalb in der Regel auf einen durch den Vertrag hergestellten sachgerechten Interessenausgleich schließen, den der Staat grundsätzlich zu respektieren hat (. . .). Soweit jedoch die Privatautonomie ihre regulierende Kraft nicht zu entfalten vermag, weil ein Vertragspartner kraft seines Übergewichts Vertragsbestimmungen einseitig setzen kann, müssen staatliche Regelungen ausgleichend eingreifen, um den Grundrechtsschutz zu sichern.“399
Aus dieser wie auch aus anderen Formulierungen des BVerfG400 wird deutlich, dass damit die Privatautonomie regelnde gesetzliche Vorschriften zum Schutz der Arbeitnehmer nicht eine rein aus dem Sozialstaatsprinzip erwachsende Beschränkung der Privatautonomie von außen sind, sondern auch aus der grundrechtlichen Gewährleistung der Privatautonomie selbst folgen. Die legislativen Regelungen sind damit systemkonforme, prozedurale Regularien und kein Einbruch systemfremder Drittinteressen. Die Kompensation struktureller Ungleichgewichtslagen im Privatrechtsverhältnis ist also ein aus der grundrechtlichen Gewährleistung der Privatautonomie folgendes Erfordernis und keine rein sozialstaatlich motivierte Einschränkung der Privatautonomie.401 Diese beiden Gesichtspunkte wir-
398 BVerfG 23.11.2006, NJW 2007, 286 (287 f.); BVerfG 19.10.1993, NJW 1994, 36 (38); BVerfG 7.2.1990, NJW 1990, 1469 (1470). 399 BVerfG 23.11.2006, NJW 2007, 286 (287). 400 BVerfG 7.2.1990, NJW 1990, 1469 (1470); BVerfG 19.10.1993, NJW 1994, 36 (38), „. . . folgt aus der grundrechtlichen Gewährleistung der Privatautonomie (Art. 2 I GG) und (!) dem Sozialstaatsprinzip (Art. 20 I, 28 I GG).“ 401 Tendenziell auch Heinze, NZA 1991, 329 (331).
D. Tarifautonomie als Kompensation der strukturellen Unterlegenheit
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ken hier lediglich kumulativ zusammen.402 Erforderlich für die Mobilisierung von Kompensationsinstrumenten ist allerdings, dass eine strukturelle Unterlegenheit einer Vertragspartei vorliegt. 2. Arbeitsvertragsschluss und strukturelle Unterlegenheit Die strukturelle Unterlegenheit des Arbeitnehmers ergibt sich aus einer Fülle von Besonderheiten der Vertragsbeziehung zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern.403 Das historisch bedeutsamste Argument für die Annahme einer strukturellen Unterlegenheit ist dabei, dass der Arbeitnehmer auf den Arbeitsplatz (stärker als der Arbeitgeber) angewiesen und er dem Arbeitgeber, der nicht gleichermaßen auf den Arbeitnehmer angewiesen ist, dadurch bei den Vertragsverhandlungen weitgehend unterworfen ist.404 Darüber hinaus fehlt es dem Arbeitnehmer in Ermangelung von Ausweichmöglichkeiten regelmäßig an der Möglichkeit, das Arbeitsangebot abzulehnen.405 Denn Arbeitnehmer haben regelmäßig nicht die Möglichkeit, sich in die Selbstständigkeit zu flüchten, da ihnen die Voraussetzungen für eine selbstständige Tätigkeit (Produktionsmittel, Vermögen, Know-how) fehlen oder die ihnen offen stehenden Tätigkeiten nicht existenzsichernd sind.406 Diese Problematik besteht auch unabhängig davon, welches Ausmaß die Arbeitslosigkeit in einer historischen Situation hat. Damit werden Effekte auf das Nachfragemonopol durch das Ausmaß einer schlechten Arbeitsmarktlage nicht negiert. Aber es bleibt bei einem signifikanten Druck für den 402 BVerfG 7.2.1990, NJW 1990, 1469 (1470); BVerfG 19.10.1993, NJW 1994, 36 (38); ähnlich Heinze, NZA 1991, 329 (331). 403 Womit nicht gesagt werden soll, dass diese Vertragsbeziehung die „strukturelle Unterlegenheit“ einer Vertragspartei exklusiv für sich beanspruchen kann. 404 BVerfG 23.11.2006, NJW 2007, 286 (288); Dieterich, RdA 1995, 129 (135); Fastrich, Richterliche Inhaltskontrolle im Privatrecht, S. 187; ders., RdA 1997, 65 (77); Gast, BB 1992, 1635 (1636); Kempen, Sonderbeil. NZA Heft 3/2000, 7 (8); Weber, Rechtssoziologie, S. 170; zu den historischen Zusammenhängen Bäuerle, Vertragsfreiheit und Grundgesetz, S. 73 ff.; Vaupel, Die Kompensation von Ungleichgewichtslagen im Arbeits- und Verbraucherrecht, S. 45 ff.; Wank, Arbeitnehmer und Selbstständige, S. 49 ff.; vgl. auch die Zusammenfassung der Literatur bei Oppolzer, ArbuR 1998, 45 (48 ff.); vgl. auch Böcklerimpuls 12/2007, in Großbetrieben gibt es bei 96% der nichtakademischen Arbeitnehmer keinerlei Vertragsänderungen vor Abschluss des Arbeitsvertrags. Bei Akademikern lag die Quote immerhin nur bei 73%. Allerdings wurde nicht die Qualität der Änderungen berücksichtigt. Im Ergebnis zeigte sich, dass in kleineren Betrieben stärkere Änderungsmöglichkeiten bestanden; vgl auch Preis, Grundfragen der Vertragsgestaltung im Arbeitsrecht, S. 55 ff., mit einer empirischen Untersuchung der Vertragsgestaltung; a. A. Zöllner, AcP 176 (1976), 221 (237). 405 Bauer/Diller, DB 1995, 1810 (1812); Dieterich, RdA 1995, 129 (135); Fastrich, Richterliche Inhaltskontrolle im Privatrecht, S. 187; Kempen, Sonderbeilage zu Heft 3/ NZA 2000, S. 7 (8); Oppolzer, ArbuR 1998, 45 (49); Vaupel, Die Kompensation von Ungleichgewichtslagen im Arbeits- und Verbraucherrecht, S. 4; Weber, Rechtssoziologie, S. 170. 406 Dorndorf, FS Gnade, S. 39 (42); Gast, FS Kissel, S. 249 (262); Oppolzer, ArbuR 1998, 45 (49).
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2. Kap.: Verfassungsrechtliche Fragen
Einzelnen, in ein Arbeitsverhältnis einzutreten, auch dann, wenn er unter günstigen Arbeitsmarktparametern handelt. Denn auch bei diesen günstigen Bedingungen besteht weiterhin die lediglich eingeschränkte Wahlmöglichkeit des Arbeitgebers, einen anderen Arbeitnehmer zu beschäftigen. Der Arbeitgeber erlangt damit aus der Tatsache, dass regelmäßig mehrere Bewerber um einen Arbeitsplatz konkurrieren und er über den Zugang zum Arbeitsplatz entscheidet, eine Marktmacht gegenüber dem Arbeitnehmer, die es ihm erlaubt, die Arbeitsbedingungen weitgehend zu diktieren.407 Für den Arbeitnehmer bedeutet die Möglichkeit der Entscheidung über den Abschluss eines Arbeitsvertrags damit lediglich eine Scheinfreiheit.408 Verstärkend wirken zwei funktionelle Besonderheiten des Arbeitsmarktes. Zum einen führt eine Verringerung des Lohnniveaus nicht zu einer Verknappung des Arbeitsangebots, wie dies auf normalen Märkten der Fall wäre. Vielmehr bieten die Arbeitnehmer zur Existenzerhaltung zusätzliche Arbeitsleistungen an, was die Nachfrage nach Arbeitskräften senkt und zu einer erneuten Verschärfung der Drucksituation für Arbeitslose führt.409 Dazu wird vereinzelt kritisch angemerkt, dass diese Angebotsausweitung auch die Nachfrage nach Arbeitskräften steigere, sodass im Ergebnis das Nachfragemonopol durch seine Ausnutzung gefährdet werde.410 Die Geschichte der Arbeitsmarktentwicklung in Deutschland lässt sich mit dieser Ansicht nicht vereinbaren. Denn in der Zeit, als ein solches Nachfragemonopol frei ausgeübt wurde, hat es zu massiven sozialen Missständen geführt. Ebenso wenig hat die durch die Massenarbeitslosigkeit verursachte Lohnzurückhaltung im späten 20. Jahrhundert dazu geführt, dass eine Angebotsausweitung auf Arbeitgeberseite entstanden wäre.411 Es liegt aber der Schluss nahe, dass das Ausmaß der Arbeitslosigkeit die Drucksituation im Arbeitsverhältnis beeinflusst, was die statistische Entwicklung der Krankheitstage in Deutschland durchaus nahelegt.412 Damit führt mittelbar Arbeitslosigkeit auch zu einer Verschlechterung der Verhandlungsposition von Arbeitnehmern, die in einem Arbeitsverhältnis stehen. 407 BVerfG 23.11.2006, NJW 2007, 286 (287 f.); Fastrich, Richterliche Inhaltskontrolle im Privatrecht, S. 187; ders., RdA 1997, 65 (77); Fechner, RdA 1955, 161 (164); Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht, Bd. I, S. 3 ff.; Preis, RdA 1995, 333 (339); Säcker, Gruppenautonomie und Übermachtkontrolle im Arbeitsrecht, S. 93; vgl. dazu Thüsing, Festschrift Wiedemann, S. 559 (571). 408 Zur historischen Entwicklung vgl. die Darstellung bei Zachert, RdA 2004, 1 ff.; Löwisch, RdA 1969, 129 (132). 409 Sogenanntes „Konkurrenzparadoxon“, Dorndorf, FS Gnade, S. 39 (42); Kempen, Sonderbeilauge zu NZA Heft 3/2000, 7 (8); Voswinkel, WSI-Mitteilungen 2007, 427 (428); Wank, Arbeitnehmer und Selbstständige, S. 48 f. 410 Zu den Einwänden vgl. ausführlich unten 2. Kap. D. II. 411 Das diese nicht auf fehlende Produktivität zurück zu führen ist (so Zöllner, AcP 176 (1976), 221 (230 f.)), hat Schwarze, ZfA 2005, 81 (98), überzeugend nachgewiesen. 412 Pietzner, Krankenstands- und Arbeitslosenquote in Deutschland, passim.
D. Tarifautonomie als Kompensation der strukturellen Unterlegenheit
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3. Paritätsstörung bei Aushandlung der Vertragsinhalte Auch bei der Aushandlung der Vertragsinhalte zeigt sich eine deutliche Paritätsstörung zwischen Arbeitnehmer und Arbeitgeber. Der Arbeitgeber kann die Vertragsbedingungen für den Arbeitnehmer regelmäßig sorgfältig ausarbeiten und/ oder von Spezialisten so formulieren lassen, dass sie seinen Interessen entsprechen.413 Aus ökonomischer und soziologischer Sicht wird diese vertragliche Machtasymmetrie ebenfalls konstatiert. Dabei wird zunächst auf die strategische Ausgangslage bei den „Vertragsverhandlungen“ verwiesen. Denn Arbeitgeber verfügen regelmäßig über die besseren Ressourcen (Know-how, Personal, Beratung), um ihre Interessen bereits vor Vertragsschluss in vorformulierte Vertragsbedingungen umzusetzen. Insgesamt verfügen sie damit aufgrund einer besseren Infrastruktur über strategische Vorteile bei den Vertragsverhandlungen. Der Arbeitnehmer hingegen verfügt regelmäßig weder über die Möglichkeit, vorformulierte Bedingungen in den Vertrag einzuspeisen, noch über die notwendigen Informationen, um die rechtlichen Auswirkungen von Formulierungen zu erkennen.414 Dies führt zu Informationsasymmetrien, die sich auch auf die Wahrscheinlichkeit, dass sich bestimmte Vereinbarungen im Arbeitsverhältnis tatsächlich auswirken werden, beziehen können.415. Hier zeigen sich also sowohl prozedurale Defizite der Privatautonomie, die sich belastend auf den Prozess, der zur Vertragsgestaltung führt, auswirken, als auch Defizite, die die Ablehnungsmöglichkeit, also das Ergebnis der Vertragsverhandlung, betreffen. Der Arbeitnehmer ist also teilweise nicht in der Lage, die belastende Wirkung von Regelungen richtig einzuschätzen, weil ihm hierfür Informationen fehlen. Ebenso ist er selbst dann, wenn ihm die belastende Wirkung einer Regelung bekannt ist, regelmäßig nicht in der Lage diese abzulehnen. Diese beiden unterschiedlichen Situationen werden häufig bei der Konzeption und Diskussion von Korrekturmechanismen für die strukturelle Unterlegenheit nicht hinreichend differenziert. Denn sofern die Unterlegenheit rein im Entstehungsprozess der Vertragsinhalte angelegt ist, können auch prozedurale Kompensationsmodelle ausreichen. Werden hingegen (Vertrags-)Ergebnisse produziert, die auch bei vollständiger Informationssymmetrie allein den Interessen einer Vertragspartei entsprechen, ist sozusagen auf der
413 Gast, FS Kissel, S. 249 (264); Preis, Grundfragen der Vertragsgestaltung im Arbeitsrecht, S. 88; Säcker, Gruppeautonomie und Übermachtkontrolle im Arbeitsrecht, S. 88 f.; diesen Vorteil bei der Verwirklichung eigener Interessen übersieht Zöllner, AcP 176 (1976), 221 (233), wenn er darauf verweist eine Einheitlichkeit der Arbeitsbedingungen sei für den Arbeitgeber zwingend notwendig und daher könne daraus kein Argument für die strukturelle Unterlegenheit gezogen werden. 414 Dieterich, RdA 1995, 129 (135); Fastrich, Richterliche Inhaltskontrolle im Privatrecht, S. 188; Preis, Grundfragen der Vertragsgestaltung im Arbeitsrecht, S. 88; ders., RdA 1995, 333 (339); Säcker, Gruppenautonomie und Übermachtkontrolle im Arbeitsrecht, S. 92 f.; kritisch Wank, Arbeitnehmer und Selbstständige, S. 48. 415 Thüsing, Festschrift Wiedemann, S. 559 (572).
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2. Kap.: Verfassungsrechtliche Fragen
„Folgenebene“ eine Korrektur erforderlich, die auch nicht unter Verweis auf prozedurale Schutzmechanismen unterbleiben kann. Wenig überzeugend ist der Hinweis darauf, bei kleinen und mittelständischen Unternehmen seien die dargestellten Informationsvorsprünge nicht vorhanden und daher die strukturelle Unterlegenheit hier nicht gegeben.416 Denn zum einen kann sich der Arbeitgeber auf den Erfahrungsschatz seiner bisherigen betrieblichen Tätigkeit stützen, zum anderen verfügt er über die weitaus größere Gestaltungsmacht für den Vertrag. Dem mag man nun entgegen halten, dass aber zumindest der in den Markt neu eintretende Kleinunternehmer, der sich keine Gedanken über arbeitsrechtliche Fragen und/oder seine Interessen macht, hier keinen Informationsvorsprung habe. Dies betrifft aber wohl eher Ausnahmefälle und stellt die typisierende Betrachtung der Vertragsbeziehungen nicht in Frage. Und auch hier darf nicht verkannt werden, dass diese Argumentation auch nur singulär im Moment des Markteintritts greift. Danach wird der Arbeitgeber, zwangsläufig Erfahrungswerte sammeln und die Informationsasymmetrie beginnt zuzunehmen. Es besteht damit eine typische Informationsasymmetrie im Arbeitsverhältnis. Diese Störung des Marktmechanismus war bereits zur Kaiserzeit bekannt und bereits damals wurde die Abhilfe in der Bildung von Koalitionen gesehen.417 Eine Vielzahl von Autoren wollte bereits damals den „wirklich freien Vertrag“ auf dem Arbeitsmarkt mit Hilfe der Koalitionen herstellen.418 4. Empirische Befunde Preis hat die Störungen des Vertragsmodells im Arbeitsrecht mit Blick auf Formulararbeitsverträge empirisch untersucht. Ergebnis dieser Untersuchung war die Erkenntnis, dass „das strukturell gestörte Vertragsmodell im Arbeitsrecht“ vor allem an der allgemeinen Erscheinung deutlich werde, dass die Interessenposition des Arbeitgebers ihre Grenze nicht etwa an dem geäußerten oder potenziellen Willen des Arbeitnehmers, sondern erst am zwingenden Gesetzesrecht, Tarifverträgen und der Rechtsprechung findet.419 Mit anderen Worten: Außerhalb von zwingenden Arbeitsbedingungen bestand für die Arbeitnehmer keine Möglichkeit, den Vertrag inhaltlich zu gestalten. Eine Ausnahme bildeten insofern in begrenztem Umfang die Arbeitsverträge von Führungspersonal. Auch dass im Arbeitsverhältnis besonders leistungsstarke Arbeitnehmer ihre Interessen 416
Franz, Der Abschluss eines Aufhebungsvertrags, S. 96. Konzen, ZfA 1991, 379 (382). 418 Mit umfangreichen Nachweisen: Konzen, ZfA 1991, 379 (382); das BAG hält die Herstellung des freien Vertrags allein durch die Koalitionen freilich für unzureichend, BAG 16.3.1994, NZA 1994, 937 (940). 419 Preis, Grundfragen der Vertragsgestaltung im Arbeitsrecht, S. 87 ff.; dies bestätigen auch neuere Studien, vgl. Böcklerimpuls 12/2007. 417
D. Tarifautonomie als Kompensation der strukturellen Unterlegenheit
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bei Aushandlung der Arbeitsbedingungen leichter durchsetzen können, lässt sich empirisch nicht belegen. Sind solche Arbeitskräfte am Markt schwer zu erlangen, so schlägt dies vor allem auf die „Anwerbephase“ durch, in der dem Arbeitnehmer Abschlussanreize für den Arbeitsvertrag gewährt werden. Es sagt aber nichts über Machtverschiebungen im Vollzug des Arbeitsverhältnisses aus. Soweit tarifliche oder allgemeine Arbeitsbedingungen gegenüber anderen Arbeitnehmern günstiger sind, werden diese in aller Regel freiwillig und widerruflich gewährt, kurz gesagt sie sind in aller Regel durch eine Gestaltungsmacht auf Arbeitgeberseite eingeschränkt.420 Zudem ist darauf hinzuweisen, dass auch dann, wenn Verträge individuell ausgehandelt werden, daraus nicht generell folgt, dass diese das Ergebnis paritätischer Vertragsverhandlungen sind.421 5. Soziale Rahmenbedingungen als Multiplikatoren für die strukturelle Unterlegenheit Aber auch die sozialen Rahmenbedingungen, unter denen Arbeitsverträge abgeschlossen werden, führen zu einer Drucksituation, die die Verhandlungsposition des Arbeitnehmers schwächt. Denn der soziale Geltungsanspruch in der Gesellschaft wird zunehmend nicht nur über den Arbeitsplatz an sich, sondern über das Innehaben eines Arbeitsplatzes überhaupt definiert.422 Dies findet seit Längerem seinen Ausdruck in der Rechtsprechung des BVerfG, das die Bekämpfung der Massenarbeitslosigkeit auch als Menschenwürdeproblem begreift.423 Denn nicht nur die Selbstachtung, sondern auch die gesellschaftliche Anerkennung wird entscheidend über das Innehaben eines Arbeitsplatzes beeinflusst.424 Dass durch die Ausgestaltung der Arbeitslosenversicherung auch ökonomischer Druck auf Arbeitnehmer entfaltet wird, soll hier nicht vertieft werden. Jedenfalls liegt neben der ökonomischen Drucklage des Arbeitnehmers auch eine soziale vor, deren Bedeutung stetig zunimmt.425 Gleichzeitig kann sich für Arbeitnehmer 420
Preis, Grundfragen der Vertragsgestaltung im Arbeitsrecht, S. 89. Dieterich, RdA 1995, 129 (135); Fastrich, Richterliche Inhaltskontrolle im Privatrecht, S. 185; Gamilllscheg, RdA 2005, 79 (80); a. A. Thüsing, FS Wiedemann, S. 559 (568); hier besteht kein Dissens zu Preis, Grundfragen der Vertragsgestaltung im Arbeitsrecht, der darauf verweist, dass, wenn tatsächlich ein privatautonomer Vertragsausschluss vorliegt, die Erforderlichkeit der Inhaltskontrolle eingeschränkt ist. Denn dies setzt die Freiwilligkeit des Vertragsschlusses voraus. Die vorliegenden Ausführungen weisen lediglich darauf hin, dass aus der Tatsache, dass eine individuelle Vereinbarung vorliegt, noch nicht folgt, dass diese nicht dennoch dem Diktat einer Seite entspringt. 422 Schwarze, ZfA 2005, 81 (99); Voswinkel, WSI-Mitteilungen 2007, 427 ff. 423 BVerfG 3.4.2001, NZA 2001, 777 (779); BVerfG 27.4.1999, NJW 1999, 3033 (3034). 424 Hönn, Kompensation gestörter Vertragsparität, S. 195; Vaupel, Die Kompensation von Ungleichgewichtslagen im Arbeits- und Verbraucherrecht, S. 48. 425 Voswinkel, WSI-Mitteilungen 2007, 427 ff.; vgl. auch Vaupel, Die Kompensation von Ungleichgewichtslagen im Arbeits- und Verbraucherrecht, S. 48. 421
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2. Kap.: Verfassungsrechtliche Fragen
eine sozial oder wirtschaftlich vermittelte Immobilität belastend auf die Verhandlungsposition, insbesondere auf die Auswahl der potenziellen Vertragspartner auswirken.426 Eine weitere Entwicklung, die zu einer verschärften Schutzbedürftigkeit bei subjektiv empfundener Freiheit führt, sind zunehmende Flexibilisierungen bei der Durchführung des Arbeitsverhältnisses. Durch Umgestaltung der Arbeitsbeziehungen, maßgeblich durch Zielbestimmungen, aber auch durch andere Vertragselemente, die den Arbeitnehmer zum „Arbeitskraftunternehmer“ 427 machen, werden neue Fragen aufgeworfen. Weniger die Erfolgsorientierung der Arbeit, als die Unfähigkeit, die durch sie geförderte Unterlegenheit als solche zu begreifen, gefährden die betroffenen Arbeitnehmer auf lange Sicht. Dies gilt mit Blick auf die Arbeitszeit besonders dort, wo die Selbstkontrolle hinsichtlich der eigenen Arbeitszeitleistung, z. B. durch Vertrauensarbeitszeit entfällt. Hier besteht oftmals ein Anreiz, objektiv gesundheitsschädliche Arbeitszeitvolumina zur Erfolgserreichung anzustreben. Ob, wenn solche Instrumentarien über längere Zeiträume praktiziert sind, eine neue Wahrnehmung für die Gefahren solcher Modelle wächst, bleibt abzuwarten. Sie sind jedenfalls nicht als Ausdruck von neuer Selbstbestimmung der Arbeitnehmer zu werten, auch wenn dies teilweise so empfunden werden mag. 6. Zusammenfassung Das BAG hat die strukturelle Unterlegenheit des Arbeitnehmers für so selbstverständlich gehalten, dass dies keiner weiteren Erläuterung bedürfe.428 Insbesondere bedeute allein die Möglichkeit, kollektive Regelungen wie Tarifverträge oder Betriebsvereinbarungen zu schließen, keine Kompensation dieser strukturellen Unterlegenheit.429 Auch das BVerfG geht in ständiger Rechtsprechung von einer strukturellen Unterlegenheit des Arbeitnehmers bei Begründung und Vollzug des Arbeitsverhältnisses aus.430 Zusammenfassend lässt sich also festhalten, dass die strukturelle Unterlegenheit des Arbeitnehmers nicht nur bei Abschluss des Arbeitsvertrages, sondern auch im Vollzug des Arbeitsverhältnisses besteht. Diese besteht einmal darin, dass der Arbeitnehmer die Folgen bestimmter Vertragsgestaltungen nicht absehen und bewerten kann und andererseits darin, dass er diese selbst bei einer Negativ426 Fastrich, Richterliche Inhaltskontrolle im Privatrecht, S. 187; Vaupel, Die Kompensation von Unleichgewichtslagen im Arbeits- und Verbraucherrecht, S. 48; Wank, Arbeitnehmer und Selbstständige, S. 49. 427 Zachert, ArbuR 2002, 41 (46). 428 BAG 16.3.1994, NZA 1994, 937 (939); dies wird in der Literatur als zu undifferenziert kritisiert, vgl. Dieterich, NZA 1996, 673 (676). 429 BAG 16.3.1994, NZA 1994, 937 (939). 430 BVerfG 23.11.2006, NJW 2007, 286 (287 f.), m.w. N.
D. Tarifautonomie als Kompensation der strukturellen Unterlegenheit
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bewertung nicht ablehnen kann. Damit ist der Einigungsprozess zum Arbeitsvertrag funktionell gestört. Gleichzeitig bieten aber auch abgeschlossene Verträge, die bei partiell behobenen Informationsasymmetrien geschlossen werden, häufig keine Gewähr dafür, dass sie tatsächlich auf einer gleichgewichtigen Verhandlungsposition beruhen, wenn der Arbeitnehmer den Vertragsschluss nicht ablehnen kann. Ist dies hingegen im Einzelfall denkbar, gewinnt die Frage nach den prozeduralen Defiziten an Bedeutung.
II. Einwände gegen das „Unterlegenheitstheorem“ Bevor auf die Auswirkungen, die sich aus der derart verstandenen strukturellen Unterlegenheit für die Auslegung der Tarifautonomie ergeben, nachgegangen wird, ist noch der Kritik am „Unterlegenheitstheorem“ nachzugehen. In neuerer Zeit wird die Annahme der strukturellen Unterlegenheit oder einer typischen Ungleichgewichtslage vereinzelt infrage gestellt. Sie ist damit nicht mehr ein „unbestrittenes Allgemeingut“431, auch wenn dies lange Zeit so war. 1. Veränderte ökonomische Rahmenbedingungen Die Kritik verweist zunächst darauf, dass die Annahme der strukturellen Unterlegenheit auf der Basis von Verhältnissen einer Zeit, die durch eine Verelendung der Fabrikarbeiter geprägt war, entwickelt wurde. Der Rückschluss auf das Versagen des freien Arbeitsvertrages sei daher aus einer historischen Extremsituation motiviert, die zu einer Abhilfe durch zwingende Normen und Kollektivverträge geführt habe, aber für die heutige Zeit nicht unkritisch fortgeschleppt werden dürfe.432 Insbesondere seien die Hungerlöhne in der Mitte des 19. Jahrhunderts nicht Ausdruck der Übermacht der Arbeitgeber, sondern fehlender Produktivität gewesen.433 Auch komme kein Arbeitgeber am materiellrechtlich durch Gesetz, Tarifvertrag und Richterrecht abgesicherten Arbeitnehmerschutz vorbei.434 Ebenso werde durch die staatliche Gewährleistung des Existenzminimums und die Sozialhilfe eine Untergrenze des Arbeitslohns definiert.435 Diese Ansicht blendet zumindest die Arbeitsverhältnisse aus, die nur durch Bezug ergänzender Sozialtransfers aus der Verelendungszone gehoben werden. Im Übri431 Vaupel, Die Kompensation von Ungleichgewichtslagen im Arbeits- und Verbraucherrecht, S. 45. 432 Konzen, ZfA 1991, 379 (388); Franz, Der Abschluss eines Aufhebungsvertrags, S. 87; Zöllner, AcP 176 (1976), 221 (230 ff.); ähnlich Thüsing, FS Wiedemann, S. 559 (571). 433 Zöllner, AcP 176 (1976), 221 (231). 434 Wank, Arbeitnehmer und Selbstständige, S. 48; Franz, Der Abschluss eines Aufhebungsvertrags, S. 87. 435 Reuter, RdA 1991, 193 (195).
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2. Kap.: Verfassungsrechtliche Fragen
gen ist Dorndorf zuzustimmen, wenn er zu der vorstehenden Argumentation anmerkt, dass die Schlussfolgerung, aufgrund der verbesserten Situation der Arbeitnehmer bestehe kein Kompensationsbedürfnis, ungefähr die gleiche Qualität habe wie die Argumentation, in Deutschland herrsche Rechtsfrieden und man könne daher auf die Justiz verzichten.436 Grundrechtsdogmatisch ist es ohnehin bedenklich, von der Erfüllung eines Rechts bzw. der Beseitigung eines Missstandes auf seine fehlende Existenz(-berechtigung) zurückzuschließen.437 2. Vergleichbare Personengruppen ohne vergleichbaren Schutz Im Schrifttum findet sich neben den Bedenken hinsichtlich des Vorliegens einer kompensationsbedürftigen Schieflage auch der Hinweis, dass auch kleine Selbstständige von ihrer Arbeit leben müssten, ohne durchgängig einen vergleichbaren Schutz gegen überfordernden Wettbewerb zu genießen.438 Dies ist aber, sofern eine strukturelle Unterlegenheit solcher Personen tatsächlich vorliegt, eher ein Argument, auch dort Kompensationsmodelle zu entwickeln.439 Aus der Tatsache, dass die Arbeitnehmer die strukturelle Unterlegenheit nicht exklusiv für sich haben, sondern dass diese in einer Vielzahl von Privatrechtsverhältnissen auftreten kann, erwächst weder ein Argument gegen die Schutzbedürftigkeit von Arbeitnehmern noch gegen die Richtigkeit des Unterlegenheitstheorems. 3. Fehlende Kompensationsbedürftigkeit struktureller Ungleichgewichte Ein weiterer Einwand wendet sich weniger gegen die Annahme struktureller Unterlegenheit im Arbeitsverhältnis, als gegen die Konsequenzen, die hieraus gezogen werden. Wirksame Verträge erfordern nach dieser Ansicht keine annähernd gleiche Verhandlungsstärke und daher sei auch kein Kompensationsmodell erforderlich. Vielmehr seien die Auswirkungen von Ungleichgewichten in Märkten hinzunehmen.440 Selbst bei einer strukturellen Unterlegenheit läge noch Selbstbestimmung vor, wenn zu einem belastenden Vertrag die Zustimmung erteilt werde.441 Nun beißt sich dieser Ansatz mit den Grundprinzipien der Vertragsfrei436
Dorndorf, FS Kissel, S. 139 (143). Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 408 f. 438 Reuter, RdA 1991, 193 (195). 439 Im Übrigen wird hier auch die Vergleichbarkeit der Sitation bestritten, vgl. Schwarze, ZfA 2005, 81 (99), da hier die Vertragspartner wechseln können, während der Arbeitnehmer typischerweise nur einen „Auftraggeber“ hat und dadurch durch eine nachteilige Vertragskonstruktion härter getroffen werde. 440 Zöllner, ZfA 1988, 265 (286). 441 Zöllner, AcP 176 (1976), 221 (234 f.). 437
D. Tarifautonomie als Kompensation der strukturellen Unterlegenheit
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heit, wie sie das BVerfG definiert hat.442 Diese setzt zumindest ein annäherndes Machtgleichgewicht zwischen den Kontrahenten voraus.443 Dies überzeugt, wenn man die Selbstbestimmung des Einzelnen als Grundvoraussetzung für materielle Privatautonomie akzeptiert. Von diesem Standpunkt aus greift der entsprechende Einwand nicht durch. Denn fehlen die Voraussetzungen der Selbstbestimmung, werden diese durch die Zustimmung zu ihren Folgen, nicht hergestellt. 4. Das Einzelfallargument Teilweise wird mit Blick auf die besondere Situation einzelner Arbeitnehmer, die sich aus den unterschiedlichsten Gründen nicht in einer Situation struktureller Unterlegenheit befinden, das Unterlegenheitstheorem in Frage gestellt.444 Die Unterlegenheit des einzelnen Arbeitnehmers sei eine im Einzelfall widerlegbare Vermutung. Es sei allerdings darauf verwiesen, dass ein Teil der Vertreter dieser Auffassung als Beispielsfall einen mehrsprachigen Einserjurist bemüht445. Die Auswahl des Beispiels zeigt wie wenig diese Sichtweise den Realitäten des Arbeitsmarktes entspricht. Im Übrigen mögen die Vertreter jener Auffassung einmal Prädikatsjuristen, die in größeren Anwaltskanzleien arbeiten, nach der üblichen Reaktion der Arbeitgeber auf einen Teilzeitwunsch wegen Kinderbetreuung oder eine Anfrage auf Beschäftigung zu gesetzeskonformen Arbeitszeiten befragen.446 Man mag bei der Konfiguration solcher Einzelfälle noch so großzügig sein und nach Ausnahmeregelungen verlangen; die Fälle sind nicht repräsentativ.447 In diesem Zusammenhang ist auf den Terminus der „strukturellen Unterlegenheit“ im Sinne der Rechtsprechung des BVerfG einzugehen. Dieser ist in einem 442
BVerfG 23.11.2006, NJW 2007, 286 (287). BVerfG 23.11.2006, NJW 2007, 286 (287); BVerfG 15.7.1998, NZA 1999, 194 (197); BVerfG 19.10.1993, NJW 1994, 36 (38); BVerfG 7.2.1990, NJW 1990, 1469 (1470); BAG 16.3.1994, NZA 1994, 937 (939); BAG 23.9.2003, NZA 2004, 440 (443); Dieterich, RdA 1995, 129 (130 ff.); Gast, BB 1990, 1637; ders., BB 1992, 1634 (1636 f.); Preis, Grundfragen der Vertragsgestaltung im Arbeitsrecht, S. 18, 133 ff.; Preis/Rolfs, DB 1994, 261; Säcker, Gruppenautonomie, S. 205 f., m.w. N.; Reuter, ZfA 1975, 85 (86); Stern, Staatsrecht III/1, § 76 IV. 8., S. 1595. 444 Franz, Der Abschluss eines Aufhebungsvertrags, S. 88; Schwarze, ZfA 2005, 81 (97); ähnlich zu Einzelfällen Benda, RdA 1979, 1 (5), der freilich nicht so weit geht, dadurch das Unterlegenheitstheorem in Frage gestellt zu sehen; vgl zur begrenzten empirischen Nachweisbarkeit der Effekte der Position von „High Potentials“ auf Arbeitsverträge, Preis, Grundfragen der Vertragsgestaltung im Arbeitsrecht, S. 87 ff. 445 Schwarze, ZfA 2005, 81 (100); großzügiger bei der Auswahl der Beispiele Thüsing, FS Wiedemann, S. 559 (575 f.), der allerdings einschränkt, hier könne ein freier Vertragsschluss vorliegen. 446 Auch wenn sich hier in den letzten Jahren ein Wandel abzuzeichnen scheint. 447 Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht, Bd. I, S. 4; vgl. zum Erfordernis der Orientierung am Regelfall: Vaupel, Die Kompensation von Ungleichgewichtslagen im Arbeits- und Verbraucherrecht, S. 26 ff., vor allem Fn. 123. 443
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2. Kap.: Verfassungsrechtliche Fragen
typisierenden Sinne zu verstehen.448 Dies bedeutet, dass nicht jede einzelne erfasste Vertragssituation tatsächlich eine Unterlegenheit von Arbeitnehmern beinhalten muss.449 Vielmehr ist eine typisierende Gesamtbetrachtung für den Vertragstypus „Arbeitsvertrag“ erforderlich. Und in dieser besteht – wie bereits gezeigt – ein Ungleichgewicht. Damit besteht die strukturelle Unterlegenheit des Arbeitnehmers im Sinne der Rechtsprechung des BVerfG unabhängig von Einzelfällen, in denen möglicherweise materielle Vertragsfreiheit herrscht.450 Erst dann, wenn diese im Regelfall gegeben ist, lässt sich über die strukturelle Unterlegenheit des Arbeitnehmers berechtigterweise streiten. Allerdings sind bei der Inhaltskontrolle von Verträgen Besonderheiten des Einzelfalles zu beachten. Denn das BVerfG verlangt, die Umstände des Einzelfalles zu berücksichtigen, bevor eine Inhaltskontrolle stattfindet.451 Diese Einschränkungen beziehen sich erkennbar auf die Bewertung einzelner Vertragsbedingungen. Daraus ist nicht zu folgern, dass die strukturelle Unterlegenheit des Arbeitnehmers generell widerleglich ist. Vielmehr geht es hier um den Hinweis darauf, dass eine konkrete Schutzbedürftigkeit bei der vertraglichen Inhaltskontrolle im Einzelfall festgestellt werden muss.452 Das BAG hat diese Grundsätze aber teilweise strenger gesehen.453 Diese Diskussion schlägt jedoch nicht auf die strukturelle Unterlegenheit des Arbeitnehmers bei Abschluss des Arbeitsvertrags als Ausgangspunkt der verfassungsrechtlichen Bewertung der Tarifautonomie durch. Denn hier ist keine Einzelfallbetrachtung von Vertragsklauseln, sondern eine generalisierende Betrachtung des Vertragstypus Arbeitsvertrag erforderlich. Man mag noch so sehr eine Einzelfallprüfung bei der Vertragsinhaltskontrolle befürworten, die im Allgemeinen gegebene strukturelle Unterlegenheit von Arbeitnehmern bei Abschluss des Arbeitsvertrags wird dadurch nicht berührt. 5. Bedürfnis nach Individualisierung Schließlich wird kritisch auf das zunehmende Bedürfnis nach Individualisierung im Arbeitsverhältnis verwiesen.454 Arbeitnehmer haben in den letzten Jah-
448 Dieterich, RdA 1995, 129 (131); Vaupel, Die Kompensation von Ungleichgewichtslagen im Arbeits- und Verbraucherrecht, S. 26 ff. 449 Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht, Bd. I, S. 4. 450 Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht, Bd. I, S. 4. 451 BVerfG 7.2.1990, NJW 1990, 1469 ff.; BVerfG 19.10.1993, NJW 1994, 36 ff.; Dieterich, NZA 1996, 673 (676); Hanau, FS 50 Jahre Arbeitsgerichtsbarkeit RheinlandPfalz, S. 115 (119, 122). 452 Dieterich, NZA 1996, 673 (676); ders., RdA 1995, 129 (133 ff.); Hanau, FS 50 Jahre Arbeitsgerichtsbarkeit Rheinland-Pfalz, S. 115 (119, 122). 453 BAG 16.3.1994, NZA 1994, 937 (939). 454 Konzen, ZfA 1991, 379 (396), der aber gleichzeitig auch auf die Mobilitätsprobleme von Arbeitnehmern verweist.
D. Tarifautonomie als Kompensation der strukturellen Unterlegenheit
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ren ein weitaus größeres Bedürfnis an der individuell auf ihre Lebenssituation bezogenen Gestaltung von Arbeitsbedingungen.455 Die geltende Rechtsordnung sowie die Tarifverträge würden sich hier bisweilen als Hemmschuh erweisen. Im Kern ist diese Kritik jedoch nicht geeignet, die strukturelle Unterlegenheit des Arbeitnehmers infrage zu stellen. Sie ist vielmehr gegen Umfang und Ausgestaltung der Kompensationsmodelle gerichtet.456 Dass der Ausgangspunkt der Tarifautonomie die Kompensation struktureller Unterlegenheit der Arbeitnehmer ist, wird dadurch nicht infrage gestellt.457 Allerdings sind solche Wünsche Ausdruck davon, dass grundlegende Schutz- und Sicherheitsbedürfnisse nicht mehr allein im Fokus der Interessen der Arbeitnehmer stehen.458 Auf der anderen Seite ist auch darauf zu verweisen, dass derartige „Bevormundungen“ oder „Schutz vor und gegen sich selbst“ der Verfassungsordnung weder fremd noch unüblich sind.459 Es kommt letztendlich darauf an, die Voraussetzungen für eine selbstbestimmte Gestaltung der Vertragsbeziehungen zu schaffen. Wenn man sich aber nocheinmal das Ergebnis von Preis vergegenwärtigt, dass die Interessenposition des Arbeitgebers ihre Grenze nicht etwa an dem geäußerten oder potenziellen Willen des Arbeitnehmers, sondern erst am zwingenden Gesetzesrecht, Tarifverträgen und der Rechtsprechung findet460, so bestehen Zweifel, ob die Kritik die tatsächlichen Verhältnisse im Arbeitsverhältnis zutreffend abbildet. 6. Stellungnahme Im Ergebnis lassen sich die Einwände gegen die Annahme struktureller Unterlegenheit des Arbeitnehmers dahin gehend zusammenfassen, dass es auf dem Arbeitsmarkt nur noch in begrenztem Maße soziale Missstände gebe und daher eine strukturelle Unterlegenheit der Arbeitnehmer nicht mehr bestehe. Damit wird aber das Begründungsmuster etwas verschoben. Die vorstehende Sichtweise geht davon aus, dass durch soziale Missstände eine strukturelle Unterlegenheit entstanden ist. Freilich gilt vice versa: Durch die strukturelle Unterlegenheit der Arbeitnehmer entstehen zu kompensierende Missstände. Soziale Schieflagen entstehen nicht aus dem Nichts, sondern durch Marktmechanismen. Eine rein phänomenologische Betrachtungsweise wird dem nicht gerecht. Es überrascht dann auch nicht, dass die bereits dargestellten „zeitlosen“ Defizite bei der Vertragsparität nur eingeschränkt gewürdigt werden. Vielmehr wird der Versuch unter455
Vgl. Zachert, ArbuR 2002, 41 (45). In diesem Sinne: Konzen, ZfA 1991, 379 (396), der allerdings keine unbegrenzte Deregulierung befürwortet. 457 Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht, Bd. I, § 1 I, 2 a), S. 4. 458 Vgl. dazu Voswinkel, WSI-Mitteilungen 2007, 427 (430f.). 459 Thüsing, FS Wiedemann, S. 559 (566). 460 Preis, Grundfragen der Vertragsgestaltung im Arbeitsrecht, S. 87 ff.; dies bestätigen auch neuere Studien, vgl. Böcklerimpuls 12/2007. 456
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2. Kap.: Verfassungsrechtliche Fragen
nommen, die strukturelle Unterlegenheit als historisches Phänomen, nicht aber als abstraktes Problem des Arbeitsvertrages, das von historischen Situationen unabhängig ist, zu deuten.461 Dies verkennt die bereits dargestellten Zusammenhänge. Selbst wenn man davon ausgeht, dass eine Fülle von Schutzvorschriften zugunsten des Arbeitnehmers bestehen, entfällt dadurch nicht seine Schutzbedürftigkeit. Eine noch so vollständig kompensierte Abhängigkeit begründet keine echte Unabhängigkeit des Arbeitnehmers.462 Daher ist insbesondere auch die Anwendbarkeit des Kündigungsschutzes nach dem KSchG kein Argument dafür, die Schutzbedürftigkeit des Arbeitnehmers entfallen zu lassen. Auch im Arbeitsverhältnis setzen sich die ungleichen wirtschaftlichen Machtverhältnisse fort, worauf das BVerfG auch zutreffend hinweist.463 Es gehört auch nicht zu den Voraussetzungen struktureller Unterlegenheit, dass eine Vertragspartei zur Annahme eines Vertrags gezwungen ist, weil ihre Existenzgrundlage anderweitig nicht gesichert ist. Ausreichend ist die prinzipielle Unfähigkeit, eigene Interessen bei der Vertragsgestaltung zur Geltung zu bringen. Im Übrigen ist erneut darauf zu verweisen, dass jede noch so große wohlfahrtsstaatliche Kompensationsleistung das Grundproblem der strukturellen Unterlegenheit nicht aus der Welt schafft. Sie lässt dieses lediglich eingeschränkter zur Geltung kommen.464 Das Vorhandensein der strukturellen Unterlegenheit hingegen wird dadurch nicht infrage gestellt.465 Des Weiteren ist auf die keineswegs entfallene, sondern vielmehr gewachsene Bedeutung des Arbeitsplatzes für den sozialen Geltungsanspruch zu verweisen.466 Diese belastet die Verhandlungsposition des Arbeitnehmers unabhängig von der „sozialen Sicherung“, über die er ansonsten verfügt. Auch ansonsten ist ein Wegfall der Schutzbedürftigkeit kaum überzeugend. Die Tatsache, dass nach wie vor Arbeitnehmer Ansprüche erst nach dem Ende des Arbeitsverhältnisses einklagen, zeigt eindrucksvoll, dass das Machtgefälle auch im Arbeitsverhältnis fortbesteht.467
461
Konzen, ZfA 1991, 179 (391); Reuter, RdA 1991, 193 (195). Preis, Grundfragen der Vertragsgestaltung im Arbeitsrecht, S. 16; Oppolzer, ArbuR 1998, 45 (50); dies wird von Franz, Der Abschluss eines Aufhebungsvertrags, S. 87, nur unzureichend berücksichtigt. 463 BVerfG, 23.11.2006, NJW 2007, 286 (288). 464 Dorndorf, FS Kissel, S. 139 (142); Vaupel, Die Kompensation von Ungleichgewichtslagen im Arbeits- und Verbraucherrecht, S. 45 ff.; dies verkennt insbesondere Franz, Der Abschluss eines Aufhebungsvertrags, S. 87 ff. 465 Oppolzer, ArbuR 1998, 45 (50). 466 Schwarze, ZfA 2005, 81 (99). 467 Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht, Bd. I, S. 4; Gast, FS Kissel, S. 249 (262). 462
D. Tarifautonomie als Kompensation der strukturellen Unterlegenheit
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III. Ergebnis 1. Strukturelle Unterlegenheit des Arbeitnehmers als zeitloses Grundproblem Im Ergebnis lässt sich festhalten, dass die Defizite der Privatautonomie im Bereich der Vertragsbeziehungen von Arbeitgeber und Arbeitnehmer ein zeitloses Grundproblem sind. Die Unterlegenheit des Arbeitnehmers ist deshalb strukturell, weil sie nicht auf historischen Umständen oder individuell behebbarer Schwächen beruht, sondern auf Mechanismen, die dem Zugriff des Einzelnen entzogen sind. Der Marktmechanismus, der zum Konkurrenzparadoxon führt, ist durch Korrekturmechanismen nicht zu beseitigen, sondern kann nur in seinen Konsequenzen gemildert werden. Es besteht damit ein dauerhaftes prozedurales Defizit bei den Vertragsverhandlungen zulasten der Arbeitnehmer. Diese Belastung der eigenen Verhandlungsposition kann im Einzelfall aber tatsächlich aus Umständen erwachsen, die in der Person des Arbeitnehmers liegen. Dies betrifft insbesondere Informationsdefizite. Soweit diese bei einzelnen Entscheidungen vorliegen, sind sie prozedural durch Informationspflichten für den Arbeitgeber zu beseitigen. Ein Beispiel für eine gesetzliche Vorschrift, die dies zum Ausdruck bringt, ist § 613a BGB. Anders liegt der Fall beim Aufhebungsvertrag, bei dem häufig Arbeitnehmer aus fehlender Kenntnis der sozialversicherungsrechtlichen Konsequenzen einen Vertrag schließen. Sofern dies übereilt am Arbeitsplatz geschieht, wird dem Arbeitnehmer die Möglichkeit zur Informationsgenerierung abgeschnitten. Dieses Defizit könnte durch Einräumung einer Widerrufsfrist prozedural behoben werden. Bei anderen Umständen in der Vertragsbeziehung werden die Defizite in der Verhandlungsposition des Arbeitnehmers aber in aller Regel nicht prozedural zu beheben sein, weil er auch bei vollständiger Kenntnis der Folgen bestimmter Vertragsabsprachen diese nicht ablehnen kann. Hier bleibt dem Gesetzgeber nur die Möglichkeit, unangemessene Benachteiligungen durch zwingende staatliche Normen zu beschneiden. Dies ist aber keine Stärkung des privatautonomen Prozesses und verleiht dem Arbeitnehmer auch keine verbesserte Verhandlungsposition. Es ist lediglich eine Korrektur der Ergebnisse der strukturellen Unterlegenheit. Damit werden also nicht die Ursachen der strukturellen Unterlegenheit, sondern deren Ergebnisse korrigiert. 2. Funktion der Tarifautonomie Aus diesem Unterschied erschließt sich die Funktion der Tarifautonomie.468 Sie kompensiert auf Verfahrensebene Funktionsdefizite der Privatautonomie. Tarifautonomie ist darauf angelegt, die strukturelle Unterlegenheit der einzelnen 468 Kempen, Sonderbeilage zu Heft 3/NZA 2000, S. 7 (8); in diesem Sinne wohl auch Richardi, FS Konzen, S. 791 (792).
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2. Kap.: Verfassungsrechtliche Fragen
Arbeitnehmer beim Abschluss von Arbeitsverträgen durch kollektives Handeln auszugleichen und damit ein annähernd gleichgewichtiges Aushandeln der Löhne und Arbeitsbedingungen zu ermöglichen. Hierdurch wird der individuelle Wettbewerb zwischen den Arbeitnehmern durch kollektive Mindestarbeitsbedingungen begrenzt.469 Welche Auswirkungen dieser Ausgangspunkt auf die weitere Auslegung des Art. 9 Abs. 3 GG hat, soll im weiteren Verlauf noch erörtert werden. Von Bedeutung ist aber zunächst einmal, dass der Gesichtspunkt der strukturellen Unterlegenheit des Arbeitnehmers bei Abschluss und während des Vollzugs des Arbeitsverhältnisses besteht und als Gesichtspunkt für die Auslegung der Tarifautonomie heran zu ziehen ist. Er ist ihr Geltungsgrund.470
E. Ordnungsfunktion des Tarifvertrags und Tarifautonomie Auch die Ordnungsfunktion des Tarifvertrags471 hat für die Frage der Reichweite der tarifvertraglichen Regelungsbefugnis erhebliche Bedeutung. Denn teilweise wird argumentiert, aus der den Tarifvertragsparteien gewährleisteten Befugnis, das Arbeitsleben durch Tarifverträge sinnvoll zu ordnen, erwachse auch die Befugnis, dies autonom zu tun. Der Staat sei mithin für diese Ordnung nicht zuständig.472 Aus einer Funktion des Tarifvertragssystems wird also ein Argument für die Kompetenzabgrenzung abgeleitet. Es stellt sich die Frage ob dies überzeugt. Denn die Ordnungsfunktion ist in ihrem Inhalt und in ihrer Begründung streitig. Ein Teil des Schrifttums lehnt sie gänzlich ab473. Sollen also Rückschlüsse aus der Ordnungsfunktion der Tarifautonomie gezogen werden, ist der Frage ihrer Begründung und ihres Inhalts vorrangig nachzugehen. 469 Das durch die insoweit erfolgte Begrenzung des Lohnkostenwettbewerbs auch ökonomisch erwünschte Folgen eintreten können, weil der Wettbewerb zwischen Unternehmen hierdurch auf Felder wie Innovation und Effizienz verlagert wird, wird bisweilen nicht hinreichend gewürdigt. 470 Vgl. dazu 3. Kap. B. 471 Dafür: BVerfG 18.11.1954, BVerfGE 4, 96 (101); BVerfG 24.5.1977, NJW 1977, 2255 (2256); BVerfG 1.3.1979, NJW 1979, 699 (709); BVerfG 11.7.2006, NJW 2007, 51 (55); BAG 25.9.1987, NZA 1988, 358 (361); Bonin, Standortsicherung versus Tarifvertrag, S. 136 ff.; Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht, Bd. I, § 7, S. 263 ff.; Henssler in: HWK, TVG, Einl. Rn. 11; Kempen in: Kempen/Zachert, TVG, Grundl., Rn. 99; Müller, DB 1975, 205 (207); Rüthers, RdA 1968, 161 (168); Säcker/Oetker, Grundlagen und Grenzen der Tarifautonomie, S. 65, 93 f.; Schaub, RdA 1995, 65 (67 f.); Schubert, RdA 2001, 199 (204); Söllner/Waltermann, Arbeitsrecht, Rn. 336; Wiedemann in: Wiedemann, TVG, Einl., Rn. 13 ff.; Waltermann, ZfA 2000, 53 (77 f.); ders., RdA 1993, 209 (216). 472 In diese Richtung: Waltermann, ZfA 2000, 53 (60, 77 ff.). 473 Reinartz, Der Firmentarifvertrag als Flexibilisierungsinstrument, S. 72; Zöllner, DB 1989, 2121 (2122).
E. Ordnungsfunktion des Tarifvertrags und Tarifautonomie
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I. Grundlagen der Ordnungsfunktion Ausgangspunkt ist auch hier die Rechtsprechung des BVerfG, das die Ordnungsfunktion des Tarifvertragssystems in ständiger Rechtsprechung anerkennt.474 Danach sei einer der Zwecke des Tarifvertragssystems die sinnvolle Ordnung des Arbeitslebens, insbesondere der Lohngestaltung unter Mitwirkung der Sozialpartner.475 Die Tarifautonomie verfolge den im öffentlichen Interesse liegenden Zweck, in dem von staatlicher Rechtsetzung frei gelassenen Raum das Arbeitsleben im Einzelnen durch Tarifverträge sinnvoll zu ordnen, insbesondere die Höhe der Arbeitsvergütung für die verschiedenen Berufszweige festzulegen und so letztlich die Gemeinschaft sozial zu befrieden.476 Das BAG und ein großer Teil der Lehre folgen dem.477 Art. 9 Abs. 3 GG geht es danach um die sinnvolle Ordnung und Befriedung des Arbeitslebens.478 „Den frei gebildeten Koalitionen ist durch Art. 9 Abs. 3 GG die im öffentlichen Interesse liegende Aufgabe zugewiesen und in einem Kernbereich garantiert, insbesondere Löhne und sonstige materielle Arbeitsbedingungen in einem von staatlicher Rechtsetzung frei gelassenen Raum in eigener Verantwortung und im Wesentlichen ohne staatliche Einflussnahme durch unabdingbare Gesamtvereinbarungen sinnvoll zu ordnen.“479
Die Ordnungsfunktion des Tarifvertragssystems liegt nach der Rechtsprechung des BVerfG also darin, dass die Tarifvertragsparteien die Arbeitsbedingungen ordnen, dadurch verbindliche Regelungen erzeugen und damit den Arbeitsmarkt steuern.
II. Einwände An dieser Rechtsprechung entzündet sich teilweise massive480 Kritik.481 Die ordnende Funktion des Tarifvertragssystems, insbesondere hinsichtlich der Ar474
BVerfG 18.11.1954, BVerfGE 4, 96 (107); BVerfG 6.5.1964, NJW 1964, 1267 f.; BVerfG 24.5.1977, NJW 1977, 2255 (2256); BVerfG 1.3.1979, NJW 1979, 699 (709); BVerfG 11.7.2006, NJW 2007, 51 (54 f.). 475 BVerfG 18.11.1954, BVerfGE 4, 96 (107); sowie die Nachweise in Fn. 471. 476 BVerfG 6.5.1964, NJW 1964, 1267 (1268). 477 BAG 21.12.1982, AP Nr. 76 zu Art. 9 GG, Arbeitskampf; BAG 25.9.1987, NZA 1988, 358 (361); vgl. die Nachw. in Fn. 471. 478 BVerfG 18.11.1954, BVerfGE 4, 96 (107); BVerfG 6.5.1964, NJW 1964, 1267 (1268); Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht, Bd. I, § 7 I 1. b), S. 263. 479 BVerfG 24.5.1977, NJW 1977, 2255. 480 Rieble, NZA 2007, 1 (4), der freilich behauptet die Ordnungsfunktion sei vom BVerfG mit dem Tariftreuebeschluss 11.7.2007, NJW 2007, 51 ff., neu erfunden worden und dabei übersieht, dass die Ordnungsfunktion der ständigen Rechtsprechung des BVerfG entspricht, vgl. dazu BVerfG 18.11.1954, BVerfGE 4, 96 (101, 107); BVerfG 6.5.1964, NJW 1964, 1267 f.; BVerfG 24.5.1977, NJW 1977, 2255 (2256); BVerfG 1.3.1979, NJW 1979, 699 (709); BVerfG 11.7.2006, NJW 2007, 51 (54 f.). 481 Reinartz, Der Firmentarifvertrag als Flexibilisierungsinstrument, S. 72.
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2. Kap.: Verfassungsrechtliche Fragen
beitsbedingungen sei nicht dessen Zweck, sondern lediglich seine Wirkung.482 Dass Tarifverträge die Arbeitsverhältnisse durch Bezugnahme weit über den Bereich der normativ gebundenen Arbeitnehmer hinaus ordnen, sei kein Schutzzweck des Tarifvertragssystems.483 Dazu fehle den Tarifvertragsparteien die Legitimation.484 Diese beschränke sich auf die organisierten Arbeitnehmer.485 Auch wird teilweise kritisch angemerkt, eine solche Ordnungsfunktion sei eine überflüssige Einschränkung der Rechtsetzungsbefugnis der Tarifvertragsparteien, diese werde für eine sinnvolle Ordnung des Arbeitslebens auch nicht benötigt. Denn durch das Verhandlungsgleichgewicht zwischen den Tarifvertragsparteien hätten die Tarifverträge bereits eine Richtigkeitsgewähr. Daher sei die Ordnungsfunktion eine reine Folge des Tarifvertragsabschlusses und nicht verfassungsrechtlich verankert.486 In diesen Zusammenhang gehört dann auch die Frage nach einem quasi-öffentlich-rechtlichen Status der Tarifvertragsparteien. Denn die Überlegung, die Ordnungsfunktion führe zu einer Einschränkung der Rechtsetzungsbefugnis, ist nur dann richtig, wenn man diese auch als verpflichtet ansieht, den entsprechenden Befugnissen nachzukommen. Diese Problematik, die häufig unter dem Topos der Gemeinwohlbindung der Tarifvertragsparteien diskutiert wird, steht in engem Zusammenhang mit der Frage nach der Grundrechtsbindung der Tarifvertragsparteien.487
III. Bewertung Im Kern gilt es, zunächst zwei Stränge der Diskussion zu trennen. Der eine, der hier nicht weiter interessiert, ist derjenige, der aus den einfachgesetzlichen Regelungen des TVG eine solche Ordnungsfunktion ableitet.488 Der hier interessierende Teil der Diskussion ist die Frage, ob Art. 9 Abs. 3 GG selbst der Tarifautonomie eine Ordnungsfunktion zuschreibt und was deren Inhalt ist. Eine Verpflichtung der Tarifvertragsparteien zur Aufgabenwahrnehmung besteht aber nicht.489 Denn die Koalitionen sind als private Vertragsparteien Grundrechtsträger.490 Sie haben damit keine staatlichen Aufgaben und unterliegen auch nicht den Bindungen, die staatlichen Stellen durch die Verfassung auferlegt 482 Löwisch/Rieble, TVG, Grundl., Rn. 6; Reinartz, Der Firmentarifvertrag als Flexibilisierungsinstrument, S. 72. 483 Sodan/Zimmermann, ZfA 2008, 526 (540). 484 Löwisch/Rieble, TVG, Grundl., Rn. 6. 485 Löwisch/Rieble, TVG, Grundl., Rn. 6. 486 Reinartz, Der Firmentarifvertrag als Flexibilisierungsinstrument, S. 72. 487 Vgl. dazu unten 5. Kap. 488 Vgl hierzu Henssler in: HKW, TVG, Einl. Rn. 11. 489 Überaus bedenklich ist daher die Entscheidung BAG 18.3.2009, NZA 2009, 1028 (1035), die dies zumindest auf einfachrechtliche Ebene erwägt. 490 Vgl. dazu unten 5. Kap. B.
E. Ordnungsfunktion des Tarifvertrags und Tarifautonomie
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sind.491 Die Ordnungsfunktion kann also nicht dahin gehend verstanden werden, dass sie den Tarifvertragsparteien konkrete Bindungen bei ihrer Betätigung auferlegt. Die Ordnungsfunktion ist nicht den Tarifvertragsparteien als Aufgabe zugewiesen. Die eigentliche Frage ist, ob die Ordnungsfunktion den Staat bindet, wenn er Regelungen mit Blick auf die tarifvertragliche Normsetzung trifft. 1. Ordnungsfunktion und funktionsfähige Privatautonomie Historisch gesehen hatte die Tarifautonomie stets die Funktion, nicht nur die Interessenverfolgung der Koalitionsmitglieder zu ermöglichen, sondern auch den Arbeitsmarkt zu befrieden. Die Ordnungsfunktion des Tarifvertrags ist seit seinen Anfängen im 19. Jahrhundert stets Merkmal der Tarifautonomie gewesen.492 Sie dient der Überwindung der strukturellen Unterlegenheit der Arbeitnehmer nicht nur im Interesse der Koalierten. Denn die Aufgabe, eine funktionierende privatautonome Vertragsordnung zu schaffen, ist eine staatliche. Die Ordnungsfunktion der Tarifautonomie liegt damit zunächst einmal darin, dass sie es ermöglicht, dass die Vertragsbeziehungen von Arbeitnehmern und Arbeitgebern frei ausgehandelt werden können. Sie schafft damit eine Voraussetzung für eine funktionsfähige privatautonome Ordnung der Bedingungen abhängiger Arbeit.493 Dieser Zweck ist ein öffentlicher. In diesem Sinne liegt also die privatautonome Ordnung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen im öffentlichen Interesse. Denn die Tarifvertragsparteien übernehmen mit den Tarifverträgen in der Tat eine erhebliche Entlastungsfunktion für den Gesetzgeber.494 Er muss nicht auf jede neue Entwicklung reagieren, sondern kann sich auf die Identifizierung von Defiziten der tarifautonomen Absicherung der privatautonomen Ordnung beschränken.495 Teilweise wird der Tarifvertrag ohnehin Regelungen treffen, die einer staatlichen Regelung sinnvoll nicht zugängig sind, die aber in den Händen der Arbeitsvertragsparteien keine den Prinzipien des privatautonomen Einigungsprozesses genügende Einigung erwarten lassen. In diesem Fall ist die tarifautonome Regelung ohnehin ohne Alternative. Die Tarifautonomie ist also in dem Sinne eine dienende Freiheit496, dass sie die Funktionsfähigkeit der Privatautonomie gewährleistet und den Staat bei der Verwirklichung seiner Schutzpflichten für die Vertragsfreiheit der unterlegenen Vertragspartei entlastet. Sie dient also der Ver-
491
Daher unterliegen sie auch keiner Grundrechtsbindung, vgl. 5. Kap. B. Englberger, Tarifautonomie im Deutschen Reich, S. 80 ff. 493 Hueck/Nipperdey, Arbeitsrecht II/1, S. 235. 494 Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht, Bd. I, § 7 II. 2. d), S. 292. 495 Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht, Bd. I, § 7 II. 2. d), S. 292; zur Verpflichtung des Gesetzgebers aufgrund staatlicher Schutzpflichten für Grundrechte rechtsetzend tätig zu werden vgl. unten 4. Kap. D. 496 Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht, Bd. I, § 7 II. 2. e), S. 293; vgl. dazu unten 3. Kap. E. IV. 492
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2. Kap.: Verfassungsrechtliche Fragen
wirklichung dieser staatlichen Ziele. Eine Aufgabe oder Kompetenz der Tarifvertragsparteien erwächst daraus nicht.497 Aber der gesetzliche Rahmen für die Betätigung der Tarifvertragsparteien muss so gezogen werden, dass sie dieser Aufgabe auch effektiv nachkommen können. Damit hat die Tarifautonomie durchaus eine Ordnungsfunktion für das Arbeits- und Wirtschaftsleben. Diese steht aber im Dienste der individuellen Freiheit. Die Ordnungsfunktion kann es auch erforderlich machen, dass bestimmte Regelungen einheitlich für alle Arbeitnehmer eines Betriebes gelten, weil ansonsten Regelungen nicht sinnvoll getroffen werden können.498 2. Ordnungsfunktion oder Ordnungsaufgabe? Daher ist die oben stehende Kritik auch nicht überzeugend, die zu stark auf die Effekte hinsichtlich der Rechtsetzungsbefugnis blickt und zusätzlich die Frage der Ordnungsfunktion der Tarifautonomie mit einer Ordnungsaufgabe der Tarifvertragsparteien verwechselt. Die Ordnungsfunktion der Tarifautonomie ist im verfassungsrechtlichen Sinne eine Bindung des Gesetzgebers, diese zu wahren, nicht der Tarifvertragsparteien, eine solche zu verwirklichen.499 Damit hat die Tarifautonomie also sehr wohl eine Ordnungsfunktion. Dies aber stets im Sinne einer dienenden Funktion für den staatlichen Zweck der Kompensation struktureller Unterlegenheit und nicht im Sinne eines von der Korrektur des privatautonomen Vertragsmechanismus abgekoppelten umfassenden öffentlichen Mandats.500 Es geht nicht an, einerseits den Status der Tarifvertragsparteien als private Rechtssetzer zu betonen, andererseits ihre Regelungen in den Status einer quasi öffentlich-rechtlichen autonomen Ordnung zu rücken. Dies überdehnt die Ordnungsfunktion. Art. 9 Abs. 3 GG soll ermöglichen, dass die Vertragsbeziehungen auf dem Arbeitsmarkt im Rahmen eines funktionierenden privatautonomen Vertragsmechanismus gestaltet werden. Dies dient dazu, sozialen Unfrieden zu vermeiden und insbesondere die Interessenkonflikte zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern innerhalb der bestehenden Privatrechtsordnung auszugleichen. 3. Ordnungsfunktion und Privatautonomie Die Vielzahl der ordnenden Effekte, die die Tarifautonomie für das Arbeitsleben hat, sollen hier nicht im Einzelnen dargestellt werden. Ob diese allesamt der prozeduralen Sicherung der Privatautonomie dienen, kann hier ebenfalls dahinge497 498 499 500
Richardi in: MüArbR, § 152 Rn. 20. Wiedemann, RdA 1969, 321 (323). Bedenklich BAG 18.3.2009, NZA 2009, 1028 (1035). Richardi in: MüArbR, § 152 Rn. 22.
E. Ordnungsfunktion des Tarifvertrags und Tarifautonomie
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stellt bleiben. Es soll allein die Erkenntnis ausreichen, dass die Sicherung der Privatautonomie nicht damit auskommt, die Wirkungen des Tarifvertrags auf die Tarifunterworfenen zu beschränken und dass in bestimmten Fällen rechtliche Reflexwirkungen unvermeidlich sind. Diese sind im Sinne der Effektivierung des tarifvertraglichen Normsetzungsprozesses auch unvermeidlich. Die Reichweite der tariflichen Normsetzung über den Bereich der Mitglieder hinaus ist dort also von der Tarifautonomie zwingend vorausgesetzt, wo die tarifliche Normsetzung ansonsten effektiv nicht erfolgen kann. Insgesamt lässt sich die Ordnungsfunktion des Tarifvertrags damit unter Rückgriff auf die die Privatautonomie sichernde Funktion des Tarifvertrags rekonstruieren. Eine von der privatautonomen Ebene entkoppelte Funktion als staatsersetzende Gesetzgebung haben die Tarifvertragsparteien nicht. Mit der Tarifnormsetzung im Dienste der Kompensation struktureller Unterlegeneheit, verwirklichen die Tarifvertragsparteien damit eine Aufgabe des Staates. In diesem Interesse wird die Tarifautonomie gewährleistet. Die im Zusammenhang mit der Ordnungsfunktion der Tarifautonomie diskutierten Fragen, ob nur Gegenstände, die die Interessen der organisierten Arbeitnehmer betreffen, Inhalt von Tarifverträgen sein können, oder ob diese auch darüber hinaus reichende Aspekte, wie etwa die Beschäftigungssicherung, verfolgen können, ist in erster Linie eine Frage der zulässigen Regelungsgegenstände von Tarifverträgen. Diese sind aber mit dem Begriffspaar der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen weit gefasst, sodass solche Regelungen stets auch von der Tarifautonomie erfasst werden.501 Den maximalen Umfang dessen, was Inhalt von Tarifverträgen sein kann, beschreibt das Begriffspaar Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen und lässt damit alle unter dieses Begriffspaar fallenden Regelungen unabhängig von der Frage zu, ob die Regelungen auch die Ordnungsfunktion des Tarifvertragssystems verwirklichen. 4. Ordnungsfunktion und Autonomie Versteht man insgesamt die Ordnungsfunktion des Tarifvertrages als die von der Verfassung intendierte autonome Ordnung des Arbeits- und Wirtschaftslebens frei von staatlichem Einfluss, stellt sich die Frage, welche Rückschlüsse sich hieraus für den Schutzbereich der Tarifautonomie ziehen lassen. Auf den ersten Blick sprechen vor allem die Formulierungen des BVerfG, die eine Ordnung weitestgehend „ohne staatliche Einflussnahme“ umschreiben, durchaus für eine Betrachtungsweise im Sinne der Vorrangtheorie.502 Denn, so mag man folgern, frei von staatlichem Einfluss sei die Tarifautonomie dann nicht mehr, wenn 501 Vgl. hierzu Dieterich, RdA 2002, 1 (10); Säcker/Oetker, Grundlagen und Grenzen der Tarifautonomie, S. 39 ff.; Däubler in: Däubler, TVG, Einl., Rn. 108; ablehnend: Rieble, ZTR 1993, 54; Picker, ZfA 1998, 573 (702 ff.). 502 BVerfG 24.5.1977, NJW 1977, 2255 (2256); in diese Richtung auch Waltermann RdA 1993, 209 (216 f.).
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2. Kap.: Verfassungsrechtliche Fragen
zwingende staatliche Normen die theoretisch denkbaren Inhalte von Tarifverträgen beschränken. Diese Sichtweise berücksichtigt allerdings nur unzureichend den Hintergrund der entsprechenden Aussagen des BVerfG. Die Hinweise auf die Ordnung, die frei von staatlichem Einfluss erfolgen soll, sind vor dem Hintergrund des Entstehungsprozesses der Tarifautonomie zu sehen.503 Dabei ist zum einen auf die Störung der Privatautonomie im Arbeitsverhältnis zu verweisen. Der Hinweis auf die Befriedung des Arbeitslebens durch die Koalitionsfreiheit in der Rechtsprechung des BVerfG504 ist maßgeblich auf den Beitrag, den die Tarifautonomie zur Kompensation gestörter Vertragsparität leistet, zu sehen.505 Ebenso ist aber darauf zu verweisen, dass der Gesetzgeber sich in der Weimarer Zeit durch die Einführung einer Zwangsschlichtung den unmittelbaren Zugriff und eine Entscheidungshoheit über die Tarifvertragsinhalte gesichert hatte.506 Die Tarifvertragsparteien hatten damit nicht mehr die alleinige Verantwortung für die Ergebnisse der Tarifverhandlungen. Eine autonome Ordnung frei von staatlichem Einfluss war ihnen weitgehend entzogen, weil insbesondere die Arbeitgeber sich aus der Verhandlungssituation zurückzogen und unter den Schutzmantel des staatlichen Zwangsschlichters schlüpften.507 Die Tarifautonomie nach Verständnis des BVerfG lässt einen solchen Entzug bzw. eine solche Flucht aus der Eigenverantwortlichkeit des Einigungsprozesses nicht zu. Ohne Einigung und Zustimmung beider Tarifvertragsparteien kann es nach diesem Verständnis keinen Tarifvertrag geben. Eine Zwangsschlichtung wäre demnach verfassungswidrig. Die Formulierung der Tarifregelungen frei von staatlichem Einfluss ist damit in erster Linie prozedural, also auf den tarifvertraglichen Einigungsprozess und dessen Zweck hin bezogen zu betrachten. Daher ist es auch wegen des Eingriffes in den freien Einigungsprozess der Tarifvertragsparteien unzulässig, per Gesetz Tarifvertragsverhandlungen zu ersetzen, wie dies der Hessische Gesetzgeber durch das Gesetz über Einkommensverbesserungen für Tarifbeschäftigte im öffentlichen Dienst des Landes Hessen (GEVerbTöD) getan hat.508 Dies ist insbesondere dann unzulässig, wenn der Staat selbst auf Arbeitgeberseite an einem solchen Tarifvertrag beteiligt ist. Eine entsprechende Regelung hat den Charakter einer Zwangsschlichtung. Der Hintergrund der Ordnungsfunktion des Tarifvertrags ist damit zunächst ein prozeduraler.
503
Dorndorf, FS Kissel, S. 139 (141). BVerfG 6.5.1964, NJW 1964, 1267 (1268). 505 Dorndorf, FS Kissel, S. 139 (141). 506 Vgl. dazu oben 1. Kap. B. I. und unten 3. Kap. B. II. 507 Vgl. dazu unten unter 1. Kap. B. I. und 3. Kap. B. II. 508 Vgl. zu den Details der gesetzlichen Regelung Greiner, PersR 2008, 20 ff.; Weiss/ Schmidt, NZA 2008, 18 ff. 504
E. Ordnungsfunktion des Tarifvertrags und Tarifautonomie
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Allerdings ist auch der Hinweis des BVerfG auf die intendierte autonome Ordnung ernst zu nehmen. Der Begriff der Ordnung lässt sich hier sowohl im Sinne der Tätigkeit des Ordnens durch die Tarifvertragsparteien, also prozedural, als auch im Sinne einer Rechtsordnung, also materiell verstehen. Versteht das BVerfG die Formulierung im Sinne einer autonomen Rechtsordnung, spricht vieles dafür, dass die Tarifautonomie auch vor der einseitig zwingenden Regelung von Gegenständen, die auch Inhalt eines Tarifvertrags sind, schützt. Sieht man demgegenüber, dass hier in erster Linie eine Abwehr einer staatlicherseits erfolgenden Angemessenheitskontrolle oder Ergebnisfestsetzung von Tarifverhandlungen gemeint ist, kann eine solche Sichtweise nicht überzeugen. Vielmehr wird zum Ausdruck gebracht, dass der tarifliche Einigungsprozess dem unmittelbaren Zugriff durch den Gesetzgeber entzogen ist. Auch Maßnahmen der staatlichen Gewalt, die einen Prozess konkreter Tarifverhandlungen gezielt steuern, stehen im Widerspruch zur Ordnungsfunktion. Der Verweis darauf, dass die Tarifvertragsparteien diesen Raum besser autonom zu ordnen vermögen, weil sie besser wüssten, was im Einzelnen sachgerechte Regelungen seien, ist nicht in dem Sinne zu verstehen, dass hierzu ein Schutz vor einseitig zwingendem staatlichen Gesetzesrecht erforderlich wäre.509 Diese Erwägungen können allerdings im Rahmen staatlicher Schutzpflichten für Grundrechte von Bedeutung sein. Denn hier ist die Frage aufgeworfen, ob und wie weit sich der Gesetzgeber unter Verweis auf den Sachverstand der Tarifvertragsparteien eigener Regelungen zum Schutz von Grundrechten enthalten darf.510 Hingegen ist es für die autonome Ordnung des Arbeitslebens nicht erforderlich, dass den Tarifvertragsparteien eine unbegrenzte Verhandlungsmasse zur Verfügung gestellt wird. Ausreichend ist, dass diese im Rahmen eines Verhandlungsprozesses verschiedene Aspekte der Rechtsbeziehungen zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern mit unmittelbarer und zwingender Wirkung ordnen können. Findet dies in den Grenzen des zwingenden Gesetzesrechts statt und erdrosselt dieses die Tarifvertragsparteien nicht durch flächendeckende Regulierung, besteht kein Anlass an der Fähigkeit der Tarifvertragsparteien zur Ordnung des von der staatlichen Rechtsetzung freigelassenen Raumes zu zweifeln. Dies gilt allzumal, als eine Vielzahl von Sachgegenständen und Innovationen von Tarifverträgen durch den Gesetzgeber gar nicht sachgerecht geregelt werden können.
509 In diese Richtung Waltermann, RdA 1993, 209 (216 f.); vgl. dazu ausführlich unten 3. Kap. Es ist darauf hinzuweisen, dass die Sachnähe der Tarifvertragsparteien ohnehin ein wenig überzeugendes Argument für eine Vorrangstellung darstellt, vgl. dazu unten 3. Kap. E. VIIII. 510 Vgl. dazu unten 5. und 6. Kap.
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2. Kap.: Verfassungsrechtliche Fragen
F. Tarifautonomie und Subsidiaritätsprinzip Zur Auslegung des Art. 9 Abs. 3 GG wird auch das sogenannte Subsidiaritätsprinzip herangezogen.511 Das Subsidiaritätsprinzip besagt, dass der untergeordneten Einheit der Vorrang im Handeln nach Maßgabe ihrer Leistungsfähigkeit zugesprochen wird. Es soll ein Schutz der Freiheit der unteren Einheit durch eine Zuständigkeitsbegrenzung der oberen Einheit gewährleistet werden. Für das Verhältnis von Staat und Gesellschaft bedeutet dies, dass der Staat erst dann tätig werden darf, wenn die Gesellschaft nicht in der Lage ist, die im Gemeinwohl liegenden Aufgaben zu bewältigen. Der Staat ist zwar sowohl allzuständig und allverantwortlich für die Verwirklichung des Allgemeinwohls, sein Eingreifen unterliegt aber dem Vorbehalt eines möglichst zurückhaltenden Übergriffs, der stets auf mildere Mittel als die vollständige Übernahme einer Kompetenz verpflichtet ist.512 Übertragen auf die Tarifautonomie bedeutet dies ein Verständnis im Sinne des Vorrangprinzips. Das Subsidiaritätsprinzip wird von seinen Vertretern indes nicht schrankenlos gesehen. Vielmehr unterliegt seine Anwendbarkeit bestimmten Voraussetzungen. Das Subsidiaritätsprinzip kann nur dann gelten, wenn sich zwei soziale Einheiten gegenüber stehen, die sich in einem hierarchischen Über-/Unterordnungsverhältnis zueinander befinden, einen gemeinsamen Aufgabenkreis im Sinne konkurrierender Kompetenzen haben und auf ein gemeinsames Ziel bezogen sind.513 Auf die in Rede stehenden Aufgaben ist das Subsidiaritätsprinzip nur dann anwendbar, wenn sich die staatliche und die gesellschaftliche Maßnahme, die zur Aufgabenerledigung getroffen wird, gegenseitig ersetzen können.514 Wesentliche Staatsaufgaben sind daher von vorneherein nicht erfasst. Schließlich ist auch relevant, welche Mittel der öffentlichen Gewalt für die Wahrnehmung der Aufgabe zur Verfügung stehen. Darüber hinaus ist entscheidend, ob die subsidiäre Einheit überhaupt in der Lage ist, die in Rede stehenden Aufgaben zu erledigen515 bzw. ob sie dies auch faktisch tut.516 Das Subsidiaritätsprinzip legt im Ergebnis eine Stufenfolge „von unten nach oben“ bei der Ausübung von Kompetenzen fest.517 Diese wird zum Teil unmittel511
Zuletzt Thüsing, ZfA 2008, 590 (596). Zum Ganzen ausführlich: Isensee, Subsidiariätsprinzip und Verfassungsrecht, S. 72, 276 ff. und passim; Richardi, Kollektivgewalt und Individualwille, S. 56; Andelewski, Staatliche Mindestarbeitsbedingungen, S. 66 ff. 513 Isensee, Subsidiariätsprinzip und Verfassungsrecht, S. 72. 514 Isensee, Subsidiariätsprinzip und Verfassungsrecht, S. 178. 515 Isensee, Subsidiariätsprinzip und Verfassungsrecht, S. 350; Dürig, JZ 1953, 193 (198); Herzog, Der Staat 2 (1963), 399 (402); Schnorr, Das Arbeitsrecht als Gegenstand internationaler Rechtsetzung, S. 219; Süsterhenn, FS Nawiasky, S. 141 (147 f.). 516 Herzog, Der Staat 2 (1963), 399 (408). 517 Küchenhoff, RdA 1959, 201 (202); Müller, RdA 1988, 4 (12); ders., AuR 1972, 1 (2). 512
F. Tarifautonomie und Subsidiaritätsprinzip
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bar in Art. 9 Abs. 3 GG verankert518, zum Teil auf übergeordneter Ebene begründet.519 Es wird als der Verfassung zugrunde liegende abstrakte Maxime verstanden. Diese hat keinen normativen Charakter im Sinne unmittelbarer Anwendbarkeit, sondern ist Auslegungshilfe oder Auslegungsgrundsatz für Vorschriften, bei denen die Voraussetzungen für seine Anwendbarkeit gegeben sind.520 Gegen die Anwendung des Subsidiaritätsprinzips bei der Verfassungsauslegung im Allgemeinen521, aber auch mit Blick auf Art. 9 Abs. 3 GG, bestehen Bedenken. Zunächst ist fraglich, ob das Subsidiaritätsprinzip überhaupt in der Verfassungsordnung verankert ist. Des Weiteren ist selbst dann, wenn man es als verfassungsrechtliche Auslegungsmaxime akzeptieren sollte, seine Anwendbarkeit auf die Tarifautonomie fraglich. Schließlich bestehen auch Bedenken, die in Art. 9 Abs. 3 GG verankerte Tarifautonomie als Ausdruck des Subsidiaritätsprinzips zu begreifen. Letztere werden allerdings erst im Rahmen der Auslegung des Art. 9 Abs. 3 GG erörtert. Denn notwendigerweise hat die Frage, soweit sich die Begründung des Subsidiaritätsprinzips darauf stützt, Art. 9 Abs. 3 GG sei Ausdruck des Subsidiaritätsprinzips, weil die Tarifvertragsparteien den Vorrang gegenüber der staatlichen Normsetzung haben, zirkulären Charakter. Es ist also zu trennen zwischen der allgemeinen Frage, ob überhaupt ein (allgemeines) verfassungsrechtliches Prinzip der Subsidiarität besteht und der Frage, ob – unabhängig von der Frage, ob die Verfassung ein solches enthält – die Tarifautonomie eine Vorranggarantie für die tarifliche Normsetzung gegenüber staatlichen Gesetzen enthält. Der ersteren Frage soll hier zunächst nachgegangen werden.
I. Verfassungsrechtliche Verankerung des Subsidiaritätsprinzips? Für die Frage, ob das Subsidiaritätsprinzip als verfassungsrechtliche Auslegungsmaxime anzuerkennen ist, ist zunächst seine Begründung nachzuzeichnen. Das Subsidiaritätsprinzip stützt sich auf zwei dogmatische Begründungen. Die eine stellt eine Parallelwertung zu den Verfassungsnormen der Art. 28 GG (kommunale Selbstverwaltung) und Art. 20, 31, 72 Abs. 2, 83, 84 GG (Gesetzgebungskompetenz und Verwaltungszuständigkeiten, Föderalismus) und eines 518 Andelewski, Staatliche Mindestarbeitsbedingungen, S. 66 ff.; Coester Vorrangprinzip des Tarifvertrags, S. 90 f.; a. A. Scholz, Koalitonsfreiheit als Verfassungsproblem, S. 330; Zuck, Subsidiaritätsprinzip und Grundgesetz, S. 88 ff. 519 Isensee, Subsidiariätsprinzip und Verfassungsrecht, S. 220 ff. und passim; Andelewski, Staatliche Mindestarbeitsbedingungen, S. 66 ff.; Küchenhoff, RdA 1959, 201 (205); Dürig, JZ 1953, 193 (198); Dürig in: Maunz-Dürig, GG, Art. 1 GG, Rn. 53 f.; a. A. Kemper in: MKS, GG, Art. 9 GG, Rn. 152; Richardi, Kollektivgewalt und Individualwille, S. 55; ders., JZ 1985, 410 (414); Herzog, Der Staat 2 (1963), S. 399. 520 Isensee, Subsidiaritätsprinzip und Verfassungsrecht, S. 71 ff.; Richardi, Kollektivgewalt und Individualwille, S. 56. 521 Pieroth/Hartmann, DVBl. 2002, 421 (427).
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2. Kap.: Verfassungsrechtliche Fragen
Teils der Grundrechte (Art. 6 Abs. 2 GG).522 Ebenso herangezogen werden Art. 75, 105 Abs. 2 a.E, 106 Abs. 6 und 7, 107 Abs. 2 und 120 S. 3 ff. GG,523 sowie das Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 3 GG)524 und Art. 23 GG525. Die andere Herleitung des Subsidiaritätsprinzips stützt sich auf die Annahme, sofern die Verfassung mehreren Normgebern Kompetenzen zubillige, müsse die möglichst nah am Individuum stehende Ebene bemüht werden.526 Denn dies gewährleiste eine sachnähere Ausgestaltung und führe zu qualifizierteren Ergebnissen.527 Damit entsteht ein im Wesentlichen auf föderalen und liberalen Denkmustern fußendes Prinzip.528 Es stellt sich damit die Frage, ob sich aus systematischen Erwägungen zu den Verfassungsvorschriften über den Föderalismus oder dem Rechtsstaatsprinzip ein Grundsatz der Subsidiarität ergibt. Sofern man ihn überhaupt akzeptiert, ist dieser, da es bei der vorliegenden Untersuchung um die Auslegung eines Grundrechts und nicht der Staatsorganisation geht, auf seine Übertragbarkeit auf die Grundrechtsauslegung zu überprüfen. Dabei sind auch die teilweise in Bezug genommenen grundrechtlichen Vorschriften auf ihren Aussagegehalt zu überprüfen. Schließlich ist auch dem Rechtsstaatsprinzip als Begründungsansatz nachzugehen. Im Anschluss an die Untersuchung dieser mehr oder weniger an konkreten Verfassungsnormen orientierten Begründung soll dem eher allgemein gefassten Argument der „sachnächsten Einheit“ nachgegangen werden. 522 Andelewski, Staatliche Mindestarbeitsbedingungen, S. 66; Dürig, JZ 1953, 193 (198); Dürig in: Maunz/Dürig, GG, Art. 1 GG, Rn. 53; Kempen, ArbuR 1996, 336 (342); ders., KritV 1994, 13 ff.; Küchenhoff, RdA 1959, 201 (202 ff.); ders., FS Nipperdey II, S. 317 (341); Söllner, ArbuR 1966, 257 (258); ausführlich dazu: Isensee, Subsidiarität und Verfassungsrecht, S. 224 ff., insbes. S. 226, 242 ff. Dass alle genannten Argumente kaum überzeugen hat Herzog, Der Staat 2 (1963), 399 (412 ff.), ausführlich dargelegt; ablehnend auch: Coester, Vorrangprinzip des Tarifvertrags, S. 45 f.; Friese, Kollektive Koaltionsfreiheit und Betriebsverfassung, S. 253 f.; Kemper in: MKS, GG, Art. 9 GG, Rn. 940 f.; Lerche, Verfassungsfragen um Sozialhilfe und Jugendwohlfahrt, S. 26 ff.; Scholz in: Maunz/Dürig, GG, Art. 9 GG, Rn. 271; ders., RdA 1970, 210 (212); ders., Koalitionsfreiheit als Verfassungsproblem, S. 167; Richardi, Kollektivgewalt und Individualwille, S. 53 ff.; ders., JZ 1985, 410 (414). 523 Andelewski, Staatliche Mindestarbeitsbedingungen, S. 66; Küchenhoff, RdA 1969, 97 (104); zur a. A. vgl. die vorherige Fussnote. 524 Küchenhoff, RdA 1959, 201 (202 ff.); Isensee, Subsidiarität und Verfassungsrecht, S. 270 ff.; zur a. A. vgl. oben Fn. 522. 525 Schmidt, Das Günstigkeitsprinzip im Tarifvertrags- und Betriebsverfassungsrecht, S. 71, Fn. 83; ablehnend: Kühnast, Die Grenzen zwischen tariflicher und privatautonomer Reglungsbefugnis, S. 135. 526 Andelewski, Staatliche Mindestarbeitsbedingungen, S. 66 ff.; Hueck/Nipperdey, Arbeitsrecht II/1, S. 44; Küchenhoff, RdA 1959, 201 (202); ders., ArbuR 1963, 321 (322); Müller, RdA 1988, 4 (12); v. Münch, JZ 1960, 303 (304); Schnorr, Das Arbeitsrecht als Gegenstand internationaler Rechtsetzung, S. 218; Söllner, ArbuR 1966, 257 (258). 527 Müller, RdA 1988, 4 (12); Isensee, Subsidiariätsprinzip und Verfassungsrecht, S. 272 f. 528 Vgl. dazu umfassend Isensee, Subsidiariätsprinzip und Verfassungsrecht.
F. Tarifautonomie und Subsidiaritätsprinzip
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1. Katholische Soziallehre als Ausgangspunkt Der häufig zu findende Hinweis auf die katholische Soziallehre, mit der sich das Prinzip weitgehend deckt, ist für die verfassungsrechtliche Argumentation indes nachrangig. Nur weil religiösen Gruppierungen sich staatsrechtliche Vorstellungen zu eigen machen, degeneriert ein verfassungstheoretisches Argumentationsmuster nicht zu einem für die Auslegung moderner, demokratischer Verfassungen untauglichen religiösen Argumentationsmodell. Die Bemühungen Isensees, das Subsidiaritätsprinzip in seiner philosophischen und geistesgeschichtlichen Entstehung frei zu legen und wieder auf seine rationalen Grundlagen zurück zu führen, sind daher zu würdigen.529 Hält man allerdings die religiösen Wurzeln des Prinzips für prägend, so ist das Subsidiaritätsprinzip in der Tat mit dem Grundgesetz unvereinbar.530 2. Keine Verankerung im Verfassungstext Gegen die Annahme eines verfassungsrechtlichen Subsidiaritätsprinzips wird maßgeblich eingewandt, dass es in der geltenden Verfassungsordnung nicht verankert ist.531 Dem ist zuzugeben, dass es in der Tat im Wortlaut der Verfassung nicht vorkommt. Auch ist darauf hinzuweisen, dass im Rahmen des Herrenchiemsee-Verfassungskonvents versucht wurde, das Subsidiaritätsargument in den Verfassungstext zu integrieren und dieser Versuch scheiterte.532 Interessant ist, dass der Beleg hierfür sich nicht unmittelbar aus dem offiziellen Bericht über den Verfassungskonvent auf Herrenchiemsee ergibt, sondern durch die Darstellungen von Zeitzeugen bekannt geworden ist.533 Dies zeigt, dass eine rein an den Materialien orientierte Auslegung, die die sonstigen historischen Umstände ausblendet, die zum Zustandekommen der Verfassungsordnung geführt haben, teilweise zu kurz greifen kann.534 Eine endgültige Aussage ist aus der historischen Betrachtungsweise aber kaum zu gewinnen. Die notwendige Offenheit der Verfassung für zukünftige Entwicklungen darf auch nicht über Gebühr eingeschränkt werden, indem auf die Entstehungsgeschichte verwiesen wird. Dass das 529 Isensee, Subsidiariätsprinzip und Verfassungsrecht, S. 18 ff., 71; ausführlich zu den päpstlichen Sozialenzykliken, Bartlog, Das Verhältnis von Gesetz und Tarifvertrag, S. 88 ff.; zur Nachrangigkeit der religiösen Begründung auch Herzog, Der Staat 2 (1963), 399. 530 Richardi, Kollektivgewalt und Individualwille, S. 57; a. A. Süsterhenn, FS Nawiasky, S. 141 ff. 531 Kemper in: MKS, GG, Art. 9 GG, Rn. 152; Lerche, Verfassungsfragen um Sozialhilfe und Jugendwohlfahrt, S. 26 ff.; Quaritsch, Der Staat 4 (1966), 451 (471); Scholz, Koalitonsfreiheit als Verfassungsproblem, S. 167. 532 Herzog, Der Staat 2 (1963), 399 (412); Isensee, Subsidiaritätsprinzip und Verfassungsrecht, S. 143; Richardi, Kollektivgewalt und Individualwille, S. 56. 533 Isensee, Subsidiaritätsprinzip und Verfassungsrecht, S. 143. 534 Vgl. für die Koalitionsfreiheit unten 3. Kap. B.
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2. Kap.: Verfassungsrechtliche Fragen
Subsidiaritätsprinzip in der Verfassung keine ausdrückliche Verankerung gefunden hat, ist also Ausgangs-, aber nicht Endpunkt der Diskussion und determiniert insofern auch keine Ergebnisse. 3. Föderalismus und Subsidiaritätsprinzip Der föderalen Verfassungsstruktur entspringt zwar ein Prinzip der vorrangigen Kompetenzwahrnehmung durch die Länder gegenüber dem Bund. Zur Verfassungswirklichkeit gehört aber auch, dass dieser Grundsatz durch die Verfassung durchlöchert ist. Dies liegt in erster Linie daran, dass bestimmte Regelungsbereiche ungeeignet für eine subsidiäre Wahrnehmung sind. Sie setzen auch nach der verfassungsrechtlichen Wertung eine bundeseinheitliche Regelung voraus und bedürfen keinerlei Rechtfertigung gegenüber der Landesebene. Dies kommt nicht nur in den Vorschriften über die ausschließlichen Gesetzgebungskompetenzen nach Art. 73, 71 GG zum Ausdruck. Vielmehr ergibt sich aus der Vielfalt der in der konkurrierenden Gesetzgebung verankerten Materien, dass eine inhaltliche Subsidiarität der staatlichen Gesetzgebung nur sehr partiell anzuerkennen ist. Auch überzeugt der Verweis auf die meisten staatsorganisatorischen Vorschriften nicht. Denn diese enthalten eben nur partiell Elemente der Subsidiarität, die keinesfalls nahelegen, dass sie generell das Subsidiaritätsprinzip anerkennen. Ebenso vorhanden sind hier Vorrangelemente der staatlichen Ordnung, die im Widerspruch zum Subsidiaritätsprinzip stehen.535 4. Art. 72 Abs. 2 GG Von besonderer Bedeutung mit Blick auf den Subsidiaritätsgrundsatz ist Art. 72 Abs. 2 GG. Auf diesen bezieht sich ein erheblicher Teil der Argumentation zum Subsidiaritätsprinzip.536 Dabei wird aus Art. 72 Abs. 2 GG der Grundsatz extrahiert, dass das Tätigwerden einer übergeordneten Einheit stets an den Grundsätzen der Erforderlichkeit zu messen und damit grundsätzlich rechtfertigungsbedürftig sei. Gegen diesen Transfer von staatsorganisatorischen Prinzipien, die das Verhältnis grundrechtsgebundener staatlicher Stellen regeln, bestehen Bedenken.537 Denn ein etwaiges staatsrechtliches Subsidiaritätsprinzip ist nicht auf das Verhältnis von Staat und Grundrechtsträgern übertragbar.538 Es besteht hier kein Stu535
Ausführlich Herzog, Der Staat 2 (1963), 399 (412 ff.). Isensee, Subsidiaritätsprinzip und Verfassungsrecht, S. 224 ff., 274 f., 358 ff. 537 Däubler, Grundrecht auf Mitbestimmung, S. 208 ff.; Richardi, Kollektivgewalt und Individualwille, S. 56; übersehen wird dieses Problem von Andelewski, Staatliche Mindestarbeitsbedingungen, S. 68. 538 Fahrtmann/Coen in: Benda/Maihofer/Vogel, Handbuch des Staatsrechts, § 19, Rn. 97; Friese, Kollektive Koalitionsfreiheit und Betriebsverfassung, S. 253 f.; Scholz 536
F. Tarifautonomie und Subsidiaritätsprinzip
167
fenverhältnis zwischen einer über- und einer untergeordneten Entscheidungsinstanz mit gleichgerichteter Kompetenz zur Aufgabenwahrnehmung. Dies gilt auch deshalb, weil die Grundrechtsausübenden hier weder grundrechtsverpflichtet539 noch zur Wahrnehmung von Aufgaben verpflichtet sind.540 Der Zweck von Grundrechten ist es, in einem bestimmten umgrenzten Sachgebiet eine Freiheitssphäre des Grundrechtsträgers gegenüber der staatlichen Regelungsmacht zu sichern. Soweit diese Freiheitssphäre reicht, sind Eingriffe nur durch eventuell vorliegende Grundrechtsschranken möglich.541 Das Subsidiaritätsprinzip ist in diesem Kontext überflüssig. Die Gegenauffassung müsste konsequenterweise die Freiheitsausübung unter den ungeschriebenen Vorbehalt einer subsidiären Eingriffsbefugnis gewähren. Werden hingegen Schutzbereich und Schranken der Grundrechte richtig gefasst, so bedarf es des Subsidiaritätsprinzips nicht, auch nicht als Auslegungsprinzip. Dies zeigt, dass die Frage des Verhältnisses von Tarifautonomie und staatlicher Regelungsbefugnis nicht überzeugend durch Heranziehung eines übergeordneten (staatsorganisatorisch verankerten) verfassungsrechtlichen Subsidiaritätsprinzips gelöst werden kann.542 Aber selbst wenn man diesen „Kunstgriff“ anerkennen will, muss man ihn beim Wort nehmen. Und das bedeutet nach der Föderalismusreform543 eine Umkehr des Subsidiaritätsprinzips für das Arbeitsrecht. Im Bereich des Arbeitsrechts ist der Grundsatz der Subsidiarität aufgehoben und kann keinerlei Geltung mehr beanspruchen. Denn die Gesetzgebungskompetenz für das Arbeitsrecht ist nach Art. 72 Abs. 2 GG n. F. von der Erforderlichkeitsklausel ausgenommen. Dies folgt aus der Wertung des Verfassungsgesetzgebers, dass im Bereich des Arbeitsrechts föderale Strukturen nicht in der Lage sind, die staatlichen Aufgaben auszuüben, sondern bundesgesetzliche Regelungen stets erforderlich sind.544 Qua Verfassung wird die bundeseinheitliche Regelung unwiderleglich für erforderlich gehalten545, soweit es das Arbeitsrecht betrifft. Dies beruht auch auf der Erkenntnis, dass föderale Strukturen im Arbeitsrecht grundsätzlich mit Blick auf das Ge-
in: Maunz/Dürig, GG, Art. 9 GG, Rn. 271; Kemper in: MKS, GG, Art. 9 Abs. 3 GG, Rn. 152; ders., Schutzbereich der Koalitionsfreiheit, S. 78 f.; ablehnend auch Richardi, Kollektivgewalt und Individualwille, S. 58. 539 Siehe unten 5. Kap. 540 Kemper in: MKS, GG, Art. 9 Abs. 3 GG, Rn. 152; ders., Die Bestimmung des Schutzbereichs der Koalitionsfreiheit, S. 116. 541 Kemper, Die Bestimmung des Schutzbereichs der Koalitionsfreiheit, S. 79; Richardi, Kollektivgewalt und Individualwille, S. 58. 542 Scholz in: Maunz/Dürig, GG, Art. 9 GG, Rn. 259; auch Isensee erkennt an, dass die Auslegung des konkreten Grundrechts vorrangig ist, vgl. Isensee, Subsidiarität als Verfassungsprinzip, S. 290. 543 BGBl. I 2006, 2034. 544 BT-Drs. 16/813, S. 9. 545 Degenhart, NVzW 2006, 1209 (1210); Preis/Ulber, D., FS Otto, S. 391 (394); Uhle in: Kluth, Föderalismusreformgesetz, Art. 72, Rn. 6.
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2. Kap.: Verfassungsrechtliche Fragen
meinwohl bedenklich sind. Sie führen zu einer ökonomisch und sozial schädlichen Rechtszersplitterung. Die Besonderheiten von Systemen, die Regelungsbereiche auf subsidiäre Einheiten verlagern, bestehen darin, dass diese – gerade durch die subsidiäre Struktur – häufig nicht in der Lage sind, ihre Belange eigenverantwortlich zu regeln. Dies gilt jedenfalls dann, wenn sie von den Regelungen anderer Subsysteme reflexiv erfasst werden, was die bereits kritisierte Abwärtsspirale in Gang setzt. Damit fällt auch das Theorem der Eigenverantwortung in sich zusammen. Es liegt hier eine Form der Fremdbestimmung durch externe, ebenfalls subsidiäre Systeme vor. Diese kann grundsätzlich nur durch eine einheitliche Gestaltung durch die übergeordnete Ebene überwunden werden. Es gibt hier keine sinnvolle Alternative zur bundesstaatlichen einheitlichen Regelung, die im Übrigen auch noch nie in begründeter Weise damit angegriffen worden ist, sie sei im Bereich des Arbeitsrechts nicht erforderlich. Man mag die Verfassungsänderung auch föderalismusfreundlicher interpretieren. Das Ergebnis bleibt aber gleich. Für das Arbeitsrecht gilt kein staatsorganisatorischer Subsidiaritätsgrundsatz. Man mag nun wiederum die oben genannten Einwände gegen den Transfer staatsorganisatorischer Wertungen in die Beziehungen von Staat und Tarifpartnern mobilisieren, um diese Wertung für das hier in Rede stehende Verhältnis zwischen staatlicher Gesetzgebungskompetenz für das Arbeitsrecht und der tariflichen Normsetzungsbefugnis nicht anwenden zu müssen. Jedenfalls bietet aber die Staatsorganisation für das Arbeitsrecht keinerlei Stütze für das Subsidiaritätsprinzip. Ob dies für andere Rechtsbereiche greift, soll hier unentschieden bleiben, auch wenn der Verfasser nicht nur angesichts der in der Literatur geltend gemachten Bedenken546 dem eher kritisch gegenüber steht. Es bleibt, soweit man sich mit einem abstrakten verfassungsrechtlichen Auslegungsprinzip der Subsidiarität behelfen will, der Gedanke der Sachnähe der kleineren Einheit.547 Auch diese scheint der Verfassungsgeber mit Art. 72 Abs. 2 GG zu verneinen. 5. Art. 23 GG Ebenso wenig überzeugend ist der Verweis auf Art. 23 GG. Zunächst einmal wird zutreffend darauf verwiesen, dass schon aufgrund seiner fehlenden Nennung in Art. 79 Abs. 3 GG Zweifel bestehen, aus diesem ein allgemeines verfassungsrechtliches Prinzip zu extrahieren.548 Auch ist es wenig überzeugend anzu546 Vgl. insbes. Herzog, Der Staat 2 (1963), 399 (412 ff.); Richardi, Kollektivgewalt und Individualwille, S. 53 ff. 547 Diesem wird im Folgenden noch ausführlich nachgegangen. 548 Kühnast, Die Grenzen zwischen staatlicher und privatautonomer Regelungsbefugnis im Arbeitsrecht, S. 135.
F. Tarifautonomie und Subsidiaritätsprinzip
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nehmen, dass der Gesetzgeber im europäischen Zusammenhang ein derartiges Prinzip etablieren wollte.549 Dagegen spricht auch die Modifikation des Art. 72 Abs. 2 GG. Es zeigt sich also, dass die Begründung des Subsidiaritätsprinzips mit staatsorganisatorischen Parallelwertungen nicht überzeugend ist. 6. Ableitung aus dem Sozialstaatsprinzip Es bestehen allerdings noch weitere Bedenken gegen seine Anerkennung. Zunächst wird geltend gemacht, dass der Staat durch das Sozialstaatsprinzip verpflichtet ist, bestimmte Regelungsgegenstände eigenständig und verbindlich zu regeln.550 Diese Verpflichtung könne ihm nicht abgenommen werden und sei auch nicht delegationsfähig. Isensee hingegen lehnt es ab, aus dem Sozialstaatsprinzip eine umfassende Verpflichtung des Staates zur eigenständigen Regelung herzuleiten und betont, der gesellschaftliche Ausgleich könne immer noch auf privater Ebene erfolgen.551 Auch Coester552 hält der Argumentation entgegen, dass das Sozialstaatsprinzip keinen höheren Rang beanspruchen könne als die Tarifautonomie. Dem wird entgegengehalten, das Sozialstaatsprinzip sei als Staatszielbestimmung konzipiert und daher nicht in der Lage, Auskunft über die Wege zu seiner Erreichung zu geben. Insbesondere seien Rückschlüsse auf eine Aufgabenverteilung zwischen Staat und Gesellschaft unzulässig, es habe lediglich appellativen Charakter an den Gesetzgeber und könne eine grundsätzliche Entscheidung über die Geltung des Subsidiaritätsprinzips nicht treffen.553 Allerdings weist auch Isensee darauf hin, dass dort, wo „die freie Initiative die Forderungen des Gemeinwohls nicht erfüllt“, die öffentliche Gewalt tätig werden darf.554 Teilweise wird aber gerade aus dem Sozialstaatsprinzip das Subsidiaritätsprinzip hergeleitet. Dieses meint Fechner aus der Formulierung „sozialer Bundesstaat“ in Art. 20 GG extrahieren zu können.555 Denn der Sozialstaat baue sich im Gegensatz zum zentral gelenkten Massenstaat von unten nach oben auf. Dem wird zutreffend entgegengehalten, dass sich das Sozialstaatsprinzip zur Gesellschaftsorganisa549 Kühnast, Die Grenzen zwischen staatlicher und privatautonomer Regelungsbefugnis im Arbeitsrecht, S. 135. 550 Preis, B., ZfA 1972, 292 (293 ff.); Süsterhenn, FS Nawiasky, S. 141 (150), erkennt zumindest die Sozialpolitik als typisches Feld an auf dem das Subsidiaritätsprinzip den Staat nicht aus seinen Aufgaben verdrängen kann. 551 Isensee, Subsidiaritätsprinzip und Verfassungsrecht, S. 219, 268 ff. 552 Coester, Vorrangprinzip des Tarifvertrags, S. 90 f. 553 Isensee, Subsidiarität und Verfassungsrecht, S. 191 ff., insbes. S. 193, 197 f. 554 Isensee, Subsidiarität und Verfassungsrecht, S. 273; Herzog, Der Staat 2 (1963), 399 (408); Schnorr, Das Arbeitsrecht als Gegenstand internationaler Normsetzung, S. 219 f. 555 Fechner, RdA 1955, 161 (163).
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2. Kap.: Verfassungsrechtliche Fragen
tion neutral verhält. Es ist prinzipiell auch zentralistischen Staaten zugängig.556 Im Übrigen wird im Schrifttum darauf hingewiesen, dass das Sozialstaatsprinzip den Gesetzgeber nicht auf die Subsidiarität staatlicher Aufgabenerfüllung festlegen könne.557 Insgesamt ist der Rekurs auf das Sozialstaatsprinzip wenig hilfreich, um eine Ableitung des Subsidiaritätsgrundsatzes herzuleiten. Entgegengehalten wird dem Subsidiaritätsprinzip schließlich auch, dass es jedenfalls in der Lesart, die den sozialen Teilgewalten einen vom Staat selbstständigen Bereich gewährleistet, nicht nur die Souveränität des Staates, sondern auch den Staat insgesamt zerschlagen würde.558 Denn das System der staatlichen oder vom Staat abgeleiteten Zuständigkeiten dulde keine Einschränkungen.559 Insgesamt finden sich bis zu diesem Punkt kaum belastbare staatsorganisatorische Argumente für eine verfassungsrechtliche Verankerung des Subsidiaritätsprinzips. 7. Ableitung aus dem Rechtsstaatsprinzip Teilweise wird das Subsidiaritätsprinzip auch aus dem Rechtsstaatsprinzip abgeleitet.560 Diese Argumentation stützt sich dann aber, ganz im Sinne der Kritik am staatsorganisatorischen Begründungsmodell, eher auf die Grundrechte. Im Kern wird hier zu einem alternativen Begründungsansatz übergegangen, der nicht mehr im Sinne eines übergeordneten Verfassungsprinzips Geltung beansprucht, sondern im Verhältnis von Grundrechtsträgern und Staat seine Grundlage findet. Damit stützt sich dieses Modell stärker auf die Grundrechtsdogmatik und nicht auf ein allgemeines staatstheoretisches Konstrukt. Dieser Ansatz berührt allerdings mehr die Frage der Auswirkungen der freiheitlichen Grundordnung des Grundgesetzes auf die konkrete Grundrechtsauslegung. Im Kern geht es hier eher um Fragen der Anwendung des Übermaßverbots.561 Ein den grundrechtlichen Bereich überschreitendes Prinzip können diese Erwägungen also nur schwer begründen. Deswegen sind sie zur Begründung eines allgemeinen Subsidiaritätsgrundsatzes ebenso begrenzt tauglich wie die oben dargestellten staatsorganisatorischen Erwägungen. Aus dem Rechtsstaatsprinzip als solchem folgt aber nur die Forderung nach Rechtsstaatlichkeit. Subsidiarität als Verfassungs556 Peters/Ossenbühl, Die Übertragung von öffentlich-rechtlichen Befugnissen auf die Sozialpartner unter besonderer Berücksichtigung des Arbeitszeitschutzes, S. 20. 557 Sachs in: Sachs, GG, Art. 20 GG, Rn. 4. 558 Bartlog, Das Verhältnis von Gesetz und Tarifvertrag, S. 94; Herzog, Der Staat 2 (1963), 399 (417); Maschmann, Tarifautonomie im Zugriff des Gesetzgebers, S. 235; Richardi, Kollektivgewalt und Individualwille, S. 54, 58. 559 Bartlog, Das Verhältnis von Gesetz und Tarifvertrag, S. 93. 560 Isensee, Subsidiarität als Verfassungsprinzip, S. 270 ff. 561 Lerche, Verfassungsfragen um Sozialhilfe und Jugendwohlfahrt, S. 26 ff.; Zuck, Subsidiaritätsprinzip und Grundgesetz, S. 109 f.
F. Tarifautonomie und Subsidiaritätsprinzip
171
prinzip ist kein notwendiges Element des Rechtsstaats. Ansonsten müsste man sämtlichen zentralistischen Staaten die Eigenschaft als Rechtsstaat absprechen. Eine solche Annahme geht erkennbar zu weit. 8. Ableitung aus Art. 9 Abs. 3 GG Es zeigt sich auch in den Ausführungen Isensees, dass diese eher auf eine Grundrechtsauslegung unter der Prämisse der Subsidiarität hinauslaufen, wobei die Prämisse aber zuvor nicht überzeugend entwickelt ist.562 Spektakulär ist dann der Hinweis Isensees auf die Tarifautonomie, in der das Subsidiaritätsprinzip „in stärkstem Maße konkretisiert sei“.563 Genau dies wäre eben zu beweisen. Isensee ist allerdings auf Basis der von ihm in Bezug genommenen Literatur erkennbar nicht davon ausgegangen, dass der Grundsatz streitig ist. Hier liegt aber eine entscheidende Schwachstelle in der Argumentation, die eine Auslegung des Art. 9 Abs. 3 GG mit einem übergeordneten Subsidiaritätsprinzips anstrebt. Sie hat zirkulären Charakter. Isensee kann man dies nicht vorhalten. Er hat die Streitfrage schlicht nicht erkannt, sondern sich auf die traditionelle Position zur Subsidiarität in Art. 9 Abs. 3 GG verlassen.564 Aus aktueller Sicht überzeugt diese Argumentation nicht, wie bereits an der oben dargestellten Diskussion deutlich wird.565 9. Ableitung aus Art. 6 Abs. 2 GG Auch soweit Isensee auf Art. 6 Abs. 2 GG rekurriert, ist hier zwar weithin die Subsidiarität staatlichen Tätigwerdens anerkannt. Unmittelbar ist dieses der Vorschrift aber nicht zu entnehmen.566 Auch handelt es sich hier nicht um einen Konflikt zwischen Normsetzungsbefugten. Eine Übertragung der Wertung in den Art. 9 Abs. 3 GG muss hieran scheitern. Ein allgemeines Verfassungsprinzip aus einem singulären Grundrecht zu begründen, geht ebenfalls zu weit. Dies zeigt, dass die Frage des Verhältnisses tariflicher und gesetzlicher Normsetzungsbefugnis nur innerhalb des Art. 9 Abs. 3 GG und nicht durch Heranziehung eines übergeordneten verfassungsrechtlichen Subsidiaritätsprinzips gelöst werden kann.567 Im Übrigen sind bereits seine Anwendungsvoraussetzungen im Bereich des Arbeitsrechts faktisch nicht gegeben. Dies zeigt auch das Sachnäheargument. 562
Isensee, Subsidiarität als Verfassungsprinzip, S. 281 ff. Isensee, Subsidiarität als Verfassungsprinzip, S. 283; ähnlich Sodan, JZ 1998, 421 (427); a. A. Zuck, Subsidiaritätsprinzip und Grundgesetz, S. 28. 564 Dies wird besonders deutlich aus der von ihm Bezug genommenen Literatur auf S. 283, Fn. 225. 565 Vgl. 2. Kap. A. und 3. Kap. 566 Zuck, Subsidiaritätsprinzip und Grundgesetz, S. 88. 567 Auch Isensee erkennt allerdings an, dass die Auslegung des konkreten Grundrechts vorangig ist, vgl. Isensee, Subsidiarität als Verfassungsprinzip, S. 290; Richardi, JZ 1985, 410 (414); Richardi, Kollektivgewalt und Individualwille, S. 53 ff.; vgl. zum Sachnäheargument auch unten 3. Kap. E. VIIII. 563
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2. Kap.: Verfassungsrechtliche Fragen
II. Das Argument der Sachnähe Allein aus der Sachnähe einer Einheit, wie auch immer sich diese begründen mag, kann nicht zwingend ihre vorrangige und größere Kompetenz zur Entscheidung über einen Sachverhalt folgen.568 Dies gilt umso mehr, wenn die sachnähere Einheit zwar ein hohes Maß am Sachkompetenz für Detailregelungen aufweist, die Festlegung der „äußeren Grenzen“ der Regelungsbefugnis aber kein Sonderwissen oder Spezialkompetenzen erfordert. Und auch für eine Subsidiarität, die auf der Annahme von Sachnähe fußt, spricht jedenfalls im verfassungsrechtlichen Kontext wenig. Das Argument, kleinere Einheiten wiesen eine größere Sachnähe auf und hätten daher eine vorrangige Regelungskompetenz, ist auf seine verfassungsrechtliche Verankerung zu untersuchen, wenn es denn tatsächlich als Auslegungshilfe für den Gewährleistungsbereich der Tarifautonomie herangezogen werden soll. Die entscheidende Schwachstelle des „Sachnähearguments“ ist, dass eine Vertragspartei zwar über ein hohes Maß an Detailwissen oder über bessere Kenntnisse der Umstände, die bei der Regelung eines Sachverhalts zu berücksichtigen sind, verfügen kann.569 Eine solche bloße „innere“ Kompetenz ist aber wertlos, wenn sie sich nicht in der Gestaltung eines Sachverhalts realisieren kann. Die Kenntnis von Umständen mag zumindest teilweise die Ausgangslage für Verhandlungen verbessern und auch notwendig sein, um überhaupt die Befähigung zu haben, solche Verhandlungen zu führen.570 Sie reicht aber nicht aus, um schützenswerte Interessen durchzusetzen.571 Dies wird auch, wie bereits gezeigt, in den Voraussetzungen der Anwendbarkeit des Subsidiaritätsgrundsatzes deutlich zum Ausdruck gebracht. Diese lassen die Sachnähe nämlich nicht ausreichen, sondern verlangen Leistungsfähigkeit der kleineren Einheit. Die Sachnähe sagt also nichts über Leistungsfähigkeit aus, trägt für sich genommen also die Subsidiarität nicht. Für die Problematik der Wahrnehmung von Aufgaben durch kleinere Einheiten muss aber die Frage, ob diese in der Lage sind, sie auch real wahrzunehmen, in den Vordergrund treten. Sachnähe an sich ist aber kein Argument für die Annahme von Leistungsfähigkeit. Auch der Gesetzgeber hat die Schaffung tarifdispositiver Vorschriften gelegentlich nicht mit der Sachnähe der Tarifvertragsparteien, sondern mit der zwischen diesen bestehenden Verhandlungsparität begründet.572 Ebenso hat das BAG in einer Entscheidung anklingen 568 Wolf, ZfA 1971, 151 (155); Gamillscheg, Anm. zu BAG 16.11.1967, AP Nr. 83 zu § 611 BGB, Gratifikation. 569 Andelewski, Staatliche Mindestarbeitsbedingungen, S. 68. 570 Vgl. zur Anforderung der organisatorischen Leistungsfähigkeit für die Tariffähigkeit von Koalitionen: BAG 28.3.2006, NZA 2006, 1112 (1117); BAG 14.12.2004, NZA 2005, 697 (702 f.); sowie unten 6. Kap. A. I. 571 Wolf, ZfA 1971, 151 (155). 572 Vgl. § 17 Abs. 3 BetrAVG, BT-Drs. 7/1281; siehe oben unter 1. Kapitel B. II.
F. Tarifautonomie und Subsidiaritätsprinzip
173
lassen, dass für die Rücknahme der zwingenden Wirkung von Rechtsgrundsätzen die Parität der Verhandlungspartner der entscheidende Gesichtspunkt ist.573 Insgesamt ist daher das Argument der Sachnähe kleinerer Einheiten nicht überzeugend.574 Es ist sachlich falsch, weil eine generell bessere Eignung sachnäherer Einheiten zur Aufgabenwahrnehmung nicht begründbar ist. Vielmehr wird häufig genau das Gegenteil zutreffend sein.
III. Anwendbarkeitsvoraussetzungen des Subsidiaritätsprinzips Neben den grundsätzlichen Bedenken gegen das Konstrukt „Subsidiaritätsprinzip“ bestehen aber selbst dann, wenn man dieses einmal als existent unterstellt, Zweifel hinsichtlich seiner Anwendbarkeit im Verhältnis von staatlicher und tariflicher Regelungsbefugnis. Denn das Subsidiaritätsprinzip setzt voraus, dass sich die Aufgabenkreise decken. Soweit dies jedoch das Arbeitsschutzrecht in Form öffentlichen Gefahrenabwehrrechts betrifft, ist dies nie der Fall. Denn öffentliche Gefahrenabwehr ist ihrem Charakter nach keine Ausübung von Privatautonomie. Stellt sich aber die Tarifautonomie als kollektiv ausgeübte – oder richtiger – kollektiv hergestellte Privatautonomie575 dar, so beinhaltet sie bereits keine Kompetenz zur Wahrnehmung originär staatlicher Aufgaben wie eben der Gefahrenabwehr. In diesem Bereich wäre also selbst dann, wenn man das Subsidiaritätsprinzip anerkennt, seine Anwendbarkeit nicht gegeben. Schließlich soll hier auch noch einmal auf die oben genannte grundsätzliche Einschränkung des Subsidiaritätsprinzips hingewiesen werden. Es taugt nicht als Destruktivanordnung gegenüber sozialstaatlich motivierten Tätigkeiten des Gesetzgebers. Denn Grundlage des Subsidiaritätsprinzips ist, dass der Staat dazu bestimmt ist, die rechtlichen Rahmenbedingungen der Freiheit zu gewährleisten und für die sozialen Grundlagen eines menschenwürdigen Lebens, soweit erforderlich, einzustehen.576 Funktion des Staates ist es damit, die Unzulänglichkeiten gesellschaftlicher Selbstorganisation zu kompensieren.577 Eine Umfunktionierung des Prinzips zum formalen Grundsatz, der die konkrete Leistungsfähigkeit des subsidiären Systems aus den Augen verliert oder bewusst ignoriert, steht damit im Widerspruch zu seiner Begründung. Dies wird im Rahmen der Diskussion um Art. 9 Abs. 3 GG, soweit eine Berufung auf die Subsidiarität stattfindet, viel zu undifferenziert 573
BAG 16.11.1967, DB 1968, 315 = AP Nr. 63 zu § 611 BGB, Gratifikation. Vgl. dazu auch noch unten 3. Kap. E. VIIII. 575 3. Kap. E. 576 Isensee, Subsidiaritätsprinzip und Verfassungsrecht, S. 373; Schnorr, Das Arbeitsrecht als Gegenstand internationaler Rechtsetzung, S. 218 ff. 577 Ladeur/Gostomzyk, Die Verwaltung 36 (2003), 141 (154); vgl. auch die Ausführungen zur Privatautonomie von Raiser, JZ 1958, 1 (3). 574
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2. Kap.: Verfassungsrechtliche Fragen
gesehen. Die Subsidiarität kann nämlich dann, selbst wenn man sie anerkennt, nur dort gelten, wo der tarifautonomen Regelung der gleiche Grad an Leistungsfähigkeit und Zweckverwirklichung zukommt wie dem staatlichen Gesetz. Dies ist aber jedenfalls nicht generell der Fall.578 Im Übrigen zeigt sich das Subsidiaritätsprinzip partiell als grundrechtsdogmatischer Anachronismus. Mit dem Wandel zum liberalen und sozialen Rechtsstaat, den das Grundgesetz vollzogen hat, wurde nicht nur ein zusätzliches Prinzip der Sozialstaatlichkeit in die Verfassung implementiert.579 Es setzte sich auch die Erkenntnis durch, dass die „reine“ liberale Vorstellung der Staatstheorie des 19. und frühen 20. Jahrhunderts der Wirklichkeit nicht gerecht wurde.580 Diese ging von der Vorstellung aus, der einzelne Bürger sei in der Gesellschaft autark und autonom und sei auf den Staat nur insoweit angewiesen, als dieser die äußere und innere Sicherheit gewährleiste. Die Mangelhaftigkeit dieses Ansatzes haben die gesellschaftlichen Entwicklungen im 19. und im frühen 20. Jahrhundert eindrucksvoll aufgezeigt. Es setzte sich die Erkenntnis durch, dass der Einzelne auf staatliche Leistungen, Einrichtungen und Regularien fundamental angewiesen ist und er die Voraussetzungen, unter denen die Freiheitsbetätigung erst möglich ist, selbst nicht gewährleisten kann.581 Diese Insuffizienz des reinen Liberalismus, der die tatsächlichen Bedingungen für die Ausübung von Freiheit ausblendet582, würde durch das Subsidiaritätsprinzip partiell wieder in die Verfassungsordnung implementiert. Es ist damit Renaissance und Ausdruck längst überwundener staatstheoretischer Vorstellungen. Auch wenn man dem Subsidiaritätsprinzip generell freundlicher gegenübersteht, zeigt sich eine weitere Schwäche. Die Zuständigkeitsverteilung nach dem Subsidiaritätsprinzip ist nicht eindeutig operationalisierbar.583 Wie genau die Maßstäbe für sein Eingreifen zu entwickeln sind und wie in der Praxis seine Voraussetzungen festgestellt werden sollen, ist im Einzelnen unklar und läuft letztendlich auf eine Zuständigkeitsentscheidung durch die übergeordnete Einheit, also den Staat hinaus. Damit läuft aber das Subsidiaritätsprinzip seinem ursprünglichen Zweck nach leer.584 Auch hier zeigt sich, dass es insgesamt ein wenig überzeugendes Konstrukt darstellt.
578
Vgl. dazu unten 6. Kap. B. Vgl. dazu oben unter 2. Kap. G. 580 Pieroth/Schlink, Grundrechte, Rn. 77; Preis, RdA 1995, 333; vgl. auch Bäuerle, Vertragsfreiheit und Grundgesetz, S. 25 ff.; Gast, BB 1992, 1634 (1636). 581 Pieroth/Schlink, Grundrechte, Rn. 77; vgl. auch Raiser, JZ 1958, 1 (3). 582 Bäuerle, Vertragsfreiheit und Grundgesetz, S. 23 ff.; dazu oben 2. Kap. C. IV. 1. 583 Maschmann, Tarifautonomie im Zugriff des Gesetzgebers, S. 240. 584 Maschmann, Tarifautonomie im Zugriff des Gesetzgebers, S. 240 f. 579
G. Tarifautonomie als Ausdruck des Sozialstaatsprinzips
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IV. Ergebnis Als Ergebnis bleibt festzuhalten, dass es dem Subsidiaritätsprinzip, wenn nicht bereits an einer verfassungsrechtlichen Verankerung überhaupt, jedenfalls an der Anwendbarkeit auf das Arbeitsrecht und auf das Verhältnis von Tarifautonomie und staatlicher Gesetzgebung fehlt. Keines der Argumente für das Subsidiaritätsprinzip ist überzeugend. Damit entfällt eine wesentliche dogmatische Stütze der Vorranggarantie.
G. Tarifautonomie als Ausdruck des Sozialstaatsprinzips Ein Teil der Lehre gelangt, wie bereits gezeigt, unter Rückgriff auf das Sozialstaatsprinzip zur Annahme eines Kompetenzparallelismus zwischen tarifvertraglicher Normsetzungsbefugnis und der staatlichen Gesetzgebungskompetenz für das Arbeitsrecht.585 Die grundrechtliche Gewährleistung der Tarifautonomie schützt danach nicht vor einseitig zwingender staatlicher Regelung von Gegenständen, die auch Inhalt des Tarifvertrags sein können. Nach dem Vorrangprinzip wirkt das Sozialstaatsprinzip in mehr oder weniger großem Umfang als Eingriffsrechtfertigung und dient partiell auch zur Begründung des Vorrangprinzips, wenn aus ihm ein Subsidiaritätsprinzip abgeleitet wird.586 Allerdings lässt auch ein Teil der Vertreter des (eingeschränkten) Vorrangprinzips eine Einschränkung des Schutzumfangs der Tarifautonomie aufgrund des Sozialstaatsprinzips zu.587 Die Nähe der Tarifautonomie zum Sozialstaatsprinzip588 beruht nicht nur auf der Zielsetzung eines angemessenen Interessenausgleichs zwischen den Arbeitsvertragsparteien durch die Setzung sozialer Mindeststandards und der Ordnung und Befriedung des Arbeitsmarktes, die der Tarifautonomie immanent ist. Sie erklärt sich auch aus der Verhinderung der negativen sozialen Folgen, die die formale Vertragsfreiheit auf dem Arbeitsmarkt im 19. und 20. Jahrhundert gezeigt hatte. Die Tarifautonomie fungiert damit als präventives Element der sozialstaatlichen Verfassungsordnung.589 Sie dient dazu, in einer der staatlichen Intervention vorgelagerten Phase die Entstehung sozialstaatlich unerträglicher Arbeitsbedingungen zu verhindern. Dabei setzt die Tarifautonomie primär auf den Interessenausgleich zwischen den gesellschaftlichen Kräften. Die Verteilungsprobleme, die ansonsten ein stetes Element sozialstaatlicher Politik, insbesondere unter dem Gesichtspunkt der Lastenverteilung, sind, werden staatsfern gelöst. Problematisch 585
Preis, B., ZfA 1972, 275 (295 ff.); siehe oben 2. Kap. A. IV. Siehe dazu oben 2. Kap. F. 587 Vossen, Tarifdispositives Richterrecht, S. 55; Wlotzke, RdA 1963, 44 (50); ähnlich Rüfner, RdA 1985, 193 (195). 588 Badura, FS Berber, S. 11 (29); Rüthers, Der Staat 6 (1967), 101 (109). 589 Schnorr, FS Molitor, S. 229 (236 ff.). 586
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2. Kap.: Verfassungsrechtliche Fragen
daran ist allerdings, dass das sozialstaatliche Mandat sich keineswegs darauf verlassen kann, dass die Tarifpartner die notwendige Gestaltungskraft besitzen, umfassend Missstände zu verhindern, die sozialstaatlich unerwünscht sind. Dies ist lediglich eine potenzielle Folge der Tarifautonomie. Sie kann diese aber nicht garantieren.590 Der Gesetzgeber kann vor diesem Hintergrund von seinem sozialstaatlichen Gestaltungsauftrag Gebrauch machen, um sozialstaatliche Ziele zu verwirklichen. Gesetzgebung, die sozialstaatliche Ziele verwirklicht, kann damit auf die gleichen Ziele wie die Tarifautonomie gerichtet sein. Damit ist die Frage aufgeworfen, wie sich das Sozialstaatsprinzip zur verfassungsrechtlichen Gewährleistung der Tarifautonomie verhält. Dazu sind zunächst die Fragen des Einflusses des Sozialstaatsprinzips auf die Grundrechtsauslegung im Allgemeinen zu untersuchen. Ergibt sich, dass dieses bei der Auslegung der Grundrechte nicht zu berücksichtigen ist, erledigen sich die auf den Tatbestand bezogenen Argumente von alleine und das Sozialstaatsprinzip beschränkt sich auf ein Instrument zur Eingriffsabwehr. Lässt sich mit Blick auf die Tarifautonomie jedoch ein Konnex zum Sozialstaatsprinzip herstellen, so stellt sich die Frage nach den Ableitungen, die sich hieraus für das Verhältnis von staatlicher und tariflicher Normsetzungsbefugnis ergeben. Dabei kann in diesem Zusammenhang keine umfängliche Untersuchung zu Inhalt und Grenzen des Sozialstaatsprinzips geleistet werden. Die Ausführungen beschränken sich auf seine Implikationen im Zusammenhang mit der Tarifautonomie.
I. Sozialstaatsprinzip und Grundrechtsinterpretation 1. Einwände gegen die Berücksichtigung des Sozialstaatsprinzips Die Berücksichtigung sozialstaatlicher Elemente in der Grundrechtsauslegung sieht sich der Kritik ausgesetzt. Die Einwände und die Diskussion stehen dabei in einem engen Zusammenhang mit der Diskussion um die Frage der weiten Tatbestandstheorie.591 Besonders Rixen hat die Bedenken und Einwände eindrucksvoll zusammengefasst.592 Im Kern geht es um die These, das Sozialstaatsprinzip sei nicht für die Auslegung und insbesondere nicht für die Beschränkung grundrechtlicher Schutzbereiche konzipiert, sondern als Eingriffsrechtfertigung für Grundrechtseingriffe zu betrachten. Die Grundrechte werden nach dieser Sichtweise also „von Außen“ durch das Sozialstaatsprinzip beschränkt.593 Die Gegenansicht missachte den bewährten gestuften (Schutzbereich/Eingriff/Schranke) freiheitseffektuierenden Argumentationsprozess, weil Eingriffs- und Rechtfertigungsele590 591 592 593
Vgl. dazu ausführlich 6. Kap. A. Vgl. dazu oben 2. Kap. C. IV. 2. Rixen, Sozialrecht als öffentliches Verwaltungsrecht, S. 240 ff. Vgl. auch Höfling/Rixen, RdA 2007, 360 (366).
G. Tarifautonomie als Ausdruck des Sozialstaatsprinzips
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mente zur Konturierung des Schutzbereichs mobilisiert würden. Dieser Wandel im Umgang mit den Grundrechten, der noch dazu intransparent vollzogen werde, sei abzulehnen, weil die Grundannahmen (Vorverständnisse), die den Wandel steuern, nicht transparent gemacht würden. Die Berufung auf das Sozialstaatsprinzip stelle im Kern – von einem anderen (sozialstaatlichen) Freiheitsbegriff aus – die liberale Grundrechtsfreiheit in Frage. Es sei nicht Aufgabe der Grundrechte, der – auch von Rixen anerkannten – Verwiesenheit der grundrechtlich garantierten Freiheitsausübungschance auf reale Ausübungsbedingungen gerecht zu werden. Dies sei die Aufgabe des Sozialstaats. Ein den negatorischen Schutz hinter sich lassendes Grundrecht auf reale Freiheitsermöglichung gebe es nicht. Die Grundrechte sind nach diesem Verständnis konstitutionelle Störfaktoren gegenüber dem Sozialstaat und zwar auch und gerade dann, wenn dieser „Gutes im Schilde führt“.594 Die Einbeziehung sozialstaatlicher Aspekte in die Grundrechtsauslegung, allzumal wenn dies zur Begrenzung der Schutzbereiche führe – hier liegt der Konnex zur bereits oben erörterten weiten Tatbestandstheorie –, führe zu einem entsicherten Gesetzgeber, der eine „Freiheitsgefahr auf Abruf“ sei.595 Der Sozialstaat sei kein solcher, der sich von der Gewährung liberaler, tatbestandlich weit gefasster Grundrechte verabschieden dürfe, indem er im Blick auf die realen Grundrechtsvoraussetzungen die Schutzbereiche verenge, damit der Gewährleistungssozialstaat um so mehr sein nützliches, gutes und soziales Gewährleistungswerk verrichten könne. Ein solches Verständnis sei unter dem Grundgesetz inakzeptabel.596 2. Stellungnahme Die Wortwahl der Kritik zeigt, dass sich hier ein grundlegender Verständniskonflikt hinsichtlich der Bedeutung der Grundrechte Bahn bricht. Dieser entlädt sich maßgeblich deshalb, weil die Befürchtung besteht, durch derartige Modifikationen sei das liberale Grundrechtskonzept gefährdet. Kurz gesagt, es lebt erneut der Streit um die „richtige“ grundrechtliche Tatbestandstheorie auf.597 Dieser kann auch hier wieder nur unter dem Aspekt untersucht werden, ob die Bedenken hinsichtlich der Berücksichtigung sozialstaatlicher Elemente im Rahmen der Auslegung der Tarifautonomie überzeugen. Dazu müsste der Absolutheitsanspruch, mit dem nach dem dargestellten Konzept sozialstaatliche Überlegungen aus der Auslegung von grundrechtlichen Tatbeständen ausgeschieden werden, zumindest relativiert werden. Interessant ist – ganz im Gegensatz zu der vorstehenden Kritik –, dass das Sozialstaatsprinzip als 594 595 596 597
Höfling/Rixen, RdA 2007, 360 (366). Höfling/Rixen, RdA 2007, 360 (366). Rixen, Sozialrecht als öffentliches Wirtschaftsrecht, S. 244. Vgl. dazu oben 2. Kap. C. IV.
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2. Kap.: Verfassungsrechtliche Fragen
eine der „Leitideen der materiellen Verfassungsnormen, hauptsächlich der Freiheiten und Garantien des Grundrechtsteils“ begriffen wird.598 Die Implementierung des Sozialstaatsprinzips in die Grundrechtsordnung bringt die Abkehr vom überspitzten Freiheits- und Autonomiegedanken des Liberalismus zum Ausdruck.599 Insofern erweist sich der Vorwurf einer Renaissance sozialstaatlicher Grundrechtslehren600 als problematisch, weil dieser Kritik durchaus entgegengehalten werden kann, eine Renaissance formalfreiheitlichen Denkens im Sinne des 19. Jahrhunderts zu propagieren.601 Im Ergebnis ist mit solchen zeitbezogenen Vorwürfen auch nichts gewonnen. Im Kern geht es darum, das Verhältnis bestimmter Verfassungsprinzipien und ihres Aussagegehalts für die Grundrechtsordnung unter dem Grundgesetz zu diskutieren. Im Übrigen, und das ist wohl der Kern des Konflikts, geht es hier nicht um ein Mehr oder Weniger an effektiver Freiheit, sondern um den dogmatisch korrekten Weg zu einem sachgerechten Ergebnis. Es ist wenig überzeugend, im Rahmen eines absoluten Geltungsanspruchs einer Grundrechtstheorie Elemente anderer grundrechtstheoretischer Ansätze per se abzulehnen.602 Ebenso wenig ist es hilfreich, einen bestimmten Freiheitsbegriff zu verabsolutieren. In aller Regel ist von einer Multifunktionalität der Grundrechte auszugehen, die den Rückgriff auf verschiedene theoretische Elemente und Grundrechtstheorien ermöglicht.603 Die einzelnen Grundrechte weisen ein viel zu unterschiedliches Profil für solche Generalisierungen auf.604 Die Verabsolutierung eines theoretischen Ansatzes, wie auch immer er konzipiert sein mag, kann den Funktionsradius von Grundrechten einengen.605 Auch das BVerfG hat sich nie von einem Methodenabsolutismus leiten lassen, sondern Ansätze verschiedener Grundrechtstheorien flexibel kombiniert.606 Von daher ist es abzulehnen, Grundrechten per se eine sozialstaatliche Funktion abzusprechen, weil sie Grundrechte sind. Vielmehr sind die Zusammenhänge der Grundrechte mit den Grundsätzen des Art. 20 Abs. 1 GG, zu denen auch das Sozialstaatsprinzip gehört, im Rahmen der Interpretation der Grundrechte durchaus zu berücksichtigen.607 Dass Verfassungsprinzipien durchaus Rückwirkungen auf die Auslegung 598
Badura, DÖV 1989, 491 (492). Badura, DÖV 1989, 491 (492); Dürig, JZ 1953, 193 (197); Olbersdorf, AuR 1955, 129 (130); Preis, B., ZfA 1972, 271 (296); Schnorr, FS Molitor, S. 229 (238). 600 Höfling/Rixen, RdA 2007, 360 (366). 601 Vgl. dazu oben 2. Kap. C. IV. 1. 602 Dietlein, Die Lehre von den grundrechtlichen Schutzpflichten, S. 59 ff.; Häberle, JZ 1989, 913 (918); Schwarze, Der Betriebsrat im Dienste der Tarifvertragsparteien, S. 74 ff. 603 Sachs in: Sachs, GG, vor Art. 1 GG, Rn. 69. 604 Häberle, JZ 1989, 913 (918). 605 Dietlein, Die Lehre von den grundrechtlichen Schutzpflichten, S. 59 ff.; Sachs in: Sachs, GG, vor Art. 1 GG, Rn. 69. 606 Böckenförde, NJW 1974, 1529, m.w. N. 599
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von Grundrechten haben dürfen und dass bestimmte Grundrechte einen Bezug zu diesen Prinzipien haben können, darf allerdings ebenso wenig zu einem methodischen Absolutismus führen. Es ist nicht zu leugnen, dass die hierdurch erreichte „Flexibilität“ zunächst argwöhnisch zu betrachten ist, weil sie die Rationalität des Prozesses der Auslegung des Schutzbereiches gefährden kann.608 Es ist allerdings darauf hinzuweisen, dass diese Gefährdung – wie gezeigt – eben auch und gerade durch das Modell der Eingriffsrechtfertigung aufläuft.609 Diese Gefährdungen können nur dann begrenzt werden, wenn sich ein Bezug zu der herangezogenen Interpretationsmethode aus der konkreten Verfassungsnorm gewinnen lässt. Hierbei ist Zurückhaltung geboten. 3. Ergebnis Für den Einfluss des Sozialstaatsprinzips auf die Auslegung grundrechtlicher Schutzbereiche ist damit, abgesehen von der mit Recht eingeforderten Transparenz einer solchen Vorgehensweise, Folgendes zu beachten: Es ist zu fragen, ob die in Rede stehenden Grundrechte eine sozialstaatliche Funktion haben, wie diese angelegt ist und welche Aussagen sich daraus für den Gewährleistungsgehalt eines Grundrechts ergeben. Dabei sind weder tatbestandsbeschränkende noch tatbestandserweiternde Ergebnisse vorweggenommen. Insofern greift auch die Kritik an der Berücksichtigung des Sozialstaatsprinzips zu kurz, wenn diese in erster Linie defensiv gegenüber einer „Entsicherung“ des Gesetzgebers erfolgt. Seine Berücksichtigung kann nämlich auch den Ausbau einer grundrechtlichen Schutzposition argumentativ sichern. Insofern greift hier die Kritik zu kurz, wenn sie sich auf die Frage tatbestandsbeschränkender Effekte beschränkt. Im Ergebnis ist es wenig überzeugend, die Berücksichtigung sozialstaatlicher Erwägungen von vorneherein zu befürworten oder sie von vorneherein abzulehnen. Allerdings ist, sofern man die Bereitstellung der tatsächlichen Wahrnehmungsvoraussetzungen von Freiheit nicht in der liberalen Grundrechtstheorie selbst angelegt sieht, durchaus darauf hinzuweisen, dass selbst dann die Verankerung des Sozialstaatsprinzips in der Verfassungsordnung nicht vollkommen unberücksichtigt bleiben kann.610 So sind denn auch grundrechtliche Gewährleistungen als sozialstaatliche Ausprägungen angesehen worden.611 Von besonderer Bedeutung 607 Sachs in: Sachs, GG, vor Art. 1 GG, Rn. 69; Badura, DÖV 1989, 491 (492); Obermayr, RdA 1979, 8 (14). 608 Bedenken auch bei Schubert, RdA 2001, 199 (205), die allerdings eine Einschränkung des Schutzbereichs von Grundrechten durch das Sozialstaatsprinzip für möglich hält. 609 Vgl. dazu oben 2. Kap. C. IV. 3. a). 610 Badura, DÖV 1989, 491 (492); Schubert, RdA 2001, 199 (205). 611 Badura, DÖV 1989, 491 (495); stärker mit Blick auf Verfassungsaufträge: Sachs in: Sachs, GG, Art. 20, Rn. 51; vgl. auch Benda, RdA 1979, 1 (7); Obermayer, RdA 1979, 8 (14).
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2. Kap.: Verfassungsrechtliche Fragen
ist aber, dass Art. 9 Abs. 3 GG ganz verbreitet, auch vom BVerfG612, als sozialstaatlich geprägtes Grundrecht angesehen wird613, auch wenn über die Konsequenzen Uneinigkeit besteht. Letztendlich steckt eine Position die eine Berücksichtigung des Sozialstaatsprinzips bei der Grundrechtsauslegung ablehnt also in einem Dilemma, wenn der Telos eines Grundrechts Elemente beinhaltet, die auch unter Rückgriff auf das Sozialstaatsprizip begründet werden können. Denn diese kann sie nunmehr nur dann akzeptieren, wenn sie die Augen vor der sozialstaatlichen Grundlage des Grundrechts verschließt. Damit wäre es weitaus sinnvoller zu fragen, ob sich der Rückgriff auf sozialstaatliche Überlegungen bei einem Grundrecht mit Blick auf seinen Telos legitimieren lässt. Jedenfalls mit Blick auf Art. 9 Abs. 3 GG ist dies der Fall. Es stellt sich damit die Frage, welche Vorgaben oder Aussagen sich aus dem Sozialstaatsprinzip mit Blick auf die Auslegung der Koalitionsfreiheit und ihr Verhältnis zur staatlichen Gesetzgebungsbefugnis ergeben. Untersucht man das dazu vorhandene Schrifttum, so gelangt man zu einem auf den ersten Blick kuriosen Befund. Sowohl diejenigen, die für einen weitgehenden Vorrang der tariflichen Normsetzungsbefugnis plädieren, als auch die Vertreter des Kompetenzparallelismus, berufen sich auf das Sozialstaatsprinzip. An dieser Stelle zeigt sich erstmals die problematische und oft beklagte Konturenlosigkeit des Sozialstaatsprinzips.614 Unabhängig davon, welche Rückschlüsse aus dem Sozialstaatsprinzip gezogen werden, ist aber damit festzuhalten, dass, ganz im Gegensatz zur oben stehenden Fundamentalkritik, es von einem großen Teil der Lehre als vollkommen selbstverständlich angesehen wird, die Tarifautonomie als Ausprägung des Sozialstaatsprinzips zu begreifen und dieses zur Auslegung heranzuziehen. Dies ist ein Befund, der angesichts der Einwände, die gegen ein solches sozialstaatliches Grundrechtsdenken erhoben werden, zumindest erstaunlich ist. Auch diejenigen, die sozialstaatliche Elemente der Grundrechtsauslegung kritisieren, kommen nicht umhin, der Koalitionsfreiheit zumindest eine soziale Schutzdimension zuzugestehen.615 Ebenso bedeutsam ist, dass die Position, dem Staat könnte die Regelung von Gegenständen, die auch Inhalt von Tarifverträgen sein können, generell entzogen sein, auch unter Hinweis auf das Sozialstaatsprinzip weithin abgelehnt wird.616 612
BVerfG 18.11.1954, BVerfGE 4, 96 (101 f.). Badura, DÖV 1989, 491 (495); ders., RdA 1974, 129 (134); Heinze, NZA 1991, 329 (330); Neumann, RdA 2007, 71 (73); Obermayer, RdA 1979, 8 (14); Preis, B., ZfA 1972, 275 (295 ff.); Rüthers, RdA 1968, 161 (168); ders., Der Staat 6 (1967), 101 (109); Sachs in: Sachs, GG, Art. 20 GG, Rn. 51; Scholz in: Maunz/Dürig, GG, Art. 9 GG, Rn. 10; ders., Koalitionsfreiheit als Verfassungsproblem, S. 180 f.; Schubert, RdA 2001, 199 (205); Schnorr, FS Molitor, S. 229 (236 ff.). 614 Sachs in: Sachs, GG, Art. 20 GG, Rn. 47. 615 Höfling in: Sachs, GG, Art. 9 GG, Rn. 52. 616 Badura, DÖV 1989, 491 (495); Coester, Vorrangprinzip des Tarifvertrags, S. 84; Neumann, RdA 2007, 71 (76); Vossen, Tarifdispositives Richterrecht, S. 52 ff. 613
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Von dieser Warte aus lohnt es sich, zunächst einmal den Aussagen des Sozialstaatsprinzips für die Vertragsfreiheit nachzugehen. Wie bereits gezeigt, hat das BVerfG die Kompensation struktureller Unterlegenheit im privaten Rechtsverkehr auf einen dualen Begründungsansatz gestützt: einerseits auf einen liberalen, der Effektuierung von Vertragsfreiheit dienenden Aspekt und andererseits auf einen sozialstaatlichen. Dem ersten Gesichtspunkt ist bereits oben nachgegangen worden, an dieser Stelle interessiert das Sozialstaatsprinzip.
II. Das Sozialstaatsprinzip zwischen prozeduraler Korrektur, Ergebniskorrektur und Folgenbeseitigung von Defiziten der Privatautonomie Für die Gewährleistung von Freiheit lassen sich im Kern zwei rechtstechnische Verfahren denken: eines, das prozedural an die tatsächliche Handlungsfreiheit des Bürgers anknüpft und ein anderes, dass die Folgen einer Freiheitsbeeinträchtigung durch fehlende Selbstbestimmung korrigiert. Es ist also möglich, einerseits den Entstehungsprozess eines Vertrages so zu beeinflussen, dass der einzelne Bürger befähigt wird, diesen frei zu schließen. Solche Korrekturen werden häufig bei Informationsdefiziten oder situativer Unterlegenheit, wie beispielsweise der Überrumpelung, möglich sein. Dabei besteht eine erhebliche Abstufungsmöglichkeit der Intervention. Es ist möglich, lediglich die Möglichkeit zur Information zu verschaffen, es kann aber auch der anderen Vertragspartei eine Informationspflicht auferlegt werden. Besteht zwischen den Vertragsparteien hingegen eine prozedural nicht zu behebende Störung der Selbstbestimmung einer Seite, so bleibt nur der Rückgriff auf die Korrektur auf der Folgenebene. Diese erfolgt häufig über Verbote bestimmter Vertragsgestaltungen. Ist dies im Einzelfall nicht möglich, kann noch auf einer dritten Ebene geholfen werden, nämlich in der Behebung der freiheitsbelastenden Folgen durch externe, also nicht auf den Vertragsschluss bezogene Folgenbeseitigung. Für das Arbeitsverhältnis bedeutet dies, dass dort, wo ein Arbeitnehmer zum selbstbestimmten Gebrauch seiner Freiheit nur eine Verfahrensgarantie benötigt, diese ausreichen kann. Kann ein Arbeitnehmer von dieser keinen selbstbestimmten Gebrauch machen, ist diese Freiheit also defizitär, kann auf der Rechtsfolgenebene dem abgeschlossenen Vertrag oder einzelnen Regelungen in bestimmten Umfang die rechtliche Anerkennung versagt werden. Ist auch dies nicht möglich, etwa weil bestimmte Belastungen einer bestimmten Tätigkeit immanent und nur zu reduzieren, nicht aber auszuschließen sind617, so bleibt die Korrektur durch vertragsexterne Mittel. Diese werden häufig in staatlichen Leistungen bestehen. 617 So beispielsweise eine erhebliche Gesundheitsschädigung, durch die Tätigkeit im Bergbau, die zwar durch Arbeitsschutzvorschriften gemildert, aber nicht behoben werden kann.
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2. Kap.: Verfassungsrechtliche Fragen
Dieser letzte Korrekturmechanismus ist aber nicht der einzige Inhalt sozialstaatlicher Tätigkeit. Er kann auch im Vorfeld versuchen, die Startpakete, mit denen Bürger „in die Freiheit starten“, zu beeinflussen, beispielsweise durch das Vorhalten von Einrichtungen (Schulen, Universitäten) oder Sozialleistungen. Diese Ebene steht meistens in Rede, wenn von einem Finanzierungsvorbehalt des Sozialstaatsprinzips die Rede ist. Sie ist aber nicht das Element von Sozialstaatlichkeit, um das es im vorliegenden Fall geht. 1. Freiheitseffektivierende Funktion des Sozialstaatsprinzips Hier interessieren die prozedurale Ebene und die Rechtsfolgenebene mit Blick auf den Vertragsschluss. Auf diesen beiden Ebenen zeigt sich die freiheitseffektuierende Funktion des Sozialstaatsprinzips. Es gebietet nämlich zur Vermeidung der Aktivierung des sozialstaatlichen Elements der „Folgenbeseitigung“ von Unfreiheit vorrangig die Vermeidung ihrer Entstehung. Dies ist der Kerngedanke des „aktivierenden Sozialstaats“. Der Bürger wird zum selbstbestimmten Leben befähigt, um aus eigener Kraft seine Existenz in Freiheit zu bestreiten. Dafür rückt aber mit Blick auf die Vertragsfreiheit der Vertragsschluss selbst in den Fokus. Auch hier besteht ein Bezug zum Sozialstaatsprinzip. Es dient also nicht allein dazu, sozialstaatliche unerwünschte Folgen von Vertragsschlüssen zu beseitigen, sondern solche Folgen gar nicht erst entstehen zu lassen. Freiheit ist also mit Sen618 in zweierlei Bereiche aufzuspalten: Verfahren, die Handlungs- und Entscheidungsfreiheit ermöglichen und die realen Chancen, die Menschen angesichts ihrer persönlichen und sozialen Umstände haben, von diesen Freiheiten Gebrauch zu machen.619 Freiheit ist damit umfassend zu verstehen und insbesondere nicht nur auf die Verfahrensebene oder auf die Folgenebene620 zu beschränken, wohin tendenziell die oben stehende Kritik geht. Ebenso ist aber der Sozialstaat nicht auf die Folgenebene beschränkt, sondern hat auch im Verfahrensbereich seinen Platz. Die beiden Bereiche des Sozialstaatsprinzips, die einerseits eine gesellschaftsorientierte und andererseits eine staatsorientierte Ebene haben621, dürfen nicht einseitig zur Geltung gebracht werden.622 Weder die eine noch die andere darf vorrangig zum Zuge kommen.623 Daher hat der Sozialstaatssatz für das tarifpolitische Mandat der Tarifvertragsparteien eine „ambivalente Bedeutung“.624 618
Sen, Ökonomie für den Menschen, Kapitel 1, S. 28 f. Sen, Ökonomie für den Menschen, Kapitel 1, S. 28 f. 620 Sen, Ökonomie für den Menschen, Kapitel 1, S. 28. 621 Fechner, RdA 1955, 161 (163); Scholz, Koalitionsfreiheit als Verfassungsproblem, S. 182. 622 Scholz, Koalitionsfreiheit als Verfassungsproblem, S. 182. 623 Scholz, Koalitionsfreiheit als Verfassungsproblem, S. 182. 624 Badura, RdA 1974, 129 (134). 619
G. Tarifautonomie als Ausdruck des Sozialstaatsprinzips
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2. Kompensation struktureller Unterlegenheit und Sozialstaatsprinzip Bei diesem Verständnis ist die Kompensation struktureller Unterlegenheit auch Ausdruck des Sozialstaatsprinzips.625 Begreift man die Tarifautonomie als Kompensation struktureller Unterlegenheit der Arbeitnehmer, ist sie damit Ausfluss des Sozialstaatsprinzips. Sie ist damit eine grundrechtliche Verwirklichung der sozialstaatlichen Ordnung. Einen derartigen direkten Bezug zum Sozialstaatsprinzip für andere Grundrechte herzustellen, ist nicht Aufgabe dieser Arbeit. Der Befund, dass sozialstaatliche Elemente im Grundrecht der Koalitionsfreiheit angelegt sind, wird hier auch nicht für andere Grundrechte behauptet. Aber mit Blick auf die Koalitionsfreiheit ist es geboten, das genannte sozialstaatliche Element der Koalitionsfreiheit zu berücksichtigen. Damit ist vielleicht auch oben stehender Kritik entgegen gekommen. Denn, wie bereits betont, ist zunächst einmal zu ermitteln, worin denn überhaupt das sozialstaatliche Element in der grundrechtlichen Gewährleistung besteht, bevor aus diesem Aussagen auch für den grundrechtlichen Tatbestand gezogen werden. Es wird also nicht pauschal unter Verweis auf das Sozialstaatsprinzip eine bestimmte Auslegung gefordert, sondern zunächst das sozialstaatliche Element der Gewährleistung identifiziert, aus dem sich hier Aussagen ergeben können. Ist also die Kompensation struktureller Unterlegenheit als Ausdruck auch des Sozialstaatsprinzips Hintergrund der Tarifautonomie, stellt sich die Frage nach den Aussagen, die dieser Befund für das Verhältnis von staatlicher Gesetzgebungskompetenz für das Arbeitsrecht und tariflicher Regelungsbefugnis hat. Dabei lassen sich im Wesentlichen zwei Interpretationsmodelle identifizieren. Ein Teil der Lehre betont vor allem den prozeduralen Aspekt der „assoziativen Selbsthilfe“.626 Danach ist zu beachten, dass das Sozialstaatsprinzip eben nicht im Sinne reiner Fürsorgestaatlichkeit zu verstehen, sondern auf den bereits oben dargestellten prozeduralen Aspekt bezogen ist. Der Staat sei in erster Linie dahin gehend gefordert, einen Grundschutz zu gewährleisten und ansonsten der autonomen Ordnung Raum zu lassen. Aus der Autonomie und Gleichberechtigung kollektiver Formen gesellschaftlicher Organisationen wird der Grundsatz abgeleitet, dass die staatliche Sozialgestaltung nur einen Mindestschutz unabänderlich festschreiben dürfe und den Parteien des Arbeitsmarktes ausreichende Spielräume für autonome Regelungen offen lassen müsse. Jedenfalls habe der Gesetzgeber bei der Prüfung, ob er neben den oder gar statt der Tarifvertragsparteien tätig werden solle, auch diesen Aspekt des Sozialstaatsprinzips zu beachten.627 Dieser Sichtweise ist insoweit zuzustimmen, als in der Tat ein Übergriff in den autono625
BVerfG 5.8.1995, NJW 1994, 2749 (2750). Scholz in: Maunz/Dürig, GG, Art. 9 GG, Rn. 10; Neumann, RdA 2007, 71 (73). 627 Neumann, RdA 2007, 71 (73), der diese Ausführungen freilich zur Begrenzung von sozialstaatlich motivierten Eingriffen in die Tarifautonomie heranzieht. 626
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2. Kap.: Verfassungsrechtliche Fragen
men Verhandlungsprozess der Tarifvertragsparteien im Sinne einer Beeinflussung des Verfahrens aus sozialstaatlichen Gesichtspunkten nur schwer zu legitimieren ist. Aus den Grundsätzen sozialstaatlicher Grundrechtsförderung folgt vielmehr, dass der Staat verpflichtet ist, die organisatorischen Voraussetzungen der Koalitionsfreiheit zu sichern.628 Daher würde das Sozialstaatsprinzip auch eine Beseitigung der unmittelbaren und zwingenden Wirkung von Tarifverträgen nicht rechtfertigen können. Vielmehr verlangt es deren Etablierung. Der prozedurale Aspekt der Tarifautonomie als assoziative Selbsthilfe ist weitgehend konsensfähig. Hingegen wird aus der sozialstaatlichen Affinität der Tarifautonomie von einem Teil des Schrifttums weitergehend gefolgert, die Regelungsbefugnis der Tarifvertragsparteien bestehe nur nach Maßgabe des von der staatlichen Rechtsetzung freigelassenen Raumes.629 Dieser Ansatz weist zunächst darauf hin, dass die Exklusivitätsthese im Widerspruch zum Sozialstaatsprinzip stehe. Wenn der Staat an das Sozialstaatsprinzip gebunden sei, könne ihm ein Grundrecht nicht per se dessen Verwirklichung verwehren. Aber auch ein Vorrang der tariflichen Normsetzung lasse sich aus dem Sozialstaatsprinzip nicht ableiten. Denn es müsse letztendlich die Verantwortung des Staates bleiben, zu entscheiden, in welchem Umfang er das Sozialstaatsprinzip selbst verwirkliche und in welchem Umfang er dies den Tarifvertragsparteien überlasse.630 Der Tarifautonomie ist nach diesem Ansatz lediglich immanent, dass die Tarifvertragsparteien neben dem Gesetzgeber an der Gestaltung der Arbeitsbedingungen mitwirken können.631 Ein Vorrang lasse sich aus dem Sozialstaatsprinzip nicht ableiten. Der Staat könne sich nicht unter Verweis auf eine geschützte Normsetzungsprärogative der Tarifvertragsparteien von seinen eigenen sozialstaatlichen Verpflichtungen lossagen. An dieser Stelle ist insbesondere auch auf die Außenseiterproblematik zu verweisen. Die Außenseiter stehen nicht unter dem Schutz der Tarifautonomie. Dennoch kann diesen wohl kaum mit Blick auf die Möglichkeit zum Gewerkschaftsbeitritt ein gesetzlicher Mindestschutz verwehrt werden. Besonders für diese Gruppe ergibt sich aus dem Sozialstaatsprinzip ein Gestaltungsauftrag an den Gesetzgeber. Daher ist jedenfalls eine Exklusivitätsthese zu Gunsten der tarifautonomen Regelungsbefugnis schon mit Blick auf die Außenseiter nicht tragbar.632
628
Scholz in: Maunz/Dürig, GG, Art. 9 GG, Rn. 31; allerdings sehr eingeschränkt. Preis, B., ZfA 1972, 275 (295 ff.). 630 Badura, RdA 1974, 129 (134 f.); Preis, B., ZfA 1972, 275 (295); Scholz, Koalitionsfreiheit als Verfassungsproblem, S. 189. 631 Preis, B., ZfA 1972, 275 (295); Scholz, Koalitionsfreiheit als Verfassungsproblem, S. 189. 632 Wiedemann, FS Stahlhacke, S. 675 (687). 629
G. Tarifautonomie als Ausdruck des Sozialstaatsprinzips
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III. Ergebnis Aus der Sicht des Sozialstaatsprinzips lässt sich mit Blick auf die Tarifautonomie die Aussage entnehmen, dass es keinen exklusiven Bereich der Normsetzung der Tarifvertragsparteien geben kann, der einer gesetzlichen Regelung per se unzugänglich wäre. Dies gilt auch für die Regelung von Entgelten und Arbeitszeit.633 An dieser Stelle verschwindet dann aber auch die Verbindlichkeit der Aussagen. Es ist prinzipiell denkbar, den Einfluss des Sozialstaatsprinzips über den Weg der Eingriffsrechtfertigung sicherzustellen oder die tarifliche Normsetzungsbefugnis tatbestandlich einzuschränken, ohne sich im Widerspruch zum Sozialstaatsprinzip zu befinden. Allerdings ist das Sozialstaatsprinzip als Begründungstopos geeignet. So kann man die unmittelbare und zwingende Wirkung von Tarifverträgen als Ausfluss des Sozialstaatsprinzips innerhalb der Tarifautonomie ansehen. Begreift man die Setzung einseitig zwingender Standards im Arbeitsrecht auch als Ausfluss des Sozialstaatsprinzips634, so wird erneut die parallele Stoßrichtung von Tarifautonomie und einseitig zwingenden Gesetzesrechts deutlich. Allerdings korrigiert das Letztere lediglich defizitäre Ergebnisse des Verhandlungsprozesses. Begreift man die Tarifautonomie primär als Element der kollektiven Herstellung von Verhandlungsparität, so verwirklicht es eben nur ein Teilelement der Sozialstaatlichkeit. Die Sicherstellung von sozialstaatsadäquaten Ergebnissen ist damit nur ermöglicht, nicht garantiert. Daher ist bei einer Funktionsstörung der Tarifautonomie staatliches Handeln geboten.635 Im Ergebnis spricht jedenfalls vieles dafür, dass das Sozialstaatsprinzip auch durch Art. 9 Abs. 3 GG verwirklicht werden kann. Doch auch hier erscheint es widersprüchlich, wenn die Tarifautonomie ihrer eigenen Zweckverwirklichung entgegen stehen soll.636 Bezogen auf das Normsetzungsverfahren bedeutet dies in der Tat, dass dieses geschützt sein muss, damit die Tarifautonomie, soweit sie der Verwirklichung des Sozialstaatsprinzips dient, diesen Zweck auch erfüllen kann. Eine materielle Tarifvertragsfreiheit, also einem Schutz der Tarifvertragsparteien vor der einseitigen staatlichen Regelung von Gegenständen, die auch Inhalt von Tarifverträgen sein können, lässt sich unter Rückgriff auf das Sozialstaatsprinzip nicht begründen. Denn eine Verwirklichung des Sozialstaatsprinzips kann eben durch die Tarifautonomie erfolgen, sie muss es aber nicht. Im Übrigen findet sich auch im Sozialstaatsprinzip die Legitimation einer gewissen Unterschiedlichkeit im Schutz der Arbeitgeber und Arbeitnehmer durch Art. 9 Abs. 3 GG. Denn zweifelsohne ist ein Schutz von Machtschwachen in der
633 634 635 636
Vgl. zu diesen „Hausgütern der Tarifautonomie“ unten 3. Kap. E. XI. Badura, RdA 1974, 129 (134); Vossen, Tarifdispositives Richterrecht, S. 55. Vgl. dazu unten 6. Kap. B. Vgl. dazu unter 3. Kap. D. und E.
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2. Kap.: Verfassungsrechtliche Fragen
Regel der Schutz der Arbeitnehmer.637 Begreift man die Tarifautonomie als Ausfluss des Sozialstaatsprinzips oder erkennt zumindest seinen engen Zusammenhang mit ihm an, so kann auch dieser Aspekt bei der Auslegung des Grundrechts nicht unbeachtet bleiben.
H. Zusammenfassung Die Gewährleistung der Tarifautonomie stellt letztendlich eine Synthese der freiheitlichen und sozialen Grundgedanken des Grundgesetzes dar. Ein Grundproblem der Diskussion um die Tarifautonomie, ebenso wie der um das Arbeitsrecht insgesamt ist, dass die Diskussion in der Regel unter der Prämisse einer Antinomie von (Privat-)Autonomie und Arbeitnehmerschutzrecht geführt wird. Nimmt man die verfassungsrechtlichen Vorgaben für eine freiheitliche, sozialstaatlich verfasste Gesellschaft ernst, bedarf diese Sichtweise der Relativierung. Denn die Tarifautonomie, ebenso wie zwingendes Arbeitnehmerschutzrecht, als Beschränkung der Privatautonomie zu begreifen, blendet ihre Bedeutung als systemkonformes Korrektiv für die Privatautonomie aus. Tarifautonomie wie zwingendes Gesetzesrecht stellen sich von ihrer Konzeption her als freiheitsgewährleistende Elemente dar. Die Privatautonomie in funktionsfähiger Weise herzustellen ist Zweck der Tarifautonomie, nicht aber ihr Ergebnis. Auch vor diesem Hintergrund ist die These des Schutzes des Art. 9 Abs. 3 GG vor zwingendem staatlichem Gesetzesrecht nicht überzeugend. Es kann weder ein allgemeines Subsidiaritätsprinzip zur Auslegung des Art. 9 Abs. 3 GG herangezogen werden, noch sprechen sozialstaatliche Erwägungen für eine Vorranggarantie der tariflichen Regelungsbefugnis vor staatlicher Regulierung. Grundrechtsdogmatisch ist die Besonderheit zu berücksichtigen, dass die Tarifautonomie anders als andere verfassungsrechtliche Gewährleistungen Medium zur Verwirklichung einer anderen verfassungsrechtlichen Gewährleistung ist. Die Tarifautonomie dient der Herstellung einer funktionsfähigen Privatautonomie im Bereich der Regelung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen. Sie hat damit eine Zweckbindung. Sie dient der Herstellung materieller Freiheit und hat insofern Zwischenaktcharakter für die Verwirklichung von Privatautonomie. Damit dient Tarifautonomie der Kompensation struktureller Unterlegenheit im Privatrechtsverkehr. Dieser Ausgangspunkt ist Leitmotiv für die Auslegung und Anwendung des Art. 9 Abs. 3 GG.
637
Benda, RdA 1979, 1 (4).
3. Kapitel
Gewährleistungsgehalt des Art. 9 Abs. 3 GG Sind nunmehr ein Großteil der verfassungsrechtlichen Prinzipien, die bei der Auslegung des Art. 9 Abs. 3 GG herangezogen werden, isoliert auf ihre Überzeugungskraft und Aussagen untersucht, stellt sich die Frage nach dem Gewährleistungsgehalt der Tarifautonomie. Dabei ist zu beachten, dass die Frage des Gewährleistungsumfangs der tarifautonomen Regelungsbefugnis eng mit der Frage nach der Anerkennung und Reichweite der koalitionsspezifischen Betätigungsgarantie verknüpft ist, soweit man einem eingriffsdogmatischen Konzept folgt, wie es das BVerfG und ein Großteil der Literatur tun.1 Auch die Frage nach der Grundrechtsträgerschaft der Koalitionen kann hier nicht vollständig ausgeklammert bleiben. Im Kern geht es im Folgenden darum, das Verhältnis von staatlicher und tarifautonomer Regelungsbefugnis zu klären. Für das tarifdispositive Gesetzesrecht, das diese beiden Ebenen miteinander verzahnt, hat die Frage eine elementare Bedeutung.
A. Wortlaut des Art. 9 Abs. 3 GG Der Wortlaut des Art. 9 Abs. 3 GG lässt – wie die meisten Vorschriften des Grundrechtskatalogs – Interpretationsspielräume offen. Der Wortlaut der Koalitionsfreiheit enthält lediglich die Freiheit, zur Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen eine Vereinigung zu bilden. Damit stellt sich zunächst die Frage nach der Verankerung des Vereinigungszwecks in Art. 9 Abs. 3 GG. Dieser wird von einem größeren Teil der Lehre herangezogen, um die Betätigungsgarantie innerhalb der Koalitionsfreiheit zu verankern.2 Auch das BVerfG hat die Betätigungsgarantie auf die Aufnahme des Vereinigungszwecks in die Koalitionsfreiheit gestützt.3 1
Vgl. dazu oben 2. Kap. B. Dorndorf, FS Kissel, S. 139 (140); Henssler, ZfA 1998, 1(7); Konzen, NZA 1995, 913 (915); Peters/Ossenbühl, Die Übertragung von öffentlich-rechtlichen Befugnissen auf die Sozialpartner unter besonderer Berücksichtigung des Arbeitszeitschutzes, S. 13; Kempen, AuR 1996, 336 (337); Kemper, Die Bestimmung des Schutzbereichs der Koalitionsfreiheit, S. 137; ders. in: MKS, GG, Art. 9 GG, Rn. 82, 120, 137; Söllner, NZA 1996, 897 (898 f.); a. A. Kamanabrou, RdA 1997, 22 (32); Reuter, RdA 1994, 152 (162 ff.). 3 BVerfG 26.6.1991, NJW 1991, 2549; BVerfG 18.11.1954, BVerfGE 4, 96 (106). 2
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3. Kap.: Gewährleistungsgehalt des Art. 9 Abs. 3 GG
I. Wortlaut der Weimarer Reichsverfassung und Art. 9 Abs. 3 GG 1. Restriktive Auffassung Gegen diese Herleitung aus dem Wortlaut der Vorschrift werden maßgeblich historische Bedenken vorgebracht. Diese stützen sich auf die Vorschriften der Weimarer Reichsverfassung, in denen die Koalitionsfreiheit verankert war. Die entsprechenden Art. 159 und 165 WRV lauteten: „Art. 159: Die Vereinigungsfreiheit zur Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen ist für jedermann und für alle Berufe gewährleistet. Alle Abreden und Maßnahmen, welche diese Freiheit einzuschränken oder zu behindern suchen, sind rechtswidrig. Art. 165: (1) Die Arbeiter und Angestellten sind dazu berufen, gleichberechtigt in Gemeinschaft mit den Unternehmern an der Regelung der Lohn- und Arbeitsbedingungen sowie an der gesamten wirtschaftlichen Entwicklung der produktiven Kräfte mitzuwirken. Die beiderseitigen Organisationen und ihre Vereinbarungen werden anerkannt. (2) Die Arbeiter und Angestellten erhalten zur Wahrnehmung ihrer sozialen und wirtschaftlichen Interessen gesetzliche Vertretungen in Betriebsarbeiterräten sowie in nach Wirtschaftsgebieten gegliederten Bezirksarbeiterräten und in einem Reichsarbeiterrat. (3) Die Bezirksarbeiterräte und der Reichsarbeiterrat treten zur Erfüllung der gesamten wirtschaftlichen Aufgaben und zur Mitwirkung bei der Ausführung der Sozialisierungsgesetze mit den Vertretungen der Unternehmer und sonst beteiligter Volkskreise zu Bezirkswirtschaftsräten und zu einem Reichswirtschaftsrat zusammen. Die Bezirkswirtschaftsräte und der Reichswirtschaftsrat sind so zu gestalten, dass alle wichtigen Berufsgruppen entsprechend ihrer wirtschaftlichen und sozialen Bedeutung darin vertreten sind. (4) Sozialpolitische und wirtschaftspolitische Gesetzentwürfe von grundlegender Bedeutung sollen von der Reichsregierung vor ihrer Einbringung dem Reichswirtschaftsrat zur Begutachtung vorgelegt werden. Der Reichswirtschaftsrat hat das Recht, selbst solche Gesetzesvorlagen zu beantragen. Stimmt ihnen die Reichsregierung nicht zu, so hat sie trotzdem die Vorlage unter Darlegung ihres Standpunkts beim Reichstag einzubringen. Der Reichswirtschaftsrat kann die Vorlage durch eines seiner Mitglieder vor dem Reichstag vertreten lassen. (5) Den Arbeiter- und Wirtschaftsräten können auf den ihnen überwiesenen Gebieten Kontroll- und Verwaltungsbefugnisse übertragen werden. (6) Aufbau und Aufgabe der Arbeiter- und Wirtschaftsräte sowie ihr Verhältnis zu anderen sozialen Selbstverwaltungskörpern zu regeln, ist ausschließlich Sache des Reichs.“
Die Auffassung, die sich gegen eine Ableitung einer Betätigungsgarantie aus Art. 9 Abs. 3 GG wendet, argumentiert, Art. 159 Abs. 1 WRV habe keinen Schutz für die Betätigung der Koalitionen enthalten.4 Die Vorschrift des Art. 9 Abs. 3 GG sei wortgleich, daher fehle im Wortlaut ein Anhalt für die Annahme
A. Wortlaut des Art. 9 Abs. 3 GG
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einer Betätigungsgarantie.5 Sofern der Gesetzgeber auf sachlich gleiche Formulierungen in Vorgängerregelungen zurückgreife, sei indiziert, dass der Gesetzgeber sie so verstanden wissen wolle, wie die Vorgängerregelung von der Literatur und der Rechtsprechung verstanden wurde.6 Insbesondere sei das Streikrecht nicht in Art. 159 WRV verankert worden und daher auch keine Betätigungsgarantie in der Vorschrift enthalten gewesen. Zu diesem Befund muss man die Zusammenhänge der Einschränkung des Wortlauts des Art. 159 WRV beleuchten. Ursprünglich war geplant, im Rahmen des Art. 159 WRV den Begriff der Koalition und nicht den der Vereinigung zu wählen.7 Im Rahmen der Beratungen um Art. 159 WRV war man aber davon ausgegangen, dass allein mit dieser Formulierung auch die Arbeitskampfmittel umfassend geschützt gewesen wären. Denn der Begriff der Koalitionsfreiheit umfasste nach damaligem Sprachgebrauch auch das Streikrecht.8 Die von der Nationalversammlung eingesetzte Kommission ging davon aus, dass durch eine entsprechende Gewährleistung das „Streikrecht zu keiner Zeit, in keiner Notlage, für keine Klasse der bürgerlichen Gesellschaft beschränkt werden [dürfe], nicht für die Eisenbahner, nicht für Leute, die Gas, Feuer und Wasser in ihren Händen haben . . .“.9 Vor diesem Hintergrund wurde der Begriff der Vereinigung gewählt. Die Weimarer Reichsverfassung störte sich damit nicht an der Verankerung der Betätigung, sondern an deren vermeintlichen Folgen. Ein Recht zum Streik war damit zwar nicht in der Verfassung enthalten, dies aber deshalb, weil man dieses für nicht einschränkungsfähig hielt und nicht, weil es die Überzeugung des Verfassungsgebers war, dieses solle nicht gewährleistet sein. Es sollte vielmehr nur kein unbeschränkbares Streikrecht verankert werden. Insofern lässt sich aus der historischen Entwicklung des Wortlauts des Art. 159 WRV nicht viel mehr ableiten, als dass das Streikrecht als Betätigungsform in diesem fehlt, weil er kein unbeschränktes Streikrecht enthalten sollte. Vor diesem Hintergrund wurde dann auch auf den Begriff der Koalition verzichtet. 2. Fehlende Übernahme des Art. 165 Abs. 1 WRV Des Weiteren wird mit der fehlenden Aufnahme des Art. 165 Abs. 1 WRV in Art. 9 Abs. 3 GG argumentiert. Dieser habe eine Anerkennung der Betätigungs4
Trappehl/Lambrich, NJW 1999, 3217 (3218). Burkiczak, Grundgesetz und Deregulierung des Tarifvertragsrechts, S. 298; Pieroth, FS 50 Jahre BVerfG, S. 293 (298). 6 Burkiczak, Grundgesetz und Deregulierung des Tarifvertragsrechts, S. 298. 7 Kittner, Arbeitskampf, S. 431; Anschütz, Die Verfassung des Deutschen Reichs, Art. 159, Nr. 5. 8 Engels, Verfassung und Arbeitskampfrecht, S. 58; Anschütz, Die Verfassung des Deutschen Reichs, Art. 159, Nr. 5. 9 Geheimrat Frick, vor der zuständigen Kommission, zitiert nach Kittner, Arbeitskampf, S. 431. 5
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3. Kap.: Gewährleistungsgehalt des Art. 9 Abs. 3 GG
freiheit enthalten, die nunmehr in Art. 9 Abs. 3 GG fehle.10 Dieser Hinweis verkennt jedoch die Funktion des Art. 165 Abs. 1 S. 2 in der Weimarer Reichsverfassung.11 Dieser sollte die Garantie der Organisationen der Arbeitnehmer, also der Vereinigungen im Sinne des Art. 159 WRV und ihrer Vereinbarungen, von den Räten im Sinne der Abs. 2 bis 6 der WRV abgrenzen und vor den Räten schützen.12 Den Koalitionen sollte das Recht zum Abschluss von Tarifverträgen vorbehalten werden. Damit enthält die Vorschrift in erster Linie eine Klarstellung, dass die Arbeitgeber- und Arbeitnehmerkoalitionen eine Vorrangstellung gegenüber den Räten haben sollten und stellte damit eine Art Kompetenzabgrenzung dar.13 Auf die Fortschreibung des Rätesystems wurde im Grundgesetz verzichtet. Unter dem Blickwinkel des Zwecks der Vorschrift war die Aufnahme in das Grundgesetz damit überflüssig.14 Weitergehend ist zu folgern, dass mit dem Wegfall der Arbeiter- und Wirtschaftsräte auch die Funktion des Art. 165 Abs. 1 WRV entfallen war. Diese Funktion bestand darin klarzustellen, wer der Kompetenzträger der Betätigungsfreiheit mit Blick auf den Abschluss von Tarifverträgen war.15 Diese Kompetenz ist damit nicht entfallen, sondern ist in den im Art. 9 Abs. 3 GG aufgegangenen Art. 159 WRV zurückgewandert. Anderenfalls müsste man annehmen, dass die Vereinbarungsbefugnis der Tarifvertragsparteien in Weimar gerade deshalb gewährleistet war, weil es damals Räte gab und nicht weil die Verfassung diese Vereinbarungsbefugnis zu Gunsten der in Art. 159 WRV anerkannten Vereinigungen gewährleistete. Eine solche Sichtweise ist nicht überzeugend. Deswegen spricht die Nichtübernahme des Art. 165 WRV keinesfalls dagegen, sondern eher dafür, dass Art. 9 Abs. 3 GG auch eine Betätigungsgarantie, jedenfalls mit Blick auf den Abschluss von Tarifverträgen, enthält.16 Insofern ist auch die Feststellung, dass es der Parlamentarische Rat offensichtlich für nicht mehr erforderlich hielt, die Anerkennung der Koalitionen und ihrer 10 Hergenröder in: HWK, Art. 9 Abs. 3 GG, Rn. 24; Trappehl/Lambrich, NJW 1999, 3217 (3218). 11 So auch Engels, Verfassung und Arbeitskampfrecht, S. 197. 12 Engels, Verfassung und Arbeitskampfrecht, S. 174; Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht, Bd. I, § 2, S. 116 f.; Kempen, Sonderbeil. NZA Heft 3/2000, 7 (10); Krummel, Die Geschichte des Unabdingbarkeitsgrundsatzes und des Günstigkeitsprinzips im Tarifvertragsrecht, S. 59; Nörr, ZfA 1986, 403 (408); Anschütz, Die Verfassung des Deutschen Reichs, Art. 159 WRV Nr. 5. 13 Nörr, ZfA 1986, 403 (408); Kempen, Sonderbeil. NZA Heft 3/2000, 7 (10). 14 Engels, Verfassung und Arbeitskampfrecht, S. 174; Pieroth, FS 50 Jahre BVerfG, S. 293 (294); BVerfG 18.11.1954, BVerfGE 4, 96 (101); BVerfG 26.6.1991, NJW 1991, 2549. 15 Zu dieser Kompetenz Nörr, ZfA 1986, 403 (412); Kempen, Sonderbeil. NZA Heft 3/2000, 7 (10). 16 I. E. ähnlich Engels, Verfassung und Arbeitskampfrecht, S. 197 f.; Maschmann, Tarifautonomie im Zugriff des Gesetzgebers, S. 12 f.; tendenziell auch bereits BVerfG 18.11.1954, BVerfGE 4, 96 (101 f.); vgl. dazu unten unter 3. Kap. B. II. 2.
A. Wortlaut des Art. 9 Abs. 3 GG
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Vereinbarungen fortzuschreiben, nicht fernliegend.17 Auch die Feststellung, dass der Parlamentarische Rat den Schutz der Koalitionsfreiheit nicht vermindern wollte, überzeugt vor diesem Hintergrund.18 Insofern ist es auch nicht zu beanstanden, wenn das BVerfG Art. 9 Abs. 3 GG in der Nachfolge des Art. 165 WRV sieht und den Schutz von Koalitions- und Betätigungsgarantie aus der Aufnahme des Vereinigungszwecks in die Vorschrift herleitet.19 Die Frage, ob der Wortlaut durch diese Übernahme nicht ohnehin weitgehend mit Art. 165 WRV übereinstimmt20, soll hier dahinstehen. Dass der Wortlaut eine solche Sichtweise trägt, dürfte aber nicht zu bestreiten sein. Aus der Nichtübernahme des Art. 165 WRV folgt also nichts weiter, als dass dessen Abgrenzungsfunktion gegenüber den Räten entfallen war. In welchem Umfang braucht hier noch nicht geklärt zu werden, jedenfalls spricht der Wortlaut der Vorgängervorschriften des Art. 9 Abs. 3 GG nicht dafür, eine Betätigungsgarantie aus Art. 9 Abs. 3 GG abzulehnen.
II. Der Vereinigungszweck Auch ohne Bezug auf diese historischen Überlegungen ist festzuhalten, dass der Wortlaut des Art. 9 Abs. 3 GG eine Aufnahme des Vereinigungszwecks enthält. Damit lässt er eine Betrachtungsweise zu, die eine Betätigungsgarantie als gewährleistet ansieht21. 1. Vereinigungszweck als ausreichender Anknüpfungspunkt Die Position, der Wortlaut des Art. 9 Abs. 3 GG lasse die Annahme einer Betätigungsgarantie nicht zu,22 überzeugt nicht.23 Dass eine ausdrückliche Betäti17 Bartlog, Das Verhältnis von Tarifvertrag und Gesetz, S. 123; Dieterich, RdA 2002, 1 (8). 18 Bartlog, Das Verhältnis von Tarifvertrag und Gesetz, S. 123; Giesen, Tarifvertragliche Rechtsgestaltung für den Betrieb, S. 128; Dieterich in ErfK, GG, Art. 9 GG, Rn. 20; Maschmann, Tarifautonomie im Zugriff des Gesetzgebers, S. 15; vgl. dazu unten 2. Kap. B. IV. 3. 19 BVerfG 26.6.1991, NJW 1991, 2459; ähnlich auch BVerfG 18.11.1954, BVerfGE 4, 96 (101). 20 In diese Richtung tendierend: Kempen, AuR 1979, 74 (76). 21 BVerfG 18.11.1954, BVerfGE 4, 96 (106); BVerfG 26.6.1991, NJW 1991, 2549 (2549 f.); Engels, Verfassung und Arbeitskampfrecht, S. 163; Henssler, ZfA 1998, 1 (3); Höfling in: Sachs, GG, Art. 9 GG, Rn. 66; Kemper in: MKS, GG, Art. 9 GG, Rn. 120; Konzen, NZA 1995, 913; zu den historiche Einwänden gegen diese Sichtweise vgl. unten 3. Kap. B. 22 Kamanabrou, RdA 1997, 22 (32); Reuter, RdA 1994, 152 (162 ff.). 23 BVerfG 18.11.1954, BVerfGE 4, 96 (106); BVerfG 26.6.1991, NJW 1991, 2549 (2549 f.); Dorndorf, FS Kissel, S. 139 (140, 158); Henssler, ZfA 1998, 1 (7); Konzen, NZA 1995, 913 (915); Kempen, AuR 1996, 336 (337); Kemper, Der Schutzbereich der Koalitionsfreiheit, S. 137; Peters/Ossenbühl, Die Übertragung von öffentlich-rechtlichen Befugnissen auf die Sozialpartner unter besonderer Berücksichtigung des Arbeits-
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3. Kap.: Gewährleistungsgehalt des Art. 9 Abs. 3 GG
gungsgarantie fehlt, ist ebenso zutreffend wie irrelevant. Es kommt nicht darauf an, ob diese ausdrücklich enthalten ist, sondern darauf, ob der bestehende Wortlaut eine Einbruchstelle für die entsprechende Sichtweise bietet. Dass Verfassungsgarantien nicht ausdrücklich ausgesprochen werden, ist kein Anlass sie abzulehnen. Auch die Privatautonomie ist nirgends in der Verfassung ausdrücklich gewährleistet und dennoch anerkannt. Bei der knappen Formulierung der Grundrechte reicht es aus, dass die Gewährleistungsgehalte im Wortlaut der Grundrechte eine Andeutung finden. Selbst eine verfassungspositivistische Haltung24 müsste eine solche Andeutung eigentlich akzeptieren. Diese liegt mit Blick auf die Koalitionsfreiheit in der Verankerung des Vereinigungszwecks.25 Aus der Aufnahme des Vereinigungszwecks im Wortlaut folgt zumindest die Umschreibung eines Tätigkeitsfeldes.26 Dies reicht als Ausgangspunkt für eine Wortlautauslegung.27 Erkennt man darüber hinaus an, dass die Nennung des Vereinigungszwecks die „Eigenrationalität“ des Grundrechts der Koalitionsfreiheit formuliert, so rechtfertigt sich hieraus die Erstreckung des verfassungsrechtlichen Schutzes des Art. 9 Abs. 3 GG auf die Betätigung der Koalitionen.28 Dies gilt insbesondere dann, wenn man aus der Formulierung des Art. 9 Abs. 3 S. 1 GG, der das Recht schützt Koalitionen zu bilden, folgert, dass darin auch das Recht eingeschlossen ist, sich auch koalitionsspezifisch zu betätigen.29 2. Vergleich des Wortlauts von Art. 159 WRV und Art. 9 Abs. 3 GG Diese Betrachtungsweise wird zunächst unter Rückgriff auf die oben stehende Angleichung des Wortlauts von Art. 9 Abs. 3 GG an den Art. 159 WRV bestritten. Dieser habe keine Gewährleistung einer Betätigungsgarantie enthalten. Wie bereits dargestellt, ist diese Betrachtungsweise verkürzend und verkennt den Zweck des Art. 165 und sein Verhältnis zu Art. 159 in der Weimarer Reichsverzeitschutzes, S. 13; Söllner, NZA 1996, 897 (898); zur begrenzten Überzeugungskraft eines primären Rekurses auf den Wortlaut des Art. 9 Abs. 3 GG, vgl. Fahrtmann/Coen in: Benda/Maihofer/Vogel, Handbuch des Staatsrechts, § 19 Rn. 10. 24 Burkiczak, Grundgesetz und Deregulierung des Tarifvertragsrechts, S. 298. 25 BVerfG 18.11.1954, BVerfGE 4, 96 (106); BVerfG 26.6.1991, NJW 1991, 2549 (2549 f.); Dorndorf, FS Kissel, S. 139 (140, 158); Henssler, ZfA 1998, 1 (7); Konzen, NZA 1995, 913 (915); Kempen, AuR 1996, 336 (337); Kemper, Der Schutzbereich der Koalitionsfreiheit, S. 137; Peters/Ossenbühl, Die Übertragung von öffentlich-rechtlichen Befugnissen auf die Sozialpartner unter besonderer Berücksichtigung des Arbeitszeitschutzes, S. 13; Söllner, NZA 1996, 897 (898). 26 Kemper in: MKS, GG, Art. 9 GG, Rn. 137, 120; ähnlich Engels, Verfassung und Arbeitskampfrecht, S. 197 f. 27 A. A. Kamanabrou, RdA 1997, 22 (32). 28 Engels, Verfassung und Arbeitskampfrecht, S. 198; Ladeur, AÖR 131 (2006), 643 (648f.); Bedenken bei Reuter, FS Wiese, 427 (433 f.). 29 BVerfG 6.5.1964, NJW 1964, 1267; v. Münch, JURA 1979, 25 (30).
A. Wortlaut des Art. 9 Abs. 3 GG
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fassung. Dass die Weimarer Reichsverfassung im Übrigen nach h. M. eine Betätigungsgarantie und eine Garantie der unmittelbaren und zwingenden Wirkung des Tarifvertragsrechts anerkannte, spricht eben dafür, dass diese Garantien in Art. 9 Abs. 3 GG fortbestehen.30 3. Vereinigungszweck als Abgrenzungskriterium a) Restriktive Ansicht Als weiterer Einwand wird vorgetragen, die Aufnahme des Vereinigungszwecks in den Wortlaut des Art. 9 Abs. 3 S. 1 GG diene der Abgrenzung von der Vereinigungsfreiheit und als tatbestandliche Beschränkung der Koalitionsfreiheit. Diese Beschränkung sei deshalb erforderlich, weil Art. 9 Abs. 3 GG auch für Ausländer gelte und unmittelbare Drittwirkung entfalte. Mehr lasse sich der Vorschrift nicht entnehmen.31 b) Stellungnahme Zunächst ist darauf zu verweisen, dass die unmittelbare Drittwirkung historisch vor allem dazu diente, den Bestandsschutz der Koalitionen zu sichern. Es sollte verhindert werden, dass Arbeitnehmer zum Austritt aus oder zum Eintritt in bestimmte Gewerkschaften gezwungen werden konnten. Der Schutz richtete sich dabei insbesondere auch gegen Privatrechtssubjekte. Nun ist dies insofern Ausdruck der geschichtlichen Entwicklung, als maßgeblich die Arbeitgeber, aber auch die Gewerkschaften, durch so genannte Closed-Shop-Regelungen versucht hatten, entsprechenden Druck zu entfalten. Insofern war in der Weimarer Zeit die entsprechende Regelung in der Tat an Art. 159 WRV gebunden und die Frage, wie sich die Regelung des Art. 9 Abs. 3 S. 2 GG zur kollektiven Koalitionsfreiheit verhält, ist nach wie vor nicht vollständig geklärt. Der Einwand, der Vereinigungszweck klassifiziere lediglich die Vereinigungen, die von der unmittelbaren Drittwirkung nach Art. 9 Abs. 3 S. 2 GG erfasst werden, wird mit Vehemenz vorgetragen.32 Dabei wird übersehen, dass dies kein Argument zur Auslegung des Wortlauts des Art. 9 Abs. 3 S. 1 GG ist. Sollte Art. 9 Abs. 3 S. 2 GG tatsächlich einen auf die individuelle Koalitionsfreiheit beschränkten Anwendungsbereich haben33, so ist damit über den Schutzbereich des Art. 9 Abs. 3 S. 1 GG nichts gesagt. Die Nennung des Vereinigungszwecks 30
Vgl. dazu 3. Kap. B. II. Burkiczak, Grundgesetz und Deregulierung des Tarifvertragsrechts, S. 299; Reuter, RdA 1994, 152 (162 ff.). 32 Burkiczak, Grundgesetz und Deregulierung des Tarifvertragsrechts, S. 314; a. A. Engels, Verfassung und Arbeitskampfrecht, S. 197. 33 Vgl. hierzu unten 3. Kap. C. II. 31
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3. Kap.: Gewährleistungsgehalt des Art. 9 Abs. 3 GG
in Art. 9 Abs. 3 S. 1 GG ist eine gegenständliche Begrenzung des Schutzbereichs dieser Vorschrift. Der durch diese Begrenzung gezogene Schutzbereich bestimmt nicht mehr als den maximalen Anwendungsbereich des Art. 9 Abs. 3 S. 2 GG. Sollten sich aus der Auslegung des Art. 9 Abs. 3 S. 2 GG weitergehende Einschränkungen für die Reichweite des S. 2 ergeben, so können daraus keine Rückschlüsse auf den Inhalt des Art. 9 Abs. 3 S. 1 GG gezogen werden. Die unmittelbare Drittwirkung wird an den Schutzbereich des Art. 9 Abs. 3 S. 1 GG gekoppelt, sie bestimmt diesen aber nicht. Darauf kommt es aber letztendlich für die Auslegung des Wortlauts des Art. 9 Abs. 3 S. 1 GG nicht an. Dessen Formulierung lässt die Ableitung sowohl einer Grundrechtsträgerschaft der Koalitionen als auch einer Betätigungsgarantie zu.34 Mehr ist für die weitere Auslegung nicht erforderlich. Dass die Vorschrift sich nicht darauf beschränkt, einen Sonderrechtsschutz gegen Beeinträchtigungen der individuellen koalitionsspezifischen Vereinigungsfreiheit zu treffen, ist allerdings mit Blick auf den Wortlaut überzeugend. Ansonsten hätte ein Satz gereicht, der dies festlegt und den Schutz auch auf Ausländer erstreckt. Separate Sätze sprechen für separate Zwecke. Dass Art. 9 Abs. 3 S. 1 GG lediglich die Anwendungsvoraussetzungen für Art. 9 Abs. 3 S. 2 GG definiert – so muss man die restriktive Sichtweise wohl verstehen; alles andere wäre ja in der Tat bereits durch Art. 9 Abs. 1 GG gewährleistet – vermag nicht zu überzeugen. c) Ergebnis Vor diesem Hintergrund spricht mehr für die Sichtweise, die dem Vereinigungszweck eine Betätigungsgarantie entnimmt.35 Insofern handelt es sich beim Schutz der Tarifautonomie durch Art. 9 Abs. 3 GG nicht um eine Erfindung des BVerfG, sondern um die Entwicklung einer in dessen Wortlaut angelegten Verfassungsposition.36 Allerdings ist darauf hinzuweisen, dass mit der Aufnahme des Vereinigungszwecks noch nichts über den Umfang dessen Schutzes gesagt ist.37
III. Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen Mit Blick auf die hier zu untersuchende Regelungsbefugnis der Tarifvertragsparteien stellt sich allerdings die Frage nach der Bedeutung des Wortpaares der 34 Vgl. dazu auch Engels, Verfassung und Arbeitskampfrecht, S. 197; Maschmann, Tarifautonomie im Zugriff des Gesetzgebers, S. 15; v. Münch, JURA 1979, 25 (30). 35 Engels, Verfassung und Arbeitskampfrecht, S. 197 f.; Maschmann, Tarifautonomie im Zugriff des Gesetzgebers, S. 15. 36 Konzen, NZA 1995, 913 (915); Henssler, ZfA 1998, 1 (7). 37 Kemper in: MKS, GG, Art. 9 GG, Rn. 118.
A. Wortlaut des Art. 9 Abs. 3 GG
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Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen. Geht man von einer Betätigungsgarantie für den Abschluss von Tarifverträgen aus, stellt das Begriffspaar der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen eine äußere Grenze der Regelungsbefugnis dar. Damit lässt sich jedenfalls eine Begrenzung in der Breite festhalten, sodass nur Regelungsgegenstände, die sich dem Begriffspaar zuordnen lassen in die Regelungskompetenz der Koalitionen fallen können. Insofern besteht eine sachlich-gegenständliche Beschränkung.38 Fraglich ist allerdings, ob damit allein die Regelungskompetenz aus dem Wortlaut korrekt abgeleitet ist. Denn aus der Formulierung „Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen“ lässt sich nicht ableiten, dass sämtliche diesem Begriffspaar unterfallenden Regelungsgegenstände der tarifvertraglichen Gestaltung zugänglich sein müssen.39 Allerdings ist ebenso zu konstatieren, dass der Wortlaut eine solche Deutung auch nicht ausschließt. Im Übrigen ist darauf zu verweisen, dass die tarifvertragliche Regelung von Gegenständen, die auch Inhalt des Arbeitsverhältnisses sein können, sofern man eine Betätigungsgarantie anerkennt eben nur eine Form der Wahrung und Förderung von Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen, mit dieser aber begrifflich nicht identisch ist. Damit müssen die Betätigungen im Rahmen des Art. 9 Abs. 3 GG zweifelsohne der Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen dienen. Nicht erforderlich ist hingegen, dass die tatsächliche Regelung jeder Arbeits- und Wirtschaftsbedingung per Tarifvertrag durch die Norm geschützt wird.40 Dem Wortlaut genügt auch ein Verständnis, das die tarifvertraglicher Regelung zugänglichen Regelungsgegenstände auf diejenigen beschränkt, die den Tarifvertragsparteien im Rahmen des staatlichen zwingenden Gesetzesrechts offen stehen, bei dem aber die grundrechtliche Gewährleistung potenziell jede denkbare Materie, die unter die Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen fällt, erfasst. Allerdings lässt sich dem Wortlaut entnehmen, dass eine negative Kompetenzanordnung im Sinne eines „die Tarifvertragsparteien sind unzuständig für . . .“ nicht zulässig ist. Der Gesetzgeber kann den nach der Verfassung festgeschriebenen Bereich der Tätigkeit der Tarifvertragsparteien einfachgesetzlich nicht limitieren, indem er bei eigener Untätigkeit eine Zuständigkeitssperre errichtet. Über die Frage der eigenen Regelung durch staatliche Stellen ist damit noch nichts gesagt. Dem steht nicht entgegen, dass nach der gegenwärtigen Regelung des § 1 Abs. 1 TVG sämtliche Regelungen, die die Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen 38 Döttger, Der Schutz tariflicher Normsetzung, S. 109; Kühnast, Die Grenzen zwischen tariflicher und privatautonomer Regelungsbefugnis, S. 46; Säcker/Oetker, Grundlagen und Grenzen der Tarifautonomie, S. 34 f. 39 Bock, Tarifdispositives Arbeitnehmerschutzrecht und Tarifautonomie, S. 284; Gellermann, Grundrechte im einfachrechtlichen Gewande, S. 164. 40 Bock, Tarifdispositives Arbeitnehmerschutzrecht und Tarifautonomie, S. 284; a. A. Butzer, RdA 1994, 375 (377); Däubler in: Däubler, TVG, Einl., Rn. 105; Dieterich, RdA 2002, 1 (8): Kamanabrou, RdA 1997, 22 (31); Säcker/Oetker, Grundlagen und Grenzen der Tarifautonomie, S. 36.
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3. Kap.: Gewährleistungsgehalt des Art. 9 Abs. 3 GG
betreffen, durch Tarifvertrag möglich sind. Diese Kompetenz folgt unabhängig von der hier diskutierten Reichweite der verfassungsrechtlich geschützten Regelungsbefugnis der Tarifvertragsparteien. Die Reichweite der einfachgesetzlichen Ausformung und die des Schutzbereichs der Regelungsbefugnis müssen sich nicht decken.41
IV. Wortlaut des Art. 9 Abs. 3 S. 3 GG Hinsichtlich der Begründung der Betätigungsgarantie in Art. 9 Abs. 3 GG ist auch Art. 9 Abs. 3 S. 3 GG in den Blick zu nehmen. Zwar spielt dieser in erster Linie im Rahmen der Auseinandersetzung um die verfassungsrechtliche Gewährleistung des Arbeitskampfes eine Rolle. Jedoch sind die in diesem Zusammenhang bestehenden Meinungsverschiedenheiten in der Literatur von grundlegender Bedeutung. 1. Bestätigung der Betätigungsgarantie durch Art. 9 Abs. 3 S. 3 GG Der überwiegende Teil der Literatur und das BVerfG sehen durch Art. 9 Abs. 3 S. 3 GG eine Betätigungsgarantie für die Koalitionen, jedenfalls aber eine verfassungsrechtliche Verankerung des Arbeitskampfes, als gewährleistet an.42 Ausgangspunkt dieser Überlegung ist der Charakter des Art. 9 Abs. 3 S. 3 GG als Bestandteil der Notstandsverfassung.43 Wenn sogar in einer Situation inneren oder äußeren Notstands der Arbeitskampf nicht mit Maßnahmen der Notstandsgesetzgebung bekämpft werden dürfe, sei es wenig überzeugend, ihn ansonsten nicht als geschützt anzusehen.44 Dem Gesetzgeber sei bei Abfassung der Vorschrift die Rechtsprechung des BAG bekannt gewesen, das im Zeitpunkt der Verabschiedung der Notstandsartikel den Arbeitskampf verfassungsrechtlich anerkannt hatte.45 Es sei davon auszugehen, dass der Gesetzgeber diese Rechtspre41
Bock, Tarifdispositives Arbeitnehmerschutzrecht und Tarifautonomie, S. 284 f. BVerfG 26.6.1991, NJW 1991, 2549 (2550); Bauer in: Dreier, GG, Art. 9 GG, Rn. 69; Bötticher, RdA 1969, 367 (368); Däubler, Der Streik im öffentlichen Dienst, S. 72; Höfling, VVDStRL 59 (2000), S. 154 (155); ders., in: Sachs, GG, Art. 9 GG, Rn. 67; Hueck, RdA 1969, 430 (431); Lerche, Verfassungsrechtliche Zentralfragen des Arbeitskampfs, S. 89; Otto, Arbeitskampf und Schlichtungsrecht, § 4, Rn. 19; ders., SAE 1991, 45 (51); Pieroth/Schlink, Grundrechte, Rn. 737; Rüthers, DB 1968, 1948 (1949 f.); Säcker, Grundprobleme der kollektiven Koalitionsfreiheit, S. 81; Scheuner, RdA 1971, 327 (330); Schwarze, Der Betriebsrat im Dienste der Tarifvertragsparteien, S. 63; v. Münch, Jura 1979, 25 (34); Wank, FS Kissel, S. 1224 (1228); von Zezschwitz, DB 1973, 1435 (1440); unklar BAG 26.4.1988, NZA 1988, 775 (777); a. A. Burkiczak, Grundgesetz und Deregulierung des Tarifvertragsrechts, S. 305; Engels, Verfassung und Arbeitskampfrecht, S. 163 ff.; Reuter, RdA 1994, 152 (162). 43 Vgl. dazu unten auch noch unter 3. Kap. B. V. 44 Däubler, Der Streik im öffentlichen Dienst, S. 72; Otto, SAE 1991, 45 (51); Rüthers, DB 1968, 1948 (1949). 45 Hueck, RdA 1968, 430 (431). 42
A. Wortlaut des Art. 9 Abs. 3 GG
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chung kannte und sie kodifizieren wollte.46 Art. 9 Abs. 3 S. 3 GG spiegele insofern die Auffassung des Verfassungsgesetzgebers wider, dass der Arbeitskampf durch Art. 9 Abs. 3 S. 1 GG gewährleistet sei.47
2. Ablehnende Ansicht Dagegen wird geltend gemacht, der Gesetzgeber habe die verfassungsrechtliche Gewährleistung des Art. 9 Abs. 3 S. 1 GG gerade nicht inhaltlich verändern wollen; die entsprechende Frage sei umstritten gewesen.48 Die Entstehungsgeschichte streite gegen die Annahme, Art. 9 Abs. 3 S. 3 GG gewährleiste den Arbeitskampf als spezifische Betätigungsgarantie. Er sei als Einschränkung der Befugnisse der Notstandsverfassung konzipiert49 und insofern auch ursprünglich nicht in Art. 9 Abs. 3 GG, sondern in einem ursprünglich geplanten Art. 91 Abs. 4 GG verankert gewesen. Er sei damit ursprünglich nicht als Teil des Grundrechtskatalogs konzipiert gewesen und somit für dessen Auslegung nicht zu mobilisieren.50 Der Kompromisscharakter, den die Verortung in Art. 9 Abs. 3 S. 3 GG getragen habe, verschließe den Weg, diesem eine tragende Bedeutung für die Auslegung des Art. 9 Abs. 3 S. 1 GG zuzumessen. Es sei lediglich zu konstatieren, dass die Verfassung den Arbeitskampf gewährleiste, nicht aber, dass diese Grundrechtsposition aus Art. 9 Abs. 3 GG folge.51
3. Stellungnahme Letztere Auffassung sucht den berechtigten Einwand aufzulösen, dass eine Eingriffsschranke für Notstandsbefugnisse nur dann Sinn mache, wenn die Notstandsverfassung den staatlichen Stellen Befugnisse verleihe, deren Ausübung ihnen ansonsten durch die Verfassung erschwert oder verwehrt ist.52 Allerdings ist auch diese Beschränkung auf die Anerkennung eines „irgendwie“-Schutzes nicht überzeugend.53 Denn in diesem Falle ist der Standort des Art. 9 Abs. 3 S. 3 GG schlichtweg nicht zu erklären. Wenn er Regelungen zum verfassungsrechtlichen Schutz des Arbeitskampfes enthält, dann gibt sein Standort auch über das
46
Hueck, RdA 1968, 430 (431). Däubler, Der Streik im öffentlichen Dienst, S. 72. 48 Burkiczak, Grundgesetz und Deregulierung des Tarifvertragsrechts, S. 303 f.; Seiter, Streikrecht und Aussperrung, S. 71 ff. 49 BAG 26.4.1988, NZA 1988, 775 (777); a. A. BVerfG 26.6.1991, NJW 1991, 2549 (2550). 50 Engels, Verfassung und Arbeitskampfrecht, S. 169. 51 Engels, Verfassung und Arbeitskampfrecht, S. 169. 52 Otto, SAE 1991, 45 (51). 53 Däubler, Der Streik im öffentlichen Dienst, S. 72. 47
198
3. Kap.: Gewährleistungsgehalt des Art. 9 Abs. 3 GG
„Wo“ des Schutzes Auskunft.54 Dass der Wortlaut im Übrigen von Vereinigungen im Sinne des S. 1 der Vorschrift spricht, spricht im Übrigen dafür, diese als durch die Verfassung geschützte Grundrechtsträger anzusehen. Auch dies trägt die Sichtweise, dass die Koalitionsfreiheit eine kollektive Dimension auch hinsichtlich der Grundrechtsträgerschaft hat.55 Es macht erkennbar wenig Sinn, dem Gesetzgeber Schranken beim Eingriff in Positionen aufzuerlegen, die verfassungsrechtlich nicht geschützt sind.56 Eine Schranken-Schranke impliziert insofern eine grundrechtliche Gewährleistung.57 Denn wäre der Arbeitskampf verfassungsrechtlich nicht geschützt, wäre eine solche Schranken-Schranke schlichtweg überflüssig. Die Gegenposition meint nun, Art. 9 Abs. 3 S. 3 GG sei nicht – wie dies die ganz herrschende Meinung annimmt – eine Schranken-Schranke58, sondern eine deklaratorische Beschränkung der Notstandsverfassung.59 Dabei bleibt aber die Schwäche dieser Sichtweise, dass sie nicht erklären kann, warum der Gesetzgeber aus der Notstandsverfassung eine Ermächtigung zu Maßnahmen benötigen soll, die er im Normalfall ohnehin treffen darf. Auch wird der Rückschluss von der Schranken-Schranke auf die Gewährleistung mit dem Argument angegangen, diese beschränke sich auf eben diesen Charakter und lasse einen Rückschluss nicht zu.60 Sie sei lediglich ein Teilschutz eines spezifischen Verhaltens. Dieser Einwand überzeugt ebenfalls nicht, weil auch er nicht darüber hinweghilft, dass die Vorschrift bei dieser Betrachtungsweise den inneren Widerspruch erhält, ein Verhalten spezifisch im Notstand zu schützen, dem ansonsten kein Schutz wiederfahren soll.61 Bemerkenswert ist, dass gerade diejenige Position im Schrifttum, die im Bereich des Art. 9 Abs. 3 S. 1 GG restriktiv auf dem Wortlaut der Vorschrift beharrt,62 mit erheblichem Begründungsaufwand versucht, sich unter Rückgriff auf die Entstehungsgeschichte über den Wortlaut des Art. 9 Abs. 3 S. 3 GG hinwegzusetzen.63 Betrachtet man den Wortlaut des Art. 9 Abs. 3 S. 3 GG, ist der Ar54
Hueck, RdA 1969, 430 (431). Schwarze, Der Betriebsrat im Dienste der Tarifvertragsparteien, S. 63. 56 Otto, SAE 1991, 45 (51); Wank, FS Kissel, S. 1224 (1228). 57 Höfling, VVDStRL, 59 (2000), S. 154 (155); a. A. Richardi, JZ 1992, 27 (29). 58 Bauer in: Dreier, GG, Art. 9 GG, Rn. 96; Engels, Verfassung und Arbeitskampfrecht, S. 167; Gneiting in: Umbach/Clemens, GG, Art. 9 GG, Rn. 147; Höfling in: Sachs, GG, Art. 9 GG, Rn. 141; Richardi, JZ 1992, 27 (29); Scholz in: Maunz/Dürig, GG, Art. 9 GG, Rn. 389. 59 Burkiczak, Grundgesetz und Deregulierung des Tarifvertragsrechts, S. 305. 60 Engels, Verfassung und Arbeitskampfrecht, S. 168; Scholz, Koalitionsfreiheit als Verfassungsproblem, S. 38 f. 61 Otto, SAE 1991, 45 (51); Wank, FS Kissel, S. 1224 (1228). 62 Burkiczak, Grundgesetz und Deregulierung des Tarifvertragsrechts, S. 298. 63 Burkiczak, Grundgesetz und Deregulierung des Tarifvertragsrechts, S. 303 ff. 55
A. Wortlaut des Art. 9 Abs. 3 GG
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beitskampf als Gewährleistung des Art. 9 Abs. 3 GG und damit auch eine Betätigungsgarantie als in der Norm angelegt anzusehen.64 Die Tatsache, dass der Wechsel des Standorts entstehungsgeschichtlich auf einen Kompromiss zurückzuführen ist, steht dieser Betrachtungsweise nicht entgegen.65 Vielmehr ist mit dem BVerfG von einer zumindest mittelbaren Anerkennung des Arbeitskampfes durch Art. 9 Abs. 3 S. 3 GG auszugehen.66 Denn in der Tat ist es fragwürdig anzunehmen, in einer Zeit des Notstands, in der die Beschränkung des Arbeitskampfes besonders naheliegt, sei durch die Verfassung ein privilegierter Schutz für ein Verhalten gewährt, dem diese ansonsten indifferent gegenübersteht.67 Der Standort des Art. 9 Abs. 3 S. 3 GG gibt dann eben auch über die Verortung dieses Schutzes Auskunft.68 Der Einwand, die Verortung resultiere aus Erwägungen „politischer Zweckmäßigkeit“ und sei daher nicht aussagekräftig,69 ist demgegenüber substanzlos. Denn durch redaktionelle Veränderungen des ursprünglich als Art. 91 Abs. 4 GG konzipierten Artikels sah man sich veranlasst, einen neuen Standort für diesen zu finden. Dazu war eine positive Entscheidung erforderlich. Die abweichende Position unterstellt, der Gesetzgeber sei geradezu zufällig auf Art. 9 Abs. 3 GG gestoßen, was wenig überzeugend ist. Insofern darf aus dem Standort des Art. 9 Abs. 3 S. 3 GG durchaus auf den Inhalt des Art. 9 Abs. 3 S. 1 GG zurückgeschlossen werden.70 4. Ergebnis Damit erscheint insgesamt die Auffassung überzeugender, die Art. 9 Abs. 3 S. 3 GG als Anerkennung des Arbeitskampfes und damit als verfassungsrechtliche Verankerung eines Teiles der koalitionsspezifischen Betätigung ansieht. Damit ist allerdings mit Blick auf die Betätigungsgarantie nur bestätigt, dass der Wortlaut für diese spricht. Ihr Umfang ist nur hinsichtlich des Arbeitskampfes, nicht aber hinsichtlich der tarifvertraglichen Regelungsbefugnis angesprochen.
V. Ergebnis Mit Blick auf den Wortlaut des Art. 9 Abs. 3 GG ist zu konstatieren, dass dieser alles andere als eindeutig ist. Allerdings ist festzuhalten, dass der Schutz der Tarifautonomie keine vom Wortlaut entkoppelte Erfindung des BVerfG ist, son64 65 66 67 68 69 70
Bauer in: Dreier, GG, Art. 9 GG, Rn. 69. Scheuner, RdA 1971, 327 (330). BVerfG 26.6.1991, NJW 1991, 2549 (2550). Otto, Arbeitskampf und Schlichtungsrecht, § 4, Rn. 19. Hueck, RdA 1969, 430 (431). Seiter, Streikrecht und Aussperrung, S. 74. Hueck, RdA 1969, 430 (431).
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3. Kap.: Gewährleistungsgehalt des Art. 9 Abs. 3 GG
dern vielmehr in diesem angelegt ist.71 Der Wortlaut sowohl des Art. 9 Abs. 3 S. 1 GG als auch des Art. 9 Abs. 3 S. 3 GG enthält damit Ausgangspunkte und Inhalte einer, wenn auch kaum konturierten, Betätigungsgarantie. Er lässt sich weder als Argument gegen eine tarifvertragliche Regelungsbefugnis anführen noch spricht er dafür, eine solche mit Reichweite für sämtliche Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen als grundrechtlich verankert anzusehen. Dass Art. 9 Abs. 3 GG eine solch weit reichende Sollbruchstelle festschreiben sollte, kann man dem Wortlaut isoliert nicht entnehmen.72 Grundlage und Umfang der Tarifautonomie bedürfen daher einer weitergehenden Analyse.
B. Entstehungsgeschichte Für die Auslegung der Koalitionsfreiheit ist ihr Entstehungsprozess von besonderer Bedeutung.73 Dies gilt auch für die Regelungsbefugnis der Tarifvertragsparteien. Dafür sind die Entwicklung der Betätigungsgarantie und des verfassungsmäßigen Schutzes der Koalitionen in den Blick zu nehmen. Denn die Sichtweise einer Vorranggarantie lässt sich aus der Entstehungsgeschichte der Tarifautonomie nur sehr begrenzt stützen. Dies gilt insbesondere dann, wenn man sich ihre Ursprünge vor Augen hält. Dann wird deutlich, dass die Koalitionsfreiheit und die Tarifautonomie nicht als Abwehrrechte gegenüber staatlicher Gesetzgebung im Arbeitsrecht konzipiert sind. Sie entstanden als Reaktion auf staatliche Untätigkeit bei der Schaffung von Schutzrecht zur Kompensation struktureller Unterlegenheit. Enstehungsgeschichte und Telos des Art. 9 Abs. 3 GG stehen damit in einem engen Zusammenhang.
I. Kaiserzeit bis 1918 1. Tarifautonomie als Schutzinstrument gegenüber staatlicher Untätigkeit Geht man zu den Anfängen des Tarifvertrags in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts zurück, so zeigt sich, dass er sich als ein vom Staat bekämpftes Instrument der Wahrung von Arbeitnehmerinteressen darstellt. Die Situation gegen Ende des 19. Jahrhunderts stellte sich nicht so dar, dass es den Tarifvertragsparteien in erster Linie um ihre Autonomie gegangen wäre. Vielmehr wollten die Gewerkschaften die sozialen Missstände, die durch eine staatlich ungezügelte 71
Konzen, NZA 1995, 913 (915). Kemper in: MKS, GG, Art. 9 GG, Rn. 117. 73 BVerfG 1.3.1979, NJW 1979, 699 (708); Friese, Kollektive Koalitionsfreiheit und Betriebsverfassung, S. 250; Säcker/Oetker, Grundlagen und Grenzen der Tarifautonomie, S. 55 f. 72
B. Entstehungsgeschichte
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Privatautonomie zu Lasten der Arbeitnehmer entstanden waren, korrigieren und sich staatlicher Angriffe auf ihre Existenz erwehren. Dabei bestand in der Gewerkschaftsbewegung durchaus Streit darüber, ob Tarifvertrag und Arbeitskampf zur Korrektur der sozialen Missstände geeignete Mittel waren.74 Ein Teil der Gewerkschaften, die maßgeblich auf einen politischen Umsturz hin zu einem kommunistischen Staatssystem hinarbeiteten, lehnten diese Instrumente als „systemkonform“ ab.75 Ein anderer Teil erblickte im Tarifvertrag den Weg zur Kompensation der Funktionsdefizite der privatautonomen Ordnung. Allgemein akzeptiert wurde der Tarifvertrag durch die Gewerkschaften erst auf dem 3. Kongress der freien Gewerkschaften im Jahre 1899.76 Für die hier zu untersuchende Frage des Verhältnisses staatlicher und tarifvertraglicher Regelungsbefugnis ist von besonderer Bedeutung, dass die gewerkschaftlichen Aktivitäten vor allem deshalb auf den Plan gerufen wurden, weil der Staat untätig blieb.77 Insofern ging es den Gewerkschaften gegen Ende des 19. Jahrhunderts darum, die staatliche Untätigkeit zu kompensieren, oder in den Worten einer Petition des Berliner Buchdruckervereins aus dem Jahre 1864, das „Recht der Koalitionen im Interesse einer annäherungsweisen Ausgleichung des Übergewichts des Unternehmers über den unbemittelten Arbeiter“ zu gewährleisten.78 Es zeigt sich also bereits vor der rechtlichen Anerkennung der Koalitionen oder des Tarifvertrags, dass die Bekämpfung struktureller Unterlegenheit der Arbeitnehmer Ursache und Geltungsgrund der Koalitionsfreiheit ist.79 Dieser historische Kern hat mit einer staatsfreien Autonomie aber wenig zu tun. Er resultiert aus staatlicher Untätigkeit. Diese war Ursache, nicht Ziel der in der Entstehung befindlichen Koalitionsfreiheit. Es zeigt sich bereits damals die Korrekturfunktion des Tarifvertrags für Freiheitsdefizite der Privatrechtsordnung.80
74 Däubler in: Däubler, TVG, Einl., Rn. 8; Molitor, Kommentar zur Tarifvertragsverordnung, Einl. A., S. 1. 75 Ursache hierfür war die volkswirtschaftliche Lohntheorie, nach der sich der Arbeitslohn allein durch Angebot und Nachfrage regele, also die Arbeitnehmer durch Arbeitskampf oder ähnliche Maßnahmen keine substantielle Verbesserung ihrer Lage erreichen konnten. Diese Vorstellung führt dazu, dass ein Teil der Politik der Koalitonsfreiheit weniger kritisch gegenüber stand, weil ihre ökonomischen Wirkungen als gering angesehen wurden. Zum Ganzen vgl. Kittner, Arbeitskampf, S. 209 ff., 214, 222 f.; Kempen, Sonderbeil. NZA Heft 3/2000, 7 (8). 76 Molitor, Kommentar zur Tarifvertragsverordnung, Einl. A., S. 1; Kempen, Sonderbeil. NZA Heft 3/2000, 7 (8). 77 Andelewski, Staatliche Mindestarbeitsbedingungen, S. 276; Säcker, Gruppenparität und Staatsneutralität als verfassungsrechtliche Grundprinzipien des Arbeitskampfrechts, S. 114; ders. Grundprobleme der kollektiven Koalitionsfreiheit, S. 47; Scholz, Koalitionsfreiheit als Verfassungsproblem, S. 22 ff.; Rüthers, DB 1973, 1649 (1650). 78 Zitiert nach Kittner, Arbeitskampf, S. 212. 79 Bartlog, Das Verhältnis von Tarifvertrag und Gesetz, S. 123; vgl. dazu 2. Kap. D. und 3. Kap. D. I. 80 Ausführlich: Englberger, Tarifautonomie im Deutschen Reich, S. 80 ff.
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3. Kap.: Gewährleistungsgehalt des Art. 9 Abs. 3 GG
2. Ordnungsfunktion des Tarifvertrags Eingehend wurde die Ordnungsfunktion des Tarifvertrags diskutiert.81 Auch diese ist damit in den Wurzeln der Koalitionsfreiheit angelegt. Von Interesse, maßgeblich für die teilweise so kritisch gesehene Ordnungsfunktion der Tarifautonomie, ist auch die anfängliche Haltung der Arbeitgeber.82 Diese wandten sich in ihrer Mehrheit gegen die Koalitionsverbote, weil sie befürchteten, diese könnten zu unkontrollierten auf einen Systemumsturz hinauslaufenden Ausbrüchen führen. Das freie Koalitionsrecht hingegen sei „in der Regel eine Grundlage für Unterhandlungen und Verständigung“. Ebenso hätten die Koalitionen „meist zu friedlicher, sonst vielleicht nicht zu erreichender Verständigung über erhebliche Differenzen zwischen Arbeitgebern und Arbeitern geführt“.83 Bismarcks Blick auf die Koalitionsfreiheit war zunächst ähnlich84, auch wenn Arbeitgeber und Politik ihre Sichtweise später deutlich wandelten. Damit entsteht ein auch für die hier in Rede stehende Frage ein interessantes Bild. Die Ordnungs- und Befriedungsfunktion des Tarifvertrags erscheint als Gegenleistung für die Beseitigung der strukturellen Unterlegenheit der Arbeitnehmer. Mit Blick auf das hohe Maß an sozialem Frieden und der im internationalen Vergleich minimalen Zahl an Streiks, die heute in der Bundesrepublik zu verzeichnen sind85, hat die Tarifautonomie dieses „Versprechen“ bis heute eingelöst. 3. Tarifautonomie als Korrektur von Fehlfunktionen der Privatautonomie Die systemkonforme Korrektur der Privatautonomie erscheint in der Sitatuon der Entstehung der Koalitionsfreiheit als Überlebensvoraussetzung des privatautonomen Systems. Historisch gesehen war die Tarifautonomie also ein Instrument zur Korrektur von Systemfehlern der Privatautonomie, durch die die Privatrechtsordnung überlebensfähig wurde.86 Allerdings ist ebenso zu konstatieren, dass mit der beginnenden Anerkennung der Koalitionen durch die Arbeitgeber aufgrund der volkswirtschaftlichen Vorstellungen der damaligen Zeit keine weitgehenden Konsequenzen für die sozialen Verhältnisse verbunden wurden. Diese Vorstellungen hatten mit der weiteren Entwicklung nur begrenzt etwas zu tun. In den folgenden Jahren kam es zu einem erbitterten Kampf um die Reichweite der einmal begründeten Koalitionsfreiheit. Bedeutsam hierbei ist allerdings die Erkenntnis, dass die Bekämpfung des Streiks von dieser Entwicklung kaum beein81 82 83 84 85 86
Englberger, Tarifautonomie im Deutschen Reich, S. 80 ff. Kittner, Arbeitskampf, S. 216. Kittner, Arbeitskampf, S. 216. Vgl. dazu Kittner, Arbeitskampf, S. 222. Vgl. dazu Preis, Kollektivarbeitsrecht, § 108. Picker in: GS Knobbe-Keuk, S. 879 (885 f.).
B. Entstehungsgeschichte
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flusst wurde. Vielmehr wurde die Koalitionsfreiheit von vorneherein nur mir erheblichen Sicherungen gegen ihren Gebrauch in Form von Streiks akzeptiert.87 Die zitierten wohlwollenden Blickwinkel und Ideen gingen denn auch unter den zunehmenden sozialen Konflikten verloren. Dies lag nicht zuletzt am Schulterschluss des Wirtschaftsbürgertums mit der bismarckschen Politik, die sich einen weitgehenden Verzicht auf sozialstaatliche Intervention auferlegte.88 In diesem Rahmen bewegte sich das Kaiserreich auf die Aufhebung des Verbots der Koalitionsfreiheit zu. 4. Aufhebung der Koalitionsverbote in der Gewerbeordnung Diese fand mit der Aufhebung der Koalitionsverbote in der Gewerbeordnung für den Norddeutschen Bund von 1869, die später in der Reichsgewerbeordnung aufging, ihren Vollzug.89 Die §§ 152, 153 GewO hoben die Koalitionsverbote auf.90 Allerdings wurden diese nur für einen Teil der Arbeiter aufgehoben.91 Ebenso wurde die Unverbindlichkeit aller die Verbände betreffenden Verabredungen statuiert.92 Die Vereinbarungen bezüglich einer Koalition waren nicht einklagbar, die Koalitionsmitglieder konnten jederzeit von den durch die Koalitionen begründeten Vereinbarungen zurücktreten.93 Dieser Status der Unverbindlichkeit war denn auch von Anfang an Gegenstand eingehender Kritik. Dass die §§ 152, 153 GewO dann auch noch als Sonderstrafrecht gegen die Arbeitnehmer eingesetzt wurden94, rundete das repressive Gesamtbild der staatlichen Aktivitäten gegenüber der Betätigungsfreiheit ab. 5. Sozialistengesetze In der Folge wurden im Zuge der Bekämpfung der Sozialdemokraten durch das „Gesetz gegen die gemeingefährlichen Bestrebungen der Sozialdemokratie“ (1878) eine Vielzahl von Gewerkschaften wegen angeblicher sozialdemokratischer Bestrebungen aufgelöst.95 Das Gesetz wurde zur Verhinderung von Streiks 87
Kittner, Arbeitskampf, S. 222 ff. Kittner, Arbeitskampf, S. 221 f. 89 Zuvor war dieser Schritt bereits in anderen Staaten, Sachsen (1861), Weimar (1863), vollzogen worden. 90 Vgl. dazu Englberger, Die Tarifautonomie im Deutschen Reich, S. 25 f. 91 Englberger, Die Tarifautonomie im Deutschen Reich, S. 25 f. 92 Kittner, Arbeitskampf, S. 293; Kempen, Sonderbeil. NZA Heft 3/2000, 7 (8). 93 Englberger, Die Tarifautonomie im Deutschen Reich, S. 25 ff.; Kempen, Sonderbeil. NZA Heft 3/2000, 7 (9). 94 Kittner, Arbeitskampf, S. 296 ff.; Krummel, Die Geschichte des Unabdingbarkeitsgrundsatzes und des Günstigkeitsprinzips im Tarifvertragsrecht, S. 14; Englberger, Die Tarifautonomie im Deutschen Reich, S. 25 ff. 95 Däubler in: Däubler, TVG, Einl., Rn. 10; Krummel, Die Geschichte des Unabdingbarkeitsgrundsatzes und des Günstigkeitsprinzips im Tarifvertragsrecht, S. 14. 88
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3. Kap.: Gewährleistungsgehalt des Art. 9 Abs. 3 GG
eingesetzt.96 Ebenso sahen sich die Gewerkschaften einem repressiven Gebrauch des Vereinsrechts ausgesetzt, sodass die Vereinigungen in ihrem Bestand durch den Staat bedroht waren.97 Die Anwendung des Gesetzes diente damit nicht allein zur Bekämpfung der Sozialdemokraten, sondern wurde systematisch zum staatlichen Eingriff in Arbeitskämpfe genutzt.98 Dies erklärt auch, weshalb historisch die Abwehr staatlicher Intervention so bedeutsam für die Garantie der Koalitionsfreiheit war. Gerade vor diesem historischen Hintergrund scheint die Annahme, die Tarifautonomie diene der Abwehr staatlicher Sozialpolitik, nicht überzeugend. Vor dem Hintergrund der Angriffe auf den Bestand der Gewerkschaften spricht die historische Entwicklung vielmehr deutlich für die Theorie vom Doppelgrundrecht in Art. 9 Abs. 3 GG.99 Der vorstehende historische Zusammenhang erklärt auch, warum im späteren Verlauf der deutschen Geschichte die Koalitionsfreiheit in engem Zusammenhang zur Vereinigungsfreiheit steht. Denn aus den Erfahrungen des Kaiserreichs ergab sich die Notwendigkeit, die Existenzgrundlage der Koalitionen, nämlich ihren Bestand als Vereinigung, gegenüber dem Staat zu sichern. Sofern man also der Koalitionsfreiheit aus ihrem Entstehungsprozess heraus eine Abwehrdimension gegen den Staat zuspricht, so ist diese zunächst auf den Schutz des Bestandes der Koalition und das Streikrecht beschränkt. Eine staatsfreie Autonomie spielte dabei noch keine Rolle. Es ging vielmehr darum, sich staatlicher Repression gegen die eigene Tätigkeit zu erwehren. Das aus der staatlichen Repression resultierende Misstrauen gegen den Staat führte sogar dazu, dass die Gewerkschaften einer gesetzlichen Regelung des Tarifvertragsrechts kritisch gegenüberstanden und zunächst auf ihre Selbsthilfe vertrauten.100 Erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts gelang es, trotz staatlicher Repressalien zunehmend Tarifverträge abzuschließen und dem Tarifvertrag in erhöhtem Maße zur Durchsetzung zu verhelfen.101 Ein massiver Anstieg des Abschlusses von Tarifverträgen war ab der Jahrhundertwende zu verzeichnen.102 Allerdings war der überwiegende Teil der Arbeitnehmer, insbesondere in der Großindustrie, gegen Ende des Kaiserreichs nicht von Tarifverträgen erfasst.103
96
Däubler in: Däubler, TVG, Einl., Rn. 10. Kittner, Arbeitskampf, S. 271 ff. 98 Kittner, Arbeitskampf, S. 263 ff. 99 Vgl. dazu 2. Kap. C. V. 1. 100 Molitor, Kommentar zur Tarifvertragsverordnung, Einl. A., S. 2. 101 Englberger, Tarifautonomie im Deutschen Reich, S. 47 ff. 102 Englberger, Tarifautonomie im Deutschen Reich, S. 49. 103 Englberger, Tarifautonomie im Deutschen Reich, S. 51. 97
B. Entstehungsgeschichte
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6. Fehlende kompensatorische Sozialgesetzgebung Gleichzeitig verschärfte sich in den 70er Jahren des 19. Jahrhunderts die soziale Frage. Die strukturelle Unterlegenheit der Arbeitnehmer trat mit voller Wucht zu Tage. Der freie Vertrag pervertierte für die Lohnarbeiter zum „Instrument der Unfreiheit“ 104, die soziale Frage wurde zum unübersehbaren gesellschaftlichen Problem, das die Arbeiter zunehmend zur Organisation der eigenen Interessen trieb. Verbunden damit war das Entstehen und Erstarken der Sozialdemokraten. Die Etablierung der Sozialversicherung ab 1883 war zunächst ein Versuch, das „Wohl der Arbeiter“ zu fördern, um das Erstarken der Sozialdemokratie zu hindern. Ihre Einführung erfolgte denn auch weniger aus sozialstaatlichen Motiven, als vielmehr aus dem Bedürfnis, die Staatsordnung zu erhalten und für Ruhe im Staat zu sorgen.105 In die gleiche Richtung ging das Arbeiterschutzgesetz von 1890, das die Festlegung grundlegender Arbeitsbedingungen durch den Arbeitgeber in einer Arbeitsordnung vorschrieb. Allerdings verfolgte diese nicht das Ziel des Arbeitnehmerschutzes.106 Eine inhaltliche Verbesserung der Arbeitsbedingungen blieb aus.107 Das Arbeiterschutzgesetz sicherte – wegen Abweichungsmöglichkeiten per Arbeitsvertrag108 – keine vom Willen des Arbeitgebers unabhängigen Mindeststandards, sondern diente einer begrenzten Beschränkung der Willkür der Arbeitgeber, weil eine Beweismöglichkeit für im Betrieb bestehende Arbeitsbedingungen geschaffen wurde. Von Sinzheimer wurde dieser „Fortschritt“ als Entwicklung von der „Despotie zur Monarchie“ klassifiziert.109 Einen substanziellen Beitrag zur Beseitigung von Machtimparitäten lieferte das Gesetz nicht. Vielmehr lehnte die Reichsregierung Korrekturen des Machtungleichgewichts zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern auch in der weiteren geschichtlichen Entwicklung als Störung der natürlichen Entwicklung ab.110 Ein Wandel erfolgte erst in den Kriegsjahren, in denen, vor allem durch das Hilfsdienstgesetz, eine erste Anerkennung sowohl der Arbeitnehmer- als auch der Arbeitgeberkoalitionen erfolgte.111 Dieser reinen Folgenbeseitigung der sozialen Missstände stand jedoch keine Veränderung der strukturellen Defizite der Privatrechtsordnung gegenüber, so104 Picker in: GS Knobbe-Keuk, S. 879 (884); Kempen, Sonderbeil. NZA Heft 3/ 2000, 7 (8). 105 Kittner, Arbeitskampf, S. 268. 106 Schmidt, Das Günstigkeitsprinzip im Tarifvertrags- und Betriebsverfassungsrecht, S. 39. 107 Schmidt, Das Günstigkeitsprinzip im Tarifvertrags- und Betriebsverfassungsrecht, S. 39. 108 Englberger, Tarifautonomie im Deutschen Reich, S. 24. 109 Sinzheimer, Der Arbeitsnormenvertrag I, S. 21. 110 Krummel, Die Geschichte des Unabdingbarkeitsgrundsatzes und des Günstigkeitsprinzips im Tarifvertragsrecht, S. 10. 111 Englberger, Tarifautonomie im Deutschen Reich, S. 29, 31.
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dass der Bedarf nach nichtstaatlicher Korrektur verblieb und durch den Abschluss von Tarifverträgen gesucht wurde. Andererseits weigerte sich ein erheblicher Teil der Wirtschaft, maßgeblich die Großindustrie, überhaupt Vereinbarungen mit den Gewerkschaften zu schließen.112 Auch die gegründeten bzw. in ihrer Funktion mit Blick auf die Gewerkschaften veränderten Arbeitgebervereinigungen waren zunächst nicht an kontradiktorischem Interessenausgleich interessiert.113 Zwar wurden diese nicht erst in Reaktion auf die Gewerkschaften gegründet, ihre Funktion wandelte sich aber durch das verstärkte Auftreten von Gewerkschaften.114 Dabei war von Bedeutung, dass sich die Arbeitgeberverbände nicht nur als Selbsthilfeverbände im Falle von Arbeitskämpfen oder zur Wahrung ihrer Interessen gegenüber der Politik verstanden. Ihre Verbandsziele waren nach der anfänglich zurückhaltenden Sichtweise nunmehr davon geprägt, die Gewerkschaften als „tunlichst zu eliminierende, jedenfalls niederzuhaltende Feinde“ als Institutionen zu bekämpfen.115 Diese Ziele blieben bis zum Ende des Kaiserreichs erhalten. Auch sie erklären eindrucksvoll, warum die Anerkennung der Koalitionsfreiheit als Vereinigungsgrundrecht eben nicht mit der bloßen Begründung eines individuellen Grundrechts einhergeht. Insofern unterscheidet sich die Entstehung des Koalitionsrechts in Deutschland wesentlich von der in England116, weswegen auch der regelmäßige Rekurs auf die englische Form der Tarifautonomie aus historischer Sicht nur begrenzt überzeugend ist. Die Entwicklung der Systeme ist seit über 150 Jahren unterschiedlich, Transferüberlegungen daher von überaus eingeschränkter Überzeugungskraft. 7. Normative und zwingende Wirkung des Tarifvertrags Die juristische Diskussion um den Tarifvertrag, die gegen Ende des 19. Jahrhunderts begann, beschäftigte sich zunächst mit der Frage der normativen Wirkung des Tarifvertrags bzw. seiner Durchsetzung.117 Ursache der Diskussionen war, dass die Rechtsprechung den Tarifvertrag zunächst als unverbindliche „Verabredung“ i. S. d. § 152 Abs. 2 GewO ansah, was dazu führte, dass die Tarifverträge keinerlei Verbindlichkeit besaßen.118 Die entsprechende Rechtsprechung des Reichsgerichts in Strafsachen wurde von den Zivilsenaten des Reichsgerichts 112
Däubler in: Däubler, TVG, Einl., Rn. 13; Kittner, Arbeitskampf, S. 322. Kittner, Arbeitskampf, S. 320 f. 114 Kittner, Arbeitskampf, S. 320 f. 115 Vgl. zur Sichtweise der Arbeitgeberverbände ausführlich Kittner, Arbeitskampf, S. 321. 116 Kittner, Arbeitskampf, S. 321. 117 Zusammenfassend: Dreschers, Die Entwicklung des Rechts des Tarifvertrags in Deutschland, S. 49 ff. 118 RG vom 30.4.1903, RGSt 36, 236 (240); vgl. dazu Krummel, Die Geschichte des Unabdingbarkeitsgrundsatzes und des Günstigkeitsprinzips im Tarifvertragsrecht, S. 18; Englberger, Die Tarifautonomie im Deutschen Reich, S. 27. 113
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zwar nicht geteilt.119 Allerdings war es, auch nach der insoweit erfolgten Teilanerkennung des Tarifvertrags, weiterhin möglich, den Tarifvertrag einzelvertraglich oder per abweichender betrieblicher Arbeitsordnung zu unterlaufen.120 Als weiteres Problem stellte sich die fehlende rechtliche Anerkennung der Arbeitgeber- und Arbeitnehmerverbände dar, die diesen die Möglichkeit nahm, Verletzungen geschlossener Tarifverträge auf dem Klageweg anzugreifen.121 Damit war das größte Problem des Tarifvertragsrechts der damaligen Zeit, die Verbindlichkeit gegenüber abweichenden Abreden sicher zu stellen. Die Frage, ob und wie diese auf Basis des geltenden Zivilrechts konstruiert werden konnte, war hochgradig umstritten.122 Weitgehend anerkannt war hingegen die Notwendigkeit der Unabdingbarkeit des Tarifvertrags.123 Das juristische Problem war also weniger die Frage, ob die Unabdingbarkeit des Tarifvertrags sein sollte, sondern ob sie de lege lata existierte. Der Versuch, eine verbindliche Wirkung des Tarifvertrags zu konstruieren, die es den Arbeitsvertragsparteien verwehren sollte, von diesem nach unten abzuweichen124, konnte sich auch aufgrund seiner mangelnden gesetzlichen Verankerung nicht durchsetzen. Diese Konfliktlage zeigt aber, dass die zwingende Wirkung des Tarifvertrags zu seinen elementaren Funktionsbedingungen gehört.125 Es ging damit erkennbar darum, der Erkenntnis Rechnung zu tragen, dass das bestehende Zivilrechtssystem für die neue Vertragsform keinen geeigneten Rahmen bildete. Die Diskussion wurde also maßgeblich um die rechtsdogmatische Erklärung und Begründung der unmittelbaren und zwingenden Wirkung des Tarifvertrags geführt. Höhepunkt der diesbezüglichen Diskussionen war der 29. Juristentag 1908, der sich eingehend mit der Frage befasste. Der Gedanke der Normwirkung und der Unabdingbarkeit des Tarifvertrags ist damit historisch betrachtet untrennbar mit der Forderung nach seiner rechtlichen Anerkennung verwoben.126 In der Tat beginnt aber gegen Anfang des 20. Jahrhunderts auch die Diskussion um eine Autonomie des Tarifvertrages 119
RG vom 20.1.1910, RGZ 73, 92 ff.; vgl. hierzu Kittner, Arbeitskampf, S. 371 f. Englberger, Tarifautonomie im Deutschen Reich, S. 29; Kittner, Arbeitskampf, S. 372; Wiedemann in: Wiedemann, TVG, Geschichte, Rn. 3; Sinzheimer, Ein Arbeitstarifgesetz, S. 101 ff.; Dreschers, Die Entwicklung des Rechts des Tarifvertrags in Deutschland, S. 49 ff.; Hueck/Nipperdey, Arbeitsrecht II/1, S. 214 f. 121 Englberger, Tarifautonomie im Deutschen Reich, S. 112. 122 Vgl. dazu Englberger, Tarifautonomie im Deutschen Reich, S. 111 ff.; zur damaligen Diskussion m.w. N. aus dem Schrifttum Molitor, Kommentar zur Tarifvertragsverordnung, Einl. A., S. 2. 123 Englberger, Tarifautonomie im Deutschen Reich, S. 114. 124 Vgl. dazu ausführlich Krummel, Die Geschichte des Unabdingbarkeitsgrundsatzes und des Günstigkeitsprinzips im Tarifvertragsrecht, S. 26; Lotmar, Der Arbeitsvertrag, S. 781; Sinzheimer, Der korporative Arbeitsnormenvertrag, S. 82 f.; sowie RG 20.10. 1910, RGZ 73, 92 (98 ff.). 125 Relativierend Däubler in: Däubler, TVG, Einl., Rn. 16. 126 Krummel, Die Geschichte des Unabdingbarkeitsgrundsatzes und des Günstigkeitsprinzips im Tarifvertragsrecht, S. 33. 120
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3. Kap.: Gewährleistungsgehalt des Art. 9 Abs. 3 GG
neben der Dimension der assoziativen Selbsthilfe.127 Dabei wird auf den Vorteil der Anpassungsflexibilität des Tarifvertrags ebenso verwiesen wie auf seine Entlastungsfunktion gegenüber dem Staat. Von einem zu schützenden Autonomiebereich, der staatlicher Regelung unzugänglich sein sollte oder einem Vorrang des Tarifvertrags war keine Rede. Aber das Sachnäheargument findet hier ebenso seinen Ursprung wie das der Entlastungsfunktion der Tarifautonomie.128 8. Zusammenfassung Für die Kaiserzeit lässt sich damit der Befund festhalten, dass die Tarifautonomie als prozedurale Korrektur der Privatautonomie konzipiert war. Sie sollte den Arbeitnehmer aus seiner strukturellen Unterlegenheit befreien. Gleichzeitig erscheint sie als Antwort auf eine insuffiziente staatliche Gesetzgebung zur Behebung der Machtimparitäten im Arbeitsverhältnis. Sie ist also nicht gegen staatliche Gesetzgebung im Arbeitsrecht gerichtet. Sie wendet sich vielmehr gegen die Kumulation aus staatlicher Untätigkeit im Bereich der Arbeitsrechtsetzung129 und staatlicher Repression gegen die auf assoziative Selbsthilfe bedachten Arbeitnehmer. Vor diesem Hintergrund betont auch das BVerfG stets die Abwehr staatlicher Repression gegenüber den Koalitionen als zentralen Geltungsgrund der Koalitionsfreiheit.130 Sie wendet sich zwar gegen den Staat, soweit dieser das Verfahren der Tarifnormsetzung und die dazu erforderlichen Betätigungen, also das Normsetzungsverfahren betreffende Elemente, behindert. Gegen eine staatliche Regulierung des Arbeitsrechts wendet sie sich nicht. Insgesamt lässt sich festhalten, dass die beiden zentralen juristischen Probleme der damaligen Zeit die rechtliche Anerkennung der Koalitionen sowie die verbindliche Wirkung des Tarifvertrags waren.131 Letztere wurde massiv eingefordert und zwar im Sinne einer Priorität gegenüber abweichenden Abmachungen.132 Beide Fragen wurden als regelungsbedürftig erachtet. Dieser historische Kontext ist für das Verständnis der Weimarer Verfassung von erheblicher Bedeutung. Kern der Forderungen war die Herstellung prozeduraler Effektivität des Normsetzungsprozesses. Eine schwerpunktmäßige Forderung nach Abwehr staatlicher Regelungen im Arbeitsrecht gab es nicht.
127 128 129 130 131 132
Englberger, Tarifautonomie im Deutschen Reich, S. 85. Englberger, Tarifautonomie im Deutschen Reich, S. 128. s. o. 3. Kap. B. I. 1. und 6. BVerfG 26.6.1991, NJW 1991, 2549. Englberger, Tarifautonomie im Deutschen Reich, S. 109 ff., m.w. N. Englberger, Tarifautonomie im Deutschen Reich, S. 131.
B. Entstehungsgeschichte
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II. Die Weimarer Republik Nach der Revolution der Jahre 1918/1919 wurde die Koalitionsfreiheit in der Weimarer Verfassung etabliert. Dabei ist es von Bedeutung, noch einmal die historische Ausgangslage für die Etablierung von Koalitionsfreiheit und Tarifautonomie in der Weimarer Zeit zusammenzufassen. Die Gewerkschaften waren vom Staat auf dem Wege des Vereinigungsrechts bekämpft worden. Ihre Mitglieder waren durch strafrechtliche Repressalien maßgeblich bei Arbeitskämpfen ebenso durch die Erfahrung des Einsatzes der Polizei gegen Arbeitskämpfe stark daran interessiert, zunächst einmal die Institution der Koalition in der Verfassung anerkennen zu lassen. Des Weiteren war von besonderer Bedeutung, dass die Vereinbarungen mit der Arbeitgeberseite eine rechtliche Anerkennung erfuhren. Und zwar nicht nur einfachrechtlich, sondern durch die Verfassung, um es dem Staat zu verwehren, durch die Unverbindlichstellung des Tarifvertrags die gewerkschaftliche Betätigung zu behindern. Die Anerkennung der Verbände und ihrer Vereinbarungen war damit zentrales historisches Motiv der Weimarer Reichsverfassung. Dies gilt umso mehr, als die Arbeitgeber unter dem Eindruck der Revolution in Russland einen Systemumsturz befürchteten und zum Erhalt der bestehenden Privatrechtsordnung zur Anerkennung der tarifautonomen Gestaltung der Arbeitsbedingungen bereit waren. Bereits während des Krieges war die Stellung der Gewerkschaften durch das Hilfsdienstgesetz verbessert worden, die Aufhebung der Strafvorschrift des § 153 GewO ging in die gleiche Richtung.133 Eine bedeutende Umwälzung mit Blick auf die Anerkennung der Koalitionen und ihrer Betätigungsfreiheit brachte aber erst die Zeit nach der politischen Umwälzung, die in der Weimarer Verfassung mündete. Deren Entstehungsprozess war mit Blick auf die Tarifautonomie geprägt von der bereits erfolgten gegenseitigen Anerkennung der Kollektivverbände der Arbeitgeber und Arbeitnehmer und ihrem Zusammenschluss in der zentralen Arbeitsgemeinschaft (ZAG). Im ZAG-Abkommen wurden die Gewerkschaften als die berufenen Vertreter der Arbeiterschaft erstmals durch die Arbeitgeber offiziell anerkannt.134 Dies erfolgte weniger aus der Einsicht in die Richtigkeit der Entscheidung als aus Angst vor einer vollständigen Sozialisierung der Industrie.135 Die Tarifautonomie erwies sich hier also als Rettungsanker für das Überleben der bestehenden Privatrechtsordnung. Die weiteren Inhalte des Abkommens stellten im Wesentlichen eine politische Programmatik dar, die später in Gesetzes- und Verfassungsrecht umgesetzt wurde.136 Dabei ist von Bedeutung, dass das Abkommen unter anderem die folgende Ziff. 6 enthielt: 133 134 135 136
(411).
Nörr, ZfA 1986, 403 (411). Nörr, ZfA 1986, 403 (411). Kittner, Arbeitskampf, S. 401 ff. Englberger, Tarifautonomie im Deutschen Reich, S. 136 f.; Nörr, ZfA 1986, 403
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3. Kap.: Gewährleistungsgehalt des Art. 9 Abs. 3 GG
„Die Arbeitsbedingungen für alle Arbeiter und Arbeiterinnen sind entsprechend den Verhältnissen des betreffenden Gewerbes durch Kollektivvereinbarungen mit den Berufsvereinigungen der Arbeitnehmer festzusetzen. Die Verhandlungen hierüber sind ohne Verzug aufzunehmen und schleunigst zum Abschluss zu bringen.“137
Hier liegt zum ersten Mal ein Hinweis auf eine Regelungsbefugnis der Tarifvertragsparteien vor. Denn die Arbeitsbedingungen sollten ja gerade per Kollektivverhandlung festgelegt werden. Auch der Sachnähegedanke kommt durchaus zum Ausdruck, weil eine gewerbespezifische Regelung angesprochen wird. Die Anerkennung der Koalitionen und ihrer Betätigung verliefen damit weitgehend parallel.138 Bereits vor Inkrafttreten der Verfassung hatte die Tarifvertragsverordnung vom 23.12.1918 die wesentlichen Grundlagen für das Tarifvertragswesen gelegt. Die einschneidendste Regelung war die in § 1 Abs. 1 TVVO statuierte unmittelbare und zwingende Wirkung des Tarifvertrags.139 Er lautete: „Sind die Bedingungen für den Abschluss von Arbeitsverträgen zwischen Vereinigungen von Arbeitnehmern und einzelnen Arbeitgebern oder Vereinigungen von Arbeitgebern durch schriftlichen Vertrag geregelt (Tarifvertrag), so sind Arbeitsverträge zwischen den beteiligten Personen insoweit unwirksam, als sie von der tariflichen Regelung abweichen. Abweichende Vereinbarungen sind jedoch wirksam, soweit sie im Tarifvertrag grundsätzlich zugelassen sind, oder soweit sie eine Änderung der Arbeitsbedingungen zugunsten des Arbeitnehmers enthalten und im Tarifvertrag nicht ausdrücklich ausgeschlossen sind. An die Stelle der entsprechenden Vereinbarungen treten die entsprechenden Bestimmungen des Tarifvertrags.“
Die TVVO war dabei keinesfalls als Endpunkt der allgemeinen arbeitsrechtlichen Gesetzgebung konzipiert, sondern sollte später durch weitere allgemeine Regelungen ergänzt werden.140 Dazu kam es im Verlauf der Weimarer Zeit nicht mehr. Eine weitere wesentliche Forderung der Gewerkschaftsbewegung, die nach dem 8-Stunden-Tag, wurde ebenfalls noch im November 1918 erfüllt.141 Gleichzeitig wurden die staatliche Zwangsschlichtung und der Zwangstarif eingeführt, die ersten maßgeblichen Interventionsinstrumente in den tarifautonomen Verhandlungsprozess. Von der Zwangsschlichtung sollte im Verlaufe der Weimarer Zeit ein reger Ge- und Missbrauch erfolgen: ein staatlicher Interventionismus, der die Funktionsfähigkeit der Tarifautonomie nachdrücklich beeinträchtigen sollte.142 Eine weitere Entwicklung, die für die Weimarer Reichsverfassung selbst wenig Relevanz hatte, aber für das Verständnis der heutigen Verfassung umso mehr Gewicht hat, war die schleichende Zunahme der richterlichen Inhalts137
Zitiert nach Molitor, Kommentar zur Tarifvertragsverordnung, Einl. A., S. 3. Nörr, ZfA 1986, 403 (411). 139 Molitor, Kommentar zur Tarifvertragsverordnung, Einl. A., S. 6 ff.; Nörr, ZfA 1986, 403 (404). 140 Nörr, ZfA 1986, 403 (404). 141 Vgl. zur Entstehungsgeschichte und zur weiteren Entwicklung oben 1. Kap. B. I. 142 Vgl. dazu 3. Kap. III. 1. b) und 1. Kap. B. I. 138
B. Entstehungsgeschichte
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kontrolle von Arbeitskampfmaßnahmen.143 Die Rechtsprechung wandelte dabei ihre anfangs relativ großzügige Position gegenüber dem Arbeitskampf sukzessive hin zu einer sehr weitgehenden und insbesondere auf subjektiven Wertungen beruhenden Kontrolle. Öffentlich rezipiert wurde dieser Rechtsprechungswandel zunächst nicht, vor allem weil der Staatsgewalt mit dem bereits angesprochenen Instrumentarium der Zwangsschlichtung weitaus wirksamere präventive Streikverhinderungsmittel zur Verfügung standen.144 Denn die Friedenspflicht galt auch bei einem für verbindlich erklärten Schiedsspruch.145 Damit stand es faktisch im Belieben des Staates, Arbeitskämpfe von vorneherein zu unterbinden oder zu beenden.146 Allerdings ist zu konstatieren, dass die rechtliche Gesamtsituation des Streiks aufzeigt, wie bedeutsam eine verfassungsrechtliche Garantie desselben für seinen wirksamen Gebrauch ist. Der Anreiz für den Staat, sich aus ordnungspolitischen oder gesellschaftspolitischen Motiven zu Übergriffen hinreißen zu lassen, trat in der Weimarer Zeit deutlich zu Tage. Auch war die Tarifautonomie zu Beginn der Weimarer Zeit durch das angestrebte Rätesystem in Frage gestellt. Denn dieses war nicht nur politisch angelegt, sondern sollte auch zu einer wirtschaftlichen Steuerung durch die Räte führen. Damit entstand neben der unstreitigen Anerkennung der Koalitionen und ihrer Vereinbarungen auch die Frage, welchem System die Regelung der Arbeitsbedingungen zustehen sollte. Damit war es erforderlich geworden, nicht nur überhaupt die Anerkennung der Tarifautonomie zu statuieren, sondern sie nach der Gefährdung durch staatliche Repression vor der Beseitigung durch andere nichtstaatliche Regulierungsmechanismen zu schützen. Dieser Gesichtspunkt ist auch heute noch von Interesse. Er legt nämlich nahe, dass der Tarifautonomie durchaus ein Schutz vor konkurrierenden kollektiven Regelungssystemen immanent ist. Beide Vorgänge waren damit untrennbar miteinander verbunden. Es gab also die Anerkennung der Tarifautonomie nicht nur, um die Tarifvertragsparteien vor den Räten zu schützen. Die Räte machten vielmehr eine Auseinandersetzung mit dem Verhältnis von Tarifautonomie und wirtschaftlicher Steuerung durch die Räte erforderlich. Die Anerkennung der Tarifautonomie als solche war unstreitige und allgemein akzeptierte Selbstverständlichkeit nach der Revolution. Art. 165 Abs. 1 S. 2 WRV ist die legislative Kumulation der beiden Regelungsinteressen, einerseits der verfassungsrechtlichen Anerkennung der Koalitionen und ihrer Vereinbarungen, andererseits ihrer Sicherung gegenüber den Räten.147 Neben der Anerkennung der Vereinigungen und ihrer Vereinbarungen wurde in Art. 159 WRV die Vereinigungsfreiheit zur Wahrung und Förderung der Arbeits-
143 144 145 146 147
Dazu ausführlich Kittner, Arbeitskampf, S. 433 ff. Vgl. dazu oben 1. Kap. B. I. Kittner, Arbeitskampf, S. 454. Kittner, Arbeitskampf, S. 454 ff. Dazu siehe A. I.
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3. Kap.: Gewährleistungsgehalt des Art. 9 Abs. 3 GG
und Wirtschaftsbedingungen verankert, ebenso in Art. 157 WRV der Schutz der Arbeitskraft. Diese Vorschriften wurden allesamt im Grundrechtsteil der Verfassung verankert, auch wenn der Teil des Art. 165 WRV, der sich auf die Räte bezog, systematisch der Staatsorganisation zugehörte. Die Verankerung im Grundrechtskatalog erklärt sich letztlich dadurch, dass ein Konnex zum Grundrecht der Vereinigungen aus Art. 165 Abs. 1 WRV bestand. Problematisch war, dass das Grundrechtsverständnis der Weimarer Zeit gerade der Anfangsjahre unter einem nicht unerheblichen Verfassungspositivismus litt und dadurch die Entfaltung des Gehalts der Grundrechte in der juristischen Diskussion nur langsam in Fahrt kam. Vollends entfaltete sich die Dogmatik erst gegen Ende der 20er Jahre. Daher ist bei der Bewertung des Schrifttums der frühen Weimarer Zeit auch Vorsicht geboten. Dieses entstand zu einer Zeit, zu der im Schrifttum noch vertreten wurde: „,Grundrechte‘, ,Grundpflichten‘ sind keine (!) juristischen Begriffe.“ 148 Das ist ein Bild, das sich zum Ende der Weimarer Republik deutlich gewandelt hatte, auch und gerade mit Blick auf die Tarifautonomie. Finden sich anfangs nämlich nur begrenzt Auseinandersetzungen mit der Tarifautonomie, so entsprach am Ende der Weimarer Zeit der grundsätzliche Schutz der Koalitionen und der Schutz des tarifvertraglichen Normsetzungsverfahrens, inklusive der unmittelbaren und zwingenden Wirkung des Tarifvertrags, der herrschenden Meinung in Schrifttum und Rechtsprechung.149 1. Schutz der Koalitionen und Rechtsnatur der Art. 159 und 165 Abs. 1 S. 2 WRV a) Rechtsnatur des Art. 159 WRV Die in Art. 159 WRV verankerte Koalitionsfreiheit war kein bloßer Programmsatz,150 sondern nach ganz herrschender Meinung aktuell geltendes Recht und wurde als Grundrecht begriffen.151 Ob die Koalitionsfreiheit ein gegenüber der 148
Düringer, JW 1919, 701, Hervorhebung durch Verfasser. Vgl. dazu im Folgenden insbes. Fn. 158, 216, 217, 222. 150 Potthoff, Die Einwirkung der Reichsverfasung auf das Arbeitsrecht, S. 70. 151 RG 2.7.1925, RGZ 111, 199 (201); RAG 15.2.1928, Entscheidungen des Reichsarbeitsgerichts und der Landesarbeitsgerichte (Bensheimer), Band 2; Nr. 36, RAG 24.4.1929, Entscheidungen des Reichsarbeitsgerichts und der Landesarbeitsgerichte (Bensheimer), Band 6 Nr. 27 m. Anm. Nipperdey; Anschütz, Die Verfassung des Deutschen Reichs, Art. 159 WRV, Anm. 1; Böhm, Kartelle und Koalitionsfreiheit, S. 1, 7; Bühler, NZfA 1922, 157 (160); Düringer, JW 1919, 701 (704); Giese, VerwA 1932, 201 ff. (205); Gebhard, Handkommentar zur Verfassung des Deutschen Reichs, Art. 159, Anm. 2; Kaskel, Arbeitsrecht (1. Aufl.), S. 234; Kaskel/Dersch, Arbeitsrecht, S. 317; Klein, Institutionelle Garantien und Rechtsinstitutsgarantien, S. 318; Hueck/Nipperdey, Arbeitsrecht, Bd. II (3./5. Aufl.), S. 467, 488; Neumann, Koalitionsfreiheit und Reichsverfassung, S. 64; Nipperdey in: Nipperdey, Die Grundrechte und Grundpflichten der Reichsverfassung, Art. 159, S. 385; ders., NZfAR 1923, 307; Poetzsch-Hefter, Hand149
B. Entstehungsgeschichte
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Vereinigungsfreiheit in Art. 124 WRV verselbstständigtes Grundrecht eigener Art war oder lex specialis zu dieser, wurde ganz überwiegend im ersteren Sinne beantwortet, vor allem, je länger die Frage diskutiert wurde.152 Umstritten war die Frage, ob es sich um ein subjektives öffentliches Recht153 oder ein Reflexrecht objektiver Rechtsnormen154 handelte. Dieser Streit war allerdings zur damaligen Zeit eher dogmatischer Natur, weil nach beiden Auffassungen die Möglichkeit der Erhebung einer Verwaltungsklage bestand, soweit die Rechtssphäre des Bürgers durch polizeiliche Verfügung beschränkt wurde.155 Die Vorschrift diente nach zunächst umstrittener, später ganz h. M. der Beseitigung der Beschränkungen der §§ 152 f. GewO. Insbesondere wurde § 152 Abs. 2 GewO aufgehoben.156 b) Schutz der Koalitionen durch Art. 159 WRV Die Kommentarliteratur zum Verfassungsrecht diskutiert im Rahmen des Art. 159 WRV teilweise nur die Fragen einer spezifischen Vereinigungsfreiheit kommentar der Reichsverfassung, Art. 159, Nr. 2 b); Tatarin-Tarnheyden in: Nipperdey, Die Grundrechte und Grundpflichten der Reichsverfassung, Art. 165, S. 534; so auch rückblickend Nörr, ZfA 1986, 403 (409). 152 Verselbstständigtes Grundrecht: Anschütz, Die Verfassung des Deutschen Reichs, Art. 159 WRV, Anm. 2; Giese, Verfassung des Deutschen Reichs, Art. 159, Anm. 1; ders., NZfA 1923, 210 (219); Kaskel/Dersch, Arbeitsrecht, S. 316; Klein, Institutionelle Garantien und Rechtsinstitutsgarantien, S. 320; Hueck/Nipperdey, Arbeitsrecht, Bd. II (3./5. Aufl.), S. 469; Nipperdey in: Nipperdey, Die Grundrechte und Grundpflichten der Reichsverfassung, Art. 159, S. 401; dagegen: Kaskel, Arbeitsrecht (1. Aufl.), S. 233, aufgegeben in Kaskel/Dersch (4. Aufl.), s. o.; Poetzsch-Hefter, Handkommentar der Reichsverfassung, Art. 159, Nr. 3; gegen eine Betrachtungsweise als lex specialis spricht auch hier die Entstehungsgeschichte. Nach dem Verständnis der Preußischen Verfassung, war die Vereinsfreiheit bereits gewährleistet, die Koalitionen (zunächst) dennoch verboten. Daher konnte nach dem Verständnis der Zeit die Vereinsfreiheit mit der Koalitionsfreiheit nicht identisch sein. Ausführlich dazu Nipperdey in: Nipperdey, Die Grundrechte und Grundpflichten der Reichsverfassung, Art. 159, S. 402; so auch Hueck/Nipperdey, Arbeitsrecht, Bd. II (3./5. Aufl.), S. 469. 153 Bühler, NZfA 1922, 157 ff.; Kaskel/Dersch, Arbeitsrecht, S. 317; Neumann, Koalitionsfreiheit und Reichsverfassung, S. 65; Richter, AÖR 8 (1925), 1 (58), Fn. 146. 154 Groh, Koalitionsrecht, S. 1 und 13; LG Leipzig, NZfAR 1927, 640. 155 Nipperdey in: Nipperdey, Die Grundrechte und Grundpflichten der Reichsverfassung, Art. 159, S. 409. 156 RG 2.7.1925, RGZ 111, 199 (200); Anschütz, Die Verfassung des Deutschen Reichs, Art. 159 WRV, Anm. 2; Poetzsch-Hefter, Handkommentar der Reichsverfassung, Art. 159, Nr. 6; Gebhard, Handkommentar zur Verfasung des Deutschen Reichs, Art. 159, Anm. 2; Groh, Koalitionsrecht, S. 30; Kaskel/Dersch, Arbeitsrecht, S. 317; Huber E. R., AÖR 1933, 1 (46); Hueck/Nipperdey, Arbeitsrecht, Bd. II (3./5. Aufl.), S. 468; Kaskel, Arbeitsrecht (1. Aufl.), S. 234; Nipperdey in: Nipperdey, Die Grundrechte und Grundpflichten der Reichsverfassung, Art. 159, S. 406 f.; ders., NZfAR 1923, 307; Schnorr, FS Molitor, S. 229 (232); Tatarin-Tarnheyden in: Nipperdey, Die Grundrechte und Grundpflichten der Reichsverfassung, Art. 165, S. 534, der einen Schutz der Koalition selbst nur unter Rückgriff auf Art. 165 Abs. 1 S. 2 WRV akzeptiert.
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3. Kap.: Gewährleistungsgehalt des Art. 9 Abs. 3 GG
als Individualgrundrecht.157 Auch die Koalition selbst wurde aber weit überwiegend als unmittelbar geschützt angesehen.158 Die Koalitionsfreiheit sei ein Organisationsrecht.159 Die „kollektive Koalitionsfreiheit sei Grundlage der machtgleichen Aussprache über den Preis und die Bedingungen der Arbeit“.160 Und auch hier finden sich bereits wegweisende Erwägungen, die sich auch später sehr ähnlich beim BVerfG finden werden: „Der Gebrauch, den der einzelne von der ihm gewährleisteten Vereinigungsfreiheit macht, führt zur Bildung der Koalitionen. Ohne die Koalition ist eine Betätigung der Vereinigungsfreiheit undenkbar. Das positive Vereinigungsrecht wäre von geringer Bedeutung, wenn man den Koalitionen als solchen keinen besonderen Rechtsschutz gewähren würde. Es ergibt sich aus der Natur der Sache die Notwendigkeit, auch den Vereinigungen den besonderen Schutz des Art. 159 RV. in seinem vollen Umfang zuzuerkennen.“161
157 Vgl. z. B. Gebhard, Handkommentar zur Verfassung des Deutschen Reichs, Art. 159, Anm. 3 ff.; Giese, Verfassung des Deutschen Reichs, Art. 157 Anm. 1 ff. 158 LG Berlin, 29.11.1923, zitierte Passage im Wortlaut bei Potthoff, Die Einwirkungen der Reichsverfassung auf das Arbeitsrecht, S. 69 f.; RG 2.7.1925, RGZ 111, 199 (202); Böhm, Kartelle und Koalitionsfreiheit, S. 5, 29; Hueck/Nipperdey, Arbeitsrecht, Bd. II (3./5. Aufl.), S. 513 ff.; Nipperdey in: Nipperdey, Die Grundrechte und Grundpflichten der Reichsverfassung, Art. 159, S. 406, 421; Schnorr, FS Molitor, S. 229 (232), m.w. N.; nach Kaskel/Dersch, Arbeitsrecht, S. 317, zumindest Schutzgesetz zugunsten der Koalition, die ansonsten unmittelbar aus Art. 165 Abs. 1 S. 2 WRV geschützt wird; Klein, Institutionelle Garantien und Rechtsinstitutsgarantien, S. 319; Neumann, Koalitionsfreiheit, S. 27 , 64 ff.; Potthoff, Die Einwirkungen der Reichsverfassung auf das Arbeitsrecht, S. 11, 69; Sinzheimer, JW 1927, 256; a. A. Richter, VerwA 32, 1 (6); Gebhard, Art. 159, Anm. 4a; Huber E. R., AÖR 23, 1933, 1 (75), der dieses Recht allerdings aus Art. 165 WRV konstruiert, AÖR 1933, 1 (76); Löning, NZfA 1929, Sp. 676; Häntzschel, RuPrBBl. 1933, 98; RG 11.2.1926, RGZ 113, 33, dass das Schutzrecht aber zumindest im Innenverhältnis gegenüber den Mitgliedern anerkennt. Nach Ansicht von Klein, der die Meinungen 1934 zusammenfassend bewertet, bejahte die im Schrifttum herrschende Meinung die Frage mit Recht, vgl. Klein, Institutionelle Garantien und Rechtsinstitutsgarantien, S. 319. Die anderslautende Bewertung von Burkiczak, Grundgesetz und Deregulierung des Tarifvertragsrechts, S. 147 f. und Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht, Bd. I, S. 182 basiert auf einer unzureichenden Aufarbeitung der Literatur der damaligen Zeit. Vgl auch Waltermann, ZfA 2000, 53 (71); soweit Tatarin-Tarnheyden in: Nipperdey, Die Grundrechte und Grundpflichten der Reichsverfassung, Art. 165, S. 534, einen Schutz aus Art. 159 WRV ablehnt, ist darauf zu verweisen, dass er diesen aus Art. 165 WRV herleitet, wie überhaupt ein Teil des Schrifttum den Schutz dort verortet, vgl. dazu 3. Kap. B. II. 1. c). Das Reichsarbeitsgericht hat den Schutz der Koalitionen aus Art. 165 WRV ohne Auseinandersetzung mit der Frage des Verhältnisses zu den Räten angenommen. 159 Neumann, Koalitionsfreiheit und Reichsverfassung, S. 65; Nipperdey in: Nipperdey, Die Grundrechte und Grundpflichten der Reichsverfassung, Art. 159, S. 421. 160 Böhm, Kartelle und Koalitionsfreiheit, S. 29. 161 Nipperdey in: Nipperdey, Die Grundrechte und Grundpflichten der Reichsverfassung, Art. 159, S. 428; dem schließt sich ausdrücklich Klein, Institutionelle Garantien und Rechtsinstitutsgarantien, S. 319, an; ähnlich auch Sinzheimer, JW 1927, 256; vgl. auch BVerfG 18.11.1954, BVerfGE 4, 96 (101); a. A. Häntzschel, RuPrVbl. 1933, 98.
B. Entstehungsgeschichte
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Dies ergebe sich bereits aus dem Wortlaut der Vorschrift, da die Vereinigungsfreiheit für alle Berufe, d.h. für eine zusammengeschlossene Personenmehrheit, gewährleistet sei.162 Das Reichsgericht in Zivilsachen erkannte an, dass Art. 159 S. 2 WRV „im weiteren Sinne auch zu Gunsten der Vereinigung selbst“ anwendbar war.163 Allerdings wurde die Frage, ob die Koalition unmittelbar aus Art. 159 WRV geschützt sei, vom Reichsgericht in Zivilsachen in einer anderen Entscheidung verneint, wobei aber den Koalitionen gleichzeitig aus Art. 159 WRV i.V. m. Art. 165 WRV ein Freiheitsrecht gewährt wurde.164 Dieses Freiheitsrecht reichte seinem Umfang nach aber nicht so weit, dass der Koalition ein eigener Schadensersatzanspruch zustand, wenn der Arbeitgeber seine Arbeitnehmer zum Austritt aus der Koalition drängte.165 Die Organisation war also nach der Rechtsprechung des RG in Zivilsachen zwar grundsätzlich durch Art. 159 i.V. m. Art. 165 WRV geschützt. Dieser Schutz war aber nicht ausgedehnt auf die Geltendmachung von Verletzungen des Art. 159 WRV, die in erster Linie die Mitglieder trafen und im Außenverhältnis eintraten. Insofern ist es eine verkürzende Wiedergabe der Entscheidung, wenn behauptet wird, das RG habe in der betreffenden Entscheidung einen Schutz der Koalitionen aus Art. 159 WRV abgelehnt.166 Es hat diesen vielmehr erst aus der Zusammenschau mit Art. 165 WRV konstruiert und in seinem Umfang dahin gehend eingeschränkt, dass diese Gewährleistung keinen Schutz der Vereinigung vor der Verletzung der individuellen Koalitionsfreiheit ihrer Mitglieder beinhalte. c) Schutz der Koalitionen durch Art. 165 Abs. 1 WRV Von Bedeutung für die Frage des Schutzes der Koalition selbst war auch Art. 165 Abs. 1 S. 2 WRV, der „die beiderseitigen Organisationen und ihre Vereinbarungen“ anerkannte. Art. 165 Abs. 1 S. 2 WRV diente zum einen der Wahrung der Rechte der bestehenden und bewährten Arbeitnehmerverbände gegenüber den Räten167 und zum anderen dem verfassungsrechtlichen Schutz der Koalitionen auf Arbeitnehmerseite, soweit dieser nicht schon unmittelbar aus
162 Neumann, Koalitionsfreiheit und Reichsverfassung, S. 64 f.; Nipperdey in: Nipperdey, Die Grundrechte und Grundpflichten der Reichsverfassung, Art. 159, S. 428. 163 RG 2.7.1925, RGZ 111, 199 (202). 164 RG 11.2.1927, RGZ 113, 33 (36 f.). 165 RG 11.2.1927, RGZ 113, 33 (36 f.). 166 Burkiczak, Grundgesetz und Deregulierung des Tarifvertragsrechts, S. 34, Fn. 58. 167 Poetzsch-Hefter, Handkommentar der Reichsverfassung, Art. 165, Nr. 3; Gebhard, Handkommentar zur Verfasung des Deutschen Reichs, Art. 165, Anm. 4; Nipperdey in: Nipperdey, Die Grundrechte und Grundpflichten der Reichsverfassung, Art. 159, S. 386.
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Art. 159 WRV hergeleitet wurde.168 Dies war grundsätzlich auch in der Rechtsprechung des Reichsarbeitsgerichts und des Reichsgerichts anerkannt.169 Die Frage ist eigentlich nur, ob dieser Schutz rein negatorisch gegenüber den Räten gedacht war oder eine zusätzliche grundsätzliche Anerkennung der Koalitionen durch die Verfassung bedeutete. Im letzteren Sinne wurde die Vorschrift im Schrifttum teilweise verstanden.170 d) Rechtsnatur des Art. 165 Abs. 1 WRV Art. 165 Abs. 1 WRV war nach herrschender Meinung im Schrifttum zumindest rechtlich verbindlich, also keine rein programmatische Vorschrift171, wenn nicht ein „echtes Grundrecht“172. Art. 165 Abs. 1 S. 2 WRV verlieh den Koalitionen subjektive Rechte gegenüber dem Staat173 und wurde bisweilen als Institutsgarantie begriffen.174 Daher wurde argumentiert, Art. 159 WRV sei im Lichte des Art. 165 Abs. 1 WRV auszulegen, was zu einer Anerkennung des Art. 159 WRV als Kollektivrecht führe.175 Lediglich eine teilweise in sich widersprüchliche 168 RG 2.7.1925, RGZ 199 (202); Huber E. R., AÖR 1933, 1 (76); Kaskel/Dersch, Arbeitsrecht, S. 317; Tatarin-Tarnheyden in: Nipperdey, Die Grundrechte und Grundpflichten der Reichsverfassung, Art. 165, S. 534. 169 RAG 12.11.1932, RAGE 12, 63 (72); RG 2.7.1925, RGZ 111, 199 (202), die beide auf die Frage der Abgrenzung zu Art. 165 Abs. 2 ff. nicht eingehen und daher dem Artikel die Funktion eines originären Grundrechts und nicht lediglich einer Kompetenzabgrenzung zusprechen; vgl. aber anders RGZ 113, 33. 170 Poetzsch-Hefter, Handkommentar der Reichsverfassung, Art. 165, Nr. 3. 171 Anschütz, Die Verfassung des Deutschen Reichs, Art. 165 WRV, Anm. 2, Fn. 1; Gebhard, Handkommentar zur Verfassung des Deutschen Reichs, Art. 165, Anm. 2; Klein, Institutionelle Garantien und Rechtsinstitutsgarantien, S. 324; Hueck/Nipperdey, Arbeitsrecht, Bd. II (3./5. Aufl.), S. 515; Mann/Nipperdey, Steuergutscheine und Tariflockerung, S. 155; Nipperdey in: Nipperdey, Die Grundrechte und Grundpflichten der Reichsverfassung, Art. 159, S. 430; Nörpel, Arbeitsrecht und Schlichtung 1932, 305 (306); Tatarin-Tarnheyden in: Nipperdey, Die Grundrechte und Grundpflichten der Reichsverfassung, Art. 165, S. 522 (532); ders., Berufsverbände und Wirtschaftsdemokratie, S. 8; Sinzheimer, Grundzüge des Arbeitsrechts, S. 209; ders., JW 1927, 256 (258); Richter, VerwA 32, 17 Anm. 48; a. A. RG 11.2.1926, RGZ 113, 33 (37), sowie relativierend Giese, Art. 165, Anm. 1, der allerdings noch in derselben Anm. Ausführt, es handele sich „um die Grundrechte der Volksgenossen in ihrer Eigenschaft als Arbeitgeber und Arbeitnehmer“; ebenso eingeschränkt kann der Beitrag von Giese, NZfA 1923, 209 (220), herangezogen werden, weil er sich erkennbar nur damit auseinandersetzt, dass Art. 165 WRV mit Blick auf die Räte programmatisch war. 172 Gebhard, Handkommentar zur Verfassung des Deutschen Reichs, Art. 165, Anm. 2 a); Nörpel, Arbeitsrecht und Schlichtung 1932, 305 (306). 173 Huber E. R., AÖR 1933, 1 (76); Neumann, Koalitionsfreiheit und Reichsverfassung, S. 26; Tatarin-Tarnheyden in: Nipperdey, Die Grundrechte und Grundpflichten der Reichsverfassung, Art. 165, S. 535; ders., Berufsverbände und Wirtschaftsdemokratie, S. 9. 174 Mann/Nipperdey, Steuergutscheine und Tariflockerung, S. 155. 175 Hueck/Nipperdey, Arbeitsrecht, Bd. II (3./5. Aufl.), S. 515; Nipperdey in: Nipperdey, Die Grundrechte und Grundpflichten der Reichsverfassung, Art. 159, S. 430.
B. Entstehungsgeschichte
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Mindermeinung vertrat die Ansicht, dieser sei durchweg programmatisch.176 Es ist darauf zu verweisen, dass das Reichsarbeitsgericht den Schutz der Koalitionen aus Art. 165 WRV ohne Auseinandersetzung mit der Frage des Verhältnisses zu den Räten angenommen hat.177 Ebenso entschied das Reichsgericht in Zivilsachen und sprach von einem „der Organisation als solcher gewährleisteten Freiheitsrecht“.178 e) Zuordnung des Schutzes zu Art. 159 oder Art. 165 WRV? In der Literatur der Weimarer Zeit bestand eine gewisse Uneinigkeit darüber, ob der verfassungsmäßige Schutz der Koalitionen über den Art. 159 WRV unmittelbar oder erst vermittelt über Art. 165 WRV, der entweder zur Auslegung des Art. 159 WRV herangezogen wurde oder diese Gewährleistung unmittelbar enthalten sollte, gewährleistet war. Es wird damit deutlich, dass Art. 159 WRV und Art. 165 Abs. 1 WRV „in einem untrennbaren Sach- und Sinnzusammenhang“179 stehen. Es lässt sich darüber hinaus festhalten, dass der Schutz der Koalitionen nicht allein dazu diente, den Bestand der Koalitionen gegenüber den Räten zu sichern, sondern dass diese unmittelbar als mit subjektiven Rechten ausgestattete Grundrechtsträger anzusehen waren. Dabei wurde insbesondere vom späten Weimarer Schrifttum eine Gewährleistung unmittelbar aus Art. 159 WRV angenommen. Insofern ist es noch zu vorsichtig formuliert, wenn das BVerfG darauf hinweist, dass sich in der Rechtslehre eine überwiegende Meinung dahin gehend zu bilden schien, „daß nicht nur der Einzelne, sondern auch die Vereinigung als solche durch das Grundrecht der Koalitionsfreiheit geschützt sei“.180 Führt man sich vor Augen, dass die Verortung und nicht die Begründung des Schutzes der Organisationen und ihrer Vereinbarungen in Art. 165 WRV in erster Linie durch die neu geschaffenen Räte veranlasst war, so ist der Schluss eines an sich unmittelbaren Schutzes durch Art. 159 WRV naheliegend. Auch die Begründung der herrschenden Meinung ist ebenso überzeugend wie bekannt, soll hier aber nochmals wiedergegeben werden:
176 Giese, Art. 165, Anm. 1, der allerdings noch in derselben Anm. ausführt, es handele sich „um die Grundrechte der Volksgenossen in ihrer Eigenschaft als Arbeitgeber und Arbeitnehmer“; auch der Beitrag von Giese, NZfA 1923, 209 (221), sieht Art. 165 als programmatisch an, allerdings unter alleinigem Rekurs auf das Rätesystem, das in der Tat eine programmatische Gewährleistung war. Insofern können die Beiträge von Giese nur eingeschränkt für die oben stehende Position in Anspruch genommen werden, werden aber im Interesse der Vollständigkeit hier erwähnt. Vgl. auch RG 11.2.1926, RGZ 113, 33 (37); Häntzschel, RuPrVBl. 1933, 98. 177 RAG 12.11.1932, RAGE 12, 63 (72). 178 RG 2.7.1925, RGZ 111, 199 (202); anders aber RG 11.2.1927, RGZ 113, 33 ff. 179 Säcker/Oetker, Grundlagen und Grenzen der Tarifautonomie, S. 60. 180 BVerfG 18.11.1954, BVerfGE 4, 96 (101).
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„Der Gebrauch, den der Einzelne von der ihm gewährleisteten Vereinigungsfreiheit macht, führt zur Bildung der Koalitionen. Ohne die Koalition ist eine Betätigung der Vereinigungsfreiheit undenkbar. Das positive Vereinigungsrecht wäre von geringer Bedeutung, wenn man den Koalitionen als solchen keinen besonderen Rechtsschutz gewähren würde. Es ergibt sich aus der Natur der Sache die Notwendigkeit, auch den Vereinigungen den besonderen Schutz des Art. 159 RV. in seinem vollen Umfang zuzuerkennen.“181
f) Zusammenfassung Es lässt sich damit festhalten, dass im Weimarer Schrifttum der verfassungsmäßige Schutz der Koalitionen nach Art. 159 und Art. 165 WRV allgemein anerkannt war182, auch wenn aufgrund der sich in der Entwicklung befindlichen Dogmatik das Ausmaß des Schutzes noch nicht abschließend konturiert war. Die abweichende Bewertung eines Teils der Literatur183 lässt sich auf Basis des Schrifttums und Rechtsprechung der Weimarer Zeit nicht nachvollziehen. Insofern überzeugen auch Hinweise im neueren Schrifttum nicht, die darauf verweisen, aus der primär objektiv-rechtlichen Funktion der Grundrechte zur Weimarer Zeit ergebe sich, dass der entsprechende Befund nicht in die heutige Zeit transferiert werden könne184. Es hatte sich eben gerade zur Weimarer Zeit eine subjektive Garantie aus der Verfassung entwickelt.185 Dass diese unter veränderter Wirkkraft der Grundrechte unter dem Grundgesetz eine Veränderung erfährt, ist für jedes andere Grundrecht ebenso der Fall. Die Berufung auf die Verfassungstradition der Weimarer Zeit verliert durch diese Veränderungen aber nicht ihre Relevanz. 2. Schutz der Betätigungsgarantie Erkennt man damit den Schutz der Koalitionen durch die WRV an, stellt sich die Frage nach dem Schutz einer Betätigungsgarantie für die Koalitionen. Insbe181 Nipperdey in: Nipperdey, Die Grundrechte und Grundpflichten der Reichsverfassung, Art. 159, S. 428; dem schließt sich ausdrücklich Klein, Institutionelle Garantien und Rechtsinstitutsgarantien, S. 319, an. 182 So auch Säcker/Oetker, Grundlagen und Grenzen der Tarifautonomie, S. 61; Schnorr, FS Molitor, S. 229 (232). 183 Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht, Bd. I, S. 151; Pieroth, FS 50 Jahre BVerfG, S. 293 (294), der diese Ansicht maßgeblich aus der fehlenden Garantie des Arbeitskampfes ableitet; dieser Eindruck wird auch von Burkiczak, Grundgesetz und Deregulierung des Tarifvertragsrechts, S. 33 ff., erweckt; tendenziell auch Scholz, Koalitionsfreiheit als Verfassungsproblem, S. 34, der aber eine „abgeleitete Rechtsposition“ anerkennt; a. A. BVerfG 18.11.1954, BVerfGE 4, 96 (101). 184 Engels, Verfassung und Arbeitskampfrecht, S. 183. 185 Überhaupt zeigt auch die Weimarer Zeit keine statische Betrachtung der Grundrechte, sondern eine deutliche Entwicklung hin zu einer stärkeren Bindung des Gesetzgebers an die Grundrechte, vgl. Rusteberg, Der grundrechtliche Gewährleistungsgehalt, S. 16 ff.
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sondere die Reichweite des verfassungsmäßigen Schutzes der tarifvertraglichen Regelungs- und Normsetzungsbefugnis ist dabei relevant. Denn es spricht viel dafür, dass der Verfassungsgeber die Vorgaben der Weimarer Verfassung jedenfalls nicht abschwächen wollte als er den Grundrechtskatalog schuf.186 Es stellt sich die Frage, ob und in welchem Umfang sich eine Betätigungsgarantie aus der Verfassung ableiten lässt. Dabei sind die verschiedenen Teilgewährleistungen der Koalitionsfreiheit, darunter auch das Streikrecht, in den Blick zu nehmen. a) Fehlende Gewährleistung des Streikrechts und Betätigungsgarantie Hinsichtlich einer Betätigungsgarantie bestand im Weimarer Schrifttum weitgehende Einigkeit, dass das Streikrecht nicht durch Art. 159 WRV gewährleistet sein sollte.187 Dies resultierte aus der oben geschilderten Befürchtung, der Arbeitskampf sei damit auch in lebensnotwendigen Bereichen möglich und eine Einschränkung des Streikrechts sei stets verfassungswidrig.188 Ohnehin zeigt die in jener Zeit geführte Diskussion um den Arbeitskampf massive Ängste vor einer Beeinträchtigung öffentlicher Interessen oder lebenswichtiger Betriebe durch Streiks.189 Daher sollte die Frage des Streikrechts von der Verfassung unentschieden bleiben.190 Soweit vertreten wurde, der Art. 159 der Weimarer Reichsverfassung sage über die Koalitionsmachtmittel nichts aus, war diese Sichtweise allein auf Arbeitskampfmittel bezogen.191 Sie stellte sich also nicht als eine allgemeine Aussage zur Betätigungsfreiheit dar. Dies wird auch an den im Anschluss folgenden Ausführungen, insbesondere bei Anschütz deutlich: Handlungen, die durch 186
Vgl. dazu ausführlich unten unter 3. Kap. B. IV. 1., 2., 3. Zur Entstehungsgeschichte vgl. die Verhandlungen über den Verfassungsentwurf im Reichstag: Verhandlungen des Reichstags, 62. Sitzung, 21.07.1919, Bd. 328, S. 179 ff.; Anschütz, Die Verfassung des Deutschen Reichs, Art. 159 WRV, Anm. 5 f.; Poetzsch-Hefter, Handkommentar der Reichsverfassung, Art. 159, Nr. 3 b); Giese, Verfassung des Deutschen Reichs, Art. 159, Anm. 1; Nipperdey in: Nipperdey, Die Grundrechte und Grundpflichten der Reichsverfassung, Art. 159, S. 415; Groh, Koalitionsrecht, S. 50 ff. 188 Vgl. dazu oben 3. Kap. A. I. 1. 189 Besonders betont wurde die Möglichkeit, diese zu verbieten; vgl. dazu: Anschütz, Die Verfassung des deutschen Reichs, Art. 159 WRV, Anm. 6. 190 Anschütz, Die Verfassung des Deutschen Reichs, Art. 159 WRV, Anm. 5; Böhm, Kartelle und Koalitionsfreiheit, S. 13; Nipperdey in: Nipperdey, Die Grundrechte und Grundpflichten der Reichsverfassung, Art. 159, S. 415. 191 Anschütz, Die Verfassung des Deutschen Reichs, Art. 159 WRV, Anm. 5; Giese, Verfassung des Deutschen Reichs, Art. 157, Anm. 1; nach Nipperdey waren typische Koalitionsmachtmittel: Streik, Aussperrung, Sperre oder Boykott. Damit bezieht sich der Begriff nach dem Verständnis der Zeit nur auf Arbeitskampfmittel, nicht allgemein auf die Betätigung. Nipperdey in: Nipperdey, Die Grundrechte und Grundpflichten der Reichsverfassung, Art. 159, S. 414; Groh, Koalitionsrecht, S. 14; Jacusiel in: Kaskel, Koalitionen und Koalitionskampfmittel, S. 66 (70). 187
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Rechtssatz verboten seien, würden nicht dadurch erlaubt, dass sie als Kampfmittel zur Wahrung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen eingesetzt würden.192 Soweit im Schrifttum vertreten wird, die entsprechende Passage bezöge sich auf die Betätigung im Allgemeinen193, ist dies daher unzutreffend. b) Art. 159 WRV und Aufhebung des § 152 GewO Art. 159 WRV diente auch der Aufhebung des § 152 GewO. Insbesondere sollte der § 152 Abs. 2 GewO194 durch Art. 159 WRV aufgehoben werden.195 Das Schrifttum fokussiert maßgeblich auf den Aspekt, dass durch Art. 159 WRV der Wille, sich mit Rechtswirksamkeit zu vereinigen, anerkannt wurde.196 Dies spielte vor allen eine Rolle bei der Frage, ob Mitgliedsbeiträge durch die Gewerkschaften eingeklagt werden konnten und Kündigungsfristen für die Mitgliedschaft zulässig waren.197 Im Kern bedeutete die Funktion des Art. 159 WRV als Aufhebungsnorm gegenüber § 152 GewO aber, dass auch die bisherige Unverbindlichstellung des schuldrechtlichen Teils des Tarifvertrags gegenüber den Mitgliedern durch die Verfassung aufgehoben werden sollte. Begrifflich wurde der Tarifvertrag zu Beginn der Weimarer Zeit teilweise als Koalition im weiteren Sinne198 verstanden. Allerdings war der genaue Inhalt des
192 Anschütz, Die Verfassung des Deutschen Reichs, Art. 159 WRV, Anm. 5; Gebhard, Handkommentar zur Verfassung des Deutschen Reichs, Art. 159, Anm. 2. 193 Burkiczak, Grundgesetz und Deregulierung des Tarivertragsrechts, S. 34 f. 194 „Jedem Teilnehmer steht der Rücktritt von solchen Vereinigungen und Verabredungen frei und es findet aus Letzteren weder Klage noch Einrede statt.“ 195 Molitor, Kommentar zur Tarifvertragsverordnung, Anh. 1 zu § 1, Rz. 10, S. 111, m.w. N.; RG 2.7.1925, RGZ 111, 199 (200); Anschütz, Die Verfassung des Deutschen Reichs, Art. 159 WRV, Anm. 2; Poetzsch-Hefter, Handkommentar der Reichsverfassung, Art. 159, Nr. 6; Gebhard, Handkommentar zur Verfassung des Deutschen Reichs, Art. 159, Anm. 2; Groh, Koalitionsrecht, S. 30; Huber E. R., AÖR 1933, 1 (46); Hueck/ Nipperdey, Arbeitsrecht, Bd. 2 (3./5. Aufl.), S. 468; Nipperdey in: Nipperdey, Die Grundrechte und Grundpflichten der Reichsverfassung, Art. 159, S. 406 f., 430; TatarinTarnheyden in: Nipperdey, Die Grundrechte und Grundpflichten der Reichsverfassung, Art. 165, S. 534, der einen Schutz der Koalition selbst nur unter Rückgriff auf Art. 165 Abs. 1 S. 2 WRV akzeptiert; Kaskel, Arbeitsrecht (1. Aufl.), S. 240; RG 2.7.1925, RGZ 111, 199 (202); Nipperdey, NZfAR 1923, 307; Oertmann, Deutsches Arbeitsvertragsrecht, S. 269; Jacobi, Grundlehren des Arbeitsrechts, S. 207; a. A. Potthoff, Die Einwirkung der Reichsverfassung auf das Arbeitsrecht, S. 27 f.; Richter, VerwA 1923, S. 1 (17); Tatarin-Tarnheyden, Berufsverbände und Wirtschaftsdemokratie, S. 33 f. 196 Poetzsch-Hefter, Handkommentar der Reichsverfassung, Art. 159, Nr. 6; einen einschränkenden Vorbehalt äußert niemand im Schrifttum, vgl. Gebhard, Handkommentar zur Verfassung des Deutschen Reichs, Art. 159, Anm. 2, was allerdings auch die Deutung zulässt, dass man sich hierüber keine Gedanken gemacht hat. 197 Potthoff, Die Einwirkungen der Reichsverfassung auf das Arbeitsrecht, S. 62 ff. 198 Nipperdey in: Nipperdey, Die Grundrechte und Grundpflichten der Reichsverfassung, Art. 159, S. 386.
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Art. 159 WRV weiterhin umstritten und unklar, wie der Tarifvertrag im Rahmen des § 152 GewO zu handhaben war. Daher bieten sich zwei Sichtweisen für die Auslegung des Art. 159 WRV an, wenn man akzeptiert, dass dieser der Aufhebung des § 152 GewO diente. Entweder der Tarifvertrag fiel unter den § 152 Abs. 2 GewO, dann war seine verbindliche Wirkung jedenfalls gegenüber den Mitgliedern dahin gehend, dass diese keine tarifwidrigen Arbeitsverhältnisse eingehen, verfassungsrechtlich verankert, weil Art. 159 WRV ja gerade seine Unverbindlichstellung aufheben sollte. Oder man stellt sich auf den Standpunkt, der Gesetzgeber sei davon ausgegangen, dass dieser sich nicht auf Tarifverträge bezog. Fraglich ist also das Verständnis der damaligen Zeit. Dieses lässt sich an einem Streit im arbeitsrechtlichen Schrifttum erkennen. Dieser betraf die schuldrechtliche Wirkung des Tarifvertrags. Dabei ging es um die Frage, ob die Tarifvertragsparteien ihren Mitgliedern gegenüber die Einhaltung schuldrechtlicher Pflichten aus dem Tarifvertrag, die grundsätzlich nur die Tarifvertragsparteien binden, gerichtlich einklagen konnten. Diese Möglichkeit wurde von der herrschenden Meinung deshalb bejaht, weil durch Art. 159 WRV199 der § 152 Abs. 2 GewO aufgehoben worden sei.200 Insbesondere habe die Schutzbestimmung des Art. 159 S. 2 WRV auch zu Gunsten der Vereinigung selbst gegenüber einschränkenden Maßnahmen Anwendung zu finden. Eine solche einschränkende Maßnahme sei die Klaglosigkeit des § 152 Abs. 2 GewO.201 Damit war im Schrifttum anerkannt, dass Art. 159 WRV unmittelbar die Klagbarkeit der Koalitionsabreden und zwar im Sinne tarifvertraglicher Regelungen gegenüber den Mitgliedern anordnete. Die Lehre ging davon aus, dass ein „bloß obligatorischer Anspruch der Tarifvertragsparteien gegeneinander, dafür zu sorgen, dass ihre Mitglieder keine tarifwidrigen Arbeitsverhältnisse eingehen (oder genauer keine tarifwidrigen Arbeitsverhältnisse haben oder dulden)“, erfahrungsgemäß nicht genügt, „um die Durchführung sicher zu stellen“.202 Der unabdingbare Tarifvertrag ergab sich als „notwendige Folgerung aus der Reichsverfas199
Also gerade nicht den Art. 165 WRV! Molitor, Kommentar zur Tarifvertragsverordnung, Anh. 1 zu § 1, Rz. 10, S. 111, m.w. N.; RG 2.7.1925, RGZ 111, 199 (200); Anschütz, Die Verfassung des Deutschen Reichs, Art. 159 WRV, Anm. 2; Poetzsch-Hefter, Handkommentar der Reichsverfassung, Art. 159, Nr. 6; Gebhard, Handkommentar zur Verfassung des Deutschen Reichs, Art. 159, Anm. 2; Groh, Koalitionsrecht, S. 30; Huber E. R., AÖR 1933, 1 (46); Hueck/ Nipperdey, Arbeitsrecht, Bd. 2 (3./5. Aufl.), S. 468; Nipperdey in: Nipperdey, Die Grundrechte und Grundpflichten der Reichsverfassung, Art. 159, S. 406 f., 430; Tatarin-Tarnheyden in: Nipperdey, Die Grundrechte und Grundpflichten der Reichsverfassung, Art. 165, S. 534, der einen Schutz der Koalition selbst nur unter Rückgriff auf Art. 165 Abs. 1 S. 2 WRV akzeptiert; RG 2.7.1925, RGZ 111, 199 (202); a. A. Potthoff, Die Einwirkung der Reichsverfassung auf das Arbeitsrecht, S. 27 f.; Richter, VerwA 1923, 1 (17); Tatarin-Tarnheyden, Berufsverbände und Wirtschaftsdemokratie, S. 33 f. 201 Nipperdey in: Nipperdey, Die Grundrechte und Grundpflichten der Reichsverfassung, Art. 159, S. 430. 202 Potthoff, Die Einwirkungen der Reichsverfassung auf das Arbeitsrecht, S. 40. 200
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sung“.203 Insofern wurde die Betätigungsgarantie, als Koalitionsfreiheit im weiteren Sinne, als Erscheinungsform des Grundrechts der Koalitionsfreiheit begriffen.204 c) Regelungs- und Normsetzungsbefugnis und Art. 159 WRV Des Weiteren wurde der Tarifvertrag als Art und Weise der Wahrnehmung des Zwecks der Koalitionen angesehen.205 Dies spricht für ein Verständnis im Sinne einer Betätigungsgarantie.206 Betätigungsgarantie und Koalitionsfreiheit im weiteren Sinne wurden als Ausprägungen des Grundrechts der Koalitionsfreiheit interpretiert.207 Allerdings ist mit Blick auf Art. 159 WRV zwischen der Regelungs- und der Normsetzungsbefugnis der Tarifvertragsparteien zu differenzieren. Für die Regelungsbefugnis und deren verfassungsmäßigen Schutz ist die folgende Überlegung von Nipperdey von entscheidender Bedeutung208: „Der Koalitionszweck ist nach der Verfassung die Wahrung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen (vgl. hierzu oben § 2 III 1.). Naturgemäß kann in diese Gesamtrichtung der Koalitionsfreiheit nicht eingegriffen werden, denn damit wäre die Vereinigungsfreiheit selbst getroffen.“
Bis hier bedeutet die Passage nichts weiter, als dass den Koalitionen das Recht zur Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen nicht genommen werden darf. Dies bedeutet aber zunächst nicht mehr, als dass die Gesamtrichtung erhalten bleiben muss oder anders gesagt – einen Aushöhlungsschutz. Dies wird auch in der Folge deutlich: „Anders verhält es sich mit dem jeweils von einer Vereinigung erstrebten Einzelerfolg. Das singuläre Koalitionsziel ist durch Art. 159 RV nicht geschützt. Die Einflussnahme auf die Arbeitszeit ist zweifelsohne eine Aufgabe der Koalitionen. Bei jeder Tarifverhandlung geht das Ziel der Vereinigungen dahin, für ihre Mitglieder möglichst günstige Arbeitszeitbedingungen zu erreichen. Die gesetzliche Regelung der Höchstarbeitszeit in der Arbeitszeitverordnung, die diesen Koalitionsbestrebungen gesetzliche Grenzen setzt, wäre nicht zu rechtfertigen, wenn der konkrete Koalitionszweck durch Art. 159 RV geschützt wäre. Ebenso würden die Verbindlicherklärung
203
Potthoff, Die Einwirkungen der Reichsverfassung auf das Arbeitsrecht, S. 7. Neumann, Koalitionsfreiheit und Reichsverfassung, S. 66; Nipperdey in: Nipperdey, Die Grundrechte und Grundpflichten der Reichsverfassung, Art. 159, S. 402. 205 Nipperdey in: Nipperdey, Die Grundrechte und Grundpflichten der Reichsverfassung, Art. 159, S. 399. 206 Nipperdey in: Nipperdey, Die Grundrechte und Grundpflichten der Reichsverfassung, Art. 159, S. 400; anders kann man aber Nipperdey in: Nipperdey, Die Grundrechte und Grundpflichten der Reichsverfassung, Art. 159, S. 415, verstehen. 207 Nipperdey in: Nipperdey, Die Grundrechte und Grundpflichten der Reichsverfassung, Art. 159, S. 402. 208 Nipperdey in: Nipperdey, Die Grundrechte und Grundpflichten der Reichsverfassung, Art. 159, S. 414; genauso Groh, Koalitionsrecht, S. 47. 204
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eines Schiedsspruchs sowie der Abschluss von Tarifverträgen und Arbeitsverträgen gegen Art. 159 RV verstoßen und damit unmöglich sein, da sie einzelne Koalitionsziele beschränken, und da die gesetzliche Regelung in diesen Fällen nicht auf verfassungsänderndem Gesetz beruht.“
Die Regelung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen durch die Koalitionen ist nach dem Verständnis Nipperdeys die Bündelung der einzelnen Regelungsziele der Koalitionen, also deren Gesamtheit im Sinne einer abstrakten Regelungsbefugnis. Ziel oder Einzelerfolg im Sinne der vorstehenden Passage ist eine inhaltliche Regelung von Arbeitsbedingungen, nicht der Tarifvertrag selbst. Dies wird aus dem letzten Satz deutlich. Denn der Tarifvertrag wird dort als Beschränkung eines einzelnen Koalitionszieles begriffen, ist von diesem also begrifflich zu trennen. Also meinte der Satz „das singuläre Koalitionsziel ist durch Art. 159 nicht geschützt“ nicht, dass der Tarifvertrag durch Art. 159 WRV keinen Schutz erfährt. Vielmehr ist er dahin gehend zu verstehen, dass Art. 159 WRV nicht vor der Regelung von Gegenständen schützt, die auch Inhalt von Tarifverträgen sein können, wie beispielsweise Mindestlohnregelungen.209 Dies wird auch am Beispiel der Arbeitszeitordnung (AZO) deutlich. Diese schränkte die Koalitionsbestrebungen zur Regelung der Höchstarbeitszeit ein. Dies wäre nicht zu rechtfertigen gewesen, wenn die konkrete Regelung von einzelnen Gegenständen, die denkbare Regelungen der Koalitionen sind, durch Art. 159 WRV zu Gunsten der Koalitionen geschützt wäre. Der Umkehrschluss daraus bedeutet nichts anderes, als dass die Regelungsbefugnis nur einen Aushöhlungsschutz erfuhr und in den Grenzen des zwingenden Gesetzesrechts als geschützt angesehen wurde. Ähnlich sind auch die Ausführungen von Tatarin-Tarnheyde zu verstehen, nach dem Art. 165 WRV den Koalitionen „hoheitlich von Staats wegen im Rahmen der allgemeinen Gesetze ihr autonomes Sozialrecht“ gewährleisten sollte.210 d) Kompensation struktureller Unterlegenheit und Koalitionsfreiheit Auch der Gedanke der Kompensation der strukturellen Unterlegenheit des Arbeitnehmers war in der damaligen Diskussion weit verbreitet. „Der Zusammenschluß erfolgt also [. . .], das eine mal zu dem Zweck, dem sozialen Übergewicht desjenigen, der Kraft Eigentums oder sonst begründeter Verfügungsgewalt über die Arbeitsgelegenheit zu disponieren in der Lage ist, das soziale Gegengewicht der Solidarität derjenigen entgegenzustellen, die über nichts verfügen als über ihre Arbeitskraft und berufliche Geschicklichkeit.“ [. . .] Wir haben also die
209 In diese Richtung auch Marcuse in: Kaskel, Koalitionen und Koalitionskampfmittel, S. 72 (73 f.); Kaskel, Arbeitsrecht (1. Aufl.), S. 234 und Kaskel/Dersch, Arbeitsrecht, S. 318 f., die ebenfalls zwischen einem geschützten Gesamtkoalitionszweck und nicht geschützten bestimmten einzelnen Koalitionszwecken differenzieren. 210 Tatarin-Tarnheyde in: Nipperdey, Die Grundrechte und Grundpflichten der Reichsverfassung, Art. 165, S. 538.
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Empfindung, daß die Koalitionsfreiheit ein machtausgleichendes Korrelat der wirtschaftlichen Unselbstständigkeit darstellt . . .“ 211
Im Kern folgte hieraus ein Verständnis, das die Regelungsbefugnis als nur in den Grenzen des bestehenden Gesetzesrechts geschützt ansah, wobei die Arbeitsund Wirtschaftsbedingungen insgesamt noch gewahrt und gefördert werden können mussten.212 Die Begrifflichkeit der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen diente historisch der Eröffnung eines abstrakt erweiterten Aufgabenkreises der Koalitionen, um eine Beschränkung dahin gehend zu verhindern, dass sie für einen bestimmten Aufgabenkreis allgemein für unzuständig erklärt würden, so insbesondere auch für sozialpolitische Ziele.213 e) Art. 165 WRV und Betätigungsgarantie Bedeutsam für die Betätigungsgarantie ist auch Art. 165 Abs. 1 S. 2 WRV.214 Dieser war Ausdruck der nunmehr anerkannten gleichberechtigten (paritätischen) gemeinsamen Mitwirkung von Arbeitnehmern und Arbeitgebern bei der Regelung der Lohn- und Arbeitsbedingungen sowie der gesamten wirtschaftlichen Entwicklung.215 Hier findet sich also im Wortlaut durchaus der Gedanke einer Regelungsbefugnis, allerdings im Sinne einer Mitwirkung. Des Weiteren erkennt Art. 165 Abs. 1 S. 2 WRV die beiderseitigen Organisationen und ihre Vereinbarungen an. Der Wortlaut der Vorschrift beinhaltet damit eine verfassungsrechtliche Anerkennung der Koalitionen sowie der Tarifverträge als Vereinbarungen.216 Diese Sichtweise entsprach auch der Rechtsprechung des Reichsarbeits-
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Böhm, Kartelle und Koalitionsfreiheit, S. 4. Hueck/Nipperdey, Arbeitsrecht, Bd. 2, S. 497; Nipperdey in: Nipperdey, Die Grundrechte und Grundpflichten der Reichsverfassung, Art. 159, S. 414; Groh, Koalitionsrecht, S. 47. 213 Böhm, Kartelle und Koalitionsfreiheit, S. 14. 214 Artikel 165: (1) „Die Arbeiter und Angestellten sind dazu berufen, gleichberechtigt in Gemeinschaft mit den Unternehmern an der Regelung der Lohn- und Arbeitsbedingungen sowie an der gesamten wirtschaftlichen Entwicklung der produktiven Kräfte mitzuwirken. Die beiderseitigen Organisationen und ihre Vereinbarungen werden anerkannt.“ 215 Anschütz, Die Verfassung des Deutschen Reichs, Art. 165 WRV, Anm. 3, 1; Giese, Verfassung des Deutschen Reichs, Art. 165, Anm. 2. 216 Anschütz, Die Verfassung des Deutschen Reichs, Art. 165 WRV, Anm. 3 a. E.; Döttger, Der Schutz tariflicher Normsetzung, S. 99; Huber E. R., AÖR 1933, 1 (47 f.); Herschel, Arbeitsrecht und Schlichtung 1932, 314 (321); Kemper, Die Bestimmung des Schutzbereichs der Koalitionsfreiheit, S. 137; Mann/Nipperdey, Steuergutscheine und Tariflockerung, S. 155; Nipperdey in: Nipperdey, Die Grundrechte und Grundpflichten der Reichsverfassung, Art. 159, S. 401; Nörpel, Arbeitsrecht und Schlichtung 1932, 305 (306); Potthoff, Die Einwirkungen der Reichsverfassung auf das Arbeitsrecht, S. 5; Sinzheimer, Grundzüge des Arbeitsrechts, S. 253; ebenso: Kemper, Der Schutzbereich der Koalitionsfreiheit, S. 137. 212
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gerichts.217 Eine Betätigungsgarantie war damit von Rechtsprechung und Lehre anerkannt. Soweit die entsprechenden Gewährleistungen nicht bereits aus Art. 159 WRV abgeleitet wurden, wurde sowohl der Bestand der Koalitionen als auch die rechtliche Legitimation zur Vertretung ihrer Mitglieder aus Art. 165 Abs. 1 WRV abgeleitet. 218 Die Koalitionen hätten ein originäres Recht zur Vertretung ihrer Mitglieder.219 Art. 165 Abs. 1 S. 2 WRV hatte dabei Rechtssatzwirkung, war also keine rein programmatische Vorschrift.220 Teilweise wurde er auch als „echtes Grundrecht“ angesehen.221 Die Ableitung einer Betätigungsgarantie mit Blick auf den Abschluss von Tarifverträgen aus der Vorschrift entsprach der nahezu einhelligen Meinung im Schrifttum.222 Danach sicherte Art. 165 Abs. 1 S. 2 WRV die Befugnis der Koalitionen, „Lohn und Arbeitsbedingungen der von ihnen vertretenen Arbeitnehmer in Gemeinschaft mit den zuständigen Arbeitgeberverbänden durch Tarifverträge zu regeln.“ 223 „Die Verfassung will eine Regelung der Arbeitsbedingungen durch Vereinbarungen der Organisationen. Das Gesetz über Tarifverträge ist nur die Durchführung eines in der Verfassung klar ausgesprochenen Grundsatzes.“ 224 Diese Feststellung bedeutet auf den ersten Blick eine Anerkenntnis sowohl der Regelungs- als auch der Normsetzungsbefugnis der Tarifvertragsparteien durch die Verfassung. Allerdings stehen die betreffenden Ausführungen häufig in engem Zusammenhang mit der Abgrenzung der Aufgaben der Koalitionen von de217 RAG 12.11.1932, RAGE 12, 63 (72); zu dieser Entscheidung vgl. ausführlich unten 3. Kap. B. II. 2. f). 218 Nipperdey in: Nipperdey, Die Grundrechte und Grundpflichten der Reichsverfassung, Art. 159, S. 400. 219 Nipperdey in: Nipperdey, Die Grundrechte und Grundpflichten der Reichsverfassung, Art. 159, S. 398, m.w N. 220 Vgl. oben 3. Kap. B. II. 1. d), sowie Fn. 171. 221 Gebhard, Handkommentar zur Verfassung des Deutschen Reichs, Art. 165, Anm. 2 a); Nörpel, Arbeitsrecht und Schlichtung 1932, 305 (306). 222 Anschütz, Die Verfassung des Deutschen Reichs, Art. 165 WRV, Anm. 3; Gebhard, Handkommentar zur Verfassung des Deutschen Reichs, Art. 159, Anm. 4; Giese, Verfassung des Deutschen Reichs, Art. 165, Anm. 2; Huber E. R., AÖR 1933, 1 (48); Mann/Nipperdey, Steuergutscheine und Tariflockerung, S. 155; Poetzsch-Hefter, Handkommentar der Reichsverfassung, Art. 165, Nr. 3; Potthoff, Die Einwirkungen der Reichsverfassung auf das Arbeitsrecht, S. 43; Tatarin-Tarnheyden in: Nipperdey, Die Grundrechte und Grundpflichten der Reichsverfassung, Art. 165, S. 544 (552); ähnlich RAG 12.11.1932, RAGE 12, 63 (72); Schelp, AuR 1953, 141 (142). 223 Anschütz, Die Verfassungs des Deutschen Reichs, Art. 165 WRV, Anm. 3; Giese, Verfassung des Deutschen Reichs, Art. 165, Anm. 2; Huber E. R., AÖR 1933, 1 (48); Potthoff, Die Einwirkungen der Reichsverfassung auf das Arbeitsrecht, S. 43; TatarinTarnheyden in: Nipperdey, Die Grundrechte und Grundpflichten der Reichsverfassung, Art. 165, S. 544 (552). 224 Potthoff, Die Einwirkungen der Reichsverfassung auf das Arbeitsrecht, S. 5; ähnlich RAG 12.11.1932, RAGE 12, 63 (72).
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nen der Räte.225 Andererseits finden sich auch Ausführungen, die den Vorrang des Tarifvertrags vor der Betriebsvereinbarung durch Art. 165 Abs. 1 S. 2 WRV gewährleistet sehen.226 Die Frage wurde mit Blick darauf diskutiert, wessen Aufgabe die Regelung sein soll. Es ging also nicht um den negativen Schutz vor Kompetenzübergriffen, sondern um die Klarstellung einer verfassungsrechtlich verankerten Kompetenz gegenüber den Räten, bzw. darum, „die Gebiete abzugrenzen“.227 Die Abgrenzung war damit eher gegenständlich im horizontalen Verhältnis gegenüber den Räten als im vertikalen Verhältnis gegenüber dem Staat konzeptioniert. Man war sich darüber einig, dass es „nach wie vor die Aufgabe der freien Berufsverbände ist und sein soll, die Arbeits- und Lohnbedingungen durch Tarifvertrag und eventuell Arbeitsgemeinschaften zu regeln.“ 228 Diese Sichtweise entsprach im Übrigen gerade auch der staatsrechtlichen Literatur.229 Der Gedanke des Art. 165 Abs. 1 S. 2 WRV war daher, dass die „geforderte Parität sich nicht nur [!] in Tarifverträgen für die Festsetzung der Lohn- und Arbeitsbedingungen, sondern darüber hinaus für die Regelung der gesamten wirtschaftlichen Entwicklung der produktiven Kräfte“ auswirke.230 Mit anderen Worten war der Schutz des Tarifvertrags durch Art. 165 Abs. 1 S. 2 WRV231 eine Selbstverständlichkeit, die in Art. 165 WRV aufgenommen wurde, um die Kompetenzen gegenüber den Räten abzugrenzen. Der Abschluss von Tarifverträgen zur Rege225 Poetzsch-Hefter, Handkommentar der Reichsverfassung, Art. 165 WRV, Nr. 2; Giese, Verfassung des Deutschen Reichs, Art. 165, Anm. 2; Kaskel/Dersch, Arbeitsrecht, S. 307. 226 Tatarin-Tarnheyden in: Nipperdey, Die Grundrechte und Grundpflichten der Reichsverfassung, Art. 165, S. 547. 227 Verhandlungen des Reichstags, 62. Sitzung, 21.7.1919, Bd. 328, S. 1751; Poetzsch-Hefter, Handkommentar der Reichsverfassung, Art. 165, Nr. 2; Gebhard, Handkommentar zur Verfassung des Deutschen Reichs, Art. 165, Anm. 4. 228 Verhandlungen des Reichstags, 62. Sitzung, 21.7.1919, Bd. 328, S. 1751; ähnlich Poetzsch-Hefter, Handkommentar der Reichsverfassung, Art. 165, Nr. 3; Gebhard, Handkommentar zur Verfassung des Deutschen Reichs, Art. 159, Anm. 4; Giese, Verfassung des Deutschen Reichs, Art. 165, Anm. 2; Tatarin-Tarnheyden in: Nipperdey, Die Grundrechte und Grundpflichten der Reichsverfassung, Art. 165, S. 547. 229 Vgl. Fn. 228; solche Hinweise sind an sich überflüssig, da aber die Frage aus welchem Fachbereich entsprechende Auffassungen kamen, von einem Teil der Literatur zum Gegenstand der wissenschaftlichen Auseinandersetzung gemacht wird, musste dies kurz angesprochen werden. 230 Poetzsch-Hefter, Handkommentar der Reichsverfassung, Art. 165, Nr. 3. 231 Poetzsch-Hefter, Handkommentar der Reichsverfassung, Art. 165, Nr. 3; Gebhard, Handkommentar zur Verfassung des Deutschen Reichs, Art. 159, Anm. 4; Huber E. R., AÖR 1933, 1 (48); Herschel, Arbeitsrecht und Schlichtung 1932, 314 (321); Mann/Nipperdey, Steuergutscheine und Tariflockerung, S. 155; Neumann, Koalitionsfreiheit und Reichsverfassung, S. 29; Nörpel, Arbeitsrecht und Schlichtung 1932, 305 (306); Potthoff, Die Einwirkungen der Reichsverfassung auf das Arbeitsrecht, S. 5, 43; TatarinTarnheyden in: Nipperdey, Die Grundrechte und Grundpflichten der Reichsverfassung, Art. 165, S. 544; Sinzheimer, Grundzüge des Arbeitsrechts, S. 253; rückblickend auch Englberger, Tarifautonomie im Deutschen Reich, S. 138; Rieble/Klumpp in: MüArbR, § 162, Rn. 10.
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lung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen stand damit unter dem Schutz der Verfassung.232 Denn die Vorschrift ordnete den Vorrang der Normen des Tarifvertrags gegenüber den Normen an, die mit den Arbeiterräten vereinbart wurden.233 Art. 165 Abs. 1 S. 2 WRV wurde als Anerkennung des Tarifvertrags als Rechtsquelle betrachtet.234 Eine Normsetzungsbefugnis war damit durch die Verfassung vorgesehen.235 So wurde auch, soweit eine Ausgestaltungsbefugnis des Gesetzgebers eingeräumt wurde, die normative und zwingende Wirkung des Tarifvertrags grundsätzlich als durch Art. 165 Abs. 1 S. 2 WRV gewährleistet angesehen.236 Ein Schutz, der bei einem anderen potenziellen kollektiven Normgeber durchaus auch erforderlich war, um den Tarifvertrag vor der Beseitigung durch Regelungen der Räte zu schützen. Sinn macht der Schutz der „beiderseitigen Vereinbarungen“ gegenüber den Räten, wenn man von einem Verständnis der Verfassung ausgeht, das den Tarifvertrag wie die mit den Arbeiterräten vereinbarten Normen als unmittelbar und zwingend ansieht und sich nunmehr zu einer Kollisionsentscheidung gezwungen sah. f) Legislative Eingriffe zur Weimarer Zeit Soweit teilweise vertreten wird, es habe während der Weimarer Zeit zahlreiche legislative Eingriffe in die Unabdingbarkeit gegeben, so etwa die direkte staatliche Absenkung von Arbeitsbedingungen unter Tarifniveau oder die per Notverordnung zugelassene untertarifliche Entlohnung237, und damit die Gewährleistung der Normsetzungsbefugnis durch die WRV relativiert wird, ist dies nur sehr eingeschränkt zutreffend. Zunächst einmal muss hier getrennt werden. Die gesetzliche Absenkung von Entgeltbedingungen tastete die gesetzlich geregelte Unabdingbarkeit des Tarifvertrags nicht unmittelbar an. Sie war auf die Verhand232 Poetzsch-Hefter, Handkommentar der Reichsverfassung, Art. 165, Nr. 3; Gebhard, Handkommentar zur Verfassung des Deutschen Reichs, Art. 159, Anm. 4; Tatarin-Tarnheyden in: Nipperdey, Die Grundrechte und Grundpflichten der Reichsverfassung, Art. 165, S. 544 ff.; rückblickend auch Englberger, Tarifautonomie im Deutschen Reich, S. 138. 233 Giese, Verfassung des Deutschen Reichs, Art. 165, Anm. 2. 234 RAG 12.11.1932, RAGE 12, 63 (72); Tatarin-Tarnheyden in: Nipperdey, Die Grundrechte und Grundpflichten der Reichsverfassung, Art. 165, S. 549. 235 Mann/Nipperdey, Steuergutscheine und Tariflockerung, S. 155; Potthoff, Die Einwirkungen der Reichsverfassung auf das Arbeitsrecht, S. 43, der allerdings die Art. 159 und 165 WRV nicht als verbindliches Recht ansah. Eine Haltung, die ihn allerdings nicht hinderte, die unmittelbare und zwingende Wirkung des Tarifvertrags als in der Verfassung verankert anzusehen. 236 RAG 12.11.1932, RAGE 12, 63 (72); Huber E. R., AÖR 1933, 1 (48); Herschel, Arbeitsrecht und Schlichtung 1932, 314 (321); Mann/Nipperdey, Steuergutscheine und Tariflockerung, S. 155; Neumann, Koalitionsfreiheit und Reichsverfassung, S. 120; Nörpel, Arbeitsrecht und Schlichtung 1932, 305 (306); Tatarin-Tarnheyden in: Nipperdey, Die Grundrechte und Grundpflichten der Reichsverfassung, Art. 165, S. 546. 237 Burkiczak, Grundgesetz und Deregulierung des Tarifvertragsrechts, S. 36.
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lungsergebnisse der Tarifvertragsparteien bezogen und griff unmittelbar in die Höhe des Tariflohns, nicht aber in dessen Unabdingbarkeit gegenüber dem Arbeitsvertrag, also in sein Verhältnis zu einer konkurrierenden vertraglichen Regelung ein. Die andere erwähnte gesetzliche Maßnahme ist eine Notverordnung der Regierung Papen vom 5.9.1932.238 Diese bezog sich allerdings nur vordergründig auf den Unabdingbarkeitsgrundsatz. So weist denn auch Herschel bereits 1932 darauf hin, dass es sich hier zwar wirtschaftlich betrachtet um eine Tariflohnsenkung handele, man es aber trotzdem „vermieden [hat] in den Inhalt der Tarifverträge und der Arbeitsverträge an sich einzugreifen. Man hat insbesondere den Inhalt der Tarifverträge unberührt gelassen, hat aber an den Tatbestand des Tarifvertrags die juristische Folge geknüpft, dass dem Arbeitgeber für gewisse [. . .] Fälle ein selbstständiges Leistungsverweigerungsrecht für den Lohn erwächst.“ 239 Die Verordnung wurde wegen ihrer offensichtlichen Erfolglosigkeit am 14.12.1932 aufgehoben.240 Die Verordnung berührte den Unabdingbarkeitsgrundsatz bei genauerer Betrachtungsweise nicht unmittelbar. Dies stellte das Reichsarbeitsgericht, das sich mit der Wirksamkeit der Verordnung zu befassen hatte, auch klar.241 Dies wird teilweise so interpretiert, das Reichsgericht habe entschieden, der Grundsatz der Unabdingbarkeit sei „noch gar nicht berührt, wenn eine von den Tarifvertragsparteien getroffene Regelung durch den Gesetzgeber geändert werde“.242 Dies ist so falsch. Von einem „noch“ kann hier keine Rede sein. Der Unabdingbarkeitsgrundsatz war eigentlich nicht betroffen. Dies lag aber nicht daran, dass die ge238 RGBl. 1932 I, S. 433 ff.; dazu ausführlich Mann/Nipperdey, Steuergutscheine und Tariflockerung, S. 154 ff. 239 Herschel, Arbeitsrecht und Schlichtung 1932, 314 (320); Nörpel, Arbeitsrecht und Schlichtung 1932, 305 (307). 240 Nörr, ZfA 1986, 403 (415); Kittner, Arbeitskampf, S. 497. 241 RAG 12.11.1932, RAGE 12, 63 (68): „Eine Verletzung des Unabdingbarkeitsgrundsatzes liegt nicht vor. Dieser wird durch die im § 1 der VO vom 5. September 1932 getroffene Regelung überhaupt nicht berührt. Denn die Bedeutung und das Wesen der mit dem Tarifvertrage nach § 1 Abs. 1 der TarifVO verbundenen Unabdingbarkeit liegt in der Vorherrschaft der auf dem Kollektivwillen beruhenden Vereinbarung der Tarifvertragsparteien vor einer auf dem Individualwillen der Einzelvertragsparteien beruhenden Vereinbarung, indem der ersteren der Vorrang vor der letzteren mit der Wirkung zuerkannt wird, dass jeder auf dem Individualwillen beruhenden Vertragsabrede, welche einer auf dem Kollektivwillen beruhenden Vertragsbestimmung zuwider läuft, die Rechtswirksamkeit entzogen wird. Eine Verletzung des Unabdingbarkeitsgrundsatzes kommt deshalb nur in Frage, wenn eine auf dem Individualwillen der Einzelvertragsparteien beruhende Abrede getroffen ist, die mit einer auf dem Kollektivwillen der Tarifvertragsparteienm beruhenden Vereinbarung in Widerspruch steht. Ein Sachverhalt dieser Art liegt aber nicht vor, wenn die durch den Kolektivwillen getroffene Regelung durch das Gesetz oder eine dem gleichstehende Rechtsverordnung geändert wird. Denn in diesem Falle wird durch den Gesetzgeber lediglich das allgemeine Vertragsrecht betroffen, indem eine von den Tarifvertragsparteien getroffene Vereinbarung einer Abänderung durch den Gesetzgeber unterworfen wird.“ 242 Burkiczak, Grundgesetz und Deregulierung des Tarifvertragsrechts, S. 36 f.
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setzliche Änderung als ein funktionales Äquivalent zur Beseitigung der Unabdingbarkeit gesehen wurde, sondern dass diese nach der Rechtsprechung des RAG qualitativ etwas Anderes war. Dies ist auch überzeugend, wenn man sich klar macht, dass im Falle einer staatlichen Vorgabe für Regelungen eben die Regelungsbefugnis und nicht die Normsetzungsbefugnis der Tarifvertragsparteien betroffen ist. Hier wurde die Abweichung nicht den Arbeitsvertragsparteien überlassen.243 Vielmehr wurden die Abweichungen vom Tariflohn, die ohnehin nur unter relativ engen tatbestandlichen Voraussetzungen zulässig waren, einseitig vom Arbeitgeber durch Aushang bekannt gegeben, konnten allerdings jederzeit vom staatlichen Schlichter, dem die Absenkung anzuzeigen war, abgelehnt werden soweit die Ziele der Verordnung nicht erfüllt waren.244 Auch hing die Absenkung von der Einstellung zusätzlicher Arbeitnehmer ab. Für wirtschaftlich notleidende Betriebe stand die entsprechende Befugnis des Arbeitgebers ohnehin unter einem staatlichen Genehmigungsvorbehalt durch den Schlichter. Insofern blieb selbst hier die zwingende Wirkung des Tarifvertrags gegenüber der arbeitsvertraglichen Abrede voll erhalten. Die TVVO wurde nicht geändert. Der Geltungsumfang des Tarifvertrags wurde aber beeinträchtigt, weil unter Mitwirkung staatlicher Stellen ein Leistungsverweigerungsrecht gegenüber den Ansprüchen aus dem Tarifvertrag konstituiert wurde. Damit war diese Abweichung aber eben staatlich verantwortet und genehmigt und zwar allein auf Wunsch des Arbeitgebers. Mit einer Öffnung der zwingenden Wirkung gegenüber vertraglichen Absprachen hatten die Vorschriften schon regelungstechnisch, also einzelfallbezogen, staatsorientiert und interventionistisch245 wie sie angelegt waren, nichts zu tun. Dies gilt insbesondere vor dem Hintergrund, dass in der politischen Diskussion durch die Arbeitgeber die Forderung nach einer echten Abschwächung des Unabdingbarkeitsprinzips („Auflockerung der Tarife“) erhoben worden war.246 So war etwa vorgeschlagen worden, den unabdingbaren Teil des tarifvertraglichen Lohns auf den Lohn in Höhe der Leistungen der Arbeitslosenversicherung zu begrenzen.247 Insofern ist durch die Entscheidung des Reichsgerichts zu der entsprechenden Verordnung nicht mehr gesagt, als dass staatliche Eingriffe in tarifvertragliche Rechte dann gerechtfertigt werden konnten, wenn sie die Unabdingbarkeit nicht im wesentlichen Bestande ihrer Bedeutung betra-
243 Besonders deutlich bei Herschel, Arbeitsrecht und Schlichtung 1932, 314 (320): „Vor allem ändert sich der Inhalt des Arbeitsvertrags nicht. Ja, der Umstand, dass der Arbeitgeber die Unterschreitungsbefugnis hat, ermöglicht es den Arbeitsvertragsparteien nicht einmal, in diesem einen entsprechenden untertariflichen Lohn zu vereinbaren.“ 244 Nörpel, Arbeitsrecht und Schlichtung 1932, 305 (307). 245 Englberger, Tarifautonomie im Deutschen Reich, S. 256. 246 Englberger, Tarifautonomie im Deutschen Reich, S. 243 ff.; Nörr, ZfA 1986, 403 (415). 247 Vgl. dazu Englberger, Tarifautonomie im Deutschen Reich, S. 250.
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fen.248 Die Frage, ob gesetzliche Öffnungsklauseln diesem Prinzip entsprochen hätten, war nicht Gegenstand des entsprechenden Verfahrens. Das RAG traf aber vorsorglich auch für diese Frage Aussagen zu Art. 165 WRV. Zunächst einmal stellte das RAG fest, dass der Unabdingbarkeitsgrundsatz grundsätzlich durch die Verfassung in Art. 165 Abs. 1 WRV gewährleistet war.249 Dies entsprach auch der herrschenden Meinung im damaligen Schrifttum.250 Die Verfassung verpflichtete den Gesetzgeber damit, grundsätzlich eine zwingende Wirkung des Tarifvertrags vorzusehen und die Abweichung durch Arbeitsvertrag grundsätzlich auszuschließen. In diesen Grenzen erkannte das RAG aber einen Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers an. Er sei – in den Grenzen des oben stehenden Grundsatzes – nicht auf die gegenwärtige Form der Unabdingbarkeit im TVG festgelegt. Die Regelung der Unabdingbarkeit könne, sofern nur der Gedanke des Vorrangs der Kollektivvereinbarung vor der Individualabrede der leitende und maßgebende Gesichtspunkt bliebe, in verschiedener Weise und in verschiedenem Umfang erfolgen. Interessant ist, welches Beispiel das RAG für eine solche verfassungskonforme Durchbrechung anbot: das Günstigkeitsprinzip (!), also eine solche Ausnahme, die die Schutzfunktion des Tarifvertrags nicht berührte. Es ist naheliegend, dass das RAG seine Ausnahme wohl auch primär mit Blick auf dieses gemacht hat. Damit lässt sich festhalten, dass das RAG dem Gesetzgeber relativ enge Grenzen auferlegte. Eine gesetzliche Bestimmung dürfe den Grundsatz der Unabdingbarkeit nicht gänzlich außer Acht lassen und keine Regelung treffen, durch welche die Unabdingbarkeit im Wesentlichen in ihrer Bedeutung verletzt werde. Aus der Herleitung dieser Grenze durch das RAG ergibt sich eine Konkretisierung dieser Anforderungen. Zunächst einmal folgte aus der Verfassung die Gewährleistung der Unabdingbarkeit des Tarifvertrags. Diesen umzusetzen war der Gesetzgeber verpflichtet. Dabei musste er einen Weg wählen, der grundsätzlich den Vorrang des Tarifvertrags vor der Individualabrede vorsah und dessen Leitgedanke und maßgebende Zielrichtung die Unabdingbarkeit war. Eine Aufhebung der Unabdingbarkeit wäre also ebenso verfassungswidrig gewesen wie eine generelle Abweichungsmöglichkeit der Arbeitsvertragsparteien. Vielmehr wären Durchbrechungen nur für Ausnahmefälle und als Ausnahmeregelungen zulässig gewesen, die den Grundsatz nicht aufheben. Innerhalb dieser Grenzen war die Regelung des Unabdingbarkeitsgrundsatzes aber Sache
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Herschel, Arbeitsrecht und Schlichtung 1932, 314 (321). RAG 12.11.1932, RAGE 12, 63 (72): „Damit ist durch die Verfassungsbestimmung zwar mittelbar auch der Grundsatz der Unabdingbarkeit gewährleistet, indem eine Kollektivvereinbarung als Rechtsnorm nur dann wirksam sein kann, wenn ihr Vorrang vor der Individualabrede grundsätzlich anerkannt und die Möglichkeit, sie durch Individualabrede zu beseitigen, grundsätzlich ausgeschlossen ist, [. . .]“. 250 Mann/Nipperdey, Steuergutscheine und Tariflockerung, S. 155; Herschel, Arbeitsrecht und Schlichtung 1932, 314 (321); Nörpel, Arbeitsrecht und Schlichtung 1932, 305 (308). 249
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des Gesetzgebers.251 Bei einer Regelung, welche eine Unterschreitung der Tariflohnsätze durch den Arbeitgeber nur unter ganz bestimmten Voraussetzungen und nur in ganz bestimmten Grenzen zulasse, seien die vorstehenden Grundsätze nicht verletzt. Aus der Entscheidung kann man also ohne Weiteres einen verfassungsrechtlichen Schutz der Normsetzungsbefugnis der Tarifvertragsparteien herleiten. Hingegen ist für die Frage der Reglungsbefugnis festzuhalten, dass das RAG keinen Schutz der Regelungsbefugnis außerhalb eines Aushöhlungsschutzes anerkannt hat. Die Entscheidung klassifiziert die durch die Verordnung geschaffenen Abweichungsmöglichkeiten als die Regelungsbefugnis betreffend. Grenzen aus Art. 165 WRV zog das RAG hierfür nicht. Daraus lässt sich durchaus folgern, dass das RAG die Normsetzungsbefugnis für wichtiger erachtet hat als die Regelungsbefugnis, jedenfalls im verfassungsrechtlichen Maßstab. Allerdings muss man sich auch vor Augen führen, dass die Entscheidung durch eine extreme wirtschaftliche und politische Instabilität in der damaligen Zeit beeinflusst gewesen sein dürfte.252 Dass das RAG bei normalen ökonomischen und politischen Rahmenbedingungen die Grenzen enger gezogen hätte, darf als nicht ausgeschlossen angesehen werden. g) Zusammenfassung Die Annahme einer Betätigungsgarantie war damit weit verbreitet.253 Allerdings ist darauf hinzuweisen, dass sich ein Teil der Lehre nicht mit der Frage beschäftigte. Betrachtet man die Entstehungsgeschichte der Art. 159 und 165 WRV insgesamt, so ergibt sich eine Betätigungsgarantie der Koalitionen, die den Abschluss von Tarifverträgen beinhaltete. Damit war die Betätigungsgarantie verfassungsrechtlich verankert.254 Das Tarifvertragswesen wurde durch Art. 165 Abs. 1 S. 2 WRV verfassungsrechtlich garantiert.255 Ebenso folgt aus der Entstehungsgeschichte, dass die unmittelbare und zwingende Wirkung des Tarifvertrags gegenüber dem Arbeitsvertrag durch die Verfassung gewährleistet war.256 Dies 251
Zum Ganzen: RAG 12.11.1932, RAGE 12, 63 (72 f.). Vgl. RAG 12.11.1932, RAGE 12, 63 (77). 253 Nipperdey in: Nipperdey, Die Grundrechte und Grundpflichten der Reichsverfassung, Art. 159, S. 400; Sinzheimer, Grundzüge des Arbeitsrechts, S. 73; Tatarin-Tarnheyden in: Nipperdey, Die Grundrechte und Grundpflichten der Reichsverfassung, Art. 165, S. 552. 254 Kemper, Die Bestimmung des Schutzbereichs der Koalitionsfreiheit, S. 137; Nörr, ZfA 1986, 403 (412); Englberger, Tarifautonomie im Deutschen Reich, S. 138. Auch Scholz, Koalitionsfreiheit als Verfassungsproblem, S. 34, der ansonsten dem Gedanken einer kollektiven Garantie kritisch gegenübersteht, erkennt an, dass „die verbandsförmige Koalitionsbetätigung“ von der Koalitionsfreiheit umfasst war. 255 Rieble/Klumpp in: MüArbR, § 162, Rn. 10. 256 Potthoff, Die Einwirkungen der Reichsverfassung auf das Arbeitsrecht, S. 18; so auch rückblickend Dreschers, Die Entwicklung des Rechts des Tarifvertrags in Deutschland, S. 76; Hueck/Nipperdey, Arbeitsrecht II/1, S. 217. 252
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gilt umso mehr, wenn man sie bereits in der damaligen Zeit als „Rückgrat des Tarifvertrags“ begriff.257 Auch hier lässt sich auf Basis des Weimarer Schrifttums und der Rechtsprechung nur schwer nachvollziehen, wie man heute zu dem Ergebnis kommen kann, eine Betätigungsgarantie sei durch die WRV nicht gewährleistet gewesen. Die Ursache dafür liegt wohl in dem Missverständnis, dass aus der fehlenden Garantie des Arbeitskampfes als einer konkreten Betätigungsform auf die Betätigungsgarantie insgesamt geschlossen wird.258 Auch dass die unmittelbare und zwingende Wirkung als Leitmotiv der Tarifautonomie anerkannt war, ist auf Basis des vollständig ausgewerteten Schrifttums und der Rechtsprechung des RAG nicht zu bestreiten.259 Einzig die Einschränkbarkeit ihres Umfangs ist diskussionsfähig. Auch mit Blick auf die Regelungsbefugnis lässt sich sagen, dass diese von der Weimarer Verfassung anerkannt war. Eine Anerkennung der Tarifautonomie durch die Weimarer Verfassung ist damit zu konstatieren260, sowohl mit Blick auf die Normsetzungs- als auch auf die Regelungsbefugnis. Jedoch war ihr Umfang keinesfalls der einer Vorranggarantie gegenüber dem staatlichen Gesetzgeber. Vielmehr existierte diese nur im Rahmen des zwingenden Gesetzesrechts. Eine weite Zurücknahme der Gesetzgebung war zur da-
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Sinzheimer, Grundzüge des Arbeitsrechts, S. 264. So wohl Pieroth, FS 50 Jahre BVerfG, 293 (294). 259 So auch: Dreschers, Die Entwicklung des Rechts des Tarifvertrags in Deutschland, S. 76; Hueck/Nipperdey, Arbeitsrecht II/1, S. 217; a. A. Burkiczak, Grundgesetz und Deregulierung des Tarifvertragsrechts, der im Übrigen einen inhaltlich unrichtigen Hinweis gibt, die entsprechende Auffassung sei im Weimarer Schrifttum vor allem im arbeitsrechtlichen – und dort vor allem im sozialdemokratisch geprägten bzw. gewerkschaftsnahen Schrifttum vorhanden (vgl. Huber E. R., AÖR 1933, 1 (48): „Der eigentliche Sinn des Art. 165 Abs. 1 WRV besteht also darin, daß er das Einzelarbeitsverhältnis in ein Gesamtsystem von kollektiven, unmittelbar und unabdingbar wirkenden Tarifverträgen einbettet“; Tatarin-Tarnheyden in: Nipperdey, Die Grundrechte und Grundpflichten der Reichsverfassung, Art. 165, S. 546; dass Burkiczak, obwohl er ausweislich seines Fussnotenapparats die genannten Beiträge kannte, diese im vorstehenden Zusammenhang nicht zitert, soll hier nur angemerkt und nicht kommentiert werden). Der Verfasser maßt sich nicht an, die Richtigkeit von Auffassungen nach der Zugehörigkeit von Personen zu (demokratischen) politischen Lagern zu bewerten; neigt man einer solchen Haltung zu, wäre es aber hilfreich gewesen, das gesamte Schrifttum – auch hinsichtlich seiner Geschichte nach 1933 – zu untersuchen (dann wäre auch deutlich geworden dass E. R. Huber und Tatarin-Tarnheyden zwar aufgrund ihres politischen Verhaltens mit Vorsicht zu betrachten sind, aber neben ihrer evidenten Nichtzugehörigkeit zum arbeitsrechtlichen Schrifttum wohl kaum als Sozialdemokraten zu bezeichnen sind, vgl. dazu Dreier in: VVDStrL 60 (2000), 9 (21 f.); vgl. zur Haltung von Tatarin-Tarnheyden, Werdendes Staatsrecht, 1934, sowie Der Einfluss des Judentums in Staatsrecht und Staatslehre, 1938; auch der Hinweis von Rüthers, Entartetes Recht, Rechtslehren und Kronjuristen im Dritten Reich, S. 135, Fn. 126, auf die Teilnahme Tatarin-Tarnheydens an der Veranstaltung „Die deutsche Rechtswissenschaft im Kampf gegen den jüdischen Geiste“, sei hier erwähnt.). Auch zu Nipperdey finden sich kritische Anmerkungen, vgl. Kittner, Arbeitskampf, S. 508, vgl. aber auch die Rechtfertigung Nipperdeys in AuR 1959, 340. 260 Kemper, Der Schutzbereich der Koalitionsfreiheit, S. 137. 258
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maligen Zeit kein Inhalt der Tarifautonomie.261 Dieser Frage soll hier allerdings noch ausführlicher nachgegangen werden. 3. Regelungskompetenz für die Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen durch Art. 159 und Art. 165 WRV? a) Diskussion in der verfassungsgebenden Konferenz Paradigmatisch für das Verständnis der Regelungsbefugnisse der Koalitionen ist das folgende Zitat des Berichterstatters für den entsprechenden Verfassungsabschnitt bei den Verfassungsverhandlungen im Deutschen Reichstag, Sinzheimer: „Es ist ein Bedürfnis nach einer Organisation und Regulierung des Wirtschaftslebens vorhanden. Dieses Bedürfnis nach Organisierung und Regulierung kann durch den Staat allein nicht befriedigt werden. Damit diese Regulierung des Wirtschaftslebens sachentsprechend erfolgen kann, ist es notwendig, dass die wirtschaftlichen Kräfte selbst unmittelbar die Bestimmungen und die Normen treffen, die erforderlich sind, um das Wirtschaftsleben unabhängig vom Staate, wenn auch im Staate und aufgrund von Staatsgesetzen zu regulieren.“ 262
Insofern lässt sich durchaus sagen, dass der Gedanke der Weimarer Reichsverfassung durch die „Idee der sozialen Selbstbestimmung im Recht“ geprägt war.263 b) Koalitionsfreiheit und autonomes Arbeitsrecht Sinzheimer und andere Autoren haben denn auch in der Folge hervorgehoben, dass die staatlichen Kräfte nicht ausreichen, „um die erforderlichen Regelungen im Einzelnen herbeizuführen.“ 264 Das staatliche Recht sei oft starr und schematisch und könne der gesellschaftlichen Entwicklung nicht schnell genug folgen. Als Lösung wurde die Setzung autonomen Rechts durch die organisierten gesellschaftlichen Kräfte angesehen. Interessant ist aber, dass selbst Sinzheimer die folgende Einschränkung für das „autonome Arbeitsrecht“ vornahm: „Es ist nichtstaatliches, aber doch vom Staate abhängiges Recht. Seine Bildung ist nur möglich, wenn es vom Staate zugelassen ist, sich in den Grenzen hält, die der Staat gezogen hat, und in den Formen erfolgt, die er zur Verfügung stellt. Autonomes Arbeitsrecht geht dem nachgiebigen Recht vor, weicht aber dem zwingenden staatlichen Recht, wenn dieses nicht ausdrücklich Abweichungen durch autonomes Recht zulässt, wie nach § 2 und § 5 ArbZeitV.“ 265 261
So auch Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht, Bd. I, S. 151. Verhandlungen des Reichstags, 62. Sitzung, 21.7.1919, Bd. 328, S. 1749 f. 263 Potthoff, Die Einwirkungen der Reichsverfassung auf das Arbeitsrecht, S. 41; ähnlich Neumann, Koalitionsfreiheit und Reichsverfassung, S. 35. 264 Sinzheimer, Grundzüge des Arbeitsrechts, S. 46. 265 Sinzheimer, Grundzüge des Arbeitsrechts, S. 46. 262
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Insofern war der Gedanke einer sachnahen und flexiblen autonomen Selbstregulierung, allerdings in den Grenzen des staatlichen Rechts, zur Weimarer Zeit bereits vorhanden.266 c) Kompetenzparallelismus und Tarifautonomie Allerdings ist zu betonen, dass eben staatliche konkurrierende Regelungen in diesem Verständnis etwas vollkommen Selbstverständliches waren. Die Differenzierung erfolgte nicht nach dem Gesichtspunkt vorrangiger Regelungszuständigkeit, sondern nach dem Gedanken, ob das staatliche Recht überhaupt befähigt ist, bestimmte Sachverhalte der gesellschaftlichen Entwicklung entsprechend zu gestalten. Die Tarifautonomie wurde damit als ein geeignetes Auffanginstrumentarium für Regelungsbedarfe, die der Gesetzgeber selbst nicht sinnvoll bedienen kann, gesehen. Dies geschah in einer Weise, bei der ein sich gegenseitig ergänzendes Miteinander beider Regulierungsinstrumente betont wurde. Sinzheimer wies aber auch darauf hin, dass die Verbände aufgrund ihrer sozialen Macht durchaus vom staatlichen Gesetzgeber heteronome Interessen entwickeln können.267 Dies zumal dann, wenn dieser der gesellschaftlichen Entwicklung nicht schnell genug folge.268 Der entsprechende Konflikt sei durch die autonome Rechtserzeugung zu lösen. Mithin war der Gedanke einer autonomen Regelungsbefugnis in der Weimarer Zeit bereits vorhanden, aber nicht in einem streng antagonistischen Sinne gegenüber der staatlichen Gesetzgebung. Vielmehr erweist sich die Tarifautonomie wiederum als Instrument der Kompensation staatlicher Untätigkeit269 bei der Schutzgesetzgebung, die von den Verbänden selbstregulierend in die Hand genommen wird, dies aber um den Preis massiver Auseinandersetzungen. Mit diesem Verständnis standen staatliche Mindestarbeitsbedingungen vollständig im Einklang und wurden nirgends als Beeinträchtigung dieses Prinzips begriffen. Dies fand auch seinen Ausdruck im Schrifttum, sowie im Wortlaut des Art. 165 Abs. 1 S. 2 WRV, der von einer „Mitwirkung“ spricht. d) Bedeutung des Art. 157 WRV Von Bedeutung für die Regelungskompetenz der Tarifvertragsparteien ist auch Art. 157 WRV. Dieser stellte die Arbeitskraft unter den besonderen Schutz des Reiches (Abs. 1) und verpflichtete es, ein einheitliches Arbeitsrecht zu schaffen 266
So z. B. auch bei Herschel, Arbeitsrecht und Schlichtung 1932, 314 (322). Sinzheimer, Grundzüge des Arbeitsrechts, S. 46. 268 Sinzheimer, Grundzüge des Arbeitsrechts, S. 46. 269 Andelewski, Staatliche Mindestarbeitsbedingungen, S. 276; Rüthers, DB 1973, 1649 (1650); Säcker, RdA 1969, 291 (298); ders., Grundprobleme der kollektiven Koalitionsfreiheit, S. 47; ders., AuR 1994, 1 (8); Scholz, Koalitionsfreiheit als Verfassungsproblem, S. 22 ff. 267
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(Abs. 2). Abs. 2 war dabei eine Anweisung an den Gesetzgeber, von seiner Zuständigkeit aus Art. 7 Nr. 9 WRV Gebrauch zu machen und ein einheitliches Arbeitsgesetzbuch zu schaffen.270 Der Ruf nach einer einheitlichen Kodifikation des Arbeitsrechts entspringt also bereits der WRV. Ob der Gesetzgeber diesem Versprechen der Weimarer Verfassung noch vor ihrem 100. Geburtstag nachkommt, bleibt abzuwarten.271 Damit erwuchs aus der Gesetzgebungskompetenz in Art. 7 Nr. 9 WRV erkennbar die Befugnis des Gesetzgebers, Gegenstände zu regeln, die auch Inhalt von Tarifverträgen sein konnten. Dieser wurde als bekräftigende Zuständigkeitsvorschrift zu Gunsten des Staates begriffen.272 In der Praxis hatte der Gesetzgeber durch Erlass der Arbeitszeitordnung bereits vor Erlass der Tarifvertragsverordnung und der WRV einen Bereich – zunächst ohne Tariföffnung – geregelt, der bis heute zu den Hausgütern der Tarifautonomie gezählt wird.273 Dies ist vor diesem historischen Hintergrund etwas überraschend, da die gesetzliche Regelung der Arbeitszeit eine der Kernforderungen der Gewerkschaften bei der Neugestaltung des Arbeitsrechts zu Beginn der Weimarer Zeit war. Seit 1918 gab es nie eine vorrangige Zuständigkeit in dieser Frage, auch nicht bei Inkrafttreten der Weimarer Verfassung. Dies wird auch an den unter Art. 157 WRV fallenden gesetzlichen Bestimmungen deutlich. Dies waren u. a. Mindestlöhne, Höchstarbeitszeiten274, Truckverbote, Verbote oder Beschränkungen der Erwerbsarbeit vor einem bestimmten Alter (Jugendschutz), Erhaltung der weiblichen Arbeitskraft (Frauenschutz), Bestimmungen zur Verhütung von Unfällen und Krankheiten sowie der Arbeitsschutz.275 Auch die Sonntagsruhe wurde als Ausdruck des Schutzes von Schlaf und Erholung durch die Verfassung als gewährleistet angesehen.276 Damit wird deutlich, dass der Gesetzgeber durch die Verfassung auf die umfassende Regulierung des Arbeitsrechts, nicht nur auf den Arbeitsschutz, verpflichtet wurde. Insbesondere die Zuständigkeit zur Festset-
270 Anschütz, Die Verfassung des Deutschen Reichs, Art. 157 WRV, Anm. 2; Poetzsch-Hefter, Handkommentar der Reichsverfassung, Art. 157, Nr. 3; Giese, Verfassung des Deutschen Reichs, Art. 157, Anm. 2; vgl. Badura, FS Berber, S. 11 ff. 271 Zur ggw. Diskussion um die Schaffung zumindest eines einheitlichen Arbeitsvertragsrechts vgl. den Entwurf von Preis/Henssler abgedruckt in Beil. NZA Heft 1/2007, 6 ff., sowie Preis, DB 2008, 61 ff.; ders., FS Hromadka, S. 275 ff. 272 Radbruch in: Nipperdey, Die Grundrechte und Grundpflichten der Reichsverfassung, Art. 157 Abs. 1, S. 350. 273 Vgl. dazu unten 3. Kap. E. XI. 274 Giese, Verfassung des Deutschen Reichs, Art. 157, Anm. 1; ders., NZfA 1923, 210 (216). 275 Aufzählung bei: Poetzsch-Hefter, Handkommentar der Reichsverfassung, Art. 157, Nr. 2; vgl. auch Giese, Verfassung des Deutschen Reichs, Art. 157, Anm. 1; Groh, Koalitionsrecht, S. 47. 276 Radbruch in: Nipperdey, Die Grundrechte und Grundpflichten in der Reichsverfassung, Art. 157 Abs. 1, S. 354.
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zung von Mindestlöhnen lässt ein Verständnis, das eine Vorrangstellung der Tarifvertragsparteien durch die Verfassung garantiert sehen will, als fernliegend erscheinen. Immerhin hatte das RAG eine staatliche Lohnregelung im Tarifbereich aber dann für bedenklich gehalten, „wenn eine gesetzgeberische Maßnahme die in jener Bestimmung beschriebene Befugnis zur Arbeitsnormensetzung in einem wesentlichen Teil ausschalten würde“.277 Mit anderen Worten: staatliche Entgeltregelungen waren grundsätzlich zulässig, mussten aber den Tarifvertragsparteien noch genügenden Regelungsspielraum lassen. Ein staatlicher Mindestlohn erfüllt diese Voraussetzungen problemlos. Auch andere Stellungnahmen im Schrifttum zu den Grenzen der Regelungsbefugnis nach Art. 165 WRV sahen den Koalitionen „hoheitlich, von Staats wegen, im Rahmen der allgemeinen Gesetze ihr autonomes Sozialrecht“ als gewährleistet an.278 Verbunden mit dem Gedanken der Sachnähe der Tarifvertragsparteien finden sich durchaus Gedanken der Autonomie der Verbände279, aber eben in dem Kontext, dass der Abschluss von Tarifverträgen nur nach Maßgabe des einfachen Gesetzesrechts geschützt war.280 Auch die Ordnungsfunktion des Tarifvertrags wird bereits angesprochen,281 ebenso die unmittelbar durch Art. 165 Abs. 1 S. 2 WRV gewährleistete Mitwirkung der beiderseitigen Berufsverbände an der Regelung der Lohn- und Arbeitsbedingungen. Hinzuweisen ist auch darauf, dass zur Weimarer Zeit das Instrument der Zwangsschlichtung häufig in Anspruch genommen wurde.282 Auch dies wurde verfassungsrechtlich nicht beanstandet. Damit bestand hinsichtlich des autonomen Einigungsprozesses ein erheblicher Störfaktor durch staatlichen Interventionismus. Dieses Gesamtbild zeigt, dass eine Normsetzungsprärogative der Tarifvertragsparteien ebenso wenig dem Bild der Weimarer Zeit entsprach, wie ein Verständnis der Tarifautonomie, bei dem staatliche Regelungen von Arbeitszeit und Entgelt als verfassungsrechtlich unzulässig angesehen worden wären. Diese waren uneingeschränkt zulässig, solange sie die Befugnis zur Arbeitsnormsetzung nicht vollständig ausschalteten.283 Im Zusammenspiel mit den bereits oben dargestellten Einschränkungen der Betätigungsgarantie lässt sich zusammenfassend festhalten, dass der Gesetzgeber nach dem Verständnis der Weimarer Reichsverfassung umfassend zur Regelung 277
RAG 12.11.1932, RAGE 12, 63 (70). Tatarin-Tarnheyde in: Nipperdey, Die Grundrechte und Grundpflichten der Reichsverfassung, Art. 165, S. 538. 279 Potthoff, Die Einwirkungen der Reichsverfassung auf das Arbeitsrecht, S. 5 f. 280 Verhandlungen des Reichstags, 62. Sitzung, 21.7.1919, Bd. 328, S. 1749 f.; Tatarin-Tarnheyden in: Nipperdey, Die Grundrechte und Grundpflichten der Reichsverfassung, Art. 165, S. 547; rücklickend auch Englberger, Tarifautonomie im Deutschen Reich, S. 138. 281 Tatarin-Tarnheyden in: Nipperdey, Die Grundrechte und Grundpflichten der Reichsverfassung, Art. 165, S. 551. 282 Vgl. dazu oben 1. Kap. B. I. 283 Zum Aushöhlungsgedanken vgl. unten 3. Kap. E. VI. 278
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der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen zuständig war, ohne dass daraus ein Konflikt zu der verfassungsmäßig verankerten Betätigungsgarantie der Koalitionen gesehen wurde. Vielmehr bestand deren Regelungsbefugnis in den Grenzen des einfachen Gesetzesrechts. 4. Zusammenfassung Auch in der Weimarer Zeit war eine Vielzahl von Fragen, die die Tarifautonomie betrafen, streitig. Bei einer vollständigen Auswertung von Rechtsprechung und Literatur kristallisieren sich aber gegen Ende der Weimarer Zeit klarere Konturen der verfassungsrechtlichen Gewährleistung der Tarifautonomie heraus. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass nach der herrschenden Meinung im Schrifttum der Weimarer Republik sowohl die Koalitionsfreiheit den Koalitionen selbst als Grundrecht zustand als auch eine Betätigungsgarantie mit Blick auf den Abschluss von Tarifverträgen gewährleistet war. Allerdings bestand diese Betätigungsgarantie primär in einer Normsetzungsbefugnis. Von dieser war auch die unmittelbare und zwingende Wirkung des Tarifvertrags umfasst. Die Regelungsbefugnis war nur in Form eines Schutzes vor Aushöhlung durch den staatlichen Gesetzgeber und nur in den Grenzen des zwingenden Gesetzesrechts gewährleistet. Und auch zur Weimarer Zeit war der Gedanke, dass die Tarifautonomie „durch den kollektiven Machtwillen die Ohnmacht der Einzelnen ausgleicht“ 284 prägend für die Tarifautonomie.285
III. Tarifautonomie und Ende der Weimarer Republik/ Tarifautonomie und Nationalsozialismus 1. Bestandsaufnahme der Tarifautonomie am Ende der Weimarer Republik Zum Ende der Weimarer Republik begann eine Konsolidierung der Dogmatik der Tarifautonomie, die eine weitgehende Anerkennung der Betätigungsgarantie der Koalitionen mit Blick auf den Abschluss von Tarifverträgen mit sich brachte, jedenfalls soweit dies die tarifvertraglichen Vereinbarungen betraf. Die Wirkkraft der Tarifautonomie war durch eine Rechtsprechung beeinträchtigt, die nur zögerlich die Rahmenbedingungen für eine effektive Tarifnormsetzung etablierte und sich mit dem Einbau des Tarifrechts in die klassischen zivilrechtlichen Denkmuster schwer tat.286
284 285 286
Sinzheimer, JW 1927, 256 (258). Vgl. dazu unten 3. Kap. D. II. Nörr, ZfA 1986, 402 (416).
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3. Kap.: Gewährleistungsgehalt des Art. 9 Abs. 3 GG
a) Das Schlichtungswesen und staatliche Interventionen in den Tarifvertrag Ebenso problematisch war der Rückgriff auf das Schlichtungswesen, insbesondere das Instrument der Zwangsschlichtung. Die Schlichtung wurde streckenweise zum dominierenden Faktor des Tarifvertragswesens.287 Begonnen hatte diese Entwicklung mit der Neuregelung des Schlichtungswesens durch die Regierung Stresemann vom 30.10.1923. Durch die Möglichkeit der Verbindlicherklärung des Schiedsspruchs auch gegen den Willen der Tarifvertragsparteien288 konnte der eigenständige Verhandlungsprozess zwischen Gewerkschaften und Arbeitgebern verhindert werden. Durch den Schiedsspruch kam es zu einer staatlichen Tarifpolitik, maßgeblich gesteuert durch die politischen Machtverhältnisse. Damit war auch der Inhalt des Tarifvertrags und nicht nur der gesetzliche Rahmen für die Tarifautonomie dem Zugriff des Gesetzgebers ausgesetzt. Das Erstere stellte sich allerdings als die eigentliche Gefährdung der Tarifautonomie dar. Denn diente die Schlichtung bei der früher erforderlichen Annahme durch beide Parteien noch der Befriedung der Auseinandersetzungen, wandelte sie sich durch die einseitige Verbindlicherklärung zunehmend zum Durchsetzungsinstrument für die staatliche Lohn- und Arbeitszeitpolitik.289 Dabei ist festzuhalten, dass maßgeblich die Gewerkschaften dieses Instrument zunächst begrüßten.290 Denn die Arbeitgeber hatten nach wie vor eine so starke Marktmacht, dass die Schlichtung den Gewerkschaften häufig als einziges Mittel erschien, gegenüber den zunehmend tariffeindlichen Arbeitgebern überhaupt Tarifverträge durchzusetzen.291 Dies galt allzumal als die Hyperinflation die Streikkassen der Gewerkschaften komplett aufgezehrt hatte und diese dadurch nur bedingt kampffähig waren. Erst später wandelte sich das Bild als zunehmend auch tarifvertragliche Errungenschaften unter Beschuss gerieten. Hierin liegt wohl die Ursache dafür, dass die Verbände in der Nachkriegszeit so massiv auf ihrem Vorrecht bei der Gestaltung des Arbeitsentgelts und der Arbeitszeit beharrten und das BVerfG diese Materien bis heute zu den gewichtigen Elementen der Regelung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen zählt. Ursache dafür war in der Tat eine staatliche Intervention. Diese bezog sich aber in erster Linie auf die Beeinflussung des Verhandlungsprozesses, nämlich um den Tarifvertragsparteien, maßgeblich in der Zeit der Wirtschaftskrise, Tarifvertragsinhalte aufzuzwingen, die bei autonomer Regelung nicht zu Stande gekommen wären.292 Insofern ist die Erfahrung,
287
Nörr, ZfA 1986, 403 (417); vgl. dazu oben 1. Kap. B. I. Dreschers, Die Entwicklung des Rechts des Tarifvertrags in Deutschland, S. 83 f.; vgl auch Kittner, Arbeitskampf, S. 454 ff. 289 Nörr, ZfA 1986, 403 (420). 290 Kittner, Arbeitskampf, S. 454 ff. 291 Dreschers, Die Entwicklung des Rechts des Tarifvertrags in Deutschland, S. 83 f. 292 Nörr, ZfA 1986, 403 (424). 288
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dass der Gesetzgeber in den autonomen Verhandlungsprozess eingegriffen hat, als Eingriff in die Regelungsbefugnis begriffen worden, wobei übersehen wurde, dass hier eben ein massiver qualitativer Unterschied bestand. Die Erfahrung aus der Weimarer Zeit ist, dass staatliche Übergriffe in den Einigungsprozess der Tarifvertragsparteien, insbesondere durch die Zwangsschlichtung, geeignet waren die Tarifautonomie auszuhöhlen. Die Rezeption in der Zeit nach dem 2. Weltkrieg hat diesen Befund indes dogmatisch auf die Regelungsbefugnis umgeleitet und kommt damit zu dem merkwürdigen Ergebnis, die Tarifautonomie schütze eine Befugnis absolut, die die Tarifvertragsparteien jedenfalls seit 1918 nur in gesetzlichen Grenzen innehatten: die tarifliche Gestaltung der Arbeitszeit. Die richtige Rezeption der Verhältnisse der Weimarer Zeit dürfte aber sein, dass nur der Gebrauch von den gesetzlich gestatteten Regelungsbefugnissen autonom und ohne staatliche Intervention zu erfolgen hat. Die Weimarer Zeit kannte auch durchaus erhebliche staatliche Interventionen, die allerdings weniger auf das Tarifrecht als solches, als auf das Entgeltniveau laufender Tarifverträge bezogen waren.293 Diese Eingriffe waren maßgeblich durch die Wirtschaftskrise beeinflusst. Dazu gehörte auch die oben bereits angesprochene Notverordnung der Regierung von Papen. Allerdings waren diese Eingriffe allesamt wirtschaftspolitisch motiviert und nicht gegen die Tarifautonomie als solche gerichtet. Von Bedeutung sind aber die Eingriffe in bestehende Tarifverträge, wie z. B. die per Verordnung vom 8.12.1931 erfolgte Absenkung aller Löhne, Gehälter und Preise auf das Niveau von 1927.294 Der staatliche Interventionismus hatte durchaus Rückwirkungen auf das Vertrauen der Bürger in die Republik. Es lässt sich durchaus konstatieren, dass die exzessiven Übergriffe, die zur Zeit der Weimarer Republik in Form von Tariflohnunterschreitungsrecht stattfanden, einen Beitrag zur Destabilisierung der Republik leisteten.295 b) Die Destabilisierung der Tarifautonomie in der Zeit der Weimarer Republik Problematisch für die Tarifautonomie war, dass sich die Arbeitgeber, nachdem sich die politischen Verhältnisse zu Beginn der 20er Jahre stabilisiert hatten und eine drohende Sozialisierung der Produktionsmittel abgewendet war, wieder der Bekämpfung der Tarifautonomie zuwandten.296 Dies fand seinen Ausdruck vor allem auf dem Gebiet der Arbeitszeit, aber auch durch die Unterstützung gelber Gewerkschaften und die (später vom Reichsarbeitsgericht für rechtswidrig er-
293
Englberger, Tarifautonomie im Deutschen Reich, S. 143. Vgl. dazu Englberger, Tarifautonomie im Deutschen Reich, S. 143. 295 Krummel, Die Geschichte des Unabdingbarkeitsprinzips und des Günstigkeitsprinzips im Tarifvertragsrecht, S. 187 f. 296 Dreschers, Die Entwicklung des Rechts des Tarifvertrags in Deutschland, S. 86. 294
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klärte297) gewollte Tarifunfähigkeit von Verbänden.298 Damit stand die junge Republik vor dem Problem, dass ein maßgeblicher Teil der am Wirtschaftsleben beteiligten Personen dem zentralen Gestaltungsmittel für die Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen die Gefolgschaft aufkündigte und dieses auch politisch bekämpfte. Damit wurden die Interessenkonflikte nicht im System, sondern über das System ausgefochten, was für die Demokratie sicherlich nicht hilfreich war. 2. Tarifautonomie und Machtübernahme der Nationalsozialisten Die Machtübernahme der Nationalsozialisten führte zunächst zur Zerschlagung der freien Gewerkschaften und wenig später zur Zusammenfassung der verbliebenen Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände in der Deutschen Arbeitsfront.299 Der so entstandene „Harmonieverband“ hatte allerdings keine wesentlichen Kompetenzen für die Gestaltung der Arbeitsbedingungen. Diese wurden in der Folge durch im Mai 1933 eingesetzte „Treuhänder der Arbeit“ festgelegt.300 Das entsprechende Gesetz ging später im Gesetz zur Ordnung der nationalen Arbeit auf.301 Damit war die Tarifautonomie abgeschafft. Interessant ist aber, dass die größte Zahl der Tarifverträge anfangs in Form der durch die Treuhänder der Arbeit erlassenen Tarifordnungen fortbestanden, weil diese überhaupt nicht in der Lage waren, den Arbeitsaufwand für eine umfassende eigenständige Ordnung zu bewältigen. Möglich wurde dies durch die angeordnete Fortgeltung der Tarifverträge als Tarifordnung.302 In der Folge kam es jedoch häufig zu einem Einfrieren der Löhne auf dem Niveau des Jahres 1933.303 Mit der Verordnung über die Lohngestaltung aus dem Jahr 1938 konnten die Treuhänder auch Höchstlöhne und Höchstarbeitsbedingungen festlegen.304 Am 12. Oktober 1938 verhängte der Reichsarbeitsminister einen allgemeinen Lohnstopp.305 Damit lässt sich zusammenfassend feststellen, dass die Beseitigung der Koalitionen und der autonomen Gestaltung der Arbeitsbedingungen Kernziele nationalsozialistischer Arbeitsmarktpolitik waren.306 Überhaupt setzte sich nach dem 2. Weltkrieg verbreitet die Erkenntnis durch, dass diktatorische Systeme Koalitio297 RAG 10.4.1924, Entscheidungen des Reichsarbeitsgerichts und der Landesarbeitsgerichte, Bensheimer Slg. 5, 543 (544 ff.). 298 Dreschers, Die Entwicklung des Rechts des Tarifvertrags in Deutschland, S. 86. 299 Ausführlich Kittner, Arbeitskampf, S. 512 ff.; Richardi, FS Dieterich, S. 497. 300 Richardi, FS Dieterich, S. 497. 301 Vgl. zum Ganzen Englberger, Tarifautonomie im Deutschen Reich, S. 71 ff. 302 Vgl. dazu Dreschers, Die Entwicklung des Rechts des Tarifvertrags in Deutschland, S. 92; Herschel, ZfA 1973, 193 (199). 303 Kittner, Arbeitskampf, S. 527. 304 Richardi, FS Dieterich, S. 497. 305 Kittner, Arbeitskampf, S. 528. 306 Vgl. zur Haltung der Nazis zu den Gewerkschaften Kittner, Arbeitskampf, S. 509 ff.
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nen und Betätigungsgarantie zu beseitigen suchen und die Anerkennung von Koalitionen und Gewerkschaften sich regelmäßig als stabilisierende Faktoren für demokratische Systeme erweisen.307 Die Verankerung der Koalitionsfreiheit in Art. 11 der EMRK basierte denn auch auf der Erkenntnis, dass undemokratische Staatsformen erfahrungsgemäß die Koalitionsfreiheit beseitigen.308
IV. Entstehung des Art. 9 Abs. 3 GG Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs wurde die staatlich gelenkte Lohnpolitik zunächst fortgesetzt.309 Das Gesetz zur Ordnung der nationalen Arbeit wurde bis Anfang 1947 aufrecht erhalten, der Erlass staatlicher Tarifordnungen blieb bis dahin möglich, auch wenn die Treuhänder der Arbeit nicht mehr tätig werden durften.310 Die Alliierten ließen allerdings die Vorarbeiten für ein Tarifvertragsgesetz durchführen. Zeitgleich hierzu fanden in den Jahren 1948/1949 die Vorarbeiten für die Verabschiedung des Grundgesetzes statt. 1. Reinstallierung des Weimarer Tarifrechts durch das Tarifvertragsgesetz Die Alliierten hatten nach dem 2. Weltkrieg langsam die Tarifnormsetzung durch die Tarifvertragsparteien wieder zugelassen.311 Allerdings hatten sie sich vorbehalten, die Vereinbarungen aufgrund der Kontrollratsdirektive Nr. 14 und nachfolgender Verordnungen zu beschränken.312 Damit konnten Tarifverträge aufgrund des aufrecht erhaltenen Lohnstopps nur sehr eingeschränkt geschlossen werden. Veränderungen bestehender Löhne waren nur unter bestimmten Voraussetzungen, wie etwa der Einführung neuer Fabrikate zulässig.313 Des Weiteren war für die Wirksamkeit der Tarifverträge eine Registrierung des Tarifvertrags bei den Arbeitsämtern erforderlich. Die Politik der Alliierten bewegte sich zunächst zögernd, später entschlossener auf eine Rekultivierung des Weimarer Systems der Tarifautonomie zu, insbesondere auch auf die Anerkennung der Unabdingbarkeit des Tarifvertrags.314 Allerdings präferierten die Amerikaner zu307
Vgl. auch Kempen, Sonderbeil. NZA Heft 3/2000, 7 (10). Farthmann/Coen in: Benda/Maihofer/Vogel, Handbuch des Staatsrechts, § 19, Rn. 12. 309 Ausführlich Kittner, Arbeitskampf, S. 539 ff. 310 Richardi, FS Dieterich, S. 497. 311 Dazu ausführlich Dreschers, Die Entwicklung des Rechts des Tarifvertrags in Deutschland, S. 95 ff. 312 Nautz, Die Durchsetzung der Tarifautonomie in Westdeutschland, S. 51. 313 Richardi, FS Dieterich, S. 497 (498). 314 Nautz, Die Durchsetzung der Tarifautonomie in Westdeutschland, S. 44 ff.; Richardi, FS Dieterich, S. 497; Sitzler, RdA 1948, 8 (10). 308
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nächst stärker die Unternehmensmitbestimmung als entscheidendes Element des Interessenausgleichs, während die Briten eine stärker am privatautonomen Modell orientierte Lösung anstrebten.315 Der politische Fokus der damaligen Zeit lag aber nicht vorrangig auf der Frage der Lohn- und Arbeitsbedingungen. Nach dem 2. Weltkrieg war offen, welche Wirtschaftsordnung die Bundesrepublik annehmen würde. Dies betraf insbesondere die Frage der staatlichen Lenkung der Wirtschaft. Vor dem Hintergrund der Kooperation von Großunternehmen mit den Nationalsozialisten wurde weitgehend eine Verstaatlichung der Großindustrie und eine ausgebaute Unternehmenslenkung durch die Beschäftigten316 befürwortet, um zukünftige Gefährdungen für die Demokratie auszuschließen. Dies war zunächst weitgehender Konsens aller politischen Parteien317, wenn auch über das Ausmaß unterschiedliche Auffassungen bestanden. Die damalige Zeit war damit in allen Lagern stark von der Vorstellung geprägt, dass die unternehmerische Betätigung zum Schutze der Demokratie einer Kontrolle unterliegen sollte.318 Das „Ob“ war schon streitig, das „Wie“ umso mehr. Diese Auseinandersetzung prägte auch die Diskussion um die so genannte „Wirtschaftsverfassung“. Eisenhower wies darauf hin, dass mit der Wiederherstellung des Grundrechts der Vereinigungsfreiheit den Arbeitern die Möglichkeit gegeben werde, „mit den Arbeitgebern Kollektivverträge zu schließen“.319 Im Endeffekt erwies sich auch in der Nachkriegszeit des 2. Weltkriegs320 das „Collective-Bargaining“-Modell als Gegenleistung für den Verzicht auf eine weitergehende wirtschaftsdemokratische Umgestaltung.321 Am Ende der Diskussionen steuerten die Alliierten auf eine zügige Etablierung eines funktionierenden Tarifvertragswesens zu.322 Dies wird auch dadurch deutlich, dass bereits Ende 1946 mit den Vorarbeiten für ein Tarifvertragsgesetz begonnen wurde.323 Im Zusammenhang mit dem Entstehen der TVG ist folgender Hinweis von Nipperdey interessant. Bis zu einem neuen Tarifvertragsgesetz müsse mit dem im § 1 TVVO und in (!) Art. 165 WRV festgelegten Rechtsgrundsatz gearbeitet werden, dass Tarifverträge anerkannt und unabdingbar seien und Mindestbedingungen enthielten.324 Im Grunde kommt darin die unmittelbare Anknüpfung an das 315
Nautz, Die Durchsetzung der Tarifautonomie in Westdeutschland, S. 65 ff. Vgl. dazu Nautz, Die Durchsetzung der Tarifautonomie in Westdeutschland, S. 51 ff. 317 Insbesondere auch der CDU, vgl. Das Ahlener Programm vom 3.2.1947. 318 Z. B. Schrage, 25. Sitzung des Ausschusses für Grundsatzfragen, 24.11.1948. 319 Zitiert nach Richardi, FS Dieterich, S. 497. 320 Vgl. die parallele Situation nach dem 1. Weltkrieg oben 3. Kap. B. II. 321 Nautz, Die Durchsetzung der Tarifautonomie in Westdeutschland, S. 68, 147. 322 Maschmann, Tarifautonomie im Zugriff des Gesetzgebers, S. 46. 323 Richardi, FS Dieterich, S. 497 (499); Herschel, ZfA 1973, 183 ff. 324 Zitiert nach Nautz, Die Durchsetzung der Tarifautonomie in Westdeutschland, S. 70. 316
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Tarifrecht der Weimarer Zeit325, inklusive der verfassungsrechtlichen Dimension zum Ausdruck. Die verfassungsdogmatische Folie und das verfassungsdogmatische Verständnis des Entstehens der neuen Ordnung des kollektiven Arbeitsrechts knüpften damit unmittelbar an Art. 165 WRV an.326 Ebenso wird allerdings eine stärkere Autonomie der Verbände gegenüber staatlichen Interventionismen in die Lohnpolitik deutlich.327 Diese erweist sich historisch betrachtet als Reaktion auf den durch die Alliierten verlängerten Lohnstopp, also die Festsetzung von Lohnobergrenzen. Auch sollte die Genehmigungspflicht bei den Behörden überwunden werden, also der staatliche Entscheid über das Inkrafttreten des Tarifvertrags.328 Diese beiden Elemente zu überwinden, war zunächst Stoßrichtung des Autonomiebestrebens und des Kampfes um die Anerkennung des Tarifvertrags in der Anfangszeit der Bundesrepublik. Insofern muss man sich klar machen, dass die Auseinandersetzungen um Tarifautonomie damals etwas völlig anderes bedeuteten als es das heutige Verständnis nahe legt. Es ging um die Beseitigung von Genehmigungsvorbehalten und Lohnbeschränkungen, nicht um eine flächendeckende staatsverdrängende Autonomie.329 Es ging darum, die Überprüfung von Tarifinhalten durch staatliche Institutionen abzuwehren und die Tarifverträge staatsunabhängig frei aushandeln zu können.330 Dennoch war die Reinstallierung des Tarifrechts der Weimarer Zeit in seinen wesentlichen Zügen im Grundsatz unumstritten. Ziel war in den Worten Herschels die Rückkehr „zum alten Zustand“ 331 der Weimarer Zeit – ein breiter Konsens in der damaligen Diskussion.332 Den Sozialpartnern ging es aber im Verlaufe der Diskussion um das TVG durchaus darum, die staatliche Einflussnahme auf die inhaltliche Gestaltung tariflicher Vereinbarungen abzuwehren.333 Von einer Abwehr staatlicher Arbeitsrechtsgesetzgebung war hier keine Rede und in der Tat war diese Position eben aus den Verhältnissen der damaligen Zeit bestimmt, die durch Genehmigungsvorbehalte und Lohnstopp ebenso wie die nach wie vor im Raum stehenden Überlegungen zur Zwangs325 Dieterich in: ErfK, GG, Art. 9 GG, Rn. 55; Kemper, Die Bestimmung des Schutzbereichs der Koalitionsfreiheit, S. 137 f.; Maschmann, Tarifautonomie im Zugriff des Gesetzgebers, S. 46. 326 So auch BVerfG 18.11.1954, BVerfGE 4, 96 (101); Döttger, Der Schutz tariflicher Normsetzung, S. 102; Kemper, Die Bestimmung des Schutzbereichs der Koalitionsfreiheit, S. 137 f. 327 Nautz, Die Durchsetzung der Tarifautonomie in Westdeutschland, S. 70. 328 Nautz, Die Durchsetzung der Tarifautonomie in Westdeutschland, S. 70 f.; Richardi, FS Dieterich, S. 497 (500). 329 Vgl. Herschel, ZfA 1973, 183 (185). 330 Zachert, WSI-Mitteilungen 2009, 179. 331 Zitiert nach Nautz, Die Durchsetzung der Tarifautonomie in Westdeutschland, S. 71; ähnlich Herschel, ZfA 1973, 183 ff. 332 Nautz, Die Durchsetzung der Tarifautonomie in Westdeutschland, S. 100. 333 Zachert, WSI-Mitteilungen 2009, 179.
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schlichtung geprägt waren.334 Später jedoch wurde das Bestreben, den Sozialpartnern eine größere Autonomie bei der Gestaltung der Arbeitsbedingungen einzuräumen, auch politisch stärker thematisiert.335 Ein weiteres Motiv der schnellstmöglichen Reinstallation des Tarifvertragsrechts war der Gedanke, dass die Tarifautonomie als „grundlegende Erscheinungsform“ der Demokratie begriffen wurde.336 Den Bürgern sollte die Möglichkeit gegeben werden, ihr Recht selbst in freier Verantwortung zu schaffen. Hier zeigt sich durchaus der Gedanke der Subsidiarität. Er tritt hier verzahnt mit einem Verständnis von Demokratie auf, in dem die Bürger die Möglichkeit zur Selbstregulierung ihrer Angelegenheiten haben. Insofern besteht durchaus ein Konnex der Tarifautonomie zum Demokratieprinzip. Mit Inkrafttreten des TVG am 9.4.1949337 war das Weimarer Tarifrecht in seinen Grundzügen endgültig reinstalliert und ausgebaut. Es gab zwar durchaus Veränderungen, aber die Leitprinzipien des unabdingbaren und zwingenden Tarifvertrags blieben erhalten. Beendet und abgewehrt wurden allerdings die Möglichkeiten der Staatsintervention in den Verhandlungsprozess.338 Damit war ein gegenüber der Weimarer Zeit ausgebautes und gestärktes Tarifvertragsgesetz etabliert, das den Sozialpartnern weitreichende Möglichkeiten zur effektiven Tarifnormsetzung verlieh. Insbesondere wurde auf die staatliche Zwangsschlichtung verzichtet. Insofern waren und sind unmittelbare Einwirkungen des Staates auf die Ergebnisse der Tarifverhandlungen nach dem TVG nicht möglich. Die entsprechenden Fragen waren Gegenstand ausgiebiger Diskussionen zwischen den politischen Parteien und den Sozialpartnern.339 2. Die Verankerung der Tarifautonomie in den Landesverfassungen Neben der einfachrechtlichen Entwicklung, die das Tarifvertragsrecht nach dem 2. Weltkrieg genommen hat, sind für das Verständnis des historischen Zusammenhangs, in dem der Art. 9 Abs. 3 GG geschaffen wurde, die Länderverfassungen von entscheidender Bedeutung. Diese waren bereits vor Inkrafttreten des Grundgesetzes entstanden. Aus ihnen lassen sich damit Rückschlüsse auf die 334 Nautz, Die Durchsetzung der Tarifautonomie in Westdeutschland, S. 76 ff.; zu dieser oben 1. Kap. B. I., 3. Kap. B. III. 1. a). 335 Nautz, Die Durchsetzung der Tarifautonomie in Westdeutschland, S. 147. 336 Herschel, ZfA 1973, 183 (184 f.); vgl. auch Kempen, Sonderbeil. NZA Heft 3/ 2000, 7 (10). 337 Vgl. dazu Dreschers, Die Entwicklung des Rechts des Tarifvertrags in Deutschland, S. 101 ff.; Herschel, ZfA 1973, 183 ff.; Oetker in: Wiedemann, TVG, Geschichte, Rn. 20 ff.; Richardi, FS Dieterich, S. 497 (499 ff.); Nautz, Die Durchsetzung der Tarifautonomie in Westdeutschland, passim. 338 Richardi, FS Dieterich, S. 497 (500 f.). 339 Vgl. zur Geschichte Oetker in: Wiedemann, TVG, Geschichte, Rn. 20 ff.
B. Entstehungsgeschichte
245
Vorstellung der damaligen Zeit von Umfang und Inhalt der Koalitionsfreiheit ziehen. In einer Vielzahl von Länderverfassungen, die nach dem 1. Weltkrieg entstanden, waren Gewährleistungsinhalte der Koalitionsfreiheit verankert.340 So erkennt die hessische Verfassung bis heute das Recht der Gewerkschaften und Arbeitgebervereinigungen an, Gesamtvereinbarungen zu schließen (Art. 29 Abs. 2 VH). Ebenso wird das Streikrecht anerkannt (Art. 29 Abs. 4 VH). Bedeutsam ist allerdings, dass das Land Hessen diese Rechte nur „im Rahmen“ eines zu schaffenden einheitlichen Arbeitsrechts anerkennt (Art. 29 Abs. 2 VH). Das Recht, autonom Tarifverträge zu schließen, ist nach diesem Verständnis nur in den Grenzen des zwingenden einfachen Arbeitsrechts geschützt. Das gleiche Verständnis findet sich in der Verfassung des Landes Bremen. Auch hier schützt Art. 50 Abs. 2 die Tarifautonomie nur in den Grenzen eines noch zu schaffenden Arbeitsrechts, ebenso die Verfassung des Landes Rheinland-Pfalz (Art. 54 Abs. 2). Das Land Baden hingegen kannte keinen solchen Vorbehalt in seiner Verfassung. Allerdings findet sich hier die Anerkennung der Gesamtvereinbarungen der Tarifvertragsparteien in unmittelbarem Regelungszusammenhang mit der koalitionsmäßigen Vereinigungsfreiheit (vgl. Art. 38 Verfassung des Landes Baden). Der gleiche Regelungszusammenhang findet sich in der Verfassung des Landes Württemberg-Hohenzollern (Art. 95). Dies ist in anderen Landesverfassungen nicht immer der Fall. Offenbar war aber auch nach dem damaligen Verständnis eine strikte Trennung zwischen Tarifautonomie und koalitionsmäßiger Vereinigungsfreiheit nicht gegeben. Die entsprechenden Regelungen, inklusive Streikrecht, finden sich hier in unmittelbarem Regelungszusammenhang. Zu beachten ist, dass in der Verfassung des Freistaats Bayern die Anerkennung der tarifautonomen Regelungsbefugnis in Art. 169 Abs. 2 auf folgenden Art. 169 Abs. 1 folgt: „Für jeden Berufszweig können Mindestlöhne festgesetzt werden, die dem Arbeitnehmer eine den jeweiligen kulturellen Verhältnissen entsprechende Mindestlebenshaltung für sich und seine Familie ermöglichen.“
Es zeigt sich aus den damaligen Landesverfassungen, dass nach dem allgemeinen Verständnis in der Gründungsphase der Bundesrepublik die tarifautonome Regelungsbefugnis nur in den Grenzen staatlicher Arbeitsrechtsgesetzgebung existieren sollte. Mindestlöhne, die heute als Angriff auf die Tarifautonomie begriffen werden, waren nach diesem Verständnis selbstverständlich möglich und nicht als Eingriff zu betrachten. Hinzuweisen ist in diesem Zusammenhang aber auf die Verfassung des Saarlandes, die durchaus eine gewisse Vorrangstellung der Tarifvertragsparteien nahelegt (Art. 58), aufgrund des zum damaligen Zeitpunkt unklaren Status des Saarlandes allerdings nur eingeschränkte Bedeutung hat. Bei einer Gesamtbetrachtung der Landesverfassungen zeigt sich deutlich, dass der Schutz des Streikrechts und der Vereinbarungen von Gewerkschaften und Ar340 Vgl. dazu Schelp, AuR 1953, 141 ff.; Kempen, AuR 1979, 174 (176); Richardi in: MüArR, § 154, Rn. 11 ff.
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3. Kap.: Gewährleistungsgehalt des Art. 9 Abs. 3 GG
beitgeberverbänden durch die Verfassung eigentlich unumstritten war.341 Mit Blick auf die tarifautonome Regelungsbefugnis muss man festhalten, dass die staatliche Arbeitsrechtsgesetzgebung jedenfalls nicht als Widerspruch zur Tarifautonomie gesehen wurde. Dass die unmittelbare und zwingende Wirkung des Tarifvertrags sowie das Günstigkeitsprinzip teilweise ausdrücklich in den Verfassungen verankert wurden342, zeigt, welche essenzielle Bedeutung diesen nach dem damaligen Verständnis für die Tarifautonomie zukam. Insgesamt waren die kollektive Koalitionsfreiheit und die Tarifautonomie selbstverständliche Inhalte der Landesverfassungen im Zeitpunkt des Entstehens des Grundgesetzes. Es stellt sich nunmehr die Frage, warum die entsprechenden ausdrücklichen Verankerungen nicht in den Inhalt des Art. 9 Abs. 3 GG eingegangen sind. Dies ist umstritten. Ein Teil des Schrifttums negiert den entsprechenden Inhalt aufgrund des Wortlauts des Art. 9 Abs. 3 GG, der die entsprechenden Garantien nicht ausdrücklich enthalte.343 Von anderer Seite und maßgeblich vom BVerfG wird mit Recht darauf hingewiesen, dass Gesetze eben selten Selbstverständliches wiedergeben.344 Es ist nicht überzeugend, davon auszugehen, die Delegierten des Parlamentarischen Rats, die ja auch und gerade Vertreter der jeweiligen Länder waren, hätten einen Rückbau ihrer eigenen Verfassungsgarantien beabsichtigt oder widerspruchslos hingenommen, soweit es die Freiheitsrechte betrifft. Im Übrigen scheint es auch wenig naheliegend, dass ein derartig verbreitetes Verständnis, das die Landesverfassungen belegen, keinen Eingang in die Vorstellungen des Verfassungsgebers gefunden haben sollte.345 Letztendlich lässt sich die Frage nicht vollständig klären, weil ausdrückliche Hinweise in der Diskussion des Parlamentarischen Rats nur sehr begrenzt vorhanden sind. Eine bewusste Entscheidung gegen landesrechtliche Garantien, wie sie im Schrifttum behauptet wird346, ist aber nicht zu belegen. Nirgends findet sich ein Hinweis darauf, man habe einen grundrechtlichen Rückschritt durch die Verfassung herbeiführen wollen. Streit bestand primär um die konkrete Ausformung, nicht die grundsätzliche Anerkennung von Garantien. Die Landesverfassungen sprechen jedenfalls dafür, dass im historischen Kontext die Anerkennung der Vereinbarungen der Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände weitestgehend als selbstver-
341
BVerfG 18.11.1954, BVerfGE 4, 96 (101); ähnlich Kempen, AuR 1979, 74 (76). Vgl. Art. 169 Abs. 2 der Verfassung des Freistaats Bayern; Art. 50 der Verfassung des Landes Bremen; Art. 29 der Verfassung des Landes Hessen; Art. 54 der Verfassung des Landes Rheinland-Pfalz. 343 Burkiczak, Grundgesetz und Deregulierung des Tarifvertragsrechts, S. 298 ff.; Schelp, AuR 1953, 141 f.; tendenziell auch Fischer, ZRP 2007, 20. 344 BVerfG 18.11.1954, BVerfGE 4, 96 (101); Kempen, AuR 1979, 74 (76); Zachert, WSI-Mitteilungen 2009, 179 (180). 345 So völlig zu Recht BVerfG 18.11.1954, BVerfGE 4, 96 (101). 346 Fischer, ZRP 2007, 20 (21). 342
B. Entstehungsgeschichte
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ständlich angesehen wurde. Dieses Ergebnis wird auch durch die Entstehungsgeschichte des TVG bestätigt.347 3. Der Parlamentarische Rat Der Parlamentarische Rat fand bei seinen Beratungen über die Koalitionsfreiheit eine Rechtslage vor, die bereits durch mehrere Weichenstellungen vorgeprägt war. Zum einen hatte sich nach 1945 sukzessive eine Kontinuität des Tarifvertragsrechts der Weimarer Zeit gegenüber anderen Modellen durchgesetzt. Die entsprechenden Weichenstellungen waren durch das Tarifvertragsgesetz und die Landesverfassungen bereits vorgenommen.348 Es hatte sich in allen Parteien ein breiter Konsens darüber gebildet, dass die Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen durch die Tarifvertragsparteien autonom geregelt werden sollten.349 Insofern fasst das BVerfG die Ausgangslage des Parlamentarischen Rates zutreffend zusammen, wenn es die vorgefundene Koalitionsfreiheit so umschreibt, „daß frei gebildete Organisationen auf die Gestaltung der Löhne und Arbeitsbedingungen Einfluß nehmen, insbesondere zu diesem Zweck Gesamtvereinbarugen treffen können. Die historische Entwicklung hat dazu geführt, daß solche Vereinbarungen in Gestalt geschützter Tarifverträge mit Normativcharakter und Unabdingbarkeit geschlossen werden.“ 350 Insofern bestand über diese Frage kein Streit. Die Frage von Gewährleistungsumfang und Inhalt der Tarifautonomie wurde im Parlamentarischen Rat dann aber eigentlich nicht erörtert. a) Übernahme des Wortlauts des Art. 159 WRV Gleichzeitig wurde in Art. 9 Abs. 3 GG zwar der Wortlaut des Art. 159 WRV aufgenommen, der des Art. 165 WRV findet sich hingegen nicht gleichlautend wieder. Dieses Problem taucht bereits im Rahmen der Auslegung des Wortlauts des Art. 9 Abs. 3 GG auf.351 Die Frage, warum der Gesetzgeber den Art. 165 WRV nicht ebenfalls übernommen hat, hat damit durchaus ihre Bedeutung. In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass die Koalitionsfreiheit nach den Art. 159 und Art. 165 WRV sowohl einen verfassungsrechtlichen Schutz der Koalitionen, gerade auch nach Art. 159 WRV, als auch eine Betätigungsgarantie enthielten. Die abweichenden Behauptungen im Schrifttum sind – wie gezeigt – 347
Dazu sogleich. BVerfG 18.11.1954, BVerfGE 4, 96 (101 ff.); Bock, Tarifdispositives Arbeitnehmerschutzrecht und Tarifautonomie, S. 294; Dieterich in: ErfK, GG, Art. 9 GG, Rn. 55; Kempen, AuR 1979, 74 (76); ders., Sonderbeil. NZA Heft 3/2000, 7 (10); Rupp, JZ 1998, 919 (924). 349 Vgl. auch Herschel, ZfA 1973, 183 ff. 350 BVerfG 18.11.1954, BVerfGE 4, 96 (106). 351 Siehe oben 3. Kap. A. I. 348
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3. Kap.: Gewährleistungsgehalt des Art. 9 Abs. 3 GG
unzutreffend.352 Insbesondere war nach verbreiteter Ansicht auch die Koalition selbst durch Art. 159 WRV geschützt. Diejenigen, die ihren Schutz aus Art. 159 WRV ablehnten, leiteten diesen regelmäßig aus Art. 165 WRV her. Ein Schutz der Koalition selbst durch die Verfassung entsprach damit der ganz h. M.353 Insofern stellt sich die Frage, ob die Verfassung eine Kontinuität der bestehenden Weimarer Gewährleistungen der kollektiven Koalitionsfreiheit wollte354 oder den bestehenden verfassungsmäßigen Schutz in irgendeiner Weise ändern, insbesondere einschränken, wollte.355 b) Die Vorentscheidung durch das Tarifvertragsgesetz Die Einigung auf das Tarifvertragsgesetz, die weitgehend im Vorfeld und parallel zur Entstehung des Grundgesetzes erfolgte,356 legt nahe, dass sämtliche damaligen politischen Kräfte auf eine Kontinuität und einen Ausbau des Weimarer Tarifrechts hinarbeiteten.357 Dies mag in Nuancen und Einzelfragen anders gewesen sein, aber im Kern knüpften alle Parteien in ihren Forderungen an die Weimarer Zeit an.358 Insofern ist die Schlussfolgerung, dass der Gesetzgeber die kollektive Koalitionsfreiheit unter den Schutz der Verfassung stellen wollte, ihm aber keine „präzise Formel“ dazu gelang359, zutreffend.360 Warum im Rahmen der Diskussion um Art. 9 Abs. 3 GG eine Abkehr vom herrschenden Verständnis der Weimarer Zeit und des politischen Konsenses der Nachkriegszeit, wie er im 352
s. o. 3. Kap. B. II. 1., 2. Vgl. dazu oben 3. Kap. B. II. 1. 354 BVerfG 18.11.1954, BVerfGE 4, 96 (101 ff.); Badura, FS Berber, S. 11 (28); Dieterich, RdA 2002, 1 (8); ders., AuR 2001, 390; Döttger, Der Schutz tariflicher Normsetzung, S. 102; Kempen, Sonderbeil. NZA Heft 3/2000, 7 (10); Kemper, Die Bestimmung des Schutzbereichs der Koalitionsfreiheit, S. 137; Söllner, Beil. NZA Heft 24/2000, 33 (39); Säcker/Oetker, Grundlagen und Grenzen der Tarifautonomie, S. 61; Zachert, WSIMitteilungen 2009, 179 (180); Rupp spricht hier von „Verfassungsgewohnheitsrecht“, JZ 1998, 919 (924). 355 So Scholz, Koalitionsfreiheit als Verfassungsproblem, S. 252. 356 Pieroth, FS 50 Jahre BVerfG, S. 293 (296); Kempen, Sonderbeil. NZA Heft 3/ 2000, S. 7 (10); vgl. auch die Bezugnahmen auf das zu schaffende Tarifrecht in den Diskussionen um Art. 9 Abs. 3 GG, Protokolle des Ausschusses für Grundsatzfragen, 25. Sitzung, 24.11.1948. 357 So auch Kempen, Sonderbeil. NZA Heft 3, 2000, S. 7 (10); Rupp, JZ 1998, 919 (924); ähnlich Badura, FS Berber, S. 11 (28). 358 Dieterich, AuR 2001, 390; Lerche, Verfassungsrechtliche Zentralfragen des Arbeitskampfes, S. 27; Kemper, Die Bestimmung des Schutzbereichs der Koalitionsfreiheit, S. 137; Meik, Der Kernbereich der Tarifautonomie, S. 73; Säcker/Oetker, Grundlagen und Grenzen der Tarifautonomie, S. 61; Söllner, AuR 1966, 257 (263); a. A. Burkiczak, Grundgesetz und Deregulierung des Tarifvertragsrechts, S. 310 ff. 359 Scholz, Koalitionsfreiheit als Verfassungsproblem, S. 37. 360 So auch Dieterich, RdA 2002, 1 (8); ders., AuR 2001, 390; Säcker/Oetker, Grundlagen und Grenzen der Tarifautonomie, S. 61; ähnlich Kempen, Sonderbeil. NZA Heft 3/2000, 7 (10); Henssler, ZfA 1998, 1 (3). 353
B. Entstehungsgeschichte
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TVG und den Landesverfassungen zum Ausdruck kommt, erfolgt sein sollte, wäre zu begründen. Dass mit den vorstehenden Ausführungen nicht gemeint ist, dass bei Verabschiedung des Grundgesetzes bestehende Tarifvertragsrecht sei durch die Verfassung festgeschrieben worden, sei hier klargestellt. Dass aber seine Grundprinzipien, zu denen nach der historischen Entwicklung die unmittelbare und zwingende Wirkung des Tarifvertrags gehört361, selbstverständlicher Inhalt der Verfassungsgarantie sind, ist ebenso deutlich festzuhalten. Offenbar bestand aber ein so breiter Konsens zwischen den Parteien über die Tarifautonomie und die Übernahme des Art. 165 WRV, dass man schlichtweg darauf verzichtete, Selbstverständliches in die Verfassungsgewährleistung aufzunehmen.362 Für diese Sichtweise gibt es durchaus Hinweise in der Dokumentation zur Entstehung des Grundgesetzes.363 So wurde bereits zu Beginn der Beratungen um die Koalitionsfreiheit deutlich gemacht, dass die geplanten Abs. 3 und 4 des Art. 9 GG das umfassten, was in der Weimarer Republik unter Koalitionsfreiheit verstanden wurde.364 Was nach Weimarer Verständnis die Koalitionsfreiheit umfasste, ist allerdings nicht näher erläutert, sodass der Hinweis des Abgeordneten Zinn immerhin bedeutet, dass an die Weimarer Tradition angeknüpft werden sollte. Der Hinweis von Engels, dass im Parlamentarischen Rat die Vorstellung vorherrschte, dass mit den in den Entwürfen zur Verfassung enthaltenen Abs. 3 und 4 eine umfassende Gewährleistung der Koalitionsfreiheit erreicht sei, ist zutreffend.365 Damit decken sich auch die Aussagen von Heuss im Hauptausschuss, nach dem man zwar das Wort Streik vermeiden, aber „die Organisationen auf ihr natürliches und gegebenes Arbeitsrecht zurückführen“ wollte.366 Ebenso wies v. Mangoldt darauf hin, dass es die Aufgabe der Gewerkschaften sei, für verbesserte Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen zu sorgen und diese dadurch eine natürliche werbende Kraft besäßen. Sie übten damit keinen Zwang aus, sondern erfüllten ihre Aufgabe.367
361 BVerfG 18.11.1954, BVerfGE 4, 96 (106); Kemper, Die Bestimmung des Schutzbereichs der Koalitionsfreiheit, S. 138. 362 Bock, Tarifdispositives Arbeitnehmerschutzrecht und Tarifautonomie, S. 294; Friese, Kollektive Koalitionsfreiheit und Betriebsverfassung, S. 220; Kittner, Arbeitskampf, S. 567; Rupp, JZ 1998, 919 (924); tendenziell auch Dieterich, RdA 2002, 1 (8); Engels, Verfassung und Arbeitskampfrecht, S. 197; Scholz, Koalitionsfreiheit als Verfassungsproblem, S. 37. 363 Engels, Verfassung und Arbeitskampfrecht, S. 174, unter Verweis auf die Erläuterungen des Art. 9 GG durch den Abgeordneten Zinn, zitiert nach v. Doemming/Füsslein/Matz, JöR 1 n. F., S. 1 (118). 364 Abgeordneter Zinn, zitiert nach v. Doemming/Füsslein/Matz, JöR 1 n. F., S. 1 (118). 365 Engels, Verfassung und Arbeitskampfrecht, S. 197, der dies aber auf S. 176 f. mit Blick auf die Streichung von Abs. 4 relativiert. 366 Abgeordneter Heuss, Hauptausschuss Stenographisches Protokoll, S. 211. 367 Ausschuss für Grundsatzfragen, 25. Sitzung, 24.11.1948.
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3. Kap.: Gewährleistungsgehalt des Art. 9 Abs. 3 GG
c) Der Wegfall der Räte als Zäsur Zentrale Ursache der fehlenden wortgleichen Übernahme des Art. 165 Abs. 1 S. 2 WRV war, dass durch den Wegfall der Räte die Ursache für die ausdrückliche Regelung des Art. 165 Abs. 1 S. 2 WRV entfallen war.368 Insofern bestand für eine Fortschreibung der Norm auch kein Bedürfnis mehr. Das BVerfG hat zutreffend die Fortschreibung des Art. 165 Abs. 1 S. 2 WRV durch die Verfassung anerkannt.369 Betrachtet man den bereits dargestellten Entstehungszusammenhang des Art. 165 WRV und den Wegfall der Räte, so ist dies auch überzeugend, auch wenn man sich wünschen mag, das BVerfG möge der Frage etwas vertiefter nachgehen.370 In diesem Zusammenhang findet sich der Hinweis darauf, dass die Grundsätze der Wirtschaftsverfassung vom Grundgesetz ausgeklammert worden seien. Damit sei die fehlende Aufnahme des Art. 165 WRV zu erklären.371 Letztendlich verkennt dies die Ursache des Standorts des Art. 165 Abs. 1 S. 2 WRV im Art. 165 WRV, der durchaus Bezug zur Wirtschaftsordnung hatte. Art. 165 Abs. 1 S. 2 WRV hatte seinen Standort dort aus Abgrenzungsgründen gegenüber den Räten, nicht weil er wesentlicher Inhalt des wirtschaftsverfassungsrechtlichen Rätekonzepts gewesen wäre.372 d) Unterschiedliches Schutzkonzept der Grundrechte in GG und WRV Hingewiesen wird teilweise auf das defizitäre Schutzkonzept der Weimarer Verfassung, von dem sich das Grundgesetz unterscheide.373 Die damaligen Grundrechte hätten gerade keinen subjektiven Schutz gegenüber dem Gesetzgeber begründet. Allerdings zeigt die dogmatische Entwicklung, die die Koalitionsfreiheit bis 1933 genommen hatte374, dass dies einem Schutz bestimmter Rechtspositionen der Koalitionen nicht entgegenstand. Insofern verfängt der entsprechende Hinweis jedenfalls für die hier in Rede stehende Problematik nicht. Vielmehr zeigt sich, dass sich selbst unter einem defizitären grundrechtlichen Schutzkonzept die entsprechenden Schutzpositionen entfalten konnten, dann müssen diese erst recht unter einem ausgebauten Schutzmodell bestehen bleiben.
368
Vgl. dazu oben 3. Kap. A. I., B. II. BVerfG 18.11.1954, BVerfGE 4, 96 (101); BVerfG 30.11.1965, NJW 1966, 491 (492); BVerfG 26.6.1991, NJW 1991, 2549; in diesem Sinne auch Döttger, Der Schutz tariflicher Normsetzung, S. 102; Engels, Verfassung und Arbeitskampfrecht, S. 197; Säcker/Oetker, Grundlagen und Grenzen der Tarifautonomie, S. 62. 370 Pieroth, FS 50 Jahre BVerfG, S. 293 (296). 371 Reuter, FS Hattenhauer, S. 409 (419). 372 Vgl. dazu oben 3. Kap. A. I., B. II. 373 Engels, Verfassung und Arbeitskampfrecht, S. 183. 374 Vgl. dazu oben B. II. 4. 369
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e) Rückschlüsse aus der Diskussion um das Streikrecht Des Weiteren ist an dieser Stelle ein Hinweis in der Diskussion zum später nicht aufgenommenen Streikrecht von Interesse. Es wurde betont, dass ein politischer Streik nicht durch den avisierten Abs. 4 des Art. 9 GG erfasst werde, weil dieser nicht der Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen diene.375 Zu diesem Zeitpunkt bestand allerdings noch keine Einigkeit über die Verankerung des Streikrechts. Die Formulierung „Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen“ im Abs. 3 diente nach diesem Verständnis also zur Bestimmung eines geschützten Verhaltens oder – anders ausgedrückt – der Begrenzung der geschützten Betätigung der Verbände. Sie ist also nach diesem Verständnis nicht als Qualifikation der geschützten Verbände gedacht, sondern auch und gerade auf die Betätigungen hin konzipiert worden.376 Es lässt sich hier zwar der Einwand erheben, mit dem Wegfall des Abs. 4 sei auch die entsprechende Passage nicht mehr verwertbar. Überzeugender erscheint es, den Aussagen zu entnehmen, dass sie grundsätzlich das Verständnis des Vereinigungszwecks umschreiben, auch wenn sie durch die Diskussion um das Streikrecht veranlasst sind. Zwar wurde das Streikrecht später nicht in die Verfassung aufgenommen, aber dennoch findet sich in der Zwecksetzung des Art. 9 Abs. 3 GG durchaus ein Hinweis auf den Schutz der Betätigung.377 Ebenso wurde ausdrücklich die Anknüpfung an die Koalitionsfreiheit nach dem Weimarer Verständnis erwähnt, dies im Übrigen auch in den Beratungen des Ausschusses für Grundsatzfragen.378 Ebenso ist allerdings darauf hinzuweisen, dass während der Beratungen über den Art. 9 Abs. 3 GG mit Blick auf das Streikrecht Bedenken hinsichtlich des Terminus „Gewerkschaften“ aufkamen.379 Diese Bedenken waren allerdings vollkommen kompatibel mit der Anerkennung eines Streikrechts, also einer Betätigungsform. Insofern überzeugt es nicht, die Anmerkung als Ablehnung einer Betätigungsgarantie zu betrachten.380 Denn in diesem Falle hätte der Nachsatz folgen müssen, aus diesem Grund sei auch der Streik oder die sonstige Betätigung nicht anzuerkennen. Das Gegenteil ist indes der Fall. Den geäußerten Bedenken gegen-
375
Abgeordneter Zinn, zitiert nach v. Doemming/Füsslein/Matz, JöR 1 n. F., S. 1
(118). 376
Vgl. auch Engels, Verfassung und Arbeitskampfrecht, S. 197. Vgl. dazu ausführlich oben 3. Kap. A. II. 378 Ausschuss für Grundsatzfragen, 25. Sitzung, 24.11.1948. 379 Abgeordneter Heuß zitiert nach v. Doemming/Füsslein/Matz, JöR 1 n. F., S. 1 (120); Der Parlamentarische Rat, Bd. 5/I, S. 696; aus dem Terminus Gewerkschaften sei nicht zu ersehen, wer bei Ausrufung des Streiks die Entscheidung zu fällen habe, die örtliche Gewerkschaft oder die Gesamtgewerkschaft. 380 Burkiczak, Grundgesetz und Deregulierung des Tarifvertragsrechts, S. 42. 377
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3. Kap.: Gewährleistungsgehalt des Art. 9 Abs. 3 GG
über dem Begriff der Gewerkschaften folgt nämlich unmittelbar ein Gesetzgebungsvorschlag zur Regelung des Streikrechts.381 Dabei war interessanterweise geplant, das Streikrecht nur im Rahmen der Gesetze anzuerkennen, die allerdings den Wesensgehalt des Streikrechts nicht antasten sollten. Das Streikrecht wurde letztendlich nicht ausdrücklich in der Verfassung verankert. Es hatte sich eine zu große Unsicherheit über die für erforderlich gehaltenen Grenzen und die Formulierung des Streikrechts gebildet, was zu einer Vielzahl von Änderungsvorschlägen geführt hatte.382 Form und Grenzen der Zulässigkeit von Arbeitskämpfen waren im Parlamentarischen Rat umstritten.383 Die Frage wurde in verschiedenen Entwürfen hin und her gewälzt. Kernproblem war – parallel zur Weimarer Zeit – der Streit um die Grenzen der verfassungsmäßigen Gewährleistung. Der Parlamentarische Rat bezweifelte nicht die Zulässigkeit von Arbeitskämpfen oder die Möglichkeit einer verfassungsmäßigen Verankerung.384 Vielmehr war die Anerkennung des Streikrechts durch den Parlamentarischen Rat und seine Absicht diesen im Sinne einer verfassungsrechtlich geschützten Position zu normieren vorhanden.385 Man konnte sich letztendlich aber nicht zu einer ausdrücklichen Regelung von Grundrecht und Schranken durchringen. Allerdings ist, ebenso parallel wie zur Weimarer Zeit, darauf zu verweisen, dass Betätigungsgarantie und Arbeitskampffreiheit eben nicht identisch sind. Wie gezeigt war zur Weimarer Zeit eine Betätigungsgarantie der Koalitionen ausdrücklich anerkannt, bei gleichzeitiger Ablehnung des verfassungsrechtlichen Schutzes des Arbeitskampfes.386 Auch hier lagen diesem Ergebnis ausführliche Diskussionen über den Arbeitskampf und nur rudimentäre Beratungen über die Gewährleistung im Übrigem zugrunde. Daraus kann man maximal das Fehlen der Gewährleistung einer spezifischen Betätigungsform folgern, nicht aber Rückschlüsse auf die Betätigungsgarantie als solche ziehen.387 Der Arbeitskampf ist eben nur ein, wenn auch einer der wichtigsten Teile der Betätigungsgarantie. Diese erschöpft sich aber eben nicht im Arbeitskampf. Dies gilt insbesondere, wenn man sich die Sonderstellung und die detaillierte Diskussion vor Augen führt, die im Parlamentarischen Rat über den Arbeitskampf geführt wurde. Hier von einer Diskussion im Allgemeinen über die Betätigungsgarantie zu sprechen, ist mit dem historischen Kontext, in dem die Debatten stattfanden, nicht in Einklang zu bringen. Hinzuweisen ist aber darauf, dass es abgelehnt wurde, die Koalitionsfreiheit in einem eigenen Artikel zu verankern, weil der Grundrechts381
v. Doemming/Füsslein/Matz, JöR 1 n. F., S. 1 (120). Vgl. v. Doemming/Füsslein/Matz, JöR 1 n. F., S. 1 (121 ff.). 383 Vgl. dazu Engels, Verfassung und Arbeitskampfrecht, S. 174 ff. 384 Engels, Verfassung und Arbeitskampfrecht, S. 176; Rüthers, Der Staat 6 (1967), 101 (105). 385 Rüthers, Der Staat 6 (1967), 101 (105). 386 Vgl. dazu oben 3. Kap. B II 1. a). 387 Insofern zu weitgehend Engels, Verfassung und Arbeitskampfrecht, S. 176. 382
B. Entstehungsgeschichte
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katalog in erster Linie Menschen- und Freiheitsrechte enthalten solle und eine selbstständige Behandlung der Koalitionsfreiheit zu sehr in die Richtung einer sozialen Ordnung weisen würde.388 Nun ist die Frage einer sozialen Ordnung allerdings von der einer Betätigungsgarantie der Koalitionen zu trennen. Die Betätigungsgarantie lies sich in mehreren Formen der sozialen Ordnung denken, was auch dadurch deutlich wird, dass diejenigen, die den entsprechenden Einwand erhoben, gegen die Einführung eines Streikrechts im Zeitpunkt der Aussage nichts einzuwenden hatten. Insofern trägt auch diese Passage einen Einwand gegen die Anerkennung einer Betätigungsgarantie als solche nicht. f) Rückschlüsse aus der Diskussion um die negative Koalitionsfreiheit Ein weiterer Streitpunkt betraf die Verankerung und den Umfang der negativen Koalitionsfreiheit im Grundgesetz, wobei auch hier die Diskussion eher um die Folgen der entsprechenden Gewährleistung geführt wurde, als um grundsätzlichen Bedenken gegenüber einem Schutz vor Beitrittszwang. In der Debatte um den Streikparagrafen wurde die Möglichkeit von Closed-Shop-Regelungen als durch die Gewährleistung der negativen Koalitionsfreiheit ausgeschlossen angesehen.389 Dagegen wurden ebenso Einwände erhoben wie gegen die Absicht, einen gewissen Beitrittsdruck bereits als unzulässig anzusehen.390 Aufgrund der Einwände wurden die entsprechenden Regelungen letztendlich gestrichen. Dieser Schutz diene dem Schutz der Maßnahmen von Gewerkschaften, in denen Gerichte einen indirekten Zwang sehen könnten.391 Auch hier lässt sich durchaus ein gedanklicher Bezug zur Betätigungsfreiheit ziehen.392 Im Rahmen der Diskussionen kam durchaus die Sorge zum Tragen, die negative Koalitionsfreiheit könne von den Gerichten als Destruktivgrundrecht gegenüber der gewerkschaftlichen Betätigung in Stellung gebracht werden.393 Die negative Koalitionsfreiheit sollte aber von vorneherein auf den Schutz vor Beitrittszwang beschränkt sein, sodass die Bedenken zunächst nur in einem Alternativentwurf aufgegriffen wurden.394 Später wurde dann auf die ausdrückliche Anerkennung der negativen Koalitionsfreiheit verzichtet. Die entsprechenden Absätze wurden ebenso wie das Streikrecht gestrichen, weil man befürchtete, der endlosen Kasuistik, die man zur sachgerechten Verankerung für erforderlich erachtete, nicht Herr werden zu kön388
Vgl. v. Doemming/Füsslein/Matz, JöR 1 n. F., S. 1 (118 f.). Hauptausschuss, Stenographisches Protokoll, S. 210. 390 Parlamentarischer Rat, Hauptausschuss, S. 571. 391 v. Doemming/Füsslein/Matz, JöR 1 n. F., S. 1 (124 f.). 392 In diesem Sinne Bock, Tarifdispositives Arbeitnehmerschutzrecht und Tarifautonomie, S. 265. 393 v. Doemming/Füsslein/Matz, JöR 1 n. F., S. 1 (119). 394 v. Doemming/Füsslein/Matz, JöR 1 n. F., S. 1 (119 f.). 389
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3. Kap.: Gewährleistungsgehalt des Art. 9 Abs. 3 GG
nen.395 In diesem Zusammenhang wurde auch betont, man dürfe die Bestimmung nicht allzu sehr unter individualistischen Kriterien sehen. Die Gewerkschaften seien sich selbst kontrollierende Faktoren des wirtschaftlichen Prozesses, die unmittelbare Mitträger des Gemeinschaftslebens und mittelbar und unmittelbar an der Organisation des Wirtschaftsprozesses beteiligt seien. Gelegentlich müsse sich das Individuum um des Gesamtinteresses willen fügen.396 Hier werden sowohl Elemente der Tarifautonomie, nämlich die Regelung der Wirtschaftsbedingungen, angesprochen, als auch die kollektive Seite des Grundrechts397, wenn auch nur in begrenztem Umfang. g) Fazit Die eigentliche Frage ist also weniger, ob die Tarifautonomie und die kollektive Betätigungsfreiheit ausdrücklich Gegenstand der Beratungen im Parlamentarischen Rat waren, sondern eher warum dies nur sehr begrenzt der Fall war. Dabei bietet sich entweder ein Verständnis an, das aus der fehlenden Erörterung folgert, die entsprechenden Gewährleistungen sollten fehlen398 oder ein solches, das davon ausgeht, dass über die entsprechenden Gewährleistungen ein derartiger Konsens bestand, dass man eine explizite Aufnahme für überflüssig hielt.399 So wird denn auch von jenen, die die Entstehungsgeschichte nur zurückhaltend als Beleg für die kollektive Koalitionsfreiheit in Anspruch nehmen, konstatiert, dass der Verfassungsgeber auch den Koalitionsbestand und die Koalitionsbetätigung als schutzfähige Verfassungsgüter anerkannte.400 Der Verfassungsgeber habe die kollektive Koalitionsfreiheit schützen wollen, nur sei ihm dies nicht in einer ausdrücklichen und transparenten Form gelungen.401 Dass aus der Entstehungsgeschichte des TVG ein breiter Konsens der politischen Kräfte folgte, die Tarifautonomie im Wesentlichen nach dem Weimarer Vorbild wieder einzuführen, ist bereits dargestellt worden. Die Berücksichtigung dieses Gesichtspunkts kann man mit Blick darauf kritisieren, dass er implizieren könnte, die Verfassung habe das TVG in seiner geltenden Fassung festschreiben 395
Abgeordneter Eberhard, Parlamentarischer Rat, Hauptausschuss, S. 569 f. Vorsitzender Dr. Schmid, Parlamentarischer Rat, Hauptausschuss, S. 571. 397 In diesem Sinne Bock, Tarifdispositives Arbeitnehmerschutzrecht und Tarifautonomie, S. 265. 398 Tendenziell Kamanabrou, RdA 1997, 22 (29). 399 Im letzteren Sinne BVerfG 18.11.1954, BVerfGE 4, 96 (102); Döttger, Der Schutz tariflicher Normsetzung, S. 102; Kempen, AuR 1979, 74 (76); Kemper, Die Bestimmung des Schutzbereichs der Koalitionsfreiheit, S. 137; Maschmann, Tarifautonomie im Zugriff des Gesetzgebers, S. 15; Rupp, JZ 1998, 919 (924); tendenziell auch Säcker/Oetker, Grundlagen und Grenzen der Tarifautonomie, S. 58 ff. 400 Scholz, Koalitionsfreiheit als Verfassungsproblem, S. 37. 401 Scholz, Koalitionsfreiheit als Verfassungsproblem, S. 37; Rupp, JZ 1998, 919 (924). 396
B. Entstehungsgeschichte
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wollen. Aber diese Folgerung wäre zu weitgehend. Es geht hier lediglich darum, die maßgeblichen Vorstellungen, die die Mitglieder des Parlamentarischen Rats von der Koalitionsfreiheit und der Tarifautonomie hatten, offen zu legen. Wäre hier ein Dissens gegeben gewesen, wäre dieser im Rahmen der Diskussion um Art. 9 Abs. 3 GG aufgebrochen. Da sich die Mitglieder des Parlamentarischen Rats ja nicht jenseits der gesellschaftlichen und politischen Entwicklung in der Bundesrepublik betätigten, ist davon auszugehen, dass sie als Mitglieder der politischen Parteien die entsprechenden Regelungen und – viel wichtiger – Vorstellungen, die mit der Einführung des TVG verbunden waren, teilten. Insofern ist dies auch keine Auslegung der Verfassung anhand des einfachen Gesetzesrechts, wie dies teilweise im Schrifttum behauptet wird.402 Letztendlich geht es darum, die maßgeblichen Vorstellungen des Verfassungsgebers dort zu ermitteln, wo die Materialien nur unzureichend über diese Auskunft geben. Der historische Kontext in dem ein Gesetz enststanden ist, ist bei dessen Auslegung zu berücksichtigen. Er gehört untrennbar zu seinem Entstehungszusammenhang. Nicht die Inhalte des TVG werden zur Auslegung des Art. 9 Abs. 3 GG herangezogen, sondern die Entstehung des TVG als unmittelbar im zeitlichen Zusammenhang mit der Entstehung des Art. 9 Abs. 3 GG erfolgter Ausdruck des politischen Willens der damaligen Zeit. Insofern geht die Kritik ins Leere, wenn sie anmahnt, man möge die Verfassung nicht anhand einfachen Gesetzesrechts auslegen. Das geschieht hier nicht. Vielmehr wird der Wille des Verfassungsgebers ermittelt. Wird dieser nicht ausdrücklich erklärt, ist aus den Gesamtumständen zu ermitteln, ob sich dennoch Rückschlüsse auf seinen Willen ziehen lassen. Insofern ist im Rahmen der historischen Auslegung des Art. 9 Abs. 3 GG der Schluss gerechtfertigt, der Verfassungsgeber habe zumindest die bis zur Verabschiedung des Grundgesetzes eingetretene Entwicklung der Koalitionsbetätigung anerkannt.403 Geht man von einer Kontinuität des Art. 159 WRV aus, so ist jedenfalls auch die Koalition selbst als Grundrechtsträger anerkannt. Insgesamt ist die Entstehungsgeschichte des Art. 9 Abs. 3 GG unzureichend für die These, eine Betätigungsgarantie widerspreche dem Willen des historischen Gesetzgebers. Das Gegenteil ist der Fall.404 Dies gilt insbesondere, wenn man den historischen Kontext der Entstehung des Art. 9 Abs. 3 GG berücksichtigt. Sowohl die Diskussion um das Streikrecht als auch um die negative Koalitionsfreiheit405 nehmen Bezug auf 402 In diesem Sinne Burkiczak, Grundgesetz und Deregulierung des Tarifvertragsrechts, S. 308. 403 Döttger, Der Schutz tariflicher Normsetzung, S. 102; Säcker/Oetker, Grundlagen und Grenzen der Tarifautonomie, S. 64. 404 Rupp, JZ 1998, 919 (924); Scholz, Koalitionsfreiheit als Verfassungsproblem, S. 37. 405 In diesem Sinne Bock, Tarifdispositives Arbeitnehmerschutzrecht und Tarifautonomie, S. 265.
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3. Kap.: Gewährleistungsgehalt des Art. 9 Abs. 3 GG
gewerkschaftliche Betätigungsformen. Insbesondere wurde – wie in der Weimarer Zeit – der Streik nur deshalb nicht ausdrücklich in die Verfassung aufgenommen, weil man sich seiner Grenzen nicht gewiss war. Dass der Gewährleistungsgehalt des Art. 165 WRV i.V. m. Art. 159 WRV eine solche Selbstverständlichkeit war406, dass man ihn nicht ernsthaft diskutierte, ist eine naheliegende Folgerung, insbesondere, wenn man den entstehungsgeschichtlichen Zusammenhang mit dem TVG sieht. 4. Zusammenfassung Betrachtet man die Entstehungsgeschichte der Koalitionsfreiheit in Deutschland, so zeigt sich deutlich, dass sich sukzessive ein Modell entwickelte, bei dem autonome Verbände an der Regulierung der Arbeitsbedingungen mitwirkten. Eine Vorrangstellung bei der Regulierung der Arbeitsbedingungen bestand zur Zeit der Verabschiedung des Grundgesetzes nicht. Vielmehr dürften die Vorstellungen des Verfassungsgebers von einem Konsens geprägt gewesen sein, dass die Regelungsbefugnis der Tarifvertragsparteien nur innerhalb der Grenzen des einfachen Gesetzesrechts bestehen sollte.407 Andererseits war man vor dem Hintergrund des Lohnstopps und der Beschränkungen der Koalitionsfreiheit gerade auch hinsichtlich der Betätigungsgarantie wohl kaum der Ansicht, der Schutz der Weimarer Zeit solle abgebaut werden. Die Kontinuität des Weimarer Tarifmodells, auch wenn dieses nicht eins zu eins, sondern in modifizierter Form im TVG aufging, spricht eine deutliche Sprache. Es bestand ein Konsens über die Regulierung der Arbeitsbedingungen durch Tarifvertrag. Das Problem der gegenwärtigen Diskussion ist, dass bisweilen verkannt wird, dass die Tarifautonomie bereits in der Weimarer Verfassung ein ausgebautes dogmatisches Fundament erhalten hatte. Aus diesem hatte sich sowohl prozedural ein Schutz der unmittelbaren und zwingenden Wirkung des Tarifvertrags als auch ein Schutz der Koalitionen und ihrer Betätigung in Form des Tarifvertrags entwickelt. Dass hier Einzelheiten umstritten waren, steht nicht dem Befund entgegen, dass die Weimarer Verfassungsdogmatik bis hin zu den letzten Publikationen einen erheblichen Ausbau der Koalitionsfreiheit vollzogen hatte.
406 Bock, Tarifdispositives Arbeitnehmerschutzrecht und Tarifautonomie, S. 294; Friese, Kollektive Koalitionsfreiheit und Betriebsverfassung, S. 220; Kittner, Arbeitskampf, S. 567; Rupp, JZ 1998, 919 (924); tendenziell auch Dieterich, RdA 2002, 1 (8); Engels, Verfassung und Arbeitskampfrecht, S. 197; Scholz, Koalitionsfreiheit als Verfassungsproblem, S. 37. 407 Henssler, ZfA 1998, 1 (4), meint, dieses habe nur unter einem Gesetzesvorbehalt bestehen sollen.
B. Entstehungsgeschichte
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Es sei nochmals darauf hingewiesen, dass einige der Argumente, die später das BVerfG bei der Begründung des Schutzes der Koalitionen selbst aus Art. 9 Abs. 3 GG herangezogen hat, bereits zur Weimarer Zeit entwickelt waren.408 Dass der Parlamentarische Rat auf eine ausführliche Beratung der Frage verzichtet hat, ist festzuhalten. Aber hierin liegt ein beredtes Schweigen, das von einer tariflichen Regelungsmacht als selbstverständlich ausging. Dass man gegenüber der Weimarer Republik den Grundrechtsschutz abschwächen wollte, lässt sich kaum begründen. Eine Betätigungsgarantie zu Gunsten der Koalitionen und eine Normsetzungsbefugnis mit unmittelbarer und zwingender Wirkung als Schutzgüter des Art. 9 Abs. 3 GG entsprechen damit der historischen Entwicklung, die die Koalitionsfreiheit bis hin zum Grundgesetz genommen hat. Eine vorrangige Regelungsbefugnis würde sich hingegen als neues Konstrukt unter dem Grundgesetz erweisen. Dies spricht aber nicht dagegen, eine solche Garantie aus Art. 9 Abs. 3 GG abzuleiten. Eine solche Herleitung lässt lediglich nicht auf entstehungsgeschichtliche Argumente stützen, was aber auch ansonsten der Ableitung von Verfassungsgarantien oder der Auslegung im Allgemeinen nicht per se entgegensteht.409 Würde man die Verfassungsauslegung derart beschränken, würde man in einen Verfassungspositivismus verfallen, der der Fortentwicklung und Anpassung der Grundrechte an sich verändernde gesellschaftliche Rahmenbedingungen nicht mehr Rechnung tragen kann. Dies würde nicht nur zu Friktionen im Verhältnis von Verfassungsvorgaben und gesellschaftlicher Realität führen, sondern auch die Autorität der Verfassung sukzessive in Frage stellen. Die Offenheit für Verfassungswandel und Fortentwicklung der Verfassung kann nicht unter Verweis auf historische Argumente beseitigt werden. Allerdings sind diese für die Auslegung nach wie vor relevant. Sie bilden aber keine Ausschlusskriterien für die Auslegung.
V. Die Notstandsverfassung in Art. 9 Abs. 3 S. 3 GG Mit Blick auf die Einfügung des Art. 9 Abs. 3 S. 3 GG durch die Notstandsverfassung ist auf das bereits Gesagte zu verweisen.410 Art. 9 Abs. 3 S. 3 GG stellt eine Anerkennung der Koalitionsfreiheit und insbesondere des Arbeitskampfes dar. Der Standort der Regelung spricht maßgeblich für diese Sichtweise.
408 409 410
Vgl. dazu oben 3. Kap. B. II. Wenzel, NJW 2008, 345 (357); vgl. auch BVerfG 14.2.1973, NJW 1973, 1221. Vgl. dazu oben 3. Kap. A. IV.
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3. Kap.: Gewährleistungsgehalt des Art. 9 Abs. 3 GG
VI. Der Staatsvertrag über die Schaffung einer Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion Auswirkungen des Vertrags über die Schaffung einer Währungs-, Wirtschaftsund Sozialunion411 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik auf die Auslegung und Anwendung des Art. 9 Abs. 3 GG bestehen nicht. Dies mag auf den ersten Blick überraschen, heißt es doch im Gemeinsamen Protokoll über die Leitsätze der Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion: „Löhne und sonstige Arbeitsbedingungen werden nicht vom Staat [. . .] festgelegt“.412 Jedoch ist die Bindungswirkung des Protokolls begrenzt. Der Einigungsvertrag wird im Schrifttum und in der Rechtsprechung in unterschiedlicher Intensität zur Auslegung des einfachen Gesetzesrechts herangezogen.413 Ob den Gemeinsamen Leitsätzen indes die gleiche Wirkung zukommt, ist zweifelhaft.414 Bisweilen wird eine Berücksichtigung des Protokolls über die Leitsätze unter Verweis auf den bereits erfolgten Vollzug des Beitritts der Länder der ehemaligen DDR abgelehnt oder jedenfalls nur für unverbindlich gehalten.415 Dabei wird darauf verwiesen, dass nach Art. 40 Abs. 1 des Einigungsvertrages die gemeinsamen Leitsätze im Moment der vollzogenen Einigung gegenstandslos wurden.416 Kissel hingegen sieht in diesen eine verbindliche Auslegungsregel auch für Art. 9 Abs. 3 GG.417 Dies geht zu weit, überzeugt aber für die Auslegung und Anwendung des einfachen Gesetzesrechts. Eine Relevanz für die Auslegung des Grundgesetzes hat der Vertrag hingegen nicht. Dies gilt nicht nur deshalb, weil die Rechtswirkungen der in ihm festgelegten Leitsätze sich unmittelbar nur auf die DDR bezogen (Art. 4 Abs. 1 S. 1 des Staatsvertrags).418 Dies mag man noch damit überspielen, dass man meint, eine gespaltene Wirkung der Gemein411
BGBl. II 1990, S. 537. BGBl. II 1990, S. 537, Leitsatz 3 zur Sozialunion. 413 Bindende Auslegungsregel, Fahrtmann/Coen in: Benda/Maihofer/Vogel, Handbuch des Staatsrechts, § 19, Rn. 16; Gitter, FS Kissel, S. 265 (273); Gaul D., ZTR 1991, 443 (446); Interpretationshilfe: Müller, DB 1992, 269 (273, Fn. 43); Schüren/Riederer von Paar, AuR 2004, 241 (243); Schrader, NZA 2001, 1337 (1339 f.); ders., Durchsetzungsfähigkeit als Kriterium für Arbeitgeber im Tarifvertragsrecht, S. 136 ff.; im Rahmen der systematischen Auslegung zu berücksichtigen: Säcker/Oetker, Grundlagen und Grenzen der Tarifautonomie, S. 2, Fn. 2; Oetker, FS Stahlhacke, S. 363 (384). 414 Oetker, FS Stahlhacke, S. 363 (384). 415 Henssler, Soziale Mächtigkeit und organisatorische Leistungsfähigkeit als Voraussetzungen der Tariffähigkeit von Gewerkschaften, S. 15; Löwisch/Rieble, TVG, § 2 TVG, Rn. 5; Rieble, SAE 1991, 316 (317); Zachert, FS Kehrmann, S. 335 (338). 416 Konzen, ZfA 1991, 379 (392, Fn. 103); Oetker, FS Stahlhacke, S. 363 (388); Rieble, SAE 1991, 316 (317). 417 Kissel, NZA 1990, 545 (549). 418 Henssler, Soziale Mächtigkeit und organisatorische Leistungsfähigkeit als Voraussetzungen der Tariffähigkeit von Gewerkschaften, S. 15; Löwisch/Rieble, TVG, § 2 TVG, Rn. 6; Richardi, FS Wissmann, S. 159 (169); Säcker/Oetker, Grundlagen und Grenzen der Tarifautonomie, S. 2, Rn. 2; Oetker, FS Stahlhacke, S. 363 (384). 412
B. Entstehungsgeschichte
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samen Leitsätze sei mit dem Ziel der Rechtseinheit, die der Vertrag herstellen soll, nicht zu vereinbaren,419 wobei dieser Ansatz mit Blick auf die deklaratorische Funktion des Vertrages über die geltende Rechtslage bezweifelt wird.420 Aber selbst wenn man dem folgt, hilft dies nicht darüber hinweg, dass der Staatsvertrag nicht den Rang von Verfassungsrecht hat und damit zu dessen Auslegung nicht herangezogen werden kann. Er bleibt als völkerrechtlicher Vertrag durch das Zustimmungsgesetz des Bundestags auf der Stufe einfachen Gesetzesrechts stehen.421 Dieses kann zur Auslegung der Verfassung grundsätzlich nicht herangezogen werden422, wenn es nicht gerade Auskunft über die Vorstellungen des Verfassungsgebers im Zeitpunkt der Schaffung einer verfassungsrechtlichen Vorschrift gibt. Soweit das BAG ausführt, die Regelungen des Einigungsvertrages hätten jedenfalls Eingang in den Willen des Gesetzgebers gefunden423, ist darauf hinzuweisen, dass die Wirkkraft dieser Aussage jedenfalls mit zunehmender zeitlicher Distanz zum Einigungsvertrag abnimmt. Auch die bereits vorgetragenen Einwände gegen eine Auslegung einfachen Rechts im Sinne des Einigungsvertrages und insbesondere eine Fortschreibung für die Zukunft sind vor diesem Hintergrund nicht völlig unberechtigt.424 Damit spricht der Einigungsvertrag nicht für eine Vorranggarantie der tarifautonomen Regelungsbefugnis gegenüber der staatlichen Gesetzgebung.
VII. Zusammenfassung Bei einer Gesamtbetrachtung nicht nur der Entstehungsgeschichte des Art. 9 Abs. 3 GG, sondern auch der historischen Entwicklung der Koalitionsfreiheit, ergibt sich ein Schutz der Tarifautonomie durch Art. 9 Abs. 3 GG. Dies betrifft sowohl den Schutz der Koalitionen selbst, als auch der Betätigungsgarantie aus Art. 9 Abs. 3 GG. Sowohl die Entwicklung, die die Koalitionsfreiheit unter der Weimarer Reichsverfassung genommen hat, als auch die Entstehungsgeschichte des Art. 9 Abs. 3 GG streiten für diese Sichtweise. Dabei ist maßgeblich die „historische Gefährdungslage“ 425, vor deren Hintergrund die Tarifautonomie entstanden ist, in den Blick zu nehmen. 419 BAG 6.6.2000, NZA 2001, 156 (159); Kissel, NZA 1990, 545 (590); Gitter, FS Kissel, S. 265 (272); Schrader, Durchsetzungsfähigkeit als Kriterium für Arbeitgeber im Tarifvertragsrecht, S. 140 f. 420 Oetker, FS Stahlhacke, S. 363 (386). 421 Bock, Tarifdispositives Arbeitnehmerschutzrecht und Tarifautonomie, S. 288; Säcker/Oetker, Grundlagen und Grenzen der Tarifautonomie, S. 2, Fn. 2; Oetker, FS Stahlhacke, S. 226 (386). 422 Säcker/Oetker, Grundlagen und Grenzen der Tarifautonomie, S. 2, Fn. 2; Oetker, FS Stahlhacke, S. 226 (386); Schmidt-Preuß, DVBl. 1993, 236 (238). 423 BAG 6. 6. 2000, NZA 2001, 156; Schrader, NZA 2001, 1337 (1340). 424 Bock, Tarifdispositives Arbeitnehmerschutzrecht und Tarifautonomie, S. 288. 425 Rusteberg, Der grundrechtliche Gewährleistungsgehalt, S. 175.
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3. Kap.: Gewährleistungsgehalt des Art. 9 Abs. 3 GG
Die Tarifautonomie erweist sich historisch sowohl in ihrer Entstehung als auch in ihrer legislativen Ausgestaltung nach dem 1. und 2. Weltkrieg als notwendiges Korrelat zur Privatautonomie. Von ihren Anfängen an diente sie als staatsferner Kompensationsmechanismus für Funktionsstörungen der Vertragsfreiheit. Sie behebt damit ein Defizit, das durch staatliche Untätigkeit verursacht wurde.426 Insbesondere die Entwicklung bis zum 1. Weltkrieg zeigt dabei, dass Schwerpunkt der historischen Entwicklung die Begründung der unmittelbaren und zwingenden Wirkung des Tarifvertrags als Kernelement der Tarifautonomie ist. Damit erweist sich die Entwicklung zunächst als eine in erster Linie auf den Entstehungsprozess von Vertragsinhalten bezogene Gewährleistung, also eine solche, die verfassungsrechtlich bestimmte Verfahrensweisen garantiert. Dies wird auch in der Anerkennung der unmittelbaren und zwingenden Wirkung des Tarifvertrags durch die Weimarer Reichsverfassung deutlich.427 Ebenso erweist sich die Kontinuität des Tarifvertragsrechts der Weimarer Zeit unter dem Grundgesetz und im Tarifvertragsgesetz nach 1945 als Weiterentwicklung und Fortschreibung eines entwickelten Mechanismus gesellschaftlicher Selbstorganisation. Die dazu erforderlichen Verbände unter den Schutz der Verfassung zu stellen, war nach Weimarer Verständnis erforderlich und nach den Erfahrungen der NS-Zeit geboten. Das Grundgesetz hat diese Wertung übernommen. Nach dem historischen Gesamtbild, das für die Koalitionsfreiheit besteht, gehört zu der Freiheit, Vereinigungen zur Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen zu bilden, auch das Recht der Verbände, die Gestaltung von Löhnen und Arbeitsbedingungen zu beeinflussen und in Gesamtvereinbarungen zu regeln.428 Angesichts der Tatsache, dass diktatorische Systeme in der Regel die Koalitionen beseitigen und die Tarifautonomie einschränken429, erscheint es historisch nicht vertretbar anzunehmen, die Koalitionen selbst stünden nicht unter dem verfassungsmäßigen Schutz des Grundgesetzes. Ebenso wenig lässt sich vor diesem Hintergrund eine Betätigungsgarantie negieren. Insofern hat auch historisch das Bekenntnis des Grundgesetzes zur Demokratie eine gewisse Bedeutung für die Koalitionen, jedenfalls dann, wenn man deren Existenz als Merkmal demokratischer Systeme betrachtet. Die Tarifvertragsparteien haben insofern als gesellschaftliche Großverbände das Potenzial, aber, wie die Entwicklung im Jahr 1933 zeigt, eben nur das Potenzial, verfassungsfeindlichen Tendenzen in der Politik ein gesellschaftliches und wirtschaftliches Gegengewicht
426 Andelewski, Staatliche Mindestarbeitsbedingungen, S. 276; Rüthers, DB 1973, 1649 (1650); Säcker, RdA 1969, 291 (298); ders., Grundprobleme der kollektiven Koalitionsfreiheit, S. 47; ders., AuR 1994, 1 (8); Scholz, Koalitionsfreiheit, S. 22 ff. 427 Vgl. dazu oben 3. Kap. B. II. 2. 428 Richardi, Kollektivgewalt und Individualwille, S. 89. 429 Dies war maßgebliche Begründung des Art. 11 EMRK, vgl. dazu unten 3. Kap. C. V.
B. Entstehungsgeschichte
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entgegenzustellen, wie dies beispielsweise beim Kapp-Lüttwitz-Putsch der Fall war.430 Neben diesen Gesichtspunkten ergibt sich aber aus der Koalitionsfreiheit und der Tarifautonomie die Legitimation der privatautonomen Gestaltung der Arbeitsrechtsbeziehungen. Mit Blick auf die Weimarer Verfassung wird man durchaus sagen können, dass die Tarifautonomie einer der Gründe für die Erhaltung der Privatautonomie auch unter der neuen Verfassung war. Sie erwies sich als systemkonformer Korrekturmechanismus und leistete insofern einen Beitrag dazu, dass der Wandel von der Monarchie hin zum demokratischen Rechtsstaat nicht durch einen weitergehenden politischen und wirtschaftlichen Systemwechsel überrollt wurde. Nach dem 2. Weltkrieg schuf die Anknüpfung der Landesverfassungen und des Tarifvertragsgesetzes an die Weimarer Rechtslage ein Umfeld, das von einem breiten Konsens der Anerkennung der Koalitionsfreiheit und der Tarifautonomie als Betätigungsgarantie getragen war. Auch und gerade unter dem Gesichtspunkt, dass man eine gewisse Kontrolle der Unternehmen durch die Gesellschaft wünschte und die Übergriffe der Nationalsozialisten auf Koalitionen und Tarifvertragssystem vor Augen hatte, erklärt sich dieser Konsens. Dass der Parlamentarische Rat damit in einem Umfeld tagte, in dem die entsprechenden Garantien als selbstverständlich galten431, ist eine zutreffende Analyse der gesellschaftlichen Rahmenbedingungen der damaligen Zeit.432 Dass das Streikrecht nicht ausdrücklich aufgenommen wurde und zwar aus ähnlichen Motiven wie zur Weimarer Zeit, trägt ebenfalls die Sichtweise einer Kontinuität des Weimarer Tarifrechts auch unter dem Grundgesetz. Die Anerkennung des verfassungsrechtlichen Schutzes von Koalitionen wie der Tarifautonomie und die Anerkennung der unmittelbaren und zwingenden Wirkung des Tarifvertrags durch die Weimarer Reichsverfassung bei gleichzeitiger Ablehnung eines ausdrücklichen verfassungsrechtlichen Schutzes des Arbeitskampfes weisen deutliche Parallelitäten zu der Diskussion um das Grundgesetz auf. Insofern spricht die Entstehungsgeschichte des Art. 9 Abs. 3 GG ebenso wie die historische Entwicklung des Grundrechts für einen Schutz der Koalitionen als Grundrechtsträger sowie der koalitionsspezifischen Betätigung durch Art. 9 Abs. 3 GG soweit es um den Abschluss von Tarifverträgen geht. Davon zu trennen ist allerdings der Schutz der tarifautonomen Regelungsbefugnis. Die historische Entwicklung trägt das Verständnis der Tarifautonomie nur 430
Vgl. dazu Kittner, Arbeitskampf, S. 420 ff. Bock, Tarifdispositives Arbeitnehmerschutzrecht und Tarifautonomie, S. 294; Friese, Kollektive Koalitionsfreiheit und Betriebsverfassung, S. 220; Kittner, Arbeitskampf, S. 567; Rupp, JZ 1998, 919 (924); tendenziell auch Dieterich, RdA 2002, 1 (8); Engels, Verfassung und Arbeitskampfrecht, S. 197; Scholz, Koalitionsfreiheit als Verfassungsproblem, S. 37. 432 Vgl. dazu oben 3. Kap. B. IV. 431
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3. Kap.: Gewährleistungsgehalt des Art. 9 Abs. 3 GG
als ein solches, das eine Normsetzungsbefugnis beinhaltet und dieses als Kern und Wesen der Tarifautonomie begreift. Hingegen lässt sich aus der historischen Entwicklung der Tarifautonomie bis zur Entstehung des Grundgesetzes nicht zeigen, dass mit dieser eine Vorranggarantie oder eine subsidiäre Regelungsbefugnis des Gesetzgebers verbunden war. Auch nach dem 2. Weltkrieg folgten die Landesverfassungen einem Verständnis einer umfassenden Regelungsbefugnis des Staates. Ein Vorrang der Tarifvertragsparteien wurde nicht einmal bei (Mindest-) Entgelten akzeptiert. Umfassende Kodifikationen des Arbeitsrechts wurden ebenso gefordert, wie die tarifautonome Regelungsbefugnis nur in den Grenzen des einfachen Gesetzesrechts anerkannt. Insgesamt lässt sich konstatieren, dass die Auffassung nach dem 2. Weltkrieg verbreitet war, die Tarifvertragsparteien sollten den von staatlicher Regelung frei gelassenen Bereich des Arbeitsrechts regeln. Eine Beschränkung der staatlichen Befugnisse lässt sich aus der Entstehungsgeschichte nicht herleiten.
C. Systematische Auslegung Hinsichtlich systematischer Auslegungskriterien finden sich sowohl für die Betätigungsgarantie als solche als auch für das Verhältnis von staatlicher und tarifautonomer Regelungsbefugnis eine Vielzahl von Rückgriffen auf staatsorganisatorische Vorschriften im Grundgesetz. Soweit diese das Subsidiaritätsprinzip betreffen, sind sie bereits oben ausführlich erörtert worden. Ein Subsidiaritätsprinzip existiert mit Blick auf das Verhältnis von staatlicher und tarifautonomer Regelungsbefugnis nicht.433 Auch aus weiteren Vorschriften der Staatsorganisation, wie etwa Art. 28 Abs. 2 GG oder Art. 72 Abs. 2 GG, lässt es sich nicht herleiten. Es taugt damit nicht als Auslegungskriterium für Art. 9 Abs. 3 GG. Damit ist aber nur gesagt, dass es nicht zur Auslegung des Art. 9 Abs. 3 GG taugt, nicht aber, dass dieser nicht doch eine Subsidiarität im Verhältnis von staatlicher und tarifautonomer Regelungsbefugnis begründet. In systematischer Hinsicht ist für die tarifvertragliche Regelungsbefugnis in Art. 9 Abs. 3 GG insbesondere die Gesetzgebungskompetenz für das Arbeitsrecht aus Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG relevant. Des Weiteren lassen sich gewisse Rückschlüsse aus Art. 12 Abs. 1 GG ziehen. Ebenso sind möglicherweise Verpflichtungen aus völkerrechtlichen Verträgen zu berücksichtigen, die die Bundesrepublik ratifiziert hat.
433
Siehe oben 2. Kap. F.
C. Systematische Auslegung
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I. Bedeutung der Gesetzgebungskompetenz für das Arbeitsrecht aus Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG Vielfach findet sich in der Diskussion um das Verhältnis von staatlicher und tarifautonomer Regelungsbefugnis der Hinweis auf die Gesetzgebungskompetenz aus Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG für das Arbeitsrecht.434 Dieser weist dem Gesetzgeber die Regelung des gesamten Arbeitsrechts inklusive der Regelung der Arbeitsund Wirtschaftsbedingungen zu.435 Mittlerweile kann es als allgemein anerkannt angesehen werden, dass die Tarifautonomie kein Normsetzungsmonopol für die Tarifvertragsparteien statuiert. Die Vorschrift des Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG streitet maßgeblich gegen diese Sichtweise.436 Die weitere Diskussion um die Bedeutung des Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG ist maßgeblich davon geprägt, dass bei der Annahme einer verfassungsrechtlich verankerten vorrangigen Regelungsbefugnis der Tarifvertragsparteien ein Konflikt zu dieser Gesetzgebungskompetenz für das Arbeitsrecht entsteht. Denn die potenziell durch den jeweiligen Normgeber geschaffenen Regelungen beziehen sich auf sich überschneidende Gegenstände. Die Frage ist daher, ob Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG dafür spricht, den Schutzbereich des Art. 9 Abs. 3 GG so auszulegen, dass dieser zwar die tarifvertragliche Regelungsbefugnis schützt, diese aber nur in den Grenzen des einseitig zwingenden Gesetzesrechts anerkannt wird. In der Tat zieht ein Teil des Schrifttums die Vorschrift in diesem Sinne heran.437 Dies sieht sich dem Einwand ausgesetzt, dass Vorschriften der Staatsorganisation nur begrenzte Aussagekraft für die Gewährleistungsinhalte von Grundrechten haben.438 Der Umfang, in dem diese zur Interpretation der Grundrechte he-
434 Butzer, RdA 1994, 375 (384); Höfling, JZ 2000, 44 (46); Kemper in: MKS, GG, Art. 9 GG, Rn. 147; Stein, ArbuR 1998, 1 (3); Wiedemann, FS Stahlhacke, S. 675 (686); Bartlog, Das Verhältnis von Gesetz und Tarifvertrag, S. 212 ff.; Gellermann, Grundrechte im einfachgesetzlichen Gewande, S. 164; Oetker, ZG 1998, 155 (166); Preis/Greiner, As.-Drs. 16 (11), 771, 21; Waltermann, FS Söllner, S. 1251 (1258); Wiedemann, FS Stahlhacke, S. 675 (686); Scholz in: Maunz/Dürig, GG, Art. 9 GG, Rn. 259 (269 f.). 435 BAG 31.7. 2002, NZA 2002, 1155 (1157); Houben, Die Rückwirkung von Tarifverträgen, S. 105; Waltermann, FS Söllner, S. 1251 (1258); Jarass/Pieroth, GG, Art. 74 GG, Rn. 29. 436 BVerfG 24.4.1996, NJW 1997, 513; Gellermann, Grundrechte im einfachgesetzlichen Gewande, S. 164 ff. 437 Bartlog, Das Verhältnis von Gesetz und Tarifvertrag, S. 110; Gellermann, Grundrechte im einfachgesetzlichen Gewande, S. 164; Schnorr, Das Arbeitsrecht als Gegenstand internationaler Rechtsetzung, S. 228; Kemper in: MKS, GG, Art. 9 GG, Rn. 147; tendenziell auch Oetker, ZG 1998, 155 (166 ff.). 438 Däubler, Grundrecht auf Mitbestimmung, S. 208 ff.; Kempen, ArbuR 1996, 336 (340); Richardi, Kollektivgewalt und Individualwille, S. 56; übersehen wird dieses Problem von Andelewski, Staatliche Mindestarbeitsbedingungen, S. 68; zum Subsidiaritätsprinzip siehe oben 2. Kap. F.
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3. Kap.: Gewährleistungsgehalt des Art. 9 Abs. 3 GG
rangezogen werden dürfen, ist umstritten.439 Die Rechtsprechung des BVerfG hat solche Rückschlüsse in der Vergangenheit durchaus gezogen.440 Erforderlich ist aber ein „überschießender Gehalt“ der jeweiligen Kompetenznorm.441 Es muss also erkennbar sein, dass der Gesetzgeber davon ausgegangen ist, eine bestimmte Regelung sei möglich oder zulässig. Des Weiteren muss der entsprechenden Vorschrift eine gewisse Wirkkraft zukommen.442 Mit Blick auf die Regelung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen ist evident, dass der Verfassungsgeber von der Möglichkeit eigener Regelungen ausgegangen ist. Dies folgt auch aus der Entstehungsgeschichte des Grundgesetzes. Allerdings ist Vorsicht bei derartigen Rückschlüssen geboten. Denn während die grundrechtliche Gewährleistung ja gerade gegenüber dem von seinen Gesetzgebungskompetenzen Gebrauch machenden Staat besteht, dient die Gesetzgebungskompetenz eben nur dazu, eine formelle Zuständigkeit zu begründen.443 So wird denn auch der Rückgriff auf Kompetenztitel zur Rechtfertigung von Grundrechtseingriffen im Schrifttum kritisch gesehen.444 Insofern ist der Begriff einer Doppelzuständigkeit nur mit Blick auf das Ergebnis der Ausübung der Regelungskompetenzen zutreffend. Die Zuständigkeit für die Regelung entstammt aber unterschiedlichen Quellen. Mit dieser Zuständigkeit ist allerdings kein Regelungsmonopol der Koalitionen verbunden. Ein weitgehender Schutz der Tarifvertragsparteien vor konkurrierender Regelungszuständigkeit des Gesetzgebers würde diesen weitgehend paralysieren, wenn man sich das an sich445 strenge Schrankenregime des Art. 9 Abs. 3 GG vor Augen führt. Vor diesem Hintergrund erscheint es durchaus angebracht davon auszugehen, dass der Verfassungsgeber sich nicht lediglich auf eine Reservefunktion gegenüber der Tarifautonomie zurückdrängen lassen wollte. Dies wird auch aus der Entstehungsgeschichte des Grundgesetzes deutlich.446 Insofern standen Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG und Art. 9 Abs. 3 GG aus Sicht des Verfassungsgebers offenbar nicht in einem Widerspruch zueinander.447 Die Verfassung enthält insofern keine Anhaltspunkte für eine Vorranggarantie zu Gunsten der Koalitionen, aber eben auch nicht des Staates.448 Auch wenn man sich vor Augen führt, 439 Vgl. zum Streitstand Ossenbühl in: Merten/Papier, Handbuch der Grundrechte I, § 15, Rn. 17 ff., m.w. N. 440 BVerfG 20.12.1960, BVerfGE 12, 45 (50); BVerfG 26. 5. 1970, NJW 1970, 1729; BVerfG 24.4.1985, NJW 1985, 1519 (1520) mit abweichendem Sondervotum von Böckenförde und Mahrenholz, NJW 1985, 1528 ff. 441 Ossenbühl in: Merten/Papier, Handbuch der Grundrechte I, § 15, Rn. 18. 442 Ossenbühl in: Merten/Papier, Handbuch der Grundrechte I, § 15, Rn. 19. 443 Pieroth, FS 50 Jahre BVerfG, S. 293 (309). 444 Dreier, DVBl. 1980, 471 (473); Schlink, EuGRZ 1984, 457 (464). 445 Zu den problematischen Aufweichungen der Grundrechtsschranken durch das BVerfG, vgl. unter 2. Kap B. 5., C. IV. 3. a). 446 Vgl. dazu oben 3. Kap. B. 447 Houben, Die Rückwirkung von Tarifverträgen, S. 105. 448 Kemper in: MKS, GG, Art. 9 GG, Rn. 147.
C. Systematische Auslegung
265
dass mit der Arbeitszeitordnung und anderen arbeitsrechtlichen Gesetzen bereits wesentliche Inhalte denkbarer tarifvertraglicher Regelungen durch den Gesetzgeber gestaltet waren als das Grundgesetz, aber auch die Weimarer Reichsverfassung verabschiedet wurden, spricht vieles dafür, dass der Gesetzgeber sich für diese Regelungen keine Restriktionen durch die Verfassung auferlegen wollte. Der Hinweis, die Regelung der Arbeitszeit gehöre zum „Hausgut“ 449 der Koalitionen, traf in dieser Form noch nie zu. Sie war stets durch ein Nebeneinander von staatlicher und tarifvertraglicher Regulierung geprägt.450 Dass das Grundgesetz trotz der Verankerung des Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG daran etwas ändern wollte, erscheint wenig überzeugend. Insofern erscheint es zutreffend festzuhalten, dass das Grundgesetz die Zuständigkeit des Staates zur Festsetzung grundlegender Arbeitsbedingungen sicher nicht der Tarifautonomie opfern wollte.451 Die Normenhierarchie spricht gegen eine derartige Sichtweise.452 Vielmehr ergibt sich aus Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG, dass das Grundgesetz die tarifautonome Regelungsbefugnis nicht zu einer Vorranggarantie umfunktionieren wollte. Die Regelungsbefugnis bestand damals nicht in der Regelung der Arbeitsbedingungen schlechthin, sondern nur in dem von staatlicher Rechtsetzung freigelassenen Raum.453 Bezieht man die Wertung des Art. 72 Abs. 2 GG in seiner neuen Fassung ein, so wird dieses Ergebnis gestützt. Maschmann hat aus der alten Fassung des Art. 72 Abs. 2 GG die Wertung gezogen, dass der Staat das Ziel der Vereinheitlichung des Arbeitsrechts nicht gegen die tarifautonome Regelungsbefugnis ausspielen dürfe, weil er insofern an den Willen des Verfassungsgebers gebunden sei.454 Durch die Neufassung des Art. 72 Abs. 2 GG im Rahmen der Föderalismusreform ist heute jedenfalls das Gegenteil richtig.455
II. Die Bedeutung des Art. 9 Abs. 3 S. 2 GG Bisweilen werden gegen die Annahme einer kollektiven Betätigungsgarantie und damit gegen die Regelungsbefugnis der Tarifvertragsparteien an sich Bedenken mit Blick auf den Wortlaut des Art. 9 Abs. 3 S. 2 GG erhoben. Danach soll die Vorschrift zur Perplexität des Art. 9 Abs. 3 S. 1 GG führen, wenn man diesem eine kollektive Betätigungsgarantie entnimmt.456 Diese sei daher insgesamt 449
Vgl. dazu unten 3. Kap. E. XI. Vgl. dazu oben 3. Kap. B. 451 Schnorr, Das Arbeitsrecht als Gegenstand internationaler Rechtsetzung, S. 228. 452 Preis/Greiner, As.-Drs. 16 (11), 771, 21. 453 Schnorr, Das Arbeitsrecht als Gegenstand internationaler Rechtsetzung, S. 228. 454 Maschmann, Tarifautonomie im Zugriff des Gesetzgebers, S. 260. 455 Vgl. dazu oben 2. Kap. F. 4. 456 Burkiczak, Grundgesetz und Deregulierung des Tarifvertragsrechts, S. 302 f.; kritisch gegenüber der Annahme einer „Paradoxie“ Dieterich in: ErfK, GG, Art. 9 GG, Rn. 44. 450
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3. Kap.: Gewährleistungsgehalt des Art. 9 Abs. 3 GG
abzulehnen.457 Dies basiert auf der Annahme, sämtliche durch Art. 9 Abs. 3 GG geschützten Betätigungsformen würden dann gleichzeitig von Art. 9 Abs. 3 S. 2 GG inkriminiert sein, weil beispielsweise die „Abrede“ einer Friedenspflicht den Arbeitskampf beschränke, insofern also unwirksam sein müsste. Auf Basis der Rechtsprechung des BAG und eines Teils der Literatur ist in der Tat jedes von Art. 9 Abs. 3 S. 1 GG geschützte Verhalten auch durch Art. 9 Abs. 3 S. 2 GG geschützt.458 Diese Sichtweise ist keineswegs zwingend. So wird zur Lösung des Problems vorgeschlagen, man könne Art. 9 Abs. 3 S. 2 GG einschränkend dahin gehend auslegen, dass er nur die individuelle Koalitionsfreiheit betrifft, sich mithin nur auf die Beitrittsfreiheit zu den Koalitionen bezieht, nicht aber auf die kollektive Betätigungsgarantie.459 Dieser Ansatz löst den vorstehenden Einwand auf und ist daher durchaus gangbar. Richtigerweise dürften aber Betätigungen, die von Art. 9 Abs. 3 S. 1 GG geschützt sind, überhaupt nicht von Art. 9 Abs. 3 S. 2 GG erfasst sein.460 Denn diese sind zunächst einmal vom Schutzbereich der Vorschrift erfasstes Verhalten und damit nicht rechtswidrig.461 Für das Beispiel der Vereinbarung einer Friedenspflicht würde dies bedeuten, dass sie eben als Ausfluss der koalitionsspezifischen Betätigung von Art. 9 Abs. 3 S. 1 GG geschützt wird. Damit spricht Art. 9 Abs. 3 S. 2 GG nicht gegen den Schutz der koalitionsspezifischen Betätigung durch Art. 9 Abs. 3 S. 1 GG. Er dient vielmehr dem Schutz vor solchen Übergriffen auf die Koalitionsfreiheit, die gerade keine Ausübung von Koalitionsfreiheit sind, sondern aus einer nichtkoalitionsspezifischen Handlung erwachsen.462 Insofern sind Verhaltensweisen, die Ausfluss der koalitionsspezifischen Betätigung sind, nie nach Art. 9 Abs. 3 S. 2 GG unwirksam. Sofern sie allerdings in in Art. 9 Abs. 3 GG ebenfalls geschützte Güter eingreifen, ist im Rahmen praktischer Konkordanz zu ermitteln, welcher Grundrechtsposition der Vorrang zukommt.463 Sofern im Einzelfall die durch die Betätigungsfreiheit geschützte Verhaltensweise nicht vorrangig ist, kann der entsprechende Schutz möglicherweise über Art. 9 Abs. 3 S. 2 GG realisiert oder über 457 Burkiczak, Grundgesetz und Deregulierung des Tarifvertragsrechts, S. 302 f.; a. A. noch Höfling/Burkiczak, RdA 2004, 263 (270 ff.). 458 BAG 20.4.1999, NJW 1999, 3281 (3282); Bauer in: Dreier, GG, Art. 9 GG, Rn. 88; Dieterich in ErfK, GG, Art. 9 GG, Rn. 43; Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht, Bd. I, S. 201; Konzen, FS Kissel, S. 571 (579). 459 Däubler, Der Streik im öffentlichen Dienst, S. 71 f.; Engels, Verfassung und Arbeitskampfrecht, S. 189; Höfling/Burkiczak, RdA 2004, 263 (273); Lerche, Verfassungsrechtliche Zentralfragen des Arbeitskampfes, S. 44; Reuter, Jus 1986, 19 ff.; Scholz, Koalitionsfreiheit als Verfassungsproblem, S. 150. 460 Krichel, NZA 1986, 731 (734); tendenziell auch Kemper in: MKS, GG, Art. 9 GG, Rn. 178 ff. 461 Kemper in: MKS, GG, Art. 9 GG, Rn. 178 f. 462 Vgl. dazu Däubler, Der Streik im öffentlichen Dienst, S. 71. 463 Vgl. dazu Ulber, D./Strauss, DB 2008, 1970.
C. Systematische Auslegung
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die verfassungskonforme Auslegung sonstigen Zivilrechts sichergestellt werden.464 Damit wird vermieden, dass Art. 9 Abs. 3 S. 2 GG gegen den Grundrechtsschutz des Art. 9 Abs. 3 S. 1 GG ausgespielt wird.465 Für die Frage der tarifvertraglichen Regelungsbefugnis ist damit festzuhalten, dass sich aus Art. 9 Abs. 3 S. 2 GG keine systematischen Einwände gegen diese erheben lassen, ihr Umfang aber eben auch nicht durch Art. 9 Abs. 3 S. 2 GG bestimmt wird.
III. Art. 12 Abs. 1 GG Hingegen lassen sich aus der Gewährleistung der Berufsfreiheit in Art. 12 Abs. 1 GG durchaus Erkenntnisse für den Gewährleistungsgehalt der Tarifautonomie gewinnen. Im Gegensatz zur Koalitionsfreiheit ist die Berufsfreiheit nach Art. 12 Abs. 1 GG mit einem Gesetzesvorbehalt versehen. Die Berufsfreiheit schützt – nach umstrittener Auffassung466 – die Arbeitsvertragsfreiheit.467 Damit wird durch staatliche Regelung von Gegenständen, die auch Inhalt des Arbeitsverhältnisses sein können, in den Schutzbereich des Art. 12 Abs. 1 GG eingegriffen. Auch diese Sichtweise ist nicht unumstritten, weil auch hinsichtlich der Vertragsfreiheit zunehmend die Auffassung vertreten wird, diese werde nur in den Grenzen des zwingenden Gesetzesrechts geschützt.468 Diese Position würde dafür sprechen, die gleiche Sichtweise auch bei der Tarifautonomie an den Tag zu legen, was in jüngerer Zeit auch vertreten wird.469 Diese Frage berührt die Abgrenzung zwischen Ausgestaltung und eingriffsdogmatischer Sichtweise, auf die später noch eingegangen wird.470 An dieser Stelle soll der Hinweis genügen, dass diese Sichtweise jedenfalls dafür spricht, die tarifautonome Regelungsbefugnis nur in den Grenzen des zwingenden Gesetzesrechts anzuerkennen. Bleibt man mit der Rechtsprechung des BVerfG bei der eingriffsdogmatischen Sichtweise der staatlichen Regelung von Gegenständen, die auch Inhalt des Arbeitsverhältnisses sein können, so spricht diese Sichtweise aber ebenfalls dagegen, der Tarifautonomie nach Art. 9 Abs. 3 GG einen Schutzbereich zuzubilligen, der eben diese Regelungen gleichzeitig erfasst, indem er die Tarifvertragsparteien vor ihnen schützt. Denn die Annahme, die Tarifautonomie schütze vor der zwingenden gesetzlichen Regelung von Gegenständen, die auch Inhalt des Arbeitsvertrags sein können, nimmt der Arbeitsvertragsfreiheit als Schutzrege464
Im letzteren Sinne Kemper in: MKS, GG, Art. 9 GG, Rn. 178 f. Lerche, Verfassungsrechtliche Zentralfragen des Arbeitskampfes, S. 44. 466 Vgl. zum Streitstand Preis/Ulber, D., NJW 2007, 465 (469); sowie Preis/Greiner, ZfA 2009, 825 (834 ff.). 467 BVerfG 11.7.2007, NJW 2007, 51 (54). 468 Engels, JZ 2008, 490 (495 ff.). 469 Engels, JZ 2008, 490 (492 ff.). 470 Siehe 3. Kap. E. XII. 465
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3. Kap.: Gewährleistungsgehalt des Art. 9 Abs. 3 GG
lung weitgehend ihre eigenständige Bedeutung. Denn ihr Schutz wird dann vollumfänglich von der Tarifautonomie überlagert, die aufgrund ihrer Position als vorbehaltlos geschütztes Grundrecht stets den stärkeren Schutz gewährt. Die Arbeitsvertragsfreiheit würde damit in der Konstellation der staatlichen Regelung von Arbeitsbedingungen bedeutungslos. Im Übrigen werden hier Gegenstände, die nach der Wertung des Verfassungsgesetzgebers – unabhängig davon, ob man die Arbeitsvertragsfreiheit nicht eher in Art. 2 Abs. 1 GG verortet471 – mit einem einfachen Gesetzesvorbehalt versehen wurden, in ein Grundrecht transferiert, das vorbehaltlos geschützt ist. Derartige Verschiebungen sind ein Widerspruch zur Systematik des Grundrechtskatalogs. Denn durch das stärkere Schrankenregime des Art. 9 Abs. 3 GG hätte die Arbeitsvertragsfreiheit in Art. 12 Abs. 1 GG auf einmal lediglich deklaratorischen Charakter. Allein dadurch, dass Arbeitgeber und Arbeitnehmer ihre Privatautonomie kollektivieren, soll ihre bereits vorhandene Grundrechtsposition potenziert werden. Auch hier zeigt sich, dass der Schrankentransfer aus Art. 12 Abs. 1 GG, der mit einer weiten Tatbestandssichtweise des Art. 9 Abs. 3 GG zunehmend vollzogen wird, im Wesentlichen daraus resultiert, dass eine Position nach Art. 9 Abs. 3 GG als geschützt angesehen wird, die seinen Schutzbereich überdehnt.472 Andererseits führt diese Grenzverschiebung auch dazu, dass im Rahmen des Art. 9 Abs. 3 GG Schrankenvorbehalte mobilisiert werden, deren Anwendung hochgradig problematisch ist. Es sei hier erneut auf den Rechtfertigungstatbestand „Bekämpfung der Massenarbeitslosigkeit“ in seinem gegenwärtig vom BVerfG verwandten Prüfprogramm verwiesen.473 Auch ist zu betonen, dass bei der hier vertretenen Sichtweise keine Schutzlücken im Grundrechtskatalog entstehen. Allein der Umfang dieses Schutzes wird in einer sachgerechten Weise der Systematik des Grundrechtskatalogs angepasst. Dabei werden dann auch die Grundrechtsgefährdungen vermieden, die sich durch das geradezu reflexartig wuchernde Schrankenregime ergeben. Im Ergebnis steht ein transparenteres, die sachlichen Schutzbereiche klar abgrenzendes System, das für Bürger wie Gesetzgeber die Gewährleistungsinhalte deutlich zu Tage treten lässt, dem Grundrechtskatalog auch besser zu Gesicht, als ein compositum mixtum aus verschiedensten Grundrechten, die in kaum überschaubarer oder vorhersehbarer Weise durch ein intransparentes Schrankenregime ihrer nur vorgeblichen Schutzfunktion beraubt werden. Insofern spricht vieles dafür, den Grundrechtsschutz von Gegenständen, die Inhalt des Arbeitsverhältnisses sein können und damit regelmäßig auch durch Tarifvertrag regelbar sind, allein über Art. 12 Abs. 1 GG laufen zu lassen.
471
So noch BVerfG 19.5.1992, NJW 1992, 2409 (2410). Auch hier ist auf das Erfordernis der Trennung zwischen Normsetzungs- und Regelungsbefugnis zu achten. Die erstere gehört zu den Kernelementen der Koalitionsfreiheit. 473 Vgl. dazu oben 2. Kap. B. I. 5. 472
C. Systematische Auslegung
269
IV. Die Koalitionsfreiheit als vorbehaltloses Grundrecht Für die Klärung des Verhältnisses von staatlicher und tariflicher Regelungsbefugnis ist auch die Schrankendogmatik zu Art. 9 Abs. 3 GG von Bedeutung. Dies wird insbesondere dann deutlich, wenn, in dem bereits oben dargestellten Reflex eines weit gefassten Tatbestandsverständnisses, die vorgeblich grundrechtsfreundlich gefassten Tatbestände unter Heranziehung exzessiv ausgestalteter Schrankenvorbehalte wieder gebändigt werden.474 Zu der in diesem Zusammenhang beispielhaften Konzeption des Rechtfertigungstatbestandes „Bekämpfung der Massenarbeitslosigkeit“ ist bereits das Notwendige gesagt475. Aber auch sonst ist, insbesondere nach Aufgabe der Kernbereichsrechtsprechung durch das BVerfG, im Schrifttum die Notwendigkeit erkannt worden, die grundrechtliche Gewährleistung im Verhältnis zum staatlichen Gesetzgeber in sachgerechte Bahnen zu lenken.476 Dabei wird teilweise die Gesetzgebungskompetenz aus Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG als Eingriffsrechtfertigung herangezogen477, teilweise ein Stufenmodell zur Eingriffsrechtfertigung478 durch die Konzeptionierung ungeschriebener einfacher Gesetzesvorbehalte479 entwickelt. All diese Konzepte entspringen der Einsicht, dass, jedenfalls mit Blick auf die tarifvertragliche Regelungsbefugnis, eine verfassungsrechtliche Fehlkonstruktion entsteht, wenn man diese in den Schutzbereich eines vorbehaltlos garantierten Grundrechts integriert.480 Der Widerspruch, der hier im Verhältnis zu Art. 12 Abs. 1 GG entsteht, ist bereits dargestellt worden.481 Die vorstehenden Ansätze suchen dann auch in größerem oder kleinerem Umfang Rechtfertigungspositionen heranzuziehen, die kein kollidierendes Verfassungsrecht sind, insbesondere deshalb, weil für Bagatelleingriffe die ursprüngliche schrankenlose Gewährleistung untauglich sei.482 An kaum einer Stelle in der Diskussion um die Schutzbereichsfassung wird so deutlich, wie disfunktional das Verständnis eines umfassenden Schutzes der tariflichen Regelungsbefugnis vor staatlicher Gesetzgebung ist. Denn die entsprechenden Aus474 Henssler hat sein Schrankenmodell, ZfA 1998, 1 ff., den Vorwurf von Hanau, FS Wiedemann, S. 283 (292, Fn. 9) eingebracht, er „schlachte“ die Tarifautonomie; vgl. allgemein zum Problem Rusteberg, S. 153, sowie oben 2. Kap. C. IV. 3. a). 475 Siehe oben 2. Kap. B. I. 5.; C. IV. 3. a). 476 Henssler, ZfA 1998, 1 ff.; Kamanabrou, RdA 1997, 22 (32). 477 Höfling, JZ 2000, 44 (46 f.); neuerdings aufgegeben, vgl. Höfling in: Sachs, GG, Art. 9 GG, Rn. 136. 478 Henssler, ZfA 1998, 1 (4 ff.); Wank, JZ 1996, 629 (630); ders., FS Kissel, S. 1224 (1228). 479 Kamanabrou, RdA 1997, 22 (32 f.). 480 Gellermann, Grundrechte im einfachrechtlichen Gewande, S. 165, löst dieses Problem über die Zuweisung der Regelungsbefugnis zur Grundrechtsausgestaltung, dazu unten 3. Kap. E. XII. 481 Siehe oben 3. Kap. C. III. 482 Kamanabrou, RdA 1997, 22 (32 f.); Lieb, FS Kraft, S. 343 (356 f.); Henssler, ZfA 1998, 1 (12).
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3. Kap.: Gewährleistungsgehalt des Art. 9 Abs. 3 GG
führungen sind nichts weiter als das Eingeständnis, dass das entsprechende weite Tatbestandsverständnis im Widerspruch zur Struktur der Koalitionsfreiheit als vorbehaltlos gewährleistetes Grundrecht steht. Dann erscheint es aber überzeugender, hieraus die notwendige Konsequenz zu ziehen. Dies bedeutet, dem Grundrecht sollte gar nicht erst ein Inhalt verliehen werden, der durch gewagte dogmatische Konstruktionen wieder gebändigt werden muss.483 Das gilt umso mehr, weil der hier abgelehnte Ansatz im Ergebnis keinen substanziellen Zugewinn an grundrechtlicher Freiheit zur Folge hat und der Gewährleistungsgehalt eines Grundrechts unvertretbar eingeschränkt zu werden droht.484 Hanau meint gar zugespitzt, die entsprechende Sichtweise „schlachte“ die Tarifautonomie.485 Auch wenn Friauf darauf hinweist, dass auch andere im Wirtschaftsleben bedeutsame Grundrechte über eine abgestufte Schrankendogmatik verfügen, spricht dies für die vorstehende Sichtweise. Denn wenn eine entsprechende Schrankenregelung wie sie in Art. 12 Abs. 1 GG enthalten ist fehlt, ist naheliegend, dass das Grundrecht nicht die gleichen Konfliktlagen produziert und eben nicht, dass man die Schrankendogmatik übertragen muss. Das bedeutet, die Konzeption des Art. 9 Abs. 3 GG als vorbehaltlos gewährleistetes Grundrecht macht im Verhältnis zu Art. 12 Abs. 1 GG nur dann Sinn, wenn man seinen Gewährleistungsgehalt nicht mit einer vorrangigen Regelungsbefugnis der Tarifvertragsparteien überlädt. Vielmehr liegt der Gewährleistungsgehalt des Art. 9 Abs. 3 GG in der prozeduralen Garantie eines Normsetzungsverfahrens zur Kompensation struktureller Unterlegenheit einer Vertragspartei. Die entsprechenden Ansätze stellen sich denn auch allesamt mehr als Transfer der Kernbereichsdogmatik in das Schrankensystem des Art. 9 Abs. 3 GG dar und sind insofern eher Problemlösungsansätze für den Rechtsprechungswandel des BVerfG als eigenständige dogmatische Konzepte. Im Kern sind alle diese Modelle abzulehnen soweit sie lediglich zum Ausdruck bringen, dass der grundrechtliche Schutzbereich mit Blick auf die tarifvertragliche Regelungsbefugnis überdehnt wurde.486 Keinesfalls kann von den entsprechenden Friktionen allerdings auf einen fehlenden Schutz der Betätigungsgarantie als solcher durch Art. 9 Abs. 3 GG geschlossen werden.487 Denn die Probleme entstehen durch den Umfang dieses Schutzes und nicht durch seinen Bestand. Es wird im Schrifttum mit Recht darauf hingewiesen, dass der Konflikt 483 Vor diese beiden Alternativen sieht Henssler, ZfA 1998, 1 (8), die Dogmatik zur Betätigungsgarantie ganz grundsätzlich gestellt. Dies ist richtig, wenn man nach den jeweiligen Gewährleistungsinhalten differenziert, was Henssler in der Folge auch tut, vgl. Henssler, ZfA 1998, 1 (14). 484 Hanau, FS Wiedemann, S. 282 (292, Fn. 9). 485 Hanau, FS Wiedemann, S. 282 (292, Fn. 9). 486 Gellermann, Grundrechte im einfachrechtlichen Gewande, S. 164 ff. 487 So die Annahme Burkiczaks, Grundgesetz und Deregulierung des Tarifvertragsrechts, S. 291.
C. Systematische Auslegung
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zwischen staatlicher und tarifvertraglicher Regelung von Arbeitsbedingungen eben dogmatisch etwas anderes ist als die sonstige Grundrechtsausübung.488 Für den Arbeitskampf und die tarifvertragliche Normsetzungsbefugnis sind Probleme einer umfassenden Sichtweise nicht zu belegen. Hier wird regelmäßig der Abgleich mit bestehenden kollidierenden Grundrechtspositionen des tariflichen Gegenspielers sachgerechte Ergebnisse produzieren. Eine schrankenlose Betätigungsgarantie liegt damit im Gegensatz zur Annahme Hensslers durchaus innerhalb der Schutzzwecke des Art. 9 Abs. 3 GG.489 Nur darf diese nicht mit Inhalten aufgeladen werden, die dem Schutzzweck der Norm entgegenstehen. Dies ist aber im Einzelfall auf der Ebene des Schutzbereichs festzustellen. Ansonsten ist bei der klassischen Schrankenlehre zu bleiben, die insbesondere für natürliche Betätigungsformen wie dem Arbeitskampf oder bereits abgeschlossenen Tarifverträgen einen erhöhten verfassungsrechtlichen Schutz gewährt. Ohne die Konstruktion zusätzlicher Schrankenvorbehalte bleiben diese operationalisierbar. Konsequenz ist damit ein effektiverer Grundrechtsschutz. Es werden dann auch keine universell einsetzbaren Allzweckrechtfertigungen geschaffen, die ohne größeren Begründungsaufwand zur Destruktion der gesamten Grundrechtsgewährleistung eingesetzt werden können. Dies vor allem dann, wenn sie unter nur begrenzt konturierten Kontrollmaßstäben eingesetzt werden, die eine erhebliche Anfälligkeit für Zugriffe auch auf den grundrechtlichen Kernbereich aufweisen.490 Letztere Konstruktionen erscheinen als Wechsel auf den zukünftigen sachgerechten Gebrauch durch die Rechtsprechung bedenklich. Transparente und klar konturierte Modelle auf Tatbestands- wie Rechtfertigungsseite, wie sie beispielweise bei der negativen Koalitionsfreiheit bestehen, verhindern demgegenüber, dass durch die Ausweitung bestehender und die Generierung neuer Rechtfertigungstatbestände nachgesteuert werden muss. Sie lassen schließlich auch die Grenzen der Zulässigkeit staatlichen Handelns deutlicher erkennen. Auch dies spricht für eine sorgfältige Bestimmung des grundrechtlichen Schutzbereichs und dagegen, die grundrechtlichen Probleme ausschließlich über die Rechtfertigungsebene zu lösen. Die Koalitionsfreiheit ist damit, soweit ihr Schutzbereich reicht, vorbehaltlos gewährleistet und kann nur durch kollidierendes Verfassungsrecht eingeschränkt werden. Die ausufernde Konstruktion zusätzlicher Schrankenvorbehalte ist abzulehnen.491
488 Oetker, ZG 1998, 155 (164), Sondersituation, die durch eine alleinige Fixierung an der Dogmatik des Grundrechtseingriffs nicht sachgerecht bewältigt werden kann. 489 Henssler, ZFA 1998, 1 (5); kritisch hierzu Hanau, FS Wiedemann, S. 283 (292, Fn. 9). 490 Vgl. für einen solchen zumindest als Fehlgebrauch zu bezeichnenden Exzess ArbG Chemnitz 5.10.2007, AuR 2007, 393; zur nachgehenden Entscheidung des LAG Sachsen, 2.11.2007, NZA 2007, 59 ff., vgl. Greiner, LAGE Art. 9 GG, Arbeitskampf Nr. 80.
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3. Kap.: Gewährleistungsgehalt des Art. 9 Abs. 3 GG
V. Die Bedeutung der EMRK Aus Art. 11 EMRK lassen sich mit Blick auf die Koalitionsfreiheit aus Art. 9 Abs. 3 GG nur begrenzt Interpretationshilfen gewinnen. Zwar erkennt auch der EGMR an, dass den Koalitionen zur Wahrnehmung der Interessen ihrer Mitglieder Möglichkeiten zur Verfügung stehen müssen.492 Damit ist zwar eine Betätigungsgarantie durch den EGMR anerkannt. Unzulässig werden Eingriffe aber nur dann, wenn der Staat die Interessenwahrnehmung der Gewerkschaften gezielt behindert. Der EGMR weist dem Schutzbereich des Art. 11 EMRK also nicht konkrete Schutzgegenstände zu, sondern stellt auf die Wirkungen ab, die staatliche Maßnahmen auf die Interessenwahrnehmung haben. Daher hat der EGMR den Streik nicht als unmittelbar durch Art. 11 EMRK geschützt angesehen, sondern erst vermittelt über die Interessenwahrnehmung, die er ermöglicht.493 Insofern ist der Erkenntnisgewinn aus der EMRK begrenzt. Allerdings ist ebenso deutlich, dass die EMRK einem Verständnis, das die Koalitionen selbst nicht als von der Koalitionsfreiheit geschützt ansieht, ebenso entgegensteht wie der Annahme, eine Betätigungsgarantie fehle.494 Vor dem Hintergrund, dass die Aufnahme des Art. 11 EMRK vor allem aus der Erkenntnis gewonnen wurde, dass die Entstehung undemokratischer Herrschaftsformen regelmäßig mit Einschränkungen der Koalitionsfreiheit einhergeht, ist aber darauf hinzuweisen, dass damit die Koalitionsfreiheit eine Rückversicherung auch durch das Demokratieprinzip erfährt.495 Der Umfang der aus Art. 11 EMRK erwachsenden Garantien ist durch die Rückkopplung an das Ziel der Interessenwahrnehmung weiterhin unpräzise. Konkreter wird hingegen Art. 8 Abs. 1 lit. c) des Internationalen Paktes über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte (IPWSKR)496, den nicht nur die Bundesrepublik Deutschland, sondern auch sämtliche Mitgliedstaaten der EU ratifiziert haben.497 Dieser sieht „das Recht der Gewerkschaften, sich frei zu betätigen, wobei nur solche Einschränkungen zulässig sind, die gesetzlich vorgesehen und in einer demokratischen Gesellschaft im Interesse der nationalen Sicherheit oder der öffentlichen Ordnung oder zum Schutz der Rechte und Freiheiten ande491 Dieterich in: ErfK, GG, Art. 9 GG, Rn. 49; Engels, Verfassung und Arbeitskampfrecht, S. 193; Jacklowsky, NZA 2001, 644 (646). 492 EGMR 25.4.1996 (Gustaffsson/Schweden), ArbuR 1997, 408 (409); Bröhmer in: Grote/Marauhn, EMRK/GG Konkordanzkommentar, Kap. 19, Rn. 101. 493 EGMR 10.1.2002 (Unison/Vereinigtes Königreich), ÖJZ 2003, 276 ff. 494 Fahrtmann/Coen in: Benda/Maihofer/Vogel, Handbuch des Staatsrechts, § 19, Rn. 12; Grabenwarter, Europäische Menschenrechtskonvention, § 23, Rn. 77, m.w. N. 495 Vgl. zur Entstehung des Art. 11 EMRK, Fahrtmann/Coen in: Benda/Maihofer/ Vogel, Handbuch des Staatsrechts, § 19, Rn. 12. 496 Internationaler Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte vom 19.12.1966, BGBl. II 1973, 1570 ff. 497 Zur europarechtlichen Dimension vgl. Temming, ZESAR 2008, 231 (239).
C. Systematische Auslegung
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rer erforderlich sind“ vor. Dass die Bundesrepublik Deutschland das Abkommen ratifiziert hat, spricht zumindest dafür, den Pakt als Interpretationshilfe heranzuziehen.498 Allerdings ist dies ähnlichen Bedenken ausgesetzt wie die Heranziehung des Staatsvertrags über die Schaffung einer Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion.499 Eine Betätigungsgarantie ist hier aber ausdrücklich enthalten.500
VI. Die Bedeutung der Charta der Grundrechte der Europäischen Union Auch die Charta der Grundrechte der Europäischen Union enthält mit Art. 12 Abs. 1 eine Betätigungsgarantie der Koalitionen.501 Diese wird durch Art. 28 der Charta konkretisiert, der ein Recht auf Kollektivverhandlungen und Kollektivmaßnahmen gewährt. Allerdings ist der Anwendungsbereich auf Maßnahmen der Mitgliedstaaten bei der Durchführung des Rechts der Europäischen Union (Art. 51) beschränkt. Er gilt nicht im Rahmen von deren autonomen Handeln.502 Es stellt sich allerdings die Frage, ob nicht auch hier die Charta jedenfalls mit Blick auf die Betätigungsgarantie in Art. 9 Abs. 3 GG als Interpretationshilfe herangezogen werden kann. Auch hier bestehen aber mit Blick auf die Normenhierarchie Bedenken.503
VII. Europäische Sozialcharta Auch die Europäische Sozialcharta (ESC) hat für das deutsche Koalitionsrecht durchaus seine Bedeutung, wobei nach wie vor umstritten ist in welchem Umfang.504 Das BAG hat sie zuletzt jedenfalls als Auslegungshilfe betrachtet.505 Allerdings ist zu konstatieren, dass die Bindungswirkung der ESC für die Verfassungsinterpretation zweifelhaft ist. Sie ist wie alle sonstigen völkerrechtlichen Abkommen ähnlichen Bedenken ausgesetzt wie der Staatsvertrag über die Schaffung einer Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion. Die ESC streitet aber für 498 Für eine stärkere Berücksichtigung internationaler Abkommen insbesondere Fahrtmann/Coen in: Benda/Maihofer/Vogel, Handbuch des Staatsrechts, § 19, Rn. 11 ff. 499 Siehe oben 3. Kap. B VI. 500 Fahrtmann/Coen in: Benda/Maihofer/Vogel, Handbuch des Staatsrechts, § 19, Rn. 13. 501 Bernsdorff in: Meyer, Charta der Grundrechte der Europäischen Union, Art. 12, Rn. 17; Mann in: Heselhaus/Nowak, Handbuch der europäischen Grundrechte, § 28, Rn. 9. 502 Dazu ausführlich Ladenburger in: Tettinger/Stern, Europäische Grundrechtecharta, Art. 51, Rn. 5 ff. 503 Siehe oben 3. Kap. B VI. 504 Vgl. dazu ausführlich Bepler, FS Wissmann, S. 97 ff. 505 BAG 19.6.2007, NZA 2007, 1055 ff.
274
3. Kap.: Gewährleistungsgehalt des Art. 9 Abs. 3 GG
die Annahme einer Betätigungsgarantie, auch wenn auch hier der Umfang vage bleibt.506
VIII. Fazit Aus der Systematik des Grundgesetzes und des Art. 9 Abs. 3 GG lässt sich eine Vorranggarantie der Koalitionen gegenüber der staatlichen Gesetzgebung nicht herleiten. Dies gilt maßgeblich für das Subsidiaritätsprinzip, das weder verfassungsrechtlich verankert ist, noch in seinen Anwendungsvoraussetzungen auf die Tarifautonomie greift. Auch mit Blick auf die Gesetzgebungskompetenz aus Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG und die Verankerung der Berufsfreiheit in Art. 12 GG lässt sich aus der Systematik ein Verständnis nicht stützen, das die tarifautonome Regelungsbefugnis als vorrangig gegenüber der staatlichen Gesetzgebung begreift. Aus Art. 9 Abs. 3 S. 2 GG ergibt sich jedenfalls keine Beschränkung oder Infragestellung der Betätigungsgarantie der Koalitionen. Für die Ableitung von deren Reichweite kann er aber nur begrenzt herangezogen werden. Auch EMRK, Charta der sozialen Grundrechte und ESC stützen zwar die Annahme einer Betätigungsgarantie. Ob man sie aber für weiterreichende Aussagen heranziehen kann, erscheint zweifelhaft. Insgesamt spricht die Systematik eher für ein Verständnis im Sinne des Kompetenzparallelismus, insbesondere mit Blick auf Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG.
D. Teleologische Auslegung Im Rahmen der Koalitionsfreiheit wird die Diskussion weitestgehend über teleologische Gesichtspunkte geführt. Will man das Verhältnis von tariflicher und gesetzlicher Regelungsbefugnis klären, so ist es erforderlich, sich zunächst über den Inhalt der Betätigungsgarantie als solcher zu vergewissern. Dabei ist allerdings eine strikte Trennung der Normsetzungsbefugnis und der Regelungsbefugnis erforderlich, die für die Klärung des Gewährleistungsgehalts letztendlich auch entscheidend ist. Beide Fragen werden im Schrifttum teilweise nicht hinreichend differenziert.
I. Die Kompensation struktureller Unterlegenheit Die Auslegung der Koalitionsfreiheit hat sich in erster Linie an Sinn und Zweck der Freiheitsgewährleistung zu orientieren. Dabei ist mit Blick auf die oben stehenden Ausführungen zu den grundrechtlichen Tatbestandstheorien darauf zu verweisen, dass diejenige Auslegung zu bevorzugen ist, die dem entsprechenden Zweck am ehesten Rechnung trägt, womit dieser auch definiert, was als 506 Fahrtmann/Coen in: Benda/Maihofer/Vogel, Handbuch des Staatsrechts, § 19, Rn. 13.
D. Teleologische Auslegung
275
Freiheit im Sinne der Vorschrift anzusehen ist. Ergebnisse, die den Zweck der grundrechtlichen Gewährleistung konterkarieren bzw. mit dessen Schutzkonzept nicht vereinbar sind,507 auch wenn sie formal den Schein erwecken, ein „Mehr“ an grundrechtlicher Gewährleistung zu enthalten, sind abzulehnen. Dies gilt insbesondere dann, wenn sie unter dem Postulat grundrechtsfreundlicher Auslegung freiheitsfeindliche Ergebnisse produzieren. 1. Die Tarifautonomie als Selbstaufhebungsnorm? Mit Blick auf die Tarifautonomie entsteht eine solche Konstellation, wenn man davon ausgeht, dass diese vor der konkurrierenden staatlichen Regelung von Gegenständen, die auch Inhalt des Tarifvertrags sein können, schützt. Denn die Tarifautonomie, soweit sie die Normsetzungsbefugnis der Koalitionen betrifft, dient der Herstellung von materieller privatautonomer Freiheit. Erst durch die kollektive Ausübung von Marktmacht entsteht für die Arbeitnehmer die Möglichkeit, ihre Arbeitsverhältnisse ohne einseitigen Zwang des Arbeitgebers selbstbestimmt mitzugestalten.508 Die Tarifautonomie wie das geltende Arbeitsrecht insgesamt stellen damit prinzipiell keine Gegenposition zur Privatautonomie dar, sondern stellen Hilfsmittel zu ihrer Verwirklichung bereit.509 Plastisch formuliert das BVerfG: „Tarifautonomie ist darauf angelegt, die strukturelle Unterlegenheit der einzelnen Arbeitnehmer beim Abschluss von Arbeitsverträgen durch kollektives Handeln auszugleichen und damit ein annähernd gleichgewichtiges Aushandeln der Löhne und Arbeitsbedingungen zu ermöglichen.“ 510 Dass dieser Ausgangspunkt in tatsächlicher Hinsicht zutreffend ist, wurde bereits oben ausgeführt.511 2. Tarifautonomie als Herstellung von Privatautonomie Der Grundsatz, dass der freie Vertrag das Mittel zum Interessenausgleich zwischen den jeweiligen Parteien ist, deren aufeinander bezogenes Wirken mit der Vereinbarung „zum Ausgleich entgegengesetzter Interessen im Sinne des Richtigen führt“ 512, ist als solcher nicht in Frage gestellt. Allerdings ist im vorstehen507
Dieterich in ErfK, GG, Art. 9 GG, Rn. 36. BVerfG 26.06.1991, NJW 1991, 2549 (2551); ähnlich: BVerfG 4.7.1995, NZA 1995, 754 (755); ebenso Stein in: Kempen/Zachert, § 2, Rn. 88; Papier, Brennpunkte des Arbeitsrechts 2005, 5 (6); Säcker, Gruppenautonomie und Übermachtkontrolle im Arbeitsrecht, S. 236 f.; ders., ArbuR 1994, 1 (4); vgl. auch Lotmar, Der Arbeitsvertrag (2. Aufl.), S. 42 ff.; Söllner, AuR 1966, 257; Weber, Rechtssoziologie, S. 170. 509 Gast, FS Kissel, S. 249 (253); ders., BB 1990, 1637 ff. 510 BVerfG 26.06.1991, NJW 1991, 2549 (2551); ähnlich: BVerfG 4.7.1995, NZA 1995, 754 (755). 511 Siehe oben 2. Kap. D. 512 Kittner, FS Kissel, S. 497; Gast, BB 1990, 1637 ff.; Schmidt-Rimpler, FS Nipperdey, S. 1 (6). 508
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3. Kap.: Gewährleistungsgehalt des Art. 9 Abs. 3 GG
den Satz eine Einschränkung seines Geltungsumfangs enthalten. Der Vertrag muss „frei“ sein. Er setzt die Interaktion freier und gleicher Vertragspartner voraus.513 Eben dies ist im Arbeitsrecht aufgrund der strukturellen Unterlegenheit der Arbeitnehmer nur eingeschränkt der Fall. Die arbeitsrechtlichen Korrekturmodelle sind damit im Kern nicht gegen die Vertrags-„Freiheit“ gerichtet. Sie zielen darauf ab, dass das Wesen des Vertrags auch im Arbeitsrecht zur Geltung kommen kann.514 Die Tarifautonomie ist ihrem historischen Entstehungsprozess nach darauf gerichtet, aus dem Arbeitsvertrag einen wirklich freien Vertrag werden zu lassen.515 Die Tarifautonomie ist damit kein Widerspruch zur, sondern verwirklichte Privatautonomie, weil sie ein Freiheitsdefizit systemimmanent auszugleichen sucht.516 Sieht man die historische Entwicklung, erweist sie sich sogar als Element, das die Aufrechterhaltung der Privatautonomie in der Weimarer Zeit mitgesichert hat. Diese Erkenntnis ist von eminenter Bedeutung, gerade in einer Zeit, in der die Vertragsfreiheit einerseits und die Tarifautonomie andererseits als konfliktträchtig aufeinander bezogene Prinzipien gewertet werden.517 Dieses Verständnis missachtet die Privatautonomie. Denn die Tarifautonomie ist keine gegenläufig zur Privatautonomie gerichtete Verfassungsgarantie. Sie ist ein Element zur Verwirklichung privatautonomer Ordnung des Arbeitsmarktes. Sie ist prozedurales Instrument zur Erreichung von den Prinzipien der Privatautonomie genügenden Verträgen und dient damit der „Sicherung der Vertragsfreiheit“.518 Sie ergänzt diese um ein den Verhandlungsprozess effektuierendes Element der Freiheitssicherung. 3. Tarifautonomie als Grundrecht mit Zweckbindung Allerdings ist mit dieser Sichtweise auch eine wichtige Weichenstellung erfolgt, die bisweilen übersehen wird. Es macht nämlich einen Unterschied, ob man annimmt, dass die Tarifautonomie dem einzelnen Bürger eigennützig zur Verfügung gestellt wird, damit er versuchen kann, durch kollektive Organisation seine strukturelle Unterlegenheit zu überwinden519, oder ob man richtigerweise
513
Gast, BB 1990, 1637 (1639); Kittner, FS Kissel, S. 497 (498). Gast, BB 1992, 1634 (1636); Heinze, NZA 1991, 329 (331). 515 Arnold, Betriebliche Tarifnormen und Außenseiter, S. 240 ff.; Picker, GS Knobbe-Keuk, S. 879 (886 ff.); Richardi, FS Konzen, S. 791 (792). 516 Arnold, Betriebliche Tarifnormen und Außenseiter, S. 242; Dorndorf, FS Kissel, S. 139 (142); Gast, BB 1990, 1637 (1639); ders., BB 1992, 1634 (1636). 517 Vgl. dazu Kempen, NZA Beil. Heft 3/2000, 7 ff. 518 Richardi, FS Konzen, S. 790 (792); Heinze, NZA 1991, 329 (331). 519 Bayreuther, Tarifautonomie als kollektiv ausgeübte Privatautonomie, S. 59; Dieterich, FS Schaub, S. 117 (131); Schaub, RdA 1995, 65 (67). 514
D. Teleologische Auslegung
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davon ausgeht, die Tarifautonomie sei gewährleistet, damit die strukturelle Unterlegenheit auch tatsächlich überwunden wird. Nach dem ersteren Verständnis ist die Kompensation nicht mehr der Zweck des Grundrechts sondern seine Folge. Das aber ist mit dem zutreffenden Verständnis des BVerfG und der h. M. nicht vereinbar, dass die Tarifautonomie darauf angelegt ist, die strukturelle Unterlegenheit des Arbeitnehmers zu kompensieren,520 mithin ein Instrument mit einer Zweckbindung ist. Ein „versuchen können“ 521 greift demgegenüber zu kurz, auch und gerade mit Blick auf die Privatautonomie. Denn es ist auch im Rahmen von staatlichen Schutzpflichten nicht ausreichend, dass jemand „versuchen kann“ strukturelle Unterlegenheit zu kompensieren.522 Die tatsächliche Verwirklichung des Schutzzwecks steht nicht zur Disposition des Staates. Von daher ist zu konstatieren, dass die Tarifautonomie gerade nicht sichert, dass die Tarifvertragsparteien eine möglichst weitgehende Regelungsbefugnis haben. Dies würde ihrem Schutzzweck und ihrer Entstehungsgeschichte vielmehr zuwiderlaufen, soweit es einseitig zwingendes Gesetzesrecht betrifft.523 Wo die Verwirklichung materieller Vertragsfreiheit Ziel und Geltungsgrund eines Grundrechts ist, ist eine Betrachtungsweise, die die Verwirklichung des Ziels des Grundrechts durch den Staat als Beschränkung ebendieses Grundrechts begreift, nicht überzeugend. 4. Vorrangige Regelungsbefugnis als Widerspruch zu Sinn und Zweck der Tarifautonomie Damit wird aber auch deutlich, dass aufgrund der Funktion der Tarifautonomie als Systemkorrektur kein eigenständiges System der Vertragsgestaltung aufläuft, soweit die Tarifvertragsparteien Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen regeln. Sie 520 BVerfG 23.11.2006, NJW 2007, 286 (287 f.); BVerfG 26.06.1991, NJW 1991, 2549 (2551); ähnlich: BVerfG 4.7.1995, NZA 1995, 754 (755); BAG 19.6.2007, NZA 2007, 1055 (1057); BAG 28.3.2006, NZA 2006, 1112 (1116); BAG 17.2.1998, NZA 1998, 754 (756); vgl. auch Arnold, Betriebliche Tarifnormen und Außenseiter, S. 239; Bayreuther, Tarifautonomie als kollektiv ausgeübte Privatautonomie, S. 58; Dorndorf, FS Kissel, S. 139 (140 ff., 146 ff.); Fechner, RdA 1955, 161 (164); Friese, Kollektive Koalitionsfreiheit und Betriebsautonomie, S. 250; Gast, BB 1990, 1637 (1641); Hönn, Kompensation gestörter Vertragsparität, S. 192 f.; Kempen in: Kempen/Zachert, TVG, § 2, Rn. 34; Kittner, FS Kissel, S. 497 (513 ff.); Oppolzer, ArbuR 1998, 45 (48); Schubert, RdA 2001, 199 (206); Vaupel, Die Kompensation von Ungleichgewichtslagen im Arbeits- und Verbraucherrecht, S. 52 ff.; Witt, Der Firmentarifvertrag, S. 144; Säcker, Gruppenautonomie und Übermachtkontrolle im Arbeitsrecht, S. 95; Zachert, ArbuR 2002, 41 ff.; zu den historischen Zusammenhängen vgl. Dorndorf in: Die Entstehung des Arbeitsrechts in Deutschland, S. 231, 244 und passim; zusammenfassend Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht, Bd. I, S. 3 ff.; zu den Begründungsansätzen bei Sinzheimer und Lotmar vgl. Zachert, RdA 2004, 1 ff. 521 Bayreuther, Tarifautonomie als kollektiv ausgeübte Privatautonomie, S. 59. 522 Ebenso wenig wie es ausreicht, dass jemand „versuchen kann“ zu überleben, damit den staatlichen Schutzpflichten aus Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG Rechnung getragen ist. 523 Friese, Kollektive Koalitionsfreiheit und Betriebsverfassung, S. 250.
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3. Kap.: Gewährleistungsgehalt des Art. 9 Abs. 3 GG
folgen dabei exakt den Grenzen der Privatautonomie, wie sie sich aus Art. 12 Abs. 1 GG bzw. Art. 2 Abs. 1 GG ergeben unter Gebrauch einer eigenständigen in Art. 9 Abs. 3 GG verankerten Normsetzungsbefugnis. Die Tarifautonomie ist keine Privatautonomie eigener Art soweit es die Regelungskompetenz betrifft. Daher unterliegt sie grundsätzlich auch den gleichen Gesetzesbindungen wie der privatautonome Arbeitsvertrag.524 Dementsprechend kommt tariflichen Regelungen auch kein privilegierter Sonderstatus gegenüber dem staatlichen Recht zu. Die Tarifvertragsparteien haben demnach keine grundrechtliche Schutzposition, die umfassen würde, ohne staatliche Sonderermächtigung Regelungen zu treffen, die nicht auch den Arbeitsvertragsparteien theoretisch gestattet sind525. Sie können demnach entgegen der Rechtsprechung des BAG526 auch keine gesetzlichen Ansprüche per Ausschlussfrist antasten527 und haben keinen Sonderstatus bei der Rechtskontrolle. Der Tarifvertrag ist hinsichtlich seiner Regelungen, nicht aber seiner Rechtswirkungen, ein normaler Vertrag, soweit das Gesetz nichts anderes vorsieht, wie dies eben im tarifdispositiven Recht der Fall ist. Das ist die Folge der nicht vom Staat stammenden Normsetzungsbefugnis, auch wenn diese zum Zwecke der Erfüllung staatlicher Verpflichtungen gewährleistet wird. Eine das staatliche Recht überschreitende Rechtsmacht der Tarifvertragsparteien ist auf Basis eines legitimatorischen Ansatzes ebenso wenig zu begründen wie bei einer vom Staat abgeleiteten Befugnis.528 Allerdings ist es durchaus mit der Tarifautonomie vereinbar, wenn der Staat die Effektivität des Normsetzungsprozesses durch flankierende Regelungen abstützt.529 Dies hat aber mit der hier in Rede stehenden Regelungsbefugnis nichts zu tun. Soweit die Tarifautonomie als ein Grundrecht, das in erster Linie auf die Gewährleistung eines Verfahrens privatautonomen Interessenausgleichs gerichtet ist, verstanden wird, wird also ihre Zielsetzung sachgerecht verwirklicht, ohne dass grundrechtliche Schutzlücken entstehen. Zur Kompensation struktureller Unterlegenheit bedarf es eines Schutzes der Tarifvertragsparteien vor einseitig zwingender staatlicher Rechtsetzung nicht. Vielmehr steht ein solches Verständnis ihrem Sinn und Zweck entgegen.
524 525 526 527 528
In diesem Sinne auch Richardi, NZA 2008, 1 (4). Richardi, NZA 2008, 1 (4). BAG 16.1.2001, NZA 2002, 746. Preis, ZIP 1989, 885 (891). Vgl. zu den Theorien zur Begründung der Normsetzungsbefugnis unten 5. Kap.
B. III. 529
Und beispielsweise zulässt, dass Betriebsnormen auch für Außenseiter gelten.
D. Teleologische Auslegung
279
5. Die Tarifautonomie als dienende Freiheit530 Dass der Tarifautonomie die intendierte Kompensationsleistung bisweilen nicht gelingt und aufgrund der sich rapide verändernden Arbeitswelt und dem sukzessiven Wandel und Abbau klassischer industrieller Strukturen immer weniger gelingen wird, ist allerdings ebenso anzuerkennen. Sie ist zwar als Instrument zur Gewährleistung von materieller Vertragsfreiheit unverzichtbar. Alleine herstellen kann sie diese aber nicht. Sieht man mit dem BVerfG die historische Entwicklung des Grundrechts der Koalitionsfreiheit als ein wesentliches Auslegungselement an531, so kommt man um eine Berücksichtigung des historischen Zwecks der Tarifautonomie auch unter veränderten ökonomischen Rahmenbedingungen nicht herum. Aber auch die „neuen“ Freiheitsdefizite des Individualarbeitsvertrags lassen die strukturelle Unterlegenheit des Arbeitnehmers nicht entfallen.532 Letztendlich kann ihre Begründung ohnehin weniger in den aktuellen sozialen Verhältnissen als vielmehr in den Eigenheiten des Arbeitsvertrags, die unabhängig von historischen Rahmenbedingungen bestehen, liegen. Sofern in der Literatur immer wieder ein Gegensatz von Kollektivgewalt und Individualwille bemüht wird, verkennt dies die freiheitsgewährleistende Funktion der Tarifautonomie.533 Dass einzelne ihrer gegenwärtigen Erscheinungsformen an diesem Maßstab überprüft werden können und dürfen, ist dieser Funktion allerdings ebenso immanent. Allerdings darf auch nicht verkannt werden, dass die Tarifautonomie nicht nur durch die Austrittsfreiheit der Koalierten aus ihren Verbänden ein erhebliches Instrumentarium zur Sicherung der individuellen Interessen der Mitglieder beinhaltet. Dies gilt insbesondere in Ansehung der zunehmenden Gründung von Spartengewerkschaften, die unabhängig davon, ob dies tatsächlich die Ursache ihrer Bildung ist534, jedenfalls eine Option für die Wahrnehmung von Minderheitsinteressen bieten. Nicht nur hierdurch bestehen systemimmanente Mechanismen, die dafür sorgen, dass die Tarifautonomie im Dienste der Selbstbestimmung von Individuen steht.535 Wenn das Ziel der Tarifautonomie die Gewährleistung eines freien, im Sinne der Gewährleistung eines „richtigen“ Vertragsschlusses ist, muss sich ihr Verhältnis zum staatlichen Recht auch an diesem Ziel messen lassen. Dass die Tarifautonomie ein Versprechen des „richtigen Vertrages“ ist, bedeutet nicht, dass sie die-
530 Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht, Bd. 1, § 7 1. e) (1), S. 293; vgl. dazu auch 3. Kap. E. IV. 531 BVerfG 1.3.1979, NJW 1979, 699 (708). 532 Vgl. dazu oben 2. Kap. D. II. 533 Dazu Gast, BB 1990, 1637 (1639). 534 In der Literatur wird hier eher „Gruppenegoismus“ attestiert, Greiner, NZA 2007, 1023 (1024). 535 Dorndorf, FS Kissel, S. 139 (153); Gast, BB 1990, 1637 ff.
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3. Kap.: Gewährleistungsgehalt des Art. 9 Abs. 3 GG
ses auch einhalten kann.536 Sie ist als eine gesellschaftliche Antwort auf defizitäres staatliches Handeln entstanden und vom Staat als Ausgleichsinstrument von Freiheitsdefiziten im Individualarbeitsvertrag anerkannt. Ihrer Anerkennung ist damit aber eine Zweckbindung immanent537 oder, um mit Gamillscheg zu sprechen, sie ist eine „dienende Freiheit“.538 Verfehlt sie ihren Zweck oder ist die Tarifautonomie als Instrument zur Sicherung von Freiheit überfordert, lässt sich ein Vorrang der Tarifautonomie gegenüber der staatlichen Gesetzgebung nicht begründen.539 Die strukturelle Unterlegenheit hat in der Rechtsentwicklung schnell zu einer Kombination des Systems kollektiver Selbsthilfe mit gesetzlichen Schutzvorschriften geführt.540 Daran mag man kritisieren, dass sie ein individuelles Freiheitsdefizit auf kollektiver Ebene korrigiert.541 Dann muss man allerdings konsequenterweise die rein gesetzliche Korrektur befürworten.542
II. Der Schutz der tarifvertraglichen Normsetzungsbefugnis Der Ausgangspunkt für die Auslegung der Tarifautonomie, dass diese der Kompensation struktureller Unterlegenheit dient, hat auch erhebliche Konsequenzen für die Normsetzungsbefugnis der Tarifvertragsparteien. In neuerer Zeit wird die Tarifautonomie im zunehmenden Maße als kollektiv ausgeübte Tarifautonomie verstanden. Bei diesem Verständnis wird überwiegend das privatautonome Element des Tarifvertrags betont. Auf die Überzeugungskraft dieses Ansatzes, der maßgeblich mit Blick auf die Grundrechtsbindung der Tarifvertragsparteien vertreten wird, soll an dieser Stelle noch nicht ausführlich eingegangen werden.543 Zutreffend betont er allerdings den engen Bezug der Tarifautonomie zur Privatautonomie. 1. Tarifautonomie als prozedurale Korrektur der Privatautonomie Die Tarifautonomie sorgt dafür, dass im Bereich der Vertragsbeziehungen zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern ein funktionierender Vertragsmechanismus zur Verfügung steht. Sie führt dazu, dass im Bereich des Arbeitsrechts eine 536
Zur Richtigkeitsgewähr vgl. unten 6. Kap. „Kein Selbstzweck“, Houben, Die Rückwirkung von Tarifverträgen, S. 90; vgl. zur Anerkennung von über die „reine Selbstgenügsamkeit“ hinausgehende Zwecke, Rusteberg, Der grundrechtliche Gewährleistungsgehalt, S. 188. 538 Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht, Bd. 1, § 7 1. e) (1), S. 293; vgl. auch Dieterich in: ErfK, GG, Art. 9, Rn. 36, „Freiheit zu, nicht von etwas“. 539 Zu Funktionsdefiziten der Tarifautonomie vgl. unten 6. Kap. B. 540 Kittner, FS Kissel, S. 497 (500). 541 Picker, GS Knobbe-Keuk, S. 879 (920). 542 Diese Tendenz klingt bei Richardi, NZA 2008, 1(4), an. 543 Vgl. dazu unten 5. Kap. B. 3. 537
D. Teleologische Auslegung
281
privatautonome Regelung der Vertragsbeziehungen stattfinden kann. Die Tarifautonomie erweist sich damit als Systemkorrektur der Privatautonomie. Sie führt grundsätzlich dazu, dass ein Vertragsmechanismus etabliert wird, der die Chance544 für Ergebnisse bietet, die bei einem kontradiktorischen Interessenausgleich ohne strukturelle Unterlegenheit einer Vertragspartei erzielt werden. Damit wird aber auch deutlich, dass die Tarifautonomie in erster Linie eben als prozedurale Korrektur der Privatautonomie angelegt ist. Sie bezieht sich auf den Verhandlungsprozess zwischen den Vertragsparteien am Arbeitsmarkt. Diese prozedurale Sichtweise der Tarifautonomie, die sie auf ihren historischen Zweck, nämlich die Schaffung materieller Vertragsfreiheit zurückführt, bedarf keines Schutzes einer vorrangigen Regelungsbefugnis. Einer solchen Sichtweise stehen Sinn und Zweck der Tarifautonomie geradezu entgegen. Die Koalitionen sind nicht gebildet worden, um den Gesetzgeber im Bereich des Arbeitsrechts zu ersetzen oder zu verdrängen. Sie sind Reaktion auf staatliche Untätigkeit545, nicht Gegenreaktion auf staatliches Tätigwerden. Sieht man die Tarifvertragsparteien in erster Linie als autonome Normsetzer, deren Verhandlungsprozess unbeeinflusst von staatlichen Eingriffen, also insbesondere auch einer Zwangsschlichtung, stattfinden soll, so wird auch deutlich, dass die Tarifautonomie einer Regelungsbefugnis nur insoweit bedarf, als dass den Tarifvertragsparteien überhaupt Regelungsgegenstände zur Verfügung stehen müssen. Eine Sichtweise, die die Tarifvertragsparteien vor konkurrierender staatlicher Regelung schützt, ist bei diesem prozeduralen Verständnis nicht erforderlich. 2. Bedeutung der unmittelbaren und zwingenden Wirkung des Tarifvertrags Damit bedürfen die Tarifvertragsparteien zwingend einer Normsetzungsbefugnis. Denn geht man davon aus, dass ihr Geltungsgrund die Beseitigung struktureller Unterlegenheit einer Vertragspartei ist, so muss der Tarifvertrag unmittelbar und zwingend auf deren vertragliche Beziehungen einwirken. Ansonsten kann die Kompensationswirkung nicht eintreten. Insofern wird jedoch auch deutlich, dass eine in jüngerer Zeit zu erkennende Schwerpunktverschiebung im Bereich des Schutzes der tariflichen Normsetzungsbefugnis bedenklich ist. Diese sucht zunehmend die unmittelbare und zwingende Wirkung des Tarifvertrags als verfassungsrechtlich nicht oder lediglich abgeschwächt geschützt anzusehen.546 Diese Sichtweise ist mit Sinn und Zweck der Tarifautonomie unvereinbar.547 544
Vgl. dazu unten 6. Kap. Vgl. dazu 3. Kap. B. I. 1., II. 2. d), 3. 546 Vgl. zur Diskussion um die sogenannten „Betrieblichen Bündnisse“: Dieterich, RdA 2002, 1 ff.; ders., FS Wißmann, S. 114 ff. 547 Waltermann, FS Söllner, S. 1251 (1252). 545
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3. Kap.: Gewährleistungsgehalt des Art. 9 Abs. 3 GG
Würde man die zwingende Wirkung des Tarifvertrags zugunsten individualvertraglicher Abreden öffnen, so würde die Tarifautonomie ihren Zweck, nämlich die Kompensation struktureller Unterlegenheit, nicht mehr erfüllen.548 Bei der Eröffnung einzelvertraglicher Abweichungsbefugnisse vom Tarifvertrag wird nämlich die zu überwindende Ausgangslage, dass sich der Arbeitnehmer einer strukturell überlegenen Vertragspartei gegenübersieht, wiederhergestellt. Die zwingende Wirkung ist damit gerade in Ansehung des historischen Entstehungsprozesses der Tarifautonomie549 das tragende Kernelement der grundrechtlichen Gewährleistung der Tarifautonomie. Ohne sie kann die Tarifautonomie ihren Geltungsgrund nicht mehr verwirklichen. Die unmittelbare und zwingende Wirkung des Tarifvertrags sind existenzielle Inhalte der tariflichen Normsetzungsbefugnis.550 Sie gewährleisten die Herstellung von Privatautonomie durch die Koalitionen und sind damit grundlegende Funktionsvoraussetzungen des tarifautonomen Normsetzungsprozesses. Insofern verbietet sich auch bei einer Sichtweise, die die tarifliche Normsetzungsbefugnis der Ausgestaltungsgesetzgebung zuschlägt, jede Relativierung ihres Gehalts. Die Einbettung der Tarifautonomie in das System der Privatautonomie hat also eine Normsetzungsbefugnis zur Folge, die auf die Schaffung gesetzesgleich wirkender zwingender Schutzvorschriften gerichtet ist. Ohne diese kann keine Kompensationswirkung für die strukturelle Unterlegenheit bei Abschluss des Arbeitsvertrags eintreten. Daraus folgt auch, dass die unmittelbare und zwingende Wirkung des Tarifvertrags nicht durch eine Änderung des TVG verfassungskonform aufgehoben werden kann. Sie ist elementare Voraussetzung, damit die Tarifautonomie ihren Zweck erreichen kann.551 Wirft man den Arbeitnehmer auf den freien Vertragsschluss zurück, so verfehlt die Tarifautonomie ihren Geltungsgrund.552 Jede Relativierung oder Abschwächung dieser Prinzipien ist damit verfassungswidrig. Denn das gesamte Modell der Tarifautonomie – jedenfalls nach dem Verständnis, das der deutschen Verfassung zu Grunde liegt – hängt an der unmittelbaren und zwingenden Wirkung des Tarifvertrags.
548 549 550
Waltermann, FS Söllner, S. 1251 (1252). Vgl. dazu oben 3. Kap. B. I., II. Vgl. zur Entstehungsgeschichte der Tarifautonomie oben 3. Kap. B. I. 7., II. 2.
d), ff. 551 552
Waltermann, FS Söllner, S. 1251 (1252). Waltermann, FS Söllner, S. 1251 (1252).
E. Konsequenzen der Bestimmung des Gewährleistungsgehalts
283
E. Konsequenzen der Bestimmung des Gewährleistungsgehalts des Art. 9 Abs. 3 GG I. Tarifautonomie als prozedurale Korrektur gestörter Privatautonomie Nunmehr stellt sich die Frage, welche Folgerungen man aus der strukturellen Unterlegenheit des Arbeitnehmers für die Auslegung der Tarifautonomie zieht. Dass sie als verfahrensmäßiges Instrumentarium gewährleistet sein muss, ist eine Selbstverständlichkeit. Fraglich ist aber, ob sich auch für das Verhältnis von staatlicher und tarifvertraglicher Regelungsbefugnis Aussagen ergeben. Dass den Tarifvertragsparteien eine inhaltliche Gestaltungsmacht für das Arbeitsverhältnis verliehen werden muss und diese auch effektiv ausführbar sein muss, ist zwingend. Denn ohne eine solche Kompetenz fehlt es an der Möglichkeit der effektiven assoziativen Selbsthilfe. Allerdings lässt sich aus der strukturellen Unterlegenheit des Arbeitnehmers keine Aussage ableiten, diese müsse exklusiv oder gar vorrangig durch die Tarifvertragsparteien kompensiert werden. Mit Blick auf deren Tätigkeit kann der Gesetzgeber sich sicher in manchen Bereichen zurückhalten. Es stellt sich aber die Frage, ob er dies tun muss.553 Und dafür lassen sich mit Blick auf die strukturelle Unterlegenheit des Arbeitnehmers keine Argumente finden. Ganz im Gegenteil. Richardi reklamiert mit Recht das Erfordernis, den Arbeitnehmer bei unangemessen benachteiligenden Regelungen vor dem Tarifvertrag zu schützen.554 Für die strukturelle Unterlegenheit spielt das Medium, mittels dessen sie kompensiert wird, keine Rolle, solange es ohne Zwischenakte oder Bedingungen zur Kompensation führt. Bedeutsam ist aber, dass die Kompensationswirkung tatsächlich eintritt. Und hier ist die Tarifautonomie lediglich Antwort auf defizitäres staatliches Handeln. Die Tarifautonomie zielt nicht darauf ab, dass der Staat mit Blick auf die strukturelle Unterlegenheit von Arbeitnehmern untätig bleibt. Dies wäre widersinnig, ist doch die Kompensation struktureller Unterlegenheit einer ihrer Geltungsgründe. Die Tarifautonomie ist kein Selbstzweck555, sondern steht im Dienste der Verwirklichung effektiver Vertragsfreiheit. Sie ist also ein Instrument, um das Prinzip der Selbstbestimmung zu verwirklichen und deswegen auch keine Negation des Individualwillens.556 Wenn sich der Gesetzgeber selbst zu deren partieller Herstellung entschließt, spricht wenig dafür, dass die Tarifautonomie dem entgegensteht, solange sie nicht vollkommen als Gestaltungsinstrument verdrängt wird.557 Aus der strukturellen Un553 Des Weiteren stellt sich auch die Frage bis zu welchem Punkt der Staat sich hier überhaupt zurückhalten darf, vgl. dazu insbes. Kap. 8. 554 Richardi, NZA 2008, 1 (4). 555 Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht, Bd. I, S. 293. 556 Gast, BB 1990, 1637 (1639). 557 Zum Aushöhlungsschutz vgl. unten 3. Kap. E. VI.
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3. Kap.: Gewährleistungsgehalt des Art. 9 Abs. 3 GG
terlegenheit des Arbeitnehmers lässt sich jedenfalls die Exklusivitätstheorie nicht stützen und auch die Vorrangtheorien558 können aus ihr nur begrenzt argumentative Unterstützung beziehen. Im Übrigen wird die Notwendigkeit und Existenzberechtigung der Tarifautonomie durch das zwingende Gesetzesrecht nicht infrage gestellt. Denn so weitreichend legislative Kompensationsmodelle auch sein könnten, sie bleiben punktuelle Korrekturen, die auf bestimmte Vertragsinhalte bezogen sind. Sie können aber ein grundsätzliches Verhandlungsungleichgewicht primär nur in seinen Auswirkungen kompensieren, soweit sie nicht unmittelbar, vor allem durch Informationspflichten, auf das Vertragsverfahren einwirken. Demgegenüber wirkt die Tarifautonomie nicht punktuell auf einen konkreten Vertragsinhalt bezogen. Sie erfasst den gesamten Entstehungsprozess einer vertraglichen Vorschrift, mithin die prozeduralen Voraussetzungen für materielle Vertragsfreiheit. Dieser Unterschied spricht dafür, die Einflussnahme auf die Vertragsbeziehungen auch in der grundrechtlichen Gewährleistung der Tarifautonomie zu spiegeln: einerseits als Gewährleisung einer formellen Tarifvertragsfreiheit, die den vertraglichen Einigungsprozess im Sinne eines gerechten Interessenausgleichs steuert und dafür auf verfassungsrechtlich geschützte Instrumente wie den Streik und das Tarifvertragssystem zurückgreifen kann; andererseits als eine die Vertragsinhalte steuernde Gesetzgebung, die der punktuellen Ergebniskorrektur eines gestörten Vertragsmechanismus dient und unabhängig von der tarifvertraglichen Normsetzung zu betrachten ist und vor der diese auch nicht schützt. Es besteht kein zusätzliches Schutzbedürfnis für die Tarifautonomie, wenn sie prozedural geschützt die noch zu kompensierenden Freiheitsdefizite aufgreift. Dass der Staat parallel als Korrektiv wirkt, kann die Tarifautonomie nicht entwerten oder bedeutungslos machen. Denn eine flächendeckende Regulierung der denkbaren Inhalte von Tarifverträgen ist dem Gesetzgeber weder möglich noch von ihm intendiert. Ebenso wenig sind die Tarifvertragsparteien befähigt, sämtliche denkbaren Arbeitsvertragsgestaltungen im präventiven Sinne zu regulieren und dadurch die Privatautonomie der Arbeitnehmer zu sichern. Hier ist die Rechts- und Inhaltskontrolle auf Basis staatlicher zwingender Gesetzgebung ein sinvolles Instrumentarium, als Beispiel mag hier die AGB-Kontrolle dienen.559 Die defizitäre Fähigkeit des Gesetzgebers, überall hinreichende Kompensationsmodelle für Paritätsstörungen beim Arbeitsvertragsschluss bereitzustellen, macht die Anerkennung der Tarifautonomie als grundrechtlicher Gewährleistung notwendig. Denn auch der Gesetzgeber ist aufgrund der genannten punktuellen Struktur des zwingenden Gesetzesrechts von vorneherein stark auf die Kompensation von Ausflüssen der strukturellen Unterlegenheit des Arbeitnehmers beschränkt, während die Tarifautonomie die Privatautonomie des Arbeitnehmers bereits im Bereich der Vertragsentstehung zu sichern versucht. Sie ist prozedural auf die Ent558 559
Vgl. zu den jeweiligen Ansätzen oben 2. Kap. A. Vgl. dazu Preis in: ErfK, § 305–310 BGB, Rn. 42 ff.
E. Konsequenzen der Bestimmung des Gewährleistungsgehalts
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stehung der Vertragsbedingungen gerichtet. Versagt dieser Filter und lässt Ungleichgewichtslagen transparent für den Gesetzgeber zu Tage treten, wird dieser reagieren (müssen).560 Dies sichert aber ebenfalls, dass in dem fehlenden Schutz der Tarifvertragsparteien vor Regelungen des Gesetzgebers, die auch Inhalt von Tarifverträgen sein können, keine Beschränkung der Tarifautonomie liegt. Denn dort, wo die Tarifautonomie ihren Schutzzweck verwirklicht, schwindet der Anreiz zur Regulierung durch den Gesetzgeber. Dieses Verständnis liegt im Übrigen auch der Novellierung des Arbeitnehmerentsendegesetzes und des Gesetzes über Mindestarbeitsbedingungen zu Grunde.561 Auch hier bringt der Gesetzgeber zum Ausdruck, dass er – ohne dass eine verfassungsrechtliche Verpflichtung zur Zurückhaltung bei der Normsetzung im potenziellen Anwendungsbereich von Tarifnormen bestünde – eine überaus zurückhaltende Gesetzgebung betreibt.562 Im Übrigen führt die auf die strukturelle Unterlegenheit des Arbeitnehmers bezogene Komponente auch zu einer differenzierenden Betrachtungsweise des Grundrechtsschutzes mit Blick auf die Interessen der Allgemeinheit oder die Interessen Dritter. So bestünde nach der vorstehenden Betrachtungsweise auch kein Widerspruch zur Rechtsprechung des BVerfG, nach der die Regelung von Lohnabstandsklauseln563 oder die zweiseitig zwingende Regelung zur Befristung im Hochschulrahmengesetz564 als Eingriffe in die Tarifautonomie zu begreifen sind. Denn diese Regelungen ließen sich nicht auf den Schutz der Arbeitnehmer, sondern auf Drittinteressen stützen und waren konkret zur Steuerung des Äquivalenzverhältnisses oder Beseitigung bestehender tarifvertraglicher Regelungen konzipiert. Sie waren damit nicht als parallele Verwirklichung des Zwecks der Tarifautonomie gedacht, sondern verwirklichten externe Ziele, die jenseits der Verwirklichung von materieller Vertragsfreiheit lagen.565 In diesem Sinne könnten damit legislative Regelungen, die Drittinteressen betreffen, von solchen, die auf die Kompensation struktureller Unterlegenheit der Arbeitnehmer gerichtet sind, trennbar sein. Insofern spricht die Funktion der Tarifautonomie als prozedurale Korrektur der Privatautonomie für ein Verständnis, das sämtliche Verfahrensgarantien des Grundrechts, wie beispielsweise den Arbeitskampf, die Normsetzungsbefugnis oder die unmittelbare und zwingende Wirkung des Tarifvertrags als gewichtige Schützgüter der Tarifautonomie begreift. Die auf die Privatautonomie bezogene Funktion der Tarifautonomie spricht aber dagegen, ihr einen Schutzgehalt hin-
560
Vgl. dazu unten 5. Kap. und 6. Kap. B. Arbeitnehmer-Entsendegesetz vom 20. April 2009, BGBl. 2009 I, S. 799; Mindestarbeitsbedingungengesetz vom 22. April 2009 (BGBl. 2009, I, S. 818). 562 Sansone/Ulber, D., AuR 2008, 125 ff. 563 BVerfG 27.4.1999, NJW 1999, 3033. 564 BVerfG 24.4.1996, NJW 1997, 513. 565 Dieser Gedanke findet sich ähnlich bei Gast, BB 1990, 1637 (1640). 561
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3. Kap.: Gewährleistungsgehalt des Art. 9 Abs. 3 GG
sichtlich konkurrierender, einseitig zwingender staatlicher Regelungen zuzubilligen, die unmittelbar auf die Korrektur von Ungleichgewichtslagen im Rahmen des Verhandlungsprozesses oder deren Ergebnisse bezogen sind.
II. Kein Abwehrrecht gegen staatliche Mindestarbeitsbedingungen Gegen die vorstehende Sichtweise sprechen auch keine grundrechtsdogmatischen Überlegungen. Allein aus der Tatsache, dass es sich bei Art. 9 Abs. 3 GG um ein Grundrecht handelt566, lassen sich keine Argumente für oder gegen die Auslegung des Gewährleistungsgehalts ziehen. Dies gilt auch nicht mit Blick auf die Frage der grundrechtlichen Tatbestandstheorien. Es erscheint wenig überzeugend, einen Schutz der tariflichen Regelungsbefugnis damit zu begründen, es handele sich bei der Tarifautonomie um ein Grundrecht. Dies verkürzt selbst dann, wenn man sich generell auf ein weites Verständnis grundrechtlicher Gewährleistungen stützt zu stark die Bedeutung der Grundrechtsauslegung. Der Verweis auf die Tatsache, dass es sich um ein Grundrecht handelt, entbindet nicht von der Auslegung der Vorschrift und spricht auch nicht per se für eine möglichst weite Tatbestandssichtweise567. In jedem Fall aber sperrt sie nicht das Argument, dass Sinn und Zweck eines Grundrechts einer bestimmten Garantie entgegenstehen. Dies gilt insbesondere dann, wenn ein Grundrecht Besonderheiten aufweist, die einen sensiblen Umgang mit der grundrechtlichen Garantie erfordern.568 Dies ist bei der Tarifautonomie, die ein kontradiktorisches Verfahren zur Herstellung von Privatautonomie darstellt, evident. Denn diese hat zweifelsohne, beispielsweise mit dem Arbeitskampf, Inhalte, die als schlichte Freiheitsausübung unproblematisch mit einem weiten Schutzbereichsverständnis kompatibel sind.569 Sie beinhaltet aber mit dem Normsetzungsverfahren ein kompetenzielles Zusammenwirken von Grundrechtsträgern zur Generierung von Normen, deren Rechtsfolgen gesetzlich geregelt werden müssen. Ob man deswegen zu einer Sichtweise übergeht, die diese Problematik unter die Ausgestaltungsgesetzgebung fasst, mag hier unentschieden bleiben. Jedenfalls besteht aber ein struktureller Unterschied zwischen Regelungsbefugnis und Arbeitskampfrecht, sodass keineswegs alle Inhalte der Tarifautonomie notwendigerweise gleichermaßen zu behandeln sind. Am Ende kann, auch unter einem weiten Tatbestandsverständnis, Sinn und Zweck der Freiheit der Begründung einer Schutzposition entgegenstehen. 566 So tendenziell Bock, Tarifdispositives Arbeitnehmerschutzrecht und Tarifautonomie, S. 300. 567 Vgl. dazu oben 2. Kap. C. III. 568 Vgl. zu der Neigung im Rahmen der negativen Koalitionsfreiheit den Schutzbereich zu überdehnen, Dieterich in ErfK, GG, Art. 9 GG, Rn. 35. 569 Vgl. dazu Engels, Verfassung und Arbeitskampfrecht, S. 261.
E. Konsequenzen der Bestimmung des Gewährleistungsgehalts
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Die Tarifautonomie dient der Herstellung von privatautonomer Freiheit und stellt hierzu das tarifautonome Normsetzungsverfahren zur Verfügung. Dieses wird gewährleistet, damit die strukturelle Unterlegenheit des Arbeitnehmers bei Abschluss des Arbeitsvertrags kompensiert wird.570 Das ist Geltungsgrund und Ursache für die Tarifautonomie. Wird nun aber im Sinne einer „grundrechtsfreundlichen“ weiten Tatbestandstheorie eine gegenüber dem Staat vorrangige, materielle Ausgestaltungskompetenz für die Arbeitsverhältnisse als Schutzgut in die Tarifautonomie integriert, so wird das Grundrecht zu einem Destruktivgrundrecht gegenüber der Freiheit, die sie herstellen soll, umfunktioniert. Denn die Effektuierung von Freiheit, der das Grundrecht dient, wird durch diese Schutzbereichsdefinition als abzuwehren angesehen. Staatliche Regelungen zur Kompensation struktureller Unterlegenheit werden in diesem Fall als Eingriff in die Tarifautonomie begriffen. Die Situation, die das Grundrecht überwinden soll, wird durch dieses als herzustellen angesehen, es wird konstruktiv gegen seinen eigenen Geltungsgrund instrumentalisiert. Dieses Ergebnis ist mit Sinn und Zweck der Tarifautonomie nicht zu vereinbaren. Betrachtet man den Effekt der hier angesprochenen „grundrechtsfreundlichen“ Auffassung, so ist sie nüchtern betrachtet ein verfassungsrechtliches Placebo. Der effektive Schutz den sie gewährt geht nämlich kaum über das hinaus, was bei einer konkreteren Bestimmung des Schutzbereichs erreicht wird. Das wird besonders am Begründungsmodell von Humbert deutlich.571 Sie meint, der weite Schutzbereich verhindere eine Aushöhlung des Grundrechts. Anschließend konstatiert Humbert, dass die nunmehr parallel zur Ausweitung des Schutzbereichs aufgerufenen kollidierenden Verfassungsrechtsgüter einen Eingriff nahezu immer rechtfertigen. Demgegenüber ist schon der argumentative Ansatz – Aushöhlung des Grundrechts – verfehlt. Denn hiervor schützt ja auch nach der hier vertretenen Schutzbereichsbestimmung die Tarifautonomie. Sie tut dies lediglich in transparenter Weise, ohne dies durch eine kaum durchschaubare Rechtfertigungsdogmatik zu verschleiern. Die Bedenken gegen eine solche Dogmatik sind oben bereits dargestellt worden.572 Daher überrascht es auch nicht, wenn Humbert im Ergebnis zu den gleichen Resultaten wie die von ihr abgelehnte restriktive Schutzbereichsbestimmung kommt.573 Insgesamt ist hier also nicht das Tätigwerden des Staates ein – die terminologischen Bedenken seien hier einmal hintenangestellt – gewährleistungsstaatlicher Übergriff in eine grundrechtliche Freiheit, sondern die Verwirklichung des 570
Vgl. dazu oben 2. Kap. D. Humbert, Staatliche Regelungsbefugnisse für Arbeitsentgelte und -bedingungen, S. 83 ff., insbes. S. 86. 572 Vgl. dazu oben 2. Kap. C IV. 573 Humbert, Staatliche Regelungsbefugnisse für Arbeitsentgelte und -bedingungen, S. 83 ff., insbes. S. 86. 571
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3. Kap.: Gewährleistungsgehalt des Art. 9 Abs. 3 GG
Zwecks der grundrechtlichen Freiheit, nämlich die Gewährleistung von Freiheit. Die Koalitionsfreiheit wird zu Recht als dienende Freiheit oder „Freiheit zu“ 574 etwas bezeichnet.575 Wo aber die Gewährleistung einer tatsächlichen Freiheit Zweck eines Grundrechts ist, kann die staatliche Gewährleistung eben dieser Freiheit schwerlich einen Widerspruch zum Charakter des Grundrechts darstellen. Diese Betrachtungsweise sieht sich der Kritik dahin gehend ausgesetzt, dass bestimmte Schutzgegenstände (scheinbar) aus dem Grundrechtsschutz herausfallen und damit gesetzgeberischer Beliebigkeit offen stünden.576 Dem ist zunächst entgegenzuhalten, dass hier stets das Auffanggrundrecht des Art. 2 Abs. 1 GG i.V. m. dem Demokratie- und dem Rechtsstaatsprinzip zur Verfügung steht.577 Mit Blick auf die in Rede stehende Frage des Verhältnisses von staatlicher Gesetzgebung und tariflicher Normsetzung zeigt sich allerdings eine weitere Norm, die die gesetzliche Regelung bereits vollumfänglich erfasst, nämlich die Berufsfreiheit des Arbeitgebers (formal auch die des Arbeitnehmers s. o.) aus Art. 12 GG.578 Gesetzliche Regelungen von Gegenständen, die auch im Arbeitsvertrag geregelt werden können, können sich als Eingriffe in die Arbeitsvertragsfreiheit des Arbeitgebers aus Art. 12 Abs. 1 GG darstellen.579 Diese ist aber mit einem Gesetzesvorbehalt versehen. Daher spricht wenig dafür, eine Verfassungsgewährleistung durch Transfer in ein anderes Grundrecht auf die Ebene eines vorbehaltlos gewährleisteten Grundrechts „hochzuzonen“. Die Folgeprobleme die dies auslöst sind bereits ausführlich dargestellt worden.580
III. Tarifautonomie als vorstaatliche Freiheit/ Die dogmatische Sonderstellung der Koalitionsfreiheit Es sei an dieser Stelle auch auf die Frage der Vorstaatlichkeit der Freiheit des Bürgers eingegangen. Danach soll der Bürger vor Übergriffen in seine Freiheit durch den Staat gesichert werden, weil dies seine „vorstaatliche“ Freiheit beschränkt.581 Es ist hier aber nochmals darauf hinzuweisen, dass eine solche vorstaatliche Freiheit auf Seiten der Arbeitnehmer bei einer materiellen Betrach574
Dieterich in ErfK, GG, Art. 9 GG, Rn. 36. Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht, Bd. 1, § 7 1. e) (1), S. 293; diese Auffassung entspricht der historischen Entwicklung der Koalitionsfreiheit; vgl. dazu die Darstellung bei Konzen, ZfA 1991, 379 (383); der Begriff der „dienenden Funktion“ findet sich auch bei Buchner, FS Kissel, S. 97; tendenziell auch Cornils, Die Ausgestaltung der Grundrechte, S. 415; vgl. dazu unten 3. Kap. IV. 576 Kritisch dazu Böckenförde, Der Staat 42 (2003), 165 (188). 577 Böckenförde, Der Staat 42 (2003), 165 (188). 578 BVerfG 23.11.2006, NJW 2007, 286. 579 BVerfG 11.7.2006, NJW 2007, 51 (54); vgl. aber neuerdings Engels, JZ 2008, 490 (495 ff.). 580 Vgl. dazu oben 2. Kap. C. IV. 575
E. Konsequenzen der Bestimmung des Gewährleistungsgehalts
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tungsweise nicht existiert.582 Dies ist ja gerade Grund der Koalitionsbildung. Es gibt also den Freiheitsraum des Arbeitnehmers grundsätzlich erst durch staatliche Gewährleistung oder kollektive Selbsthilfe. Es handelt sich hier also um eine Konstellation, in der Bürger vor privater Machtausübung um ihrer Freiheit willen durch die grundrechtliche Garantie eines kompensatorischen Verfahrens oder staatliche Schutznormen geschützt werden. Darin liegt auch der eigentliche Unterschied zwischen individueller und kollektiver Koalitionsfreiheit. Denn indem die kollektive Koalitionsfreiheit materielle Vertragsfreiheit herstellt, ist sie eben mehr als ein Bündel von Individualgrundrechten. Dieser Zusammenhang muss dann aber auch im Rahmen der Auslegung des Art. 9 Abs. 3 GG berücksichtigt werden. Es handelt sich hier nicht um ein Grundrecht, dass vorstaatliche Freiheit sichert, sondern um ein Grundrecht, dass materielle vorstaatliche Unfreiheit kompensieren soll. Dies unterscheidet es von anderen Grundrechten. Der vorstaatliche Zustand ist gerade der, den das Grundrecht überwinden soll. Diese Besonderheit rechtfertigt es dann auch, hier mit Theoremen, die für andere Grundrechte durchaus ihre Leistungsfähigkeit und Berechtigung beanspruchen können, vorsichtig zu sein. Dieser Aspekt entschärft möglicherweise auch den oben dargestellten Grundsatzstreit über die Frage weiter oder enger Tatbestandsfassungen von Grundrechten, jedenfalls im Zusammenhang mit der Tarifautonomie.583 Dazu muss lediglich anerkannt werden, dass es sich bei der Koalitionsfreiheit eben gerade nicht um ein gewöhnliches Grundrecht handelt. Es hat aufgrund seiner Entstehungsgeschichte und seines Zwecks eine grundrechtsdogmatische Sonderstellung. Dies legitimiert bereichsspezifische Sonderwege, die keine generelle Geltung für andere Grundrechte beanspruchen müssen. Es drängt sich an dieser Stelle der Einwand auf, es müssten dann aber zumindest die Koalitionen in ihrer vorstaatlichen Freiheit geschützt werden, soweit man eine solche anerkennt und nicht auf die Verwiesenheit der Koalitionen auf staatliche Rechtsnormen abstellt. Dies ist auch grundsätzlich zutreffend soweit es um die Betätigungsfreiheit der Koalitionen geht. Dies gilt nach der Rechtsprechung von BAG und BVerfG für die Mitgliederwerbung584 wie den Arbeitskampf585. Die Lage mit Blick auf den Abschluss von Tarifverträgen, der grundsätzlich auch als Freiheitsausübung erscheint, ist aber deshalb komplizierter, weil seine Rechts581 Ossenbühl, NJW 1976, 2100 (2101); eine Wirkung „auch gegenüber normgeprägten Grundrechten“ nimmt Möllers, NJW 2005, 1973, an; kritisch zum Theorem: Krebs in: Merten/Papier, Handbuch der Grundrechte, Bd. II, § 31, Rn. 5. 582 Vgl. dazu oben 2. Kap. E; bei einer formalfreiheitlichen Betrachtungsweise, die die tatsachlichen Möglichkeiten des Freiheitsgebrauchs nicht berücksichtigt, ist sie dagegen gegeben. 583 Vgl. dazu oben 2. Kap. C. IV. 584 BVerfG 14.11.1995, NJW 1996, 1201; BAG 19.9.2006, NJW 2007, 1018 (1022); BAG 28.2.2006, NZA 2006, 798 (800 f.). 585 BAG 19.6.2007, NZA 2007, 1055 (1056).
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3. Kap.: Gewährleistungsgehalt des Art. 9 Abs. 3 GG
folgen und sein möglicher Inhalt von rechtlichen Vorschriften abhängig sind. Deswegen wird teilweise die Frage der Regelungsbefugnis wie die der Normsetzungsbefugnis der Ausgestaltungsgesetzgebung zugeschlagen. Im Kern stellt sich also die Frage, ob man das ohne rechtliche Voraussetzungen mögliche Element der Willensbildung und der Einigung auf einen Tarifvertrag im Blick hat oder die rechtliche Anerkennung der getroffenen Regelungen durch die Rechtsordnung. Nach der Rechtsprechung des BVerfG spricht jedenfalls vieles dafür, hier den Aspekt der Betätigungsgarantie in den Vordergrund zu rücken.586 Danach erkennt die Verfassung den Abschluss von Tarifverträgen als Grundrechtsausübung an. Relevant wird die Abgrenzungsfrage allerdings nur, wenn sie im vorliegenden Fall zu unterschiedlichen Ergebnissen führt.587 Mit einer Zuordnung zur Betätigungsgarantie ist aber noch nichts darüber gesagt, ob dieser Betätigungsfreiheit eine inhaltliche Unbegrenztheit zukommt. Dem steht bereits der Wortlaut des Art. 9 Abs. 3 GG entgegen. Dieser beschränkt die Betätigungsfreiheit von vorneherein „auf die Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen“. Damit entscheidet der Inhalt dieser Beschränkung über die Reichweite des grundrechtlichen Schutzes der Betätigungsfreiheit mit.588 Es lässt sich dabei zunächst eine gegenständliche Begrenzung der Regelungsbefugnis feststellen. Wie diese genau zu ziehen ist, ist im Schrifttum umstritten.589 Für diese Arbeit genügt es zunächst, ihren Bestand überhaupt anzuerkennen. Bedeutsamer ist aber, ob sich neben der gegenständlichen Umschreibung der Regelungsbefugnis ergibt, dass auch eine inhaltliche Begrenzung ebendieser auf den von der staatlichen Gesetzgebung frei gelassenen Raum gemeint ist. Dafür ist die grundrechtliche Funktion der Koalitionsfreiheit und der Tarifautonomie in den Blick zu nehmen.
IV. Tarifautonomie als Freiheit mit Zweckbindung Die Koalitionsfreiheit ist keine Freiheit ohne Zweckbindung, sondern eine „dienende Freiheit“.590 Die koalitionsspezifische Betätigung wird nur geschützt 586 Vgl. dazu oben 2. Kap. B. I.; zur a. A., die das Element der Ausgestaltungsgesetzgebung in den Vordergrund stellt, unten 3. Kap. E. XII. 587 Vgl. dazu unten 3. Kap. E. XIII. 588 Vgl. zum Begriffspaar ausführlich Säcker/Oetker, Grundlagen und Grenzen der Tarifautonomie, S. 40 ff. 589 Vgl. dazu ausführlich Säcker/Oetker, Grundlagen und Grenzen der Tarifautonomie, S. 40 ff. 590 Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht, Bd. I, S. 293; Houben, Die Rückwirkung von Tarifverträgen, S. 90; so auch tendenziell das BVerfG, BVerfG 23.11.2006, NJW 2007, 286 (287 f.); BVerfG 26.06.1991, NJW 1991, 2549 (2551); ähnlich: BVerfG 4.7.1995, NZA 1995, 754 (755); BAG 19.6.2007, NZA 2007, 1055 (1057); BAG 28.3.2006, NZA 2006, 1112 (1116); BAG 17.2.1998, NZA 1998, 754 (756); die Tarifautonomie dient danach der Kompensation der strukturellen Unterlegenheit des Arbeit-
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soweit sie der Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen dient. Die Tarifautonomie dient der Kompensation der strukturellen Unterlegenheit der Arbeitnehmer bei Abschluss eines Arbeitsvertrages.591 Damit handelt es sich, auch wenn einer solchen Sichtweise als dienendes Grundrecht bei anderen Grundrechten beachtliche Bedenken entgegen gebracht werden592, um ein Grundrecht, dessen Auslegung mit Blick auf einen Zweck hin zu erfolgen hat. Dabei mag man sich an der Begrifflichkeit der dienenden Freiheit stören. Im Kern geht es hier lediglich darum, nach dem Sinn und Zweck des Grundrechts zu fragen, auch wenn man eben nicht umhinkommt, diesen darin zu erblicken, dass die Tarifautonomie ein Mittel zu einem Zweck und kein Selbstzweck ist. Dies gilt nicht nur mit Blick auf die partielle Verwirklichung staatlicher Schutzpflichten für die Privatautonomie durch das Konzept der Tarifautonomie, sondern auch mit Blick auf die Entlastungsfunktion, die diese für den Gesetzgeber hat. Es muss nicht mit Blick auf andere Grundrechte generalisiert werden, aber die Tarifautonomie ist kein Selbstzweck, sondern eine Freiheit mit Zweckbindung. Dieser Zweck ist die Schaffung von Freiheit. Und hier erscheint es nicht überzeugend, dass die Koalitionsfreiheit davor schützt, dass der Zweck der Gewährleistung der Tarifautonomie erreicht wird.593 Die Tarifautonomie mag ein Kompensationsmodell für Unfreiheit sein. Wie aber die Überlegungen zum Subsidiaritätsprinzip zeigen, ist mit ihrer Existenz noch nichts über die tatsächliche Kompensationsleistung gesagt.594 Daher mag sie als ein Modell zur Kompensation dienen595, sie stellt aber nicht selbst die Kompensation dar.596 Auch dies wird verkannt, soweit teilweise von einer doppelten Kompensationswirkung gesprochen wird, sofern die Tarifautonomie nicht vor einseitig zwingender gesetzlicher Regelung von Gegenständen schützt, die auch Inhalt von Tarifverträgen sein können.597 Die Tarifautonomie mag eine Chance oder Option zur Freiheitsherstellung sein. Sie kann das Erreichen oder die Verwirklichung dieses Zieles aber allein nicht garantieren. Sie ist also keine vollständige Kompensation und nehmers bei Abschluss des Arbeitsvertrages. Diese Auffassung entspricht der historischen Entwicklung der Koalitionsfreiheit; vgl. dazu die Darstellung bei Konzen, ZfA 1991, 379 (383); der Begriff der „dienenden Funktion“ findet sich auch bei Buchner, FS Kissel, S. 97; tendenziell auch Cornils, Die Ausgestaltung der Grundrechte, S. 415. 591 Siehe dazu unten ausführlich 2. Kap. D. 592 Vgl. für die dienende Freiheit, insbesondere zur Rundfunkfreiheit das BVerfG, BVerfG 16.6.1981, NJW 1981, 1774 (1775); BVerfG 13.1.1982, NJW 1982, 1447; BVerfG 24.4.1987, NJW 1987, 2987; BVerfG 5.2.1991, NJW 1991, 899, dagegen: Klein, DVBl. 1994, 489 (494); Starck, NJW 1992, 3257 (3260); kritisch auch Böckenförde, Der Staat 42 (2003), 165 (188). 593 Vgl. dazu bereits oben 3. Kap. D I, E. II. 594 Vgl. dazu unten 6. Kap.B.; allgemein oben zum Subsidiaritätsprinzip 2. Kap. F. 595 Kittner, FS Kissel, S. 497 (513). 596 Fastrich, RdA 1997, 65 (77); Kittner, FS Kissel, S. 497 (513); tendenziell auch Becker, NJW 1973, 1913 (1916). 597 Biedenkopf, Grenzen der Tarifautonomie, S. 151.
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3. Kap.: Gewährleistungsgehalt des Art. 9 Abs. 3 GG
damit ist das „Theorem der doppelten Kompensation“ schon in seiner Grundannahme falsch. Es überdehnt ein Potenzial zum Faktum.598 Das BAG weist denn auch vollkommend zutreffen darauf hin, dass die strukturelle Unterlegenheit des Arbeitnehmers „durch kollektivrechtliche Regelungen wie Tarifverträge und Betriebsvereinbarungen nicht beseitigt wird“.599 Damit wird auch deutlich, dass die vielfach verwandte Formel, dass die Koalitionsfreiheit Arbeitgebern und Arbeitnehmern gleichermaßen gewährleistet sei, zwar grundsätzlich richtig ist.600 Nur nimmt das der Tarifautonomie nicht ihren Zweck. Und der besteht nun einmal in der Kompensation struktureller Unterlegenheit einer Vertragspartei, nämlich des Arbeitnehmers.601 Dies kann zu Unterschieden bei der Auslegung des Grundrechts für Arbeitgeber und Arbeitnehmer führen.602 Die Tarifautonomie dient dazu, die Privatautonomie des Arbeitnehmers erst herzustellen.603 Ob man so weit geht wie Söllner und feststellt, dass die Koalitionsfreiheit „aus der Blickrichtung der Arbeitnehmerseite formuliert worden ist“,604 mag hier offenbleiben. Aber eine gewisse Einseitigkeit ist der Tarifautonomie um ihres Zweckes willen immanent. Und sie ist damit auch von vorneherein kein neutrales Grundrecht. Denn auf Seiten der Arbeitgeber muss die privatautonome Mächtigkeit nicht erst erzeugt werden. Ihr Vorhandensein ist gerade Ursache für das Entstehen von Koalitionen und die Gewährleistung der Tarifautonomie. Hier mag man einwenden, die Interessen der Arbeitgeberkoalitionen würden unzureichend berücksichtigt.605 Allerdings bedingt die Koalitionsfreiheit gewisse Unterschiede in der Auslegung des Grundrechts für Arbeitnehmer und Arbeitgeber. Dies zeigt sich beispielsweise an § 2 Abs. 1 TVG. Dieser verleiht dem einzelnen Arbeitgeber die Tariffähigkeit und zwar unabhängig davon, ob er Mitglied in einem Arbeitgeberverband ist oder nicht.606 Dies begründet sich damit, dass ansonsten die Arbeitsverhältnisse bei Außenseiterarbeitgebern tariflich nicht re598 Dies ist eine generelle Problematik des Vertragsmodells und seiner „Richtigkeitsgewähr“, dazu Preis, Grundfragen der Vertragsgestaltung im Arbeitsrecht, S. 136; vgl. auch Fastrich, RdA 1997, 65 (77); vgl. dazu unten 6. Kap. B. 599 BAG 16.3.1994, NZA 1994, 937 (940). 600 Bock, Tarifdispositives Arbeitnehmerschutzrecht und Tarifautonomie, S. 306; Neumann, RdA 2007, 71 (72); Höfling in Sachs, GG, Art. 9 GG, Rn. 51. 601 Söllner, NZA 1996, 897 (899); dieser Unterschied macht auch das Argument, im zwingenden Gesetzesrecht liege eine verfassungsrechtliche Privilegierung der Arbeitnehmerseite, zweifelhaft. Denn der Schutzzweck der Regelung liegt primär auf deren Seite. 602 Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht, Bd. I, § 4 II 1. a), S. 438 f. 603 Kittner, FS Kissel, S. 495 (513). 604 Söllner, NZA 1996, 897 (899). 605 In diese Richtung Neumann, RdA 2007, 71 (72). 606 BAG 10.12.2002, AP Nr. 162 zu Art. 9 GG, Arbeitskampf; Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht, Bd. I, § 7 II 3. f), S. 305.
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gelbar wären. In diesem Fall könnte aber die Tarifautonomie ihren Schutzzweck nicht erreichen. Der Arbeitgeber kann also seine Tariffähigkeit nicht abschütteln, sondern muss der Tarifautonomie „auch wider Willen zu Diensten sein“ 607. Die Anforderungen an die Koalitionseigenschaft und die Tariffähigkeit auf Arbeitgeber- und Arbeitnehmerseite werden also unterschiedlich gehandhabt608. Dies ist mit Blick auf die Funktionsfähigkeit der durch das Grundrecht intendierten Kompensation struktureller Unterlegenheit aber gerade geboten. Insbesondere wird von der ganz h. M. für einen Arbeitgeberverband oder den einzelnen Arbeitgeber keine soziale Mächtigkeit verlangt.609 Denn dieser sei auch als Einzelarbeitgeber grundsätzlich nicht in einer Situation der Unterlegenheit. Dass solche Situationen in einem Arbeitskampf entstehen können und hier ein Korrektiv in Form des Paritätsprinzips besteht, steht dem nicht entgegen. Denn dieses gilt unabhängig davon, ob der Verband oder der Einzelarbeitgeber betroffen sind. Es ist also unzutreffend anzunehmen, die Tarifautonomie zwinge zu einer parallelen Schutzwirkung für Arbeitgeber und Arbeitnehmer. Vielmehr macht ihr Sinn und Zweck geradezu unterschiedliche Nuancierungen im grundrechtlichen Schutz erforderlich, wie § 2 Abs. 1 TVG zeigt. Aich die Entstehungsgeschichte der Vorschrift spricht für diese Sichtweise.610 Dies rechtfertigt gewisse Unterschiede hinsichtlich der Effekte der Gewährleistung der Tarifautonomie für Arbeitgeber und Arbeitnehmer.
V. Subsidiaritätstheorie und Tarifautonomie Im Rahmen der Auseinandersetzung mit der Tarifautonomie findet sich häufig die These von der lediglich subsidiären Zuständigkeit des Staates gegenüber den Tarifvertragsparteien.611 Soweit dies als Umschreibung der tatsächlichen Verhältnisse dient, mag man dies so sehen, für die Auslegung des Art. 9 Abs. 3 GG ist aber von Relevanz, ob das Subsidiaritätsprinzip zu dieser herangezogen werden kann. Wie bereits gezeigt scheitert dies bereits daran, dass ein verfassungsrechtliches Subsidiaritätsprinzip nicht begründbar ist612 und seine Anwendung auch dann, wenn man es grundsätzlich akzeptiert, im Arbeitsrecht ausgeschlossen ist. Auf die entsprechenden Ausführungen sei hier insofern verwiesen. 607
Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht, Bd. I, § 7 II 3. f), S. 305. Stein in: Kempen/Zachert, TVG, § 2 TVG, Rn. 87 f. 609 BAG 20.11.1990, AP Nr. 40 zu § 2 TVG; Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht, Bd. I, § 9 IV 3. f), S. 438 f.; Löwisch/Rieble, § 2 TVG, Rn. 138; Peter in: Däubler, TVG, § 2 TVG, Rn. 116; Stein in: Kempen/Zachert, TVG, § 2 TVG, Rn. 112; einschränkend für Arbeitgeberverbände Hanau, NZA 2003, 128 f. 610 Vgl. dazu oben 3. Kap. B. 611 Biedenkopf, Grenzen der Tarifautonomie, S. 188; Jacklowsky, NZA 2001, 644 (646);Waas, FS Birk, S. 899 (901); Thüsing, ZfA 2008, 590 (596); vgl. dazu ausführlich oben 2. Kap. F. 612 Vgl. dazu oben 2. Kap. F. 608
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VI. Zum Aushöhlungsschutz Ein anderer Aspekt des Subsidiaritätsprinzips ist allerdings der Aushöhlungsschutz.613 Danach dürfen staatliche Regelungen von Gegenständen, die auch Inhalt von Tarifverträgen sein können, die tarifautonome Regelungsbefugnis nicht dadurch aushöhlen, dass sie flächendeckend alle denkbaren Regelungen vorwegnehmen. Der Gedanke basiert zutreffend auf einem Verständnis, das Normsetzungsbefugnis und Regelungsbefugnis der Tarifvertragsparteien trennt. Interessanterweise wird das Argument nahezu allgemein anerkannt. Eine Vielzahl von Vertreten der Vorranggarantie betont den Aushöhlungsschutz besonders.614 Der Aushöhlungsschutz wird aber auch, und dies ist von erheblicher Bedeutung, von den Vertretern des Kompetenzparallelismus geteilt.615 Damit lässt sich ein gemeinsamer Ausgangspunkt für die Auslegung der Tarifautonomie festhalten. Der Gesetzgeber muss einen Bereich – ohne dass damit bereits etwas über dessen Umfang gesagt ist – der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen für die tarifautonome Vereinbarung freilassen.616 Insbesondere darf er auch nicht durch Kompetenzausschlussklauseln eine Regelungsmaterie für die Tarifvertragsparteien sperren, ohne selbst eine Regelung der Materie vorzunehmen.617 Dies stützt sich auf den einfachen Gedanken, dass die gewährleistete Autonomie ansonsten überflüssig sein würde. Über den Umfang dieser Gewährleistung besteht indes wieder Uneinigkeit. Dennoch sei festgehalten, dass, wenn schon keine Subsidiarität besteht, nach allgemeiner Ansicht die Tarifautonomie jedenfalls ein „Teilhaberecht“ an der Gestaltung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen beinhaltet. Gegenwärtig ist nicht erkennbar, dass dieses durch die bestehenden gesetzlichen Regelungen618 oder durch die Novellierung des AEntG im Jahr 2009 beeinträchtigt wäre. Dies zeigt sich nicht nur an der nach wie vor erheblichen und stetig zunehmenden Aktivität der Tarifvertragsparteien beim Abschluss von Tarifverträgen. Dass die durch staatliche Schutznormen gesetzten Arbeitsbedingungen keinen Spielraum mehr zulassen, weil sie beispielsweise nicht mehr verbessert werden können, ist nicht ersichtlich. Die Befürchtung ist vielmehr „einigermaßen unrealistisch“.619 613 Andelewski, Staatliche Mindestarbeitsbedingungen, S. 65 ff.; Däubler, Grundrecht auf Mitbestimmung, S. 204 ff.; Oetker, ZG 1998, 155 (164); Säcker, ArbuR 1994, 1 (9); ders., Grundprobleme der kollektiven Koalitionsfreiheit, S. 55. 614 Andelewski, Staatliche Mindestarbeitsbedingungen, S. 65 ff.; Däubler, Grundrecht auf Mitbestimmung, S. 204 ff. 615 Kemper in: MKS, GG, Art. 9 Abs. 3 GG, Rn. 148; ders., Die Bestimmung des Schutzbereichs der Koalitionsfreiheit, S. 122 f. 616 Henssler, ZfA 1998, 1 (13); Mayer, ArbuR 1993, 309 (313 f.); Kemper in: MKS, GG, Art. 9 Abs. 3 GG, Rn. 147 ff. 617 Friese, Kollektive Koalitionsfreiheit und Betriebsverfassung, S. 255 f. 618 Jacklowsky, NZA 2001, 644 (646); Preis, B., ZfA 1972, 271 (291). 619 Preis, B., ZfA 1972, 271 (291).
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Im Übrigen, und dies steht einem weiten Verständnis des Theorems des Aushöhlungsschutzes entgegen, sind die historischen Zusammenhänge und Ziele der Tarifautonomie zu berücksichtigen. Tarifautonomie ist in ihrer Entstehungsgeschichte eine kollektive Reaktion auf den defizitären sozialen Schutz der Arbeitnehmer durch den Staat.620 Im 19. Jahrhundert wurde die Entstehung von Arbeitnehmervereinigungen massiv durch die sozial defizitäre, freiheitliche ungebundene Marktordnung hervorgerufen. Diese hatte sich nicht nur durch ein Zusehen, sondern gerade mit der Zustimmung der staatlichen Gewalt entwickelt. Damit war die historische Rolle der Tarifautonomie nicht nur als Kompensationsmodell für Defizite bei der Verhandlungsparität im Arbeitsverhältnis begründet. Vielmehr diente sie auch der Schaffung nicht staatlicher Schutzmechanismen für den Arbeitnehmer. Diese Ziele waren aber von vorneherein nicht auf die Abwehr staatlicher Schutzgesetzgebung gerichtet. Vielmehr dienten sie dem Ersatz einer erwünschten, aber durch die staatlichen Institutionen verweigerten gesetzlichen Schutzordnung für die Arbeitnehmer.621 Schließlich zeigt sich, wenn man sich noch einmal die Vorgaben der Weimarer Reichsverfassung vor Augen führt, dass der Aushöhlungsschutz mit einem Verständnis, das dem Staat die Regelung von Mindestlöhnen und Arbeitszeit selbstverständlich zuerkannte, kompatibel ist. Die Begründungslast für die Annahme einer Aushöhlung der Tarifautonomie ist daher hoch. Dies bestätigen im Übrigen auch die regelmäßigen Aufforderungen der Gewerkschaften an den Gesetzgeber, bestimmte sozial erwünschte Regelungen legislativ zu verankern.622 Dies geht bis hin zur Festlegung gesetzlicher Mindestlöhne, also zu Regelungen in Bereichen, die doch nach dem Verständnis der Vertreter des Aushöhlungsschutzes geradezu zu verteidigendes Hausgut der Tarifvertragsparteien sein müssten. B. Preis weist zu Recht darauf hin, dass es naheliegt, dass hier – jedenfalls den Gewerkschaften – unter dem Deckmantel ihres Grundrechtsschutzes eine Freiheit gegen oder ohne ihren Willen aufgedrängt wird.623 Im Ergebnis ist aber die Tarifautonomie mit der allgemeinen Ansicht in der Literatur davor geschützt, dass der Gesetzgeber sie durch flächendeckende Regelungen des gesamten Arbeitsrechts oder einer speziellen Materie von der Gestaltung der Arbeitsbedingungen ausschließt. Vor diesem Hintergrund sind freilich zweiseitig zwingende Vorschriften deutlich bedenklicher als solche, die den Tarifvertragsparteien Raum lassen.
620
Söllner, ArbuR 1966, 257 (261). Söllner, ArbuR 1966, 257 (261); vgl. dazu oben 2. Kap. D., 3. Kap. B. I., 1.; II. 3. 622 Preis, B., ZfA 1972, 271 (291 f.); Zachert in: Kempen/Zachert, TVG, § 1 TVG, Rn. 8. 623 Preis, B., ZfA 1972, 271 (292). 621
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3. Kap.: Gewährleistungsgehalt des Art. 9 Abs. 3 GG
VII. Beeinträchtigung der Attraktivität der Verbände? Vor diesem Hintergrund wird vielfach darauf verwiesen, eine zwingende gesetzliche Regelung von Gegenständen, die auch von den Tarifvertragsparteien geregelt werden könnten, sei verfassungsrechtlich bedenklich, weil sie die Attraktivität der Verbände schmälere.624 Das BVerfG hat solche Erwägungen mit Recht als spekulativ bezeichnet und ihnen keinerlei Relevanz zugebilligt.625 Überhaupt scheint eine Betrachtungsweise, die aus jedem staatlichen Handeln einen substanziellen Effekt auf die Beitrittsentscheidung, sei sie positiv oder negativ, von Arbeitnehmern oder Arbeitgebern ableitet, wenig überzeugend. Beitrittsentscheidungen sind nicht monokausal. Vielmehr werden diese regelmäßig aus Motivbündeln erfolgen, die sich hochgradig heteronom zusammensetzen werden.626 Von daher ist jede Erwägung, die eine signifikante Beitrittsrelevanz konstruiert, darauf zu verweisen, dass ihre Behauptung empirisch zu belegen ist, bevor das entsprechende Argument verfangen kann. Etwas anderes kann nur in Evidenzfällen gelten, in denen offensichtlich ist, dass kein vernünftiger Arbeitnehmer oder Arbeitgeber aufgrund der sonst drohenden Nachteile ohne Rücksicht auf seine sonstigen Motive eine bestimmte Beitrittsentscheidung treffen wird. Es ist darauf zu verweisen, dass das BVerfG bei der negativen Koalitionsfreiheit nicht jeden Anreiz zum Austritt als rechtfertigungsbedürftigen Eingriff begreift, sondern einen solchen erst bei erheblichem Druck annimmt.627 Aus jedem Beitrittsan- oder -abreiz verfassungsrechtlich problematische Übergriffe zu konstruieren überspannt damit – jedenfalls nach der Judikatur des BVerfG – erkennbar den Inhalt der Koalitionsfreiheit.628 Aber selbst dann, wenn man der These von der Schwächung der Verbände durch die zunehmende legislative Verankerung der von ihnen verfolgten sozialen Ziele einmal folgt629, so wird ihr ihre Geschichtsferne zum Verhängnis. Ist nämlich Sinn und Zweck der Tarifautonomie die Kompensation der strukturellen Unterlegenheit des Arbeitnehmers bei Abschluss des Arbeitsvertrages durch kollektives Handeln630, so wird deutlich, dass der Sinn und Zweck der Tarifautonomie jedenfalls teilweise darin besteht, dass die Verbände sich selbst überflüssig machen. „Die Gewerkschaften müssen in dem Maße, in dem sie mit der sozialen Emanzipation und ökonomischen Konsolidation der Arbeiterschaft ihre Ziele erreichen, eben für die Arbeiterschaft an Interesse verlie-
624 Klebeck, Gleichstellung der Leiharbeitnehmer als Verfassungsverstoß, S. 75 ff.; Rieble/Klebeck, ZIP 2006, 829 (831); Weiss/Schmidt, NZA 2008, 18 (19). 625 BVerfG 11.7.2006, NJW 2007, 51 ff.; vgl. dazu Preis/Ulber, D., NJW 2007, 465 (468). 626 Ulber, D./Strauss, DB 2008, 1970 ff. 627 BVerfG 11.7.2006, NZA 2007, 42 (44); Ulber, D./Strauss, DB 2008, 1970. 628 So i. E. auch Dieterich in: ErfK, GG, Art. 9 GG, Rn. 35. 629 Andelewski, Staatliche Mindestarbeitsbedingungen, S. 65. 630 Vgl. dazu ausführlich oben unter 2. Kap. D, 3. Kap. D. I.
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ren. Ihre Attraktivität ist m. a. W. umgekehrt proportional zu ihren Erfolgen.“ 631 Ob diese tariflich oder gesetzlich verwirklicht werden, spielt dabei nur eine untergeordnete Rolle. Im Ergebnis wirkt die soziale Befriedung durch die Tarifautonomie und die flankierende staatliche Gesetzgebung als Teilverwirklichung der Forderungen, die überhaupt zu ihrer Entstehung geführt haben. Allerdings ist auch darauf zu verweisen, dass die Tarifautonomie oftmals mehr auf die Partizipation an der ökonomischen Entwicklung hingewirkt hat. Damit stand also die Verteilungsfunktion des Tarifvertrags im Vordergrund, während sich die staatliche Gesetzgebung weitestgehend mit sonstigen Schutznormen befasst hat, hier also die Schutzfunktion überwiegt. Insofern sind die primären Stoßrichtungen beider Instrumentarien, wenn man sie unterhalb des Topos „Setzung von Sozialstandards“ ausdifferenziert, nicht kongruent. Die einseitig zwingende staatliche Schutzgesetzgebung kann kaum als Aushöhlung der Tarifautonomie begriffen werden.632 Tarifautonomie ist kein Selbstzweck.633 Sie ist eine zweckgerichtete Kompetenz, die eine materielle Verwirklichung verlangt. Wird diese von der Ebene der kollektiven Privatautonomie auf eine gesetzliche Ebene gehoben, so ändert dies nichts daran, dass ihr Zweck partiell erreicht wird.634 Ist also der Gedanke des Aushöhlungsschutzes bereits innerlich von den verfassungsrechtlichen Grundlagen der Tarifautonomie entkoppelt, so ist ihm dennoch eine verfahrensrechtliche Dimension zuzubilligen. In der Tat ist nämlich die zweiseitig zwingende Regelung arbeitsrechtlicher Schutzgesetze mit den vorstehenden konzeptionellen Grundlagen der Tarifautonomie schwerer zu vereinbaren. Sie konserviert die Kompensation sozialer Machtparität in einem bestimmten historischen Stadium, ohne die Chancen für eine soziale Entwicklung zur Entfaltung kommen zu lassen und determiniert ein konkretes Ergebnis für die tarifautonome Regelung. Bleibt man gegenüber dem Theorem der Aushöhlung großzügig, ist eine Restkompetenzgarantie dennoch begründbar. Die These, dass keine vollumfängliche, erschöpfende Arbeitsrechtsordnung zulässig ist, beschränkt sich aber dann auch darauf, dass keine oder keine sinnvollen Regelungsmöglichkeiten mehr bestehen. Da in der Diskussion aber vielfach verkannt wird, dass der Tarifvertrag neben der Normierung von Mindeststandards stets auch eine Ausgestaltungsfunktion für diverse gesetzlich nicht zu erfassende Einzelfallkonstellationen übernimmt, bleibt seine Funktion und seine Bedeutung ohnehin stets erhalten und ist gesetzlich gar 631
Picker, ZfA 2007, 129 (185). Preis, B., ZfA 1972, 271 (291). 633 Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht, Bd. I, § 7 II 1. e) (1), S. 293; Preis, B., ZfA 1972, 271 (291). 634 Picker, ZfA 2007, 129 (185), spitzt daher folgendermaßen zu: „Beide Berufsverbände unterliegen mithin dem gleichen funktionsentsprechenden Schicksal: Beide sind ihrem Sich-selbst-Überleben durch Zweckerfüllung als ihrem Lebensgesetz unterworfen“; ähnlich Preis, B., ZfA 1972, 271 (291). 632
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nicht vollumfänglich zu beseitigen. Man denke allein an die Komplexität der Eingruppierungsregelungen in Tarifverträgen, die gemeinsamen Einrichtungen der Tarifvertragsparteien und die unübersehbare Vielzahl an Sonderregelungen in den fast 70.000 Tarifverträgen, die im Jahr 2007 bestanden.635 Selbst in hochgradig gesetzlich regulierten Bereichen würden nahezu immer Ausgestaltungsbefugnisse und -möglichkeiten der Tarifvertragsparteien verbleiben. Diese bleiben selbst bei zwingenden staatlichen Rahmenregelungen immer noch für eine Vielzahl legislativ allenfalls hypothetisch regelbarer Einzelfallentscheidungen zuständig. Es ist auch schwer vorstellbar, dass der Gesetzgeber sich ernsthaft in die Regelungen für Eingruppierungen oder branchenspezifische Entgeltsysteme einmischt. Auch in anderen Bereichen wie Arbeitszeit, Urlaub oder Entgeltfortzahlung sind vollumfängliche und abschließende legislative Regelungen weder vorhanden noch bestehen ernsthafte Zweifel an der immensen Bedeutung tariflicher Regelungen. In diesem Kontext von Aushöhlungstendenzen zu sprechen geht auch an der tatsächlichen Vielfalt tarifvertraglicher Regelungen vorbei. Die riesige Zahl von abgeschlossenen Tarifverträgen trotz sukzessiv ausgeweiteter gesetzlicher Regelungen im Arbeitsrecht zeigt, dass die tarifautonome Regelung schon rein faktisch kaum ausgehöhlt werden kann. Sie zeigt des Weiteren, dass entsprechenden Annahmen der Bezug zur realen Tarifpolitik fehlt. Die Tarifautonomie in der Bundesrepublik leidet erkennbar nicht an Beschäftigungsmangel aufgrund des Überhandnehmens von gesetzlichen Regelungen. Solche Gefährdungen sind – wenn überhaupt – lediglich sektoral bei zweiseitig zwingenden gesetzlichen Regelungen denkbar und resultieren auch eher aus dem darin liegenden Angriff auf das Normsetzungsverfahren. Die Setzung staatlicher Mindestarbeitsbedingungen oder die Implementierung von tarifgestützten Mindestlöhnen, die unabhängig von einer Verbandsmitgliedschaft jedenfalls Lohnuntergrenzen definieren, hat die Mitgliederzahlen der Verbände weder im Bauhauptgewerbe noch in anderen Branchen, in denen tarifgestützte Mindestlöhne eingeführt wurden, signifikant verändert. Dies nimmt der Annahme, die Bestandsgarantie der Verbände werde per se durch staatlich verantwortete Mindestarbeitsbedingungen beeinträchtigt, eigentlich jede Substanz. Sie erweist sich als empirisch nicht zu belegendes Theorem. Ohne einen belastbaren statistisch signifikanten Nachweis der Ausübung von erheblichem Beitritts- oder Austrittsdruck636 durch gesetzliche Regelungen weist das Argument keinerlei beachtenswerte Substanz aus. Es kann als praktisch widerlegt angesehen und nur nachträglich herangezogen werden, wenn sich entsprechende Effekte tatsächlich einmal zeigen sollten solange es um konkurrierende staatliche Regelungen geht. Soweit allerdings der Gesetzgeber in die Substanz der Normsetzungsbefugnis
635
WSI-Tarifhandbuch 2008, S. 90. Druck (!), nicht Anreiz; letzterer ist verfassungsrechtlich unbedenklich, vgl. BVerfG 11.7.2006, NZA 2007, 42 (44); Ulber, D./Strauss, DB 2008, 1970. 636
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eingreift, ist das Argument durchaus überzeugend. Dass die Übergriffe des Staates in die Normsetzungsbefugnis der Tarifvertragsparteien in der Weimarer Zeit das Vertrauen der Bürger in die Institution des tarifautonomen Interessenausgleichs beschädigten, lässt sich aus der historischen Entwicklung durchaus ableiten. Dies gilt insbesondere dann, wenn die unmittelbare und zwingende Wirkung des Tarifvertrags infrage gestellt wird. Diese konstituiert die Funktionsfähigkeit und Leistungsfähigkeit des deutschen Tarifvertragssystems. Ihre Beseitigung würde damit zwangsläufig auch das Vertrauen in das tarifautonome System zumindest beschädigen, wenn nicht beseitigen. Dass Letzteres unbeabsichtigte Nebenfolge oder geradezu das Ziel der entsprechenden Vorschläge zur Deregulierung ist, darf nicht übersehen werden. Übergriffe in die Verfahrensdimension der Tarifautonomie können sicherlich relevante Effekte auf den Bestand der Koalitionen zeitigen.
VIII. Beeinflussung der Verhandlungsposition In diesem Zusammenhang sei denn auch ein weiteres, mit der vorstehenden Erwägung in engem Zusammenhang stehendes Argument aufgegriffen. Es wird teilweise vertreten, die zwingende gesetzliche Regelung von Arbeitsbedingungen verschiebe die Verhandlungsposition der Tarifpartner zulasten der Arbeitgeber637 bzw. diese werde überhaupt beeinflusst.638 Das Gleiche wird auch für das tarifdispositive Gesetzesrecht angenommen, weil es die Verhandlungsposition der Gewerkschaften dadurch belaste, dass diese den gesetzlich verankerten Standard erst wieder erkämpfen müssten.639 Wie spekulativ sämtliche Annahmen, die sich auf eine Beeinflussung der Verhandlungsposition beziehen, sind, zeigt sich darin, dass sich im Schrifttum komplementär die Annahme findet, die Verhandlungsposition der Arbeitgeber sei beeinträchtigt, weil die Gewerkschaft sich stets auf den gesetzlichen Standard zurückziehen könne.640 Dies geht teilweise so weit, dass zur Korrektur die Möglichkeit zur Angriffsaussperrung für die Arbeitgeber für erforderlich gehalten wird.641 Beide Annahmen können kaum gleichzeitig zutreffend sein. Viel spricht dafür, dass sich die entsprechenden Effekte in der Pra-
637 Kämmerer/Thüsing, Leiharbeit und Verfassungsrecht, S. 34 f.; Thüsing, ZfA 2008, 590 (595). 638 Kamanabrou, RdA 1997, 22 (29); Kocher, NZA 2007, 600 (601); Gneiting in: Umbach/Clemens, GG, Art. 9 GG, Rn. 113; Löwisch/Rieble in: MüArbR § 157 Rn. 40; Rieble/Klebeck, ZIP 2006, 829 (836); Sodan/Zimmermann, ZfA 2008, 527 (540). 639 Weis/Schmidt, NZA 2008, 18 (19); tendenziell auch Waas, FS Birk, S. 899 (910). 640 Klebeck, Gleichstellung der Leiharbeitnehmer als Verfassungsverstoß, S. 80 ff.; Hümmerich/Holthausen/Welslau, NZA 2003, 7 (10); Kämmerer/Thüsing, Leiharbeit und Verfassungsrecht, S. 34 f.; Waas, FS Birk, S. 899 (907). 641 Klebeck, Gleichstellung der Leiharbeitnehmer als Verfassungsverstoß, S. 86; Rieble/Klebeck, NZA 2003, 23 (28).
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xis nicht oder kaum nachweisen lassen, weswegen auch das BVerfG die entsprechenden Positionen mit Kammerbeschluss vom 29.12.2004642 „grob“ 643 zurückgewiesen hat. Dies basierte auch darauf, dass die Praxis zeigte, dass die entsprechenden Annahmen auf keinerlei Tatsachenbasis basierten.644 Das BVerfG hielt die entsprechenden Vorwürfe mit Blick auf die tarifdispositiven Vorschriften der §§ 9 Nr. 2, 3 Abs. 1 Nr. 3 AÜG möglicherweise für so fernliegend, dass es sie keines Wortes würdigte.645 Des Weiteren findet sich im Schrifttum der Hinweis, dass der Staat grundsätzlich neutral zu bleiben habe und daher auch verpflichtet sei, solche Maßnahmen zu unterlassen, die (vorgeblich) das Verhandlungsgleichgewicht verschöben.646 Es ist zwar richtig, dass das tarifliche Normsetzungsverfahren durchaus von der Tarifautonomie geschützt wird. Soweit es allerdings die Frage betrifft, ob die Tarifautonomie auch vor zwingenden gesetzlichen Regelungen schützt, die auch Gegenstand von Tarifverträgen sein können, überzeugt die Auffassung schon in ihren Grundlagen nur eingeschränkt. Zunächst einmal wird eingewandt, es sei den Tarifvertragsparteien unbenommen, auch schlechtere als die gesetzlichen Regelungen zu vereinbaren.647 Diese blieben lediglich wegen der günstigeren gesetzlichen Norm unwirksam. Dies könne sich aber ändern, soweit sich das Gesetz ändert.648 Es ist darauf zu verweisen, dass sich die ökonomische Bilanz der Tarifverhandlung im Ergebnis auch nicht verschieben wird.649 Ist das Paket für die Arbeitgeberseite zu teuer, wird sie den Druck über die „von gesetzlicher Regelung frei gelassenen Räume“ realisieren. Gleichsam wird eine Gewerkschaft nicht deshalb einen „teureren“ Tarifabschluss realisieren können, weil bestimmte Regelungen zwingend gestellt werden. Auch ansonsten ist die Auffassung, die die jeweilige Regelung oder Nichtregelung als Eingriff in die Tarifautonomie begreift, wenig überzeugend. Gibt der Gesetzgeber einen Spielraum für die Regelung der Tarifvertragsparteien frei, soll dies bedenklich sein, weil die Gewerk-
642
BVerfG 29.12.2004, NZA 2005, 153. Bayreuther, NZA 2005, 341 (343); Schüren, RdA 2006, 303 (305). 644 Schüren, RdA 2006, 303 (306). 645 Diese Einschätzung der Entscheidung teilt Bayreuther, NZA 2005, 341 (343), bei abweichender eigener Ansicht. 646 Klebeck, Gleichstellung der Leiharbeitnehmer als Verfassungsverstoß, S. 88; Kämmerer/Thüsing, Leiharbeit und Verfassungsrecht, S. 34 f.; sofern man diese Problematik innerhalb des Gewährleistungsgehalts der Tarifautonomie verortet und zutreffender Weise als irrelevant erachtet, erübrigt sich dann auch die Frage, ob hier im Rahmen der Eingriffsdogmatik nicht ohnehin ein irrelevanter rechtlicher Reflex vorliegt. Auf den Streit über die Eingriffsvoraussetzungen soll hier nicht eingegangen werden. Die Frage lässt sich – jedenfalls nach hier vertretener Auffassung – lösen, ohne auf die entsprechenden Fragen einzugehen. 647 Andelewski, Staatliche Mindestarbeitsbedingungen, S. 65. 648 Andelewski, Staatliche Mindestarbeitsbedingungen, S. 65. 649 Dies wird von Sodan/Zimmermann, ZfA 2008, 526 (540) verkannt. 643
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schaften beeinträchtigt werden. Verschließt er diesen, seien die Arbeitgeber belastet. Im Ergebnis stellt sich also sowohl die Nichtregelung als auch die Regelung mit zwingender Wirkung als verfassungsrechtlich bedenklich dar. Hier wird der Gesetzgeber zum Elefanten im Porzellanladen gemacht, der gleichzeitig noch unter Bewegungszwang gesetzt wird. Egal was er tut, eine Seite scheint beeinträchtigt, und wenn er untätig bleibt, bleibt es bei der bereits bestehenden Belastung einer Seite? Dieser Ansatz ist nicht überzeugend. Überhaupt ist der Verweis auf ein Neutralitätsgebot mit Blick auf arbeitsrechtliche Mindeststandards nicht überzeugend. Denn diese sind teilweise aufgrund verfassungsrechtlicher Schutzpflichten geboten und stehen damit ohnehin nicht zur Disposition des Gesetzgebers. Dem Staat ist eine „Nullpunktneutralität“ somit verfassungsrechtlich verwehrt und ihm bereits aufgrund seiner Existenz auch tatsächlich unmöglich. Im Übrigen meint die Neutralität im klassischen Sinne auch eher, dass der Staat sich aus dem Normsetzungsverfahren und insbesondere aus Arbeitskämpfen heraushält. Historisch erklärt sich das Neutralitätsprinzip vor allem aus dem Einsatz der Polizei gegen streikende Arbeitnehmer, die auf diesem Weg an der Interessenvertretung gehindert werden sollten. Es hat sich von diesem Ausgangspunkt als tragendes Prinzip vor allem des Arbeitskampfrechts entwickelt.650 Dies hat aber mit der Regelungsbefugnis der Tarifvertragsparteien nur begrenzt etwas zu tun. Verdeutlicht man sich, dass weder unter der Weimarer Reichsverfassung noch unter dem Grundgesetz eine Neutralität im Sinne des völligen Fehlens legislativer Regelungen bestand und der Staat bereits Regelungen im Bereich der sogenannten Hausgüter der Tarifautonomie vorfand, ist die These, hier sei Zurückhaltung geboten, noch weniger überzeugend. Im Übrigen scheitert das Beeinflussungstheorem auch an seiner Unbestimmtheit. Zunächst einmal wirken fast alle staatlichen Regelungen im Steuerrecht, im Sozialversicherungsrecht, ja selbst solche im Ladenschlussrecht mittelbar auf die Verhandlungen der Sozialpartner ein.651 Sie bestimmen nämlich die soziale Wirklichkeit mit, in der diese tätig werden. Das kann aber keinesfalls zu einer Schutzposition der Tarifvertragsparteien führen. Will man die Abschaffung der staatlichen Förderung der Altersteilzeit als rechtsfertigungsbedürftigen Eingriff in die Tarifautonomie begreifen, weil die Gewerkschaften nunmehr den abgeschafften Sozialstandard per tariflicher Regelung erstreiten müssen? Dies ist fernliegend. Und auch dann, wenn man sich darauf beschränkt, allein arbeitsrechtliche Regelungen oder unmittelbar auf Tarifverträge bezogene Regelungen dieser Beeinflussungshypothese zu unterwerfen, ist sie alles andere als überzeugend. Die Verhandlungsposition bei Tarifverhandlungen ist durch eine Vielzahl
650 651
Vgl. dazu ausfürlich Otto, Arbeitskampf- und Schlichtungsrecht, § 2, Rn. 54 ff. Darauf weist Wiedemann, FS Stahlhacke, S. 675 (687), zu Recht hin.
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gesetzlicher Regelungen beeinflusst, die den Rahmen für Wettbewerb und Markt bilden. Eine Tarifvertragspartei unter Verweis auf ihre Verhandlungsposition vor der Existenz einer Rechtsordnung im Allgemeinen zu schützen, geht jedoch zu weit.652 Hierauf läuft es aber hinaus, wenn man dem Beeinflussungstheorem konsequent folgt. Insofern ist die im Schrifttum vertretene Position, dass die Tarifautonomie nicht durch allgemeine Dauergesetze, sondern nur durch solche Regelungen betroffen ist, die sich als Maßnahmegesetze auf konkrete Tarifverhandlungen beziehen, jedenfalls überzeugender.653 Soweit argumentiert wird, die staatliche Normsetzung sei selbst dann ein Eingriff in die Tarifautonomie, wenn sie tarifdispositiv ausgestaltet wird654, ist Folgendes zu sagen: Die tarifdispositive Gestaltung sagt zunächst nichts darüber aus, ob die Gewerkschaft sich tatsächlich auf diese zurückziehen kann. Denn Tarifverträge werden in aller Regel nicht eindimensional im Hinblick auf die tarifdispositiven Vorschrift geschlossen, sondern als umfassendes Paket vereinbart. Tarifdispositive Regelungen eröffnen aber eine breitere Verhandlungsmasse. Damit ist der Weg frei für Kompensationsgeschäfte mit anderen Regelungskomplexen. Darin liegt auch eine der zentralen Schwächen tarifdispositiver Vorschriften, weil sie nicht zwingend für sachgerechte bereichsspezifische Lösungen genutzt werden, sondern ohne Berücksichtigung dieser Zielsetzung kommerzialisiert werden können. Eine effektive Belastung der Arbeitgeber findet hierdurch jedenfalls nicht statt. Denn da die Gewerkschaften für eine Vielzahl anderer gesetzlich nicht geregelter Gegenstände einen Tarifvertrag schließen wollen und müssen, um die Interessen ihrer Mitglieder vollumfänglich vertreten oder überhaupt als Tarifpartner auftreten zu können, bleiben Verhandlungsbereitschaft- und Verhandlungsmasse in aller Regel bestehen.655 Hier kann die Arbeitgeberseite dann eine Aufweichung durch Tarifvertrag erzielen, ohne dass die Gewerkschaft sich auf das Gesetz zurückziehen kann. Sie hat schließlich noch mehr Ziele. Die Möglichkeit solcher Kompensationsgeschäfte zeigt aber ein erstes massives Defizit tarifdispositiven Gesetzesrechts auf. Seine Schutzfunktion kann durch Kompensationsgeschäfte nahezu vollständig aufgezehrt werden. Des Weiteren ist die Argumentation mit dem Instrumentarium der „legislativen Paritätsstörung“ durch zwingende staatliche Arbeitsgesetzgebung wenig überzeugend. Denn häufig hat der Gesetzgeber bereits in Tarifverträgen verankerte Schutzstandards lediglich nachgezogen. Er hat also bereits erkämpfte Sozialstandards allgemein verankert. Hier waren die Gewerkschaften also auch ohne gesetzliche Regelungen in der Lage, soziale Mindeststandards zu erkämpfen. Auch ist in anderen Konstellationen die gesetzliche Regelung möglicherweise bezogen 652 653 654 655
Andelewski, Staatliche Mindestarbeitsbedingungen, S. 65. Preis, B., ZfA 1972, 275 (297). Kamanabrou, RdA 1997, 22 (29). Vgl. dazu Buschmann, FS Richardi, S. 93 (97 f.).
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auf die Verhandlungsmasse relevant, nicht aber mit Blick auf die Ergebnisse und schon gar nicht auf die ökonomische Bilanz des Tarifvertrags. Denn durch die Vielzahl potenzieller tarifvertraglicher Regelungen lassen sich durch gesetzliche Mindeststandards nur selten Einflüsse auf das ökonomisch wirksame Gesamtvolumen von Tarifabschlüssen erreichen. Sollten die Arbeitgeber über eine erhebliche Druckposition in Tarifverhandlungen verfügen, so werden sie weder durch die bestehende noch durch eine hypothetisch weiter ausgebaute gesetzliche Regelung des Arbeitsrechts daran gehindert, diesen Druck im Verhältnis von Leistung und Gegenleistung zum Ausdruck zu bringen. Umgekehrt wird die Gewerkschaft bei einer entsprechend starken Druckposition durch das tarifdispositive Gesetzesrecht nicht tangiert. Bedenken ergeben sich aus gesetzlichen Regelungen dort, wo dieser Ausgleichsmechanismus und damit auch die Verteilungsfunktion656 des Tarifvertrags gestört ist.657 Bei einer Gesamtbetrachtung denkbarer Regelungen in Tarifverträgen stellen sich zwingende gesetzliche Mindeststandards auch und gerade in ökonomischen Krisensituationen nicht als Hindernis für eine effektive Verhandlungsführung der Arbeitgeberseite dar. Nur dann, wenn sie tatsächlich keinen Druck mehr ausüben können, weil der Gesetzgeber die Verhandlungsmasse fast vollständig beseitigt, könnte etwas anderes gelten. Diese Sichtweise führt aber im Ergebnis zu nichts anderem als einem Schutz vor Aushöhlung der Tarifautonomie. Es besteht sicherlich ein Anspruch auf eine hinreichende Verhandlungsmasse, nicht aber auf einen konkreten Verhandlungsgegenstand. Die Theorie der Bevorzugung der Gewerkschaften ist also Ausdruck eines Sachgruppenvergleichs, der die ökonomischen Gesamtzusammenhänge ausblendet. Denn sofern arbeitsrechtliche Schutzstandards sich tatsächlich ökonomisch belastend für Arbeitgeber auswirken sollten, bleiben stets Ventile über die dieser Druck entweichen kann. Erst wenn diese vollständig verschlossen wären, was solange das Äquivalenzverhältnis von Arbeitsleistung und Entgelt abgesehen von Lohnuntergrenzen frei vereinbar ist, eigentlich kaum der Fall sein kann, stellt sich in der Tat die Frage der Beeinträchtigung der Verhandlungsposition. Eine solche Konstellation lag der Entscheidung des BVerfG zu den Lohnabstandsklauseln nach § 116 AFG zugrunde.658 Diese dienten dazu, zu verhindern, dass eine bestimmte Gruppe von Arbeitnehmern mehr als 80% des vergleichbaren Tariflohns erhielt. Damit sollten deren Beschäftigungschancen erhöht werden. Das BVerfG nahm an, hierdurch werde die Verhandlungsposition der Gewerkschaften beeinträchtigt, weil durch die gesetzliche Konstruktion verhindert würde, dass die Gewerkschaften ein Entgelt aushandeln konnten, das mehr als 80% des vergleichbaren Referenzlohns erzielte. Dies führe zu einer Beeinflussung der Willensbildung der Gewerkschaften im Vorfeld, weil die Vorschrift faktisch das 656 657 658
Vgl. dazu Wiedemann in: Wiedemann, TVG, Einl., Rn. 6 ff. Vgl. dazu unten 6. Kap. B. BVerfG 4.7.1995, NJW 1996, 185 ff.
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Ergebnis der Tarifverhandlungen im Verhältnis zum Referenzlohn festlegte.659 An dieser Passage wird aber auch deutlich, worin das BVerfG das eigentliche Problem sah. Dieses lag nicht darin, dass sich ein einseitig zwingender Schutzstandard als Beeinflussung der Verhandlungsposition darstellte.660 Vielmehr wurde in der vorliegenden Entscheidung unmittelbar das Ergebnis der Tarifverhandlungen auf ein konkretes Ergebnis festgelegt, auch und gerade mit Blick auf das Äquivalenzverhältnis. Es bestand hier also eine Konsumtion des Verhandlungsprozesses. Das Ergebnis der Tarifverhandlungen wurde präjudiziert, nicht lediglich beeinflusst. Diese Konstellation ist mit der des einfachen zwingenden Gesetzesrechts nicht vergleichbar. Dies verkennt ein Teil der Literatur, wenn er sich auf die Entscheidung beruft, um diese auch auf die Konstellation zwingender arbeitsrechtlicher Mindeststandards anzuwenden.661 Auch die folgende Rechtsprechung zu §§ 3 Abs. 1 Nr. 3, 9 Nr. 2 AÜG662 zieht die Entscheidung nicht in diesem Sinne heran, sodass der Verweis auf die Entscheidung auch bei einer Gesamtbetrachtung der folgenden Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, nicht überzeugt.663 Die zwingenden gesetzlichen Regelungen beeinflussen weniger die Frage, welche Position sich am Ende im Rahmen der ökonomischen Bilanz durchsetzen kann. Die Grundannahme der Beeinträchtigung der Tarifautonomie durch zwingendes Gesetzesrecht unterschätzt die Gestaltungspotenziale des Tarifvertrags. Tarifverträgen ist eine solch unübersehbare Vielfalt von Regelungskomplexen und eine solche Innovationsfähigkeit für Regelungskomplexe zu eigen, dass die Annahme einer Verdrängung der Tarifautonomie durch einseitig zwingendes Gesetzesrecht nicht vollkommen überzeugen kann. Sie ist auch empirisch nicht zu belegen. Die Zahl der abgeschlossenen Tarifverträge hat trotz zunehmender rechtlicher Durchdringung des Arbeitsmarktes nicht ab-, sondern zugenommen.664 Die Regelungsgefüge von Tarifverträgen sind derart komplex, dass eine Rahmengesetzgebung möglich, eine Beeinflussung der Verhandlungsergebnisse in ihrem ökonomischen compositum mixtum aber ein Ding der faktischen Unmöglichkeit ist, es sei denn, gesetzliche Regelungen werden flächendeckend zweiseitig zwingend ausgestaltet oder geben von vorneherein das Äquivalenzverhältnis von Leistung und Gegenleistung im Sinne eines Lohngitters detailliert vor, ohne dass ein relevanter Spielraum für die Tarifvertragsparteien verbleibt, womit man wieder bei der unzulässigen Aushöhlung der Tarifautonomie wäre.
659
BVerfG 27.4.1999, NJW 1999, 3033 (3034). In diesem Sinne Waas, FS Birk, S. 899 (907). 661 Sodan/Zimmermann, ZfA 2008, 526 (541). 662 BVerfG 29.12.2004, NZA 2005, 153. 663 Vgl. hierzu oben 2. Kap. B. I. 664 Im Jahr 2008 waren über 70.000 Tarifverträge in Kraft, vgl. WSI Tarifhandbuch 2009, S. 102; zu den Zahlen vgl. auch Henssler in HWK, TVG, Einl. Rn. 3. 660
E. Konsequenzen der Bestimmung des Gewährleistungsgehalts
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Im Übrigen gilt die Neutralitätsthese in dieser reinen Form ohnehin nicht. Denn auch für das Arbeitskampfrecht ist anerkannt, dass der Gesetzgeber keine vollständige Parität gewährleisten muss. Auch hier ist er lediglich verpflichtet, die Kampfparität zu gewährleisten, soweit diese auf einem strukturellen, also abstrakten Ungleichgewicht beruht. Auf individuelle Schwächen einzelner Koalitionen muss er nach der Rspr. des BVerfG nicht reagieren.665 Schließlich führt die Auffassung, die Tarifautonomie schütze vor staatlicher Regelung von Gegenständen, die auch Inhalt eines Tarifvertrags sein können666, auch nicht zu einer neutralen Wirkung dieses Grundrechts. Sie ist mit Sinn und Zweck der Tarifautonomie nur begrenzt vereinbar. Das klingt auch bei Neumann an, der für zwingendes Gesetzesrecht annimmt, dass „solche Gesetze jedenfalls in die Tarifautonomie der Arbeitgeber“ eingreifen.667 Hier wird besonders deutlich, dass eine vollständige Parallelität im grundrechtlichen Schutz von Arbeitgeber- und Arbeitnehmerseite im Rahmen der Tarifautonomie nicht möglich ist. Und die Position Neumanns zeigt erneut, dass die Auffassung, die Tarifautonomie schütze vor der zwingenden staatlichen Regelung von Gegenständen, die auch Inhalt des Tarifvertrags sein können, jedenfalls nicht neutral ist. Sie erzeugt eine grundrechtliche Asymmetrie668 zugunsten einer Grundrechtspartei, es sei denn, man sieht die Asymmetrie an sich als natürlichen zu schützenden Zustand an. Dem steht aber Sinn und Zweck der Tarifautonomie entgegen. Belässt man es hingegen dabei, dass die Tarifvertragsparteien in den Grenzen des zwingenden Gesetzesrechts frei ihre Regelungen treffen, so werden sich die jeweiligen sozialen und wirtschaftlichen Machtverhältnisse im Gesamtergebnis realisieren. Erhöht der Gesetzgeber den zwingenden gesetzlichen Mindesturlaub, so entstehen den Arbeitgebern unter Umständen Kosten. Diese werden aber, wenn man die Tarifverträge in ihrer Gesamtheit betrachtet, an anderer Stelle wieder eingefangen werden, sodass sich die Gesamtkosten des Tarifvertrags nicht verändern. Wenn die Arbeitgeberseite meint, eine ökonomische Grenze für den Abschluss des Tarifvertrags einziehen zu müssen, so wird diese stets in Addition aller enthaltenen Regelungen und der gesetzlichen Bestimmungen erfolgen. Diese Summe muss stimmen. Wie sie sich zusammensetzt, ist letztendlich nachrangig. Deswegen verschieben zwingende gesetzliche Regelungen auch maximal die Gewichte, die einzelne Positionen innerhalb eines Tarifwerks haben, nicht aber das ökonomische Gesamtergebnis. Dieses ist Ausdruck der jeweiligen Machtverhältnisse zwischen den Parteien und lässt sich am Ende weitestgehend über die Entgeltregelungen steuern. Soweit im Einzelfall eine Tarifvertragspartei mangels hinreichender Durchsetzungsfähigkeit nur den gesetzlichen Mindeststandard erreichen
665 666 667 668
BVerfG 4.7.1995, NJW 1996, 185 (186). Neumann, RdA 2007, 71 (72). Neumann, RdA 2007, 71 (72). Dazu Gellermann, Grundrechte im einfachgesetzlichen Gewande, S. 219.
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kann, steht ohnehin weniger die Beeinflussung einer Verhandlungsposition der Gegenseite in Rede als die Erkenntnis, dass hier eine Funktionsstörung der Tarifautonomie vorliegt.
IX. Das Sachnäheargument Häufig findet sich im Zusammenhang mit dem Verhältnis von tariflicher und gesetzlicher Regelungsbefugnis das Argument, die Verfassung verleihe mit der Tarifautonomie den sachnäheren Parteien die Regelung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen.669 Dieser Ansatz ist wie bereits im Zusammenhang mit dem Subsidiaritätsprinzip dargestellt, in dieser Generalität unzutreffend.670 Dieser Unterschied wird auch an der immer wieder aufgeworfenen Frage der Entgelthöhe deutlich. Hier ist in der Tat die staatliche Aufgabenübernahme im Bereich der Detailfragen objektiv unmöglich. Dies hat sich historisch an der Ersetzung der Tarifverträge durch die Tarifordnungen im Nationalsozialismus gezeigt. Ohne Rückgriff auf bestehende tarifvertragliche Regelungen konnten diese nicht geschaffen werden.671 Diese Unmöglichkeit zur Detailregelung besteht aber nicht für die Frage von Lohnuntergrenzen. Eine Entgeltgrenze festzulegen, die objektiv nicht mehr sozialstaatlichen Grundsätzen entspricht, erfordert weder branchenspezifische Sachkenntnisse, noch werden hierfür koalitionsinterne Informationen benötigt. Insofern ist auch hier die Diskussion bislang etwas zu undifferenziert. Allein die Annahme einer wie auch immer gearteten Sachnähe, ist jedenfalls kein Argument für eine Exklusivität tariflicher Normsetzung im Sinne Biedenkopfs.672 Denn Sachnähe bietet keine Gewähr für sachgerechte Regelungen. Sie mag das Potenzial erhöhen, dass eine sachgerechte Regulierung erfolgt, kann diese aber nicht sicherstellen. Parteien, die potenziell sachgerechte Regelungen treffen, im Verhältnis zum staatlichen Gesetzgeber mit einer Vorranggarantie auszustatten, vermag nicht zu überzeugen. Den Abbau zwingenden Arbeitnehmerschutzrechts mit der Sachnähe der Tarifvertragsparteien zu begründen, ist deshalb nicht plausibel. Die Sachnähe allein bietet nämlich keine Gewähr, dass tatsächlich ein Ausgleich der widerstreitenden Interessen stattfindet und sich nicht doch eine Position einseitig durchsetzt.673 Dies gilt insbesondere dann, wenn he-
669 Bengelsdorf, NZA 1991, 121 (125); Thüsing, ZfA 2008, 591 (596); Waas, FS Birk, S. 899 (901). 670 Vgl. dazu oben 2. Kap. F. 671 Siehe oben 3. Kap. B. III. 2. 672 Henssler, ZfA 1998, 1 (6); Preis, B., ZfA 1972, 275 (292). 673 Wolf, ZfA 1971, 151 (155); dies wird übersehen von Schwarze, ZfA 2005, 81 (87).
E. Konsequenzen der Bestimmung des Gewährleistungsgehalts
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teronome Schutzinteressen durch die Regelung realisiert werden müssen, also solche, die gar nicht innerhalb der Interessen der Vertragsparteien liegen.674 Dem Tarifvertrag wohnt, wie noch zu zeigen ist, keine Richtigkeitsgewähr, sondern eine Richtigkeitschance inne.675 Damit kann die Richtigkeitsgewähr auch – jedenfalls im verfassungsrechtlichen Maßstab – kein akzeptables Begründungsmodell für eine wie auch immer gestaltete Subsidiarität darstellen.676 Das Sachnäheargument gleicht etwa der Argumentation eines Kernkraftwerksbetreibers, man könne auf staatliche Sicherheitskontrollen verzichten, weil er aufgrund seiner Sachnähe besser wisse, was zum sicheren Betrieb des Kraftwerks erforderlich sei. Er könne die Sicherheitsstandards ohne staatlichen Einfluss mit den Mitarbeitern regeln, da auch diese ja nicht zu schaden kommen wollten. Auch hier kann sich die Verwaltung nicht unter Rekurs auf die Wahrscheinlichkeit, dass auch der Kernkraftwerksbetreiber oder dessen Beschäftigte kein Interesse an Störfällen haben, der staatlichen Kontrolle entziehen. Macht man sich bewusst, dass den Tarifvertragsparteien nicht nur im Arbeitsschutzrecht erhebliche Überwirkungen auf Drittinteressen ermöglicht sind, so ist das Sachnäheargument nicht überzeugend. Denn diese werden in ein entsprechendes Einigungsverfahren allenfalls mittelbar und reichlich zufällig einbezogen. Des Weiteren ist darauf hinzuweisen, dass auf Seiten der Verhandlungspartner die Schutzinteressen stets Bestandteil eines Gesamtinteresses sind, dessen Bestandteil gleichzeitig auch vollkommen gegenläufige Schutzinteressen sein können.677 Der Rekurs auf die Sachnähe der Tarifvertragsparteien vermag jedenfalls in seiner Generalität nicht zu überzeugen. Dies gilt umso mehr, wenn man anerkennt, dass Sachnähe nicht automatisch zu sachgerechten Lösungen führt.678 Die Sachnähe der Tarifvertragsparteien kann damit einen Vorrang tariflicher Normsetzung nicht begründen, jedenfalls was das Ausmaß der Regelungsbefugnisse betrifft. Sind allerdings die Regelungsbefugnisse gesetzlich hinreichend eingegrenzt, wurde also ein Rahmen gezogen, der die Angemessenheit der Regelungen generell gewährleistet, so spricht einiges für die Nutzung der Sachnähe bei der Ausgestaltung der innerhalb des Rahmens liegenden Regelungen – ein Unterschied, der bisweilen übersehen wird679 und zu einer „alles oder nichts“-Sichtweise führt. Daraus folgt aber kei-
674 Zum Problem des „Harmonismus“ vgl. Dürig, JZ 1953, 193 (196); vgl. dazu auch unten 6. Kap. C. 675 Vgl. dazu ausführlich unten 6. Kap. B. 676 Unzutreffend daher Sodan/Zimmermann, ZfA 2008, 526 (566), die die gesamte Diskussion vollständig ausblenden. 677 Vgl. dazu unten 8 A. I. 3. a) dd). 678 Siehe oben. 2. Kap. F. II. 679 Andelewski, Staatliche Mindestarbeitsbedingungen, S. 68; in diese Richtung auch Neumann, RdA 2007, 71 (75).
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3. Kap.: Gewährleistungsgehalt des Art. 9 Abs. 3 GG
nerlei Argument für eine weitgehende Freigabe bei der Definition der „Außengrenzen“ arbeitsrechtlicher Schutzgesetze.680
X. Praxistauglichkeit eines funktionalen Verständnisses der Tarifautonomie Der Ansatz, den gegenständlichen Schutz der Tarifautonomie auf den Schutz vor Aushöhlung durch konkurrierende staatliche Rechtsetzung zu begreifen, ist der Kritik in zweierlei Hinsicht ausgesetzt. Zunächst einmal wird der Einwand erhoben, er erfordere eine Abwägung von Rechtspositionen, die erst im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung stattfinden sollte.681 Diese Kritik entzündet sich maßgeblich an der funktionalen Sichtweise von Friese.682 Auch Friese befürwortet, einen Eingriff in die Tarifautonomie nur dann anzunehmen, wenn den Tarifvertragsparteien kein hinreichender Verhandlungsspielraum mehr verbleibt. Maßgeblich Bock wendet demgegenüber ein, diese Sichtweise führe zu einer „komplexen Gesamtbetrachtung“. Es müssten Gewichtungen der jeweiligen Regelungskomplexe vorgenommen werden. Es seien abwägende Elemente in der Schutzbereichsbestimmung erforderlich, die in diese nicht hinein gehörten.683 Diese Abwägung sei nur im Rahmen der Anwendung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes sinnvoll und daher dort zu verorten. Die Sichtweise von Friese führe zu einer Verengung der tariflichen „Normsetzungsbefugnis“ zugunsten einer vermeintlichen Flexibilität des Grundrechtstatbestandes. Dass Bock an dieser Stelle nicht zwischen tarifvertraglicher Regelungs- und Normsetzungsbefugnis differenziert, führt dann dazu, dass sie Gesichtspunkte beider Kompetenzen vermengt, die nicht zusammengehören. Sie folgert, die Beeinträchtigung des tariflichen Einigungsprozesses markiere die Schwelle zur Grundrechtsverletzung und werde dem Geltungsgrund der Normsetzungsbefugnis nicht gerecht, den sie zutreffend684 in der Kompensation struktureller Unterlegenheit der Arbeitnehmer erblickt. Dass aus diesem Gesichtspunkt aber gerade nicht die Regelungsbefugnis folgt, wie oben dargestellt, wird von Bock nicht differenziert gesehen. Im Übrigen sind nach dem hier vertretenen Verständnis auch keine komplexen Betrachtungen erforderlich um den Schutzbereich zu fassen. Belässt der Gesetzgeber den Tarifvertragsparteien hinreichend Regelungsmöglichkeiten oder wird „den Tarifvertragsparteien ein ausreichend großes Feld überlassen, auf dem sie sich im Sinne eines Aushandelns von Leistung und Ge-
680 681 682 683 684
Preis, B., ZfA 1972, 271 (292). Bock, Tarifdispositives Arbeitnehmerschutzrecht und Tarifautonomie, S. 298. Friese, Kollektive Koalitionsfreiheit und Betriebsverfassung, S. 255 ff. Bock, Tarifdispositives Arbeitnehmerschutzrecht und Tarifautonomie, S. 298. Vgl. dazu oben 2. Kap. D und 3. Kap. D I.
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genleistung sinnvoll betätigen können“ 685, so ist der Gewährleistungsgehalt der Tarifautonomie nicht betroffen. Eine Aushöhlung der Regelungsbefugnisse kann nur bei weitgehender Konsumtion aller denkbaren Regelungen durch den Staat, insbesondere einer zweiseitig zwingenden Regelung des Entgeltsystems, angenommen werden. Ansonsten könnten zweiseitig zwingende Regelungen jedenfalls unter dem Gesichtspunkt als verfassungsrechtlich bedenklich angesehen werden, dass sie für sich nicht in Anspruch nehmen können, der Kompensation struktureller Unterlegenheit von Arbeitnehmern zu dienen, insofern dem Schutzzweck der Tarifautonomie zuwiderlaufen und in die Normsetzungsbefugnis übergreifen. Hier könnte der Rückgriff auf kollidierendes Verfassungsrecht erforderlich sein, wie beispielsweise bei den Regelungen des § 1 Abs. 1 S. 2 WissZeitVG.686 Das Gleiche könnte für sonstige Regelungen, die diesem Prinzip nicht genügen, gelten. Den Nachweis, dass das funktionale Modell des Kompentenzparallelismus im Einzelfall eine komplexe Abwägung erfordert, führt Bock nicht. Von einer komplexen Gesamtbetrachtung kann auch keine Rede sein. Vielmehr entsteht ein transparentes, rechtssicheres und klar konturiertes Schutzbereichsmodell. Insofern schlägt der entsprechende Einwand nicht durch. Damit gelangt man zum zweiten Einwand gegen diese funktionale Sichtweise. Sie treffe keine positive aussagekräftige Schutzbereichsbestimmung, weil sie lediglich in der Lage sei, in einer Art Endstadium das Vorliegen eines nicht rechtfertigungsfähigen Eingriffs festzustellen. Es werde nicht der Schutzbereich definiert, sondern seine Verletzung.687 Dieser Einwand verkennt die hier vertretene Sichtweise des Schutzbereichs. Der Einwand greift nämlich nur dann durch, wenn man die Regelungsbefugnis der Tarifvertragsparteien nach wie vor als eingriffsfähiges Schutzgut des Art. 9 Abs. 3 GG begreift. Wenn man diese Sichtweise überwindet und sich auf den Standpunkt stellt, dass die Tarifautonomie ein prozedurales Grundrecht mit dem Gewährleistungsgehalt eines autonomen Einigungsverfahrens und der dazu erforderlichen Betätigungen ist, so wird deutlich, dass dieses bei vollständiger Absorption der denkbaren Regelungen durch den Gesetzgeber sinnlos wird. Damit liegt in dieser aber ein Angriff auf die Normsetzungsbefugnis der Tarifvertragsparteien an sich. Diese würde ausgehöhlt und damit sinnlos gemacht. Insofern ist in der Tat hinsichtlich der Regelungsbefugnis eine Sichtweise gegeben, die diese als Vorranggarantie aus dem Gewährleistungsgehalt der Tarifautonomie ausklammert und lediglich als Restkompetenzgarantie für die Normsetzungsbefugnis schützt, eine Definition für eine Grundrechtsverletzung. Aber eben für eine Verletzung der Normsetzungsbefugnis, die nicht mehr ausgeübt werden 685 Kemper in: MKS, GG, Art. 9 GG, Rn. 148; Kemper, Die Bestimmung des Schutzbereichs der Koalitionsfreiheit, S. 122 f. 686 Vgl. dazu Preis, WissZeitVG, § 1, Rn. 46 ff. 687 Humbert, Staatliche Regelungsbefugnisse für Arbeitsentgelte und -bedingungen, S. 83.
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3. Kap.: Gewährleistungsgehalt des Art. 9 Abs. 3 GG
kann. Deren Schutz wird aber keinesfalls hierdurch abschließend definiert. Dieser besteht in einer Vielzahl anderer Dimensionen. Insofern greift auch der Einwand von Humbert nicht durch. Er verkennt die Stoßrichtung der Tarifautonomie, die eben in erster Linie darauf gerichtet ist, den Koalitionären die autonome Ordnung des Arbeitslebens zu ermöglichen, nicht aber den Staat von der Gestaltung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen auszuschließen.688 Autonomie meint hier, dass der Staat keinen Zugriff auf die Tarifvertragsverhandlungen nimmt und nicht, dass ein Anspruch auf rechtsfreie Räume besteht.
XI. Von den sogenannten Hausgütern der Tarifautonomie Im Rahmen der Diskussion um den Schutz der tarifvertraglichen Regelungsbefugnis vor konkurrierenden staatlichen Regelungen findet sich häufig der Rekurs auf die sogenannten „Hausgüter“ 689 der Tarifvertragsparteien. Dazu werden maßgeblich die Arbeitszeit und das Arbeitsentgelt gezählt.690 Nach dem genannten dogmatischen Konzept sollen staatliche Regelungen umso größere Grundrechtseingriffe darstellen, je näher sie an die genannten Hausgüter heranrücken. Dabei werden insbesondere die Arbeitszeit und das Entgelt genannt, gerne auch im Zusammenhang mit der Diskussion um die Einführung tarifgestützter Mindestlöhne.691 Historisch betrachtet ist die vorstehende Sichtweise nicht zwingend. Dies gilt in besonderem Maße für die Arbeitszeit. Diese steht den Tarifvertragsparteien seit Schaffung des Tarifvertragssystems nicht zur eigenständigen Regelung zur Verfügung. Mit der Schaffung der Arbeitszeitordnung und dem TVG zu Beginn der Weimarer Republik692 war die Regelung der Arbeitszeit niemals „Hausgut“ der Tarifvertragsparteien, sondern traditioneller und typischer Fall einer Wahrnehmung der Tarifautonomie in den Grenzen des zwingenden Gesetzesrechts. Allerdings wird häufig mit der Regelung von „Arbeitszeit und Entgelt“ etwas anderes umschrieben. Nämlich die Bestimmung der Endvergütung und des Äquivalenzverhältnisses zwischen Arbeitgeber- und Arbeitnehmerleistungen, 693 sprich die Frage, wie lange der Arbeitnehmer arbeiten muss, um ein bestimmtes Entgelt zu erreichen, bzw. wie viel Entgelt er pro Arbeitsgang oder Zeiteinheit erhält. Dies ist im eigentlichen Sinne der Tarif und damit Gegenstand der Tarifautonomie.694 688 689 690
Kemper in: MKS, GG, Art. 9 GG, Rn. 148. Kocher, NZA 2007, 600 (601); Dieterich, RdA 2002, 1 (9). Kocher, NZA 2007, 600 (601); tendenziell auch BVerfG 27.4.1999, NZA 1999,
992. 691 Fischer, ZRP 2007, 20; Kocher, NZA 2007, 600 (601); Sodan/Zimmermann, ZfA 2008, 526 (565); Thüsing, ZfA 2008, 591 (609). 692 Vgl. dazu oben 1. Kap. B. I. und 3. Kap. B. II. 3. d). 693 Greiner, PersR 2008, 20. 694 Zu weitgehend Fischer, ZRP 2007, 20.
E. Konsequenzen der Bestimmung des Gewährleistungsgehalts
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Diese Regelung wird in der Tat klassisch von den Tarifvertragsparteien getroffen.695 Das Problem, insbesondere mit Blick auf die gegenwärtig geführte Mindestlohndebatte ist aber, dass sie mit dieser Frage nur vordergründig etwas zu tun hat. Denn ein Mindestlohn definiert lediglich eine Untergrenze für das Äquivalenzverhältnis und lässt die Vereinbarungsmöglichkeiten ansonsten unberührt696 Insofern ist auch hier der Rekurs auf angebliche Hausgüter schief. Dies gilt umso mehr, wenn man sich vor Augen führt, dass nach dem Verständnis der Weimarer Reichsverfassung und einiger Landesverfassungen nach 1945 die Einführung von Mindestlöhnen unproblematisch zulässig, ja sogar vorgeschrieben war.697 Der Zeitgeist, in dem das Grundgesetz geschaffen wurde, war somit keiner, der in irgendeiner Weise die Möglichkeit einer Mindestlohngesetzgebung neben der Tarifautonomie bestritten hätte. Insofern lässt sich jedenfalls mit Blick auf die sogenannten Hausgüter sagen, dass sie rechtstatsächlich solche sein mögen, aber die Verfassung sie nicht als solche festschreibt. Dass Mindestlohnregelungen, die sich regelmäßig ja nur auf einen minimalen Teil der Tariffestsetzung beziehen, daher den „Nerv“ der Tarifautonomie treffen sollen698, ist wenig überzeugend.699 Vergewissert man sich ihres Geltungsgrundes, der Kompensation struktureller Unterlegenheit des Arbeitnehmers, ist die Annahme vollends abwegig. Es gibt insofern keine a priori feststehenden Tabuzonen für eine staatliche Regelung.700 Solche Tabuzonen stünden auch im offenen Widerspruch zum Sozialstaatsprinzip, das prinzipiell in allen Lebensbereichen verwirklicht können werden muss.701
XII. Tarifautonomie und Grundrechtsausgestaltung Die Nähe des vorstehenden Ansatzes zur Grundrechtsausgestaltung ist unübersehbar. Und so überrascht es auch nicht, dass im Rahmen der Diskussion um das Verhältnis von staatlicher und tarifautonomer Regelungsbefugnis immer wieder auch die Frage der Abgrenzung von Grundrechtsausgestaltung und Eingriff ihren Raum findet. Insbesondere in jüngerer Zeit wird die konkurrierende staatliche Rechtsetzung gegenüber der Tarifautonomie denn auch als Ausgestaltung der Koalitionsfreiheit begriffen.702 695
Greiner, PersR 2008, 20 (21). Zutreffend Greiner, PersR 2008, 20 f.; vgl. auch Sansone/Ulber, D., AuR 2008, 125 (130 f.); Bieback, AuR 2008, 234 (236); Bayreuther, NJW 2009, 2006; Preis/Greiner, ZfA 2009, 825 (835). 697 Vgl. dazu oben unter 3. Kap. B. II.2. d), 3. Kap. B. II. 3. und 3. Kap. B. IV 2. 698 Fischer, ZRP 2007, 20. 699 Zutreffend Greiner, PersR 2008, 20 (21). 700 Kemper in: MKS, GG, Art. 9 GG, Rn. 148; Löwisch/Rieble in: MüArbR, § 157, Rn. 36; Waas, FS Birk, S. 899 (905). 701 Siehe oben 2. Kap. G. 702 Engels, JZ 2008, 490 (493); Gellermann, Grundrechte im einfachrechtlichen Gewande, S. 155 ff.; Preis/Greiner, As.-Drs. 16 (11), 771, 21. 696
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1. Das neuere Modell der Ausgestaltung Diese Sichtweise hat zunächst einmal zur Konsequenz, dass sie die oben genannten eingriffsdogmatischen Friktionen vermeidet, ohne dabei die natürlichen Freiheitsbetätigungen wie Arbeitskampf oder Mitgliederwerbung dadurch zu gefährden, dass sie das Schrankenregime der Koalitionsfreiheit aufweichen muss. Zwei Prämissen sind aber für die vorstehende Sichtweise entscheidend. Die tarifautonome Regelungsbefugnis muss sich als normgeprägt darstellen, also als erst durch staatliche Gesetzgebung geschaffene Freiheit. Abzugrenzen sind solche normgeprägten Freiheiten von den natürlichen Freiheiten, also solchen Rechtshandlungen, zu denen der Grundrechtsträger ohne Rückgriff auf staatlich geschaffene Normkomplexe befähigt ist.703 Zum anderen müssen die Schranken der Ausgestaltungsgesetzgebung sich so darstellen, dass konkurrierende staatliche Regelungen möglich sind. a) Der ausgestaltungsorientierte Ansatz Der ausgestaltungsorientierte Ansatz704 argumentiert wie folgt. Die Tarifautonomie sei, soweit sie den Abschluss von Tarifverträgen beinhalte, auf die Schaffung einfachrechtlicher Normenkomplexe angewiesen, damit die geschlossenen Vereinbarungen Rechtswirkungen entfalten.705 Ohne den staatlichen Anerkennungsbefehl durch das TVG hat der Tarifvertrag keine Rechtswirkungen.706 Soweit also die Rechtswirkungen des Tarifvertrags als solchem staatlich abgeleitet seien, müsse dies auch für seinen Inhalt gelten. Die Befähigung zur Regelung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen erwachse den Tarifvertragsparteien erst aus den Normen des einfachen Rechts.707 Beruht seine Rechtswirkung insgesamt auf staatlicher Anerkennung, so sind seine Regelungen ebenfalls von diesem Geltungsbefehl abhängig. Ohne Anerkennung gibt es mithin überhaupt keine Rechtsposition. Diese wird erst durch einen einfachgesetzlichen Normenkomplex konstituiert, der die denkbaren Regelungsmaterien auch nur eingeschränkt zur Verfügung stellen, mithin ausgestalten kann.708 Allerdings ist darauf zu verweisen, dass ein Anerkennungsbefehl notwendigerweise voraussetzt, dass ohne Anerken703 Gellermann, Grundrechte im einfachgesetzlichen Gewande, S. 89 ff.; Pieroth/ Schlink, Grundrechte, Staatsrecht II, Rn. 209; Schwarze, Der Betriebsrat im Dienste der Tarifvertragsparteien, S. 76. 704 Vgl. Engels, JZ 2008, 492 ff. 705 Gellermann, Grundrechte im einfachgesetzlichen Gewande, S. 156 f. 706 Döttger, Der Schutz tariflicher Normsetzung, S. 112 f.; Gellermann, Die Grundrechte im einfachgesetzlichen Gewande, S. 156 f.; Höfling in: Sachs, GG, Art. 9 GG, Rn. 76; Löwer in: v. Münch/Kunig, Art. 9 GG, Rn. 60; Pieroth, FS 50 Jahre BVerfG, S. 293 (303); Rupp, JZ 1998, 919 (922); Waltermann, ZfA 2000, 53 (60). 707 Gellermann, Grundrechte im einfachgesetzlichen Gewande, S. 165. 708 Gellermann, Grundrechte im einfachgesetzlichen Gewande, S. 165.
E. Konsequenzen der Bestimmung des Gewährleistungsgehalts
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nung etwas vorhanden ist, notwendigerweise also auch ohne diese geschaffen werden kann. Die Gestaltung von Rechtsfolgen ist ebenso schöpferischer Akt von Vertragsparteien709, wie Akt der Gesetzgebung. Diese Verzahnung ist nicht unproblematisch dadurch aufzulösen, dass man allein auf die Rechtsfolgenanerkennung durch das Gesetz rekurriert. Durch diese Sichtweise erweisen sich sämtliche staatliche Regelungen nicht als Eingriff in die tarifautonome Regelungsbefugnis, sie definieren sie.710 b) Kritik Damit wird unmittelbar die Frage nach den Grenzen dieser Ausgestaltungsbefugnis aufgeworfen. Diese unterscheiden sich von denen der Eingriffsdogmatik.711 Sie sind tendenziell großzügiger712, die Ausgestaltungsbefugnis ist aber keineswegs grenzenlos. Die bisweilen massive Kritik an der Ausgestaltungsdogmatik soll nur kurz aufgegriffen werden. Es soll der Hinweis genügen, dass die Kritik, soweit sie eine völlige Befreiung des Gesetzgebers von grundrechtlichen Bindungen befürchtet,713 im vorstehenden Kontext nicht durchgreift, weil solche Bindungen durchaus bestehen können714 und müssen. Dies gilt insbesondere dann, wenn man konstatiert, dass ausgestaltende Regelungen durchaus freiheitsbegrenzende Effekte haben können715, die tendenziell dafür sprechen, diese nach den Grundsätzen der Eingriffsdogmatik716 oder jedenfalls nach anderen Maßstäben zu behandeln als solche, die allein freiheitsschaffenden Charakter haben. Denjenigen Stimmen im Schrifttum, die meinen, man könne die Ausgestaltung eines Grundrechtes von seiner Einschränkung trennen, wird nicht völlig zu Unrecht vorgeworfen, dass dies eine bedenkliche Verschleierung der Tatsache ist, dass hier tatsächlich Eingriffsformen – nämlich die Ausgestaltung – geringeren Rechtfertigungsanforderungen ausgesetzt werden.717 Staatliches Verhalten sei 709
Canaris, AcP 184 (1984), 201 (217). Preis/Greiner, AS-Drs. 16 (11), 771, 21. 711 Döttger, Der Schutz tariflicher Normsetzung, S. 114; Friese, Kollektive Koalitionsfreiheit und Betriebsverfassung, S. 227 ff. 712 Friese, Kollektive Koalitionsfreiheit und Betriebsverfassung, S. 230; Thüsing, FS 50 Jahre BAG, S. 889 (892); kritisch Cornils, Die Ausgestaltung der Grundrechte, S. 396 ff.; vorsichtig auch: Gellermann, Grundrechte im einfachrechtlichen Gewande, S. 57. 713 Steinbeiß/Winkelmann, Grundrechtliche Freiheit und staatliche Freiheitsordnung, S. 109 ff. 714 Gellermann, Grundrechte im einfachgesetzlichen Gewande, S. 288 ff.; Ruffert, Vorrang der Verfassung und Eigenständigkeit des Privatrechts, S. 80. 715 Borowski, Grundrechte als Prinzipien, S. 152 f.; Cornils, Die Ausgestaltung der Grundrechte, S. 396 ff.; Löwisch/Rieble in: MüArbR, § 155, Rn. 76. 716 Cornils, Die Ausgestaltung der Grundrechte, S. 396 ff. 717 Borowski, Grundrechte als Prinzipien, S. 153. 710
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entweder Erfüllung eines Grundrechts, verhalte sich zu diesem indifferent oder schränke es ein. Der letztere Fall sei rechtfertigungsbedürftig und zwar unabhängig davon, wie sich das staatliche Verhalten strukturell umschreiben lasse.718 Daher ist es auch nachvollziehbar, dass Löwisch/Rieble meinen, dass auch bei der Ausgestaltung die Verhältnismäßigkeitsprüfung erforderlich sei und dabei jede die Koalitionsfreiheit berührende Regelung das grundrechtlich geschützte Interesse ins Verhältnis zum Regelungszweck stellen müsse.719 Ob man vor diesem Hintergrund soweit gehen muss, der Kategorie der Grundrechtsausgestaltung jeden sinnvollen Anwendungsbereich abzusprechen, mag dahinstehen. Wenn man aber anerkennt, dass Ausgestaltungen sich auch als grundrechtsbeschränkend erweisen können, so entbehrt die Annahme einer weitreichenden staatlichen Ausgestaltungsbefugnis ohne Schranken, die der Eingriffsdogmatik zumindest angenähert sind, ihrer Grundlage. Vielmehr ziehen sich diejenigen Stimmen im Schrifttum, die eine strikte Trennung mit disparaten Kontrollmaßstäben befürworten, den Vorwurf zu, Ergebnisse, die sich mit Blick auf den Telos eines Grundrechts nicht begründen lassen, durch die Hintertür der Ausgestaltungsdogmatik herbeiführen zu wollen. Ob eine klare Abgrenzung von Eingriffs- und Ausgestaltungsdogmatik streng durchführbar720 oder insbesondere aufgrund der eher flexiblen Formulierungen des BVerfG überhaupt möglich ist721, soll hier einstweilen offenbleiben. Das Problem stellt sich vorliegend nicht, weil unterschiedliche Ergebnisse aufgrund des ausgestaltungs- oder des hier vertretenen eingriffsdogmatischen Konzepts nicht bestehen. Generell ist aber darauf hinzuweisen, dass die Ausgestaltungsdogmatik nicht dazu missbraucht werden darf, eingriffsdogmatisch nicht zu begründende Ergebnisse durch die Entkopplung von deren Schranken über die Ausgestaltungsdogmatik zu erreichen. Es ist nicht hinreichend auf den Charakter der Ausgestaltungsgesetzgebung zu rekurrieren, um damit den Grundrechtsschutz einzuschränken722. Insbesondere dürfen die Maßstäbe hier nicht ohne Korrektive ausgestaltet werden oder unter Verweis auf den Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers (Stichwort: Einschätzungsprärogative723) der tatsächliche Schutzgehalt der Vorschriften verkürzt werden. Es mag angehen, wie auch im Rahmen der grundrechtlichen Schutzpflichten, eine Einschätzungsprärogative des Gesetzgebers anzuerkennen, solange diese den hier vertretenen Restriktionen unter-
718
Borowski, Grundrechte als Prinzipien, S. 153. Löwisch/Rieble in: MüArbR, § 155, Rn. 79 ff. 720 Bedenken bei: Cornils, Die Ausgestaltung der Grundrechte, S. 669; Gellermann, Grundrechte im einfachgesetzlichen Gewande, S. 55 ff.; Ruffert, Vorrang der Verfassung und Eigenständigkeit des Privatrechts, S. 105 ff. 721 Zweifelnd: Henssler, ZfA 1998, 1 (11), 722 Borowski, Grundrechte als Prizipien, S. 153, 723 Vgl. dazu bereits die Kritik oben 2. Kap. I. 5. und 3. Kap. C. IV. 3. a). 719
E. Konsequenzen der Bestimmung des Gewährleistungsgehalts
315
liegt.724 Es ist aber nicht akzeptabel, unter Verweis auf die Abhängigkeit eines Grundrechts von einfachrechtlichen Vorschriften den Grundrechtsschutz auszuhöhlen. Aufgrund der erheblichen Unsicherheiten im Schrifttum über die entsprechenden Fragen, können diese hier aber nur angerissen werden. Im Folgenden geht es lediglich um die Frage der Folgen eines Rückgriffs auf die Ausgestaltungsdogmatik. Da die Ausgestaltung der Schaffung von Grund- und Rahmenbedingungen für die Entfaltung des Grundrechts dient, sind ihre Grenzen mit Blick auf die innere Struktur des Grundrechts zu bilden.725 Dabei besteht für den Staat ein Gestaltungsspielraum726, auch wenn dieser nicht unbegrenzt sein kann. Dieser wird auch bei der Erfüllung des Ausgestaltungsauftrags durch die Ziel- und Zweckangaben des in Rede stehenden Grundrechts gesteuert.727 Dabei kann man mit Löwisch/Rieble durchaus auch hier ein Optimierungsgebot für den Gesetzgeber annehmen.728 Ein Bruch mit einer langen Rechtstradition wird dabei regelmäßig einen Eingriff, keine Ausgestaltung darstellen.729 Die wesentlichen Strukturprinzipien einer grundrechtlichen Gewährleistung, wie etwa bei der Tarifautonomie die unmittelbare und zwingende Wirkung des Tarifvertrags, sind in einem unantastbaren Kern garantiert.730 Diese Strukturprinzipien sind weder abwägungsfähig noch ist die Unterlassung ihrer Konstituierung der Rechtfertigung fähig. Werden sie verfehlt, liegt eine verfassungswidrige Ausgestaltung vor.731 c) Konsequenzen für die Auslegung der Tarifautonomie Die Funktionsfähigkeit der Tarifautonomie bildet dabei die Grundlage aller Ausgestaltung.732 Es kommt nach dieser Konzeption damit zu einem weiten Spielraum mit klar definierten Grenzen.733 Diese bestehen darin, dass der Staat die Zuordnung der im Rahmen der Ausgestaltung zu berücksichtigenden Interessen und Belange fehlsam vorgenommen hat und diese keinen angemessenen Ausgleich mehr beinhalten.734 Er muss aber die grundsätzlichen Direktiven der 724
Vgl. dazu unten 4. Kap. G. V. Engels, JZ 2008, 493; Gellermann, Grundrechte im einfachrechtlichen Gewande, S. 312 f.; BVerfG 1.3.1979, NJW 1979, 699 (708). 726 Engels, JZ 2008, 491 (494); Ruffert, Vorrang der Verfassung und Eigenständigkeit des Privatrechts, S. 80. 727 Gellermann, Grundrechte im einfachrechtlichen Gewande, S. 313. 728 Löwisch/Rieble in: MüArbR, § 155, Rn. 80. 729 Pieroth/Schlink, Staatsrecht II, Rn. 213 730 Engels, JZ 2008, 491 (494). 731 Butzer, RdA 1994, 375 (381); Gellermann, Grundrechte im einfachrechtlichen Gewande, S. 367 ff. 732 Wank, FS 50 Jahre ZVK Bau, S. 141 (143). 733 Engels, JZ 2008, 491 (494). 734 Engels, JZ 2008, 491 (494); Gellermann, Grundrechte im einfachrechtlichen Gewande, S. 350 ff. 725
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3. Kap.: Gewährleistungsgehalt des Art. 9 Abs. 3 GG
Verfassungsnorm735, hier die Kompensation struktureller Unterlegenheit durch kollektive Gegenmachtbildung, beachten. Dabei ist aber einerseits die verfassungsrechtliche Zielvorgabe der Tarifautonomie in den Blick zu nehmen und andererseits der, jedenfalls innerhalb klar gefasster Grenzen weniger bedenkliche, Spielraum staatlicher Gewalt zu beachten.736 Diese Maßstäbe werden mit Blick auf die Tarifautonomie so interpretiert, dass es den Koalitionen zwar möglich sein muss, den Abschluss ihrer vertraglichen Vereinbarungen eigenverantwortlich und frei von staatlicher Einflussnahme bestimmen zu können, nicht aber, dass ihnen eine Regelungskompetenz hinsichtlich aller im Rahmen der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen denkbarer Regelungen zugewiesen werden muss. Ausreichend sei ein zur eigenverantwortlichen Erfüllung der Koalitionsaufgaben geeignetes Instrumentarium. Dieses sei der Fall, solange den Tarifvertragsparteien die Möglichkeit verbleibe, innerhalb inhaltlich begrenzter Teilbereiche der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen Regelungen zu treffen.737 Insofern sei die Berufung auf legitime Interessen des Gemeinwohls erforderlich, die eine entsprechende Ausgestaltung tragen müssten.738 2. Das Abgrenzungsproblem Für dieses Verständnis als normgeprägte Freiheit kommt es entscheidend darauf an, welchen Gesichtspunkt man bei der Betrachtung tarifautonomer Regelung in den Vordergrund rückt: die als natürliche Handlung zu betrachtende Einigung über den Vertragsinhalt oder die normativ konstituierten Wirkungen dieses Vertrags. Da der Inhalt des Vertrags auf beiden Ebenen eine Rolle spielt, ist die Zuordnung schwierig, was auch eine Vielzahl der dogmatischen Probleme erklärt, die mit der Abgrenzung verbunden sind. Denn es darf nicht verkannt werden, dass neben der staatlichen Anerkennung der Rechtswirkungen von Verträgen, deren inhaltliche Gestaltung die Handlung von Individuen bleibt, die zunächst einmal unabhängig von der Frage der staatlichen Anerkennung und der Rechtsordnung erfolgt.739 Dabei ist zu betonen, dass die Zuordnung der Koalitionsfreiheit als Ganzes zur Ausgestaltungsgesetzgebung ausgeschlossen ist. Soweit den Grundrechtsträgern einzelne Handlungen ohne Rückgriff auf die subkonstitutionelle Rechtsordnung möglich sind, sind diese in jedem Fall der abwehrrechtlichen Dimension des Art. 9 Abs. 3 GG zuzuschlagen.740 Diese Arbeit beschränkt sich auf die Frage der Zuordnung der tariflichen Regelungsbefugnis. 735
Gellermann, Grundrechte im einfachgesetzlichen Gewande, S. 312 ff. Engels, JZ 2008, 491 (494); Gellermann, Grundrechte im einfachrechtlichen Gewande, S. 328 ff. 737 Engels, JZ 2008, 491 (494); Preis/Greiner, As.-Drs. 16 (11), 771, 22. 738 Engels, JZ 2008, 491 (494). 739 Oeter, AÖR 1994 (1994), 529 (543). 740 Gellermann, Grundrechte im einfachrechtlichen Gewande, S. 160. 736
E. Konsequenzen der Bestimmung des Gewährleistungsgehalts
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Und bei dieser bieten sich eben zwei Betrachtungsweisen an. Geht man davon aus, dass die Normsetzungsbefugnis durch die Tarifautonomie garantiert und damit obligatorisch vorhanden ist, ist jede staatliche Regelung der Arbeitsbedingungen nicht mehr Teil der die Tarifautonomie konstituierenden Normen. Damit ist für die Ausgestaltungsgesetzgebung kein Raum. Sieht man diese hingegen als immanente Begrenzung der normativ begründeten Befugnisse, ist man bei der Ausgestaltung.741 Gegen die Sichtweise, die die tarifautonome Regelungsbefugnis ebenfalls nach den Grundsätzen der Grundrechtsausgestaltung behandelt, gibt es im Schrifttum Bedenken. Die Regelung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen sei den Tarifvertragsparteien vom Verfassungsgeber zugewiesen und müsse von daher der Eingriffsdogmatik unterworfen werden.742 Sofern der Gesetzgeber eigene Regelungen vornehme, liege eine kompetenzielle Beschränkung vor.743 Mit anderen Worten wird die tarifvertragliche Regelung als autonomer vorstaatlicher Freiraum begriffen.744 Hiergegen wird auf die nach wie vor erforderlichen einfachrechtlichen Normkomplexe und deren freiheitskonstituierenden Charakter verwiesen. Tendenziell klingt eine solche Sichtweise für Normen, die ein Verfahren betreffen, auch beim BVerfG an.745 So wurde im 3. Rundfunkurteil eine an den Zielvorstellungen des Grundrechts orientierte Anwendung der Grundsätze der Grundrechtsausgestaltung verlangt. Danach gehört zur Ausgestaltung, und damit nicht zum Eingriff in das Grundrecht, die Frage des Verfahrens der Grundrechtsausübung. Die gesetzliche Ordnung habe nicht nur Verfahrensregeln, sondern auch materielle und organisatorische Regeln bereitzustellen, „die an der Aufgabe des Grundrechts orientiert sind und deshalb geeignet sind zu erreichen, was das Grundrecht gewährleisten will“. Damit erlangt die Frage nach den Zielen der Tarifautonomie eine erhöhte Bedeutung. Dieses ist die Kompensation struktureller Unterlegenheit der Arbeitnehmer746, zu der es einer umfassend geschützten Regelungsbefugnis gerade nicht bedarf. Die Grenzen der Ausgestaltung der Tarifautonomie liegen also mit Blick auf die Normsetzungsbefugnis erst dann vor, wenn das Normsetzungsverfahren durch Beschneidung der Regelungsbefugnis sinnlos wird. Dies entspricht der bereits oben im Schutzbereich entwickelten Sichtweise und lässt sich im Wesentlichen auf die gleichen Argumente stützen. Die Bestimmung der inhaltlichen Grenze folgt also exakt den obigen Ausführungen. Wenn
741 Ob mit dieser Abgrenzung etwas gewonnen ist ist zweifelhaft, es kommt auf die weitere Entwicklung der verfassungsrechtlichen Kontrolle innerhalb beider Systeme an. 742 Schwarze, Der Betriebsrat im Dienste der Tarifvertragsparteien, S. 87. 743 Schwarze, Der Betriebsrat im Dienste der Tarifvertragsparteien, S. 87. 744 Kittner in: AK-GG, Art. 9 Abs. 3 GG, Rn. 33. 745 BVerfG 16.6.1981, NJW 1981, 1774 (1775 f.). 746 Vgl. dazu oben 2. Kap. D. und 3. Kap D. I.
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3. Kap.: Gewährleistungsgehalt des Art. 9 Abs. 3 GG
also insofern bei einer Anwendung beider dogmatischer Modelle kein Unterschied für die verfassungsrechtlichen Anforderungen an die staatliche Regelung von Gegenständen, die auch Inhalt eines Tarifvertrags sein können, festzustellen ist, nimmt jedenfalls die Relevanz der Abgrenzungsfrage ab. Jedoch darf eines nicht verkannt werden: Art. 9 Abs. 3 GG erweist sich insofern als grundrechtsdogmatischer Sonderfall, als er gesondert verfassungsrechtlich geschützten Subjekten, den Koalitionen, eine grundrechtliche Gewährleistung zur Verfügung stellt. Der Schutz der Koalitionen selbst als Grundrechtsträger impliziert, dass diese aus Sicht der Verfassung als handelnde Subjekte anzusehen sind. Diese Sonderkonstellation bedeutet aber auch, dass die Trennung zwischen natürlicher Freiheit und rechtlicher Anerkennung hier etwas unpassend ist. Denn diese Trennung hängt eben an dem Ausgangspunkt, dass natürliche Personen handeln. Akzeptiert man den Grundrechtsschutz der Koalitionen selbst, so folgt darauf, dass hier andere Maßstäbe gelten müssen. Denn die Verfassung setzt ihr Handeln zur Gestaltung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen voraus. Damit wird alles Handeln, das „zur Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen“ erfolgt, unter den grundrechtlichen Schutz gestellt. Es spricht viel dafür, dass hierbei keine Differenzierung zwischen den einzelnen denkbaren Verhaltensweisen der Koalitionen zulässig ist, sondern sämtliche Handlungen der Koalitionen, auch solche, die unter Rückgriff auf einfachrechtliche Normkomplexe erfolgen, als solche Betätigungen anzusehen sind. Dann aber liegt es nahe, auch den Abschluss von Tarifverträgen nach den Grundsätzen der Eingriffsdogmatik zu behandeln. Damit erkennt die Verfassung unmittelbar, insofern lässt sich der Integrationstheorie747 noch folgen, an, dass die Handlungen der Koalitionen unabhängig von ihren Mitgliedern grundrechtlichen Schutz genießen und nach der Verfassung damit gleich einer natürlichen Handlung zu betrachten sind. Da aber die Koalitionen keine natürlichen Personen sind, ist damit rechtsgeprägtes Handeln durch Art. 9 Abs. 3 GG dennoch der Eingriffsdogmatik zuzuschlagen, soweit es die Koalitionen betrifft. Das Grundrecht macht schlichtweg keinen Sinn, wenn die tarifliche Normsetzung nicht als grundrechtlich geschützte Tätigkeit angesehen wird. Deren Umfang mag sich dann, gerade unter dem Gesichtspunkt der rechtlichen Vermitteltheit, restriktiv bestimmen. Kernelement dieser Bestimmung muss dann aber der Sinn und Zweck der Tarifautonomie bleiben. Dieser darf durch kein dogmatisches Konstrukt überspielt werden, seien es Tatbestandstheorien oder Abgrenzungsfragen grundrechtsdogmatischer Modelle. Unterschiedliche Ergebnisse auf Basis der verschiedenen Modelle sind dann aber eigentlich nicht möglich. Sollten sie doch auftreten, impliziert dies eine unzureichende Berücksichtigung der Besonderheiten des Grundrechts und eine Missachtung ihres Geltungsgrundes. 747
Vgl. dazu unten 5. Kap. B. III.
E. Konsequenzen der Bestimmung des Gewährleistungsgehalts
319
Fasst man die Überlegungen im neueren Schrifttum zur Tarifautonomie im Rahmen der Ausgestaltungsdogmatik zusammen, so zeigt sich, dass sie in der Tat ähnliche Resultate produziert wie das oben entwickelte Schutzbereichsmodell. Dabei konnte hier häufig auf die bereits oben dargestellten Grundsätze verwiesen werden. Damit erübrigt es sich aus Sicht des Verfassers auch, die Unsicherheiten über die Abgrenzung von Eingriffs- und Ausgestaltungsgesetzgebung umfassend aufzuarbeiten. Die entsprechenden Abgrenzungsprobleme, die zu erheblichem Durcheinander im Schrifttum geführt haben748, stellen sich für die hier zu untersuchende Frage der inhaltlichen Reichweite der tarifvertraglichen Regelungsbefugnis im Ergebnis nicht. Unabhängig von der Zuordnung bleibt es beim gleichen Ergebnis. Ob eine Abgrenzung überhaupt sinnvoll möglich ist, ist zwar durchaus zu bezweifeln, mit Blick auf die hier stehende Problematik aber nicht von entscheidender Bedeutung. Sofern man allerdings auf das Instrumentarium der Ausgestaltung zurückgreift, verbietet sich jede Relativierung der Schutzzwecke, des historischen Entstehungsprozesses und der im Wortlaut der Grundrechtsvorschriften angelegten Prinzipien des jeweiligen Grundrechts. Dies gilt insbesondere dann, wenn bestehende einfachrechtliche Institute, die bereits bei Inkrafttreten des Grundgesetzes bestanden, modifiziert werden sollen. Es ist hier sorgsam darauf zu achten, dass durch den Rückgriff auf dogmatische Konstrukte der grundrechtliche Gewährleistungsgehalt nicht ausgehöhlt wird, indem die Zuordnung eines Sachverhaltes zu einer der beiden Sichtweisen die grundrechtliche Freiheit im Ergebnis beeinträchtigt. Sie darf insbesondere nicht dazu instrumentalisiert werden, die Frage nach der Auslegung von Grundrechtsvorschriften mit Blick auf ihre Vorgaben für die Gesetzgebung durch eine vorgeschaltete dogmatische Sperre auszuschalten. Ebenso wenig darf der Rückgriff auf die Ausgestaltung dazu führen, dass atypische grundrechtliche Gewährleistungen negiert werden, weil sie sich nicht in das präferierte grundrechtsdogmatische Schema pressen lassen. Die Ausgestaltung ist grundsätzlich nur dort unproblematisch akzeptabel, wo sie wertneutral auf den bestehenden Normbestand einwirkt. Sie kann auch akzeptabel sein, wenn sie von diesem abweicht, muss dann aber den positiven Beweis antreten, dass die Verfassung den bestehenden Normkomplex nicht gerade zum Ausgangspunkt der Garantie gemacht hat. Es spricht vieles dafür, in solchen Konstellationen eine Annäherung an die Eingriffsdogmatik zu suchen.749 Dafür spricht jedenfalls im Bereich des Art. 9 Abs. 3 GG auch die Rechtsprechung des BVerfG, denn diese weist darauf hin, dass jedenfalls hier verfassungsrechtliche Bindungen dahin gehend bestehen, dass die Ausgestaltung nur unter Berücksichtigung der besonderen Anforderungen der Koalitionsfreiheit, der Beachtung des Ausgleichs unterschiedlicher grundrechtlicher Positionen, des Schutzes anderer 748 749
Vgl. dazu Cornils, Die Ausgestaltung der Grundrechte, S. 396 ff., m.w. N. Cornils, Die Ausgestaltung der Grundrechte, S. 676.
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3. Kap.: Gewährleistungsgehalt des Art. 9 Abs. 3 GG
Grundrechte Dritter oder anderer Rechtsgüter mit Verfassungsrang von der Sache her geboten, sowie allgemein unter Wahrung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit zulässig sind.750 In der Rechtsprechung wird deutlich darauf hingewiesen, dass auch für die Ausgestaltung des Art. 9 Abs. 3 GG verfassungsrechtliche Bindungen für den Gesetzgeber bestehen, die einer schutzminimierenden Ausgestaltungsdogmatik keinen Raum lassen. Sieht man die Grundrechte stärker im Sinne einer liberalen und damit auf Freiheitsoptimierung ausgerichteten Sichtweise, sind die entsprechenden Konstrukte auch mit Blick auf Charakter des Grundgesetzes als freiheitlicher Ordnung kritisch im Auge zu behalten.
XIII. Ergebnis: Tarifautonomie als Normsetzungsverfahren ohne vorrangige Regelungsbefugnis: Kompetenzparallelismus Die Tarifautonomie dient der Herstellung von Privatautonomie im Arbeitsrecht. Sie behebt eine durch Machtimparitäten verursachte Störung der Privatautonomie, indem sie gewährleistet, dass auf Seiten der Arbeitnehmer die hinreichende Marktmacht gebildet werden kann, um die Vertragsbeziehungen im Sinne eines echten freien Vertrags zu gestalten. Dazu bedarf sie zwingend des Schutzes eines Tarifvertragssystems als staatlicher Einrichtung und der für den Abschluss des Tarifvertrags erforderlichen Betätigungen, seien es die Koalitionsbildung, deren Bestandssicherung oder der Arbeitskampf. Mit diesen Instrumentarien sind sämtliche prozeduralen Elemente des Verhandlungsprozesses zwischen Arbeitgeber- und Arbeitnehmerkoalitionen benannt. Dieser Verhandlungsprozess selbst soll frei von staatlichen Ingerenzen in seinem konkreten Vollzug gestaltet werden. Die Teilautonomie stellt danach die Gewährleistung eines staatsfreien koalitionsmäßigen Einigungsprozesses, also primär der freien Verhandlungsführung selbst, dar.751 All das spricht zwingend für eine Normsetzungsbefugnis der Tarifvertragsparteien. Diese muss, um die Effektivität des Normsetzungsprozesses zu gewährleisten, mit unmittelbarer und zwingender Wirkung ausgestattet sein. Durch all diese Elemente werden die Tarifvertragsparteien befähigt, die privatautonome Regulierung der Arbeitsverhältnisse zu gewährleisten und durch kontradiktorischen Interessenausgleich insbesondere das Verhältnis von Leistung und Gegenleistung zu bestimmen. Die Tarifautonomie ist damit eine prozedurale Korrektur für den gestörten Vertragsmechanismus im Einzelarbeitsverhältnis. Wer dieses Verständnis zugrunde legt, kann das bisherige Verständnis einer autonomen inhaltlichen Regulierung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen 750 BVerfG 20.10.1981 NJW 1982, 815; BVerfG 26.6.1991, NJW 1991, 2549 (2550); BVerfG 10.1.1995 NJW 1995, 2339 (2340); BVerfG 4.7.1995, NJW 1996, 185 (186). 751 Kemper, Die Bestimmung des Schutzbereichs der Koalitionsfreiheit, S. 117 f.
E. Konsequenzen der Bestimmung des Gewährleistungsgehalts
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konsequent über Bord werfen. Die Tarifautonomie hat nicht die Aufgabe oder Funktion, den Staat aus seiner Regelungsbefugnis zu verdrängen. Sie dient dazu, dort, wo staatliches Recht fehlt, ergänzende Regelungen zu schaffen und schafft zu diesem Zweck ein Verfahren zur kollektiven Selbsthilfe. Zu diesem Zweck bedarf es auch einer Regelungsbefugnis für Gegenstände, die auch Inhalt des Arbeitsverhältnisses sein können. Diese Kompetenz ist mit § 1 Abs. 1 TVG verliehen. Verfolgt man konsequent die privatautonome Rückbindung der Tarifautonomie, so erscheint sie in erster Linie als Normsetzungsverfahren, nicht als staatsersetzende Regelungsbefugnis. Es gibt angesichts der erheblichen Dysfunktion, die ein Schutz der Tarifautonomie vor konkurrierender staatlicher Gesetzgebung bedeuten würde, auch keinen Grund die Tarifvertragsparteien vor dieser zu schützen, solange nicht das Normsetzungsverfahren selbst Schaden nimmt. Dies ist nicht wegen jeder staatlichen Regulierung der Fall, sei sie nun zwingend oder tarifdispositiv gestaltet. Nur dann, wenn staatliches Recht zweiseitig zwingend ausgestaltet wird, es per „Maßnahmegesetz“ konkrete Tarifverhandlungen gezielt vorwegnimmt752 oder die Regelungsbefugnis aushöhlt, kann eine solche Überwirkung angenommen werden. Als Kernelement der Regelungsbefugnis verbleibt, dass ihr Bestand an sich gesichert sein muss, also überhaupt noch Regelungskomplexe zur Verfügung stehen. Trennt man die Gewährleistungsgehalte der Tarifautonomie in dieser Weise, so zeigt sich, dass sich die eingriffsdogmatischen Probleme, die nach der Aufgabe der Kernbereichsrechtsprechung zu erheblichen Unsicherheiten geführt haben, nunmehr problemlos auflösen lassen, ohne gleich die gesamte Betätigungsgarantie durch die Konstruktion kollidierender Verfassungspositionen, bzw. die Modifikation von deren Prüfungsmaßstäben oder die Schaffung zusätzlicher Eingriffsrechtfertigungen, zu gefährden. Die tarifautonome Regelungsbefugnis besteht danach nur innerhalb des zwingenden staatlichen Gesetzesrechts. Setzt der Staat Mindestarbeitsbedingungen, so bedarf er hierzu keiner verfassungsrechtlichen Rechtfertigung, er umschreibt lediglich die Außengrenzen der tarifautonomen Regelungsbefugnis. Bei diesem Verständnis besteht keine Notwendigkeit, extensive grundrechtliche Rechtfertigungstatbestände zurechtzubiegen, um die eingriffsdogmatischen Probleme zu überwinden. Denn die Tarifautonomie ist eben als Freiheit zur autonomen Normsetzung zur Herstellung von Freiheit im Verhältnis zwischen den Vertragsparteien, nicht als Abwehrrecht gegen staatliche freiheitsgewährleistende Maßnahmen konzipiert. Es ist erneut auf den Gleichlauf der Regelungsziele von Tarifautonomie und einseitig zwingender staatlicher Regelung zu verweisen, wenn man diese als Kompensation struktureller Unterlegenheit begreift. Die Tarifautonomie beansprucht damit keinen Vorrang vor staatlicher Gesetzgebung; ein Umstand, der ihrem zunehmend privatautonomen Verständnis auch weit besser zu Gesicht steht. Will der Staat die Tarifvertragsparteien als quasi-staatliche Gewalt 752
Preis, B., ZfA 1972, 271 (297).
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3. Kap.: Gewährleistungsgehalt des Art. 9 Abs. 3 GG
einsetzen oder sie partiell an der Ausübung staatlicher Gewalt beteiligen, so mag er dies durch Einzelermächtigung tun. Ansonsten verbleiben diese im Status von Privaten. Das abweichende Modell gelangt im Übrigen aufgrund seiner Modifikationen des grundrechtlichen Prüfprogramms auch regelmäßig nicht zu anderen Ergebnissen, verschleiert dies aber durch ein modifiziertes Prüfprogramm, dass noch dazu dehnbare und unpräzise Kontrollmaßstäbe produziert. Diese sind mit den Grundsätzen von Transparenz und Rechtssicherheit nur schwer in Einklang zu bringen. Im Kern wird die Aufgabenverteilung, tarifautonome Regulierung innerhalb des einseitig zwingenden staatlichen Gesetzesrechts, auch den Zwecken der Tarifautonomie besser gerecht, wenn man diese in erster Linie in einem streng zu schützenden Normsetzungsverfahren begreift, in dem das Gesamtverhältnis von Leistung und Gegenleistung weitgehend frei reguliert werden kann. Nach alledem beschränkt sich der Gewährleistungsgehalt der Tarifautonomie auf ein Normsetzungsverfahren, das der Schaffung einer Regelungsbefugnis bedarf, die allerdings nur innerhalb der Grenzen staatlichen Gesetzesrechts besteht und nicht ausgehöhlt werden darf. Die Tarifautonomie ist demnach ein prozedurales Grundrecht und auf die kollektive Herstellung von Privatautonomie gerichtet. Die Notwendigkeit eines Schutzes vor konkurrierender staatlicher Gesetzgebung besteht nicht. Mit Sinn und Zweck des Grundrechts ist dieser nur schwer zu vereinbaren. Fasst man die verschiedenen Ergebnisse zur Auslegung des Art. 9 Abs. 3 GG zusammen, so lässt sich Folgendes festhalten. Weder Wortlaut noch Systematik des Art. 9 Abs. 3 GG sprechen für ein Verständnis, das die staatliche Regelung gegenüber der Tarifautonomie als subsidiär begreift. Vielmehr zeigen sich bereits hier Elemente, die deutlich dafür sprechen, die Tarifautonomie nicht mit dem Inhalt einer vorrangigen Regelungsbefugnis gegenüber staatlicher Gesetzgebung zu beladen. Dies gilt insbesondere für das Verhältnis des Art. 9 Abs. 3 GG zu Art. 12 Abs. 1 GG, aber auch mit Blick auf die Schranken des Art. 9 Abs. 3 GG. Soweit es die Entstehungsgeschichte betrifft, ist die Annahme einer vorrangigen Regelungszuständigkeit ebenfalls nicht überzeugend. Auch diese spricht für das hier präferierte Verständnis der Tarifautonomie als Verfahrensgarantie. Die Entstehungsgeschichte zeigt, dass die Tarifautonomie stets nur in den Grenzen zwingenden staatlichen Gesetzesrechts bestand und ein Verständnis einer Vorranggarantie sowohl der Weimarer Reichsverfassung, als auch den Vätern des Grundgesetzes fremd war. Die abweichende Entwicklung, die die Tarifautonomie in der Praxis genommen hat, steht dem nicht per se entgegen. Entscheidend ist, dass Sinn und Zweck der Tarifautonomie dem Schutz vor konkurrierender staatlicher einseitig zwingender Regulierung entgegenstehen. Die Kompensation struktureller Unterlegenheit bedarf keines Schutzes vor staatlicher konkurrierender Rechtsetzung. Begreift man diese ohnehin eher als kollektiv hergestellte Pri-
F. Gesamtergebnis des Ergebnisses des 2. und 3. Kapitels
323
vatautonomie, ist ein staatliche Regulierung verdrängendes Verständnis auch wenig überzeugend. Insbesondere sprechen auch die höhere Praktikabilität, die Transparenz und die Vermeidung der Schaffung grundrechtsgefährdender Rechtfertigungstatbestände für die vorstehende Betrachtungsweise. Die Tarifautonomie ist damit ein verfassungsrechtlich abgesichertes Verfahren zur Kompensation gestörter Vertragsparität im Arbeitsverhältnis. Sie gewährleistet hierzu eine Normsetzungsbefugnis mit unmittelbarer und zwingender Wirkung. Dieses erzeugt durch die paritätische Gestaltung der Arbeitsbedingungen im idealen Fall angemessene Regelungen.753 Jedoch bietet sie hierzu lediglich eine Erfolgschance. Es ist keinesfalls garantiert und kann, wenn man die Tarifautonomie auf ein verfassungsrechtlich gewährleistetes Verfahren reduziert, auch nicht gewährleistet sein, dass die erzeugten Normen tatsächlich materiell gerecht sind.754 Dies wird aufgrund des Verfahrens, in dem sie erzeugt werden, lediglich erwartet. Im Ergebnis besteht die tarifautonome Regelungsbefugnis damit nur in den Grenzen einseitig zwingenden staatlichen Gesetzesrechts und ist nur vor einer Aushöhlung durch den Gesetzgeber geschützt, weil dies dem tariflichen Normsetzungsverfahren seinen Sinn nimmt. Die tarifvertragliche Normsetzungsbefugnis ist dagegen als Geltungsgrund der Tarifautonomie und ihr historischer Kern umfassend geschützt.
F. Gesamtergebnis des Ergebnisses des 2. und 3. Kapitels I. Trennung zwischen Normsetzungs- und Regelungsbefugnis Die Tarifautonomie ist in ihrem Gewährleistungsgehalt in eine Normsetzungsbefugnis, die das Recht beinhaltet, Normen, die unmittelbar und zwingend auf Arbeitsverhältnisse einwirken, zu setzen, und in eine Regelungsbefugnis, die die inhaltliche Gestaltung der so geschaffenen Normen betrifft, zu trennen. Die Normsetzungsbefugnis ist Kernelement der durch die Tarifautonomie angestrebten Kompensation struktureller Unterlegenheit der Arbeitnehmer. Die Regelungsbefugnis betrifft diese Zielsetzung nur insofern als den Tarifvertragsparteien überhaupt Regelungsmöglichkeiten offen stehen müssen, die dieses Ziel verwirklichen. Damit stellt sie sich als eine Art Annexgarantie der Normsetzungsbefugnis dar.
753
Rüfner, RdA 1985, 193 (194). Ähnlich Rüfner, RdA 1985, 193 (194), „Vermutung für gerechte Lösung“; kritisch auch Zachert/Schüren, AuR 1988, 245 (246). 754
324
3. Kap.: Gewährleistungsgehalt des Art. 9 Abs. 3 GG
II. Tarifautonomie als prozedurale Korrektur der Privatautonomie Damit liegt der Kern der Tarifautonomie darin, ein Verfahren zu schaffen, das als Korrekturmechanismus zur Privatautonomie Machtimparitäten bei Begründung und Vollzug des Arbeitsverhältnisses behebt. Die Tarifautonomie ist damit als prozedurales Grundrecht oder als Garantie eines Verfahrens zur Herstellung von Privatautonomie konzipiert. Sie gewährleistet ein Verfahren, das einen Vertragsschluss auf Basis materieller Freiheit ermöglicht, korrigiert also Defizite im Entstehungsprozess und Vollzug des Arbeitsverhältnisses. Diese Funktion setzt zwingend eine umfassende und vor einzelvertraglicher Abweichung geschützte Normsetzungsbefugnis voraus. Völlig anders sieht dies mit Blick auf die Regelungsbefugnis aus. Selbstverständlich wird der Kompensationseffekt für die Störungen des Vertragsmechanismus über die auf Basis der Normsetzungsbefugnis getroffenen Regelungen verwirklicht. Diese umschreiben die sozialen Schutzgrenzen, die der Tarifvertrag setzt. Dazu ist es aber lediglich erforderlich, dass solche Grenzen gezogen werden können. Dass der Gesetzgeber selbst solche Grenzen zieht, tangiert den Schutzzweck der Tarifautonomie nicht. Insbesondere die Entstehungsgeschichte der Tarifautonomie zeigt, dass diese in erster Linie vor dem Hintergrund defizitärer staatlicher Schutzgesetzgebung, nicht als Gegenkonzept zu dieser entstanden ist. Eine subsidiäre Regelungszuständigkeit des Staates widerspricht damit Entstehungsgeschichte und Sinn und Zweck der Tarifautonomie. Die Regelungsbefugnis ist vielmehr als Betätigungsfeld notwendige Voraussetzung der Normsetzungsbefugnis, da diese ansonsten nicht sinnvoll ausgeübt werden kann. Dazu bedarf es lediglich der Möglichkeit, Regelungen zu treffen, die einen funktionierenden, privatautonomen, kontradiktorischen Interessenausgleich bewirken. Eine umfänglich definierte Vorranggarantie gegenüber staatlicher Regelung ist hierzu nicht erforderlich. Möglich bleiben muss lediglich, dass im Rahmen einer Gesamtbetrachtung den Tarifvertragsparteien die Chance zur eigenständigen Regelung verbleibt. Ein Schutz konkreter Hausgüter oder einzelner Regelungskomplexe ist damit nicht verbunden. Die Regelungsbefugnis besteht damit lediglich in den Grenzen des einseitig zwingenden Gesetzesrechts, solange die staatlichen Regelungen nicht durch Aushöhlung auf die Normsetzungsbefugnis überwirken. Auch wenn in zwingenden staatlichen Regelungen keine relevanten Überwirkungen auf die Normsetzungsbefugnis zu sehen sind, ist aber darauf hinzuweisen, dass der Normsetzungsprozess frei von staatlicher Einflussnahme zu bleiben hat. Der Staat hat sich aus laufenden Tarifverhandlungen herauszuhalten und nicht deren Ergebnisse vorweg festzulegen oder den konkreten Verhandlungsverlauf durch auf diesen bezogene Einzelfallmaßnahmen zu steuern. Diese Fragen sind aber solche des Schutzes des Normsetzungsverfahrens, nicht der Regelungsbefugnis.
F. Gesamtergebnis des Ergebnisses des 2. und 3. Kapitels
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III. Zur Praxistauglichkeit des Kompetenzparallelismus Das vorstehende Verständnis hat eine Vielzahl von Vorzügen. In tatsächlicher Hinsicht hat in der Geschichte der Bundesrepublik stets ein Nebeneinander von staatlicher und tariflicher Regulierung der Arbeitsbedingungen bestanden. Dieses Verhältnis ist weitgehend konfliktlos gewesen, außer der Gesetzgeber unternahm den Versuch, den Tarifvertragsparteien ganz konkrete Ergebnisse ohne jede Abweichungsmöglichkeit aufzuoktroyieren, was wie gezeigt aber eine Frage der Beeinträchtigung der Normsetzungsbefugnis ist. Im Wesentlichen ist das hier vertretene Verständnis der Tarifautonomie also mit der bestehenden Rechtslage, wie sie sich unter dem Grundgesetz entwickelt hat, im Einklang und erfordert keine grundlegenden Veränderungen. Ganz im Gegensatz dazu müsste bei einer Sichtweise, die bereits tarifdispositive Gesetze als Eingriff in die Tarifautonomie begreift, das gesamte individuelle Arbeitsrecht auf den Prüfstand gestellt und als Eingriff in die Tarifautonomie gerechtfertigt werden. Dass dies in tatsächlicher Hinsicht primär dazu führen würde, dass fragwürdige Rechtfertigungstatbestände entwickelt würden, zeigen bereits die aktuellen Entwicklungen in der Judikatur des BVerfG.755. Eine solche Betrachtungsweise kann auch nicht unter Rekurs auf vorgeblich freiheitsfreundliche Tatbestandsinterpretationen überspielt werden. Diese finden ihre Schranken im Sinn und Zweck der grundrechtlichen Gewährleistung. Vorzüge hat das vorstehende Modell auch deshalb, weil es zu einer klaren und transparenten Abgrenzung staatlicher und tarifvertraglicher Befugnisse führt, die sich auch konsequent aus der neueren, die privatautonome Sichtweise der Tarifautonomie stärker betonenden Sichtweise, ergibt. Denn in diesem Fall sind eben in erster Linie private Normsetzer am Werk, wo Tarifautonomie praktiziert wird. Ein den Staat ersetzendes oder verdrängendes Moment dieser privaten Normsetzer ist damit schwer vereinbar. Die Tarifautonomie wird eben als privatautonomes Regulativ im Rahmen der Privatrechtsbeziehungen qualifiziert und vom hohen Sockel einer vom Staat delegierten Rechtsmacht gehoben.756 Damit sind allerdings dann eben auch Paradigmenwechsel im Rahmen der Normsetzungsbefugnis verbunden. Insofern hat die Veränderung des Schutzkonzepts auf beiden Ebenen Auswirkungen.
IV. Verbesserter Grundrechtsschutz als Konsequenz des Kompetenzparallelismus Damit ist man unmittelbar bei einer weiteren positiven, wenn auch für die Rechtsprechung, maßgeblich die des BAG unbequemen Folge. Die vorstehende 755 756
Vgl. dazu oben 2. Kap. C. IV., 2. Kap. B. I. 5. Vgl. dazu auch 5. Kap. B.
326
3. Kap.: Gewährleistungsgehalt des Art. 9 Abs. 3 GG
Sichtweise verbessert den Grundrechtsschutz, indem sie Kompetenzen klarer zuweist. Denn sie betont die Aufgabe des Staates, einen Rahmen zu schaffen, in dem die tarifautonome Regelungsbefugnis besteht. Wenn der Staat aber berechtigt ist, diesen zu schaffen, ist damit notwendigerweise auch die Bindung der Tarifvertragsparteien auf diesen begrenzt. Es bedarf keiner exzeptionellen und dogmatisch nicht zu begründenden Bindung der Tarifvertragsparteien an die Grundrechte, auch nicht an deren Schutzpflichtendimension. Diese Bindungen sind an den Rahmen-setzenden Staat gerichtet, der diese konsequent durch die Konfiguration der Regelungsbefugnisse der Tarifvertragsparteien zu verwirklichen hat. Damit ist ihm allerdings, auch die Möglichkeit genommen, diese Aktivitäten unter Rekurs auf die angeblich vorrangigen Regelungen der Tarifvertragsparteien zu unterlassen.757 Dies stellt die Rechtsprechung allerdings vor das Problem, dass sie sich nicht mehr in einfachgesetzlich nicht geregelte Bindungen der Tarifvertragsparteien oder deren zu respektierende vorrangige Normsetzungsbefugnisse flüchten kann, um sich argumentativ aus dem Problem zu winden, staatliche Schutzpflichtverletzungen durch fehlendes einseitig zwingendes Gesetzesrecht attestieren zu müssen. Diese treten bei der vorstehenden Kompetenzabgrenzung nämlich dort transparent zutage, wo sie bisher über ungeschriebene judikative Schranken vernebelt wurden. Schließlich werden bei dem vorstehenden Modell auch die Probleme bei der Auslegung des einfachen, aber vor allem auch des tarifdispositiven Gesetzesrechts, vereinfacht. Denn die Ansicht, eine besonders weite Auslegung der Regelungsbefugnisse der Tarifvertragsparteien sei durch die Verfassung geboten, ist dann nicht mehr überzeugend. Insgesamt werden durch das hier vertretene Verständnis der tarifautonomen Regelungsbefugnis die Kollateralschäden vermieden, die Schutzbereichskonzepte, die einheitlich auf Normsetzungs- und Regelungsbefugnis bezogen sind, zwangsläufig verursachen, wenn sie beide Elemente einheitlich betrachten. Konsequenz des vorstehenden Verständnisses ist des Weiteren, dass ansonsten die Rechtfertigungslast für Übergriffe in die Tarifautonomie der Struktur des Grundrechts entsprechend massiv erhöht werden kann. Von der Gefahr entbunden, den staatlichen Gesetzgeber im Arbeitsrecht zu paralysieren, können die sonstigen Betätigungsformen wieder unter ein strenges, enges und transparentes Schrankenregime gestellt werden, das sich zur Vermeidung von Wertungswidersprüchen zwischen verschiedenen Schutzpositionen nicht inkonsequent hin und her winden muss. Die Notwendigkeit, flexible, intransparente und bis an die Grenze der Willkürlichkeit dehnbare Rechtfertigungstatbestände zu konzipieren, wird beseitigt. Dies dient nicht nur der Rechtssicherheit, sondern führt auch dazu, dass das Grundrecht wieder zur wirklichen Hemmschwelle für staatliche Übergriffe wird. Dies gilt insbesondere, weil der weitgehend konturenlose, willküranfällige Abbau
757
Vgl. dazu unten 5. Kap.
F. Gesamtergebnis des Ergebnisses des 2. und 3. Kapitels
327
des Grundrechtsschutzes durch die Aufweichung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes aufgegeben werden kann.
V. Kein Schutz der Tarifautonomie vor einseitig zwingendem Gesetzesrecht Auch vor diesem Hintergrund überzeugt das vorstehende Modell. Damit ist im Ergebnis weder einseitig zwingendes noch tarifdispositives Gesetzesrecht ein Eingriff in die Tarifautonomie oder jedenfalls nur als zulässige Ausgestaltung eben dieser zu begreifen. Seine Schranken findet dies dort, wo die Regelungsbefugnis ausgehöhlt wird oder die Normsetzungsbefugnis durch Präformierung eines konkreten Ergebnisses beeinträchtigt wird. Bei zweiseitig zwingenden Regelungen kann dies anders sein. Aber auch hier besteht ein Eingriff nur vermittelt über die Normsetzungsbefugnis und aufgrund der Überlegung, dass solche Regelungen mit dem Schutzzweck der Tarifautonomie unvereinbar sind. Ansonsten besteht zwischen der staatlichen und der tarifvertraglichen Regelungsbefugnis kein Verhältnis, in dem die Tarifvertragsparteien eine vorrangige Regelungsbefugnis hätten.
4. Kapitel
Grenzen tarifdispositiven Rechts im Kontext staatlicher Schutzpflichten Sind weder die Schaffung einseitig zwingenden Gesetzesrechts noch die Schaffung tarifdispositiven Gesetzesrechts als rechtfertigungsbedürftiger Eingriff in die Tarifautonomie zu betrachten, so stellt sich die Frage, ob die tarifdispositive Gestaltung gesetzlicher Regelungen aus anderen Gründen verfassungsrechtlichen Grenzen unterliegt. Diese Problematik entsteht unabhängig davon, ob man die vorstehende Auffassung zum Gewährleistungsgehalt der Tarifautonomie teilt. Denn die Frage nach den Grenzen der tariflichen Regelungsbefugnis durch grundrechtliche Schutzpflichten stellt sich unabhängig vom dogmatischen Modell, das der Tarifautonomie zu Grunde gelegt wird. Öffnet der Gesetzgeber gesetzliche Mindestregelungen für verschlechternde Abweichungen durch die Tarifvertragsparteien, stellt er diese also tarifdispositiv, so kann sich daraus eine Verletzung grundrechtlicher Schutzpflichten ergeben. Denn wird das Schutzniveau des Gesetzes in einem Umfang zur Disposition der Tarifvertragsparteien gestellt, der Regelungen zulässt, die Grundrechte der Tarifunterworfenen oder Dritter verletzen können, so unterlässt er Schutzregelungen, zu deren Erlass er kraft Verfassung verpflichtet sein kann. Im Folgenden geht es auch um die Frage, ob der Gesetzgeber tarifdispositives Gesetzesrecht nur in bestimmten verfassungsrechtlichen Grenzen schaffen darf. Dabei treten zum einen staatliche Schutzpflichten für die Grundrechte der Tarifunterworfenen, zum anderen aber auch die Frage nach dem Schutz von Grundrechten Dritter in den Vordergrund. Des Weiteren stellt sich die Frage, ob der Gesetzgeber darauf achten muss, tarifautonome Regelungsbefugnisse nur dort zu schaffen, wo auch eine funktionsfähige Tarifautonomie besteht. Dies gilt insbesondere dann, wenn er an den Sachverstand der Tarifvertragsparteien anknüpft. Bevor diese Probleme gelöst werden können, bedarf es einer Vergewisserung über die Dogmatik der Schutzpflichten, die keineswegs vollständig entwickelt ist. Eine Vielzahl von Fragen, insbesondere solche, die das kompetenzielle Verhältnis zwischen den einzelnen Trägern staatlicher Gewalt betreffen, sind umstritten. Sieht man die gegenwärtige Diskussion um die grundrechtlichen Schutzpflichten und ihre Bedeutung im Rahmen der Tarifautonomie, so ist festzustellen, dass die Frage der Kompetenzverteilung zwischen Gerichten und parlamentarischem Gesetzgeber bei der Erfüllung grundrechtlicher Schutzpflichten nicht abschließend geklärt ist.
A. Zum Konzept der grundrechtlichen Schutzpflichten
329
Die Rechtsprechung des BVerfG hat zwar dem BAG weitgehende Handlungsspielräume eröffnet, die Kritik in der Literatur hieran nimmt aber zu. Dies betrifft insbesondere die Frage der Rückbindung der Schutzpflichtendogmatik an gesetzliche Regelungen. Dabei sind nicht nur die Reichweite der Wesentlichkeitstheorie und des Vorbehalts des Gesetzes von Bedeutung. Es geht dabei auch um die Frage der Qualität des Grundrechtsschutzes, den die jeweiligen Instanzen staatlicher Gewalt herstellen können. Diese Vorfragen sind zu klären, wenn man sich im weiteren Verlauf der Frage der richterrechtlich entwickelten Grundrechtsoder Schutzpflichtenbindung der Tarifvertragsparteien zuwenden will.1 Daher muss sowohl die kompetenzielle Abgrenzung zwischen den verschiedenen Trägern staatlicher Gewalt vorab untersucht werden als auch die Frage der Anwendbarkeit und Reichweite von Wesentlichkeitstheorie und Vorbehalt des Gesetzes im Rahmen der Schutzpflichtendogmatik. Sind diese Rahmenbedingungen skizziert, stellt sich die Frage, in welchem Umfang Schutzpflichten die staatliche Gewalt zum Handeln verpflichten. Will man überprüfen, ob tarifdispositive Regelungen grundrechtliche Schutzpflichten verletzen, kommt man um die Klärung von Inhalt und Reichweite sowie der Kontrollmaßstäbe, die im Rahmen der Schutzpflichtendogmatik greifen, nicht herum. Sind auch diese notwendigen Vorarbeiten geleistet, lässt sich die Überzeugungskraft des gegenwärtigen Modells der Schutzpflichtenrealisierung im Tätigkeitsbereich der Tarifvertragsparteien untersuchen. Dabei sind verschiedene Institute des Tarifrechts auf ihren Beitrag zur Realisierung der grundrechtlichen Schutzpflichten zu behandeln. Dabei geht es um die Grundrechtsbindung der Tarifvertragsparteien, die Richtigkeitsgewähr des Tarifvertrags, sowie die Anforderungen, die an die Tariffähigkeit und damit an die Berechtigung zum Gebrauch tarifdispositiver Vorschriften zu stellen sind. Dies gilt nicht nur angesichts problematischer Fälle von Missbrauch der Tarifautonomie2, sondern auch vor dem Hintergrund einer sich zerfasernden Tariflandschaft und zurückgehender Mitgliederzahlen bei den Gewerkschaften. Es zeigen sich mittlerweile Konstellationen, in denen der Tarifvertrag für die Beschäftigten nur noch formal eine schützende Wirkung hat. Diese Umwälzungen müssen bei den entsprechenden Weichenstellungen mitbedacht werden.
A. Zum Konzept der grundrechtlichen Schutzpflichten Fragt man nach den Grenzen tarifdispositiven Gesetzesrechts durch staatliche Schutzpflichten, so ergibt sich ein Dilemma. Die klassische Funktion der Grundrechte als Eingriffsabwehrrechte greift dort zu kurz, wo die Beeinträchtigung ei1
Vgl. dazu unten 5. Kap. Zuletzt die GNBZ, vgl. dazu ArbG Köln 30.10.2008, ArbuR 2009, 100; LAG Köln 20.5.2009, ArbuR 2009, 316; Wank/Schmidt, RdA 2008, 257 ff. 2
330
4. Kap.: Grenzen tarifdispositiven Rechts
ner Grundrechtsposition nicht durch den Staat, sondern durch andere Bürger droht.3 Zur Lösung dieses Problems ist die mittlerweile allgemein anerkannte Lehre von den grundrechtlichen Schutzpflichten4 entwickelt worden. Diese komplettiert den grundrechtlichen Schutz durch eine Verpflichtung des Staates, nicht nur selbst Eingriffe in die grundrechtliche Freiheit von Bürgern zu unterlassen, sondern die grundrechtliche Freiheit des Bürgers vor Übergriffen anderer Bürger zu schützen. Andererseits führt ein Tätigwerden des Staates zum Schutz grundrechtlicher Freiheiten, insbesondere bei weit gefassten grundrechtlichen Tatbeständen, unter Umständen gleichzeitig zu einer Belastung eines anderen Freiheitsträgers.5 Dabei tritt die Problematik in den Vordergrund, dass es einem Träger grundrechtlicher Freiheiten regelmäßig gleichgültig sein dürfte, von welcher Seite die Beeinträchtigung seiner grundrechtlichen Schutzposition droht.6 Die klassische Eingriffsdogmatik gibt ihm bei einer staatlichen Handlung ein Eingriffsabwehrrecht mit einer umfassenden Verhältnismäßigkeitsprüfung an die Hand. Wird er hingegen durch Private beeinträchtigt, soll die grundrechtliche Schutzpflicht nur in enger definierten Grenzen7 greifen. Danach soll das Untermaßverbot als eine Art „Überhaupt-Schutz“ fungieren. Hingegen kann der übergreifende Bürger seine eingriffsabwehrbewehrte Rechtsposition gegen ebendiesen staatlichen Schutz in Stellung bringen. Diese Situation erzeugt eine gewisse Schieflage, die den auf staatlichen Schutz Angewiesenen benachteiligen kann. Sie ist Gegenstand der Kritik im Schrifttum.8 Dabei wird mit Blick auf die hier zu untersuchenden tarifdispositiven Vorschriften die Frage nach der konkreten Ausformung des Schutzmodells der grundrechtlichen Schutzpflichten besonders bedeutsam. Die folgenden Überlegungen fokussieren damit auf die Frage nach dem Inhalt und dem Umfang der grundrechtlichen Schutzpflichten. Eine umfassende Ausarbeitung ihrer Begründung würde den Rahmen dieser Arbeit sprengen und ist 3 Calliess in: Merten/Papier, Handbuch der Grundrechte II, § 44, Rn. 4; Dieterich, RdA 1995, 129 (130); Erichsen, Jura 1997, 85; Ruffert, Vorrang der Verfassung und Eigenständigkeit des Privatrechts, S. 141 ff. 4 BVerfG 25.2.1975, NJW 1975, 573 (575 ff.); BVerfG 8.8.1978, NJW 1979 359 (363); BVerfG 20.12.1979, NJW 1980, 759 (761); BVerfG 14.1.1981, NJW 1981, 1655 (1656); BVerfG 28.5.1993, NJW 1993, 1751 (1753 ff.); BVerfG 13.2.2007, NJW 2007, 753 ff.; Calliess in: Merten/Papier, Handbuch der Grundrechte II, § 44, Rn. 1 ff.; Dietlein, Die Lehre von den grundrechtlichen Schutzpflichten, S. 39 ff.; Dreier in: Dreier, GG, Vorb., Rn. 101 ff.; Erichsen, Jura 1997, 85 ff.; Hager, JZ 1994, 373 (378); Krings, Grund und Grenzen grundrechtlicher Schutzansprüche, S. 83 ff.; Sachs in: Sachs, GG, vor Art. 1 GG, Rn. 35; Jarass in: Jarass/Pieroth, GG, vor Art. 1 GG, Rn. 8; Möstl, DÖV 1998, 1029; Stern, HdbStR, § 109, Rn. 59; sowie Stern, Staatsrecht, Bd. III, S. 931 ff.; Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 410 ff. 5 Dieterich in: ErfK, GG, Art. 9 GG, Rn. 38; Erichsen, JURA 1997, 85; Oeter, AÖR 119 (1994), 529 (548). 6 Vgl. dazu oben 2. Kap. C. IV. 7 Dazu sogleich 4. Kap. G. 8 Poscher, Grundrechte als Abwehrrechte, S. 131.
A. Zum Konzept der grundrechtlichen Schutzpflichten
331
auch nicht ihr Anspruch. Es sollen vielmehr die hinter den verschiedenen Sichtweisen stehenden Denkansätze dargestellt werden, da diese für die weiteren Überlegungen durchaus Bedeutung haben. Von größerer Bedeutung ist allerdings die Zuordnungsfrage der Tariföffnungsklausel zu der Dogmatik der eingriffsgleichen Grundrechtsgefährdung oder der des schutzpflichtenwidrigen Unterlassens. Will man dem Schutzpflichtenmodell folgen, so stellt sich die Frage, wann und unter welchen Voraussetzungen eine Verletzung vorliegt.
I. Objektivrechtliche Herleitung grundrechtlicher Schutzpflichten (BVerfG) Der grundsätzliche Bestand grundrechtlicher Schutzpflichten ist allgemein anerkannt, ihre Herleitung ist umstritten. Das BVerfG hat die Entwicklung grundrechtlicher Schutzpflichten zunächst mit einer Kombination aus Art. 1 Abs. 1 S. 1 GG und der objektivrechtlichen Dimension der Grundrechte begründet.9 Später hat es den Rückgriff auf Art. 1 Abs. 1 GG nicht weiterverfolgt. Maßgeblicher Ausgangspunkt bleibt für das BVerfG die objektivrechtliche Dimension der Grundrechte.10 Ein Großteil der Lehre ist dem BVerfG, wenn auch mit terminologischen Differenzen, gefolgt und leitet die grundrechtlichen Schutzpflichten ebenfalls aus der objektivrechtlichen Dimension der Grundrechte her.11 Teilweise wird diese Ableitung aus der objektiv-rechtlichen Dimension als grundrechtliche Umsetzung einer allgemeinen „Staatsaufgabe Sicherheit“ angesehen.12 Diese Variante weist ein hohes Maß an Übereinstimmung mit dem Teil des Schrifttums auf, der die grundrechtlichen Schutzpflichten staatstheoretisch herleitet.13
II. Staatstheoretischer Ansatz Ein Teil der Lehre stützt die Herleitung grundrechtlicher Schutzpflichten auf einen staatstheoretischen Ansatz. Teilweise wird dieses Konzept mit der objektiv9 BVerfG 25.2.1975, NJW 1975, 573 (575 ff.); BVerfG 8.8.1978, NJW 1979, 359 (363). 10 Vgl. BVerfG 20.12.1979, NJW 1980, 759 (761); BVerfG 14.1.1981, NJW 1981, 1655; BVerfG 7.2.1990, BVerfG 7.2.1990 NJW 1990, 1469 (1470); BVerfG 10.1.1995, BVerfG 10.1.1995, NJW 1995, 2339 (2341); BVerfG 15.7.1998, NZA 1999, 194 (197); BVerfG 26.7.2005, NJW 2005, 2363 (2372); BVerfG 21.6.2006, NZA 2006, 913; BVerfG 13.2.2007, NJW 2007, 753 (754). 11 Ruffert, Vorrang der Verfassung und Eigenständigkeit des Privatrechts, S. 69, 158 ff.; Jarass, FS 50 Jahre BVerfG, S. 35 (39); ders., AÖR 110 (1985), 363 (369); Klein, DVBl. 1994, 489 (490); Stern, Staatsrecht III/1, S. 931; Steinberg, NJW 1984, 457 (458 f.); kumulativ Dietlein, Die Lehre von den grundrechtlichen Schutzpflichten, S. 64 f. 12 Ruffert, Vorrang der Verfassung und Eigenständigkeit des Privatrechts, S. 158. 13 Vgl. dazu unter II.
332
4. Kap.: Grenzen tarifdispositiven Rechts
rechtlichen Sichtweise kombiniert.14 Danach müsse der Staat, wenn er das Gewaltmonopol für sich beanspruche, für die Sicherheit der Bürger und damit auch gegen Übergriffe Privater einstehen, weil ansonsten die Legitimation für den Verzicht der Bürger auf eigenständige, notfalls auch gewaltsame Vollstreckung ihres Rechtsgüterschutzes und die Anerkennung des staatlichen Gewaltmonopols entfiele.15 Dieses Modell spiegelt zutreffend ein Verständnis wieder, bei dem der Staat nicht nur als Gefährder, sondern auch als Garant der Grundrechte zu verstehen ist.16 Insgesamt zeigen sich keine durchgreifenden Bedenken gegen die Berücksichtigung des vertragstheoretischen Modells im Rahmen der Begründung grundrechtlicher Schutzpflichten. Insbesondere lässt sich mit diesem Modell die Subjektivierung der grundrechtlichen Schutzpflichten überzeugend erklären, weil der Verzicht auf Selbsthilfe des Bürgers grundsätzlich nur im Gegenzug für einen staatlicherseits gewährten Schutz erfolgen dürfte.17
III. Art. 1 Abs. 1 GG als Quelle Eine weitere Herleitung der grundrechtlichen Schutzpflichten greift auf Art. 1 Abs. 1 GG zurück.18 Herangezogen wird der Wortlaut des Art. 1 Abs. 1 GG, nach dem der Staat die Würde des Menschen zu achten und zu schützen hat. Dabei wird Art. 1 Abs. 1 GG in zwei Schutzdimensionen geteilt: eine solche, die sich negatorisch gegen die Bedrohung der Würde durch den Staat richte („achten“), und eine solche, die den Staat verpflichtet, sich selbst schützend vor die Würde des Einzelnen zu stellen („schützen“).19 In der damit begründeten Schutzpflichtfunktion des Art. 1 Abs. 1 GG wird eine Grundentscheidung für die Grundrechtsordnung erblickt. Da allen Grundrechten ein mehr oder weniger stark ausgeprägter Menschenwürdekern innewohne, müssten diese als Ausprägungen des Art. 1 Abs. 1 GG auch an dessen Doppelcharakter teilhaben.20 Freilich birgt die Begründung über den Kern der Menschenwürde die Gefahr einer Reduktion der Schutzpflicht auf jene menschenwürderelevanten Aspekte der jeweiligen Grund14 Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 414 ff.; Dietlein, Die Lehre von den grundrechtlichen Schutzpflichten, S. 64. 15 Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 414 f., 419; Klein, DVBl. 1994, 489 (492 f.); Murswiek, Die Staatliche Verantwortung für die Risiken der Technik, S. 102 ff.; Merten, GS Burmeister, S. 227 ff.; Sodan, NVwZ 2000, 601 (603). 16 Vgl. dazu oben 2. Kap. C. IV. 3. e); Ruffert, Vorrang der Verfassung und Eigenständigkeit des Privatrechts, S. 155. 17 Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 414. 18 Bleckmann, DVBl. 1988, 938 (942); Canaris, AcP 184 (1984), 201 (226); Calliess in: Merten/Papier, Handbuch der Grundrechte, § 44, Rn. 5; Klein, O., JuS 2006, 960. 19 Bleckmann, DVBl. 1988, 938 (942). 20 Canaris, AcP 184 (1984), 201 (226); Dietlein, Die Lehre von den grundrechtlichen Schutzpflichten, S. 29.
A. Zum Konzept der grundrechtlichen Schutzpflichten
333
rechtsnorm mit sich.21 Dies ist unglücklich. Überzeugender ist daher ein Ansatz, der in der Garantie der Menschenwürde lediglich die allgemeine Anerkennung („schützen“) der grundrechtlichen Schutzpflichten erblickt, die konkrete Ausformung allerdings in den Einzelgrundrechten sucht.22
IV. Die eingriffsdogmatische Konstruktion der Schutzpflichten/Das abwehrrechtliche Modell Ein weiteres Modell unterscheidet sich grundlegend von den vorstehenden Ansätzen. Es sucht nicht im Rahmen einer Sonderdogmatik das Problem des Grundrechtsschutzes vor privater Beeinträchtigung aufzulösen, sondern bettet die Problematik in die klassische Eingriffsdogmatik. Zurückgehend auf Arbeiten von Murswiek23 und Schwabe24 wird dabei die Schutzpflichtenkonstellation einer sogenannten „abwehrrechtlichen Lösung“ zugeführt. Nach der ursprünglichen Konzeption dieses Ansatzes ist dem Staat das Handeln Privater, das zur Beeinträchtigung von Grundrechtspositionen anderer Bürger führt, wie eigenes Handeln zuzurechnen.25 Denn da privates Handeln stets durch die Rechtsordnung als erlaubt erscheine, sofern es nicht verboten ist, sei das Nichtverbot eines Grundrechtsübergriffs von Privaten als staatliches Handeln zu qualifizieren.26 Denn der beeinträchtigte Bürger dürfe sich aufgrund der Erlaubtheit der Beeinträchtigung gegen diese nicht zur Wehr setzen und der Staat könne ihn, sofern er dies doch tut, zur Duldung der Beeinträchtigung zwingen.27 Der Staat handele damit durch die Auferlegung der Duldungspflicht und bei der Durchsetzung der Rechte des beeinträchtigenden Bürgers.28 Damit beteilige sich der Staat durch „rechtliche Regelungen, gerichtlichen Ausspruch und vollstreckenden Zugriff an dem Verletzungsvorgang“ 29. Mithin erscheint eine Beeinträchtigung durch Private nicht als 21 Erichsen, JURA 1997, 85 (86); Krings, Grund und Grenzen grundrechtlicher Schutzansprüche, S. 143; Ruffert, Vorrang der Verfassung und Eigenständigkeit des Privatrechts, S. 143. 22 Calliess in: Merten/Papier, Handbuch der Grundrechte, § 44, Rn. 5; Krings, Grund und Grenzen grundrechtlicher Schutzansprüche, S. 145. 23 Murswiek, Die staatliche Verantwortung für die Risiken der Technik, S. 88 ff. 24 Schwabe, Probleme der Grundrechtsdogmatik, S. 213; ders., AÖR 100 (1975), 442 (462). 25 Schwabe, Probleme der Grundrechtsdogmatik, S. 213; ders., AÖR 100 (1975), S. 442 (462); Murswiek, Die staatliche Verantwortung für die Risiken der Technik, S. 88 ff. 26 Murswiek, Die staatliche Verantwortung für die Risiken der Technik, S. 92. 27 Murswiek, Die staatliche Verantwortung für die Risiken der Technik, S. 92 f. 28 Murswiek, Die staatliche Verantwortung für die Risiken der Technik, S. 89 ff.; Schwabe, AÖR 100 (1975), 442 (462). 29 Murswiek, Die staatliche Verantwortung für die Risiken der Technik, S. 88 ff.; Schwabe, Probleme der Grundrechtsdogmatik, S. 213; ders., AÖR 100 (1975), 442 (462).
334
4. Kap.: Grenzen tarifdispositiven Rechts
„nicht verboten“, sondern als erlaubt.30 Das Verhalten des Gesetzgebers sei in solchen Konstellationen regelmäßig nicht als Unterlassen von Schutz, sondern als Gestattung von Eingriffen zu qualifizieren. So gesehen erscheint es damit als aktiver Eingriff in die Grundrechte, der dem Staat aufgrund seiner Rechtsetzung zurechenbar ist.31 Nach dieser Betrachtungsweise ist die gesellschaftliche Ordnung von vorne herein nicht staatsfrei. Vielmehr ist auch dort, wo die Rechtsordnung einer scheinbar natürlichen Freiheit die Anerkennung verleiht, bereits eine Einschränkung der Freiheit anderer gegeben. Die rechtliche Ordnung ist damit selbst Eingriff in die Grundrechte derjenigen, deren defizitäre Freiheit sie erst durch die rechtliche Anerkennung der Belastung durch Dritte in die Rechtswirklichkeit befördert. Die rechtliche Einrichtung und Sicherung gesellschaftlicher Macht ist damit selbst Eingriff in die Grundrechte. Damit wird die Schutzpflichtenkonstruktion aufgegeben und dogmatisch in das Kleid eines unmittelbaren Grundrechtseingriffs gekleidet. Dieser Ansatz legitimiert sich maßgeblich damit, dass Freiheit stets in einer staatlichen Ordnung ausgeübt werde, die diese in größerem oder geringerem Umfang anerkenne. Führe aber anerkannte Freiheit zur Belastung der Grundrechte anderer, so sei diese rechtliche Anordnung selbst verfassungsrechtlich rechtfertigungsbedürftig.32 In grundrechtlichen Konfliktlagen lässt sich aber die Zulassung von Freiheitsbeschränkungen durch Dritte selbst als unmittelbarer Grundrechtseingriff denken. Die Kritik an diesem Ansatz überwiegt.33 Soweit darauf verwiesen wird, dem Bürger verblieben unverbotene Ausweichmöglichkeiten und daher sei nicht jedes Nichtverbot als Duldungspflicht zu werten34, ist dies aber nicht überzeugend. Auch dann, wenn man sich nicht verteidigt, bleibt die Verpflichtung zur Hinnahme der konkreten Handlung eines anderen Bürgers, wodurch die eigene Freiheit beschränkt wird. Dabei ist im Übrigen die Friedenspflicht weniger als abstrakte Duldungsanordnung anzusehen. In einer Vielzahl von Fällen erweist sich die Konstituierung von Rechtspositionen durch den Staat als konkrete einzelfallbezogene Absicherung dieser Rechtspositionen und damit als konkrete Duldungspflicht. Dies gilt insbesondere im Vertragsrecht. Denn hier folgt erst aus der 30
Murswiek, WiVerw. 1986, 179 (182). Murswiek, Die staatliche Verantwortung für die Risiken der Technik, S. 95. 32 Poscher, Grundrechte als Abwehrrechte, S. 131. 33 Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 416 ff.; Bengsch, Der verfassungsrechtlich geforderte Mindestkündigungsschutz im Arbeitsverhältnis, S. 61 ff.; Dietlein, Die Lehre von den grundrechtlichen Schutzpflichten, S. 38; Klein, NJW 1989, 1633 (1639); Ruffert, Vorrang der Verfassung und Eigenständigkeit des Privatrechts, S. 162 f.; Stern, Staatsrecht III/1, S. 730. 34 Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 417; Dietlein, Die Lehre von den grundrechtlichen Schutzpflichten, S. 38; Ruffert, Vorrang der Verfassung und Eigenständigkeit des Privatrechts, S. 162; Stern, Staatsrecht III/1, S. 730. 31
A. Zum Konzept der grundrechtlichen Schutzpflichten
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rechtlichen Anerkennung des Vertrags die Duldungspflicht. Diese rechtliche Anerkennung hat aber zwei Komponenten: zum einen die abstrakte Durchsetzungsanordnung (pacta sunt servanda) und zum anderen die auf den konkreten Vertragsinhalt bezogene Gestaltung der zulässigen Regelungsinhalte durch das einfache Gesetzesrecht, die sich in der Regel im Umkehrschluss aus konkreten Verboten ergibt.35 Insofern ist hier weit mehr vorhanden als lediglich eine abstrakte Duldungspflicht. Es werden vielmehr sehr konkret bestimmte Übergriffe in die Freiheit des anderen Bürgers geregelt. Allerdings stellt sich das Problem, dass der Bürger erst durch konkrete, wenn auch nicht aus materieller Freiheit erwachsende, Mitwirkung am Vertragsschluss eine Grundrechtsbeeinträchtigung ermöglicht. Unabhängig davon aber bleibt es in Konstellationen, in denen eine strukturelle Unterlegenheit einer Vertragspartei besteht, dabei, dass das einfache Gesetzesrecht und nicht das allgemeine Gewaltverbot definiert, welche beschränkenden Regelungen der Einzelne bei strukturellen Machtimparitäten hinnehmen muss. Betrachtet man das tarifdispositive Gesetzesrecht, so findet sich allerdings eine Situation, in der der Staat in der Tat eine Vorschrift schafft, die genau den Überlegungen der eingriffsdogmatischen Betrachtung unterliegt. Der Staat gestattet die Abweichung von zwingenden Regelungen durch die Tarifvertragsparteien, mit anderen Worten: er schafft eben jenen Anerkennungsbefehl für die Grundrechtsbeeinträchtigung, den die eingriffsdogmatische Konstruktion sonst ungeschrieben annehmen muss, selbst. Insofern besteht hier die Sonderkonstellation, weil ein partieller Dispens von einem zivilrechtlichen oder öffentlich-rechtlichen Verbot für bestimmte Rechtssubjekte geschaffen wird. Damit stellt sich selbst dann, wenn der eingriffsdogmatischen Rekonstruktion nicht gefolgt wird, die Frage, wie die gesetzlichen Tariföffnungsklauseln grundrechtsdogmatisch zu bewerten sind. Sind sie als Nichtregelung eines Verbotes zu werten, so fielen sie unter die Schutzpflichtendogmatik. Betrachtet man sie hingegen als staatlichen Anerkennungsbefehl für potenziell grundrechtsbeeinträchtigende Regelungen, ist der Weg in die Eingriffsdogmatik grundsätzlich eröffnet. Grundsätzlich deshalb, weil eine tarifdispositive Vorschrift selbst nur eine Grundrechtsgefährdung darstellt, die grundrechtsbeeinträchtigenden Regelungen aber erst durch die Tarifvertragsparteien geschaffen werden müssen. Dabei stellt sich also zusätzlich die Frage nach der Klassifizierung solcher Grundrechtsgefährdungen als rechtfertigungsbedürftiger Grundrechtseingriff. Das BVerfG hat den Ansatz bislang nicht aufgegriffen. Ob sich die Rechtsprechung in Zukunft wandelt, bleibt abzuwarten. Die eingriffsdogmatische Sichtweise macht aber deutlich, dass sich unabhängig von der Konstruktion der Schutzpflichten eine unterschiedliche qualitative Schutzwirkung von Eingriffs35
Sachs, FS Schmidt, S. 385 (386), unter Einschränkung (391).
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4. Kap.: Grenzen tarifdispositiven Rechts
und Schutzpflichtenkonstellationen nur schwer rechtfertigen lässt. Wie immer die Konstruktion gewählt wird, es bleibt im Ergebnis ein beeinträchtigtes grundrechtliches Schutzgut. Dessen Schutz sicherzustellen ist Aufgabe der verfassungsmäßigen Ordnung, unabhängig davon, woher der Angriff rührt. Die Grundrechte verlangen Schutz, gleichgültig ob der Staat handelt oder unterlässt. Diese Orientierung am praktisch realisierten Grundrechtsschutz ist auch dann zu übernehmen, wenn man im Übrigen der dogmatischen Grundausrichtung des BVerfG folgt. Diese wird den folgenden Ausführungen zugrunde gelegt.
V. Subjektivierung der Schutzpflichten Erkennt man die grundrechtlichen Schutzpflichten an, so stellt sich die Frage, wie sich ihre Subjektivierung begründen lässt. Denn diese ist erforderlich, damit die Umsetzung der Direktiven für staatliches Handeln, die sich aus den Schutzpflichten ergeben, durch den Bürger auch eingefordert werden kann. Erkennt man an, dass die Grundrechte Direktiven für staatliches Handeln begründen, so müssen diese im Ergebnis auch subjektive Rechte begründen.36 Ansonsten liefen sie weitgehend leer. Die Subjektivierung ist mit Blick auf Sinn und Zweck der Grundrechte als individuelle Rechtspositionen geboten.37 Besonders überzeugend lässt sich dies aus dem oben genannten vertragstheoretischen Ansatz ableiten.38 Denn wenn der Bürger als Teil der staatlichen Ordnung auf Selbstschutz verzichten muss, soweit der Staat über das Gewaltmonopol verfügt, so muss er diesen Schutz als Gegenleistung vom Staat verlangen können.39 Aber auch auf Basis der objektiv-rechtlichen Herleitung lässt sich die Subjektivierung der Schutzpflichten begründen. Denn die objektiv-rechtliche Dimension der Grundrechte dient dazu, die subjektiv-rechtliche Dimension der Grundrechte zu verstärken.40 Dies legitimiert auch eine Subjektivierung der Schutzpflicht.41
VI. Fazit Schrifttum und Rechtsprechung erkennen weitestgehend einmütig grundrechtliche Schutzpflichten an. Freilich finden sich verschiedene Erklärungsmuster. Erkennt man auch hier ebenso wie bei den grundrechtlichen Tatbestandstheorien 36 Erichsen, JURA 1997, 85 (88); Jarass, FS 50 Jahre BVerfG, S. 35 (46 ff.); Klein, DVBl. 1994, 489 (493). 37 Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 414. 38 Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 414; Rütten, Institutionelle Arbeitslosigkeit und Grundgesetz, S. 210. 39 Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 414; Rütten, Institutionelle Arbeitslosigkeit und Grundgesetz, S. 210. 40 Erichsen, JURA 1997, 85 (89). 41 Erichsen, JURA 1997, 85 (89); Jarass, FS 50 Jahre BVerfG, Band II, S. 35 (46 ff.).
B. Adressat der Schutzpflichten
337
an, dass ein einziger theoretischer Ansatz nicht ausreicht, bietet sich mit Ruffert folgende zusammenfassende Herleitung an: „Grundlage der grundrechtlichen Schutzpflichten sind partiell im Verfassungstext verankerte ausdrückliche Schutzaufträge, unterlegt mit der Staatsaufgabe Sicherheit, vertieft und thematisch erweitert durch die objektivrechtliche Werteordnungsdimension der Grundrechte.“ 42 Der Hauptstreitpunkt ist der Vollzug und die Ausgestaltung der einmal begründeten Schutzpflichten. Auch hier ist maßgeblich die Frage des Freiheitsverständnisses des Grundgesetzes berührt. Wer anerkennt, dass mit dem Übergang zum demokratischen und sozialen Rechtsstaat ein Wandel im Freiheitsbild vollzogen wurde, der die Ursachen und die Gewährleistungsvoraussetzungen für die tatsächliche Freiheitsausübung nicht aus dem Blick verliert, wird die grundrechtlichen Schutzpflichten überall dort mobilisieren, wo ein formalfreiheitliches Grundrechtsverständnis strukturelle Machtimparitäten abzusichern sucht. Im Kern zwingt die Anerkennung einer grundrechtlich geschützten Freiheit zu der Erkenntnis, dass diese Freiheit vom Staat auch dort zu sichern ist, wo sie privat bedroht wird. Ansonsten droht die Gewährleistung der Freiheit zum bloßen Lippenbekenntnis zu werden.
B. Adressat der Schutzpflichten Bevor auf den Inhalt der grundrechtlichen Schutzpflichten eingegangen wird, ist deren Adressatenkreis zu klären. Adressaten der grundrechtlichen Schutzpflichten sind nach Art. 1 Abs. 3 GG der Gesetzgeber, die Judikative43 und die Exekutive44, also die staatlichen Stellen.45 Damit binden die grundrechtlichen Schutzpflichten alle drei Gewalten46, nicht jedoch Private als solche.47 Damit sind die Adressaten durch Art. 1 Abs. 3 GG abschließend umschrieben. Private fallen nicht unter diese Bindung, auch dann nicht, wenn sie privatrechtlich Normen setzen.48 Etwas anderes gilt grundsätzlich nur dann, wenn eine einfachgesetzliche Vorschrift ausdrücklich eine solche Bindung anordnet. Die Bedeutung,
42
Ruffert, Vorrang der Verfassung und Eigenständigkeit des Privatrechts, S. 166. BVerfG 16.11.1993, NJW 1994, 647; BVerfG 16.10.1996, NJW 1997, 249 (250). 44 BVerfG 16.10.1977, NJW 1977, 2255; BVerfG 16.12.1980, NJW 1981, 1499. 45 Erichsen, JURA 1997, 85 (88); Klein, DVBl. 1994, 489 (494). 46 BVerfG 16.10.1977, NJW 1977, 2255); Calliess in: Merten/Papier, Handbuch der Grundrechte, § 44, Rn. 6; Klein, NJW 1989, 1633; Möstl, DÖV 1998, 1029 (1036); Ruffert, Vorrang der Verfassung und Eigenständigkeit des Privatrechts, S. 225; Wahl/ Masing, JZ 1990, 553 (559). 47 Dietlein, Die Lehre von den grundrechtlichen Schutzpflichten, S. 29. 48 Vgl. auch Canaris, AcP 184 (1984), 201 ff. (227); Singer, JZ 1995, 1133 (1135); zur Frage der Grundrechtsbindung der Tarifvertragsparteien siehe ausführlich unten 5. Kap. B. 43
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4. Kap.: Grenzen tarifdispositiven Rechts
die dies für die Annahme einer Grundrechtsbindung der Tarifvertragsparteien hat, ist erheblich.49 Damit ist der Adressatenkreis zwar umschrieben, es zeigt sich aber eine Diskrepanz zwischen Art und Umfang der Bindung der jeweiligen Grundrechtsadressaten. Mit Blick auf das tarifdispositive Gesetzesrecht tritt dabei insbesondere die unterschiedliche Bindungswirkung für Judikative und Legislative in den Vordergrund. Dabei sind insbesondere die Bedeutung des Vorbehalts des Gesetzes und der Wesentlichkeitstheorie für die Umsetzung der Schutzpflichten zu klären.
C. Umfang der grundrechtlichen Schutzpflichten Sind damit die rechtlichen Rahmenbedingungen und Grundlagen für die grundrechtlichen Schutzpflichten im Wesentlichen dargestellt, so stellt sich die Frage nach der Ausfüllung der Schutzpflicht. Sieht man die Staatsgewalt und, soweit nicht eine ausdrücklich abweichende Anordnung besteht, nur die Staatsgewalt als Adressat grundrechtlicher Schutzpflichten an, so stellt sich die Frage nach der Umsetzung der grundrechtlichen Schutzpflichten durch die staatliche Gewalt. Der Inhalt und Umfang der grundrechtlichen Schutzpflichten ist dabei stark umstritten. Dies resultiert maßgeblich daraus, dass das Prüfprogramm gegenüber der eingriffsdogmatischen Sichtweise Besonderheiten aufweist. Das Abwehrrecht gibt dem Einzelnen ein Recht gegen den Staat, dass dieser Handlungen unterlässt, die das grundrechtliche Schutzgut beeinträchtigen. Bei der grundrechtlichen Schutzpflicht gibt es hingegen als Ausgangspunkt keine konkrete Maßnahme. Es geht vielmehr um ein Ergebnis, das eingefordert wird. Welche Maßnahmen der Staat zu ergreifen hat, kann, muss aber nicht durch die Schutzpflicht determiniert sein. Es kann durchaus mehrere geeignete Maßnahmen geben, den Grundrechtsschutz sicher zu stellen. Damit sind die grundrechtlichen Schutzpflichten auf Ergebnisse bezogen. Sie geben damit ein „Ob“ des Schutzes vor, sind hinsichtlich des „Wie“ aber offener, ohne indifferent zu sein.
I. Zur Bedeutung der Frage für das Verhältnis von Tarifautonomie und staatlichem Gesetzesrecht Betrachtet man die Frage des Umfangs der grundrechtlichen Schutzpflichten, so ist auch dessen Bedeutung für das Verhältnis der tariflichen Regelungsbefugnis zu zwingenden staatlichen Regelungen zu betonen. Denn letztlich geht es darum, festzustellen, welche Regelungskomplexe den Tarifvertragsparteien kraft Verfassung entzogen werden müssten. Die im gegenwärtigen Schrifttum präferierte Fragestellung, ob zwingendes Arbeitnehmerschutzrecht als verfassungswid49
Vgl. dazu unten 5. Kap. B.
C. Umfang der grundrechtlichen Schutzpflichten
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riger Eingriff in die Tarifautonomie erscheint, kehrt sich damit um. Vielmehr geht es nun darum, zu klären, ob die Nichtregelung oder Tariföffnung arbeitsrechtlicher Sachverhalte eine verfassungswidrige Verletzung grundrechtlicher Schutzpflichten bedeutet. Um dieser Frage nachgehen zu können, ist eine Klärung des Umfangs der grundrechtlichen Schutzpflichten und damit der Direktiven, die sich aus diesen für die unterschiedlichen Träger staatlicher Gewalt ableiten lassen, zwingend erforderlich. Der Kontrollmaßstab und die Kontrolldichte der grundrechtlichen Schutzpflichten geben letztendlich vor, wann eine Tariföffnungsklausel in eine Verletzung grundrechtlicher Schutzpflichten umschlägt. Es wird deutlich, wie brisant diese neue Fragestellung ist. Aus Umfang und Inhalt der grundrechtlichen Schutzpflichten folgen Konsequenzen für die Frage der Grenzen, die bei der Schaffung von tarifdispositivem Gesetzesrecht zu beachten sind. Der Umfang der grundrechtlichen Schutzpflichten umschreibt damit zugleich das Ausmaß des Konfliktpotenzials, das bei fehlenden oder unzureichenden gesetzlichen Regelungen besteht. Einerseits vollzieht die Schutzpflichtendogmatik einen stetig fortschreitenden Ausbau; gleichzeitig flexibilisiert der Gesetzgeber das Arbeitsrecht immer weitergehend durch tarifdispositive Vorschriften, die geeignet sind, das verbindliche Schutzniveau gesetzlicher Regelungen auszuhöhlen. Das verdeutlicht das brisante Spannungsfeld der Frage. Erhebliche Bedeutung hat der Umfang der grundrechtlichen Schutzpflichten aber auch für die weitergehende Frage der Grundrechtsbindung der Tarifvertragsparteien in zweierlei Hinsicht. Zum einen determiniert die Frage nach dem Umfang der grundrechtlichen Schutzpflichten zugleich die Kontrolldichte, mit der nicht nur die gesetzlichen Regelungen zu überprüfen sind, zum anderen die Vorgaben für die Rechtsprechung bei Auslegung und Fortbildung des Rechts. Dies hat insbesondere im kollektiven Arbeitsrecht nicht unerhebliche Auswirkungen, weil dieses Rechtsgebiet stark durch die Rechtsprechung geprägt ist. Mit Blick auf die vorliegende Arbeit gerät dabei insbesondere die durch die Rechtsprechung entwickelte Figur der Grundrechtsbindung der Tarifvertragsparteien in den Blick. Diese Rechtsprechung dient dem Grundrechtsschutz der Tarifunterworfenen durch richterrechtliche Kontrolle des Tarifvertrags auf seine Vereinbarkeit mit den Grundrechten. Damit erscheint sie zunächst als sinnvolle Umsetzung von Schutzpflichtenbindung der Gerichte und Sicherung der Grundrechtspositionen der Tarifunterworfenen. Betrachtet man diese richterliche Rechtsfortbildung genauer, so treten gleich mehrere Probleme mit Blick auf die grundrechtlichen Schutzpflichten auf. Können durch eine richterrechtliche „Umsetzung“ die Anforderungen an eine Erfüllung der grundrechtlichen Schutzpflichten erfüllt werden? Welchen Grenzen unterliegt die Rechtsprechung bei der Umsetzung grundrechtlicher Schutzpflichten durch richterliche Rechtsfortbildung? Diese Fragen zeigen, dass durch die Thematik auch der Konflikt zwischen Gewaltenteilungsgrundsatz, Vorbehalt des
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4. Kap.: Grenzen tarifdispositiven Rechts
Gesetzes und Wesentlichkeitstheorie angesprochen ist. Diese Fragen haben deshalb eine so entscheidende Bedeutung, weil jeder Kompetenzgewinn der Rechtsprechung bei der Umsetzung grundrechtlicher Schutzpflichten sich als Entbindung des Gesetzgebers von seiner Verantwortung für den Grundrechtsschutz darstellt. Wo die Gerichte für ihn einspringen, muss er selbst nicht mehr tätig werden. Damit ist aber ein weiteres grundlegendes Problem aufgeworfen. Wenn die Rechtsprechung zur Rechtsfortbildung schreitet, führt dies nicht nur zu einer Kompetenzverschiebung zwischen den Gewalten, sondern auch zu einer Entkoppelung des Gesetzgebers von seiner Schutzpflichtenbindung. Die Defizite der Rechtsordnung werden durch die Rechtsprechung als „Ausputzer“ behoben und der Gesetzgeber „lehnt sich zurück“. Ob sich aus der Befugnis der Gerichte zur Rechtsfortbildung gleichsam die staatsorganisatorische Entscheidung ableiten lässt, ihr die Schließung von grundrechtlichen Schutzlücken überall dort, wo der Gesetzgeber untätig bleibt, aufzuerlegen, ohne dass dem Gesetzgeber selbst noch eine Verpflichtung zum Tätigwerden verbleibt, ist jedenfalls zu hinterfragen. Zugespitzt lautet die Frage, ob durch ungeschriebene Kontrollmechanismen und allgemeine Rechtsprinzipien des kollektiven Arbeitsrechts, wie zum Beispiel die Grundrechtsbindung der Tarifvertragsparteien, hinreichende Schutzmechanismen für die Grundrechte der Tarifunterworfenen bestehen oder komplementäre gesetzliche Regelungen erforderlich sind.
II. Schutzpflichtenauslösende Konstellationen Eine die grundrechtlichen Schutzpflichten aktivierende Konstellation liegt immer dann vor, wenn Handlungen Privater dazu führen, dass ein anderer Grundrechtsträger in seinen grundrechtlichen Freiheiten beschränkt wird. Dabei sind zunächst nicht die Handlungen, sondern ihr Ergebnis oder Erfolg Gegenstand der grundrechtlichen Schutzpflicht.50 Diese soll den Erfolg der entsprechenden Handlung vereiteln, ohne dazu notwendigerweise die Handlung selbst verbieten zu müssen, auch wenn dies häufig der Fall sein dürfte. Dabei ist im Privatrecht an Situationen struktureller Unterlegenheit einer Vertragspartei51 oder an die Beschäftigung von Arbeitnehmern unter gesundheitsschädlichen Bedingungen zu denken.52 Aber auch sonst gilt, dass hinsichtlich des „Ob“ des Erfordernisses staatlicher Maßnahmen bereits jede Gefährdung grundrechtlicher Schutzgüter durch nicht50 Klein, O., JuS 2006, 960 (961); Ruffert, Vorrang der Verfassung und Eigenständigkeit des Privatrechts, S. 317; Stern, Staaatsrecht III/2, § 78 III 1 c) a) bb), S. 152. 51 BVerfG 26.6.1991, NJW 1991, 2549 (2551); BVerfG 28.1.1992, NJW 1992, 964; BVerfG 4.7.1995, NJW 1996, 185; BVerfG 27.1.1998, NJW 1998, 1475 (1476); BVerfG 23.11.2006, NJW 2007, 85 (87); Erichsen, JURA 1997, 85 (87). 52 BVerfG 28.1.1992, NJW 1992, 964.
C. Umfang der grundrechtlichen Schutzpflichten
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staatliche Dritte ausreichen muss.53 Die Verpflichtung des Staates, sich schützend vor die Grundrechte zu stellen, ist umfassend.54 Damit ist auch seine Verpflichtung zur Abwehr von Gefahren für die Grundrechte umfassend. Es bedarf damit auch keiner weitergehenden Anforderungen an eine schutzpflichtenauslösende Konstellation, wie dies im Schrifttum vereinzelt vertreten wird. Weder muss das Verhalten, das die Schutzpflichtenkonstellation konkretisiert55, rechtswidrig sein noch muss im Einzelfall eine Schutzbedürftigkeit des Bürgers nachgewiesen werden.56 Es reicht aus, dass der grundrechtliche Gewährleistungsbereich betroffen ist. Dieser muss allerdings auch eröffnet sein. Damit werden bei sachgerechter Schutzbereichsbestimmung die grundrechtlichen Schutzpflichten auch nicht uferlos. Die Begrenzung erfolgt zum einen durch die Bestimmung des Schutzbereichs, zum anderen durch die Bestimmung des Umfangs der Schutzpflicht im Einzelfall.57 Geht man davon aus, dass im Arbeitsrecht allein durch die strukturelle Unterlegenheit des Arbeitnehmers gegenüber dem Arbeitgeber typischerweise eine Konstellation besteht, in der die Privatautonomie des einzelnen Arbeitnehmers gefährdet ist58, kann das „Ob“ von Schutzpflichten nicht zweifelhaft sein, sondern nur das „Wie“. Eine schutzpflichtenauslösende oder -aktivierende Konstellation liegt immer dann vor, wenn die Beeinträchtigung eines Grundrechts von privater Seite droht.59 Das ist im Arbeitsrecht typischerweise der Fall.
III. Erforderlichkeit staatlicher Maßnahmen Besteht eine die grundrechtlichen Schutzpflichten aktivierende Konstellation, ist der Staat verpflichtet, einen privaten Übergriff in die Grundrechte des Bürgers abzuwehren bzw. zu verhindern. 1. Zeitpunkt Gesetzgeberisches Handeln ist dabei weder an einen bereits erfolgten Übergriff gebunden, noch ist es erforderlich, dass ein entsprechender Übergriff unmittelbar droht. Vielmehr muss der Gesetzgeber auch präventiv die gesetzlichen Vorschriften schaffen, die zu einer Verhinderung eines solchen Übergriffs erforderlich sind. Allerdings wirkt sich die Frage, ob Grundrechtsbeeinträchtigungen bereits 53 54 55 56 57 58 59
BVerfG 14.1.1981, NJW 1981, 1655 (1657). Erichsen, JURA 1997, 85 (87). Als Gefährdung ist sie auch ohne konkrete Handlungen Privater vorhanden. Ruffert, Vorrang der Verfassung und Eigenständigkeit des Privatrechts, S. 196 f. Erichsen, JURA 1997, 85 (87). Vgl. dazu oben 2. Kap. D. Ruffert, Vorrang der Verfassung und Eigenständigkeit des Privatrechts, S. 201.
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4. Kap.: Grenzen tarifdispositiven Rechts
vorliegen, auf den Prognosespielraum des Gesetzgebers aus. Denn in solchen Fällen erweist sich die Prognose, die bestehende Rechtslage reiche aus, als fehlsam, wofür es sonst eines Nachweises bedarf.60 Dabei darf allerdings nicht verkannt werden, dass das BVerfG es zuletzt als ausreichend erachtet hat, dass eine schutzpflichtenbegründende Konstellation vorliegen könnte, um ein Tätigwerden des Gesetzgebers zu verlangen.61 Insofern sind auch hier die Anforderungen für ein Untätigbleiben des Gesetzgebers erhöht. 2. Art der Maßnahmen Hinsichtlich der Art der Maßnahmen muss zum einen hinsichtlich der jeweils aktiven staatlichen Gewalt differenziert werden und zum anderen hinsichtlich der in Betracht zu ziehenden Instrumente. Dies erfordert unterschiedliche Kontrollmaßstäbe für den Gesetzgeber und die Rechtsprechung.
D. Anforderungen an die Tätigkeit des Gesetzgebers Grundrechtliche Schutzpflichten sind primär an den Gesetzgeber gerichtet, bedürfen damit grundsätzlich der einfachrechtlichen Umsetzung.62 Grundrechtliche Schutzpflichten gewähren dem Bürger ein subjektives Recht auf Normerlass oder regelmäßige Normanpassung. Sie verpflichten den Gesetzgeber grundsätzlich dazu, die einfachrechtlichen Normkomplexe zur Verfügung zu stellen, die zu ihrer Verwirklichung notwendig sind.63 Inwieweit er von dieser Verpflichtung befreit werden kann, weil die Gerichte die notwendigen Schutzmechanismen selbst schaffen können, soll hier noch außer Betracht bleiben. Sie wird im Zusammenhang mit der Umsetzung grundrechtlicher Schutzpflichten durch judikatives Tätigwerden erörtert. Es geht zunächst nur um den Kontrollmaßstab für gesetzliche Regelungen in inhaltlicher Hinsicht. Die Bedeutung dieser Frage liegt darin, dass sie das Ausmaß bestimmt, in dem tarifdispositive Vorschriften, die einen Bezug zur Schutzpflichtendimension der Grundrechte aufweisen, konkretisiert und konditioniert werden müssen. Je weitreichender sich die Verpflichtung des Gesetzgebers, tätig zu werden, konkretisieren lässt, umso enger müssen Tariföffnungsklauseln gefasst werden. Ebenso wird das Ausmaß an Sicherungsmechanismen, die für grundrechtliche Schutzgüter geschaffen werden müssen, wenn eine Tariföffnung stattfindet, von diesen Maßstäben mitbestimmt. 60
Vgl. dazu unten 4. Kap. D. V., G. V. BVerfG 18.11.2003, NJW 2004, 146 (150); Aubel, RdA 2004, 141 (144). 62 Zu den Grenzen dieses Erfordernisses, wenn die Rechtsprechung tätig werden kann, im Folgenden unter E. III. 63 BVerfG 13.2.2007, NJW 2007, 753 ff.; BVerfG 26.7.2005, NJW 2005, 2363 ff. 61
D. Anforderungen an die Tätigkeit des Gesetzgebers
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Wie weitreichend der Gesetzgeber zum Erlass von Vorschriften verpflichtet ist und welchen Grad an Konkretisierung die gesetzlichen Vorschriften annehmen müssen, hängt von einer Vielzahl von Faktoren ab. Grundsätzlich ist die Bedeutung des jeweiligen grundrechtlichen Schutzguts und der Grad, sowie die Art seiner Gefährdung maßgebend.64 Dabei ist zu beachten, dass eine pauschale Bewertung der Bedeutung von Grundrechten in einer Art Stufenfolge bedenklich wäre.65 Auch wenn man die grundrechtlichen Schutzgüter von Leib und Leben, sowie die Menschenwürde zweifelsohne mit einer Sonderstellung versehen muss, so bleiben die Grundrechte qualitativ gleichwertige geschützte Ausschnitte der Lebenswirklichkeit.66 Im Kollisionsfall sind diese nicht unter Verweis auf ihre höhere Bedeutung im Allgemeinen, sondern auf die höhere Bedeutung im konkreten Fall zu untersuchen. Maßgebend ist also zunächst die Qualität des jeweiligen grundrechtlichen Schutzguts.67 Dabei lässt sich keine abstrakte Stufenfolge bilden, da es jeweils auf die Intensität ankommen wird, in der das Schutzgut betroffen ist. Damit schaffen die grundrechtlichen Schutzpflichten eine erste nicht unbedenkliche Einbruchstelle für willkürliche und irrationale Erwägungen. Der Kontrollmaßstab bedarf daher einer Verfeinerung.
I. Kriterium der Reversibilität der Grundrechtsbeeinträchtigung 1. Maßstab Dabei kommt es zunächst darauf an, ob die drohenden Grundrechtsübergriffe durch Private reversibel sind.68 Insbesondere bei staatlichen Schutzpflichten für Leib und Leben, aber auch dort, wo Übergriffe mit andauernder Wirkung drohen, erhöht sich das Gewicht der Schutzpflicht massiv. Dies hat auch konkrete Auswirkungen auf die Formen des gesetzgeberischen Handelns. Lässt sich nämlich ein Übergriff nachträglich nicht mehr beseitigen, so muss der Gesetzgeber präventive Vorschriften erlassen, die von vornherein die gefährdenden Handlungen verbieten.69 Hier muss er hinreichend konkret die jeweiligen Gefährdungspoten64 BVerfG 20.12.1979, NJW 1980, 759 ff.; Calliess in: Merten/Papier, Handbuch der Grundrechte, § 44, Rn. 25; Neumann, RdA 2007, 71 (74). 65 Merten, GS Burmeister, S. 227 (235). 66 Merten, GS Burmeister, S. 227 (234 f.). 67 Calliess in: Merten/Papier, Handbuch der Grundrechte, § 44, Rn. 25; Bedenken bei Merten, GS Burmeister, S. 227 (234). 68 BVerfG 23.10.2006, JZ 2007, 576 (578); Dietlein, Die Lehre von den grundrechtlichen Schutzpflichten, S. 72. 69 Dietlein, Die Lehre von den grundrechtlichen Schutzpflichten, S. 70 f.; für eine Pflicht zur Risikovorsorge auch: Calliess in: Merten/Papier, Handbuch der Grundrechte, § 44, Rn. 26.
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4. Kap.: Grenzen tarifdispositiven Rechts
ziale identifizieren und gegebenenfalls mit detaillierten und transparenten Regelungen Verletzungshandlungen vorbeugen. Der Verweis auf eine nachträgliche Rechtsschutzmöglichkeit gegen den unangemessenen Gebrauch von Vertragsklauseln kann dann nicht ausreichen, wenn ein Fehlgebrauch bereits zu einer irreparablen Schädigung der zu schützenden Grundrechtsposition führt70 oder die getroffenen Dispositionen nur unter erschwerten Bedingungen rückgängig gemacht werden können.71 In solchen Fällen sind solche vertraglichen Regelungen von vornherein zu untersagen und nicht etwa einer Ausübungskontrolle zu unterwerfen. Sind hingegen die drohenden Übergriffe reversibel, lassen sich auch nachträgliche Korrekturmechanismen denken, die entweder im Rahmen des nachträglich erfolgenden Rechtsschutzes oder über die staatliche Folgenbeseitigung die Beeinträchtigungen beseitigen. Ein Beispiel für die erste Kategorie bietet das Arbeitsschutzrecht. Dieses ist grundsätzlich in der Form präventiver Verbotsvorschriften maßgeblich zum Gesundheitsschutz ausgestaltet. In die andere Richtung wirkt beispielsweise die Ausübungskontrolle im Rahmen der Widerrufs- oder Freiwilligkeitsvorbehalte.72 Auch zeigt sich in Abhängigkeit des Abstraktionsgrades von Vorschriften eine Einschränkung für die Gewichtung der zu schützenden Grundrechtsposition. Je irreversibler eine drohende Schädigung ist, umso konkreter und präventiver müssen die gesetzlichen Vorschriften ausfallen. Allerdings darf nicht verkannt werden, dass auch solche Schädigungen, die nicht irreversibel sind, ein erhebliches Gewicht für den Grundrechtsträger haben können. Insofern ist das vorstehende Kriterium nicht als absolut zu verstehen. Es dient lediglich dazu, den Entscheidungsspielraum der staatlichen Stellen zu begrenzen. Wollen diese im Falle einer irreversiblen Gefahr auf konkrete Schutzmaßnahmen verzichten, bedürfen sie eines erhöhten Begründungsaufwandes. Umgekehrt kann auch bei nicht reversiblen Grundrechtsgefährdungen ein sehr konkretes ausdifferenziertes Schutzmodell erforderlich sein, wenn die gefährdete Position aus anderen Gründen besonders gewichtig ist oder alternative Schutzmechanismen nicht zur Verfügung stehen.
70
BVerfG 23.10.2006, JZ 2007, 576 (578). So etwa bei der Rücknahme der Einwilligung nach § 7 Abs. 7 ArbZG zur über bestimmte gesetzliche Schutzgrenzen hinausgehenden Arbeitszeit. Diese ist mit einer Frist von 6 Monaten versehen bis sie wirksam wird. Sofern bei einem Arbeitnehmer eingetretene gesundheitliche Beeinträchtigungen, insbesondere im Verschleißbereich, eintreten, kann er nicht dem Risiko einer Leistungsverweigerung wegen Unzumutbarkeit ausgesetzt werden. Die Vorschrift führt dazu, dass ein Verlangen des Arbeitgebers zu entsprechender Arbeit aufgrund der Einwilligung auch noch in Zeiträumen gedeckt wäre, in denen Schädigungen des Arbeitnehmers zu befürchten sind. Dies ist mit Blick auf das Kriterium der Irreversibilität nicht akzeptabel; vgl. dazu unten 8. Kap. A. I. 4. d). 72 Zur insoweit 2-stufigen Prüfung auch der Klausel vgl. Preis/Lindemann, NZA 2006, 632 (634); zur Arbeit auf Abruf vgl. BVerfG 23.11.2006, NJW 2007, 286; BAG 7.12.2005, NZA 2006, 423. 71
D. Anforderungen an die Tätigkeit des Gesetzgebers
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Durch die Frage der Reversibilität werden die Handlungsoptionen des Gesetzgebers eingeschränkt. Zwar lassen sich die Schutzpflichten regelmäßig durch mehrere staatliche Maßnahmen verwirklichen, allerdings müssen diese geeignet und angemessen73 sein, um die Schutzpflicht zu verwirklichen. Die Frage der Reversibilität schränkt insofern auch die zur Wahl stehenden Maßnahmen ein. Denn wenn der Schaden nachträglich nicht mehr zu beseitigen ist, sind Maßnahmen, die nicht präventiv wirken, von vornherein ungeeignet. 2. Konsequenzen für den tarifdispositiven Arbeitsschutz Dies hat für die Frage des tarifdispositiven Arbeitsschutzrechts, beispielsweise im Arbeitszeitgesetz, naturgemäß eine höhere Bedeutung als für soziale Arbeitsbedingungen. Peters und Ossenbühl haben auf diesen Unterschied bereits 1967 hingewiesen.74 Im Kriterium der Reversibilität findet diese Feststellung ihre dogmatische Entsprechung. Denn das Arbeitsschutzrecht dient zum Beispiel in Form des Arbeitszeitgesetzes in erster Linie dem Gesundheitsschutz und damit einem Rechtsgut, dessen Beeinträchtigung nicht zwingend reversibel ist. Damit bestehen unter dem Gesichtspunkt der Reversibilität jedenfalls strenge Anforderungen an Tariföffnungsklauseln, die sich auf dem Gesundheitsschutz dienende gesetzliche Regelungen beziehen.
II. Kriterium der Transparenz und Rechtsfolgenklarheit Als Maßnahmen des Gesetzgebers zum Schutz grundrechtlicher Positionen kommen mehrere Maßnahmen in Betracht. • Einfachrechtliche Verbote, die präventiv wirken, also insbesondere auch durch die Exekutive durchgesetzt werden können75, • einfachrechtliche Verbote, die eine Rechtsschutzmöglichkeit des Einzelnen gegen die Beeinträchtigung gewähren, • Verfahrensvorschriften76, die die Entstehung der Grundrechtsbeeinträchtigung verhindern, abschwächen oder deren Beseitigung ermöglichen, sowie • die nachträgliche Beseitigung der Grundrechtsbeeinträchtigung durch staatliche Stellen und/oder Leistungen.
73 BVerfG 13.2.2007, NJW 2007, 73 (754); BVerfG 28.5.1993, NJW 1993, 1751 (1756). 74 Peters/Ossenbühl, Die Übertragung von öffentlich-rechtlichen Befugnissen auf die Sozialpartner unter besonderer Berücksichtigung des Arbeitszeitschutzes, S. 23 ff. 75 BVerfG 26.7.2005, NJW 2005, 2363 (2371). 76 Vgl. dazu BVerfG 13.2.2007, NJW 2007, 753 (754).
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1. Transparenz als Kriterium der Erfüllung grundrechtlicher Schutzpflichten Dabei spielt nicht nur die Frage, welches dieser Instrumente der Gesetzgeber wählt, sondern auch dessen konkrete inhaltliche Ausgestaltung eine erhebliche Rolle für die Verwirklichung grundrechtlicher Schutzpflichten. Denn die inhaltliche Gestaltung muss so konkret sein, dass sie dem Grad der Grundrechtsgefährdung Rechnung trägt.77 a) Grundsatz der Normenbestimmtheit und Normenklarheit Diese Überlegung rechtfertigt sich mit den verfassungsrechtlichen Geboten der Normenbestimmtheit und der Normenklarheit.78 Diese sollen den Bürger dazu befähigen, die Rechtslage anhand der gesetzlichen Regelung zu erkennen, damit er sein Verhalten nach ihr ausrichten kann. b) Anwendbarkeit im Verhältnis zwischen Privaten Dieser Grundsatz ist zwar primär mit Blick auf Eingriffsbefugnisse der Verwaltung entwickelt worden, geht aber nach der zutreffenden Rechtsprechung des BVerfG über diese hinaus.79 Zu Recht stellt das BVerfG fest, dass das Risiko einer unangemessenen Entscheidung umso größer wird, je ungenauer die Maßstäbe für die Entscheidung, ob ein Schutzbedarf besteht, gesetzlich umschrieben sind:80 „Das Gebot der Normenbestimmtheit und der Normenklarheit soll die Betroffenen befähigen, die Rechtslage anhand der gesetzlichen Regelung zu erkennen, damit sie ihr Verhalten danach ausrichten können. Die Bestimmtheitsanforderungen dienen auch dazu, die Verwaltung zu binden und ihr Verhalten nach Inhalt, Zweck und Ausmaß zu begrenzen sowie, soweit sie zum Schutz anderer tätig wird, den Schutzauftrag näher zu konkretisieren. Zu den Anforderungen gehört es, dass hinreichend klare Maßstäbe für Abwägungsentscheidungen bereitgestellt werden. Je ungenauer die Anforderungen an die dafür maßgebende tatsächliche Ausgangslage gesetzlich umschrieben sind, umso größer ist das Risiko unangemessener Zuordnung von rechtlich erheblichen Belangen. Die Bestimmtheit der Norm soll auch vor Missbrauch schützen, sei es durch den Staat selbst oder – soweit die Norm die Rechtsverhältnisse der Bürger untereinander regelt – auch durch diese.“ 81
77
BVerfG 26.7.2005, NJW 2005, 2363. BVerfG 26.7.2005, NJW 2005, 2363 (2371); BVerfG 3.3.2004, NJW 2004, 2213 (2215); BVerfG 9.4.2003, NJW 2003, 2733 (2735); BVerfG 27.11.1990, NJW 1991, 1471 (1473); BVerfG 3.6.1992, NJW 1992, 2947 (2948). 79 BVerfG 26.7.2005, NJW 2005, 2363 (2371). 80 BVerfG 26.7.2005, NJW 2005, 2363 (2371). 81 BVerfG 26.7.2005, NJW 2005, 2363 (2371). 78
D. Anforderungen an die Tätigkeit des Gesetzgebers
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Die Bestimmtheit von Normen dient damit dem Schutz vor Missbrauch auch durch Bürger im Verhältnis untereinander.82 Das BVerfG hat das Gebot der Normenbestimmtheit und der Normenklarheit ausdrücklich auf das Verhältnis gleich geordneter Grundrechtsträger erstreckt. Hier zeigt sich dann auch ein gewisser Bruch zu der eher großzügigen Rechtsprechung des BVerfG zur Anwendbarkeit vom Vorbehalt des Gesetzes und von der Wesentlichkeitstheorie im Verhältnis zwischen Privaten.83 Denn auch die Kriterien der Normenklarheit und Normenbestimmtheit weisen eben auf das Erfordernis einer gesetzlichen Regelung im Verhältnis gleich geordneter Grundrechtsträger hin. Es ist damit – auch im Rahmen arbeitsrechtlicher Vorschriften – zu beachten. 2. Notwendige Grenzen der Transparenz Dabei spielt die Transparenz der Vorschriften eine nicht unerhebliche Rolle. So kann und muss der Gesetzgeber dort, wo er eine Vielzahl denkbarer Einzelfallkonstellationen zu erfassen sucht, notwendigerweise auf Generalklauseln und abstrakte Rechtsbegriffe zurückgreifen, weil sonst die Gefahr besteht, dass einzelne Gefährdungslagen nicht erfasst werden. In Konstellationen, in denen die Regelungsmaterie eine regelmäßige Anpassung erfordert, scheint ein Rückgriff auf Generalklauseln eher zulässig. Andererseits kann und muss der Gesetzgeber dort, wo die Gefährdungsschwelle und ihre Quellen zu erkennen sind, diese Konstellationen konkret benennen.84 Dann muss aber sowohl für den Adressaten des Verbots sowie für die durchsetzende Exekutive und den Bürger, dessen Rechtspositionen betroffen sind, klar erkennbar sein, wann ein unzulässiger Übergriff vorliegt.85 Ansonsten besteht eine dreifache Insuffizienz der Verwirklichung des grundrechtlichen Schutzanspruchs. Der „Störer“ kann nicht genau erkennen, wann er stört, und dies unterlassen, die Exekutive kann nicht erkennen, wann eine Störung vorliegt und wird u. U. untätig bleiben und der Gestörte kann nicht erkennen, wann die Schwelle überschritten ist, ab der er geschützt ist. Grundrechtliche Schutzpflichten verlangen danach, dass sie die Gerichte in die Lage versetzen, getroffene Maßnahmen anhand rechtlicher Maßstäbe zu kontrollieren.86 Dabei muss der Prüfungsmaßstab durch den Gesetzgeber so genau umschrieben werden, dass er hinreichende Anhaltspunkte für die Erfüllung der Schutzpflicht bietet.87 Das Ausmaß der Konkretisierung von Schutzpositionen steht also nicht im freien Ermessen des Gesetzgebers. 82
BVerfG 26.7.2005, NJW 2005, 2363 (2371). Vgl. dazu ausführlich unten 4. Kap. E. III. 1. a) und 2. b). 84 Kühnast, Die Grenzen zwischen tariflicher und privatautonomer Regelungsbefugnis, S. 258; Wank, Grenzen richterlicher Rechtsfortbildung, S. 154 ff. 85 BVerfG 26.7.2005, NJW 2005, 2363 (2371). 86 BVerfG 26.7.2005, NJW 2005, 2363 (2371). 87 BVerfG 26.7.2005, NJW 2005, 2363 (2368). 83
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4. Kap.: Grenzen tarifdispositiven Rechts
Damit ist es also keinesfalls so, dass allein der Verweis auf bestehende Generalklauseln die Möglichkeit bietet, den Gesetzgeber aus seiner Normsetzungsverpflichtung zur Umsetzung grundrechtlicher Schutzpflichten zu entlassen. Auch in Ansehung des Justizgewährungsgrundsatzes bestehen hier Grenzen, die jedenfalls nicht dazu führen, dass der Gesetzgeber sich unter Verweis auf die Gerichte ohne weiteres der eigenen Regelungsverpflichtungen entledigen könnte. 3. Verfassungswidrigkeit von Generalklauseln bei klar erkennbaren Gefährdungslagen Das Gewicht einer grundrechtlichen Schutzposition kann damit durchaus sehr konkrete Regelungen erfordern. Dies kann gegen die Zulässigkeit des Rückgriffs auf Generalklauseln sprechen. a) Die Möglichkeit des Rückgriffs auf Generalklauseln Die Schaffung von Generalklauseln und unbestimmten Rechtsbegriffen ist dann eher zulässig, wenn eine konkretere Ausformung der Schutzpflicht deren Verwirklichung gefährdet. Dies kann der Fall sein, wenn spezifische Gefährdungslagen nicht erfasst werden können und die Art und Vielfalt der gefährdenden Regelungen unüberschaubar und nicht oder nur begrenzt zu antizipieren ist. Kurz gesagt, die Generalklausel ist dann zulässig, wenn sie als Instrument zur Verstärkung der Reichweite und Wirkkraft der Schutzpflicht dient. Sie ist unzulässig, wenn sie deren Verwirklichung durch unpräzise und intransparente Kontrollmaßstäbe behindert oder dem Gewicht der zu schützenden Grundrechtsposition nicht hinreichend Rechnung trägt. b) Kontrollmaßstab Ersteres kann im Bereich von Regelungen zur Vertragsgestaltung eher der Fall sein, insbesondere hinsichtlich der Verwendung allgemeiner Vertragsbedingungen. Verfassungsrechtlich bedenklich sind Generalklauseln und unbestimmte Rechtsbegriffe hingegen dann, wenn sie erlassen werden, obwohl bestimmte Gefährdungspotenziale feststehen, die konkret benannt werden können und nicht variabel sind. Auch das BVerfG verweist darauf, dass die Frage, welche Möglichkeiten bestehen, sich ein hinreichend sicheres Urteil darüber zu bilden, welche Maßnahmen zur Verwirklichung der Schutzpflicht erforderlich sind, Auswirkungen auf den Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers hat.88 Insgesamt sind die Gebote der Normenbestimmtheit und der Normenklarheit oder das Transparenzgebot daher nicht als absolute, sondern als relative Kontrollmaßstäbe heranzuzie88 BVerfG 29.10.1987, NJW 1988, 1651 (1653); BVerfG 1.3.1979, NJW 1979, 699 (701); Neumann, RdA 2007, 71 (74).
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hen. Sie fordern nicht generell eine detaillierte und genaue Regelung und lassen es auch umgekehrt nicht zu, einen Konkretisierungsgrad abstrakt zu bestimmen, ab dem sie erfüllt sind. Vielmehr ist in Ansehung der konkreten Gefährdungslage zu fragen, wie konkret sich diese bestimmen lässt.89 Sodann ist zu fragen, ob die gesetzliche Vorschrift im Rahmen dieser Möglichkeiten hinreichend konkret gefasst ist. Je weiter der Konkretisierungsgrad der Gefährdung und der der gesetzlichen Schutzvorschrift auseinanderklaffen, umso eher ist eine Verfassungswidrigkeit der Vorschrift zu attestieren. Insbesondere dann, wenn dem Gesetzgeber bei Verwendung einer Generalklausel konkretere Schutzmaßstäbe bekannt sind, er diese aber bewusst nicht festschreibt, bedarf dies der besonderen Rechtfertigung. Umgekehrt ist der Gesetzgeber auch nicht verpflichtet, eine enumerative Auflistung von Hunderten von denkbaren, aber absurden Einzelfallkonstellationen zu leisten. Hier kann er typisieren und generalisieren, muss aber die Maßstäbe zur Ausfüllung der abstrakten Regelungen hinreichend klar und bestimmt umschreiben. Ein Musterbeispiel für eine solche gelungene Kodifikation ist das AGB-Recht in den §§ 305 ff. BGB. Es greift konkret kritische Vertragsgestaltungen auf und enthält als Auffangregelung eine Generalklausel.90 4. Konsequenzen für den tarifdispositiven Arbeitsschutz Staatliche Schutzpflichten verlangen also insgesamt, dass die rechtlichen Vorschriften zu ihrer Verwirklichung nicht nur überhaupt vorhanden sind, sondern auch inhaltlich hinreichend konkret sind. Es gilt damit ein Transparenzgebot. Dieses kann insbesondere durch die Verwendung von Generalklauseln und unbestimmten Rechtsbegriffen verletzt werden. Sofern Tariföffnungsklauseln als Generalklauseln gefasst werden, ist dies mit Blick auf das Transparenzerfordernis a priori weder verfassungsrechtlich zulässig noch unzulässig. Mit Blick auf das Transparenzerfordernis ist vielmehr nach den dargestellten Maßstäben zu überprüfen, ob der Gesetzgeber in Erfüllung der Schutzpflicht die adäquate Regelungsdichte gewählt hat. Dabei reicht es nicht aus, darauf zu verweisen, eine Generalklausel erfasse eine bestimmte schutzpflichtenauslösende Konstellation. Vielmehr muss hinzukommen, dass der Gesetzgeber nachweisen kann, dass eine detailliertere und präzisere Regelung im Ergebnis keinen Beitrag zum Grundrechtsschutz leisten kann, weil die einzelnen Fallkonstellationen unvorhersehbar sind91 und nur durch eine Generalklausel 89
Siehe oben 4. Kap. C. II. Bedenklich ist allerdings der Ausschluss der AGB-Kontrolle für Tarifverträge und Betriebsvereinbarungen in § 310 Abs. 4 BGB, vgl. dazu Richardi, NZA 2008, 1 (4). 91 Dies wird teilweise auch als Legitimationsgrundlage für die Aufgabenwahrnehmung der Gerichte gesehen, vgl. Hermes, VVDStrL 61 (2002), 119 (147). 90
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4. Kap.: Grenzen tarifdispositiven Rechts
sichergestellt werden kann, dass keine Schutzlücken entstehen. Ist dies nicht der Fall, ist eine Generalklausel wegen Verstoßes gegen das Transparenzgebot verfassungsrechtlich problematisch. Für tarifdispositive Regelungen ist damit zu fragen, ob dem Gesetzgeber konkrete Gefährdungspotenziale bekannt sind, die sich gesetzlich abschließend regeln lassen. Dies bedeutet für das Arbeitsschutzrecht, dass, wenn konkrete Gefährdungen durch bestimmte Arbeitsverfahren oder Arbeitsbedingungen erkannt werden, es nicht mehr ausreicht, abstrakt „Gefährdungen“ zu verbieten, sondern dass diese hinreichend zu konkretisieren sind. Es besteht hier auch keinerlei Legitimation für eine Generalklausel. Denn diese dürfte ja bei verfassungskonformer Interpretation keinen anderen Inhalt haben als die konkretisierte Regelung. Das einzige Motiv in einer solchen Situation, dennoch auf eine Generalklausel zurückzugreifen, kann darin liegen, dass der Gesetzgeber gegenüber dem Bürger den tatsächlichen Inhalt seines Schutzanspruchs verschleiern möchte. Mit Blick darauf gilt bei der Umsetzungspflicht von EG-Richtlinien ein Transparenzgebot.92 Die Situation bei der „Umsetzung“ grundrechtlicher Schutzpflichten ist damit voll vergleichbar. Ihre verfassungsrechtliche Sicherung ist daher nur vollständig, wenn das Transparenzgebot als verbindliche Direktive des grundrechtlichen Schutzanspruchs greift. Dieses muss dazu freilich auch an der subjektiven Schutzdimension der grundrechtlichen Schutzpflichten teilhaben.
III. Kriterium der Effektivität 1. Maßstab Mit Blick auf die Formen des gesetzlichen Schutzes ist zwischen den oben genannten prozeduralen Schutznormen, Schutznormen, die sich auf die Ergebniskorrektur beziehen und solchen, die als Folgenbeseitigung anzusehen sind, zu differenzieren. Welche dieser Formen zu wählen ist, hängt entscheidend von der Effektivität93 im Einzelfall ab. Es ist an dieser Stelle darauf hinzuweisen, dass das BVerfG verlangt, dass die grundrechtlichen Schutzpflichten effektiv erfüllt werden, unabhängig von der staatlichen Instanz, die zu ihrer Erfüllung tätig wird. Die nachfolgenden Grundsätze beziehen sich maßgeblich auf die Tätigkeit des Gesetzgebers. Das Erfordernis der Effektivität gilt aber für alle Staatsgewalten. Es wird hier aber nur in seiner spezifischen Bedeutung für die Legislative entfaltet.94 92 EuGH 10.5.2001, NJW 2001, 2244 ff.; Kamanabrou, RdA 2007, 199 (205); Herrmann, Richtlinienumsetzung durch die Rechtsprechung, S. 210. 93 BVerfG 26.7.2005, NJW 2005, 2363 (2368); Erichsen, JURA 1997, 85 (88). 94 Zur Bedeutung für den Umfang der schutzpflichtenrealisierenden Maßnahmen, vgl. unten 4. Kap. G. I.
D. Anforderungen an die Tätigkeit des Gesetzgebers
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Gesetzliche Regelungen erfüllen die Schutzpflicht nicht allein dadurch, dass die Schutzpflicht über diese verwirklicht werden kann. Die entsprechenden gesetzlichen Regelungen müssen in ihrer Ausgestaltung so konzipiert sein, dass sie deren Verwirklichung effektiv garantieren.95 Das BVerfG hat damit eine Grenzziehung vorgenommen, die durchaus auch für das kompetenzielle Verhältnis von Rechtsprechung und Legislative fruchtbar gemacht werden kann. Die Rechtsprechung ist nicht verpflichtet, aus jeder noch so unpräzise formulierten und intransparenten Vorschrift eine richterrechtliche Schutzpflichtenlösung zu entwickeln, sondern kann in solchen Konstellationen durchaus auf den Gesetzgeber verweisen. Der Gesetzgeber ist hinsichtlich der Schutzpflichten zur Schaffung effektiver, die Erfüllung der Schutzpflicht sichernder Schutzvorschriften verpflichtet.96 „Diese Sicherungen müssen hinreichend konkret sein, um effektiven Schutz zu ermöglichen“.97 2. Tarifautonomie und Effektivitätsgrundsatz Die Tarifautonomie ist als prozedurale Korrektur gestörter Vertragsparität im Zivilrecht und damit als partielle Verwirklichung grundrechtlicher Schutzpflichten anzusehen.98 Auch durch Informationspflichten und Beteiligungsrechte kann ein Beitrag zur Verwirklichung von grundrechtlichen Schutzpflichten auf der Verfahrensebene geleistet werden. Alle diese Instrumente haben den Vorzug, dass sie den Bürgern eine stärkere autonome Gestaltung ihrer Rechtsbeziehungen überlassen. Andererseits darf auch nicht übersehen werden, dass Schutzpflichten in der Regel erfolgsbezogen sind. Veränderungen eines Interaktionsprozesses zwischen Bürgern, der zu einer schutzpflichtenaktivierenden Lage führt, sind grundsätzlich ungeeignet, die Erfüllung der Schutzpflicht tatsächlich sicherzustellen.99 Damit hängt die Eignung von Korrekturen auf Verfahrensebene unmittelbar von dem Gewicht der bedrohten Rechtsgüter ab, wobei wiederum die bereits dargestellten Kontrollmaßstäbe zu beachten sind.100 Daraus folgt, dass insbesondere dort, wo irreversible Schäden oder solche von einem besonderen Gewicht drohen, eine prozedurale Korrektur ausscheidet. Das Gleiche gilt für die gesetzliche Verankerung von Instrumentarien zur Folgenbeseitigung. Entscheidendes Medium zur Umsetzung grundrechtlicher Schutzpflichten bleiben damit Vorschriften, die bestimmte Ergebnisse 95 BVerfG 26.7.2005, NJW 2005, 2363 (2368); BVerfG 28.5.1993, NJW 1993, 1751 (1754). 96 BVerfG 26.7.2005, NJW 2005, 2363 (2368). 97 BVerfG 26.7.2005, NJW 2005, 2363 (2368). 98 Vgl. dazu oben 3. Kap. E. I., F. II. 99 Anders, wenn ein Verfahren fehlt und dieses erst geschaffen werden muss, um die Schutzpflicht zu verwirklichen, vgl. BVerfG 13.2.2007, NJW 2007, 753 (754). 100 Vgl. dazu oben 4. Kap. C., D. I., II.
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4. Kap.: Grenzen tarifdispositiven Rechts
verbieten, also davor schützen, dass ein schutzpflichtenverletzender Erfolg eintritt. Das Mittel hierzu ist im Zivilrecht das zwingende Gesetzesrecht. Das tarifdispositive Gesetzesrecht erweist sich insofern als partielle Preisgabe vom Prinzip des Schutzes grundrechtlicher Positionen. Die Effektivität der grundrechtlichen Schutzpflichtverwirklichung wird durch das tarifdispositive Gesetzesrecht eingeschränkt. Ob dies auch in eine Verletzung umschlägt, ist eine davon zu unterscheidende Frage. Dass aber tarifdispositives Gesetzesrecht einen Negativeffekt auf den effektiven Grundrechtsschutz hat, ist nicht von der Hand zu weisen.
IV. Zusammenfassung Damit lässt sich zusammenfassend festhalten, dass der Gesetzgeber durch die schutzpflichtenaktivierenden Grundrechtsübergriffe Privater weitaus stärker gebunden ist, als dies bisweilen angenommen wird. Das BVerfG hat die Anforderungen für den Gesetzgeber in den letzten Jahren weiter entfaltet, präzisiert und damit die Bindungswirkung der Schutzpflichten erhöht. Dem Gesetzgeber steht es damit weit weniger frei als früher, schutzpflichtenrelevante Fragen ungeregelt zu lassen oder sich auf weit gefasste unpräzise Tatbestände zu beschränken. Insofern ist sein Spielraum eingeengter zu sehen, als dies noch zum Ende des letzten Jahrhunderts angenommen wurde. Insofern trägt das BVerfG den Forderungen nach einer gesetzlichen Mediatisierung grundrechtlicher Schutzpflichten Rechnung. Es nimmt den Gesetzgeber in die Pflicht, die entsprechenden Schutzpflichten dort tatsächlich zu realisieren, wo die Gesetzeslage unzureichend ist.
V. Kontrollmaßstab für legislatives Handeln Mit Blick auf die oben stehenden Prinzipien zeigen sich zusammengefasst folgende Aspekte, die eine gesetzliche Umsetzung der grundrechtlichen Schutzpflicht determinieren. Eine erste Schranke ist das Ausmaß, in dem sich die schutzpflichtenaktivierenden Erfolge konkretisieren lassen. Je konkreter deren Ausmaß und Ursachen zu bestimmen sind, desto konkreter müssen die Schutznormen sein und desto geringer ist der legislative Handlungsspielraum. Der Rückgriff auf Generalklauseln kann dabei in dem Maße unzulässiger werden, in dem sich die Erfolge, die zu verhindern sind, konkret ermitteln lassen. Das Effektivitätsgebot, die Wesentlichkeitstheorie101 und der Transparenzgedanke zwingen zu einer möglichst konkreten Regelung. Gleichzeitig dürfen durch eine derartige Verfahrensweise aber auch keine Schutzlücken geschaffen werden, weil die entsprechend konkretisierten Regelun101
Vgl. dazu 4. Kap. E. III. 2.
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gen nicht den gesamten schutzpflichtenrelevanten Bereich abdecken. Daher ist auch der Gebrauch von unbestimmten Rechtsbegriffen nur nach Maßgabe der jeweiligen Schutzpflichtenkonstellation zulässig. Insgesamt kann der Gesetzgeber sich nicht auf die Erwägung zurückziehen, er könne die Umsetzung der grundrechtlichen Schutzpflichten im Wesentlichen der Judikative überlassen. Die zugrunde liegenden Vorschriften müssen sowohl der zugrunde liegenden Gefährdungslage für die Schutzpflicht effektiv Rechnung tragen, als auch hinreichend konkret gefasst sein und die für die Umsetzung der grundrechtlichen Schutzpflicht getroffenen Schutzmaßnahmen rechtsklar und transparent zum Ausdruck bringen. Wann diese Anforderungen erfüllt sind, richtet sich nach dem Gewicht der schutzpflichtenaktivierenden Lage und den konkret zur Verfügung stehenden Möglichkeiten, den entsprechenden Sachverhalt legislativ zu fassen. Auch hier besteht zwar ein Wertungsspielraum, dessen Ausnutzung allerdings in Ansehung der oben genannten Prinzipien der Rechtfertigung bedarf.
VI. Konsequenzen für das tarifdispositive Gesetzesrecht Die grundrechtlichen Schutzpflichten beinhalten für den Gesetzgeber konkrete Bindungen für die inhaltliche Ausgestaltung schutzpflichtenmediatisierender Vorschriften. Dass diese Bindungen auch dann gelten müssen, wenn er an sich schutzpflichtenrealisierende Regelungen zur Disposition der Tarifvertragsparteien stellt, ist zwingend. Damit unterliegt er bei der konkreten Ausgestaltung von Tariföffnungsklauseln Schranken. Diese dürfen je nach Gewicht des konkret betroffenen Grundrechts nur in bestimmten Grenzen unbestimmt sein. Vielmehr wächst mit dem Gewicht der grundrechtlichen Schutzposition auch das Ausmaß an tatbestandlichen Einschränkungen, denen Tariföffnungsklauseln unterliegen müssen. Ebenso nehmen die Anforderungen an die inhaltliche Bestimmtheit dieser Vorschriften zu. Der Rückgriff auf unbestimmte Rechtsbegriffe und Generalklauseln unterliegt damit hinsichtlich seiner Zulässigkeit der verfassungsrechtlichen Kontrolle. Damit ist im Ergebnis auch eine stärkere Betonung der gesetzlichen Ebene erforderlich, als dies bislang in der Rechtsprechung des BVerfG und in der des BAG im Bereich des kollektiven Arbeitsrechts zum Ausdruck kommt. Soweit es um das Verfahren der Auseinandersetzungen zwischen den Koalitionen geht, mag man die großzügige Rechtsprechung noch rechtfertigen können, nicht aber dort, wo das Verfahren auf die Arbeitsverhältnisse zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern unmittelbar einzuwirken beginnt. Der Entstehungsprozess dieser Normen mag eine konkrete gesetzliche Regelung weniger erforderlich machen als die Ergebnisse, die durch diesen Prozess erzielt werden. Sobald aber tarifvertragliche Regelungen in der Welt sind und diese mit Blick auf die grundrechtlichen Schutzpflichten inakzeptable Ergebnisse erzielen, ist gerade mit Blick auf das
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4. Kap.: Grenzen tarifdispositiven Rechts
Transparenzerfordernis und das Effektivitätsgebot Zurückhaltung geboten, wenn die Rechtsprechung selbst eingreifen möchte, ohne den Gesetzgeber zu aktivieren. Dieser Grundsatz kann aber nur dann aufrecht erhalten werden, wenn den Gerichten ein prozessualer Ausweg eröffnet wird, um die Schaffung einer schutzpflichtenkonformen Lösung zu erreichen. Ein solcher Weg besteht nach hier vertretener Auffassung.102 Lehnt man diese Möglichkeit ab, so muss man der Rechtsprechung aber in der Tat großzügigere Möglichkeiten zur Verfügung stellen, weil diese ansonsten zur Unrechtsjudikatur verpflichtet würde. Eine solche Verpflichtung lässt sich weder mit dem Leitbild der freiheitlichen Grundordnung in Einklang bringen, noch mit dem Rechtsstaatsprinzip und dem Justizgewährungsanspruch. Sieht sich ein Gericht durch eine fehlende gesetzliche Regelung an einer schutzpflichtenkonformen Entscheidung eines Rechtsstreits gehindert, so gebieten diese Grundsätze die Eröffnung einer Vorlagemöglichkeit zum BVerfG, die zu einer entsprechenden die Schutzpflicht mediatisierenden Regelung führt. Diese Möglichkeit existiert.103 Wird sie aktiviert, ist eine stärkere Bindung des Gesetzgebers auch in Ansehung der Schutzpflichten zu legitimieren. Dennoch ist zunächst zu fragen, in welchem Umfang der Judikative Verpflichtungen und Befugnisse zur eigenständigen Umsetzung der Schutzpflichten verbleiben.
E. Anforderungen an die Rechtsprechung bei der Erfüllung staatlicher Schutzpflichten Sofern ein hinreichender gesetzlicher Rahmen besteht, der keine weitergehenden Regelungsverpflichtungen der Legislative auslöst, stellt sich die Frage nach den Bindungen der Judikative im Bereich grundrechtlicher Schutzpflichten. Gegen eine judikative Verwirklichung grundrechtlicher Schutzpflichten bestehen nicht nur mit Blick auf das Demokratieprinzip Bedenken.104 Auch das Effektivitätsgebot und der Transparenzgedanke streiten gegen zu weitgehende Befugnisse der Judikative, selbst grundrechtliche Schutzpflichten zu verwirklichen. Dennoch erkennt das BVerfG der Rechtsprechung eine grundsätzlich weitreichende Befugnis zur eigenständigen Verwirklichung grundrechtlicher Schutzpflichten zu.105 Dies betrifft zum einen die Pflicht der Gerichte, die Normen des einfachen Rechts im Sinne der Grundrechte auszulegen und anzuwenden. Zum anderen hat das BVerfG der Rechtsprechung aber auch das Recht zugebilligt, diese durch richterliche Rechtsfortbildung zu verwirklichen. 102 103 104 105
Siehe unten 4. Kap. E. II., III. 1. e) cc). Siehe unten 4. Kap. E. III. 1. e) cc). Oeter, AÖR 119 (1994), 529 (549). BVerfG 26.6.1991, NJW 1991, 2549 (2550); vgl. dazu 4. Kap. E. III.
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Die Frage, in welchem Ausmaß die Gerichte verpflichtet und berechtigt sind, grundrechtlichen Schutzpflichten per richterlicher Entscheidung zur Umsetzung zu verhelfen, hat erhebliche Auswirkungen auf die verfassungsrechtliche Zulässigkeit tarifdispositiven Gesetzesrechts. Denn je stärker die Rechtsprechung defizitäre legislative Umsetzungen grundrechtlicher Schutzpflichten kompensieren kann und dies ohne hinreichende Anbindung an gesetzliche Regelungen darf, verschiebt sich der Standort, über den Begrenzungen der tariflichen Abweichungsbefugnis auf Basis von Tariföffnungsklauseln stattfinden. Entweder liegt dieser in den gesetzlichen Vorschriften selbst oder im Bereich der ungeschriebenen Grenzen des tarifdispositiven Gesetzesrechts. Damit ist insbesondere auch die Frage angesprochen, inwieweit die Grundrechtsbindung der Tarifvertragsparteien als letzte Auffanglinie vor Schutzpflichtverletzungen fungieren kann. Letztendlich müssen aber, bevor diese Fragen gelöst werden können, die Bindungen und Grenzen aufgezeigt werden, denen die Judikative unterliegt, wenn sie grundrechtliche Schutzpflichten eigenständig zur Geltung bringt. Auch hier stellen sich also Vorfragen zu Grundlagen und Grenzen der insoweit bestehenden Instrumente der Rechtsprechung. Die verfassungskonforme Auslegung soll hier als Instrumentarium nur auf ihre Grenzen hin untersucht werden. Die richterliche Rechtsfortbildung zur Verwirklichung grundrechtlicher Schutzpflichten hingegen bedarf einer gesonderten Legitimation.
I. Verfassungskonforme Auslegung Die verfassungskonforme Auslegung ist wohl das klassische und verbreitete Mittel der Umsetzung grundrechtlicher Schutzpflichten. Durch die weitreichende gesetzliche Durchdringung der meisten für die Arbeitsbeziehungen relevanten Bereiche bestehen häufig gesetzliche Regelungen, auf die für eine derartige Auslegung zurückgegriffen werden kann. Damit ist man bei einer weiteren Problematik der Verwirklichung grundrechtlicher Schutzpflichten angelangt: deren Verwirklichung durch die Generalklauseln und unbestimmten Rechtsbegriffe des einfachen Gesetzesrechts.106 Obwohl man dazu neigen könnte, hier eine Möglichkeit zur Verwirklichung der Schutzpflichten zu sehen, sind jedoch mit Blick auf das Demokratieprinzip, die Transparenz und die Effektivität des Grundrechtsschutzes Bedenken angebracht (zur Wesentlichkeitstheorie vgl. unter III. 2.).107
106 107
Vgl. dazu bereits oben 4. Kap. D. II. 3. Vgl. dazu oben 4. Kap. D. II., III.
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1. Grenzen des Verweises auf die Möglichkeit verfassungskonformer Auslegung Zunächst ist ein Zusammenhang zwischen der Generalklausel und der Schutzpflicht zu verlangen. Es ist fraglich, ob generell durch jede Art von Generalklausel Schutzpflichten erfüllt werden können. 2. Grenzen des Rückgriffs auf Generalklauseln a) Generalklauseln und 1:1-Transponierung der Grundrechte in das Zivilrecht Das BVerfG hat im Zivilrechtsverkehr insbesondere auf die Generalklauseln der §§ 138, 242 BGB verwiesen, über die gegebenenfalls die Schutzpflichten zu verwirklichen seien.108 Damit ist aber schon rechtstatsächlich kaum jede grundrechtliche Schutzpflichtenkonstellation zu erfassen.109 Auch sind die Vorschriften keineswegs als gesetzgeberische Delegationserklärung für grundrechtliche Schutzpflichten zu verstehen. Dennoch bieten sie für eine Vielzahl von Konfliktlagen, wie etwa den Kündigungsschutz außerhalb des KSchG, eine hinreichende und geeignete Grundlage.110 Allerdings sind sie auch nicht zur generellen Eingriffsermächtigung zur Verwirklichung grundrechtlicher Schutzpflichten durch die Judikative zu erheben. Denn in diesem Falle würden die Generalklauseln faktisch außer Kraft gesetzt111, was im Ergebnis nichts anderes als eine unmittelbare Grundrechtsbindung bedeuteten würde.112 Eine Sichtweise, die sich mit Blick auf die zivilrechtlichen Generalklauseln der Notwendigkeit der gesetzlichen Mediatisierung grundrechtlicher Schutzpflichten vollständig verschließt, missachtet den Grundsatz der Normenklarheit und Normenbestimmtheit bei der Umsetzung grundrechtlicher Schutzpflichten.113 b) Transparenz- und Effektivitätsgebot als Grenze Vielmehr bedarf es einer konkreten Prüfung anhand der jeweiligen Generalklausel, ob diese zur Verwirklichung der Schutzpflicht geeignet ist.114 Dabei sind
108
BVerfG 7.2.1990, NJW 1990, 1469 (1470). Canaris, AcP 184 (1984), 201 (223). 110 Bengsch, Der verfassungsrechtlich geforderte Mindestkündigungsschutz im Arbeitsverhältnis, S. 98 ff. 111 Canaris, AcP 184 (1984), 201 (209, 235 ff.). 112 Ähnliche Kritik bei Gamillscheg, AuR 1996, 41 (48); dass dem so ist, wird besonders deutlich bei Bleckmann, DVBl. 1988, 938 (943), der dies unter der Überschrift „Form der Drittwirkung“ diskutiert. 113 Vgl. dazu oben 4. Kap. D. II. 109
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allerdings auch die Gesichtspunkte der Transparenz und der Effektivität zu beachten.115 Nur dann, wenn auch der normale Bürger aus den Normen auf den Inhalt der Schutzpflicht schließen kann, ist diese hinreichend gewahrt. Insbesondere nimmt mit dem Ausmaß an dogmatischer Kreativität, die benötigt wird, um einen Schutzanspruch in die entsprechende Norm zu zwängen, die Legitimation des erzielten Ergebnisses ab. Dies gilt umso mehr, je umfangreicher das ist, was durch „Auslegung“ in die Norm hineingelegt wird. Nicht nur mit Blick auf das Demokratieprinzip bestehen Bedenken gegen die Implementierung weitreichender und umfangreicher Schutzmodelle116, während begrenzte und einzelfallbezogene Gestaltungen viel eher akzeptiert werden können. Es ist aber dringend geboten, die Überproduktion von unübersichtlichem Fallrecht117 auf Grund von Generalklauseln dabei kritisch im Blick zu haben, weil dies die Erkennbarkeit des Schutzanspruchs und damit seine Erfüllung beeinträchtigen kann. c) Grenzen der Leistungsfähigkeit der Rechtsprechung Schließlich sind die Grenzen der Leistungsfähigkeit der Rechtsprechung zu bedenken. Sind zur Ausfüllung einer Generalklausel komplexe Erwägungen und gegebenenfalls die Einholung umfangreicher Gutachten sowie eine detaillierte und umfangreiche Regulierung erforderlich, sprengt das die Grenzen ihrer Leistungsfähigkeit.118 Dies kann insbesondere für die Ermittlung von Grenzwerten für Gesundheitsbelastungen gelten, wenn wissenschaftliche Erkenntnisse fehlen oder unzureichend sind.119 Diese sind nicht nur wegen ihrer Wesentlichkeit durch die Legislative zu regeln120, sondern auch deshalb, weil der Einzelrichter eine sachgerechte Ermittlung von Grenzwerten nur begrenzt leisten kann. Im Übrigen würde, wenn derart weitreichende „Ausfüllungen“ von Vorschriften durch die Rechtsprechung vorgenommen würden, diese in der Tat in die Nähe eines Ersatz- oder besser Sekundärgesetzgebers gedrängt werden. Je umfangreicher und differenzierter diese Tätigkeit wird, umso stärker verweisen Transparenzgedanke und Demokratieprinzip auf den Gesetzgeber. Dies gilt insbesondere deshalb, weil hier nicht nur Transparenzdefizite für den Schutzbedürftigen entstehen, sondern auch deshalb, weil diejenigen, die für ihr Handeln auf rechtliche Maßstäbe angewiesen sind, ihr Verhalten nicht auf rechtssicherer Grundlage aus114 Auch Canaris, AcP 184 (1984), 201 (223), weist mit Recht darauf hin, dass eine Generalklausel nicht aufgrund ihrer Existenz, sondern ihrer konkreten Maßstäbe geeignet sein muss, die Schutzpflicht zu mediatisieren. 115 Vgl. dazu oben 4. Kap. D. II, III. 116 Kritisch auch Hermes, VVDStrL 61 (2002), 119 (140). 117 Pietzcker, JuS 1979, 710 (714). 118 BAG 11.2.1998, NZA 1998, 647. 119 BAG 11.2.1998, NZA 1998, 647. 120 Vgl. dazu unten 4. Kap. E. III. 2.
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richten können.121 Auch mit Blick darauf, dass Verstöße gegen solche nachträglich modifizierten Grundsätze zivilrechtliche Sanktionen zur Folge haben können, ist hier eine hinreichende gesetzliche Grundlage zu verlangen. Denn auch das Interesse eines Störers, sich schutzpflichtenkonform verhalten zu können, muss berücksichtigt werden, wenn es um die Bestimmung der Reichweite der Befugnisse der Rechtsprechung zur Umsetzung von Schutzpflichten geht.122 3. Gesetzesbindung und Gewaltenteilung als Grenzen judikativer Schutzpflichtenumsetzung Auch im Rahmen der verfassungskonformen Auslegung darf die Rechtsprechung die Grenzen der Gesetzesbindung und der Gewaltenteilung nicht abstreifen. Nach der ständigen Rechtsprechung des BVerfG ergibt sich eine umfassende Bindung an die Grenzen der richterlichen Entscheidungsbefugnis, die aus Art. 20 Abs. 2 und Abs. 3 GG folgt.123 Die Bindung des Richters an das Gesetz, die sich neben den genannten Vorschriften noch aus Art. 97 Abs. 1 GG ergibt, ist einer der „Eckpfeiler“ des Gewaltenteilungssystems.124 Dennoch sind die Gerichte grundsätzlich verpflichtet, soweit eine Norm eine verfassungskonforme Auslegungsmöglichkeit zulässt125, ebendiese zu wählen.126 Das BVerfG kann eine solche Auslegung sogar selbst vorschreiben, um die Verfassungswidrigkeit einer Vorschrift zu vermeiden. Unter dem Blickwinkel der Einzelfallgerechtigkeit zeigt sich ein positives Bild, unter dem Gesichtspunkt effektiven Grundrechtsschutzes sind solche Judikate umso problematischer127, je weiter sie sich vom Wortlaut der Norm entfernen. Der Wortlaut und das erkennbar mit der Regelung verfolgte Ziel bilden die Grenze der verfassungskonformen Auslegung. Wenn eine Auslegung sich zum erkennbaren Willen des Gesetzgebers in Widerspruch setzt, ist sie unzulässig.128 Eine Grenze findet die Berechtigung zur verfassungskonformen Auslegung von Vorschriften auch dort, wo sie die Schutzpflicht nur teilweise zur Geltung brin-
121 Vgl. zum Problem auch Rusteberg, Der grundrechtliche Gewährleistungsgehalt, S. 69 f. 122 Rusteberg, Der grundrechtliche Gewährleistungsgehalt, S. 69 f. 123 BVerfG 12.11.1997, NJW 1998, 519 f.; BVerfG, EuGRZ 1998, 62 (65); BVerfG 18.8.1999, NVwZ 1999, 1331 (1332); BVerfG 28.8.2000, NJW 2000, 3635 (3636); Pieroth/Aubel, JZ 2003, 504 (506); Hillgruber, JZ 1996, 118 (119). 124 Söllner, ZG 1995, 1 (2). 125 BVerfG 27.10.1999, NJW 2000, 1175 (1178). 126 Dieterich, RdA 1993, 67 (71); Dreier, Die Verwaltung 36 (2003) 105 (110). 127 Auf das Spannungsverhältnis zwischen Einzelfallgerechtigkeit und Rechtssicherheit, weist auch Rusteberg, Der grundrechtliche Gewährleistungsgehalt, S. 69 zu Recht hin. 128 Dreier, Die Verwaltung 36 (2003), 105 (110, 111).
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gen kann und insbesondere dann, wenn sie den verfassungsrechtlichen Anforderungen an Normenbestimmtheit und Normenklarheit nicht genügen kann.129 Das BVerfG hat jedenfalls einem Verständnis, das die Verwirklichung staatlicher Schutzpflichten allein dem Gesetzgeber zuweisen will, eine Absage erteilt. Die Rechtsprechung sei, wie die gesamte staatliche Gewalt, an die staatlichen Schutzpflichten gebunden.130 Es stellt sich aber die Frage nach dem Umfang dieser Bindung. Vollkommen selbstverständlich und anerkannt ist, dass die Zivilgerichte einfaches Gesetzesrecht im Lichte der Grundrechte auszulegen und anzuwenden haben.131 Die Lüth-Entscheidung des BVerfG hat hierzu den Weg geebnet.132 Diese Bindung hat das BVerfG auch auf die staatlichen Schutzpflichten ausgedehnt.133 An dieser Stelle könnte man sich auf den Standpunkt stellen, wenn eine einfachgesetzliche Vorschrift fehle, sei damit auch den Gerichten der Weg zur Berücksichtigung der Schutzpflichten abgeschnitten. Das BVerfG verweist für solche Fallkonstellationen hingegen auf die zivilrechtlichen Generalklauseln, also insbesondere die §§ 138, 242 BGB.134 Gerade bei der Konkretisierung und Anwendung dieser Generalklauseln seien die Grundrechte zu beachten.135 Der Schutzauftrag der Verfassung richte sich hier an den Richter.136 Das Lösungsmodell des BVerfG sah in der Handelsvertreterentscheidung so aus, dass es die schutzpflichtenwidrige Regelung für unvereinbar mit dem Grundgesetz erklärte und die Entscheidung mit der Maßgabe an die Zivilgerichte zurückverwies, zu überprüfen, ob ohne die Vorschrift im Rahmen des allgemeinen Zivilrechts die Schutzpflicht zu verwirklichen wäre. Sofern dies nicht der Fall sei, müsse das Verfahren bis zu einer verfassungskonformen Umgestaltung durch den Gesetzgeber ausgesetzt werden.
II. Vorlageverpflichtung nach Art. 100 Abs. 1 GG bei unzureichenden gesetzlichen Schutzvorschriften Damit wird eine sinnvolle Kompetenzverteilung deutlich. Besteht einfaches Recht, das nicht verfassungskonform ausgelegt werden kann und daher der Verwirklichung staatlicher Schutzpflichten entgegensteht, so ist das Verfahren nach 129 130 131 132 133 134
BVerfG 26.7.2005, NJW 2005, 2363 (2371). Vgl. dazu oben 4. Kap. B. Dieterich in: ErfK, GG, Einl., Rn. 80 f. BVerfG 15.1.1958, NJW 1958, 257. BVerfG 30.7.2003, NJW 2003, 2815. BVerfG 7.2.1990, NJW 1990, 1469 (1470); grdl. BVerfG 15.1.1958, NJW 1958,
257. 135 136
BVerfG 7.2.1990, NJW 1990, 1469 (1470). BVerfG 7.2.1990, NJW 1990, 1469 (1470).
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4. Kap.: Grenzen tarifdispositiven Rechts
Art. 100 Abs. 1 GG auszusetzen.137 Insofern sind die Gerichte also keineswegs frei, spezialgesetzliche Regelungen außer Acht zu lassen, wenn sie staatliche Schutzpflichten zu verwirklichen suchen. Dies ist Ausdruck der Gesetzesbindung und des Demokratieprinzips. Dies deckt allerdings lediglich die Fallkonstellation ab, in der eine spezialgesetzliche Regelung der Verwirklichung staatlicher Schutzpflichten entgegensteht. Es darf nicht verkannt werden, dass die rechtsprechende Gewalt grundsätzlich als rechtsgebundene, nicht als rechtsschöpfende staatliche Kraft konzipiert ist, auch wenn sie für die Rechtsfortbildung zuständig ist.138 Es stellt sich nunmehr die Frage, wie die Konfliktlage aufzulösen ist, wenn zwar ein spezialgesetzlicher Regelungskomplex vorhanden ist, in dessen Anwendungsbereich eine grundrechtliche Schutzpflicht besteht, es aber an einer die grundrechtliche Schutzpflicht vermittelnden Vorschrift fehlt. Es stellt sich dann die Frage, ob die Verwirklichung der Schutzpflicht über die zivilrechtlichen Generalklauseln möglich ist. Allerdings ist damit nicht vorbestimmt, dass die Gerichte eigenständig eine Lösung zur Wahrung der Schutzpflicht entwickeln dürfen. Wiederum sind die Gesetzesbindung und das Demokratieprinzip in einen Ausgleich zu bringen. Auch hier bietet sich eine Sichtweise an, die stärker auf das Primat des Gesetzgebers verweist oder eine, die sich einer extensiven Berücksichtigung der staatlichen Schutzpflichten durch die Rechtsprechung verschreibt. Welcher Betrachtungsweise ist nun der Vorzug zu geben? Dies richtet sich nach der Vorfrage, mit welcher Intensität nach einfachgesetzlichen Einbruchstellen für die Schutzpflichten gesucht werden muss und in welchem Maße die Rechtsprechung im Rahmen solcher Einbruchstellen zur „Ersatzgesetzgebung“ 139 befugt ist. Letzteres Problem fällt teilweise unter das Sonderproblem von Ausmaß und Umfang der Einschätzungsprärogative des Gesetzgebers und soll an dieser Stelle ausgeklammert werden.140 Es stellt sich aber die Frage nach der einfachgesetzlichen Vermittlung der Schutzpflichten. Dabei ist zu klären, wie es sich auswirkt, wenn der Gesetzgeber neben dem BGB spezialgesetzliche Regelungen zur Materie erlassen hat. Dabei steht weniger das Problem im Vordergrund, ob durch den Gesetzgeber überhaupt Vorschriften zu dem Regelungskomplex erlassen wurden, der im Zusammenhang mit den staatlichen Schutzpflichten steht. So sperrt beispielsweise die Existenz des Kündigungsschutzgesetzes nicht die Berücksichtigung der Wertungen des Art. 12 Abs. 1 GG bei der Auslegung und Anwendung der §§ 138, 242 BGB als Mindestkündigungsschutz. Ebenso wenig spricht das 137
Vgl. dazu ausführlich unten 4. Kap. E. III. 1. e) cc), 9. Engels, Verfassung und Arbeitskampfrecht, S. 312; Hillgruber, JZ 1996, 118 f.; Kissel, AuR 1982, 137 ff.; Kloepfer, NJW 1985, 2497 (2500). 139 Kritisch zum Begriff: Engels, Verfassung und Arbeitskampfrecht, S. 311. 140 Vgl. dazu ausführlich unten 4. Kap. G. V. 138
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KSchG dafür, den Rückgriff auf die §§ 138, 242 BGB für Personen auszuschließen, auf die das KSchG nicht anwendbar ist. Gesperrt ist lediglich eine Auslegung der §§ 138, 242 BGB, die einzelnen Arbeitnehmern einen Schutz bietet, der genauso im KSchG enthalten ist. Dies stünde im Widerspruch zur gesetzgeberischen Wertung. Ginge man davon aus, ein Teil des Kündigungsschutzes aus dem KSchG sei verfassungsrechtlich durch die grundrechtlichen Schutzpflichten geboten, so stünde die Rechtsprechung vor einem auflösungsbedürftigen Dilemma. Sie darf weder die gesetzgeberische Wertung umgehen und den Rechtsschutz aus §§ 138, 242 BGB gewähren noch kann sie die Vorschrift, die zur Unanwendbarkeit der Vorschriften des KSchG führt, verfassungskonform auslegen. Hier bliebe im Ergebnis nur der Weg über die Richtervorlage nach Art. 100 Abs. 1 GG. Im letzteren Fall, das ist einzuräumen, wird der Rechtsschutz allerdings unter Umständen erheblich verzögert. Damit ist man beim Kern des Problems angekommen. Wo verläuft die Grenze, ab der ein Gericht ein Verfahren nach Art. 100 Abs. 1 GG aussetzen muss, um dem BVerfG die Frage vorzulegen, ob die einfachrechtliche Lage wegen Verstoßes gegen grundrechtliche Schutzpflichten verfassungswidrig ist? Und bis zu welchem Ausmaß darf das Gericht durch extensive Auslegung und Anwendung des Zivilrechts selbst gegensteuern? Dies ist nicht deshalb stets der Fall, weil es die §§ 138, 242 BGB gibt. Auch die Konkretisierung über die §§ 138, 242 BGB unterliegt Grenzen. Damit ist nicht die Frage angesprochen, ob beispielsweise Tarifverträge überhaupt in den Anwendungsbereich des § 138 BGB fallen141, sondern ob sich bestimmte grundrechtlich problematische Regelungen überhaupt unter den Begriff der guten Sitten subsumieren lassen. Das Problem greift noch tiefer, wenn man sich klar macht, dass sich die Feststellung einer Schutzpflichtverletzung regelmäßig nicht zwingend in einer konkreten staatlichen Regelung manifestiert, sondern aus einem Gesamtgefüge von Regelungen ergibt, die den verfassungsrechtlich gebotenen Mindestschutz nicht gewähren. Aber auch sonst ist es abzulehnen, insbesondere soweit hier das Motiv der Arbeitsentlastung des BVerfG im Vordergrund steht, die einfachen Gerichte mit den verfassungsgerichtlichen Konfliktlagen allein zu lassen. 1. Voraussetzungen der Vorlageverpflichtung nach Art. 100 Abs. 1 GG a) Rechtsprechung des BVerfG Die Gerichte müssen die Möglichkeit einer verfassungskonformen Auslegung sorgfältig prüfen, insbesondere dann, wenn sie eine solche Möglichkeit ablehnen 141 Dies ist nach wie vor umstritten, vgl. dazu BAG 24.3.2004, NZA 2004, 971; kritisch Otto, FS Konzen, S. 663 (675 ff.).
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und das Verfahren nach Art. 100 Abs. 1 GG aussetzen wollen.142 Das BVerfG hat die Voraussetzungen für die Zulässigkeit von Richtervorlagen sukzessive verschärft und dabei insbesondere eine sorgsame Prüfung von Alternativen verlangt, wobei diese primär in der verfassungskonformen Auslegung liegen.143 b) Kritik Dies ist mit Blick auf das Demokratieprinzip nicht unbedenklich, weil es die Rechtsprechung zu überaus gewagten Konstruktionen treibt144, um die Vorlage nach Art. 100 Abs. 1 GG zu vermeiden und damit dessen Wirkkraft beeinträchtigt. Überhaupt zieht sich das BVerfG mit seiner Rechtsprechung zu Art. 100 Abs. 1 GG die Kritik zu, seine Arbeitsüberlastung durch künstliche Hürden und Begründungslasten ohne sachliche Rechtfertigung einzuschränken.145 Dass dabei die Gerichte geradezu zu Kompetenzübergriffen gegenüber der Legislative getrieben werden, um eigene Entscheidungen des BVerfG zu vermeiden146, wird vom BVerfG nicht hinreichend problematisiert. Auch die Rechtsprechung des BVerfG zum Gesetzesvorbehalt und der Wesentlichkeitstheorie ist nicht unproblematisch. Denn letztendlich führt diese Rechtsprechung dazu, dass das BVerfG die Aufgabe der verfassungsrechtlichen Entscheidung auf die Gerichte zurückwirft, obwohl spezifisch verfassungsrechtliche Fragestellungen der Kern der Verfahren sind. Insofern findet eine verdeckte Kompetenzverschiebung auf die einfachen Gerichte statt. Dass das BVerfG den Instanzgerichten die volle Verantwortung für die Bewertung spezifischer verfassungsrechtlicher Fragen aufzwingt, ohne die Möglichkeit zu schaffen, diese auf den eigentlichen Verantwortungsträger – den Gesetzgeber – zurückzuwerfen, ist bedenklich. Dabei lassen sich zwei grundlegende Problemkreise identifizieren. Der eine ist der Fall, dass eine unmittelbar verfassungskonform auslegbare Vorschrift fehlt, und der andere, dass die für die verfassungskonforme Auslegung notwendigen Informationen und Abwägungen so komplex sind, dass man sie der Judikative nicht mehr überantworten darf. Im ersteren Fall liegt der Rückgriff auf die Rechtsfortbildung nahe, im Letzteren der Ausweg über eine „jedenfalls“-Rechtsprechung, die unabhängig von der Ermittlung des „richtigen“ Schutzniveaus feststellt, dass dieses jedenfalls im konkreten Falle unterschritten ist. Bleibt man beim letzteren Fall, ist eine solche Rechtsprechung indes nichts anderes als das
142
BVerfG 6.4.1989, BVerfGE 80, 68 (72); Dieterich, RdA 1993, 67 (71). BVerfG 18.12.1984, BVerfGE 68, 337 (344); BVerfG 5.4.1989, BVerfGE 80, 54 (58); Schlaich/Korioth, Das Bundesverfassungsgericht, Rn. 145; vgl. dazu Dreier, Die Verwaltung 36 (2003), 105 (108); Voßkuhle, AÖR 125 (2000), 177 (199). 144 Bedenken auch bei Hermes, VVDStrL 61 (2002), 119 (140). 145 Dreier, Die Verwaltung 36 (2003) 105 (108 f.). 146 Dreier, Die Verwaltung 36 (2003) 105 (111). 143
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Eingeständnis, dass das falsche Organ mit der Entscheidung betraut wird. Denn sind die konkreten Maßstäbe nicht rechtlicher Natur, kann es am Sachverstand für die Bewertung der Frage fehlen. 2. Das Beispiel Arbeitszeitschutzrecht Als Beispiel sei erneut der Arbeitszeitschutz genannt.147 Hier lässt sich im Einzelfall möglicherweise feststellen, wenn eine Arbeitszeitgestaltung gesundheitsschädlich ist oder, so das BAG, wegen objektiver Überforderung gegen die Menschenwürde verstößt.148 Andererseits fehlen dem BAG aber teilweise belastbare Erkenntnisse, um gesetzliche Vorschriften, die tatbestandlich auf solche verweisen, überhaupt zur Anwendung zu bringen.149 Es lassen sich die allgemeinen Grenzwerte, ab denen diese Schwellen überschritten sind, durch ein Gericht nur begrenzt sachgerecht bewerten. Dies gilt insbesondere dann, wenn in jedem Einzelfall individuell die Belastung erforscht werden müsste.150 Außer in Evidenzfällen gerät die Sachentscheidung damit zwangsläufig in den spekulativen Bereich, besonders dann, wenn auch noch Beweis(last)probleme oder die unklare Auswirkung von Flexibilisierungsmöglichkeiten innerhalb eines Arbeitszeitmodells in Rede stehen.151 Erforderlich sind klare, transparente Außengrenzen, ab denen eine Regelung stets unzulässig ist, nicht schwammige Einzelfallprüfungen unter sachlich nicht operationalisierbaren Leerformeln wie „Sicherstellung des Gesundheitsschutzes“, „Gewährleistung des Gesundheitsschutzes“ 152 oder der „menschengerechten Gestaltung der Arbeitszeit“.153 Es bedarf dann notwendigerweise des Gesetzgebers, der definiert, wann eine gesundheitlich unbedenkliche Arbeitszeitgestaltung vorliegt und wann nicht. Die Frage ist durch eine verfassungskonforme Auslegung nicht zu erledigen. Die Schutzpflichten aus Art. 2 Abs. 2 GG und Art. 1 Abs. 1 GG geben nicht mehr als die Leitlinie vor, dass eine Begrenzung der Arbeitszeit aufgrund staatlicher Schutzpflichten geboten ist und zwar dahin gehend, keine Arbeitszeitgestaltungen zuzulassen, die den Gesundheitsschutz gefährden. Wann das der Fall ist, ist aber durch die Gerichte sachgerecht nur in Evidenzfällen zu bestimmen,
147
BAG 11.2.1998, NZA 1998, 647. BAG 24.2.1982, NJW 1982, 2140. 149 Vgl. zu § 6 Abs. 1 ArbZG, BAG 11.2.1998, NZA 1998, 647; vgl. dazu unten 8. Kap. 150 BAG 11.2.1998, NZA 1998, 647. 151 BAG 11.2.1998, NZA 1998, 647. 152 Vgl. zu diesen Leerformeln §7 Abs. 2 und 2a ArbzG. Kritik im Schrifttum hieran bei: Wank in: ErfK, § 7 ArbZG, Rn. 18; Buschmann/Ulber, J., § 7 ArbZG, Rn. 2; 24 c; vgl. dazu ausführlich unten 8. Kap. A. I. 3. a) aa). 153 Neumann/Biebl, § 6 ArbZG, Rn. 8; verschwommener Begriff, praktisch keine Möglichkeit des Arbeitnehmers, eine Verletzung zu rügen. 148
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der Grundrechtsschutz im Übrigen bleibt dem Zufall überlassen. Ohne klar definierte zeitliche Obergrenzen für die Arbeitszeit kommt der Grundrechtsschutz hier nicht aus.154 Die Unklarheit der Vorschriften des Arbeitszeitrechts paralysiert den Grundrechtsschutz. Damit ist ein erster Fall von Verfassungswidrigkeit wegen Intransparenz umschrieben: Obwohl eine gesetzliche Schutzvorschrift existiert, werden die grundrechtlichen Schutzpflichten verletzt, weil diese vom Gesetzgeber auf Organe verlagert werden, die die Aufgabe nicht sachgerecht erfüllen können. Damit erlangen die Schutzpflichten auch eine staatsorganisatorische Dimension. Will der Gesetzgeber zu ihrer Erfüllung die Verwaltung oder die Judikative bemühen, so muss er gewährleisten, dass diese zur Erfüllung der Aufgabe auch in der Lage sind. Die Frage der Erfüllung von Schutzpflichten ist also nicht nur eine des „Ob“ von Schutzvorschriften, sondern auch eine des „Wie“. Richtigerweise ist eine Schutzpflicht nur dann als erfüllt anzusehen, wenn eine Schutzvorschrift besteht, die für die handelnde Exekutive und Judikative auch hinreichende inhaltliche Grenzen erkennen lässt.155 Wenn der Gesetzgeber aber auf unpräzise Begrifflichkeiten zurückgreift, deren Ausfüllung nicht eine rechtliche Frage ist, sondern umfassende arbeitsmedizinische Untersuchungen erfordert, die noch dazu durch eine Vielzahl individueller Faktoren beeinflusst sind und im Endeffekt keine sichere Entscheidungsgrundlage im Einzelfall zu schaffen vermögen, dann ist diese Konstruktion inakzeptabel. Denn den Gerichten werden in diesem Falle Aufgaben auferlegt, die diese sachgerecht nicht erfüllen können. Im Grunde verschärft der Gesetzgeber damit die Verletzung der Schutzpflicht. Denn nunmehr besteht die Gefahr, dass der Schutzsuchende aufgrund der unzulänglichen Schutzvorschriften von einer überforderten Judikative abschlägig beschieden wird, weil diese die konkreten Grenzen aus einer Vorschrift nicht mehr entwickeln kann. Von daher ist es zwingend geboten, gerade gegen solche Vorschriften die Richtervorlage zuzulassen, um dem Gericht die Möglichkeit zu verschaffen, die insuffiziente Schutzvorschrift durch den Gesetzgeber ausfüllen zu lassen. Ansonsten kann sich die verfassungskonforme Auslegung dort, wo Generalklauseln oder andere Wertungen zulassende Vorschriften existieren, als sachgerechter Weg zur Verwirklichung grundrechtlicher Schutzpflichten erweisen. Auch hier ist aber darauf zu achten, dass nicht jede Generalklausel universell instrumentalisierbar ist. Entkoppelt sich die Rechtsprechung zu weit vom Gesetz, bestehen mit Blick auf die effektive Umsetzung der grundrechtlichen Schutzpflichten Bedenken.
154
Vgl. dazu unten 8. Kap. A. I. 5. Zu den verfassungsrechtlichen Problemen im Arbeitszeitschutz vgl. unten 8. Kap. A. I. 5. c). 155
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III. Richterliche Rechtsfortbildung Fehlt es nunmehr an „Einbruchstellen“ für die Umsetzung grundrechtlicher Schutzpflichten, so stellt sich die Frage nach der Möglichkeit, auf die richterliche Rechtsfortbildung zurückzugreifen. Nach der Rechtsprechung des BVerfG sind die Zivilgerichte zu dieser verpflichtet.156 Der Vorbehalt des Gesetzes und die Wesentlichkeitstheorie sind nach dieser Rechtsprechung ebenfalls nicht anwendbar, soweit es um das Verhältnis gleich geordneter Grundrechtsträger geht. Damit erledigt sich die Schutzpflichtendebatte im Zivilrecht eigentlich. Denn in diesem Falle kann es eine Schutzpflichtenverletzung durch den Gesetzgeber, soweit es um Zivilrecht geht, nur noch in sehr begrenztem Umfang geben. Dies ist weniger unter dem Gesichtspunkt problematisch, dass hier der Gesetzgeber bevormundet würde. Dieser kann die entsprechenden, durch die Gerichte getroffenen Entscheidungen jederzeit politisch wieder an sich ziehen. Es ist aber unter gleich mehreren Gesichtspunkten des effektiven Grundrechtsschutzes nicht überzeugend, pauschale und undifferenzierte Begrenzungen von zum Grundrechtsschutz konzipierten Verfassungsgrundsätzen vorzunehmen. Ebenso wenig ist es überzeugend, die Verwirklichung der Schutzpflichten als ausschließliche Kompetenz des Gesetzgebers zu konzeptionieren, weil mit dieser die Grundrechte Dritter getroffen würden. Soweit dies nicht der Fall ist, steht einer solchen Vorgehensweise der Gerichte nichts entgegen. Problematischer ist aber die Frage in grundrechtlichen Konfliktlagen. Hier bestehen mit dem Vorbehalt des Gesetzes, dem Gewaltenteilungsgrundsatz, dem Demokratieprinzip sowie der Wesentlichkeitstheorie Prinzipien, denen Rechnung zu tragen ist, und zwar auch dann, wenn man diese nicht im Sinne einer Ausschlussfunktion für die Rechtsfortbildung zur Wahrung grundrechtlicher Schutzpflichten begreift. 1. Anwendbarkeit des Vorbehalts des Gesetzes im Verhältnis gleich geordneter Grundrechtsträger Grenzen und Voraussetzungen richterlicher Rechtsfortbildung sind umstritten. Es zeigt sich dabei, dass gerade im grundrechtsrelevanten Bereich die Bedenken gegen zu weitreichende Befugnisse der Judikative nicht unerheblich sind.157 Gleichzeitig ist aber darauf zu achten, dass nicht unter Rekurs auf die (vorgeblich) unzulängliche Gesetzeslage die Verwirklichung grundrechtlicher Schutzansprüche durch den Vorbehalt des Gesetzes behindert wird.158 Die Bindung der Judikative an Gesetz und Recht hat ihren guten historischen Grund und die Ver156
BVerfG 26.6.1991, NJW 1991, 2459 (2550). Höfling/Engels, ZG 2008, 250 (258 ff.); Hermes, VVDStrL 61 (2002), 119 (137 ff.); Oeter, AÖR 119 (1994), 529 (547 ff.). 158 Ähnlich Preis, RdA 1989, 327 (333) (für die Rechtsfortbildung). 157
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fassung verwehrt mit dieser Bindung den Rückmarsch in den Gesetzesstaat, der unter einem wertungsfreien Gesetzespositivismus die Gesetzesbindung über die materielle Gerechtigkeit stellt.159 Andererseits ist auch der Vorbehalt des Gesetzes in seiner grundrechtssichernden Funktion zu beachten.160 Das BVerfG hat diesen im Verlaufe seiner Judikatur ausgeweitet und vom Eingriffsbegriff gelöst, ihn insbesondere auf alle für die Grundrechte wesentlichen Bereiche erstreckt.161 a) Die Rechtsprechung des BVerfG Dennoch sieht sich die Judikative auf Grund der Rechtsprechung des BVerfG der Problematik ausgesetzt, auch in Konstellationen entscheiden zu müssen, in denen gesetzliche Regelungen zur Verwirklichung einer grundrechtlichen Schutzpflicht fehlen. Dazu kann und muss sie nach der verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung gegebenenfalls das Instrument der Rechtsfortbildung nutzen.162 Insofern lehnte das BVerfG unter Verweis auf die Verpflichtung des Richters zur Streitentscheidung163 die normale Anwendung des Vorbehalts des Gesetzes ab oder weicht diesen zumindest massiv auf.164 Das BVerfG stützt sich bei seiner Judikatur maßgeblich auf die Erwägung, im Verhältnis gleich geordneter Grundrechtsträger seien die entsprechenden Bindungen des Gesetzgebers geringer.165 Grundlegend für diese Rechtsprechung des BVerfG dürfte aber gewesen sein, dass die jeweiligen Entscheidungen gerade gegenüber richterlichen Entscheidungen ergingen, die eine effektive Verwirklichung des Grundrechtsschutzes zu verwirklichen suchten, während das BVerfG bei einer Verkürzung von Schutzpositionen der Rechtsfortbildung deutlich kritischer gegenübersteht.166 Diese Sicht159 Vgl. Hirsch, JZ 2007, 853 (854); Söllner, ZG 1995, 1 (6); bedenklich Burkiczak, SAE 2008, 32 (33 f.). 160 Erichsen, JURA 1997, 85 (88); Hermes, VVDStrL 61 (2002), 119 (129); Isensee, DZWiR 1994, 309 (311). 161 Classen, JZ 2003, 693 (694); Ladeur/Gostomzyk, Die Verwaltung 36 (2003), 141 ff. 162 BVerfG 26.6.1991, NJW 1991, 2549 (2550); BVerfG 12.11.1997, NJW 1998, 519 f.; so auch Canaris, AcP 184 (1984), 201 (244); Dieterich, RdA 1993, 67 ff., zum damaligen Zeitpunkt Richter am BVerfG, der wohl nicht ohne Grund im engen zeitlichen Zusammenhang über die „Pflicht der Gerichte, das Recht fortzubilden“ schreibt. 163 BVerfG 26.6.1991, NJW 1991, 2549 (2550). 164 Teilweise wird dies auch so interpretiert, dass dessen Geltung verneint wurde, Höfling/Engels, ZG 2008, 250 (258). 165 BVerfG 26.6.1991, NJW 1991, 2549 (2550); BVerfG 2.3.1993, NJW 1993, 1379 (1380). 166 Vgl. zu letzterem BVerfG 11.10.1978, NJW 1979, 305 (306): „Während die Anerkennung eines Geldersatzes für immaterielle Schäden bei schweren Verletzungen des Persönlichkeitsrechts die Rechtsstellung des Geschädigten auf der Grundlage einer richtungweisenden Verfassungsnorm verbessert, wird durch die strittige Haftungsbeschränkung gerade umgekehrt die Rechtsstellung des Geschädigten verschlechtert und damit
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weise klingt auch jüngst ganz deutlich im Sondervotum von Di Fabio/Osterloh/ Voßkuhle zu BVerfG 15.1.2009, NJW 2009, 1469 an, wonach bei Grundrechtsverkürzungen grundsätzlich strengere Maßstäbe an die Rechtsfortbildung anzulegen sind und die Verantwortung des BVerfG für die Gesetzesbindung als gesteigert angesehen wird. Das Dilemma der Rechtsprechung ist nicht zu übersehen, denn eine Rechtsfortbildung, ob nun gewährt oder verweigert, zieht stets die Kritik der Verweigerung des Rechtsschutzes oder der Kompetenzüberschreitung nach sich. b) Die Kritik im Schrifttum So wird die Rechtsprechung des BVerfG zur abgeschwächten Gesetzesbindung bei staatlichem Handeln mit Blick auf das Verhalten gleich geordneter Grundrechtsträger im Schrifttum massiv kritisiert167, bisweilen wird sie ignoriert168. Dabei findet sich die Kritik mit Blick auf das Demokratieprinzip169 und die insofern drohende Gefahr des Übergangs zu einem „Jurisdiktionsstaat“ 170 ebenso wie der Hinweis, die Rechtsprechung missachte die Anforderungen der umfassenden Grundrechtsgeltung nach Art. 1 Abs. 3 GG.171 Insbesondere würde aber eine Freistellung vom Vorbehalt des Gesetzes172 dazu führen, dass auf diesem Wege grundrechtliche Schutzpflichten die grundrechtlichen Gewährleistungen zu präventiven Verboten mit Erlaubnisvorbehalt würden.173 Denn die Schutzpflicht würde in diesem Fall auch Grundrechtseingriffe legitimieren, ohne dass es hierzu einer gesetzlichen Grundlage bedarf. Die einfachgesetzliche Regelung und die damit verbundene Erlaubnis des durch sie nicht Verbotenen würde in diesem Fall also erst den Freiheitsraum des Bürgers schaffen, den die grundrechtlichen Vorschriften gegenüber dem Staat gerade zu sichern suchen.174 Ebenso wird im Schrifttum ganz grundsätzlich darauf hingewiesen, dass die richterlichen Befugnisse nicht den Vorrang und den Vorbehalt des Gesetzes überspielen dürfen.175 ein Weg beschritten, der den Intentionen des Grundrechts des Art. 2 II GG eher zuwiderläuft.“ 167 Höfling/Engels, ZG 2008, 250 (259); Hermes, VVDStrL 61 (2002), 119 (137); Hillgruber, JZ 1996, 118 (123); Pieroth/Aubel, JZ 2003, 504 (509); Ossenbühl, HStR III, § 62, Rn. 48; dem BVerfG zustimmend aber Isensee, DZWiR 1994, 309 (310). 168 Ohne Auseinandersetzung mit der diesbezüglichen Rechtsprechung des BVerfG, Burkiczak, SAE 2008, 32 (33). 169 Hermes, VVDStrL 61 (2002), 119 (137). 170 Hermes, VVDStrL 61 (2002), 119 (139). 171 Höfling/Engels, ZG 2008, 250 (259). 172 Kritisch dazu Durner, JA 2008, 7 (9). 173 Höfling/Engels, ZG 2008, 250 (260). 174 Höfling/Engels, ZG 2008, 250 (259); Wahl/Masing, JZ 1990, 553 (555 f.). 175 Durner, JA 2008, 7 (8); Hermes, VVDStrL 61 (2002), 119 (137); Hillgruber, JZ 1996, 118 (121, 123).
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c) Stellungnahme Soweit sich die kritischen Stimmen darauf beschränken, der Rechtsprechung einen Grundrechtseingriff ohne jede gesetzliche Grundlage zu verwehren, die in irgendeiner Weise Anhaltspunkte für das staatliche Handeln gibt, so ist ihnen zuzustimmen.176 Denn in der Tat würde eine Rechtsfortbildung am Gesetz vorbei dem Richter eine zu weitgehende quasigesetzgeberische Rolle verleihen, die gegen den Gewaltenteilungsgrundsatz verstieße.177 Dies gilt auch und gerade für das Argument der „Gleichordnung der Grundrechtsträger“, welches letztendlich auf eine abzulehnende qualitative Veränderung der Grundrechte im Privatrechtsverkehr hinausläuft.178 Es wird mit Recht darauf hingewiesen, dass das Grundgesetz keine unterschiedlichen Grade von Gesetzesbindung in Abhängigkeit von der Gerichtsbarkeit kennt.179 Auch die unterschiedliche Funktion der Rechtsprechung ist im vertikalen Verhältnis zwischen Bürger und Staat nur scheinbar eine andere als im Zivilrecht. Eine fehlende Eingriffsbefugnis führt im Verwaltungsrecht grundsätzlich zur Unzulässigkeit staatlichen Handelns, das in die Grundrechte eines Bürgers eingreift. Dies gilt auch dort, wo dieses Handeln zum Schutz anderer Bürger erfolgt. Damit besteht jedenfalls in dieser Konstellation eine Kongruenz zu der zivilrechtlichen Lage. Denn auch die Verwaltung kann durch den Vorbehalt des Gesetzes an grundrechtsschützenden Handlungen gehindert sein. Insofern besteht zwar mit Blick auf die Rechtsverhältnisse ein Unterschied, nicht aber mit Blick auf die Konfliktlage, die diesen zugrunde liegt. Schließlich hat das BVerfG die Kontrollmaßstäbe für die richterliche Rechtsfortbildung auch und gerade mit Blick auf zivilgerichtliche Sachverhalte entwickelt. Insofern steht einer vollkommen zurückgenommenen verfassungsgerichtlichen Kontrolle der Rechtsfortbildung im Bereich gleichgeordneter Grundrechtsträger eigentlich die Rechtsprechung des BVerfG selbst entgegen. Denn diese lässt für eine derartige Differenzierung eigentlich nur begrenzten Raum.180 Auch dann, wenn man sich die erhebliche Grundrechtsrelevanz zivilrechtlicher Regelungen vor Augen führt, ist eine vollständige Nichtanwendung des Gesetzesvorbehalts nur schwer zu begründen.181 Zwar ist der Privatrechtsverkehr ein besonders gutes Beispiel für die Insuffizienz einer Sichtweise, die die Grundrechte in ihrer Wirkung maßgeblich auf das 176
Pieroth/Aubel, JZ 2003, 504 (509). Hermes, VVDStRL 61, 115 (137); Hillgruber, JZ 1996, 118 (123). 178 Durch die Gleichordnung verlieren die Grundrechte nicht ihren Charakter als Eingriffsverbote, Canaris, AcP 184 (1984), 212. 179 Pieroth/Aubel, JZ 2003, 504 (509). 180 Pieroth/Aubel, JZ 2003, 504 (509). 181 Classen, JZ 2003, 693 (694 f.), der dies allerdings im Zivilrecht für möglich hält (699). 177
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Feld der Eingriffsabwehr beschränken will. Dies legitimiert aber nicht den vollständigen Verzicht auf die Anwendung des Vorbehalts des Gesetzes, sondern die Etablierung staatlicher Verpflichtungen zum Schutz der Bürger.182 Dies wird insbesondere dann deutlich, wenn man sich bewusst macht, dass der Vorbehalt des Gesetzes eben auch eine Sicherungsfunktion für den durch eine etwaige Schutzpflichtenregelung belasteten Bürger beinhaltet. Diese kann nicht unter Verweis auf die Schutzpflichten völlig unberücksichtigt bleiben. Dies wird vom BVerfG auch in anderen Entscheidungen nicht getan. Das Schrifttum interpretiert das BVerfG dann auch teilweise so, dass nur dann eine Freistellung vom Vorbehalt des Gesetzes möglich ist, wenn die staatliche Schutzpflicht ohne einen Grundrechtseingriff zu verwirklichen ist.183 Dieses Verständnis ist unproblematisch, hilft aber in der Mehrzahl der Konstellationen nur begrenzt weiter. d) Legitimation durch den Justizgewährungsanspruch Es darf aber auch nicht verkannt werden, dass das Rechtsstaatsprinzip und der Vorbehalt des Gesetzes der richterlichen Rechtsfortbildung als solcher nicht entgegenstehen. Würde man im Zivilrecht stets ausdrückliche gesetzliche Regelungen verlangen, um dem Vorbehalt des Gesetzes zu genügen, so wäre jegliche richterliche Rechtsfortbildung verfassungswidrig. Das geht erkennbar zu weit. Denn es besteht nach dem Justizgewährungsanspruch die Verpflichtung der Gerichte, Rechtsschutz zu gewähren184 und dazu ist ihnen jedenfalls einfachgesetzlich (§ 132 Abs. 4 GVG) auch die Befugnis zur Rechtsfortbildung ausdrücklich verliehen.185 Damit ist die Rechtsfortbildung jedenfalls im Grundsatz mit einer verfassungsimmanenten Legitimation und einer einfachrechtlichen Grundlage ausgestattet. Aus dieser Legitimationsgrundlage ergibt sich aber nicht, dass sie damit von jeden Schranken frei gehalten werden müsste. Dass die Gerichte im Einzelfall durch Fortbildung des Rechts Lücken schließen, kann in bestimmten Konstellationen durchaus noch durch den Vorbehalt des Gesetzes gedeckt sein. Insofern ist eine Aufweichung des Gesetzesvorbehalts im Zivilrecht auch durchaus anzuerkennen, auch um dem Justizgewährungsanspruch Rechnung zu tragen. Denn es kann nicht verkannt werden, dass die Legislative gelegentlich noch nicht auf Entwicklungen reagiert haben kann, die als rechtliches Problem bei den Gerichten bereits angekommen sind.186
182
Classen, JZ 2003, 694 (697). Classen, JZ 2003, 693 (694); so tendenziell wohl auch Pieroth/Aubel, JZ 2003, 504 (509). 184 Söllner, ZG 1995, 1 (8). 185 Auch unter dem Grundgesetz anerkannte Befugnis, Voßkuhle/Sydow, JZ 2002, 673 (678). 186 Vgl. BVerfG 15.12009, NJW 2009, 1469 (1472). 183
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4. Kap.: Grenzen tarifdispositiven Rechts
Eine Sichtweise, die grundrechtliche Schutzansprüche nur anerkennt, soweit sie gesetzlich ausdrücklich umgesetzt sind187, geht zu weit und bietet Einbruchstellen für eine gesetzesnegativistische Unrechtsjudikatur.188 Von der Folgenseite her ist der Hinweis, dass eine verweigerte Rechtsfortbildung sich daher ebenfalls als verfassungsrechtlich bedenklich erweisen kann189, durchaus verständlich. Ebenso wenig kann dadurch aber die vollständige Aufgabe des Vorbehalts des Gesetzes akzeptiert werden. Wie ist dieser Konflikt nun aufzulösen? e) Lösungsvorschlag Ein Lösungsvorschlag hierzu muss mehreren Vorgaben genügen. Im Ergebnis muss aufgrund des Justizgewährungsanspruchs am Ende eine Entscheidung stehen, die den grundrechtlichen Schutzanspruch verwirklicht. Des Weiteren dürfen hierzu aber der Grundsatz des Vorbehalts des Gesetzes, der Gewaltenteilungsgrundsatz und das Demokratieprinzip nicht vollständig überspielt werden.190 Die Verwirklichung dieser mit Blick auf die Rechtsfortbildung teilweise gegenläufigen Grundsätze verweist auf einen Rückgriff auf Notfallkompetenzen des BVerfG. Denn es muss ein System entwickelt werden, das es bei Achtung der vorstehenden Prinzipien ermöglicht, den Grundrechtsschutz prozessual stets vollständig zu gewährleisten. Nur wenn sich ein solches Modell entwickeln lässt, das dem Justizgewährungsanspruch und damit der Verwirklichung der grundrechtlichen Schutzpflichten vollständig Rechnung trägt, ist eine stärkere Berücksichtigung der entgegenstehenden verfassungsrechtlichen Prinzipien möglich191, ohne dass eine Verpflichtung zur „Unrechtsjudikatur“ entsteht. Es ist im Übrigen darauf hinzuweisen, dass ohnehin auch nach dem gegenwärtigen Modell einer vollständigen Verwirklichung grundrechtlicher Schutzpflichten durch die Gerichte immanente Grenzen der Rechtsfortbildung entgegenstehen. Insofern ist auch das bestehende Modell – wenn auch nur in geringem Umfang – defizitär, weil es eine vollständige Erfüllung der grundrechtlichen Schutzpflichten durch die Judikative nicht gewährleisten kann. Jedenfalls für diese Schutzlücke kann es bei der gegenwärtigen Handhabung nicht verbleiben.
187
So tendenziell Burkiczak, SAE 2008, 32 (33 f.). Darauf weist Classen, JZ 2003, 694 (697), nicht ganz zu Unrecht hin; vorsichtiger, in der Tendenz aber ebenso Dieterich, RdA 1993, 67 (68). 189 Dieterich, RdA 1993, 67 (68). 190 BVerfG 15.1.2009, NJW 2009, 1469 (1472); vgl. auch die Bedenken bei Hermes, VVDStrL 61 (2002), 119 (128). 191 Auf die Notwendigkeit, dass diejenigen, die die Befugnisse der Rechtsprechung begrenzen, den Gesetzgeber in die Pflicht nehmen müssen, verweist auch Hermes, VVDStrL 61 (2002), 119 (139). 188
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aa) Grenzen der Rechtsfortbildung zur Wahrung grundrechtlicher Schutzpflichten Eine richterliche Rechtsfortbildung kann, je weniger sie an das einfache Recht angekoppelt wird, eine qualitativ minderwertige Verwirklichung grundrechtlicher Schutzpflichten bedeuten, weil sie intransparent und rechtsunklar ist. Damit ist die Frage der Geeignetheit des staatlichen Handelns zur Wahrnehmung der Schutzpflicht angesprochen.192 Die Eignung kann man, so die Tendenz der Rechtsprechung, am konkreten Fall messen oder, und so muss man dies richtigerweise sehen, abstrakt betrachten. Es macht einen Unterschied, ob im konkret zu entscheidenden Einzelfall eine schutzpflichtenkonforme Lösung gefunden wird oder ob diese Lösung allgemein geeignet ist, die Schutzpflicht zu erfüllen. Je gewichtiger die Schutzpflicht im Einzelfall ist, desto größer mag das Bedürfnis der Judikative sein, dem Bürger zu helfen. Und doch kann in genau solchen Konstellationen die richterliche Rechtsfortbildung ein Danaergeschenk für die Schutzpflicht sein, weil sie intransparent ist und genau dies die praktische Wirksamkeit und Effektivität der Umsetzung von Schutzpflichten beeinträchtigen kann.193 Auch der EuGH erkennt für EG-Richtlinien an, dass eine bestehende nationale Rechtsprechung, die innerstaatliche Rechtsvorschriften in einem Sinn auslegt, der als den Anforderungen einer Richtlinie entsprechend angesehen wird, nicht die Klarheit und Bestimmtheit aufweisen kann, die notwendig ist, um dem Erfordernis der Rechtssicherheit zu genügen.194 Daher kann in solchen Fällen die judikative Verwirklichung der grundrechtlichen Schutzpflichten eine Verletzung der Schutzpflichten bedeuten, weil sie allein aufgrund ihrer Rechtsqualität unzureichend ist, diese mit Wirkung für die Allgemeinheit zu erfüllen. Dies gilt insbesondere dann, wenn die Ausfüllung einer grundrechtlichen Schutzpflicht an die qualitativen Grenzen der Rechtsprechung stößt. So können im Bereich des Arbeitsschutzrechts umfassende Gefährdungsbeurteilungen erforderlich sein, die, sofern der Gesetzgeber untätig bleibt, das Problem der Grenzwertfestsetzung durch die Judikative aufrufen.195 Aber auch ansonsten ist dort, wo die Rechtsprechung umfassende Beurteilungen medizinischer oder technischer Art vornehmen muss, ohne dafür selbst qualifiziert zu sein oder auf hinreichende gesetzliche Grenzwerte zurückgreifen zu können, davon auszugehen, dass der Gesetzgeber gefordert ist, jedenfalls die Grundparameter für die Kontrolle zur Verfügung zu stellen und deren Grenzen zu umreißen.
192 193 194 195
Vgl. dazu unten 4. Kap. G. I. BVerfG 26.7.2005, NJW 2005, 2363 (2368); BVerfG 17.6.2004, NJW 2006, 126. EuGH 10.5.2001, NJW 2001, 2244 (2245). Vgl. dazu unten 4. Kap. D. III. 5., 8. Kap. A. I. 5. c).
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4. Kap.: Grenzen tarifdispositiven Rechts
Eine Ermächtigung oder gar eine Verpflichtung der Rechtsprechung, allein aus der grundrechtlichen Schutzpflicht heraus tätig zu werden, lässt sich grundsätzlich nur begrenzt rechtfertigen. Das gilt freilich auch für einen die judikativen Verpflichtungen negierenden Rechtspositivismus.196 Die Tendenz der Rechtsprechung, rechtsstaatliche Grundsätze weitgehend unberücksichtigt zu lassen, um Einzelfallgerechtigkeit zu verwirklichen, ist aber nicht unproblematisch. Sollten durch eine Rechtsfortbildung keine Grundrechtseingriffe erfolgen, ist sie grundsätzlich zulässig und mit Blick auf die oben stehenden Einwände auch weitgehend unproblematisch.197 Aber auch dann, wenn solche Grundrechtseingriffe drohen, kann eine Rechtsfortbildung im Verhältnis gleich geordneter Grundrechtsträger in gewissen Grenzen akzeptiert werden. Der Schutz der Grundrechtsträger wird dabei zum einen durch die Berücksichtigung ihrer abwehrrechtlichen Position im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung bei der Umsetzung der Schutzpflicht gewährleistet.198 Zum anderen unterliegt die Rechtsfortbildung selbst gewissen Schranken, die mit Blick auf die Abwehrrechte von der Rechtsfortbildung Betroffener eine gewisse Schutzfunktion entfalten. bb) Grenzen der Rechtsfortbildung als Problembegrenzung Es darf nicht verkannt werden, dass die Rechtsfortbildung an inhaltliche Grenzen stößt199, die ebenfalls der Wahrung rechtsstaatlicher Grundsätze dienen. Sie bietet durchaus Begrenzungen, die Möglichkeiten bieten, die entsprechenden Bedenken zu mildern. Auch wenn sich eine vollständige Aufgabe des Vorbehalts des Gesetzes nicht durch die Erwägung stützen lässt, es handele sich um das Verhältnis gleich geordneter Grundrechtsträger, so muss doch berücksichtigt werden, dass eine Abschwächung der entsprechenden Grundsätze denkbar ist. Und zwar dann, wenn sich kompensatorisch wirkende Elemente entwickeln lassen oder solche bestehen. Mit Blick auf das Rechtsstaatsprinzip treten damit Einschränkungen für die Zulässigkeit von richterlichen Rechtsfortbildungen in den Vordergrund. Restriktionen verfassungsrechtlicher Art bestehen zunächst bei der Feststellung einer ausfüllungsbedürftigen Regelungslücke.200 Auch der Umfang der Rechtsfortbildung unterliegt Restriktionen. Dabei ist das Ausmaß von Bedeutung, in dem die Rechtsfortbildung sich innerhalb bestehender, in der Rechtsprechung anerkannter Grundsätze hält und auf anerkannte methodische Figuren zu-
196
Dafür aber Burkiczak, SAE 2008, 32 (33 f.). Classen, JZ 2003, 693 (694). 198 Vgl. dazu unten 4. Kap. G. III. 199 Das erkennt auch das BVerfG an: BVerfG 8.10.1996, NJW 1997, 447 (448); Hillgruber, JZ 1996, 118 (119 ff.). 200 BVerfG 19.10.1983, NJW 1984, 475 f.; Hillgruber, JZ 1996, 118 (120). 197
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rückgreift.201 Wenn man den Gerichten die Kompetenz zur Füllung von Gesetzeslücken durch Rechtsfortbildung zubilligt, muss sich diese doch in hinreichender Weise in das gesetzgeberische Gesamtkonzept einfügen.202 Je weniger dies der Fall ist desto höher wird die Begründungslast für die Rechtsfortbildung.203 Dabei ist die Wesentlichkeit der Entscheidung als begrenzendes Element zu berücksichtigen.204 Auch darf die Rechtsfortbildung in ihrem Ausmaß nicht über das hinausgehen, was zur gerechten Lösung einer durch das geschriebene Recht nicht sachgerecht zu entscheidenden Rechtsfrage erforderlich ist.205 Insofern darf man auch hier wohl einschränkend hinzufügen, dass, je abstrakter und genereller die Rechtsprechung wird, dieser Grundsatz umso weniger erfüllt wird. Dies korrespondiert mit der Verpflichtung des Gesetzgebers, die schutzpflichtenrealisierenden Tatbestände hinreichend konkret zu fassen.206 Damit sind mit Blick auf das Demokratie- und Rechtsstaatsprinzip durchaus Befugnisse der Judikative zur Rechtsfortbildung auch im Schutzpflichtenbereich anzuerkennen. Es darf nicht verkannt werden, dass solche Rechtsfortbildungen wohl zu einem Großteil als „Notwehr“ gegen den Gesetzgeber zu begreifen sind.207 Dieser ist aus politischen Gründen, insbesondere in den Anfangsjahren der Bundesrepublik, nicht oder nur widerwillig bereit gewesen, die Direktiven der Verfassung in einfaches Recht umzusetzen.208 Gesetzgeberisches Versagen oder die ungenügende Aktualisierung von Gesetzen hat das BVerfG dann auch als legitimierende Elemente für die Rechtsfortbildung begriffen.209 Zulässig ist die Rechtsfortbildung grundsätzlich auch dann, wenn in einem klar erkennbaren Gesamtkonzept ein Einzelaspekt von geringem Gewicht übersehen wurde und sich aus der gesetzlichen Regelung erkennen lässt, wie der Gesetzgeber den entsprechenden Fall gehandhabt hätte.210 Schwieriger wird es hingegen, wenn unmittelbar auf den Sachverhalt bezogene Regelungen fehlen.211 Neben dem Ausweg über allgemeine Generalklauseln, der allerdings sowohl tatsächlich unmöglich als auch mit Blick auf die Wesentlich201 BVerfG 12.11.1997, NJW 1998, 519 f.; BVerfG 30.3.1993, NJW 1993, 2861 (2863); Durner, JA 2008, 7 (10). 202 Wank, RdA 1987, 129 (155 f.). 203 Durner, JA 2008, 7 (10). 204 Kühnast, Die Grenzen zwischen tariflicher und privatautonomer Regelungsbefugnis, S. 255; Preis, RdA 1989, 327 (333); vgl. dazu noch unten 4. Kap. D. 2. 205 Preis, RdA 1989, 327 (332). 206 BVerfG 26.7.2005, NJW 2005, 2363 (2368). 207 Hermes, VVDStrL 61 (2002), 119 (131 f.). 208 Oeter, AÖR 119 (1994), 529 (532 f.); Preis, RdA 1989, 327 (334). 209 Preis, RdA 1989, 327 (332); ähnlich Steiner, NZA 2007, 4 (7, 8). 210 Bindung an die rechtspolitischen Wertungen des Gesetzgebers: vgl. dazu Classen, JZ 2003, 694 (700); Durner, JA 2008, 7 (10). 211 Durner, JA 2008, 7 (10).
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4. Kap.: Grenzen tarifdispositiven Rechts
keitstheorie und den Transparenzgedanken212 unzulässig sein kann, bleibt hier nur der Rückgriff auf sachverhaltsfremde Normen, die eine Parallelwertung zulassen. Insbesondere darf die richterliche Rechtsfortbildung eine geringere Reichweite haben, je weitergehender solche gesetzlichen Rückbindungen fehlen. Denn je geringer der heranzuziehende Normhaushalt ist, umso geringer ist die argumentative Kraft, die einen Verzicht auf eine regulär demokratisch zustande gekommene Norm rechtfertigen können. Insofern ist anzuerkennen, dass die immanenten Grenzen richterlicher Rechtsfortbildung bereits ein Instrumentarium zum Inhalt haben, dass die Auflösung der mit Blick auf das Demokratieprinzip und das Rechtsstaatsprinzip bestehenden Bedenken als durchaus möglich erscheinen lässt. Diese sind allerdings zu präzisieren. Insbesondere muss anerkannt werden, dass der Rückgriff auf die Rechtsfortbildung mit Blick auf die hier bestehenden Bedenken, jedenfalls nicht stets, sondern nur im Einzelfall geboten sein kann, um die Umsetzung der grundrechtlichen Schutzpflicht zu gewährleisten. Eine solche Verfahrensweise bedarf vielmehr der Rechtfertigung. Die entsprechende Rechtfertigungsdogmatik ist hier noch zu entwickeln.213 Sie führt aber dazu, dass keinesfalls nur deshalb, weil ansonsten eine Schutzpflicht nicht durch das entscheidende Gericht selbst gewahrt werden kann, stets auf die richterliche Rechtsfortbildung zurückgegriffen werden darf. Dies hat allerdings zur Folge, dass die Gefahr entsteht, dass der einzelne Bürger hinsichtlich seiner grundrechtlichen Position schutzlos gestellt werden könnte. Dies wäre eine mit Blick auf die freiheitliche grundrechtliche Ordnung, den Justizgewährungsanspruch und das Rechtsstaatsprinzip inakzeptable Folge. Nur dann, wenn diese Folge nicht entsteht, ist die vorstehende Annahme, dass die Befugnis der Gerichte zur eigenständigen Umsetzung grundrechtlicher Schutzpflichten begrenzt ist, verfassungskonform. Eine Verpflichtung zur „Unrechtsjudikatur“ kann unter dem Grundgesetz nicht akzeptiert werden.
cc) Lösung bei fehlender Legitimation der Judikative – Richtervorlage nach Art. 100 Abs. 1 GG Damit gelangt man zu der Frage, was die Rechtsprechung tun soll, wenn sie aufgrund von Grenzen der Rechtsfortbildung an einem der grundrechtlichen Schutzverpflichtung entsprechenden Urteil gehindert ist. Dass hier als Ergebnis die folgenlose Hinnahme der fehlenden Verwirklichung der Schutzpflicht nicht stehen kann, folgt nicht nur aus dem universellen Geltungsanspruch der Grundrechte gegenüber der staatlichen Gewalt, sondern auch aus dem Justizgewährungsanspruch. Auf diesen wird auch regelmäßig verwiesen, um der Fachge-
212 213
Vgl. dazu oben 4. Kap. D. II. Vgl. unten 4. Kap. G.
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richtsbarkeit Spielräume für die Rechtsfortbildung zu verschaffen.214 Dies resultiert erkennbar daraus, dass die Gerichte keinen Ausweg sehen, auf anderem Wege eine verfassungskonforme Sachentscheidung zu treffen. Damit rechtfertigt sich also der Verzicht bzw. die weitgehende Zurückdrängung des Vorbehalts des Gesetzes und der mit Blick auf das Demokratie- und Rechtsstaatsprinzip erhobenen Bedenken mit einer Folgenbetrachtung. Würden diese für anwendbar erklärt, so die wohl zugrunde liegende Überlegung, würde die Erfüllung der Schutzpflichten eingeschränkt. Dieses Ziel verfolgt wohl auch ein Teil der Literatur, wenn er die entsprechenden Grundsätze betont.215 Im Kern lässt sich die Nichtanwendung also durch eine prozessuale Überlegung stützen. Diese geht davon aus, dass im Rahmen der bestehenden gerichtlichen Verfahren durch die Nichtanwendung des Vorbehalts des Gesetzes der Weg zur maximal möglichen prozessualen Verwirklichung der Schutzpflichten geebnet ist. Diese Überlegung verkennt den Ausweg über die verfassungsprozessuale Inpflichtnahme des Gesetzgebers.216 (1) Prozessuale Lösungsmöglichkeit Denn prozessual ist ein anderer Ausweg zu nehmen. Denn auch dann, wenn man eine derartig weitgehende Befugnis zur Rechtsfortbildung anerkennt, verbleiben durch deren immanente Grenzen Schutzlücken. Diese bedürfen jedenfalls dann, wenn man es mit dem Justizgewährungsanspruch ernst meint, einer Beseitigung. Darüber hinaus stellt sich die Frage, ob nicht mit Blick auf den verfassungsprozessualen Rechtsschutz Verfahrensmöglichkeiten bestehen, die auch bei einer grundsätzlichen Berücksichtigung der oben genannten Prinzipien einer Verwirklichung der Schutzpflicht Rechnung tragen können.217 Diese Lösung verweist auf das BVerfG, das insofern im Verhältnis zum Gesetzgeber auch mit weitaus größerer Legitimationswirkung (Art. 93 GG, BVerfGG) Vorgaben für die Entscheidung derartiger verfassungsrechtlicher Konfliktlagen machen kann als die Fachgerichte. Die entsprechende Lösung mag auf den ersten Blick weitreichend erscheinen, ist aber der überzeugende Weg, um alle konfligierenden Ver214 BVerfG 26.6.1991, NJW 1991, 2549 (2550): „Die Gerichte müssen bei unzureichenden gesetzlichen Vorgaben das materielle Recht mit den anerkannten Methoden der Rechtsfindung aus den allgemeinen Rechtsgrundlagen ableiten, die für das betreffende Rechtsverhältnis maßgeblich sind. Das gilt auch dort, wo eine gesetzliche Regelung, etwa wegen einer verfassungsrechtlichen Schutzpflicht, notwendig wäre. Nur so können die Gerichte die ihnen vom Grundgesetz auferlegte Pflicht erfüllen, jeden vor sie gebrachten Rechtsstreit sachgerecht zu entscheiden.“ Vgl. auch: Preis, RdA 1989, 327 (331); Dieterich, RdA 1993, 67 (70 ff.); in europarechtlicher Hinsicht: Calliess, NJW 2005, 929 (932). 215 Burkiczak, SAE 2008, 32 (33 f.). 216 Hermes, VVDStrL 61 (2002). 217 Hermes, VVDStrL 61 (2002).
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4. Kap.: Grenzen tarifdispositiven Rechts
fassungsprinzipien schonender als dies bislang geschieht auszugleichen. Fehlt es der Judikative aufgrund des Demokratie- oder Rechtsstaatsprinzips und des Vorbehalts des Gesetzes an einer Rechtfertigung für eine Rechtsfortbildung zur Wahrung grundrechtlicher Schutzpflichten, so ist dieser ein Verfahrensweg zum Verfassungsgericht zu eröffnen, der dazu führt, dass die entsprechenden Befugnisse mit Wirkung für das laufende Verfahren durch den Gesetzgeber geschaffen werden.218 Das Fachgericht muss das Verfahren nach Art. 100 Abs. 1 GG aussetzen219, um dem BVerfG die Frage vorzulegen, ob ein unzulässiges gesetzgeberisches Unterlassen vorliegt und darum bitten, dass dieses vorübergehend durch das BVerfG geschlossen wird, mit der Maßgabe, dass der Gesetzgeber alsbald eine Regelung zu treffen habe. Alternativ kann das BVerfG, sofern dies mit Blick auf die in der Übergangsphase bestehende Rechtsunsicherheit hinzunehmen ist, auch eine Aussetzung des Verfahrens anordnen, bis der Gesetzgeber rückwirkend tätig geworden ist.220 Das BVerfG kann notfalls aber auch eine geschaffene Übergangsregelung inhaltlich durch die Rechtsprechung ausgestalten lassen und lediglich Vorgaben für die Ausfüllung bis zu einem Tätigwerden des Gesetzgebers machen. (2) Kritik im Schrifttum Diese Berechtigung wird im Schrifttum bestritten.221 Nach Art. 100 Abs. 1 GG seien nur Gesetze vorlagefähig. Ein Unterlassen sei zwar tauglicher Gegenstand einer Individualverfassungsbeschwerde, könne aber nicht Gegenstand einer Normenkontrolle sein. Der Grundgedanke ist, dass etwas, das nicht existiere, auch nicht kontrolliert werden könne. Insofern scheide Art. 100 Abs. 1 GG offensichtlich aus, wenn keine gesetzliche Regelung bestehe.222 Auch spreche gegen ein solches Verfahren, dass sich der Gehalt einer pflichtwidrig unterlassenen Norm nicht feststellen lasse.223 Auch hinsichtlich der Rechtsfolgen des Art. 100 Abs. 1 GG werden Bedenken geltend gemacht. Denn in den Fällen gesetzgeberischen Unterlassens bestehe keine effektive Sanktion. Soweit die Normenkontrolle lediglich auf die Feststellung eines verfassungswidrigen Unterlassens des Gesetzgebers gerichtet ist, würde dem Bürger kein effektiver Rechtsschutz gewährt, weil sein Begehren unter Verweis auf die fehlende rechtliche Grundlage in jedem Fall abschlägig beschieden werden müsste. Die konkreten rechtlichen Grenzen zu entwickeln sei nicht Aufgabe des BVerfG, sondern der Fachgerichte, die sachnäher 218
Vgl. auch Hermes, VVDStrL 61 (2002), 119 (133, 138). Dieterich in: ErfK, GG, Einl., Rn. 44; Hermes, VVDStrL 61 (2002), 119 (142); Ipsen, DVBl. 1984, 1102 (1104). 220 Hillgruber, JZ 1996, 118 (122). 221 Classen, JZ 2003, 693 (697 ff.); Sturm in: Sachs, GG, Art. 100 GG, Rn. 9. 222 Classen, JZ 2003, 693 (698). 223 Classen, JZ 2003, 693 (698). 219
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und daher kompetenter für diese Frage seien.224 Im Übrigen sei der Zweck der abstrakten Normenkontrolle nicht, eine allgemeine Rechtsaufsicht über den Gesetzgeber zu ermöglichen, sondern dessen Autorität dort zu schützen, wo er Gesetze erlassen und damit seine Gesetzgebungsfunktion erfüllt hat. (3) Zustimmende Auffassungen Dagegen wird im Schrifttum eingewandt, dass auch im Rahmen der Individualverfassungsbeschwerde die Möglichkeit bestehe, legislatives Unterlassen zu rügen.225 Insofern sei es widersinnig, ein Gericht zu verpflichten, einen Rechtsstreit ohne Vorlagemöglichkeit zu entscheiden, der dann ohnehin durch den Kläger aufgrund unterlassener gesetzlicher Regelungen vor das BVerfG gebracht wird.226 In der Tat lässt das BVerfG Verfassungsbeschwerden gegen grundrechtswidriges Unterlassen des Gesetzgebers zu227 und prüft dieses auch im Rahmen von Individualverfassungsbeschwerden gegen Gerichtsentscheidungen.228 Damit ist das BVerfG nicht nur auf die Normverwerfung beschränkt, sondern kann auch die Verfassungswidrigkeit gesetzgeberischer Untätigkeit feststellen.229 Rupp hat zuletzt vertreten, das Argument, ein nicht vorhandenes Gesetz sei nicht vorlagefähig, habe sich aufgrund der entsprechenden Rechtsprechung „erledigt“.230 (4) Stellungnahme Dies ist durchaus überzeugend. Es bleibt zwar zunächst ein Wortlautunterschied zwischen den Maßnahmen des Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG und dem Gesetz in Art. 100 Abs. 1 GG. Allerdings ist es verfahrensrechtliche Förmelei, ein Gericht zu zwingen, den Bürger sehenden Auges in die Individualverfassungsbeschwerde laufen zu lassen, weil es selbst das Verfahren nicht einleiten kann. Dies ist nicht nur prozessökonomisch unsinnig, sondern auch mit Blick auf den effektiven Grundrechtsschutz – nicht nur wegen der hierdurch entstehenden Verzögerung des effektiven Grundrechtsschutzes – verfassungsrechtlich bedenklich. Denn wenn es bereits einen Weg gibt, das BVerfG mit legislativem Unterlassen 224
Classen, JZ 2003, 693 (698). Hermes, VVDStrL 61 (2002), 119 (142). 226 Rupp, FS Isensee, S. 283 (291); für die Möglichkeit des Rückgriffs auf Art. 100 GG auch Dieterich in: ErfK, GG, Einl., Rn. 44. 227 BVerfG 20.2.1957, BVerfGE 6, 257 (263 ff.); BVerfG 14.1.1981, NJW 1981, 1655 (1655 f.); BVerfG 29.10.1987, NJW 1988, 1651 (1653 f.); zustimmend: Möstl, DÖV 1998, 1029 (1031); Wieland in: Dreier, GG, Art. 93 GG, Rn. 83; Sturm in: Sachs, GG, Art. 93 GG, Rn. 86. 228 BVerfG 13.2.2007, NJW 2007, 753 (754). 229 BVerfG 13.2.2007, NJW 2007, 753 ff.; BVerfG 14.1.1981, NJW 1981, 1655 f.; Rupp, FS Isensee, S. 283 (288). 230 Rupp, FS Isensee, S. 283 (291). 225
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zu befassen, dann besteht kein Bedarf, dies über Art. 100 Abs. 1 GG zu verhindern. Die Möglichkeit zum Übergriff auf den Gesetzgeber besteht ohnehin. Soweit mit Blick auf den Gewaltenteilungsgrundsatz Bedenken gegen eine Ausweitung des Anwendungsbereichs des Art. 100 Abs. 1 GG erhoben werden, kann und muss diesen über die Grenzen des Anspruchs auf legislatives Tätigwerden Rechnung getragen werden.231 Deswegen ist es auch nicht überzeugend, darauf zu verweisen, der Gehalt einer unterlassenen Norm lasse sich nicht feststellen. Dieser Aspekt ist eben im Rahmen des Inhalts der Schutzansprüche zu erörtern.232 (5) Vorlagemöglichkeit für unzureichende Umsetzungsnormen Das BVerfG und ein Teil der Lehre vertreten eine vermittelnde Auffassung. Danach soll die Normenkontrolle jedenfalls dann möglich sein, wenn der Gesetzgeber durch den Erlass eines Gesetzes seinem Verfassungsauftrag nur unzureichend nachgekommen ist.233 Wird er also überhaupt tätig, so muss er konsequent den Schutz verwirklichen, ansonsten kann er zu vollständigen Schutzmaßnahmen verpflichtet werden. Insofern besteht in dieser Konstellation das notwendige Vorlagesubstrat.234 Als entscheidungserheblich ist das vorgelegte Unterlassen allein deshalb zu betrachten, weil im Ausgangsstreit eine grundrechtsgemäße Entscheidung ohne legislatives Tätigwerden nicht ergehen kann. (6) Konsequenzen für das tarifdispositive Gesetzesrecht Da tarifdispositives Gesetzesrecht stets und ausnahmslos einen solchen vorlagefähigen Rechtskörper bildet, bedarf es hier keiner Klärung, ob gesetzgeberisches Unterlassen nicht auch weiterreichend mit der Normenkontrolle eingeklagt werden kann, auch wenn dies überzeugend erscheint. Im Anwendungsbereich tarifdispositiven Gesetzesrechts ist der Weg über Art. 100 Abs. 1 GG stets möglich. Aus Sicht des Verfassers spricht aber viel dafür, den Weg über Art. 100 Abs. 1 GG generell zu ermöglichen, weil die Grundsätze effektiven Grundrechtsschutzes hier eigentlich keine andere Lösung zulassen.
231 So gegen die entsprechenden Bedenken bei der Individualverfassungsbeschwerde Möstl, DÖV 1998, 1029 (1031). 232 Vgl. dazu unten 4. Kap. G. 233 BVerfG 22.3.1990, NVwZ 1990, 1061 (1063 f.); Clemens in: Clemens/Umbach, GG, Art. 100 GG, Rn. 88; Wieland in: Dreier, GG, Art. 100 GG, Rn. 14; Benda/Klein, Verfassungsprozessrecht, Rn. 802; Hillgruber, JZ 1996, 118 (120); tendenziell auch Siekmann in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Art. 100 GG, Rn. 19 (Fn. 91). 234 Clemens in: Clemens/Umbach, GG, Art. 100 GG, Rn. 88; BVerfG 22.3.1990, NVwZ 1990, 1061 (1063 f.).
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(7) Ausgestaltung der Vorlagemöglichkeit nach Art. 100 Abs. 1 GG Mit der Vorlagemöglichkeit nach Art. 100 Abs. 1 GG ist allerdings zunächst nur ein Verfahrensweg eröffnet, der es einem Fachgericht ermöglicht, bei einer fehlenden Legitimation der judikativen Umsetzung grundrechtlicher Schutzpflichten das Verfahren zum BVerfG weiterzuleiten. 235 Damit ist allerdings nur der halbe Weg beschritten, um einen lückenlosen prozessualen Schutz der Grundrechte zu verwirklichen. Denn für eine den grundrechtlichen Schutzanspruch verwirklichende Entscheidung muss am Ende des Verfahrens die Schaffung eines rechtlichen Maßstabs stehen, der das vorlegende Fachgericht ermächtigt, den Rechtsstreit unter Wahrung der Schutzpflicht zu entscheiden. Ansonsten liefe die Schutzpflicht im konkreten Fall leer. Die Frage des Gerichts würde sogar aufgrund fehlender Entscheidungserheblichkeit ungeeignet sein, überhaupt ein zulässiges Verfahren nach Art. 100 Abs. 1 GG zu begründen. Es besteht also auch hier ein prozessuales Problem, das die Realisierung des Justizgewährungsanspruchs für die grundrechtlichen Schutzpflichten zu beeinträchtigen droht. Hier sind die oben genannten Grundsätze zur unzureichenden Normsetzungstätigkeit des Gesetzgebers zu mobilisieren. Die Lösung des Problems liegt in der Berechtigung des BVerfG zur übergangsweisen Anordnung der Aussetzung von Verfahren bis hin zu einem „legislativen“ Tätigwerden.236 In diesem Fall wäre durch das BVerfG die Aussetzung des instanzgerichtlichen Verfahrens anzuordnen, bis der Gesetzgeber seine Regelungsverpflichtung wahrgenommen hat.237 Sofern eine solche Regelung den entsprechenden Fall nicht oder nicht mehr erfassen kann, ist notfalls auf das Instrument der übergangsweisen Regelung durch das BVerfG zurückzugreifen. Kann der Gesetzgeber nicht mehr rechtzeitig rückwirkend tätig werden238, ist das BVerfG berechtigt, für einen Übergangszeitraum abstrakt generelle Regelungen zu treffen.239 Die entsprechenden Grundsätze sind ursprünglich zur Normverwerfung 235
Hermes, VVDStrL 61 (2002, 119 (142). BVerfG 21.5.1974, NJW 1974, 1609 (1613 f.); BVerfG 13.11.1979, NJW 1980, 823 (824); BVerfG 30.5.1990, NJW 1990, 2246 (2249); Hermes, VVDStrL 61 (2002), 119 (143); Schlaich/Korioth, Das Bundesverfassungsgericht, Rn. 423 ff. 237 St. Rspr. BVerfG 21.5.1974 NJW 1974, 1609 (1613 f.); BVerfG 13.11.1979, NJW 1980, 823 (824); NJW 1990, 2246 (2249); BVerfG 28.4.1999, NJW 1999, 2501 (2505); BVerfG 28.4.1999, NJW 1999, 2512 (2516); BVerfG 4.12.2002, NJW 2003, 2079 (2083); zust. Graßhof in: Umbach/Clemens/Dollinger, BVerfGG, § 78, Rn. 59. 238 Diese Befugnis besteht in derartigen Konstellationen grundsätzlich: BVerfG 22.3.1990, NVwZ 1990, 1061 (1063); BVerfG 8.10.1981, NJW 1981, 445 f.; Heußner, NJW 1982, 257 (258). 239 BVerfG 13.4.1978, NJW 1978, 1245 (1251); BVerfG 5.3.1991, NJW 1991, 1602 (1603); BVerfG 28.5.1993, NJW 1993, 1751 (1773); BVerfG 19.1.1999, NJW 1999, 1853 (1855 f.); BVerfG 27.10.1999, NJW 2000, 1175 (1179); BVerfG 8.2.2001, NJW 2001, 1048 (1053); BVerfG 18.2.2004, NJW 2004, 1155 (1157 f.); Graßhof in: Umbach/Clemens/Dollinger, BVerfGG, § 78, Rn. 73. 236
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4. Kap.: Grenzen tarifdispositiven Rechts
entwickelt worden, notfalls aber auch auf das Unterlassen des Gesetzgebers zu erstrecken. Auch wenn diese Lösung weitreichend erscheint, überzeugt sie aufgrund ihrer höheren Praxistauglichkeit, dem höheren Maß grundrechtlichen Schutzes und der Aktivierung des demokratisch legitimierten Gesetzgebers. Die entsprechende Rechtsgrundlage für eine derartige Entscheidungskompetenz bietet § 35 BVerfGG240 in Verbindung mit Art. 100 GG und der Lehre von den grundrechtlichen Schutzpflichten. Insbesondere dadurch, dass der Gesetzgeber seiner Pflicht zur Neuregelung regelmäßig nicht nachkommt, ist die Berechtigung des BVerfG, für diesen Fall eine Alternativregelung festzulegen, anzuerkennen, da ansonsten der Rechtsschutz für die Bürger, die in der „Warteschleife“ ausgesetzter Verfahren hängen, faktisch dauerhaft suspendiert werden könnte.241 Geht man den hier vertretenen Lösungsweg nicht, entstehen auf Basis der Rechtsprechung des BVerfG mehrere Paradoxien. Während eine Verfassungsbeschwerde auf Normerlass die Verpflichtung des Gesetzgebers zum Erlass von Normen zur Verwirklichung der Schutzpflicht zur Folge hätte, würde eine im Individualrechtsstreit erhobene Verfassungsbeschwerde lediglich die Pflicht des Gerichts zur richterlichen Rechtsfortbildung auslösen. Denn dem Bürger steht die Verfassungsbeschwerde auf Normerlass auch nach der Rechtsprechung des BVerfG grundsätzlich offen. Dieser Möglichkeit würde er in dem Moment beraubt, in dem ein zivilgerichtliches Verfahren läuft, weil in diesem Moment die weitreichende Verpflichtung der Gerichte zur eigenständigen Umsetzung der Schutzpflichten aufläuft. Sein Anspruch würde umgewandelt in einen Anspruch auf schutzpflichtenkonforme Rechtsfortbildung anstelle von schutzpflichtenkonformer gesetzlicher Regelung. Es erscheint aber bedenklich, Ausmaß und Umfang und vor allem die tatsächliche Umsetzung des Grundrechtsschutzes durch das gerichtliche Verfahren von der verfahrensrechtlichen Ausgangslage abhängig zu machen. 2. Wesentlichkeitstheorie Neben dem Grundsatz des Vorbehalts des Gesetzes ist für die Reichweite der Befugnisse der Rechtsprechung zur Umsetzung grundrechtlicher Schutzpflichten auch die Wesentlichkeitstheorie von Bedeutung. Nach dieser ist der Gesetzgeber im grundrechtsrelevanten Bereich verpflichtet, die wesentlichen Entscheidungen selbst zu treffen.242 Die Wesentlichkeitstheorie erweist sich damit als „partielles 240 Bethge in: Maunz/Schmidt-Bleibtreu, BVerfGG, § 35, Rn. 29; Klein in: Benda/ Klein, Verfassungsprozessrecht, Rn. 1277; zumindest für denkbar hält diesen Rückgriff Graßhof in: Umbach/Clemens/Dollinger, BVerfGG, § 78, Rn. 75. 241 Graßhof in: Umbach/Clemens/Dollinger, BVerfGG, § 78, Rn. 75. 242 BVerfG 28.10.1975, NJW 1976, 34 (35); BVerfG 22.6.1977, NJW 1977, 1723 (1724); BVerfG 29.10.1987, NJW 1988, 1651 (1657); BVerfG 14.7.1998, NJW 1998, 2515 (2520); Classen, JZ 2003, 694 (700); Ehrich, DB 1993, 1237; Kloepfer, JZ 1984, 685 (690).
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Delegationsverbot“ an den staatlichen Gesetzgeber.243 Sie ist damit insbesondere als Kompetenzabgrenzung zwischen den staatlichen Gewalten konzipiert.244 Sieht man die Struktur des tarifdispositiven Gesetzesrechts, insbesondere auch die Beteiligung der betrieblichen Ebene, als eine Kette von Delegationen an, so wird die Bedeutung der Wesentlichkeitstheorie nicht nur im Rahmen der Lehre von den grundrechtlichen Schutzpflichten, sondern ganz allgemein deutlich. Denn die Wesentlichkeitstheorie schützt dem Grunde nach ebenso wie der Vorbehalt des Gesetzes davor, dass grundrechtsrelevante Entscheidungen durch für die Entscheidung ungeeignete Instanzen getroffen werden. Dabei schützt sie in doppelter Richtung: zum einen die vorrangig entscheidungsbefugte Ebene davor, dass ihr die Entscheidungskompetenz entzogen wird, zum anderen die nachrangig entscheidungsbefugte Ebene davor, dass die übergeordnete Ebene Entscheidungen auf sie abwälzt, die sie selbst nicht treffen möchte. Diese beiden Schutzdimensionen haben für das tarifdispositive Gesetzesrecht eine erhebliche Bedeutung, weil es der Sache nach eine mehr oder weniger umfangreiche Verlagerung von Entscheidungsbefugnissen auf untergeordnete Ebenen und damit verbunden einen Entscheidungsabbau auf den übergeordneten Ebenen beinhaltet. Führt die Wesentlichkeitstheorie dazu, dass bei solchen Subdelegationen von Entscheidungsbefugnissen ganz grundsätzlich die wesentlichen Direktiven für die untergeordnete Entscheidungsebene durch den Delegaten selbst getroffen werden müssen, so stellen sich insbesondere Subdelegationsklauseln auf die betriebliche Ebene, wie sie beispielsweise § 7 Abs. 2a ArbZG vorsieht, als problematisch dar. a) Grundlagen der Wesentlichkeitstheorie Die Wesentlichkeitstheorie dient dazu, zugunsten des Bürgers sicherzustellen, dass grundlegende Entscheidungen durch den originär Regelungsbefugten getroffen werden und nicht durch andere Institutionen. Ebenso sichert sie das Primat des parlamentarischen Gesetzgebers für wesentliche Entscheidungen.245 Sie bindet und schützt den Gesetzgeber damit gleichermaßen. Aber auch im Rahmen der grundrechtlichen Schutzpflichten hat die Wesentlichkeitstheorie eine hohe Relevanz. Sie verlangt vom Gesetzgeber, grundrechtswesentliche Fragen, wovon auch die Schutzpflichten erfasst werden, selbst zu regeln.
243
Engels, Verfassung und Arbeitskampfrecht, S. 328; Kloepfer, JZ 1984, 685 (690). Bengsch, Der verfassungsrechtlich geforderte Mindestkündigungsschutz im Arbeitsverhältnis, S. 577; Engels, Verfassung und Arbeitskampfrecht, S. 328. 245 Kloepfer, JZ 1984, 685 (690). 244
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4. Kap.: Grenzen tarifdispositiven Rechts
b) Anwendbarkeit der Wesentlichkeitstheorie im Verhältnis gleich geordneter Grundrechtsträger Fraglich ist allerdings, ob die Wesentlichkeitstheorie auf das Verhältnis von staatlichem Gesetzgeber und Zivilrechtsprechung überhaupt anwendbar ist. Die ursprüngliche Rechtsprechung des BVerfG zur Entfaltung der Wesentlichkeitstheorie basierte auf der Frage des Verhältnisses von Exekutive und staatlichem Gesetzgeber.246 Damit ist man bei der Frage angekommen, ob die Rechtsprechung dann, wenn der Gesetzgeber eine Regelung unterlässt, hierdurch daran gehindert ist, Rechtsstreitigkeiten notfalls unter Rückgriff auf das Instrument der Rechtsfortbildung zu entscheiden. Ein Teil der Lehre steht auf diesem Standpunkt.247 aa) Die Rechtsprechung des BVerfG Einer Anwendbarkeit der Wesentlichkeitstheorie könnte aber auch die Rechtsprechung des BVerfG entgegenstehen. Im Rahmen der Arbeitskampfrechtsprechung hat das BVerfG die Wesentlichkeitstheorie im Verhältnis gleich geordneter Grundrechtsträger für nicht anwendbar erklärt.248 Ein Teil der Lehre leitet daraus ab, im Verhältnis von Grundrechtsträgern zueinander sei die Wesentlichkeitstheorie unanwendbar.249 Auch hier findet sich analog zum Vorbehalt des Gesetzes der Einwand des Justizgewährleistungsanspruches und der damit verbundenen Verpflichtung der Judikative, einmal vor sie gebrachte Rechtstreitigkeiten auch zu entscheiden.250 Dennoch steht die Rechtsprechung der Anwendung der Wesentlichkeitstheorie im Verhältnis gleich geordneter Grundrechtsträger ablehnend gegenüber. bb) Die Kritik im Schrifttum Die entsprechende Sichtweise wird im neueren Schrifttum massiv kritisiert.251 Dabei wird zunächst einmal darauf hingewiesen, dass das BVerfG auch in der Vergangenheit die Wesentlichkeitstheorie auf Kollisionsbeziehungen zwischen Bürgern angewandt habe.252 Insofern werde mit zweierlei Maß gemessen, wenn in Teilbereichen dieser Anspruch aufgegeben werde.253 246 BVerfG 28.10.1975, NJW 1976, 34 (35); BVerfG 28.10.1975, NJW 22.6.1977, 1723 (1724); BVerfG 29.10.1987, NJW 1988, 1651 (1653 f.); BVerfG 14.7.1998, NJW 1998, 2515 (2520); Greiner, Anm. zu BAG 28.3.2006, EzA § 2 TVG, Nr. 28, Bl. 33; Haltern/Mayer/Möllers, Die Verwaltung 20 (1997), 51 ff. 247 Ehrich, DB 1993, 1237 (1239); Schwarze, JuS 1994, 653 (659). 248 BVerfG 26.6.1991, NJW 1991, 2549 (2550). 249 Schliemann, NZA 2003, 122 (128); Dieterich, RdA 1993, 67 (70). 250 BVerfG 26.6.1991, NJW 1991, 2549 (2550). 251 Fischer, RdA 2009, 287 ff.; Höfling/Engels, ZG 2008, 250 (260 f.); Isensee, DzWiR 1994, 309 (311); Pieroth/Aubel, JZ 2003, 504 (509); Ehrich, DB 1993, 1237 (1238), attestiert zumindest Inkonsequenz.
E. Anforderungen an die Rechtsprechung
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In der Tat hat das BVerfG im Bereich der Rundfunkfreiheit in einem Fall, in dem es eine Interessenkollision gleichgeordneter Grundrechtsträger zu bewerten hatte, die Wesentlichkeitstheorie herangezogen.254 Die Begründung für die zurückhaltende Rechtsprechung des BVerfG im Zivilrecht liegt wohl darin, dass die Wesentlichkeitstheorie ursprünglich für die Frage der Anforderungen an die Eingriffsbefugnisse der Exekutive entwickelt wurde. Damit bestand ein enger Zusammenhang zum Vorbehalt des Gesetzes. Insofern wird darauf verwiesen, dass der Judikative von der Verfassung ein erhöhtes Maß an Vertrauen entgegen gebracht wird. Beredtes Beispiel hierfür sei die Übertragung des Schutzes der Verfassung an die Rechtsprechung des BVerfG.255 c) Eigenständigkeit der Wesentlichkeitstheorie Sieht man hingegen, dass sich die Wesentlichkeitstheorie vom Vorbehalt des Gesetzes mittlerweile dogmatisch emanzipiert hat und als eigenständige Kategorie unabhängig von diesem Prinzip besteht256, ist für eine derartige Einschränkung kein Raum mehr.257 Insbesondere hat das BVerfG den entsprechenden Wandel selbst bereits nachvollzogen, insofern ist hier Konsequenz einzufordern. Denn die Wesentlichkeitstheorie ist primär als an den Gesetzgeber gerichtete Verpflichtung zu betrachten, nicht als eine solche, die sich an die Exekutive richtet.258 Die Wesentlichkeitstheorie, soweit sie sich aus dem Vorbehalt des Gesetzes entwickelt hat, teilt die dogmatische Grundlagen des Vorbehalts des Gesetzes. Dies sind neben dem Demokratieprinzip und dem Rechtsstaatsprinzip259 auch die Grundrechte selbst.260 Die Wesentlichkeitstheorie lässt sich damit im Verhältnis gleichgeordneter Grundrechtsträger auf das Demokratieprinzip ebenso stützen wie auf das Rechtsstaatsprinzip.261
252 Classen, JZ 2003, 693 (694); Höfling/Engels, ZG 2009, 250 (261); Kloepfer, NJW 1985, 2498 (2499), jeweils unter Verweis auf BVerfG 8.8.1979, NJW 1979, 359 (360); BVerfG 16.6.1981, NJW 1981, 1774 (1776). 253 Ehrich, DB 1993, 1237 (1239); Gellermann, Grundrechte im einfachgesetzlichen Gewande, S. 391; Höfling/Engels, ZG 2008, 250 (261 f.). 254 BVerfG 16.6.1981, NJW 1981, 1774 (1775). 255 Konzen, SAE 1991, 335 (337). 256 Kloepfer, JZ 1984, 685 (689). 257 Engels, Verfassung und Arbeitskampfrecht, S. 336; Kloepfer, NJW 1985, 2498 (2499). 258 Ehrich, DB 1993, 1237 (1238); Kloepfer, NJW 1985, 2498 (2499). 259 Erichsen, Jura 1995, 550 (552); Pietzcker, JuS 1979, 710 (713); Rengeling, NJW 1978, 2217 (2218); Wehr, JuS 1997, 419 (422). 260 Krebs, Vorbehalt des Gesetzes und Grundrechte, S. 32; ders., Jura 1979, 304 (309 ff.). 261 Butzer, AÖR 119 (1994), 61 (84); Engels, Verfassung und Arbeitskampfrecht, S. 334 (336); Kloepfer, JZ 1984, 685 (690 f.).
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4. Kap.: Grenzen tarifdispositiven Rechts
d) Zwischenergebnis Diese Grundlagen sind aber keineswegs geeignet, eine Beschränkung im Verhältnis gleich geordneter Grundrechtsträger zu legitimieren. Damit ist die Wesentlichkeitstheorie keineswegs nur auf den Anwendungsbereich der Eingriffsdogmatik oder die Eingriffsverwaltung beschränkt.262 Sie gilt ganz allgemein dort, wo grundlegende Fragen eine gesetzgeberische Entscheidung erfordern. Die Wesentlichkeitstheorie ist damit ihren Wurzeln entwachsen und besteht als eigenständiges Prinzip.263 Es ist ausreichend, dass staatliches Handeln sich als grundrechtsrelevant darstellt, um ihre Anwendbarkeit zu begründen. Insbesondere dann, wenn man davon ausgeht, dass die Grundrechte grundsätzlich einer Verwirklichung materieller, realer Freiheit dienen, kann eine Einschränkung der grundrechtsschützenden Funktion der Grundrechte nicht hingenommen werden, die mit einer vollständigen Unanwendbarkeit der Wesentlichkeitstheorie einherginge. Geht man davon aus, dass sich die Effektivität von Grundrechtsschutz nicht nur an der Existenz, sondern auch und gerade an der Transparenz der Schutzmaßnahmen misst, kann eine Unanwendbarkeit der Wesentlichkeitstheorie nicht akzeptiert werden. Sind grundrechtsrelevante Regelungen zu treffen, so ist sie grundsätzlich anwendbar.264 e) Grenzen der Wesentlichkeitstheorie Sehr wohl kann aber im Einzelfall die Wesentlichkeit einer Maßnahme fraglich sein, wenn eine im Grundsatz funktionierende Ordnung traditionell besteht. Das zu entscheiden ist nicht Aufgabe dieser Arbeit. Die pauschale Unanwendbarkeit der Wesentlichkeitstheorie im Verhältnis gleich geordneter Grundrechtsträger ist aber abzulehnen.265 Über die Möglichkeit einer unterschiedlichen inhaltlichen Bindungswirkung bei den unterschiedlichen Konstellationen ist damit nichts gesagt. Ebenso wenig ist damit entschieden, ob die Wesentlichkeitstheorie nicht genauso wie die grundrechtlichen Schutzpflichten die Befugnis des BVerfG zur Festlegung von Übergangsregelungen aufrufen kann. Damit könnten drohende rechtsfreie Räume und Schutzlücken, deren Abwendung jedenfalls teilweise als eigentliches Motiv für die Rechtsprechung des BVerfG gesehen wird266, vermieden werden. 262 Ehrich, DB 1993, 1237 (1239); Gellermann, Grundrechte im einfachgesetzlichen Gewande, S. 393. 263 Classen, JZ 2003, 693 (694); Engels, Verfassung und Arbeitskampfrecht, S. 337; Höfling/Engels, ZG 2008, 250 (261 f.). 264 Engels, Verfassung und Arbeitskampfrecht, S. 334. 265 Gellermann, Grundrechte im einfachgesetzlichen Gewande, S. 393; Engels, Verfassung und Arbeitskampfrecht, S. 337, der mit Recht darauf verweist, dass es dem Gesetzgeber nicht nur im Verhältnis zur Exekutive, sondern auch im Verhältnis zur Judikative versagt sein muss, die Verantwortung auf diese abzuwälzen. 266 Ehrich, DB 1993, 1237 (1239).
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f) Anwendbarkeit im Bereich des tarifdispositiven Gesetzesrechts Anwendbarkeitsschranken für die Wesentlichkeitstheorie bestehen im Bereich des tarifdispositiven Gesetzesrechts nicht. Sofern im Schrifttum die Anwendbarkeit der Wesentlichkeitstheorie vereinzelt unter sogenannte sachstrukturelle Grenzen gestellt wird, sind deren Voraussetzungen im Arbeitsrecht regelmäßig nicht erfüllt. Dass Gegenstände keine Regelungsreife haben, regelungsfeindlich sind oder von persönlichkeitsgeprägten Beziehungen vorbestimmt sind267, kann nach der Entwicklung, die das Rechtsgebiet im vergangenen Jahrhundert genommen hat, nicht festgestellt werden. Hier gibt es kaum unvorhersehbare Sonderlagen, und hinreichende Erkenntnisse fehlen häufig eher deshalb, weil Probleme politisch ignoriert werden.268 Blickt man auf die mittlerweile fast 100-jährige Diskussion um ein Arbeits- oder zumindest Arbeitsvertragsgesetzbuch269, so kann nicht ernsthaft behauptet werden, die Grundlagen für die Erkenntnis, was wesentlich ist, fehlten oder seien im Arbeitsrecht nicht ermittelbar. Zuzugeben ist aber, dass dieses Rechtsgebiet aufgrund technischer, gesellschaftlicher und ökonomischer Wandlungen ein weitaus größeres Innovationsbedürfnis hat als andere Rechtsgebiete. Daher bedürfen auch hier die den aufgrund des Wandels erforderlichen Anpassungsprozessen entgegenstehenden Prinzipien, wie der Vorbehalt des Gesetzes oder die Wesentlichkeitstheorie, einer Modifikation. Eine pauschale Nichtanwendbarkeit lässt sich damit aber nicht begründen. g) Ergebnis Im Ergebnis ist die Sichtweise, die das Verhältnis gleichgeordneter Grundrechtsträger und damit auch arbeitsrechtliche Beziehungen von einer Anwendung der Wesentlichkeitstheorie ausnimmt, nicht überzeugend. Die Rechtsprechung des BVerfG ist abzulehnen, sofern sie die Wesentlichkeitstheorie im Verhältnis gleich geordneter Grundrechtsträger überhaupt nicht anwenden will. Eine solche Sonderdogmatik dient zweifelsohne auch dazu, der Rechtsprechung Spielräume zur sachgerechten Lösung von Einzelfällen zu eröffnen. Und sie soll ebenso wie die Rechtsprechung im Bereich des Vorbehalts des Gesetzes dem Justizgewährungsanspruch Rechnung tragen. Nicht nur mit Blick auf das Rechtsstaats- und das Demokratieprinzip geht eine vollständige Freistellung von der Wesentlichkeitstheorie hier aber zu weit. Sie stellt ein Umgehungsmodell zur Stärkung der judikativen Handlungsinstrumente dar. Dieses wirkt im Ergebnis aber nicht – wie wohl beabsichtigt – zugunsten, sondern zulasten des Grundrechtsschutzes der Bürger insgesamt. Es besteht hier die Gefahr, dass um der 267
Ossenbühl, HStR, Bd. III, § 62, Rn. 63 ff.; Wehr, JuS 1997, 419 (423). Preis, RdA 1989, 327 (333). 269 Vgl. dazu. den Entwurf von Preis/Henssler abgedruckt in Beil. NZA Heft 1/ 2007, 6 ff., sowie Preis, DB 2008, 61 ff.; ders., FS Hromadka, S. 275 ff. 268
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4. Kap.: Grenzen tarifdispositiven Rechts
Verwirklichung von Einzelfallgerechtigkeit willen transparente rechtsstaatliche Maßstäbe zu sehr aufgeweicht werden. Dabei wird das Risiko eingegangen, potenziell rechtsunsichere Einzelfalllösungen ohne klar erkennbare Konturen und inhaltliche Anforderungen sowie einen überdehnten Entscheidungsspielraum der Judikative, der den tatsächlich bestehenden Grundrechtsschutz nicht mehr erkennen lässt, zu fördern. Bei einer Abschwächung der Wesentlichkeitstheorie wird im Ergebnis wieder derjenige Bürger privilegiert, der über die notwendigen Ressourcen verfügt, sich die ungeschriebenen Teile des Rechts zu erschließen. Ebenso erlangt derjenige Vorteile der vor dem Hintergrund unklarer normativer Vorgaben zum Übergriff auf die Grundrechte Dritter schreitet. Damit werden strukturelle Imparitäten nicht beseitigt, sondern gefördert, wenn die Rechtsprechung mit dem anerkennenswerten Ziel der Gerechtigkeitsgewährung über staatliche Strukturprinzipien hinwegschaut. Mit Blick auf den effektiven Grundrechtsschutz ist ein solches Verfahren abzulehnen. Wenn schon auf derartige Prinzipien verzichtet werden soll, bedarf dies der Rechtfertigung. Dabei kann gefragt werden, ob das Interesse des Einzelnen am Streitentscheid oder das Interesse der Allgemeinheit überwiegt, wesentliche Fragen durch Gesetz zu regeln.270 Häufig wird Letzteres der Fall sein, vor allem, wenn man bedenkt, dass der grundrechtliche Schutz durch ein Verfahren nach Art. 100 Abs. 1 GG271 ebenso gewahrt werden kann wie bei einer eigenständigen Entscheidung der Gerichte. h) Inhaltliche Anforderungen der Wesentlichkeitstheorie Der Inhalt der Wesentlichkeitstheorie bedarf der Präzisierung, wenn die Feststellung der Wesentlichkeit nicht als Einfallstor für subjektive und irrationale Erwägungen dienen soll. Allgemein lässt sich festhalten, dass der Gesetzgeber verpflichtet ist, alle wesentlichen Fragen, die der staatlichen Regelung zugänglich sind, insbesondere solche, die grundrechtsrelevant sind, hinreichend präzise zu regeln.272 Daraus erwächst nach der Rechtsprechung des BVerfG die Pflicht des Gesetzgebers, alle wesentlichen Entscheidungen selbst zu treffen.273 Das Bundesverfassungsgericht hat insofern zunächst eine Beziehung zu den Prinzipien der Verfassung und den Grundrechten verlangt.274 Diese müssten wesentlich betroffen sein. Damit ist aber nicht mehr gesagt, als dass das wesentlich 270
Preis, RdA 1989, 327 (333). Vgl. dazu 4. Kap. E. II, III. 1. e) cc). 272 Classen, JZ 20903, 694 (701); Schulze-Fielitz in: Dreier, GG, Art. 20 (Rechtsstaat), Rn. 113. 273 BVerfG 28.10.1975, NJW 1976, 34 (35); BVerfG 28.10.1975, NJW 22.6.1977, 1723 (1724); BVerfG 8.8.1979, NJW 1980, 823 (824); BVerfG 29.10.1987, NJW 1988, 1651 (1653 f.); BVerfG 14.7.1998, NJW 1998, 2515 (2520); Schulze-Fielitz in: Dreier, GG, Art. 20 (Rechtsstaat), Rn. 113. 271
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ist, was wesentlich ist – eine, offen gesprochen, unbefriedigende Form der Konkretisierung.275 Zur Konkretisierung trägt der Hinweis bei, dass wesentlich solche Fragen seien, bei denen unter Rückgriff auf das Rechtsstaatsprinzip das Bedürfnis nach Rechtssicherheit und die Bedeutung für den Betroffenen, die Wesentlichkeit einer Frage zeigen.276 Kriterien hierfür können die Bedeutung der betroffenen Rechtsgüter, die individuelle oder kollektive Langzeitwirkung oder die personelle Reichweite der Frage sein.277 Das BVerfG verweist dabei nicht nur für das „Ob“, sondern auch das „Wie“ einer Regelung auf die Wesentlichkeitstheorie: „Der im Rechtsstaatsprinzip und im Demokratiegebot wurzelnde Parlamentsvorbehalt gebietet es, in grundlegenden normativen Bereichen, zumal im Bereich der Grundrechtsausübung, soweit diese staatlicher Regelung zugänglich ist, alle wesentlichen Entscheidungen dem Gesetzgeber zu überlassen. Dabei betrifft die Normierungspflicht nicht nur die Frage, ob ein bestimmter Gegenstand überhaupt gesetzlich geregelt sein muss, sondern auch, wie weit diese Regelungen im einzelnen zu gehen haben.“ 278
Kurz gesagt ist der Gesetzgeber, soweit die Wesentlichkeitstheorie reicht, nicht berechtigt, erfasste Gegenstände ungeregelt zu lassen, und zwar auch nicht unter Verweis auf andere Gewalten, die „in die Bresche springen“. Insofern reicht es nach der Rechtsprechung des BVerfG auch nicht aus, schlichtweg inhaltsleere Generalklauseln zu schaffen, nur um die Rechtsprechung wenigstens formal gebunden zu haben. Die Wesentlichkeitstheorie kann den Gesetzgeber zu hinreichenden inhaltlichen Konkretisierungen zwingen. Auch hier klingt der Gedanke der Transparenz an. Die Feststellung, ob eine Frage wesentlich ist, muss sich in erster Linie an der konkreten Grundrechtsposition orientieren. Das Bundesverfassungsgericht hat die Maßstäbe wie folgt zusammengefasst. „Wann es danach einer Regelung durch den parlamentarischen Gesetzgeber bedarf, läßt sich nur im Blick auf den jeweiligen Sachbereich und auf die Eigenart des betroffenen Regelungsgegenstandes beurteilen. Die verfassungsrechtlichen Wertungskriterien sind dabei den tragenden Prinzipien des Grundgesetzes, insbesondere den darin verbürgten Grundrechten, zu entnehmen (. . .). Danach bedeutet wesentlich im grundrechtsrelevanten Bereich in der Regel „wesentlich für die Verwirklichung der Grundrechte“ (. . .). Die Tatsache, daß eine Frage politisch umstritten ist, führt dage274 BVerfG 26.9.1972, NJW 1977, 133 (136); BVerfG 28.10.1975, NJW 1976, 34 (35); BVerfG 8.8.1978, NJW 1979, 359 ff.; BVerfG 14.7.1998, NJW 1998, 2515 (2520); BVerfG 16.6.1981, NJW 1981, 1774 (1776 f.); BVerfG 20.10.1981, NJW 1982, 921 (922); BVerfG 14.7.1998, NJW 1998, 2515 (2520 f.). 275 Zur Zirkelschlussqualität dieser Betrachtungsweise vgl. Kloepfer, NJW 1985, 2497 (2498 f.); ders., JZ 1984, 685 (692); kritisch auch Krebs, JURA 1979, 304 (308). 276 Sachs in: Sachs, GG, Art. 20, Rn. 117. 277 Schulze-Fielitz in: Dreier, GG, Art. 20 (Rechtsstaat), Rn. 113. 278 BVerfG 6.7.1999, NJW 1999, 3253 (3254).
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4. Kap.: Grenzen tarifdispositiven Rechts
gen für sich genommen nicht dazu, daß diese als wesentlich verstanden werden müßte (. . .).“ 279
Traditionell hat das BVerfG dem Schutz von Leib und Leben einen hohen Stellenwert eingeräumt, der auch sehr konkrete inhaltliche Vorgaben für den Gesetzgeber erzeugen kann.280 Auch den Arbeitszeitschutz hat das BVerfG für so wesentlich gehalten, dass eine gesetzliche Regelung geboten war.281 Wie gezeigt tendiert das BVerfG parallel zum Gesetzesvorbehalt dazu, im Vertragsrecht die Wesentlichkeitstheorie für nicht anwendbar zu halten. Richtigerweise darf man wohl eher davon ausgehen, dass im Vertragsrecht, gerade in Ansehung des häufig weniger intensiven Ausmaßes der Fragen im Verhältnis zur Beeinträchtigung von Leib und Leben, eine abgeschwächte Wirkung der Wesentlichkeitstheorie besteht. Im Vertragsrecht ist eine solche vor allem dort zu akzeptieren, wo besonders intensive Beeinträchtigungen des Bürgers drohen, insbesondere wenn sich diese langfristig auf die persönliche Lebensführung auswirken können. Des Weiteren ist im Zivilrecht der Besonderheit der Bedürfnisse von Dauerschuldverhältnissen im Allgemeinen und Arbeitsverhältnissen im Besonderen in einer Weise Rechnung zu tragen, die den Ausgleich der widerstreitenden Interessen in hinreichend stabile Bahnen lenkt. Dabei kann insbesondere bei strukturellen Machtimparitäten ein stärkeres Bedürfnis nach Regulierung erwachsen, vor allem dort, wo Rechtsschutz nur begrenzt zu erlangen ist oder die Umstände einen hinreichend transparenten Schutz erfordern.282 Hingegen scheint es fraglich, ob dort, wo sich strukturell gleichgewichtige Partner gegenüberstehen, auch die Wesentlichkeitstheorie an Wirkkraft verliert. Ihrem Kern nach ist die Wesentlichkeitstheorie nicht nur als Kompetenzabgrenzung, sondern vor allem auch mit Blick auf ihre grundrechtssichernde Funktion zu berücksichtigen, wenn sich die Frage stellt, ob und in welchem Umfang eine Materie gesetzlich geregelt werden muss. Damit gerät der Blick auf die „Grundrechtswesentlichkeit“ in den Vordergrund. Damit ist auch hier der Weg hin zu einer flexiblen Aktivierung der Wesentlichkeitstheorie vorgezeichnet. Je intensiver die grundrechtlichen Schutzpositionen betroffen sind, umso größer wird der Bedarf nach einer gesetzlichen Regelung sein. Dabei ist analog zur Frage des Vorbehalts des Gesetzes auch hier eine Abwägung erforderlich, die das Interesse des Einzelnen an einer gerichtlichen Entscheidung und das Interesse der Allgemeinheit in einen Ausgleich bringt. Dabei kann allerdings auch eine Konstellation entstehen, in der der durch eine gerichtliche Entscheidung potenziell Belastete eine Frage für wesentlich hält, während die Interessen der Allgemein-
279 280 281 282
D. II.
BVerfG 14.7.1998, 2515 (2520). BVerfG 25.2.1975, NJW 1975, 573. BVerfG 17.11.1992, NJW 1993, 878 ff. BVerfG 26.7.2005, NJW 2005, 2363 (2371); vgl. dazu ausführlich oben 4. Kap.
E. Anforderungen an die Rechtsprechung
389
heit gegen eine Aktivierung der Wesentlichkeitstheorie streiten. Dies kann insbesondere in Fällen gegeben sein, in denen ein größeres Rechtsgebiet plötzlich ohne rechtlichen Rahmen dastehen würde, aber auch dann, wenn die betroffenen Grundrechtspositionen eher gering beeinträchtigt werden. Auch dies hilft aber nicht über gewisse Begrenzungen der judikativen Befugnisse zur eigenständigen Umsetzung grundrechtlicher Schutzpflichten hinweg. i) Anwendbarkeit der Wesentlichkeitstheorie Eine vollständige Nichtanwendbarkeit der Wesentlichkeitstheorie lässt sich im Verhältnis gleich geordneter Grundrechtsträger nicht begründen. Der Rechtsprechung des BVerfG kann insofern nicht gefolgt werden. In der Tat können einzelne Materien oder Regelungsbereiche eine Abschwächung oder Modifikation der Wesentlichkeitstheorie verlangen. Dies wäre aber am Einzelfall zu begründen und als Ausnahmekonstellation rechtfertigungsbedürftig. Dabei ist insbesondere die jeweilig betroffene grundrechtliche Schutzposition in den Blick zu nehmen. Auch im Rahmen grundrechtlicher Schutzpflichten bedürfen wesentliche Fragen der Regelung durch den Gesetzgeber, nicht nur wegen der erforderlichen Transparenz schutzpflichtenmediatisierender Regelungen, sondern auch aufgrund der bereits dargestellten qualitativen Grenzen der Rechtsprechung bei deren Umsetzung. Mit Blick auf das tarifdispositive Gesetzesrecht ist außerdem darauf hinzuweisen, dass in Bereichen, die einen Bezug zum öffentlichen Gefahrenabwehrrecht aufweisen – also z. B. das Arbeitszeitrecht –, kein Platz für die Theorie der gleichgeordneten Grundrechtsträger ist. Selbst wenn man dieser einmal folgt, ist nämlich im Arbeitszeitrecht im Einklang mit der Rechtsprechung des BVerfG die Wesentlichkeitstheorie anwendbar. Nach dem hier vertretenen flexiblen Ansatz folgt dies vor allem aus dem hohen Gewicht des Schutzgut „Leib und Leben“, das durch die entsprechenden Regelungen betroffen ist, aber auch daraus, dass hier erhebliche Langzeitschädigungen drohen, die eine besonders klare gesetzliche Regelung verlangen. Mit Blick auf rein vertragsrechtliche Fragestellungen mag man hier großzügiger sein. Aber auch hier wird der Gesetzgeber sich nicht pauschal auf den Verweis auf Generalklauseln oder alternative richterrechtliche Kontrollmaßstäbe zurückziehen können, wenn besonders starke Ungleichgewichte der Vertragsparteien bestehen. Damit wird dort, wo die strukturelle Unterlegenheit einzelner Vertragsparteien besonders intensiv ist, ein höheres Maß an Regelungsintensität erforderlich sein. Dabei ist insbesondere an Personen in atypischen, prekären Beschäftigungsverhältnissen zu denken, aber auch dort, wo einzelne Vertragsinhalte besonders intensiv auf die Lebensplanung oder die berufliche Entwicklung einwirken. Insgesamt wird auch die vorstehende Position sich der Kritik ausgesetzt sehen, die Wesentlichkeitstheorie nicht konsequent als Destruktivargument gegenüber
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4. Kap.: Grenzen tarifdispositiven Rechts
der judikativen Entscheidungsbefugnis instrumentalisiert zu haben. Sie hat aber den Vorzug, der Rechtsprechung Spielräume zu belassen und Lösungsmöglichkeiten für praktische Unverträglichkeiten ihrer uneingeschränkten Anwendung zu eröffnen. Des Weiteren zeigt sie, dass eine vollständige Unanwendbarkeit weder dogmatisch überzeugend noch praktisch notwendig ist. Damit wird dem Interesse an einem dogmatisch und praktisch tragfähigen Modell soweit wie möglich Rechnung getragen, ohne dass Rechtsschutzlücken oder anarchische Verhältnisse in rechtlichen Teilbereichen drohen. Mit Blick auf die grundrechtlichen Schutzpflichten lässt sich aber im Grundsatz festhalten, dass wesentliche Entscheidungen durch den Gesetzgeber zu treffen sind. Dies wirft die Frage nach dem Umfang der grundrechtlichen Schutzpflichten in concreto auf. j) Folgen für das tarifdispositive Gesetzesrecht Aus der Wesentlichkeitstheorie ergeben sich mit Blick auf das tarifdispositive Gesetzesrecht zwei Konsequenzen erheblicher Tragweite. Zunächst einmal unterliegt das inhaltliche Ausmaß der Tariföffnungsklauseln der verfassungsrechtlichen Kontrolle mit Blick auf die Wesentlichkeitstheorie. Der Gesetzgeber darf nicht unter Verweis auf die Tarifvertragsparteien grundrechtswesentliche Schutzvorschriften unterlassen oder unkonditioniert Tariföffnungsklauseln schaffen. Er darf auch nicht wesentliche Entscheidungen über Ausmaß und Umfang des Grundrechtsschutzes auf die Ebene der richterlichen Rechtsfortbildung verlagern oder sich durch Generalklauseln grundlegender Entscheidungen entziehen.283 In welchem Ausmaß dies der Fall ist, kann hier noch offen bleiben. Es bleibt aber festzuhalten, dass, je gewichtiger die betroffenen grundrechtlichen Positionen sind, das Ausmaß der Vorgaben, die im Gesetz für den Gebrauch von Tariföffnungsklauseln gemacht werden, zunehmen muss. Der pauschale Verweis auf den Sachverstand der Tarifvertragsparteien genügt hier als Legitimation nicht. Es ist vielmehr in Ansehung der Wesentlichkeitstheorie der Intensitätsgrad von Tariföffnungsklauseln legitimationsbedürftig. Eine weitere in ihrer Tragweite fast noch bedeutsamere Konsequenz hat die Wesentlichkeitstheorie auf der Ebene der Subdelegationsbefugnisse in tarifdispositiven Vorschriften. So lässt beispielsweise § 7 Abs. 2a ArbZG zu, dass auf Grund eines Tarifvertrags auch in einer Betriebsvereinbarung abweichende Regelungen getroffen werden dürfen. Mit Blick auf die Wesentlichkeitstheorie stellt sich die Frage, ob diese nicht als grundlegendes Prinzip die Auslegung von Tariföffnungsklauseln, die die Subdelegation auf die betriebliche Ebene zulassen, steuert und damit für eine restriktive Handhabung spricht. Im Extremfall könnte aus dem Wortlaut derartiger Vorschriften nämlich geschlossen werden, sie ließen es zu, dass die Tarifvertragsparteien die gesamte Abweichungsbefugnis auf die 283
Kloepfer, JZ 1984, 685 (691).
E. Anforderungen an die Rechtsprechung
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betriebliche Ebene verlagern ohne eigene Entscheidung oder Vorgaben für die Reichweite dieser Befugnis. Mit Blick auf die Wesentlichkeitstheorie ist ein solches Verständnis abzulehnen. Vielmehr ist zu verlangen, dass die Tarifvertragsparteien beim Gebrauch von solchen Subdelegationsbefugnissen Sicherungsmechanismen für wesentliche Entscheidungen behalten. Dies lässt sich grundsätzlich auf zwei Wegen realisieren. Entweder sieht man die Tarifvertragsparteien bereits bei der Schaffung der Abweichungsbefugnisse für die Betriebsparteien als inhaltlich an die Wesentlichkeitstheorie gebunden an. Dann müssten diese die Abweichungen durch die Betriebsparteien von vorne herein inhaltlich einschränken. Oder man leitet aus der Wesentlichkeitstheorie ab, dass jedenfalls die Letztverantwortlichkeit für die auf Betriebsebene geschaffenen Regelungen bei den Tarifvertragsparteien liegen muss. Ob es in diesem Fall ausreichen würde, wenn diese einen Genehmigungsvorbehalt in die entsprechende Subdelegationsklausel integrieren, sodass jede betrieblich getroffene Regelung hinsichtlich ihrer Wirksamkeit unter dem Vorbehalt der Zustimmung der Tarifvertragsparteien steht, scheint fraglich. Das letztere Modell schafft jedenfalls mehr Raum für flexible Lösungen, das erstere erhöht die Rechtsicherheit auf betrieblicher Ebene. In jedem Fall aber ist unabhängig von dem konkreten Weg, der beschritten wird, eine Bindung der Tarifvertragsparteien dahin gehend, die Letztverantwortung für wesentliche Entscheidungen nicht auf die betriebliche Ebene zu verlagern, gegeben. Davon unabhängig besteht die Frage der Möglichkeiten der Rechtsprechung, jenseits der Bindungen durch die Wesentlichkeitstheorie durch Rechtsfortbildung der tarifvertraglichen Regelungsbefugnis Schranken zu ziehen. 3. Der Gewaltenteilungsgrundsatz als Grenze der Rechtsfortbildung Zwar ist mit Blick auf den Gewaltenteilungsgrundsatz eine Befugnis zur Rechtsfortbildung grundsätzlich anzuerkennen.284 Entscheidend sind aber deren Grenzen. Diese definieren nämlich den Punkt, ab dem die Rechtsprechung die Schutzpflicht nicht mehr eigenständig umsetzen kann, sondern der Gesetzgeber zwischengeschaltet werden muss285 bevor eine schutzpflichtenkonforme Entscheidung ergehen kann. Damit geraten die Grenzen richterlicher Rechtsfortbildung bei der Schutzpflichtenumsetzung in den Blick. Zunächst einmal verlangt eine Rechtsfortbildung zur Wahrung grundrechtlicher Schutzpflichten die Feststellung, dass das vorhandene einfache Gesetzesrecht keine Möglichkeit vermittelt, die grundrechtliche Schutzpflicht unmittelbar 284 St. Rspr. des BVerfG: BVerfG 19.10.1983, NJW 1984, 475; BVerfG 11.10.1978, NJW 1979, 305; BVerfG 14.2.1973, NJW 1973, 1221; ausführlich: Engels, Verfassung und Arbeitskampfrecht, S. 312 ff. 285 Vgl. dazu jüngst die abweichende Meinung von Di Fabio/Osterloh/Voßkuhle zu BVerfG 15.1.2009, NJW 2009, 1469 (1476 ff.).
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4. Kap.: Grenzen tarifdispositiven Rechts
umzusetzen, mithin die Feststellung einer Lücke.286 Des Weiteren darf diese Lücke nicht auf einer Negativentscheidung des Gesetzgebers gegenüber dem ungeregelten Sachverhalt beruhen und damit eine Sperrwirkung für die Rechtsfortbildung enthalten.287 Insofern bilden auch hier Wortlaut und klar entgegenstehender Wille des Gesetzgebers eine Grenze.288 Überhaupt ist das vorhandene Gesetzesrecht daraufhin zu untersuchen, ob überhaupt eine Lücke vorliegt, wobei das BVerfG hier einen großzügigen Kontrollmaßstab im Sinne einer Vertretbarkeitskontrolle anlegt.289 Gezogen hat das BVerfG diesen „Kontrolljoker“ gegenüber einer Entscheidung des BAG zu Sozialplanansprüchen im Konkurs. Hier hatte das BAG sich eine Lücke konstruiert290, um den eigenen rechtspolitischen Vorstellungen Raum zu schaffen. Dies ging dem BVerfG trotz seiner ansonsten großzügigen Haltung zu weit.291 Ob damit bereits eine sachgerechte Grenze für eine Verwerfung von Rechtsfortbildungen besteht, muss bezweifelt werden. Auch die Qualität der Lücke ist von Relevanz, nicht nur ihr Vorhandensein. Jedenfalls ist ohne eine planwidrige Gesetzeslücke eine richterliche Rechtsfortbildung unzulässig.292 In diesem Fall wäre die Rechtsfortbildung nicht nur überflüssig, sondern auch unzulässig, weil sie die vorhandenen Wertungsmaßstäbe des Gesetzgebers abstreift.293 Dabei sind insbesondere gesetzesübersteigende Rechtsfortbildungen bedenklich294 und solche Rechtsfortbildungen unzulässig, bei denen Rechtspositionen verkürzt werden, die der Gesetzgeber unter Konkretisierung verfassungsrechtlicher Prinzipien geschaffen hat.295 Eine Rückbindung an das einfache Recht und seine Wertungen ist aber in jedem Fall erforderlich. Losgelöst von jeder noch so schwachen normativen Rückbindung ist die Rechtsfortbildung unzulässig.296 286 Dabei haben es freilich nicht die Gerichte in der Hand, durch „Umqualifizierung“ einer Rechtfortbildung in die Gesetzesauslegung den verfassungsrechtlichen Kontrollmaßstab zu bestimmen. Auch eine verfassungskonforme „Auslegung“, die die Gesetzesbindung und den Gewaltenteilungsgrundsatz verletzt, ist verfassungsrechtlich kontrollfähig, vgl. dazu Pieroth/Aubel, JZ 2003, 504 (506). 287 Wank, RdA 1987, 129 (153). 288 BVerfG 3.4.1990, NJW 1990, 1593; Oeter, AÖR 119 (1994), 529 (548). 289 BVerfG 30.3.1993, NJW 1993, 2861 (2863); Pieroth/Aubel, JZ 2003, 504 (508). 290 Oeter, AÖR 119 (1994), 529 (548). 291 BVerfG 19.10.1983, NJW 1984, 475. 292 BVerfG 19.10.1983, NJW 1984, 475; Kühnast, Die Grenzen zwischen privatautonomer und tariflicher Regelungsbefugnis, S. 251; Wank, RdA 1987, 129 (150), ebenso die Analogie BVerfG 3.4.1990, NJW 1990, 1593. 293 Zur Unzulässigkeit der Missachtung des rechtspolitischen Willens des Gesetzgebers vgl. BVerfG 11.10.1978, NJW 1979, 305 (306); BVerfG 14.5.1985, NJW 1985, 2395 (2402); BVerfG 3.4.1990, NJW 1990, 1593; Durner, JA 2008, 7 ff.; Oeter, AÖR 119 (1994), 529 (548). 294 Müller/Christensen, Juristische Methodik, Rn. 111. 295 BVerfG 11.10.1978, NJW 1979, 305 (306); 69, 315 (372). 296 Classen, JZ 203, 694 (700).
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4. Notfallkompetenz bei fehlenden gesetzlichen Anknüpfungspunkten für die Rechtsfortbildung Damit ist man bei der Frage angelangt, was in weitgehend ungeregelten Rechtsgebieten geschehen soll, um den Justizgewährungsanspruch nicht leer laufen zu lassen. Dabei kann es erkennbar nicht darum gehen, der Justiz unter Verweis auf die Verantwortung der Legislative die Schaffung rechtsfreier Räume aufzuzwingen.297 In der Untätigkeit des Gesetzgebers im Bereich des Arbeitsrechts eine Negativentscheidung für Regelungen zu erblicken, bringt ein erhebliches Unverständnis der Realitäten der Arbeitsrechtsgesetzgebung zum Ausdruck. Hier paaren sich Unfähigkeit298 und Apathie, nicht Negativentscheidungen gegenüber konkreten Gewährleistungen oder Rechtsinstituten. Sofern der Gesetzgeber sich nicht zu einer Entscheidung durchringen kann, lässt sich dies als Argument regelmäßig nicht heranziehen. Von erheblicher Bedeutung ist allerdings die Frage, ob die zu treffende Entscheidung eine derartig hohe Grundrechtsrelevanz hat, dass man sie nicht mehr der Judikative überlassen kann. Es muss darauf geachtet werden, dass der methodische Weg, den die Fachgerichte beschreiten, um zu einer Fallentscheidung zu gelangen, den für die Rechtsfindung verfassungsrechtlich bestehenden Rahmen nicht überschreitet.299 Eine Notkompetenz in derartigen Konstellationen per se abzulehnen, kann aber – gerade dann, wenn besonders intensive Beeinträchtigungen grundrechtlicher Schutzpositionen drohen – nicht akzeptiert werden. 5. Qualitative Grenzen der Rechtsfortbildung Des Weiteren müsste sich die Rechtsprechung als befähigt erweisen, die erforderlichen Maßnahmen eigenständig zu entwickeln und dazu geeignet sein, sie mit der hinreichenden Sorgfalt und unter Heranziehung des gegebenenfalls notwendigen Sachverstandes zu ermitteln. Die Rechtsfortbildung als Schutzinstrument trägt aber von Hause aus ein Defizit mit sich. Es fehlt ihr an der gesetzesgleichen Wirkung.300 a) Die fehlende Transparenz der Umsetzung grundrechtlicher Schutzpflichten durch die Gerichte Es macht einen Unterschied, ob Grundrechtsschutz erkennbar in einem Gesetz verankert ist oder als intransparenter richterrechtlicher Grundsatz erfolgt.301 In 297 298 299 300 301
Preis, RdA 1989, 327 (333); a. A. Durner, JA 2008, 7 (9). Preis, RdA 1989, 327 (333). BVerfG 11.10.1978, NJW 1979, 305 (306). Preis, RdA 1989, 327 (330); Wenzel, NJW 2008, 345 (346). Isensee, DZWiR 1994, 309 (311).
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4. Kap.: Grenzen tarifdispositiven Rechts
der Regel wird der Bürger sich auf den Inhalt des Gesetzes verlassen. Es besteht daher die Gefahr, dass der Bürger, sofern das Gesetz den Schutz nicht ausdrücklich festlegt, annimmt, ihm stehe ein solcher Schutz nicht zu, obwohl ein richterrechtlicher Grundsatz ebendiesen festlegt.302 Die „Drittwirkung“ der Rechtsfortbildung auf nicht am Verfahren beteiligte Dritte wirft damit nicht unerhebliche verfassungsrechtliche Probleme auf.303 Mit Recht gilt daher bei der Umsetzung von EG-Richtlinien ein Transparenzgebot dahin gehend, Richtlinien so umzusetzen, dass der Bürger die ihn schützenden Normen auch klar erkennen kann.304 Zweck dieses an den Gesetzgeber gerichteten Gebotes ist es, zu verhindern, dass der Gesetzgeber durch intransparente Umsetzungsakte die effektive Umsetzung der Richtlinie beeinträchtigt. Richterrecht reicht hierzu nicht aus. Damit lässt sich festhalten, dass der Grundsatz, dass intransparente und nicht legislativ verankerte Schutzrechte in ihrer Wirksamkeit defizitär sind, als europarechtlich anerkannt anzusehen ist. Warum bei der in ihrer Bedeutung weitaus gewichtigeren Umsetzung grundrechtlicher Schutzpflichten ein geringeres Maß an Effektivität verlangt werden dürfte, als bei der Umsetzung von bloßem EG-Sekundärrecht, lässt sich nicht überzeugend begründen. Auch hier akzeptiert man eine Umsetzung durch die Rechtsprechung nicht. Auch das BVerfG hat in seiner jüngeren Rechtsprechung verlangt, dass die Sicherungsmechanismen, die der Gesetzgeber für die Schutzpflichten vorsieht, „hinreichend konkret“ sein müssen.305 Zwar ist einzuräumen, dass richterliche Rechtsfortbildung auch überaus konkret sein kann. Das Problem liegt aber darin, dass das BVerfG das Kriterium mit Blick auf die inhaltlichen Anforderungen einer gesetzlichen Regelung entwickelt hat, die durch den Gesetzgeber neu zu fassen war. Sieht man sich die existenten Rechtsfortbildungen im kollektiven Arbeitsrecht an, darf der Konkretisierungsgehalt dieser Rechtsfortbildungen auch nicht gerade als hoch angesehen werden. Betrachtet man die durch das BAG entwickelte – noch aus anderen Gründen nicht überzeugende – Bindung der Tarifvertragsparteien an die grundrechtlichen Schutzpflichten306, so wird deutlich, dass diese inhaltlich alles und nichts heißen kann. Eine Konkretisierung wird immer erst am 302 Studien zum tatsächlichen und in der Praxis praktizierten „Arbeitsrecht“ zeigen ohnehin, dass selbst die Bindungswirkung kodifizierter Rechtsansprüche von Arbeitnehmern in der Praxis unbekannt ist oder völlig abweichend vom Gesetz rezipiert wird. 303 Söllner, ZG 1995, 1 (13). 304 EuGH (10.5.2001), Slg. 2001, I-3541 Rdnr. 17 – Kommission/Niederlande –; EuGH (7.5.2002), Slg. 2002, I-4147 Rdnr. 18 – Kommission/Schweden; Schroeder in: Streinz EUV/EGV, Art. 249 EGV, Rn. 91. 305 BVerfG 26.7.2005, NJW 2005, 2363 (2368). 306 Vgl. dazu unten 5. Kap. B.
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Einzelfall geleistet und ist weder vorhersehbar noch inhaltlich vorgezeichnet. Es handelt sich im Grunde um eine durch die Rechtsfortbildung geschaffene Generalklausel ohne sachliche Begrenzung. Auch hier wird deutlich, dass man nicht pauschal die richterliche Rechtsfortbildung zur Wahrung grundrechtlicher Schutzpflichten ablehnen kann; ebenso wenig kann man sie aber stets unproblematisch anerkennen. Die Rechtsfortbildung selbst muss sich eben so gestalten, dass sie die entsprechenden Bedenken durch eine hinreichende (Selbst-)Begrenzung ausräumt, auch und gerade unter dem Gesichtspunkt der Transparenz. b) Die besseren Ressourcen des parlamentarischen Gesetzgebers zur Ermittlung des Schutzbedarfs Beschäftigt man sich nicht nur mit der Wirkung der judikativen Umsetzung grundrechtlicher Schutzpflichten, sondern auch mit der Entstehung des Schutzmodells, so ist man bei einem weiteren Kritikpunkt an einer zu weitreichenden Zulässigkeit der judikativen Verwirklichung staatlicher Schutzpflichten angekommen. Der parlamentarische Gesetzgeber verfügt im Gegensatz zur Judikative über weitaus bessere Ressourcen zur sachgerechten Bewertung des Ausmaßes des Schutzes, der zur Verwirklichung der Schutzpflicht erforderlich ist.307 Im Übrigen hat er weitaus mehr Möglichkeiten, betroffene Bürger zu hören.308 Vor allem bietet er aber auch eine höhere Gewähr dafür, dass alle betroffenen Interessengruppen ihren Standpunkt in den Gesetzgebungsprozess einbringen können. Der parlamentarische Prozess bietet damit eine Sicherungsmöglichkeit, dass die Interessen unterschiedlicher Bevölkerungsgruppen in einem weitaus größeren Umfang zur Berücksichtigung gelangen, allein schon aufgrund der weitaus höheren Zahl der an der Entscheidungsfindung beteiligten Personen.309 Dass diese Kompetenz zunächst einmal nur ein Potenzial bietet, das bisweilen nicht genutzt wird, ist einzuräumen. Zumindest sind aber die institutionellen Voraussetzungen abstrakt betrachtet gut geeignet, auch hochkomplexe Materien in gegebenenfalls langwierigen Entscheidungsprozessen sachgerecht zu gestalten. Es zeigt sich an dieser Stelle also, dass, je komplexer der Sachverhalt ist, bei dem die Verwirklichung grundrechtlicher Schutzpflichten erforderlich ist, die Fähigkeit der Judikative zu einer sachgerechten Entscheidung abnimmt. Der Gesetzgeber hingegen verfügt über die Möglichkeit, umfangreiche Voruntersuchungen anzustellen, Erkenntnisse zu gewinnen und die verschiedenen Interessen im 307 Wank, Grenzen richterlicher Rechtsfortbildung, S. 154; auch gegenüber der Exekutive bestehen hier Defizite, vgl. Haltern/Mayer/Möllers, Die Verwaltung 30 (1997), 51 ff. 308 Fischer RdA 2009, 287 (289); Ipsen, DVBl. 1984, 1102 (1104); Söllner, ZG 1995, 1 (13); Wank, Grenzen richterlicher Rechtsfortbildung, S. 155. 309 Wank, Grenzen richterlicher Rechtsfortbildung, S. 154.
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Rahmen des politischen Prozesses zu berücksichtigen.310 Dies gilt insbesondere dann, wenn die entsprechende Materie eigentlich nur durch Einholung von Gutachten oder Expertenanhörungen311 sachgerecht bewertet werden kann, der Richter im Einzelfall aber in der Regel auf den Sachvortrag der Parteien angewiesen ist.312 Die Ressourcenverteilung ist ungleich, wenn der parlamentarische Gesetzgeber unter Beteiligung und Rückgriff auf eine vielköpfige Ministerialbürokratie und in diesem Rahmen auf hoch spezialisiertes Personal zurückgreifen kann.313 All dies kann ein gerichtlicher Spruchkörper institutionell nicht leisten. Damit soll nicht der Sachverstand der Judikative angezweifelt werden oder die Tatsache, dass es sich auch hier um hoch qualifizierte Experten handelt. Nur sind die Kompetenzen, die bei der Ermittlung der Rahmendaten für legislatives Handeln erforderlich sind, vielschichtig und unterscheiden sich von denen ausgebildeter Juristen durchaus erheblich.314 Umfangreiche Forschungsarbeiten kann die Judikative nur begrenzt veranlassen. Der Gesetzgeber hingegen kann diese häufig erst einmal abwarten, bis er tätig wird, dafür aber übergangsweise Schätzwerte ansetzen. Im Übrigen zeigt sich ein Problem dort, wo eine schutzpflichtenaktivierende Lage unstreitig gesetzgeberische Regelungen erforderlich macht, die entsprechenden Forschungsergebnisse über den Umfang der Gefährdung aber noch nicht gesichert sind.315 Der Gesetzgeber muss in solchen Konstellationen prognostisch Grenzwerte festlegen. Sofern er stattdessen den Grenzwert offen gestaltet, indem er auf „gesicherte wissenschaftliche Erkenntnisse“ verweist, läuft der Schutz einer Norm so lange leer, bis diese bestehen, weil die Rechtsprechung ansonsten über keine konkreten Grenzwerte verfügt.316 In diesem Fall fehlt es der Rechtsprechung an der Fähigkeit, diese zu bilden. Wank hat dies prägnant auf den Punkt gebracht: „Den vielfältigen parlamentarischen Möglichkeiten, außerjuristische Tatsachenkenntnis und Sachverstand einzubringen, haben die Gerichte weder durch ihre Besetzung noch durch Verfahrensregeln vergleichbares entgegenzusetzen“ 317
Insoweit läuft der Grundrechtsschutz bei fehlenden Erkenntnismöglichkeiten der Judikative leer. Hier muss der Gesetzgeber selbst durch Grenzwertfestlegung tätig werden, bis die entsprechenden Erkenntnisse vorliegen, um auch in der
310 Engels, Verfassung und Arbeitskampfrecht, S. 320; Fischer, RdA 2009, 287 (289); Söllner, ZG 1995, 1 (10); Wank, Grenzen richterlicher Rechtsfortbildung, S. 155 ff. 311 Wank, Grenzen richterlicher Rechtsfortbildung, S. 156. 312 Engels, Verfassung und Arbeitskampfrecht, S. 320; Söllner, ZG 1995, 1 (10); Wank, Grenzen richterlicher Rechtsfortbildung, S. 159. 313 Fischer, RdA 2009, 287 (289); Wank, Grenzen richterlicher Rechtsfortbildung, S. 154. 314 Wank, Grenzen richterlicher Rechtsfortbildung, S. 158. 315 Vgl. BAG 11.2.1998, NZA 1998, 647. 316 So im Fall BAG 11.2.1998, NZA 1998, 647. 317 Wank, Grenzen richterlicher Rechtsfortbildung, S. 158.
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Übergangsphase den Rechtsschutz zu sichern. Ansonsten schafft er „Placebo“Schutznormen. Damit ist zu konstatieren, dass, je schwieriger die Feststellung wird, wann eine effektive Verwirklichung der grundrechtlichen Schutzpflichten vorliegt, die Rechtfertigung einer richterlichen Wahrnehmung der Schutzpflicht abnimmt. Diese ist dann immer weniger geeignet, den grundrechtlichen Schutzauftrag sachgerecht auszuüben, weil sie die konkreten Kontrollmaßstäbe nicht mehr sachgerecht entwickeln kann.318 Es fehlen die Mittel zur Informationsbeschaffung und angesichts der erheblichen Arbeitsbelastung mit anderen zu entscheidenden Fällen die Kapazitäten zur Informationsverarbeitung.319 Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn nicht rechtliche Erwägungen, sondern solche ökonomischer, sozialer oder technischer Art eine Rolle spielen.320 Denn in diesem Fall geht es nicht mehr um eine Fortbildung des Rechts, sondern um die Definition von Grenzwerten, die nicht auf Basis einer rechtlichen, sondern einer tatsächlichen Bewertung zu ermitteln sind. Damit kann die Rechtsprechung aber erkennbar ihre Kompetenz überschreiten, weil sie keinen abstrakt generellen rechtlichen Maßstab mehr entwickelt, sondern die Ermittlung von konkreten Gefährdungspotenzialen und Grenzwerten an sich zieht. Eine Aufgabe, für die sie grundsätzlich personell nicht ausreichend gerüstet und auch nicht konzipiert ist. Dies sind vorrangige Aufgaben des Gesetzgebers und gegebenenfalls der konkretisierend tätigen Verwaltung, die insofern die entsprechenden Grenzwerte entwickeln. Dass auch diese Einwände nicht absolut, sondern in Ansehung der konkreten Materie gelten, ist hier erneut zu betonen. Sind die entsprechenden Fragen leicht überschaubar und sind die entsprechenden Erkenntnisse allgemein anerkannt und unstrittig, so wird dies allein weiterreichende Rechtsfortbildungen tragen, als wenn die entsprechenden Fragen erst erforscht werden müssen oder eine Grenzwertfestsetzung, jedenfalls vorläufig, spekulativen Charakter hat. Der Einzelfallcharakter und die abstrakt-generelle Wirkung einer Rechtsfortbildung sind damit die Maßstäbe, nach denen sich ihre Legitimität bemisst.321 c) Ergebnis Die Eignung der Judikative, grundrechtliche Schutzpflichten effektiv und sachgerecht zu verwirklichen, ist damit begrenzt.322 318
Eindrucksvoll BAG 11.2.1998, NZA 1998, 647. Wank, Grenzen richterlicher Rechtsfortbildung, S. 159. 320 Classen, JZ 2003, 694 (700); Wank, Grenzen richterlicher Rechtsfortbildung, S. 158. 321 Ähnlich Söllner, ZG 1995, 1 (10). 322 Vgl. allgemein zur defizitären Eignung der Rechtsprechung gegenüber dem Gesetzgeber Engels, Verfassung und Arbeitskampfrecht, S. 320 f. und Wank, Grenzen richterlicher Rechtsfortbildung, S. 154 ff. 319
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4. Kap.: Grenzen tarifdispositiven Rechts
6. Demokratische Legitimation und Rechtsfortbildung Schließlich ist auch darauf hinzuweisen, dass gerade die richterliche Rechtsfortbildung mit nicht unerheblichen Defiziten hinsichtlich ihrer demokratischen Rückbindung belastet ist. Daher wird gelten, dass eine Rechtsfortbildung umso eher unzulässig ist, je allgemeiner und abstrakter sie gefasst ist. Denn zum einen verliert sie ihre Legitimation umso mehr, je größer der Wirkungskreis der Rechtsfortbildung ist und zum anderen besteht, je genereller und abstrakter eine Rechtsfortbildung gefasst werden muss, ein grundlegendes legislatives Defizit und nicht nur eine punktuelle Ergänzung bestehender gesetzlicher Regelungen.323 Schließlich ist auch darauf hinzuweisen, dass der richterliche Entscheidungsprozess Legitimationsdefizite aufweist, weil Drittbetroffene grundsätzlich nicht repräsentiert sind324 und die Gefahr besteht, dass durch Ungleichgewichte in der Qualität der anwaltlichen Vertretung, die Entscheidung auf einem verzerrten Bild der tatsächlichen Verhältnisses basiert.325 Soweit die gesetzliche Rückbindung nach alledem gering ist, stellt sich die Frage nach den Grenzen eigenständigen Tätigwerdens der Judikative zur Wahrung grundrechtlicher Schutzpflichten. 7. Ausgleich von Vorbehalt des Gesetzes, Wesentlichkeitstheorie und Justizgewährungsanspruch Wenn der Gesetzgeber den (Arbeits-)Gerichten die Kompetenz zur Rechtsfortbildung zubilligt, dann haben diese eine einfachrechtliche Legitimation für diese. Es wäre begründungsbedürftig, warum die Befugnis zur Rechtsfortbildung, die durch einfaches Gesetzesrecht gedeckt ist, keine hinreichende demokratische Legitimation auch für die konkret vorgenommene Rechtsfortbildung mit sich bringt. Der Einwand hiergegen liegt darin, dass der Gesetzgeber in diesem Fall eine inhaltlich unkonturierte Pauschalermächtigung zur Beschränkung von Grundrechtspositionen geschaffen hätte. Damit wird erkennbar, dass im Rahmen der Schutzpflichtenverwirklichung durch die Gerichte sowohl das Beharren auf dem Vorbehalt des Gesetzes als auch seine pauschale Unanwendbarkeitserklärung nicht überzeugen, gerade mit Blick auf den Grundrechtsschutz insgesamt. Das BVerfG beschränkt nicht nur den Grundrechtsschutz Dritter, die über ein mit der Schutzpflicht kollidierendes Abwehrrecht verfügen. Es behindert zugleich die vollwertige Verwirklichung der Schutzpflicht, wenn man die Rechtsprechung dahin gehend versteht, dass sie fälschlicherweise unterstellt, die Arbeits- und/oder Zivilgerichte seien zur Wahr323
Engels, Verfassung und Arbeitskampfrecht, S. 322. Söllner, ZG 1995, 1 (13). 325 Wank, Grenzen richterlicher Rechtsfortbildung, S. 160; auf diese Gefahr weist im Zusammenhang mit der Dispositionsmaxime auch Fischer RdA 2009, 287, (289) hin. 324
E. Anforderungen an die Rechtsprechung
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nehmung der Schutzpflichten stets befähigt und geeignet. Damit erweist sich in der Tat sowohl die Wesentlichkeitstheorie, als auch der Vorbehalt des Gesetzes als Ausweg, allerdings nicht in dem Sinne, dass jede Rechtsfortbildung in Zukunft wegen Verletzung des Vorbehalts des Gesetzes aufgrund einer Kompetenzüberschreitung der Judikative unzulässig wäre. Vielmehr ist danach zu fragen, ob die Sicherungszwecke, also die Aufgabenwahrnehmung durch das geeignete und leistungsfähige Organ und die Verpflichtung des Gesetzgebers, die wesentlichen Entscheidungen selbst zu treffen, gewahrt sind. Damit ist im Einzelfall zu prüfen, ob in einer Rechtsfortbildung zur Verwirklichung grundrechtlicher Schutzpflichten eine unzulässige Kompetenzverschiebung liegt. Dies verschafft den Gerichten den hinreichenden Spielraum, kleinere Lücken zu schließen und respektiert ihre einfachrechtliche Befugnis zur Rechtsfortbildung. Dort jedoch, wo die Gerichte institutionell ungeeignet sind, wesentliche Entscheidungen mit hoher Grundrechtsrelevanz durch den Gesetzgeber offen gelassen wurden oder sich die entwickelten richterrechtlichen Grundsätze vollkommen von der Rechtsordnung entkoppeln326, ist eine „Alles-oderNichts-Sichtweise“, wie sie beim BVerfG tendenziell anklingt, nicht überzeugend. Es bedarf hier einer differenzierteren Prüfung. Dabei spielt auch eine Rolle, welche Grundrechte betroffen sind und in welchem Umfang dies der Fall ist. Geht es allein um vertragliche Fragen, die im Wesentlichen Schieflagen bei der Vertragsdurchführung berühren, liegt eine Kompetenz der Gerichte näher, als wenn es um Grundrechte wie Art. 2 Abs. 2 GG oder Art. 1 Abs. 1 GG geht.327 Dass die Anforderungen der Wesentlichkeitstheorie umso strenger werden, je stärker die physische und psychische Integrität berührt ist, kann hier nicht ohne Auswirkungen bleiben. 8. Auswirkungen auf das tarifdispositive Arbeitsschutzrecht Vergegenwärtigt man sich erneut, dass das Arbeitsrecht aufgrund seiner teilweise nicht unerheblichen Verzahnung mit verwaltungsrechtlichen, insbesondere gefahrenabwehrrechtlichen, aber auch gewerberechtlichen Vorschriften nicht als monolytischer zivilrechtlicher Block auftritt, sind die oben genannten Einschränkungen ohnehin nicht vollständig haltbar. Selbst wenn man der restriktiven Rechtsprechung des BVerfG einmal folgt, sind Wesentlichkeitstheorie und Vorbehalt des Gesetzes jedenfalls partiell anwendbar. Beispielsweise geht es bei den Fragen der Arbeitszeit eben nicht nur um Vertragsgestaltung, sondern auch um öffentliches Gefahrenabwehrrecht, das gegebenenfalls auch die Verwaltung zum Eingreifen verpflichten kann. Aufgrund einer insuffizienten gesetzlichen Vor326 Di Fabio/Osterloh/Voßkule, abw. Meinungen zu BVerfG 15.1.2009, NJW 2009, 1469 (1477). 327 Nach Klein, O., Jus 2006, 960, sind „bereichsspezifische“ Lösungen erforderlich.
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4. Kap.: Grenzen tarifdispositiven Rechts
schrift könnte dann zwar der Arbeitnehmer zivilrechtlich verlangen, nicht zu schutzpflichtenwidrigen Bedingungen beschäftigt zu werden, weil hier die Schutzpflicht vom Gericht berücksichtigt wird. Im Gegensatz dazu müsste aber eine Klage des Arbeitnehmers gegen die Verwaltung auf eine Untersagungsverfügung gegen den Arbeitgeber aufgrund des Gesetzesvorbehalts scheitern. Insofern ist selbst dann, wenn man dem BVerfG folgt, im Arbeitsschutzrecht und in den gewerberechtlichen Vorschriften des Arbeitsrechts kein Raum für vorrangige judikative Umsetzung der Schutzpflichten. Die Vorschriften im Arbeitszeitrecht sind für die Eingriffsverwaltung ebenso relevant wie für das Vertragsrecht. Damit unterliegen Gerichte ebenso wie der Gesetzgeber hier den entsprechenden Bindungen soweit die öffentlich-rechtlichen Befugnisse reichen. 9. Rückgriff auf Art. 100 Abs. 1 GG bei fehlender Legitimation der Rechtsfortbildung Fehlt es den Gerichten aufgrund der Grenzen der Rechtsfortbildung an einer Legitimation zur Umsetzung der grundrechtlichen Schutzpflichten, so bleibt ihnen der oben entwickelte Weg über Art. 100 GG. Eine Verpflichtung zur Unrechtsjudikatur wird danach bei fehlenden gesetzlichen Grundlagen nicht ausgelöst.
IV. Ergebnis Der Judikative steht mit Blick auf die grundrechtlichen Schutzpflichten zunächst der Rückgriff auf die verfassungskonforme Auslegung zur Verfügung. Von dieser muss sie Gebrauch machen, solange eine effektive Umsetzung der grundrechtlichen Schutzpflicht gewährleistet ist. Stößt sie bei der Ausfüllung von unbestimmten Rechtsbegriffen oder Generalklauseln an die Grenzen ihrer Leistungsfähigkeit oder fehlen Maßstäbe zur Umsetzung der Schutzpflicht, muss sie das Verfahren nach Art. 100 Abs. 1 GG aussetzen und den Gesetzgeber verpflichten, die entsprechenden Kontrollmaßstäbe zur Verfügung zu stellen. Sofern die Rechtsprechung dies in Ansehung des Vorbehalts des Gesetzes und der Wesentlichkeitstheorie zu rechtfertigen vermag, kann sie auch zum Instrument der Rechtsfortbildung greifen, um grundrechtliche Schutzpflichten umzusetzen. Dabei ist sie zunächst methodisch an die Grenzen der Rechtsfortbildung gebunden. Aber auch darüber hinaus ergeben sich hier Restriktionen, die insbesondere eine Einzelfallprüfung verlangen, ob die Rechtsfortbildung angesichts der entgegenstehenden Prinzipien gerechtfertigt werden kann. Dabei wird insbesondere das Gewicht der Schutzposition, der Kreis der über die konkrete Entscheidung hinaus Betroffenen und das Ausmaß der konkreten Rechtsfortbildung von Bedeutung sein. Letztendlich muss das Gericht aber auch hier die effektive Umsetzung der Schutzpflicht wahren, ein Gesichtspunkt, der tendenziell auf eine
F. Gesamtergebnis zu A. bis E.
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gesetzliche Regelung verweist. Lassen sich die inhaltlichen Anforderungen an die Rechtsfortbildung nicht ermitteln, so stößt die Gerichtsbarkeit ohnehin an eine Grenze ihrer Befugnis, eigenständig tätig zu werden. Die entsprechenden Prognoseüberlegungen verweisen stark auf den Gesetzgeber, der dann im Rahmen des Verfahrens nach Art. 100 GG in die Pflicht zu nehmen ist.
F. Gesamtergebnis zu A. bis E. und Konsequenzen für das tarifdispositive Gesetzesrecht Insgesamt zeigt sich, dass letztendlich die grundrechtlichen Schutzpflichten einer vorrangigen Realisierung durch den Gesetzgeber bedürfen. Dieser ist mit Blick auf die Effektivität, die Rechtssicherheit und die Transparenz der Maßnahmen nicht nur qualitativ geeigneter, die grundrechtlichen Schutzpflichten umzusetzen. Auch aufgrund der Bedenken, die sich aus der Wesentlichkeitstheorie und dem Vorbehalt des Gesetzes gegen eine judikative Umsetzung grundrechtlicher Schutzpflichten ergeben, ist der Gesetzgeber primär in der Pflicht. Dass dies nicht bedeutet, dass die Gerichte insofern bedeutungslos wären, zeigt schon die allgemein anerkannte Möglichkeit, den grundrechtlichen Schutzpflichten im Rahmen der verfassungskonformen Auslegung Rechnung zu tragen. Es ist aber zu betonen, dass diese – insbesondere beim Rückgriff auf Generalklauseln – Grenzen unterliegt. Auch mit Blick auf die Rechtsfortbildung gilt nichts anderes. Will die Rechtsprechung von dieser Gebrauch machen, so muss sie dies in Ansehung der entgegenstehenden verfassungsrechtlichen Prinzipien rechtfertigen können. Dabei ist das Ausmaß, in dem die Rechtsfortbildung über den konkreten Fall hinaus wirkt, von entscheidender Bedeutung. Denn je umfangreicher hier nicht nur Justizgewährung, sondern Rechtsgestaltung betrieben wird, umso stärker müssen die hierfür sprechenden Argumente im Einzelfall sein. Die grundrechtlichen Schutzpositionen der Verfahrensbeteiligten sind hier von hoher Relevanz. Aber es ist eben auch zu berücksichtigen, dass die Allgemeinheit ein Interesse an einer transparenten, rechtssicheren und effektiven gesetzlichen Regelung hat. Insofern ist hier Zurückhaltung geboten. Eine Notfallkompetenz ist aber ebenso anzuerkennen, wie in Bagatellfällen die Rechtsfortbildung zulässig ist. Der Rekurs insbesondere auf den Vorbehalt des Gesetzes vermag im Verhältnis zwischen gleichgeordneten Grundrechtsträgern grundsätzlich anwendbar sein, er ist aber so anzuwenden, dass der Rechtsprechung ein hinreichender Raum zur Rechtsfortbildung in Schutzpflichtenkonstellationen verbleibt. Fehlt es an einer Legitimation für die Rechtsfortbildung, bleibt der Rechtsprechung der Weg über Art. 100 GG. Insofern drohen hier auch keine Schutzlücken, sodass ein Rückgriff auf die Rechtsfortbildung nicht die Versagung des Schutzanspruchs bedeutet, sondern dessen Verwirklichung zeitlich aufschiebt. Generell zeigt sich, dass, je größer die Distanz zwischen dem bestehenden geschriebenen Recht und der für die Schutzpflicht erforderlichen rechtlichen
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4. Kap.: Grenzen tarifdispositiven Rechts
Grenzziehungen wird, die Verantwortung der Legislative zunimmt. Insofern muss man diese auch im Zivilrecht in die Pflicht nehmen, die grundlegenden Vorschriften zur Umsetzung der Schutzpflichten hinreichend transparent und effektiv umzusetzen. Für das tarifdispositive Gesetzesrecht haben die vorstehenden Grundsätze in mehrerer Hinsicht Bedeutung. Zunächst einmal hat der Gesetzgeber dort, wo tarifdispositive gesetzliche Vorschriften geschaffen werden, die grundrechtliche Schutzpflichten betreffen, transparente Schutzvorschriften zu erlassen. Er muss sich nicht nur auf Grund des Vorbehalts des Gesetzes, sondern auch auf Grund der Wesentlichkeitstheorie eigenständig mit dem erforderlichen Schutzniveau auseinandersetzen und die rechtlichen Grenzen der Abweichungsbefugnisse der Tarifvertragspartien hinreichend bestimmt und rechtsklar fassen. Dabei kann er nicht unbeschränkt auf Generalklauseln zurückgreifen. Ebenso wenig kann er darauf verweisen, die Rechtsprechung werde als Ersatzgesetzgeber etwaige legislative Defizite kompensieren. Damit ist der Gesetzgeber bei seiner Entscheidung, wie weit er tarifdispositive Vorschriften schafft, verfassungsrechtlich gebunden, seine eigenen Entscheidungskompetenzen auch wahrzunehmen. Die Folge ist, dass tarifdispositive Vorschriften bereits deshalb als verfassungswidrige Verletzung grundrechtlicher Vorschriften angesehen werden können, wenn und soweit die Grundsätze der Normenbestimmtheit und Normenklarheit verletzt sind. Dies ist nicht erst dann der Fall, wenn die Rechtsprechung – auch durch richterliche Rechtsfortbildung – nicht mehr in der Lage ist, die entsprechenden Schranken zu schaffen. Zwar ist die Rechtsprechung durch den Justizgewährungsanspruch grundsätzlich verpflichtet, zu gewährleisten, dass eine richterliche Entscheidung nicht unter Verweis auf fehlende gesetzliche Vorschriften die Umsetzung der grundrechtlichen Schutzpflichten verweigert. Allerdings sind auch bei der Frage, welcher Weg hierzu zu beschreiten ist, die Wesentlichkeitstheorie und der Vorbehalt des Gesetzes zu beachten. Dies führt dazu, dass die Rechtsprechung in solchen Konstellationen eine Abwägungsentscheidung treffen muss, welchen Prinzipien sie im konkreten Fall den Vorrang gewähren will. Im Bereich des tarifdispositiven Gesetzesrechts ist hierbei insbesondere die Frage der ungeschriebenen Grenzen tarifdispositiver Vorschriften angesprochen. Diese könnten unabhängig von der konkreten gesetzlichen Vorschrift zu einer effektiven Umsetzung grundrechtlicher Schutzpflichten beitragen. Aber auch hier wird bei besonders gewichtigen Grundrechten oder intensiven Gefährdungslagen im Zweifel der Gesetzgeber in die Pflicht zu nehmen sein. Unabhängig von diesen Fragen wird bereits an dieser Stelle deutlich, dass die gegenwärtig durch das BAG geschaffene Schutzpflichtenbindung der Tarifvertragsparteien den vorstehenden Grundsätzen nicht genügt.328 Denn diese inhalt328
Vgl. dazu unten 5. Kap. B.
G. Umfang der Maßnahme aus den grundrechtlichen Schutzpflichten
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lich unkonturierte Universalschranke für die Tarifmacht genügt jedenfalls weder den hier entwickelten Legitimationserfordernissen für die richterliche Rechtsfortbildung noch den Anforderungen, die auf Grund von Wesentlichkeitstheorie und Vorbehalt des Gesetzes zu stellen sind. Sind Tariföffnungsklauseln in tarifdispositiven Gesetzen nicht hinreichend konkret gefasst, sondern insbesondere als Generalklauseln gestaltet, so sind diese grundsätzlich erheblichen verfassungsrechtlichen Bedenken ausgesetzt, wenn sich die Kontrollmaßstäbe für die Grenzen der Abweichungsbefugnisse nicht hinreichend konkret ermitteln lassen oder gänzlich fehlen. Die Rechtsprechung bleibt damit in den Grenzen ihrer Auslegungsbefugnisse zwar berechtigt und verpflichtet, die grundrechtlichen Schutzpflichten auch im Bereich tarifdispositiver Vorschriften durchzusetzen. Allerdings muss sie dabei die Grenze beachten, ab der der Gesetzgeber unabhängig von der Möglichkeit richterlicher Korrekturmaßnahmen verpflichtet ist, die entsprechenden Vorgaben zu treffen. Diese Vorgaben leiten sich maßgeblich aus dem Vorbehalt des Gesetzes und der Wesentlichkeitstheorie ab. Danach ist zu fragen, ob das Gewicht der Schutzpflicht im konkreten Fall so groß und die Bedeutung der Frage so weit über den konkreten Fall hinausreicht, dass sich eine richterliche Umsetzung nicht mehr als angemessene Umsetzung der grundrechtlichen Schutzpflichten darstellt. Das bedeutet dann aber, dass gegebenenfalls tarifdispositive Vorschriften auch dann als verfassungswidrig angesehen werden können, wenn sie ein Einfallstor für die Berücksichtigung der Schutzpflichten beinhalten. Dies gilt insbesondere dann, wenn die Vorgaben nicht hinreichend konkret und nicht hinreichend transparent sind. Damit ist aber zunächst vor allem die Frage geklärt, wie die Zuordnung der Sicherungsaufgabe gegenüber den grundrechtlichen Schutzpflichten in kompetenzieller Hinsicht zu erfolgen hat. Unabhängig davon, wer im konkreten Fall diese Aufgabe wahrnimmt, verbleibt aber die Frage wie weit reichend die Vorgaben sind, die sich inhaltlich aus den grundrechtlichen Schutzpflichten ergeben.
G. Umfang der Maßnahme aus den grundrechtlichen Schutzpflichten Bei der Frage nach dem Umfang des Schutzanspruchs aus den grundrechtlichen Schutzpflichten finden sich sowohl Positionen, die die grundrechtliche Schutzpflicht als eine Art „Notnagel“ des Grundrechtsschutzes begreifen, als auch solche, die das Schutzmodell mit einem weitergehenden Anspruch versehen. Diese Fragen haben für das tarifdispositive Gesetzesrecht eine nicht unerhebliche Bedeutung. Denn während es bei der Frage der Zuständigkeitsabgrenzung zwischen Rechtsprechung und Gesetzgeber bei der Umsetzung grundrechtlicher Schutzpflichten in erster Linie um die Frage geht, ab wann und in welcher legislativen Intensität gesetzliche Regelungen erforderlich sind, um die Anforde-
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4. Kap.: Grenzen tarifdispositiven Rechts
rungen an grundrechtliche Schutzpflichten zu erfüllen, geht es nunmehr darum, die inhaltlichen Kontrollmaßstäbe für die konkret gewählten rechtlichen Kontrollmaßstäbe zur Umsetzung grundrechtlicher Schutzpflichten herauszuarbeiten. Mit dem voranstehenden Kontrollmodell lässt sich feststellen, ob die gesetzliche Regelungsdichte ausreichend ist, um den grundrechtlichen Schutzpflichten zu genügen. Es ist aber erforderlich, auch die inhaltliche Ausgestaltung ebendieser zu kontrollieren. Alleine das Vorhandensein eines rechtlichen Konstrukts zum Grundrechtsschutz heißt noch nicht, dass es sein Ergebnis, nämlich die materielle Umsetzung der grundrechtlichen Schutzpflichten, auch erreicht. Die hierfür erforderlichen Kontrollmaßstäbe sollen im Folgenden dargestellt werden.
I. Wirksamkeit/Effektivität/Eignung/Erforderlichkeit Weitgehende Einigkeit besteht darüber, dass die staatlichen Maßnahmen zur Umsetzung von grundrechtlichen Schutzpflichten wirksam bzw. effektiv sein müssen.329 Das bedeutet, dass sie die schutzpflichtenaktivierende Lage tatsächlich beseitigen müssen. Tun sie dies nicht, ist die grundrechtliche Schutzpflicht verletzt. Die zur Erfüllung der grundrechtlichen Schutzpflichten zu treffenden Regelungen werden damit grundsätzlich auf ihre Eignung hin überprüft.330 Ist unter der geltenden Rechtslage eine schutzpflichtenaktivierende Konstellation eingetreten, ist die fehlende Eignung des bestehenden Rechts erwiesen und das Erfordernis staatlichen Tätigwerdens gegeben. Dabei können grundsätzlich zwei Konstellationen eintreten. Es gibt mehrere Mittel, die jeweils für sich geeignet sind, die Schutzpflicht zu verwirklichen oder aber die Schutzpflichtenbindung kann sich auf ein einziges effektives Mittel verengen.331 Im letzteren Fall hat die Schutzpflicht die Verpflichtung des Gesetzgebers zu einer konkreten Maßnahme zur Folge, im ersteren Falle muss er nur eine der zur Verfügung stehenden Maßnahmen auswählen. Es stellt sich die Frage, ob er bei dieser Auswahl weiteren Bindungen unterliegt.
329 BVerfG 28.5.1993, NJW 1993, 1751 (1754); Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 422; Calliess in: Merten/Papier, Handbuch der Grundrechte, § 44, Rn. 31; Erichsen, JURA 1997, 85 (88); Klein, DVBl. 1994, 489 (495); vgl. dazu bereits oben 4. Kap. D. III. 330 BVerfG 28.5.1993, NJW 1993, 1751 (1755); Calliess in: Merten/Papier, Handbuch der Grundrechte, § 44, Rn. 31; Erichsen, JURA 1997, 85 (88); Merten, GS Burmeister, S. 227 (240). 331 BVerfG 16.10.1977, NJW 1977, 2255.
G. Umfang der Maßnahme aus den grundrechtlichen Schutzpflichten
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II. Optimierungsgebot 1. Zustimmende Auffassung Neben der Anforderung der Geeignetheit der Maßnahmen wird im Schrifttum teilweise darauf hingewiesen, dass die Grundrechte Optimierungsgebote332 seien. Daraus wird abgeleitet, der Gesetzgeber habe unter mehreren gleich geeigneten Maßnahmen grundsätzlich diejenige auszuwählen, die die Schutzpflicht am stärksten zur Geltung bringt.333 Es bestehe damit in grundrechtlichen Schutzpflichtenkonstellationen nicht nur die Pflicht, irgendeinen Schutz zu schaffen, sondern unter den in Betracht kommenden geeigneten Schutzmodellen jeweils das effektivste auszuwählen. 2. Restriktive Sichtweise In Schrifttum und Rechtsprechung findet sich auch die Position, die Schutzpflichten gäben nur einen Minimalschutz vor.334 Nur das Unerlässliche sei vom Gesetzgeber gefordert. Dieser dürfe lediglich keine gänzlich ungeeigneten oder völlig unzulänglichen Maßnahmen zur Erreichung des Schutzzieles ergreifen.335 Dabei wird auf den Gewaltenteilungsgrundsatz verwiesen, der dem Gesetzgeber insofern den Vorrang bei der Entscheidung, welche Maßnahmen zu ergreifen seien, zubillige. 3. Die Rechtsprechung des BVerfG Diese Sichtweise klingt auch teilweise beim BVerfG an. Dieses hat allerdings insbesondere in Kollisionslagen mehrerer zu schützender Rechtsgüter verlangt, dass die gesetzlichen Regelungen einen unter Berücksichtigung dieser entgegenstehenden Rechtsgüter wirksamen und angemessenen Schutz bewirken.336 Die „Unerlässlichkeitsrechtsprechung“ hat das BVerfG damit bereits 1993 ausdrücklich aufgegeben.337 Allerdings finden sich auch in neueren Entscheidungen zurückhaltende Formulierungen.338 Eine endgültige Positionierung des Bundesverfassungsgerichts zu der Frage steht noch aus.
332
Bleckmann, DVBl. 1988, 938 (943); Klein, DVBl. 1994, 489 (495). Calliess in: Merten/Papier, Handbuch der Grundrechte, § 44, Rn. 25. 334 BVerfG, NJW 1988, 1651; Klein, O., JuS 2006, 960 (961). 335 Klein, O., JuS 2006, 960 (961); Sachs, FS Schmidt, S. 385 (394). 336 BVerfG 28.5.1993, NJW 1993, 1751 (1754). 337 BVerfG 28.5.1993, NJW 1993, 1751 (1756). 338 BVerfG 10.2.2004, NJW 2005, 750 (760), die sich freilich auf BVerfG 28.5.1993, NJW 1993, 1751, beruft, ohne sich mit der abweichenden Formulierung dort auseinander zu setzen. 333
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4. Kap.: Grenzen tarifdispositiven Rechts
Neben dem Wirksamkeitskriterium als jedenfalls ex post empirisch überprüfbarem Element hat das BVerfG aber auch ein wertendes Element in die Schutzpflichtenprüfung integriert: Die Angemessenheit der schutzpflichtenrealisierenden Regelung in Ansehung der entgegenstehenden Interessen.339 Dies korrespondiert deshalb mit der These vom Optimierungsgebot, weil bei einer solchen Interessenabwägung der Schutz umso weniger angemessen im Sinne eines „zu niedrig“ ist, je geringer die kollidierenden Schutzinteressen wiegen. Ebenso ist umgekehrt der Schutz umso mehr angemessen, je höher er bei ebensolchen geringen entgegenstehenden Interessen ausfällt. Dieser Ansatz ist kein anderer als der bei jeder klassischen Eingriffsrechtfertigung zu prüfende Verhältnismäßigkeitsgrundsatz in anderem Gewande. Lediglich seine Prüfrichtung ist umgedreht. Ausgangspunkt ist in diesem Fall die verletzte Schutzpflicht, die gegen den Eingriff, der durch ihre Realisierung eintritt, abgewogen wird. Dass hierbei keine anderen Ergebnisse erzielt werden dürfen, als wenn die Prüfung vom abzuwehrenden Eingriff ausgehend, diesen mit grundrechtlichen Schutzpflichten rechtfertigt, ist zwingend. Der Grundrechtsschutz hinge ansonsten vom Ausgangspunkt der grundrechtlichen Prüfung ab.340 Die einzige Modifikation im Rahmen der Schutzpflichtendimension ist, dass gerade, um dem Gesichtspunkt der Prüfung milderer Mittel im Rahmen der Eingriffsabwehr Rechnung zu tragen, diese eine alternierende Prüfung mehrerer Maßnahmen beinhaltet, die in Relation zum Gewicht des durch sie verursachten Grundrechtseingriffs zu setzen sind. Dieses Prüfungselement verweist auf die Angemessenheit. Insofern ist es unangebracht, unter Verweis auf das Demokratieprinzip das Optimierungsgebot anzugreifen. Denn es greift letztendlich auf die auch im Rahmen der Eingriffsrechtfertigung angewandten Grundsätze zurück. Diese werden lediglich modifiziert. Das Primat des Gesetzgebers bleibt gewahrt. Nur die Schlechterfüllung des Grundrechtsschutzes bleibt ihm versagt. 4. Ergebnis Grundrechte sind daraufhin ausgerichtet, einen möglichst effektiven Grundrechtsschutz zu verwirklichen. Grundrechtliche Schutzpflichten kennen nicht nur effektive und nicht effektive, sondern auch und vor allem mehr oder weniger effektive Schutzmittel. Konstatiert man, dass Grundrechte eine möglichst effektive Verwirklichung ihres Schutzes verlangen341, so stellt sich der Gesetzgeber als weitaus stärker gebunden dar. Im Übrigen wird durch die Anerkenntnis, dass Schutzmittel mehr oder weniger effektiv sein können, ein wichtiger dogmatischer
339 340 341
BVerfG 28.5.1993, NJW 1993, 1751 (1754). Hager, JZ 1994, 373 (381). Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 422.
G. Umfang der Maßnahme aus den grundrechtlichen Schutzpflichten
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Ausgangspunkt für den Abgleich mit kollidierenden Grundrechtspositionen Dritter gelegt. Denn in solchen Konstellationen ist die schutzpflichtenrealisierende Maßnahme gegen das Abwehrrecht des von ihr betroffenen Bürgers abzuwägen. Dass auch hier darauf zu achten ist, dass die Prüfung durch eine sorgsame Bestimmung der grundrechtlichen Schutzbereiche nicht ausufert, ist bereits oben dargelegt worden.342 Insofern kann man dem Gesetzgeber auf der Stufe der Auswahl der Mittel nicht zubilligen, zwischen allen effektiven Mitteln auszuwählen.343 Er ist aufgrund der Schutzpflicht zunächst verpflichtet, das effektivste Mittel zu wählen.344 Stehen ihm hingegen mehrere gleich effektive Mittel zur Verfügung, so besteht grundsätzlich ein Wahlrecht, in das nicht eingegriffen werden darf.345 Eine Ausnahme hiervon gilt aber dann, wenn diese Mittel unterschiedlich intensiv in die entgegenstehenden Grundrechtspositionen eingreifen. Hier verlangt dann das Gebot des mildesten Mittels Berücksichtigung. Das Effektivitätsgebot ist damit seinerseits mit einer Schranke versehen. Es ist mit den kollidierenden Grundrechtspositionen derjenigen in Einklang zu bringen, deren Abwehrrechte durch die Verwirklichung der Schutzpflicht betroffen sind. Insofern lässt sich die im Schrifttum häufig auffindbare These, der Gesetzgeber sei bei der Auswahl der Schutzmittel frei, nicht aufrecht erhalten. Die Auswahlentscheidung wird durch eine Abwägungsentscheidung zwischen widerstreitenden verfassungsrechtlichen Positionen in hohem Maße gelenkt. Diese ist auch nicht – wie verbreitet angenommen wird – kontrollfrei oder auf eine Evidenzkontrolle beschränkt. Es findet eine volle Prüfung der angemessenen Berücksichtigung der Schutzpflicht statt, die insofern auch nicht auf einen Minimalschutz beschränkt ist. Schon aufgrund der häufigen Eingriffsqualität von schutzpflichtenrealisierenden Maßnahmen kommt man ohnehin nicht um eine Angemessenheitsprüfung herum, wenn man diese mit kollidierenden Schutzgütern abgleicht. Hierzu bedarf es eines Prüfverfahrens, das dies ermöglicht.
III. Grenze aus kollidierenden Grundrechtspositionen Schutzpflichtenrealisierende Maßnahmen staatlicher Stellen erweisen sich häufig als Eingriffe in die Grundrechte Dritter.346 In diesem Falle sind diese gegen 342
Vgl. 2. Kap. C. Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 422 f.; Calliess in: Merten/Papier, Handbuch der Grundrechte, § 44, Rn. 31. 344 Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 422 f.; Calliess in: Merten/Papier, Handbuch der Grundrechte, § 44, Rn. 31, beachte aber die Einschränkung durch Abwehrrechte Dritter, dazu sogleich. 345 Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 422 f. 346 Calliess in: Merten/Papier, Handbuch der Grundrechte, § 44, Rn. 25; Erichsen, JURA 1997, 85 (88); Klein, O., JuS 2006, 960 (962). 343
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4. Kap.: Grenzen tarifdispositiven Rechts
die grundrechtliche Schutzpflicht abzuwägen.347 Dass die kollidierenden Grundrechte Dritter dabei den Gesetzesvorbehalt für die Schutzpflichtenrealisierung aktivieren können, ist bereits dargelegt worden.348 Die kollidierenden Grundrechtspositionen Dritter werfen damit die Frage ihrer Integration in das Prüfungsschema der Verwirklichung grundrechtlicher Schutzpflichten auf. Dazu wird vorgeschlagen, die Abwehrrechte als gegenläufiges Prinzip zum Effektivitätsgebot zu mobilisieren.349 Denn die Abwehrrechte verlangen grundsätzlich nach der Wahl des mildesten Mittels bei Grundrechtseingriffen. 1. Gebot des mildesten Eingriffsmittels? Dabei ist zunächst einmal festzustellen, welches der durch den Gesetzgeber in Betracht kommenden Mittel im Verhältnis zum Abwehrrecht das mildeste ist. An dieser Stelle entsteht eine gewichtige Konfliktlage. Denn es besteht nunmehr die Gefahr, dass an dieser Stelle die grundrechtliche Schutzpflicht dadurch in ihrer freiheitssichernden Funktion beeinträchtigt wird, dass die Anforderungen des Abwehrrechts den Vorrang vor der Schutzpflicht erhalten. Wer eine solche Sichtweise vertritt, wird den Inhalt der staatlichen Schutzpflicht an dieser Stelle auf das im Verhältnis zum Abwehrrecht mildeste Mittel beschränken. Indes folgt die Annahme einer solchen „Asymmetrie“ 350 nicht der vorgegebenen Struktur der kollidierenden Grundrechtsfunktionen, sondern ist zu überwinden. Dazu ist die Anerkennung der Gleichwertigkeit der grundrechtlichen Schutzansprüche gegenüber den Eingriffsabwehrrechten erforderlich. 2. Zur Gleichwertigkeit grundrechtlicher Schutzansprüche Kritisch zu würdigen ist daher die Annahme eines Vorrangs des Eingriffsabwehrrechts. Eine solche Gewichtung lässt sich aus dem Grundgesetz nicht ableiten. Art. 1 Abs. 1 S. 2 GG stellt das Achten und Schützen der Menschenwürde nicht in ein Rangverhältnis. Nimmt man diesen als Ausgangspunkt der Schutzpflicht, trägt er eine Differenzierung nicht. Es wäre auch eine Missachtung der freiheitlichen Grundordnung im Verhältnis der Bürger zueinander, einen unterschiedlichen Schutzgehalt der Grundrechte zu konzipieren, der dem Gedanken des Ursprungs des subjektiven Rechts folgt. Besteht im Rahmen der Schutzpflicht ein subjektives Recht, so besteht dieses nicht konditioniert oder gegenüber den subjektiven Rechten anderer Bürger gewichtet, soweit die Quelle des 347 348 349 350
Erichsen, JURA 1997, 85 (88). Vgl. dazu oben 4. Kap. E. III. 1. Calliess in: Merten/Papier, Handbuch der Grundrechte, § 44, Rn. 29 ff. Hermes, VVDStrL 61 (2002), 119 (134).
G. Umfang der Maßnahme aus den grundrechtlichen Schutzpflichten
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Rechts die Grundrechte sind. Beide Positionen schöpfen sich aus der gleichen Quelle und sind damit gleichwertig. Ob jemand Schutz oder Eingriffsabwehr begehrt, das subjektive Recht erwächst aus den Grundrechten und insofern ist keines der beiden als vorrangig zu betrachten.351 Vielmehr, und das ist entscheidend, sind die jeweiligen Rechte gegeneinander zu gewichten und im Rahmen einer – hier unvermeidbaren – Verhältnismäßigkeits- und insbesondere Angemessenheitsprüfung gegeneinander abzuwägen. Dabei kann keiner der beiden Positionen ein Vorrang zukommen.
IV. Ausgleich von Untermaß- und Übermaßverbot durch Verhältnismäßigkeitsprüfung Daher ist mit Blick auf die dem Gesetzgeber zur Verfügung stehenden Maßnahmen zu prüfen, ob diese geeignet sind, die Schutzpflicht zu verwirklichen. Diese Maßnahmen sind anschließend hinsichtlich ihrer Eignung mit Blick auf die Schutzpflicht und des Grads der Eingriffsintensität zu strukturieren. Alexy352 schlägt hierzu folgendes Modell vor, dem von Teilen des Schrifttums im Grundsatz gefolgt wird353: Zunächst ist zu prüfen, ob der Einsatz des oder der effektivsten Mittel einen Eingriff in die Abwehrrechte des Betroffenen bedeutet. Ist dies der Fall, so ist zu prüfen, ob diese eine gleiche oder eine unterschiedliche Eingriffsintensität aufweisen. Auf diesem Wege ist zunächst die Auswahl unter mehreren für die Verwirklichung der Schutzpflicht am optimalsten wirkenden gleichwertigen Mittel auf das zu verengen, das unter diesen die geringste Eingriffsintensität hat. Denn stehen mehrere gleich effektive Mittel zur Verfügung, verlangt das Abwehrrecht nach dem mildesten Mittel. An dieser Stelle darf man aber zum Schutz des Abwehrrechts nicht stehen bleiben. Vielmehr ist nunmehr das Gewicht der Schutzpflicht gegen die des Abwehrrechts abzuwägen. Ist das zu verwirklichende Schutzprinzip von so hohem Gewicht, dass es den Eingriff in das Abwehrrecht rechtfertigt, so ist die ausgewählte Maßnahme oder mehrere gleich intensiv wirkende Maßnahmen Inhalt der Schutzpflicht. Überwiegt das Abwehrrecht aufgrund der Intensität des Eingriffs, sind die auf der nächstniedrigeren Effektivitätsstufe stehenden schutzpflichtenrealisierenden Maßnahmen in den Blick zu nehmen. Auch diese sind nach dem vorstehenden Prüfungsmodell daraufhin zu überprüfen, ob sie den mit ihnen verbundenen Grundrechtseingriff tragen. Es wird zwar im Extremfall für möglich gehalten, dass sich das Abwehr- oder Schutzrecht gegenüber dem jeweilig anderen vollständig durchsetzt, im Ergebnis wird aber darauf zu achten sein, dass bei351 352 353
Calliess in: Merten/Papier, Handbuch der Grundrechte, § 44, Rn. 34. Vgl. Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 422 f. Calliess in: Merten/Papier, Handbuch der Grundrechte, § 44, Rn. 29 ff.
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4. Kap.: Grenzen tarifdispositiven Rechts
den Prinzipien ein Raum verbleibt. Es gilt der Grundsatz, dass je höher der Grad der Nichterfüllung des einen Prinzips ist, desto größer muss die Wichtigkeit der Erfüllung der dagegen stehenden Prinzipien sein.354 Allerdings verengt sich durch das vorstehende Prüfprogramm der gesetzgeberische Handlungsspielraum. Auch ist dieses Programm von mehreren subjektiven Komponenten durchzogen, die die Frage nach der Konkretisierung der Prüfungsparameter nach sich zieht.355 Zum einen ist zu fragen, wonach sich die Effektivität der schutzpflichtenrealisierenden Maßnahmen richten soll, zum anderen, wie die Eingriffsintensität zu bestimmen ist. Dies rührt an der Frage der Einschätzungsprärogative des Gesetzgebers.
V. Einschätzungsprärogative 1. Vorbemerkung Ein erhebliches Problem bei der Beurteilung der grundrechtlichen Schutzpflichten bilden die Einschätzungs- und Prognosespielräume. Hier besteht einerseits das Risiko, durch überbordende gerichtliche Kontrolle den politischen Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers auszuhöhlen und andererseits das Risiko, durch zu weitgehende Spielräume den Schutzanspruch des Bürgers zu gefährden. Damit stellt sich die Frage nach einer geeigneten Bruchstelle innerhalb der Dogmatik der Schutzpflichten, die beiden Gesichtspunkten gerecht wird. Während die bisher entwickelten Grundsätze eher die Maßstäbe für das Eingreifen und den Umfang der Schutzpflichten betreffen, gilt es bei der Einschätzungsprärogative zu klären, wer die Hoheit für die Bewertungsfragen hat, die innerhalb dieser Grundsätze auftreten. 2. Demokratieprinzip Im Rahmen der Diskussion um die grundrechtlichen Schutzpflichten ist die Warnung vor der Aushöhlung des Gestaltungsspielraums des parlamentarischen Gesetzgebers durch die Judikative ein permanenter Einwand gegen die Reichweite der grundrechtlichen Schutzpflichten.356 Die Warnung vor dem Wandel hin zu einem „Jurisdiktionsstaat“ 357 ist durchaus berechtigt, wenn man sich die Reichweite der Maßnahmen, zu denen die Schutzpflichten den Gesetzgeber verpflichten können, vor Augen führt. Wenn dieser vom BVerfG unter überaus de354
Calliess in: Merten/Papier, Handbuch der Grundrechte, § 44, Rn. 34. Eingehend kritisch zu diesen mit Blick auf den Grundrechtseingriff, Rusteberg, Der grundrechtliche Gewährleistungsgehalt, S. 56 ff. 356 Oeter, AÖR 199 (1994), 529 (531 f.); Klein, O., JuS 2006, 960 (963); vgl. auch Neumann, RdA 2007, 71 (73 ff.). 357 Der Begriff wurde geprägt durch Böckenförde, Staat, Verfassung, Demokratie, S. 196; kritisch auch Hermes, VVDStrL 61 (2002), 119 (139). 355
G. Umfang der Maßnahme aus den grundrechtlichen Schutzpflichten
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taillierten Vorgaben zur Schaffung von Straftatbeständen verpflichtet werden kann358, ist dies eine nicht zu negierende Gefährdung des Demokratieprinzips.359 Ebenso wird der Handlungsspielraum der Fachgerichtsbarkeit eingeengt, weil auch diese bei Anwendung und Auslegung der Gesetze an Recht konkrete Vorgaben gebunden werden kann.360 Aber auch ansonsten besteht die nicht von der Hand zu weisende Gefahr, dass politische Entscheidungen auf die Ebene der Verfassungsgerichtsbarkeit verlagert werden. Andererseits darf auch nicht verkannt werden, dass die Grundrechte als das staatliche Handeln bindende Vorgaben die Funktion haben, bestimmte Entscheidungen auch dann, wenn es für diese eine politische Mehrheit gibt, zu untersagen. Das gesamte Konzept des Grundrechtsschutzes ist seiner Funktion nach eine Einschränkung demokratisch gebildeter Mehrheiten. Überraschenderweise ist die Eingriffsabwehr unter diesem Gesichtspunkt nur begrenzt in den Fokus der Kritik geraten, obwohl qualitativ kein Unterschied zur Schutzpflicht besteht, außer dass im einen Fall eine konkrete positive Entscheidung der demokratischen Mehrheit verfassungsrechtlich für unzulässig erklärt wird, im anderen Fall eine Nicht- oder Negativentscheidung unterschiedlicher Reichweite. Mit Blick auf das Demokratieprinzip ergeben sich hier aber keine Unterschiede, denn auch verfassungsgerichtliche Entscheidungen, die dem Gesetzgeber bestimmte Eingriffe untersagen, können überaus konkret werden, was den Umfang der unzulässigen demokratischen Entscheidungen betrifft. Insofern ist also allgemein anzuerkennen, dass das Demokratieprinzip durch die Grundrechte ganz allgemein eingeschränkt wird. Entscheidungen des parlamentarischen Gesetzgebers sind unter der Grundrechtsordnung nicht frei. Davon werden auch Nicht- oder Negativentscheidungen des parlamentarischen Gesetzgebers erfasst. Insofern ist der Kritik mit Blick auf das Demokratieprinzip entgegenzutreten, soweit sie sich bereits gegen die grundsätzliche Anerkennung der Schutzpflichten richtet. Es stellt sich aber die Frage, wie das Demokratieprinzip, das grundsätzlich nach einer Wahrung der Entscheidungsbefugnisse des parlamentarischen Gesetzgebers verlangt, im Rahmen der Schutzpflichtendogmatik angemessen berücksichtigt werden kann. a) Einschätzungsprärogative und Demokratieprinzip Zur Lösung dieser Konfliktlage wird regelmäßig auf die Einschätzungsprärogative verwiesen.361 Danach soll dem Gesetzgeber bei der Konkretisierung der 358
BVerfG 28.5.1993, NJW 1993, 1751 ff. Oeter, AÖR 119 (1994), 529 (549). 360 Oeter, AÖR 119 (1994), 529 (531). 361 Dirnberger, DVBl. 1992, 879 ff.; Dreier in: Dreier, GG, Vorb., Rn. 103; Erichsen, JURA 1997, 85 (89); Hillgruber, JZ 1996, 118 (122); Klein, O., Jus 2006, 960 (963); Merten, GS Burmeister, S. 227 (237); Oeter, AÖR 119 (1994), 529 (550); Preu, JZ 1991, 265 (267). 359
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4. Kap.: Grenzen tarifdispositiven Rechts
Schutzpflicht ein erheblicher Einschätzungs- und Gestaltungsspielraum zugebilligt werden, der durch den richterlichen Normanwender nicht ohne Weiteres überspielt werden dürfe.362 Damit wird darauf verwiesen, dass das Demokratieprinzip den politischen Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers jedenfalls insoweit sichert, als die politische Bewertung eines Sachverhalts der Legislative vorbehalten bleiben muss und das Verfassungsrecht jedenfalls nur die Grenzen seines Handelns aufzeigen kann.363 Dass die Einschätzungsprärogative an sich anzuerkennen und notwendig ist, ist nicht zu bestreiten. Allerdings ist über ihren Umfang und ihre Grenzen damit noch nichts gesagt. Dies ist aber der entscheidende Ansatzpunkt für die verfassungsgerichtliche Kontrolle. Wie bedenklich der Verweis auf die Einschätzungsprärogative im Bereich der Eingriffsgesetzgebung werden kann, wurde bereits gezeigt.364 Die Einschätzungsprärogative erweist sich, sofern sie exzessiv angewandt wird, aber nicht nur als Gefährdung der abwehrrechtlichen Dimension der Grundrechte. Sie ist auch zur Beeinträchtigung der Schutzpflichten geeignet. Soll beides vermieden werden, bedarf sie der Einschränkung. b) Schutzpflichten als Eingriffsrechtfertigung und Gefährdungen der Abwehrrechte durch die Einschätzungsprärogative Die Frage hat aber noch eine weitergehende Bedeutung. Werden die grundrechtlichen Schutzpflichten hinsichtlich ihrer Bindungswirkungen und Grenzen nicht hinreichend konturiert, läuft ein bereits oben im Rahmen der weiten Tatbestandstheorien erwähntes Problem auf. Die grundrechtlichen Schutzpflichten sind nicht nur geeignet, staatliche Handlungspflichten zu begründen, sie sind auch geeignet, im Rahmen der Eingriffsrechtfertigung herangezogen zu werden. Werden grundrechtliche Schutzpflichten aber nunmehr ohne Weiteres mit einer weiten gesetzgeberischen Einschätzungsprärogative kombiniert, ist dies in doppelter Hinsicht bedenklich. Zum einen kann die Schutzpflicht den in ihr enthaltenen Schutzanspruch nicht einlösen, zum anderen wird sie zur universellen Eingriffsrechtfertigung.365 Die Gefahr, hier eine konturenlose Universalschranke für die Grundrechte zu schaffen, ist nicht von der Hand zu weisen. Von daher kann und darf die Dogmatik hier nicht bei einer weiten Einschätzungsprärogative des Gesetzgebers stehen bleiben. Denn in diesem Fall wird sie weniger zu einem effektiven Schutzanspruch des Bürgers als zu einer umfassenden Blankovollmacht für Grundrechtseingriffe. 362
Oeter, AÖR 119 (1994), 529 (550). Neumann, RdA 2007, 71 (75). 364 Vgl. dazu die Kritik oben 2. Kap. B. 5., C. IV. 3. 365 Letztere Bedenken auch bei Krings, Grund und Grenzen grundrechtlicher Schutzansprüche, S. 141. 363
G. Umfang der Maßnahme aus den grundrechtlichen Schutzpflichten
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Diese Kritik war bereits gegen die Begründung staatlicher Schutzpflichten vorgetragen worden366, ihre wirkliche Bedeutung erlangt sie aber bei der Bestimmung des Inhalts der Schutzpflichten. Damit besteht ein in doppelter Hinsicht problematischer Spielraum. Bei einer weiten Fassung der Einschätzungsprärogative wird einerseits der grundrechtliche Schutzanspruch bis an die Grenze der Negation relativiert und andererseits wird ein nur begrenzt kontrollierbares Allzweckinstrument geschaffen, das geeignet ist, nahezu jeden denkbaren Grundrechtseingriff weitgehend kontrollfrei möglich zu machen. Es sei hier nur exemplarisch auf die bereits erfolgte Ausweitung des Eingriffsrechtfertigungstatbestandes „Bekämpfung der Massenarbeitslosigkeit“ verwiesen.367 Dieser Gesichtspunkt verlangt nach einer klaren Restriktion der Einschätzungsprärogative der staatlichen Stellen, der gleichzeitig den Vorrang der demokratischen Entscheidung wahrt. c) Umfang und Grenzen der Einschätzungsprärogative Damit wird deutlich, dass der bisherige weite „Einschätzungs-, Wertungs- und Gestaltungsbereich des Gesetzgebers“ 368 zunächst auf die richtige Ebene der Schutzpflichtenproblematik zu reduzieren ist. aa) Einschätzungsprärogative und „Ob“ der Schutzpflicht Für die Frage, ob eine schutzpflichtenauslösende Konstellation vorliegt, kommt dem Gesetzgeber nur ein eingeschränkter Einschätzungsspielraum zu. Der Gesetzgeber ist verpflichtet, eine sorgfältige Ermittlung der Tatsachen, auf denen eine Schutzpflichtenkonstellation basiert, vorzunehmen.369 Er kann sich damit nicht auf die Annahme stützen, Schutzmaßnahmen seien nicht erforderlich, er muss diese Annahme durch sorgfältige Tatsachenermittlung abstützen. Die Einschätzungsprärogative bezieht sich zunächst nur auf das „Wie“ der Schutzpflichtenverwirklichung. Eine Ausnahme gilt nur dann, wenn nicht aufzuklären ist, ob eine schutzpflichtenaktivierende Lage tatsächlich vorliegt. Dieses Scheinproblem wird sich regelmäßig dadurch lösen, dass die entsprechende Schutzproblematik nicht entfaltet wird, weil sich niemand finden wird, der sich belastet fühlt. Dem BVerfG hat es mit Blick auf die besondere Schutzpflicht aus Art. 3 Abs. 2 GG jedenfalls ausgereicht, dass eine schutzpflichtenauslösende Gemengelage vorliegen könnte, um Maßnahmen des Gesetzgebers einzufordern.370 366
Sondervotum Rupp-v. Brünneck/Simon, BVerfG 25.2.1975, NJW 1975, 582 ff. Vgl. dazu oben 2. Kap. B. 5., C. IV. 3. 368 BVerfGE 77, 170 (214); 79, 174 (202); 85, 191 (212); Dreier, GG, vor Art. 1, Rn. 103. 369 BVerfG 28.5.1993, NJW 1993, 1751 (1754). 370 BVerfG 18.11.2003, NJW 2004, 146 (150); Aubel, RdA 2004, 141 (144). 367
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4. Kap.: Grenzen tarifdispositiven Rechts
Ob diese Rechtsprechung auf die sonstigen Schutzpflichten übertragen wird, bleibt abzuwarten. Die Entscheidung bedeutet aber eine klare Einschränkung der Einschätzungsprärogative für Konstellationen, in denen es um die Gleichbehandlung von Mann und Frau geht. Auch ansonsten besteht eine Einschätzungsprärogative bei Unsicherheiten über den Schutzbedarf nur begrenzt. Hier muss der Gesetzgeber jedenfalls deutlich machen, warum aus seiner Sicht eine schutzpflichtenaktivierende Lage nicht besteht und dies soweit möglich mit Tatsachen belegen. bb) Einschätzungsprärogative und „Wie“ der Schutzpflicht Im Rahmen des „Wie“ der Schutzpflichtenerfüllung ist für eine Einschätzungsprärogative des Gesetzgebers erforderlich, dass überhaupt eine Prognose über die Wirkungen bestimmter denkbarer Maßnahmen möglich ist. Stehen bestimmte Effekte von Schutzvorschriften fest oder lassen sich diese aufgrund des Standes der Forschung oder der bereits genommenen rechtlichen Entwicklungen weitgehend feststellen, verengt sich der Raum für Prognosen. Der Prognosespielraum verhält sich somit dynamisch zum gegenwärtigen Erkenntnisstand und ist damit per se nicht weit oder eng, sondern richtet sich nach dem Kenntnisstand des Gesetzgebers.371 Damit ist man bei einer weiteren Einschränkung angekommen. Der Gesetzgeber wird nämlich die für seine Einschätzung erforderlichen Informationen einholen und bewerten müssen, um eine eventuelle Prognose sachlich zu rechtfertigen.372 Dies bedeutet aber, dass der Gesetzgeber weder befugt ist, ins Blaue hinein über die Schutzpflichten vermittelte Grundrechtseingriffe vorzunehmen, noch deren Erfüllung ohne hinreichende Sachverhaltsaufklärung einzuschränken. Seine Prognosen müssen verlässlich sein. Die Verlässlichkeit der Maßnahmen misst das BVerfG vor allem daran, ob der Gesetzgeber sich des erreichbaren, für die gebotene verlässliche Prognose der Schutzwirkung des Konzepts wesentlichen Materials bedient und es mit der gebotenen Sorgfalt daraufhin auswertet, ob es seine gesetzgeberische Einschätzung hinreichend zu stützen vermag.373 Es ist nochmals darauf hinzuweisen, dass aufgrund der regelmäßigen Eingriffsqualität der schutzpflichtenmediatisierenden Vorschriften eine Einschätzungsprärogative ein grundrechtsgefährdendes Potenzial aufweist. Will der Gesetzgeber seinen Schutzpflichten genügen und dabei den schonenden Ausgleich mit konkurrierenden Grundrechten wahren, muss er sich hinreichend mit den für das konkrete Kollisionsverhältnis maßgeblichen Tatsachen auseinandersetzen, soweit diese zu ermitteln sind.374 Dort allerdings, wo solche nicht zu erlangen sind,
371 BVerfG 28.5.1993, NJW 1993, 1751 (1755); BVerfG 1.3.1979, NJW 1979, 699; BVerfG 12.5.1987, NJW 1988, 626; BVerfG 29.10.1987, NJW 1988, 1651. 372 BVerfG 28.5.1993, NJW 1993, 1751 (1754, 1755). 373 BVerfG 28.5.1993, NJW 1993, 1751 (1754, 1755). 374 BVerfG 28.5.1993, NJW 1993, 1751 (1754).
G. Umfang der Maßnahme aus den grundrechtlichen Schutzpflichten
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weil die Effekte und Wirkungen der denkbaren Maßnahmen sich nicht ermitteln lassen, kann dem Gesetzgeber ein Einschätzungsspielraum zukommen. Dies entbindet ihn aber nicht von einer Begründungslast für die angenommene Entwicklung. Damit bestehen für die Einschätzungsprärogative zunächst zwei grundsätzliche Schranken. Der Gesetzgeber darf sich einerseits durch die Einschätzungsprärogative nicht über feststehende Tatsachen hinwegsetzen und er muss diese ermittelt haben, um sich auf die Einschätzungsprärogative berufen zu können. Wie weit dann der Kontrollmaßstab reicht, ist nicht mit der gleichen Klarheit festzulegen. Das BVerfG hält für die Einschätzungsprärogative je nach Einzelfall verschiedene Kontrollmaßstäbe für möglich. Danach können diese von einer Evidenzkontrolle über eine Vertretbarkeitskontrolle bis hin zu einer intensivierten inhaltlichen Kontrolle reichen.375 In jedem Fall besteht aber eine Willkürgrenze, an der der Gesetzgeber nicht vorbeikommt. Weitergehende Einschränkungen des Prognosespielraums ergeben sich dadurch, dass die Ebene, auf der dieser herangezogen wird, zu begrenzen ist. So kommt dem Gesetzgeber hinsichtlich der Frage, ob der von ihm geschaffene Schutz ausreichend ist, um die Schutzpflicht zu verwirklichen, nur eine eng begrenzte Einschätzungsprärogative zu.376 Das BVerfG hat aber auch hinsichtlich des „Wie“ der Schutzpflichtenverwirklichung in einer jüngeren Entscheidung die Einschätzungsprognose – mit Recht – zurückgedrängt. Vielmehr wurden auch hinsichtlich des „Wie“ der Schutzpflichtenverwirklichung sehr detaillierte Vorgaben gemacht und zwar in einer Konstellation widerstreitender Interessen von Bürgern.377 Viel entscheidender ist aber eine in der Entscheidung anklingende Modifikation des Prüfungsmaßstabs. Dieser greift in starkem Maße auf Begrifflichkeiten zurück, die sich ansonsten im Rahmen der Eingriffsrechtfertigung finden.378 Auch diese Maßstäbe lassen sich allerdings durch die Einschätzungsprärogative problemlos nivellieren, sodass offenbleibt, ob darin im Ergebnis tatsächlich ein strengerer Prüfungsmaßstab zum Ausdruck kommt. Jedenfalls sind aber im Rahmen der Frage, welche staatlichen Maßnahmen die Schutzpflichten verwirklichen, nicht nur irgendwelche, sondern geeignete Mittel erforderlich.379 Insbesondere ist auch die Abwägung der widerstreitenden grundrechtlichen Positionen nicht ausschließlich Sache des Gesetzgebers, sondern der verfassungsrechtlichen Kontrolle hinsichtlich ihrer Angemessenheit unterworfen.380 Es ist 375
BVerfG 1.3.1979, NJW 1979, 699 (701); Neumann, RdA 2007, 71 (74). Vgl. oben 4. Kap. G. V. 2. c) aa). 377 BVerfG 27.6.2005, NJW 2005, 2363 (2368); so tendenziell bereits BVerfG 28.5.1993, NJW 1993, 1751 (1754). 378 Kritisch dazu Sachs, in FS Schmidt, S. 385 (395). 379 Kingreen/Pieroth, NVwZ 2006, 1221 (1222). 380 BVerfG 27.6.2005, NJW 2005, 2363 (2368); BVerfG 28.5.1993, NJW 1993, 1751 (1754). 376
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4. Kap.: Grenzen tarifdispositiven Rechts
allerdings darauf hinzuweisen, dass der hier zitierte vom BVerfG entschiedene Fall lediglich die Wertungsebene, nicht aber die Tatsachenebene betraf. Die zugrunde liegenden Fakten standen fest, einen Raum für Prognosen gab es insofern nicht. Vielmehr ging es allein um die Frage, ob der Gesetzgeber bei feststehender Faktenlage die Schutzpflicht im Verhältnis zu den kollidierenden Interessen hinreichend berücksichtigt hatte. Dies verneinte das BVerfG und leitete für diese Konstellation sehr konkrete Handlungspflichten ab. Das kann mit Blick auf das Demokratieprinzip kritisch gesehen werden. Sieht man jedoch, dass das BVerfG lediglich die verfassungsrechtlichen Mindestvorgaben für eine Wahrung des Grundrechtsschutzes definiert hat, so ist die Entscheidung weitaus unproblematischer. Über Konstellationen, in denen die zugrunde liegenden Fakten unklar sind, hat das BVerfG hier nicht entschieden. Die Entscheidung liegt insofern konsequent in der Linie bisheriger verfassungsgerichtlicher Entscheidungen, die ebenfalls darauf verweisen, dass die Möglichkeit, sich ein hinreichend sicheres Urteil zu bilden,381 eine erhebliche Rolle spielt, wenn es um den Handlungsspielraum des Gesetzgebers geht. Damit ist man auch bei einer zweiten, für das tarifdispositive Gesetzesrecht, soweit es den Arbeitszeitschutz betrifft, gewichtigen Entscheidung des BVerfG. Für die Schutzpflicht aus Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG hat das BVerfG aufgrund ihres erheblichen Gewichts die Kontrollmaßstäbe noch weiter eingeschränkt. Diese verlangen nach einem wirksamen und angemessenen Schutz, der auf sorgfältigen und vertretbaren Tatsachenermittlungen beruht.382 Diese Grundsätze sind nicht allein auf Fragen des Schwangerschaftsabbruchs anwendbar, sondern auf den Arbeitsschutz im Allgemeinen und den Arbeitszeitschutz im Besonderen zu übertragen.383 Damit erfährt die Einschätzungsprärogative eine substanzielle und berechtigte Einschränkung soweit im Verhältnis gleich geordneter Grundrechtsträger die Ursachen für die schutzpflichtenaktivierende Lage hinreichend sicher feststehen. Es ist des Weiteren darauf hinzuweisen, dass der hier in Bezug genommene vom BVerfG entschiedene Fall384 eine Konstellation betraf, in der eine bereits bestehende Schutzvorschrift nicht hinreichend war, um der Schutzpflicht Rechnung zu tragen. Damit besteht eine weitere Parallele zu tarifdispositiven Vorschriften. Diese sind in ein bestehendes gesetzliches Schutzkonzept integriert, das durch sie modifiziert wird. Dass tatsächliche Umstände hier unklar sind, dürfte nur selten der Fall sein. Damit wird aber der Prüfungsmaßstab für die Verfassungsmäßigkeitsprüfung verengt. Dies gilt insbesondere dort, wo die Vorschrift bereits seit einiger Zeit ihr „Unwesen“ treibt und den gesetzlichen Schutzanspruch konterka381 382 383 384
BVerfG 1.3.1979, NJW 1979, 699 (701). BVerfG 28.5.1993, NJW 1993, 1751 (1754). Kingreen/Pieroth, NVwZ 2006, 1221 (1222). BVerfG 26.7.2005, NJW 2005, 2363 (2368).
G. Umfang der Maßnahme aus den grundrechtlichen Schutzpflichten
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riert. Hier wird die Einschätzung, den verfassungsrechtlichen Schutzpflichten sei durch die entsprechenden Schutzvorschriften Rechnung getragen, tatsächlich überprüfbar. Einen Raum für Prognosespielräume gibt es dann nur sehr begrenzt. Dies gilt insbesondere im Arbeitszeitrecht, das nunmehr knapp 80 Jahre tarifdispositiver Gestaltung hinter sich hat. Hier kann dem Gesetzgeber nur noch die Abwägung mit kollidierenden verfassungsrechtlichen Grundsätzen gestattet werden, bei der er, wie auch ansonsten im Rahmen der Eingriffsrechtfertigung, einer Angemessenheitskontrolle hinsichtlich der Berücksichtigung der beiderseitigen Interessen unterliegt. Ein spezifisches Problem der grundrechtlichen Schutzpflichten liegt hierin nicht, das Verhältnis von Demokratieprinzip und verfassungsgerichtlicher Kontrolldichte ist ein allgemeines. Insofern ist die entsprechende Prüfung im Rahmen der Schutzpflichten auch nicht problematischer als im Rahmen der Eingriffsabwehr. cc) Ergebnis Es sind damit zwei Bereiche legislativer Spielräume zu trennen. Zum einen die Frage nach den maßgeblichen Tatsachen für die Bewertung der schutzpflichtenaktivierenden Lage und zum anderen die Frage nach der Prognose der Effekte zu treffender Regelungen. Je größer der Umfang ist, in dem die Tatsachenbasis feststeht, desto weniger Raum bleibt hier für eine Prognose. Hinsichtlich der Bewertung der kollidierenden rechtlichen Interessen gilt nichts anderes als für die Eingriffsrechtfertigung. Der Bewertungsspielraum des Gesetzgebers wird hier je nach der Intensität der schutzpflichtenaktivierenden Lage und des Ausmaßes des Grundrechtseingriffs durch die schutzpflichtenrealisierenden Regelungen von einer Willkürkontrolle bis hin zu einer sehr detaillierten inhaltlichen Kontrolle reichen. Für einen „irgendwie-Schutz“ ohne inhaltliche Konturen bleibt dabei kein Raum mehr. d) Ergebnis Der Prognosespielraum des Gesetzgebers bei der Umsetzung grundrechtlicher Schutzpflichten setzt zunächst einmal der Prognose zugängige Umstände voraus. Da der Gesetzgeber verpflichtet ist, sich über die seiner Entscheidung zugrunde liegenden Umstände zu vergewissern und die entsprechenden Tatsachen soweit wie möglich zu ermitteln, ist der Prognosespielraum von vorneherein verengt. Stehen die zugrunde liegenden Fakten weitestgehend fest, verbleibt nur ein verengter Prognosespielraum für die staatlichen Maßnahmen, die zu ergreifen sind. Des Weiteren ist auch im Rahmen der Umsetzung der schutzpflichtenrealisierenden Maßnahmen der Entscheidungsspielraum des Gesetzgebers nicht grenzenlos. Er muss im Rahmen des Abgleichs kollidierender Interessen die Schutzpflicht angemessen berücksichtigen. Insofern ist hier ein Kontrollanker vorhanden, der auch in die wertende Entscheidung des Gesetzgebers übergreift. Eine Begren-
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4. Kap.: Grenzen tarifdispositiven Rechts
zung der Prognose- und Einschätzungsspielräume auf tatsächlicher Verifikation nicht zugängige Fragen ist mit Blick auf den effektiven Grundrechtsschutz aber nicht nur im Rahmen der Schutzpflichtendogmatik geboten. Auch zum Schutz der kollidierenden Grundrechte ist es zwingend geboten, dass der Gesetzgeber sich hinsichtlich des Ausmaßes und des Umfangs der für die Erfüllung der Schutzpflicht erforderlichen Maßnahmen genau vergewissert. Ansonsten droht die Gefahr, dass die Abwehrrechte durch den Rekurs auf die Einschätzungsprärogative unangemessen belastet werden und die Schutzpflichten zu universellen unkonditionierten Universalrechtfertigungen für Grundrechtseingriffe mutieren. Dass der Einschätzungsspielraum sich in Abhängigkeit der konkreten Schutzpflichtenkonstellation enger oder weiter darstellen kann, ist anzuerkennen. Dennoch ist aber vorab sorgsam zu prüfen, welche Einschätzungen von vornherein nicht mehr von der Einschätzungsprärogative gedeckt sein können. Ebenso ist im Anschluss eine angemessene Berücksichtigung der Schutzbelange zu verlangen, die sich insofern nicht stets auf einen unabweisbaren Minimalschutz verengen lässt.
H. Zusammenfassung Der Umfang der Bindungswirkungen, die die grundrechtlichen Schutzpflichten entfalten, ist weitaus größer als dies im Schrifttum und in der Rechtsprechung zum Ausdruck kommt. Dabei sind die Bindungen sowohl des Gesetzgebers als auch der Judikative durch ein objektives und durch ein wertendes Element determiniert. Der Umfang, in dem die einer schutzpflichtenauslösenden Konstellation zugrunde liegenden Tatsachen und zu beseitigenden Beeinträchtigungen des Schutzguts zu ermitteln sind, sind von erheblicher Relevanz. Denn sie geben das Schutzniveau vor, das die staatlichen Maßnahmen grundsätzlich erreichen müssen. Grundsätzlich deshalb, weil im Einzelfall auch entgegenstehende verfassungsrechtliche Prinzipien, wie etwa kollidierende Grundrechtspositionen, eine eingeschränkte Erfüllung legitimieren können. Damit ist man bei der wertenden Ebene im Bereich der Schutzpflichtendogmatik. Diese hängt entscheidend von dem Gewicht, das der Schutzpflicht im Einzelfall zukommt, ab. Es determiniert sowohl den Umfang der zu ergreifenden Maßnahmen als auch die Prüfungsdichte hinsichtlich der Erwägungen der verpflichteten staatlichen Stellen. Schutzpflichten gebieten grundsätzlich eine transparente, effektive und angemessene Umsetzung durch staatliche Maßnahmen. Dabei können diese Kontrollmaßstäbe nach der Rechtsprechung des BVerfG weder als grundsätzlich weich noch als grundsätzlich streng angesehen werden, sondern hängen in entscheidendem Maße vom Gewicht der zu schützenden Grundrechtsposition im konkreten Einzelfall ab. Im Bereich des Gesundheitsschutzes sind dabei grundsätzlich strengere Kontrollmaßstäbe geboten als im Bereich der Regelung des Äquivalenzverhältnisses vertraglicher Beziehungen. Dies sind aller-
H. Zusammenfassung
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dings nicht mehr als Orientierungspunkte, da je nach Belastung einer Schutzposition auch die vertragliche Seite ein hohes Maß an Schutzbedürftigkeit aufweisen kann, maßgeblich bei gestörter Vertragsparität. Dennoch sind diese wertenden Aspekte durch eine objektive Komponente „rationalisiert“. Die empirischen Befunde über die Effektivität bereits ergriffener Maßnahmen oder der bestehenden rechtlichen Instrumentarien zur Umsetzung der Schutzpflicht binden die Prüfung. Das Transparenzgebot, das Optimierungsgebot, die Grundsätze der Wirksamkeit und Effektivität führen damit zu inhaltlichen Kontrollparametern, die die bestehende Rechtslage in mehreren Dimensionen kontrollfähig machen. Diese Prinzipien wirken nicht nur auf die inhaltliche Kontrolle der ergriffenen Maßnahmen, sondern auch auf die Frage ein, in welchem Maße ihre Umsetzung durch die Rechtsprechung erfolgen kann. Diese kann sich durchaus im Rahmen ihrer Befugnis zur Rechtsfortbildung einzelner Schutzlücken annehmen und bei hinreichender Einbettung in bestehende gesetzliche Vorschriften auch ohne explizite einfachgesetzliche Grundlage tätig werden. Diese Befugnis ist aber im Verhältnis gleich geordneter Grundrechtsträger nicht grenzenlos. Sie findet ihre Schranken zum einen an dem Gebot der effektiven Umsetzung staatlicher Schutzpflichten und zum anderen an den durch die Rechtsfortbildung jedenfalls partiell außer Acht gelassenen Prinzipien des Vorbehalts des Gesetzes und der Wesentlichkeitstheorie. Beide sind entgegen der Rechtsprechung des BVerfG auch im Verhältnis gleich geordneter Grundrechtsträger anwendbar. Sie bedürfen allerdings eines modifizierten und abgeschwächten Kontrollmaßstabes, um den Besonderheiten des Zivilrechts Rechnung zu tragen. Die Schutzpflichten sind bei der Frage, ob der Rückgriff auf die Rechtsfortbildung möglich ist, kein absolutes Argument für oder gegen die Rechtsfortbildung. Es ist vielmehr in Ansehung des Einzelfalles zu prüfen, ob sich der Verzicht auf eine ausdrückliche gesetzliche Grundlage rechtfertigen lässt. Dabei sind nicht nur die Aspekte der Einzelfallgerechtigkeit zu berücksichtigen, sondern auch die Interessen der sonstigen im Anwendungsbereich einer potenziellen Rechtsfortbildung stehenden Grundrechtsträger. Kernelement der Schutzpflichten ist das Kriterium der Effektivität, also eine Ergebnisbetrachtung. Auch dann, wenn man dem Gesetzgeber Entscheidungsspielräume zubilligt, enden diese dort, wo sich dessen Annahmen als fehlbar erweisen. Die tatsächlichen Auswirkungen bestehender und geschaffener Schutzmodelle binden den Gesetzgeber. Eine Negation der Realität ist von der Einschätzungsprärogative nicht gedeckt. Schutzpflichten lösen also regelmäßig Nachbesserungs- und Prüfungspflichten aus385, insbesondere, wenn der Gesetzgeber die Schaffung von Schutzmechanismen ablehnt, weil er die geltenden oder von ihm geschaffenen Regelungen als ausreichend einschätzt. Auch kann bei einer vorhandenen gesetzlichen Regelung dennoch eine Schutzpflichtenverletzung 385
BVerfG 14.1.1981, NJW 1981, 1655 (1657).
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4. Kap.: Grenzen tarifdispositiven Rechts
vorliegen, wenn Rechtsprechung und/oder Verwaltung die zur Ausführung dieser Norm erforderlichen Grenzen einer Verletzung der Norm nicht ermitteln können. Insofern ist dem häufig anzutreffenden Satz, der Gesetzgeber müsse lediglich überhaupt tätig werden, entgegen zu treten. Er wird der Schutzpflicht dann nicht gerecht. Nicht das Tätigwerden erfüllt die Schutzpflicht, sondern die tatsächliche Behebung der Schutzlücke. Daraufhin läuft letztendlich jede Prüfung im Rahmen von Schutzpflichten hinaus. Für das tarifdispositive Recht verschärft sich die Prüfung in zweierlei Hinsicht. Zum einen sind hier bereits gesetzliche Grundlagen geschaffen, anhand derer die Effektivität laufend überprüft werden kann. Dies engt die Prognosespielräume des Gesetzgebers massiv ein. Zum anderen liegen hier Erkenntnisse über die praktische Handhabung der Vorschriften durch die Tarifvertragsparteien vor, die berücksichtigt werden müssen. Von erheblicher Bedeutung können hier allerdings die Wesentlichkeitstheorie und das Transparenzgebot sein. Denn nicht nur die gesetzlichen Regelungen, sondern auch die Kontrollmaßstäbe der Rechtsprechung weisen hier erhebliche Defizite auf.
5. Kapitel
Wahrung staatlicher Schutzpflichten durch Bindung der Tarifvertragsparteien an die Grundrechte? A. Tarifautonomie und staatliche Schutzpflichten für die Grundrechte Es stellt sich nunmehr die Frage, ob durch die Schaffung tarifdispositiver Vorschriften eine Verletzung staatlicher Schutzpflichten für die Grundrechte von Arbeitnehmern erfolgen kann. Hierfür ist es zunächst erforderlich, zu klären, ob durch die bestehenden tarifvertragsrechtlichen Kontrollmechanismen nicht bereits ein hinreichender Grundrechtsschutz sicher gestellt ist, der eine weitergehende gesetzliche Regulierung partiell oder vollständig entbehrlich machen könnte. Dabei ist insbesondere auch die neuere Rechtsprechung des BAG zur Tariffähigkeit von Gewerkschaften in den Blick zu nehmen. Es ist zweifelhaft, ob die These von der Richtigkeitsgewähr des Tarifvertrags in ihrer bisher verabsolutierten Form noch aufrecht erhalten werden kann. In diesem Zusammenhang bedarf das Theorem der Richtigkeitsgewähr einer Überprüfung, weil bestimmte Disfunktionen des Modells nahe legen, dass es lediglich das Potenzial grundrechtsschützender Regelungen entfaltet, diese aber selbst nicht sicher stellen kann. Diese Erkenntnis teilt das BAG im Grunde1, auch wenn es sprachlich weitestgehend das Gegenteil formuliert. Dies wird an einer weiteren zu untersuchenden Stellschraube des kollektiven Arbeitsrechts deutlich, der Grundrechtsbindung der Tarifvertragsparteien. Die exzeptionelle Bindung privater Vertragsparteien – hier der Tarifvertragsparteien – an staatliche Schutzpflichten für Grundrechte macht nämlich nur dann Sinn, wenn man einräumt, dass deren Regelungen sehr wohl das Potenzial zu Grundrechtsverletzungen beinhalten2 und zur Erfüllung grundrechtlicher Schutzpflichten nicht effektiv sind. Auch ansonsten ist zu fragen, ob sektorale Funktionsdefizite der Tarifautonomie die Überlegung rechtfertigen, der Staat dürfe sich bei der Verwirklichung des Grundrechtsschutzes weitgehend auf die Tarifvertragsparteien verlassen. Alle diese Gesichtspunkte sprechen dagegen, die staatliche Regulierung von Arbeitsbedingungen zu beschränken. Die entsprechenden Konzepte sind zunächst 1 2
BAG 16.3.1994, NZA 1994, 937 (940). Rieble/Klumpp in: MüArbR § 169 Rn. 36.
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5. Kap.: Wahrung staatlicher Schutzpflichten
einmal auf ihre Tragfähigkeit und ihren Schutzgehalt zu untersuchen, bevor die Maßstäbe für Schutzpflichtverletzungen durch tarifdispositives Gesetzesrecht entwickelt werden können. Ein weiterer Aspekt, der im vorstehenden Kontext häufig übersehen wird, ist dabei auch der Grundrechtsschutz von Personen, die mittelbar von tarifvertraglichen Regelungen betroffen sind. Während traditionell der Aspekt der Betroffenheit von Außenseitern in den Vordergrund gerückt wird, ist der Gesichtspunkt mittelbar betroffener Dritter ebenfalls von erheblicher Relevanz. Insbesondere im Bereich der Arbeitszeitgestaltung sind regelmäßig Dritte den Konsequenzen der konkreten Gestaltung der Arbeitszeit ausgesetzt, sei es bei der Arbeitszeitregulierung von Ärzten in Krankenhäusern, von Lastwagenfahrern oder ganz allgemein von Personen, deren Tätigkeit die Rechtspositionen Dritter beeinträchtigen kann. Überall dort beeinflusst die tarifliche Regelung auch deren Interessen und verfassungsrechtlich geschützte Rechtsgüter. Ob sich eine solche Einflussnahme mit der Richtigkeitsgewähr des Tarifvertrags legitimieren lässt, ist zweifelhaft. Schließlich können tarifvertragliche Regelungen mit grundrechtlich geschützten Positionen in Konflikt geraten, bei denen sich die Frage nach einem Tätigwerden des Gesetzgebers stellen kann. Somit sind die konzeptionellen Schwächen eines Grundrechtsschutzes durch das Verfahren der Tarifnormsetzung und der hier zur Verfügung stehenden rechtlichen Kontrollinstrumente zu hinterfragen.
B. Zur Grundrechtsbindung der Tarifvertragsparteien Dabei gerät zunächst die Frage nach der Grundrechtsbindung der Tarifvertragsparteien in den Fokus. Es stellt sich also die Frage, ob und in welchem Umfang eine Grundrechtsbindung der Tarifvertragsparteien besteht, die einen Rückzug des Gesetzgebers aus staatlichen Schutzpflichten rechtfertigen kann. In den vorstehenden Überlegungen ist bereits auf die Notwendigkeit einer Trennung zwischen der tarifvertraglichen Regelungsbefugnis einerseits und der Normsetzungsbefugnis andererseits verwiesen worden.3 Bedeutung erlangt diese Frage auch bei der dogmatischen Herleitung der Normsetzungsbefugnis. Die Normsetzungsbefugnis kann ebenso wie die Regelungsbefugnis stärker oder schwächer der Grenzziehung durch die staatliche Gewalt unterliegen. Geht man mit einem Teil der Lehre4 und der älteren Rechtsprechung des BAG5 davon aus, dass die Tarifvertragsparteien im Rahmen ihrer Normsetzungsbefugnis un3
Vgl. dazu oben 3. Kap. F. I. Leisner, Grundrechte und Privatrecht, S. 356 ff.; Gamillscheg, AcP 164 (1964), 386 (419 ff.). 5 BAG 15.1.1955, NJW 1955, 684 ff.; BAG 6.4.1955, ArbuR 1955, 284 (285). 4
B. Zur Grundrechtsbindung der Tarifvertragsparteien
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mittelbar an die Grundrechte gebunden sind, lässt sich darüber möglicherweise ein Schutz der Arbeitnehmer vor Grundrechtsbeeinträchtigungen durch den Tarifvertrag herleiten.6 Denn die Tarifvertragsparteien unterliegen in diesem Fall vorbehaltlich einer unzureichenden Anwendung durch die Gerichte, einer weitgehenden Bindung an die verfassungsmäßige Ordnung. Diese Sichtweise und ein damit verknüpftes weites Verständnis der tarifvertraglichen Regelungsbefugnis wurde lange Zeit von Rechtsprechung und Lehre präferiert.7 Indes wird dieses Modell mit Blick auf die Normsetzungsbefugnis zunehmend in Frage gestellt, allerdings ohne dass daraus Konsequenzen für die Regelungsbefugnis gezogen werden. Das BAG und die Lehre verabschieden sich sukzessive von der Vorstellung der Grundrechtsbindung und damit von einer vom Staat übertragenen Normsetzungsbefugnis, bei der die Tarifvertragsparteien gleichsam staatsvertretend tätig werden. Zunehmend wird ein Modell der kollektiv ausgeübten Privatautonomie vertreten, nach dem die tarifliche Normsetzungsbefugnis weitestgehend auf die mitgliedschaftliche Legitimation durch die Koalitionsmitglieder zurückgeführt wird. Nach einer verbreiteten Variante dieser Theorie sollen die Tarifvertragsparteien zwar nicht unmittelbar an die Grundrechte, dafür aber an die aus diesen erwachsenden Schutzpflichten gebunden sein. Diese Theorie sieht sich einerseits im Dienste der Außenseiter, die sie vor der Geltung von Tarifnormen zu schützen sucht und andererseits im Dienste eines Schutzes des Tarifvertrags vor einer Tarifzensur durch die Rechtsprechung. Der damit verbundene abgeschwächte Grundrechtsschutz wird teilweise damit legitimiert, dass im Beitritt zur Koalition ein Grundrechtsverzicht mit Blick auf die erzielten Regelungen gesehen wird.8 Mit dieser Argumentation wird ein Schritt vermieden, der an sich bei einer fehlenden Grundrechtsbindung zwingend ist. Fehlt es nämlich an einer Grundrechtsbindung der Tarifvertragsparteien, so kann die tarifvertragliche Regelungsbefugnis nur noch am zwingenden Gesetzesrecht und den aus diesem entwickelten richterrechtlichen Grundsätzen gemessen werden.9 Fehlt es an einer zwingenden rechtlichen Regelung zum Schutz eines Grundrechts, so wären die Tarifvertragsparteien damit zur Grundrechtsverletzung legitimiert. Vor diesem Hintergrund kann dann aber eine weitgehende, autonome und vorrangige Rege-
6 Allerdings reicht dieser auch nach Ansicht des BAG 19.1.1994, NZA 1994, 939 (940) nicht aus, um eine vollständige Kompensation struktureller Unterlegenheit des Arbeitnehmers zu gewährleisten. 7 So auf Basis der sogenannten Delegationslehre: BAG 15.1.1955, NJW 1955, 684 (686 f.); BAG 6.4.1955, ArbuR 1955, 284 (285); BAG 23.11.1957, BAGE 4, 240 (250 ff.); BAG 13.9.1983, DB 1984, 1099 (1100 f.); Leisner, Grundrechte und Privatrecht, S. 354 ff.; Gamillscheg, AcP 164 (1964), 386 (419 ff.). 8 Vgl. dazu unten 5. Kap. B. III. 3. d). 9 In diese Richtung auch Waltermann, Anm. zu BAG 27.5.2004, AP Nr. 5 zu § 1 TVG Gleichbehandlung.
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5. Kap.: Wahrung staatlicher Schutzpflichten
lungsbefugnis nicht mehr akzeptiert werden.10 Vielmehr darf die tarifautonome Regelungsbefugnis dann von vornherein nur in den Schranken der Grundrechtsordnung bestehen. Dies bedeutet aber, dass der Tarifvertrag keine privilegierte Stellung gegenüber staatlich zwingendem Recht haben kann. Die Regelungsbefugnis muss daher überall enden, wo die Tarifvertragsparteien zu Grundrechtsverletzungen ermächtigt werden, was bedeutet, dass sie, mangels einer Grundrechtsbindung, durch einfaches Gesetzesrecht begrenzt werden muss. Der Staat kann sich dann weder auf die Erwartung stützen, die Tarifvertragsparteien würden verantwortungsvoll mit den verliehenen Regelungsbefugnissen umgehen, noch sich darauf berufen, die Parität der Vertragsparteien werde sachgerechte Regelungen schaffen.11 Er muss von vornherein sicher stellen, dass die Tarifvertragsparteien keine, und zwar überhaupt keine, Regelungsbefugnis haben, die Grundrechtsverletzungen zulässt. Damit führt in diesen Situationen der Rechtsschutz möglicherweise eher nach Karlsruhe als nach Erfurt, weil der Gesetzgeber zum Tätigwerden verpflichtet werden muss. Vor dieser Konsequenz schreckt man aber zurück. Das Instrument, dessen man sich bei dieser Inkonsequenz bedient, ist die Schutzpflichtenbindung des Tarifvertrags statt der Schutzpflichtenbindung der Gerichte bei der Auslegung und Anwendung einfachen Gesetzesrechts.12 Wie bereits gezeigt ist der Charakter der Tarifautonomie in erster Linie der einer prozeduralen Sicherung der Privatautonomie.13 Allerdings liegt in dieser prozeduralen Sicherung eine partielle verfassungsmäßige Verwirklichung der staatlichen Schutzpflicht für die Privatautonomie. Diese Sicherung besteht allerdings nicht als Selbstzweck zugunsten der Koalierten, sondern liegt im öffentlichen Interesse.14 Daraus folgt eine Bipolarität der Zwecke der Tarifautonomie. Sie steht im Dienste der Kompensation struktureller Unterlegenheit der Arbeitnehmer. Diese Kompensation liegt aber im öffentlichen Interesse. Sie gewährleistet Ordnung und Befriedung des Arbeitsmarktes, welche nicht nur das Ergebnis der Existenz der Tarifautonomie, sondern auch ihr Zweck ist.15 Damit liegt in der Tarifautonomie sowohl ein öffentlicher als auch ein privater Zweck. Je nachdem, welche Sichtweise man präferiert, folgt daraus eine im weiteren Sinne öffentlich-rechtliche Sichtweise der Normsetzungsbefugnis mit einer daraus folgenden Bindung an die Grundrechte oder eine eher privatrechtliche Sichtweise, die 10
Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht, Bd. I, § 15 III 3. b) (2). Wie bereits gezeigt ist diese Annahme ohnehin nicht überzeugend, vgl. dazu oben 3. Kap. E. VIIII. 12 Ein Unterschied, den das BAG freilich teilweise durchaus sieht, vgl. BAG 4.4.2000, NZA 2002, 917 (918), allerdings dennoch unmittelbar den Tarifvertrag zum Gegenstand seiner Prüfung macht; BAG 27.5.2004, AP Nr. 5 zu § 1 TVG Gleichbehandlung. 13 Vgl. dazu 3. Kap. F. II. 14 Vgl. dazu 2. Kap. E. 15 Vgl. dazu 2. Kap. E. 11
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eine solche (zunächst) ablehnt. Je nachdem welchem dieser beiden Vorverständnisse gefolgt wird, sind damit auch weitgehend die Konsequenzen vorgezeichnet, die sich für die Normsetzungsbefugnis ergeben. Indes liegt das eigentliche Problem darin, dass die Tarifautonomie bipolare Zwecke verfolgt und eine Vorentscheidung für eine der beiden Sichtweisen sie damit notwendigerweise nicht vollständig erfassen kann. Zunächst einmal sind die privatautonomen Elemente der Tarifnormsetzung zu betonen. Es schließen sich Private in einem Verband zusammen, der anschließend private Normen setzt.16 Dieser Kern der sog. Legitimationstheorie17 ist richtig. Indes erklärt er zunächst nur die personelle Reichweite der Tarifmacht des Verbandes. Diese erstreckt sich zunächst nur auf die Mitglieder, kann jedoch durch Gesetz ausgedehnt werden. Im Beitritt kann durchaus die Anerkenntnis der Normsetzungsbefugnis erblickt werden. Damit ist aber noch nichts über die Rechtsnatur der Normsetzung gesagt. Zu berücksichtigen ist eben auch der öffentliche Aspekt der Tarifnormsetzung. Diese dient der Kompensation struktureller Unterlegenheit der Arbeitnehmer.18 Genau diese Kompensation hat aber, da sie eine partielle Verwirklichung des Schutzes der Privatautonomie und damit Ausfluss staatlicher Schutzpflichten ist, eine öffentliche Funktion. Darüber hinaus dient sie der Ordnung und Befriedung des Arbeitsmarktes sowie der Installierung eines Verfahrens privatautonomer Selbsthilfe bei fehlendem staatlichen Schutz.19 Die Normsetzung hat damit auch öffentliche Zwecke. Auch darin liegt noch keine Vorfestlegung der Rechtsnatur der Normsetzung. Beide Aspekte, der öffentliche wie der private, sind zu berücksichtigen. Alle bisherigen Ansätze beziehen sich aber lediglich auf einen dieser beiden Gesichtspunkte und sind daher aufgrund dieser Einseitigkeit abzulehnen, da sie jeweils eine Dimension der Tarifautonomie nicht schlüssig erklären können. Es ist davon auszugehen, dass den Koalitionen aufgrund Art. 9 Abs. 3 GG eine Normsetzungsbefugnis zur Verfügung stehen muss. Ohne eine solche Befugnis kann die Tarifautonomie ihren Schutzzweck in privater wie öffentlicher Hinsicht nicht erfüllen.20 Historisch betrachtet ist die Schaffung einer Normsetzungsbefugnis mit unmittelbarer und zwingender Wirkung Kernelement der Tarifautonomie, ohne diese existiert sie nicht. Die öffentliche Dimension der tarifautonomen Normsetzungsbefugnis hat indes nicht zur Folge, dass der Gebrauch von dieser Befugnis als staatliches Handeln anzusehen wäre. Es ist also zu tren-
16 Zur Zuordnung des Tarifvertrags zum Privatrecht: BVerfG 27.2.1973, NJW 1973, 1320 (1322); Giesen, Tarifvertragliche Rechtsgestaltung für den Betrieb, S. 134; Houben, Die Rückwirkung von Tarifverträgen, S. 74 ff.; Waltermann, FS Söllner, S. 1251 (1265); Kirchhof, Private Rechtsetzung, S. 182 ff.; Richardi, Kollektivgewalt und Individualwille bei der Gestaltung des Arbeitsverhältnisses, S. 164. 17 Ausführlich dazu unten 5. Kap. III. 3. 18 Siehe dazu oben 2. Kap. D. III.; 3. Kap. D. I. 19 Vgl. dazu oben 2. Kap. E. 20 Waltermann, FS Söllner, S. 1251 (1252).
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nen zwischen der Befugnis und ihrem Gebrauch. Die Befugnis zur Normsetzung als solche ist aus verfassungsrechtlichen Gründen zu schaffen. Ihre Betätigung ist aber Gebrauch von einem Grundrecht durch Grundrechtsträger, nicht staatliches Handeln. Dieser Grundrechtsgebrauch erfolgt in Form eines Vertrags, also in privatrechtlicher Form. In diesem Aspekt, also der Rolle der Koalitionen als Grundrechtsträger und des im Abschluss des Tarifvertrages liegenden Grundrechtsgebrauchs21, liegt der eigentliche Schlüssel zur Lösung des Problems der Grundrechtsbindung. Art. 1 Abs. 3 GG zählt die Grundrechtsadressaten abschließend auf. Danach sind Gesetzgebung, vollziehende Gewalt und Rechtsprechung unmittelbar an die Grundrechte gebunden. Dies gilt für alle Bereiche der Grundrechtsbindung, auch für die staatlichen Schutzpflichten.22 Das BAG hat sich bei der Begründung der unmittelbaren Grundrechtsbindung maßgeblich auf den Gedanken gestützt, der Abschluss von Tarifverträgen sei Gesetzgebung i. S. d. Art. 1 Abs. 3 GG.23 Tarifverträge seien Gesetze im materiellen Sinne, weil die Tarifvertragsparteien objektives Recht für die Arbeitsverhältnisse der Beteiligten setzen.24 Der Tarifvertrag setze Rechtsnormen.25 Sofern der Gesetzgeber den Tarifvertragsparteien eine Kompetenz übertrage, bei deren Ausübung er selbst an die Grundrechte gebunden sei, könne er die Normsetzungsbefugnis nur in den Grenzen dieser Bindung übertragen.26 Dagegen wird traditionell eingewandt, dass Art. 1 Abs. 3 GG nur solche Rechtssätze erfasse, die von der Staatsgewalt gesetzt werden.27 Regelwerke auf privatautonomer Grundlage seien kein Ausfluss öffentlicher Gewalt und daher auch nicht unmittelbar an den Grundrechten zu messen.28 Dies gelte auch dann, wenn der Gesetzgeber solchen privaten Regelungen normative Wirkung verleihe29 und insbesondere auch für Tarifverträge.30 Das BAG ist diesem Einwand früher mit der Erwägung entgegengetreten, Tarifverträge seien autonomes Recht.31 Art. 1 Abs. 3 GG meine Gesetzgebung nicht 21 BAG 27.5.2004, AP Nr. 5 zu § 1 TVG, Gleichbehandlung, m. Anm. Waltermann; Schlachter, JArbR 40 (2003), 51 (56). 22 Vgl. dazu oben 4. Kap. B. 23 BAG 15.1.1955, BAGE 1, 258 (262); BAG 23.11.1957, BAGE 4, 240 (250 ff.). 24 BAG 15.1.1955, BAGE 1, 258 (262); BAG 23.11.1957, BAGE 4, 240 (252). 25 BAG 15.1.1955, BAGE 1, 258 (262). 26 BAG 23.11.1957, BAGE 4, 240 (251). 27 Herdegen in: Maunz/Dürig, GG, Art. 1 Abs. 3, Rn. 100; Höfling in: Sachs, GG, Art. 1, Rn. 96; Starck in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Art. 1, Rn. 255; Waltermann, FS Söllner, S. 1251 (1274). 28 Herdegen in: Maunz/Dürig, GG, Art. 1 Abs. 3, Rn. 100. 29 Herdegen in: Maunz/Dürig, GG, Art. 1 Abs. 3, Rn. 100. 30 Dieterich in: ErfK, GG, Einl. Rn. 20. 31 BAG 15.1.1955, BAGE 1, 258 (263).
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nur im Sinne der staatlichen Gesetzgebung.32 Der Begriff des Gesetzes werde in der deutschen Rechtsordnung im Sinne von objektivem Recht schlechthin gebraucht.33 Damit sei auch autonom gesetztes Recht erfasst.34 Aufgrund der Bedeutung der Setzung autonomen Rechts sei es nicht akzeptabel, dass sich dieses in Widerspruch zur Verfassung setzen dürfe.35 Im Kern besteht damit ein Dissens, ob Art. 1 Abs. 3 GG auch privat gesetztes Recht erfasst.
I. Der Begriff der Gesetzgebung nach Art. 1 Abs. 3 GG Bei Tarifverträgen handelt es sich entgegen der älteren Rechtsprechung des BAG nicht um Gesetzgebung i. S. d. Art. 1 Abs. 3 GG.36 In seiner neueren Rechtsprechung hat das BAG die entsprechende Position zu Recht aufgegeben.37 Soweit das BAG früher die Auffassung vertrat, Art. 1 Abs. 3 GG sei nicht nur auf den staatlichen Gesetzgeber bezogen, begründete es diese Sichtweise maßgeblich mit Vorschriften des einfachen Rechts, insbesondere § 2 EGBGB. Danach ist Gesetz im Sinne des Bürgerlichen Gesetzbuchs jede Rechtsnorm. Bereits der Wortlaut des EGBGB lässt die frühere Argumentation des BAG nur begrenzt überzeugend erscheinen, denn § 2 EGBGB beschränkt die Definition auf das Bürgerliche Gesetzbuch und das EGBGB. Im Übrigen kann das einfache Recht grundsätzlich keine Verfassungsvorschriften definieren. Damit geht auch der Rückgriff des BAG auf die §§ 1 GVG und 550 ZPO a. F. ins Leere. Einzig die herangezogene Vorschrift des Art. 97 Abs. 1 GG kann hier überhaupt einen Aussagewert besitzen, da diese jedenfalls als Element der systematischen Auslegung des Art. 1 Abs. 3 GG herangezogen werden könnte. Aus der Systematik des Grundgesetzes wird aber deutlich, dass das Grundgesetz mit Gesetzgebung durchweg den parlamentarischen Gesetzgeber meint.38 Die Begrifflichkeiten „Gesetzgebung, vollziehende Gewalt und Rechtsprechung“ werden vom Grundgesetz stets zur Kennzeichnung der staatlichen Gewalt verwandt.39 Denn die Staatsgewalt wird vom Volk durch besondere Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und
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BAG 15.1.1955, BAGE 1, 258 (263). BAG 15.1.1955, BAGE 1, 258 (263). 34 BAG 15.1.1955, BAGE 1, 258 (263). 35 BAG 15.1.1955, BAGE 1, 258 (263). 36 Dieterich in: ErfK, GG, Einl., Rn. 20; Fastrich, FS Richardi, S. 127 (128); Herdegen in: Maunz/Dürig, GG, Art. 1 Abs. 3, Rn. 100; Henssler in: HWK, TVG, Einl. 15; Höfling in: Sachs, GG, Art. 1, Rn. 88; Rieble/Klump in: MüArbR § 169 Rn. 37; Starck in: MKS, GG, Art. 1, Rn. 255; Singer, ZfA 1995, 611 (616); Söllner, Sonderbeilage zu Heft 24/NZA 2000, 33 (41); Waltermann, FS Söllner, S. 1251 (1274); ders., RdA 1990, 138 (141); ders., Anm. zu BAG 27.5.2004, AP Nr. 5 zu § 1 TVG, Gleichbehandlung. 37 BAG 27.5.2004, AP Nr. 5 zu § 1 TVG, Gleichbehandlung, unter B. II. 1. d). 38 Singer, ZfA 1995, 611 (616); Waltermann, FS Söllner, S. 1251 (1274). 39 Waltermann, RdA 1990, 138 (141). 33
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der Rechtsprechung ausgeübt (Art. 20 Abs. 2 S. 1 und 2 GG).40 Damit ist die Gesetzgebung Tätigkeit eines Staatsorgans. Das bedeutet, Gesetzgebung wie Rechtsetzung im Sinne des Grundgesetzes liegen nur dann vor, wenn ein in der Staatsorganisation vorgesehenes Staatsorgan diese vornimmt. Gesetzgebung i. S. d. Art. 1 Abs. 3 GG meint damit parlamentarische Gesetzgebung bzw. Rechtssätze, die auf der Ausübung staatlicher Macht beruhen.41 Die Koalitionen sind aber keine solchen Staatsorgane. Ihre Rechtsetzung ist daher keine Gesetzgebung i. S. d. Art. 1 Abs. 3 GG.42 Dies lässt keinen Raum für eine Grundrechtsbindung und zwar auch nicht mit Blick auf die grundrechtlichen Schutzpflichten. Das BAG hatte sich früher hilfsweise noch einer Parallele zur Selbstverwaltung der Gemeinden nach Art. 28 Abs. 2 GG bedient. Auch diese seien zur Rechtsetzung ermächtigt und könnten dabei nicht von einer Bindung an die Grundrechte frei sein. Es könne nicht sein, dass nur die staatliche Gesetzgebung bei der Setzung objektiven Rechts gebunden sei, nicht aber jedes zur Setzung objektiven Rechts befugte Subjekt. Zunächst einmal ist darauf zu verweisen, dass die Gemeinden als Bestandteil der Länder anzusehen sind und deren Rechtsaufsicht unterliegen. Die Rechtsetzung der Gemeinde erfolgt untergesetzlich durch Satzungen. Art. 28 Abs. 2 GG lässt die Regelung der eigenen Angelegenheiten durch die Gemeinde nur im Rahmen der Gesetze zu. Wenn aber die gemeindliche Normsetzung im Rahmen der Gesetze erfolgen muss, kann sie schon vom Wortlaut des Art. 28 Abs. 2 GG aus nicht als Gesetz im Sinne des Art. 1 Abs. 3 GG verstanden werden. Vielmehr ist die Tätigkeit der Gemeinden als Verwaltungstätigkeit anzusehen, die der Bindung an die Grundrechte unterliegt. Dies aber eben nicht, weil z. B. der Erlass von Satzungen Gesetzgebung wäre, sondern, weil diese Verwaltung ist.43 Mit den Worten des BVerfG ist „die Rechtsetzungstätigkeit der Gemeinden [. . .] ungeachtet dessen, daß sie in mancher Hinsicht legislatorischen Charakter aufweist [. . .] im System der staatlichen Gewaltenteilung (Gesetzgebung, Verwaltung und Rechtsprechung) dem Bereich der Verwaltung zuzuordnen“.44 In dieser Folge sind die Gemeinden an die Verfassung und damit an die Grundrechte nach Art. 1 Abs. 3 GG gebunden. Wurzel dieser Bindung ist die Zuordnung zur Verwaltung. Eine Zuordnung, die für die Tarifvertragsparteien gerade nicht vorgenommen werden kann und die einer geschriebenen Grundlage in der Verfassung entbehrt. Die Tarifvertragsparteien sind reine Grundrechtsträger und keine Einheiten, die in die Staatsorganisation integriert sind.45 Insofern überzeugt auch der Rückgriff des BAG auf eine Parallele zu den Gebietskörperschaften nicht. 40
Waltermann, FS Söllner, S. 1251 (1274); ders., RdA 1990, 138 (141). Höfling in: Sachs, GG, Art. 1, Rn. 88; Waltermann, RdA 1990, 138 (141). 42 So auch die neuere Rechtsprechung des BAG 30.8.2000, NZA 2001, 613 (614); vgl. bereits Canaris, AcP 184 (1984), 201 (243); Fastrich, FS Richardi, S. 127 (128). 43 Hennecke in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Hopfauf, GG, Art. 28, Rn. 92 f. 44 BVerfG 22.11.1983, NVwZ 1983, 430 (431); Oerder, NJW 1990, 2104. 41
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II. Zwischenergebnis Da es sich bei der tariflichen Normsetzung damit nicht um Gesetzgebung oder Verwaltung i. S. d. Art. 1 Abs. 3 GG und nicht um die Ausübung hoheitlicher Gewalt46 handelt, bleibt die Frage, ob sich dennoch eine Grundrechtsbindung begründen lässt, die unmittelbar auf der Auslegung des Art. 1 Abs. 3 GG beruht. Sieht man Tarifverträge als private Rechtsetzung47, kann dies nur dann der Fall sein, wenn auch die private Rechtsetzung unter Art. 1 Abs. 3 GG fallen kann. Es geht dabei um die Frage, ob Grundrechtssubjekte, die zur privaten Rechtsetzung ermächtigt werden, an die Grundrechte gebunden sind. Indes ist die Rechtsetzung durch Private kein Akt öffentlicher Gewalt. Sie wird auch nicht dazu, indem die durch Private gesetzten Normen als Rechtsnormen bezeichnet werden.48 Die tarifliche Normsetzungsbefugnis ist keine Gesetzgebung und keine Ausübung staatlicher hoheitlicher Gewalt. Sie ist private Normsetzung und als solche nicht an die Grundrechte oder grundrechtliche Schutzpflichten gebunden.49 Damit lässt sich aus verfassungsrechtlicher Sicht eine Grundrechtsbindung, auch in Form einer Schutzpflichtenbindung, der Tarifvertragsparteien nicht begründen. Soweit also die Verfassungsordnung in Rede steht, ist es nicht vertretbar, anzunehmen, die Tarifvertragsparteien seien bei ihrer Normsetzung unmittelbar an Grundrechte oder auch an staatliche Schutzpflichten gebunden. Sie sind Grundrechtsträger, die privates Recht setzen.50 Dabei unterliegen sie nur der Bindung an die verfassungsmäßige Ordnung, also dem Gesetzesrecht. Dies bedeutet aber keine Freistellung von der Verfassung. Vielmehr ist der Gesetzgeber ebenso wie die Rechtsprechung unmittelbar grundrechtsgebunden und damit auch verpflichtet, den Grundrechtsschutz sicher zu stellen.51 Damit ist zunächst der Gesetzgeber gefordert, die Regelungsbefugnisse der Tarifvertragsparteien so zu gestalten, dass die Tarifvertragsparteien keinerlei Befugnisse erhalten, die zu Grundrechtsverletzungen führen. Soweit er dies nicht oder nur unzureichend tut, sind die Gerichte gefordert, im Rahmen der verfassungskonformen Auslegung des einfach 45
Dieterich in: ErfK, GG, Einl., Rn. 20; Kirchhof, Private Rechtsetzung, S. 185. Dieterich in: ErfK, GG, Einl., Rn. 20; Henssler in: HWK, TVG Einl. Rn. 15; Richardi in: MüArbR, § 152 Rn. 34; Waltermann, FS 50 Jahre BAG, S. 913 (914 f.). 47 BVerfG 27.2.1973, NJW 1973, 1320 (1322); Giesen, Tarifvertragliche Rechtsgestaltung für den Betrieb, S. 134; Houben, Die Rückwirkung von Tarifverträgen, S. 74 ff.; Söllner/Waltermann, Arbeitsrecht, Rn. 356; Waltermann, RdA 1990, 138 (139, 141); ders., FS Söllner, S. 1251 (1265); Kirchhof, Private Rechtsetzung, S. 182 ff.; Richardi, Kollektivgewalt und Individualwille bei der Gestaltung des Arbeitsverhältnisses, S. 164. 48 BVerfG 23.4.1986, NJW 1987, 827 f.; Jarass in: Jarass/Pieroth, GG, Art. 1, Rn. 31; Stern, Staatsrecht III/1, S. 1277 ff. 49 Richardi in: MüArbR § 12 Rn. 23. 50 Waltermann, Anm. zu BAG 27.5.2004, AP Nr. 5 zu § 1 TVG, Gleichbehandlung; Schlachter, JArbR 40 (2003), 51 (56). 51 BAG 30.8.2000, NZA 2001, 613 (615). 46
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zwingenden Gesetzesrechts der Tarifnormsetzung Schranken zu ziehen oder das Verfahren nach Art. 100 Abs. 1 GG dem BVerfG zur Entscheidung vorzulegen.52
III. Grundrechtsbindung privater Normsetzung Dem Modell, das die Normsetzungsbefugnis der Tarifvertragsparteien privatrechtlich betrachtet53, könnte allerdings die sowohl in der Rechtsprechung als auch in der Literatur auffindbare Überlegung entgegen stehen, die aus der Anordnung der Normsetzungsbefugnis im TVG eine solche Grundrechtsbindung herleiten. Dabei sind drei Ansätze zu unterscheiden. Die Delegationslehre54, die Legitimationslehre55 und die Integrationslehre.56 Alle diese Lehren haben einen gemeinsamen Ausgangspunkt. Aus der Erkenntnis heraus, dass die tarifliche Normsetzung gesetzesgleiche Wirkung für die Arbeitsverhältnisse hat, wird die Notwendigkeit abgeleitet, diese dogmatisch auf ein Fundament zu stellen, das diese Rechtswirkungen erklärt und aus dem sich die Grenzen der Normsetzungsbefugnis ableiten lassen. Gleichzeitig wird auch die Frage der Begründung von Tarifwirkungen für Außenseiter von den betreffenden Überlegungen betroffen. Gemeinsame Grundlage aller dieser Theorien ist, dass die Normsetzungsbefugnis der Tarifvertragsparteien diesen die gleiche faktische Rechtsmacht verleiht wie dem Gesetzgeber und dass daher ein vergleichbares Korrektiv zum Grundrechtsschutz eingezogen werden muss. Dieses Korrektiv wird in einer Kontrolle der Tarifvertragsnormen an der Grundrechtsordnung in verschiedener Intensität gesehen. Sieht man die tarifvertragliche Normsetzung in erster Linie als privatrechtlichen Vertrag, der auch durch die Verleihung der Normsetzungsbefugnis nicht zu einer quasi-staatlichen Rechtsmacht mutiert,57 sind diese Überlegungen hinsichtlich einer unmittelbaren Bindung der Normsetzungsbefugnis problematisch. Die vorstehenden Theorien bedienen sich zum Erreichen des Zieles der Grundrechtsbindung einer Krücke, nämlich der Auslegung der §§ 4 Abs. 1, 3 Abs. 3 TVG dahin gehend, dass eine entsprechende Grundrechtsbindung exzeptionell 52
Vgl. dazu oben 4. Kap. BVerfG 27.2.1973, NJW 1973, 1320 (1322); Waltermann, FS Söllner, S. 1251 (1265); Waltermann, RdA 1990, 138 (139, 141); Giesen, Tarifvertragliche Rechtsgestaltung für den Betrieb, S. 134; Houben, Die Rückwirkung von Tarifverträgen, S. 74 ff.; Kirchhof, Private Rechtsetzung, S. 182 ff.; Richardi, Kollektivgewalt und Individualwille bei der Gestaltung des Arbeitsverhältnisses, S. 164. 54 Dazu ausführlich 5. Kap. B. III. 1. 55 Dazu ausführlich 5. Kap. B. III. 2. 56 Dazu ausführlich 5. Kap. B. III. 3. 57 Dieterich in: ErfK, GG, Einl., Rn. 20; Kirchhof, Private Rechtsetzung, S. 153, 182 ff.; Richardi, Kollektivgewalt und Individualwille, S. 164; Waltermann, FS Söllner, S. 1251 (1265). 53
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durch diese begründet wird. Dabei werden verschiedene Modelle der Herleitung vertreten. Für eine Grundrechtsbindung der Tarifvertragsparteien müssten diese folgende Anforderungen erfüllen. Die tarifliche Normsetzung muss als staatliche Tätigkeit anzusehen sein. Dies kann nur durch eine Übertragung staatlicher Hoheitsbefugnisse der Fall sein. Ist dies nicht der Fall, kann eine Grundrechtsbindung nur noch durch staatliche Anordnung begründet werden. Dann müsste es aber verfassungsrechtlich überhaupt zulässig sein, dass der Staat private Normgeber mit Befugnissen ausstattet, die zu Grundrechtsverletzungen führen können und eine solche staatliche Anordnung müsste auch tatsächlich bestehen. 1. Delegationstheorie Damit gelangt man zur ersten Theorie, die eine Grundrechtsbindung der tariflichen Normsetzung zu begründen sucht. Die Delegationstheorie58 geht davon aus, dass die Tarifvertragsparteien im Rahmen einer vom Staat übertragenen Kompetenz normsetzend tätig sind. Daraus folgt ein quasi-öffentlich-rechtlicher Status der Tarifvertragsparteien. Sie werden als grundrechtsgebunden angesehen, ihre Normsetzung wird mehr oder weniger stark öffentlich-rechtlichen Bindungen zu unterwerfen gesucht. Die Tarifautonomie erscheint insgesamt als eine institutionalisierte Ordnung, in der ein staatlich legitimierter Kompetenzträger agiert. Den Tarifvertragsparteien kommt in diesem Fall eine staatsvertretende Kompetenz zu. Ihre Normsetzungsbefugnis wird als staatlich delegiert angesehen.59 Das BAG hat diese Position lange Zeit vertreten60, versagt ihr aber seit dem Ende des 20. Jahrhunderts zunehmend die Gefolgschaft.61 Auch hier ist es bedeutsam, zwischen der Normsetzungsbefugnis einerseits und der Regelungsbefugnis andererseits zu differenzieren. Denn dass die Normsetzungsbefugnis staatlich delegiert wird, hat nicht zwangsläufig zur Konsequenz, dass auch die Regelungsbefugnis als staatlich delegiert anzusehen ist.62 Kerngedanke der Delegationstheorie ist, dass die Koalitionen bei der tarifvertraglichen Ordnung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen delegierte Staatsgewalt wahrnehmen. Aufgrund dieser Wahrnehmung von Staatsgewalt durch die Tarifvertragsparteien 58 BAG 15.1.1955, NJW 1955, 684 ff.; BAG 6.4.1955, ArbuR 1955, 284 (285); BAG 23.3.1957, BAGE 4, 240 (251); BAG 10.11.1982, DB 1983, 717 (719); Adomeit, Rechtsquellenfragen im Arbeitsrecht, S. 136; ders., RdA 1967, 297 (305); Diekhoff, DB 1958, 1245 (1247); Hinz, Tarifhoheit und Verfassungsrecht, S. 134 ff.; Krüger, RdA 1957, 201 (203); Peters/Ossenbühl, Die Übertragung von öffentlich-rechtlichen Befugnissen auf die Sozialpartner unter besonderer Berücksichtigung des Arbeitszeitschutzes, S. 15; Ossenbühl, NJW 1965, 1561 (1562). 59 Vgl. Fn. 58. 60 BAGE 15.1.1955, NJW 1955, 684 (686); BAG 6.4.1955, ArbuR 1955, 284 (285); BAG 23.3.1957, BAGE 4, 240 (251); BAG 10.11.1982, DB 1983, 717 (719). 61 BAG 30.8.2000, NZA 2001, 613 (615); BAG 27.5.2004, NZA 2004, 1399 (1401 ff.). 62 Dagegen insbesondere: Waltermann, ZfA 2000, 53 (75).
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5. Kap.: Wahrung staatlicher Schutzpflichten
werden die Tarifvertragsparteien den gleichen Bindungen an die Grundrechte unterworfen wie der Gesetzgeber. Wie bereits gezeigt, handelt es sich bei der tarifvertraglichen Normsetzung nicht um Gesetzgebung i. S. d. Art. 1 Abs. 3 GG.63 Tarifvertragliche Normsetzung ist kein staatliches Handeln. Damit ist die Delegationstheorie abzulehnen. Das BAG hat indes in seiner früheren Rechtsprechung noch einen weiteren Begründungsansatz nachgeschoben. Die Autonomie zur Normsetzung leite sich aus ausdrücklicher staatlicher Übertragung im Tarifvertragsgesetz her. Die normative Wirkung der Regeln des Tarifvertrags gehe also letztlich auf hoheitliche Gewalt zurück. Sei diese an die Verfassung gebunden, so müsse dies auch für die delegierte Macht gelten.64 Indes vernachlässigt dies den Charakter der tarifvertraglichen Normsetzung als Grundrechtsausübung.65 Die normative und zwingende Wirkung des Tarifvertrags ist keine Verleihung oder Delegation staatlicher Normsetzungsbefugnis. Sie ist Realisierung des effektiven Grundrechtsgebrauchs von Art. 9 Abs. 3 GG.66 Damit vermag die Delegationstheorie und im Übrigen auch die Integrationstheorie67 und die Legitimationstheorie68 keinen geeigneten Ausgangspunkt für die Herleitung der tarifvertraglichen Normsetzung zu bestimmen.69 Vielmehr handelt es sich bei der tariflichen Normsetzung in ihrer verfahrensrechtlichen Dimension um Grundrechtsausübung70, wobei das Grundrecht die unmittelbare und zwingende Wirkung des Tarifvertrags um deren Verwirklichung Willen voraussetzt. Der Gesetzgeber delegiert also keine Normsetzungsbefugnis. Er verleiht der privaten Normsetzung der Koalitionen die unmittelbare und zwingende Wirkung, damit diese von ihrem Grundrecht Gebrauch machen können. Die tarifliche Rechtsetzung wird damit vom Gesetzgeber anerkannt und mit einem Geltungsbefehl ausgestattet.71 Die Festlegung eines Geltungsbefehls für privat gesetzte Normen ist aber grundrechtsgebundenes Staatshandeln. Legt der Gesetzgeber also mit den §§ 1 Abs. 1, 4 Abs. 1 TVG die unmittelbare und zwingende Wirkung des Tarifvertrags fest, so ist er bei dieser Schaffung eines Geltungsbefehls grundrechtsgebunden. Die rechtliche Anerkennung des Tarifvertrags und die Festlegung seiner unmittelbaren und zwingenden Wirkung führt damit dazu, dass die 63
Siehe oben 5. Kap. B. I. BAG 15.1.1955, NJW 1955, 684 (686). 65 Höfling in: Sachs, GG, Art. 9, Rn. 68; Kemper in: MKS, GG, Art. 9, Rn. 140; Schlachter, JArbR 40 (2003), 51 (56). 66 Singer, ZfA 1995, 611 (619). 67 Vgl. dazu unter 5. Kap. B. III. 2. 68 Vgl. dazu unter 5. Kap. B. III. 3. 69 Höfling in: Sachs, GG, Art. 9, Rn. 93, Art. 1, Rn. 15 f. 70 BAG 27.5.2004, NZA 2004, 1399 (1401). 71 Kirchhof, Private Rechtsetzung, S. 133 ff., 171; Ruffert, Vorrang der Verfassung und Eigenständigkeit des Privatrechts, S. 97; Waltermann, FS Söllner, S. 1251 (1263). 64
B. Zur Grundrechtsbindung der Tarifvertragsparteien
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Regelungen der Tarifvertragsparteien mit einem Geltungsbefehl versehen werden, der nicht zu ihrer Disposition steht.72 Diese Verleihung eines Geltungsbefehls ist aber keine Delegation staatlicher Hoheitsbefugnisse. Sie bedeutet zunächst nur, dass und wie eine bestimmte privat gesetzte Norm gelten soll. Allerdings ist die Festlegung des Ob und Wie des Geltungsbefehls zunächst nur eine prozedurale Regelung. Sie bezieht sich nicht auf die Regelungszuständigkeit, sondern nur auf die abstrakte An- und Zuerkennung der Rechtswirkungen der getroffenen Regelungen durch den Staat.73 Die Rechtmäßigkeit einer Norm wird von Vorschriften, die das Verfahren ihres Zustandekommens regeln, in der Regel nur mit Bezug auf eben dieses Verfahren, nicht aber auf den Inhalt der Norm bestimmt. Die Frage, ob ein Vertrag geschlossen ist und wie ein geschlossener Vertrag rechtlich wirkt, hat nichts mit der Frage zu tun, ob der Vertragsinhalt auch rechtlich wirksam ist. Vertragsabschluss und Wirkung sind gegenüber der Frage zulässiger Vertragsinhalte selbstständige Kategorien. Die Grenzen der Regelungsbefugnis und der Normsetzungsbefugnis sind damit zu trennen. Natürlich kann die Normsetzungsbefugnis bestimmten Kontrollen hinsichtlich des Prozedere des Zustandekommens von Normen unterworfen werden. Das Erfordernis der Tariffähigkeit ist hierfür ein Beispiel. Die Frage der Normsetzungsbefugnis ist aber die falsche Stellschraube für eine inhaltliche Kontrolle der gesetzten Rechtsnormen. Diese erfolgt über die Regelungsbefugnis. Insofern liegt in der tariflichen Normsetzungsbefugnis zunächst nur die Regelung der Anerkennung und Wirkweise der Normen des Tarifvertrags. Gibt es ein rechtliches Gebilde, das einen Tarifvertrag darstellt, so regelt die Normsetzungsbefugnis in §§ 1 Abs. 1, 4 Abs. 1 TVG dessen Geltungsweise. Dies betrifft aber nicht die inhaltlichen Grenzen der Vorschriften des Tarifvertrags. Lediglich soweit sich aus der Normsetzungsbefugnis ergibt, welche Normen überhaupt tatbestandlich als tarifvertragliche Vorschriften anzusehen sind und damit die entsprechenden Rechtsfolgen haben, hat diese einen Bezug zur Wirksamkeit des Tarifvertrags. Dieser Effekt tritt aber gerade unabhängig davon ein, ob die Regelungen des Tarifvertrags inhaltlich wirksam vereinbart werden können. Die Grenzen der Regelungsbefugnis hingegen ergeben sich aus Regelungen, die sich auf die Wirksamkeit von Vertragsinhalten beziehen, nicht auf die Frage, ob diese Vertragsinhalte die Rechtsfolgen der §§ 1 Abs. 1 und 4 Abs. 1 TVG auslösen können. Die auf den Vertragsinhalt bezogenen Regelungen stellen den Rahmen für die Aufgaben dar, die die Tarifvertragsparteien wahrnehmen. Oder genauer gesagt, sie gestalten den Umfang dessen, was die zur Verfügung gestellte Kompetenz erfasst. Dies bildet rechtlich das, was die Delegationstheorie mit staatlich delegierter Rechtsetzung zu umschreiben sucht. Die Anerkennung der Rechtsverbindlichkeit der Regelungen ist eine rein prozedurale Frage. Sie un72 73
Kirchhof, Private Rechtsetzung, S. 153, 171. Kirchhof, Private Rechtsetzung, S. 171.
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5. Kap.: Wahrung staatlicher Schutzpflichten
terscheidet nicht nach dem Inhalt der Normen, sondern erkennt an, was die tatbestandlichen Anforderungen für einen Tarifvertrag erfüllt.74 Ist dieser wirksam zustande gekommen, regelt die Vorschrift die Rechtsfolgen. Eine Befugnis, diese Rechtswirkungen selbst zu bestimmen, haben die Tarifvertragsparteien nicht. Setzen sie Recht, das die Tatbestandsvoraussetzungen der §§ 1 Abs. 1, 4 Abs. 1 TVG erfüllt, so treten die Folgen kraft Gesetzes ein, nicht kraft einer Rechtsmacht der Tarifvertragsparteien. Insofern ist der Begriff der Delegation auch hier unscharf. Es wird keine Normsetzungsbefugnis delegiert, sondern private Normsetzung mit einem staatlichen Anerkennungsbefehl versehen, der nicht zur Disposition der Normsetzer steht.75 Eigenständige Anforderungen an die Wirksamkeit der inhaltlichen Regelungen des Tarifvertrags stellt die Vorschrift nicht. Diese hinein zu interpretieren ist nur dann erforderlich, wenn man es dem Gesetzgeber weitgehend verwehrt, Gegenstände zu regeln, die Inhalt von Arbeitsverhältnissen sein können. Mithin ist ein Rückgriff auf die Delegationstheorie nur im Lichte der von Biedenkopf vertretenen Exklusivitätsthese76 notwendig, weil hier das einfache, zwingende, auf die Regelungsbefugnis bezogene Gesetzesrecht der staatlichen Regelungsbefugnis weitgehend entzogen ist. Bei jeder anderen Betrachtungsweise liegt in der Normsetzungsbefugnis der Tarifvertragsparteien der Geltungsbefehl für den Tarifvertrag. Dieser Geltungsbefehl belässt den Tarifvertrag aber als privates Handeln und inkorporiert diesen nicht in das staatliche Recht.77 Bedenken gegen die Delegationstheorie werden auch mit Blick auf Art. 80 GG geltend gemacht.78 Denn die Delegation staatlicher Kompetenzen erfordere grundsätzlich die Bestimmtheit der übertragenen Befugnis und die Kontrolle des Delegaten in einem Art. 80 GG vergleichbaren Rahmen.79 Des Weiteren wird eingewandt, die Delegationstheorie verkenne, dass Art. 9 Abs. 3 GG den Tarifvertragsparteien einen Bereich autonomer Rechtsetzung gewährleiste und insofern keine Delegation vorliegen könne, weil eine Regelungsbefugnis bereits kraft Verfassung bestehe.80 Der Gesetzgeber habe die bei Schaffung von TVG und GG vorgefundene Ordnung lediglich rechtlich anerkannt.81 Diese Bedenken sind hin74 Zur Problematik der staatlichen Anerkennung vgl. insgesamt Kirchhof, Private Rechtsetzung, S. 153, 171. 75 Kirchhof, Private Rechtsetzung, S. 171. 76 Siehe dazu oben 2. Kap. B. II. 77 Kirchhof, Private Rechtsetzung, S. 153. 78 Zöllner, RdA 1962, 453 (457); Hanau H., RdA 1996, 158 (176); Preis, Kollektives Arbeitsrecht, § 103, S. 231. 79 Hanau H., RdA 1996, 158 (176); Preis, Kollektives Arbeitsrecht, § 103, S. 231. 80 Waltermann, RdA 1990, 138 (143); ders., FS Söllner, S. 1251 (1257 f.); Söllner, AuR 1966, 257 (260 f.); Säcker, Gruppenautonomie und Übermachtkontrolle im Arbeitsrecht, S.241, 243. 81 Säcker, Gruppenautonomie und Übermachtkontrolle im Arbeitsrecht, S. 241, 243.
B. Zur Grundrechtsbindung der Tarifvertragsparteien
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gegen nicht die entscheidenden Einwände, ihre Grundannahmen werden hier ohnehin nur begrenzt geteilt.82 Die Frage der Normsetzungsbefugnis betrifft die rechtliche Anerkennung der Regelungen der Tarifvertragsparteien. Diese sind nach Art. 9 Abs. 3 GG für Regelungen, die die Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen betreffen, unabhängig von der Frage des Verhältnisses dieser Befugnis zur staatlichen Gesetzgebung, zuständig. Dennoch bleibt die Frage, ob durch die rechtliche Anerkennung der Tarifvertragsnormen durch den Gesetzgeber eine staatliche Aufgabe delegiert wird. Dies ist aber nicht der Fall. Die Tarifvertragsparteien bleiben private Normsetzer und sind damit nicht im staatlichen Auftrag oder als staatliche Beliehene tätig. Sie sind als Grundrechtsträger tätig, die im Interesse ihrer Mitglieder Verträge schließen.83 Diesen eine unmittelbare und zwingende Wirkung zu verleihen, ist der Gesetzgeber nach Art. 9 Abs. 3 GG verpflichtet. Diese Frage betrifft indes allein die rechtliche Anerkennung und Wirkungsweise der Normen des Tarifvertrags. Ob der Inhalt des Tarifvertrags wirksam ist, entscheidet sich anhand der auf die Regelungsbefugnis bezogenen Regelungen des Staates. Über diese wird dann auch der Grundrechtsschutz sicher gestellt. Die §§ 1 Abs. 1, 4 Abs. 1 TVG erkennen damit zunächst einmal wertneutral den Vorschriften des Tarifvertrags eine bestimmte rechtliche Wirkung zu. Sie umschreiben die Art von Normen, die einer solchen Anerkennung fähig sind. Damit enthalten sie zwar tatbestandliche Einschränkungen der Tarifmacht. Diese beziehen sich allerdings nicht auf die Zulässigkeit von Regelungen im engeren Sinne, sondern auf die Art der Regelungen, die anerkannt werden. Es wird also Inhaltsnormen, allgemein und ohne Einfluss der Tarifvertragsparteien, die unmittelbare und zwingende Wirkung als Rechtsnorm zuerkannt.84 Welchen Inhalt die Inhaltsnorm hat, ist im Rahmen von §§ 1 Abs. 1, 4 Abs. 1 TVG gleich, solange sie tatbestandlich eine Inhaltsnorm bleibt. Davon zu trennen ist die Frage, ob die materielle Regelung, die die Inhaltsnorm enthält, wirksam ist. Diese Frage beantwortet sich nicht nach den §§ 1 Abs. 1, 4 Abs. 1 TVG, sondern nach den Regelungen, die die zulässigen Inhalte von (Tarif-)Verträgen betreffen. Die Delegationstheorie, mithin die Vorstellung, es handele sich bei der tariflichen Normsetzung um die Delegation staatlicher Hoheitsgewalt, überzeugt insgesamt nicht. Eine Grundrechtsbindung der privaten Normsetzung der Tarifvertragsparteien vermag sie nicht zu begründen. Die tarifliche Normsetzungsbefugnis ist durch staatliche Regelungen anerkannt. Diese Anerkennung betrifft die Rechtswirkungen von Verträgen, die tatbestandlich die Anforderungen der §§ 1 Abs. 1, 4 Abs. 1 TVG erfüllen. Eine Anerkennung des Vertragsinhaltes ist damit nicht verbunden. Diese richtet sich nach der sonstigen Rechtsordnung. An diese 82 83 84
Zur verfassungsrechtlichen Gewährleistung der Tarifautonomie vgl. oben 3. Kap. Schlachter, JArbR 40 (2003), 51 (56). Kirchhof, Private Rechtsetzung, S. 171 f.
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5. Kap.: Wahrung staatlicher Schutzpflichten
sind die Tarifvertragsparteien gebunden. Eine Grundrechtsbindung, auch eine Bindung an staatliche Schutzpflichten, scheidet danach aus. Vielmehr ist der Weg über die verfassungskonforme Auslegung des einfachen Rechts, und sofern diese nicht möglich ist oder Umschaltnormen fehlen, die Richtervorlage nach Art. 100 Abs. 1 GG85 zu beschreiten.86 2. Integrationstheorie Nach der sogenannten Integrationstheorie oder Lehre von der verfassungsunmittelbaren Autonomie leitet sich die Normsetzungsbefugnis unmittelbar aus Art. 9 Abs. 3 GG ab.87 Soweit in diesem Zusammenhang vertreten wird, in Art. 9 Abs. 3 GG liege eine unmittelbare Verankerung der Regelungsbefugnis, die im Verhältnis zum staatlichen Gesetzgeber autonom ist, würde dies dazu führen, dass die Tarifvertragsparteien ihr Recht zur Normsetzung aus der gleichen Rechtsquelle ableiten, wie der Gesetzgeber, nämlich aus der Verfassung.88 Die Verfassung gewährleistet nach diesem Verständnis den Tarifvertragsparteien eine Regelungszuständigkeit für die Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen, aus der auch die Normsetzungsbefugnis erwächst.89 Dies wird im Schrifttum unter anderem auch deshalb anders gesehen, weil die Regelung des Art. 9 Abs. 3 GG gerade keine detaillierten Regelungen über die Zuständigkeit, das Normsetzungsverfahren oder die Form enthalte, wie dies ansonsten im Grundgesetz bei der Begründung einer Zuständigkeit der Fall sei.90 Allerdings ändert die Annahme der unmittelbar in Art. 9 Abs. 3 GG verankerten Normsetzungsbefugnis nichts daran, dass die Tarifvertragsparteien bei deren Gebrauch Grundrechtsträger sind.91 Sie machen von einem Grundrecht Gebrauch und bleiben damit private Normsetzer. Daneben wird eingewandt, eine Rechtsnormwirkung müsse stets durch staatliche Anordnung oder Anerkennung erfolgen.92 Eine originäre Normsetzungsbefugnis Privater könne es unter dem Grundgesetz nicht geben. Im Übrigen vermenge die Integrationstheorie Regelungs- und Normsetzungsbefugnis. Auch sie führt zu einer verfassungswidrigen unmittelba85
Oeter, AÖR 119 (1994), 529 (550); vgl. dazu oben 4. Kap. E. II., III. 1. e). Vgl. dazu oben 4. Kap. E. II, III. 1. e). 87 Biedenkopf, Grenzen der Tarifautonomie, S. 102 ff.; Galperin, FS Molitor, S. 143, 153 ff., insbes. S. 158; Henssler in: HWK, TVG, Einl. Rn. 15. 88 Galperin, FS Molitor, S. 143 (157); ähnlich:Waltermann, ZfA 2000, 53 (83). 89 Waltermann, Rechtsetzung durch Betriebsvereinbarung zwischen Privatautonomie und Tarifautonomie, S. 117; ders., ZfA 2000, 53 (65); ders., FS 50 Jahre BAG, S. 913 (914); Reim, in: Däubler, TVG, § 1, Rn. 59. 90 Houben, Rückwirkung des Tarifvertrags, S. 112; Kemper, Die Bestimmung des Schutzbereichs der Koalitionsfreiheit, S. 76; Kemper in: MKS, GG, Art. 9, Rn. 140. 91 Schlachter, JArbR 40 (2003), 51 (56). 92 Houben, Die Rückwirkung von Tarifverträgen, S. 101; Kemper, Die Bestimmung des Schutzbereichs der Koalitionsfreiheit, S. 72. 86
B. Zur Grundrechtsbindung der Tarifvertragsparteien
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ren Bindung von Grundrechtsträgern an die Grundrechte. Sie ist damit insgesamt nicht überzeugend. 3. Legitimationstheorie Die neuere Rechtsprechung des BAG93 und ein großer Teil vor allem der neueren Lehre94 ist, ausgehend von der Erkenntnis, dass die Delegationslehre nicht überzeugt, zu einer anderen, nicht weniger extremen Sichtweise übergegangen. Danach stellt sich die tarifvertragliche Normsetzungsbefugnis nicht als vom Staat delegierte Kompetenz dar, sondern begründet sich durch den legitimatorischen Akt des Beitritts.95 Bildlich gesprochen geht es also um eine Legitimation von unten nach oben. Daher ist dieses Theorem auch stark durch demokratieorientierte Elemente geprägt, die im Kern auf eine Rückbindung der Normsetzungsbefugnis an die Mitglieder der Koalitionen hinauslaufen.96 Im Kern geht die Legitimationslehre davon aus, dass die Tarifautonomie die kollektive Ausübung von Privatautonomie durch die Koalitionsmitglieder ist.97 Die Koalitionsfreiheit realisiere sich im Verbandsbeitritt und der damit verbundenen Selbstbindung an die durch den Verband geschlossenen Tarifverträge, wobei die Bindung nicht nur für die bereits geschlossenen, sondern auch für die zukünftigen Tarifverträge erteilt sein soll.98 Die normative Wirkung des Tarifvertrags ergibt sich damit aus der Ermächtigung zum Vertragsabschluss, die in der Beitrittserklärung 93 BAG 25.2.1998, NZA 1998, 715 (716); BAG 11.3.1998, NZA 1998, 716 (718 f.); BAG 30.8.2000, NZA 2001, 613 (615); BAG 4.4.2000, NZA 2002, 917 (918); BAG 27.5.2004, AP Nr. 5 zu § 1 TVG, Gleichbehandlung unter B. II. 2. 94 Dieterich, FS Schaub, S. 113 (121 ff.); Kittner/Deinert in: Kittner/Zwanziger, Arbeitsrechtshandbuch, § 16, Rn. 8; Löwisch/Rieble, TVG § 1 Rn. 219; Singer, ZfA 1995, 611 (620, 626 ff.); weitere Nachweise bei Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht, Bd. 1, S. 559 f. 95 BAG 25.2.1998, NZA 1998, 715 (716); BAG 11.3.1998, NZA 1998, 716 (718 f.); BAG 30.8.2000, NZA 2001, 613 (615); BAG 4.4.2000, NZA 2002, 917 (918); Dieterich, FS Schaub, S. 113 (121 ff.); Kittner/Deinert in: Kittner/Zwanziger, Arbeitsrechtshandbuch, § 16, Rn. 8; Neuner, ZfA 1998, 83 (85 f.); Zöllner, RdA 1962, 453 (457); ders., RdA 1964, 443 (446); Richardi, Kollektivgewalt und Individualwille, 163 f. 96 Besonders: Bayreuther, Tarifautonomie als kollektiv ausgeübte Privatautonomie, S. 98 ff. 97 BAG 25.2.1998, NZA 1998, 715 (716); BAG 11.3.1998, NZA 1998, 716 (718 f.); BAG 30.8.2000, NZA 2001, 613 (615); BAG 4.4.2000, NZA 2002, 917 (918); Dieterich, FS Schaub, S. 117 (121 ff.); Kittner/Deinert in: Kittner/Zwanziger, Arbeitsrechtshandbuch, § 16, Rn. 8; Löwisch/Rieble in: MüArbR § 163 Rn. 17; Zachert, DB 1990, 986 (987); vgl. dazu ausführlich Bayreuther, Tarifautonomie als kollektiv ausgeübte Privatautonomie, S. 56 ff.; 177 ff. und passim. 98 BAG 25.2.1998, NZA 1998, 715 (716); BAG 11.3.1998, NZA 1998, 716 (718 f.); BAG 30.8.2000, NZA 2001, 613 (615); BAG 31.7.2002, NZA 2002, 1155 (1156); BAG 27.11.2002, NZA 2003, 812 (813); Dieterich, FS Schaub, S. 117 (121); Kittner/Deinert in: Kittner/Zwanziger, Arbeitsrechtshandbuch, § 16, Rn. 8; Rieble, ZfA 2000, 5 (10); Zöllner, RdA 1962, 453 (457); ders., RdA 1964, 443 (446).
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5. Kap.: Wahrung staatlicher Schutzpflichten
zur Koalition erblickt wird.99 Damit ist die Legitimationstheorie Ausdruck eines „Unbehagens“ dahin gehend, dass der Einzelne einer Regelung unterworfen ist, die einer Sphäre entstammt, an der er keinen Teil hat.100 Bis zu diesem Punkt betrifft die Legitimationstheorie lediglich die Normsetzungsbefugnis. Nunmehr geht ein Teil der Vertreter der Legitimationstheorie noch einen Schritt weiter und vertritt, dass die Tarifvertragsparteien durch den Beitrittsakt auch die Legitimation zur privaten Rechtsetzung verliehen bekommen. Der Koalitionsbeitritt wird damit zur Legitimation nicht nur einer Normsetzungs-, sondern auch einer privatautonomen Rechtsetzungsbefugnis. Die Tarifautonomie erwächst damit zur autonomen Rechtsetzungsbefugnis der Koalitionen.101 Der Beitretende unterwirft sich dieser Rechtsetzungsmacht.102 Diese Sichtweise stellt die Tarifautonomie in den Dienst des individuellen Grundrechts auf Koalitionsbeitritt. Konstruktiv bedarf es hier jedoch eines gewissen Kniffs, um neben der Normsetzungsbefugnis, unter die eine Unterwerfung erfolgen soll, auch eine Regelungsbefugnis zu begründen, die autonom ist. Sofern nämlich eine Unterwerfung unter die Normen des Tarifvertrags erfolgt, ist hiermit zunächst einmal nur die unmittelbare und zwingende Wirkung des Tarifvertrags legitimiert, die dieser für die Mitglieder nach den § 4 Abs. 1 und 3 TVG hat. Angenommen wird aber, das einzelne Koalitionsmitglied transferiere mit dem Beitritt seine privatautonome Regelungsbefugnis auf den Verband und dieser erlange damit eine „autonome“ Regelungsbefugnis. Danach hat die tarifliche Normsetzungsbefugnis einen in erster Linie privatautonomen Ursprung, der sich in der Unterwerfung der Mitglieder, also einem privatautonomen Akt, unter die Normsetzungsmacht der Koalitionen äußert.103 Diese werden damit zur Normsetzung legitimiert. Dies legitimiert primär die Normsetzungsbefugnis der Tarifvertragsparteien und spielt eine erhebliche Rolle bei der Frage nach der Grundrechtsbindung der Tarifvertragsparteien. Bei diesem Verständnis machen die Bürger und damit die Koalitionen als Grundrechtsberechtigte von Grundrechten Gebrauch104 und der Staat schützt die Grundrechte als Grundrechtsadressat. Die Betätigung der Normsetzungsbefugnis ist aber in erster Linie Grundrechtsgebrauch durch die Koalitionen als Grund99 BAG 25.2.1998, NZA 1998, 715 (716); BAG 11.3.1998, NZA 1998, 716 (718 f.); Dieterich, FS Schaub, S. 113 (121 ff.); Singer, ZfA 1995, 611 (616 f.); Richardi, Kollektivgewalt und Individualwille, S. 161. 100 Zöllner, RdA 1962, 453 (455). 101 Dieterich, FS Schaub, S. 117 (121 ff.); vgl. auch Bayreuther, Tarifautonomie als kollektiv ausgeübte Privatautonomie, S. 59; Dieterich, RdA 2002, 1 (9). 102 Bayreuther, Tarifautonomie als kollektiv ausgeübte Privatautonomie, S. 59. 103 BAG 25.2.1998, NZA 1998, 715 (716); BAG 11.3.1998, NZA 1998, 716 (718 f.); BAG 30.8.2000, NZA 2001, 613 (615); BAG 27.5.2004, AP Nr. 5 zu § 1 TVG, Gleichbehandlung unter B. II. 2. c); Kittner/Deinert in: Kittner/Zwanziger, Arbeitsrechtshandbuch, § 16, Rn. 8. 104 BAG 27.5.2004, AP Nr. 5 zu § 1 TVG, Gleichbehandlung.
B. Zur Grundrechtsbindung der Tarifvertragsparteien
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rechtsträger105, auch wenn dieser Gebrauch zugleich einem vom Staat verfolgten Zweck dient.106 Damit wird eine unmittelbare Grundrechtsbindung der Tarifvertragsparteien im Rahmen ihrer Betätigung abgelehnt.107 Ein zentrales Anliegen der Legitimationstheorie ist die Auflösung von Bedenken gegen die Delegationstheorie. Es käme bei der Annahme einer staatlich delegierten Normsetzungsbefugnis, deren Folge eine unmittelbare Grundrechtsbindung wäre, zu einer verdeckten Tarifzensur.108 Es entstehe in diesem Fall eine übermäßige nicht mehr sachgerechte Inhaltskontrolle von Tarifnormen.109 Da jede tarifvertragliche Regelung zwangsläufig die Berufsfreiheit von Arbeitgebern und Arbeitnehmern berühre, müsse eine unmittelbare Grundrechtsbindung im Grunde auf eine umfassende Verhältnismäßigkeitsprüfung des Tarifvertrags hinaus laufen.110 Dies würde im Ergebnis zu einer hohen Kontrolldichte führen, die Art. 9 Abs. 3 GG gerade verwehre.111 Dieser Gedanke orientiert sich maßgeblich am Schutz des einmal erzielten Verhandlungsergebnisses der Tarifvertragsparteien, ist also primär prozedural motiviert, auch wenn er sich auf die tarifvertragliche Regelung bezieht. Der Sache nach geht es also darum, den Tarifvertrag von einer Inhaltskontrolle durch die Rechtsprechung zu befreien und ihn weitgehend von einer Kontrolle fernzuhalten.112 Dieses Ansinnen ist anerkennenswert, zumal vollkommen zutreffend darauf hingewiesen wird, dass die Arbeitsgerichte mit den entsprechenden Verhältnismäßigkeitserwägungen regelmäßig überfordert wären.113 Dass eine Korrektur über juridical self restraint114 hier möglich wäre115, wird zwar anerkannt, aber nicht als Lösung angesehen.116 Dem ist auch grundsätzlich zuzustimmen, weil in der Tat ein dogmatisches Konzept tragfähig sein muss, ohne dass die Gerichtsbarkeit anerkannte Prüfungsmaßstäbe verbiegen muss – dieses Problem ist bereits im Rahmen der Kritik an der weiten Tatbestandstheorie angesprochen worden.117 Insbesondere wird die Verhältnis105 Dieterich in: ErfK, GG, Einl., Rn. 20; Kittner/Deinert in: Kittner/Zwanziger, Arbeitsrechtshandbuch, § 16, Rn. 8; Schlachter, JArbR 40 (2003), 51 (56). 106 Vgl. zur Kompensation struktureller Unterlegenheit oben 2. Kap. D. 107 Kittner/Deinert in: Kittner/Zwanziger, Arbeitsrechtshandbuch, § 16, Rn. 7 ff. 108 Dieterich, FS Schaub, S. 117 (122 ff.); Kittner/Deinert in: Kittner/Zwanziger, Arbeitsrechtshandbuch, § 16, Rn. 8. 109 Dieterich, FS Schaub, S. 117 (122 ff.). 110 Krause in: Jacobs/Krause/Oetker, Tarifvertragsrecht, § 1, Rn. 39; dafür aber Waltermann, Anm. zu BAG 27.5.2004, AP Nr. 5 zu § 1 TVG, Gleichbehandlung. 111 Dieterich in: ErfK, GG, Einl., Rn. 48. 112 Kittner/Deinert in: Kittner/Zwanziger, Arbeitsrechtshandbuch, § 16, Rn. 8. 113 Dieterich, FS Schaub, S. 117 (122). 114 Vgl. dazu allgemein Folke, DVBl. 1988, 1191 ff. 115 In diesem Sinne Säcker/Oetker, Grundlagen und Grenzen der Tarifautonomie, S. 288 ff. 116 Dieterich, FS Schaub, S. 117 (122). 117 Vgl. dazu oben 2. Kap. C.
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5. Kap.: Wahrung staatlicher Schutzpflichten
mäßigkeitsprüfung des Tarifvertrags als Gefahr für die Tarifautonomie betrachtet.118 Die Rechtsprechung des BAG ist hier teilweise widersprüchlich. Sucht es im Rahmen der Inhaltskontrolle den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz zurückzudrängen, hat es diesen unlängst im Arbeitskampfrecht stärker in den Vordergrund gestellt.119 Dabei fällt auf, dass das BAG hier keine Probleme mit einer Prüfung hat, die weitestgehend auf der Ebene der Angemessenheit stattfindet. Dass dies die Gefahr einer Arbeitskampfzensur durch die Instanzgerichte im einstweiligen Verfügungsverfahren120 verstärkt und in jedem Fall hohe Anforderungen an das judical self restraint stellt, wird mit Blick auf das Arbeitskampfrecht als nicht ausschlaggebend erachtet. Sieht man allerdings, dass das BAG auch hier im Ergebnis weiche Prüfungsmaßstäbe für die Kontrolle von Akten der Tarifvertragsparteien herzustellen sucht, die im Gegensatz zur vorherigen Rechtsprechung den Handlungsspielraum der Tarifvertragsparteien erweitert haben, so stehen die Entscheidungen nicht vollkommen inkonsequent nebeneinander. Besonders deutlich wird daran, dass der Kern des Streits um den Geltungsgrund der Normsetzungsbefugnis eher die Frage der erwünschten oder unerwünschten Bindung des Tarifvertrags an inhaltliche Kontrollen mit Blick auf die Verfassung ist. a) Realitätsnähe der Legitimationstheorie Kritik wird an der Theorie der „kollektiv ausgeübten Privatautonomie“ mit Blick auf die sozialen und wirtschaftlichen Wirkungen des Tarifvertrags geübt. Der Tarifvertrag sei aus Sicht des einzelnen Arbeitnehmers nicht mit dem Abschluss eines Arbeitsvertrags zu vergleichen.121 Der einzelne Arbeitnehmer sei der tariflichen Normsetzung genauso ausgeliefert wie der Rechtsetzung durch den Staat. Insbesondere seien die Mitwirkungsmöglichkeiten des Einzelnen im Verband nicht so stark, dass seine Freiheit hinreichend geschützt werde.122 Dies gelte umso mehr, als der Tarifvertrag nicht eine reine Verwirklichung der Interessen der im Verband Koalierten sei, sondern im Zusammenwirken mit einer anderen Koalition entstehe und der Tarifunterworfene daher dem Einfluss von Drittinteressen durch den Abschluss des Tarifvertrags erst ausgeliefert werde.123
118 Dieterich, FS Schaub, S. 117 (125); Kittner/Deinert in: Kittner/Zwanziger, Arbeitsrechtshandbuch, § 16, Rn. 8; a. A. Waltermann, Anm. BAG 27.5.2004, AP Nr. 5 zu § 1 TVG, Gleichbehandlung. 119 BAG 19.6.2007, NJW 2007, 1055. 120 Vgl. dazu ArbG Chemnitz 5.10.2007, AuR 2007, 393; LAG Sachsen, 2.11.2007, NZA 2007, 59 ff., vgl. Greiner, LAGE Art. 9 GG, Arbeitskampf Nr. 80. 121 Däubler, Das Arbeitsrecht I, Rn. 243; Fastrich, FS Richardi, S. 127 (129). 122 Houben, Die Rückwirkung von Tarifverträgen, S. 95; Möstl, JZ 1999, 202 (203); Schlachter, FS Schaub, S. 651 (654); Schwarze, ZTR 1996, 1 (5); Singer, ZfA 1995, 611 (627 f.); Giesen, Tarifvertragliche Rechtsgestaltung für den Betrieb, S. 250; Wiedemann, RdA 1997, 297 (302).
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Darüber hinaus werde die Beteiligung an dem Zustandekommen des Tarifvertrags teilweise nur sehr mittelbar ausgeübt.124 Auch das Argument, wer keine Bindung an den Tarifvertrag wolle, könne austreten, sei nicht überzeugend, weil der Arbeitnehmer sich auch als Außenseiter regelmäßig der Bezugnahme auf den Tarifvertrag ausgesetzt sehe.125 Die Legitimationslehre müsste also konsequenterweise das gesetzliche Verbot der Bezugnahmeklausel fordern, jedenfalls soweit sie sich auf eine negative Tarifvertragsfreiheit beruft, die allerdings ohnehin verfassungsrechtlich nicht gewährleistet ist.126 Im Übrigen wird eingewandt, der Austritt sei für den Arbeitnehmer eher eine Maßnahme, die zu einer noch schlechteren Berücksichtigung seiner Interessen führe, als der Verbleib im Verband.127 Insofern entstehe durch das Zusammenwirken der Koalitionen im Tarifvertrag eine soziale Gewalt, gegenüber der der Einzelne des Schutzes bedürfe. Dies gelte unabhängig von einer Mitgliedschaft. b) Einfachrechtliche Widersprüchlichkeit der Legitimationstheorie Des Weiteren wird geltend gemacht, die Theorie der kollektiv ausgeübten Tarifautonomie sei mit einer Vielzahl von Regelungen des Tarifvertragsgesetzes, insbesondere § 3 Abs. 2 TVG, nicht in Einklang zu bringen.128 Sie stehe im Widerspruch zur Entstehungsgeschichte der Tarifautonomie, die in erheblichem Umfang von einem die Arbeits-, Wirtschafts- und Sozialordnung beeinflussenden Verständnis der Tarifautonomie ausgegangen sei, die mit einem reinen Stellvertreterstatus nicht zu erklären sei.129 Überhaupt wird aus der einfach-rechtlichen Gestaltung des Tarifvertragsgesetzes eine Vielzahl von Einwänden gegen die
123 Houben, Die Rückwirkung des Tarifvertrags, S. 96; Schlachter, JArbR 40 (2003), 51 (54); Wiedemann, RdA 1997, 297 (302); Waltermann, ZfA 2000, 53 (75 f.); ders., FS Söllner, S. 1251 (1268); ders., FS 50 Jahre BAG, 913 (918, 920); Oetker, SAE 1999, 149 (151); Kemper, Die Bestimmung des Schutzbereichs der Koalitionsfreiheit, S. 72; Söllner, Sonderbeil. NZA Heft 24/2000, 33 (41). 124 Houben, Die Rückkwirkung von Tarifverträgen, S. 95. 125 Rieble, ZfA 2000, 5 (26); Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht, Bd. I, § 15 III 3. b) (7), weist daraufhin, dass bei 80% der Angestellten eine solche Bezugnahme existiert (Stand 1998); zur begrenzten Möglichkeit, sich dem Tarifvertrag zu entziehen auch Schlachter, JArbR 40 (2003), 51 (54). 126 Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht, Bd. I, § 15 III 3. b) (7); eine negative Tarifvertragsfreiheit gibt es nicht: vgl. BVerfG 11.7.2006, NJW 2007, 51 (53); BAG 29.7.2009 NZA 2009, 1424; BAG 1.7.2009 NZA 2010, 53; vgl. zum Ganzen: Preis/ Ulber, D., NJW 2007, 465 (466 f.) sowie Preis/Greiner, ZfA 2009, 825 (828 ff.). 127 Zum Ganzen: Däubler, Arbeitsrecht 1, Rn. 243. 128 Vgl. dazu insgesamt und ausführlich Houben, Die Rückwirkung von Tarifverträgen, S. 81 ff., m. umfangreichen Nachweisen; Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht, Bd. I, § 15 III 2. b) (2), (4), S. 562 ff.; Ricken, Autonomie und tarifliche Rechtsetzung, S. 109; Oetker, SAE 199, 149 (151); Thüsing in: Wiedemann, TVG, § 1, Rn. 50. 129 Waltermann, ZfA 2000, 53 (72 ff.).
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5. Kap.: Wahrung staatlicher Schutzpflichten
Lehre der kollektiv ausgeübten Privatautonomie hergeleitet.130 Die dogmatischen Verrenkungen und Überdehnungen des TVG, die erforderlich sind, um die mandatorische Theorie mit diesem in Einklang zu bringen, sind jedenfalls nicht unerheblich. Im Kern werden im Rahmen der Kritik diejenigen Vorschriften genannt, die gerade auf eine Mitgliedschaft verzichten, dennoch aber eine Bindung wie ein Mitglied anordnen und zwar im Interesse der Ordnung und Befriedung des Arbeitslebens.131 Wird diese Ordnungsfunktion als zweite Säule der verfassungsrechtlichen Gewährleistung der Tarifautonomie begriffen, so kann die Legitimationstheorie in der Tat nur begrenzt überzeugen, nämlich dort, wo die Mitglieder erfasst werden, indem hier eine (zusätzliche) Legitimation verliehen wird. Soweit sich das Gesetz aber des Tarifvertrags bedient, um bestimmte Regelungen im Interesse der Ordnung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen auszudehnen, so geschieht dies eben maßgeblich als Ausfluss der parallelen Dimension der Tarifautonomie, der Ordnungsfunktion. Eine Vielzahl von Einwänden bezieht sich auch auf die öffentliche Funktion, die der Tarifvertrag habe, insbesondere auf die Ordnungsfunktion des Tarifvertragssystems, die von der Legitimationstheorie verkannt werde.132 c) Außenseiter und Legitimationstheorie Hinsichtlich der Frage der Außenseiterbindung fehlt der Legitimationstheorie indes jede Begründung. Soweit die mandatorische Sichtweise sich auf die Überlegung stützt, der Außenseiter müsse vor der Normsetzung durch die Tarifvertragsparteien geschützt werden, weil ansonsten seine negative Koalitionsfreiheit verletzt werde, überzeugt sie nicht. Nach der Rechtsprechung von BVerfG und BAG beschränkt sich die negative Koalitionsfreiheit auf ein Fernbleiberecht.133 Allein dadurch, dass jemand den Normen eines Tarifvertrags unterworfen wird, den fremde Tarifvertragsparteien geschlossen haben, wird die negative Koalitionsfreiheit nicht berührt.134 Es gibt keine negative Tarifvertragsfreiheit.135 130 Ausführlich: Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht, Bd. I, § 15 III 2. b) (2), S. 562; Houben, Die Rückwirkung von Tarifverträgen, S. 78 ff., m.w. N. 131 Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht, Bd. I, § 15 III 2. b) (2), S. 562 ff.; Thüsing in: Wiedemann, TVG, § 1, Rn. 50, so z. B. §§ 3 Abs. 2 und Abs. 3 TVG; sowie § 77 Abs. 3 und 87 BetrVG u. a. Vorschriften. 132 Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht, Bd. I, § 15 III 3. b) (2). 133 BVerfG 11.7.2006, NJW 2007, 51 (53); m.w. N.; BAG 29.7.2009, NZA 2009, 1424; BAG 1.7.2009, NZA 2010, 53. 134 BVerfG 11.7.2006, NJW 2007, 51 (53); BAG 29.7.2009, NZA 2009, 1424; BAG 1.7.2009, NZA 2010, 53. 135 BVerfG 11.7.2006, NJW 2007, 51 (53); BAG 29.7.2009, NZA 2009, 1424; BAG 1.7.2009, NZA 2010, 53; vgl. dazu ausf. Preis/Ulber, D., NJW 2007, 465 (466 f.); Dieterich in: ErfK, GG, Art. 9, Rn. 36; Säcker, Grundprobleme der kollektiven Koalitionsfreiheit, 1969, S. 36 ff.; Seifert, ZfA 2001, 1 (16); Schubert, RdA 2001, 199 ff.; Oetker in: Kollektives Arbeitsrecht – case by case, S. 66; Gamillscheg, Kollektives Arbeits-
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Rechtsprechung und ein erheblicher Teil der Lehre sehen damit die mitgliedschaftliche Legitimation, jedenfalls für den Bereich der negativen Koalitionsfreiheit, gerade nicht als ein relevantes Kriterium an. Der Beitritt zu den Tarifvertragsparteien vermag die Rechtsfolge der unmittelbaren und zwingenden Wirkung des Tarifvertrags auszulösen. Der Staat ist indes nicht gehindert, die Wirkungen des Tarifvertrags auf Personen auszudehnen, die nicht Mitglieder der tarifschließenden Koalitionen sind, ohne dass dadurch der Schutzbereich der Koalitionsfreiheit berührt würde.136 d) Grundrechtsverzicht durch Verbandsbeitritt? Des Weiteren wird darauf hingewiesen, dass die Legitimationstheorie in Schwierigkeiten gerät, soweit sie eine Einwilligung in zukünftige, belastende Regelungen konstruieren will.137 Dass ein Arbeitnehmer bei Beitritt zu einer Gewerkschaft einen Blankoscheck zu nach Art und Umfang unbekannten belastenden Regelungen ausstellt, ist in der Tat wenig überzeugend.138 Ebenso wenig kann man in der Beitrittserklärung eine Willenserklärung erblicken, die ein Einverständnis in Grundrechtsbeeinträchtigungen bedeutet.139 Bereits die Unterwerfungserklärung unter den Tarifvertrag muss in aller Regel fingiert werden.140 Hier gilt der Grundsatz volenti non fit iniuria nicht, weil die Koalitionsmitglieder nicht erkennen können, welche „Segnungen“ ihnen der Tarifvertrag hier bringen kann. Eine solche Einwilligung ist ohnehin nur eingeschränkt möglich. Es wird übersehen, dass der Grundsatz volenti non fit iniuria auf Vertretungskonstellationen nicht anwendbar ist.141 Insbesondere dann, wenn bei einer Urabstimmung einzelne Arbeitnehmer den Tarifabschluss ablehnen, müsste von einem Ende der Einwilligung ausgegangen werden, ein unpraktikabler Ansatz, weil die individuelle Zustimmung nicht ersichtlich ist. recht, Bd. I, § 8 1. b) (2), S. 376; Löwisch/Rieble in: Richardi/Wlotzke, Münchener Handbuch zum Arbeitsrecht, § 244, Rn. 5; Lorenz in: Däubler, TVG, § 3, Rn. 63; a. A. Reuter in: FS Wiedemann, S. 449 (478); Schleusener, ZTR 1998, 100 (101); Schüren, RdA 1988, 138 (139); Zöllner, RdA 1962, 453 (458); zur europarechtlichen Dimension Kocher, NZA 2007, 600 (603) und Steffens, Die negative Koalitionsfreiheit im europäischen und internationalen Recht, S. 121 ff., der nachweist, dass sich eine negative Tarifvertragsfreiheit im eurpäischen Recht nicht begründen lässt. 136 BVerfG 11.7.2006, NJW 2007, 51 (53); Sansone/Ulber, D., AuR 2008, 125 (130). 137 Fastrich, FS Richardi, S. 127 (130 f.); Schlachter, JArbR 40 (2003), 51 (54); dies., FS Schaub, S. 651 (654); Wiedemann, RdA 1997, 297 (302). 138 Fastrich, FS Richardi, S. 127 (130) und passim; Schlachter, JArbR 40 (2003), 51 (54); dies., FS Schaub, S. 651 (656); Oetker, SAE 1999, 149 (151); dafür aber: Houben, Die Rückwirkung von Tarifverträgen, S. 78; Rieble, ZfA 2000, 5 (15); Wolter, RdA 2002, 218 (220). 139 Rieble/Klumpp in MüArbR § 169 Rn. 38; Schlachter, JArbR 40 (2003), 51 (60). 140 Ricken, Autonomie und tarifliche Rechtsetzung, S. 108. 141 Fastrich, FS Richardi, S. 127 (130).
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Die soziale Wirklichkeit und die Legitimationstheorie weisen jedenfalls Friktionen auf.142 Dies lässt sich auch nicht mit dem Hinweis überspielen, der Beitritt des Arbeitnehmers erfolge auch mit der Zielsetzung, künftigen Tarifverträgen zu unterfallen.143 Auch dass dem Arbeitnehmer bewusst sein soll, dass es sich beim Tarifvertrag um einen Kompromiss handelt144, verfängt nicht, soweit es um grundrechtsrelevante Regelungen geht. Hier darf der Arbeitnehmer vielmehr davon ausgehen, dass ihn die Rechtsordnung schützen wird und dass er nicht durch den Verbandsbeitritt seine grundrechtlichen Positionen zum Abschuss freigibt. Es besteht auch kein Bedürfnis, einen solchen Willen des Arbeitnehmers zu fingieren, wenn man sich noch einmal vor Augen führt, dass die Tarifautonomie gerade im Interesse der Kompensation struktureller Unterlegenheit gewährleistet wird. Auch – wenn auch nicht ausschließlich – zu diesem Zweck, also zu seinem Schutz, wird der Arbeitnehmer beitreten.145 Und auch der Arbeitgeber wird kaum mit Freuden feststellen, dass er, wenn er sich zu einem Verbandsbeitritt entschließt, sich auf einmal der Beschränkung von Grundrechtspositionen ausgesetzt sieht. Jedenfalls für den grundrechtsrelevanten Bereich ist eine solch weitgehende Mandatierung abzulehnen. Auch ansonsten bestehen erhebliche Bedenken, eine derartige Blankovollmacht aus dem privatautonom vollzogenen Beitrittsakt zu konstruieren.146 Der Wille des Beitretenden ist zunächst darauf gerichtet, Mitglied eines Verbandes zu werden, der seine Interessen vertritt. Dass dieser Verband auch normativ wirkende Tarifverträge schließt, mag ein Motiv für den Beitritt sein, es ist aber nicht der Inhalt der Beitrittserklärung.147 Dies gilt insbesondere dann, wenn man sich die Konstellation des Beitritts zu einer neuen Koalition vor Augen führt, die erst auf dem Weg zur Tariffähigkeit ist. Denn zu diesem Zeitpunkt ist vollkommen unklar, ob der Beitritt irgendwann zur Geltung von Tarifverträgen führt.148 aa) Grenzen des Grundrechtsverzichts Im Übrigen wird im Rahmen der Theorie der Legitimation durch Grundrechtsverzicht mit der Beitrittserklärung noch einiges andere durcheinander geworfen. Die Einwilligung in Grundrechtseingriffe und Beeinträchtigungen ist nur dann zulässig, wenn der Bürger in diese konkret eingewilligt hat und deren Tragweite im Voraus kennt.149 Dies gilt auch im Privatrecht, selbst wenn man hier die ein142
Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht, Bd. I, § 15 III 3. b) (2). Houben, Die Rückwirkung von Tarifverträgen, S. 78. 144 Houben, Die Rückwirkung von Tarifverträgen, S. 78. 145 Schlachter, JArbR 40 (2003), 51 (54). 146 Fastrich, FS Richardi, S. 127 (131); Kirchhof, Private Rechtsetzung, S. 184. 147 Kirchhof, Private Rechtsetzung, S. 184; Schubert, RdA 2001, 199 (202). 148 So bereits 1930 Molitor, Kommentar zur Tarifvertragsverordnung, Einl. A., S. 12. 149 Dieterich in: ErfK, GG, Einl., Rn. 65; Dreier in: Dreier, GG, Einl., Rn. 131; Fastrich, FS Richardi, S. 128 (131); Fischinger, JuS 2007, 808; Jarass in: Jarass/Pieroth, 143
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willigungsfähigen Grundrechtspositionen großzügiger sehen würde.150 Sachs fasst zutreffend zusammen: „In Frage kommen kann nur ein Grundrechtsverzicht, der sich auf einen spezifischen, sachlich und zeitlich begrenzten Bestandteil einer grundrechtlichen Rechtsposition und der hiermit korrelierenden konkreten Eingriffshandlung bezieht.“ 151 Die Einwilligung muss also auf einen bereits eng konkretisierten Grundrechtseingriff bezogen sein. Nur partielle Einwilligungen sind überhaupt denkbar.152 Diese müssen jederzeit widerruflich sein.153 Dabei sind vor allem pauschale und zeitlich unbefristete Verzichtserklärungen unzulässig, insbesondere wenn unvorhergesehene Situationen und Rechtsfolgen eingeschlossen sind.154 bb) Grenzen der Legitimation durch Beitrittserklärung Nichts anderes geschieht aber bei einem Beitritt zu einer Tarifvertragspartei, insbesondere mit Blick auf die Nachbindung (§ 3 Abs. 3 TVG) des Tarifvertrags.155 An sich müsste die Legitimationstheorie damit zur Unzulässigkeit der Legitimationswirkung für grundrechtsbeschränkende Regelungen in Tarifverträgen kommen. Nicht nur deshalb, weil das Vorliegen einer Einwilligungserklärung in hohem Maße zweifelhaft ist, sondern diese auch stets unwirksam wäre.156 Stattdessen wird ein sekundärer Zusatzkontrollmaßstab implementiert, der die dogmatische Friktion beseitigen soll.157 Soweit Grundrechtspositionen nicht individuell verfügbar seien, soll die Legitimation beschränkt sein und der Verzichtswille auf Regelungen der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen beschränkt sein.158 Eine Vielzahl von grundrechtsbeeinträchtigenden Regelungen wird also im Rahmen der Legitimationstheorie in die Normsetzungsbefugnis gar als nicht transferiert angesehen.159 Die Kritik im Schrifttum an der Unsicherheit GG, Vorb. Art. 1, Rn. 36; Sachs in: Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. III/2, S. 915; vgl. zum Grundrechtsverzicht im Arbeitsrecht mit Blick auf einzelne Grundrechte Adam, AuR 2005, 129 ff. 150 Jarass in: Jarass/Pieroth, Vorb. Art. 1, Rn. 60. 151 Sachs in: Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. III/2, S. 915. 152 Sachs in: Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. III/2, S. 915. 153 Sachs in: Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. III/2, S. 916. 154 Dieterich in: ErfK, GG, Einl., Rn. 65; Dreier in: Dreier, GG, Einl., Rn. 131; Fastrich, FS Richardi, S. 127 (131); Fischinger, JuS 2007, 808. 155 Fastrich, FS Richardi, S. 127 (131); Schlachter, JArbR 40 (2003), 51 (54); Singer, ZfA 1995, 611 (628). 156 Fastrich, FS Richardi, S. 128 (131). 157 Dieterich in: ErfK, GG, Einl., Rn. 65. 158 Dieterich in: ErfK, GG, Einl., Rn. 65. 159 Dieterich in: ErfK, GG, Einl., Rn. 65.
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dieser Kontrollmaßstäbe160 ist berechtigt. Jedenfalls ist es unzutreffend, aus dem Verbandsbeitritt eines Arbeitnehmers einen Grundrechtsverzicht zu konstruieren. Dieser kann jedenfalls durch den Beitritt zu einer Koalition nie wirksam erklärt werden, weil die tatbestandsmäßige Voraussetzung der Vorhersehbarkeit niemals erfüllt sein kann. cc) Ergebnis Das zeigt, dass die Legitimationstheorie mit Blick auf den Grundrechtsschutz inkonsequent und unsauber ist. Es werden nicht nach mehr oder weniger präzisen Maßstäben grundrechtsrelevante Bereiche einem partiellen Verzicht zugeführt, wenn jemand zu einer Koalition beitritt. Die Voraussetzungen für einen Grundrechtsverzicht liegen nie vor. Deswegen liegt im Beitritt nicht nur in partiell beschränkter Weise, sondern in überhaupt keiner Weise eine Einwilligungserklärung in Grundrechtsbeeinträchtigungen. Und deswegen können die Tarifvertragsparteien zu solchen auch nicht durch die Beitrittserklärung ermächtigt werden.161 Die abweichende Rechtsprechung des BAG hat sich denn auch mit den Voraussetzungen des Grundrechtsverzichts erkennbar nicht auseinandergesetzt.162 e) Widersprüche im Arbeitskampfrecht Schließlich lässt auch das Arbeitskampfrecht eine solche rein legitimationsorientierte Differenzierung nach der Gewerkschaftszugehörigkeit nur schwerlich zu.163 Jedenfalls sind die gegenwärtigen Prinzipien schon im Rahmen der Diskussion um die Aufgabe des Grundsatzes der Tarifeinheit, der möglicherweise aufgrund des bei Tarifpluralität entstehenden defizitären Ordnungseffekts des Tarifvertragssystems durchaus – wenn auch in modifizierter Form – erhaltenswert wäre164, arg unter Beschuss geraten165, eben weil der Fokus auf die mitgliedschaftliche Bindung allein defizitär ist. f) Zutreffende Ablehnung der Grundrechtsbindung der Tarifvertragsparteien Auch sei auf den von Molitor bereits im Jahr 1930 erhobenen Einwand gegen die Legitimationslehre verwiesen: 160
Schlachter, JArbR 40 (2003), 51 (59). Fastrich, FS Richardi, S. 127 (130); Reinartz, Der Firmentarifvertrag als Regelungsinstrument, S. 177. 162 BAG 14.1.2004, ZTR 2004, 462 (464); BAG 27.2.2002, NZA 2002, 1099 (1103 f.). 163 Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht, Bd. I, § 15 III 3. b) (9), S. 564. 164 Vgl. dazu den Gesetzentwurf von Hromadka, NZA 2008, 384 ff. 165 Greiner, NZA 2007, 1023 (1026 ff.), hält dadurch selbst die lösende Aussperrung für erforderlich, um den Auswüchsen Herr zu werden, vgl. dazu auch Franzen, RdA 2008, 193 (200 ff.). 161
B. Zur Grundrechtsbindung der Tarifvertragsparteien
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„Jacobi will sich demgegenüber mit der Annahme helfen, dass die Willen der Mitglieder der Tarifparteien deren Willen bilden und so wenigstens mittelbar die Geltung der Tarifnormen im Einzelvertrag doch wieder auf den Willen der Einzelvertragsparteien zurückzuführen ist. Aber diese Konstruktion erscheint äußert bedenklich, auch wenn man davon absieht, daß sie sich auch gegenüber jedem staatlichen Rechtssatz, der an Rechtsgeschäfte oder Rechtshandlungen bestimmte Rechtsfolgen knüpft, also einem großen Teil der Privatrechtssätze durchführen ließe. Denn, wie auch Jacobi selbst zugibt, ist der Verband nun einmal etwas anderes als die Summe der ihn bildenden Personen und die Willen dieser etwas anderer als der Verbandswille.“ 166
Dennoch steht die Legitimationstheorie im Grundsatz mit der oben dargestellten Erkenntnis insoweit im Einklang, dass die Koalitionen nicht Adressaten, sondern Träger eines Grundrechts sind167, also keiner unmittelbaren Grundrechtsbindung unterliegen. Begründung dafür ist Art. 1 Abs. 3 GG, nach dem die Grundrechte staatsgerichtet sind. Danach ist eine Bindung Privater an die Grundrechte (unmittelbare Drittwirkung), wie sie früher vom BAG168 und einem Teil der Lehre169 angenommen wurde, ausgeschlossen. Durch die unmittelbare Drittwirkung im Privatrechtsverkehr sollten diejenigen, die durch private Machtstellung die Freiheit anderer Bürger beeinträchtigen können, unmittelbar an die Grundrechte gebunden und die Freiheit der unterlegenen Bürger auf diesem Wege geschützt werden. Indes hat dieses Modell wie dargestellt die klare Anordnung des Art. 1 Abs. 3 GG gegen sich. g) Unzutreffende Konstruktion einer Schutzpflichtenbindung der Tarifvertragsparteien Allerdings wird verbreitet angenommen, es bestehe dennoch eine Bindung der Tarifvertragsparteien an die grundrechtlichen oder staatlichen (!)170 Schutzpflichten für die Grundrechte. Diese Bindung wird unmittelbar gegen die Tarifvertragsparteien gerichtet.171 Ausgangspunkt dieser Überlegung ist, dass die Grundrechte den Staat dazu verpflichteten, die Rechtsordnung so zu gestalten, dass die einzelnen grundrechtlichen Gewährleistungen wirksam werden könnten. Insoweit treffe den Staat eine Schutzpflicht, einer Grundrechtsverletzung durch andere Grund166
Molitor, Kommentar zur Tarifvertragsverordnung, Einl. A., S. 11. Dieterich, FS Schaub, S. 113 (130 f.); ders. in: ErfK, GG, Einl., Rn. 20; siehe dazu oben 5. Kap. B. I. 168 BAG 15.1.1955, AP GG Art. 3 Nr. 4; BAG 10.11.1955, AP BGB § 611, Beschäftigungspflicht, Nr. 2; 10.5.1957, AP GG Art. 6 I, Ehe und Familie, Nr. 1; 29.6.1962, AP GG Art. 12 Nr. 25. 169 Nipperdey, Grundrechte und Privatrecht, S. 14 ff.; Leisner, Grundrechte und Privatrecht, S. 356 ff.; Gamillscheg, AcP 164 (1964), 386 (419 ff.). 170 Bereits hier zeigt sich der Widerspruch. 171 BAG 27.5.2004, AP Nr. 5 zu § 1 TVG, Gleichbehandlung unter B. II. 2. c); Rieble/Klump in: MüArbR § 169 Rn. 36 ff. 167
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5. Kap.: Wahrung staatlicher Schutzpflichten
rechtsträger entgegenzuwirken. Dementsprechend sei die Rechtsprechung verpflichtet, solchen Regelungen die Durchsetzung zu verweigern, die zu gleichheitswidrigen Differenzierungen führen oder eine unangemessene Beschränkung eines Freiheitsrechts zur Folge haben.172 aa) Zur Verfassungswidrigkeit der Schutzpflichtenbindung der Tarifvertragsparteien Im Ergebnis ist festzuhalten, dass wenn man eine irgend geartete mitgliedschaftliche Legitimation der Tarifvertragsparteien herleitet, nicht nur eine unmittelbare Bindung an die Grundrechte ausscheidet, sondern auch eine unmittelbare Bindung an staatliche Schutzpflichten. Denn durch die Unterwerfung unter die Normsetzungsbefugnis ist eben noch nichts über die inhaltlichen Grenzen der Regelungsbefugnis gesagt. Diese werden vom Staat durch das auch für die Tarifvertragsparteien zwingende Gesetzesrecht und die Rechtsprechung durch die Auslegung und Anwendung des einfachen Gesetzesrechts gezogen. Diese beiden staatlichen Stellen sind an die „staatlichen“ Schutzpflichten für die Grundrechte gebunden. bb) Die Schutzpflichtenbindung als unzulässige Rechtsfortbildung Man mag der Rechtsprechung auch ein Recht zur Rechtsfortbildung zubilligen, indem sie für konkrete Sachverhalte an einfachrechtliche Vorgaben anknüpft und damit für bestimmte Sachverhalte aus den Schutzpflichten Grenzen entwickelt, die wie einfachrechtliche Regelungen eines Sachverhaltes wirken.173 Die entsprechenden Befugnisse der Rechtsprechung hierzu sind oben dargestellt worden.174 Eine inhaltlich kaum konturierte Generalbindung an staatliche Schutzpflichten sprengt aber diesen Rahmen in jeder Hinsicht. Denn eine solche Theorie beinhaltet keine Einzelfallentscheidung eines konkreten Sachverhalts, sondern stellt sich als Vehikel zu einer unübersehbaren, unvorhersehbaren und jeglicher Rückbindung an das einfache Recht entledigten Generalermächtigung zum Übergriff in bestehende Tarifverträge dar. Dies sprengt die Grenzen zulässiger Rechtsfortbildung zur Wahrung grundrechtlicher Schutzpflichten gleich in mehrerer Weise. Zunächst einmal wäre in Konstellationen, in denen eine Schutzpflichtenproblematik hinsichtlich der Inhalte von Tarifverträgen auftritt, nach einfachrechtlichen Vorschriften zu suchen, über die sich die grundrechtlichen Schutzpflichten realisieren lassen. Ein großer Teil der mit Blick auf Art. 3 Abs. 1 GG problematischen Konstellationen lässt sich dabei wohl im Rahmen der Rechtsfortbildung unmittelbar oder entsprechend an § 138 BGB anlehnen und dadurch 172 173 174
BAG 27.5.2004, AP Nr. 5 zu § 1 TVG, Gleichbehandlung unter B. II. 2. c). Vgl. dazu oben 4. Kap. E. III. 1. e). Vgl. dazu oben 4. Kap. E.
B. Zur Grundrechtsbindung der Tarifvertragsparteien
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lösen175, soweit diese Bindung nicht sogleich erneut zur inhaltlich unkonturierten Generalvollmacht zum Eingriff in den Tarifvertrag denaturiert wird. Es bleibt also für bestimmte Konstellationen die Möglichkeit eines Rückgriffs auf einfaches Gesetzesrecht. Insofern erweist sich die Theorie der Schutzpflichtenbindung teilweise als überflüssig. Soweit es die Freiheitsrechte betrifft, wäre sorgsam zu prüfen, ob einzelne einfachgesetzliche Vorschriften eine Wurzel für die Rechtsfortbildung bieten. Diese müssten dann aber in einem erkennbaren Zusammenhang mit der zu kontrollierenden inhaltlichen Regelung des Tarifvertrags stehen.176 Nur dann, wenn es an solchen einfachgesetzlichen Vorschriften fehlt, stellt sich überhaupt die Frage, ob darüber hinaus noch die Konstruktion einer richterrechtlichen Generalklausel, wie sie die Schutzpflichtenbindung darstellt, legitim ist. Diese Frage ist zu verneinen. Dies schon deshalb, weil sie einen nahezu unübersehbaren und faktisch nicht prognostizierbaren Anwendungsbereich hat. Mit dem Gebot der Transparenz177 ist dies ebenso wenig in Einklang zu bringen, wie es mit Blick auf den Vorbehalt des Gesetzes178 hoch problematisch ist. Dies gilt umso mehr, als die Schutzpflichtenbindung inhaltlich nicht mehr besagt, als dass alles, was im Tarifvertrag stehen kann, auch kontrollfähig ist, ohne irgendwelche vorhersehbaren äußeren Grenzen zu definieren. Die Tarifvertragsparteien haben damit nur eine sehr begrenzte Möglichkeit, aus der Rechtsfortbildung konkrete Verhaltensmaßgaben abzuleiten. Mit dem Gebot der Normenklarheit und Normenbestimmtheit179 ist dies nicht zu vereinbaren. Erforderlich ist eine solcher Rückgriff ebenfalls nicht. Es bleibt der Rückgriff auf Art. 100 Abs. 1 GG.180 Im Grunde weist die Schutzpflichtenbindung damit eine doppelte Verletzung des Transparenzgebotes auf. Auch lässt sich der Verzicht auf die gesetzliche Regelung der Materie in Ansicht des Bedürfnisses eines kollektiven Regelungsmodells nach Rechtssicherheit nur dann rechtfertigen, wenn die Kontrollmaßstäbe massiv abgesenkt werden. Dies kollidiert aber mit dem Gebot des effektiven Grundrechtsschutzes. Schließlich verletzt die Schutzpflichtenbindung der Tarifvertragsparteien auch die Grundsätze zu den Grenzen einer generalklauselartigen Umsetzung grundrechtlicher Schutzpflichten.181 Denn sie ist auf grundrechtlich belastende Regelungen völlig unterschiedlicher Intensität stets mit dem gleichen abstrakten Kontrollmaßstab anwendbar. Dem unterschiedlichen Schutzbedürfnis einzelner Grundrechtspositionen wird damit ebenso wenig Rechnung getragen 175 Zur Bindung der Tarifvertragsparteien an dessen Wertmaßstäbe vgl. BAG 24.3. 2004, NZA 2004, 971 ff. 176 Vgl. dazu oben 4. Kap. E. III. 1. e). 177 Vgl. dazu oben 4. Kap. D. II. 178 Vgl. dazu oben 4. Kap. D. III. 1. 179 Vgl. dazu oben 4. Kap. D. II. 1. a). 180 Vgl. dazu oben 4. Kap. E. II, III. 1. e) cc). 181 Vgl. dazu 4. Kap. E. I. 2.
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5. Kap.: Wahrung staatlicher Schutzpflichten
wie den differenzierten Kontrollmaßstäben, die bei grundrechtlichen Schutzpflichten auflaufen. Insbesondere sind bei der Kontrolle des Tarifvertrags auf seine Vereinbarkeit mit grundrechtlichen Schutzpflichten stets nicht nur die Rechtsposition eines etwaigen Klägers, sondern die aller Tarifunterworfenen in den Blick zu nehmen. Auf Grund der erheblichen personalen Reichweite, insbesondere von Flächentarifverträgen, ergibt sich grundsätzlich ein erhöhtes Rechtfertigungsbedürfnis für den Rückgriff auf eine richterliche Rechtsfortbildung. Denn hier besteht ein erhebliches Interesse an einer abstrakt-generellen gesetzlichen Regelung, die den Grundrechtsschutz für alle Tarifunterworfenen transparent sicher stellt.182 Der Rückgriff auf die richterliche Rechtsfortbildung lässt sich auch in Ansehung von Wesentlichkeitstheorie und Vorbehalt des Gesetzes nicht rechtfertigen. Denn nur um in Einzelfällen grundrechtlichen Schutz, noch dazu in eher formaler Weise, zu gewährleisten, wird das gesamte kollektive Ordnungsmodell einem inhaltlich kaum konturierten Kontrollmechanismus unterworfen. Dass dieser noch dazu auf die erforderliche Angemessenheitskontrolle der Schutzregelungen weitgehend verzichtet183, sprengt dann nicht nur die Grenzen des effektiven Grundrechtsschutzes. Auch der Gewaltenteilungsgrundsatz, der Vorbehalt des Gesetzes und die Wesentlichkeitstheorie werden verletzt. Damit stellt die Theorie der Schutzpflichtenbindung der Tarifvertragsparteien insgesamt eine Missachtung jedes existenten Grundsatzes der grundrechtlichen Schutzpflichtenlehre und elementarer Prinzipien des Grundrechtsschutzes dar. Dass die Schutzpflichtenbindung über intransparente und einzelfallbezogene Ausformungen den Grundrechtsschutz der Bürger gefährdet, ist ebenfalls zu kritisieren. Denn die Theorie der Schutzpflichtenbindung erweist sich im Wesentlichen als Vehikel, um die rechtliche Kontrolle des Tarifvertrags zu verhindern, nicht aber, um den Grundrechtsschutz der Tarifunterworfenen herzustellen. Damit stellt sie jedenfalls für sich genommen nicht nur eine Verletzung des Effektivitätsgebots grundrechtlicher Schutzpflichten dar, sondern ist ihrem ganzen Wesen nach kein geeignetes Instrumentarium zur Umsetzung grundrechtlicher Schutzpflichten. Die Legitimationslehre ist dennoch verdienstvoll. Sie macht nämlich deutlich, dass nicht die Tarifvertragsparteien, sondern der Gesetzgeber und die in Konkretisierung bestehender auf die tarifvertragliche Regelungsbefugnis bezogener Normen tätige Rechtsprechung gefordert sind, rechtliche Maßstäbe für die Tarifvertragsparteien zu definieren. Die Delegation der eigenen verfassungsmäßigen Bindungen auf die Tarifvertragsparteien ist dazu kein geeignetes Mittel und bürdet privaten Normsetzern Rechtspflichten auf, mit denen sie nach dem verfassungsmäßigen Kompetenzgefüge nicht belastet werden dürfen. 182 183
Vgl. dazu oben 4. Kap. D. II., E. I. 1. a). Vgl. 5. Kap. B. III. 3. g) cc).
B. Zur Grundrechtsbindung der Tarifvertragsparteien
451
cc) Verhinderung der „Tarifzensur“ Hintergrund des Rechtsprechungswandels hin zur Schutzpflichtenbindung der Tarifvertragsparteien ist, dass die Rechtsprechung sich auf Basis der bisherigen unmittelbaren Grundrechtsbindung der Tarifvertragsparteien gezwungen sah, eine Verhältnismäßigkeitsprüfung von Tarifverträgen vorzunehmen. Dies wurde als unangemessen empfunden, weil die Kontrolldichte hoch und damit die Gefahr einer Tarifzensur gegeben war.184 Als Ausweg diente hier der Rückgriff auf die Schutzpflichtendogmatik. Der Tarifvertrag sollte fortan nur am Untermaßverbot gemessen werden. Das BAG ging davon aus, hierdurch werde die Kontrolldichte der tarifvertraglichen Regelungen begrenzt. Ausgangspunkt der Überlegungen zur Schutzpflichtenbindung des Tarifvertrags ist also nicht der Grundrechtsschutz der Tarifunterworfenen, sondern der des Schutzes des Tarifvertrags vor einer Kontrolle auf inhaltliche Angemessenheit. Dass dem Bedürfnis den Schutz der Grundrechtspositionen der Tarifunterworfenen nicht durch eine Rechtskontrolle des Tarifvertrags mit Verhältnismäßigkeitserwägungen Rechnung getragen werden kann, ist zwar durchaus anzuerkennen. Das eigentliche Problem besteht aber darin, dass im Rahmen der Schutzpflichtendogmatik eine der Verhältnismäßigkeitsprüfung angenäherte Prüfung durchzuführen ist. Insofern ist mit dem Rückgriff auf die Schutzpflichtenbindung des Tarifvertrags die Entkopplung von Verhältnismäßigkeitserwägungen nicht zu leisten, wie dies teilweise im Schrifttum angenommen wird. Die Weiterentwicklung der Schutzpflichtendogmatik führt dazu, dass weitaus intensivere inhaltliche Bindungen auflaufen, als dies bislang im Schrifttum angenommen wird.185 Sieht man jedoch die dogmatische Entwicklung, die die grundrechtlichen Schutzpflichten genommen haben, so ist auch dieser Ausweg nicht gangbar. Denn auch die Schutzpflichten erfordern ein Wägen der Schutzpflicht gegen die entgegenstehenden Eingriffsabwehrrechte. Insofern ist auch hier eine Prüfung unter Verhältnismäßigkeitsgesichtspunkten geboten. Das BAG wird also von der Gefahr der Tarifzensur auch bei seinem neuen Modell wieder eingeholt. Damit wäre es an sich konsequent, auf die Schutzpflichtenbindung zu verzichten und den Gesetzgeber in die Pflicht zu nehmen. dd) Ergebnis Die BAG-Rechtsprechung zur Schutzpflichtenbindung der Tarifvertragsparteien ist damit verfassungswidrig. Es fehlt für die entsprechenden Urteile an einer Ermächtigungsgrundlage zum Eingriff in den bestehenden Tarifvertrag.186 184 185 186
Dieterich, FS Schaub, S. 117 (120, 122). Vgl. dazu 4. Kap. G. Zu dessen verfassungsmäßigen Schutz Ulber, D./Strauss, DB 2008, 1970 (1971).
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5. Kap.: Wahrung staatlicher Schutzpflichten
Eine Bindung Privater an die Grundrechte gibt es ebenso wenig wie eine solche an staatliche Schutzpflichten.187 Daher lässt sich eine solche Schutzpflicht auch nicht durch einen privatautonomen Verbandsbeitritt schaffen. Im Übrigen verkennt eine solche Sichtweise grundlegend die Aufgaben des Staates für den Grundrechtsschutz. Art. 1 Abs. 3 GG weist diese Aufgabe exklusiv der Staatsgewalt zu188, auch hinsichtlich der Schutzpflichten. Die Lehre von den grundrechtlichen Schutzpflichten gibt dem Bürger die Möglichkeit der Verfassungsbeschwerde gegen die Verletzung solcher Schutzpflichten durch den Gesetzgeber, den Gerichten die Möglichkeit der Vorlage nach Art. 100 GG189, mit der verbundenen Bitte um einstweilige Schließung der Gesetzeslücke durch das BVerfG bis zur endgültigen gesetzlichen Regelung.190 Schutzlücken drohen daher nicht, wenn die entsprechende Rechtsprechung über Bord geworfen wird. Vielmehr führt dies zu einer sachgerechten Abgrenzung der Befugnisse von Legislative und Rechtsprechung und entbindet die Tarifvertragsparteien von der Pflicht zum „verhältnismäßigen Grundrechtsgebrauch“. Sie müssen sich dann in den Grenzen des einfachen Rechts halten. Weißt dieses Schutzlücken auf, so sind diese durch den Gesetzgeber zu schließen, sofern eine verfassungskonforme Auslegung oder Rechtsfortbildung nicht möglich ist. Der Grundrechtsschutz hat sich, auch im Rahmen der grundrechtlichen Schutzpflichten, gegen den Staat, nicht gegen den Tarifvertrag zu richten. h) Ergebnis Eine Bindung, der der einzelne Beitretende nicht unterliegt, kann er auch nicht auf den Verband übertragen und begründen kann er sie mit seinem Beitritt auch nicht. Die Tarifvertragsparteien mutieren auch hier nicht zu staatlichen Instanzen. Sie bleiben Private, die keiner Bindung an Art. 1 Abs. 3 GG unterliegen. Dies ist aber Voraussetzung nicht nur für eine Grundrechtsbindung, sondern auch für eine Bindung an die staatlichen Schutzpflichten.191 Damit lässt sich auf der Basis der Legitimationstheorie keine Bindung der Tarifvertragsparteien an die Grundrechte begründen. Die Normsetzung bleibt privat und als solche ungebunden. Dies gilt insbesondere auch gegenüber staatlichen Schutzpflichten, soweit diese nicht durch eine hinreichende einfachrechtliche Rückbindung mediatisiert werden. Die oben entwickelten Maßstäbe lassen dafür hinreichend Raum.192
187
Kirchhof, Private Rechtsetzung, S. 522. Kirchhof, Private Rechtsetzung, S. 522; vgl. dazu auch oben 4. Kap. B.; 5. Kap. B. I. 189 Oeter, AÖR 119 (1994), 529 (550); Dietlein, Die Lehre von den grundrechtlichen Schutzpflichten, S. 177 ff. 190 Vgl. dazu oben 4. Kap. B. 191 Vgl. dazu 4. Kap. B. 192 Vgl. dazu oben 4. Kap. 188
B. Zur Grundrechtsbindung der Tarifvertragsparteien
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4. Anerkennungstheorie Nach den Anerkennungstheorien basiert die tarifliche Normsetzungsbefugnis auf staatlicher Anerkennung.193 Danach wird die Normsetzungsbefugnis durch einen staatlichen Geltungsbefehl, der die von den Tarifvertragsparteien gesetzten Normen anerkennt, statuiert.194 Diese Überlegung greift auf eine Sichtweise zurück, nach der die Normsetzungsbefugnis durch die Verfassung anerkannt und im TVG ausgeformt ist.195 Daraus folgt der private Charakter der tarifvertraglichen Normsetzung, deren Anerkennung mit normativer Kraft allerdings verfassungsrechtlich geboten ist.196 Auch hierdurch wird aber keine unmittelbare Grundrechtsbindung begründet. Und auch eine Bindung an staatliche Schutzpflichten scheidet auf Basis des Konzeptes der Anerkennungstheorie aus. Denn die Anerkennung der Rechtsform Tarifvertrag und die Anerkennung der normativen und zwingenden Wirkung sagt eben nur etwas darüber aus, welche Rechtsfolgen ein wirksamer Tarifvertrag hat. Welche Regelungen dieser enthalten darf, wird durch den Anerkennungsbefehl nicht entschieden. Dies ist eine Frage der auf die Regelungsbefugnis bezogenen staatlichen Regelungen. Eine Grundrechtsbindung der Tarifvertragsparteien ist mit dieser Sichtweise nicht verbunden, auch keine an staatliche Schutzpflichten. 5. Zusammenfassung Insgesamt kann keine der genannten Theorien die Rechtsnatur der tariflichen Normsetzung vollständig erklären.197 Dies liegt daran, dass allen vorstehenden Theorien eine gewisse Einseitigkeit innewohnt, weil sie auf Basis eines einzigen Erklärungsansatzes versuchen, alle Aspekte der tariflichen Normsetzung abzubilden.198 Wenn Houben feststellt, dass es für das Problem der Begründung der Rechtsnatur des Tarifvertrags „keine“ Lösung gibt199, hinterlässt dies den Leser allerdings in dem Dilemma, dass er dennoch die Normwirkung erklären muss, 193 Badura, RdA 1999, 8 (11); Canaris, AcP 184 (1984), 201 (244); Kirchhof, Private Rechtsetzung, S. 182; Waltermann, RdA 1990, 138 (143); Wiedemann, FS Dieterich, S. 661 (667); Scholz in: Maunz-Dürig, GG, Art. 9, Rn. 301; Reim in: Däubler, TVG, § 1, Rn. 61. 194 Kirchhof, Private Rechtsetzung, S. 182; Ricken, Autonomie und staatliche Rechtsetzung, S. 115; Schlachter, JArbR 40 (2003), 51 (56). 195 Badura, RdA 1999, 8 (12); Wiedemann, FS Dieterich, S. 661 (667); Scholz in: Maunz-Dürig, GG, Art. 9, Rn 301. 196 Die Tarifvertragsparteien haben gegen den Staat einen auxiliären Leistungsanspruch auf die zur Verfügungstellung eines Tarifvertragssystems; Höfling in Sachs, GG, Art. 9, Rn. 77. 197 Zutreffend: Houben, Die Rückwirkung von Tarifverträgen, S. 119 f. 198 Houben, Die Rückwirkung von Tarifverträgen, S. 119 f.; Wiedemann, FS Dieterich, S. 661 (677). 199 Houben, Die Rückwirkung von Tarifverträgen, S. 119 f.
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5. Kap.: Wahrung staatlicher Schutzpflichten
vor allem, wenn sich aus dieser Konsequenzen für die Lösung konkreter Probleme ergeben. Ausgangspunkt zur Lösung dieser Fragen muss die Bipolarität der Begründung der Tarifautonomie oder die Doppelnatur200 des Tarifvertrags sein.201 Diese liegt darin, dass die tarifliche Normsetzungsbefugnis in erster Linie dazu dient, die privatautonomen Interessen der Mitglieder der Koalitionen gegenüber dem sozialen Gegenspieler durchzusetzen. Die Notwendigkeit, dass dies im kollektiven Tarifvertragsverfahren geschieht, entsteht aus der strukturellen Unterlegenheit der Arbeitnehmer.202 Deren Privatautonomie soll durch das Normsetzungsverfahren hergestellt werden. Damit effektuiert die Tarifautonomie die privatautonome Gestaltung der Lebensverhältnisse. Dies ist ihre privatrechtliche Natur. Der Tarifvertrag ist und bleibt ein privatrechtlicher Vertrag und als solcher Teil der Privatautonomie. In diesem Sinne ist er zunächst privat- und eigennützig. Allerdings wird er mit einem staatlichen Anerkennungsbefehl versehen, der ihm die Wirkungen von Rechtsnormen verleiht. Dieser Anerkennungsbefehl liegt allerdings nicht nur im Interesse der Mitglieder der Koalitionen. Die tarifliche Normsetzung dient ebenso dem öffentlichen Zweck der Ordnung und Befriedung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen.203 Diese ist allerdings nicht im Sinne einer Bindung an Grundrechte oder sonstige Gemeinwohlinteressen204 zu verstehen. Vielmehr liegt die Kompensation struktureller Unterlegenheit, der die tarifliche Normsetzungsbefugnis dient, im öffentlichen Interesse. Denn diese dient zugleich der partiellen Verwirklichung grundrechtlicher Schutzpflichten205 für die Privatautonomie. Um der Erfüllung dieses im öffentlichen Interesse liegenden Zieles Willen ist der Staat bei der Anerkennung der Normsetzungsbefugnis an bestimmte Vorgaben gebunden. Er muss die Effektivität des tariflichen Normsetzungsprozesses nicht nur gewährleisten, damit die Koalitionen die Interessen ihrer Mitglieder zur Geltung bringen können. Er muss dies auch tun, damit dieser Interessenausgleich zugleich eine Effektivierung der Privatautonomie der einzelnen Arbeitnehmer und damit die Ordnung und Befriedung des Arbeits- und Wirtschaftslebens leisten kann. Dazu sind die verfassungsrechtlich unproblematische Geltungserstreckung auf Außenseiter sowie die unmittelbare und zwingende Wirkung des Tarifvertrags erforderlich. Die tarifliche Normsetzungsbefugnis erklärt sich damit bei einer Gesamtbetrachtung bipolar.
200
Houben, Die Rückwirkung von Tarifverträgen, S. 119. Ähnlich: Söllner, NZA 1996, 897 (901); ders., Sonderbeil. NZA Heft 24/2000, S. 33; ders., RdA 1989, 144 (149). 202 Vgl. dazu oben 2. Kap. D. 203 Vgl. zur Ordnungsfunktion oben 2. Kap. E. 204 Zur Gemeinwohlbindung vgl. Rüfner, RdA 1985, 193 ff.; Thüsing, FS 50 Jahre BAG, S. 889 ff. 205 Unabhängig von der Frage, ob sie dies in hinreichendem Umfang tut. 201
B. Zur Grundrechtsbindung der Tarifvertragsparteien
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IV. Eigener Ansatz: Tarifautonomie als prozedurale Sicherung der Privatautonomie Die vorstehend dargestellten Ansätze können nur eingeschränkt überzeugen. Es ist wenig naheliegend, anzunehmen, die tarifliche Normsetzungsbefugnis erschöpfe sich darin, eine Bündelung der Privatautonomie der Mitglieder zu sein. Denn die Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen, zu der die Koalitionen gebildet werden, setzt mehr voraus als nur die Wahrung der Interessen der Koalierten. Dass zur Interessenwahrnehmung Verbände gegründet werden dürfen, die zum Vertragsabschluss für ihre Mitglieder berechtigt sind, ist eine zu kurz greifende Interpretation der Tarifautonomie. Diese hat eine von der Verfassungsordnung intendierte Funktion: Die Kompensation struktureller Unterlegenheit des Arbeitnehmers.206 Gleichzeitig geht die Tarifautonomie mit ihrer Wirkung auf das gesamte System der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen, die sie befriedet und ordnet, über die individuellen Interessen der Mitglieder hinaus.207 Die Tarifautonomie strebt eine sinnvolle Ordnung des Arbeitslebens an208, nicht nur die Interessenverfolgung der Mitglieder.209 Beide Elemente müssen daher gemeinsam betrachtet werden, die Tarifautonomie lässt sich nicht monokausal erklären.210 Dennoch ist primär von der mitgliedschaftlichen Legitimation auszugehen, allerdings mit der Maßgabe, dass die tarifliche Normsetzungsbefugnis nicht allein um der Interessenwahrung der Koalitionsmitglieder Willen besteht. Vielmehr dient die Tarifautonomie der Herstellung kollektiver Privatautonomie. Diese wiederum dient der Ordnung und Befriedung des Arbeitsmarktes. Damit entsteht ein System gesellschaftlicher Selbstorganisation, das der Staat lediglich durch einen äußeren gesetzlichen Rahmen steuert. Die Theorie der kollektiv ausgeübten Privatautonomie sieht sich mit der Problematik konfrontiert, dass die Freiheit zum Vertragsschluss auf individueller und kollektiver Ebene qualitativ nicht gleichwertig ist. Vielmehr erlangt der Einzelne durch den Zusammenschluss einen Zuwachs an materieller Freiheit. Es entsteht eben mehr als eine Zusammenfassung individueller Unfreiheiten, wie dies bei einer reinen Bündelung der Fall wäre. Die Bündelungstheorie, die die kollektive Koalitionsfreiheit lediglich als Bündelung der individuellen Freiheiten der Koalitionsmitglieder begreift, kann vor diesem Hintergrund nicht überzeugen. Denn während auf der Ebene des Arbeitsvertrags eine formale Vertragsfreiheit besteht, die dem Arbeitnehmer keinerlei Selbstbestimmung hinsichtlich des Vertragsin206
Vgl. dazu oben 2. Kap. D. Waltermann, ZfA 2000, 53 (77). 208 BVerfG 18.11.1954, BVerfG 4, 96 (101); BVerfG 24.5.1977, NJW 1977, 2255 (2256); BVerfG 1.3.1979, NJW 1979, 699 (710); vgl. dazu 2. Kap. E. 209 Waltermann, ZfA 2000, 53 (78). 210 Vgl. auch Möstl, JZ 1999, 202 (204); Söllner NZA 1996, 897 (902), „hybrides Gebilde“. 207
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5. Kap.: Wahrung staatlicher Schutzpflichten
haltes gewährleistet, sind auf der Ebene des Tarifvertrags die Chancen zur Durchsetzung eigener Interessen in den Vertragsinhalt gegeben. Damit erlangt die kollektive Koalitionsfreiheit einen Eigenwert, der sie gegenüber der individuellen Ebene verselbstständigt und ihr einen eigenen Gehalt zuweist. Eine rein mandatorische Zuweisung von Kompetenz ist damit zwar dem Grunde nach anzuerkennen, aber diese beschränkt sich nicht auf die Legitimation zur Normsetzung. Sie konstituiert vielmehr eine tatsächliche Rechtsmacht. Vor diesem Hintergrund überzeugt auch die Rechtsprechung des BVerfG zur negativen Koalitionsfreiheit. Diese wird vom BVerfG als Fernbleiberecht verstanden.211 Eine negative Tarifvertragsfreiheit, also einen Anspruch darauf, dass der Staat die Ergebnisse fremder Tarifvertragsverhandlungen auf einen nicht oder anders organisierten Arbeitnehmer erstreckt, gibt es hingegen nicht. Die entsprechenden Argumente für und gegen diese Annahme sind in der Literatur ausgetauscht.212 Das BVerfG hat auf eine Begründung verzichtet. Es soll daher nicht für den hier vertretenen Ansatz in Anspruch genommen werden, aber vor dem oben genannten Hintergrund überzeugt die Rechtsprechung. Denn da die Normsetzungsbefugnis in erster Linie durch den Beitritt des einzelnen Arbeitnehmers konstituiert wird, begründet sich diese zunächst legitimatorisch. Dass die Tarifautonomie nicht allein aus Motiven der kollektiven Ausübung von Privatautonomie, sondern auch dem Motiv der Korrektur von Funktionsdefiziten der Privatautonomie, nämlich der Kompensation struktureller Unterlegenheit der Arbeitnehmer, gewährleistet wird, erklärt zu einem Teil die fehlende negative Tarifvertragsfreiheit. Diese ist mit Sinn und Zweck der Tarifautonomie unvereinbar.213 Entschließt sich der Gesetzgeber, bestimmte Ausflüsse der kollektiv hergestellten Privatautonomie auf Außenseiter oder anders Organisierte auszudehnen, so liegt darin keine Beeinträchtigung ihrer Grundrechte, sondern eine Verwirklichung der von der Tarifautonomie intendierten Ordnung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen im Sinne der Herstellung von Vertragsparität. Die Außenseiter und die anders Organisierten werden durch die staatliche Geltungserstreckung in diesen übergeordneten Schutzzweck einbezogen. Die Erstreckung von Tarifnormen auf Außenseiter und anders Organisierte erweist sich vielmehr
211 BVerfG 11.7.2006, NJW 2007, 51 (53); BVerfG 29.12.2004, NZA 2005, 153 (155); BVerfG 15.11.1995, NJW 1996, 1201; BVerfG 15.7.1980, NJW 1981, 215; BVerfG 1.3.1979, NJW 1979, 699 (708); BAG 19.09.2006, NZA 2007, 277 (278); BAG 15.10.2003, NZA 2004, 387 (389); Jarass in: Jarass/Pieroth, GG, Art. 9, Rn. 36; Dieterich in: ErfK, GG, Art. 9, Rn. 32. 212 Dafür: Reuter in: FS Wiedemann, S. 449 (478); Schleusener, ZTR 1998, 100 (101); Schüren, RdA 1988, 138 (139 f.); Zöllner, RdA 1962, 453 (458); dagegen: Dieterich in: ErfK, GG, Art. 9, Rn. 36; Säcker, Grundprobleme der kollektiven Koalitionsfreiheit, S. 36 ff.; Seifert, ZfA 2001, 1 (16); Schubert, RdA 2001, 199 ff.; Oetker in: Kollektives Arbeitsrecht – case by case, S. 66; Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht, Bd. 1, S. 376; Lorenz in: Däubler, TVG, § 3, Rn. 63. 213 Dieterich in: ErfK, GG, Art. 9, Rn. 36.
B. Zur Grundrechtsbindung der Tarifvertragsparteien
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als Ausfluss der Doppelfunktion der tarifvertraglichen Normsetzungsbefugnis. Die Außenseitererstreckung ist nichts anderes als eine staatliche Regelung des Inhalts ihrer Arbeitsverhältnisse. Vor dieser sind die Außenseiter und die anders Organisierten durch Art. 12 Abs. 1 GG und Art. 2 Abs. 1 GG geschützt. Der eigentliche Schutzmechanismus gegen solche Regelungen sind das Demokratieund Rechtsstaatsprinzip. Diese sichern die hinreichende demokratische Legitimation der Normsetzung durch die staatliche Geltungsanordnung. Auch im internationalen Vergleich überzeugt diese Konzeption, weil dort überwiegend die Tarifbindung der Arbeitnehmer über die Tarifbindung des Arbeitgebers hergestellt wird.214 Die deutsche Regelung stellt im europäischen Vergleich die Ausnahme dar.215 Tarifautonomie ist damit nicht kollektiv ausgeübte, sondern kollektiv hergestellte Privatautonomie. Denn erst auf der Ebene des Tarifvertrags sind die Voraussetzungen für einen freien Vertragsschluss erfüllt. Dennoch ist es zutreffend, wenn aus dieser die individuelle Ebene überschreitenden Rechtsmacht nicht auf eine staatliche Rechtsetzungsermächtigung geschlossen wird. Der Tarifvertrag dient primär der Ermöglichung der kollektiven Interessenverfolgung. Allerdings besteht an dieser ein öffentliches Interesse. Denn die Tarifautonomie stellt Funktionsvoraussetzungen der Privatautonomie her. Und genau dies ist eine staatliche Aufgabe. Der Staat ist kraft seiner Schutzpflichten für die unterlegene Partei im Privatrechtsverkehr verpflichtet, im Rahmen der Privatautonomie Schutzmechanismen zu konstituieren. Die Tarifautonomie erweist sich als verfassungsrechtlich verankertes Instrument zur Verwirklichung dieses Verfassungsauftrags.216
V. Ergebnis 1. Grundrechtsschutz gegen den Gesetzgeber, nicht gegen den Tarifvertrag Die Überlegung, die der gesamten Dogmatik der Grundrechtsbindung zugrunde liegt, ist die, dass es nicht sein könne, dass die Tarifvertragsparteien durch ihre Normsetzung Grundrechte verletzen.217 Diese Annahme wird teilweise abgeschwächt auf eine Schutzpflichtenbindung.218 Der zugrunde liegende Gedanke ist richtig, die Umsetzung indes nicht überzeugend. Die tarifvertragliche Regelungsbefugnis wird durch den von der staatlichen Rechtsetzung frei gelassenen Raum begründet. Und dieser ist der entscheidende Ansatzpunkt für 214
Rebhahn, NZA 2001, 763 (766). Rebhahn, NZA 2001, 763 (766). 216 Dieterich, FS Schaub, S. 117 (131). 217 Erkennbar liegt hier das Motiv des BAG, vgl. BAG 27.5.2004, AP Nr. 5 zu § 1 TVG, Gleichbehandlung unter B. II. 2. 218 Vgl. dazu 5. Kap. B. III. g). 215
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5. Kap.: Wahrung staatlicher Schutzpflichten
Überlegungen zum Grundrechtsschutz. Dieser ist vom Staat zu gewährleisten. Also ist er verfassungsrechtlich verpflichtet, die Regelungsbefugnis der Tarifvertragsparteien so zu gestalten, dass diese keine grundrechtsverletzenden Regelungen schaffen können.219 Unterlässt er dies, liegt eine Verletzung grundrechtlicher Schutzpflichten vor.220 2. Richtervorlage nach Art. 100 Abs. 1 GG bei fehlenden einfachgesetzlichen Regelungen Soweit es die Gerichte betrifft, sind diese aufgrund der staatlichen Schutzpflichten verpflichtet, Tarifverträge und Gesetze so auszulegen, dass sie verfassungskonform sind, mithin den staatlichen Schutzpflichten Rechnung tragen. Dies aber nicht, indem die Tarifvertragsparteien gebunden werden und die entsprechende Verantwortung weitergereicht wird. Vielmehr haben die staatlichen Stellen die Grundrechte selbst zu wahren.221 Ist die geltende Rechtsordnung defizitär, sodass die tarifvertragliche Regelungsbefugnis auch grundrechtsverletzende Regelungen zulässt, so ist der richtige Weg für die Gerichtsbarkeit die Richtervorlage nach Art. 100 Abs. 1 GG222, nicht der Übergriff in den Tarifvertrag. Dieser Weg wird vom BAG erkennbar nicht gesehen oder für unbequem gehalten. Dabei wäre jedenfalls ein Teil der Rechtsprechung möglicherweise tatsächlich an Vorschriften des einfachen Rechts anzudocken, ohne dass es des Rückgriffs auf so weitreichende Konzepte wie das eines ungeschriebenen Vorbehalts der schutzpflichtenkonformen Ausübung der Tarifautonomie beinhaltet. 3. Zusammenfassung Eine inhaltliche Kontrolle des Tarifvertrags auf die Beachtung staatlicher Schutzpflichten ist aufgrund des privaten Charakters der tarifvertraglichen Normsetzung abzulehnen. Dies im Übrigen auch dann, wenn man sie neben einer privatautonomen auch auf eine öffentliche Zwecksetzung stützt. Denn dieser erhebt sie qualitativ nicht in einen anderen Status. Sie bleibt privat. Nur ihre Rechtsfolgen werden im öffentlichen Interesse ausgeweitet. Dies entbindet den Gesetzgeber aber nicht von seinem Recht und seiner Verpflichtung, die Grundrechte mit Blick auf die Regelungsbefugnis der Tarifvertragsparteien zu schützen. Ein solcher Ansatz lässt sich nur dann vertreten, wenn man annimmt, die Tarifautonomie gewähre den Tarifvertragsparteien eine exklusive tarifliche Regelungsbefugnis und jede staatliche Regelung sei verfassungswidrig. 219 220 221 222
1. e).
Kirchhof, Private Rechtsetzung, S. 521 f. Vgl. dazu 5. Kap. B. III. g). Kirchhof, Private Rechtsetzung, S. 521 f. Oeter, AÖR 119 (1994), 529 (550); vgl. dazu ausführlich oben 4. Kap. E. II, III.
B. Zur Grundrechtsbindung der Tarifvertragsparteien
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Wenn man dies zu Recht ablehnt, besteht nicht nur keinerlei Bedarf für eine Grundrechts- oder Schutzpflichtenbindung der Tarifvertragsparteien. Die entsprechende Sichtweise ist abzulehnen, weil sie die Tarifvertragsparteien entgegen der Anordnung des Art. 1 Abs. 3 GG einer Bindung unterwirft, die diesen nach der Verfassung nicht auferlegt werden darf. Die Normsetzungsbefugnis der Tarifvertragsparteien wird durch Art. 9 Abs. 3 GG nicht gewährleistet, damit diese an Grundrechte gebunden werden können, sondern damit Funktionsdefizite der Privatautonomie behoben werden. Sie dient einem funktionsfähigen, Defizite der Selbstbestimmung behebenden, privatautonomen Einigungsprozess. Dass dieser auch tatsächlich stattfindet, liegt im öffentlichen Interesse. Woher das Bedürfnis kommt, die Vertragsparteien im Rahmen der privatautonomen Einigung einer Grundrechtsbindung zu unterwerfen, ist auch unter Rückgriff auf die normative und zwingende Wirkung des Tarifvertrags nicht überzeugend zu begründen. Denn diese wird nur angeordnet, soweit ein Tarifvertrag wirksam ist. Soweit hier der Einwand der „Tarifzensur“ erhoben werden sollte, vermag dies nicht zu überzeugen. Es gibt keinen Anspruch auf rechtsfreie Räume für die Tarifvertragsparteien, schon gar nicht für Regelungsbefugnisse, die zu Grundrechtsverletzungen führen können. Eine Tarifzensur liegt vor, wenn aus politischen Erwägungen heraus einzelne Tarifverträge einer Inhaltskontrolle im Sinne einer Angemessenheitsprüfung unterzogen werden. Soweit Tarifverträge hingegen am zwingenden Gesetzesrecht gemessen werden, ist dies eine Rechtskontrolle, gegen die der Einwand der Tarifzensur nicht erhoben werden kann223, soweit das einfache Gesetzesrecht seinerseits verfassungskonform ist. Damit wird im Übrigen auch die oben angesprochene und zu Recht als problematisch eingestufte Verhältnismäßigkeitsprüfung des Tarifvertrags vermieden. Es werden seine Vorschriften anerkannt, soweit die Rechtsordnung seine Regelungen gestattet. Die Frage der Verhältnismäßigkeitsprüfung wird im Rahmen der Prüfung der Verfassungsmäßigkeit von staatlichen Gesetzen relevant und kann die Auslegung und Anwendung des einfachen Gesetzesrechts steuern. Mit Blick auf den Tarifvertrag haben Verhältnismäßigkeitserwägungen aber dann grundsätzlich keine Relevanz.224 Dies würde auch dem Anliegen der Rechtsprechung Rechnung tragen, die Angemessenheitskontrolle von tarifvertraglichen Vorschriften zu vermeiden. Im Übrigen sei hier darauf verwiesen, dass das Schutzpflichtenmodell des BAG einen weiteren konstruktiven Fehler hat. Befreit man es einmal von seiner dogmatischen Verbrämung und sieht die zugrunde liegende Zielsetzung, so tritt 223
Vgl. BAG 28.3.2006, NZA 2006, 1112 (1116). Anders Waltermann, Anm zu BAG 27.5.2004, AP Nr. 5 zu § 1 TVG, Gleichbehandlung. 224
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5. Kap.: Wahrung staatlicher Schutzpflichten
der Gedanke in den Vordergrund, dass der Tarifvertrag von den Gerichten inhaltlich nicht angegangen werden soll. Dazu wird die unmittelbare Grundrechtsbindung als zu weitreichendes Instrumentarium empfunden, weil diese eine Verhältnismäßigkeitsprüfung beinhaltet, die aufgrund ihrer erheblichen Spielräume, ihrer Intransparenz und der weitgehenden Öffnung für willkürliche Übergriffe durch Abwägung mit kollidierenden Gütern, deren Bewertung, eine Einbruchstelle für subjektive Wertungen bedeutet. Daher wird auf das Schutzpflichtenmodell ausgewichen, weil dieses eine solche Verhältnismäßigkeitsprüfung, jedenfalls nach Vorstellung des BAG, nicht enthält. Diese Überlegung ist aber, wie gezeigt, unzutreffend.225 Die Dogmatik der Schutzpflichten ist bereits deutlich weiter als das BAG und stellt mittlerweile sehr komplexe Verhältnismäßigkeitsmodelle in den Vordergrund.226 Die restriktive Sichtweise des BAG ist im Schrifttum auf dem Rückzug, auch und gerade weil die Bindungskraft der Schutzpflichten, wie sie das BAG noch versteht, als insuffizient für einen hinreichenden Grundrechtsschutz begriffen werden.227 Sieht man die Schutzpflichtenkonzeption also als dogmatische Krücke, die dazu dient, sich von einem tradierten dogmatischen Modell zu lösen, so bleibt der Kern der Rechtsprechungsänderung ein anderer. Das Ziel ist, den Tarifvertrag nicht der grundrechtlichen Verhältnismäßigkeitsprüfung zu unterwerfen. Dieses Ziel lässt sich aber über die Schutzpflichtenkonzeption weder dauerhaft erreichen, noch begründen. Vielmehr ist schlichtweg das Übel bei seiner Wurzel zu packen und die gesamte Dogmatik staatsgleicher Bindung der Tarifvertragsparteien über Bord zu werfen. Allerdings ist darauf hinzuweisen, dass bei diesem Modell die Verantwortlichkeit der Gerichte und des Gesetzgebers transparenter wird. Nun zeigt gerade das tarifdispositive Gesetzesrecht, dass beide Instanzen sich unter Verweis auf die Tarifautonomie dieser Verantwortung zu entziehen suchen.228 Es ist unbequem für den Gesetzgeber, selbst die Verantwortung für Grundrechtsbelastungen der Bürger zu übernehmen. Und auch die Gerichte scheuen es in der Regel, tarifvertragliche Normen für rechtsunwirksam zu erklären, weil damit in der Regel klare transparente und damit weitaus starrere Bindungen für die Tarifvertragsparteien verbunden sind, als bei einer einzelfallbezogenen Grundrechtskontrolle, die weitgehende Spielräume für die Rechtsprechung belässt.229 Dennoch wird man sich die Mühe machen müssen, den Weg über die Begrenzung der Regelungsbefugnis zu gehen, auf Kosten der Verfassungsmäßigkeit der einen oder anderen gesetz225
Vgl. dazu oben 4. Kap. G. Vgl. dazu 4. Kap. G. 227 Vgl. dazu 5. Kap. III. 3. f) f. 228 Vgl. dazu die Hungerlohnentscheidung des BAG 24.3.2004, NZA 2004, 971, sowie die Ausführungen zur Bindung der Tarifvertragsparteien an die Grundwertungen tarifdispositiver Gesetze 6. Kap. III. 229 Zur Anfälligkeit der Verhältnismäßigkeitsprüfung für subjektive Wertungen und Irrationalitäten vgl. schon oben 2. Kap. C. IV. 226
B. Zur Grundrechtsbindung der Tarifvertragsparteien
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lichen Regelung, die zu weit gefasst ist, und unter Umständen auch der Schaffung ergänzender einfachrechtlicher Normkomplexe. Welches Ausmaß man die Begrenzung der Reglungsbefugnis annehmen lässt, hängt am eigenen Verständnis der Regelungsbefugnis. Sieht man diese als weitgehend geschützt an, wird man eine großzügige Auslegung der Befugnisse der Tarifvertragsparteien präferieren. Aber auch dies findet eben seine Grenzen an der restlichen Grundrechtsordnung. Ansonsten sind die Tarifvertragsparteien frei und können dies auch bleiben. Und fehlt es an einer Vorschrift, die ein durch Tarifvertrag belastetes Grundrecht schützt, so ist es nicht die Aufgabe der Rechtsprechung, einen solchen Schutz durch die Konstruktion ungeschriebener Schranken im TVG zu schaffen, sondern nach einfachrechtlichen Ausprägungen des Grundrechtsschutzes zu suchen und aus dem einfachen Recht gegebenenfalls auch per Rechtsfortbildung die entsprechenden Grenzen herzuleiten.230 Fehlen dafür hinreichende gesetzliche Regelungen, auch und gerade für die Rechtsfortbildung, ist es die Pflicht des Gesetzgebers die Regelungsbefugnis der Tarifvertragsparteien entsprechend zu beschränken. Gibt es allerdings Umschaltnormen, die eine verfassungskonforme Einschränkung der Regelungsbefugnis zulassen, so ist die Rechtsprechung in den Grenzen des Erfordernisses der Transparenz231 verfassungsrechtlich gebunden, diesen Weg zu gehen. Für eine unmittelbare Grundrechtsbindung ist keinerlei Raum und es besteht auch keine Notwendigkeit für diese. Vielmehr ist im Sinne der Transparenz und des effektiven Grundrechtsschutzes die Verhinderung von Grundrechtsverletzungen eine Frage der Regelungsbefugnis der Tarifvertragsparteien. Geht man davon aus, dass, jedenfalls im Ergebnis, grundrechtsverletzende Tarifvertragsnormen keinen rechtlichen Bestand haben dürfen, so ist der Weg für die Realisierung dieses Zieles nicht, die Normsetzungsbefugnis der Tarifvertragsparteien durch ungeschriebene Schranken zu begrenzen. Die Regelungsbefugnis ist von vornherein so einzuschränken, dass die Tarifvertragsparteien keinerlei Kompetenz erhalten, die diese zu Grundrechtsverletzungen ermächtigt. Ist eine solche Kompetenz dennoch vorhanden, sind die Gerichte aufgefordert, diese so einschränkend auszulegen, dass die entsprechenden Tarifvertragsnormen wegen Verstoßes gegen einfaches Recht unwirksam sind. Ist dies im Einzelfall nicht möglich, so ist der Gesetzgeber gefordert. Im Ergebnis verbietet es sich aber unter Verweis auf die Grundrechtsbindung der Tarifvertragsparteien, die Aufgabe der Verwirklichung grundrechtlicher Schutzpflichten des Gesetzgebers zu dispensieren. Geht man mit dem BAG den hier abgelehnten Weg, so erlangt jedenfalls die Frage der Richtigkeitsgewähr des Tarifvertrags eine erhöhte Bedeutung. Aber auch im Übrigen ist darauf hinzuwei230 Zur verfassungsrechtlichen Bedenklichkeit generalklauselartiger Schutzpflichtenrealisierung vgl. oben 4. Kap. D. II. 3. und 8. Kap. A. I. 5. c). 231 Siehe oben unter 4. Kap. D. II.
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5. Kap.: Wahrung staatlicher Schutzpflichten
sen, dass auch das BAG nicht so vermessen ist, anzunehmen, mit der Grundrechts- oder Schutzpflichtenbindung seien die Schutzpflichtenprobleme im Arbeitsrecht gelöst. Die Schutzpflichtenbindung richtet sich gegen Beeinträchtigungen der Grundrechte der Tarifunterworfenen durch den Tarifvertrag. Dass das etwas anderes ist, als die Erfüllung grundrechtlicher Schutzpflichten für die Privatautonomie, ist offensichtlich. Und so erkennt auch das BAG an, dass allein die Möglichkeit, kollektive Regelungen wie Tarifverträge oder Betriebsvereinbarungen zu schließen, keine Kompensation der strukturellen Unterlegenheit des Arbeitnehmers bedeutet.232 Auch nach der Rechtsprechung des BAG kann also mit der Schutzpflichtenbindung des Tarifvertrags nicht begründet werden, die Schutzpflichten für die Grundrechte der Arbeitnehmer im Arbeitsrecht seien aufgrund der Existenz der Tarifautonomie erfüllt.
232
BAG 16.3.1994, NZA 1994, 937 (939).
6. Kapitel
Grenzen der Richtigkeitsgewähr des Tarifvertrags und Erfüllung staatlicher Schutzpflichten Ein Gesichtspunkt, der als Erfüllungsinstrument für staatliche Schutzpflichten für die Grundrechte dienen und damit die Erforderlichkeit staatlichen Handelns relativieren könnte, ist die sogenannte Richtigkeitsgewähr des Tarifvertrags1. Diese bringt nach Ansicht des BAG zum Ausdruck, dass aufgrund des Verhandlungsgleichgewichts der Tarifvertragsparteien davon auszugehen ist, „dass die vereinbarten tariflichen Regelungen den Interessen beider Seiten gerecht werden und keiner Seite ein unzumutbares Übergewicht vermitteln.“ 2 Allerdings weist das BAG auch darauf hin, dass allein die Möglichkeit, kollektive Regelungen wie Tarifverträge oder Betriebsvereinbarungen zu schließen, keine Kompensation der strukturellen Unterlegenheit bedeutet.3 Die Rechtsprechung erkennt also durchaus, dass die kollektiven Regelungsmechanismen ihrerseits unzureichend sind, bleibt aber im Übrigen bei der Annahme von der Richtigkeitsgewähr. Diese Richtigkeitsgewähr des Tarifvertrags führt zu einer Zurücknahme der Kontrolldichte gegenüber dem Tarifvertrag und hat Rückwirkungen auf die Anforderungen, die an die Tariffähigkeit zu stellen sind.4 Diese beinhaltet zur Sicherung der Richtigkeitsgewähr das Kriterium der sozialen Mächtigkeit.5 Die Frage, ob eine Richtigkeitsgewähr mit diesem Kriterium hergestellt werden kann oder sie überhaupt anzuerkennen ist, wird durchaus kontrovers gesehen. Ein größerer Teil des Schrifttums billigt dem Tarifvertrag keine materielle Richtigkeitsgewähr, sondern lediglich eine Richtigkeitschance zu.6 Diese Kritik 1 BAG 28.3.2006, NZA 2006, 1112 (1116); BAG 24.3.2004, NZA 2004, 971 (973); BAG 31.3.1966, AP BGB § 611, Gratifikation, Nr. 54 mit Anm. Biedenkopf; Neumann, RdA 2007, 71 (75). 2 BAG 28.3.2006, NZA 2006, 1112 (1116). 3 BAG 16.3.1994, NZA 1994, 937 (939). 4 Schlachter, JArbR 40 (2003), 51 (59). 5 BAG 28.3.2006, NZA 2006, 1112 (1116). 6 Hensche in: Däubler/Hjort/Hummel/Wolmerath, Arbeitsrecht, Art. 9, Rn. 76; Kempen in: Kempen/Zachert, Grundl., Rn. 94 ff.; Reim in: Däubler,TVG, § 1, Rn. 133 ff., 141; Käppler, NZA 1991, 745 (747); Preis, Kollektives Arbeitsrecht, § 103 III 2. c) bb), S. 41; Preis, B., ZFA 1972, 271 (275); Schmidt-Rimpler, FS Raiser, S. 1 (3, 5 f.); Schüren/Zachert, ArbuR 1988, 245 (249); noch zurückhaltender Wiedemann, FS Dieterich, S. 661, 672; s. i. Ü. Thüsing in: Wiedemann, TVG, § 1, Rn. 246 ff., m.w. N.; dies verkennen Sodan/Zimmermann, ZfA 2008, 526 (566), wenn sie auf eine vermeintliche allgemeine Ansicht im Schrifftum verweisen.
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6. Kap.: Grenzen der Richtigkeitsgewähr
basiert im Wesentlichen auf der Überlegung, dass die Annahme einer Gleichgewichtslage zwar eine gewisse Wahrscheinlichkeit für einen Ausgleich der widerstreitenden Interessen bietet, diesen aber nicht garantieren kann.7 Diese Erkenntnis ist zutreffend. Bemerkenswert ist, dass selbst der Vater des Theorems der Richtigkeitsgewähr Schmidt-Rimpler8 dieses später über Bord geworfen hat. Dem Vertragsmechanismus komme keine Richtigkeitsgewähr, sondern eine Richtigkeitswahrscheinlichkeit zu.9 Dennoch ist die Theorie immer noch implizit und explizit Grundlage einer Vielzahl gerichtlicher Entscheidungen und der wissenschaftlichen Diskussion über den Vertragsmechanismus. Wie bereits oben im Rahmen der Überlegungen zur Sachnähe der Tarifvertragsparteien gezeigt, überdehnt die These von der materiellen Richtigkeitsgewähr ein Potenzial zum Faktum.10 Denn die Tarifautonomie und das mit ihr verbundene Konzept der Bildung von Gegenmacht sorgt lediglich für die Voraussetzungen, unter denen überhaupt ein echter Interessenausgleich stattfinden kann. Sie betrifft also das Verfahren der Normentstehung, nicht aber deren Ergebnisse.11 Damit ist aber keine Garantie für sachgerechte Ergebnisse gegeben, was auch erklärt, wieso die Tarifvertragsparteien keine exklusive Regelungsbefugnis gegenüber dem Staat haben können. Daraus folgt aber nicht, dass der Tarifvertrag einer umfassenden Inhaltskontrolle zu unterziehen wäre. Wie sich im Verhältnis von Leistung und Gegenleistung einzelne Punkte auswirken und welches Gewicht ihnen im Rahmen des Gesamtausgleichs zukommt, können in der Tat nur die Parteien beurteilen. Es kann also eine sachgerechte und verfassungsgemäße Kontrolle von Tarifvertragsinhalten auf ihre Angemessenheit im Sinne der Sachgerechtigkeit nur sehr begrenzt geben. Das Verbot einer solchen Tarifzensur folgt allerdings unmittelbar aus der in Art. 9 Abs. 3 GG gewährleisteten Normsetzungsbefugnis, die dem Gesetzgeber Übergriffe in den tariflichen Einigungsprozess und eine Vorgabe konkreter Ergebnisse von Tarifverhandlungen verwehrt.12 Allerdings ist diese Einschränkung ein ungeeignetes Argument dafür, die Tarifvertragsparteien mit einer zurückgenommenen Rechtmäßigkeitskontrolle ihrer Regelungen zu privilegieren oder den Gesetzgeber von der Setzung der hierfür erforderlichen Außengrenzen der tariflichen Regelungsbefugnis zu suspendieren. Insbesondere folgt das Verbot der Tarifzensur auch nicht aus der Richtigkeitsgewähr des Tarifvertrags, sondern unmittelbar aus Art. 9 Abs. 3 GG.13 Da 7 Hensche in: Däubler/Hjort/Hummel/Wolmerath, Arbeitsrecht, Art. 9, Rn. 76; Preis, B., ZfA 1972, 271 (275). 8 AcP 147 (1941), 130 (157). 9 Schmidt-Rimpler, FS Raiser, S. 1 (12 ). 10 3. Kap E. IX. 11 Hensche in: Däubler/Hjort/Hummel/Wolmerath, Arbeitsrecht, Art. 9, Rn. 76. 12 I. E. auch Hensche in: Däubler/Hjort/Hummel/Wolmerath, Arbeitsrecht, Art. 9, Rn. 76. 13 Hensche in: Däubler/Hjort/Hummel/Wolmerath, Arbeitsrecht, Art. 9, Rn. 76.
6. Kap.: Grenzen der Richtigkeitsgewähr
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die Richtigkeitsgewähr nicht gewährleistet, dass die Ergebnisse des Verhandlungsprozesses den Anforderungen an einen die Grundrechtspositionen der Tarifunterworfenen wahrenden Interessenausgleich genügen, kann nicht auf eine dahingehende Rechtskontrolle des Tarifvertrags verzichtet werden. Die Richtigkeitsgewähr betrifft „den Vertrag als Mechanismus, nicht aber den aufgrund des Mechanismusses entstandenen Vertragsinhalt“14. Sie macht also lediglich wahrscheinlicher, dass der Vertragsinhalt richtig ist. Soweit die Richtigkeitsgewähr auf die Sachnähe der Tarifvertragsparteien hinweist, nämlich unter dem Gesichtspunkt, dass die Parteien besser wissen, welche Regelungen zum Ausgleich der widerstreitenden Interessen sachgerecht sind15, ist diese Sichtweise in dieser Absolutheit unzutreffend.16 Sachnähe bedeutet möglicherweise die Kenntnis über die für einen Interessenausgleich notwendigen Umstände der Lebenswirklichkeit. Sie bedeutet aber weder, dass sich die entsprechenden Informationen tatsächlich im Interessenausgleich auswirken, noch, dass die Parteien ihnen bei ihrem Vertragsschluss überhaupt Beachtung schenken. Darauf wird insbesondere mit Blick auf den Kompromisscharakter des Tarifvertrags hingewiesen.17 Es komme nicht selten vor, dass Tarifvertragsparteien Regelungen akzeptierten, die eine Minderheit der Mitglieder zugunsten der Mehrheit belasteten. Das vertragsförmige Zustandekommen lasse daher keinen Rückschluss auf einen sachgerechten Interessenausgleich zu.18 So ist zwar davon auszugehen, dass Tarifverträge sachgerecht geschlossen werden können, wenn Tarifvertragsparteien über die notwendigen Informationen über die zu regelnden Arbeitsverhältnisse verfügen und ein relativ klares Bild von den ökonomischen, arbeitsplatzbezogenen Rahmenbedingungen im zu regelnden Tarifgebiet haben. Generieren lässt sich diese Kompetenz aber nur über eine hinreichende Repräsentanz unter den Arbeitnehmern19, die traditionell von den Gewerkschaften erwartet werden konnte. Allerdings hat das BAG die Anforderungen für die Tariffähigkeit von Koalitionen so gelockert, dass diese Annahme nicht mehr ohne Weiteres als gegeben angesehen werden kann. Die Anforderungen an die organisatorische Leistungsfähigkeit sind durch das BAG stark abgeschwächt worden, so dass die Legitimation der Annahme einer Richtigkeitsgewähr des Tarifvertrags zunehmend fragwürdiger wird.20 Ist dies dennoch der Fall, ist aber wiederum lediglich eine notwendige Voraussetzung für sachge-
14 15 16 17 18 19 20
Ricken, Autonomie und tarifliche Rechtsetzung, S. 147. BVerfG 27.2.1973, NJW 1973, 1320 (1322). Vgl. dazu 3. Kap. E. VIIII. Singer, ZfA 1995, 611 (626 ff.). Reim in: Däubler, TVG, § 1 Rn. 136. Vgl. BAG 29.7.2009 AP BetrVG 1972 § 3 Nr. 7. Vgl. dazu unten 6. Kap. A. I. 1. a) ee).
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6. Kap.: Grenzen der Richtigkeitsgewähr
rechte Regelungen gegeben, nicht aber ein sachgerechtes Ergebnis garantiert. Auch hier wird ein Potenzial zum Faktum überdehnt.
A. Richtigkeitsgewähr und Tariffähigkeit Im engen Zusammenhang mit der Richtigkeitsgewähr steht die Tariffähigkeit als Voraussetzung für den Abschluss wirksamer Tarifverträge.21
I. Soziale Mächtigkeit und Richtigkeitsgewähr Das BAG hat im CGM-Beschluss das Erfordernis der sozialen Mächtigkeit22 von Koalitionen als Voraussetzung der Tariffähigkeit maßgeblich damit begründet, dass die Funktionsfähigkeit der Tarifautonomie dieses Kriterium erfordere.23 Das BVerfG hat das Kriterium anerkannt.24 Das BAG argumentiert, zum Inhalt der Tarifautonomie gehöre auch die Richtigkeitsgewähr des Tarifvertrags. Diese Annahme der Richtigkeitsgewähr von Tarifverträgen verlange grundsätzlich danach, die Tariffähigkeit einer Arbeitnehmervereinigung von einer gewissen Durchsetzungskraft und Mächtigkeit abhängig zu machen.25 Mit diesen Überlegungen ist es auch grundsätzlicher Kritik am Erfordernis der sozialen Mächtigkeit entgegen getreten.26 Für die Feststellung der Durchsetzungsfähigkeit gibt es mehrere Kriterien: die Mitgliederzahl einer Vereinigung, deren organisatorische Leistungsfähigkeit sowie nach der neueren Rechtsprechung des BAG die bereits erfolgte Teilnahme am Tarifgeschehen.27 Bevor die Folgeprobleme, die sich aus der neueren Rechtsprechung des BAG für die Richtigkeitsgewähr des Tarifvertrags ergeben, dargestellt werden, ist diese zunächst kritisch aufzuarbeiten. 21 BAG 15.11.2006, NZA 2007, 448 (451); BAG 27.11.1964, NJW 1965, 887; Bayreuther, NJW 2009, 2006 (2008); Löwisch/Rieble, TVG, § 2 Rn. 178; Däubler/Peter, TVG (2. Aufl.), § 2, Rn. 180; Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht, Bd. I, § 14 I. 4; Henssler, in: HWK, TVG, § 2, Rn. 3; Jacobs, Tarifeinheit und Tarifkonkurrenz, S. 121; Buchner, DB 2004, 1042; Feudner, BB 2004, 2297 (2301); Thüsing in: Wiedemann, TVG, § 1 Rn. 251; Ulber, D., NZA 2008, 438 (442). 22 Zur Begriffsvielfalt und synonymen Verwendung anderer Begriffe vgl. Kovács, Das Spannungsverhältnis zwischen Koalitionsfreiheit und Tariffähigkeit, S. 118. 23 BAG 28.3.2006, NZA 2006, 1112 (1116). 24 BVerfG 20.10.1981, NJW 1982, 815. 25 BAG 28.3.2006, NZA 2006, 1112 (1116). 26 Henssler, Soziale Mächtigkeit und organisatorische Leistungsfähigkeit als Voraussetzungen der Tariffähigkeit von Gewerkschaften, S. 25 ff., 30; ders. in HWK, TVG, § 2 Rn. 18. 27 Dieser Gesichtspunkt wird in der Literatur als Zirkelschluss bezeichnet, Franzen in: ErfK, § 2 TVG, Rn. 12, denn die Argumentation „Wer Tarifverträge abschließt, ist fähig, Tarifverträge abzuschließen“ hat in der Tat nur begrenzte Überzeugungskraft; a. A. Henssler in: HWK, TVG, § 2 Rn. 18a, dem Tarifvertrag komme lediglich Indizwirkung für die Anerkennung durch die Arbeitgeberseite zu.
A. Richtigkeitsgewähr und Tariffähigkeit
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1. Die neuere Rechtsprechung zur Tariffähigkeit Die soziale Mächtigkeit von Arbeitnehmervereinigungen und die Richtigkeitsgewähr des Tarifvertrags stehen in einem engen inneren Sinnzusammenhang.28 Dieser wird auch vom BAG erkannt. Der CGM-Beschluss führt dazu aus: „Vielmehr steht Tarifautonomie von Verfassungs wegen nur solchen Koalitionen zu, die in der Lage sind, den von der staatlichen Rechtsordnung frei gelassenen Raum des Arbeitslebens durch Tarifverträge sinnvoll zu gestalten. Das setzt Geschlossenheit der Organisation und Durchsetzungskraft gegenüber dem sozialen Gegenspieler voraus (. . .). Die Anforderungen rechtfertigen sich aus der Funktion der Tarifautonomie. Diese ist darauf angelegt, die strukturelle Unterlegenheit der einzelnen Arbeitnehmer beim Abschluss von Tarifverträgen durch kollektives Handeln auszugleichen und damit ein annähernd gleichgewichtiges Aushandeln der Löhne und Arbeitsbedingungen zu ermöglichen (. . .). Die mittels der Tarifautonomie herzustellende sinnvolle Ordnung des Arbeitslebens ist zugleich Grundlage der Praxis des Gesetzgebers, in vielen Bereichen den Tarifvertragsparteien Regelungsbefugnisse zuzuweisen, die er aus Gründen des Arbeitnehmerschutzes den Arbeitsvertragsparteien versagt (. . .). So enthalten zwingende Arbeitnehmerschutzgesetze häufig Tariföffnungsklauseln, die es den Tarifvertragsparteien gestatten, von der gesetzlichen Regelung auch zu Lasten der Arbeitnehmer abzuweichen. [. . .]. Diese gesetzliche Konzeption beruht auf der Annahme, dass Tarifverträge ein größeres „Richtigkeitsvertrauen“ genießen als der Arbeitsvertrag des Einzelnen. Sie bieten nach der ständigen Rechtsprechung des BAG eine materielle Richtigkeitsgewähr (. . .). Auf Grund des Verhandlungsgleichgewichts der Tarifvertragsparteien ist davon auszugehen, dass die vereinbarten tariflichen Regelungen den Interessen beider Seiten gerecht werden und keiner Seite ein unzumutbares Übergewicht vermitteln (. . .). Diese Annahme der Richtigkeitsgewähr von Tarifverträgen verlangt grundsätzlich danach, die Tariffähigkeit einer Arbeitnehmervereinigung von einer gewissen Durchsetzungskraft und Mächtigkeit abhängig zu machen.“ 29
Diese einleitenden Bemerkungen des BAG zeigen also, worin die eigentliche Legitimation des Erfordernisses der Tariffähigkeit liegt. Entfällt sie als Zutrittsschranke, so entfällt die gesamte Legitimation für die zurückgeschraubte Kontrolldichte des Tarifvertrags durch das BAG ebenso wie die Legitimation für Tariföffnungsklauseln. Die vorstehenden Erwägungen des BAG sind aber im CGMBeschluss relativiert worden. Das BAG ging hier davon aus, dass die Versagung der Tariffähigkeit für einen Verband eine Beeinträchtigung seines Grundrechts auf koalitionsspezifische Betätigung und daher als Eingriff in Art. 9 Abs. 3 GG rechtfertigungsbedürftig sei. Dabei wandte sich das BAG besonders den Kriterien der sozialen Mächtigkeit und der organisatorischen Leistungsfähigkeit zu. Auch letzteres Erfordernis sah das BAG als verfassungskonform an. Dazu das BAG: 28 29
Thüsing in: Wiedemann, TVG, § 1 Rn. 251. BAG 28.3.2006, NZA 2006, 1111 (1116 f.).
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6. Kap.: Grenzen der Richtigkeitsgewähr
„Nach der ständigen Rechtsprechung des Senats muss eine Gewerkschaft von ihrem organisatorischen Aufbau her in der Lage sein, die ihr gestellten Aufgaben zu erfüllen. Der Abschluss von Tarifverträgen erfordert Vorbereitungen. Hierfür sind die wirtschaftlichen Entwicklungen und sonstigen Rahmenbedingungen zu beobachten und zu prognostizieren, um daraus die Tarifforderungen zu entwickeln. Auch muss die tatsächliche Durchführung eines Tarifvertrags überwacht und abgesichert werden. Das Verhandlungsergebnis, das regelmäßig Kompromisscharakter hat, muss verbandsintern vermittelt und durchgesetzt werden (. . .). An den erforderlichen Organisationsaufbau können dabei keine starren Mindestanforderungen gestellt werden. Maßgeblich sind auch insoweit die Umstände des Einzelfalls. Entscheidend ist, ob die Organisation ihre Aufgaben in dem selbst bestimmten Zuständigkeitsbereich erfüllen kann. Erstreckt sich dieser auf das gesamte Bundesgebiet und auf Arbeitnehmer in einer Vielzahl von Berufen und Sparten, wird regelmäßig eine erhebliche organisatorische Ausstattung auch in der Fläche erforderlich sein (. . .). Beschränkt eine Gewerkschaft ihre Zuständigkeit dagegen auf eine Berufsgruppe und räumlich wenige Schwerpunkte, kann auch ein relativ kleiner, zentralisierter Apparat ausreichen, um Tarifverhandlungen effektiv zu führen, die Durchführung von Tarifverträgen zu überwachen und abzusichern sowie die Mitglieder zu betreuen (. . .). Der mit dem Erfordernis der organisatorischen Leistungsfähigkeit verbundene Eingriff in die Betätigungsfreiheit einer Arbeitnehmervereinigung ist im Interesse einer funktionsfähigen Tarifautonomie gerechtfertigt. Diese ist ohne eine leistungsfähige Organisation der tarifschließenden Parteien nicht gewährleistet.“ 30
Belässt man es bei diesen Feststellungen des BAG, so ist der CGM-Beschluss nicht zu beanstanden. Das BAG stellt noch einmal verfassungsrechtliche Legitimation und Erforderlichkeit der Prinzipien der sozialen Mächtigkeit und der organisatorischen Leistungsfähigkeit klar. Im Anschluss daran wendet sich der Beschluss aber den inhaltlichen Anforderungen an diese beiden Prinzipien zu. a) Relativierung des Erfordernisses der organisatorischen Leistungsfähigkeit aa) Ausgangspunkt: Abgeschwächte Kontrolldichte Dabei wird zunächst das Erfordernis der organisatorischen Leistungsfähigkeit relativiert.31 Das BAG hat gemeint, die Anforderungen an die organisatorische Leistungsfähigkeit dürften nicht „überspannt“ werden.32 Da die Mittel, mit denen eine Koalition ihren Zweck verfolge, dieser grundsätzlich frei stünden, sei auch deren innere Organisation grundsätzlich ihre eigene Sache. Nunmehr meint das BAG, es sei zwar „meist“ erforderlich, dass hierzu ein hauptamtlicher Mitarbeiterapparat bestehe. Es sei aber nicht von vorneherein ausgeschlossen, eine leistungsfähige Organisation auch mit ehrenamtlichen Mitarbeitern aufzubauen.33 30 31 32 33
BAG 28.3.2006, NZA 2006, 1111 (1116 f.). Greiner, Anm. zu BAG 28.3.2006, EzA Nr. 28 zu 2 TVG, Bl. 44 f. BAG 28.3.2006, NZA 2006, 1111 (1117). BAG 28.3.2006, NZA 2006, 1111 (1117).
A. Richtigkeitsgewähr und Tariffähigkeit
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bb) Jüngere Rechtsprechung Das BAG verweist hierbei im CGM-Beschluss auf den UFO-Beschluss. Das ist insofern bemerkenswert, als es sich bei dem Verband, den die Entscheidung betraf, um eine Berufsgewerkschaft von Flugbegleitern handelte, die über 6.000 der insgesamt 20.000 in Deutschland tätigen Flugbegleiter vertrat. Diese verfügte über 10 Angestellte, wenn auch teilweise auf halben Stellen. Sie wurde dabei allerdings von ehrenamtlichen Beschäftigten unterstützt, die vor allem in den Tarifkommissionen der UFO tätig waren. Insgesamt waren dies über 90 Personen.34 Angesichte der Organisationsstärke der Vereinigung war dies eine beachtliche Zahl. Sieht man die besonderen Verhältnisse des Luftverkehrs, so scheint es, insofern ist dem BAG zuzustimmen, jedenfalls möglich zu sein, auch auf ehrenamtliche Mitarbeiter zurückzugreifen, um organisatorische Leistungsfähigkeit herzustellen. Bemerkenswert ist aber eine Einschränkung im UFO-Beschluss. Hier führt das BAG aus: „Es ist nicht von vornherein ausgeschlossen, eine leistungsfähige Organisation auch auf der Grundlage ehrenamtlicher Mitarbeit aufzubauen. Allerdings müssen dann die ehrenamtlichen Mitarbeiter über die erforderlichen Kenntnisse und Erfahrungen verfügen.“ 35
Damit lässt sich also festhalten, dass nach dem UFO-Beschluss drei Besonderheiten die Erwägungen des BAG trugen: • Die Berufsgruppe war klein und auf eine überschaubare Zahl von Flughäfen verteilt. • Die ehrenamtlichen Mitarbeiter hatten aufgrund ihrer beruflichen Tätigkeit hinreichende Erfahrung. • Die Arbeitnehmer waren leicht zu erreichen. Im Kern kommt es also auf die Art des Verbandes an, um die Anforderungen an die organisatorische Leistungsfähigkeit zu bestimmen. Dazu das BAG: Entscheidend ist, ob die Organisation ihre Aufgaben in dem selbst bestimmten Zuständigkeitsbereich erfüllen kann. Erstreckt sich dieser auf das gesamte Bundesgebiet und auf Arbeitnehmer in einer Vielzahl von Berufen und Sparten, wird regelmäßig eine erhebliche organisatorische Ausstattung auch in der Fläche erforderlich sein (. . .). Beschränkt eine Gewerkschaft ihre Zuständigkeit dagegen auf eine Berufsgruppe und räumlich wenige Schwerpunkte, kann auch ein relativ kleiner, zentralisierter Apparat ausreichen, um Tarifverhandlungen effektiv zu führen, die Durchführung von Tarifverträgen zu überwachen und abzusichern sowie die Mitglieder zu betreuen.“ 36
34 35 36
BAG 14.12.2004, NZA 2005, 697 (702). BAG 14.12.2004, NZA 2005, 697 (702). BAG 28.3.2006, NZA 2006, 1111 (1117).
470
6. Kap.: Grenzen der Richtigkeitsgewähr
Um die vom BAG vollzogene Prüfung der Tariffähigkeit richtig einzuordnen, muss man sich zunächst einmal die Rahmendaten der Entscheidung vor Augen führen. Die CGM hatte sich im Verfahren geweigert, ihre Mitgliederzahl dahingehend aufzuschlüsseln, welche Tätigkeiten von ihnen wahrgenommen werden. Sie hatte lediglich pauschal behauptet, sie habe rund 88.000 in einem Arbeitsverhältnis stehende Mitglieder. Das Arbeitsgericht ging dagegen von rund 50.000 Arbeitnehmern aus, und dies bei einem bundesweit in Anspruch genommenen Zuständigkeitsbereich von rund 5,5 Millionen Arbeitnehmern in Tausenden von Betrieben. Zum Vergleich: Ufo hatte einen Organisationsgrad, der fast 30mal so hoch war, wie der der CGM und betreute nur rund 6.000 Personen, die im Wesentlichen an zwei Flughäfenstandorten vertreten waren. An sich hätte man hier also bei der unter völlig anderen Parametern operierenden CGM nun einen deutlich größeren organisatorischen Apparat verlangen müssen. cc) Die Entwertung des Kriteriums durch Formalismus Im CGM-Beschluss hingegen hat das BAG die organisatorische Leistungsfähigkeit der CGM für gegeben gehalten. Denn, so dass BAG: „Eine nennenswerte Anzahl bereits geschlossener Tarifverträge indiziert regelmäßig auch die organisatorische Fähigkeit zu deren Vorbereitung und Abschluss.“ Sofern also ein Verband bereits in nennenswertem Umfang Tarifverträge geschlossen hat, ist er organisatorisch leistungsfähig. Die CGM beschäftigte 43 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, darunter 14 hauptamtliche Gewerkschaftssekretäre. Diese arbeiteten in der Hauptverwaltung in Stuttgart, sowie in Sekretariaten in Sulzbach/Murr, Friedrichshafen, Duisburg, Bonn, Schweinfurt, Regensburg, Augsburg, Rüsselsheim, Saarbrücken, Hannover, Wolfsburg, Gera, Chemnitz, Magdeburg und Berlin. Daneben waren für die CGM insgesamt 498 Gewerkschaftsmitglieder ehrenamtlich tätig. Es gab also insgesamt rund 550 Personen für einen Zuständigkeitsbereich von rund 5,5 Millionen Arbeitnehmern im gesamten Bundesgebiet. Das reicht nicht aus, wenn man bedenkt, dass UFO für 6.000 Mitglieder bei einem Zuständigkeitsbereich von etwa 20.000 Arbeitnehmern über rund 100 Personen verfügte. Anders hat freilich das BAG unter Verweis auf die durch die CGM abgeschlossenen Tarifverträge entschieden.37 Ohne hier bereits auf die Frage der Indizwirkung von Tarifverträgen eingehen zu wollen38, stellt sich die Frage, ob diese Rechtsprechung angesichts der verfassungsrechtlichen Legitimation des Kriteriums überzeugt. Denn für das Erfordernis der organisatorischen Leistungsfähigkeit gibt es eine Legitimation jenseits der Frage, ob Tarifverträge überhaupt abgeschlossen werden. Dazu das BAG: 37 38
BAG 28.3.2006, NZA 2006, 1111 (1122), dazu sogleich. Dazu sogleich.
A. Richtigkeitsgewähr und Tariffähigkeit
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„Nach der ständigen Rechtsprechung des Senats muss eine Gewerkschaft auch von ihrem organisatorischen Aufbau her in der Lage sein, die ihr gestellten Aufgaben zu erfüllen. Der Abschluss von Tarifverträgen erfordert Vorbereitungen. Hierfür sind die wirtschaftlichen Entwicklungen und sonstigen Rahmenbedingungen zu beobachten und zu prognostizieren, um daraus die Tarifforderungen zu entwickeln. Auch muss die tatsächliche Durchführung eines Tarifvertrags überwacht und abgesichert werden. Das Verhandlungsergebnis, das regelmäßig Kompromisscharakter hat, muss verbandsintern vermittelt und durchgesetzt werden. Die Erfüllung dieser Aufgaben muss eine Arbeitnehmervereinigung sicherstellen, um als Gewerkschaft Tarifverträge abschließen zu können.“39
dd) Organisatorische Leistungsfähigkeit in Anbahnungsund Durchführungsphase des Tarifvertrags Das Erfordernis der organisatorischen Leistungsfähigkeit bezieht sich also auf zwei zeitliche Abschnitte. Zum einen die Vorbereitungsphase und zum anderen die Durchführungsphase des Tarifvertrags. Bei der inhaltlichen Ausfüllung dieser Kriterien verweist das BAG wiederum darauf, dass der Abschluss von Tarifverträgen in beiden Phasen das Vorliegen der organisatorischen Leistungsfähigkeit belegen soll:40 „Die rund 3000 Anschlusstarifverträge sowie die ca. 550 originären Tarifverträge, welche die CGM in der Vergangenheit geschlossen hat, belegen hinreichend, dass sie organisatorisch zur Vorbereitung und zum Abschluss von Tarifverträgen in der Lage ist.“
Dies ist ein bemerkenswerter Widerspruch zum Sinn und Zweck des Kriteriums. Denn die Tatsache, dass ein Tarifvertrag abgeschlossen wird, sagt eben nichts über die Fähigkeit eines Verbandes aus „die wirtschaftlichen Entwicklungen und sonstigen Rahmenbedingungen zu beobachten und zu prognostizieren, um daraus die Tarifforderungen zu entwickeln.“ 41 Der Abschluss eines Tarifvertrags belegt nichts anderes, als dass ein Verband über Personen verfügt, die in der Lage sind, ihren Namen auf ein Stück Papier zu schreiben. Nach Ansicht des BAG würde also das folgende Verfahren die organisatorische Leistungsfähigkeit eines Verbandes belegen: Ein Arbeitgeberverband faxt oder e-mailt an den einzigen Mitarbeiter einer Gewerkschaft in einem einzigen Büro vorformulierte Tarifverträge, die dann unterschrieben und zurückgesandt werden. Das kann nicht überzeugen. Dies gilt nicht nur für die Durchführungsphase, bei der das BAG etwas ausführlicher seinen faktisch kaum justiziablen Kontrollmaßstab begründet. Vielmehr ist gerade die Anbahnungsphase des Tarifvertrages problematisch. 39 BAG 28.3.2006, NZA 2006, 1111 (1117); BAG 14.12.2004, NZA 2005, 697 (702); vgl. auch Herschel, AuR 1976, 225 (237). 40 BAG 28.3.2006, NZA 2006, 1111 (1120, 1122). 41 BAG 28.3.2006, NZA 2006, 1111 (1117); BAG 14.12.2004, NZA 2005, 697 (702).
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6. Kap.: Grenzen der Richtigkeitsgewähr
Denn die Prognoseleistungen, die eine Gewerkschaft für den Abschluss eines Tarifvertrags erbringen muss, sind durchaus erheblich.42 Dabei geht es nicht nur um die ökonomische Betrachtung einer Branche und der wirtschaftlichen Rahmenbedingungen. Ein Tarifvertragsabschluss setzt auch Kenntnisse über die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit einzelner Betriebe und den individuellen Problemen betroffener Arbeitnehmer voraus. Denn nur dann lassen sich die inhaltlichen Anforderungen an Tarifforderungen ermitteln und ein Vertragsangebot der Gegenseite bewerten. Fehlt es an dieser Fähigkeit, kann aber dennoch ein Tarifvertrag geschlossen werden. Und dies wird auch bei fehlender organisatorischer Leistungsfähigkeit nicht unwahrscheinlich. Denn gerade dann, wenn ein Verband ein Vertragsangebot der Gegenseite aufgrund fehlender organisatorischer Infrastruktur nicht richtig bewerten kann und daher unangemessene Regelungen nicht identifizieren kann, erhöht sich die Wahrscheinlichkeit, dass er einen Tarifvertrag abschließt. Der Abschluss eines Tarifvertrags hat also eine ambivalente Aussage hinsichtlich der organisatorischen Leistungsfähigkeit. Auch aus der Tatsache, dass ein Arbeitnehmer oder ein Verbraucher einen Vertrag abschließt, folgt schließlich nicht, dass keinerlei Informationsasymmetrie zwischen den Vertragsparteien vorliegt. Auch folgt aus dem abgeschlossenen Tarifvertrag nicht, dass die organisatorische Leistungsfähigkeit zur Abschätzung seiner Folgen vorhanden ist. Vielmehr kann gerade diese fehlende Fähigkeit zur Ermittlung der Entscheidungsgrundlagen überhaupt der Grund sein, aus dem ein Arbeitgeberverband Verhandlungen mit einer organisatorisch schwachen Gewerkschaft aufnimmt. Auch verkennt das BAG im CGM-Beschluss weit reichend die Komplexität von Tarifverhandlungen. Geht man davon aus, dass durch einen Tarifvertragsabschluss in der Metallindustrie eine Arbeitnehmerzahl jenseits der Millionengrenze betroffen ist, so ist es nicht zu viel verlangt, zu prüfen, ob ein Verband, der einen derartig weitreichenden Tätigkeitsbereich für sich in Anspruch nimmt, auch über die notwendige Infrastruktur verfügt, um diesen sachgerecht zu betreuen.43 Und wenn man sich noch einmal das Verhältnis von organisatorischer Infrastruktur und in Anspruch genommenem Zuständigkeitsbereich der CGM betrachtet, so wird deutlich, warum das BAG es vorgezogen hat, sich mit dieser Frage nicht auseinanderzusetzen. Hier wäre die organisatorische Leistungsfähigkeit zu verneinen gewesen. Der Prüfungsmaßstab des BAG führt also dazu, dass ein Scheinargument eine Kompetenz begründet, die materiell nicht gegeben ist. Der Rückschluss von einer Tätigkeit auf eine Kompetenz ist aber zirkulär. Sieht man, dass das BAG im UFO-Beschluss auch noch maßgeblich auf das Erfordernis des Sachverstandes der Mitarbeiter einer Gewerkschaft abgestellt hatte, so
42 43
Herschel, AuR 1976, 225 (237). Vgl. dazu Herschel, AuR 1976, 225 (237).
A. Richtigkeitsgewähr und Tariffähigkeit
473
zeigt sich ein weiteres Defizit des CGM-Beschlusses. Denn auch dieser Sachverstand unterlag hier keiner Prüfung. ee) Organisatorische Leistungsfähigkeit und tarifdispositives Gesetzesrecht Betrachtet man das tarifdispositive Gesetzesrecht, wird dieses Defizit der Tariffähigkeitsrechtsprechung besonders evident.44 Auf Basis des Richtigkeitsvertrauens in den Tarifvertrag wird den Tarifvertragsparteien ein weitgehender Spielraum eröffnet, so beispielsweise in § 7 Abs. 2a ArbZG für die eigenständige Entwicklung von Arbeitszeitmodellen, die den Gesundheitsschutz massiv berühren können. Im Übrigen besteht hier durch die regelmäßige Eröffnung der Möglichkeit der arbeitsvertraglichen Inbezugnahme solcher tarifvertraglicher Vorschriften ein nicht unerhebliches Schutzdefizit, weil sich die Arbeitnehmer den Wirkungen des Tarifvertrags letztendlich nicht entziehen können. In solchen Konstellationen wird die Rechtsprechung des BAG besonders bedenklich.45 Wenn den Tarifvertragsparteien überhaupt eine solche Kompetenz zugebilligt werden kann, dann jedenfalls nur dann, wenn sie in der Lage sind, die zu treffenden Reglungen mit Blick auf ihre gesundheitlichen Auswirkungen zu beurteilen. Ebenso ist eine Kenntnis darüber zu verlangen, wie sich eine hypothetische Regelung in der betrieblichen Praxis auf den Gesundheitsschutz auswirkt. Die Wahrnehmung dieser Verantwortung setzt entsprechenden Sachverstand voraus. Zwar garantiert auch Sachverstand keine gesundheitsschützenden Ergebnisse, ohne diesen sind sie aber selten möglich. Denn es erscheint weitgehend ausgeschlossen, dass Splitterorganisationen, die über eine ausreichende Infrastruktur in personeller, organisatorischer und finanzieller Hinsicht nicht verfügen, derartige Bewertungen sachgerecht vornehmen können. Dies gilt umso mehr, wenn sie über keine Mitglieder verfügen, die die Effekte der entsprechenden Regelungen an den Verband rückkoppeln können. Dabei spielt es auch keine Rolle, ob sie entsprechende Tarifverträge abschließen. Der Abschluss von Tarifverträgen generiert keinen Sachverstand über Gesundheitsschutz. Dieser ist Voraussetzung für den sachgerechten Abschluss solcher Tarifverträge. Nimmt man die Rechtsprechung des BAG ernst, so gleicht sie der Argumentation, ein Geschäftsunfähiger könne seine Geschäftsfähigkeit durch den regelmäßigen Abschluss von Verträgen belegen.46 Dass dem BAG hier ein Zirkelschluss unterstellt wird, ist nachvollziehbar.47
44
Buschmann, FS Richardi, S. 93 (97 f.); Ulber, J., AuR 2008, 297 (299). Bedenken auch bei Richardi, RdA 2007, 117 (119). 46 Kritisch auch Franzen in: ErfK, § 2 TVG, Rn. 12; Rieble, FS Wiedemann, S. 519 (532 ff., 534). 47 Franzen in: ErfK, § 2 TVG, Rn. 12. 45
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6. Kap.: Grenzen der Richtigkeitsgewähr
Will man den CGM-Beschluss legitimieren, so geht dies nur dann, wenn mit Blick auf die vorstehende Problematik ein Korrektiv entwickelt wird. Dieses muss dann immer dort, wo es nicht alleine um die Interessenwahrnehmung der Mitglieder, sondern um staatsvertretende Normsetzung geht, jene Verbände von der Tarifnormsetzung ausscheiden, die zu dieser institutionell nicht in der Lage sind. ff) Folgerungen für das Konzept des tarifdispositiven Gesetzesrechts Es ist nicht zu verkennen, dass bei Tarifverträgen geringer Komplexität und bei Tarifverträgen, die keine erheblichen staatsvertretenden Regelungen im arbeitsschutzrechtlichen Bereich treffen, die Anforderungen an die organisatorische Leistungsfähigkeit geringer sein können. Die institutionellen Anforderungen an den Abschluss von Tarifverträgen mit Richtigkeitsgewähr steigen proportional zur Komplexität der Materie. Die Tariffähigkeit wird vom BAG aber nicht relativ, sondern einheitlich bewertet. Damit ist aber nach der gegenwärtigen Konzeption der Rechtsprechung nicht mehr sicher gestellt, dass sämtliche tariffähigen Verbände in der Lage sind, Tarifverträge mit Richtigkeitsgewähr im Anwendungsbereich tarifdispositiver Vorschriften zu schließen. Das BAG hat hier der Betätigungsgarantie der Verbände den Vorrang vor Sinn und Zweck der Tariffähigkeit gegeben. Will man diesen Weg in Zukunft weitergehen, so bleibt aber die Frage nach einer Korrektur.48 Denn zentrale Grundlage dieser Verschiebung ist der enge Zusammenhang mit dem Bild der Tarifautonomie als kollektiv ausgeübte Privatautonomie und dem damit verbundenen Gedanken, die Tarifnormsetzung beziehe ihre Legitimation maßgeblich aus der Beitrittsentscheidung des Arbeitnehmers. Dieses Bild vermag aber dort nicht zu überzeugen, wo der Staat nicht mit Blick auf die mitgliedschaftliche Legitimation, sondern mit Blick auf die Erwartung sachgerechter staatsvertretender Normsetzung die Abweichung von zwingendem Gesetzesrecht durch Tarifvertrag gestattet. b) Durchsetzungsfähigkeit und Teilnahme am Tarifgeschehen aa) Konzeption bis zum CGM-Beschluss Auch die Anforderungen an die Durchsetzungsfähigkeit eines Verbandes hat das BAG in jüngerer Zeit relativiert. Der Ausgangspunkt des BAG entspricht nach wie vor seiner ständigen Rechtsprechung49: „Durchsetzungskraft besitzen, um sicherzustellen, dass der soziale Gegenspieler Verhandlungsangebote nicht übergehen kann. Ein angemessener, sozial befriedender In48
Vgl. dazu 6. Kap. A. I. 6. BAG 14.12.2004, NZA 2005, 697 (701); BAG 6.6.2000, NZA 2001, 160 (162), jew. m.w. N. 49
A. Richtigkeitsgewähr und Tariffähigkeit
475
teressenausgleich kann nur zustande kommen, wenn die Arbeitnehmervereinigung zumindest so viel Druck ausüben kann, dass sich die Arbeitgeberseite veranlasst sieht, sich auf Verhandlungen über eine tarifliche Regelung von Arbeitsbedingungen einzulassen. Die Arbeitnehmervereinigung muss von ihrem sozialen Gegenspieler ernst genommen werden, sodass die Arbeitsbedingungen nicht einseitig von der Arbeitgeberseite festgelegt, sondern tatsächlich ausgehandelt werden. Ob eine Arbeitnehmervereinigung eine solche Durchsetzungsfähigkeit besitzt, muss auf Grund aller Umstände im Einzelfall festgestellt werden.“ 50
Eine erste Einschränkung dieser Grundsätze erfolgt bereits im UFO-Beschluss. „Allerdings dürfen an die Tariffähigkeit keine Anforderungen gestellt werden, die erheblich auf die Bildung und Betätigung einer Koalition zurückwirken, diese unverhältnismäßig einschränken und so zur Aushöhlung der durch Art. 9 III GG gesicherten freien Koalitionsbildung und -betätigung führen. Durchsetzungsfähigkeit gegenüber dem sozialen Gegenspieler zur Teilnahme an einer sinnvollen Ordnung des Arbeitslebens kann daher nicht bedeuten, dass die Arbeitnehmer-Koalition die Chance des vollständigen Sieges haben muss. Es muss nur erwartet werden können, dass sie vom Gegner überhaupt ernst genommen wird, sodass die Regelung der Arbeitsbedingungen nicht einem Diktat der einen Seite entspringt.“
Bis zu dieser Stelle sind die Überlegungen des BAG noch zustimmungsfähig. In der Tat muss es für die Tariffähigkeit ausreichen, dass ein Verband vom Gegner ernst genommen wird und dieser die Regelungen des Tarifvertrags nicht diktiert. Auch hierfür sind aber institutionelle Anforderungen wie eine hinreichende Mitgliederzahl oder ein Drohpotential durch Arbeitnehmer in Schlüsselpositionen erforderlich.51 Nach der Rechtsprechung des BAG soll aber auch die „aktive Teilnahme am Tarifgeschehen“ die Tariffähigkeit belegen können. Dieser Gesichtspunkt ist seit langem in der Rechtsprechung des BAG anerkannt.52 Dabei war allerdings anerkannt, dass das Kriterium der aktiven Teilnahme am Tarifgeschehen nur ein Aspekt innerhalb eines Bündels von Kriterien zur Feststellung der Durchsetzungsfähigkeit war. Selbst im UFO-Beschluss wird das Kriterium der Mitgliederzahl noch als vorrangig behandelt.53 Diese Vorgaben modifiziert das BAG im CGM-Beschluss. bb) Die Nivellierung des Kriteriums der Durchsetzungsfähigkeit im CGM-Beschluss Der CGM-Beschluss führt aus: „Für die gerichtliche Prüfung der Tariffähigkeit einer Arbeitnehmervereinigung ist wesentlich, ob diese bereits aktiv am Tarifgeschehen teilgenommen hat. Hat eine Arbeitnehmervereinigung schon in nennenswertem Umfang Tarifverträge geschlossen, 50 51 52 53
BAG 28.3.2006, NZA 2006, 1111 (1115). Dazu sogleich 6. Kap. A. I. 1. b) ee). BAG 6.6.2000, NZA 2001, 160 (162); BAG 16.1.1990, NZA 1990, 623 (625). BAG 14.12.2004, NZA 2005, 697 (701).
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6. Kap.: Grenzen der Richtigkeitsgewähr
belegt dies regelmäßig ihre Durchsetzungskraft und Leistungsfähigkeit. Das gilt sowohl für den Abschluss von originären Tarifverträgen als auch für den Abschluss von Anerkennungstarifverträgen. Die Indizwirkung entfällt nur ausnahmsweise, wenn es sich um Schein- oder Gefälligkeitstarifverträge oder um Tarifverträge handelt, die auf einem einseitigen Diktat der Arbeitgeberseite beruhen. Hierfür bedarf es besonderer Anhaltspunkte. Hat die Arbeitnehmervereinigung dagegen noch nicht aktiv am Tarifgeschehen teilgenommen, bedarf es der Darlegung von Tatsachen, die den Schluss rechtfertigen, die Arbeitgeberseite werde die Arbeitnehmervereinigung voraussichtlich nicht ignorieren können.“
Daraus folgt zunächst einmal, dass Tatsachen, die den Schluss rechtfertigen, eine Arbeitnehmervereinigung sei durchsetzungsfähig, nicht mehr dargelegt werden müssen, wenn diese schon in nennenswertem Umfang am Tarifgeschehen teilgenommen hat.54 Es findet sich also das gleiche Argumentationsmuster wie es bereits in der Anbahnungsphase des Tarifvertrags für die organisatorische Leistungsfähigkeit verwandt wird. Die Tatsache, dass Tarifverträge abgeschlossen werden, belegt die Fähigkeit zum Abschluss von Tarifverträgen. Dass diese Art der Argumentation Kritik im Schrifttum hervorruft bis hin zum Vorwurf des Zirkelschlusses, ist nachvollziehbar.55 Denn das BAG modifiziert den Kontrollmaßstab auf Basis einer Tätigkeit, deren Wirksamkeit noch nicht festgestellt wurde. Es wird nicht lediglich die Prognosegrundlage für die Entscheidung über die Tariffähigkeit verändert.56 Es werden die materiellen Voraussetzungen, die für die Tariffähigkeit gegeben sein müssen, modifiziert. Die Teilnahme am Tarifgeschehen suspendiert den größten Teil der Voraussetzungen der Tariffähigkeit und zwar insbesondere jene Sicherungsmechanismen, die das Vertrauen auf die Richtigkeitsgewähr des Tarifvertrags legitimieren könnten. Infolge dieser Rechtsprechung kann ein Verband, der ohne die aktive Teilnahme am Tarifgeschehen nicht tariffähig ist, durch diese die Tariffähigkeit erlangen. Dass eine entsprechende gerichtliche Entscheidung gegebenenfalls auch rückwirkend die Wirksamkeit dieser Tarifverträge feststellt, ändert nichts daran, dass die Tariffähigkeit erst durch den Abschluss dieser Tarifverträge entsteht, obwohl sie deren Wirksamkeitsvoraussetzung ist.57 Letztendlich zeigt der gerade geschilderte Fall einer Organisation ohne relevante Mitgliederzahl und organisatorische Leistungsfähigkeit, die erst durch den Abschluss von Tarifverträgen ihre Tariffähigkeit dadurch erlangt, dass die der Tariffähigkeit entgegenstehenden Gesichtspunkte nicht mehr geprüft werden, dass hier nicht lediglich Prognosegrundlagen verändert werden. Die Tariffähigkeit entsteht erst auf Grund des Abschlusses des Tarifver-
54
Greiner, Anm. zu BAG 28.3.2006, EzA Nr. 28 zu 2 TVG, Bl. 36. Franzen in: ErfK, § 2 TVG, Rn. 12; Rieble, FS Wiedemann, S. 519 (534); a. A. Henssler, Soziale Mächtigkeit und organisatorische Leistungsfähigkeit als Voraussetzungen der Tariffähigkeit von Gewerkschaften, S. 43. 56 So Greiner, Anm. zu BAG 28.3.2006, EzA Nr. 28 zu 2 TVG, Bl. 38. 57 Rieble, FS Wiedemann, S. 519 (534). 55
A. Richtigkeitsgewähr und Tariffähigkeit
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trags. Diese Art der Begründung der Tariffähigkeit wird mit Recht kritisch gesehen.58 Dies wird besonders an einer weiteren Relativierung des Erfordernisses der aktiven Teilnahme am Tarifgeschehen deutlich. cc) Anschlusstarifverträge und aktive Teilnahme am Tarifgeschehen Letztere soll nach Ansicht des BAG regelmäßig auch durch sogenannte Anschlusstarifverträge belegt werden können. „Indizielle Wirkung für das Vorliegen der sozialen Mächtigkeit entfalten auch die von einer Arbeitnehmervereinigung in nennenswertem Umfang geschlossenen so genannte Anerkennungs- oder Anschlusstarifverträge, mit denen diese für die von ihr vertretenen Arbeitnehmer die von einer anderen Gewerkschaft mit der Arbeitgeberseite vereinbarten Tarifverträge übernimmt. Solche Tarifverträge sind ein zuverlässiges Anzeichen dafür, dass die Vereinigung von den Arbeitgebern ernstgenommen wird und Durchsetzungskraft besitzt (. . .). An der im Beschluss vom 14. 3. 1978 (. . .) geäußerten Einschätzung, Anschlusstarifverträge würden „in aller Regel . . . dem Verhandlungsübergewicht der einen Seite (entspringen), die ihren Gegner überhaupt nicht als sozialen Gegenspieler ernst nimmt“, hält der Senat nicht fest. Zum einen ist es eher ein Zeichen von Stärke als von Schwäche der Arbeitnehmervereinigung, wenn es ihr gelingt, durch den Abschluss von Anschlusstarifverträgen die normative Geltung tariflicher Regelungen auch auf bislang nicht erfasste Arbeitsverhältnisse zu erstrecken. Zum anderen ist es nicht sachgerecht, von Arbeitnehmervereinigungen zum Beleg ihrer Tariffähigkeit den Abschluss originärer Tarifverträge zu verlangen. Insbesondere dann, wenn eine „große“ Gewerkschaft in ihrem Zuständigkeitsbereich bereits einschlägige Tarifverträge geschlossen hat, wird es einer „kleineren“, konkurrierenden Arbeitnehmervereinigung kaum jemals gelingen, einen für die Arbeitnehmer günstigeren Tarifvertrag durchzusetzen. Auch erscheint es in einer solchen Situation angesichts des vom BAG bislang vertretenen Prinzips der Tarifeinheit und des praktischen Bedürfnisses an einheitlichen tariflichen Regelungen innerhalb eines Betriebs wenig sinnvoll, durch einen originären Tarifvertrag abweichende Arbeitsbedingungen zu vereinbaren. Der kleineren Arbeitnehmervereinigung bleibt – will sie nicht einen Tarifvertrag mit schlechteren Arbeitsbedingungen schließen – kaum eine andere Möglichkeit als der Abschluss von Anschlusstarifverträgen.“
Wenn man schon grundsätzliche Bedenken gegen die Anerkennung des Kriteriums der aktiven Teilnahme am Tarifgeschehen haben muss59, so gilt dies durch die vorliegende Einschränkung des BAG umso mehr.60 Zunächst einmal ist die Argumentation nicht ganz überzeugend, wenn das BAG meint, dass es durch den 58 Franzen in: ErfK, § 2 TVG, Rn. 12; Rieble, FS Wiedemann, S. 519 (534); a. A. Henssler, Soziale Mächtigkeit und organisatorische Leistungsfähigkeit als Voraussetzungen der Tariffähigkeit von Gewerkschaften, S. 43. 59 A. A. Henssler, Soziale Mächtigkeit und organisatorische Leistungsfähigkeit als Voraussetzungen der Tariffähigkeit von Gewerkschaften, S. 42 ff. 60 Wank/Schmidt, RdA 2008, 245 (269); vgl. bereits Herschel, AuR 1976, 225 (239).
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6. Kap.: Grenzen der Richtigkeitsgewähr
Anschlusstarifvertrag gelänge, auch Arbeitsverhältnisse zu erfassen, die bislang normativ nicht durch einen Tarifvertrag erfasst wurden, obwohl es gleichzeitig darauf verzichtet, die Mitgliederstärke des tarifschließenden Verbandes zu überprüfen. So war das BAG im CGM-Beschluss verfahren und zwar obwohl sich die CGM geweigert hatte, ihre Mitgliederstruktur innerhalb der Metallbranche aufzuschlüsseln.61 Ob also die Tarifverträge der CGM überhaupt Arbeitsverhältnisse erfassten, wurde vom BAG nur sehr eingeschränkt überprüft.62 Gleichzeitig soll es aber für die CGM sprechen, dass durch ihre Anschlusstarifverträge potentiell auch bislang nicht tarifgebundene Arbeitsverhältnisse tarifgebunden wurden. Hier ist darauf zu verweisen, dass das BAG an dieser Stelle eigentlich hätte darauf eingehen müssen, dass diese Tarifbindung ohnehin keinem Arbeitnehmer einen Anspruch geben würde, der in aller Regel nicht ohnehin kraft Bezugnahmeklausel im Arbeitsvertrag schon bestünde.63 Dies mag sich mit Blick auf einen zunehmenden Koalitionspluralismus wandeln, jedoch ist gegenwärtig der ökonomische Effekt von Anschlusstarifverträgen faktisch gleich Null. Warum aber aus einer ökonomisch irrelevanten Überformung bereits bestehender Ansprüche mit einer zusätzlichen tarifrechtlichen Sicherung ein Indiz für Durchsetzungsfähigkeit gegenüber einem Arbeitgeberverband folgen soll, lässt sich nicht nachvollziehen.64 Denn für diesen hat der entsprechende Tarifvertrag keinerlei ökonomische Relevanz. Das BAG meint des Weiteren, dass ohne die Möglichkeit des Rückgriffs auf Anschlusstarifverträge kleinere Verbände keine Chance hätten, sich am Markt zu platzieren. Denn, so das BAG, günstigere Tarifverträge als die bestehenden etablierten Verbände würden diese nicht abschließen können.65 Auch erscheine es aufgrund des Grundsatzes der Tarifeinheit wenig sinnvoll, abweichende Tarifverträge zu schließen.66 Diese Argumentation verweist auf den Kerngedanken der Entscheidung ebenso wie auf ihre defizitäre Begründung. Kerngedanke der neueren Rechtsprechung des BAG ist, dass die Grundsätze der Tariffähigkeit so modifiziert werden müssen, dass kleinere Verbände eine Chance zum Marktzutritt im Bereich des Abschlusses von Tarifverträgen haben müssten. Das kann man auch grundsätzlich nicht bestreiten. Nur führt das eben nicht dazu, dass man den Abschluss von Anschlusstarifverträgen als Kennzeichen für die Durchsetzungsfähigkeit eines Verbandes anerkennen müsste.67 Ob die Argumentation nach der
61
BAG 28.3.2006, NZA 2006, 1111 (1121). BAG 28.3.2006, NZA 2006, 1111 (1121). 63 So zu Recht: Wank/Schmidt, RdA 2008, 245 (269); das bleibt unberücksichtigt bei Greiner, Anm. zu BAG 28.3.2006, EzA Nr. 28 zu 2 TVG, Bl. 38. 64 Vgl. zu diesem Einwand auch Herschel, AuR 1976, 225 (239). 65 BAG 28.3.2006, NZA 2006, 1111 (1120). 66 BAG 28.3.2006, NZA 2006, 1111 (1120). 67 Herschel, AuR 1976, 225 (239). 62
A. Richtigkeitsgewähr und Tariffähigkeit
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anstehenden Aufgabe des Grundsatzes der Tarifeinheit so noch überzeugt, ist ohnehin zweifelhaft. Auch trifft die Prämisse des BAG nur für einen Teil der Arbeitnehmervereinigungen zu. Eine Vielzahl von Berufsgewerkschaften tritt mittlerweile auf den Plan und betreibt eine eigenständige Tarifpolitik mit Blick auf den Abschluss gerade auch originärer Tarifverträge. Insofern ist der Gedanke, man müsse auf das Erfordernis des Abschlusses originärer Tarifverträge verzichten, nicht vollständig überzeugend. Aber auch im Bereich der Branchengewerkschaften ergibt sich aus den Annahmen des BAG gerade nicht die Schlussfolgerung, der Anschlusstarifvertrag müsse als Indiz anerkannt werden. Denn wenn es für die Arbeitgeberseite keinen Sinn macht, andere Tarifverträge als die bereits mit den „großen Gewerkschaften“ abgeschlossenen zu schließen, so ist dies teilweise unrichtig. Richtigerweise muss die Motivation von Arbeitgeberverbänden bei derartigen Tarifverträgen betrachtet werden, wenn man daraus eine „Ernstnahme“ ableiten will.68 Das Problem, dass gerade aufgrund des Grundsatzes der Tarifeinheit Kleinstverbände attraktiv sind, um mit deren Hilfe auf Grund des Spezialitätsprinzips aus dem Flächentarifvertrag auszubrechen, soll gleich noch aufgegriffen werden. Vorrangig soll hier zunächst die Annahme untersucht werden, der Arbeitgeberverband drücke mit einem Anschlusstarifvertrag seine „Ernstnahme“ einer kleineren Gewerkschaft aus. Dies ist nicht der Fall und zwar genau aus dem Grund, den das BAG zur Begründung des gegenteiligen Ergebnisses heranzieht. Durch solche Tarifverträge werden keine Arbeitsverhältnisse erfasst, für die nicht ohnehin bereits der Flächentarifvertrag gelten würde.69 Durch den nahezu flächendeckenden Gebrauch von arbeitsvertraglichen Bezugnahmeklauseln sind die Auswirkungen des Abschlusses eines solchen Tarifvertrags auf Arbeitgeberseite faktisch gleich Null.70 Dass eine darüber hinausgehende normative Bindung erzeugt wird, spielt dafür real keine Rolle. Insofern ignoriert der CGM-Beschluss hier die Auswirkungen, die ein solcher Anschlusstarifvertrag in der Praxis hat und argumentiert mit einer formaljuristisch zutreffend erkannten, aber praktisch bedeutungslosen „Überlagerung“ der Bezugnahmeklausel durch die unmittelbare und zwingende Wirkung. Vor dem Hintergrund der Unzulässigkeit der Änderungskündigung zur Entgeltreduzierung kann dieser Überlagerung hier auch kaum ein tatsächlicher Schutzgehalt zugemessen werden.71 Bewertet man die Wirkungen von Anschlusstarifverträgen damit auf Basis ihrer praktischen Auswirkungen, so sind sie 68 Auch Henssler, Soziale Mächtigkeit und organisatorische Leistungsfähigkeit als Voraussetzungen der Tariffähigkeit von Gewerkschaften, S. 45, fordert eine nähere Prüfung der Umstände des Einzelfalles. 69 Wank/Schmidt, RdA 2008, 245 (269). 70 Wank/Schmidt, RdA 2008, 245 (269). 71 Wank/Schmidt, RdA 2008, 245 (269).
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6. Kap.: Grenzen der Richtigkeitsgewähr
für den Arbeitgeberverband Bestätigung eines bestehenden Zustandes ohne jede praktische Auswirkung. In einer derartigen Konstellation anzunehmen, der Abschluss eines Anschlusstarifvertrags bringe die „Ernstnahme“ eines Verbandes zum Ausdruck, ist nicht überzeugend.72 Vielmehr ist er für den Arbeitgeberverband grundsätzlich neutral.73 Der Anschlusstarifvertrag ist damit für den Arbeitgeberverband ein „Geben ohne Nehmen“ und damit kein echter Vertrag im Sinne eines kontradiktorischen Interessenausgleichs. Selbst wenn man von einer neutralen Wirkung von Anschlusstarifverträgen ausgeht74, ist dies nur dann zutreffend, wenn man meint, Arbeitgeberverbände hätten kein Interesse daran, bestimmte Verbände, an deren Tariffähigkeit sie ein Interesse haben, durch den Abschluss von Tarifverträgen zu stärken und so zur Tariffähigkeit zu verhelfen. Das BAG hielt dies im CGM-Beschluss für fernliegend: „Demgegenüber erfasst der Begriff des „Gefälligkeitstarifvertrags“ zum einen Vereinbarungen, die von der Arbeitgeberseite nur geschlossen werden, um der Arbeitnehmervereinigung einen Gefallen zu erweisen, etwa um ihr das Etikett einer „Gewerkschaft“ zu verleihen (. . .). Hierfür bedarf es besonderer Anhaltspunkte. Im Normalfall kann nicht angenommen werden, die Arbeitgeberseite schließe Tarifverträge nur, um eine ihr genehme Arbeitnehmervereinigung tariffähig zu machen. Ein derartiger Verdacht unterstellt eine langfristig geplante Strategie der Arbeitgeberseite, die darauf angelegt ist, eine Arbeitnehmervereinigung durch den Abschluss von Tarifverträgen mittelbar zu stärken. Hiervon kann für den Regelfall nicht ausgegangen werden.“ 75
Diese Sichtweise ist angesichts der Entwicklungen, die sich im Zusammenhang mit dem Post-mindestlohn und der Gründung der GNBZ ergeben haben76, nicht mehr zukunftsfähig. Auch zeigt sie auch eine bedenkliche Gleichgültigkeit gegenüber der Entstehungsgeschichte des Tarifvertragsrechts. Sieht man, dass es in der Geschichte der Tarifautonomie in Deutschland immer wieder Versuche von Arbeitgeberseite gegeben hat, sich gefügige Scheinvertretungen von Arbeitnehmerinteressen zu schaffen – wie dies der Fall der AUB bei Siemens zuletzt mehr als deutlich gezeigt hat – so ist die Entscheidung bedenklich. Die Geschichte der gelben Gewerkschaften reicht bis zu den Anfängen der Tarifautonomie zurück. Jedenfalls zeigen auch die Entwicklungen in der Leiharbeit, wo die Arbeitgeberverbände ein unbestreitbares Interesse daran haben, die Tariffähigkeit der CGZP zu retten77, dass nicht angenommen werden kann, Arbeitgeberverbände hätten 72
Herschel, AuR 1976, 225 (239); Wank/Schmidt, RdA 2008, 245 (269). Wank/Schmidt, RdA 2008, 245 (269). 74 Wank/Schmidt, RdA 2008, 245 (269). 75 BAG 28.3.2006, NZA 2006, 1111 (1119). 76 Vgl. dazu ArbG Köln 30.10.2000, AuR 2009, 100 ff.; LAG Köln 20.5.2009, ArbuR 2009, 316. 77 Vgl. dazu Ulber, J., AÜG, § 9 Rdnrn. 171 ff., 190 ff.; Ulber, J./Schindele, AiB 2004, 212; Böhm, DB 2003, 2598; Schüren, in: FS Löwisch, 2007, S. 367 (372) m. w. Nachw.; ders., NZA 2008, 453; Schindele, AuR 2008, 31f.; Ulber, D., NZA 2008, 438. 73
A. Richtigkeitsgewähr und Tariffähigkeit
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regelmäßig kein Interesse daran, kleine Konkurrenzverbände von großen Gewerkschaften zu stärken. Diese sind vor allem dort interessant, wo der Tarifvertrag als Instrument der „Abwehr“ staatlichen Arbeitnehmerschutzrechts fungiert, wie dies im tarifdispositiven Gesetzesrecht der Fall ist. Jedenfalls in Branchen wie der Leiharbeit, in denen die Tarifnormsetzung nahezu vollständig diesen Prinzipien folgt, ist es naheliegend, dass jeder abgeschlossene Tarifvertrag Bestandteil einer Strategie ist, den Tarifpartner tariffähig zu machen und zu erhalten. dd) Die Gefahren einer Tariffähigkeit ohne Mitglieder Dies gilt insbesondere in Konstellationen in denen eine Organisation über keine hinreichende Mitgliederbasis verfügt. Auf den ersten Blick erscheint dies sinnwidrig. Denn eine Organisation ohne Mitglieder kann keine Tarifbindung erzeugen und ihre Tarifverträge bleiben damit wirkungslos. Dass man es sich so einfach nicht machen kann, erkennt auch der CGM-Beschluss. „Dabei verkennt der Senat nicht die Gefahr, dass sich einzelne Arbeitgeber eine „schwächere“ Gewerkschaft zum Abschluss eines – gegenüber dem Flächentarifvertrag – spezielleren Haustarifvertrags „aussuchen“, um mittels der in Fällen der Tarifpluralität vom Bundesarbeitsgericht bislang vertretenen – verfassungsrechtlich umstrittenen – Lehre von der Tarifeinheit (. . .) einen ihnen unbequemen Flächentarifvertrag zu verdrängen. Diese Problematik kann jedoch verfassungskonform nicht durch erhöhte Anforderungen an die Tariffähigkeit einer Arbeitnehmervereinigung gelöst werden.“ 78
Damit antizipiert der 1. Senat des BAG die Aufgabe des Grundsatzes der Tarifeinheit. Es lässt sich zwar bezweifeln, ob die hier genannte Gefahr nicht gerade verfassungskonform durch die Anforderungen an die Tariffähigkeit behoben werden muss, aber viel problematischer ist das dahinter stehende Grundproblem. Eine derartige Konstruktion ist vor allem für Verbände attraktiv, die über keinerlei oder nur eine sehr geringe Mitgliederzahl verfügen. Bei solchen Verbänden fehlt es nämlich an Mitgliedern, die den Tarifnormen von Tarifverträgen des Verbandes tatsächlich ausgesetzt sind. Damit schwindet die Verantwortlichkeit des Verbandes für die gesetzten Tarifnormen. Dieses Problem meint der CGM-Beschluss erkennbar, durch die aus der Aufgabe des Grundsatzes der Tarifeinheit folgenden Kongruenz von Mitgliedschaft in einem Verband und Tarifbindung an dessen Tarifverträge, lösen zu können. Denn dann würde sich durch etwaige Ausund Umtrittsentscheidungen der Arbeitnehmer der Markt sozusagen von selbst bereinigen, wenn ein Verband Normsetzung betreibt, die im Widerspruch zu den Interessen seiner Mitglieder steht. Dabei verkennt das BAG jedoch, dass dies auch bei einer Aufgabe des Grundsatzes der Tarifeinheit nicht stets möglich ist. Zunächst einmal ist in Konstellationen, in denen Tarifverträge über betriebliche und betriebsverfassungsrechtliche 78
BAG 28.3.2006, NZA 2006, 1112 (1120).
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6. Kap.: Grenzen der Richtigkeitsgewähr
Fragen nach § 3 Abs. 2 TVG geschlossen werden, das Problem weiterhin gegeben. Dass man das Problem durchaus sachgerecht durch das Kriterium der Repräsentativität und der fehlenden Anerkennung einer Indizwirkung solcher Tarifverträge79 mildern kann, ist zuzugeben. Nur ist hier eben eine Konstellation gegeben, die der CGM-Beschluss schlichtweg ignoriert. Denn hier besteht die Gefahr, dass nicht nur unbequeme Tarifverträge verdrängt werden.80 Man muss auf Basis des CGM-Beschlusses Lösungen jenseits der Tariffähigkeit suchen. Das auch mit Blick auf das tarifdispositive Gesetzesrecht die Kongruenz zwischen Mitgliedern eines tarifschließenden Verbandes und der Reichweite der Tarifnormen nicht gegeben ist, ist angesichts der Möglichkeit der arbeitsvertraglichen Bezugnahme auf solchen Regelungen evident. In der Leiharbeitsbranche wird dies besonders deutlich.81 Hier dürften Tarifverträge, die mitgliedschaftlich durch 1% der Arbeitnehmer legitimiert sind, nahezu alle Arbeitsverhältnisse erfassen. Dass in einer derartigen Konstellation eine hinreichende Rückbindung der Verbände an die Interessen der Tarifunterworfenen bestehen kann, muss bezweifelt werden. Vor allem aber geht der Gedanke des BAG, bei einer Aufgabe des Grundsatzes der Tarifeinheit ließen sich die Gefahren des Missbrauchs der Tarifautonomie ohne weiteres durch die Kongruenz von Tarifbindung und Mitgliedschaft im Verband lösen, ins Leere. Es ist hier nach alternativen Lösungsmöglichkeiten zu suchen, die sich im CGM-Beschluss aber durchaus andeuten.82 ee) Fehlende Indizwirkung von Gefälligkeitstarifverträgen als Korrektur? Die soeben aufgeworfene Frage des Missbrauchs der Tarifautonomie durch Kleinstverbände wirft die Frage nach der Bewertung von Gefälligkeitstarifverträgen auf. Das BAG hat die entsprechende Problematik durchaus gesehen. So soll einzelnen Gefälligkeitstarifverträgen oder solchen Tarifverträgen, die auf einem Diktat der Arbeitgeberseite beruhen, keine Indizwirkung für die soziale Mächtigkeit zukommen.83 Unter solchen Gefälligkeitstarifverträgen versteht das BAG zum einen solche Tarifverträge, die von der Arbeitgeberseite nur geschlossen werden, um der Arbeitnehmervereinigung einen Gefallen zu erweisen, etwa um ihr das Etikett einer „Gewerkschaft“ zu verleihen, und zum anderen solche Tarifverträge, bei denen die Arbeitnehmervereinigung der Arbeitgeberseite „gefällig“ ist.84 Solchen Tarifverträgen fehlt es an der Indizwirkung für die soziale Mäch79
Für letzteres zu Recht Wank/Schmidt, RdA 2008, 254 (269). Deinert, NZA 2009, 1176 (1177). 81 Deinert, NZA 2009, 1176 (1177). 82 Dazu sogleich 6. Kap. I. b) dd). 83 BAG 28.3.2006, NZA 2006, 1112 (1119). 84 BAG 28.3.2006, NZA 2006, 1112 (1119); zur Unterscheidung vgl. Greiner, Anm. zu BAG 28.3.2006, EzA Nr. 28 zu 2 TVG, Bl. 40. 80
A. Richtigkeitsgewähr und Tariffähigkeit
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tigkeit.85 Problematisch ist allerdings, dass das BAG für die Annahme einer solchen Konstellation „besondere Umstände“ verlangt, die dazu führen, dass diese Grundsätze faktisch nicht justiziabel sind.86 (1) Arbeitgeberseitige Gefälligkeit Dies gilt zunächst für den arbeitgeberseitigen Gefälligkeitstarifvertrag. Im Normalfall könne nicht angenommen werden, dass die Arbeitgeberseite Tarifverträge nur schließe, um eine ihr genehme Arbeitnehmervereinigung tariffähig zu machen. Ein derartiger Verdacht unterstelle eine langfristig geplante Strategie der Arbeitgeberseite, die darauf angelegt sei, eine Arbeitnehmervereinigung durch den Abschluss von Tarifverträgen mittelbar zu stärken. Hiervon könne für den Regelfall nicht ausgegangen werden.87 Bei derartigen Kriterien hätte man ehrlicherweise auf die Einschränkung der Anerkennung von Gefälligkeitstarifverträgen gänzlich verzichten sollen.88 Die Entscheidung geht erkennbar davon aus, dass ein derartiger Fall in der Praxis nicht vorkommen wird. Indes zeigen Fälle wie der der GNBZ89, dass solche Konstellationen durchaus existieren. Unabhängig davon werden sich aber derartige Konstellationen allenfalls zufällig nachweisen lassen. Im Übrigen ist es selbstverständlich ein Interesse der Arbeitgeberverbände, die Arbeitnehmer auf möglichst viele konkurrierende Verbände zu verteilen, solange ein großer Hauptverband existiert, der mit seinen Tarifverträgen eine Leitfunktion hat. Denn in diesem Fall kommt es für die Tarifauseinandersetzungen allein auf dessen Mitgliedsstärke an. Insofern haben die Arbeitgeberverbände ein vitales Interesse an einer Partikularisierung der Gewerkschaftslandschaft. Insofern erscheint es richtiger, davon auszugehen, dass bei Verbänden, deren Tarifverträge keine tatsächlichen ökonomischen Auswirkungen haben, wie dies bei Anschlusstarifverträgen der Fall ist, diese nur deshalb abgeschlossen werden, um den Verband, dem diese gewährt werden, zu unterstützen. Insofern kann dem BAG hier mit Blick auf den Anschlusstarifvertrag nicht gefolgt werden, wenn es ihn als Indiz für die soziale Mächtigkeit heranzieht. Wank und Schmidt ist zuzustimmen, wenn sie in der Ausgestaltung der Kriterien für Gefälligkeitstarifverträge eine Gefährdung der Funktionsfähigkeit der Tarifautonomie erblicken.90
85
BAG 28.3.2006, NZA 2006, 1112 (1120). Greiner, Anm. zu BAG 28.3.2006, EzA Nr. 28 zu 2 TVG, Bl. 40; Wank/Schmidt, RdA 2008, 254 (268). 87 BAG 28.3.2006, NZA 2006, 1112 (1120). 88 Greiner, Anm. zu BAG 28.3.2006, EzA Nr. 28 zu 2 TVG, Bl. 40. 89 Vgl. ArbG Köln 20.10.2008, AuR 2009, 100. 90 Wank/Schmidt, RdA 2008, 254 (268). 86
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6. Kap.: Grenzen der Richtigkeitsgewähr
(2) Arbeitnehmerseitige Gefälligkeit Als weitere Variante des Gefälligkeitstarifvertrags sieht das BAG Fälle eines kollusiven Zusammenwirkens der Arbeitnehmervereinigung mit der Arbeitgeberseite an. Auch für eine solche Annahme bedürfe es des Vorliegens besonderer Anhaltspunkte.91 Diese Fallkonstellation hat das BAG sicher zutreffend erkannt. Bemerkenswert ist auch, dass sich in den folgenden Erwägungen des BAG ein Ansatzpunkt für die Lösung des Problems der Tariffähigkeit im Anwendungsbereich tarifdipositiven Gesetzesrechts findet. Denn nach Ansicht des BAG kann ein Gefälligkeitstarifvertrag dann vorliegen, wenn in einem Tarifvertrag unter Ausnutzung einer gesetzlichen Tariföffnungsklausel gesetzliche Mindestbedingungen ohne Kompensation unterschritten werden oder ein besonders krasses Missverhältnis zwischen den vereinbarten Leistungen vorliegt.92 Dies geht zwar nicht weit genug, weil in solchen Konstellationen wohl stets ein Gefälligkeitstarifvertrag vorliegt, aber der Grundgedanke, dass derartige Konstellationen problematisch sein können, findet sich in der Entscheidung wieder. Ob diese Überlegung des BAG ausbaufähig ist, soll gleich noch untersucht werden. Allerdings zeigt das BAG mit dem Erfordernis der „besonderen Anhaltspunkte“ auch hier, dass es eine erhebliche Beweislast für solche Konstellationen sieht, die die faktische Justiziabilität der Einschränkung massiv behindern dürfte.93 (3) Fehlende Justiziabilität und Rechtsfolgen eines Gefälligkeitstarifvertrags Ist also festzuhalten, dass Gefälligkeitstarifverträge durch den CGM-Beschluss in ihrer Justiziabilität beeinträchtigt sind94, so stellt sich dennoch die Frage nach den Rechtsfolgen, die ein dennoch festgestellter Gefälligkeitstarifvertrag für die Tariffähigkeit hat. An sich sollte man erwarten, dass in einer Konstellation kollusiven Zusammenwirkens von Arbeitnehmervereinigungen mit der Arbeitgeberseite die Tarifunfähigkeit eines Verbandes die Folge ist. Das BAG hingegen hat im CGM-Beschluss auch dies abgelehnt. Vielmehr soll das Vorliegen eines Schein- oder Gefälligkeitstarifvertrags oder eines auf dem einseitigen Diktat der Arbeitgeberseite beruhenden Tarifvertrags lediglich dessen indizielle Wirkung entkräften.95 Es habe aber nicht zur Folge, dass damit auch die indizielle Wirkung aller übrigen von der Arbeitnehmervereinigung geschlossenen Tarifverträge 91
BAG 28.3.2006, NZA 2006, 1112 (1120). BAG 28.3.2006, NZA 2006, 1112 (1120); ähnlich Henssler, Soziale Mächtigkeit und organisatorische Leistungsfähigkeit als Voraussetzungen der Tariffähigkeit von Gewerkschaften, S. 60. 93 Greiner, Anm. zu BAG 28.3.2006, EzA Nr. 28 zu 2 TVG, Bl. 40. 94 Greiner, Anm. zu BAG 28.3.2006, EzA Nr. 28 zu 2 TVG, Bl. 40; Wank/Schmidt, RdA 2008, 254 (268). 95 BAG 28.3.2006, NZA 2006, 1112 (1120). 92
A. Richtigkeitsgewähr und Tariffähigkeit
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entfiele. Erst eine Vielzahl solcher Tarifverträge könne die indizielle Wirkung der Gesamtheit der von der Arbeitnehmervereinigung geschlossenen Tarifverträge in Frage stellen.96 In dieser Reichweite akzeptieren nicht einmal Stimmen, die den CGM-Beschluss im Grundsatz für richtig halten, die Entscheidung.97 Vielmehr wird richtigerweise gefordert, dass bereits ein einziger abgeschlossener Gefälligkeitstarifvertrag zu einer Beweislastumkehr dahin gehend führt, dass nunmehr die Arbeitnehmervereinigungen zu beweisen haben, dass ihre Tarifnormsetzung nicht dem kollusiven Zusammenwirken mit der Arbeitgeberseite dient.98 Und es wird ebenso zu Recht kritisch angemerkt, dass damit die Tarifunfähigkeit wegen des Abschlusses von Gefälligkeitstarifverträgen faktisch nicht justiziabel wird. Die hierzu erforderlichen Nachweise lassen sich in der Praxis kaum führen.99 Dies gilt insbesondere dann, wenn es tatsächlich die Strategie von Arbeitgeberverbänden sein sollte, sich einen Tarifpartner heranzuzüchten. Hier werden sich Mittel und Wege finden, die entsprechende Strategie zu verschleiern. Die Entscheidung ist mit Blick auf die Rechtsfolgen, die das BAG aus dem Abschluss eines Gefälligkeitstarifvertrags herleitet, abzulehnen. Und auch dass man aus der Entscheidung durchaus herauslesen darf, das BAG sei selbst dann, wenn der unwahrscheinliche Fall eines systematischen Abschlusses von Gefälligkeitstarifverträgen nachweisbar eingetreten ist, noch bereit, die Tariffähigkeit auf Basis der sonstigen Kriterien der Tariffähigkeit anzunehmen100, zeigt, dass man hier im anerkennenswerten Interesse des Schutzes der Koalitionsfreiheit weit über das Ziel hinaus geschossen ist. Bedeutsam ist allerdings, dass das BAG meint, ein Gefälligkeitstarifvertrag könne vorliegen, wenn in einem Tarifvertrag unter Ausnutzung einer gesetzlichen Tariföffnungsklausel gesetzliche Mindestarbeitsbedingungen ohne Kompensation unterschritten werden oder ein besonders krasses Missverhältnis zwischen den vereinbarten Leistungen vorliegt. Diese Passage des CGM-Beschlusses lässt erkennen, dass das BAG das Problem einer weitreichenden Anerkennung der Tariffähigkeit im Bereich des tarifdispositiven Gesetzesrechts durchaus gesehen hat. Es beschränkt diese Erkenntnis hier aber (noch) auf die Frage des Gefälligkeitstarifvertrages. Von Bedeutung ist das Problem aber auch und gerade mit Blick auf die funktionellen Voraussetzungen sachgerechter und sachnaher Tarifnormsetzung im Anwendungsbereich tarifdispositiven Gesetzesrechts und reicht damit weit über die Frage des Vorliegens von Gefälligkeitstarifverträgen hinaus. 96
BAG 28.3.2006, NZA 2006, 1112 (1120). Greiner, Anm. zu BAG 28.3.2006, EzA Nr. 28 zu 2 TVG, Bl. 42; Wank/Schmidt, RdA 2008, 254 (268). 98 Greiner, Anm. zu BAG 28.3.2006, EzA Nr. 28 zu 2 TVG, Bl. 42. 99 Greiner, Anm. zu BAG 28.3.2006, EzA Nr. 28 zu 2 TVG, Bl. 42. 100 So wohl zu Recht Greiner, Anm. zu BAG 28.3.2006, EzA Nr. 28 zu 2 TVG, Bl. 42. 97
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6. Kap.: Grenzen der Richtigkeitsgewähr
(4) Zusammenfassung Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass das BAG mit seiner engen Bestimmung des Begriffs und der Voraussetzungen eines Gefälligkeitstarifvertrags die Kontrollfunktion des Kriteriums faktisch nivelliert hat.101 Damit ist der Beitrag den dieser Gesichtspunkt zur Sicherung der Funktionsfähigkeit der Tarifautonomie leisten könnte, entfallen.102 Daraus folgt dann aber, dass an anderer Stelle Korrekturen erfolgen müssen.103 ff) Die Entwertung des Kriteriums der Mitgliederzahl Dass im Rahmen des CGM-Beschlusses ein Organisationsgrad von 1,5% letztendlich nicht den Ausschlag dafür gegeben hat, der CGM, bei der es sich immerhin nicht um eine erst kurzfristig entstandene Vereinigung handelt, die Tariffähigkeit zu verweigern, zeigt, dass das BAG auch das Kriterium einer hinreichenden Mitgliederzahl de facto aufgegeben hat. Das lässt sich deutlich daran erkennen, dass auf Basis der Entscheidung vertreten wird, der Tariffähigkeit stünde es auch nicht entgegen, wenn die mitgliedschaftliche Legitimation in den vom satzungsmäßigen Zuständigkeitsbereich einer Arbeitnehmervereinigung erfassten Betrieben vollkommen fehle.104 Das BAG hat hier erkennbar der Kritik am Kriterium der Mitgliederzahl Rechnung tragen wollen.105 Dass dies wohl weniger dem Schutz der bestehenden DGB-Gewerkschaften106 als der Absenkung der Zutrittsschwelle zur Tariffähigkeit gedient haben dürfte, ist im Kontext der Entscheidung naheliegend. Letztendlich hat das BAG das Kriterium damit faktisch bedeutungslos gemacht. Dies vor allem auch deshalb, weil es auch hier vorrangig auf die aktive Teilnahme am Tarifgeschehen verweist.107 Dass es etwas seltsam anmutet, die Tarifautonomie als kollektiv ausgeübte Tarifautonomie zu begreifen, gleichzeitig aber das Vorliegen eines Kollektivs nicht zu überprüfen, soll hier nicht weiter vertieft werden. Auch dass man sich durchaus mit der Frage hätte beschäftigen können, ob ein derartiger Organisationsgrad überhaupt die notwendigen finanziellen Ressourcen generieren kann, um organisatorisch und finanziell leistungsfähig zu sein108, wird durch das BAG ausgeblendet. Letztendlich zeigt aber der Verzicht auf das Kriterium, dass die Kon101
Wank/Schmidt, RdA 2008, 254 (268). Wank/Schmidt, RdA 2008, 254 (268). 103 Wank/Schmidt, RdA 2008, 254 (268). 104 Greiner, Anm. zu BAG 28.3.2006, EzA Nr. 28 zu 2 TVG, Bl. 40. 105 Vgl. dazu Henssler, Soziale Mächtigkeit und organisatorische Leistungsfähigkeit als Voraussetzungen der Tariffähigkeit von Gewerkschaften, S. 39 ff. 106 In diesem Sinne Greiner, Anm. zu BAG 28.3.2006, EzA Nr. 28 zu § 2 TVG. 107 BAG 28.3.2006, NZA 2006, 1112 (1122). 108 Rieble, FS Wiedemann, S. 519 (537); vgl. auch Herschel, AuR 1976, 225 (237). 102
A. Richtigkeitsgewähr und Tariffähigkeit
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trollfunktion, die ein potentieller Mitgliederschwund für die Tarifpolitik hat, durch den CGM-Beschluss aufgehoben worden ist. Denn auf Mitglieder ist ein Verband mit aktiver Tarifpolitik nach diesem tatsächlich nicht mehr angewiesen, um seine Tariffähigkeit zu belegen.109 Er schöpft seine Legitimation aus seinem tatsächlichen Handeln, nicht aus seiner Mitgliederbasis.110 Das führt dazu, dass Verbände mit bemerkenswerten Defiziten mitgliedschaftlicher Legitimation, ohne auf deren Umfang Rücksicht nehmen zu müssen, ihre Tarifpolitik betreiben können.111 Dies führt zu einer bemerkenswerten Entkopplung der Tarifpolitik eines Verbandes von den Interessen seiner Mitglieder. Diese wahrzunehmen ist für den Erhalt seiner Tariffähigkeit nicht erforderlich. Denn eine etwaige Abwanderung von Mitgliedern wirkt sich bei fortbestehender aktiver Tarifpolitik nicht auf die Tariffähigkeit aus. Die Reichweite des Tarifvertrags bleibt dennoch erhalten über die Möglichkeit der arbeitsvertraglichen Bezugnahme und zwar insbesondere dort, wo der Gesetzgeber Abweichungsbefugnisse von zwingendem Gesetzesrecht nur mit Blick auf den Sachverstand und die Sachnähe der Tarifvertragsparteien gestattet. Dieser Widerspruch muss aufgelöst werden, indem dann zumindest hier Zutrittsschranken zur Tarifnormsetzung errichtet werden, die die entsprechende Erwartungshaltung wieder rechtfertigen. c) Rückwirkung auf die Richtigkeitsgewähr des Tarifvertrags Damit ist die Richtigkeitsgewähr des Tarifvertrags durch die neuere Rechtsprechung des BAG zur Tariffähigkeit insgesamt beeinträchtigt. Denn das BAG berücksichtigt das unterschiedliche Gewicht, das die verschiedenen Kriterien der sozialen Mächtigkeit für die Richtigkeitsgewähr haben, nur unzureichend. Die Richtigkeitsgewähr bezieht ihre argumentative Stütze nämlich nicht nur daraus, dass die Tarifvertragsparteien sich gegenseitig ernst nehmen. Sie stützt sich maßgeblich auch darauf, dass die Parteien über die notwendigen Informationen über das Tarifgebiet verfügen und in der Lage sind, aus diesen eine sachgerechte Regulierung zu entwickeln.112 Diese Befähigung, die durch eine Rückanbindung an die Interessen der Mitglieder entsteht, setzt aber eine hinreichende mitgliedschaftliche Basis voraus.113 Diese wird durch den Abschluss insbesondere von Anschlusstarifverträgen nicht erworben und auch nicht indiziert. Vielmehr fließt in einen Anschlusstarifvertrag gerade kein eigener Sachverstand ein und wird durch ihn auch nicht erworben. Die Fähigkeit zur sachgerechten Regulierung 109
Greiner, Anm. zu BAG 28.3.2006, EzA Nr. 28 zu 2 TVG, Bl. 43. Greiner, Anm. zu BAG 28.3.2006, EzA Nr. 28 zu 2 TVG, Bl. 43. 111 Vgl. zu Unabdingbarkeit der Feststellung einer Mindestzahl von Mitgliedern Herschel, AuR 1976, 229 (237). 112 BVerfG 20.10.1981, NJW 1982, 815. 113 Ricken, Autonomie und tarifliche Rechtsetzung, S. 148; Rieble, FS Wiedemann, 519 (526, 537); Schüren, FS Löwisch, S. 367 (371). 110
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6. Kap.: Grenzen der Richtigkeitsgewähr
können Tarifvertragsparteien nur über ihre mitgliedschaftliche Verankerung im Tarifgebiet oder ihre organisatorische Infrastruktur generieren.114 Hierin liegt Grund und Legitimation des Erfordernisses der organisatorischen Leistungsfähigkeit.115 Das BAG berücksichtigt im CGM-Beschluss nur unzureichend, dass Tarifverträge häufig komplexe Abwägungen zwischen verschiedenen Interessen in unternehmerischer, betrieblicher und arbeitsorganisatorischer Hinsicht erfordern, ganz zu schweigen von der notwendigen Beurteilung der ökonomischen Konsequenzen der Regelungen für Arbeitnehmer und Arbeitgeber. Denn in diesem Fall hätten sowohl die institutionellen Anforderungen an die Tariffähigkeit einer Arbeitnehmervereinigung, als auch die Bedeutung des Abschlusses von Anschlusstarifverträgen weitaus sensibler gehandhabt werden müssen, als dies der Beschluss tut. Die Entscheidung stützt die soziale Macht von Arbeitnehmervereinigungen letztendlich auf Umstände, die – insbesondere beim Anschlusstarifvertrag – die Entscheidung über die Tariffähigkeit eines Verbandes letztendlich in die Hände der Arbeitgeberverbände legen. Denn durch das Erfordernis der aktiven Teilnahme am Tarifgeschehen haben sie es letztendlich in der Hand, die Tariffähigkeit von kleinen Arbeitnehmerverbänden zu steuern und Verbänden, die die notwendige Infrastruktur für den Abschluss „richtiger“ Tarifverträge nicht besitzen, davor zu schützen, dass dies vor Gericht überhaupt überprüft wird. Dass dies negative Folgewirkungen für die Legitimation der Tarifnormsetzung116 über den Bereich der unmittelbar Tarifunterworfenen hinaus haben muss, wenn man die Richtigkeitsgewähr von Tarifverträgen auch für diesen Bereich erhalten will, darf nicht verkannt werden. Es erscheint auch mit Blick auf das Demokratieprinzip problematisch, den Gebrauch von tarifdispositivem Gesetzesrecht ohne eine zusätzliche Schranke zu gestatten, wenn es bei der gegenwärtigen Konzeption der Rechtsprechung zur Tariffähigkeit bleibt. Denn der Staat kann sich auf Basis dieser Rechtsprechung nicht mehr auf die Erwartung stützen, der Gebrauch von den gewährten Befugnissen werde sachgerecht und durch hinreichend kompetente Gewerkschaften erfolgen. Dieses Defizit muss ausgeglichen werden. Lösungsweg hierfür ist das Repräsentativitätsprinzip als Zutrittsschranke für den Gebrauch von tarifdispositivem Gesetzesrecht.117 2. Soziale Mächtigkeit und tarifdispositives Gesetzesrecht Auf die besondere Bedeutung, die die soziale Mächtigkeit für die Legitimation des tarifdispositiven Gesetzesrechts hat, ist bereits hingewiesen worden. Diese 114 Schüren, FS Löwisch, S. 367 (371); so jetzt auch BAG 29.7.2009 AP BetrVG 1972 § 3 Nr. 7. 115 BVerfG 20.10.1981, NJW 1982, 815. 116 Vgl. dazu ausführlich Kovács, Das Spannungsverhältnis zwischen Koalitionsfreiheit und Tariffähigkeit, S. 90 ff. 117 Vgl. dazu unten 6. Kap A. I. 6.
A. Richtigkeitsgewähr und Tariffähigkeit
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folgt daraus, dass – anders als bei der regulären Ausübung der Tarifautonomie – die Wirkungen des Tarifvertrags nicht kongruent zu seiner mitgliedschaftlichen Basis sind, weil die Möglichkeit der arbeitsvertraglichen Bezugnahme ihren Wirkkreis ausdehnt. Darüber hinaus liegt hier nicht nur ein Fall kollektiv ausgeübter Privatautonomie vor. Denn die einzelnen Koalitionsmitglieder haben nicht die Rechtsmacht, die entsprechenden Regelungen in ihrem Arbeitsvertrag zu vereinbaren. Vielmehr erwächst diese erst durch die exklusiv den Tarifvertragsparteien zugewiesene Befugnis der Abweichung vom gesetzlichen Mindeststandard. Dieser Dispens verlangt danach, dass die tarifschließenden Verbände qualitativ dem Gesetzgeber ebenbürtig handeln können, um den Dispens von der zwingenden gesetzlichen Regelung zu legitimieren. Dies kann jedenfalls auf Arbeitnehmerseite, auf Basis des CGM-Beschlusses, nicht mehr automatisch angenommen werden. Denn die Kriterien, die hierzu die institutionellen Voraussetzungen schaffen, werden vom BAG nicht mehr hinreichend berücksichtigt. Letztendlich basiert das tarifdispositive Gesetzesrecht auf einer Prämisse sozial mächtiger Verbände, die auf Grund ihrer Größe und Verankerung in der Arbeitnehmerschaft über eine hinreichende Repräsentativität und Leistungsfähigkeit verfügen, um sachgerechte Regelungen zu schaffen. Diese Geschäftsgrundlage des tarifdispositiven Gesetzesrechts hat das BAG mit dem CGM-Beschluss gekündigt. Dies gilt insbesondere dann, wenn die mitgliedschaftliche Rückanbindung der Verbände an die Arbeitnehmer im Anwendungsbereich tarifdispositiven Gesetzesrechts unzureichend ist. Denn hier führt dies nicht nur zu einer fehlenden Verantwortlichkeit für das geschaffene Tarifrecht, sondern auch zu strukturellen Defiziten bei der Ermittlung der konkreten Erfordernisse für die Regulierung einzelner Beschäftigungsformen. Die Unzulänglichkeit des CGM-Beschlusses wird besonders transparent, wenn man die Judikatur zu den Anschlusstarifverträgen in diesem Bereich betrachtet. Eine Gewerkschaft ohne mitgliedschaftliche Basis und ohne hinreichende organisatorische Struktur, mithin ohne das erforderliche Knowhow für eine gesundheitsschützende Tarifregelung, könnte womöglich118 hier durch Anschluss an die Tarifverträge sachverständiger Parteien ihre Durchsetzungsfähigkeit belegen und in die Tariffähigkeit erwachsen, obwohl ihr genau die entscheidende Fähigkeit zum sachgerechten Abschluss der Tarifverträge, auf denen ihre Tariffähigkeit basieren soll, fehlt. Dieser Widerspruch ist inakzeptabel. Denn den Tarifverträgen eines solchen Verbandes kommt die Richtigkeitsgewähr, auf die das Gesetz zur Legitimation der Tariföffnung abstellt, nicht zu. Daher ist es auch unzutreffend, wenn vertreten wird, die Rechtsprechung des BAG schütze davor, dass „Schmutzgewerkschaften“ die Tarifdispositivität missbrauchen.119 Sie
118 Die Entscheidung gibt begrenzte Hoffnung dazu, dass das BAG hier eine Ausnahme machen wird, vgl. dazu Ulber, D., NZA 2008, 438 (439 ff.). 119 Thüsing, ZfA 2008, 590 (613).
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6. Kap.: Grenzen der Richtigkeitsgewähr
ist dieser Schutzwirkung – vorbehaltlich einer Korrektur – durch das BAG beraubt worden. 3. Fehlende Indizwirkung für die soziale Mächtigkeit bei Gebrauch von Tariföffnungsklauseln Bei der Annahme der Tariffähigkeit auf Basis der „aktiven Tarifpolitik“ ist in jedem Fall eine weitere vom BAG nicht hinreichend problematisierte Einschränkung vorzunehmen. Tarifverträgen im Anwendungsbereich tarifdispositiven Gesetzesrechts kann keinerlei Indizwirkung für die Tariffähigkeit zukommen.120 Solche Tarifverträge, sofern sie nicht kompensatorische Regelungen in anderen Bereichen enthalten, liegen zunächst primär im Interesse der Arbeitgeberseite, um hierdurch gesetzliche Mindeststandards zu durchbrechen.121 Ein Interesse für Gewerkschaften entsteht hier nur aus der Möglichkeit von Kompensationsgeschäften. Derartige Tarifverträge schaffen aber einen Fehlanreiz für Kleinstverbände, sich hier als Tarifnormsetzer mit erheblicher Breitenwirkung zu betätigen. Dies zeigt sich nicht zuletzt an der Tarifpraxis der CGZP.122 Der Abschluss solcher Tarifverträge kann und darf nur Verbänden zustehen, die ohne deren Abschluss bereits tariffähig sind, weil ansonsten nicht sicher gestellt ist, dass solche Tarifverträge die erhebliche Verantwortung, die der Gesetzgeber hier überträgt, auch rechtfertigen.123 Für ein „Trial-and-Error-Verfahren ist im Bereich des tarifdispositiven Arbeitsschutzrechts keinerlei Raum, insbesondere nicht dort, wo von Gefahrenabwehrrecht abgewichen werden soll. Das gilt auch vor dem Hintergrund, dass bei derartigen Abweichungen ein erhebliches Bedürfnis nach Rechtssicherheit besteht, weil unter Umständen erhebliche wirtschaftliche und gesundheitliche Folgen eintreten, wenn die entsprechenden Tarifverträge einmal in der Praxis angekommen sind. Das BAG hat im CGM-Beschluss zumindest angedeutet, dass es bei auf tarifdispositiven Vorschriften basierenden Tarifverträgen eine gewisse Skepsis teilt.124 Dieser Gesichtspunkt bedarf dringend einer eingehenderen Ausformung. Die Rechtsprechung muss hier weiter entwickelt werden. Dies gilt nicht nur für Tarifverträge im Bereich des tarifdispositiven Gesetzesrechts, sondern für das Kriterium der Teilnahme am Tarifgeschehen im Allgemeinen. 120 ArbG Berlin 1.4.2009, NZA 2009, 740 (745); ArbG Limburg 19.11.2008, 1 Ca 541/08; Deinert, NZA 2009, 1176 (1180); Preis, Kollektivarbeitsrecht, § 91 S. 94. 121 ArbG Berlin 1.4.2009, NZA 2009, 740 (745); entsprechend für Mindestlohntarifverträge nach dem AEntG, ArbG Köln 30.10.2008, AuR 2009, 100 (101); sowie Wank/ Schmidt, RdA 2008, 254 (272); vgl. auch Deinert, NZA 2009, 1176 (1179). 122 Vgl. dazu ArbG Limburg 19.11.2008, 1 CA 541/08, Rz. 8. 123 Wank/Schmidt, RdA 2008, 257 (258). 124 BAG 28.3.2006, NZA 2006, 1112 (1119); vgl. dazu auch Ulber, D., NZA 2008, 438 (439); Ulber, J., AuR 2008, 297 (298).
A. Richtigkeitsgewähr und Tariffähigkeit
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4. Beeinträchtigung der Richtigkeitsgewähr des Tarifvertrags durch den CGM-Beschluss Auf Basis der Rechtsprechung des BAG ist jedenfalls festzuhalten, dass die Richtigkeitsgewähr des Tarifvertrags durch die neuere Rechtsprechung zur Tariffähigkeit beeinträchtigt wurde. Diese kann Tarifverträgen von Verbänden, deren Tariffähigkeit allein auf Basis ihrer aktiven Teilnahme am Tarifgeschehen angenommen wurde, nicht zukommen. Dies mag man für normale Tarifverträge, die lediglich das Verhältnis von Leistung und Gegenleistung regulieren, ohne von gesetzlichen Schutzstandards abzuweichen, noch hinnehmen wollen, wenn man darauf verweist, die Arbeitnehmer könnten sich schließlich durch Austritt aus einem Verband schützen und durch die Aufgabe des Grundsatzes der Tarifeinheit würden Überwirkungen auf andere Arbeitnehmer weitgehend eingeschränkt. Das geht allerdings bereits sehr weit, vor allem mit Blick auf die Umgehungsmöglichkeiten, die hier durch § 310 Abs. 4 BGB eröffnet werden.125 Für den Bereich des tarifdispositiven Gesetzesrechts trägt diese Überlegung indes nicht mehr. Denn durch die regelmäßig eröffnete Möglichkeit der arbeitsvertraglichen Bezugnahme ist hier eine Überwirkung legislativ garantiert. Im Ergebnis stellt der CGM-Beschluss sich durchaus als Grundrechtsgefährdung aller Arbeitnehmer im Anwendungsbereich von Tarifverträgen, die von Tariföffnungsklauseln Gebrauch machen, und eine nicht unproblematische Überhöhung der kollektiven Koalitionsfreiheit zulasten der Funktionsbedingungen der Tarifautonomie dar. Dass die Anknüpfung an den Sachverstand der Tarifvertragsparteien für die Richtigkeitsgewähr erforderlich ist, zeigt sich im Übrigen auch bei einem anderen tarifrechtlichen Problem. So lässt das ganz herrschende Schrifttum mit Recht die Bezugnahme auf Tarifverträge nach § 310 Abs. 4 BGB nur dann ohne Inhaltskontrolle nach §§ 307 ff. BGB zu, wenn der Tarifvertrag abgesehen von der Tarifbindung auf das Arbeitsverhältnis anwendbar wäre, dieses also seinem Geltungsbereich unterfällt.126 Die Begründung hierfür spricht Bände. Sie besagt, dass ein fremder Tarifvertrag ganz andere ökonomische und betriebliche Bedingungen zugrunde legt als in der Branche gelten, in der die Verweisung vorgenommen wird, weshalb bei Bezugnahmen auf fremde Tarifverträge die Angemessenheit der Regelungen nicht mehr vermutet werden kann.127 Maßgeblich ist also die Kenntnis über die ökonomischen und betrieblichen Bedingungen, die für den Abschluss von Tarif-
125 A. A. Henssler, Soziale Mächtigkeit und organisatorische Leistungsfähigkeit als Voraussetzungen der Tariffähigkeit von Gewerkschaften, S. 70. 126 Preis in: ErfK, §§ 305–310 BGB, Rn. 14; HWK/Gotthardt, § 307, Rn. 14; Gotthardt, Arbeitsrecht nach der Schuldrechtsreform, Rn. 266; Richardi, NZA 2002, 1057 (1062); Thüsing/Lambrich, NZA 2002, 1361 (1362). 127 Preis in: ErfK, §§ 305–310 BGB, Rn. 14; HWK/Gotthardt, § 307, Rn. 14; Gotthardt, Arbeitsrecht nach der Schuldrechtsreform, Rn. 266; Richardi, NZA 2002, 1057, 1062; Thüsing/Lambrich, NZA 2002, 1361 (1362).
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6. Kap.: Grenzen der Richtigkeitsgewähr
normen erforderlich sind. Sie ist aber allein mit dem Abschluss von Tarifverträgen nicht indiziert und durch diesen auch nicht zu erwerben. Erforderlich ist in jedem Fall eine hinreichende personelle Repräsentanz.128 Dies gilt insbesondere für Anschlusstarifverträge. Insofern sind die Überlegungen des BAG auch mit Blick auf dieses Beispiel bedenklich. Des Weiteren ist bemerkenswert, dass gerade der Teil des Schrifttums, der dem Kriterium der sozialen Mächtigkeit generell kritisch gegenüber steht und daher für eine Aufweichung des Kriteriums plädiert, den Zusammenhang zwischen Richtigkeitsgewähr und den Anforderungen an die Tariffähigkeit deutlich erkennt. Denn die meisten dieser Stimmen plädieren konsequent für Korrekturmodelle zum Schutz der Tarifunterworfenen. So wird etwa vorgeschlagen, anstatt für die Tariffähigkeit die soziale Mächtigkeit zu verlangen, eine Missbrauchskontrolle einzelner Tarifverträge vorzunehmen129 oder eine erweiterte Inhaltskontrolle der abgeschlossenen Tarifverträge durchzuführen.130 Schließlich wird auch darauf hingewiesen, dass bei einem primär privatautonomen Verständnis der Tarifnormsetzung der Staat in seiner Aufgabe, den tariflichen Regelungen Grenzen zu ziehen, reaktiviert wird.131 Wenn man konstatiert, dass damit der rechtliche Reflex, der sich aus einer Abschwächung der Anforderungen an die soziale Mächtigkeit ergibt, zutreffend umschrieben ist, so ist damit deutlich, wohin sich aufgrund des CGM-Beschlusses die Schutzfunktion, die das Kriterium vormals innehatte, verschieben muss: Hin zu einer Restriktion der Zugriffsmöglichkeiten auf Tariföffnungsklauseln. Dennoch muss sich auf Basis der Konzeption der Tariffähigkeit des BAG die Schutzfunktion, die diese vormals hatte, hin zu den inhaltlichen Grenzen für den Tarifvertrag verschieben. Diese Möglichkeit steht dem BAG auch nach dem CGM-Beschluss noch offen, allerdings ist diese Variante mit Blick auf die Gefahren einer Tarifzensur ebenfalls mit Vorsicht zu genießen.132 Wenn allerdings die Schutzfunktion des Kriteriums der Tariffähigkeit abgesenkt wird, so muss an anderer Stelle ein Korrektiv hierfür implementiert werden. Ansonsten gerät das System in eine Schieflage. Eine Lösung für dieses Problem stellt das Repräsentativitätsprinzip dar. Es erfordert keine Inhaltskontrolle des Tarifvertrags, sondern verschließt Verbänden, die die Anforderungen
128
Zumindest in der Tendenz zutreffend: BAG 29.7.2009, AP BetrVG 1972 § 3
Nr. 7. 129 Henssler/Heiden, Anm. zu BAG 28.3.2006, AP Nr. 4 zu § 2 TVG, Tariffähigkeit unter VI.; Henssler, Soziale Mächtigkeit und organisatorische Leistungsfähigkeit als Voraussetzungen der Tariffähigkeit von Gewerkschaften, S. 56 ff. s. auch Bayreuther, BB 2005, 2633 (2637); ferner schon Zeuner, FS 25 Jahre BAG (1979), S. 727 (732). 130 Oetker in: Wiedemann, TVG, § 2, Rn. 406; Wiedemann, Anm. zu BAG, AP Nr. 24 zu Art. 9 GG, unter II. 2.c), III.; ferner Bayreuther, BB 2005, 2633, 2637; vgl. auch schon Zeuner, FS 25 Jahre BAG (1979), S. 727 (732). 131 Richardi, RdA 2007, 117 (119). 132 Wank/Schmidt, RdA 2008, 257 (264).
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an eine staatsvertretende Normsetzung nicht erfüllen, die Möglichkeit, Tarifverträge im Anwendungsbereich des tarifdispostiven Gesetzesrechts zu schließen. 5. Konsequenzen für die Verpflichtung des Gesetzgebers zur Wahrung grundrechtlicher Schutzpflichten Es zeigt sich, dass die ohnehin schwache Legitimationswirkung der Richtigkeitsgewähr für staatliche Untätigkeit durch die Rechtsprechung zur Tariffähigkeit noch weiter in Frage gestellt ist. Denn diese führt dazu, dass bereits die Richtigkeitschance von Tarifverträgen beeinträchtigt wird, jedenfalls bei solchen Vereinigungen, deren Tariffähigkeit primär auf die aktive Teilnahme am Tarifgeschehen gestützt wird. Kombiniert man dies mit der vom BAG unter Verweis auf die Richtigkeitsgewähr zurückgenommene Kontrolldichte für tarifvertragliche Regelungen und der ebenfalls abgeschwächten Grundrechtsbindung der Tarifvertragsparteien, so kann man konstatieren, dass die Tarifunterworfenen dem Verhandlungsergebnis der Tarifvertragsparteien durch das BAG faktisch schutzlos ausgeliefert werden.133 Dies bedeutet aber, dass der Gesetzgeber hier in die Bresche springen muss und zwar in weitaus größerem Umfang als bisher. Denn wenn man die Richtigkeitsgewähr des Tarifvertrags nicht mehr durch das Kriterium der Tariffähigkeit sicherstellt, dann kann und muss das Ziel, nur eine gerechte tarifliche Ordnung anzuerkennen, durch eine erweiterte Inhaltskontrolle der Tarifvereinbarungen oder durch Zutrittsschranken für die Tarifnormsetzung verwirklicht werden.134 Im Grunde hat der Gesetzgeber die entsprechende Konsequenz auch bereits gezogen. Wenn in § 7 Abs. 2 AEntG für die Auswahl eines Tarifvertrags, der im Rahmen einer Rechtsverordnung als tarifgestützter Mindestlohn auf sämtliche nicht an diesen Tarifvertrag gebundenen Arbeitsverhältnisse erstreckt wird, das Kriterium der Repräsentativität herangezogen wird, so bringt dies nichts anderes zum Ausdruck, als dass der Gesetzgeber den Tarifverträgen von Kleinstverbänden, die nach der Rechtsprechung des BAG tariffähig sind, die Richtigkeitsgewähr abspricht. Dies ist aber nicht etwa verfassungsrechtlich problematisch135, sondern geradezu geboten. Mittlerweile hat das BAG für Tarifverträge auf Basis von § 3 Abs. 1 Nr. 1–3 BetrVG einen ersten Schritt in diese Richtung unternommen.136
133 BAG 24.3.2004, NZA 2004, 971 ff.; kritisch Otto, FS Konzen, S. 663 (677); abw. auch SG Berlin 27.2.2006, ArbuR 2007, 54 ff., das dem BAG wohl vorhält, der hier akzeptierte Tarifvertrag beinhalte Regelungen, die die Menschenwürde verletzen. Das muss man nicht teilen, aber es zeigt, wie stark sich das BAG zurückhält, wenn ein Tarifvertrag zu kontrollieren ist. 134 Oetker in: Wiedemann, TVG, § 2, Rn. 406. 135 So Sodan/Zimmermann, ZfA 2008, 526 (540). 136 BAG 29.7.2009, AP BetrVG 1972 § 3 Nr. 7.
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6. Kap.: Grenzen der Richtigkeitsgewähr
Gerade die Problematik der Auswahlentscheidung nach § 7 Abs. 2 AEntG zeigt, dass der CGM-Beschluss die Geschäftsgrundlage des weitgehenden Vertrauens des Gesetzgebers auf die sachgerechte autonome Regulierung durch die Tarifvertragsparteien gekündigt hat. Der Gesetzgeber implementiert hier für die Auswahlentscheidung zur Geltungserstreckung von Mindestlohntarifverträgen, das Erfordernis der Repräsentativität der tarifschließenden Gewerkschaft. Er verlangt brisanterweise auch die Zahl der jeweils unter den Geltungsbereich des Tarifvertrages fallenden Mitglieder der Gewerkschaft, die den Tarifvertrag geschlossen hat. Dies deshalb, weil er durch den CGM-Beschluss nicht mehr davon ausgehen konnte, dass die nach dieser Rechtsprechung tariffähigen Verbände, die Tarifverträge schließen, über einen hinreichenden Mitgliederbestand verfügen, um die freiwillige Akzeptanz der tariflichen Regelungen durch die von ihm erfassten Arbeitnehmer sicher zu stellen.137 Für den Verzicht auf eigene staatliche Normsetzung ist aber eine hinreichende Legitimation der Verbände, die der Staat an ihr beteiligt, erforderlich. Das Demokratieprinzip verbietet hier die Beteiligung nicht repräsentativer Verbände, weil diese keine Gewähr dafür bieten, dass die notwendigen institutionellen Voraussetzungen für eine quasi-gesetzgeberische Normsetzung eingehalten werden. Denn es fehlt ihnen durch ihre fehlende Repräsentanz an der Notwendigkeit, sich gegenüber den Tarifunterworfenen verantworten zu müssen. Dieses Defizit kann man zwar, wie im Falle des AentG, dadurch kompensieren, dass die Letztverantwortlichkeit für die Anordnung der Arbeitsbedingungen beim Staat verbleibt. Es darf aber nicht verkannt werden, dass genau dieser Kontrollmechanismus beim tarifdispositiven Gesetzesrecht fehlt. Dies kann je nach Reichweite der Befugnisse für eine noch strengere Handhabung sprechen, als sie im AEntG angelegt ist. Jedenfalls aber muss die gesetzgeberische Wertung aus § 7 Abs. 2 AEntG in Zukunft überall dort analog herangezogen werden, wo der Staat die Tarifvertragsparteien in besonderem Maße in die Verantwortung nimmt. Die Tariffähigkeit eines Verbandes bedeutet nach der Wertung von § 7 Abs.2 AEntG damit nicht mehr automatisch, dass seine Regelungen im Rahmen einer jedenfalls partiell staatlich verantworteten Setzung von Mindestarbeitsbedingungen berücksichtigt werden können. Der Gesetzgeber musste die durch den CGMBeschluss verursachte Gefahr, dass Arbeitgeberverbände mit Gewerkschaften abschließen, die selbst im Tarifgebiet kaum Mitglieder besitzen und dadurch eine weitreichende Gestaltungsmacht über eine Branche erlangen, ohne dass die Regelungen eine hinreichende Legitimation auf Arbeitnehmerseite aufweisen, beseitigen. Dieses Problem besteht allerdings analog im Bereich des tarifdispositiven Gesetzesrechts und überall dort, wo die Arbeitsbedingungen im Wesentlichen durch arbeitsvertragliche Bezugnahmeklauseln auf Tarifverträge bestimmt werden. Der Gesetzgeber kann hier auch durchaus auf seine grundrechtlichen 137
Schlachter in: ErfK, AEntG § 7 Rn. 6.
A. Richtigkeitsgewähr und Tariffähigkeit
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Schutzpflichten aus Art. 12 Abs. 1 GG für die Vertragsfreiheit der Arbeitnehmer, die von derartigen Regelungen erfasst werden, verweisen, um die entsprechenden Restriktionen zu legitimieren. De facto war er verpflichtet, sicher zu stellen, dass die einer Geltungserstreckung nach dem AEntG zu Grunde liegenden Tarifnormen einem echten kontradiktorischen Interessenausgleich entspringen und damit erwartet werden kann, dass bei einer Erstreckung auf die gesamte Branche die jeweiligen Interessen der betroffenen Arbeitnehmer und Arbeitgeber hinreichend abgebildet werden. Insofern überzeugt auch die Kritik an der entsprechenden Auswahlentscheidung, die im Schrifttum geübt wird138, nicht. Denn der Gesetzgeber durfte weder davon ausgehen, dass die von jeweils konkurrierenden Verbänden geschlossenen Tarifverträge allein aufgrund der Tariffähigkeit der Verbände eine Gewähr für angemessene Arbeitsbedingungen bieten, noch dass der Schutz der jeweiligen Verbandsmitglieder durch die Mitgliedschaft in einem tariffähigen Verband sichergestellt wird. Es ist doch bemerkenswert, wenn der Gesetzgeber die Auswahlentscheidung an die Gesetzesziele des AEntG bindet und es damit für erforderlich hält, Tarifverträge tariffähiger Verbände daraufhin zu kontrollieren, ob diese angemessene Mindestarbeitsbedingungen enthalten. Allein dass der Gesetzgeber durch den CGM-Beschluss gezwungen wird, derartige Entscheidungen zum Schutz der Tarifunterworfenen zu treffen, zeigt, dass die Problematik der Entscheidung weniger in der Frage einer Verletzung der Koalitionsfreiheit der Verbände, die für nicht tariffähig gehalten werden, liegt, sondern in der Destruktion der Grundlagen eines 50 Jahre langen Kooperationsverhältnisses von Gesetzgebung und Tarifvertrag, die weit in die Grundsatzfrage des Verhältnisses tariflicher und staatlicher Regelungsbefugnisse im Arbeitsrecht hineinreicht. Ob das BAG der Tarifautonomie einen Dienst erwiesen hat, indem es das „Urvertrauen“ des Gesetzgebers in den Tarifvertrag unter Verweis auf den Schutz der Koalitionsfreiheit erschüttert hat, muss bezweifelt werden. 6. Sonderdogmatik der Tariffähigkeit bei tarifdispositivem Gesetzesrecht; Repräsentativitätsprinzip Vor dem Hintergrund, dass die bisherige Annahme der Richtigkeitsgewähr und das Vertrauen auf sachgerechte Regelungen durch die Tarifvertragsparteien durch den CGM-Beschluss nicht mehr uneingeschränkt aufrecht erhalten werden können, stellt sich die Frage nach einer Korrektur dieser Rechtsprechung. Die hier dargestellten Probleme treten insbesondere dann auf, wenn die Kriterien der sozialen Mächtigkeit nach der neueren Rechtsprechung nicht mehr ausreichen, die weitgehenden Freistellungen von gesetzlichen Vorgaben zu rechtfertigen, die das tarifdispositive Gesetzesrecht vornimmt.
138
Sodan/Zimmermann, ZFA 2008, 526 (536 ff.).
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6. Kap.: Grenzen der Richtigkeitsgewähr
Die Lösung hierfür kann auch darin bestehen, anders als im allgemeinen Tarifrecht die Kriterien für die soziale Mächtigkeit vor ihrer Aufweichung durch das BAG aufrechtzuerhalten und zwar beschränkt auf den Anwendungsbereich tarifdispositiven Gesetzesrechts. Danach dürfen nur solche Tarifvertragsparteien, die über eine hinreichende organisatorische Leistungsfähigkeit und eine ausreichende personelle Stärke verfügen, von gesetzlichen Tariföffnungsklauseln Gebrauch machen. Denn nur für solche Verbände kann die Erwartung, dass zumindest eine Chance für sachgerechte Regelungen besteht, legitim sein. Allerdings bestehen gegenüber einer solchen Sonderdogmatik Bedenken hinsichtlich ihrer praktischen Durchführung. Es würde eine nicht unerhebliche Rechtsunsicherheit entstehen, ob Tarifverträge wirksam sind. Diese lässt sich nur dann beseitigen, wenn die entsprechenden Kriterien über eine gewisse Transparenz und Anknüpfung an das einfache Gesetzesrecht verfügen. Eine solche Möglichkeit besteht, wenn man die Kriterien, die bei einer Auswahlentscheidung nach § 7 Abs. 2 AEntG zu berücksichtigen sind, heranzieht. Auch die Auswahlentscheidung dient dem Sicherungszweck, dass nur solche Tarifverträge eine gesetzliche Privilegierung erhalten, die ein gewisses Maß an Repräsentativität entfalten und damit eine gewisse Gewähr für sachgerechte Regelungen bieten. Die Repräsentativität hätte dabei auch unzweifelhaft den Vorteil, die Missbrauchsanfälligkeit der Tariföffnungsklauseln einzuschränken. Auch spricht das Demokratieprinzip für eine solche Betrachtungsweise. Denn je repräsentativer ein Verband ist, umso größer ist die Legitimation seines Tarifvertrags, aber auch seine Verantwortung gegenüber den Tarifunterworfenen. Damit ist eine größere Wahrscheinlichkeit der Berücksichtigung der Interessen der betroffenen Arbeitnehmer gegeben. Denn während bei kleinen Verbänden verbandspolitische Interessen die entsprechenden Arbeitnehmerinteressen überspielen können, wird dies einem repräsentativen Verband schwerer fallen. Auch darf nicht verkannt werden, dass die institutionellen Anforderungen an die Tarifnormsetzung im Bereich tarifdispositiven Gesetzesrechts durch repräsentative Verbände gewahrt werden. Sie verfügen über genügend Mitglieder, um die Bedürfnisse der Branche und die Interessen der betroffenen Arbeitnehmer zu ermitteln. Gleichzeitig werden repräsentative Verbände regelmäßig über einen hinreichend ausgebauten hauptamtlichen Apparat verfügen, der sie in die Lage versetzt, eine dem Gesetzgeber zumindest gleichwertige Einschätzung der Auswirkungen der gesetzesvertretenden Normen vorzunehmen. Sie können damit die notwendigen Informationen generieren, verarbeiten und in sachgerechte Tarifnormsetzung umsetzen und zwar auch in Bereichen, die hochgradig komplexe Bewertungen erfordern. Alle diese Eigenschaften erwachsen aus der Repräsentativität. Und alle diese Gesichtspunkte sind unverzichtbar, wenn man den Dispens von der zwingenden Wirkung von Gesetzesrecht legitimieren will. Und auch wenn man die Auswirkungen auf die kleineren Verbände sieht, erscheint das Kriterium sachgerecht. Denn diese haben ja
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die Chance, selbst in die Repräsentativität zu erwachsen, indem sie eine attraktive Tarif- und Verbandspolitik betreiben und so langfristig die erforderliche Infrastruktur generieren. Ob das BAG bereit ist, die Tariffähigkeitsrechtsprechung in dieser Weise weiter zu entwickeln, bleibt abzuwarten. Eine solche Fortentwicklung würde auch ein weiteres Problem mildern, das im Bereich tarifdispositiven Gesetzesrechts entsteht, wenn die Tarifautonomie in ihrer Funktionsfähigkeit beeinträchtigt ist.139
II. Zusammenfassung Tarifdispositives Gesetzesrecht erfordert, dass das Zurücktreten des Gesetzgebers gegenüber Tarifverträgen legitimiert werden kann. Die Richtigkeitsgewähr des Tarifvertrags führt nicht zu einer solchen Legitimation. Dies gilt schon deshalb, weil sie richtigerweise lediglich als Richtigkeitschance140 zu betrachten ist. Sie bildet damit lediglich eine Gewähr für potenziell grundrechtsschützende Regelungen. Selbst dieses Potenzial ist aber dort in Frage gestellt, wo auf Basis des CGM-Beschlusses Verbände operieren können, die die institutionellen Voraussetzungen für eine Richtigkeitsgewähr nicht erfüllen. Die Tariffähigkeit und das mit ihr verbundene Kriterium der sozialen Mächtigkeit ist wesentliche Grundlage der Schaffung tarifdispositiver Gesetze.141 Selbst wenn man dies mit Blick auf die sonstigen Schutzmechanismen des einfachen Gesetzesrechts zulassen will, ist dies dort illegitim, wo der Gesetzgeber sich gerade unter Verweis auf die Erwartung sachgerechter gesetzesvertretender Regelungen zurücknimmt. Hier ist dringend eine Korrektur geboten, indem die Zutrittsschwelle zu solchen Regelungen durch eine Modifikation der Rechtsprechung, jedenfalls für den Gebrauch von Tariföffnungsklauseln, erhöht wird.
III. Denkbarer Korrekturansatz: Grundrechtsschutz durch immanente Schranken des tarifdispositiven Gesetzesrechts Möglicherweise kann eine Eingrenzung der Normsetzungsbefugnisse der Tarifvertragsparteien und damit eine Eingrenzung der verfassungsrechtlichen Problematik tarifdispositiver Vorschriften aber durch immanente Grenzen tarifdispositiven Rechts erfolgen. Auch wenn man die Grundrechtsbindung der Tarifvertragsparteien verneint, könnte man durch eine verfassungskonforme Auslegung der tarifdispositiven Vorschriften zu einer Eingrenzung der sich stellenden verfassungsrechtlichen Probleme gelangen. 139 140 141
Dazu sogleich. Vgl. 6. Kap. Einl. Kempen in: Kempen/Zachert, TVG § 2 Rn. 37.
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6. Kap.: Grenzen der Richtigkeitsgewähr
Dies betrifft insbesondere die allgemein angedachte und besonders mit Blick auf das AÜG diskutierte Frage der Bindung der Tarifvertragsparteien an die allgemeinen Schutzgedanken des jeweiligen Gesetzes.142 Bei dieser Frage kann die Rechtsprechung des BAG nicht unberücksichtigt bleiben. Diese schreckt vor der Inhaltskontrolle des Tarifvertrags zurück. Dies an sich ist aber kein Grund, nicht eine vom BAG abweichende Betrachtungsweise an den Tag zu legen. Dabei ist aber zu beachten, dass eine Vielzahl von tarifdispositiven Vorschriften schon vom Wortlaut her keinerlei Einschränkung der Regelungsbefugnis beinhalten. Damit stellt sich die Frage, ob immanente Schranken und ungeschriebene Grenzen des tarifdispositiven Gesetzesrechts entwickelt werden können, die eine Eingrenzung der Regelungsbefugnisse aufgrund solcher Vorschriften tragen. Auch wenn Generalklauseln oder unbestimmte Rechtsbegriffe eine Einbruchstelle für Grundrechte bieten, ist fraglich, ob eine solche Ausgestaltung im Einzelfall ausreicht, um die Verfassungsmäßigkeit der Vorschrift zu bewirken143. Denn wenn – und dies ist prägendes Merkmal der BAG-Rechtsprechung zum tarifdispositiven Recht – diese Klauseln grundsätzlich so weitgehende Regelungen zulassen, dass sie, wenn überhaupt noch als formale, nicht aber als materielle Schranken dienen, können sie schwerlich als adäquater Grundrechtsschutz begriffen werden. Nicht nur in seiner Hungerlohnentscheidung144, sondern auch in anderen Entscheidungen hat das BAG den Tarifvertragsparteien, wenn Wortlaut und Systematik des tarifdispositiven Rechts die Normen formal deckten, seine materielle Kontrolle weitgehend zurückgenommen.145 Jüngstes Beispiel hierfür ist die Entscheidung des BAG vom 23.4.2008 zur tarifvertraglichen Abkürzung der Kündigungsfristen des § 622 Abs. 4 KSchG.146 Einzig der Übergriff in nicht tarifdispositive Gesetzesteile wirkte hier als Schranke, ansonsten nahm das BAG keine Beschränkungen der Befugnisse der Tarifvertragsparteien an. Dies ist aber gegenstandslos für die Frage der Verfassungsmäßigkeit der tarifdispositiven Vorschrift selbst. Auch der Gesichtspunkt der mangelnden Transparenz solcher generalklauselartiger „Regelungsschranken“ kann den Vorschriften unter dem Gesichtspunkt der Grundrechtsgefährdung entgegen gehalten werden.147 Je nach geregelter Materie kann nämlich ein nachträglicher Rechtsschutz gegen den Tarifvertrag zu spät kommen. Im Übrigen ist die Argumentation, die Kontrolle von Tarifverträgen auf Vereinbarkeit mit dem allgemeinen Schutzgedanken der gesetzlichen Regelung könne ausreichen, um einer tarifdispositiven gesetzlichen Vorschrift die verfassungsrechtliche Legitima142 143 144 145 146 147
Jacobs/Krause/Oetker, Tarifvertragsrecht, § 1, Rn. 107. Vgl. dazu 4. Kap. E. I. BAG 24.3.2004, NZA 2004, 971. BAG 23.4.2008, NZA 2008, 960. BAG 23.4.2008, NZA 2008, 960. Vgl. dazu oben 4. Kap. D. II.
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tion zu verleihen, problematisch, wenn dann anschließend die Tarifverträge unter Verweis auf die Tarifautonomie und Richtigkeitsgewähr des Tarifvertrages durchgewunken werden. Einen wirksamen Schutz können solche Instrumente nicht vermitteln. Man mag Entscheidungen wie die Hungerlohnentscheidung148 kritisieren149 und eine Bindung an die Grundgedanken der tarifdispositiven Gesetze fordern.150 Das BAG hat allerdings unlängst eine eben solche Bindung abgelehnt, weil der Gesetzgeber die entsprechende Bindung nicht ausdrücklich angeordnet hatte.151 Zu berücksichtigen bleibt außerdem in rechtlicher Hinsicht, dass Tarifverträge eben in anderem Maße als übrige vertragliche Regelungen vor staatlichen Übergriffen geschützt sind. Dann wachsen aber bei gleichzeitiger Ablehnung einer Grundrechtsbindung der Tarifvertragsparteien die verfassungsrechtlichen Anforderungen an tarifdispositives Gesetzesrecht. Ein weiteres praktisches Problem steht der Auffassung, die tarifdispositive Vorschriften mit dem Gedanken von Innenschranken zu legitimieren sucht, entgegen. Gelegentlich ist der erforderliche Kontrollmaßstab nur schwer zu ermitteln. Dies gilt insbesondere im Bereich des Gesundheitsschutzes. Die Beeinträchtigung der Normunterworfenen setzt aber unmittelbar mit Inkrafttreten des Tarifvertrags ein.152 Diese Problematik entfaltet sich bereits dann, wenn tatsächlich Generalklauseln eine Zweckbindung für den Tarifvertrag vorgeben, sie potenziert sich aber, wenn diese erst in das zugrunde liegende Gesetz hineingelesen werden muss. Dass solche Regelungen im Einzelfall durchaus verfassungskonform sein können, ist nicht entscheidend. Es geht um die Frage, ob gegenüber einer inhaltlichen Bewertung der Tarifnormen, nicht besser auf der Ebene der Entstehung der Tarifvertragsnormen angesetzt werden sollte. Hier bietet das Repräsentativitätsprinzip einen wirksameren Schutz und vermeidet den Vorwurf einer Tarifzensur. Es entbindet die Rechtsprechung jedenfalls von der Pflicht, einen Tarifvertrag inhaltlich zu bewerten. Damit ist es jedenfalls das objektivere Kriterium. Demgegenüber ist aufgrund der Rechtsunsicherheiten und der erheblichen Bewertungsspielräume und Schwierigkeiten eine immanente Beschränkung des tarifdispositiven Gesetzesrecht unter den Gesichtspunkten des effektiven und transparenten Grundrechtsschutzes nicht unbedenklich. Sie droht als Placebo zu verkommen. Die Kontrolle von tarifvertraglichen Regelungen auf ihre Vereinbarkeit mit dem Schutzzweck des tarifdispositiven Gesetzesrechts bietet damit für einen effektiven Grundrechtsschutz keine Garantie. Im Einzelfall mag hier dennoch eine 148
BAG 24.3.2004, NZA 2004, 971. Otto, in: FS Konzen, S. 663 (677); abweichend auch SG Berlin (27.2.2006), AuR 2007, 54 ff. 150 Schüren/Behrend NZA 2003, 521 (525); Pelzner in: Thüsing, AÜG, § 3 Rn. 82; Wiedemann in: Wiedemann, TVG, Einl. Rn. 388. 151 BAG 23.4.2008, NZA 2008, 960. 152 Zur Frage der Reversibilität von Grundrechtsbeeinträchtigungen vgl. 4. Kap. D. I. 149
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6. Kap.: Grenzen der Richtigkeitsgewähr
verfassungskonforme Korrektur möglich sein. Ob dies der Fall ist, ist anhand der betroffenen Grundrechtspositionen und der Form der Einschränkungsmöglichkeiten zu ermitteln.
B. Richtigkeitsgewähr und funktionsgestörte Tarifautonomie Eine Vielzahl der oben stehenden Überlegungen und auch die Rechtsprechung des BAG stützen sich maßgebend auf den Gedanken des sachgerechten Interessenausgleichs zwischen gleichgewichtigen Sozialpartnern. Die wirtschaftliche Entwicklung der Bundesrepublik Deutschland trägt diese Überlegung weitestgehend. Kaum ein gesellschaftliches System hat so stabile und sozial wie ökonomisch angemessene Resultate produziert.153 Das Tarifvertragssystem und der Tarifvertrag sind nach wie vor mit einer Innovationsfreudigkeit und Flexibilität am Werke, die jeden Gesetzgeber, sei er mit einer noch so komfortablen parlamentarischen Mehrheit ausgestattet, überfordern würden. Diese Leistung ist allerdings kein Automatismus. Sie muss unter veränderten sozialen wie ökonomischen Bedingungen immer wieder neu erbracht werden. Sie kann Fehler produzieren, die das System allerdings meistens auch wieder korrigiert, ohne dass dazu Interventionen von Außen notwendig wäre.154 Allerdings setzt dies voraus, dass die institutionellen, ökonomischen und sozialen Rahmenbedingungen einen funktionierenden Interessenausgleich überhaupt zulassen.155 Das System kann nur dann die Erwartung sachgerechten Interessenausgleichs erfüllen und damit eine Zurücknahme des Staates legitimieren, wo seine Funktionsfähigkeit gewährleistet ist.156 Diese kann rechtlich in Frage gestellt werden, aber auch tatsächlich gestört sein. Ohne die Funktionsfähigkeit der Tarifautonomie entfällt aber jede Legitimation für staatliche Zurücknahme. Das zugrunde liegende Problem in den Worten Biedenkopfs: „Nur so ist es erklärlich, dass der Gesetzgeber die dem Günstigkeitsprinzip immanente Unabdingbarkeit seiner gesetzlichen Regelungen in verschiedenen Fällen zur Disposition tarifvertraglicher Normsetzung stellt, also jede auch die zu Ungunsten der Arbeitnehmer abweichende tarifvertragliche Norm anerkennt. Diese Einschränkungen des Unabdingbarkeitsprinzips wären mit dem arbeitsrechtlichen Schutzgedanken unvereinbar, wenn nicht davon auszugehen wäre, dass der Schutz durch die Koalition in dem vom Gesetzgeber gesteckten Rahmen als vollwertiger Ersatz des gesetzlichen Schutzes angesehen werden kann.“ 157
153 154 155 156 157
Vgl. dazu Preis, Kollektivarbeitsrecht, § 78. Vgl. dazu Preis, Kollektivarbeitsrecht, § 78. Dieterich in: Tarifgestützte Mindestlöhne, S. 103 (121). Dieterich in: Tarifgestützte Mindestlöhne, S. 103 (121). Biedenkopf, Grenzen der Tarifautonomie, S. 149.
B. Richtigkeitsgewähr und funktionsgestörte Tarifautonomie
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Von diesem Ausgangspunkt ist es nicht mehr weit zur folgenden Feststellung Wlotzkes: „Der Gesetzgeber muss bestimmte Arbeitsbedingungen dann selbst regeln, wenn die allgemeine Geltung dieser Arbeitsbedingungen ein sozialstaatliches Gebot ist und wenn die kollektive Autonomie nicht ausreicht, diese sozialstaatliche Aufgabe zu erfüllen.“ 158
Mit anderen Worten „der Staat und das gesetzgebende Parlament können die Gestaltung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen der gegenläufig wirksamen Autonomie der Tarifparteien nur unter der Voraussetzung überlassen, dass beide Seiten an der Tarifauseinandersetzung prinzipiell und durchschnittlich mit gleicher Entscheidungsfähigkeit, Selbstständigkeit und Kampfkraft teilnehmen.“ 159
Dies ist aber keineswegs stets der Fall.160 Die Tarifautonomie ist ein Verfahren, dessen ordnungsgemäßer Verlauf bestimmte Voraussetzungen hat. Fallen diese weg, werden auch die Ergebnisse schief und können nicht mehr an einer wie auch immer begründeten Richtigkeitsgewähr teilhaben. Will man die Frage mit Blick auf den Gestaltungsrahmen eingrenzen, stellt sich also die Frage, ob der Gesetzgeber den Tarifvertragsparteien Regelungsbefugnisse ohne Vorprüfung der Funktionsfähigkeit des tarifautonomen Interessenausgleichs zur Verfügung stellen darf bzw. ob diese Berechtigung jedenfalls dort ihre Grenzen finden, wo die Prämisse von der sachgerechten autonomen Regelung nicht mehr zutrifft.
I. Anforderungen an die Sozialpartner Dass dabei die Sozialpartner als die Akteure des tarifautonomen Interessenausgleichs in den Blick geraten, ist zwangsläufig. Dass mit Blick auf die rechtlichen Anforderungen, die das BAG für die Tariffähigkeit entwickelt hat, die Richtigkeitsgewähr des Tarifvertrags zumindest dort in Frage gestellt ist, wo die tariffähigen Verbände über eine hinreichende organisatorische Struktur und eine hinreichende Mitgliederzahl nicht verfügen und dennoch aufgrund ihrer „aktiven Teilnahme“ am Tarifgeschehen für tariffähig gehalten werden könnten ist bereits gezeigt worden.161 Bedeutsam dabei ist, dass auch dort, wo sektoral keine Tarifnormen bestehen oder Verbände nicht oder nur in sehr schwacher Formation bestehen, die Schutzfunktion der Tarifautonomie entfallen kann. Sie kann in diesen Konstellationen ihre Korrekturfunktion für die Privatautonomie nicht entfalten. Dies bedeutet aber, dass in diesen Konstellationen eine Legitimation für einen Rückzug des Ge158 159 160 161
Wlotzke, RdA 1963, 44 (50). Badura, ArbRdGw 19 (1977), S. 17 (22). Vgl. Dieterich in: ErfK, GG, Art. 9, Rn. 79. Vgl. dazu oben 6. Kap. A.
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6. Kap.: Grenzen der Richtigkeitsgewähr
setzgebers fehlt oder anders gesagt, mit Blick auf staatliche Schutzpflichten staatliches Handeln besonders geboten erscheint.162 Diese Frage besteht nicht nur dort, wo Arbeitnehmer ohne eine Interessenvertretung sind. Diese Frage besteht auch und gerade dort, wo Arbeitnehmervereinigungen faktisch ohne Mitglieder operieren.163 Die Erkenntnis, dass Funktionsstörungen der Tarifautonomie nicht nur aus fehlenden mächtigen Verbänden, sondern auch aus einer fehlenden Rückkopplung an Mitglieder entstehen können, ist neu. Sie zeigt sich gegenwärtig im Bereich der Leiharbeit besonders deutlich. Auch hier ist zur Lösung auf das Repräsentativitätsprinzip zu verweisen.164
II. Tatsächliches Bestehen von Tarifautonomie als Voraussetzung der Tarifdispositivität Tarifautonomie dient der Kompensation struktureller Unterlegenheit der Arbeitnehmer bei Abschluss und Vollzug des Arbeitsvertrags. Wie bereits gezeigt, ist dieses Verfahren defizitär. Es ist im Sinne einer Verfahrensgarantie zur Korrektur von Disfunktionen des privatautonomen Vertragsschlusses konzipiert. Zu diesem Zweck wird maßgeblich das Druckpotenzial kollektiver Maßnahmen, welcher Form auch immer, mobilisiert. Für eine kollektive Gegenmachtbildung bedarf es aber eines vorhandenen Kollektivs und ein solches bedarf der Mitglieder. Dort, wo sich aber auf Basis der Rechtsprechung einmal tariffähige Verbände gebildet haben, können diese unabhängig von ihrer mitgliedschaftlich vermittelten Tarifmacht tariffähig sein und bleiben. Das BAG hält die praktischen Schwierigkeiten, die ein Konzept der relativen Tariffähigkeit mit sich brächte und die damit verbundenen Funktionsstörungen der Tarifautonomie für nicht hinnehmbar.165 Dann rückt aber die Frage in den Vordergrund, wie sich die Rechtsordnung in Fallkonstellationen der partiellen Machtlosigkeit von Arbeitnehmerkoalitionen verhalten soll.166 Dazu bedarf es zunächst einmal der Erkenntnis, dass es solche Fallkonstellationen gibt. In den Blick geraten also Paritätsstörungen zwischen den Sozialpartnern. Zu definieren, wann eine Konstellation vorliegt, in der solche kompensationsbedürftigen Paritätsstörungen bestehen, ist mit gewissen Schwierigkeiten verbunden. Das BAG ist hier mit Recht vorsichtig und weist darauf hin, dass es nicht die Aufgabe des Staates ist, die individuelle Schwäche von Verbän162
Dieterich in: Tarifgestütze Mindestlöhne, S. 103 (117 f.). Schüren, RdA 2006, 303 (306). 164 6. Kap. A. I. 6. 165 BAG 23.3.2006, NZA 2006, 1112; zustimmend Greiner, Anm. zu BAG 28.3. 2006, EzA § 2 TVG, Nr. 28, Bl. 46 f.; zum Konzept der relativen Tariffähigkeit vgl. Isenhardt, Relative Tariffähigkeit, passim. 166 Vgl. zu den denkbaren Instrumenten Andelewski, Staatliche Mindestarbeitsbedingungen, passim. 163
B. Richtigkeitsgewähr und funktionsgestörte Tarifautonomie
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den zu kompensieren.167 Dies ist richtig, aber für die hier in Rede stehende Frage ist relevant, wann eine strukturelle Schwäche eines Verbandes besteht. Denn hier müsste die selbst auferlegte Zurückhaltung der Rechtsprechung enden, wenn die Einschränkung mehr als eine bloße Floskel sein soll.168 Der Ausgleich von Disparitäten im Rahmen der privatautonomen Regelung von Arbeitsbedingungen bleibt als staatliche Aufgabe bestehen, wenn diese strukturell bedingt ist. Nun dient die Tarifautonomie ja gerade der Beseitigung struktureller Unterlegenheit169, sodass man annehmen könnte, dort, wo tarifautonome Regulierung stattfinde, sei eine solche bereits ausgeschlossen. Dies ist aufgrund der dargestellten Defizite des Tarifnormsetzungsverfahrens nicht der Fall170 und das BAG lehnt es mit Recht ab, den Tarifvertrag oder die Betriebsvereinbarung hierfür als ausreichend anzusehen.171 Fehlt es an annähernd gleichen Verhandlungschancen zwischen den Tarifvertragsparteien, so ist die Parität, so umstritten der Begriff auch ist172, beeinträchtigt und es fehlt die Rechtfertigung für die Annahme der Richtigkeitsgewähr. Diese Erkenntnis ist im Schrifttum eingehend daraufhin untersucht worden, ob der Staat partiell machtlosen Arbeitnehmervereinigungen helfen muss, um die Parität wieder herzustellen.173 Dabei wird zutreffend davon ausgegangen, dass echte Parität nur bei materieller Parität besteht, also dann, wenn sich tatsächlich zwei gleichgewichtige Verhandlungspartner gegenüberstehen.174 Die Prinzipien funktionsgestörter Privatautonomie sind insofern zu übertragen.175 Andererseits hat der Staat sich aufgrund des verfassungsrechtlichen Schutzes des tariflichen Normsetzungsverfahrens aus diesem selbst grundsätzlich herauszuhalten. Damit erscheint es kaum möglich und auch rechtlich nicht sinnvoll, durch konkrete Eingriffe in den Verhandlungsprozess die Tarifverhandlungen dort zu beeinflussen, wo es an materieller Parität fehlt. Dies kann und muss sich lediglich bei den staatlich zur Verfügung gestellten Instrumentarien der Ausei-
167 BAG 19.9.2006, NZA 2007, 518 (521); BVerfG 4.7.1995, NJW 1996, 185 (186); vgl. dazu Ulber, D./Strauss, DB 2008, 1970 (1971). 168 BAG 19.9.2006, NZA 2007, 518 (521); BVerfG 4.7.1995, NJW 1996, 185 (186). 169 Vgl. dazu oben 2. Kap. D. 170 Vgl. dazu auch Treber, Aktiv produktionsbehindernde Maßnahmen, S. 408, Fn. 55. 171 BAG 16.3.1994, NZA 1994, 937 (940). 172 Vgl. dazu Andelewski, Staatliche Mindestarbeitsbedingungen, S. 279 ff. 173 Andelewski, Staatliche Mindestarbeitsbedindungen, S. 277 ff. 174 BAG 21.4.1971, NJW 1971, 1668 (1669); BAG 10.6.1980, NJW 1980 1642 (1643 f.); BAG 13.7.1993, NZA 1993, 1135 (1137); Andelewski, Staatliche Mindestarbeitsbedingungen, S. 281; Buchner, RdA 1986, 7 (12 ff.); Rüthers, DB 1973, 1649 (1651); Treber, Aktiv produktionsbehindernde Maßnahmen, S. 409; diese Sichtweise ist verfassungskonform vgl. BVerfG 26.6.1991, NJW 1991, 2549 (2551). 175 So auch Treber, Aktiv produktionsbehindernde Maßnahmen, S. 406.
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nandersetzung niederschlagen.176 Gleichzeitig kann die Rechtsprechung Instrumentarien, die zu einer Stärkung der Funktionsfähigkeit der Tarifautonomie beitragen, in dem sie die Mitgliederbindung und -gewinnung erleichtern, wie etwa tarifvertragliche Differenzierungsklauseln, zulassen.177 Der Staat kann durchaus Maßnahmen ergreifen, um Rahmenbedingungen für Parität zu schaffen. Aber zum konkreten Eingriff in eine Tarifauseinandersetzung ist er nicht berechtigt. Damit ist der Rahmen für ein Versagen von Tarifautonomie aber auch gezogen. Dann nämlich, wenn sich trotz vernünftiger Rahmenbedingungen oder – dazu sogleich – aufgrund unzulänglicher Rahmenbedingungen eine strukturelle Unterlegenheit einer Seite bildet.
III. Funktionsstörungen der Tarifautonomie und Leiharbeit Solche Rahmenbedingungen bestehen in der Leiharbeitsbranche. Hier besteht eine in der Geschichte der Bundesrepublik wohl einmalige Paradoxie. Nahezu jeder Leiharbeitnehmer erhält einen Tariflohn, nahezu kein Leiharbeitnehmer ist gewerkschaftlich organisiert. Die Entgelte in der Leiharbeit bewegen sich, auch wenn das BAG hier großzügig wegsieht178, im Bereich der Sittenwidrigkeit, einzelne tarifliche Regelungen verstoßen offensichtlich gegen elementare Gerechtigkeitsanforderungen.179 Ursache dieser Missstände ist ein vollumfängliches Versagen des kontradiktorischen Interessenausgleichs zwischen den Tarifvertragsparteien im Rahmen der Leiharbeit. Hier soll nicht auf die Frage der Tariffähigkeit und Tarifzuständigkeit der christlichen Gewerkschaften in der Leiharbeit eingegangen werden. Das Notwendige dazu ist im Schrifttum gesagt.180 Viel entscheidender aber ist ein Funktionsdefizit in der Leiharbeit, das mit der tarifdispositiven Gestaltung des in §§ 3 Abs. 1 Nr. 3, 9 Nr. 2 AÜG verankerten Gleichbehandlungsgebots aufs Engste verknüpft ist. Durch dessen Einführung erlangten Tarifverträge in der Leiharbeit, die zuvor faktisch nicht vorhanden waren, eine erhebliche Bedeutung.181 Aus Sicht der Arbeitgeber war der Abschluss von Tarifverträgen zur Arbeitnehmerüberlassung durch das Gleichbehandlungsgebot 176
Vgl. ausführlich Andelewski, Staatliche Mindestarbeitsbedingungen, S. 285 ff. Vgl. dazu Ulber, D./Strauss, DB 2008, 1970 ff.; tendenziell auch BAG 28.3.2009, NZA 2009, 1028. 178 BAG 24.3.2004, NZA 2004, 971 ff.; kritisch Otto, FS Konzen, S. 663 (677), der die Entscheidung für vollkommen unhaltbar hält; abw. auch SG Berlin 27.2.2006, ArbuR 2007, 54 ff. 179 So z. B. § 8.6 MTV BZA/Tarifgemeinschaft DGB; vgl. LAG BW 2.11.2005, AuR 2006, 214; Ulber, J., AÜG BasisK, § 1, Rn. 89, § 9, Rn. 86; Ulber, J., NZA 2009, 232 (235). 180 Ulber, J., AÜG, § 9 Rdnrn. 171 ff., 190 ff.; Ulber, J./Schindele, AiB 2004, 212; Böhm, DB 2003, 2598; Schüren, in: FS Löwisch, 2007, S. 367 (372) m.w. Nachw.; ders., NZA 2008, 453; Schindele, AuR 2008, 31f.; Ulber, D., NZA 2008, 438. 181 Vgl. dazu Ulber, D., NZA 2008, 438 ff. 177
B. Richtigkeitsgewähr und funktionsgestörte Tarifautonomie
505
erforderlich geworden, weil ansonsten Leiharbeitnehmer bei Überlassung an einen Entleiher hinsichtlich Entgelt und wesentlicher Arbeitsbedingungen wie ein vergleichbarer Stammarbeitnehmer zu behandeln gewesen wären.182 Dies folgt aus dem Gleichbehandlungsgebot der §§ 3 Abs. 1 Nr. 3, 9 Nr. 2 AÜG. Dieses Gleichbehandlungsgebot wurde tarifdispositiv gestaltet. Damit wurde der Tarifvertrag zum Ausweg aus der „Equal pay-Falle“ 183. Wie bereits angesprochen, sind aber in der Leiharbeitsbranche die Arbeitnehmer regelmäßig nicht organisiert; die Tarifverträge gelten durch arbeitsvertragliche Bezugnahme.184 Erforderlich dafür ist grundsätzlich lediglich ein wirksamer Tarifvertrag, dessen Geltungsbereich das Arbeitsverhältnis erfasst.185 Damit entsteht eine Gemengelage, die zu einem vollständigen Versagen der Tarifautonomie als kontradiktorischem Interessenausgleich führt und diese darüber hinaus noch durch Überwirkungen in andere Rechtskreise insgesamt strukturell gefährdet. Eine Branche, in der die gewerkschaftliche Organisation gegen 1% tendiert, die darüber hinaus durch die Zerfaserung der Einsätze und die Austauschbarkeit von häufig gering qualifizierten Arbeitnehmern in prekären Arbeitsverhältnissen geprägt ist186, bedarf aus Sicht der Arbeitgeber auf einmal dringend tariflich geregelter Arbeitsbedingungen. Für die Gewerkschaften, die hier bislang keinerlei Gestaltungsmöglichkeiten hatten, ist der Abschluss solcher Tarifverträge organisationspolitisch attraktiv.187 Dies maßgeblich deshalb, weil die Gewerkschaften regelmäßig der Annahme folgen, irgendein Tarifvertrag sei besser als überhaupt keiner, weil sie darin regelmäßig den Einstieg in die Interessenvertretung in einer Branche erblicken.188 Kurz gesagt verhindert ein weiteres systemimmanentes Korrektiv das Bedürfnis der Gewerkschaften, in bislang tariflich ungeregelte Bereiche vorzudringen, dass sich die Gewerkschaften aufgrund tarifdispositiver Vorschriften per se auf das gesetzliche Schutzniveau zurückziehen. Eine effektive kollektive Interessenwahrnehmung ist zwar unter den Rahmenbedingungen in der Leiharbeit eigentlich nicht möglich, wird aber dennoch um den Preis des Mitgestaltens versucht. Dabei entkoppelt sich die Tarifnormsetzung nicht nur teilweise, sondern aufgrund des gegen Null tendierenden Organisationsgrades nahezu vollständig von ihrer legitimatorischen Grundlage. Dass hier ein Einfallstor für gelbe Gewerkschaften geschaffen wird, die ohne Mitglieder und ohne Infrastruktur im kollusiven Zusammenwirken mit der Arbeitgeberseite tätig werden, ist, wie auch ansonsten dort, wo gesetzliche Vor182
Ausf. Ulber, J., AÜG, § 9, Rn. 72 ff. Begriff von Röder/Krieger, DB 2006, 2122. 184 Wank in: ErfK, § 3 AÜG, Rn. 29. 185 Pelzner in: Thüsing, AÜG, § 3, Rn. 89; Oetker in: Wiedemann, TVG, § 3, Rn. 387. 186 Wank in: ErfK: § 3 AÜG Rn. 22. 187 Buschmann, FS Richardi, S. 93 (97). 188 Buschmann, FS Richardi, S. 93 (97). 183
506
6. Kap.: Grenzen der Richtigkeitsgewähr
schriften auf „Referenztarifverträge“ zurückgreifen189, nicht zu bestreiten. Die Entwicklungen in der Postbranche haben davon ein beredtes Beispiel gegeben.190 Die durch die Hartz-Gesetzgebung erfolgte Änderung des Arbeitnehmerüberlassungsgesetzes hat in einem Sektor, in dem die Tarifvertragsparteien faktisch über keinerlei soziale Macht verfügen, diese zu den alleinigen Gestaltern der Arbeitsbedingungen gemacht. Vorgeschoben wurde dabei, dies erfolge aus Respekt vor der Tarifautonomie. Realistisch betrachtet handelt es sich um das zielgerichtete Ausnutzen eines Funktionsdefizits der Tarifautonomie, um eine gesamte Branche flächendeckend mit Niedriglöhnen zu überziehen.191 Im Endeffekt wird die Tarifautonomie also dort besonders geschätzt, wo sie nicht funktioniert192: Ein beredtes Beispiel für die impliziten Zwecke tarifdispositiven Gesetzesrechts. Mit Blick auf die tarifdispositive Gestaltung des AÜG erscheint diese damit, nicht nur weil sie die Tarifautonomie in anderen Wirtschaftszweigen durch die Spaltung von Belegschaften beeinträchtigt, verfassungsrechtlich bedenklich. Denn auch die Prämisse des Gesetzgebers, die Tarifvertragsparteien würden die Öffnungsklausel lediglich zu einer flexiblen Gestaltung hinsichtlich Pauschalierungen des Arbeitsentgelts oder der einheitlichen Regelung von Zeiten des Verleihs und Nichtverleihs nutzen193, hat sich in der Praxis nur dann bewahrheitet, wenn man den Begriff der Flexibilisierung mit der Beseitigung gesetzlicher Schutzstandards gleichsetzt. Ein Vertrauen auf Sachverstand oder sachgerechte Lösungen durch die Tarifvertragsparteien postuliert der Gesetzesentwurf zum AÜG vorsichtshalber nicht.194 Denkt man sich den Gleichbehandlungsgrundsatz, der nunmehr europarechtlich gefordert ist,195 hinfort, so würde die Leiharbeitsbranche sich sicherlich erneut als weitgehend tariffreie Zone darstellen, in der ein tarifautonomer Interessenausgleich nicht zu erwarten ist. Damit ist an sich zu konstatieren, dass für die weite Zurücknahme staatlicher Regelungsbefugnisse in einem Bereich kein Raum ist, wo staatliche Schutzpflichten für die Grundrechte der Leiharbeitnehmer, insbesondere mit Blick auf Art. 12 Abs. 1 GG bestehen.196 Vielmehr scheint in solchen tariffreien Zonen, in denen die rein individualvertragliche Ebene evident keine Gewähr für einen funktionierenden privatautonomen Interessenausgleich bietet, gesetzgeberisches Handeln 189 So z. B. bei den tarifgestützten Mindestlöhnen im AEntG, vgl. Sansone/Ulber, D., AuR 2008, 125 (130). 190 Vgl. dazu ArbG Köln 30.10.2008, ArbuR 2009, 100; Deinert, NZA 2009, 1176 (1177); Wank/Schmidt, RdA 2008, 257 ff. 191 Schüren, FS Löwisch, S. 367 ff. 192 Zachert, AiB 2008, 561. 193 BT-Drs. 15/25, S. 38. 194 Vgl. BT-Drs. 15/25, S. 24, 38. 195 Vgl. dazu Art. 5 der Richtlinie 2008/104/EG (Leiharbeit); dazu Fuchs, NZA 2009, 57 ff.; Hamann, EuZA 2009, 287 ff.; Thüsing, RdA 2009, 118 ff.; Ulber, J., ArbuR 2010, 10 ff.; Waas, ZESAR 2009, 207 ff. 196 Dieterich in: Tarifgestützte Mindestlöhne, S. 103 (117 ff.).
B. Richtigkeitsgewähr und funktionsgestörte Tarifautonomie
507
geboten. Nun stellt sich die Frage, ob dies wegen einer Norm, die zwar ein Schutzpotenzial, aber keinen tatsächlichen Schutz bietet, anders ist. Dass dem nicht so ist, folgt aus dem Effektivitätsgebot der Umsetzung grundrechtlicher Schutzpflichten.197 Der Gesetzgeber kann sich also nicht nur aufgrund der fehlenden Gewähr des Tarifvertrags für die Schutzverwirklichung198 seiner staatlichen Schutzpflichten nicht entziehen. Er kann vielmehr aus den staatlichen Schutzpflichten zum legislativen Tätigwerden verpflichtet sein.199 Die massiven Störungen, die der flächendeckende Einsatz von Leiharbeitnehmern für die Funktionsfähigkeit der Tarifautonomie bedeutet, sind also nicht der einzige verfassungsrechtliche Einwand gegen die tarifdispositive Gestaltung der §§ 3 Abs. 1 Nr. 3, 9 Nr. 2 AÜG. Vielmehr sind diese auch und gerade unter dem Gesichtspunkt der staatlichen Schutzpflichten für die Vertragsfreiheit von Leiharbeitnehmern massiven Bedenken ausgesetzt. Vor allem aber ist zu konstatieren, dass die Annahme einer Erfüllung staatlicher Schutzpflichten durch den Verweis auf „schutzpflichtenvertretende Tarifnormen“ nicht nur unzutreffend ist, sondern sich in Fällen funktionsgestörter Tarifautonomie geradezu in ihr Gegenteil verkehrt.
IV. Ergebnis Dort wo es an einem funktionsfähigen, tarifautonomen Interessenausgleich fehlt, kann von einer Richtigkeitsgewähr des Tarifvertrags keine Rede sein. Grundsätzlich ist dies unproblematisch, wo gesetzliche Auffangregelungen existieren. Dort, wo es an solchen fehlt und grundrechtliche Schutzpositionen auflaufen, wird allerdings deutlich, dass der Gesetzgeber an sich zum Handeln verpflichtet wäre. Dies nicht nur deshalb, weil er ohnehin hinsichtlich der Außenseiter einen gewissen Mindeststandard gewährleisten muss200, sondern auch deshalb, weil die von der Tarifnorm erfassten Personen durch diese nicht hinreichend geschützt werden können. An der Grenze des verfassungsrechtlich Akzeptablen ist man aber dort, wo erkennbar strukturelle Defizite im Verhandlungsprozess dazu führen, dass die Tarifautonomie ihre Schutzfunktion für die Privatautonomie nicht mehr erfüllen kann und gleichzeitig der Tarifvertrag als Instrument zur Absenkung gesetzlicher Mindeststandards fungiert. Soweit hier keine Grenzen hinsichtlich der Abweichungsbefugnis gezogen werden, stellen sich solche Vorschriften als verfassungswidrige Verletzungen grundrechtlicher Schutzpflichten für die Grundrechte dar. Funktionierende Kontrollmechanismen, die gewährleisten, dass eine effektive Kompensation struktureller Unterlegenheit der Arbeitnehmer im Bereich der 197 198 199 200
Vgl. dazu oben 4. Kap. D. III. Vgl. auch BAG 16.3.1994, NZA 1994, 937 (940). Zu den Voraussetzungen und Grenzen vgl. oben 4. Kap. D. Zum Schutz der Außenseiter vgl. unten 6. Kap. C.
508
6. Kap.: Grenzen der Richtigkeitsgewähr
Leiharbeit erfolgt, existieren auf Basis des geltenden Rechts und der gegenwärtigen Rechtsprechung des BAG nicht. Damit ist mit Blick auf die tarifdispositive Gestaltung des AÜG in den §§ 3 Abs. 1 Nr. 3 und § 9 Nr. 2 AÜG festzuhalten, dass diese nicht nur wegen der Störungen der Tarifautonomie in den Entleiherbetrieben verfassungsrechtlich hochgradig bedenklich ist. Sie stellt sich auch als verfassungswidrige Verletzung grundrechtlicher Schutzpflichten für die Berufsfreiheit der Arbeitnehmer aus Art. 12 Abs. 1 GG dar. Auch die Diskussion über die Einführung eines tarifgestützten Mindestlohns für die Leiharbeitsbranche201 hilft über diese Problematik nicht hinweg. Sie sucht lediglich ein Symptom eines funktionsgestörten tarifautonomen Regierungssystems zu korrigieren. Dass in einer Branche, in der nahezu alle Arbeitsverhältnisse von Tarifnormen erfasst werden, ein Mindestlohn in Anknüpfung an Tarifverträge für erforderlich gehalten wird, zeigt, dass die tarifautonomen Einigungen dort für so inakzeptabel gehalten werden, dass man sie durch andere Regelungen ersetzen muss.202 Wieso der Gesetzgeber aber bei einem Befund, der evident darauf hinweist, dass der Tarifvertrag nicht in der Lage ist, die Arbeitsbedingungen in einer Branche so zu gestalten, dass diese sachgerecht reguliert ist, dennoch an einem Rückgriff auf Tarifwerke festhält, ist nur begrenzt nachvollziehbar. Eine saubere Lösung wäre hier die Abschaffung oder Einschränkung der Tariföffnungsklausel. In diesem Falle würde der Schutz der Leiharbeitnehmer über das Tarifsystem in den Entleiherbranchen sicher gestellt. Alternativ kann auch ein gesetzlicher Mindestlohn Abhilfe schaffen. Es bleiben dann zwar immer noch die Störungen, die die Leiharbeit für die Tarifautonomie in den Entleiherbetrieben bedeutet, diese ließen sich aber durch die Begrenzung der Substitution von Stamm- durch Leiharbeitnehmern und die damit verbundene Reduktion der Belegschaftsspaltungen begrenzen. Es ist aber zu konstatieren, dass die gegenwärtige Ausgestaltung des AÜG aufgrund der erheblichen Defizite im tarifautonomen Aushandlungsprozess verfassungswidrig ist. Eine Richtigkeitsgewähr von Tarifverträgen besteht hier nicht.
C. Richtigkeitsgewähr und Drittinteressen Die Annahme der Richtigkeitsgewähr des Tarifvertrags kann auch dadurch problematisch sein, dass sie die rechtlichen Interessen Dritter berührt, die an der Aushandlung der Vertragsbedingungen nicht beteiligt sind und unmittelbar durch die tarifvertraglichen Regelungen nicht erfasst werden, jedoch mittelbar von deren Regelungen betroffen sind.203 Betroffen sein meint hier, dass sich die tarif201 Vgl. dazu Dieterich, Tarifgestützte Mindestlöhne, S. 103 ff.; Hanau, Tarifgestützte Mindestlöhne, S. 127 (133 ff.); Hunnekuhl/zu Dohna-Jaeger, NZA 2007, 954 ff.; Thüsing/Lembke, ZfA 2007, 87 ff. 202 Vgl. dazu Hunnekuhl/zu Dohna-Jaeger, NZA 2007, 954 ff.
C. Richtigkeitsgewähr und Drittinteressen
509
liche Regelung auf deren Rechtspositionen tatsächlich auswirkt, nicht dass diese mittelbar durch hypothetische ökonomische Folgen des Tarifabschlusses getroffen würden. Ersteres tritt maßgeblich im Fall des tarifdipositiven Arbeitszeitschutzes ein. Das Arbeitszeitgesetz ist seinem Charakter nach kein einfaches Vertragsrecht, sondern öffentlich-rechtliches Gefahrenabwehrrecht.204 Es hat neben der Gesundheit des Arbeitnehmers auch andere Interessen im Blick.205 Zum einen das Interesse an der Beitragsstabilität in der Sozialversicherung, das durch gesundheitsschädliche Arbeitszeitgestaltung gefährdet wird, zum anderen die Interessen Dritter, die der Arbeitsleistung vor allem in qualitativer Hinsicht ausgesetzt sind. Es macht einen Unterschied, ob tarifliche Regelungen innerhalb der Vertragsbeziehungen von Arbeitnehmern und Arbeitgebern richtig sind oder ob sie auch unter Berücksichtigung dieser Drittinteressen richtig sind. Im Grunde ist mit der allgegenwärtigen Floskel, die Vertragsparteien wüssten besser, welche Regelungen zum Ausgleich der „beiderseitigen Interessen“ sachgerecht sind, das Erforderliche gesagt. Drittinteressen werden von der Richtigkeitsgewähr nicht erfasst. Sie liegen nämlich allenfalls zufällig im Interesse beider Vertragspartner und es ist nicht gesagt, dass die eine Vertragspartei ein aus ihrer Sicht vorrangiges Interesse zugunsten dieser Interessen zurückstellt. Daraus folgt, dass der Tarifvertrag ungeeignet ist, die gefahrenabwehrrechtliche Dimension von Schutznormen vollständig wahrzunehmen. Dies stützt sich im Wesentlichen auf zwei strukturelle Defizite des Tarifvertrags. Er kann und soll notwendigerweise den Interessenausgleich der an seinem Abschluss Beteiligten gewährleisten. Damit entsteht ein notwendiges Defizit an Berücksichtigung von Drittinteressen. Darüber hinaus kann die Schutzfunktion durch einen durch Kompromisse geprägten Verhandlungsprozess nur unzureichend gewahrt werden.206 Diese maßgeblich unter dem Gesichtspunkt der Ökonomisierung grundrechtlicher Schutzpositionen zu diskutierende Problematik ist noch im weiteren Verlauf aufzugreifen.207 Hier soll der Hinweis genügen, dass selbst dann, wenn man von einer Richtigkeitsgewähr des Tarifvertrags im Sinne einer Erfüllung staatlicher Schutzpflichten ausgeht208, diese den Rechtskreis der Vertragspartner nicht überschreiten kann. Als Beispiel sei hier auf den Patienten im Krankenhaus ver203
Vgl. dazu oben 4. Kap. und unten 8. Kap. A. II., III. Peters/Ossenbühl, Die Übertragung von öffentlich-rechtlichen Befugnissen auf die Sozialpartner unter besonderer Berücksichtigung des Arbeitszeitschutzes, S. 24. 205 Peters/Ossenbühl, Die Übertragung von öffentlich-rechtlichen Befugnissen auf die Sozialpartner unter besonderer Berücksichtigung des Arbeitszeitschutzes, S. 24 f. 206 Peters/Ossenbühl, Die Übertragung von öffentlich-rechtlichen Befugnissen auf die Sozialpartner unter besonderer Berücksichtigung des Arbeitszeitschutzes, S. 46 f.; vgl. dazu ausführlich unten 8. Kap. A. II. 207 Vgl. dazu unten unter 8. Kap A. I. 1. d). 208 Dass dies nicht der Fall ist, wurde bereits oben erläutert; siehe dazu oben 6. Kap. 204
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6. Kap.: Grenzen der Richtigkeitsgewähr
wiesen, der an einer Arbeitszeitgestaltung interessiert ist, die nicht nur den Gesundheitsschutz der ihn behandelnden Ärzte sicherstellt209, sondern auch dass diese über eine hinreichende Leistungsfähigkeit verfügen. Mit einer Regelung, die nur die Interessen des Arztes wahrt, ist dem Patienten nicht geholfen. Hier gibt es keine Richtigkeitsgewähr, es kann sie auch nicht geben, weil die Tarifvertragsparteien weder gemeinwohlverpflichtet, noch in sonstiger Weise staatsvertretende Organe sind. Sie ordnen die Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen durch tarifautonome Regelungen. Den Grundrechtsschutz der Bürger sicher zu stellen ist nicht ihre Aufgabe.210 Wenn das aber nicht ihre Aufgabe ist und auch das Prozedere der Tarifverhandlungen keinerlei Garantie dafür bietet, dass Drittinteressen überhaupt, geschweige denn angemessen berücksichtigt werden, so ist für eine Zurücknahme des Staates aufgrund der „Richtigkeitsgewähr“ kein Raum. Sieht man richtigerweise nur eine Richtigkeitschance hinsichtlich der Ergebnisse von Tarifvertragsverhandlungen211, so wird ein Rückzug des Gesetzgebers hier vollkommen indiskutabel. Will man, um auf das Patientenbeispiel zurückzukommen, diesen darauf verweisen, staatliche Schutzmaßnahmen seien entbehrlich, weil durch die Tarifautonomie eine Chance besteht, dass der behandelnde Arzt nicht zu gesundheitsschädlichen Arbeitsbedingungen beschäftigt wird oder zu solchen, die seine Leistungsfähigkeit mindern? Mit der Richtigkeitsgewähr lässt sich Derartiges nicht begründen. Und so war implizites, wenn auch wohlweislich nicht ausgesprochenes Motiv der Neufassung des Arbeitszeitgesetzes zum 1.1.2004, eine Kostensteigerung im Gesundheitswesen durch kürzere Arbeitszeiten für Ärzte möglichst zu vermeiden. Es wurde eben ein Drittinteresse, die Kosten für die Krankenversicherung, über das Interesse der Patienten an leistungsfähigen Ärzten gestellt.
D. Ergebnis Der Rekurs auf die Richtigkeitsgewähr des Tarifvertrags ist zur Legitimation staatlicher Untätigkeit im Bereich grundrechtlicher Schutzpflichten nicht überzeugend.212 Dies resultiert zunächst daraus, dass ein noch so ausgeglichener Verhandlungsprozess keine Gewähr dafür bieten kann, dass die erzielten Ergebnisse die grundrechtlichen Schutzpflichten erfüllen. Im Grunde räumt das BAG dies mit der von ihm vertretenen Schutzpflichtenbindung der Tarifvertragsparteien auch ein.213 Würden Tarifverträge tatsächlich eine Richtigkeitsgewähr im Sinne eines angemessenen Ausgleichs beinhalten, wäre die Bindung der Tarifvertrags209 210 211 212 213
Wobei dies bereits ein Fortschriftt wäre, vgl. dazu unten 8. Kap. Vgl. dazu oben 5. Kap B. Vgl. dazu oben 6. Kap. A. A. Thüsing, ZfA 2008, 591 (597). Vgl. hierzu oben 5. Kap. B.
D. Ergebnis
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parteien an die grundrechtlichen Schutzpflichten überflüssig. Bereits die Existenz dieser Rechtsprechung zeigt, dass die Theorie der Richtigkeitsgewähr hin zu einer Theorie der Richtigkeitschance gewandelt werden muss. Damit bedeutet der tarifautonome Aushandlungsprozess die Herstellung von Privatautonomie und schafft damit überhaupt erst die notwendigen Voraussetzungen für einen sachgerechten, privatautonomen Interessenausgleich. An dieser Stelle endet dann aber auch seine Gewähr. Dass die Ergebnisse des Verhandlungsprozesses auf Basis der geltenden Verfassungsordnung akzeptabel sind, kann die Tarifautonomie nicht garantieren. Es ist auch nicht ihre Aufgabe, dies zu tun. Sie ist eine verfahrensmäßige Korrektur der Privatautonomie, die diese effektuiert, indem sie Machtdisparitäten im vertraglichen Aushandlungsprozess korrigiert. In dieser zentralen Funktion erschöpft sie sich aber auch. Eine Gewähr für verfassungskonforme Resultate kann sie nicht bieten. Dies ist Aufgabe der staatlichen Gewalt. Diese kann durch die Tarifautonomie nicht von ihren Verpflichtungen zum Schutz von Grundrechten dispensiert werden. Dieser Befund wirft die Frage auf, ob nicht durch prozedurale Schutzelemente wie die Grundrechtsbindung der Tarifvertragsparteien eine Korrektur erfolgen kann. Diese Überlegung basiert auf einem Konzept einer staatsvertretenden, autonomen Rechtsmacht der Tarifvertragsparteien und ist, wie gezeigt, mit dem privatautonomen Charakter der Tarifnormen unvereinbar.214 Eine Grundrechtsbindung kuriert lediglich die Fehlsteuerungen, die durch eine Überhöhung der Tarifautonomie mit Blick auf die Regelungsmacht der Tarifvertragsparteien entstehen. Eine Grundrechtsbindung der Tarifvertragsparteien löst auch nicht die Probleme, die in Fällen von Grundrechtsgefährdungen, insbesondere hinsichtlich der Grundrechte Dritter entstehen. Dass die Rechtsprechung unter Rekurs auf den Stellenwert der Tarifautonomie den Rechtsschutz gegen tarifliche Vorschriften ohnehin massiv einschränkt, vor allem dann, wenn ihr transparente, gesetzliche Regelungen oder gesetzgeberische Wertungen fehlen, spricht auch nicht gerade dafür, hier einen substanziellen Grundrechtsschutz zu konstatieren. Sieht man mit der hier vertretenen Auffassung die Grundrechtsbindung der Tarifvertragsparteien auch in ihrer Schutzpflichtenkonzeption als abzulehnen an215, bleibt für einen argumentativen Rückgriff auf diese kein Raum. Schließlich zeigt sich, dass dort, wo branchenspezifisch Funktionsdefizite der Tarifautonomie bestehen, kein Raum für ein Richtigkeitsvertrauen oder die Schaffung tarifdispositiver Vorschriften ist. Ist die Tarifautonomie funktionell gestört, sind legislative Korrekturmechanismen zum Schutz der Grundrechte verfassungsrechtlich geboten.
214 215
Vgl. dazu 5. Kap. Vgl. dazu oben 5. Kap.
7. Kapitel
Gesamtergebnis zum 2. bis 6. Kapitel Die Tarifautonomie macht gesetzlichen Schutz für Arbeitnehmer nicht entbehrlich. Sie kann den Verzicht auf grundrechtsschützende Regelungen im Arbeitsrecht nicht legitimieren. Die Tarifautonomie ist ein Beitrag zur Beseitigung der strukturellen Unterlegenheit des Arbeitnehmers bei Abschluss des Arbeitsvertrags und dient insofern der Erfüllung staatlicher Schutzpflichten für die Privatautonomie der Arbeitnehmer. Dennoch stellt sie keine Erfüllung dieser grundrechtlichen Schutzpflichten dar. Grundrechtliche Schutzpflichten werden im Bereich tarifvertraglicher Regelungen auch nicht durch Korrektur- und Kontrollmechanismen des Tarifvertragsrechts gewahrt. Dies liegt zunächst einmal daran, dass die Tarifvertragsparteien weder unmittelbar grundrechtsgebunden noch an grundrechtliche Schutzpflichten gebunden sind. Beide Annahmen lassen sich nicht begründen und sind verfassungswidrig. Sie sind darüber hinaus auch ungeeignet, eine Erfüllung grundrechtlicher Schutzpflichten sicher zu stellen und verstoßen gegen Grundprinzipien der Schutzpflichtendogmatik. Sie sind intransparent, ineffektiv und in Ansehung des Vorbehalts des Gesetzes und der Wesentlichkeitstheorie nicht zu legitimieren. Darüber hinaus verstoßen beide Theorien gegen das Optimierungsgebot und die Verpflichtung des Staates, die grundrechtlichen Schutzpflichten effektiv zu gewährleisten. Dies und die dogmatischen Schwächen beider Ansätze einer Bindung Privater an die Grundrechte sind nicht akzeptabel. Wie sich im Rahmen der Schutzpflichtendogmatik zeigt, sind sie darüber hinaus auch noch überflüssig und für einen effektiven Rechtsschutz der Bürger nicht erforderlich. Es gibt verfassungskonforme Möglichkeiten, den Gesetzgeber zur Etablierung fehlender Schutzstandards anzuhalten. Auch weitere tarifrechtliche Schutzmechanismen bestehen nicht oder jedenfalls nicht in einer effektiven Weise. Selbst dann, wenn man von einer Richtigkeitsgewähr und nicht von einer Richtigkeitschance des Tarifvertrags ausgeht, so ist dies ein für die Erfüllung grundrechtlicher Schutzpflichten gleich in mehrerer Hinsicht defizitärer Beitrag. Dies liegt nicht nur an problematischen Entwicklungen der Rechtsprechung des BAG zur Tariffähigkeit. Es ist auch zu beachten, dass bei Funktionsstörungen der Tarifautonomie eine Richtigkeitsgewähr nicht anerkannt werden kann. Sieht man schließlich zutreffend, dass die Richtigkeitsgewähr nicht gewährleisten kann, dass die Ergebnisse richtig sind, sondern ledig-
7. Kap.: Gesamtergebnis zum 2. bis 6. Kapitel
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lich, dass Verfahren der Tarifnormsetzung fehlerfrei verlaufen, so muss ihre Eignung zur Wahrung grundrechtlicher Schutzpflichten als noch geringer angesehen werden. Letztendlich lässt sich zusammenfassend verdeutlichen, dass auch in Ansehung der Tarifautonomie der Grundrechtsschutz im Arbeitsrecht vollständig und ohne Ausnahme über gesetzliche Regelungen vermittelt werden muss. Dass hierbei auch die richterliche Rechtsfortbildung genutzt werden kann, steht außer Frage; freilich muss sich die Judikative aber im Interesse des Grundrechtsschutzes gleich in mehrerer Weise zurücknehmen. Dies gilt insbesondere bei der Konstruktion im Gesetzesrecht nicht angelegter Bindungen der Tarifvertragsparteien an die Grundrechte. Allein die staatlichen Stellen sind bei der Umsetzung und Beachtung grundrechtlicher Schutzpflichten gebunden. Ist die Rechtslage defizitär, so kann diese Bindung nicht auf die Tarifvertragsparteien verlagert werden. Der Staat darf sich seiner verfassungsrechtlichen Verantwortung für den Grundrechtsschutz nicht entziehen. Prozessual müssen die Gerichte in solchen Konstellationen den Weg über Art. 100 GG gehen. Dies ist prozessual möglich und geboten, soweit die verfassungskonforme Auslegung und Anwendung des Rechts, inklusive der zulässigen Rechtsfortbildung, ein schutzpflichtenkonformes Ergebnis nicht zulässt. Damit ist der Gesetzgeber als Letztverantwortlicher in der Pflicht, die grundrechtlichen Schutzpflichten im Arbeitsrecht eigenständig und durch effektive Schutzvorschriften, die den Anforderungen an die grundrechtlichen Schutzpflichten genügen, umzusetzen. Dabei muss er dann auch die Tarifvertragsparteien binden. Diesen dürfen keinerlei Befugnisse zu grundrechtsverletzenden tarifvertraglichen Regelungen verliehen werden. Die tarifvertragliche Regelungsbefugnis wird insoweit eingeschränkt. Zu dieser Einschränkung ist der Gesetzgeber verfassungsrechtlich verpflichtet. Die Debatte um die Grundrechtsbindung des Tarifvertrags wendet sich mithin an den falschen Adressaten. Die Tarifvertragsparteien regeln die Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen in den Grenzen des einfachen Gesetzesrechts, respektive Richterrechts. Sie üben dabei aber keinen Verfassungsauftrag aus, sondern tragen dazu bei, dass ein solcher erfüllt wird. Das ist das Wesen der dienenden Funktion der Tarifautonomie. Wenn aber die Tarifvertragsparteien nicht Adressaten des verfassungsrechtlichen Auftrags zur Wahrung der grundrechtlichen Schutzpflichten im Arbeitsrecht sind, dann bedeutet dies nicht, dass dieser Auftrag deswegen nicht zu erfüllen wäre. Er richtet sich lediglich an seinen ursprünglichen Adressaten: den Staat. Die Tarifautonomie hat ihrem historischen Entstehungsprozess nach nicht den Zweck, den Staat an der Schaffung von Schutzvorschriften zu hindern. Historisch ist tarifautonome Betätigung als Reservesystem gegenüber einem untätigen Nachtwächterstaat im Arbeitsrecht entstanden, der sich der Etablierung elementarer Schutzvorschriften zunächst verweigert hat. Eine Abwehr staatlichen Schutzrechts war nie ihr Zweck. Die Tarifautonomie argumentativ zu instrumentalisieren, um grundrechtliche Schutzansprüche abzuwehren, bedeutet, ihr Wesen zu
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7. Kap.: Gesamtergebnis zum 2. bis 6. Kapitel
missachten. Zwischen Tarifautonomie und staatlicher Gesetzgebung besteht damit ein Kompetenzparallelismus. Die Dogmatik grundrechtlicher Schutzpflichten hat einen langen Weg benötigt, auch im Zivilrecht und Arbeitsrecht Geltung zu beanspruchen. Die Rechtsprechung hat längere Zeit versucht, diesen Anspruch zu erfüllen. Sie ist aber überfordert, die Schutzpflichten alleine zu erfüllen. Sie muss die Verantwortung wieder an den Souverän zurückgeben. Mit dem Recht der Richtervorlage nach Art. 100 Abs. 1 GG steht ein Instrument hierfür zur Verfügung.
8. Kapitel
Grenzen tarifdispositiven Gesetzesrechts am Beispiel des Arbeitszeitrechts Sieht man die vorstehenden verfassungsrechtlichen Vorgaben für die Wahrung grundrechtlicher Schutzpflichten, so stellt sich die Frage, ob durch die Schaffung tarifdispositiver gesetzlicher Vorschriften verfassungsrechtliche Schutzpflichten verletzt werden. Diese Frage besteht unabhängig davon, ob man den Tarifvertragsparteien eine verfassungsrechtlich geschützte Befugnis zur vorrangigen Regelung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen zumisst. Geht man hiervon aus, stellt sich lediglich die Frage, ob sich der Verzicht auf gesetzliche Schutzvorschriften in Ansehung eines etwaigen Eingriffs in die Grundrechte der Koalitionen rechtfertigen lässt. Entscheidender Steuerungsparameter bleibt hierbei aber die Intensität der Schutzpflicht, die sich aus den im konkreten Fall betroffenen Grundrechten herleiten lässt. Damit ist man bei den verfassungsrechtlichen Grenzen tarifdispositiven Gesetzesrechts und der erforderlichen Begrenzung der Tariföffnungsklauseln. Diese können, soweit sie in den Anwendungsbereich grundrechtlicher Schutzpflichten fallen, von vorneherein nicht unkonditioniert sein. Jedenfalls dann, wenn der Gesetzgeber wie im Arbeitszeitrecht1 und im Bereich der Arbeitnehmerüberlassung mit gesetzlichen Vorschriften grundrechtlichen Schutzpflichten nachkommt, so ist er zur effektiven Erfüllung dieser Schutzpflichten verpflichtet. Dass er sich dabei nicht auf die Erwägung stützen kann, das Tarifvertragssystem als solches biete bereits einen hinreichenden Schutz ist bereits dargelegt worden. Auch das BAG räumt ein, dass allein durch die Möglichkeit des Abschlusses von Tarifverträgen und Betriebsvereinbarungen ein wirksamer Grundrechtsschutz für die Tarifunterworfenen nicht herzustellen ist. Und auch das BVerfG verweist zutreffend auf das Erfordernis gesetzlicher Regelungen zum Arbeitszeitschutz. Ein Verweis auf das Schutzpotenzial der Tarifautonomie legitimiert nicht den Verzicht auf gesetzliche Schutzvorschriften.2 Sieht man, dass die Rechtsprechung für die Rechtskontrolle des Tarifvertrags über halbwegs aussagekräftige Tatbestände verfügen muss, um den Grundrechtsschutz effektiv sicherzustellen, so zeigt sich, dass damit mehr besteht als eine Regelungsverpflichtung des Gesetzgebers. Dass 1
BVerfG 28.1.1992, NJW 1992, 964 ff. Vgl. zur strukturellen Unterlegenheit oben 2. Kap. D.; sowie Kap. 4–6 zu den Fragen der Schutzpflichtenbindung. 2
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8. Kap.: Grenzen tarifdispositiven Gesetzesrechts
dieser überhaupt tätig werden muss, steht außer Frage. Es geht aber entscheidend auch um die Reichweite dieser Verpflichtung.
A. Grenzen der Delegation der Regelungsbefugnis vom Staat auf die Tarifvertragsparteien Soweit der Gesetzgeber aus den grundrechtlichen Schutzpflichten zur eigenständigen Regelung einer Materie verpflichtet ist, stellt sich die Frage, in welchem Umfang er die Tarifvertragsparteien an der Regulierung beteiligen darf. Dabei geht es um die Frage, in welchem Umfang der Gesetzgeber gesetzliche Vorschriften tarifdispositiv gestalten darf. Denn hierbei nimmt der Gesetzgeber den gesetzlichen Schutz zurück und überlässt den Tarifvertragsparteien eine Materie zur eigenständigen Regelung. Die zwingende Wirkung des Gesetzes und damit seine grundrechtsschützende Wirkung wird aufgehoben, soweit den Tarifvertragsparteien eine eigenständige Regelung ermöglicht wird. Denn diese werden einer Rechtskontrolle anhand des tarifdispositiv gestellten Teiles des Gesetzes enthoben. Es stellt sich die Frage, in welchem Umfang der Gesetzgeber in Ansehung grundrechtlicher Schutzpflichten Tariföffnungsklauseln schaffen darf und damit die Implementierung eines die Schutzpflichten in tatsächlicher Hinsicht erfüllenden Schutzstandards an die Tarifvertragsparteien delegieren kann. Diese Frage betrifft nicht nur den Grundrechtsschutz der unmittelbar tarifgebundenen Arbeitnehmer (§ 3 Abs. 1 TVG), sondern auch den Schutz der Außenseiter und unter Umständen auch Dritter, die der Arbeitsleistung konkret ausgesetzt sind. Untersucht werden sollen diese Fragen hier am Beispiel des § 7 Abs. 2a ArbZG.
I. Grundrechtliche Schutzpflichten für die tarifunterworfenen Arbeitnehmer am Beispiel des § 7 Abs. 2a Arbeitszeitgesetz Im Vordergrund sollen hier zunächst die Schutzpflichten für die Grundrechte der unmittelbar tarifgebundenen Arbeitnehmer stehen. Ein Beispiel für eine besonders weitreichende tarifdispositive Vorschrift und insofern ein besonders geeigneter Untersuchungsgegenstand für eine Verletzung grundrechtlicher Schutzpflichten für die Grundrechte der unmittelbar tarifgebundenen Arbeitnehmer ist § 7 Abs. 2a ArbZG. Dieser lautet: „In einem Tarifvertrag oder aufgrund eines Tarifvertrags in einer Betriebs- oder Dienstvereinbarung kann abweichend von den §§ 3, 5 Abs. 1 und § 6 Abs. 2 zugelassen werden, die werktägliche Arbeitszeit auch ohne Ausgleich über acht Stunden zu verlängern, wenn in die Arbeitszeit regelmäßig und in erheblichem Umfang Arbeitsbereitschaft oder Bereitschaftsdienst fällt und durch besondere Regelungen sichergestellt wird, dass die Gesundheit der Arbeitnehmer nicht gefährdet wird.“
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Diese Vorschrift wird, zumindest formal, eingeschränkt durch ein in § 7 Abs. 7 ArbZG verankertes schriftliches Einwilligungserfordernis der betroffenen Arbeitnehmer. Des Weiteren begrenzt § 7 Abs. 9 ArbZG die Abweichungsbefugnis dadurch, dass, bei einer Verlängerung der werktäglichen Arbeitszeit über 12 Stunden hinaus, im unmittelbaren Anschluss an die Beendigung der Arbeitszeit eine Ruhezeit von mindestens 11 Stunden gewährt werden muss. 1. Bedeutung der Arbeitszeitgestaltung für die Gesundheit Es entspricht der ständigen Rechtsprechung des BVerfG, dass die Arbeitszeitgestaltung für den Gesundheitsschutz eine hohe Bedeutung hat.3 Die arbeitsmedizinischen Befunde die zu dieser Erkenntnis führen sind mittlerweile erdrückend. Die gesundheitlichen Risiken bestehen dabei nicht nur mittel und langfristig. Denn die durch Arbeitsüberlastung und Nachtarbeit verursachen Leistungsdefizite wirken sich in Form von Arbeitsunfällen nachteilig aus. a) Befunde über die Nachtarbeit Besonders bedeutsam für den Arbeitszeitschutz sind Einschränkungen der Nachtarbeitszeit. Nachtarbeit läuft dem menschlichen Biorhythmus zuwider.4 Sie ist grundsätzlich für jeden Menschen schädlich5 und kann gravierende gesundheitliche Gefährdungen verursachen. Dazu gehören Schlaflosigkeit und Schlafstörungen, Appetitstörungen, Orientierungslosigkeit, Störungen des MagenDarm-Trakts, erhöhte Nervosität und Reizbarkeit, sowie eine Herabsetzung der Leistungsfähigkeit und verminderte geistige Reaktionsfähigkeit.6 Der Schutz der Beschäftigten hinsichtlich der Verteilung der Arbeitszeit im Tagesablauf und der
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BVerfG 9.6.2004, NJW 2004, 2363 (2365, 2367). European Agency for Safety and Health at Work, Expert forecast on emerging psychosocial risks related to occupational safety and health, S. 44; Straif/Baan/Grosse/Secretan/Ghissassi/Bouvard/Altieri/Benbrahim-Tallaa/Cogliano, The Lancet Oncology, Vol. 8, Issue 12, p. 1065; Neumann/Biebl, ArbZG, § 6, Rn. 4, m.w. N.; ausführlich dazu Habich, Sicherheits- und Gesundheitsschutz durch die Gestaltung von Nacht- und Schichtarbeit und die Rolle des Betriebsrats, S. 4 f. 5 BVerfG 28.1.1992, NJW 1992, 964 (965); European Agency for Safety and Health at Work, Expert forecast on emerging psychosocial risks related to occupational safety and health, S. 44. 6 BVerfG 9.6.2004, NJW 2004, 2363 (2365, 2367); BVerfG 28.1.1992, NJW 1992, 964 (965); Ayas/BargerCade/Hashimoto/Rosner/Cronin/Speizer/Czeisler, JAMA 296 (2006), 1055 ff.; Lamond/Dawson, J. Sleep Res. 8 (1999), 255 ff.; Mußhoff in: Arbeitsrecht/Arbeitsschutzrecht, S. 419 (420); European Agency for Safety and Health at Work, Expert forecast on emerging psychosocial risks related to occupational safety and health, S. 44; ausführlich Habich, Sicherheits- und Gesundheitsschutz durch die Gestaltung von Nacht- und Schichtarbeit und die Rolle des Betriebsrats, S. 10 ff. 4
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8. Kap.: Grenzen tarifdispositiven Gesetzesrechts
Schutz vor Nachtarbeit haben daher verfassungsrechtlich besonderes Gewicht.7 Nach der Aufhebung des Nachtarbeitsverbots für Nachtarbeiterinnen wird über eine erhöhte Fehlgeburtenrate berichtet, sowie eine Beeinträchtigung der Fortpflanzungsfähigkeit.8 Die Nachtarbeit zeigt physische, psychische und soziale Belastungen sowohl in kurz-, mittel-, als auch in langfristiger Hinsicht, dort insbesondere in Form von Herzleiden und Magengeschwüren.9 Die Risiken von Nachtarbeit beziehen sich dabei sowohl unmittelbar als auch mittelbar auf den gesundheitlichen Zustand, weil sie die Fehleranfälligkeit von Arbeitnehmern erhöhen und dadurch das Verletzungsrisiko während der Arbeitszeit steigern.10 Besonders anschaulich wird diese Erhöhung der Fehlerquote an den Entstehungszusammenhängen der Einführung des 3-Schichtsystems und der damit verbundenen Reduktion der Schichtarbeitszeiten in den USA während des 2. Weltkriegs. Hier registrierte das Militär erhöhte Produktionsausfälle in Munitionsfabriken. Ursache war, dass die Bänder in diesen häufig stillstanden, weil einzelne Projektile aufgrund von Unaufmerksamkeiten der Arbeitnehmer explodiert waren. Eine durch das Verteidigungsministerium veranlasste Untersuchung ergab, dass ab einer Arbeitszeit von 8 Stunden die Zahl der Explosionen extrem zunahm. Die Studie kam zu dem Ergebnis, dass die körperliche Leistungsfähigkeit ab 8 Stunden Arbeit rapide abnahm.11 Daraufhin wurde veranlasst, dass die Schichten von bisher 12 Stunden im 2Schichtsystem auf 8 Stunden-Schichten im 3-Schichtsystem umgestellt wurden. Die Produktionsausfälle wurden so reduziert. Der gleiche Kauselzusammenhang wird durch eine Studie über Nadelstichverletzungen von Ärzten aufgezeigt. Aufgrund der Arbeitsüberlastung und der zunehmenden Ermüdung bei langen Schichten wurde bei diesen eine erhöhte Rate von Selbstverletzungen mit Spritzen beobachtet. Ausgelöst werden diese unter anderem dadurch, dass die Ärzte während des Injektionsvorgangs in Sekundenschlaf fielen.12 Damit wird deutlich, dass der Arbeitszeitschutz über die Verhinderung von gesundheitlichen Schäden hinausreicht. Insbesondere ist darauf hinzuweisen, dass die Fehleranfälligkeit nicht nur durch die Dauer der Arbeitszeit, sondern auch ihre Lage beeinflusst wird.13
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BVerfG 9.6.2004, NJW 2004, 2363 (2367). Habich, Sicherheits- und Gesundheitsschutz durch die Gestaltung von Nacht- und Schichtarbeit und die Rolle des Betriebsrats, S. 13 f. 9 European Agency for Safety and Health at Work, Expert forecast on emerging psychosocial risks related to occupational safety and health, S. 44. 10 Ayas/BargerCade/Hashimoto/Rosner/Cronin/Speizer/Czeisler, JAMA 296 (2006), 1055 ff. 11 Vgl. auch Mußhoff in: Arbeitsrecht/Arbeitsschutzrecht, S. 419 (421). 12 Vgl. Ayas/BargerCade/Hashimoto/Rosner/Cronin/Speizer/Czeisler, JAMA 296 (2006), 1055 ff. 13 Mußhoff in: Arbeitsrecht/Arbeitsschutzrecht, S. 419 (420). 8
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So führt Nachtarbeit zu einer Dissynchronisation der Körperfunktionen.14 Dies hat mit der Funktionsweise des Biorhythmus zu tun. Jeder Mensch hat grundsätzlich dieselbe Grundfunktion eines körpereigenen Wachheits-/und Müdigkeitsrhythmus. Dieser schwankt um eine Art Nulllinie und führt dazu, dass der Schlafdruck zu bestimmten Tageszeiten besonders hoch ist, zu anderen besonders niedrig. Dieser Effekt lässt sich statistisch nachweisen15 und ist auch im Rahmen der Schlafforschung belegt. Dies korreliert mit den Befunden, dass Ermüdungs- und Ermattungserscheinungen bei Nachtarbeit auftreten, dieser Effekt bei Früh- und Spätschichten aber weniger stark zu beobachten ist.16 Die gleiche Menge Arbeit zu unterschiedlichen Tageszeiten hat also nicht den gleichen Effekt auf die Ermüdung, die durch die Erbringung der Arbeitsleistung entsteht.17 Ebenso führt Nachtarbeit zu einer verkürzten Schlafdauer bei Nachtarbeitnehmern, die bei diesen zu chronischem Schlafmangel führen kann.18 Die Schlafkurve führt auch dazu, dass Menschen, die eine ganze Nacht durcharbeiten, ab einem bestimmten Müdigkeitspunkt den Eindruck haben, wieder wacher zu werden.19 Dies ist allerdings kein Indiz für eine insgesamt reduzierte Ermüdung oder einen Kompensationseffekt. Der abnehmende Schlafdruck der aus dem Verlauf der biologischen Uhr folgt, führt zu diesem Effekt. Das hochgradig Problematische an der Nachtarbeit ist aber nicht nur der biorhythmische Schlafdruck, der nachts die Leistungsfähigkeit absenkt, sondern der durch Schlafdefizite verursachte Schlafdruck. Nach neueren Erkenntnissen der Forschung hat jeder Mensch einen Grundschlafbedarf. Dieser liegt im Durchschnitt bei ca. 8 Stunden, kann allerdings schwanken, wobei die statische Abweichung nach oben und unten gering ist. Dies führt dazu, dass es faktisch ausgeschlossen ist, dass es einem Mensch über einen längeren Zeitraum oder gar dauerhaft möglich ist, seinen Schlafbedarf zu regulieren. Ebenso wenig lassen sich durch Anpassungsverhalten die individuelle „Leistungskurve“ verändern oder der Körper an die Schichtarbeit anpassen.20 Menschen, die dies behaupten, unterliegen regelmäßig 14 Habich, Sicherheits- und Gesundheitsschutz durch die Gestaltung von Nacht- und Schichtarbeit und die Rolle des Betriebsrats, S. 5; Neumann/Biebl, ArbZG, § 6, Rn. 4. 15 Eine Auswirkung dieser „statischen“ Schlafkurve ist die erhöhte Zahl von nächtlichen Verkehrsunfällen. 16 European Agency for Safety and Health at Work, Expert forecast on emerging psychosocial risks related to occupational safety and health, S. 44. 17 Habich, Sicherheits- und Gesundheitsschutz durch die Gestaltung von Nacht- und Schichtarbeit und die Rolle des Betriebsrats, S. 7, weist auf eine 1,5-fache Belastungswirkung von Nachtschichten hin. 18 Habich, Sicherheits- und Gesundheitsschutz durch die Gestaltung von Nacht- und Schichtarbeit und die Rolle des Betriebsrats, S. 11. 19 Richter/Merkel/Streit/Haeslich/Strakow/Engel, Wie belastet sind Ärzte mit Bereitschaftsdienst? Eine Belastungs-Beanspruchungs-Analyse bei sächsischen Krankenhausärzten, S. 6. 20 Habich, Sicherheits- und Gesundheitsschutz durch die Gestaltung von Nacht- und Schichtarbeit und die Rolle des Betriebsrats, S. 5 f.
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einer Selbsttäuschung. Diese kommt unglücklicherweise gerade bei jenen Berufsgruppen besonders oft vor, die mit Arbeitsüberlastung konfrontiert sind, weil der soziale Druck, die entsprechende „Leistungsfähigkeit“ zu zeigen, die realistische Selbsteinschätzung erschwert. Auch basiert der Eindruck, der eigene Schlafbedarf sei kraft „Willenskraft“ gesenkt worden, auf einer gestörten Selbstwahrnehmung. Häufig fallen Menschen, die gegen ihren Grundschlafbedarf leben, tagsüber in Nickerchen oder Sekundenschlaf, häufig wird das Schlafdefizit auch am Wochenende ausgeglichen. Der Schlafbedarf eines Menschen verändert sich allerdings durch den Alterungsprozess.21 Deswegen können Menschen durchaus den Eindruck haben, sie würden nunmehr „anders“ schlafen. Eine eigene Steuerungsmöglichkeit haben sie dennoch nur sehr begrenzt. Bemerkenswerter Weise lässt sich der Zusammenhang von gestörter Selbstwahrnehmung und Leistungsanspruch besonders gut an Thomas Edison ablesen, der durch die Erfindung der Glühbirne die Nachtarbeit erst ermöglicht hat. Edison hielt schlafen für Zeitverschwendung und behauptete eldiglich 4 Stunden pro Nacht zu schlafen. Wer einmal die „Ford & Edison Winter Estates“ in Florida besichtigt, wird im Arbeitsbereich von Edison eine Pritsche vorfinden. Edison hielt täglich mehrere Nickerchen, seinen Grundschlafbedarf hatte er nicht reduziert, sondern nur über den Tag verteilt. Dennoch ist von Edison mit Blick auf den Schlaf der Spruch überliefert: „Alles, was die Arbeit hemmt, ist Verschwendung.“ Es ist naheliegend, dass Menschen, die unter vergleichbarem Leistungsdruck leiden, zu einer ähnlichen „Selbstdisziplin“ neigen. Der Verweis darauf, Menschen müssten selbst beurteilen können wie ihr Schlafbedarf sei, verkennt die objektiven und subjektiven Zwänge einer Leistungsgesellschaft. Für die Nachtarbeit hat die Erkenntnis, dass der Schlafbedarf individuell kaum regulierbar ist, überaus problematische Folgen. Denn hat der Arbeitnehmer nicht bis unmittelbar vor der Nachtschicht geschlafen, was regelmäßig der Fall sein dürfte, da er sich ansonsten am sozialen Leben nur schwer beteiligen kann, so hat er bereits über den Tag hinweg Schlafdruck aufgebaut. Dieser Schlafdruck beginnt sich vom Moment des Aufstehens an aufzubauen und erhöht sich über den Tag hinweg linear. Damit wirken der biologische Schlafrhythmus und der natürliche Schlafdruck gemeinsam darauf hin, dass abends der Schlafdruck massiv zunimmt und der Mensch veranlasst wird zu schlafen. Im Rahmen der Nachtarbeit hingegen wird der lineare Schlafdruck immer weiter erhöht. Da der biologische Schlafdruck um 3 Uhr herum seinen Höhepunkt erreicht22, treffen in diesem Zeitpunkt ein hoher linearer Schlafdruck und ein hoher biologischer Schlafdruck zusammen. Dies erhöht das Risiko gegenüber der Arbeit am Tage
21 Habich, Sicherheits- und Gesundheitsschutz durch die Gestaltung von Nacht- und Schichtarbeit und die Rolle des Betriebsrats, S. 14. 22 Habich, Sicherheits- und Gesundheitsschutz durch die Gestaltung von Nacht- und Schichtarbeit und die Rolle des Betriebsrats, S. 17.
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für Arbeitnehmer, die einen identischen linear angestiegenen Schlafdruck haben, massiv. Denn bildlich gesprochen arbeitet die biologische Uhr tagsüber „für“, nachts „gegen“ sie. Daraus resultiert eine erhöhte Fehlerquote bei der Arbeit zwischen 3 und 4 Uhr.23 Dabei zeigt sich, dass die Fehlerquote bei geistiger Tätigkeit höher ist als bei physischer.24Nunmehr kommt ein weiterer, das Problem verschärfender Aspekt hinzu. Wer nachts arbeitet, kann gegenüber einem Tagarbeiter nicht gleichwertig schlafen.25 Dies überrascht zunächst, baut der Nachtarbeiter doch den gleichen linearen Schlafdruck auf wie jemand, der die gleiche Zeit gearbeitet hat. Nunmehr ist aber der natürliche Schlafrhythmus statistisch betrachtet rund um 9 Uhr am stärksten auf einen Wachdruck gerichtet. Dies führt dazu, dass es trotz erheblicher Müdigkeit schwerer fällt, einzuschlafen. Insgesamt weist solcher Schlaf nur einen verminderten Erholungswert auf. Überhaupt lässt sich nachweisen, dass das Schlafdefizit von Nachtarbeitern nicht durch die gleiche Menge Schlaf zu anderen Zeiten qualitativ gleichwertig ausgeglichen werden kann, weil die Nachtarbeit allgemein die Schlafqualität beeinträchtigt26. Die bisher beschriebenen Effekte gleichen denen eines Jetlags bei Flugreisenden, weswegen auch vom „shift lag syndrome“ die Rede ist.27 Durch die verschobenen Wach-/Schlafzeiten und die damit ebenfalls dissynchronisierten Zeiten der Nahrungsaufnahme, treten bei Nachtarbeitnehmern auch häufig Appetitstörungen, Verdauungsstörungen, Sodbrennen, Bauchschmerzen, chronische Gastritis, Magen-/Zwölffingerdarmentzündungen, Magengeschwüre und Dickdarmentzündungen auf.28 Hinzu kommt ein weiterer gesundheitlich belastender Effekt. Der Nachtarbeitnehmer kann sich regelmäßig aus sozialen Gründen nur begrenzt einen individuellen Tagesrhythmus zulegen. Wer Familie und Freunde hat, wird diese nicht ständig auf den für die Arbeit erforderlichen Schlafrhythmus verweisen können. Wer kleine Kinder hat wird zudem erkennen, dass diesen die Notwendigkeiten der Anpassung des Schlafverhaltens an Nachtarbeit nur begrenzt zu vermitteln ist. Die Störungen des sozialen Lebens, die durch Schicht- und Nachtarbeit verursacht werden, wirken häufig negativ auf das gesundheitliche Befinden zu23 Habich, Sicherheits- und Gesundheitsschutz durch die Gestaltung von Nacht- und Schichtarbeit und die Rolle des Betriebsrats, S. 17. 24 Habich, Sicherheits- und Gesundheitsschutz durch die Gestaltung von Nacht- und Schichtarbeit und die Rolle des Betriebsrats, S. 17. 25 European Agency for Safety and Health at Work, Expert forecast on emerging psychosocial risks related to occupational safety and health, S. 44; Habich, Sicherheitsund Gesundheitsschutz durch die Gestaltung von Nacht- und Schichtarbeit und die Rolle des Betriebsrats, S. 11. 26 European Agency for Safety and Health at Work, Expert forecast on emerging psychosocial risks related to occupational safety and health, S. 44. 27 European Agency for Safety and Health at Work, Expert forecast on emerging psychosocial risks related to occupational safety and health, S. 44. 28 Habich, Sicherheits- und Gesundheitsschutz durch die Gestaltung von Nacht- und Schichtarbeit und die Rolle des Betriebsrats, S. 12.
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rück.29 Des weiteren werden Arbeitnehmer durch Schichtwechsel immer wieder aufs Neue in ihrem Schlafrhythmus gestört.30 Schließlich bestehen auch psychische Belastungen durch Nachtarbeit. So legen neuere Studien, die allerdings den Mangel aufweisen, die Disposition der Versuchsgruppe nicht vorab untersucht zu haben, nahe, dass Nachtarbeitnehmer einem erhöhten Risiko für Depressionen und Angststörungen aufweisen.31 Mit der ständig wechselnden Dissynchronisation von Arbeitsrhythmus und Biorhythmus gehen insbesondere folgende Erkrankungen einher: Schlafstörungen und chronische Müdigkeit, Verdauungsstörungen und Herzrhythmusstörungen. Überhaupt wird das körperliche Wohlbefinden beeinträchtigt. Daher sollten Nachtarbeitsschichten grundsätzlich kürzer sein, als Früh- oder Spätschichten. Teilweise wird im Schrifttum zwar behauptet, je nach Art und Schwere der Tätigkeit könnten auch 12-Stunden-Schichten als vorteilhaft erscheinen, wenn dadurch zusätzliche freie Tage erzeugt würden.32 Diese Behauptung ist aber nur dann zutreffend, wenn die Verlängerung der Arbeitszeit auch tatsächlich an diese Voraussetzungen gebunden wird und berücksichtigt wird, dass die dargestellten Risiken der Übermüdung und Fehleranfälligkeit hierdurch in Kauf genommen werden. b) Befunde über den Arbeitszeitrhythmus Auch die Verteilung der Arbeitszeit über den Tagesverlauf ist Gegenstand des verfassungsrechtlich gebotenen Arbeitszeitschutzes.33 Diese Erkenntnis ist deshalb von Bedeutung, weil das BVerfG auch psychisch relevante Faktoren, wie etwa die Möglichkeit einer aktiven Teilhabe am Rhythmus des öffentlichen Lebens und der Freizeitgestaltung anderer in die Schutzfunktion des Arbeitszeitschutzes integriert hat.34 Diese Sichtweise ist im arbeitsschutzrechtlichen Schrifttum unbestritten.35 Man kann diese Funktion auch schwerpunktmäßig im allgemeinen Persönlichkeitsrecht der Arbeitnehmer und ihrer Menschenwürde 29 European Agency for Safety and Health at Work, Expert forecast on emerging psychosocial risks related to occupational safety and health, S. 44. 30 Habich, Sicherheits- und Gesundheitsschutz durch die Gestaltung von Nacht- und Schichtarbeit und die Rolle des Betriebsrats, S. 6. 31 European Agency for Safety and Health at Work, Expert forecast on emerging psychosocial risks related to occupational safety and health, S. 44. 32 Anzinger/Koberski, ArbZG, § 6, Rn. 32. 33 BVerfG 9.6.2004, NJW 2004, 2363 (2365). 34 BVerfG 9.6.2004, NJW 2004, 2363 (2365, 2367); European Agency for Safety and Health at Work, Expert forecast on emerging psychosocial risks related to occupational safety and health, S. 44; Habich, Sicherheits- und Gesundheitsschutz durch die Gestaltung von Nacht- und Schichtarbeit und die Rolle des Betriebsrats, S. 16. 35 Mußhoff in: Arbeitsrecht/Arbeitsschutzrecht, S. 419 (421); Neumann/Biebl, ArbZG, § 6, Rn. 4, 5; European Agency for Safety and Health at Work, Expert forecast on emerging psychosocial risks related to occupational safety and health, S. 44.
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geschützt sehen. Aber die entsprechenden Möglichkeiten haben Rückwirkungen auf das psychische Wohlbefinden von Beschäftigten und sind deshalb auch der Dimension des Gesundheitsschutzes zuzuschlagen. Die Erfüllung dieser Dimension des Arbeitszeitschutzes durch das Arbeitszeitrecht hat das BVerfG als nicht gesichert angesehen. Denn dieses bot im Verhältnis zum, im Zeitpunkt der Entscheidung noch restriktiver als heute gefassten Ladenschlussrecht keinen gleichermaßen wirksamen Schutz.36 Die gesundheitliche Bedeutung des Arbeitszeitrhythmus und insbesondere der Schichtwechsel ist erheblich. Die bereits dargestellten Möglichkeiten der Störung des Tag-Nacht-Rhythmus bergen nicht zu unterschätzende Gesundheitsgefährdungen.37 Auch unzureichend konzipierte Schichtpläne und Arbeitszeitsysteme beinhalten ein erhebliches gesundheitsschädigendes Potenzial.38 Dies gilt insbesondere für die Nachtarbeit.39 Schichtmodelle erfordern zwar für ihre gesundheitliche Bewertung eine Einbeziehung der konkreten Arbeitsform. Dennoch hat die Forschung im Bereich der Nacht- und Schichtarbeit folgende arbeitswissenschaftlichen Erkenntnisse gebracht.40 – Nachtarbeit sollte in möglichst kurzen Schichtfolgen erbracht werden; es sollten in der Regel nicht mehr als 2 bis 4 Nachtschichten aufeinanderfolgen. – Zwischen den Arbeitsschichten sollten ausreichende Ruhezeiten liegen. – Es sollten regelmäßig freie Wochenenden ermöglicht werden. – Arbeitsperioden von 8 oder mehr Tagen sollten vermieden werden. – Die Schichten sollten vorwärts wechseln, also zunächst Früh-, dann Spät-, dann Nachtschicht. – Die Übergabezeiten sollten flexibel sein. – Es sollten Spielräume für individuelle Wünsche der Arbeitnehmer bestehen und diese sollten rechtzeitig über die Schichtpläne informiert werden. Nachtarbeit ist dabei kein vereinzeltes Phänomen. Im Jahr 2004 waren nahe 5 Millionen Erwerbstätige nachts tätig, davon über 2,7 Millionen ständig oder regelmäßig. In Kombination mit der Zahl von 4,7 Millionen Erwerbstätigen in Wechselschicht, davon über 4,2 Millionen regelmäßig oder ständig, erfasst die Nacht- und Schichtarbeit einen erheblichen Teil der berufstätigen Bevölkerung.41 36
BVerfG 9.6.2004, NJW 2004, 2363 (2365). Neumann/Biebl, ArbZG, § 6, Rn. 4. 38 Mußhoff in: Arbeitsrecht/Arbeitsschutzrecht, S. 419 (430). 39 Neumann/Biebl, ArbZG, § 6, Rn. 4. 40 Anzinger/Roggendorff, ZTR 1996, 52 (56); Mußhoff in: Arbeitsrecht/Arbeitsschutzrecht, S. 419 (430); European Agency for Safety and Health at Work, Expert forecast on emerging psychosocial risks related to occupational safety and health, S. 48. 41 Statistisches Bundesamt Mikrozensus 2004, zitiert nach Mußhoff in: Arbeitsrecht/ Arbeitsschutzrecht, S. 419 (431). 37
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Neuere Studien legen nahe, dass Nachtarbeit zu einem erhöhten Krebsrisiko führt.42 Besonders intensiv scheint sich dies nach neueren Erkenntnissen für Brustkrebs zu bestätigen.43 Nacht- und Schichtarbeit beschleunigen das Wachstum von Tumoren.44 Ebenso zeigen sich bei Schicht- und Nachtarbeitern verlängerte Krankheitszeiten, was auf eine Beeinträchtigung der Funktionsfähigkeit des Immunsystems hindeutet. Unregelmäßige Arbeitszeiten und die damit verursachten Störungen des Biorhythmus führen zu einer besonders herabgesetzten Leistungsfähigkeit am Morgen.45 c) Arbeitszeitlänge Auch die Arbeitszeitlänge hat eine erhebliche Bedeutung für die Gesundheit der Arbeitnehmer und zwar unabhängig von ihrer zeitlichen Lage. Auch hier zeigen sich ähnliche Effekte wie bei der Nachtarbeit. Lange Arbeitszeiten führen zu einer Erhöhung von Stresssymptomen und Ermüdungserscheinungen und steigern damit das Unfallrisiko.46 Von besonderer Bedeutung ist dabei, dass bei der Arbeitszeitlänge die Abnahme der Leistungsfähigkeit nicht wie beim Schlafdruck in linearer Weise, sondern exponentiell erfolgt. Das Ausmaß dieses Wachstums hängt zwar auch mit der jeweiligen Arbeitsschwere zusammen, ändert aber nichts an der exponentiellen Zunahme von Ermüdung und psychischer Belastung47 sowie der gesundheitlichen Belastung, die die Arbeit bedeutet.48 Man kann daher sagen, dass entscheidend für die gesundheitliche Belastung auch und gerade die Länge der Arbeitsabschnitte, nicht nur die absolute wöchentliche Arbeitszeit ist. Denn durch die Verlängerung der Arbeitszeit werden, nicht nur durch die Ermüdungserscheinun-
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Davis/Mirick/Stevens, JNCI, S. 1557 ff. Straif/Baan/Grosse/Secretan/Ghissassi/Bouvard/Altieri/Benbrahim-Tallaa/Cogliano, The Lancet Oncology, Vol. 8, Issue 12, S. 1065; anders noch European Agency for Safety and Health at Work, Expert forecast on emerging psychosocial risks related to occupational safety and health, S. 44. 44 Straif/Baan/Grosse/Secretan/Ghissassi/Bouvard/Altieri/Benbrahim-Tallaa/Cogliano, The Lancet Oncology, Vol. 8, Issue 12, S. 1065. 45 European Agency for Safety and Health at Work, Expert forecast on emerging psychosocial risks related to occupational safety and health, S. 44. 46 Lamond/Dawson, J. Sleep Res. 8 (1999), 255 ff.; Mußhoff in: Arbeitsrecht/Arbeitsschutzrecht, S. 419 (421); ob sich die Unfallzahlen tatsächlich bei Nachtarbeit gesteigert haben ist dennoch noch nicht gesichert; Habich, Sicherheits- und Gesundheitsschutz durch die Gestaltung von Nacht- und Schichtarbeit und die Rolle des Betriebsrats, S. 18. 47 Richter/Merkel/Streit/Haeslich/Strakow/Engel, Wie belastet sind Ärzte mit Bereitschaftsdienst? Eine Belastungs-Beanspruchungs-Analyse bei sächsischen Krankenhausärzten, S. 8. 48 Mußhoff in: Arbeitsrecht/Arbeitsschutzrecht, S. 419 (420). 43
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gen, erhebliche Gefährdungspotenziale für langfristige Gesundheitsschäden gesetzt.49 Auch kurzfristig erhöhen sich die Risiken durch Arbeitsfehler, die aus verlängerten Arbeitszeiten resultieren.50 Hinsichtlich der Länge der Arbeitszeit wird auf Basis dieser Befunde, nach unbestrittener Auffassung in der arbeitsmedizinischen Wissenschaft, eine tägliche Arbeitszeit von 8 Stunden als allgemeine Richtlinie empfohlen.51 Nach dieser Zeit steigen das Unfallrisiko und die Gefahr von Selbstverletzungen bei risikobehafteten Tätigkeiten, die Leistungsfähigkeit nimmt deutlich ab.52 Es zeigt sich, dass ab der 9. Arbeitsstunde die Aufmerksamkeit abnimmt, die Müdigkeit steigt, die kognitiven Fähigkeiten beeinträchtigt werden und die Ermattung zunimmt.53 Dennoch ist darauf hinzuweisen, dass die Gesundheitsschädlichkeit langer Arbeitszeiten lange Zeit nicht im gleichen Umfang belegt war wie die der Nachtarbeit.54 Viele der Forschungsergebnisse deuteten zwar auf erhebliche gesundheitliche Negativeffekte hin, dennoch wurde bislang angenommen, dass Überarbeit regelmäßig eher zu psychischen und sozialen Negativeffekten führt, die kombiniert mit Arbeitsfehlern auch die Gesundheit beeinträchtigen können. Demgegenüber lässt sich nachweisen, dass bereits tägliche Arbeitszeiten von über 12 Stunden mit einer 37% höheren Rate und wöchentliche Arbeitszeiten von über 60 Stunden mit einer um 23% höheren Rate an arbeitsbedingten Unfällen und Erkrankungen verbunden sind.55 Neuere Studien speziell zum ärztlichen Dienst zeigen demgegenüber weitergehende gesundheitsgefährdende Aspekte auf.56 Als Beispiel sei hier nur die verstärkte Zunahme von Nadelstichverletzungen mit dem Risiko von Infektionen, die als Folge überlanger Arbeitszeiten im ärztlichen Bereich zu beobachten sind, genannt.57
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Mußhoff in: Arbeitsrecht/Arbeitsschutzrecht, S. 419 (420). Ayas/BargerCade/Hashimoto/Rosner/Cronin/Speizer/Czeisler, JAMA 296 (2006), 1055 ff. 51 Mußhoff in: Arbeitsrecht/Arbeitsschutzrecht, S. 419 (420); European Agency for Safety and Health at Work, Expert forecast on emerging psychosocial risks related to occupational safety and health, S. 48. 52 Ayas/BargerCade/Hashimoto/Rosner/Cronin/Speizer/Czeisler, JAMA 296 (2006), 1055 ff.; Seifert, APuZ 2008/19; European Agency for Safety and Health at Work, Expert forecast on emerging psychosocial risks related to occupational safety and health, S. 45, 47. 53 European Agency for Safety and Health at Work, Expert forecast on emerging psychosocial risks related to occupational safety and health, S. 45. 54 European Agency for Safety and Health at Work, Expert forecast on emerging psychosocial risks related to occupational safety and health, S. 44. 55 Füllekrug in: Arbeitszeitgestaltung im ärztlichen Dienst und Funktionsdienst des Krankenhauses, S. 13, m.w. N. 56 Vgl. dazu Füllekrug in: Arbeitszeitgestaltung im ärztlichen Dienst und Funktionsdienst des Krankenhauses, S. 5 (7 ff.); Lamond/Dawson, J. Sleep Res. 8 (1999), 255 ff. 57 Dabei verletzten sich die Ärzte aufgrund von Sekundenschlaf während des Injektionsvorgangs und verringerte Koordinationsfähigkeit mit den Nadeln selbst, vgl. Ayas/ BargerCade/Hashimoto/Rosner/Cronin/Speizer/Czeisler, JAMA 296 (2006), 1055 ff. 50
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Neben der Länge der täglichen Arbeitszeit haben auch die Ruhezeiten, also die Zeiten, die zwischen 2 Arbeitseinsätzen liegen58, eine besondere Bedeutung für den Gesundheitsschutz.59 Diese dienen ebenso wie die Höchstarbeitszeiten dazu, Möglichkeiten zur Regeneration zu schaffen und Gesundheit und Arbeitskraft zu erhalten.60 Beide Erkenntnisse bezüglich der Ruhezeiten und der Arbeitszeit kommen im Arbeitszeitgesetz unmittelbar zum Ausdruck. Die §§ 3 bis 5 ArbZG sind unmittelbare Umsetzungen arbeitswissenschaftlicher Erkenntnisse, die insofern durch die Übernahme durch den Gesetzgeber zu einer Grundwertung des Arbeitszeitrechts werden.61 Die Länge der Arbeitszeit und der Erholungsphasen wird gesetzlich zwingend geregelt, um den Gesundheitsschutz sicher zu stellen. Dies Grundwertung hebt § 7 Abs. 2a ArbZG allerdings, wie noch zu zeigen ist, weitgehend auf. d) Fehlende Möglichkeit der subjektiven Selbstkontrolle Das Arbeitszeitrecht in seiner gesetzlichen Form bietet ein Paradebeispiel für die Insuffizienz des Paternalismusvorwurfs gegenüber gesetzlichen Arbeitsschutzvorschriften. Die Überlegung, dass der Einzelne besser wisse, welchen gesundheitlichen Risiken er sich aussetze, kann im Arbeitszeitrecht vollumfänglich über Bord geworfen werden. Zwar führt die Mitbestimmungsmöglichkeit des Arbeitnehmers bei der Arbeitszeit regelmäßig dazu, dass die „work-life-Balance“ als besser empfunden wird, was auch Rückwirkungen auf die Gesundheit haben kann. Dennoch sind Arbeitnehmer häufig nicht in der Lage, sich autonom für ein gesundheitlich möglichst unschädliches Modell zu entscheiden. Dies hat soziale Gründe, vor allem aber auch biologische. Menschen, die nachts arbeiten, können dies durchaus subjektiv als positiv empfinden. Da sie jedoch ihren biologischen Tag-Nacht-Rhythmus nicht steuern können, können sie nicht verhindern, dass sie während der Nachtarbeit ihre herabgesetzte Leistungsfähigkeit kompensieren müssen und damit grundsätzlich einer erhöhten gesundheitlichen Belastung ausgesetzt sind.62 Im Übrigen ist gerade hinsichtlich der Langzeitfolgen von Nachtarbeit darauf hinzuweisen, dass Beschäftigte diese häufig nicht hinreichend berücksichtigen (können), weil diese schleichend im Verlauf der Beschäftigung eintreten. Zwar 58 Das Gesetz selbst definiert den Begriff nicht, zur Auslegung vgl. Anzinger/Koberski, ArbZG, § 5, Rn. 4 ff.; Buschmann/Ulber, J., ArbZG, § 5 Rn. 2. 59 Anzinger/Koberski, ArbZG, § 5, Rn. 3. 60 Anzinger/Koberski, ArbZG, § 5, Rn. 3. 61 BT-Drs. 12/5888, S. 22; Habich, Sicherheits- und Gesundheitsschutz durch die Gestaltung von Nacht- und Schichtarbeit und die Rolle des Betriebsrats, S. 170. 62 Habich, Sicherheits- und Gesundheitsschutz durch die Gestaltung von Nacht- und Schichtarbeit und die Rolle des Betriebsrats, S. 9.
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hat die subjektive Wahrnehmung also Rückwirkungen auf den Gesundheitszustand, aber die gesundheitsschädlichen Langzeitwirkungen lassen sich hierdurch nicht kompensieren. Hinsichtlich der sozialen Dimension des Arbeitszeitschutzes ist zu verzeichnen, dass Arbeitnehmer häufig eine Schicht- und Arbeitszeitgestaltung präferieren, die besonders gesundheitsschädlich ist. Zunächst einmal messen Arbeitnehmer freien Tagen eine höhere Bedeutung zu als täglicher Freizeit. Daher sind sie regelmäßig bereit, die tägliche Arbeitszeit auszudehnen, um sich geblockte Freizeit zu „erarbeiten“. Genau diese Art der Arbeitszeitgestaltung ist aber gesundheitlich bedenklich, vor allem mit Blick auf langfristige Gesundheitsschäden.63 Dies liegt an der exponentiellen Zunahme der Gesundheitsbelastung bei über 8 Stunden hinaus verlängerten Arbeitszeiten und dem hierduch erhöhten Unfallund Erkrankungsrisiko. Schließlich ist noch auf ein Sonderproblem im ärztlichen Bereich zu verweisen. Durch die bereits im Studium vorhandenen extremen psychischen Belastungen durch Arbeits- und Leistungsdruck, bildet sich bei herangehenden Medizinern oftmals eine besondere Empfänglichkeit und unkritische Bereitschaft heraus, gesundheitsschädigende Arbeitsbedingungen bei der Ausübung ihres Berufes zu akzeptieren.64 Dass der erhöhte Missbrauch von Beruhigungs- und Aufputschmitteln, der bei Ärzten zu beobachten ist, einen Zusammenhang mit den langen Arbeitszeiten im Krankenhaus aufweist, ist naheliegend, wenn auch bislang nicht nachgewiesen.65 Bemerkenswert ist auch die gestörte Selbstwahrnehmung von Ärzten, die Ermüdungserscheinungen regelmäßig leugnen und eine erhebliche Unprofessionalität im Erkennen der eigenen Grenzen aufweisen.66 Das im Arbeitszeitrecht auch ökonomische Fehlanreize für den Gesundheitsschutz gesetzt werden ist ebenfalls problematisch. So sind tarifvertraglich häufig erhebliche Nachtarbeitszuschläge vereinbart, ebenso Zusatzvergütungen für Mehrarbeit. Ebenso bestehen bei Regelungen zu Bereitschaftsdiensten, Arbeitsbereitschaft und Rufbereitschaft, regelmäßig ökonomische Anreize für Arbeitnehmer, möglichst lange, nachts und in gesundheitlich besonders ungünstigen Arbeitszeitmodellen zu arbeiten. Die damit einhergehende Ökonomisierung des Gesundheitsschutzes durch tarifvertragliche Regelungen im Bereich des Arbeitszeitrechts ist problematisch, nicht nur, weil durch die gesundheitlichen Langzeitauswirkungen der Sozialversicherung in allen Zweigen erhebliche Mehrkosten entstehen, sondern auch, weil die Beschäftigten subjektiv die entsprechenden Ar63
Mußhoff in: Arbeitsrecht/Arbeitsschutzrecht, S. 419 (421). Füllekrug in: Arbeitszeitgestaltung im ärztlichen Dienst und Funktionsdienst des Krankenhauses, S. 5 (9). 65 Füllekrug in: Arbeitszeitgestaltung im ärztlichen Dienst und Funktionsdienst des Krankenhauses, S. 5 (10). 66 Füllekrug in: Arbeitszeitgestaltung im ärztlichen Dienst und Funktionsdienst des Krankenhauses, S. 5 (11). 64
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beitszeiten begrüßen, obwohl sie dies aus gesundheitlichen Gründen nicht dürften. Die hier bestehenden Fehlanreize sind nicht zu übersehen und werden durch staatliche Regelungen, wie die Steuerfreiheit für Nachtarbeitszuschläge (§ 3b Abs. 1 Nr. 1 EStG), noch gefördert. e) Arbeitsbereitschaft, Bereitschaftsdienst und Schlaf Von besonderer Bedeutung für die folgende Untersuchung ist die Frage der gesundheitlichen Auswirkungen von Bereitschaftsdiensten und Arbeitsbereitschaft, insbesondere dann, wenn diese nachts ausgeführt werden. Das Problem, wie die Begriffe trennscharf zu definieren sind, soll hier einstweilen dahinstehen. Es geht bei Arbeitsbereitschaft darum, dass keine Vollarbeit geleistet wird, sondern der Arbeitnehmer am Arbeitsplatz anwesend ist und diese jederzeit aufnehmen kann. Eine Kurzformel hierfür ist „zeitweise Aufmerksamkeit im Zustande der Entspannung“.67 Bei Bereitschaftsdienst hält sich der Arbeitnehmer an einem vom Arbeitgeber zugewiesenen Ort bereit, um jederzeit zur Arbeit zur Verfügung zu stehen, kann aber die Zeit, in der er nicht zur Arbeit gerufen wird, jedenfalls in der Theorie, mit Schlafen oder Erholung verbringen. Beide Tätigkeitsformen sind Arbeitszeit im Sinne des Arbeitszeitgesetzes.68 Soweit es die Arbeitsbereitschaft betrifft, so wird angenommen, diese verursache aufgrund der geringeren körperlichen Beanspruchung geringere gesundheitliche Beeinträchtigungen als Vollarbeit. Diese Annahme ist in dieser Pauschalität falsch. Denn die Arbeitnehmer können während der Arbeitsbereitschaft nicht schlafen, weil sie unmittelbar am Arbeitsplatz auf den Arbeitseinsatz warten. Der Grad der Beanspruchung soll dabei so reduziert sein, dass Phasen der Entspannung möglich sind. Dabei muss der Arbeitnehmer allerdings mit der jederzeitigen Möglichkeit der Arbeitsaufnahme rechnen. Dies führt nicht zu einer vollständigen, sondern zu einer eingeschränkten Entspannung.69 Das gleiche gilt für den Bereitschaftsdienst.70 Dieser liegt vor, wenn der Arbeitnehmer sich für Zwecke des Betriebs an einer vom Arbeitgeber bestimmten Stelle innerhalb oder außerhalb des Betriebs aufzuhalten hat, um erforderlichenfalls seine volle Arbeitstätigkeit unverzüglich aufnehmen zu können.71 Dabei kann eine Gelegenheit zum Schlafen bestehen, muss dies aber nicht.
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BAG 28.1.1981 DB 1981, 1195 (1196); Buschmann/Ulber, J., ArbZG, § 2, Rn. 16. Neumann/Biebl, ArbZG, § 2, Rn. 12. 69 Baeck/Deutsch, ArbZG, § 2, Rn. 37. 70 Richter/Merkel/Streit/Haeslich/Strakow/Engel, Wie belastet sind Ärzte mit Bereitschaftsdienst? Eine Belastungs-Beanspruchungs-Analyse bei sächsischen Krankenhausärzten, S. 7. 71 Buschmann/Ulber, J., ArbZG, § 2, Rn. 17. 68
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Beide Tätigkeitsformen zeichnen sich dadurch aus, dass sie gegenüber der Vollarbeit Phasen beinhalten, in denen der Arbeitnehmer nicht arbeitet. Jedenfalls im Krankenhausbereich werden Arbeitnehmer aber während der „Entspannungsphasen“ der Bereitschaftsdienste regelmäßig zu Routineaufgaben herangezogen und erledigen Aktenarbeit.72 Dass diese Tätigkeiten an sich nicht in die Bereitschaft gehören, wird in der Praxis ignoriert. Sobald das Zeitfenster für die Anwesenheit des Arztes im Krankenhaus geöffnet ist, werden weitere Anforderungen an die Art der Tätigkeiten im Bereitschaftsdienst weitestgehend ignoriert. Die praktische Überprüfbarkeit solchen Missbrauchs ist begrenzt. Diese tatsächlichen Schwierigkeiten zeigen, dass es jedenfalls beim Bereitschaftsdienst kaum möglich ist, die Arbeitszeit von der Ruhezeit zu unterscheiden. Die letztendlich konsequente Umsetzung dieser Problematik ist die arbeitszeitrechtliche Zuordnung des Bereitschaftsdienstes zur Arbeitszeit. Dennoch wird davon ausgegangen, dass die geringere Beanspruchung während dieser Dienste eine Ausweitung der Arbeitszeiten trägt. Diese Überlegung entspringt einem rückständigen unzeitgemäßen Verständnis einer industrialisierten Arbeitswelt, die primär von schwerer physischer Arbeit geprägt wird. In einer hoch entwickelten Dienstleistungsgesellschaft nehmen demgegenüber aber die Tätigkeiten mit kognitiven Belastungsfaktoren zu. In diesem Zusammenhang ist darauf zu verweisen, dass bei solchen Tätigkeiten der Schlafentzug zu einer weitaus stärkeren Beeinträchtigung der Leistungsfähigkeit führt als bei physischer Arbeit. Es ist in der Tat zu konstatieren, dass durch den geringeren physischen Einsatz der Arbeitnehmer geringere Belastungen dadurch entstehen, dass gegen den inneren Biorhythmus tatsächlich gearbeitet werden muss. Allerdings entstehen die gesundheitlichen Gefährdungen durch Nachtarbeit und Schichtarbeit auch und gerade durch den gestörten TagNacht-Rhythmus und die durch die Tätigkeit aufgebauten Schlafdefizite.73 Diese entstehen bei Bereitschaftsdienst und Arbeitsbereitschaft aber in genau dem gleichen Maße wie bei Vollarbeit. Es spielt dabei keine Rolle, dass während der Bereitschaftsdienste geschlafen werden kann. Echter Schlaf mit Erholungswert ist während dieser Dienste in der Regel unmöglich.74 Dies liegt am Schlafzyklus des Menschen, der eine Mindestschlafdauer benötigt, bis er den für die Erholung bedeutsamen Tiefschlaf erreicht hat. Durch die unregelmäßigen Unterbrechungen der Ruhephasen und die regelmäßig nebenbei anfallenden Routinearbeiten wer-
72 Rapatinski, RdA 2003, 328 (331); Richter/Merkel/Streit/Haeslich/Strakow/Engel, Wie belastet sind Ärzte mit Bereitschaftsdienst? Eine Belastungs-Beanspruchungs-Analyse bei sächsischen Krankenhausärzten, S. 4 f. 73 Ayas/BargerCade/Hashimoto/Rosner/Cronin/Speizer/Czeisler, JAMA 296 (2006), 1055 ff.; Lamond/Dawson, J. Sleep Res. 8 (1999), 255 ff. 74 Vgl. die Belastungsintervalle bei Bereitschaftsdienst bei Richter/Merkel/Streit/ Haeslich/Strakow/Engel, Wie belastet sind Ärzte mit Bereitschaftsdienst? Eine Belastungs-Beanspruchungs-Analyse bei sächsischen Krankenhausärzten, S. 5; Wank, ZRP 2003, 414.
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den solche vollen Schlafphasen häufig nicht erreicht werden können. So gehört es zu den Aufgaben von Ärzten, die Bereitschaftsdienst leisten, regelmäßig und aus eigener Initiative ihre Patienten zu überwachen und auf Anforderung sofort tätig zu werden.75 Sieht man die physischen Belastungen, die mit einem Aufwachen aus Tiefschlafphasen verbunden sind, so lässt sich sogar konstatieren, dass die Möglichkeit zu schlafen in einigen Fällen die Wahrscheinlichkeit von Arbeitsfehlern noch erhöht. Insofern kann eine geringere gesundheitliche Belastung durch Bereitschaftsdienst und Arbeitsbereitschaft nicht konstatiert werden, jedenfalls nicht in dieser Pauschalität. Die Ermüdungsprofile von Ärzten, die derartige Dienste leisten, weisen erhebliche Diskrepanzen zu denen von Arbeitnehmern ohne Bereitschaftsdienst auf. Die Ermüdungserscheinungen bei Erstgenannten sind signifikant höher als bei Letztgenannten.76 Die Annahme einer auch nur annähernden Kompensation durch die Schlafmöglichkeiten ist schlicht und ergreifend falsch. Der Erholungswert der Schlafphasen innerhalb von Bereitschaftsdiensten wird jedenfalls dann, wenn die Pausenintervalle nicht so lang sind, dass eine komplette Schlafphase absolviert werden kann (ca. 1,5 Stunden), bei 0 liegen. Dies betrifft insbesondere den ärztlichen Bereitschaftsdienst und solche Dienstformen, in denen die Arbeitsintervalle weitgehend von zufälligen Parametern beeinflusst werden. Nach den alten Regelungen zum Bereitschaftsdienst waren noch Schichtmodelle üblich, die nach 8 Stunden Vollarbeit 16 Stunden Bereitschaftsdienst mit unmittelbar anschließenden 8 Stunden Vollarbeit vorsahen.77 Aber auch bei einem lediglich auf Vollarbeit folgenden Bereitschaftsdienst ohne anschließende Vollarbeit zeigen sich erhebliche Ermüdungserscheinungen.78 Selbst dann, wenn in einem 24-stündigen Dienst 3 Stunden geschlafen werden kann, liegt die Leistungsfähigkeit eines Arztes etwa bei der eines mit 0,5 Promille alkoholisierten Menschen.79 Bei vollständigem Schlafentzug liegt der Vergleichswert bereits bei 1,0 Promille.80 Mit Blick auf die Schlafdefizite und den Biorhythmus ergibt sich also mit Arbeitsbereitschaft und Bereitschaftsdienst nur eine begrenzte Reduzierung der Gesundheitsbelastung. Weder kann effektiv Schlafdruck abgebaut werden, noch sind die Tätigkeiten notwendigerweise mit einer geringeren Stress- oder Arbeitsbelastung verbunden, wenn sie tatsächlich anfallen. Im Gegenteil, neben den Ermü-
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Rapatinski, RdA 2003, 328 (331). Richter/Merkel/Streit/Haeslich/Strakow/Engel, Wie belastet sind Ärzte mit Bereitschaftsdienst? Eine Belastungs-Beanspruchungs-Analyse bei sächsischen Krankenhausärzten, S. 7 f. 77 Wank, ZRP 2003, 414. 78 Richter/Merkel/Streit/Haeslich/Strakow/Engel, Wie belastet sind Ärzte mit Bereitschaftsdienst? Eine Belastungs-Beanspruchungs-Analyse bei sächsischen Krankenhausärzten, S. 7. 79 Arnedt/Owens/Crouch/Stahl/Carskadon, JAMA 294 (2005), 1025. 80 Lamond/Dawson, J. Sleep Res. 8 (1999), 255 ff. 76
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dungserscheinungen nimmt auch die Anstrengung durch die Arbeit im Verlauf der Dienste statistisch signifikant zu.81 Im Ergebnis ist daher die Wertung des Gesetzgebers, dass beide Dienstformen als Arbeitszeit anzusehen sind, zutreffend. Ebenso sachlogisch ist dann, dass beide Dienstformen nach § 3 ArbZG ebenso einer zeitlichen Höchstgrenze unterliegen wie Vollarbeit. Dieser Grundsatz sorgt dafür, dass den gesundheitlichen Belastungen und den durch die Ermüdung verursachten Risiken dieser Dienstformen Rechnung getragen wird. f) Rechtstatsächliche Veränderungen des Schutzniveaus Schließlich ist darauf hinzuweisen, dass sich die gesundheitsgefährdenden Potenziale der Arbeitszeitgestaltung in den letzten Jahren massiv ausgeweitet haben. So hat sich die Arbeitszeitrealität in Deutschland vom gesetzlichen Ausgangspunkt des 8-Stunden-Tages faktisch völlig gelöst. Insbesondere durch die tarifvertraglichen Abweichungsmöglichkeiten ist die ungleiche Verteilung der Arbeitszeit auf Wochen, Tage oder Jahreszeiten, mittlerweile der Regelfall.82 Diese Entwicklung wird begleitet durch weitere Formen der Flexibilisierung von Arbeitszeiten, die dazu geführt haben, dass bereits 2005 mehr als die Hälfte der Arbeitnehmer in flexiblen Arbeitszeitmodellen beschäftigt waren.83 Betrachtet man einzelne tarifvertragliche Regelungen zur Arbeitszeit, so lässt sich mit Blick auf die gesicherten arbeitsmedizinischen Erkenntnisse zur Schichtund Nachtarbeit sagen, dass diese im hohen Maße auf eine Verbetrieblichung der Arbeitszeitgestaltung durch Betriebsvereinbarungen hinaus laufen.84 Eine besondere Form des Arbeitszeitschutzes bestand lange Zeit im Einzelhandel. So konnte lange Zeit davon ausgegangen werden, dass ein Teil des Arbeitszeitschutzes über die Regelungen des Ladenöffnungsrechts erfolgte. Dieses ist aber im Zuge einer fortschreitenden Deregulierung als sektorale Sicherung des Gesundheitsschutzes im Einzelhandel nahezu vollständig entfallen. Jedenfalls kann es einen Teil seiner ursprünglichen Funktion, nämlich die Einhaltung des Arbeitszeitschutzes durch Vereinfachung der Überwachung sicherzustellen, nicht mehr oder nur noch begrenzt erfüllen.85 Jedenfalls die Vereinfachungsfunktion für die behördliche Kontrolle ist entfallen.86 Dennoch zeigt gerade das Laden81 Richter/Merkel/Streit/Haeslich/Strakow/Engel, Wie belastet sind Ärzte mit Bereitschaftsdienst? Eine Belastungs-Beanspruchungs-Analyse bei sächsischen Krankenhausärzten, S. 7. 82 Mußhoff in: Arbeitsrecht/Arbeitsschutzrecht, S. 419 (421). 83 Mußhoff in: Arbeitsrecht/Arbeitsschutzrecht, S. 419 (420). 84 Hoffmann/Kischewski/Lerch, AiB 2008, 389 (390). 85 BVerfG 9.6.2004, NJW 2004, 2363 (2365); Schunder, NJW 2003, 2131 (2132). 86 BVerfG 9.6.2004, NJW 2004, 2363 (2365).
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schlussrecht, dass hinsichtlich der Anforderungen des Gesundheitsschutzes durchaus ein Bedürfnis nach einer nach Branchen oder bestimmten Besonderheiten des Tätigkeitsbereichs differenzierten Arbeitszeitgestaltung bestehen kann.87 Weniger deshalb, weil eine politisch erwünschte Binnendifferenzierung legitimiert werden soll, als deshalb, weil der Verzicht auf den grundrechtlichen Schutz vor übermäßiger Arbeitsbelastung durch den Gesetzgeber seinerseits im Rahmen der Angemessenheitsprüfung der Schutzpflichtenerfüllung gegen kollidierende Grundrechtspositionen abzuwägen ist. Je nach Art der Tätigkeit kann hier ein Verzicht auf Schutz möglicherweise in größerem oder geringerem Umfang akzeptiert werden. g) Der „Schutz“ durch den Tarifvertrag Soweit das Arbeitszeitgesetz Abweichungen durch Tarifvertrag zulässt, geht es davon aus, dass die Tarifvertragsparteien für angemessene gesundheitsverträgliche Lösungen sorgen werden. Diese Annahme hat mit den Realitäten der Tariflandschaft nur wenig zu tun. Die Tarifvertragsparteien neigen häufig dazu, sofern sie von den Abweichungsbefugnissen Gebrauch machen, diese weitgehend und ohne eigene Regelungen auf die Betriebsverfassungsparteien zu delegieren.88 Damit wird die Annahme eines angemessenen Interessenausgleichs auf tarifautonomer Ebene rechtstatsächlich weitgehend nivelliert. Die Befugnis der Tarifvertragsparteien, Abweichungen auch durch die Betriebsverfassungsparteien zuzulassen, wird in der Praxis jedenfalls teilweise als vollumfängliche Subdelegationsbefugnis interpretiert. Lediglich hinsichtlich der Ausgleichszeiträume für Verlängerungen nach § 7 Abs. 1 Nr. 1b ArbZG werden regelmäßig in Tarifverträgen Regelungen getroffen.89 Da es aber an einer Ausgleichspflicht bei § 7 Abs. 2a ArbZG fehlt, fehlen solche Regelungen in tarifvertraglichen Vorschriften, die auf § 7 Abs. 2a ArbZG gestützt werden, regelmäßig. Insofern wird im Schrifttum darauf hingewiesen, dass es kaum denkbar sei, dass die Tarifvertrags- oder Betriebsverfassungsparteien dem Schutzbedürfnis der Nacht- und Schichtarbeitnehmer umfassend Rechnung tragen.90 Die tariflichen Regelungen im TV-L Ärzte greifen bereits auf die Möglichkeiten des § 7 Abs. 2a ArbZG zurück. Sie lassen eine Erweiterung der wöchentlichen Arbeitszeit auf 58 Stunden zu. Diese kann im Einzelfall auf bis zu
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BVerfG 9.6.2004, NJW 2004, 2363 (2365). Hoffmann/Kischewski/Lerch, AiB 2008, 389. 89 Bispinck, Immer flexibler – immer länger, S. 3; die Studie verzichtet allerdings auf die Berücksichtigung von Nacht- und Schichtarbeit (S. 4); Hoffmann/Kischewski/Lerch, AiB 2008, 389. 90 Habich, Sicherheits- und Gesundheitschutz durch die Gestaltung von Nacht- und Schichtarbeit und die Rolle des Betriebsrats, S. 201. 88
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66 Stunden ausgedehnt werden (§ 41 TVL Nr. 3/§ 7 TVL-Ärzte).91 Die Schichten können bis zu 24 Stunden am Stück betragen, der maximal mögliche werktägliche Arbeitszeitkorridor wird also voll ausgeschöpft. Ähnliche Regelungen finden sich im TVÖD-BT-K § 45 für Ärzte. Auch der vom Marburger Bund mit der Vereinigung der kommunalen Arbeitgeberverbände geschlossene Tarifvertrag (TV-Ärzte/VKA) enthält in § 10 Abs. 5 eine Öffnungsklausel nach § 7 Abs. 2a ArbZG, die eine regelmäßige wöchentliche Arbeitszeit von 60 Stunden zulässt, die im Einzelfall auf durchschnittlich 66 Stunden erweitert werden kann. Die Tarifvertragsparteien sehen zum Schutz der Arbeitnehmer vor, dass bevor von diesen Möglichkeiten Gebrauch gemacht wird, alternative Arbeitszeitmodelle geprüft werden, eine Belastungsanalyse nach § 5 ArbSchG durchgeführt wird und gegebenenfalls aus dieser Maßnahmen zur Gewährleistung des Gesundheitsschutzes entwickelt werden (§§ 10 Abs. 2, 5, 6 TV-Ärzte/VKA).92 Insgesamt enthalten die Tarifverträge für den ärztlichen Dienst weitgehende Gestaltungsmöglichkeiten, wie etwa 24 Stunden Dienst unter Einschluss von 8 Stunden Regeldienst unabhängig von der Intensität des Bereitschaftsdienstes, was auf Basis der Bereitschaftsdienstregelungen zu einer potenziellen Gesamtvollarbeit von 15,8 Stunden innerhalb eines Dienstes führen kann.93 Dass diese Grenzen in der Praxis eingehalten werden, ist allerdings zu bezweifeln. Überhaupt wird die Ausdehnung der täglichen Arbeitszeit auf bis zu 24 Stunden in nahezu allen tarifvertraglichen Regelungen, die von den Abweichungsbefugnissen des § 7 ArbZG Gebrauch machen, eröffnet.94 Besonders bemerkenswert ist der Tarifvertrag des Deutschen Handelsgehilfenverbandes (DHV), einer Christlichen Gewerkschaft mit dem Bundesverband Deutscher Privatkliniken e. V. (BDPK). Dieser enthält eine Regelung, die die Verlängerung auf 24 Stunden werktäglicher Arbeitszeit bei einer Obergrenze von 58 Stunden im Durchschnitt zulässt. Besondere Regelungen zum Gesundheitsschutz sind, abgesehen von der zeitlichen Obergrenze, nicht enthalten. Es wird schlicht der Gesetzeswortlaut wiedergegeben und mit einer zeitlichen Obergrenze versehen.95 Die sonstigen Tarifverträge sehen zumindest eine Belastungsanalyse nach § 5 ArbSchG vor. Es ist allerdings auch darauf hinzuweisen, dass der TV Ärzte/VKA sogar eine durchschnittliche wöchentliche Arbeitszeit von bis zu 66 Stunden ermöglicht.
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Mayer, AiB 2008, 307 (309). Vgl. hierzu Mayer, AiB 2008, 301 (309). 93 Schlottfeld/Herrmann, Arbeitszeitgestaltung in Krankenhäusern und Pflegeeinrichtungen, S. 45. 94 Vgl. § 41 TVL Nr. 4; § 7 Abs. 4 und 5 TV Ärzte (Marburger Bund); § 45 TVöD BT-K; § 7 TVöD-B für Pflege und Betreuungseinrichtungen; § 10 TV Ärzte/VKA und § 15 BDPK/DHV. 95 TV zitiert nach Schlottfeldt/Herrmann, Arbeitszeitgestaltung in Krankenhäusern und Pflegeeinrichtungen, S. 272. 92
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h) Zusammenfassung Die Befunde zur gesundheitsschädlichen Wirkung überlanger Arbeitszeiten sind erdrückend. Dies gilt insbesondere dann, wenn sie mit verkürzten oder unzureichenden Ruhepausen und Regenerationsphasen verknüpft werden. Dies gilt insbesondere für die Nachtarbeit. Die Gesundheitsrisiken werden dabei maßgeblich durch die Länge der Nachtarbeit und ihre Häufigkeit gesteuert. Ebenso bedeutsam sind ausreichende Ruhezeiten nach den Schichten. Mit Blick auf die besondere Bedeutung des Schlafs für die Gesundheit ist jede Zulassung von Nachtarbeit als Gefährdung der Gesundheit von Arbeitnehmern zu bewerten. Dass dabei die konkrete Ausgestaltung das Risiko steigern oder mindern kann, ist ebenso deutlich. Insbesondere für die Frage des Schichtsystems ist darauf hinzuweisen, dass es kein einziges optimales Schichtsystem gibt, jedoch die Rahmenbedingungen für ein solches durchaus zu ermitteln sind und in konkrete Schranken umgesetzt werden könnten. Will man einen wirksamen Gesundheitsschutz durch Arbeitszeitregulierung erreichen, so ist insbesondere die Nachtarbeit strikt zu begrenzen. Sie bedarf gegenüber der Normalarbeitszeit eines Sonderregimes, dass den besonderen Gefährdungen, die mit ihr verbunden sind, Rechnung trägt. Dies entspricht auch dem Auftrag des BVerfG, den Schutzpflichten aus Art. 2 Abs. 2 GG durch eine gesetzliche Regelung der Nachtarbeit nachzukommen. Dieser Anspruch gilt aber für die gesamte Arbeitszeitregulierung, also auch für die tarifdispositiven Vorschriften des § 7 ArbZG. Wie bereits gezeigt bieten Tarifverträge keinerlei Gewähr dafür, dass grundrechtliche Schutzpflichten tatsächlich durch sie gewahrt werden. Eine Bindung der Tarifvertragsparteien an die Grundrechte besteht ebenso wenig, wie eine Bindung an grundrechtliche Schutzpflichten. Folglich müssen die Befugnisse der Tarifvertragsparteien nach § 7 Abs. 2a ArbZG vollumfänglich der grundrechtlichen Schutzpflicht aus Art. 2 Abs. 2 GG genügen. Ob dies der Fall ist, ist auch angesichts der bestehenden tarifvertraglichen Regelungen zweifelhaft. 2. Inhalt des § 7 Abs. 2a ArbZG § 7 Abs. 2a ArbZG gestattet insgesamt die Verlängerung der werktäglichen Arbeitszeit ohne ausdrückliche Obergrenzen96. Damit ist es den Tarifvertragsparteien vom Wortlaut der Norm her möglich, die tägliche Arbeitszeit auf bis zu 24 Stunden auszudehnen, ohne dabei einer gesetzlichen Höchstgrenze für die wöchentliche Arbeitszeit zu unterliegen. Eine solche Höchstgrenze ergibt sich rein faktisch aus der Vorschrift des § 7 Abs. 9 ArbZG, der dazu führt, dass zwischen den Schichten eine Ruhezeit von 11 Stunden gewährt werden muss, sofern die
96 Anzinger/Koberski, ArbZG, § 7, Rn. 63; Bermig, BB 2004, 101 (104); Linnenkohl in: Linnenkohl/Rauschenberg, ArbZG, § 7, Rn. 63.
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tägliche Arbeitszeit über 24 Stunden hinaus ausgedehnt wird. Eine gesetzliche wöchentliche Höchstarbeitszeit, die durch den Tarifvertrag zu beachten wäre, gibt es nicht. § 7 Abs. 2a ArbZG gestattet eine Abweichung von den „Grundnormen“ 97 des Arbeitszeitrechts. § 3 ArbZG betrifft die werktägliche Höchstarbeitszeit, § 5 Abs. 1 ArbZG die werktägliche Mindestruhezeit und § 6 Abs. 2 ArbZG die werktägliche Höchstarbeitszeit für Nachtarbeit. Ein Zeitausgleich für die Überschreitungen der werktäglichen Höchstarbeitszeit ist nicht erforderlich. Damit besteht ein Regelungsmodell, das keine Antwort auf die Frage gibt, welche zeitliche Höchstgrenze bei Gebrauch der Tariföffnungsklausel besteht. Sämtlich Grundnormen des gesetzlichen Arbeitszeitschutzes werden tarifdispositiv gestellt. Die Voraussetzungen für diese weitreichende Abweichungsbefugnis sind einfach. Es muss ein Tarifvertrag bestehen und es müssen besondere Regelungen vorhanden sein, die sicherstellen, dass die Gesundheit der Arbeitnehmer nicht gefährdet wird. Was solche Regelungen sind und wann diese ausreichend sind, legt das Gesetz nicht fest. Für die Frage, ob dies den Anforderungen an eine wirksame Erfüllung staatlicher Schutzpflichten für die Gesundheit von Arbeitnehmern genügt, sind zunächst die einzelnen Abweichungsbefugnisse in ihrem Umfang genauer zu untersuchen. Insbesondere ist die Frage zu stellen, ob aus dem zwingenden Teil des Gesetzes Vorschriften zu entnehmen sind, die einen wirksamen und effektiven Gesundheitsschutz sicher stellen können. 3. Die von der Abweichungsbefugnis betroffenen Vorschriften des ArbZG Dazu ist zunächst der Inhalt der Vorschriften zu klären, von denen § 7 Abs. 2a ArbZG eine Abweichung gestattet. Dabei sind die in den Vorschriften enthaltenen Schutzmechanismen daraufhin zu untersuchen, inwieweit diese einen Beitrag zur Erfüllung grundrechtlicher Schutzpflichten aus Art. 2 Abs. 2 GG leisten. a) Abweichungsbefugnis hinsichtlich der Nachtarbeit nach § 6 Abs. 2 ArbZG Die Vorschrift des § 7 Abs. 2a ArbZG gestattet die Abweichung von § 6 Abs. 2 ArbZG, der die werktägliche Arbeitszeit von Nachtarbeitnehmern grundsätzlich auf 8 Stunden werktäglich begrenzt (§ 6 Abs. 2 S. 1 ArbZG). Nach § 6 Abs. 2 ArbZG darf die Nachtarbeitszeit ausnahmsweise auch auf 10 Stunden ausgedehnt werden, wenn innerhalb von 4 Wochen die durchschnittliche Arbeitszeit nicht mehr als 8 Stunden werktäglich beträgt. Dies führt dazu, dass bei einer 5-Tage-Woche in einem 4 Wochenzeitraum nur 1 Tag ohne 10 Stunden97
Anzinger/Koberski, ArbZG, § 7, Rn. 63.
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schicht gefahren werden muss.98 In einer 5-Tage-Woche kann die Ausnahme der nächtlichen 10 Stundenschicht damit faktisch zum Regelfall werden.99 Die Vorschrift wird bereits ohne, dass die Tarifvertragsparteien von ihr abweichen können für verfassungswidrig oder „nicht unproblematisch“ gehalten. Dies resultiert nicht zuletzt daraus, dass die gesetzliche Regelung für sich genommen eine Arbeitszeit von ca. 190 Stunden monatlich zulässt.100 Dies wird bspw. von Rauschenberg nur deshalb für gerade noch zulässig erachtet, weil der Ausgleichszeitraum in § 6 Abs. 2 ArbZG auf 4 Wochen verkürzt wird.101 Sieht man, dass § 7 Abs. 2a ArbZG die zeitlichen Möglichkeiten für die Arbeitszeit von Nachtarbeitnehmern noch ausdehnt, ist dies hochgradig problematisch. Allerdings gibt es im Rahmen des § 7 Abs. 2a ArbZG keinen Ausgleichszeitraum, die Verlängerung erfolgt ja gerade „ohne Zeitausgleich“. Mit Blick auf die oben stehende Kritik ist hier ein erhebliches verfassungsrechtliches Schutzdefizit zu konstatieren. Es stellt sich also die Frage, ob sich aus den restlichen Vorschriften des ArbZG Kompensationsmechanismen für das durch § 7 Abs. 2a ArbZG verursachte gravierende Schutzdefizit für die Gesundheit der Nachtarbeitnehmer entwickeln lassen. aa) Ergänzender Schutz durch § 6 Abs. 1 ArbZG § 6 Abs. 1 ArbZG sieht vor, dass die Arbeitszeit der Nacht und Schichtarbeitnehmer102 nach den gesicherten arbeitsmedizinischen Erkenntnissen über die menschengerechte Gestaltung der Arbeitszeit festzulegen ist. Bereits diese Vorschrift ist ein krasses Beispiel für ein Auseinanderklaffen von Zweck und Wirkung einer Vorschrift. Denn die Vorschrift ist nicht bußgeld- oder strafbewehrt.103 Ein Verstoß ist sanktionslos.104 Nach herrschender Meinung handelt es sich um eine lex imperfecta105, die dem Arbeitnehmer keinerlei subjektiven
98 Zum Rechenbeispiel: Werktägliche durchschnittliche Arbeitszeit von 8 Stunden bedeutet in einem 4 Wochenzeitraum 6 (Werktage) x 8 (h werktägliche Arbeitszeit) x 4 (Wochen Ausgleichszeitraum) = 192 Stunden. Bei einer 5 Tage Woche in der täglich 10 Stunden Nachtarbeit geleistet werden ergeben sich 5 (wöchentliche Arbeitstage) x 10 (Stunden Nachtarbeit) x 3,8 (3 Wochen und 4 Tage geleistete Nachtarbeit) = 190 Stunden. Die restlichen 2 Stunden stehen für den letzten Tag theoretisch auch noch zur Verfügung. 99 Buschmann/Ulber, J., ArbZG, § 6, Rn. 12. 100 Rauschenberg in: Linnenkohl/Rauschenberg, ArbZG, § 6 Rn. 48. 101 Rauschenberg in: Linnenkohl/Rauschenberg, ArbZG, § 6 Rn. 49. 102 Zum Begriff des Nacht- und Schichtarbeitnehmers vgl. ausführlich Habich, Sicherheits und Gesundheitsschutz durch die Gestaltung von Nacht- und Schichtarbeit und die Rolle des Betriebsrats, S. 141 ff. 103 Anzinger/Koberski, ArbZG, § 6, Rn. 23; Diller, NJW 1994, 2726 (2727); Erasmy, NZA 1994, 1105 (1108 f.); Schliemann, ArbZG, § 6, Rn. 15; Schliemann/Meyer, Rn. 406; Zmarzlik, BB 1993, 2009 (2012). 104 Anzinger/Koberski, ArbZG, § 6, Rn. 23; Diller, NJW 1994, 2726 (2727); Schliemann/Meyer, Rn. 406.
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Rechte verleiht.106 Die einzige Möglichkeit die Einhaltung durchzusetzen ist durch die verwaltungsbehördliche Anordnungsbefugnis nach § 17 Abs. 2 ArbZG. Deren Gebrauch ist aber in tatsächlicher Hinsicht als ausgeschlossen anzusehen.107 Damit entfaltet § 6 Abs. 1 ArbZG für den Gesundheitsschutz faktisch keinerlei Wirkung. Noch schlimmer ist aber, dass er genau dies suggeriert. Man kann nun darauf verweisen, dass ein Teil des Schrifttums den Arbeitnehmer bei Verstoß gegen die Vorschrift immerhin ein Zurückbehaltungsrecht gewährt.108 Auch das BAG bejaht allgemein bei Verstößen gegen das ArbZG einen Unterlassungsanspruch des Arbeitnehmers109 und hält vertragliche Regelungen und Weisungen, die gegen das ArbZG verstoßen für unwirksam.110 Mit Blick auf § 6 Abs. 1 ArbZG ist allerdings festzuhalten, dass diese Mechanismen in der Praxis wirkungslos sind111, was die Befürworter eines Zurückbehaltungsrechts auch teilweise selbst einräumen.112 Denn das Grundproblem des § 6 Abs. 1 ArbZG liegt nicht nur darin, dass seine Rechtsfolgen unklar gestaltet sind, seine Schutzwirkungen intransparent und seine Sanktionen zumindest nicht effektiv sind. Das eigentliche Problem liegt darin, dass sich die Rechtsprechung und ein Teil des Schrifttums auf den Standpunkt stellen, dass die Vorschrift schlicht keinen auf konkrete Fälle anwendbaren Inhalt hat.113 Ihre Rechtsfolgen sind zumindest unklar, wenn man nicht sogar attestieren muss, solche seien nicht vorhanden.114 In jedem Fall aber ist ein Rechtsanspruch aus der Norm kaum durchzusetzen.115 105 Anzinger/Koberski, ArbZG, § 6, Rn. 23; Diller, NJW 1994, 2726 (2727); Neumann/Biebl, ArbZG, § 6, Rn. 8; Sondermann, DB 1993, 1922; Erasmy, NZA 1994, 1105 (1108); Anzinger, FS Wlotzke, S. 427 (438). 106 Junker, ZfA 1998, 105 (120); Neumann/Biebl, ArbZG, § 6, Rn. 8; „kaum denkbar“: Schliemann, ArbZG, § 7, Rn. 18; Schliemann/Meyer, Rn. 407; a. A. Anzinger/Koberski, ArbZG, § 6, Rn. 24; Buschmann/Ulber, J., ArbZG, § 6, Rn. 8. 107 Anzinger/Koberski, ArbZG, § 6, Rn. 31; Ursache ist, dass ein Verstoß gegen den Schutzgehalt der Vorschrift in tatsächlicher Hinsicht nicht zu ermitteln ist, vgl. dazu sogleich. 108 Rauschenberg in: Linnenkohl/Rauschenberg, ArbZG, § 6, Rn. 30; Schliemann, ArbZG, § 7, Rn. 18; Schliemann/Meyer, Rn. 409, für „hinreichend massive Verstöße“; a.A Baeck/Deutsch, ArbZG, § 6, Rn. 28; Neumann/Biebl, ArbZG, § 6, Rn. 8; Junker, ZfA 1998, 105 (120); Tietje, Grundfragen des Arbeitszeitrechts, S. 173 f. 109 BAG 11.7.2006, NZA 2007, 155; Zwanziger, DB 2007, 1356, (1358); vgl. auch LAG MV 6.7.2007, 3 Sa 108/07. 110 BAG 11.7.2006, NZA 2007, 155; BAG 28.5.2005, NZA 2006, 149; BAG 16.3.2004, NZA 2004, 927; BAG 28.1.2004, NZA 2004, 656. 111 Neumann/Biebl, ArbZG, § 6, Rn. 8. 112 Schliemann/Meyer, Arbeitszeitrecht, Rn. 411; i. E. auch Habich, Sicherheits- und Gesundheitsschutz durch die Gestaltung von Nacht- und Schichtarbeit, S. 276; Neumann/Biebl, ArbZG, § 6, Rn. 8; lehnen das Zurückbehaltungsrecht ab, weil der Nachweis, dass die Arbeit nicht menschengerecht sei, nicht geführt werden könne. 113 Schliemann/Meyer, Arbeitszeitrecht, Rn. 411. 114 Schliemann, ArbZG, § 6, Rn. 15, 17; Schliemann/Meyer, Arbeitszeitrecht, Rn. 407.
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Es gebe, so Literatur und BAG, nämlich keine gesicherten arbeitswissenschaftlichen Erkenntnisse über die menschengerechte Gestaltung der Arbeitszeit116 oder jedenfalls keine solchen, die irgendeine Rechtskontrolle im Regelfall ermöglichen würden.117 Insbesondere bestehen auch für die arbeitsmedizinische Bewertung speziell des Bereitschaftsdienstes „arbeitsschutzrechtliche Erkenntnislücken“.118 Das bedeutet, dass selbst dann, wenn man die Vorschrift zur Konkretisierung der Fürsorgepflicht des Arbeitgebers heranzieht oder die Tarifvertragsparteien und Betriebsverfassungsparteien an die Vorschrift bindet, dies in der Praxis vollkommen wirkungslos bleibt. Dies gilt insbesondere dann, wenn man die Absurdität der Vorschrift auf die Spitze treibt und zur Konkretisierung der arbeitswissenschaftlich gesicherten Erkenntnisse den Inhalt bestehender Tarifverträge und Betriebsvereinbarungen heranzieht.119 Wenn eine Schichtplangestaltung in Tarifverträgen üblich ist, sagt das nichts darüber aus, ob sie gesundheitliche Mindeststandards erfüllt. Es sagt aus, dass die Tarifvertragsparteien im Rahmen der Aushandlung von Leistung und Gegenleistung den Schichten ein gewisses Gewicht beigemessen haben. Auf die Gefahr der Ökonomisierung des Gesundheitsschutzes120 durch tarifdispositives Gesetzesrecht im Arbeitszeitbereich ist noch an anderer Stelle einzugehen. Vorläufig soll der Hinweis genügen, dass es einen nicht überzeugenden Rückschluss bedeutet, von der Tarifüblichkeit auf die Gesundheitskonformität von Regelungen zu schließen. Es sei erneut darauf hingewiesen, dass Tarifverträgen mit Blick auf die Ergebnisse der Tarifverhandlungen lediglich eine Richtigkeitschance zukommt. Ob diese regelmäßig über den notwendigen Sachverstand verfügen, die Gesundheitsschädlichkeit von tarifvertraglichen Regelungen zu bewerten soll hier dahingestellt bleiben, auch wenn dies bei Verbänden, die ihre Tariffähigkeit vorrangig auf ihre aktive Teilnahme am Tarifgeschehen stützen nahezu ausgeschlossen erscheint. Selbst dann, wenn dieser Sachverstand einmal unterstellt wird, fehlt es aber an jeder Gewähr dafür, dass er sich tatsächlich auch im Ergebnis niederschlägt. Der Gesundheitsschutz kann einer besseren Entlohnung, Bestandschutzregeln oder anderen denkbaren Regelungskomplexen im Rahmen von Kopplungsgeschäften geopfert werden. Es ist erneut auf die Warnung von Boldt zu verweisen, die sich bei einer derartigen Argumentation aktueller denn je erweist: 115
Neumann/Biebl, ArbZG, § 6, Rn. 8. BAG 11.2.1998, NZA 1998, 647; Schliemann, ArbZG, § 6, Rn. 15; Schliemann/ Meyer, Arbeitszeitrecht, Rn. 411. 117 Neumann/Biebl, ArbZG, § 6, Rn. 8. 118 Schlottfeldt/Herrmann, Arbeitszeitgestaltung in Krankenhäusern und Pflegeeinrichtungen, S. 35. 119 Habich, Sicherheits- und Gesundheitsschutz durch die Gestaltung von Nacht- und Schichtarbeit und die Rolle des Betriebsrats, S. 172; Löwisch/Kaiser, BetrVG, § 91, Rn. 4; Worzalla in: HSWG, BetrVG, § 90 BetrVG, Rn. 75. 120 Buschmann/Ulber, J., ArbZG § 7 Rn. 2; Ulber, D., ZTR 2005, 70 (79). 116
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„Wenn auch gegenwärtig im Hinblick auf die Lage des Arbeitsmarktes und die allgemeine Wirtschaftslage die Gefahr einer Entwertung des Bundesurlaubsgesetzes als Arbeitnehmerschutzgesetz sicherlich nicht groß ist, so muss doch in Betracht gezogen werden, daß die künftige Entwicklung, namentlich bei Eintritt wirtschaftlicher Krisensituationen oder auch nur [!] bei einem Absinken der Vollbeschäftigung, nicht vorauszusehen ist.“121
Dieser Satz lässt sich eins zu eins auf das ArbZG übertragen. Soweit dieses allerdings den Schutz der Gesundheit nach Art. 2 Abs. 2 GG betrifft, ist eine Konkretisierung der Schutzvorschriften, die in Abhängigkeit der ökonomischen Rahmendaten und damit der Durchsetzungskraft der Gewerkschaften schwankt, indiskutabel. Eine Arbeitszeitgestaltung wird bei derartigen Normenkonkretisierungen dadurch gesund, dass die Gewerkschaften im Tarifvertrag keine Schutzregelungen durchsetzen können oder wollen und dadurch ungesund, dass sie dies tun. Diese Art von Auslegung ist nicht überzeugend. Entweder ist eine Arbeitszeitgestaltung gesundheitsschädlich oder nicht. Und ist sie gesundheitsschädlich, ist sie zu verbieten und zwar ohne Rücksicht darauf, was tarifüblich ist. Bei aller Wertschätzung für die Tarifautonomie ist hier eine Grenze der Relativierung des Schutzes von Grundrechtspositionen durch Verweis auf die Tarifüblichkeit überschritten, die nicht hingenommen werden kann. Dies gilt auch deshalb, weil der Rekurs auf die Tarifüblichkeit der Rechtsprechung auch in anderen Rechtsfragen dazu dient, sich einer wirksamen Rechtskontrolle von Tarifverträgen zu entziehen.122 Dies ist mit dem Verweis auf die Tarifüblichkeit bequem möglich und entbindet dann natürlich auch von der Frage nach dem konkreten Inhalt einer Vorschrift wie § 6 Abs. 1 ArbZG, weil diese alles für wirksam erklärt, was sie kontrollieren soll. Dass dies kein gangbarer Weg ist, dürfte einsichtig sein. Das bedeutet allerdings nicht, dass § 6 Abs. 1 ArbZG ansonsten eine wirksame Rechtskontrolle ermöglichen würde. Die Probleme beginnen dabei schon am Begriff der Arbeitswissenschaft. Was das ist, ist umstritten und auch in allen anderen Gesetzen, in denen der Begriff verwendet wird, ungeklärt.123 Was Arbeitswissenschaft ist, ist noch im Jahre 2008 „weder fachlich noch juristisch geklärt“.124 Dies liegt daran, dass hier eine Vielzahl von wissenschaftlichen Fachdisziplinen zusammengefasst wird. Die Arbeitswissenschaft selbst wird gesetzlich auch nirgends definiert, auch wenn eine Vielzahl von Gesetzen an sie anknüpfen.125 Auch soweit man davon ausgehen kann, dass im Arbeitszeitgesetz eine Konkretisierung hinsichtlich der „arbeitswissenschaftlichen Erkenntnisse“ über ein bestimmtes Segment (Nacht- und
121 122 123 124 125
Boldt in: FS Nipperdey II, 11 (17, Fn. 24). Vgl. dazu die Hungerlohnentscheidung des BAG 24.3.2004, NZA 2004, 971. Schliemann, ArbZG, § 6, Rn. 13. Schliemann, ArbZG, § 6, Rn. 13. Vgl. Überblick bei Wiese/Weber in: GK BetrVG, § 90, Rn. 36.
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Schichtarbeit) enthalten ist, trägt dies zur Präzisierung nichts bei.126 Im Übrigen sind zwar die Gefahrenpotenziale für die Gesundheit von Nachtarbeitnehmern gut zu identifizieren, im Einzelfall wird der Nachweis, dass eine konkrete Arbeitszeitgestaltung für einen konkreten Arbeitnehmer eine menschenunwürdige Gestaltung der Arbeitszeit ist oder gesicherten arbeitswissenschaftlichen Erkenntnissen widerspricht, kaum zu führen sein.127 Über eine Vielzahl von Arbeitszeitmodellen wird schlicht nichts erforscht sein und die individuellen Eigenschaften des Arbeitnehmers und seine soziale Situation können eine Bewertung noch erschweren. Im Übrigen wird durch das Erfordernis ein doppeltes Prozessrisiko für den Arbeitnehmer gesetzt. Dieser muss nicht nur nachweisen, was in der Regel nicht möglich ist, dass seine Arbeitszeitgestaltung im Widerspruch zu anerkannten arbeitswissenschaftlichen Erkenntnissen steht, sondern er muss auch noch darlegen, dass eine andere gesundheitsverträglichere Arbeitszeitgestaltung existiert, die anerkannten arbeitswissenschaftlichen Erkenntnissen entspricht.128 Ebenso unklar und „hoch umstritten“ 129 ist, wann eine arbeitswissenschaftliche Erkenntnis als gesichert anzusehen ist.130 Umstritten ist dabei beispielsweise, ob sich die Erkenntnis praktisch bewährt haben muss, um als gesichert zu erscheinen.131 Soll der Vorschrift auch nur ein rudimentärer Schutzgehalt zukommen, muss man darauf allerdings verzichten. Man kann wohl kaum hinnehmen, dass erst einmal praktisch ausprobiert wird, ob bei Missachtung einer Vorgabe gesundheitliche Schäden eintreten. Jedenfalls wird hier ein großzügiger Maßstab für die Anerkennung einer Erkenntnis als gesichert zu präferieren sein. Dies begrenzt das Problem, gibt aber ansonsten keine Auskunft über die Gesichertheit von Erkenntnissen. Dabei hat sich eine rege Diskussion im Schrifttum entfaltet; die Rechtsprechung reagiert auf diese sehr zurückhaltend.132 Zumindest ist aber darauf hinzuweisen, dass in Ansehung der teilweise erheblichen Anforderungen, die im Schrifttum gestellt werden bis eine arbeitswissenschaftlich gesicherte Erkenntnis vorliegt133, ein Risiko besteht, dass solange diese nicht vorhanden sind, der Schutz aus § 6 Abs. 1 ArbZG, soweit die Vorschrift überhaupt mit Rechtsfolgen versehen ist, leer läuft. Denn gesicherte Erkenntnis ist, dass Nachtarbeit ungesund ist. Gesicherte Erkenntnisse der Arbeitswissenschaft beziehen sich darauf, Modalitäten zu umschreiben, die diese weniger gesundheitsschädlich machen. 126
Schliemann, ArbZG, § 6, Rn. 13. Neumann/Biebl, ArbZG, § 6, Rn. 8. 128 Neumann/Biebl, ArbZG, § 6, Rn. 9. 129 Growe in: Däubler/Hjort/Hummel/Wolmerath, Arbeitsrecht, ArbZG, § 6, Rn. 5. 130 Wiese/Weber in: GK BetrVG, § 90, Rn. 36 ff., m.w. N. 131 Dafür Baeck/Deutsch, ArbZG, § 6, Rn. 20; LAG BW 18.2.1981, DB 1981, 1781/ Worzalla in: HSWG, BetrVG, § 90 Rn. 19. 132 BAG 11.2.1998, NZA 1998, 647. 133 Vgl. dazu ausführlich Habich, Sicherheits- und Gesundheitsschutz durch die Gestaltung von Nacht- und Schichtarbeit und die Rolle des Betriebsrates, S. 159 ff. 127
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Fehlen solche Erkenntnisse, besteht also eine Risikoerhöhung, weil eine Arbeitszeitgestaltung immer solange als zulässig angesehen wird, bis gesicherte arbeitswissenschaftliche Erkenntnisse vorliegen, die dieser entgegenstehen. Dies bedeutet aber eine nicht hinnehmbare Risikoerhöhung für Gesundheitsschädigungen. Die erforderlichen Prognoseentscheidungen muss der Gesetzgeber selbst treffen und gegebenenfalls nachbessern. Auch der Begriff der menschengerechten Gestaltung lässt hinsichtlich seiner Präzision zu wünschen übrig.134 Die Arbeitswissenschaft verfügt über keine klare Definition hierfür.135 Der Begriff wird zwar ebenfalls in anderen Gesetzen verwendet (vgl. § 90 Abs. 2, 91 BetrVG, § 6 Abs. 1 ASiG). Dennoch handelt es sich im Ergebnis um einen wenig aussagekräftigen und wenig trennscharfen Begriff, der im Einzelfall nur bedingt hilft.136 Insgesamt weist die Vorschrift also eine vollkommen unklare inhaltliche Konzeption auf, die ihre Voraussetzungen und Rechtsfolgen bis an die Grenze der Unkenntlichkeit vernebelt. Dies illustriert eindrucksvoll eine Entscheidung des BAG, die zur Begründung eines subjektiven Anspruchs herangezogen wird.137 Das BAG hatte einen Fall zu entscheiden, in dem die Klägerin verlangte nicht etwa weniger sondern mehr Nachtschichten in Folge leisten zu dürfen, weil ihr dies subjektiv als gesünder erschien. Das BAG lehnte den Klageanspruch ab. Denn, so das BAG, zu § 6 Abs. 1 ArbZG seien keine gesicherten arbeitswissenschaftlichen Erkenntnisse vorhanden.138 Dies ist angesichts der oben aufgezeigten relativ konkreten Vorgaben, die für die Schichtarbeit gemacht werden, zunächst überraschend. Allerdings wird auch in der Literatur noch im Jahre 2008 darauf hingewiesen, dass die Diskussion von Fachleuten in den nächsten Jahren (!) zeigen werde, ob die dargestellten Grundsätze als gesicherte arbeitswissenschaftliche Erkenntnisse anzusehen seien.139 Dies führt dazu, dass es in der Praxis als ausgeschlossen angesehen wird, selbst dann, wenn sich einzelne Erkenntnisse als gesichert erweisen, diese mit ordnungsbehördlichen Mitteln durchzusetzen.140 Angesichts der weiteren Feststellung des BAG, dass daher der Arbeitgeber nur durch Tarifvertrag, Betriebsvereinbarung, Arbeitsvertrag oder Gesetz gebunden und ansonsten kraft seines Direktionsrechtes frei sei, Nachtschichten in beliebiger Häufigkeit anzuordnen, entfällt jeder Schutz durch § 6 Abs. 1 ArbZG. Man kann sich nun auf den Standpunkt stellen, die Rechtsprechung des BAG sei nicht überzeugend. 134 Neumann/Biebl, § 6, Rn. 8; Rauschenberg in: Linnenkohl/Rauschenberg, ArbG, § 6, Rn. 34. 135 Baeck/Deutsch, ArbZG, § 6, Rn. 21. 136 Rauschenberg in: Linnenkohl/Rauschenberg, ArbG, § 6, Rn. 33, 35. 137 BAG 11.2.1998, NZA 1998, 647. 138 BAG 11.2.1998, NZA 1998, 647. 139 Anzinger/Koberski, ArbZG, § 6, Rn. 31. 140 Anzinger/Koberski, ArbZG, § 6, Rn. 31.
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Wenn aber 14 Jahre nach der Einführung einer Schutzvorschrift umstritten ist, ob diese überhaupt eine Rechtsfolge hat, ihr Inhalt umstritten ist, die Rechtsprechung nicht in der Lage ist, aus der Vorschrift rechtliche Kontrollmaßstäbe herzuleiten und die Frage, wenn sie denn einen Inhalt hat, welchen, noch einer Fachdiskussion über mehrere Jahre bedarf, so kann niemand ernsthaft vertreten, hier sei eine verfassungskonforme Wahrnehmung grundrechtlicher Schutzpflichten erfolgt. § 6 Abs. 1 ArbZG ist in rechtstatsächlicher Hinsicht eine inhaltsleere Placebonorm, die den Schutzgehalt des Arbeitszeitgesetzes für Nachtarbeitnehmer in keiner Weise erhöht. Dies gilt umso mehr, wenn man sich vor Augen führt, dass § 6 Abs. 1 ArbZG jedenfalls kein Parameter für eine Rechtskontrolle der Arbeitszeitdauer im Sinne einer Höchstgrenze ist. Insofern betrifft er eine Schutzdimension des Arbeitszeitschutzes schon überhaupt nicht. bb) Umsetzungsanspruch nach § 6 Abs. 4 ArbZG Neben § 6 Abs. 1 ArbZG kommt § 6 Abs. 4 ArbZG als Schutzelement in Betracht. Dieser gibt dem Nachtarbeitnehmer einen Anspruch auf Umsetzung auf einen für ihn geeigneten Tagesarbeitsplatz, wenn nach arbeitsmedizinischer Feststellung die weitere Verrichtung von Nachtarbeit den Arbeitnehmer in seiner Gesundheit gefährdet, sofern dem nicht ein dringendes betriebliches Erfordernis entgegensteht. Die Vorschrift beseitigt allerdings nicht die Gesundheitsschädlichkeit von Nachtarbeit. Sie führt auch nicht dazu, dass die Arbeitszeitregelungen, denen ein Nachtarbeitnehmer ausgesetzt ist, gesundheitsverträglich sind. Die Vorschrift setzt dann ein, wenn sich gesundheitliche Folgen der Nachtarbeit bereits abzeichnen. Damit entfaltet sie keinerlei präventiven Charakter für gesundheitliche Beeinträchtigungen, sondern stellt sich als nachträglicher Schutz dar. Dass der Schutz durch die Berücksichtigung der betrieblichen Belange noch weiter relativiert werden kann, soll hier nur angemerkt, nicht ausgeführt werden.141 Damit eröffnet die Vorschrift eine Exit-Option für Opfer der Nachtarbeit, bietet aber keinen präventiven Schutz, weil sie die Zulässigkeit von Arbeitszeitregelungen nicht betrifft. Die Vorschrift ist damit für den Gesundheitsschutz zwar notwendig, aber nicht hinreichend. Denn die Langzeitwirkungen von ungesunden Arbeitszeiten lassen sich im Nachhinein nicht mehr beheben. Geht man von einem kausalen Beitrag von Nacht- und Schichtarbeit zu der Entstehung von Erkrankungen aus, kann § 6 Abs. 4 ArbZG zu deren Verhinderung nichts beitragen. § 6 Abs. 4 ArbZG ist eher ein Selektionsverfahren, das denjenigen Personen, die bereits gesundheitliche Schädigungen erlitten haben, helfen kann, vor einer weiteren Intensivierung ihrer Gesundheitsschädigung bewahrt zu werden.
141 Verfassungsrechtliche Bedenken gegen die Berücksichtigung bei: Buschmann/Ulber, J., § 6, Rn. 24.
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Problematisch an der Vorschrift ist jedoch, dass Arbeitnehmer sich häufig scheuen werden, von ihr Gebrauch zu machen. Dies resultiert zunächst daraus, dass sie regelmäßig davon ausgehen werden, aufgrund des Gebrauchs von der Vorschrift durch den Arbeitgeber gekündigt zu werden. Nun mag man hier auf das Maßregelungsverbot und den kündigungsrechtlichen Schutz verweisen. Deren praktische Wirksamkeit ist allerdings als begrenzt anzusehen, auch wenn sie die Hemmschwelle für die Geltendmachung von Rechten absenken dürften. Des Weiteren ist auf die Gefahr der Ökonomisierung des Gesundheitsschutzes zu verweisen. Es liegt letztendlich in der Entscheidungsgewalt des einzelnen Arbeitnehmers, ob er die Gesundheitsschädigung durch die Fortsetzung der Tätigkeit hinnimmt, weil er sich davon den Erhalt der für Nachtarbeit gewährten Zulagen verspricht. cc) § 8 ArbZG als Sicherungsinstrument Schließlich ließe sich noch § 8 ArbZG als Sicherungsmechanismus vor gesundheitlichen Schädigungen durch die Abweichungsbefugnis nach § 7 Abs. 2a ArbZG denken. Dieser ermächtigt die Bundesregierung, durch Rechtsverordnung mit Zustimmung des Bundesrats für einzelne Beschäftigungsbereiche, für bestimmte Arbeiten oder für bestimmte Arbeitnehmergruppen, bei denen besondere Gefahren für die Gesundheit der Arbeitnehmer zu erwarten sind, die Arbeitszeit über § 3 ArbZG hinaus zu beschränken, die Regelungen zum Schutz der Nachtund Schichtarbeiter in § 6 ArbZG zu erweitern und die Abweichungsmöglichkeiten nach § 7 ArbZG zu beschränken, soweit dies zum Schutz der Gesundheit der Arbeitnehmer erforderlich ist. Ein Teil des Schrifttums begreift die Vorschrift als Sicherung des „Sozialstaatsprinzips“, weil der Umfang des tarifdispositiven Gesetzesrechts weiter beschränkt werden könne.142 Diese Annahme überzeugt nicht.143 Denn die entsprechenden Stimmen im Schrifttum räumen selbst ein, dass Rechtsverordnungen hinsichtlich kürzerer Höchstarbeitszeiten oder längerer Mindestruhezeiten für Beschäftigte mit gefährlichen Arbeiten bislang nicht erlassen wurden.144 Vielmehr wurde im Rahmen der Neufassung des § 8 ArbZG eine Vielzahl von Rechtsverordnungen aufgehoben, die zusätzliche Grenzen vorsahen145; bis heute in Kraft geblieben ist lediglich § 21 der Druckluftverordnung vom 4.10.1972146. Es gibt also eine einzige existente Rechtsverordnung auf Basis der Vorschrift.
142 Anzinger/Koberski, ArbZG, § 7, Rn. 6; Linnenkohl in: Linnenkohl/Rauschenberg, ArbZG, § 7, Rn. 3. 143 Buschmann/Ulber, ArbZG, § 6, Rn. 4. 144 Anzinger/Koberski, ArbZG, § 8, Rn. 1. 145 Vgl. dazu Neumann/Biebl, ArbZG, § 8, Rn. 2. 146 BGBl. I, S. 1909.
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Fragwürdige Grundannahme des § 8 ArbZG ist, dass die gesetzlichen Vorschriften der §§ 3–7 ArbZG für den Normalfall ausreichenden Gesundheitsschutz gewährleisten.147 Der Gesetzgeber hat bewusst darauf verzichtet, den Schutz von Arbeitnehmern in bestimmten Bereichen und bei einzelnen Arbeiten, die erhöhte Gefahren aufweisen, gesetzlich zu regeln. Dass bereits die Prämisse hierfür unzutreffend ist, ist bereits dargelegt worden. Einen hinreichenden Schutz vor den schädlichen Auswirkungen der Nachtarbeit bietet das Gesetz schon ohne das auf die Abweichungsbefugnisse nach § 7 ArbZG zurückgegriffen wird nicht.148 Bemerkenswert ist auch der Hinweis, dass für den Fall, dass weitere Präzisierungen des § 6 ArbZG erforderlich sein sollten, diese auch durch Rechtsverordnung erlassen werden könnten.149 Nun war es gerade Auftrag des BVerfG den Schutz der Nachtarbeitnehmer gesetzlich zu regeln. Eine Vorschrift, die selbst davon ausgeht, die gesetzliche Regelung könnten unzulänglich für diesen Schutz sein (denn ansonsten macht die Einschränkungsbefugnis hinsichtlich § 6 ArbZG keinen Sinn), spricht Bände über das gesetzlich verankerte Schutzniveau. Dieses wird im Schrifttum mit Recht als unzureichend angesehen, wobei dies solange unproblematisch sei, wie die Tarifverträge nach § 7 ArbZG das rechtlich zulässige Maß an Abweichungen nicht ausschöpfen.150 Mit anderen Worten, die Verfassungsmäßigkeit der §§ 3–7 ArbZG hängt aus Sicht von Neumann/Biebl daran, dass die Tarifvertragsparteien die dort bestehenden Gestaltungsmöglichkeiten nicht ausschöpfen. Dass dies mit Blick auf die Erfüllung grundrechtlicher Schutzpflichten unzureichend ist, bedarf keiner weiteren Erläuterung. Dass die staatlichen Stellen verpflichtet sind, der Schutzpflicht aus Art. 2 Abs. 2 GG zu genügen, wenn sie von der Verordnungsbefugnis Gebrauch machen, ist zutreffend.151 Sollte eine Verordnung aufgrund defizitärer gesetzlicher Schutzmechanismen als geboten erscheinen152, so liegt in diesem Moment allerdings bereits eine verfassungswidrige Verletzung der Schutzpflicht vor, weil die gesetzlichen Vorschriften keinen ausreichenden Grundrechtsschutz bieten. dd) Überwachungsaufgabe der Aufsichtsbehörden Als weitere Auffanglinie für den Grundrechtsschutz könnten die ordnungsbehördlichen Befugnisse nach § 17 ArbZG in Betracht kommen.153 Betrachtet man die weitgehende Unbestimmtheit, wann ein Verstoß gegen § 6 Abs. 1 ArbZG vor147 BT-Drs. 12/5888, S. 28; Anzinger/Koberski, ArbZG, § 8, Rn. 4; Baeck/Deutsch, ArbZG, § 8, Rn. 2. 148 Neumann/Biebl, ArbZG, § 8, Rn. 2. 149 BT-Drs. 12/5888, S. 28; Anzinger/Koberski, ArbZG, § 8, Rn. 8. 150 Neumann/Biebl, ArbZG, § 8, Rn. 2. 151 Buschmann/Ulber, J., ArbZG, § 8, Rn. 4. 152 Buschmann/Ulber, J., ArbZG, § 8, Rn. 4. 153 Baeck/Deutsch, ArbZG, § 6, Rn. 26.
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liegt und die Unsicherheiten in der Frage, was der Begriff „besondere Regelungen“ in § 7 Abs. 2a ArbZG meint, so dürfte mit diesen kaum geholfen sein. Wenn sich nämlich aus dem Gesetz belastbare Grenzen für das Handeln der Bürger nicht ableiten lassen und die Rechtsprechung solche ebenfalls nicht entwickeln kann, wie sollen dann die Aufsichtsbehörden dies leisten? Es sei des weiteren darauf verwiesen, dass Verstöße gegen § 6 Abs. 1 ArbZG nicht bußgeld- oder strafbewehrt sind. Die entsprechenden Bußgelder richten sich allesamt nur gegen Verstöße, die objektiv messbar sind, nämlich Verstöße gegen die Höchstarbeitszeiten und Mindestruhezeiten und Pausen. Diese werden aber, mit Ausnahme der Pausen, in § 7 Abs. 2a ArbZG zur Disposition der Tarifvertragsparteien gestellt. Sofern ein Tarifvertrag wirksam ist, kann die Behörde also ein Bußgeld nicht anordnen. Dass die Ordnungsbehörden auf Basis des § 7 Abs. 2a ArbZG jemals einen Tarifvertrag für unwirksam erklären und damit ordnungsbehördliche Sanktionen rechtfertigen werden, erscheint angesichts des kaum ermittelbaren Inhalts der Vorschrift weitestgehend ausgeschlossen. Ebenso, dass auf dieser Basis Maßnahmen nach § 17 Abs. 2 ArbZG ergriffen werden. Vielmehr dürfte sich die Kontrolle hier eher auf die Einhaltung der tarifvertraglichen Regelungen zur Nachtarbeit beschränken, soweit diese die gesetzlichen Grenzen nach § 6 Abs. 2 ArbZG überschreiten. Aus der Praxis wird ohnehin berichtet, dass die meisten Verstöße gegen das ArbZG ohnehin nie durch die Behörden geahndet werden können und meistens nur dann bekannt werden, wenn Hinweise aus dem Betrieb erfolgen.154 Bei Bereitschaftsdiensten ist allerdings darauf hinzuweisen, dass auf Grund der häufig zum Gesetz gegenläufigen Schutzinteressen der Beschäftigten (Negativanreize durch Zuschläge und zusätzliche freie Tage bei längeren Diensten), diese kaum bereit sein werden, die entsprechenden Verstöße anzuzeigen. ee) Besonderer Schutz für einzelne Personengruppen Hinsichtlich bestimmter Personengruppen besteht ein verschärfter Schutz, der insoweit auch der Dispositionsbefugnis der Tarifvertragsparteien entzogen ist. Dazu gehören das Beschäftigungsverbot nach § 8 Abs. 1 MuSchG, der Anspruch von Schwerbehinderten auf eine behindertengerechte Arbeitszeit nach § 81 Abs. 4 Nr. 4 SGB IX, sowie des § 14 Abs. 1 JArbSchG. Diese Personen werden aufgrund individueller Dispositionen entweder mit einem individuellen Anspruch ausgestattet (Schwerbehinderte155) oder durch ein Beschäftigungsverbot (§ 8 Abs. 1 MuSchG156, § 14 Abs. 1 JArbSchG157) geschützt. Der Gesetzgeber knüpft 154 Schlottfeldt/Herrmann, Arbeitszeitgestaltung in Krankenhäusern und Pflegeeinrichtungen, S. 62. 155 BAG 4.10.2005, NZA 2006, 442 (444); Rolfs in: ErfK, SGB IX, § 81, Rn. 10; Rolfs/Paschke, BB 2002, 1260 (1263). 156 Vgl. dazu Buchner/Becker, MuSchG, § 8, Rn. 6, 1 ff. 157 Schoden, JArbSchG, § 14, Rn. 4.
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damit an ein Schutzbedürfnis individualisierter Personengruppen an, differenziert aber hinsichtlich der Frage, ob diesen eine autonome Entscheidung über die tatsächliche Realisierung des Schutzes gewährt wird. Bei der Regelung des § 8 Abs. 1 MuSchG der ein vollständiges Nachtarbeitsverbot für stillende und werdende Mütter statuiert wird, kann auch ein ausdrücklicher Wunsch der Arbeitnehmerin auf Nachtarbeit das Verbot nicht aufheben.158 Es ist damit auch gegen ihren Willen durchzusetzen. Bei Jugendlichen ist das Beschäftigungsverbot durch zahlreiche Ausnahmevorschriften durchbrochen. Diese dienen dazu, in Bereichen, in denen ein wirtschaftliches Interesse an der Nachtarbeit besteht, das Nachtarbeitsverbot aufzuheben oder abzuschwächen.159 Hingegen bestehen diese Aufweichungsmöglichkeiten bei werdenden Müttern nach dem Mutterschutzgesetz nur in geringerem Umfang und sind zeitlich befristet (vgl. § 8 Abs. 3 MuSchG). Dies liegt daran, dass im Unterschied zum Jugendarbeitsschutz nicht nur die Mutter, sondern auch ein Dritter, nämlich das Kind geschützt wird.160 Diese Schutzdimension mit Blick auf Dritte führt also dazu, dass der gesetzliche Schutz in anderer Weise zwingend gestaltet wird. Des Weiteren zeigt sich als strukturelles Element der Schutzvorschriften, dass sie immer dort abgeschwächt werden, wo wirtschaftliche Interessen mit der Schutzvorschrift in einen Konflikt geraten. Zumindest hat der Gesetzgeber in den Vorschriften aber sehr konkret umschrieben, bei welchen Wirtschaftszweigen und Beschäftigungsformen dies der Fall sein soll. b) Abweichungsbefugnis hinsichtlich werktäglicher Höchstarbeitszeit und Arbeitszeitausgleich nach § 3 ArbZG Die Abweichungsbefugnis von § 3 ArbZG bedeutet, dass die Obergrenze für die werktägliche Arbeitszeit ebenso aufgehoben wird wie die durch § 3 ArbZG tatsächlich angeordnete gesetzliche Höchstarbeitszeit von 48 Stunden im Ausgleichszeitraum. Da der Gesetzgeber § 7 Abs. 8 ArbZG, der einen Zeitausgleich vorschreibt, ausdrücklich nicht auf § 7 Abs. 2a ArbZG erstreckt hat, ermöglicht § 7 Abs. 2a ArbZG durchschnittliche Wochenarbeitszeiten von über 48 Stunden. Eine Höchstgrenze für diese Verlängerungen wird durch das Gesetz nicht festgeschrieben.161 Eine solche ergibt sich lediglich daraus, dass nur die werktägliche Arbeitszeit verlängert werden kann, was den Maximalzeitraum für eine ununterbrochene Arbeitsschicht auf 24 Stunden reduziert,162 soweit es die Grenzen des 158
BAG 24.6.1960, DB 1960, 1249; Meisel/Sowka, MuSchG, § 8, Rn. 4. Schoden, JArbSchG, § 14, Rn. 5. 160 Schlachter in: ErfK, MuschG, § 3, Rn. 1. 161 Anzinger/Koberski, ArbZG, § 7, Rn. 63; Gäntgen in: HWK, ArbZG, § 7, Rn. 11; Bermig, BB 2004, 101. 162 Reichhold in: Weth/Thomae/Reichhold, Arbeitsrecht im Krankenhaus, Teil 10 B, Rn. 22. 159
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§ 3 ArbZG betrifft.163 Die Begrenzung auf maximal 24 Stunden ergibt sich auch aus § 7 Abs. 9 ArbZG.164 c) Abweichungsbefugnisse hinsichtlich der Ruhezeiten nach § 5 Abs. 1 ArbZG Besonders weitreichend ist die Abweichungsbefugnis der Tarifvertragsparteien hinsichtlich der werktäglichen Arbeitszeit durch die Abweichungsbefugnis von § 5 Abs. 1 ArbZG. Dieser schreibt vor, dass der Arbeitnehmer nach Beendigung der werktäglichen Arbeitszeit eine ununterbrochene Ruhezeit von mindestens 11 Stunden haben muss. Durch diese Vorschrift wird scheinbar nur ein Minimum an Ruhezeit geregelt. Tatsächlich führt sie aber nach h. M. gleichzeitig zu einem Maximum an werktäglicher Arbeitszeit.165 Das Gesetz knüpft nämlich an die werktägliche Arbeitszeit an. Geht man von diesem 24-Stundenzeitraum aus, so beginnt dieser mit der Aufnahme der Arbeit. Muss innerhalb der nunmehr beginnenden 24 Stunden (Werktag) aber eine Ruhezeit von mindestens 11 Stunden liegen, so reduziert sich die höchstmögliche werktägliche Arbeitszeit bereits aufgrund des § 5 Abs. 1 ArbZG auf 13 Stunden.166 Diese Sichtweise ist allerdings umstritten. So nimmt ein Teil des Schrifttums an, dass 5 Abs. 1 ArbZG nur besagt, dass die Ruhezeit nach der täglichen Arbeitszeit genommen werden muss, die dann auch bis zu 24 Stunden betragen kann.167 § 5 Abs. 1 ArbZG hätte aber eine Lesart des § 7 Abs. 2a ArbZG ermöglicht, die die Abweichungsbefugnis der Tarifvertragsparteien von vorneherein auf maximal 13 Stunden begrenzt hätte.168 Diese Einschränkungsmöglichkeit hat der Gesetzgeber im Rahmen der Änderungen des Gesetzentwurfs im Vermittlungs163 Ob sich mit Blick auf § 5 Abs. 1 ArbZG weitere Begrenzungen ergeben, ist umstritten, vgl. dazu sogleich. 164 Baeck/Deutsch, ArbZG, § 7, Rn. 155. 165 Buschmann/Ulber, J., ArbZG, § 5, Rn. 5, 1; Linnenkohl in: Linnenkohl/Rauschenberg, ArbZG, § 5, Rn. 3; § 7, Rn. 34; Neumann/Biebl, ArbZG, § 5, Rn. 3. 166 Boerner, GS Heinze, S. 69 (74 f.); Buschmann/Ulber, J., ArbZG, § 5, Rn. 5, 1; Linnenkohl in: Linnenkohl/Rauschenberg, ArbZG, § 5, Rn. 3; § 7, Rn. 34; Krauss in: Fachanwaltskommentar Arbeitsrecht, ArbZG, § 5, Rn. 1; Neumann/Biebl, ArbZG, § 5, Rn. 3; Dietz, RdA 1969, 202. 167 Anzinger/Koberski, ArbZG, § 5, Rn. 18 f.; Baeck/Deutsch, ArbZG, § 7, Rn. 55; § 5 Rn. 10, Gäntgen in: HWK, ArbZG, § 7, Rn. 4; Reichhold in: Weth/Thomae/Reichhold, Arbeitsrecht im Krankenhaus, Teil 10 B, Rn. 22; Schliemann/Meyer, Arbeitszeitrecht, Rz. 529; Schlottfeld, ZESAR 2004, 160 (163). 168 Boerner, GS Heinze, S. 69 (74); diese Ansicht wird auch zum geltenden Recht vertreten, Buschmann/Ulber, J., ArbZG, § 5, Rn. 1; Ernst in: Däubler/Hjort/HummelWolmerath, Arbeitsrecht, ArbZG, § 5, Rn. 3, unter Verweis auf Art. 3 der Arbeitszeitrichtlinie.
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8. Kap.: Grenzen tarifdispositiven Gesetzesrechts
ausschuss eigentlich beseitigt, indem er die Abweichungsbefugnis von § 5 Abs. 1 ArbZG ausdrücklich in den § 7 Abs. 2a ArbZG aufgenommen hat.169 Damit lässt sich eine werktägliche Arbeitszeit von 24 Stunden ermöglichen, wobei allerdings die Ruhepausen nach § 4 zu berücksichtigen sind.170 Als Ausgleichsmechanismus für die Abschaffung der Ruhezeiten ist nach § 7 Abs. 9 ArbZG bei einer Verlängerung der werktäglichen Arbeitszeit über 12 Stunden hinaus im unmittelbaren Anschluss an die Arbeitszeit eine Ruhezeit von mindestens 11 Stunden zu gewähren. Die Regelung führt dazu, dass zwar eine Abweichung von § 5 Abs. 1 ArbZG möglich ist, die dazu führt, dass der Tarifvertrag die Ruhezeiten nach § 5 Abs. 1 ArbZG auf 0 reduziert. Zum Ausgleich dafür ist aber nach Ablauf der maximal möglichen werktäglichen Arbeitszeit von 24 Stunden eine 11-stündige Ruhepause zwingend erforderlich. Dies begrenzt die nach dem ArbZG maximal mögliche Arbeitszeit auf 24 Stunden mit anschließender ununterbrochener Ruhezeit von 11 Stunden. Diese Konstruktion ist mit Blick auf den Gesundheitsschutz hochgradig bedenklich. Denn durch die zwingende Ruhezeit nach einer Arbeitsschicht werden die Arbeitgeber dazu getrieben, die individuellen Arbeitsschichten möglichst lange zu fassen, weil die anschließende Ruhezeit nicht mit der Länge der vorhergehenden Arbeitsphase mit wächst. Damit werden mit Blick auf den Gesundheitsschutz kontraproduktive Anreize gesetzt. d) Verlängerung ohne Ausgleich Die Verlängerung der Arbeitszeit nach § 7 Abs. 2a ArbZG erfolgt ohne Zeitausgleich. Diese Formulierung bedeutet nichts anderes als die Aufhebung der Höchstarbeitszeitgrenzen bei Nachtarbeit und werktäglicher Arbeitszeit171 und eröffnet damit eine nahezu unbegrenzte Ausweitungsmöglichkeit für die Arbeitszeit, sofern diese in erheblichem Umfang Arbeitsbereitschaft und Bereitschaftsdienst enthält. Die Vorschrift enthält ihrem Wortlaut nach keinerlei Höchstgrenzen.172 Bei allen anderen Tariföffnungsklauseln in § 7 ArbZG greift der Ausgleichszeitraum nach § 7 Abs. 8 ArbZG, der binnen 12 Monaten einen Ausgleich
169
Baeck/Deutsch, ArbZG, § 7, Rn. 110; Boerner, GS Heinze, S. 69 (75). § 4 Ruhepausen: Die Arbeit ist durch im voraus feststehende Ruhepausen von mindestens 30 Minuten bei einer Arbeitszeit von mehr als sechs bis zu neun Stunden und 45 Minuten bei einer Arbeitszeit von mehr als neun Stunden insgesamt zu unterbrechen. Die Ruhepausen nach Satz 1 können in Zeitabschnitte von jeweils mindestens 15 Minuten aufgeteilt werden. Länger als sechs Stunden hintereinander dürfen Arbeitnehmer nicht ohne Ruhepause beschäftigt werden; vgl. dazu Reichhold in: Weth/Thomae/ Reichhold, Arbeitsrecht im Krankenhaus, Teil 10 B, Rn. 22. 171 Baeck/Deutsch, ArbZG, § 7, Rn. 110; Buschmann, AuR 2004, 1; Bermig, BB 2004, 101. 172 Buschmann/Ulber, J., ArbZG, § 7, Rn. 24a. 170
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auf 12 Monate erfordert. Dieser Ausgleichszeitraum ist für sich genommen schon bedenklich mit Blick auf den Gesundheitsschutz. § 7 Abs. 8 ArbZG basiert auf einer Ausnahmevorschrift in der Arbeitszeitrichtlinie der EG. Diese sieht regulär einen Ausgleichszeitraum von 4 Monaten für die durchschnittliche Wochenarbeitszeit von 48 Stunden vor, lässt aber eine Ausnahmeregelung für die Verlängerung des Ausgleichszeitraums zu.173 Diese setzt aber voraus, dass die Verlängerung nur dann erfolgen darf, wenn bei dieser die „allgemeinen Grundsätze der Sicherheit und des Gesundheitsschutzes gewahrt bleiben“. Eine Verlängerung der Ausgleichszeiträume bedeutet damit bereits eine Erhöhung der gesundheitlichen Risiken der Beschäftigung, die durch zusätzliche staatliche Regelungen zu kompensieren ist.174 Daran fehlt es bereits in § 7 Abs. 8 ArbZG, weswegen dieser im Schrifttum auch überwiegend als europarechtswidrig angesehen wird.175 Wenn aber schon die Verlängerung eines Ausgleichszeitraums weitergehender staatlicher Maßnahmen zur Sicherung des Gesundheitsschutzes bedarf, so muss dies erst recht gelten, wenn die Höchstarbeitszeit selbst zur Disposition gestellt wird und dies „ohne Ausgleich“ erfolgen kann. Die Verlängerungsmöglichkeit ohne Zeitausgleich führt dazu, dass die durchschnittliche wöchentliche Arbeitszeit nur noch durch die zwingend vorgeschriebene 11-stündige Ruhepause des § 7 Abs. 9 ArbZG und das Verbot der Sonntagsarbeit nach § 10 ArbZG eingegrenzt ist. Letzteres ist durch den Gesetzgeber ebenfalls aufgeweicht worden, soll hier zu seinen Gunsten aber einmal als zu berücksichtigen angesehen werden. Danach lässt § 7 Abs. 2a ArbZG eine regelmäßige wöchentliche Arbeitszeit von 96 Stunden zu.176 Welcher praktische Bedarf an einer solchen Arbeitszeitgestaltung besteht, soll hier nicht vertieft werden. Tatsache ist aber, dass die gesetzliche Regelung eine Arbeitszeitgestaltung zulässt, die jede physische und psychische Belastungsgrenze sprengt. Sie setzt eine Obergrenze, die in der Praxis dazu führt, dass der zwingende Arbeitszeitschutz der §§ 3, 5 Abs. 1 und 6 Abs. 2 ArbZG faktisch aufgehoben wird.
173 RL 2003/88/EG, die anvisierte Neufassung der Richtlinie war zum Zeitpunkt der Fertigstellung der Arbeit gescheitert. 174 Boerner, NJW 2004, 1559 (1560); Buschmann/Ulber, J., ArbZG, § 7, Rn. 10a; Wank in: ErfK, ArbZG, § 7, Rn. 32; Kohte, FS Wißmann, S. 331 (337); Reichhold in: Weth/Thoma/Reichhold, Arbeitsrecht im Krankenhaus, 10 B, Rn. 20; Schliemann, NZA 2004, 513 (517). 175 Boerner, NJW 2004, 1559 (1560); Buschmann/Ulber, J., ArbZG, § 7, Rn. 10a; Wank in: ErfK, ArbZG, § 7, Rn. 32; Kohte, FS Wißmann, S. 331 (337); Reichhold in: Weth/Thoma/Reichhold, Arbeitsrecht im Krankenhaus, 10 B, Rn. 20; Schliemann, NZA 2004, 513 (517). 176 Zugunsten des Gesetzgebers wird hier von einer 12-stündigen Ruhepause ausgegangen: 24 Stunden (Montag 0–24 Uhr) + 24 Stunden (Di. 12–Mi. 12 Uhr) + 24 Stunden (Do. 0–24 Uhr) + 24 Stunden (Fr. 12–Sa. 12 Uhr) = 96 Stunden. Die Pausen nach § 4 ArbZG sind zu berücksichtigen.
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e) Zusammenfassung § 7 Abs. 2a ArbZG lässt die Ausweitung der werktäglichen Arbeitszeit auf bis zu 24 Stunden und eine Wochenarbeitszeit von über 90 Stunden als Regelfall zu, wenn die Tarifvertragsparteien dies vereinbaren. Die Vorschrift beseitigt faktisch den gesamten Schutz, den das Arbeitszeitgesetz Arbeitnehmern bietet. Mit Blick auf die Grundnormen des ArbZG bedeutet sie einen Blankoscheck für die Tarifvertragsparteien, die zeitlichen Begrenzungen des ArbZG aufzugeben.177 Die Vorschrift ist insbesondere auch nicht durch den Rückgriff auf insuffiziente Schutzinstrumente wie § 6 Abs. 1 ArbZG zu bändigen. Die Reichweite der Vorschrift wird allein durch die 11-stündige Ruhezeit nach 24 Stunden werktäglicher Arbeitszeit eingeschränkt. Sieht man die bisherigen Einschränkungen der Regelungsbefugnis auf Basis des § 7 Abs. 2a ArbZG, so ist zu konstatieren, dass er sich darauf beschränkt, seinen Anwendungsbereich auf bestimmte Arbeitszeitformen zu beschränken, ohne dass hierdurch eine Schutzwirkung für die Arbeitnehmer entfaltet wird. Dass die Bindung der Tarifvertragsparteien an § 6 Abs. 1 ArbZG eine insuffiziente Erfüllung grundrechtlicher Schutzpflichten bedeutet, ist bereits ausgeführt. Diese wird allerdings noch dadurch verschärft, dass bei den hier in Rede stehenden Tarifvertragsvorschriften nicht nur die Nachtarbeit für eine Abweichungsbefugnis geöffnet wird, sondern auch der Ausgleichszeitraum und die Ruhepausen. Betrachtet man die arbeitsmedizinisch erforderlichen Sicherungen für Nachtarbeitnehmer, so zeigt sich, dass diese schon im Gesetz teilweise nicht enthalten sind, aber durch die Öffnungsklausel des § 7 Abs. 2a ArbZG auch und gerade diejenigen Schutzmechanismen beseitigt werden, die das ArbZG der Nachtarbeit ergänzend an die Seite stellt. Dies betrifft insbesondere die im ursprünglichen Gesetzentwurf zur Änderung des ArbZG nicht enthaltene Abweichung von § 5 Abs. 1 ArbZG178, also den Ruhezeiten. Der Gesetzgeber flüchtet sich hier in die in dieser Pauschalität wenig überzeugende179 Annahme einer geringeren gesundheitlichen Belastung durch den beschränkten Anwendungsbereich der Vorschrift. Auf dieser Basis geht der Gesetzgeber sodann ebenfalls pauschal davon aus, dass die Besonderheiten bestimmter Branchen die weitgehende Öffnung des § 7 Abs. 2a ArbZG legitimieren.180 Dieses Erfordernis findet allerdings keinen Ausdruck im Gesetzestext, sodass die Tarifvertragsparteien jedenfalls nach dem Wortlaut der Vorschrift keiner Begründungslast unterliegen, warum die entsprechenden Regelungen in ihrer Branche tatsächlich erforderlich sind. 177 178 179 180
Mayer, AiB 2004, 307 (308). Vgl. BT-Drs. 15/1587. Vgl. 8. Kap. A. I. 4. So auch Anzinger/Koberski, ArbZG, § 7, Rn. 63.
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Mit Blick auf die europarechtlichen Anforderungen an § 7 Abs. 2a ArbZG ließe sich allerdings durchaus eine solche Bindung konstruieren, jedenfalls dahin gehend, dass entsprechende Gestaltungsformen rechtfertigungsbedürftige Ausnahmefälle sein müssen. Der Gesetzgeber hingegen scheint hier den Tarifvertragsparteien ein freies Ermessen einräumen zu wollen.181 Besonders deutlich wird dies daran, dass er in § 7 Abs. 1 Nr. 3 und § 7 Abs. 2 Nr. 1–4 ArbZG das Erfordernis aufstellt, dass die Abweichungsbefugnis nur dann zulässigerweise ausgeübt wird, „wenn die Art der Arbeit dies erfordert“ und in § 7 Abs. 2 Nr. 1 ArbZG das Erfordernis aufstellt, dass die „Besonderheiten dieser Dienste“ berücksichtigt werden müssen. Diese einschränkenden Formulierungen fehlen in § 7 Abs. 2a ArbZG. Es ist schon ein bemerkenswerter Vorgang legislativer Inkonsequenz, wesentlich weniger weitreichende Abweichungsbefugnisse als § 7 Abs. 2a ArbZG deutlich restriktiver auszugestalten. Dass damit wesentliche Sicherungsfunktionen für den Gesundheitsschutz abgestreift werden und die tatbestandlichen Voraussetzungen für die weitreichendste Abweichungsbefugnis im Gesetz am geringsten ausfallen, ist denn auch hochgradig bedenklich. Ein folgerichtiges Konzept zum Gesundheitsschutz liegt den Vorschriften erkennbar nicht zugrunde. § 7 Abs. 2a ArbZG stellt bestimmte Anforderungen, damit diese Befugnis durch die Tarifvertragsparteien auch wirksam wahrgenommen werden kann. Diese sind daraufhin zu untersuchen, ob sie eine Einschränkung der durch § 7 Abs. 2a ArbZG geschaffenen Befugnis bedeuten. 4. Die Schranken der Abweichungsbefugnis nach § 7 Abs. 2a ArbZG § 7 Abs. 2a ArbZG ist nur dann anwendbar, wenn in die Arbeitszeit regelmäßig und in erheblichem Umfang Arbeitsbereitschaft fällt, die Abweichungsbefugnis durch Tarifvertrag oder aufgrund eines Tarifvertrags in einer Betriebsvereinbarung erfolgt und durch besondere Regelungen sicher gestellt wird, dass die Gesundheit der Arbeitnehmer nicht gefährdet wird. Des weiteren ist erforderlich, dass der Arbeitnehmer in die nach Abs. 2a verlängerten Arbeitszeiten gemäß Abs. 7 einwilligt. a) Die tarifvertragliche Regelung selbst als Schutzpflichterfüllung Das Gesetz verlangt lediglich, dass ein wirksamer Tarifvertrag vorliegt. Dieser muss von tariffähigen und tarifzuständigen Tarifvertragsparteien geschlossen worden sein. Ansonsten bietet die Tatsache, dass Arbeitsbedingungen durch Ta-
181
BT-Drs. 15/1587, S. 31; Anzinger/Koberski, ArbZG, § 7 Rn. 68.
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rifvertrag vereinbart werden, keine Garantie für den Grundrechtsschutz. Dies ist bereits oben ausführlich dargestellt worden.182 b) Regelmäßig und in erheblichem Umfang in die Arbeitszeit fallende Arbeitsbereitschaft oder Bereitschaftsdienst Die Abweichungsbefugnis in § 7 Abs. 2a ArbZG, aber auch in anderen Tariföffnungsklauseln in § 7 ArbZG ist nur dann eröffnet, wenn in die Arbeitszeit regelmäßig und in erheblichem Umfang Arbeitsbereitschaft oder Bereitschaftsdienst fallen. Die Anwendbarkeit der Tariföffnungsklausel ist also davon abhängig, welchen Anteil der Zeitraum der entsprechenden Dienstform an der Gesamtarbeitszeit hat. Auch der Begriff der Regelmäßigkeit wird überaus uneinheitlich interpretiert. Teilweise wird darauf abgestellt, ob es erfahrungsgemäß zu Arbeitsbereitschaft und Bereitschaftsdienst kommt183, teilweise wird verlangt, dass für die Regelmäßigkeit erforderlich ist, dass die Dienstformen zum Berufsbild gehören184 und dieses zumindest mitprägt185, teilweise wird verlangt, dass sich die Dienstformen in bestimmten, womit gleichmäßig gemeint sein soll, Zeitabständen abwechseln müssen186, wobei es nicht erforderlich sein soll, dass dies jeden Tag der Fall ist.187 Es konkurrieren also eine quantitative und eine berufsbildbezogene Sichtweise. Soll die Vorschrift in irgendeiner Weise einen abstrakt kontrollfähigen Maßstab beinhalten, ist erforderlich, dass das Berufsbild durch Arbeitsbereitschaft und Bereitschaftsdienst geprägt wird. Damit ließe sich die Norm möglicherweise in ihrem Anwendungsbereich stärker auf Dienstarten eingrenzen, bei denen der Rückgriff auf die Abweichungsmöglichkeit legitimer erscheint. Allerdings spricht der Wortlaut der Vorschrift eher dafür, dass die faktischen Verhältnisse einer Tätigkeit zählen. In jedem Fall aber bleibt ein erheblicher Anwendungsspielraum für die Vorschrift. Die praktischen Schwierigkeiten, Regeldienst und Bereitschaftsdienst abzugrenzen, führen bei einer qualitativen Betrachtungsweise ohnehin zu einem Flickenteppich verschiedener Arbeitszeitformen, die eine sachgerechte Ermittlung der jeweiligen Dienstformen ohnehin massiv erschwert.188 182
Vgl. dazu oben 6. Kap. A. I. 6. Neumann/Biebl, ArbZG, § 7, Rn. 18. 184 Wank in: ErfK, ArbZG, § 7, Rn. 6. 185 Anzinger/Koberski, ArbZG, § 6, Rn. 22; Linnenkohl in: Linnenkohl/Rauschenberg, ArbZG, § 7, Rn. 32. 186 Baeck/Deutsch, ArbZG, § 7, Rn. 49; Reichhold in: Weth/Thomae/Reichold, Arbeitsrecht im Krankenhaus, Teil 10 B, Rn. 21. 187 Wank in: ErfK, ArbZG, § 7, Rn. 4. 188 Schlottfeldt/Herrmann, Arbeitszeitgestaltung in Krankenhäusern und Pflegeeinrichtungen, S. 21. 183
A. Grenzen der Delegation der Regelungsbefugnis
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Des Weiteren muss die Arbeitsbereitschaft oder der Bereitschaftsdienst in erheblichem Umfang anfallen. Das BAG prüft dies in Abhängigkeit von der Gesamtlänge der Arbeitszeit. So hat das BAG bei einer Gesamtarbeitszeit von 11 Stunden bereits 3 Stunden Arbeitsbereitschaft (Anteil von 27%) als wesentlich angesehen, weil § 3 S. 2 ArbZG eine Verlängerung auf bis zu 10 Stunden auch bei Vollarbeit zulässt.189 Die Bezugnahme auf den Abstand zur höchstzulässigen Arbeitszeit des § 3 ArbZG spricht dafür, dass die pauschalen Werte im Schrifttum, die zwischen 25 und 50% schwanken, nicht statisch zu betrachten sind, sondern mit zunehmender Verlängerung ein zunehmender Anteil der Dienstformen erforderlich ist. Dies bedeutet, dass der Wert von 27% keinesfalls generalisiert werden kann. Dies hat das BAG auch ausdrücklich in seiner Entscheidung betont.190 Für Bereitschaftsdienste werden die Anteile teilweise geringer angesetzt als bei Arbeitsbereitschaft.191 In jedem Fall wird Wesentlichkeit dann vorliegen, wenn die Dienstformen mehr als die Hälfte der Arbeitszeit beanspruchen. Mit Blick auf den Gesundheitsschutz ist hier eine restriktive Sichtweise geboten. Insofern ist in der Tat streng zu prüfen. Da allerdings mit dem Anteil der Dienstformen an der Gesamtarbeitszeit noch nichts über die tatsächlichen Belastungen und die Arbeitsintensität innerhalb der Dienste gesagt ist, bleibt auch hier eine gesundheitsschützende Wirkung begrenzt. Denn es kann durchaus sein, dass in dem Anteil der Arbeitszeit, in dem der Arbeitsbereitschaft oder der Bereitschaftsdienst anfällt, intensiv und belastend gearbeitet werden muss. Schließlich werden auch die nachteiligen Auswirkungen auf den Biorhythmus selbst bei kurzen Arbeitseinsätzen erheblich sein, wenn dies längere Schlafphasen verhindert. Die dynamische Sichtweise des BAG mag diesem Gedanken eher Rechnung tragen als ein statischer Begriff. Die Annahme des Gesetzgebers, die gesundheitliche Belastung bei Arbeitsbereitschaft und Bereitschaftsdienst sei geringer und daher die gegenüber der Vollarbeit eröffneten Abweichungsmöglichkeiten gerechtfertigt, ist wenig überzeugend. Bei der Arbeitsbereitschaft beschränkt sich dies auf die unmittelbare physische Beanspruchung. Hier ist aber überhaupt keine Möglichkeit vorhanden, zu schlafen. Es mag sein, dass hier eine reduzierte physische Belastung stattfindet. Sieht man allerdings, dass bei einem Modell, das eine Normalarbeitsphase mit anschließender Arbeitsbereitschaft koppelt, die Arbeitsbelastung einer Normalarbeitsphase von etwa 8 Stunden bereits ausreicht, um die Grenze der vollen Belastbarkeit zu erreichen und zwar auch bei kognitiven Tätigkeiten, so wird auch bei der Arbeitsbereitschaft der Leistungsabfall und das damit vorhandene Unfallrisiko extrem gesteigert. Dies gilt insbesondere dann, wenn die Länge der Gesamtarbeitszeit verlängert wird und auch Nachtphasen erfasst. In diesem Fall tre189 190 191
BAG 24.1.2006, NZA 2006, 862 (865). BAG 24.1.2006, NZA 2006, 862 (865). Baeck/Deutsch, ArbZG, § 7, Rn. 53; Wank in: ErfK, ArbZG, § 7, Rn. 6.
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ten die negativen Folgen des Schlafentzugs ebenso ein wie bei Vollarbeit. Lediglich die körperlichen Kompensationsleistungen für die Arbeit gegen den Biorhythmus können begrenzt werden, nicht aber die Folgen der Dissynchronisation der Körperfunktionen. Insofern ist die Annahme einer reduzierten Gesundheitsgefährdung jedenfalls für die Nachtarbeit nicht überzeugend. Auch ansonsten verliert der Gesichtspunkt der geringeren Beanspruchung seine Überzeugungskraft, je länger die Gesamtarbeitszeit wird. Denn selbst dann, wenn man verlangt, dass die Arbeitsbereitschaft zumindest 50% der Arbeitszeit umfassen muss, ließen sich Modelle von 12-stündiger Vollarbeit und anschließenden 12 Stunden Arbeitsbereitschaft realisieren, bei denen bereits die Vollarbeitsphase eine erhebliche körperliche Belastung bedeutet. Für den Bereitschaftsdienst gilt nichts anderes. Denn auch dann, wenn hier tatsächlich die Möglichkeit zum Schlafen besteht, führen die anfallenden Arbeiten regelmäßig dazu, dass echter Schlaf mit Erholungswert nicht möglich ist. Sieht man das jedenfalls im Krankenhausbereich, in dem Bereitschaftsdienst regelmäßig mit Routineaufgaben und Kontrollgängen gefüllt wird, so muss auch von der Vorstellung Abstand genommen werden, abgesehen von der konkreten Aufforderung zum Tätigwerden habe der Arbeitnehmer in der Regel Zeit zur freien Verfügung. Auch dass hier die Arbeitnehmer aus Tiefschlafphasen herausgerissen werden können, ist bedenklich. Im Übrigen ist darauf zu verweisen, dass gerade im Bereich des Bereitschaftsdienstes die anfallenden Arbeiten nicht nur stark belastend sein können, sondern je nach Situation auch mit besonderen Stressmomenten behaftet sind. Gerade Notfalleinsätze in der Nacht dürften die übliche Arbeitsbelastung bei Tage erheblich überschreiten. c) Besondere Regelungen zur Verhinderung von Gesundheitsgefährdungen Zur Begrenzung der Regelungsbefugnis der Tarifvertragsparteien greift der Gesetzgeber dann auf das Erfordernis „besonderer Regelungen“ zurück, durch die die Tarifvertragsparteien sicherstellen sollen, „dass die Gesundheit der Arbeitnehmer nicht gefährdet wird“. Die Aufgabe, besondere Regelungen aufzustellen, wird also auf die Tarifvertragsparteien delegiert.192 Wann besondere Regelungen im Sinne der Vorschrift vorhanden sind, wird durch das Gesetz nicht festgelegt.193 In der Gesetzesbegründung rechtfertigt der Gesetzgeber das damit, dass „die Erfordernisse für die Arbeitszeitverlängerung bei den besonderen Dienstformen und dementsprechend auch die Belastungssituation für die Beschäf192
Neumann/Biebl, ArbZG, § 7, Rn. 19a. Baeck/Deutsch, ArbZG, § 7, Rn. 115; dies stellt zwar einen Verstoß gegen die RL 2003/88/EG dar, weil der Staat verpflichtet gewesen wäre, die entsprechenden Regelungen selbst zu treffen, führt aber nicht dazu, dass die Vorschrift deswegen unwirksam wäre; vgl. dazu Buschmann/Ulber, J., ArbZG, § 7, Rn. 24c; Linnenkohl in: Linnenkohl/ Rauschenberg, ArbZG, § 7, Rn. 65; Wank in: ErfK, § 7 Rn. 18; a. A. LAG Niedersachsen, 14.5.2009 – 7 Sa 1481/08 – Rz. 64. 193
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tigten sehr voneinander abweichen und sich demnach verschiedenste Fallgestaltungen ergeben können, muss der Gesetzgeber auf eine ins Einzelne gehende Beschreibung tauglicher Gestaltungen verzichten.“ 194 Diese Erwägungen erscheinen nicht plausibel. Die Begrenzungen in § 7 Abs. 1 und Abs. 2 ArbZG zeigen, dass dem Gesetzgeber durchaus bekannt war, dass Höchstgrenzen für die Abweichungsbefugnis ein derartiges Begrenzungsinstrument darstellen. Auch ansonsten erweist sich bereits mit Blick auf die bestehenden gesetzlichen Vorschriften zum Schutz besonderer Arbeitnehmergruppen die Behauptung des Gesetzgebers, es ließen sich die konkreten Beschäftigungsformen, bei denen eine Abweichung vom gesetzlichen Schutzniveau erforderlich sei, nicht ermitteln, als falsch. So gelingt es dem Gesetzgeber sowohl in § 8 MuSchG195 als auch in § 14 JArbSchG196, Wirtschaftszweige und Branchen zu umschreiben, in denen aus wirtschaftlichen Gründen eine Abweichung und Aufweichung von bestehenden gesetzlichen Vorschriften akzeptiert werden kann. Insofern liegt hier gesetzgeberische Inkonsequenz vor, wenn die Abweichungsbefugnisse im ArbZG nicht auch auf bestimmte Branchen und Beschäftigungsformen begrenzt werden. Jedenfalls erweist sich die Erwägung des Gesetzgebers mit Blick auf die von ihm behauptete Unmöglichkeit, den Anwendungsbereich der Vorschrift näher einzugrenzen vor dem Hintergrund der bestehenden Rechtslage als nicht überzeugend. Man mag dem Gesetzgeber noch zubilligen, die Anwendbarkeit in Ansehung fehlender individueller Schutzbedürfnisse großzügiger zu fassen. Das mindert aber nicht die Tatsache, dass zur Sicherstellung des Gesundheitsschutzes die Nachtarbeit nur dort gestattet werden kann, wo ein unabweisbares wirtschaftliches Bedürfnis für sie besteht und dort auch keinesfalls ohne hinreichende Schranken. Besonders fragwürdig wird die Gesetzesbegründung aber durch den unmittelbar nachfolgenden Satz. Nachdem der Gesetzgeber behauptet, ihm sei aufgrund der Vielfalt denkbarer Fallgestaltungen keine eigene Definition der besonderen Regelungen möglich, fährt er fort: 194
BT-Drs. 15/1587, S. 31; so auch Baeck/Deutsch, ArbZG, § 7, Rn. 115. Vgl. § 8 Abs. 4 MuSchG: Im Verkehrswesen, in Gast- und Schankwirtschaften und im übrigen Beherbergungswesen, im Familienhaushalt, in Krankenpflege- und in Badeanstalten, bei Musikaufführungen, Theatervorstellungen, anderen Schaustellungen, Darbietungen oder Lustbarkeiten dürfen werdende oder stillende Mütter, abweichend von Absatz 1, an Sonn- und Feiertagen beschäftigt werden, wenn ihnen in jeder Woche einmal eine ununterbrochene Ruhezeit von mindestens 24 Stunden im Anschluss an eine Nachtruhe gewährt wird. 196 Vgl. § 14 Abs. 2 und 3 JArbSchG: (2) Jugendliche über 16 Jahre dürfen 1. im Gaststätten- und Schaustellergewerbe bis 22 Uhr, 2. in mehrschichtigen Betrieben bis 23 Uhr, 3. in der Landwirtschaft ab 5 Uhr oder bis 21 Uhr, 4. in Bäckereien und Konditoreien ab 5 Uhr beschäftigt werden. (3) Jugendliche über 17 Jahre dürfen in Bäckereien ab 4 Uhr beschäftigt werden. 195
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„Denkbare Regelungen sind z. B. die Begrenzung der Möglichkeit der Arbeitszeitverlängerung auf einen bestimmten Personenkreis, die Vereinbarung verlängerter Ruhezeiten oder einer besonderen arbeitsmedizinischen Betreuung der Betroffenen. Die Tarifvertragsparteien können Gefahren für die Gesundheit der Arbeitnehmer auch dadurch begegnen, dass sie für die Arbeitszeit Höchstgrenzen vereinbaren oder einen Zeitraum festlegen, für den sich der einzelne Arbeitnehmer jeweils zu einer längeren Arbeitszeit bereit erklären kann.“ 197
Es waren dem Gesetzgeber also trotz der „verschiedensten Fallgestaltungen“ konkrete Gegenstände bekannt, die eine besondere Regelung darstellen könnten. Warum er diese nicht in Form von Fallbeispielen in die Vorschrift einfügt, insbesondere als Regelbeispiele, bliebe sein Geheimnis, würde man nicht weiterlesen: „Der Gesetzgeber geht davon aus, dass die Tarifvertragsparteien von der ihnen eingeräumten Möglichkeit in verantwortungsvoller Weise Gebrauch machen und die angemessenen Schutzmaßnahmen für die Beschäftigten vereinbaren.“ 198
Daraus lässt sich folgern, der Gesetzgeber habe es für entbehrlich gehalten, die entsprechenden Regelungen selbst zu treffen. Diese Folgerung ist allerdings wohl noch zu zurückhaltend. Die Kommentierung von Anzinger/Koberski lässt tief blicken: „Das Gesetz legt selbst keine Standards zur Sicherstellung der Gesundheit fest“.199 Ansonsten ist mit Blick auf die „besonderen Regelungen“ darauf hinzuweisen, dass der Präzisionsgrad dieser Vorschrift, gelinde gesagt, gering ist. Selbst dann, wenn man die vom Gesetzgeber gewählten Beispiele nimmt, bleiben eigentlich nur zwei Elemente, die sich unmittelbar dahin gehend auswirken, dass die Arbeitszeit nicht gesundheitsschädlich ist: Die Festlegung einer Höchstgrenze für die Arbeitszeit und verlängerte (!) Ruhezeiten. Diese Hinweise in der Gesetzesbegründung sind wenig überzeugend, weil der Gesetzgeber im weiteren Gesetzgebungsverfahren seine eigene Überlegung zur Ruhezeit eindrucksvoll dadurch untermauert hat, dass er den Tarifvertragsparteien zusätzlich zum Gesetzentwurf die Abweichung von § 5 Abs. 1 ArbZG – dieser betrifft die Ruhezeiten – gestattet hat. Diese Verfahrensweise lässt den Betrachter der Norm und der Gesetzesbegründung etwas ratlos zurück. Soll nun die Verlängerung von Ruhezeiten als Schutzinstrument dienen oder sollen die Tarifvertragsparteien gerade von der Beachtung dieser Schutzvorschriften freigestellt sein? Die Lösung liegt im Regelungsmechanismus der Abweichung von § 5 Abs. 1 ArbZG.200 § 5 Abs. 1 ArbZG hätte zur Konsequenz gehabt, dass eine Auslegung möglich gewesen wäre, die die maximal mögliche werktägliche Arbeitszeit auf Basis des § 7 Abs. 2a ArbZG auf 13 Stunden ermöglicht. Dies wollte der Gesetzgeber durch den Hinweis wohl
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BT-Drs. 15/1587, S. 31. BT-Drs. 15/1587, S. 31. Anzinger/Koberski, ArbZG, § 7, Rn. 68. Siehe oben unter 8. Kap. A. I. 3. c).
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verhindern, um damit Arbeitszeiten „ad infinitum“ zu ermöglichen.201 Warum der Gesetzgeber, wenn er numerische Begrenzungen der Arbeitszeit als besondere Regelungen zum Gesundheitsschutz ansieht, diese nicht selbst einführt, bleibt offen. Auch gibt es eine Vielzahl von weiteren denkbaren objektiven Kriterien, die geeignet wären, eine Beschränkung der Vorschrift zu ermöglichen. So etwa eine Begrenzung der Zahl der in Folge zu leistenden Dienste, Sicherstellung einer Mindestzahl von freien Wochenenden und eine erhöhte Pausenanzahl.202 Eine flexible Handhabung der Dienste wäre auch mit einer zeitlich limitierten Abweichungsbefugnis möglich. d) Einwilligungserfordernis nach § 7 Abs. 7 ArbZG Schließlich hat der Gesetzgeber den Gebrauch von den Abweichungsbefugnissen nach § 7 Abs. 2a ArbZG von der Einwilligung des Arbeitnehmers nach § 7 Abs. 7 ArbZG abhängig gemacht. Diese muss schriftlich erfolgen und kann mit einer Frist von 6 Monaten widerrufen werden. Zugunsten der Arbeitnehmer sieht die Vorschrift ein Benachteiligungsverbot vor, wenn diese die Einwilligung nicht erteilen oder sie widerrufen (§ 7 Abs. 7 S. 3 ArbZG). Die Einwilligung muss vor der Arbeitsaufnahme vorliegen, eine nachträgliche Genehmigung ist nicht möglich.203 Die Einwilligung muss durch den Arbeitnehmer selbst erfolgen und kann nicht durch Betriebsvereinbarung oder Tarifvertrag ersetzt werden.204 Dass angesichts der strukturellen Unterlegenheit der Arbeitnehmer bei Abschluss und Vollzug des Arbeitsverhältnisses eine Einwilligung des Arbeitnehmers kaum einen zusätzlichen Sicherungseffekt haben kann, ist bereits dargestellt.205 Dass die Einwilligung des Arbeitnehmers tatsächlich freiwillig erfolgt, ist als praktisch ausgeschlossen anzusehen.206 Zutreffend wird darauf hingewiesen, dass die Entscheidung des Arbeitnehmers für eine Arbeitszeitverlängerung unter Umständen von Kriterien abhängt, die seinen eigentlichen Interessen an einer Erhaltung seiner Gesundheit zuwiderlaufen.207 So besteht die Gefahr, dass sich die „Freiwilligkeit“ daraus ergibt, dass der Arbeitgeber die Einstellung des 201 Buschmann/Ulber, J., ArbZG, § 7, Rn. 24c; § 5 Rn. 1, lehnen dies als Folge ab und wenden dennoch § 5 Abs. 1 ArbZG an. 202 Vgl. die Bsp. bei Schlottfeldt/Herrmann, Arbeitszeitgestaltung in Krankenhäusern und Pflegeeinrichtungen, S. 37 f. 203 Anzinger/Koberski, ArbZG, § 7, Rn. 109; Baeck/Deutsch, ArbZG, § 7, Rn. 144; Gäntgen in: HWK, ArbZG, § 7, Rn. 19; Linnenkohl in: Linnenkohl/Rauschenberg, ArbZG, § 7, Rn. 66. 204 Baeck/Deutsch, § 7 ArbZG, Rn. 141; Schliemann, ArbZG, § 7, Rn. 87. 205 Vgl. zur strukturellen Unterlegenheit oben 2. Kap. D. 206 Boerner, GS Heinze, S. 69 (76); Körner, NJW 2003, 3606 (3608); Reim, DB 2004, 186 (189); vgl. auch BVerfG 28.1.1992, NJW 1992, 964 (966). 207 Anzinger/Koberski, ArbZG, § 7, Rn. 111.
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8. Kap.: Grenzen tarifdispositiven Gesetzesrechts
Arbeitnehmers von der Einwilligung abhängig macht oder bei befristeten Verträgen eine Weiterbeschäftigung nur gegen die Einwilligung ermöglichen will.208 Ebenso werden sich Arbeitnehmer angesichts drohender Produktionseinschränkungen oder Unternehmensverlagerungen leicht dazu drängen lassen, eine Einwilligung zu erteilen.209 Auf die gestörte Selbstwahrnehmung in Bereichen mit erhöhtem Leistungsdruck und die damit bestehende fehlende Möglichkeit die Gesunheitsverträglichkeit der Regelungen zu beurteilen, ist bereits hingewiesen worden.210 Insofern läuft das Benachteiligungsverbot des § 7 Abs. 7 S. 3 ArbZG in der Praxis weitgehend leer. Auch hat der Gesetzgeber darauf verzichtet, die Fragen der Rechtsfolgen eines Verstoßes zu klären, wenn dieser vor der Einstellung liegt.211 Besonders bemerkenswert ist, dass Arbeitnehmer, die sich weigern, unter gesundheitsschädlichen Bedingungen zu arbeiten, häufig nicht nur Repressalien durch den Arbeitgeber, sondern auch durch die sonstigen Beschäftigten ausgesetzt sind, weil sie ein von diesen aus ökonomischen Gründen präferiertes Schichtmodell blockieren.212 Der Kläger im Verfahren vor dem EuGH Jäger wurde „Opfer eines jahrelangen krankenhausinternen Spießrutenlaufs“, weil er die Wünsche der anderen Arbeitnehmer auf gesundheitsschädliche, aber ökonomisch attraktive Arbeitszeitgestaltungen gefährdete.213 Die Freiwilligkeit der Einwilligungserklärung lässt sich praktisch nicht sicher stellen.214 Dass der Gesetzgeber weder eine Einschränkung bei Neueinstellungen ausspricht noch den Widerruf kurzfristig zulässt, verschärft die Situation noch. Eine Linderung der Problematik ist zwar darin zu sehen, dass vorformulierte Einverständniserklärungen in Arbeitsverträgen als unwirksam angesehen werden.215 Dies ändert aber nichts an der Möglichkeit des Arbeitgebers, den Arbeitnehmer zur Erteilung des Einwilligungserfordernisses zu drängen. Die Tarifvertragsparteien werden mit den Vergütungsregeln für solche Dienste ohnehin dazu beitragen, dass Anreize zur Ökonomisierung der eigenen Gesundheit gesetzt werden. Dieses Problem verschärft sich noch dadurch, dass sozialversicherungsrechtliche Nachteile durch den Gesetzgeber nicht ausgeschlossen wurden. Es wird im Schrifttum zu Recht darauf hingewiesen, dass eine drohende Sperrzeit für den Fall einer Ablehnung eines Arbeitsangebots, bei dem die Einwilligung verlangt wird, die Freiwilligkeit ebenfalls beseitigen dürfte.216 208
Anzinger/Koberski, ArbZG, § 7, Rn. 111; Neumann/Biebl, ArbZG, § 7, Rn. 55. Anzinger/Koberski, ArbZG, § 7, Rn. 111. 210 8. Kap. I. 1. d). 211 Vgl. dazu Neumann/Biebl, ArbZG, § 7, Rn. 57. 212 Ankersen/Boemke in: Arbeitszeit im Gesundheitswesen, S. 110. 213 Berichtet von Ankersen/Boemke in: Arbeitszeit im Gesundheitswesen, S. 110. 214 Schliemann, ArbZG, § 7, Rn. 87; Boerner, GS Heinze, S. 69 (76); Körner, NJW 2003, 3606 (3608); Reim, DB 2004, 186 (189). 215 Anzinger/Koberski, ArbZG, § 7, Rn. 111. 216 Linnenkohl, ArbZG, § 7, Rn. 68. 209
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Die Einwilligung kann mit einer Frist von 6 Monaten widerrufen werden. Der Arbeitnehmer soll also nicht unbegrenzt an die Erklärung gebunden sein. Auch dies ist mit Blick auf den Gesundheitsschutz wenig hilfreich. Zunächst einmal wird die Drucksituation für die Arbeitnehmer nicht nur bei Erteilung der Einwilligung, sondern auch bei deren Widerruf bestehen. Im Übrigen stellt sich die Frage, ob ein Arbeitnehmer, bei dem sich gesundheitliche Negativfolgen durch die verlängerten Arbeitszeiten zeigen, tatsächlich verpflichtet sein soll, die für ihn gesundheitsschädliche Arbeit noch 6 Monate fortzusetzen. Die Frage impliziert die Antwort. Einen Arbeitnehmer trotz einer Erkrankung zu für diese Krankheit kausalen Arbeitsbedingungen noch 6 Monate weiter zu beschäftigen, darf das Gesetz dem Arbeitgeber nicht gestatten. Jedenfalls in diesen Fallkonstellationen ist über eine analoge Anwendung des § 6 Abs. 4 ArbZG nachzudenken. Dieser beschränkt sich allerdings auf die Nachtarbeit, jedenfalls bei dieser muss § 6 Abs. 4 ArbZG aber Vorrang vor einer etwaigen Einwilligung haben. Die Tatsache, dass dieser Gesichtspunkt in den Überlegungen des Gesetzgebers nicht auftaucht, zeigt, dass es bei der Vorschrift allein darum ging, in formaler Weise europarechtlichen Vorgaben zu entsprechen. Ein materieller Schutz aus der Vorschrift lag weder im Interesse des Gesetzgebers noch ist er Resultat der Vorschrift. e) Zusammenfassung Sieht man die gesetzlichen Grenzen für die Abweichungsbefugnis nach § 7 Abs. 2a ArbZG, so fallen diese überaus spärlich aus. Dem Arbeitnehmer wird ein praktisch wirkungsloses Einwilligungserfordernis an die Seite gestellt. Der Tarifvertrag soll besondere Regelungen enthalten, deren Inhalt wenig präzise ist und deren Grenzen unklar bleiben. Die einzige Einschränkung, die jedenfalls dazu führt, dass der Anwendungsbereich der Vorschrift einigermaßen eingegrenzt wird, ist die Beschränkung auf die Dienstformen „Arbeitsbereitschaft und Bereitschaftsdienst“. Dass diese in ihren tatbestandlichen Voraussetzungen noch nicht hinreichend präzisiert sind, beeinträchtigt zwar den Schutzzweck der Einschränkung, die neuere Rechtsprechung des BAG zeigt allerdings ein sinnvolles Lösungsmodell auf. Problematisch bleibt, dass auch auf Basis aller denkbaren Einschränkungen die einzigen rechtlich belastbaren Kontrollparameter für Arbeitszeitregelungen nach § 7 Abs. 2a ArbZG die 24-Stundengrenze der werktäglichen Arbeitszeit und die anschließende 11-stündige Ruhepause nach § 7 Abs. 9 ArbZG sind. Alle anderen Restriktionen erweisen sich als inhaltsleere Placebonormen ohne tatsächlich kontrollfähigen Inhalt und ohne eigenständige Vorgaben des Gesetzgebers, welche Grenzen den Befugnissen der Tarifvertragsparteien bei dem Umfang ihrer Abweichungsbefugnis gezogen werden sollen. Das ist mit Blick auf die grundrechtliche Schutzpflicht aus Art. 2 Abs. 2 GG problematisch.
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5. Vereinbarkeit der tarifdispositiven Gestaltung des Arbeitszeitrechts in § 7 Abs. 2a ArbZG mit Art. 2 Abs. 2 GG Mit Blick auf die grundrechtliche Schutzpflicht aus Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG steht es dem Gesetzgeber nicht frei, den Tarifvertragsparteien die Regelung des Arbeitszeitschutzes zu überlassen. Er muss diesen selbst durch einen besonderen gesetzlichen Schutz sicherstellen. Das BVerfG hat hier ausdrücklich eine Verpflichtung zur gesetzlichen Regelung angenommen. Diese sei notwendig, um dem objektiven Gehalt des Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG und der für diesen bestehenden Schutzpflicht genüge zu tun.217 Der Schutz bedürfe einer gesetzlichen Regelung. Ihre unbeschränkte Freigabe ohne flankierende Maßnahmen würde gegen den objektiven Gehalt des Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG verstoßen. Es stellt sich damit die Frage, ob § 7 Abs. 2a ArbZG den entsprechenden Anforderungen genügt. Dazu sind die oben entwickelten Anforderungen an die Erfüllung grundrechtlicher Schutzpflichten heranzuziehen. a) Effektivitätsgebot Die Erfüllung der Schutzpflicht muss nicht nur irgendwie, sondern effektiv erfolgen. Effektiv sind Schutzregelungen nicht allein deshalb, weil sie im Gesetz stehen, sondern weil sie sich in der Praxis realisieren. Dies ist mit Blick auf § 7 Abs. 2a ArbZG nicht der Fall. Die Regelung weicht ohne rechtlich belastbares Korrektiv die Grundnormen des ArbZG bis hin zur Unkenntlichkeit auf. Wenn die Arbeitszeit auf 24 Stunden werktäglich verlängert werden kann, eine Pause von 11 Stunden erst nach dieser Zeit erfolgt, ein Zeitausgleich nicht erforderlich ist und keinerlei zeitliche Restriktionen für die Nachtarbeit gesetzt werden, dann ist vom zwingenden gesetzlichen Arbeitszeitschutz nichts mehr übrig. Die Vorschrift ordnet faktisch die Aufhebung der §§ 3 und 6 Abs. 2 ArbZG für die Tarifvertragsparteien an. Das Gesetz enthält selbst auch keine Standards zur Sicherstellung der Gesundheit, die über formaljuristische Placebonormen hinaus gehen. Das Einwilligungserfordernis ist ineffektiv. Die besonderen Regelungen sind als nebulöse, inhaltlich nicht konkretisierte Generalklausel einer wirksamen Rechtskontrolle nicht zugängig und können einen Ausgleich für die Aufgabe der gesetzlichen Höchstarbeitszeitgrenzen nicht leisten. Das Erfordernis des erheblichen Anteils von Arbeitsbereitschaft und Bereitschaftsdienst bedeutet faktisch keinen wirksamen Gesundheitsschutz. Mit Blick auf die Nachtarbeit treten die durch die Störung des Schlafrhythmus verursachten Gesundheitsschädigungen ebenfalls ein, einzig die Entkräftung wird entschleunigt, was umgehend durch die Zulassung von 24-Stunden-Schichten überkompensiert wird. Letztendlich konterkariert der Gesetzgeber mit dem Gesetz sogar seine eigene Gesetzesbegründung,
217
BVerfG 28.1.1992, NJW 1992, 964 (966).
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wenn er verlängerte Ruhepausen zur Kompensation der Gesundheitsbelastungen durch tarifvertragliche Regelungen nach § 7 Abs. 2a ArbZG vorschlägt, im Gesetz aber die Bindung der Tarifvertragsparteien an § 5 Abs. 1 ArbZG aufhebt. Dieser Widerspruch von Reden und Handeln des Gesetzgebers zieht sich dann auch durch die gesamte Vorschrift. Diese versucht die Schutzvorschriften des ArbZG bis an die Grenze ihrer Existenz auszuhöhlen und diese durch praktisch wirkungslose Pseudo-Schutzvorschriften zu ersetzen, die einen Rechtsschutz faktisch nur in absolut krassen Evidenzfällen ermöglichen werden. § 7 Abs. 2a und Abs. 7 ArbZG werden im Schrifttum daher mit Recht als ein „gefährliches Beispiel für eine gefährliche arbeitszeitrechtliche Bedenkenlosigkeit bezeichnet.218 Effektiv kann eine arbeitsschutzrechtliche Arbeitszeitregulierung nur durch zeitliche Höchstgrenzen gewährleistet werden. Diese können auch durchaus Spielräume für flexible Systeme lassen. Um einen effektiven Schutz zu gewährleisten, müssen diese aber enger gezogen werden als die gegenwärtige gesetzliche Konstruktion. Mit zulässigen Höchstarbeitszeiten von 90 Stunden wöchentlich wird hier ein Rahmen eingeräumt, der eine offensichtliche und sachlich nicht zu rechtfertigende Verletzung der grundrechtlichen Schutzpflicht aus Art. 2 Abs. 2 GG bedeutet. Der naheliegende Einwand liegt darin, dass dies praktisch kaum vorkommen würde. Dies missachtet die präventive Funktion des Arbeitnehmerschutzrechts. Es interessiert auch im Bereich der grundrechtlichen Schutzpflichten nicht, ob eine Gefahr sich in der Praxis bereits realisiert hat, sondern ob sie dies kann.219 Der Grundrechtsschutz beansprucht umfassende Geltung und zwar nicht erst dann, wenn durch eine erste Verletzungshandlung das Problem praktisch virulent wird. Angesichts der langjährigen Praxis, in Krankenhäusern Beschäftigte mit Bereitschaftsdiensten um die 80 Stunden in der Woche zu beschäftigen, verkennt der Einwand auch etwas die Verhältnisse in einzelnen Branchen. Denn die Beschäftigten bestreiten ihr Einkommen dort traditionell in einem erheblichen Umfang aus den Zuschlägen für die geleisteten Dienstformen. Dies führt in der Praxis dazu, dass sie zu einer Reduktion ihrer Arbeitszeit und dem Umstieg auf gesundheitsverträgliche Dienstgestaltungen nicht bereit sind.220 Dies geht soweit, dass das „Opting-out“ nach § 7 Abs. 2a ArbZG für erforderlich gehalten wird, um diese Bezüge zu sichern und auf Grund der „hohen Entgeltpräferenz“ der Betroffenen221 davon ausgegangen wird, dass diese auch in die entsprechenden Regelungen einwilligen. Nimmt man hinzu, dass der Gebrauch von § 7 Abs. 2a ArbZG auch noch für den Arbeitgeber als ökonomisch vorteilhaft erachtet wird, weil weniger Neueinstellungen erforderlich seien und die Personal218
Anzinger/Koberski, ArbZG, § 7, Rn. 68. Vgl. dazu oben 4. Kap. C. II. 220 Schlottfeldt/Herrmann, Arbeitszeitgestaltung in Krankenhäusern und Pflegeeinrichtungen, S. 87 f. 221 Schlottfeldt/Herrmann, Arbeitszeitgestaltung in Krankenhäusern und Pflegeeinrichtungen, S. 88. 219
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kosten auf Grund von Stundensatzdegression sinken222, zeigt sich wie wenig berechtigt die Erwartung ist, der Gebrauch von der Vorschrift werde unter dem Gesichtspunkt des Gesundheitsschutzes erfolgen. Vielmehr kommt es zu gleich mehreren systemimmanenten Fehlsteuerungen durch die Ökonomisierung des Gesundheitsschutzes der Beschäftigten. Denn sieht man, dass vor diesem Hintergrund beide Interessengruppen, Arbeitgeber wie Arbeitnehmer, kein Interesse daran haben, gesundheitsverträgliche, sondern entgeltpräferenzkonforme Arbeitszeitmodelle zu schaffen, kann die Wahrnehmung des Gesundheitsschutzes diesen Parteien nicht mehr übertragen werden. Sie sind nicht in der Lage, einen kontradiktorischen Interessenausgleich durchzuführen, weil die Interessen insofern gleichläufig auf eine Beseitigung der „Entgeltbremse“ Arbeitsschutz gerichtet sind. Das hat mit sachgerechter Wahrnehmung von Aufgaben durch die Tarifvertragsparteien, selbst dann, wenn man sich ansonsten auf diese berufen will, aber nichts mehr zu tun. Angesichts der vorstehenden ökonomischen Überlegungen ist es auch konsequent, wenn der Praxis von Freizeitausgleich für Bereitschaftsdienste soweit möglich abgeraten wird.223 Die Risikoerhöhung für die Missachtung des Gesundheitschutzes durch die Tarivertragsparteien, die § 7 Abs. 2a ArbZG bedeutet, darf nicht verkannt werden. Grundrechtliche Schutzpflichten sind, wie bereits dargestellt, auch nicht dadurch als erfüllt anzusehen, dass die Möglichkeit für abweichende Regelungen nur durch Tarifvertrag erfolgen kann.224 Wie gezeigt, sind die Tarifvertragsparteien weder grundrechtsgebunden noch unterliegen sie einer Bindung an grundrechtliche Schutzpflichten.225 Auch in tatsächlicher Hinsicht bieten tarifvertragliche Regelungen lediglich eine Richtigkeitschance. Insofern ist hier eine Zurücknahme des Grundrechtsschutzes unter Verweis auf den Tarifvertrag auch nicht zu legitimieren.226 Im Bereich des Grundrechtsschutzes nach Art. 2 Abs. 2 GG ist es aber wenig überzeugend, einen fehlenden oder unzureichenden gesetzlichen Rahmen für die tarifvertragliche Regelungsbefugnis damit zu rechtfertigen, dass wahrscheinlich keine gesundheitsschädlichen Tarifvertragsnormen vereinbart werden. Die gesetzliche Regelung muss solchen Regelungen von vorneherein mit klaren Grenzen gegenübertreten. Dies entspricht der Verpflichtung des Gesetzgebers zur Beachtung der grundrechtlichen Schutzpflichten aus Art. 2 Abs. 2 GG im Rahmen des Arbeitszeitrechts. Das BVerfG hat ausdrücklich gesetzliche Regelungen zum Schutz der Arbeitnehmer verlangt. Dieses Kriterium wird von § 7 Abs. 2a ArbZG nur noch formal erfüllt. 222 Schlottfeldt/Herrmann, Arbeitszeitgestaltung in Krankenhäusern und Pflegeeinrichtungen, S. 87 f. 223 Schlottfeldt/Herrmann, Arbeitszeitgestaltung in Krankenhäusern und Pflegeeinrichtungen, S. 88. 224 A. A. LAG Niedersachsen, 14.5.2009, – 7 Sa 1481/08 – Revision anhängig. 225 Vgl. dazu oben Kap. 6. 226 A. A. Schwarze, ZfA 2005, 81 (88).
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Der Gesetzgeber wäre aber verpflichtet gewesen, auch für die Tarifvertragsparteien jede Befugnis zu Regelungen, die potenziell gesundheitsschädlich sind, zu verschließen. Dazu sind zeitliche Obergrenzen ein effektives Mittel, das eine wirksame Rechtskontrolle zulässt. Die Tatsache, dass nach 14 Jahren der Inhalt des § 6 Abs. 1 ArbZG und dessen Rechtsfolgen hochgradig unklar sind und der § 7 Abs. 2a ArbZG gegenüber § 6 Abs. 1 ArbZG noch unpräziser und unbestimmter ist, spricht dafür, dass hier ein objektiv ineffektives Mittel gewählt wurde, um sich vor einer eigenständigen gesetzlichen Einschränkung der Abweichungsbefugnis nach § 7 Abs. 2a ArbZG herumzudrücken. Der Verweis auf tarifvertragliche Regelungen entbindet den Gesetzgeber aber in keiner Weise von seinen grundrechtlichen Schutzpflichten. Für diese gilt leicht abgewandelt, was Richardi mit bemerkenswerter Klarheit als gesetzgeberische Konzeption für die Zukunft einfordert: Was dem Arbeitsvertrag verboten ist, kann dem Tarifvertrag nicht erlaubt sein [ wenn das Verbot aufgrund grundrechtlicher Schutzpflichten erforderlich ist].227 Wo grundrechtliche Schutzpflichten zu realisieren sind, ist den Tarifvertragsparteien daher von Verfassungs wegen jede Regelungsbefugnis durch zwingende einfachgesetzliche Regelungen zu entziehen. Der Grundrechtsschutz ist Aufgabe des Staates. Diese muss er dann auch wahrnehmen. Wie gezeigt, rechtfertigt Art. 9 Abs. 3 GG keinerlei Zurückweichen des Gesetzgebers im Bereich grundrechtsschützender Regelungen.228 Und auch ansonsten sind einfachgesetzliche Schutznormen für Arbeitnehmer keine Verletzung der Tarifautonomie. Insofern wäre hier eine restriktivere Regelung mit rechtsklaren Verbotsnormen auch kein Eingriff in die Tarifautonomie. Eine Abwägung mit dieser ist daher hier nicht erforderlich. b) Transparenzgebot Die Gebote der Normenklarheit und der Normenbestimmtheit werden durch § 7 Abs. 2a ArbZG ebenfalls verletzt. Bei gesetzlichen Vorschriften, die der Umsetzung grundrechtlicher Schutzpflichten dienen, ist der Gesetzgeber verpflichtet, die entsprechenden Vorschriften in Ansehung des Gewichts des Schutzguts hinreichend konkret zu bestimmen. Beim Grundrecht aus Art. 2 Abs. 2 GG sind dabei strengere Anforderungen zu stellen als bei anderen Grundrechten. Hinsichtlich der erheblichen Gefährdungspotenziale von Nacht- und Überarbeit sind hier hinreichend konkrete Schutzmechanismen erforderlich. Dies gilt insbesondere deshalb, weil der Arbeitnehmer sein gesamtes Arbeitsleben bis hin zum Ruhestand auf seine Arbeitskraft angewiesen ist. Diese ist also nicht nur mit Blick auf seine Gesundheit, sondern auch zum Erhalt seiner sozialen Rolle und seiner Teil227
Richardi, NZA 2008, 1 (4). Vgl. dazu oben 3. Kap.; A. A. LAG Niedersachsen, 14.5.2009, – 7 Sa 1481/08 –, Rz. 63 – Revision anhängig. 228
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habe an der Gesellschaft erforderlich. Vorschriften, die in diesem Langzeitbereich Schutz gewähren, müssen daher nicht nur hinsichtlich der akuten konkreten Gefährdungen einen hinreichend belastbaren Schutz gewähren, sondern auch mit Blick auf die gesamte Erwerbsbiografie den Erhalt der Gesundheit sichern. Die Gebote der Normenbestimmtheit und Normenklarheit werden verletzt, wenn der Gesetzgeber, obwohl ihm konkrete Schutzinstrumente bekannt sind, die geeignet sind, die Schutzpflicht zu verwirklichen, zu unklaren Rechtsbegriffen greift und damit die Verwirklichung der Schutzpflicht beeinträchtigt. Eine solche Konstellation liegt im Bereich des Arbeitszeitrechts vor. Die gesundheitsgefährdenden Auswirkungen der Nachtarbeit stehen objektiv fest und werden auch nicht (mehr) bestritten.229 Es lassen sich objektiv sowohl die gesundheitsschädlichen Auswirkungen als auch die Parameter, die das Ausmaß der Gesundheitsgefährdung beeinflussen, ermitteln und dem Gesetzgeber sind diese Parameter zumindest größtenteils bekannt. Dennoch findet sich im Arbeitszeitgesetz, insbesondere im Zusammenhang mit der Nachtarbeit, eine überbordende Vielfalt an unbestimmten Rechtsbegriffen, Generalklauseln und unpräzisen dehnbaren Begrifflichkeiten, die das konkrete Schutzniveau im Gesetz faktisch nicht transparent erkennen lassen.230 Dass einzelne „Schutzvorschriften“ zusätzlich so ausgestaltet sind, dass „der Rechtsanspruch aus der Norm nur schwer durchzusetzen“ 231 ist, verstärkt die Problematik noch und weist auf eine weitere Grenze der gesetzgeberischen Maßnahmen hin: die der effektiven Durchsetzbarkeit der Normen, die die Schutzpflicht verwirklichen. Die Frage der Durchsetzbarkeit von Schutzansprüchen und damit ihre effektive Gewährleistung hat für die Frage, ob die Schutzpflicht in hinreichendem Maße verwirklicht wurde, eine erhebliche Bedeutung.232 Stehen Verfahren zur Verfügung die ungeeignet sind oder wird die Schutzpflicht in einer Weise im Gesetz verankert, die es dem Bürger kaum möglich macht, sich auf sie zu berufen (so z. B. § 6 Abs. 1 ArbZG), stellt dies allenfalls eine formale, aber keine tatsächliche Verwirklichung der grundrechtlichen Schutzpflichten dar. Auch dann, wenn man nicht davon ausgeht, dass bei der Verwirklichung grundrechtlicher Schutzpflichten ein Effektivitätsgebot gilt, kann man derartige Konstruktionen nicht hinnehmen. Dies betrifft insbesondere das Erfordernis der besonderen Regelungen in § 7 Abs. 2a ArbZG. Auch wenn man dem Gesetzgeber zubilligen kann, dass es durchaus zulässig ist, zum Gesundheitsschutz offene Begriffe zu verwenden, um Schutzlücken zu vermeiden, hilft dies nicht über die Verfassungswidrigkeit hinweg. Denn in § 7 Abs. 2a ArbZG führt der offene Begriff dazu, dass der Schutz 229
Vgl. dazu oben. 8. Kap, A. I. 1. a). Neumann/Biebl, ArbZG, § 6, Rn. 8, verweisen mit Recht auf verschwommene Begriffe wie „menschengerechte Gestaltung der Arbeitszeit“. 231 Neumann/Biebl, ArbZG, § 6, Rn. 8. 232 Vgl. dazu oben 4. Kap. D. III., E. I. 2. b), G. 230
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selbst faktisch beseitigt wird. Der Begriff ist unpräzise und unklar. Es lassen sich aus ihm keinerlei zeitliche Obergrenzen für die Abweichungsbefugnisse herleiten und Gesetzesbegründung und Wortlaut des Gesetzes widersprechen sich teilweise diametral. Gerade in Ansehung der Reichweite der Vorschrift, insbesondere mit Blick auf die Nachtarbeit, wäre es geboten gewesen, klar zu umschreiben, welche Regelungen geeignet sind, die Gesundheit sicher zu stellen, welche Anforderungen an solche Regelungen zu stellen sind und insbesondere eine zeitliche Höchstgrenze für die Abweichungsbefugnis festzulegen.233 Dabei wären zweifelsohne auch differenzierte Modelle und Bandbreitenlösungen für die einzelnen Befugnisse denkbar, sodass gesetzliche Abweichungsbefugnisse, die ohne Nachtarbeit auskommen, strengeren Anforderungen unterliegen als solche ohne Nachtarbeit. Die entsprechenden Regelungen müssen aber, um hinreichend klar zu sein, vorgeben, welche tarifvertraglichen Regelungen denkbar sind, um den Gesundheitsschutz sicher zu stellen. Dabei sind durchaus die in der Gesetzesbegründung angesprochenen Regelungen denkbar. Allerdings steht all dies unter dem Vorbehalt, dass die Vorschrift eine „bis zu x Stunden“-Regelung enthält oder zumindest die einzelnen für geeignet erklärten tarifvertraglichen Kompensationsmodelle mit rechtsklaren, transparenten Obergrenzen für die Abweichungsbefugnis oder Mindestanforderungen für die Kompensationsmodelle ausgestaltet werden. Als Beispiel seien hier die vom Gesetzgeber genannten Ruhepausen erwähnt, auch wenn der Gesetzgeber dieses Schutzinstrument in späteren Gesetzgebungsverfahren konterkariert hat. Was spricht dagegen, die Tarifvertragsparteien zu verpflichten, bei Gebrauch von der Vorschrift längere Ruhezeiten unmittelbar nach dem Einsatz vorzusehen und zwar je nach Art und Umfang der Verlängerung mit mindestens einer bestimmten Stundenzahl? Naheliegend wäre beispielsweise, auf einen über 12 verlängerten Dienst, sofern man diesen mit Blick auf die erheblichen Gefährdungen, die sich aus der reduzierten Leistungsfähigkeit der Arbeitnehmer bei der Erbringung von derartigen Diensten ergeben, überhaupt hinnehmen darf, mindestens 24 Stunden Ruhezeit folgen zu lassen oder bei einer Verlängerung der Gesamtarbeitszeit über 8 Stunden hinaus die Mindestruhezeit des § 5 Abs. 1 ArbZG um diese Überschreitung zu verlängern. Der Gesetzgeber kann sich hier in der Tat auf einen Ermessensspielraum berufen und auch andere Schranken können gezogen werden. Es ist aber evident, dass solche Regelungen möglich sind, dass diese einen effektiveren Grundrechtsschutz gewährleisten würden als die bestehende Regelung und dass sie den Grundrechtsschutz weitaus klarer und bestimmter festlegen würden. Der Gesetzgeber bleibt in § 7 Abs. 2a ArbZG nahezu alles schuldig, was in irgendeiner Weise eine wirksame Rechtskontrolle der abgeschlossenen Tarifverträge ermöglichen würde. Sieht man die hier zwar abgelehnte, aber nach wie vor bestehende Zurückhaltung des BAG, wenn es darum geht, Tarifverträge ohne hinreichenden gesetz233
Zum Gebot der Normenklarheit vgl. oben 4. Kap. D. II. 1. a).
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lichen Maßstab inhaltlich zu kontrollieren, so erhöht sich die Grundrechtsgefährdung noch. Im Übrigen, und das spricht ebenfalls für die Verfassungswidrigkeit des § 7 Abs. 2a ArbZG, zeigt die Rechtsprechung zu § 6 Abs. 1 ArbZG auf, dass der Rückgriff auf verschwommene Begrifflichkeiten dazu führt, dass die Rechtsprechung belastbare Kontrollmaßstäbe nicht entwickeln kann, um gesundheitsunverträgliche tarifvertragliche Regelungen zu identifizieren. Auch ist nochmals darauf hinzuweisen, dass eine judikative Umsetzung oder Ausfüllung grundrechtlicher Schutzaufträge gegenüber einer gesetzlichen Regelung grundsätzlich als qualitativ minderwertig anzusehen ist. Dies resultiert aus der defizitären Eignung der Rechtsprechung zur Maßstabsbildung und den bereits dargestellten qualitativen Unterschieden zwischen judikativer und legislativer Schutzpflichtenrealisierung.234 Gegenwärtig steht fest, dass Überarbeit und Nachtarbeit gesundheitsschädlich sind. Die Entwicklung der notwendigen Schranken ist aber immer mit Bewertungen und Einschätzungen verbunden, weil zwar die Gefährlichkeit feststeht, es aber eine Vielzahl von Stellschrauben zur Regulierung gibt. Dies rechtfertigt es nicht, dass der Gesetzgeber in Ansehung der Vielzahl der Möglichkeiten überhaupt keine ergreift und den Ball an die Rechtsprechung weiter spielt. Er ist gezwungen, sich mit den Gefährdungspotenzialen auseinanderzusetzen und Regelungen in einer Intensitätsstufe zu schaffen, die sowohl für die Tarifvertragsparteien, als auch für die Rechtsprechung transparent erkennen lässt, wann ein zu § 7 Abs. 2a ArbZG abgeschlossener Tarifvertrag die Gesundheit der Arbeitnehmer nicht gefährdet. Ohne Obergrenzen für die Abweichungsbefugnis ist dies nicht zu leisten. § 7 Abs. 2a ArbZG verletzt damit die Gebote der Normenbestimmtheit und der Normenklarheit. In Ansehung des Gewichts des Grundrechts aus Art. 2 Abs. 2 GG ist die Vorschrift zu unbestimmt und unklar gefasst. c) Begrenzte Zulässigkeit von Generalklauseln und unbestimmten Rechtsbegriffen Die Gebote der Normenklarheit und Normenbestimmtheit verweisen auch auf ein weiteres verfassungsrechtlich problematisches Defizit des § 7 Abs. 2a ArbZG: Der bereits angesprochene Rückgriff auf eine Generalklausel zum Grundrechtsschutz. Wie bereits gezeigt hängt die Zulässigkeit eines solchen Rückgriffs an seiner Eignung zur Verwirklichung der Schutzpflicht. Neben den Bedenken hinsichtlich der Normenklarheit und der Normenbestimmtheit sind auch mit Blick auf den effektiven Grundrechtsschutz durch § 7 Abs. 2a ArbZG 234
Vgl. dazu oben 4. Kap. D. und E.
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Bedenken zu erheben, weil dieser den Gesundheitsschutz selbst nicht hinreichend konkret festschreibt. Konstellationen wie diese, in denen die weitere Konkretisierung einer Vorschrift so weit gehen muss, dass verschiedene Rechtsanwender, seien es die Gerichte, die Verwaltung oder die Vertragsparteien auf tariflicher, betrieblicher oder arbeitsvertraglicher Ebene, nicht mehr oder nicht ohne Weiteres erkennen können, welche Anforderungen an normgerechtes Verhalten gestellt werden235, sind bedenklich. aa) Die Unregelbarkeit als Ausflucht des Gesetzgebers Unterlässt es der Gesetzgeber grundrechtliche Schutzpflichten umzusetzen oder erscheint ihm dies aus ökonomischen Gründen inopportun, so flüchtet er sich häufig in die Behauptung, der entsprechende Bereich sei aufgrund des Bedürfnisses an einzelfallbezogenen, differenzierten Regelungen nicht detailliert regelbar. Diese Behauptung stellt der Gesetzgeber im Arbeitszeitgesetz auf, soweit er im Rahmen des § 6 Abs. 1 ArbZG keine Präzisierung der Vorschrift vornimmt und im Rahmen der besonderen Regelungen des § 7 Abs. 2a ArbZG keine Vorgaben macht, wann eine „besondere Regelung“ im Sinne der Vorschrift vorliegt und wann diese „den Gesundheitsschutz sicherstellt“. Soweit es den § 6 Abs. 1 ArbZG betrifft, stellt sich die Frage, ob hier tatsächlich eine Unmöglichkeit der Präzision vorliegt. Dies ist aus mehreren Gründen nicht überzeugend. (1) Die Regelungen in anderen EU-Mitgliedstaaten Zunächst einmal zeigt ein Vergleich mit anderen Rechtsordnungen innerhalb der Europäischen Union, dass es eine Vielzahl von gesetzlichen Regelungen gibt, die weitaus präzisere Schutzvorschriften etablieren, die auch rechtlich tatsächlich kontrollfähig sind. Die entsprechenden Vorschriften sind auch zulässiger Vergleichsmaßstab für die deutsche Regelung, weil durch die Arbeitszeitrichtlinie der EG eine gemeinsame normative Grundlage für die jeweiligen Arbeitszeitregelungen besteht, die eine Angleichung der Rechtsvorschriften intendiert. Zunächst einmal ist hier § 28 Abs. 1 des finnischen Arbeitszeitgesetzes zu erwähnen.236 Dieser schreibt vor, dass im Rahmen der Schichtarbeit die Schichten regelmäßig wechseln müssen. Des Weiteren schreibt § 28 Abs. 2 vor, dass die Zahl der aufeinanderfolgenden Nachtschichten nicht mehr als 7 betragen darf. Diese beiden Regelungen bestechen weder durch besondere Komplexität, noch kann irgendein Zweifel daran bestehen, dass sie rechtlich voll kontrollfähig sind. 235 Siehe oben 4. Kap. D. II.; Habich, Sicherheits- und Gesundheitsschutz durch die Gestaltung von Nacht- und Schichtarbeit, S. 153; Nicklisch, BB 1983, 261 (263). 236 Vgl. zum Finnischen Arbeitszeitrecht Palm in: Henssler/Braun, Arbeitsrecht in Europa, Finnland Rz. 38 ff.
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Man kann solchen Regelungen auch nicht vorhalten, dass sie bei fortschreitenden arbeitswissenschaftlichen Erkenntnissen hinter diesen zurückbleiben oder dies mit Blick auf § 28 Abs. 2 bereits jetzt tun. Sie sind nämlich im Gegensatz zu § 6 Abs. 1 ArbZG ein tatsächlicher und kein formaler Schutz und damit jedenfalls in ihrer praktischen Wirksamkeit effektiver. Als weitere Vorschrift ist in diesem Zusammenhang auf Art. 36 Abs. 3 des spanischen Arbeitsgesetzbuchs zu verweisen. Dieser schreibt vor, dass bei der Organisation von Schichtarbeit das Rotationsprinzip zu beachten ist und kein Arbeitnehmer zu mehr als 2 Wochen Nachtarbeit herangezogen werden kann. Es ist also regelungstechnisch möglich, sowohl die Schichtfrequenzen als auch die Zahl der maximal zulässigen Nachtschichten zu regulieren. Auch der irische „Organisation of Working Time Act“ sieht Möglichkeiten für die Tarifvertragsparteien vor, von einzelnen Vorschriften abzuweichen, erstreckt diese Befugnis aber nur auf die „Section 11–13“, die die täglichen Ruhezeiten, die Pausen und die wöchentlichen Ruhezeiten umfasst, nicht aber die wöchentliche Arbeitszeit und die Nachtarbeit. Für diese darf allerdings der Ausgleichszeitraum für bestimmte Tätigkeitsbereiche ausgeweitet werden (Section 15). Für alle Abweichungsbefugnisse bleibt aber eine durchschnittliche wöchentliche Arbeitszeit von 48 Stunden erforderlich und es müssen gegenüber den Vorschriften, von denen abgewichen wird, gleichwertige Ruhezeiten gewährt werden. Auch hier zeigt sich, dass andere Länder den Bedürfnissen nach flexiblen Modellen Rechnung tragen, ohne dabei den gesetzlichen Schutzstandard zugunsten der Tarifvertragsparteien über Bord zu werfen. Es sei an dieser Stelle noch angemerkt, dass die Tarifverträge zu den entsprechenden Sektionen, bevor sie anwendbar werden, durch staatliche Stellen genehmigt werden müssen237, wobei der Gesundheitsschutz bei Abweichung von den Sektionen 11–13 gesondert zu prüfen ist (Section 24). Auch die niederländische Arbeitszeitregulierung sieht Abweichungsbefugnisse der Tarifvertragsparteien vor, für die allerdings die Höchstarbeitsstundenzahl und die Mindestruhezeiten verbindlich sind.238 Es ist allerdings darauf hinzuweisen, dass das österreichische Arbeitszeitgesetz gegenüber der deutschen Regelung noch geringere Anforderungen stellt, was den Umfang und die Voraussetzungen der Abweichungsbefugnisse hinsichtlich der Höchstarbeitszeiten betrifft.239 Bei den Ruhepausen sind zwar auch Verkürzungen zulässig, diese allerdings nur bei einer verlängerten anschließenden Ruhepause, die auch bei einer Verlängerung der werktäglichen Arbeitszeit durch Tarifvertrag notwendig wird. Im Gegensatz zum deutschen § 7 Abs. 9 ArbZG sind nach einem 12 Stunden überschreitenden Arbeitseinsatz 23 Stunden Ruhezeit er237
Erken in: Henssler/Braun, Arbeitsrecht in Europa, Irland, Rn. 30. Van Gijzen in: Henssler/Braun, Arbeitsrecht in Europa, Niederlande, Rn. 61, 67. 239 Vgl. § 9 Abs. 5, Abs. 2 und 3, sowie § 4a Abs. 3 und Abs. 4, § 4c, § 5 und § 5a ArbZG. 238
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forderlich (§ 12 Abs. 2b ArbZG (Österreich)), mehr als das doppelte der deutschen Regelung. Auch die Verlängerung der Nachtarbeitszeit durch Tarifvertrag ist zusätzlichen Restriktionen unterworfen (§ 12a ArbZG (Österreich)). Dies ist deshalb bemerkenswert, weil Österreich mit der AZO eine gemeinsame gesetzliche Wurzel mit der Bundesrepublik Deutschland hat. Auf dieser Basis hielten aber noch nicht einmal die Österreicher eine Aufgabe des besonderen Schutzes der Nachtarbeit zugunsten tarifvertraglicher Regelungen für erforderlich. Sie verwehren bei tarifvertraglichen Regelungen zur Nachtarbeit ausdrücklich bestimmte Abweichungen, die bei der täglichen Arbeitszeit zulässig sind (vgl. § 12a Abs. 7 ArbZG (Österreich) i.V. m. § 5 Abs. 3 ArbZG (Österreich)). Damit wird die Erwägung der Bundesregierung, der gewählte Standard in § 7 Abs. 2a ArbZG sei für flexible Arbeitszeitregulierungen erforderlich, vollends abseitig. Die wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse in Deutschland und Österreich differieren nicht in einer Weise, die die Diskrepanz zum deutschen Modell rechtfertigen würden. Vielmehr zeigt die Regulierung in Österreich ganz deutlich, dass es keine gesetzlichen Besonderheiten in der Bundesrepublik gibt, die eine derart weitreichende Abweichungsbefugnis, wie sie § 7 Abs. 2a ArbZG vorsieht, erforderlich machen. Die gemeinsame Rechtstradition ging bis zur Aufhebung der AZO 1994 in Deutschland und 1969 in Österreich. Auch in Polen gibt es Abweichungsbefugnisse für die Tarifvertragsparteien, die sich allerdings auf die Verlängerung des Ausgleichszeitraums für die durchschnittliche wöchentliche Arbeitszeit von 48 Stunden beschränken.240 Die italienische Regelung entspricht diesem Konzept und enthält keine Abweichungsbefugnisse für Nachtarbeit.241 Die portugiesische Regelung der Arbeitszeit lässt Erhöhungen der wöchentlichen Arbeitszeit auf 50–70 Stunden zu, allerdings als Sonderregelungen für bestimmte Dienstformen und Branchen. Ungarn lässt bei Arbeitsverhältnissen mit Bereitschaftscharakter bis zu 60 Stunden wöchentlich und 12 Stunden täglicher Arbeitszeit zu, Tarifverträge können für Bereitschaftsdienste Ausgleichszeiträume von bis zu 52 Wochen vorsehen, wenn zusätzlich Anforderungen erfüllt sind, die sich aus besonderen Betriebsformen, die das Gesetz festlegt, ergeben. Der Verfasser sieht sich außer Stande, für alle europäischen Staaten einen lückenlosen Überblick zu geben, allerdings sieht ein Teil der Staaten überhaupt keine Abweichungsbefugnisse für Tarifverträge vor oder hält an einer durchschnittlichen 40-Stundenwoche fest (z. B. Slowakei242). Bei einer Gesamtbe240 Zimoch-Tucholka/Malinkowska-Hyla in: Henssler/Braun, Arbeitsrecht in Europa, Polen, Rn. 39, 30 ff. 241 Radoccia in: Henssler/Braun, Arbeitsrecht in Europa, Italien, Rn. 220 ff. 242 Vgl. zur slowakischen Regulierung Markechová/Klimanová in: Henssler/Braun, Arbeitsrecht in Europa, Slowakei, Rn. 42 ff.
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trachtung lässt sich aber durchaus feststellen, dass das Ausmaß der zulässigen tarifvertraglichen Regelungen in der Bundesrepublik Deutschland einen sehr geringen Schutzstandard im Vergleich mit anderen Mitgliedsstaaten der Europäischen Union darstellt.
(2) Ergebnis Die Erwägung des Gesetzgebers, bestimmte Dienstformen würden diese Abweichungsbefugnisse im Ausmaß des § 7 Abs. 2a ArbZG erfordern, ist damit als willkürlich anzusehen. Bei einer rechtsvergleichenden Betrachtungsweise ist es ausgeschlossen, anzunehmen, eine Abweichungsbefugnis im Umfang des § 7 Abs. 2a ArbZG sei ökonomisch erforderlich. Noch weniger kann angenommen werden, der entsprechende Schutzstandard entspreche internationalen Standards. Vielmehr bleibt der Gesundheitsschutz nach § 7 Abs. 2a ArbZG deutlich hinter diesen zurück und zwar teilweise in gravierendem Umfang. Jedenfalls ist es wenig überzeugend anzunehmen, die spezifischen Besonderheiten von Arbeitsbereitschaft und Bereitschaftsdienst erforderten eine Abweichungsbefugnis ohne gesetzlich verankerte Obergrenze. Soweit ersichtlich, sieht die absolute Mehrzahl der europäischen Staaten dies als Selbstverständlichkeit an. Ebenso ist im europäischen Vergleich eine so weitgehende Öffnung der Nachtarbeit, wie sie § 7 Abs. 2a ArbZG gestattet, nicht aufzufinden. Vielmehr ist in den hier untersuchten Rechtsordnungen überall eine strengere Begrenzung der Nachtarbeit vorgesehen, teilweise wird diese überhaupt nicht zur Disposition der Tarifvertragsparteien gestellt. Die Schutzstandards für Nachtarbeit sind in keinem hier untersuchten Land so niedrig wie in Deutschland. Soweit der Gesetzgeber sich also auf eine eventuelle Regelungsunmöglichkeit zu stützen sucht, geht dies damit ins Leere. Vielmehr zeigt sich gerade an einem Vergleich mit anderen europäischen Staaten, dass der Gesetzgeber trotz der erheblichen gesundheitlichen Gefahren, die von Nacht- und Schichtarbeit für die Gesundheit ausgehen, sich selbst rudimentärster zwingender Regelungen enthält. Dies mag man für die rein arbeitsvertraglich regulierte Arbeitszeit noch damit rechtfertigen, dass § 6 ArbZG für diese mit dem Grundsatz der 8-StundenSchicht und dem Zeitausgleich innerhalb von 4 Wochen zumindest eine zeitliche Obergrenze definiert hat. Zwar liegt bereits hier eine verfassungswidrige Verletzung grundrechtlicher Schutzpflichten nahe, weil der Schutz hinsichtlich des Arbeitszeitrhythmus völlig außer Acht gelassen wird. Aber im Rahmen des § 7 Abs. 2a ArbZG wird selbst dieser Schutzmechanismus beseitigt. Dies für sich genommen ist schon verfassungsrechtlich problematisch, weil der Tarifvertrag dadurch faktisch keinen besonderen Schutzvorschriften zur Nachtarbeit mehr unterliegt. Das herausgehobene Schutzniveau, das diese ansonsten genießt, wird nivelliert und auf eine Ebene mit Regelungen zur werktäglichen Höchstarbeitszeit und den Ruhezeiten gestellt. Durch die Anforderung der „besonderen Regelun-
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gen“ ergibt sich nichts anderes. Dieser Wendung steht die Verfassungswidrigkeit vielmehr auf die Stirn geschrieben, soweit sie die Nachtarbeit betrifft. Auch hier zeigt die rechtsvergleichende Betrachtung, dass die anderen europäischen Staaten stets eine zeitliche Obergrenze für erforderlich halten, um den Gesundheitsschutz sicher zu stellen. Bei einer Gesamtbetrachtung zeigt sich jedenfalls, dass die Annahme des Gesetzgebers, eine präzisere Regelung als das Erfordernis der besonderen Regelungen sei nicht möglich oder nicht erforderlich, nicht trägt. Die entsprechende Annahme ist willkürlich und missachtet international selbstverständliche Schutzstandards in einer Weise, die nicht mehr als geringfügig erachtet werden kann. bb) Die Statik einer gesetzlichen Regelung als Negativeffekt Soweit im Rahmen des Gesundheitsschutzes und der Gefahrenabwehr auf unbestimmte Rechtsbegriffe zurückgegriffen wird, so soll dies regelmäßig dazu dienen, die Vorschriften eines Gesetzes nicht hinter der Wirklichkeit hinterherhinken zu lassen. Durch den unbestimmten Rechtsbegriff kann dynamisch auf neue wissenschaftliche und technische Erkenntnisse und Entwicklungen zurückgegriffen werden, die sich dem gesetzlichen Schutzstandard anpassen. Solche Regelungen sind zwar lange Zeit umstritten gewesen, werden aber mittlerweile akzeptiert.243 Dies beruht aber darauf, dass diese Vorschriften regelmäßig auf bestehende, anerkannte und durch Grenzwerte oder konkrete Vorgaben kontrollfähige Standards verweisen. Es macht eben einen Unterschied, ob der „Stand der Technik“ sich verändert und damit Grenzwerte verschoben werden oder ob sich eine arbeitswissenschaftliche Erkenntnis bildet, eine bestimmte Schichtplangestaltung sei ungesund. Denn im ersten Fall können die Gerichte bei der Kontrolle auf einen neuen abstrakt-generellen Grenzwert zurückgreifen. Im anderen Fall haben sie einen konkret-individuellen Schutzstandard, der durch eine Modifikation der einer Entscheidung zugrunde liegenden Konstellation schon wieder seiner Anwendbarkeit beraubt werden kann. Dies führt zu Grundrechtsschutz in case-lawManier, der mit Blick auf das Erfordernis gesetzlicher Regelungen unzulässig ist. Auch produzieren die oben genannten Empfehlungen für die Schicht- und Nachtarbeit244 ganz unterschiedlich konkretisierte und damit disparat rechtlich kontrollfähige Kriterien. So ließe sich zwar die Empfehlung, dass lediglich 2–4 Nachtschichten aufeinanderfolgen sollen, durchaus als Kriterium im Rahmen des § 6 Abs. 1 ArbZG heranziehen, wenn nicht Fachleute noch mehrere Jahre diskutieren müssten, bis dieses möglicherweise vom BAG als gesicherte arbeitswissenschaftliche Erkenntnis anerkannt wird.245 Die anderen Kriterien böten jedoch 243 244 245
Vgl. BVerfG 8.8.1978, NJW 1979, 359 (361) m.w. N. Vgl. dazu oben 8. Kap. A. I. 1. Vgl. dazu oben 8. Kap. A. I. 3. a) aa).
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auch dann, wenn sie zur Anwendung kämen, kaum eine Möglichkeit, sie in rechtlich konkrete Grenzwerte umzusetzen. Wann regelmäßig freie Wochenenden vorliegen und ob diese auch durch anderweitige Regelungen kompensiert werden können, ist eine durch die Gerichte faktisch nicht in einen abstrakt-generellen Maßstab umsetzbare Frage. Hier bestünde, vorbehaltlich, dass das BAG irgendwann einmal arbeitswissenschaftlich gesicherte Erkenntnisse hinsichtlich der Arbeitszeit anerkennt, die Gefahr einer diffusen Einzelfalljudikatur. Diese würde nichts als Rechtsunsicherheit produzieren und den Grundsätzen der Normenklarheit und Normenbestimmtheit keine Rechnung tragen.246 Denn solange die Arbeitswissenschaft nicht Vorgaben entwickelt, die vorschreiben, wie viele und mit welchen Abständen freie Wochenenden im Monat zu gewähren sind, bleibt das BAG auf weiche, unpräzise Kontrollmaßstäbe verwiesen. Insofern lässt sich sagen, dass der Zweck des unbestimmten Rechtsbegriffs, den gesetzlichen Schutzstandard stets auf der Höhe der Zeit zu halten und damit unbestreitbar einen Beitrag zum Gesundheitsschutz zu leisten, durch § 6 Abs. 1 ArbZG in sein Gegenteil verkehrt wird. Dieser kann nämlich kaum rechtlich belastbare Kontrollmaßstäbe definieren, die im konkreten Rechtsstreit einen Anspruch auf eine bestimmte Arbeitszeitgestaltung zulassen. In einer solchen Situation dient der unbestimmte Rechtsbegriff also nicht dazu, den Bürger zu schützen, sondern seinen Schutz auszuhöhlen und ineffektiv zu machen. Selbst dann also, wenn man die oben genannten Erkenntnisse als arbeitswissenschaftlich gesichert ansieht, bleiben Grauzonen und Schutzlücken. Ohne Beratung kann weder der Betriebsrat, noch der Arbeitgeber, geschweige denn ein Arbeitnehmer erkennen, was § 6 Abs. 1 ArbZG überhaupt heißen könnte. Dies zeigt auch die Tatsache, dass in JURIS247 kein einziges Verfahren zu finden ist, das irgendeine Arbeitszeitregelung wegen Verstoßes gegen § 6 Abs. 1 ArbZG für unwirksam erklärt. Ein nach mittlerweile 15 Jahren Geltung der Vorschrift bemerkenswertes Ergebnis. Die rechtsschutzvereitelnde Wirkung der unzureichenden Konkretisierung von Inhalt und Rechtsfolgen des § 6 Abs. 1 ArbZG dürfte kaum zu bestreiten sein. Überhaupt existieren fast keine Verfahren, in denen die Vorschrift überhaupt herangezogen worden wäre. Das wäre an und für sich schon bedenklich. Wenn aber nicht einmal das höchste deutsche Arbeitsgericht in der Lage ist, einer Vorschrift konkreten Vorgaben abzuringen, dann muss man wohl konstatieren, dass hier eine Verletzung des Gebotes der Normenklarheit und Normenbestimmtheit vorliegt. Denn bei Vorschriften, die dem Gesundheitsschutz dienen, darf erwartet werden, dass der Gesetzgeber eine Vorschrift so fasst, dass sie tatsächlichen Grundrechtsschutz gewährleistet. Diese Bedenken gelten für § 7 Abs. 2a ArbZG und die in ihm enthaltenen „besonderen Regelungen“ umso mehr. Denn während § 6 Abs. 1 ArbZG zumindest noch eine Instanz benennt, die 246 247
Vgl. dazu 4. Kap. D. II. 1. a). Stand: August 2009.
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zur Ausfüllung der Vorschrift zuständig ist, so lässt § 7 Abs. 2a ArbZG die Arbeitsgerichte allein. Die Vorschrift ist noch unbestimmter und noch unpräziser als § 6 Abs. 1 ArbZG. Es bleibt unklar, wann eine tarifvertragliche Regelung „besonders“ ist. Wann der Gesundheitsschutz sicher gestellt ist, ebenso. Solange das unklar bleibt, bedeutet dies eine massive Risikoerhöhung für die Arbeitnehmer, weil sie bis zur Ausfüllung der Vorschrift durch die Gerichte quasi als Versuchskaninchen missbraucht werden, anhand derer sich hierzu eine Rechtsprechung entwickeln kann. d) Gebot konsequenter Zweckverfolgung Der Effektivitätsgrundsatz legt nahe, dass der Gesetzgeber für vergleichbare Sachverhalte vergleichbare Schutzvorschriften schaffen muss. Jedenfalls muss das Schutzkonzept des Gesetzgebers aber in sich schlüssig sein und insbesondere bei gestuften Schutzmodellen die Erforderlichkeit der Abstufungen begründen. Auch mit Blick darauf erscheint § 7 Abs. 2a ArbZG bedenklich. aa) Systemwiderspruch zum Schutz besonderer Personengruppen Ein weiterer besonders deutlicher Widerspruch zum Gebot konsequenter Zweckverfolgung besteht mit Blick auf den Schutz besonderer Personengruppen nach § 8 MuSchG und § 14 JArbSchG. Hier werden zum Schutz besonderer Personengruppen Beschäftigungsverbote statuiert, die unter bestimmten Voraussetzungen geöffnet werden. Diese Abweichungsmöglichkeiten weisen allerdings die Besonderheit auf, dass der Gesetzgeber den Kreis der Betriebe und Wirtschaftszweige, in denen eine Abweichung in Betracht kommt, festlegt. Die Anwendbarkeit der Vorschrift wird also an die Bedürfnisse bestimmter Wirtschaftszweige gekoppelt, in denen eine Abweichung vom Nachtarbeitsschutz gerechtfertigt erscheint. Warum dem Gesetzgeber, dem diese Leistung in enumerativer und überaus transparenter Weise in zwei Gesetzen gelungen ist, zu derartigen Überlegungen im Rahmen des ArbZG nicht mehr in der Lage sein sollte, ist nicht ersichtlich. Der naheliegende Einwand, es handele sich bei den vorgenannten Schutzvorschriften eben um eng begrenzte Personengruppen mit besonderer Schutzbedürftigkeit, bei denen es dem Gesetzgeber leichter falle, den Anwendungsbereich streng zu fassen, geht in mehrerer Hinsicht ins Leere. Das Ausmaß der individuellen Schutzbedürftigkeit ändert nichts daran, dass jedenfalls die Identifizierung von Wirtschaftskreisen, in denen ein Bedürfnis nach abweichenden Regelungen besteht, möglich ist. Ob man diese dann in tatsächlicher Hinsicht noch enumerativ benennen muss, mag man noch offen lassen. Jedenfalls aber wäre es dem Gesetzgeber möglich gewesen, eine entsprechende Einschränkung des Anwendungsbereichs in Form von Regelbeispielen zuzulassen. Eine solche Einschränkungsmöglichkeit scheitert also selbst dann, wenn man eine differierende Interessenlage anerkennt,
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nicht an ihrer objektiven Unmöglichkeit, sondern am subjektiven Unwillen des Gesetzgebers. Dies bestätigt sich nicht nur aufgrund der systematischen Betrachtung der Regelungen des Arbeitsschutzrechts, sondern auch mit Blick auf die Regelungen des ArbZG. Auch ein europäischer Vergleich zeigt, dass eine Vielzahl von Mitgliedstaaten Abweichungsbefugnisse oder Ausnahmevorschriften für bestimmte gesetzlich festgeschriebene Tätigkeiten oder Branchen vorsehen.248 An diesem Befund ändert sich auch mit Blick auf § 8 ArbZG nichts. Nach § 8 S. 1 ArbZG kann die Bundesregierung per Rechtsverordnung für einzelne Beschäftigungsbereiche, für bestimmte Arbeiten oder für bestimmte Arbeitnehmergruppen, bei denen besondere Gefährdungen zu erwarten sind, die Abweichungsmöglichkeit der Tarifvertragsparteien beschränken, soweit dies zum Schutz der Gesundheit der Arbeitnehmer erforderlich ist. bb) Systemwiderspruch zu § 7 Abs. 1 und 2 ArbZG Mit Blick auf das Gebot der konsequenten Zweckverfolgung bestehen hinsichtlich der tarifdispositiven Gestaltung des § 7 Abs. 2a ArbZG gleich in mehrerer Hinsicht bedenken. § 7 Abs. 2a ArbZG kumuliert die Abweichungsbefugnisse von §§ 3, 5 Abs. 1 und 6 Abs. 2 ArbZG. Diese sind im § 7 Abs. 1 und 2 ArbZG aber für sich genommen individuell geregelt und dort auch einzelfallbezogenen Restriktionen unterworfen. Dabei ist zunächst auf die immanente Begrenzung durch § 7 Abs. 8 ArbZG hinzuweisen. Dieser beschränkt die Abweichungsbefugnisse von der werktäglichen Höchstarbeitszeit und dem Ausgleichszeitraum, in dem diese durchschnittlich erreicht werden muss. So muss bei Gebrauch dieser Möglichkeiten stets eine Beschränkung auf 48 Stunden durchschnittlich im Zeitraum von 12 Monaten erfolgen. Dies schafft eine tatsächliche Höchstarbeitszeit, die im Rahmen der §§ 7 Abs. 1 und 2 ArbZG nicht durch Tarifvertrag aufgehoben werden kann. Sie dient als Begrenzung der Tarifdispositivität nach § 7 Abs. 1 Nr. 1 und 4, Abs. 2 ArbZG. Damit läuft die Abweichungsbefugnis nach § 7 Abs. 1 Nr. 1 von § 3 ArbZG faktisch auf eine Verlängerungsmöglichkeit der täglichen Arbeitszeit hinaus, ohne dass über den Ausgleichszeitraum hinaus eine Mehrarbeit über 48 Stunden wöchentlich bestehen kann. Damit wird der Schutzgehalt des § 3 zwar in seiner werktäglichen Dimension teilweise preisgegeben, die auf den Ausgleichszeitraum bezogene maximale Arbeitszeit bleibt aber immer gleich. Insofern handelt es sich um eine konditionierte Tariföffnung, die zwar gesundheitlich bedenklich ist, aber eine klare, kontrollfähige und zahlenmäßig bestimmte Obergrenze setzt. Die Abweichungsbefugnis von § 6 Abs. 2 in § 7 Abs. 1 Nr. 4 ArbZG wird ebenfalls dieser Begrenzung unterworfen. Damit entsteht eine bemerkenswerte 248
Vgl. dazu 8. Kap. A. I. 5. c) aa) (1).
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gesetzliche Perplexität. Denn der § 7 Abs. 1 Nr. 4 ArbZG unterscheidet sich im Verhältnis zu § 7 Abs. 2a ArbZG nur gering. § 7 Abs. 1 Nr. 4 ArbZG gestattet den Tarifvertragsparteien die Abweichung von § 6 Abs. 2 ArbZG. Die Tarifvertragsparteien dürfen die werktägliche Arbeitszeit bei Nachtarbeit über 10 Stunden hinaus verlängern und den Ausgleichszeitraum abweichend bestimmen. Bereits an dieser Stelle zeigt sich ein verfassungsrechtlich bedenklicher Systembruch mit Blick auf die Folgerichtigkeit der gesetzlichen Schutzkonzeption. Denn die Regelungen in § 3 ArbZG und § 6 Abs. 2 ArbZG enthalten unterschiedliche Ausgleichszeiträume, wenn die Arbeitszeit über 8 Stunden werktäglich hinaus verlängert wird. Während nach § 3 S. 2 ArbZG bei derartigen Verlängerungen 6 Monate als Ausgleichszeitraum auflaufen, beträgt dieser nach § 6 Abs. 2 S. 2 ArbZG lediglich 4 Wochen. Begründet hat der Gesetzgeber diesen Ausgleichszeitraum mit dem Gesundheitsschutz der Nachtarbeitnehmer, der einen gegenüber den Tagarbeitnehmern verkürzten Ausgleichszeitraum erfordere.249 Folgerichtig bedeutet dies, dass der Gesetzgeber davon ausgeht, bei einer Verlängerung der werktäglichen Nachtarbeitszeit seien kürzere Ausgleichszeiträume erforderlich als bei einer Verlängerung der werktäglichen Arbeitszeit, um den Gesundheitsschutz zu wahren. Dieser Grundsatz wird aber durch § 7 Abs. 1 Nr. 4 b) ArbZG und § 7 Abs. 2a ArbZG aufgegeben, ohne dass ersichtlich wäre, warum bei tarifvertraglicher Regelung der Grundsatz nicht mehr zu gelten braucht. Die Kommentarliteratur weist darauf hin, ein einheitlicher Ausgleichszeitraum könne damit begründet werden, dass auf diesem Wege Gleitzeit erleichtert, übersichtlicher gestaltet werden und leichter abgerechnet werden könne.250 Andererseits ist darauf hinzuweisen, dass gegen die Verfassungsmäßigkeit des § 6 Abs. 2 ArbZG bereits verfassungsrechtliche Bedenken erhoben werden, weil der Schutzauftrag des BVerfG durch diesen nicht erfüllt werde oder die Regelung für verfassungsrechtlich problematisch gehalten wird.251 Soweit die Vorschrift „gerade noch“ für verfassungsgemäß gehalten wird, wird dies mit der „Verkürzung der Ausgleichszeiträume“ für Nachtarbeit auf 4 Wochen begründet! Geht man mit dieser Ansicht davon aus, dass den verkürzten Ausgleichszeiträumen für die Frage der Verfassungsmäßigkeit ein erhebliches Gewicht zukommt, erscheint die Aufgabe dieses Schutzinstruments in § 7 Abs. 2a ArbZG und dessen Nivellierung gegenüber der Tagarbeit in § 7 Abs. 1 Nr. 4 b) ArbZG als Inkonsequenz des Gesetzgebers. Dies ist nicht folgerichtig und damit verfassungsrechtlich bedenklich. Der hier zu kontrollierende § 7 Abs. 2a ArbZG sprengt selbst die insofern erhaltene Restsystematik des Gesetzes, dass der Schutz der Nachtarbeitnehmer nicht hinter dem
249 BT-Drs. 12/5888, S. 26; diese Sichtweise der Vorschrift wird im Schrifttum uneingeschränkt geteilt: Baeck/Deutsch, § 6, Rn. 31. 250 Neumann/Biebl, ArbZG, § 7, Rn. 30. 251 Rauschenberg in: Linnenkohl/Rauschenberg, ArbZG, § 6, Rn. 48.
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der Tagarbeitnehmer zurückbleibt. Dies wird nämlich durch § 7 Abs. 8 ArbZG gesichert, der zumindest sicher stellt, dass der maximale Ausgleichszeitraum für beide Beschäftigungsformen einheitlich ist. § 7 Abs. 2a ArbZG hingegen lässt die Abweichung von § 6 Abs. 2 ArbZG auch ohne Zeitausgleich zu und zwar dann, wenn die bereits erwähnten nebulösen besonderen Regelungen bestehen, die den Gesundheitsschutz sicher stellen. Dies bedeutet aber, dass § 7 Abs. 1 Nr. 4 b) ArbZG nach dem Wortlaut der Vorschriften nur dann zur Anwendung kommt, wenn solche besonderen Regelungen fehlen. Denn ansonsten wird sein Inhalt, jedenfalls dem Wortlaut nach, vollumfänglich von § 7 Abs. 2a ArbZG konsumiert. Bereits hier wird fragwürdig, womit der Gesetzgeber diese nahezu vollständige Preisgabe seines eigenen Schutzkonzepts von Höchstarbeitszeiten kombiniert mit Ausgleichszeiträumen rechtfertigen möchte. Es ist nämlich in § 7 Abs. 2a ArbZG keine der ansonsten in der gesetzlichen Systematik bestehenden Schutzregelungen, abgesehen vom Anwendungsbereich252, enthalten. Es findet also hier auch keine Aufweichung, sondern eine Auswechslung des gesetzlichen Schutzmechanismus statt. Es fällt mit § 7 Abs. 2a ArbZG auch die letzte Schutzwirkung des § 6 Abs. 2 ArbZG, die in § 7 Abs. 1 Nr. 4 i.V. m. § 7 Abs. 8 ArbZG noch erhalten bleibt: der zwingende Ausgleichszeitraum. Für die viel weiterreichende Abweichungsbefugnis nach § 7 Abs. 2a ArbZG wird also ein viel geringerer Schutzmechanismus eingezogen. Denn durch die Formulierung des § 7 Abs. 8 und 2a ArbZG kann man wohl ohne eine Auslegung contra legem nicht mehr vertreten, dass die Tarifvertragsparteien bei Gebrauch von § 7 Abs. 2a ArbZG überhaupt Ausgleichszeiträume festlegen müssen.253 Soweit man hier einwenden möchte, der Kontrollmaßstab nach § 7 Abs. 2a ArbZG sei gegenüber dem des § 7 Abs. 1 Nr. 4 b) i.V. m. § 7 Abs. 8 ArbZG nicht geringer, sondern aufgrund des Erfordernisses besonderer Regelungen lediglich ein anderer, sei nochmals darauf hingewiesen, dass die „besonderen Regelungen“ ein weitgehend insuffizienter, unkonkreter und rechtlich faktisch nicht kontrollfähiger Maßstab sind, der derartig unpräzise ist, dass dessen Inhalt kaum zu ermitteln ist. Des Weiteren sei in diesem Zusammenhang darauf hingewiesen, dass die Kumulation von Abweichungserfordernissen, wie sie § 7 Abs. 2a ArbZG enthält, ähnlich in den § 7 Abs. 2 Nr. 2–4 ArbZG enthalten war. Diese sind allerdings zum einen an den Ausgleichszeitraum nach § 7 Abs. 8 ArbZG gebunden und damit an eine durchschnittliche wöchentliche Höchstarbeitszeit von 48 Stunden, zum anderen ist ihr Anwendungsbereich von vorneherein eingegrenzt auf bestimmte Tätigkeiten. Der Gesetzgeber war also auch hier in der Lage, relativ konkrete Tätigkeitsbereiche zu ermitteln, bei denen er erheblichen Flexibilisierungsbedarf für den Tarifvertrag sah, etwa die Landwirtschaft während der Ernte-
252 Die Beschränkung auf Arbeitsbereitschaft und Bereitschaftsdienst ist in § 7 Abs. 1 Nrn. 1a), 4a) und Abs. 2a enthalten. 253 Baeck/Deutsch, ArbZG, § 7, Rn. 110.
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zeit und den Pflegebereich. Darüber hinaus waren bei den hier in Rede stehenden Ausnahmevorschriften die Abweichungen nur dann zulässig, wenn die Eigenarten der erfassten Tätigkeiten die Abweichung erforderten (§ 7 Abs. 2 Nr. 3 ArbZG für die Pflege) oder eine saisonale Besonderheit (§ 7 Abs. 2 Nr. 2 ArbZG: Bestellungs- und Erntezeit) bestand. Insofern war auch hier noch eine zusätzliche Schranke vorhanden, weil jeweils anhand der Tätigkeit überprüft werden musste, ob eine Abweichung gerechtfertigt war. Auch dieser Schutzmechanismus fehlt in § 7 Abs. 2a ArbZG. Auch hier liegt ein Einwand nahe. Während die Abweichungsbefugnisse nach § 7 Abs. 2 Nr. 2–3 ArbZG sich auf sämtliche Dienstformen erstrecken, gilt § 7 Abs. 2a ArbZG nur für den Bereitschaftsdienst und die Arbeitsbereitschaft. Insofern ist auch dieser auf eine konkrete Dienstform begrenzt, allerdings im Gegensatz zu den Abweichungsbefugnissen nach § 7 Abs. 2 ArbZG ohne Obergrenze.254 cc) Angemessenheitsprüfung Sieht man die grundrechtliche Schutzposition aus Art. 2 Abs. 2 GG, so zeigt sich mit Blick auf § 7 Abs. 2a ArbZG ein erhebliches Optimierungspotenzial für die Erfüllung der grundrechtlichen Schutzpflichten. Dass gegen diese Schutzpflicht die Tarifautonomie nicht in Stellung gebracht werden kann, ist bereits oben dargelegt. Die Tarifautonomie gewährt kein Abwehrrecht gegen einseitig zwingende, staatliche Schutzvorschriften für Arbeitnehmer.255 Es bestehen in erheblichem Umfang geeignetere und effektivere gesundheitsschützendere Regelungen, als sie in § 7 Abs. 2a ArbZG enthalten sind. Dies sind beispielsweise gesetzliche Höchstgrenzen für die einzelnen Abweichungsbefugnisse, verlängerte Ruhezeiten oder zusätzliche Ruhetage. All dies bleibt der Gesetzgeber schuldig. Es bleibt daher als gegenläufige Grundrechtsposition nur die Arbeitsvertragsfreiheit der Arbeitgeber. Aber auch diese rechtfertigt keine Arbeitszeitmodelle mit über 90 Stunden wöchentlicher Arbeitszeit bei Bereitschaftsdienst und Arbeitsbereitschaft. Dies zeigt bereits der europäische Vergleich. Aber auch ansonsten tragen lediglich begründungsbedürftige Ausnahmekonstellationen Abweichungsbefugnisse von den Grundnormen des Arbeitszeitrechts. In welchem Umfang daher die Abweichungsbefugnis der Tarifvertragsparteien einzuschränken ist, unterliegt letztendlich der Einschätzungsprärogative des Gesetzgebers. Dabei muss dieser sich allerdings dazu durchringen, die entsprechenden Gefährdungspotenziale einer Bewertung zu unterziehen und darauf basierend Grenzwerte festzulegen. Das diese unter den gegenwärtig möglichen 90-Stunden-Modellen liegen müssen, dürfte klar sein. Naheliegend wäre die auch in anderen Staaten üb254 255
Baeck/Deutsch, ArbZG, § 7, Rn. 110. Vgl. dazu 3. Kap.
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liche Reduktion auf ca. 56 Stunden. Im Ergebnis gibt es keinerlei nachvollziehbare Rechtfertigung für eine derartig weitgehende Befugnis, wie sie § 7 Abs. 2a ArbZG statuiert. Der positive Nachweis, dass einzelne Branchen derartige Befugnisse benötigen, lässt sich nicht erbringen. e) Zusammenfassung Die tarifdispositive Gestaltung des § 7 Abs. 2a ArbZG ist verfassungswidrig. Sie verletzt die staatlichen Schutzpflichten aus Art. 2 Abs. 2 GG. Die Vorschrift setzt keine hinreichend konkreten und effektiven Schutzmechanismen und ermöglicht Arbeitszeitgestaltungen, die die physische und psychische Leistungsfähigkeit überfordern. Die Vorschrift missachtet die Vorgaben des BVerfG für einen gesetzlich geregelten Schutz von Nachtarbeitnehmern und nivelliert den für diese bestehenden gesetzlichen Schutz aus § 6 Abs. 2 ArbZG. Dabei unterschreitet das Schutzniveau des § 7 Abs. 2a ArbZG die weitgehend ähnlichen Vorschriften der anderen Mitgliedstaaten der Europäischen Union in einer Weise, die Zweifel daran aufkommen lässt, ob das Schutzniveau noch dem normalen Maße einer westlichen Industrienation entspricht. Soweit die Vorschrift rudimentär versucht, den Grundrechtsschutz zu gewährleisten, sind die entsprechenden Mechanismen intransparent, unbestimmt, in ihren tatbestandlichen Anforderungen unklar und mit Blick auf den wirksamen Grundrechtsschutz ineffektiv ausgestaltet. 6. Art. 6 GG Ein weiterer Gesichtspunkt, der § 7 Abs. 2a ArbZG bedenklich erscheinen lässt, kann hier nur kurz angerissen werden. Er betrifft die Frage der Vereinbarkeit von Familie und Beruf256, die nicht nur angesichts des demografischen Wandels, sondern auch angesichts der Judikatur des BVerfG für das Arbeitszeitrecht von erheblicher Relevanz ist. Im Grundsatz hat der Staat auch im Arbeitsrecht die besondere Pflicht, Regelungen mit besonderer Rücksicht auf Familie und Kinder zu erwägen.257 Der Gesetzgeber ist verpflichtet, Grundlagen dafür zu schaffen, dass Familientätigkeit und Erwerbstätigkeit aufeinander abgestimmt werden können und die Wahrnehmung der familiären Erziehungsaufgabe nicht zu beruflichen Nachteilen führt. Das BVerfG hat dabei darauf hingewiesen, dass auch die Möglichkeit, am Familienleben teilzunehmen, und zwar bei voller Berufstätigkeit, ein gewichtiger Aspekt bei der Arbeitszeitregulierung ist.258 Der Arbeitszeitschutz unterliegt 256 Zu Bedeutung der Arbeitszeitflexibilisierung in diesem Zusammenhang vgl. Jürgens, Flexible Zeiten in der Arbeitswelt, S. 169 ff. 257 BVerfG 28.5.1993, NJW 1993, 1751 (1755). 258 BVerfG 9.6.2004, NJW 2004, 2363 (2367).
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damit auch der Anforderung, dass er, insbesondere in Bereichen, in denen eine bestimmte Gruppierung besonders benachteiligt zu werden droht, „einer unzumutbaren Belastung durch Arbeitszeitlagen, die einem geregelten Familienleben zuwiderlaufen“ 259, entgegentreten muss. Für Nachtarbeiter besteht hier ein besonderes Schutzbedürfnis.260 Dazu dient auch die Gewährleistung eines weitgehend mit beruflicher Arbeitszeit nicht belegten Abends und von Freizeit am Wochenende.261 Zu dieser steht dem Gesetzgeber auch das Instrumentarium einer Begrenzung der Häufigkeit der abendlichen Inanspruchnahme der Arbeitnehmer und der Festlegung von Vorschriften zum Zeitausgleich zur Verfügung.262 Das BVerfG hat jedenfalls einen Ausbau des Arbeitszeitschutzes für besonders schutzbedürftige Gruppen von Arbeitnehmern grundsätzlich als verfassungsrechtlich geboten angesehen und in diesem Zusammenhang auf die Sondersituation von Arbeitnehmerfamilien mit kleinen Kindern hingewiesen. Diesen Schutzanspruch gibt § 7 Abs. 2a ArbZG nahezu vollständig preis. Soweit dagegen auf § 6 Abs. 4 b) ArbZG verwiesen wird, überzeugt das jedenfalls nicht für Familien mit Kindern, die älter sind als 12 Jahre. Für diese fehlt jede Auffangregelung. Insofern trägt das Gesetz den Anforderungen des BVerfG nicht vollständig Rechnung.263 § 7 Abs. 2a ArbZG konterkariert diesen Zweck bis zur Unkenntlichkeit. Dies legt nahe, dass auch hier eine verfassungswidrige Missachtung grundrechtlicher Schutzpflichten vorliegt. 7. Ergebnis In Ansehung der erheblichen Bedeutung, die die Gesundheit für die Erwerbsfähigkeit und damit für die Teilhabe an der Gesellschaft, die Entfaltung der Persönlichkeit und den Aufbau einer Finanzierung des Ruhestands hat, ist der Gesundheitsschutz von Arbeitnehmern eine nicht nur mit Blick auf Art. 2 Abs. 2 GG gewichtige Aufgabe des Staates. Auch mit Blick auf die demografische Entwicklung und die Interessen von Eltern und Kindern an familiärem Zusammenleben und der Möglichkeit, elterliche Erziehung zu gewähren und zu erhalten, bedarf die Arbeitszeit daher der Regulierung. Diese Regulierung muss dabei nicht nur akut gesundheitsschädliche Betätigungen durch effektive Schutzmaßnahmen so weit wie möglich gesundheitsverträglich gestalten. Sie muss auch solchen Arbeitsformen, die Langzeitschäden verursachen und die Erwerbsfähigkeit auf lange Sicht zu beeinträchtigen drohen, vorbeugen. Diesen beiden Zwecken dient der zwingende Arbeitszeitschutz durch das ArbZG. Dabei werden eine 259 260 261 262 263
BVerfG 9.6.2004, NJW 2004, 2363 (2367). BVerfG 28.1.1992, NJW 1992, 964 (965). BVerfG 9.6.2004, NJW 2004, 2363 (2365). BVerfG 9.6.2004, NJW 2004, 2363 (2369). Rauschenberg in: Linnenkohl/Rauschenberg, ArbZG, § 6, Rn. 68.
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8. Kap.: Grenzen tarifdispositiven Gesetzesrechts
Vielzahl von Anpassungsmöglichkeiten für besondere Beschäftigungsformen geschaffen und in Ansehung der Tätigkeiten Abweichungsmöglichkeiten zugunsten der Tarifvertragsparteien eröffnet. Das mit jeder Preisgabe des zwingenden Charakters von Vorschriften des ArbZG damit zwangsläufig auch ein Rückbau des gesetzlichen Schutzniveaus einhergeht, ist nicht zu bestreiten. Für diese Risikoerhöhung mag es wirtschaftliche Überlegungen geben, seien sie überzeugend oder nicht, aber auch die Überlegung, den Tarifvertragsparteien keine Ergebnisse vorgeben zu wollen. Der letztere Aspekt ist, soweit er Normen betrifft, die in Verwirklichung grundrechtlicher Schutzpflichten geschaffen wurden, inakzeptabel. Die Tarifvertragsparteien sind keine Instanzen, denen von der verfassungsrechtlichen Ordnung die Etablierung eines grundrechtskonformen Regelungsgefüges der Arbeitsbeziehungen auferlegt ist. Diese Aufgabe ist staatlich und nicht zu delegieren. Wenn der Rückbau des zwingenden Arbeitnehmerschutzrechts durch kollektives Arbeitsrecht mit dem Respekt vor der Tarifautonomie verbrämt wird, missachtet dies den Sinn und Zweck der verfassungsrechtlichen Gewährleistung der Tarifautonomie. Sie dient der Etablierung eines Verfahrens, das die Privatautonomie effektuiert. Dieser Effekt wird konterkariert, wenn der Staat meint, sich unter Verweis auf die Verfahrensrichtigkeit seinen verfassungsrechtlichen Schutzpflichten entziehen zu können. § 7 Abs. 2a ArbZG ist deswegen nicht nur wegen einer Verletzung von Art. 2 Abs. 2 GG verfassungswidrig und mit Blick auf Art. 6 Abs. 1 GG bedenklich. Er stellt einen in seiner Grundstruktur problematischen Exzess der Staatsmandatierung der Tarifvertragsparteien dar, der originäre staatliche Aufgaben, nämlich die Maßstabsbildung für das öffentliche Gefahrenabwehrrecht, Privaten zuweist. Wenn der Staat zu einer solch weitgehenden Aufgabe seiner eigenen Befugnisse greift, muss er zumindest gewährleisten, dass die entfesselten privaten Kräfte sich in den Grenzen des Grundrechtsschutzes halten und diese durch eine umfassende Rahmenregulierung binden. § 7 Abs. 2a ArbZG enthält keine solchen Bindungen. Er steht damit paradigmatisch für eine gesetzliche Konzeption, die staatliche Schutzvorschriften zurückschraubt und private Handlungsmöglichkeiten eröffnet, ohne zu gewährleisten, dass deren Ergebnisse auf Basis der Verfassungsordnung auch akzeptabel sind. Auf dem Weg über die Abweichungsbefugnisse wird dieses Ergebnis verschleiert. Mit Oetker ist daher festzuhalten, dass sich die Koalitionsfreiheit nicht zu einem Hebel instrumentalisieren lässt, der den Gesetzgeber von der Einhaltung der grundrechtlichen Schutzpflichten befreit.264 Dies gilt auch und gerade im Arbeitszeitrecht.
264
Oetker, ZfA 2001, 287 (308).
A. Grenzen der Delegation der Regelungsbefugnis
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Es bleibt festzuhalten: „In einer Zeit, in der hochflexible Arbeits- und Arbeitszeitmodelle die Entwicklung prägen, bleibt es wichtig, die Möglichkeiten und Grenzen des ArbZG präzise aufzuzeigen. Anderenfalls droht die angestrebte Flexibilität in einen Freibrief zum gesundheitlichen Raubbau umzuschlagen.“ 265
II. Grundrechtliche Schutzpflichten für der Arbeitsleistung ausgesetzte Dritte am Beispiel des Arbeitszeitrechts Eine weitere Problematik betrifft die drittschützende Funktion des Arbeitsrechts. Dieses kann in vielfältiger Form dem Schutz des Arbeitnehmers, aber auch dem Schutz Dritter dienen. Das Mutterschutzgesetz ist ein besonders deutliches Beispiel für eine solche Schutzgesetzgebung. Auch der Arbeitsschutz dient generell nicht nur dem Arbeitnehmerschutz, sondern auch dem Schutz von Interessen Dritter, die der Arbeitsleistung unmittelbar ausgesetzt sind. Dies erfasst auch die Arbeitszeit, wie die Lenkzeitverordnung der EG (VO. 561/2006) zeigt. Das Erfordernis der Regulierung der Lenkzeiten für Fahrer von LKW ergibt sich nicht nur aus dem Gesundheitsschutz der Fahrer. Die Verordnung hält in ihren Begründungserwägungen Nr. 16 ff. ausdrücklich die Straßenverkehrssicherheit als Zweck der Richtlinie fest. Die Beschränkung der Lenkzeit von LKW-Fahrern erweist sich damit auch als Maßnahme zum Schutz der Gesundheit anderer Verkehrsteilnehmer, die durch Ermüdung und dem damit einhergehenden Leistungsabfall der Fahrer gefährdet werden. Auf Grund der erheblichen Gefährdungen für den Straßenverkehr haben einzelne US-Bundesstaaten das Fahren bei einem Schlafentzug von mehr als 24 Stunden unter Strafe gestellt.266 Die Dimension der Gefährdung für Dritte wird auch hieran deutlich. Sieht man die Entstehungsgeschichte des § 7 Abs. 2a ArbZG, so war dieser maßgeblich von der Befürchtung getragen, die Kosten für das öffentliche Gesundheitswesen könnten sich erhöhen, wenn die Krankenhäuser einer stärkeren Arbeitszeitregulierung unterliegen. Nun ist aber relativ evident, dass gerade hier eine nicht unerhebliche Kollision mit den Interessen der Patienten entsteht. Deren Bedarf an übermüdeten nur begrenzt leistungsfähigen Ärzten dürfte begrenzt sein.267 Dies besonders deshalb, weil bei verlängerten Arbeitszeiten ein Einstellungswandel von Ärzten gegenüber Patienten zu beobachten ist. Durch diese sogenannte Klientenaversion wird der Patient für den übermüdeten Arzt zum 265
Tietje, Grundfragen des Arbeitszeitrechts, S. 24. Füllekrug in: Arbeitszeitgestaltung im ärztlichen Dienst und Funktionsdienst des Krankenhauses, S. 5 (9); als Reaktion darauf begannen die in diesen Staaten gelegenen Kliniken, ihren Ärzten Taxigutscheine auszustellen. 267 Vgl. zum Fall einer Schädigung einer Patientin durch einen übermüdeten Operateur BGH 29.10.1985, NJW 1986, 776 (777). 266
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8. Kap.: Grenzen tarifdispositiven Gesetzesrechts
„Feind“.268 Kostendruck, Arbeitszeitgestaltung und qualitativ angemessene Patientenversorgung geraten damit in eine Konfliktlage. Diese wird noch dadurch angereichert, dass die verlängerten Arbeitszeiten im Gesundheitswesen für die Beschäftigten mit erheblichen finanziellen Anreizen verbunden sind. Es zeigt sich, dass die Ärzte in der Praxis nur zu einer Reduzierung ihrer Arbeitszeit zu bewegen sind, wenn ihnen die Zuschläge durch den Bereitschaftsdienst erhalten bleiben und ansonsten selbst auf die Beibehaltung gesundheitsschädlicher Modelle drängen.269 Damit kommt es zu gegenläufigen Interessen nicht nur von Krankenhaus und Patient, sondern auch im Verhältnis Arzt Patient. Diese Ökonomisierung der eigenen Gesundheit durch den Arzt schlägt in diesem Fall unmittelbar auf die Behandlungsqualität durch.270 Dies zeigt, dass die Steuerung sozialer Systeme auch deshalb erforderlich ist, weil sie dazu neigen, einerseits ihre intern angelegten Möglichkeiten maximal zu nutzen, aber dies andererseits weitgehend ohne Rücksicht auf die widrigen Folgen für ihre Umwelt tun. Sie produzieren dadurch unter Umständen negative Externalitäten und Selbstgefährdungen.271 An dieser Stelle ist noch einmal auf die Funktionsweise des menschlichen Schlafdrucks hinzuweisen. Dessen Aufbau wurde bereits erläutert. Gewichtig sind aber auch die Konsequenzen, die dieser für die intellektuelle und motorische Leistungsfähigkeit hat.272 Bei einer Betrachtung dieser Befunde stellt sich § 7 Abs. 2a ArbZG damit als eingriffsgleiche Grundrechtsgefährdung für Leib und Leben von Krankenhauspatienten dar. Es ist als objektiv ausgeschlossen anzusehen, dass bei Gebrauch der in diesem enthaltenen Befugnisse ein Arzt physisch und psychisch in der Lage sein kann, eine einwandfreie Versorgung von Patienten zu leisten.273 Damit wäre zwar ein erleichterter Weg in die zivilrechtliche Haftung eröffnet, weil dann naheliegt, dass die Schädigung des Patienten aus überlangen Arbeitszeiten herrührt, allerdings bleiben erhebliche Beweisprobleme.274 Das gleiche gilt für eine mögliche strafrechtliche Verfolgung des Arbeitgebers wegen einer Verletzung der Sorgfaltspflichten gegenüber Dritten, auch wenn hier gewisse Erleichterungen durch
268 Füllekrug in: Arbeitszeitgestaltung im ärztlichen Dienst und Funktionsdienst des Krankenhauses, S. 5 (10). 269 Schlottfeldt/Herrmann, Arbeitszeitgestaltung in Krankenhäusern und Pflegeeinrichtungen, S. 87. 270 Der Verweis auf die Eigenverantwortung des Arztes ist ohnehin unzulässig, vgl. BGH 29.10.1985, NJW 1986, 776 (777). 271 Ladeur/Gostomzyk, Die Verwaltung 36 (2003), 141 (152). 272 Füllekrug in: Arbeitszeitgestaltung im ärztlichen Dienst und Funktionsdienst des Krankenhauses, S. 5 (12). 273 Vgl. dazu oben 8. Kap. A. I. 1. 274 Schlottfeldt/Herrmann, Arbeitszeitgestaltung in Krankenhäusern und Pflegeeinrichtungen, S. 64.
A. Grenzen der Delegation der Regelungsbefugnis
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die Annahme von sogenannten Gefahrenkorridoren bestehen, die zur Herbeiführung eines Schadens beitragen können, ohne dass die Überbeanspruchung des Personals als einzige Ursache einer Fehlbehandlung feststehen muss.275 Schließlich ist auch darauf zu verweisen, dass die Haftung für die entstandenen Schäden nicht ausreicht um der grundrechtlichen Schutzpflicht aus Art. 2 Abs. 2 GG zu genügen. Insofern ist gesetzlich sicher zu stellen, dass derartige Gefährdungen von vorneherein unterbleiben. Dies ist nur durch absolute Obergrenzen bei der Arbeitszeit, jedenfalls für das unmittelbar an der Behandlung beteiligte Personal möglich. Dies beschränkt sich auch nicht auf die behandelnden Ärzte. Auch soweit sonstiges Personal, z. B. im Rahmen der Medikation von Patienten, beteiligt ist, ist dessen Leistungsfähigkeit sicher zu stellen. Wenn man meint, dies sei zu teuer, dann möge man dies ehrlich sagen. Wer aber meint, unter dem Deckmantel der Tarifautonomie ökonomisch motiviert die Gesundheitsversorgung von Patienten durch Personal mit der Leistungsfähigkeit von Alkoholisierten sicher stellen zu lassen276, möge sich einmal selbst des Nachts auf einen Operationstisch legen. Bei 24-Stunden-Diensten werden Operationen und die sonstige Behandlung regelmäßig von Personal durchgeführt, dessen Leistungsfähigkeit der Grenze zur absoluten Fahruntüchtigkeit angenähert ist.277 Die absurde Situation, dass es in Deutschland möglich ist, dass eine Person ins Krankenhaus eingeliefert wird, die von einem übermüdeten Lkw-Fahrer, der seine Lenkzeit um nur eine Stunden überschritten hat, von einem Arzt behandelt werden kann, der bereits doppelt so lange im Dienst ist wie der in Rede stehende Lkw-Fahrer, zeigt, wie wenig überzeugend hier die Gewichtung der Schutzinteressen ist. Auch unter Berücksichtigung anderer der Arbeitsleistung ausgesetzte Personen ist damit die Regelung des § 7 Abs. 2a ArbZG mit Blick auf Art. 2 Abs. 2 GG bedenklich. Hier wäre eine Einschränkung gerade dort geboten, wo sie mit Blick auf die (vorgeblichen) Kosten für das Gesundheitswesen unterbleibt.
III. Grundrechtliche Schutzpflichten für die Außenseiter Tariföffnungsklauseln in Gesetzen werden regelmäßig von Erstreckungsklauseln begleitet, die die Anwendbarkeit der auf Basis der tarifdispositiven Vorschriften eines Gesetzes erlassenen Tarifverträge auch für nicht tarifgebundene Arbeitgeber und Arbeitnehmer ermöglichen. Dabei werden teilweise die Betriebsverfassungsparteien zwischengeschaltet, teilweise kann die Geltung subsidiär oder unmittelbar durch den Arbeitsvertrag vereinbart werden. Diese Befug275 Schlottfeldt/Herrmann, Arbeitszeitgestaltung in Krankenhäusern und Pflegeeinrichtungen, S. 64. 276 Füllekrug in: Arbeitszeitgestaltung im ärztlichen Dienst und Funktionsdienst des Krankenhauses, S. 5 (10). 277 Füllekrug in: Arbeitszeitgestaltung im ärztlichen Dienst und Funktionsdienst des Krankenhauses, S. 5 (11); vgl. dazu auch oben 8. Kap. A. I. 1.
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8. Kap.: Grenzen tarifdispositiven Gesetzesrechts
nis besteht lediglich dann, wenn der Geltungsbereich des Tarifvertrags den Betrieb und das Arbeitsverhältnis erfasst. Diese Form der Außenseiterbindung kann unter zweierlei Gesichtspunkten kritisch gesehen werden: zum einen mit Blick auf die negative Koalitionsfreiheit, zum anderen mit Blick auf die Absenkung gesetzlicher, zwingender Mindeststandards per Arbeitsvertrag. Soweit es die negative Koalitionsfreiheit betrifft, steht die Frage im Raum, ob diese es zulässt, dass ein Gesetz die Geltung fremder Tarifvertragsnormen in einem Arbeitsverhältnis anordnet.278 Diese unter dem Topos der negativen Tarifvertragsfreiheit diskutierte Frage ist Gegenstand jahrzehntelanger wissenschaftlicher Auseinandersetzungen gewesen. Dabei ging es allerdings stets darum, die Geltungsausweitung des Tarifvertrags durch Allgemeinverbindlichkeitserklärung, Arbeitnehmerentsendegesetz oder Tariftreuegesetze abzuwehren. Dass komplementär eine negative Tarifvertragsfreiheit auch dazu führen müsste, dass die Zulassung von arbeitsvertraglichen Bezugnahmeklauseln und Erstreckungsklauseln im Anwendungsbereich tarifdispositiven Gesetzesrechts jedenfalls als rechtfertigungsbedürftiger Eingriff in die Koalitionsfreiheit erscheinen, wird dabei ausgeklammert.279 Die Frage würde den Umfang der vorliegenden Arbeit sprengen. Sie ist auch für die Praxis müßig, weil das BVerfG sie entschieden hat. Das Grundrecht der negativen Koalitionsfreiheit schützt nicht dagegen, dass der Gesetzgeber die Ergebnisse von Koalitionsvereinbarungen zum Anknüpfungspunkt gesetzlicher Regelungen nimmt. Allein dadurch, dass jemand den Vereinbarungen fremder Tarifvertragsparteien unterworfen wird, ist ein spezifisch koalitionsrechtlicher Aspekt nicht betroffen.280 Eine negative Tarifvertragsfreiheit gibt es nicht.281 Dass durch die entsprechende tarifdispositive Gestaltung Arbeitnehmer zum Gewerkschaftsbeitritt gedrängt würden, ist in der Praxis nicht ersichtlich; das BVerfG hat auch diesen Einwand mehrfach zu Recht verworfen. Das BAG hat sich nunmehr der Rechtsprechung des BVerfG angeschlossen.282
278 Dafür: Hanau, FS Scholz, S. 1035 ff.; Höfling/Rixen, RdA 2007, 360 (362); Reuter, FS Wiedemann, S. 449 (478); Schleusener, ZTR 1998, 100 (101); Schüren, RdA 1988, 138 (139 f.); Zöllner, RdA 1962, 453 (458); dagegen: Dieterich in: ErfK, GG, Art. 9, Rn. 36; Säcker, Grundprobleme der kollektiven Koalitionsfreiheit, 1969, S. 36 ff.; Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht, Bd. I, S. 376; Löwisch/Rieble in: Richardi/Wlotzke, Münchener Handbuch zum Arbeitsrecht, § 156, Rn. 25 ff.; Lorenz in: Däubler, TVG, § 3, Rn. 63; Oetker in: Säcker, Kollektives Arbeitsrecht – case by case, 2006, S. 66; Seifert, ZfA 2001, 1 (16); Schubert, RdA 2001, 199 ff.; Spelge in: Fachanwaltskommentar Arbeitsrecht, GG, Art. 9 Rn. 20. 279 Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht, Bd. 1, S. 376, 384 ff.; a. A. Scholz in: Maunz-Dürig, GG, Art. 9, Rn. 226. 280 BVerfG 11.7.2006, NJW 2007, 51 (53). 281 Vgl. dazu Preis/Ulber, D., NJW 2007, 51 (53); sowie Preis/Greiner, ZfA 2009, 825 (828 ff.). 282 BAG 29.7.2009, NZA 2009, 1424 (1426); BAG 1.7.2009, NZA 2010, 53 (57).
B. Ergebnis
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Nicht anderes gilt auch für Betriebsnormen. Auch diese sind kein rechtfertigungsbedürftiger Eingriff in die Koalitionsfreiheit. Es verbleiben Rechtfertigungsanforderungen mit Blick auf Art. 12 Abs. 1 GG und das Demokratie- und Rechtsstaatsprinzip, die, sofern der Grundrechtsschutz durch das zwingende Gesetzesrecht sicher gestellt ist, aber leichter fallen, ohne dass dies hier vertieft werden kann.283 Insofern muss der Außenseiter hinnehmen, dass der Gesetzgeber die Möglichkeit zur Erstreckung der auf Tariföffnungsklauseln basierenden Tarifverträge zulässt. Was er, ebenso wie die tarifunterworfenen Arbeitnehmer, nicht hinnehmen muss, ist, dass die gesetzlichen Schutzvorschriften, die zur Rechtskontrolle dieser Tarifverträge herangezogen werden, mit Blick auf die grundrechtlichen Schutzpflichten unzureichend sind. Insofern ist er aber gleichermaßen durch tarifdispositives Gesetzesrecht in seinen Grundrechten bedroht, wie dies für die tarifgebundenen Arbeitnehmer gilt.
B. Ergebnis Die Grenze der Zulässigkeit tarifdispositiven Gesetzesrechts verläuft dort, wo die gesetzlichen Vorschriften den erforderlichen Grundrechtsschutz nicht mehr selbst sicherstellen. Grundrechtliche Schutzpflichten können durch unzureichend eingegrenzte Tariföffnungsklauseln verletzt werden. Sie gestatten privaten Normsetzern, was sie ihnen verbieten müssen: die Verletzung von Grundrechten. Tarifdispositives Gesetzesrecht ist, wie Oetker zutreffend feststellt, kein Instrument, mit dem der Gesetzgeber sich von der Sicherung grundrechtlicher Schutzpflichten freizeichnen könnte.284 § 7 Abs. 2a ArbZG ist ein Beispiel für einen solchen Versuch. Dabei stört weniger die offensichtliche Missachtung grundrechtlicher Schutzaufträge des BVerfG. Störend ist, dass die Tarifautonomie zum Abbau des Arbeitnehmerschutzrechts instrumentalisiert wird und der Gesetzgeber dabei unter den Deckmantel der grundrechtsfreundlichen Gestaltung gesetzlicher Vorschriften schlüpft. Vergleichbar stellt sich die tarifdispositive Gestaltung des Arbeitnehmerüberlassungsrechts, auf die hier aus Platzmangel nur begrenzt eingegangen werden konnte. Auch hier werden die Tarifvertragsparteien zur unkonditionierten Relativierung von Arbeitnehmerschutznormen instrumentalisiert, die einer Wahrung grundrechtlicher Schutzpflichten spotten. Wenn in der juristischen Diskussion wenige Jahre nach der Einführung des tarifdispositiven Gleichstellungsgrundsatzes in §§ 3 Abs. 1 Nr. 3 und 9 Nr. 2 AÜG über die Einführung eines tarifgestützten Mindestlohns für die Zeitarbeit nachgedacht wird, so spricht dies Bände. Dass funktionelle Defizite der Tarifautonomie im Bereich des tarif283 Vgl. z. B. Friese, Kollektive Koalitionsfreiheit und Betriebsverfassung, S. 266 ff.; Schubert, RdA 1999, 201 (207). 284 Oetker, ZfA 2001, 287 (308).
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8. Kap.: Grenzen tarifdispositiven Gesetzesrechts
dispositiven Gesetzesrechts zu einer massiven Gefährdung von grundrechtlichen Schutzpositionen führen können, ist bereits oben ausführlich dargelegt worden. Aber auch ansonsten bestehen weder Anlass noch Rechtfertigung für eine Preisgabe des Grundrechtsschutzes durch den Verweis auf den Schutz durch kollektive Vereinbarungen der Sozialpartner. Dem Gesetzgeber ist es nicht gestattet, sich mit Blick auf den Grundrechtsschutz zurück zu lehnen und auf den Tarifvertrag zu verweisen. Jede gesetzliche Vorschrift, die den Tarifvertragsparteien irgendeine, und sei es auch nur die geringste, grundrechtsverletzende Regelung gestattet, ist verfassungswidrig. Der Staat ist gezwungen, hier Grenzen zu ziehen. Notfalls müssen die Gerichte den Gesetzgeber über den Umweg nach Karlsruhe zur Wahrung seiner Verpflichtungen anhalten. Die Tarifvertragsparteien hingegen sind lediglich an das zwingende, gegebenenfalls durch Rechtsfortbildung geschaffene Recht gebunden. Sobald aber die Verfassung unmittelbar herangezogen werden muss, um eine tarifvertragliche Vorschrift auch nur auf ihre Wirksamkeit zu kontrollieren, liegt eine verfassungswidrige Verletzung des Untermaßverbots vor.
9. Kapitel
Zusammenfassung und Ergebnisse Die Tarifautonomie dient der Verwirklichung grundrechtlicher Schutzpflichten im Arbeitsverhältnis. Sie ist aber nicht deren Verwirklichung. Der Gesetzgeber wird durch die Tarifautonomie nicht von seinen eigenen Schutzpflichten befreit. Konkret kann sich der Gesetzgeber nicht durch die Schaffung tarifdispositiven Gesetzesrechts seiner Bindung an die grundrechtlichen Schutzpflichten entziehen.
A. Tarifautonomie und staatliches Gesetzesrecht Das Verhältnis von Tarifautonomie und staatlichem Gesetzesrecht ist traditionell konfliktbehaftet. Die Tarifautonomie dient der Kompensation struktureller Unterlegenheit der Arbeitnehmer bei Abschluss des Arbeitsvertrages. Sie ist entstanden, um gesetzgeberische Untätigkeit auf dem Gebiet des Arbeitsrechts durch privatautonome Regelungen auszugleichen. Sie ist ihrem historischen Entstehungsprozess nach nicht zur Abwehr arbeitsrechtlicher Regelungen konzipiert. Ihre Abwehrfunktion beschränkt sich auf die Sicherung der Funktionsbedingungen des tarifautonomen Normsetzungsverfahrens und die Bestandssicherung der Koalitionen. Die Tarifautonomie ist in ihrer Entstehung Reaktion auf fehlende staatliche Regelungen und kein Abwehrrecht gegen staatliches, einseitig zwingendes Arbeitsrecht. Eine Normsetzungsprärogative der Tarifvertragsparteien für die Regelung von Arbeitsbedingungen besteht nicht. Es gibt kein verfassungsrechtlich verankertes Subsidiaritätsprinzip, das ein solches Verständnis gebietet. Auch aus der Ordnungsfunktion des Tarifvertragssystems lässt sich ein solcher Vorrang nicht herleiten. Ebenso wenig gebietet das Sozialstaatsprinzip einen Vorrang tarifautonomer Regelungsbefugnisse vor einseitig zwingendem Arbeitnehmerschutzrecht. Art. 9 Abs. 3 GG beinhaltet zwar eine Betätigungsgarantie zugunsten der Koalitionen als Grundrechtsträger. Jedoch beinhaltet diese vor allem ein unabhängiges, staatsfernes Normsetzungsverfahren, mithin den Abschluss von Tarifverträgen mit unmittelbarer und zwingender Wirkung. Dabei hat der Staat sich aus dem Verhandlungsprozess herauszuhalten. Nicht geschützt werden die Grundrechtsträger hingegen davor, dass der Gesetzgeber selbst einseitig zwingende Regelungen zur Kompensation struktureller Unterlegenheit erlässt. Die Tarifautonomie würde ansonsten davor schützen, dass ihr Zweck verwirklicht wird. Ein sol-
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9. Kap.: Zusammenfassung und Ergebnisse
ches Verständnis ist abzulehnen. Der Gesetzgeber darf die Tarifautonomie aber nicht aushöhlen, indem er den Tarifvertragsparteien sämtliche denkbare Regelungsgegenstände entzieht. Ein Normsetzungsverfahren setzt voraus, dass es Regelungsgegenstände gibt, die der Vereinbarung offen stehen. Es gibt keine Verpflichtung des Gesetzgebers, tarifdispositives Gesetzesrecht zu schaffen. Einseitig zwingende staatliche Regelungen, die der Kompensation struktureller Unterlegenheit dienen, sind keine Eingriffe in die Tarifautonomie. Sie bedürfen insoweit keiner verfassungsrechtlichen Rechtfertigung. Deswegen kann sich der Gesetzgeber verfassungsrechtlich nicht auf den Respekt vor der Tarifautonomie berufen, wenn er arbeitsrechtliche Schutzregelungen unterlässt. Da kein Gebot zur Nichtregelung besteht, kann dies seine Untätigkeit nicht legitimieren. Tarifdispositives Gesetzesrecht ist seinem Wesen nach nicht Respekt vor, sondern Missachtung der Tarifautonomie.
B. Grundrechtliche Schutzpflichten und Tarifautonomie Grundrechtliche Schutzpflichten binden die staatliche Gewalt und dabei vorrangig den Gesetzgeber. Dieser muss durch transparente und effektive Regelungen den Grundrechtsschutz auch vor grundrechtsverletzenden tarifvertraglichen Regelungen sicherstellen. Dabei haben die Gerichte zwar trotz der Geltung des Vorbehalts des Gesetzes und der Wesentlichkeitstheorie die Möglichkeit, den grundrechtlichen Schutzanspruch durch Auslegung und Anwendung des einfachen Rechts, ebenso wie durch Rechtsfortbildung, sicherzustellen. Diese Reservefunktion der Rechtsprechung muss aber gerechtfertigt werden. Vor diesem Hintergrund können weder der Gesetzgeber noch das BVerfG die Fachgerichte mit der Aufgabe der Schutzpflichtenerfüllung allein lassen. Fehlen rechtliche Maßstäbe oder genügt die richterliche Umsetzung grundrechtlicher Schutzpflichten nicht den Grenzen, denen die Rechtsprechung hierbei unterliegt, so sind etwaige Verfahren nach Art. 100 Abs. 1 GG auszusetzen. Das BVerfG hat den Gesetzgeber dann zum Erlass transparenter und effektiver Schutznormen zu verpflichten. Das gilt auch für den Grundrechtsschutz gegenüber dem Tarifvertrag. Die Tarifvertragsparteien sind nicht grundrechtsgebunden. Sie sind auch entgegen der Rechtsprechung des BAG nicht verpflichtet, grundrechtliche Schutzpflichten zu beachten. Es gibt keine verfassungsrechtlich tragfähige Begründung für eine derartige Verpflichtung der Tarifvertragsparteien. Vielmehr muss der Staat als Adressat der grundrechtlichen Schutzpflichten deren Erfüllung auch gegenüber den Tarifvertragsparteien sicher stellen. Damit ist es nicht zu vereinbaren, dass die Gerichte die dem Staat auferlegte Bindung an die Tarifvertragsparteien delegieren. Vielmehr sind sie verpflichtet, nach Maßgabe des einfachen Gesetzesrechts und der dem Richter zur Verfügung stehenden Instrumentarien, der Rechtsfortbildung und der verfassungskonformen Auslesung
C. Konsequenzen für das tarifdispositive Gesetzesrecht
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den Grundrechtsschutz herzustellen. Ist dies nicht möglich, weil nach den vorstehenden Grundsätzen aus dem gegebenen Normbestand entsprechende Schranken nicht zu entwickeln sind, so folgt daraus nicht die Befugnis, eine universelle Grundrechts- oder Schutzpflichtenbindung der Tarifvertragsparteien zu entwickeln. Vielmehr müssen die Gerichte dann auf das Mittel der Vorlage an das BVerfG nach Art. 100 Abs. 1 GG zurück greifen, um den Gesetzgeber zu verpflichten, die entsprechenden Verbotsnormen zu schaffen, die erforderlich sind, um die zu beanstandenden tarifvertraglichen Regelungen für unwirksam zu erklären. Der Grundrechtsschutz ist Aufgabe der staatlichen Stellen. Wenn der Gesetzgeber diesen nicht wahrnimmt, kann die Konsequenz nicht sein, dass die Gerichte die Bindungen, denen der Gesetzgeber unterliegt, an Private delegieren. Vielmehr müssen sie den Gesetzgeber zur Aufgabenerfüllung anhalten. Daraus folgt, dass gesetzliche Vorschriften, die tarifvertragliche Regelungen zulassen, die die grundrechtlichen Schutzpflichten missachten, nicht schon deshalb unproblematisch sind, weil es eine Schutzpflichtenbindung der Tarifvertragsparteien gibt. Auch die „Richtigkeitschance“ des Tarifvertrags trägt eine solche Überlegung nicht. Durch die Herabsetzung der Maßstäbe an den Begriff der Tariffähigkeit wird die Richtigkeitschance des Tarifvertrags derart gemindert, dass hierdurch die gesetzgeberische Untätigkeit noch weniger als früher zu legitimieren ist. Die Tarifautonomie dient damit zwar der Erfüllung grundrechtlicher Schutzpflichten, indem sie die strukturelle Unterlegenheit der Arbeitnehmer kompensiert und so die Funktionsbedingungen für eine privatautonome Regulierung der Arbeitsbedingungen herstellt. Sie bietet aber keine Gewähr dafür, dass die grundrechtlichen Schutzpflichten stets und in vollem Umfang erfüllt werden. Der Gesetzgeber bleibt damit zur eigenständigen Regelung verpflichtet.
C. Konsequenzen für das tarifdispositive Gesetzesrecht Tarifdispositives Gesetzesrecht verkehrt den Geltungsgrund der Tarifautonomie in sein Gegenteil. Der Abbau des zwingenden Arbeitnehmerschutzrechts durch kollektives Arbeitsrecht, der mit tarifdispositivem Gesetzesrecht einhergeht, stößt an verfassungsrechtliche Grenzen. Denn die Reichweite der Tariföffnungsklauseln wird nicht durch das Leitbild eines Zurückweichens des Gesetzgebers vor der verfassungsrechtlich geschützten Tarifautonomie geprägt. Vielmehr findet eine mehr oder weniger umfangreiche Nichterfüllung grundrechtlicher Schutzpflichten statt. Tarifdispositives Gesetzesrecht kann sich damit als verfassungswidrige Verletzung grundrechtlicher Schutzpflichten, nicht aber als verfassungswidriger Eingriff in die Tarifautonomie darstellen. Im Bereich des Arbeitszeitrechts ist ein solcher Zustand in Form von § 7 Abs. 2a ArbZG bereits erreicht.
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9. Kap.: Zusammenfassung und Ergebnisse
Aufgabe des Staates ist der Grundrechtsschutz und die Schaffung einer funktionsfähigen Ordnung für die Tarifautonomie. Aufgabe der Tarifvertragsparteien ist die Normsetzung im Interesse ihrer Mitglieder. Die Grenzen ihrer Regelungsbefugnis zieht der Staat mit dem einfachen Gesetzesrecht. Zum Schutz der Grundrechte ist er hierzu auch verpflichtet. Die Tarifautonomie dient der Kompensation struktureller Unterlegenheit. Die grundrechtlichen Schutzpflichten verpflichten den Staat zur Kompensation struktureller Unterlegenheit. Verwirklicht der Staat den Zweck der Tarifautonomie, liegt darin kein Eingriff, sondern die Erfüllung ihres Geltungsgrundes. Die Tarifautonomie schützt nicht vor zwingenden gesetzlichen Regelungen. Die grundrechtlichen Schutzpflichten binden den Staat, aber nicht die Tarifvertragsparteien. Den Tarifvertragsparteien darf vor diesem Hintergrund keine Befugnis verliehen werden, die Grundrechtsverletzungen ermöglicht. Es besteht kein Gebot, tarifdispositives Gesetzesrecht zu schaffen. Wird es geschaffen, muss es in den Grenzen verbleiben, die die Wahrung grundrechtlicher Schutzpflichten gebietet. Damit kann es im Einzelfall auch dazu kommen, dass der Gesetzgeber auf Grund grundrechtlicher Schutzpflichten verpflichtet ist, den Tarifvertragsparteien bestimmte Regelungsbereiche zu verschließen.
D. Schlussthesen I.
Tarifdispositives Gesetzesrecht folgt historisch nicht aus dem Respekt vor der Tarifautonomie. Vielmehr diente es zumeist der Ausnutzung von Schwächen der Tarifautonomie. Damit wurde die Verantwortung für den Abbau von Arbeitnehmerschutzrecht vom Gesetzgeber auf die Tarifvertragsparteien abgewälzt.
II. Zwischen der Befugnis des Gesetzgebers zur Regelung von Arbeitsbedingungen und der Tarifautonomie besteht ein Kompetenzparallelismus. 1. Einseitig zwingende gesetzliche Regelungen, die der Kompensation struktureller Unterlegenheit dienen, sind keine Eingriffe in die Tarifautonomie. 2. Hinsichtlich des Schutzes der Tarifautonomie ist zwischen der tarifvertraglichen Regelungsbefugnis und der tarifvertraglichen Normsetzungsbefugnis zu differenzieren. 3. Eine Normsetzungsprärogative der Tarifvertragsparteien ergibt sich nicht aus einem Rückgriff auf eine weite Tatbestandstheorie grundrechtlicher Schutzbereiche. 4. Eine Normsetzungsprärogative der Tarifvertragsparteien ergibt sich nicht aus der Ordnungsfunktion der Tarifautonomie.
D. Schlussthesen
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5. Es gibt kein verfassungsrechtliches Subsidiaritätsprinzip, das auf die Tarifautonomie anwendbar wäre. Eine Normsetzungsprärogative der Tarifvertragsparteien ergibt sich nicht aus einem verfassungsrechtlichen Subsidiaritätsprinzip. 6. Eine Normsetzungsprärogative der Tarifvertragsparteien ergibt sich ebenfalls nicht aus dem Sozialstaatsprinzip. 7. Die Koalitionsfreiheit in Art. 9 Abs. 3 GG beinhaltet eine Betätigungsgarantie. Bestandteil dieser Betätigungsgarantie ist der Abschluss von Tarifverträgen mit unmittelbarer und zwingender Wirkung. Eine Normsetzungsprärogative ergibt sich aus der Koalitionsfreiheit nicht. a) Der Wortlaut des Art. 9 Abs. 3 GG spricht für die Annahme einer Betätigungsgarantie zugunsten der Koalitionen. Dies ergibt sich aus der Aufnahme des Vereinigungszwecks in Art. 9 Abs. 3 GG und dem Wortlaut des Art. 9 Abs. 3 S. 3 GG. b) Die Entstehungsgeschichte der Tarifautonomie spricht für eine Betätigungsgarantie aus Art. 9 Abs. 3 GG. Eine Normsetzungsprärogative der Tarifvertragsparteien begründet sie nicht. (1) Ihrem Entstehungsgrund nach ist die Tarifautonomie nicht Abwehrrecht gegen staatliche Regelungen, sondern privatautonomer Ersatz für fehlendes staatliches Handeln. (2) Die Tarifautonomie zielt ihrer Entstehungsgeschichte nach in erster Linie auf die Etablierung eines Tarifvertragsystems mit unmittelbarer und zwingender Wirkung des Tarifvertrags. Eine Normsetzungsprärogative widerspricht ihrem Entstehungsgrund. (3) Die Weimarer Reichsverfassung beinhaltete eine Betätigungsgarantie zugunsten der Koalitionen. Die Weimarer Reichsverfassung schützte die unmittelbare und zwingende Wirkung des Tarifvertrags. Eine Normsetzungsprärogative der Tarifvertragsparteien bestand unter der Weimarer Reichsverfassung nicht. (4) Das Grundgesetz hat die verfassungsrechtliche Gewährleistung der Tarifautonomie durch die Weimarer Reichsverfassung fortgeschrieben. Aus der Nichtübernahme des Wortlauts von Art. 165 Abs. 1 WRV ergibt sich nichts Abweichendes. Aus dem Zusammenhang mit der Entstehung des Tarifvertragsgesetzes und der Landesverfassungen ergibt sich, dass die Normsetzungsbefugnis der Tarifvertragsparteien auch durch das Grundgesetz geschützt bleiben sollte. Ebenso ergibt sich aus dem Zusammenhang mit den Landesverfassungen, dass Art. 9 Abs. 3 GG nicht vor einseitig zwingenden staatlichen Regelungen schützen sollte.
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(5) Auch die Einführung des Art. 9 Abs. 3 S. 3 GG spricht für eine Betätigungsgarantie der Koalitionen. Aus dem Staatsvertrag über die Schaffung einer Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion lassen sich nur sehr begrenzt Rückschlüsse auf den Gewährleistungsgehalt der Tarifautonomie ziehen. c) Aus der Systematik des Grundgesetzes und des Art. 9 Abs. 3 GG lässt sich eine Vorranggarantie der Koalitionen gegenüber der staatlichen Gesetzgebung nicht herleiten. Dies gilt maßgeblich für das Subsidiaritätsprinzip, das weder verfassungsrechtlich verankert ist noch in seinen Anwendungsvoraussetzungen auf die Tarifautonomie greift. Auch mit Blick auf die Gesetzgebungskompetenz aus Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG und die Verankerung der Berufsfreiheit in Art. 12 GG lässt sich aus der Systematik ein Verständnis nicht stützen, das die tarifautonome Regelungsbefugnis als vorrangig gegenüber der staatlichen Gesetzgebung begreift. Aus Art. 9 Abs. 3 S. 2 GG ergibt sich jedenfalls keine Beschränkung oder Infragestellung der Betätigungsgarantie der Koalitionen. d) Sinn und Zweck der Tarifautonomie sprechen für eine Betätigungsgarantie der Koalitionen. Eine Normsetzungsprärogative der Tarifvertragsparteien ergibt sich aus diesem nicht. e) Sinn und Zweck der Tarifautonomie ist in erster Linie die Gewährleistung einer Normsetzungsbefugnis der Tarifvertragsparteien. Die Tarifautonomie ist eine prozedurale Korrektur der Privatautonomie. Sie stellt durch die Kompensation struktureller Unterlegenheit die Funktionsvoraussetzungen für Privatautonomie im Arbeitsrecht her. f) Tarifautonomie dient der Kompensation struktureller Unterlegenheit. Mit diesem Schutzzweck ist eine Normsetzungsprärogative der Tarifvertragsparteien unvereinbar. g) Die Tarifvertragsparteien werden lediglich vor einer Aushöhlung ihrer Regelungsbefugnis geschützt. Ein weitergehender Schutz ergibt sich weder aus Gesichtspunkten der Subsidiarität, der Beeinträchtigung der Verbände, einer Beeinflussung des Verhandlungsprozesses oder der Sachnähe der Tarifvertragsparteien. h) Tarifautonomie ist kollektiv hergestellte Privatautonomie. i) Auch ein ausgestaltungsorientierter Ansatz zur Auslegung der Tarifautonomie ergibt keine Normsetzungsprärogative der Tarifvertragsparteien. Dieser ist mit Blick auf die Gefahren der Relativierung des Kernbereichs der Tarifautonomie aber nicht unbedenklich.
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j) Die Tarifautonomie verpflichtet den Gesetzgeber nicht, arbeitsrechtliche Regelungen tarifdispositiv zu stellen. III. Grundrechtliche Schutzpflichten begrenzen die Befugnis des Gesetzgebers, tarifdispositives Gesetzesrecht zu schaffen. 1. Grundrechtliche Schutzansprüche richten sich allein gegen die Staatsgewalt, nicht gegen Private. 2. Grundrechtliche Schutzpflichten sind in erster Linie an den Gesetzgeber gerichtet. Die Gerichte sind trotz des Vorbehalts des Gesetzes und der Wesentlichkeitstheorie befugt, diese durch richterliche Rechtsfortbildung umzusetzen. Letzteres bedarf aber der Rechtfertigung a) Der Gesetzgeber ist verpflichtet, die grundrechtlichen Schutzpflichten transparent und effektiv umzusetzen. Der Effektivitätsgrundsatz und das Transparenzgebot beschränken seine Berechtigung, den Grundrechtsschutz durch Rückgriff auf Generalklauseln und unbestimmte Rechtsbegriffe umzusetzen. b) Die Gerichte sind berechtigt und verpflichtet, grundrechtliche Schutzpflichten durch verfassungskonforme Auslegung und richterliche Rechtsfortbildung umzusetzen, müssen dabei aber die Grenzen des Vorbehalts des Gesetzes, der Wesentlichkeitstheorie, sowie das Transparenz- und Effektivitätsgebot bei der Umsetzung grundrechtlicher Schutzpflichten beachten. (1) Der Vorbehalt des Gesetzes greift auch im Verhältnis gleich geordneter Grundrechtsträger. Er steht aber einer richterlichen Umsetzung grundrechtlicher Schutzpflichten nicht entgegen, wenn sich dies durch den Justizgewährungsanspruch rechtfertigen lässt und die Grundsätze des effektiven und transparenten Grundrechtsschutzes nicht verletzt werden. (2) Das gleiche gilt für die Wesentlichkeitstheorie. c) Sofern gesetzliche Regelungen unzureichend sind, fehlen oder sich eine richterliche Umsetzung der grundrechtlichen Schutzpflichten nicht rechtfertigen lässt, muss ein prozessualer Ausweg bestehen, um den Grundrechtsschutz nicht leer laufen zu lassen. (1) Die Gerichte sind daher berechtigt und verpflichtet, in derartigen Konstellationen das Verfahren nach Art. 100 Abs. 1 GG auszusetzen. Das BVerfG hat sodann den Gesetzgeber zur Herstellung einer schutzpflichtenkonformen, gesetzlichen Regelung zu verpflichten. (2) Tarifdispositives Gesetzesrecht bildet stets einen vorlagefähigen Rechtskörper, auch wenn man der vorstehenden Auffassung zur
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Vorlageverpflichtung bei gesetzgeberischem Unterlassen nicht folgt. d) Grundrechtliche Schutzpflichten sind gegen kollidierende Grundrechtspositionen abzuwägen. Dabei kommt weder dem kollidierenden Abwehrrecht noch der Schutzpflicht ein Vorrang zu. Beide sind gleichwertig und im Rahmen der Abwägung möglichst schonend in Ausgleich zu bringen. e) Es besteht bei der Umsetzung grundrechtlicher Schutzpflichten eine Einschätzungsprärogative. Diese ist aber nur eingeschränkt anzuerkennen. f) Tarifdispositives Gesetzesrecht darf nur beschränkt auf Generalklauseln und unbestimmte Rechtsbegriffe zurückgreifen. Tariföffnungsklauseln müssen transparente und effektive Grenzen zum Grundrechtsschutz beinhalten. IV. Grundrechtliche Schutzpflichten werden im Arbeitsrecht nicht bereits dadurch erfüllt, dass es die Tarifautonomie gibt. V.
Tarifvertragsparteien sind weder an Grundrechte, noch an grundrechtliche Schutzpflichten gebunden. Diese sind an die staatliche Gewalt gerichtet. Diese hat sicherzustellen, dass tarifvertragliche Regelungen Grundrechte nicht verletzen, indem sie hinreichende einfachgesetzliche Grenzen für die Regelungsbefugnis der Tarifvertragsparteien schafft. Die Rechtsprechung ist zwar zu Korrekturen durch die verfassungskonforme Auslegung und Rechtsfortbildung befugt, unterliegt dabei aber verfassungsrechtlichen Grenzen, die durch eine universelle Grundrechtsbindung der Tarifvertragsparteien überschritten werden. Die punktuelle Korrektur anhand konkreter einfachgesetzlicher Normenkomplexe bleibt aber möglich. 1. Die Tarifvertragsparteien sind auch bei ihrer Normsetzung Private und üben keine staatliche Gewalt aus. 2. Die Delegationstheorie und die Integrationstheorie sind abzulehnen. Auch die Legitimationstheorie vermag nicht zu überzeugen, soweit sie zumindest eine Schutzpflichtenbindung der Tarifvertragsparteien annimmt. Aus der Anerkennungstheorie folgt keine Grundrechts- oder Schutzpflichtenbindung der Tarifvertragsparteien. Die Tarifvertragsparteien unterliegen keiner Bindung an die Grundrechte, auch nicht an grundrechtliche Schutzpflichten. Die Einhaltung der Grundrechte ist durch Rückgriff auf das einfache Gesetzesrecht sicherzustellen und kann im Einzelfall auch durch Rechtsfortbildung erfolgen. Die Rechtsprechung überschreitet aber ihre kompetenziellen Grenzen, wenn sie einen ungeschriebenen allgemeinen Grundsatz der Schutzpflichtenbindung postuliert.
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3. Im Verbandsbeitritt von Koalitionsmitgliedern liegt kein wirksamer Grundrechtsverzicht. Ein Grundrechtsverzicht kann sich nur auf einen spezifischen, sachlich und zeitlich begrenzten Bestandteil einer grundrechtlichen Rechtsposition und der hiermit korrelierenden konkreten Eingriffshandlung beziehen. Dies liegt bei der zeitlich nachfolgenden, inhaltlich unbestimmten Normsetzung der Tarifvertragsparteien nicht vor. 4. Vor dem Hintergrund einer fehlenden, wirksamen Kontrolle des Tarifvertrags auf die Einhaltung grundrechtlicher Schutzpflichten muss der Gesetzgeber diesen selbst durch Regelungen sicher stellen. Ein Verweis auf die Grundrechtsbindung der Tarifvertragsparteien kann ihn von seinen eigenen Regelungsverpflichtungen nicht befreien. VI. Die sogenannte Richtigkeitsgewähr des Tarifvertrags legitimiert ebenfalls keine staatliche Untätigkeit beim Erlass grundrechtsschützender Regelungen. Sie ist ohnehin eher als Richtigkeitschance zu betrachten. 1. Die jüngere Rechtsprechung zur sozialen Mächtigkeit beeinträchtigt die Richtigkeitsgewähr des Tarifvertrags. Eine Richtigkeitsgewähr kann angesichts der Besonderheiten, die beim Gebrauch von Tariföffnungsklauseln bestehen, jedenfalls für diese nicht mehr uneingeschränkt angenommen werden. Eine gesonderte Zutrittsschwelle für den Gebrauch von Tariföffnungsklauseln ist zur Korrektur erforderlich. 2. Bei Funktionsstörungen der Tarifautonomie fehlt es an der Richtigkeitsgewähr. Insbesondere im Bereich der Leiharbeit liegen solche Funktionsstörungen vor. 3. Immanente Schranken des tarifdispositiven Gesetzesrechts tragen nur begrenzt zum Grundrechtsschutz bei. VII. Die tarifdispositive Gestaltung des § 7 Abs. 2a ArbZG ist in Anwendung dieser Grundsätze verfassungswidrig. 1. Die gesundheitlichen Risiken überlanger Arbeitszeit, Nachtarbeit und Schichtarbeit sind gravierend. 2. Den daraus folgenden hohen Anforderungen an einen effektiven und transparenten Grundrechtsschutz genügt § 7 Abs. 2a ArbZG nicht. a) Dies betrifft sowohl die Abweichungsbefugnis hinsichtlich der wöchentlichen Höchstarbeitszeit als auch der Nachtarbeit. b) Die tatbestandlichen Grenzen des § 7 Abs. 2a ArbZG genügen nicht, um einen effektiven und transparenten Grundrechtsschutz zu gewährleisten. c) Der Verweis in § 7 Abs. 2a ArbZG auf „besondere Regelungen“, die den Gesundheitsschutz sicherstellen sollen, ist eine verfassungswid-
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rige Schlechterfüllung des grundrechtlichen Schutzauftrags für die Gesundheit der Arbeitnehmer. Er stellt eine für den Grundrechtsschutz unzureichende, intransparente und ineffektive Generalklausel dar. Sie lässt sich nicht legitimieren. d) Eine „Einwilligung“ nach § 7 Abs. 7 ArbZG ändert daran nichts. e) Auch mit Blick auf Art. 6 GG ist § 7 Abs. 2a ArbZG bedenklich. Der Schutz von Ehe und Familie ist auch bei der legislativen Gestaltung des Arbeitszeitrechts zu beachten. 3. Auch die Grundrechte Dritter, die durch den Vollzug der auf Basis von § 7 Abs. 2a ArbZG geschaffenen Arbeitszeitmodelle betroffen sind, werden durch die Vorschrift verletzt, weil sie der Arbeitsleistung von übermüdeten und/oder nicht mehr leistungsfähigen Arbeitnehmern ausgesetzt werden. Dies gilt insbesondere im Krankenhausbereich. 4. Eine weitergehende verfassungsrechtliche Problematik ergibt sich aus den Erstreckungsklauseln, die eine arbeitsvertragliche Bezugnahme auf die auf tarifdispositivem Gesetzesrecht beruhenden Tarifverträge zulassen, nicht. Die negative Koalitionsfreiheit schützt nicht vor der Geltungserstreckung von Tarifverträgen, die Zulassung einer arbeitsvertraglichen Bezugnahme ist damit unproblematisch.
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Sachwortverzeichnis Anerkennungstheorie 453
Gefälligkeitstarifvertrag 482 ff.
Anschlusstarifvertrag 477 ff. Arbeitsbereitschaft 41, 527, 528, 548, 551 ff.
Gewaltenteilung 340, 358, 365 ff., 391, 405, 450
Arbeitszeit, gesundheitliche Risiken 517 ff. Arbeitszeitlänge 524 ff., 546 ff. Arbeitszeitrecht 515 ff.
– Adressat 337
Arbeitszeitrhythmus 522 ff. Ausgestaltung 107 ff., 311 ff. Außenseiter 442, 583
– Grenzen 407 ff.
Bereitschaftsdienst 54, 58, 517, 519, 527, 528 ff.,538, 545, 548, 552 ff., 560 ff.
Grundrechtliche Schutzpflichten 328 ff. – Effektivitätsgebot 256, 350 ff., 404, 560 ff. – Gebot der Rechtsfolgenklarheit 345 ff. – Konzept 329 ff. – Optimierungsgebot 405 f. – Transparenzgebot 345 ff., 356, 393, 563 ff. – Umfang 338 ff. Grundrechtsauslegung 106 ff.
Betätigungsgarantie 218, 283 ff.
Grundrechtsbindung
Charta der Grundrechte der Europäischen Union 273
– der Tarifvertragsparteien 29, 60, 63, 156, 326, 329, 339, 355, 421 ff., 493, 499, 511 – des Staates 337 ff., 426, 447, 457, 513
Delegationstheorie 431 ff. Demokratieprinzip 272, 354, 360 ff., 383, 410 ff., 488, 494 ff. Dispositives Gesetzesrecht 32 Doppelgrundrecht 133, 204 Durchsetzungsfähigkeit 474 ff. Einschätzungsprärogative 96, 410 ff. EMRK 272 ff. Europäische Sozialcharta 273
– unmittelbare 356 Grundrechtseingriff 107 ff., 123 ff., 127 ff., 176 ff., 311 ff., 329 ff., 366 ff., 406 ff. Grundrechtstheorien 110 ff. Grundrechtsverzicht 423, 443 ff. Höchstarbeitszeit 40, 54, 222 f., 235, 526, 535, 543, 546 ff., 560 f., 568, 570, 574 ff. Integrationstheorie 436 ff.
Folgerichtigkeit 573, 575 funktionsgestörte Tarifautonomie 47, 185, 306, 500 ff.
Justizgewährungsanspruch 354, 369 ff., 398 ff.
Sachwortverzeichnis Kernbereichstheorie 26, 67 f., 73, 81 ff., 129, 135, 269, 270, 321 Koalitionsfreiheit – negative 73, 129 f., 253 ff., 271, 296, 441 ff., 456, 584 Koalitionsverbote 203 Kompetenzparallelismus 80, 97 f., 100 ff., 175, 180, 234, 274, 294, 320 ff., 325 ff., 514 Legitimationstheorie 437 ff. Leiharbeit 47, 56 ff., 66, 76, 480 ff., 504 ff. Nachtarbeit 54, 58, 517 ff., 526 535 ff., 570, 574 ff., 578 Nationalsozialismus 237 ff. normative Wirkung des Tarifvertrags 135, 206, 227 Normenbestimmtheit 346 Normenklarheit 346 Normsetzungsbefugnis 75 f., , 222 ff., 262, 274, 280 ff., 323 ff., 422 ff., 455 ff. Normsetzungsprärogative 88, 89, 94 ff., 184, 236, 587 Notstandsverfassung 196 ff., 257 f. Ordnungsfunktion 154 ff., 202, 236, 442 organisatorische Leistungsfähigkeit 468 ff. Parlamentarischer Rat 247 ff. Privatautonomie 33, 138 ff., 157 f., 181, 202, 275, 280, 283 ff., 455 ff. Rechtsfortbildung 360, 365 ff., 448 ff. Regelungsbefugnis 76, 106, 109,135, 222, 237, 257, 262, 277, 290, 294, 320, 323, 422, 448, 516 Repräsentativitätsprinzip 482, 488, 492 ff., 495 ff, 499
631
Richtervorlage 374 ff., 400, 458 Richtigkeitsgewähr 307, 422, 466 ff., 487, 491 ff. 510 Ruhezeit 54, 517, 526, 529, 534 f., 547 ff., 556, 577 Schlaf 235, 517 ff., 524, 528 ff., 553 f., 560, 581 f. soziale Mächtigkeit 466 ff. Sozialistengesetze 203 Sozialstaatsprinzip 78, 80, 100, 113, 169, 175 ff. Streikrecht 189, 219, 245, 251 ff., 261 Strukturelle Unterlegenheit 26, 70, 91, 135, 137 ff., 157, 183 ff., 201, 223 f., 274 ff., 283, 308 ff., 424, 444, 454, 502, 557 Subsidiaritätsprinzip – Anwendbarkeitsvoraussetzungen 173 – tarifrechtliches 68, 84, 93 ff., 97 ff., 262, 293 f., 306, 587 – verfassungsrechtliches 162 ff., 186, 587 Tariffähigkeit 57, 60, 293, 466 ff., 538, 589 Tarifoffenes Gesetz 32, 35 Tariftreue 74 f. Tarifvertragsfreiheit – formell 106, 284 – materiell 106, 124, 185, 281 – negativ 130, 441 f., 456, 584 Tarifzensur 423, 439, 451, 459, 464, 492, 499 Unterlassen, gesetzgeberisches 331, 334, 376 ff. verfassungskonforme Auslegung 355 ff. Vorbehalt des Gesetzes 103, 347, 358 ff., 365, 383, 398, 449 f.
632
Sachwortverzeichnis
Vorrangtheorie 64, 88, 93 ff., 159, 284 Weimarer Reichsverfassung 188 ff., 209 ff., 247 ff. Wesentlichkeitstheorie 380 ff., 398
Zulassungsnormen 35 Zwingendes Gesetzesrecht 33 Zwingende Wirkung des Tarifvertrags 38, 90, 135 ff., 185, 206 ff., 227 ff., 246 ff., 281 ff., 299, 315, 432, 454