Literarästhetische Literalität: Literaturvermittlung im Spannungsfeld von Kompetenzorientierung und Bildungsideal 9783839450017

Literacy instead of competence: What is unavoidable to enable broad cultural participation in literature?

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German Pages 392 Year 2020

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Table of contents :
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Inhalt
Vorwort
Einleitung
Wunsch und Wirklichkeit
Diskrepanzen
Vermittlungen
Vorgehen
1. Problemaufriss:Lesekompetenz und Literaturunterricht
1.1. Die kompetenzorientierte Wende
1.2. Das Modell allgemeiner Lesekompetenz und literarästhetisches Lesen
1.2.1. Entnahme oder Konstruktion von Bedeutungen?
1.2.2. Stufen des Verstehensprozesses und mentale Repräsentation
1.2.3. Die Konturierung der drei Subskalen
1.2.4. Die Konturierung der Niveaustufen
1.3. Exemplarische Analyse der PISA-Testaufgabe »Das Geschenk«
1.4. Output-Orientierung und »Systemmonitoring«
1.5. Exemplarische Analyse der VERA- 8-Testaufgabe »Der Königsmacher«
1.6. Bildungsstandards im Fach Deutsch für die Allgemeine Hochschulreife
1.7. Exemplarische Analyse der Aufgabe »Poseidon«
2. Ästhetische Grundlagen
2.1. Die Autonomie des Ästhetischen
2.2. Die Prozessualität des Ästhetischen
2.3. Mehrebenenmodell ästhetischer Rezeption
2.3.1. Perzeption: Erscheinen und Wahrnehmen
2.3.2. Vorstellungsbildung und Imagination
2.3.3. Das Zusammenspiel von Einbildungskraft und Verstand (Immanuel Kant)
2.3.4. Begriffsgebundene Kognition: Das Andere des ästhetischen Verstehens
2.3.4.1. Selektion: Die Spezifik ästhetischer Signifikantenbildung
2.3.4.2. Strukturierungen: Bezüge und Vernetzungen
2.3.4.3. Sinnzuschreibungen: »eine Benennung im Werden«(Roland Barthes)
2.3.4.4. Prisma und Kaleidoskop
2.3.5. Zwischenfazit
2.4. Ästhetische Erfahrung – ästhetisches Erfahren
3. Literarästhetische Spezifika
3.1. Pragmatische vs. literarische Sprachverwendung
3.1.1. »Das schreibende Ich« (Ingeborg Bachmann)
3.1.2. Pragmatische Sprachverwendung:»ein für immer geschlossenes Einverständnis« (Herta Müller)
3.1.3. Literarische Sprachverwendung I: »Lücken« (Herta Müller)
3.1.4. Literarische Sprachverwendung II: »Irrlauf im Kopf« (Herta Müller)
3.2. Kennzeichen literarischer Sprachverwendung und ihrer Rezeption
3.2.1. Kunst in Zeiten der Dominanz automatisierter Wahrnehmungsstrukturen
3.2.2. Deviationsästhetik als Deautomatisierungsprachlicher Verwendungsformen
3.2.3. Leser_innenaktivierung durch Verlangsamung und Bremsung
3.2.4. Materialität als dritter Term in Ergänzungzur Form-Inhalt-Dichotomie
3.2.5. Die »poetische Funktion« (Roman Jakobson)
3.2.6. Strukturalistisch‐semiotische Modelle des Bedeutungsaufbaus
3.2.7. »Die strukturalistische Tätigkeit« (Roland Barthes)
3.2.8. Die Kommunikationsstruktur literarischer Texte: Wirkungsästhetische Impulse
3.2.9. Die Prozessualität der Lektüre: Der »wandernde Blickpunkt« (Wolfgang Iser)
3.2.10. Synthetisierungsaktivitäten: Gestaltbildung
3.3. Zusammenführung: (Literar-)Ästhetische Kompetenz(en) –ein Widerspruch?!
3.3.1. Spiel der Erkenntnisvermögen vs. finale kognitive Überformung
3.3.2. Zweckfreiheit und Genuss vs. Leistungsorientierung
3.3.3. Responsive vs. instruktive Subjektivität
3.3.4. Individuelle Kombinatorik vs. allgemeine Anwendungsregeln
3.3.5. Text- und rezipientenspezifische Anforderungenvs. hierarchisch gestufte Kompetenzniveaus
3.3.6. Fragen aufwerfen vs. Probleme lösen
3.3.7. Imagination und (Selbst-)Reflexion vs. Output-Orientierungund Messbarkeit
4. Grundzüge eines Modellsliterarästhetischer Literalität
4.1. Literacy-Konzepte als Brückenschlag
4.1.1. Kompetenz und Bildung
4.1.2. Das Potential von literacy-Konzepten
4.2. Literarästhetische Literalität I: Herleitung
4.2.1. Fokus: Die Ästhetisierung der Lebenswelt und die poetische Funktion
4.2.2. Fokus: Kunst und ästhetische Rezeption
4.3. Literarästhetische Literalität II: Ausrichtung
4.4. Literarästhetische Literalität III: Verortung
4.5. Literarästhetische Literalität IV: Konkretisierung
5. Didaktische Ziele und Vermittlungsformen literarästhetischer Literalität
5.1. Perzeption: Erscheinen und Wahrnehmen
5.1.1. Grundlagen
5.1.2. Umsetzungen am Beispiel der ästhetischen Hördidaktikund des hörenden Lesens
5.1.2.1. Kulturgeschichtliche Hintergründe
5.1.2.2. Hördidaktische Zugänge
Bewusstes Hören als pure Wahrnehmungsleistung
Ästhetisches Hören
Literarästhetisches Hören
Kompetenzen, Literalität und Bildung im Kontext der Hördidaktik
5.1.2.3. Hörendes Lesen
Der Ansatz Hans Löseners
Erweiterte didaktische Potentiale
Kompetenz, Literalität und Bildung im Kontext des hörenden Lesens
5.2. Vorstellungsbildung und Imagination
5.2.1. Grundlagen
5.2.1.1. Vorstellende und begriffliche Repräsentationsmodides Textverstehens
5.2.1.2. Charakteristika literarästhetischvorstellungsgebundener Repräsentationsmodi
Stimmungen
Unbestimmtheits- und Leerstellen, Negationen
Metaphern
5.2.1.3. Kompetenz und Literalität
5.2.1.4. Bildungsrelevante Charakteristika
5.2.2. Umsetzung am Beispiel des textnahen Lesens
5.2.2.1. Das Verfahren des textnahen Lesens nach Paefgen und seine Modifikationen
5.2.2.2. Die Arbeit mit Lektüreprotokollen am Beispiel eines Deutschkurses (Jgst. 11)
Textanalyse: »Ich bin zurückgekehrt« (Heimkehr) von Franz Kafka
Auswertung der Lektüreprotokolle
Aspektgeleitetes Fazit und didaktische Reflexion
5.3. Begriffsgebundene Kognition
5.3.1. Grundlagen und Vermittlungsziele
5.3.2. Umsetzung am Beispiel einer Kurzeinheit zu Franz Kafka: Ein altes Blatt
5.3.2.1. Textanalyse
5.3.2.2. Vermittlungsziele auf den Ebenen von Kompetenz, Literalität und Bildung
5.3.2.3. Literarästhetisch begründetes interkulturelles Lernen
5.3.2.4. Das Phasenmodell interkulturellen Lernens nach Dawidowski
5.3.2.5. Ausarbeitung einer Unterrichtssequenz
Irritation
Transparenz
Perspektivwechsel
Transfer
Fazit
Literarästhetische Literalität
Sorgen der Hausväter
(Aus-)Wege der Kunst
Literaturverzeichnis
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Literarästhetische Literalität: Literaturvermittlung im Spannungsfeld von Kompetenzorientierung und Bildungsideal
 9783839450017

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Carlo Brune Literarästhetische Literalität

Lettre

Für Ina

Carlo Brune (Dr. phil.), geb. 1970, ist Professor für deutsche Literaturwissenschaft und Literaturdidaktik an der Pädagogischen Hochschule Ludwigsburg. Seine Arbeits- und Forschungsschwerpunkte bilden die Spezifika literarischer Textrezeption und ihrer Vermittlung, Fragen des Verhältnisses von Literaturtheorie und Literaturdidaktik, die Literatur der Epochenumbrüche 1800 und 1900 im Unterricht sowie die Gegenwartsliteratur und Popkultur/Popmusik.

Carlo Brune

Literarästhetische Literalität Literaturvermittlung im Spannungsfeld von Kompetenzorientierung und Bildungsideal

Gedruckt mit Unterstützung des Förderungsfonds Wissenschaft der VG WORT.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2020 transcript Verlag, Bielefeld Alle Rechte vorbehalten. Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Maria Arndt, Bielefeld Umschlagabbildung: Franz Kafka: Der Proceß (S. 2), Deutsches Literaturarchiv Marbach. Ernst Haeckel: Kunstformen der Natur. Erste Sammlung. Fünfzig Illustrationstafeln mit beschreibendem Text. Leipzig / Wien: Verlag des bibliographischen Instituts 1899. Tafel 8: Desmonema. Discomedusae / Scheibenquallen. Korrektorat: Gabriele Schaller, Bielefeld Druck: docupoint GmbH, Magdeburg Print-ISBN 978-3-8376-5001-3 PDF-ISBN 978-3-8394-5001-7 https://doi.org/10.14361/9783839450017 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: https://www.transcript-verlag.de Unsere aktuelle Vorschau finden Sie unter www.transcript-verlag.de/vorschau-download

Inhalt

Vorwort ....................................................................................... 11 Einleitung ..................................................................................... 13 Wunsch und Wirklichkeit ........................................................................................ 13 Diskrepanzen ....................................................................................................... 16 Vermittlungen ...................................................................................................... 21 Vorgehen ............................................................................................................ 27 1. Problemaufriss: Lesekompetenz und Literaturunterricht ................................31 1.1. Die kompetenzorientierte Wende.............................................................................. 31 1.2. Das Modell allgemeiner Lesekompetenz und literarästhetisches Lesen ............................37 1.2.1. Entnahme oder Konstruktion von Bedeutungen? ............................................... 39 1.2.2. Stufen des Verstehensprozesses und mentale Repräsentation .............................. 41 1.2.3. Die Konturierung der drei Subskalen............................................................... 46 1.2.4. Die Konturierung der Niveaustufen................................................................. 50 1.3. Exemplarische Analyse der PISA-Testaufgabe »Das Geschenk«...................................... 51 1.4. Output-Orientierung und »Systemmonitoring« ........................................................... 65 1.5. Exemplarische Analyse der VERA-8-Testaufgabe »Der Königsmacher« ............................ 67 1.6. Bildungsstandards im Fach Deutsch für die Allgemeine Hochschulreife ........................... 73 1.7. Exemplarische Analyse der Aufgabe »Poseidon« ........................................................ 80 2. 2.1. 2.2. 2.3.

Ästhetische Grundlagen ................................................................. 91 Die Autonomie des Ästhetischen ............................................................................. 92 Die Prozessualität des Ästhetischen ........................................................................ 93 Mehrebenenmodell ästhetischer Rezeption................................................................ 96 2.3.1. Perzeption: Erscheinen und Wahrnehmen ........................................................ 96 2.3.2. Vorstellungsbildung und Imagination ............................................................. 103

2.3.3. Das Zusammenspiel von Einbildungskraft und Verstand (Immanuel Kant) .............. 106 2.3.4. Begriffsgebundene Kognition: Das Andere des ästhetischen Verstehens ................ 112 2.3.4.1. Selektion: Die Spezifik ästhetischer Signifikantenbildung ........................ 113 2.3.4.2. Strukturierungen: Bezüge und Vernetzungen......................................... 114 2.3.4.3. Sinnzuschreibungen: »eine Benennung im Werden« (Roland Barthes) .........115 2.3.4.4. Prisma und Kaleidoskop.................................................................... 117 2.3.5. Zwischenfazit ............................................................................................ 118 2.4. Ästhetische Erfahrung – ästhetisches Erfahren..........................................................122 3. Literarästhetische Spezifika ........................................................... 133 3.1. Pragmatische vs. literarische Sprachverwendung...................................................... 134 3.1.1. »Das schreibende Ich« (Ingeborg Bachmann) .................................................. 134 3.1.2. Pragmatische Sprachverwendung: »ein für immer geschlossenes Einverständnis« (Herta Müller) ............................ 135 3.1.3. Literarische Sprachverwendung I: »Lücken« (Herta Müller) .................................137 3.1.4. Literarische Sprachverwendung II: »Irrlauf im Kopf« (Herta Müller) ..................... 139 3.2. Kennzeichen literarischer Sprachverwendung und ihrer Rezeption................................ 143 3.2.1. Kunst in Zeiten der Dominanz automatisierter Wahrnehmungsstrukturen.............. 143 3.2.2. Deviationsästhetik als Deautomatisierung sprachlicher Verwendungsformen.......... 147 3.2.3. Leser_innenaktivierung durch Verlangsamung und Bremsung............................. 152 3.2.4. Materialität als dritter Term in Ergänzung zur Form-Inhalt-Dichotomie ................. 154 3.2.5. Die »poetische Funktion« (Roman Jakobson) .................................................. 158 3.2.6. Strukturalistisch-semiotische Modelle des Bedeutungsaufbaus .......................... 164 3.2.7. »Die strukturalistische Tätigkeit« (Roland Barthes) ......................................... 166 3.2.8. Die Kommunikationsstruktur literarischer Texte: Wirkungsästhetische Impulse....... 171 3.2.9. Die Prozessualität der Lektüre: Der »wandernde Blickpunkt« (Wolfgang Iser)..........173 3.2.10. Synthetisierungsaktivitäten: Gestaltbildung ..................................................... 176 3.3. Zusammenführung: (Literar-)Ästhetische Kompetenz(en) – ein Widerspruch?! ................ 180 3.3.1. Spiel der Erkenntnisvermögen vs. finale kognitive Überformung ......................... 180 3.3.2. Zweckfreiheit und Genuss vs. Leistungsorientierung.......................................... 181 3.3.3. Responsive vs. instruktive Subjektivität ........................................................ 182 3.3.4. Individuelle Kombinatorik vs. allgemeine Anwendungsregeln .............................. 185 3.3.5. Text- und rezipientenspezifische Anforderungen vs. hierarchisch gestufte Kompetenzniveaus ...................................................187 3.3.6. Fragen aufwerfen vs. Probleme lösen ............................................................ 189 3.3.7. Imagination und (Selbst-)Reflexion vs. Output-Orientierung und Messbarkeit .......... 192 4.

Grundzüge eines Modells literarästhetischer Literalität ................................. 195 4.1. Literacy-Konzepte als Brückenschlag ............................................................. 196 4.1.1. Kompetenz und Bildung ...................................................................... 196 4.1.2. Das Potential von literacy-Konzepten..................................................... 202

4.2. Literarästhetische Literalität I: Herleitung................................................................ 208 4.2.1. Fokus: Die Ästhetisierung der Lebenswelt und die poetische Funktion.................. 209 4.2.2. Fokus: Kunst und ästhetische Rezeption .........................................................213 4.3. Literarästhetische Literalität II: Ausrichtung ............................................................. 215 4.4. Literarästhetische Literalität III: Verortung ...............................................................218 4.5. Literarästhetische Literalität IV: Konkretisierung ...................................................... 226 5. Didaktische Ziele und Vermittlungsformen literarästhetischer Literalität ............. 237 5.1. Perzeption: Erscheinen und Wahrnehmen ................................................................ 239 5.1.1. Grundlagen............................................................................................... 239 5.1.2. Umsetzungen am Beispiel der ästhetischen Hördidaktik und des hörenden Lesens............................................................................ 244 5.1.2.1. Kulturgeschichtliche Hintergründe ..................................................... 245 5.1.2.2. Hördidaktische Zugänge .................................................................. 248 Bewusstes Hören als pure Wahrnehmungsleistung ................................ 248 Ästhetisches Hören ........................................................................ 250 Literarästhetisches Hören ................................................................ 252 Kompetenzen, Literalität und Bildung im Kontext der Hördidaktik............. 256 5.1.2.3. Hörendes Lesen ............................................................................ 258 Der Ansatz Hans Löseners ................................................................ 258 Erweiterte didaktische Potentiale ...................................................... 262 Kompetenz, Literalität und Bildung im Kontext des hörenden Lesens ....... 266 5.2. Vorstellungsbildung und Imagination ...................................................................... 269 5.2.1. Grundlagen............................................................................................... 269 5.2.1.1. Vorstellende und begriffliche Repräsentationsmodi des Textverstehens......................................................................... 270 5.2.1.2. Charakteristika literarästhetisch vorstellungsgebundener Repräsentationsmodi ..................................... 273 Stimmungen .................................................................................. 275 Unbestimmtheits- und Leerstellen, Negationen..................................... 278 Metaphern..................................................................................... 281 5.2.1.3. Kompetenz und Literalität ................................................................ 283 5.2.1.4. Bildungsrelevante Charakteristika ..................................................... 285 5.2.2. Umsetzung am Beispiel des textnahen Lesens................................................. 288 5.2.2.1. Das Verfahren des textnahen Lesens nach Paefgen und seine Modifikationen............................................................................290 5.2.2.2. Die Arbeit mit Lektüreprotokollen am Beispiel eines Deutschkurses (Jgst. 11) ....................................................................................... 293 Textanalyse: »Ich bin zurückgekehrt« (Heimkehr) von Franz Kafka ........... 296 Auswertung der Lektüreprotokolle ..................................................... 302 Aspektgeleitetes Fazit und didaktische Reflexion .................................. 308

5.3. Begriffsgebundene Kognition ..........................................................................315 5.3.1. Grundlagen und Vermittlungsziele ...........................................................315 5.3.2. Umsetzung am Beispiel einer Kurzeinheit zu Franz Kafka: Ein altes Blatt.........321 5.3.2.1. Textanalyse ............................................................................ 322 5.3.2.2. Vermittlungsziele auf den Ebenen von Kompetenz, Literalität und Bildung..................................................................................332 5.3.2.3. Literarästhetisch begründetes interkulturelles Lernen ....................335 5.3.2.4. Das Phasenmodell interkulturellen Lernens nach Dawidowski...........337 5.3.2.5. Ausarbeitung einer Unterrichtssequenz .......................................339 Irritation................................................................................339 Transparenz ...........................................................................339 Perspektivwechsel................................................................... 341 Transfer ................................................................................ 343 Fazit......................................................................................... 345 Sorgen der Hausväter .......................................................................................... 345 (Aus-)Wege der Kunst .......................................................................................... 351 Literaturverzeichnis......................................................................... 363

»Der Mangel an Philologie: man verwechselt beständig die Erklärung mit dem Text ‒ und was für eine ›Erklärung‹!« Friedrich Nietzsche: Notiz aus dem Nachlass (Frühjahr 1888) »Ziel der Kunst ist es, ein Empfinden des Gegenstandes zu vermitteln, als Sehen, und nicht als Wiedererkennen.« Victor Šklovskij: Die Kunst als Verfahren (1916)

Vorwort

Nahezu zwei Jahrzehnte nach den Anfängen der kompetenzorientierten Wende in der Schul- und Bildungspolitik mag die erneute Infragestellung dieses Paradigmenwechsels Skepsis auslösen. Sind, so ließe sich fragen, die entscheidenden Debatten nicht geführt, alle relevanten Argumente längst ausgetauscht? Und hat sich die bereits vollzogene Umstellung nicht bewährt, mit dazu beigetragen, dass die Leistungen der Schüler_innen an deutschen Schulen sich in den PISA-Rankings zumindest anfangs wieder verbessert haben? Ist es zudem, so kann diese Reihe von Einwänden fortgeführt werden, nun nicht vordringliche Aufgabe der Fachdidaktiken, die mit der Kompetenzorientierung vollzogene empirische Wende auf solide Grundlagen zu stellen, sich verstärkt damit zu befassen, wie sich ästhetische Rezeptionsvorgänge resp. unterrichtliche Vermittlungsprozesse bestmöglich operationalisieren sowie in ihren Ergebnissen messen und auswerten lassen, um so Lehr-/Lernprozesse zu optimieren und die Ausbildung von Lehrkräften weiter zu professionalisieren? Forderungen und Schlagworte, die die literaturdidaktischen Diskussionen im Laufe der letzten Jahre zunehmend bestimmt haben. Auch wenn an dem hinter diesen Argumenten stehenden Grundanliegen, die Praxis schulischer Literaturvermittlung zu verbessern, nichts zu kritisieren ist, so muss doch gerade nach fast zwei Dekaden Kompetenzorientierung danach gefragt werden, ob der mit diesem Ansatz beschrittene Weg dem Ziel, Heranwachsende mit dem Kulturgut ›Literatur‹ und so mit literarästhetischer Sprachverwendung vertraut zu machen, dienlich ist. Dass kompetenzkritische Stimmen weder im literaturdidaktisch-wissenschaftlichen Diskurs noch an den Schulen (z.T. vor allem dort) verstummt sind, ist nicht nur konservative Kulturkritik. Hierhinter steckt mehr, und zwar nichts weniger als die Sorge, dass eine kompetenzorientierte Vermittlung dem Gegenstand nicht gerecht wird – und Heranwachsende so der Möglichkeit beraubt werden, in einem zentralen Schulfach, Deutsch, sich auch Formen einer ästhetisch-expressiven Begegnung mit sich selbst und der Welt zu erschließen. Denn im Gegensatz zu anderen künstlerischästhetischen Fächern wie Musik oder Kunst, die in der Sekundarstufe II oft nur in einem größeren Wahlpflichtbereich vertreten sind, hat der Literaturunterricht im Fach Deutsch weiterhin hohen Stellenwert. Dass dies keine Selbstverständlichkeit ist, zeigen

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Literarästhetische Literalität

Tendenzen etwa an berufsbildenden Schulen und z.T. auch an Haupt- und Realschulen, wo Literatur zunehmend an den Rand gedrängt wird. Mit der Kompetenzorientierung droht einer solchen schleichenden Entwicklung eine – vielleicht sogar ungewollte – Argumentationsbasis gegeben zu werden. Denn wenn all das, was über den kompetenzorientiert zu vermittelnden Bereich des Literaturunterrichts hinausgeht, aus dem Kernbereich des Faches eskamotiert wird, wird die Frage, worüber sich Literaturunterricht noch legitimieren kann, schwierig zu beantworten. Will man das Potential entfalten, das Literatur als Gegenstand schulischer Lernprozesse besitzt, so ist dies in den engen Grenzen des Weinert’schen Kompetenzbegriffs nicht möglich. Die vorliegende Studie will den Nachweis hierfür erbringen, indem sie sich wieder stärker den theoretischen Grundlagen der Disziplin Literaturdidaktik – und somit auch der Kunstphilosophie und Literaturtheorie – zuwendet. Dass dabei keine ›Abrechnung‹ mit dem Kompetenzparadigma, sondern vielmehr dessen sinnvolle Integration im Rahmen eines Vermittlungsmodells intendiert ist, zeigt sich auch darin, dass mit dem Literalitätsbegriff ein Terminus in die Diskussion gebracht wird, der zunächst ebenfalls primär auf Fähigkeiten fokussiert – solche allerdings, die weit über den Kompetenzbegriff Weinerts hinausgehen und so stärkere Impulse für Bildungsprozesse bereithalten. Ein gegenseitiges Ausspielen von Inhalten und Fähigkeiten macht ohnehin ebenso wenig Sinn wie eines von Kompetenz und Bildung. Die Arbeit wurde nach einer rund zehnjährigen gymnasialen Unterrichtspraxis Anfang des Jahres 2013 begonnen. Sie dokumentiert auch den Entwicklungsgang, den mein eigenes Denken in diesem Zeitraum bis zur Annahme als Habilitationsschrift vom Deutschen Seminar an der Leibniz Universität Hannover 2018 genommen hat. Als Gutachter_innen fungierten Sigrid Thielking und Toni Tholen, denen ich zu großem Dank verpflichtet bin. Weiterhin möchte ich den ehemaligen Kolleg_innen an den Universitäten Münster und Hannover, namentlich Marion Bönnighausen, Gabriele Blell und Michael Bies danken, die mich im Laufe des Arbeitsprozesses in verschiedener Form und Funktion begleitet und mir wertvolle Anregungen gegeben haben, was in gleicher Weise auch für Johannes Odendahl gilt. Beim Förderungsfonds Wissenschaft der VG Wort bedanke ich mich schließlich für die Vollförderung der Druckkosten dieser Arbeit.

Einleitung

Wunsch und Wirklichkeit Es handelt sich um folgendes: Ich saß einmal vor vielen Jahren, gewiß traurig genug, auf der Lehne des Laurenziberges. Ich prüfte die Wünsche, die ich für das Leben hatte. Als wichtigster oder als reizvollster ergab sich der Wunsch, eine Ansicht des Lebens zu gewinnen (und – das war allerdings notwendig verbunden – schriftlich die andern von ihr überzeugen zu können) in der das Leben zwar sein natürliches schweres Fallen und Steigen bewahre aber gleichzeitig mit nicht minderer Deutlichkeit als ein Nichts, als ein Traum, als ein Schweben erkannt werde. Vielleicht ein schöner Wunsch, wenn ich ihn richtig gewünscht hätte. Etwa als Wunsch, einen Tisch mit peinlich ordentlicher Handwerksmäßigkeit zusammenzuhämmern und dabei gleichzeitig nichts zu tun undzwar nicht so daß man sagen könnte: »ihm ist das Hämmern ein Nichts« sondern »ihm ist das Hämmern ein wirkliches Hämmern und gleichzeitig auch ein Nichts«, wodurch ja das Hämmern noch kühner, noch entschlossener, noch wirklicher und wenn du willst noch irrsinniger geworden wäre.1 Franz Kafkas Tagebucheintrag datiert auf den 15. Februar 1920. Retrospektiv nimmt er in Form einer Reflexion zweiten Grades Bezug auf frühere Wünsche eigener Lebensgestaltung. Bereits der Ort, an dem diese einstigen Gedanken entstanden, der Hang des Prager Hausberges, markiert einen Abstand zum alltäglichen Treiben der Großstadt – was sich auch als Voraussetzung dafür lesen lässt, überhaupt Wünsche formulieren und abwägen zu können. Genau diese Möglichkeit einer Distanzierung liegt dann auch dem hier angesprochenen »wichtigste[n]« Wunsch zugrunde; und der Zusatz, dass dieser zugleich der »reizvollste« sein könne, legt erste Spuren hin zu einer Form ästhetischen Genusses, einer ästhetischen Lust, die sich hiermit verbindet. Es handelt sich darum, eine Perspektive auf das Leben zu gewinnen, in der sich dessen »natürliches schweres Fallen und Steigen« mit dem Bewusstsein von Leichtigkeit, einem »Schweben« verbindet, und zwar in »Form eines Künstlertums, das zwar realitätsbezogen bleibt, sich aber 1

Kafka, Franz: Tagebücher. Bd. 3: 1914-1923. In: ders.: Gesammelte Werke in zwölf Bänden. Nach der krit. Ausg. hg. v. Hans-Gerd Koch. Bd. 11. Frankfurt a.M.: Fischer Taschenbuch 1994. S. 179f.

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Literarästhetische Literalität

zugleich eine traumhafte, den Realitätszwängen enthobene Unabhängigkeit schafft«2 . So wird es möglich, einzelne Elemente aus ihren gewohnten Kontexten herauszulösen, um sie ihren scheinbar »natürliche[n]« Gesetzmäßigkeiten und Funktionsbestimmungen zu entziehen. Dies eröffnet veränderte Perspektiven, neue Wahrnehmungsweisen – und verbindet sich mit dem Wunsch nach eigenem Schreiben, denn anders ist der Zusatz, »schriftlich die andern« von dieser »Ansicht des Lebens […] überzeugen zu können«, nicht zu lesen.3 Das folgende Beispiel erläutert diese Gedanken: Die Tätigkeit des Zusammenhämmerns eines Tisches wird in dem Moment, wo sie in eine solche veränderte Sicht überführt ist, in der Wahrnehmung ausgeschärft. Diese ist nicht mehr nur funktional auf das Produkt, zu dem sie führen soll – die Erstellung eines Tisches – ausgerichtet, sondern gewinnt zugleich eine neue Qualität, die sich nur aus sich selbst begründen lässt: eine von alltagspragmatischen Überlegungen befreite Beobachtung der ausgeführten Tätigkeit, die hierin »noch kühner, noch entschlossener, noch wirklicher« – und so, weil sie nun selbst in den Fokus rückt und nicht rein instrumental betrachtet wird, »noch irrsinniger« erscheint. Doch Einhalt ist geboten: Ein Konjunktiv, und zwar ein Irrealis, wurde überlesen – und mit ihm andere Signale, die all das Ausgeführte in der Rückschau als etwas kennzeichnen, was nur als Möglichkeit in der Vergangenheit existierte, aber nie realisiert wurde: »Vielleicht ein schöner Wunsch, wenn ich ihn richtig gewünscht hätte.« Weiter heißt es nun: Aber er konnte gar nicht so wünschen, denn sein Wunsch war kein Wunsch, er war nur eine Verteidigung, eine Verbürgerlichung des Nichts, ein Hauch von Munterkeit, den er dem Nichts geben wollte, in das er zwar damals kaum die ersten bewußten Schritte tat, das er aber schon als sein Element fühlte. Es war damals eine Art Abschied, den er von der Scheinwelt der Jugend nahm; sie hatte ihn übrigens niemals unmittelbar getäuscht, sondern nur durch die Reden aller Autoritäten rings herum täuschen lassen. So hatte sich die Notwendigkeit des ›Wunsches‹ ergeben.4 Eine zweite Distanz findet nun Ausdruck: Nicht nur jene zum »natürliche[n] schwere[n] Fallen und Steigen« des »Lebens«, sondern eine des erzählenden zum erzählten Ich, von dem jetzt (was der Schluss des vorhergehenden Abschnitts bereits vorbereitete) in der dritten Person Singular die Rede ist. Der im ersten Wunsch noch für möglich gehaltene Ausgleich zwischen funktionalem Hämmern und ästhetischer Beobachtung wird verworfen, dem Wunsch wird geradezu die Grundlage entzogen, überhaupt ein Wunsch zu sein, denn das erzählte Ich resp. Er »konnte gar nicht so wünschen«. In der Rückschau wird offenbar, dass es bereits zu diesem Zeitpunkt das »Nichts«, das als Begriff nun allein die anderen dieser Sphäre zugeordneten Begriffe des Traums und des Schwebens vertritt, als »sein Element« begreift, in das es die »ersten bewußten 2 3

4

Anz, Thomas: Franz Kafka. Leben und Werk. München: Beck 2009. S. 65. »Jedenfalls erscheint das Leben in der geglückten Ansicht nicht nur als eines der Welt, sondern – gespiegelt – auch als eines der Literatur, ›als ein Nichts, als ein Traum, als ein Schweben‹.« Malte Kleinwort: Kafkas Verfahren. Literatur, Individuum und Gesellschaft im Umkreis von Kafkas Briefen an Milena. Würzburg: Königshausen & Neumann 2004. S. 56. Kafka: Tagebücher. Bd. 3: 1914-1923. S. 180.

Einleitung

Schritte« macht. Abseits aller »Munterkeit«, die zuvor vom bürgerlichen Leben hierauf noch abfärbte, wird diese Welt von Kunst, Literatur und Ästhetik in der Gegenwart nun absolut gesetzt und der einstige Wunsch nach Vereinbarkeit mit der bürgerlichen Welt der bloßen Apologetik überführt, eine »Verbürgerlichung des Nichts« zu betreiben. Verworfen wird hierin die Illusion, den Pflichten und Anforderungen der Alltagswelt, dem »[Z]usammen[…]hämmern« der Tische, noch nachkommen und sich dabei doch zugleich in den ästhetischen Eigenwelten frei bewegen zu können. Diese Absage an die bürgerliche Alltagswelt und ihre Überzeugungen ist hierbei allerdings nicht rein positiv konnotiert, sie ist nicht nur fröhliches Spiel, sondern konfrontiert den Schreibenden zugleich auch mit dem »Nichts« – einem Abgrund, der Kunst und Literatur in unterschiedlichen Gestalten, sei es in Form von Diskursen der Melancholie, der Einsamkeit und des Ausgeschlossenseins (als Kehrseite der gesuchten Distanz) oder des Schmerzes und der Angst (als Kehrseite der Absage an die Überzeugungen der bürgerlichen Alltagswelt, denn hinter dieser Abkehr lauert die Frage, ob es so etwas wie Sinnhaftigkeit oder die Möglichkeit überzeugungsfähiger Ansichten im menschlichen Leben überhaupt geben kann) seit jeher auch prägt.5 Kafkas Tagebucheintrag bezieht den ersten, später dann revidierten Wunsch auf einen notwendigen Abschied von der »Scheinwelt der Jugend« mit ihren täuschenden »Reden aller Autoritäten ringsherum«. Die hierüber etablierte Opposition koppelt diese Form gesellschaftlich-öffentlicher Rede gleichermaßen mit Macht und Schein, was sich wiederum zurückbinden lässt an die bürgerliche Welt des »Hämmerns« und des Lebens »schweres Fallen und Steigen«. Dem gegenüber steht das »Schweben«, der »Traum« und die Kunst – und auch das hiermit verbundene literarische Schreiben. Dies wird entgegen der konventionellen Auffassung nun aber gerade nicht mit Schein und Täuschung konnotiert – die finden sich auf der anderen Seite dieser Opposition wieder. Dem »Nichts« kann folglich ein höherer Grad an Durchdringung des Wirklichen zugemessen werden als den »Reden aller Autoritäten«. Die Inszenierungsmechanismen derer, die sich selbst immer schon als letzten Grund von Wirklichkeit und Wahrheit begreifen (oder einer solchen an sie gestellten Erwartung gerecht werden wollen bzw. müssen), sind durchschaut und infrage gestellt, die Gesetze der bürgerlichen Alltagswelt als nichtssagende Rechtskodizes und Normenkatechismen enttarnt6 , hinter denen das Gesetz hervortritt, wie es von Kafkas Literatur immer wieder neu ausgestaltet wird: als »absolute Leerstelle«7 – als »Traum«, »Schweben« und Kunst allererst ermöglichendes wie zugleich auch solche Reaktionen hervorrufendes »Nichts«. 5

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Dabei scheinen es wiederum aber auch gerade diese Seiten der menschlichen Existenz zu sein, die künstlerische Produktivität freizusetzen vermögen. Dies ist mit Blick auf den Melancholiediskurs nachweisbar (vgl. Eckart Goebel: Artikel »Schwermut/Melancholie«. In: Karlheinz Barck u.a. [Hg.]: Ästhetische Grundbegriffe. Historisches Wörterbuch in sieben Bänden. Studienausgabe. Bd. 5. Stuttgart, Weimar: Metzler 2003. S. 446-486) und gilt in Teilen auch für Schmerz und Krankheit. (Vgl. etwa Johannes Odendahl: »Ein Jahr in der Hölle, aber auch ein tolles Jahr«. Krankheit als schöpferische Stimulanz? Teufelspakt-Motive in Wolfgang Herrndorfs Arbeit und Struktur. In: Literatur im Unterricht. Texte der Gegenwartsliteratur für die Schule 18 [2017], H. 2, S. 165-180.) Vgl. Hiebel, Hans Helmut: Die Zeichen des Gesetzes. Recht und Macht bei Franz Kafka. München: Fink 1983. S. 177. Ebd.

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Diskrepanzen Kafkas Tagebucheintrag kann als eine Bildungsgeschichte in nuce gelesen werden. Ihr liegt ein Konflikt zwischen den Anforderungen des gesellschaftlich-bürgerlichen Lebens und den Freiheiten der autonomen Welt des Kunstgenusses und Kunstschaffens zugrunde. Kafkas Weg ist in seiner Radikalität bestimmt kein Muster für jede_n Heranwachsende_n.8 Der Tagebucheintrag zeichnet aber ein Spannungsfeld nach, das auch die schulische Vermittlung von Kunst und Literatur durchzieht, und deshalb lassen sich diesem rund 100 Jahre alten Text Impulse für die didaktischen Diskussionen der Gegenwart entnehmen, denen oftmals ebenfalls ein Konflikt zwischen den Anforderungen der bürgerlichen Alltagswelt und den »Reden aller Autoritäten« auf der einen Seite und der Eigengesetzlichkeit der Welt von Kunst und Literatur auf der anderen Seite zugrunde liegt. Hieraus resultieren Folgen für die Art und Weise, wie Literaturvermittlung im Schulsystem gedacht wird. Denn dieses macht sich zur Aufgabe, Fähigkeiten und Fertigkeiten zu vermitteln, die den Schüler_innen eine »breite Partizipation am sozialen Leben«9 erlauben, wozu gewiss auch die Ausbildung von Kompetenzen gehört, die für das spätere Berufsleben von Bedeutung sind. Zugleich aber stellt sich das Bildungssystem dem Anspruch, die heranwachsende Generation »an den kulturellen Gütern«10 teilhaben zu lassen. Was hier von den Autor_innen der ersten PISA-Studie in scheinbarer Selbstverständlichkeit miteinander verbunden wird, erweist sich als höchst voraussetzungsreiches und von Konflikten durchzogenes Verhältnis; zumindest dann, wenn man unter den kulturellen Gütern auch den Zugang zu einer Kunst versteht, die sich spätestens im Verlauf des 18. Jahrhunderts zunehmend als autonomes gesellschaftliches System begreift, das seinen eigenen Spielregeln folgt. Doch sind damit nur zwei Pole eines Spannungsfeldes benannt, zu denen sich ein dritter gesellt, und zwar der Bildungsauftrag der Schule. Auch er verfolgt noch einmal andere Ziele. Hier geht es, und zitiert sei bewusst eines der Grundlagenpapiere der kompetenzorientierten Wende und das »Gründungsdokument der deutschen Bildungsstandards«11 , die sog. Klieme-Expertise, um Chancen, die Schüler_innen zur »Entwicklung ihrer individuellen Persönlichkeit« erhalten sollen – und folglich immer auch um »Einstellungen, Werthaltungen, Interessen und Motive«, die im Unterricht vermittelt werden.12 In Kafkas kurzem Tagebucheintrag finden sich alle drei Dimensionen schulischen Lernens wieder: Das gekonnte Zusammenhämmern eines Tisches kann als pars pro toto 8

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Zu berücksichtigen ist hier allerdings, dass auch Kafkas »Schritte« in das »Nichts« in seinem Leben immer davon begleitet waren, die bürgerliche Existenz eines Versicherungsbeamten mit der des Schriftstellers zu vereinbaren. Artelt, Cordula u.a.: Lesekompetenz: Textkonzeption und Ergebnisse. In: Jürgen Baumert u.a. (Deutsches PISA-Konsortium) (Hg.): PISA 2000. Basiskompetenzen von Schülerinnen und Schülern im internationalen Vergleich. Opladen: Leske + Buderich 2001. S. 69-137. S. 69. Ebd. Zabka, Thomas: Was ist Hochschulreife im Umgang mit Literatur? In: Didaktik Deutsch 20 (2015), H. 38, S. 136-150. S. 137. Klieme, Eckhard u.a.: Zur Entwicklung nationaler Bildungsstandards. Eine Expertise. Hg. v. Bundesministerium für Bildung und Forschung. Berlin 2003. S. 20. Unveränderter Nachdruck: https:// edudoc.ch/record/33468/files/develop_standards_nat_form_d.pdf (Abrufdatum 01.02.2018).

Einleitung

für die Kompetenzen, die in der bürgerlichen Alltagswelt gefordert sind und das eigene (berufliche) Überleben sichern, gelesen werden. Die hierzu gewonnene Distanz, in der all dies mit »nicht minderer Deutlichkeit als ein Nichts, als ein Traum, als ein Schweben« erkannt werden kann, verweist auf eine Vertrautheit mit der Welt der Kunst resp. ästhetischer Selbst- wie Weltwahrnehmung als spezifischen Diskursen unserer Gegenwartskultur. Sie kann zugleich auch die Auseinandersetzung mit eigenen Lebenszielen befördern, woraus für Kafka »eine Art Abschied« von der bürgerlichen Welt und eine Hinwendung zu Kunst und Ästhetik folgt, die er als »sein Element« erfährt. Dies rekurriert auf Bildungsprozesse, die Schüler_innen die reflektierte und bewusste Ausbildung eigener Interessen und so die Entwicklung einer eigenen Persönlichkeit erlauben. Der Deutsch-, spezifischer der Literaturunterricht ist durch das Zusammenspiel dieser drei Dimensionen von Spannungen und unterschiedlichen Ansprüchen durchzogen, die es in ihren Diskrepanzen zunächst einmal als solche wahrzunehmen und nicht vorschnell zu harmonisieren gilt. Diese Gefahr droht, wenn man der weiteren Argumentation der Klieme-Expertise folgt, die keinerlei Brüche auf dem Weg von der Kompetenzvermittlung über eine hierüber mögliche gegenstandsadäquate Vermittlung »kultureller Traditionen«13 bis hin zu den erwähnten Bildungszielen sieht.14 Faktisch wird hier die Frage ausgeblendet, ob sich im Rahmen des Kompetenzbegriffs überhaupt eine umfassende gegenstandsadäquate Vermittlung von Literatur als Kunst leisten lässt, die ihrerseits dann eine bildungsrelevante Bedeutung gewinnen kann. Die Debatten hierüber sind in der Literaturdidaktik in den Jahren nach dem Erscheinen der Expertise und der kompetenzorientierten Wende ausgiebig geführt worden. Dabei lassen sich zwei Beobachtungen machen: 1. Auch wenn es bis in die jüngste Vergangenheit fundierte Kritik an dem Paradigmenwechsel hinsichtlich seiner Eignung für literarische Lernprozesse gibt15 , so gewinnt man – sieht man auf die Breite des literaturdidaktischen Diskurses – den Eindruck, dass die anfängliche Skepsis einer zunehmenden Akzeptanz gewichen ist, in deren Fol-

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Ebd. Vgl. ebd. S. 20f.: »Bildungsstandards orientieren sich an Bildungszielen, denen schulisches Lernen folgen soll, und setzen diese in konkrete Anforderungen um. […] Bildungsstandards konkretisieren die Ziele in Form von Kompetenzanforderungen. Sie legen fest, über welche Kompetenzen ein Schüler, eine Schülerin verfügen muss, wenn wichtige Ziele der Schule als erreicht gelten sollen.« (Im Original als Unterkapitelüberschriften im Fettdruck.) Vgl. etwa Baum, Michael: Der Widerstand gegen Literatur. Dekonstruktive Lektüren zur Literaturdidaktik. Bielefeld: transcript 2019; Nicola Mitterer: Das Fremde in der Literatur. Zur Grundlegung einer responsiven Literaturdidaktik. Bielefeld: transcript 2016; Johannes Odendahl: Ästhetische Erziehung in Zeiten des Postfaktischen. Zur Legitimation literarischen Lernens. In: Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 47 (2017), H. 3, S. 413-428. Auch ein empirisch ausgerichteter Vertreter der Disziplin, Jan Boelmann, sieht in Weinerts Kompetenzbegriff einen »unproduktiven Denkrahmen« für die Literaturdidaktik. (Jan Boelmann: Unproduktive Denkrahmen. Zur Schwierigkeit literarische Kompetenz zu messen. In: Christian Dawidowski, Anna Rebecca Hoffmann u. Angelika Ruth Stolle [Hg.]: Lehrer- und Unterrichtsforschung in der Literaturdidaktik. Konzepte und Projekte. Frankfurt a.M.: Peter Lang 2017. S. 289-310.)

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ge mehrere kompetenzorientierte Modelle der Literaturvermittlung entstanden sind16 , die z.T. auch empirisch evaluiert wurden.17 Volker Frederking und Jörn Brüggemann sprechen von der Kompetenzorientierung als einer »Herausforderung«, die es anzunehmen gelte.18 Hier ist zu fragen, ob die mit der kompetenzorientierten Wende einhergehende Notwendigkeit einer Standardisierung von Fähigkeiten, einer strengen Operationalisierbarkeit von Aufgaben und in deren Folge auch einer Messbarkeit von Leistungen, wirklich ein gegenstandsadäquates Qualitätskriterium für angemessenen Literaturunterricht bildet – und ob so wiederum die Empirie zum entscheidenden Gradmesser der Literaturdidaktik als wissenschaftlicher Disziplin wird.19 Ist es nicht vielmehr so, dass das Kafka’sche Nichts, der Traum und das Schweben hier nach der Logik des Hämmerns beurteilt werden?

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Vgl. zum wohl systematischsten und umfassendsten Ansatz Schilcher, Anita u. Markus Pissarek (Hg.): Auf dem Weg zur literarischen Kompetenz. Ein Modell literarischen Lernens auf semiotischer Grundlage. Baltmannsweiler: Schneider 2013. Nur m.E. im Rahmen des maßgeblichen Kompetenzbegriffs von Weinert verankert, aber als Kompetenzmodell ausgelegt: Kaspar H. Spinner: Literarisches Lernen. In: Praxis Deutsch 33 (2006), H. 200, S. 6-16. Ein Überblick über weitere Modelle findet sich bei Boelmann: Unproduktive Denkrahmen. S. 291-293. Vgl. Frederking, Volker u.a.: Literarästhetische Verstehenskompetenz – theoretische Modellierung und empirische Erforschung. In: Zeitschrift für Germanistik XXI (2011), H. 1, S. 131-144 sowie: Volker Frederking: Modellierung literarischer Rezeptionskompetenz. In: Michael Kämper-van den Boogaart u. Kaspar H. Spinner (Hg.): Lese- und Literaturunterricht (Teil 1). Geschichte und Entwicklung; Konzeptionelle und empirische Grundlagen. Bd. 1. Baltmannsweiler: Schneider 2010. S. 324-380. »[E]rst der durch PISA angestoßene und bildungspolitisch forcierte Wandel von der Input- zur Outputorientierung und die damit korrespondierende fach- bzw. disziplinübergreifende angemahnte Hinwendung zur Kompetenzorientierung hat dazu geführt, dass die Literaturdidaktik diese Herausforderung [die kompetenzorientierte Modellierung literarischen Verstehens] wirklich angenommen hat.« Volker Frederking u. Jörn Brüggemann: Literarisch kodierte, intendierte bzw. evozierte Emotionen und literarästhetische Verstehenskompetenz. Theoretische Grundlagen einer empirischen Erforschung. In: Daniela A. Frickel, Clemens Kammler u. Gerhard Rupp (Hg.): Literaturdidaktik im Zeichen von Kompetenzorientierung und Empirie. Perspektiven und Probleme. Freiburg i.Br.: Fillibach 2012. S. 15-40. S. 15. Vgl. hierzu ebd. S. 18: »Wenn tatsächlich stimmen sollte, was Ulf Abraham festgestellt hat, dass nämlich die meisten Deutschdidaktikerinnen und Deutschdidaktiker die Überzeugung teilen, ›dass es der Komplexität sprachlich-literarischen Lernens nicht gerecht wird, testbare Einzelkomponenten, weil (vielleicht) (nur) sie wirklich testbar sind, unabhängig voneinander zu beschreiben‹ (Abraham 2007, 12), dann würde die Mehrzahl der Deutschdidaktikerinnen und Deutschdidaktiker allen Ernstes die Grundlagen empirischer Forschung insgesamt infrage stellen, die in den Naturwissenschaften, in den Sozialwissenschaften oder in den empirischen Bildungswissenschaften den härtesten Gradmesser von Wissenschaftlichkeit ausmachen. Dass die Deutschdidaktik, die in Bezug auf die Wissenschaftlichkeit bzw. Unwissenschaftlichkeit ihres Tuns ja von manchen Seiten heftig attackiert wird, mit einer solchen Position ihre Basis als wissenschaftliche Disziplin selbst infrage stellt bzw. suspendiert, steht leider außer Frage.« Frederking/Brüggemann streiten somit

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Seinem eigenen Verständnis nach zielt kompetenzorientierter Unterricht anwendungsbezogen auf zweckrationale Problemlösungen. Was für naturwissenschaftliche oder technische Fächer, aber auch im Kontext des Erlernens rein sprachlicher Fähigkeiten, durchaus sinnvoll erscheint, bedarf »in allen Fächern, deren Gegenstand eine irreduzible ästhetische Qualität innewohnt«20 , einer grundlegenden kritischen Reflexion – und Erweiterung. Ziel ist es dabei keineswegs, gegen eine Vermittlung von Kompetenzen auch im Literaturunterricht zu polemisieren, denn zweifelsfrei gibt es auch auf dem Feld des literarischen Lesens Fähigkeiten, die sich standardisieren, operationalisieren, testen und messen lassen – und Schüler_innen als eine Art analytisches ›Handwerkszeug‹ oftmals eine große Hilfe beim Umgang mit literarischen Texten sein können. Es muss aber die Frage gestellt werden, ob sich so ein Weg zu Kunst und Literatur, wie er im Tagebucheintrag Kafkas dargestellt wird, eröffnen lässt – oder ob es nicht weiterer didaktischer Anstrengungen bedarf, die den Kompetenzen eine Ausrichtung auf etwas sie selbst Überschreitendes geben.

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einer nicht empirisch ausgerichteten Literaturdidaktik ihren wissenschaftlichen Status ab. Eine solche Position ist nicht zuletzt philosophiegeschichtlich angreifbar, da sie das erkenntnistheoretische Verhältnis von notwendigen Vernunftwahrheiten und zufälligen Tatsachenwahrheiten – und nur die lassen sich empirisch ermitteln – von den Füßen auf den Kopf stellt; vgl. hierzu etwa folgende Passage aus der Monadologie von Gottfried Wilhelm Leibniz, in der »zwei Arten von Wahrheit, nämlich Vernunftwahrheiten und Tatsachenwahrheiten« unterschieden werden: »Die Vernunftwahrheiten sind notwendig und ihr Gegenteil ist unmöglich, die Tatsachenwahrheiten sind kontingent und ihr Gegenteil ist möglich.« (Gottfried Wilhelm Leibniz: Monadologie § 33. In: ders.: Philosophische Schriften. 4 Bände. Hg. u. übers. v. Hans Heinz Holz. Bd. 1: Kleine Schriften zur Metaphysik. Hg. v. ders., Herbert Herring u. Wolf von Engelhardt. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1996. S. 452f.) Dass empirische Forschung für die immer auch praxisbezogen arbeitende Literaturdidaktik eine hohe Relevanz hat, ist unstrittig; sie als »den härtesten Gradmesser von Wissenschaftlichkeit« zu bezeichnen und die Literaturdidaktik als wissenschaftliche Disziplin somit hierauf gründen zu wollen, bleibt aber ein fragwürdiges Unterfangen, da es sowohl andere Formen erfahrungsbezogenen Wissens und Könnens (etwa berufspraktische) als auch die Ebene theoretischer Reflexion nicht ausreichend mit einbezieht. Jahraus, Oliver: Das Promotionskolleg »Gestalten und Erkennen. Kompetenz und Kompetenzbildung in den ästhetischen Fächern und Fachbereichen« der Hanns-Seidel-Stiftung 2011-2014. In: ders. u.a. (Hg.): Gestalten und Erkennen. Ästhetische Bildung und Kompetenz. Münster, New York: Waxmann 2014. S. 7-11. S. 11.

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2. Dort, wo Kritik am Kompetenzparadigma geäußert wurde und wird, geschieht dies oft vor dem Hintergrund einer konstatierten Unvereinbarkeit der Kompetenzorientierung mit einem (erweiterten und aus verschiedenen Traditionslinien hergeleiteten) Bildungsbegriff.21 Kaspar H. Spinner kritisiert in seiner Rede bei der Entgegennahme des Erhard-Friedrich-Preises für Deutschdidaktik am 27. September 2004, Der standardisierte Schüler, die mit der Kompetenz- und Outputorientierung einhergehende »Abrichtung der Texte und der Schülerinnen und Schüler auf bestimmte, geplante Umgangsweisen«22 , infolgedessen die »Entfaltung von Individualität und das Ernstnehmen von Subjektivität […] durch die Standardisierung zurückgedrängt«23 würden. Thomas Zabka spezifiziert dies hinsichtlich von Fragen ästhetischer Bildung und gelangt zu folgendem Schluss: Wer die skeptische Auffassung Mollenhauers teilt, dass ›empirisch zuverlässige und den plausiblen Einzelfall übersteigende verallgemeinerungsfähige Behauptungen‹ über ästhetische Erfahrungen kaum möglich sind (Mollenhauer 1996, S. 339), kommt im gegenwärtigen Bildungsdiskurs nicht umhin, Bereiche ästhetischer Bildung zu definieren, in denen zwar Bildungsziele, nicht aber Standards formulierbar sind.24 Welche Konsequenzen eine solche Aufteilung haben kann, zeigt eine Position, die Zabka selbst zwar ausdrücklich nicht verfolgt25 , aber an eine solche Argumentation anschließbar wird. Anita Schilcher und Markus Pissarek gliedern im Rahmen ihres profunden kompetenzorientierten Modells »Aspekte, die zwar wichtige Bestandteile der Auseinandersetzung mit Literatur sind«, sich aber nicht kompetenzorientiert vermitteln lassen, 21

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Vgl. etwa Härle, Gerhard u. Bernhard Rank: Bildung und Freiheit. Eine Einleitung. In: dies. (Hg.): »Sich bilden, ist nichts anders, als frei werden.« Sprachliche und literarische Bildung als Herausforderung für den Deutschunterricht. Baltmannsweiler: Schneider 2008. S. 3-18. Vgl. auch Gerhard Härle: Literarische Bildung im Spannungsfeld von Erfahrung und Theorie. Ebd. S. 39-62. S. 44: »[D]er Bildungsprozess […] ist ein lebenslanger Prozess, der nicht in der lebenslangen Akkumulation von Wissen und Fertigkeiten aufgeht, sondern sich ereignet in der lebenslangen Herausforderung zur Selbstsuche des ›darum werden wir erst‹.« Vgl. auch ebd. S. 48. Spinner, Kaspar H.: Der standardisierte Schüler. Wider den Wunsch, Heterogenität überwinden zu wollen. In: Gerold Becker u.a. (Hg.): Standards. Unterrichten zwischen Kompetenzen, zentralen Prüfungen und Vergleichsarbeiten (= Friedrich-Jahresheft XXIII [2005]). Seelze: Friedrich 2005. S. 88-91. S. 91. Ebd. S. 88. Zabka, Thomas: Ästhetische Bildung. In: Volker Frederking, Axel Krommer u. Christel Meier (Hg.): Taschenbuch des Deutschunterrichts. Bd. 2: Literatur- und Mediendidaktik. Baltmannsweiler: Schneider 2010. S. 452-468. S. 464. Dies geht deutlicher als aus dem aufgeführten Zitat aus einem anderen Aufsatz von ihm hervor, dessen Argumentation viele Schnittstellen zum Ansatz dieser Arbeit aufweist: Was ist Hochschulreife im Umgang mit Literatur? Ausgehend von dem Nachweis, dass die behauptete Verbindung von kompetenzorientierten Bildungsstandards zu allgemeinen Bildungszielen im Bereich literarischen Lernens nicht eingelöst wird, kommt Zabka zu folgendem Fazit: »[D]ie hinter den Verordnungen stehenden Normen [müssten] in Textsorten formuliert werden […], die nicht allein prüfbare Leistungsdispositionen benennen, sondern auch grundlegende Bildungskonzepte und Hinweise zur Beschaffenheit einer gegenstandsadäquaten ›Welt des Lernens‹ explizieren (Klieme u.a. 2003: 95).« Zabka: Was ist Hochschulreife im Umgang mit Literatur? S. 149.

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bewusst aus, konzedieren aber: »Das bedeutet jedoch nicht, dass sie nicht ein wichtiger Bestandteil des Literaturunterrichts sein sollen und müssen, wie dies im Rahmen der Kompetenz- und Operationalisierungsdebatte immer wieder gefordert wird […].«26 Aufgabe des Literaturunterrichts müsse es stets auch sein, »Literatur als Handlungsfeld von individueller sozialer und kultureller Bedeutsamkeit erfahrbar zu machen«27 . Hier besteht die Gefahr, dass der Literaturunterricht in zwei nicht weiter durch eine gemeinsame konzeptionelle Klammer verbundene Felder aufgeteilt wird: eines, das sich kompetenzorientiert vermitteln lässt, und eines, in dem dies nicht gilt. Um eine Abkoppelung von kompetenz- und bildungsorientierten Bereichen literarischen Lernens zu verhindern, muss der Kompetenzbegriff in ein weiterreichendes Konzept eingebettet werden, das dem Gegenstand ›Literatur‹ in umfassender Weise gerecht wird und sich auf Bildungsprozesse hin öffnet. Andernfalls droht ein Literaturunterricht, der den Anspruch, den auch die Klieme-Expertise an ihn richtet, nämlich »[ä]sthetischexpressive Modi der Weltbegegnung [und Gestaltung]«28 zu vermitteln, nicht einlöst.29

Vermittlungen Die vorliegende Arbeit wird sich in ihren Versuchen, dies zu verhindern, weder auf die Seite der Kompetenzbefürworter noch der radikalen Kritiker stellen. Es hätte fraglos wenig Sinn, die Begriffe der Bildung und der Kompetenz gegeneinander ausspielen zu wollen oder etwa dafür zu plädieren, das Wörtchen Kompetenz sorgfältig zu meiden, wenn über (literarische) Bildung reflektiert wird. Beide Begriffe besitzen ihre spezifische Leistung, Domäne und Reichweite. Wichtig wäre es allerdings, die Begriffsfelder nicht vorschnell miteinander zu vermischen oder gar den weiter greifenden Terminus dem enger gefassten unterzuordnen.30 Das Konzept dieser Arbeit schließt sich grundlegend einem solchen Ansatz an, verfolgt aber eine Vermittlung beider Modelle, die die Eigenständigkeit sowohl des Kompetenzals auch des Bildungsbegriffs zu wahren sucht, indem es einen dritten etabliert. Ausgangspunkt hierfür ist der aus den bisherigen Darlegungen ableitbare Schluss, dass es letztlich drei Dimensionen sind, die das Feld des Literaturunterrichts mit ihren jeweilig unterschiedlichen Zielsetzungen strukturieren: die Vermittlung von Kompetenzen, die hierüber hinausgehende Ermöglichung eines Zugangs zum ›Kulturgut Literatur‹ 26

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Schilcher, Anita u. Markus Pissarek: Zum Begriff der Kompetenzorientierung und seiner Anwendung im Bereich des literarischen Lernens. In: dies. (Hg.): Auf dem Weg zur literarischen Kompetenz. Ein Modell literarischen Lernens auf semiotischer Grundlage. Baltmannsweiler: Schneider 2013. S. 9-34. S. 13. Ebd. Klieme u.a.: Zur Entwicklung nationaler Bildungsstandards. S. 68. Vgl. Zabka: Was ist Hochschulreife im Umgang mit Literatur? S. 137. Odendahl, Johannes: Lesen, Kompetenz und Bildung. Nachtrag zu einer verstummenden Diskussion. In: Daniela A. Frickel, Clemens Kammler u. Gerhard Rupp (Hg.): Literaturdidaktik im Zeichen von Kompetenzorientierung und Empirie. Perspektiven und Probleme. Freiburg i.Br.: Fillibach 2012. S. 105-117. S. 115. Eine solche Argumentation liegt letztlich den oben zitierten Passagen aus der Klieme-Expertise zugrunde, wenn sie Bildungsziele auf Kompetenzen zurückführen.

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als Kunst31 und bildungsrelevante Impulse. Ein Ansetzen sowohl an der Kompetenzvermittlung als auch am Bildungsbegriff beinhaltet hierbei die Gefahr, die jeweils anderen Dimensionen nicht ausreichend zu berücksichtigen bzw. innerhalb des Modells nicht umfassend abbilden zu können. Denn [f]olgt man der in der Tradition der Ästhetik seit K. Ph. MORITZ, Fr. SCHILLER, I. KANT eingespielten Klassifikation des Erfahren und Urteilens, der Annahme nämlich, daß es kategorial zuverlässige Unterscheidungen gebe zwischen dem ›theoretischen‹ (auf das verstandesmäßige Erkennen gerichteten), dem ›praktischen‹ (auf das richtige Handeln gerichteten) und dem ›ästhetischen‹ (auf die sinnliche Weltzuwendung gerichteten) Modus, dann liegt darin die Aufforderung, […] den ästhetischen Modus in seinem Eigensinn zu beschreiben.32 Um Lernenden einen Zugang zu diesem »ästhetischen Modus« zu eröffnen, wird es notwendig, sie mit seinen ›Eigenheiten‹ vertraut zu machen – und die sind weder rein kompetenzorientiert vermittelbar noch umgehend auf Bildungsziele hin auszurichten. Am chancenreichsten erscheint es so, den Weg über das Mittelglied zu gehen und ein Konzept zu entwickeln, das einen umfassenden, gegenstandsadäquaten Umgang mit Kunst bzw. Literatur im Sinne eines Vertrautwerdens mit ihren spezifischen Rezeptionsbedingungen ermöglicht, aus dem sich wiederum die Spezifik ästhetischer Weltund Selbsterfahrung – und somit Bildungsprozesse ableiten können. Zur näheren Konturierung und Ausgestaltung dieser zwischen dem Kompetenzund dem Bildungsbegriff anzusiedelnden Ebene bieten literacy-Modelle, wie sie im angloamerikanischen Sprachraum entwickelt wurden, Möglichkeiten. Andreas Grünewald, Jochen Plikat und Katharina Wieland stellen in ihrer 2013 erschienenen Publikation Bildung – Kompetenz – Literalität. Fremdsprachenunterricht zwischen Standardisierung und Bildungsanspruch heraus, »dass diese Konzepte […] das Potenzial haben, einen frischen Wind in die Diskussion zu bringen«33 und »Impulse« »auch für den deutschsprachigen Diskurs […] bereit[halten]«.34 Solche Modelle, beispielhaft sei hier das der New London Group genannt35 , lösen sich von einem traditionellen literacy-Begriff, 31

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Vgl. hierzu Zabka: Was ist Hochschulreife im Umgang mit Literatur? S. 137: »Literatur ist Kunst. Die Literaturwissenschaft ist eine Kunstwissenschaft. Literaturunterricht ist Unterricht in einem künstlerischen Fach, zumindest in einem Fach, dessen Gegenstände künstlerische Produkte sind.« Mollenhauer, Klaus: Grundfragen ästhetischer Bildung. Theoretische und empirische Befunde zur ästhetischen Erfahrung von Kindern. Weinheim, München: Juventa 1996. S. 13. Vgl. Jutta Jäger u. Ralf Kuckhermann: Ästhetik und Soziale Arbeit. In: dies. (Hg.): Ästhetische Praxis in der Sozialen Arbeit. Weinheim, Basel: Beltz Juventa 2004. S. 11-82. S. 12. Grünewald, Andreas, Jochen Plikat u. Katharina Wieland: Einführung. In: dies. (Hg.): Bildung – Kompetenz – Literalität. Fremdsprachenunterricht zwischen Standardisierung und Bildungsanspruch. Seelze: Friedrich 2013. S. 9-17. S. 9. Ebd. S. 12. The New London Group: A Pedagogy of Multiliteracies. Designing social futures. In: Harvard Educational Review 66 (1996), H. 1, S. 60-92. Der Artikel wurde 2000 in einer leicht überarbeiteten Fassung im Rahmen eines Herausgeberbandes neu publiziert: The New London Group: A Pedagogy of Multiliteracies. Designing social futures. In: Bill Cope u. Mary Kalantzis (Hg.): Multiliteracies. Literacy Learning and the Design of Social Futures. New York: Routledge 2000. S. 9-37. Zitiert wird im Folgenden nach der Erstausgabe.

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verstanden als monolinguale und monokulturelle sprachliche Alphabetisierung. Sie wenden ihn in einem übergreifenden Sinn auf Fähigkeiten an, die es ermöglichen, »Symbolsprachen unterschiedlicher Art […] zu verstehen und zu nutzen«36 – und so mit sprachlicher, kultureller und medialer Diversität reflektiert umgehen zu können. Vor allem aber gehen sie über das hinaus, was sowohl das deutsche PISAKonsortium als auch die Klieme-Expertise unter dem Kompetenzbegriff, den sie bewusst an den literacy-Begriff anschließen, verstehen.37 Weinerts Kompetenzbegriff, der der »funktionalen Psychologie« entlehnt ist38 , ist wesentlich enger gefasst und bezieht sich auf outputorientierte, in verschiedenen Situationen abruf- und anwendbare kognitive Fähigkeiten zur funktionalen Bewältigung einer bestimmten, vorgegebenen Aufgabe39 , die in zunehmenden Maße automatisiert werden.40 Demgegenüber weitet das literacy-Modell der New London Group den Begriff strukturell und mit Blick auf seine Zielsetzungen aus: Es wendet ihn nicht nur auf kognitive, sondern auch perzeptive Fähigkeiten an, denn das Konzept gründet auf der Annahme, »that the human mind is 36 37

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Küster, Lutz: Multiliteralität. Zur Einführung in den Themenschwerpunkt. In: Fremdsprachen Lehren und Lernen 43 (2014), H. 2, S. 3-11. S. 3. Einem solchen Begriffsverständnis folgt auch das von Frederking mitgeleitete Projekt Literarästhetische Urteilskompetenz (LUK). Das folgende Zitat verdeutlicht dabei, dass die Begrenzung auf outputorientierte Ergebnisse nicht den Anspruch erhebt, die ästhetische Rezeption selbst abzubilden, sondern nur die Niederschlag findenden Ergebnisse: »Dem interdisziplinär ausgerichteten Projekt liegt die Forschungshypothese zugrunde, dass sich literarästhetische Verstehenskompetenz theoretisch wie empirisch von allgemeiner Lesekompetenz unterscheiden lässt. In Abgrenzung zur reading literacy wird die Bezeichnung literary literacy verwendet (vgl. Frederking u.a. 2012b). Dabei ist im Rahmen von LUK die Hypothese leitend, dass nicht das literarische Verstehen an sich operationalisierbar und damit empirisch zugänglich ist, sondern nur seine Ergebnisse. Diese lassen sich an literarästhetischen Urteilen bzw. am Umgang mit ihnen ablesen. Literarästhetische Urteile sind mithin […] interpretatorische Aussagen, in denen sich Verstehensprozesse niederschlagen bzw. rekonstruierbar werden. In diesem Sinne wird literarästhetische Urteilskompetenz als operationalisierbarer Teil literarischer Verstehenskompetenz theoretisch modelliert und empirisch erhoben.« (Volker Frederking: Literarästhetische Verstehenskompetenz erfassen und fördern. In: Steffen Gailberger u. Frauke Wietzke [Hg.]: Handbuch Kompetenzorientierter Deutschunterricht. Weinheim, Basel: Beltz 2013. S. 117-144. S. 119.) Auch wenn allgemeine und ästhetische Lesekompetenz unterschieden werden, macht diese Eingrenzung deutlich, dass der literacy-Begriff sich hier mit dem der Kompetenz deckt und somit nicht-outputorientierte Ebenen literarischen Lernens aus seinem eigenen Selbstverständnis heraus nicht abdeckt. Vgl. zur Ineinssetzung von literacy und Kompetenz im Ansatz des LUK-Projekts auch: Volker Frederking u.a.: Beyond Functional Aspects of Reading Literacy: Theoretical Structure and Empirical Validity of Literary Literacy. In: L1 – Educational Studies in Language and Literature 12 (2012), S. 35-58. Vgl. Dawidowski, Christian: Literaturdidaktik Deutsch. Paderborn: Ferdinand Schöningh 2016. S. 68. Vgl. Weinert, Franz E.: Vergleichende Leistungsmessung in Schulen – eine umstrittene Selbstverständlichkeit. In: ders. (Hg.): Leistungsmessungen in Schulen. 3. Aufl. Weinheim, Basel: Beltz 2014. S. 17-31. S. 27f. Einschränkend muss hier gesagt werden, dass dieser Begriff – ebenso wenig wie der der Kompetenz im deutschen Sprachraum – auch im angloamerikanischen Sprachraum nicht einheitlich besetzt ist. (Vgl. hierzu auch das Kapitel 4.1.2.) Für diese Arbeit ist primär das bereits erwähnte, auch international breit rezipierte (multi-)literacy-Modell der New London Group maßgeblich. (The New London Group: A Pedagogy of Multiliteracies.)

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embodied, situated, and social.«41 Hieraus geht zugleich die situative und soziale Gebundenheit von Lernprozessen hervor, die kulturelle, gesellschaftliche und individuelle Unterschiede zu berücksichtigen vermag. Und schließlich wird Literalisierung weniger ergebnis- und produktorientiert als vielmehr transformativ und prozessorientiert gedacht.42 Anknüpfungspunkte für die hier verfolgte Konzeptualisierung literarästhetischer Literalität ergeben sich vor allem dahingehend, dass eine Abgrenzung zum ausschließlich kognitiven Ansatz sowie zur lösungs- bzw. produkt- und outputorientierten Ausrichtung des Kompetenzbegriffs Weinerts zugunsten einer möglichen Prozessorientierung erfolgt, die gerade für eine Vermittlung ästhetisch-expressiver Welt- und Selbstbegegnungsmodi unabdingbar wird. Die Lernenden können im Rahmen eines solchen Modells damit vertraut gemacht werden, dass die Gegenstände sich hier nicht immer einer allgemein verbindlichen begrifflich-kognitiven Auflösung zuführen lassen. Sie erfordern zudem oftmals hochgradig individualisierte Zugänge, bei denen auch die sinnliche Wahrnehmung sowie Vorstellung resp. Imagination einen Eigenwert erhalten und das Zusammenspiel dieser beiden Vermögen mit dem begrifflichen Denken im Modus des spielerisch Tentativen verbleiben kann. Dies schließt jedoch nicht aus, dass die Vermittlung literarästhetischer Literalität eng an sprachliche Lernprozesse gekoppelt bleibt, und zwar an solche, die an der Differenzqualität von Form und Funktion literarischer Sprachverwendung ansetzen. Mit Roman Jakobson gesprochen ordnet diese die referentielle Funktion der poetischen unter (ohne jene hierbei auszulöschen) und richtet so »das Augenmerk auf die Spürbarkeit der Zeichen«, auf deren Materialität und Gestaltung.43 Auch dies erfordert auf der Ebene der Rezeption einen immer zugleich am sprachlichen Wahrnehmungs- und Vorstellungsprozess und nicht nur am kognitiven Verstehensprodukt ausgerichteten Zugang44 , denn anders lässt sich die hierüber bewirkte Fokussierung sprachlicher Klangphänomene nicht vermitteln. Und wenn literarische Texte, wie Ulf Abraham in Übereinstimmung mit der Wirkungsästhetik Wolfgang Isers konstatiert, »gleichsam Anwei41 42

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The New London Group: A Pedagogy of Multiliteracies. S. 82. Dies belegt der an der Kategorie des Designs resp. des Designings ausgerichtete Lernbegriff des Modells (vgl. im Einzelnen zu diesen Begriffen und dem hierhinter stehenden Konzept die Kapitel 4.1.2. und 4.2. dieser Arbeit). So gelingt es dem Konzept zugleich, anschlussfähig für langfristig gedachte Bildungsprozesse zu werden, was folgendes Zitat aus einer späteren Publikation der beiden Mitbegründer der New London Group, Bill Cope und Mary Kalantzis deutlich macht: »[T]he process of designing redesigns the designer (Kalantzis, 2006b). Learning is a process of self-recreation. Cultural dynamism and diversity are the results.« Bill Cope u. Mary Kalantzis: »Multiliteracies«: New Literacies, New Learning. In: Pedagogies: An International Journal 4 (2009) No. 3, S. 164-195. S. 184. Vgl. Jakobson, Roman: Linguistik und Poetik. In: ders.: Poetik. Ausgewählte Aufsätze 1921-1971. Hg. v. Elmar Holenstein u. Tarcisius Schelbert. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1979. S. 83-121. S. 92f. Eine zugleich ermöglichte »Einsicht in die mediale Vermitteltheit« der Inhalte von Literatur vermag darüber hinausgehend ein umfassendes »Bewusstsein der Medialität von literalen Produkten, beispielsweise ihres virtuellen Charakters« schaffen. Andrea Bertschi-Kaufmann u. Cornelia Rosebrock: Literalität: Bildungsaufgabe und Forschungsfeld. In: dies. (Hg.): Literalität. Bildungsaufgabe und Forschungsfeld. Weinheim, Basel: Beltz Juventa 2009. S. 7-17. S. 13.

Einleitung

sungen […] für die imaginative Erzeugung von Gestalten in einer inneren Bewegung«45 darstellen, wird die Notwendigkeit, streng begrifflich-kognitive und outputorientierte Ansätze zu verlassen, auch auf dieser Ebene deutlich: »Vor der Deutung (als Festlegung auf Begriffe) muss allemal Wahrnehmung gewesen sein, und mir ihr einher geht die Vorstellung.«46 Gleichwohl ist das Konzept einer literarästhetischen Literalität nicht nur zum Weinert’schen Kompetenzbegriff, sondern auch zur anderen Seite hin, zum Bildungsbegriff, abgrenzbar. Dies leitet sich darüber her, dass Bildungsprozesse primär vom Subjekt und nicht vom Gegenstand her gedacht sind. Denn auch wenn »[s]emantische Kämpfe um den Begriff der Bildung […] eine lange Tradition [haben]«47 , so kann die folgende Definition des klassisch neuhumanistischen Bildungskonzepts von Wolfgang Klafki als eine Art Minimalkonsens verstanden werden, auf dem andere – zeitlich folgende – Begriffsverständnisse aufbauen: Das erste Moment von Bildung wird in den grundlegenden Texten durch folgende Begriffe umschrieben: Selbstbestimmung, Freiheit, Emanzipation, Autonomie, Mündigkeit, Vernunft, Selbsttätigkeit. Bildung wird also verstanden als Befähigung zu vernünftiger Selbstbestimmung, die die Emanzipation von Fremdbestimmung voraussetzt oder einschließt, als Befähigung zur Autonomie, zur Freiheit eigenen Denkens und eigener moralischer Entscheidungen. Eben deshalb ist denn auch Selbsttätigkeit die zentrale Vollzugsform des Bildungsprozesses.48 Das sich bildende Subjekt kann sich folglich mit höchst verschiedenartigen Gegenständen auseinandersetzen, so sie sich denn für diese Bildung als geeignet erweisen (an diesem Punkt rücken Bildungs- und Kompetenzbegriff in eine eigentümliche Nähe, da bei beiden die Auseinandersetzung mit dem Gegenstand funktionalen Charakter hat – wenngleich diese Annäherung aus gänzlich verschiedenen Denkbewegungen bzw. -motiven resultiert). Deshalb gewährleistet die ausschließliche Ausrichtung am Bildungsbegriff auch nicht zwingend die Vermittlung einer kulturellen Teilhabe an Kunst und Literatur, wie sie dem Modell einer (literar-)ästhetischen Literalität primär vor Augen steht. Denn mögliche Bildungsziele – wie »Identitätsfindung« oder »Fremdverstehen« in Verbindung zur »Förderung der Empathiefähigkeit«, um zwei oft genannte Beispiele im Kontext literarischer Bildung zu erwähnen49 – sind in gleicher Weise, ja vielleicht 45

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Abraham, Ulf: Das a/Andere W/wahrnehmen. Über den Beitrag von Literaturgebrauch und literarischem Lernen zur ästhetischen Bildung (nicht nur) im Deutschunterricht. In: Mitteilungen des Deutschen Germanisten-Verbandes 47 (2000), H. 1, S. 10-22. S. 13. Ebd. Bremerich-Vos, Albert: Bildungsstandards für den Mittleren Schulabschluss und Aspekte der Testung literaler Kompetenzen. In: Cornelia Rosebrock u. Andrea Bertschi-Kaufmann (Hg.): Literalität erfassen: bildungspolitisch, kulturell, individuell. Weinheim, Basel: Beltz Juventa 2013. S. 14-28. S. 21. Klafki, Wolfgang: Neue Studien zu Bildungstheorie und Didaktik. Zeitgemäße Allgemeinbildung und kritisch-konstruktive Didaktik. 6., neu ausgestattete Auflage. Weinheim, Basel: Beltz 2007. S. 19. Vgl. zu diesen beiden Zielen etwa Kaspar H. Spinner: Von der Notwendigkeit produktiver Verfahren im Literaturunterricht. In: ders.: Kreativer Deutschunterricht. Identität – Imagination – Kognition. Seelze: Kallmeyer 2001. S. 96-107, insb. S. 92-102 oder Lothar Bredella: Zur Begründung

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Literarästhetische Literalität

in Teilen sogar noch besser, auch über andere Gegenstände vermittelbar. So kann der Ausbildung von Empathie und Fremdverstehen etwa eine kritische Auseinandersetzung mit der utilitaristischen Ethik im Philosophieunterricht dienen; und mit Blick auf Fragen der Identitätsausbildung sind die Möglichkeiten noch zahlreicher.50 Trotz dieser grundlegenden Differenz bleibt ein Modell literarästhetischer Literalität immer auch anschließbar an den Bildungsbegriff. Denn ein kritisch-reflexiver Blick auf Identitätskonstrukte und gesellschaftliche Diskurse ist einem modernen Selbstverständnis von Kunst und Literatur so inhärent wie kaum etwas anderes, sodass diese einen relevanten Beitrag in Entwicklungsprozessen leisten können.51 Die Orientierung am Gegenstand ermöglicht in ästhetischen Lernkontexten in besonderer Weise die Ausbildung einer sog. critical literacy, die mit im Fokus des Ansatzes der New London Group steht, und die ein solches weites literacy-Konzept mit dem Bildungsbegriff verbindet:52 »Our job is not to produce docile, compliant workers. Students need to develop the capacity to speak up, to negotiate, and to be able to engage critically with the conditions of their working lives.«53 Wie sehr eine gegenstandsadäquate Ausrichtung der Literaturvermittlung im Rahmen derart erweiterter Literalitätsbegriffe Bildungsrelevanz erhalten kann, hebt auch Wolfgang Hallet hervor, wenn er gegen die Vereinnahmung des literacy-Begriffs durch Kompetenzmodelle Stellung bezieht: Der Begriff der literacy, den alle kompetenzorientierten Konzepte mittlerweile adaptiert haben, deutet eben nicht nur etymologisch auf den Zusammenhang von Lesefähigkeit und Verstehen hin, sondern darauf, dass gesellschaftlich partizipatives Handeln und die dazu erforderlichen Kompetenzen auf lesendes und interpretierendes Verstehen der Wirklichkeit und der uns umgebenden Welt angewiesen sind. Dass das interpretierende Lesen von Texten, in denen modellhaft Welten entfaltet und entworfen werden, und der Erwerb generisch-textueller Kompetenzen eine wichtige Schule

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der rezeptionsästhetischen Literaturdidaktik. In: Wolfgang Hallet u. Ansgar Nünning (Hg.): Neue Ansätze und Konzepte der Literatur- und Kulturdidaktik. Trier: Wissenschaftlicher Verlag 2007. S. 49-68. Von diesem allgemeinen, neuhumanistischen Bildungsbegriff abgrenzbar sind Konzepte genuin ästhetischer Bildung. Sie sind sowohl in ihren theoretischen Herleitungen und Grundlagen (vgl. Zabka: Ästhetische Bildung) als auch ihren Zielsetzungen (vgl. ders.: Was ist Hochschulreife im Umgang mit Literatur?) dem Modell dieser Arbeit verwandt. Über den Literalitätsbegriff wird aber eine schärfere Konturierung der Begriffe insofern möglich, als literarästhetische Literalität sich zunächst daran ausrichtet, wie Schüler_innen ein über Kompetenzen hinausgehender ästhetischer Zugang zu Literatur im Sinne einer Kulturtechnik und einer hierüber ermöglichten Teilhabe an einer kulturellen Tradition eröffnet werden kann, die dann auf den Lernenden im Sinne von Bildungsprozessen zurückzuwirken vermag. Vgl. hierzu Hallet, Wolfgang: Literature and Literacies – Literarische Bildung als Paradigma für Standardisierung, Differenz und Heterogenität. In: Carl-Peter Buschkühle, Ludwig Duncker u. Vadim Oswalt (Hg.): Bildung zwischen Standardisierung und Heterogenität – ein interdisziplinärer Diskurs. Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften 2009. S. 53-80. S. 63f. Vgl. Küster: Multiliteralität. S. 4. The New London Group: A Pedagogy of Multiliteracies. S. 67.

Einleitung

allen Verstehens und Lernens sind, liegt daher auf der Hand und ist der Ausgangspunkt der nachfolgenden Überlegungen.54 Wenn im Titel der Arbeit von einem Spannungsfeld zwischen Kompetenzorientierung und Bildungsideal die Rede ist, in die das Konzept der literarästhetischen Literalität gleichsam eingebettet wird, so rekurriert der Gebrauch dieser konventionalisierten Metapher auf Gerhard Härle. Er verwendet den aus der Elektrophysik stammenden Begriff in seinem Aufsatz Literarische Bildung im Spannungsfeld von Erfahrung und Theorie in folgendem Sinn: »Das Thema wird in einem Spannungsfeld verortet, weil die in ihm herrschenden Begriffe und Vorstellungen nicht in einem stabilen und abgeschlossenen Verhältnis zueinander stehen, sondern ihrerseits und untereinander zahlreiche Spannungen, Widersprüche und Aporien enthalten, die sich als Zustand stets neu konstellieren und bewähren müssen […].«55 Dies impliziert, dass alle drei Leitparadigmen: Kompetenz, Literalität und Bildung untereinander verwoben sind, wechselseitig aufeinander zurückwirken und sich zugleich bedingen. Die nach einem Gedankenstrich aufgeführten Schlussfolgerungen Härles: »das generiert Unruhe und Energie zugleich, lässt aber keine abschließende Erklärung erwarten und schon gar keine unmittelbare Nutzanwendung für die Alltagspraxis«56 teilt diese Arbeit ebenfalls – wenn auch nur bedingt. Ziel ist es, mit der Konturierung literarästhetischer Literalität einen Begriff und ein Konzept in die nicht nur festgefahrene, sondern z.T. auch zum Erliegen gekommene Debatte zwischen Befürwortern und Gegnern der Kompetenzorientierung zur Diskussion zu stellen, an das künftige Studien anknüpfen und es mit Blick auf weitere Teilbereiche literarischer Rezeption näher ausdifferenzieren oder in Unterrichtsmodelle überführen können; eine »abschließende Erklärung« ist auch mit dem Modell dieser Arbeit nicht angestrebt, die Etablierung einer veränderten Sichtweise auf Formen und Ziele des Literaturunterrichts aber sehr wohl. Ähnliches gilt für die zweite Einschränkung Härles: Eine »unmittelbare Nutzanwendung für die Alltagspraxis« ist nicht in dem Sinne angedacht, als dass die Entwicklung konkreter Unterrichtsreihen, die eine direkte Umsetzung des Konzepts zum Ziel hätten, im Mittelpunkt steht. Gleichwohl werden im fünften Kapitel aber Lernwege aufgezeigt, die seine Relevanz exemplarisch herausarbeiten und abschließend auch am Beispiel einer Unterrichtseinheit verdeutlichen. Dabei wird auf bereits etablierte Verfahren des Literaturunterrichts zurückgegriffen, die im Rahmen des hier verfolgten Ansatzes kontextualisiert und ausgestaltet werden.

Vorgehen Ein Konzept literarästhetischer Literalität soll im Weiteren zunächst aus Desideraten gegenwärtiger Diskussionen in der Literaturdidaktik abgeleitet, dann theoretisch 54

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Hallet: Literature and Literacies. S. 57. Dabei gilt, dass die kompetenzorientierten Konzepte zwar den literacy-Begriff übernommen haben, aber keineswegs alle literacy-Konzepte den Kompetenzbegriff. Hallet steht einer Verkürzung des literacy-Begriffs auf den Weinert’schen Kompetenzbegriff kritisch gegenüber, vgl. hierzu im Detail die Ausführungen im vierten Kapitel dieser Arbeit. Härle: Literarische Bildung im Spannungsfeld von Erfahrung und Theorie. S. 40f. Ebd. S. 41.

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Literarästhetische Literalität

fundiert und schließlich in den Möglichkeiten seiner Umsetzung ausgelotet werden. Hierzu wird wie folgt vorgegangen: Das erste Kapitel wird verschiedenartig gelagerte Problemfelder ausmachen, die sich infolge der von der PISA-Studie ihren Ausgang nehmenden kompetenzorientierten Wende für den Literaturunterricht ergeben. Zugleich kommt diesem Teil die Aufgabe zu, zentrale Linien der gegenwärtigen Debatten und des Forschungsstandes mit Blick auf das Themenfeld dieser Arbeit nachzuzeichnen. Da das Lesekompetenzmodell der PISA-Studie und der hiermit einhergehende Anspruch empirischer Überprüfbarkeit einzelner Teilkompetenzen des Leseverstehens nachhaltigen Einfluss auch auf den Literaturunterricht genommen hat, werden die Defizite, die sich aus der Anwendung eines Modells allgemeiner Lesekompetenz auf Vermittlungsziele literarischen Lesens ergeben, nachgezeichnet und am Beispiel einer Testaufgabe konkretisiert. Die Auswirkungen dieser schulischen Testformate auf den Literaturunterricht lassen sich anhand eines weiteren Aufgabenbeispiels, das den VERA-8-Lernstandsüberprüfungen entnommen ist, aufweisen. Als drittes Feld kommen schließlich die Bildungsstandards für die Allgemeine Hochschulreife in den Blick. Da das Modell einer literarästhetischen Literalität in dieser Arbeit primär auf den Literaturunterricht in der gymnasialen Oberstufe zugeschnitten ist, werden sowohl die Grundlagen und Zielsetzungen von Literaturunterricht als auch deren Umsetzung (anhand der Analyse einer der in den Bildungsstandards aufgeführten Beispielaufgabe) kritisch reflektiert. Anspruch dieses Kapitels ist es, die Rahmenbedingungen des ›Status quo‹ gegenwärtiger schulischer Literaturvermittlung zu durchleuchten. Ausgehend hiervon erfolgt in den beiden anschließenden Kapiteln zunächst eine Grundlagenbildung, um das eigene didaktische Modell sowohl kunstphilosophisch als auch literaturwissenschaftlich zu fundieren. Im zweiten Kapitel steht die Auseinandersetzung mit Theorien an, die sich mit der Spezifik ästhetischer Rezeptionsprozesse befassen. Im Zuge dessen wird ein Modell entwickelt, das die verschiedenen diesen Prozess konstituierenden Faktoren und deren Interdependenzen auf den Ebenen von Wahrnehmung, Vorstellung (unter Einbezug von Imagination) und begrifflich vermittelter Kognition zur Darstellung bringt. Es verbindet auch deshalb Kunstphilosophien und Ästhetiken ganz verschiedener Provenienz, weil diese oftmals für sich genommen didaktisch nur bedingt fruchtbar gemacht werden können – etwa deshalb, weil sie nur Teilbereiche des Themenfeldes bearbeiten oder sich auf Rezipient_innen beziehen, die bereits Vorkenntnisse auf den jeweiligen Gebieten haben und somit im Unterschied zu Schüler_innen keine ›Novizen‹ mehr sind. Hinzu kommt eine Erörterung der Frage, in welcher Weise sich dieses Modell auf einen Begriff ästhetischer Erfahrung hin öffnet, der die Grundlage für Bildungsprozesse bildet.57 Es folgt im dritten Kapitel eine literaturtheoretische Spezifikation der ästhetischen Ausgangsprämissen, die die besondere Rolle, die dem Medium Sprache und seiner literarischen Verwendung im Kontext des zuvor entwickelten Modells zufällt, ausschärft. Am Beispiel zweier Schriftstellerinnen, Herta Müller und Ingeborg Bachmann, der (im letzteren Fall erweiterten) Gegenwartsliteratur wird zunächst eine Unterscheidung von pragmatischen und literarästhetischen Sprachverwendungsformen vorgenommen. Die 57

Vgl. Dietrich, Cornelie, Dominik Krinninger u. Volker Schubert: Einführung in die Ästhetische Bildung. 2. Aufl. Weinheim, Basel: Beltz Juventa 2012. S. 32.

Einleitung

hier sichtbar werdenden Spezifika der Form und Funktion literarischer Sprachverwendung werden anschließend literaturtheoretisch vertieft. Hierzu wird auf produktionsästhetischer Ebene vorrangig auf Theoreme des Russischen Formalismus und des Prager Strukturalismus zurückgegriffen. Die dort fokussierten, den konventionalisierten, pragmatisch-funktionalen Sprachgebrauch oftmals verfremdenden Gestaltungsmittel bilden in ihren Irritationen von Wahrnehmungsgewohnheiten eine besondere Herausforderung für die Leser_innen. Auch deshalb steht am Ende der Rückbezug auf die für Vermittlungsprozesse relevante Rezeptionsebene, die maßgeblich unter Rekurs auf die Wirkungsästhetik Wolfgang Isers entfaltet wird. Den Abschluss des Kapitels bildet eine systematische Zusammenführung der zentralen Ergebnisse der beiden (literar)ästhetischen Grundlagenkapitel in Form einer Auseinandersetzung mit dem Kompetenzbegriff in seiner Anwendbarkeit auf Vermittlungsziele, -inhalte und -formen des Literaturunterrichts. Das vierte Kapitel etabliert auf dieser Basis dann das Modell einer literarästhetischen Literalität im Spannungsfeld von Kompetenzorientierung und Bildungsideal. Hierzu werden zunächst – primär unter Rekurs auf Humboldt – zentrale Prämissen und Postulate des Bildungsbegriffs dargestellt, was der anschließend folgenden Herleitung und genauen Konturierung des Begriffs einer literarästhetischen Literalität als einer vermittelnden Konzeption zwischen Kompetenz- und Bildungsbegriff dient. Das fünfte Kapitel konkretisiert das im zweiten Kapitel entwickelte Mehrebenenmodell ästhetischer Rezeption vor dem Hintergrund der Ergebnisse des dritten und vierten Kapitels didaktisch. Die einzelnen Ebenen von Wahrnehmung, Vorstellung/Imagination und Kognition werden hinsichtlich ihrer jeweiligen Lerninhalte nach vermittelbaren Kompetenzen, Formen literarästhetischer Literalität und möglichen Bildungsimpulsen aufgefächert. Exemplarisch werden dem zugleich Lernwege zugeordnet, mit deren Hilfe sich die jeweiligen Zielsetzungen im Unterricht realisieren lassen. Mit Blick auf kognitiv vermittelte Lernprozesse mündet das Kapitel in die Entwicklung einer kurzen Unterrichtsreihe, die die Bildungsrelevanz einer literarästhetischen Literalität exemplarisch auf dem Feld interkulturellen Lernens verdeutlicht.58 Ein Fazit bündelt abschließend die erarbeiteten Ergebnisse. 58

Interkulturelle Lernprozesse sind deshalb ausgewählt, weil sie von konstitutiver Bedeutung für das Zusammenleben in unserer Gegenwartsgesellschaft sind. Dem entspricht der Stellenwert, den das interkulturelle Lernen auch in den Bildungsstandards im Fach Deutsch für die Allgemeine Hochschulreife erhält, wo es bereits in der Präambel unter den »[a]llgemeine[n] Ziele[n] des Faches« ausdrücklich Erwähnung findet und zugleich an ästhetisch-literarische Alteritätserfahrungen angebunden wird. »Das Fach Deutsch […] vermittelt interkulturelle Kompetenz, die sich im verständigen und souveränen Umgang mit dem kulturell Anderen zeigt. Im Deutschunterricht erfahren die Schülerinnen und Schüler Alterität in vielfältiger Gestalt: in Texten und Sprachformen, die durch historische Distanz bestimmt sind, in Texten der Gegenwart, die offen oder verschlüsselt unterschiedliche kulturelle Perspektiven thematisieren oder durch Verfremdung Identifikation verhindern.« Kultusministerkonferenz: Bildungsstandards im Fach Deutsch für die Allgemeine Hochschulreife. S. 13. Der Seitenzählung hier und im Folgenden zugrunde gelegt ist die pdf-Datei, die unter folgendem Link abgerufen werden kann: www.kmk.org/fileadmin/veroeffentlichungen_ beschluesse/2012/2012_10_18-Bildungsstandards-Deutsch-Abi.pdf (Abrufdatum 16.05.2018). Anderen pdf-Dateien des gleichen Dokuments (vgl. etwa https://deutsch.bildung-rp.de/fileadmin/_ migrated/content_uploads/BiSta-AHR-D.pdf) liegen andere Seitenzählungen zugrunde.

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1. Problemaufriss: Lesekompetenz und Literaturunterricht

Da auch die Debatten der Gegenwart weiterhin hiervon geprägt sind, zeichnet das Kapitel die mit der sog. kompetenzorientierten Wende einhergehenden Umstellungen im Bildungssystem unter der Fragestellung nach, welche Auswirkungen dies auf den Literaturunterricht hat. Auch aufgrund der immensen medialen Aufmerksamkeit und des hiermit in Zusammenhang stehenden maßgeblichen Einflusses auf Veränderungen im deutschen Schulsystem kommt dabei der PISA-Studie und ihrem Lesekompetenzmodell nach wie vor eine zentrale Rolle zu.1 Die hier aufgezeigten Defizite hinsichtlich eines gegenstandsadäquaten Verstehens literarischer Texte werden im Anschluss anhand eines Rekurses auf die Nationalen Bildungsstandards im Fach Deutsch auf bildungsadministrative Vorgaben schulischer Lernprozesse resp. deren Evaluierung bezogen und am Beispiel zweier Aufgaben für den Literaturunterricht konkretisiert.

1.1.

Die kompetenzorientierte Wende In der Bildungspolitik und der Bildungsverwaltung haben TIMSS und PISA eine grundsätzliche Wende eingeleitet. Wurde unser Bildungssystem bislang ausschließlich durch den »Input« gesteuert […], so ist nun immer häufiger davon die Rede, die Bildungspolitik und die Schulentwicklung sollten sich am »Output« orientieren, d.h. an den Leistungen der Schule, vor allem an den Lernergebnissen der Schülerinnen und Schüler.2

So äußern sich, diese Entwicklungen propagierend, Eckard Klieme u.a. in ihrer für die kompetenzorientierte Wende und die Ausarbeitung bundeseinheitlicher Bildungsstandards seitens der Kultusministerkonferenz maßgeblichen Studie Zur Entwicklung 1

2

Aus kritischer Perspektive konstatiert etwa Konrad Paul Liessmann: »Das Faszinierende am PisaTest ist, dass dieser trotz zahlreicher bekannter und kritisierter Schwächen in Konstruktion, Durchführung und Auswertung nach wie vor den Takt in der Bildungsdiskussion angibt.« Konrad Paul Liessmann: Geisterstunde. Die Praxis der Unbildung. Eine Streitschrift. Wien: Zsolnay 2014. S. 13. Klieme u.a.: Zur Entwicklung nationaler Bildungsstandards. S. 11f.

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nationaler Bildungsstandards. Sie wurde vom Bundesministerium für Bildung und Forschung in Auftrag gegeben und erstmals auf einer Fachtagung am 18. Februar 2003 der Öffentlichkeit vorgestellt. Nach den ernüchternden Ergebnissen deutscher Schüler_innen auf fast allen Feldern in der ersten PISA-Studie drei Jahre zuvor und – auch über den Bundesländervergleich der nationalen Ergänzungsstudie PISA-E genährten – Zweifeln an der Vergleichbarkeit der Abschlüsse innerhalb unseres föderalen Bildungssystems arbeitete die Kultusministerkonferenz an der Entwicklung bundeseinheitlicher Bildungsstandards, die sowohl eine Qualitätsverbesserung schulischer Bildung als auch eine größere Vergleichbarkeit der schulischen Inhalte und Anforderungen der Bundesländer gewährleisten sollten.3 Klieme kommt dabei eine zentrale Vermittlungsfunktion zwischen den internationalen Vergleichsstudien und dem Einfluss, den sie auf die deutsche Bildungslandschaft hatten und haben, zu. Er war Mitglied des nationalen PISA-Konsortiums in allen bisherigen Testläufen und zudem in verschiedenen Funktionen auch in internationalen PISA-Gremien vertreten.4 Der häufige Rekurs auf die beiden internationalen Vergleichsstudien PISA und TIMSS in der Klieme-Expertise spiegelt dies wider.5 Auf diesem Wege wird die Diskussion um die angestrebten Veränderungen in der deutschen Bildungslandschaft an diese Studien gekoppelt.6 3

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Vgl. Kammler, Clemens: Literarische Kompetenzen ‒ Standards im Literaturunterricht. Anmerkungen zum Diskussionsstand. In: ders. (Hg.): Literarische Kompetenzen ‒ Standards im Literaturunterricht. Modelle für die Primar- und Sekundarstufe. 2. Auflage. Seelze: Kallmeyer 2012. S. 7-22. S. 7. So ist er seit 2010 Leiter der internationalen PISA Questionnaire Expert Group und war zuvor Mitglied der internationalen und der nationalen Expertengruppe »Problemlösen« bei PISA 2003, des internationalen Konsortiums und der internationalen Fragebogen-Expertengruppe bei PISA 2009. Vgl. etwa Klieme u.a.: Zur Entwicklung nationaler Bildungsstandards. S. 11: »Seit Veröffentlichung der TIMSS-Ergebnisse (Baumert, Lehmann u.a. 1997, Baumert, Bos & Lehmann 2000 a, b) wird in Deutschland verstärkt über den Zustand und die Entwicklungsperspektiven des Bildungssystems debattiert. Das von Bund und Ländern gemeinsam getragene Forum Bildung und die große Resonanz auf die PISA-Studie (OECD 2001, Baumert u.a. 2001, Baumert u.a. 2002a) haben diese Debatte in den vergangenen Monaten zu einer seit langem nicht mehr erlebten Intensität und Breite geführt. Im Vordergrund der Diskussion steht die Qualität von Schule und Unterricht im Bereich der Sekundarstufen I und II (5. bis 13. Schuljahr), aber zumindest mittelbar sind auch die Elementarerziehung in den Kindergärten und die Grundschulen herausgefordert. Über Landesund Parteigrenzen hinweg sind Bildungspolitiker zu einschneidenden Reformen bereit. [/] Unabweisbar haben die empirischen Studien, die nach fast 20 Jahren erstmals die Realität der Schulen analysiert und im internationalen Kontext verglichen haben, gravierende Mängel offen gelegt.« Hierbei verweist die Expertise auch auf die von anderen Studien aufgezeigten zentralen Defizite im deutschen Schulsystem, worauf mit einem veränderten Unterricht zu antworten sei, in dem weniger bestimmte Inhalte als vielmehr die Ausbildung von Kompetenzen im Mittelpunkt stehe. Vgl. ebd. S. 27: »Weinert (z.B. 2001) hat in seinen einflussreichen Publikationen immer wieder darauf hingewiesen, dass die Partialisierung von Lernerfahrungen in einzelne, nur wenig verknüpfte Abschnitte eines der wichtigsten Probleme beim schulischen Lernen darstellt. Die Testaufgaben der TIMSS- und der PISA-Studie erforderten hingegen häufig Verknüpfungen und verlangten die Anwendung von Wissen und Können aus unterschiedlichsten Teilbereichen der Fächer. Baumert und andere (1997, 2000, 2001) haben in den schlechten Ergebnissen deutscher Schülerinnen und Schüler bei diesen Tests Belege für die mangelnde Kumulativität des schulischen Lernens gesehen.«

1. Problemaufriss: Lesekompetenz und Literaturunterricht

Um hierfür Rahmenbedingungen zu schaffen, die »die verbindliche[n] Anforderungen an das Lehren und Lernen in der Schule« festlegen, wird die Etablierung nationaler Bildungsstandards als notwendig angesehen. In ihnen sollen »präzise, verständlich und fokussiert die wesentlichen Ziele der pädagogischen Arbeit, ausgedrückt als erwünschte Lernergebnisse der Schülerinnen und Schüler«, benannt werden. Anspruch ist es, den »Bildungsauftrag, den Schulen zu erfüllen haben«, so zu »konkretisieren«.7 Dies geschieht über den Paradigmenwechsel von der sog. Input- zur Outputorientierung und die hiermit verbundene Ausrichtung am Kompetenzbegriff. Denn die Bildungsstandards »legen fest, welche Kompetenzen die Kinder oder Jugendlichen bis zu einer bestimmten Jahrgangsstufe mindestens erworben haben sollen. Die Kompetenzen werden so konkret beschrieben, dass sie in Aufgabenstellungen umgesetzt und prinzipiell mithilfe von Testverfahren erfasst werden können.«8 Den Forderungen der Expertise wird seitens der Bildungsadministration rasch entsprochen. Für das Fach Deutsch verabschiedet die Kultusministerkonferenz noch im Jahr 2003 und im Folgejahr die Standards für den Primarbereich (Jahrgangsstufe 4), für den Hauptschulabschluss (Jahrgangsstufe 9) sowie für den Mittleren Schulabschluss (Jahrgangsstufe 10). 2012 folgen die Standards für die Allgemeine Hochschulreife. Auch wenn sie nicht in allen Punkten die Empfehlungen der Expertise aufgreifen – es fehlt etwa die geforderte Differenzierung der erwarteten Leistungen in verschiedene Niveaustufen9 –, so richten sie sich aber doch an den Kernforderungen und dem Kompetenzparadigma aus. Dem Kompetenzbegriff messen Klieme u.a. im Zuge der Anforderungen an neu zu erstellende Bildungsstandards eine Schlüsselfunktion zu, da sich über ihn die Outputorientierung steuert. Die PISA-Studie markiert zwar nicht den Beginn einer bildungswissenschaftlichen Diskussion um den Kompetenzbegriff – der Begriff findet bereits zuvor Verwendung10 –, sie kann aber als letztlich maßgeblicher Einflussfaktor für die kompetenzorientierte Wende ausgemacht werden.11 Klieme u.a. heben hervor, dass 7 8 9 10

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Ebd. S. 9. Ebd. Der erste Teilsatz ist im Original durch Fettdruck hervorgehoben. Vgl. ebd. S. 22. Vgl. etwa Weinert, Franz E.: C oncepts of C ompetenceC( ontribution within the OE C D project Definition and Selection of Competencies: Theoretical and conceptual foundations [DeSeCo]). Neuchâtel: DeSeCo 1999. Auch mit Blick auf die Ausbildung literarischer Rezeptionsfähigkeiten findet der Begriff bereits im Rahmen empirisch ausgerichteter Arbeiten in den 1980er Jahren Verwendung (vgl. etwa Hartmut Heuermann: Ist literarische Kompetenz messbar? Bericht über eine empirische Untersuchung. In: Helmut Kreuzer u. Reinhold Viehoff [Hg.]: Literaturwissenschaft und empirische Methoden. Göttingen 1981. S. 264-284) und wird Ende der 1990er Jahre wieder in die literaturdidaktische Debatte mit aufgenommen; vgl. etwa Abrahams »Kanon der Kompetenzen für den Literaturunterricht« in: Ulf Abraham: Übergänge. Literatur, Sozialisation und Literarisches Lernen. Opladen, Wiesbaden: Westdeutscher Verlag 1998. S. 257ff. oder die Begriffsbestimmung von Rosebrock 1999: »Literarische Kompetenz meint eben die Fähigkeit, Literatur gewissermaßen traditionsbewußt zu rezipieren, also einen ästhetisch konstituierten Text in welcher medialen Gestalt auch immer zu hören, zu sehen oder zu lesen und in seinem kulturellen Kontext zu verstehen.« Cornelia Rosebrock: Zum Verhältnis von Lesesozialisation und literarischem Lesen. In: Didaktik Deutsch 4 (1999), H. 1, S. 57-68. S. 58f. Auch Ina Karg spricht 2015 von einer »Leitfunktion«, die die PISA-Studie im »Bildungsdiskurs beweis[e]«. Ina Karg: »Literarisches Lernen« – Kommentar und Alternative. In: Leseräume. Zeit-

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Literarästhetische Literalität

»[i]n Übereinstimmung mit Weinert […] unter Kompetenzen die bei Individuen verfügbaren oder von ihnen erlernbaren kognitiven Fähigkeiten und Fertigkeiten, bestimmte Probleme zu lösen«, verstanden werden, »sowie die damit verbundenen motivationalen, volitionalen und sozialen Bereitschaften und Fähigkeiten, die Problemlösungen in variablen Situationen erfolgreich und verantwortungsvoll nutzen zu können«12 . Hieraus resultiert ein Spannungsfeld: Anspruch der von der Klieme-Expertise ausgehenden Veränderungen im Bildungssystem ist es, ein »literacy-Konzept allgemeiner Bildung«13 zu entwickeln.14 Dies soll aber aufgrund der in der Einleitung dargelegten Ineinssetzung von literacy und Kompetenz auf Grundlage des Weinert’schen Kompetenzbegriffs umgesetzt werden, der dem Anspruch empirischer Messbarkeit verpflichtet ist. Klieme u.a. gehen hierbei davon aus, dass sich das Kompetenzparadigma aus sich selbst heraus auf den Bildungsbegriff hin öffnet. Auch diesbezüglich rekurriert die Expertise ausdrücklich auf das Modell des ersten deutschen PISA-Konsortiums. Der dort von Baumert/Stanat/Demmrich formulierte Anspruch lautet: »In der Substanz geht es um die Orientierungswissen vermittelnde Begegnung mit kognitiver, moralisch-evaluativer, ästhetisch-expressiver und religiös-konstitutiver Rationalität. Gegenüber diesen kanonischen Prinzipien moderner Allgemeinbildung sind Fächer und Themen variabel, nicht aber die in PISA untersuchten kulturellen Basiskompetenzen.«15 Während die PISA-Studie selbst aber das Spannungsfeld, das sich zwischen diesem Anspruch und seiner Umsetzung im Rahmen des Weinert’schen Kompetenzbegriffs auftut, elegant umgeht, indem es nur sprachliche, mathematische und naturwissenschaftliche Basisqualifikationen abprüft (eine Beschränkung, derer sich die Autor_innen auch bewusst sind16 ), bleibt der Klieme-Expertise diese Möglichkeit verwehrt. Da ihre Zielset-

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schrift für Literalität in Schule und Forschung 2 (2015) H. 2, S. 46-58. S. 54. http://leseräume.de/wpcontent/uploads/2015/10/lr-2015-1-karg.pdf (Abrufdatum 30.10.2017). Klieme u.a.: Zur Entwicklung nationaler Bildungsstandards. S. 72. Im Original durch Fettdruck hervorgehoben. Klieme u.a. beziehen sich auf die identische Definition des Kompetenzbegriffs bei Weinert: Vergleichende Leistungsmessung in Schulen – eine umstrittene Selbstverständlichkeit. S. 27f. Bei Baumert/Stanat/Demmrich heißt es zudem: »Das Konzept der Handlungskompetenzen verbindet intellektuelle Fähigkeiten, bereichsspezifisches Vorwissen, Fertigkeiten und Routinen, motivationale Orientierungen, metakognitive und volitionale Kontrollsysteme sowie persönliche Wertorientierungen in einem komplexen handlungsregulierenden System (Weinert, 1999a).« Jürgen Baumert, Petra Stanat u. Anke Demmrich: PISA 2000: Untersuchungsgegenstand, theoretische Grundlagen und Durchführung der Studie. In: Jürgen Baumert u.a. (Hg.): PISA 2000: Basiskompetenzen von Schülerinnen und Schülern im internationalen Vergleich. Opladen: Leske + Budrich 2001. S. 15-68. S. 22. Klieme u.a.: Zur Entwicklung nationaler Bildungsstandards. S. 67. Ähnlich hehre Ziele verfolgt auch das erste deutsche PISA-Konsortium: Hier ist die Rede von einem »Konzept der Allgemein- oder Grundbildung«, das weiter reiche als eine rein funktionale Sicht hinsichtlich der Vermittlung »basale[r] Kulturwerkzeuge«: »Es schließt auch immer normativ die Weltorientierung vermittelnde Begegnung mit zentralen Gegenständen unserer Kultur ein, die stellvertretend für unterschiedliche, nicht wechselseitig austauschbare Formen der Weltaneignung und Rationalität stehen.« Baumert/Stanat/Demmrich: PISA 2000. S. 20. Ebd. S. 21. »Man kann gar nicht nachdrücklich genug betonen, dass PISA keineswegs beabsichtigt, den Horizont moderner Allgemeinbildung zu vermessen, oder auch nur die Umrisse eines internationalen Kerncurriculums nachzuzeichnen. Es ist gerade die Stärke von PISA, sich solchen Allmachtsfantasien zu verweigern und sich stattdessen mit der Lesekompetenz und den mathematischen Mo-

1. Problemaufriss: Lesekompetenz und Literaturunterricht

zung nichts Geringeres als eine grundlegende Reform des deutschen Schul- und Bildungssystems ist, muss sie auf ›das große Ganze‹ zielen. Und so heißt es mit Blick auf die von Baumert/Stanat/Demmrich soeben zitierten vier »Modi der Welterfahrung« der klassischen Bildungstheorie: Überwölbt waren diese Dimensionen durch den Anspruch, dass der Unterricht insgesamt ›philosophisch‹ zu sein habe, kritisch gegen sich selbst. Damit bezeichnen die klassischen Dimensionen allgemeiner Bildung aber exakt schon die Dimensionen des Wissens und Könnens, der Kompetenzen mithin, die ein ›Kerncurriculum moderner Allgemeinbildung‹ (Tenorth 1994, Baumert 2002b, bes. S. 113) z.B. auch heute nennt, um die Bezugsfelder und das kanonische Orientierungswissen auszuweisen, für die ›Kulturwerkzeuge‹ als ›basale Sprach- und Regulationskompetenzen‹ erworben werden müssen.17 So scheinbar überzeugend sich dieser Satz, der die Spannungen von Kompetenzorientierung und Bildungsideal aufzulösen bemüht ist, auf den ersten Blick liest, so sehr stößt man bei genauer Lektüre auf Fragliches. Der Kompetenzbegriff Weinerts ist der Expertiseforschung entlehnt18 , die »sich mit der Untersuchung von leistungsfähigen Experten in einem bestimmten Fach bzw. Gegenstandsbereich – in der Expertiseforschung als ›Domäne‹ bezeichnet«19 , befasst. Die vom Bundesministerium für Bildung und Forschung herausgegebene Studie Förderung von Lesekompetenz, die u.a. vom Mitglied des deutschen PISA-Konsortiums während des Zeitraums der Jahre 2004-2011, Cordula Artelt, erstellt wurde, vertritt die Auffassung, dies sei »die tragfähigste Definition von Kompetenz«: »Die Expertiseforschung beschäftigt sich mit der Untersuchung von leistungsfähigen Experten in einem bestimmten Fach bzw. Gegenstandsbereich.«20 Klieme u.a. gehen davon aus, dass sich ein so gefasster Kompetenzbegriff »hervorragend auf den schulischen Bereich übertragen [lässt]«21 . Hieraus ergibt sich aber die Problematik, dass über den rein instrumentellen Charakter der Kompetenzen hinausgehende Bildungsziele aus dem Blick geraten, was die Autor_innen der Klieme-Expertise auch unumwunden einräumen: »Kompetenztheoretisch begründete ›Bildungsstandards‹ werden deshalb auch mit guten Gründen nicht als allgemeine Bildungsziele formuliert, sondern als bereichsspezifische Leistungserwartungen.«22 Dies

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dellierungsmöglichkeiten auf Basiskompetenzen zu konzentrieren, die nicht die einzigen, aber wichtige Voraussetzungen für die – wie Tenorth (1994) es ausdrückt – Generalisierung universeller Prämissen für die Teilhabe an Kommunikation und damit auch für Lernfähigkeit darstellen.« (Baumert/Stanat/Demmrich: PISA 2000. S. 21.) In einem Punkt, und zwar mit Blick darauf, dass das Modell auf dem Feld sprachlicher Kompetenzen Formen und Funktionen literarischer Sprachverwendung nicht gerecht wird, vermag allerdings auch die PISA-Studie den eigenen Anspruch nicht einzulösen, was die beiden folgenden Unterkapitel im Detail nachweisen. Klieme u.a.: Zur Entwicklung nationaler Bildungsstandards. S. 67. Vgl. Artelt, Cordula u.a.: Förderung von Lesekompetenz – Expertise. In: Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) (Hg.): Bildungsforschung Bd. 17. Bonn, Berlin 2007. S. 11. https:// www.bmbf.de/pub/Bildungsforschung_Band_17.pdf (Abrufdatum 30.10.2017). Klieme u.a.: Zur Entwicklung nationaler Bildungsstandards S. 72. Artelt u.a.: Förderung von Lesekompetenz. S. 11. Klieme u.a.: Zur Entwicklung nationaler Bildungsstandards. S. 72. Ebd. S. 68.

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Literarästhetische Literalität

kommt zwar einerseits dem Bestreben zugute, klare Richtlinien und Zielsetzungen für schulische Lernprozesse ausweisen zu können, führt andererseits aber zwangsläufig auch zu einem reduzierten Begriff schulischer Bildung, da die »Orientierung an übergeordneten Kontingenzformeln wie ›Lernfähigkeit‹ oder die erziehende Seite von Unterricht und Schulleben [hiermit] nicht obsolet [werden]. Auch Standards sind nur hochselektive Respezifikationen dessen, worauf es in der Schule ankommt.«23 Wenn das obige Zitat mit der Metapher des Überwölbens davon spricht, dass ein solcher Unterricht zugleich »›philosophisch‹« zu sein habe, »kritisch gegen sich selbst«, muss die Frage gestellt werden, aus welcher Quelle diese Kritik gespeist werden kann. Aus der eines funktional verstandenen Kompetenzbegriffs jedenfalls nicht: Er gewährleistet keine Reflexion dessen, was kompetenzorientiert bearbeitet wird – und er kann dies, rein logisch betrachtet, auch gar nicht, da er als bereichsspezifische Expertise gefasst ist. Der Versuch, das Spannungsverhältnis von Kompetenz- und Bildungsbegriff aufzulösen, indem beide gleichgesetzt werden, bleibt so zum Scheitern verurteilt; viel eher ist Folgendes der Fall: »Die (literarische) Bildung ist […] bloß noch ein Unterbegriff innerhalb des leitenden Paradigmas des Kompetenzerwerbs.«24 Nun ließe sich der Einwand formulieren, dass die Klieme-Expertise ebenso wie nahezu alle kompetenzorientierten Lehrpläne und das Grundlagenpapier der Kultusministerkonferenz zu den Bildungsstandards hervorheben, dass die Kompetenzen nur die »Kernbereiche eines bestimmten Faches« abdeckten und es hierneben weitere Bereiche gebe, die an Bedeutung nicht verlören, obwohl sie kompetenzorientiert nicht vermittelbzw. abprüfbar seien.25 Hiermit werden jedoch die Folgen eines auch an deutschen Schulen im Zuge verschiedener Leistungsmessungen und zentraler Abschlüsse zunehmend zu beobachtenden sog. teachings to the test unterschätzt. Schüler_innen – und dies gilt nicht zuletzt in Zeiten rigider Studienzulassungsbeschränkungen in Form des Numerus Clausus – haben ein legitimes Interesse daran, gute Noten erzielen zu wollen, und sie werden ihre Anstrengungen in der Regel so kanalisieren, dass all das, was diesem Ziel zugutekommt, im Mittelpunkt steht. Faktisch werden so zunehmend die Bereiche aus dem Unterricht gedrängt, die nicht mehr kompetenzorientiert mess- und prüfbar sind.26 Einer der schärfsten Kritiker der Bildungsreformen der jüngsten Vergangenheit, Konrad Paul Liessmann, trifft ein vernichtendes Urteil: »Kompetenzorien23 24 25

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Bellmann, Johannes: Ökonomische Dimensionen der Bildungsreform. Unbeabsichtigte Folgen, perverse Effekte, Externalitäten. In: Neue Sammlung 45 (2005), H. 1, S. 15-31. S. 25. Odendahl: Lesen, Kompetenz und Bildung. S. 106. Vgl. hierzu die der konkreten Ausformulierung aller Bildungsstandards in sämtlichen Fächern und für sämtliche Schulabschlüsse zugrunde liegende Erklärung der Kultusministerkonferenz von 16.12.2004: »Bildungsstandards konzentrieren sich auf Kernbereiche eines bestimmten Faches. Sie decken nicht die ganze Breite eines Lernbereiches ab, sondern formulieren fachliche und fachübergreifende Basisqualifikationen, die für die weitere schulische und berufliche Ausbildung von Bedeutung sind und die anschlussfähiges Lernen ermöglichen.« Kultusministerkonferenz: Bildungsstandards der Kultusministerkonferenz. Erläuterungen zur Konzeption und Entwicklung. München: Luchterhand 2005. S. 7. www.kmk.org/fileadmin/veroeffentlichungen_beschluesse/2004/ 2004_12_16-Bildungsstandards-Konzeption-Entwicklung.pdf (Abrufdatum 14.12.2017). Vgl. hierzu Kämper-van den Boogaart, Michael: Korrumpieren Testaufgaben notwendig das literarische Verstehen? In: Volker Frederking u. Axel Krommer (Hg.): Taschenbuch des Deutschunterrichts. Bd. 3. Baltmannsweiler: Schneider 2014. S. 735-756.

1. Problemaufriss: Lesekompetenz und Literaturunterricht

tierung, Praxisnähe, Modularisierungen, Qualifikationsprofile, employability, Wettbewerbsvorteil, Kostenneutralität: Die Schlagworte aktueller Bildungspolitik markieren nicht nur neue Moden, sie signalisieren auch einen gravierenden Bruch mit den Idealen klassischer Bildungskonzeptionen.«27 Fragen, die auf eine solche Grundsatzkritik nun allerdings zurückfallen, lauten etwa: Wie ist das Verhältnis von Schulleistungen und Bildung? Gibt es zuverlässige Indikatoren, nicht nur für Schulleistung, sondern auch für Bildung? Wie sieht es mit den Aspekten des modernen Bildungsbegriffs aus, die schwer zu messen sind und für die es keine zuverlässigen Indikatoren gibt, zum Beispiel mit Reflexivität, kritischem Denken und reflektierender Urteilskraft?28 Antworten hierauf können im Rahmen dieser Arbeit nicht auf allgemein bildungstheoretischer Ebene gegeben werden; wohl aber bereichsspezifisch, mit Blick auf literarästhetische Rezeptionsprozesse. Und hier wirken sich die Folgen der Kompetenzorientierung noch gravierender aus als im allgemeindidaktischen Bereich. Denn auf diesem Feld wird bereits der Anspruch der Kompetenzorientierung, die »Kernbereiche eines bestimmten Faches« zu erfassen, infrage zu stellen sein.

1.2.

Das Modell allgemeiner Lesekompetenz und literarästhetisches Lesen

Die Problematik einer auf dem Kompetenzparadigma beruhenden Ausrichtung auch des Literaturunterrichts geht u.a. aus der Nichtvereinbarkeit der bereichsspezifischen Konkretisierung eines Modells allgemeiner Lesekompetenz mit der Spezifik literarischer Sprachverwendung hervor. Dies soll im Folgenden unter Rekurs auf die theoretischen Prämissen des deutschen PISA-Konsortiums entwickelt werden.29 Der Rückgriff auf dieses Konzept erfolgt deshalb, weil die Autor_innen der PISA-Studie ein weitgehend den Grundlagen des Forschungsstandes der Lesepsychologie entsprechendes Modell entwickeln, das zum anderen, wie bereits ausgeführt, als maßgeblicher Bezugspunkt des gegenwärtigen bildungspolitischen Diskurses in Deutschland betrachtet werden muss. Da der Fokus der Arbeit nicht auf dem Feld allgemeiner Lesekompetenz liegt, sondern auf den Grenzen eines solchen Modells für die Arbeit mit literarischen Texten, werden kritische Stimmen und sich in Teilen abgrenzende Entwürfe30 hierzu nur insofern berücksichtigt, als sie einen Bezug zu weiterführenden Fragestellungen aufweisen. Die Frage, wie Lesekompetenz grundlegend definiert wird und aus welchen Gründen ihr für die gesellschaftlich-kulturelle Teilhabe Relevanz zukommt, beantworten die Autor_innen des deutschen Konsortiums unter Rekurs auf den internationalen Test wie folgt: »Lesekompetenz (Reading Literacy) heißt, geschriebene Texte zu verstehen, zu nutzen und über sie zu reflektieren, um eigene Ziele zu erreichen, das eigene Wissen und 27 28 29 30

Liessmann: Geisterstunde. S. 28. Bellmann: Ökonomische Dimensionen der Bildungsreform. S. 29. Vgl. Artelt u.a.: Lesekompetenz. S. 78f. Dies betrifft vor allem die Frage nach der Konstruktionsleistung des Lesenden, vgl. unten.

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Literarästhetische Literalität

Potenzial weiterzuentwickeln und am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen.«31 Lesen gilt so als »kulturelle Schlüsselqualifikation«, das »die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben« ermöglicht und »die Möglichkeit der zielorientierten und flexiblen Wissensaneignung« bietet.32 In diesem Rahmen werden weiterhin verschiedene Aspekte des Begriffs »Lesekultur« voneinander abgegrenzt: das »Informationslesen«, das »Lesen zur Wissenserweiterung« und – worauf interessanterweise im einführenden Kapitel 1.1. »Wozu lesen?« der ersten PISA-Studie am meisten Raum verwendet wird – das »Lesen von Literatur«.33 Dieses eröffne eine Perspektive, die mit der Möglichkeit der Identifikation mit Romanfiguren, des stellvertretenden Erlebens, der Planung von Lebensentwürfen, der Fantasieerweiterung und der impliziten Schulung der Fähigkeit, die Perspektive anderer Personen einzunehmen, nur angedeutet werden kann. Literatur als Genre bietet die Möglichkeit der Lebensbewältigung, des ästhetischen Erlebens, der Befriedigung von Unterhaltungsbedürfnissen sowie der Sinnfindung und der Persönlichkeitsentfaltung (Hurrelmann, 1994; Spinner, 1989).34 Dem Vorwurf, dass das Lesekompetenzkonstrukt der PISA-Studie nicht mehr »vordringlich auf das Erlebnis, das Abtauchen in fremde Welten« ausgerichtet sei35 , scheint diese Passage zunächst zu widersprechen. Doch fällt zugleich auf, dass die ästhetische Leseerfahrung pädagogisch funktionalisiert wird und somit nicht von ihrem Eigenwert, sondern ihren Funktionen her gedacht ist. Und so ist es nur konsequent, wenn das spezifisch Ästhetische keinesfalls den Ausgangspunkt der Abgrenzung zu pragmatischen Texten bildet, sondern unter dem Terminus des »ästhetischen Erlebens« nur als eine, zudem vor dem Hintergrund der diversen anderen Funktionen von Literatur letztlich marginalisierte Ebene erscheint, wobei auch die Verwendung des Begriffs »Erleben« anstelle von Erfahrung kritisch zu sehen ist.36 Die anderen genannten Funk31

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Artelt u.a.: Lesekompetenz. S. 80 unter Rekurs auf die Grundlagenstudie des internationalen PISAKonsortiums der OECD. Die Autor_innen der Studie PISA 2009 ergänzen: »Dies beinhaltet eine funktionale Sicht auf Lesekompetenz als basales Kulturwerkzeug.« Johannes Naumann u.a.: Lesekompetenz von PISA 2000 bis 2009. In: Eckhard Klieme u.a. (Hg.): PISA 2009 – Bilanz nach einem Jahrzehnt. Münster: Waxmann 2010. S. 23-72. S. 24. Artelt u.a.: Lesekompetenz. S. 70. Vgl. ebd. S. 69f. Im Rahmen der Studie aus dem Jahr 2009 findet sich eine ähnliche, wenngleich weniger stark differenzierte Unterteilung: »Die Bandbreite von Leseanlässen ist sehr groß und das Lesen erfüllt gleichzeitig sehr unterschiedliche Funktionen […]. Sie reichen von dem für die Weiterbildung und das lebenslange Lernen zentralen Lesen zur Wissenserweiterung bis hin zum literarisch-ästhetischen Lesen.« Naumann u.a.: Lesekompetenz von PISA 2000 bis 2009. S. 23. Artelt u.a.: Lesekompetenz. S. 69f. Vgl. Dannecker, Wiebke: Literarische Texte reflektieren und bewerten – zwischen theoretischer Modellierung und empirischer Rekonstruktion am Beispiel einer empirischen Untersuchung mit Schülerinnen und Schülern der Sekundarstufe II. Trier: Wissenschaftlicher Verlag 2012. S. 3. Fasst man mit Karl-Siegbert Rehberg unter Rekurs auf Edmund Husserls phänomenologische Untersuchungen »Erlebnisse als intentionale Aspekte des umfassenden ›Bewusstseinsstroms«, dann wird erkennbar, dass diese zwar die Grundlage für Erfahrungsgehalte liefern, der Erfahrungsbegriff aber weitere mentale Aktivitäten notwendig impliziert. »Es wäre dies Selbstaufklärung durch Erfahrung, die den Entgrenzungsgefahren des Erlebnishaften misstrauen gelernt hat.« Karl-

1. Problemaufriss: Lesekompetenz und Literaturunterricht

tionen sind zudem oftmals fragwürdig – und können ästhetischen Lernprozessen geradezu im Weg stehen. So bleibt die gleich am Anfang genannte Funktion der Identifikation mit Romanfiguren hinter dem ästhetischen Potential literarischer Texte zurück: Denn gerade die künstlerisch-künstliche Ausgestaltung literarischer Figuren droht in einer solchen psychologisierenden resp. identifizierenden Lektüre in den Hintergrund zu geraten; Distanz und Reflexion als Kriterien ästhetischer Erfahrung (die diese u.a. auch vom »ästhetischen Erleben« unterscheiden) werden nicht einlösbar. Hinsichtlich der Punkte von stellvertretendem Erleben, Planung von Lebensentwürfen und Phantasieerweiterung gilt dies in eingeschränkter Weise ebenfalls: Diese bildungsrelevanten Funktionen kann literarisches Lesen erhalten, allerdings nur dann, wenn sie auf genuin ästhetischen Leseerfahrungen aufbauen und diese nicht umgehen. Dies scheint in der Art und Weise, wie die Begriffe hier verwendet werden, aber nicht gewährleistet. Ein Blick auf die Konzeption der Aufgaben im Lesetest wird dies bestätigen; denn obwohl hinsichtlich ihrer Funktionen eine Unterscheidung von literarischen und pragmatischen Texten getroffen wird – für den Lektüreprozess und die Modellierung von Lesekompetenz wird diese Unterscheidung eingeebnet. Dies kann hinsichtlich der zugrunde gelegten Annahmen über das Textverstehen auf vier Ebenen (vgl. die folgenden Unterkapitel 1.2.1. bis 1.2.4.) nachgewiesen werden.

1.2.1.

Entnahme oder Konstruktion von Bedeutungen?

Das Textverstehen lässt sich als »interaktiver Prozess« verstehen, »bei dem textgeleitete Bottom-up-Prozesse von der einen Seite und vorwissengesteuerte Top-down-Prozesse von der anderen Seite her ineinandergreifen«37 . In der Lesepsychologie ist weitgehend unumstritten, dass es sich bei Verstehensprozessen immer auch um Konstruktionsleistungen handelt, die vermittelt sind durch mentale Strukturen der Rezipient_innen, deren Sprachkenntnisse, Erfahrungen und Weltwissen. Da Lesen folglich nicht als »passive Rezeption dessen, was in dem jeweiligen Text an Bedeutung, Information oder Botschaft enthalten ist«38 , zu begreifen ist, beruhen letztlich alle Prozesse des Leseverständnisses auf diesen spezifischen Voraussetzungen der einzelnen Leser_innen und es kann immer nur von einer jeweils individuellen Verstehensweise gesprochen werden. Dies macht die Vorstellung, dass das Leseverständnis eine schlichte Entnahme von im Text enthaltenen Informationen ist, hinfällig. Gleichwohl bleiben die Autor_innen der PISA-Studie hinsichtlich dieser Frage uneindeutig. Auf der einen Seite gehen auch sie in ihrem Leseverständnis davon aus, dass »der Prozess des Textverstehens als Konstruktionsleistung des Individuums zu verstehen ist«, im Sinne einer »aktive[n]

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Siegbert Rehberg: »Erlebnis« vs. »Erfahrung«? Motive soziologischer Krisenbewältigung. In: Kay Junge, Daniel Suber u. Gerold Gerber (Hg.): Erleben, Erleiden, Erfahren. Die Konstitution sozialen Sinns jenseits instrumenteller Vernunft. Bielefeld: transcript 2008. S. 133-154. S. 134f. Schmid-Barkow, Ingrid: Lesen – Lesen als Textverstehen. In: Hans-Werner Huneke (Hg.): Taschenbuch des Deutschunterrichts. Bd. 1: Sprach- und Mediendidaktik. Baltmannsweiler Schneider 2010. S. 218-231. S. 219. Christmann, Ursula u. Norbert Groeben: Psychologie des Lesens. In: Bodo Franzmann (Hg.): Handbuch Lesen. München: Saur 1999. S. 145-207. S. 145.

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Literarästhetische Literalität

(Re)Konstruktion der Textbedeutung«39 , die an das Vorwissen der Leser_innen (was sich wiederum in Weltwissen und sprachliche Kompetenzen aufgliedern lässt) rückgebunden sei. Dieser den konstruktiven Akt jedweden Textverstehens hervorhebende Zugang wird aber konterkariert durch immer wieder auffindbare Annahmen von »im Text enthaltenen Aussagen«40 . Dem korreliert die Rede von einer »objektive[n] Textvorgabe« und der Begriff der »Bedeutungsentnahme«41 . Dieser Widerspruch wird nicht aufgelöst.42 Die Codierhinweise der Korrekturanleitungen verlagern den Akzent dann aber klar in Richtung eines objektivierbaren Textverstehens, das auch bei literarischen Texten von im Text enthaltenen Informationen bzw. ›Botschaften‹ ausgeht. Doch gilt: »Wenn das Textverstehen eine Konstruktionsleistung ist, dann konstruieren notgedrungen alle, auch die Test-Autoren.«43 Was hinsichtlich der Rezeption von pragmatischen Texten oder in der Alltagskommunikation oftmals zu keinen großen Problemen führt, da hier ein Abgleich nicht stetig erfolgen muss, weil die Konstruktionen der jeweiligen Propositionen so weit intersubjektiv vermittelbar sind, dass hierzu keine Notwendigkeit besteht, wird dann, wenn man mit komplexeren Formen wie einer ästhetisch-literarischen Sprachverwendung konfrontiert ist, höchst fraglich, kommt hier doch gerade dem imaginativen Spielraum und dem je individuellen Verstehen sprachlicher Elemente eine höhere Bedeutung zu. Dem Satz »Vor dem Haus steht ein LKW.« lässt sich wesentlich deutlicher eine im weitesten Sinne objektivierbare Information entnehmen44 als dem Satz »Vor dem Gesetz steht ein Türhüter.« im Kontext von Kafkas Parabel45 . Literarisches Lernen beruht somit auf der Erkenntnis, dass literarische Texte »keine Bedeutung von ›innen‹« haben: Die ihnen zugewiesenen Bedeutungen sind »nicht als ›Wesenheit[en]‹ von Texten zu erachten, sondern als Zuschreibung von ›außen‹«46 zu reflektieren47 , als individuell ggf. unterschiedliche Wirkungen. Solche Sinnzuschreibungen haben ihre Grenzen und müssen intersubjektiv vermittelbar, am Text belegbar sein, sie gehen aber in keinem Fall in einer wie auch immer gedachten ›Entnahme‹ aus dem rezipierten Text auf und können diesen mit gleicher Legitimation auf unterschiedliche Art und Weise verstehen. 39 40 41 42 43 44

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Artelt u.a.: Lesekompetenz. S. 70f. Ebd. S. 71. Hervorhebung C. B. Ebd. Vgl. Bremerich-Vos, Albert u. Petra Wieler: Zur Einführung. In: Ulf Abraham u.a. (Hg.): Deutschdidaktik und Deutschunterricht nach PISA. Freiburg: Fillibach 2013. S. 15f. Ebd. S. 16. Damit ist nicht gesagt, dass das Vorstellungsbild der Rezipient_innen hinsichtlich der Ausgestaltung dessen, was unter dem Haus sowie dem LKW verstanden und was über die exakte Anordnung beider ausgesagt wird, nicht voneinander abweichen kann. Kafka, Franz: Vor dem Gesetz. In: ders.: Gesammelte Werke in zwölf Bänden. Nach der krit. Ausg. hg. v. Hans-Gerd Koch. Bd. 1: Ein Landarzt und andere Drucke zu Lebzeiten. Frankfurt a.M.: Fischer Taschenbuch 1994. S. 211f. Förster, Jürgen: Analyse und Interpretation. Hermeneutische und poststrukturalistische Tendenzen. In: Klaus-Michael Bogdal u. Hermann Korte: Grundzüge der Literaturdidaktik. München: dtv 2002. S. 231-246. S. 240. Vgl. Baurmann, Jürgen u. Clemens Kammler: Interpretationsaufgaben stellen – Interpretationen bewerten. In: Praxis Deutsch 39 (2012), H. 234, S. 4-12. S. 5.

1. Problemaufriss: Lesekompetenz und Literaturunterricht

1.2.2.

Stufen des Verstehensprozesses und mentale Repräsentation

Die Problematik, einen allgemeinen Begriff von Lesekompetenz auf literarische Texte anzuwenden, zeigt sich auch bei der Abfolge der einzelnen Phasen des Lektüreprozesses. In der kognitionspsychologischen Leseforschung hat sich hinsichtlich der Rezeption pragmatischer Texte ein weitgehender Konsens ausgebildet. Bei allen Varianten im Detail, die im Kontext des Untersuchungsinteresses dieser Arbeit ausgeblendet werden können, beruht die Lektüre auf fünf Stufen, die Wolfgang Schnotz und Stephan Dutke wie folgt fassen: • • • • •

eine mentale Repräsentation der Textoberfläche, eine mentale Repräsentation des propositionalen semantischen Gehalts, ein mentales Modell des Textgegenstands, eine mentale Repräsentation der Kommunikationsabsicht des Textautors, eine mentale Repräsentation des Textgenres.48

Mit Ausnahme der für literarische Texte problematischen vierten und der Ergänzung der fünften Stufe lässt sich dieses Modell den drei Stufen zuordnen, auf denen das Lesekompetenzmodell von PISA beruht. Der mentalen Repräsentation auf der Oberflächenebene, also dem sinnlich wahrnehmbaren Erscheinungsbild des Textes, entspricht die Kompetenz des »Erkennen[s] von Buchstaben und Wörtern« sowie der »Erfassung der Wortbedeutung«. Die zweite Ebene der mentalen Repräsentation des propositionalen Gehalts beruht auf einer »Herstellung semantischer und syntaktischer Relationen zwischen Sätzen und – auf der Textebene – d[er] satzübergreifende[n] Integration von Sätzen zu Bedeutungseinheiten«49 . Bereits auf dieser Ebene lässt sich zeigen, dass literarische Rezeptionsprozesse andere Wege gehen, als es in diesem allgemeinen Modell des Leseverstehens angenommen wird. So ist grundlegend zu fragen, ob der Ausbildung von Vorstellungen, die nicht umgehend funktional zu propositionalen Bedeutungseinheiten synthetisiert werden, beim literarischen Lesen nicht eine viel größere Rolle zukommt. Denn dieses kann zunächst einmal auf nur einzelnen Textimpulsen aufbauen, sodass der Ausbildung propositionaler Repräsentationen eine nachgeordnete Rolle zufällt. Dies geschieht etwa dann, wenn das Klangbild einzelner Laute oder Verse fokussiert und zum Gegenstand ästhetischen Genusses wird. Auch kann die Schilderung einer nächtlichen Waldkulisse bei den Leser_innen zur Ausbildung eines bildhaften mentalen Modells führen, das sich ggf. imaginativ mit eigenen Erfahrungen verbindet und eine Art sinnlicher Präsenz erhalten kann, ohne dass vorab diese Informationen auf propositionaler Ebene voll ausgewertet und vernetzt wurden. Man kann sogar so weit gehen und behaupten, dass Literatur gerade auf diese Formen sinnlicher oder quasi-sinnlicher Affektion, die nicht umgehend kognitiv-begrifflich über48

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Schnotz, Wolfgang u. Stephan Dutke: Kognitionspsychologische Grundlagen der Lesekompetenz: Mehrebenenverarbeitung anhand multipler Informationsquellen. In: Ulrich Schiefele u.a. (Hg.): Struktur, Entwicklung und Förderung von Lesekompetenz. Vertiefende Analysen im Rahmen von PISA 2000. Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften 2004. S. 61-100. S. 73. Artelt u.a.: Lesekompetenz. S. 71.

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Literarästhetische Literalität

formt und in diskursive Aussagen überführt wird, abzielt, um die Vorstellungswelt der Leser_innen lebendig und im Fluss zu halten. Ein weiteres Problem ergibt sich hinsichtlich der Art und Weise, wie innerhalb dieses Modells allgemeiner Lesekompetenz die Repräsentation des propositionalen semantischen Gehalts gedacht wird. Es wird davon ausgegangen, dass es [a]uf der Satzebene und bei kürzeren Texten […] in den meisten Fällen aus[reicht], die Prozesse beim Textverstehen über semantische Relationen innerhalb des Textes in Form von Propositionen und über einfache Prozesse der Überprüfung der Kohärenz diese [sic!] Propositionen zu beschreiben. Der Syntax kommt bei der Textverarbeitung vorrangig die Rolle einer Hilfsfunktion zu, auf die in mehrdeutigen Fällen zurückgegriffen wird.50 Für die Sachtextrezeption dürfte dies in der Tat Gültigkeit besitzen. Der Verstehensprozess beim Lesen einer Anleitung zum Schrankaufbau wird in der Tat weitgehend unabhängig davon sein, wie etwa syntaktische Strukturen gestaltet sind und sich vornehmlich über semantische Kohärenz steuern. Da genau diese bei literarischen Texten aber nicht immer gegeben ist, bleibt die Ebene der syntaktischen und somit auch formalen Ausgestaltung von hoher Relevanz. So die Leser_innen ihre Aufmerksamkeit bewusst hierauf lenken, wird dies auch Auswirkungen auf die Bildung eines mentalen Situationsmodells auf der folgenden Stufe haben, da beispielsweise das Wahrnehmen eines Parallelismus dazu führen kann, die Aussagen beider Sätze aufeinander zu beziehen. Eine dritte Schwierigkeit auf der Ebene der Ausbildung propositionaler Kohärenzen liegt in Folgendem begründet: »Bei längeren Texten spielt neben der Kohärenzprüfung auf der Mikroebene auch die Bildung von Makrostrukturen eine Rolle. Die Textinformation wird dabei auf das Wesentliche verdichtet, indem Makroregeln (Auslassen, Generalisieren, Selegieren und Konstruieren und Integrieren) zur Reduzierung verwendet werden.«51 Da in hochwertigen literarischen Texten letztlich jedem Detail eine ästhetische Funktion zukommt (die zudem variabel sein und in vielen unterschiedlichen Bezügen stehen kann), besteht zumindest bei Anwendung der ersten drei Operationen immer die Gefahr, den Text in seiner Polyvalenz zu reduzieren.52 Eine solche ›Makroskopierung‹ des Textes, die Details wegblendet, um den zentralen Gedanken folgen zu 50 51 52

Ebd. Ebd. Darauf, dass dieses Vorgehen nicht nur mit Blick auf literarische Texte als problematisch angesehen werden muss, da es sich letztlich nur auf in ihrem Aussagegehalt eindeutig decodierbare pragmatische Texte beziehen lässt, machen Bremerich-Vos/Wieler aufmerksam. Ihre Kritik betrifft die Annahme, dass das Textverständnis auf der Bildung von Propositionen aufbaue, in die ein gelesener Text gleichsam mental ›übersetzt‹ werde und die ihn somit zum Zwecke einer Kohärenzbildung im Sinne eines »Prädikatenkalküls« (Bremerich-Vos/Wieler: Zur Einführung. S. 18f.) hinsichtlich seines möglichen darüber hinausgehenden Bedeutungsgehaltes massiv vereinfachten. »Zugunsten der Objektivität, d.h. einer möglichst großen Übereinstimmung im Hinblick auf die Codierung eines Textes als Propositionsliste, wird darauf verzichtet, Kohärenz komplex zu fassen. [/] So landet man – salopp gesagt – letztlich immer wieder bei ›einfachen‹ Texten« (ebd. S. 18.) und es stellt sich die Frage, ob Texte, die so »Landläufiges wie Ironie und Metaphorik« (ebd.) verwenden, innerhalb dieses Modells angemessen abbildbar werden.

1. Problemaufriss: Lesekompetenz und Literaturunterricht

können, erweist sich bei der Lektüre literarischer Texte als ungeeignet, da hier auch »nach einer ersten Bestimmung des Textsinns« eine »fortgesetzte Suche nach weiteren möglichen semantischen Relationen zwischen vielen unterschiedlichen Textstellen«53 erfolgen muss, die innerhalb dieses Modells nicht gewährleistet ist. Dies greift bereits auf die dritte Ebene über. Johnson-Laird54 und van Dijk/Kintsch55 sind zu dem Ergebnis gekommen, dass zusätzlich zur Oberflächenstruktur und zum propositionalen Gehalt eines Textes eine weitere Ebene notwendig in das Verstehensmodell einbezogen werden muss. Sie betrifft das »Situationsmodell«, das den im Text dargelegten Sachverhalt »im Sinne einer analogen, inhaltsspezifischen, anschaulichen Repräsentation, die von sprachlichen Strukturen losgelöst ist«56 , ausbildet. Solche Situationsmodelle sind »multidimensional«, d.h. sie können Informationen über zeitlichräumliche Gegebenheiten ebenso enthalten wie (konstruierte) kausale Zusammenhänge und zugeschriebene Emotionen oder Handlungsmotive. Für fiktionale Texte charakterisieren sie Graessen/Olde/Klettke wie folgt: The situation model for a story is a microworld with characters who perform actions in pursuit of goals, events that present obstacles to goals, conflicts between characters, emotional reactions to characters, spatial settings, the style and procedure of actions, objects, properties of objects, traits of characters, and mental states of characters.57 Lässt sich bereits das Grundkonstrukt einer mentalen Repräsentation hinsichtlich seiner medialen Verfasstheit, d.h. der Elemente, auf denen es aufbaut, hinterfragen58 , so weist es mit Blick auf literarisches Textverstehen weitere Lücken auf. Es kann aufgrund der Abkoppelung von sprachlichen Strukturen und somit von der formalen Gestaltungsebene nur die Ebene der histoire, nicht aber die des discours erfassen.59 Da das entscheidende Merkmal literarischer Texte nun aber nicht die bloße Repräsentation 53

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Zabka, Thomas: Typische Operationen literarischen Verstehens – Zu Martin Luther »Vom Raben und Fuchs« (5./6. Schuljahr). In: Clemens Kammler (Hg.): Literarische Kompetenzen – Standards im Literaturunterricht. Modelle für die Primar- und Sekundarstufe. 2. Auflage. Seelze: Klett Kallmeyer 2012. S. 80-101. S. 82. Johnson-Laird, Philip N.: Mental Models. Towards a Cognitive Science of Language, Inference and Consciousness. Cambridge: Cambridge University Press 1983. van Dijk, Teun A. u. Walter Kintsch: Strategies of Discourse Comprehension. New York: Academic Press 1983. Artelt u.a.: Lesekompetenz. S. 72. Graesser, Arthur C., Brent Olde u. Bianca Klettke: How Does the Mind Construct and Represent Stories? In: Melanie C. Green, Jeffrey J. Strange u. Timothy C. Brock (Hg.): Narrative Impact. Social and Cognitive Foundations. Mahwah: L. Erlbaum Associates 2002. S. 229-262. S. 230f. Vgl. hierzu Bremerich-Vos/Wieler, deren Kritik darauf zielt, was genau überhaupt repräsentiert werde und inwiefern dieses »mentale Modell« von der sprachlichen Bedingtheit seines Ursprungs absehen und diese Informationen in »Entitäten wie das Mentalesische« (Bremerich-Vos/Wieler: Zur Einführung. S. 18) transferieren könne. Dies betrifft sowohl die gebildeten mentalen Repräsentationen der textbasierten Propositionen als auch die auf ihnen aufbauenden weiteren Inferenzen, die über das direkt Mitgeteilte in einem Text hinausgehen und für die dann der Begriff des »Situations-Modells« verwendet würde (vgl. ebd. S. 20). Vgl. Vogt, Robert: Theorie und Typologie narrativer Unzuverlässigkeit am Beispiel englischsprachiger Erzählliteratur. Unigrafia Oy Helsinki 2015. S. 102.

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von Inhalten ist, sondern diese primär über sprachlich-ästhetische Gestaltungsmerkmale Kontur gewinnen, bedarf ein solches Textverstehensmodell einer Erweiterung, die auch über die von Schnotz/Dutke ins Spiel gebrachten Ebenen der Autorintention und des Genres hinausgeht.60 Robert Vogt, der in seiner Abhandlung zu Fragen des unzuverlässigen Erzählens zwangsläufig auf genau dieses Problem in der Textrezeption stößt, bettet das Situationsmodell, wie es von Graesser/Olde/Klettke mit Blick auf narrative Texte konkretisiert wurde, unter Rekurs auf Claassen61 in zwei Kontextebenen ein, die der Notwendigkeit, den Blick wieder auf die formale Gestaltung des Textes zurückzulenken und die Ebene der histoire hiervon abhängig zu denken, gerecht zu werden vermögen. Die erste hiervon ist zu verstehen als ein mentales Modell der »intratextuellen ›Erzählsituation‹ (inklusive mentaler Repräsentation des Zeitpunkts des Erzählens, des Ortes des Erzählens, der Erzählerwelt und der Adressatenwelt)«; die zweite als eines der »extratextuellen Erzählsituation (inklusive mentaler Repräsentationen des Autors, der Entstehungszeit, Normen und Werte etc.)«62 . Dieses Modell müsste für Anwendungsbereiche jenseits narrativer Texte erweitert und modifiziert werden, es macht aber grundlegend deutlich, wie komplex literarische Rezeptionsprozesse sind, wenn man sie von ihrer ästhetischen Funktion her denkt und wie sehr der Schwierigkeitsgrad bestimmter Verstehensoperationen vom Text und den gewählten Zugangswegen seiner Rezipient_innen abhängt. Damit ist eine weitere notwendige Differenzierung angesprochen, die die Tatsache betrifft, dass sich der Aufbau eines solchen mentalen Situationsmodells als abhängig vom Vorwissen und von Leseinteressen der Rezipient_innen erweist. An diesem Punkt treffen die PISA-Autor_innen eine Unterscheidung zwischen »narrativen Texten« und »Sachtexten (expositorischen Texten)«.63 Bei jenen wird in erster Linie allgemeines Weltwissen benötigt. Diese Form des Wissens besteht aus Skripten, Schemata, Vorurteilen und Gedächtnisrepräsentationen spezifischer Erfahrungen und ist hochgradig überlernt und automatisiert. Der Rückgriff auf diese Form des Vorwissens geschieht daher oft, ohne dass dem Leser seine gedächtnisbasierten Aktivitäten beim Schließen von Kohärenzlücken oder beim Bilden von lokalen Inferenzen überhaupt bewusst werden.64 Beim Lesen von Sachtexten sei »hingegen neben allgemeinem Weltwissen oft auch spezifisches inhaltliches Wissen gefragt«65 . Da der Gegensatz von narrativen Texten und 60

61 62 63 64 65

Letztlich wird gerade an diesem Punkt die notwendige Abgrenzung zu allgemeinen Textverstehensmodellen deutlich. Schnotz/Dutke führen hinsichtlich der Ausrichtung, auf die das Verstehen hinausläuft, aus: »Der Begriff des Lesens meint im Alltagsverständnis die geistige Verarbeitung eines Textes mit dem Ziel, dessen Bedeutung zu erfassen. Ein Text ist ein Kommunikationsinstrument, mit dem ein Autor Lesern eine Mitteilung über einen Sachverhalt macht (Bühler, 1934). Diese Kommunikation ist dann erfolgreich, wenn der Leser versteht, was der Autor meint (Hörmann, 1976).« Schnotz/Dutke: Kognitionspsychologische Grundlagen der Lesekompetenz. S. 61. Claassen, Eefje: Author Representations in Literary Reading. Amsterdam u.a.: Benjamins 2012. Vgl. S. 48ff. und 56ff. Vogt: Theorie und Typologie narrativer Unzuverlässigkeit. S. 106. Artelt u.a.: Lesekompetenz. S. 72f. Ebd. S. 72. Ebd. S. 73.

1. Problemaufriss: Lesekompetenz und Literaturunterricht

Sachtexten – insbesondere mit dem in Klammern gesetzten, erklärenden Zusatz für die letztere Gruppe als expositorische Texte – darauf schließen lässt, dass hierunter auch die Opposition von erzählenden literarischen Texten gegenüber pragmatischen Texten begriffen wird, erweist sich der hier skizzierte Lektüreprozess für Literatur als problematisch: Brüche und so ausgelöste Irritationen auf Seiten der Rezipient_innen werden auf der Grundlage von Vorwissen zugedeckt, indem sie durch vorgefundene mentale, »hochgradig überlernte«, schematisierte Wissensbestände und »Vorurteile« gekittet werden. Dies führt dazu, dass zentrale Charakteristika literarischer Sprachverwendung buchstäblich überlesen und so ignoriert werden; eine Gefahr, die bei Schüler_innen im Umgang mit Literatur immer wieder zu beobachten ist. Wenn es stimmt, dass dieser Prozess zudem oftmals unbewusst, »automatisiert« abläuft, muss eine Erschließung literarischer Texte anders modelliert werden als die pragmatischer: Ihr Ziel sollte es gerade sein zu verhindern, dass solche Brüche vorschnell überdeckt werden, eigene Vorurteile an die Stelle möglicher Irritationen treten und das ästhetisch Widerständige in dessen Folge ohne nennenswerte Akkomodationen assimiliert wird. Dies gilt umso mehr, als die Autor_innen selbst einräumen, dass »ein tieferes Verstehen eines Textes, der nicht allein auf leicht verfügbarem Weltwissen beruht, […] der intentionalen und strategischen Steuerung des Leseprozesses [bedarf]«66 . Hinzu kommt, dass literarische Texte oftmals mit automatisierten Verstehensentwürfen der Leser_innen spielen, indem sie ihnen die Grundlagen dieser Entwürfe qua Irritation bewusst machen können.67 Dies wird aber nur dann gelingen, wenn über diese Irritationen nicht hinweggelesen wird, sondern sie vielmehr zum Ausgangspunkt der Rezeption gemacht werden. Das, was die Autor_innen der PISA-Studie nur als Sonderfall gelten lassen, nämlich eine Revision bestehenden Wissens und eine Überwindung automatisierter Verstehensentwürfe68 , wird für literarische Texte bereits von Beginn an konstitutiv – da ästhetische Verstehensprozesse sich gerade und allererst dann einstellen werden.69 Schließlich ist zu sagen, dass der Rezeptionsprozess beim literarischen Lesen nicht nur eine andere Struktur der einzelnen aufeinander aufbauenden Ebenen des pragmatischen Textverstehens beinhalten wird, sondern dass zugleich deren hierarchisch gestufte und funktional aufeinander aufbauende Abfolge nicht in gleicher Weise angenommen werden kann. Zum einen, weil häufig keine abschließende, den Text fixierende begriffliche Aussage festgehalten, sondern auf einzelne Elemente immer wieder neu rekurriert werden kann; zum anderen, weil Vorstufen des Verstehens – wie die Ausbildung imaginativer Vorstellungswelten – ein ganz anderes Gewicht und einen Eigenwert erhalten können. Literarische Lektüre weist deshalb eine im Vergleich zum pragmatischen Leseverstehen deutlicher akzentuierte Prozessstruktur auf. 66 67 68

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Ebd. Vgl. hierzu die Analyse und das didaktische Modell zu Franz Kafkas Erzählung Ein altes Blatt im Kapitel 5.3.2. dieser Arbeit. »Während des Lesens versucht der Leser zuerst, Inhalte in vorhandene Wissensstrukturen einzuordnen. Bei objektiven Widersprüchen und Verständnisproblemen wird es dann jedoch nötig, diese Strukturen zu verändern.« (Artelt u.a.: Lesekompetenz. S. 71.) Vgl. Menke, Christoph: Die Souveränität der Kunst. Ästhetische Erfahrung nach Adorno und Derrida. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1991. S. 79.

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Literarästhetische Literalität

1.2.3.

Die Konturierung der drei Subskalen

Im Zuge des Bestrebens, die verschiedenen Ebenen des Textverstehens einer kompetenzorientierten Operationalisierung und somit auch Messbarkeit zuzuführen, unterscheidet die PISA-Studie fünf Aspekte des Lesens (»Informationen ermitteln«, »[e]in allgemeines Verständnis des Textes entwickeln«, »[e]ine textbezogene Interpretation entwickeln«, »[ü]ber den Inhalt des Textes reflektieren«, »[ü]ber die Form des Textes reflektieren«), die zu drei »Berichtsskalen« zusammengezogen werden: »Informationen ermitteln«, »[t]extbezogenes Interpretieren« sowie »Reflektieren und Bewerten«.70 Dabei treffen die Autor_innen eine klare Unterscheidung von textimmanenten und wissensbasierten Verstehensleistungen: »Im ersten Fall sind die im Text selbst enthaltenen Informationen ausreichende Grundlage für die Beantwortung der Fragen; im zweiten Fall muss eine situationsadäquate Interpretation unter Rückgriff auf nicht im Text enthaltenes Vorwissen entwickelt werden.«71 Eine solche Unterscheidung besitzt aber allenfalls heuristischen Wert, da sich beides nicht in der Form trennen lässt, wie dies das PISA-Modell suggeriert, indem es den Bereich »Primär textinterne Strukturen nutzen« auf die ersten beiden Subskalen und den Bereich »Externes Wissen heranziehen« auf die dritte Subskala »Reflektieren und Bewerten« bezieht.72 Faktisch dürften sowohl Informationsermittlung und Interpretation des Gelesenen immer auch von dem (ggf. unwillkürlich) hinzugezogenen externen Wissen beeinflusst werden – nichts anderes besagen ja im Übrigen auch die zuvor vom Konsortium herangezogenen Leseverstehensmodelle.73 Zudem lässt sich die Modellierung der Subskalen für literarische Texte nicht aufrechterhalten, da die Informationsermittlung (erste Subskala) oftmals bereits von der textbezogenen Interpretation (zweite Subskala) und der Reflexion bzw. Bewertung (dritte Subskala) abhängt.74 Eine scharfe Trennung von Form und Inhalt ist hier in 70 71 72 73

74

Vgl. Artelt u.a.: Lesekompetenz. S. 82f. Ebd. S. 82. Vgl. ebd. In den vorherigen Ausführungen der Studie wurde einer solchen Trennung auch unmittelbar widersprochen. Vgl. das Beispiel eines Radsportlers, der einen Text »über die Veränderung der Haltung eines Mountainbikefahrers bei einer Bergabfahrt mit Sprüngen« viel reichhaltiger mental repräsentieren wird »als ein nicht Rad fahrender Leser« (Artelt u.a.: Lesekompetenz. S. 72). Dieser Befund verweist abermals auf die von Bremerich-Vos/Wieler kritisierte ungeklärte Bestimmung des Verhältnisses von im Text enthaltenen Informationen und Konstruktionsleistungen der Rezipient_innen im Lesemodell der Studie. Die Ausführungen des deutschen PISA-Konsortiums zum Test 2009 verwenden die problematische Zuordnung der Subskalen zu den Bereichen »textintern« und »textextern« auch nicht mehr. Zudem erhalten hier die ersten beiden der drei Skalen leicht modifizierte Benennungen (Informationen suchen und extrahieren, textbezogenes Kombinieren und Interpretieren; vgl. Naumann u.a.: Lesekompetenz von PISA 2000 bis 2009. S. 25.) Vgl. hierzu kritisch auch Stark, der dies für die Ebenen des Verstehens und Bewertens ausführt: »Ein komplexes Prozessmodell des Lesens müsste aber auch das funktionale Zusammenwirken von Verstehens- und Bewertungsprozessen integrieren. Auch das PISA-Modell verwendet getrennte Skalen für ›Informationsermittlung‹ und ›Reflektieren und Bewerten‹ […], was suggeriert, dass es sich dabei um trennbare und für die Testung isolierbare Teilkompetenzen handelt. Prozesse des ›Verstehens‹ und ›Bewertens‹ sind aber oft nur systematisch trennbar, im individuellen Lektüreprozess sind sie hingegen häufig miteinander verbunden.« Von hier aus sei, so Stark, auch

1. Problemaufriss: Lesekompetenz und Literaturunterricht

letzter Konsequenz nicht möglich; und wenn, wie im PISA-Modell, eine Reflexion über Inhalt und Form eines Textes – auf der Grundlage von hinzugezogenem externen Wissen – allein der dritten Subskala vorbehalten bleibt, ist dies für literarästhetische Leseprozesse schlicht nicht umsetzbar, weil die Form immer auch die Informationsermittlung (erste Subskala) und Analyse bzw. Interpretation (zweite Subskala) steuern wird und beides ggf. mehrdeutig werden lässt. Zudem liefe man bei dem Bestreben, auf der Ebene der letztgenannten Subskala »Schlüsse über die Absichten des Autors zu ziehen«75 , in altbekannte Fallen. Ein Aufsatz mit dem Titel Der Umgang mit literarischen Texten als Teilkompetenz im Lesen? Dimensionsanalysen und Ländervergleiche der beiden im deutschen PISA-Konsortium vertretenen Autor_innen der ersten Studie, Cordula Artelt und Matthias Schlagmüller, aus dem Jahr 2004 wirft zwar die Frage auf, »ob die Art des Textes und das Textgenre einen Einfluss auf die jeweils erfasste Lesekompetenz« haben, und konstatiert, dass diese »Unterscheidung […] quer [steht] zu der ursprünglich in der PISA-Rahmenkonzeption erarbeiteten Unterscheidung nach verschiedenen Aspekten des Lesens«. Nun ist von einer »deutlich separierbare[n] Teilkompetenz des kompetenten Umgangs mit literarischen Texten«76 die Rede und es wird eingeräumt, dass die »Anforderung des ›Informationen-Ermittelns‹ […] im Verhältnis zum ›textbezogenen Interpretieren‹ und zum ›Reflektieren und Bewerten‹ deutlich weniger repräsentiert [ist]«77 . Das ändert an der grundsätzlichen Fraglichkeit dieser Unterscheidung für literarische Texte allerdings wenig. Ähnliches gilt auch für erste Infragestellungen, inwieweit ein allgemeiner Begriff von Lesekompetenz, wie er der PISA-Studie zugrunde liegt, die Rezeption literarischer Texte als Kunstwerke erlaubt. Einerseits wird eingeräumt: Inwieweit die Wahrnehmung der PISA-Texte als Kunst bei den 15-Jährigen [sic!] Rezipienten tatsächlich als gegeben angesehen werden kann, lässt sich auf Basis der PISA-Daten nicht beurteilen. Entscheidend scheint jedoch zu sein, dass durch die Stilmittel der Entfremdung [sic!] und die Verwendung von Metaphern, Symbolen und Allegorien spezifische Anforderungen an den Lesenden gestellt werden. So setzt die Erschließung der Bedeutung einer Metapher in einigen Fällen die Neustrukturierung des semantischen Raums bei der Verarbeitung voraus […].78

75 76

77 78

eine Schulpraxis des Literaturunterrichts zu hinterfragen, in der in Form von Aufgabenstellung oder verschiedenen, voneinander getrennten Phasen des Unterrichtsgesprächs »häufig zwischen ›Verstehen‹ und ›Bewerten‹ getrennt wird«. Tobias Stark: Kodierprozesse im Rahmen theorieentwickelter qualitativer Analysen – dargestellt anhand einer Untersuchung von Leseprozessen. In: Volker Frederking u. Axel Krommer (Hg.): Taschenbuch des Deutschunterrichts. Bd. 3. Baltmannsweiler: Schneider 2014. S. 570-585. S. 583. Artelt u.a.: Lesekompetenz. S. 83. Artelt, Cordula u. Matthias Schlagmüller: Der Umgang mit literarischen Texten als Teilkompetenz im Lesen? Dimensionsanalysen und Ländervergleiche. In: Ulrich Schiefele u.a. (Hg.): Struktur, Entwicklung und Förderung von Lesekompetenz. Vertiefende Analysen im Rahmen von PISA 2000. Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften 2004. S. 139-168. S. 169. Ebd. S. 177. Ebd. S. 177f. (Hervorhebung C. B.)

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Literarästhetische Literalität

Dem ist nur zuzustimmen, doch zugleich zu fragen, ob dies dann innerhalb der oben dargelegten Prämissen des Lesekompetenzbegriffs überhaupt noch abbildbar bleibt. Hierauf geben die Autor_innen selbst eine ehrliche Antwort: Trotz der Breite, auf die der Lesekompetenztest hin angelegt sei, wäre dieser »nicht in der Lage, alle potenziell relevanten Teilkompetenzen beim Lesen und Textverstehen abzubilden«79 . Und so endet die eigentlich vielversprechende Selbstreflexion und -kritik an einer Stelle, wo man sich ein Andenken konzeptueller Veränderungen gewünscht hätte. Stattdessen bleibt es beim Konstatieren des – wenig überraschenden – Ergebnisses, dass »die Korrelation zwischen den Schülerleistungen bei literarischen Texten und den beiden anderen Dimensionen [kontinuierliche Texte und nichtkontinuierliche Texte] verhältnismäßig niedrig«80 sei – genauer gesagt liegt sie sogar noch niedriger als die Interkorrelationen zwischen den drei in PISA untersuchten Kompetenzbereichen (Mathematik, Naturwissenschaften und Lesen). Dieser Befund bestätigt sich auch bei einer Dimensionsprüfung im internationalen Vergleich […]. Keine der anderen Subskalen [der Lesekompetenzen bei literarischen, kontinuierlichen und nichtkontinuierlichen Texten] im Lesen weist ähnlich niedrige Zusammenhänge auf wie die Fähigkeit zum Umgang mit literarischen Texten. Gerade der Vergleich mit den Zusammenhängen zwischen den drei in PISA untersuchten Hauptkompetenzbereichen [Lesekompetenz, Mathematik, Naturwissenschaft] […] macht deutlich, dass der kompetente Umgang mit literarischen Texten als ein separater Teilbereich der Lesekompetenz verstanden werden sollte, und dass diese Unterscheidung – mehr noch als die nach den Teilanforderungen ›Informationen ermitteln‹, ›textbezogenes Interpretieren‹ und ›Reflektieren und Bewerten‹ im Lesen – aufschlussreich für die Analyse von Leistungsprofilen im Ländervergleich sein kann […].81 Vor dem Hintergrund der Tatsache, dass die Studie, wie noch zu zeigen sein wird82 , das ästhetische Potential in den Aufgabenstellungen gar nicht einmal ausschöpft und faktisch literarische Texte kaum anders behandelt als Sachtexte, ist dieses Ergebnis umso relevanter. Es macht darauf aufmerksam, dass hinsichtlich der rezeptiven Anforderungen offenbar die Lektüre literarischer Texte grundlegend anders ausgestaltet ist als die von Sachtexten.83 Diese Beobachtung fand auch im Rahmen des von Volker Frederking u.a. gemeinsam mit der dem deutschen PISA-Konsortium angehörenden Petra Stanat geleiteten DFG-Projekts zur »Literarästhetischen Urteilskompetenz« (LUK) Bestätigung.84 Es knüpft an die von Artelt/Schlagmüller aufgestellte These an, der zufolge »[d]er kompetente Umgang mit literarischen Texten […] andere Lese- und Verstehensanforderungen 79 80 81 82 83

84

Ebd. S. 180. Ebd. S. 178. Ebd. S. 179. Vgl. hierzu die folgende Beispielanalyse. Vgl. Köster, Juliane: Lesekompetenz im Licht von Bildungsstandards und Kompetenzmodellen. In: Albert Bremerich-Vos, Dietlinde Granzer u. Olaf Köller: Lernstandsbestimmung im Fach Deutsch. Gute Aufgaben für den Unterricht. Weinheim, Basel: Beltz 2008. S. 163-183. S. 165. Vgl. Roick, Thorsten u.a.: Strukturelle und kriteriale Validität der literarästhetischen Urteilskompetenz. In: Zeitschrift für Pädagogik. Bd. 56, Beiheft. 2010. S. 165-174. S. 172.

1. Problemaufriss: Lesekompetenz und Literaturunterricht

zu beinhalten [scheint] als der Umgang mit anderen kontinuierlich und nichtkontinuierlich geschriebenen Texten«85 , und entwirft ein eigenes, kompetenzorientiertes und somit operationalisierbares wie empirisch evaluierbares Modell literarästhetischen Urteilens. Mit der Trennung der Ebenen des Erschließens zentraler Textinhalte, der Analyse formaler Spezifika und dem Erfassen historisch-kultureller Kontexte orientiert es sich aber weiterhin ausdrücklich an den drei Subskalen des PISA-Modells.86 Dies führt etwa dazu, dass auf der ersten Ebene Aufgaben zum rein inhaltlichen Verständnis des Textes gestellt werden – und so die Problematik der Trennung der Ebenen von Form und Inhalt (die beide ihrerseits wiederum nur in Korrelation zur dritten Ebene, den historisch-kulturellen Kontexten, zu denken sind) fortgeschrieben wird. Dies zeigt u.a. das folgende Aufgabenbeispiel zu einer kurzen Passage aus Rainer Maria Rilkes Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge: […] Daß ich es nicht lassen kann, bei offenem Fenster zu schlafen. Elektrische Bahnen rasen läutend durch meine Stube. Automobile gehen über mich hin. Eine Tür fällt zu. Irgendwo klirrt eine Scheibe herunter, ich höre ihre großen Scherben lachen, die kleinen Splitter kichern. Dann plötzlich dumpfer, eingeschlossener Lärm von der anderen Seite, innen im Hause. Jemand steigt die Treppe. Kommt, kommt unaufhörlich. Ist da, ist lange da, geht vorbei. Und wieder die Straße. Ein Mädchen kreischt: Ah tais-toi, je ne veux plus. Die Elektrische rennt ganz erregt heran, darüber fort, fort über alles. Jemand ruft. Leute laufen, überholen sich. Ein Hund bellt. Was für eine Erleichterung: ein Hund. Gegen Morgen kräht sogar ein Hahn, und das ist Wohltun ohne Grenzen. Dann schlafe ich plötzlich ein. Die folgende Aufgabe im Multiple-Choice-Format zielt vorrangig auf die Integration von Textinformationen ab: Wo befindet sich der Ich-Erzähler? Kreuze die richtige Antwort an. Nur eine Antwort ist richtig. o auf einem Bauernhof o in einer kleinen Stadt o in einer großen Stadt o in einem Dorf87 Die Aufgabe unterscheidet sich von möglichen Aufgabenstellungen zu Sachtexten in keiner Weise.88 Letztlich unterwirft sich das Projekt bereits mit seiner Leitfrage: »Wie 85 86

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Artelt/Schlagmüller: Der Umgang mit literarischen Texten als Teilkompetenz im Lesen? S. 188. Frederking, Volker, Thorsten Roick u. Lydia Steinhauer: ›Literarästhetische Urteilskompetenz‹ – Forschungsansatz und Zwischenergebnisse. In: Horst Bayrhuber u.a. (Hg.): Empirische Fundierung in den Fachdidaktiken. Münster: Waxmann 2011. S. 75-94. S. 83. Roick, Thorsten u.a.: Literarische Textverstehenskompetenz bei Schülerinnen und Schülern unterschiedlicher Schulformen. In: Cornelia Rosebrock u. Andrea Bertschi-Kaufmann (Hg.): Literalität erfassen: bildungspolitisch, kulturell, individuell. Weinheim, Basel: Beltz Juventa 2013. S. 69-84. S. 72. Vgl. zur Kritik an diesem Testformat resp. dieser Aufgabenstellung auch Schultz-Pernice, Florian: Die Literatur der Literaturdidaktik: Grundlegung und Entwurf einer literaturdidaktischen Objektkonstitution aus deutschdidaktischer Perspektive. Stuttgart: Metzler 2019. S. 134f.

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sind angesichts der Mehrdeutigkeit eines literarischen Textes eindeutige Aussagen – und nur diese sind empirisch brauchbar – möglich?«89 einem Anspruch, bei dem die Frage gestellt werden muss, ob er angesichts der Komplexität literarästhetischer Rezeptionsprozesse einlösbar ist bzw. dem Gegenstand noch gerecht wird.90 Auch der Modellierung »literarischer Lesekompetenz« von Gerhard Rupp und Silvia Gosewehr liegt ein Konzept zugrunde, das »einige ausgewählte Skalen literarischer Kompetenz sozusagen in das Leitraster der PISA-Dimensionen einzupassen«91 bestrebt ist – und sich deshalb weiter an der Unterteilung der drei Subskalen »Informationen ermitteln«, »Textbezogenes Interpretieren« und »Reflektieren und Bewerten« orientiert. Auch wenn dies ermöglicht, dass »die Kontrastivität informatorisches vs. literarisches Lesen« auf diesen Ebenen »deutlich herausgearbeitet werden kann«, so hat das Modell einen ganz erheblichen Nachteil, den die Autor_innen selbst einräumen: »[D]ie spezifischen Eigenheiten literarischer Kompetenz [werden] nicht vollständig eingebracht […].«92 Die oben dargestellten Grundproblematiken des PISA-Modells gehen so – ähnlich wie im LUK-Projekt – auf die von Rupp/Gosewehr skizzierte Konzeption über.

1.2.4.

Die Konturierung der Niveaustufen

Da die Modellierung der Niveaustufen außerhalb des Testmodells von PISA nur von geringer Relevanz für die Konturierung allgemeiner Lesekompetenz und insbesondere für die Fragestellung dieser Arbeit ist, soll darauf nur kurz eingegangen werden.93 Aufgrund unterschiedlicher Anforderungen und Abläufe beim Verstehen literarischer im Vergleich zu pragmatischen Texten gestalten sich auch die Schwierigkeitsstufen anders. Hierfür nur ein Beispiel: Im Kontext des PISA-Modells allgemeiner Lesekompetenz ist das »Erkennen des Hauptgedankens« in der Subskala »Textbezogenes Interpretieren« auf der untersten von fünf Stufen angesiedelt. Bei literarischen Texten setzte dies aber voraus, dass eine Fülle einzelner Beobachtungen (etwa zur Raumsemantik, zu verwendeten Motiven, zu Figurencharakteristiken, zu sprachlichen Mitteln) zusammengebündelt werden müssen, um zu einer in sich stimmigen Gesamtdeutung zu gelangen (die idealerweise auch noch ihre konstruktiven Bedingtheiten reflektiert). Für Schüler_innen und Studierende bildet dies oftmals die schwerste Aufgabe94 – und zudem eine, 89 90 91

92 93 94

Frederking/Roick/Steinhauer: ›Literarästhetische Urteilskompetenz‹ – Forschungsansatz und Zwischenergebnisse. S. 78. Vgl. kritisch hierzu etwa Mitterer: Das Fremde in der Literatur. Rupp, Gerhard u. Silvia Gosewehr: Lesen Schülerinnen und Schüler literarische Texte anders als Sachtexte? Zur Modellierung und Messung literarischer Lesekompetenz. In: Daniela A. Frickel, Clemens Kammler u. Gerhard Rupp: Literaturdidaktik im Zeichen von Kompetenzorientierung und Empirie. Perspektive und Probleme. Stuttgart: Fillibach 2012. S. 287-311. S. 294. Ebd. Vgl. zu einer grundlegenden Kritik an den von PISA entwickelten Schwierigkeitsparametern und ihrer Zuweisung zu verschiedenen Kompetenzstufen Bremerich-Vos/Wieler: Zur Einführung. S. 13f. Vgl. Fingerhut, Karlheinz: Literaturunterricht über Kompetenzmodelle organisieren? Zu Gedichten von Schiller und Eichendorff (9./10. Schuljahr). In: Clemens Kammler (Hg.): Literarische Kompetenzen – Standards im Literaturunterricht. Modelle für die Primar- und Sekundarstufe. 2. Auflage. Seelze: Klett Kallmeyer 2012. S. 134-156. S. 153.

1. Problemaufriss: Lesekompetenz und Literaturunterricht

die bei vielen literarischen Texten auch gar nicht erfüllbar ist, weil sie sich dieser Reduzierung auf einen »Hauptgedanken« schlicht verweigern oder eine Bündelung auf eine Gesamtaussage zwar möglich machen, diese Lektüre aber letztlich auch nur eine unter möglichen anderen darstellt. Weiterhin wird sich eine exakte Zuordnung zu Schwierigkeitsstufen bei literarischen Texten auch deshalb kaum leisten lassen, da hier je nach Text ganz unterschiedliche Dinge eine Herausforderung für die Rezipient_innen bedeuten können. Die Lektüre eines Barock-Gedichts, bei der vielleicht das Benennen eines »Hauptgedankens« in der Tat deshalb recht leicht fallen kann, weil dieser oft explizit an herausgehobener Stelle in Form der Propositio benannt und anhand diverser Exempla den Leser_innen immer wieder vor Augen geführt wird, dürfte auf der Ebene des genauen Erfassens von Einzelinformationen – sei es aufgrund der historischen Differenz zum heutigen Sprachgebrauch oder unkonventioneller Bilder – aber Schwierigkeiten bereiten. Eine Erzählung Franz Kafkas oder ein expressionistisches Gedicht hingegen wird bei der Darstellung von Einzelinformationen vielleicht weniger Probleme bereiten, umso mehr dafür aber beim Erkennen eines möglichen »Hauptgedankens«. Auf Basis dieser Ergebnisse muss die Annahme Baurmann/Kammlers, nach der kognitionstheoretische Modelle von Lesekompetenz, wie sie »den großen empirischen Bildungsstudien (PISA, IGLU, DESI) zugrunde liegen«, auch für literaturdidaktische Zwecke nutzbar sind95 , relativiert werden. Hilfreich für die Literaturdidaktik können diese Modelle zwar insofern werden, als es auf ihrer Grundlage möglich wird, die verschiedenen Prozesse, die beim Textverstehen ablaufen, genauer zu beschreiben und nachzuvollziehen. Aber sowohl das Zusammenspiel als auch die Ausrichtung dieser Prozesse und der Rückgriff bzw. Umgang mit Vorwissen unterliegen bei der Rezeption literarischer Texte erheblichen Veränderungen, sollen diese angemessen zur Wirkung gelangen. Was geschieht, wenn dies keine Berücksichtigung findet, zeigt ein Blick auf ein Aufgabenbeispiel der ersten PISA-Studie.

1.3.

Exemplarische Analyse der PISA-Testaufgabe »Das Geschenk«

Die auf den dargelegten Ebenen der Funktionsbestimmung literarischen Lesens, der Annahmen über den Lektüreprozess mit der Art und Weise der Ausbildung von mentalen Repräsentationen längerer Texte sowie der Konturierung von Lesekompetenzen nachweisbaren Weichenstellungen des PISA-Lesekompetenzmodelles führen zu Aufgabenstellungen und Lösungsvorgaben, die das ästhetische Potential fiktionaler Texte nur ungenügend in den Blick nehmen. Die Herangehensweise der Aufgaben zu literarischen Texten unterscheidet sich nicht grundlegend von der zu Sachtexten – und somit wird von der Tatsache, dass »poetische Kompetenz an sich nicht eine höhere 95

»Sie können beschreiben, welche mentalen Prozesse beim Textverstehen auf ›lokaler‹ oder ›globaler‹ Ebene ablaufen […] – einschließlich der besonderen Anforderungen, die das Verstehen literarischer Texte häufig stellt, die sich durch systematische Unbestimmtheit, Indirektheit und Mehrdeutigkeit auszeichnen.« Baurmann/Kammler: Interpretationsaufgaben stellen – Interpretationen bewerten. S. 5f.

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Stufe von Lese-Kompetenz [sic!] bezeichnet, sondern prinzipiell etwas anderes ist«96 , abgesehen. Aus der leistungsdiagnostischen Ausrichtung an den Kompetenzstufen, die bestimmten Antworten zugeordnet werden97 , resultieren bei der Konstruktion der Aufgaben und Korrekturbögen immer wieder nicht legitimierbare Vereindeutigungen, die interne semantische Strukturen und Verweisungszusammenhänge nicht angemessen in den Blick geraten lassen: In der PISA-Studie wird davon ausgegangen, dass in schwierigen Fällen immer eine bestimmte Lösung herbeizuführen ist. Eine spezifische Kompetenz literarischen Verstehens ist [aber] die Erwartung und kognitive Bewältigung systematischer Mehrdeutigkeit, da viele literarische Texte durch die Konkurrenz von Aussagen, Aussagenverknüpfungen und provozierten Inferenzen eine Pluralität der Verstehensmöglichkeiten eröffnen.98 Eine dem literarischen Gegenstand angemessene Arbeit mit »konkurrierende[n] Informationen«99 lässt sich innerhalb dieses Lesekompetenzmodells nicht leisten. Diese Problematik kann anhand einer exemplarischen Analyse einer Aufgabe aus dem ersten Durchlauf im Jahr 2000 nachgewiesen werden. Der Text und das dazugehörige Aufgabenset sind zitiert nach einer von der internationalen PISA-Projektleitung zur Veröffentlichung freigegebenen PDF-Datei auf den Seiten des Max-Planck-Instituts Berlin.100 DAS GESCHENK Wie viele Tage, fragte sie sich, hatte sie wohl so dagesessen und dem kalten braunen Wasser zugesehen, das das Ufer Zentimeter um Zentimeter verschlang. Sie konnte sich nur schwach an den Beginn des Regens erinnern, der durch den Sumpf vom Süden her kam und gegen die Außenschale ihres Hauses peitschte. Dann begann der Fluss selbst langsam zu steigen, stoppte endlich, nur um noch stärker anzusteigen. Stunde 96

Wintersteiner, Werner: Wir sind, was wir tun. Poetisches Verstehen als fachdidaktische Herausforderung. In: Iris Winkler, Nicole Masanek u. Ulf Abraham (Hg.): Poetisches Verstehen. Literaturdidaktische Positionen – empirische Forschung – Projekte aus dem Deutschunterricht. Baltmannsweiler: Schneider 2010. S. 23-36. S. 27. 97 Vgl. ebd. 98 Zabka: Typische Operationen literarischen Verstehens. S. 83. Ergänzung C. B. 99 Ebd. S. 82. 100 Vgl. zu den Aufgaben und der Textgrundlage: https://www.mpib-berlin.mpg.de/Pisa/ Beispielaufgaben_Lesen.PDF (Abrufdatum 27.11.2019) S. 29-35 der internen Seitenzählung des Dokuments. Autorin ist Louis Dollarhide. Die Quelle der im englischen Original The Gift betitelten Erzählung (Mississippi Writers: Reflections of Childhood and Youth. Bd. 1. Hg. v. Dorothy Abbot. University Press of Mississippi 1985) wird allerdings nur in der Publikation Lesen kann die Welt verändern. Leistung und Engagement im Ländervergleich – Ergebnisse von PISA 2000 (Irwin Kirsch u.a.: Lesen kann die Welt verändern: Leistung und Engagement im Ländervergleich: Ergebnisse von PISA 2000. Paris: OECD 2002 S. 59. www.oecd.org/edu/school/programmeforinternationalstudentassessmentpisa/33690936.pdf [Abrufdatum 30.10.2017]) erwähnt und war wohl nicht im ursprünglichen Aufgabenset enthalten. Vgl. Birthe Dörksen: Lernziel »Textverstehen« – Diagnose der Lesekompetenz und Vorschläge zu ihrer Förderung in einem E-Kurs des 9. Jahrgangs einer Gesamtschule. In: Juliane Köster, Will Lütgert u. Jürgen Creutzburg (Hg.): Aufgabenkultur und Lesekompetenz. Deutschdidaktische Positionen. Frankfurt a.M.: Peter Lang 2004. S. 101.

1. Problemaufriss: Lesekompetenz und Literaturunterricht

um Stunde füllte er Buchten und Gräben und ergoss sich in tiefer gelegene Stellen. In der Nacht, während sie schlief, bemächtigte er sich der Straße und umzingelte sie, so dass sie allein dasaß: Ihr Boot war verschwunden, das Haus lag wie ein Stück Treibholz auf dem Steilufer. Jetzt leckten die Wassermassen bereits an den geteerten Planken der Stützpfeiler. Und noch immer stiegen sie. So weit sie blicken konnte, bis zu den Baumkronen, wo das andere Ufer gewesen war, war der Sumpf nur noch eine leere, regenverschleierte See, in deren Weite sich der Fluss irgendwo verlor. Ihr Haus war mit seinem schiffsähnlichen Unterbau eigens gebaut worden, um einer solchen Flut standzuhalten, falls je eine käme, doch jetzt war es alt. Vielleicht waren die unteren Planken teilweise vermodert. Möglicherweise würde das Tau, mit dem das Haus an der großen immergrünen Eiche festgemacht war, reißen und sie stromabwärts schießen lassen, wohin bereits ihr Boot verschwunden war. Niemand konnte jetzt noch kommen. Sie könnte schreien, aber es wäre sinnlos, niemand würde sie hören. In der Weite des Sumpfes kämpften andere um das wenige, was zu retten war, vielleicht sogar um ihr Leben. Sie hatte ein ganzes Haus vorbeitreiben sehen, so still, dass sie an eine Begräbnisfeier erinnert wurde. Als sie es sah, glaubte sie zu wissen, wessen Haus es war. Es war schmerzlich, es treiben zu sehen, doch seine Besitzer hatten sich wohl an einen höher gelegenen Ort gerettet. Später, als der Regen und die Dunkelheit stärker wurden, hatte sie flussaufwärts einen Panter brüllen gehört. Plötzlich schien das Haus um sie herum wie ein lebendiges Wesen zu erzittern. Sie griff nach einer Lampe, um sie aufzufangen, als sie von dem Tisch neben ihrem Bett glitt, und stellte sie zwischen ihre Füße, um sie aufrecht zu halten. Dann, knarrend und ächzend vor Anstrengung, kämpfte sich das Haus vom Lehm frei, bewegte sich schwimmend, tanzte wie ein Korken auf und ab und wurde langsam von der Strömung des Flusses erfasst. Sie klammerte sich an die Bettkante. Hin und her schwankend bewegte sich das Haus bis zur vollen Länge seiner Vertäuung. Es gab einen Ruck, dann einen Klagelaut des alten Holzes und schließlich ein Innehalten. Langsam gab die Strömung es frei und ließ es zurückschaukeln und über seinen alten Ruheplatz schleifen. Sie hielt den Atem an und saß lange Zeit still und fühlte die langsamen, pendelartigen Schwingungen. Die Dunkelheit durchdrang den unaufhörlichen Regen, und mit dem Kopf auf dem Arm und sich an der Bettkante festhaltend, schlief sie ein. Irgendwann in der Nacht weckte sie der Schrei, ein Laut so qualvoll, dass sie auf den Beinen war, noch bevor sie wach war. In der Dunkelheit stolperte sie gegen das Bett. Er kam von dort draußen, vom Fluss. Sie konnte hören, wie sich etwas bewegte, etwas Großes, das ein kratzendes, streichendes Geräusch machte. Vielleicht war es ein anderes Haus. Dann stieß es an, nicht frontal, sondern längsseits streifend und gleitend. Es war ein Baum. Sie lauschte, wie die Äste und Blätter freikamen und weiter stromabwärts trieben, so dass nur noch der Regen und das Schwappen der Flut zurückblieben, ein so beständiges Geräusch, dass es Teil der Stille zu sein schien. Zusammengekauert auf dem Bett war sie fast wieder eingeschlafen, als ein weiterer Schrei ertönte, diesmal so nah, dass es im Zimmer hätte sein können. Sie starrte in die Dunkelheit und bewegte sich vorsichtig auf ihrem Bett nach hinten, bis ihre Hand die kalte Form des Gewehres ergriff. Sie kauerte auf dem Kissen und hielt das Gewehr auf ihren Knien. »Wer ist da?« rief sie.

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Die Antwort war ein neuerlicher Schrei, doch dieses Mal weniger gellend, eher müde klingend, dann brach wieder leere Stille herein. Sie wich auf dem Bett weiter zurück. Was immer dort war, sie konnte hören, wie es sich auf der Veranda bewegte. Planken knarrten, und sie konnte Geräusche von umfallenden Gegenständen ausmachen. Da war ein Kratzen an der Wand, als ob es sich hereinscharren wollte. Jetzt wusste sie, was es war, eine große Katze, die der entwurzelte Baum, der vorbeigetrieben war, hier abgesetzt hatte. Sie war mit der Flut gekommen – ein Geschenk. Unbewusst presste sie ihre Hand an das Gesicht und an ihren zugeschnürten Hals. Das Gewehr schaukelte auf ihren Knien. Sie hatte noch nie in ihrem Leben einen Panter gesehen. Man hatte ihr von Pantern erzählt, und sie hatte ihre klagenden Schreie in der Ferne gehört. Die Katze kratzte wieder an der Wand und rüttelte am Fenster neben der Tür. Solange sie das Fenster bewachte und die Katze zwischen Wand und Wasser eingeschlossen war, wie in einem Käfig, brauchte sie sich keine Sorgen zu machen. Draußen verharrte das Tier, um dann mit seinen Krallen über das verrostete Fliegengitter zu kratzen. Ab und zu wimmerte und knurrte es. Als endlich das Licht durchdrang, gefiltert durch den Regen wie eine andere Art Dunkelheit, saß sie noch immer steif und durchfroren auf dem Bett. Ihre Arme, die an das Rudern auf dem Fluss gewöhnt waren, schmerzten vom bewegungslosen Festhalten des Gewehres. Aus Angst, irgendein Laut könnte der Katze Kraft verleihen, hatte sie sich kaum zu rühren gewagt. Starr dasitzend, schwankte sie mit den Bewegungen des Hauses. Es regnete noch immer, als wollte es nie aufhören. Durch das graue Licht konnte sie schließlich die von Regentropfen gezeichnete Flut und in weiter Ferne die nebelhafte Form überfluteter Baumkronen erkennen. Die Katze bewegte sich jetzt nicht. Vielleicht war sie gar nicht mehr da. Sie legte das Gewehr beiseite, glitt vom Bett und bewegte sich lautlos zum Fenster. Die Katze war noch immer dort, lag zusammengekauert am Rand der Veranda und starrte zur Eiche hinauf, an der das Haus vertäut war, als ob sie ihre Chancen abwägen wollte, auf einen herabhängenden Ast zu springen. Sie wirkte nun nicht mehr so angsteinflößend, da sie zu erkennen war mit ihrem rauhen, stachelig verklebten Fell, ihren eingefallenen Flanken und den hervortretenden Rippen. Sie wäre leicht zu erschießen, wie sie dort saß mit ihrem langen Schwanz, der hin und her wedelte. Die Frau wollte gerade zurückgehen, um das Gewehr zu holen, als die Katze sich umwandte. Ohne Warnung, ohne sich zu ducken oder die Muskeln anzuspannen, sprang sie gegen das Fenster und zerschmetterte eine Scheibe. Die Frau schreckte zurück, unterdrückte einen Schrei, nahm das Gewehr auf und feuerte durch das Fenster. Sie konnte den Panter jetzt nicht sehen, aber sie hatte ihn verfehlt. Er begann wieder umherzulaufen. Sie konnte seinen Kopf und die Rundung seines Rückens erkennen, wenn er am Fenster vorbeikam. Zitternd zog sie sich auf das Bett zurück und legte sich hin. Das stetige einschläfernde Geräusch des Flusses und des Regens, die durchdringende Kälte ließen ihre Entschlossenheit schwinden. Sie beobachtete das Fenster und hielt das Gewehr bereit. Nach langem Warten bewegte sie sich wieder, um nachzusehen. Der Panter war eingeschlafen, mit dem Kopf auf den Tatzen, wie eine Hauskatze. Zum ersten Mal seit der Regen begonnen hatte, wollte sie weinen, um sich selbst, um all die Menschen, um alles, was in der Flut versunken war. Sie ließ sich auf das Bett gleiten und zog die Decke um ihre Schultern. Sie hätte weggehen sollen, als sie noch konnte, als die Straßen noch of-

1. Problemaufriss: Lesekompetenz und Literaturunterricht

fen waren oder bevor ihr Boot fortgeschwemmt wurde. Während sie sich so mit dem Schaukeln des Hauses hin und her wiegte, erinnerte sie ein stechender Schmerz in ihrem Magen daran, dass sie nichts gegessen hatte. Sie wusste nicht, wie lange schon. Sie war genauso ausgehungert wie die Katze. Sie bewegte sich vorsichtig in die Küche und machte mit den übrig gebliebenen Holzscheiten Feuer. Wenn die Flut anhielt, würde sie den Stuhl und vielleicht sogar den Tisch verbrennen müssen. Sie nahm den Rest eines geräucherten Schinkens von der Decke, schnitt dicke Scheiben von dem rötlich braunen Fleisch ab und legte sie in eine Bratpfanne. Der Geruch des gebratenen Fleisches machte sie benommen. Es waren noch trockene Brötchen da vom letzten Mal, als sie gekocht hatte, und sie konnte sich Kaffee machen. Wasser gab es ja reichlich. Während sie ihr Essen zubereitete, vergaß sie die Katze beinahe, bis diese wimmerte. Sie war ebenfalls hungrig. »Lass mich essen,« rief die Frau, »und dann kümmere ich mich um dich«. Und sie lachte leise. Als sie den Rest des Schinkens wieder an den Nagel hängte, gab die Katze ein tiefes, kehliges Knurren von sich, das ihre Hand erzittern ließ. Nachdem sie gegessen hatte, ging sie wieder zum Bett und nahm das Gewehr in die Hand. Das Haus war mittlerweile so hoch gestiegen, dass es nicht mehr über das Steilufer schrammte, wenn es vom Fluss weg trieb. Vom Essen war ihr warm geworden. Sie könnte die Katze loswerden, solange noch etwas Licht durch den Regen kam. Sie kroch langsam zum Fenster. Die Katze war noch dort, miaute und begann, auf der Veranda umherzulaufen. Die Frau starrte sie lange Zeit furchtlos an. Dann, ohne zu überlegen, was sie da tat, legte sie das Gewehr beiseite und ging um die Bettkante herum zur Küche. Hinter ihr bewegte sich die Katze gereizt auf und ab. Sie nahm den restlichen Schinken herunter, bewegte sich über den schwankenden Boden zurück zum Fenster und schob das Fleisch durch die zerbrochene Scheibe. Auf der anderen Seite ertönte ein hungriges Knurren, und eine Art Schockwelle übertrug sich von dem Tier auf sie. Verblüfft über ihr Tun, zog sie sich zum Bett zurück. Sie konnte hören, wie der Panter das Fleisch zerriss. Das Haus schaukelte um sie herum. Als sie das nächste Mal erwachte, wusste sie sofort, dass alles anders war. Der Regen hatte aufgehört. Sie versuchte, die Bewegung des Hauses zu spüren, aber es schwankte nicht mehr auf der Flut. Als sie die Tür aufzog, sah sie durch das zerfetzte Fliegengitter eine veränderte Welt. Das Haus ruhte auf dem Steilufer, auf dem es immer gestanden hatte. Unter ihr toste der Fluss noch immer als reißender Strom, aber er bedeckte nicht mehr die wenigen Meter zwischen dem Haus und der Eiche. Die Katze war verschwunden. Von der Veranda zu der Eiche und zweifellos in den Sumpf hinein führten Spuren, undeutlich und bereits im weichen Schlamm verschwindend. Und dort auf der Veranda lag, weißgenagt, was von dem Schinken übrig war. Die Erzählung durchzieht eine semantische Opposition von Natur und Kultur. Auf Seiten der Natur finden sich folgende Elemente: der Sumpf, der das Haus im Süden umgibt und zur »leere[n], regenverschleierte[n] See« wird; der von dort kommende Regen, der gegen das Haus »peitschte«; die Wassermassen des Flusses, an dem das Haus liegt, der über alle Begrenzungen hinwegströmt, sich der Straße »bemächtigte« und die Frau »umzingelte«; die Dunkelheit der Szenerie; der aus den Sümpfen mit den Wasserfluten auf einem »entwurzelte[n] Baum« ›herbeigespülte‹ Panther. Auf Seiten der Kultur sind

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folgende Elemente zu verorten: das auf Stützpfeilern in Form »geteerter Planken«, die »vielleicht […] teilweise vermodert« sind, gebaute Haus; das Tau, mit dem es als Schutz vor einer möglichen Flut zusätzlich an einer Eiche gesichert ist; das Gewehr, zu dem die Frau zunächst greift, um die Bedrohung durch den Panther abzuwehren; das Fliegengitter, das der Panther später »zerfetzte«; das Fenster, dessen Scheibe die Katze im Sprung »zerschmetterte«. Der Text setzt beide Bereiche, Natur und Kultur, in der Form in einen Bezug zueinander, dass er eine Szenerie zeichnet, in der sich kulturelle Schutzmechanismen angesichts der Naturgewalten auflösen und die Frau in eine Isolation treiben, in der sie »umzingelt«, isoliert und ohne Kontakt zur (kulturell codierten) Außenwelt ist. Dies lässt sich auf verschiedenen Ebenen nachvollziehen: Mit den Fluten löst sich das Haus zunehmend aus seinen Verankerungen, die Sicherheit gebenden kulturellen Feste kommen buchstäblich ins Wanken. Deutlich im Text markiert sind die sich auflösenden technischen Schutzvorrichtungen, wie die »vermodert[en]« »unteren Planken« des Hauses mit dem »schiffsähnlichen Unterbau«, das vor dem Davontreiben in der Flut nun allein noch ein Tau schützt, welches bezeichnenderweise an einem Naturobjekt, und zwar am intakten Holz »der großen immergrünen Eiche festgemacht war« und in deutlichem Kontrast zu den »vermoderten Planken« des »alten Holzes« des Hauses steht. Vor der Kulisse der sich öffnenden »Weite des Sumpfes« beginnt fortan ein Kampf ums Überleben, ein struggle for life. Über die Personifikationen in den Begriffen des Verschlingens und Umzingelns werden Wasser und Panther miteinander verbunden, beide Naturgewalten drohen von außen in den geschützten Raum des Innen einzudringen. Dabei folgt das dargestellte Geschehen einem dramaturgischen Handlungsablauf: Ausgehend von einer sukzessiven Verschärfung einer Krisensituation, verkörpert durch das Ansteigen der Fluten, das hierdurch herbeigetragene und gestrandete Raubtier und dessen Versuche, in den Wohnraum der Frau einzudringen, kommt es zu dem ersten (scheiternden) Versuch, die Situation durch Schüsse auf den Panther zu lösen. Auffällig ist, dass die Raubkatze bereits hier mit »ihrem rauen, stachelig verklebten Fell, ihren eingefallenen Flanken und den hervortretenden Rippen« als Opfer der Flut dargestellt wird und somit in eine Nähe zur Frau rückt. Dies führt der Text im weiteren Verlauf immer weiter aus: Es kommt zunächst zu einer ersten Wendung des Geschehens: Es hat den Anschein, als würden Frau und Panther durch das »stetige einschläfernde Geräusch des Flusses und des Regens« zur Ruhe kommen: Während es von der Frau heißt, dass »ihre Entschlossenheit schwinde[t]«, schläft der immer häufiger als »Katze« bezeichnete Panther ein. Seine Position (»mit dem Kopf auf den Tatzen«) bildet nicht nur ihre eigene Schlafstellung, von der zu Beginn der Erzählung die Rede ist, nach (»mit dem Kopf auf dem Arm […] schlief sie ein«), sie lässt in der Beobachtung der Frau zudem Assoziationen an eine »Hauskatze« aufkommen, was in ihr wiederum folgenden Impuls auslöst: »Zum ersten Mal seit der Regen begonnen hatte, wollte sie weinen, um sich selbst, um all die Menschen, um alles, was in der Flut versunken war.« Der Text setzt im folgenden Abschnitt dann Panther und Frau explizit in eine Analogie, womit zugleich die Bereiche Kultur und Natur aufeinander bezogen werden: »Sie war genauso ausgehungert wie die Katze.« Zugleich ist hinsichtlich des auf den Fluten treibenden Hauses, in dem die Frau zuvor »schwankte«,

1. Problemaufriss: Lesekompetenz und Literaturunterricht

nun davon die Rede, dass sie sich »mit dem Schaukeln des Hauses hin und her wiegte« – die Abwehr gegen die zuvor bedrohlich erscheinenden Naturgewalten weicht einem Prozess, in dem die Frau sich in diese einfindet. Dies dient zur Vorbereitung der zweiten Konfliktlösung im Text, die Erfolg haben wird: Nachdem die Frau sich selbst vom »Rest eines geräucherten Schinkens« eine Mahlzeit zubereitete, legt sie – »ohne zu überlegen, was sie da tat« – das Gewehr beiseite und greift stattdessen zum »restlichen Schinken«, den sie dem Panther »durch die zerbrochene Scheibe« auf die Veranda des Hauses legt. Selbst »[v]erblüfft über ihr Tun«, legt sie sich in ihr Bett und schläft ein – trotz der weiter latent anhaltenden Bedrohungssituation durch Flut und Panther. Mit dem Erwachen ist schließlich sowohl die Ausnahmesituation als auch deren Verkörperung durch das Raubtier verschwunden: Die Frau »wusste sofort, dass alles anders war. Der Regen hatte aufgehört. Sie versuchte, die Bewegung des Hauses zu spüren, aber es schwankte nicht mehr auf der Flut.« Als Reminiszenz an das überwundene Geschehen richtet sich der Blick auf die beruhigte Natur »durch das zerfetzte Fliegengitter« auf »eine veränderte Welt«. Die »im weichen Schlamm« bereits »verschwinden[den]« Spuren des Panthers führen in den Raum, aus dem er kam – »in den Sumpf hinein«; zurück auf der Veranda bleibt einzig »weiß genagt, was von dem Schinken übrig war.« Die Überschrift des Textes »Das Geschenk« lässt sich (auch) auf diesen Schinken bzw. das, was von ihm übrig bleibt, beziehen und greift hierin weiter als die Opposition der beiden die Lektüre steuernden Felder ›Natur‹ und ›Kultur‹. Der Titel ist jedoch mehrfach konnotiert und neben dem Schinkenknochen, der nach dem Rückgang der Fluten noch als letzte Reminiszenz an die tödliche Bedrohung erinnert, zugleich auf den Panther zu beziehen, was der Text expressis verbis auch so formuliert: »Sie [die große Katze] war mit der Flut gekommen – ein Geschenk.« In diesem Kontext muss der Ausdruck bei den Leser_innen allerdings zunächst Erstaunen hervorrufen: Denn der positiv konnotierte Begriff des Geschenks steht der Bedrohung entgegen, die der Panther in der konkreten Situation für die Frau, die namenlos und kaum individualisiert bleibt, bedeutet. Ausgehend von dieser Frage, weshalb der Text dennoch eine solche Überschrift aufweist, lassen sich erste Lektüren des Gesamttextes unternehmen, die in verschiedene Richtungen gehen können: Als Bewältigung einer Situation, in der das Kulturwesen Mensch mit Kräften konfrontiert ist, die aus dem kulturellen Raum ausgegliedert oder verdrängt sind (der Sumpf; das überhand nehmende, alles verschlingende Wasser; der entwurzelte Baum), aber nicht im Kampf besiegt werden können, sondern am Ende angenommen werden müssen; als Demonstration, wie sehr der Mensch letztlich diesen Kräften unterlegen ist und sie nicht als ›Feind‹ zu überwinden vermag; als Hinweis auf die Leben spendende und zugleich Leben bedrohende Kraft des Wassers resp. der Natur; als Verweis auf eine existentielle Isolation und Zurückgeworfenheit auf das eigene Ich des Menschen abseits aller sozio-kulturellen Bindungen. Der Titel der Erzählung wäre so variabel deutbar, als letztlich begrüßenswerte Ermöglichung persönlicher Weiterentwicklung durch die Konfrontation mit bisher verdrängten Kräften und Elementen, als Hinweis auf das Geschenk des Lebens selbst oder als Ausdruck einer Überwindung der Bedrohung durch ein Handeln, das sich auf das Andere (das der aus den Sümpfen kommende Panther repräsentiert) einlässt und es am Ende nicht im Kampf abwehrt.

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Von all dem, sowohl den ausgeführten analytischen Beobachtungen als auch den verschiedenartigen interpretatorischen Deutungen des Textes oder möglichen Gedanken, die sich die Schüler_innen ausgehend hiervon mit Blick auf ihre eigene Existenz machen könnten, findet sich in den Aufgaben und Korrekturhinweisen der PISA-Studie jedoch kaum etwas wieder. Der Text wird hier vorwiegend auf der Figuren- und Handlungsebene inhaltlich ausgewertet und in einer letztlich stark verkürzenden, psychologisierenden Perspektive daraufhin gelesen, dass er beispielhaft ein mitfühlendes Handeln gegenüber der hilflosen Kreatur ausgestalte. Der Fragenkatalog hat folgendes Aussehen:101 Beziehe dich auf die Erzählung »Das Geschenk« auf den vorigen drei Seiten, um die folgenden Fragen zu beantworten. (Beachte dabei, dass am Rand des Textes Zeilennummern angegeben sind, die dir helfen sollen, die Textstellen zu finden, auf die sich die Fragen beziehen.) Frage 31: GESCHENK

Stütze dich auf Informationen aus der Erzählung, um zu zeigen, wie beide Personen ihren Standpunkt rechtfertigen können. Person 1 ………………………………………………………………………………. ……………………………………………………………………………………………… Person 2 ………………………………………………………………………………. ………………………………………………………………………………………………

101

Vgl. die Seiten 33-35 der internen Seitenzählung des bereits zitierten PDF-Dokuments auf der Website des Max-Plank-Instituts Berlin: https://www.mpib-berlin.mpg.de/Pisa/Beispielaufgaben_ Lesen.PDF (Abrufdatum 30.10.2017).

1. Problemaufriss: Lesekompetenz und Literaturunterricht

Frage 32: GESCHENK In welcher Situation befindet sich die Frau zu Beginn der Erzählung? A Sie ist zu schwach, um das Haus zu verlassen, nachdem sie tagelang nichts gegessen hat. B Sie verteidigt sich gegen ein wildes Tier. C Ihr Haus ist von Hochwasser umgeben. D Ein über die Ufer getretener Fluss hat ihr Haus fortgeschwemmt. Frage 33: GESCHENK Hier einige frühe Hinweise auf den Panter in der Erzählung: »weckte sie der Schrei, ein Laut so qualvoll …« (Zeile 40) »Die Antwort war ein neuerlicher Schrei, doch dieses Mal weniger gellend, eher müde klingend, …« (Zeilen 53-54) »… sie hatte ihre klagenden Schreie in der Ferne gehört.« (Zeilen 63-64) Wenn du bedenkst, wie die Geschichte weitergeht, weshalb hat deiner Meinung nach der Autor diese Beschreibungen zur Einführung des Panters gewählt? ……………………………………………………………………………………………… ……………………………………………………………………………………………… ……………………………………………………………………………………………… Frage 34: GESCHENK »Dann, knarrend und ächzend vor Anstrengung, kämpfte sich das Haus vom Lehm frei …« (Zeilen 29-30) Was geschah mit dem Haus in diesem Teil der Erzählung? A Es fiel auseinander. B Es begann zu schwimmen. C Es stieß mit der Eiche zusammen. D Es sank auf den Grund des Flusses. Frage 35: GESCHENK Was war wohl laut Erzählung der Grund dafür, dass die Frau den Panter gefüttert hat? ……………………………………………………………………………………………… ……………………………………………………………………………………………… ……………………………………………………………………………………………… Frage 36: GESCHENK Wenn die Frau sagt, »dann kümmere ich mich um dich« (Zeilen 114-115 ) meint sie, dass sie: A sicher ist, dass die Katze sie nicht angreift. B versucht, die Katze zu erschrecken. C vorhat, die Katze zu erschießen. D die Katze füttern will. Frage 37: GESCHENK Findest du, dass der letzte Satz der Erzählung »Das Geschenk« ein passendes Ende ist? Erkläre deine Antwort und mache dabei deutlich, wie nach deinem Verständnis der letzte Satz mit dem Sinn der Geschichte zusammenhängt. ……………………………………………………………………………………………… ……………………………………………………………………………………………… ………………………………………………………………………………………………

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Gleich die erste Aufgabe führt auf eine Spur, die der Literarizität des Textes nicht gerecht zu werden vermag und sogar auf der inhaltlichen Handlungsebene problematisch ist. Der Dialog der zwei Schüler_innen suggeriert, dass beide Aussagen am Text verifiziert werden können – dies erwartet auch der Korrekturbogen. Ina Karg merkt hierzu kritisch an: [I]n der Tat können erzählerische Details, so man sie aus dem Kontext löst und für sich nimmt, den genannten Eigenschaften der Protagonistin zugeordnet werden. Denn in einer Phase des erzählten Geschehens greift sie zum Gewehr, in einer anderen wirft sie dem Tier den Schinken hin, von dem sie selbst kurz zuvor noch gegessen hat. Doch ›ist‹ die Frau damit weder herzlos noch mitleidig. Die Extremsituation, in der sie sich befindet, lässt erkennen und – wenn man sich auf die Handlungsebene begeben will – verstehen, dass das eine wie das andere Handeln auf dieselbe Befindlichkeit zurückzuführen ist. In einer Gefahrenlage höchster Brisanz ist Konfusion bei einem Menschen nichts Außergewöhnliches. Als Erzählmotiv genutzt trägt dies zur Konstitution einer spannenden Geschichte bei. Davon ist jedoch in der Aufgabe, die den Probanden vorgelegt wird, nichts zu spüren.102 Zu ergänzen ist, dass ein weiteres Handlungsmotiv, das die Erzählung unmittelbar nahelegt, nämlich Angst, gänzlich fehlt103 und dass die genannten Alternativen zudem vom Gesamtkonstrukt der Erzählung abgelöst werden. So wird nicht nur deren spannungssteigernde Funktion ausgeblendet, auch die Entwicklung der Figur und deren Funktion geraten nicht in den Blick. Zudem werden die Probanden auf eine wenig ertragreiche Ebene von spekulativer Figurenpsychologie gelotst, die einem Verständnis literarischer Textstrukturen im Weiteren eher hinderlich als förderlich sein dürfte, insbesondere weil der Blick nicht auf die literarische Gestaltung der Figur zurückgelenkt wird. Dass es sich dabei nicht um eine Ungeschicklichkeit oder ein Versehen handelt, sondern hierhinter ›Methode‹ zu vermuten ist, zeigt der weitere Verlauf des Aufgabensets. Frage 32 testet das Verstehen einzelner Textinformationen der Handlungsexposition in nachvollziehbarer Art und Weise, ohne dabei das literarisch-ästhetisches Potential in den Blick zu nehmen bzw. nehmen zu wollen. Fraglich bleibt zudem, warum dies der Diskussion möglicher Motive im Handeln der Protagonistin nachgeordnet bleibt.104 Ähnliches gilt für Frage 34.

102 Karg, Ina: …the ability to read between the lines… (OECD 2002, S. 11). Einige Anmerkungen zum Leseverstehenstest der PISA-Studie. In: Ulf Abraham u.a. (Hg.): Deutschdidaktik und Deutschunterricht nach PISA. Freiburg i.Br.: Fillibach 2003. S. 106-120. S. 108. 103 Vgl. Kämper-van den Boogaart, Michael: PISA und die Interpretationsrituale des Deutschunterrichts. In: ders. (Hg.): Deutschunterricht nach der PISA-Studie. Reaktionen der Deutschdidaktik. Frankfurt a.M.: Peter Lang 2004. S. 59-82. S. 72. 104 Vgl. ebd. S. 73.

1. Problemaufriss: Lesekompetenz und Literaturunterricht

Hinsichtlich von Frage 33105 weist Ina Karg auf eine »ähnliche Verkennung von textlicher Qualität des Aufgabenstamms« wie schon in Frage 31 hin: Eine »Einführung« des Panthers erfolge nämlich bereits zuvor, und zwar an der Stelle, wo die Frau einen Panther »flussaufwärts […] brüllen gehört« hat. Offen bleibt, ob es sich um dasselbe Tier handelt, und so erschließt sich die Funktion dieses Textelements auch und vor allem unter Fokussierung des Spannungsaufbaus.106 Dies blendet das PISA-Aufgabenset aber als ästhetisches Gestaltungsmerkmal konsequent aus. Bei einem Blick auf den Erwartungshorizont dieser Aufgabe zeigt sich, dass eine Antwort, die genau hierauf Bezug nimmt, als nur »teilweise gelöst« gewertet wird.107 Unter »vollständig gelöst« firmieren hingegen Antworten, die den Pfad einer Lektüre von spekulativer Figurenpsychologie fortsetzen: Bringt zum Ausdruck, dass - die zitierten Beschreibungen den Panther mit der Frau (oder den Menschen allgemein) im Leiden vereinen; ODER - die zitierten Beschreibungen den Leser auf das spätere mitfühlende Verhalten gegenüber dem Panther vorbereiten; ODER - der Panther als Objekt von Mitgefühl dargestellt wird.108 Vorausgesetzt wird hier eine Lektüre, die das spätere Handeln der Frau als einen bewussten Akt mitfühlenden Handelns deutet, was bereits nur eine – keinesfalls aber verbindlich zu machende – Lesart des Textes beinhaltet. Und zumindest hinsichtlich der ersten Lösungsoption lässt sich mit Fug und Recht behaupten, dass es sich um eine »völlig aufgeladene, den Text symbolisch überfrachtende Variante«109 handelt. Ebenso uneinsichtig ist, dass die Antwort: »Dadurch wird die Geschichte interessanter« als »nicht gelöst« eingestuft wird.110 Zwar bleibt die Option (zu) allgemein, doch kann der benannte Aspekt eine durchaus nachvollziehbare Funktion zur Sprache bringen. Im Gegensatz dazu wird eine wenig überzeugende Schülerantwort: »Die Frau scheint Mitleid zu haben, bevor sie weiß, was es ist.« als »[v]ollständig gelöst« eingestuft.111 105 Von der im Folgenden entfalteten Kritik der erwarteten Antworten abgesehen, bleibt der Rekurs der Fragestellung auf den Autor problematisch: Die Debatte um den Nachvollzug vermeintlicher Autorintentionen kann an dieser Stelle nicht aufgegriffen werden; Fakt bleibt aber, dass diese Zuschreibungen immer spekulativ bleiben müssen und sich problemlos durch die Frage nach Funktionen der Zitate im Text bzw. möglichen Wirkungen auf die Leser_innen ersetzen ließen. 106 Vgl. Karg: … the ability to read between the lines… . S. 108. 107 Eine hier aufgeführte und nur als »teilweise gelöst« einzustufende Antwort lautet: »Weil er [der Autor] Spannung erzeugt. Man weiß nicht genau, wer da schreit.« Sämtliche Lösungen sind zitiert nach: OECD Programme for International Student Assessment: Lösungen/Codiermanual »Das Geschenk«. In: PISA 2000. Lösungen der Beispielaufgaben aus dem Lesekompetenztest. https://www. mpib-berlin.mpg.de/Pisa/Loesungen_Lesen.PDF (Abrufdatum 30.10.2017) S. 41-51. S. 46. 108 Ebd. S. 45. Hervorhebungen im Original. 109 Kämper-van den Boogaart: PISA und die Interpretationsrituale des Deutschunterrichts. S. 73. 110 OECD Programme for International Student Assessment: PISA 2000. Lösungen der Beispielaufgaben aus dem Lesekompetenztest. S. 46. 111 Vgl. kritisch Kämper-van den Boogaart: PISA und die Interpretationsrituale des Deutschunterrichts. S. 74.

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Frage 35 setzt das Spiel spekulativer, aber unzulässig vereindeutigender Figurenpsychologie fort: »Was war wohl laut Erzählung der Grund dafür, dass die Frau den Panther gefüttert hat?« Eine Frage, deren Antwort der Text verweigert, wird diese Passage doch ausdrücklich wie folgt eingeleitet: »Dann, ohne zu überlegen, was sie da tat […].«112 Wer von den Schüler_innen jedoch genau so antwortet (mit: »Sie handelte, ohne zu denken.« oder »Sie wusste nicht, warum.«), hat die Aufgabe nur »teilweise gelöst«. Vollständig gelöst dagegen haben sie diejenigen, die – vom Text in keiner Weise legitimiert – dahingehend antworten, dies sei aus Gründen des Mitfühlens und des Mitleids geschehen. Ungenügend gelöst bleibt sie schließlich für den, der – mit mindestens ebenso großer (eigentlich: geringerer!) Plausibilität – antwortet: »Weil sie Angst vor ihm hatte.« Da die Aufgabe schlicht am Text vorbeiführt, lassen sich hier kaum nachvollziehbare Bewertungskriterien finden. Zudem sind die Korrekturhinweise widersprüchlich: Unter dem Code »[v]ollständig gelöst« heißt es im übergeordneten Kommentar: »Erkennt die implizite Bedeutung, dass die Frau von Mitgefühl für oder Einfühlung in den Panther motiviert wird. Kann auch erwähnen, dass die Frau ihre eigene Motivation nicht bewusst versteht.« Der Hinweis im zweiten Satz scheint nur dann als vollständige Lösung zu gelten, wenn er sich an die unterstrichene Beobachtung anschließt, was in sich bereits widersprüchlich ist. Er findet sich dann jedoch in keiner der drei Beispieloptionen (»Sie hatte Mitleid mit ihm./Weil sie wusste, wie es ist, hungrig zu sein./Weil sie mitfühlend ist.«) wieder. Beispieloptionen, die mit ihm vereinbar wären, sind sämtlich dem Code »[t]eilweise gelöst« zugeordnet: »Sie handelte, ohne zu denken./[…] Sie wusste nicht warum.«113 Frage 36 ist wiederum wie auch schon 32 und 34 als Multiple-Choice-Aufgabe konzipiert, geht im Gegensatz zu diesen nun aber von rein inhaltlichen Handlungselementen weg und auf die Deutung einer Äußerung aus, die die Frau nach dem Entschluss trifft, zunächst den Schinken als ihr Abendessen zu bereiten: »und dann kümmere ich mich um dich«. Die hier verwendeten Distraktoren sind allerdings keinesfalls so eindeutig, wie es vielleicht vordergründig scheinen mag. Zwar ist die Option, dass sie sich hiermit auf das Vorhaben bezieht, »die Katze zu erschießen«, am schlüssigsten; doch kann die Option, dass sie »die Katze füttern will«, ganz ausgeschlossen werden, wie es der Korrekturbogen vorsieht?114 Der Text arbeitet hier mit einer Kippfigur und da der Frau ihr Handeln nicht vollständig bewusst ist, lässt die Figurenrede vielleicht sogar eine der Protagonistin noch unbewusste Handlungsmöglichkeit zum Vorschein kommen. Eine Antwort auf die Frage muss in jedem Fall spekulativ bleiben und die vorgegebenen Antwortoptionen werden der Vielschichtigkeit der Äußerung im Kontext der Entwicklung der Figur in der Erzählung nicht gerecht. Sinnvoller wäre die Frage danach gewesen, weshalb der Text an dieser Stelle diesen mehrdeutig verstehbaren Satz und eben gerade keine eindeutige Wendung aufweist. Die letzte Frage, ob und inwiefern der Schlusssatz ein »passendes Ende« der Geschichte sei, bleibt nicht nur hinsichtlich des hier dokumentierten Literaturbegriffs (in 112 113 114

Vgl. Karg: … the ability to read between the lines… . S. 109. Vgl. sämtlich OECD: Lösungen der Beispielaufgaben aus dem Lesekompetenztest. S. 48. Hervorhebungen im Original. Vgl. ebd. S. 49.

1. Problemaufriss: Lesekompetenz und Literaturunterricht

dem offenbar der Schlusssatz einer Erzählung zum Vorhergehenden »passen« muss und nicht auch quer hierzu stehen kann) problematisch. Zudem kann die Frage auf ganz unterschiedliche Ebenen zielen: auf Aufbau und Gestaltung sowie auf die Handlung und Motive der Figuren. Während aber Lösungen, die vornehmlich Bezug auf die formale Gestaltung nehmen (etwa: »Ja, er passt zu der nüchternen Erzählweise der Geschichte.«) nur als »[t]eilweise gelöst« klassifiziert werden, finden sich unter »[v]ollständig gelöst« Antworten, die auf der Ebene der Handlung und spekulativ erschlossener Figurenmotive angesiedelt sind, wie beispielsweise: »Ja. Die Geschichte hat die Frau mit dem wirklich Wesentlichen im Leben in Berührung gebracht, und der saubere weiße Knochen ist ein Symbol dafür.«115 Hier bleibt erstens unklar, was denn nun das »wirklich Wesentliche« sein soll – dem bisherigen Katalog der Erwartungen entsprechend vermutlich die Tatsache, dass der Mensch mitfühlend handeln soll, wobei gerade der Knochen eher als Symbol für die Konfrontation mit dem Tod stehen könnte116 – und zweitens geht die Formulierung des »saubere[n] weißen Knochens« an dem vom Text nahegelegten Zustand des von einem Raubtier zerfetzten und zernagten Reststücks vom Schinken in nicht unerheblichem Maße vorbei. Noch grotesker wird der Katalog aber bei der ebenfalls unter »vollständig gelöst« subsumierten Antwort: »Er ist passend, weil sich das Tier in gewisser Weise bei ihr für den Schinken bedankt hat.«117 Faktisch dürfte es aber »[l]eider […] weder so sein, dass Panter selbst einen Knochen als Leckerei schätzen, noch wird man unterstellen dürfen, Panter glaubten, sie machten mit abgekauten Knochen Menschen eine besondere Freude.«118 Nichts desto trotz: Schüler_innen, denen dergleichen im Kopf spukt, beantworten die Frage im Sinne des Tests, andere, die den nicht ganz von der Hand zu weisenden Gedanken formulieren: »Ja, er setzt die Wirkung von etwas Unheimlichen fort.« haben die Aufgabe nur »teilweise gelöst«.119 Das Aufgabenset verdeutlicht so folgende Defizite der Anwendung eines Modells allgemeiner Lesekompetenz auf einen Textverstehenstest im Falle literarischer Sprachverwendung: •





115 116 117 118 119 120

Die Fiktionalität und der Konstruktcharakter des Textes werden weitgehend ausgeblendet. Die Aufgaben behandeln seinen Inhalt so, als handele es sich um reale Personen und nicht um literarische Figuren. »Man kann einer Figur in einem Erzähltext vieles unterstellen und noch mehr für möglich halten. Textverstehen ist das nicht.«120 Textinformationen werden auf der inhaltlichen Ebene oder hinsichtlich möglicher Motive der Figuren ausgewertet, nicht aber mit Blick auf die – oftmals polyvalente – Funktion, die ihnen im Rahmen der Erzählung zukommt. Ganz im Sinne des allgemeinen Lesekompetenzmodells spielen Überlegungen zur sprachlichen Gestaltung nur eine untergeordnete bis gar keine Rolle. Schüler_innen, Ebd. S. 50f. Vgl. Kämper-van den Boogaart: PISA und die Interpretationsrituale des Deutschunterrichts. S. 76. OECD: Lösungen der Beispielaufgaben aus dem Lesekompetenztest. S. 50. Kämper-van den Boogart: PISA und die Interpretationsrituale des Deutschunterrichts. S. 76. OECD: Lösungen der Beispielaufgaben aus dem Lesekompetenztest. S. 50. Karg: … the ability to read between the lines… . S. 110.

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Literarästhetische Literalität









die in ihren Antworten hierauf rekurrierten, wird oftmals sogar attestiert, die Aufgabe nur »teilweise gelöst« zu haben. Spezifisch literarästhetische Gestaltungstechniken, auch solche, die 15-Jährigen durchaus vermittelbar wären (wie etwa die angesprochene Opposition von Kultur und Natur als Strukturprinzip des Textes oder Elemente des Spannungsaufbaus) geraten ebenso konsequent aus dem Blick wie die Tatsache, dass literarische Texte (und insbesondere Kurzgeschichten) sich oftmals eher durch Brüche und sich vordergründigem Verstehen widersetzende Elemente auszeichnen als etwa durch »ein passendes Ende«, das sich kohärent in ein auf ein bestimmtes Verstehen hin ausgerichtetes Textganzes einfügt. Das dem Fragenkatalog zugrunde liegende Literaturverständnis ist – nicht nur, was den Rekurs auf die Autorintention oder die Figurenpsychologie anbetrifft – milde formuliert fragwürdig. Der Korrekturbogen bildet die Komplexität der Erzählung nicht ab; hierhinter sind nicht nur Gründe zu vermuten, die auf Mängel im Umgang mit diesem konkreten Text hinweisen, sondern strukturelle. Komplexe literarästhetische Fähigkeiten werden offenbar bewusst ausgeklammert, da sie innerhalb des kompetenzorientierten Ansatzes nicht mehr operationalisierbar sind. Im konkreten Beispiel kommt hinzu, dass die erwarteten Antworten dem Text nicht gerecht werden. Z.T. werden Lösungen, die mindestens so plausibel sind, wie die als »vollständig gelöst« erachteten, als »nur teilweise« oder gar »ungenügend« gelöst betrachtet. Dies resultiert aus der bereits dem Fragenkatalog entnehmbaren Vereindeutigung der Erzählung auf das Thema ›Mitleid mit der leidenden Kreatur‹, in deren Folge andere Lesarten ausgeblendet und weder in den Aufgaben anvisiert noch in den Erwartungshorizonten gewürdigt werden. Hierdurch kann das literarisch-ästhetische Potential des Textes ebenso wenig erschlossen wie eine hierauf bezogene Lesekompetenz sinnvoll getestet werden.

Eine weitere der Öffentlichkeit zugänglich gemachte Aufgabe (»Das Schauspiel sei das Werkzeug«121 ) aus PISA 2009 deutet an, dass sich zumindest an der Kernproblematik, literarische Texte quasi wie pragmatische zu behandeln und vorrangig auf der inhaltlichen Handlungsebene und/oder mittels einer fragwürdigen Figurenpsychologie aus121

Vgl. OECD: Programme for International Student Assessment. Lese-Kompetenz – Sammlung aller bei PISA freigegebenen Aufgaben der Haupttests 2000, 2003, 2006 und 2009. Charakteristika, Lösungen und Bewertungsrichtlinien. Bundesinstitut Bifie: Bildungsforschung, Innovation & Entwicklung des österreichischen Schulwesens – https://www.bifie.at/system/files/ dll/pisa-2000-2009_freigegebene-items-lesen_0.pdf (Abrufdatum: 09.05.2013) S. 87-92. Dieser Link ist am 13.11.2017 nicht mehr zugänglich, auch ist eine andere Publikation, in der die vollständige Aufgabe abgedruckt wäre, nicht zu finden. Über den folgenden Link lassen sich aber sowohl der Text als auch vier der ihm zugewiesenen Aufgaben noch abrufen: https://www.pisa.tum.de/fileadmin/w00bgi/www/Beispielaufgaben/Lesekompetenz_2009_ Beispielaufgaben_Homepage.pdf (Abrufdatum 31.05.2019). Offenbar wurde diese Aufgabe auch 2012 eingesetzt. Vgl. hierzu Katharina Hohn u.a.: Lesekompetenz in PISA 2012 – Veränderungen und Perspektiven. In: Manfred Prenzel u.a. (Hg.): PISA 2012 Fortschritte und Herausforderungen in Deutschland. Münster: Waxmann 2013. S. 217-244. S. 224-226.

1. Problemaufriss: Lesekompetenz und Literaturunterricht

zuwerten, wenig verändert hat. Da hier aber im Gegensatz zu »Das Geschenk« nicht der vollständige Fragenkatalog einsehbar ist, soll diese Aufgabe keiner weiteren Analyse unterzogen werden. Festzuhalten bleibt, dass auf Grundlage eines Ansatzes allgemeiner Lesekompetenz ein gegenstandsadäquater Zugang zum kulturell etablierten Feld literarischer Sprachverwendung nicht geschaffen werden kann. Es muss konstatiert werden, dass der von den Verfechter_innen der Kompetenzorientierung selbst gesetzte Anspruch, Schüler_innen eine Partizipation an Kultur und Gesellschaft zu verschaffen, was in diesem Falle hieße, ihnen einen Zugang zu literarischen Texten zu ermöglichen, innerhalb der Grenzen dieses Modells nicht umsetzbar ist. Hieraus geht das Potential einer Reformulierung eines umfassenderen literacy-Konzepts hervor, das dann nicht mit dem Kompetenzbegriff gleichzusetzen ist. Dieses Anliegen folgt dem von Hans Lösener unter Rekurs auf Kaspar H. Spinner formulierten Anspruch, »den Literaturunterricht vor einer Reduzierung auf Lesemotivation- [sic!] und Lesetrainingseinheiten zu bewahren, wie sich dies im Zuge der Diskussion um die PISA-Studien und der mitunter einseitigen Rezeption des angloamerikanischen literacy-Konzepts abzeichnet«122 .

1.4.

Output-Orientierung und »Systemmonitoring«

Zurück aus den Gefilden um PISA in die deutsche Bildungslandschaft. Ähnlich wie Lösener äußert Bellmann schon 2004 im allgemeindidaktischen Kontext die Befürchtung, nach der »internationale Schulleistungsvergleiche« – gemeint ist hier PISA – »zunehmend auch Einfluss darauf gewinnen werden, was künftig unter Bildung verstanden wird«123 . Anders, und bezogen auf den Gegenstand dieser Arbeit formuliert, ist die Frage zu stellen, inwieweit die Auseinandersetzung mit Literatur im Deutschunterricht infolge der kompetenzorientierten Wende sich dem Lesekompetenz- resp. Literaturverständnis der PISA-Studie als zentralem Impulsgeber dieses Paradigmenwechsels anzunähern droht. Mit der Outputorientierung und den neu etablierten Bildungsstandards verbindet sich der Anspruch, das Erreichen von Kompetenzen stetig zu überprüfen: »Aufgrund ihrer bildungspolitischen Relevanz bilden die KMK-Standards eine wesentliche Grundlage für die Entwicklung normierter Tests zur Messung der im schulischen Unterricht erworbenen Kompetenzen.«124 Hiervon wiederum werden bildungsadministrative Entscheidungen weiterer Schulentwicklung abhängig gemacht.125 Die »Erläuterungen zur 122

Lösener, Hans: Elf Aspekte des literarischen Lernens auf dem Prüfstand (Editorial). In: Leseräume. Zeitschrift für Literalität in Schule und Forschung 2 (2015), H. 2, S. 1-5. S. 1. http://leseräume.de/wpcontent/uploads/2015/10/lr-2015-1-loesener-editorial.pdf (Abrufdatum 13.11.2017). Hervorhebung C. B. 123 Bellmann: Ökonomische Dimensionen der Bildungsreform. S. 28. 124 Köster: Lesekompetenz im Licht von Bildungsstandards und Kompetenzmodellen. S. 166f. 125 »Der Output wird somit zum entscheidenden Bezugspunkt für die Beurteilung des Schulsystems und für Maßnahmen zur Verbesserung und Weiterentwicklung.« Klieme u.a. : Zur Entwicklung nationaler Bildungsstandards. S. 12.

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Literarästhetische Literalität

Konzeption und Entwicklung« der Bildungsstandards seitens der Kultusministerkonferenz legen dem ausdrücklich auch die Ergebnisse der internationalen Schulleistungsstudien zugrunde: »Somit ist ein Paradigmenwechsel in der Bildungspolitik im Sinne von ›outcome-Orientierung‹ [sic!] Rechenschaftslegung und Systemmonitoring eingeleitet. Dieser Prozess hat gerade erst begonnen und muss kontinuierlich (z.B. über die vorgesehene weitere Teilnahme an PISA und IGLU) überprüft und justiert werden.«126 Diese Überprüfung ruht derzeit auf drei Säulen: den internationalen Schulleistungsstudien (PISA, PIRLS/IGLU, TIMSS), den nationalen Schulleistungsstudien (KMK-Ländervergleiche) und den Vergleichsarbeiten und Lernstandsmessungen (VERA-3 und VERA-8), mit denen das »Institut zur Qualitätsentwicklung im Bildungswesen« (IQB) in Berlin betraut ist. Die Rhythmen dieser Überprüfungen reichen von drei bis fünf Jahren im Bereich der internationalen Studien, fünf bzw. sechs Jahren (für die Grundschule bzw. die Sekundarstufe) im Bereich der KMK-Ländervergleiche und einem jährlichen Turnus für die VERA-Lernstandserhebung, die im Vergleich zu den anderen beiden Formaten auch keine Stichproben-, sondern eine Vollerhebung aller Schüler_innen einer Jahrgangsstufe darstellt.127 Somit ist ein dichtes Netz an verschiedenen Formen der Überprüfung und Leistungsmessung über die deutsche Schullandschaft ausgespannt. Mit den Auswirkungen dessen sowohl auf allgemeiner Ebene für das Schulsystem als auch hinsichtlich des Literaturunterrichts hat sich Michael Kämper-van den Boogaart in seinem Aufsatz Korrumpieren Testaufgaben notwendig das literarische Verstehen? auseinandergesetzt. Mit Blick auf den ersten Punkt kommt er unter Bezug auf eine Studie von Nichols/Berliner hinsichtlich sog. High stakes-testings im US-amerikanischen Kontext128 zu dem Ergebnis, dass dies eine Reihe »von Kollateralschäden«129 und eine »Korrumpierung der Schulen« auf verschiedenen Ebenen mit sich bringe. Dies reiche von klassischen Betrugsdelikten (»bis hin zu den Staatsverwaltungen selbst«) über den Ausschluss von als problematisch angesehenen Schüler_innen, derer man sich am Testtag entledige, um »die Fortschritte der Testergebnisse nicht zu gefährden«, bis hin zur »Erosion der Konstruktvalidität durch ein verbreitetes ›teaching to the test‹.«130 Denn sowohl in den USA als auch in Großbritannien sei zu beobachten, dass die Schüler für Aufgaben gedrillt werden, die die Lehrer im Test erwarten. Dann überprüfe [auch hier bezieht sich Kämper-van den Boogaart auf Nichols/Berliner] der Test nämlich nicht mehr, ob das ursprüngliche Zielkonstrukt erreicht worden sei, sondern 126

Kultusministerkonferenz: Bildungsstandards der Kultusministerkonferenz. Erläuterungen zur Konzeption und Entwicklung. S. 6. 127 Vgl. hierzu die Übersicht auf der Homepage des IQB: www.iqb.hu-berlin.de/vera (Abrufdatum 29.07.2013). 128 Vgl. Nichols, Sharon L. u. David C. Berliner: The inevitable corruption of indicators and educators through high-stakes testing. In: EPSL, Arizona State University 2005. http://epsl.asu.edu/epru/ documents/EPSL-0503-101-EPRU.pdf (Abrufdatum 13.11.2015). 129 Kämper-van den Boogaart: Korrumpieren Testaufgaben notwendig das literarische Verstehen? S. 737. 130 Ebd. S. 736.

1. Problemaufriss: Lesekompetenz und Literaturunterricht

er ermittle, ob das drillartige Training von Lese-Items, die sehr ähnlich wie die im Test vorkommenden formatiert sind, erfolgreich war.131 Neben diesen generellen Auswirkungen und Gefahren132 sind jene, die hieraus spezifisch für den Literaturunterricht erwachsen, nicht minder gravierend: Wenn, wie das PISA-Beispiel aufzeigt, im Zuge einer besseren Messbarkeit von Testergebnissen literarische Texte gleichsam ›ästhetisch entkernt‹ und weitgehend wie narrative Sachtexte ausgewertet werden, lassen sich Ansätze, die von einer »Unabschließbarkeit des Sinnbildungsprozesses«133 ausgehen, im Rahmen von Testdesigns, die auf fixierbare und eindeutige Lösungen ausgerichtet sind, nicht umsetzen. Die Gefahr, dass in der Folge, bedingt durch das angesprochene teaching to the test auch der Literaturunterricht mehr und mehr zu einer Veranstaltung mutiert, in der die Bereiche dominieren, die sich dem Kompetenzparadigma noch zuordnen und ›abarbeiten‹ lassen (wie eine Rekonstruktion des Handlungsgangs, ggf. noch eindimensionale literarhistorische Einordnungen, das Benennen von Erzähltechniken oder Auffinden rhetorischer Figuren), ist groß. Dies hätte unweigerlich zur Folge, dass die Auseinandersetzung mit Literatur auf Fragestellungen reduziert wird, die nicht den Texten selbst entwachsen, sondern denen letztlich nur eine von außen an sie herangetragene, analytische Hilfsfunktion zukommt. Das Interesse und die Arbeit der Schüler_innen würde sich vom literarischen Text auf die an ihm möglicherweise zu erlernenden Kompetenzen verlagern. Dass dieses Szenario alles andere als weitab jeder Realität liegt, zeigt das folgende Beispiel einer vom IQB durchgeführten und veröffentlichten Testaufgabe, die im Rahmen der VERA-Lernstandserhebungen durchgeführt wurde. Deren Ziel ist es aufzuzeigen, inwieweit die in den Bildungsstandards aufgeführten Kompetenzen für die jeweiligen Schullaufbahnen in den Jahrgangsstufen 3 und 8 bereits entwickelt sind. Aus der engen Orientierung am Konzept und den Testverfahren allgemeiner Lesekompetenz in der PISA-Studie resultiert auch hier die Problematik, dass spezifisch literarästhetische Kategorien zu wenig Berücksichtigung finden.

1.5.

Exemplarische Analyse der VERA-8-Testaufgabe  »Der Königsmacher«

Die Beispielaufgabe aus VERA-8 soll hier nicht in der gleichen Tiefe analysiert werden, wie dies im Fall von Das Geschenk geschah, da Grundverfahren und -problematik ähnlich sind. Der Aufgabe liegt der Beginn des Romans Der Königsmacher von Friedrich Christian Delius zugrunde.134 131 132 133 134

Ebd. S. 738. Vgl. hierzu auch Bellmann, Johannes: Bildungsforschung und Bildungspolitik im Zeitalter »Neuer Steuerung«. In: Zeitschrift für Pädagogik 52 (2006), H. 4, S. 487-504. Spinner: Literarisches Lernen. S. 12. Zitiert nach den vom IQB auf folgender Internetseite bereitgestellten VERA-Leseaufgaben im Fach Deutsch für die 8. Klasse: https://www.iqb.hu-berlin.de/vera/aufgaben/de1 (Abrufdatum 30.10.2013). Die Webpage ist mittlerweile aktualisiert und die Aufgabe durch neuere Beispiele, die im Rahmen des Testdurchgangs von 2016 verwendet wurden, ersetzt. Sie kann aber (allerdings nur mit Blick auf den Teil der bereits kommentierten Aufgaben aus dem Originaldokument) über die fol-

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Literarästhetische Literalität

Der Königsmacher Friedrich Christian Delius Wind weht vorüber, ein kühler Oktoberabend, und wer aus der Untergrundbahn steigt, landet auf einer langgestreckten Brücke. Hallesches Tor1 , 20 Uhr 41, die gelben Wagen fahren weg ins Dunkle Richtung Warschauer Straße, der Boden vibriert. Ich will nicht nach Osten, nicht nach Westen, ich folge den Leuten nicht die Treppen hinab. Umsteigen bitte, ehe die Musik des Eisens wieder anhebt. Ich bleibe am Halleschen Tor am Ende des Bahnsteigs und gebe Befehle. Denk dir die U-Bahn weg, die Eisengerüste, die Hochhäuser mit Küchen- und Wohnzimmerlicht, den Kanal unten, alles weg. Die Stadt schweige. Rieche den gepflügten Acker, die feuchten Wiesen, nicht Benzin, Fettdunst, Hundekot. Lass die Leute verschwinden oder verkleide sie, wenn du kannst. Umsteigen bitte, fast zweihundert Jahre zurück, ungezählte Stufen in die Vergangenheit hinunter. Es ist ganz einfach. Eine neue Landkarte aufschlagen. Stille. Wind weht vorüber, ein kühler Oktoberabend zwischen acht und neun. Ich höre: Hufe schlagen auf einen feuchten Sandweg. Ich sehe: Ein Pferd galoppiert von Süden heran, den Kreuzberg hinunter. Den Reiter umweht ein weiter schwarzer Mantel. Vor dem Wachposten am Halleschen Tor öffnet er ein Gewand, darunter blitzt eine Generalsuniform auf, der Posten salutiert2 . Der Reiter passiert3 das Rondell4 und wendet von der Friedrichstraße nach rechts in die Jacobstraße. Kein Mensch zu sehen, die Straßen dunkel, hinter den Fenstern hier und dort Kerzenlicht. Es ist nicht die Gegend, in der hohe Militärs sich aufhalten. Vor einem der einfachen Häuser steigt der Reiter ab, bindet das Pferd an und klopft an die Tür der Nummer 21. Er ist etwa Mitte dreißig, sieht erschöpft aus, geschlagen, gejagt. Eine ältere Frau öffnet, erkennt ihn, er tritt ein. Text: Delius, Friedrich Christian: Der Königsmacher, ©2001 Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek 2003, S. 9-10. 1 Hallesches Tor: Name einer U-Bahn-Station in Berlin 2 salutieren: grüßen 3 passieren: hier: vorbeireiten 4 Rondell, das: hier: rundes Beet Zu diesem Textauszug wurden folgende Testaufgaben konzipiert und den Schüler_innen zur Bearbeitung vorgelegt: Teilaufgabe 1: Der Text besteht inhaltlich aus drei Teilen. Ordne den Inhalten die passenden Zeilen zu.

gende Seite der Homepage des Landesinstitut für Lehrerbildung und Schulentwicklung der Stadt Hamburg noch abgerufen werden: https://www.lernstand.hamburg.de/index.php?option=com_ remository&Itemid=&func=startdown&id=22933 (Abrufdatum 01.11.2017) S. 59-72.

1. Problemaufriss: Lesekompetenz und Literaturunterricht Zeilen von … bis …

Inhalt

1. Teil

Zeile ___ bis Zeile ___

Jetztzeit

2. Teil

Zeile ___ bis Zeile ___

Umschwenken in eine andere Zeit

3. Teil

Zeile ___ bis Zeile ___

Vor fast 200 Jahren

Teilaufgabe 2: Wo befindet sich die Figur am Anfang des Textes? ________________________________________________________________________ Teilaufgabe 3: Was ist gemeint mit »Musik des Eisens« (Zeile 6)? ________________________________________________________________________ Teilaufgabe 4: Wohin will die Figur am Anfang des Textes gehen? o in eine bestimmte Zeit o in eine bestimmte Gegend o in eine bestimmte Untergrundbahn o in eine bestimmte Himmelsrichtung Teilaufgabe 5: In dem Text gibt es mehrere Befehle. An wen sind sie gerichtet? ________________________________________________________________________ Teilaufgabe 6: In dem Text gibt es mehrere Befehle. Was sollen sie bewirken? ________________________________________________________________________ Teilaufgabe 7: In dem Text gibt es mehrere Befehle. Wer spricht sie aus? Teilaufgabe 8: Im Text wird zweimal von »Umsteigen« gesprochen (Zeile 6 und 12). Was ist damit jeweils gemeint? Zeile 6: _________________________________________________________________ Zeile 12: ________________________________________________________________ Teilaufgabe 9: In Zeile 11 heißt es, dass Leute verschwinden sollen oder man sie verkleiden soll. 1. Von welchen Leuten ist die Rede? ________________________________________________________________________ 2. Wie sollen sie verkleidet werden? ________________________________________________________________________

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Literarästhetische Literalität

Teilaufgabe 10: Im Text ist von zwei Situationen die Rede. In beiden Situationen kann man laut Text Unterschiedliches wahrnehmen. Notiere jeweils ein Beispiel. 1. Situation

2. Situation

Gerüche Lichtverhältnisse

Teilaufgabe 11: Im Text ist von zwei Situationen die Rede. Was haben beide Situationen gemeinsam? Notiere zwei Gemeinsamkeiten. 1. ______________________________________________________________________ 2. ______________________________________________________________________ Teilaufgabe 12: Im Text ist von hohen Militärs die Rede (Zeile 22). Woran lässt sich erkennen, dass der Reiter dazugehört? o Weil der Posten auf eine bestimmte Weise auf ihn reagiert. o Weil in dieser Gegend hauptsächlich Militärs unterwegs sind. o Weil die Frau auf eine bestimmte Weise auf ihn reagiert. o Weil er einen bestimmten Mantel trägt. Teilaufgabe 13: Was erfährt man über den Zustand des Mannes ab Zeile 15. Notiere zwei Hinweise. 1. ______________________________________________________________________ 2. ______________________________________________________________________ Teilaufgabe 14: Warum lässt ihn die Frau eintreten? ________________________________________________________________________ Teilaufgabe 15: An die Tür wird geklopft, nicht auf den Klingelknopf gedrückt. Notiere einen Grund dafür. ________________________________________________________________________

1. Problemaufriss: Lesekompetenz und Literaturunterricht

Deutlich wird schon anhand des Fragenkatalogs, dass das Leseverständnis auch dieses literarischen Textes faktisch weitgehend wie das eines Sachtextes abgeprüft wird. Die Lösungserwartungen fallen entsprechend aus. Die Tatsache, dass der Romanauszug zunächst auf eine Aktivierung der Vorstellungs- und Imaginationstätigkeit abhebt, wird zugunsten eines ausschließlichen Rekurses auf kognitive Operationen ausgeblendet – und ein Teil des möglichen ästhetischen Genusses hiermit zugleich auch … Problematisch ist weiterhin die Erschließung eines literarischen Textes durch das sehr kleinschrittige und stark lenkende Vorgehen des Fragenkatalogs, der den Schüler_innen keinen eigenen Zugang ermöglicht, und die im didaktischen Kommentar der Aufgabenentwickler_innen erfolgende Zuordnung zu den Kompetenzbereichen der Bildungsstandards, die sich im vorliegenden Fall auf jene für den Mittleren Schulabschluss beziehen. So soll etwa aus der Antwort auf Teilaufgabe 2 (»Wo befindet sich die Figur am Anfang des Textes?«) die übergeordnete Kompetenz »Literarische Texte verstehen und nutzen« mit der Teilkompetenz »Wesentliche Elemente eines Textes erfassen: z.B. Figuren, Raum- [und Zeitdarstellung, Konfliktverlauf]« nachgewiesen werden.135 Dazu werden folgende Antworten erwartet:136 RICHTIG

auf einem Bahnhof ODER an einem U-Bahnhof/an einer U-Bahnstation ODER am U-Bahnhof Hallesches Tor ODER am Halleschen Tor ODER am Ende eines Bahnsteigs (an einem U-Bahnhof/ am U-Bahnhof Hallesches Tor).

Mit einer literaturwissenschaftlichen Figuren- oder Raumanalyse hat dies nicht mehr viel gemein. Ähnliches lässt sich auch an Teilaufgabe 7 festmachen: Die Frage, wer die Befehle gibt, soll gleich zwei Teilkompetenzen der übergeordneten Kompetenz »Literarische Texte verstehen und nutzen« abdecken, nämlich »Eigene Deutungen des Textes entwickeln, am Text belegen und sich mit anderen darüber verständigen (3.3.8)« sowie »Wesentliche Fachbegriffe zur Erschließung von Literatur kennen und anwenden, insbesondere Erzähler, Erzählperspektive, Monolog, Dialog, sprachliche Bilder, Metapher, Reim, lyrisches Ich (3.3.6)«. Die erwartete Lösung hat folgendes Aussehen:

135

136

Diese und weitere Rückbezüge zu den Kompetenzen werden anhand der unter folgendem Link abrufbaren Datei »Didaktische Kommentierung« der Aufgabe zitiert: www.iqb.hu-berlin.de/vera/ aufgaben (Abrufdatum 31.07.2013). Auch dieser Teil kann derzeit nur noch über den Link zur Homepage des Landesinstitut für Lehrerbildung und Schulentwicklung der Stadt Hamburg abgerufen werden: https://www.lernstand.hamburg.de/index.php?option=com_remository&Itemid= &func=startdown&id=22933 (Abrufdatum 01.11.2017). Diese und weitere Antworten sind unter Bezug auf die unter folgendem Link abrufbare Auswertungsdatei der Aufgabe zitiert: www.iqb.hu-berlin.de/vera/aufgaben (Abrufdatum 31.07.2013). Hier ist ebenfalls derzeit nur noch Einblick über den oben genannten Link auf der Homepage des Landesinstituts für Lehrerbildung und Schulentwicklung der Stadt Hamburg möglich.

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Literarästhetische Literalität RICHTIG

das Ich ODER (der) Erzähler ODER (der) Ich-Erzähler

Angesichts des sehr kleinen Bereichs, den die Frage abdeckt, und der hier erwarteten Antworten können einem Zweifel an der Validität der Prüfung der aufgeführten Kompetenz aufkommen. Enorm ist auch die Lücke, die zwischen den aufgeführten Kompetenzen und der tatsächlich notwendigen kognitiven Leistung für die Lösung der Aufgabe klafft. Andere Aufgaben wiederum beziehen sich auf durchaus literarisch relevante Verfahren des Textes (nämlich die imaginative Überformung der äußeren Wirklichkeit), belassen es aufgrund des Testverfahrens aber bei Einzelbeobachtungen, aus denen letztlich kaum ersichtlich werden kann, inwieweit Schüler_innen das Gesamtkonstrukt des Romanbeginns reflektieren. So etwa, wenn in Teilaufgabe 9 mit Bezug auf den Satz in Zeile 11: »Lass die Leute verschwinden oder verkleide sie, wenn du kannst.« nach Folgendem gefragt wird: »1. Von welchen Leuten ist die Rede? 2. Wie sollen sie verkleidet werden?« Der Korrekturbogen sieht hierfür vor: RICHTIG

1. Sinngemäß: von den Leuten auf dem Bahnhof UND 2. Sinngemäß: so, wie sich die Leute früher/vor fast 200 Jahren kleideten.

FALSCH

alle anderen Antworten, auch: 1. sinngemäß: von der Leuten [sic!] in der U-Bahn.

Ergiebiger wäre es, danach zu fragen, wie die einzelnen Schüler_innen dem in ihrer Vorstellung nachgehen; und von hier aus dann nach möglichen Funktionen dieser imaginativen Verwandlung zu suchen – soweit sich dies überhaupt aus dem kurzen Textauszug ableiten ließe. Doch derartige Fokussierungen fehlen im Fragenkatalog gänzlich. Diese Beispiele mögen zum Aufweis der Grundproblematik auch der VERALernstandserhebungen ausreichen. Von einer literarisch-ästhetischen Perspektivierung ist man recht weit entfernt und die Zuordnung zu den vermeintlich notwendigen Kompetenzen erscheint zu hoch gegriffen für das, was faktisch verlangt wird. Wenn konkrete Überprüfbarkeit und Messbarkeit erworbener Kompetenzen ein entscheidender Faktor bei der Umstellung auf »Outcome-Orientierung« waren, zeigt sich mit Blick auf literarische Texte, dass genau dies auf Grundlage der eingesetzten Aufgaben in den zentralen Lernstandserhebungen nicht in wünschenswerter Weise umgesetzt wird. Geprüft werden allenfalls auf der Inhaltsebene des Textes notwendige Voraussetzungen des Handlungsverständnisses, um auf dieser Basis das ästhetische Potential des Textes entfalten zu können, das selbst aber in keiner Weise ausgelotet wird. Dass ähnlich gelagerte Aufgabenstellungen nicht nur bei Lernstandsmessungen, sondern auch im Kontext zentraler Abschlussprüfungen zu beobachten sind, weist Kämper-van den Boogaarts kritische Analyse einer Aufgabe aus, die im Rahmen der

1. Problemaufriss: Lesekompetenz und Literaturunterricht

»Anfangsphase der Testungen zum MSA [Mittleren Schulabschluss] in Berlin«137 Einsatz fand und in der das, was »in der PISA-Semantik unter ›Reflektieren und Bewerten‹ verstanden wird, […] ausgespart [bleibt]«138 . Im Rahmen eines durchgehend geschlossenen Aufgabenformats zu Kästners Gedicht Besuch vom Land kommen im engeren Sinne ästhetisch-reflektierende Aufgaben gar nicht mehr vor.139 Die Gefahren, die dies für den Literaturunterricht im Rahmen des teaching to the test haben kann, werden von Kämper-van den Boogaart zwar benannt, gleichwohl aber – mit leisem Sarkasmus – auch wieder abgemildert: »Um die Aufgabe mit hoher Punktzahl zu bestehen, muss man weder über ein nennenswertes domänespezifisches Vorwissen verfügen noch im literarischen Umgang mit Gedichten geübt sein. Unterrichtssteuernder dürfte sich da eher schon der geringe Status poetischer Texte im Ensemble des Gesamttests auswirken.«140

1.6.

Bildungsstandards im Fach Deutsch  für die Allgemeine Hochschulreife

Die Grundlage des sog. Systemmonitorings bilden die Bildungsstandards, denen somit die Funktion eines weiteren zentralen Steuerungselements im Zuge der kompetenzorientierten Wende zukommt. In dem Basispapier Bildungsstandards der Kultusministerkonferenz. Erläuterungen zur Konzeption und Entwicklung wird hervorgehoben, dass die Standards die »Grundprinzipien des jeweiligen Unterrichtsfachs auf[greifen]«141 müssten. Diese Formulierung gewährleistet, dass sich die Output-Orientierung an den jeweilig fachspezifischen Grundlagen auszurichten hat. Zugleich wird betont, dass neben dem Erreichen dieser kompetenzorientierten Standards weiterhin gilt, dass Schulqualität mehr als das Messen von Schülerleistungen anhand von Standards [ist]. Der Auftrag der schulischen Bildung geht weit über die funktionalen Ansprüche von Bildungsstandards hinaus. Er zielt auf Persönlichkeitsentwicklung und Weltorientierung, die sich aus der Begegnung mit zentralen Gegenständen unserer Kultur ergeben. Schülerinnen und Schüler sollen zu mündigen Bürgerinnen und Bürgern erzogen werden, die verantwortungsvoll, selbstkritisch und konstruktiv ihr berufliches und privates Leben gestalten und am politischen und gesellschaftlichen Leben teilnehmen können.142 Ein Anspruch, dessen Einlösung vor dem Hintergrund der Überlegungen des letzten Teilkapitels gefährdet ist. Und so haben auch große Teile der wissenschaftlichen Fach137

Kämper-van den Boogart: Korrumpieren Testaufgaben notwendig das literarische Verstehen? S. 744. 138 Ebd. S. 747. 139 Vgl. ebd. S. 745-748. 140 Ebd. S. 748. 141 Kultusministerkonferenz: Bildungsstandards der Kultusministerkonferenz. Erläuterungen zur Konzeption und Entwicklung. S. 6. Weiterhin heißt es, dass diese Standards »die fachbezogenen Kompetenzen einschließlich zugrunde liegender Wissensbestände [beschreiben], die Schülerinnen und Schüler bis zu einem bestimmten Zeitpunkt ihres Bildungsganges erreicht haben sollen«. Ebd. 142 Ebd. S. 6f.

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Literarästhetische Literalität

didaktik sowie viele Deutschlehrer_innen die bereits 2004 veröffentlichten Bildungsstandards für die Primarstufe, den Hauptschulabschluss sowie den mittleren Schulabschluss teils vehement kritisiert.143 Herausgegriffen seien einzelne, allerdings markante und exemplarische Stimmen aus dieser Diskussion: So erhebt Kaspar H. Spinner den Vorwurf, die Standards führten zum »standardisierten Schüler« und ließen die gerade für den Literaturunterricht wichtigen individuellen Zugänge nicht mehr ausreichend zur Geltung kommen: »Der Schüler wird im standardisierten Unterrichtsprozess zurechtgestutzt. Entfaltung von Individualität und das Ernstnehmen von Subjektivität werden – z.T. ohne dass man das will und sich dessen bewusst ist – durch die Standardisierungsprozesse zurückgedrängt.«144 Dass es einer der wichtigsten Vertreter des handlungs- und produktionsorientierten Unterrichts ist, der diese Kritik äußert, ist gewiss nicht zufällig. Denn insbesondere diese Zugänge zum Text sind oftmals hochindividualisiert und lassen sich nur schwer in vorgegebene Standardisierungen bringen. Ob es wirklich, wie Ricarda Freudenberg äußert, »unbedingt zu loben«145 ist, dass die in den Einheitlichen Prüfungsanforderungen für das Abitur (EPA) in der Fassung von 2002 noch vorgesehene Aufgabenform des »[g]estaltenden Erschließens« literarischer Texte aus den Vorgaben der Bildungsstandards im Fach Deutsch für die Allgemeine Hochschulreife herausfällt, kann angezweifelt werden. Zum einen, weil sie für eine Reihe von Schüler_innen einen ihren individuellen Fähigkeiten und Fertigkeiten adäquaten Weg der Auseinandersetzung mit Literatur eröffnete, der zum anderen auch durch den aktiven Nachvollzug einen Einblick in literarische Gestaltungsformen ermöglicht.146 Zudem finden sich immer wieder kritische Stimmen zu der Menge der einzelnen Kompetenzen resp. Standards; im Hauptschulbereich handelt es sich beispielsweise um 112: »Das ist irritierend. Wenn der Kernbestand tatsächlich 112 Standards umfasst, dann fragt man sich, wo noch der geforderte Freiraum sein soll. Darüber hinaus sind die einzelnen Standards wiederum in sich ausgesprochen komplex.«147 Das Grundproblem hierbei ist folgendes: Um eine Operationalisierbarkeit zu gewährleisten, müssen die Fähigkeiten in sehr kleine, für sich jeweils abzugrenzende und so valide überprüf- und messbare Einzelkompetenzen aufgeteilt werden; dies lässt sich insbesondere im Falle der sehr komplexen mentalen Operationen im Kontext ästhetischer Rezeption aber kaum leisten. 143

Vgl. Kammler: Literarische Kompetenzen ‒ Standards im Literaturunterricht. Anmerkungen zum Diskussionsstand. S. 7ff. 144 Spinner: Der standardisierte Schüler. S. 90. 145 Freudenberg, Ricarda: Was Abiturientin/innen können sollen – Anmerkungen zu den Bildungsstandards für die Allgemeine Hochschulreife im Fach Deutsch. In: Helmuth Feilke, Juliana Köster u. Michael Steinmetz (Hg.): Textkompetenzen in der Sekundarstufe II. Stuttgart: Fillibach 2013. S. 97-112. S. 107. 146 Dies muss dabei keineswegs völlig frei geschehen, wie Freudenberg zu Recht kritisiert, wenn Schüler_innen etwa abverlangt wird, »als Literaten tätig zu werden, was keine sinnvolle Zielperspektive gymnasialen Deutschunterrichts sein kann und gleichermaßen eine Über- wie auch Unterforderung darstellt«. Sinnvolle Lenkungen und Vorgaben können diese Schreibprozesse unterstützen, sodass es zu den »Auswüchse[n]« (ebd.), die Freudenberg hinsichtlich der Aufgabenform alleine im Blick hat, gar nicht erst kommen muss. 147 Spinner: Der standardisierte Schüler. S. 88.

1. Problemaufriss: Lesekompetenz und Literaturunterricht

Ein Beispiel mag hier für viele andere stehen. Die Bildungsstandards im Fach Deutsch für den Mittleren Schulabschluss führen unter der Kategorie »literarische Texte verstehen und nutzen« als Regelstandard die folgende, am vermeintlichen Durchschnitt der Lerner ausgerichtete Kompetenz an: »sprachliche Gestaltungsmittel in ihren Wirkungszusammenhängen und in ihrer historischen Bedingtheit erkennen; z.B. Wort-, Satz- und Gedankenfiguren, Bildsprache (Metaphern)«148 . Dies erfordert eine ganze Reihe einzelner Fähigkeiten, die von Kenntnissen verschiedener Stilfiguren über die Kompetenz, sie in einem unbekannten Text auch als solche zu identifizieren, bis hin zu einem Rückbezug des jeweiligen Gestaltungsmittels auf das Textganze bzw. hieraus ausgewählter Einzelelemente unter einer sehr spezifischen Fragestellung bzw. eines Analyse- oder Interpretationsansatzes reichen. Zudem sind hier Fähigkeiten aufgeführt, »denen selbst mancher Abiturient nicht gewachsen ist«149 , insbesondere dann, wenn diese Gestaltungsmittel in ihrer historischen Dimension reflektiert und eingeordnet werden sollen, was etwa im Falle des Gebrauchs tradierter Motive und Metaphern umfassendes literaturgeschichtliches Wissen voraussetzt, über das 16-Jährige nicht verfügen können.150 Die Bildungsstandards im Fach Deutsch für die Allgemeine Hochschulreife wurden erst verhältnismäßig spät, im Herbst 2012, veröffentlicht und lösten im Zuge der Zentralisierung der Bildungsabschlüsse zugleich die bis dahin gültigen Einheitlichen Prüfungsanforderungen in der Abiturprüfung im Fach Deutsch in der Fassung von 2002151 ab. Man ist hier im Einzelnen mit 96 Kompetenzen konfrontiert, die fünf Kompetenzbereichen zugeordnet sind, welche sich noch einmal in prozessbezogene Kompetenzbereiche (Sprechen und Zuhören, Schreiben, Lesen) sowie domänenspezifische Kompetenzbereiche 148 Kultusministerkonferenz: Bildungsstandards im Fach Deutsch für den Mittleren Schulabschluss. Beschluss vom 4.12.2003. München: Luchterhand 2004. S. 14. www.kmk.org/fileadmin/ veroeffentlichungen_beschluesse/2003/2003_12_04-BS-Deutsch-MS.pdf (Abrufdatum 14.12. 2017). 149 Freudenberg: Was Abiturient/innen können sollen. S. 99. 150 Dass hier eine Lücke zwischen einem hohen Anspruch (bei teilweise unklar bleibenden genauen Anforderungen) und den tatsächlich erwartbaren Schüler_innenleistungen klafft, macht auch Karlheinz Fingerhut aus. Er stützt seine Argumentation auf eine Klausuraufgabenbearbeitung von Studierenden im Anschluss an ein fachdidaktisches Seminar und kommt zu dem Schluss: »Das, was die bisher als ›Standards im Arbeitsbereich Umgang mit Texten und Medien‹ vorgelegten Kompetenzskalen formulieren, hat mit dem hier erhobenen Textverstehen wenig bis nichts zu tun. Die den ›Musteraufgaben‹ der Landesinstitute beigegebenen ›Anpassungen‹ von Aufgaben und Leistungserwartungen (der sog. ›Standardbezug‹) sind intrainstitutionelle Rhetorik«. Auch sei »anhand von geschriebenen Fließtexten« eine exakte Beschreibung von Verstehensleistungen »nicht genau genug zu erfassen« (Fingerhut: Literaturunterricht über Kompetenzmodelle organisieren? S. 154), der Rückschluss vom Produkt auf die hierhinter vermuteten Kompetenzen im Fall der schriftlichen Auseinandersetzung mit literarischen Texten allein deshalb nicht immer möglich, weil sich hier »Lese- und Formulierungsleistungen« verbinden. (Ebd. S. 145; Fingerhut bezieht sich auf die zum Zeitpunkt der Veröffentlichung seines Aufsatzes schon vorliegenden Bildungsstandards im Fach Deutsch für den Mittleren Schulabschluss.) 151 Kultusministerkonferenz: Einheitliche Prüfungsanforderungen in der Abiturprüfung – Deutsch. (Beschluss der Kultusministerkonferenz vom 01.12.1989 i. d. F. vom 24.05.2002). www.kmk. org/fileadmin/veroeffentlichungen_beschluesse/1989/1989_12_01-EPA-Deutsch.pdf (Abrufdatum 13.11.2015).

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Literarästhetische Literalität

(sich mit Texten und Medien auseinandersetzen, Sprache und Sprachgebrauch reflektieren) untergliedern.152 Wenn in den Zielsetzungen der vorangestellten Fachpräambel hervorgehoben wird, dass die Standards an den »ästhetischen Kompetenzen« der Schüler_innen ansetzen, das Ziel verfolgen, ein »ästhetisches Bewusstseins« auszubilden und dem Fach Deutsch zudem die Aufgabe zukommt, die »Rezeption und Wertschätzung künstlerischer Produktion« zu fördern sowie »die ästhetische Urteilsbildung, Genuss- und Gestaltungsfähigkeit der Schülerinnen und Schüler«153 zu erweitern, dann liegt dem zunächst einmal ein anderer Ansatz im Umgang mit literarischen Texten als der der PISA-Studie zugrunde, wo die Rolle von Literatur ja letztlich pädagogischen Funktionalisierungen folgte. Die Erläuterungen zum Kompetenzbereich »Sich mit literarischen Texten auseinandersetzen« heben zudem als Zielpunkt der schulischen Ausbildung hervor: »Die Schülerinnen und Schüler […] verstehen das Ästhetische als eine spezifische Weise der Wahrnehmung, der Gestaltung und der Erkenntnis.«154 Dies kommt dem Ansatz dieser Arbeit nahe: Verfolgt wird die Ausbildung einer Literalität, die einen Zugang zur kulturellen Praxis literarästhetischer Sprachverwendung ermöglicht. Es wird allerdings zu prüfen sein, inwieweit sich dies innerhalb des Kompetenzparadigmas der Bildungsstandards umsetzen lässt. Der prozessbezogene Kompetenzbereich »Sprechen und Zuhören« nimmt nur über die Kompetenz des »sinngebend[en] und der Form entsprechend[en] [V]ortragen[s]« unmittelbar auf literarische Texte Bezug.155 Bereits hier wird aber deutlich, dass die angezielte Ausbildung einer ästhetischen »Genuss- und Gestaltungsfähigkeit« in einen Konflikt zum Kompetenzbegriff gerät. Legt man diesen zugrunde, drohen solche Vortragssituationen Schüler_innen eher als notwendige ›Bewältigung‹ einer Aufgabe zu erscheinen, denn als etwas, bei dem sich eine Lust am Spiel mit dem Klang, mit verschiedenen möglichen Vortragsweisen und so ein ästhetischer Genuss einstellen kann. Im Kompetenzbereich »Schreiben« bleibt der Bereich des gestaltenden Schreibens erhalten. Zwei von insgesamt drei aufgeführten Kompetenzen sind (auch) dem Bereich literarästhetischen Lernens zuzurechnen: das auf Basis einer literarischen Vorlage erfolgende »[N]eu-, [U]m- oder [Weiter]schreiben«, das gleichermaßen auf die »Korrespondenz von Vorlage und eigenem Text« wie auf die Entfaltung eines »ästhetische[n] Ausdrucksvermögen[s]« zielt, sowie das gestaltende Schreiben von »ästhetische[n], epistemische[n], reflexive[n] Textformen wie Essay, Tagebuch, Gedicht, Brief zur Selbstreflexion, Wissensbildung und Entfaltung des ästhetischen Ausdrucksvermögens«156 . Problematisch bleibt aber, dass dem keine Aufgabenart der schriftlichen Ab152 153 154 155 156

Vgl. Kultusministerkonferenz: Bildungsstandards im Fach Deutsch für die Allgemeine Hochschulreife. S. 6. Ebd. S. 13. Ebd. S. 18. Vgl. ebd. S. 16. Ebd. S. 17.

1. Problemaufriss: Lesekompetenz und Literaturunterricht

iturprüfung mehr entspricht, was faktisch die Relevanz der Vermittlung dessen im Unterricht erheblich mindert.157 Im letzten der drei prozessbezogenen Kompetenzbereiche, dem des »Lesen[s]«, sind zwei Kompetenzen ausgewiesen, die die für ästhetische Rezeption maßgebliche Prozessorientierung im Zuge metakognitiver Reflexionskompetenzen aufgreifen: »Die Schülerinnen und Schüler können im Leseprozess ihre auf unterschiedlichen Interpretations- und Analyseverfahren beruhenden Verstehensentwürfe überprüfen« und »die Einsicht in die Vorläufigkeit ihrer Verstehensentwürfe zur kontinuierlichen Überprüfung ihrer Hypothesen nutzen«158 . Dies wird in Teilen der Prozessstruktur ästhetischer Rezeption gerecht. Doch bleibt im Rahmen der Kompetenzorientierung die Notwendigkeit, dass der Fokus letztlich wieder auf dem abgeschlossenen Produkt liegt und somit keine genuine Prozessorientierung um ihrer selbst willen vorliegt. Dies suggeriert den Lernenden, dass die Überprüfungen dazu dienen, zu einem letztgültigen Ergebnis zu gelangen, das die unterschiedlichen Perspektiven auf den Text mit ihren ggf. nicht immer synthetisierbaren Teilergebnissen, auf denen sie basieren, nicht mehr vollständig zur Abbildung kommen lässt. Die Fokussierung auf ein in sich kohärentes ›Endergebnis‹ verdeutlicht auch eine dritte, strategiebezogene Kompetenz: »Die Schülerinnen und Schüler können Verstehensbarrieren identifizieren und sie zum Anlass eines textnahen Lesens nehmen«, was sich mit den im Folgenden von den Bildungsstandards entwickelten Kriterien literarästhetischer Rezeption zu decken scheint. Doch folgt unmittelbar hierauf eine weitere Kompetenz, die dies wieder fraglich werden lässt: »Die Schülerinnen und Schüler können Kontextwissen heranziehen, um Verstehensbarrieren zu überwinden.«159 Die Erläuterungen von Juliane Köster und Iris Winkler lassen erkennen, dass dieses Identifizieren von Verstehensbarrieren zunächst von einem Modell allgemeiner Lesekompetenz her gedacht ist. Dem Erkennen von Irritationen kommt insofern eine Bedeutung zu, als dass diese durch die kompetente Anwendung zweier Lesestrategien – textnahes Lesen und/oder Hinzuziehung von Kontextwissen – letztlich überwunden werden sollen; ein für literarische Texte nicht immer zielführendes Verfahren.160 157

Was sich auch als Eingeständnis dafür begreifen lässt, dass zumindest Teilbereiche der Zielsetzungen – wie die Entfaltung eines ästhetischen Ausdrucksvermögens – zwar als Kompetenz formuliert sind, faktisch aber innerhalb dieses Paradigmas kaum operationalisier- und messbar bleiben, also eigentlich Unterrichtsziele beschreiben, die über den Kompetenzbegriff hinausgehen. 158 Ebd. S. 18. 159 Ebd. 160 Vgl. Köster, Juliane u. Iris Winkler unter Mitarbeit von Christian Becker u.a.: Lesen. In: Michael Becker-Mrotzek u.a. (Hg.): Bildungsstandards aktuell: Deutsch in der Sekundarstufe II. Braunschweig: Schroedel 2015. S. 120-175. S. 125: »Zwei strategisch ausgerichtete Standards verdienen besondere Beachtung, weil sie der Identifikation und Bewältigung von Verstehensbarrieren verpflichtet sind. Es geht zum einen darum, ›Verstehensbarrieren [zu] identifizieren‹, und zum anderen darum, ›[Verstehensbarrieren] zu überwinden‹. Dabei werden zwei unterschiedliche Wege der Überwindung genannt: ›textnahes Lesen‹ und ›Heranziehen von Kontextwissen‹. Diese beiden Standards markieren besonders deutlich die Differenz zu den Standards des Folgekapitels (›Sich mit Texten und Medien auseinandersetzen‹), denn sie sind den Strategien verpflichtet, die den Leseunterricht in der Sek II bestimmen. Ihr typisches Merkmal besteht zudem darin, dass sie sowohl auf relevante Probleme als auch auf entsprechende Lösungsmöglichkeiten verweisen.« Dass die Autorinnen dies als Lesestrategie auch für literarische Texte sehen, verdeutlicht die verwendete

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Literarästhetische Literalität

Dem domänenspezifischen Kompetenzbereich »Sich mit Texten und Medien auseinandersetzen« liegt eine grundlegende Trennung von literarischen und pragmatischen Texten zugrunde, was den unterschiedlichen Anforderungen Rechnung trägt.161 In dem für das grundlegende Niveau (Kurse mit mindestens drei Wochenstunden) elf Einzelkompetenzen umfassenden Bereich »Sich mit literarischen Texten auseinandersetzen« finden sich nahezu durchweg rezeptive Kompetenzen.162 »Was in der Literaturdidaktik als handlungs- und produktionsorientierter Literaturunterricht […] bekannt ist, wird […] nur im Standard ›kreativ Texte im Sinne literarischen Probehandelns gestalten‹ aufgegriffen«163 , der zudem an letzter Stelle genannt wird. Dies bestätigt auch hier, dass diese Arbeitsformen im Rahmen der Kompetenzorientierung zunehmend an Bedeutung verlieren. Mit Frederking/Wieser lassen sich drei Kategorien ausmachen, unter die sich die einzelnen Kompetenzen subsumieren lassen.164 Solche, die auf inhaltliche und formale Besonderheiten literarischer Texte Bezug nehmen165 , solche, die den Einbezug von Fach- und Kontextwissen einfordern166 , und die für sich stehende Kompetenz des literarischen Probehandelns. Die im Rahmen eines kompetenzorientierten Ansatzes aufMetaphorik, dass von Schüler_innen »die aus Formen der Indirektheit resultierenden Verstehensbarrieren zu bewältigen sind« (ebd. S. 127). Dem ist in einer Hinsicht gewiss zuzustimmen, etwa wenn es um die Erschließung relevanter kulturgeschichtlicher Kontexte einer verwendeten Allegorie oder um Wissen bezüglich der Form und Funktion einer Metapher geht. Solche Formen von »Verstehensbarrieren« sind aber abzugrenzen von anderen, bei denen der literarische Text gezielt die Grenzen alltagspragmatischer Verstehensentwürfe überschreitet – und gerade nicht »bewältigt« werden will. In ihren eigenen illustrierenden Aufgabenbeispielen zum Kurzprosatext Lektüre von Michael Augustin, der »kaum eine kohärente Deutung zulässt« (ebd. S. 172), gehen die Autorinnen dann einerseits zwar ausdrücklich auf die »Deutungsoffenheit des Textes« und das so ermöglichte »Experimentieren mit Deutungshypothesen« (ebd. S. 167) ein und entwerfen ein Aufgabenset, das Schüler_innen hierauf hinzuführen vermag, halten aber am fragwürdigen Begriff des »Überwindens von Verstehensbarrieren« fest (vgl. S. 172). 161 Vgl. Frederking, Volker u. Dorothee Wieser unter Mitarbeit von Robert Grüschow u.a.: Sich mit Texten und Medien auseinandersetzen. In: Michael Becker-Mrotzek u.a. (Hg.): Bildungsstandards aktuell: Deutsch in der Sekundarstufe II. Braunschweig: Schroedel 2015. S. 176-234. S. 184. 162 Die Kompetenzen für das erhöhte Niveau (Kurse mit mindestens vier oder mehr Wochenstunden) differenzieren im Wesentlichen nur den Bereich von Kontextwissen und Kontextualisierung weiter aus. 163 Frederking/Wieser: Sich mit Texten und Medien auseinandersetzen. S. 184. 164 Vgl. ebd. S. 182. 165 In rezeptionsästhetischer Hinsicht etwa »Mehrdeutigkeit als konstitutives Merkmal literarischer Texte nachweisen«, in produktionsästhetischer etwa »literarische Texte aller Gattungen als Produkte künstlerischer Gestaltung erschließen«. Kultusministerkonferenz: Bildungsstandards im Fach Deutsch für die Allgemeine Hochschulreife. S. 19. 166 Dies gilt mit Blick auf vier verschiedene Ebenen (vgl. Frederking/Wieser: Sich mit Texten und Medien auseinandersetzen. S. 182): a) »gattungspoetologische und literaturgeschichtliche Kenntnisse«, b) »relevante Motive, Themen und Strukturen literarischer Schriften, die auch über Barock und Mittelalter bis in die Antike zurückreichen können«, c) »breit angelegte[s] literarische[s] Vorwissen« (gemeint ist offenbar auch prozedurales Wissen), das ermöglicht, die »besondere ästhetische Qualität eines literarischen Produktes [zu erfassen]« und d) intertextuelles Wissen, um »diachrone und synchrone Zusammenhänge zwischen literarischen Texten [zu] ermitteln und Bezüge zu weiteren Kontexten herzustellen«. (Kulturministerkonferenz: Bildungsstandards im Fach Deutsch für die Allgemeine Hochschulreife. S. 18f.)

1. Problemaufriss: Lesekompetenz und Literaturunterricht

fällig hohe Bedeutung, die den jeweilig zu aktivierenden Wissensbeständen zukommt, greift empirische Untersuchungen der Literaturdidaktik auf, die hierin einen zentralen Faktor literarischer Kompetenz festmachen.167 Neben der Marginalisierung handlungs- und produktionsorientierter Zugänge finden auch Fähigkeiten, die auf die Vorstellungsbildung abzielen, keine Erwähnung. Die Tatsache, dass sich solche Operationen kaum outputorientiert operationalisieren und messen lassen, mag ein nicht unwesentlicher Grund dafür gewesen sein, sie ganz außen vor zu lassen. Weiterhin ist zu sagen, dass auch für die Bildungsstandards für die Allgemeine Hochschulreife das gilt, was Freudenberg bereits für die des Mittleren Schulabschlusses kritisch sah, und zwar die Problematik, dass insbesondere auf erhöhtem Niveau die angesetzten Regelstandards nicht mehr wirklich trennscharf zu erwartbaren Qualifikationen ausgangs eines literaturwissenschaftlichen Studiums sind. So wird es etwa zum Ziel, dass die »Schülerinnen und Schüler […] den besonderen poetischen Anspruch und die ästhetische Qualität literarischer Texte vor dem Hintergrund ihrer Kenntnisse in den Bereichen Poetologie und Ästhetik erläutern« oder »Kenntnisse wissenschaftlicher Sekundärtexte, philosophischer Schriften und historischer Abhandlungen in die Kontextualisierung literarischer Werke einbeziehen«168 können. Die empirisch ausgerichtete Studie von Michael Steinmetz Der überforderte Abiturient im Fach Deutsch bestätigt, dass gemessen an dem, was Schüler_innen der Kursstufe realistisch zu leisten in der Lage sind, hier zu hoch gegriffen wird.169 Ein weiterer Punkt soll nur kurz Erwähnung finden: Er betrifft die Abkoppelung des domänenspezifischen Bereichs »Sprache und Sprachgebrauch reflektieren« von dem Bereich »Sich mit Texten und Medien auseinandersetzen«, wozu dann als Unterpunkt auch die Auseinandersetzung mit literarischen Texten gerechnet wird.170 Auffällig ist, dass die Kompetenzen zu »Sprache und Sprachgebrauch reflektieren« einzig an der kommunikativen Funktion von Sprache und an sprachhistorischen Diskursen ansetzen: »Die Schülerinnen und Schüler analysieren Sprache als System und als historisch gewordenes Kommunikationsmedium und erweitern so ihr Sprachwissen und ihre Sprachbewusstheit. Sie nutzen beides für die mündliche und schriftliche Kommunikation.« Die erste der im Folgenden formulierten Kompetenzen erweitert 167

Vgl. etwa Winkler, Iris: Welches Wissen fördert das Verstehen literarischer Texte? Zur Frage der Modellierung literarischen Wissens für den Deutschunterricht. In: Didaktik Deutsch 13 (2007), H. 22, S. 71-88 und den von Irene Pieper und Dorothee Wieser herausgegebenen Band: Fachliches Wissen und Literarisches Verstehen. Studien zu einer brisanten Relation. Frankfurt a.M.: Peter Lang 2012. 168 Kultusministerkonferenz: Bildungsstandards im Fach Deutsch für die Allgemeine Hochschulreife. S. 19. 169 Steinmetz, Michael: Der überforderte Abiturient im Fach Deutsch. Eine qualitativ-empirische Studie zur Realisierbarkeit von Bildungsstandards. Wiesbaden: VS Springer 2013. 170 Vgl. kritisch hierzu auch Zabka, Thomas: Konzepte der Integration sprachlicher und literarischer Bildung. In: Gerhard Härle u. Bernhard Rank (Hg.): »Sich bilden, ist nichts anders, als frei werden.« Sprachliche und literarische Bildung als Herausforderung für den Deutschunterricht. Baltmannsweiler: Schneider 2008. S. 183-197. S. 184f.

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Literarästhetische Literalität

dies zwar noch um die »kognitive[] Funktion von Sprache«171 , die ästhetische bleibt hier aber außen vor. Dies ist umso bedauerlicher, als ein Konnex dieses Feldes zu den Standards in der Auseinandersetzung mit literarischen Texten eine inhaltliche Lücke füllen könnte, die mit Blick auf die dort formulierten Kompetenzen soeben aufgezeigt wurde. Denn eine auf dem domänenspezifischen Kompetenzbereich einer Reflexion von Sprache und Sprachgebrauch basierende Erschließung sprachlich-ästhetischer Funktionen in literarischen Texten befördert deren Wahrnehmung als »Produkte künstlerischer Gestaltung«172 . Als Ergebnis bleibt festzuhalten, dass in ihren Zielsetzungen die aufgeführten Kompetenzen nachvollziehbar sind und – mit Ausnahme des nicht vorhandenen Aufgriffs von Fähigkeiten auf dem Gebiet der Vorstellung und Imagination – einen angemessenen Umgang mit dem ästhetischen Potential literarischer Texte gewährleisten können, hinsichtlich der konkreten Umsetzung, auf welcher Grundlage und in welcher Form dies geschehen soll, aber mit dem Kompetenzbegriff Weinerts in Konflikt geraten.

1.7.

Exemplarische Analyse der Aufgabe »Poseidon«

Aufgrund des hohen Grades an Allgemeinheit der Standards kommt den illustrierenden Aufgabenbeispielen besondere Bedeutung zu.173 Sie beziehen sich sowohl auf (Abitur-) Prüfungsaufgaben als auch auf Lernaufgaben. Am konkreten Beispiel ist hier zu untersuchen, inwieweit diese Aufgaben auf Basis des kompetenzorientierten Ansatzes die in der Präambel formulierten Ziele einlösen und ein ästhetisches Bewusstsein im Umgang mit literarischen Texten auszubilden vermögen. Deshalb wird im Gegensatz zu den einen bestimmten Lernstand abprüfenden Aufgabenbeispielen der PISA-Studie und der VERA-8-Lernstandserhebung nun exemplarisch auf ein Set von Lernaufgaben zurückgegriffen, das unter dem Kürzel »Poseidon« firmiert174 und dem folgender Text aus dem Nachlass Franz Kafkas zugrunde liegt: Franz Kafka (August bis Spätjahr 1920) Poseidon saß an seinem Arbeitstisch und rechnete. Die Verwaltung aller Gewässer gab ihm unendliche Arbeit. Er hätte Hilfskräfte haben können wie viel er wollte und er hatte auch sehr viele, aber da er sein Amt sehr ernst nahm, rechnete er alles noch einmal durch und so halfen ihm die Hilfskräfte wenig. Man kann nicht sagen daß ihn die Arbeit freute, er führte sie eigentlich nur aus weil sie ihm auferlegt war, ja er hatte sich schon 171 172 173

174

Kultusministerkonferenz: Bildungsstandards im Fach Deutsch für die Allgemeine Hochschulreife. S. 20. Ebd. S. 19. Vgl. Becker-Mrotzek, Michael, Petra Stanat u. Lars Hoffmann: Vorwort. In: Michael Becker-Mrotzek u.a.: Bildungsstandards aktuell. Deutsch in der Sekundarstufe II. Braunschweig: Schroedel 2015. S. 10-19. S. 11: »Die Kompetenzbeschreibungen sind in BS zwangsläufig recht allgemein formuliert und spezifizieren nur eingeschränkt […] konkrete Inhalte. Um das mit den Zielvorgaben angestrebte Anforderungsniveau zu verdeutlichen, ist es daher insbesondere in den sprachlichen Fächern erforderlich, die BS anhand von Aufgabenstellungen zu illustrieren.« Vgl. Kultusministerkonferenz: Bildungsstandards im Fach Deutsch für die Allgemeine Hochschulreife. S. 122-130.

1. Problemaufriss: Lesekompetenz und Literaturunterricht

oft um fröhlichere Arbeit, wie er sich ausdrückte beworben, aber immer wenn man ihm dann verschiedene Vorschläge machte, zeigte es sich, daß ihm doch nichts so zusagte, wie sein bisheriges Amt. Es war auch sehr schwer, etwas anderes für ihn zu finden. Man konnte ihm doch unmöglich etwa ein bestimmtes Meer zuweisen, abgesehen davon daß auch hier die rechnerische Arbeit nicht kleiner sondern nur kleinlicher war, konnte der große Poseidon doch immer nur eine beherrschende Stellung bekommen. Und bot man ihm eine Stellung außerhalb des Wassers an, wurde ihm schon von der Vorstellung übel, sein göttlicher Atem geriet in Unordnung, sein eherner Brustkorb schwankte. Übrigens nahm man seine Beschwerden nicht eigentlich ernst; wenn ein Mächtiger quält, muß man ihm auch in der aussichtslosesten Angelegenheit scheinbar nachzugeben versuchen; an eine wirkliche Enthebung Poseidons von seinem Amt dachte niemand, seit Urbeginn war er zum Gott der Meere bestimmt worden und dabei mußte es bleiben. Am meisten ärgerte er sich – und dies verursachte hauptsächlich seine Unzufriedenheit mit dem Amt – wenn er von den Vorstellungen hörte, die man sich von ihm machte, wie er etwa immerfort mit dem Dreizack durch die Fluten kutschiere. Unterdessen saß er hier in der Tiefe des Weltmeeres und rechnete ununterbrochen, hie und da eine Reise zu Jupiter war die einzige Unterbrechung der Eintönigkeit, eine Reise übrigens, von der er meistens wütend zurückkehrte. So hatte er die Meere kaum gesehn, nur flüchtig beim eiligen Aufstieg zum Olymp, und niemals wirklich durchfahren. Er pflegte zu sagen, er warte damit bis zum Weltuntergang, dann werde sich wohl noch ein stiller Augenblick ergeben, wo er knapp vor dem Ende nach Durchsicht der letzten Rechnung noch schnell eine kleine Rundfahrt werde machen können.175 Abgebildet werden sollen »schwerpunktmäßig […] Kompetenzen aus dem Bereich ›Sich mit Texten und Medien auseinandersetzen‹ (Teilbereich ›Sich mit literarischen Texten auseinandersetzen‹)«, die auf folgende »Bildungsstandards auf grundlegendem Niveau« zurückbezogen werden: Die Schülerinnen und Schüler können • Inhalt, Aufbau und sprachliche Gestaltung literarischer Texte analysieren, Sinnzusammenhänge zwischen einzelnen Einheiten dieser Texte herstellen und sie als Geflechte innerer Bezüge und Abhängigkeiten erfassen • eigenständig ein Textverständnis formulieren, in das sie persönliche Leseerfahrungen und alternative Lesarten des Textes einbeziehen, und auf der Basis eigener Analyseergebnisse begründen • Mehrdeutigkeit als konstitutives Merkmal literarischer Texte nachweisen • diachrone und synchrone Zusammenhänge zwischen literarischen Texten ermitteln und Bezüge zu weiteren Kontexten herstellen • kreativ Texte im Sinne literarischen Probehandelns gestalten176 175 176

Ebd. S. 124. Ebd. S. 123.

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Literarästhetische Literalität

Dies soll anhand des folgenden, einem »mittleren Schwierigkeitsgrad« zugeordneten Aufgabensets umgesetzt werden, das in drei Blöcke (Aufgabe 1-3, 4-5 und 6-10) gegliedert hier untersucht wird: [01] Überprüfen Sie, ob die folgenden Aussagen mit dem Inhalt des Textes übereinstimmen. Begründen Sie Ihre Meinung am Text! a) Poseidon verfügt über uneingeschränkte Macht. b) Poseidon hat einen Überblick über seinen Amtsbereich. c) Poseidon führt sein Amt penibel und zuverlässig aus. d) Poseidon ist dauerhaft an sein Amt gebunden. [02] Kreuzen Sie an, welche Aussagen dem Inhalt des Textes entsprechen. Diskutieren Sie Ihre Antworten in Ihrer Lerngruppe. Poseidon führt sein Amt aus, weil … richtig falsch a) es seinem Leben Sinn gibt. ο ο b) er sich dazu verpflichtet fühlt. ο ο ο ο c) er es für seine Berufung hält. d) er sich keine andere Arbeit vorstellen kann. ο ο ο ο e) sich keine andere Arbeit für ihn findet. [03] »Am meisten ärgerte er sich – und dies verursachte hauptsächlich seine Unzufriedenheit mit dem Amt – wenn er von den Vorstellungen hörte, die man sich von ihm machte, wie er etwa immerfort mit dem Dreizack durch die Fluten kutschiere.« (Z. 19 – 21) Welche Aussage trifft am ehesten auf den Inhalt des Satzes zu? Diskutieren Sie Ihre Antworten in Ihrer Lerngruppe. Poseidon ärgert sich, weil a) er ursprünglich andere Vorstellungen von seinem Amt hatte. b) andere ein falsches Bild von ihm haben. c) niemand seine Arbeit zu schätzen weiß. d) seine Arbeit ihn nicht zufrieden stellt.177 Bei diesen ersten drei Aufgaben handelt es sich um eine Kombination von Aufgaben in geschlossenem Format mit solchen des halboffenen Formats, da die Lösungen der geschlossenen Form begründet resp. diskutiert werden sollen. Ohne diesen öffnenden Zusatz würden die drei Arbeitsaufträge Schüler_innen gänzlich in die Irre führen, da sie alle ein großes Manko dieses Typs geradezu mustergültig repräsentieren: die »Gefahr der Bedeutungsreduzierung im Sinne einer Lesart, die keinesfalls alternativlos ist«178 . Doch auch mit den eingeforderten begründenden Anteilen können Zweifel aufkommen, ob ein solches Vorgehen den Lernenden einen ästhetisch reflektierten Zugang zum Text ermöglicht. Das Vorgehen orientiert sich offensichtlich an den zuvor vorgestellten Modellen allgemeiner Lesekompetenz und hat zum Ziel, ein erstes inhaltliches Textverstehen im Sinne des Aufbaus globaler Kohärenz zu sichern. Hierauf deutet auch 177 178

Ebd. S. 125. Baurmann/Kammler: Interpretationsaufgaben stellen – Interpretationen bewerten. S. 8.

1. Problemaufriss: Lesekompetenz und Literaturunterricht

der Kommentar der »Aufgabenbeschreibung« hin: »Die Teilaufgaben 1 bis 3 regen die Schülerinnen und Schüler dazu an, ein erstes Textweltmodell zu entwickeln. Um über die Gültigkeit der vorgegebenen Aussagen zu entscheiden, müssen sie ihr Verständnis anhand geeigneter Textelemente prüfen und begründen sowie ggf. revidieren.«179 Es stellt sich aber die Frage, ob ein solches erstes »Textweltmodell« sich anhand von schlichten ›richtig/falsch‹-Optionen (wie in Aufgabe 1 und 2) bei diesem literarischen Text adäquat herstellen lässt. In den »Lösungsvorschlägen« wird an Aufgabe 1 der Anspruch gestellt, dass es hier »darum [geht], sehr genau auszuloten, welche der Aussagen (eher) zurückgewiesen werden können, um auf diese Weise deutlich zu machen, wo der Text Deutungsoptionen eröffnet und an welchen Stellen (eher) nicht«180 . Warum aber dann die Option, dass schlicht überprüft werden soll, ob die Aussage mit dem Inhalt des Textes übereinstimmt oder nicht? Und warum wird nach einer (persönlichen) »Meinung« dazu gefragt? Ein solcher Zugang suggeriert den Lernenden, dass sie den Inhalt des Textes zunächst einmal ohne Blick auf dessen formale Struktur ins Auge fassen und vor einer genauen Auseinandersetzung hiermit »Meinungen« zu ihm äußern sollen – beides ist nicht gegenstandsadäquat! Bei Teilaufgabe a) kann noch am ehesten klar ausgesagt werden, dass sie nicht zutrifft. Bereits b) erfordert aber eine eingehende Diskussion, in der beide Antwortmöglichkeiten begründbar sind. Die Erwartungen der KMK sehen die Lösung »trifft eher nicht zu« vor – einer Schülerin oder einem Schüler jedoch, die bzw. der aus einer möglichen Figurenperspektive Poseidons antwortet und diesem aufgrund seiner Berechnungen eine gewisse Form von Überblick über die Gewässer zuspricht, wird dies nicht gänzlich abgesprochen werden können; hier ist man dann aber bereits mitten in einer Diskussion, die auf Gestaltungstechniken und vom Text produzierte Widersprüchlichkeiten Bezug nehmen muss, was mit dieser Aufgabe aber allem Anschein nach nicht intendiert ist, wenn nur die Etablierung eines ersten »Textweltmodells« ermöglicht werden soll. Die Begründung, die in den Lösungsvorschlägen gegeben wird, dass Poseidon deshalb keinen Überblick habe, weil er »nur am Schreibtisch sitzt« und »in der Tiefe des Weltmeeres ununterbrochen rechnet«, dabei aber »die Meere kaum gesehen hat«181 , ist anfechtbar. In der Fragestellung ist ausdrücklich vom »Amtsbereich« die Rede, was auf einen Überblick über die Verwaltungsgröße ›Meer‹ und nicht über das ›reale‹ Gebiet zielt. Man könnte zwar aus der Tatsache, dass die Verwaltung Poseidon »unendliche Arbeit« aufgibt, schließen, dass ein letzter Überblick dem Rechnenden offenbar nicht möglich ist, doch geht der Text nicht auf diesen Punkt aus. Er hebt vielmehr ab auf Struktur und Inhalt der Tätigkeit des Verwaltungsaktes an sich und weniger auf die hierbei produzierten Ergebnisse. Der Lösungshinweis zu Teilaufgabe c) (»trifft zu«) ist dann wiederum plausibler nachvollziehbar (in Zweifel ziehen lässt sich hier allerdings die objektive Zuverlässigkeit der Arbeit Poseidons, denn nirgends finden sich Hinweise darauf, dass Poseidon bei aller Sorgfalt, die er auf sein Amt verwendet, auch wirklich ›richtig‹ rechnet – und 179

Kultusministerkonferenz: Bildungsstandards im Fach Deutsch für die Allgemeine Hochschulreife. S. 127. 180 Ebd. 181 Ebd.

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Literarästhetische Literalität

die Frage hiernach verweist nur auf eine weitere, nämlich auf die nach dem Maßstab, anhand dessen dies beurteilt werden soll …) – Teilaufgabe d) hingegen bereitet größere Probleme: Der Lösungshinweis »trifft zu« kann von Schüler_innen sinnvoll dadurch infrage gestellt werden, dass im Text nur davon die Rede ist, dass bisher alle Alternativen, die man Poseidon angeboten hatte, von ihm verworfen wurden – der Schluss der Erzählung legt zwar nahe, dass er davon ausgeht, bis zum »Weltuntergang« noch seiner jetzigen Arbeit nachzugehen, doch kann sein Nachdenken über Alternativen als Hinweis gewertet werden, dass er selbst sich zumindest imaginativ noch andere Handlungsoptionen offenhält. Eine weitere Frage, die sich in diesem Kontext stellt und unterreflektiert bleibt, betrifft die Zuverlässigkeit der Erzählinstanz. Diese verbirgt sich hinter einem anonymen »man« und es ist unklar, aus welcher Position heraus sie berichtet. Deren Modus lässt sich zwar als Nullfokalisierung (»der Erzähler weiß bzw. sagt mehr, als irgendeine der Figuren weiß bzw. wahrnimmt«182 ) mit einem mittleren Grad an Distanz (der Erzähler bleibt Sprecher, der die Leser_innen indirekt über Äußerungen und Gedanken der Figur informiert183 ) bestimmen und die Stimme ist heterodiegetisch, also außerhalb der Figuren der erzählten Welt anzusiedeln, doch ob das Geschehen der erzählten Welt ›objektiv‹ berichtet wird, bleibt unentscheidbar. Formulierungen wie »und dabei mußte es bleiben« sind hinsichtlich des Ausweises ihrer Legitimation für die Leser_innen nicht nachvollziehbar, da die Erzählinstanz zwar außerhalb des dargestellten Geschehens steht, zugleich aber Teil des bürokratischen Diskurses bzw. Apparates zu sein scheint. Da die Rekonstruktion des Textinhalts zwangsläufig von der Erzählinstanz abhängig ist, verlagert sich die Fragwürdigkeit ihrer genauen Situierung und Bestimmung auf die der berichteten Textaussagen. Und die geraten somit auch bei scheinbar banalen Fragen zum Textverständnis wie in Teilaufgabe d) auf schwankenden Boden. Ähnlich problematisch ist dann Aufgabe 2 gelagert: Die ›richtig/falsch‹-Ankreuzoptionen suggerieren Schüler_innen auch hier Eindeutigkeit, wo sie nicht gegeben ist. Dies reflektieren die Lösungshinweise zwar (»Die Antworten a), b) und c) sind nicht trennscharf und bedürfen einer Diskussion über Sinn, Verpflichtung und Berufung in der Lerngruppe. Es ist nicht einfach zu entscheiden, ob Poseidon in der Ausübung seines Amtes tatsächlich Sinn sieht.«184 ), doch hätten diese Überlegungen eigentlich verhindern müssen, dass die Aufgabe in der vorliegenden Form überhaupt gestellt wird. Denn ihre Bearbeitung greift weit über ein inhaltliches Textverstehen und ein »erstes Textweltmodell« hinaus; hier muss Weltwissen auf verschiedenen Ebenen aktiviert werden, über das man sich zudem etwa hinsichtlich einer Begriffsklärung, was Termini wie »Sinn«, »Verpflichtung« und »Berufung« genau beinhalten, auch nicht so schnell wird einigen können. Mögliche Antworten werden immer schon eine interpretative Deutung des Textes beinhalten – und dies bevor zu diesem Zeitpunkt wichtige Analyseschritte vollzogen sind. Dieses Aufgabenset birgt die Gefahr, das 182

Martinez, Matias u. Michael Scheffel: Einführung in die Erzähltheorie. 5. Auflage. München: Beck 2003. S. 64. 183 Vgl. ebd. S. 52f. 184 Kultusministerkonferenz: Bildungsstandards im Fach Deutsch für die Allgemeine Hochschulreife. S. 128.

1. Problemaufriss: Lesekompetenz und Literaturunterricht

ästhetische Potential des Textes zu ›verschenken‹, zumal mit den vorgegebenen Antwortmöglichkeiten Schüler_innen auf bestimmte, zu sehr vereindeutigende Lektüren festgelegt werden. Sie in späteren Unterrichtsstunden hiervon wieder wegzubewegen, könnte schwerfallen, da sie sich vorab bereits zu stark haben festlegen müssen. So ist etwa Aufgabe 2a), die danach fragt, ob Poseidon sein Amt ausführt, weil es seinem Leben Sinn gibt, mit »richtig« oder »falsch« schlicht nicht beantwortbar, und dies bereits auf der Oberfläche der Aussagen der Erzählinstanz selbst. Die Aufgabe geht auch an dem vorbei, was der Text verhandelt, der die ›Sinnfrage‹ allenfalls in der Form stellt, dass er ihre Absurdität vorführt. Gleiches gilt für die Fragen b) und c), ob sich Poseidon verpflichtet fühlt und er die Arbeit für Berufung hält. Der Text führt die Leser_innen gerade in einen Reflexionsprozess, in dem diese auf die Bedingtheit jeder Antwort zurückverwiesen werden, die sich weder eindeutig als »richtig« noch als »falsch« erweisen kann. Im Detail problematisch ist zudem die vorgegebene Lösungsoption für c) – die Frage, ob Poseidon sein Amt ausführt, weil er es für seine Berufung hält –, nach der diese Behauptung eher nicht zutrifft185 : Je nach Lektüre kann hier sehr wohl die Auffassung vertreten werden, dass sich Poseidon für das Amt berufen fühlt, da ihm bei allen Versuchen, eine »fröhlichere Arbeit« zu finden, letztlich »doch nichts so zusagte, wie sein bisheriges Amt«. Und dass Berufungen sich nicht zwangsläufig immer mit großem persönlichem Glück verbinden müssen, ist bereits von den biblischen Propheten überliefert … Aufgabe 3 arbeitet dann nach einem ähnlichen Prinzip, ist jedoch weniger kritisch zu sehen, da in die Aufgabenformulierung der Zusatz, welche Aussage »am ehesten« auf den Inhalt des Zitats zutrifft, aufgenommen wurde. Hiermit lässt sich besser weiterarbeiten, da den Schüler_innen von Anfang an bewusst ist, dass es weniger um richtig oder falsch als um mögliche Sinn- und Bedeutungszuschreibungen geht, die in gewissen Grenzen auch unterschiedlich ausfallen können. Die Lösungsvorschläge vereindeutigen dann aber wiederum nicht unerheblich, wenn sie einzig Option b) zulassen186 ; zumindest c) ist auch begründbar. Festzuhalten bleibt, dass die Art und Weise, wie dieses Aufgabenset in den Text einführt, den Lernenden einen ästhetischen Zugang zu literarischen Texten eher verschließen denn eröffnen dürfte. Sich auf »richtig/falsch«-Optionen festzulegen ist insbesondere dann, wenn der Text nicht immer klare Antworten zulässt, fatal, weil der fehlende Raum für darüber hinausgehende Antwortmöglichkeiten von den Schüler_innen nicht nur als frustrierend empfunden werden dürfte, sondern ihnen auch ein unangemessenes Literaturverständnis vermittelt. Die Ausrichtung an Multiple-Choice-Testformaten ist weiterhin auch deshalb nicht einsichtig, da im vorliegenden Fall ja Lern- und keine Leistungsaufgaben gestellt werden – wobei auch im zweiten Fall kein angemessener Zugriff auf den Text über die Fragen möglich wäre. Eine mögliche Erklärung wäre, dass vor dem Hintergrund des kompetenzorientierten Ansatzes in den Bildungsstandards eine Operationalisierbarkeit suggeriert werden soll, die faktisch aber nicht eingelöst wird. 185

Die Autor_innen formulieren hier wohl bewusst uneindeutig: »Von den Auswahlantworten a), b) und c) trifft Antwort b) am ehesten zu.« Ebd. S. 128. 186 Vgl. ebd.

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Die sich an den ersten Aufgabenblock anschließenden Aufgaben arbeiten allesamt anders und wesentlich überzeugender: In den Aufgaben 4 und 5 werden die Schüler_innen in der Tat zu Lektüren herausgefordert, die ästhetisches Bewusstsein erzeugen können und den aufgeführten Standardbezügen gerecht werden. [04] »Übrigens nahm man seine Beschwerden nicht eigentlich ernst; wenn ein Mächtiger quält, muß man ihm auch in der aussichtslosesten Angelegenheit scheinbar nachzugeben versuchen; an eine wirkliche Enthebung Poseidons von seinem Amt dachte niemand, seit Urbeginn war er zum Gott der Meere bestimmt worden und dabei mußte es bleiben.« (Z. 14 – 18) Diskutieren Sie, was in der Aussage unklar bleibt. Finden Sie weitere Unklarheiten im Text. Lesen Sie dazu den Text noch einmal und formulieren Sie Fragen, die der Text nicht beantwortet. Überlegen Sie, welche Funktion die Unklarheiten der Darstellung haben. [05] Kafka verwendet siebenmal im Text das Pronomen »man«. Ein Schüler sagt: »Ich verstehe nicht, warum Kafka statt »man« nicht »Jupiter« eingesetzt hat. Eine Mitschülerin antwortet: »Dafür gibt es verschiedene Erklärungen.« Wie könnte die Mitschülerin argumentieren?187 Aufgabe 4 setzt an Unklarheiten der Erzählung an und führt zu Reflexionen darüber, welche Funktion ihnen zukommt (leider schweigt sich der Lösungsteil genau hierzu dann aus188 ). In jedem Fall vermag diese ebenso wie die folgende Aufgabe die formulierte Zielsetzung »Leerstellen zu erkennen, die Deutungsspielräume eröffnen«, zu erfüllen. So kann auch die Kompetenz, »Mehrdeutigkeit als konstitutives Merkmal des Textes [zu erfassen]«189 , ausgebildet werden, was sich sowohl über die Funktion der Unklarheiten als auch über die Deutungen zu der Frage, weshalb der Text so gehäuft das Personalpronomen »man« statt Jupiter einsetzt, leisten lässt.190 Hierzu gibt der Lösungsteil Antwortoptionen vor. Diese zielen allerdings eher in eine Richtung, die die Polyvalenz des Personalpronomens »man« zum Ausgangspunkt möglicher Deutungen in der Textrezeption nimmt191 , was die Schülerinnenäußerung in der Fragestellung wiederum nicht zwangsläufig im Blick hat, wenn – produktionsästhetisch – nach Gründen gesucht wird, warum Kafka »man« statt »Jupiter« verwendet. Die Art und Weise, wie die Frage im Lösungsteil aufgefasst wird, rekurriert folglich auf 187 188 189 190

191

Ebd. S. 126. Vgl. ebd. S. 128. Ebd. S. 127. Das verwendete Verb »nachweisen« steht allerdings bereits wieder für eine ex post-Perspektive, was dem kompetenzorientierten Ansatz geschuldet ist. Aus literarästhetischer Sicht wäre das Verb »nachvollziehen« hier prozessorientierter gedacht und hätte als Vermittlungsziel einen höheren Wert, verlässt aber zwangsläufig die Produktausrichtung des Kompetenzbegriffs. »›Man‹ steht nicht für eine einzelne Figur/Person, sondern für einen undurchschaubaren (bürokratischen) Apparat. [/] Das Gefühl der Ohnmacht und des Ausgeliefertseins verstärkt sich (Z. 7, 9, 13ff.). [/] Aussagen werden mehrdeutig: Bezieht sich ›man‹ in Z. 20 auf die Götter, die Vorgesetzten oder die Menschen? ›Man‹ wird auf unterschiedlichen Ebenen verwendet (Z. 4, 15: Erzählerkommentar; Z. 7, 9, 12, 14, 20: unbestimmter Handlungsträger auf der Ebene des Erzählten).« Kultusministerkonferenz: Bildungsstandards im Fach Deutsch für die Allgemeine Hochschulreife. S. 128.

1. Problemaufriss: Lesekompetenz und Literaturunterricht

eine vermeintliche Autorenintention – es ließe sich hier sinnvoller nach der Wirkung dessen auf die Leser_innen fragen.192 Im Abgleich zu dem, was im Kontext der vierten Aufgabe bereits thematisiert wurde, könnten sich zudem Wiederholungen ergeben, sodass die Aufgabe ggf. wenig Anreiz für eine erneute Auseinandersetzung bietet. An diesem Punkt angekommen, stellt sich auch ein anderes Problem: Die vorgesehene Arbeitszeit ist mit »ca. 4 Unterrichtsstunden (2 Doppelstunden)«193 angegeben. Will man den Text auch nur in Ansätzen erschöpfend behandeln und nicht riskieren, dass auf ihn nur vorgefertigte, ggf. auch aus der vorherigen Lektüre anderer KafkaTexte gewonnene Denkmuster appliziert werden, ist spätestens dann, wenn noch der produktionsorientierte Arbeitsauftrag aus Aufgabe 8 angeschlossen wird (er ist in den Aufgabenbeschreibungen diesem Block mit den Aufgaben 4 und 5 zugewiesen, was sinnvoll ist, da er letztlich ein ähnliches Lernziel mithilfe einer anderen Methode verfolgt), die Unterrichtszeit mit dem bisher Behandelten ausgefüllt. Dies hat seine Ursache vor allem in den vermutlich ausufernden Diskussionen um die wenig zielführenden Aufgaben 1 bis 3, da Schüler_innen hier ihr erstes Textverständnis rechtfertigen wollen. Auch von dieser Warte aus betrachtet, machen diese Aufgaben wenig Sinn, zumal im letzten Block hochwertige und produktive Aufgaben enthalten sind: [06] Recherchieren Sie in geeigneten Informationsquellen zum griechischen Gott Poseidon. Untersuchen Sie, wie Kafka die Figur des Poseidon verändert hat. Halten Sie Ihre Erkenntnisse stichpunktartig fest. Diskutieren Sie in Ihrer Lerngruppe, was Kafka durch diese veränderte Darstellung erreicht. [07] Kafka hat den Text ohne Titel hinterlassen. Diskutieren Sie in Ihrer Lerngruppe mögliche Titel. Stellen Sie den treffendsten Vorschlag im Kurs vor und begründen Sie Ihre Wahl. [08] »Unterdessen saß er hier in der Tiefe des Weltmeeres und rechnete ununterbrochen, hie und da eine Reise zu Jupiter war die einzige Unterbrechung der Eintönigkeit, eine Reise übrigens, von der er meistens wütend zurückkehrte.« (Z. 22 – 24) Schreiben Sie einen Monolog, den Poseidon nach seiner Rückkehr hält und in dem er seinen Besuch bei Jupiter reflektiert. [09] Eine Schülerin meint: »Der Text ist eine moderne Göttersage.« Ein Mitschüler äußert: »Der Text ist eine Parodie auf einen verantwortungsbewussten Menschen.« Begründen Sie, warum beide Aussagen hinterfragt werden müssen. Diskutieren Sie, worin Ihrer Meinung nach der Sinn/die Bedeutung des Textes besteht. [10] Das Schlagwort »kafkaesk« findet sich in verschiedenen Nachschlagewerken als von dem Schriftsteller Franz Kafka abgeleitetes Adjektiv, das im übertragenen Sinne ›auf rätselhafte Weise unheimlich, bedrohlich‹ bedeutet und für ›Situationen und diffuse Erfahrungen der Angst, Unsicherheit und Entfremdung‹ steht. 192 193

Auch die Einleitung der Aufgabe mit den Authentizität suggerierenden Schüler_innenäußerungen dürfte von Oberstufenschüler_innen eher als unglücklich empfunden werden … Kultusministerkonferenz: Bildungsstandards im Fach Deutsch für die Allgemeine Hochschulreife. S. 122.

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Diskutieren Sie, inwiefern der Text Ansätze bietet, die zu einem solchen Begriffsverständnis beitragen. Dokumentieren Sie das Ergebnis.194 Mit Ausnahme der oben bereits angesprochenen Aufgabe 8 sollen diese »Teilaufgaben 6 und 7 sowie 9 und 10 […] zu einem vertieften (globalen) Textverständnis [führen]. Die Schülerinnen und Schüler diskutieren divergierende Lesarten des Textes und lassen dabei die Erkenntnisse einfließen, die durch die Beschäftigung mit den vorangestellten Aufgaben angelegt worden sind.«195 Aufgabe 6 vermag dies insofern, als über den gestuften Lernprozess Differenzen zu mythologischen Vorlagen herausgearbeitet und so zugleich ausgehend von genauen und konkreten Textbeobachtungen Charakteristiken der literarischen Moderne konturiert werden können. Sie kommt im Rahmen des Aufgabensets aber an zu später Stelle, da hier Grundlagen geklärt werden, die bereits für vorherige Aufgaben von zentraler Bedeutung sind.196 Unklar bleibt auch, auf welche Recherchequellen sich die Beispiellösung in Form des authentischen Schülerbeitrags – und mit welcher Legitimation – konkret stützt. Mit Aufgabe 7 wird man an diesem Punkt des Lernprozesses vermutlich nicht zu noch weit hierüber hinausgehenden Ergebnissen gelangen (da die Gefahr von plakativen Reduktionen hier gegeben ist); auch diese Aufgabe wäre in einer früheren Phase zum Abrufen eines ersten Lektüreverständnisses anstelle der Aufgaben 1 bis 3 zielführender gewesen. Aufgabe 9 vermag den Lernenden vor Augen zu führen, dass sich eine das ästhetische Potential des Textes voll ausschöpfende Lektüre nicht in nur einer Perspektive auf den Text erschöpft, sondern Polyvalenzen im Auge halten sollte. Die beiden hier zur Diskussion gestellten Aussagen sind per se durchaus nachvollziehbar, einzig in ihren fixierenden Festlegungen können sie problematisch werden. Der zweite Aufgabenteil erlaubt dann eine abschließende Deutung der Erzählung, die gut dadurch vorbereitet ist, dass die beiden zuvor angebotenen Lektüren hinsichtlich einer ausschließlichen Festlegung problematisiert wurden. Dies kann Schüler_innen den Blick dafür öffnen, dass gleiches auch für ihre nun zur Diskussion gestellten eigenen Vorschläge gilt. Aufgabe 10 beinhaltet eine in den Lösungsvorschlägen reflektierte Gefahr, dass nämlich hier die vorherigen genauen Textanalysen und -deutungen letztlich doch wieder »zu pauschalisierenden Beschreibungen«197 hinsichtlich ihres Bezugs auf das Adjektiv ›kafkaesk‹ führen, was die Aufgabenentwickler_innen gerade vermeiden wollen. Auch werden die Lernenden am Ende des Lektüreprozesses stark gelenkt, denn ihre eigenen Deutungen der Erzählung müssen der in der Aufgabe vorgegebenen inhaltlichen Besetzung des Begriffs ›kafkaesk‹ korrelieren, der »im übertragenen Sinne ›auf rätselhafte Weise unheimlich, bedrohlich‹ bedeutet und für ›Situationen und 194 Ebd. S. 126. 195 Ebd. S. 127. 196 Einen relevanten Hintergrund für Kafkas Erzählung bildet die Theogonie Hesiods (ca. 700 v. Chr.), in der Poseidon nicht als machtvoller Schöpfergott erscheint, und die Ilias Homers, in der von einem gescheiterten Teilaufstand gegen Zeus berichtet wird, an dem Poseidon beteiligt ist (vgl. Homer, Ilias. 1. Gesang. Vers 396-406). Auch im weiteren Verlauf kämpft Poseidon erst verdeckt, dann offen auf der Seite der Achaier gegen Zeus. 197 Kultusministerkonferenz: Bildungsstandards im Fach Deutsch für die Allgemeine Hochschulreife. S. 130.

1. Problemaufriss: Lesekompetenz und Literaturunterricht

diffuse Erfahrungen der Angst, Unsicherheit und Entfremdung‹ steht«198 . Sicherlich sind dies allesamt Bedeutungskontexte, die sich gut mit der Erzählung verbinden lassen, doch fällt die nur begrenzt ermöglichte Eigenständigkeit der Bearbeitungen hinter das bereits Geleistete zurück. Das Aufgabenset verdeutlicht so exemplarisch die zentralen Ergebnisse dieses ersten Kapitels: Der erste Aufgabenblock ist, zumindest hinsichtlich der Fixierung von Antwortvorgaben, die dann zwar zur Diskussion gestellt und hinterfragt werden sollen, nicht weit von den Formaten und Inhalten der PISA-Aufgaben entfernt. Die Beobachtung Freudenbergs, der zufolge der »Reading literacy-Begriff aus den PISA-Studien […] leitend für die MSA-Standards [Bildungsstandards für den Mittleren Schulabschluss im Fach Deutsch] war«199 , bestätigt sich hier im Aufgabenteil auch teilweise für den Umgang mit literarischen Texten in den Bildungsstandards für die Allgemeine Hochschulreife.200 Zugleich zeigt sich die Inkompatibilität eines solchen Modells für die Rezeption literarischer Texte darin, dass die ersten drei Aufgaben ihre Funktion, ein erstes inhaltliches Textverständnis zu sichern, nicht erfüllen können: Sprachliche Form und Inhalt gehen in dem Kafka-Text ein viel zu enges Geflecht ein, als dass auf diesem Wege ein sinnvoller Einstieg in den Lernprozess gefunden werden könnte. Weiterhin werden die Grenzen eines engen Kompetenzbegriffs im Sinne Weinerts deutlich – denn eine klare Operationalisierbarkeit ist selbst innerhalb der hier gewählten Aufgabenform nicht gewährleistet. Den Beweis dafür, dass dies kein korrigierbares Manko dieses einen Aufgabensets ist, sondern strukturelle Gründe hat, werden die beiden folgenden Kapitel antreten. Eine zunächst nur auf die Konzeption dieser Aufgabe bezogene Problematik, die aber gleichwohl auch auf eine symptomatische Gefahr im Umgang mit literarischen Texten hinweist, betrifft die vorgesehene Zeit, die im Unterricht auf die Bearbeitung verwendet werden soll: Innerhalb von vier Unterrichtsstunden ist das Aufgabenset schlicht nicht zu absolvieren und ein solcher Versuch würde eine sehr oberflächliche Herangehensweise bei der Bearbeitung provozieren, was insbesondere dann fatal ist, wenn mit dem Text Kompetenzen zu ästhetisch-literarischen Lektüren »vertieft«201 werden sollen – und hierzu methodisch ein »[e]igenverantwortliches Lernen mit Partnern« in Form einer Arbeit in »Kleingruppen«202 vorgesehen ist. Die Ergebnisse ließen sich nur unter Zeitdruck erarbeiten und auswerten – ein Vertrautwerden mit literarischer Sprachverwendung verlangt aber gerade das Gegenteil. Dieser Zeitdruck wird umso bedauerlicher, als die zum Teil hervorragend konzipierten Folgeaufgaben 198 Ebd. S. 126. 199 Freudenberg: Was Abiturient/innen können sollen. S. 100f. 200 Dies gilt weniger für den allgemeinen Teil der Bildungsstandards und Kompetenzbereiche. Vgl. hierzu auch Frederking/Wieser: Sich mit Texten und Medien auseinandersetzen. S. 184f. 201 In den »weiterführenden Hinweise[n] und Lösungsvorschläge[n]« heißt es: Die Lernaufgabe lässt sich in eine Unterrichtsreihe einbetten, in der die Schülerinnen und Schüler Kompetenzen zur Interpretation moderner Kurzprosa vertiefen.« Kultusministerkonferenz: Bildungsstandards im Fach Deutsch für die Allgemeine Hochschulreife. S. 127. 202 Ebd.

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nach dem ersten Block zu einer vertieften Auseinandersetzung mit dem Text und auch zur methodischen Schulung im Umgang mit Literatur gut geeignet sind.

2. Ästhetische Grundlagen

Die unterschiedlichen Anforderungen bei der Rezeption literarischer im Unterschied zu pragmatischen Sprachverwendungsformen sind nun unter Rekurs auf übergeordnete Merkmale einer ästhetischen Welterfahrung näher zu bestimmen. Die Relevanz der Vermittlung eines solchen Denk- und Wahrnehmungsmodus als eines spezifischen Gebrauchs menschlicher Erkenntnisvermögen, den es im Kontext schulischer Bildungsprozesse zu entwickeln gilt, hebt Thomas Zabka unter Rekurs auf Ludwig Duncker hervor.1 Das ästhetische Denken hat nach Duncker eine kompensatorische Funktion in Bezug auf jene ›Linearisierung des Denkens‹, die in den ersten Schuljahren mit der ›Habitualisierung der Schrift‹ erfolgt. Das Denken in linearer Logik bedürfe der Ergänzung um ein ›vernetztes, mehrdimensionales, symbolisches Denken‹ (Duncker 2001, 43f.), das nicht auf ein bestimmtes Denkresultat zielt, sondern ein ›Spiel mit Elementen, Merkmalen und Bedeutungen‹ ist (Duncker 1999, S. 14).2 Die Bestimmung der Spezifika eines solchen Denkens, das um Formen des Wahrnehmens und Vorstellens zu ergänzen ist, erfolgt somit auch vor dem Hintergrund anthropologischer und bildungswissenschaftlicher Fragestellungen. Sie gehen daraus hervor, dass der ästhetische Gebrauch menschlicher Erkenntnisvermögen sich mit einer Weltund Selbstwahrnehmungsform verbindet, die nicht durch andere ersetzbar ist und von der sich auch für die Gegenwart relevante Identitätsvorstellungen herleiten.3 Dieser Aspekt ist nicht zuletzt für die Legitimation künstlerisch-ästhetischer Fächer bzw. Fach1

2 3

Dass die Bildungsstandards am Ziel der Vermittlung der spezifischen Funktionsweise ästhetischer Diskurse und somit der Formen ästhetischen Denkens im Deutsch- resp. Literaturunterricht auch nach der kompetenzorientierten Wende festhalten, konnte aufgewiesen werden. Dass die derzeit vorhandenen Instrumente, diese kompetenzorientierte Vermittlung in Form standardisierter Tests abzuprüfen, dem aber nicht gerecht werden können und faktisch von Lesekompetenzmodellen ausgehen, die für pragmatische Texte entwickelt wurden, war ebenso ersichtlich. Zabka: Ästhetische Bildung. S. 459. Dies führt Charles Taylor aus, wenngleich unter Rekurs auf eine andere Fragestellung, und zwar primär mit Blick auf die Beziehung zwischen Identitätsvorstellung und Moral (vgl. Charles Taylor: Quellen des Selbst. Die Entstehung der neuzeitlichen Identität. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1996. S. 8) sowie hinsichtlich eines mit dem folgenden Verständnis ästhetischer Denk- und Wahrneh-

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Literarästhetische Literalität

inhalte im Schulunterricht von zentraler Bedeutung. Auch wenn mit Blick auf Fragen der Ausgestaltung didaktischer Vermittlungswege vom Lernenden her zu denken ist (worauf die Kapitel 4 und 5 dann Bezug nehmen werden), so soll zur Prüfung des Rahmens, in dem sich diese Lernprozesse bewegen, zunächst vom ästhetischen Gebrauch der menschlichen Erkenntnisvermögen her gedacht werden, um dessen Spezifika näher zu bestimmen.

2.1.

Die Autonomie des Ästhetischen

Am Beginn der philosophischen Ästhetik der Neuzeit stehen zwei Positionen, die zugleich zwei Pole markieren, zwischen denen im Folgenden die Philosophie der Kunst oszillieren wird: die Ästhetiken Kants und Hegels. Während Kant ein Modell entwirft, das dem ästhetischen Urteil einen eigenständigen Rang innerhalb seines philosophischen Denkgebäudes sichert (und somit zugleich die Autonomie künstlerischer Darstellungsformen begründet), bleibt es in Hegels Modell letztlich funktional der begrifflichsystematischen Erkenntnis untergeordnet und auf sie hin referentiell abbildbar. An diese Opposition von Autonomie und Heteronomie schließen sich weitere Gegensatzrelationen an: Für Kant artikulieren Kunstwerke keine bestimmte Begrifflichkeit, für Hegel sehr wohl. Kants Ästhetik nimmt ihren Ausgang von der Ausdrucksebene, der sinnlich vermittelten Materialität der Kunst, die im begrifflichen Diskurs nie ganz aufgehen kann, in Hegels Ästhetik hingegen steht die Inhaltsebene im Vordergrund: Kunst hat hier die Aufgabe, qua sinnlich-vermittelter Anschauung begrifflich fixierbare Bedeutungsgehalte und Sinnzusammenhänge zum Ausdruck zu bringen. Dies weist bereits die prominente Passage aus den Vorlesungen über die Ästhetik aus, in der Hegel das Schöne »als das sinnliche Scheinen der Idee« bestimmt.4 Aus den folgenden Erläuterungen dieser These geht deutlich hervor, dass Hegel die Materialität des Kunstwerkes nur hinsichtlich ihrer Möglichkeit, eine geistige Idee zur Erscheinung kommen zu lassen, in den Blick nimmt und somit diskursiv funktionalisiert. Die auf das materielle Substrat des Kunstwerks rekurrierende sinnliche Wahrnehmung und die Vorstellungstätigkeit werden in begriffliches Denken nicht nur überführt, sondern hiervon letztlich absorbiert und somit hinsichtlich ihrer Potenz, stetig neue Reflexions- und Kognitionsprozesse auszulösen, stillgestellt.5 Peter V. Zima spricht vom »teleologische[n] Charakter des Hegelschen Diskurses« über die Kunst, deren »eigentliche[r] historische[r] Auftrag

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mungsmodi nur bedingt deckungsgleichen Identitätskonstruktes, nämlich hinsichtlich der sich von der Romantik ableitenden »expressiven Auffassung des Menschen«. Ebd. S. 683. Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Vorlesungen über die Ästhetik I. In: ders.: Werke. In 20 Bänden. Auf Grundlage der Werke von 1832-45 neu editierte Ausgabe. Red. Eva Moldenhauer und Karl Markus Michel. Bd. 13. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1970. S. 151. »Denn das Sinnliche und Objektive überhaupt bewahrt in der Schönheit keine Selbständigkeit in sich, sondern hat die Unmittelbarkeit seines Seins aufzugeben, da dies Sein nur Dasein und Objektivität des Begriffs und als eine Realität gesetzt ist, die den Begriff als in Einheit mit seiner Objektivität und deshalb in diesem objektiven Dasein, das nur als Scheinen des Begriffs gilt, die Idee selber zur Darstellung bringt.« Ebd. S. 151f.

2. Ästhetische Grundlagen

[…] darin besteht, sich dem Geist, dem begrifflichen Denken, zu nähern, um schließlich in ihm aufzugehen.«6 Vor dem Hintergrund von Fragen der didaktischen Relevanz und möglicher Vermittlungsformen ästhetischer Denk- und Wahrnehmungsmodi kann eine solche Position, an die auf theoretischer Ebene marxistisch-leninistische Ästhetiken ebenso anschließbar sind wie die literarischen Programmatiken des sozialistischen Realismus, allein deshalb nicht zur Grundlage dienen, weil die Besonderheit ästhetischer Rezeptionsprozesse als einer abgrenzbaren Form des Gebrauchs menschlicher Erkenntnisvermögen hierin keine Abbildung findet. Die Auseinandersetzung mit literarischen Kunstwerken im Unterricht droht so zu einer Suche danach zu verkommen, inwiefern diese bestimmte Episoden aus der Biographie ihrer Autor_innen ausgestalten oder anthropologische, metaphysische, kulturelle, (sozial)geschichtliche Ideen oder Inhalte (vermeintlich) verkörpern. Literaturunterricht im Sinne Hegels läuft Gefahr, zu Geschichts-, Sozialkunde- oder Philosophieunterricht zu werden. »Der Autonomieanspruch [von Kunst] schließt aber die Anerkennung außerästhetischer Funktionen nicht aus.«7 Sich diesen zu verschließen und »gegen [eine] Funktionalisierung des Literaturgebrauchs in der Schule« zu argumentieren, wäre eine »absurde Position für einen Didaktiker«8 . Doch müssen diese außerästhetischen Bildungsfunktionen von genuin ästhetischen Denk- und Wahrnehmungsformen hergeleitet werden und so weniger auf bestimmte Resultate als auf den Prozess eines mehrdimensionalen Spiels »mit Elementen, Merkmalen und Bedeutungen«, von dem Zabka unter Rückgriff auf Duncker spricht, zielen.

2.2.

Die Prozessualität des Ästhetischen

Die Autonomie des Ästhetischen gründet in ihrer spezifischen prozessualen Rezeptionsstruktur – und diese wiederum in dem, was Paul Valérys unter der Überschrift »Kunst« notiertes Postulat zum Ausdruck bringt: »Das Schöne erfordert vielleicht die sklavische Nachahmung dessen, was in den Dingen unbestimmbar ist.«9 Die sklavische Nachahmung eines Unbestimmten erscheint nur auf den ersten Blick paradox. Sklavische Nachahmung ist insofern erforderlich, als sich der Akt der Wahrnehmung von Kunstwerken auf eben diese (immer wieder neu) zu fokussieren hat, und zwar sowohl hinsichtlich der notwendigen Konzentration auf die sinnlich vermittelte Wahrnehmung des Objekts als auch hinsichtlich der hiervon Ausgang nehmenden Prozesse der Vorstellungsbildung und Imagination sowie der Kognition. Dies ist insbesondere für Fra6 7

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Zima, Peter V.: Literarische Ästhetik. Methoden und Modelle der Literaturwissenschaft. 2., überarb. Aufl. Tübingen, Basel: Francke 1995. S. 28. Bredella, Lothar: Grundzüge einer interkulturellen Literaturdidaktik. In: Irmgard Honnef-Becker (Hg.): Dialoge zwischen den Kulturen. Interkulturelle Literatur und ihre Didaktik. Baltmannsweiler: Schneider 2007. S. 29-46. S. 29. Abraham, Ulf: Das a/Andere W/wahrnehmen. Über den Beitrag von Literaturgebrauch und literarischem Lernen zur ästhetischen Bildung (nicht nur) im Deutschunterricht. In: Mitteilungen des Deutschen Germanisten-Verbandes 47 (2000), H. 1, S. 10-22. S. 16. Valéry, Paul: Windstriche. Aufzeichnungen und Aphorismen. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1995. S. 67.

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gen der didaktischen Vermittlung von Relevanz: Ein ›Hinweggleiten‹ über das Objekt, sei es durch eine Flucht in eigene Phantasien und Projektionen oder äußere Bezugsrahmen wie Gattungs- oder Epochenzuschreibungen, die nicht mehr rückgekoppelt an den Ausgangspunkt des wahrgenommenen Gegenstands bleiben, verhindert einen angemessenen Zugang. Der Bezugspunkt bleibt so gerade die Unbestimmtheit des Kunstobjekts, das sich begrifflicher Festlegung verweigert, und nur hierin Gegenstand und Auslöser des ästhetischen Rezeptionsvorgangs wird. So zeigt sich, dass die beiden Elemente im ValéryZitat nur scheinbar eine Paradoxie ausbilden, faktisch hingegen in ihrem unhintergehbaren dialektischen Bezug aufeinander ein dynamisches Potential entfalten. Denn nur die mimetisch operierende Nachahmung der Unbestimmtheit garantiert, dass die Auseinandersetzung mit dem Kunstobjekt immer wieder in Gang gesetzt wird. Als konstitutiv flüchtiges Phänomen vollzieht sich an ihm eine Mimesis, die funktional und formal, nicht (wie in der Poetik des Aristoteles) inhaltlich oder gar realistisch zu denken ist; sie kann sich – analytisch-reflexiv – auf die Ebene der Struktur10 oder – hiervon Ausgang nehmend und diesen Prozess produktiv wendend – auf die Ebene der interpretativ-imaginativen Bedeutungszu- und -fortschreibung beziehen. Die ihr zugrunde liegende Wahrnehmung enthält resp. vollzieht (genauer gesagt: mit ihr vollzieht sich) »notwendigerweise eine interpretierende und erkennende Aufmerksamkeit«11 , die aber in ihrem Interpretieren und Erkennen auf den Nachvollzug von Unbestimmtheit ausgerichtet bleibt. Der Prozessbegriff, wie er hier verstanden ist, lässt sich vielleicht am besten mit dem Terminus des ›Parcours‹ erläutern, wie ihn Gerhard Härle in einer programmatischen Abhandlung zum Literarischen Unterrichtsgespräch unter Rekurs auf Jacques Derrida entwickelt. Der »Sinn« eines Textes wird hier als »dynamische Kraft« gefasst, »die aus dem Text heraus den Leser anspringt und zu einem ›Parcours‹ (Derrida) der Einsichten, Ahnungen und Verwerfungen antreibt, bis er erschöpft, nicht aber ans Ziel gelangt, sich eine Pause gönnen muss«12 . Im ästhetischen Bereich ist ein Schüler_innen10

11 12

Dem nicht unähnlich ist der Begriff der Mimesis auch bei Barthes in Die strukturalistische Tätigkeit definiert. »Man sieht also, warum von strukturalistischer Tätigkeit gesprochen werden muß: Schöpfung oder Reflexion sind hier nicht originalgetreuer ›Abdruck‹ der Welt, sondern wirkliche Erzeugung einer Welt, die der ersten ähnelt, sie aber nicht kopieren, sondern verständlich machen will. Man kann also sagen, der Strukturalismus sei im wesentlichen eine Tätigkeit der Nachahmung, und insofern gibt es streng genommen keinerlei technischen Unterschied zwischen wissenschaftlichem Strukturalismus einerseits und der Kunst andererseits, im besonderen der Literatur: beide unterstehen einer Mimesis, die nicht auf der Analogie der Substanzen gründet (wie in der sogenannten realistischen Kunst), sondern auf der der Funktionen […].« Roland Barthes: Die strukturalistische Tätigkeit. In: Dorothee Kimmich, Rolf Günter Renner u. Bernd Stiegler (Hg.): Texte zur Literaturtheorie der Gegenwart. Durchges. u. aktualis. Aufl. Stuttgart: Reclam 2003. S. 215-223. S. 217. Seel, Martin: Ästhetik des Erscheinens. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2003. S. 38. Härle, Gerhard: »… und am Schluss weiß ich trotzdem nicht, was der Text sagt«. Grundlagen, Zielperspektiven und Methoden des Literarischen Unterrichtsgesprächs. In: Marcus Steinbrenner, Johannes Mayer u. Bernhard Rank (Hg.): »Seit ein Gespräch wir sind und hören voneinander«. Das Heidelberger Modell des Literarischen Unterrichtsgesprächs in Theorie und Praxis. 2., korr. u. erg. Aufl. Baltmannsweiler: Schneider 2011. S. 29-65. S. 42.

2. Ästhetische Grundlagen

Output nicht mit finalen Lösungen gleichzusetzen, sondern immer nur als Station im Status einer konstitutiven Vorläufigkeit eines Prozesses zu sehen, auf dem der eigentliche Fokus liegt: »Die Einsicht in die Unmöglichkeit des Findens von Wahrheit und endgültigem Verstehen macht […] sowohl die gelegentliche Rast als auch das erneute Aufbrechen notwendig.«13 Zur genaueren Bestimmung einzelner dynamisierender Faktoren dieses Prozesses wird im Folgenden ein Mehrebenenmodell ästhetischer Rezeption entworfen. Es richtet sich aus am ästhetischen Vollzugsmodus der an diesem Prozess beteiligten menschlichen Vermögen von Wahrnehmung (Perzeption), Vorstellung resp. Imagination und begrifflich vermitteltem Denken resp. Urteilen (Kognition).14 Hierneben wird abschließend eine Abgrenzung der Begriffe des ästhetischen Verstehens und des ästhetischen Erfahrens bzw. einer ästhetischen Erfahrung erfolgen, die auf all diesen Prozessen aufbaut und sie zugleich übersteigt. Die zuvor erwähnten Ebenen ästhetischer Rezeption können, was Perzeption und ggf. hierauf aufbauende Vorstellungs- und Imaginationsaktivitäten betrifft, auf der Ebene des ästhetischen Erfahrens und der ästhetischen Erfahrung auch für sich stehen; dann sind sie primär als jeweilig aktualisierte Schichten und weniger als prozessual interagierende Teilelemente einer Vollzugsstruktur zu begreifen.15 Mit eingearbeitet werden kognitionspsychologische Studien, wie sie von Benno Belke und Helmut Leder zum Begriff ästhetischer Erfahrung ausgearbeitet wurden.16 Unter Rückbezug auf die sozialpsychologischen Untersuchungen von Joseph Forgas betonen Belke/Leder auch für ästhetische Rezeptionsprozesse die »Auswirkungen des affektiven Zustands sowohl auf (voraktivierte Gedächtnis-)Inhalte als auch auf die Art der kognitiven Verarbeitung«17 . Dem Vorwurf des Eklektizismus, mit dem sich das Modell konfrontiert sehen könnte, weil es sich ästhetischer Theorien verschiedener Provenienz und Ausrichtung bedient, kann dadurch begegnet werden, dass diese Arbeit nicht kunstphilosophisch, sondern didaktisch ausgerichtet ist. Aufgrund der hierfür notwendig zu berücksichtigenden Breite an Vermittlungszielen bedarf es eines den Gegenstand aus verschiedenen 13 14

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16

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Ebd. S. 59. Im Gegensatz zu Kants Ästhetik, die von Beginn an bereits die Ebene der Begriffsbildung und somit der Kognition im Blick hat, wird es so möglich, die diesen mentalen Operationen zugrunde liegenden Ebenen der Wahrnehmung und Vorstellung auch in ihrem jeweiligen Eigenwert zu bestimmen. In letzter Konsequenz bleiben die Erkenntnisvermögen allerdings aufeinander verwiesen, da auch eine Fokussierung auf Wahrnehmungs- und Vorstellungsaktivitäten zumindest gewisser kognitiver Operationen bedarf, was etwa anhand der bewussten Wahrnehmung und Fokussierung einzelner Perzeptionen deutlich wird. Auch im Falle des ästhetischen Verstehens ist der Rückbezug auf vorherige Wahrnehmungen und Vorstellungen konstitutiv. Belke, Benno u. Helmut Leder: Annahmen eines Modells der ästhetischen Erfahrung aus kognitionspsychologischer Perspektive. In: Sonderforschungsbereich 626 (Hg.): Ästhetische Erfahrung: Gegenstände, Konzepte, Geschichtlichkeit. Berlin: o. V. 2006. http://edocs.fu-berlin.de/ docs/servlets/MCRFileNodeServlet/FUDOCS_derivate_000000002246/belke_leder.pdf (Abrufdatum 13.11.2017). Belke/Leder: Annahmen eines Modells der ästhetischen Erfahrung aus kognitionspsychologischer Perspektive. S. 4.

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Literarästhetische Literalität

Perspektiven durchleuchtenden Ansatzes. Dieser muss auf unterschiedliche Positionen auch deshalb zurückgreifen, weil die Zielgruppe dieses ästhetischen Modells Novizen sind, denen Grundlagen fehlen können, die Ansätze bestimmter Kunstphilosophien und Ästhetiken (zu denken ist etwa an die voraussetzungsreichen Theoreme Christoph Menkes, aber auch die Ästhetik Kants) bei den im Umgang mit Kunst geübten Betrachter_innen voraussetzen.

2.3.

Mehrebenenmodell ästhetischer Rezeption

2.3.1.

Perzeption: Erscheinen und Wahrnehmen

Der Begriff Ästhetik leitet sich vom griechischen Wort aísthēsis her, mit dem die sinnliche Wahrnehmung und das sinnlich vermittelte Empfinden des Menschen bezeichnet sind. Alexander Gottlieb Baumgartens Aesthetica (1750/58) kann als die erste systematische Abhandlung der Neuzeit auf diesem Feld angesehen werden. Gleich zu Beginn findet sich in ihr die Ästhetik als »Theorie der freien Künste, untere Erkenntnislehre, Kunst des schönen Denkens, Kunst des Analogons der Vernunft« im Sinne einer »Wissenschaft der sinnlichen Erkenntnis« definiert.18 Baumgartens Aufwertung der sinnlichen Erkenntnisformen, die bei ihm allerdings nach wie vor pejorativ (»inferior«) den unteren Erkenntnisvermögen zugeordnet werden, weist diesen einen eigenen Stellenwert zu und wendet sich so gegen die rationalistischen Philosophien seiner Zeit. Nicht einzig die begrifflich-rationalen und logischen Erkenntnisvermögen des Menschen, die deutliche Vorstellungen hervorrufen19 , sondern auch die sinnliche Wahrnehmung und Empfindung erhalten einen Eigenwert, da sie Bereiche zu Bewusstsein kommen lassen, die die oberen Erkenntnisvermögen nicht abdecken können: Gerade qua ihrer Unbestimmtheit gewinnt die sinnliche Erkenntnis eine zentrale Rolle. »Das erste der Kriterien der sinnlichen Erkenntnis, die Baumgarten in der Aesthetica systematisch abhandelt, ist daher der Reichtum (ubertas), die Merkmalsfülle der sinnlich vorgestellten Gegenstände.«20 Die Aesthetica als Wissenschaft der »ars analogis rationis«, einer analog resp. komplementär zu den logischen Verstandeskräften zu denkenden Kunst der sinnlichen Wahrnehmung, macht es sich zur Aufgabe zu erforschen, inwieweit Gegenstände anders, gleichsam multiperspektivisch, erfasst werden können als dies mittels der begrifflich-logisch operierenden Erkenntnisvermögen der Fall ist: 18

19

20

Baumgarten, Alexander Gottlieb: Ästhetik. Übersetzt, mit einer Einführung, Anmerkungen und Registern herausgegeben von Dagmar Mirbach. Hamburg: Meiner 2007. 2 Bände. Bd. 1. S. 11. (Zitiert ist die deutsche Übersetzung von Mirbach. Das lateinische Original zum Zitat findet sich auf der vorhergehenden Seite.) Vgl. Mirbach, Dagmar: Einführung: Zur fragmentarischen Ganzheit von Alexander Gottlieb Baumgartens Aesthetica (1750/58). In: Alexander Gottlieb Baumgarten: Ästhetik. Übersetzt, mit einer Einführung, Anmerkungen und Registern herausgegeben von Dagmar Mirbach. 2 Bände. Hamburg: Meiner 2007. Bd. 1. S. XV-LXXX. S. XXXIX. Ebd. S. XLIV.

2. Ästhetische Grundlagen

Wenn die logische und wissenschaftliche Denkungsart ihre vornehmlichen Gegenstände […] lieber abgesondert, nur in gewisser Bestimmung, erwägt: So betrachtet derjenige, der schön denken will, mit dem Analogon der Vernunft seine vornehmlichen Stoffe am liebsten nicht allein unabgesondert, in mehrerer Bestimmung, sondern auch in den allerbestimmtesten Gegenständen, in denen dies möglich ist, also in Einzeldingen, in für sich bestehenden Dingen, Personen und Ereignissen, sooft dies gegeben ist.21 Baumgartens Bestimmung dieses Erkenntnisvermögens als eines, das den Gegenstand gerade durch die logisch-begriffliche Unterbestimmtheit »in der größtmöglichen Fülle seiner Merkmale, die ihn als Individuum in seiner spezifischen haecceitas, seiner je besonderen Diesheit (seinem Dieses-Sein) ausmachen«22 , zur Erscheinung kommen lässt, realisiert sich auch hier über eine Prozessstruktur, die mit dem Auffinden potentiell passender Begriffe nicht zum Erliegen kommt und so mit einem Zustand inneren Aufgewühltseins einhergeht, der Folge einer Wahrnehmung ist, der es nicht um ein Wiedererkennen, ein Registrieren, sondern »eher um die lustvolle Beunruhigung« geht.23 Sind bei Baumgarten die beiden Bedeutungsebenen des Ästhetischen, einmal im Bezug zur allgemeinen Wahrnehmungs- und Empfindungsfähigkeit des Menschen, einmal im Bezug zum Schönen, noch zusammengedacht, so wird sich dies in der weiteren Entwicklung der Begriffsgeschichte des Ästhetischen mehr und mehr in Richtung auf die »Prozesse und Resultate derjenigen reflexiven und performativen Praxen« hin verschieben, »die sich aus der Auseinandersetzung mit kunstförmigen und als ästhetisch qualifizierten Gegenständen und Formen ergeben«24 . Hierzu trägt auch bei, dass sich gegen Ende des 18. Jahrhunderts die Autonomieästhetik als Leitvorstellung ausbildet, was mit dazu führt, dass sowohl auf produktions- als auf rezeptionsästhetischer Seite die Auseinandersetzung mit Kunst sich einer Funktionalisierung durch 21 22 23 24

Baumgarten: Ästhetik. Bd. 2. S. 755. Mirbach: Einführung. S. XLIII. Vgl. Dietrich/Krinninger/Schubert: Einführung in die Ästhetische Bildung. S. 17. Liebau, Eckart, Leopold Klepacki u. Jörg Zirfas: Theatrale Bildung. Theaterpädagogische Grundlagen und kulturpädagogische Perspektiven für die Schule. Weinheim, München: Juventa 2009. S. 104. Im Original kursiv. Von dieser Linie, die etwa Martin Seel in seinem Aufsatz Ästhetik und Aisthetik. Über einige Besonderheiten ästhetischer Wahrnehmung (in: Birgit Recki u. Lambert Wiesing [Hg.]: Bild und Reflexion. Paradigmen und Perspektiven gegenwärtiger Ästhetik. München: Fink 1997. S. 17-38) nachzeichnet und der auch sein eigenes Begriffsverständnis folgt, lässt sich auf dem Feld zeitgenössischer Konzepte das Modell der transversalen Vernunft Wolfgang Welschs abgrenzen, der im Ästhetischen eine spezifische Form des Weltzugangs begründet sieht, die vom Feld der Kunst auf andere Bereiche ausgedehnt wird. In seinem Begriffsverständnis muss sich die Ästhetik gerade von ihrer Beschränkung auf Kunst loslösen; so vermag sie eigene Formen der »transversalen Vernunft« auszubilden, was der Ästhetisierung und Virtualisierung vieler Lebensbereiche der (post)modernen Welt gerecht zu werden vermag. Vgl. zur Kritik am tradierten Ästhetikbegriff und zur Etablierung eines neuen Wolfgang Welsch: Aesthetics Beyond Aesthetics. In: Proceedings of the XIIIth International Congress of Aesthetics, Lahti 1995. Vol. III: Martti Honkanen (Hg.): Practical Aesthetics in Practice and Theory. Helsinki 1997. http://www2.uni-jena.de/ welsch/papers/W_Welsch_Aesthetics_beyond_Aesthetics.html (Abrufdatum 14.12.2017). Vgl. zu einer auch kritischen Auseinandersetzung mit der Ästhetik Welschs das Kapitel 4.2.

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Literarästhetische Literalität

außerkünstlerische Diskurse zunehmend verweigert. An diesen Gedanken knüpfen auch zeitgenössische Ästhetiken wie die Martin Seels an: Am Gegenstand zeigt sich ein Spiel von Erscheinungen, das allein von einer in diesem Sinn spielenden Wahrnehmung des Gegenstands verfolgt werden kann. In diesem Wahrnehmungsspiel bildet sich ein Sinn für die phänomenale Individualität dessen, was hierbei zur Wahrnehmung kommt.25 Aus der ehemaligen ›Doppelbödigkeit‹ des Ästhetischen erhalten bleibt infolgedessen, dass die ästhetische Rezeption ihre Grundlage in der sinnlichen Wahrnehmung hat26 , da diese dem Menschen eine andere Betrachtungsweise von Objekten wie auch seiner selbst ermöglicht, die eine nicht substituierbare, komplementäre Ergänzung zum logisch-begrifflichen Denken bildet, die folglich bildungsrelevant ist. Und so sehen auch didaktische Konzepte die Wahrnehmungssensibilisierung als eines der primären Ziele ästhetischen Lernens.27 Nimmt man die Aisthesis als Ausgangspunkt der Ästhetik im engeren Sinne, so werden hier bereits in der Form der sinnlich wahrnehmenden Begegnung mit dem Objekt die Grundlagen für alle weiteren ästhetischen Rezeptionsprozesse geschaffen. Hierzu muss bei demjenigen, der – wie Baumgarten formuliert – »schön denken will«, ein bewusstes Sich-Einlassen auf eine Form der Wahrnehmung erfolgen, die ihren Gegenstand nicht umgehend im Rahmen logisch-begrifflicher Erkenntnis, alltagspragmatischer oder diskursiver Funktionszusammenhänge aufgehen lässt, um so zu einem Modus des Betrachtens »in mehrerer Bestimmung« zu gelangen, dem es weniger um ein Wiedererkennen als um Irritation und stetige Neuausrichtung der Wahrnehmung geht. Seels »Ästhetik des Erscheinens«28 setzt an diesem Punkt an, konturiert aber stärker noch als Baumgarten den Eigenwert der genuin ästhetischen Wahrnehmung und nimmt so für sich in Anspruch, hierüber den eingangs des Kapitels aufgezeigten Dualismus zwischen Kant, der an der Ausdrucksebene von Kunst ansetzt, welche begrifflich nie ganz einzuholen ist, und Hegel, der die begrifflich fixierbare Bedeutungsfunktion 25 26

27

28

Seel: Ästhetik des Erscheinens. S. 60. »Ästhetische Erfahrung ist in der Sinnlichkeit der Wahrnehmung verankert, d.h. sie nimmt dort ihren Ausgang und bleibt stets auf die Sinne bezogen.« Ursula Brandstätter: Ästhetische Erfahrung. In: Hildegard Bockhorst, Vanessa-Isabelle Reinwand u. Wolfgang Zacharias: Handbuch kulturelle Bildung. München: kopaed 2012. S. 174-180. S. 175. www.kubi-online.de/artikel/aesthetische-erfahrung (Abrufdatum 13.11.2017). Vgl. etwa Spinner, Kaspar H.: Perspektiven ästhetischer Bildung. Zwölf Thesen. In: Claudia Vorst u.a. (Hg.): Ästhetisches Lernen. Fachdidaktische Grundfragen und praxisorientierte Konzepte im interdisziplinären Kontext von Lehrerbildung und Schule. Frankfurt a.M.: Lang 2008. S. 9-23. S. 10: »Ästhetische Wahrnehmungen können oberflächlich oder intensiv, schematisch oder differenziert, flüchtig oder nachwirkend sein. Daraus ergibt sich die Aufgabe von Bildung: Es geht darum, den Kindern und Jugendlichen intensivere, differenziertere, sensiblere Wahrnehmungserfahrungen zu vermitteln.« Vgl. hierzu auch Thomas Zabka: Ästhetische Bildung. S. 452ff. oder – auch mit Blick auf intermediale Lernprozesse – Marion Bönnighausen: Intermedialer Literaturunterricht. In: Volker Frederking, Axel Krommer u. Christel Meier (Hg.): Taschenbuch des Deutschunterrichts. Bd. 2: Literatur- und Mediendidaktik. Baltmannsweiler: Schneider 2010. S. 503-514. S. 511ff. Seel, Martin: Ein Schritt in die Ästhetik. In: ders.: Die Macht des Erscheinens. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2007. S. 11-26. S. 15.

2. Ästhetische Grundlagen

von Kunst in den Mittelpunkt stellt, dadurch aufzubrechen, dass dieser Opposition ein dritter Begriff vorgeordnet wird, von dem alle weiteren Rezeptionsprozesse allererst ihren Ausgang nehmen: der des Erscheinens. »Dieses Erscheinen liegt vor jeder Relation auf etwas, das sich in ihm zeigen oder verbergen könnte; es liegt vor den Funktionen der Eröffnung des Seins oder der Evokation eines Scheins«29 – und kann so die Spezifik des sinnlich vermittelten Akts der Wahrnehmung des ästhetischen Objekts näher bestimmbar werden lassen. Seel sieht den Augenblick des Erscheinens als den Moment, in dem das Kunstwerk – oder jedes andere Objekt, das als ästhetisches wahrgenommen wird – sich selbst in seinem Wesen offenbare: »Das Sein des Kunstwerks ist sein Erscheinen.«30 Dahinter verbergen sich jedoch keine metaphysischen Annahmen und m.E. auch keine sich an Heideggers Kunstphilosophie anschließenden Prämissen, sondern zunächst die schlichte und bewusste Konzentration der sinnlichen Wahrnehmung auf das Objekt in einer Form, die sich pragmatischen Verstehenszusammenhängen entzieht: Das Wirkliche zeige sich so, ähnlich wie bei Baumgarten, »von einer anderen, ansonsten unzugänglichen Seite«31 , die aus der gegenwärtigen anschauenden Wahrnehmung hervorgehe: »Wir nehmen hier keine andere als die Welt der sinnlichen Objekte wahr, aber wir nehmen sie durchaus anders wahr: mit einem gesteigerten Gefühl für das Hier und Jetzt der Situation, in der sich die Wahrnehmung ereignet.«32 Seel hebt hervor, dass die sich im ästhetischen Erscheinen präsentierenden Objekte in ihrer gegenwärtigen Besonderheit, »im Glanz ihrer konstitutiven Unterbestimmtheit wahr[genommen]«33 werden. Die Art ihrer Wahrnehmung ist folglich immer eine suchende, tastende34 , von keinen funktionalen Interessen geleitete. Zwar umgeht dieses Wahrnehmen auch bei Seel nicht zwangsläufig ein begriffliches Bestimmen, doch kann es »von der Fixierung auf dieses Bestimmen auch absehen«35 . Da er die ästhetische Wahrnehmung rezeptionsästhetisch darüber definiert, dass sie »generell eine Palette von Fähigkeiten voraus[setzt], die sie anders in Gebrauch nimmt, als 29 30 31 32

33

34 35

Seel, Martin: Vor dem Schein kommt das Erscheinen. Bemerkungen zu einer Ästhetik der Medien. In: ders.: Ethisch-ästhetische Studien. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1996. S. 104-125. S. 105. Ebd. S. 106. Seel: Ein Schritt in die Ästhetik. S. 13. Ebd. S. 14. Diese Aussage korreliert der auf den Verstehensprozess bezogenen These der Negativitätsästhetik Menkes, der das »mimetische Nachvollziehen ästhetischer Prozessualität […] nicht [als] das andere zum Verstehen, sondern das andere am Verstehen« bestimmt. (Menke: Die Souveränität der Kunst. S. 129.) Wenn Seel dies bereits auf den vorgängigen Wahrnehmungsprozess bezieht, dann wird in seiner genaueren Bestimmung deutlich, wie sehr Menkes Negativitätsästhetik nicht nur in diesem Punkt an seine Position anschließbar ist. Seel: Ein Schritt in die Ästhetik S. 14. Dabei begeht Seel nicht den Fehler, den man ihm aufgrund der ausgewählten Zitate unterstellen könnte, nämlich den Moment des Erscheinens von kulturellen Bedingtheiten des wahrnehmenden Subjekts abzukoppeln: »Das ist keineswegs eine Begegnung mit einem puren Sein, was immer das sein sollte – denn es sind ja sozialisierte und kulturierte Individuen, die in ihrer Anschauung bei einem Ding oder in einer Situation verweilen; wir bringen unser Können und Wissen, unsere Unterscheidungen und Ansichten in alle Augenblicke der sinnlichen Wachheit mit.« Ebd. S. 24f. Vgl. Dietrich/Krinninger/Schubert: Einführung in die Ästhetische Bildung. S. 17. Seel: Ästhetik des Erscheinens. S. 51f.

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Literarästhetische Literalität

dies bei anderen Gelegenheiten der Fall ist«36 , bleibt sie nicht an bestimmte Objekte gebunden. Wenn er dies im Folgenden am Terminus des Aspekts festmacht, wird aufgrund der etymologischen Herkunft des Wortes von lat. aspicere (erblicken, anschauen) vielleicht noch deutlicher, dass es ihm zunächst um Wahrnehmungsphänomene, also um Aisthesis, geht (die sich analog auch auf andere Sinneseindrücke als die des Sehens übertragen lassen): Die Betrachtung in der ästhetischen Wahrnehmung sei zwar »aspekthaft«, aber nicht »aspektverhaftet« und gehe so auf eine »Merkmalsvielfalt ihrer Objekte, die sich begrifflich nicht ausschöpfen«37 ließe, ein – auch in dieser Hinsicht baut Seels Ästhetik auf Baumgartens Bestimmung im Sinne einer Lehre der sinnlichkörperlichen Wahrnehmung und Empfindung (sowie deren späterer transzendentaler Wendung in der Bestimmung des Schönen bei Kant) auf. Aisthetisch-ästhetische Wahrnehmung zeichnet so eine Dekontextualisierung (von den Zusammenhängen der alltäglichen Lebenswelt), eine Defunktionalisierung (von praktischen oder begrifflich fixierenden Inanspruchnahmen), eine konstitutive begriffliche Un(ter)bestimmtheit und eine Fragmentarisierung von Wahrnehmung aus. Sie durchbricht geläufige Wahrnehmungsmuster38 und funktionale Kausalzusammenhänge. Ein weiteres konstitutives Merkmal des ästhetischen Wahrnehmungsmodus hängt mit dieser funktionalen Entkoppelung aus logisch-begrifflichen oder handlungsorientierten Zwecken zusammen: die Ebene der Selbstreflexion. Da die ästhetische Rezeption wie Produktion nicht an äußere Zwecke gebunden ist, zeichnet sie sich darüber aus, dass sie keine reine Wahrnehmung von etwas ist, sondern zugleich eine Wahrnehmung des Wahrnehmens.39 Diese selbstreflexive Wendung bestimmt bei Seel zentral die modale Abgrenzung zu sinnlichen Wahrnehmungen in alltagspragmatischen Kontexten. Sie leistet zweierlei: zum einen eine Verhaftung in der (materiellen) Welt sinnlich vermittelter Wahrnehmung, zum anderen deren transformative Überschreitung in Form einer Reflexion eben dieser Verhaftung, die dazu führt, dass sich andere Perspektiven auf die wahrgenommenen Objekte einstellen können.40 Die aus der Defunktionalisierung hervorgehende Interesselosigkeit ästhetischer Rezeptionsprozesse, die Kant zum Bestimmungsgrund wählt41 , bezieht sich folglich nur auf das Absehen von theoretischen, praktischen oder rein sinnlichen Interessen, sehr wohl liege ihnen 36 37 38

39 40

41

Ebd. S. 52. Ebd. S. 54. Vgl. Bösel, Rainer M.: Ästhetisches Empfinden. Neuropsychologische Zugänge. In: Joachim Küpper u. Christoph Menke (Hg.): Dimensionen ästhetischer Erfahrung. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2003. S. 264-283. S. 280: Bösel sieht ein sog. »Mismatch« als »Vorbedingung für das [ästhetische] Erleben«, das er hier nicht nur in seinen Folgen, sondern auch in seinen Voraussetzungen aus einer »Nichtpassung zwischen einer subjektiven Erwartung und dem Auftreten von Ereignissen« herleitet. Vgl. Seel: Ästhetik des Erscheinens. S. 51. Vgl. hierzu auch Brandstätter: Ästhetische Erfahrung. S. 175: »Gegenstand ästhetischer Wahrnehmung und Erfahrung ist nicht nur das Wahrgenommene, sondern gleichzeitig auch der Akt der Wahrnehmung selbst. In der ästhetischen Wahrnehmung nehmen wir also nicht nur etwas wahr, sondern wir nehmen den Prozess des Wahrnehmens und auch uns selbst als Wahrnehmende wahr.« Vgl. hierzu das dritte Teilkapitel dieses Unterkapitels.

2. Ästhetische Grundlagen

aber »ein Interesse am Besonderen und zugleich ein Interesse des Verweilens bei diesem Besonderen«42 zugrunde. Von der Fähigkeit zu einem solchen Wahrnehmungsmodus lässt sich schließlich eine Bedeutung des Ästhetischen ableiten, die von zentraler Bedeutung für schulische Kulturations- und Bildungsprozesse ist. Sie rekurriert darauf, dass die spezifische Art des ästhetischen Wahrnehmens einen fremden Blick auf die vertraute Gegenwart ermöglicht, der das wahrzunehmen vermag, was das alltäglich-pragmatische Wahrnehmen ausblendet: Was […] verloren ginge, wenn der ästhetische Sinn verkümmern würde, wäre eine private und öffentliche Empfindlichkeit und Empfänglichkeit dafür, was im geschichtlichen Leben hier und jetzt, inmitten aller historischen und biografischen, sozialen und gesellschaftlichen Vermittlung, unmittelbar zu berühren und zu bewegen, die Phantasie und die Reflexion zu erregen vermag.43 Seel verdeutlicht diese Gedanken an zwei Beispielen: Am dekontextualisierten, freien Flug einer Plastiktüte, der im Film American Beauty mittels eines eingespielten Videos, das eine der Figuren zuvor drehte, präsentiert wird, und an einem in seiner phonetischen Materialität wahrgenommenen Satz, den Philipp Roth in seinem Roman I Married a Communist aus dem Shakespeare-Drama Was ihr wollt einmontiert und der Seel die »buchstäbliche Sinnlichkeit der Literatur«44 vor Augen führt.45 Am ersten Beispiel zeigt er auf, dass die Kamera den Flug der Tüte beispielhaft für das Erscheinen der Gegenstände überhaupt in der ästhetischen Wahrnehmung in Szene setzt: Es geht um eine Konzentration des Betrachters, der das Objekt als erscheinendes, individuelles Phänomen fokussiert. Dabei ist das Betrachtete in seinem schlichten, aisthetisch-ästhetischen Erscheinen zunächst ohne Bedeutung, kein Symbol für etwas Dahinterliegendes, das es zu deuten gälte. Die ästhetische Wahrnehmung vermag so etwas einzufangen, was in der Alltagswelt vermutlich keinerlei Beachtung fände, da die Plastiktüte aus dieser funktionalen Perspektive heraus schlicht als ›Müll‹ gesehen und so zugleich auch verstanden worden wäre. Das ästhetisch wahrgenommene Phänomen wird aus seinen Alltagskontexten herausgelöst und verfremdet (hierzu trägt auch bei, dass das Video 42 43 44 45

Seel: Ästhetik des Erscheinens. S. 61. Seel: Ein Schritt in die Ästhetik. S. 25f. Ebd. S. 23. Hierbei handelt es sich um den Satz »And thus the whirligig of time brings in his revenges.«, der zum Gegenstand eines Gesprächs zweier Figuren wird, in dessen Verlauf näher auf seine phonetische Gestaltung eingegangen wird: »Diese kryptischen Gs, die Raffinesse ihrer zunehmenden Entschärfung – erst die harten Gs in ›whirligig‹, dann das nasalierte G in ›brings‹, dann das weiche G in ›revenges‹. Die vielen Schluss-s … ›thus brings his revenges‹. Die Zischlaute des überraschenden Plurals ›revenges‹. Dsch. Sss. Konsonanten, die stechenden Nadeln gleichen. Und die pulsierenden Vokale, die steigende Flut ihrer Tonhöhe – ertrinken könnte man darin. Der Wechsel von tiefen Vokalen zu immer höheren. Baß- und Tenorvokale und schließlich Altvokale. Die energische Dehnung des Vokals I in time, unmittelbar bevor der Rhythmus von Jamben in Trochäen übergeht und der Satz vor der Zielgeraden in die Kurve geht. Kurzes I, kurzes I, langes I. Kurzes I, kurzes I, kurzes l, bum! Revenges. Brings in his revenges. His revenges. Mit Zischlaut. Hiss!« Philip Roth: Mein Mann, der Kommunist. München: Hanser 1999. S. 347. Vgl. Seel: Ein Schritt in die Ästhetik. S. 22.

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ohne Tonspur gedreht ist), wodurch automatisierte Wahrnehmungsstrukturen durchbrochen werden.46 Mit Blick auf emotional-affektive Komponenten ist zu berücksichtigen, dass das Einlassen auf eine Wahrnehmungsform, die mit habitualisierten Orientierungsmustern, verfestigten Automatismen sowie konventionalisierten Wahrnehmungsgewohnheiten bricht, nicht nur ungewohnt ist, sondern auch Widerstände hervorrufen kann. Insbesondere in schulischen Vermittlungskontexten ist nicht zwangsläufig davon auszugehen, dass ästhetische Alteritätserfahrungen seitens des rezipierenden Subjekts zwangsläufig positiv besetzt sind. »Lustgewinn resultiert zunächst aus der Bestätigung vorhandener Wahrnehmungsmuster, und die Frustration, die von einer Irritation gewohnter Muster ausgehen kann, wird allein durch Kontemplation nicht geringer.«47 Notwendig wird es so, auch an bestehende Erfahrungsmuster anzuknüpfen, um Alteritätserfahrungen auf dieser Folie langsam und geduldig einzuüben.48 Dabei gilt es auch, zunächst einmal »die verschiedenen Modi ästhetischer Wahrnehmung, die nicht kunstgebunden sind, mit Schülern und Schülerinnen gewissermaßen durchzuspielen«49 . Auf diesem Wege kann im Anschluss auch ein emotionales Genießen, eine »Lust« an der anderen, ästhetischen Wahrnehmungsform und der über sie ermöglichten, neu gewonnenen Perspektiven wahrscheinlich(er) werden. Dass insbesondere Kinder und Jugendliche durchaus eine spielerische Neugier an unkonventionellen Perspektiven auf scheinbar Vertrautes entwickeln können, bestätigen Forschungen sowohl aus verhaltensbiologischer Perspektive50 als auch aus bildungswissenschaftlicher Sicht: Die Pädagoginnen und Pädagogen in der nord-italienischen Stadt Reggio nell’Emilia sagen: ›Kinder flirten mit der Welt‹ und sie meinen damit, dass Kinder alle Sinne einsetzen, um die Welt zu verstehen, sich ein Bild von der Welt zu machen und Beziehungen einzugehen. Je intensiver alle Sinne in diesen Flirt einbezogen sind, desto intensiver können die Kinder empfinden und denken lernen, Erfahrungen sammeln und Hypothesen über die Welt aufstellen – kurzum lernen und sich bilden.51 Nichts anderes als einen solchen »Flirt mit der Welt« beinhaltet eine emotionale Offenheit für aisthetisch-ästhetische Perspektiven auf Objekte, die sich in neuen, noch ungekannten Facetten oder Details erschließen – und dabei Interesse an einer weiteren 46 47 48 49

50 51

Seel: Ein Schritt in die Ästhetik. S. 16f. Zabka: Ästhetische Bildung. S. 455. Vgl. ebd. Bönnighausen, Marion: Zwischen Sinn-Stiftung und Wahr-Nehmung. Theatralität als Dispositiv im literaturdidaktischen Kontext. In: dies. u. Michael Baum (Hg.): Kulturtheoretische Kontexte für die Literaturdidaktik. Baltmannsweiler: Schneider 2010. S. 125-145. S. 134. Vgl. zu konkreten didaktischen Lernwegen, die das Ziel einer Wahrnehmungsschulung haben, das Kapitel 5.1. dieser Arbeit. Vgl. etwa Sachser, Norbert: Neugier, Spiel und Lernen: Verhaltensbiologische Anmerkungen zur Kindheit. In: Zeitschrift für Pädagogik 50 (2004), H. 4, S. 475-486. Dreier, Annette: Die Bedeutung ästhetischer Bildung in der Kindheit. Vortrag auf dem Gründungstreffen des Berliner Netzwerks »frühe kulturelle Bildung« am 28. November 2012. www.netzwerkfruehe-bildung.de/pdf/2012_11_28_dreier_vortrag_KiKuZ.pdf (Abrufdatum 13.11.2017) S. 3.

2. Ästhetische Grundlagen

Auseinandersetzung wecken. Gerade Heranwachsende sind in ihren Wahrnehmungsgewohnheiten oft noch nicht so festgefahren wie Erwachsene, weil insbesondere jüngere Kinder sich die Welt zunächst zu weiten Teilen über ihre Sinne erschließen und erst nach und nach ein begriffliches Instrumentarium aufbauen, das ihnen die Orientierung erleichtert und Wahrnehmungsprozesse durch schnellere begriffliche Identifizierung und Abstraktion verkürzt.

2.3.2.

Vorstellungsbildung und Imagination

Die spezifische Wahrnehmung des ästhetischen Objekts prägt zugleich auch alle weiteren mentalen Operationen, da diese immer wieder auf den hier zugrunde gelegten ästhetischen Begegnungsmodus zurückverwiesen bleiben. Die Vorstellungsbildung erfolgt parallel zu und in Abhängigkeit von den Wahrnehmungsprozessen – im Fall von Literatur zudem auch unter Rekurs auf sprachliche Begriffe –, stellt aber einen Vorgang dar, der sich heuristisch hiervon abgrenzen lässt. »Ohne die Bildung innerer Vorstellungen kann der Mensch über seine Sinneswahrnehmungen nicht verfügen«52 – weshalb Baumgarten auch die nicht unmittelbar sinnlich präsenten Vorstellungs- und Erinnerungsbilder dem Bereich sinnlich vermittelter Erkenntnis zurechnet. Vorstellungen machen die Eindrücke der sinnlichen Wahrnehmung aber nicht nur verfügbar, sondern sie können diese zugleich auch synästhetisch ergänzen oder sich vom unmittelbar Wahrgenommenen weg verlagern. »Wenn man bei einem Meeresbild die salzige Luft zu riechen und das Rauschen zu hören glaubt, so gründet dies auf der Imaginationsfähigkeit: Sinneswahrnehmungen, die aktuell gar nicht gegeben sind, können durch die Vorstellungskraft evoziert werden.«53 Solche Vorstellungen können sich prinzipiell auf alle Sinne zurückbeziehen; einzelne Gegenstände oder Figuren aufrufen, Klänge, Geschmacksempfindungen und Gerüche, aber auch hierüber hinausgehend eine spezifische Atmosphäre oder innere Stimmungen entstehen lassen.54 An dem Punkt, an dem Vorstellungen über Erinnerungen an bereits Erlebtes aus dem Gedächtnis abgerufen werden, siedelt Zabka den Übergang von Vorstellungen zu Imaginationen an: »Verbindet sich die Vorstellung von etwas Wahrgenommenem mit weiteren Vorstellungen, die nicht auf akut Wahrgenommenes gestützt sind, entsteht Imagination.«55 Hieraus resultiert eine »doppelte Gegenwärtigkeit«56 : In ihr verbindet sich die Präsenz einer bewussten Wahrnehmung bzw. Vorstellung mit dem Aufrufen von Imaginationssplittern aus der Vergangenheit. Sie gehen in die sinnliche Präsenz des Augenblicks ein57 , was auf beiden Ebenen, also sowohl hinsichtlich der Gegenstände der Wahrnehmungsebene als auch der der Imagination, die Evokation neuer Zusammenhänge und veränderter Perspektiven ermöglicht. 52 53 54 55 56

57

Zabka: Ästhetische Bildung. S. 455. Spinner: Perspektiven ästhetischer Bildung. S. 13. Vgl. Spinner: Literarisches Lernen. S. 8. Zabka: Ästhetische Bildung. S. 455f. Seel, Martin: Über die Reichweite ästhetischer Erfahrung – Fünf Thesen. In: Gert Mattenklott (Hg.): Ästhetische Erfahrung im Zeichen der Entgrenzung der Künste. Hamburg: Meiner 2004. S. 73-81. S. 78. Vgl. hierzu auch Spinner: Perspektiven ästhetischer Bildung. S. 13. Vgl. ebd.

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Literarästhetische Literalität

Vorstellungs- und Imaginationstätigkeiten werden sich auf der Grundlage kontextabhängiger, etwa biographischer, kultureller oder historischer Determinationsfaktoren ausbilden. Das begrenzt sie einerseits, denn wo bestimmte Erfahrungen nicht gemacht wurden, können sich auch keine Vorstellungen oder Imaginationen hierzu einstellen: Wer noch nie bei Mondschein durch einen Tannenwald gegangen ist, wird nur schwer eine diesbezügliche Vorstellung aufbauen, geschweige denn, sie mit weiteren Imaginationen verknüpfen können.58 Die Abhängigkeit von individuellen und soziokulturellen Bedingungsfaktoren öffnet die Vorstellungs- und Imaginationstätigkeit zugleich aber auch, indem sie ihr Gestaltungsspielräume verleiht. Diese sind im Gegenzug aber auf Vereinbarkeit mit der jeweils zugrunde liegenden Objektwahrnehmung zu prüfen, um nicht in Phantasiewelten abzugleiten, die den ursprünglichen Impuls nur als Auslöser für anschließend von diesem abgekoppelte mentale Operationen nehmen. Anders formuliert: Gerade eine differenzierte und intensive Wahrnehmung wird sich für Vorstellung und Imagination als anregend erweisen: »Ein imaginationsorientierter Unterricht muss also das Wechselspiel zwischen subjektiver Imagination und genauer Wahrnehmung fruchtbar machen.«59 Im Unterschied zu alltagspragmatischen Kontexten sind es drei Dinge, die die Vorstellungsbildung in der ästhetischen Rezeption prägen: Sie kann einen Eigenwert erhalten, inhaltlich variabler fokussieren und somit breiter streuen. Auch wird sie sich in höherem Maße offen für potentielle imaginative Anschlüsse erweisen. Hierzu tragen eine Reihe künstlerischer Gestaltungstechniken bei, wie etwa die Dekontextualisierung, die die Anschlussmöglichkeiten vervielfältigt, die Fragmentierung, die den Rezipient_innen die Aufgabe einer Vervollständigung überlässt oder die Unterbestimmtheit, die nicht zur Darstellung Gebrachtes in verschiedener Art und Weise vorstellbar werden lässt. Kunst, aber auch das in einem ästhetischen Rahmen rezipierte Objekt der Alltagswelt, eröffnet Räume, die von der Vorstellung und Imagination der Leser_innen verschiedenartig gefüllt werden können – was mit dazu führt, dass diese Form der 58

59

Dies wirft allerdings zugleich die Frage auf, ob – und in welchem Maße bzw. in welcher Weise – Literatur das in der ›realen‹ Erfahrungswelt Fehlende ggf. ersetzen oder sogar suspendieren kann. Die in der Literatur der Moderne immer wieder thematisierte Möglichkeit, über die Lektüre in eine zweite, virtuelle Welt einzutauchen, die einen eigenen ›Erfahrungshaushalt‹ zu schaffen vermag, der – etwa in Gustave Flauberts Madame Bovary – dann auch handlungsleitend für die ›Wirklichkeit‹ wird, lässt den Schluss zu, dass Literatur (und AV-Medien in einem vermutlich noch höheren Maße) bis zu einem gewissen Grad eine solche kompensatorische Funktion erhalten kann. Spinner: Perspektiven ästhetischer Bildung. S. 14.

2. Ästhetische Grundlagen

Auseinandersetzung eine »Eigenzeitlichkeit und Eigenräumlichkeit«60 schafft, die die Rezipient_innen aus gewohnten Zusammenhängen herauslöst. Der Schritt von der Imagination zur Symbolbildung vollzieht sich im Zusammenspiel eigener Erfahrungsmuster mit kulturell codierten Rezeptionszusammenhängen61 – so kann etwa die Vorstellung des Waldspaziergangs bei Mondschein sich mit weiteren Konnotationen zu den Begriffen von Wald und Nacht zu Imaginationen verbinden, die dann vor dem Hintergrund eigenen Erlebens und kultureller Symbolsysteme bestimmte Bedeutungen erhalten (und in diesem Beispiel etwa einen vom alltäglichen Erleben abgegrenzten Raum des ›Romantischen‹ evozieren können). Prozesse der Begriffsbildung greifen hier folglich mit in den ästhetischen Rezeptionsprozess ein, müssen als solche aber noch nicht thematisch und reflexiv werden. Als »sinnlich-präsentative Symbole«62 sind die mit bestimmten Bedeutungen besetzten Imaginationen zwar kulturell vermittelt, gehen aber qua ihrer imaginativen Präsenz für das Erleben in ihrer jeweiligen Bedeutung auf. Erst dort, wo die »Vorstellungsbildung reflexiv als Symbolbildung erkannt [wird], geht sie in Symbolinterpretation über«63 , die ihrerseits konstitutiv an begrifflich vermittelte Verstehens- und Reflexionsprozesse gebunden ist. Auf emotionaler Ebene sind zwei Gefahren zu reflektieren: Die Vorstellungs- und Imaginationsbildung kann evtl. nur unzureichend oder gar nicht erfolgen und infolgedessen zu negativen Affekten während des Rezeptionsvorgangs führen, da weiterführenden Prozessen die Grundlage genommen ist. Andererseits können wirksam werdende neuronale ›Belohnungsmechanismen‹ im Zuge des Verarbeitungsprozesses dazu führen, dass die Ausbildung der Vorstellungen und Imaginationen sich stark von der Wahrnehmung abkoppelt, um ein ›ungestörtes Schwelgen‹ in den eigenen Phantasiewelten zu ermöglichen. Dies kann weiterhin sogar erneute Wahrnehmungen des Objekts dergestalt überformen, dass es nur noch auf Grundlage einer solcherart verzerrten Perspektive in den Blick gerät (und ebendies seitens der Rezipient_innen auch nicht bemerkt wird). Die Folge dessen wäre, dass das Wechselspiel von subjektiver Involviertheit und genauer Wahrnehmung einseitig zugunsten des ersten Pols aufgelöst wird. Kunst droht dann zur bloßen Projektionsfläche eigener Vorurteile oder Imaginationswelten zu werden und ihr Irritationspotential zu verlieren. 60

61 62

63

Brandstätter: Ästhetische Erfahrung. S. 176. Vgl. hierzu auch Jörg Zirfas: Kontemplation – Spiel – Phantasie. Ästhetische Erfahrungen in bildungstheoretischer Perspektive. In: Gundel Mattenklott u. Constanze Rora (Hg.): Ästhetische Erfahrung in der Kindheit. Theoretische Grundlagen und empirische Forschung. Weinheim, München: Juventa 2004. S. 77-97. S. 82: »Die ästhetische Erfahrung wird oftmals als Erfahrung der Vergegenwärtigung bestimmt, als ein Verweilen, das mit dem Fluss der Zeit nicht mitgeht, als ein Aufwachen, Erwecken, ein Sprung, ein Schock, als Erfahrung der Plötzlichkeit. Auch diese Erfahrungen sind zeitliche, die als Sichherausreißen aus der Zeit beschrieben werden können. Man kann an diese [sic!] Erfahrung des ästhetischen Verweilens zwei Zeitbezüge festhalten, einen negativen, der darauf abhebt, dass man sich vom Fluss der Zeit losreißt, und einen positiven, der das Aufgehen in der Sache als Präsenz bestimmt.« Vgl. Zabka: Ästhetische Bildung. S. 457. So Zabka mit Bezug auf die von Susanne K. Langer unter Rekurs auf Ernst C assirers Differenzierung getroffene Unterscheidung von »sprachlich-diskursiven« und »sinnlich-präsentativen Symbolen«. Ebd. Zabka: Ästhetische Bildung. S. 458.

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Literarästhetische Literalität

2.3.3.

Das Zusammenspiel von Einbildungskraft und Verstand  (Immanuel Kant)

Mit dem Übergang von Vorstellungs- und Imaginationswelten zur Symbolbildung und ihrer Reflexion wird die Frage nach der Spezifik begrifflich-kognitiv vermittelter ästhetischer Verstehensprozesse aufgeworfen. Sie gründet in einer bestimmten Form des Zusammenspiels von Einbildungskraft und Verstand, das Kants Ästhetik näher ausführt. Den hier entwickelten Argumenten kommt eine zentrale Funktion zur Stützung der Ausgangsthese dieser Arbeit zu, die das ästhetische Denken und Wahrnehmen als eine zweite, nicht teleologisch und produkt-, sondern prozessorientierte Form des Gebrauchs der menschlichen Erkenntnisvermögen begreift, mit der Schüler_innen im Zuge von Enkulturationsprozessen vertraut gemacht werden müssen. Ausgangspunkt bei Kant ist die Konfrontation mit einem Gegenstand, der vermöge der Urteilskraft aufgefasst werden muss. Dieser Vorgang, der Bedingung einer jeden Erkenntnis ist64 , läuft so ab, dass »in Ansehung einer Vorstellung, wodurch ein Gegenstand gegeben wird«, nun eine »Zusammenstimmung […] der Einbildungskraft (für die Anschauung und die Zusammensetzung des Mannigfaltigen derselben), und des Verstandes (für den Begriff als Vorstellung der Einheit dieser Zusammensetzung)« erforderlich ist.65 Dieses aufeinander abgestimmte Zusammenspiel hat – zunächst einmal unabhängig von der Frage, ob es Ausgangspunkt ästhetischer oder anderer Urteile ist – folgendes Aussehen: Die Einbildungskraft ordnet die Masse von Eindrücken und Anschauungen, die über die Sinne zugespielt werden66 , und verleiht ihnen so formale Gestalt. Dieses derart vorstrukturierte Material der sinnlichen Anschauung wird dann vom Verstand auf Begriffe gebracht. Dieser Prozess kann nun aber auf zwei verschiedene Weisen erfolgen: zum einen teleologisch als Subsumtion in Form der bestimmenden Urteilskraft. Ihr wohnt das Vermögen inne, ausgehend vom Allgemeinen, d.h. einem bereits gegebenen Begriff, das Besondere hierunter zu fassen. Dies führt zu einer bestimmten Erkenntnis logischer Natur: »Die bestimmende Urteilskraft unter allgemeinen transzendentalen Gesetzen, die der Verstand gibt, ist nur subsumierend; das Gesetz ist ihr a priori vorgezeichnet, und sie hat also nicht nötig, für sich selbst auf ein Gesetz zu denken, um das Besondere in der Natur dem Allgemeinen unterordnen zu können.«67 Der Einbildungskraft fällt hier eine dienende Rolle für den Verstand zu – die von ihr geleistete Strukturierung der Mannigfaltigkeit des sinnlich vermittelten Materials aus der Anschauung geschieht im Hinblick auf einen bestimmten Begriff, der vom Verstand vorgegeben68 und auf den hin die Einbildungskraft abgestimmt ist. Zum zweiten können Urteile in Form eines offenen Prozesses auf Grundlage der reflektierenden Urteilskraft, die den umgekehrten Weg beschreibt, getroffen werden: »Ist 64 65 66 67 68

Vgl. Kern, Andrea: Schöne Lust. Eine Theorie der ästhetischen Erfahrung nach Kant. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2000. S. 47. Kant, Immanuel: Kritik der Urteilskraft. Hg. v. Wilhelm Weischedel. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1974. S. 217. Vgl. Ludwig, Ralf: Kant für Anfänger: Die Kritik der Urteilskraft. München: dtv 2008. S. 167. Kant: Kritik der Urteilskraft. S. 88. Vgl. Kern: Schöne Lust. S. 49.

2. Ästhetische Grundlagen

aber nur das Besondere gegeben, wozu sie [die Urteilskraft] das Allgemeine finden soll, so ist die Urteilskraft bloß reflektierend.«69 Im Kontext kunstphilosophischer Überlegungen wird hier insbesondere die ästhetisch reflektierende Urteilskraft relevant.70 Da ein fixierbarer, allgemeiner Begriff vom Besonderen ausgehend nicht gefunden werden kann, weil er nicht vorhanden ist, befinden sich Einbildungskraft (als Vermögen, das die Sinnesdaten aus dem Anschauungsobjekt strukturiert – und zugleich hierin auch selektiert) und Verstand (als Vermögen der Begriffsbildung) in einem »freien Spiele […] (sofern sie unter einander, wie es zu einem Erkenntnisse überhaupt erforderlich ist, zusammenstimmen).«71 Die Begriffe »frei« und »Spiel« sind hierbei genauer zu bestimmen, da an ihnen die Spezifik der ästhetischen Urteilskraft als einer eigenen Form des Gebrauchs der menschlichen Erkenntniskräfte festgemacht werden kann. Frei ist dieses Zusammenspiel beider Vermögen zunächst deshalb, weil mit ihm kein konkretes, sinnliches Interesse an dem Gegenstand verbunden ist, da es nicht auf subjektiv beliebigen Empfindungen beruht. Es rekurriert nicht auf persönliche Vorlieben, etwa für eine bestimmte Lieblingsfarbe, einzelne Instrumente in der Musik oder dergleichen.72 Hierdurch unterscheidet sich das ästhetische Urteil vom Angenehmen, »welches ganz auf der Empfindung beruht«73 , allein den subjektiven Zweck des sinnlichen Genusses verfolgt und somit interessegeleitet ist.74 Gleiches gilt für von »Rührung« bestimmte Urteile, weil hier das Subjekt seiner Freiheit beraubt wird: Im emotionsgeladenen Urteil ist es Gefangener seiner eigenen Gefühle und Empfindungen; es verliert seine Freiheit, sich distanziert und reflektiert zum Objekt zu verhalten.75 Freigestellt ist das Urteil weiterhin von jeder instrumentellen Ausrichtung und begrifflichen Festlegung resp. der Hervorbringung einer bestimmten Erkenntnis76 : »Schönheit ist Form der Zweckmäßigkeit eines Gegenstandes, sofern sie, ohne Vorstellung ei69 70

71 72 73 74 75

76

Kant: Kritik der Urteilskraft. S. 87. Von ihr zu trennen ist noch einmal der logische und der teleologische Gebrauch der reflektierenden Urteilskraft. Im logischen Gebrauch sucht sie zu »empirischen Begriffen und Gesetzen, die ihr bereits gegeben sind, weitere empirische Begriffe und Gesetze von größerer Allgemeinheit« (ebd. S. 75). Im teleologischen Gebrauch zielt sie darauf, »die Zweckmäßigkeit der Gegenstände der Natur zu beurteilen« (ebd. S. 79) – diese kann aber niemals rein formal bestimmt werden, sondern nur begrifflich, weil der Zweckbestimmung immer ein bestimmter Begriff zugrunde gelegt werden muss (vgl. ebd. S. 81). Die beiden anderen Arten des Gebrauchs der reflektierenden Urteilskraft unterscheiden sich somit von der ästhetischen dadurch, dass sie keine rein formale, sondern nur eine begriffsbezogene Allgemeinheit postulieren können. Ebd. S. 132. Vgl. ebd. S. 125f. Ebd. S. 120. Vgl. ebd. S. 117. Ästhetischer Genuss resultiert bei Kant gerade nicht aus bruchloser Einfühlung in einen Gegenstand, sondern aus Reflexionsprozessen: »Ein Geschmacksurteil ist also nur sofern rein, als kein bloß empirisches Wohlgefallen dem Bestimmungsgrunde desselben beigemischt wird. Dieses aber geschieht allemal, wenn Reiz oder Rührung einen Anteil an dem Urteile haben, wodurch etwas für schön erklärt werden soll.« (Kant: Kritik der Urteilskraft. S. 139) Nur wenig zuvor spricht Kant sogar davon, dass »der Geschmack […] jederzeit noch barbarisch [ist], wo er die Beimischung der Reize und Rührung zum Wohlgefallen bedarf, ja wohl gar diese zum Maßstabe seines Beifalls macht.« Ebd. S. 138. Vgl. Ludwig: Kant für Anfänger. S. 51.

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Literarästhetische Literalität

nes Zwecks, an ihm wahrgenommen wird.«77 Die Zweckmäßigkeit verlagert sich von handlungsleitenden Kontexten auf den Vollzug des Urteils und somit auf das Subjekt selbst. Es konstruiert eine funktional wie begrifflich nicht endgültig bestimmbare – und letztlich nur vorgestellte – Zweckmäßigkeit des Gegenstandes im Sinne eines Herstellens von Zusammenhängen. Dies beinhaltet immer eine autoreflexiv gewendete Form sinnhafter Konstruktion von Bedeutung, wodurch der zugrunde liegende Prozess der Rekonstruktion formaler Zweckmäßigkeit bewusst wird. Schließlich ist das Urteil auch frei von der Befolgung einer moralischen Vorgabe. Die Argumentation verläuft hier analog zu der, die die Freistellung von Nützlichkeitsinteressen begründet: »Gut ist das, was vermittelst der Vernunft, durch den bloßen Begriff, gefällt. Wir nennen einiges wozu gut (das Nützliche), was nur als Mittel gefällt; ein anderes aber an sich gut, was für sich selbst gefällt.«78 In beiden Fällen wird das Wohlgefallen infolge einer Subsumtion unter vorgegebene Begriffe ausgelöst. Anders »das Wohlgefallen am Schönen«, das durch die »bloße« Beurteilung im Sinne einer »Reflexion über einen Gegenstand, die zu irgend einem Begriffe (unbestimmt welchem) führt«, gefällt.79 Einem Spiel ist die Zusammenstimmung von Einbildungskraft und Verstand im ästhetisch reflektierenden Urteil ebenfalls in verschiedener Hinsicht vergleichbar: Zunächst einmal ist sie zwanglos und beabsichtigt nichts Bestimmtes, Vorgegebenes. Von der Notwendigkeit, eine bestimmte Situation zu bewältigen oder ein Problem, eine Aufgabe zu lösen, ist das Urteil hier gerade befreit.80 Dies korrespondiert der oben dargestellten Formel einer Zweckmäßigkeit ohne Zweck. Des Weiteren sind beide Erkenntniskräfte in ihrem Zusammenwirken nicht fixiert, sondern »gegeneinander beweglich«, dem Spiel eines mechanischen Aggregats gleich.81 Die von der Einbildungskraft dem Verstande weitergeleiteten und vorstrukturierten Sinnesdaten aus der Anschauung werden nicht in (final) allgemeinbestimmenden Begriffsurteilen aufgelöst, die zu einer Stillstellung des Zusammenspiels der beiden Erkenntnisvermögen führten, da eine solche Erkenntnisform mit dem Erreichen des Ziels einer begrifflichen Kategorisierung an ihr Ende gekommen ist. Sie werden vielmehr einer stetigen Neuausrichtung unterzogen, in der Einbildungskraft und Verstand sich insofern in einem harmonischen Zusammenspiel befinden, als sie variable Perspektiven auf das ästhetische Objekt hervorbringen, dessen signifikantes, sinnlich vermitteltes Anschauungsmaterial somit einer permanenten Neustrukturierung ausgesetzt ist.82 Dabei beruht es nicht auf einer ihm selbst vorgängigen Suspension von Begriffen, vielmehr werden die Begriffe – und zwar nur im Sinne einer inhaltlichen Fixierung, 77 78 79 80 81 82

Kant: Kritik der Urteilskraft. S. 155. Ebd. S. 119. Vgl. ebd. S. 120. Vgl. Ludwig: Kant für Anfänger. S. 51. Vgl. Römpp, Georg: Kant leicht gemacht: Eine Einführung in seine Philosophie. Köln u.a.: BöhlauVerlag 2005. S. 278. Deutlich wird, dass den im ersten Kapitel vorgestellten Lesekompetenzmodellen letztlich der bestimmende, nicht aber der ästhetisch reflektierende Gebrauch der Urteilskraft zugrunde liegt, da die Texte auf inhaltliche oder moralisch wertende Urteile hin gelesen werden, die das freie Spiel von Einbildungskraft und Verstand nicht in Gang kommen lassen.

2. Ästhetische Grundlagen

nicht aber als strukturelle Grundlage des Prozesses – im resp. »als Spiel der Vermögen« immer wieder neu suspendiert.83 Schließlich greift der Terminus Spiel auch »in dem Sinne des Spiels von Katzenkindern, in dem Verhaltensweisen eingeübt werden, die für das Überleben im Erwachsenenalter notwendig sind, aber so, dass es noch nicht Ernst ist, d.h. es hat noch keine ernsten Folgen, ob das Verhalten gelingt oder mißlingt«84 . Dem Spiel ist somit ein fiktionales Element zuzuschreiben. Denn die Erkenntnissituation, die durch das Kunstschöne ausgelöst wird, ist eine »latente«; sie ist »gegeben, aber nicht aktualisiert«85 . Kunst, so Dieter Henrich, »vergegenwärtigt uns Prozesse des bewussten Lebens in einem wirklichen Vollzug und zugleich doch so, dass sie nicht auch schon wirklich von uns vollzogen sind.«86 Auf all dem gründet die »Lust«, die Kant dem ästhetischen Urteil zuschreibt. Es zeichnet sich durch eine Reflexion zweiter Ordnung aus: Das Subjekt wird sich in diesem interesselosen Wohlgefallen87 der strukturellen Zweckmäßigkeit des Zusammenspiels seiner Erkenntnisvermögen bewusst.88 Ähnlich wie seine Erkenntnistheorie und Ethik folgt auch Kants Ästhetik einem transzendentalphilosophischen Ansatz: Gerade weil das ästhetische Urteil auf keinen äußeren Zweck ausgerichtet ist, wird es in seiner ihm eigenen Zweckmäßigkeit erfahrbar89 , im »Bewusstsein der bloß formalen Zweck83 84 85 86

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Vgl. Kern: Schöne Lust. S. 50. Römpp: Kant leicht gemacht: Eine Einführung in seine Philosophie. S. 279. Ebd. S. 280. Im Original im Fettdruck. Henrich, Dieter: Versuch über Kunst und Leben. Subjektivität – Weltverstehen – Kunst. München, Wien: Hanser 2001. S. 132. Vgl. hierzu auch Günter Waldmann: Produktiver Umgang mit Literatur im Unterricht. 8., unveränderte Auflage. Baltmannsweiler: Schneider 2013. S. 20: »Eine wesentliche Attraktion des literarischen Textes […] ist, dass er für seinen Leser eine Art ›Simulationsraum‹ bildet […]. In einem literarischen Probehandeln kann er in einer literarischen Möglichkeitswelt ohne Furcht vor Folgen und Sanktionen seinen Erfahrungsspielraum erweitern, über seinen bisherigen Erfahrungsbereich hinausgehen und neue, alternative, ihm in seinem Leben vielleicht für immer verschlossene individuelle und gesellschaftliche Erfahrungen machen.« Vgl. Kant: Kritik der Urteilskraft. S. 124. Kants Theorie des Schönen in der Kritik der Urteilskraft lässt sich zwar als Begründung einer Autonomie der Kunst resp. ihrer spezifischen Erkenntnisform lesen, ist im Rahmen seiner Schrift aber in den Dienst eines Unternehmens gestellt, das über Strukturanalogien versucht, aus den Funktionsweisen der reflektierenden Urteilskraft in der Analyse des Schönen die transzendentalen Voraussetzungen der Zweckmäßigkeit der empirisch beobachteten Besonderheiten der Natur für die menschliche Erkenntnis überhaupt zu begründen (vgl. Römpp: Kant leicht gemacht. S. 257f./269). Es geht hierbei, sehr kurz gefasst, darum, eine objektive Zweckmäßigkeit auch der möglichen Zufälligkeit der in der Natur begegnenden Dinge für die menschliche Erkenntnis (vgl. Ludwig: Kant für Anfänger. S. 123) aus der Erfahrung einer subjektiven Zweckmäßigkeit abzuleiten, die Kant paradigmatisch aus einer Auseinandersetzung mit Kunstphänomenen und ihrer Auffassung durch die menschlichen Erkenntnisvermögen gewinnt. Aus der Funktionsweise der ästhetisch-reflektierenden Urteilskraft, die der systematischen Aufarbeitung des Schönen zugrunde liegt, wird so auf die teleologische Urteilskraft und das »Vermögen der subjektiv-zweckmäßigen Einrichtung der Fähigkeit zur Erkenntnis der besonderen Natur« (Römpp: Kant leicht gemacht. S. 269, im Original im Fettdruck) zurückgeschlossen. »Schönheit ist Form der Zweckmäßigkeit eines Gegenstandes, sofern sie, ohne Vorstellung eines Zwecks, an ihm wahrgenommen wird.« Kant: Kritik der Urteilskraft. S. 155.

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Literarästhetische Literalität

mäßigkeit im Spiele der Erkenntniskräfte des Subjekts«90 . Letztlich werden wir so über »ein Lustgefühl, das selbst kognitiv unzugänglich bleibt«, auf den Grund unserer Kognition geführt: »Im Medium der Lust werden wir uns unserer Erkenntnisfähigkeit bewußt, ohne erkennend in Anspruch genommen zu sein.«91 Mit dieser »Lust am Schönen«92 unterläuft Kant zugleich auch die alte Dichotomie von Rationalität vs. Emotionalität.93 Die Lust bezieht sich somit nicht auf vorgegebene und begrifflich erfassbare Eigenschaften eines Gegenstandes, sondern auf eine »bestimmte Erfahrungsweise«94 und geht dem ästhetischen Reflexionsurteil nicht voraus, sondern allererst aus diesem hervor. Wenn man ein Objekt »schön« heißt, wird also kein Urteil über das Objekt, sondern über Prozesse, die in einem selbst zu verorten sind, getroffen.95 Ähnlich wie Kants ›kopernikanische Wende‹ in der Erkenntnistheorie, so geht auch seine Ästhetik vom Subjekt und nicht vom Objekt aus und zielt gleichwohl auf formale, intersubjektive Verallgemeinerbarkeit. Auch wenn es sich bei dem ästhetischen Urteil um ein »empirisches Urteil: daß ich einen Gegenstand mit Lust wahrnehme und beurteile«, handelt, so ist es dennoch zugleich »ein Urteil a priori«: Denn »daß ich ihn [den Gegenstand] schön finde, d. i. jenes Wohlgefallen [darf ich] jedermann als notwendig ansinnen«96 . Da es sich um keine logisch-begriffliche Erkenntnis handelt, unterscheidet Kant hier auch terminologisch hinsichtlich ihrer Allgemeingültigkeit: »Das 90 91

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Ebd. S. 137. Vesper, Achim: Lust als »cognitio intuitiva perfectionis«. Vollkommenheitsästhetik bei Wolff und ihre Kritik durch Kant. In: Jürgen Stolzenberg u. Oliver-Pierre Rudolph (Hg.): Christian Wolff und die Europäische Aufklärung. Akten des 1. Internationalen Christian-Wolff-Kongress. Teil 4. Hildesheim, Zürich: Georg Olms 2008. S. 283-296. S. 293. Kant: Kritik der Urteilskraft. S. 224. Diesbezüglich lassen sich Parallelen zur Ästhetik der Frühromantik ziehen: Nicht einmal eine Dekade später wird Friedrich Schlegel in seinem Roman Lucinde von der »geistigen Wollust« sprechen, die wie »ein feines Feuer« durch seine »Adern« strömt (Friedrich Schlegel: Lucinde. Frankfurt a.M.: Insel 1985. S. 14). Im unmittelbaren Anschluss findet sich eine Formel, die sich mit dem Ansinnen Kants zwar keinesfalls deckt (da dessen Lust letztlich darin besteht, dass im ästhetischen Urteil über das Schöne die Zweckmäßigkeit der Gegenstände für das menschliche Erkennen überhaupt erfahrbar wird), dieses aber in überspitzter Form fortschreibt. Von einer Begegnung mit seiner geliebten Lucinde berichtet der Ich-Erzähler Julius (der sich im Übrigen nicht nur als Literat, sondern auch als Philosoph versteht): »Ich genoß nicht bloß, sondern ich fühlte und genoß auch den Genuß.« (Ebd.) Zwar verschieben sich hier die Akzentsetzungen: Wo bei Kant die reflexiv-kognitive Komponente stärker in den Vordergrund tritt, kommt es bei Schlegel zum Genuss des Genießens. Aber auch dieses ist – von seiner logischen Struktur her betrachtet – nicht ohne Reflexivität denkbar, und die frühromantische Ästhetik lebt geradezu von der Verbindung dieser beiden Elemente, die sich im Begriff der ihres eigenen Konstruktcharakters bewussten Imagination zusammenführen lassen – und die somit durchaus nachweisbare Spuren von Kants Ästhetik in sich trägt. Kern: Schöne Lust. S. 45. Vgl. auch ebd.: »Die ästhetische Erfahrung des Gegenstandes ist nicht nur einfach das, worauf sich die ästhetische Lust bezieht, sondern sie ist zugleich das, worin sie besteht.« Vgl. Bubner, Rüdiger: Ästhetische Erfahrung und die neue Rolle der Museen. In: Joachim Küpper u. Christoph Menke (Hg.): Dimensionen ästhetischer Erfahrung. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2003. S. 37-48. S. 45. Kant: Kritik der Urteilskraft. S. 220.

2. Ästhetische Grundlagen

Geschmacksurteil selber postuliert nicht jedermanns Einstimmung […]; es sinnet nur jedermann diese Einstimmung an, als einen Fall der Regel, in Ansehung dessen er die Bestätigung nicht von Begriffen, sondern von anderer Beitritt erwartet.«97 Dieser »Beitritt« ist von einer exemplarischen Notwendigkeit98 , folglich weder logisch-begrifflich zu fundieren (da ästhetische Urteile sich nicht auf bestimmten Begriffen begründen lassen) noch aus Erfahrungen abzuleiten (da hierauf keine Notwendigkeit gegründet werden kann), sondern folgt aus der formalen Struktur des freien Spiels von Einbildungskraft und Verstand; das hieraus hervorgehende Wohlgefallen schafft Verbindung, buchstäbliche Sympathie. Das ästhetische Urteil steht hierbei unter dem formalen Anspruch einer Verbindlichkeit, denn Kant sieht seinen Grund »nicht als Privatgefühl, sondern als ein gemeinschaftliches [Gefühl]« an, das vor dem Hintergrund einer gleichsam idealisch gedachten Norm als ein mögliches Beispiel dient, dem andere ihre Zustimmung deshalb nicht versagen können, weil sie das gleiche Ideal im Blick haben.99 Dies impliziert die Notwendigkeit, verschiedene Perspektiven und Sinnzuschreibungen hinsichtlich des gleichen ästhetischen Objekts als unterschiedliche Exempel derselben ästhetischen Urteilskraft anzuerkennen. Ein solches Ansinnen einer Einstimmung – und hiermit zur didaktischen Relevanz – erweist sich allerdings als hoch voraussetzungsreich. Das ästhetische Urteil folgt bei Kant einer Norm, die zwar inhaltlich unbestimmt ist, aber dennoch formale Norm bleibt. Um sie aufrechterhalten zu können, kommt ein zentrales Erfordernis in den Blick: die (Aus-)Bildung der zu einem ästhetischen Urteil allererst notwendigen Kenntnisse und Befähigungen. Die formale Struktur der ästhetisch reflektierenden Urteilskraft bei Kant hat aufgrund ihrer oben angeführten Kriterien den Nachweis erbracht, dass dies allein im Rahmen eines auf kognitive Problemlösung abzielenden Kompetenzbegriffs nicht denkbar ist. Die ästhetisch reflektierende Urteilskraft im Sinne Kants begründet einen anderen Denkmodus als den der bestimmenden Urteilskraft: Im Gegensatz zu dieser ermöglicht sie es, einen Gegenstand ausgehend von der Wahrnehmung individueller Spezifika nicht auf vorgegebenes allgemeinbegriffliches Wissen hin abzubilden, sondern seine Besonderheit vielmehr zum Anlass zu nehmen, vorhandene begriffliche Konzepte im Zuge einer prozessual gedachten Auseinandersetzung variabel neu zu justieren100 , was der Operationalisierung und dem Anspruch auf Messbarkeit auf Grundlage vorgegebener Codierungen entgegensteht. 97 98 99

Ebd. S. 130. Vgl. ebd. S. 156. Vgl. ebd. S. 159. Zur exakten Herleitung dessen wäre ein Einbezug der Argumentation im Rahmen der vierten Aporie – der subjektiven Notwendigkeit des Geschmacksurteils – zu leisten, in der neben dem in der zweiten Aporie verhandelten Kriterium der Allgemeinheit ohne Begriff, aus dem die Ansinnbarkeit des Urteils über das Schöne hervorgeht, nun die genaue Begründung erfolgt, weshalb das Schöne eine subjektiv notwendige Beziehung zum Wohlgefallen habe (vgl. ebd. S. 155). Da dies im Rahmen des weiter verfolgten Ansatzes aber nicht von unmittelbarer Relevanz ist, sei es hier nur thesenhaft skizziert. 100 Vgl. hierzu auch Zabka: Was ist Hochschulreife im Umgang mit Literatur? S. 145: Es kommt auf die »Erkenntnis individueller Besonderheit an, und es gibt Untersuchungsverfahren, mit denen im selben Schritt die Gegenstände erkannt und die Konzepte verändert werden. Dieses Erkenntnisparadigma, das man mit Kants Begriff der reflektierenden Urteilskraft von einer bestimmenden Urteilskraft unterscheiden kann […], sollte bis zur Hochschulreife methodisch-praktisch vermit-

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Literarästhetische Literalität

Doch auch wenn Kant somit den Nachweis der Spezifik und Eigenständigkeit ästhetischer Urteile sowie ihrer Bedeutung für eine umfassende schulische Enkulturation und Bildung erbringt, bedürfen seine Theoreme weiterer Ausschärfungen und Erweiterungen: Einerseits, da sie mit Seel nur als »›[m]inimale‹ Bestimmungen« ihrer Gegenstände anzusehen sind, worunter er solche begreift, die »etwas hervorheben, das für alle ästhetischen Objekte und Auffassungsweisen kennzeichnend ist – wie radikal verschieden diese in anderen Hinsichten auch sein mögen.«101 Dem wird mit Blick auf verschiedene Formen ästhetischer Erfahrung in diesem und hinsichtlich einer literarästhetischen Spezifizierung im folgendem Kapitel nachgegangen. Zugleich muss der Herausforderung begegnet werden, den Kant’schen ›Expertendiskurs‹ für Novizen ›umzuarbeiten‹; das heißt, ein stärkeres Augenmerk darauf zu legen, auf welchen Voraussetzungen dieses anspruchsvolle Projekt der Begründung einer Autonomie des Ästhetischen fußt, die es zu vermitteln gilt.102 Hierzu bedarf es eines genaueren Blicks auf prozessbezogene Strukturelemente im Kontext ästhetisch-kognitiver Rezeption, die zu ihrer Dynamik beitragen und an die es didaktisch anzuknüpfen gilt.

2.3.4.

Begriffsgebundene Kognition: Das Andere des ästhetischen Verstehens

Erste Hinweise hierfür liefert Christoph Menke in Die Souveränität der Kunst. Unter Rekurs auf Kants Ästhetik konstatiert er eine rein modale Differenz zwischen ästhetischen und pragmatischen Verstehensvollzügen103 : »Wir verstehen ästhetisch nicht etwas anderes, sondern wir verstehen anders. Primär ist nicht die möglicherweise auftretende Abweichung des ästhetischen Zeichengefüges von den Normen der nicht-ästhetischen Verwendung, sondern die Desautomatisierung des Vollzugs seines Verstehens.«104 Hieraus resultiert, dass die Verstehensvollzüge »uneinholbar verzeitlicht« und gegenüber ihren Resultaten persistent werden105 – die Begriffsbildung also nicht abgeschlossen wird.

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telt werden, etwa in Form einer reflektierenden Literaturinterpretation, die Vorwissen prüft und modifiziert.« Seel: Ästhetik des Erscheinens. S. 19f. In diesen Zusammenhang fällt auch die Tatsache, dass die sozialhistorische Vermittlungsebene von Kunst bei Kant unterbestimmt bleibt. Sein Ansatz hätte »zu einer Theorie der Geschichtlichkeit der Kunst und der Geschichtlichkeit des Kunstvollzuges führen können« (Annemarie GethmannSiefert: Einführung in die philosophische Ästhetik. München: Wilhelm Fink 1995. S. 102), faktisch bricht er aber an genau dieser Stelle ab. Die Analyse des Geschmacksurteils und der hierauf gegründeten philosophischen Ästhetik »abstrahiert […] von Kultur und Geschichte als dem Bezugsrahmen des Verstehens und Entstehens von Kunst« (ebd.) und im Zuge dessen auch von der sprachlich-kulturellen Vermitteltheit des Geschmacksurteils. An Kants Konzept der Lust am Schönen und eines ästhetischen Gemeinsinns lässt sich nur dann festhalten, wenn beim Einzelnen die entsprechenden soziohistorischen und kulturellen Voraussetzungen erfüllt sind, die ihm einen Zugang zum jeweiligen Objekt ermöglichen. Kognitive Verstehensvollzüge sind nicht losgelöst von sinnlichen Wahrnehmungen und Vorstellungsbildungen zu sehen; der Begriff der Kognition, wie er hier verwendet wird, schließt diese vielmehr ein, und richtet sie begrifflich-diskursiv aus. Menke: Die Souveränität der Kunst. S. 51. Ebd.

2. Ästhetische Grundlagen

Dies hat seinen Grund wiederum in drei voneinander zu unterscheidenden kognitiv vermittelten mentalen Operationen: Zum einen liegt ästhetischem Verstehen ein »Zaudern des Signifikanten zwischen Material und Bedeutung«106 zugrunde, was heißt, dass die Auswahl, welchen Elementen des ästhetischen Objekts in der Wahrnehmung der Status eines Signifikanten zugemessen wird, sich je nach Zugang verändern kann. Dies führt zu unterschiedlichen Verstehensvollzügen bei ein- und demselben ästhetischen Objekt. Zum zweiten bleiben die Bezüge, die zwischen den als bedeutungstragend wahrgenommenen einzelnen Strukturelementen des Objekts analytisch hergestellt werden, in Teilen variabel. Und zum dritten sind es interpretative Sinnzuschreibungen, denen ein Status des Vorläufigen zukommt. Das Zusammenspiel dieser drei Prozesse, die zwar allesamt kognitiv-begrifflich vermittelt sind, zugleich aber eine stetige »›Rückkehr‹ zur ›Anschauung‹« notwendig machen, hat zur Folge, dass »[e]ine Interpretation ästhetischer Phänomene […] in diesem Sinne nur gelingen [kann], wenn sie vom Bewusstsein ihrer Vorläufigkeit begleitet ist: Jede neue Wahrnehmung eines Gegenstands kann das bereits gebildete Wissen als unzureichend erscheinen lassen […].«107 Hierin gründet die Andersartigkeit ästhetischen Verstehens, denn nur so vermag »unser Verstehen die Ordnung bloßen Wiedererkennens [zu] überschreite[n] und das Wiedererkannte zum Material [zu] mache[n], an dem es Bestimmungen auswählt und aufeinander bezieht.«108 Und in dieser Fähigkeit wiederum gründet auch die Möglichkeit, veränderte Perspektiven auf das »Wiedererkannte«, seien es gesellschaftlich vermittelte Werte und Normen oder individuelle Erfahrungszusammenhänge, einzunehmen und es so neu zu durchdringen. Diese drei Grundlagen ästhetischen Verstehens sollen im Folgenden näher bestimmt werden.

2.3.4.1.

Selektion: Die Spezifik ästhetischer Signifikantenbildung

Einzugehen ist auf Fragen, wie sich die Identifizierung von Bedeutungsträgern auf Seiten des Objekts in der ästhetischen Rezeption vollzieht, wie sie sich von Formen der bestimmenden Urteilskraft im Sinne Kants unterscheidet und inwieweit die sich hiermit vollziehende Umwandlung von bloßer Materialität zu signifikanter Materialität zur Prozessualität ästhetisch kognitiver Verstehensprozesse beiträgt. Menke bindet, hierin die in Kants Ästhetik grundgelegte Dialektik von »Geist« und »Buchstabe« aufgreifend, »das ästhetisch Bedeutete in besonderer Weise an die materielle Schicht seiner Darstellung« zurück.109 Dies gilt zwar grundsätzlich für jeden signifikanten Bedeutungsträger, erhält im Kontext ästhetischer Wahrnehmungsprozesse allerdings eine besondere Bedeutung, da der materielle Zeichenträger hier nicht in seiner Referenzfunktion aufgeht und als solcher hinter dem Signifikat verschwindet. Das für ästhetische Rezeptionsprozesse konstitutive »Schweben« (oder »Zaudern«) der Bedeutung des ästhetischen Zeichens, welches der Prager Strukturalist Jan Mu106 Ebd. Menke folgt mit dem Begriff des »Zauderns« einer Metapher Paul Valérys, die auch von Roman Jakobson in seinem Aufsatz Linguistik und Poetik aufgegriffen wurde. Vgl. Roman Jakobson: Linguistik und Poetik. In: ders.: Poetik. Ausgewählte Aufsätze 1921-1971. Hg. v. Elmar Holenstein u. Tarcisius Schelbert. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1979. S. 83-121. S. 106. 107 Zabka: Ästhetische Bildung. S. 459 unter Rekurs auf Rüdiger Bubner. 108 Menke: Die Souveränität der Kunst. S. 67. 109 Ebd. S. 53.

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Literarästhetische Literalität

kařovský daran festmacht, dass dieses »im wesentlichen befreit ist von der direkten Berührung mit dem Ding oder dem Ereignis usw., das es darstellt (mit der Handlung des Romans, dem Sujet des Bildes als einer direkt durch das Werk dargestellten Wirklichkeit)«110 , gründet nicht nur in der hier konstatierten Lücke zwischen Signifikant und Signifikat: »Der ästhetische Verstehensvollzug zaudert zwischen Laut und Bedeutung, weil er schon vor der Identifizierung jedes der beiden zögert.«111 Dass das dem ästhetischen Urteil zugrunde liegende Spiel der Erkenntniskräfte hinsichtlich seiner Begriffsbildung nicht fixierbar und als ein Zögern beschreibbar wird, ist vor dem Hintergrund der Ausführungen zu Kant einsichtig. Doch bereits die vorhergehende Identifizierung der Elemente, die aus der Materie des Kunstwerks überhaupt als signifikant relevant bestimmt werden und auf die sich die Aufmerksamkeit somit ausrichtet, ist in dieses Spiel mit einbezogen – und zwar unabhängig davon, ob es sich um allo- oder autographische Kunstformen handelt. Hieraus geht eine Brechung des Verstehensprozesses hervor, die darin begründet liegt, dass die Rezipient_innen immer wieder neu mit der Frage konfrontiert werden, was am Kunstobjekt überhaupt als zeichenhafter Träger möglicher Bedeutungen erscheint und was nicht. Und »weil jedes Sehen ein Übersehen, jede Beachtung des einen die Missachtung des anderen mit sich bringt«112 , wird im je konkreten Fall stets eine – gleichermaßen variable wie reversible – Unterscheidung und Auswahl zu treffen sein; die attentive Transformation von unbedeutender Materie zu potentiell bedeutendem Zeichenträger verbleibt dabei ebenso selektiv wie variabel. Denn mit jeder Reduktion von Elementen des Materials vollzieht sich »ihr Gegenteil, die Aufstockung unselegierten Materials; die ästhetische Depotenzierung der Signifikantenselektion ist zugleich eine Potenzierung ihres Materials.«113 Der Unterschied zum pragmatischen Verstehen lässt sich leicht deutlich machen: Dieses endet in der Entscheidung darüber, welchen Elementen eines potentiell signifikanten Materials eine Bedeutungsfunktion zugemessen wird, da sich hierüber zugleich die Ermittlung des Signifikats steuert. Die Aufmerksamkeit auf die jeweiligen Gegenstände, die Identifizierung der Bedeutungsträger und deren Bedeutungsbestimmung folgt vorgegebenen Regeln oder aus der Situation resultierenden funktionalen Überlegungen.114

2.3.4.2.

Strukturierungen: Bezüge und Vernetzungen

Zugleich können die als signifikant selektierten Bedeutungsträger untereinander verschiedenartig vernetzt werden. Dieser nach Relationen suchende Blick ermöglicht im 110 111 112 113 114

Mukařovský, Jan: Die Bedeutung der Ästhetik. In: ders.: Kunst, Poetik, Semiotik. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1989. S. 59-75. S. 65. Menke: Die Souveränität der Kunst. S. 52. Bosse, Heinrich: In Gedichten suchen wir Gestalten. In: Anja Pompe (Hg.): Kind und Gedicht. Wie wir lesen lernen. Freiburg i.Br. u.a.: Rombach 2015. S. 105-120. S. 118. Menke: Die Souveränität der Kunst. S. 67. Eine Taschenlampe etwa wird vermutlich primär hinsichtlich des Schalters, mit dem sich das Licht einschalten lässt, wahrgenommen; im Falle einer Fehlfunktion ggf. noch hinsichtlich der Leuchte oder Batterie. Die Gestaltung ihrer Außenwände, ob hier Einkerbungen oder Gravuren vorhanden sind, ob sie aus Metall oder Plastik sind, welche Farbe sie haben, wird in aller Regel keine Bedeutung haben, es sei denn, dass dies auch wieder funktional relevant wird, etwa in Fragen von Stabilität oder eines möglichst leichten Gewichts.

2. Ästhetische Grundlagen

Zuge ästhetischer Rezeption eine Strukturierung des Gegenstands, die weniger das Ziel verfolgt, eine feste Ordnung zu etablieren, sondern ist zunächst auf mögliche Kombinationen verschiedener Elemente, etwa in Form von Ähnlichkeits- oder Oppositionsbezügen, ausgerichtet.115 Hierbei werden auf kognitiver Ebene primär strukturalistische Analyseverfahren relevant. »[D]er Analytiker« lege, so Roland Barthes, »den Weg der Bedeutung noch einmal zurück, er braucht ihn nicht zu bezeichnen […]; gleich dem antiken Seher sagt er den Ort der Bedeutung, aber nennt ihn nicht.«116 Aufgewiesen werden hier folglich nur die funktionalen Verfahren, wie der Text Elemente in Relation zueinander setzt und sich so mögliche Bedeutungen aufbauen. Neben der Frage der Selektion wird so eine zweite Brechungsebene in den Prozess eingezogen: Denn die Auswahl von Elementen, auf die sich die Aufmerksamkeit richtet, hängt wiederum davon ab, mit welchen anderen Elementen diese in kognitiven Verarbeitungsprozessen zu Gruppen möglicher Bedeutungsträger zusammengezogen werden; ändern sich die Aspekte dieser strukturierenden Gruppierung, werden auch andere Bedeutungsträger selektiert. Aus der Reversibilität der Selektion von Elementen und ihrer Gruppierungen resultiert eine auf zwei Achsen dynamisch zu denkende Vollzugsstruktur ästhetischer Rezeption. Sie korreliert der Struktur des ästhetischen Objekts, das genau diese Variabilität hervorruft; beides bedingt und begründet einander. Das »Entwerfen von Signifikantennetzen«117 aus dem ästhetischen Objekt lässt die derart verbundenen Elemente zugleich auch auf ihre »Technik des Bedeutens«118 hin lesbar werden. Es vermag so bewusst zu werden, wie die relationalen Bezüge, in denen die einzelnen Elemente stehen resp. innerhalb derer sie wahrgenommen werden, selbst wiederum zum Bedeutungsaufbau beitragen.

2.3.4.3.

Sinnzuschreibungen: »eine Benennung im Werden« (Roland Barthes)

Denn mit der Rekonstruktion solcher Techniken des Bedeutens im Kunstobjekt endet die ästhetische Rezeption nicht, vielmehr kommt sie hierüber im eigentlichen Sinne erst in Gang: »Ästhetisches Verstehen besteht nicht im Feststellen von Beziehungen zwischen signifikanten Elementen, sondern im Nachvollzug des Prozesses, in dem sie sich so verknüpfen, daß sie Bedeutung gewinnen.«119 Was Menke hier für Kunstwerke im Allgemeinen ausführt, lässt sich mit Blick auf Literatur im folgenden Kapitel noch genauer fassen. Dass das aus der genauen Wahrnehmung erwachsende und an strukturalistische Verfahren anbindbare Relationieren der Signifikanten kein Selbstzweck ist, sondern in Bedeutungsgebungsprozesse einmündet, verdeutlicht auch Barthes, poststrukturalistisch gewendet, in S/Z, wenn er das Lesen als eine »Spracharbeit« definiert, die nunmehr nicht nur »sagt«, wo der »Ort der Bedeutung« ist, sondern auch Sinn- und

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116 117 118 119

»Die Qualität einer ästhetischen Vertextung bemisst sich mithin nicht an der logischen Folgerichtigkeit ihrer Elemente, sondern an der Dichte der Ähnlichkeit- und Oppositionsbezüge zwischen den Elementen.« Zabka: Ästhetische Bildung. S. 460. Barthes: Die strukturalistische Tätigkeit. S. 222. Menke: Die Souveränität der Kunst. S. 66. Barthes, Roland: Literatur oder Geschichte. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1969. S. 104. Vgl. Menke: Die Souveränität der Kunst. S. 67f. Menke: Die Souveränität der Kunst. S. 68.

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116

Literarästhetische Literalität

Bedeutungszuweisungen vornimmt: »Lesen, das heißt Sinne finden, und Sinne finden, das heißt sie benennen. […] [I]ch nenne, ich benenne, ich benenne aufs neue: so geht der Text vorbei: eine Benennung im Werden, eine unermüdliche Annäherung […].«120 Menke prägt in Die Souveränität der Kunst einen Begriff, der mit dem Verfahren Barthes’ verwandt ist, und zwar den des »artikulierende[n] Lesen[s]«121 . Es ruft Bedeutungen hervor und artikuliert, benennt diese, wobei dies eingebunden bleibt in die Prozessualität der ästhetischen Rezeption. Hiermit verändert sich der Status der im artikulierten Lesen ausgebildeten Bedeutungen: Sie sind nicht das teleologische Resultat von Bedeutungssuche, sondern bleiben ausgerichtet auf genuin ästhetische Verstehensversuche, denen eine konstitutive Vorläufigkeit eignet und in deren Folge sich auch der eigene Zugang zum Objekt verändert. Die Gefahr, dass solche Prozesse erst gar nicht in Gang gesetzt werden, kommt aus verschiedenen Richtungen. Zum einen daher, dass für die Rezipient_innen keine ausreichenden Kontexte erschließbar sind, die eine umfassende Suche nach potentiellen Bedeutungen ermöglichen. Zwei weitere Gefahren haben ihren Grund in emotional-affektiven Vorgängen, die immer auch auf kognitive Prozesse einwirken: Eine liegt darin begründet, dass Irritationen im Verstehensprozess durch eindeutige, andere mögliche Kontextualisierungen ausblendende Bestimmungen der Signifikanten kompensiert werden, um so zu einem (vermeintlich) befriedigenden und geschlossenen Gesamtverständnis zu gelangen, das zudem projektiv überformt sein kann.122 Eine zweite, ggf. auch hiermit einhergehende, Gefahr ist die, all das, was nicht in bisherige Verstehensentwürfe passt, als bloßen Unsinn zu verwerfen, mit dem man sich nicht näher befassen muss.123 In beiden Fällen ist das Ziel der Abbau von Ambiguitäten und Irritationen, weshalb sich kein ästhetisches Verstehen einstellt. Deutlich wird hieran auch, aus welchen Gründen die für Verstehensprozesse pragmatischer Texte entworfenen Lesemodelle mit Blick auf ästhetische Texte scheitern müssen: Liegt ihnen doch gerade die Annahme zugrunde, dass evtl. auftretende Verstehensirritationen im mentalen Repräsentationsmodell umgehend durch Aktivierung von Vorwissen oder Bezugnahmen auf bekannte Kontexte überschrieben werden. Dies sind allesamt Prozesse, die von der Auseinandersetzung mit dem signifikanten Material und einer Modifikation oder Revision eigener Verstehenskonzepte wegführen. Genuin ästhetisches Verstehen wird auf diese Weise von Beginn an unterbunden. 120 Barthes, Roland: S/Z. 3. Auflage Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1998. S. 15. Für didaktische Vermittlungsprozesse resultiert hieraus die Notwendigkeit, historische und kulturelle Wissenskontexte zu erschließen, die für eine solche Sinnzuweisung grundlegend sind; immer unter dem Vorbehalt, dass Kunst diese Kontexte i.d.R. nicht eins zu eins abbildet, sondern sie aufgreift, um mit ihnen zu spielen, was die Vermittlung einer entsprechend flexiblen Anwendung solcher Kontexte auf künstlerische Diskurse erfordert. 121 Vgl. näher Menke: Die Souveränität der Kunst. S. 67f. 122 Diese Gefahr lässt sich am Beispiel einzelner der im fünften Kapitel behandelten Lektüreprotokolle von Oberstufenschüler_innen zu Kafkas Erzählung »Ich bin zurückgekehrt…« (Heimkehr) näher verfolgen. 123 Vgl. Menke: Die Souveränität der Kunst. S. 72. Auch hierzu findet sich in den Lektüreprotokollen Anschauungsmaterial.

2. Ästhetische Grundlagen

2.3.4.4.

Prisma und Kaleidoskop

Wenn Kants Ästhetik das Kunstschöne nur in seiner Rückwendung auf den Erfahrungsprozess der Rezipient_innen begreift und Seels Ansatz dies autoreflexiv im Begriff des ästhetischen Erscheinens weiterdenkt, dann liefert Menkes Negativitätsästhetik die genaueren Bestimmungen, wie sich dieser Prozess im Rahmen eines ästhetischen Verstehens denken lässt. Das Kunstschöne wird in den jeweilig unterschiedlichen Perspektiven des Wahrnehmenden allererst hervorgebracht – gerade weil sein Verstehen eines Rahmens entbehrt, der auf kognitiver Ebene die hierfür maßgeblichen Bedingungen vorgäbe.124 So geben die Irritationen automatisierter Auffassungsmuster positiv gewendet den Blick frei auf die ästhetischen Verstehensprozesse. Menkes Negativitätsästhetik liegt hierbei eine von der Polysemietheorie abzugrenzende Pluralisierung kognitiver Verstehenszugänge zugrunde.125 Sie nimmt ihren Ausgang von der Unterscheidung einer internen und einer externen Perspektive auf den ästhetischen Verstehensversuch. Dabei gründe die Vieldeutigkeit der »Ästhetizität des Verstehens bzw. des Objekts« für die Vertreter der Polysemiethese nicht in Status wie Struktur jedes einzelnen Verstehensaktes, sondern wird ihnen von außen im Vergleich mit vielen anderen prädiziert. […] Ästhetisches Verstehen erscheint darin als bloß summiertes Nebeneinander gegeneinander gleichgültiger Vorschläge, die jeweils intern nach dem Modell automatischen Verstehens strukturiert und gewonnen sind, um sich erst in einer von außen hinzutretenden Betrachtung an gleichzeitig möglichen inkompatiblen Verstehensakten zu brechen.126 In dieser Argumentation sind zwei Vorbehalte formuliert: Zum einen verkürzten Vertreter der Polysemiethese den ästhetischen Rezeptionsprozess auf letztlich nur einen Verstehensakt – und dieser, so der zweite Kritikpunkt, strukturiere sich analog zu Formen der bestimmenden Urteilskraft, subsumiere also das Besondere unter begriffliche Allgemeinheit. Auch wenn die dem zugrunde liegende finale Bedeutungsfunktion der Signifikanten dann ex post dahingehend relativiert wird, dass verschiedene mögliche Verstehenszugriffe auf das Objekt durchaus eingeräumt bzw. auch propagiert werden, so bleibe es doch bei einer dem eigentlichen ästhetischen Rezeptionsprozess äußerlichen Annahme, dessen interne Struktur hiervon nicht tangiert werde.127 Die Differenz beider Ansätze lässt sich mithilfe des von Menke an anderer Stelle angeführten Vergleichs von Prisma und Kaleidoskop erläutern. In dem an der Polysemietheorie ausgerichteten ästhetischen Verstehensakt vollzieht sich lediglich »eine Brechung des Blicks auf die Welt«128 , also jene Deautomatisierung diskursiv vermittel124 125 126 127

128

Vgl. ebd. S. 78. Vgl. ebd. S. 85. Ebd. S. 84. Dies lässt sich auch auf die Teilkritik am Kommentar von Köster/Winkler zu den Bildungsstandards im Fach Deutsch für die Allgemeine Hochschulreife in Kapitel 1.6. dieser Arbeit beziehen. Hier ist die Identifizierung von Verstehensbarrieren zwar Anlass für eine genauere Auseinandersetzung mit diesen Textpassagen (etwa in Form des textnahen Lesens), dem wird aber andererseits durch die Fokussierung auf die letztliche Überwindung dieser Irritationen und die Ausrichtung des Verstehensprozesses auf ein in sich kohärentes Endprodukt auch wieder die Spitze genommen. Menke: Die Souveränität der Kunst. S. 142.

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118

Literarästhetische Literalität

ter Denk- und Wahrnehmungskonventionen, von der eingangs dieses Unterkapitels die Rede war. Um ästhetisch genannt werden zu können, müsse diese Neuperspektivierung aber auf den Prozess rückbezogen werden, »in dem die prismatische Brechung durch den Zerfall einer anderen entstanden ist und in dem sie ihrerseits zerfallen wird.«129 Dies wiederum bildet die Struktur des Kaleidoskops ab: »Während das Prima eine zeitlose Vorrichtung ist, fügt die Drehung des Kaleidoskopes ihm die Dimension des Verlaufs hinzu. Er besteht in dem Zerfall eines ersten Prismas, der zugleich Bildung eines zweiten ist.«130 Menkes Metaphorik, der zufolge bereits der prismatische Blick »eine Brechung des Blicks auf die Welt beinhaltet«, impliziert allerdings, dass die jeweils einzelnen, der Polysemiethese zugeschlagenen Lektüren nicht mit automatisierten Rezeptionsmustern gleichzusetzen sind. Diese werden gebrochen, wenn auch nicht in der Form, dass die Brechung fortgeführt und in einen unabschließbaren Prozess überführt wird – der vertraute Blick auf die Welt liegt dem aber hier nicht länger zugrunde. Insofern ist infrage zu stellen, ob sich ein ästhetisches Verstehen eines Kunstobjekts nicht auch dann ereignen kann, wenn die negativitätsästhetische Prämisse einer infiniten Folge kaleidoskopartiger prismatischer Brechungen unerfüllt bleibt. Mit Blick auf didaktische Fragestellungen kann zudem Schüler_innen weder in Lernund noch weniger in Leistungssituationen abverlangt werden, dass sie ihre Verstehensentwürfe stetig wieder neu auf jene aus Menkes Negativitätsästhetik hervorgehende Unabschließbarkeit hin ausrichten.131 Die Abstriche, die hier zu machen sind, sollten jedoch nicht so weit reichen, nicht ein Bewusstsein für die potentielle Unabschließbarkeit zu vermitteln. Dem negativitätsästhetischen Ansatz käme somit die Funktion eines metakognitiven Korrektivs im Sinne eines Horizontes zu, vor dem sich der einzelne Verstehensakt zu begreifen hat, den er aber nicht immer in vollem Maße mit abzubilden vermag.

2.3.5.

Zwischenfazit

Das Mehrebenenmodell zeigt auf, dass ästhetische Rezeptionsprozesse im Zusammenspiel von Wahrnehmung, Vorstellung resp. Imagination und kognitiv-begrifflichem Verstehen einen modal von Formen der bestimmenden Urteilskraft abzugrenzenden Gebrauch unserer Erkenntnisvermögen hervorrufen. Anhand eines kurzen Beispiels kann dies abschließend verdeutlicht werden; der großen Bekanntheit wegen ist Caspar David Friedrichs Gemälde Der Mönch am Meer gewählt.132 Auch wenn die Auseinandersetzung mit diesem Bild bereits vorab aufgrund kultureller Codierungen, die es 129 Ebd. 130 Ebd. 131 Vgl. Baurmann/Kammler: Interpretationsaufgaben stellen – Interpretationen bewerten. S. 4: »Schulisches Interpretieren in Leistungssituationen schöpft keinesfalls das Potential literarischer Texte aus, selbst wenn verschiedene Deutungshypothesen zum Text und Wertungsperspektiven bei Interpretationsaufgaben mit einbezogen werden.« 132 Die folgenden Ausführungen sollen ausdrücklich und mit Bedacht nicht aus der Perspektive eines kunstwissenschaftlich versierten Betrachters formuliert sein, sondern aus der eines (interessierten) Laien.

2. Ästhetische Grundlagen

als ein Kunstobjekt ausweisen, ästhetisch ausgerichtet ist, so wird sie in der Regel ihren Anfang zunächst über eine Erfassung einzelner Elemente auf Grundlage von Wahrnehmungs- und Verstehensprozessen nehmen, die allgemeinen begrifflichen Bestimmungen folgen. Wahrnehmbar ist eine schwarzgekleidete Gestalt, die an einem Ufer steht. Durch die Überschrift wird die Gestalt vermutlich mit einem Mönch, das Ufer mit dem Meeresufer identifiziert. Weiterhin fällt der Blick auf den trüben, wolken- und nebelverhangenen Horizont, der nur am oberen Bildrand ein wenig auflockert. Das Wasser, auf das der verloren und sehr klein wirkende Mönch mit seinem leicht nach unten geneigten Kopf zumindest noch teilweise schauen dürfte, erweckt den Eindruck einer weiten Fläche, die auch aufgrund der untersten, fast schwarzen Wolkenschicht, in sehr dunklen Farben gezeichnet ist. Weiterhin auffällig wird dem/der Betrachter_in vermutlich die schon fast wüstenartige Dünenlandschaft des Bildvordergrundes werden, deren Farbe zur mittleren Wolkenschicht und zum Kopf des Mönches korreliert. Das, was in den Blick gerät, unterscheidet sich nicht grundlegend von der Identifikation eines Objektes, dem man im Alltagskontext mit automatisierten Denk- und Wahrnehmungsstrukturen begegnet. Die Wirkungen, die diese Wahrnehmungen beim Betrachten auslösen, differieren dann aber vermutlich sehr wohl. Sie werden davon gespeist, welche Vorstellungen sie wachrufen und wie diese mit bereits existierendem Vorwissen und früheren Erfahrungen verbunden werden. Vermutlich werden sich Vorstellungen einstellen, die auf eigenen (ggf. auch medial vermittelten) Erfahrungen beruhen. Wachgerufen werden können Bilder, vielleicht auch Geräusche oder Gerüche einer solchen Kulisse, auf die die Betrachter_innen sich bewusst einlassen. Ggf. stellen sich zugleich hierüber hinausgehende Imaginationen ein, etwa eines Strandspaziergangs im Nebel, vielleicht auch noch weiter vom Bild abschweifende Erinnerungen an ein Verirren oder vergleichbare Situationen von Verlorenheit (in Nebellandschaften oder auch darüber hinaus) mit einer Evokation der einst hiermit verbundenen Stimmung133 . All dies wird idealerweise im weiteren Verlauf mit einer intensiveren Wahrnehmung des Gemäldes abgeglichen.134 Im Zuge dessen vermag das Bild als Ausdruck einer künstlerischen Komposition gesehen zu werden, die die dargestellte Szenerie nach eigenen Gesetzen formt: etwa durch eine gezielte Gestaltung von Farben, Formen oder Strukturen ihrer Elemente, die auch Differenzen zu einem realistischen Darstellungsmodus markieren, wodurch alltagspragmatische Rezeptionsgewohnheiten irritiert werden. Spätestens von diesem Punkt an kann der/die Betrachter_in der Gestaltung des Bildes nähere Aufmerksamkeit schenken – und sich nun vermutlich Gedanken über das Zusammenspiel der bisher identifizierten Einzelelemente und mögliche Bedeutungen dessen machen, etwa hinsichtlich des kontrastiven Verhältnisses der dominierenden horizontalen Linien des Bildes zu der im Vergleich kleinen Vertikale, die die Gestalt des Mönchs bildet und so noch verlorener erscheinen lässt. 133 134

Vgl. zum Begriff der Stimmung das Kapitel 5.2.1.2. dieser Arbeit. Dies kann bereits einen Unterschied zur automatisierten Wahrnehmungs- und Vorstellungsbildung markieren – wird man dort doch der imaginativen Ausgestaltung in den allermeisten Fällen nicht den gleichen Raum geben, wie dies hier geschieht.

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Literarästhetische Literalität

Ähnliche Beobachtungen können Farben, Licht- bzw. Schattenzeichnungen und effekte betreffen, etwa den Gegensatz der einzelnen Nebel- und Wolkenformationen am Horizont, die den Blick auf den blauen Himmel nur vereinzelt am oberen Bildrand freigeben oder der starke farbliche Kontrast der nahezu schwarzen Fläche des bewegten Meeres zu der hellen Dünenlandschaft am Ufer, wobei diese Oppositionsbeziehung von Meer und Ufer auch wieder von einer Äquivalenzbeziehung konterkariert wird, wenn sich die Hügel der Dünenlandschaft gleichsam in den Wellenkämmen des Meeres fortsetzen. Dies kann sowohl zu emotionalen wie zu kognitiven Reaktionen führen, die aber nie getrennt voneinander zu denken sind und zugleich Wahrnehmungs- und Vorstellungstätigkeiten einbeziehen, ohne die die Fokussierung formal-kompositorischer Elemente ihrer Grundlage entbehrt: Der Blick auf die sehr klein dargestellte Mönchsgestalt vermag vielleicht Zustände einer melancholischen Verlorenheit wachzurufen, dann wird sie im Kontext der gesamten Bildkomposition zu einer Art sinnlich-präsentativem Symbol. Bereits in dem Augenblick, wo dieser Prozess reflexiv wird, können sich andere Bedeutungszuweisungen einstellen. Auch kognitionspsychologisch lässt sich nachweisen, dass die »Ergebnisse und Inhalte« einer ersten expliziten Klassifikation »(in aller Regel) einer weitergehenden Reflexion unterzogen« werden.135 So kann die Frage aufkommen, warum ausgerechnet eine Mönchsfigur gewählt wurde, die in diese Kulisse gesetzt ist. Sie führt auf eine Spur, bei der das Gemälde im Kontext eines im weitesten Sinne romantisch-metaphysischen Rahmens gedeutet wird, etwa hinsichtlich der Stellung des Menschen im Diesseits, der den Blick auf ein wolkenverhangenes Jenseits richtet, dessen blauer, offener Horizont am oberen Bildrand gar nicht in den Blick kommen kann. Oder als Verlorenheit des Menschen, ja sogar eines Mönchs angesichts der kosmischen Größe und ›Unwirtlichkeit‹ der Natur, für die dann die karge Ausgestaltung der Uferlandschaft und die bedrohliche Schwärze von Meer und Himmel über der Mönchsfigur stünden. Oder in Form einer Deutung vor dem Hintergrund des Kant’schen Begriffs des Erhabenen, wonach der Mensch gerade angesichts einer auf ihn existentiell bedrohlich wirkenden Naturkulisse zu seiner Subjektivität im Modus der sich in ihm ausbildenden Idee des Erhabenen findet.136 All diese Deutungen erweisen sich dabei abhängig vom Zugang zu kulturellen, gesellschaftlichen und historischen Wissenskontexten. Fasst man ausgehend von diesem Beispiel das bisher erörterte Zusammenspiel mentaler Prozesse in der ästhetischen Rezeption auf Wahrnehmungs-, Vorstellungs-/ Imaginations- und kognitiv-begrifflicher Verstehensebene zusammen, dann können im Vergleich zu automatisierten Modi des Gebrauchs dieser Verstandeskräfte folgende Spezifika ausgemacht werden: •

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Die ästhetische Wahrnehmung geht bewusst auf die sinnlich vermittelte Präsenz des Objekts ein, das hierbei zugleich aus alltagspragmatischen Handlungszusammenhängen gelöst wird. Die Wahrnehmungen werden nicht final in begrifflichen Belke/Leder: Annahmen eines Modells der ästhetischen Erfahrung aus kognitionspsychologischer Perspektive. S. 7. Vgl. in Teilen kritisch hierzu Grave, Johannes: Caspar David Friedrich. München u.a.: Prestel 2012. S. 198.

2. Ästhetische Grundlagen











Bestimmungen aufgelöst und können somit das Objekt verschiedenartig perspektivieren. Während automatisierte, pragmatische Formen der Wahrnehmung auf eine funktional ausgerichtete Bestimmung der Bedeutung der als relevant eingestuften Elemente zielen, lässt sich die ästhetische Wahrnehmung auf die Merkmalsvielfalt des Objekts ein. Hieraus resultiert eine offenere Vollzugsstruktur, die veränderte Zugänge ausprobiert und in der dieser Wahrnehmungsakt zugleich auch Selbstzweckcharakter erhalten kann. Analog gilt dies auch für die sich ausgehend von den Wahrnehmungen ausbildenden Vorstellungen, die in Form von Imaginationen Anschluss an bereits vorhandene, individuell und/oder kulturell vermittelte Erfahrungen erhalten können. Im Vergleich zu automatisierten Auffassungen eines Objekts sind diese mentalen Aktivitäten in ästhetischen Kontexten weniger festgelegt, auch deshalb, weil sie in größerem Maße individualisierte Zugänge erlauben. Da kognitiv-begriffliche Zuordnungen nicht abgeschlossen werden, erhält die Ausbildung von Vorstellungen und Imaginationen zudem eine zentrale Bedeutung für das von Kant als Spiel zwischen Einbildungskraft und Verstand gefasste ästhetische Urteilsvermögen, das wiederum dem Wohlgefallen am Schönen zugrunde liegt. Die Imaginationen können auch zu ersten symbolischen Auffassungen des Objekts führen. Begrifflich vermittelte kognitive Verstehensprozesse setzen dann ein, wenn solche Symbolbildungen reflexiv und Grundlage von Sinn- und Bedeutungszuschreibungen werden. Vorstellungen und Imaginationen werden hierbei jedoch nicht vollständig begrifflich überformt und absorbiert. So werden die Verstehensvollzüge mitsamt der hieraus hervorgehenden Verstehensgehalte immer wieder auf ihre eigenen Bedingungen und Bedingtheiten zurückbezogen. Hierüber vermögen die bedeutungsgenerierenden Strukturen ebenso reflexiv zu werden wie die Sinn- und Bedeutungszuweisung selbst. Auf diese Weise können automatisierte Verstehensmuster, die ggf. zunächst Anwendung finden, irritiert und so aufgebrochen werden. Es treten ästhetische Verstehensprozesse an ihre Stelle, die die ersten Ebenen – also die der sinnlichen Wahrnehmungen, der Vorstellungsbildung, Imagination und des ersten Symbolverstehens – neu durchlaufen. Im Zuge dessen kann sich auch die Auswahl der als Bedeutungsträger identifizierten Elemente des Objekts verändern. Hierüber modifizieren sich sowohl die Wahrnehmung des Objekts als auch hiervon Ausgang nehmende Vorstellungs- und Imaginationsprozesse sowie kognitiv-begriffliche Auffassungen. Letztere steuern sich über zwei Verfahren: eines, das in Form einer gruppierenden Kombinatorik relationale Bezüge, die »Technik des Bedeutens« im rezipierten Objekt in den Blick nimmt, und ein zweites, hiermit einhergehendes, das Sinnzuschreibungen vornimmt. Sie verbleiben aber im Modus des Vorläufigen. Dort, wo auf Kontextwissen oder konventionalisierte Verstehensmuster zurückgegriffen wird, dient dies nicht länger dazu, die Brüche und Irritationen zu überdecken und den Verstehensprozess somit zu finalisieren, sondern es bleibt eingebunden in die Wiederholungsstruktur unterschiedlicher Zugänge zum Objekt. Diese beziehen ihre Dynamik auch aus der stets neu erfolgenden Auswahl der Bedeutungsträger aus dem hinsichtlich der Menge an potentiellen Bedeutungsträgern immer überschüs-

121

122

Literarästhetische Literalität



sigen Material. Die einzelnen Elemente des ästhetischen Objekts können so hinsichtlich der Frage, welchen von ihnen der Status von Bedeutungsträgern zugemessen wird, verschiedenartig selektiert, miteinander kombiniert und in Selektion wie Kombination auch wiederum modifiziert und variiert werden. Aus der Reversibilität und Reflexivität dieses Prozesses geht zugleich die an die ästhetische Rezeption gebundene Möglichkeit hervor, dass konventionalisierte Denk- und Wahrnehmungsstrukturen transparent werden, ihre scheinbare Selbstverständlichkeit verlieren und so aufgebrochen werden können. Hierüber lassen sich neue Perspektiven auf sich selbst und die Außenwelt gewinnen. Das gesellschaftskritische oder auch bildungsrelevante Potential von Kunst bleibt so auf den genuin ästhetischen Rezeptionsmodus zurückbezogen.

2.4.

Ästhetische Erfahrung – ästhetisches Erfahren

Menke setzt den aus seiner Negativitätsästhetik hergeleiteten Begriff eines spezifisch ästhetischen Verstehens mit dem der ästhetischen Erfahrung gleich.137 Es stellt sich die Frage, ob diese voraussetzungsreiche Definition notwendig ist und man sich so nicht möglicher Differenzierungen beraubt, die gerade in didaktischen Kontexten hilfreich werden können. Hierzu zunächst ein einfaches Beispiel: Ein Schüler versteht das oben angesprochene Gemälde von Caspar David Friedrich Der Mönch am Meer in seinen Gestaltungselementen, seinen Bezügen zur romantischen Kunst und auch in der Vielschichtigkeit möglicher Sinnzuschreibungen ästhetisch; befasst sich darüber hinausgehend aber nicht mehr weiter mit ihm. Eine andere Schülerin reflektiert das Bild evtl. zwar weniger in seinen Mal- und Kompositionstechniken, ist von der Gestalt des Mönchs aber so in den Bann gezogen, dass sie vielleicht ihre eigene Existenz hierin, etwa hinsichtlich der Verlorenheit des Menschen, gespiegelt findet und sich ihrer zum ersten Mal in dieser Form bewusst wird. Auch ist es möglich, dass die Kulisse in ihr Erinnerungen wachruft, die sie vielleicht mit neuen Imaginationen anreichert und an die sie fortan auch in anderen Situationen wieder denken muss. Der erste Schüler wird eine Klausur über dieses Bild ggf. mit einer sehr guten, die zweite Schülerin vielleicht nur mit einer ausreichenden Note abschließen; gleichwohl ist ihr nicht abzusprechen, eine ästhetische Erfahrung mit diesem Bild gemacht zu haben; was im Falle des ersten Schülers nicht mit der gleichen Sicherheit behauptet werden kann. Dieses einfache Beispiel kann zwar noch keine befriedigende Begriffsklärung zur ästhetischen Erfahrung an die Hand geben, es macht aber auf einen Unterschied aufmerksam, der näher zu verfolgen ist. Der erste Schüler ist mit den spezifischen Verstehensanforderungen von Kunst so vertraut, dass ihm dies einen gegenstandsadäquaten Zugang zu dem Gemälde erlaubt.138 Der zweiten Schülerin mag dies in der gleichen Dif137

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Vgl. Menke: Die Souveränität der Kunst. S. 67: »Von ästhetischer Erfahrung sprechen wir […], wenn unser Verstehen die Ordnung bloßen Wiedererkennens überschreitet und das Wiedererkannte zum Material macht, an dem es Bestimmungen auswählt und aufeinander bezieht.« Hierunter fallen Kompetenzen und daüber hinausgehende Fähigkeiten, die im Rahmen des Modells einer ästhetischen Literalität, wie es im vierten und fünften Kapitel dieser Arbeit entwickelt wird, zu verankern sind.

2. Ästhetische Grundlagen

ferenziertheit nicht gelingen, sie beherrscht aber Grundfähigkeiten auf diesem Feld, die es ihr erlauben, das Gemälde hierüber hinausgehend in einer Form zu erschließen, die sich mit dem Begriff der ästhetischen Erfahrung verbinden lässt und im Kontext von Bildungsprozessen zu erörtern ist.139 Die vom ersten Schüler beherrschten Fähigkeiten lassen sich didaktisch grundlegend vermitteln; zu Bildungsprozessen können aber nur Voraussetzungen geschaffen und Wege geebnet werden, die von den Lernenden dann selbst beschritten werden müssen.140 Diese hier zunächst thesenhaft vorgetragenen Gedanken sollen anhand einer näheren Auseinandersetzung mit dem Begriff der ästhetischen Erfahrung geprüft und weiter ausdifferenziert werden. Der Terminus hat sich zu einem »Leitbegriff« der Diskussionen auf dem Gebiet der Ästhetik »seit ihrem bis heute nachwirkenden Neueinsatz in den späten sechziger und frühen siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts«141 entwickelt. Anfänglich auf eine neue, von der traditionellen Werkästhetik sich abwendende Theorie der Kunst ausgerichtet, die das Kunstwerk nicht als »die Instanz einer überlegenen Wahrheit versteht«142 , sondern es aus Sicht seiner Rezeption fokussiert, weitet sich der Begriff rasch aus: Denn sobald die Werke der Kunst aus der Perspektive ihrer Erfahrung in den Blick genommen worden waren, mußte deutlich werden, daß es eine Vielzahl nicht-künstlerischer Gegenstände gibt, an denen sich Erfahrungen machen lassen, die mit den an Kunstwerken gemachten hinreichend viel gemeinsam haben, um sie unter demselben Begriff des Ästhetischen einzuordnen.143 139

Vgl. Zirfas, Jörg: Kontemplation – Spiel – Phantasie. S. 77f.: »Ästhetische Erfahrungen sind, wie theoretische, praktische oder moralische Erfahrungen, Momente von Bildungsprozessen. Ästhetisch sind Erfahrungen, wenn sie einen Bruch mit den üblichen Wahrnehmungen markieren.« Vgl. zum genauen Verhältnis der Begriffe Literalität und Bildung die Ausführungen im vierten Kapitel. 140 Vgl. hierzu Härle: Literarische Bildung im Spannungsfeld von Erfahrung und Theorie. S. 40: »Unter Erfahrung ist im Rahmen der hier entwickelten Überlegungen das schlechthin Inkommensurable gemeint, das sich ereignen kann, das sich aber weder herbeizwingen noch curricular generieren lässt, auch wenn der Begriff in etlichen aktuellen sprach- und literaturdidaktischen Positionen eine prominente Stellung einnimmt […]. In der Anwendung des Erfahrungsbegriffs auf Lehr-LernSituationen muss jedoch noch strenger als bisher unterschieden werden zwischen der Erfahrung selbst und ihrer Ermöglichung, denn allenfalls die Bedingungen, die Erfahrungen begünstigen können, lassen sich didaktisch anbahnen.« Hiervon ausgehend fasst Härle den Literaturunterricht »als einen Ermöglichungsraum auf, in dem sich Erfahrung ereignen kann«, und ordnet diesen dem Bildungs- und nicht dem Kompetenzparadigma zu: »Er [der Literaturunterricht] darf aber nicht aufgefasst werden als ein Generieren von Erfahrungen, deren Eintreten überprüft und zum Maßstab für das Gelingen oder Misslingen des Unterrichts oder des Lernens erhoben wird. Erfahrungen lassen sich nicht herbeiführen, sondern nur einladen. […] Während sich alle Vorstellungen von Lernen unter der Leitkategorie der Kompetenz eher den Bereichen ›Erwerben und Haben‹ zuordnen lassen, sind die mit dem Bildungsbegriff gemeinten Vorstellungen von literarischer Erfahrung eher unter ›Begegnung und Werden‹ zu subsumieren.« Ebd. S. 48. 141 Küpper, Joachim u. Christoph Menke: Einleitung. In: dies. (Hg.): Dimensionen ästhetischer Erfahrung. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2003. S. 7-15. S. 7. 142 Ebd. S. 8. 143 Ebd. S. 9.

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Eine ästhetische Rezeptionshaltung kann folglich sowohl gegenüber realen Sonnenblumen als auch gegenüber dem van Gogh-Gemälde eingenommen werden.144 Didaktisch wird sie sich gleichwohl leichter im Umgang mit Kunstwerken vermitteln lassen, da diese stärker als Alltagsgegenstände hierzu aktivieren. Ist ein solcher Zugang aber erst einmal bewusst geworden und entwickelt, kann er auch in anderen Kontexten Anwendung finden. Inhaltlich greift der Terminus der ästhetischen Erfahrung Impulse ganz verschiedener Disziplinen wie »Semiotik, Strukturalismus, Sprachanalyse, Hermeneutik oder Phänomenologie«145 auf und vereint sie unter der Perspektive, die sich an den Prozessen ausrichtet, die ein künstlerisches Objekt in der Rezeption auslöst. Hierüber führt der Begriff eine auf das Objekt ausgerichtete Wahrnehmung, Imagination und/oder Verstehensoperationen146 einerseits und die hierüber ausgelösten Vollzüge im Subjekt andererseits zusammen: Die Interaktion vermag alle zuvor aufgeführten Ebenen unter dem Aspekt eines bewussten, selbstreflexiven und somit erfahrenden Rezeptionsvollzugs in sich abzubilden. Zugleich führt der Begriff aber hierüber hinaus: Den einzelnen Ebenen kommt hinsichtlich ihrer Möglichkeit, Ausgangspunkte ästhetischer Erfahrungen zu werden, ein stärkerer Eigenwert zu, sie können so spezifischer fokussiert werden. Um dem das Prädikat einer ästhetischen Erfahrung zukommen zu lassen, sind zwei Voraussetzungen zu erfüllen: Erstens muss die ästhetische Rezeption in der Form bewusst werden, dass sie Wirkungen aus sich hervortreibt, die sich zu Erfahrungen verdichten können. Auf eine zweite Voraussetzung weist bereits die außerästhetische Verwendung des Begriffs »Erfahrung« hin: »Erfahrungen machen wir im aufschließenden Erschließen von Dingen und Situationen.«147 Sie führen so »zu einer Veränderung des impliziten Orientierungswissens«148 , in der »Bezug sowohl auf kulturelle als auch historische Lokalisierungen als auch auf eigene ›innere‹ Vorgänge« genommen wird: »Es erfolgt eine Ausdifferenzierung meines eigenen Erlebens.«149 Dies bleibt folglich not144 Vgl. ebd. S. 9: »Eine Ästhetik, die vom Begriff der Erfahrung ausgeht, kann nicht auf eine Theorie der Kunst beschränkt, ja nicht einmal mehr um eine Theorie der Kunst zentriert bleiben.« sowie S. 11: »Ästhetische Erfahrung kann es dann von allem möglichen geben; sie wird beschreibbar als eine spezifische Form des Umgangs mit Objekten, Situationen, Personen überhaupt. Damit ändert sich der Sinn des Erfahrungsbegriffs: Ästhetische Erfahrung erscheint als eine Weise, sich in der Welt zu orientieren.« 145 Ebd. S. 7. 146 Zu den Theoretikern, die den Begriff von einer spezifischen Form des Verstehens her denken, ist, wie oben ausgeführt, etwa Menke zu rechnen, der ästhetische Erfahrung letztlich im Sinne »eines sich selbst unterminierenden Verstehens« (Bernd Kleimann: Das ästhetische Weltverhältnis. Das ästhetische Weltverhältnis: eine Untersuchung zu den grundlegenden Dimensionen des Ästhetischen. München: Fink 2002. S. 52f.) fasst. Diesbezüglich greift Menke eine Linie auf, die sich von Adorno herleitet, der ebenfalls die wahrnehmungsgebundene Dimension der Erfahrung in der Kunstrezeption unhintergehbar an das Verstehen koppelt: »Die Forderung der Kunstwerke, verstanden zu werden dadurch, daß ihr Gehalt ergriffen wird, ist gebunden an ihre spezifische Erfahrung, aber zu erfüllen erst durch die Theorie hindurch, welche die Erfahrung reflektiert.« Theodor W. Adorno: Ästhetische Theorie. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1973. S. 185. 147 Zirfas, Jörg: Kontemplation – Spiel – Phantasie. Ästhetische Erfahrungen in bildungstheoretischer Perspektive. S. 77. Hervorhebungen C. B. 148 Kleimann: Das ästhetische Weltverhältnis. S. 23f. 149 Dietrich/Krinninger/Schubert: Einführung in die ästhetische Bildung. S. 20.

2. Ästhetische Grundlagen

wendigerweise kognitiv rückgekoppelt; es betrifft aber nicht die von Menke aufgestellte Bedingung, dass es sich zwangsläufig um begrifflich vermittelte Verstehensprozesse handeln muss. Vielmehr können solche Erfahrungen ihren Ausgang auch von einer bewussten Wahrnehmung oder Vorstellung nehmen, bedürfen dann im Laufe des Prozesses, der sie zu ästhetischen Erfahrungen werden lässt, allerdings weiterer Reflexion.150 Eine nähere Bestimmung des in verschiedenen Theorien und Modellen unterschiedlich besetzten Begriffs der ästhetischen Erfahrung soll im Folgenden exemplarisch anhand von drei ausgewählten Kategorien (Zeitstruktur, Vollzugsstruktur und Wirkungsdimension) vorgenommen werden. Die verschiedenen Auffassungen beginnen bei der zeitlichen Struktur mit der Frage, ob man ausgehend von dem bei Zirfas angesprochenen Erschließen von Dingen und Situationen durch ein Subjekt den Begriff auf die präsentische Erfahrung einer Gegenwart bezieht oder ihn so fasst, dass er Vorgänge bezeichnet, auf die aus einer Perspektive ex post im Sinne einer gemachten Erfahrung zurückgeschaut wird. Auf die Prozesshaftigkeit des Begriffs bezieht sich die überwiegende Zahl der Theorien ästhetischer Erfahrung zurück. Zugrunde gelegt ist dies bereits bei Kant. Da es bei der »Betrachtung des Schönen« zu einem sich selbst tragenden, Lust hervorrufenden Prozess im Spiel der Erkenntniskräfte kommt, verwendet er den Begriff des »Weilens«, der in der Folge durch den des Verweilens ersetzt wurde, den insbesondere Seel exponiert151 . Dabei stößt man aber bereits im Rahmen eines solchen Begriffsverständnisses auf ein Paradox: Denn ebenso relevant wie die Prozessualität ästhetischer Erfahrung ist deren mitunter fast als säkulare Epiphanie gedachte Augenblickshaftigkeit, für die vor allem Karl-Heinz Bohrers Ästhetik einsteht. In der ästhetischen Erfahrung ereigne sich nichts weniger als der »Zusammenbruch der Vernunft in einem pathetischen Akt«152 . Letztlich ist Bernd Kleimann zuzustimmen, wenn er »die Interdependenz von Instantanität [sic] und Prozessualität ästhetischer Erfahrung«153 hervorhebt, die es nicht erlaubt, beide Begriffe gegeneinander auszuspielen: Das Aufmerken auf den Augenblick, auf das ›Hier und Jetzt‹ der Situation, das zu einer Veränderung automatisierter Rezeptionsmodi führt, prägt das Geschehen, den Prozess, in dem sich die ästhetische Erfahrung ereignet. Ein anderes Begriffsverständnis, das sich etwa bei Dietrich/Krinninger/Schubert findet, bestimmt die ästhetische Erfahrung primär von ihren Resultaten her, im Sinne von »›geronnenen Wirkungen‹«154 . Die präsentische Gegenwartserfahrung wird hier 150 Diese ersten Versuche, den Begriff inhaltlich zu füllen, machen auch deutlich, dass sich ästhetische Erfahrungen keinesfalls nur auf rezeptive Prozesse beziehen lassen; vielmehr müssen auch produktive Formen mit einbegriffen werden, schon alleine deshalb, weil die Rezeption hier selbst im Begriff des Erschließens eine produktiv-gestaltende Dimension erhält. 151 Seel kennzeichnet die ästhetische Erfahrung als eine solche, der es »um ein Verweilen in einer Wahrnehmung und bei einem Objekt dieser Wahrnehmung« gehe. Seel: Ästhetik und Aisthetik. S. 30. 152 Bohrer, Karl-Heinz: Plötzlichkeit. Zum Augenblick des ästhetischen Scheins. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1981. S. 118. 153 Kleimann: Das ästhetische Weltverhältnis. S. 69. 154 Dietrich/Krinninger/Schubert: Einführung in die ästhetische Bildung. S. 20.

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mit den Begriffen der »ästhetische[n] Empfindung«155 und der »ästhetischen Wirkung«156 belegt. Grundsätzlich ist diese Unterscheidung sinnvoll und wird im Weiteren noch aufzugreifen sein, bleibt hier allerdings terminologisch angreifbar, da der Begriff der Empfindung die selbstreflexive Ebene nicht in sich abzubilden vermag und der der Wirkung zu unspezifisch ist. Zunächst aber zur zweiten Frage, welche Vollzüge seitens des Subjekts unter den Begriff der ästhetischen Erfahrung zu fassen sind. Hier erweist sich insbesondere die von Kleimann unter Rekurs auf Seel entworfene Differenzierung als hilfreich.157 Mit ihr lassen sich vier unterschiedliche »Modi ästhetischer Welterschließung«158 voneinander abgrenzen, die in je verschiedener Form auch unterschiedliche Vollzüge des Subjekts beinhalten und von Kleimann als vier »Spielarten ästhetischer Erfahrung«159 bezeichnet werden.160 Einen ersten Typ bildet die »kontemplative Aufmerksamkeit«, die primär auf die Ebene der Aisthesis abhebt und allein auf die sinnliche Wahrnehmung fokussiert, die für »die Zeit der Kontemplation von allen Sinnzuweisungen« freigesetzt wird.161 Ebd. S. 19: »Als Ausgangspunkt jedes ästhetischen Erlebens kann eine ästhetische Empfindung gelten. Sie unterscheidet sich von der ›aisthetischen‹, der einfachen Sinnesempfindung, auf der sie beruht, dadurch, dass das Sinnliche selbst thematisch wird. Es entsteht eine Aufmerksamkeit auf das Gehörte, das Gesehene oder das Gelesene, Empfundene selbst, statt allein auf das, was es bedeutet. Indem ich mich meinen Sinnesempfindungen zuwende, kann sich ein Abstand zu alltäglichen, pragmatischen Zusammenhängen bilden und es kann sich ein Spiel mit möglichen Bedeutungen entwickeln.« Problematisch an diesem Zugang ist neben der Tatsache, dass hier unter den Begriff der »Empfindung« weit mehr gefasst wird, als das rein sinnliche Empfinden mit sich bringt (nämlich dessen bewusstes Erfahren), auch die Vermengung verschiedenartiger medialer Vermittlungsformen: Die bewusste Zuwendung auf die Sinnesempfindung als Grundlage einer ästhetischen Empfindung verläuft im Falle einer Textlektüre in konstitutiv anderer Weise als beim Blick auf ein Gemälde. 156 Dieser Begriff beruht auf der ästhetischen Empfindung und wird wie folgt definiert: »Ich beginne die ästhetische Empfindung auf mich und meine Erfahrungen zu beziehen, verwickle mich in eine Art Selbstgespräch, artikuliere also etwas, trete ein in ein Wechselspiel von sinnlichen und Vernunftkräften […].« Ebd. 157 Vgl. zu einem hierauf aufbauenden didaktischen Modell ästhetischer Erfahrung, das die kunstphilosophisch hergeleiteten Begriffe Kleimanns mit den oben bereits erwähnten kognitionspsychologischen Forschungen Belke/Leders in Verbindung bringt Ralph Olsen u. Jana Blöchle: Die ästhetische Erfahrung (des Theaterzuschauers): ein didaktisches Stufenmodell. karlsruher pädagogische beiträge. 2010, H. 75, S. 107-128. 158 Kleimann: Das ästhetische Weltverhältnis. S. 92. 159 Ebd. S. 91. 160 Kleimann verwendet im gesamten Teilkapitel zu den Spielarten ästhetischer Erfahrung »aus sprachökonomischen Gründen […] die Begriffe ›ästhetische Erfahrung‹ und ›ästhetische Wahrnehmung‹ […] als Synonyme.« (Ebd. S. 93.) Dem liegt der erweiterte ästhetische Wahrnehmungsbegriffs Seels zugrunde. Zugleich macht er deutlich, dass diese Formen zwar abgrenzbar sind, aber ineinander übergehen können: »Dabei darf die Rede von Arten, Formen oder Typen ästhetischer Erfahrung nicht zu streng ausgelegt werden. Auch wenn jeder Erfahrungstyp für sich steht, sind Inklusionsverhältnisse nicht ausgeschlossen, da z.B. die ästhetisch-existentielle Wahrnehmung immer auch Momente der ästhetischen Impression mit einschließt und die komprehensive Kunsterfahrung es mit künstlerisch dargebotenen ästhetisch-existentiellen Gehalten zu tun hat.« Ebd. 161 Vgl. ebd. S. 95. 155

2. Ästhetische Grundlagen

Eine zweite Spielart ist das impressive Ausdruckserleben, das zwar Sinngebungsprozesse mit einbegreift, wobei »Sinn« hier nicht als »symbolisch verfaßter« zu verstehen ist, sondern als »perzeptiv-synästhetisch gegebener Sinn«, der »in der Wahrnehmung selbst unmittelbar gegeben ist«162 . Ausschließlich auf der Ebene einer Wahrnehmung wird sich allerdings vermutlich kaum irgendeine Form von Sinnbildung einstellen, und so spricht Kleimann im Folgenden auch von der Freisetzung imaginativer Prozesse, da sie diese Impressionen in ihrer »interne[n] Expressivität«163 vernetzen können. Es handelt sich gleichsam um imaginative Konnotationen von Wahrnehmungsimpressionen in und durch die Einbildungskraft.164 Eine dritte Variante bildet die ästhetisch-existentielle Wahrnehmung, unter der er die Ausweitung der erfahrenden Wahrnehmungen von Objekten »als Elemente und Anzeichen von Lebensstilen und Daseinsmöglichkeiten«165 begreift. In Form einer ethischen Komponente spielt hier zunehmend auch eine kognitive Verstehensebene, auf der das zuvor nur sinnlich resp. imaginativ Entworfene mit Symbolbildungen verbunden wird, in die ästhetische Erfahrung hinein.166 Den Abschluss bildet die komprehensive Kunsterfahrung, die im Gegensatz zu den bisherigen Typen primär kunstspezifisch sei und im Zuge von Verstehensprozessen auf den Zeichencharakter und die Bedeutungsdimension von Kunstwerken ausgerichtet ist.167 Sie ist folglich auf der Ebene der Kognition anzusiedeln, da nunmehr – auf 162 Ebd. S. 101f. 163 Ebd. S. 114. 164 Dass Kleimann in diese Richtung denkt, belegt auch das von ihm herangezogene Beispiel für das Erfahren der Video-Klang-Installation He weeps for you (Er weint um dich) von Bill Viola aus dem Jahre 1976 im Hamburger Bahnhof: »In impressiver Einstellung erweist sich auch Violas Installation als ein gestimmter, atmosphärisch aufgeladener Raum. Der abgedunkelte Raumteil, dessen Wände schwarz gestrichen sind, wirkt durch die farbige Projektion des Tropfens wie ein unbestuhlter Kinosaal während der Vorstellung: Er ist ein Raum realer Abwesenheit. Wie im Kino verschwinden die Betrachter im Dunkel, werden füreinander unsichtbar, damit der riesige zuckende Tropfen und der regelmäßige dumpfe Hall um so beherrschender hervortreten können. Durch die Inszenierung dieser Absenz strahlt der Raum eine besondere Konzentration, ja Feierlichkeit aus – man dämpft unwillkürlich die Stimme, um diese Atmosphäre nicht zu stören. Der vordere Raumteil dagegen hat den Charakter einer Bühne: Der auf den Eingang des Raums gerichtete Scheinwerfer macht die Eintretenden zu unfreiwilligen Darstellern, die vom unsichtbaren Publikum im Dunkel des anderen Raumteils auf zweierlei Weise beobachtet werden: einmal als reale Personen, einmal als auf dem Kopf stehende Figuren inmitten der Projektion des Tropfens. Die dezent beleuchtete Apparatur dagegen verleiht dem Raum einen preziösen Akzent, der sich mit dem feierlichen Charakter des ›Zuschauerraums‹ verbindet; ihre Betonung durch das Licht eines Punktstrahlers, der das Kupfer des Rohrs schimmern und die Membran des Tamburins mild erstrahlen läßt, erinnert an die Illumination teuren Schmucks in der Auslage eines Juweliers und macht aus der prima facie absurden Konstruktion ein ebenso wert- wie geheimnisvolles Etwas.« Kleimann: Das ästhetische Weltverhältnis. S. 107, zum Aufbau der Installation vgl. weiterhin ebd. S. 96. 165 Ebd. S. 115. 166 Dieser Typ steht in der Logik der Strukturierung Kleimanns ein wenig quer zu den anderen drei Spielarten, da der Begriff der ästhetischen Erfahrung hier zumindest nicht ausschließlich vollzugs-, sondern auch wirkungsorientiert gedacht ist. Letztlich dürften auch in Form der anderen drei Spielarten Erfahrungen gemacht werden können, die eine ästhetisch-existentielle Dimension erhalten. 167 Vgl. ebd. S. 128.

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Literarästhetische Literalität

Grundlage ästhetischer Verstehensoperationen, die naturgemäß auch perzeptive und imaginative Prozesse mit einbegreifen – Sinnzuschreibungen durch die Rezipient_innen vorgenommen werden. Kleimanns Ausdifferenzierung des ästhetischen Erfahrungsbegriffs lässt sich mit dem in diesem Kapitel entwickelten Mehrebenenmodell insofern verbinden, als deutlich wird, dass ein so gefasster Begriff der ästhetischen Erfahrung auf alle zuvor entworfenen Ebenen zurückgreifen kann, aber nicht muss. Er kann sich – in Form der kontemplativen Spielart – auf die aisthetische Ebene fokussierter sinnlicher Wahrnehmung beziehen, die abgekoppelt von pragmatischen Funktionen des Alltagslebens zugleich zu einer Wahrnehmung des Wahrnehmens seitens des Subjekts führt. Gleiches gilt für das impressive Ausdruckserleben, das in Form synästhetisch wahrgenommener »Anmutungen«168 von Dingen oder Räumen die Ebene der Imagination mit einbegreift, und die ästhetisch-existentielle Wahrnehmung sowie komprehensive Kunsterfahrung, die bis zur ›Kaleidoskop-Struktur‹ der kognitiven Ebene reichen kann und sich dann Menkes Begriffsdefinition annähert. Alle Spielarten zielen dabei in ihren je unterschiedlichen Vollzugsformen auf einen Punkt hin, der für den übergeordneten Begriff der ästhetischen Erfahrung konstitutiv wird: Denn unabhängig davon, wie dessen Zeitstruktur bestimmt wird, ob als Ereignis, Prozess oder Resultat, und unabhängig davon, welche Spielart des Vollzugs einbegriffen ist, immer wird sich die Frage nach den Wirkungen stellen. Begreift man ästhetische Erfahrungen als eine Form produktiver Verunsicherung169 , dann bleibt diese Wirkung an eine der Erfahrung selbst inhärente Dimension gebunden und ist nicht als eine solche zu denken, die sich erst ausgangs resultativ einstellt. Einer derartigen Ineinanderspiegelung von Ereignis und Wirkung folgt Seels Bestimmung des Begriffs: Ästhetische Erfahrung sei eine »gesteigerte Form […] der ästhetischen Wahrnehmung«170 , der Seel einen Ereignischarakter zuschreibt, in dem der »Gleichlauf des Wirklichen« durchbrochen und so vorgeführt werde, »wie sehr das Wirkliche ein Mögliches und wie sehr das Mögliche ein Wirkliches ist«.171 Ästhetische Erfahrung führt infolge dieser Doppelstruktur ihres Ereignischarakters auch zu einer Verdoppelung der Gegenwartserfahrung, und zwar auf Seiten der Rezipient_innen wie des Objekts. Das Ereignishafte ästhetischer Erfahrung fordere unsere Wahrnehmungsfähigkeit dadurch heraus[…], daß es – als Darbietungsereignis – zugleich unsere Erkenntnisfähigkeit provoziert. Es ist ein Ereignis, das einen Aufstand der Gegenwart nicht allein hervorruft, sondern – kraft seiner Gegenwart – eine Darbietung von Gegenwart möglich werden lässt. Diese Darbietung kann sich auf die Erfahrung der Gegenwart des Werks selbst oder auf eine von ihm imaginierte Gegenwart beziehen.172 Im Zuge der über die ästhetische Wahrnehmung ausgelösten ästhetischen Erfahrung erfahre ich folglich nicht nur den Gegenstand, auf den sie sich bezieht, modal anders 168 169 170 171 172

Vgl. ebd. S. 101. Vgl. Dietrich/Krinninger/Schubert: Einführung in die Ästhetische Bildung. S. 20. Seel: Über die Reichweite ästhetischer Erfahrung. S. 73. Ebd. S. 78. Ebd.

2. Ästhetische Grundlagen

und so neu perspektiviert, sondern bedingt durch die unablösbare selbstreflexive Komponente dieses Prozesses auch mich selbst (etwa in Form aufgerufener Imaginationen infolge der ästhetischen Wahrnehmung) resp. meinen Erfahrungserwerb.173 Hieraus geht eine Ausdifferenzierung der Selbst- wie Objektwahrnehmung im ästhetischen Erfahrungsprozess hervor, die »Bezug sowohl auf kulturelle und historische Lokalisierungen als auch auf eigene ›innere‹ Vorgänge«174 nimmt. Denn in dieser Konzentration auf ein bewusst im Modus des Ästhetischen wahrgenommenes Objekt, in dem sich das wahrnehmende Subjekt zugleich sowohl seiner selbst als auch seiner spezifischen Wahrnehmungsweise bewusst ist, verankert Seel die Möglichkeit eines Abstands, den das so erfahrende Subjekt zu den Ansprüchen, Funktionsmechanismen und Ordnungen des Alltags einnehmen kann175 – und die, so ließe sich ergänzen, im weiteren Verlauf des ästhetischen Rezeptionsprozesses zugleich auch einer kritischen Reflexion unterzogen werden können. Mit dieser Distanz geht eine Freiheit einher, die – unter Rekurs auf Kant – wie folgt bestimmt wird: »Im ästhetischen Zustand erfahren wir die Welt als durch uns bestimmbar, gerade indem wir auf ein theoretisch und praktisch bestimmendes Verhalten zur Welt verzichten.«176 Die Reflexivität der eigenen Erfahrung, das Erfahren des Erfahrens, wäre somit notwendiges Merkmal der ästhetischen Erfahrung. In die gleiche Richtung gehend, aber noch radikaler und auf Grundlage einer anderen Zeitstruktur denkt Erika Fischer-Lichte den Begriff der ästhetischen Erfahrung »im Kontext einer Ästhetik des Performativen«177 bezogen auf das Gegenwartstheater. Ihm kommt hier die Form einer »Schwellenerfahrung« zu. Hierunter versteht sie »einen Modus der Erfahrung, der zu einer Transformation desjenigen führen kann, der die Erfahrung durchlebt«178 . Dem liegt somit die paradoxe Denkfigur zugrunde, die Ereignisstruktur, die dem Begriff der ästhetischen Erfahrung auf der Zeitebene bei Seel eignet, auf der Wirkungsebene zu verstetigen. Hierzu greift Fischer-Lichte auf ihren eigenen, semiotisch geprägten Begriff der ästhetischen Erfahrung als einer »Schwellenerfahrung, als Destabilisierung und Umstrukturierung des Bedeutungssystems des rezipierenden Subjekts«179 zurück, stellt dieses ereignishafte Phänomen aber insofern resultativ auf Dauer, als der, der diese Erfahrung für sich durchlebt, hieraus als einer hervorgeht, der einen modifizierten, umstrukturierten Blick auf sich und die Welt gewonnen hat. »Entsprechend läßt sich der Zustand A, der dem Bedeutungssystem des Rezipienten vor Beginn des Rezeptionsprozesses eigen ist, auch vom Zustand B unterscheiden, den es nach Durchlaufen des Rezeptionsprozesses erreicht.«180 173

Vgl. hierzu auch Iser, Wolfgang: Der Akt des Lesens. Theorie ästhetischer Wirkung. 2., durchges. und verb. Aufl. München: Wilhelm Fink 1984. S. 217. 174 Dietrich/Krinninger/Schubert: Einführung in die ästhetische Bildung. S. 20. 175 Vgl. Seel: Über die Reichweite ästhetischer Erfahrung. S. 78. 176 Seel: Ästhetik des Erscheinens. S. 224. 177 Fischer-Lichte, Erika: Ästhetische Erfahrung als Schwellenerfahrung. In: Joachim Küpper u. Christoph Menke (Hg.): Dimensionen ästhetischer Erfahrung. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2003. S. 138161. S. 149. 178 Ebd. S. 139. 179 Ebd. S. 150. 180 Ebd. S. 143.

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In diesem Punkt greift ein solcher Begriff auf bereits in der hermeneutischen Tradition etablierte Vorstellungen zurück, wonach das Ich aus der Konfrontation mit dem ›Anderen‹ im Zuge seiner verstehenden Annäherung immer auch sein eigenes VorVerständnis und damit sein eigenes Verstehen modifiziert. Im Kontext von Kunst propagiert Gadamer hier einen ähnlich emphatischen Hochwertbegriff ästhetischer Erfahrung wie Fischer-Lichte: »Wir sehen in der Erfahrung der Kunst eine echte Erfahrung am Werke, die den, der sie macht, nicht unverändert lässt […].«181 An diesem Punkt ist allerdings doppelte Vorsicht geboten: Ein solcher ›Hochwertbegriff‹ der ästhetischen Erfahrung ist sicherlich nicht allen Kunstbegegnungen zugrunde zu legen, in denen man dennoch ästhetisch erfahren kann. Fischer-Lichte hat mit ihm zwar mögliche, keineswegs aber notwendige Merkmale von ästhetischen Erfahrungsprozessen formuliert. Doppelte Vorsicht deshalb, weil das, was sich bereits auf fachwissenschaftlicher Ebene als hinterfragbar darstellt, für didaktische Vermittlungsprozesse als Zielperspektive vermutlich sowohl für Lernende als auch für Lehrende eine hohe Frustrationsgefahr aufweist. Ästhetische Erfahrungen in diesem emphatischen Sinne werden sich im schulischen Lernprozess nur vereinzelt evozieren lassen – und dürfen zudem kein Gegenstand schulischer Leistungsbemessung werden. Aus diesem Grund soll hier zwischen einer ästhetischen Erfahrung, wie sie Fischer-Lichte denkt, und einem ästhetischen Erfahren im Sinne eines Erfahrens des Ästhetischen differenziert werden. Ästhetisches Erfahren beinhaltet eine spezifische, von alltagspragmatischen Vollzügen sich unterscheidende und selbstreflexive Anwendung unserer Wahrnehmungs-, Vorstellungs- und Erkenntniskräfte, die den Bereich einer resultativ ausgerichteten, automatisierten und funktionalisierten mentalen Aktivierung verlässt und sich dessen bewusst ist. Bereits ein solcher Begriff wird der spezifischen zeitlichen Struktur (der Dialektik von Prozess- und Ereignischarakter) ästhetischen Erfahrens sowie der Distanzierung und Loslösung aus bisherigen Denkhorizonten und Handlungszusammenhängen gerecht und scheint auch Schüler_innen vermittelbar: Denn immer dann, wenn in unterschiedlichen Metaphern die Rede von einem ›Ergriffenwerden‹ durch Kunst ist, werden sich dahinter Strukturen eines solchen Begriffs von ästhetischem Erfahren verbergen.182 Dieses ist dabei keineswegs notwendig auf die komprehensive Kunsterfahrung im Sinne Kleimanns oder das negativitätsästhetische Verstehen nach Menke beschränkt. 181

182

Gadamer, Hans-Georg: Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik. 6., durchgesehene Auflage. Tübingen: Mohr Siebeck 1990. S. 106. Auch Zirfas’ Verständnis ästhetischer Erfahrungen als »Momente von Bildungsprozessen« lässt sich m.E. hieran anschließen: »Ästhetische Erfahrungen bringen eine Differenz zur Geltung, indem sie eine Bewegung des Selbst in Bezug auf das Andere inaugurieren und damit dasjenige thematisieren, was das Selbst erst konstituiert.« Zirfas: Kontemplation – Spiel – Phantasie. Ästhetische Erfahrungen in bildungstheoretischer Perspektive. S. 78. Es ließe sich jetzt hiergegen argumentieren, dass allein die Erfahrung einer solchen Möglichkeit diejenigen, die sie machen, verändert – etwa dahingehend, dass sie künftig immer wieder Erfahrungen dieser Art suchen werden – und man deshalb auch hier von einer ästhetischen Erfahrung sprechen könne. Das sei eingestanden, obwohl auch hier gilt, dass es vermutlich nicht immer zu einer solchen Veränderung kommen wird.

2. Ästhetische Grundlagen

Von einer ästhetischen Erfahrung gemäß dem Modell von Fischer-Lichte muss hierbei aber nicht zwangsläufig ausgegangen werden, auch wenn sich diese andere Form des Welt- und Selbsterfahrens darauf hin öffnet. Eine existentiell bedeutsame Veränderung durch ästhetische Erfahrungen setzt nicht nur ein Erfahren des Erfahrens voraus, sondern im Kontext ihrer notwendigen durativen Verzeitlichung auch eine hierüber hinausgehende kognitive Komponente im Sinne von nicht nur im Bewusstsein, sondern auch im Gedächtnis zu Verankerungen führenden Formen von Reflexivität. Damit sind unmittelbar Fragen der Bildung berührt. Wenngleich all dies zweifellos auch in schulischen Lernprozessen möglich ist, so ist davon auszugehen, dass solche Wirkungen nur aus einer begrenzten Zahl von (nicht nur schulischen) Prozessen ästhetischen Erfahrens hervorgehen. Allein deshalb ist es sinnvoll, zwischen den Begriffen des ästhetischen Erfahrens (als Vollzug und Reflexion eines ästhetischen Gebrauchs der Erkenntnisvermögen gemäß den vier möglichen Spielarten nach Kleimann) und der ästhetischen Erfahrung (als einer dauerhaft den Zugang zur Welt und zum eigenen Selbst verändernden Erfahrung, die als verstetigte Wirkung aus diesem Vollzug hervorgeht) in der vorgeschlagenen Bedeutung zu differenzieren. Zudem gilt: Je höherwertig hinsichtlich seiner Bildungsrelevanz der ästhetische Erfahrungsbegriff besetzt wird, desto weniger wird er in operationalisier- und prüfbare Bildungsstandards Eingang finden können, da er auf zeitlichen Prozessen beruht, die oftmals Monate oder Jahre dauern, ja sogar die Schulzeit übergreifen können und sich weder planen noch vorhersagen lassen – und zudem oftmals von außen nicht beobachtbar sein werden.183 Auch wenn es sich hier also nicht um ›Leistungen‹ entsprechend einer schulnotenrelevanten Beurteilung handelt, bleiben diese Ebenen aber gleichwohl unabdingbarer Bestandteil eines jedes guten Literaturunterrichts.184 Doch auch wenn ästhetische Erfahrungen nicht eingefordert, sondern nur ermöglicht werden können, so gilt nicht der Umkehrschluss, dass sie zu erlernbaren Fähigkeiten in keinerlei Verbindung stünden. Diese können zur Anbahnung der Möglichkeit ästhetischer Erfahrungen sehr wohl beitragen. Vor dem Hintergrund des Erkenntnisinteresses dieser Arbeit, der an der Bestimmung und Verortung des Begriffs einer (literar)ästhetischen Literalität gelegen ist, kommt dem Begriff der ästhetischen Erfahrung die Funktion eines Horizontes zu, den das Modell einer ästhetischen Literalität als Möglichkeit – nicht als Gewissheit – eröffnet. Hierzu wiederum ist das Modell so zu konturieren, dass es den spezifischen Bedingungen und der offenen Prozessualität ästhetischer Rezeptionsprozesse gerecht wird.

183 Vgl. Zabka: Ästhetische Bildung. S. 465. 184 Dies gilt ausdrücklich nicht nur für ästhetische Kontexte. Eine didaktische Perspektive, die auf dieser Ebene einen Sonderweg für künstlerische Fächer beansprucht, greift zu kurz. Nicht kompetenzorientiert abbildbare Lernprozesse im Sinne von existentiell bedeutsamen und bildungsrelevanten Erfahrungen sind – zwar nicht in gleicher Form, aber mit den vergleichbaren Auswirkungen – etwa auch im Philosophie-, Religions-, Sozialkunde- und vermutlich sogar im Biologie- oder Physikunterricht möglich.

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3. Literarästhetische Spezifika

Bezogen sich die bisherigen Überlegungen auf ästhetische Rezeptionsprozesse im Allgemeinen, so stellt sich nun die Frage, inwieweit es weiterer Spezifizierungen einer theoretischen Modellierung literarästhetischer Literalität bedarf. Der grundlegendste Unterschied literarischer etwa zur bildenden Kunst liegt darin begründet, dass sie sich als allographische Kunstform immer nur vermittelt über ein sprachliches Zeichensystem aufbaut, das die medialen Bedingungen ihrer Rezeption vorgibt und dessen Beherrschung eine notwendige Voraussetzung darstellt. Hinreichend ist diese Voraussetzung jedoch nicht. Denn auf der Grundlage des allgemeinsprachlichen Systems errichtet der literarische Text eine Struktur, die in den Ausdruck-Inhalt-Verweisen pragmatischer Sprachverwendung nicht aufgeht. Am Beginn einer didaktischen Vermittlung von Literatur muss so deren Umgang mit dem Medium Sprache stehen. Dies ist umso wichtiger, als die große Vertrautheit, die Schüler_innen im Umgang mit diesem Medium bereits haben, dazu führen kann, dass die Sprache literarischer Texte ähnlich rezipiert wird wie die pragmatischer. Deshalb gilt es zunächst, ein Verständnis für Poesie als das Andere der Alltagssprache, ein Verständnis für Literatur als d[as] Andere der Alltagskommunikation zu entwickeln. Poetisches Verstehen hat zur Voraussetzung, dass der spezifische, unverwechselbare Weltbezug der Literatur gekannt, erkannt und anerkannt wird. Wieder anders formuliert: Vor dem Verstehen des poetischen Kunstwerks kommt das Verstehen des Kunstwerks als Poetisches.1 Zu näheren Erörterung dessen kommen im Folgenden zunächst zwei Schriftstellerinnen, Ingeborg Bachmann und Herta Müller, zu Wort, die aus der Perspektive ihrer eigenen literarischen Tätigkeit Unterschiede zwischen pragmatischer und literarischer Sprachverwendung benennen. Die hier formulierten Einsichten, die primär auf das Bildungspotential von Literatur Bezug nehmen, werden in den beiden folgenden Unterkapiteln literaturtheoretisch vertieft und systematisiert, um die hierfür maßgeblichen Grundlagen auf der Gegenstandsebene näher zu beleuchten, auf die sich das Modell einer literarästhetischen Literalität zunächst bezieht. Zur Erörterung dessen eignen sich 1

Wintersteiner: Wir sind, was wir tun. S. 26.

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Literarästhetische Literalität

Ansätze, die Literatur nicht primär über inhaltliche Aspekte oder außerästhetische Zielsetzungen, sondern Merkmale ihrer Gestaltung und kommunikativen Spezifik bestimmen, da so die Bedingungen stärker in den Blick geraten, auf denen eine von vertrauten Formen abweichende Rezeption beruht.

3.1.

Pragmatische vs. literarische Sprachverwendung

3.1.1.

»Das schreibende Ich« (Ingeborg Bachmann)

Im Rahmen ihrer Frankfurter Vorlesungen Probleme zeitgenössischer Dichtung führt Ingeborg Bachmann aus: Wir meinen, wir kennen sie doch alle, die Sprache, wir gehen doch mit ihr um; nur der Schriftsteller nicht, er kann nicht mit ihr umgehen. Sie erschreckt ihn, ist ihm nicht selbstverständlich, sie ist ja auch vor der Literatur da, bewegt und in einem Prozess, zum Gebrauch bestimmt, von dem er keinen Gebrauch machen kann. Sie ist ja für ihn kein unerschöpflicher Materialvorrat, aus dem er sich nehmen kann, ist nicht das soziale Objekt, das ungeteilte Eigentum aller Menschen. Für das, was er will, mit der Sprache will, hat sie sich noch nicht bewährt; er muss im Rahmen der ihm gezogenen Grenzen ihre Zeichen fixieren und sie unter einem Ritual wieder lebendig machen, ihr eine Gangart geben, die sie nirgendwo sonst erhält außer im sprachlichen Kunstwerk.2 Bachmanns Unterscheidung des verschiedenartigen Umgangs mit der langue im Alltagsgebrauch und in der Literatur macht sich fest an Begriffen, die der literarischen Sprache zentrale Charakteristika der pragmatischen absprechen: Ihr kommt keine dienende Funktion für inhaltlich konkret bestimmbare Zwecke zu und sie wird aus ihren sozialen Verwendungskonventionen herausgelöst, in veränderter Form aktiviert, »wieder lebendig [ge]macht«. Weiterhin ist für Bachmann dieser dem sozial-pragmatischen Sprachgebrauch gegenübergestellte künstlerische Umgang mit dem Medium verbunden mit einer Individualisierung und Subjektivierung. Das »Ritual« der Kunst grenze denjenigen, der es vollzieht, von den Normierungen des gemeinschaftlichen Sprachgebrauchs ab. Nicht im Sinne einer gänzlichen Unabhängigkeit (da er ja weiterhin dem ihm zur Verfügung stehenden Material verpflichtet bleibt), doch im Sinne einer Umgestaltung und Neukontextualisierung des Vorgefundenen. Ermöglicht wird hierüber auch eine Ästhetisierung des eigenen Ichs, das in den Zustand eines Entwurfs, sich wandelnder Konstruktionen versetzt wird. Gesellschaftliche Festschreibungen von Identität können in Form eines Maskenspiels, das m.E. an Michael Bachtins Konzept einer karnevalisierten und karnevalisierenden Literatur anschließbar ist3 , unterlaufen werden: »Als wäre eine Fastnacht für das Ich veranstaltet, in 2 3

Bachmann, Ingeborg: Frankfurter Vorlesungen: Probleme zeitgenössischer Dichtung. In: dies.: Werke 4. Hg. v. Christine Koschel u.a. 2. Auflage: München: Pieper 2010. S. 182-271. S. 192. Vgl. hierzu etwa Michail M. Bachtin: Der Karneval und die Karnevalisierung der Literatur. In: ders.: Literatur und Karneval. Zur Romantheorie und Lachkultur. Frankfurt a.M.: Fischer Taschenbuch 1990. S. 47-60.

3. Literarästhetische Spezifika

der es bekennen und täuschen, sich verwandeln und preisgeben kann, dieses Ich, dieses Niemand und Jemand, in seinen Narrenkleidern«4 – so Bachmann im dritten Teil ihrer Vorlesung mit dem Titel Das schreibende Ich. Am Beispiel verschiedener Autoren führt sie vor, wie sehr sowohl der »rabiate[], halsbrecherische[] Versuch« eines Henry Miller, sein Ich, »ausgestattet mit seinem eigenen Namen und allen seinen Daten […,] in ein Buch [zu] tragen«5 , als auch das »über lange Strecken verschwinde[nde]«6 , nur über die verwundenden Reflexionsschleifen der Erinnerung sich wechselnd konstituierende Ich aus Marcel Prousts Auf der Suche nach der verlorenen Zeit und ebenso das letztlich aller Identität beraubte Ich in Samuel Becketts letztem Roman Der Namenlose von einer Gemeinsamkeit geprägt sind: einer »besonderen Art der Wahrnehmung, die in unserer alltäglichen Erfahrung nur ausnahmsweise vorkommt.«7 Und dies wiederum hängt für Bachmann unmittelbar an der Form literarischer Sprachinszenierungen, die das Ich gerade nicht »sichern« bzw. »in ihm herum[leuchten]«, es »betasten, verstümmeln und zerschlagen«, wie die Diskurse der Psychologen, Analytiker oder Philosophen8 , sondern es in Sprache und als Sprache performativ neu inszenieren, mit ihm experimentieren: »[W]ird von der Dichtung nicht, trotz seiner unbestimmbaren Größe, seiner unbestimmbaren Lage immer wieder das Ich hervorgebracht werden, einer neuen Lage entsprechend, mit einem Halt an einem neuen Wort? Denn es gibt keine letzte Verlautbarung.«9

3.1.2.

Pragmatische Sprachverwendung: »ein für immer geschlossenes Einverständnis« (Herta Müller)

In ihrem autobiographisch geprägten Essay In jeder Sprache sitzen andere Augen grenzt Herta Müller die beiden von Bachmann unterschiedenen Weisen des Umgangs mit Sprache – auch hier mit Blick auf ein sich Freiräume verschaffendes Ich – weiter voneinander ab. Der Text setzt mit einer Charakterisierung dessen, was Bachmann als das »soziale Objekt« Sprache bezeichnet, in Form der »Dorfsprache« des Banatschwäbischen, ein, die die Erzählerin als Kind erlernte. »In der Dorfsprache – so schien es mir als Kind – lagen bei allen Leuten um mich herum die Worte direkt auf den Dingen, die sie bezeichneten. Die Dinge hießen genauso, wie sie waren, und sie waren genauso, wie sie hießen. Ein für immer geschlossenes Einverständnis.«10 Zugrunde liegt dem eine referentielle Sprachtheorie, in der die Bedeutung von Wörtern in den Dingen zu liegen scheint, die sie bezeichnen.11 4 5 6 7 8 9 10 11

Bachmann: Frankfurter Vorlesungen. Probleme zeitgenössischer Dichtung. S. 219. Ebd. S. 221. Ebd. S. 231 Ebd. S. 232f. Vgl. ebd. S. 218. Ebd. S. 237. Müller, Herta: In jeder Sprache sitzen andere Augen. In: dies.: Der König verneigt sich und tötet. 5. Auflage. Frankfurt a.M.: Fischer Taschenbuch 2009. S. 1-39. S. 7. Diese kindliche Wahrnehmung von Sprache kann zurückverfolgt werden bis hin zur Theorie des Spracherwerbs, wie sie von Augustinus in seinen Bekenntnissen entfaltet wird: »[W]enn die Menschen eine Sache nannten, und wenn sie entsprechend diesem Wort ihren Körper auf etwas hin bewegten, so sah ich und behielt ich, daß durch diese ihre Laute jene Sache von ihnen bezeichnet

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Literarästhetische Literalität

Ein solches Modell, das ein performatives Spiel mit der Sprache nicht möglich werden lässt, umgeht allerdings zwei Dinge, die auch schon pragmatische Sprachverwendung keinesfalls so eindeutig machen, wie dies hier angenommen wird. Zum einen findet der ›Umweg‹, den die sprachliche Bedeutungszuweisung über die Vorstellung des Einzelnen gehen muss und auf dem die Sprachtheorie Ferdinand de Saussures aufbaut, insofern dieser das sprachliche Zeichen allein über die sozial konventionalisierte Verbindung einer äußeren Zeichenform mit einer Vorstellung des hierüber bezeichneten Objekts bestimmt, keine Berücksichtigung. Zudem kommt Bedeutung im Sinne der decodierbaren Mitteilung solcher Vorstellungen den Zeichen hier nur deshalb zu, weil sie in differentiellen Relationen zu anderen Zeichen stehen, und nicht, weil Sprache die Dinge selbst buchstäblich be-zeichnet.12 Zum zweiten blendet die Referenztheorie die pragmatische Dimension aus. Die vom Kind beobachtete Sprache im Dorfleben des Banatschwäbischen ist im Kontext von sozialer Kommunikation zu sehen, in deren instrumenteller Funktion sie aufgeht: »Wörter begleiteten die Arbeit nur dann, wenn mehrere zusammen etwas taten und einer auf den Handgriff des anderen angewiesen war.«13 Die Bedeutung einer Äußerung geht dabei aber nicht allein aus dem Zeichenmaterial und seiner Bezeichnungsfunktion hervor: Weder die Fähigkeit, den bloßen Äußerungsakt14 – also das Äußern von Wörtern und Sätzen – sprachlich zu decodieren, noch das Erschließen des propositionalen Akts, d.h. das Zuschreiben bestimmter Eigenschaften (Prädikationsakt) auf eine Sache (Referenzakt) in der Vorstellung, würden zu einem Verstehen einer Äußerungsabsicht führen. Ein Satz wie: »Hier liegt die Sense!« wird im Kontext eines solchen ›Dorfgespräches‹ in der Regel nicht als konstative Äußerung aufzufassen gewesen sein, sondern als Aufforderung, mit dem Mähen zu beginnen. Das Gelingen einer sprachlichen Kommunikation erweist sich so nicht nur als abhängig davon, ob Sender wie Empfänger den gleichen Code des Mediums der Informationsübermittlung, d.h. der Sprache, beherrschen, sie müssen zudem unter der Voraussetzung der Annahme gleicher Kommunikationssituationen handeln, die sich aus dem Kontext ergeben.

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werde, auf die sie mich hinweisen wollten. […] So lernte ich allmählich, für welche Sachen die Wörter, die ich in allerlei Sätzen an ihrer bestimmten Stelle immer wieder hörte, die Bezeichnungen waren […].« Augustinus, Aurelius: Bekenntnisse. Zweisprachige Ausgabe. Aus dem Lateinischen von Joseph Bernhart. Frankfurt a.M., Leipzig: Insel 1987. S. 33. »Das sprachliche Zeichen verbindet nicht eine Sache [chose] und einen Namen, sondern eine Vorstellung und ein Lautbild.« Saussure, Ferdinand de: Cours de linguistique générale. Hg. v. Charles u. Albert Sechehaye. 25. Auflage. Paris: Payot 1986. S. 98. Die Vorstellung ihrerseits wiederum stellt sich über differentielle Relationen innerhalb der Reihe von Signifikat und Signifikant ein: »Die Sprache ist ein System, in dem sich alle Elemente gegenseitig bedingen und in dem der Wert des einen allein aktiv aus dem gleichzeitigen Vorhandensein des anderen resultiert. […] Der Inhalt [eines Sprachzeichens] ist tatsächlich nur durch die Mitwirkung dessen bestimmt, was außerhalb dieses Zeichens vorhanden ist. Da es Teil eines Systems ist, hat es nicht nur eine Bedeutung [signification], sondern auch und vor allem einen Wert, und das ist etwas ganz anderes.« Ebd. S. 159f.; alle Übersetzungen nach Winfried Nöth: Handbuch der Semiotik. 2, vollständig neu bearbeitete und erweiterte Auflage. Stuttgart, Weimar: Metzler 2000. S. 74f. Müller: In jeder Sprache sitzen andere Augen. S. 8. Die Terminologie dieser und der folgenden der Sprechakttheorie entlehnten Begriffe geht zurück auf Searles Sprechakttheorie, wie sie in Sprechakte (John R. Searle: Sprechakte. Ein sprachphilosophischer Essay. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1983) entwickelt ist.

3. Literarästhetische Spezifika

Schon alltagssprachliche Äußerungen sind folglich nicht ›aus sich selbst heraus‹ verständlich. In performativen Sprechhandlungen vermag einzig die situative Einbettung Aufschluss über die Bedeutung zu geben.15 Doch gehen hier die Äußerungen in der Regel in einer konkret bestimmbaren kommunikativen Absicht auf, die sich – insbesondere im Falle mündlicher Kommunikation – zudem ggf. durch Wiederholungen des Sprechakts oder Nachfragen sicherstellen lässt. Und weil sich viele Handlungen in ihren erlernten Routinen auch gänzlich ohne Kommunikation realisieren lassen, wird »Schwerstarbeit wie Säcketragen, Umgraben, Hacken, mit der Sense mähen« zu einer »Schule des Schweigens. […] Manchmal dachte ich, beim Zusehen, ich sehe jetzt zu, wie das geht, wenn Leute das Sprechen verlernen. Sie werden alle Wörter vergessen haben, wenn sie aus diesem Schuften wieder draußen sind.«16

3.1.3.

Literarische Sprachverwendung I: »Lücken« (Herta Müller)

Wenn es hier im Kontext der Beobachtung pragmatischer Sprachverwendung zugleich heißt, dass es »für die meisten Leute keine Lücken [gab], durch die man zwischen Wort und Gegenstand hindurch schauen und ins Nichts starren mußte, als rutsche man aus seiner Haut ins Leere«17 , wird eine zentrale Differenz der Sprachwahrnehmung der Erzählerin von jener der Sozialgemeinschaft erkennbar. Die Verwendung der Metapher der Lücke, die sich zwischen den Worten und den Dingen der Außenwelt auftut, und die es nur für die »meisten Leute« nicht gibt, weist darauf hin, dass deren Denken eine naive Illusion ist18 , der die Ich-Erzählerin nicht folgen kann. Parallel hierzu beobachtet sie an sich selbst, dass der Kopf seine eigenen Gedanken zu entwickeln vermag und sich hierüber sowohl von der scheinbaren Bindung der Begriffe an die Außenwelt als auch im gleichen Zuge von der grundlegenden Bindung der Gedanken an die pragmatischen Handlungszusammenhänge des ›Außen‹ und somit vom sozialen Gebrauchskontext von Sprache (nicht von dieser selbst) abzukoppeln vermag. Die eigenen Gedanken werden nicht länger von Funktionszusammenhängen der (Außen-)Welt absorbiert und treten so in ein Verhältnis reflexiver Verdoppelung. Aus dem geht eben jene »Lücke« zwischen dem Wort und dem Gegenstand, die ins »Nichts« schauen lässt, ebenso hervor wie die Erkenntnis, dass die Begriffe eben nicht auf den Dingen ruhen, sondern ihre Bezeichnungsfunktion allein in der Vorstellung erhalten – und dies wiederum in 15

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Hätte der/die Empfänger_in den oben aufgeführten Satz als konstative Äußerung über den Ort des Vorhandenseins einer Sense aufgefasst, wäre die übermittelte Botschaft nicht verstanden worden. Aus der Situation heraus ist sie auch nur dann begreifbar, sofern es eine sprachliche Verabredung in der Kommunikationsgemeinschaft gibt, die besagt, dass der explizite Hinweis auf den Ort eines Arbeitsgerätes als implizite Aufforderung fungieren kann. Und schließlich müssen Sender_in wie Empfänger_in bereit und faktisch in der Lage sein (bei Taubheit oder Schwachsinnigkeit auf der Empfängerseite wäre die Botschaft sinnlos) sich auf die Kommunikation einzulassen. Müller: In jeder Sprache sitzen andere Augen. S. 8. Ebd. S. 7. Über den Hinweis auf die Lebenssituation wird zugleich deutlich, dass dies Folge der sozialen Umstände ist, in denen die Menschen leben müssen; ihre Situation ist geprägt durch jene „Schwerstarbeit“, um das eigene Überlegen zu sichern.

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Literarästhetische Literalität

Abhängigkeit gesellschaftlich vereinbarter Konventionen, die sich hinsichtlich der ihr zugrunde liegenden Konstrukte letztlich als veränderbar erweisen.19 Dies eröffnet jedoch nicht nur Freiräume und Faszination, sondern geht einher mit Irritation und Angst, da die sprachlich vermittelten, Sicherheit gebenden alltäglichen Denk- und Orientierungsmuster auf dem Spiel stehen: »Aber die Nichtüberreinstimmung zwischen draußen bei den Händen und drinnen im Kopf, das Wissen: jetzt denkst du etwas, was dir nicht zusteht und dir niemand zutraut, das war etwas anderes. Das kam nur dann, wenn die Angst kam.« – Keine »von außen begründete Angst«, sondern eine, die »im Kopf gebaut ist«, eine, deren (Ab)Grund in den inneren Vorstellungswelten liegt. Wenn diese Angst »keine genaue Ursache und keine Abhilfe kennt«, »grundlose[] Gründe«20 hat, so finden diese Begriffe hier nicht nur in ihrer mittlerweile konventionalisierten kausalen Bedeutung Verwendung, sondern zugleich auch in der ihr eigenen Metaphorik: im Sinne von ›nicht durchschaubar‹, ›nicht greifbar‹ und folglich im Sinne des Fehlens einer sprachlichen Benennung, die die Angst durch die Illusion des Verstehens und hierüber erwirkten Kontrollierens begreifbar werden ließe. Dieser Verlust an Sicherheit, den die alltäglichen Beschäftigungen und die stumpfen Arbeiten des dörflichen Alltags geben, sowie die hieraus resultierende Verunsicherung, die mit jener »grundlosen« (da von außen nicht gesteuerten und von innen nicht steuerbaren) Angst einhergeht, »kämen«, so die Erzählerin unter Verweis auf Emil Cioran, »der Existenz am nächsten« – und sind somit auch bei Müller mit Subjektivierungsim Sinne von Selbstwahrnehmungsprozessen verbunden. Sie gehen beim Kind mit »[p]lötzliche[r] Sinnsuche, […] nervliche[m] Fieber« und dem »Frösteln des Gemüts« einher und führen zu »der Frage: Was ist mein Leben wert.«21 Diese Zurückgeworfenheit auf die eigene Reflexion ist eine Reflexion zweiten Grades, ein wahrnehmendes Reflektieren des eigenen Denkens und Vorstellens. Im Gegensatz zu der strukturell ähnlich konstituierten Selbstvergewisserung des cartesianischen Cogito ergo sum, das sich im Denken der unzweifelhaften Gewissheit der eigenen Existenz versichert22 , wird dem 19

20 21 22

Roland Barthes setzt in Das Reich der Zeichen, seiner Auseinandersetzung mit einer Japanreise, die ihm fremde »Leere in der Sprache« Japans, die »auch die Schrift [konstituiert]« (Roland Barthes: Das Reich der Zeichen. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1981. S. 16), in einen Gegensatz zur westlichen Kultur, die die Äußerung »durch hastiges Zustopfen der Lücken, in denen die Leere unserer Sprache sichtbar werden könnte«, umgehend einer Signifikationsfunktion unterwirft. (Vgl. ebd. S. 96.) Für Barthes besteht die literarästhetische »Lesearbeit« – hier am Beispiel des Haikus dargelegt – nun aber gerade darin, diese Lücke offenzuhalten: »[D]ie Wege der Interpretation können den Haiku mithin nur verfehlen, denn die Lesearbeit, die mit ihm verbunden ist, liegt darin, die Sprache in der Schwebe zu halten, und nicht darin, sie zu provozieren […].« Ebd. S. 98f. Müller: In jeder Sprache sitzen andere Augen. S. 8. Ebd. S. 9. »Ich will nun meine Augen schließen, meine Ohren verstopfen, alle meine Sinne will ich abwenden, sogar die Bilder von körperlichen Dingen will ich allesamt aus meinem Bewußtsein tilgen oder, da dies kaum möglich sein dürfte, sie wenigstens als leere Trugbilder für nichts achten. Zu mir allein will ich reden und tiefer in mein Inneres blicken und mich so allmählich mit mir selbst bekannter und vertrauter zu machen suchen. [/] Ich bin ein Ding, das denkt, d.h. zweifelt, bejaht, verneint, einiges wenige erkennt, vieles nicht weiß, will und nicht will, auch bildlich vorstellt und empfindet. Obwohl nämlich das, was ich empfinde oder mir sinnlich vorstelle, außerhalb meiner vielleicht nichts ist, so sind doch, wie ich bereits oben bemerkte, jene Bewußtseinsweisen, die ich Sinnesempfindungen und Einbildungen nenne, insofern sie lediglich Bewußtseinsweisen sind,

3. Literarästhetische Spezifika

Kind hier jedoch die buchstäbliche Grundlosigkeit der Existenz bewusst, und die Frage nach dem Wert des eigenen Lebens »machte sich herrisch über das Gewöhnliche her, blinkte aus den ganz ›normalen‹ Augenblicken.«23 Was da drohend aus den »Augenblicken« – ein Begriff, der wie der der Grundlosigkeit abermals in der seiner konventionalisierten Bedeutung zugrunde liegenden, dort aber nicht mehr bewusst wahrgenommenen Metaphorik als menschliche Wahrnehmungs- und Perspektivinstanz Verwendung findet – »blinkt«, verbindet sich mit der anfangs erwähnten Lücke zwischen Wort und Gegenstand, durch die hinaus man ins »Nichts starren« – und so auch denken – »mußte«.

3.1.4.

Literarische Sprachverwendung II: »Irrlauf im Kopf« (Herta Müller)

Welche Bedeutung diese Verknüpfung von Sprach- und Selbstwahrnehmung für die Entwicklung des Kindes gewinnt, führt der Text im Folgenden aus: Die Fragen nach der eigenen Existenz lösen eine innere Vorstellungstätigkeit aus, die durch die autoreflexive Rückbezogenheit eine Abgrenzung zur Außenwelt ermöglicht, deren Elemente in der eigenen Phantasie frei rekombiniert werden: »Dann aber wurde der Kachelofen neben dem Bett ein Wasserturm, der vom Dorfrand mit dem wilden Wein.«24 Diese Bilder und Gedanken wuchern anschließend – ganz so wie der Wein – assoziativ und konnotativ weiter: Der wilde Wein heißt im Dialekt ›Tintentrauben‹, weil seine schwarzen Beeren die Hände verfärben mit Flecken, die sich in die Haut fressen für viele Tage. Der Wasserturm neben dem Bett, seine Tintentrauben schwarz, wie der tiefe Schlaf sein soll. Ich wußte, einschlafen heißt, sich in der Tinte ertränken lassen. Ich wußte aber auch: Wer nicht schlafen kann, hat ein schlechtes Gewissen, eine ungute Fracht im Schädel. Also hatte ich das, wußte nur nicht warum. Auch in der Dorfnacht draußen war Tinte. Der Turm hatte die Gegend im Griff, er zog den Boden und den Himmel weg und es gab für alle im Dorf in der Tinte nur die eine winzige feste Stelle, an der sie sich gerade befanden. Aus allen Richtungen quakten die Frösche, tobten die Grillen, zeigten den Weg unter die Erde. Und sperrten, daß auch keiner davonkommt, das Dorf ins Echo einer Kiste. Ich wurde wie alle Kinder zu den Toten mitgenommen. Sie waren in ihren Häusern aufgebahrt im schönsten Zimmer. Man ging sie ein letztes Mal besuchen, bevor sie auf den Friedhof kamen. Die Särge waren offen, die Füße lagen mit hochgestellten Schuhsohlen in Richtung Tür. Man ging zur Tür hereinkommend von den Füßen aus ein Mal um den Sarg herum und sah die Toten an. Die Frösche und Grillen waren ihr

23 24

zweifellos in mir.« Descartes: Meditationen über die Erste Philosophie. Übersetzt und herausgegeben von Gerhart Schmidt. Stuttgart: Reclam 1986. S. 99. Müller: In jeder Sprache sitzen andere Augen. S. 9. Ebd. S. 9. Das erwachsene, erzählende Ich verbindet diese Bilder dann mit einem literarischen Text, dem »schöne[n] Gedicht von Helga M. Novak ›Der Wilde Wein um den Wasserturm verfärbt sich ganz, wenn er verblüht ist wie die Unterlippen der Soldaten‹« (ebd.), das sie damals noch nicht kannte, und überformt so die Kindheitsdarstellung durch die Gegenwartsperspektive der literarisch tätigen Erzählerin.

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Literarästhetische Literalität

Personal. Nachts sagten sie den Lebenden etwas Durchsichtiges, das den Kopf verwirren sollte. Ich hielt den Atem an, so lang ich konnte, um zu verstehen, was sie sagten. Dann aber schnappte ich panisch nach Luft. Verstehen wollte ich, aber nicht den Kopf verlieren ohne Rückkehr. Wer das Durchsichtige ein Mal versteht, wird an den Füßen gepackt, ist weg von der Erde, dachte ich. Das Gefühl, in dieser Dorfkiste dem Fraß der Gegend ausgeliefert zu sein, überkam mich genauso an zu grellen Hitzetagen im Flußtal, wo ich Kühe hüten mußte.25 Die Leser_innen werden konfrontiert mit einer Assoziationskette, die sich in der Vorstellungswelt des Kindes abspielt. Dieses löst die Wörter von den Dingen, auf denen sie in der »Dorfsprache« scheinbar ruhen, überführt sie in die eigene Vorstellung und lagert neue Bedeutungen an sie an, indem einzelne Inhalte, die sie aufrufen, mit anderen, konventionell nicht mit ihnen verbundenen, zusammengebracht werden: So etwa im Falle des Weines, der über die Farbe der Tinte dann die Schwärze der Nacht und den Tod konnotiert (»einschlafen heißt, sich in der Tinte ertränken lassen«), oder im Falle der Frösche und Grillen, deren Lebensraum »Erde« die Begriffe von Grab und Tod aufruft und deren Rufe das Leben im Dorf in eine »Kiste« zu sperren scheinen, die semantisch nicht nur auf das Gefühl bedrückender Enge und Gefangenschaft, sondern abermals über die Konnotation eines Sarges auf den Tod, auf das Erstarren verweist. Diese frei fließenden Konnotationen kreieren eine Imaginationswelt, die das Kind als präsentisch, als quasi-real erlebt: Die »ungute Fracht im Schädel« wird gleichsam an verschiedene Ufer gespült und entwickelt dort ein Eigenleben. Es mündet am Ende in die Todesangst, die die absolute Grenze menschlicher Existenz markiert und somit auf die Anfangsangst, die Frage nach dem Wert des eigenen Lebens, die beim Kind diese Situation auslöste, rückverweist. Ausgehend von den Todesimaginationen der aufgebahrten Leichen, erscheinen Frösche und Grillen als deren »Personal«, das die geordnete Alltagswelt des Dorflebens gleichermaßen infrage stellt wie auf die Todesthematik hin abbildet. Ihre Rufe künden von etwas Offensichtlichem, sie machen das Leben buchstäblich transparent für den Rahmen, in dem es steht. Und doch beinhaltet das »Durchsichtige« (in diesem Begriff wird, so er nicht im Sinne einer Transparenz, sondern im Sinne eines Hindurchblickens verstanden wird, auch die zuvor verwendete Metaphorik der »Lücke« wieder mit aufgerufen) – auch deshalb, weil es sich sprachlich nicht fassen, nicht fixieren lässt – keine beruhigende Gewissheit, ist vielmehr etwas, »das den Kopf verwirren sollte«. Die Rufe der Frösche und Grillen sind jenseits menschlicher Sprache, bleiben dieser radikal fremd26 , und machen sie doch in ihrer Grundlosigkeit bzw. ihren Abgründen zugleich reflexiv; wer die Rufe verstehe, so die Angst des Kindes, »wird an den Füßen gepackt, ist weg von der Erde«. Wenn sich dieses Szenario vor einer nächtlichen Kulisse abspielt, die mit dem Begriff der Tinte das Reich der Schrift ebenso aufruft wie die romantische Nachtwelt des Traums, der Imagination und Selbstreflexion sowie über den Wein, der im Dialekt den 25 26

Ebd. S. 9f. Vgl. zum Begriff der radikalen Fremdheit als Konfrontation mit einem außerhalb jedweder Ordnung stehenden Phänomen in Abgrenzung zur alltäglichen und strukturellen Fremdheit: Bernhard Waldenfels: Topographie des Fremden. Studien zur Phänomenologie des Fremden I. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1997. S. 36f.

3. Literarästhetische Spezifika

Namen »Tintentrauben« trägt, auch die Sphäre von Rausch und Verwirrung alltäglicher Orientierungen, dann wird deutlich, dass das die kindliche Perspektive überformende erzählende Ich des Textes von Herta Müller in diesem »Irrlauf im Kopf«27 nichts anderes als eine Art ›Urszene‹ der Literatur verortet. Im Gefühl, »den Kopf zu verlieren«, wird die Erzählerin der Grundlosigkeit der menschlichen Existenz in der klaffenden Lücke zwischen der Orientierung versprechenden, dabei aber nur konventionsgebundenen, soziokulturell vermittelten und historisch gewordenen Sprache und den Dingen resp. dem eigenen Leben gewahr. Dies ist der Preis, der zu entrichten ist, wenn die »Dorfkiste« ihren Charakter des Selbstverständlichen, über das nicht weiter nachgedacht wird, verliert. Zugleich wird so aber Distanz möglich – Distanz zu jenem »Panoptikum des Sterbens«28 , als das die Erzählerin die Dorfkulisse an anderer Stelle bezeichnet. Eine Distanz, die zwar die eigene Identität als Schriftstellerin begründet, zugleich aber mit der Aufgabe einst als gültig angesehener Orientierungsmuster einhergeht. Sie ist zumindest strukturverwandt mit dem »Wunsch« Kafkas, der am Beginn dieser Arbeit stand – und gewiss nicht zufällig verbindet sich die gesuchte Distanz bei beiden mit dem Begriff des »Nichts«; das gleichermaßen die Nichtigkeit der Gewissheiten der bürgerlichen Welt mitsamt der hierüber gewonnenen Freiheiten als auch den Abgrund und die Melancholie, in die diese Erkenntnis die Schreibenden zu stürzen vermag, markiert. Dem korreliert bei Müller der Verlust von metaphysischen Bezugspunkten, die so erfahren werden, dass sie rein aus den Ordnungen sprachlicher Konstruktionen hervorgehen, worauf das Nachtgebet anspielt. Dessen phrasenhafte Worte: »Bevor ich mich zu Ruh begeb, / zu dir, oh Gott, mein Herz ich heb« werden wie folgt kommentiert: »Ich habe es darum auch später und bis heute nie verstanden, wie der Glaube die Angst der Menschen beruhigen kann, wie er anderen das Gleichgewicht bringt und sich eignet fürs Stillhalten der Gedanken im Schädel.«29 Denn der Erzählerin widerfährt das Gegenteil: Im religiösen Sprachgebrauch klafft die Lücke zwischen dem Wort und der Sache am stärksten. Das »hergeleierte Gebet« wird hinsichtlich seiner Aussagen vom Kind in der eigenen Vorstellungswelt hinterfragt, indem es dessen konventionalisierte metaphorische in die buchstäbliche Bedeutung auflöst und hierüber verfremdet. So werden die Verse von den entkörperlichten, geistigen Sphären wieder auf die dem Kind zugänglichen körperlich-sinnlichen Erfahrungswelten rückbezogen und in einem Akt der Selbstreflexion hinsichtlich der Bedeutung für die eigene Existenz ad absurdum geführt: Es verlangte nach der Interpretation meines eigenen Zustands. Der Platz der Füße ist auf dem Boden, etwas höher sind der Bauch, die Rippen, der Kopf. Am höchsten das Haar. Und wie hebt man das Herz durchs Haar über eine dicke Zimmerdecke zu Gott. Weshalb singt eine Großmutter mir diese Worte, wenn sie das, was sie verlangen, selber nicht tun kann.30 27 28 29 30

Müller: In jeder Sprache sitzen andere Augen. S. 20. Ebd. S. 13. Ebd. S. 9. Ebd.

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Literarästhetische Literalität

Diese Kindheitsszene bahnt in der Retrospektive den weiteren Lebensweg der Erzählerin als Weg der Distanz. Die Reflexion des Auseinanderklaffens von Sprache und Wirklichkeit sowie der hiermit einhergehende Ausbruch aus sozialen Sprachkonventionen werden sprachkritisch gewendet: Wenn Sprache Wirklichkeit nicht abzubilden vermag, bringt sie sie letztlich allererst mit hervor resp. konstituiert und konturiert die buchstäblichen »Augenblicke«, den Zugang des Menschen zur Außenwelt, worauf schon der Titel der Erzählung anspielt: In jeder Sprache sitzen andere Augen. Literarische Sprache ermöglicht der Heranwachsenden hier, neue, andere »Augenblicke« als die der konventionalisierten Sprache zu kreieren. Indem sie die Elemente der Diskurse, auf die sie sich bezieht, in veränderte, nicht vorhersehbare Perspektiven setzt, können diese Versatzstücke der ›Realität‹ neu erfahrbar werden und die alltägliche Vertrautheit mit ihnen löst sich auf: »Was immer im einzelnen als Inhalt durch sie [die (literarische) Fiktion] in die Welt kommt, das wirklich im Leben Nicht-Gegebene, was folglich nur sie anzubieten vermag, besteht darin, daß sie uns das zu transzendieren erlaubt, woran wir so unverrückbar gebunden sind: unser Mittendrin im Leben.«31 Dies gilt aber nicht nur für Perspektiven auf die Außenwelt; ähnlich wie in den Reflexionen Bachmanns und Kafkas konstituiert sich so auch ein Ich, das in seinem Selbstverständnis literarästhetisch durchdrungen ist. Die Schlusspassagen der dritten Vorlesung Bachmanns lesen sich wie ein vorweggenommener Kommentar zur Biographie der verfolgten Regimekritikerin, Emigrantin und späteren Nobelpreisträgerin: Es ist das Wunder des Ich, daß es, wo immer es spricht, lebt; es kann nicht sterben – ob es geschlagen ist oder im Zweifel, ohne Glaubwürdigkeit und verstümmelt – dieses Ich ohne Gewähr! Und wenn keiner ihm glaubt, und wenn es sich selbst nicht glaubt, man muß ihm glauben, es muß sich glauben, sowie es einsetzt, sowie es zu Wort kommt, sich löst aus dem uniformen Chor, aus der schweigenden Versammlung, wer es auch sei, was es auch sei. Und es wird seinen Triumph haben, heute wie eh und je – als Platzhalter der menschlichen Stimme.32 Mit dem Heraustreten aus dem »uniformen Chor« verbindet sich zugleich auch die Aufgabe einer Selbstreflexion des Mediums, dessen sich dieses Ich, als »Platzhalter der menschlichen Stimme«, bedient. Und auch diesbezüglich kreist letztlich alles um eine Lücke: »Wörter sind zugeschnitten aufs Reden, vielleicht sogar präzise zugeschnitten. Sie sind auch nur fürs Reden da, meinetwegen auch fürs Schreiben.«33 Müllers Erzählerin rekurriert hier auf den pragmatischen Gebrauch der Sprache, für den sich das Medium aufgrund festgelegter Codes und deren Anwendungsbedingungen bei argumentativ-diskursiven Sprechakten durchaus eigne. Die Begriffe seien aber nicht in der Lage, das zu vertreten, was in der Stirn geschieht. [/] Bücher lesen oder gar selber schreiben, bringt keine Abhilfe. Wenn ich erklären soll, warum für mich ein Buch rigoros ist und ein anderes flach, kann ich nur auf die Dichte der Stellen hinweisen, die im Kopf den Irrlauf hervorrufen, Stellen, die mir die Gedanken sofort dorthin ziehen, wo sich keine Worte aufhalten können. Je dichter diese Stellen im Text sind, 31 32 33

Iser: Der Akt des Lesens. S. 354. Bachmann: Frankfurter Vorlesungen: Probleme zeitgenössischer Dichtung. S. 237. Müller: In jeder Sprache sitzen andere Augen. S. 20.

3. Literarästhetische Spezifika

umso rigoroser ist er, je schütterer sie stehen, umso flacher ist der Text. Das Kriterium der Qualität eines Textes ist für mich immer dieses eine gewesen: kommt es zum stummen Irrlauf im Kopf oder nicht. Jeder gute Satz mündet im Kopf dorthin, wo das, was er auslöst, anders mit sich spricht als in Worten.34 Bildgebundene Vorstellungs- und Assoziationsketten wie in der Szene der tintenschwarzen Nacht der Kindheit werden so ausgelöst, sie eröffnen Horizonte des Denkens, die sich um den nichtsprachlichen Ruf der Frösche und Grillen spannen, dabei aber von literarischer Sprachverwendung ihren Ausgang nehmen. Der anschließend von Müller unter Rekurs auf Bruno Ganz vorgetragene Literaturbegriff verdeutlicht dies: In einem Interview sagt Bruno Ganz, der oft Lyrik vorträgt: ›Ja, bei Lyrik ist es möglich, daß eine Zeile einen riesigen Raum freilegt, und zwar über das hinaus, was da an Wörtern Sinn ergibt. Auf seltsame Weise verschränkt sich das dann mit der nächsten Zeile, dauernd werden neue Räume geöffnet. Also nicht wie in linearer Prosa in der Art einer Beweisführung. Da wird mit Verschiebungen, mit Vertikalen und sehr seltsamen Bewegungen gearbeitet. Lyrik befindet sich für mich in einem großen Raum, von Luft eingehüllt. Es ist immer mehr gemeint, es wird mehr bewegt als unmittelbar aus den Wörtern spricht.‹ Bruno Ganz hat treffend formuliert, was geschieht, wenn einen der Text mit sich nimmt. Nur trifft es auf jede Literatur zu, auch auf Prosa.35 Die Texte Bachmanns wie Müllers greifen zentrale Aspekte der ästhetischen Reflexionen des letzten Kapitels auf, spezifizieren sie literarisch und lassen sie in ihrer biographischen Relevanz konkret werden. Die Frage, über welche Formen der Sprachverwendung Literatur eine solche biographische Relevanz erhalten und wie Heranwachsenden dies didaktisch vermittelt werden kann, gilt es vor dem Hintergrund literaturtheoretischer Ansätze näher auszuschärfen.

3.2.

Kennzeichen literarischer Sprachverwendung und ihrer Rezeption

3.2.1.

Kunst in Zeiten der Dominanz automatisierter Wahrnehmungsstrukturen

Die breiten Massen geben sich mit der Kunst vom Ladentisch zufrieden, aber gerade sie zeigt den Tod der Kunst an. Einst sagte man bei einer Begegnung zueinander ›zdravstvuj‹ [Guten Tag] – jetzt ist das Wort abgestorben, und wir sagen zueinander ›aste‹ [Tag/Hallo36 ]. Die Beine unserer Stühle, das Muster der Stoffe, das Ornament der 34 35 36

Ebd. Ebd. S. 20f. Bei dem Begriff »aste« handelt es sich um eine auf den ursprünglichen Begriff »zdravstvuj« zurückgehende Kurzform, die ins Deutsche nicht originalgetreu zu übersetzen ist. Sie entspräche am ehesten dem hier verbreiteten Gruß »Tag« anstellen von »Guten Tag«, der in Funktion und Verwendungskontext aber zunehmend von einer anderen Kurzform – »Hallo« – abgelöst wird, die sich im Gegensatz zur russischen Kurzformel allerdings von einem anderen Wortstamm als dem ursprünglich verwendeten herleitet.

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Literarästhetische Literalität

Häuser, die Bilder der ›Petersburger Künstlergesellschaft‹, die Skulpturen Ginsburgs, all das sagt zu uns ›aste‹. Das Ornament ist hier nicht gemacht, sondern ›mitgeteilt‹, berechnet darauf, daß man es nicht sieht, sondern wiedererkennt und sagt ›das ist dasselbe‹. Der Stab des Soldatenzelts in Assyrien, die Statue der Hekuba, der Hüterin der Abfallgrube, in Griechenland, die Ornamente im Mittelalter, die man so hoch anbrachte, daß sie nicht mehr gut sichtbar sind, all das war gemacht, war berechnet auf liebevolles Betrachten. In den Epochen, in denen die Formen der Kunst noch lebendig waren, hätte niemand eine Scheußlichkeit vom Marktplatz ins Haus getragen. […] Heute ist die alte Kunst tot, eine neue noch nicht geboren; tot sind auch die Dinge, wir haben das Gefühl für die Welt verloren; wir gleichen einem Geiger, der den Bogen und die Saiten nicht mehr fühlt, im alltäglichen Leben sind wir nicht mehr Künstler, wir lieben unsere Häuser und Kleider nicht mehr und trennen uns leicht von einem Leben, das wir nicht empfinden. Nur das Schaffen neuer Formen in der Kunst kann dem Menschen das Erleben der Welt zurückgewinnen, die Dinge auferwecken und den Pessimismus töten.37 Dieser kurze Auszug ist einem sehr frühen, 1914 publizierten Aufsatz des russischen Formalisten Viktor Šklovskij entnommen, der den Titel Die Auferweckung des Wortes trägt. Der hier beschriebene Niedergang der Kunst resp. ihrer Wertschätzung ist sicherlich angreifbar – Šklovskij hätte die Thesen in dieser Form im weiteren Verlauf seiner Entwicklung vermutlich auch nicht mehr aufgestellt. Gleichwohl weisen diese Passagen auf Tendenzen hin, die einer näheren Betrachtung lohnen. Hierbei sind Aspekte zusammengeführt, die es zunächst einmal zu trennen gilt, die gleichwohl aber aufeinander einwirken – und die in unserer Gegenwart vermutlich noch stärker entwickelt sind als zu Zeiten der sich allererst noch formierenden Bewegung des Russischen Formalismus: die Kommerzialisierung von Kunst, deren Reduktion auf ihr abgelauschte vermeintliche Botschaften sowie die Automatisierung von Wahrnehmungsstrukturen sowohl im gesellschaftlichen Alltagsleben als auch den Umgang mit Kunst betreffend. Der erste Punkt, die Kommerzialisierung von Kunst, hat zur Folge, dass eine auf das Gefallen der »breiten Massen« abgestimmte »Kunst vom Ladentisch« weitgehend auf irritierende Momente verzichten wird. In Šklovskijs Beobachtung ist dies aber gar nicht einmal primär an die Unterhaltungsfunktion gekoppelt, wie etwa in der Kritischen Theorie, wenn Horkheimer/Adorno von der »Transposition der Kunst in die Konsumsphäre« durch die Kulturindustrie sprechen, die das ästhetische zum bloß sinnlichen Vergnügen reduziere.38 Šklovskijs Kritik geht einen anderen Weg, der seinen Ausgang von der instrumentellen Reduktion der Kunst auf moralische, historische oder andere »Mitteilungen« nimmt. Sie entbindet den Rezipienten vom Anspruch künstlerischer Werke, sich genau und ggf. immer wieder neu auf die Ebene ihrer Materialität 37

38

Šklovskij, Viktor: Die Auferweckung des Wortes. In: Wolf-Dieter Stempel (Hg.): Texte der russischen Formalisten. Bd. 2: Texte zur Theorie des Verses und der poetischen Sprache. München: Fink 1972. S. 3-17. S. 11/13. Horkheimer, Max u. Theodor W. Adorno: Dialektik der Aufklärung. Frankfurt a.M.: Fischer 1992. S. 143.

3. Literarästhetische Spezifika

und Gestaltung einzulassen, und sie so – mit Martin Seel gesprochen – »im Glanz ihrer konstitutiven Unterbestimmtheit wahr[zunehmen]«39 . Wenn Šklovskij davon spricht, dass das ästhetische Ornament nur noch wiedererkannt, nicht aber mehr gesehen, also bewusst wahrgenommen werde, so geht dies einher mit einer Absorbierung der sinnlichen Präsenz ästhetischer Materialität in diskursiven Mitteilungen oder ›Botschaften‹, etwa in Form moralischer Reduktion. Als Beispiel einer solchen »Apotheose des ›Kunsterlebnisses‹ im Zeichen ›edler Gesinnung‹« führt Šklovskij an anderer Stelle das »Gespräch der beiden Studenten aus Anton Čechovs ›Altem Professor‹« an, »wo der eine im Theater den anderen fragt: ›Was sagt er da gerade? Hat’s edle Gesinnung?‹ – ›Ja.‹ – ›Bravo!‹«40 . Als Exempel für anderweitige funktionale Reduktionen, etwa hinsichtlich historischer ›Wiedererkennungsakte‹, kann folgende Beobachtung dienen: »[N]ur Leichtfertigkeit und Anspruchslosigkeit beim Einfühlen in das Altertum erklären das Entzücken, in das die Uneingeweihten in Museen zu geraten pflegen.«41 Šklovskij wird man bei all dem – wie vielen Rückschauen auf uneinholbar Vergangenes – gleichermaßen Sentimentalität wie Verklärung unterstellen müssen, doch führt beides nicht zwangsläufig zu einer grundlegend falschen Einschätzung der Gegenwart: Wenn er die Ornamente mittelalterlicher Architektur lobt, die so hoch angebracht waren, dass sie eine Wahrnehmungsanstrengung der Rezipient_innen erforderten, wenn er dieses einstige Sehen, dieses »liebevolle[] Betrachten«42 von Kunst ihren automatisierten Formen des »Wiedererkennen[s]«43 und der Reduktion auf Mitteilungen in der Gegenwart gegenüberstellt, dann kommt seinen Ausführungen eine geradezu hellsichtige Bedeutung für eine Analyse auch der heutigen westlichen Kultur zu. Denn die Dynamik der Automatisierungsmechanismen in Wahrnehmungs-, Vorstellungs- und Erkenntnisstrukturen hat sich seither sowohl gesamtgesellschaftlich als auch den Umgang mit Kunst betreffend beschleunigt. Beide Entwicklungen sind gleichermaßen relevant für Überlegungen, wie sich Schüler_innen ein gegenstandsadäquater Zugang zu den kulturellen Feldern von Kunst und Literatur im Sinne einer (literar)ästhetischen Literalität noch eröffnen lässt. Im öffentlichen wie privaten Leben sehen sich Menschen vor die Aufgabe gestellt, auf eine immer größere Menge von Sprach- und Bildinformationen adäquat reagieren zu müssen, die in weiten Teilen des Privat- und Berufslebens auch von immer größerer Komplexität durchzogen ist. »Dem Subjekt bleibt keine Zeit mehr, sich zu sammeln und das Wahrgenommene angemessen zu verarbeiten. Es wird stattdessen gezwungen, sich der Informationsbrocken so schnell als möglich wieder zu entäußern.«44 Dies führt zwangsläufig zur Ausbildung von immer stärker automatisierten Wahrnehmungs- und Rezeptionsprozessen mit nur noch kurzfristigen Speicherungsprozessen. Nicht nur bei Schüler_innen lässt sich beobachten, dass sie es gewohnt sind, Text- und Bildmedien 39 40 41 42 43

44

Seel: Ein Schritt in die Ästhetik. S. 14. Šklovskij: Die Auferweckung des Wortes. S. 11. Ebd. S. 9. Šklovskij: Die Auferweckung des Wortes. S. 11. Šklovskij, Viktor: Die Kunst als Verfahren. In: Jurij Striedter (Hg.): Texte der russischen Formalisten. Bd. I: Texte zur allgemeinen Literaturtheorie und zur Theorie der Prosa. München: Fink 1969. S. 335. S. 15. Degler, Frank u. Ute Paulokat: Neue deutsche Popliteratur. München: Fink 2008. S. 101.

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Literarästhetische Literalität

oftmals eher zu überfliegen als gründlich zu lesen und wahrzunehmen – immer mit dem Ziel, die zentralen Informationen und Mitteilungen schnellstmöglich zu erhalten. Dabei zeigt sich, dass die Verwendung dieser Automatisierungsformen selbst bereits derart automatisiert ist, so große Selbstverständlichkeit gewonnen hat, dass sie als solche nicht mehr reflektiert und folglich auch nicht problematisiert wird. Dies kann gesellschaftlichen Funktionsmechanismen durchaus zugutekommen, da die Prozesse so ökonomischer und effizienter (allerdings auch ungenauer und fehleranfälliger) werden. Zugleich entlastet es den Wahrnehmungsapparat der erkennenden Subjekte insofern, als die Menge an Reaktionen und Entscheidungen, die ihm abverlangt wird, anders kaum zu bewältigen wäre. Diese gesamtgesellschaftlichen Entwicklungen haben aber zugleich auch Auswirkungen auf den Umgang mit Kunst – oder vorsichtiger formuliert: Gegenständen, denen eine ästhetische Funktion zugesprochen werden kann. Mit der von Šklovskij konstatierten Veränderung gesellschaftlicher und kultureller Parameter von Kunst wandelt sich auch die Auseinandersetzung mit ihr. Wenn er beklagt, dass die Kunst der Gegenwart nur noch wiedererkannt, nicht aber mehr gesehen werde, so belegt dies zunächst einmal die Tatsache, dass bereits im spätzaristischen Russland des frühen 20. Jahrhunderts ökonomisch-funktionale Wahrnehmungsmechanismen so verinnerlicht sind, dass sie auch auf Feldern zum Tragen kommen, für die sie disfunktional sind. Das »liebevolle Betrachten« und Verweilen bei einem Kunstwerk, das mit einer Intensivierung der Wahrnehmung einhergeht, wird von Strukturen des Wiedererkennens abgelöst. Das ästhetische Ornament, das künstlerische Detail geht in einer vermeintlichen Mitteilungsfunktion auf, die es seiner eigentlichen Aufgabe, nämlich zum bewussten und genauen Wahrnehmen anzuleiten, beraubt. Auch diesbezüglich haben sich die Entwicklungen in den letzten 100 Jahren verfestigt und beschleunigt. Im Zuge der »technischen Reproduzierbarkeit« bestimmter – gesellschaftlich-medial aber dominanter – Formen der Gegenwartskunst verlieren diese infolge ihrer Allverfügbarkeit nicht nur ihre »Aura«, wie Walter Benjamin in seiner Studie Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit ausführt, es ändert sich zugleich auch der Zugang zu und der Umgang mit ihnen. Fasste Benjamin dies noch in die hoffnungsfrohen Worte: »Die technische Reproduzierbarkeit des Kunstwerks verändert das Verhältnis der Masse zu Kunst. Aus dem rückständigsten, z.B. einem Picasso gegenüber, schlägt es in das fortschrittlichste, z.B. angesichts eines Chaplin um.«45 , so muss aus einer Perspektive ex post wohl eher dem dieser Schrift kritisch gegenüberstehenden Theodor W. Adorno zugestimmt werden.46 Auch wenn es elitär klingen 45 46

Benjamin, Walter: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit: drei Studien zur Kunstsoziologie. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1963. S. 32. In einem Brief Adornos an Max Horkheimer vom 21. März 1936 heißt es: »Benjamins Arbeit habe ich nun […] sehr genau gelesen […] es ist eine große Konzeption dahinter […]. Ich habe dagegen nur […] den Grundeinwand, daß er die Entmythologisierung mythologisiert […]. Er ist im Grunde über das mir gewiß sehr vertraute Stadium der Angst des bürgerlichen Künstlers vor der ›Kunstfeindschaft‹ der Revolution nicht hinausgekommen. Er weiß aber zugleich [sic!] daß diese Haltung reaktionär ist. Und er hilft sich damit, daß er die Augen zukneift, sich Watte in die Ohren steckt und dazu mit Emphase alle die Dinge schreit, vor denen er sich fürchtet. Es ist eine inverse Tabuisierung: er mythisiert die Entmythologisierung, weil er sie anders nicht tragen kann. Oder drastischer ge-

3. Literarästhetische Spezifika

mag: Das, was Šklovskij den »breiten Massen« nachsagt, die sich mit »der Kunst vom Ladentisch zufrieden« geben, gilt auch hinsichtlich der Funktionalisierung des Ästhetischen in Zeiten (scheinbar) allgefälliger medialer Massenproduktionen, die kommerzielle und/oder – oft in ebenso unreflektierter wie unerkannter Art und Weise – ideologische Zwecke erfüllen (die nicht immer denen entsprechen müssen, die Adorno vor Augen standen …).47 Die didaktischen Entwicklungen im Zuge der kompetenzorientierten Wende spielen diesen Tendenzen zu. Das Ziel der Vermittlung »basaler Kulturwerkzeuge«48 wird auf einer Grundlage verfolgt, die sich an jenen von Šklovskij kritisch dargestellten Prozessen des Wiederkennens ausrichtet, also der Wahrnehmung einer bestimmten Situation auf der Folie erlernter und in möglichst hohem Maße automatisierter Lösungskonzepte – der Kompetenzen –, die auf ihre funktionale Anwendbarkeit hin geprüft werden. Wenn hierbei eine Adaption notwendig erscheint, folgt auch dies dem Prinzip der Funktionalität; nicht einem Einlassen auf den Gegenstand um seiner selbst willen. Das möglicherweise irritierend Neue einzelner Gegenstände oder Inhalte des Unterrichts gerät in solchen Lernprozessen zumindest vom Ende, also von der Problemlösung, her gedacht ebenso aus dem Blick wie eine Wahrnehmung von Elementen, die für diese Problemlösung ggf. keine Relevanz haben, aber dennoch Aufmerksamkeit lohnen.

3.2.2.

Deviationsästhetik als Deautomatisierung sprachlicher Verwendungsformen

Will man auf Grundlage dieser Überlegungen die Vermittlung einer literarästhetischen Literalität näher konkretisieren, bieten die sprachtheoretischen Überlegungen der Russischen Formalisten weitere wertvolle Orientierungspunkte. In der ihnen von außen zugetragenen Bezeichnung als »Formalisten« fanden sie sich selbst nicht wieder. Sie sahen sich einerseits als »Spezifizierer«, die die Differentialität literarischer Sprachverwendung herauszuarbeiten suchten. Und viel eher als »formalistisch« sei die eigene Methode »morphologisch [zu] nennen«49 – in dem Sinne, als dass einzelne sprachliche

47

48 49

sprochen, er schüttet erst das Kind mit dem Bade aus und betet dann die leere Wanne an […].« Theodor W. Adorno u. Max Horkheimer: Briefwechsel. Bd. 1: 1927-1937. Hg. v. Christoph Gödde u. Henri Lonitz. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2003. S. 128-134. S. 130f. Die Hoffnung des Pop, die sich in Warhols Graphiken von Campbell-Suppendosen oder Coca-ColaFlaschen spiegelt, die Dynamik dieser Prozesse qua ästhetischer Überformung zu transformieren und gegen sich selbst wenden zu können, kann zumindest hinsichtlich einer Defunktionalisierung qua Ästhetisierung als gescheitert angesehen werden: »Eine Mainstream-Medienmaschine muß sich endgültig eines Begriffs bemächtigen, der für die gesellschaftliche Repräsentation unabdingbar ist. Pop, das klingt immer noch fortschrittlich, bunt, interessant und vielfältig. Pop klingt wie die repräsentative Lüge einer Gesellschaft, die in ihrer scheinbaren Diversifizierung die ungeheuerlichste Kapitalkonzentration erlebt, und die in ihrer scheinbaren Freiheit die scheußlichsten Formen von Ausbeutung und Ausschluß einführt.« Tom Holert u. Mark Terkessidis: »Einführung in den Mainstream der Minderheiten«. In: Charis Goer, Stefan Greif u. Christoph Jacke (Hg.): Texte zur Theorie des Pop. Stuttgart: Reclam 2013. S. 224-243. S. 239. Vgl. Baumert/Stanat/Demmrich: PISA 2000. S. 20. Eichenbaum, Boris: Molodoj Tolstoj. Petrograd 1922. S. 8; zitiert nach Viktor Erlich: Russischer Formalismus. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1973. S. 189.

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Literarästhetische Literalität

Elemente des literarischen Textes zum Ausgangspunkt der Untersuchungen genommen werden und nicht von außerliterarischen Bezugsgegenständen her gedacht wird. Die Kontexte und Debatten, in die hinein die Russischen Formalisten seinerzeit agierten, weisen dabei nicht nur Parallelen zu gegenwärtigen gesellschaftlichen Entwicklungen, sondern auch zu aktuellen Debatten um den Literaturunterricht auf. Hier wie dort herrscht keine Einigkeit darüber, worin die Spezifika literarischer Texte liegen und inwieweit sich diese Differenz gegenüber der pragmatischen Sprache in einem veränderten Umgang mit Literatur niederschlagen muss. Dies betrifft den wissenschaftlich literaturdidaktischen Diskurs ebenso wie bildungspolitische Vorgaben, die den Literaturunterricht maßgeblich vorstrukturieren.50 Näheren Aufschluss hinsichtlich der Notwendigkeit einer Differenzierung, die sich an den unterschiedlichen Funktionsweisen des Mediums Sprache ausrichtet, gibt Šklovskijs programmatischer Aufsatz Die Kunst als Verfahren (dessen Titel sich auch mit »Kunst als Machen« übersetzen lässt), in dem dieser zwar Abstriche hinsichtlich der an die Kunst gerichteten utopischen Erwartungshaltung macht, inhaltlich aber an die zuvor formulierten Gedanken anknüpft. Um die Spezifik literarischer Sprachverwendung qua Abgrenzung näher zu bestimmen, gehen seine Untersuchungen auch auf die Rolle ein, die im Rahmen der Automatisierung von Wahrnehmungsstrukturen der pragmatischen Sprachverwendung zukommt: Sie sei ökonomisch effizient auf die Bewerkstelligung einzelner Aufgaben abgestellt. Das Denken bedient sich ihrer zu bestimmten Zwecken, die Sprache bekommt im Zuge dieser Instrumentalisierung mehr und mehr ›algebraischen‹ Charakter: Bei dieser algebraischen Methode des Denkens faßt man die Dinge nach Zahl und Raum, wir sehen sie nicht, sondern erkennen sie an ihren ersten Merkmalen. Der Gegenstand geht gleichsam verpackt an uns vorbei. […] Mit dem Prozeß der Algebraisierung, der Verautomatisierung einer Sache wird die größte Ökonomie der Wahrnehmungskräfte erreicht; die Dinge bieten sich entweder nur mit einem ihrer Merkmale dar […] oder sie werden gleichsam nach einer Formel ausgeführt, ohne überhaupt im Bewusstsein zu erscheinen.51 50

51

Vgl. hierzu die Ausführungen im ersten Kapitel, etwa zu den VERA-8-Lernstandserhebungen, die keinen gegenstandsadäquaten Umgang mit literarischen Texten abprüfen, den die Bildungsstandards für den Mittleren Schulabschluss aber zumindest in Teilen gleichwohl einfordern, oder die Ausführungen zu Spannungsfeldern in den Bildungsstandards im Fach Deutsch für die Allgemeine Hochschulreife. Vgl. weiterhin grundsätzlich zu dieser Frage Thomas Zabka: Was ist Hochschulreife im Umgang mit Literatur? Im fachdidaktischen Diskurs besteht Uneinigkeit darüber, inwieweit sich Literatur im Rahmen von Kompetenzmodellen vermitteln lässt (vgl. etwa Schilcher/Pissarek [Hg.]: Auf dem Weg zur literarischen Kompetenz) oder dieser Ansatz den Zugang zu Literatur nicht unzulässig verkürzt (vgl. etwa Odendahl: Lesen, Kompetenz und Bildung). Šklovskij: Die Kunst als Verfahren. S. 13. Hinsichtlich dieser Form von Sprachkritik ergeben sich auffällige Parallelen zu Nietzsches zu Lebzeiten unveröffentlicht gebliebener Schrift Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinn. Nietzsches Argumentation läuft darauf hinaus, dass die über sprachliche Strukturen aufgebauten Ordnungsmuster dem Menschen die Illusion geben, er könne den Geschehensfluss des Lebens beherrschen. Vermittels der Sprache baue sich der Mensch so eine von den realen Gegenständen abstrahierende Eigenwelt auf und verfalle der Illusion, diese für die Realität selbst zu halten: »Wir glauben etwas von den Dingen selbst zu wissen, wenn wir von Bäumen, Farben, Schnee und Blumen reden und besitzen doch nichts als Metaphern der Dinge,

3. Literarästhetische Spezifika

Die Abstraktionsfunktion sprachlicher Begriffe, die Šklovskij zufolge in ihrer Repräsentation den bezeichneten Gegenstand ersetzen und der bewussten Wahrnehmung entziehen, spielt der Automatisierung der Lebensabläufe in der modernen Gesellschaft zu. »So kommt das Leben abhanden und verwandelt sich in nichts. Die Automatisierung frißt die Dinge, die Kleidung, die Möbel, die Frau und die Schrecken des Krieges.«52 Dies beschneidet zentrale anthropologische Dimensionen menschlicher Existenz – und hat auch Folgen für ethisch-moralisches Verhalten, etwa in Form der angesprochenen Desensibilisierung gegenüber Leid. Hiergegen setzt Šklovskij die Kunst, deren Ziel es sei, »ein Empfinden des Gegenstandes zu vermitteln, als Sehen, und nicht als Wiedererkennen«53 . Aus diesem Grund muss sie die Dinge der automatisierten Wahrnehmung entreißen; auf dem Feld der literarischen Sprachkunst kann sie dies nur erreichen, wenn sie Konventionen pragmatischer Sprachverwendung aufbricht54 , »das sprachlich Unübliche, Unvermutbare, Verfremdende« benutzt, um so »eine intensivere und nachhaltigere Wahrnehmung ein[zu]richten«55 . Dies kann man sich am besten vor Augen führen, wenn man die unterschiedliche Auffassung zur Rolle von Bildern in literarischer Sprache bei Šklovskij mit der von

52 53 54

55

die den ursprünglichen Wesenheiten ganz und gar nicht entsprechen.« (Friedrich Nietzsche: Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne. In: ders.: Sämtliche Werke: kritische Studienausgabe in 15 Einzelbänden. Hg. v. Giorgio Colli u. Mazzino Montinari. München: dtv 1988. S. 873-890. S. 879) Die Funktionsweise dieser Metaphern sieht Nietzsche ähnlich wie Šklovskij in ihrer Fähigkeit zur Abstraktion begründet: »Denken wir besonders noch an die Bildung der Begriffe: jedes Wort wird sofort dadurch Begriff, dass es eben nicht für das einmalige ganz und gar individualisirte Urerlebniss, dem es sein Entstehen verdankt, etwa als Erinnerung dienen soll, sondern zugleich für zahllose, mehr oder weniger ähnliche, d.h. streng genommen niemals gleiche, also auf lauter ungleiche Fälle passen muss. Jeder Begriff entsteht durch Gleichsetzen des Nicht-Gleichen.« (Ebd. S. 879f.) Der Ausweg, den Nietzsche andenkt, ist in Teilen mit dem, den die Russischen Formalisten suchen, vergleichbar und besteht im künstlerisch verfremdenden, spielerischen Umgang mit den Begriffen. Dabei zielen beide Modelle allerdings auf unterschiedliche Dinge: Wo Šklovskij der Kunst die Aufgabe zuteilt, »das Empfinden des Lebens wiederherzustellen, um die Dinge zu fühlen, um den Stein steinern zu machen« (Šklovskij: Die Kunst als Verfahren. S. 15), steht bei Nietzsche die intensivere Selbstwahrnehmung der künstlerisch-intuitiven Natur des Menschen im Vordergrund: »Jenes ungeheure Gebälk und Bretterwerk der Begriffe, an das sich klammernd der bedürftige Mensch sich durch das Leben rettet, ist dem freigewordenen Intellekt nur ein Gerüst und ein Spielzeug für seine verwegensten Kunststücke: und wenn er es zerschlägt, durcheinanderwirft, ironisch wieder zusammensetzt, das Fremdeste paarend und das Nächste trennend, so offenbart er, dass er jene Nothbehelfe der Bedürftigkeit nicht braucht, und dass er jetzt nicht von Begriffen sondern von Intuitionen geleitet wird. Von diesen Intuitionen führt kein regelmässiger Weg in das Land der gespenstischen Schemata, der Abstraktionen […].« Nietzsche: Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne. S. 888f. Šklovskij: Die Kunst als Verfahren. S. 15. Ebd. Hier wird die Nähe der Schule der Russischen Formalisten zur Bewegung der (russischen) Futuristen sichtbar, zu der insbesondere Roman Jakobson (vgl. dessen Buch Meine futuristischen Jahre. Berlin: Friedenauer Presse 1999) engen Kontakt hatte. Waldmann, Günter: Produktiver Umgang mit Lyrik. Eine systematische Einführung in die Lyrik, ihre produktive Erfahrung und ihr Schreiben. 9. Auflage. Baltmannsweiler: Schneider 2006. S. 264.

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Literarästhetische Literalität

Aleksándr A. Potebnjá (1835-1891), einem der meistrezipiertesten russischen Literaturwissenschaftler zur damaligen Zeit, vergleicht. Seine These: »›Kunst ist Denken in Bildern‹«56 gründet auf einem Verständnis von Literatur, innerhalb dessen der Verwendung von Bildern die Aufgabe zufällt, komplexe Sachverhalte für die Rezipient_innen einerseits verständlich darzulegen und andererseits mit ästhetischem Vergnügen zu verbinden: »[M]it ihrer [der Bilder] Hilfe [werden] verschiedenartige Gegenstände und Vorgänge in Gruppen zusammengefaßt […] und das Unbekannte durch das Bekannte erklärt […].«57 Dem Bild kommt folglich eine instrumentelle Rolle hinsichtlich hierüber transportierter Aussagen und Inhalte von Literatur zu – eine Kunstauffassung, die in der Tradition Hegels zu verorten ist und die mit der von Kant mitbegründeten Autonomie des Ästhetischen als eigener Urteilsform unvereinbar bleibt. Wenn Šklovskij konstatiert, dass die Erleichterung von Erkenntnisprozessen in einem solchen Kunstverständnis letztlich auch auf eine »bestimmte Ökonomie der Geisteskräfte«58 abzielt, weist dies auf dessen Nähe zur pragmatischen Sprachverwendung hin. Das aus der Physik bekannte »Gesetz von der Ökonomie der schöpferischen Kräfte«, dem zufolge mit dem geringsten Aufwand an Ressourcen das bestmögliche Ergebnis erzielt werden soll, prüft Šklovskij unter Rekurs auf Petražickijs These einer »Ökonomie [auch] der psychischen Kräfte« hinsichtlich seiner Gültigkeit im Falle von Sprachverwendung59 – und kommt zu dem Ergebnis, dass dieses Gesetz »möglicherweise richtig in einem Sonderfall der Sprache, nämlich bei der Anwendung auf die ›praktische‹ Sprache« sein könne, während die literarische Sprache mit diesem Prinzip breche und nach eigenen Gesetzen funktioniere, auf die der »Gedanke von der Ökonomie der Kräfte als Gesetz und Ziel des Schaffens« nicht übertragbar sei. Wenn dies dennoch, etwa bei Andrej Belyj, versucht werde, stelle es – so Šklovskij ironisch – »einen heldenmütigen Versuch dar, aufgrund von ungeprüften Fakten aus veralteten Büchern, von großer Kenntnis der Verfahren dichterischen Schaffens, sowie auf der Grundlage des Physiklehrbuchs für Gymnasien von Kraevič eine Kunsttheorie aufzustellen.«60 Dass ein solches Projekt von vornhinein nur zum Scheitern verurteilt sein kann, verdeutlicht der Aufsatz dann an den jeweils verschiedenen Funktionen des sprachlichen Bildes: In pragmatischen Verwendungskontexten werde es in der Tat »als praktisches Mittel des Denkens, als Mittel, Gegenstände zu Gruppen zusammenzufassen«61 , gebraucht; das »prosaische Bild« sei so ein »Mittel der Abstraktion«, das gedankliche Inhalte funktional veranschaulicht und somit dem automatisierten Wahrnehmen zuzuordnen ist. Bezieht man dies auf die Unterscheidung Kants zwischen dem Gebrauch der bestimmenden und der ästhetisch reflektierenden Urteilskraft, so ergibt sich eine Nähe dieser auch von Šklovskij als nicht-ästhetisch gekennzeichneten Verwendungsform der Erkenntniskräfte zu Kants Begriff der bestimmenden Urteilskraft: Die jeweilige Vorstellung kann einem vorgegebenen Begriff subsumiert werden, das Besondere wird so 56 57 58 59 60 61

Šklovskij: Die Kunst als Verfahren. S. 5. Ebd. S. 3. Ebd. Vgl. ebd. S. 9. Ebd. S. 11. Ebd. S. 7.

3. Literarästhetische Spezifika

vom Allgemeinen her bestimmt, womit der Verstehensvorgang zu einem Ende gelangt. Eine gänzlich andere Funktion kommt dem dichterischen Bild zu: Es ist eines der Mittel zur Herstellung des stärksten Eindrucks. Als Mittel ist es in seiner Funktion mit den anderen Verfahren der dichterischen Sprache gleichberechtigt, […] es ist gleichberechtigt mit all diesen Mitteln zur Verstärkung des Empfindens einer Sache (auch Wörter können Sachen sein, sogar die Laute eines Werkes), aber das dichterische Bild ist dem Fabel-Bild oder dem Gedanken-Bild nur äußerlich ähnlich.62 In der literarischen Sprachverwendung dient es also nicht der Veranschaulichung einer bestimmten zu erschließenden inhaltlichen Referenz, eines Gedankens oder einer Lehre; es verfremdet vielmehr, intensiviert so den »Eindruck« sowie das »Empfinden« und verweigert sich begrifflich-funktionaler Absorbierung. Und so hat Šklovskij für Potebnjas Kunsttheorie letztlich nur Hohn und Spott übrig: »Es wäre interessant, dieses Gesetz [nach dem das dichterische Bild entweder »›ein konstantes Prädikat zu variablen Subjekten‹« oder »›etwas weit Einfacheres oder Klareres als das zu ›Erklärende‹« sei] auf Tjutčevs Vergleich des Wetterleuchtens mit taubstummen Dämonen anzuwenden oder auf Gogol’s [sic!] Vergleich des Himmels mit den Gewändern des Herrn«63 . Šklovskijs literarische Deviationsästhetik bezieht ihre distinkten Merkmale gegenüber pragmatischer Sprachverwendung somit aus den in Gang gesetzten Prozessen der Verfremdung und Deautomatisierung, die sich begrifflichen Vereindeutigungen und funktionalen Auflösungen widersetzen.64 Sie werden mithilfe spezifischer sprach62 63 64

Ebd. S. 9. Ebd. S. 3. Eine solche Differentialität literarischer Sprachverwendung kann nicht ahistorisch bestimmt werden. Tynjanow siedelt sie auf zwei Ebenen an: quasi systemextern in Abweichung zur pragmatischen Sprachverwendung – etwa kultureller, wissenschaftlicher oder anderer gesellschaftlicher Diskurse – zugleich aber auch systemintern in Abgrenzung zu vorherrschenden, tradierten künstlerisch-literarischen Normen (vgl. Erlich: Russischer Formalismus. S. 281): »Dabei zerfallen die historischen Untersuchungen je nach dem Blickpunkt mindestens in zwei Haupttypen: die Untersuchung der Genesis der literarischen Erscheinungen und die Untersuchung der Evolution der literarischen Reihe, der literarischen Veränderlichkeit.« (Juri Tynjanow: Über die literarische Evolution. In: Fritz Mierau [Hg.]: Die Erweckung des Wortes. Essays der russischen Formalen Schule. Leipzig: Philipp Reclam jun. 1987. S. 405-421. S. 406) Fragen der Untersuchung von literarischen Texten einer in der Vergangenheit liegenden Zeit werden folglich zu Fragen, die Tynjanow und Jakobson an Saussures Unterscheidung von langue und parole anbinden. Wenn nach Saussure die einzelne individuelle Äußerung nicht ohne »Berücksichtigung des vorhandenen Normenkomplexes« (Juri Tynjanow u. Roman Jakobson: Probleme der Literatur- und Sprachforschung. In: Fritz Mierau [Hg.]: Die Erweckung des Wortes. Essays der russischen Formalen Schule. Leipzig: Philipp Reclam jun. 1987. S. 211-213. S. 212) untersucht werden kann, dann muss für die Literatur gleiches gelten. Dies wiederum bedeutet, dass hier Faktoren hineinspielen, die nicht nur auf der Ebene der Funktionsregeln des sprachlichen Systems der langue im engeren Sinne angesiedelt sind, sondern auch auf der Ebene der außerliterarischen, soziohistorischen Reihen das kulturelle Wissen und gesellschaftlich-kulturell etablierte Wert- und Normsysteme sowie auf der Ebene der (inner)literarischen Reihe und ihrer Evolution etwa Gattungs- und Formtraditionen oder die Etablierung spezifischer Erzähltechniken oder Sprachstile umfassen. Beide sind als Reihen gedacht, die historischen Veränderungen unterliegen: Sowohl die Frage, welche Elemente aus dem außerliterarischen Sprachgebrauch aufgegriffen werden als auch die nach innerliterarischen Entwicklungslinien kann nie statisch durchdacht werden, sondern birgt in sich bereits ein dynamisches Element.

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Literarästhetische Literalität

licher Techniken umgesetzt und eröffnen eine literaturwissenschaftliche, aber auch -didaktische Perspektive, die sich an dieser Schnittstelle von Sprache und Kunst ausrichtet: »Kunst als Verfahren«.

3.2.3.

Leser_innenaktivierung durch Verlangsamung und Bremsung

Wenn Šklovskij die literarische Sprache als »das Verfahren der erschwerten Form« bestimmt, genauer als »ein Verfahren, das die Schwierigkeit und Länge der Wahrnehmung steigert, denn der Wahrnehmungsprozeß ist in der Kunst Selbstzweck und muß verlängert werden«, dann wird Kunst zu einem »Mittel, das Machen einer Sache zu erleben; das Gemachte hingegen ist in der Kunst unwichtig«65 . Peter Handke weist darauf hin, dass dies einerseits für das eigene, handschriftliche Schreiben mit dem Bleistift gilt, in dem die »Verlangsamung« als »Entfaltung«66 erfahrbar wird, sich andererseits aber auch in Formen seiner Lektürepraxis widerspiegelt, die wiederum zu neuen Formen der Selbst- und Weltwahrnehmung führen können: Ich hab das große Bedürfnis, nicht nur langsam zu lesen, sondern im Lesen mich überhaupt erst zu verlangsamen. Wenn das nicht ist, dann mag ich nicht mehr lesen. […] Wenn aber alles in mir warm wird, also das Herz, der Verstand, die Sinne, bis in die kleinsten Fingerspitzen; wo ich auch stocke, nicht nur zögere, sondern stocken kann, innehalten kann, dann ist das Leben ein umfassendes Wahrnehmen, dann […] kommt grad aus der Versenkung der Blick, der ganz selbstverständliche Blick in die äußerste Welt, nicht nur in die Außenwelt.67 Dieses bildungsrelevante Potential von Literatur, das Toni Tholen in seinem Vortrag Spiritualität heute an Formen einer künstlerisch-literarischen Praxis der eigenen Lebensführung anbindet68 , bleibt auf Formen einer bestimmten ästhetischen Lektürepraxis

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Dies gilt aufgrund der Veränderungen von Bedingungen, die zum Aufgreifen vom Elementen außerliterarischer Reihen in die literarische führen, bereits für die Ebene der Genesis, wird auf der Ebene der literarischen Evolution aber noch deutlicher: Entwicklungen geraten hier in der Form in den Blick, dass man sie als Reaktionen auf vorhergehende literarische Formen und Strukturen begreift: Eine neue Form löst eine alte genau dann ab, wenn die alte ihre genuin ästhetische Funktion, nämlich Verfremdung und Deautomatisierung auszulösen, aufgrund zu großer Verbreitung resp. zu hoher Vertrautheit der potentiellen Leser_innen mit ihr nicht mehr erfüllen kann: »[W]as ist Automatisierung eines Elements? [/] Ich führe ein Beispiel aus der Linguistik an: Wenn die Vorstellung von der Bedeutung ›verblasst‹, wird das Wort, das die Vorstellung ausdrückt, zum Ausdruck einer Verbindung, einer Beziehung, wird zum Hilfswort. Mit anderen Worten, seine Funktion verändert sich. Ebenso verhält es sich mit der Automatisierung, mit dem ›Verblassen‹ eines beliebigen literarischen Elements: Es verschwindet nicht, nur seine Funktion ändert sich, sie wird zu einer Hilfsfunktion.« Tynjanow: Über die literarische Evolution. S. 410. Šklovskij: Die Kunst als Verfahren. S. 15. Handke, Peter: Die Geschichte des Bleistifts. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1985. S. 341. Vgl. hierzu und zu dem folgenden Zitat Toni Tholen: Spiritualität heute. Weihnachtsvorlesung vom 7. Dezember 2016 in der Aula des Hohen Hauses auf dem Kulturcampus Domäne Marienburg der Stiftung Universität Hildesheim. Hildesheim: Universitätsverlag Hildesheim 2017. S. 16. Handke, Peter: Aber ich lebe nur von den Zwischenräumen. Ein Gespräch, geführt von Herbert Gamper. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1990. S. 261f. Vgl. Tholen: Spiritualität heute. S. 16f.

3. Literarästhetische Spezifika

verwiesen: Es resultiert aus dem wechselseitigen Bedingungsverhältnis von Kontemplation und Konzentration, von innerer Versenkung in das Buch und intensivierter, da deautomatisierter und deshalb umfassenderer Welt- und Selbstwahrnehmung. Diese Gedanken lassen sich am Beispiel der zuvor angeführten Textpassage von Herta Müller verdeutlichen. Die semantische Bedeutung der Begriffe »Turm«, »Tinte«, »Kiste«, die paradox anmutende Metaphorik der tintenschwarzen Nacht, in der die »Frösche und Grillen […] den Lebenden etwas Durchsichtiges [sagten]« (Hervorhebung C. B.), all dies ist auf Seiten der Gestaltungsebene daraufhin angelegt, durch offenkundige Unterschiede zu pragmatischer Sprachverwendung den Lektüreprozess zu bremsen und die Leser_innen in eine aktive, bewusste Rezeption einzubinden, da keine klaren Funktionsbestimmungen im Sinne eindeutig verifizierbarer Referentialisierungen oder Kommunikationsabsichten ersichtlich sind. An deren Stelle treten Impulse, die im Zuge der so möglichen Distanz zu konventionalisierten Perspektiven eine veränderte Wahrnehmung ermöglichen. Sie erlauben es, in ein neues Verhältnis zur Welt und zu sich selbst zu treten – und die hier möglich werdenden Freiräume können zu jener Entfaltung durch Verlangsamung führen, von der Handke hinsichtlich seiner Schreibpraxis spricht. Die Textkonstruktion fordert von den Leser_innen nicht nur, Uneindeutigkeiten ›auszuhalten‹, sondern bringt sie im Gegenzug dazu, aktiv Sinn- und Bedeutungszuschreibungen69 angesichts einer sich ihnen unveränderlich präsentierenden Textgrundlage zu erproben, zu überprüfen und zu modifizieren oder auszutauschen. Das Wissen um das immer nur langsame Voranschreiten dieses Prozesses, seine Unabschließbarkeit und Vorläufigkeit sollte Schüler_innen folglich als Wert, nicht als Defizit vermittelt werden: Der verschlungene Weg, der Weg, auf dem der Fuß die Steine spürt, der zum Ausgangspunkt zurückführende Weg, – das ist der Weg der Kunst. Das Wort kommt zum Wort, das Wort fühlt das Wort wie die Wange die Wange. Die Worte werden auseinandergenommen, und statt eines einziges Komplexes – statt des automatisch ausgesprochenen Wortes, das herausgeworfen wird wie eine Tafel Schokolade aus einem Automaten – entsteht das Wort als Klang, das Wort als Artikulationsbewegung. Auch der Tanz ist ein Gehen, das man empfindet; noch genauer, ein Gehen, das so angelegt ist, daß man 69

Hinsichtlich der Unterscheidung von Sinn- und Bedeutungszuschreibungen orientiere ich mich hier und im Folgenden an Isers Differenzierung beider Begriffe: »Sinn und Bedeutung also sind nicht dasselbe […]. Denn die Bedeutung des Sinnes erschließt sich immer nur durch die Beziehung des Sinnes auf eine bestimmte Referenz; sie übersetzt den Sinn in ein Bezugssystem, und sie legt ihn im Blick auf bekannte Gegebenheiten aus. […] Gewiß spielen subjektive Dispositionen in der jeweiligen Realisierung der intersubjektiven Struktur der Sinnkonstitution eine Rolle. Doch vor dem Hintergrund dieser Struktur bleiben die subjektiven Realisierungen der Intersubjektivität zugänglich. Eine Zuschreibung von Bedeutung hingegen und die damit erfolgende Übernahme des Sinnes in die Existenz wird erst wieder der intersubjektiven Diskussion fähig, wenn die Codes und der Habitus aufgedeckt werden, die die Auslegung des Sinns gesteuert haben. Der eine Sacherhalt ist ein solcher der Wirkungstheorie der Texte, der andere ein solcher der Rezeption, deren Theorie eher eine soziologische sein wird.« Iser: Der Akt des Lesens. S. 244f.

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Literarästhetische Literalität

es empfindet. Und so tanzen wir hinter dem Pflug; das geschieht, weil wir pflügen, aber den gepflügten Acker brauchen wir nicht.70 Die Metaphorik der Passage, die Šklovskijs Studie Der Zusammenhang zwischen den Verfahren der Sujetfügung und den allgemeinen Stilverfahren einleitet, greift mit dem Bild des Pflügens eines Ackers die etymologische Verwandtschaft von schreiben und graben auf. Sowohl hinsichtlich des Weges, der hierbei beschritten, oder besser: getanzt wird, und der keinerlei Strecke zurücklegt, sondern an seinen Ausgangspunkt zurückkehrt, als auch hinsichtlich der Ausrichtung der Aufmerksamkeit, die sich auf den Akt des Tanzens selbst, nicht aber auf die hierüber geleistete Tätigkeit, das Pflügen des Ackers, bezieht, wird literarische Kunst in ihrer Performativität und Prozessualität in den Blick genommen.

3.2.4.

Materialität als dritter Term in Ergänzung zur Form-Inhalt-Dichotomie

Das Bild vom »Weg der Kunst« verweist weiterhin darüber, dass auf ihm der »Fuß die Steine spürt«, und über das Bild der gestalterisch durchformten Tanzbewegung auf die besondere Bedeutung, die der Materialität und Gestaltung literarischer Sprache zukommt, und zwar in dreierlei Hinsicht: Produktionsästhetisch sind die Worte so komponiert, das eines das andere sinnlich »fühlt wie die Wange die Wange«. Rezeptiv vermag auf der Ebene der Perzeption so das einzelne Wort »als Klang, […] als Artikulationsbewegung« und folglich als materielles, sinnliches Phänomen wahrgenommen zu werden. Mit dieser ins Bewusstsein rückenden Wahrnehmung können sich weiterhin auch hierauf aufbauende Vorstellungs- und Verstehensprozesse an der Materialität und Gestaltung literarischer Sprache immer wieder brechen und neu ausrichten. Der Rekurs hierauf wird zum notwendigen Korrektiv, um der sich mit der Kompetenzorientierung verschärfenden Gefahr ausschließlich kognitiv ausgerichteter Zugänge zu literarischen Texten gerade auch in didaktischen Kontexten zu begegnen. Dies impliziert ausdrücklich keine Ausblendung der inhaltlichen Handlungsebene, die gerade für Schüler_innen im Umgang mit Literatur von hoher Bedeutung ist, damit die Texte eine Relevanz für sie erhalten können, oder inhaltlich ausgerichteter Sinn- und Bedeutungszuschreibungen. Es weist aber darauf hin, dass ein solcher Zugang immer wieder auf eine bewusste und genaue Wahrnehmung des sprachlichen Materials und seiner Gestaltung zurückgeführt werden muss, um den ästhetischen Rezeptionsprozess in Gang zu halten. Dabei erweist sich insbesondere die Überwindung der Form-Inhalt-Dichotomie als relevant. Bei dieser konventionellen Art der Gegenüberstellung erscheinen Form (als gleichsam auskristallisierte sprachliche Gestaltung71 ) und Inhalt als zwei letztlich von-

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Šklovskij, Viktor: Der Zusammenhang zwischen den Verfahren der Sujetfügung und den allgemeinen Stilverfahren. In: Jurij Striedter (Hg.): Texte der russischen Formalisten. Bd. I: Texte zur allgemeinen Literaturtheorie und zur Theorie der Prosa. München: Fink 1969. S. 37-121. S. 37. Form und Gestaltung können m.E. als Synonyme bezeichnet werden. Dennoch macht es Sinn, terminologisch den Begriff der Form durch den der Gestaltung zu ersetzen, der für Schüler_innen den aktiven Konstruktionsprozess von Literatur auch begrifflich stärker in das Bewusstsein ruft.

3. Literarästhetische Spezifika

einander separierbare Ebenen der Auseinandersetzung mit Literatur, die zwar in Beziehung zueinander stehen, was aber allzu oft so gedeutet wird, dass formale Gestaltungsmerkmale eines Textes (wie auch dessen sprachliches Material) nur dergestalt in den Blick geraten, als sie vermeintlich unabhängig hiervon im Text auffindbare inhaltliche Aussagen unterstützen oder ihnen zuspielen. Dies verführt Lernende dann häufig dazu, ihre Aufmerksamkeit von der Gestaltungs- auf die Inhaltsebene zu verlagern, wobei die einzelnen Beobachtungen zwar ggf. noch an formalen Gestaltungselementen festgemacht werden, ohne dass aber deren Differenzfunktion oder weitere formale Relationen bestimmter Textelemente, die ggf. zu anderen Sinngebungsprozessen führen könnten, in den Blick gerieten. Die Aufmerksamkeit richtet sich so viel stärker auf die dem Text zugeschriebenen thematischen Aussagen als auf die Frage, auf welche Art und Weise diese über bestimmte Gestaltungsmittel hervorgerufen werden und inwiefern sie auch reversibel sind.72 Gerade im Zuge der oben ausgeführten Differenzen literarischer zu pragmatischer Sprachverwendung macht die Vermittlung einer anderen Herangehensweise Sinn, die die Ausrichtung an der Form-Inhalt-Dichotomie dahingehend erweitert, als sie als drittes Element die sprachliche Materialität in einen Bezug zu diesen beiden Termen setzt. Der Blick der Schüler_innen kann so auf zweierlei gelenkt werden: auf die sinnliche Wahrnehmung des sprachlichen Klangs (oder anderer, etwa graphisch-visuell wahrnehmbarer Textelemente) und darauf, wie ein Text etwa über Wiederholungsstrukturen (klanglicher wie semantischer Natur), Reihungen oder Stufungen verschiedenartige Bezüge innerhalb der Struktur des sprachlichen Materials etabliert.73 Mit Blick auf didaktische Fragestellungen hat Michael Baum im Kontext einer am Begriff der Spur bei Derrida ausgerichteten »(zweiten) Lektüre« von Uwe Timms Der Freund und der Fremde es sich zum Ziel erklärt, »zu Schlussfolgerungen zu gelangen, die an der Form (Heterogenität, Pluralität der Codes) ansetzen, aber gerade nicht eine 72

73

Diese Problematik findet Niederschlag in den bereits untersuchten Aufgabenbeispielen aus der PISA-Studie, der VERA-8-Lernstandserhebung zu Delius’ Roman Der Königsmacher und »Poseidon« aus den Bildungsstandards im Fach Deutsch für die Allgemeine Hochschulreife. Sie lässt sich aber auch in vielen Lehr- und Lernmaterialien für den Deutschunterricht ausmachen. So folgt etwa das Aufgabenset einer Oberstufenausgabe des weit verbreiteten Deutschbuches aus dem Cornelsen-Verlag Texte, Themen und Strukturen zu Kafkas Parabel Vor dem Gesetz einem Aufbau, der Schüler_innen zunächst auffordert, »das Thema der Erzählung« zu benennen und erst dann auf sprachliche oder erzähltechnische Gestaltungsmittel einzugehen. (Vgl. Bernd Schurf u. Andrea Wagener: Text, Themen und Strukturen. Deutschbuch für die Oberstufe. Nordrhein-Westfalen. Berlin: Cornelsen 2009. S. 32.) Ein eigentliches »Thema« des Textes wird sich gerade in dem gewählten Beispiel nicht unabhängig von Fragen der künstlerischen Gestaltung benennen lassen. Die genannten Kategorien gehen zurück auf den oben zitierten Aufsatz Šklovskijs Der Zusammenhang zwischen den Verfahren der Sujetfügung und den allgemeinen Stilverfahren; vgl. hierzu Jurij Striedter: Zur formalistischen Theorie der Prosa und der literarischen Evolution. In: ders. (Hg.): Texte der russischen Formalisten. Bd. I: Texte zur allgemeinen Literaturtheorie und zur Theorie der Prosa. München: Fink 1969. S. IX-LXXXIII. S. XXVII. Diese Aufstellung verbleibt recht allgemein und das hinzugezogene »Material zu heterogen, als daß ein Teilbereich sachgerecht und systematisch untersucht werden könnte.« (Ebd. S. XXVII.) Gleichwohl besteht das entscheidende Verdienst Šklovskijs darin, eine Debatte angestoßen zu haben, die dann vor allem im Prager Strukturalismus in der Form weiterverfolgt wurde, als hier das funktional-strukturelle Zusammenspiel der verschiedenen sprachlichen Gestaltungstechniken systematisch untersucht wurde.

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Literarästhetische Literalität

Entsprechung von Form und Inhalt annehmen. Die Form von Timms Text dementierte eher den Inhalt, als dass sie ihm entsprochen hätte.«74 Baum bindet diesen Anspruch zurück an die bewusste Wahrnehmung der »Materialität des zu Lesenden«, die »als der unhintergehbare, kontingente und zugleich dynamische Faktor der Lektüre [fungiere]. Materialität und Form werden in einem solchen Zusammenhang selbstredend nicht als Container gedacht, die Inhaltsstrukturen transportieren.«75 Um diese Gedanken näher zu verfolgen, eignen sich wiederum die Schriften der Russischen Formalisten. So führt Roman Jakobson in seiner 1921 veröffentlichten Studie Neue russische Poesie die bewusste Wahrnehmung der sprachlichen Gestaltung auf das aus der sprachlichen Materialität hervorgehende Potential der Deautomatisierung zurück: »Die Form existiert für uns nur so lange, wie es uns schwerfällt, sie anzunehmen, solange wir die Widerspenstigkeit des Materials empfinden, solange wir schwanken […].«76 Das an die aufmerksame Wahrnehmung der Form und hierüber an die »Widerspenstigkeit des Materials« geknüpfte Schwanken erhält so einen Eigenwert, der den auf möglichst unmissverständliche Kommunikation abzielenden pragmatischen Sprachverwendungsformen entgegensteht. Die Differenzen zum zuvor erläuterten Lesekompetenzmodell der PISA-Studie, in dem die sprachliche Gestaltung nur eine marginale und dem inhaltlichen Verstehen funktional untergeordnete Rolle spielt, liegen diesbezüglich auf der Hand. Während pragmatische Sprachverwendungsformen »die materielle Qualität des Zeichens eliminieren und mit deren Schatten operieren«77 , lenkt die literarische Sprache die Aufmerksamkeit gerade hierauf – und so kann im Sinne Baums die »Materialität des zu Lesenden« und ihre Gestaltungsform zum »dynamische[n] Faktor der Lektüre« werden. Noch genauer und unter explizitem Einbezug auch der bewussten sinnlichen Wahrnehmung der Klangstruktur sprachlicher Materialität hat diese Gedanken Sergej Bernšteijn in seiner 1927 erschienenen Studie Ästhetische Funktionen einer Theorie der Deklamation verfolgt. Die Abhandlung begreift die »Synthetisierung des Gehalts, anders gesprochen – dieses Fungieren des Kunstwerks als Zeichen« als »durch seine Struktur bedingt. Die Beschreibung dieser Struktur in ihren allgemeinen Merkmalen und einzelnen Typen, im Rahmen der jeweiligen Kunst macht die Aufgabe der speziellen Ästhetik aus.«78 74

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Baum, Michael: Randgänge der Bildungstheorie. In: Gerhard Härle u. Bernhard Rank (Hg.): »Sich bilden, ist nichts anders, als frei werden.« Sprachliche und literarische Bildung als Herausforderung für den Deutschunterricht. Baltmannsweiler: Schneider 2008. S. 21-37. S. 29. Ebd. S. 33. Jakobson, Roman: Neueste russische Poesie. In: Fritz Mierau (Hg.): Die Erweckung des Wortes. Essays der russischen Formalen Schule. Leipzig: Philipp Reclam jun. 1987. S. 177-210. S. 179. Bernšteijn, Sergej: Ästhetische Voraussetzungen einer Theorie der Deklamation. In: Wolf-Dieter Stempel (Hg.): Texte der russischen Formalisten. Bd. II: Texte zur Theorie des Verses und der poetischen Sprache. München: Wilhelm Fink 1972.S. 338-385. S. 353. Ebd. S. 343. Mit seiner Unterscheidung zwischen dem Kunstwerk und dem ästhetischen Objekt, das von den Rezipient_innen allererst geschaffen wird, etabliert Bernšteijn eine wirkungsästhetische Sichtweise innerhalb der Theoreme des Russischen Formalismus. Sie gründet auf zwei Elementen: zum einen auf der Tatsache, dass »bereits das Objekt selbst durch einen Gesichtspunkt geschaffen wird: Die ›Povest‹ vremennych let‹ [Nestorchronik] als Geschichtsquelle, als literarisches Werk und als Sprachdenkmal – das sind drei verschiedene Objekte.« (Ebd. S. 347.) Von dieser Wahl eines »allgemeinen Gesichtspunkt[es]« abhängig ist dann wiederum die Frage nach »Fakto-

3. Literarästhetische Spezifika

Als »Grundfaktoren« dieser Struktur und so zugleich als »grundsätzliche […] Gesichtspunkte«, unter denen sie beschrieben werden kann, bestimmt Bernšteijn explizit »Material und Form«.79 Dabei dient das Material als ein »sinnliches Substrat«80 , über das sich eine gestaltende, kompositorische Form legt, die es organisiert. Diese ist dynamisch und folglich in der Rezeption variabel gedacht, Bernšteijn verwendet hierfür die Metapher des »Bewegungsbild[es]«81 . Bernšteijns m.E. schon strukturalistisch zu nennender Ansatz verfolgt das Ziel herauszuarbeiten, »welche Rolle […] die einzelnen Materialfaktoren (phonetische, syntaktische, semantische) spielen, auf welche Weise die Teile gegeneinander abgegrenzt und wie sie zu einem künstlerischen Ganzen verbunden sind«82 . Diese Überlegungen geben zwei wichtige Hinweise zur Konturierung eines Modells literarästhetischer Literalität: Zum einen machen sie deutlich, dass literarische Inhalte (Objekte, von denen der Text handelt, sowie Handlungsverläufe im Sinne der histoire) aber auch mögliche Bedeutungen, Aussagen des Textes, von der sprachlichen Materialität und ihrer Gestaltung abhängen. Zum zweiten weisen sie auf die Notwendigkeit der Vermittlung eines hörästhetischen Zugangs zur Klangdimension literarischer Sprache hin. Denn Bernšteijn denkt die Begriffe Material und Gestaltung im Zuge seiner Theorie der Deklamation immer gerade auch von der lautlichen Ebene her. Und hier eröffnen sich in der jeweiligen Aktualisierung durch die Rezipient_innen breite Variationsmöglichkeiten: [D]er Dichter arbeitet mit Phonemen; das Phonem jedoch, selbst jede kombinatorische Nuance des Phonems, läßt bei materieller Realisierung bestimmte Variationen zu: Wenn sie auf der Ebene akustischer ›Qualität‹, des ›Timbres‹ nicht immer deutlich spürbar sind, so kann das Phonem jedenfalls in akzentologischer Hinsicht – Stärke, Dauer, Höhe – in ziemlich weiten Grenzen schwanken.83

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ren der Struktur eines Objekts« (ebd.). Diesbezüglich weist Bernšteijns Studie bereits den Weg zu späteren strukturalistischen Arbeiten. Ebd. S. 347. Hinzu kommt ein dritter Aspekt, der sowohl auf der Material- als auch auf der Gestaltungsebene Niederschlag im Sinne einer »Beifügung« (ebd. S. 361) finden kann, nämlich die »emotionale Färbung«. Diese ist den beiden zuvor genannten Aspekten funktional zugeordnet und beinhaltet auf dem Feld der »Wortkunst« unter Rekurs auf deren Material etwa eine »›lexikalische‹« oder »stilistische Färbung« der Semantik bzw. Syntax – wie ein »›hoher‹ und ›niedriger‹ Stil« – sowie »die unmittelbaren Assoziationen der Laute und Akzenttypen« auf phonologischer Ebene. (Vgl. ebd. S. 377/379.) Hinsichtlich der Komposition unterscheidet Bernšteijn emotionale Färbungen auf zwei Ebenen: zum einen »ursprüngliche, elementare Bildungen, die auf den Gefühlen Spannung und Lösung beruhen« und »›ungegenständlich‹« seien; und zum zweiten solche, die »Emotionen konkreten Charakters wie Anziehung und Abstoßung, Genuß und Leiden, sowie noch konkretere wie Zärtlichkeit, Liebe, Mitleid, Haß, Zorn, Verachtung usf.« beinhalten und somit »›gegenständliche‹« (ebd. 379/381) seien. Diese Überlegungen werden hier nicht weiter in die Untersuchung einbezogen, da sie letztlich stark auf die Theorie der Deklamation bezogen sind. Ebd. S. 347. Ebd. S. 365. Ebd. Ebd. S. 353. In einer Fußnote fügt er jedoch hinzu, dass dies auf das »lautliche System des Russischen und analoger Sprachen« bezogen sei – für das Deutsche lässt sich Entsprechendes nur eingeschränkt behaupten.

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Literarästhetische Literalität

Da Bernšteijns Strukturbegriff dynamisch ist, reichen hier bereits kleine Veränderungen, um die gesamte Struktur eines Gedichts maßgeblich zu verändern. Die Herausarbeitung des Klangs literarischer Sprache ist aber nicht nur für eine Theorie der Deklamation relevant. Auch im Lesen vermag ein Klang, ein Rhythmus bestimmter Laute, Worte oder Sätze in der Vorstellung mit aufgerufen zu werden und quasi-sinnliche Präsenz zu erhalten; was Roland Barthes veranlasst hat, die scheinbar kategoriale Unterscheidung von Schrift und Malerei hinsichtlich ihres Ausdruckscharakters zu hinterfragen: »Nichts trennt die Schrift (von der man annimmt, sie kommuniziere) von der Malerei (von der man annimmt, sie drücke aus) […].«84 Diesen Gedanken verfolgt er mit einer sinnlich vermittelten »Lust am Text«, so wie sie in seinem gleichnamigen Buch entwickelt wird, weiter. Implizit Šklovskijs Postulat der Verlangsamung aufgreifend, bedarf auch sie einer Lektüre, die »schwerfällig« ist; »sie klebt am Text, sie liest, wenn man so sagen kann, mit Akribie und Besessenheit« und richtet sich dabei ebenfalls nicht auf Inhalte, sondern auf die Form aus: Sie »erfaßt an jedem Punkt des Textes das Asyndeton, das die Sprache zerschneidet – und nicht die Anekdote: nicht die (logische) Ausdehnung fesselt sie, die Entblätterung der Wahrheiten, sondern das Blattwerk der Signifikanz«85 , die er an anderer Stelle wie folgt definiert: »Der Sinn, insofern er sinnlich hervorgebracht wird.«86

3.2.5.

Die »poetische Funktion« (Roman Jakobson)

Mit Bernšteijns Hinweis darauf, dass sich die »Faktoren des Kunstwerks nicht mechanisch herauspräparieren lassen«, wird auf die Notwendigkeit des Einbezugs einer wirkungsästhetischen Reflexion innerhalb des formalistisch-strukturalistischen Theoriegebäudes aufmerksam gemacht, besteht doch »der einzige Weg zu ihrer [der Faktoren des Kunstwerks] Ermittlung in der Bestimmung derjenigen Gesichtspunkte, die der betreffende Gegenstand zulässt oder – genauer – hervorruft«87 . Dem wird unter Rekurs auf Barthes’ Konzept der »strukturalistische[n] Tätigkeit«88 und Isers Rezeptionsästhetik später nachzugehen sein. Mit Blick auf die didaktische Relevanz der bisher entwickelten Gedanken bleibt zunächst noch die Frage nach einer stärkeren Systematisierung verschiedener Beobachtungsebenen mit ihren jeweiligen Gestaltungsmitteln offen, über die sich die Auffassung der Russischen Formalisten von der »Kunst als Verfahren« konkret vermitteln lässt. Der Rekurs auf die Ebenen von Material und Gestaltung als Grundlage literarischer Sprachverwendung vereint Formalismus und den hieraus hervorgehenden Prager 84

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Barthes, Roland: Réquichot und sein Körper. In: ders.: Der entgegenkommende und der stumpfe Sinn. Kritische Essays III. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1990. S. 219-246. S. 232. Vgl. hierzu auch Carlo Brune: Roland Barthes. Literatursemiologie und literarisches Schreiben. Würzburg: Königshausen & Neumann 2003. S. 195. Barthes, Roland: Die Lust am Text. 7. Auflage. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1992. S. 19. Ebd. S. 90. Diese sinnliche Dimension der Sprache wird ganz materiell gedacht: Der Text wird zum Körper, ja gar zum »Anagramm […] unsres erotischen Körpers« (ebd. S. 26), womit auch die phonetische Ebene der Signifikanten in den Vordergrund rückt. Zu Möglichkeiten einer konkreten didaktischen Umsetzung dieser Gedanken vgl. Kapitel 5.1. Bernšteijn: Ästhetische Voraussetzungen einer Theorie der Deklamation. S. 345. Barthes: Die strukturalistische Tätigkeit.

3. Literarästhetische Spezifika

Strukturalismus. Personales Bindeglied beider Schulen ist Roman Jakobson, eine der wichtigen Figuren im Moskauer Kreis der Russischen Formalisten und 1926 Mitbegründer des Prager Linguistischen Zirkels. Für das literaturdidaktische Modell dieser Arbeit ist vor allem sein Begriff der »poetischen Funktion« und dessen inhaltliche Ausgestaltung relevant, da er hiermit einen Schritt weiter als die Deviationsästhetik der Russischen Formalisten geht: Das künstlerische Gestaltungspotential wird von der Ebene des Textes auf die einer systemisch gedachten Textfunktion verlagert, die grundlegend in allen Textarten Verwendung finden kann, in literarischen aber dominant gesetzt ist. Bernšteijns Fokussierung der Ebenen von Material und Gestaltung wird hier strukturalistisch präzisiert und zugleich in ein zeichentheoretisches Kommunikationsmodell eingebunden. Der Weg zur Entwicklung des Begriffs der poetischen Funktion verläuft auch bei Jakobson zunächst über die Frage, worin die spezifische Literarizität begründet liegt. In seiner 1934 erschienenen Studie Was ist Poesie? verwirft er eine in seinen Augen überholte, auf bestimmte Themen oder Motivkomplexe (»Mond, See, Nachtigall, Felsen, Rose, Burg usw. usw.«89 ) zurückgehende Bestimmung des Literarischen: »Heute kann man alles, was auch immer es sei, durch die Fenster des Poeten sehen.«90 Das Bild des Fensters, eines spätestens seit der Romantik etablierten Topos, der autoreflexiv auf die perspektivische Gebunden- und Gebrochenheit literarischer Sprache verweist91 , verdeutlicht das »Primat der Komposition vor der Themenstellung«92 . Hierin manifestiert sich für Jakobson »die Poetizität« eines Textes, die er ähnlich wie Bernšteijn an eine bewusste Wahrnehmung von Materialität und Gestaltung bindet: »Dadurch, daß das Wort als Wort, und nicht als bloßer Repräsentant des benannten Objekts oder als Gefühlsausbruch empfunden wird. Dadurch, daß die Wörter und ihre Zusammensetzung, ihre Bedeutung, ihre äußere und innere Form nicht nur indifferenter Hinweis auf die Wirklichkeit sind, sondern eigenes Gewicht und selbständigen Wert erlangen.«93 Dafür verwendet er bereits hier synonym die Begriffe der »poetische[n]« bzw. »ästhetischen Funktion«94 . Diese Gedanken werden dann in seinem wohl bekanntesten Aufsatz Linguistik und Poetik aus dem Jahr 1960 in Auseinandersetzung mit den Kommunikationsmodellen Karl Bühlers und Jan Mukařovskys inhaltlich und terminologisch weiter ausgeschärft. Bühler untersucht in seinem 1934 entwickelten Modell das sprachliche Zeichen hinsichtlich dreier verschiedener Funktionen: Auf der Ebene des Senders kommt ihm eine Ausdrucksfunktion, auf der Ebene des Empfängers eine Appellfunktion und auf der Ebene der Gegenstände und Sachverhalte eine Darstellungsfunktion zu. Die semantische Funktion des sprachlichen Zeichens bestimmt Bühler hiervon ausgehend wie folgt: 89 90 91

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Jakobson, Roman: Was ist Poesie? In: ders.: Poetik. Ausgewählte Aufsätze 1921-1971. Hg. v. Elmar Holenstein u. Tarcisius Schelbert. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1979. S. 67-82. S. 67. Ebd. S. 68. Vgl. hierzu etwa Gunia, Jürgen u. Detlef Kremer: Fenster-Theater. Teichoskopie, Theatralität und Ekphrasis im Drama um 1800 und in E.T.A. Hoffmanns »Des Vetters Eckfenster«. In: E.T.A. Hoffmann Jahrbuch 9, 2001. S. 70-80. Erlich: Russischer Formalismus. S. 269. Jakobson: Was ist Poesie? S. 79. Ebd. S. 78.

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Literarästhetische Literalität

»Es ist Symbol kraft seiner Zuordnung zu Gegenständen und Sachverhalten, Symptom (Anzeichen, Indicium) kraft seiner Abhängigkeit vom Sender, dessen Innerlichkeit es ausdrückt, und Signal kraft seines Appells an den Hörer, dessen äußeres oder inneres Verhalten es steuert wie andere Verkehrszeichen.«95 Der Strukturalist Mukařovský erweitert dieses Modell um eine vierte Ebene, die »ästhetische Funktion«96 von Sprache. Hierunter versteht er eine Sprachverwendung, die nicht auf ihre Mitteilungs- oder Darstellungsfunktion ausgerichtet ist, sondern die Aufmerksamkeit zugleich auf die Zeichen selbst lenkt.97 Hieran knüpft Jakobson in seinem Kommunikationsmodell an. Er spricht nun nicht länger von einer ästhetischen, sondern »poetische[n] Funktion«98 , was den Aspekt der Gestaltung des sprachlichen Materials in den Vordergrund rückt, und bestimmt sie unter Rekurs auf insgesamt sechs sprachliche Funktionen, deren jeweilige »Faktoren« im folgenden Zitat in Blockschrift hervorgehoben sind: Der SENDER macht dem EMFPÄNGER eine MITTEILUNG [die sprachliche Nachricht selbst]. Um wirksam zu sein, bedarf die Mitteilung eines KONTEXTS, auf den sie sich bezieht (Referenz in einer andern, etwas mehrdeutigen Nomenklatur), erfaßbar für den Empfänger und verbal oder verbalisierbar; erforderlich ist ferner ein KODE, der ganz oder zumindest teilweise dem Sender und dem Empfänger […] gemeinsam ist; schließlich bedarf es auch noch eines KONTAKTS, eines physischen Kanals oder einer psychologischen Verbindung zwischen Sender und Empfänger, der es den beiden ermöglicht, in Kommunikation zu treten und zu bleiben.99 Angereichert um Jakobsons im Weiteren vorgenommene Zuordnung der einzelnen Funktionen dieser sechs Komponenten lässt sich sein Modell in folgendem Schema veranschaulichen:100 95

Bühler, Karl: Sprachtheorie: Die Darstellungsfunktion der Sprache. 3. Auflage. Stuttgart: Lucius & Lucius 1999. S. 28. 96 Mukařovský, Jan: Die poetische Benennung und die ästhetische Funktion der Sprache. In: ders.: Kapitel aus der Poetik. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1967. S. 44-54. S. 48. 97 Assmann, Aleida: Einführung in die Kulturwissenschaft: Grundbegriffe, Themen, Fragestellungen. 3. Auflage. Berlin: Erich Schmidt 2011. S. 39. 98 Jakobson: Linguistik und Poetik. S. 92. Mit dem Terminus der »poetischen Funktion« fokussiert Jakobson auch begrifflich stärker die Ebene der künstlerischen Gestaltung. 99 Ebd. S. 88. 100 Das abgebildete Schema vereint die beiden von Jakobson selbst erstellten Schemata auf Seite 88 und 94 des Buches. Graphik nach: www.giovanni-lanza.de/begriffe_ikk.htm (Abrufdatum 13.06.2014).

3. Literarästhetische Spezifika

Die poetische Funktion richtet sich auf die Nachricht (die keineswegs gleichzusetzen ist mit der referentiellen Funktion, sondern auf Material und Gestaltung der sprachlichen Äußerung abhebt) »als solche« aus, und zwar »um ihrer selbst willen«101 . Dort, wo diese poetische Funktion strukturbestimmend wird, steuert sie den Bedeutungsaufbau über textinterne sowie hiervon ausgehend auch externe Verweis- und Bezugsstrukturen; sie bleibt aber nicht auf Literatur beschränkt, sondern kann auch anderen sprachlichen Funktionen zuspielen, etwa der konativen Funktion.102 Mit diesem Modell eröffnen sich drei didaktische Perspektiven, die aufeinander aufbauen: Infolge der mit der poetischen Funktion gegebenen Autoreflexion auf das Material rückt die mediale Vermittlung der Äußerung in das Bewusstsein. Es kann erkannt werden, »daß das Zeichen nicht mit dem bezeichneten Gegenstand verschmilzt«103 . Genau dieser Schritt stand ja am Beginn der autobiographisch eingefärbten Erzählung Herta Müllers und ihrer bereits in der Kindheit vollzogenen Ablösung von dem Sprachverständnis, das der »Dorfsprache« zugrunde lag104 , was den Umgang mit Sprache für künstlerisch-ästhetische Produktions- wie Rezeptionsformen öffnet. Zugleich macht 101

Jakobson: Linguistik und Poetik. S. 92. Dies steht letztlich in einer sich von Kants Ästhetik herleitenden Linie und lässt sich als Umformulierung bzw. linguistische Präzisierung zentraler Theoreme seiner Kunstphilosophie lesen, etwa hinsichtlich der Definition des Schönen als dem, was einer ›Zweckmäßigkeit ohne Zweck‹ folge und sich mit ›interesselosem Wohlgefallen‹ verbinde. Vgl. Zima: Literarische Ästhetik. S. 188. 102 »Die poetische Funktion stellt nicht die einzige Funktion der Wortkunst dar, sondern nur eine vorherrschende und strukturbestimmende und spielt in allen andern sprachlichen Tätigkeiten eine untergeordnete, zusätzliche, konstitutive Rolle.« Jakobson: Linguistik und Poetik. S. 92. 103 Jakobson: Was ist Poesie? S. 79. 104 Jakobson liefert mit der folgenden Überlegung gleichsam die zeichentheoretisch-linguistische Begründung für die von Herta Müller konstatierte »Lücke«, die sich »zwischen Wort und Gegenstand« auftue, durch die hindurch man »ins Nichts« schaue (vgl. Müller: In jeder Sprache sitzen andere Augen. S. 8.) und in deren Bewusstwerdung sie letztlich den literarischen Schaffensprozess verortet: »Deshalb, weil neben dem unmittelbaren Bewusstsein der Identität von Zeichen und Gegenstand (A gleich A1 ) auch das unmittelbare Bewußtsein der unvollkommenen Identität von Zeichen und Gegenstand (A ungleich A1 ) notwendig ist; diese Antinomie ist unabdingbar, denn ohne Widerspruch gibt es keine Bewegung der Begriffe, keine Bewegung der Zeichen, die Beziehung zwischen Begriff und Zeichen wird automatisiert, das Geschehen kommt zum Stillstand, das Realitätsbewußtsein stirbt ab.« Jakobson: Was ist Poesie? S. 79. Der Schlusssatz markiert zudem die unmittelbare Anbindung an den Begriff der Deautomatisierung als Grundlage literarischer Sprachver-

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Literarästhetische Literalität

die Fokussierung materieller Medialität auch noch grundlegender auf Formen aufmerksam, wie sich der sprachliche Bedeutungsaufbau vollzieht. Es lässt sich gleichsam spielerisch am literarischen Text erlernen, über welche sprachlichen Mittel sich inhaltliche Zuschreibungen steuern und Sinnzusammenhänge aufgebaut werden. Schüler_innen können am Beispiel einer genauen analytischen wie produktionsorientierten Auseinandersetzung mit literarischer Sprachverwendung dazu angeleitet werden, grundlegende Funktionstechniken sprachlichen Bedeutungsaufbaus zu erlernen. So werden für sie in einem dritten Schritt die häufig nicht offengelegte zeichenhafte Vermittlung aller ›Realität‹105 und der Konstruktcharakter diskursiv vermittelter Werte- und Normgefüge einer Gesellschaft erfahrbar. Solche Prozesse vollziehen sich zwar außerhalb der fiktionalen Klammer eines literarischen Textes, beruhen aber auf grundlegend vergleichbaren Voraussetzungen, da es zu über Zeichensystemen vermittelten Bedeutungs- oder Wertzuweisungen kommt. Hiermit einhergehend vermag dann auch die Literatur stärker in ihrer kulturellen und sozialen Funktion betrachtet zu werden, die sie aber nur dann erfüllen kann, wenn sie ihrer mit der Dominanz der poetischen Funktion gegebenen Eigengesetzlichkeit folgt: »Gerade die Dichtung sichert unsere Formeln von Liebe und Haß, von Aufbegehren und Versöhnung, von Glauben und Ablehnung vor Automation und Einrosten.«106 Dies vermag eine Autonomie von Kunst zu begründen, die gleichwohl nicht losgelöst von gesellschaftlichen und geschichtlichen Entwicklungen steht, sondern diese – und zwar über die in der poetischen Funktion gegebene Zeichenpraxis – reflexiv überformt, sodass ein bewussterer Umgang mit ihnen möglich wird. Wenn Zima in seiner Einschätzung des Prager Strukturalismus von einer »Autonomieästhetik Kant’scher Provenienz, die ihre historische und soziologische Dimension sucht«107 , spricht, dann gibt ihm das folgende Zitat Jakobsons Recht: »Was wir betonen, ist nicht der Separatismus der Kunst, sondern die Autonomie der ästhetischen Funktion.«108 Dies wiederum erfordert die didaktische Vermittlung von Rezeptionsformen, die sich auf die bewusste Fokussierung der Ebenen von Material und Gestaltung auch einlassen. Neben hörästhetischen Zugängen im Bereich sinnlicher Wahrnehmungssensibilisierung, die im fünften Kapitel thematisiert werden, eröffnen auf kognitiver Ebene Verfahren strukturalistischer Textanalyse hier Zugänge, die auch didaktisch relevant sind. Viele von ihnen lassen sich auf eine im gleichen Aufsatz entwickelte Beobachtung Jakobsons zurückführen, die er als »das empirische linguistische Kriterium der poetischen Funktion« ansieht. Es geht hervor aus einem spezifischen Gebrauch, den die literarische Sprache von dem »jedem verbalen Verhalten zugrundliegen[den]« Operationen der »Selektion und Kombination« macht.109 Beim allgemeinen Sprachgebrauch wählt man auf der paradigmatischen Achse aus einer Reihe äquivalenter Textelemente,

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wendung und deren Relevanz für eine bewusste Wahrnehmung in Šklovskijs programmatischer Schrift Kunst als Verfahren. Jakobson spricht diesbezüglich von einem »Realitätsbewußtsein« (vgl. die obige Fußnote), das folglich in Sprachbewusstheit gründet. Jakobson: Was ist Poesie? S. 79f. Zima: Literarische Ästhetik. S. 175. Jakobson: Was ist Poesie? S. 78. Vgl. Jakobson: Linguistik und Poetik. S. 94.

3. Literarästhetische Spezifika

die in mindestens einem Merkmal übereinstimmen, zugleich aber untereinander auch distinkte Eigenschaften besitzen, durch die sie voneinander abgrenzbar sind, ein bestimmtes aus und kombiniert dieses dann auf der syntagmatischen Achse mit anderen, die ebenso aus einer Reihe äquivalenter Elemente ausgewählt werden, zu einem sprachlichen Gefüge. Für die Selektion gilt also das Kriterium der Äquivalenz, »der Ähnlichkeit und Unähnlichkeit, der Synonymie und Antinomie, während der Aufbau der Sequenz auf Kontiguität basiert«110 . Literarische Texte zeichnen sich nun dadurch aus, dass sie eine ganze Fülle von äquivalenten Textelementen in ihren Gefügen (also auf der Ebene des Syntagmas) enthalten, die rekurrent gesetzt sind und so aufeinander Bezug nehmen: »Die poetische Funktion projiziert das Prinzip der Äquivalenz von der Achse der Selektion auf die Achse der Kombination. Die Äquivalenz wird zum konstitutiven Verfahren der Sequenz erhoben.«111 Jakobson führt dies zunächst an phonetischen Beispielen vor: »Wortakzent gleicht Wortakzent, […] syntaktische Pause gleicht syntaktischer Pause, das Fehlen einer Pause gleicht dem Fehlen einer Pause. Silben wie auch Moren und Betonungen werden in Takteinheiten verwandelt.«112 Er bezieht im Weiteren aber auch semantische Strukturen ausdrücklich mit ein113 (hier ließe sich etwa an die Funktion eines [Leit-]Motivs denken), und der Ansatz lässt sich ebenso für die Vermittlung morphologischer und syntaktischer Strukturen fruchtbar machen.114 Literarische Texte weisen so Bedeutungsgeflechte auf, die mithilfe des Prinzips der Rekurrenz (resp. signifikanter Abweichungen hiervon) über die primär codierten Bedeutungen der sprachlichen Zeichen hinausweisen und sog. Sekundärkodes, also implizite und konnotative Bedeutungen, ausbilden. Dies wiederum liegt ihrer sog. Überstrukturierung zugrunde, d.h., dass die sprachlichen Zeichen überdeterminiert sind: Sie verweisen zum einen auf ihre Referenten, zum anderen aber auch immer auf sich selbst – und hierüber auf sprachlich-formale und semantische Strukturen, die sich innerhalb des Textes aufbauen und aus denen weitere sekundäre Bedeutungsschichten resultieren.115 Gewiss nicht nur in den Augen des britischen Literaturtheoretikers Terry Eagleton erscheint der literarische Text deshalb als »die komplizierteste Diskursform: Er verdichtet auf kleinstem Raum mehrere Systeme, deren jedes seine eigenen Spannungen, Parallelismen, Wiederholungen und Oppositionen beinhaltet, und von denen 110 111 112 113

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Ebd. Ebd. Ebd. S. 94f. Vgl. ebd. S. 110: »In der Dichtung tendiert nicht nur die phonologische Sequenz, sondern überhaupt jede Sequenz semantischer Einheiten dahin, eine Gleichung zu bauen. Ähnlichkeit wird auf Kontiguität überlagert und verleiht der Dichtung ihr durch und durch symbolisches, vielfältiges und polysemantisches Wesen […].« Vgl. zur literaturdidaktischen Relevanz des Ansatzes von Jakobson insbesondere Johannes Odendahl: Poetische Funktion und literarische Kompetenz. Eine Modellskizze am Leitfaden von Jakobsons Semiotik. In: Wirkendes Wort 68 (2017), H. 1, S. 87-111. Vgl. Schilcher, Anita u. Susanne Dürr: Überstrukturierung poetischer Texte: Metrik, Rhetorik, Mythologie. In: Anita Schilcher u. Markus Pissarek (Hg.): Auf dem Weg zur literarischen Kompetenz. Ein Modell literarischen Lernens auf semiotischer Grundlage. Baltmannsweiler: Schneider 2013. S. 105-134. S. 108ff.

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Literarästhetische Literalität

jedes ständig alle anderen modifiziert.«116 Gerade aufgrund der Komplexität dieser Prozesse wird es für Schüler_innen hilfreich sein, sich anhand konkreter analytischer Kategorien einen Zugang zur künstlerischen Gestaltung literarischer Texte verschaffen zu können. Sie sind in Teilen im Rahmen der Kompetenzorientierung vermittelbar, greifen aber, wie zu zeigen sein wird, in Teilen auch darüber hinaus und werden so an ein Modell literarästhetischer Literalität anbindbar.

3.2.6.

Strukturalistisch-semiotische Modelle des Bedeutungsaufbaus

Strukturalistische Verfahren machen das Prinzip der Überstrukturiertheit analytisch beobachtbar. Sie untersuchen – etwa indem sie Oppositions- oder Äquivalenzreihen auf den Ebenen der Raumgestaltung, der Figurenkonstellationen oder zentraler Motive in den Blick nehmen – die Ordnungen, die der Text auf seiner Oberflächenstruktur etabliert. Die Frage nach der Bedeutung eines literarischen Textes ist analog zu dem, was im zweiten Kapitel zu den kognitiven mentalen Operationen ästhetischer Rezeption ausgeführt wurde, dabei immer nach zwei Seiten hin zu stellen: »[W]ie ist ein künstlerischer, literarischer Text von seiner inneren, immananten [sic!] (syntagmatischen) Konstruktion her aufgebaut? [U]nd: [W]elche Bedeutung hat er, d.h. wie sind seine semantischen Bezüge zu den außerhalb seiner befindlichen Erscheinungen beschaffen?«117 Beide Fragen verweisen aufeinander: Die Kategorie »Bedeutung« bedarf innerhalb des sekundären modellbildenden Systems ›Literatur‹ einer besonderen Betrachtung, da sie nicht wie in der sog. natürlichen Sprache als bloße Umcodierung eines Zeichens aus einem System A, das seinen Wert relational zu anderen Zeichen dieses Systems erhält, in ein System B zu denken ist.118 Bedeutungen in literarischer Sprachverwendung werden zur Funktion der inneren strukturellen Gestaltung des Textes. Im Zuge dessen erfahren die Gegenstände oder auch ganze Diskurse, auf die der literarische Text sich zurückbezieht, häufig »Umstrukturierungen, durch die sich in den Texten eine eigene Weltordnung artikuliert«119 . 116 117 118

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Eagleton, Terry: Einführung in die Literaturtheorie. 2. Aufl. Stuttgart: Metzler 1992. S. 81. Lotman, Jurij M.: Die Struktur literarischer Texte. 4., unveränd. Aufl. München: Fink 1993. S. 58. Lotman wendet sich hinsichtlich dessen gegen die Auffassung eines »atomhaften, systemfreien Zeichens« bereits in der natürlichen Sprache und hebt hervor, dass sowohl die Ausdrucks- wie die Inhaltsseite eines Zeichens nur »als Strukturketten« denkbar sind, wo ein Zeichen seine Funktion durch die Relation zu anderen Zeichen erhält. »Aus dem Gesagten folgt, daß Bedeutung in jenen Fällen entsteht, wo zumindest zwei verschiedene Ketten von Strukturen vorhanden sind. In vertrauter Terminologie kann man die eine als Ausdrucksebene, die andere als Inhaltsebene bestimmen. Bei der Umkodierung stellen sich zwischen bestimmten Paaren von ihrer Natur nach verschiedenen Elementen Entsprechungen her, wobei jeweils ein Element in seinem System als Äquivalent eines anderen Elements in dessen System aufgefaßt wird.« (Ebd. S. 59f.) In der natürlichen Sprache ist dieser Code aber vorausgesetzt und steht nicht selbst infrage: »Die Struktur der natürlichen Sprache stellt eine gewisse geordnete Menge dar, und für den, der sie korrekt spricht, sind Informationen über ihren Aufbau völlig überflüssig. Die Struktur der natürlichen Sprache ist vollständig automatisiert. Die ganze Aufmerksamkeit der Sprecher ist auf die Mitteilung konzentriert – die Aufnahme der Sprache (des Kodes) geschieht völlig automatisch.« Ebd. S. 201f. Krah, Hans: Was ist Literatursemiotik? In: Anita Schilcher u. Markus Pissarek: Auf dem Weg zur literarischen Kompetenz. Ein Modell literarischen Lernens auf semiotischer Grundlage. Baltmannsweiler: Schneider 2013. S. 35-53. S. 51.

3. Literarästhetische Spezifika

Die Art und Weise, wie sich eine solche Umstrukturierung vollzieht, arbeiten strukturalistisch-semiotische Ansätze in der Form heraus, dass sie jene »Kunstmittel«, die Verfahren, die der Russische Formalismus mit den Begriffen der Deautomatisierung und Verfremdung bezeichnet, kategorisieren und in funktionale Beziehungen zueinander setzen. So wird nachvollziehbar, wie auf der Ebene der intratextuellen Binnenorganisation literarische Texte das Zeichen in eine Vielzahl von Bezugssystemen setzen, in deren Korrelationen es bestimmte Bedeutungen erhalten kann, die sich über die verschiedenen Möglichkeiten einer Semantisierung innerhalb der Textstruktur steuern. Der auf formalistischen und strukturalistischen Modellen aufbauende Literaturtheoretiker Jurij Lotman unterscheidet grundlegend zwischen mikro- und makrostrukturellen Korrelationen, für die er die Begriffe der »Konstruktionsprinzipien«120 und der »Komposition des Wortkunstwerks«121 wählt. Auf der ersten Ebene lassen sich phonologische, morphologische, semantische, syntaktische, lexikalische und textuelle Strukturformen ansiedeln, die zweite umfasst Kategorien wie den Rahmen, den Raum, das Sujet, die Figuren, die Einstellung oder den Blickpunkt.122 Ästhetische Polyvalenz, d.h. die Frage nach einer Mehrdeutigkeit hinsichtlich möglicher Zeichenbedeutungen zu jener von Lotman angesprochenen zweiten, extratextuellen Ebene, steuert sich darüber, dass auf der intratextuellen Ebene die Zeichen so angeordnet sind, dass sie in verschiedener Form aufeinander beziehbar werden und folglich unterschiedliche Bedeutungen erhalten können. Der literarische Text arbeitet mit einer »Aufeinanderfolge funktionell heterogener Elemente, als Abfolge von Strukturdominanten verschiedener Ebenen.«123 Sie sind in der Form übereinander oder besser: ineinander geschichtet, sodass ein und dasselbe Textelement auf verschiedenen Ebenen mit verschiedenen Techniken sprachlich bearbeitet ist. Hierin liegt eine entscheidende Differenz zu pragmatischen Textformen: Während wir also in einem gewöhnlichen nichtkünstlerischen Text mit der Dynamik einer Mitteilung im Rahmen ein und derselben Sprache zu tun haben, spricht man uns im künstlerischen Text in mehreren Sprachen an, wobei die lauteste Stimme ständig wechselt. Und die Abfolge und Korrelation dieser Sprachen wird als solche das einheitliche System der künstlerischen Information sein, die der Text enthält. Während dieses System auf einer bestimmten Ebene eine einheitliche Struktur darstellt, wird es doch über eine gewisse Unvorhersagbarkeit der internen Überschneidungen verfügen, und das wird ihm einen niemals geringer werdenden Informationsgehalt garantieren. Je komplizierter ein Text und jede seiner Ebenen organisiert ist, desto überraschender sind die Schnittpunkte der einzelnen Substrukturen […].124 Von seiner internen Struktur her ist der Text folglich daraufhin ausgerichtet, dass die verschiedenen Ebenen seiner Gestaltung auch in der strukturellen Analyse nicht se120 Lotman: Die Struktur literarischer Texte. S. 122. Im Original als Überschrift in Versalien gesetzt. 121 Ebd. S. 300. 122 Vgl. Heuermann, Hartmut, Peter Hühn u. Brigitte Röttger: Werkstruktur und Rezeptionsverhalten. Empirische Untersuchungen über den Zusammenhang von Text-, Leser- und Kontextmerkmalen. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht: 1982. S. 54f. 123 Lotman: Die Struktur literarischer Texte. S. 393. 124 Ebd. S. 394.

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Literarästhetische Literalität

parat voneinander ›abgearbeitet‹, sondern in Korrelation zueinander gesetzt werden. Die Leser_innen werden mit verschiedenartigen und konkurrierenden Informationen konfrontiert, die perspektivisch gebrochen werden und ggf. widersprüchlich und inkongruent sind.125 Dies ruft eine zwar inhaltlich kaum noch prognostizierbare Rezeption hervor, die hinsichtlich ihrer formalen Struktur allerdings sehr wohl kalkuliert ist: Sie wird sich nämlich, je weniger kohärent die einzelnen Ebenen kompositionell angelegt sind, immer stärker auf das einlassen müssen, was im vorherigen Kapitel als die Prozesshaftigkeit ästhetischer Rezeption zur Darstellung kam und hier in seinen produktionsästhetischen Voraussetzungen auf der Ebene literarischer Gestaltungsmittel nachverfolgt werden kann. Wenn Lotman diesen Sachverhalt der »Ungleichmäßigkeit – das Nebeneinander konstruktionsmäßig heterogener Elemente« als »eines der grundlegenden Strukturgesetze des künstlerischen Textes«126 begreift und zugleich davon spricht, dass dies eine »ständige Informationsaktivität der künstlerischen Struktur über die gesamte Ausdehnung des Textes hin«127 erzeugt, dann wird deutlich, dass dies mehr und mehr zu einer Reflexion der Position der Rezipient_innen nötigt, auf die diese Informationsaktivität zuläuft und über die sie sich nur realisieren kann. Dies wirft die Fragen auf, inwieweit sich die bisher fokussierten Strukturen als die der poetischen Funktion zugrunde liegenden gestalterischen Merkmale überhaupt unabhängig von der Rezeptionsinstanz beschreiben lassen.

3.2.7.

»Die strukturalistische Tätigkeit« (Roland Barthes)

Es ist der französische Strukturalist Roland Barthes, der die Abhängigkeit der Ermittlung jener Strukturen der poetischen Funktion von der Rezeption noch weiter denkt, als dies bei Lotman anklingt, und so andere Akzente setzt. Barthes koppelt bereits den Akt der »strukturalistischen Tätigkeit« an von den Rezipient_innen allererst hervorgebrachte Ordnungsmuster, was zur Folge hat, dass die Vorstellung verabschiedet wird, eine im Text selbst angelegte Struktur quasi nur ans Licht bringen zu müssen. Damit wird der Ansatz einer Bedingung gerecht, die Fingerhut für den Einsatz strukturaler Textanalyse in Unterrichtszusammenhängen aufstellt: »Sie muß nicht nur den Text erfassen, […] sondern sie muss sich zugleich um die Strukturierung des Textes im Verstehensprozeß eines Rezipienten kümmern.«128 125

126 127 128

Dies betrifft die einzelnen Konstruktions- und Kompositionsprinzipien ebenso wie mögliche Bezüge zwischen ihnen. Ein Beispiel hierfür sind lyrische Formen, die sich – etwa bei Heine – bestimmter formaler Konstruktionsprinzipien, wie Klang- und Reimstrukturen oder zentraler Metaphern vorhergehender literarischer Muster – bei Heine der Romantik – bedienen, diese aber gleichsam ›leerlaufen‹ lassen, indem sie sie aus ihren bisherigen Verwendungskontexten herauslösen und neu semantisieren. Insbesondere moderne Literatur, wie etwa die Lyrik des Expressionismus, beruht oft auf diesem Konstruktionsprinzip. Lotman: Die Struktur literarischer Texte. S. 395. Ebd. S. 398. Fingerhut, Karlheinz: Strukturale Interpretation und die Tätigkeit des Rezipienten. Untersuchungen an Heinrich Heines »Das Sklavenschiff«. In: Diskussion Deutsch 35 (1977), H. 8, S. 281-304. S. 282.

3. Literarästhetische Spezifika

Das Ziel der strukturalistischen Tätigkeit sieht Barthes zwar weiterhin darin, »ein ›Objekt‹ derart zu rekonstitutieren, daß in dieser Rekonstruktion zutage tritt, nach welchen Regeln es funktioniert (welches seine ›Funktionen‹ sind)«, doch hebt er hervor, dass diese Struktur »nur ein simulacrum des Objekts, aber ein gezieltes, ›interessiertes‹ Simulacrum« sei, da sie etwas hervorhebe, das »im natürlichen Objekt unsichtbar oder […] unverständlich blieb«129 . Wenn der Strukturalist somit das gegebene Objekt in einzelne Elemente zerlegt und diese dann wieder so zusammensetzt, dass hierin die Funktionsmechanismen seiner bedeutungstragenden Strukturen zutage treten, dann bildet dies das Objekt selbst nicht eins zu eins ab. Vielmehr entsteht in der strukturalistischen Analyse »etwas Neues«, das dem analysierten Objekt vor dem Hintergrund der je kontingenten, sozialgeschichtlichen wie individuellen Variablen des Rezipienten, »seine[r] Geschichte, seine[r] Situation, seine[r] Freiheit«, etwas hinzufügt.130 Dieses Zitat weist ebenso wie bereits der Titel des Aufsatzes darauf hin, dass Barthes die Strukturanalysen von der Geschehensdimension und der sozialgeschichtlich rückgebundenen »Freiheit« des je individuellen Rezeptionsaktes her denkt, eben als »strukturalistische Tätigkeit«: »Schöpfung oder Reflexion sind hier nicht originalgetreuer ›Abdruck‹ der Welt, sondern wirkliche Erzeugung einer Welt, die der ersten ähnelt, sie aber nicht kopieren, sondern verständlich machen will.«131 Hierüber gelingt es, den Strukturalismus aus dem Bereich einer rein wissenschaftlichen Tätigkeit zu lösen und ihn analog zu künstlerischen Praktiken zu denken: Es ist in der Tat anzunehmen, daß es Schriftsteller, Maler und Musiker gibt, in deren Augen das Praktizieren der Struktur (und nicht nur der Gedanke an sie) eine distinktive Erfahrung darstellt, und daß man Analytiker wie Schöpfer unter das gemeinsame Zeichen dessen stellen muß, was man den strukturalen Menschen nennen könnte, der nicht durch seine Ideen oder seine Sprache definiert wird, sondern durch seine Imagination oder noch besser durch sein Imaginäres, also durch die Art, wie er die Struktur geistig erlebt.132 Kunst und strukturalistische Wissenschaft weisen folglich Übereinstimmungen auf; hier wie da werde ein »bestimmtes Objekt« arrangiert, »eben jenes, das man Komposition nennt.«133 Diese These wird im Weiteren an den »zwei typischen Operationen« des Strukturalismus vorgeführt: dem Zerlegen und Re-Arrangieren des Objekts.134 Beide Operationen rekurrieren auf die von de Saussure eingeführten Grundtermini des 129 Vgl. Barthes: Die strukturalistische Tätigkeit. S. 217. 130 Vgl. ebd. Dies wendet sich gegen ein strukturalistisches Verfahren, wie es in der 1962 erschienenen Arbeit Das wilde Denken von Claude Levi-Strauss praktiziert wurde. »Diese Strukturierungsarbeit kann, wie Ricœur […] bemerkte, als ›Denken‹ bezeichnet werden, ›das Ordnungen erzeugt, das sich selber aber nicht mitdenkt.‹« Hans Kügler: »Der hinzugefügte Intellekt« – Strukturale Methode und hermeneutisches Verstehen. Didaktische Anmerkungen zu einem Aufsatz von R. Barthes. In: Otfried Hoppe (Hg.): Kritik und Didaktik des literarischen Verstehens. Kronberg/Ts.: Scriptor 1976. S. 110-132. S. 112. 131 Barthes: Die strukturalistische Tätigkeit. S. 217. 132 Ebd. S. 216. 133 Ebd. S. 218. 134 Vgl. ebd.

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Paradigmas und Syntagmas, auf denen auch schon Jakobsons Definition der literarischen Sprache aufbaute. Barthes bezieht das Verfahren der Zerlegung, der Analyse, auf die paradigmatische Achse zurück: So werde ein erster »zersplitterte[r] Zustand des Simulacrums«135 geschaffen, der darauf beruht, die funktionstragenden einzelnen Elemente aus der Ganzheit des Objekts so herauszulösen, dass sie bestimmten paradigmatischen Reihen zugeordnet werden; »das vorhandene ›Material‹ [wird] segmentiert und unter semiotischen Kategorien inventarisiert«136 . Dies lässt sich didaktisch im Falle einer konkreten Textanalyse auf semantischer Ebene etwa an die Untersuchung von Isotopien zurückbinden. Mit Blick auf die oben besprochenen Passagen aus Herta Müllers Erzählung überlagern sich zumindest drei Isotopien, die von den semantischen Feldern ›Tod‹, ›Enge/Abgeschlossenheit‹ und ›Dorfwelt‹ gebildet werden. Sie sind einer weiteren Isotopie ›Traum/Freiräume‹ gegenübergestellt. Bereits die Kriterien, nach denen solche paradigmatischen Reihen gebildet werden, hängen dabei zumindest teilweise von individuellen und sozial-kulturellen Prägungen der jeweiligen Rezeption ab137 und lassen sich folglich nicht durchgehend standardisieren. Der zweite Schritt, der auf diese Zerlegung folgt, beinhaltet dann die Synthese in Form der »Tätigkeit des Arrangierens«. Ihr Ziel ist es, den »gesetzten Einheiten« auf der paradigmatischen Ebene nun »Assoziationsregeln ab[zu]lauschen«, die deren »Kombinationsregeln« offenlegen: »[D]urch die regelmäßige Wiederkehr der Einheiten und Assoziationen von Einheiten kommt das Werk als konstruiertes zum Vorschein, das heißt mit Bedeutung versehen«.138 Bezogen auf das oben angeführte Beispiel hieße dies etwa, den Text daraufhin zu untersuchen, welchen Figuren, Motiven oder Handlungselementen Begriffe aus der paradigmatischen Reihe ›Enge‹, ›Tod‹ oder ›Dorfwelt‹ zugeordnet sind (und in welcher Form diese Reihen dabei verbunden sind), und welche eher auf der Seite von ›Traum‹ und ›Freiraum‹ stehen. Von hier aus werden implizite Wertungen und Formen des Bedeutungsaufbaus für Schüler_innen nachvollziehbar, da mögliche Implikationen und Konnotationen als eine Funktion sprachlich erzeugter Ordnungsmuster erschlossen werden können. Dabei gilt auch hier, dass diese Synthese »erst durch die vermittelnde Leistung des strukturierenden Subjekts möglich [wird], das seinen Intellekt hinzufügt.«139 Auf diesen beiden Operationen gründet die Errichtung des »Simulacrums«, das qua Abbild »das Funktionelle« des Objekts140 zur Erscheinung kommen lassen will; dabei aber auf der Ebene des Zerlegens wie des Arrangierens immer ein Konstrukt des Analysierenden bleibt und auf dessen produktiven Akt zurückverweist. Dieses Verfahren, das »weniger versucht, den Objekten […] Bedeutungen zuzuweisen, als vielmehr zu erkennen, wodurch die Bedeutung möglich ist«141 , kann hinsichtlich der Resultate folglich keine Neutralität oder Objektivität für sich beanspruchen, da auch die Analyse der Funktionen, wie sich im Objekt Bedeutungen aufbauen, selbst wiederum von der 135 136 137 138 139 140 141

Ebd. S. 220. Kügler: »Der hinzugefügte Intellekt«. S. 118. Vgl. ebd. S. 119. Barthes: Die strukturalistische Tätigkeit. S. 220. Kügler: »Der hinzugefügte Intellekt«. S. 121. Barthes: Die strukturalistische Tätigkeit. S. 221. Ebd.

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Tätigkeit des Strukturalisten bzw. der Wirkung des Textes auf ihn abhängig ist. Damit weitet sich der Blick auch auf die soziohistorischen Verhältnisse, innerhalb derer er agiert, und die kulturellen Bedingtheiten der Analyse selbst aus.142 Aus dem gehen didaktisch relevante Impulse hervor: Zum einen erlaubt die Ineinanderspiegelung von rezeptiv-analytischer Textarbeit und künstlerischer Produktion Anschlüsse an produktionsorientierte Ansätze, wie sie bei Haas/Menzel/Spinner in den Blick genommen werden: Die rezeptive Auseinandersetzung mit Kunst greift deren eigene Dynamik auf und schreibt sie in Form restaurativer, inszenierender oder transformierender Tätigkeiten fort – und dies auch auf dem Feld analytischer Prozesse.143 Zugleich wird deutlich, dass auch funktionale Strukturanalysen literarischer Texte nicht losgelöst von den individuellen und kulturellen Hintergründen der Lernenden vermittelt werden können. Im Gegenteil: Aus Barthes’ Ansatz folgt die Notwendigkeit, auch bei strukturalen Analysen an den jeweiligen Wirkungen, die der Text bei den Lernenden hinterlässt, anzusetzen und ihnen je eigene Zugänge zu ermöglichen. »Diese Leserperspektive bildet sich, sofern sie nicht von einer technokratischen Literaturdidaktik dem Schüler in Gestalt fertiger Lektüreanweisungen einfach vorgegeben wird, aus dem spezifischen Interesse und Wissen, das ein konkreter Leser in einer konkreten Rezeptionssituation zu mobilisieren vermag.«144 Im Abgleich verschiedener »Simulacren« können auch die bedingenden Faktoren der individuellen Wirkungen, die aus der Herangehensweise eines Schülers oder einer Schülerin im Unterschied zu anderen ablesbar sind, bewusst werden. Fingerhut schließt hieran die Ermöglichung von Selbstreflexionsprozessen an: »So kann nachgewiesen werden, wie im einzelnen jede Lektüre über den Leser ebensoviel auszusagen vermag wie über den Text […].«145 142 Einer sozialgeschichtlichen Selbstreflexion setzt Barthes in dem Aufsatz auch den strukturalistischen Ansatz aus. Seine Antwort auf die Frage, welche Rolle historische und gesellschaftliche Fragen und Bedingtheiten im strukturalistischen Denken einnehmen, steht am Ende einer langen Auseinandersetzung, die bereits zur Zeit des Russischen Formalismus – auch bedingt durch die zunehmenden Angriffe seitens der marxistisch-leninistischen Literaturtheorie im nachrevolutionären Russland – mehr und mehr in den Vordergrund rückte. Gleichsam am Ende dieser Diskussionen spricht Barthes ein doppeltes Schlusswort. Zum einen beantwortet er die Frage nach dem vermeintlich fehlenden Blick für die Geschichte und die Gesellschaft im strukturalistischen Ansatz in Form von rhetorischen Fragen: »Sind denn die Formen nicht in der Welt, sind denn die Formen nicht verantwortlich? War das Revolutionäre bei Brecht wirklich der Marxismus? War es nicht vielmehr der Entschluß, den Marxismus an den Standort eines Bühnenscheinwerfers, die Zerschlissenheit eines Kostüms zu binden?« Und er sieht den Strukturalismus, auf allgemeiner Ebene als wissenschaftliche Praxis wie auf auch konkreter Ebene in seiner jeweilig individuellen Realisation in Form einer strukturalen Analyse, zugleich selbst in seiner soziohistorischen Bedingtheit. Er sei »eine bestimmte Form der Welt […], die sich mit der Welt ändern wird« und deren Aufgaben eines Tages »beendet« und selbst Geschichte sein werden. (Vgl. ebd. S. 222f.) 143 Vgl. Haas, Gerhard, Wolfgang Menzel, Wolfgang u. Kaspar H. Spinner: Handlungs- und produktionsorientierter Literaturunterricht. In: Praxis Deutsch (Sonderheft: Handlungsorientierter Literaturunterricht) 2000. S. 7-15. 144 Kügler: »Der hinzugefügte Intellekt«. S. 113. 145 Fingerhut: Strukturale Interpretation und die Tätigkeit des Rezipienten. S. 285. Fingerhut bezieht sich in seinem oben bereits zitierten Aufsatz zu Fragen der didaktischen Umsetzung strukturalistischer Modelle nicht primär auf Die strukturalistische Tätigkeit, sondern auf einen späteren Aufsatz Barthes’ (Roland Barthes: Textanalyse einer Erzählung von Edgar Allen Poe. In: ders.: Das semio-

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Literarästhetische Literalität

Barthes’ Reformulierung des Strukturalismus wendet quasi dessen eigene Verfahren auf ihn an, wenn er ihn als Wissenschaft beschreibt, dessen Ergebnisse nicht festgeschrieben sind, sondern an den Prozess der strukturalistischen Tätigkeit selbst gekoppelt bleiben.146 Im Fokus steht so die selbstreflexiv beobachtete Form der Funktionsanalyse, in der der strukturalistisch operierende Analytiker dem Kontingenten Bedeutungen »ablauscht« resp. zuweist: Und weil dieses Herstellen von Bedeutung in seinen Augen wesentlicher ist als die Bedeutung selbst, weil die Funktion weiter reicht als die Werke, macht sich der Strukturalismus zur Tätigkeit und stellt die Erschaffung des Werks und das Werk selbst in ein und dieselbe Identität: eine serielle Komposition oder eine Analyse von Lévi-Strauss sind nur insofern Objekte, als sie gemacht worden sind: ihr gegenwärtiges Sein ist ihr vergangener Akt: sie sind Gemachtwordenes […].147 Die hierin enthaltene Kritik an einer vorschnellen Sinnzuweisung, die den literarischen Text auf bestimmte fixierbare Inhalte reduziert, muss allerdings nicht zwangsläufig den Verzicht auf jede Form von Sinn- und Bedeutungszuschreibungen beinhalten, sie schaltet ihm nur eine Stufe vor, wenn sie zunächst auf die Frage rekurriert, auf Grundlage welcher Funktionen sich Bedeutungsstrukturen überhaupt aufbauen. Offen bleibt die Spezifik der Mitteilungsstruktur von Literatur im ›Dialog‹ von Text und Leser_innen. Denn auch die Rückbindung der strukturalistischen Verfahren zum einen an die Rezipient_innen und zum zweiten an sozialgeschichtlich-kulturelle Kontexte, die Barthes im Rahmen seines Aufsatzes Die strukturalistische Tätigkeit verfolgt, geht einer genauen Aufarbeitung der auf die analytische Zerlegung folgenden, synthetisierenden Sinn- und Bedeutungszuschreibungen nicht im Detail nach. Innerhalb strukturalistisch-formalistischer Modelle bleibt diese Frage zwar kein blinder Fleck, aber doch ein wenig ausgeleuchtetes Feld. Wie wichtig es jedoch ist, ihr gerade im Kontext didaktischer Fragen genauer nachzugehen, geht aus den Modellen selbst hervor. Wenn Juri Tynjanow und Roman Jakobson sich von einem »scholastischen ›Formalismus‹« abgrenzen, »der die Analyse der Erscheinungen durch Terminologie und Katalogisierung ersetzt«148 , dann impliziert dies die Notwendigkeit, die Bedingungen, unter denen sich mögliche Sinn- und Bedeutungszuschreibungen durch die Rezipient_innen vollziehen, mitzudenken. Die Literaturdidaktik kann und sollte an diese den Texten selbst inhärente – und in der Literaturtheorie auch reflektierte – Vermittlungsdimension anknüpfen; immer im logische Abenteuer. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1988. S. 266-298). Dessen Ansatz stimmt in Grundzügen mit dem in S/Z entwickelten Modell überein, das seinerseits wiederum zentrale Gedanken der Strukturalistischen Tätigkeit aufgreift. 146 »Man könnte sogar sagen, daß das Objekt des Strukturalismus nicht der mit bestimmten Bedeutungen bedachte, sondern der Bedeutungen erzeugende Mensch ist, so als würden die semantischen Ziele – die Ziele der Menschheit – nicht etwa durch den Inhalt der Bedeutungen ausgeschöpft, sondern einzig durch den Akt, der jene Bedeutungen – geschichtliche wie kontingente Variablen – erzeugt. Homo significans: das wäre der neue Mensch der strukturalen Forschung.« Barthes: Die strukturalistische Tätigkeit. S. 221. 147 Ebd. S. 222. 148 Tynjanow/Jakobson: Probleme der Literatur- und Sprachforschung. S. 211.

3. Literarästhetische Spezifika

Bewusstsein, dass die Zugänge zu dieser Schnittstelle im Schulkontext nicht auf Experten, sondern Novizen ausgerichtet werden müssen. Doch auch wenn die Reflexion der Aktivitäten der Rezipient_innen im Kontext schulischer Vermittlung einer Spezifizierung im Vergleich zu der literaturtheoretisch implizit angenommenen Rolle eines Experten bedarf, vermögen wirkungsästhetische Modelle hier relevante Impulse zu geben. Gerade für didaktische Vermittlungskontexte ist eine reine Beschränkung auf funktionale Strukturmerkmale eines Textes zu vermeiden. Nur wenn es gelingt, die Schüler_innen so zu aktivieren, dass sie ausgehend von ihren individuellen Leseimpressionen in eine Kommunikation mit dem Text treten, hypothetisch Verstehensentwürfe an ihm durchspielen, vermag dieser für sie Bedeutung zu gewinnen. Und dann nur können dessen Kunstmittel so in den Blick zu geraten, dass hieraus kein mechanistisches Auflisten, kein ›toter‹ Katalog, sondern eine ›lebendige‹ neue Realisierung wird.

3.2.8.

Die Kommunikationsstruktur literarischer Texte: Wirkungsästhetische Impulse

Wichtige Hinweise hierauf lassen sich der Rezeptionsästhetik Wolfgang Isers entnehmen. In ihrem Mittelpunkt steht die insbesondere didaktisch relevante Frage, wie Prozesse der Sinn- und Bedeutungskonstruktion an die – individuell und kulturell ggf. verschiedenartige – Wirkung des Textes auf die Leser_innen zurückgebunden werden können. Iser fordert, »daß man die alte Frage, was dieses Gedicht, dieses Drama, dieser Roman bedeutet, durch die Frage ersetzen muß, was dem Leser geschieht, wenn er fiktionale Texte durch die Lektüre zum Leben erweckt. Bedeutung hätte dann viel eher die Struktur des Ereignisses; sie ist selbst ein Geschehen«149 – und auch aus dieser Perspektive keine Lösung eines vermeintlichen Problems. Gleichwohl bleibt die Rezeption in diesem Prozess auf das Objekt ›Text‹ zurückbezogen; sie richtet sich aber nicht an der resultativ ausgerichteten Frage aus, was hierin für mögliche Bedeutungen enthalten sind, sondern welche Wirkungen aus ihm hervorgehen. Hiermit ist ein für Unterrichtskontexte wichtiger Ausgleich zwischen zwei Polen gewährleistet: zum einen der Anschluss der »Fremderfahrung der Texte an die eigene Erfahrungsgeschichte«150 , zum anderen eine intersubjektive Vermittlung151 , die ein Abgleiten in subjektive Beliebigkeit verhindert. Sie geht hervor aus der Objektseite, dem Text, insofern er bestimmte Wirkungen aus sich hervorzutreiben vermag, die zu den individuellen Realisierungen in der Lektüre führen. Dies konfrontiert die Leser_innen weiterhin mit literarisch Fremdem und verhindert ein bloßes Überschreiben des Textes mit eigenen Erfahrungsmustern. 149 Iser: Der Akt des Lesens. S. 41. 150 Warning: Rezeptionsästhetik als literaturwissenschaftliche Pragmatik. S. 31. 151 »Selbst wenn man unterstellt, daß jede Rezeption einen hohen Grad subjektiver Prägnanz besitzt, so besagt diese nicht, daß der rezipierte Text in eine privatistische Übergeschichte verschwindet. Denn in der Regel bleibt die subjektive Verarbeitung der Intersubjektivität zugänglich.« (Iser: Der Akt des Lesens. S. 85.) Vgl. zu diesem Verhältnis von individuell konkretisierender Subjektivität und den vom Text gesetzten Bedingungen, die hierfür einen Rahmen bilden, auch Wolfgang Iser: Der Lesevorgang. Eine phänomenologische Perspektive. In: Rainer Warning (Hg.): Rezeptionsästhetik. Theorie und Praxis. S. 253-276. S. 253.

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Literarästhetische Literalität

Für den Literaturunterricht ist die Ausrichtung an der Wirkungsdimension somit aus zwei Gründen zentral: Zum einen wird Schüler_innen ein Zugang vermittelt, der den Text »wie eine Partitur, die zum Mitspielen auffordert, begreift«152 . Zum zweiten können sie ausgehend von ihren individuellen Reaktionen nachvollziehen, »wie ein Text sie lenkt und was er ihnen sagt«, was wiederum den Blick auf die »Bedeutung der Interaktion und des Dialogs«153 im Zuge der Auseinandersetzung mit literarischen Texten lenkt. Dabei macht es aber wenig Sinn, beide Ansätze – formalistisch-strukturalistische und rezeptionsästhetische – gegeneinander auszuspielen, wie dies etwa Lothar Bredella macht.154 Iser selbst schließt ausdrücklich an formalistische und strukturalistischsemiotische Gedanken an155 , richtet diese aber an einer genuin auf den Lektüreakt zugeschnittenen Perspektive aus. Zentral hierbei wird die Art und Weise, wie der literarische Text sich auf außerwie innerliterarische Diskurse oder Gegenstände zurückbezieht: Er »[kapselt] eine ihm vorausliegende Bekanntheit ein[]«, die sich einerseits auf (literarische) Texte oder Traditionslinien, andererseits auf »den sozio-kulturellen Kontext im weitesten Sinne« beziehen kann.156 Im Zuge dessen erfahren die Elemente des Repertoires, so nennt Iser diese aufgegriffenen Elemente, aber keine Abbildung, sondern sie werden im Zuge ihrer Fiktionalisierung zu Auslösern von Interaktionsprozessen, in deren Verlauf sie 152

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Bredella, Lothar: Bildung als Interaktion zwischen literarischen Texten und Leser/innen. Zur Begründung der rezeptionsästhetischen Literaturdidaktik. In: Wolfgang Hallet u. Ansgar Nünning (Hg.): Neue Ansätze und Konzepte der Literatur- und Kulturdidaktik. Trier: Wissenschaftlicher Verlag 2007. S. 49-68. S. 54. Ebd. S. 58f. Vgl. ebd. S. 52f. »[D]ie formalistische Literaturwissenschaft [wendet] sich gegen die bisher angeführten Begründungen für die Lektüre literarischer Texte mit dem Argument […], dass nur der naive, ungebildete Leser sich in Charaktere versetzt und mit ihnen denkt und fühlt, während der literarisch gebildete Leser weiß, dass Charaktere nur aus Buchstaben und Worten bestehen und daher gar nicht denken und fühlen können.« Bredella verkürzt hier letztlich beide Ansätze: Die Verkürzung des Ansatzes der Russischen Formalisten betrifft die Ausblendung ihrer Forderung nach einem aktiven Nachvollzug von Kunst durch die Rezipient_innen, die bis hin zur Eröffnung einer veränderten Wahrnehmung auch des Alltagslebens geht. Das von der Rezeptionsästhetik zugrunde gelegte Verhältnis der Leser_innen zum Text wird Bredella selbst im weiteren Verlauf als stetigen Wechsel von Nähe und Distanz bestimmen, wobei die folgende Aussage: »[…] Distanz ergibt sich nur, wenn man sich vorher identifiziert hat« (ebd. S. 53), nicht nur logisch nicht zwingend ist, sondern auch mit Isers Ansatz kaum vereinbar ist (vgl. unten), auf den sich Bredella ausdrücklich zurückbezieht. (Zum Rekurs auf Iser vgl. ebd.: S. 54f.) So greift er auf Jakobsons Definition der »poetischen Funktion« (vgl. Iser: Der Akt des Lesens. S. 162), die bezüglich der Umorganisation außerliterarischer Kontexte reformuliert wird, sowie auf Ausgangsüberlegungen der semiotisch-strukturalistischen Texttheorie Lotmans zurück, die sich in erster Linie auf die Thematik der Heterogenität des literarischen Textes infolge seiner Konstruktions- und Kompositionsprinzipien beziehen. (Vgl. etwa ebd. S. 109f., 204, 302.) Vgl. hierzu auch Rainer Warning: Rezeptionsästhetik als literaturwissenschaftliche Pragmatik. S. 9f.: »Tatsächlich hat sich […] die Rezeptionsästhetik historisch gerade im Anschluß und auf der Basis eines semiotisch fundierten Kunstbegriffs entwickelt und sie ist seit diesen ihren Anfängen im Prager Strukturalismus von der stürmischen Entwicklung der Semiotik selbst nicht überholt worden.« Iser: Der Akt des Lesens. S. 115.

3. Literarästhetische Spezifika

Transformationen ausgesetzt sind: »Sie sind aus ihrem ursprünglichen Zusammenhang herausgelöst und daher anderer Beziehungen fähig, ohne die alte Beziehung völlig zu verlieren, die ursprünglich durch sie bezeichnet war.«157 Diese von Iser auch als »Vordergrund-Hintergrund-Beziehung«158 bezeichneten Bezüge heben die ehemalig handlungsleitenden Funktionsbestimmungen dieser Kontexte auf, entpragmatisieren sie159 , sodass sie neu durchdacht und »die Defizite der Bezugssysteme aufgedeckt und bilanziert werden«160 werden können. Die Art und Weise, wie der literarische Text hierzu anleitet, erschließt sich dann auf einer zweiten Ebene. Steuern die »Vordergrund-Hintergrund«-Konstellationen die »›Außenbeziehungen‹« des Textes, regelt die Kombinatorik dessen »›Innenbeziehungen‹«, wofür Iser das Begriffspaar von »Thema-Horizont« verwendet. Konkret heißt dies, dass die Aktivität der Leser_innen über sog. Textstrategien so gesteuert werden kann, dass sie fortlaufenden Modifikationen und Korrekturen unterliegt: Verschiedene Figuren, Handlungselemente, Motive, Räume oder dergleichen, die auf außerliterarische Inhalte oder Diskurse anspielen, sind dann in sich wechselseitig kommentierende und dabei verschiebende Perspektiven gesetzt. Die selektierten Elemente des Repertoires unterliegen hierbei einer doppelten perspektivischen Brechung: zum einen durch die bereits angesprochene Entpragmatisierung, zum zweiten durch ihre variable Kombinatorik mit anderen Elementen des Textes; beides bedingt sich wechselseitig.

3.2.9.

Die Prozessualität der Lektüre: Der »wandernde Blickpunkt« (Wolfgang Iser)

Dieser unentwegte Wechsel des Blickpunkts, »wodurch die Segmente der einzelnen Perspektiven bald Thema, bald Horizont werden«161 , steht im Zusammenhang zu einer Besonderheit, die Literatur auszeichnet. Im Gegensatz zu vielen anderen Kunstformen sehen sich die Rezipient_innen – vielleicht mit Ausnahme sehr kurzer lyrischer Formen – keinem konkreten, mit einem gerichteten Erfassungsakt des Bewusstseins zu erschließenden Wahrnehmungsobjekt gegenübergestellt. Literatur ist immer nur »über die Ablaufphasen der Lektüre als ein ›Objekt‹ zu erschließen. Stehen wir dem Wahr157 158 159 160 161

Ebd. Ebd. S. 155. Vgl. ebd. S. 100. Ebd. S. 143. Ebd. S. 165. Iser nennt vier Perspektiven, über die eine »bestimmte Vorsortierung der selektierten Elemente und damit eine erste Kombination des Repertoires erfolgt: Es handelt sich um die Perspektive des Erzählers, die der Figuren, die der Handlung bzw. Fabel (plot) sowie die der markierten Leserfiktion.« (Ebd. S. 163.) Diese Kategorien sind denen des Formalismus und Strukturalismus z.T. verwandt (Iser bezieht im obigen Zitat den deutschen Begriff der Fabel dabei allerdings auf das, was dort im Gegensatz zur Fabel als Sujet begriffen wurde), bleiben dabei aber weniger differenziert und rücken im Vergleich zum oftmals linguistisch fokussierten Ansatz des Strukturalismus stärker die Ebene der Komposition als die der Konstruktion in der Terminologie Lotmans in den Blick. Eine Akzentverlagerung, die sicherlich auch der Tatsache geschuldet ist, dass sowohl im Russischen Formalismus als auch in den Arbeiten Jakobsons vornehmlich lyrische Texte den Ausgangspunkt bildeten, bei Iser hingegen erzählende.

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Literarästhetische Literalität

nehmungsobjekt immer gegenüber, so sind wir im Text immer mitten drin.«162 Die Lektüre ist somit als Prozess zu denken, dessen jeweilige Augenblicke immer nur einen ausschnitthaften Blick auf das Textganze ermöglichen, das somit jede einzelne dieser Stationen übersteigt und sich doch zugleich aus ihnen allererst zusammensetzt. Folge dessen ist, dass die Leser_innen zwangsläufig auf Synthesenbildungen angewiesen sind; sie kommen nicht umhin, Erinnertes und Erwartetes auf den jeweiligen Stand ihres sich stetig verändernden Lektüreprozesses zurückzubeziehen. Dieser steuert sich über zwei Bewusstseinsaktivitäten: Protention und Retention, also aufgebaute Erwartungshaltungen hinsichtlich des künftigen Geschehens und rückwirkend erfolgende Modifikationen mit Blick auf vergangenes Geschehen: Jeder Augenblick der Lektüre ist eine Dialektik von Protention und Retention, indem sich ein noch leerer, aber zu füllender Zukunftshorizont mit einem gesättigten, aber kontinuierlich ausbleichenden Vergangenheitshorizont so vermittelt, daß durch den wandernden Blickpunkt des Lesers ständig die beiden Innenhorizonte des Textes eröffnet werden, um miteinander verschmelzen zu können.163 Beide Operationen lassen sich gut didaktisieren, da sie eine Arbeit am Text ermöglichen, die ihren Ausgang von den jeweiligen Reaktionen der Schüler_innen nimmt und diese dann an die Wirkungsdimensionen der Textgrundlage zurückbinden kann. Vermittels der ersten, der Protentionen, lässt sich an Erwartungen anknüpfen, die aus dem »semantische[n] Richtungsstrahl« einzelner Sätze hervorgehen und die Sichtweisen, in den Worten Isers »Zukunftshorizonte«, entwerfen, vor deren Hintergrund sich das kommende Geschehen konturiert und perspektiviert.164 Da sich die geweckten Erwartungen immer nur bis zu einem gewissen Grad konkretisieren lassen, bilden sie »Leervorstellungen« aus, die gleichsam ein Energiepotential enthalten, das die Aktivität der Leser_innen zur weiteren inhaltlichen Auffüllung aufrechterhält. In der Folge, d.h. beim Verlassen dieses einen Lektüreaugenblicks und dem Fortschreiten zu einem folgenden, werden zuvor aufgebaute Antizipationen entweder bestätigt oder nicht.165 Im zweiten Fall kommt es zur Notwendigkeit der Modifikation oder gänzlichen Aufgabe der ursprünglichen Erwartung.166 Hier greift dann der retentionale Bezug: Das Erinnerte wird vom augenblicklichen Standort des wandernden Blickpunkts aus umgewandelt; es geht neue Beziehungen ein, die den Leser_innen nun erst vor Augen stehen, und erhält somit veränderte Kontexte und ggf. Bedeutungsdimensionen. Zugleich 162

Iser: Der Akt des Lesens. S. 177. Hier wird späterhin allerdings zwischen dem Grad an Involviertheit und von hier aus möglichen unterschiedlichen didaktischen Zugängen und Zielsetzungen im Rahmen von Erst- und Wiederholungslektüre zu unterscheiden sein. 163 Ebd. S. 182f. 164 Vgl. ebd. S. 181f. 165 Vgl. ebd. 166 »[D]ie Modifikation der Erwartung durch die Satzfolge [wird dann] nicht ohne Rückwirkung auf das vorher Gelesene bleiben. Denn dieses nimmt sich nun im Blick auf solche Modifikationen ein wenig anders aus, als es im jeweiligen Augenblick der Lektüre erschienen war.« Iser: Der Akt des Lesens. S. 242.

3. Literarästhetische Spezifika

steuert diese Modifikation der Erinnerungen aber auch die nun ebenfalls abgewandelten Erwartungen.167 Dieses Modell ist auf die Bewusstseinsaktivität der einzelnen Leser_innen ausgerichtet, denn nichts von all diesen Bezügen wird vom Text selbst in dem Sinne vorgegeben, dass sich hier konkrete ›Anleitungen‹ zu den Veränderungen auffinden ließen. Die Leser_innen müssen sich stets neu positionieren, bisherige Hypothesen überdenken, modifizieren oder ganz verwerfen. Hierüber vermag Literatur Sprache zudem als Kommunikationsmedium reflexiv werden zu lassen, denn das »Entwerfen von Beziehung selbst« wird im Verstehensprozess »thematisch«.168 Dies setzt nicht nur ein gewisses Maß an Bereitschaft zur Anstrengung, sondern zunächst einmal den Willen voraus, sich auf diesen Prozess überhaupt einzulassen. Didaktisch liegt die zentrale Herausforderung darin, die Bereitschaft der Lernenden zu wecken, sich in den eigenen Erwartungen an den Text korrigieren zu lassen, um so zugleich die ästhetische Freiheit zu erlangen, auch die eigene Vorstellungswelt und die Bedingungen, zu denen die Textbedeutungen zunächst aufgebaut wurden, ins Spiel kommen zu lassen und zu reflektieren. Literatur wird so zu einer Vorstellungs- und Denkschulung, die erkenntnistheoretisch abgrenzbare andere Formen des Gebrauchs unserer Erkenntnisvermögen schult, als dies bei der bestimmenden Urteilskraft der Fall ist, die in nahezu allen anderen Schulfächern primär ausgebildet wird. Der Einwand, dass Isers Konzept des wandernden Blickpunkts sich ausschließlich auf die Erstlektüre eines Textes bezieht, in der die Leser_innen buchstäblich in das Buch versunken sind, greift zu kurz. Denn die sich verändernde Struktur der Bezüge einzelner Textelemente aufeinander bleibt auch dann erhalten, wenn der Text als Ganzes bereits gelesen ist – vgl. hierzu auch das folgende Teilkapitel.169 Die Gefahr, hier auf den Text ›abschließende‹ Gesamtdeutungen auszugehen, die genau diese irritierenden Momente nicht mehr in sich aufnehmen, ist vielleicht sogar größer als bei einer Auseinandersetzung im Zuge der Erstlektüre. Didaktisch wäre es deshalb wichtig, Schüler_innen verstärkt Gelegenheit zu geben, ihre Eindrücke und Gedanken etwa in Form von Lektüreprotokollen, Lesetagebüchern oder Textvorlagen mit Kommentarspalten auch während des ersten Lektüreprozesses zu artikulieren, um so ästhetische Rezeptionsmodi einzuüben, die auch dann Bestand haben können, wenn man sich auf Grundlage des bereits vollständig gelesenen Textes mit diesem auseinandersetzt. Viele der genuin ästhetischen Denkprozesse werden zudem bereits vor möglichen Verschriftlichungen stattfinden – und so in die Bearbeitung klassischer Analyse- und 167

Die den Lektüreprozess fokussierenden Beobachtungen werden in erster Linie für das in Kapitel 5.2. dieser Arbeit dargestellte didaktische Verfahren der Lektüreprotokolle, das sich an Formen des textnahen Lesens anschließen lässt, relevant. 168 Vgl. Iser: Der Akt des Lesens. S. 140. 169 Die unterschiedliche Perspektive beider Teilkapitel bleibt letztlich eine rein heuristische Differenz. Denn die Art und Weise, wie sich im Verlauf der Lektüre durch den »wandernden Blickpunkt« mentale Modelle aufbauen, greift über auf die Frage der Gestaltbildung. Letztlich sind beide Elemente, die fortschreitende Geschehensstruktur des wandernden Blickpunkts wie die synthetisierende Gruppierungsaktivität der Gestaltbildung aufeinander bezogen und von konstitutiver Relevanz für den Rezeptionsprozess sowohl der Erst- als auch der Wiederholungslektüre(n).

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Interpretationsaufgaben evtl. gar keinen Eingang finden, da Schüler_innen im Rahmen der ihnen vertrauten Ergebnis- resp. Produktorientierung des Unterrichts dem Weg, wie sie zu bestimmten Interpretationen gelangen, selbst keinen Eigenwert zuschreiben, was im Zuge des Kompetenzparadigmas verschärft gilt. Da dieser Weg, auch oder gerade dann, wenn er eher labyrinthischen Strukturen als einer klaren Zielführung folgt, jedoch essentiell für literarisches Textverstehen und das ihm zugrunde liegende Wahrnehmen, Vorstellen und Denken ist, gilt es suchende und tastende Zugänge zum Text, die zunächst einmal vielleicht auch hauptsächlich aus Fragen bestehen, die an ihn gerichtet werden, zu ›honorieren‹. Denn nur so wird sich eine höhere Bereitschaft zeigen, sich auf die Irritationen, Modifikationen und Neuausrichtungen der eigenen Perspektive einzulassen.

3.2.10.

Synthetisierungsaktivitäten: Gestaltbildung

Es bleibt die Frage zu klären, in welcher Form einzelne Textelemente so stetig neu aufeinander bezogen werden können, dass die Leser_innen zu Bewusstseinskorrelaten gelangen, ohne diese so zu verfestigen, dass notwendige Modifikationen verhindert werden. Mit Cornelia Rosebrock lassen sich dabei Parallelen zwischen Rezeptionsästhetik und empirischer Leseforschung konstatieren. Isers Modell des »Bewusstseinskorrelats«, das im Akt der Lektüre entsteht, kennzeichnet in einem Punkt eine auffällige Nähe zu den »mentalen Modellen«, auf denen die empirische Leseforschung aufbaut: »Das mentale Modell wird während des Leseakts selbst fortlaufend mit dem Weiterlesen entwickelt, ergänzt, reduziert usw., es ist also keine starre Vorstellung.«170 Und die von einem der renommiertesten Vertreter der kognitiven Lesepsychologieforschung, Walter Kintsch, festgestellten Besonderheiten literarischer Textverstehensprozesse sind ihrerseits wiederum nicht nur hieran, sondern zugleich auch an die Gedanken Lotmans, der die Heterogenität von Teilelementen als zentrales Konstruktionsprinzip literarischer Texte ausmacht, und Isers Konzept des wandernden Blickpunkts anschließbar: »Bei literarischen Texten spielen Situationsmodelle und Oberflächenstrukturen, die auf mehreren Ebenen liegen und miteinander koordiniert sind, eine wichtige Rolle, wobei der Oberflächenstruktur als einem steuernden Faktor besondere Bedeutung zukommt.«171 Vor dem Hintergrund dieser nachweisbaren Vereinbarkeit literaturtheoretischer Modelle mit Erkenntnissen der zeitgenössischen empirischen Lesepsychologie und Kognitionswissenschaft sollen die Spezifika literarischen Textverstehens im Folgenden, nicht zuletzt aus Gründen der Einheitlichkeit des Modells dieser Arbeit, maßgeblich weiterhin unter Rekurs auf Isers Wirkungsästhetik entwickelt werden. Zumal Kintsch 170 Rosebrock, Cornelia: Literarische Erfahrung mit dem Erlkönig: Ein Blick auf die Prozessebenen des Lesens. In: Gerhard Härle u. Bernhard Rank (Hg.): »Sich bilden, ist nichts anders, als frei werden.« Sprachliche und literarische Bildung als Herausforderung für den Deutschunterricht. Baltmannsweiler: Schneider 2008. S. 89-110. S. 91. 171 Kintsch, Walter: Kognitionspsychologische Modelle des Textverstehens: Literarische Texte. In: Kurt Reusser u. Marianne Reusser-Weyeneth (Hg.): Verstehen. Psychologischer Prozess und didaktische Aufgabe. Bern u.a.: Hans Huber 1994. S. 39-53. S. 39.

3. Literarästhetische Spezifika

expressis verbis die Expertise für diesen Bereich weniger bei der Lesepsychologie als in der Literaturwissenschaft angesiedelt sieht.172 Isers Wirkungsästhetik greift auf den der Phänomenologie entlehnten Begriff der Gestalt zurück. Kurz gefasst beinhaltet er dort die Konstitutionsform gegebener Objekte als Äquivalente in unserem Bewusstsein, die auf einer Organisation einzelner Elemente zu einem in sich konsistenten Ganzen beruht, in dem die Relationen der einzelnen Bestandteile untereinander mitreflektiert sind. Konkret wird der Begriff im Akt des Lesens wie folgt definiert: Die Gestalt als eine konsistente Interpretation erweist sich als ein Produkt, das aus der Interaktion von Text und Leser hervorgeht und daher weder auf die Zeichen des Textes noch auf die Dispositionen des Lesers ausschließlich zu reduzieren ist. Die psycholinguistischen Leseexperimente haben gezeigt, daß Bedeutungen weder über die mittelbare noch über die unmittelbare Decodierung von Buchstaben und Wörtern erfaßt werden können, sondern erst über einen Gruppierungseffekt zu gewinnen sind.173 Dabei ist zu berücksichtigen, dass die Gestalt zwar erst aus den Korrelationen hervorgeht, diese selbst aber nicht abbildet, sondern nur das in einem Äquivalenzverhältnis hierzu stehende Konstrukt der Leser_innen beschreibt.174 Die von ihm gebildeten Beziehungen bleiben jedoch, da sie zugleich auf die Textgrundlage zurückverweisen, keine rein subjektiven Projektionen, sondern dem Anspruch intersubjektiver Vermittelbarkeit ausgesetzt; und zwar auf der reinen Handlungsebene in hohem, auf der Ebene der Sinnzuschreibungen in geringerem Maße.175 Letzteres hängt damit zusammen, dass diese Sinnzuschreibungen in stärkerem Maße auf Selektionsentscheidungen bei der Gestaltbildung beruhen und dass Gestalten nach Kohärenz und Schließung verlangen, den Text somit immer bis zu einem gewissen Grad reduzieren müssen, um zu Hypothesenbildungen zu gelangen. All dies unterscheidet sich von der Lektüre pragmatischer Texte zunächst nicht grundlegend und steht dem ständigen Modifikationsprozess der 172

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»Welches die Strategien sind, die die Konstruktion solch komplexer Modelle [gemeint sind die für literarisches Textverstehen notwendigen mehrschichtigen Situationsmodelle] erlauben, ist ja gerade das, was Literaturwissenschaftler studieren. Die Kognitionswissenschaft hat dazu nichts Eigenes beizutragen: sie beschäftigt sich allein mit der strategischen Konstruktion von Situationsmodellen; der sachliche Inhalt dieser Modelle jedoch und die Art der dazu benötigten Strategien sind bereichsspezifisch.« Ebd. S. 49f. Iser: Der Akt des Lesens. S. 194. Belke/Leder haben in ihren empirischen Studien zu Wahrnehmungs- und Kognitionsprozessen im Kontext ästhetischer Erfahrungen diese Grundannahmen weitgehend bestätigt, beziehen sich hierbei allerdings primär auf optisch wahrnehmbare Objekte: »Weiterhin kann ›Grouping‹ (Zusammenfügen von Information) als grundlegender Mechanismus auf dieser Stufe angenommen werden: Gestaltpsychologen haben verschiedene Prinzipien, sog. Gestaltgesetze, vorgeschlagen, die der Organisation visueller Eindrücke zugrunde liegen und zu mehr oder weniger ›guten Gestalten‹ führen können. Nach Arnheim werden ›gute Gestalten‹ auch ästhetisch stärker präferiert.« Belke/Leder: Annahmen eines Modells der ästhetischen Erfahrung aus kognitionspsychologischer Perspektive. S. 5. Auch dies deckt sich, bezieht man mit Rosebrock die Gestalten als Bewusstseinskorrelate auf den Begriff des mentalen Modells aus der Lesepsychologie, in den für diese Arbeit relevanten Punkten mit Erkenntnissen der kognitionspsychologischen Leseforschung. Vgl. hierzu die Ausführungen in Kapitel 1.2.2. dieser Arbeit. Vgl. Iser: Der Akt des Lesens. S. 201.

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Lektüre gemäß der Theorie des »wandernden Blickpunkts« entgegen; folglich bedarf es weiterer hierauf aufbauender Prozesse, will man zu einem Modell genuin ästhetischen Textverstehens gelangen. Und so unterscheidet Iser letztlich drei Phasen der Gestaltbildung, die von anfänglicher Geschlossenheit des Konzepts zu dessen Modifikation und schließlich zur Gestaltsprengung verlaufen. Die erste Phase der Rezeption ist geprägt durch den Versuch, Vereindeutigungen durch Selektion (sowohl des signifikanten Materials als auch möglicher Sinnzuschreibungen) zu erzielen. Dabei werden Spannungen zwischen den die Gestalt bildenden Elementen ab- und so Kohärenz aufgebaut.176 Da dieser Prozess von den subjektiven Dispositionen und Erwartungen der Leser_innen abhängt, kommt dem ein illusionärprojektiver Charakter zu.177 Folglich geht die Konsistenzbildung immer auf Kosten der Offenheit und Polyvalenz des Textes – »dem Grad ihrer Geschlossenheit entspricht der Illusionsanteil«178 . Es gibt also eine gewisse Notwendigkeit, bei der Texterfassung zunächst mit illusionsgesteuerten geschlossenen Gestalten zu operieren – was didaktisch bedeutet, dass Lernende diese Phase zunächst notwendig durchlaufen müssen und mit ihren ggf. die Komplexität des Textes nicht abbildenden Äußerungen weiterzuarbeiten ist; andernfalls verliert der Leseprozess auch diesbezüglich notwendige Grundlagen. Entscheidend werden nun aber zwei Dinge: die Reflexion dieser Illusionsanteile seitens der Leser_innen, die nur so auf die eigenen Bedingungen ihres Verstehensprozesses aufmerksam und sich möglicher Ausblendungen bewusst werden können, und die Bereitschaft zur Modifikation der Gestalten. Hierauf nimmt die zweite Phase Bezug: Wo in der ersten durch den Versuch, qua Selektion Kohärenz herzustellen, ein ständiger »Möglichkeitsüberschuss« erzeugt wird, der aber nicht realisiert wird, greift die zweite Phase genau auf diesen zurück. Auslöser, die zunächst gebildeten Gestalten einer Revision zu unterziehen, sie aufzubrechen, sind sog. »›alien associations‹, die sich über die stabilisierten Gestalten lagern und diese soweit zu irritieren vermögen, daß sie in die Schwebe geraten und dadurch eine Umorientierung der Erfassungsakte bewirkt« werden kann. Die Dinge präsentieren sich so »›in einem anderen Licht‹«179 , verschiedene Textstrategien – sowohl auf der Ebene der histoire (wie der Fortgang der Handlung oder Entwicklungen von Figuren) als auch der des discours (wie ein Fokalisierungswechsel in der erzählerischen Vermittlung oder Anaresp. Prolepsen) – lösen Perspektivwechsel aus, in deren Folge sich auch die mentalen Bewusstseinskorrelate verändern, da die Konsistenz der Gestaltbildung immer wieder gestört wird. Der Rezeption wird zunehmend eine Geschehensdimension eingeschrieben, die sich durch eine Dialektik von »Illusionsbildung und Illusionsdurchbrechung« auszeichnet.180 Vom Text zunächst geweckte Erwartungen werden durchkreuzt, den Le176 177

Vgl. ebd. S. 202. Zwar sei die Konsistenzbildung selbst »kein Vorgang der Illusion, wohl aber realisiert sich die Konsistenzbildung in der Folge von Gestaltgruppierungen, die insofern ein illusionäres Moment besitzen, als die durch sie jeweils vorgestellte Ganzheit – vor allem, wenn diese ein Produkt der Selektionsentscheidungen ist – nicht ein Charakteristikum des Textes, sondern bereits die Repräsentation einer Sinnkonfiguration darstellt.« Ebd. 178 Ebd. S. 203. 179 Ebd. S. 207. 180 Vgl. ebd. S. 208.

3. Literarästhetische Spezifika

ser_innen eröffnen sich neue Erkenntnisse. Gerade hierüber werden sie stärker in den Text involviert, denn »wir reagieren im Lesen auf das, was wir selbst hervorgebracht haben, und dieser Reaktionsmodus erst macht es plausibel, weshalb wir den Text wie ein reales Geschehen zu erfahren vermögen.«181 Diese Reaktion verlagert sich in der dritten Phase, welche bereits in der zweiten potentiell mit angelegt ist, von einer inhaltlichen auf eine strukturelle Disposition. Die Modifikation der Gestalt, die darauf gründete, dass alternative Möglichkeiten durchgespielt werden, kann nun nicht nur in dem Sinne greifen, dass eine Gestalt durch eine andere abgelöst wird, sondern indem die kohärente Bildung der Gestalten selbst gesprengt und in der Folge von »Ambiguitäten« durchzogen wird. Solche nicht auf der Textebene zu suchenden, sondern im Gestaltbildungsprozess selbst anzusiedelnden Ambiguitäten »funktionieren als Antriebsenergie«182 , da sie den Text nunmehr offenhalten für neue Anschlüsse, in denen die Gestalten nicht – wie in der zweiten Phase – durch Modifikation umgearbeitet werden, sondern gleichsam als Ganzheit von innen her bereits ihr eigenes Potential zum Aufbrechen der Geschlossenheit enthalten. Gestalten bilden zu müssen, um Zeichenbeziehungen identifizieren zu können und sie angesichts mangelnder Integrationsleistung selbst wieder zum Kippen zu bringen, läßt den Erfassungsakt als eine Kettenreaktion von Gestaltsprengungen verlaufen. In solchen Fällen wird die für das Erfassen notwendige Konsistenzbildung dazu benutzt, den Leser selbst Diskrepanzen erzeugen zu lassen.183 Dies bewirkt zugleich, dass »der Leser die Unzulänglichkeit der von ihm erzeugten Gestalten selbst gewärtigen kann und folglich in eine latente Distanz zu seiner eigenen Beteiligung am Text gerät, so daß er sich in einer fremd gelenkten Tätigkeit zu beobachten, wenigstens aber zu sehen vermag«184 . Diese Überlegungen korrelieren der im zweiten Kapitel für das ästhetische Wahrnehmen und Verstehen herausgearbeiteten Struktur einer bewussten Beobachtung der eigenen mentalen Aktivität. Denn den Leser_innen wird es im Zuge der Gestaltsprengung möglich, ihre Konstruktionen beim Bedeutungsaufbau zu reflektieren, und sich so »im Vorgang der Beteiligung selbst wahrnehmen zu können«, was für Iser »ein zentrales Moment ästhetischer Erfahrung [bildet]; es gewährt einen eigentümlichen Zwischenzustand: man sieht sich zu, worin man ist.«185 Da die Leser_innen hierbei ihre eigene Konstruktionsleistung zu reflektieren vermögen, kann ästhetische Erfahrung ihr bisheriges Erfahrungssystem umstrukturieren, ggf. neu ausrichten, bisherige Ansichten als Illusionen reflektieren helfen. Didaktisch relevant werden diese Gedanken primär hinsichtlich zweier Punkte: zum einen mit Blick auf Prozesse der Modifikation und somit des Geschehenscharakters des Textverstehens, der Schüler_innen ein Bewusstsein dessen vermitteln kann, was Spinner unter dem Postulat »[s]ich auf die Unabschließbarkeit des Sinnbildungsprozesses einlassen« 181 182 183 184 185

Ebd. S. 210. Ebd. S. 211. Ebd. S. 213, Hervorhebung C. B. Ebd. S. 218. Ebd.

179

180

Literarästhetische Literalität

zu den elf Aspekten literarischen Lernen zählt.186 Und zum zweiten hinsichtlich einer Reflexion dessen im Sinne transzendentaler Selbstbeobachtung, die die Grundlagen eigener Verstehensmodelle bewusst machen kann.

3.3.

Zusammenführung: (Literar-)Ästhetische Kompetenz(en) – ein Widerspruch?!

Vor dem Hintergrund der im diesem und im vorhergehenden Kapitel erarbeiteten Voraussetzungen und Besonderheiten ästhetischer wie literarästhetischer Rezeption kann die im ersten Kapitel begonnene Auseinandersetzung mit dem Kompetenzbegriff nun in Form eines Zwischenfazits abgeschlossen werden.

3.3.1.

Spiel der Erkenntnisvermögen vs. finale kognitive Überformung

Wenn der Begriff des Ästhetischen selbst bereits in seiner Herleitung aus dem griech. aisthesis auf die zentrale Rolle der Wahrnehmung verweist und sich ästhetische Rezeption im engeren, d.h. von pragmatisch-funktionaler Auffassung unterschiedenen, Sinne mit Kant als »Spontaneität im Spiele der Erkenntnisvermögen«187 von Einbildungskraft und Verstand begreifen lässt, dann führt dies auf einen ersten zentralen Punkt hin, der die notwendige Ergänzung des Kompetenzparadigmas nach Weinert verdeutlicht: Eine letzte Ausrichtung ästhetischer Lernprozesse am Kompetenzbegriff kann deshalb nicht zielführend sein, weil er ihrer Grundstruktur inadäquat ist. Bereits bei Kant angelegt und im Rahmen der Ästhetik Menkes entfaltet zeigt sich, dass ein stetiger Wahrnehmungsrekurs und eine hierüber modifizierte Vorstellungsbildung auf das zugrunde liegende signifikante Material sowohl in Form von Selektionen als auch verknüpfenden Relationen für ästhetische Verstehensprozesse konstitutiv ist. Mit dem Ziel der Lösung eines bestimmten Problems hebt die Kompetenzorientierung aber gerade auf finalisierte Begriffsbildungen – bzw. hieraus hervorgehende weitere mentale Operationen, die in Handlungen im weitesten Sinne münden – ab. Hierüber werden verschiedene Ebenen, die für ästhetische Lernprozesse unabdingbar sind, nicht mehr erreichbar: Die Schulung genauer Wahrnehmung mag noch im Rahmen von kompetenzbasierten Lernarrangements möglich sein, da sich argumentieren lässt, dass dies oftmals auch hier die Grundlage für weitere Schritte ist. Eine Selbstreflexion dieser Wahrnehmung wird aber schon schwerer möglich, denn eine hieraus abgeleitete Modifikation und Variation von Wahrnehmungsperspektiven wird sich nur dann einstellen, wenn man aufgrund der zunächst gewählten zu keiner Lösung kommt – dem käme dann aber nur die Funktion einer Fehlerkompensation zu und es bildete keinen Zweck in sich selbst. Genau dies ist in ästhetischen Lernprozessen aber notwendig zu vermitteln, da nur hierüber eine veränderte Perspektive auf das Objekt möglich wird. 186 Spinner: Literarisches Lernen. S. 12. 187 Kant: Kritik der Urteilskraft. S. 109.

3. Literarästhetische Spezifika

Zugleich verändert sich der Modus der Wahrnehmung: Fokussiert wird die Sprache in ihrer Materialität resp. Gestalt(ung) und nicht nur in ihrer Funktion als medialer Träger eines decodierbaren Inhalts. Gleiches kann für die Ausbildung von Vorstellungen und Imaginationen behauptet werden, denen nicht nur eine instrumentelle Funktion für die abschließende Begriffsbildung, von der sie absorbiert werden, zukommt. Nur so kann das von Kant als konstitutiv gedachte Spiel der Erkenntnisvermögen von Einbildungskraft und Verstand als Kennzeichen der Prozessualität ästhetischen Verstehens überhaupt in Gang kommen, was ein kompetenzorientierter Ansatz nicht abzubilden vermag.188

3.3.2.

Zweckfreiheit und Genuss vs. Leistungsorientierung

Mit dem Kompetenzbegriff geht nicht nur die Outputorientierung und der hiermit verbundene Anspruch einer Messbarkeit von Ergebnissen einher, sondern auch die Ausrichtung an Leistungsdispositionen.189 Dass bereits in der etymologischen Wurzel von Kompetenz das lat. competere enthalten ist, dem die Bedeutung »miteinander wetteifern, konkurrieren« zukommen kann, spiegelt dies ebenso wie die prominente Verwendung des Begriffs in militärischen Diskursen.190 Hieraus resultiert ein weiteres Spannungsfeld mit Blick auf ästhetische Lernprozesse. Das, was das Schöne in der Philosophie Kants kennzeichnet, ist keine Eigenschaft eines Objekts, die es zu erkennen gilt, sondern ein Zustand, den dieses im betrachtenden Subjekt auszulösen vermag. Die hiermit verbundene »Lust« am Schönen beruht auf der Möglichkeit, etwas genießen zu können, wobei diesem Gefühl nicht nur bloße »Sinnenempfindung«, sondern immer auch eine hierauf bezogene Reflexion zugrunde liegt.191 Eine Form der Reflexion allerdings, die gerade nicht funktional auf eine Leistung oder einen konkurrierenden Wettbewerb mit anderen ausgerichtet ist, sondern ihren Zweck in sich selbst findet. Schule hat die Aufgabe, jungen Menschen solche Formen des Genusses zu eröffnen und zugänglich zu machen. Das in den allgemeinen Menschenrechten der Vereinten Nationen verankerte »Recht auf Bildung« zielt ausdrücklich »auf die volle Entfaltung der menschlichen Persönlichkeit«. Der unmittelbar hierauf folgende Paragraph 28 konkretisiert dies u.a. im Hinblick auf Kunst: »Jeder hat das Recht, am kulturellen Leben der Gemeinschaft frei teilzunehmen, sich an den Künsten zu erfreuen und am wis188 Vgl. Fiebich, Peggy: Das Verschwinden des Textes hinter dem Kontext. Oder: warum und wie Abituraufgaben unvorhersehbare Deutungen verhindern. In: dies. u. Sigrid Thielking (Hg.): Literatur im Abitur – Reifeprüfung mit Kompetenz? Bielefeld: Aisthesis 2010. S. 87-117. S. 101. Vgl. hierzu auch Boelmann: Unproduktive Denkrahmen. S. 297. 189 Dies hebt die Klieme-Expertise ausdrücklich hervor: »Der hier verwendete Begriff von ›Kompetenzen‹ ist daher ausdrücklich abzugrenzen von den aus der Berufspädagogik stammenden und in der Öffentlichkeit viel gebrauchten Konzepten der Sach-, Methoden-, Sozial- und Personalkompetenz. Kompetenzen werden hier verstanden als Leistungsdispositionen in bestimmten Fächern oder ›Domänen‹.« Vgl. Klieme u.a.: Zur Entwicklung nationaler Bildungsstandards. S. 22. 190 Vgl. Gunia, Jürgen: Kompetenz. Versuch einer genealogischen Ideologiekritik. In: Textpraxis 8 (2012), H. 1. www.uni-muenster.de/Textpraxis/sites/default/files/beitraege/juergen-guniakompetenz.pdf (Abrufdatum 05.12.2017). 191 Vgl. Kant: Kritik der Urteilskraft. S. 240.

181

182

Literarästhetische Literalität

senschaftlichen Fortschritt und dessen Errungenschaften teilzuhaben.«192 Verbindliche Aufgabe des Menschenrechts auf Bildung wird es so, einen dem Gegenstand angemessenen Umgang mit Kunst zu ermöglichen, was im Rahmen eines Kompetenzparadigmas, das Leistungsdispositionen zur Lösung bestimmter Problemstellungen, nicht aber die Ausbildung einer Genussfähigkeit zum Ziel hat, nicht denkbar ist. Der Modus, in dem die Begegnung mit Kunst seitens der Charta der UN angedacht ist, liegt nicht weit von Kants Ästhetik: Es ist die Freude, der Genuss, die Lust an der Kunst (im Englischen heißt es: »to enjoy the arts«193 ). Zumindest innerhalb des funktional-kognitiven Kompetenzbegriffs lässt sich eine ›Genusskompetenz‹ aber nicht denken194 , da dies beide Begriffe, den der Kompetenz und des Genusses, in Selbstwidersprüche verwickelte. Dies betrifft auch und gerade den Literaturunterricht195 , stehen doch Literaturwissenschaft und Literaturdidaktik in der Nähe der Kunstwissenschaften und ihrer Pädagogiken: Das Anliegen aller Kunst ist die Eröffnung von Zugangsmöglichkeiten zu den symbolisch überhöhten Bedeutungsräumen einschließlich ihrer vieldeutigen orientierenden bis hin zu ihren irritierenden oder gar verstörenden Dimensionen.196

3.3.3.

Responsive vs. instruktive Subjektivität

Ästhetische Rezeptionsprozesse verändern die Rolle, die dem Lernenden selbst zukommt. Es stellt sich die Frage, ob es hier primäres Ziel sein kann, »prinzipiell 192

Allgemeine Erklärung der Menschenrechte: Resolution 217 A (III) der Vereinten Nationen vom 10. Dezember 1948. www.un.org/depts/german/menschenrechte/aemr.pdf (Abrufdatum 20.10.2017). Vgl. zur näheren Konkretisierung dieses Gedankens auch den »Leitfaden für kulturelle Bildung« der UNESCO aus dem Jahr 2006: »Damit Kinder und Erwachsene umfassend am kulturellen und künstlerischen Leben teilnehmen können, müssen sie künstlerische Ausdrucksformen durch Mitmenschen, meistens KünstlerInnen genannt, die verschiedene Aspekte der Existenz und Koexistenz erforschen und ihre Erkenntnisse mitteilen, nach und nach verstehen, schätzen und erfahren lernen. Das Ziel besteht darin, allen Menschen gleiche Chancen auf kulturelle und künstlerische Aktivitäten zu geben. Kulturelle Bildung sollte ein verpflichtender Teil allgemeiner Bildung sein. Auch kulturelle Bildung sollte also gezielt erfolgen und über einen Zeitraum von mehreren Jahren angeboten werden, weil es sich dabei um einen Langzeitprozess handelt.« UNESO/Organisation der Vereinten Nationen für Bildung, Wissenschaft, Kultur und Kommunikation: Leitfaden für kulturelle Bildung (Road Map for Arts Education). UNESCO-Weltkonferenz für kulturelle Bildung: Schaffung kreativer Kapazitäten für das 21. Jahrhundert Lissabon, 6.-9. März 2006. S. 5. www.unesco.at/bildung/kulturbildung_roadmap_de.pdf (Abrufdatum 20.10.2017). 193 Vgl. Article 27 der Universal Declaration of Human Rights der UN. www.ohchr.org/EN/UDHR/ Documents/UDHR_Translations/eng.pdf (Abrufdatum 26.01.2018). 194 Vgl. Kepser, Matthis: Anmerkungen zur Kompetenzorientierung in der Literaturdidaktik. In: Daniela A. Frickel, Clemens Kammler, Gerhard Rupp (Hg.): Literaturdidaktik im Zeichen von Kompetenzorientierung und Empirie. Perspektiven und Probleme. Stuttgart: Fillibach 2012. S. 67-84. S. 74. 195 Vgl. Thielking, Sigrid: Turmgesellschafter und Kompetenzvermittler: Konturen des Literaturunterrichts nach der PISA-Studie. In: Ulf Abraham u.a. (Hg.): Deutschdidaktik und Deutschunterricht nach PISA. Freiburg: Fillibach 2003. S. 121-134. S. 129. Thielking plädiert diesbezüglich für ein Angebot »zur Ausbildung sensualistischer Genussfähigkeit« literarischer Texte. 196 Härle: »… und am Schluss weiß ich trotzdem nicht, was der Text sagt«. S. 29f.

3. Literarästhetische Spezifika

erlernbare, mehr oder minder bereichsspezifische Kenntnisse, Fertigkeiten und Strategien«197 als Kompetenz zu erwerben. In diesem Fall wären instruktive didaktische Vermittlungswege sinnvoll, in denen die Schüler_innen angeleitet werden, bestimmte Operationen nach und nach selbständig durchzuführen, um zu einer Problemlösung zu gelangen. Die Verstandeskräfte werden hier im Dienste einer bestimmten Sache eingesetzt, die selbst nicht eigentliches Ziel der Übung ist, sondern eben der hierüber sich vollziehende Kompetenzerwerb. Im Zuge der Aktivierung einer ästhetischen Auseinandersetzung muss dem lernenden Subjekt aber die Möglichkeit gegeben werden, sich so zu dem Gegenstand zu verhalten, wie dieser sich ihm infolge der hierüber ausgelösten individuellen Realisierungen jenes Spiels der Verstandeskräfte präsentiert. In der Medizin wird mit dem Begriff der Responsivität die Empfindlichkeit der Reaktion eines bestimmten Organs auf äußere Einflüsse verstanden. Nimmt man dies als Bild, so lässt sich hieran der zentrale Unterschied zwischen ästhetischen und funktionalen Lernprozessen deutlich machen: Ziel muss es bei ersteren zunächst sein, eine solche Empfindlichkeit, eine Sensibilisierung überhaupt herzustellen. Nur so lässt sich ein Prozess in Gang bringen, der das Subjekt zu einer Reaktion befähigt, in der es nicht nach einer Lösung strebt, sondern in ein Verhältnis zu sich selbst zu treten vermag, in dem es sich an einem Spiel, das es selbst an sich beobachtet, zu erfreuen lernt und/oder verschiedenartig hierüber ausgelösten Gedanken, Vorstellungen oder Gefühlen Ausdruck verleiht. Dies kann auch zu einer Hinterfragung vermeintlich sicherer Überzeugungen führen und sich so zu einer Erfahrung des Fremden bzw. einer fremden Erfahrung ausweiten. Nicola Mitterer gründet ihren literaturdidaktischen Begriff der Responsivität hierauf: »Responsivität in diesem Sinne trägt vielmehr die Paradoxie eines Antwortens in sich, das die Fragen, die der Text aufwirft, wahrnimmt und auf diese nicht nur reagiert, sondern sich vor allem von diesen ergreifen und den hermeneutischen Prozess von diesen vorantreiben lässt.«198 Die paradoxe Struktur dieser Antwort weist darauf hin, dass es den Lernenden möglich wird zu erkennen, dass sie nicht nur in Form erworbener Kompetenzen auf ihre Umwelt in den jeweiligen Handlungszusammenhängen adäquat reagieren, sondern diesen selbst etwas entgegenstellen können, etwas, das gerade nicht in Mustern von Problemlösungen aufgeht und so im Rahmen von Selbstbildungsprozessen eine Form ästhetisch begründeter Autonomie zu etablieren vermag. Hierin gründen etwa die auch für die Gegenwart noch in vielen Fällen relevanten Konzeptionen romantischer Subjektivität199 – und es ist gleichermaßen erstaunlich wie beängstigend, wenn bildungspolitische Entwürfe einer Schule des 21. Jahrhunderts diese hinter funktional gedachten Modellen von Subjektivität, vielleicht sogar ungewollt, zum Verschwinden zu bringen drohen. 197 Baumert/Stanat/Demmrich: PISA 2000. S. 22. 198 Mitterer: Das Fremde in der Literatur. S. 13. Mitterer verwendet den Begriff unter Rekurs auf Bernhard Waldenfels, der eine spezifische Form von Responsivität als konstitutiv für den »Umgang mit dem Fremden« ansieht, worunter hier auch das ästhetische Rezipieren selbst verstanden werden kann. Es handelt sich dabei um eine responsive Form, die »über jede Intentionalität und Regularität des Verhaltens hinausgeht in Form einer eigentümlichen Antwortlogik«. Waldenfels: Topographie des Fremden. S. 52. 199 Vgl. etwa Taylor: Quellen des Selbst.

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184

Literarästhetische Literalität

Johannes Odendahl spezifiziert diesen Gedanken hinsichtlich des Verständnisses von allgemeiner Lesekompetenz in der PISA-Studie. Seine Argumentation verfolgt das Ziel nachzuweisen, dass dieses Konzept letztlich darauf angelegt ist, sich gesellschaftlichen Abläufen qua Selbstoptimierung bestmöglich anzupassen, um an ihnen teilnehmen zu können. Analog dazu, wie das Verhältnis von Ich und Welt hier keines der wechselseitigen Beeinflussung ist, denke das Modell auch die Interaktion von Text und »lesende[m] Subjekt. Dieses eignet sich den Text verstehend an, nutzt ihn, reflektiert über ihn und lässt ansonsten den Text Text sein.«200 Isers Rezeptionsästhetik konnte detailliert nachweisen, dass ein solches Modell für den Umgang mit Literatur nicht zielführend sein kann – und zwar aus genau den Gründen, die den Unterschied von responsiver und instruktiver Subjektivität betreffen. Der literarische »Akt des Lesens« ist eine Tätigkeit, etwas, was die Leser_innen in stetigem Rekurs auf die Textvorlage zu veränderten Perspektiven führt, zur Ausgestaltung unterschiedlicher Vorstellungen und Sinnkonstruktionen und so idealiter auch zu einer Auseinandersetzung mit seinen eigenen Voraussetzungen und Modalitäten des Verstehens. Bettina Hurrelmanns Kritik am PISA-Modell von Lesekompetenz geht in eine ähnliche Richtung; sie spricht davon, dass ihm – und den Bildungsstandards – »nicht nur eine deskriptive Sicht auf aktuelle gesellschaftliche Anforderungen […], sondern auch eine normative Orientierung« zugrunde liege: »In erster Linie ist mit der Lesekompetenz hier nämlich eine Qualifikation gemeint, die die Berufsfähigkeit des gesellschaftlichen Nachwuchses bestimmt. Entsprechend wird die Schule hier primär als Zulieferer von Qualifikationen für das ökonomische System wahrgenommen […].«201 Festhalten lässt sich, dass literarisches Lesen somit sowohl hinsichtlich seiner mentalen Aktivierung als auch seiner möglichen Bedeutungen für die Schüler_innen komplexeren Strukturen folgt, als es sich im Rahmen eines outputorientierten und ergebnisfokussierten Verständnisses von Kompetenz denken lässt.202 Ein konkreter, unmittelbarer Nutzen wird nur in manchen, und für die heutige Literatur eher seltenen, Fällen hieraus zu ziehen sein, und die Reflexion geht nicht darin auf, eigene Qualifikationsziele, etwa eine »›Informationsverarbeitungskompetenz‹« im Textverstehen203 , zu erreichen, wie dies bei PISA oder in der Klieme-Expertise im Sinne von Selbstoptimierung im Vordergrund steht. 200 Odendahl: Lesen, Kompetenz und Bildung. S. 107. 201 Hurrelmann, Bettina: Literalität und Bildung. In: Andrea Bertschi-Kaufmann u. Cornelia Rosebrock (Hg.): Literalität. Bildungsaufgabe und Forschungsfeld. Weinheim, München: Juventa 2009. S. 2142. S. 31. 202 Vgl. auch Wintersteiner: Poetisches Verstehen als fachdidaktische Herausforderung. S. 34f., der diese Form des subjektiven Involviertseins auf die Ermöglichung ästhetischer Erfahrung zurückbezieht, in der das Ziel des Literaturunterrichts gesehen werden müsse: »Der Akt der Teilhabe an der ästhetischen Erfahrung ist daher das A und O des Literaturunterrichts.« und Wintersteiner folgert: »Die Qualität des Poesie-Unterrichts kann und soll überprüft und ständig verbessert werden, aber sie lässt sich nicht auf ein ›Outcome‹ von Schüler_innenleistungen reduzieren.Der Prozess der Beschäftigung mit Poesie ist ebenso wichtig wie sein vorgebliches Resultat, der so genannte Kompetenzerwerb: Wir sind, was wir tun sollte die Devise lauten statt Der Sinn unseres Tuns ist das, was wir abliefern.« 203 Vgl. Thielking: Turmgesellschafter und Kompetenzvermittler. S. 121.

3. Literarästhetische Spezifika

3.3.4.

Individuelle Kombinatorik vs. allgemeine Anwendungsregeln

Weit vor dem Beginn der Diskussion um kompetenzorientierten Literaturunterricht kommt der Literaturwissenschaftler Rolf Geißler in seinem 1977 publizierten Aufsatz Die Wiedergewinnung der historischen Dimension im Literaturunterricht zu folgendem Schluss: Das Ziel des Literaturunterrichts kann […] nicht die Gewinnung einer poetischen Kompetenz sein, da Kompetenz gerade auf die vorgegebenen Elemente und Regeln zielt, die gleichsam feststehend zur Herstellung unbegrenzter Bedeutungsstrukturen dienen. Kunstwerke dagegen sind je neu, nicht nur im Sinne der unendlichen Kombinierbarkeit, sondern gerade auch in den Kombinationsregeln und damit im Kompetenzbereich selbst.204 Geißler rekurriert offenkundig auf den Begriff einer sprachlichen Kompetenz, wie er von Noam Chomsky entwickelt wurde. Ihm liegt die Unterscheidung von Kompetenz und Performanz zugrunde. Kompetenz bedeutet hier, dass ein Sprecher, der über eine begrenzte Zahl von zur Verfügung stehenden Phonemen oder Graphemen und Regeln zu deren Verknüpfung verfügt, auf dieser Grundlage dann auf der Ebene der Performanz eine potentiell unendliche Zahl konkreter sprachlicher Äußerungen tätigen kann, die für einen Hörer, der ebenfalls über dieses Inventar und dessen Verknüpfungsregeln verfügt, verständlich sind.205 Auch wenn die gegenwärtig im Bildungsdiskurs relevante Kompetenzdefinition sich mit diesem Begriff nicht vollständig deckt, da aufgrund der Output-Orientierung Kompetenz hier aus der Perspektive der Performanz im Sinne Chomskys begriffen wird,206 ist die Grundstruktur verwandt: Ziel ist die Vermittlung von Dispositionen, die in verschiedensten Situationen zur Anwendung gebracht und erfolgreich eingesetzt werden können. 204 Geißler, Rolf: Die Wiedergewinnung der historischen Dimension im Literaturunterricht. In: Marja Rauch u. Achim Geisenhanslüke (Hg.): Texte zur Theorie und Didaktik der Literaturgeschichte. Stuttgart: Reclam 2012. S. 259-269. S. 266. 205 Vgl. Chomsky, Noam: Aspekte der Syntax-Theorie. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1969. S. 14f.: »Wir machen […] eine grundlegende Unterscheidung zwischen Sprachkompetenz (competence; die Kenntnis des Sprecher-Hörers von seiner Sprache) und Sprachverwendung (performance; der aktuelle Gebrauch der Sprache in konkreten Situationen). […] Die Unterscheidung, die ich hier vermerke, ist verwandt der Saussureschen Trennung in langue – parole; es ist jedoch notwendig, von Saussures Begriff der langue als lediglich einem systematischen Inventar von Einheiten abzugehen und zurückzugehen auf das Humboldtsche Verständnis der zugrunde liegenden Kompetenz als einem System generativer (›erzeugender‹) Prozesse.« 206 Vgl. hierzu Wiprächtiger-Geppert, Maja: Literarisches Lernen in der Förderschule. Eine qualitativempirische Studie zur literarischen Rezeptionskompetenz von Förderschülerinnen und -schülern in literarischen Unterrichtsgesprächen. Baltmannsweiler: Schneider 2009. S. 57-67. WiprächtigerGeppert macht deutlich, dass der Rückschluss von der Performanz auf die Kompetenz nicht zwingend ist (denn es gibt eine Vielzahl von Gründen, die Schüler_innen daran hindern können, ihre grundlegend vorhandene Kompetenz auch in Performanz zu überführen; Prüfungsangst, Verständnisschwierigkeiten der Aufgabe oder fehlende Motivation bilden eine kleine Auswahl hiervon). Vgl. ähnlich auch Boelmann: Unproduktive Denkrahmen. S. 300f.

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Literarästhetische Literalität

Es sind gleich zwei Punkte, auf die Geißler hinsichtlich der Problematik des Transfers eines solchen Kompetenzbegriffs auf literarisches Lernen hinweist. Sie sind im Verhältnis von rezipierendem Subjekt und literarischem Objekt einmal vom Subjekt, ein zweites Mal vom Objekt her zu denken. Mit letzterem sei begonnen: Jede Form von kompetenzorientierter Herangehensweise neigt dazu, qua Abstraktion von den konkreten Inhalten des jeweiligen Gegenstands, mit dem man sich auseinandersetzt, eine Art ›Kompetenz-Substrat‹ herauszufiltern, das über Transferleistungen auch auf eine beliebig hohe Zahl vergleichbarer Gegenstände beziehbar sein soll. Damit geht zwangsläufig die jeweilige Individualität des konkreten Objekts verloren. Was sich im Fall der Vermittlung einer allgemeinen Sprachkompetenz (wie auch einer Kompetenz etwa zur Berechnung der Fallgeschwindigkeit oder Anwendungsaufgaben zu den binomischen Formeln) durchaus als vorteilhaft erweist, muss in der Auseinandersetzung mit Literatur zumindest hinsichtlich der Bestimmung ihrer ›letzten Ziele‹ scheitern:207 Es hieße nämlich, dass sich der Unterricht etwa mit E.T.A. Hoffmanns Der Sandmann vor allem deshalb befasst, weil hieran die Erzähltechnik des unzuverlässigen Erzählens eingeübt werden soll. Das hört sich nicht nur abstrus an, es wäre ein sicherer Weg, um Schüler_innen auch die letzte Motivation im Literaturunterricht zu rauben. Dem Erwerb solcher Kompetenzen, hier einer Bestimmung von Erzähltechniken, ähnliches ließe sich aber auch für Gattungswissen, literaturgeschichtliche Kontextualisierungen etc. behaupten, kann immer nur eine dienende Funktion für andere Ziele zukommen208 ; in diesem Fall etwa für die Frage, wie hierüber das »Unheimliche als [eine] Wirkungsfunktion«209 des Textes etabliert wird, inwiefern es den Leser_innen so gerade nicht möglich wird, letztgültige Lösungen für bestimmte Fragen zu finden, die die Erzählung aufwirft, in welchem Bezug die Erzähltechnik zu Konzeptionen romantischer Poetologie oder Entwürfen von Subjektivität steht, und inwiefern eine solche Unzuverlässigkeit bzw. Ambiguität menschliches Wahrnehmen und Denken per se auszeichnet. Eine Reflexion hierüber kann dann wiederum bildungsrelevante Auswir207 Vgl. Zabka: Was ist Hochschulreife im Umgang mit Literatur? S. 144, der Vergleichbares am Beispiel unterschiedlicher Erkenntnisinteressen von Kunstwissenschaftlern und Biologen ausführt: »Ein Biologe interessiert sich für die individuelle Musterung von Kühen höchstens in Bezug auf die Frage, inwiefern diese Form von Individualität exemplarisch ist für etwas Allgemeines, etwa für den Evolutionsvorteil […]. Vertieft sich der Biologe in die Musterung einer individuellen Kuh, so könnten ihn die Kollegen seiner Zunft mit vollem Recht für einen Ochsen halten. [/] Kunstwissenschaftler dürfen zweifellos auch wie Biologen handeln und das einzelne Werk als bloßes Exemplar einer Art untersuchen, doch die Erkenntnis dessen, was die Musterung des individuellen Bildes ausdrückt, ist nicht unwissenschaftlich, sondern zählt im Gegenteil zum Kernanliegen unserer Disziplinen.« 208 Vgl. ebd.: »Auch aus der Sicht der neueren Hermeneutik sind Epochen-, Autoren- und Gattungskonzepte sowie das Kontextwissen über sozialhistorische, ideengeschichtliche und andere Entstehungsbedingungen nicht der primäre Erkenntnisgegenstand, sondern ein wichtiges Mittel zum Zweck, und dieser Zweck ist die Erkenntnis dessen, was das einzelne Kunstprodukt als einen besonderen Ausdruck eines besonderen Inhalts auszeichnet.« 209 Walter, Jürgen: Das Unheimliche als Wirkungsfunktion. Eine rezeptionsästhetische Analyse von E.T.A. Hoffmanns Erzählung »Der Sandmann«. In: Mitteilungen der E.T.A. Hoffmann-Gesellschaft 30 (1984). S. 15-33.

3. Literarästhetische Spezifika

kungen nicht nur mit Blick auf erkenntnistheoretische Fragen, sondern auch ethischmoralische Urteile haben. Zum zweiten macht Geißlers Kritik aber auch deutlich, dass die konkrete Anwendung erlernter Kompetenzen sich seitens der Schüler_innen in literarischen Lernprozessen ganz anders gestaltet als, um bei diesem Beispiel zu bleiben, bei den binomischen Formeln. Denn wenn sich Literatur mit Lotman gesprochen durch die »Aufeinanderfolge funktionell heterogener Elemente«210 auszeichnet, dann hängt es vom je konkreten Lektüreakt der Rezipient_innen ab, welche sie auswählen und wie sie diese in ihrem Zusammenspiel und ihren Funktionen aktualisieren.211 Die eine schematisch anwendbare Kompetenz, das eine Inventar an Elementen und Regeln gibt es hier gerade nicht, und es kann dergleichen auch gar nicht geben, weil andernfalls eine der zentralen Regeln, denen Kunst folgt, gebrochen wäre: Dass sie nämlich, wie Kants Kritik der Urteilskraft deutlich macht, nur strukturell vergleichbare Rezeptionsprozesse auslöst, die in ihren jeweiligen inhaltlichen Realisierungen individuell aber höchst verschieden ausfallen können. Dies heißt für den Literaturunterricht zwar nicht, dass literarische Gestaltungselemente wie die Erzähltechnik nicht vermittelt werden müssten, um sie für Schüler_innen wahrnehmbar und benennbar zu machen, hier gilt aber im Unterschied zu mathematisch-naturwissenschaftlichen Fächern, dass die Ausbildung solcher Kompetenzen im Sinne von skills nie das eigentliche Unterrichtsziel werden kann, da in diesem Fall der literarische Gegenstand selbst verfehlt würde. Denn sowohl vom Gegenstand her gedacht als auch von den Formen seiner subjektiven Aneignung kommt man an folgender Beobachtung Peter Szondis nicht vorbei: »Texte geben sich als Individuen, nicht als Exemplare.«212

3.3.5.

Text- und rezipientenspezifische Anforderungen vs. hierarchisch gestufte Kompetenzniveaus

Kompetenzmodellen liegt die Annahme zugrunde, dass der Erwerb von Kompetenzen bestimmten Entwicklungs- und Niveaustufen folgt. Der Begriff der Lesekompetenz in der PISA-Studie unterscheidet etwa zwischen fünf »Kompetenzstufen« auf den drei Subskalen, wobei davon ausgegangen wird, dass mit dem Erreichen einer bestimmten Stufe im Allgemeinen auch alle Anforderungen der darunter liegenden Stufen erfüllt werden können.213 Die Problematik, dass die Anforderungen hinsichtlich ein und dergleichen Kompetenzstufe je nach Text, auf den diese angewendet werden sollen, höchst unterschiedlich ausfallen können, ist zwar kein Alleinstellungsmerkmal literarischer Texte, sondern gilt auch für Sachtexte.214 Im Falle literarischer Texte verschärft sich dies aber: Legt man Stufungen eines Kompetenzmodells zugrunde, wie es Schil210 Lotman: Die Struktur literarischer Texte. S. 393. 211 Vgl. Fiebich: Das Verschwinden des Textes hinter dem Kontext. S. 100f. 212 Szondi, Peter: Über philologische Erkenntnis. In: ders.: Schriften, Band I. Hg. v. Jean Bollack u.a. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2011. S. 263-286. S. 274f. 213 Vgl. Artelt u.a.: Lesekompetenz. S. 88f. 214 Vgl. ebd. S. 88.

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Literarästhetische Literalität

cher/Dürr hinsichtlich der »Überstrukturiertheit poetischer Texte«215 entwickelt haben, dann wird etwa das dem Primarstufenbereich zugewiesene »Niveau 1«216 : »Rekurrenz auf phonetischer Ebene erkennen und beschreiben können (Alliteration, Wortwiederholung, Reim, Metrik)«217 bei dem hier herangezogenen Beispiel eines Kindergedichts von James Krüss (Henriette Bimmelbahn) in der Tat für Grundschulkinder der dritten oder vierten Klasse ansatzweise lösbar sein. Soll diese Kompetenz jedoch auf ein Gedicht Paul Celans oder eine Hymne Friedrich Hölderlins Anwendung finden, dürfte es mit einer untersten Niveaustufe nicht viel gemein haben. Umgekehrt wird das höchste Niveau 4, das die Autorinnen den Jahrgangsstufen 11 und 12 vorbehalten wollen, (»Unterschiedliche Sekundärkodes in ihrer Leistung beschreiben können [Phonetik, Syntax, Rhetorik]; Mythologie als Sekundärkode interpretieren können«218 ) in der Anwendung auf die hier herangezogene Erzählung Tod in Venedig von Thomas Mann wahrlich eine Herausforderung für Schüler_innen sein (die auch Studierende nicht immer bewältigen würden), in seiner Anwendung auf ein Kindergedicht dürfte es aber unter dem Anforderungslevel liegen, welches das Niveau 1 bei komplexen Texten bildet; auch wenn diese vor dem Hintergrund mythologischer Folien lesbar sind. Sinnvolle Abgrenzungen von Niveaustufen, die rein auf der Ebene von Kompetenzen liegen, werden so kaum möglich – und auch die Annahme, dass hierarchieniedrigere Kompetenzen bei Nachweis einer hierarchiehöheren Kompetenz in der Regel beherrscht werden, ist problematisch, weil der Faktor, den das Objekt, auf das die Kompetenz angewendet werden soll, eine zu große Rolle spielt. Dies führt auf eine zweite, literarspezifische Problematik hinsichtlich solcher Niveaustufungen, und sie betrifft die individuelle Performanz.219 Diese ist im Falle der Anwendung etwa eines physikalischen Gesetzes genormt, hier gibt es nur ein ›gelöst‹ oder ›nicht gelöst‹, allenfalls ein ›gelöst bis zu einem gewissen Punkt oder Grad‹. Man kann es aber nicht simpel oder komplex anwenden, sondern nur so, wie es nun einmal anzuwenden ist. Anders im Falle literarischer Kompetenzen: »Unterschiedliche Sekundärkodes in ihrer Leistung beschreiben können (Phonetik, Syntax, Rhetorik); Mythologie als Sekundärkode interpretieren« ist in höchst unterschiedlicher Art und Weise möglich. Schüler_innen können sich auf sehr auffällige, rasch erschließbare Textmerkmale beschränken, mit denen sie weiterarbeiten, oder dies auf eher versteckte, nicht leicht erkennbare ausweiten. Gleiches gilt für die Sekundärcodes, auf die der Text hin gelesen wird. Sie können sich auf augenfällige, ggf. vom Text selbst genannte Spuren beziehen oder auf erst nach aufwendiger Forschungsarbeit nachweisbare Zusammenhänge. Im Schulkontext gilt: »Die ›Schwierigkeit‹ der Aufgabe wächst hier nicht mit dem 215 216

217 218 219

Vgl. Schilcher/Dürr: Überstrukturierung poetischer Texte: Metrik, Rhetorik, Mythologie. Vgl. hierfür die für alle Beiträge des Bandes maßgebliche Bestimmung der Niveaustufe in Anita Schilcher u. Markus Pissarek: Zur Konzeption dieses Bandes. In: dies (Hg.): Auf dem Weg zur literarischen Kompetenz. Ein Modell literarischen Lernens auf semiotischer Grundlage. Baltmannsweiler: Schneider 2013. S. 5-7. S. 6. Schilcher/Dürr: Überstrukturiertheit poetischer Texte. S. 114. Ebd. S. 125. Vgl. Fiebich: Das Verschwinden des Textes hinter dem Kontext. S. 108.

3. Literarästhetische Spezifika

operationalisierbaren Kompetenzgrad; eher schon zeigt sich die Ausprägung der Kompetenz daran, wie schwer sich der Proband die Lösung der Aufgabe gemacht hat.«220

3.3.6.

Fragen aufwerfen vs. Probleme lösen

Dies weist auf einen weiteren Punkt, an dem der Kompetenzbegriff nicht mit einer gegenstandsgerechten Vermittlung von Literatur zusammenkommen kann, und betrifft den Aspekt der erfolgreichen Problemlösung, auf den hin er konzipiert ist und der sich bereits in der kanonisch gewordenen Definition von Weinert findet.221 Mit Ausnahme der Definition von Heiner Willenberg222 teilen sämtliche für die Bildungspolitik relevanten Fassungen des Kompetenzbegriffs diesen Punkt.223 Gänzlich hierauf zugespitzt wird er in den Bildungsstandards im Fach Deutsch für die Allgemeine Hochschulreife, wenn es unter Rekurs auf die Bildungsstandards der Kultusministerkonferenz. Erläuterungen zur Konzeption und Entwicklung der Kulturministerkonferenz aus dem Jahr 2005 heißt: »Unter einer Kompetenz wird dabei die Fähigkeit verstanden, Wissen und Können in den jeweiligen Fächern zur Lösung von Problemen anzuwenden.«224 220 Odendahl, Johannes: Poetische Funktion und literarisches Lernen. Unveröffentlichtes Vortragsmanuskript im Rahmen der von Sigrid Thielking ausgerichteten deutsch-polnischen Tagung zu literarästhetischem Lernen an der Leibniz Universität Hannover am 18.11.2015. 221 Vgl. Weinert: Vergleichende Leistungsmessung in Schulen – Eine umstrittene Selbstverständlichkeit. S. 27f. 222 Willenbergs Definition lautet wie folgt: »Eine Kompetenz zu besitzen heißt, Fähigkeiten zu entwickeln, die von der Person auf neue Situationen eigenständig übertragbar sind.« Heiner Willenberg: Wie und wie weit kann man Textverstehen durch Testaufgaben erfassen? In: Juliane Köster, Will Lütgert und Jürgen Creutzburg (Hg.): Aufgabenkultur und Lesekompetenz. Deutschdidaktische Positionen. Frankfurt a.M.: Peter Lang 2004. S. 19-32. S. 19. 223 Vgl. etwa die Definition der Bildungsstandards der Kultusministerkonferenz, die zwar den Begriff der Problemlösung vermeidet, faktisch mit dem Verständnis im Sinne einer »Disposition zur Bewältigung bestimmter Anforderungen« (Bildungsstandards der Kultusministerkonferenz. Erläuterungen zur Konzeption und Entwicklung. S. 16) aber auf Vergleichbares abhebt, oder die folgende Begriffsfassung nach Klieme u.a., die Kompetenzen als »Systeme aus spezifischen, prinzipiell erlernbaren Fertigkeiten, Kenntnissen und metakognitivem Wissen« bestimmen, »die es erlauben, eine Klasse von Anforderungen in bestimmten Alltags-, Schul- oder Arbeitsumgebungen zu bewältigen« (Eckhard Klieme u.a.: Problemlösen als fächerübergreifende Kompetenz – Konzeption und erste Resultate aus einer Schulleistungsstudie. In: Zeitschrift für Pädagogik, 47 [2001] H. 2, 179-200. S. 182). In der zwei Jahre später der Öffentlichkeit vorgestellten Klieme-Expertise wird dann zwar ein offenerer Begriff von Kompetenz entwickelt, der hinsichtlich seiner möglichen Realisierung und inneren Widersprüchlichkeit innerhalb dieser Konzeption allerdings, wie im ersten Kapitel dieser Arbeit aufgezeigt wurde, auch wieder infrage gestellt werden muss. Dort heißt es: »›Kompetenzen beschreiben […] solche Fähigkeiten der Subjekte, die auch der Bildungsbegriff gemeint und unterstellt hatte: Erworbene, also nicht von Natur aus gegebene Fähigkeiten, die an und in bestimmten Dimensionen der gesellschaftlichen Wirklichkeit erfahren wurden und zu ihrer Gestaltung geeignet sind, Fähigkeiten zudem, die der lebenslangen Kultivierung, Steigerung und Verfeinerung zugänglich sind, so, dass sie sich intern graduieren lassen, z.B. von der grundlegenden zur erweiterten Allgemeinbildung; aber auch Fähigkeiten, die einen Prozess des Selbstlernens eröffnen, weil man auf Fähigkeiten zielt, die nicht allein aufgaben- und prozessgebunden erworben werden, sondern ablösbar von der Ursprungssituation, zukunftsfähig und problemoffen.« Klieme u.a.: Zur Entwicklung nationaler Bildungsstandards. S. 65. 224 Bildungsstandards im Fach Deutsch für die Allgemeine Hochschulreife. S. 5.

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Literarästhetische Literalität

Die Definition Weinerts ist vor dem Hintergrund der Kognitionspsychologie zu lesen. Hier »versteht man unter einer gelungenen Problemlösung das Erreichen eines exakt zu beschreibenden Zielzustandes, etwa die richtige Lösung einer PISA-Aufgabe. Im Kontext von literarischen Rezeptions- und Produktionsaufgaben ist eine solche Zieldefinition aber bekanntermaßen schwierig vorzunehmen.«225 Dies rührt daher, dass sich Literatur zunächst einmal darüber auszeichnet, dass sie viel eher Fragen nach möglichen Bedeutungen aufwirft und auf Probleme hinweist, als dass sie diese löst226 ; oder, in einer Formulierung Roland Barthes’: »What do things signify, what does the world signify? All literature is this question, but we must immediately add, for this is what constitutes its speciality, literature is this question minus its answer.«227 Eine Argumentation, die darauf entgegnete, dass man genau dies ja kompetenzorientiert vermitteln könne, ließe sich innerhalb der Grenzen der oben dargelegten Kompetenzbegriffe nicht mehr verorten. Denn Kompetenz bedeutet hier, sich in einer vorgegebenen Handlungs- oder Entscheidungssituation so zu verhalten, dass eine bestimmte Anforderung bewältigt, eine spezifische Frage oder ein Problem gelöst werden kann. Jürgen Gunia weist in seiner kritischen Auseinandersetzung mit dem Kompetenzbegriff darauf hin, dass bereits dieser Situationsbegriff, und desto mehr der Anspruch einer Bewältigung, der Komplexität von Situativität in der literarischen Textrezeption nicht gerecht wird. Er zieht die Philosophie Sartres hinzu, der den Begriff der Situation ausgehend von einer Grundbedingung menschlicher Existenz, nämlich ihrer Hineingeworfenheit, als »die totale Faktizität, die absolute Kontingenz der Welt, meiner Geburt, des Platzes, meiner Vergangenheit, meiner Umgebung, der Tatsache meines Nächs225 Kepser: Anmerkungen zur Kompetenzorientierung in der Literaturdidaktik. S. 74. Vgl. hierzu auch Bernhard Rank u. Christoph Bräuer: Literarische Bildung durch literarische Erfahrung. In: Gerhard Härle u. Bernhard Rank (Hg.): »Sich bilden, ist nichts anders, als frei werden.« Sprachliche und literarische Bildung als Herausforderung für den Deutschunterricht. Baltmannsweiler: Schneider 2008. S. 63-87. S. 65: »Ein solcher Kompetenzbegriff [der Weinerts] zielt aufgrund seiner Herkunft und Konstruktion auf eine Psychometrie literarischer Erfahrung; er erfasst, auch im Medium des Literarischen, nur die als messbar definierten Fähigkeiten, Fertigkeiten und Dispositionen. Alle anderen Erfahrungen mit und durch Literatur bleiben in diesem Kontext unberücksichtigt, so etwa das Vergnügen oder Staunen.« 226 Vgl. Fiebich: Das Verschwinden des Textes hinter dem Kontext. S. 108f. 227 Barthes, Roland: The last word on Robbe-Grillet? In: ders.: Critical essays. Evanston: Northwestern University Press 1972. S. 197-204. S. 202. Vgl. hierzu auch das Konzept eines »philosophierenden Literaturunterrichts«, wie es Jens Birkmeyer in seinem Artikel Was sind gute Lernaufgaben? Die verborgene Relevanz von Fragen im Literaturunterricht (In: Volker Frederking u. Axel Krommer [Hg]: Taschenbuch des Deutschunterrichts. Bd. 3: Literatur- und Mediendidaktik. Baltmannsweiler: Schneider 2014. S. 757-778) unter Rekurs auf das folgende Zitat Slavoj Žižeks entwickelt: »Ein wahrer Philosoph beantwortet keine Fragen, sondern sieht die Welt bereits voller Antworten. Seine Aufgabe ist es, die Fragen zu erfinden, die uns die Welt als Antwort erkennen lassen. Die Welt ist nicht ein Rätsel, für das wir die Antwort noch finden müssen. Antworten gibt es mehr als genug, Fragen sind das wahre Rätsel.« Slavoj Žižek: Philosophie heute. Die Philosophen Alain Badiou und Slavoj Žižeks im Dialog. www.3sat.de/page/?source=/scobel/132829/index.html (Abrufdatum 17.12.2015).

3. Literarästhetische Spezifika

ten«228 fasst. Die Relevanz dieses existentialphilosophischen Exkurses für die Literatur wird deutlicher, wenn man sich die Art und Weise ins Bewusstsein ruft, wie in der Wirkungsästhetik Isers die Verstrickung der Leser_innen während ihrer Lektüre in den Text gedacht ist. Der zuvor erläuterte Begriff des »wandernden Blickpunkts« macht plausibel, wie sehr auch den Leser_innen ein souveräner, handlungsmächtiger Überblick über die Situation verwehrt bleibt, er vielmehr stetig neu aus veränderten Perspektiven in das Geschehen und die sich jeweilig verändernde Situativität der Lektüre hineingezogen und so dazu veranlasst wird, bisherige Verstehenskonstrukte (und somit auch sich selbst als deren Urheber) infolge der sog. alien associations infrage zu stellen. Insofern ließe sich von hier aus, also vom literarischen Akt des Lesens her, eine Reflexionsbereitschaft initiieren, die nicht nur bei ihrem Gegenstand stehen bleibt, sondern von hier aus auch eine biographische, bildungswirksame Bedeutung erlangt. Nur: Genau hierfür erweist sich der Weinert’sche Kompetenzbegriff als denkbar ungeeignet – ist er doch gerade nicht auf die Ausbildung eines Bewusstseins der unabweisbaren Notwendigkeit, in von Kontingenz geprägten Situationen responsiv flexibel agieren zu können geprägt, sondern nur auf deren funktionale Bewältigung hin ausgerichtet. Dies verhindert von Beginn an eine Sensibilisierung und Offenheit für Irritationen229 , für den Versuch, sich selbst oder die Gegebenheiten der Situation kritisch zu durchdenken und zu reflektieren, um ggf. die Faktoren ihrer Genese zu verändern. Ästhetische Rezeptionsprozesse können genau hierzu befähigen, da sie, wie in den zitierten Passagen Herta Müllers deutlich wurde, außerhalb des literarischen Raumes gültige Handlungsdeterminanten außer Kraft setzen und so deren kritische Perspektivierung ermöglichen. Hier schließt sich der Bogen zu dem oben aufgeführten Aspekt eines weniger auf Antworten denn auf die Vermittlung einer Fragehaltung abzielenden Literaturunterrichts. Begreift man mit den Russischen Formalisten Literatur als etwas, das über die sprachlichen Techniken der Deautomatisierung viel eher Probleme aufwirft, »von deren Vorhandensein wir oft erst durch sie erfahren«230 , als solche löst, dann kann diese Dimension ästhetischen Lernens didaktisch nur fruchtbar gemacht werden, wenn die Auseinandersetzung hieran anknüpft.231 Dies zielt aber gerade nicht darauf, diese Irritationen umgehend wieder durch eingeübte Kompetenzen in den Zustand einer befriedigenden Lösung zu überführen, sondern sie eben nicht stillzustellen, zu ›erledigen‹, um mit und an ihnen weiter produktiv zu arbeiten und so eher weitere Fragen als (vor)schnelle Antworten erschließen zu können.232 Auch hier lässt sich einwenden, ob 228 Sartre, Jean-Paul: Das Sein und das Nichts. Versuch einer phänomenologischen Ontologie. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Taschenbuch. 12. Auflage 2006. S. 943. Vgl. Gunia: Kompetenz: Versuch einer genealogischen Ideologiekritik. S. 8. 229 Vgl. Gunia: Kompetenz. Versuch einer genealogischen Ideologiekritik. S. 10. 230 Lösener, Hans: Die Präzisierung von Subjektivität beim literarischen Lernen. In: Leseräume. Zeitschrift für Literaralität in Schule und Forschung 2 (2015), H. 2, S. 72-84. S. 74. 231 Vgl. hierzu Sigrid Thielking, die diese »Artikulation von Differenz« als didaktischen Zugangsweg zu literarischen Texten mit den kompetenzorientiert ausgerichteten Aufgabenformaten der PISAStudie als unvereinbar ansieht: »Denn das übliche Nachfragen, Einsprechen, Austauschen […] sind für ein offenes, tastendes Verstehen unumgänglich, das sieht das Test-Format aber nicht vor.« Thielking: Turmgesellschafter und Kompetenzvermittler. S. 126. 232 Vgl. Fiebich: Das Verschwinden des Textes hinter dem Kontext. S. 109.

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Literarästhetische Literalität

dies nun wiederum nicht auch eine Kompetenz sei. Jens Birkmeyer gibt darauf folgende Antwort: »Fragehorizonte versiert zu erschließen ist dann wohl eher eine Dimension der schöpferischen und geistigen Atmosphäre von Lernarrangements, aber nicht einer [sic!] der vermeintlichen Problemlösungskompetenz.«233

3.3.7.

Imagination und (Selbst-)Reflexion vs. Output-Orientierung und Messbarkeit

Eine letzte Problematik betrifft die mit dem Kompetenzbegriff einhergehende Outputorientierung und die hiermit wiederum zusammenhängende Notwendigkeit einer Messbarkeit der Leistungen. Spinner beginnt seine mittlerweile kanonisch gewordene kompetenzorientierte Aufstellung der elf Aspekte literarischen Lernens mit der Vorstellungsbildung.234 Wenn er hierzu ausführt, dass die »imaginative Vergegenwärtigung sinnlicher Wahrnehmungen […] ein grundlegender Aspekt (literar)ästhetischer Erfahrung«235 sei, dann erstaunt nicht nur, dass innerhalb eines kompetenzorientierten Ansatzes am Begriff ästhetischer Erfahrung festgehalten wird (denn eine Kompetenz hierzu ließe sich kaum mehr formulieren und kann im Rahmen des Modells eigentlich auch nicht gedacht werden, da sie seinen funktional-instrumentellen Ansatz überschreitet), sondern auch, dass gerade mit der Vorstellungsbildung begonnen wird. Dies lässt sich nur darüber erklären, dass sie bei Spinner stets im Mittelpunkt stand und er seinen Begriff literarischen Lernens von hier aus entwickelte – denn ihre Anbindung an den Kompetenzbegriff ist kaum möglich. Und Spinner stellt sich dieser Herausforderung in seinen Ausführungen zur Vorstellungsbildung auch nicht mehr weiter – wie der gesamte Artikel den Kompetenzbegriff zwar zugrunde legt, aber kaum theoretisch ausschärft.236 Das Grundproblem betrifft die Tatsache, dass die Ausbildung der eigenen Imaginationswelt (ähnlich wie die übergeordnete Kategorie ästhetischer Erfahrung) kaum 233 Birkmeyer, Jens: Die Bedingungen der Möglichkeiten literarischen Lernens – Anmerkungen zu Kaspar Spinners Thesen. In: Leseräume. Zeitschrift für Literalität in Schule und Forschung 2 (2015), H. 2, S. 28-45. S. 40. 234 Der Aufsatz mit dem Titel »Literarisches Lernen« führt den Kompetenzbegriff als »Verbindungsglied zwischen den Begriffen Literatur und Lernen« an und hebt den hierüber hergestellten »Bezug zu den Bildungsstandards« hervor. Spinner: Literarisches Lernen. S. 6f. 235 Ebd. S. 8. 236 Ausdrücklich – auch vor dem Hintergrund der teils vehementen Kritik an Spinner in dem diesem Artikel eigens gewidmeten Band der online-Zeitschrift Leseräume (2. Jahrgang 2015, Heft 2. Hg. v. Hans Lösener) – gesagt sei an dieser Stelle, dass insbesondere gemessen an dem Zeitpunkt und dem Ort seiner Publikation der Artikel eine überzeugende Zusammenstellung verschiedener Aspekte einer gegenstandsadäquaten Auseinandersetzung mit Literatur im Unterricht bietet. Umfassende theoretische Rahmungen, sowohl einzelner Begriffe (wie dem der Kompetenz, aber auch dem der ästhetischen Erfahrung) als auch des Gesamtkonzepts, konnten im Rahmen eines kurzen Basisartikels der Zeitschrift Praxis Deutsch kaum geleistet werden und waren auch nicht das Ziel. Vgl. Kaspar H. Spinner: Elf Aspekte auf dem Prüfstand. Verbirgt sich in den elf Aspekten literarischen Lernens eine Systematik? In: Leseräume. Zeitschrift für Literaralität in Schule und Forschung 2 (2015), H. 2, S. 88-94. S. 88. http://leseräume.de/wp-content/uploads/2015/10/lr-20151-spinner.pdf (Abrufdatum 30.08.2017).

3. Literarästhetische Spezifika

operationalisierbar, geschweige denn in Testformaten messbar erscheint.237 Auch stellt sich die Frage nach einer genauen didaktischen Vermittlung dieser Kompetenz: »Sollen Vorstellungen konkreter werden oder sollen sie näher am Text sein? Stehen didaktische Maßnahmen zur Verfügung, wenn ein Schüler keine Vorstellungen entwickelt?«238 Der Schluss, den Schilcher/Pissarek aus diesen rhetorischen Fragen ziehen, nämlich einerseits darauf zu verweisen, dass »wer Literatur genießen will, […] Vorstellungen entwickeln [muss] und die Schule […] auch Raum für solche Erfahrungen schaffen [muss]«, andererseits aber implizit deutlich zu machen, dass hierfür im Rahmen eines Kompetenzmodells kaum Platz sei (»Ob sie [die Schule] diese [Erfahrungen] gezielt weiterentwickeln kann und soll, ist fraglich.«239 ), bleibt angreifbar. Denn die Argumentation, dass Kompetenzmodelle für den Umgang mit Literatur entwickelt werden müssen, obgleich eine ganze Reihe von Aspekten – man kann sagen: die wesentlichen! – sich in diesem Rahmen nicht abdecken lassen240 , ist unbefriedigend und läuft Gefahr, im Rahmen eines teaching to the test gerade die für ästhetische Lernprozesse grundlegenden Elemente aus dem Unterricht zu eskamotieren. Viele Anforderungen im Literaturunterricht erfordern eine kreative Problemlösung, z.B. das Verfassen einer Parallelgeschichte oder die Gestaltung eines Standbildes, das eine bestimmte literarische Situation erfassen soll. Interessanterweise scheuen wir uns schon in der Alltagssprache, im Zusammenhang mit kreativen Fähigkeiten von ›Kompetenzen‹ zu reden.241 Doch auch unabhängig hiervon stellt sich die Frage, ob das, was Schilcher/Pissarek an strukturalistisch-semiotischen Kompetenzen im Umgang mit Texten erarbeiten, auf Grundlage des entwickelten Mehrebenenmodells ästhetischer Rezeption überhaupt realisierbar ist: Denn die kognitiven Prozesse drohen ›leerzulaufen‹, wenn sie keine Rückkoppelung an die Vorstellungswelt der Schüler_innen finden und sich von hier aus neu dynamisieren. 237 Vgl. Kepser: Anmerkungen zur Kompetenzorientierung in der Literaturdidaktik. S. 75. Vgl. zu einer auch weitere Punkte einbegreifenden Kritik der elf Aspekte Spinners mit Blick auf deren kompetenzorientierte Umsetzbarkeit: Kammler: Literarische Kompetenzen – Standards im Literaturunterricht. Anmerkungen zum Diskussionsstand. S. 19f. 238 Schilcher/Pissarek: Zum Begriff der Kompetenzorientierung und seiner Anwendung im Bereich literarischen Lernens. S. 12. Auf die sich hinter dieser Frage verbergende Kritik hat Spinner im Übrigen durchaus eine Antwort bereit: »Es gilt […], im Verlauf der Schuljahre die kindliche Intensität der Vorstellungsbildung zu erhalten und einer zunehmenden Differenzierung, Flexibilität und textorientierten Genauigkeit zuzuführen.« (Spinner: Literarisches Lernen. S. 8.) 239 Ebd. S. 12f. 240 »Aspekte, die zwar wichtige Bestandteile der Auseinandersetzung mit Literatur sind, sich jedoch im Unterricht nicht prozessorientiert entwickeln lassen, sind im Rahmen unseres Kompetenzmodells nicht berücksichtigt. Das bedeutet jedoch nicht, dass sie nicht ein wichtiger Bestandteil des Literaturunterrichts sein sollen und müssen, wie dies im Rahmen der Kompetenz- und Operationalisierungsdebatte immer wieder gefordert wird (vgl. z.B. Anselm 2009; Abraham 2 2008). Aufgabe des Literaturunterrichts muss neben der Vermittlung literarästhetischen Wissens immer auch [sic!], Literatur als Handlungsfeld von individueller, sozialer und kultureller Bedeutsamkeit erfahrbar zu machen (vgl. Hochreiter u.a. 2009:9).« Schilcher/Pissarek: Zum Begriff der Kompetenzorientierung und seiner Anwendung im Bereich literarischen Lernens. S. 13. 241 Kepser: Anmerkungen zur Kompetenzorientierung in der Literaturdidaktik. S. 75f.

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Literarästhetische Literalität

Diese Gefahr wird umso relevanter, je mehr man sich weitere Ebenen anschaut, die ästhetische Lernprozesse auszeichnen können und die ebenso wenig wie die der Vorstellungsbildung outputorientiert dokumentierbar sind. So ist ein auf kritische Selbstreflexion und die für ästhetische Rezeption charakteristische Ausbildung einer Wahrnehmung, Imagination und Kognition ›zweiter Ordnung‹, die ein Wahrnehmen des Wahrnehmens, Imaginieren und Denkens beinhaltet, gerichtetes Lernen kaum in Aufgabenstellungen zu bringen, die sich mit den der Outputorientierung angeschlossenen Paradigmen von Mess- und Testbarkeit verbinden lassen. Spinner reflektiert diesen Punkt in seinen elf Aspekten literarischen Lernens mit Blick auf die ›Kompetenz‹ »Subjektive Involviertheit und genaue Wahrnehmung ins Spiel bringen« sehr wohl: »Die didaktisch-methodische Umsetzung dieses Teilaspekts des literarischen Lernens wird durch die Tatsache erschwert, dass er kaum überprüfbar ist; es handelt sich um individuelle Prozesse, die nicht direkt beobachtbar sind und für die die Schülerinnen und Schüler auch den Schutz der Intimität beanspruchen dürfen.«242 Sigrid Thielkings Postulat, dass sich »im Literaturunterricht […] mehr ereignen [muss] als das, was von ihm gemessen werden kann«243 , kann sich nicht nur auf die Individualität und Unbeobachtbarkeit dieser Prozesse berufen; auch der mit Outputorientierung verbundene Anspruch, diese unmittelbar zeitlich abrufbar zu halten, ist zu problematisieren. Gerade hinsichtlich der Bildungsziele, die sich auf diesem Gebiet erreichen lassen, sind prä-/post-Studien nicht valide. Denn oftmals werden solche Erfahrungen erst Monate oder Jahre nach der Auseinandersetzung mit dem Text bewusst oder wirksam.244 Zudem sind sie auch hinsichtlich der Zeiträume, die den Lernprozess selbst betreffen, nicht in kurzer Zeit vermittelbar, was etwa für den Nachvollzug von Fremdperspektiven gilt: »Heranwachsende erwerben sich erst in einem langen Prozeß das Verständnis für fremde Erfahrungsperspektiven […].«245

242 Spinner: Literarisches Lernen. S. 9. 243 Thielking: Turmgesellschafter und Kompetenzvermittler. S. 129. 244 Bettina Hurrelmann greift diesen Punkt im Rahmen einer Argumentation auf, die den Nachweis unternimmt, dass das Kompetenzparadigma mit dem Bildungsbegriff – verstanden als »ein ganzheitlicher, lebenslanger Prozess, der sich der empirischen Analyse nach Einzeldimensionen und der Beschreibung in Kurzzeitmaßen prinzipiell entzieht« – nicht vereinbar ist. Hurrelmann: Literalität und Bildung. S. 36. 245 Spinner, Kaspar H.: Entwicklungsspezifische Unterschiede im Textverstehen. In: ders. (Hg.): Identität und Deutschunterricht. Göttingen: Vandenhoeck 1980. S. 33-50. S. 41.

4. Grundzüge eines Modells literarästhetischer Literalität

Die vorhergehende Bestimmung zentraler Charakteristika (literar)ästhetischer Rezeptionsprozesse hat nachgewiesen, weshalb sie in wesentlichen Punkten nicht im Rahmen des Kompetenzparadigmas vermittelt werden können. Nun soll ein Modell entwickelt werden, das diese Spezifika literarischen Lernens aufgreift und einbezieht. Da der literacy-Begriff in der deutschsprachigen Diskussion im Rahmen der kompetenzorientierten Wende seitens der PISA-Studie und der Klieme-Expertise Zur Entwicklung nationaler Bildungsstandards mit dem Kompetenzbegriff gleichgesetzt1 und so im Vergleich zu seiner Verwendung im angloamerikanischen Diskurs und auch in der Fremdsprachendidaktik des deutschen Sprachraums fragwürdig verkürzt wurde, wird er zunächst auf allgemeindidaktischer Ebene in seiner Funktion als mögliches Bindeglied zwischen Kompetenzorientierung und Bildungsbegriff näher erläutert. Am Beispiel des fächerübergreifenden Ansatzes der New London Group, der sich eines solchen, weiten literacy-Begriffs bedient, wird dies konkretisiert. Aus diesem Ansatz leiten sich wichtige Implikationen für das hier entwickelte Modell einer spezifisch literarästhetischen Literalität ab. Dieses wird zunächst aus kulturell etablierten Formen zeichengebundener ästhetischer Kommunikation hergeleitet, anschließend in seiner modalen und medialen Ausrichtung an ästhetischen Rezeptionsformen näher bestimmt, dann in seiner didaktischen Funktion hinsichtlich eines Verbindungsglieds zwischen Kompetenzorientierung und Bildungsideal didaktisch verortet und abschließend am Beispiel der Erzählung Der Weg zum Friedhof von Thomas Mann konkretisiert. Hiermit ist der Rahmen für die auf das Mehrebenenmodell ästhetischer Rezeption zurückgreifenden unterrichtspraktischen Überlegungen des folgenden Kapitels geschaffen.

1

Vgl. hierzu das Kapitel 1.1. dieser Arbeit.

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Literarästhetische Literalität

4.1.

Literacy-Konzepte als Brückenschlag

4.1.1.

Kompetenz und Bildung

Die Kritik an der Kompetenzorientierung ist im deutschsprachigen bildungswissenschaftlichen wie literaturdidaktischen Diskurs zumeist unter Rekurs auf den Bildungsbegriff vorgetragen worden. Da diese Diskussion in der Forschung bereits umfassend geführt wurde2 , sollen an dieser Stelle nur drei zentrale Punkte exemplarisch anhand eines kurzen Rekurses auf die Fragment gebliebene Schrift Wilhelm von Humboldts Theorie der Bildung des Menschen aufgegriffen werden, bevor vor diesem Hintergrund das Potential von literacy-Konzepten genauer konturiert wird: 1. Humboldts Bildungstheorie setzt am Menschen als dem Subjekt von Bildung im Sinne einer Persönlichkeitsbildung an: Im Mittelpunkt aller besonderen Arten der Thätigkeit nemlich steht der Mensch, der ohne alle, auf irgend etwas Einzelnes gerichtete Absicht, nur die Kräfte seiner Natur stärken und erhöhen, seinem Wesen Werth und Dauer verschaffen will. Da jedoch die blosse Kraft einen Gegenstand braucht, an dem sie sich üben, und die bloße Form, der reine Gedanke, einen Stoff, in dem sie, sich darin ausprägend, fortdauern könne, so bedarf auch der Mensch einer Welt ausser sich. Daher entspringt sein Streben, den Kreis seiner Erkenntniss und seiner Wirksamkeit zu erweitern, und ohne dass er sich selbst deutlich dessen bewusst ist, liegt es ihm nicht eigentlich an dem, was er von jener erwirbt, oder vermöge dieser ausser sich hervorbringt, sondern nur an seiner inneren Verbesserung und Veredlung, oder wenigstens an der Befriedigung der inneren Unruhe, die ihn verzehrt. Rein und in seiner Endabsicht betrachtet, ist sein Denken immer nur ein Versuch seines Geistes, vor sich selbst verständlich, sein Handeln ein Versuch seines Willens, in sich frei und unabhängig zu werden, seine ganze äußere Geschäftigkeit überhaupt aber nur ein Streben, nicht in sich müssig zu bleiben. Bloss weil beides, sein Denken und sein Handeln nicht anders, als nur vermöge eines Dritten, nur vermöge des Vorstellens und des Bearbeitens von etwas möglich ist, dessen eigentlich unterscheidendes Merkmal es ist, Nicht-Mensch, d. i. Welt zu seyn, sucht er, soviel Welt, als möglich zu ergreifen, und so eng, als er nur kann, mit sich zu verbinden.3 2

3

Vgl. etwa Birkmeyer: Die Bedingungen der Möglichkeiten literarischen Lernens – Anmerkungen zu Kaspar Spinners Thesen; Kammler: Literarische Kompetenzen ‒ Standards im Literaturunterricht. Anmerkungen zum Diskussionsstand; Kepser: Anmerkungen zur Kompetenzorientierung in der Literaturdidaktik; Klaus Maiwald: Kompetenzen und Unterrichtsziele im Lese- und Literaturunterricht der Sekundarstufe I. In: Michael Kämper-van den Boogaart/Kaspar H. Spinner (Hg.): Lese- und Literaturunterricht. (Deutschunterricht in Theorie und Praxis. Bd. 11/2). Baltmannsweiler: Schneider 2010. S. 49-78; Odendahl: Lesen, Kompetenz und Bildung; Spinner: Der standardisierte Schüler; Thielking: Turmgesellschafter und Kompetenzvermittler; Werner Wintersteiner: Wir sind, was wir tun. Poetisches Verstehen als fachdidaktische Herausforderung; Bettina Hurrelmann: Leseleistung – Lesekompetenz. Folgerungen aus PISA mit einem Plädoyer für ein didaktisches Konzept des Lesens als kultureller Praxis. In: Praxis Deutsch 29 (2002), H. 176, S. 6-18. Humboldt, Wilhelm von: Theorie der Bildung des Menschen. In: ders.: Gesammelte Schriften. Hg. v. d. Königlich Preussischen Akademie der Wissenschaften. Bd. I. Berlin: B. Behr’s 1903. Photome-

4. Grundzüge eines Modells literarästhetischer Literalität

Es findet sich geradezu eine Umkehr des Funktionsverhältnisses der Kompetenztheorie: Hier ist es die »Welt«, der eine instrumentelle Funktion für die Bildung des Ichs zukommt, die Zweck an sich ist. Durch sie wird der Mensch allererst zum Menschen, und nur, weil sich Bildung nicht im luftleeren Raum vollziehen kann, braucht sie Gegenstände, braucht sie »Welt«.4 Die Auseinandersetzung hiermit bleibt aber auf das sich bildende und so ggf. verändernde Subjekt ausgerichtet – und deshalb ist sein Verhältnis zur Welt (die hier immer auch die jeweilige Gesellschaft, in der das Subjekt lebt, meint) auch nicht in der möglichst raschen Aneignung von Wissen oder Kompetenzen zu denken: Die letzte Aufgabe unsres Daseyns: dem Begriff der Menschheit in unsrer Person, sowohl während der Zeit unsres Lebens, als auch noch über dasselbe hinaus, durch die Spuren des lebendigen Wirkens, die wir zurücklassen, einen so großen Inhalt, als möglich, zu verschaffen, diese Aufgabe löst sich allein durch die Verknüpfung unsres Ichs mit der Welt zu der allgemeinsten, regesten und freiesten Wechselwirkung.5 Der Rückbezug des Ichs auf die Welt ist folglich in dem Maße allgemein, rege und frei, als er zunächst dem Bildungsgedanken verpflichtet ist – und nicht den Anforderungen der Welt. Dies schließt zwar die Aneignung von Kompetenzen als Grundlage für diese Auseinandersetzung ebenso wenig aus wie instrumentelle Zugänge, beinhaltet aber immer auch zugleich – markiert über die Metapher der hinterlassenen »Spuren

4

5

chanischer Nachdruck: Berlin: Walter de Gruyter & C o. 1968. S. 282-287. S. 283. Hervorhebung C. B. Vgl. Benner, Dietrich: Wilhelm von Humboldts Bildungstheorie. 2., korr. Aufl. Weinheim, München: Juventa 1995. S. 95: »Das spezifisch Humane erblickt Humboldt nicht in der Angewiesenheit des Menschen auf eine Welt außer sich, sondern in der ›besonderen‹ Notwendigkeit, in der der Mensch als das einzige Wesen der Schöpfung seine Bestimmung selbst suchen und finden muss.« Benner macht im Weiteren auch auf Bezüge und Abgrenzungen zur idealistischen Philosophie Johann Gottlieb Fichtes aufmerksam, die relevant für Humboldts Bildungsbegriff sind: »Was Humboldt unter einer bildenden ›Verknüpfung unseres Ichs mit der Welt‹ versteht, klärt sich, wenn wir diese Aussagen im dritten Abschnitt seines Bildungsfragments in ihrer Nähe und Distanz zu Fichtes Verhältnisbestimmung von Ich und Nicht-Ich interpretieren. In seiner ›Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre‹ von 1794 hat Fichte das Ich als ein ›ursprünglich schlechthin sein eignes Sein‹ setzendes gedacht und den Gedanken der prinzipiellen Nichtableitbarkeit des Selbstbewußtseins dadurch abgesichert, daß er aus dem Grundsatz des ›Ich = Ich‹ einen zweiten Satz ableitete. Dieser besagt, daß das Ich um seiner unhintergehbaren Selbstgewißheit willen sich die Welt als ›Nicht-Ich‹ entgegensetzt, weil es nur so mit Weltinhalten in eine freie Wechselwirkung treten könne. Humboldt übernimmt diese Begründungskonzeption, modifiziert sie jedoch zugleich, indem er Fichtes ursprüngliche Einsicht in die Nichtableitbarkeit des Selbstbewußtseins in seine Einsicht in die Unhintergehbarkeit des Mensch-Welt-Verhältnisses transformiert. Dem Ich stellt er nicht ein von diesem gesetztes Nicht-Ich, sondern die Welt als etwas schlechthin Vorausgesetztes gegenüber, das er in Abgrenzung zu Fichte ›NichtMensch‹ nennt. [/] Humboldts Transformation des Fichteschen ›Nicht-Ich‹ in den Weltbegriff ›NichtMensch‹ ist in bildungstheoretischer Hinsicht von grundlegender Bedeutung. Sie macht nämlich – zunächst nur durch die Wortwahl und Schreibweise – deutlich, daß die Weltinhalte nicht allein über das Ich definiert und als NichtIch gesetzt werden können.« Ebd. S. 99. Humboldt: Theorie der Bildung des Menschen. S. 283.

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Literarästhetische Literalität

des lebendigen Wirkens« – einen kritischen und/oder selbstexpressiven Verhaltensmodus.6 Diese Möglichkeit, im Zuge eigener Veränderungen auch die »Welt« zu verändern oder auf sie zumindest einwirken zu können und nicht nur reine Adaptionsleistungen zu vollziehen, liegt unverrückbar im Kern eines solchen Bildungsbegriffs. »Bildung ist demgemäß ein prinzipiell interaktives, dynamisches Geschehen; von Bildung im Humboldt’schen Sinne kann dagegen dort nicht die Rede sein, wo eine der Parteien [gemeint sind das Ich und sein Gegenpart, an dem es sich bildet, also die »Welt«] zum unveränderten Objekt der Aneignung oder zum statischen Orientierungspunkt einer Assimilationshandlung wird.«7 2. Hiermit zusammen hängt ein zweiter Punkt: Die ›Erprobung‹ unserer eigenen Fähigkeiten an den ausgewählten Gegenständen der Welt zielt nicht primär auf outputorientierte Selbstoptimierung, sondern zunächst auf die ihr eingeschriebene reflexive Komponente. Der Blick des sich nach Humboldts Ideal Bildenden wird ausgehend von den übernommenen Tätigkeiten und »der Unendlichkeit der Gegenstände« wieder zurückgelenkt auf »den engeren Kreis unsrer Fähigkeiten und ihres mannig faltigen Zusammenwirkens; das Bild unsrer Thätigkeit, die wir sonst nur stückweise, und in ihren äussern Erfolgen erblicken, zeigte sich uns hier, wie in einem zugleich erhellenden und versammelnden Spiegel, in unmittelbarer Beziehung auf unsre innere Bildung.«8 In dieser Introspektion werden das eigene Wahrnehmen, Vorstellen und Denken reflexiv: »Das Verfahren unseres Geistes, besonders in seinen geheimnissvolleren Wirkungen, kann nur durch tiefes Nachdenken und anhaltende Beobachtung seiner selbst ergründet werden.«9 3. Drittens liegt Humboldt an einer gleichrangigen Bildung der verschiedenen menschlichen Vermögen von sinnlicher Wahrnehmung, Einbildungskraft und begrifflich-kognitivem Verstehen: [I]n ihm [dem Menschen] sind mehrere Fähigkeiten, ihm denselben Gegenstand in verschiedenen Gestalten, bald als Begriff des Verstandes, bald als Bild der Einbildungskraft, bald als Anschauung der Sinne vor seine Betrachtung zu führen. Mit allen diesen, wie mit ebensoviel verschiedenen Werkzeugen, muss er die Natur aufzufassen versuchen, nicht sowohl um sie von allen Seiten kennen zu lernen, als vielmehr um durch 6

7 8 9

Vgl. hierzu auch Hurrelmann: Literalität und Bildung. S. 32: Unter Rekurs auf Habermas’ »Theorie des kommunikativen Handelns« unterscheidet sie drei verschiedene »Weltbezüge des Handelns«, und zwar: a) das instrumentelle, strategische Handeln, das sich an den »Sachverhalte[n] in der Welt« ausrichtet, b) das normengeleitete, das die soziale Dimension bezeichnet, in der Normen interpersonale Beziehungen und Interaktionen prägen und c) das »expressive« Handeln, das sich auf »die eigene, subjektive Welt« zurückbezieht. Odendahl: Lesen, Kompetenz und Bildung. S. 106f. Humboldt: Theorie der Bildung des Menschen. S. 286. Ebd. Vor dem Hintergrund der im zweiten Kapitel dargelegten zentralen Charakteristiken ästhetischer Rezeptionsprozesse und ästhetischer Erfahrungen wird deutlich, dass sich diese in besonderer Weise eignen, zu dieser Form von Persönlichkeitsbildung anzuleiten. Isers rezeptionsästhetischer Ansatz verdeutlicht literarspezifisch wiederum, inwieweit Text und Leser_in hier in ein interaktives Verhältnis treten, das gerade nicht auf Aneignung oder Problemlösung zielt, sondern dem Gedanken einer wechselseitigen Dynamik von sich bildendem Subjekt und dem Gegenstand seiner Bildungsprozesse verpflichtet ist. Vgl. Odendahl: Lesen, Kompetenz und Bildung. S. 107.

4. Grundzüge eines Modells literarästhetischer Literalität

diese Mannigfaltigkeit der Ansichten die eigene inwohnende Kraft zu stärken, von der sie nur anders und anders gestaltete Wirkungen sind.10 Eine von Wahrnehmung und Vorstellung resp. Imagination abstrahierende, rein auf kognitive Problemlösung abhebende Kompetenzorientierung kann dem nicht mehr gerecht werden, da sie den Menschen um zentrale Dimensionen der Existenz beschneidet bzw. diese nur in funktionalisierter Form geltend macht. Humboldts Bildungsideal und Weinerts Kompetenzbegriff unterscheiden sich folglich fundamental. Das hat seinen Grund zum einen in den verschiedenen Fluchtpunkten, auf den die Modelle ausgerichtet sind und der einmal das sich im Zusammenspiel mit Welt und Gesellschaft bildende Subjekt markiert und ein andermal die ihm zu vermittelnden basalen Qualifikationen, die für eine Teilhabe am gesellschaftlichen Leben notwendig sind. Zum zweiten laufen sie hinsichtlich des Ziels auseinander, das bei Humboldt in Autonomie, kritischer Distanz zu Welt und Gesellschaft sowie Selbstreflexion besteht, im Fall der Kompetenzorientierung in der Befähigung zur Bewältigung konkreter Problemstellungen und Aufgaben. Nun ist sich Humboldt allerdings der Tatsache bewusst, dass das Erreichen von Zielen seines auf Autonomie gründenden Bildungsideals auf Voraussetzungen basiert, die zunächst zu schaffen sind. Dies wird besonders deutlich dort, wo Humboldt – wie im Königsberger oder Litauischen Schulplan – seine konkreten Vorstellungen von Unterricht darlegt. Im Königsberger Schulplan heißt es: Der Zweck des Schulunterrichts ist die Uebung der Fähigkeiten, und die Erwerbung der Kenntnisse, ohne welche wissenschaftliche Einsicht und Kunstfertigkeit unmöglich ist. Beide sollen durch ihn vorbereitet; der junge Mensch soll in Stand gesetzt werden, den Stoff, an welchen sich alles eigne Schaffen immer anschließen muss, theils schon jetzt wirklich zu sammeln, theils künftig nach Gefallen sammeln zu können […]. Er ist also auf doppelte Weise, einmal mit dem Lernen selbst, dann mit dem Lernen des Lernens beschäftigt.11 Die Nähe zum Kompetenzmodell ist allerdings nur eine scheinbare. Denn die Argumentation Humboldts setzt auch hier, wo es um die Vermittlung von unabdingbaren Grundlagen im Sinne basaler Kulturtechniken geht, an einem anderen Punkt als die Klieme-Expertise an: Es sind nicht die funktional eingesetzten »Fähigkeiten« und »Kenntnisse«, die bereits auf die Anforderungen der gesellschaftlichen Realität abheben, sondern vielmehr solche, die Bildungsprozesse ermöglichen können. Humboldt denkt die Vermittlung der Fähigkeiten nicht von der Bewältigung äußerer Aufgaben her, sein Bezugspunkt bleibt auch hier das Subjekt: Alle Schulen aber, deren sich nicht ein einzelner Stand, sondern die ganze Nation, oder der Staat für diese annimmt, müssen nur allgemeine Menschenbildung bezwecken. – Was das Bedürfniss des Lebens oder eines einzelnen seiner Gewerbe erheischt, muss 10 11

Humboldt: Theorie der Bildung des Menschen. S. 285. Humboldt, Wilhelm von: Ueber die mit dem Koenigsbergischen Schulwesen vorzunehmenden Reformen. In: Wilhelm von Humboldts gesammelte Schriften. Hg. v. Albert Leitzmann. Bd. 13: Nachträge. Berlin 1920. Reprint: Berlin, Boston: De Gruyter 2015. S. 259-276. S. 260f.

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abgesondert und nach vollendetem allgemeinen Unterricht erworben werden. Wird beides vermischt, so wird die Bildung unrein, und man erhält weder vollständige Menschen, noch vollständige Bürger einzelner Klassen.12 Der Ansatz der Kompetenzorientierung,an den jeweiligen Lerngegenständen Fähigkeiten zu schulen, die auch in anderen Kontexten Verwendung finden können und auf andere Situationen übertragbar sind, ist im Sinne eines einzelnen Bestandteils durchaus in dieses Modell integrierbar; nicht möglich ist es aber, den umgekehrten Weg zu beschreiten und das Kompetenzparadigma faktisch mit dem Bildungsbegriff gleichzusetzen, wie es die Klieme-Expertise macht.13 Denn auch die Vermittlung von zunächst gegenstandsbezogenen Fähigkeiten, die Relevanz für die Bildung des Subjekts gewinnen, kann nicht auf Kompetenzen im Sinne Weinerts reduziert bleiben. Zum einen deshalb, weil die funktional-instrumentelle und ausschließlich kognitive Ausrichtung der Kompetenzorientierung eine andere ist als die des Humboldt’schen Bildungsbegriffs, zum zweiten, weil es Fähigkeiten gibt, die sich der Operationalisierung einer leistungsbezogenen Messbarkeit ihrer Resultate entziehen. Diese Problematik kann der Suche nach einem Weg, der die Modelle von Kompetenzorientierung und Bildung in der Form aufeinander zu beziehen vermag, als dass er sie in ein sich komplementär ergänzendes Kompensationsverhältnis rückt, das eines dritten Terms als Bindeglied bedarf, als Ausgangspunkt dienen.14 Ein solches Konzept 12

13 14

Humboldt, Wilhelm von: Unmassgebliche Gedanken über den Plan zur Einrichtung des Litthauischen Stadtschulwesens. In: Wilhelm von Humboldts gesammelte Schriften. Hg. v. Albert Leitzmann. Bd. 13: Nachträge. Berlin 1920. Reprint: Berlin, Boston: De Gruyter 2015. S. 276-283. S. 276f. Diesem Gedanken folgend fordert Humboldt eine auf gleichen Grundlagen basierende Schulbildung sowohl für spätere akademische als auch handwerkliche Berufe: »Dieser gesammte Unterricht kennt daher auch nur Ein und dasselbe Fundament. Denn der gemeinste Tagelöhner, und der am feinsten Ausgebildete muss in seinem Gemüth ursprünglich gleich gestimmt werden, wenn jener nicht unter der Menschenwürde roh, und dieser nicht unter der Menschenkraft sentimental, chimärisch, und verschroben werden soll. […] Bleibt man fest dabei stehen, Zahl und Beschaffenheit der Unterrichtsgegenstände nach der Möglichkeit der allgemeinen Bildung des Gemüths in jeder Epoche zu bestimmen, und jeden Gegenstand immer so zu behandeln, wie er am meisten und am besten auf das Gemüth zurückwirkt, so muss eine ziemliche Gleichheit herauskommen. Auch Griechisch gelernt zu haben könnte auf diese Weise dem Tischler ebenso wenig unnütz seyn, als Tische zu machen dem Gelehrten.« Ebd. S. 278. Vgl. Klieme u.a.: Zur Entwicklung nationaler Bildungsstandards. S. 65 sowie die Ausführungen in Kapitel 1.1. dieser Arbeit. Vgl. hierzu auch die Überlegungen Sigrid Thielkings in Turmgesellschafter und Kompetenzvermittler, die in ihrem Fazit Position für eine notwendige Zusammenführung von Modellen, die am Bildungsideal ausgerichtet sind, und solchen, die kompetenzorientiert denken, bezieht: »Ich möchte deshalb abschließend für eine Verbundgeschichte von Turmgesellschaftern und Kompetenz(v)ermittlern plädieren«. Im Kontext einer zeitgemäßen Aktualisierung des Bildungsideals, das Goethes Roman Wilhelm Meisters Wanderjahre zugrunde liegt, seien aus der »bündischen, vielleicht geheimbündlerischen Tumgesellschaft [sic!] von einst […] indessen demokratisch-pluralistische Turmgesellschafter geworden, aus den Mittlern und Bildungsbegleitern im Verborgenen sind Vermittler einer öffentlichen Didaktik von für messbar und vergleichbar gehaltenen, zumutbaren und nachhaltigen Kompetenzen geworden, die als Qualifikationen beschreibbar werden.« (Thielking: Turmgesellschafter und Kompetenzvermittler. S. 131f.)

4. Grundzüge eines Modells literarästhetischer Literalität

müsste so angelegt werden, dass es Antworten auf zwei Herausforderungen bereithält: Während zu Beginn des 19. Jahrhunderts das Humboldt’sche Bildungsideal – obwohl von ihm ausdrücklich nicht so intendiert – letztlich das Projekt einer kleinen, in der Regel männlichen gesellschaftlichen Elite blieb15 , muss der Anspruch der westlichen Demokratien es heute sein, allen gesellschaftlichen Gruppen Zugang zu bildungsrelevanten Diskursen, nicht zuletzt auch zu kulturellen Archiven und zu ästhetisch-künstlerischen Gestaltungsformen, zu verschaffen. Da diese Gruppen in der Breite nicht die gleichen Voraussetzungen aufweisen wie die Bildungselite zu Humboldts Zeiten, ist eine Modifikation oder zumindest Ergänzung des neuhumanistischen Bildungsideals zu diskutieren, die nicht nur das Subjekt, sondern auch dessen gesellschaftlich-kulturelle Partizipationsmöglichkeiten im Auge hat. Die zweite Herausforderung besteht darin, diese Perspektive sozialer Teilhabe von den Schüler_innen als den eigentlichen Subjekten des Bildungsprozesses her zu denken – und somit bei aller notwendigen Ausrichtung auf gesellschaftliche Realitäten keine Assimilation hieraufhin zu betreiben, sondern im Sinne Humboldts Wechselwirkungsprozesse zu initiieren. Von hier aus können dann bestimmte Kenntnisse und Fähigkeiten bestimmt werden, die zur Erreichung des Ziels einer Selbstbildung unabdingbar sind; auch deshalb, weil sie eine Teilhabe an kulturellen Diskursen allererst ermöglichen, die wiederum eine Voraussetzung für Bildungsprozesse darstellt. Ein solches Modell wäre also weniger ein neuer, ›dritter‹ Weg, als der Versuch, eine Brücke zwischen den hehren Idealen des Humboldt’schen Bildungsbegriffs und der pragmatisch-funktionalen Ausrichtung der Kompetenzorientierung zu bauen (und dieser Bau müsste zunächst von der Seite des Humboldt’schen Bildungsbegriffs als dem umfassenderen Konzept aus konzipiert werden). Denn nur dann ließe sich das realisieren, was von den Verfechter_innen der Kompetenzorientierung, wie sie dem PISA-Modell zugrunde liegt, zwar propagiert, faktisch aber nicht eingelöst wird: eine Form von Eigenverantwortung im Lernen zu begründen, die auch notwendig ist, um am Gedanken der Befähigung der Schüler_innen zur Verfolgung selbst gesetzter Ziele im Leben festzuhalten, die nicht die »Welt«, also etwa beruflichen Erfolg oder ökonomischen Nutzen, zum letzten Bezugspunkt haben.16 Diese zunächst allgemein bildungswissenschaftliche Kritik verschärft sich auf dem Feld ästhetischer Bildung, da ein Kompetenzmodell im Sinne Weinerts hier aufgrund der dargelegten Spezifik ästhetischer Rezeptionsprozesse bei der Vermittlung eines gegenstandsadäquaten Zugangs scheitert – und somit bereits der selbst gesetzte Anspruch, domänenspezifische Expertise zu vermitteln, nicht eingelöst werden kann. Bevor dies aber näher ausgeführt wird, soll zunächst auf allgemeindidaktischer Ebene die Notwendigkeit einer Einbettung des Kompetenzparadigmas in übergreifende Konzeptionen weiterverfolgt werden, da hierüber zugleich auch ein Rahmen für ästhetische Lernprozesse etabliert werden kann. 15

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»Zu Humboldts Zeiten gab es in Deutschland in allen Fächern zusammen fünftausend Studenten, heute sind es zwei Millionen Student/inn/en« (Vogt: Einladung zur Literaturwissenschaft. S. 21) – und aktuell sogar knapp drei Millionen. Vgl. Hurrelmann: Literalität und Bildung. S. 24.

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4.1.2.

Das Potential von literacy-Konzepten

Eine Brücke, die über das Kompetenzparadigma hinausführt und sich so auf das Humboldt’sche Bildungsideal hin öffnet, können literacy-Modelle bilden. Grünewald, Plikat und Wieland machen darauf aufmerksam, dass neben dem mit den Begriffen »Bildung« und »Kompetenz« abgesteckten Feld gegenwärtiger Diskussionen mit dem Begriff der »Literalität« ein »dritter Eckpunkt hinzu[kommen kann], der als ›literacy‹ in der englischsprachigen Diskussion fest etabliert ist.«17 Sie verweisen auf verschiedene hieran orientierte Veröffentlichungen auch im deutschen Sprachraum – sämtlich allerdings in der Fremdsprachendidaktik angesiedelt18 –, die das Potential dieser Konzepte deutlich machen. Im Bereich der Deutschdidaktik findet der literacy-Begriff aktuell in zwei Kontexten Verwendung: einmal im Rahmen der PISA-Studie und der Profilierung eines Modells allgemeiner Lesekompetenz und ein anderes Mal im Zusammenhang der Entwicklung erweiterter Literalitätsmodelle im Rahmen zweier von Bertschi-Kaufmann/Rosebrock herausgegebenen Bände19 . Die Autor_innen des deutschen PISA-Konsortiums beziehen sich in ihrer Herleitung des Kompetenzbegriffs ausdrücklich auf den Begriff der literacy und definieren Lesekompetenz unter direktem Rückbezug auf die von der OECD koordinierte internationale PISA-Studie wie folgt: »›Lesekompetenz (Reading Literacy) heißt, geschriebene Texte zu verstehen, zu nutzen und über sie zu reflektieren, um eigene Ziele zu erreichen, das eigene Wissen und Potenzial weiterzuentwickeln und am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen.‹«20 Hinsichtlich der Einlösung dieses Anspruchs sind aber verschiedene Bedenken anzumelden, und zwar sowohl auf der Ebene der theoretischen Modellentwicklung als auch der praktischen Erhebungen hierzu. Mit Blick auf den ersten Punkt greift der bereits erwähnte Vorwurf Odendahls, dass der Text bzw. seine Rezeption bei PISA letztlich nur funktionalen Status mit dem Zweck einer Ausbildung elementarer Fähigkeiten 17 18

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Grünewald/Plikat/Wieland: Einführung. S. 9. Vgl. Elsner, Daniela, Lutz Küster u. Britta Viehbrock (Hg.): Fremdsprachenkompetenzen für ein wachsendes Europa. Das Leitziel »Multiliteralität«. Frankfurt a.M. u.a.: Peter Lang 2007; StephanAlexander Ditze u. Ana Halbach (Hg.): Bilingualer Sachunterricht (CLIL) im Kontext von Sprache, Kultur und Multiliteralität. Frankfurt a.M. u.a.: Peter Lang 2009; Lutz Küster: Lernaufgaben zur Förderung von Multiliteralität? In: Dagmar Abendroth-Timmer u.a. (Hg.): Handlungsorientierung im Fokus: Impulse und Perspektiven für den Fremdsprachenunterricht im 21. Jahrhundert. Frankfurt a.M. u.a.: Peter Lang 2009. S. 55-68. Bertschi-Kaufmann, Andrea u. Cornelia Rosebrock: (Hg.): Literalität erfassen: bildungspolitisch, kulturell, individuell. Weinheim, Basel: Beltz Juventa 2013 sowie dies. (Hg.): Literalität: Bildungsaufgabe und Forschungsfeld. Weinheim, Basel: Beltz Juventa 2009. Auch im Kontext des DFGProjekts Literarästhetische Urteilsfähigkeit (LUK) wird der Begriff im Sinne einer literary literacy verwendet; in seiner grundlegenden Fassung – d.h. auf allgemeindidaktischer Ebene, also nicht hinsichtlich der Entwicklung eines konkreten Modells literarischer im Unterschied zu pragmatischer Lesekompetenz – orientiert sich dies am literacy-Verständnis der PISA-Studie. Vgl. hierzu näher die entsprechenden Ausführungen unter dem dritten Punkt »Vermittlungen« der Einleitung dieser Arbeit. Artelt u.a.: Lesekompetenz. S. 80.

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zur Eingliederung in die Gesellschaft hat.21 Bezüglich des zweiten Punkts hat Bettina Hurrelmann nachgewiesen, dass der literacy-Begriff im praktischen Teil der Erhebung von Lesekompetenz und den konkreten Testaufgaben der Studie sich letztlich auf das ökonomisch Brauchbare und nicht auf das personal Wichtige ausrichtet.22 Die konkrete Analyse der PISA-Beispielaufgabe zu einem literarischen Text im ersten Kapitel, die eine genuin ästhetische Dimension vermissen ließ, bestätigt diesen Vorwurf. Folglich steht dieser »kognitiv zentrierte«, »messtechnisch-geprägt[e]« sowie »auf Alltagsfunktionalität und soziale Anschlussfähigkeit ausgerichtete« Literalitätsbegriff nicht nur »im Widerspruch zu dem vorherrschenden Bildungsbegriff«23 – was einen möglichen Brückenschlag zu oder gar eine Ineinssetzung mit Bildungskonzepten vom Ansatz her problematisch werden lässt –, er stellt zudem keineswegs das alleinige Konzept dar, wie man Literalität denken kann. Die allgemeine Inanspruchnahme von literacy-Modellen für einen letztlich auf Weinerts Definition zurückgehenden Kompetenzbegriff erweist sich als eine Verkürzung, die eine Reihe von bildungstheoretischen und gesellschaftlich-kulturellen Dimensionen ausblendet. Weinerts Verständnis von Kompetenzen ließe sich in das Englische eher mit dem Begriff skills übersetzen: unter Anleitung ausbildbare und trainierbare Fähigkeiten, die in bestimmten Situationen funktional zur Lösung einzelner Aufgaben oder Probleme angewendet werden können.24 21

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Vgl. Odendahl: Lesen, Kompetenz und Bildung. S. 107: »Statt wechselseitiger Bildung gibt es hier also bloße Assimilation; und es ist der Leser als Nutzer geschriebener Texte, der sich durch seine planvolle Weiterentwicklung gesellschaftlichen Erfordernissen anpasst.« Hurrelmann spricht von einem »zentralen bildungsökonomischen Interesse an der international vergleichenden Überprüfung der Leistungsfähigkeit von Bildungssystemen.« (Hurrelmann: Literalität und Bildung. S. 24.) Vgl. hierzu auch Andrea Bertschi-Kaufmann u. Cornelia Rosebrock: Literalität erfassen: bildungspolitisch, kulturell, individuell. Einleitung. In: dies. (Hg.): Literalität erfassen: bildungspolitisch, kulturell, individuell. Weinheim, Basel: Beltz Juventa 2013. S. 7-12. S. 7. Bertschi-Kaufmann/Rosebrock: Einleitung. Literalität erfassen: bildungspolitisch, kulturell, individuell. S. 7-9. Vgl. hierzu auch die Kritik Thielkings, die sich an dem im folgenden »Präambelsatz« der ersten PISA-Studie formulierten Anspruch entzündet, »Basiskompetenzen zu erfassen, die in modernen Gesellschaften für eine befriedigende Lebensführung in persönlicher und wirtschaftlicher Hinsicht sowie für eine aktive Teilnahme am gesellschaftlichen Leben notwendig sind«. Auch wenn hierin noch »Reste von idealistisch ganzheitlicher Bildung aufgehoben bleiben«, löse dies »das faktische Prüfdesign dann nicht ein«. Thielking: Turmgesellschafter und Basiskompetenzen. S. 121. Nicht unterschlagen werden soll dabei, dass auch in der angloamerikanischen Diskussion das Verständnis des literacy-Begriffs nicht unumstritten ist – und in der Auseinandersetzung z.T. auf ähnliche Argumente zurückgegriffen wird, die auch im deutschen Sprachraum die Diskussion um die kompetenzorientierte Wende geprägt haben. Vgl. etwa Janet Laugharne: The person, the community and the society: a response to Section 1. In: Viv Ellis, Carol Fox u. Brian Street (Hg.): Rethinking English in Schools. Towards a New and Constructive Stage. London, New York: Continuum 2007. S. 62-70. Ihre Kritik zielt vor allem darauf, dass im Zuge der Standardisierung von Lernprozessen die hierüber bewirkte Dominanz einer Ausrichtung am literacy-Konzept dazu führe, dass das Gleichgewicht zwischen dem Fach als Ganzem und seiner konstituierenden Teile, wovon literacy nur einen Aspekt ausmache, aus dem Lot gerate. Diese Kritik spiegelt sich auch in der von Andy Goodwyn dargestellten Reaktion von Englischlehrer_innen in Großbritannien angesichts der Tatsache, dass in Australien »secondary teachers are now called teachers of English and literacy«: »[I]n the UK, not only are teachers still called teachers of English but they actively resist adding the term ›literacy‹ to their titles.« Der Aufsatz Goodwyns verschafft auch einen umfassenden Überblick

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Hingegen weist der literacy-Begriff bereits aus etymologischer Perspektive eine umfassendere Bedeutung auf. Er geht zurück auf die in der frühen Neuzeit alles andere als selbstverständliche Fähigkeit, des Lesens und Schreibens fähig zu sein (von lat. littera: der Buchstabe), woraus sich im Englischen auch die Bedeutung des mit literacy verwandten Begriffs »to be literate« im Sinne von »gebildet sein« oder »kultiviert sein« ableitet.25 Ein solches, sich doch recht deutlich vom deutschen Begriff »kompetent sein« unterscheidendes Verständnis ist ein weiterer Beleg dafür, dass dem literacy-Konzept deutlich mehr Potential zukommt, als die ihn erheblich verengende Übersetzung als »Kompetenz« suggeriert. Einem solchen Verständnis von literacy folgen in der Deutschdidaktik Andrea Bertschi-Kaufmann und Cornelia Rosebrock. Im Einleitungsartikel des von ihnen herausgegebenen Bandes Literalität erfassen: bildungspolitisch, kulturell, individuell benennen die Autorinnen es als übergeordnetes Ziel, den Schüler_innen »Teilhabe an einer […] partizipatorischen Kultur« zu ermöglichen – was ein Feld umschließt, das von der Vertrautheit mit neuen Medien, der Schaffung »soziale[r] Inklusion«, der Förderung »kooperative[n] Lernen[s]«, der Ermutigung zu »bürgerschaftliche[m] Engagement« bis hin zu »Fähigkeiten« reicht, »die in der modernen Arbeitswelt gebraucht werden, insbesondere die Gemeinschaftlichkeit beim Lösen von Problemen.«26 Dabei sehen Bertschi-Kaufmann/Rosebrock vor allem den »Literaturunterricht innerhalb des muttersprachlichen Unterrichts mit seinem weiten und auch unscharfen Begriff von literarischer Rezeptionskompetenz« als den Bereich, »der solchen Forderungen nach Anschluss an neue literale kulturelle Praktiken am nächsten kommt – während er zugleich mit seinem Festhalten an der Erarbeitung kanonischer literarischer Texte gewissermaßen am wenigsten anschlussfähig an die Gegenwart scheint.«27 Hinsichtlich der konkreten, im Besonderen an literarisches Lernen – und somit literarische Literalität – gebundenen Vermittlungsziele eröffnen die Autorinnen ein Feld, das sich mit den Anliegen dieser Arbeit in vielen Punkten überschneidet: Es reicht vom »Bewusstsein der Medialität von literalen Produkten, beispielsweise ihres virtuellen Charakters« über starke Leser_innenaktivierung, da »[l]iterarische Texte […] ihre Sinnhorizonte bekanntlich nicht aus[sprechen], sondern […] sie den Lesenden gleichsam auf[geben]«; aufgeführt wird weiterhin die Ausbildung von »Genussfähigkeit« und Vermittlung von »Kritikfähigkeit«, die »Entwicklung der Fähigkeit zur Selektion- [sic!] und Kombination verschiedener medialer Repräsentationsformen«, die Förderung der »Eigenproduktion poetischer Texte und Ausdrucksformen« sowie die Anleitung zur »›An-

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über die Diskussion um den Begriff und die Auswirkungen auf die Schullandschaft in den englischsprachigen Ländern. (Andy Goodwyn: English and Literacy in Education: National Policies. In: The Routledge Companion to English Studies. Constant Leung u. Brian Street [Hg.]: London, New York: Routledge 2014. S. 16-32. S. 16.) Vgl. Homberger, Ursula (unter Mitarbeit von Urs Meier): Referenzrahmen für Gestaltung und Kunst. Zürich: Pädagogische Hochschule Zürich 2007. S. 40. Homberger zitiert hier aus einer unveröffentlichten Abschlussarbeit von Ireni Vafiadis. https://phzh.ch/Forschungsdatenbank_files/ 152/uh_referenzrahmen_pdf.pdf (Abrufdatum 27.11.2019) Bertschi-Kaufmann, Andrea u. Cornelia Rosebrock: Literalität: Bildungsaufgabe und Forschungsfeld. In: dies. (Hg.): Literalität. Bildungsaufgabe und Forschungsfeld. Weinheim: Juventa 2009. S. 7-17. S. 11f. Ebd. S. 13.

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schlusskommunikation‹« in Form »kooperative[r] Formen der Reflexion über Gelesenes«.28 Es stellen sich aber drei Fragen: erstens die, ob diese Ziele über den zugrunde gelegten bewusst »weiten und auch unscharfen Begriff von literarischer Rezeptionskompetenz«29 realisierbar werden. Dies ist nicht nur deshalb infrage zu stellen, weil die Autorinnen hier Literalität unmittelbar aus dem Kompetenzbegriff hervorgehen lassen. Gewichtiger als diese Begriffsfrage wiegt zweitens, ob sich Lernerfolge auf den genannten Ebenen einstellen können, wenn nicht zuvor Grundlagen geschaffen werden, die aus einem unspezifischen Begriff literarischer Rezeption einen sehr spezifischen, und zwar genuin ästhetischen machen. Von hier aus ist drittens auch die Schlussfolgerung, dass der Literaturunterricht mit »seinem Festhalten an der Erarbeitung kanonischer literarischer Texte gewissermaßen am wenigsten anschlussfähig an die Gegenwart scheint«30 , kritisch zu prüfen. Denn es sind nicht zuletzt häufig auch kanonische Texte, anhand derer Schüler_innen die Spezifik ästhetischer Sprachverwendung und somit ein ästhetischer Rezeptionsmodus vermittelt werden kann. Anders formuliert: Es sind zunächst Voraussetzungen für den Umgang mit literarischer Sprachverwendung zu schaffen, bevor man sich der Frage zuwendet, welches weitergehende Potential einer solchen literarästhetischen Literalität im Rahmen eines umfassenderen Begriffs kultureller Literalität zukommen kann. Das heißt, dass ein Modell literarischer Literalität zunächst einmal gegenstandsbezogen und mit Blick auf die Voraussetzungen der Lernenden auszuarbeiten ist. Zur näheren Konkretisierung eines solchen Rahmens eignet sich das literacy-Modell der New London Group, das zwar zunächst ein allgemeindidaktisches Konzept darstellt, sich aber für ästhetisches Lernen spezifizieren lässt. Es wird vom Autor_innenkollektiv der New London Group, das sich aus einem Zusammenschluss von australischen, US-amerikanischen und britischen Wissenschaftlern verschiedenster Disziplinen bildet, im Herbst 1994 in der Kleinstadt New London im Bundesstaat New Hampshire der USA als »ein pädagogisches Konzept […], mit dem sich die monolithische Struktur des tradierten Literalitätsbegriffs aufbrechen lässt«31 , begründet. 1996 publizieren sie in offenkundiger Anspielung an die London Group, eine Vereinigung avantgardistischer Künstler, die sich 1913 in der britischen Hauptstadt formierte und in veränderten Zusammensetzungen bis heute unter diesem Namen aktiv ist, ein von ihnen selbst so bezeichnetes »Manifest«, das ihr erweitertes Verständnis des Begriffs im Sinne eines Multiliteracy-Konzepts erkennbar werden lässt32 : 28 29 30 31

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Ebd. S. 13f. Ebd. S. 13. Ebd. Bach, Gerhard: Multiliteralität und der europäische Bildungsauftrag. In: Daniela Elsner, Lutz Küster u. Britta Viebrock (Hg.): Fremdsprachenkompetenzen für ein wachsendes Europa. Das Leitziel »Multiliteralität«. Frankfurt a.M. u.a.: Peter Lang 2007. S. 23-34. S. 24. In der deutschsprachigen Diskussion weist etwa Hallet auf diese Begriffsverschiebung hin: »Der literacy-Begriff, verstanden nicht bloß als ›Lesefähigkeit‹, sondern im weiten angloamerikanischen Sinn als grundlegendes, kulturelles Können und Wissen, signalisiert, dass die basale Lesefähigkeit dafür unverzichtbar ist, aber auch, dass es um ganz andere, komplexere, lebensweltlich relevante und diskursiv gefasste Kompetenzen geht.« Hallet: Literature and Literacies. S. 64.

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Literacy pedagogy has traditionally meant teaching and learning to read and write in page-bound, official, standard forms of the national language. […] [W]e attempt to broaden this understanding of literacy and literacy teaching and learning to include negotiating a multiplicity of discourses. We seek to highlight two principal aspects of this multiplicity. First, we want to extend the idea and scope of literacy pedagogy to account for the context of our culturally and linguistically diverse and increasingly globalised societies; for the multifarious cultures that interrelate and the plurality of texts that circulate. Second, we argue that literacy pedagogy now must account for the burgeoning variety of text forms associated with information and multimedia technologies.33 Die beiden gesellschaftlichen Wandlungsprozesse, auf die Mitte der 1990er Jahre hiermit reagiert wird – die immer größer werdende sprachlich-kulturelle Diversität und Pluralität, mit der Heranwachsende im Kontext von Migrationsbewegungen und Globalisierung umgehen müssen, und die Konjunktur der neuen AV-Medien sowie der hiermit etablierten Kommunikationsformen auf Grundlage nicht nur sprachgebundener Zeichensysteme –, haben seitdem an Dynamik noch deutlich gewonnen. Die Autor_innen kommen zu zwei Schlüssen: Zum einen birgt eine in stetigen Veränderungen begriffene, vielschichtig strukturierte Gesellschaft Herausforderungen für Heranwachsende, auf die man nicht länger mit traditionellen, weitgehend auf Assimilation setzenden Erziehungskonzepten antworten kann. Zum zweiten steht die Vermittlung von Fähigkeiten im Vordergrund, die einen bewussteren und kritischen Umgang auf rezeptiver wie produktiver Ebene mit medialen Darstellungs- und Inszenierungstechniken erlauben. Hauptanliegen der New London Group ist es hierbei, Schüler_innen mehr und mehr dafür zu sensibilieren, in welcher Welt sie als Bürger leben wollen: »We cannot remake the world through schooling, but we can instantiate a vision through pedagogy that creates in microcosm a transformed set of relationships and possibilities for social futures.«34 Dies wird an Lernprozesse und Kenntnisse sowie Fähigkeiten zurückgebunden, die die Schüler_innen in die Lage versetzen, nicht nur einen Zugang zu verschiede33

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The New London Group: A Pedagogy of Multiliteracies. S. 60f. Ein Überblick über weitere solcher medial oder thematisch ausgeweiteten literacy-Konzepte findet sich in: Constant Leung u. Brian V. Street (Hg.): The Routledge Companion to English studies New York: Routledge 2014. Vgl. etwa den Artikel von Kate Pahl: New Literacy Studies (S. 435-448) oder in den medienspezifischen Artikeln von Colin Lankshear u. Michele Knobel: Englishes and digital literacy practices (S. 451-463) sowie Jennifer Rowsell u. Lisha Chen: English studies through a new literacy studies-multimodal lens (S. 464-474). Vgl. zum Wandel des Begriffs literacy im Kontext einer Anwendung auf ästhetisch-künstlerische Diskurse auch Robin Shenfield: Literacy in the Arts. In: Literacy learning: the Middle Years. 23 (2015), H. 1, S. 47-53. S. 47: »The notion of what it means to be literate has changed radically in recent decades. Literacy is no longer viewed simply as the act of comprehending the written word on a page; rather, it is considered a social practice and requires the acknowledgement of numerous types of literacies (Freebody & Luke, 1990). Research into multiliteracies and multimodal approaches to the reading and creation of texts has reshaped the literacy landscape and has also served to shift the focus from literacy as the sole domain of subject English to other key learning areas as well.« The New London Group: A Pedagogy of Multiliteracies. S. 72.

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nen Sprachen und Diskursen in verstehensleitenden Medien, die die Welt, Gesellschaft und das eigene Selbstverständnis erschließen und formen, zu haben.35 Zugleich soll es ihnen ermöglicht werden, auch kritisch hierauf Bezug nehmen zu können, indem deren Genese und die Beziehungen, die sie untereinander eingehen, zur Reflexion gelangen, um so im eigenen Denken und Handeln sich bewusst zu ihnen verhalten und ggf. auf sie einwirken zu können.36 Das Ziel einer aktiven Teilhabe an Kultur und Gesellschaft teilt der Ansatz mit dem Kompetenzparadigma. Doch können eng gefasste Kompetenzmodelle diesen Anspruch bereits auf allgemeindidaktischer Ebene nur eingeschränkt erfüllen, sind hier doch vorab definierte Standards und Normen zu erfüllen, die weniger eine kritisch-gestaltende Auseinandersetzung mit ihnen einfordern, als von den Lernenden verlangen, »sich einer bestimmten Anforderungssituation anzupassen«37 . Kompetenzen in diesem Sinne sind zwar ein notwendiger Bestandteil einer eigenverantwortlichen kulturell-gesellschaftlichen Partizipation, aber noch kein hinreichender. Und mit Blick auf die Ermöglichung einer aktiven Teilhabe an künstlerisch-ästhetischen Kulturpraktiken gelten die am Ende des letzten Kapitels im Einzelnen hergeleiteten Einwände. Anschlussfähig an das Humboldt’sche Bildungsideal wird der literacy-Ansatz wiederum sowohl mit Blick auf das verfolgte Ziel der Initiierung von Selbstbildungs- und -transformationsprozessen38 als auch hinsichtlich der Verknüpfung von Ich und Welt »zu der allgemeinsten, regesten und freiesten Wechselwirkung«39 . Ein im Sinne der New London Group erweiterter Begriff von Literalität steht deshalb nicht länger in einem unversöhnlichen Konflikt mit dem Bildungsgedanken.40 Zwar stammen beide Konzepte »aus deutlich unterschiedlichen Wissenschaftstraditionen« und richten sich an verschiedenen Bezugspunkten aus: »Im Bildungsdenken steht das Subjekt an erster und zentraler Stelle«, in Literalitätskonzepten hingegen »das Gefüge der gesellschaftlichen Bedingungen, die am Aufbau von Literalität beteiligt sind«41 . Doch aufgrund der angesprochenen veränderten sozialen Rahmenbedingungen im Vergleich zu der Zeit, zu der sich der neuhumanistische Bildungsbegriff 35 36 37 38 39 40

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Vgl. ebd. S. 60f. Vgl. ebd. S. 60f., S. 69. Kepser: Anmerkungen zur Kompetenzorientierung in der Literaturdidaktik. S. 75. Vgl. The New London Group: A Pedagogy of Multliteracies. S. 76. Humboldt: Theorie der Bildung des Menschen. S. 283. Vgl. hierzu auch Hurrelmann: Literalität und Bildung. S. 39, die im Rahmen von Lesesozialisationstheorien drei »Konvergenzpunkte« von Literalität und Bildung ausmacht: Erstens die »gemeinsame Überzeugung von der Konstruktivität der Textrezeption (und -produktion) […], das heißt, alle Prozesse des Gebrauchs von Schriftlichkeit (auch die in den neuen, interaktiven Medien) haben etwas mit der Person, ihrem Weltverständnis, ihrer Identitätsarbeit und ihrer Entwicklung zu tun. […/] Zweitens müsste eine Verständigung über den im gesellschaftlich-historischen Wandel veränderlichen Umriss des Literatur- und Schriftgebrauchs und die Verantwortung der Lesedidaktik, diesen in ihrem Konzept des Lesens auch zu berücksichtigen, eigentlich erreichbar sein. […/] Drittens ist der positive Bezug auf den Bildungsbegriff ein Konvergenzpunkt beider Orientierungen, denn dem Bezug auf personale Bildung kommt auch im Begriff der Literalität […] zentrale Bedeutung zu.« Ebd. S. 35f.

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Literarästhetische Literalität

formierte, sind die mit diesem »Hochwertbegriff« verbundenen Ansprüche und Wertorientierungen42 hinsichtlich ihrer konkreten gesellschaftlichen Realisierbarkeit neu zu durchdenken – und auf Bedingungen zu hinterfragen, die erfüllt sein müssen, um dem Postulat autonomer Selbstbildung im 21. Jahrhundert gerecht werden zu können. Ein erweiterter Literalitätsbegriff eröffnet diesbezüglich neue Perspektiven, die innerhalb der Kompetenzorientierung im Sinne Weinerts nicht denkbar sind. Da sich im deutschen Sprachraum mit dem Kompetenzbegriff in der Fassung Weinerts eine Terminologie etabliert hat, die für die entscheidenden Veränderungen im Bildungswesen maßgeblich ist, macht es auch wenig Sinn, diesen Begriff inhaltlich neu zu besetzen, da er aufgrund der eindeutigen Verwendungsweise in den bildungspolitischen Diskursen klar definiert ist.

4.2.

Literarästhetische Literalität I: Herleitung

Auf Grundlage des Modells der New London Group wird nicht nur ein grundsätzlicher, allgemeindidaktischer Brückenschlag zwischen dem Kompetenzbegriff und dem Bildungsideal möglich, sondern insbesondere auch in Bezug auf ästhetische Lernprozesse. Dabei wird vor allem der Begriff Design ausschlaggebend, den das Autor_innenkollektiv als semiotische Metakategorie43 verwendet und in drei Unterkategorien auffächert: We propose to treat any semiotic activity, including using language to produce or consume texts, as a matter of Design involving three elements: Available Designs, Designing, and The Redesigned. Together these three elements emphasize the fact that meaning-making is an active and dynamic process, and not something governed by static rules.44 Hinsichtlich der ersten Kategorie, den Available Designs, steht die Frage im Mittelpunkt, wie sich Bedeutungen in den über kulturell codierte Zeichensysteme vermittelten sozialen Praktiken aufbauen, um Schüler_innen einen kritisch-reflektierten Umgang hiermit zu ermöglichen. Das Ziel der zweiten Kategorie, dem Designing, liegt in der Vermittlung einer Fähigkeit, die die Lernenden aktiviert, selbst gestaltend tätig zu werden und ihre eigenen Produkte ihrerseits dann, und hierauf rekurriert die dritte Kategorie, The Redesigned, wiederum zu reflektieren.45 Ziel ist es folglich, zu einer Auseinandersetzung nicht nur mit Bedeutungen, d.h. Inhalten, sondern auch mit dem zeichenhaften Material und seinen Gestaltungsformen bzw. -mitteln anzuleiten, auf deren Grundlage sich die inhaltlichen Zuschreibungen allererst ausbilden, um zugleich über Erfahrungen im eigenen Handeln einen bewussteren Umgang hiermit zu ermöglichen. 42 43 44 45

Vgl. ebd. Vgl. Bach: Multiliteralität. S. 27. The New London Group: A Pedagogy of Multiliteracies. S. 74. Vgl. ebd. S. 73f.

4. Grundzüge eines Modells literarästhetischer Literalität

4.2.1.

Fokus: Die Ästhetisierung der Lebenswelt und die poetische Funktion

Mit der sog. semiotischen Metakategorie des Designs steht ein ästhetisch konnotierter Begriff im Mittelpunkt des Modells.46 Er erlaubt nicht nur eine Rückbindung an ästhetische Fragen, sondern kann vor dem Hintergrund des kultursemiotischen Ansatzes auch als Reaktion auf die zunehmende Durchdringung des öffentlich-kulturellen Raums mit im weitesten Sinne ästhetischen Gestaltungselementen begriffen werden, die seit dem Ende des letzten Jahrhunderts unter der Bezeichnung einer Ästhetisierung der Lebenswelt diskutiert wird.47 Wolfgang Welsch stellt folgende Beobachtung an den Beginn seines bereits 1993 publizierten, in seinen Kernthesen aber auch für die Gegenwart zutreffenden Aufsatzes Das Ästhetische – Eine Schlüsselkategorie unserer Zeit?: »Zweifellos erleben wir gegenwärtig einen Ästhetik-Boom. Er reicht von der individuellen Stilisierung über die Stadtgestaltung und die Ökonomie bis zur Theorie. Immer mehr Elemente in der Wirklichkeit werden ästhetisch überformt, und zunehmend gilt uns Wirklichkeit im ganzen als ästhetisches Konstrukt.«48 Dabei lassen sich mit Welsch drei verschiedene Bereiche voneinander unterscheiden, die für das individuelle wie das gesellschaftlich-kulturelle Leben konstitutiv geworden sind49 : Erstens eine »Oberflächenästhetisierung«, die die Wirklichkeit mit »ästhetischen Elementen« ausstatte und so etwas wie eine »Überzuckerung des Realen mit ästhetischem Flair« beinhalte.50 Zweitens eine Tiefenästhetisierung, die sich u.a. in der »Wirklichkeitskonstitution durch die Medien«51 festmachen lässt. (Die Autor_innen des 46

47

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51

Dies gilt auch im Englischen, hier wird der Begriff allerdings primär in der Bedeutung der Gestaltung einer bestimmten Konstruktion, eines Plans, Modells oder Gegenstands verwendet, was nicht zwangsläufig vor dem Hintergrund ästhetischer Überlegungen vollzogen wird. Die zumindest im alltagssprachlichen Bereich vorrangige Bedeutung des Begriffs im Deutschen, auf einen bestimmten gestalterischen Entwurf eines Gegenstands zu verweisen, der Form wie Funktion in einen ästhetisch ansprechenden Einklang bringt, findet sich aber auch im Englischen. Vgl. als einem der ersten in diesem Kontext publizierten Texte etwa Rüdiger Bubners diesen Begriff bereits im Titel führenden Aufsatz Ästhetisierung der Lebenswelt in dem von ihm herausgegebenen Sammelband Ästhetische Erfahrung. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1989. S. 143-156. Welsch, Wolfgang: Das Ästhetische – Eine Schlüsselkategorie unserer Zeit? In: ders. (Hg.): Die Aktualität des Ästhetischen. München: Fink 1993. S. 13-47. S. 13. Vgl. zum Folgenden ebd. S. 14-23. Solche Formen einer Ästhetisierung der Lebenswelt begegnen uns etwa in Shopping Malls, hierunter lassen sich aber auch Phänomene wie die Stadion-Choreographien von Fußballfans, WellnessTrends oder Designer-Food fassen. Auch wenn es sich nicht immer im engeren Sinne um sprachbasierte Ästhetisierungen handelt, so lässt sich die Art und Weise, wie hier ein ästhetischer Schein aufgebaut wird, mithilfe eines erweiterten, kultursemiotischen Textbegriffs fassen. Das Ästhetische ist hier oftmals auf (sinnlichen) Genuss hin abgestellt, den Welsch in den Kontext hedonistischer Tendenzen rückt und von einem »Amusement«, einem »Genuß ohne Folgen« (ebd. S. 16) spricht. Zugleich, und häufig damit einhergehend, wird es Ziel, den Adressaten zu emotionalisieren, zu einem bestimmten Verhalten zu animieren. Im engeren Sinne sprachlich operieren auf dieser Ebene etwa Werbestrategien, die sich Formen einer Wortkunst bedienen, um Produkte zu vermarkten. Ein Slogan wie »Unterm Strich zähl ich.« (Postbank) macht sich nicht nur den Wohlklang eines Reims zunutze, sondern auch ein Homonym: Zählen kann sowohl die Bedeutung von »Rechnen« als auch die von »etwas Wert sein/ins Gewicht fallen« erhalten – und gerade die Verbindung beider begründet hier den ästhetischen Reiz und die appellative Funktion. Ebd. S. 18.

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Literarästhetische Literalität

deutschen PISA-Konsortiums 2000 knüpfen hieran an und fragen noch weitergehend, »ob unser Leben nicht sogar mehr durch Fiktion als durch Fakten bestimmt ist«52 .) Drittens eine existentielle Dimension, die Welsch als das »Styling von Subjekten und Lebensformen«53 fasst. Dies äußert sich in verschiedenen Formen, in denen das eigene Leben zum Gegenstand eines bestimmten ›Designs‹ gemacht wird.54 Die Felder zeigen an, dass alle gesellschaftlichen Gruppen mit Formen einer zunehmenden Ästhetisierung von Lebenswelten konfrontiert sind. Auf künstlerische Techniken zurückgreifende und ästhetisch anmutende Inszenierungen haben den ehemals in ihrer öffentlichen Wahrnehmung recht begrenzten Feldern von Kunst, Ästhetik und deren philosophischer Reflexion so eine kulturelle Bedeutung verschafft, die mehr und mehr das soziale Zusammenleben und das Verständnis der eigenen Existenz bestimmt. Insbesondere für die gesellschaftlich-kulturelle Handlungsfähigkeit von Schüler_innen ist eine Reflexion ermöglichende Distanz zu diesen verschiedenartigen Formen von Ästhetisierungen, die ihre sekundären semantischen Codierungen oftmals nicht auf den ersten Blick preisgeben, von erheblicher Bedeutung. Wie ein literaturdidaktischer Weg hierhin gedacht und ausgestaltet werden kann, dazu gibt der Ansatz des Anglisten Robert Scholes Hinweise. Im Zuge seiner Bestrebung einer Neuausrichtung sowohl des schulischen wie universitären Fachs »Englisch« denkt er sprachliches und ästhetisches Lernen zusammen. Wenn, wie die Autor_innen des deutschen PISA-Konsortiums hervorheben, gilt, dass einerseits »[b]esonders im historischen Vergleich […] das Eindringen der Schrift in alle Lebensbereiche deutlich [wird]«55 , und andererseits gleiches für Ästhetisierungstendenzen in der Gegenwart behauptet werden kann, dann erscheint sein Bestreben einer Abkehr von tradierten hermeneutischen Formen der Textinterpretation als Fokus des Literaturunterrichts wie der Literaturwissenschaft und einer Hinwendung zu den Kategorien von Sprache und Textualität plausibel. Scholes sieht in einer solchen Veränderung der Konzeption 52

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Artelt u.a.: Lesekompetenz. S. 70. Diese Verschiebung hat sich für die heutige Gegenwart als eine der maßgeblichen Veränderungen des Alltagslebens erwiesen. Einerseits strömt auf uns wie vermutlich zu keiner Zeit zuvor eine immer größere Menge an sprachlichen und audiovisuellen Informationen, die ihrerseits aber mehr und mehr davon geprägt sind, die Grenzen von Fakt und Fiktion, von Spiel und Wirklichkeit zu verwischen. Dies belegt nicht zuletzt die öffentliche Diskussion um das sog. postfaktische Zeitalter. Dabei wird man den Begriff der Fiktion auch noch um den des Virtuellen ergänzen müssen, um hierunter weitere Formen einer konstruierten Simulation von Wirklichkeit, die als diese selbst erscheinen soll, zu fassen. »Wirklichkeit wird medial zu einem Angebot, das bis in seine Substanz hinein virtuell, manipulierbar, ästhetisch modellierbar ist.« Welsch: Das Ästhetische. S. 19. Ebd. S. 20. Auch hier lassen sich verschiedene Erscheinungsformen unterscheiden: Etwa das Bedürfnis, den eigenen Körper zu einer Fläche künstlerischer Gestaltung werden zu lassen, die – z.B. durch Tätowierungen oder Piercings – ihn gleichsam zum Sprechen bringen soll und bestimmte Botschaften übermittelt; weiterhin die Ausgestaltung des eigenen Profils in virtuellen sozialen Netzwerken wie Facebook, die die Identität als eine Form begreift, die einem bestimmten Design folgend modelliert wird, um sie entsprechend nach außen repräsentieren zu können. Artelt u.a.: Lesekompetenz. S. 70. Scholes macht zudem auf eine immer größere Komplexität der Zeichensysteme in unserer Gegenwartsgesellschaft aufmerksam: »[O]ur culture is organized by the most complex system of textuality the world has ever known.« Robert Scholes: The Rise and Fall of English. Yale: University Press 1998. S. 130.

4. Grundzüge eines Modells literarästhetischer Literalität

einen Ausweg aus der von ihm als krisenhaft diagnostizierten gegenwärtigen Situation der Anglistik, die in vergleichbarer Art und Weise auch die Germanistik als Disziplin betrifft.56 Sein Ansatz will aus der Krise eine Chance für das Fach machen, indem er dessen Ausrichtung zugunsten einer verstärkten Berücksichtigung kulturell-gesellschaftlich relevanter Fähigkeiten verändert: »What I am suggesting is that we stop thinking of ourselves as if we had a subject matter and start thinking of ourselves as having a discipline which we can offer our students as part of the cultural equipment that they are going to need when they leave us.«57 Zu diesem Zweck bindet er die literarspezifischen Sprachverwendungsformen und die Arbeit mit ihnen in ein übergreifendes, sprach- resp. textorientiertes Konzept ein (das einem erweiterten Textbegriff folgt, zu dem auch etwa die Filmsprache zu rechnen ist), das er selbst explizit in Zusammenhang mit dem literacy-Begriff bringt.58 Dabei hat er keineswegs nur eine Qualifikation für das spätere Berufsleben oder den Übergang zur Universität im Auge. Sprache ist für ihn das Medium, über das sich das Verhältnis des Menschen zu seiner Außenwelt konstituiert, in dem und über das er sich selbst als Individuum in einer bestimmten Kultur zu verstehen, auszudrücken und zu gestalten vermag – und von dem er zugleich in seinem Denken und Handeln bereits geformt ist.59 Das von Scholes hierbei verfolgte 56

57 58

59

Der deutsche Literaturwissenschaftler Jochen Vogt macht für letztere eine »Kombination von fachinternen Problemen und von Rahmenbedingungen, die mit der gegenwärtigen Lage der deutschen […] Universitäten und der Bildungspolitik schlechthin zu tun haben« sowie »grundsätzliche soziale und kulturelle Veränderungen des späten 20. und des 21. Jahrhunderts« verantwortlich, »die sehr direkt gerade auf unser Fach durchschlagen.« Jochen Vogt: Einladung zur Literaturwissenschaft. Mit einem Vertiefungsprogramm im Internet. 7., erweiterte und aktualisierte Auflage. Paderborn: Fink 2016. S. 21. Scholes: The Rise and Fall of English. S. 67f. »Literacy involves the ability to understand and to produce a wide variety of texts that use the English language – including work in the traditional literary forms, in the practical and persuasive forms, and in the modern media as well. Whether students go on to higher education or enter the workforce after graduation, their sucess will depend to a great extent on their ability to understand and use the English language. That is why this course makes language itself – and its use in various forms, genres, and media – the center of attention.« Scholes: The Rise and Fall of English. S. 130. Ein kurzes Beispiel kann diesen Zugang verdeutlichen: Es betrifft die Frage, in welcher Verbindung ein bestimmtes Subjektverständnis zu Sprachverwendungstechniken (jenen Available Designs in der Terminologie der New London Group) steht: Die Ausbildung eines modernen bürgerlichen Subjektbegriffs im 18. Jahrhundert, die in der zweiten Hälfte mit dem Konzept der passionierten Liebe einhergeht, ist gebunden an sprachliche Muster – rhetorische, grammatische wie semantische –, deren Inventar sich in einem wechselseitigem Bedingungsverhältnis mit den veränderten Konstruktionen von Subjektivität formiert. Goethes Werther etwa vereint eine ›Rhetorik des Herzens‹ mit der Form des Briefromans, der das individuelle Empfinden scheinbar unvermittelt einzufangen vermag, und einer Neugestaltung der Syntax, in der Satzabbrüche oder Ausrufe die Emphase subjektiven Erlebens gleichermaßen abbilden wie dem allererst auch eine Sprache verleihen und es so hervorbringen. Auch wenn Schüler_innen all dies heute vielleicht mitunter eher als kitschig denn innovativ empfinden, kann ihnen hieran aber aufgezeigt werden, welche konstitutive Bedeutung Sprache für menschliche Selbst- und Weltdeutungsmuster erhält – und zugleich, in welchem Maße ihre eigenen Vorstellungen von Liebe vermutlich immer noch zumindest in Teilen auf dieses sich Ende des 18. Jahrhunderts ausbildende Paradigma zurückgehen, auch wenn es selbst nun zu einem vorgefundenen Sprachmuster, einem Available Design wird, mit dem man im 20. und 21.

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Literarästhetische Literalität

Ziel liest sich wie eine Spezifikation des literacy-Modells der New London Group für den muttersprachlichen Unterricht: die Bedingungen kulturell codierter Bedeutungskonstruktionen über die Auseinandersetzung mit Sprache insbesondere in literarischen Verwendungskontexten zur Reflexion kommen zu lassen und zugleich Fähigkeiten zu vermitteln, die Schüler_innen in die Lage versetzen, gestaltend mit dem vorgefundenen Material im Rahmen von Selbstbildungsprozessen umzugehen.60 Als zentraler Bezugspunkt seiner Position dient Scholes Jakobsons Begriff der poetischen Funktion. Sie erlaube eine Definition von Literarizität61 , die es gestatte, literarische Sprache von der Seite eines sprachlichen Kriteriums, das sich auch in anderen Sprachverwendungsformen nachweisen lässt, her in den Blick zu nehmen. Von hier aus sei Schüler_innen und Studierenden dann etwas zu vermitteln, das Scholes als »textual power«62 bezeichnet – und folglich, aufgrund des erweiterten Textbegriffs und des semiotischen Verständnisses von Kultur, diese auch befähigt, in ein kritisch-distanziertes Verhältnis zu den Tendenzen einer gegenwärtigen Ästhetisierung von Lebenswelten zu treten. Bis hierhin teilt die vorliegende Arbeit die Ziele des Modells von Scholes, weicht aber hinsichtlich eines weiteren, essentiellen Punktes von ihm ab. Denn wenn wie bei Scholes Literatur primär die Funktion zukommt, Schüler_innen eine Reflexion der sprachlich-medialen Konstruiertheit der ›Wirklichkeit‹ zu vermitteln, gerät ihre eigene Selbstzweckhaftigkeit aus dem Blick – und somit auch das,

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Jahrhundert seinerseits in Form neuer Gestaltungen spielt. Dies vermag in gleicher Weise sprachlich gebundene subjektive Bildungsprozesse wie eine reflektierte gesellschaftliche Handlungsfähigkeit hervorzubringen, die Diskurse der Gegenwart in ihrer historischen Bedingtheit erfasst. Hierfür wird aber eine genaue Wahrnehmung sprachlicher Details und ihrer Gestaltung notwendig, da nur so bedeutungskonstitutive Formen und Strukturen zu Bewusstsein kommen können, deren Relevanz für das eigene Denken und Handeln man in alltagspragmatischen Sprachverwendungen infolge der weitgehenden Ausblendung der medialen Ebene der Zeichenträger nicht gewahr wird. Vgl. Scholes: The Rise and Fall of English. S. 73f.: »When I say that an English teacher ought to be a textual animal, then, I mean that such a teacher ought to be concerned with the weaving of words [Scholes verweist zuvor auf die etymologische Herleitung des Textbegriffs aus dem lateinischen Verb »texere«, das sich zunächst als »weben« übersetzen lässt, ausgeweitet aber auch im Sinne von »zusammenpassen, verflechten« oder noch allgemeiner als »etwas konstruieren/herstellen/fabrizieren/erbauen« verwendet werden kann], but I also mean to include the more recent extentions of the word text. As it is used now by semiotic and deconstructive writers, text refers to the fabric of culture itself, in which we and our students find ourselves already woven, even as we try to learn and teach how to weave or reweave those garments. The question of what is becoming an English teacher, then, has to do less with the sort of garments we might wear than with the sort of garments we may weave. […] What becomes us is an acceptance of our condition as unfinished beings, whose mode of presentation – garments in the metaphor we are weaving for the moment – must be subject to perpetual alteration. Thus nothing will ever fully and finally become us. […] Let me weave, then, an image of the weaver weaving – an image of the English teacher as an instructor of textuality, a weaver of texts who teaches such weaving to others.« »[…] I believe, that what Roman Jakobson and other structuralists call literariness is indeed a pervasive if not universal feature of verbal texts, found in epic poems and bumper stickers, jokes and tragic drama, films and dreams, conversation and declamation, East and West, North and South.« Ebd. S. 151. Ebd. S. 148.

4. Grundzüge eines Modells literarästhetischer Literalität

was sie eigentlich bestimmt. Dies geht gerade aus dem im dritten Kapitel zugrunde gelegten strukturalistischen Ansatz Jakobsons hervor, der das spezifisch Ästhetische der Literatur über die ihr eigene Form der Sprachverwendung bestimmt. Er unterscheidet einen rein funktionalen Einsatz der »poetischen Funktion« von dem Gebrauch, den Literatur von ihr macht: Hier ist sie dominant gesetzt und dient nicht anderen sprachlichen Funktionen, diese leiten sich vielmehr allererst von ihr aus ab, sodass mögliche emotive, referentielle, phatische, metasprachliche oder konative Botschaften dem ästhetischen Verstehensvollzug untergeordnet bleiben. Für die Rezipient_innen stellt es die Aufforderung dar, genau dies zu berücksichtigen. Deshalb wird eine grundlegende Differenzierung zwischen Sprachverwendungsformen, in denen die poetische Funktion dominant gesetzt ist, d.h. literarischen Texten, und solchen, in denen dies nicht der Fall ist, notwendig. Dies bedeutet ausdrücklich nicht, dass auf dem Wege einer ästhetischen Rezeption nicht auch allgemeine sprachliche und somit auch kulturelle Fähigkeiten erworben werden können, die insbesondere im Umgang mit Texten, in denen die poetische Funktion einer anderen sprachlichen Funktion dient, relevant werden – und somit auf das Phänomen einer Ästhetisierung und zunehmenden Fiktionalisierung oder Virtualisierung der Lebenswelt bestens vorbereitet. Will man aber mit Texten, in denen die poetische Funktion dominant gesetzt ist, angemessen arbeiten, so bedarf es hierfür eines Ansatzes, der das genuin Ästhetische zum Ausgangspunkt macht. Scholes’ Ansatz ist zwar keineswegs der Vorwurf zu machen, dass er dies in der konkreten Arbeit mit literarischen Texten, wie sie aus den von ihm genannten Beispielen hervorgeht, nicht berücksichtigt, doch macht er dies in seinem Rekurs auf das übergeordnete Ziel »textual power« nicht zur theoretischen Grundlage seines Ansatzes.

4.2.2.

Fokus: Kunst und ästhetische Rezeption

Als Anknüpfungspunkt für eine Position, die vom genuin Ästhetischen selbst ausgeht und es von instrumentellen Verwendungsformen abgrenzt, eignen sich die Thesen KarlHeinz Bohrers.63 Er unterscheidet zwei Begriffe des Ästhetischen: Seinen eigenen, unter dem er die »formalen Ausdrucksqualitäten eines Kunstwerks« versteht, und den einer »Entgrenzung des Kunstwerkbegriffs«, in dessen Folge es eigentlich »gar nicht um Kunst und Literatur, sondern um eine hedonistische Lebensqualität«64 oder eine sog. Erlebniskultur65 gehe. Diese Gegenüberstellung ist in ihrer Schärfe und der Ignoranz von Mischformen gewiss angreifbar – und auch Folge einer polemischen Zuspitzung –, sie macht aber gerade in dieser Zuspitzung auf einen Punkt aufmerksam, der für eine Modellierung literarästhetischer Literalität maßgeblich wird: die Frage nämlich nach dem Umgang mit (sprachlichen) Formen ästhetischer Gestaltungen. 63

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Der Text, auf den hier im Folgenden Bezug genommen wird, ist seine unmittelbar auf den zuvor angesprochenen, einführenden Aufsatz Welschs in dem Band Die Aktualität des Ästhetischen abgedruckte ›Gegenrede‹. Bohrer beginnt sie mit einem Satz, der die Kehrseite der allgegenwärtigen Ästhetisierung der Lebenswelt in den Vordergrund rückt: »Ein Terror liegt über dem Land: Die Akzeptanz des Ästhetischen.« Karl-Heinz Bohrer: Die Grenzen des Ästhetischen. In: Wolfgang Welsch (Hg.): Die Aktualität des Ästhetischen. München: Fink 1993. S. 48-64. S. 48. Ebd. Vgl. ebd. S. 49.

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Literarästhetische Literalität

Man muss nicht das Pathos Bohrers teilen, wonach das »enigmatisch-elitäre Moment des eigentlich Ästhetischen immer mehr abhanden gekommen« sei66 , um seine These einer Art ›Entkernung‹ des Ästhetischen, die mit seiner Verbreitung einhergeht, zu teilen; man kann hierzu, wie aufgezeigt, das überaus nüchterne und gar nicht enigmatische strukturalistische Kommunikationsmodell Jakobsons hinzuziehen, um auf ein vergleichbares Ergebnis zu kommen. Welschs These einer Ausweitung des Ästhetischen geht mit einer nicht eben marginalen Veränderung des Begriffsverständnisses einher. Viele, faktisch die weit überwiegende Zahl der von ihm angesprochenen Ästhetisierungsphänomene, funktionalisieren die im Kontext ästhetischer Rezeption relevanten Ebenen des sinnlich Wahrnehmbaren und/oder der Vorstellung und Imagination, indem sie hiervon Gebrauch machen, ohne dies reflexiv werden zu lassen. Zugleich ordnen sie die poetische Funktion anderen sprachlichen Funktionen unter. Und so läuft [d]er Tatbestand einer ›Ästhetisierung der Lebenswelt‹ […] ganz in Richtung eines hygienischen Kunstverständnisses, das die irrationalen, provokativen Elemente innerhalb einer modernen Fortschrittsgesellschaft von der Kunst gern absorbieren läßt, um sie um so leichter dem rationalen Programm integrieren zu können: Die Sphäre der Kunst ist der Sphäre der Nichtkunst funktional symmetrisch angepaßt.67 Wendet man diese Überlegungen zurück auf Fragen nach der Rolle von Literatur und ihrer schulischen Vermittlung, lässt sich folgender Schluss ziehen: Bohrers Projekt steht aufgrund der hohen Voraussetzungen, die zu schaffen sind, um einen Kunstgenuss, wie er ihm vor Augen steht, zu ermöglichen, in Gefahr, zu einem Eliteprojekt zu werden, das für schulische Kontexte wenig praktikabel ist. Scholes’ Anliegen, dem dadurch zu entgehen, dass Literaturvermittlung im Rahmen einer kultursemiotisch erweiterten Ausbildung von »textual power« verortet wird, ist das didaktisch attraktivere Modell, würde auch auf die allgegenwärtigen Tendenzen einer Ästhetisierung der Lebenswelt reagieren, beinhaltet aber die Gefahr, nicht an der Spezifik ästhetischer Lernprozesse anzusetzen. Das mit dieser Arbeit verfolgte Konzept begreift sich als Synthese beider Positionen und verfolgt das Ziel, eine kulturrelevante »textual power« auf der Ebene genuin ästhetischer Sprachverwendungsformen zu vermitteln; d.h. die Grundlagen dafür zu schaffen, die Lernende in die Lage versetzen, sich mit Literatur auf der Basis ästhetischer Prämissen zu befassen. Diese Grundlagen sind primär in der Bereitschaft und Fähigkeit zu suchen, einen Gebrauch der Erkenntnisvermögen einzuüben, der sich von ausschließlich kognitiv ausgerichteten, begrifflich-funktionalen und alltagspragmatischen Ausrichtungen unterscheidet und somit das Kompetenzparadigma auf ein Literalitätsmodell hin überschreitet. Dann vermag literarästhetisches Lernen sowohl Bildungsrelevanz zu gewinnen als auch zu einer verbesserten allgemeinen Sprachkompetenz und gesellschaftlichen Handlungsfähigkeit zu führen; aber eben auch nur dann, wenn man zunächst am Ästhetischen ansetzt. 66 67

Ebd. Ebd. S. 50. Kritisch zu hinterfragen bleibt freilich die Annahme, dass der Kern des Ästhetischen keine Form von Rationalität beinhalte – es ist aber eine andere, von der begrifflich-instrumentellen Ratio abzugrenzende.

4. Grundzüge eines Modells literarästhetischer Literalität

Der Weg hierhin muss folglich von einem Punkt aus beschritten werden, für den hier ein letztes Mal Bohrer als Kronzeuge aufgeführt werden soll, gerade weil das Pathos seiner Rede deutlich macht, um was es eigentlich geht, was eine Kultur im Zuge ist aufzugeben, wenn sie den Anspruch verliert, Literatur zunächst einmal als Sprachkunst zu vermitteln – und an Stelle dessen entweder rein kognitive Funktionen zwecks Erlangung von Lesekompetenz setzt, moralisch-erzieherische Ziele verfolgt, zu denen auch die Schaffung von Lesemotivation zu rechnen ist (die literarisch leer bleibt, wenn sich hiermit keine weiteren ästhetischen Ziele verbinden), einen museal kulturellen Nutzen aus literarischen Texten zu ziehen sucht oder ihnen bestenfalls noch eine gesellschaftskritische Funktion zuweist. Je reiner der ästhetische Kern erhalten ist, um so größer die Strahlkraft nach außen: Diese geschieht allerdings nicht als sozialkritische Korrektur des generellen Diskurses, sondern vielmehr als dessen Irritation. Ich nehme diesen Begriff nicht wohlfeil in Anspruch, sondern buchstäblich: Die Irritation des Diskurses vollzieht sich nämlich als Subversion der Gültigkeit seiner normativen Begriffe.68

4.3.

Literarästhetische Literalität II: Ausrichtung

Für ein literaturdidaktisches Modell, das genau dies leistet, d.h. zunächst an der Spezifik ästhetischer Lernprozesse ansetzt und Schüler_innen so eine Teilhabe am Kulturgut Literatur als Kunst vermitteln kann, die von hier aus »Strahlkraft« nach außen entfalten kann und dann auch relevant für hierüber hinausgehende gesellschaftliche Handlungsfelder (und persönliche Bildungsprozesse) wird, bietet wiederum das Modell der New London Group mit seinen drei Kategorien Available Designs, Designing und The Redesigned Anknüpfungspunkte. Mit Blick auf die Available Designs steht die Analyse vorgefundener Bedeutungen in gesellschaftlichen Diskursen im Vordergrund, die in Abhängigkeit von bestimmten, nicht immer offengelegten Dispositionen, in Gestaltungsformationen mittels bestimmter Techniken erzeugt, ›designed‹ werden. Die Lernprozesse sollen hierüber so gelenkt werden, dass sie immer auch Fragen des Bedeutungsaufbaus mit einbeziehen. Dies nimmt Bezug auf die jeweiligen ›grammars‹ of various semiotic systems: the grammars of languages, and the grammars of other semiotic systems such as film, photography, or gesture. Available Designs also include ›orders of discourse‹ (Faircloogh, 1995). An order of discourse is the structured set of conventions associated with semiotic activity (including use of language) in a given social space – a particular society, or a particulare institution such as a school or a workplace, or more loosely structured spaces of ordinary life encapsulated in the notion of different lifeworlds.69 68 69

Ebd. S. 63. The New London Group: A Pedagogy of Multiliteracies. S. 74. Ausgeführt wird dies unter Bezug auf »discourses, styles, genres, dialects, and voices« (ebd. S. 75). Diskursanalytische Beobachtungen beziehen Aussagen auf bestimmte sich historisch zu einer spezifischen Zeit etablierende MachtWissensformationen zurück, Stilanalysen gehen auf die kompositorische Gestaltung von Medien

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Literarästhetische Literalität

Für literarästhetische Lernprozesse lässt sich diese Dimension insofern fruchtbar machen, als auch hier die Gemachtheit bzw. das ›Design‹ der Sprache eine zentrale Kategorie darstellt, an die angeknüpft werden muss. Zugleich rückt aber die Perzeption des materiellen Zeichenträgers selbst stärker in den Fokus; gerade weil diesem ein ästhetischer Eigenwert zufällt, der nicht nur in der Hervorbringung bestimmter Bedeutungen aufgeht. Dies kann zu einer bewussten Wahrnehmung und Fokussierung des sprachlichen Klangs in einem Gedicht führen. Ziel wird es, Schüler_innen vor Augen zu führen, dass Material und Gestaltung nicht wie in pragmatischen Texten funktional bestimmten Kommunikationszielen dienen, sondern selbst in den Mittelpunkt rücken. Sie erfordern so Rezeptionsformen, die sich nicht länger im Rahmen eines auf Problemlösung abhebenden Ansatzes erfassen lassen, sondern die in ihrer Prozessualität zum Selbstzweck der Aufmerksamkeit werden und hierüber wiederum zum Aufbau reflektierender, nicht instrumenteller, kultureller Praktiken und Bildungsprozesse beitragen können.70 Förderlich ist dem auch die am Beispiel von Gestaltungstechniken literarischer Texte möglich werdende Ausbildung eines Fiktionsbewusstseins, das eine kritische Distanz zu solchen Funktionalisierungen des Ästhetischen in gesellschaftlichen Kontexten ermöglichen kann, die unmittelbare Realität suggerieren. Innerhalb der zweiten Kategorie, dem Designing, geht es im Modell der New London Group darum, die in vorgefundenen Designs verwendeten Elemente in neue Formationen zu setzen und sie so semiotisch zu re-präsentieren und zu rekontextualisieren. Dies wird dabei ausdrücklich auch bereits auf rezeptive Tätigkeiten des Lesens, Sehens und Hörens bezogen, die sämtlich zu Instanzen des Designings werden, wenn ihre Gegenstände etwa vor dem Hintergrund und in der Perspektive bestimmter Diskurse der eigenen Sozialisation, eigener Erfahrungen oder Motivationen gelesen werden.71 Dieser aktive Umgang mit vorgefundenen Designs ist in einer breiten Spanne zwischen aneignender Nachbildung auf der einen und freien Transformation auf der anderen Seite denkbar. Er ermöglicht, das Vorgefundene so zu formen, dass es in seiner alten Gestaltung und möglichen Bedeutung(en) bewusst wahrgenommen und in seiner Rekonfiguration zugleich neu angeeignet werden kann. Die Ausbildung der hierfür notwendigen Fähigkeiten sehen die Autoren_innen in direktem Bezug zu möglichen Veränderungen der Beziehungen (durch die Modifikation der Available Designs) im gesellschaftlichen Miteinander und hierüber auch in der Persönlichkeitsbildung. Indem neue Ordnungen erzeugt werden, eröffnen sich andere Wahrnehmungs- und Erfahrungsräume, de-

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im weitesten Sinne ein, Genres sind Organisationsformen, »that arise out of a particular social configurations or the particular relationships of the participant in an interaction« (ebd. S. 75), Dialekte bilden schicht- oder regionaltypische Markierungen und Stimmen lassen sich als eher individuell geprägte, dabei aber zugleich auch diskursiv rückgebundene und somit erzeugte Phänomene begreifen. Vgl. in diesem Zusammenhang Tholen, Toni: Philologie im Zeichen des Lebens. In: GermanischRomanische Monatsschrift 59 (2009), H. 1, S. 51-63. Tholen entfaltet den Begriff im Kontext einer »Kulturalisierung der Philologie«, die sich als Lebenswissenschaft begreift, und richtet ihn auf die Etablierung einer »ethisch-literarische[n]« »Lebens-Form« (ebd. S. 63) aus. Bezogen auf die Terminologie dieser Arbeit markiert sie den Übergang vom Literalitätskonzept zum Bildungsideal, weshalb hierauf später im Kontext des bildungsrelevanten Potentials einer literarästhetischen Literalität noch zurückzukommen sein wird. Vgl. The New London Group: A Pedagogy of Multiliteracies. S. 75.

4. Grundzüge eines Modells literarästhetischer Literalität

ren konkrete Ausgestaltung veränderte Perspektiven auf das kulturelle Zusammenleben und die hierin eingenommenen Rollen ermöglichen und so eine gleichermaßen bildungsrelevante wie ethische Dimension erhalten können.72 Diese Kategorie ist mit Blick auf den Literaturunterricht vor allem handlungs- und produktionsorientiert fruchtbar zu machen. Solche Zugänge müssen nicht zwangsläufig begrifflich-kognitiv ausgerichtet sein, denkbar sind auch zunächst einmal auf sinnliche Wahrnehmungen ausgerichtete Formen einer körperlichen oder stimmlich gebundenen Aneignung in Form einer Inszenierung des zu bearbeitenden Stoffs (sei es im Vortrag, in Form eines Standbildes oder einer szenischen Interpretation) oder vorstellend-imaginative Vergegenwärtigungen und ›Fortschreibungen‹. Zumindest bei freieren Aufgabenstellungen werden sich die Produkte der Schüler_innen im Rahmen des Weinert’schen Kompetenzbegriffs nicht immer hinsichtlich der erbrachten Leistungen klar messen lassen, da hier häufig sehr verschiedene, individuell geprägte Wege der Bearbeitung möglich sind. Auch kann es nicht primär um technische Perfektion gehen, vielmehr um eine Anwendung von Gestaltungsmöglichkeiten, die erst dann bewusst werden, wenn sie von den Lernenden selbst vollzogen werden. Um eine gezielte Wahrnehmung sprachlich-erzählerischer Gestaltungselemente zu befördern, können Schüler_innen Texte auch umschreiben, etwa indem sie einzelne Mittel, z.B. die Fokalisierung, verändern. Die Möglichkeit, im eigenen gestalterischen Schreiben sich Sprachverwendungstechniken anzueignen und mit ihren jeweiligen Wirkungen zu experimentieren, kann dann besonders fruchtbar werden, wenn die Arbeit den Gestus des spielerischen Erprobens beibehält – und der Unterricht so prozess- und nicht produktorientiert verfährt. Insbesondere zum Ausdruck oder zur Mitteilung (ggf. auch ›nur‹ im Rahmen subjektiver Reflexionsprozesse, die nicht kommuniziert werden) komplexer, ambivalenter, fremdartig anmutender oder in Widerspruch zu gesellschaftlichen Konventionen stehender Erfahrungen, die Jugendliche und junge Erwachsene (und nicht nur diese…) zuhauf machen werden, können sich so angeeignete ästhetische Sprachverwendungsformen als hilfreich erweisen. Die Art und Weise, wie im Prozess des Designings einzelne Elemente der Available Designs in veränderte Konstellationen gebracht werden und eine Veränderung erfahren, mündet in die dritte Kategorie The Redesigned. Diese wird somit weder als bloße Reproduktion des Vorgefundenen noch als kreative Schöpfung eines Originalgenies aus dem Nichts begriffen: »As the play of cultural resources and uniquely positioned subjectivity, The Redesigned is founded on historically and culturally received patterns of meaning. At the same time it is the unique product of human agency: a transformed meaning.«73 Das Bestreben liegt nun darin, die eigenen (Um-)Gestaltungen wiederum hinsichtlich ihrer Bedingungen und Zielsetzungen bewusst werden zu lassen, damit aus dem Designing auch der Designer als jemand hervorgehen kann, der seine eigenen Denk- und Handlungsstrukturen zu reflektieren und so ggf. zu verändern weiß.74 72

73 74

»Designing transforms knowledge in producing new constructions and representations of reality. Through their co-engagement in Designing, people transform their relations with eath other, and so transform themselves.« Ebd. S. 76. Ebd. S. 76. Vgl. Cope/Kalantzis: »Multiliteracies«. S. 184.

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Literarästhetische Literalität

In der Kategorie The Redesigned anzusiedelnde Lernprozesse im Bereich literarästhetischen Lernens beinhalten Begründungen und einen wechselseitigen Austausch über verschiedene Gestaltungsformen, etwa im Falle von szenischen Umsetzungen, Textvorträgen oder Transformationen von Texten in ein anderes Medium. Hierüber wird es möglich, aus dem Vergleich mit den Produkten der Mitschüler_innen sich auch das eigene Vorgehen noch einmal bewusst zu machen und die Gestaltungen anderer hierzu in Bezug zu setzen. So lassen sich sowohl andere Zugänge zum Lerngegenstand – auf der Ebene seines Designs – eröffnen als auch weitere Möglichkeiten eigener Gestaltungsformen erschließen, wenn Andere Wege wählen, die von dem selbst praktizierten abweichen. Im gemeinsamen Austausch darüber gelangen auch die hierhinter stehenden Ideen zur Reflexion. Bei produktionsorientierten Aufgabenstellungen kann eine dreischrittige Aufgabenstellung sinnvoll sein, in der die eigentlich produktionsorientierte Erarbeitung (das Designing) in einen Rahmen gesetzt wird, in dem sie zunächst mit Blick auf ihre Voraussetzungen analytisch vorbereitet wird (Ebene der Available Designs) und am Ende hinsichtlich einer Begründung der eigenen gestalterischen Entscheidungen (The Redesigned) ausgewertet wird.

4.4.

Literarästhetische Literalität III: Verortung

Nachdem bisher die Anbindungen des Literalitätsbegriffs zum Kompetenzparadigma und Bildungsideal fokussiert wurden, um das integrative Potential des Modells zu verdeutlichen, sollen nun im Zuge einer näheren Verortung und Konturierung eines literarästhetischen Literalitätsmodells die Abgrenzungen zu beiden Seiten im Vordergrund stehen. Die Etablierung des Begriffs erlaubt eine terminologische Präzisierung, die Lücken im gegenwärtigen literaturdidaktischen Diskurs zu schließen und Inkonsistenzen in der Besetzung der bisherigen beiden Leitbegriffe, Kompetenz und Bildung, zu kompensieren vermag. Schematisch reduziert, ist das Verhältnis der drei Termini wie folgt zu denken: Unter Kompetenzen, die notwendigerweise auf Wissen zurückgreifen müssen, sind all jene kognitiven Fähigkeiten zu verstehen, die gemäß Weinerts Definition dazu dienen, Probleme ergebnisorientiert zu lösen. Motivationale, volitionale und soziale Dispositionen sind hier dieser kognitiven Problemlösekompetenz funktional untergeordnet und erhalten keinen Eigenwert. Kompetenzen müssen in Form von Aufgaben operationalisierbar, deren Resultate messbar – und somit prognostizierbar – sein. Auf dem Gebiet der Literaturvermittlung würden hierunter etwa die Bestimmung der erzähltechnischen Vermittlung, topologischer Strukturen oder das Benennen sprachlich-rhetorischer Mittel zählen. Es handelt sich hierbei durchweg um Fähigkeiten, die – obwohl sie die Grundlage ästhetischer Verstehensprozesse werden können – selbst nicht spezifisch ästhetisch ausgerichtet sind, da keine ästhetisch reflektierenden Urteile im Sinne Kants erfolgen. Literalität auf einer allgemeinen Ebene greift auf solche Kompetenzen (und weitere, insbesondere metakognitive Wissensbestände) zurück, erweitert aber deren Anwendungsbereich und -modus dahingehend, dass sie nicht nur zur ergebnisorientierten Lösung bestimmter Probleme, sondern zu einer gegenstandsadäquaten kulturellen

4. Grundzüge eines Modells literarästhetischer Literalität

Praktik im Umgang mit Literatur als einer Kunstform befähigen will, die ihrerseits auf das Subjekt zurückzuwirken vermag. Der Begriff bleibt somit zwar gegenstandsbezogen, doch erweitert sich der Fokus zu vier Seiten hin: Zum einen schließt er eine kritische Reflexion der kulturell-diskursiven Kontexte ein, in denen sowohl der Gegenstand als auch die Perspektive, unter der er bearbeitet werden soll, stehen. Zum zweiten erfolgt eine Ausweitung auf nicht-kognitive Zugänge, sodass der bewusste Einbezug von Wahrnehmungen, Vorstellungen und Imaginationen um ihrer selbst willen im ästhetischen Rezeptionsprozess möglich wird. Hierzu zählt auch die Fähigkeit, Vorstellungen im Verlauf der Lektüre jeweils neu zu entwickeln und so variabel zu halten oder einen ästhetischen Wahrnehmungsmodus auszubilden, der das sprachliche Material – als Klang oder auch auf semantisch-begrifflicher Ebene – nicht in seiner Funktion als Bedeutungsträger aufgehen lässt und so absorbiert. Hiermit hängen zwei weitere möglich werdende Ausweitungen zusammen: Ein dritter Punkt betrifft die Förderung von motivationalen und volitionalen Aspekten, insofern diese nicht (wie im Falle des Kompetenzbegriffs Weinerts) auf die Erbringung einer kognitiven Leistung ausgerichtet sein müssen, sondern auch auf die soeben unter dem zweiten Punkt aufgeführten Fähigkeiten (wie etwa die bewusste Wahrnehmung resp. den sinnlichen Genuss eines bestimmten sprachlichen Klangphänomens oder die Ausbildung einer reichhaltigen und differenzierten Vorstellung und Imagination) abzielen können. Zugleich, und hiermit ist der vierte Punkt benannt, wird es möglich, Operationen auf der kognitiven Ebene auszuweiten, und zwar im Sinne einer Anwendung der ästhetisch-reflektierenden Urteilskraft nach Kant und somit eines Verstehens, das weniger ergebnis- als prozessorientiert zu denken ist, einen Zweck in sich selbst findet. Dies schließt etwa die Vermittlung von fragend-heuristischen Zugängen zum Text ein. Weiterhin zählt hierzu die Art und Weise, wie mit den kompetenzorientiert zu erlangenden Ergebnissen etwa hinsichtlich der Bestimmung von Erzähltechniken oder einer topologischen Analyse nun weiter verfahren wird. Denn diese Beobachtungen können in ästhetischen Verstehensprozessen nur Ausgangspunkte bilden, die nun vernetzt und variabel aufeinander bezogen werden. Den Ergebnissen dessen bleibt aber im Gegensatz zu den Lösungen, die im Rahmen des Kompetenzparadigmas erarbeitet werden können, eine konstitutive Vorläufigkeit eingeschrieben, die auf motivationaler Ebene die Bereitschaft voraussetzt, sich wieder neu vom Text irritieren zu lassen. Da die Bearbeitungswege in diesem Bereich nicht auf bestimmte Ergebnisse festlegbar sind, werden sie zudem stärker von den individuellen und kulturellen Voraussetzungen der Lernenden abhängig sein. Die Ausrichtung an einer Prozessorientierung im Unterschied zur Ergebnisorientierung des Kompetenzbegriffs verbindet den Literalitäts- mit dem Bildungsbegriff75 , 75

Vgl. etwa die Ausführung Gerhard Härles hierzu, der Bildung als einen »Prozess […], der ein ›Werden‹, eine Veränderung bedeutet« versteht; »sie [Bildung] ist jedoch nicht deren Ergebnis, sondern deren andauernde (auch Rückschritte einbeziehende) Entwicklung. Bildung kann nicht ›erworben‹ werden, man kann sie nicht ›haben‹; sie ist vielmehr eine Dimension des Werdens und Seins.« Härle: Literarische Bildung im Spannungsfeld von Erfahrung und Theorie. S. 43.

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Literarästhetische Literalität

der – ähnlich wie Literalität auf Kompetenzen aufbaut, zugleich aber hierüber hinausgreift – nun den Literalitätsbegriff umspannt. Zu unterscheiden sind Bildungs- und Literalitätsparadigma aber dadurch, dass der Bildungsbegriff nicht primär gegenstands-, sondern subjektbezogen gedacht ist. Er richtet sich an »Fragen der Persönlichkeitsbildung in und durch ästhetische Erfahrungen«76 aus. Dabei lässt sich noch einmal zwischen literarästhetischer Bildung und allgemeiner Bildung differenzieren: Im ersten Fall betrifft dies spezifisch durch Literatur ausgelöste Bildungsprozesse, die nicht auch durch andere Gegenstände ersetzbar wären, im zweiten Fall solche, die zwar über Literatur befördert werden, grundsätzlich aber Ausgang auch von anderen Gegenständen nehmen können. In der literaturdidaktischen Diskussion wird diese Unterscheidung nur selten getroffen – zudem ist der Begriff der literarischen Bildung unterschiedlich besetzt. Es lassen sich wissensbasierte wie kompetenzorientierte Definitionen finden, weiterhin welche, die nah bei dem liegen, was in dieser Arbeit mit dem Begriff der Literalität bezeichnet wird, und schließlich solche, die an Humboldts Begriff von Bildung anschließbar sind. Schilcher/Pissarek referieren beispielsweise ein alltagssprachliches Verständnis literarischer Bildung als ein »besonders umfangreiches Wissen über Literatur«, etwa dahingehend, zu wissen, welche Epochen man in der deutschen Literaturgeschichte unterscheidet, welche Autoren wann gelebt haben und welchen Epochen sie zuzuordnen sind und welche Werke aufgrund welcher Merkmale als herausragende Beispiele deutscher Literatur gelten. Zudem wüsste eine literarisch gebildete Person über Metrum, Rhetorik und Stilistik Bescheid, sie würde berühmte Zitate nicht nur erkennen, sondern sie auch dem richtigen Werk zuordnen können.77 Vom neuhumanistischen Bildungsbegriff Humboldts, wie er oben entwickelt wurde, ist ein solches Verständnis weit entfernt, da es nichts darüber aussagt, in welcher Form das vorhandene Wissen des Einzelnen für sein Selbst- und Weltverständnis und gesellschaftliche Interaktionsfelder relevant wird.78 76 77 78

Dietrich/Krinninger/Schubert: Einführung in die ästhetische Bildung. S. 9. Schilcher/Pissarek: Zum Begriff der Kompetenzorientierung und seiner Anwendung im Bereich des literarischen Lernens. S. 15f. Auch wenn Schilcher/Pissarek sich von einer solchen Fassung des Begriffs in der Form distanzieren, als sie es als »alltagssprachliche Annäherung« (ebd. S. 16) bezeichnen, legen sie es doch zugleich auch zugrunde, um in Abgrenzung hierzu ihr kompetenzbasiertes Modell zu entwickeln: »Die alltagssprachliche Annäherung soll […] zeigen, dass literarische Bildung Zeit und Interesse voraussetzt: Zum [sic] Lesen, zur Abstraktionsbildung, zum Austausch. Zeit, die in der schulischen Realität nicht beliebig zur Verfügung steht. Welcher heutige Germanistikprofessor würde von sich behaupten, er habe die Schule bereits literarisch gebildet verlassen?« (Ebd.) Aus »literaturdidaktischer Sicht« stelle sich so »nicht primär die Frage, was ›literarische Bildung‹ ist, sondern wie ein Zugang zu ihr ermöglicht werden kann. Dieses ›Wie‹ zeigt sich aus unserer Sicht im Nachdenken über eine adäquate Vermittlung literarischer Kompetenz.« (Ebd. S. 17.) Dieser Ansatz entspricht in Teilen dem dieser Arbeit; neben der Frage, ob dies im Rahmen des Kompetenzbegriffs möglich ist, stellt sich hierüber hinausgehend aber auch die Frage, ob das ›Wie‹ ohne das ›Was‹ näher zu bestimmen ist – denn auch ein »Weg zur literarischen Kompetenz«, wie es im Titel des Bandes

4. Grundzüge eines Modells literarästhetischer Literalität

Schlüssiger, allerdings auch nur hinsichtlich der Erschließung möglicher Grundlagen, die zu diesem Ziel führen können, erscheinen vor diesem Hintergrund Begriffsfassungen wie die folgende von Kremer/Wegmann: »Hier liegt der Fokus […] mehr auf der technischen Seite, also auf all dem, was gemacht und getan werden muß, bevor die Literatur überhaupt einen ›ästhetischen Schein‹ entfalten kann […].«79 Im Zentrum steht die Vermittlung von Fähigkeiten, um einen gegenstandsadäquaten Zugang zur Literatur zu ermöglichen, und so ein Vertrautwerden mit literarischen Rezeptions- und Produktionsbedingungen. Ein solches Verständnis literarischer Bildung begegnet etwa auch bei Maria Lypp: Unter literarischer Bildung wird die Fähigkeit verstanden, sich der besonderen Kommunikationsweise zu bedienen, die ein literarischer Text bietet; genauer: die Fähigkeit, auf das im Text inszenierte Rollenspiel zwischen Autor und Leser einzugehen, die mit Hilfe der Sprache arrangierte Bilderwelt imaginativ auszugestalten und – ihrem Zeichencharakter entsprechend – einen Bedeutungszusammenhang herzustellen, der an die Erfahrung im Sinne eines Modells probierend angelegt werden kann. Voraussetzung für die Tätigkeit ist die Wahrnehmung der sekundären Strukturiertheit des literarischen Textes.80 All diese Aspekte werden vom Ansatz dieser Arbeit geteilt – es stellt sich aber die Frage, ob man begrifflich, da diese Fähigkeiten zunächst gegenstandsbezogen gedacht sind, hier von literarischer Bildung sprechen sollte. Präziser erscheint es, diesen Begriff für Ziele vorzuhalten, die im Humboldt’schen Sinne persönlichkeitsbildend werden können. Auf der Ebene einer genuin literarästhetischen Bildung kann – nicht aber muss, weshalb die beiden Ebenen zu trennen sind – etwa die literale Fähigkeit, den sprachlichen Klang eines Gedichtes bewusst wahrzunehmen, zu ästhetischem Genuss führen und in der Folge eine Relevanz für Bildungsprozesse erhalten. Gleiches gilt für die Bedeutung, die eine durch ästhetische Verstehensweisen und so reflexiv hervorgerufene »Lust am Schönen«81 im Sinne Kants für das Leben des Einzelnen bekommen kann.

79

80 81

heißt, bedarf eines Ziels. Und dass dieses nicht aus dem Kompetenzparadigma selbst ableitbar ist, bringen auch die beiden Autor_innen in ihrem Anschluss an die kompetenzkritische Position Odendahls zum Ausdruck: »Odendahl [… ist] zuzustimmen, wenn er kritisiert, dass ›(literarische) Bildung nicht in einem kompetenzorientierten Deutschunterricht aufgehen kann‹, sondern dass von ›Kompetenzen in einem bildungsorientierten Deutschunterricht zu reden‹ sei.« Ebd. Kremer, Detlef u. Nikolaus Wegmann: Ästhetik der Schrift. Kafkas Schrift lesen »ohne eine Interpretation dazwischen zu mengen«? In: Gerhard Rupp (Hg): Ästhetik im Prozeß. Opladen, Wiesbaden: Westdeutscher Verlag 1998. S. 53-84. S. 59. Kremer/Wegmann grenzen dieses Verständnis, das sie auch selbst propagieren, von einem zweiten ab, das sich von Beginn an innerhalb einer anthropologischen Dimension verortet. Hierfür steht »Schillers Programm einer ästhetischen Erziehung« Pate, das sich »auf Anthropologie beruft« (ebd. S. 64): »Die Autorität der schönen Kunst und vor allem der ästhetischen Erziehung als Motor und Medium seiner geschichtsphilosophisch differenzierten sozialen Utopie begründet Schiller mit Anthropologie. Der grundlegende Kontext seines literarischen Bildungsprogramms verdankt sich einem anthropologisch abgefederten Begriff vom Wesen und von den Möglichkeiten des Menschen als Gattungswesen.« Ebd. S. 63f. Lypp, Maria: Literarische Bildung durch Kinderliteratur. In: Peter Conrady (Hg.): Literatur-Erwerb. Kinder lesen Texte und Bilder. Frankfurt a.M.: dipa 1989. S. 70-79. S. 70. Kant: Kritik der Urteilskraft. S. 224.

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Literarästhetische Literalität

Kurz: Der Begriff der literarischen Bildung beinhaltet subjektbezogen all die Elemente, die für die Persönlichkeitsentwicklung relevant werden können und in einer Mehrzahl der Fälle auf einer zuvor ausgebildeten literarästhetischen Literalität aufbauen82 , die ihrerseits wiederum auf Kompetenzen zurückgreift. Ein so gefasster Begriff literarischer Bildung ist zugleich eng an das gekoppelt, was im zweiten Kapitel zur ästhetischen Erfahrung ausgeführt wurde.83 Gerade die im Humboldt’schen Bildungsbegriff zugrunde gelegte Korrespondenzbeziehung zwischen erfahrendem Subjekt und Gegenstand der Erfahrung ist in ästhetischen Zusammenhängen in besonderer Art und Weise ausgeprägt. Gleiches gilt für die Zweckfreiheit solcher Prozesse. Denn sie lassen die Tätigkeit des Ich nicht funktional in einem Weltbezug aufgehen; vielmehr generieren sie eine Art ›Überschuss‹, der auf das Subjekt zurückwirkt und in Bildungsprozesse münden kann. Dies ist wiederum nur möglich, weil ästhetische Rezeptionsprozesse geprägt sind durch eine Fremdheit und Unverfügbarkeit des Gegenstands, auf den sie Bezug nehmen; sie bergen Widerstände in sich, die verhindern, dass sie funktional gänzlich absorbiert oder auf Grundlage automatisierter Rezeptionsprozesse letztgültig erfasst werden. Anhand der Theoreme des Russischen Formalismus wurde aufgezeigt, wie dies der Kunstform Literatur aufgrund einer ästhetischen Form der Sprachverwendung gelingt. Die Leser_innen werden so dazu gebracht, alltäglich vertraute und oftmals auch unbewusste Verstehensroutinen zu verlassen, was die Chance bietet, in ein Reflexionsverhältnis zu diesen und somit zu sich selbst zu treten. Das Verhältnis der Vermittlung einer gegenstandsorientierten Literalität und eines subjektbezogenen ästhetischen Erfahrens, das Bildungsprozesse auslösen kann, unterliegt einer beidseitigen Rückkoppelung. Einerseits gilt, »dass Fähigkeiten der Analyse und Interpretation funktionslos bleiben, wenn die ästhetische Wirkung der Gegenstände nicht erfahren wird«84 . Doch auch wenn diese Wirkung darauf zielt, habitualisierte Automatismen aufzubrechen, bedarf es paradoxerweise zugleich einer Hinführung und Ermöglichung solcher Formen ästhetischen Erfahrens, die eine gewisse Vertrautheit mit ästhetischen Gegenständen und Rezeptionsformen voraussetzen. Andersfalls droht, dass ästhetische Rezeptionsmodi sich erst gar nicht etablieren können bzw. zu einem frühen Stadium abgebrochen werden. Das bildungsrelevante Potential literarästhetischen Lernens bleibt so rückgebunden an ein Verständnis von Literatur und Literaturvermittlung, das Tholen als »reflektierende kulturelle Praxis« begreift: Es geht der Philologie als Kultur nicht nur darum, das Leben in seinen unzähligen literarischen Formen kennenzulernen (also um ein philologisches Wissen vom Leben zu erwerben), sondern auch darum, das Leben selbst zu formen, und zwar so, dass es unverkürzt, in seiner ganzen geistig-leiblichen Potenzialität und Intensität zum Ausdruck kommen kann.85 82

83 84 85

Wenn hier von einer »Mehrzahl der Fälle« die Rede ist, dann deshalb, weil literarästhetische Bildungsprozesse nicht notwendig und zwingend an Kompetenz- und Literalitätserwerb gebunden sind, hierüber aber deutlich wahrscheinlicher werden. Vgl. Härle: Literarische Bildung im Spannungsfeld von Erfahrung und Theorie. S. 40. Zabka: Was ist Hochschulreife im Umgang mit Literatur? S. 140. Tholen: Philologie im Zeichen des Lebens. S. 54.

4. Grundzüge eines Modells literarästhetischer Literalität

Somit ist es gerade die Rückbindung des Begriffs der ästhetischen Bildung an den der ästhetischen Erfahrung, die deutlich macht, dass die Erschließung eines solchen genuin literarästhetischen Bildungspotentials wiederum an literale Voraussetzungen, an die kulturelle Praxis des Umgangs mit Literatur, gebunden ist: Wie also wird man literarisch gebildet? Es ist trivial, aber wahr: durch lesen, hören, schreiben – übrigens auch durch auswendig lernen. Es will und muss ja gelernt werden, in diesem Land der Träume den Weg in den Himmel zu finden. Die vielen Formen literarischer Welten wahrnehmen und eigene literarische Welten gestalten zu lernen, stellt eine höchst anspruchsvolle Bildungsaufgabe dar, die nicht zuletzt die Entwicklung einer entsprechenden ästhetischen Urteilskraft erfordert.86 Die Grenzen zu einem allgemeinen Bildungsbegriff sind hierbei fließend. Härles Begriff der literarischen Bildung, den er u.a. unter Rekurs auf Ulf Abrahams Übergänge87 entwickelt, macht dies deutlich. Erfahrungsrückgebundene Bildung vollziehe sich in einem »Widerspiel von An- und Ausbildung«88 ; Ausbildung im Sinne von prägenden Einflüssen, die auf das Subjekt einwirken und etwa zur Entwicklung bestimmter Fähigkeiten führen, Anbildung im Sinne des Aufgreifens dieser prägenden Einflüsse durch den Gestaltungswillen des Subjekts: »Im Wechselverhältnis der beiden Strebungen, die stets neu sich anstoßen und vorantreiben – denn jeder Impuls in die eine Richtung ruft Reaktionen der anderen Richtung auf – kann sich Bildung als ein gleichermaßen individueller wie gesellschaftlicher Prozess der Selbstwerdung entfalten.«89 Ähnlich wie Tholen hebt auch Härle hervor, dass seit der Aufklärung insbesondere Kunst, Philosophie und Literatur eine herausgehobene Rolle als Mittler in Bildungsprozessen zugemessen wird, »weniger (aber auch) der Wissensakkumulation wegen, die mit ihnen einhergeht, sondern vielmehr, weil sie es sind, die den Menschen zum Nachdenken über die Welt und über sich selbst sowie zu ethisch verantwortlichem Handeln anregen«90 . Härles Heidelberger Modell des Literarischen Unterrichtsgesprächs verweist dabei zugleich auf die für didaktische Vermittlungsprozesse relevante Überschreitung der individuellen Erfahrung hin zu einem gemeinsamen Austausch über die Texte. Literarischen Texten kommt, so Härle, kraft ihres ästhetischen Potentials das Vermögen zu, einen Raum des gemeinsamen Austausches zu eröffnen, »Sprachgemeinschaften« zu bilden.91 Dem Lesenden, so wiederum Tholen, sei es »ein Bedürfnis, sich mitzuteilen. Er möchte sich mit Anderen über das Gelesene bzw. über seine Texterfahrung austauschen, er möchte einer Gemeinschaft der Lesenden angehören.«92 Gerade die 86

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92

Liebau, Eckart: Literarische Bildung. In: Wilfried Barner u.a. (Hg.): Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft. Internationales Organ für neuere deutsche Literatur. 58. Jahrgang. Berlin u.a: de Gruyter 2014. S. 429-432. S. 432. Abraham: Übergänge. Literatur, Sozialisation und Literarisches Lernen. Härle: Literarische Bildung im Spannungsfeld von Erfahrung und Theorie. S. 43. Ebd. Ebd. S. 42. Vgl. Brune, Carlo: Shared Reading. Literaturvermittlung in Kontexten Sozialer Arbeit und außerschulischen Bildungsprozessen am Beispiel der Liverpooler The Reader Organisation. In: Christine Ott u. Dieter Wrobel (Hg.): Öffentliche Literaturdidaktik. Grundlegungen in Theorie und Praxis. Berlin: Erich Schmidt 2018. S. 65-78. Tholen: Philologie im Zeichen des Lebens. S. 57.

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Literarästhetische Literalität

ästhetische Prägung dieses »Gesprächs- und Erfahrungsraum[es], […] in dem doch jede und jeder einzelne je individuelle und inkommensurable Erfahrungen (oder auch Nicht-Erfahrungen) machen kann«, ermöglicht Bildungsprozesse im Literaturunterricht: »Wenn also Bildung das Offensein für Erfahrungen in diesem Sinne ausmacht […], dann wird deutlich, dass dies Konsequenzen für den Deutsch-, jedenfalls für den Literaturunterricht hat: Er muss aufgefasst werden als Ermöglichungsraum, in dem sich Erfahrung ereignen kann.«93 Die Öffnung der Auseinandersetzung mit literarischen Texten für allgemeine Bildungsprozesse lässt sich auf den Ebenen der Individuation, Sozialisation und Enkulturation näher konkretisieren.94 Für alle im Folgenden genannten Punkte gilt, dass der Raum des Literarspezifischen bzw. Ästhetischen verlassen wird, und die Impulse grundlegend auch durch andere Gegenstände auslösbar sind; allerdings auch, und bei vielen in besonderer Art und Weise, durch Literatur. Auf der Ebene der Individuation können literarische Texte lebensweltliche Erfahrungen modellieren, die vor dem Hintergrund der eigenen gelesen werden95 , und diese so bestätigen, relativieren oder auch neue Perspektiven eröffnen. Auch können sie für die Lernenden zum Muster von Narrativierungen eigener Erfahrungen oder Lebensentwürfe werden – und so zugleich auf den Konstruktcharakter des jeweiligen Selbstbildes und -konzepts verweisen, das sich ihnen in seiner Veränderbarkeit erschließt.96 Zudem eignen sich literarische Texte, um Schüler_innen eine größere Ich-Bewusstheit zu verschaffen, weil sie sie mit Verdrängtem, Unbewusstem oder kulturell Tabuisiertem konfrontieren. Auch dies kann Impulse zur Veränderung des Selbstbildes geben; die Artikulation eigener Wünsche und Bedürfnisse erleichtern und dabei helfen, durch die Erschließung neuer Potentiale veränderte Selbstkonzepte zu etablieren. Schließlich vermag der über eine literarästhetische Rezeption eingeübte Perspektivwechsel, das Erproben alternativer Verstehenswege, ein kritisches Hinterfragen sowie eine Neuausrichtung eigener Denkmuster oder die Einübung in Formen multifaktorieller Verstehensoperationen Schüler_innen auch dazu befähigen, Gegenstände und Kontexte, die ihr eigenes Leben betreffen, in einer Form zu reflektieren, die zunächst nicht auf Problemlösung, sondern auf eine Ausweitung möglicher Betrachtungsweisen zielt, was sich in ganz verschiedenen Kontexten als elementar wichtig erweisen kann. Auf der Ebene der Sozialisation und des gesellschaftlichen Handelns ist die Bedeutung literarischer Texte insbesondere im Kontext ethischer Reflexion und moralischen Urteilens immer wieder hervorgehoben worden; sei es zum »Aufbau bzw. Überprüfung von Einstellungen« oder zur Entwicklung eines »Gefühl[s] der Gruppenzugehörigkeit«97 . Spinner wiederum betrachtet Literatur als das »vielleicht wichtigste Medium […], das sich die Menschheit zur Ausbildung der Fähigkeit der Perspektivenübernah93 94 95 96 97

Härle: Literarische Bildung im Spannungsfeld von Erfahrung und Theorie. S. 48. Vgl. Kepser, Matthis u. Ulf Abraham: Literaturdidaktik Deutsch. Eine Einführung. 4., völlig neu bearbeitete und erweiterte Auflage. Berlin: Erich Schmidt 2016. S. 26f. Vgl. Hallet: Literature und Literacies: Literarische Bildung als Paradigma für Standardisierung, Differenz und Heterogenität. S. 67. Vgl. ebd. S. 70. Kepser/Abraham: Literaturdidaktik Deutsch. Eine Einführung. S. 27.

4. Grundzüge eines Modells literarästhetischer Literalität

me geschaffen hat«98 . Weiterhin kann ein »konstruktive[r] Umgang mit Meinungsverschiedenheiten«99 befördert werden, weil sich im Unterricht bei ausreichend offenen Formen verschiedene Sichtweisen auf den gleichen Text einstellen können, die auch in ihrer Verschiedenartigkeit und ggf. sogar Gegensätzlichkeit begründ- und intersubjektiv vermittelbar sind. Bildungsprozesse auf der Ebene von Enkulturation befördert Literatur darüber, dass sie eine Konfrontation mit dem kulturellen Gedächtnis leistet, die es möglich werden lässt, eigene Erfahrungen vor dem Horizont »von Denk- und Wahrnehmungsweisen früherer Epochen« und so als historisch bedingte zu reflektieren. So gibt sie den Lernenden zugleich »Aufschluss […] über die Gegenwart«, bietet »aber auch Möglichkeitsräume und neue Bilder zukünftiger Hoffnungen«.100 Weiterhin können literarische Texte ihre Leser_innen mit fremdkulturellen Perspektiven konfrontieren, sodass das Wechselspiel von Fremd- und Eigenperspektive auch Konventionen der eigenen Kultur transparent werden lässt, was interkulturelle Lernprozesse befördert.101 Als erstes Fazit kann so festgehalten werden, dass mit der Etablierung des Literalitätsbegriffs eine Lücke geschlossen wird, die zwischen dem Kompetenzparadigma und dem Bildungsideal klafft, worüber es möglich wird, beide Ansätze in einem integrativen Konzept miteinander sinnvoll zu verbinden. Zugleich gewinnen die einzelnen Begriffe hierin ihrerseits schärfere Konturen und werden besser gegeneinander abgrenzbar. Wenn im Titel und in der Einleitung dieser Arbeit davon die Rede ist, dass die Begriffe in einem Spannungsverhältnis stehen, macht dies aber zugleich deutlich, dass sie untereinander verknüpft sind und voneinander abhängen. Dies betrifft neben dem integrativen Ansatz vor allem die Tatsache, dass sich sowohl die Bereitschaft als auch die je individuelle Form der Aneignung von Kompetenzen und die Ausbildung einer Literalität in Abhängigkeit von bereits erfolgten oder hiermit verbundenen Prozessen der Persönlichkeitsbildung vollziehen. Somit wird auch die Trennung der drei Termini in die primär gegenstandsbezogenen Bereiche von Kompetenz und Literalität im Unterschied zur subjektbezogenen Bildung in Lernprozessen aufgeweicht, da solche Lernprozesse immer auf Grundlage subjektiver Dispositionen erfolgen. Gleichwohl richtet sich das Ziel der stets von den Schüler_innen aus zu denkenden Vermittlung literarischer Kompetenzen und Literalität hier primär auf die Ermöglichung eines Zugangs zum Gegenstand; auch wenn dies sich im Zuge einer auf individueller und reflektierter Mitgestaltung beruhenden kulturellen und gesellschaftlichen Teilhabe zugleich auf den Bildungsbegriff hin öffnet. 98

Spinner, Kaspar H.: Literaturunterricht und moralische Entwicklung. In: ders. (Hg.): Kreativer Deutschunterricht. Identität – Imagination – Kognition. Seelze: Kallmeyer 2001. S. 73-88. S. 81. 99 Bredella, Lothar: Unterschiedliche Verstehensformen bei der Rezeption literarischer Texte. In: ders.u. Eva Burwitz-Melzer (Hg.): Rezeptionsästhetische Literaturdidaktik – mit Beispielen aus dem Fremdsprachenunterricht Englisch. Tübingen: Gunter Narr 2004. S. 81-138. S. 123. 100 Osnabrücker Thesen zur Lage literarischer Bildung. Ohne Verfasserangabe. In: Christian Dawidowski (Hg.): Bildung durch Dichtung – Literarische Bildung. Bildungsdiskurse literaturvermittelnder Institutionen um 1900 und um 2000. Frankfurt a.M.: Peter Lang 2013. S. 21-24. S. 21. 101 Vgl. hierzu die exemplarische unterrichtspraktische Umsetzung zu der Erzählung Ein altes Blatt von Franz Kafka im Kapitel 5.3.2. dieser Arbeit.

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Literarästhetische Literalität

4.5.

Literarästhetische Literalität IV: Konkretisierung

Anhand der Erzählung Der Weg zum Friedhof von Thomas Mann werden die drei Begriffe Kompetenz, Literalität und Bildung auf dem Feld der Literatur im Folgenden exemplarisch konkretisiert. Nicht in den Blick genommen werden dabei Lehr- bzw. Lernwege, die diese zu erschließen helfen; hiermit wird sich das folgende Kapitel befassen. An diesem Punkt geht es darum, die bisher auf theoretischer Ebene entwickelten Thesen am literarischen Text resp. seiner Rezeption zu konkretisieren. Dies soll zunächst durch eine kurze Textanalyse vorbereitet werden. Mann bezeichnete die Erzählung als »eine kleine Groteske«102 , die er für die satirische Wochenzeitschrift Simplicissimus abfasste, wo sie im September 1900 erschien. Im Mittelpunkt steht der buchstäblich Wahrheit werdende »Weg zum Friedhof« des Protagonisten Lobgott Piepsam, ein »elender und verlorener Mensch«103 mittleren Alters, der nach dem Tod von Frau und Kindern auch seinen Arbeitsplatz infolge von Alkoholismus verloren hat. Ganz in »schwarz gekleidet«104 und gestützt auf seinen »schwarzen Stock«105 kommt es auf dem Weg zu den Gräbern seiner Familie zur Konfrontation mit einem vor Gesundheit und Lebenswillen strotzenden Radfahrer, dem sich Piepsam zunächst entgegenstellt, da jener nicht – wie vorgeschrieben – die Chaussee benutzt, sondern den hierneben verlaufenden Fußgängerweg. Als der Radfahrer auch auf die Drohung mit einer polizeilichen Anzeige nicht reagiert, sondern seine körperliche Überlegenheit demonstriert und unbekümmert seinen Verkehrsverstoß fortsetzt, bricht Piepsam in religiös überhöhte cholerische Schimpftiraden aus. Der Tonfall einer prophetischen Gerichtsrede wirkt aus seinem Mund grotesk und angesichts des Anlasses lächerlich. Der Anfall mündet schließlich in Piepsams Zusammenbruch – unter dem Spott der umstehenden Menge fährt ihn am Ende ein Sanitätswagen »von hinnen«106 . Der Hauptfigur, deren Darstellung sich »wie eine […] inflationäre Anhäufung zeitgenössischer Degenerationssymptome [liest]«107 , steht die Vitalität des Radfahrers gegenüber, der ab einem bestimmten Punkt in der Erzählung allegorisch »das Leben«108 genannt wird und vor dem Hintergrund der Willensmetaphysik Friedrich Nietzsches verstanden werden kann. Dies umso mehr, als die Figur Piepsam – wenngleich nur in grotesker Verzerrung – Bezüge zum Schopenhauer’schen Ideal der Lebensverneinung und Askese aufweist.109 Wenn Nietzsche in seiner religionskritischen Schrift Der Anti102 Mann, Thomas: Gesammelte Werke in zwölf Bänden. Bd. XI: Reden und Aufsätze. Hg. v. Hans Bürgin. Frankfurt a.M.: S. Fischer 1960. S. 620. 103 Mann, Thomas: Der Weg zum Friedhof. In: ders.: Die Erzählungen. Frankfurt a.M.: S. Fischer 2005. S. 182-191. S. 185. 104 Ebd. S. 183. 105 Ebd. S. 185. 106 Ebd. S. 191. 107 Schneider, Jens Ole: »Ich will euch Wahrheiten in die Ohren schreien«. Anthropologischer Wissensanspruch und narrative Wissensproblematisierung in Thomas Manns Der kleine Herr Friedemann und Der Weg zum Friedhof. In: Scientia Poetica. Jahrbuch für Geschichte der Literatur und der Wissenschaften 18 (2014). S. 103-135. S. 129. 108 Mann: Der Weg zum Friedhof. S. 186. 109 Vgl. zu diesen Kontexten Jens Ole Schneider, der in seiner Lektüre der beiden frühen MannErzählungen Der kleine Herr Friedemann und Der Weg zum Friedhof auf diese Diskurse abhebt, zu-

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christ das wiederum Schopenhauers Ethik zugrunde liegende Prinzip des Mitleids aus der Perspektive seines vitalistischen Willensbegriffs angreift110 , dann scheint dies der Art und Weise, wie der Text Piepsam kläglich scheitern lässt und als lächerliche Figur vorführt, während der Radfahrer, »das Leben«, triumphiert, zunächst zu korrelieren. Gegen eine derart verkürzte Lektüre sprechen allerdings einige weitere Beobachtungen: zum einen die Tatsache, dass der Radfahrer ebenso wie Piepsam sich auch auf dem titelgebenden »Weg zum Friedhof« befindet – und diesen hierauf sogar überholt. Dies mag noch damit erklärt werden, dass der Text zwei Möglichkeiten vorführt, wie der Mensch sich angesichts der Unausweichlichkeit seines bevorstehenden Todes im Leben verhält; ob er es gleichwohl zu genießen und vital auszufüllen vermag oder verhärmt und missmutig seiner Wege zieht. In diesem Fall wäre das Verhaltensmuster des Radfahrers noch das, was den Leser_innen eher anempfohlen wird. Doch macht darüber hinaus vor allem die Art und Weise, wie das Geschehen wertend vermittelt wird, eine solche Lektüre fragwürdig. Vordergründig gewinnt man den Eindruck einer heterodiegetischen Erzählinstanz mit Nullfokalisierung, die »auf den ersten Blick [als] ›allwissende[r] Erzähler auf[tritt]«111 . Doch bei genauer Textlektüre offenbart sich dies als Täuschung. Die Erzählinstanz ist unzuverlässig112 , sowohl mit Blick auf die Wiedergabe scheinba-

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gleich aber auch deutlich macht, dass die Erzähltechnik Manns eine klare Zuordnung zu bestimmten philosophischen oder biologistischen Theoremen im Sinne einer hierauf festlegbaren Textaussage immer wieder ästhetisch unterminiert. »Durch eine ›Vielzahl von Interferenzen zwischen Darwinismus und Schopenhauer-Rezeption‹ wird die biologische Evolutionstheorie um 1900 zudem durch eine philosophische Willensontologie erweitert und weltanschaulich funktionalisiert. Besonders der Begriff des ›Lebens‹ fungiert dabei als ein Schwellenbegriff, der biologische und philosophische Wissensansprüche gleichermaßen zu integrieren weiß und so schnell zu einem ›Grundwort der Epoche‹, zum Signum eines neuen metaphysischen ›a prioi‹ avanciert […]. Gegenüber der objektiven Wirksamkeit des ›Lebens‹ und seinen konkreten, besonders sexuell-triebhaften Manifestationen hat der Einzelne nach Auffassung der Jahrhundertwende eigentlich nur zwei Möglichkeiten: Entweder wird er zum ›lebensverneinenden‹ Asketen und folgt damit jener Entsagungsethik, die Schopenhauer als Konsequenz aus seiner pessimistischen Interpretation des Daseins als blinden triebhaften ›Willen zum Leben‹ zog, oder er frönt dem ›Leben‹ im Sinne einer ausdrücklichen Bejahung der Sinnlichkeit, der Sexualität und der vitalen Selbstbehauptung. Ein Gewährsmann für diese zweite, lebensenthusiastische Alternative ist wiederum Nietzsche.« Schneider: »Ich will euch Wahrheiten in die Ohren schreien«. S. 114. »Das Christenthum hat die Partei alles Schwachen, Niedrigen, Missrathnen genommen, es hat ein Ideal aus dem Widerspruch gegen die Erhaltungs-Instinkte des starken Lebens gemacht […].« Friedrich Nietzsche: Der Antichrist. Fluch auf das Christentum. In: ders.: Sämtliche Werke: kritische Studienausgabe in 15 Einzelbänden. Hg. v. Giorgio Colli u. Mazzino Montinari. Bd 6. München: dtv 1988. S. 165-254. S. 171. Schneider: »Ich will euch Wahrheiten in die Ohren schreien«. S. 134. Die Frage, ob eine heterodiegetische Erzählinstanz überhaupt unzuverlässig sein kann, ist in der Erzähltheorie nicht unumstritten. Während Manfred Jahn sie unter Rekurs auf Marie-Laure Ryan verneint (vgl. Manfred Jahn: Package Deals, Exklusionen, Randzonen: das Phänomen der Unverläßlichkeit in den Erzählsituationen. In: Ansgar Nünning [Hg.]: Unreliable Narration: Studien zur Theorie und Praxis unglaubwürdigen Erzählens in der englischsprachigen Literatur. Trier: Wissenschaftlicher Verlag 1998. S. 99f.), wird hier in Übereinstimmung mit Caroline Wagner davon ausgegangen, dass auch heterodiegetische Erzähler sich beispielsweise widersprechen, widersprüchlichen Berichten von Figuren zustimmen, eine fehlerhafte Wahrnehmung haben (vgl. Caroline

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rer Fakten als auch hinsichtlich vorgenommener Bewertungen, und sie wechselt in manchen Passagen in interne Fokalisierung. Einige Beispiele: Als der recht behäbige Tonfall, in dem den Leser_innen zunächst die Straßenszenerie und dann Piepsam vorgestellt werden, durch einen Gedankenstrich sowie das Signalwort »– Plötzlich« unterbrochen wird und der Radfahrer den Plan betritt, wird dieser zunächst als eher durchschnittlicher Zeitgenosse eingeführt: Ein junger Mann saß auf dem Sattel, ein Jüngling, ein unbesorgter Tourist. Ach, mein Gott, er erhob durchaus nicht den Anspruch, zu den Großen und Herrlichen dieser Erde gezählt zu werden! Er fuhr eine Maschine von mittlerer Qualität, gleichviel aus welcher Fabrik, ein Rad im Preise von zweihundert Mark, auf gut Glück geraten. Und damit kutschierte er ein wenig über Land, frisch aus der Stadt hinaus, mit blitzenden Pedalen in Gottes freie Natur hinein, hurra!113 Der letzte Ausruf wirkt ob der wenig euphorisierten Figurencharakteristik zuvor fast ein wenig ironisch, möglich ist es aber auch, ihn als erlebte Rede des »Jüngling[s]« oder – in diesem Fall ironisch gebrochen – Piepsams zu lesen. Er bildet den Übergang zu einer sich unmittelbar anschließenden weiteren Beschreibung, die nun aber einen anderen Ton anschlägt: Er trug ein buntes Hemd und eine graue Jacke darüber, Sportgamaschen und das keckste Mützchen der Welt – ein Witz von einem Mützchen, bräunlich kariert, mit einem Knopf auf der Höhe. Darunter aber kam ein Wust, ein dicker Schopf von blondem Haar hervor, das ihm über die Stirne emporstand. Seine Augen waren blitzblau. Er kam daher wie das Leben […].114 Die blitzblauen Augen und das Mützchen finden zudem an späterer Stelle Verwendung, und zwar in der Figurenrede Piepsams, der in seiner ›Gerichtsrede‹ an die gaffende Menschenmenge den Radfahrer auch hier zur Allegorie für das von ihm verabscheute Leben wählt – und auf dieser Folie zugleich seine Mitmenschen wahrzunehmen scheint: »›Kommt nur her, kommt nur alle herbei!‹, brüllte er. ›Nicht ihr, nicht bloß ihr, auch ihr anderen, ihr mit den Mützchen und den blitzblauen Augen!‹«115 Die Verwendung recht spezifischer, identischer Wendungen und Begriffe in Erzähler- wie Figurenrede deutet darauf hin, dass bereits die letzten Sätze der ersten Einführung des Radfahrers im Erzählbericht, in etwa ab dem »hurra«, einer internen Fokalisierung folgen, der Piepsams Perspektive zugrunde liegt116 – womit sich auch die Widersprüchlichkeit in der

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Wagner: Subversives Erzählen: E.T.A. Hoffmann und Heinrich von Kleist. Würzburg: Ergon 2012. S. 193) oder eine fragwürdige, stark subjektiv eingefärbte Sicht der Dinge vermitteln können, die von den Leser_innen als unzuverlässig eingestuft wird. Mann: Der Weg zum Friedhof. S. 185f. Ebd. S. 186. Die Tatsache, dass der Radfahrer hier allerdings eine »graue Jacke« über dem bunten Hemd trägt und sein »keckste[s] Mützchen der Welt […] bräunlich kariert«, also erdfarben, ist, mag abermals als Hinweis dafür gelesen werden, dass auch er sich auf dem »Weg zum Friedhof« befindet – und somit seinem Tode entgegeneilt … Mann: Der Weg zum Friedhof. S. 190. Vgl. hierzu Blödorn, Andreas: Perspektivenwechsel und Referenz. Zur Metaphorik des Todes in Thomas Manns frühen Erzählungen. In: ders. und Søren R. Fauth (Hg.): Metaphysik und Moderne.

4. Grundzüge eines Modells literarästhetischer Literalität

Charakteristik der Figur erklären lässt. Die ›Allwissenheit‹ und Verlässlichkeit der Erzählinstanz ist somit infrage zu stellen. Dem korrelieren auch verschiedene andere Beobachtungen: So neigt die Erzählinstanz in den einleitenden Passagen zu Abschweifungen und naiv wirkenden Übertreibungen, etwa als seine Rede auf den in einem der Wagen sitzenden Hund fällt: »Es war ein unvergleichliches Hündchen, Goldes wert, tief erheiternd; aber leider gehört es nicht zur Sache, weshalb wir uns von ihm abkehren müssen.« Neben der Tatsache, dass solche Passagen die Leser_innen grundlegend auf Gestaltungsfragen der erzählerischen Vermittlungsebene aufmerksam werden lassen, dürften hier zudem erste Zweifel an den logisch-intellektuellen Fähigkeiten der Erzählinstanz aufkommen, denn das Motiv der ins Leere laufenden Erzählstränge wird nur wenige Sätze später wieder aufgegriffen, mit einer Begründung, die abermals nur verwundern kann: »Der Fuhrmann schlief, und ein Hündchen war nicht darauf, weshalb dieses Fuhrwerk ganz ohne Interesse ist.«117 Weshalb es dennoch erwähnt wird, bleibt ebenso Geheimnis der Erzählinstanz wie die Tatsache, weshalb Fuhrwerke mit Hündchen nun auf einmal doch relevanter sind als solche ohne sie. Zusammengenommen vermittelt sich über diese Aussagen der Eindruck einer gewissen Naivität und Sonderbarkeit. Angesichts des Anspruches der Erzählinstanz, eine moralische Instanz zu sein, die Leser_innen über ›Gut und Böse‹ aufklären zu wollen (und zu können), »so lustigen Leuten wie euch dergleichen begreiflich zu machen« und dabei »die Wahrheit zu reden«118 , wirkt all dies mehr als irritierend. In Verbindung zu den grotesken Überzeichnungen in der Figurencharakteristik Piepsams, die auch nicht in sich konsistent ist, da zunächst die abnormsten, in der Tradition des Grotesken stehenden physiognomischen Details in bewusst abstoßender Art und Weise zur Darstellung kommen119 , dann aber der moralische Schluss gezogen wird: »Kurzum, es war ein Gesicht, dem man die lebhafteste Sympathie dauernd nicht versagen konnte.«120 , kann man mit Schneider nur zu folgender Beobachtung gelangen: »Als zentrale Wissensinstanz tritt durchweg ein Erzähler auf, der einerseits das Selbstbild eines antihumorigen Lehrmeisters hat, gleichzeitig diesen Anspruch aber durch eine eigene Neigung zur komischen Überzeichnung und Verzerrung immer wieder kontaminiert.«121 Selbst der Abtransport Piepsams in dem herbeigekommenen Sanitätswagen wird mit einem »Affentheater« verglichen, in dem Von Wilhelm Raabe bis Thomas Mann. Festschrift für Borge Kristiansen. Wuppertal: Arco 2006. S. 253-280. S. 272f. sowie Schneider: »Ich will euch Wahrheiten in die Ohren schreien«. S. 130f. 117 Mann: Der Weg zum Friedhof. S. 182f. 118 Ebd. S. 184. Auch hieran lässt sich ablesen, dass die Erzählung zentrale, sich kontrovers aufeinander beziehende Theoreme der Philosophien Schopenhauers und Nietzsches aufgreift und sie ergebnisoffen zur Disposition stellt. 119 Vgl. etwa folgende Passage, in der die Erzählinstanz geradezu einen gewissen Spaß daran zu entwickeln scheint, die Nase Piepsams als sprachliche Inszenierung des Grotesken vor dem Auge der Leser_innen allererst entstehen zu lassen: »Zwischen den ausgehöhlten Wangen aber trat eine vorn sich knollenartig verdickende Nase hervor, die in einer unmäßigen, unnatürlichen Röte glühte und zum Überfluß von einer Menge kleiner Auswüchse strotzte, ungesunder Gewächse, die ihr ein unregelmäßiges und phantastisches Aussehen verliehen.« Auch die Schilderung seiner Augen, »entzündet und jämmerlich umrändert«, folgt dem. Mann: Der Weg zum Friedhof. S. 183f. 120 Ebd. S. 184. 121 Schneider: »Ich will euch Wahrheiten in die Ohren schreien«. S. 132f.

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die Leiche »wie ein Brot in den Backofen [hineingeschoben]«122 werde. Wertungen und Wendungen, deren Tonfall der Erzählinstanz angesichts der Tatsache, dass hier soeben ein verzweifelter Mensch zu Tode gekommen ist, jeglichen Anspruch auf moralische Integrität nehmen. Die erzählerische Vermittlung über eine unzuverlässige, in ihrer Fokalisierung wechselnde Erzählinstanz desavouiert somit jeden Versuch, den Text eindimensional entweder als literarisches Exempel für Nietzsches Willensmetaphysik oder als deren Kritik zu lesen. Die Form der ästhetischen Gestaltung lässt beide Interpretationen gleichermaßen leerlaufen und spielt im Gegenzug die Ebene des discours immer stärker in den Vordergrund. Im Verbund zu den autoreflexiven Verweisen auf das eigene Erzählen in den Abschweifungen zu Beginn und in den wechselnden Fokalisierungen etabliert der Text eine Form des »transzendentalen Erzählens«123 , das die Leser_innen darauf verweist, dass »das empirische Phänomen […] immer nur einen Ausschnitt der Wirklichkeit dar[stellt], weswegen es als Grundlage eines universellen Natur- und Menschenbildes nur bedingt in Frage kommen kann«124 . Und wie unterschiedlich die Perspektiven auf diese empirischen Phänomene ausfallen können, führt der Text in der Erzählrede vor. Ob die einzelnen Leser_innen am Ende Piepsams Tod als nur allzu gerechte Folge seines Lebensverdrusses sehen oder die despektierliche Kommentierung der Erzählinstanz gerade ihren Widerspruch herausfordert und sie Mitleid mit seinem Schicksal entwickeln, ist eigentlich gar nicht die Frage. Beides ist möglich – und beides bleibt in das ästhetische Spiel des Textes in der Form eingebunden, dass die Lesenden zu Reflexionen angeregt werden, die ihnen die perspektivische Bedingtheit eigener Wertungen bzw. ihrer Grundlagen unweigerlich vor Augen führt. Die Erzählung liest sich so als ein »Text, der weniger bestimmte biologische, anthropologische oder soziale Abläufe als vielmehr deren schwierige objektive Erkennbarkeit und ästhetische Darstellbarkeit zum Thema zu haben scheint«125 . Und genau darin liegt nicht nur die ästhetische Qualität dieses Textes, sondern ein grundlegendes Potential von Literatur begründet. In die vorgenommene Textanalyse sind Elemente aller drei Dimensionen literaturdidaktischer Vermittlungsprozesse – Kompetenz, Literalität und Bildung – eingeflossen. Gerade die Tatsache, dass die Erzählung ihre Leser_innen immer wieder ›vor den Kopf stößt‹, Ungereimtheiten sowie Widersprüche enthält, Irritationen auslöst und so eine genaue und wiederholte Lektüre einfordert, die sich immer wieder neu auf die Gestaltung und sprachliche Materialität ausrichtet, zeigt, dass ein ausschließlich kompetenzorientierter Unterricht, der auf eine funktionale Lösung dieser ›Probleme‹ ausgerichtet wäre, keine eigentlich literarästhetischen Rezeptionsprozesse in Gang zu setzen vermag. Gleichwohl bleibt die Anwendung von Kompetenzen relevant – und bildet für viele weitergehende Operationen eine erste Grundlage. 122 123

Mann: Der Weg zum Friedhof. S. 191. Žmegač, Viktor: Ironischer Pluralismus. Zu einer frühen Erzählung Thomas Manns. In: Zagreber Germanistische Beiträge 4 (1995), S. 13-33. S. 14. Vgl. hierzu auch Schneider: »Ich will euch Wahrheiten in die Ohren schreien«. S. 125. 124 Schneider: »Ich will euch Wahrheiten in die Ohren schreien«. S. 125. 125 Ebd. S. 133.

4. Grundzüge eines Modells literarästhetischer Literalität

Zu nennen sind hier etwa Fähigkeiten zur Bestimmung der erzähltechnischen Vermittlung. Das im Literaturunterricht oftmals noch zugrunde gelegte, von Franz K. Stanzel abgeleitete Modell, das drei Grundtypen des Erzählens, und zwar eine auktoriale, eine personale und eine Ich-Erzählsituation, unterscheidet, bleibt für eine angemessene Bestimmung der erzählerischen Vermittlung dieses Textes zu ungenau, wenn man die Auffassung Blödorns und Schneiders teilt, dass neben einer Nullfokalisierung (die in Teilen dem auktorialen Erzählen entspräche) sich auch Passagen finden, die intern über Piepsam fokalisiert sind. Weiterhin lässt sich die für die Erzählung ebenfalls relevante Trennung der beiden Fragen ›Wer spricht?‹ und ›Wer sieht?‹ hierüber nicht vermitteln. Insbesondere für die zweite Frage wird es notwendig, den Ort, von dem aus erzählt wird, als heterodiegetisch zu bestimmen und die Erzählstimme als eine solche, die sich zwar belehrend an die Leser_innen wendet, diese moralische Instanz aber nicht durchgehend glaubwürdig verkörpern kann. Schließlich sind auf erzähltechnischer Ebene Formen unzuverlässigen Erzählens kompetenzorientiert zu vermitteln. Dies betrifft etwa die grotesken Überzeichnungen folgende Schilderung der Physiognomie des Protagonisten oder auf moralischer Ebene die Wertung des Geschehens bzw. die Dehumanisierung Piepsams in dem despektierlichen Tonfall nach seinem Zusammenbruch – die sich entweder als Auffassung der Erzählinstanz selbst oder als Bloßstellung der Reaktion der umstehenden Menge werten lässt. Gewinnbringend ist zudem eine strukturalistische Analyse von Oppositions- und Äquivalenzbeziehungen, die in diesem Falle ebenfalls weitgehend im Rahmen des Kompetenzbegriffs vermittelt werden kann. Da die Erzählung sowohl auf der Ebene von Isotopien als auch, was ihre Raum- und Figurenkonstellation anbetrifft, nahezu durchweg mit dichotomischen Oppositionsverhältnissen operiert, können sich Schüler_innen so ihrer Gestaltungsform annähern. Auf der Ebene von Isotopien betrifft dies die Entgegensetzung von Begriffen, die semantisch mit ›Leben‹, ›Vitalität‹ und ›Frohsinn‹ verbunden sind (wozu etwa der Verkehr auf der Chaussee, die Figur des Radfahrers, sein Äußeres und seine Kleidung, der Frühlingstag oder ein Satz wie »Die Welt lächelte«126 zu rechnen sind), zu solchen, die ›Tod, Not und Elend‹ verkörpern (wozu etwa der abseits des Lebens auf der Chaussee verlaufende titelgebende »Weg zum Friedhof«, die Figur Piepsam bzw. bereits sein sprechender Name – auch hier mit allen Details seines Äußeren und seiner Kleidung –, seine ›Gerichtsrede‹ oder der Schlusssatz der Erzählung »Und dann fuhren sie Lobgott Piepsam von hinnen.« zählen). Die Raumkonstellation schließt hieran an; der »Weg zum Friedhof« führt vom Leben in der Stadt weg und ist von der bevölkerten Chaussee zudem durch einen »schmale[n], trockene[n] Graben«127 getrennt. Während der Verkehr auf der Chaussee, die Stadt und Dorf verbindet, in beide Richtungen verläuft, folgen alle Figuren auf dem »Weg zum Friedhof« nur einer, und zwar derjenigen, die aus der Stadt heraus- und zum Friedhof hinführt. Im Rahmen eines kompetenzorientierten Zugangs wären weiterhin einzelne sprachliche Details zu erarbeiten, wie etwa die allegorische Funktion der Bezeichnung 126 127

Mann: Der Weg zum Friedhof. S. 182. Ebd. Dieser Graben bleibt als Zwischenraum allerdings durch Kennzeichen beider Wege geprägt: Einerseits ist er so staubig und trocken wie der »Weg zum Friedhof«, andererseits »von Gras und Wiesenblumen ausgefüllt«. Ebd.

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»das Leben«, die für den Radfahrer ab einem bestimmten Punkt verwendet wird, oder die sprechenden Namen Piepsams und seiner verstorbenen Frau, die eine »geborene Lebzelt«128 war.129 Schließlich sind auch die für den Text relevanten kultur- oder sozialgeschichtlichen Kontexte zunächst einmal kompetenzorientiert vermittelbar: Eignen sich die Schüler_innen etwa Kerngedanken der Philosophien Nietzsches und Schopenhauers an, so können sie diese vordergründig klar auf die Erzählung bzw. ihr Figurenpersonal beziehen. Aus der Erarbeitung dieser Punkte gehen bei entsprechenden Aufgabenstellungen, wie im Kompetenzparadigma gefordert, messbare Leistungen hervor.130 Ein Schüler, der Piepsam mit der Propagierung des lebensbejahenden Willens bei Nietzsche zusammenbringt, hätte ebenso eindeutig etwas falsch gemacht wie eine Schülerin, die etwa die Opposition von Chaussee und Weg im Text nicht erkennt. Auch die Erschließung der Erzähltechnik ist im Rahmen der genannten Punkte operationalisierbar und ihre Ergebnisse lassen sich messen. Gewonnen ist mit all dem allerdings noch nicht wirklich viel. Denn die Bestimmung von Erzähltechniken, Raumstrukturen oder auch die kulturellen Kontextualisierungen sind kein Selbstzweck; ihnen kommt eine dienende Funktion für hierauf aufbauende Verstehens- und Erfahrungsprozesse zu. Eigentlich interessant und ästhetisch relevant wird die Auseinandersetzung mit dem Text erst ab dem Punkt, wo nicht mehr klare Lösungen gefragt sind, sondern eher Probleme wahrgenommen, Irritationen bemerkt und hierüber variable, da im Verstehensprozess der Lektüre jeweils veränderbare Verknüpfungen der zuvor kompetenzorientiert erarbeiteten Ergebnisse vorgenommen werden. Wie die Analyse aufzeigt, verweigert der Text eindeutige Sinnzuschreibungen; er fordert eine offene, flexible Rezeption ein – und keine, die bestimmte Lösungen festschriebe. Auf der ohnehin kaum kompetenzorientiert abprüfbaren Ebene der Imaginationsentwicklung kann dies etwa daran festgemacht werden, dass die Erzählinstanz die Leser_innen zu Beginn gleich mehrfach irritiert und zur Vorstellung von Handlungselementen nötigt, die alsbald wieder als irrelevant verworfen werden. Gleichwohl werden sie den Lesenden in irgendeiner Form im Gedächtnis bleiben – und sie werden evtl. im Laufe oder nach Abschluss ihrer Lektüre nie ganz die Frage loswerden, warum die Erzählinstanz denn auf Hündchen, die sich in Fuhrwerken befinden, oder dann auf Fuhrwerke, in denen sich gerade keine Hündchen befinden, zu sprechen kommt, nur um beide Fährten umgehend zu verlassen, mit der Begründung, dass sie für den Fortgang des Textes keine Relevanz hätten. Eine klare Antwort hierauf wird sich nicht finden lassen, da es sie nicht gibt. Mögliche Erklärungen, die die Funktion dessen im Kontext der gesamten Erzählung benennen, wurden oben bereits gegeben – dem Anspruch, das ›Problem‹ hiermit aus der Welt geschafft zu haben, kann keine von ihnen genügen. 128 129

Mann: Der Weg zum Friedhof. S. 184. Die Überdeutlichkeit dessen kann wiederum zu Irritationen führen, die dann polyvalente Verstehenskonzepte erfordern, was dem Bereich literarästhetischer Literalität zuzuordnen wäre. 130 Im Falle der strukturalistischen Textanalyse wird es notwendig, die Schüler_innen in der Bestimmung der Oppositions- und Äquivalenzverhältnisse durch die Aufgabenstellung zu lenken, da hier m.E. auch andere Oppositionen erschlossen werden können. ›Freiere‹ strukturalistische Analysen sind dann ggf. bereits dem Literalitätsparadigma zuzuordnen.

4. Grundzüge eines Modells literarästhetischer Literalität

Denn eine zentrale Funktion ist es hier gerade, eine Irritation zu schaffen, die Leser_innen in Gedankengänge zu bringen, die nicht klar und befriedigend abschließbar sind, um so einen ästhetischen Rezeptionsmodus zu befördern. Ein solcher wird sich auch durch einen distanzierten Blick auf die erzählte Welt auszeichnen und hierüber die Zuverlässigkeit der Erzählinstanz infrage stellen, die die Ansprüche an eine logisch stringent erzählte Geschichte an diesem Punkt nicht erfüllt – und zudem auch ein wenig naiv ob der Faszination von einem »gelbe[n] Hündchen« erscheint, ein Eindruck, der sich durch die dreimalige Verwendung von Diminutiven in zwei aufeinanderfolgenden Sätzen noch verstärkt. Die Rede ist erst von einem »Hündchen«, das ein »spitzes Schnäutzchen« hat und im folgenden Satz gar zu einem »unvergleichlichen Hündchen, Goldes wert, tief erheiternd« wird.131 Auch das Prädikat »tief erheiternd« wirkt hier unpassend – wenn überhaupt, dürften zumindest im konventionellen Sinne gebildete Leser_innen einer solchen Erscheinung allenfalls eine recht oberflächliche Form der Gemütserheiterung zusprechen, sodass die Wendung ins Parodistische kippt, wobei die Frage nach deren Funktion offenbleibt. In der Wahrnehmung solcher Irritationen, die an die Gedanken der Russischen Formalisten zur Deautomatisierung und Verlangsamung des Lektüreprozesses sowie eines hierüber ausgebildeten ›fremden‹ Blicks anschließen, in dessen Folge die Vermittlungsund Gestaltungsebene des Textes mehr und mehr in den Fokus rückt, liegt eine Herausforderung für jeden Literaturunterricht, der durch die Kompetenzorientierung weiter verschärft wird. Den Lernenden gilt es zu vermitteln, dass genau das, was von ihnen allermeist in anderen Fächern (und, nähme man die Kompetenzorientierung beim Wort, nun auch im Literaturunterricht) gefordert wird, möglichst schnell zu eindeutigen (und richtigen) Lösungen zu gelangen, hier dem Gegenstand und dem Lernprozess nicht angemessen ist. Denn nur dann, wenn nicht die kompetenzorientiert zu erarbeitenden Lösungen, sondern deren flexible ›Weiterverarbeitung‹ im Kontext einer bewussten Wahrnehmung von sprachlichen und erzähltechnischen Irritationen und Widerständen des Textes zur Grundlage des Verstehens genommen werden, wird es gelingen, diesen gegenstandsadäquat, also ästhetisch, zu rezipieren – und verschiedene mögliche Funktions- und Sinnzuweisungen durchzuspielen, die unterschiedliche Textbeobachtungen wiederum verschiedenartig miteinander verknüpfen. Insbesondere mit Blick auf die Erzähltechnik zeigt sich anhand des gewählten Beispiels aber schnell, dass aus solchen Verknüpfungen keine finalen Synthesen hervorgehen, da die Aussagen der Erzählinstanz ebenso wie die von ihr eingenommene Rolle widersprüchlich und unzuverlässig bleiben. Dies beraubt auch die Lesenden einer sicheren Grundlage ihrer Verstehensentwürfe. Literarästhetische Literalität heißt in diesem Fall Schüler_innen Polyvalenz als konstitutives Element von Literatur erschließen zu helfen, um ihre Bereitschaft zu stärken, sich auf den unabschließbaren Prozess variabler Sinnzuweisungen einzulassen. Dies gilt auch für die topologischen Analysen. Dass Piepsams »Weg zum Friedhof« neben der expliziten Bedeutung auch eine implizite besitzt (als Verkörperung des menschlichen ›Seins zum Tod‹ im Allgemeinen und seines eigenen Schicksals im Konkreten), ist kompetenzorientiert noch vermittelbar. Wie sich dies aber zur Figur des 131

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Radfahrers verhält, schon nicht mehr. Er, der das »Leben« verkörpert, steht einerseits in einer Oppositionsbeziehung zu Piepsam, die auf der Handlungsebene in ihrem Konflikt Ausdruck findet, andererseits zeigt der Text beide Figuren aber auch in einer Äquivalenzbeziehung, insofern sie beide in der gleichen Richtung auf dem »Weg zum Friedhof« unterwegs sind. Es lässt sich kein Code finden, mit dem beide Beobachtungen in eindeutiger Art und Weise auf eine Bedeutung zurückgeführt werden können. Die Erzählung eröffnet so ein heterogenes Feld, in dem sich verschiedene Spuren, denen die Leser_innen nachgehen können, abzeichnen, ohne dass aber eine von ihnen zu einer einfachen ›Problemlösung‹ führte. Neben einer Genauigkeit in der Wahrnehmung sprachlicher und erzähltechnischer Details auf der Ebene des discours macht das Beispiel auch deutlich, dass ein solcher Zugang geradezu zwangsläufig Wiederholungslektüren herausfordert: Denn nur im wiederholten Lesen lassen sich jeweils neue Hinweise auf bisher verfolgte Spuren finden – oder auch neue Irritationen wahrnehmen, die wieder eine andere ›Spurenlese‹ bedingen. Michael Baum koppelt beide Elemente in seinem bereits erwähnten, an die Dekonstruktion angelehnten Modell einer »doppelten Lektüre«132 . In diesem »zwar detailgenaue[n], aber an vertrauten Ritualen der fachlichen Exegesen desinteressierte[n] Gestus, der Texte auf das Andere hin […] liest und so Spuren sichtbar macht, die bisher verborgen geblieben waren«133 , sieht er das Potential von Literatur auch aus bildungstheoretischer Perspektive verankert.134 Dies kann mit Blick auf die getroffene Unterscheidung zwischen literarischer Bildung und allgemeiner Bildung am Beispiel der Erzählung auf beiden Ebenen nachgewiesen werden. Auf der Ebene literarischer Bildung resultiert aus der auf die sprachliche Konstruiertheit literarischer Texte abhebenden Wiederholungslektüre »ein Bewusstsein für den sprachlich-autoreflexiven Aspekt unseres Denkens, den ich [Michael Baum]fürbildendhalte«135. DiesesBewusstseinkorreliertmit spezifischästhetischenVerstehensmodi, eröffnet in der Folge aber auch Wege zu einem reflektierten Umgang mit Sprache in anderen kulturellen Verwendungskontexten, da Schüler_innen die Abhängigkeit semantischer Sinnbildungsprozesse von der Art und Weise, wie Texte ›gestrickt‹ sind, vor Augen geführt wird – und hierüber auch die Möglichkeit, das Verständnis der Leser_innen gezielt zu beeinflussen. So lässt Der Weg zum Friedhof etwa erkennen, dass eine genaue und kritische Beobachtung einer zunächst einmal verbindlich auftretenden (und in konventioneller Weise auch als verlässlich eingeschätzten) Instanz – in diesem Fall die des »allwissenden Erzählers« – Ergebnisse zu Tage fördert, die genau diesem Anspruch zuwiderlaufen. Von hier aus können die Lernenden kritisch weiterverfolgen, wie der Text über andere Gestaltungsmittel teilweise ein bewusst abstoßendes Bild Piepsams zeichnet, der somit als eine verurteilenswerte und an seinem Schicksal selbst Schuld tragende Figur erscheinen mag. In diesem Sinne bedeutet literarische Bildung, dass die Schüler_innen sich auf einen anderen, ästhetischen Modus des Verstehens einlassen, dass sie eine 132 133 134 135

Baum: Randgänge der Bildungstheorie. S. 30. Ebd. S. 30f. Vgl. ebd. S. 33-36. Ebd. S. 34.

4. Grundzüge eines Modells literarästhetischer Literalität

›Spurenlese‹ betreiben können, die gerade im Entdecken neuer Fährten und ihrer Reflexion Gewinn zu bringen vermag. Hiermit einher geht, dass auch das dieser mentalen Aktivierung zugrunde liegende genaue, bewusste Wahrnehmen und die Ausbildung einer sich möglicherweise immer wieder verschiebenden Imagination als Gewinn für die eigene Persönlichkeit empfunden wird – und dass auf kognitiver Ebene die perspektivische Gebundenheit von sachlich-inhaltlichen wie moralischen Urteilen im Verstehensprozess bewusst wird. Hieraus wiederum lassen sich zugleich Impulse für allgemeine Bildungsprozesse gewinnen. Der Bezugspunkt bleibt aber weiterhin eine gegenstandsadäquate Auseinandersetzung mit der Sache, an die sich nun auch übergeordnete Interpretations- bzw. Wertungsfragen anschließen können: Regt sich in mir nicht doch Mitleid für Piepsam und empfinde ich die ›gefühlskalte‹ Schilderung seines Abtransports durch die Erzählinstanz nicht als pietätlos? Ist die Reaktion der Menge nicht kalt, ohne jede Empathie und somit verurteilenswert? Ist das Verhalten des Radfahrers angemessen? Würde man nicht erwarten können, dass er souveräner mit der Situation umgeht und seine Überlegenheit Piepsam nicht so deutlich demonstrieren muss? Trifft ihn nicht eine Mitschuld an dessen Tod? Mit solchen Fragen wird die Brücke, die die Etablierung des Begriffs einer literarästhetischen Literalität zwischen Kompetenz und Bildung ermöglicht, zur Seite allgemeiner Bildungsprozesse verlassen. Denn nun werden die Schüler_innen notwendigerweise auf ihre eigenen Wertmaßstäbe aufmerksam, worüber sich ethisch-moralische Reflexionen ausbilden lassen. Auch ist es möglich, dass sich ihnen das menschliche Leben in seinem Zulaufen auf den Tod erschließt – woraus sich ganz unterschiedliche Konsequenzen für die eigene Lebensgestaltung ableiten lassen. Ein Anspruch, mit dem Heidi Rösch den Einsatz von Literatur auch im Fremd-/Zweitsprachenunterricht begründet, kann so einlösbar werden: »Lesen von Literatur fördert die Identitätsentwicklung durch die in der Literatur angestoßene Auseinandersetzung mit anthropogenen, sozialen, kulturellen und anderen Fragen menschlicher Existenz.«136 Voraussetzung für dieses »Bildungspotenzial von Literatur« bleibt aber auch hier eine an ästhetischen Rezeptionsvollzügen ausgerichtete Lektüre, denn nur so gewinnen »Rezipierende ein besseres Verständnis von der Realität […], auf die die Literatur verweist«, und können »ein erweitertes und differenziertes Selbst- und Weltbild entwickeln«137 .

136 137

Rösch, Heidi: Deutsch als Zweit- und Fremdsprache. Berlin: Akademie 2011. S. 102. Ebd.

235

5. Didaktische Ziele und Vermittlungsformen literarästhetischer Literalität

Das Kapitel führt die didaktischen Reflexionen des letzten Kapitels mit den theoretischen Prämissen des zweiten und dritten Teils wie folgt zusammen: Die Überlegungen zum Verhältnis von Kompetenz, Bildung und Literalität werden auf die Bereiche des Mehrebenenmodells ästhetischer Rezeption ausgangs des zweiten Kapitels zurückbezogen und vor dem Hintergrund der literaturwissenschaftlichen Überlegungen des dritten Kapitels didaktisch spezifiziert und in ihren möglichen Umsetzungen dargestellt. Grundlegend gilt für die einzelnen Ebenen des Modells auch hier, dass sie weder im Sinne einer linearen Sequenzabfolge noch unabhängig voneinander zu denken sind, weshalb auch keine Entwicklung eines didaktischen Phasenmodells angestrebt wird.1 Doch auch wenn diese Ebenen in der Auseinandersetzung mit dem Text stets ineinanderspielen und Rückkoppelungsschleifen unterliegen, lassen sie sich aufgrund der im zweiten Kapitel dargelegten Kriterien heuristisch voneinander trennen. Die einzelnen Vermögen (sinnliche Wahrnehmung, Vorstellung und Imagination sowie begrifflich vermittelte Kognition) können so im ästhetischen Rezeptionsprozess als verschiedene, aufeinander Bezug nehmende Schichten gedacht werden, die im Kontext literaturdidaktischer Vermittlung zu berücksichtigen sind, dabei aber nicht in einer bestimmten vorgegebenen Abfolge interagieren.2 Vor dem Hintergrund einer Unterscheidung von literarästhetischem Verstehen und Erfahren3 erhalten diese einzelnen Schichten allerdings einen je verschiedenen Stellen- bzw. Eigenwert. Während im Falle ästhetischen Verstehens ihr Zusammenspiel von der Kognition her in den Blick gerät, kann sich ästhetisches Erfahren auch von 1

2

3

Dies schließt allerdings nicht aus, dass auf den jeweiligen Ebenen Überlegungen auch zu einer sequenzorientierten Vermittlung gegeben werden – insbesondere das Kapitel 5.3., das sich mit begrifflich-kognitiven Lernprozessen befasst, ist daraufhin angelegt. Lediglich hinsichtlich einer ersten Induktion des gesamten Prozesses bildet die Wahrnehmung den Ausgangspunkt für die Vorstellung resp. Imagination – wobei nicht nur auf aktuell erfahrene Sinneseindrücke, sondern auch auf bereits gemachte Wahrnehmungen zurückgegriffen werden kann – und beide sind wiederum die Grundlage für kognitive Prozesse. Vgl. zu dieser Differenzierung das zweite Kapitel dieser Arbeit, insbesondere das Unterkapitel 2.4.

238

Literarästhetische Literalität

Wahrnehmungs- und/oder Vorstellungs- bzw. Imaginationsprozessen herleiten; in diesem Fall sind die übrigen Vermögen i.d.R. zwar mitbeteiligt, arbeiten dann aber demjenigen zu, auf das der jeweilige Erfahrungsprozess fokussiert (beispielsweise der Ausbildung von Imaginationen). Gegenüber dem Mehrebenenmodell des zweiten Kapitels wird eine Veränderung vorgenommen: Das auf Kants Ästhetik bezogene Spiel von Einbildungskraft und Verstand4 wird nicht als eine eigenständige Ebene aufgegriffen, sondern im Kontext der anderen mit thematisiert (insbesondere im Zusammenhang der Überlegungen zur Vorstellungsbildung und Imagination). Im Zuge der theoretischen Grundlagenbildung diente es der Begründung der Eigenständigkeit ästhetischer Urteile und eines hier nachweisbaren spezifischen Gebrauchs der Erkenntnisvermögen, was wiederum eine der Voraussetzungen dafür war, die Anwendung des auf kognitive Problemlösung ausgerichteten Ansatzes der Kompetenzorientierung für ästhetische Rezeptionsprozesse infrage zu stellen. Im Folgenden sollen die jeweiligen Ebenen zunächst hinsichtlich ihrer im Kontext schulischer Vermittlungsprozesse zu berücksichtigenden Grundlagen konkretisiert werden, was in einem zweiten Schritt dann anhand exemplarisch ausgewählter didaktischer Umsetzungsformen auf die getroffenen Unterscheidungen zwischen dem Kompetenz-, Literalitäts- und Bildungsparadigma zurückbezogen wird. Die Vermittlungsformen sind hierbei so ausgewählt, dass sie unterschiedliche Bereiche des Literaturunterrichts repräsentieren; sie reichen vom textnahen und vergleichenden Lesen (bzw. Hören) über handlungs- und produktionsorientierte Verfahren bis hin zu strukturalistischen Verfahren.5 Sowohl die literaturdidaktische Spezifikation des Mehrebenenmodells als auch der Rekurs auf Vermittlungsformen rücken den Bereich literarästhetischer Literalität in den Vordergrund, so wie er im vierten Kapitel entwickelt wurde. Da er aber seine Konturen und Funktionen nur im Zusammenspiel mit den beiden anderen Leitbegriffen von Kompetenz und Bildung erhält, werden Erläuterungen zu diesen Paradigmen mit integriert. 4 5

Vgl. Kapitel 2.3.3. Der Einbezug produktionsorientierter Ansätze widerspricht nicht dem Konzept eines Mehrebenenmodells ästhetischer Rezeption. Eine der Leitprämissen des Russischen Formalismus, dessen Relevanz für das prozessorientierte didaktische Konzept dieser Arbeit im dritten Kapitel herausgearbeitet wurde, bestand in Šklovskijs Verständnis von Kunst als einem »Mittel, das Machen einer Sache zu erleben; das Gemachte hingegen ist in der Kunst unwichtig« (Šklovskij: Die Kunst als Verfahren. S. 15). Didaktisch lässt sich hieraus die Forderung ableiten, die Auseinandersetzung mit dem Gegenstand Literatur im Unterricht so anzulegen, dass auf den Ebenen von Wahrnehmung, Vorstellung bzw. Imagination und Kognition Schüler_innen die Möglichkeit eröffnet wird, ihre Rolle als Rezipient_innen aktiv auszugestalten – und hierin produktiv zu werden. Vgl. zu diesen Gedanken auch Waldmann: Produktiver Umgang mit Literatur im Unterricht. S. 13-16.

5. Didaktische Ziele und Vermittlungsformen literarästhetischer Literalität

5.1.

Perzeption: Erscheinen und Wahrnehmen

5.1.1.

Grundlagen

Analog zu der grundlegenden Unterscheidung zwischen einer aisthetischen und einer ästhetischen Wahrnehmungsebene im Rahmen der Herleitung des Mehrebenenmodells ästhetischer Rezeption6 ist auch mit Blick auf literaturdidaktische Vermittlungsfragen zunächst eine solche Unterscheidung zu treffen. Für ästhetische Rezeptionsprozesse in einem umfassenden Sinne, d.h. nicht ausschließlich bezogen auf die aisthetische, also sinnliche Wahrnehmung, wird insbesondere Seels These relevant, der zufolge wir in der ästhetischen Rezeption keine andere Welt wahrnehmen, sondern sich hiermit vielmehr ein anderer Wahrnehmungsmodus verbindet.7 Im Kontext von Lektüreprozessen beinhaltet dies eine für Schüler_innen allerdings oftmals schwierige Abkehr von ihren Lesegewohnheiten: Denn hier bedarf die mit der Leseflüssigkeit zunehmende Distanz zur Wahrnehmung einzelner sprachlicher Zeichen8 nun einer Umkehrung, in deren Zuge die Materialität und kompositorische Anordnung dieser Zeichen wieder notwendig in den Blick gerät.9 Vermittelt werden kann dies etwa über Formen einer »statarische[n] Lektüre«10 , die mit alltäglichen Wahrnehmungsgewohnheiten von Texten bricht und an die Stelle von Schnelligkeit und Effizienz 6 7 8

9 10

Vgl. hierzu die Ausführungen im Kapitel 2.3.1. Vgl. Seel: Ein Schritt in die Ästhetik. S. 14. Vgl. Grzesik, Jürgen: Texte verstehen lernen. Neurobiologie und Psychologie der Entwicklung von Lesekompetenzen durch den Erwerb von textverstehenden Operationen. Münster: Waxmann 2005. S. 14f. Gleiches gilt für die Klangebene im Kontext mündlicher Kommunikation und Sprachverstehens. Auch hier greifen Automatisierungsprozesse, in deren Folge die Wahrnehmung der Materialität der Phoneme hinter deren phonologische Funktion als Träger bestimmter Aussagen zurücktritt. Vgl. Grzesik: Texte verstehen lernen. S. 317. Dieser Begriff rekurriert auf eine Lektüretechnik an Gelehrtenschulen des späten Mittelalters bis ins 18. Jahrhundert, in dem sich dann »eine[] Revolution in der Kommunikationstechnik« hin zur »Hochgeschwindigkeitslektüre« vollzieht. (Detlev Kopp u. Nikolaus Wegmann: »Wenige wissen noch, wie Leser lieset.« – Anmerkungen zum Thema: Lesen und Geschwindigkeit. In: Norbert Oellers [Hg.]: Das Selbstverständnis der Germanistik. Aktuelle Diskussionen. Tübingen: Niemeyer 1988. S. 92-104. S. 92f.) Noch für den schulischen Literaturunterricht des 16. und 17. Jahrhunderts konstatieren Kopp/Wegmann: »Ein Text soll in der Lektüre in seiner grammatischen, rhetorischen und poetischen Struktur erkannt werden. Dazu wird der Text vom Lehrer in kleine und kleinste Einheiten zerlegt, die sich der Schüler imitierend aneignen soll.« (Ebd. S. 97.) Detlef Kremer hebt in dem Aufsatz Text und Medium darauf ab, dass es zum Charakteristikum der romantischen Literatur werde, im Zuge der Autonomisierung des literarischen Diskurses eine »konzentrierte, ›statarische‹ und auf Wiederholung zielende Lektüre geradezu zur Voraussetzung der erfolgreichen Entzifferung ihrer Texte [zu machen]. Um sich gegenüber der Ausweitung und Beschleunigung von Information gegen Ende des 18. Jahrhunderts zu behaupten, um sich vom Journalismus abzugrenzen, gründet die moderne Literatur ihren Autonomieanspruch auf eine komplizierte, wenn nicht hermetische Textgestalt, die die erwartete Lektüre wieder auf Langsamkeit und Konzentration abstellt.« Detlef Kremer: Text und Medium. In: Barbara Sabel u. André Bucher (Hg.): Der unfeste Text. Perspektiven auf einen literatur- und kulturwissenschaftlichen Leitbegriff. Würzburg: Königshausen & Neumann 2001. S. 23-53. S. 46. Vgl. hierzu auch Brune: Roland Barthes. Literatursemiologie und literarisches Schreiben. S. 155.

239

240

Literarästhetische Literalität

Langsamkeit und Genauigkeit setzt. Hierzu bietet sich zunächst das textnahe Lesen an, auf das im Kontext einer sich von der genauen, bewussten Wahrnehmung ableitenden Förderung der Vorstellungsbildung noch zurückzukommen sein wird. Weiterhin eignen sich Wiederholungslektüren, um die Aufmerksamkeit genauer auf die sprachliche Gestaltungsform zu lenken, und das vergleichende Lesen, da es vermittels der gezielten Gegenüberstellung Unterschiede im Detail vor Augen führen kann. Dieser veränderte Wahrnehmungsmodus kann dazu dienen, auf diesem Wege auffällig werdende sprachliche Details in der Folge imaginativ und kognitiv weiterzuverfolgen, dennoch spielt sich eine solch genaue Auffassung des Textes zunächst auf der Ebene seiner Perzeption ab. Neben einem solchen, weit gefassten Begriff ästhetischen Wahrnehmens von Literatur im Lektüreprozess lassen sich zwei weitere Bereiche definieren, die konkreter auf die im engeren Sinne aisthetische Wahrnehmungsebene Bezug nehmen: Es handelt sich zum einen um die auditive und visuelle Wahrnehmbarkeit des Mediums Sprache, zum zweiten um Phänomene, in denen die Sprache mit weiteren nichtsprachlichen Wahrnehmungsreizen gekoppelt ist, etwa wenn sie mit Gestik, Musik oder Bildern verbunden wird.11 Auch für diese beiden Bereiche gilt, dass es sich um »kein rein sinnliches, selbstvergessenes Wahrnehmen« handelt, sondern vielmehr um ein solches, das »eine gesteigerte geistige Präsenz ein[schließt]«12 – und sei es ›nur‹ in Form einer größeren Bewusstheit und Sensibilität hinsichtlich der aufgenommenen Eindrücke, die sich dann aber zugleich auch auf die ästhetischen Rezeptionsprozesse auf den Ebenen von Vorstellung und Kognition hin öffnen kann. Der erste dieser beiden Bereiche, der sich auf Phänomene sprachlicher Materialität bezieht, lässt sich wiederum in zwei Teilfelder aufgliedern. Es handelt sich zum einen um die akustische und zum anderen um die optische (nun in einem engeren Sinne als oben verstanden, d.h. im Kontext typographischer Gestaltungselemente) Wahrnehmbarkeit von Sprache.13 Ziel ist es, Schüler_innen zunächst eine bewusste Perzeption der hör- oder sichtbaren sinnlichen Präsenz sprachlicher Zeichen zu vermitteln14 , die oftmals von entscheidender Bedeutung für die Wirkung literarischer Texte ist, im Kontext von Alltagskommunikation aber häufig nicht bewusst wahrgenommen wird, obgleich ihr auch hier eine bedeutungstragende Funktion zukommen kann. Sie kann auf zwei Wegen realisiert werden: in Form von stimmgebundenen Gestaltungen, wie Betonung, Rhythmus oder Intonation, oder in Form einer phonetischen Gestaltung des Zeichenmaterials selbst, etwa durch bestimmte rhetorische Klangfiguren. Beide Formen beeinflussen sowohl die Vorstellungsbildung als auch begrifflich gebundene Verstehensoperationen. Ein prominentes literarisches Beispiel für eine gezielte Gestaltung sprachlicher Phoneme sind die Lautgedichte Ernst Jandls15 , aber schon 11 12 13 14

15

Vgl. Zabka: Ästhetische Bildung. S. 453. Spinner: Perspektiven ästhetischer Bildung. S. 10. Vgl. Zabka: Ästhetische Bildung. S. 453. Auf akustischer Ebene müssen Texte nicht einmal zum Vortrag kommen, die Wahrnehmung etwa eines bestimmten Rhythmus oder einer Intonation kann auch über einen nur vorgestellten Klang erfolgen. Vgl. hierzu die Ausführungen weiter unten. Vgl. hierzu etwa sein Gedicht schtzngrmm, das durch die Eliminierung aller Vokale ein Klangbild hervorbringt, das die Maschinengewehrsalven und Granateinschläge in Schützengräben nachbil-

5. Didaktische Ziele und Vermittlungsformen literarästhetischer Literalität

über die simple Häufung dunkler Vokale können Texte eine melancholische oder bedrohliche Stimmung vermitteln16 , die dann ihrerseits wiederum durch eine entsprechende Sprechweise artikulierbar wird. Optisch wahrnehmbare und von pragmatischen Verwendungsformen unterschiedene Impulse, die vom Schriftbild ausgehen, finden sich vor allem in der Lyrik, etwa in Form von Versanordnungen, Versumbrüchen oder Strophenunterteilungen. Bestimmte lyrische Formen wie die Konkrete oder Visuelle Poesie17 setzen hier an und steuern so eine Rezeption der Texte, die deren über den Blick gesteuerte Wahrnehmung in den Vordergrund rückt. Doch können auch in Erzähltexten unterschiedliche Schrifttypen verwendet werden, die Zeilenabstände variieren und Einrückungen oder die Etablierung eines zweiten Textfeldes auf einer Seite optische Signale senden.18 Den zweiten übergeordneten Bereich, in dem die bewusste sinnliche Wahrnehmung im Vordergrund steht, bilden jene Formen, bei denen »die Wortsprache […] mit nichtsprachlichen Reizen optischer und akustischer Natur verbunden [ist]: mit Mimik, Gestik, Bildern, Film, Musik. Die genaue Wahrnehmung solch begleitender Reize kann die Entwicklung der Sprachkompetenz fördern […] und das Verstehen sprachlicher Zeichen erleichtern – etwa bei der szenischen Interpretation im Literaturunterricht.«19 Dies gilt für Theateraufführungen und Filme als Gegenstand des Literaturunterrichts in gleicher Weise wie für musikalische Gestaltungen von Songtexten in Popmusik sowie für Vertonungen von Gedichten oder Bild-Text-Arrangements in Comics, Graphic Novels bzw. Bildergeschichten. Ausgehend von den jeweiligen akustisch oder optisch wahrnehmbaren Reizen, die hier mit der Sprache einhergehen, können über

16

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19

det. (Ernst Jandl: schtzngrmm. In: ders.: Laut und Luise. Poetische Werke Bd. 2. München: Luchterhand 1997. S. 47.) Jandls Text arbeitet dabei sowohl mit der akustischen als auch optischen Wahrnehmungsebene. So kann der Schlussvers »t-tt«, der den stimmlosen Explosivlaut t zunächst einzeln und dann in Doppelung anführt, auf akustischer Ebene als Schuss gelesen werden. Optisch erinnert das t an ein Kreuz, sodass hier der Tod des Soldaten konnotiert ist. Eine solche Lesart wird auch dadurch unterstützt, dass bei Einfügung der ausgelassenen Vokale das Schlusswort »tot« lauten kann. (Vgl. Dieter Hoffmann: Arbeitsbuch deutschsprachige Lyrik seit 1945. Tübingen: Francke 1998. S. 297f. sowie Hans Helmut Hiebel: Das Spektrum der modernen Poesie: Interpretationen deutschsprachiger Lyrik 1900-2000 im internationalen Kontext der Moderne. Teil 2 [1945-2000]. Würzburg: Königshausen & Neumann 2006. S. 231-235.) Jandl bezeichnet seine Texte nicht als Laut-, sondern als »Sprechgedichte«, die »erst durch lautes Lesen wirksam« würden. (Ernst Jandl: Das Sprechgedicht. In: ders.: Autor in Gesellschaft. Aufsätze und Reden. Poetische Werke Bd. 11. München: Luchterhand 1999. S. 8.) Auch dies macht deutlich, wie sehr die Schrift hier auf sinnlich wahrnehmbare Umsetzung angewiesen bleibt. Dies kann unter Absehung des Kontextes, in dem solche Gestaltungsmittel Verwendung finden, nicht näher bestimmt werden. In Goethes Mailied etwa kommt der wiederholten Verwendung des Vokals »o« eher eine emphatische Funktion zu, die m.E. primär semantisch und weniger phonetisch bestimmt ist. Vgl. zum Begriff der Stimmung näher das folgende Unterkapitel. Vgl. zu einem didaktischen Ansatz mit dieser Form im Spanischunterricht Victoria del Valle Luque: Ver la poesía. Sehverstehen und literarisch-ästhetisches Lernen mit poemas visuales. In: Der fremdsprachliche Unterricht Spanisch 46 (Jg. 2014). S. 24-28. So etwa die Schrift Zirkumfession von Jacques Derrida, die in dem ihm gewidmeten Porträtband von Geoffrey Bennington jeweils das untere Drittel der Seite einnimmt und so in ein kommentierendes Verhältnis zum zweiten Text Benningtons tritt. Jacques Derrida: Zirkumfession. In: Geoffrey Bennington u. Jacques Derrida (Hg.): Jacques Derrida. Ein Portrait. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1994. Zabka: Ästhetische Bildung. S. 453.

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Literarästhetische Literalität

den Vergleich medienspezifische Lernprozesse ebenso angestoßen werden wie interund transmediale Analysen. Mögliche Fragen hierbei sind etwa, in welchem Verhältnis die nichtsprachlichen optischen und akustischen Wahrnehmungen zu den über das Medium Sprache vermittelten Eindrücken stehen – korrespondieren beide beim Aufbau von Vorstellungen und begrifflichen Repräsentationen, ergänzen sie einander oder kontrastieren sie und legen so weitere Spuren, denen die Rezeption nachgehen kann.20 Vermittelt werden kann in diesem Zusammenhang zudem, worin die Spezifika der Zeichenfunktion des Mediums Sprache etwa in Abgrenzung zu nichtsprachlichen bildoder tongestützten Medien bestehen21 oder ob es hier Bezüge zu solchen Formen der Sprachverwendung gibt, die maßgeblich – wie in den erwähnten Lautgedichten oder der Visuellen Poesie – über sinnlich konkrete Gestaltungsformen auf der Ebene der Signifikanten gesteuert sind. Da eine genaue Auseinandersetzung mit sinnlichen Wahrnehmungsprozessen in der literarischen Rezeption im Rahmen dieser Arbeit nur exemplarisch geleistet werden kann, wird im Weiteren die bewusste Wahrnehmung sprachlichen Klangs als Beispiel gewählt. Goethe bezeichnet in Dichtung und Wahrheit das »stille für sich lesen« als ein »trauriges Surrogat der Rede«22 . Gilt dies bereits auf einer allgemeinen Ebene, so bedürfen Texte, die einer konzeptionellen Mündlichkeit folgen, wie sie lyrische oder dramatische Formen, aber auch Märchen aufweisen können, notwendig einer didaktischen Vermittlung, die an der gesprochenen Sprache als der Ebene ansetzt, »auf der sich Sprechender und Text treffen«, und Schüler_innen so »die jeweilige in einen Text eingeschriebene Sprechbewegung«23 zugänglich macht. Hierzu eignen sich sowohl produktive als auch rezeptive Formen von Mündlichkeit, die »eine intensive Auseinandersetzung jedes einzelnen Schülers mit den jeweiligen Besonderheiten des Textes und mit seiner eigenen Person«24 gleichermaßen gewährleisten. Annegret Lösener führt in diesem Zusammenhang das Vorwort von Ulla Hahns Anthologie Gedichte fürs Gedächtnis an, das die Notwendigkeit einer akustischen Aktualisierung des geschriebenen Textes gerade auch für Unterrichtskontexte nachvollziehbar werden lässt: Ein Gedicht ist eine Komposition, eine Partitur, die jeder nachspielen, nachsprechen kann. [/] Ein Gedicht Wort für Wort immer wieder neu hervorzubringen, seinen Körper aus Vokalen und Konsonanten zu erforschen, ist eine ganz und gar sinnliche Erfahrung. 20 21

22

23 24

Vgl. hierzu Bönnighausen: Intermedialer Literaturunterricht. Vgl. hierzu etwa Brune, Carlo: »Kein Wille triumphiert« – Zum didaktischen Potenzial der popkulturellen Inszenierung von Grundgedanken Schopenhauers in Tocotronics »Musiktheater« der Kapitulation. In: kjl&m 70 (2018), H. 2, S. 13-21. Goethe, Johann Wolfgang: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. In: Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens – Johann Wolfgang Goethe. Münchner Ausgabe. 33 Bände. Hg. v. Karl Richter. Bd. 16. Hg. v. Peter Sprengel. München: btb 2006. S. 479f. Lösener, Annegret: Gedichte sprechen. Ein didaktisches Konzept für alle Schulstufen. Baltmannsweiler: Schneider 2007. S. 54. Ebd.

5. Didaktische Ziele und Vermittlungsformen literarästhetischer Literalität

Zu der vorwiegend analytisch-intellektuellen Annäherung an das Gedicht, wie sie heute vorherrscht, ist diese sinnliche Erfahrung eine unabdingbare Ergänzung.25 An anderer Stelle hebt Hahn hervor, dass diese sinnliche Erfahrung rezeptiv auch in der Vorstellung vollzogen werden kann; »ich schreibe auch mit den Ohren. Und mit den Ohren lese ich auch.«26 Hierüber können in der Lektüre sprachliche Klänge bewusst gemacht werden, das Gelesene in der Vorstellung ›zur Stimme gebracht‹, Vokale, Konsonanten, Metren und Rhythmen hörbar gemacht, eine ›atemlose‹ Erzählweise von einer ruhigen, getragenen unterschieden, oder eine Textvorlage einmal melancholisch und ein andermal mit wütender Verzweiflung artikuliert werden. Hieran anschließbar ist zugleich Barthes’ Begriff des »laute[n] Schreiben[s]«, das »nicht phonologisch, sondern phonetisch« aufzufassen sei, und sich – rezeptiv gewendet – auch auf ein reales oder vorgestelltes ›lautes Lesen‹ beziehen lässt. [S]ein Ziel ist nicht die Klarheit der messages, das Schauspiel der Emotionen; es sucht vielmehr […] die Triebregungen, die mit Haut bedeckte Sprache, einen Text, bei dem man die Rauheit der Kehle, die Patina der Konsonanten, die Wonne der Vokale, eine ganze Stereophonie der Sinnlichkeit hören kann: die Verknüpfung von Körper und Sprache, nicht von Sinn und Sprache.27 Die Doppelstruktur sprachlicher Zeichen bedingt, dass die Bedeutungsdimension stets rückgekoppelt bleibt an ihren phonetischen oder graphischen materiellen Ausdruck, der zu einer Art sprachlichem ›Einfallstor‹ für Körperlichkeit und Sinnlichkeit wird. Dies lässt sich insbesondere an Beispielen aufzeigen, in denen der sprachliche Laut bzw. seine jeweilige sich über die Stimme (oder Vorstellungskraft) vollziehende Aktualisierung – jenseits seiner Bezeichnungsfunktion und somit unabhängig von möglichen Bedeutungen, die ihm zugewiesen werden können – einen Eigenwert erhält. Viele Sprachspiele gründen hierin: Ihr ›Sinn‹ liegt nicht auf der semantischen Aussageebene, sie folgen vielmehr einer Lust am sprachlichen Klang, sei dieser durch Reime, Rhythmen oder einfach nur die Hervorbringung bestimmter Tonkombinationen hervorgerufen. Die Lautgedichte des Dada, die am Signifikanten ansetzen und ihn seiner 25 26

27

Hahn, Ulla: Gedichte fürs Gedächtnis zum Inwendig-Lernen und Auswendig-Sagen. 11. Auflage. Stuttgart: Deutsche Verlags-Anstalt 2001. S. 25. Ebd. S. 27. Vgl. hierzu auch Hans-Georg Gadamer, der das Lesen – auch das stille – als »Aufführung auf der inneren Bühne« begreift, »die gar keine Aufführung ist, sondern lediglich ein inneres Hören auf das Klangwerden der Sprache. […] Man liest nicht nur den Sinn, man hört ihn.« Hans-Georg Gadamer: Hören-Sehen-Lesen. In: Hans-Joachim Zimmermann (Hg.): Antike Tradition und Neuere Philologien. Symposion zu Ehren des 75. Geburtstages von Rudolf Sühnel. Heidelberg: Winter 1984. S. 9-18. S. 13. Vgl. Lösener: Gedichte sprechen. S. 64. Barthes: Die Lust am Text. S. 97f. Im gleichen Fragment veranschaulicht er diesen Gedanken auf rezeptiver Ebene am Beispiel der Tonspur eines Films: »Der Film braucht nur den Ton der Sprache von ganz nah aufzunehmen (das ist im Grund die verallgemeinerte Definition der ›Rauheit‹ des Schreibens) und in ihrer ganzen Materialität, in ihrer Sinnlichkeit den Atem, die Rauheit, das Fleisch der Lippen, die ganze Präsenz des menschlichen Maules hören zu lassen (die Stimme, das Schreiben müssen nur frisch, schmiegsam, fettglänzend, leicht rauh und vibrierend sein wie die Schnauze eines Tieres), und schon gelingt es ihm, das Signifikat ganz weit weg zu rücken und den anonymen Körper des Schauspielers sozusagen in mein Ohr zu werfen: das knirscht, das knistert, das streichelt, das schabt, das schneidet: Wollust.« Ebd. S. 98.

243

244

Literarästhetische Literalität

Funktion, Inhalte zu bezeichnen, entheben bzw. nur noch Assoziationsräume über das Klangbild eröffnen (die Wirkung stellt sich hier über die Wahrnehmung des Signifikanten als sinnliches Konkretum selbst ein, nicht über das Signifikat), folgen dem in ihrer Ablehnung etablierter literarischer Konventionen ebenso wie manche Kinderlieder28 ; nicht zufällig bildet der Name der Bewegung – Dada – einen Kinderlaut nach. Dass diese Phänomene insbesondere Kinder und Jugendliche (letztlich bauen auch RapStrukturen hierauf auf29 ) faszinieren können, bietet ein Potential für didaktische Vermittlungsprozesse, das der Literaturunterricht sich zu eigen machen sollte.

5.1.2.

Umsetzungen am Beispiel der ästhetischen Hördidaktik und des hörenden Lesens

Fragen der Vermittlung einer ästhetischen Wahrnehmung des sprachlichen Klangs literarischer Texte und einer möglichen Zuordnung zu den Bereichen von Kompetenz, Literalität und Bildung werden im Weiteren exemplarisch am Beispiel der Hördidaktik und des hörenden Lesens untersucht.30 Kompetenzen auf dem ersten Gebiet sind in den Bildungsstandards im Fach Deutsch für die Allgemeine Hochschulreife primär im Kontext pragmatisch-funktionalen Sprachgebrauchs unter dem Aspekt kommunikativer Verständigung thematisiert.31 Im Bereich des literarischen Lernens wird das Hören in Form einer Auseinandersetzung mit »Hörtexten« aufgegriffen. Diese sollen Schüler_innen »sachgerecht analysieren«, selbst »erstellen« und sich im Kontext ihrer Rezeption oder Produktion »mit den eigenen Welt- und Wertvorstellungen, auch in einer interkulturellen Perspektive, auseinandersetzen«. Auf erhöhtem Niveau findet sich darüber hinaus die Anforderung, »die ästhetische Qualität von Theaterinszenierungen, Hörtexten oder Filmen [zu] beurteilen, auch vor dem Hintergrund ihrer kulturellen und historischen Dimension«32 . An diesen Ausführungen lassen sich drei Beobachtungen machen: zum einen die Dominanz einer analytischen bzw. an intersubjektiv vermittelbare Werturteile gebundenen Perspektive, in deren Kontext die Höreindrücke kognitiv und outputorientiert weiterverarbeitet werden; zum zweiten stellt sich schon hier die Frage, inwieweit bei den Fähigkeiten, für die dies nicht gilt (der Auseinandersetzung mit eigenen Welt- und 28

29 30

31 32

Das Lied Drei Chinesen mit dem Kontrabass ist hierfür ein gutes Beispiel. Auf der Aussageebene handelt es sich um Nonsens, doch führt die Ersetzung der verschiedenen Vokale durch einen einzigen Vokal bzw. Umlaut oder Diphthong in den diversen Wiederholungsstrophen des Liedes dazu, dass ein musiksprachliches Klangspiel konstituiert wird. Vgl. zu phonetischen Gestaltungsformen im Rap Fabian Wolbring: Die Poetik des deutschsprachigen Rap. Göttingen: V&R unipress 2015. Phänomene, die dem Bereich einer genauen Textwahrnehmung zugrunde liegen, werden, da sie i.d.R. auch auf imaginative und kognitive Prozesse hinführen, dann auf diesen Ebenen thematisiert. Eine eingehende Untersuchung des Einsatzes der phonetischen Materialität von Sprache in anderen Medien würde unweigerlich Fragen von Inter- und Transmedialität mit aufwerfen und deshalb den Rahmen dieser Arbeit, der an einer Begründung und Umsetzung eines Konzepts literarästhetischer Literalität liegt, sprengen. Vgl. Bildungsstandards im Fach Deutsch für die Allgemeine Hochschulreife. S. 15f. Vgl. ebd. S. 20.

5. Didaktische Ziele und Vermittlungsformen literarästhetischer Literalität

Wertvorstellungen und der Erstellung von Hörtexten), noch von messbaren Kompetenzen im Sinne Weinerts die Rede sein kann. Zum dritten werden bestimmte Fähigkeiten, die allein deshalb außerhalb eines solchen Kompetenzbegriffs anzusiedeln sind, weil es sich zunächst um innere Vorgänge, die sich der Beobachtung entziehen und nach außen nur mittelbar zu dokumentieren sind, nicht berücksichtigt.33 Dies betrifft akustische Wahrnehmungsfähigkeiten literarischer Texte ebenso wie die Vermittlung von Formen eines hörenden Lesens, das die Lernenden in die Lage versetzt, auch im Zuge einer stillen Lektüre den geschriebenen Text in »gesprochene oder gedachte Rede« zu verwandeln, und ihn so in der eigenen Vorstellung gedanklich sinngebend zu artikulieren.34

5.1.2.1.

Kulturgeschichtliche Hintergründe

Die in den Bildungsstandards im Fach Deutsch für die Allgemeine Hochschulreife beobachtbare Tendenz, die Bedeutung von Höreindrücken bzw. »ein[es] innere[n] Sprechen[s] und damit ein[es] innere[n] Hören[s]«35 zu marginalisieren oder primär unter der Perspektive einer begrifflich-funktionalen Weiterverarbeitung zu betrachten, erweist sich als Folge weitreichender kulturgeschichtlicher Entwicklungen. Wolfgang Welsch konstatiert in seinem Aufsatz Auf dem Weg zu einer Kultur des Hörens? kritisch, dass dem Hören in der »Tradition« der abendländischen Kultur zwar auch stets Anerkennung zuteil geworden [ist]. Wenn man das Sehen als den edelsten Sinn des Menschen bezeichnete, so hat man – von Aristoteles über Kant bis in unsere Tage – als unseren unersetzlichsten Sinn das Hören eingeschätzt. [/] Aber diese Anerkennung ist trügerisch. Nicht das Hören als solches, sondern seine Dienstfunktion wird dabei geschätzt. Die Ausblendung der genuin akustischen bzw. klanglichen Dimension des Gehörten ist geradezu eine Vorbedingung dieser Anerkennung.36 33

34

35 36

Zu einer anderen, grundlegend positiven Einschätzung der Berücksichtigung hördidaktischer Aspekte kommt Karla Müller auf Grundlage der Bildungsstandards im Fach Deutsch für die Primarstufe und den Mittleren Schulabschluss. (Vgl. Karla Müller: Hörtexte im Deutschunterricht. Poetische Texte hören und sprechen. Seelze: Kallmeyer 2012. S. 85-88.) Dies ist in Teilen nachvollziehbar, da zumindest die Vorgaben für die Primarstufe den hördidaktischen Bereich stärker akzentuieren. Andererseits bleibt eine Kernproblematik auch hier erhalten: Die Frage danach, inwieweit es sich im strengen Sinne noch um Kompetenzen handelt. Dies muss zumindest bei der vermeintlichen Kompetenz, »lebendige Vorstellungen beim Lesen und Hören literarischer Texte [zu] entwickeln« (Beschlüsse der Kultusministerkonferenz: Bildungsstandards im Fach Deutsch für den Primarbereich. Herausgegeben vom Sekretariat der Ständigen Konferenz der Kultusminister der Länder in der Bundesrepublik Deutschland. München: Wolters Kluwer Deutschland 2005. S. 11. www.kmk.org/fileadmin/Dateien/veroeffentlichungen_beschluesse/2004/2004_ 10_15-Bildungsstandards-Deutsch-Primar.pdf [Abrufdatum 23.11.2017]), in Abrede gestellt werden. Vgl. Lösener, Hans: Ist das literarische Lesen eine Kompetenz? Überlegungen zu einem kompetenzorientierten Lesemodell. In: Hermann von Laer (Hg.): Was sollen unsere Kinder lernen? Zur politischen Diskussion nach den PISA-Studien. Berlin: LIT 2010. S. 41-56. S. 47. Ebd. Welsch, Wolfgang: Auf dem Weg zu einer Kultur des Hörens? In: Volker Bernius u.a. (Hg.): Der Aufstand des Ohrs – die neue Lust am Hören. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2006. S. 29-46. S. 40.

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Literarästhetische Literalität

Im Zuge dessen richtet sich die akustische Aufmerksamkeit nicht auf die Töne und Klänge selbst, sondern »einzig auf das Aufnehmen der sprachlichen Bedeutungen mittels der akustischen Signale.«37 Für die Gegenwart gilt vermutlich in verschärfter Form, dass das aufmerksame Zuhören, das sich mit einem bewussten Innehalten verbindet und nicht nur auf ›Botschaften‹, sondern auch auf den Klang selbst gerichtet ist, »nicht im Trend der Zeit«38 liegt.39 Neben den von Welsch genannten grundlegenden Tendenzen spielen hier ähnliche Gründe eine Rolle, die im Kontext der Kritik der Russischen Formalisten an der zunehmenden Ökonomisierung der Wahrnehmungskräfte zu Beginn des 20. Jahrhunderts bereits thematisiert wurden. Die aufgrund der Menge an zu verarbeitenden Informationen immer weiter voranschreitende Notwendigkeit, die perzeptiven Vermögen so effizient und funktional wie möglich zur Auffassung von Mitteilungen einzusetzen, steht einer bewussten und zunächst nicht instrumentellen Aufmerksamkeit auf Klangphänomene entgegen. Die Kompetenzorientierung der Bildungsstandards, die Hörfähigkeiten primär im Kontext von kommunikativen Kompetenzen aufgreift und in ästhetischen Lernprozessen ergebnisorientiert-kognitiven Prozessen funktional unterordnet, korreliert diesen Entwicklungen, deren Folge sie zugleich auch ist. Die Zurückdrängung der akustischen Wahrnehmung lässt sich auch bei den Lesetechniken näher verfolgen. Das laute Lesen als verlangsamte und bewusste Form der literarischen Lektüre war bis in die Spätantike die konventionalisierte Lektürepraxis.40 Heute hat es allenfalls noch in Gestalt der Ruminatio, einer meditativen Schriftbetrachtung, der lectio divina, bei der die Verse der Heiligen Schrift in der Lektüre halblaut murmelnd gesprochen werden, in Klöstern und spirituellen Kontexten ›überlebt‹ – aus unserer Gegenwartskultur in der privaten Lektüre ist es nahezu verschwunden; und mit ihm ein Teil der bewussten Wahrnehmung der klanglichen Dimension von Sprache. Hieraus resultieren insbesondere für Lernende negative Folgen, und dies gar nicht 37 38

39 40

Ebd. Esterl, Ursula u. Edith Zeitlinger: Hören – eine Kultur? In: ide 32 (2008), H. 1, S. 5-9. S. 7. Dies ist am Beispiel des musikalischen Hörens auch durch verschiedene empirische Studien belegt. Mechthild Hagen spricht von einer »zunehmende[n] Unverbindlichkeit des Hörens«. Sie führt verschiedene Untersuchungen, zum Teil auch in Form von Längsschnittstudien, an, die belegen, dass im Vergleich zu den 1980er Jahren »das diffuse Hören – so nennt er [Behne] das Nebenbeihören von Musik – bei Jugendlichen zunahm, während das kompensatorische und das konzentrierte Hören sich rückläufig entwickelten.« Mechthild Hagen: Förderung des Hörens und Zuhörens in der Schule. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2006. S. 14f. https://edoc.ub.uni-muenchen.de/ 2239/1/Hagen_Mechthild.pdf (Abrufdatum 29.01.2018). Dies bestätigt auch die Art und Weise, wie das Hören in den Bildungsstandards im Fach Deutsch für die Allgemeine Hochschulreife aufgegriffen wird. Vgl. hierzu die Ausführungen oben. Vgl. Lefèvre, Eckard: Die römische Literatur zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit. In: Gregor Vogt-Spira (Hg.): Strukturen der Mündlichkeit in der römischen Literatur. Tübingen: Gunter Narr 1990. S. 9-15. Vgl. in diesem Kontext auch folgendes Zitat Nietzsches: »Der Deutsche liest nicht laut, nicht für’s Ohr, sondern bloss mit den Augen; er hat seine Ohren dabei in’s Schubfach gelegt. Der antike Mensch las, wenn er las – es geschah selten genug – sich selbst etwas vor, und zwar mit lauter Stimme; man wunderte sich, wenn Jemand leise las und fragte sich insgeheim nach Gründen.« Friedrich Nietzsche: Jenseits von Gut und Böse. Zur Genealogie der Moral. In: ders.: Sämtliche Werke: kritische Studienausgabe in 15 Einzelbänden. Hg. v. Giorgio Colli u. Mazzino Montinari. Bd 5. München: dtv 1988. S. 9-243. S. 190.

5. Didaktische Ziele und Vermittlungsformen literarästhetischer Literalität

einmal nur für das literarische, sondern auch schon für das allgemeine Leseverstehen und die Lesekompetenz. Denn beide lassen sich – dies belegen mehrere empirische Studien – sowohl durch das eigene laute Lesen als auch rezeptiv durch Vorlesen deutlich verbessern.41 Diese Entwicklungen erschweren für die Lernenden auch das bereits erwähnte hörende Lesen, bei dem es in der stillen Lektüre zu einer sog. Subvokalisation, einem inneren Mitsprechen des Textes, kommt, mittels dessen eine Artikulation und hiermit auch eine Sinnkonstitution eines Textes vollzogen wird. Es dürfte ähnlich wie das laute Lesen das Textverstehen bereits bei pragmatischen Texten erheblich befördern; im Kontext von Literatur wird es zu einer Voraussetzung von nahezu unhintergehbarer Bedeutung. Denn vermittels einer sprachlichen Artikulation vollzieht sich ein Zugang zum Text, der über die reine Decodierung von Informationen hinausgeht und es erlaubt, »den Sinn des Textes als Sinnaktivität« der Rezipient_innen zu fassen.42 Zu der konstatierten Zurückdrängung der sinnlichen Wahrnehmung literarischer Texte gibt es allerdings auch Gegenbewegungen. Zum einen spielt das Thema ›Hören‹ in fachwissenschaftlichen und didaktischen Publikationen der letzten 20 Jahre eine zunehmende Rolle43 , zum anderen lässt der weiterhin auf hohem Niveau steigende Verkauf von Hörbüchern, die Konjunktur von Poetry-Slams oder die größer werdende Resonanz von Autor_innenlesungen auf ein durchaus vorhandenes Hör-Interesse der Öf41

42 43

Vgl. hierzu die Lautleseverfahren, die laut Studien von Rosebrock/Nix die Leseflüssigkeit und hierüber das Leseverstehen und die Lesemotivation erheblich verbessern können (Cornelia Rosebrock u. Daniel Nix: Grundlagen der Lesedidaktik und der systematischen schulischen Leseförderung. 7., überarb. und erw. Aufl. Baltmannsweiler: Schneider 2014. S. 33-56) sowie die Untersuchungen von Gailberger und Belgrad/Schünemann. Im einen Fall konnte eine Verbesserung der Lesekompetenz (und der Selbstkonzepte!) über den Einsatz von Hörbüchern bei gleichzeitigem stillen Lesen des Textes erreicht werden (Steffen Gailberger: Hörbücher und das simultane Lesen und Hören im Deutschunterricht. Befunde zu einer mehrdimensionalen Förderung von literarischen und Lesekompetenzen schwacher Schüler an der Schnittstelle von Schriftlichkeit und Mündlichkeit. In: Volker Bernius u. Margarete Imhof [Hg.]: Zuhörkompetenz in Unterricht und Schule. Beiträge aus Wissenschaft und Praxis. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2010. S. 105-134); im zweiten Fall konnten deutliche Verbesserungen alleine durch das reine Vorlesen von Texten seitens der Lehrkraft erzielt werden, die die einer Kontrollgruppe, in der die Schüler_innen die Texte zudem während des Vortrags noch mitlasen, übertrafen. (Jürgen Belgrad u. Ralf Schünemann [unter Mitarbeit von Iris Hentschel und Barbara Schupp]: Leseförderung durch Vorlesen: Ergebnisse und Möglichkeiten eines Konzepts zur basalen Leseförderung. In: Ulrike Behrens u. Birgit Eriksson [Hg.]: Sprachliches Lernen zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit. Bern: hep 2011. S. 144-170.) Vgl. zur Zusammenstellung der Forschungsergebnisse auf diesem Feld auch Müller: Hörtexte im Deutschunterricht. S. 62-64. Vgl. Lösener: Ist das literarische Lesen eine Kompetenz? S. 49. Vgl. etwa Bergmann, Katja: Hör-Gänge: Konzeption einer Hörerziehung für den Deutschunterricht. Oberhausen: Athena 2000; Volker Bernius u.a. (Hg.): Der Aufstand des Ohrs – die neue Lust am Hören. Reader Neues Funkkolleg. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2006; Dies. (Hg.): Erlebnis Zuhören. Eine Schlüsselkompetenz wiederentdecken. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2007; Volker Bernius/Margarate Imhof (Hg.): Zuhörkompetenz in Unterricht und Schule. Beiträge aus Wissenschaft und Praxis. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2007; Hagen: Förderung des Hörens und Zuhörens in der Schule.

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Literarästhetische Literalität

fentlichkeit schließen.44 Nicht zuletzt auch vor diesem Hintergrund kommt dem Literaturunterricht im Kontext der Ermöglichung einer kulturellen Teilhabe die Aufgabe zu, Schüler_innen Zugänge zum bewussten und ästhetischen Hören zu vermitteln. Sie sollten auf einer grundlegenden hördidaktischen Schulung aufbauen.

5.1.2.2.

Hördidaktische Zugänge

Jutta Wermke trifft in ihrem Aufsatz Hördidaktik und Hörästhetik. Lesen und Verstehen auditiver Texte diesbezüglich folgende Unterscheidung: »Das Hören selbst kann als pure Wahrnehmungsleistung und als Kunst von Bedeutung sein.«45 Dies ist um eine weitere Differenzierung hinsichtlich des »Hören[s] […] als Kunst« zu ergänzen. Sie unterscheidet zwischen einer ästhetischen Wahrnehmung von Alltagsphänomenen einerseits (also einer Kunst des Hörens) und einer solchen, die sich auf künstlerisch gestaltete Formen, im Kontext der Gegenstände dieser Arbeit auf literarische Klangbilder, andererseits bezieht (also eines Hörens der Kunst). Jeder dieser drei Bereiche kann sich dabei auf sprachliche wie nichtsprachliche akustische Wahrnehmungen beziehen. Bewusstes Hören als pure Wahrnehmungsleistung Schüler_innen das Hören als pure Wahrnehmungsleistung zunächst bewusst zu machen und sie so für Höreindrücke zu sensibilisieren, bildet eine Grundlage für alle weiteren Schritte und ist deshalb in erster Linie auch Gegenstand des Primarstufen- und Sekundarstufen I-Unterrichts. Ein vermeintlich passives Hören, im Sinne eines bloßen Konsumierens, kann es dabei im strengen Sinne gar nicht geben. Jedes Hören verlangt »hochgradig aktive Konstruktionsleistungen«46 , die mit der Selektion von Reizen beginnen, mit deren Organisation fortschreiten und schließlich das Gehörte in bereits bestehende Wissens- bzw. Erfahrungsstrukturen integrieren; etwa, indem den nichtsprachlichen Reizen eine bestimmte Bedeutung zugewiesen oder sprachlich codierte Signale über die Vorstellung und/oder begrifflich weiterverarbeitet werden.47 Genau diese Prozesse laufen aber oft unbewusst ab – didaktisches Ziel ist es, sie den Lernenden bewusst und somit sowohl in ihrem Ablauf als auch ihrer Ausrichtung als beeinfluss44

45

46 47

Bereits 2012 konstatiert Karla Müller: »Seit gut 15 Jahren erleben wir eine öffentliche und private Renaissance des Hörens – kulturwissenschaftlich gesehen sehr erstaunlich –, ablesbar an Inszenierungen von Hörerlebnissen, vor allem aber an den Produktions- und Verkaufszahlen von Hörbüchern und der Nachfrage nach entsprechenden Download-Angeboten.« (Müller: Hörtexte im Deutschunterricht. S. 8) Auch wenn man bei Autor_innenlesungen und Poetry-Slams das gestiegene Interesse vielleicht nicht nur auf eine »neue Lust am Hören über alle Generationen hinweg«, wie Müller schreibt (ebd. S. 9), zurückführen kann und ein Teil des Interesses einem gewissen ›Eventfaktor‹ zuzuschreiben ist, der sich auf die gemeinsame Zusammenkunft mit Gleichgesinnten bezieht – ein Phänomen, das Rüdiger Bubner analog auch für eine neue Museumskultur konstatiert (vgl. Bubner: Ästhetische Erfahrung und die neue Rolle der Museen) –, so ist doch auffällig, dass diese hörästhetisch geprägten Events einen solchen Zuspruch erhalten. Wermke, Jutta: Hördidaktik und Hörästhetik. Lesen und Verstehen auditiver Texte. In: Volker Frederking, Axel Krommer u. Christel Meier (Hg.): Taschenbuch des Deutschunterrichts. Bd. 2: Literatur- und Mediendidaktik. Baltmannsweiler: Schneider 2010. S. 180-199. S. 180. Müller: Hörtexte im Deutschunterricht. S. 40. Vgl. ebd.

5. Didaktische Ziele und Vermittlungsformen literarästhetischer Literalität

und veränderbar aufzuzeigen.48 Ob man hierzu in der Sekundarstufe II noch Übungen ansetzt, ist zumindest genau zu prüfen. Einerseits kann auch hier davon ausgegangen werden, dass ein bewusstes Hören vielen Schüler_innen nicht in der Form bekannt ist, wie es für eine auf sprachliche Klangphänomene bezogene literarästhetische Sensibilisierung wünschenswert wäre. Andererseits ist die Gefahr groß, dass sich Lerngruppen nicht ernst genommen fühlen und den Eindruck erhalten, Unterrichtspraktiken folgen zu müssen, denen sie sich längst entwachsen sehen. Es kann deshalb ratsam sein, hier sofort am Beispiel künstlerischer Gestaltungsformen wie Musik oder Hörtexten zu arbeiten. Auf dem Feld des bewussten sprachlichen Hörens sollte Schüler_innen ein Eindruck davon vermittelt werden, wie sehr etwa eine bestimmte Betonung, Stimmfarbe oder Intonation bereits in der Alltagssprache zum Bedeutungsaufbau beiträgt. Neben diesen bewusst eingesetzten akustischen Signalen, die die Bedeutungsfunktion der sprachlichen Äußerung mitbestimmen, werden zudem in der Stimme oftmals auch unbewusste Botschaften übermittelt: Mitunter kann bereits die Begrüßungsformel bei einem Telefonat – einer Kommunikationsform, bei der man ausschließlich auf Hörimpressionen im Zuge der Etablierung einer Gesprächssituation angewiesen ist – Aufschlüsse darüber geben, in welcher Verfassung der Kommunikationspartner ist. Obgleich (oder gerade weil) sich solche Signale auch inszenieren lassen, um Anderen bewusst einen 48

Eine genaue Wahrnehmungsleistung lässt sich im Unterricht z.B. durch Hörprotokolle anleiten: Schüler_innen arbeiten hier auf Grundlage eingespielter Klangkulissen (ggf. kann dies sogar auf die Geräuschkulissen im eigenen Klassenraum bezogen werden). Michael Krelle führt dies unter Rekurs auf das Schulbuch Wissen und Können. Standard Deutsch. Sprechen und Zuhören 7/8. (Hg. v. Almut Hoppe. Berlin: Cornelsen 2006) am Beispiel der »Situation vor einem [klassischen] Konzertbesuch« vor (Michael Krelle: Zuhördidaktik. Anmerkungen zur Förderung rezeptiver Fähigkeiten des mündlichen Sprachgebrauchs im Deutschunterricht. In: Volker Bernius u. Margarete Imhof: Zuhörkompetenz in Unterricht und Schule. Beiträge aus Wissenschaft und Praxis. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. 2010. S. 51-68. S. 53); hier ließen sich gewiss auch Beispiele finden, die näher an der Erfahrungswirklichkeit der Schüler_innen sind. Diese erhalten die Aufgabe, ein genaues Protokoll ihrer Höreindrücke über einen Zeitraum weniger Minuten gemäß den oben genannten drei Kategorien zu verfassen: Welche Laute erfasse ich? Womit identifiziere ich sie und in welche Gruppen kann ich sie einordnen? Was für Rückschlüsse über das Gehörte lässt dies zu? (Vgl. zu den Kategorien Müller: Hörtexte im Deutschunterricht. S. 40.) Erreicht wird so eine gleichermaßen bewusste und fokussierte Wahrnehmung, die sensibel für Höreindrücke macht. Der Beobachtungsbogen lässt sich in höheren Klassenstufen durch weitere Kategorien anreichern, die sich etwa auf das zeitliche Auftreten von Geräuschen beziehen: Gibt es solche, die sich wiederholen? Wenn ja, wann und wie oft? Können bestimmte Rhythmen beobachtet werden? Welche Laute stammen von unbeweglichen, welche von beweglichen Klangquellen? Welche haben eine gleichbleibende Lautstärke, bei welchen variiert diese? Gibt es Geräusche, die miteinander in Zusammenhang stehen? Etc. Bei der Auswertung der Protokolle ist auf einen Austausch zwischen den Schüler_innen zu achten, im Zuge dessen sich herausstellen kann, dass jeweils unterschiedliche Phänomene bemerkt und beobachtet, ggf. auch verschiedenartig identifiziert und interpretiert wurden. Fortgesetzt werden können solche Übungen zur Hörsensibilisierung in Form der sprachlichen Beschreibung von Klängen, die dann von den Mitschüler_innen bestimmten Phänomenen zugeordnet werden sollen, oder der Aufnahme bestimmter Klänge oder Klangkulissen spezifischer Situationen, die präsentiert und ggf. verglichen werden. Vgl. zu diesen Verfahren Linda Leonie Kerksieck: Ästhetische Bildung im Literaturunterricht. Zur Förderung der Hörästhetik am Beispiel von Lyrik. Unveröffentlichte Masterarbeit am Deutschen Seminar der Leibniz Universität Hannover 2015. S. 36.

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falschen Eindruck der eigenen Befindlichkeit zu vermitteln, wird an diesen Beispielen deutlich, dass Sprache immer mehr als die Übermittlung einer rein durch die Signifikate gesteuerten Mitteilung enthält. Ästhetisches Hören Das bewusste, genaue Hören sprachlicher wie nichtsprachlicher Signale und die ihm zugrunde liegenden Rezeptionsprozesse bilden die Voraussetzung sowohl für eine Entwicklung von Fähigkeiten auf dem Gebiet des hörenden Lesens als auch für ein ästhetisches Hören, implizieren beides aber nicht zwangsläufig. Denn auch das exakte Wahrnehmen kann funktional bestimmt sein und festgelegte Ziele verfolgen, die nicht-ästhetisch sind. Es kann einem etwa darum gehen, bestimmte Fahrzeugtypen anhand ihrer Motorengeräusche wiederzuerkennen; oder, auf dem Gebiet pragmatischer Sprachverwendung, ein genaues Verständnis bestimmter Informationen über parasprachliche Kommunikationssignale zu erreichen. Ist dieser Zweck erfüllt, ist das der gesteigerten Aufmerksamkeit zugrunde liegende Ziel erreicht und sie wird nachlassen; dem Klangmaterial als solchem kommt keine eigene Bedeutung zu. Um zu einem ästhetischen Hören hinzuführen, bedarf es also zudem einer Aufmerksamkeit, welche auf die bewusste Wahrnehmung des Wahrnehmens um seiner selbst willen ausgerichtet ist. Denn nur so können die sinnlichen Objekte, gemäß der Definition Seels, anders perzipiert werden als in alltagspragmatischen Kontexten, »mit einem gesteigerten Gefühl für das Hier und Jetzt der Situation, in der sich die Wahrnehmung ereignet«49 . Ist ein solcher ästhetischer Zugang etabliert, kann in der Folge das Wahrgenommene vorstellend und/oder begrifflich in einer Form weiterverarbeitet werden, die mit automatisierten Gewohnheiten bricht und keinen vorgegebenen oder funktionalen Ausrichtungen folgt.50 Um die Kennzeichen eines solchen ästhetischen Hörens näher zu bestimmen, ist ein Blick auf die der Verarbeitung von Hörimpulsen zugrunde liegenden mentalen Operationen notwendig. Im Zuge der Organisation der selektierten Perzepte und ihrer Integration in bestehende mentale Modelle sind – im Bereich von Sprachlauten wie nichtsprachlichen Wahrnehmungen – analog zum Leseverstehen top-down- und bottom-upProzesse beteiligt.51 Bekannte Höreindrücke werden mithilfe von top-down-Prozessen den entsprechenden Vorstellungen und Begriffen zugeordnet, Unbekanntes oder nicht eindeutig Entschlüsselbares hingegen bleibt notwendig auf bottom-up-Prozesse verwiesen, da hier die Zuordnungen erst noch gefunden werden müssen. Die Spezifik ästhetischen Hörens liegt wie beim begrifflichen Leseverstehen mit darin begründet, an bottom-up-Prozesse anzuknüpfen, um den Klang als Klang wahrzunehmen und nicht über finalisierte begriffliche Identifizierungen vorschnell die Aufmerksamkeit hiervon abzuziehen. Genau hier liegen auch die Grenzen kompetenzorientierter hördidaktischer Ansätze, was an folgendem Beispiel nachvollziehbar ist: Schüler_innen lässt sich die Kompetenz vermitteln, verschiedene Vogelstimmen voneinander zu unterscheiden. 49 50 51

Seel: Ein Schritt in die Ästhetik. S. 14. Vgl. Esterl/Zeitlinger: Hören – eine Kultur? S. 7. Vgl. Müller: Hörtexte im Deutschunterricht. S. 40.

5. Didaktische Ziele und Vermittlungsformen literarästhetischer Literalität

Dies kann einem bewussten ästhetischen Wahrnehmen von Klangphänomenen um ihrer selbst willen etwa auf einem Waldspaziergang zugutekommen – der Höreindruck wird hierüber reichhaltiger, differenzierter und so möglicherweise imposanter. All dies führt aber nicht zwangsläufig zu einem ästhetischen Wahrnehmen; es kann auch dem Erkenntnisinteresse eines Ornithologen dienen, der eine begriffliche Zuordnung der akustischen Wahrnehmung zu den Vogelarten vornimmt und für den der Höreindruck im Zuge einer top-down-geleiteten Bedeutungsbestimmung anschließend seine Funktion erfüllt hat. Da sich der Hör- aber im Gegensatz zum Sehsinn (über den auch das Lesen vollzogen wird) auf zeitlich häufig flüchtige Phänomene bezieht52 , ist sein genuin ästhetischer Gebrauch mit größeren Herausforderungen verbunden. Es bieten sich weniger Möglichkeiten, den in der Wahrnehmung erfolgenden Rekurs auf das Material infolge veränderter Selektion in andere Richtungen, auf andere Elemente und Konfigurationen zu lenken. Je nach Dauerhaftigkeit der Schallimpulse wird der Hörende auf seine Erinnerungen – und somit auf Vorstellungen vom Gehörten angewiesen sein, um es sich immer wieder neu vergegenwärtigen zu können; wobei die Vorstellung des Gehörten sich mit anderen Eindrücken vermischen und von diesen ggf. auch überlagert werden kann. (Ähnlich wie auch unsere Vorstellung anderer Sinneswahrnehmungen von früher ausgebildeten Vorstellungen geprägt ist und sich mit diesen vermischt.) Eine ganze Reihe gleichermaßen interessanter wie unkonventioneller Vorschläge, wie sich ein solches Wahrnehmen des Wahrnehmens akustischer Signale und das imaginative Spiel mit ihnen in der erinnernden Vorstellung hervorrufen lässt, finden sich in dem Aufsatz Hörenmachen – Imagination des Perkussionisten und Komponisten Stephan Froleyks. Um einen kurzen Einblick in die hier geschilderten Experimente zu geben, seien zwei herausgegriffen: Umdeutungen aus der Erinnerung: Sie sitzen nach einem längeren Spaziergang oder einer anderen Tätigkeit wieder am Tisch. […/] Schließen Sie die Augen und erinnern Sie sich jetzt an die akustische Grundstimmung und an klingende Details Ihres Spaziergangs (oder der anderen Tätigkeit). [/] Hören Sie das Gehörte erneut, öffnen Sie langsam die Augen und passen Sie es dem neuen optischen Szenario an. Beim nächsten Spaziergang nehmen Sie dann das Bild Ihres Gartens oder des Hofes mit und kombinieren es mit dem dann Gehörten. […] Verfremdungen: […] Wählen Sie irgendeine Musik […] und hören Sie einen wirklich kurzen Ausschnitt von nicht mehr als 3 Sekunden. [/] Wiederholen Sie dieses Musikpartikelchen in Ihrem inneren Ohr immer wieder, später können Sie verändernd eingreifen: Imaginieren Sie es lauter oder leiser, transportieren Sie es, oder verfremden Sie die Klanglichkeiten. [/] Versuchen Sie zwischendurch immer wieder, sich an die Urgestalt Ihres ›Themas‹ zu erinnern, und machen Sie nach einer guten Viertelstunde 52

Vgl. Welsch: Auf dem Weg zu einer Kultur des Hörens? S. 38: »Die Seinsweise von Sichtbarem und Hörbarem ist grundsätzlich verschieden. Das Sichtbare verharrt in der Zeit, das Hörbare hingegen vergeht in der Zeit. Sehen hat es mit Beständigem, dauerhaft Seiendem zu tun, Hören hingegen mit Flüchtigem, Vergänglichem, Ereignishaftem.«

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den Test, wie groß die Ähnlichkeit dessen, was Sie jetzt für das ›Thema‹ halten, mit dem auf Band oder CD nachhörbaren Original ist.53 Ob diese Vorschläge für Unterrichtskontexte verwendbar sind, kann nicht pauschal entschieden werden; hier muss die Offenheit der jeweiligen Lerngruppe Berücksichtigung finden. Ggf. kann es auch vorteilhafter sein, ästhetisches Hören durch produktionsorientierte Aufgabenstellungen zu schulen; etwa, den Vortrag eines Gedichtes durch die Gestaltung einer Klangkulisse zu begleiten oder eine Klangcollage zu ihm anzufertigen. Mit Blick auf ästhetische Wahrnehmungen von Sprache, die sich auf nicht künstlerisch gestaltete Formen beziehen, wird die Aufmerksamkeit auch unabhängig von der Bedeutungsfunktion der sprachlichen Zeichen auf deren phonetische Materialität gelenkt. Dem kann die Faszination für eine bestimmte Stimme, die einen Text vorträgt, oder auch für den bloßen Klang einer Fremdsprache zugrunde liegen, die noch nicht einmal passiv beherrscht werden muss.54 Mit dieser bewussten Konzentration auf den sprachlichen Klang und die hiervon Ausgang nehmenden verschiedenartigen Vorstellungen, Imaginationen und Gedanken verändert sich zugleich auch die Fokussierung der Lernenden. Die Aufmerksamkeit verlagert sich infolge der bewussten Wahrnehmung darauf, was sie im Wahrnehmenden auslöst.55 Nur so erhält sie subjektive Bedeutung, wird die Wahrnehmung zu etwas, das einen im buchstäblichen und übertragenen Sinne selbst ›angeht‹56 . Literarästhetisches Hören An diese Überlegungen ist im Kontext einer Hördidaktik, die dann auf künstlerisch gestaltete Formen Bezug nimmt, anzuknüpfen. In diesen Bereich fallen etwa musikalische Kompositionen, Klanginstallationen, aber eben auch literarische Sprache. Die Bedeutung, die Klangphänomenen hier zukommt, lässt sich mit Barthes wie folgt bestimmen: [H]auptsächlich im Feld der Kunst, deren Funktion oft utopisch ist […, ist das, worauf da und dort gehört wird,] nicht das Auftreten eines Signifikats, das Objekt eines Wiedererkennens oder einer Entzifferung, sondern die Streuung schlechthin, das Spiegeln der 53

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Froleyks, Stephan: Hörenmachen – Imagination. In: Volker Bernius u.a. (Hg.): Der Aufstand des Ohrs – die neue Lust am Hören. Reader Neues Funkkolleg. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2006. S. 336-348. S. 338f. Weitere Ideen für unterrichtspraktische Umsetzungen, i.d.R. allerdings für jüngere Schüler_innen, finden sich in dem Kapitel 2.4.1. »Zuhören vorbereiten« des Bandes Hörtexte im Deutschunterricht von Karla Müller (S. 88-92). Dies muss sich nicht zwangsläufig auf akustische Eindrücke beschränken. Roland Barthes’ Auseinandersetzung mit der japanischen Kultur, die seinem Buch Das Reich der Zeichen zugrunde liegt, gründet auch auf seiner Faszination von den japanischen Schriftzeichen, die er in ihrer Signifikanz, nicht aber als Signifikate wahrnimmt. Eine kalligraphisch anmutende, mit den japanischen Zeichen aber ›nur‹ spielende Tusche-Zeichnung von Yokoi Yayû (Die Champignon-Suche) ist handschriftlich von Barthes untertitelt mit »Où commence l’écriture? [/] Où commence la peinture?« – »Wo beginnt die Schrift? [/] Wo beginnt die Malerei?« Barthes: Das Reich der Zeichen. S. 35. Vgl. Hagen: Förderung des Hörens und Zuhörens in der Schule. S. 80. Vgl. ebd. S. 80f. unter Rekurs Spinner.

5. Didaktische Ziele und Vermittlungsformen literarästhetischer Literalität

Signifikanten, die ständig um ein Zuhören wetteifern, das ständig neue hervorbringt, ohne den Sinn jemals zum Stillstand zu bringen […].57 Literarische Sprache löst so den funktionsgebundenen Einsatz des signifikanten, akustisch wahrnehmbaren Materials aus seiner instrumentellen Funktion in der Alltagssprache und begründet (auch) hierüber ästhetische Polyvalenz. Will man diese Klangdimension literarischer Sprache als artikulierte Rede didaktisch vermitteln und Schüler_innen so den Zusammenhang von unterschiedlicher ›Stimmgebung‹ und Sinngebung in der eigenen Wahrnehmung erfahrbar werden lassen, bieten sich drei Wege an: zum einen die Arbeit mit einem Textvortrag oder verschiedenen Vortragsvarianten, zum zweiten eine Einübung in Formen des hörenden Lesens, zum dritten die Schulung eigener Vortragsfähigkeiten. Auf die ersten beiden Wege soll im Folgenden konkreter Bezug genommen werden, der dritte gerät, da zumindest einige der ihm zugrunde liegenden mentalen Operationen bereits im hörenden Lesen Berücksichtigung finden (auch hier muss der Text – wenn auch nur in der eigenen Vorstellung – artikuliert werden) und die Thematisierung von Fragen der Sprecherziehung den Rahmen dieser Arbeit sprengen würden, nur so weit in den Blick, als er hörästhetische, also rezeptive Fähigkeiten auszubilden vermag. Im Kontext einer Arbeit mit Textvorträgen im Unterricht ist zu berücksichtigen, dass jeder Vortrag das Zeichenmaterial bereits in einer spezifischen Form artikuliert. Hierbei verschmilzt die »Partitur« des Textes als Bezugsgröße auf der Gegenstandsseite bereits mit der im jeweiligen Vortrag vorgenommenen Interpretation, mit der die Zuhörer konfrontiert sind. Die Textgrundlage präsentiert sich somit auf Wirkungsebene nur in Gestalt einer zweifachen Brechung: zum einen durch die Sprecher_innen, zum zweiten durch die Rezipient_innen, die den Vortrag aufgrund ihrer individuellen und kulturell vermittelten Erfahrungsmuster, ihres Vorwissens und der jeweiligen situativen Bedingungen wahrnehmen. Der Vortrag selbst wiederum kann bestimmte Elemente in den Vordergrund rücken, Deutungen vornehmen; er strukturiert so den Text für die Zuhörer bereits in seinem Verständnis vor. Hierzu stehen verschiedene prosodische Gestaltungsmittel zur Verfügung.58 Die folgende didaktische Konkretisierung 57

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Barthes, Roland: Zuhören als Haltung. In: Volker Bernius u.a. (Hg.): Der Aufstand des Ohrs – die neue Lust am Hören. Reader Neues Funkkolleg. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2006. S. 7689. S. 88. Allein durch unterschiedliche Betonungen eines Satzes können bedeutungstragende Differenzen deutlich gemacht werden. Dies kann in unteren Jahrgangsstufen Schüler_innen zunächst an ganz einfachen Beispielen der Alltagssprache vermittelt werden. Der Satz »Florian, geh’ ins Bett!« kann auf zumindest drei verschiedene Weisen gesprochen und verstanden werden. Liegt die Betonung auf »Florian«, der vielleicht im Kreis seiner Geschwister sitzt, wird deutlich, wer von den Anwesenden ins Bett gehen soll. Liegt sie auf »geh’«, kann die Aufforderung darin bestehen, dass der Angesprochene sich im normalen Gang – und nicht etwa springend oder schleichend – ins Bett bewegen möge. Liegt sie auf »ins Bett«, markiert die Aufforderung, dass der Weg nicht in oder über die Küche oder das Wohnzimmer führen soll. Weiterhin kann Schüler_innen der Auftrag gestellt werden, den Satz einmal bittend, einmal befehlend, einmal verzweifelt etc. auszusprechen und sich im Anschluss über die wirksam werdenden Gestaltungsmöglichkeiten in der eigenen Stimmführung bewusst zu werden sowie diese zu kategorisieren (Lautstärke, Geschwindigkeit, Tonhöhe etc. – vgl. hierzu näher unten), da auch hierüber Hörsensibilität ausgebildet wird.

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Literarästhetische Literalität

beschränkt sich auf vorgetragene Texte, auch in Form von Sprechaufnahmen.59 Nicht einbezogen werden Hörspiele oder andere Formen, bei denen neben sprachlichen bzw. parasprachlichen Impulsen auch andere Klänge Verwendung finden. Dabei werden vier Vermittlungsziele ausgewählt60 : Zum einen kann den Lernenden auf der Ebene des sprachlichen Klangs gleichermaßen die Polyvalenz wie die sprachlichkünstlerische Gestaltung (die deren Grundlage bildet) ›vor Ohren geführt‹ werden. Beides sollte so vermittelt werden, dass es sich mit einem weiteren literarästhetischen Lernziel verbindet: dem sich gegenseitig befördernden Wechselspiel von subjektiver Involviertheit und genauer Wahrnehmung.61 Diese Ziele werden ergänzt und vertieft durch eine Schulung der sprachlichen Ausdrucksmöglichkeiten im literarischen Gespräch über die Wahrnehmungseindrücke. Dem Bewusstsein für literarische Polyvalenz dient die Konfrontation mit verschiedenen Vortragsinterpretationen, die ggf. auch im historischen Wandel unterschiedliche Zugänge zur Textvorlage erkennen lassen.62 Aufgrund der bereits angesprochenen Flüchtigkeit von Höreindrücken ist ein mehrfaches Hören notwendig. Im Zuge der Auseinandersetzung mit der Frage, worauf die Wirkung der verschiedenen Interpretationen beruht, werden die Schüler_innen zugleich zu einer genauen Wahrnehmung sowohl der Gestaltungsmittel der Textvorlage als auch der jeweiligen Vorträge angehalten. Hinsichtlich der Textgrundlage handelt es sich um Beobachtungen zu sprachlichen bzw. erzähltechnischen Gestaltungen, die diese Arbeit im Kontext kognitiv-begrifflicher Verstehensprozesse näher in den Blick nehmen wird. Zu den Gestaltungsmitteln auf der Ebene des mündlichen Vortrags zählen etwa: die Wahl des Sprechtempos und Rhythmus, (wozu auch Geschwindigkeitswechsel, das gezielte Setzen von Pausen, eine bestimmte Atemtechnik etc. zu rechnen sind); der ggf. auch wechselnde Einsatz von Betonungen; eine spezifische Aspekte des Textes hervorhebende Modulation der Lautstärke; die jeweilige Textmelodie, die ihren Ausdruck etwa in der Tonhöhe, der Satzmelodie und einer bestimmten Klangfarbe finden kann; eine Deutlichkeit in der Artikulation, die auch wechseln kann, sowie Fragen der Lautung und Laut-, Wort- und Satzbindung.63 Hinzu kommen nicht bewusst veränderbare Mittel wie physiologisch determinierte Charakteristika der jeweiligen Stimme. Da begleitende Aufgabenstellungen, die auf bestimmte Aspekte eingehen, die Aufmerksamkeit stark lenken, sollte im Zuge der Ermöglichung einer individuellen Primärrezeption i.d.R. zunächst hierauf verzichtet werden.64 Erst bei Wiederholungen und 59

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63 64

Vgl. zu einer Arbeit mit verschiedenen Vertonungen bzw. Rezitationen des Prometheus-Gedichtes von Goethe Mark Georg Dehrmann, Christian Plien u. Sigrid Thielking: Prometheus, dreifach. Ein Verbundexperiment von Fachwissenschaft, Literaturdidaktik und Unterrichtsplanung. In: Mitteilungen des Deutschen Germanistenverbandes 60 (2013), H. 1, S. 5-14. S. 8. Vgl. zu den im Folgenden vorgestellten Punkten Müller: Hörtexte im Deutschunterricht. S. 81-83. Vgl. Spinner: Literarisches Lernen. S. 8f. Dies führt Karla Müller am Beispiel von Sprechfassungen zu Goethes Prometheus vor. Vgl. Hörtexte im Deutschunterricht. S. 173-176. Die dem Band beiliegende CD enthält drei der vier zugrunde gelegten Tondokumente. Vgl. zu den Kriterien Lösener: Gedichte sprechen. S. 107; Müller: Hörtexte im Deutschunterricht. S. 21. Vgl. Müller: Hörtexte im Deutschunterricht. S. 112. Müller macht auch auf die Gefahr aufmerksam, dass nachträglich gestellte Aufgaben aufgrund der sehr verschiedenen »individuelle[n] Selekti-

5. Didaktische Ziele und Vermittlungsformen literarästhetischer Literalität

nach einem Austausch über die spontanen Eindrücke lässt sich zur genaueren Analyse der ihnen zugrunde liegenden Ursachen im Vortrag dann in der Aufgabenstellung auf bestimmte Gestaltungsmittel, etwa in Form von Beobachtungsaufträgen zu einzelnen prosodischen Elementen, hinweisen. Im Anschluss können im gelenkten Unterrichtsgespräch Kategorien gebildet werden, auf deren Grundlage eine auch begrifflich präzise Erfassung verschiedener Gestaltungstechniken in der Textvorlage wie im Vortrag möglich wird. Ausgehend von den individuellen Eindrücken, die der Vortrag hinterlassen hat, werden so systematisch Kriterien erarbeitet, die dann anhand eines weiteren Beispiels zur Grundlage eines Beobachtungsbogens genommen werden, der die hörästhetische Sensibilität nun auch begrifflich-kategorial stützt.65 Die Beobachtung dieser Elemente, die je für sich in weiten Teilen durchaus kompetenzorientiert vermittelbar ist, sollte aber auch im Folgenden nicht als Katalog ›abgearbeitet‹, sondern an die individuellen Höreindrücke angebunden und in einen Zusammenhang zum gesamten Text gestellt werden. Alternativ (oder auch beim weiteren Vorgehen) ist es möglich, zunächst den Text zu lesen und anschließend eine Vortragsfassung zu präsentieren, die dann hinsichtlich des ihr zugrunde liegenden Verständnisses näher untersucht wird. Den Schüler_innen kann die Aufgabe gestellt werden, mögliche andere – mit dem Text in Einklang zu bringende – eigene Vortragsvarianten zu erstellen.66 Die auf diesem Wege erreichbare, gezielte Verbindung von Hör- und Vortragsschulung nutzt Lernaktivitäten, die den Fähigkeiten auf beiden Feldern zugutekommen: Die Sensibilisierung für literarästhetische Klangphänomene bildet eine gute Grundlage und Vorbereitung für die Vortragsschulung. Andererseits vermag diese zugleich das Bewusstsein für den sprachlichen Klang auch auf rezeptiver Ebene noch weiter auszuschärfen. Die sinnlich erfahrbare Polyvalenz literarischer Texte eignet sich zugleich, um sprachliche Ausdrucksfähigkeiten zu schulen. Wenn man mit Dietrich/Krinninger/Schubert davon ausgeht, dass ästhetische Erfahrungen auch »sprachlich zuallererst konstituiert werden«67 , bietet der Austausch über Höreindrücke hier Potential. Sie beruhen zwar auf sinnlichen Wahrnehmungen, die allermeist flüchtiger sind als jene Vorstellungen, welche sich im Zuge einer Textlektüre ausbilden, zugleich können sie aber auch, da sie die Sinne direkter affizieren, weniger Distanzierung ermöglichen68 und bestimmte kognitive Anforderungen des Lektüreprozesses umgehen, zumindest für einen Teil der Schüler_innen lebendiger als Lektüreeindrücke sein – und so nach Mitteilung drängen. »Alle Formen des nach außen hin artikulierten Beeindrucktseins münden wiederum

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on der Wahrnehmung« wenig zielführend sind, wenn den Schüler_innen nicht die Gelegenheit gegeben wird, den Text auf Grundlage der mit der Aufgabe erfolgenden Ausrichtung der Wahrnehmung auf die genannten Elemente noch einmal zu hören. Vgl. ebd. Vgl. zum Sprechausdruck hier das von Karla Müller erstellte Arbeitsblatt in: Hörtexte im Deutschunterricht. S. 204. Vgl. zu einem sinnvollen Vorgehen, das sowohl die Erstellung verschiedener Produkte als auch unterschiedlicher Vermittlungswege und -phasen voneinander abgrenzt und didaktisch anschaulich aufbereitet, das Kapitel 2.5. »Poetische Texte hörbar machen und sprechen« von Müller: Hörtexte im Deutschunterricht. S. 116-146. Dietrich/Krinninger/Schubert: Einführung in die ästhetische Bildung. S. 30. Vgl. Welsch: Auf dem Weg zu einer Kultur des Hörens? S. 38f.

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Literarästhetische Literalität

in eine Praxis der Verständigung über das […] Gehörte, deren Nuancenreichtum im Prozess der Bildung durchaus unterschiedliche Formen annehmen kann.«69 Mögliche Themen eines solchen Austausches bilden etwa Fragen danach, welche Vorstellungen oder begrifflichen Assoziationen sich während des Hörens ausbildeten, ob (und wodurch) eine bestimmte Stimmung vermittelt und ob diese von allen gleich empfunden wurde oder welche Bedeutung(en) der Text durch den Vortrag erhielt. Des Weiteren kann angesprochen werden, auf welche Textmerkmale sich die Vortragsinterpretationen zurückbeziehen können. Nicht vollständig, aber zumindest in Teilen ablösbar hiervon sind Höreindrücke, die sich auf die Wirkung unterschiedlicher Stimmen beziehen, gleichwohl aber erheblichen Einfluss auf das Erleben eines Vortrags haben werden. Der vergleichende Austausch mit anderen Wahrnehmungen erhöht die eigene Wahrnehmungssensibilität. Messbar oder standardisierbar werden die Lernprozesse hier kaum sein; gerade aus dem individuell unterschiedlichen Wahrnehmen etwa verschiedener Stimmen, Sprechweisen oder Betonungsarten und dem Austausch darüber gehen aber bildungsrelevante Impulse hervor. Sie provozieren Formen der Selbstreflexion und eine Auseinandersetzung mit den Grundlagen der eigenen Wahrnehmung allein dadurch, dass die Mitschüler_innen ggf. zu anderen Auffassungen gelangen. Um dies anzuleiten, bietet sich die Form des literarischen Gesprächs nach dem Heidelberger Modell an, da es in seiner Offenheit eine Auseinandersetzung mit den je individuellen Zugängen zulässt.70 Kompetenzen, Literalität und Bildung im Kontext der Hördidaktik Kompetenzen auf dem Feld der Hördidaktik bilden primär nicht-ästhetische und kognitiv rückgekoppelte Wahrnehmungsfähigkeiten. Insofern sie ein bewusstes und klangsensibles Hören fördern, können sie ästhetischen Wahrnehmungsformen aber durchaus zuspielen. Beim Hören eines Vortrags lässt sich das Erkennen eines bestimm, ten Sprechrhythmus , einer Satzmelodie, der Lautstärkenmodulation in Aufgabenform operationalisieren und auch in Kategorien von ›richtig‹ und ›falsch‹ messen. Dies heißt aber weder, dass eine Schülerin, die dies beherrscht, etwa zu einem Genuss des sprachlichen Klangs gelangt oder ihre Vorstellungskraft bzw. Gedanken von den Klangbildern dahingehend angeregt werden, dass sie in eine vertiefte Auseinandersetzung mit dem Gegenstand eintritt, die ihren Zweck in sich selbst findet. Ebenso wenig kann behauptet werden, dass genau dies einem anderen Schüler, der diese Kompetenzen nicht in gleichem Maße besitzt, verwehrt bleibt.71 Auch Karla Müller, deren Band Hörtexte im Deutschunterricht ein kompetenzorientierter Ansatz zugrunde 69 70 71

Dietrich/Krinninger/Schubert: Einführung in die ästhetische Bildung. S. 30. Vgl. Härle: »… und am Schluss weiß ich trotzdem nicht, was der Text sagt«. Dies ist insbesondere mit Blick auf die zunehmende Bedeutung von Inklusion im Literaturunterricht zu berücksichtigen. Viele Schüler_innen mit erhöhtem Förderbedarf in ihrer Lern- oder geistigen Entwicklung werden hier nicht die gleichen Fähigkeiten entwickeln können wie die ›Regelschüler_innen‹. Dennoch kann gerade für sie der Vortrag eines literarischen Textes hinsichtlich der hiermit verbundenen ästhetischen Lernziele von enormer Bedeutung sein, da ihnen nicht zwangsläufig kognitiv vermittelte Zugänge zur Literatur ermöglicht werden, die ihrerseits für die weitere Persönlichkeitsentwicklung und Bildungsprozesse relevant werden können.

5. Didaktische Ziele und Vermittlungsformen literarästhetischer Literalität

liegt72 , konstatiert: »Hörverstehen mit ›falsch‹ und ›richtig‹ messen zu wollen, erfasst nur sehr partielle Leistungen.«73 Die Frage, wie sensibel Schüler_innen auf bestimmte Klangphänomene reagieren, wie sie etwa verschiedene Tonlagen oder Stimmen empfinden, wie sehr eine ausgeschärfte Wahrnehmung ihrerseits wiederum Vorstellungsund Imaginationstätigkeiten anregt und auch kognitiv-begriffliche Verstehenswege eröffnet, all dies fällt in den Bereich einer literarästhetischen Literalität, da es sich einer Standardisierung und outputorientierten Messbarkeit entzieht. Doch gerade in diesen Fähigkeiten liegt ein Großteil des bildungsrelevanten Potentials im Bereich sinnlich vermittelter ästhetischer Wahrnehmung begründet, und zwar auf zwei verschiedenen Ebenen. Die erste ist mit dem Stichwort der Kontemplation bezeichnet und rekurriert auf das, was im zweiten Kapitel unter Rekurs auf Bernd Kleimann zu dieser Spielart des ästhetischen Erfahrens ausgeführt wurde. Es handelt sich um eine Form der bewussten Aufmerksamkeit auf Sinneseindrücke, auf den Augenblick der Wahrnehmung, der aus allen Funktionsbestimmungen herausgehoben ist.74 Möglich wird es für Schüler_innen hierin einen Abstand zur Alltagswahrnehmung und so auch zur Alltagswelt zu erhalten. Ein zweites Bildungsziel leitet sich aus folgender Aussage Welschs ab: »Wie wir Menschen als Sinneswesen mit unseren Sinnen umgehen, wirkt sich auch auf unser übriges Selbstsein und unser Weltverhalten insgesamt aus.«75 Aus der beim ästhetischen Hören erfolgenden Konzentration auf die eigene bewusste Wahrnehmung ist eine bewusstere Erfahrung des eigenen Ichs ableitbar. Dies ermöglicht den Schüler_innen auch einen Einblick darin, wie sie auf bestimmte akustische Reize oder Redetechniken reagieren – und somit hiervon zugleich in ihrem emotionalen Erleben beeinflusst werden.76 Im Gesprächsverhalten befördert eine Reflexion darüber, dass man Stimmeigenschaften auch »bewusst und intentional verändern [kann]«77 , um hierüber Effekte auf seine Zuhörer zu erzielen, einen kritischen Blick auf solche dann rhetorisch eingesetzten Kommunikationsstrategien. Ebenso lassen sich Funktionen, die der mediale Einsatz von Klängen oder Sprechtechniken etwa in der Werbung oder im Film erhält, vermitteln.78 72 73 74 75 76

77

78

Vgl. hierzu etwa Müller: Hörtexte im Deutschunterricht. S. 140f. Ebd. S. 111. Vgl. Kleimann: Das ästhetische Weltverhältnis. S. 95. Welsch: Auf dem Weg zu einer Kultur des Hörens? S. 30. Ergänzt man hördidaktische Zugänge durch eine Vortragsschulung, ist dieses Bildungsziel weiter ausbaubar. Der eigene Vortrag kann auf zwei Wegen zu einer größeren Ich-Bewusstheit führen: zum einen darüber, dass der Vortragende »für sich selbst lösen [muss], wie er sein Vortragen gestalten möchte« (Lösener: Gedichte sprechen. S. 54); zum zweiten darüber, dass er sich im Vortrag selbst zuhört und so »als sprechendes Subjekt, also als ein Ich, das sich durch sein Sprechen artikuliert« (ebd. S. 1), erfährt. Müller: Hörtexte im Deutschunterricht. S. 19. Müller weist weiter darauf hin, dass Menschen »auch bewusst Stimmmerkmale erzeugen [können], in der Hoffnung, damit Persönlichkeitsmerkmale glaubhaft zu machen, z.B. Lautheit, die auf Entschlossenheit hinweisen soll, behauchtes Sprechen, das erotisch klingen soll.« Ebd. Vgl. Karst, Karl: Sinneskompetenz – Medienkompetenz. Kommunikationsfähigkeit als Voraussetzung und Ziel einer Pädagogik des (Zu-)Hörens. medien praktisch. 1998, H. 1, S. 4-7.

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Literarästhetische Literalität

Zugleich verändert ein bewusstes Hören Perzeptionsfähigkeiten und -gewohnheiten dahingehend, dass auch eine bewusstere und genauere Wahrnehmung der Außenwelt erfolgt, die wiederum das eigene Erleben und Erfahren zu bereichern vermag. Auch wenn soziale Beziehungen hiervon gewiss profitieren können, erscheinen manche der Aussagen, die sich hier in der Literatur finden, aber doch zumindest optimistisch eingefärbt.79 Mit Blick auf genuin literarästhetische Lernprozesse kommt diesbezüglich insbesondere dem hörenden Lesen Potential zu.

5.1.2.3.

Hörendes Lesen

Der Ansatz Hans Löseners Da der folgende Ansatz zum hörenden Lesen aus einer Auseinandersetzung mit dem Modell Hans Löseners gewonnen wird, soll dieses zunächst kurz skizziert werden. Unterschieden sind hier drei »Prozessebenen der Lesetätigkeit«: Die ersten beiden (»semiotische« und »diskursive Prozesse«) sind auf den Gegenstand bezogen, zum einen auf dessen Zeichen, zum zweiten auf die textuelle Komposition; die dritte nimmt Bezug auf die »Rezeptionsprozesse« der Leser_innen.80 Die erste Prozessebene fokussiert die »semiotischen Einheiten«, deren Informationsgehalt zu decodieren ist. Sie richtet sich am Zeichenbegriff und seiner Dichotomie von Form und Inhalt aus und bleibt begrenzt auf die »Buchstaben- und Wortbilderkennung«81 , wohingegen »die semantische Ebene, die Ebene des Sinngefüges und der Sinnbeziehungen, […] nicht in dieser Weise dekodiert werden [kann]«82 . Lösener richtet sich primär gegen Vorstellungen, die den »Sinn« »als Substanz« begreifen, die durch den Auslegungsakt gewonnen wird. Das Konzept des sinn- bzw. informationsentnehmenden Lesens beruht also auf einer Verallgemeinerung des alten semiotischen Prinzips des Aliquid-stat-pro-aliquo (d.h. etwas steht für etwas anderes) auf das Textverstehen insgesamt: Die Zeichenfolgen auf dem Papier stehen dabei für einen geistigen Sinn, der erst durch die Interpretation zutage gefördert wird.83 Diese Kritik schließt an Gedanken an, die von verschiedenen Literaturtheorien, z.T. unter explizitem, z.T. unter implizitem Bezug auf Susan Sontags Essay Against Interpretation, unter dem Begriff einer »Krise der Interpretation« in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts verhandelt wurden; namentlich nennt Lösener die Rezeptionsästhetik und die Dekonstruktion. Doch auch sie, so sein Vorwurf, blieben letztlich weiterhin dem am Zeichenbegriff ausgerichteten hermeneutischen Modell der Interpretation verhaftet; auch wenn sie dieses, wie im Falle der Rezeptionsästhetik, nun von den Sinnzuweisungen der Leser_innen her dächten (und damit in die Falle des Solipsismus liefen) 79

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Vgl. exemplarisch Hagen: Förderung des Hörens und Zuhörens in der Schule. S. 81: »Ästhetische Hörerfahrungen wirken sich […] nicht nur auf die individuelle Erlebnisfähigkeit aus, sondern auch auf die Gestaltung von Beziehungen. Sie sind eine Grundlage für soziales Verstehen und für intensive Begegnungen mit den Menschen und den Ereignissen der Umwelt.« Lösener: Ist das literarische Lesen eine Kompetenz? S. 50. Lösener, Hans: Zwischen Wort und Wort. Interpretationen und Textanalyse. Paderborn: Fink 2006. S. 11. Ebd. Lösener: Ist das literarische Lesen eine Kompetenz? S. 48f.

5. Didaktische Ziele und Vermittlungsformen literarästhetischer Literalität

oder, wie im Fall der Dekonstruktion, »mit der Aufwertung der Abwesenheit, der Leere und der Zerstreuung des Sinns« das Zeichen zwar »von seinem Inhalt [befreiten]«, es aber als solches »nicht in Frage« stellten.84 Anstelle solcher Konzeptionen, die Lösener aufgrund ihrer Zeichenausrichtung nach wie vor in die »Aporien des auslegenden Lesens«85 verstrickt sieht, grenzt sein Modell semiotische Decodierungsprozesse auf die Entschlüsselung von Graphemen und Wortbildern ein; ein Zugang zur Semantik sei durch solche Operationen nicht möglich: »Der Sinn ergibt sich nicht aus einem Dekodierungsakt. Das Modell des dekodierenden Lesens hilft uns daher auf der Sinnebene nicht weiter.«86 Hierfür steht in seinem Modell eine zweite Ebene, die diskursive Prozesse der Lesetätigkeit beinhaltet. In ihnen wird der Text als »geschriebene Rede«87 begriffen, die es in Form des »hörende[n] Lesen[s]« zu »reartikulieren«88 gelte, etwa beim »lauten, halblauten […] Lesen«, aber auch im »leisen Lesen«89 , das den Text in der Vorstellung qua Subvokalisation reartikuliert90 . So werde es möglich, den »Sinn des Textes« nicht als (vermeintliche) Substanz, sondern »als Sinnaktivität zu beschreiben« – und es ist dieses an der Reartikulation des Textes ausgerichtete »diskursive[] Modell«, das an die Stelle eines semiotisch begründeten semantischen Modells und der Textauslegung tritt.91 Es greift – ähnlich wie der Textvortrag resp. dessen Rezeption – notwendig auf Prozesse der Vorstellungsbildung, Imagination und begrifflich vermittelten Kognition zurück, koppelt diese dann jedoch wieder an die Perzeption bzw. an eine in der Vorstellung realisierte sinnliche Wahrnehmung dessen, was mental mitgesprochen wird. Denn auf der diskursiven Ebene ist die Lektüre nun von den Re-Konstruktionen des spezifischen Äußerungsaktes im Sinne sprachlicher Handlungen eines in den Text eingeschriebenen Subjekts geleitet: »Der Sinn ist dann das, was den Text als sprachliche Handlung ausmacht.«92 – und somit immer auch, aber eben nie rein, buchstäblich ›sinnlich‹, als 84

85 86 87 88 89 90 91 92

Vgl. Lösener: Zwischen Wort und Wort. S. 63. Beide Argumentationen sind angreifbar. So fordert die Rezeptionsästhetik Isers immer wieder einen Rekurs auf die Textgrundlage ein, weshalb ihr zwar der Vorwurf gemacht werden kann, im hermeneutischen Muster zu verbleiben, aber weniger der, in einen ästhetischen Solipsismus der Leser_innen zu verfallen. Hinsichtlich der Dekonstruktion Derridas stellt sich die Frage, ob dann, wenn diese das Zeichen von seinem Inhalt befreit, nicht zugleich auch der klassische Zeichenbegriff obsolet wird. Hinzu kommt, dass die Dekonstruktion den »Inhalt« im Sinne der Bedeutung eines sprachlichen Zeichens auch nicht schlicht wegstreicht, insofern das Zeichen nicht hiervon »befreit«, sondern dies nur als Folge einer letztlich unabschließbaren Verweisbewegung in der Kette der Signifikanten begreift, die nur durch Differenzen überhaupt Bedeutungen hervorzubringen vermag. Insofern negiert die Dekonstruktion zwar einen Inhalt im Sinne einer von der Zeichenkette ablösbaren Bedeutung, die Bedeutungsfunktion selbst wird hiermit aber nicht zugleich eliminiert, sondern nur auf das Spiel der Differenzen der Signifikanten zurückbezogen, was in den Begriffen der differance, d.h. des Aufschubs von Bedeutung, und der difference im Sinne der hierfür konstitutiven Differenz markiert ist. Lösener: Zwischen Wort und Wort. S. 125. Ebd. S. 65. Lösener: Ist das literarische Lesen eine Kompetenz? S. 49. Ebd. S. 48. Ebd. S. 53. Vgl. ebd. S. 47. Vgl. ebd. S. 49. Ebd.

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Literarästhetische Literalität

eine stimmhafte sprachliche Artikulation zu verstehen. Lösener spricht diesbezüglich auch vom »systemischen Lesen« und definiert es wie folgt: Beim systemischen Lesen kommt es auf das an, was zwischen den Buchstaben, Wörtern, Wortgruppen und Sätzen geschieht, auf die systemischen Beziehungen innerhalb des Textes und auf die semantischen Wertigkeiten, die sich aus diesen Beziehungen ergeben und die sich durch kein Zeichenrepertoire vorgeben und durch keine präexistente Struktur vorhersagen lassen. Es kommt auf die Gliederung der Sinneinheiten an, die mit jeder Äußerung neu geschaffen werden, als Sinnsystem eines Subjekts in der geschriebenen oder gesprochenen Rede.93 Dies gewährleiste einen Zugang zum »spezifischen Sinnmachen der Erzählung, also zu der ihr eigentümlichen semantischen Performativität, und d.h. zu derjenigen Dimension des Sinns, welche in der auslegenden Interpretation, also in einem Lesen, das nach der Sinnsubstanz des Textes fragt, immer wieder aus dem Blick gerät«94 . Die Auffassung und Reartikulation der in den Text eingeschriebenen Rede ist dabei allerdings, wie hieraus hervorgeht, auch für Lösener nicht gänzlich von semantischen Deutungsakten zu trennen.95 Ziel ist es aber, diese Prozesse auf eine andere Ebene zu heben, indem sie als artikulierte Rede nicht allein auf eine nach festen, vorgegebenen Regeln decodierbare Zeichenstruktur zurückgebunden bleiben, sondern an der »Bedeutungsweise, also d[er] Art und Weise, wie ein Text durch seine systemischen Bezüge Sinn macht«96 , anzusetzen. Und dies geschieht, indem auf diskursiver Ebene die Rezipient_innen in der Artikulation des Textes sich »auf die in ihm wirksame Sinnaktivität, oder genauer gesagt, auf die jeweilige semantische Performativität des Textes«97 einlassen und so die »Bewegung des Sprechens im Geschriebenen«98 durch das hörende Lesen aktiv mitvollziehen. Dabei richtet sich Lösener an der Kategorie einer textgebundenen Subjektivität aus, die es zu reartikulieren gelte. »Literarisches Lesen kann als hörendes Lesen verstanden werden, als ein Lesen, dass [sic!] den Text als Äußerungsakt eines Subjekts wahrnimmt, das sich mit seinen Gefühlen, Befindlichkeiten, seiner Geschichte und seinem Welterleben in den Text eingeschrieben hat.«99 Eine solches systemisches resp. hörendes Lesen eröffnet den Lernenden eine Form der Auseinandersetzung, bei der sie auf Grundlage sinnlicher Wahrnehmungsprozesse in hohem Maße zugleich auch selbst subjektiv involviert sind (denn sie sind es, die dem Text bzw. einzelnen Figuren eine Stimme verleihen, die dann zugleich zu ihnen 93 94 95

96 97 98 99

Lösener: Zwischen Wort und Wort. S. 13. Ebd. S. 191. »Auch wenn sich der Sinn eines Textes nicht wie ein Zeichen dekodieren lässt, spielen mit der Zeichendekodierung verwandte Leseakte auch auf der Ebene semantischer Leseprozesse eine Rolle: Wir deuten bildliche Wendungen, entschlüsseln übertragene Ausdrücke und interpretieren metaphorische Zusammenhänge. […] Dabei treten auslegendes und systemisches Lesen gewöhnlich nicht in Konkurrenz zueinander, sondern ergänzen sich vielmehr, da es beim auslegenden Lesen um externe Bedeutungsbeziehungen einzelner Textelemente, beim systemischen Lesen dagegen um deren textinterne Wertbeziehungen geht.« Lösener: Zwischen Wort und Wort. S. 111f. Lösener: Zwischen Wort und Wort. S. 109. Ebd. Ebd. S. 15. Lösener: Ist das literarische Lesen eine Kompetenz? S. 54.

5. Didaktische Ziele und Vermittlungsformen literarästhetischer Literalität

›spricht‹). Da die von Lösener angesprochenen Äußerungsakte sämtlich sprachlichen Konstrukten unterliegen und diskursiv erzeugte Rede sind, bleiben die Schüler_innen auf eine genaue Beobachtung von Textmerkmalen verwiesen, die sie im Zuge der sich im Akt der Reartikulation vollziehenden performativen Aktualisierung miteinander in Beziehung setzen müssen. Denn nur so erhalten sie Aufschlüsse über »die Befindlichkeit, die Wahrnehmungsweise, das Auftreten etc. des Äußerungssubjekts«100 . Dies verhindert nicht nur ein Abdriften in subjektive Beliebigkeit, es gewährleistet auch, dass das Konzept die Lernenden auf allen Bereichen des Mehrebenenmodells ästhetischer Rezeption dieser Arbeit, nämlich in der sinnlichen Wahrnehmung (durch die Redeartikulation, das sinnliche Hörbarmachen der in einen Text eingeschriebenen Rede), der Imagination (vermittels der Vorstellungen, die dem zugrunde liegen, und ihrer imaginativen Ausgestaltungen) und der Kognition (in Form einer an spezifisch ästhetischen Prozessen ausgerichteten begrifflichen Arbeit mit den Textbezügen) zu aktivieren vermag. Löseners Modell greift dies auf einer dritten, nunmehr auf die Rezipient_innen bezogenen Ebene auf, die er den beiden zeichen- bzw. textbezogenen Ebenen angliedert und das »reaktive[] Lesen«101 nennt. Es fokussiert die »Leseerfahrungen, -wirkungen und -reaktionen«, etwa in der Form, dass bestimmten Textelementen näher nachgegangen wird oder – im Rahmen des diskursiven und nicht semantischen Modells – Kontexte auf den Text appliziert werden.102 Die rigide Kritik Löseners an rezeptionsästhetischen und (post-)strukturalistischen Ansätzen der Textrezeption muss hinterfragt werden. Denn auch die der diskursiven Ebene zugeordneten Leseprozesse bleiben, wie Lösener selbst formuliert, verwiesen auf die »unüberschaubar vielfältigen Verflechtungen der Signifikanten im Textgefüge«103 . Dies schließt zwar Sinnzuweisungsprozesse im Sinne festgelegter Decodierungen, die auf ein textexternes und fixierbares System Bezug nehmen, aus – und hiermit eine Auffassung, nach der eine Textinterpretation einen verborgenen ›Sinn‹ nur freilegen müsste. Doch lässt sich ein Zeichenbegriff, der auf literarische Texte als »Wert-Systeme«104 zurückbezogen bleibt und damit auf die Art und Weise, wie diese Sinn generieren und nicht als Substanz oder Substrat beinhalten, ausgerichtet ist, durchaus hieran anbinden.105 100 Ebd. S. 53. 101 Vgl. ebd. S. 50. 102 Vgl. ebd. An diesem Punkt ist nicht der veröffentlichte Aufsatz, sondern ein weitgehend hiermit identischer Artikel unter der gleichen Überschrift zitiert, der im Netz unter http:// loesener.de/wp-content/uploads/2013/02/loesener-lit-lernen-als-kompetenz.pdf abrufbar ist (Abrufdatum 15.05.1018, in der Zählung des pdf-Dokumentes handelt es sich um die Seite 11). Dies hat zum Grund, dass die Druckfassung des Aufsatzes in der Tabelle den Begriff »Leseerfahrung« zweimal unmittelbar aufeinander folgen lässt (»Leseerfahrungen, -erfahrungen«), was allem Anschein nach ein Versehen zur Ursache hat, da die Leserwirkungen den Rezeptionsprozessen und dem »reaktive[n] Lesen« zuordbar sind. 103 Lösener: Zwischen Wort und Wort. S. 191. 104 Ebd. S. 14. 105 Konkret gilt dies etwa für das im Kapitel 3.2.6. von Lotman hergeleitete Verständnis des literarischen Textes. Hier ist das einzelne Zeichen auf der Ebene der intratextuellen Binnenorganisation in eine Vielzahl von mikro- und makrostrukturellen Bezugssystemen gesetzt, aus deren Korrelationen heraus es seine Bedeutungsfunktion erhält, die keinesfalls als Substanz zu denken ist. Sie unterliegt vielmehr rekursiven Umwertungsprozessen, die sich aus dem Gefüge verschiedenartig

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Literarästhetische Literalität

Diese Einschränkung mindert aber nicht den entscheidenden Gewinn, den das Modell des systemischen bzw. hörenden Lesens für Unterrichtsprozesse bringt. Er liegt im Einbezug der sinnlich erfahrbaren ›Stimmhaftigkeit‹ literarischer Texte und ihrer performativen Reartikulation. Diese richtet sich in den ihr zugrunde liegenden Wahrnehmungs-, Vorstellungs- und Verstehensprozessen gerade nicht an Problemlösungen aus, sondern will die Lesenden ganz im Sinne einer literarästhetischen Literalität vielmehr zu einer »Bewegung des Stolperns« über den Text führen, denn »[d]ort, wo der Leser stolpert, stutzig wird und stockt, setzt das Verstehen ein«106 . Die Stärke von Löseners Ansatz liegt darin, dass er imaginative und kognitive Operationen an die sinnliche Wahrnehmbarkeit, an die Reartikulation der Rede eines Textes zurückbindet. Da sich das Modell dieser Arbeit auf der Ebene begrifflich-kognitiver Prozesse aber aus anderen theoretischen Strömungen, die mit dem Russischen Formalismus und (Post-)Strukturalismus bezeichnet sind, herleitet, wird der Ansatz des hörenden Lesens in diesem Teilkapitel zur sinnlich vermittelten Wahrnehmung aufgegriffen und nicht im Kontext der Kognition; obgleich die Vermittlungsziele auch auf dieser Ebene ähnliche wären. Zugleich wird es so möglich, in Teilen auch über Löseners Modell hinauszugehen, und zwar hinsichtlich einer Beförderung von Leseprozessen, die dort einem erweiterten Verständnis der semiotischen Ebene im Sinne einer sinnentnehmenden Rekonstruktion des Handlungsverlaufs und der Figurenkonstellation zuzurechnen wären.107 Erweiterte didaktische Potentiale Am Beispiel von Goethes Erlkönig soll das didaktische Potential näher verdeutlicht werden. Hierzu werden zunächst Defizite des gegenwärtigen Literaturunterrichts aufgezeigt, wie sie eine empirische Studie Cornelia Rosebrocks aufzeigt. Ihr liegt die Auseinandersetzung von vier 15-jährigen Hauptschüler_innen mit dem Gedicht zugrunde, die vermittels der Methode des Lauten Denkens ausgewertet wurde. Die Untersuchung verlief in drei Schritten: einer ersten Phase, in der die Probanden unvorbereitet ihre jeweiligen Gedanken zur Ballade artikulierten, einer zweiten, in der sie im Klassenverband eine Unterrichtseinheit hierzu durchliefen, und einer dritten, in der sie sich abermals zum Text in Form des Lauten Denkens äußerten.108 Die zentralen Ergebnisse zu konstruierender und konstituierender Relationen zu anderen Signifikanten des Systems ergeben resp. hiervon abhängen, was zugleich auch den Prozess der Sinnkonstruktion in der Rezeption reflexiv werden lassen kann. 106 Lösener: Zwischen Wort und Wort. S. 191. 107 Lösener begrenzt die semiotische Ebene zwar einerseits auf die Decodierungsoperationen im Kontext der Buchstaben- und Wortbilderkennungen (vgl. Lösener: Zwischen Wort und Wort, S. 11), spricht an anderer Stelle aber hinsichtlich einer beispielhaften Umsetzung für Unterrichtsprozesse anhand von Kafkas Erzählung Der Nachbar davon, dass die Kategorie des »sinnentnehmende[n] Lesen[s]«, die er ja ausdrücklich aus der diskursiven Ebene ausgliedert und die somit nur der semiotischen zuzurechnen wäre, hier »nur wenig Anknüpfungspunkte« biete: »Zu banal ist das Erzählte, zu wenig komplex Handlungsverlauf und Figurenkonstellation.« Lösener: Ist das literarische Lesen eine Kompetenz? S. 51. 108 Vgl. Rosebrock: Literarische Erfahrung mit dem Erlkönig. S. 96f. Eine Problematik der Studie besteht allerdings in dem Rückbezug auf die Taxonomie von Verstehensschritten, wie sie von Grzesik unter Bezug auf pragmatisches Textverstehen ausgearbeitet wurde. (Vgl. Jürgen Grzesik: Metho-

5. Didaktische Ziele und Vermittlungsformen literarästhetischer Literalität

der Studie, die Rosebrock exemplarisch an den Aussagen des Schülers Dennis aufzeigt, sind folgende: Die Beobachtungen zum Text beziehen sich im ersten Lektüredurchlauf nahezu ausschließlich auf die inhaltliche Erschließung der Handlung109, sie sind dabei untereinander oft unverbunden und können nicht aufeinander bezogen werden. Einzelne Elemente werden zwar benannt, sind dann aber dort, wo sie zu weiterführenden mentalen Operationen notwendige Voraussetzung gewesen wären, offenbar nicht mehr präsent. Auch die nach diesem strophenweisen Lesen mit Blick auf den Gesamttext formulierten Äußerungen bleiben weiterhin fast ausschließlich auf den Handlungsgang bezogen. Die Beobachtungen von Dennis sind zudem im Detail fragwürdig und unvollständig.110 Bedeutungskonnotationen auf der von Lösener als »diskursive Textkonzepden zur Deskription des Textverstehens im Unterricht. Zum Problem der Kategorisierung von Textverstehensleistungen im Verlauf und im Resultat des Unterrichts. In: SPIEL 2 [1983] H. 1, S. 73-99.) Rosebrock selbst spricht zuvor die unterschiedlichen Voraussetzungen bei Lektüreprozessen informatorischer und poetischer Texte an: Während erstere »umso besser gelesen werden, je weitgehender die Wahrnehmung und Verarbeitung von Wörtern, Begriffen, Sätzen usw. automatisiert ist, sodass das jeweils Bezeichnende mühelos und schnell in das Bezeichnete übersetzt werden kann, das in das mentale Modell eingefügt und so verarbeitet werden kann«, gälten im Falle literarischer Textrezeption andere Voraussetzungen. Hier würde »potentiell jedes Element der Textvorlage und jedes Element des mentalen Modells selbst wiederum zum Signifikanten, der seinerseits bedeutet«. (Rosebrock: Literarische Erfahrung mit dem Erlkönig. S. 94.) Ihr weiteres Vorgehen vermag freilich den von ihr formulierten Einwand des Transfers eines auf pragmatische Texte bezogenen kognitionspsychologischen Leseforschungsmodells auf Literatur nicht wirklich zu entkräften. Die höchste Kategorie, »[g]enerelle Synthetisierungen«, wird von Rosebrock ›sehr frei‹ interpretiert, wenn sie diese bezogen auf die Erlkönig-Lektüre wie folgt fasst: »›Der Text vermittelt Unschlüssigkeit zwischen einander entgegengesetzten Weltsichten.‹« (Ebd. S. 100 unter Rekurs auf Grzesik: Methoden zur Deskription des Textverstehens im Unterricht.) Aus Sicht des bisher in dieser Arbeit entwickelten theoretischen Verständnisses von (literar)ästhetischen Rezeptionsprozessen kann die Orientierung an generellen Synthesen, wie sie für pragmatische Textlektüren sinnvoll ist, nicht überzeugen, da hier der Synthetisierungsprozess zu einer abschließenden, begrifflich fixierbaren Sinnzuweisung für den gesamten Text reversibel gehalten werden muss. Die hierarchiehöchste Leistung wäre vor diesem Hintergrund gerade die Fähigkeit, ein bereits entwickeltes Gesamtverständnis des Textes wieder zu Fall zu bringen und in neuen Textzugängen aufzulösen, die Synthetisierung folglich stets als vorläufige zu begreifen. Da Rosebrock zudem ausführt, dass sie die »Taxonomie Grzesiks in erster Linie für die semantische Ebene am Erlkönig expliziert« (ebd.), bleibt fraglich, inwieweit dies einer ästhetischen Lektüre des Textes überhaupt gerecht wird. Denn das Erreichen dieser Stufe lässt sich letztlich einem Schüler nicht absprechen, der ausführt, dass die Sicht des Vaters und die des Kindes im Text unvereinbar sind. Genuin ästhetisch-literarisches Verstehen ist hiermit aber nicht abgedeckt. 109 »Während des strophenweisen Lesens bemüht sich Dennis vordringlich, so scheint es, die oberflächennahen Textinformationen zu einem mentalen Modell zu gruppieren und verarbeitet sie nur an wenigen Punkten weiter.« Ebd. S. 101. 110 Wenn Rosebrock folgende Äußerung: »›[Der Vater] hat versucht noch mal zurück zu reiten irgendwo, wahrscheinlich wo ein Arzt ist, der seinem Kind noch helfen kann oder so, aber er ist halt zu langsam geritten. Also, ich denk mal, die Verletzungen waren dann so schlimm, dass das Kind dann nicht überlebt hat. Also deswegen ist es tot.‹« dahingehend auswertet, dass sich Dennis hier »von der unmittelbaren Textinformation [löst]« und ihm so »durchaus die Synthese mehrerer Darstellungsurteile [gelingt]« (ebd. S. 101), dann kann dies nur auf der Ebene der inhaltlichen Handlungsinformationen Gültigkeit haben. Doch selbst hier erfolgen angreifbare (im Text ist nir-

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tion« bezeichneten Ebene, in deren Folge etwa der Erlkönig mit dem Tod des Jungen in Verbindung gebracht werden könnte, sind nicht erschlossen. Das mentale Modell hat nach der Relektüre folgende Gestalt: »Ein liebevoller Vater, ein verletzter Sohn, eine Bedrohung unterwegs, der Sohn stirbt und/oder wird weggenommen. ›Stirbt‹ und ›wird weggenommen‹ sind durchaus konkurrierende Darstellungsurteile; er synthetisiert sie nicht.«111 Die »geschilderte inhaltliche Unschlüssigkeit« wird von Dennis aus Rosebrocks Sicht eher auf »eigenes Unvermögen« zurückgeführt als auf ein »Merkmal des Gedichts«112 . Dies lässt auch auf eine fehlende Vertrautheit mit literarästhetischem Sprachgebrauch schließen, da widersprüchlichen Textinformationen oder Irritationen dadurch begegnet wird, dass sie entweder partiell ignoriert oder geglättet werden – offenbar stets mit dem Ziel, Eindeutigkeit im Verstehen herzustellen, was dann gerade zu lückenhaften Lektüren führt.113 Denn literarische Sprache provoziert oftmals ein solches »Stolpern« geradezu – und die Leser_innen, die sich hierauf nicht einlassen, verhindern zwar ihr Stolpern, gelangen aber auch erst gar nicht auf das Terrain des Textes … Zugleich wird deutlich, dass didaktisch begleitete Wiederholungslektüren und eine genaue Auseinandersetzung mit der Ballade erhebliche Lernfortschritte bewirken können. Nach einer Unterrichtsstunde zum Erlkönig zeigt Dennis in seinem zweiten ›Lauten Denken‹ ein deutlich verbessertes Textverstehen: »Seine Urteile sind untereinander […] nun verbundener und kohärenter zu seinem mentalen Modell gehörig, er hat deutlichere Vorstellungen und kann seine Urteile von dieser Gesamtsicht aus dezidierter aussprechen.«114 Dem 15-jährigen Hauptschüler, der als Vertreter von »literaturfernen Jugendlichen«115 apostrophiert wird, fehlten folglich während seiner ersten Lektüre eine ganze Reihe geglückter hierarchieniedriger Denk- bzw. Textverstehensoperationen, die höhere zur Grundlage hätten nehmen können. Diese bleiben dann infolge des Fehlens jener aus. Eine Einübung in Formen des hörenden Lesens vermag als textbezogene Reartikulation des Gelesenen Schüler_innen nicht nur Zugänge zu der auf einer hierarchiehohen Ebene des Leseverstehens anzusiedelnden »unablässige[n] Umwertungsbewegung«116 literarischer Texte zu eröffnen, sondern auch hierarchieniedrige Verstehensprozesse, auf denen die hierarchiehohen notwendig aufbauen müssen, zu befördern. Dies kann am Beispiel von Goethes Erlkönig und den Ergebnissen der Studie Rosebrocks plausibel gemacht werden. Die Ballade hält eine ganze Reihe an Herausforderungen bereit, die nicht nur einen 15-jährigen Hauptschüler zunächst einmal mental beschäftigen dürften. Sie resultieren vor allem aus den drei verschiedenen Sprechern (zählt man die Rede

111 112 113 114 115 116

gendwo die Rede davon, dass der Vater »zurück« reitet; vielmehr werden eigene Erfahrungen bzw. Erwartungen auf den Text projiziert) und unvollständige (das mentale Modell blendet die Figur des Erlkönigs aus) Rekonstruktionen. Ebd. S. 102. Ebd. Diese Beobachtungen werden von den im folgenden Teilkapitel dokumentierten eigenen Untersuchungen im Kontext von Verfahren des textnahen Lesens bestätigt. Rosebrock: Literarische Erfahrung mit dem Erlkönig. S. 103. Ebd. S. 96. Lösener: Zwischen Wort und Wort. S. 191.

5. Didaktische Ziele und Vermittlungsformen literarästhetischer Literalität

der Erzählinstanz in der ersten und letzten Strophe hinzu, sind es sogar vier), von denen nur die Äußerungen eines (und zudem desjenigen, dem sich auch auf der Ebene der Textfiktion zunächst einmal der geringste Grad an Realität zuschreiben lässt) als Zitate markiert sind. Ein bewusstes hörendes Lesen, das die einzelnen Äußerungsakte (und so die hierhinter stehenden verschiedenen Figuren) mit Blick auf das Gesamtkonstrukt des Textes fokussiert, ist der Abgrenzung der unterschiedlichen Sprecherebenen förderlich und vermag in diesem Fall auch dem Textverstehen auf der (im obigen Sinne um eine Erfassung von Handlungsablauf und Figurenkonstellation erweiterten) semiotischen Ebene zugutezukommen. Angeleitet werden kann es etwa durch den Arbeitsauftrag: Im Text treten verschiedene Sprecher auf. Lies ihn für dich mehrfach halblaut so, dass du sie voneinander abgrenzen kannst. Wie viele Stimmen kannst du unterscheiden und wem sind sie zuzuordnen?117 Nach einer gemeinsamen Auswertung, die sich zunächst nur auf eine Nennung der jeweiligen Sprechinstanzen und noch nicht auf die Inhalte der Redeakte beziehen sollte (sie lassen sich in der Tat nicht mehr ohne deutende Verstehensprozesse bestimmen), kann die Aufgabe gestellt werden, näher zu erläutern, wie die Schüler_innen sich deren Stimmen, ihren Sprechausdruck oder die Intonation in den einzelnen Redeanteilen vorstellen. So wird ihnen einerseits bewusst, dass sie sich im halblauten Lesen nicht nur Handlungsverlauf und Figurenkonstellation des Textes vergegenwärtigten, sondern – vielleicht unbewusst – bereits ein erstes Textverständnis artikulierten. Andererseits werden sie über diese bewusste Reflexion – und den vergleichenden Austausch mit anderen über deren Lektüren, die in aller Regel nicht identisch mit der eigenen sein werden – dazu angeregt, sich die Stimmen auch einmal mit einer veränderten Artikulation vorzustellen. Hierzu wiederum wird es notwendig, Anhaltspunkte aus der Gestaltung des gesamten Textes und möglicher hinzugezogener kultur- bzw. literaturgeschichtlicher Kontexte, etwa zum Motiv des Erlkönigs, zur Form der Ballade und der für sie nicht unüblichen Thematisierung von naturmagischen Kräften oder zum Diskurs der Aufklärung zu suchen. Am Ende einer solchen Kurzeinheit kann die Lerngruppe dann verschiedene Deutungen des Textes, die sich in unterschiedlichen Artikulationen der Sprecherstimmen niederschlagen, in Form des hörenden Lesens durchspielen und auf ihre Vereinbarkeit mit der Textgrundlage prüfen. Spricht der Erlkönig etwa bedrohlich, unheimlich, irre, erotisch oder gar liebevoll?118 Trägt die Rede des Kindes Züge des Wahns, purer Ver117

118

Das Verfahren der halblauten Lektüre, das von Lösener mit unter den Begriff des hörenden Lesens gefasst wird (vgl. Lösener: Ist das literarische Lesen eine Kompetenz? S. 53), ist hier gewählt, um zu gewährleisten, dass die Ballade von den Schüler_innen bewusst als Rede artikuliert wird. Wenn Verfahren des hörenden Lesens in einer Lerngruppe bereits eingeübt sind, kann hierauf auch verzichtet und ein stilles hörendes Lesen im Sinne einer Subvokalisation zur Aufgabe gemacht werden. Lösener setzt im Kontext eines Unterrichtsbeispiels zu Kafkas Erzählung Der Nachbar einen ähnlichen Arbeitsauftrag bereits an den Beginn der Auseinandersetzung mit dem Text: »Im Bericht des Ich-Erzählers treten bestimmte Haltungen zu Tage. Wählen Sie aus den folgenden Möglichkeiten diejenigen aus, die Ihnen am passendsten erscheinen und belegen Sie diese durch ausgewählte Textstellen: Gerechtigkeitssinn, Neid, Ehrgeiz, Hass, Hochmut, Bescheidenheit, Angst und Neugier.« (Lösener: Ist das literarische Lesen eine Kompetenz? S. 52.) Eine solche Vorgabe verschiedener möglicher Lektüren ließe sich auch für den Erlkönig denken; da die Rekonstruktion der

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Literarästhetische Literalität

zweiflung oder lässt sie vielleicht auch sogar Spuren einer Faszination vom Erlkönig erkennen? Die, um eine Formulierung Löseners zu verwenden, in den Text eingeschriebenen Subjektivitäten erweisen sich so als sprachlich bedingte Konstrukte und die Artikulation ihrer Stimmen als abhängig von den individuellen Lektüreakten, in denen die Schüler_innen sich zugleich selbst als ›Sinn- und Stimmgeber‹ des Textes erfahren – und dabei auch unterschiedliche Möglichkeiten einer Reartikulation durchspielen können. Kompetenz, Literalität und Bildung im Kontext des hörenden Lesens Lösener stellt sich im Rahmen seines Aufsatzes auch die Frage: Ist das literarische Lesen eine Kompetenz? Doch auch wenn er sie sogar zum Titel wählt, will er am Ende hierauf bewusst keine Antwort geben. Zugleich konstatiert er aber, dass es sich bei den in den Bildungsstandards für den Mittleren Schulabschluss im Bereich »Literarische Texte verstehen und nutzen« dargelegten Teilkompetenzen letztlich »ausschließlich um Formen des ›Umgangs‹ mit Texten handelt, die erst nach der eigentlichen Lektüre stattfinden können«, nicht aber um die Begründung des »Lesens[s] selbst als literarische Praxis«119 . Genau hierum geht es seinem Modell aber – und zieht man die empirische Studie Rosebrocks hinzu, dann wird die Notwendigkeit, dies zu vermitteln (auch unter Einbezug hierarchieniedriger Verstehensoperationen), unmittelbar einsichtig. Denn diese Praxis bildet eine oftmals im Unterricht nicht eingelöste Voraussetzung für alles Weitere, was in den Bildungsstandards dann als Kompetenz im anschließenden Umgang mit Literatur beschrieben wird. Hier geht es »um die Kenntnis bestimmter Werke, Gattungen, Fachbegriffe und ihre Anwendung auf die gelesenen Texte, um die Fähigkeit, Deutungen und Bewertungen zu Texten zu entwickeln und zu begründen und um Formen des produktiven Umgangs mit ihnen«120 . In Abgrenzung zum operationalisierbaren Modell des Leseverstehens der PISAStudie, das fast ausschließlich auf das rekurriert, was Lösener als »semiotische Ebene« fasst und so die für das literarische Lesen zentralen beiden anderen Bereiche marginalisiert121 , geht seine Konzeption literarischen Lesens an drei Punkten hierüber hinaus. Sie erlaubt die Vermittlung eines Leseverstehens, dem nicht nur an Informationsentnahme und Problemlösung, sondern immer auch an Irritationen, am »Stolpern« gelegen ist und das zu einem »misstrauische[n] Lesen« wird.122 Indem die Textrezeption so in eine Prozessstruktur überführt wird, verlässt sie den Bereich des engen Kompetenzbegriffs Weinerts und ist einer literarästhetischen Literalität zuzuordnen. Textinformationen auf der Handlungsebene hier aber komplexer ist als in der Kafka-Erzählung, hat das oben entwickelte Verfahren den Vorteil, dass es das hörende Lesen zunächst nutzt, um die verschiedenen Sprecher der Ballade zu unterscheiden und so zugleich basale Textinformationen zu ermitteln. Im Zuge dessen werden sich die Schüler_innen vermutlich bereits unterschiedliche Varianten der jeweiligen Reden als ihre je eigenen Aktualisierungen des Textes erarbeiten, auf die der anschließende Vergleich dann zurückgreifen kann, worüber die Polyvalenz der Textvorlage vor Augen geführt wird. 119 Lösener: Ist das literarische Lesen eine Kompetenz? S. 45. 120 Ebd. 121 Vgl. ebd. S. 51. 122 Vgl. Lösener: Zwischen Wort und Wort. S. 191.

5. Didaktische Ziele und Vermittlungsformen literarästhetischer Literalität

Zum zweiten erweitert sich infolge des performativen Ansatzes die Lektüre hin zur Frage der Sinngenerierung, denn nur auf dieser Grundlage wird die Reartikulation der in ihr eingeschriebenen Stimmen möglich. In den Blick gerät so immer auch die »Art und Weise, wie er [der Text] Wahrnehmungen, Haltungen, Bewertungen und Befindlichkeiten produziert und modifiziert«123 . Da der Zugang hierzu aus der je individuellen Aktualisierung im hörenden Lesen erfolgt, ist auch diese Ebene kaum kompetenzorientiert standardisierbar, sondern fällt ebenfalls in den Bereich literarästhetischer Literalität. Drittens wird so ein stärker an der Interaktion von Text und Leser_in orientierter Zugang möglich, da die leserbezogene dritte Ebene der Rezeptionsprozesse auf die Erfahrungen mit dem Text Bezug nimmt und individuelle Wirkungen wie Reaktionen mit berücksichtigt. Die den drei Erweiterungen zugrunde liegenden Leistungen erweisen sich hinsichtlich der Reartikulation von Äußerungsakten im Zusammenspiel verschiedener Textsignale, der hierfür notwendigen Verknüpfung ggf. verschiedenartiger Informationen und der Fähigkeit, die Textvorlage selbst wiederum als sprachlichen Klang zu realisieren, als so komplex, dass Lösener am Ende mit leichter Skepsis konstatiert: »Ob diese eng miteinander verwobenen Leseleistungen in isolierbare Kompetenzen zerlegt werden können, soll an dieser Stelle nicht geklärt werden.«124 In der Tat deutet vieles darauf hin, dass allein die Komplexität der kaum separierbaren und je nach mentaler Operation auch in unterschiedlicher Form miteinander verwobenen Fähigkeiten die Möglichkeit einer Leistungsmessung der hierfür relevanten Teilkompetenzen, die empirischen Kriterien genügte, übersteigt. Zugleich stellt sich auch die Frage, ob die dem hörenden Lesen zugrunde liegenden mentalen Operationen überhaupt einer outputorientierten Messung – etwa in Form der Bearbeitung von Aufgaben, wie Lösener sie vorschlägt125 – zugänglich gemacht werden können. Und schließlich gilt – ähnlich wie dies Hellmut Geißner im folgenden Zitat für den Bereich der literarischen Vortragsschulung ausführt –, dass sich auch beim hörenden Lesen im Prozeß der Erarbeitung nie eindeutig sagen [lässt] ›was geht‹, wohl aber ausgrenzen ›was nicht geht‹. Es gibt keine Kriterien für eine objektive ›Klanggestalt‹, aber diese Feststellung ist kein Freibrief für subjektivistische Beliebigkeit; vielmehr ist sie die 123 Ebd. S. 14. 124 Vgl. Lösener: Ist das literarische Lesen eine Kompetenz? S. 54. 125 So lässt das von Lösener angeführte unterrichtspraktische Beispiel zu der Kafka-Erzählung Der Nachbar im Zuge der Aufgabenbearbeitung (vgl. zur Aufgabenstellung Fußnote 118) hauptsächlich Rückschlüsse auf textanalytische Fähigkeiten zu; ob es im Zuge dessen tatsächlich zu jenem »hörenden Lesen« kam, ist nur aufgrund z.T. recht spekulativer Vermutungen möglich. Lösener leitet dies etwa von Aussagen wie der folgenden ab: »›Ich denke der Kaufmann ist ein hochmütiger Mann. Das zeigt sich schon am Anfang der Erzählung, als er ständig von »Mein Geschäft … meinen Schultern« und »mein Zimmer« redet.‹ So wiesen mehrere Schüler auf die auffälligen Wiederholungen des Possessivpronomens »mein« hin und die daraus resultierende Aufwertung der eigenen Person und auf die Abwertung der Mitarbeiterinnen, deren Bedeutung für das Geschäft geleugnet wird und die wie Ausstattungsstücke der Firma aufgezählt werden.« (Lösener: Ist das literarische Lesen eine Kompetenz? S. 52.) Im Kontext empirischer Messbarkeit wäre zu hinterfragen, ob hier das Kriterium der Validität erfüllt ist.

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Literarästhetische Literalität

Grundlage für den Versuch, […] einen durch Struktur (Form) und Bedeutung des Textes vermittelten Sinn sprechend-hörend zu konstituieren.126 Da andererseits aber das hörende Lesen eine Artikulation und Interpretation von in den Text eingeschriebenen Stimmen oftmals allererst ermöglicht, bildet es im Sinne einer literarästhetischen Literalität eine zentrale Voraussetzung für einen Zugang zur Literatur und muss im Unterricht »verdeutlicht, gelernt und geübt werden«127 . Dass Lösener diese Form einer ästhetischen Lektürepraxis im Sinne des hörenden Lesens den Kompetenzen im Umgang mit literarischen Texten, wie sie sich in den Bildungsstandards finden, vorschaltet, widerspricht nicht dem Modell dieser Arbeit, das Kompetenzen als Teilbereich literarischer Literalität begreift. Denn zum einen ist auch das hörende Lesen auf allgemeine Lesekompetenzen angewiesen; zum zweiten stehen Literalität und Kompetenz nicht in einem Bezugsverhältnis, das nur von einer Richtung her gedacht werden kann. Kompetenzen können helfen, literarische Literalität auszubilden; andererseits kann literarästhetische Literalität, wie sie sich etwa in der Ausbildung einer Fähigkeit zum hörenden Lesen zeigt, dann auch dem ›kompetenten Umgang‹ mit Literatur zuspielen. Obgleich dieser an Problemlösungen orientierte Ansatz immer dann, wenn er nicht wieder in neue, stolpernde Suchbewegungen überführt wird, genuin ästhetischen Rezeptionsprozessen keine Kontinuität zu verleihen vermag. Das hörende Lesen als Element literarischer Literalität öffnet sich wiederum für Bildungsprozesse durch die Gewährleistung einer Kommunikation zwischen Text und Leser_in, die verhindert, dass Schüler_innen aufgrund kompetenzgeleiteter Aufgaben den Text buchstäblich ›abarbeiten‹. Es befördert vielmehr ein Verhältnis von Lernendem und Gegenstand, das ähnlich wie in Humboldts Bildungsbegriff von einer »Wechselwirkung von Welt-Bildung und Ich-Bildung« geprägt ist.128 Das hörende Lesen kann so eine bildungsrelevant werdende »ästhetische[] Erfahrung« ermöglichen, weil diese Form der Auseinandersetzung mit Literatur sich gerade »nicht vollständig in Routine, Alltag, Selbstverständlichkeit auflösen lässt, sondern immer und genuin auch durch Fremdheit, Andersheit, Unverfügbarkeit gekennzeichnet ist«129 . Im Zuge der sich »vollziehenden Rekonstruktion einer textuellen Subjektivität«, die sich mit ihren »Gefühlen, Befindlichkeiten, [ihrer] Geschichte und [ihrem] Welterleben in den Text eingeschrieben hat«130 , wird zudem die Ausbildung einer Sensibilität möglich, die auch in sozialen Beziehungen zum Nachvollzug der von Lösener auf Textebene benannten Merkmale hilfreich sein kann.131 126

Geißner, Hellmut: Sprecherziehung. Didaktik und Methodik der mündlichen Kommunikation. Königstein: Skriptor 1982. S. 170. Vgl. Lösener: Gedichte sprechen. S. 68. 127 Lösener: Ist das literarische Lesen eine Kompetenz? S. 54. 128 Vgl. Liebau: Literarische Bildung. S. 431. 129 Ebd. 130 Lösener: Ist das literarische Lesen eine Kompetenz? S. 54. 131 Ob bzw. unter welchen Voraussetzungen und Vorbehalten dies faktisch möglich ist, kann an dieser Stelle, da es nicht im eigentlichen Fokus der vorliegenden Arbeit steht, nicht diskutiert werden.

5. Didaktische Ziele und Vermittlungsformen literarästhetischer Literalität

5.2.

Vorstellungsbildung und Imagination

5.2.1.

Grundlagen

Die auf sinnliche Wahrnehmung ausgerichtete Rezeption bedarf ebenso wie der Textvortrag oder eine im hörenden Lesen erfolgende subvokale Aktualisierung eines Zusammenspiels mit der Einbildungskraft, auf die die Ausbildung von Vorstellungen zurückgeht und die von Kant als »notwendiges Mittelglied zwischen Anschauung und Begriff«132 gedacht wird. Die Einbildungskraft vermag dabei einerseits reproduktiv die sinnlichen Wahrnehmungen näher zu ordnen und zu synthetisieren133 , andererseits aber auch produktiv eine Repräsentation und Verknüpfung von Gegenständen zu leisten, die in der Anschauung nicht (mehr) unmittelbar gegeben sind, um mit diesen imaginativ weiterzuarbeiten.134 Im Kontext literarischer Textrezeption bilden sich Vorstellungen und Imaginationen vermittelt über das Medium Sprache aus. Die Rolle der Vorstellung als »ein[em] eigenständige[n] Repräsentationsmodus […], dessen Struktur eine spezifische geistige Beweglichkeit erlaubt, die unmittelbar mit den geistigen Möglichkeiten des begrifflichsprachlichen Repräsentationsmodus interagiert«135 , ist im Folgenden näher zu bestimmen. Auf Grundlage der Ausführungen des zweiten Kapitels kann zwischen Vorstellungen, die Wahrnehmungen mental repräsentieren, Imaginationen, die diese mit Erinnerungen, also nicht aktuell Wahrgenommenem anreichern und Symbolbildungen resp. -interpretationen unterschieden werden, in denen Vorstellungs- und Imaginationsgehalte mit kognitiv-begrifflichen – im Falle von Symbolinterpretationen zudem reflektierten – Sinn- und Bedeutungszuschreibungen verbunden werden.136 Um die Funktion der Einbildungskraft im Kontext von Textverstehensprozessen näher zu durchleuchten, wird auf Jürgen Grzesiks Studien zum Leseverstehen zurückgegriffen, die sich nicht nur, aber auch auf literarische Texte beziehen. Die dem Ansatz zugrunde liegende Annahme einer zweifachen, begrifflichen sowie nichtverbalsprachlichen, figurativen Recodierung im Zuge des Lektüreprozesses greift Arbeiten angloamerikanischer Textverstehensforschung auf; Grzesik bezieht sich insbesondere in sei132 133

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Zabka: Ästhetische Bildung. S. 455. Vgl. hierzu Kant, Immanuel: Kritik der reinen Vernunft 1. Hg. v. Wilhelm Weischedel. Bd. III der Werkausgabe. Frankfurt a.M.: stw 1974. S. 176 (im Original kursiviert): »Weil aber jede Erscheinung ein Mannigfaltiges enthält, mithin verschiedene Wahrnehmungen im Gemüte an sich zerstreuet und einzeln angetroffen werden, so ist eine Verbindung derselben nötig, welche sie in dem Sinne selbst nicht haben können. Es ist also in uns ein tätiges Vermögen der Synthesis dieses Mannigfaltigen, welches wir Einbildungskraft nennen […].« Vgl. hierzu mit Blick auf Kants Begriff der Einbildungskraft Huber, Hans-Dieter: Bildhafte Vorstellungen. Eine Begriffskartographie der Phantasie. In: ders., Bettina Lockemann u. Michael Scheibel (Hg.): Visuelle Netze. Wissensräume in der Kunst. Ostfildern-Ruit: Hatje Cantz 2004. S. 165-216. S. 185-188. Grzesik, Jürgen: Textverstehen lernen und lehren. Geistige Operationen im Prozess des Textverstehens und typische Methoden für die Schulung zum kompetenten Leser. 2. Auflage. Stuttgart: Klett 1996. S. 86. Vgl. Zabka: Ästhetische Bildung. S. 455-458.

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Literarästhetische Literalität

ner Publikation Texte verstehen lernen137 aus dem Jahr 2005 u.a. auf Allan Paivio138 , der die hierfür zentrale Dual-Coding-Theory maßgeblich entwickelte.139 In Deutschland hat Tatjana Jesch deren zentrale Ergebnisse, auch unter Einbezug weiterer Forschungen im angloamerikanischen Sprachraum, in den literaturdidaktischen Diskurs eingebracht140 und – gemeinsam mit Michael Staiger – aufgezeigt, dass die vielfach auch empirisch überprüften Ergebnisse an Grzesiks Modell anschließbar sind.141 Da dieses sich wiederum u.a. auf die phänomenologischen Studien Ingardens und die Rezeptionsästhetik Isers zurückbezieht142 , die dem Ansatzpunkt dieser Arbeit näherliegen als die kognitionspsychologisch ausgerichteten Studien Paivios und Mark Sadoskis143 , auf die Jesch primär rekurriert, wird der Grundansatz einer doppelten Recodierung von Texten im Zuge des Leseverstehens in Begriffen und Vorstellungen im Folgenden von Grzesik hergeleitet.

5.2.1.1.

Vorstellende und begriffliche Repräsentationsmodi des Textverstehens

Es gilt zunächst, die genaue Funktionsweise dieser beiden unterschiedlichen Repräsentationsmodi, der vorstellungsgebundenen – i.d.R. bildhaft mentalen Repräsentation144 – und der verbalsprachlich-begrifflichen, näher herauszuarbeiten. Auch wenn in

Dieses Buch ergänzt und untermauert seinen bereits 1990 in Textverstehen lernen und lehren entwickelten Ansatz um kognitionspsychologische Kontexte, verändert das Modell dabei aber nicht wesentlich. 138 In deutscher Übersetzung liegen die zentralen Thesen, auf denen sein Ansatz beruht, in folgendem Aufsatz vor: Allan Paivio: Visuelles Vorstellen und verbale symbolische Prozesse. In: Gerhard Steiner (Hg.): Die Psychologie des 20. Jahrhunderts. Bd. VII: Piaget und die Folgen. Entwicklungspsychologie, Denkpsychologie, Genetische Psychologie. Zürich: Kindler 1978. S. 810-834. 139 Vgl. Grzesik: Texte verstehen lernen. S. 234: »Daß es nicht nur äußerlich, sondern auch innerlich Bild und Sprache als Formen der medialen Repräsentationen gibt und daß sie unterschiedliche Funktionen haben, ist allgemeiner Konsens (s. z.B. […] Paivio 1971 […]).«; vgl. auch ebd. S. 237. 140 Vgl. summarisch Jesch, Tatjana: Dual-Coding-Theorie. In: Petra Gretsch u. Lars Holzäpfel (Hg.): Lernen mit Visualisierungen. Erkenntnisse aus der Forschung und deren Implikationen für die Fachdidaktik. Münster: Waxmann 2016. S. 173-184. 141 Vgl. Jesch, Tatjana u. Michael Staiger: Bilder und Visualisierungen in der Lese- und Literaturdidaktik. In: Petra Gretsch u. Lars Holzäpfel (Hg.): Lernen mit Visualisierungen. Erkenntnisse aus der Forschung und deren Implikationen für die Fachdidaktik. Münster: Waxmann 2016. S. 63-82. S. 76f. 142 Vgl. Grzesik: Texte verstehen lernen. S. 237: »In den Untersuchungen von Paivio (seit 1969) werden Vorstellungen und verbale Prozesse als zwei alternative Kodiersysteme angesehen (Dual-KodierHypothese). […] Bei Ingarden wird dieser Sachverhalt ähnlich, aber psychologisch differenzierter beschrieben.« Es folgt ein umfangreiches Zitat zur Konkretisierung von Unbestimmtheitsstellen nach Ingarden, auf die noch zurückzukommen sein wird. Zu den Rekursen auf die Rezeptionsästhetik Isers vgl. ebd. S. 18 und 277f. Dabei grenzt sich Grzesik von beiden Theorien dahingehend ab, dass er innerhalb seines Modells die Prozesse der Textlektüre »nicht als Vollzug von Bewusstseinsakten, sondern als den Vollzug von psychischen Operationen« (ebd. S. 18) beschreibt. 143 Vgl. Sadoski, Mark u. Allan Paivio: Imagery and text: A dual coding theory of reading and writing. 2. Aufl. New York: Routledge 2013. 144 Grzesik geht in seinem Modell – ebenso wie auch aus literaturtheoretischer Perspektive die Rezeptionsästhetik Isers – von bildhaften Repräsentationen in der Vorstellung aus. Eine Ausweitung auch auf auditive, taktile, motorische, gustatorische, olfaktorische und affektive nicht ver137

5. Didaktische Ziele und Vermittlungsformen literarästhetischer Literalität

diesem Teilkapitel Lernwege im Fokus stehen, um den Aufbau von vorstellungsbezogenen Repräsentationen zu fördern und zu vermitteln, ist hierzu zunächst ein Rückbezug auch auf begriffsgebundene Repräsentationen hilfreich, um die Spezifik und Relevanz der Vorstellung gerade im Kontext der Rezeption literarischer Texte bestimmen zu können. Der spezifische Gebrauch der Vorstellungskraft bei der literarischen Lektüre gründet darin, dass diese – im Gegensatz zur bildenden Kunst – ihren Ausgang von Schriftzeichen und sprachlichen Begriffen nehmen muss, die »im Unterschied zu ikonischen Zeichen nur in Ausnahmefällen über Ähnlichkeiten zwischen dem Bezeichnenden, also den Phonemen und Graphemen, und dem Bezeichneten (Ausnahme sind Klangmalerei und ikonische Schriftgestaltung) [verfügen]«145 . Die Abläufe, wie sie allgemein für ästhetische Rezeptionsprozesse im zweiten Kapitel dargestellt wurden, müssen folglich modifiziert werden. Hiermit verändert sich insbesondere die Rolle der Einbildungskraft.146 In Lektüreprozessen werden Vorstellungen nicht primär und unmittelbar aus Wahrnehmungen gebildet (wie etwa im Kontext der Betrachtung eines Gemäldes), sondern sie resultieren aus und interagieren mit den von den Leser_innen gebildeten Bedeutungen von Begriffen, Sätzen und Textzusammenhängen.147 Beim Aufbau solcher mentalen Modelle ist – unabhängig davon, ob er bildhaft-figurativ oder verbal-begrifflich erfolgt – weniger von einem Prozess der De- als vielmehr der Recodierung von balsprachliche Repräsentationen liegt den Studien von Sadoski/Paivio zugrunde. Vgl. hierzu Jesch: Dual-Coding-Theorie. S. 175. 145 Zabka: Ästhetische Bildung. S. 456. Zabka fährt fort: »Daher ist jede gelingende Sprachwahrnehmung trivialer Weise auf Vorstellungsbildung angewiesen.« Vgl. in diesem Kontext auch Abraham, der die Relevanz der Vorstellungsbildung aus der meist nur begrenzt möglichen sinnlichen Erfassbarkeit von Texten herleitet: Literarische Texte sind »nur, wenn sie sehr kurz sind, überhaupt ganzheitlich-augenblickshaft wahrnehmbar; grundsätzlich spielen sie sich als Prozess in der Vorstellungstätigkeit Lesender ab.« Abraham: Das a/Andere W/wahrnehmen. S. 13. 146 Vgl. Iser: Der Akt des Lesens. S. 221f. 147 Hier sind zwei Ausnahmen zu machen: Die eine betrifft die bereits erwähnten Formen Visueller oder Konkreter Poesie. Zumindest dann, wenn sie zugleich mit Sprache arbeiten, beruhen sie aber immer auch auf begrifflichen Vermittlungen. Eine zweite Ausnahme betrifft das Verhältnis von sprachlichem Klang und Vorstellungsbildung, das in zwei Richtungen gedacht werden muss: Zum einen können sprachliche Klänge etwa im Zuge von Subvokalisation vorstellbar werden, sie gewinnen dann ›quasi-sinnliche Präsenz‹. Zum anderen vermag der sprachliche Klang seinerseits auch wiederum Vorstellungen auszulösen, etwa im Fall bestimmter Rhythmisierungen eines Textes. Hiervon ist etwa der Unterschied zwischen den bei ihrer Veröffentlichung im Druck aufeinander folgenden Gedichten Goethes Meeres Stille und Glückliche Fahrt geprägt: Das unterschiedliche Metrum und das verschiedenartig rhythmisierte Sprechen spielen in beiden Texten den auch auf der Bedeutungsebene vermittelten Vorstellungen des Ausgeliefertseins in einer Flaute bzw. den Bildern der Auflösung dessen und einer befreiten Fahrt zu. Auch diese über den sprachlichen Klang und die verwendeten Bilder transportierten Vorstellungen bleiben aber so weit offen, dass sie auf verschiedene Weise imaginativ weitergeführt und kognitiv interpretiert werden können.

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Informationen zu sprechen148 , wobei die figurativen Darstellungs- und Repräsentationsmöglichkeiten analog, die begrifflichen digital strukturiert sind.149 Dies sei zunächst an einem kurzen Beispiel aus dem pragmatischen Sprachgebrauch auf begrifflicher Ebene erläutert: Die Fähigkeit, semantische Textinformationen zu bestimmen, beruht darauf, dass »beim Lesen an die Stelle eines Wortes im Text (z.B. von ›Hausbank‹ im Satz ›Die Hausbank des Unternehmens sprang ein.‹) aus dem Wortschatz des Lesers stammende Wörter gesetzt werden (z.B. ›Kreditinstitut‹), d.h. der spezielle Sinn der Wörter des Textes wird nur dadurch verstanden, daß er vom Leser in anderen Wörtern codiert wird.«150 Was hier am Beispiel der Wort- vor dem Hintergrund der Satzsemantik (und ihrer grammatischen Strukturen, die die sachlichen und logischen Beziehungen regeln151 ) nachweisbar ist, gilt in gleicher Weise für Bedeutungszusammenhänge des gesamten Textes, der sich ebenfalls begrifflich recodieren lässt. Daneben können Texte aber auch nicht-verbalsprachlich mental repräsentiert werden, was folgendes Beispiel verdeutlicht: Der Unfallbericht eines Zeugen vermerkt, dass ein roter Sportwagen, an dessen Steuer eine Frau mittleren Alters mit dunklen Haaren zu erkennen war, sich mit deutlich überhöhter Geschwindigkeit der Kreuzung näherte. Ein von rechts kommender Radfahrer, der Vorfahrt hatte, wurde von dem Wagen erfasst und auf die Straße geschleudert. Der Sportwagen fuhr zunächst weiter, hielt wenig später dann aber an und kehrte an den Unfallort zurück. In diesem Fall werden die Lesenden aller Wahrscheinlichkeit nach eine primär figurative Repräsentation ausbilden, da diese sich für die notwendig aufzubauenden räumlichen Vorstellungen besser eignet. Dieser Aspekt ist hinsichtlich der Vorteile, die figurative Repräsentationen bieten, nur einer unter vielen. So kann etwa das Aufarbeiten von Texten, die der Informationsbeschaffung dienen, in Form von Schaubildern oder Graphiken zu einer nachhaltigeren Verankerung im Gedächtnis führen oder weiterführende Denkoperationen erleichtern152 , weil die an ganz unterschiedlichen Stellen gegebenen Informationen visuell zusammengebunden und strukturiert werden können.153 Mit Blick auf ästhetische Re148 Semiotische Verstehenskompetenzen, die sich auf die Identifikation und Unterscheidung von Buchstaben und Wortbildungsgesetzen beziehen, sind aus diesen und den folgenden Überlegungen ausgenommen, da sie dem Ziel dieser Arbeit, einer Abgrenzung der Textrezeption von pragmatischen und literarischen Texten im Kontext der Etablierung eines Konzepts literarästhetischer Literalität, nicht dienen, weil sie für beide Textformen in gleicher Weise beherrscht werden müssen. 149 Vgl. Grzesik: Texte verstehen lernen. S. 266. 150 Grzesik: Textverstehen lernen und lehren. S. 71. 151 Vgl. ebd. S. 77. 152 Vgl. zu dieser mnemotechnischen und weiteren Funktionen im Kontext von Visualisierungen Petra Gretsch u. Lars Holzäpfel: Einleitung. In: dies. (Hg.): Lernen mit Visualisierungen. Erkenntnisse aus der Forschung und deren Implikationen für die Fachdidaktik. Münster/New York: Waxmann 2016. S. 9-18. S. 14. 153 Während der begriffsgebundene Modus einer sequentiellen Anordnung folgt, »ist vorstellungsmäßig repräsentierte Information gleichzeitig gegeben statt nacheinander«. Grzesik: Texte verstehen lernen. S. 234. Vgl. zu diesen und weiteren funktionalen Aspekten der Vorstellungsbildung für das Leseverstehen auch ebd. S. 236-241.

5. Didaktische Ziele und Vermittlungsformen literarästhetischer Literalität

zeptionsprozesse liegen die Vorteile auf anderen Ebenen, worauf noch zurückzukommen sein wird. Grundlegend bleibt aber zunächst festzuhalten, dass beide Modi nicht gegeneinander ausgespielt werden sollen – und auch nicht können, weil sie in der Regel gemeinsam im Leseprozess aktiviert werden. Die Form dieser Interaktion bestimmt Grzesik – analog zum Mehrebenenmodell ästhetischer Rezeption dieser Arbeit – nicht im Sinne einer festgelegten Abfolge, sondern im Kontext einer wechselseitig aufeinander verwiesenen und sich ergänzenden Komplementärstruktur, die eher im Bild verschiedener Schichten als sukzessiv ablaufender Vorgänge zu denken ist: »Die Vorstellung ist daher auch keineswegs nur eine Vorform des Denkens, sondern ein gleichzeitig verfügbares Instrument, das mit seinen spezifischen Möglichkeiten an der Informationsverarbeitung beteiligt ist […].«154

5.2.1.2.

Charakteristika literarästhetisch vorstellungsgebundener Repräsentationsmodi

Grzesik weist in dem bereits angeführten Zitat darauf hin, dass der vorstellende Repräsentationsmodus jene »spezifische geistige Beweglichkeit erlaubt«, die dann mit begrifflich-kognitiven Operationen zu interagieren vermag, was bereits ein Indikator für die zentrale Bedeutung ist, die der Vorstellungsbildung beim Aufbau flexibler, begrifflich nicht vollständig einholbarer bzw. fixierbarer Textrepräsentationen zukommt.155 Auch dies soll zunächst anhand eines kurzen Beispiels konkretisiert werden. In Kleists Erzählung Das Erdbeben von Chili ereignet sich zu Beginn, nachdem der im Gefängnis sitzende Jeronimo bereits alle Vorbereitungen zum Suizid getroffen hat, Folgendes: Der Boden wankte unter seinen [Jeronimos] Füßen, alle Wände des Gefängnisses rissen, der ganze Bau neigte sich, nach der Straße zu einzustürzen, und nur der, seinem langsamen Fall begegnende, Fall des gegenüberstehenden Gebäudes verhinderte, durch eine zufällige Wölbung, die gänzliche Zubodenstreckung desselben. 154 155

Ebd. S. 236. Diese Form geistiger Beweglichkeit, die die Rolle der Einbildungskraft im Zusammenspiel mit begrifflich gebundenen Verstandesoperationen hier kennzeichnet, geht zurück auf Traditionslinien, die sich von Kants Ästhetik ableiten lassen, dabei aber bereits bei Lessing präfiguriert sind: »Schon Lessing hatte in Laokoon oder über die Grenzen der Poesie und Malerei (1766) ›der Einbildungskraft freies Spiel‹ (Lessing-W 6, 25f.) als das fruchtbare Moment der Künste bezeichnet, welches die Vorherrschaft der Dichtung unter den Künsten begründet. Diese Vorherrschaft basiert Lessing zufolge auf den umfassenden Wirkungsmöglichkeiten der Dichtkunst: Ihr wohnt gegenüber der Bildsprache eine ›weiter[e] Sphäre‹ inne, die mit dem ›unendlichen Felde unserer Einbildungskraft, […] der Geistigkeit ihrer Bilder‹ in Zusammenhang steht (ebd. S. 52). Am deutlichsten hat dies vielleicht Immanuel Kant in der Kritik der Urteilskraft (1790) formuliert. Kant stimmt in der Vorherrschaft der Dichtung völlig mit Lessing überein: ›Unter allen behauptet die Dichtkunst […] den obersten Rang. Sie erweitert das Gemüt dadurch, daß sie die Einbildungskraft in Freiheit setzt und innerhalb den [sic!] Schranken eines gegebenen Begriffs, unter der unbegrenzten Mannigfaltigkeit möglicher damit zusammenstimmender Formen, diejenige darbietet, welche die Darstellung desselben mit einer Gedankenfülle verknüpft, der kein Sprachausdruck völlig adäquat ist, und sich also ästhetisch zu Ideen erhebt.‹ (§ 53: Vergleichung des ästhetischen Werts der schönen Künste untereinander. Kant-W V, 429.)« Sascha Löwenstein: Poetik und dichterisches Selbstverständnis: eine Einführung in Rainer Maria Rilkes frühe Dichtungen (1884-1906). Würzburg: Königshausen & Neumann 2004. S. 197.

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Zitternd, mit sträubenden Haaren, und Knieen, die unter ihm brechen wollten, glitt Jeronimo über den schiefgesenkten Fußboden hinweg, der Öffnung zu, die der Zusammenschlag beider Häuser in die vordere Wand des Gefängnisses eingerissen hatte.156 Die Leser_innen werden sich diese Szene zumindest zunächst in weiten Teilen über eine figurative Recodierung erschließen. Sie stellen sich den Zusammensturz des Gefängnisses, der sich simultan mit dem eines weiteren, gegenüberstehenden Hauses ereignet, vielleicht in Form einer kurzen filmartigen Sequenz vor, die im Bild der Wölbung, die durch die im Sturz sich gegenseitig stützenden Gebäudeteile im Gefängnis entsteht, zum Abschluss kommt. So öffnet sich dieser Raum für Jeronimo, er gelangt in Freiheit; die alte Ordnung ist buchstäblich durchbrochen, eine neue dadurch geschaffen, dass zwei Körper sich gegenseitig im Sturz hemmen und so eine – allerdings höchst fragile, da weiterhin von Fallkräften durchzogene – Stabilität erhalten. In welcher Korrespondenz dieses Bild, das zum Symbol für die gesamte Erzählung wird, zu anderen Handlungselementen, Figuren, Motiven etc. der Erzählung steht, können die Lesenden dann im Weiteren verfolgen. Sie werden es möglicherweise auf den durch den buchstäblichen »Umsturz aller Verhältnisse«157 kurzfristig geschaffenen neuen, paradiesisch anmutenden Naturzustand beziehen (»als ob es das Thal von Eden gewesen wäre«158 ), der Jeronimo und Josephe ein Leben in Freiheit, jenseits gesellschaftlicher Restriktionen zu versprechen scheint; sie werden angesichts des katastrophischen Ausgangs aber auch im Sinn haben, dass die kurzzeitig geöffnete Pforte zu einem freien, selbstbestimmten Leben sich alsbald wieder schließt. Kognitive-begrifflich gebundene Modi einer ästhetischen Auseinandersetzung greifen also auf die Vorstellungsbildung und Imagination (und ebenso auf sinnliche Wahrnehmungen159 ) notwendig zurück und durchlaufen diese Ebenen auch infolge veränderter Selektion und Kombination des Materials stetig neu. Denn wie man das (als Vorstellung erinnerte) Bild der im Fall sich stützenden Häuser deutet, wird sich zum einen je nach Fortgang der Lektüre ändern und innerhalb gewisser Grenzen auch in Wiederholungslektüren variabel bleiben. Die Differenziertheit und Reichhaltigkeit begrifflich-kognitiver Prozesse hängt somit von den dargelegten mentalen Operationen auf den Ebenen der Wahrnehmung und Vorstellungsbildung ab.160 156

Kleist, Heinrich von: Das Erdbeben in Chili. In: Der.: Sämtliche Werke. Brandenburger Ausgabe. Hg. v. Roland Reuß u. Peter Staengle. Bd. II/3. Basel, Frankfurt a.M.: Stroemfeld, Roter Stern 1993. S. 11f. 157 Ebd. S. 28. 158 Ebd. S. 20. 159 Bei dem genannten Beispiel kann dies etwa unter Rückbezug auf die rhythmisierte erzählerische Gestaltung der langen Satzkaskaden bezogen werden, die – je nach Rezitationsform – eine gewisse Form der Atemlosigkeit angesichts der Komplexität des Ineinanderwirkens verschiedener Kräfte und Bewegungen auch sinnlich erfahrbar macht. Ein Beispiel hierfür bietet etwa die Lesung von Rolf Boysen. Rolf Boysen: Heinrich von Kleist: Novellen. 15 CD. München: Der Hörverlag 2011. 160 Imaginative Fortführungen sind an diesem Punkt bewusst ausgeblendet. Gleichwohl bleiben sie von Relevanz. So können im Zuge der Lektüre etwa eigene Erinnerungen an Zustände erlebter Freiheit mit solchen der Bedrängnis und Angst kollidieren – insbesondere vor dem Hintergrund des Ausgangs der Erzählung. Der Text Kleists arbeitet auf dieser Ebene auch mit dem Aufbau bestimmter Stimmungen, die bei den Leser_innen evoziert werden; vgl. hierzu unten.

5. Didaktische Ziele und Vermittlungsformen literarästhetischer Literalität

Kleists Erzählung, die sich in dem Symbol der höchst fragilen, ins Freie führenden Wölbung verdichtet, kann dies beispielhaft verdeutlichen: Das (bereits zu Lebzeiten Kleists) aus einer historisch wie geographischen Ferne berichtete Geschehen und seine erzählerische Gestaltung ermöglichen eine kritische Reflexion der Gegenwartsgesellschaft: So kann den Leser_innen die Brüchigkeit und Kontingenz sozialer Ordnungen bewusst werden, die Gefährdung der Freiheit durch archaische ›Fallkräfte‹, es kann ihnen die Frage kommen, ob dem Menschen überhaupt ein Leben in Freiheit möglich ist oder inwieweit sich im Rahmen gesellschaftlicher Strukturen Repressionen und Formen der Ausgrenzung vollziehen, die stets in Gefahr stehen, in Gewalt und Hass umzuschlagen. Er kann den Text auch auf theologische oder philosophische Kontexte beziehen und etwa die Frage nach der Theodizee, nach dem Einbruch des Kontingenten in menschliche Ordnungen oder nach der ›Natur‹ des Menschen stellen, um nur einige wenige Diskurse zu nennen, die im Text verhandelt werden. Die Erzählung zeigt, inwieweit die sich im Rahmen der begrifflich-kognitiven Rezeption literarischer Sprachverwendung vollziehenden Sinnzuschreibungen auf die Vorstellungsbildung zurückgreifen. Im Zuge einer genaueren Aufschlüsselung, auf Grundlage welcher Text-LeserInteraktionen sich dieses hier exemplarisch verdeutlichte Zusammenspiel ausgestaltet, kann zwischen text- und leserspezifischen Aspekten unterschieden werden. Erstere werden im Folgenden unter Rekurs auf die Evokation von Stimmungen (Nietzsche, Hofmannsthal), die Begriffe der Unbestimmtheitsstellen (Ingarden), Leerstellen und Negationen (Iser) sowie Untersuchungen zum Umgang mit sprachlichen Bildern am Beispiel von Metaphern (Grzesik) behandelt; zweitere mit Blick auf die Ermöglichung von individualisierenden und involvierend-distanzierenden Lesemodi thematisiert. Stimmungen Der Begriff der Stimmung ist in der Ästhetik der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts nicht nur wenig prominent besetzt, David E. Wellbery vermerkt zudem, dass die »Stimmungssemantik, könnte man sagen, während der zweiten Hälfte des 20. Jh. dumm geworden [ist], und auch das wird zu ihrer philosophischen Belanglosigkeit beigetragen haben.«161 Allein deshalb ist es notwendig, die Verwendung des Terminus, der zwar zunächst leserspezifische Reaktionen zu umfassen scheint, die aber wiederum durch Textelemente ausgelöst werden, im Folgenden kurz zu erläutern. Die Art und Weise, wie Kant und Schiller den Begriff in den ästhetischen Diskurs einbringen, orientiert sich noch nah an seiner metaphorischen Herkunft aus der Musik: Hier beruht das Stimmen eines Instruments darauf, dass einzelne Teile (z.B. Saitenlängen) oder mehrere Instrumente so in ein Verhältnis zueinander gesetzt werden, dass eine »Koordinierung (Harmonisierung) ihres – der Teile bzw. der Instrumente – Zusammenspielens«162 erfolgt. Kant führt den Begriff in der Kritik der Urteilskraft im Kontext der Fragestellung des neunten Paragraphen ein: »Untersuchung der Frage: Ob im Geschmacksurteile das Gefühl der Lust vor der Beurteilung des Gegenstandes, oder 161

162

Wellbery, David E.: Artikel »Stimmung«. In: Karlheinz Barck u.a. (Hg.): Ästhetische Grundbegriffe. Historisches Wörterbuch in sieben Bänden. Studienausgabe. Bd. 5. Stuttgart, Weimar: J.B. Metzler 2010. S. 703-733. S. 733. Ebd. S. 706.

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diese vor jener vorhergehe«163 . Die im freien Spiel der Erkenntniskräfte erfahrbare »proportionierte Stimmung«164 , in der wir die »nicht durch einen Begriff erzwungene[] Koordinierung zwischen Einbildungskraft und Verstand benennen können«165 , begründet die allgemeine Mitteilbarkeit der Lust am Schönen – und diese geht hervor aus der Erfahrung der ›Stimmung‹ im Sinne des aufeinander abgestimmten Zusammenspiels der Erkenntnisvermögen.166 Was bei Kant im ästhetisch freien Spiel der Erkenntniskräfte zwar bewusst erfahrbar wird, grundlegend aber als »wechselseitige Zusammenstimmung belebte[r] Gemütskräfte (der Einbildungskraft und des Verstandes)«167 auch den Funktionen der bestimmenden Urteilskraft zugrunde liegt, macht Schiller dann zum Ausgangspunkt seiner Fassung des Begriffs, der bei ihm auf die im ästhetischen Spiel der Erkenntniskräfte erfahrbare Freiheit abhebt. Damit macht er einen Nebenaspekt des Kantischen Begriffsgebrauchs zur Pointe seines Gedankengangs. Bei Kant war es ja so, daß die Stimmung (bzw. Selbst-Stimmung) der Einbildungskraft ohne begriffliche Vorschrift geschieht. Dadurch kommt die Einbildungskraft in das mit dem Verstand einträgliche Verhältnis, das im Normalfall von Erkenntnis durch Bestimmung mittels eines Begriffs zustande gebracht wird. Schiller zielt auf etwas anderes: Er will einen Zustand ausmachen, in dem das ›Gemüth‹ weder durch Verstand und Vernunft noch durch Empfindung bestimmt wird. Der von beider Be-Stimmung freie Gemütszustand wird nun ›Stimmung‹ genannt: ein Zustand reiner Bestimmbarkeit, eine Potentialität.168 Dass dies wiederum recht nahe bei dem ist, was Kant unter der Lust am Schönen begreift, tut dem keinen Abbruch, da Kant den Begriff der Stimmung allgemeiner fasst. Bei Schiller bezieht er sich auf eine durch die Empfindungen – und hierzu müssen auch die entsprechenden Vorstellungsbilder gerechnet werden – und deren nicht exakt und final mögliche begriffliche Auflösung hervorgerufene spezifisch »ästhetische Stimmung des Gemüts«169 , mit der sich eine Form von Freiheit verbindet, da das Urteil nicht determiniert ist. Der Begriff bezeichnet so eine Disposition des Subjekts, die »ipso facto ästhetisch«170 ist – und zwar deshalb, weil er sich nicht wie bei Kant auf das Verhältnis von Einbildungskraft und Verstand per se bezieht, sondern auf die genuin ästhetische Qualität dieses Zusammenspiels.171 163 164 165 166

Kant: Kritik der Urteilskraft. S. 131. Ebd. S. 134. Wellbery: Stimmung. S. 708. Vgl. Frey, Christiane: Kants proportionierte Stimmung. In: Anna-Katharina Gisbertz (Hg.): Stimmung. Zur Wiederkehr einer ästhetischen Kategorie. Paderborn: Wilhelm Fink 2011. S. 75-94. S. 88. Frey spricht davon, dass im ästhetischen Urteil »das Medium oder die Fassung der Erkenntnis, oder, wenn man so will, des Erkenntnisgetriebes […] als solches merklich wird und ein Wohlgefallen, einen Selbstgenuss an dem Zusammenspiel der Erkenntnisvermögen erzeugt.« 167 Kant: Kritik der Urteilskraft. S. 134. 168 Wellbery: Stimmung. S. 710. 169 Schiller, Friedrich: Ueber die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen. In: ders.: Nationalausgabe. Bd. 20. Hg. v. Benno von Wiese. Weimar: Hermann Böhlaus Nachfolger 1962. S. 309-412. S. 379. 170 Wellbery: Stimmung. S. 711. Vgl. hierzu auch Frey: Kants proportinierte Stimmung. S. 88-90. 171 Vgl. ebd.

5. Didaktische Ziele und Vermittlungsformen literarästhetischer Literalität

Dies kann als Ausgangspunkt vieler weiterer Fassungen des Begriffs angesehen werden. Nietzsches Definition, die unter der Überschrift »Miterklingen« ebenfalls auf den metaphorischen Ursprung anspielt, verleiht dem begrifflich nicht einholbaren ästhetischen Spiel eine zeitliche Tiefendimension, die dann wiederum in Form von Erinnerungen auf die Existenz des Einzelnen bezogen wird. Die allgemeinästhetische Fassung des Begriffs bei Schiller erhält hierüber eine individuelle Prägung. Alle stärkeren Stimmungen bringen ein Miterklingen verwandter Empfindungen und Stimmungen mit sich; sie wühlen gleichsam das Gedächtniss auf. Es erinnert sich bei ihnen Etwas in uns und wird sich ähnlicher Zustände und deren Herkunft bewusst. So bilden sich angewöhnte rasche Verbindungen von Gefühlen und Gedanken, welche zuletzt, wenn sie blitzschnell hinter einander erfolgen, nicht einmal mehr als Complexe, sondern als Einheiten empfunden werden.172 Die begrifflich nicht einholbaren »Empfindungs- und Gefühlskomplexe« gewähren somit gerade in ihrem »stete[n] Wandel und [ihrer] innere[n] Vielfalt Einblick […] in die Fluktuationen des seelischen Lebens«173 . Genau dies wiederum wird sich die Literatur der klassischen Moderne zu eigen machen, paradigmatisch steht etwa Marcel Prousts Auf der Suche nach der verlorenen Zeit hierfür. Die Evokation von Stimmung in diesem Sinne kann somit sowohl als produktions- wie als rezeptionsästhetischer Leitbegriff von Literatur angesehen werden; sie gründet in Vorstellungen und Imaginationen, die aus produktionsästhetischer Sicht auf sprachlich ›abgestimmten‹ Konfigurationen beruhen, die die Einbildungskraft in der Lektüre aktivieren und doch nicht in sprachlichen Begriffen referentiell auflösbar sind. Ein solches Verständnis findet sich bei Hugo von Hofmannsthal: Ich weiß nicht, ob Ihnen unter all’ dem ermüdenden Geschwätz von Individualität, Stil, Gesinnung, Stimmung und so fort nicht das Bewusstsein dafür abhanden gekommen ist, dass das Material der Poesie die Worte sind, dass ein Gedicht ein gewichtloses Gewebe aus Worten ist, die durch ihre Anordnung, ihren Klang und ihren Inhalt, indem sie die Erinnerung an Sichtbares und die Erinnerung an Hörbares mit dem Element der Bewegung verbinden, einen genau umschriebenen, traumhaft deutlichen, flüchtigen Seelenzustand hervorrufen, den wir Stimmung nennen.174 Hiermit ist ein präziser Begriff von Stimmung im Sinne impressiver Evokationen durch einen literarischen Text gegeben. Stimmungen gehen hervor aus den durch »Worte« ausgelösten Vorstellungsbildungen, die sich wiederum sowohl auf sinnliche Wahrnehmungen (Klänge, auch vorgestellte) als auch auf Inhalte (Begriffe) zurückbeziehen können, sich weiterhin in Form von Imaginationen – ganz im Sinne Nietzsches – mit Erinnertem verbinden können, dabei zwar »deutlich«, aber doch »flüchtig« bleiben und 172

173 174

Nietzsche, Friedrich: Menschliches, Allzumenschliches I u. II. In: ders.: Sämtliche Werke: kritische Studienausgabe in 15 Einzelbänden. Hg. v. Giorgio Colli u. Mazzino Montinari. Bd 2. München: dtv 1988. S. 35. Wellbery: Stimmung. S. 716. Hofmannsthal, Hugo von: Poesie und Leben. In: ders.: Sämtliche Werke. Kritische Ausgabe. Bd. XXXII: Reden und Aufsätze 1. Hg. v. Hans-Georg Dewitz u.a. Frankfurt a.M.: S. Fischer 2015. S. 183188. S. 185.

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sich nicht final begrifflich auflösen lassen (was Kant resp. Schillers Begriff der Stimmung aufgreift). ›Gestimmt‹, im Sinne von ›aufeinander abgestimmt‹, sind in dieser Konzeption sowohl das sprachliche Material des literarischen Textes als auch der »Seelenzustand« der Rezipient_innen in Form von Vorstellungen und (erinnerten) Imaginationen sowie der hieraus hervorgehenden ästhetischen Stimmung. Verbunden sind beide durch das »Element der Bewegung«, die das »Material der Poesie« impressiv verlebendigt. Für Schüler_innen können Stimmungen zu einer Form literarästhetischer Rezeption führen, die es ihnen ermöglicht, Zugänge zu ihren Erinnerungen und zu nichtfunktionalen, im Sinne Schillers freien Modi der Auseinandersetzung mit der Welt und sich selbst zu finden. Dies kann zugleich mit einem ästhetischen Erfahren des eigenen Erfahrens einhergehen, was aber, und deshalb ist der Begriff der Stimmung hier den textspezifischen Aspekten zugeordnet, an eine genaue Textwahrnehmung rückgebunden bleibt: Denn es sind »Worte«, die diesen Stimmungen zugrunde liegen – und sie nicht beliebig werden lassen. Unbestimmtheits- und Leerstellen, Negationen Damit ist eine erste Kategorie im Zuge der Aneignung literarischer Texte auf den Ebenen von Vorstellungsbildung und Imagination benannt. Weitere lassen sich unter Rekurs auf Ingarden und Iser gewinnen, die sich aus anderer Perspektive mit der Frage der Leser_innenaktivierung und der Rolle, die die Vorstellungsbildung hierbei spielt, befasst haben. Im dritten Kapitel konnte aufgezeigt werden, dass Isers Rezeptionsästhetik – primär unter Rekurs auf narrative Texte – davon ausgeht, dass verschiedene Techniken literarischer Sprachverwendung einer spezifisch ästhetischen Aktivierung der Vorstellungsbildung und einem hiermit verbundenen Perspektivwechsel beim Aufbau mentaler Repräsentationen dienen. So steuern sie zugleich auch verbalsprachliche Sinnzuweisungen in der Textrezeption. Diese Techniken sind mit den Unbestimmtheits- und Leerstellen sowie den Negationen bezeichnet. Der Begriff der Unbestimmtheitsstellen findet bereits bei Roman Ingarden in folgendem Sinne Verwendung: Jedes Ding, jede Person, jeder Vorgang usw., der im literarischen Werk dargestellt wird, enthält sehr viele Unbestimmtheitsstellen. Besonders die Schicksale der Menschen und Dinge weisen sehr viele Unbestimmtheitsstellen auf. Gewöhnlich gelangen ganze Zeitbereiche des Lebens der dargestellten Menschen zu keiner expliciten Darstellung, so daß die sich wandelnden Eigenschaften dieser Menschen unbestimmt bleiben.175 Unbestimmtheitsstellen können folglich sowohl auf der Ebene der histoire, also der erzählten Welt, als auch auf der des discours, also der die erzählte Welt hervorbringenden sprachlich-erzähltechnischen Gestaltungsmittel, verortet werden. Sie betreffen im ersten Fall etwa lediglich implizit oder unvollständig vorgenommene Charakterisierungen der Figuren (die nicht nur Verhaltensweisen oder Einstellungen, sondern auch ihr zur Vorstellung gebrachtes Aussehen betreffen können), nur angedeutete Handlungsmoti175

Ingarden, Roman: Vom Erkennen des literarischen Kunstwerks. Tübingen: Niemeyer 1968. S. 50.

5. Didaktische Ziele und Vermittlungsformen literarästhetischer Literalität

ve, Aussparungen von Handlungselementen oder Zeiträumen.176 Dem spielen auf der Ebene des discours z.B. Techniken multiperspektivischen oder unzuverlässigen Erzählens zu. Didaktisch und mit Blick auf die Rezeptionsebene lässt sich dieses Potential nutzen, um die Lernenden einerseits in den Text ›hineinzuziehen‹, ihre Vorstellung und Imagination in der Auseinandersetzung mit dem Text anzuregen, und ihnen andererseits eine erste Distanzierung zu den dargestellten Objekten oder Diskursen zu ermöglichen, da deren fiktional gebrochener Status sie zugleich eben als ›nur‹ vorgestellte ausweist, mit denen keine ›reale‹ Konfrontation erfolgt. Isers Begriffe der Leerstelle und der Negation gehen dann über solche Unbestimmtheiten noch einmal hinaus und akzentuieren stärker Techniken auf der Ebene des discours. Ihnen liegt sämtlich ein weiter Begriff der Vorstellung zugrunde, der nicht nur figurative, sondern auch hiermit interagierende begriffliche Recodierungen beinhaltet und somit Sinnzuschreibungen mit einschließt. Unter Rekurs auf Gilbert Ryle hält Iser fest: Das Bild ist die zentrale Kategorie der Vorstellung. Es bezieht sich auf das NichtGegebene bzw. Abwesende, dessen Vergegenwärtigung im Bild geleistet ist. Es macht aber auch Innovationen vorstellbar, die dem Dementi vorgegebenen Wissens bzw. der Ungewöhnlichkeit der Zeichenkombinationen entspringen.177 Im Kontext seiner Konkretisierung des Begriffs anhand eines Auszugs aus Fieldings Roman Joseph Andrews hält er allerdings unter Rückbezug auf Sartres Kritik, dass Vorstellungen mehr seien als die »Summe ihrer Elemente«, fest: »Thema und Signifikanz [der Vorstellung erscheinen] immer in einer Kontamination, die ihrerseits der Auslegung bedarf und daher die Folgevorstellung motiviert.«178 Aus diesem Grund seien in diesem »›neuen Sinn‹ der Vorstellung […] Thema und Signifikanz zusammengeschlossen. Das zeigt sich nicht zuletzt an dem eigentümlich hybriden Charakter, den unsere Vorstellungen im Lektüreakt besitzen; bald sind sie bildhaft, bald sind sie bedeutungshaft.«179 Vor diesem Hintergrund sind die beiden spezifisch literarästhetischen Aktivierungen der Vorstellungen im Lektüreakt, Leerstelle und Negation, zu begreifen. 176

177 178 179

Vgl. Zabka (unter Rekurs auf Waldmann und Ingarden): Ästhetische Bildung. S. 457. Bei Ingarden finden sich auch Passagen, die ein engeres Verständnis von Unbestimmtheitsstellen nahelegen (und auf die sich Iser vornehmlich im Kontext seiner Rezeption Ingardens in Der Akt des Lesens bezieht; wohl auch, um seinen Begriff der Leerstelle so besser konturieren zu können, vgl. unten): »Eine solche Stelle zeigt sich überall dort, wo man auf Grund der im Werk auftretenden Sätze von einem bestimmten Gegenstand (oder von einer gegenständlichen Situation) nicht sagen kann, ob er eine bestimmte Eigenschaft besitzt oder nicht. Wenn etwa in den ›Buddenbrooks‹ die Augenfarbe des Konsuls Buddenbrook nicht erwähnt wäre (was ich nicht nachgeprüft habe), dann wäre er in dieser Hinsicht überhaupt nicht bestimmt, obwohl zugleich auf Grund des Kontextes und der Tatsache, daß er ein Mensch war und der Augen nicht beraubt, implicite bekannt ist, daß er irgendeine Augenfarbe haben mußte; nur welche, das wäre nicht entschieden. Analog in vielen anderen Fällen. Die Seite oder Stelle des dargestellten Gegenstandes, von der man auf Grund des Textes nicht genau wissen kann, wie der betreffende Gegenstand bestimmt ist, nenne ich eine ›Unbestimmtheitsstelle‹.« Ingarden: Vom Erkennen des literarischen Kunstwerks. S. 49f. Iser: Der Akt des Lesens. S. 222. Ebd. S. 238. Ebd.

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Als Leerstelle bezeichnet Iser zum einen die aus den »Vordergrund-HintergrundBeziehungen« hervorgehenden Entpragmatisierungen der in den Text eingearbeiteten (historischen oder zeitgenössischen) Gegenstände, Diskurse und Intertexte, auf die er sich zurückbezieht, sein extratextuelles »Repertoire«. Dadurch, dass es Teile seiner diskursiven Funktionen oder Festlegungen in der literarischen Fiktion verliert, entstehen Leerstellen. Zum anderen gehen Leerstellen aber auch aus der Art und Weise hervor, wie im Fortgang des Textes resp. seines Lektüreverlaufs in Form intratextueller »Strategien« die jeweilig wechselnden »Thema-Horizont«-Beziehungen (die das Verhältnis einer bestimmten Textpassage zu vorherigen bzw. im Falle von Wiederholungslektüren auch zukünftigen betrifft) gesteuert und den Lesenden zur Aufgabe gegeben werden.180 Dies lässt sich etwa durch Schnitte realisieren, indem Handlungsstränge abgebrochen oder nicht näher aufeinander bezogen werden, neue Figuren unvermittelt eingeführt oder das Verhältnis von Figuren untereinander nicht genau ausgeführt wird, eine Erzählung verschiedenartig fokalisiert ist oder – wie im Fortsetzungsroman – mit Suspense-Effekten gearbeitet wird.181 Im Unterschied zu den Unbestimmtheitsstellen zeigen Leerstellen weniger eine »Komplettierungs-« (wie im Falle der Unbestimmtheitsstellen) als vielmehr eine »Kombinationsnotwendigkeit« an.182 Hinsichtlich der aufgegriffenen Elemente des Repertoires wird die Text-LeserInteraktion weiterhin so gesteuert, dass den Lesenden vertraute Gegenstände oder Thematiken der »Vordergrund-Hintergrund-Beziehungen« in neue Perspektiven gerückt werden und sie so auf textpragmatischer Ebene eine neue Funktion erhalten können. Dem liegt eine spezifische Verwendung von Leerstellen im Sinne von Negationen zugrunde.183 Sie »rufen Bekanntes oder Bestimmtes auf, um es durchzustreichen; als Durchgestrichenes jedoch bleibt es im Blick und verursacht angesichts seiner gelöschten Geltung Modifizierungen in der Einstellung […].«184 Beide Aktivierungspotentiale spielen dabei ineinander, die Leerstellen bewirken einen veränderten Blick auf die jeweilig thematisch werdenden Inhalte, die ihrerseits in Form von Negationen weiteres Potential einer Reperspektivierung freizusetzen vermögen. Leerstellen und Negationen steuern über die Vorstellungsaktivierung so die Text-Leser-Interaktion als »Umschaltstelle[n]«185 . 180 »Die entpragmatisierten Normen wie auch die literarischen Anspielungen haben die vertraute Form ihres Angeschlossenseins verloren; ihre Entpragmatisierung ist als Leerstelle im Text angezeigt, die ihrerseits bestenfalls Möglichkeiten der Anschließbarkeit nahelegt. […] Leerstellen indes stecken nicht nur im Repertoire, sondern ebenso in den Strategien.« (Ebd. S. 286.) Zur genauen Definition der »Vordergrund-Hintergrund-« und »Thema-Horizont-Beziehungen« vgl. das Kapitel 3.2.8. dieser Arbeit. 181 Vgl. ebd. S. 267: »Die Leerstellen sparen die Beziehungen zwischen den Darstellungsperspektiven des Textes aus und ziehen dadurch den Leser zur Koordination der Perspektiven in den Text hinein: sie bewirken die kontrollierte Betätigung des Lesers im Text.« 182 Vgl. ebd. S. 284. 183 Vgl. zur Definition der Negation als einer »dynamische[n] Leerstelle auf der paradigmatischen Achse der Lektüre«, also der Ebene des Repertoires, ebd. S. 328. 184 Ebd. S. 267. 185 Vgl. Iser, Wolfgang: Die Appellstruktur der Texte. In: Rainer Warning (Hg.): Rezeptionsästhetik. 4. unveränd. Aufl. München: Fink 1994. S. 228-252. S. 248.

5. Didaktische Ziele und Vermittlungsformen literarästhetischer Literalität

Metaphern Anhand einer exemplarischen Darlegung der Rezeption von Metaphern, die sich grundlegend auch auf andere Formen von Sinnbildern in literarischen Texten übertragen lässt, soll abschließend ein vierter für die Vorstellungsbildung relevanter Aspekt angesprochen werden. Eine ästhetische, d.h. über konventionalisierte Formen (wie etwa im Fall von ›Tischbein‹) hinausgehende Verwendung von Metaphern liegt dann vor, wenn die Hinzuziehung der zweiten Ebene des Bildspenders implizite, ggf. konnotativ-mehrdeutige oder auch unscharfe Aussagen über den Bildempfänger ermöglicht. Die Funktion entspricht dann der, die dem dichterischen im Unterschied zum prosaischen Bild bei Šklovskij zukommt186 ; ihre Wirkung baut auf figurativen und nicht rein begrifflichen Repräsentationsformen auf. Denn nur so können diese Bilder, wie Irene Pieper im Anschluss an eine empirische Untersuchung zum Metaphernverstehen im Literaturunterricht festhält, »Vorstellungsräume eröffnen und zu einem erkundenden, spielerischen Abschreiten dieser Räume einladen«187 . Die Analogiebildungen, mit denen die Metapher arbeitet, basieren häufig auf dem in der Vorstellung recodierten Bildmodus; dieser nutzt die figurativen Darstellungsmöglichkeiten der Sprachsymbolik188 und »eröffnet […] weitere Informationen, weil sein Informationsreichtum keineswegs durch die Abstraktion des äquivalenten Moments erschöpft ist«189 . Die Beziehung zwischen Bildspender und Bildempfänger »ist deshalb die einer Analogie mit einer breiten Streuung auf seiten [sic!] des Bildhaften«190 . Gleichwohl bedarf sie auch einer kognitiv-begrifflich vermittelten, dabei aber offenen Recodierung, worin auch Grzesik die ästhetische Spezifik des Zusammenspiels beider Vermögen sieht: »So kann die ästhetische Information in ihrem ganzen Umfang als die gelungene Verknüpfung der bildhaften und der begrifflichen Informationsmöglichkeiten des Textes, vom einzelnen Laut bis zum gesamten Umfang des Textes, angesehen werden […].«191 In diesem Falle sind es folglich nicht offenbleibende Bezüge einzelner Textelemente, vielmehr begründet die Bildebene der Metapher das Spiel zwischen Einbildungskraft und Verstand. Die im dritten Kapitel unter Rekurs auf einen Text von Herta Müller entwickelte Unterscheidung alltagspragmatischer und literarästhetischer Sprachverwendung kann dies gut verdeutlichen: Die Metapher der »Dorfkiste« korreliert über die Vorstellungsbildung das Dorf bzw. das Leben hierin mit dem Bild einer Kiste, in die es gefasst, eingeschlossen ist; was dann wiederum nicht nur die Vorstellung eines engen Raumes, dem nicht zu entkommen ist und der so zum ›Gefängnis‹ wird (letzteres wäre dann bereits eine verbalsprachliche Recodierung), mit aufrufen kann, sondern unter Einbezug anderer Textsignale auch weitere begriffliche Recodierungen im Konnotationsfeld des Begriffs »Tod«. 186 Vgl. Kapitel 3.2.2. dieser Arbeit. 187 Pieper, Irene: Metaphern im Literaturerwerb. Ein Pflanzencasting, ein schlafendes Lied und ein Faszinosum. In: Carola Rieckmann u. Jessica Gahn (Hg.): Poesie verstehen – Literatur unterrichten. Baltmannsweiler: Schneider 2013. S. 125-142. S. 129. 188 Vgl. Grzesik: Texte verstehen lernen. S. 266. 189 Grzesik: Textverstehen lernen und lehren. S. 115. 190 Ebd. 191 Ebd. S. 118.

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Literarästhetische Literalität

Das einfache Beispiel zeigt, dass sowohl beim Aufbau einer Textrepräsentation auf der expliziten wie auch auf der impliziten Bedeutungsebene literarischer Texte Vorstellungs- und Begriffsbildung einander zuarbeiten – die Vorstellungsbildung auf der expliziten Ebene hierbei aber die Erschließung impliziter Bedeutungen befördert, die ihrerseits wiederum sowohl über Vorstellungen als auch, vermutlich häufiger und für die Rezeption der Metapher entscheidender, verbalsprachlich recodiert werden können. In diesem Falle werden die beiden Repräsentationsmodi aufeinander bezogen: »Zwischen zwei semantischen Einheiten (einer explizit bildlichen und einer der bildlichen impliziten begrifflichen) wird eine symbolische Relation hergestellt, indem die erste zum Signifikant für eine zweite als Signifikat wird.«192 Die Herausforderungen, die aus diesem Zusammenspiel für didaktische Vermittlungsprozesse resultieren, lassen sich am Beispiel des ersten Verses von Paul Celans Todesfuge konkretisieren: »Schwarze Milch der Frühe wir trinken sie abends«193 . Hier ist wenig damit gewonnen, wenn eine Tasse oder Schale mit schwarzer Milch zur Vorstellung kommt, die von einer Gruppe Menschen getrunken wird. Die gebildete Vorstellung führt nur dann in einen ästhetische Rezeptionsmodus, wenn sie in Bezug zu weiteren Bildern gesetzt wird, die der Text aufführt und zwischen denen Leerstellen (in einem weiteren Sinne als bei Iser, da nicht auf narrative Vermittlungsstrategien bezogen194 ) entstehen, die – hier unterstützt durch das der Musik entlehnte Kompositionsprinzip der Fuge – nur durch den wechselseitigen Bezug aufeinander gefüllt werden können, ohne dass dies aber in einen vorab festlegbaren Abschluss oder eine Auflösung mündete. Dies kann in zweierlei Form geschehen, einmal mit Akzent auf Vollzügen der Vorstellungsbildung und Imagination, ein andermal mit Akzent auf begrifflich vermittelten mentalen Operationen, die die Vorstellungen und Imaginationen in Symbolbildungsund Interpretationsprozesse überführen: Im ersten Fall wird sich die beklemmend-bedrohliche und existentiell verunsichernde Stimmung, die die Bilder transportieren, die mehrfache Wiederholung des Eingangsverses im weiteren Verlauf des Gedichts und die sich jeglicher monovalenten begrifflichen Auflösung sperrende Aussage bei den Lesenden mit eigenen Imaginationen verbinden, die zu einem impressiven Erleben einer Ausdrucksqualität im Sinne Kleimanns195 führen können, die primär (aber auch hier nicht ausschließlich) über figurative Recodierungen getragen wird. Im zweiten Fall werden solche Vorstellungs- und Imaginationsbildungen in Symbolisierungsprozesse überführt. Infolgedessen kann dann die Farbe schwarz mit dem im Gedicht selbst Verwendung findenden Begriff der Asche196 in Verbindung gebracht werden (dieser Bezug 192 193

Grzesik: Texte verstehen lernen. S. 266. Celan, Paul: Todesfuge. In: ders.: Ausgewählte Gedichte. Zwei Reden. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1969. S. 18f. 194 Eine sinnvolle Erweiterung des Leerstellenbegriffs Isers auch auf lyrische Texte, worüber sich dieser dann auf »semantische Leerstellen« beziehen lässt, die etwa durch unverbundene Bilder entstehen, findet sich bei Dietrich/Krinninger/Schubert: Einführung in die ästhetische Bildung. S. 142. 195 Vgl. hierzu die Darlegungen in Kapitel 2.4. dieser Arbeit. 196 Das Gedicht endet mit dem Vers »dein aschenes Haar Sulamith«, das über die Struktur der Fuge dem »goldene[n] Haar Margarete[s]« gegenübergestellt wird und so mit dem Eingangsvers eine Klammer bildet. In seiner denotierten Bedeutung kann der Begriff »Asche« auf die aus den Ver-

5. Didaktische Ziele und Vermittlungsformen literarästhetischer Literalität

wird seinerseits wieder über Vorstellungen vermittelt sein) und somit Tod konnotieren, während die Milch als symbolisches Bild für Leben spendende Nahrung am Beginn der menschlichen Existenz steht, die hier aber in Form eines Paradoxons mit ihrem Gegenbegriff, dem Tod, verbunden wird. Diese Paradoxie wiederum greift zugleich auch über auf die genannten Zeiträume, wobei zeitliche Bestimmungen von der Tages- auf die Lebensspanne übertragen werden: Die »Milch der Frühe« wird »abends« getrunken. Diese Form des ästhetischen Zusammenspiels von Vorstellungen und Begriffen, von Einbildungskraft und Verstand, verweist die Lernenden zugleich immer wieder neu auf die sprachliche Materialität des Textes und seine Gestaltungsformen, von denen veränderte Vorstellungsbildungen und begriffliche Sinnzuweisungsversuche ihren Ausgang nehmen.

5.2.1.3.

Kompetenz und Literalität

Prozesse der Vorstellungsbildung selbst sind, das konzedieren auch der Kompetenzorientierung grundlegend aufgeschlossen gegenüberstehende Literaturdidaktiker wie Köster oder Schilcher/Pissarek, im Rahmen des Weinert’schen Kompetenzbegriffs kaum abzudecken: zum einen, weil das »Feld […] der Vorstellungsbildung« aufgrund des hohen Maßes an Subjektivität in vielen Fällen einen Bereich bildet, in dem die Schüler_innenleistungen nicht falsifizierbar197 und standardisierbar sind; zum zweiten, weil die Vorstellungsbildung zunächst unverfügbar, nicht nach außen hin dokumentierbar ist198 . Gleichwohl bleibt dieser Bereich nicht nur für den ›Genuss‹ oder einen produktiven Umgang mit eigenen Imaginationswelten von zentraler Bedeutung, sondern auch für kognitiv rückgekoppelte Verstehensprozesse unverzichtbar. Didaktisch folgert Spinner hieraus, dass »das Schaffen eines Vorstellungsbildes Voraussetzung für jeden literarischen Verstehensprozess ist«199 . Nur so könne verhindert werden, dass weiterführende Formen der unterrichtlichen Auseinandersetzung sich in einer »abstrahierenden Reduktion«200 verlieren. brennungsöfen der Vernichtungslager austretende Asche bezogen werden; zugleich erhält der Begriff aber über die Konnotation ›Tod‹ hinaus eine Leitmotivik für das gesamte Gedicht. 197 Vgl. Köster, Juliane: Was Bildungsstandards leisten können. In: Volker Frederking u. Axel Krommer (Hg.): Taschenbuch des Deutschunterrichts. Bd. 3. Baltmannsweiler: Schneider 2014. S. 209-222. S. 218f. 198 Vgl. ebd. S. 219. Köster bezieht sich hierbei zwar weniger auf die Vorstellungsbildung als auf »Empfindungen, Einstellungen, Werthaltungen, die unter individuellem inneren Vorbehalt stehen. Ihre äußeren Anzeichen können zwar erbracht werden, sind aber kein verlässliches Indiz für den Erwerb oder das Vorhandensein der intendierten inneren Ausrichtung.« Dies gilt aber auch für Prozesse der Vorstellungsbildung; denn bereits die Ausbildung basaler, vom Text her festgelegter Vorstellungen (wie etwa, soweit möglich, zentraler Elemente der Handlungsführung oder Figurencharakteristiken soweit diese nicht von Strategien des discours abhängig sind), kann nur unter Rückgriff auf begrifflich vermittelte oder visualisierende Repräsentationen dokumentier- bzw. messbar werden. Dies wird aber immer nur Teilmengen dessen umfassen, was an Vorstellungen ausgebildet wurde. Auch für von Köster als standardisierbar – und somit kompetenzorientiert vermittelbar – gekennzeichnete Operationen wie den Perspektivenwechsel gilt, dass sie nur im Verbund zu begrifflich-kognitiven Verstehensleistungen outputorientiert dokumentierbar werden. 199 Spinner: Von der Notwendigkeit produktiver Verfahren im Literaturunterricht. S. 103. 200 Ebd.

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Literarästhetische Literalität

Die Lernenden erhalten hierüber auch Einblicke darin, dass Handlungselemente, Figuren oder Schauplätze des Textes nicht nur veranschaulicht, sondern im Eindruck verstärkt, »quasi-wahrnehmbar«201 gemacht werden – und literarische Sprache dabei oftmals weniger auf begriffliche Information als auf die Evokation von Vorstellungsbildern setzt. »Literarische Wirkung geht nicht von den Informationen aus, die ein Text gibt, sondern vom Vorstellungsbild, das sich der Leser/die Leserin mithilfe der Textinformationen macht.«202 So werden zugleich bestimmte, nicht immer begrifflich fixierbare Impressionen vermittelt, etwa in Form spezifischer Stimmungen. Diesen kann eine kulturell codierte, zugleich aber nicht unbedingt bewusst reflektierte Bedeutung zufallen, über die sich etwa die Evokation solcher Stimmungen steuert. Die Untersuchung der Art und Weise, wie ein Text diese Eindrücke hervorruft, löst sich von der Rückbindung an die Erfahrungswelt der Lernenden, wenn diese nicht zugleich angeleitet werden, ihren Lektüreeindrücken zunächst auch nachzugehen und sie so selbst erfahren zu können.203 Hier ermöglicht insbesondere die Vorstellungsbildung eine in hohem Maße realisierbar werdende Individualisierung der Textzugänge.204 Auch hinsichtlich des Zusammenspiels von vorstellend-imaginativen Aneignungsformen mit kognitiv-begrifflichen Operationen gelangt ein enger Kompetenzbegriff an seine Grenzen: Die Vorstellungsbilder oder -sequenzen, die literarische Sprachverwendungsformen auslösen, sind, wie etwa im Falle nicht konventionalisierter Metaphern, häufig verfremdet, mit Symbolen oder zusätzlichen Konnotationen angereichert. Sinnund Bedeutungszuschreibungen lassen sich deshalb kaum vorhersehen, auch weil sich diese Bilder begrifflich oft nicht letztgültig auflösen lassen. Hieraus resultieren andere Anforderungen an die Vorstellungsbildung und Imagination bzw. an das Zusammenspiel dieser Vermögen mit begrifflich kognitiven Sinnzuschreibungen als die, mit denen die Schüler_innen bei alltagssprachlichen Texten konfrontiert sind.205 Das Modell einer literarästhetischen Literalität vermag dem zu begegnen und weiterreichende Lernwege und -ziele zu beiden Fähigkeiten (der Ausbildung von Vorstellungen und Imaginationen 201 Ingarden: Vom Erkennen des literarischen Kunstwerks. S. 56. 202 Spinner: Von der Notwendigkeit produktiver Verfahren im Literaturunterricht. S. 103. 203 Vgl. Köppert, Christine u. Kaspar H. Spinner: Imagination im Literaturunterricht. In: Neue Sammlung 38 (1998), H. 2, S. 155-170. S. 158. 204 Dies heben sowohl kognitionstheoretische Modelle der Lesepsychologie (vgl. hierzu die Ausführungen zu Grzesik weiter unten) als auch die Rezeptionsästhetik Isers hervor: »Selbst in der Wahrnehmung […] ›bildet‹ sich der identische Gegenstand nicht in identischer Weise in den ihn wahrnehmenden Subjekten ab. In der Vorstellungsbildung wird sich eine solche Streubreite gewiß noch stärker ausfächern. Das aber muß kein Nachteil sein; bietet sich doch hier die Möglichkeit, die subjektiven Sedimentierungen vorhandenen Wissens in höchst unterschiedlichen Lesern zu mobilisieren, um sich ihrer dann in einer bestimmten Weise zu bedienen.« Iser: Der Akt des Lesens. S. 232f. 205 Insbesondere die Lektüre von Texten, die mit Widersprüchen, Inkohärenzen oder Brüchen in der Darstellungsperspektive arbeiten oder die mit komplexen sprachlichen Bildern durchsetzt sind, kann zu einer Herausforderung für die Vorstellungsbildung werden. Den Leser_innen wird hier auch verglichen mit anderen Künsten eine »viel umfangreichere und kompliziertere Aufgabe auferlegt, als es z.B. bei der Betrachtung einer Kathedrale oder beim Hören einer Beethoven-Sonate der Fall ist«. Ingarden: Vom Erkennen des literarischen Kunstwerks. S. 229.

5. Didaktische Ziele und Vermittlungsformen literarästhetischer Literalität

sowie deren Interaktionen mit begrifflich-kognitiv vermittelten Rezeptionsformen) zu benennen. Mit Blick auf das Erstgenannte können Ziele formuliert werden, die auch den Eigenwert hervorheben, den die Vorstellungs- und Imaginationsbildung im Rahmen der Lektüre literarischer Texte erhalten kann, wie z.B. das Ziel, lebendige und differenzierte Vorstellungen auszubilden und diese imaginativ anzureichern. (Selbst wenn es gelänge, die Leistungen der Schüler_innen hier nach außen dokumentierbar zu machen – was nur unter Einbezug weiterer kognitiver Prozesse möglich wäre –, werden sie aufgrund des hohen Maßes an Individualisierung nicht standardisierbar sein; allenfalls sind einzelne Falsifikationen möglich, die figurativen Recodierungen sind aber nicht in der Form vom Text determiniert, als dass sie vollständig vorhersehbar und somit an festgelegten Kriterien messbar wären.) Auf Grundlage dieser Fähigkeit können Schüler_innen dann an Vorstellungsbildungen herangeführt werden, die zwar begrifflich-kognitiv weiterverarbeitet werden, dabei aber in ihrem Konnotationspotential nicht abschließend auf einen Begriff zu bringen sind. Über das erstgenannte Ziel ist gewährleistet, dass im Zuge begrifflich-abstrahierender kognitiver Analyseschritte auf eine reichhaltige, verschiedene Aspekte umfassende Vorstellungsbildung zurückgegriffen werden kann, um auf Textebene unterschiedlichen Spuren nachzugehen. Hierzu zählt auch ein fragend-erprobender Umgang mit Leerstellen, der sich nicht nur auf die Vorstellungsbildung und Imagination, sondern auch auf hierauf aufbauende kognitive Operationen auswirkt. Zugleich lässt sich so erreichen, dass analytische Erklärungen im Zuge von Symbolbildungsprozessen, die sich etwa damit befassen können, worin bestimmte Wirkungen gründen (wie eine spezifische Stimmung, die ein Text hervorruft, oder Sympathien, die er über die Vorstellung lenkt), auf ausreichend individuellem Erfahrungsmaterial aufbauen. Literarästhetische Literalität beinhaltet demnach auch, sich die Rolle der Vorstellungskraft im Zuge der Lektüre bewusst und die Unterschiede ihres Gebrauchs bei der Rezeption pragmatischer und literarischer Texte deutlich zu machen; etwa dahingehend, dass der Eigenwert der Vorstellungsbildung hier auch, oftmals sogar gerade, in ihrer begrifflichen Unschärfe gründet. Und nicht zuletzt kann es heißen, sich bei der Vorstellungsbildung zu beobachten, um so einen erweiterten Zugang auch zum eigenen ›Erfahrungshaushalt‹ zu erlangen. An diesen Punkten überschreitet man die Ebene der Literalität hin zu Bildungsprozessen.

5.2.1.4.

Bildungsrelevante Charakteristika

Die im Paradigma ästhetischer Literalität gegebene Offenheit des in beiden Bedeutungen des Wortes konstruktiv-spielerischen Zusammenwirkens von Einbildungskraft und Verstand ermöglicht auf Seiten der Schüler_innen drei für Bildungsprozesse maßgebliche weitere Perspektiven: die Individualisierung des Textzugangs, eine distanzierte, ggf. auch verfremdete und neu ausgerichtete Perspektivierung der repräsentierten Objekte bzw. Themenfelder eines Textes, sowie Formen von Selbstreflexion, in deren Folge zum einen die Bedingungen, zu denen die vorstellende Repräsentation erfolgte, transparent und so bewusst gemacht werden können, und zum anderen eine Auseinandersetzung auch mit eigenen Bedürfnissen oder Wünschen möglich wird.

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Literarästhetische Literalität

Zunächst zum ersten Aspekt: Wie bereits ausgeführt, enthalten figurativ repräsentierende mentale Modelle »immer subjektiv individuelle, noch nicht in die konventionelle Form der Sprache transformierte Information«206 . Werden diese zur Grundlage begrifflicher Denkoperationen, kommt der Vorstellung eine Vermittlungsfunktion nicht nur für die begrifflich-sprachlichen Recodierungen auf Wort- und Satzebene, sondern auch für die individuelle Verarbeitung »der von einem Text über einen Sachverhalt vermittelten abstrakten Information« zu.207 Sowohl auf der innertextuellen Ebene als auch hinsichtlich der Auseinandersetzung mit außerliterarischen Diskursen, auf die der Text Bezug nimmt, ermöglichen es die oben untersuchten Spezifika ästhetischer Sprachverwendung, dass sich der Aufbau einer Vorstellungswelt (unter Einschluss begrifflicher Sinnzuweisungen) im »Akt des Lesens« so vor dem Hintergrund der je individuellen Erfahrungen der Rezipient_innen konstituiert, was deren Aktivierung und persönliche Involvierung begünstigt.208 Ein zugleich distanzierter Zugang zu den repräsentierten Objekten resultiert wiederum aus dem spezifischen Gebrauch der Einbildungskraft im Zuge ästhetisch reflektierender Urteile. Die Ausbildung von Vorstellungen dient hier nicht einer kognitiven Bewältigung bestimmter Problemstellungen der ›Wirklichkeit‹, sondern ermöglicht gerade eine Distanzierung von ihr, die maßgeblich für die Rezeption und Wirkung literarischer Texte wird. Hieraus leitet Iser den literarspezifischen Gebrauch der Einbildungskraft ab: Das Bildersehen der Einbildungskraft ist folglich nicht der Abdruck von Gegenständen in unserer ›Empfindung‹, wie Hume noch zu sagen pflegte; es ist auch kein optisches Sehen im eigentlichen Sinne, sondern gerade der Versuch, sich das vorzustellen, was man als solches niemals sehen kann. Der eigentümliche Charakter solcher Bilder besteht darin, daß in ihnen Ansichten zur Erscheinung kommen, die sich im unmittelbaren Wahrnehmen des Gegenstandes nicht hätten einstellen können.209 Hinzu kommt, dass im Gegensatz zu alltagspragmatischen Kontexten, wo Vorstellungsbildungen oftmals die Funktion haben, zwar momentan nicht präsente, real aber vorhandene (und somit zumindest potentiell überprüfbare) Objekte zu vergegenwärtigen, der literarischen Fiktion häufig ein solches Referenzobjekt fehlt.210 Die so möglich werdende Distanzierung von der Außenwelt (die auch Folge ihrer vom literarischen Text Ausgang nehmenden Verfremdung ist) vermag andererseits, sofern sich die Lernenden individuelle Zugänge zum Text erarbeiten können, zugleich mit einem hohen Grad an innerer Involviertheit einherzugehen. »[I]ndem wir uns etwas vorstellen, sind wir zugleich in der Präsenz des Vorgestellten; denn dieses existiert während seines Vorgestelltseins nur durch uns, so daß wir in der Gegenwart dessen sind, was wir hervorgebracht haben.«211 Es ist diese Dialektik zwischen äußerer Distanz und innerer Beteiligung, die nicht nur der Auseinandersetzung mit dem Text zugrunde liegt, sondern 206 207 208 209 210 211

Grzesik: Textverstehen lernen und lehren. S. 85. Vgl. ebd. S. 81. Vgl. Iser: Der Akt des Lesens. S. 232f. Ebd. S. 221f. Vgl. ebd. S. 228. Ebd. S. 225.

5. Didaktische Ziele und Vermittlungsformen literarästhetischer Literalität

aus der zugleich auch das große Potential literarästhetischen Lernens für Bildungsprozesse mit hervorgeht. Hierüber ergibt sich die Möglichkeit, Elemente der eigenen Lebenswelt in neuen Zusammenhängen zu sehen, aber auch die Begrenzungen der Gegenwart aufzuheben. Dies »entspricht dem Bedürfnis der Menschen, sich nicht mit der Wirklichkeit, an die sie gebunden sind, zu begnügen; im Imaginieren werden die Beschränkungen der gegebenen Lebenssituation überwunden, es entspringt einem Bedürfnis nach Freiheit«212 . Resultat dessen kann eine Art von kontemplativer Versenkung in diese Vorstellungsund Imaginationswelten sein, die als bereichernd empfunden wird.213 Infolge der neu gewonnenen Perspektiven kann es Schüler_innen aber zugleich auch die Veränderbarkeit der ›realen‹ Welt aufzeigen, die in alltäglichen Handlungen allzu oft als gegeben hingenommen wird. In seinem Aufsatz Von der Notwendigkeit produktiver Verfahren im Literaturunterricht schildert Spinner den Fall eines Jungen, der auf die Aufforderung, seine Wünsche aufzuschreiben, vor einem leeren Blatt sitzenbleibt. Auf meine Frage, ob er denn nicht etwas hätte, was er sich wünsche, antwortete er, er wüsste nichts, er wünsche sich nichts. Diese Äußerung eines Jungen, der gerade nicht in glücklichen Lebensverhältnissen lebte, zeigt, wie sogar die Kraft des Wünschens verloren gehen kann, wenn sich ein Kind in seiner Umwelt nicht entfalten kann.214 Die Schulung der Imaginationsfähigkeit in der Auseinandersetzung mit literarischen Texten vermag einem solchen »passive[n] Hinnehmen«215 entgegenzuwirken, indem es Wünsche und Vorstellungen einer anderen, ›besseren‹ Welt überhaupt erst zu wecken vermag – und hierüber auch die Möglichkeit, sich selbst imaginativ neu zu erfahren. Um zu verhindern, dass sich die Imaginationen dabei entweder gänzlich von den Textvorgaben lösen216 und/oder im Kontext des zeitlichen Kontinuums der Lektüre 212

Spinner, Kaspar H.: Ästhetische Bildung und Literaturunterricht. In: Carola Rieckmann u. Jessica Gahn (Hg.): Poesie verstehen. Literatur unterrichten. Baltmannsweiler: Schneider 2013. S. 17-34. S. 24. 213 In der literarästhetischen Rezeption entspricht die Bedeutung der Imagination und ihrer zumindest teilweisen Kompensationsfunktion direkt sinnlicher Affektion weitgehend dem, was Kleimann als Grundlage impressiven Ausdruckserlebens für die Ebene der »selbstzweckhaften Wahrnehmung der Anmutungsqualität von Gegenständen aller Art« ansieht: »Die impressiv erlebten Gegenstände und Räume sind […] ausdrucksvolle Gestalten, von denen affektive, gestische, kinetische und andere Anmutungen ausgehen. Ihnen eignet daher ein nicht symbolisch verfaßter, sondern perzeptiv-synästhetisch gegebener Sinn, der nicht eigens verstanden werden muß, sondern in der Wahrnehmung [für die Literatur wäre zu ergänzen: in der Vorstellung resp. Imagination, Zusatz C. B.] selbst unmittelbar gegeben ist.« Kleimann: Das ästhetische Weltverhältnis. S. 101f. 214 Spinner: Von der Notwendigkeit produktiver Verfahren im Unterricht. S. 98f. 215 Ebd. S. 99. 216 Auf eine solche Gefahr macht Ingarden aufmerksam. Für ihn besteht die Funktion der Imagination darin, »sich den vom Werk ausgehenden Suggestionen und Direktiven zu fügen und keine ganz beliebigen, sondern die durch das Werk suggerierten Ansichten zu aktualisieren. Er [der Leser] ist freilich dabei durch das Werk selbst nie völlig gebunden.« (Ingarden: Vom Erkennen des literarischen Kunstwerks. S. 57.) Durch das Fehlen eines vorgefundenen, sinnlich wahrnehmbaren Objekts sind diese Spielräume in der individuellen Realisierung vermutlich größer als in anderen Kunstformen, zugleich wächst hierdurch aber auch die Gefahr, am Objekt ›vorbeizuimaginieren‹. Sie ist insbesondere für Schüler_innen groß, die oftmals noch eine lebendigere Phantasie als Er-

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Literarästhetische Literalität

nicht für Modifikationen angemessen offen und variabel gehalten werden, sollten die Lernenden zunehmend dazu angeleitet werden, eine Ebene der Selbstreflexion in der Generierung von Vorstellungen und Imaginationen auszubilden, sich quasi selbst hierbei zu beobachten. Didaktisch lässt sich dies etwa in der Form leisten, dass Schüler_innen mit ihren eigenen Vorstellungs- und Imaginationstätigkeiten (oder auch denen ihrer Mitschüler_innen) konfrontiert werden und so in einen reflexiven Bezug hierzu gelangen. Zugleich können sowohl Bedingungen des Aufbaus von Vorstellungs- und Imaginationswelten als auch mögliche Reaktionen hierauf in ihrer Entstehung zur bewussten Wahrnehmung gelangen. Dies ermöglicht Einblicke in (evtl. zuvor unbewusste) biographisch oder kulturell vermittelte Grundlagen und Prozesse der eigenen Vorstellungsund Imaginationsbildung.217 Da die Lernenden im Prozess der Lektüre auf etwas Bezug nehmen, das sie selbst hervorgebracht haben218 , werden sie in ein Verhältnis zu den Bedingungen gesetzt, zu denen der Aufbau der Vorstellungswelt erfolgt(e). Sie haben so die Möglichkeit, sich ihrer eigenen habituellen Dispositionen bewusst zu werden und in eine kritische Distanz zu ihnen zu gelangen. Hinsichtlich spezifischer Stimmungen lässt sich etwa fragen, weshalb es zu individuell verschiedenen Vorstellungen kommt. Auch im Falle von Leerstellen und Negationen kann dies gelingen, da infolge der durch sie hervorgerufenen veränderten Kontextualisierungen, die den Aufbau neuer Vorstellungen, abgewandelter Perspektiven ermöglichen, eine Reflexion des Konstruktcharakters konventionell etablierter Sichtweisen erfolgt. Beim Umgang mit nicht konventionalisierten Metaphern lässt sich ebenfalls eine Reflexion der eigenen Recodierungen erreichen. Weil die Bezüge zwischen Bildspender und -empfänger erst im Lektüreprozess konstituiert werden, kann »die Aufmerksamkeit auf das Tun des Lesers bzw. der Rezipientin und deren Konstruktivität gelenkt«219 werden. Ein solches Aufmerksamwerden auf eigene Vorstellungswelten und Stimmungen, die ein Text hervorruft, befördert in dem Moment, in dem man sich der auslösenden Faktoren analytisch vergewissert, das bildungsrelevante Ziel der Ausbildung einer größeren Ich-Bewusstheit. Indem die Schüler_innen sich und ihre nicht bewusst gesteuerten Reaktionen genauer kennenlernen, sind sie auch vor möglichen Manipulationen der Vorstellungsbildung besser geschützt.

5.2.2.

Umsetzung am Beispiel des textnahen Lesens

Lernprozesse zur Vorstellungs- und Imaginationsbildung können grundlegend auf zwei verschiedenen Wegen befördert werden: Zum einen ist dies möglich in Form einer Anregung zur eigenen Vorstellungsbildung, textunabhängig etwa in Form von Phantasier-

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wachsene haben und zudem in der Fähigkeit, ihre Imaginationen mit der Textgrundlage kritisch abzugleichen, nicht so geübt sind wie Expertenleser_innen. »Die Vorstellungen der Schülerinnen und Schüler werden nicht einfach abgerufen, sondern durch entsprechende Unterrichtsverfahren bewusst gemacht, denn oft ist man sich nur halb der Vorstellungsbilder bewusst, die man in sich trägt.« Kaspar H. Spinner: Vorwort. In: Schubert-Felmy: Wege der Imagination – Lesewege. S. 5f. S. 5. Vgl. vor dem Hintergrund wirkungsästhetischer Überlegungen Iser: Der Akt des Lesens. S. 210. Pieper: Metaphern im Literaturerwerb. S. 129.

5. Didaktische Ziele und Vermittlungsformen literarästhetischer Literalität

eisen oder Assoziationsübungen, textgebunden etwa durch verzögerte Lektüreformen, die Raum hierfür bieten (z.B. durch eine Arbeit mit Texten, die abgebrochen oder mit Lücken versehen wurden und so ergänzt bzw. fortgeführt werden müssen oder das gezielte Setzen von Pausen im Vortrag220 ), und anschließenden Arbeitsphasen, in denen Gelegenheit gegeben wird, die inneren Vorstellungswelten in sprachlicher, graphisch darstellender, musikalischer oder szenischer Form mitzuteilen und sich hierüber mit anderen auszutauschen. Dies kann sowohl auf Textbasis geschehen als auch – etwa in Form einer Anleitung zu Perspektivwechseln – die vom Text vorgegebene Ordnung bewusst verlassen. Ein zweiter Weg führt über die Konfrontation mit zur Verfügung gestellten oder von den Schüler_innen selbst ausgewählten Materialien Dritter. Sie können hier ihre eigenen Vorstellungen über Rückgriff etwa auf Textillustrationen, Fotocollagen oder Musikstücke zum Ausdruck bringen, sie erweitern oder im Spiegel dieser Produkte auch kritisch reflektieren. Auf dieser Grundlage lassen sich vor allem zwei Unterrichtsverfahren ausmachen, die dem Bereich der Vorstellungs- und Imaginationsbildung förderlich sind, und sich, da sie sich dem Text auf unterschiedliche Art nähern, gegenseitig ergänzen. Das textnahe Lesen findet in der Regel zu Zwecken einer genauen Textanalyse (oder zumindest kognitiv-begrifflich rückgebundener Formen der Auseinandersetzung) Verwendung, wozu es sich auch in besonderer Art und Weise eignet.221 Es kann infolge der zeitlichen Verzögerung und Deautomatisierung des Leseprozesses aber auch einer Beförderung von Vorstellungsbildung und Imagination bei gleichzeitiger Fokussierung auf die Textvorlage dienen. Im Folgenden wird es am Beispiel des interlinearen Lektürekommentars222 und eines kommentierenden Schreibens nach Wiederholungslektüren auch deshalb ausgewählt, um das Zusammenspiel von figurativen und begrifflichen Repräsentationsformen anhand konkreter Rezeptionsbeispiele näher zu verfolgen. Handlungs- und produktionsorientierte Verfahren müssen zu diesem textorientierten Verfahren in keinem Widerspruch stehen. Einerseits können den Schuler_innen im eigenen Schreib- oder Handlungsprozess Sichtweisen, Handlungsgänge oder vom Text evozierte Stimmungen in ihrer Vorstellung präsent und mitteilbar gemacht werden, andererseits können durch solche Verfahren auch Unbestimmtheitsstellen oder ausgesparte Beziehungen, Leerstellen im Sinne Isers, zwischen den jeweilig zur Darstellung gebrachten Ansichten bewusst aktualisiert und ausgestaltet werden. Da das Potential dieser Verfahren in der Forschung eingehend dargestellt und diskutiert ist, konzentriere ich mich hier im Weiteren auf das textnahe Lesen. Dabei werden in der abschließenden didaktischen Reflexion aber auch Möglichkeiten thematisiert, wie diese Form der Auseinandersetzung mit handlungs- und produktionsorientierten Verfahren verbunden und durch sie ergänzt werden kann. 220 Vgl. Spinner, Kaspar H.: Thesen zur ästhetischen Bildung im Literaturunterricht heute. In: Der Deutschunterricht 50 (1998), H. 6, S. 46-54. S. 51. 221 Vgl. hierzu insbesondere die unten aufgeführten Schriften von Elisabeth K. Paefgen. 222 Vgl. spezifisch zu diesem Verfahren auch Carlo Brune: Textnahes Lesen und »Praxis des Schreibens« (Roland Barthes): Der interlineare Lektürekommentar als Weg der Literaturvermittlung am Beispiel von Franz Kafka: Ich bin zurückgekehrt. In: Ingrid Barkow, Michael Gans u. Roland Jost (Hg.): »Es ist eine alte Geschichte / Doch bleibt sie immer neu« (H. Heine) – Begegnung(en) in und mit Literatur(en). Baltmannsweiler: Schneider (in Vorb.).

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Literarästhetische Literalität

5.2.2.1.

Das Verfahren des textnahen Lesens nach Paefgen und seine Modifikationen

Das textnahe Lesen kann aus unterschiedlichen literaturtheoretischen Überlegungen abgeleitet, verschiedenartig umgesetzt werden und auch divergente Ziele verfolgen.223 Elisabeth K. Paefgen, die den Begriff in der literaturdidaktischen Diskussion der letzten 25 Jahre nachhaltig geprägt hat224 , beruft sich auf ein prominentes Beispiel, und zwar die Lektüre der Balzac-Erzählung Sarrasine von Roland Barthes in S/Z.225 Ihr Ziel ist eine Abkehr vom strukturalistischen »Hin und Her von Modell und Spielart«, in deren Folge der Text auf den Nachweis bestimmter Funktionsstrukturen reduziert wird, um ihn stattdessen »auf seine unendlichen Spielmöglichkeiten […] zurückzuführen«226 . Barthes geht es dabei ausdrücklich nicht um eine hermeneutische ›Exegese‹ des Textes, um das Auffinden seines (verborgenen) ›Sinns‹, denn dieser bleibt zurückgebunden an das sich in der Lektüre vollziehende kommentierende Schreiben, das der Bewegung der Signifikanten folgt und somit nur als Verlaufsprozess zu denken ist: »der Sinn gleitet, bedeckt und schreitet gleichzeitig voran; anstatt ihn zu analysieren, sollte man ihn im Gegenteil durch seine Ausbreitungen beschreiben«227 . Und hierbei richtet sich Barthes’ Lektüre an einer »Praxis des Schreibens« und »des Schreibenden«228 aus. 223 Vgl. hierzu die Sammlung verschiedener Ansätze in dem Band von Jürgen Belgrad u. Karlheinz Finger (Hg.): Textnahes Lesen. Annäherungen an Literatur im Unterricht. Baltmannsweiler: Schneider 1998. Die Herausgeber unterscheiden zwischen dekonstruktivistischen, produktionsorientierten, soziologischen und psychologischen Lesarten. (Vgl. ebd. S. 10-13.) Vgl. zu dem Konzept weiterhin Michael Kämper-van den Boogaart: Textnahes Lesen. In: Volker Frederking, Axel Krommer u. Christel Meier (Hg.): Taschenbuch des Deutschunterrichts. Bd. 2: Literatur- und Mediendidaktik. S. 271282. 224 Vgl. Kämper-van den Boogaart: Textnahes Lesen. S. 272 unter Bezug auf die Sektion »Konzepte textnaher Arbeit an Literatur« im Kontext des Symposions Deutschdidaktik 1996 in Berlin, aus der der von Jürgen Belgrad und Karlheinz Fingerhut herausgegebene Band Textnahes Lesen hervorging: »Lässt sich im Primat einer intensiven Rezeption des Primärtextes konsequenterweise eine Gemeinsamkeit der textnahen Lektürevorschläge von 1996 ausmachen, so tut man sich schwerer dabei, weitere Affinitäten auszuweisen. Ein allgemeineres Programm lieferte allerdings Elisabeth K. Paefgen im Anschluss an die Sektionsdiskussionen. Ihre pointiert formulierten sechs Thesen prägen deshalb bis heute nachhaltig die Diskussion über die Forderung textnahen Lesens.« Vgl. zum Ansatz Paefgens summarisch Elisabeth K. Paefgen: Textnahes Lesen und Rezeptionsdidaktik. In: Michael Kämper-van den Boogaart (Hg.): Deutsch-Didaktik. Leitfaden für die Sekundarstufe I und II. Völlige Neubearbeitung. Berlin: Cornelsen Skriptor 2008. S. 199-215. 225 Barthes: S/Z. Der Text wird hier in kleinste Einheiten, sog. Lexien zerlegt, deren Länge von nur wenigen Worten bis zu einigen Sätzen reichen kann. An anderer Stelle werden sie von Barthes als »Lektürefragment[e]« bezeichnet und wie folgt definiert: »Die Lexie ist ein willkürliches Produkt, sie ist einfach ein Segment, innerhalb dessen man die Verteilung der Bedeutungen beobachtet; was die Chirurgen als Operationsfeld bezeichnen würden […].« (Barthes: Textanalyse einer Erzählung von Edgar Allen Poe. S. 268.) Diese werden dann auf Grundlage verschiedener Codes, »STIMMEN, aus denen der Text gewebt ist« (Barthes: S/Z. S. 25), in der Lektüre kommentierend fortgeschrieben. Barthes bezeichnet die Lexien als »Kammlinie[n] des pluralen Textes« (ebd. S. 18) und die Codes an anderer Stelle als »Zufahrtsstraßen des Sinns« (Barthes: Textanalyse einer Erzählung von Edgar Allen Poe. S. 267). 226 Barthes: S/Z. S. 7. 227 Ebd. S. 96. 228 Ebd. S. 8.

5. Didaktische Ziele und Vermittlungsformen literarästhetischer Literalität

S/Z liest sich so in der Tat, wie Paefgen hervorhebt, »stellenweise wie eine literaturdidaktische Programmerklärung, die jene literaturbezogenen Arbeitsformen des Lesens und Schreibens aufwerten will und die theoretisch zu begründen versucht, warum diese beiden Tätigkeiten so untrennbar miteinander verwoben sind«229 . Sie adaptiert Teile dessen für ihr Modell des textnahen Lesens, setzt dieses aber in einen Kontrast zu einer »rezeptionsdidaktische[n] Ausrichtung des Literaturunterrichts«, die die »Leserinteressen« akzentuiere.230 »Während für textnahe Leseprozesse reflektiert wird, welche sprachlichen Elemente des jeweiligen Textes irritierend sein könnten bzw. sollten, geht es in der rezeptionsdidaktischen Orientierung eher darum, welche inhaltlichen Momente auf welche Resonanz bei dem Schülerpublikum stoßen.«231 An diesen Gegensatz von Text und Leser_in sowie implizit auch von textnahem Lesen und (vermeintlich) textfernem handlungs- und produktionsorientierten Unterricht232 schließt sich der eines »unbequeme[n] Lesen[s], dessen Vergnügen im mühseligen Erkennen liegt«233 , zu einem unbefangenen und unbelasteten Zugang234 zum Text an. Diese Opposition fasst Paefgen in zwei Bilder: Vom »Lesen im Bett, am Strand, auf dem Sofa« grenzt sie das geradezu preußisch diszipliniert anmutende textnahe Lesen ab, bei dem der Leser »seinen Lektürevorgang unter bestimmten Bedingungen startet und ihn – um ganz konkret zu werden – am Tisch in aufrechter Haltung sitzend und mit Schreibinstrumenten versehen durchführt«235 . Zugleich ist sie es aber auch selbst, die diesen Gegensatz andernorts hinterfragt, wenn sie anmerkt, dass »das eindringlichste Beispiel für eine akribische textnahe Lektüre – Roland Barthes: S/Z […] – und das leidenschaftliche Plädoyer für eine Lust am Text […] von ein- und demselben Autor [stammt]«236 und ausführt: »Daß diese mühse229 230 231 232

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Paefgen: Textnahes Lesen und Rezeptionsdidaktik. S. 206. Vgl. ebd. S. 199. Ebd. S. 200. Zum rezeptionsdidaktischen Ansatz heißt es: »Es geht darum, die Lernenden für literarische Lektüreunternehmungen zu motivieren und den Unterricht so zu organisieren, dass eine angeregte und breite Beteiligung möglichst vieler Schüler stattfinden kann: Meistens wird Raum für die mündliche, schriftliche, spielende, musizierende oder malende Darbietung des jeweiligen individuellen und subjektiven Literatur-Verstehens eingeplant.« Ebd. Paefgen, Elisabeth K.: Textnahes Lesen. 6 Thesen aus didaktischer Perspektive. In: Jürgen Belgrad u. Karlheinz Finger (Hg.): Textnahes Lesen. Annäherungen an Literatur im Unterricht. Baltmannsweiler: Schneider 1998. S. 14-23. S. 16. Vgl. Paefgen: Textnahes Lesen und Rezeptionsdidaktik. S. 200. Paefgen: Textnahes Lesen. S. 16. Eine explizite Abgrenzung zum »identifikatorischen, lustvollen, stillen Leseprozeß« findet sich ebenso an späterer Stelle (vgl. ebd. S. 20). Auch hier ist an Paefgen die Frage zu richten, ob die Opposition, die der folgende Satz mit Blick auf dramatische Texte aufbaut, zu halten ist: »Der Leser muß zu viele Leerstellen füllen, als daß ihm das Lesen bloßes Vergnügen sein könnte.« (Ebd.) Gewiss ist die Einschränkung »bloßes Vergnügen« (Hervorhebung C. B.) geeignet, um ein rein sinnliches Genusslesen von einer »Lust am Text«, wie sie Barthes vor Augen steht, abzugrenzen. Dennoch eröffnen Leerstellen – wohl dosiert – aber gerade auch für Schüler_innen Möglichkeiten, den Text mit Eigenem zu verbinden und so Interesse, »Lust« am genauen Lesen zu entwickeln. Paefgen, Elisabeth K.: Einführung in die Literaturdidaktik. Stuttgart, Weimar: J. B. Metzler 1999. S. 94.

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lige, auf die Sprache bezogene Lesearbeit eine Lust am inhaltlichen Lesen fördern und unterstützen kann, wird […] vielleicht zu wenig berücksichtigt und bedacht […].«237 Dem Erreichen dieses Ziels ist eine konzeptuelle Veränderung dienlich, die eine Abkehr von der primären Fokussierung auf begrifflich-kognitive Verstehensprozesse beim textnahen Lesen im Modell Paefgens betrifft, der auch die Abgrenzung zum »kindlichevasiven Flucht- und Genuß-Lesen« zugrunde liegt und die sich ausdrücklich gegen eine Ausrichtung der Lektüre an »Phantasie« und Imagination richtet.238 So sehr Paefgen darin zuzustimmen ist, dass man der »Notwendigkeit eines ›denkenden Lesens‹« auch bei verschiedenartig ausgerichteten literaturtheoretischen Rahmungen des textnahen Lesens »die Zustimmung nicht [wird] versagen« können239 , so ist doch zu prüfen, ob dem Modell das Postulat eines vorstellend-imaginativen Lesens nicht entgegen, sondern vielmehr gewinnbringend an die Seite gestellt werden kann.240 Denn gerade die Ausbildung einer reichhaltigen Vorstellungsbildung, auch wenn diese zunächst auf der inhaltlichen Ebene (etwa beim Handlungsgang oder den Protagonisten) ansetzt, kann dann, wenn dies mit Reflexionsaufgaben gekoppelt wird, den Blick wieder zurück auch auf kognitiv zu erschließende sprachliche Gestaltungsmittel lenken, die diese Eindrücke hervorgerufen haben; nun aber unter Rückbezug auf die individuellen Vorstellungen und Zugänge.241 Wird dies mit Schreibprozessen, die 237 Ebd. In eine ganz ähnliche Richtung zielt bereits das einer Vorlesung Vladimir Nabokovs entlehnte Motto, das Paefgen ihren 6 Thesen aus didaktischer Perspektive voranstellt: »Lest gründlich, liebkost die [/] Einzelheiten, die erhabenen [/] Einzelheiten.« (Paefgen: Textnahes Lesen. S. 14.) Vgl. hierzu auch Kämper-van den Boogaart: Textnahes Lesen. S. 274. 238 Vgl. Paefgen: Textnahes Lesen. S. 15. 239 Ebd. 240 Spinner führt in diesem Zusammenhang eine Korrespondenz zwischen Schiller und Körner an, in der dieser über »Unfruchtbarkeit« seiner schriftstellerischen Ambitionen klagt. Die Antwort Schillers lautet: »Der Grund Deiner Klagen liegt, wie mir scheint, in dem Zwang, den dein Verstand deiner Imagination auflegte. Ich muß hier einen Gedanken hinwerfen und ihn durch ein Gleichniß versinnlichen. Es scheint nicht gut und dem Schöpfungswerke der Seele nachtheilig zu seyn, wenn der Verstand die zuströmenden Ideen, gleichsam an den Thoren schon zu scharf mustert.« Friedrich Schiller: Brief an Körner vom 1. Dez. 1788. In: Schillers Werke. Nationalausgabe. Bd. 25: Briefwechsel 1.1.1788-28.2.1790. Hg. v. Eberhard Haufe. Weimar: Hermann Böhlaus Nachfolger 1979. S. 148-151. S. 149. Vgl. Kaspar H. Spinner: Kreatives Schreiben. In: ders.: Kreativer Deutschunterricht. S. 108-125. S. 119. 241 Anknüpfungspunkte hinsichtlich einer Verbindung zu Schreibprozessen liefert Karl-Heinz Fingerhut in seinem Aufsatz L-E-S-E-N: Fachdidaktische Anmerkungen zum ›produktiven Literaturunterricht‹ in Schule und Hochschule. Er geht hier einem Konzept nach, dass die Möglichkeiten eines an Formen textnahen Lesens angebundenen heuristischen Schreibens auszuschöpfen versucht, gerade indem der Gegensatz von (literarisch rezipierten) »Begriffen« und (im Schreiben entworfenen) »Bilder[n]« aufgelöst wird. (Karl-Heinz Fingerhut: L-E-S-E-N: Fachdidaktische Anmerkungen zum »produktiven Literaturunterricht« in Schule und Hochschule. In: Michael Kämper-van den Boogaart [Hg.]: Das Literatursystem der Gegenwart und die Gegenwart der Schule. Baltmannsweiler: Schneider 1997. S. 98-125. S. 102.) Die Arbeit hiermit unterscheidet sich zwar zunächst von Formen textnahen Lesens, wie sie Barthes in S/Z praktiziert, insofern die Leser_innen sich nicht gleichsam in den Text ›einhaken‹, sondern der Schreibprozess auf den gesamten Text Bezug nimmt und nicht auf einzelne Fragmente resp. Lexien. Doch lässt sich Fingerhuts Ansatz der Impuls entnehmen, einen Ausgleich zwischen dem »Lerngegenstand und Lerner-Subjekt« in der Form zu schaffen, dass »im Prozeß des phantasierenden Aus- und Umgestaltens« die Lernenden am Ende sowohl mehr

5. Didaktische Ziele und Vermittlungsformen literarästhetischer Literalität

nur dann dem Klassenverband vorgestellt werden, wenn dies gewünscht ist, gekoppelt, ist eine Form der Textarbeit gefunden, bei der alle Schüler_innen unter Schutz ihrer Privatsphäre zunächst ihre eigenen Erfahrungen mit dem Text sammeln können.242

5.2.2.2.

Die Arbeit mit Lektüreprotokollen am Beispiel eines Deutschkurses (Jgst. 11)

Wie sehr textnahes Lesen in Verbindung zu Schreibprozessen auch die Vorstellungsund Imaginationsentwicklung fördert, wenn diese Bereiche explizit mit in die Aufgabenstellung aufgenommen werden, sei im Folgenden anhand eines Verfahrens vorgestellt, das sowohl mit Schüler_innen als auch mit Studierenden mehrfach erprobt wurde. Es setzt an einem interlinearen Lektürekommentar, einer kleinschrittigen, im freien Schreiben den Text sukzessiv kommentierenden ersten Begegnung an, der dann Wiederholungslektüren und weitere Schreibprozesse, die den gesamten Text zur Grundlage nehmen, folgen. Diese spezifische Form eines Lektüreprotokolls diente mir anfangs dazu, Abläufe während des Rezeptionsprozesses literarischer Texte – vergleichbar dem lauten Denken, nun aber in schriftlicher Form – genau abzubilden. Dem steht allerdings entgegen, dass die für den Schreibprozess notwendigen mentalen Prozesse eine zusätzliche Hürde für eine unmittelbare Nachbildung von Lektüreeindrücken darstellen; und auch dann, wenn das Laute Denken dies ebenfalls nur unter Vorbehalten leisten kann243 , ist dieses Verfahren dem Ziel vermutlich zuträglicher. vom Text als auch »mehr von sich selbst wissen und verstanden haben, als diejenigen, die nur über schulische Interpretationsrituale« mit dem Text »bekanntgeworden sind« (ebd. S. 116). Um dieses Ziel zu erreichen, bettet Fingerhut sein Konzept in eine didaktische Phasierung ein, für die die im Titel aufgeführte Formel L − E − S − E − N steht, »wobei das L (=lesen) die Textlektüre, das erste E (=erörtern 1) die erste freie und ungeordnete Aussprache, und zwar ganz im Sinne der traditionellen hermeneutischen Tradition, bildet. Das in der Mitte stehende S steht für die aufgabengeleitete Schreibaktion (=schreiben) der Mitglieder der Lerngruppe, das zweite E (=erörtern 2) ist zentral für das Konzept. Es umfaßt die Texterörterung unter Einschluß der in der Lerngruppe entstandenen Eigentexte. Das Ziel dieses Interpretationsgesprächs ist das abschließende N. Es steht für ›Nacharbeiten‹. Dieses Nacharbeiten kann eine diskursive Darstellung sein (also nacharbeiten = Interpretation), es kann aber auch eine Überarbeitung des Eigentextes umfassen (also nacharbeiten = den eigenen Text optimieren).« Ebd. S. 117. 242 Vgl. hierzu Waldmann: Produktiver Umgang mit Literatur im Unterricht. S. 33. Waldmann arbeitet diese Möglichkeiten mit Blick auf produktionsorientierte Zugänge heraus, zu denen das textnahe Lesen nicht unmittelbar gerecht werden kann, aber dann, wenn es sich mit Schreibaufgaben verbindet, zumindest Berührungspunkte aufweist. 243 Diese Vorbehalte seien hier nur kurz umrissen. Erstens werden literarische Leser_innen einen Text in der Regel für sich, weitgehend abgeschlossen von allen sozialen Interaktionsprozessen lesen. Die Versuchsanordnung beim Lauten Denken bricht diese von Zurückgezogenheit und Zurückverwiesenheit auf die eigenen Gedanken geprägte Konstellation auf. Eine zweite hiermit verbundene Problematik besteht in der Gefahr, dass die Probanden den vermeintlichen Erwartungen des Versuchsleiters gerecht zu werden versuchen und so in ihren Äußerungen evtl. Selbstzensur üben. Ein dritter Punkt betrifft die – allerdings nicht durchgehend so praktizierte – Vorgabe einer abschnittsweisen Strukturierung des Bezugstextes. Unabhängig davon, ob dies in Form eines Satzfür-Satz-Umbruchs oder nach kurzen Text- oder Sinnabschnitten geschieht (vgl. Tobias Stark: Lautes Denken in der Leseprozessforschung. Kritischer Bericht über eine Erhebungsmethode. In: Didaktik Deutsch 16 [2010] H. 29, S. 58-83. S. 63), immer wird hierüber der ›natürliche‹ Prozess der Lektüre beeinflusst, was bis hin zu einer Vorstrukturierung eines spezifischen Textverständnisses

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Die oftmals hohe Qualität insbesondere der interlinearen Lektürekommentare und die Motivation, Texte in dieser Form zu bearbeiten, die nicht nur bei vielen Studierenden, sondern auch bei Schüler_innen zu beobachten war, spielten in den ersten Versuchsreihen aber einen ganz anderen Aspekt in den Vordergrund: Es zeigte sich, dass diese Form der schreibend-kommentierenden und sehr offenen Form mit dem Text umzugehen bei denen, die sich auf den Arbeitsauftrag einließen, zu einer Intensivierung der Auseinandersetzung mit dem Text führte, häufig insbesondere auf dem Gebiet der Vorstellungsbildung und Imagination sowie ihrer Anbindung an begrifflich vermittelte Sinnzuweisungen.244 Auch wenn die Einschränkung zu machen ist, dass der mit der Verbalisierung verbundene mediale Wechsel vom inneren Bild zur Schrift die Vorstellungen fixiert, vielleicht nur vage Codiertes eindeutiger werden lässt245 , so bietet die freie Form des schreibenden Lesens zwei Vorteile: Zum einen kann der Lektüreprozess jederzeit frei unterbrochen werden, um den inneren Eindrücken nachzugehen. Zum zweiten vermag das Schreiben eine Vertiefung von Vorstellungs- und Imaginationstätigkeiten zu bewirken, da es die Rezeptionszeit verlängert. Als Grundlage für eine unterrichtspraktische Studie zu dem Verfahren wurde die aus dem Nachlass Kafkas stammende Erzählung, die mit den Worten Ich bin zurückgekehrt beginnt und von Max Brod 1936 unter dem Titel Heimkehr veröffentlicht wurde, ausgewählt. Gründe hierfür waren folgende: 1. Sie ist reich an sprachlichen Bildern, die konkret in der Vorstellung repräsentiert werden können, aber auch hierüber hinausgehende implizite Bedeutungsebenen enthalten und Stimmungen evozieren. 2. Der Text bietet einerseits sprachlich keine großen Hürden für die Rezeption, ist andererseits aber über Unbestimmtheits- und Leerstellen ausreichend offen insbesondere für eine sich an die Vorstellungstätigkeit anschließende Imaginationsbildung gehalten, sodass er auch in dieser Hinsicht gut zu bearbeiten ist. 3. Seine Thematik, eine Distanz zum Kreis der eigenen Familie, die nicht mehr mögliche Rückkehr in die Geborgenheit der Kindertage und die hieraus resultierende Form von bewusst gewähltem Abstand kann für Schüler_innen in diesem Alter zumindest ein Thema sein, mit dem sie im Verlauf ihrer Pubertät bereits konfrontiert wurden; auch wenn die Art und Weise, wie der Text dies ausgestaltet, in Form einer Heimkehr nach offenbar längerer auch räumlicher gehen kann. Auch wird in den Fällen, wo den Probanden nicht der gesamte Text durchgehend vor Augen steht, ein Abruf von Informationen aus dem Arbeitsgedächtnis, die aus bereits gelesenen Textpassagen stammen und zu den nun wahrgenommenen hinzugezogen werden könnten, erschwert. 244 Das wurde mir von der Mehrzahl der Probanden auch in Nachbesprechungen mitgeteilt; manche Studierende, aber auch Schüler_innen, sprachen davon, dass sie für sich eigentlich zum ersten Mal einen Text derart intensiv gelesen hätten. 245 Vgl. Schubert-Felmy, Barbara: Wege der Imagination – Lesewege. Augsburg: Wißner 2001. S. 20. Gewiss zu Recht wird hier darauf hingewiesen, dass »die Sprache unter Umständen nur unvollkommen in der Lage ist, ein inneres Bild in seiner multimodalen Vielfalt wiederzugeben. Veräußerte, aktualisierte Vorstellungen unterscheiden sich also von den inneren Vorstellungsbildern.« Diese Einschränkung dürfte allerdings für jede Form von Veräußerlichung innerer Vorstellungs- und Imaginationstätigkeiten gelten, da dies immer eines anderen Mediums bedarf, das einer Eins-zueins-Abbildung Grenzen setzt; was sich am Beispiel von Visualisierungen zeigen lässt. Hier kann das jeweilige zeichnerische Talent einer Abbildung vielleicht sogar noch größere Grenzen setzen als im Falle einer sprachlichen Encodierung.

5. Didaktische Ziele und Vermittlungsformen literarästhetischer Literalität

Trennung, für sie allermeist (noch) keinen eigenen Erfahrungshintergrund bietet. Der Text ermöglicht Schüler_innen infolge der Negation eines kulturell konventionalisierten Begriffsverständnisses von Heimat und Familie eine Reperspektivierung, die ihnen bei der Auseinandersetzung mit eigenen Erfahrungen hilfreich sein kann. 4. Schließlich ist die Erzählung auch durch ihre Kürze dafür prädestiniert, in Form des hier vorgestellten textnahen Lesens bearbeitet zu werden. In den Lektüreprotokollen sollten Eindrücke während der Erst- und nach weiteren Wiederholungslektüren festgehalten werden. Hintergrund war hier die Überlegung, die Textrezeption noch einmal zu intensivieren und die Veränderungen zwischen Erst- und Wiederholungslektüren auch für die Lernenden dahingehend sichtbar zu machen, dass in den Folgelektüren eine Distanz zum Text möglich wird, die aufgrund des unmittelbaren Verstricktseins in seinen Fortgang während der ersten Lektüre nicht gegeben ist. Auf eine Nennung des Autorennamens wurde aufgrund der Befürchtung, dass die Schüler_innen dann ›reflexhaft‹ die ihnen aus dem Unterricht evtl. bekannte ›Vaterproblematik‹ auf den Text projizieren, bewusst verzichtet. Die Protokolle wurden von einem Deutschgrundkurs der Jahrgangsstufe 11 am Hannah-Arendt-Gymnasium in Barsinghausen im Mai 2017 erstellt.246 Den Schüler_innen lag der Text digital als Word-Dokument vor, in das sie hineinschreiben sollten.247 Die genaue Aufgabenstellung lautete wie folgt: Die folgende Erzählung wurde 1920 von einem Autor verfasst, der hier bewusst nicht genannt werden soll. Lesen Sie den Text langsam und aufmerksam. Notieren Sie im Zuge Ihrer ersten Lektüre alle Wahrnehmungen, Vorstellungen, Gedankengänge und Assoziationen, die Ihnen durch den Kopf gehen – ebenso wie auch emotionale oder körperliche Reaktionen. Nichts ist hier irrelevant oder abwegig und es gibt keine »richtigen« oder »falschen« Aussagen. Ebensowenig kommt es darauf an, vollständige Sätze zu formulieren oder grammatisch bzw. orthographisch korrekt zu schreiben. Notieren Sie also wirklich alle Beobachtungen ausführlich genau an der Stelle in den Text hinein, wo diese auftreten – bitte in einer anderen Farbe oder Schrift, um sie vom Text abzugrenzen. 2.) Lesen Sie den Text ein zweites und drittes Mal genau. Notieren Sie danach weitere Beobachtungen, die den Text nun in seiner Gesamtheit zur Grundlage nehmen. Schreiben Sie diese unter die Erzählung.248 Die Bearbeitungszeit betrug 75 Minuten, sie reichte für alle aus. Anschließend fand ein 15-minütiges Gespräch statt, in dem ich mich mit den Schüler_innen über diese Form des Zugangs zu einem literarischen Text austauschte. Die Auswertung der Protokolle soll im Folgenden zunächst durch eine Analyse der Erzählung Kafkas vorbereitet werden. 246 Von den 21 Teilnehmer_innen des Kurses fehlten an diesem Tag vier. 247 Alternativ hatte ich Kopien zur handschriftlichen Bearbeitung vorbereitet, die aber nicht in Anspruch genommen wurden. 248 Ergänzt wurde diese Aufgabenstellung durch den Hinweis darauf, dass mit der Bearbeitung keinerlei Form der Leistungsüberprüfung verbunden ist und Anonymität gewährleistet bleibt. Die Übermittlung und Auswertung der Dateien erfolgte anonym, die Schüler_innen gaben sich Nicknames.

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Textanalyse: »Ich bin zurückgekehrt« (Heimkehr) von Franz Kafka Ich bin zurückgekehrt, ich habe den Flur durchschritten und blicke mich um. Es ist meines Vaters alter Hof. Die Pfütze in der Mitte. Altes unbrauchbares Gerät in einander verfahren verstellt den Weg zur Bodentreppe. Die Katze lauert auf dem Geländer. Ein zerrissenes Tuch einmal im Spiel um eine Stange gewunden hebt sich im Wind. Ich bin angekommen. Wer wird mich empfangen? Wer wartet hinter der Tür der Küche? Rauch kommt aus dem Schornstein, der Kaffee zum Abendessen wird gekocht. Ist Dir heimlich, fühlst Du Dich zuhause? Ich weiß es nicht, ich bin sehr unsicher. Meines Vaters Haus ist es, aber kalt steht Stück neben Stück als wäre jedes mit seinen eigenen Angelegenheiten beschäftigt, die ich teils vergessen habe teils niemals kannte. Was kann ich ihnen nützen, was bin ich ihnen und sei ich auch des Vaters, des alten Landwirts Sohn. Und ich wage nicht an der Küchentür zu klopfen, nur von der Ferne horche ich, nur von der Ferne horche ich stehend, nicht so daß ich als Horcher überrascht werden könnte. Und weil ich von der Ferne horche, erhorche ich nichts, nur einen leichten Uhrenschlag höre ich oder glaube ihn vielleicht nur zu hören herüber aus den Kindertagen. Was sonst in der Küche geschieht ist das Geheimnis der dort Sitzenden, das sie vor mir wahren. Je länger man vor der Tür zögert, desto fremder wird man. Wie wäre es wenn jetzt jemand die Tür öffnete und mich etwas fragte. Wäre ich dann nicht selbst wie einer, der sein Geheimnis wahren will.249 Ein autodiegetischer Erzähler schildert seine Eindrücke und Gedanken im Zuge einer Rückkehr zu seinem Vaterhaus, dem Anschein nach ein Bauernhof. Das Statische, das den Text prägt, kommt bereits in den ersten, syntaktisch parallel gehaltenen Sätzen in Form des wiederholten resultativen Perfekts zum Ausdruck250 : »Ich bin zurückgekehrt, ich habe den Flur durchschritten […].« Dieses Fehlen von (äußerer) Bewegung zieht sich bis zum Ende, dem Verharren vor der Küchentür, und gibt der Erzählung einen Rahmen, innerhalb dessen eine Vielzahl verschiedener Motive die Rückkehr an den Ort der Kindheit in eine solche verwandelt, die eine Heimkehr, wie Brod den Text fragwürdig betitelte, gerade verhindert.251 Innerhalb dieses Rahmens werden Wahrnehmungen, die sich zunächst auf den Außenraum, genauer den Hof des Hauses, dann auf den Innenraum, hier erscheint die Küche als Ort der (Familien-?)Gemeinschaft, beziehen, Gegenstand des monologischen Gedankenprotokolls des Erzählers. Das Präsens, das nach den beiden Perfektformen den ersten Satz beschließt, indiziert, dass die Erzählerrede die in der Situation selbst 249 Kafka, Franz: Das Ehepaar und andere Schriften aus dem Nachlaß. In: ders.: Gesammelte Werke in zwölf Bänden. Nach der krit. Ausg. hg. v. Hans-Gerd Koch. Bd. 8. Frankfurt a.M.: Fischer Taschenbuch 1994. S. 162f. 250 Vgl. hierzu Kugele, Jens: Kafkas Heimat-Topographien. Nation, Religion, Kultur und Schrift. Dissertation: Washington DC: Georgetown University 2011. S. 12. https://repository.library.georgetown. edu/bitstream/handle/10822/557970/Kugele_georgetown_0076D_11432.pdf?sequence=1 (Abrufdatum 22.05.2019). 251 Vgl. Enklaar, Jattie: Sohnschaft in der Krise: Zu Ludwig Hohls Notiz »Der verlorene Sohn«. In: Neophilologus 89 (2005), H. 2, S. 287-298. S. 293.

5. Didaktische Ziele und Vermittlungsformen literarästhetischer Literalität

sich einstellenden Gedanken nachbildet, »im Jetzt […] Denkprozesse protokolliert«252 . Die Außenraumbeobachtungen korrelieren hierbei dem inneren Erleben der Figur: Gezeichnet wird kein heimatliches Idyll, in dem die Figur aufgeht; an die Stelle von Nostalgie tritt vielmehr ein distanziert beobachtender Blick. Er ist geprägt von einer Ambivalenz, die einerseits – etwa in Form der bestimmten Artikel, aber auch der ausgewählten Motive – die einstige Vertrautheit mit dem Orte markiert, andererseits aber eine unwirtliche Kulisse zeichnet, die von Bildern der Verlassenheit, des Verfalls und einer latenten Gefahr durchzogen ist.253 Der Text führt einige markante Blickpunkte auf, lässt den Lesenden auf dieser Basis aber auch in Form von Unbestimmtheitsstellen Raum, um sich in der Vorstellung ein eigenes Bild des Hofes auszumalen. Der Kälte und Verlassenheit, mit der der Außenraum gezeichnet ist, kontrastieren die ›Wärmequellen‹, die den Text durchziehen. Sie sind in Gestalt des rauchenden Schornsteins und des zum Abendbrot der Gemeinschaft gekochten Kaffees im Bericht des Erzählers den Räumen zugeschrieben, von denen er ausgeschlossen ist bzw. denen er sich nur als Beobachter nähert. In den Kreis der »Sitzenden« gelangt er, der alleine vor der Tür, im Schwellenraum des Flurs, »stehend« »horch[t]«, nicht.254 Einerseits wird seine Distanz gerade aufgrund der räumlichen Nähe – er ist nur durch eine Tür von ihnen getrennt – intensiviert255 , andererseits hat er hierüber aber auch wiederum Teil an ihrer Gemeinschaft, wenn auch nur in Gestalt der distanzierten Beobachtung. Die Schlussfragen des Erzählers, deren letzte eine rhetorische ist, machen auch durch die Interpunktion – anstelle des Fragezeichens steht der Punkt als Satzabschlusszeichen eines Aussagesatzes – deutlich, dass sie sich an keinen Kommunikationspartner richten. Der Erzähler adressiert sie wie seine gesamte Rede faktisch an die eigene Person. Ähnlich verschlossen wie der Außenraum und das Geschehen hinter der Tür (»das Geheimnis der dort Sitzenden, das sie vor mir wahren«) bleibt er sich selbst: »Wie wäre es wenn jetzt jemand die Tür öffnete und mich etwas fragte. Wäre ich dann nicht selbst wie einer, der sein Geheimnis wahren will.«256 252 Marsch, Edgar: Die verlorenen Söhne. Konstitution und Reduktion in der Parabel. In: Josef Billen (Hg.): Die deutsche Parabel: zur Theorie einer modernen Erzählform. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1986. S. 364-388. S. 383. 253 Vgl. Kugele: Kafkas Heimat-Topographien. S. 12f. 254 Eine ganz ähnliche Konstellation prägt die Erzählung Die Verwandlung. Auch Gregors Situation ist nach seiner Verwandlung in ein »ungeheure[s] Ungeziefer« (Franz Kafka: Die Verwandlung. In: ders.: Gesammelte Werke in zwölf Bänden. Nach der krit. Ausg. hg. v. Hans-Gerd Koch. Bd. 1: Ein Landarzt und andere Drucke zu Lebzeiten. Frankfurt a.M.: Fischer Taschenbuch 1994. S. 91158. S. 93) die eines distanzierten Beobachters, der aus der Ferne der Kommunikation folgt, an der er selbst nicht teilhat: »Während aber Gregor unmittelbar keine Neuigkeit erfahren konnte, erhorchte er manches aus den Nebenzimmern […].« (ebd. S. 119; vgl. auch S. 122: » […] während er dort aufrecht an der Tür klebte und horchte.«) 255 Vgl. Rohowski, Gabriele: »Der verlorene Sohn« – Narration und Motivation in Prosatexten von André Gide, Rainer Maria Rilke, Franz Kafka und Robert Walser. In: Monika Hahn (Hg.): »Spielende Vertiefung ins Menschliche«. Festschrift für Ingrid Mittenzwei. Heidelberg: Winter 2002. S. 289302. S. 296. 256 Dem entspricht, dass der Erzähler, der von sich im Verlauf des Textes in auffällig häufigen Wiederholungen, die seine Isolation auch auf dieser Ebene zum Ausdruck bringen, als »Ich« spricht, sich in dem Satz zuvor im anonymen »man« anredet – und auch hierüber eine Distanz nicht nur zur Au-

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Der Text kreist so nicht nur um diese beiden Geheimnisse, er gewinnt seine Dynamik, die nur eine der Gedanken, nicht aber der Ereignisse ist, aus ihnen – und bildet sie hierin zugleich nach.257 Den Leser_innen ist weder Herkunft noch Motiv der Rückkehr des Erzählers bekannt, sie können sich nicht einmal darin sicher sein, ob es wirklich dessen Familie ist, die sich hinter der Küchentür zusammengefunden hat258 ; allesamt Leerstellen, die sie im Verlauf der Lektüre unterschiedlich füllen können. Gesichert ist nur, dass es sich um des »Vaters alte[n] Hof« handelt, dass der Erzähler zu ihm und seiner Familie nur noch einen sehr gebrochenen Bezug hat, was auch Resultat eines entweder von der Familie an ihn herangetragenen oder von ihm selbst aufgemachten utilitaristischen bzw. alltagspragmatisch-wirtschaftlichen Kalküls zu sein scheint, das nicht aufgeht: »Was kann ich ihnen nützen, was bin ich ihnen und sei ich auch des Vaters, des alten Landwirts Sohn.« So wurde der Text seitens der Forschung auch immer wieder in einen (kontrastiven) Bezug zum Gleichnis vom Verlorenen Sohn aus dem Lukasevangelium gesetzt.259 Den Tenor dieser Lektüren fasst Irmgard M. Wirtz wie folgt zusammen: »Kein Abschied und kein Auszug, keine Umkehr, kein Empfang durch den Vater, weder Erbarmen noch Gnade des Vaters und weder Neid noch Empörung.«260 Doch fehlt noch eins: An die Stelle einer klaren Textaussage, wie sie die neutestamentliche Parabel mit ihrem Aufruf zu Reue und Umkehr einerseits und zu Vergebung und Barmherzigkeit andererseits verfolgt, tritt das »Geheimnis«. So man Kafkas Text mit Marsch überhaupt noch als Parabel liest, muss konstatiert werden, dass ein eindeutiger Transfer von der Bild- auf die Sachebene scheitert; und das »Geheimnis« die Lesenden nur stetig wieder auf den Text zurücklenkt. Die Folie der Erzählung vom Verlorenen Sohn ist hierin zwar präsent, bildet zugleich aber eine weitere Negation im Sinne Isers, da die Vorstellung (wiederum in einem erweiterten Sinne des Begriffs, d.h. nicht nur als figurative Repräsentation, sondern unter Rekurs auch auf begrifflich vermittelte Zugänge zum kulturgeschichtlich vermittelten Repertoire, aus dem sich ein Text speist) der Leser_innen von einer durch Reue ausgelösten Vergebung, die eine Heimkehr in den Kreis der Familie ermöglicht, durchkreuzt wird. Dieser Entpragmatisierung eines Elementes aus dem theologischen

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ßenwelt, sondern zugleich zu sich selbst bekundet: »Je länger man vor der Tür zögert, desto fremder wird man.« (Vgl. Rohowski: »Der verlorene Sohn«. S. 296.) Über dieses Motiv der Fremdheit – und das hierin Ausdruck findende »Geheimnis« – lassen sich weitere Parallelen zur Erzählung Die Verwandlung ziehen. Vgl. Marsch: Die verlorenen Söhne. S. 385f. Einige Interpreten gehen nahezu zwangsläufig davon aus, dass es sich hier um die Familie des Erzählers handeln muss. (So etwa Ralf Sudau: Heimkehr. In: ders. Franz Kafka. Kurze Prosa/Erzählungen. 16 Interpretationen. Stuttgart: Klett 2007. S. 65-71.) Mit Kugele ist dem allerdings entgegenzuhalten, dass es »scheint, als könne das Haus mittlerweile gar tatsächlich von Fremden bewohnt sein.« (Kugele: Kafkas Heimat-Topographien. S. 15.) Darauf, dass der Text dies zumindest offenhält, deutet auch die Verwendung des Passivs in der folgenden Passage: »der Kaffee zum Abendessen wird gekocht«. Vgl. etwa Enklaar: Sohnschaft in der Krise; Rohowski: »Der verlorene Sohn«; Irmgard M. Wirtz: Wahrheit und Widerspruch. Kafkas verlorene Söhne. In: Manfred Engel u. Ritchie Robertson (Hg.): Kafka und die Religion in der Moderne. Kafka, Religion, and Modernity. Würzburg: Königshausen & Neumann 2014. S. 253-263; Marsch: Die verlorenen Söhne. S. 382f. Wirtz: Wahrheit und Widerspruch. S. 260.

5. Didaktische Ziele und Vermittlungsformen literarästhetischer Literalität

Diskurs setzt der Text aber keine neue, veränderte Aussage entgegen. Sein Anfang ist ebenso offen wie sein Ende261 , der Erzähler ein einziges »Geheimnis«, selbst die Identität (und aufgrund der Unzuverlässigkeit des Erzählers m.E. sogar die Existenz) derer auf der anderen Seite der Tür bleibt letztlich unklar. Dieser – für Kafka typische – Bruch mit der tradierten Form der Parabel, die er gleichsam entkernt, verweist die Leser_innen immer wieder neu auf die Bildebene, da diese nicht in letztgültig bestimmbare Aussagen zu überführen ist. Und hier begegnet ihnen eine ganze Reihe von Motiven, die über ihre expliziten, denotierten Bedeutungen implizite enthalten, die wiederum nicht klar entschlüsselbar sind. Am Beispiel der ersten Bilder, auf die der Blick des Erzählers fällt, sei dies kurz ausgeführt: »Die Pfütze in der Mitte. Altes unbrauchbares Gerät in einander verfahren verstellt den Weg zur Bodentreppe. Die Katze lauert auf dem Geländer. Ein zerrissenes Tuch einmal im Spiel um eine Stange gewunden hebt sich im Wind.« Auf diese »mit der Konkretheit eines niederländischen Genrebilds«262 geschilderten Einzelwahrnehmungen folgt die Aussage: »Ich bin angekommen.« Die Bilder tragen maßgeblich zur Vermittlung eines Stimmungsbildes bei – der Begriff ist hier bewusst gewählt, da dies einer figurativen Repräsentation durch die Leser_innen bedarf –, das seinerseits aber über die implizite Bedeutungsebene von einer unauflösbaren Ambivalenz durchzogen ist, die den Erzählerbericht als Ganzen auszeichnet. Denn die hier aufgeführten Motive sind einerseits geprägt von Tristesse, Verlassenheit, Verfall, Unwirtlichkeit und zumindest latenter Gefahr. Hierfür steht die sich im Zentrum der Szenerie befindende »Pfütze«, das »alte[], unbrauchbare[] und ineinander verfahren[e] Gerät«, das zudem den Weg nach oben, »zur Bodentreppe« »versperrt«, das zerrissene Tuch« und die »lauernde Katze«. Implizit konnotieren diese sprachlichen Bilder den verstellten Weg zur Heimkehr, doch heben sie hierin zugleich auch den weiterhin aufrecht erhaltenen Bezug des Erzählers zum Ort des Geschehens und zu den hiermit verbundenen Erinnerungen hervor. Auffällig wird dies immer wieder am sprachlichen Detail: Dem Satz, in dem das erste Bild zur Darstellung gebracht wird, fehlt das Verb (»Die Pfütze in der Mitte.«), wodurch auch eine dieser Aussage zugeordnete Zeitangabe eliminiert wird. Zumindest denkbar wäre deshalb, dass sich dieser Satz – und mit ihm auch die auf ihn folgenden – nicht auf eine gegenwärtige Wahrnehmung des Erzählers, sondern auf die Imagination eines Bildes aus der Vergangenheit bezieht, was die Ineinanderblendung von Vergangenheit und gegenwärtigem Erleben abbilden würde, die seinen Beobachtungen auch später beim vermeintlichen Hören des vertrauten »Uhrenschlag[s]« aus der »Küche« zugrunde liegt und ein Grund für die Unzuverlässigkeit seines Erzählens ist.263 Auffällig ist zudem, dass im Kontext der Pfütze und der Katze der bestimmte und nicht der unbestimmte Artikel Verwendung findet, was auf die Vertrautheit des Erzählers mit der Szenerie schließen lässt. 261

Kafka strich den Passus »und ich eile fort« im Zuge der Bearbeitung aus dem Text. Vgl. Wirtz: Wahrheit und Widerspruch. S. 261. 262 Wirtz: Wahrheit und Widerspruch. S. 260. 263 Auch die Tatsache, dass der Erzähler den »Flur durchschritten« hat und sich, wie später deutlich wird, allem Anschein nach im Inneren des Gebäudes, vor der Küchentür, befindet, legt Spuren in diese Richtung.

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Hierüber werden die Bilder zu »Kipp-Phänomene[n]«264 im Sinne Isers: Sie können einerseits positiv konnotierte Erinnerungen aus der Kindheit abrufen (etwa ein fröhliches Spiel in der Pfütze, mit der Katze oder den landwirtschaftlichen Geräten – das im »Spiel« um eine Stange gewundene Tuch greift dies auch begrifflich auf), andererseits sind in jedem einzelnen Bild ausreichend ›Widerhaken‹ enthalten, die diese positiven Konnotationen durchkreuzen: Die Pfütze vermittelt zugleich – und hier vor allem – Tristesse, die Katze »lauert« (dem Erzähler auf?), das »Gerät« ist »alt« und »unbrauchbar«, es »verstellt« nur den Weg in die Höhe. Das Tuch fängt diese Ambivalenz vielleicht am deutlichsten ein: Es ist »zerrissen«, »hebt« sich zwar im »Wind«, bleibt dabei aber »um eine Stange gewunden« – wenn auch »im Spiel« – und kann als Sinnbild für die Situation des Erzählers gelesen werden: Freiheit im Sinne einer gänzlichen Abkoppelung ist nicht erreichbar, er bleibt »zerrissen« und an den Ort der Herkunft gebunden, seine Distanz ermöglicht hierin aber zumindest ein »Spiel«, ein zeitweiliges Gehobenwerden im »Wind«, dessen Luftstrom auch auf die Vergänglichkeit der Zeit verweist. Die Bilder repräsentieren so das Ineinander von vergangenen Erinnerungen und aktueller Wahrnehmung im Zuge der Rückkehr an einen vertrauten Ort, von dem zugleich aber in der Gegenwart des Erzählens weder Vertrauen ausgeht noch ihm entgegengebracht wird: »Der Sohn erkennt all das wieder; doch die Sprache der Dinge klingt kalt und abweisend: ›alt, unbrauchbar, ineinander verfahren, Weg verstellend‹ lauten deren Charakterisierungen.«265 Nicht nur infolge der internen Fokalisierung, auch über den zumindest zu Beginn des Textes einem Kameraschwenk gleichenden Blick des Erzählers bauen die Leser_innen eine diesen Signalen entsprechende bildhafte Repräsentation des Textes auf und werden in die folgenden Reflexionen eingebunden. Hierzu tragen auch die Fragen bei, die den Text nach den ersten Eindrücken prägen; insbesondere der Wechsel in die zweite Person (»Ist Dir heimlich, fühlst Du Dich zuhause«?) kann die Rezipient_innen noch stärker involvieren. Doch ähnlich wie der Erzähler von dem Ort seiner Rückkehr zurückgewiesen wird, weist sein Bericht im weiteren Verlauf auch die Lesenden wieder zunehmend zurück, wenn sie Gewissheiten zu erfahren suchen; ihre Antwort auf viele Fragen, die der Text aufwirft, wird der des Erzählers auf die oben angeführten gleichen: »Ich weiß es nicht, ich bin sehr unsicher.« In diese Ungewissheit werden auch die sinnlichen Wahrnehmungen mit einbezogen; ob sich das Hören des »Uhrenschlag[s] […] herüber aus den Kindertagen« nur in seiner Imagination abspielt oder eine reale Wahrnehmung des »Horcher[s]« ist, muss ebenso offenbleiben wie die Frage, welche Vorstellungen, Imaginationen und Gedanken der Text auslöst. Die Fremdheit, die der Erzähler vor der Tür empfindet und die sich immer weiter verstärkt, spiegelt die der Leser_innen gleich in zweierlei Hinsicht: zum einen in Form verschiedener Verstehensentwürfe, die sich dem Text aus einer unaufhebbaren Distanz nähern, ohne ihm sein »Geheimnis« ablauschen zu können. Zum zweiten darüber, dass 264 Iser: Der Akt des Lesens. S. 166. Solche Phänomene lassen für Schüler_innen verschiedenartig mögliche Sinnzuschreibungen anhand einzelner Elemente durch deren wechselseitige Beobachtbarkeit und Perspektivtransformationen nachvollziehbar werden. 265 Sudau: Heimkehr. S. 66.

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all diese Zugänge wiederum von den ganz eigenen, individuell geprägten Imaginationen befördert werden, von Anklängen an bereits Gehörtes, Gesehenes, Erlebtes, das die Folie auch für das ›Horchen‹ auf den Text bildet. Gerade weil er in seinen Aussagen offenbleibt, eine ganze Reihe von Unbestimmtheitsund Leerstellen sowie Negationen enthält, die im Zusammenspiel mit seinen Bildern die Vorstellung und Imagination stark aktivieren, Stimmungen evozieren und zu Sinn- und Bedeutungszuweisungen auffordern, vermag das Erleben des Ichs die Erfahrung der Leser_innen mit dem Text bzw. seiner Thematik zu spiegeln. Denn ganz so wie der Text resp. sein Erzähler keinerlei ›Problemlösung‹ betreibt, vielmehr auf der Türschwelle im Modus des distanzierten Beobachtens verharrt, sich selbst reflektiert, wenn er im Schlusssatz fragt, ob nicht auch er »sein Geheimnis wahren will« – und sich gerade nicht entscheidet, sein ›Problem‹ entweder durch beherzten Eintritt in die Küche oder durch seinen Weggang zu ›lösen‹ –, so wird dem Text auch nur eine Lektüre gerecht, die sich hieran ausrichtet. Sie lässt sich dann in einem Wechselspiel von genauer, beobachtungsgebundener Vorstellung und eigener Imagination in einem gleichermaßen auf das Wahrnehmungsobjekt wie auch eigene mentale Operationen ausgerichteten ›Horchen‹ auf den Text ein – und in dieser wohl eher kontemplativen denn problemlösenden Haltung wird den Leser_innen vielleicht auch wieder der eine oder andere ›Uhrenschlag‹ vergangener Zeit ins Gedächtnis gerufen. Der Text lädt – liest man die Fragen in der zweiten Person nicht nur als Anrede des Erzählers an sich selbst, sondern auch zugleich auf einer metanarrativen Ebene an den impliziten Leser – dazu ein, mit dem Erzähler genau zu beobachten, dabei aber sein eigenes Horchen an der Schwelle nicht nur auf den Text selbst, sondern auch auf die eigene Vorstellungs- und Imaginationswelt zu beziehen; und dabei zugleich auch sein »Geheimnis« zu wahren: »Ist Dir heimlich […]?«266 Die Lektüren können hierbei stark divergieren: Ob die Lesenden etwa bereits anfangs das Bild der Pfütze in der Mitte des Hofes mit fröhlichem Kinderspiel oder mit Verfall und Tristesse (oder beidem) konnotieren, wird zu unterschiedlichen Lesarten führen, die je für sich legitimierbar sind. In noch stärkerem Maße betrifft dies die Frage, wie sich der Umgang mit den Leerstellen gestaltet – worin man das »Geheimnis« des Erzählers möglicherweise verortet, woher er kommt, wie er sich weiterhin verhalten wird oder ob die Gruppe der Sitzenden in der Küche seine Familie ist. Je nach Umgang hiermit ergeben sich verschiedene Gesamtlektüren des Textes, die im Einzelnen kaum vorhersehbar und so auch nicht standardisierbar oder hinsichtlich ihrer hierhinter stehenden Vorstellungs- und Kognitionsleistung messbar sind; zumal gerade im Wechsel verschiedener Optionen, die der Text bietet, sein ästhetisches Potential erst aktualisiert werden kann. Diese Prozesse werden, sowohl hinsichtlich der Bilder zu Beginn als auch der weiteren Geschehnisse im Zuge des Horchens an der Tür, maßgeblich durch die jeweils 266 Der Begriff »heimlich« beinhaltet hier gleich drei Konnotationen: Heimlich erstens im Sinne von heimatlich bzw. heimelig, zweitens von geheim und drittens klingt hierin auch das »Unheimliche« an, das in Freuds Analyse zu E.T.A. Hoffmanns Erzählung Der Sandmann in einen Bezug zum Heimlichen gesetzt wird: »Das Unheimliche ist […] das ehemals Heimische, Altvertraute. Die Vorsilbe ›un‹ an diesem Worte ist aber die Marke der Verdrängung.« Sigmund Freud: Das Unheimliche. In: ders.: Gesammelte Werke. Chronologisch geordnet. Hg. v. Anna Freud u.a. Bd. XII: Werke aus den Jahren 1917-1920. Frankfurt a.M.: Fischer Taschenbuch 1999. S. 229-268. S. 259.

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eigene Vorstellungs- und Imaginationsbildung befördert. Sie bildet die Grundlage für gerade im didaktischen Kontext relevante Bildungsimpulse. Diese können von einer Reflexion des eigenen Verhältnisses zu prägenden Kontexten der Kindheit und Jugend, denen man sich evtl. zunehmend entwachsen fühlt, über ein Nachdenken, weshalb dieser 1920 verfasste Text das die Parabel vom Verlorenen Sohn aus dem Lukasevangelium noch prägende Vertrauen in eine durch Reue und Vergebung ermöglichte Wiederaufnahme in den Kreis der Familie vermissen lässt, bis hin zu Fragen eines vielleicht grundlegenden Verlustes fester sozialer Bindungen und einer hieraus resultierenden Egozentrik des modernen Menschen reichen. Auswertung der Lektüreprotokolle Die folgende Auswertung wird primär auf eine Auswahl von fünf Protokollen zurückgreifen. Weitere Bearbeitungen werden i.d.R. nur dann hinzugezogen, wenn sich von ihnen Ergebnisse oder Perspektiven ableiten lassen, die über die aus dieser Auswahl gewonnenen hinausgehen. Die Auswahl der fünf Protokolle erfolgt vor dem Hintergrund, dass diese Schüler_innen sich intensiv auf das Verfahren einließen, was nicht für alle gilt und später auch hinsichtlich konkreter Formen einer didaktischen Verwendung zu diskutieren sein wird. Kriterium war nicht die – ohnehin nur mit Einschränkung zu beurteilende – Qualität der Ergebnisse; vielmehr sollen anhand problematischer Zugänge nicht nur Potentiale, sondern auch mögliche Gefahren dieser Arbeitsform aufgewiesen werden. Die Auswertungen haben nicht den Anspruch, den Gütekriterien empirischer Forschung zu entsprechen. Es geht vielmehr um einen Blick in die Praxis der Literaturvermittlung, der das didaktische Potential des Verfahrens deutlich macht und anhand des Vergleichs verschiedener Bearbeitungen die Individualität der Vorstellungs- und Imaginationsausbildung sowie deren maßgebliche Rolle für die hiervon Ausgang nehmenden Prozesse von (auch kognitiv reflektierten) Symbolbildungen fokussiert. Konkret werden dabei drei Aspekte verfolgt: zum einen eine Auseinandersetzung mit den Fragen, inwieweit die oben dargelegten Annahmen der kognitionspsychologischen Leseforschung und der Rezeptionsästhetik Isers, die keine Novizen, sondern Experten im Blick hat, hier Ausprägung finden und wie sich das Zusammenspiel von Vorstellungsbildung und Imagination mit begrifflich-kognitiven Prozessen bei einzelnen Schüler_innen gestaltet. Zum zweiten ist zu prüfen, inwieweit die offene, an den zuvor entwickelten Begriff literarästhetischer Literalität anbindbare Arbeitsform der Lektüreprotokolle individuelle, eher verlaufs- als ergebnisorientierte Zugänge ermöglicht. Schließlich gilt es auch Schwierigkeiten oder Problematiken im Umgang mit dem Verfahren zu reflektieren und zu erörtern, wie es ggf. variiert und in welche weitergehenden didaktischen Rahmenkonzepte es zu seiner Optimierung eingebunden werden sollte. Hierzu zählt auch die Frage, über welche Aufgaben und Sozialformen eine Reflexion der Vorstellungsbildung angeregt werden kann, um den Lernenden mit Iser gesprochen die »Chance« zu eröffnen, »daß der zur Reflexion angestoßene Leser in ein Verhältnis zu seinen Vorstellungen gelangt«267 . Die Auswertung erfolgt in der Form, dass zunächst drei die Rezeption des Textes maßgeblich steuernde Passagen so untersucht werden, dass im Vergleich die verschie267 Iser: Die Appellstruktur der Texte. Ebd. S. 246.

5. Didaktische Ziele und Vermittlungsformen literarästhetischer Literalität

denen Zugänge deutlich werden: zum einen die Ankunft mit den Bildern vom Hof, hier wird der Umgang mit dem Sinnbild des zerrissenen Tuchs im Mittelpunkt stehen. Zum zweiten die Szenerie des vor der Küchentür horchenden Erzählers, hier liegt der Schwerpunkt auf der Frage, inwiefern seine Wahrnehmung von Imagination überlagert wird, und schließlich das offene Ende mit seiner zentralen Thematik des Geheimnisses. Zu Beginn wird die Vorstellungswelt der Lesenden deutlich aktiviert und durch den Blick des Erzählers gelenkt, entsprechend häufig finden sich hier Kommentare zu den in der Vorstellung aufgebauten Bildern und der hierüber vermittelten Stimmung. Gemeinsam ist den Protokollen, dass die Szenerie kaum positiv besetzte Eindrücke hervorruft; der Kommentar von Badabingbong268 hebt die »graue, düstere Atmosphäre« und die »negative Stimmung« ebenso hervor wie Joe Cocker 269 die »unwohle Stimmung«; »einsam«270 und »trauer« (beides bei was1nicesWetter 271 ) sind Begriffe, die weiterhin fallen.272 Weiterhin schreiben die meisten Schüler_innen den Aussagen eine gewisse Rätselhaftigkeit zu. Hierbei zeigt sich dann aber bereits eine weite Spanne, sie reicht auf der Ebene der Rekonstruktion einer inhaltlichen, also den Handlungsgang und ihren Kontext betreffenden Ebene von Aussagen wie »Familie ist vielleicht gar nicht mehr auf dem Hof und hat neue Besitzer«273 (Bauer 274 ) über »er befindet sich in einer schwierigen Situation, vielleicht etwas schlimmes in der Familie?« (Badabingbong) bis hin zu »Ist etwas mit meinem [sic!] Vater passiert? […] Kommt mir komisch vor, was ist hier los?« (was1nicesWetter). Auch auf der Ebene sekundärer semantischer Codierungen, die (z.T. reflektierten) Symbolbildungsprozessen zugrunde liegen, lässt sich anhand des Bildes der lauernden Katze nachweisen, dass die Beobachtungen im Detail auseinandergehen: Sie signalisiert mal »Gefahr« (Joe Cocker), mal das »Gefühl beobachtet zu werden« (Badabingbong), mal trägt sie mit zum Aufbau einer Stimmung bei, die als »gruselig« (was1nicesWetter) gekennzeichnet wird; allesamt Lektüreeindrücke, die im Einklang mit der Textgrundlage stehen, auch in zentralen Gesichtspunkten Gemeinsamkeiten aufweisen und doch auf unterschiedliche Facetten der vorstellenden resp. imaginativen Aneignungen hindeuten.275 So wird dann auch der diesen ersten Teil beschließende Satz »Ich bin an268 Diese und hier im Folgenden genannten Pseudonyme gaben sich die Schüler_innen selbst. Bei Badabingbong handelt es sich um eine 17 Jahre alte Schülerin. 269 17 Jahre, männlich. 270 »Einsamkeit« assoziiert auch Müller Meier mit dem Bild des zerrissenen Tuchs. 271 17 Jahre, männlich. 272 Der Begriff findet auch in den Protokollen von Badabingbong und Müller Meier an anderen Stellen Verwendung. 273 Gemeint sein dürfte, dass der Hof neue Besitzer hat. Hier und im Folgenden sind grammatische oder orthographische Fehler in den zitierten Kommentaren nicht verbessert; die Vielzahl der Fehler dürfte dem Verfahren geschuldet sein, das die Schüler_innen dazu nötigt, schnell und viel zu schreiben, wenn wirklich eine weitgehend vollständige Protokollierung der eigenen Vorstellungen und Gedanken zu den Textpassagen erreicht werden soll. 274 17 Jahre, weiblich. 275 Badabingbongs Kommentar in der zweiten Aufgabe nach den Wiederholungslektüren macht zudem deutlich, dass der erste Aufbau von Vorstellungen prägend bleibt und die Schülerin dieses Bild nun in einen Bezug zur gesamten Erzählung setzen kann; so erhält sie einen ersten Zugang zu Bedeutungsgeflechten, die den Text maßgeblich strukturieren: »Die Katze die lauernd auf dem Geländer hockt ist des Weiteren eine Vorausdeutung zu dem Verhalten des Lyrischen-Ichs, da die-

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gekommen« verschiedenartig aufgefasst: Es überwiegen positive Assoziationen276 , es finden sich aber auch Kommentare wie der von was1nicesWetter, die Irritationsmomente oder Widerstände beim Lesen benennen: »Wie angekommen? Kommt mir komisch vor, so einsam«. Auch hier sind im Zuge einer ersten Lektüre beide Reaktionen nachvollziehbar; ihr Zusammenspiel kennzeichnet die den Text durchziehende Ambivalenz. Die Verschiedenartigkeit der Vorstellungs- und Imaginationstätigkeit und ihr Einfluss auf die häufig hiervon Ausgang nehmenden sekundären semantischen Codierungen lassen sich am Beispiel des Bildes vom zerrissenen, um eine Stange gewundenen Tuch beobachten. Es wird mit einer Ausnahme277 von allen Verfasser_innen der ausgewählten Bearbeitungen als Sinnbild, als »Symbol« (wörtlich so bei Bauer) gelesen.278 Die Kommentare reichen von primär auf die Evokation einer bestimmten Stimmung Bezug nehmenden Aussagen wie »unberührt, wild, Einsamkeit« (Müller Meier 279 , Kommentar im unmittelbaren Anschluss an »Spiel«) oder »abgenutzt, unwohle Stimmung« (Joe Cocker 280 ) über Rückschlüsse auf Gedanken oder Gefühle des Erzählers, die hierüber implizit vermittelt werden (und sich, denn anders lässt sich das »man« in folgender Äußerung nicht lesen, auf die Schülerin übertragen): »man/die Person fühlt sich unwohl, merkwürdige Atmosphäre, […] Zerrissenes gewundenes Tuch beklemmt, Person hat vor etwas Angst.« (Badabingbong) bis hin zu reflektierten Symbolbildungsprozessen: »Symbol für eine Beziehung, die in die Brüche ging« (Bauer). Anhand der auf den ersten Blick vielleicht am wenigsten mit der Textgrundlage vereinbar erscheinenden Assoziation »unberührt« zeigt sich, wie schwer es ist, objektive Kriterien einer ›richtigen‹ oder ›falschen‹ Vorstellungsbildung aufzustellen. Dem Adjektiv »unberührt« widerspricht zwar die Zerrissenheit des Tuches – und somit die Textgrundlage. Da es aber erst im Anschluss an den Begriff »Spiel« fällt, nimmt es möglicherweise Bezug darauf, dass dieses Bild die Verlassenheit der gesamten Kulisse vermittelt, die den Eindruck eines zumindest in manchen Passagen fast aufgegeben wirkenden Hofes einfängt. Den Lernenden sollte im Unterricht die Möglichkeit zu Erklärungen und Begründungen für ihre Kommentare gegeben werden, da dies nicht nur

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ses wenig später versucht das Geschehen in der Küche zu belauschen.« Ähnliches lässt sich auch im Zuge der ersten Aufgabenbearbeitung im Protokoll von Müller Meier beobachten, der implizit Verbindungen zu dem später an der Küchentür wartenden und horchenden Erzähler herstellt. Nach der Textpassage »Je länger man vor der Tür zögert, desto fremder wird man« kommentiert er: »Unsicherheit, lauerndes Tier, man vergisst warum man überhaupt lauert, Angst und Unsicherheit überwiegen die Neugier.« So etwa Badabingbong: »Endlich angekommen, nach dem schwierigen Gang über den Hof«, Joe Cocker: »Ziel erreicht, keine unangenehmen Bemühungen mehr und erleichtert«, Müller Meier: »Heimat, Gefühl der Vertrautheit«. Was1nicesWetter scheint zumindest auch in die Richtung zu denken, wenn er fragt: »Warum ist das Tuch kaputt?«, ohne diese Frage aber unmittelbar beantworten zu wollen oder zu können. Zwei weitere Protokolle (Das Sams, Freeman) dokumentieren, dass dieses Bild zum Aufbau einer Stimmung beiträgt, die mit dem Begriff »verlassen« bezeichnet wird. 17 Jahre, weiblich. Der Kommentar findet sich im unmittelbaren Anschluss an »Tuch« – am Ende folgt ein Satz, der auch ein Vorstellungsbild bezeichnet, das aber eher auf der inhaltlichen Handlungsebene zu verorten ist: »Kalte windige Jahreszeit wie zum Beispiel Herbst«.

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der Selbstreflexion dient, sondern die Assoziationen auch für andere z.T. erst nachvollziehbar macht und neue Perspektiven auf den Text eröffnet. Die Kommentare im Kontext der Wiederholungslektüren belegen dabei, wie sehr Vorstellung resp. Imagination und Kognition ineinandergreifen. So geht Badabingbong auf die »sehr düstere, negative Atmosphäre« ein, die die Erzählung kreiere, und bindet dies zugleich zurück an Beobachtungen zur sprachlichen Gestaltung: »Die kurzen Sätze am Anfang, die die eigenartige Umgebung beschreiben und die negativ konnotierten Worte verursachen dies. Es ist regnerisch und finster. Man spürt das Unwohlsein der Person allein durchs lesen.« Müller Meier hebt ebenfalls im Kommentar zur zweiten Aufgabe darauf ab, dass der Text »beim Leser ein Gefühl von Wildnis [hinterlässt], was auch am Anfang […] durch die kaputten und verwahrlosten Geräte erzeugt wird.« Joe Cocker wiederum spricht hier wiederholt von einer »traurige[n] Stimmung«, im Protokoll Bauers wird noch einmal hervorgehoben, dass die verschiedenen Bilder zu Beginn symbolisch zu sehen sind. Die Offenheit dieser Arbeitsform der Lektüreprokolle kommt folglich auch weiteren, analytisch ausgerichteten Phasen der Auseinandersetzung mit dem Text zugute, bestimmte Textpassagen und die hierzu gebildeten Vorstellungen bleiben im Gedächtnis haften.281 Das sich an die Ankunft anschließende Verharren des Erzählers vor der Küchentür und dessen Reflexionen werden dann in Teilen unterschiedlich vorgestellt und verstanden. Dies zeigt sich an einer der zentralen Leerstellen des Textes, nämlich der Frage, wer sich in dem Haus bzw. hinter der Küchentür überhaupt befindet. Badabingbong lässt dies zunächst offen – die Fragen, die der Erzähler an sich selbst stellt, die aber auch den Lesenden adressieren (»Wer wird mich empfangen? Wer wartet hinter der Tür der Küche?«), rufen hier zunächst Gegenfragen hervor: »Wer sollte hinter der Tür der Küche warten? Nicht etwa seine Familie? Gibt es die Familie überhaupt noch?« Auf die folgenden Signale des Rauchs und des zum Abendessen gekochten Kaffees wird ebenfalls skeptisch reagiert und die Zuverlässigkeit des Erzählers hinterfragt: »Ist doch jemand da? Oder bildet er sich ein, dass da jemand sein könnte?« – bevor es heißt: »Ich glaube da ist gar keiner.« Auch wenn der aus dem Schornstein kommende Rauch einen Hinweis darauf gibt, dass das Haus nicht gänzlich unbewohnt ist, so ist doch zumindest der Rückschluss, den der Erzähler hieraus zieht, unzuverlässig: »Rauch kommt aus dem Schornstein, der Kaffee zum Abendessen wird gekocht.« Durch den Anschluss eines zweiten Hauptsatzes – und keines Konsekutivsatzes – ist die Fragwürdigkeit der Folgerung, die der Erzähler aus dem rauchenden Schornstein zieht, auch sprachlich markiert. Angesichts der Tatsache, dass ihm kein Einblick in die Geschehnisse in der Küche möglich ist, er später, beim bewussten Horchen, konstatiert, dass er »nichts« erhorcht und zudem selbst bemerkt, dass vermeintlich wahrgenommene Geräusche evtl. nur seiner Imagination entstammen, muss diese Aussage als unzuverlässig gewertet werden. Die von der Schülerin aufgebaute Vorstellung bzw. ihr gedanklicher Schluss: »Da sitzt keiner. Er traut sich nicht hineinzugehen. Hat Angst, ist entmutigt. Als säßen da Geister. Die 281

Studien aus dem Bereich der empirisch-psychologischen Leseforschung weisen übereinstimmend darauf hin, dass »Visualisierung bei allen Lesern das Ausmaß, in dem ein Text wiedergegeben werden kann, stark erhöht […].« Grzesik: Texte verstehen lernen. S. 239.

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Geister seiner Eltern. Weiß er, dass da keiner ist?« kann sich also auf die Textgrundlage berufen. Ihr gewählter Begriff »Geister« trifft die Ambivalenz von etwas Vorhandenem und dabei evtl. realiter doch nicht Vorhandenem, zumal die Genitivkonstruktion sich nicht nur als genitivus subjectivus, sondern auch als objectivus lesen lässt – und in diesem Falle hätten nicht die »dort Sitzenden« ein Geheimnis, sondern das Geheimnis bezöge sich auf sie selbst, auf ihre Identität oder gar Existenz. Auch in der Bearbeitung der zweiten Aufgabe hält die Schülerin die Antwort auf die Frage, wer in der Küche sitzt, in ihrer Vorstellung bewusst offen – und reflektiert, dass der Text über diese Leerstelle ein Spiel mit den Erwartungen seiner Leser_innen treibt: »Wenn man zum Haus/Hof seines Vaters geht, würde man ja seine Familie oder wenigstens seinen Vater erwarten. Mit der Zeit bemerkt man aber, dass es sein könnte, dass da gar niemand ist, der auf ihn wartet. Er bildet sich zum Teil Geräusche ein und glaubt da sitzt jemand in der Küche.« Vor dem Hintergrund einer solchen Lektüre lässt sich im Unterricht weiteren Fragen nachgehen, denen Bildungsrelevanz zukommt, und die sich etwa daran ausrichten können, inwieweit das unzuverlässige Erzählen demonstriert, wie sehr die menschliche Wahrnehmung und Vorstellung von der Vergangenheit geprägt ist und diese in Form nur imaginierter Bezüge das Erleben im Hier und Jetzt präfigurieren, ja überformen kann (ein Aspekt, der sich auch auf die Arbeit mit dem Text in den Lektüreprotokollen beziehen lässt). Konkret können Schüler_innen dies – z.B. in Form heuristischen Schreibens – anhand des Begriffs »Heimat« näher vertiefen, der primär aus der Imagination, die eine erinnerte Vergangenheit in die Gegenwart wieder hineinholt, gespeist ist und so die Wahrnehmung überformt. Wieder auf den Text zurücklenken ließe sich dies anhand des Motivs des vermeintlich gehörten Uhrenschlags, weil es einerseits die Vergänglichkeit der Zeit bzw. der in ihr situierten Geschehnisse zum Ausdruck bringt, andererseits aber auch markiert, wie sehr das Vergangene in die Gegenwart des Erlebens hineinreichen und dieses prägen kann. Ein zweiter Schüler, Joe Cocker, geht hingegen mit Gewissheit davon aus, dass es sich bei der Gruppe der Sitzenden um die »Familie« des Erzählers handelt, ähnlich – nur dass in diesem Fall von den Eltern des Erzählers ausgegangen wird – wie was1nicesWetter, dessen Ausführungen allerdings (auch bereits zuvor) so stark von eigenen Erfahrungen mit der Familie überlagert sind, dass die Textgrundlage zunehmend aus dem Blick gerät. Grundsätzlich ist aber auch diese Vorstellung mit der Erzählung vereinbar – und vermutlich handelt es sich sogar um die, die die meisten Leser_innen ausbilden werden, da der Text weitere Spuren in diese Richtung legt, wie etwa das Interesse, das der Erzähler an den in der Küche Sitzenden zeigt, oder die Tatsache, dass er im Laufe seiner Gedanken mehrfach die Figur des Vaters erinnert und zugleich von der Gruppe nicht überrascht werden will, sodass er sich am Ende fragt, ob er selbst nicht ein Geheimnis vor ihnen zu wahren sucht. Legt man diese Lesart zugrunde, kann im Unterricht das Themenfeld einer Distanzierung von der eigenen Familie, von Geheimnissen auch im scheinbar Vertrauten, näher ausgeleuchtet werden. Zwei weitere Schüler_innen, Müller Meier und Bauer, legen sich zwar darauf fest, dass hinter der Tür eine Gruppe von Sitzenden ist, aber nicht darauf, ob es sich um die Familie oder die Eltern des Erzählers handelt. Dass Müller Meier, zumindest hypothetisch, hiervon ausgeht, geht aus dem Kommentar hervor, der auf »sei ich auch des

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Vaters, des alten Landwirts Sohn« folgt: »Familienangelegenheit, erstes Zusammentreffen nach großem Streit?« Später, im Kontext des Horchens vor der Tür, heißt es dann aber mit Blick auf »das Geheimnis der dort Sitzenden«: »Warum gibt es ein Geheimnis? Wer sitzt da?« Im Kontext der Bearbeitung der zweiten Aufgabe wird anschließend aufgrund der weiteren Thematisierungen von Familienkonstellationen im Text in bewusst vorsichtigen Formulierungen die Vorstellung einer »familiäre[n] Situation« weiterverfolgt. Bauer wiederum spricht lediglich von »Personen«, die in der Küche »sitzen« bzw. »sprechen« – und hält so verschiedene Möglichkeiten, um wen es sich handeln könnte, offen. Der Kommentar: »Weiß nicht was die Personen in der Küche sprechen. Beziehung zu ihnen scheint nicht so gut, da er/sie über Geheimnisse spricht, die vor ihm bewahrt werden.« lässt zwar den Rückschluss zu, dass davon ausgegangen wird, der Erzähler stehe in einer näheren Beziehung zu der Gruppe, diese wird aber nicht weiter konkretisiert. In der Bearbeitung der zweiten Aufgabe wird die Identität der Sitzenden in der Küche dann bewusst als Leerstelle des Textes reflektiert und offengehalten: »Als Leser möchte man wissen, warum sich diese Person dort aufhält und vor allem wer sich hinter der Tür befindet. Ich denke, dass es Absicht von dem Autor war nicht allzu viele Details zu geben, sodass der Leser sehr viel in die Geschichte reininterpretieren kann.« An die Erzählung rückbindbar sind alle drei Vorstellungs- und Inferenzbildungen (1. Unklarheit, ob überhaupt jemand da ist, evtl. sind es auch nur ›Geister‹; 2. es handelt sich um Familie bzw. Vertraute oder 3. um fremde bzw. nicht näher spezifizierte Personen). Sie beruhen aber auf verschiedenen Zugängen zum Text, die wiederum auf unterschiedliche weitere thematische Auseinandersetzungen hinführen. All diese Lesarten umkreisen das »Geheimnis« des Textes von verschiedenen Seiten aus. Hiermit ist der dritte ausgewählte Schwerpunkt der Auswertung angesprochen. Er bezieht sich auf die Schlusspassagen der Erzählung und den dort sowohl auf die Gruppe der in der Küche Sitzenden als auch auf den Erzähler bezogenen Begriff des Geheimnisses, dem so eine Schlüsselfunktion zufällt und der sich autoreflexiv auf den gesamten Text anwenden lässt, der habitualisierte Erwartungen, denen zufolge das Ende einer Erzählung Aufklärung bringen muss, durchkreuzt. Die meisten Kommentare antworten auf die bezeichnenderweise nicht mit einem Fragezeichen versehene Schlussfrage mit Gegenfragen: »Gleiches Verhalten, Warum?« (Joe Cocker), »Keine Fragezeichen. Komisches Ende. Er hat auch Geheimnisse. Alles ist so geheimnisvoll, misteriös, verschwiegen. Welches Geheimnis denn? Dass er keinen mehr hat, keine Familie, Freunde? Es wurde nicht einmal geredet. Er würde nicht reden, sondern schweigen. Wiesoo?« (Badabingbong), »Zu viele Geheimnisse, wo ist der Sinn der Handlung?« (Müller Meier)282 . Der erste Kommentar formuliert eine für die weitere Textarbeit zentrale Kernfrage, geht dieser aber nicht weiter nach. Der zweite bekundet eine Irritation, vielleicht 282 Der Kommentar von Bauer (»Stellt sich Situationen vor, die passieren könnten. Er/Sie ändert aber nichts daran.«) richtet sich auf das Verhalten des Erzählers, man kann hierhinter Unverständnis vermuten. Bei was1nicesWetter zeigt sich die immer stärkere Überlagerung der Textwahrnehmung durch den ungebrochenen Rückbezug auf eigene Erfahrungshintergründe, die die Rezeption zum Ende hin fast ausschließlich dominieren: »Das stimmt irgendwie. Aber ich würde doch meine Eltern vermissen. Wenn ich mich mit ihnen streiten würde, hätte ich immer das Bedürfnis sie in den Arm zu nehmen, mich mit ihnen zu versöhnen. Ich hätte doch irgendwann ein schlechtes Gewissen.«

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auch Enttäuschung (»komisches Ende«), führt dann aber weitere Beobachtungen und Fragen auf, mit denen sich im Unterricht weiterarbeiten ließe. Der letzte Kommentar weist nicht nur darauf hin, dass die Erzählung den Erwartungen des Schülers insofern nicht gerecht zu werden scheint, als sie sich ihm zu verrätselt präsentiert, er zeigt auch, dass eine ›Lösung‹ dieser Probleme in Form eindeutiger Sinnzuschreibungen angestrebt wird, die nicht anhand von Beobachtungen auf der Ebene des discours, sondern auf der der histoire erfolgen soll. Hier wird letztlich auf Grundlage von Kompetenzen gearbeitet, die dem Leseverstehen pragmatischer Texte zugeordnet sind, genuin literarische Sprachverwendungs- und somit auch ästhetische Rezeptionsmodi aber nicht abbilden können. Frustration, negative Wertungen bis hin zu einer Weigerung, sich überhaupt noch weiter mit dem Text auseinandersetzen zu wollen, sind die Folge. Einen solchen Zusammenhang bestätigen auch andere interlineare Lektürekommentare von Teilnehmer_innen des Kurses. Freeman notiert am Ende etwa: »Wirklich!? Gerade wo es anfängt interessant zu werden, muss wieder ein Offenes Ende kommen!«, bei haha heißt es: »(Was zum Geier ein tiefgründer Schluss satz über den ich mir grad keine Gedanken machen will, und ich habe den ganzen text versucht die geschichte und den hintergrund genauer zu verstehen und eine Analyse, naja teilweise, vorgenommen) (oh man oh man bin ich in einem Schulanalytischen System gefangen) (Schrecklich).« Auch wenn diese letzte Aussage in ihrer Schärfe nicht repräsentativ für die anderen Protokolle ist, so gehen viele Kommentare hier doch in eine Richtung: Es ist ein Bestreben erkennbar, vermutlich unterstützt durch eine Erwartungshaltung, die das »schulanalytische System« bei ihnen aufgebaut hat, der Erzählung möglichst klare Aussagen oder einen eindeutigen ›Sinn‹ ›abzuhorchen‹; der Umgang mit dem offenen Schluss, der mehr Fragen hinterlässt als auflöst, fällt schwer. Dabei wird einerseits die Verweigerung der Erzählung gegenüber letztgültigen Sinnzuschreibungen durchaus wahrgenommen, andererseits aber i.d.R. nicht als Qualität, sondern als Defizit des Textes oder der eigenen Rezeptionsfähigkeiten aufgefasst – sodass diese Offenheit weitere eigene Vorstellungs- und Imaginationsbildung oder begrifflich vermittelte Hypothesenbildungen nicht aktivieren kann.283 Aspektgeleitetes Fazit und didaktische Reflexion Die textnahe Lektüre ›triggert‹ bei den Schüler_innen und Studierenden, die sich hierauf einlassen, die Vorstellungs- und Imaginationsbildung nachhaltig – nicht zuletzt deshalb, weil die Textrezeption verlangsamt wird und so auch die notwendige Zeit zur Verfügung steht, um Vorstellungen auszubilden. Die Kommentare sind dabei überwiegend zunächst auf eine inhaltliche Rekonstruktion und Vergegenwärtigung der Handlungsebene bezogen (was auch eine Grundlage für alle hierauf aufbauenden Verste283 Vgl. hierzu auch das Protokoll von Indra. Es steht exemplarisch für einen Zugang mancher Schüler_innen zum Text in der Form, dass das Verhalten des Erzählers bewertet wird bzw. ihm Ratschläge für seine Handlungen gegeben werden. Hier verbindet sich dies zudem mit einer impliziten Kritik am offenen Schluss: »Also ist es jetzt die Frage der Sorte der Geheimnisse. Hier haben wir nichts. Wissen tust du nichts, ich nichts vielleicht der Autor oder die Personen in der Küche. Wenn sie denn überhaupt etwas verbergen. In wie fern verbergen diese mit ihren Taten überhaupt etwas? Kein Schwein kann wissen, dass du vor der geschlossenen Küchentür stehst. Nocheinmal. Geh, oder geh nicht. Spekulationen helfen keinem.«

5. Didaktische Ziele und Vermittlungsformen literarästhetischer Literalität

hensprozesse bildet), gehen aber auch darüber hinaus auf die vom Text vermittelte Stimmung ein, enthalten Wertungen, thematisieren eigene Emotionen während der Lektüre oder vollziehen die des Erzählers nach und nehmen, oft in Form von Fragen, Leerstellen der Erzählung wahr. Beobachtungen zur sprachlichen Gestaltung (wie etwa zum Satzbau oder zum fehlenden Fragezeichen am Ende) sind seltener, gleiches gilt für reflektierte Symbolbildungsprozesse. Die folgende Auswertung fasst die zuvor an einzelnen Beispielen herausgearbeiteten Ergebnisse im Hinblick auf Potentiale und Problematiken textnahen Lesens in der hier vorliegenden Form der Lektüreprotokolle für den Einsatz im Literaturunterricht zusammen und leitet hieraus notwendige oder mögliche weitere didaktische Rahmungen ab. •

Individuelle Verschiedenheit

Die Protokolle bestätigen Annahmen der Lesepsychologie, wonach gerade über die Vorstellungsbildung im Rezeptionsprozess immer »subjektive individuelle Information« präsent ist.284 Dies ist infolge unterschiedlicher Vorstellungs- und Imaginationsbildungen einer Individualisierung der Textrezeption förderlich. Es macht aber auch auf die Gefahr aufmerksam, dass gerade die infolge der Verlangsamung möglich werdende Vertiefung dieser Aneignungsmodi beim textnahen Lesen ins Gegenteil kippen und zum ›textfernen‹ Lesen führen kann. Ein Beispiel hierfür ist das Protokoll von was1nicesWetter, bei dem die Textwahrnehmung an vielen Stellen hinter den Bezügen zur eigenen Lebenswelt nahezu verschwindet – und hiermit auch das ästhetische Irritationspotential der Erzählung. Nicht zuletzt deshalb werden Formen des Austausches unter Rückbezug auf die Textvorlage notwendig, die es den Lernenden ermöglichen, auch in ein kritisch-reflexives Verhältnis zu ihrer Vorstellungs- und Imaginationsbildung und deren Grundlagen bzw. Bedingungen zu treten. Analytisch lässt sich etwa im Zuge von Wiederholungslektüren, die mit spezifischen Arbeitsaufträgen zur besseren Fokussierung verbunden werden, mit den zunächst ausgebildeten Vorstellungen und Imaginationen weiterarbeiten. Die Schüler_innen gehen hierbei einer gemeinsamen Fragestellung nach, bearbeiten diese aber auf Grundlage ihrer ersten individuellen Zugänge – angeleitet etwa durch folgenden Arbeitsauftrag: »Welche vom Text evozierten Stimmungen haben Ihre Vorstellungsbildung in den Kommentaren dominiert? Gehen Sie auf die Begriffe oder sprachlichen Wendungen ein, die dem zugrunde lagen, und begründen Sie, warum Sie hierzu die entsprechenden Vorstellungen ausbildeten. Setzen Sie die verschiedenen Elemente anschließend in Beziehung zueinander.« Auch kann ein gemeinsamer Austausch über die einzelnen Lektüreeindrücke erfolgen, der Gemeinsamkeiten und Unterschiede bewusst macht und diese unter Rekurs auf die Textgrundlage thematisiert. So lassen sich Kippfiguren im Sinne Isers erschließen, etwa indem man den Arbeitsauftrag gibt, solche Textelemente, die positive Eindrücke, und solche, die negative Eindrücke hinterlassen haben, herauszusuchen. Hierdurch werden die unterschiedlichen Reaktionen und die Frage, inwieweit sie mit der

284 Vgl. Grzesik: Texte verstehen lernen. S. 235; im Original kursiviert.

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Textgrundlage vereinbar sind, thematisch.285 In diesem Zusammenhang kann Schüler_innen auch die Aufgabe gestellt werden zu prüfen, an welchen Punkten ihre individuellen Erfahrungshintergründe oder kulturellen Prägungen die Textwahrnehmung überlagern. Eine Umsetzung dessen stößt allerdings insofern auf Schwierigkeiten, als damit der Schutz der Anonymität, der für die Arbeit an den Lektüreprotokollen wichtig ist, aufgehoben wird. Hier kann nur von Lerngruppe zu Lerngruppe konkret entschieden werden, ob sich solche Gespräche im Plenum führen lassen oder eine weniger große ›Öffentlichkeit‹ zumindest in Form von Gruppen- oder Partnerarbeit sinnvoll ist. Um diese textfokussierte Arbeit anschließend wieder stärker für individuelle Zugänge zu öffnen, bieten sich handlungs- und produktionsorientierte Aufgaben an, die einen Rückbezug zu den Leerstellen, die der Text aufweist, herstellen. So können die Schüler_innen im vorliegenden Fall z.B. entweder das offene Ende der Erzählung fortschreiben, in Form einer hypothetischen Rückblende einen neuen Text mit der gleichen Erzählerfigur unter dem Titel »Abschied« verfassen oder eine eigene Erzählung unter dem Titel »Rückkehr« schreiben, die an einem Ort ihrer Kindheit spielt. • Bedeutung von Fragen Viele Protokolle zeichnen sich durch die Häufigkeit von Fragen, die an den Text bzw. die eigene Rezeption gerichtet werden, aus. Sie beziehen sich oft auf den Handlungsverlauf, gehen aber auch darüber hinaus und nehmen etwa Elemente, die unter Isers Begriff der Leerstelle fallen, in den Blick. Dieses hohe Aufkommen an Fragen bestätigt deren bereits entfaltete Bedeutung für die literarische Textrezeption. Es zeigt, wie schwankend sich der Lektüreprozess nicht nur hinsichtlich begrifflicher Sinnzuweisungen, sondern auch in der Vorstellungsbildung gestaltet – und wie groß die Gefahr ist, hier im Unterricht durch vorschnelles Schließen von Leerstellen dem entgegenzuarbeiten und den Text so ›stillzustellen‹; zumal dies der sich auch in den Protokollen dokumentierenden Erwartungshaltung vieler Schüler_innen entspricht, was sich sowohl an den oben dargelegten Kommentaren zum Schlusssatz als auch anhand der Bearbeitungen der zweiten Aufgabe aufzeigen lässt. Nahezu alle Kommentare weisen hier eine Tendenz auf, sich von den sprachlichen Details zu lösen und so der Offenheit des Textes nicht mehr gerecht zu werden, weil Irritationen, die die Vorstellungen und Gedanken in eine andere Richtung hätten bringen können, nicht (mehr) bemerkt werden. Um dem entgegenzuarbeiten, wird es notwendig, den ersten Textzugang offenzuhalten, und die Lernenden darin zu bestärken, Fragen an den Text zu stellen und sich durch das Irritationspotential, das ihre Vorstellungs- und Verstehensentwürfe immer wieder durchkreuzt und Fragen provoziert, nicht entmutigen zu lassen. Oftmals werden gerade die Zugänge, die sich dem Text zunächst einmal im Fragemodus oder in Form vorsichtiger Hypothesenbildungen annähern – und auch bereit sind, diese später wieder zu revidieren –, dem Text am gerechtesten. Das Protokoll von Badabingbong, in manchen Passagen aber auch das von Bauer, Müller Meier oder Joe C ocker, zeigt, dass

285 Vgl. hierzu etwa die oben dargestellten unterschiedlichen Reaktionen auf den Satz »Ich bin angekommen.«.

5. Didaktische Ziele und Vermittlungsformen literarästhetischer Literalität

eine Fragehaltung der Auseinandersetzung mit dem Text förderlicher ist als allzu rasche Antworten, die vermeintliche Probleme lösen. Während Badabingbong am Ende der zweiten Aufgabenbearbeitung konstatiert: »Ich selber habe mir auch viele Fragen gestellt, die ich mir auch nachdem ich den Text 2 mal gelesen habe, nicht beantworten kann. Es bleibt also vieles offen.«, schöpfen Lektüren wie die von was1nicesWetter, der infolge subjektiver Überformungen am Ende keine Fragen mehr an den Text richtet, sein ästhetisches Potential kaum aus. Durch sehr rasche (und mit Blick auf die Textgrundlage auch fragwürdige) Bezüge auf die eigene Lebenssituation – schon zu einem frühen Zeitpunkt der Lektüre – wird dieses Potential hinter (vermeintlichen) Antworten gar nicht erst auf- und so das »Geheimnis« des Textes zugedeckt, bevor es überhaupt in seiner Rätselhaftigkeit wahrgenommen wurde. Dies führt auch dazu, dass die teils sehr persönlichen Kommentare zwar eine Auseinandersetzung mit eigenen Lebensverhältnissen erkennen lassen, über Irritationen, die der Text auslöst, aber häufig rasch in der Form hinweggegangen wird, dass dem in Form von Selbstvergewisserungen das eigene positiv besetzte Verhältnis zur Familie entgegengestellt wird.286 Auch dann, wenn sich die Fragen zunächst häufig auf eine inhaltliche Rekonstruktion beziehen, führen sie hierüber oftmals auch auf die Gestaltungsebene; gerade weil die Frage, wie bestimmte Handlungszusammenhänge zu verstehen sind, zentral mit der sprachlichen Gestaltung verknüpft ist. So bemerkt Müller Meier im Anschluss an die vom Erzähler an sich selbst oder die Lesenden gerichteten Fragen: »Ist Dir heimlich, fühlst du dich zu Hause?«: »Wer stellt diese Frage? Wer erwartet einen?« Und zu dem Satz »Was sonst in der Küche geschieht ist das Geheimnis der dort Sitzenden […].« notiert er: »Warum gibt es ein Geheimnis? Wer sitzt da?« Im ersten Fall wird eine relevante erzähltechnische Irritation bemerkt, nämlich die Anrede in der zweiten Person Singular, und im zweiten auf zentrale Leerstellen der Erzählung verwiesen. Den Fragen kann somit auch die Funktion zukommen, eine Art ›Aufschub‹ im Prozess der Sinnzuschreibung zu bewirken, um mit verschiedenen Möglichkeiten und Varianten zu ›jonglieren‹. Dabei ist allerdings auch zu beobachten, dass Schüler_innen, die zuvor verschiedene Textzugänge fragend erprobt haben, am Ende dennoch die Erwartung einer klaren ›Lösung‹ bzw. Textaussage haben (so z.B. Joe Cocker). Das große Aktivierungspotential, das eine aus Formen des Nichtverstehens hervorgehende Fragehaltung freisetzen kann, weil sie zu einem experimentellen Spiel mit dem Text anzuleiten vermag, wird so wieder resorbiert. Analoges gilt auch für einen bestimmten Typ von Fragen, der beim Bekunden von Irritationen stehenbleibt, ohne diesen weiter nachzugehen – etwa wenn Müller Meier zu dem Satz »was kann ich ihnen nützen, was bin ich ihnen« kommentiert: »unlogisch warum Nutzen?«. Fragen dieser Art formulieren ein Unverständnis, das aber nicht weiterverfolgt wird, sie bereiten so eher einen Abbruch der Auseinandersetzung mit dem Text vor, als dass sie die Irritation als Chance begreifen. Fruchtbar für die 286 Vgl. etwa die Kommentare im Anschluss an den Satz »Ich weiß es nicht, ich bin sehr unsicher.«: »Hier wird mir das Gefühl der Einsamkeit vermittelt ich bin aber nicht einsam keineswegs […].« oder auf »Was kann ich ihnen nützen«: »Wem nützen? Meinen Eltern? Ich tue was ich kann für meine Eltern naja jedenfalls meistens ich versuche mein Bestes zu geben und meine Eltern zu unterstützen«.

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Textrezeption werden Fragen vor allem dann, wenn den Lernenden die Spezifik literarischer Textrezeption und deren Differenzen zum Umgang mit pragmatischen Texten vermittelt werden kann. Aufgabe des Unterrichts wird es, mit solchen Irritationen weiterzuarbeiten, sie offen zur Diskussion zu stellen und auf die Textwahrnehmung zurückzulenken. • Dialektik von Fragmentierung und Vernetzung Die im Zuge der Erstlektüre erfolgende sukzessive Kommentierung des Textes geht mit der Fragmentarisierung seiner Leseeinheiten einher. Dies gewährleistet einerseits eine höhere Vorstellungs- und Imaginationstätigkeit und eine Wahrnehmung des Textes, die zunächst einmal nicht unmittelbar auf Synthetisierungsakte ausgelegt ist, was aufgrund der ohnehin vorhandenen Erwartungshaltung, zu geschlossenen Verstehensmodellen zu gelangen, vorteilhaft sein kann. Andererseits droht aber auch die Gefahr, das Gesamtgefüge des Textes so mitunter aus dem Blick zu verlieren; die Kommentare zeigen, dass zumindest im Rahmen der Erstlektüre die Beobachtungen z.T. wenig miteinander verknüpft sind. Hieraus resultiert die Notwendigkeit, auch im Kontext imaginativer Annäherungen an den Text einzelne Details nicht nur aus der Froschperspektive des interlinearen Kommentars der Erstlektüre, sondern auch aus der Vogelperspektive der Wiederholungslektüre zu beobachten und mit anderen zu vernetzen. Im Unterricht bleiben solche Lektüren oftmals kognitiv-analytischen Auseinandersetzungen vorbehalten, die dann häufig gerade nicht mehr im Modus des Spekulativen verbleiben, sondern auf feste Sinnzuschreibungen ausgehen. Handlungs- und produktionsorientiert ausgestaltete Arbeitsaufträge bieten hier die Chance, Vorstellungs- und Imaginationstätigkeiten auch im Rahmen von Relektüren perspektivisch variabel zu halten und so zugleich veränderte begrifflich-kognitive Zugänge zum Text zu erproben. Mit Blick auf die Kafka-Erzählung wäre dies etwa in der Form möglich, dass die Schüler_innen nach einer genauen Lektüre des Textes eine Collage zu ihm anfertigen und anschließend begründen, auf Basis welcher Passagen und hierzu ausgebildeten Vorstellungen sie die einzelnen Bilder ausgewählt haben und wie sie untereinander in Beziehung stehen. •

Vorstellungsbildung auf Grundlage sprachlicher Klangphänomene

Eine Vorstellungsbildung anhand expliziter Verweise auf sprachliche Klangphänomene findet sich in keinem der Protokolle. Daraus lässt sich mit einiger Wahrscheinlichkeit ableiten, dass eine bewusste und reflektierte Subvokalisation nicht erfolgte. Unberührt davon bleibt, dass ein unbewusstes hörendes Lesen dem Vorstellungsaufbau auch hier zugrunde liegen dürfte. Sätze wie »Ich bin angekommen.« oder die ohne entsprechendes Satzzeichen formulierte Schlussfrage »Wäre ich dann nicht selbst wie einer, der sein Geheimnis wahren will.« bedürfen einer Entscheidung, wie man sie sich gesprochen vorstellt – und werden je nach Ausprägung auch den weiteren Zugang zum Text entscheidend steuern. Das »Ich bin angekommen.« kann etwa erschöpft, enttäuscht, zynisch, in die Situation ergeben oder mit einer sentimentalen Freude zur Vorstellung

5. Didaktische Ziele und Vermittlungsformen literarästhetischer Literalität

gebracht werden. Die offene Form der Protokolle bietet hierzu grundsätzlich Raum, die Lernenden müssen aber zuvor entsprechend sensibilisiert werden.287 Auch finden sich keine Kommentare, die einzelne klangmalerische Phänomene des Textes wahrnehmen und hierzu Vorstellungen ausbilden. Die fünfmalige Wiederholung des Verbs »horchen« in zwei aufeinanderfolgenden Sätzen im letzten Drittel des Textes erzeugt mit den beiden Frikativen in der Mitte des Wortes einen wiederholten, einmal durch stimmhafte Reibung am weichen, dann durch stimmlose Reibung am harten Gaumen gebildeten Luftstrom im sprachlichen Klangbild, dessen Härte und ›Kälte‹ die Situation des Erzählers phonetisch nachbildet und vermutlich auf unbewusster Ebene zum Aufbau von Vorstellungen nicht unerheblich beiträgt. Gleich zwei Schüler stellen im Übrigen genau an diesem Punkt wieder eine entscheidende Frage, die allerdings nicht produktiv für die weitere Auseinandersetzung gemacht wird. Die Häufung des Begriffs »horchen« fällt sowohl Müller Meier als auch Joe Cocker auf – und führt zu Irritationen hinsichtlich der Tatsache, dass der Text zugleich sagt, dass der Erzähler »nichts« erhorcht. Joe Cocker fragt: »warum dann das horchen oder diese aufwendige Beschreibung des Horchens«, Müller Meier: »unnötig, warum horcht er dann überhaupt?« Exemplarisch zeigen beide Fragen, dass die Schüler sprachliche Auffälligkeiten des Textes wahrnehmen, die hierdurch ausgelösten Irritationen aber durch einen Rekurs auf die Handlungsebene der Erzählung beantworten wollen, was scheitert. Ein Unterricht, der ihnen vermittelt, dass diese Beobachtungen oftmals dann produktiv werden, wenn sie mit Blick auf die Ebene der sprachlichen Materialität und ihrer erzähltechnischen Gestaltung des Textes ausgewertet würden, kann Schüler_innen befähigen, sich zwei zentrale Charakteristiken der Erzählung zu erarbeiten: zum einen die Unzuverlässigkeit des Erzählers (der zwar »nichts« erhorchen kann, zugleich aber von einer Gruppe Sitzender in der Küche spricht, in die er optisch keinen Einblick hat), zum zweiten, dass dieser auffälligen Wiederholung des Begriffs »horchen« hier auch die Funktion zukommt, die Aufmerksamkeit auf die Materialität des sprachlichen Klangs – ganz im Sinne der poetischen Funktion Jakobsons – zu richten. •

Problematiken der Methode

Der Tatsache, dass es eine ganze Reihe von Protokollen gibt – die Quote lässt sich je nach Wahrnehmung auf rund ein Drittel beziffern –, die dokumentieren, dass die Schüler_innen hier keinen differenzierten Zugang zum Text gefunden haben, lässt verschiedene Rückschlüsse zu. Dies kann seinen Grund zum einen darin haben, dass diese Gruppe grundlegend kein Interesse am Text zeigt und auch andere methodische Erschließungsformen ein ähnliches Ergebnis gebracht hätten. Es kann weiterhin von äußeren Begleitumständen herrühren.288 Allein hierauf sollen einige unbefriedigende

287 Vgl. zu entsprechenden Möglichkeiten die Ausführungen im ersten Teilkapitel. 288 Die Doppelstunde, in der die Daten erhoben wurden, lag bereits im Nachmittagsunterricht, wo einigen vielleicht die nötige Konzentration fehlte. Es war zudem – vgl. das Pseudonym was1nicesWetter – seit langer Zeit der erste schöne Frühlingstag, der Unterricht endete nach den beiden Stunden, was bei einzelnen vielleicht auch nicht zu großer Motivation beitrug. Schließlich hatten einige Schüler_innen in parallel liegenden Kursen an dem Nachmittag aufgrund mündlicher Ab-

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Ergebnisse aber nicht geschoben werden. Denn das gewählte Verfahren gewährt einerseits große Freiheiten und öffnet die Auseinandersetzung mit dem Text für individuelle Zugänge, es lässt die Lernenden aber auch buchstäblich alleine mit ihm. Dies kann insbesondere bei schwächeren oder wenig motivierten Schüler_innen dazu führen, dass sie sich überfordert fühlen. Hier kann es hilfreich sein, nicht sofort den vollständigen Text zur Kommentierung zu geben – und zudem Möglichkeiten zu bieten, sich zu einem früheren Zeitpunkt, etwa nach der Lektüre von nur zwei oder drei Zeilen, über die jeweiligen Vorstellungen, Imaginationen oder Gedanken mit anderen auszutauschen. Gerade wenn eine Klasse oder ein Kurs mit dem Verfahren noch nicht vertraut ist, macht es Sinn, zunächst diese Variante zu bevorzugen. Ein vorgezogener Austausch hat Vor- und Nachteile: Einerseits kann er Schüler_innen von Vorstellungen abbringen, die mit der Textgrundlage grundsätzlich nicht mehr vereinbar sind, und er vermag die eigene Vorstellungsbildung durch die Konfrontation mit den Perspektiven anderer anzuregen. Dies wird andererseits aber dadurch erkauft, dass man einen Teil der sonst durchgehend gewährten Anonymität preisgibt – und eine Beeinflussung des eigenen Blicks auf den Text durch die Äußerungen anderer, die nicht immer zu Bereicherungen, sondern mitunter auch zu Verkürzungen oder Verzerrungen führen können, in Kauf nimmt. Eine mögliche Lösung bieten hier Formen von Binnendifferenzierungen: Ein Teil der Gruppe (entweder leistungsstarke oder mit dem Verfahren vertraute und hiermit bereits gut arbeitende Schüler_innen) bearbeitet längere Passagen, ggf. den gesamten Text, ein anderer Teil (leistungsschwächere Schüler_innen oder solche, die sich mit dem Verfahren schwertun) nur einzelne Abschnitte, wobei im Anschluss an jede Schreibphase ein Austausch in Form von Partner- oder Gruppenarbeit erfolgt.289 Auch mit Blick auf weitergehende Fragen von Inklusion kommt der Aufgabenform durch ihre Offenheit Potential zu – in beiden oben angesprochenen Varianten. Die Schüler_innen können ihren Zugang zum Text in unterschiedlicher Art und Weise ausgestalten. Auch wenn die Protokolle zeigen, dass die Vorstellungs- und Imaginationsbildung mit kognitiven, begrifflich gebundenen mentalen Operationen verbunden ist, so lassen sich individuell Schwerpunkte setzen; Schüler_innen mit Förderschwerpunkten im Bereich des Lernens oder der geistigen Entwicklung kann die Möglichkeit eröffnet iturprüfungen an der Schule unterrichtsfrei; ich hatte hier für diesen Deutschgrundkurs eine Art Vertretungsfunktion übernommen. 289 Ein solches Verfahren lässt sich in anderer Form auch im Kontext eines gemeinsamen Unterrichtsgesprächs durchführen. Hierzu können der Lerngruppe kürzere Passagen der Erzählung diktiert oder durch Projektion zur Bearbeitung gegeben werden. Den Schüler_innen wird so lange Zeit gegeben, bis sie – etwa durch ein Handzeichen – signalisieren, dass sie eine Vorstellung hierzu ausgebildet haben; diese sollte stichwortartig fixiert werden. Es folgt ein anschließender Austausch darüber, welche Bilder oder andere Eindrücke der Text bei den einzelnen Schüler_innen aufruft. Dieses Verfahren kann auch mit anderen Fokussierungen als der Vorstellungsbildung produktiv sein; etwa hinsichtlich von Beobachtungen zur sprachlichen Gestaltung. Sein Vorteil liegt darin, dass zunächst den Einzelnen ausreichend Zeit gegeben wird, um individuelle Textrezeptionsprozesse in Gang zu setzen, bevor die gesamte Gruppe sich dann hierüber austauscht – so wird ein höherer Grad an Aktivierung aller Schüler_innen möglich.

5. Didaktische Ziele und Vermittlungsformen literarästhetischer Literalität

werden, zunächst einmal assoziativ, über die Bildung eigener Vorstellungen und Imaginationen in ein Verhältnis zum Text zu treten, das in darauf folgenden Arbeitsschritten dann sukzessive begrifflich-kognitiv erweitert wird.

5.3. 5.3.1.

Begriffsgebundene Kognition Grundlagen und Vermittlungsziele

Auch wenn Textanalysen sowie Sinn- und Bedeutungszuschreibungen von einer reichhaltigen und differenzierten Vorstellungsbildung profitieren, so muss ein Schüler oder eine Schülerin, auch dann, wenn er oder sie sich »einen literarischen Text imaginativ angeeignet hat […], ihn deshalb noch nicht literarisch verstanden haben«290 . Da die Ausbildung kognitiver Fähigkeiten im Literaturunterricht fest verankert ist, muss keine eingehende Begründung ihrer Relevanz erfolgen, wie dies in den beiden vorhergehenden Teilkapiteln geschah. Es ist aber genauer als für die sinnliche Wahrnehmung und Vorstellungs- sowie Imaginationstätigkeit zu prüfen, inwieweit diese Fähigkeiten bereits im Rahmen eines kompetenzorientierten Literaturunterrichts ausbildbar sind, denn im Gegensatz zu den anderen beiden Erkenntnisvermögen sind sie mit der kognitiven Ausrichtung des Kompetenzbegriffs Weinerts grundsätzlich vereinbar. Die bisherigen Überlegungen machten allerdings deutlich, dass der Gebrauch kognitiver Fähigkeiten in ästhetischen Rezeptionsprozessen einer veränderten Struktur folgt, die nicht auf finale begriffliche Auflösungen ausgerichtet ist. Deshalb sind auch in diesem Bereich tentative Zugänge zu ermöglichen, die sich dem Text im Modus des Versuchs und der Erprobung annähern. Im Zuge dessen werden einerseits unterrichtliche Verfahren relevant, die zunächst am Irritationspotential literarischer Texte ansetzen und dieses nicht zugunsten eines oftmals schematischen Abarbeitens analytischer Kategorien oder eines reinen ›Absuchens‹ des Textes auf in ihm wiederzufindende Gattungs- oder Epochenmerkmale stillstellen.291 Hierüber erhalten bottomup-Prozesse im Textverstehen ein größeres Gewicht als begriffs- bzw. kategoriengeleitete top-down-Prozesse, weil sie einen höheren Grad an Individualisierung und Auffächerung von Sinnzuschreibungen sowie eine bessere Fokussierung des sprachlichen Materials und seiner Gestaltung erlauben. Andererseits gilt, dass gerade Schüler_innen als Novizen von der Vermittlung kategoriengeleiteter analytischer Methoden und der Bereitstellung von Kontextwissen profitieren. Denn diese bieten eine Hilfe bei der Wahrnehmung und Erschließung künstlerischer Gestaltungsformen, der Vernetzung einzelner Beobachtungen und der Erschließung möglicher Sinnzuschreibungen. Diese ersten Überlegungen deuten bereits an, wie heterogen sich auf diesem Feld die Anforderungen gestalten und wie notwendig es 290 Waldmann: Produktiver Umgang mit Literatur im Unterricht. S. 33. 291 Hierbei bleibt weiterhin relevant, dass dieses Irritationspotential die Schüler_innen zum einen nicht überfordert und zu Blockaden führt und zum anderen ein Bezug zu ihrer Lebenswelt im weiteren Sinne hergestellt wird. Denn das Irritationspotential kann nur dann seine Kraft entfalten, wenn eine Anknüpfung an Denk- und Wahrnehmungsgewohnheiten der Schüler_innen erfolgt – auch in Form ihrer Überschreitung.

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wird, zwischen kognitiven Fähigkeiten, die innerhalb des Weinert’schen Kompetenzbegriffs anzusiedeln sind, und solchen, für die dies nicht mehr gilt, zu unterscheiden. Dies sei am Beispiel der drei ersten Kompetenzen, die in den Bildungsstandards im Fach Deutsch für die Allgemeine Hochschulreife für den Umgang mit literarischen Texten aufgeführt sind, verdeutlicht. Dort heißt es: Die Schülerinnen und Schüler können: • Inhalt, Aufbau und sprachliche Gestaltung literarischer Texte analysieren, Sinnzusammenhänge zwischen einzelnen Einheiten dieser Texte herstellen und sie als Geflechte innerer Bezüge und Abhängigkeiten erfassen • eigenständig ein Textverständnis formulieren, in das sie persönliche Leseerfahrungen und alternative Lesarten des Textes einbeziehen, und auf der Basis eigener Analyseergebnisse begründen • ihr Textverständnis argumentativ durch gattungspoetologische und literaturgeschichtliche Kenntnisse über die Literaturepochen von der Aufklärung bis zur Gegenwart stützen292 Diesen ›Kompetenz‹erwartungen liegen Operationen auf (zumindest) vier voneinander abgrenzbaren Bereichen zugrunde, von denen manche sich dem Weinert’schen Kompetenzbegriff nicht mehr zurechnen lassen. Den ersten Bereich bilden Fähigkeiten, die in der Tat messbare Leistungen in der Aufgabenbearbeitung erfordern. Beispiele hierfür sind gattungspoetologische Fragen der Bestimmung etwa der lyrischen Form eines Sonetts, dessen Aufbau (wieder)erkannt werden muss. Auch die Erfassung einzelner Gestaltungsmerkmale, wie einer bestimmten Erzähltechnik, etwa die des autodiegetischen als Sonderfall des homodiegetischen Erzählens in Goethes Briefroman Die Leiden des jungen Werther 293 , ist hierunter zu fassen, ebenso die Identifizierung rhetorischer Stilfiguren auf Wort-, Satz- oder Klangebene. Dies gilt in gleicher Weise für bestimmte Fälle der geforderten literaturgeschichtlichen Kontextualisierungen, auch hinsichtlich der Gestaltungsmerkmale eines Textes. Das Sonett etwa lässt sich als typische Form barocker Lyrik ausmachen, es repräsentiert dessen Ausrichtung an einem festen Kanon streng definierter künstlerischer Formen, die dann ausgestaltet werden. In solchen Fällen ist eine Lösung der Aufgabe klar vorgegeben; die Leistung besteht darin, auf Grundlage erlernten deklarativen oder prozeduralen Wissens in Gestalt von Klassifizierungen oder Analysetechniken bestimmte Textmerkmale zu identifizieren bzw. zu untersuchen und den korrekten Begriffen zuzuordnen. Die hierfür notwendigen kognitiven Operationen folgen dem Kant’schen Begriff der bestimmenden Urteilskraft, da wahrgenommene Phänomene auf vorgegebene, allgemeine Begriffe gebracht werden müssen. Sie sind im Rahmen des Kompetenzbegriffs abbildbar; es handelt sich um eine Applikation erlernter Fachtermini, Kategorien oder Instrumente auf einen Text, die sich im Rahmen eines Wiedererkennens bzw. einer in vorgegebenen Mustern erlernten Anwendung vollzieht.

292 Bildungsstandards im Fach Deutsch für die Allgemeine Hochschulreife. S. 18. 293 Vgl. Martinez/Scheffel: Einführung in die Erzähltheorie. S. 82-84.

5. Didaktische Ziele und Vermittlungsformen literarästhetischer Literalität

Zu einem literarästhetischen Verstehen können (und werden allermeist) diese kognitiven Leistungen beitragen, sie bilden es selbst aber nicht nach. Die Bestimmung eines literaturgeschichtlichen Kontextes, einer poetologischen Gattung, spezifischen Erzähltechnik oder sprachlichen Auffälligkeit sagt weder etwas darüber aus, ob die Lernenden in einen Rezeptionsmodus eintreten, in dem diese Beobachtungen analytisch mit anderen Beobachtungen vernetzt und mit Sinnzuschreibungsprozessen verbunden werden, noch darüber, ob diese variabel und reversibel gehalten werden, etwa infolge einer Reperspektivierung des sprachlichen Materials. Ebenso wenig stehen sie in einem ursächlichen Zusammenhang zum Genuss künstlerischer Gestaltungsformen. Anforderungen auf diesem Gebiet decken folglich den Bereich angewandten Wissens im Rahmen des Weinert’schen Kompetenzbegriffs ab, sie machen aber nicht mit spezifisch ästhetischen Funktionen literarischer Texte vertraut und können deshalb auch das hieraus für Bildungsprozesse hervorgehende Potential nicht ausschöpfen. Die einem zweiten Bereich zuzuordnenden Fähigkeiten, wie etwa »Sinnzusammenhänge zwischen einzelnen Einheiten dieser Texte herstellen und sie als Geflechte innerer Bezüge und Abhängigkeiten erfassen«, lassen sich bereits schwerer in Form von Aufgaben mit vorgegebenen Ergebnissen operationalisieren.294 Dies hat produktions- wie rezeptionsästhetische Gründe. Letztere liegen darin, dass strukturalistisch-semiotische Analysen zur sprachlichen Gestaltung, das machten Barthes’ Gedanken zur »strukturalistischen Tätigkeit« deutlich, zu einem gewissen Grad immer auch individuell und kulturell verschiedenartigen Herangehensweisen unterworfen sind; auch werden die Schüler_innen je nach ihrer Einbettung in Unterrichtskontexte (etwa in Form hinzugezogener literatur- oder kulturgeschichtlicher Zusammenhänge) zu unterschiedlichen Bearbeitungen kommen. Deren Ergebnisse sind falsifizierbar, aber nicht vollständig prognostizierbar und somit auch nicht in letzter Konsequenz operationalisierbar. Welche Oppositionen oder Isotopien etwa einer strukturalistischen Textanalyse zugrunde gelegt werden, wird sich zwar keineswegs als beliebig, aber doch als innerhalb gewisser Grenzen variabel erweisen. So werden die beiden in den Bildungsstandards aufgeführten Kompetenzen, das »Herstellen« von »Sinnzusammenhängen zwischen einzelnen Einheiten dieser Texte« und deren Erfassung »als Geflechte innerer Bezüge und Abhängigkeiten«, dem im dritten Kapitel entwickelten Literaturbegriff einerseits gerecht. Begreift man andererseits aber mit Lotman auf produktionsästhetischer Ebene Heterogenität als literarisches Konstruktions- und Kompositionsprinzip, dann erfordert diese »ständige Informationsaktivität der künstlerischen Struktur über die gesamte Ausdehnung des Textes hin«295 einen Umgang mit dem Text, der sich aufgrund seiner Unvorhersehbarkeit nicht mehr im Rahmen von Weinerts Kompetenzbegriff verankern lässt, sondern einer literarästhetischen Literalität zuzurechnen ist. 294 Je nach literarischem Bezugstext, auf den diese Fähigkeiten angewendet werden, können hierunter auch bereits die unter dem ersten Punkt aufgeführten Kompetenzen fallen. Dies gilt etwa für gattungspoetologische Fragen, die sich nicht länger eindeutig beantworten lassen (Kafkas Kleine Fabel wäre hierfür ein Beispiel) oder literaturgeschichtliche Kontextualisierungen, die zu ambivalenten Einschätzungen führen. Vgl. hierzu die Ausführungen weiter unten. 295 Lotman: Die Struktur literarischer Texte. S. 398.

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Während wir also in einem gewöhnlichen nichtkünstlerischen Text mit der Dynamik einer Mitteilung im Rahmen ein und derselben Sprache zu tun haben, spricht man uns im künstlerischen Text in mehreren Sprachen an, wobei die lauteste Stimme ständig wechselt. Und die Abfolge und Korrelation dieser Sprachen wird als solche das einheitliche System der künstlerischen Information sein, die der Text enthält. Während dieses System auf einer bestimmten Ebene eine einheitliche Struktur darstellt, wird es doch über eine gewisse Unvorhersagbarkeit der internen Überschneidungen verfügen, und das wird ihm einen niemals geringer werdenden Informationsgehalt garantieren. Je komplizierter ein Text und jede seiner Ebenen organisiert ist, desto überraschender sind die Schnittpunkte der einzelnen Substrukturen […].296 Zumindest im Falle sog. Höhenkammliteratur lässt sich eine Operationalisierbarkeit von Aufgaben und Lösungen auf Basis einer solchen Struktur nicht mehr leisten.297 Die einzige Möglichkeit, die Unvorhersehbarkeit möglicher Operationen bzw. Zugänge der Schüler_innen zu umgehen bzw. zu kanalisieren, besteht darin, einzelne Analyseaspekte abzugrenzen und vorzugeben; indem man etwa dazu auffordert, zunächst eine Bestimmung der semantischen Raumstruktur vorzunehmen und diese anschließend in einen Bezug zur Figurenkonstellation zu setzen. Hiermit wird eine freie und eigenständige Erarbeitung der Textgrundlage aber bereits über die Aufgabenstellung unterbunden. Das mögliche Gegenargument, dass Lernende auf solche ›Hilfestellungen‹ im Sinne von scaffolding-Maßnahmen298 gerade im Umgang mit komplexen Texten zunächst angewiesen sind, berührt nicht die Kernthese dieser Arbeit, sondern bestätigt sie vielmehr. Denn die Ausbildung von innerhalb des Kompetenzparadigmas vermittelbaren Fähigkeiten kann ästhetische Verstehensprozesse, die ihrerseits dann dem Literalitätsbegriff zuzuordnen wären, durchaus wahrscheinlicher, genauer, differenzierter werden lassen (und somit zu einem bestimmten Zeitpunkt des Lernprozesses eine geeignete Maßnahme sein), sie ist aber nicht hiermit gleichzusetzen und kann nicht das letzte Ziel schulischen Literaturunterrichts sein. Dieser sollte Schüler_innen in die Lage versetzen, eigenständig und im Modus einer »gewissen Unvorhersagbarkeit« (Lotman) 296 Ebd. S. 394. 297 Das konzedieren auch Vertreter der Kompetenzorientierung, vgl. Schilcher/Pissarek: Zum Begriff der Kompetenzorientierung und seiner Anwendung im Bereich des literarischen Lernens. S. 22: »Auffällig ist, dass die kritischen Einwände gegen die Messung literarischer Kompetenz sich zumeist auf Aufgaben beziehen, die auf Texte der kanonisierten Höhenkammliteratur zurückgreifen […]. Zu diesen Texten hat die Literaturwissenschaft zwangsläufig eine große Menge an ›relevantem Vorwissen‹ vorgelegt […]. Literarische Kompetenz mit Aufgaben zu literarischer Höhenkammliteratur zu erheben, dürfte immer schwierig sein.« Da es letztlich aber genau diese Texte sind, die das Potential literarästhetischer Gestaltung und Rezeption voll ausschöpfen, bleibt die Frage, welche Legitimation ein kompetenzorientierter Literaturunterricht besitzt, wenn er eingestandenermaßen die besten Exempel seines Gegenstandsbereiches ausblenden muss, weil deren Komplexität nicht mehr abbildbar ist. 298 Hierunter sind Aufgabenstellungen zu verstehen, die Schüler_innen strukturelle oder inhaltliche Unterstützungen in Form von ›Gerüsten‹ geben, sodass sie auch solche Aufgaben bewältigen können, die für sie ohne derartige Vorstrukturierungen nicht angemessen bearbeitbar gewesen wären. Es handelt sich hierbei um temporäre Unterstützungen, die gezielt auf den Lernstand bzw. die Lernfähigkeiten der jeweiligen Schüler_innen abgestimmt sind.

5. Didaktische Ziele und Vermittlungsformen literarästhetischer Literalität

solchen systemischen Bezügen künstlerischer Informationen des Textes nachzugehen, auch und gerade im Falle komplexer Texte – und so eine literarästhetische Literalität auszubilden, die den Ansatz der Kompetenzorientierung übersteigt. Gleiches gilt auch für viele literaturgeschichtliche Bezüge: Ist die Bestimmung der Erzähltechnik von Goethes Werther, die an die Briefromane des 18. Jahrhunderts anknüpft, das literarische Muster aber dahingehend radikalisiert, dass dem Protagonisten die Partner abhandenkommen, noch der Suche nach expressiven Ausdrucksformen des Sturm und Drang zuzuordnen, so fällt diese Zuordnung mit Blick auf weitere Punkte bereits deutlich schwerer. Denn neben anderen typischen Merkmalen dieser literarischen Strömung weist der Roman auch Elemente auf, die dem entgegenlaufen: Werther, der (scheinbare) Prototyp des Stürmers und Drängers, scheitert immer wieder: nicht nur auf dem Feld der Kunst (und in letzter Konsequenz ebenso auf dem der Liebe), sondern umfassend auch in seiner Existenz. Er vermag seinem eigenen Anspruch, im erfüllten Augenblick aufzugehen, gerade nicht gerecht zu werden, sondern bleibt ein Getriebener, ein Fliehender, der Ruhe am Ende nur im Tod findet. Es lässt sich einwenden, dass die Herausarbeitung genau dieser Ambivalenz die ›richtige Lösung‹ auf die Frage nach einer literaturgeschichtlichen Einordnung wäre, allein fordert die aufgeführte Kompetenz eine Stützung des Textverständnisses durch literaturgeschichtliche Einordnungen; und dieses Textverständnis soll in der zuvor genannten Kompetenz »eigenständig« und auf Grundlage »persönliche[r] Leseerfahrungen« formuliert sein. Genau deshalb aber werden sich die herangezogenen literaturgeschichtlichen Kontextualisierungen zwar nicht in allen, aber doch manchen Fällen nicht mehr in Kategorien von ›richtig‹ und ›falsch‹ messen lassen können. Hierzu einige Beispiele: Eine Schülerin kann zu dem Ergebnis gelangen, dass die dem Sturm-und-Drang-Konzept entgegenlaufenden Tendenzen den Roman nur in einen gebrochenen, mittelbaren Bezug zur Epoche setzen, aus der er eigentlich herausfällt; ein anderer Schüler hingegen dazu, dass gerade das Scheitern Werthers auf der Rezeptionsebene Mitgefühl hervorruft, weshalb der Roman zentralen Charakteristiken der Epoche doch wieder entspricht.299 Beide Schüler_innen könnten hierfür nachvollziehbare Argumente anführen: Die Schülerin kann sich etwa auf die insbesondere in der zweiten Fassung deutlich werdende Distanz des fiktiven Herausgebers zur Figur Werthers am Ende des Buches berufen, der Schüler etwa auf dessen Vorwort300 oder die drastische Darstellung seines Suizids und anschließenden Todeskampfes. 299 Ausgeblendet werden soll an dieser Stelle bewusst die Frage, inwieweit solche Epochenmerkmale nicht auf Konstruktionen beruhen, die aus einer ex-post-Perspektive resultieren – und man den Begriff grundlegend infrage stellen und durch Konzepte des Epochenumbruchs oder sog. Makroepochen (vgl. Hermann Korte: Zum Umgang mit Literaturgeschichte in der Schule. In: Marja Rauch u. Achim Geisenhanslüke [Hg.]: Texte zur Theorie und Didaktik der Literaturgeschichte. Stuttgart: Reclam 2012. S. 301-317. S. 303) ersetzen sollte. 300 »Was ich von der Geschichte des armen Werther nur habe auffinden können, habe ich mit Fleiß gesammelt und lege es euch hier vor, und weiß, daß ihr mir’s danken werdet. Ihr könnt seinem Geist und seinem Charakter eure Bewunderung und Liebe, seinem Schicksal eure Tränen nicht versagen.« Johann Wolfgang Goethe: Die Leiden des jungen Werther. 13. Auflage. München: dtv 1994. S. 7.

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Diese Fragen führen bereits auf ein drittes Feld, bei dem die Fähigkeiten häufig in noch geringerem Maße mit dem Weinert’schen Kompetenzbegriff in Einklang zu bringen sind. Dies betrifft die in der Rezeption auf Grundlage der Analyse sprachlicher Gestaltungsmittel und ihrer internen Beziehungen erfolgenden Sinn- und Bedeutungszuschreibungen, also das, was von den Bildungsstandards unter der Fähigkeit verstanden wird, ein eigenständiges Textverständnis zu formulieren, in das neben den persönlichen Leseerfahrungen auch »alternative Lesarten des Textes« einbezogen werden sollen. Hier sind es zwei Dinge, die nur schwer mit Weinerts Kompetenzbegriff in Einklang zu bringen sind: die »persönlichen Leseerfahrungen«, die sich weder als standardisierbar noch vorhersehbar erweisen, und der Prozess, aus dem heraus das Textverständnis selbst erarbeitet wird. Der erste Punkt verweist auf die bereits in den Lektüreprotokollen sichtbar werdenden individuellen Zugänge zu einem polyvalenten literarischen Text. So können unterschiedliche Elemente bereits im Kontext von textanalytischen Operationen zugrunde gelegt werden, diese dann auf verschiedene Art und Weise strukturiert sowie in einen Bezug zueinander gesetzt werden, was wiederum zu unterschiedlichen Sinnund Bedeutungszuschreibungen führen wird. Die in den Bildungsstandards aufgeführte Kompetenz »alternative Lesarten des Textes einbeziehen« greift dies auf. Von den Lernenden ist also verlangt, ihr Textverstehen anhand anderer Materialselektionen und -strukturierungen resp. -vernetzungen sowie veränderter Semantisierungen einzelner Beobachtungen zu entwickeln – dann ist die Aufgabe gelöst. Dies ist grundsätzlich zwar denkbar, überführt das Kompetenzparadigma aber in eine Paradoxie: Der funktional-instrumentelle Problemlösungsansatz wird auf kognitive Verstehensprozesse bezogen, die gerade auf Offenheit, keine abschließende Lösbarkeit und Unentscheidbarkeit ausgerichtet sind. Verteidiger der Kompetenzorientierung könnten so argumentieren, dass genau hierin die Lösung der Aufgabe besteht. Einmal abgesehen davon, dass hiervon die anderen aufgezeigten Problematiken des Ansatzes unberührt blieben (wie die Ausblendung nicht-kognitiver Zugänge auf den Feldern der sinnlichen Wahrnehmung und Vorstellungsbildung, die Selbstzweckhaftigkeit ästhetischer Rezeption, die Ermöglichung ästhetischen Genusses und ästhetischer Erfahrung), bleibt die Frage, ob dieser Argumentation nicht ein logischer Widerspruch zugrunde liegt: Denn auf Unauflösbarkeit ausgerichtete Prozesse innerhalb eines Paradigmas auszubilden, das Lösungen einfordert, wird der Struktur dieser Prozesse nicht gerecht und verstrickt sich in eine Paradoxie, die bei Lehrkräften wie Schüler_innen eher Verwirrung statt Orientierung stiftet. Dies lässt sich sowohl anhand von Menkes Kritik an der Polysemiehypothese als auch von Isers wirkungsästhetischer Theorie der Rezeption literarischer Texte näher begründen. Menkes Kritik an der Polysemietheorie läuft kurzgefasst darauf hinaus, dass ästhetischem Verstehen bereits in seiner internen Struktur eine Unabschließbarkeit eignet, die sich über die Selbstsubversion der Signifikantenbildung herleitet und für die das Kaleidoskop steht, das eine infinite Folge perspektivischer Brechungen generiert.301 Iser wiederum geht von drei Stadien der Erfassungsakte eines Textes aus.302 301 Vgl. Kapitel 2.3.4.4. dieser Arbeit. 302 Vgl. Kapitel 3.2.10. dieser Arbeit.

5. Didaktische Ziele und Vermittlungsformen literarästhetischer Literalität

Einer ersten Phase, in der eine Kohärenz der Gestalt(en) infolge von Selektion und illusionsbehafteter Projektion angestrebt wird, folgt eine zweite, in der diese infolge der »alien associations« modifiziert werden. Es kommt zur Illusionsdurchbrechung und der Geschehenscharakter der Texte prägt fortan die Lektüre. In der dritten Phase erfolgt schließlich eine Gestaltsprengung infolge der von den einzelnen Leser_innen selbst erzeugten Ambiguitäten und reflektierten Diskrepanzen; es stellt sich eine Selbstbeobachtung der Bedingungen der eigenen Texterfassung ein. Innerhalb des Kompetenzparadigmas ist bereits das Erreichen der zweiten Phase infrage zu stellen. Deren Durchlaufen ist zwar für das in den Bildungsstandards genannte Ziel, alternative Lesarten mit in das Textverständnis einzubeziehen, notwendig; Operationen dieser Art sind aber innerhalb des funktional-lösungsorientierten Kompetenzbegriffs Weinerts kaum vermittelbar. Er verschärft auf dem Gebiet kognitiver Operationen eine Problematik des Literaturunterrichts, die Spinner zufolge darin besteht, dass es Schüler_innen »nicht immer leicht[fällt]« mit der Offenheit literarischer Texte umzugehen […], weil sie – wesentlich bedingt durch die schulische Sozialisation – feste Ergebnisse haben möchten. Ziel von Literaturunterricht darf aber nicht sein, den Texten jede Rätselhaftigkeit zu nehmen, vielmehr geht es gerade um die Bereitschaft, sich in Verstehensprozesse verwickeln zu lassen, die kein bündiges Ergebnis versprechen und deshalb aspektreich sind.303 Spinner hebt weiter hervor, dass nur dann, wenn bei den Lernenden genau diese Bereitschaft und Fähigkeit ausgebildet werden kann, »Literatur auch ihre Funktion als Problematisierungsmedium« entfalten könne.304 Hiermit ist ein vierter Bereich kognitiv-begrifflicher Operationen bezeichnet. In ihn fällt zum einen die im Rahmen der literaturwissenschaftlichen Grundlagen dieser Arbeit thematisierte Veränderung der »Perspektive auf die vorhandene Welt«305 , da die außer Kraft gesetzten Konventionen der Diskurse, auf die der Text sich rückbezieht, eine neue Sicht auf sie erlauben. Schüler_innen wird es so – aber eben auch nur so, d.h. gerade nicht im Rahmen eines auf Problemlösung setzenden Literaturunterrichts – möglich, das bildungsrelevante Potential von Literatur zu erschließen. Literatur kann sie in die Lage versetzen, ihre eigene Position im Zusammenleben mit den anderen bewusst(er) zu reflektieren und zu wählen, und dies gerade nicht in Form geforderter Festlegungen oder klarer Positionierungen. Insbesondere ist aber auch auf kognitiv-begrifflicher Ebene eine »Bewegung der Suche, des Versuchs, der Vorläufigkeit, des Momenthaften«306 hilfreich, der viel mehr am Ausloten und Reflektieren von Möglichkeiten, anderen Sichtweisen oder Verstehenskontexten als an der Fixierung von Ergebnissen liegt.

5.3.2.

Umsetzung am Beispiel einer Kurzeinheit zu Franz Kafka: Ein altes Blatt

Im Unterschied zu den Ebenen der sinnlichen Wahrnehmung und der Vorstellungsbzw. Imaginationsbildung ist die Darlegung exemplarischer Umsetzungen kognitiver 303 304 305 306

Spinner: Literarisches Lernen. S. 12. Vgl. ebd. Iser: Der Akt des Lesens. Vorwort zur zweiten Auflage. S. V. Tholen: Spiritualität heute. S. 18.

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ästhetischer Lernprozesse an einzelnen Unterrichtsverfahren wenig sinnvoll. Strukturalistisch-semiotische Modelle der Textanalyse tragen nicht per se zu einer Konturierung des Literalitäts- in Abgrenzung zum Kompetenzparadigma bei; es hängt hier vielmehr vom Textgegenstand, an dem diese Instrumente Anwendung finden, und von der Einbettung in den Kontext einer Unterrichtseinheit ab, inwieweit es gelingt, der Gefahr des schematischen Abarbeitens analytischer Kategorien entgegenzuwirken. Hinzu kommt, dass solche Modelle in verschiedenen Ausgestaltungen bereits in einer Reihe von Lehrbüchern sowohl für den Schulkontext307 als auch für die akademisch-universitäre Lehre308 vorliegen. Aus diesen Gründen soll abschließend eine Kurzeinheit zu einer weiteren KafkaErzählung, Ein altes Blatt, konzipiert werden, deren Schwerpunkt im Bereich kognitivbegrifflicher Operationen liegt. Verschiedene Fäden, die sich durch diese Arbeit gezogen haben, können so zugleich noch einmal zusammengeführt werden. Die Einheit verdeutlicht die Brückenfunktion, die das Konzept literarästhetischer Literalität zwischen dem Kompetenzparadigma und dem Bildungsbegriff einnehmen kann, und setzt zugleich einen weiteren wichtigen Aspekt um: Die Ausschöpfung des Potentials genauer Sprachwahrnehmung, das aus der mit der poetischen Funktion gegebenen Fokussierung des sprachlichen Materials und der Gestaltung um seiner selbst willen resultiert und das literarästhetisches Lernen auch für ein medienbewusstes sprachliches Lernen öffnet. Ein dritter Aspekt geht aus der Verbindung dieser beiden Themenfelder hervor: Aufgezeigt werden soll, wie sich aus didaktischen Vermittlungsprozessen, die an der Spezifik ästhetischer Sprachverwendung und Rezeption ansetzen und diese auch zur Grundlage von Lernprozessen machen, Bildungsimpulse ableiten. Dies aber gerade nicht im Sinne einer Funktionalisierung des Literaturunterrichts, der so zum besseren (oder oftmals schlechteren) Ethikunterricht wird, sondern als Resultat literarästhetischer Lernprozesse, die nicht funktionsgleich ersetzt werden können. Am Beispiel der Beförderung interkulturellen Lernens wird dies aufgezeigt. Die folgende Darstellung gliedert sich in drei Teile: Aufgrund der späteren Anbindung der didaktischen Ziele an die genaue sprachliche bzw. erzähltechnische Wahrnehmung des Kafka-Textes erfolgt auch hier zunächst eine Analyse der Erzählung, die deren zentrale Gestaltungsmittel erarbeitet. Im Anschluss werden didaktische Vermittlungsziele bestimmt und erörtert, inwieweit sie an die drei Leitbegriffe dieser Arbeit, Kompetenz, Literalität und Bildung, anbindbar sind. Am Ende steht der Entwurf einer möglichen unterrichtlichen Umsetzung, die auf die Sekundarstufe II hin konzipiert ist.

5.3.2.1.

Textanalyse

Ein altes Blatt Es ist, als wäre viel vernachlässigt worden in der Verteidigung unseres Vaterlandes. Wir haben uns bisher nicht darum gekümmert und sind unserer Arbeit nachgegangen; die 307 Vgl. den kompetenzorientierten, von Anita Schilcher und Markus Pissarek herausgegebenen Band: Auf dem Weg zur literarischen Kompetenz. Ein Modell literarischen Lernens auf semiotischer Grundlage. Baltmannsweiler: Schneider 2013. 308 Vgl. Schulte-Sasse, Jochen u. Renate Werner: Einführung in die Literaturwissenschaft. 9. Auflage. München: Fink 1999. Der Band steht stellvertretend für eine Reihe weiterer, die sich aus dem von Schulte-Sasse/Werner begründeten Ansatz ableiten.

5. Didaktische Ziele und Vermittlungsformen literarästhetischer Literalität

Ereignisse der letzten Zeit machen uns aber Sorgen. Ich habe eine Schusterwerkstatt auf dem Platz vor dem kaiserlichen Palast. Kaum öffne ich in der Morgendämmerung meinen Laden, sehe ich schon die Eingänge aller hier einlaufenden Gassen von Bewaffneten besetzt. Es sind aber nicht unsere Soldaten, sondern offenbar Nomaden aus dem Norden. Auf eine mir unbegreifliche Weise sind sie bis in die Hauptstadt gedrungen, die doch sehr weit von der Grenze entfernt ist. Jedenfalls sind sie also da; es scheint, daß jeden Morgen mehr werden. Ihrer Natur entsprechend lagern sie unter freiem Himmel, denn Wohnhäuser verabscheuen sie. Sie beschäftigen sich mit dem Schärfen der Schwerter, dem Zuspitzen der Pfeile, mit Übungen zu Pferde. Aus diesem stillen, immer ängstlich rein gehaltenen Platz haben sie einen wahren Stall gemacht. Wir versuchen zwar manchmal aus unseren Geschäften hervorzulaufen und wenigstens den ärgsten Unrat wegzuschaffen, aber es geschieht immer seltener, denn die Anstrengung ist nutzlos und bringt uns überdies in die Gefahr, unter die wilden Pferde zu kommen oder von den Peitschen verletzt zu werden. Sprechen kann man mit den Nomaden nicht. Unsere Sprache kennen sie nicht, ja sie haben kaum eine eigene. Unter einander verständigen sie sich ähnlich wie Dohlen. Immer wieder hört man diesen Schrei der Dohlen. Unsere Lebensweise, unsere Einrichtungen sind ihnen ebenso unbegreiflich wie gleichgültig. Infolgedessen zeigen sie sich auch gegen jede Zeichensprache ablehnend. Du magst dir die Kiefer verrenken und die Hände aus den Gelenken winden, sie haben dich doch nicht verstanden und werden dich nie verstehen. Oft machen sie Grimassen; dann dreht sich das Weiß ihrer Augen und Schaum schwillt aus ihrem Munde, doch wollen sie damit weder etwas sagen noch auch erschrecken; sie tun es, weil es so ihre Art ist. Was sie brauchen, nehmen sie. Man kann nicht sagen, daß sie Gewalt anwenden. Vor ihrem Zugriff tritt man beiseite und überläßt ihnen alles. Auch von meinen Vorräten haben sie manches gute Stück genommen. Ich kann aber darüber nicht klagen, wenn ich zum Beispiel zusehe, wie es dem Fleischer gegenüber geht. Kaum bringt er seine Waren ein, ist ihm schon alles entrissen und wird von den Nomaden verschlungen. Auch ihre Pferde fressen Fleisch; oft liegt ein Reiter neben seinem Pferd und beide nähren sich vom gleichen Fleischstück, jeder an einem Ende. Der Fleischhauer ist ängstlich und wagt es nicht, mit den Fleischlieferungen aufzuhören. Wir verstehen das aber, schießen Geld zusammen und unterstützen ihn. Bekämen die Nomaden kein Fleisch, wer weiß, was ihnen zu tun einfiele; wer weiß allerdings, was ihnen einfallen wird, selbst wenn sie täglich Fleisch bekommen. Letzthin dachte der Fleischer, er könne sich wenigstens die Mühe des Schlachtens sparen, und brachte am Morgen einen lebendigen Ochsen. Das darf er nicht mehr wiederholen. Ich lag wohl eine Stunde ganz hinten in meiner Werkstatt platt auf dem Boden und alle meine Kleider, Decken und Polster hatte ich über mir aufgehäuft, nur um das Gebrüll des Ochsen nicht zu hören, den von allen Seiten die Nomaden ansprangen, um mit den Zähnen Stücke aus seinem warmen Fleisch zu reißen. Schon lange war es still, ehe ich mich auszugehen getraute; wie Trinker um ein Weinfaß lagen sie müde um die Reste des Ochsen. Gerade damals glaubte ich den Kaiser selbst in einem Fenster des Palastes gesehen zu haben; niemals sonst kommt er in diese äußeren Gemächer, immer nur lebt er in

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dem innersten Garten; diesmal aber stand er, so schien es mir wenigstens, an einem der Fenster und blickte mit gesenktem Kopf auf das Treiben vor seinem Schloß. »Wie wird es werden?« fragen wir uns alle. »Wie lange werden wir diese Last und Qual ertragen? Der kaiserliche Palast hat die Nomaden angelockt, versteht es aber nicht, sie wieder zu vertreiben. Das Tor bleibt verschlossen; die Wache, früher immer festlich ein- und ausmarschierend, hält sich hinter vergitterten Fenstern. Uns Handwerkern und Geschäftsleuten ist die Rettung des Vaterlandes anvertraut; wir sind aber einer solchen Aufgabe nicht gewachsen; haben uns doch auch nie gerühmt, dessen fähig zu sein. Ein Mißverständnis ist es; und wir gehen daran zugrunde.«309 Die von Kafka 1919 in dem Band Ein Landarzt publizierte kurze Erzählung handelt davon, wie in den mit Ordnung, Sauberkeit und kulturellem Fortschritt indizierten Raum der Hauptstädter eines nicht näher bestimmten Kaiserreiches eine Gruppe Fremder, »offenbar Nomaden aus dem Norden«, einfallen, die in der Wahrnehmung des IchErzählers aus »diesem stillen, immer ängstlich rein gehaltenen Platz […] einen wahren Stall gemacht [haben]«310 . Geschildert wird das Geschehen aus der Sicht eines homodiegetischen Erzählers, eines Stadtbewohners, in Form interner Fokalisierung, was dazu führt, dass die Leser_innen ausschließlich auf dessen Stimme und Perspektive verwiesen bleiben. Sein Bericht gibt einen »Augenblicks-Eindruck« wieder: »den Eindruck von der Invasion einer Stadt durch eine Horde Nomaden; also von der Außerkraftsetzung von ›Kultur‹ durch Anarchie«311 . Ausgestaltung findet dies in Form einer Opposition von Bildern archaisch anmutender Wildheit, Rohheit und Unkultiviertheit auf Seiten der Nomaden im Gegensatz zu dem Begriffsfeld von Zivilisation, Reinheit und Kultur, das den Stadtbewohnern zugeordnet wird. Der Erzähler, der sich als Inhaber einer »Schusterwerkstatt«312 vorstellt, versteht sich als Repräsentant eines »Kollektivs aus Handwerkern und kleinen Geschäftsleuten«313 , also der Gruppe der Bürger der Stadt, was sich sprachlich darin äußert, dass sein Bericht von der ersten Person Singular oftmals in die erste Pluralform wechselt. Seine Stimme ist so als communal voice markiert und folglich als Erzählsituation, der »eine Schwerpunktverschiebung von individueller zu kollektiver Erfahrung zugrunde [liegt]«314 . Der Rückbezug der Rede des Schusters auf seine soziale Gemeinschaft äußert sich in Form der kulturellen Fremd- wie Selbstzuschreibungen 309 Kafka, Franz: Ein altes Blatt. In: ders.: Gesammelte Werke in zwölf Bänden. Nach der krit. Ausg. hg. v. Hans-Gerd Koch. Bd. 1: Ein Landarzt und andere Drucke zu Lebzeiten. Frankfurt a.M.: Fischer Taschenbuch 1994. S. 208-210. 310 Ebd. S. 208. 311 Neumann, Gerhard: Kafka-Lektüren. Berlin: de Gruyter 2012. S. 484. 312 Kafka: Ein altes Blatt. S. 208. 313 Schuller, Marianne: Die Botschaft des Boten. Kafka-Lektüren. In: Georg Christoph Tholen, Gerhard Schmitz u. Manfred Riepe (Hg.): Übertragung – Übersetzung – Überlieferung. Episteme und Sprache der Psychoanalyse Lacans. Bielefeld: transcript 2001. S. 171-181. S. 174. 314 Allrath, Gaby u. Carola Surkamp: Erzählerische Vermittlung, unzuverlässiges Erzählen, Multiperspektivität und Bewusstseinsdarstellung. In: Vera u. Ansgar Nünning (Hg.): Erzähltextanalyse und Gender Studies. Stuttgart: Metzler 2004. S. 143-179. S. 146 (unter Rekurs auf Susan Sniader Lanser). Eine von drei möglichen Ausprägungen einer solchen Erzählsituation ist nach Lanser gekennzeichnet durch »eine Erzählinstanz, die formal einer homodiegetischen Erzählinstanz ähnelt, aber deindividualisiert ist und dadurch zur Repräsentantin einer Gemeinschaft wird«. Auch eine zweite mögliche Ausprägungsform lässt sich in der Erzählung Kafkas nachweisen, hier bezeichnet die

5. Didaktische Ziele und Vermittlungsformen literarästhetischer Literalität

und der hiermit einhergehenden Überformung des Individuellen durch das Kollektive resp. dessen Stereotypen. Da so auch die Nomaden den Leser_innen nur als Kollektiv, in der dritten Person Plural, begegnen, sind beide Gruppen, die zunächst einmal so wenig miteinander zu verbinden scheint, dann bezeichnenderweise hinsichtlich des Fehlens jeglicher Formen der Individualisierung doch wieder vereint. Bei genauer Lektüre ist der Text allerdings darauf angelegt, dass in den Darstellungen des Erzählers vieles fragwürdig wird. Bereits die Wendung, dass die Nomaden sich »ähnlich wie Dohlen«315 verständigen, mag die Lesenden, so sie denn Kenntnis davon haben, dass der tschechische Begriff für Dohle kavka lautet und der Vogel zugleich das Familienwappen der Kafkas bildete316 , mit Blick auf ihre vermeintliche Unkultiviertheit irritieren. Ebenso wie der Umstand, dass sie einen Ochsen bei lebendigem Leibe verspeisen, was der Erzähler beobachtet haben will, während er sich zugleich aber im hintersten Winkel seiner Werkstatt mit deutlichen Beeinträchtigungen seines Hör- und Sehsinns versteckte; »alle meine Kleider, Decken und Polster […] über mir aufgehäuft, nur um das Gebrüll des Ochsen nicht zu hören, den von allen Seiten die Nomaden ansprangen«317 . Auch lässt aufhorchen, dass die Pferde der Nomaden allen Gesetzen der Biologie zum Trotz Fleischfresser sein sollen.318 Diese Beobachtungen auf der Handlungsebene, die deutlich machen, dass die Aussagen und die Perspektive des Erzählers alles andere als einen Anspruch auf objektive Wirklichkeitsabbildung zu erfüllen vermögen, setzen sich auf der Ebene der erzählerischen Vermittlung fort. Auch hier finden sich viele Indizien, die Spuren dahin legen, dass Kafkas Text mit Formen unzuverlässigen Erzählens spielt. Gleich zu Beginn des ersten Satzes heißt es: »Es ist, als wäre […]«. Dass der Indikativ hier nicht nur umgehend in einen Konjunktiv überführt wird, der den schwankenden Boden markiert, auf dem auch alle künftigen Aussagen stehen, sondern dass es gleich der Konjunktiv II, also der Irrealis, ist, mittels dessen dies vollzogen wird, weist auf die besondere Bedeutung hin, die den Themen Sprache und Verständigung im Text zufallen. Sachverhalte und Wertungen, die zunächst klar und offensichtlich zu sein scheinen (also das vermeintliche Ist), erweisen sich als einer genaueren Prüfung bedürftig, die sie als abhängige Variablen einer sprachlichen Funktion mit allzu vielen Unbekannten, als ein Wäre, kenntlich machen. Der Text bzw. die Rezeption, zu der er anleitet, führt hierüber unweigerlich zu sprachphilosophischen Reflexionen: [D]as Ist als ein Wäre; das Ist nimmt die Form des Wäre an und nur in dieser Form ist es für uns, unter Menschen. Von Anfang an tasten die Kafkaschen Texte diese Sprachwendung ab, die allen Wendungen der Sprache, allen ihren Tropen zugrunde liegt, und

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communal voice »eine Erzählinstanz, die als Repräsentantin einer Gruppe auf sich selbst mit dem Personalpronomen ›we‹ Bezug nimmt«. Ebd. Kafka: Ein altes Blatt. S. 209. Vgl. etwa Hiebel: Das Spektrum der modernen Poesie. S. 301 sowie Rainer Nägele: Es ist als wäre. Zur Seinsweise eines alten Blatts. In: Elmar Locher u. Isolde Schiffbauer (Hg.): Franz Kafka. Ein Landarzt, Interpretationen. Bozen: Studien 2004. S. 61-72. S. 68: »Nun gibt es kaum einen Kommentar zu diesem Text, der nicht darauf verweist, daß in den Dohlen natürlich der Name Kafka sich einschreibt, und daß also Kafka selbst sich hier unter die Nomaden begibt.« Kafka: Ein altes Blatt. S. 210. Vgl. ebd. 209.

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die Sprache als Trope und Wendung kennzeichnet, und wodurch jede Darstellung […] zur Metapher eines Grundes wird, der anders nicht als in diesem Transport und dieser Wendung ist.319 Ähnlich wie in den mit einer vergleichbaren Metaphorik arbeitenden Passagen aus Herta Müllers In jeder Sprache sitzen andere Augen320 lässt sich auch dieser Grund der Sprache, der zugleich auch zu einem der menschlichen Existenz wird, in seinen Untiefen nicht wirklich durchschauen, dies inszenieren in Ein altes Blatt auf performativer Ebene zahlreiche weitere Unbestimmtheits- und Unzuverlässigkeitsindikatoren. Die Überführung des Erzählerberichts in den Modus des Irrealis zu Beginn mündet – wenig erstaunlich – in den Schlusssatz: »Ein Missverständnis ist es; und wir gehen daran zugrunde.« Diese Aussage, die zunächst einmal auf die den »Handwerker[n] und Geschäftsleute[n]«321 (auch hier muss man sagen: vermeintlich) zugewiesene Rolle der Landesverteidigung gemünzt ist, bildet im Verbund zur Texteröffnung einen programmatischen Rahmen, der alle verhandelten Thematiken und Beziehungskonstellationen umspannt. Und auch im Verlauf des Erzählerberichts sind die Aussagen, wenn die Sprache auf die Nomaden kommt, immer wieder von Vagheiten durchzogen: »offenbar Nomaden aus dem Norden«, »es scheint, daß jeden Morgen mehr werden«, »Unter einander verständigen sie sich ähnlich wie Dohlen.«, »Man kann nicht sagen, daß sie Gewalt anwenden.«, »Bekämen die Nomaden kein Fleisch, wer weiß, was ihnen zu tun einfiele; wer weiß allerdings, was ihnen einfallen wird, selbst wenn sie täglich Fleisch bekommen.«322 Dass hier niemand irgendetwas wirklich zu wissen scheint, gilt allerdings nicht nur mit Blick auf das Verhältnis zu den Nomaden. Vergleichbares kann auch für das Zentrum der Macht in der Stadt behauptet werden, das der kaiserliche Palast darstellt. Der Repräsentant dieser Macht, der Kaiser, lässt sich hier allerdings nie ›wirklich‹, sondern allenfalls als flüchtiges Phantom erblicken; der Erzähler »glaubte« nur, ihn »in einem Fenster des Palastes gesehen zu haben; niemals sonst kommt er in diese äußeren Gemächer, immer nur lebt er in dem innersten Garten«323 . Im Gegensatz zu den beweglichen, deterritorial agierenden Nomaden, die in der Erzählung Macht verkörpern, ist die Position des Kaisers eine starre, unbewegliche, auf den »innersten« Bereich seines vermeintlichen Machtzentrums zurückgezogene. Der Superlativ, mit dem sein Aufenthaltsort hier gekennzeichnet wird, hebt seine Entzogenheit weiter hervor, ebenso wie die Tatsache, dass von seiner eventuellen kurzen Erscheinung am Fenster nur in der Vergangenheit berichtet werden kann.324 Auch die Verwendung der in bestärkend-demonstrativer Funktion eingesetzten Partikel (»den Kaiser selbst«, Hervorhebung C. B.) wirkt eher wie eine imaginäre Beschwörung seiner zweifelhaften Existenz als deren sicherer Beweis. Zudem wird auch dieser Bericht von der Formel begleitet: »so schien es mir wenigstens«. Dass der kaiserliche Blick sich schließlich »mit gesenktem Kopf auf das Treiben vor seinem Schloß«325 richtet, lässt sich nicht nur als weiteres Indiz dafür 319 320 321 322 323 324 325

Nägele: Es ist als wäre. S. 61. Vgl. hierzu das Kapitel 3.1.2. dieser Arbeit. Kafka: Ein altes Blatt. S. 210. Kafka: Ein altes Blatt. S. 208-210. Hervorhebungen C. B. Ebd. S. 210. Vgl. Nägele: Es ist als wäre. S. 65. Kafka: Ein altes Blatt. S. 210.

5. Didaktische Ziele und Vermittlungsformen literarästhetischer Literalität

lesen, dass die Frage, ob er es denn wirklich war, im Erzählerbericht offenbleibt, es verweist zugleich auf einen weiteren Aspekt: Die Machtinstanz bleibt gesichtslos – und hierüber ebenso wie das leere Zentrum, das der Palast für die Stadt bildet, offen für imaginative Projektionen, die sie allererst ins Leben zu rufen scheinen. Der – möglicherweise – nach unten gerichtete Blick signalisiert zudem: An ein Eingreifen ist nicht zu denken.326 Wie so oft in den Erzählwelten Kafkas (die Parabel Vor dem Gesetz folgt in dem Erzählband Ein Landarzt unmittelbar auf diesen Text), bleiben Macht und Gesetz auch hier vor allem eins: formale Leerstellen, deren konkrete inhaltliche Besetzung nur auf die Wunschprojektionen ihrer jeweiligen Betrachter_innen zurückverweist und diese letztlich Phantomen hinterherjagen lässt. Folglich konstituiert sich das Verhältnis des Erzählers zu beiden Seiten hin, zu den Nomaden, die als äußere Bedrohung des Eigenen wahrgenommen werden, wie auch zum Kaiser, der als nicht präsent werdende Schutz- und Machtinstanz des »Vaterlandes«327 fungiert, über Denk- und Wahrnehmungsstrukturen, die imaginativ-projektiv überformt sind: einmal im Modus des Wünschens und Begehrens, was dazu führt, dass etwas, das offenbar nicht gesichert existiert, in Form der Ausfüllung einer leeren Funktionsstelle herbeiimaginiert wird; einmal im Modus der Angst und Bedrohung, was dazu führt, dass etwas, das gesichert existiert, in seiner bloßen Existenz zur Bedrohung wird.328 Den Zusammenhang dessen zur Sprache als einem perspektivierenden Medium, das aller Verständigung oder hier besser allem Missverstehen zugrunde liegt, rückt der Text auf zwei Ebenen in den Vordergrund: zum einen über den bereits angesprochenen Rahmen mit den Eingangs- und Schlusswendungen. Zum zweiten aber auch über den Titel: »Ein altes Blatt«. Er mutet rätselhaft an für einen Text, in dem über ein Geschehen berichtet wird, das der Erzähler in seiner Gegenwart zu erleben scheint. Mit der Überschrift wird eine vom Erzählerbericht abgrenzbare extradiegetische Ebene etabliert, denn innerhalb des einen Augenblickseindruck wiedergebenden Erzählerberichts ergibt »Ein altes Blatt« keinen Sinn. Zwar verweigert der Text weitere Hinweise auf die Herkunft oder den Kontext des Titels (hinter dem sich allenfalls eine nicht weiter einordbare Stimme, aber keine eigentliche Fokalisierungsinstanz ausmachen lässt), doch markiert dieser eine ontologische Differenz zum Schusterbericht, zu dem er zugleich in einem diachronen Verhältnis steht (»Ein altes Blatt«). Dies verleiht 326 Vgl. zum Gegensatz ›gesenkter‹ vs. ›gehobener Kopf‹ als Motiv in der Literatur Kafkas auch Gilles Deleuze u. Felix Guattari: Kafka. Für eine kleine Literatur. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1976. S. 9f. 327 Kafka: Ein altes Blatt. S. 210. 328 Auf einen in eine ähnliche Richtung zielenden, aber von einem anderen Lektüre-interesse geleiteten Unterschied in der Ausgestaltung dieser Bezugsverhältnisse weist Nägele hin: Während bei den Nomaden ihre »Phänomenalität«, d.h. ihre Erscheinung, verbürgt ist, der Grund hierfür aber im Ungewissen bleibt, muss vom Kaiser das genaue Gegenteil behauptet werden: Sein Erscheinen bleibt im Ungewissen, sein Grund resp. seine Funktion sind aber klar benennbar: »Das Verhältnis von ist und wäre, von Grund und Erscheinung setzt also Nomaden und Kaiser in einen genauen Gegensatz, aber in der Komplementarität eines Chiasmus, der sie wieder aufs genaueste aufeinander bezieht.« Nägele: Es ist als wäre. S. 65.

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dem Text eine multiperspektivische Struktur.329 Da es sich um die Überschrift des Textes handelt, kann man zudem m.E. von einer hierarchischen Überordnung sprechen.330 Die Leser_innen werden so mit einer erzähltechnisch hervorgerufenen Leerstelle konfrontiert, die sich inhaltlich nicht klar füllen lässt. Ihre Funktion liegt vor allem darin, die augenblickshafte Präsenz des Erzählerberichtes zu durchbrechen, Distanz zu bewirken und Reflexion sowie ggf. einen Perspektivwechsel zu ermöglichen. Über den Titel, der je nach Lektüre auch die Konnotation eines Archivfundes aufrufen kann331 , 329 Werner Wolf geht auf die Funktion von Rahmungen, die solche Para-, in diesem Fall genauer Peritexte für eine Erzählung erhalten, im Kontext seines Aufsatzes Multiperspektivität: Das Konzept und seine Applikationsmöglichkeit auf Rahmungen in Erzählwerken ein. Für den Fall, dass wie in der vorliegenden Erzählung »nur eine Rahmungsinstanz vorhanden ist, muß diese in Konkurrenz zu mindestens einer binnentextuellen Instanz treten«, was durch den Erzählerbericht im Falle von Ein altes Blatt gegeben ist. (Vgl. Werner Wolf: Multiperspektivität: Das Konzept und seine Applikationsmöglichkeit auf Rahmungen in Einzelwerken. In: Vera u. Ansgar Nünning (Hg.): Multiperspektivisches Erzählen: Zur Theorie und Geschichte der Perspektivenstruktur im englischen Roman des 18. bis 20. Jahrhunderts. Trier: Wissenschaftlicher Verlag 2000. S. 79-109. S. 89.) Voraussetzung einer so etablierten Form von Multiperspektivität ist ausdrücklich nicht, dass diese paratextuellen Instanzen »notwendig explizit als anthropomorphe in Erscheinung treten, wohl aber ontologisch oder medial different sein müssen.« Ebd. S. 88. 330 Vgl. zu diesen Kategorien der Analyse multiperspektivischer Erzählstrukturen: Vera u. Ansgar Nünning: Multiperspektivisches Erzählen aus narratologischer Sicht: Erzähltheoretische Grundlagen und Kategorien zur Analyse der Perspektivenstruktur narrativer Texte. In: dies. (Hg.): Multiperspektivisches Erzählen: Zur Theorie und Geschichte der Perspektivenstruktur im englischen Roman des 18. bis 20. Jahrhunderts. Trier: Wissenschaftlicher Verlag 2000. S. 39-77. S. 60. 331 Einen Hinweis hierauf gibt folgende Passage aus dem Erzählfragment Beim Bau der chinesischen Mauer des Oktavheftes C, das in etwa auf den Beginn des Jahres 1917 zu datieren ist. Da der Entwurf zu Ein altes Blatt fast unmittelbar (getrennt durch ein ganz knappes, noch nicht einmal sechszeiliges weiteres Fragment, das ebenfalls in diesem Kontext steht) auf Beim Bau der chinesischen Mauer folgt und beide Texte durch gemeinsame Inhalte sowie Motive verbunden sind, ist ein solcher Bezug plausibel. Es heißt hier: »Gegen wen sollte die große Mauer schützen? Gegen die Nordvölker. Ich stamme aus dem südöstlichen China. Kein Nordvolk kann uns dort bedrohn. Wir lesen von ihnen in den Büchern der Alten, die Grausamkeiten, die sie ihrer Natur gemäß begehen, machen uns aufseufzen in unserer friedlichen Laube, auf den wahrheitsgetreuen Bildern der Künstler sehen wir diese Gesichter der Verdammnis, die aufgerissenen Mäuler, die mit hoch zugespitzten Zähnen besteckten Kiefer, die verkniffenen Augen, die schon nach dem Raub zu schielen scheinen, den das Maul zermalmen und zerreißen wird. Sind die Kinder böse, halten wir ihnen diese Bilder hin und schon fliegen sie weinend an unsern Hals. Aber mehr wissen wir von diesen Nordländern nicht, gesehen haben wir sie nicht, und bleiben wir in unserem Dorf, werden wir sie niemals sehen, selbst wenn sie auf ihren wilden Pferden geradeaus zu uns hetzen und jagen; zu groß ist das Land und läßt sie nicht zu uns, in die leere Luft werden sie sich verrennen.« (Franz Kafka: Beim Bau der chinesischen Mauer. In: ders.: Gesammelte Werke in zwölf Bänden. Nach der krit. Ausg. hg. v. Hans-Gerd Koch. Bd. 6: Beim Bau der chinesischen Mauer und andere Schriften aus dem Nachlaß in der Fassung der Handschrift. Frankfurt a.M.: Fischer Taschenbuch 1994. S. 65-80. S. 72.) Dann wäre Ein altes Blatt ein diesen »Büchern der Alten« entnommenes Beispiel für die Grausamkeiten, die man sich im Reich von den Nordvölkern erzählt – was den Bau der Mauer legitimieren soll. Auch wenn Kafka 1919 im Zuge der separaten Publikation von Ein altes Blatt in der Prager Wochenzeitschrift Selbstwehr den im ursprünglichen Titel des Manuskripts noch vorhandenen Zusatz »aus China« wieder strich, weist dies doch auf den gemeinsamen Rahmen beider Texte hin. Vgl. Benno Wagner: Beim Bau der chinesischen Mauer. In: Manfred Engel u. Bernd Auerochs (Hg.): KafkaHandbuch. Leben – Werk – Wirkung. Stuttgart: Metzler 2010. S. 250-260. S. 250.

5. Didaktische Ziele und Vermittlungsformen literarästhetischer Literalität

betreibt der Text zugleich ein Spiel mit seiner eigenen Literarizität, und zwar dahingehend, dass Fiktion und Wirklichkeit ineinander gespiegelt werden. Die Bestimmung ihres Verhältnisses, die Frage, inwieweit hier im Modus der Fiktion Sprach- und Wahrnehmungsmuster zur Darstellung gelangen, die ihrerseits den Blick auf vermeintliche Realitäten präfigurieren, wird den Rezipient_innen als Aufgabe überantwortet – und hierüber zugleich im Zusammenspiel zu den Signalen unzuverlässigen Erzählens eine Distanz zur Darstellung der vermeintlichen Tatsachen in der geschlossenen monoperspektivischen Struktur der Erzählung des Schusters und den ihr zugrunde liegenden Wertungen bewirkt. Die Überschrift verweist so noch einmal explizit auf die sprachlich-medial vermittelte Form der textlichen Darstellung; sie legt zudem Spuren hin zu der herausgehobenen Bedeutung, die das Medium Sprache auch innerhalb des dargestellten Geschehens hat. Indem sie die erzählte Welt in einer nunmehr historisch gewordenen Vergangenheit ansiedelt, können aus der historisierenden und verfremdenden Retrospektive Grundstrukturen von Konflikten zwischen verschiedenen Kulturen auch in der Gegenwart bewusst werden. Hierzu passt auch, dass der Titel eher beiläufig klingt, scheinbar belanglos, als hätte man sich hiermit längst abgefunden, als sei all dies kein Thema mehr, über das man sprechen müsse: »Ein altes Blatt« im Sinne von »ein alter Hut«, »ein altes Lied«. Geht man der Fährte eines hierüber etablierten selbstreflexiven Gestus nach, in dem die Erzählung einerseits Sprache und Verständigung auf der diegetischen Ebene thematisiert und andererseits in spezifischer Form performativ im Rezeptionsprozess inszeniert, zeigt sich Folgendes: Der Text verwebt Sprache und Denken in einer Form, die nur dann reflexiv zu werden vermag, wenn in der Performanz der Lektüre die Repräsentation des Handlungsgeschehens auf Seiten der Diegese eingeholt, man möchte sagen: überholt werden kann. Durch die im Zusammenspiel von multiperspektivischem und unzuverlässigem Erzählen erzeugten Irritationen werden die Leser_innen zu einer Reflexion veranlasst, die die Sichtweise des Schusters verlässt: »Je mehr die Verläßlichkeit einer Figuren- oder Erzählerperspektive in Zweifel gezogen wird, desto mehr verliert sie an Gewicht bei der Konstituierung der Perspektivenstruktur.«332 Wenn diese Perspektive aber die einzige ist, kommt den Leser_innen unweigerlich selbst die Aufgabe alternativer Re-Perspektivierungen zu. Dies betrifft nicht nur Fragen nach den ›harten Fakten‹, sondern in gleichem Maße auch die Verläßlichkeit normativer Deutungen und Bewertungen des Geschehens.333 Infolge der Widersprüchlichkeiten auf der Handlungsebene wird auch das hinter dem Bericht des Erzählers stehende Werte- und Normensystem auf den Prüfstand gestellt.334 Da die Unzuverlässigkeit des Schusters zugleich die Frage nach der im Text nicht ausgeführten Sicht der Nomaden auf die Dinge aufwirft, wird zu einem Perspektivwechsel in der Rezeption animiert. 332 Nünning/Nünning: Multiperspektivität aus narratologischer Sicht. S. 53f. 333 Vgl. ebd. S. 54. 334 Vgl. Nünning, Vera u. Ansgar Nünning: Von ›der‹ Erzählperspektive zur Perspektivenstruktur narrativer Texte: Überlegungen zur Konzeptualisierung und Untersuchbarkeit von Multiperspektivität. In: dies. (Hg.): Multiperspektivisches Erzählen: Zur Theorie und Geschichte der Perspektivenstruktur im englischen Roman des 18. bis 20. Jahrhunderts. Trier: Wissenschaftlicher Verlag 2000. S. 3-38. S. 22f.

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Literarästhetische Literalität

Die Notwendigkeit dessen lässt sich am Beispiel der beiden im Text gegenübergestellten Sprachsysteme verdeutlichen, die inkompatibel sind und sich gegenseitig fremd bleiben müssen. Für den Erzähler »verständigen« sich die Nomaden »ähnlich wie Dohlen«335 . »Damit wird suggeriert, dass sie, ein sprachloses Volk, nicht in der Lage seien, ihren Verstand zu gebrauchen, so dass sie nicht einmal in der Lage seien, eine Zeichensprache zu verstehen.«336 Faktisch bedeutet diese Aussage aber lediglich, dass der Erzähler über keinerlei Code verfügt, der es ihm ermöglichte, den Lauten der Nomaden Bedeutungen zuzuordnen. Es heißt nicht, dass deren Sprache hierzu nicht in der Lage ist! Der Erzähler verwickelt sich hier zudem in einen Widerspruch, wenn er davon spricht, dass die Nomaden sich sehr wohl »verständigen«. Und da dies zudem das einzige Mal ist, dass in der Erzählung überhaupt »affirmativ von Verständigung die Rede ist«337 , liegt hier ein weiteres Indiz vor, das auf Widersprüche im Bericht des Erzählers und so auf dessen Unzuverlässigkeit hinweist. Die animalisch anmutenden »Grimassen« der Nomaden (»dann dreht sich das Weiß ihrer Augen und Schaum schwillt aus ihrem Munde, doch wollen sie damit weder etwas sagen noch auch erschrecken; sie tun es, weil es so ihre Art ist«338 ) kennzeichnet dies in besonderer Weise: Der Text macht hierüber deutlich, wie sehr die dem Erzählerbericht zugrunde liegenden Wahrnehmungen von unreflektierten Stereotypen, die dem Gegensatzmodell Kultur (der Städter) vs. Natur (der Nomaden) folgen, überformt sind. Diese Signale werden darüber verstärkt, dass einerseits jedwede Erklärung für dieses vermeintliche Grimassieren scheitert (»sie tun es, weil es so ihre Art ist«) und andererseits die animalisch konnotierten »Grimassen« der Nomaden so weit von den körpersprachlichen Signalen der Stadtbewohner nun auch nicht entfernt sind: »Du magst dir die Kiefer verrenken und die Hände aus den Gelenken winden, sie haben dich doch nicht verstanden und werden dich nie verstehen.«339 Trotz des »radikalen Nichtverstehens« zeigt sich also eine »eigentümliche komplementäre Symmetrie« zwischen beiden Gruppen, »die Einwohner in der vergeblichen Anstrengung etwas zu sagen […], die Nomaden, ohne daß sie etwas sagen wollen […]. Aber was und wie weiß der Schuster von dem, was die Nomaden wollen?«340 Diese rhetorische Frage Nägeles führt ins Zentrum der Sprachreflexion auf der Handlungsebene des Textes. Ein kommunikativer Austausch, eine Verständigung beider Gruppen ist von Beginn an zum Scheitern verurteilt, weil ihre sprachlichen Codes nicht kompatibel sind. Da der Erzähler zugleich aber zu keiner Reflexion dessen – und somit der Gründe des Nichtverstehens – gelangt, kommt es zu den Abwertungen der Nomaden. Hierbei ist die Frage zu stellen, inwieweit der Vorwurf der Kulturlosigkeit nicht auf den Erzähler und seinen Bericht selbst zurückfällt, der die eigene Kultiviertheit nur über die Herabsetzung der Nomadenkultur herleiten kann. Denn auch in seiner eigenen Wahrnehmung nutzen die Nomaden ihre scheinbare militärische Stärke 335 Kafka: Ein altes Blatt. S. 209. 336 Djoufack, Patrice: Entortung, hybride Sprache und Identitätsbildung. Zur Erfindung von Sprache und Identität bei Franz Kafka, Elias Canetti und Paul Celan. Göttingen: V&R unipress 2010. S. 217. 337 Nägele: Es ist als wäre. S. 68. 338 Kafka: Ein altes Blatt. S. 209. 339 Ebd. 340 Nägele. Es ist als wäre. S. 68.

5. Didaktische Ziele und Vermittlungsformen literarästhetischer Literalität

nicht, um die Stadtbewohner zu erniedrigen, vielmehr nehmen sie sich nur das, was sie brauchen341 : »Man kann nicht sagen, daß sie Gewalt anwenden.«342 Zieht man das Wortspiel hinzu, worüber die Art ihrer Verständigung untereinander mit der von Dohlen verglichen wird, was die Konnotation auf den Namen Kafka(s) beinhaltet, dann lassen sich hieraus Verweise auf die gerade nicht immer eindeutig verstehbare, sondern rätselhafte, vieldeutige literarische Sprache entnehmen, die sich demjenigen, der sie wie die »Handwerker[] und Geschäftsleute[]«343 analog zur Alltagssprache eindeutig zu entschlüsseln versucht, gänzlich verweigert. Dies führt auf die Ebene der Textrezeption: Denn um nicht zum Schuster zu werden, bedarf es der Leser_innen, die anders auf diese fremde, nomadische Sprache reagieren als der Erzähler und im Rezeptionsprozess somit das einlösen, was auf diegetischer Ebene scheitert: Eine qua Perspektivwechsel ermöglichte Wahrnehmung des Anderen, die gerade kein Verstehen beinhaltet, welches das Andere in das Eigene überführt, sondern die am Nichtverstehen, an einer nicht zur Abwertung führenden Anerkennung der Andersheit des Anderen ansetzt. Was den Nomaden im Bericht des Erzählers verwehrt bleibt, können die Lesenden in ihrer Lektüre realisieren. Immer im Bewusstsein, dass auch sie den Grund ihrer eigenen Sprache nicht verlassen können und ein Verstehen des Anderen somit letztlich ein Scheitern beinhalten wird – aber gerade darin, dass der Text zu dieser Reflexion, man möchte fast sagen, ›erzieht‹, scheitern solche Lektüren wiederum auch nicht. Wenn gilt, was Detlef Kremer von der Sprache der Nomaden behauptet, dass sie diese nämlich »als Schriftsteller aus[weist]«, die mit dem von ihm als autoreflexive Signale auf das Schreiben gelesenen »Schärfen der Schwerter, dem Zuspitzen der Pfeile, mit Übungen zu Pferde«344 befasst sind, woraus sich die »Schrift Kafkas« bilde345 , dann fordert dieser Text Leser_innen ein, die 1. diese Schrift als ästhetisch-literarische auch und gerade im Bewusstsein eigenen Nichtverstehens zu lesen verstehen, denen 2. die kulturell und sprachlich bedingte und somit perspektivisch gebrochene Grundlage der Konstrukte aller menschlichen Denk- und Wahrnehmungsakte bewusst wird und die 3. die pejorativen Beschreibungen der vermeintlichen »Vertiertheit und Grausamkeit«346 der Nomaden seitens des Erzählers als Folgen des Ausbleibens ebendieser 341 342 343 344 345

Vgl. Djoufack: Entortung, hybride Sprache und Identitätsbildung. S. 217. Kafka: Ein altes Blatt. S. 209. Ebd. S. 210. Ebd. S. 208. Kremer, Detlef: Franz Kafka: Der Proceß. In: Hans Dieter Zimmermann (Hg.): Nach erneuter Lektüre. Franz Kafka »Der Proceß«. Würzburg 1992. S. 185-199. S. 186. Kremer greift hierbei auf die Beobachtung einer Engführung der Tätigkeiten des Reitens und Schreibens auch in anderen Texten Kafkas zurück. »Er handhabt Reiten und Schreiben als Vorgänge, als Prozesse, die sich gegenseitig zitieren. Der Ritt auf der Feder dient als semiotischer Hintergrund, von dem sich die Schrift abhebt.« Ebd. 346 Schwardt, Daniela: »Fabelnd denken«: Zur Schreib- und Wirkungsabsicht von Wolfdietrich Schnurre. Oldenburg: Igel 1999. S. 90. Das Zitat ist bewusst an dieser Stelle eingefügt, da die Lektüre der Erzählung durch Schwardt, die sie als intertextuellen Bezugspunkt für die Erzählung Eines Nachmittags von Wolfdietrich Schnurre fruchtbar macht, genau in diese Falle läuft und nicht reflektiert, dass alle Aussagen des Textes letztlich nur auf die Begrenztheit und Fragwürdigkeit der Perspektive des Erzählerberichts zurückzuführen sind. Denn es ist nicht »Kafka, [… der] pejorativ die

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Literarästhetische Literalität

Lernprozesse zu reflektieren wissen. Damit gelangt man unmittelbar auf das Feld der Didaktik und des interkulturellen Lernens.

5.3.2.2.

Vermittlungsziele auf den Ebenen von Kompetenz, Literalität und Bildung

Ein entscheidender Schlüssel zur Erzählung liegt im Erkennen der Unzuverlässigkeit des Erzählers. Die oben angeführten Hinweise darauf werden Schüler_innen in der Regel, so meine eigenen Unterrichtserfahrungen, nicht sofort ins Auge springen; der Text spielt auch genau hiermit: Da »die Behauptungen des Erzählers in fiktionalen Texten […] einen logisch privilegiert[…]en Status besitzen«347 , wird zunächst dessen Perspektive übernommen, seinen Aussagen vertraut. Um seine Unzuverlässigkeit erkennen zu können, müssen die Lernenden eine die Textaussagen hinterfragende Lesehaltung einnehmen, Irritationen bemerken, über Ungereimtheiten stolpern. All dies sind Fähigkeiten, die gewiss auch für eine kritische Analyse vieler Sachtexte zutreffen; sie gewinnen im Kontext der Kafka-Erzählung aber noch einmal einen anderen Stellenwert, da es sich hier letztlich auch um die Bereitschaft handelt, das eigene Erstverständnis des Textes und die Bedingungen, auf deren Grundlage es sich ausbildete, zu hinterfragen. Wenn Schüler_innen auf dieser Basis die Unzuverlässigkeit des Erzählers benennen können, ist dies zunächst einmal im Rahmen eines kompetenzorientierten Unterrichts operationalisierbar; denn diesbezüglich gibt es in der Tat ein »Problem« im bzw. mit dem Text, für welches das Erkennen dieser Unzuverlässigkeit eine Art »Lösung« darstellt – und die ist in diesem Falle kognitiv zu erschließen und als Ergebnis messbar. Eine solche Leistung ist im Rahmen der oben vorgenommenen Unterteilung kognitiver Fähigkeiten, die die Bildungsstandards dem Begriff der Kompetenz zuordnen, dem ersten Bereich zugehörig, also Fähigkeiten, die im Rahmen des Kompetenzbegriffs Weinerts vermittelbar sind. Die Frage bleibt aber, wie viel allein hiermit gewonnen ist: Denn alle vom Erkennen der Unzuverlässigkeit Ausgang nehmenden weiteren Beobachtungen sind wesentlich schwerer und zum Teil gar nicht in Aufgaben mit vorgegebenen Ergebnissen zu operationalisieren, da diese Ergebnisse von den ausgewählten Bezügen und von der Art und Weise, wie hiermit verfahren wird, abhängen. Bevor dies an einzelnen Beispielen näher erläutert wird, sollen aber noch weitere textanalytische Beobachtungen genannt werden, die für sich genommen jeweils durchaus kompetenzorientiert abprüfbar sind, auch wenn ihnen nicht die gleiche Schlüsselfunktion für die Erzählung zukommt, wie dies für die Unzuverlässigkeit des Erzählers gilt. Hier wäre zunächst das Erfassen des Rahmens zu nennen: Verfügen Schüler_innen über Kenntnisse darüber, dass Exposition und Schluss oftmals entscheidende Signale zur Erschließung der gesamten Konstruktion eines literarischen Textes enthalten348 , so können sie die hiermit gegebenen Hinweise hinsichtlich der Infragestellung scheinbarer Realitäten und sprach- bzw. kommunikationsgebundener Missverständnisse erVertiertheit und Grausamkeit der ›Nomaden‹ [beschreibt]« (und die von ihnen ausgehende »blutrünstige[] Gewalt« [ebd.]), sondern er lässt einen Erzähler auftreten, der dieses vollzieht – und als unzuverlässig markiert ist. 347 Martinez/Scheffel: S. 96. 348 Vgl. Müller: Grundlegende semantische Ordnungen erkennen. S. 93f.

5. Didaktische Ziele und Vermittlungsformen literarästhetischer Literalität

kennen. Weitere Beispiele für kompetenzorientiert vermittel- und abprüfbare kognitive Fähigkeiten sind etwa das Erfassen der Figurenkonstellation mit ihrer Gegenüberstellung der Nomaden zu den Bürgern der Stadt, ein Benennen der Tatsache, dass der Erzähler sich als Repräsentant der Bürger – und so eines kollektiven Wir – versteht oder eine Raumanalyse, die erläutern kann, dass die Nomaden aus einem nicht der städtisch-zivilisatorischen Ordnung zugeordneten Bereich in dieses Gebiet eindringen und hieraus das für die Handlung zentrale Ereignis, der Konflikt, resultiert. 349 Doch bereits im Kontext der Vermittlung von Operationen auf dieser Ebene zeigt sich, dass dann, wenn die Lernenden in Aufgaben individuellen Gestaltungsspielraum erhalten, sich die Ergebnisse nur noch eingeschränkt festlegen lassen. Wird etwa die Aufgabe gestellt, die den Erzählerbericht durchziehenden Isotopien zu benennen, lassen sich bereits unterschiedliche Zugänge zum Text denken. Solche Operationen fallen in den zweiten Bereich der oben unterschiedenen kognitiven Fähigkeiten, die bereits einer literarästhetischen Literalität zuzuordnen sind. Es ist hier möglich – und diesen Weg wird in der Regel die Mehrzahl der Schüler_innen gehen – die Opposition der semantischen Felder ›Barbarei‹ und ›Zivilisation‹ zu untersuchen. Gleichermaßen ist es aber auch denkbar, ›Unbeweglichkeit und Erstarrung‹ gegen ›Dynamik und Bewegung‹ oder ›Territorialisierung‹ vs. ›Deterritorialisierung‹ zu setzen, worüber m.E. ähnliche Gruppen gebildet werden können, dies aber unter den Vorzeichen veränderter Wertungen, die in diesem Falle das Werte- und Normensystem des Erzählers evtl. bereits überschreiten (was allerdings auch auf der Ebene der ersten Dichotomie ›Barbarei vs. Zivilisation‹ möglich ist, wenn Schüler_innen dem oben ausgeführten Gedanken folgen, dass eigentlich der Erzähler und die Gruppe der Städter aufgrund ihrer Abwertungen der Nomaden selbst die Barbaren sind). Weiterhin lässt sich ›Macht‹ vs. ›Ohnmacht‹ abgrenzen – wobei auch hier die Zuordnungen in sich variabel ausfallen können, je nachdem, welche Perspektive auf den Text verfolgt wird. Denn der kaiserliche Palast scheint zwar das Zentrum der Macht zu sein, übt diese faktisch aber nicht aus. Dies sind nur einige Beispiele, wie sehr bereits im Kontext solcher Strukturanalysen die Thesen Barthes’ zur strukturalistischen Tätigkeit ihre Gültigkeit beweisen und die Lösung dieser Analyseaufgaben von der Etablierung eines bestimmten, individuell geprägten Textverständnisses abhängt. Auch an einem anderen Punkt, der banal zu sein scheint und von dem man meinen könnte, seine Erarbeitung sei leicht innerhalb des Kompetenzparadigmas einordbar, zeigen sich weitere Probleme, und zwar bei der Rekonstruktion der Handlung. Ähnlich wie dies für die Erzählung Ich bin zurückgekehrt gilt, bleibt aufgrund der Unzuverlässigkeitsindikatoren hier vieles offen; dies beginnt bei der Frage nach dem Verhalten der Nomaden in der Stadt, reicht weiter über deren Kommunikationsmittel bzw. -formen 349 Vgl. Anita Schilcher: Handlungsverläufe beschreiben und interpretieren. In: dies. u. Markus Pissarek (Hg.): Auf dem Weg zur literarischen Kompetenz. Ein Modell literarischen Lernens auf semiotischer Grundlage. Baltmannsweiler: Schneider 2013. S. 199-228. S. 205f. Gleichwohl gilt auch für diesen und alle zuvor genannten Punkte, dass die Beobachtungen eigentlich erst dann für die Gesamtlektüre des Textes fruchtbar werden, wenn sie sich mit weiteren Textwahrnehmungen verbinden, die dann in Struktur und Inhalt wesentlich komplexer und schwieriger zu operationalisieren sind.

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Literarästhetische Literalität

und endet bei der Reaktion des kaiserlichen Palastes, sofern es überhaupt eine solche gegeben hat. Zudem gilt, dass die meisten der im Rahmen eines Kompetenzmodells abprüfbaren mentalen Operationen nicht zuletzt aufgrund ihrer Struktur operationalisierbarer Problemlösungen Einzelanalysen bleiben; schaut man sich die notwendige Weiterarbeit mit ihnen an, geht man bereits auf die Ebene von Literalität über. Dies lässt sich am Beispiel der Überschrift des Textes verdeutlichen. Auf kognitiver Ebene kompetenzorientiert vermittel- und testbar ist hier die Benennung einer übergeordneten extradiegetischen Ebene, die den Bericht des Schusters überschreitet und dem Text eine multiperspektivische Struktur verleiht. Die Auswertung dieser Beobachtung bleibt aber innerhalb gewisser Grenzen bedeutungsoffen, trägt mit zum Aufbau von Polyvalenz im Text bei, fällt deshalb in den dritten der oben unterschiedenen Bereiche kognitiver Fähigkeiten und ist damit einer literarästhetischer Literalität zuzuordnen. Kompetenzorientiert lässt sich einzig überprüfen, ob die Lernenden in einen hierüber ausgelösten genuin ästhetischen Rezeptionsmodus eintreten, der nun aber gerade nicht mehr auf finale Lösungen, sondern auf eine Prozessstruktur hin ausgerichtet ist. Diese kann durchaus unterschiedliche Verlaufsstationen aufweisen und verschiedene weitere Wahrnehmungen miteinander verbinden. Ob ein Schüler etwa der Spur folgt, dass der Text hierüber eine Distanz zum Erzähler und dem von ihm berichteten Geschehen aufbaut (und so ggf. erst auf diesem Wege dessen Unzuverlässigkeit erkennt) oder eine andere Schülerin dem autoreferentiellen Signal, das über den Hinweis auf die medial-sprachliche Form der Erzählung gegeben wird, nachgeht oder eine dritte sich die Frage stellt, warum explizit von einem »alten Blatt« die Rede ist, wird sich nicht eindeutig in Form von Aufgaben, die dem Schema »Problem« und »Lösung« folgen, abhandeln lassen. Produktionsästhetisch dienen die hier verhandelten Gestaltungsmittel dazu, eine Rezeption anzustoßen, die selbst Probleme aufwirft, Korrekturen einfordert und so Selbstreflexionsprozesse auslöst. Bleiben Schüler_innen beim rein kompetenzorientierten Abarbeiten der erwähnten analytischen Kategorien stehen, verfehlen sie diesen eigentlichen Impuls, der von der Erzählung ausgeht. Solche dann aus einem erweiterten Modell literarischen Lernens im Sinne der Vermittlung literarästhetischer Literalität hervorgehenden Bildungsimpulse betreffen z.B. ein Nachdenken über die mit dem – scheinbar – hohen Zivilisationsgrad der Städter einhergehenden Ängste und die hiermit verbundenen Einschränkungen ihres öffentlichen Lebens; eine kritische Reflexion der Legitimität von Machtinstanzen, die – wie der kaiserliche Palast – letztlich nur leere Funktionsstellen im öffentlichen Leben der Städter bilden und sich bei genauerer Betrachtung trotz ihrer Machtinsignien als machtlos erweisen, während die gerade nicht auf einen spezifischen Repräsentanten von Macht ausgerichteten, sondern auch diesbezüglich deterritorialisiert agierenden Nomaden die eigentlich Mächtigen in der Erzählung sind. All dies fällt in das vierte Feld kognitiver Leistungen, die ausgangs von literarästhetischen Verfremdungen oder Irritationen zu einer veränderten Perspektive auf die Welt, in der die Schüler_innen leben, oder sich selbst führen. Dem liegen aber kognitive Verstehensoperationen auf den anderen Feldern zugrunde. Im Folgenden soll die Verbindung dieser einzelnen Bereiche – und somit auch das Ineinandergreifen von Kompetenzen, Literalität und Bildung gemäß dem dieser Arbeit zugrunde liegenden

5. Didaktische Ziele und Vermittlungsformen literarästhetischer Literalität

integrativen Modell – mit Blick auf einen bildungsrelevanten Impuls, der aus der Auseinandersetzung mit der Erzählung Kafkas hervorgeht, näher fokussiert werden. Er betrifft interkulturelle Lernprozesse, die aus den kritischen Reperspektivierungen geläufiger Denk- und Wahrnehmungsmuster, die der Text ermöglicht, resultieren.

5.3.2.3.

Literarästhetisch begründetes interkulturelles Lernen

Die aktuellen gesellschaftlichen Debatten um Migration verändern zwar nicht den Blick auf die Erzählung, geben ihm aber schärfere Konturen – insbesondere im Kontext einer didaktischen Auseinandersetzung, die Lernprozesse in Gang bringen will, die unweigerlich auch Fragen sozialer und ethischer Provenienz mit aufwerfen. Dabei gilt es, die »sozialisationsfördernde[] Komponente von Literatur« ebenso zu konkretisieren wie ihren »Charakter als Bildungsinstrument«350 und dies an den Entwurf eines Modells literarästhetischer Literalität anzuschließen. Hinsichtlich der beiden formulierten Bildungsziele lassen sich Einwände formulieren, die aus zwei Richtungen kommen: Zum einen kann man kritisch anfragen, ob das alles nicht viel zu sehr nach einer ›Didaktik des guten Willens‹ ausschaut, von der man schließlich nie wisse, ob sie wirklich zu handlungsrelevanten Lernerfolgen führt.351 Zum zweiten lässt sich Kritik an einer pädagogischen Indienstnahme von Literatur üben. Kunst, so lautet dieser nicht minder berechtigte Einwand, dürfe nicht in der Form funktionalisiert werden, dass sie lediglich Mittel zum Zweck letztlich außerästhetischer Lernziele werde, die sich ebenso gut auch auf anderem Wege hätten realisieren lassen. Um den zweiten Einwand zu widerlegen, muss ein Weg aufgezeigt werden, der ein solches interkulturelles Lernen in genuin ästhetische Lernprozesse einbettet, sodass von einer Funktionalisierung und Instrumentalisierung von Kunst sich alleine schon deshalb nicht sprechen ließe, weil es erst die ästhetische Verwendungsweise von Sprache ist, über die alle weiteren Lernziele erreichbar werden.352 Ähnlich wie dem literacyBegriff der New London Group liegt einem solchen Ansatz im Kontext interkultureller Lernprozesse zunächst ein semiotisches Verständnis von Kultur zugrunde, das sowohl Kulturationsprozesse als auch die ihnen zugrunde liegenden gesellschaftlich-historischen Diskurse und hieraus hervorgehende Begriffe von Subjektivität zeichentheoretisch im Rahmen eines erweiterten Textbegriffs fasst. Dabei wird Kultur als textanalog aufgefasst, was meint, dass Kultur als Signifikationsprozess zu reflektieren ist. Kultur besteht damit in der Repräsentation einer intentionalen Auffassung von Welt, die in Zeichen kommunizierbar wird. Kommunikabilität 350 Dawidoswki, Christian u. Dieter Wrobel: Einführung. Interkulturalität im Literaturunterricht. In: dies. (Hg.): Interkultureller Literaturunterricht. Konzepte – Modelle – Perspektiven. Baltmannsweiler 2006. S. 1-16. S. 4. Künftig zitiert: Dawidoswki/Wrobel: Interkulturalität. 351 Vgl. hierzu auch Dawidowski/Wrobel: Interkulturalität. S. 8: »Berücksichtigt man ferner das ›überwiegend negative Image des Deutschunterrichts bei den LeserInnen‹ (Eggert/Grabe 1995, S. 66) bleibt fraglich, wer eigentlich die Adressaten interkultureller Literaturdidaktik sind und ob die, die man erreicht, auch die sind, die man erreichen will.« 352 Vgl. hierzu die Unterscheidung der Begriffe ästhetischer und allgemeiner Bildung im fünften Kapitel.

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Literarästhetische Literalität

avanciert zum Konstituens von Kultur schlechthin, ist doch das Entstehen der Kultur als Zeichenzusammenhang bereits als Prinzip vom Kommunikativen her gedacht.353 Kultur wird somit, in den Worten Niklas Luhmanns, zur »Sinnform der Rekursivität sozialer Kommunikation«354 . Das kulturell Fremde und der Zugang hierzu werden auf diesem Wege semiotisch gewendet – beides basiert auf der Konfrontation mit dem fremden Code einer anderen langue im Sinne Saussures, was zu einer Reflexion der Bedingungen und zu einer möglichen Modifikation des Verständnisses der eigenkulturellen semiotischen Codierungen und so der eigenen Perspektive führt. Einen solchen Perspektivwechsel wiederum können insbesondere literarische Texte befördern, und zwar indem sie »durch verschiedene ästhetische Verfahren« zu einer »Deautomatisierung unserer Wahrnehmung« anleiten, deren Folge wiederum »die Distanzierung von dem, was wir als selbstverständlich oder als das ›Eigene‹ empfinden« sein kann.355 All dies ist für die Lektüre des Kafka-Textes insofern relevant, als dieser die Konfrontation mit einer fremden Kultur, die auf diegetischer Ebene allerdings nur im Modus des Scheiterns vorgeführt wird, und das semiotische Verständnis von Kultur zusammenführt; und so in der literarischen Verfremdung zugleich die unhintergehbare Grundlage (sprachlicher) Zeichensysteme und ihrer Codierungen sowie hierauf basierender interkultureller (Nicht-)Verständigungsprozesse reflexiv werden lässt. So wird es möglich, in der Auseinandersetzung mit dem Text interkulturelles auf literarästhetisches Lernen zurückzubeziehen: Im Spiegel der scheiternden Verständigung zwischen den Bürgern der Stadt und den Nomaden führt das ästhetische Spiel, das der Text über seine erzähltechnische Gestaltung mit seinen Leser_innen treibt, diese immer wieder auf die Bedingungen und Bedingtheiten ihrer eigenen Verstehensentwürfe zurück. Diese verlieren ihre Automatismen und gelangen zumindest teilweise zur Reflexion, sodass sie überprüf- und modifizierbar werden. Deshalb überschneiden sich an diesem Punkt die Zielsetzungen der Vermittlung einer gegenstandsorientierten literarästhetischen Literalität mit denen des interkulturellen Lernens, das sich mit Christian Dawidowski als »Vorgang und Ergebnis einer Umstrukturierung selbstorganisierter Ich- und Weltentwürfe an Hand einer Neuinterpretation kultureller Repräsentationen«356 bestimmen lässt. Ganz so sicher, wie sich über diese Argumentation der zweite Einwand widerlegen lässt, wird es mit Blick auf den ersten nicht. Doch nimmt man das leseraktivierende ästhetische Potential literarischer Texte ernst, so folgen hieraus zumindest größere Chancen, dass es nicht nur bei einer Didaktik der guten Absichten bleibt, als im Falle überpädagogisierter und allzu oft ›moralinsaurer‹ Belehrungen in Form von Verhaltensratgebern, die Heranwachsende häufig eher zu Widerspruch reizen als zu Einsichten 353

Dawidowski, Christian: Theoretische Entwürfe zur Interkulturellen Literaturdidaktik. Zur Verbindung pädagogischer und deutschdidaktischer Interkulturalitätskonzepte. In: Christian Dawidowski u. Dieter Wrobel (Hg.): Interkultureller Literaturunterricht. Baltmannsweiler: Schneider 2006. S. 18-36. S. 24. 354 Luhmann, Niklas: Kultur als historischer Begriff. In: Gesellschaftsstruktur und Semantik. Bd. 4. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1995. S. 31-59. S. 47. Vgl. Dawidowski: Theoretische Entwürfe. S. 24. 355 Wintersteiner, Werner: Transkulturelle literarische Bildung. Die »Poetik der Verschiedenheit« in der literaturdidaktischen Praxis. Innsbruck, Wien u. Bozen: Studien 2006. S. 127. 356 Dawidowski: Theoretische Entwürfe. Ebd. S. 25. Im Original kursiviert.

5. Didaktische Ziele und Vermittlungsformen literarästhetischer Literalität

bewegen. Im Umgang mit Literatur lassen sich interkulturelle Lernerfahrungen in der Form machen, dass die Schüler_innen gerade nicht von außen belehrt werden, sondern sie es sind, die sie im eigenen Denken vollziehen. Dafür, dass dies am Ende zu einem Überdenken eigener, verinnerlichter Wahrnehmungs- und Handlungsmuster führt, gibt es weder Garantien noch operationalisierbare Lernerfolgskontrollen – würde man aber alleine deshalb schon den Versuch unterlassen, blieben wohl die allermeisten Ziele des Bildungs- und Erziehungsauftrags, den Schule hat, schon von Anfang an nicht einlösbar.

5.3.2.4.

Das Phasenmodell interkulturellen Lernens nach Dawidowski

Die konkrete didaktische Umsetzung dieser Gedanken erfolgt im Folgenden unter Rekurs auf das von Dawidowski unter Rückgriff auf Ulrike Reviere357 entwickelte Phasenmodell für interkulturelle Lernprozesse im Literaturunterricht.358 Es beruht auf den bereits dargestellten kultursemiotischen Grundannahmen. Zudem ist es an hermeneutische Traditionslinien insofern angebunden, als es den Prozess der Auseinandersetzung mit dem Fremden aus einer Bewegung heraus versteht, die an der Konfrontation mit einem zu eigenen Verstehensentwürfen zunächst inkompatibel gedachten Anderen ansetzt (erste Phase der Irritation).359 Diese Fremdheitserfahrung und die hieraus hervorgehende Infragestellung habitualisierter Sichtweisen führen in einem zweiten Schritt dazu, dass die eigenen Bedingungen des Verstehens transparent zu werden vermögen und somit zur Reflexion gelangen (zweite Phase der Transparenz). Dies wiederum bildet die Voraussetzung für den angestrebten Perspektivwechsel, der die Bedingungen des eigenen Vorverständnisses aus der Fremdperspektive kritisch prüft und modifiziert oder revidiert (dritte Phase des Perspektivwechsels, sie ist nicht als singuläre, temporäre Phase zu verstehen, sondern steuert zugleich den gesamten Lernprozess). Diese ersten drei Phasen lassen sich gegenstandsbezogen ausgestalten, sodass sie sich auf die Auseinandersetzung mit dem literarischen Text und somit auf ästhetische Lernprozesse beziehen, die dem dieser Arbeit zugrunde liegenden Modell literarästhetischer Literalität folgen, in das literarische Kompetenzen integriert sind. 357

Reviere, Ulrike: Ansätze und Ziele interkulturellen Lernens in der Schule. Frankfurt a.M.: IKO – Verlag für interkulturelle Kommunikation 1998. S. 128ff. 358 Vgl. Dawidowski: Theoretische Entwürfe. Diese Publikation stammt aus dem gleichen Jahr wie Wintersteiners Ansatz transkulturellen Lernens, den er wie Dawidowski unter Rekurs auf Krefts vierphasiges Modell literarischen Verstehens entwickelt. Wintersteiner grenzt hierbei das transkulturelle vom interkulturellen Lernen wie folgt ab: »Für interkulturelles Verstehen ist […] die – durch das didaktische Szenario gegebene – Multiperspektivität literarischer Interpretationen von Bedeutung. [/] Ein […] Vorzug ist, dass Kreft es nicht bei dieser Perspektivenvielfalt bewenden lässt. Sie ist aber Voraussetzung für eine Überprüfung und Transzendierung der eigenen Position (von der ›bornierten‹ zur ›reflektierten‹ Subjektivität). Somit findet – und das ist wesentlich für eine transkulturelle Literaturdidaktik – zum zweiten Mal eine Irritation des Eigenen, und zwar in Form einer Selbstreflexion, statt.« (Wintersteiner: Transkulturelle literarische Bildung. S. 130.) Aus dem interkulturellen Entwurf Dawidowskis geht eine solche Form der Selbstreflexion allerdings auch hervor (vgl. Dawidowski: Theoretische Entwürfe. S. 26), weshalb sein Ansatz zumindest diesen zentralen Aspekt transkulturellen Lernens bei Wintersteiner mit einbegreift und hier im Folgenden zugrunde gelegt wird. 359 Vgl. hierzu und im Weiteren Dawidowski: Theoretische Entwürfe. S. 25-27.

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Literarästhetische Literalität

Die vierte Phase des Transfers kann dann auf die hieraus hervorgehenden bildungsrelevanten Impulse ausgerichtet werden. Ziel wird es hier, die zuvor am literarischen Text erarbeiteten Lernschritte und insbesondere den Perspektivwechsel im Sinne eines formalen Prinzips ohne konkrete inhaltliche Füllung in gesellschaftlichen Kontexten zu verstetigen. Im Laufe dieses Lernprozesses wird folglich nicht nur ein angemesseneres Verstehen der fremden, sondern auch der eigenen Kultur geleistet. Im Blick des Anderen wird sie sich selbst fremd und kann als eine reflektiert werden, die keine universale, ahistorische Gültigkeit besitzt, sondern unter bestimmten sozialgeschichtlichen und kulturellen Bedingungen entstanden ist. Dies hat zugleich unmittelbare Auswirkungen für das wahrnehmende Subjekt, das sich hierüber der kulturellen Bedingtheit eigener Vorverständnisse, die seine Wahrnehmung von Außenwelt, Mitmenschen und auch die seiner eigenen Identität prägen, bewusst zu werden vermag. Dawidowski fundiert sein Modell mit dem Rekurs auf hermeneutische Grundlagen zwar in anderer Weise, als dies für die vorliegende Arbeit mit den hier ausgewählten maßgeblichen Literaturtheorien gilt. Dennoch können ausreichend große Gemeinsamkeiten ausgemacht werden, dass die Grundstruktur seines Ansatzes mit dem literacyKonzept dieser Arbeit kompatibel ist. Denn das Modell setzt sowohl an den durch literarische Sprachverwendung bewirkten Verfremdungen und Deautomatisierungen gewohnter Denk- und Wahrnehmungsweisen an, die zu veränderten Perspektiven auf die ›Welt‹ und das eigene Ich führen, als auch mit dem kultursemiotischen Ansatz an der sprachlich-medialen Reflexion dieser Prozesse. Der intendierte Perspektivwechsel infolge der durch literarästhetische Gestaltungstechniken bewirkten Außerkraftsetzung von Bedingungen, die dominante Diskurse der sozialen Lebenswelt oftmals unreflektiert stützen, ist hierbei insbesondere an zentrale Gedanken der Wirkungsästhetik Isers anschließbar. In Kafkas Erzählung sind es u.a. die Hinweise auf die Unzuverlässigkeit des Erzählers, die in der Rezeption dazu führen können, dass »habituelle Automatisierungen von Wahrnehmung und Vorstellung versagen und damit die Orientierung schwindet, die wir aus solchen Automatisierungen gewinnen«, was »zugleich das Funktionieren des Wahrnehmungscodes bewußt werden läßt«360 . Ob dies auf Grundlage hermeneutischer Annahmen ein – wenn auch nur annäherungsweise erfolgendes – Verstehen des Anderen ermöglicht und ob die Position des lernenden Subjekts nicht radikaler auf dem Spiel stehen müsste, kann im Detail infrage gestellt werden.361 Es betrifft aber nicht die grundlegenden Ziele des Modells, das zunächst – ganz im Sinne Isers – auf die Etablierung einer »Perspektive auf die vorhandene Welt, die in ihr nicht enthalten ist«362 , abhebt. 360 Iser: Der Akt des Lesens. S. 141. 361 Vgl. hierzu Sieglinde Grimm: Empathy and Recognition: Two Concepts of Intercultural Learning in Literature Teaching with Rafik Schami’s Fable The Sheep in Wolf ’s Clothing. In: Arnd Witte u. Theo Harden (Hg.): Intercultural Competence. Concepts, Challenges, Evaluations. Oxord u.a.: Peter Lang 2011. S. 449-464. S. 452. Stärkere Berücksichtigung finden diese Aspekte im Rahmen des bereits erwähnten Modells transkulturellen Lernens von Wintersteiner: Transkulturelle literarische Bildung. Vgl. insbesondere Kapitel 6: Perspektivenwechsel. Methoden der transkulturellen Literaturdidaktik. S. 125-142. 362 Iser: Der Akt des Lesens. S. IVf.

5. Didaktische Ziele und Vermittlungsformen literarästhetischer Literalität

5.3.2.5.

Ausarbeitung einer Unterrichtssequenz

Irritation Der Text dürfte bei seinen Leser_innen als erste Reaktion Befremden bis hin zu »Ekel und Abneigung«363 auslösen ob des Verhaltens, das die Gruppe der Nomaden hier (scheinbar) an den Tag legt. Die Angst, die das bloße Auftreten dieser archaisch anmutenden Kriegerhorde beim Erzähler auslöst, wird sich angesichts der drastischen Schilderungen ihrer Lebensformen, die in der scheinbaren Verspeisung eines Ochsen bei lebendigem Leibe gipfeln, auf die Lesenden übertragen.364 Auch die Erzähltechnik des Textes lenkt zunächst hierauf hin, da keine sofort erkennbaren Signale gegeben werden, den Aussagen des Erzählers zu misstrauen. Setzt man an den Beginn der Unterrichtseinheit also die bewusst offene und spontane Leseeindrücke abrufende Aufgabe, die Nomaden zu beschreiben, fallen in aller Regel Aussagen, die im Wesentlichen in die Richtung gehen, dass die Nomaden als unzivilisiert, kriegerisch, archaisch, kulturlos etc. charakterisiert werden. Dem kann im Sinne der Bildung einer ersten (und später zu hinterfragenden) semantischen Opposition die Aufgabe beigeordnet werden, die Welt der Städter zu kennzeichnen. Am Beginn steht so nicht das Aufwerfen eines zu lösenden Problems, sondern eine in den Bereich literarästhetischer Literalität fallende Irritation in der Konfrontation mit dem Anderen, bei der die Erschütterung des eigenen Verständnisses von Kultur und menschlichem Zusammenleben durch das Fremde zu einer Abwehrreaktion führt: »Brüche und Kluften zwischen Ich und Du entstehen als Resultat missglückter Verständigung.«365 Die Leser_innen rücken hier in die gleiche Rolle wie der Erzähler im Text. Transparenz Ziel dieser Phase ist die kritische Prüfung der ersten, spontanen Aussagen am Text, in deren Folge auch eine Reflexion der Gründe ihres Zustandekommens und so eine Auseinandersetzung mit den Grundlagen des eigenen Verstehens erfolgt. Didaktisch ist ein Impuls zur Überprüfung des ersten Textverständnisses zu geben – etwa, indem man die zuvor gestellte Aufgabe nun dahingehend erweitert, dass die Aussagen am Text festgemacht werden sollen.366 In allen durchgeführten Unterrichtsreihen, in denen ich mit diesem Text arbeitete, wurde – zunächst ausgehend von Beobachtungen Einzelner – die Lerngruppe sich der Tatsache mehr und mehr bewusst, dass man sich mit den ersten Äußerungen auf sehr dünnem Eis bewegt. Die Schüler_innen stoßen über diese genaue Wahrnehmung der sprachlichen Gestaltung des Textes unweigerlich darauf, dass der Erzählerbericht nahezu durchgehend mit großen Vagheiten operiert und Ungereimtheiten bzw. Widersprüche aufweist. 363 Schwardt: »Fabelnd denken«. S. 90. 364 Hier arbeitet der Text weniger mit kognitiv-begrifflich gebundenen Recodierungen als vielmehr über die Evokation drastischer Vorstellungsbilder, die ihrerseits wiederum dem semantischen Feld des Fremd-Bedrohlichen zugeordnet werden bzw. dieses allererst als solches (mit) etablieren. 365 Dawidowski: Theoretische Entwürfe. S. 25. 366 Alternativ oder ggf. auch ergänzend ist es möglich, die Schüler_innen dazu aufzufordern, Elemente zu benennen, die in der Erzählung unklar bleiben. Auch hierüber lernen sie, Fragwürdiges bewusst wahrzunehmen.

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Literarästhetische Literalität

Fragt man dann nach möglichen Gründen hierfür, kommt zur Reflexion, dass das Verhältnis des Erzählers zu den Nomaden durch Fremdheitserfahrungen gekennzeichnet ist, die Abwehr erzeugen, bei genauerer Betrachtung hierfür sachliche Gründe aber fragwürdig werden. Dadurch, dass die Schüler_innen diese Beobachtung zunächst auf der diegetischen Ebene an einer fremden Figur, dem Erzähler, machen können und selbst noch außen vor bleiben, resultiert eine stärkere Bereitschaft, sich auf diese Korrektur einzulassen. Je nach Verlauf der Gespräche und dem Leistungsstand der Gruppe ist es möglich, an diesem Punkt zudem zu einer Auseinandersetzung mit der Überschrift anzuregen, die i.d.R. in hohem Maße irritiert und erste Verstehensentwürfe im Sinne einer alien association aufzubrechen und zu verändern vermag, worüber dann eine »Umorientierung der Erfassungsakte«367 des Textes erfolgen kann. In Form eines angeleiteten Unterrichtsgesprächs, das seinen Ausgang etwa von Fragen nimmt wie: »Wer spricht hier?« wird es möglich zu erkennen, dass eine extradiegetische Ebene in den Text eingezogen ist, die eine Distanz zum Bericht des Erzählers (und somit auch dessen kritische Prüfung) ermöglicht, und sei dies zunächst nur in Form einer Irritation. Während das Erkennen der extradiegetischen Ebene eine Kompetenz darstellt, sind die Diskussionen um die Auswertung dieses Befundes sowie weitere Sinnzuschreibungen, die sich mit der Überschrift »Ein altes Blatt« verbinden, nicht mehr in vollem Maße kompetenzorientiert abzubilden und fallen in den Bereich literarästhetischer Literalität. Im Anschluss an eine solche erste induktive Erschließung lassen sich dann weitere kurze Informationen zur Technik multiperspektivischen Erzählens und möglicher Funktionen durch die Lehrperson geben. Darauf folgend wird eine Reflexion der eigenen ersten Reaktionen auf den Text angeleitet. Nachdem dies auf der Ebene des Erzählers angebahnt wurde, können nunmehr auch die Konstruktionen der eigenen kulturellen Ich- bzw. Wir-Identität in ihrer Perspektivität, ihren unterschwelligen Wertungen und Ausgrenzungen mehr und mehr zu Bewusstsein kommen. Vielleicht gelingt dies zu diesem Zeitpunkt noch nicht sofort, da der Perspektivwechsel im dritten Teil der Einheit diesbezüglich noch stärkere Einsichten hervorzubringen vermag. Es sollte aber zumindest ein Bewusstsein dafür geschaffen sein, dass vorschnelle Wertungen als Reaktion auf etwas, das einem fremd erscheint, bei genauerer Betrachtung sich nicht immer als haltbar erweisen. Weitergeführt wird diese Phase durch einen Arbeitsauftrag, der die Gefahr hieraus resultierender Missverständnisse noch einmal thematisch werden lässt. Der programmatische Schlusssatz der Erzählung: »›Ein Missverständnis ist es und wir gehen daran zugrunde.‹« lässt sich als Impuls nutzen, um über verschiedene Formen von Missverständnissen in der Erzählung zu reflektieren. Sie können dann sowohl im Verhältnis des Kollektivs der Bürger (der Erzähler geht hier ganz zum ›Wir‹ über) zu ihren vermeintlichen Feinden, den Nomaden, als auch zu ihrer vermeintlichen »Schutzmacht«, dem Kaiser, ausgemacht werden. Denn auch dieses ist geprägt von Missverständnissen, und sie liegen nicht nur in der vom Erzähler den Bewohnern seitens des Kaisers vermeintlich zugeteilten Aufgabe der Landesverteidigung, sondern in der oben ausgeführten Beobachtung, dass die Verkörperung der Macht selbst eine buchstäbliche Leerstelle bleibt und als bloße Projektion der Bewohner gelesen werden kann. 367 Iser: Der Akt des Lesens. S. 207.

5. Didaktische Ziele und Vermittlungsformen literarästhetischer Literalität

Die Tatsache, dass sich auf beiden Ebenen eine projektive Überformung der Wahrnehmung ereignet, in deren Folge eben diese Projektionen für die Sache selbst genommen werden, kann mit einer Thematisierung des Beginns der Erzählung (»Es ist als wäre«) verbunden werden. So lässt sich auch hier induktiv die programmatische Funktion eines erzählerischen Rahmens erarbeiten, der das breite Themenfeld von Missverstehen, Unzuverlässigkeit und die projektive Überformung der Realität, in deren Zuge Scheinbares den Charakter vermeintlich fester Tatsachen erhält, auch von Seiten der künstlerischen Gestaltung des Textes her bewusst macht. In gleicher Weise wie im Falle multiperspektivischen Erzählens können den Schüler_innen kurze generalisierende Informationen zum unzuverlässigen Erzählen an die Hand gegeben werden, die eine – durchaus kompetenzorientiert zu denkende – Anwendung des erworbenen Wissens auch an anderen Texten befördern. Perspektivwechsel Beide Erzähltechniken, sowohl das unzuverlässige als auch das multiperspektivische Erzählen leiten zu den Inhalten der dritten Phase, die auf den Perspektivwechsel zielt, über. Eine hiermit einhergehende Selbstreflexion und Veränderung konventionalisierter Wahrnehmungs- und Denkmuster kann nach Dawidowski allerdings »in jedem Moment des interkulturellen Lernprozesses eintreten, die Abstrahierung als Phase im Lernprozess hat also den Stellenwert theoretischer Konstruktion«368 . Hinsichtlich des Gegenstands, auf den der Perspektivwechsel gerichtet ist, muss zwischen den folgenden drei Punkten differenziert werden. Zum einen handelt es sich um die in der vorherigen Phase bereits angezielten Modifikationen des Textverstehens, in deren Folge zugleich die Bedingungen und Bedingtheiten eigener automatisierter Wahrnehmungsund Verstehensmuster reflexiv werden. Infolge der Transparenz eigener Verstehensmuster wird es möglich, in eine kritische Distanz zu ihnen zu treten, was wiederum zu veränderten Perspektiven nicht nur auf sich selbst, sondern auch zu einer Hinterfragung der das eigene Denken prägenden gesellschaftlichen Diskurse führen kann, deren Gültigkeit bisher als selbstverständlich galt. Ein dritter, hiervon noch einmal zu unterscheidender Punkt, auf den sich der Perspektivwechsel beziehen kann, ist der Nachvollzug fremder Erfahrungsperspektiven, was Dawidowski unter Rekurs auf Spinner anführt.369 Auch wenn die Realisierung dieses letzten Zieles vielleicht unter kleine Vorbehalte zu stellen ist, lassen sich auch hier interkulturelle Lernprozesse an genuin literarästhetische anbinden, die sich in diesem Fall nun vom Erkennen spezifischer Erzähltechniken und der mit ihnen verbundenen Fokalisierungen auf die Auseinandersetzung mit ihrer Funktion verschieben – und somit abermals aufzeigen, dass die kompetenzorientierten Lösungen einzelner Probleme bzw. Aufgabenstellungen zum Text einer wei368 Dawidowski: Theoretische Entwürfe. S. 31. 369 Vgl. ebd. Ob dies in letzter Konsequenz wirklich möglich ist, bleibt allerdings vielleicht nicht nur eine entwicklungspsychologische Frage, wie Dawidowski ausführt, sondern eine grundlegende. Zumindest sollte berücksichtigt werden, dass auch der Nachvollzug von Fremdperspektiven letztlich auf Grundlage eigener Denk- und Wahrnehmungsmuster erfolgt, auch dann, wenn diese infolge der bisherigen Lernschritte eine Veränderung erfahren haben und bewusster im Sinne von transparenter geworden sind.

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tergehenden, offeneren kognitiven Auswertung bedürfen. Wiederum bietet es sich an, den Weg zunächst über die diegetische Ebene zu nehmen, die dann auch eigene Rezeptionsmechanismen spiegeln und so transparent machen kann. Im Zuge eines diese Lernprozesse befördernden Perspektivwechsels macht es Sinn, wenn die Schüler_innen den Nomaden, denen die Stadtbewohner sogar die Sprachfähigkeit absprechen, eine Stimme verleihen. So kann zunächst auf der Handlungsebene des Textes eine Oszillation zwischen den Perspektiven des Ich-Erzählers und der Gruppe der Nomaden in Gang gesetzt werden, was dann einen Perspektivwechsel und interkulturelle Lernschritte auch auf Seiten der Lernenden befördert.370 Zur Realisierung dessen erscheint ein Rückgriff auf produktionsorientierte Verfahren deshalb sinnvoll, weil es so möglich wird, die Schüler_innen aus der ihnen (sowohl auf der Ebene der Erzähltechnik des Textes als auch auf der ihrer eigenkulturellen Kodizes) zunächst fremden Perspektive heraus schreiben zu lassen, was beinhaltet, dass der Versuch unternommen werden muss, diese nachzuvollziehen. Hierauf zielt der folgende Arbeitsauftrag: »Verfassen Sie einen Bericht, der das Geschehen aus Sicht der Nomaden schildert.«371 Die konkrete Ausgestaltung beider Arbeitsaufträge wird eine große Variabilität aufweisen, da man verschieden verfahren kann und der Text über eine erhebliche Zahl von Unbestimmtheitsstellen verfügt, die z.T. aus der Unzuverlässigkeit der Erzählinstanz resultieren, z.T. aus deren Vagheit, z.T. aus den recht wenigen Informationen, die überhaupt gegeben werden. Gleichwohl bedingt allein der Wechsel der Perspektive, dass den Schüler_innen bewusst wird, wie sehr ihre Wahrnehmung durch die Erzählinstanz vorgeprägt ist und auf welch unsicheren Beinen man steht, wenn man sie verlässt. Es ist etwa möglich, dass die Stadtbewohner in den Augen der Nomaden ähnlich bedrohlich erscheinen, ihnen ebenfalls die Sprachfähigkeit oder gar Kultivierung abgesprochen wird oder ihre merkwürdige Fixierung auf den Palast des Kaisers thematisch wird. Wie auch immer sich dieser Bericht konkret gestaltet, er wird eines deutlich machen: Das Unverständnis über den jeweilig Anderen lässt sich nicht auf eine der beiden Figurengruppen reduzieren. Dieser Punkt zielt auf die ästhetische Funktion der Erzähltechnik. Den Schüler_innen kann so am Ende der Auseinandersetzung mit dem Text vor Augen geführt werden, wie sehr der Einsatz erzähltechnischer Gestaltungsmittel dazu führt, den Leser_innen 370 Vgl. zur Bedeutung der Einnahme einer oszillierenden Perspektive Dawidowski: Theoretische Entwürfe. S. 26: »In der faktischen Situation eines interkulturellen Lernprozesses wird dann die habituelle Neu-Konstruktion komplettiert durch ein Hin und Her, eine Oszillation zwischen Eigenem und Fremdem, zwischen Bestehendem und Neuem und zwischen Jetzigem und Zukünftigem. Der Vorgriff auf das Andere muss stets als Ergänzung des je Eigenen gedacht werden.« 371 Alternativ ist es möglich, eine neutrale Erzählinstanz über die Vorgänge berichten zu lassen, da auch in diesem Fall die Wahrnehmung des Erzählers verlassen werden muss, auf dessen Unzuverlässigkeit der bisherige Verlauf der Unterrichtsreihe ja bereits hingewiesen hat. Ein möglicher Schreibimpuls lautet: »Ein Reporter einer ausländischen Nachrichtenagentur beobachtet das Geschehen und berichtet hierüber. Schreiben Sie seinen Artikel.« Die Gefahr bei diesem Arbeitsauftrag ist, dass die Sicht des Erzählers beibehalten wird, weil ein Wechsel nicht unmittelbar hieraus hervorgeht. Andererseits verschafft diese Variante den Schüler_innen eine größere Eigenständigkeit bei der Erschließung der notwendigen Veränderungen; ggf. bietet sie also die Möglichkeit zur Binnendifferenzierung.

5. Didaktische Ziele und Vermittlungsformen literarästhetischer Literalität

selbstreflexiv die Perspektivität des eigenen Wahrnehmens und Denkens zu Bewusstsein kommen zu lassen. Denn auch ihre Bilder des Fremden erweisen sich als abhängig von bestimmten habitualisierten und oft nicht reflektierten, kulturell determinierten Mustern und können ihren Gegenstand nur verzerrt erfassen. Je nach den Aufgabenbearbeitungen lässt sich an dieser Stelle, ggf. auch im Kontext von Binnendifferenzierungen für literarische interessierte und kognitiv leistungsstarke Schüler_innen, ein Exkurs einbinden, der eine weitere mögliche Bedeutungsdimension der Erzählung erschließt: Die Nomaden als selbstreflexives Element des Textes, der hierüber seinen eigenen Status als literarisch Fremdes thematisiert. Ausgangspunkt kann ein induktiver Zugang sein, der das Anarchische, sich außerhalb fester gesellschaftlicher Ordnungen und Konventionen bewegende, auf Deterritorialisierung angelegte Verhalten der Gruppe mit ihrer nicht unmittelbar verständlichen Sprache thematisiert. Hierüber lassen sich Bezüge zum literarischen Diskurs erschließen, der auch eine Distanz zu sozial etablierten und nicht hinterfragten Denk- und Wahrnehmungskonventionen sucht. Auch für Leistungsstarke wird dieses Vorgehen aber durch weitere, von der Lehrperson zur Verfügung gestellte kontextualisierende Materialien ergänzt werden müssen. Herangezogen werden können zum einen Primärtexte, die solche Elemente beinhalten, ggf. im Verbund zu didaktisch bearbeiteten kurzen Auszügen aus literaturwissenschaftlichen Abhandlungen, die dies näher thematisieren.372 Transfer Zielsetzung einer vierten Phase des Transfers wird es, die zuvor gewonnenen Lernprozesse aus ihrer konkreten Bindung an den jeweiligen Text zu lösen und auf andere Kontexte zu übertragen. Dies betrifft etwa Fragestellungen, inwieweit menschliche Wahrnehmungen allzu häufig dem in der Erzählung erkennbaren Muster folgen, ob und in welcher Form mit solchen Mechanismen im öffentlich-gesellschaftlichen Diskurs gearbeitet wird und welche Gefahren hieraus für das Zusammenleben entstehen können. Als Ziel im Zusammenhang der hier fokussierten interkulturellen Lernprozesse nennt Dawidowski die dauerhafte »Flexibilisierung und Dynamisierung der WirIdentität«373 , über die die vorherige Unterscheidung zwischen dem Fremden und dem Eigenen zunehmend hinterfragbar wird. Die hieran gebundene Möglichkeit eines Aufbrechens und einer Veränderung bisheriger Sichtweisen bedarf »einer Festigung und einer Übertragung […] auf andere soziale Situationen«374 . Hierfür ist ein Bezug zur Alltagswelt der Schüler_innen herzustellen, zu Situationen, die ebenfalls geprägt sind von Begegnungen mit Fremden oder Unvertrautem – und vielleicht deshalb auch oft Angst Auslösendem. Für Schüler, die der dominanten Mehrheitskultur angehören, bietet sich die Möglichkeit, ihre eigene ›Wir-Identität‹ durch die vollzogenen Stufen der Transparentwerdung und des Perspektivwechsels nicht als statische, quasi naturgegebene Größe, son372 Hierzu bieten sich u.a. die Erzählungen Der Kübelreiter oder Wunsch, Indianer zu werden an. Zur näheren Untersuchung des Motivs des Reitens in diesen Erzählungen vgl. Detlef Kremer: Kafka – Die Erotik des Schreibens. 2., verbesserte Auflage. Bodenheim b. Mainz: Philo Verlagsgesellschaft 1998. S. 27-30 sowie 59-61. 373 Dawidowski: Theoretische Entwürfe. S. 26. 374 Ebd. S. 27.

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dern als historisch bedingtes Konstrukt zu begreifen, das folglich veränderbar ist. Dies soll ausdrücklich nicht bedeuten, dass hiermit einem Kulturrelativismus oder einer falsch verstandenen sog. Multi-Kulti-Gesellschaft das Wort geredet wird, in der es keinerlei für alle verbindlich gesetzten Rahmenbedingungen, wie etwa die Verpflichtung auf die freiheitlich-demokratische Ordnung und im Falle Deutschlands das Grundgesetz, mehr gibt. Eine Verständigung auf solche Grundwerte wird aber erst dann möglich, wenn man auch Angehörige fremder Kulturen in dem Sinne aktiv hieran teilhaben lässt, als man die Spezifik ihrer kulturellen Perspektive mit berücksichtigt und in den Diskurs einbezieht. Für Schüler_innen mit Migrationshintergrund ergibt sich im Zuge des Gesprächs über den Text die Gelegenheit, ihre Erfahrungen als Vertreter einer Minderheitskultur zu kommunizieren, die sich dem Blick einer für sie fremden Kultur ausgesetzt sehen. Zugleich – denn auch auf dieser Seite sind interkulturelle Lernprozesse von Bedeutung – kann es Anlass sein, auch über ihre eigenen Sprach- und Denkmuster zu reflektieren, auf deren Folie sie die Mehrheitskultur wahrnehmen. Auf Grundlage der ästhetischen Auseinandersetzung mit der Erzählung, die es den Lernenden ermöglicht, die sie »orientierenden Sinnvorstellungen zu beobachten, wenn nicht gar thematisch zu machen«375 , können so beide Gruppen bildungsrelevante Fragen reflektieren, wo es kulturelles Missverstehen heute gibt, welche Folgen es hat und wie man dem entgegenarbeiten kann.

375

Iser: Der Akt des Lesens. S. 342.

Fazit

Zurück zum Anfang, zu Kafkas Wunsch, »eine Ansicht des Lebens zu gewinnen«, in der dieses »als ein Nichts, als ein Traum, als ein Schweben erkannt werde«, und »schriftlich die anderen von ihr überzeugen zu können«. Das, was hier aus der Perspektive des Schreibenden formuliert ist, zielt auf Leser_innen, die sich auf diese andere »Ansicht des Lebens« einlassen, welche sich wiederum über die Spezifik literarästhetischer Rezeption vermittelt, die vom alltagspragmatischen Umgang mit Sprache zu unterscheiden ist. Wie genau sich diese Differenzen gestalten, konnte auf den Ebenen der ästhetischen Wahrnehmung, Vorstellung unter Einschluss von Imagination und begrifflicher Kognition bzw. deren Zusammenspiel nachgewiesen werden. Aufgabe des Deutschund Literaturunterrichts ist es, dieses in Kafkas Wunsch Ausdruck findende Potential von Literatur, scheinbare Selbstverständlichkeiten der Alltagswelt, konventionalisierte Werte und Orientierungen aus einer ästhetischen Perspektive zu hinterfragen und so zugleich auch eigene Überzeugungen kritisch zu reflektieren oder Wahrnehmungsgewohnheiten zu durchbrechen, im Lernprozess erschließbar zu machen. Literarästhetische Literalität in diesem Sinne bedeutet, Schüler_innen einen kulturellen Zugang zu Formen ästhetischen Sprachgebrauchs zu vermitteln, um Literatur produktiv für eine solche Form der Auseinandersetzung mit sich und ihrer Lebenswelt werden zu lassen.

Sorgen der Hausväter Am Beispiel einer Figur aus der Erzählwelt Kafkas, und zwar der des Odradek, die, wie der Titel der kurzen Erzählung schon verrät, zur »Sorge des Hausvaters« wird, lassen sich diese Gedanken abschließend zusammenbinden und vertiefen.1 Diese buchstäbliche Kunstfigur weist eine Reihe von Merkmalen auf, die es legitimieren, sie als autoreflexiven Verweis auf Literatur zu lesen – und somit auch auf Fragen, wie man sich diesem ›Gegenstand‹ in didaktischen Vermittlungskontexten nähern bzw. auch gerade

1

Vgl. hierzu und zu allen folgenden Zitaten der Erzählung Franz Kafka: Die Sorge des Hausvaters. In: ders.: Gesammelte Werke in zwölf Bänden. Nach der krit. Ausg. hg. v. Hans-Gerd Koch. Bd. 1: Ein Landarzt und andere Drucke zu Lebzeiten. Frankfurt a.M.: Fischer Taschenbuch 1994. S. 222f.

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nicht nähern sollte. Diese Implikationen beginnen bei der äußeren Gestalt Odradeks, die »wie eine flache sternartige Zwirnspule« aussieht und »tatsächlich […] auch mit Zwirn bezogen« zu sein scheint; »allerdings dürften es nur abgerissene, alte, aneinandergeknotete, aber auch ineinander verfilzte Zwirnstücke von verschiedenster Art und Farbe sein«. Vermittels eines Spiels mit der etymologischen Nähe von Text und Gewebe greift das Bild zugleich die Form literarischer Textualität als Rekombination vorgefundener Sprach›fäden‹ auf. Die ausgeklügelte Gesamtkonstruktion, die Odradek »wie auf zwei Beinen aufrecht stehen« lässt, verleiht ihm nicht nur eine gewisse Nähe zum Menschlichen, sie sorgt zugleich dafür, dass er »außerordentlich beweglich« ist. Und ganz wie die Nomaden in Ein altes Blatt verfügt auch er über keinen festen Wohnsitz. Fragen hiernach beantwortet er, der sich bevorzugt in transitorischen Schwellen- und Zwischenräumen wie dem »Treppenhaus, auf den Gängen, im Flur« aufhält, nur in Form eines »Lachen[s]«, allerdings eines solchen, »wie man es ohne Lungen hervorbringen kann. Es klingt etwa so, wie das Rascheln in gefallenen Blättern.« Weitere Spuren zum literarischen Blätterwald werden gelegt über den Hinweis, dass die Figur aus »Holz […] zu sein scheint«2 , sowie ihren Namen: Das tschechische »radek« lässt sich als Schriftzeile übersetzen, und in Verbindung zu dem vorangestellten, dem Deutschen entnommenen »od« wird hieraus eine ›kleine Schriftzeile‹.3 Der so aus zwei Sprachen zusammengesetzte Name verweist zugleich darauf, dass die Identität seines Trägers einer hybriden Konstruktion folgt. Und genau hierüber, dass Odradek sich jedweder Festlegung entzieht, keinem Gesetz, keiner Ordnung unterwirft, wird er auch zur »Sorge des Hausvaters«. Alle Versuche des Erzählers, ihn zu bestimmen, scheitern: Zu Beginn, vor aller näheren Begegnung und Auseinandersetzung mit dem Objekt selbst, stehen begriffliche Klassifizierungen, die das Ziel verfolgen, das fremde Wesen aus seiner sprachlichen Bezeichnung heraus zu verstehen. Das stellt sich aber nicht nur deshalb, weil man sich im slawisch-deutschen Grenzgebiet befindet, als ebenso hilf- wie haltlos heraus: Die einen sagen, das Wort Odradek stamme aus dem Slawischen und sie suchen auf Grund dessen die Bildung des Wortes nachzuweisen. Andere wieder meinen, es stamme aus dem Deutschen, vom Slawischen sei es nur beeinflußt. Die Unsicherheit beider Deutungen aber läßt wohl mit Recht darauf schließen, daß keine zutrifft, zumal man auch mit keiner von ihnen einen Sinn des Wortes finden kann. Dass die Lesenden es bei all dem aber mit einer auf der Fiktionsebene des Textes als real existent zu denkenden Figur zu tun haben, macht der weitere Verlauf deutlich. »Natürlich würde sich niemand mit solchen Studien beschäftigen, wenn es nicht wirklich ein Wesen gäbe, das Odradek heißt.« Und so führt der Erzähler nach dem Scheitern begrifflicher Identifizierungen seine »Studien« nun zunächst einmal ›empirisch‹ 2

3

Vgl. Brune, Carlo: Vergessen und verschieben – Die Bibliothek als »Krypta des Vergessens« bei Platon, Nietzsche, Derrida und Barthes. In: Barbara Sabel u. Jürg Glauser (Hg.): Text und Zeit. Wiederholung, Variante und Serie als Konstituenten literarischer Transmission. Würzburg: Königshausen & Neumann, 2004. S. 73-98. S. 77. Vgl. Kremer: Kafka – die Erotik des Schreibens. S. 168 und 183.

Fazit

fort, über eine genaue Beschreibung der Gestalt der Figur. Doch auch hier gelingt keine Klassifizierung. Zunächst vom Erzähler als »Wesen« bezeichnet, ist alsbald wieder von einem »Gebilde« die Rede, was Odradek nicht länger den Status des Lebendigen, sondern eines Dings zuweist4 , das sich allerdings jeder konkreten Funktion zu entziehen scheint, was aber auch nur im Modus des Konjunktivs und unter großen Vorbehalten formuliert wird: »Man wäre versucht zu glauben«, es »hätte früher irgendeine zweckmäßige Form gehabt und jetzt sei es nur zerbrochen. Dies scheint aber nicht der Fall zu sein […].« Und um das Scheitern der Klassifizierungen auf die Spitze zu treiben, wird Odradek im Folgenden dann sogar ein Geschlecht zugewiesen, wenn das Personalpronomen »er« Anwendung auf ›ihn‹ findet. Letztlich ist es genau dieser Zwischenstatus von Lebendigem und MechanischKonstrukthaftem, der auf den Bereich literarischer Fiktion rekurriert. Das phantastische »Ding-Wesen«5 Odradek, das der menschlichen Sprache mächtig ist, verdeutlicht geradezu paradigmatisch einen Satz, den Monika Schmitz-Emans über wundersame Wesen wie Meerjungfrauen, Nymphen oder Sirenen – aber eben auch über Odradek notiert: »Nichts könnte wirklicher sein als das Imaginäre, denn nichts ist imaginärer als das Wirkliche.«6 Und vielleicht ist es gerade diese Einsicht, die zum Schluss zu einer Verkehrung der gemeinhin angenommenen ›Kräfteverhältnisse‹ führt. Der Erzähler jedenfalls, der sich lange hinter einem anonymen »man« versteckt hat und erst am Ende als homodiegetischer Erzähler zu erkennen gibt, geradezu ›persönlich wird‹7 , muss konstatieren: Vergeblich frage ich mich, was mit ihm geschehen wird. Kann er denn sterben? Alles, was stirbt, hat vorher eine Art Ziel, eine Art Tätigkeit gehabt und daran hat es sich zerrieben; das trifft bei Odradek nicht zu. Sollte er also einstmals etwa noch vor den Füßen meiner Kinder und Kindeskinder mit nachschleifendem Zwirnsfaden die Treppe hinunterkollern? Er schadet ja offenbar niemandem; aber die Vorstellung, daß er mich auch noch überleben sollte, ist mir eine fast schmerzliche. Am Ende sind es zwei Dinge, die seine hausväterliche Autorität, die »patria potestas« als »Sachwalter der Ordnung«8 , untergraben: Das Scheitern jedweden definitorischen Zugriffs auf Odradek9 und die Selbstzweckhaftigkeit dieses Wesens, das sich für keine ihm äußerlichen Zwecke funktionalisieren und hieran zerreiben lässt; »das Ganze erscheint zwar sinnlos, aber in seiner Art abgeschlossen«. Ähnlich wie Ein altes Blatt führt auch Kafkas Sorge des Hausvaters die Leser_innen auf performativer Ebene in ein Spiel, das sie dann, wenn sie dem Erzähler folgen, nur ver4 5 6 7

8 9

Vgl. Jentsch, Tobias: Da/zwischen. Eine Typologie radikaler Fremdheit. Heidelberg: Winter 2006. S. 192. Glinski, Sophie von: Imaginationsprozesse. Verfahren phantastischen Erzählens in Franz Kafkas Frühwerk. Berlin, New York: Walter de Gruyter 2004. S. 13. Schmitz-Emans, Monika: Seetiefen und Seelentiefen. Literarische Spiegelungen innerer und äußerer Fremde. S. 15. Vgl. Werner, Renate: Die Sorge des Hausvaters. Ein sprachkritischer Scherz Franz Kafkas. In: Günter Helmes u.a. (Hg.): Literatur und Leben: anthropologische Aspekte in der Kultur der Moderne. Tübingen: Gunter Narr 2002. S. 185-198. S. 196. Ebd. S. 195f. Vgl. Jentsch: Da/zwischen. S. 193f.

347

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Literarästhetische Literalität

lieren können. Denn mit dem Versuch einer Festschreibung des Textes werden sie sein Scheitern nur nachvollziehen – und sich von Odradek als einem selbstreflexiven Sinnbild des Literarischen auslachen lassen müssen. Es braucht andere Zugänge zu ihm – spielerische, nicht auf bestimmte Begriffe, (Auf-)Lösungen oder Funktionen abhebende –, will man der »Lust, ihn anzusprechen«, von der auch der Erzähler berichtet, nachgehen oder nachgeben und ein Gespräch mit ihm beginnen. Das in dieser Arbeit entwickelte Konzept einer literarästhetischen Literalität zielt auf nichts anderes, als Schüler_innen Möglichkeiten hierzu an die Hand zu geben. Anhaltspunkte dafür, dass dies auf Grundlage der ergebnisorientierten, auf kognitiv-begriffliche Bestimmungen ausgerichteten Kompetenzorientierung nicht denkbar ist und somit auch die Leitprämisse der kompetenzorientierten Wende, nämlich eine gegenstandsbezogene Expertise zu vermitteln, auf dem Feld von Kunst und Literatur nicht eingelöst wird, konnte diese Arbeit auf verschiedenen Ebenen benennen. Dies betrifft zunächst die Ausblendung zweier für die ästhetische Rezeption zentraler Erkenntnisvermögen im Kompetenzbegriff Weinerts, nämlich der Wahrnehmung auf der einen und der Vorstellungsbildung bzw. Imaginationstätigkeit auf der anderen Seite.10 Es gilt weiterhin für die Unvereinbarkeit der an allgemeinen Anwendungsregeln ausgerichteten Kompetenzorientierung mit ästhetischen Lernprozessen11 : Im Rahmen der Kompetenzorientierung erhält der einzelne Gegenstand nur insofern eine Funktion, als sich an ihm exemplarisch Fähigkeiten erlernen lassen, die dann auch in anderen Kontexten zur Anwendung gebracht werden. Hieraus resultiert nicht nur die Gefahr einer Instrumentalisierung des jeweiligen Lerngegenstands, dem als solchem keinerlei über die Kompetenzschulung hervorgehende Bedeutung mehr zukommt. Es führt auch zu einem Absehen von individuellen Charakteristiken des Objekts, die für die Ausbildung einer bestimmten Kompetenz nicht relevant sind.12 Beides wird der Selbstzweckhaftigkeit von Kunstwerken und der Bedeutung, die jedem Detail in ihrer Gestaltung zukommen kann, nicht gerecht. Neben der Notwendigkeit, in ästhetischen Kontexten von der Individualität und dem Eigenwert des jeweiligen Gegenstandes her zu denken, sind auch die Zugänge der Lernenden stärker individualisiert – und lassen sich somit weniger standardisieren – als im Falle einer Erschließung eines Objekts oder Sachverhalts durch begrifflich bestimmende Urteile.13 So können sich bei der literarischen Lektüre etwa die Textelemente, auf die Bezug genommen wird, ebenso individuell unterscheiden wie die Art und Weise ihrer Verknüpfung, ohne dass hier zwangsläufig von richtigen oder falschen Lösungen die Rede sein kann. In diesem Zusammenhang steht auch, dass ein auf Problemlösung ausgerichteter Ansatz einem Gegenstand kaum gerecht werden kann, der wie die Literatur der Moderne (Odradek verkörpert dies exemplarisch) primär eine Fragehaltung in der Rezeption aufzubauen sucht, die sich gerade nicht über das Finden 10 11 12

13

Vgl. Fiebich: Das Verschwinden des Textes hinter dem Kontext. S. 109. Vgl. hierzu sowie zu dem Folgenden: Ebd. S. 100f. Vgl. hierzu die bereits in den siebziger Jahren formulierte Kritik Geißlers in: Die Wiedergewinnung der historischen Dimension im Literaturunterricht. S. 269 sowie Zabkas in: Was ist Hochschulreife im Umgang mit Literatur? S. 144. Vgl. zur Unterscheidung der bestimmenden von der ästhetisch-reflektierenden Urteilskraft bei Kant das Kapitel 2.3.3. dieser Arbeit.

Fazit

vermeintlicher Lösungen wieder beruhigen soll, sondern für den Umgang mit dem Gegenstand dauerhaft konstitutiv bleibt.14 Die Schwächen eines rein kompetenzorientierten Ansatzes im Literaturunterricht konnten am Beispiel von Aufgabenstellungen aus aktuellen Schulleistungsstudien konkretisiert werden. Obwohl eine Unvereinbarkeit von Modellen allgemeiner Lesekompetenz mit literarischer Sprachverwendung und ihren Rezeptionsanforderungen auch vom deutschen PISA-Konsortiums wahrgenommen wird15 , zeigt sich, dass im Zuge der kompetenzorientierten Wende und der Erarbeitung von Bildungsstandards mit ihrem engmaschigen Netz an Überprüfungsformen im Zuge des sog. Systemmonitoring die Auseinandersetzung mit literarischen Texten auf das verkürzt zu werden droht, was im Rahmen von Modellen allgemeiner Lesekompetenz vermittel- und abprüfbar ist. Dies weisen das der PISA-Studie entnommene Aufgabenbeispiel »Das Geschenk« ebenso wie das Aufgabenset zu dem Auszug aus F.C. Delius’ Roman Der Königsmacher im Rahmen der VERA-8-Lernstandsüberprüfungen aus. Im Zuge von stärker ausgebildeten Tendenzen eines teaching to the test droht literarisches Lernen im Deutschunterricht auf solche Prüfungsformate reduziert zu werden. Lehrende wie Lernende stehen im Schulsystem unter Erfolgsdruck – wird der Maßstab einer Beurteilung der Qualität von Unterricht bzw. auch seiner Inhalte mit den Ergebnissen solcher Testformate gleichgesetzt, sind zentrale Bereiche literarästhetischen Lernens nicht mehr gegenstandsadäquat zu vermitteln. Selbst wenn die Prüfungsaufgaben genauer auf die Erfassung literarischer Techniken zugeschnitten wären, als es in diesem Beispiel der Fall ist, gewänne der innerhalb des Kompetenzparadigmas vermittelbare Teilbereich literarischen Lernens, der zwar hinsichtlich bestimmter Lernvoraussetzungen von Relevanz ist, dem aber für den Gegenstand selbst keine übergeordnete Bedeutung zukommt, die Oberhand über das gesamte Fach. Die Bildungsstandards im Fach Deutsch für die Allgemeine Hochschulreife machen deutlich, dass solche Entwicklungen bereits zu beobachten sind. Juliane Köster konstatiert, dass sich nur einige Ziele des schulischen Literaturunterrichts »als durch Aufgaben normierbar [erweisen], nämlich Intentionen im Bereich der Ermittlung und kognitiven Verarbeitung von Textinformation. Was sich dem normierenden Zugriff entzieht, gehört entweder in den Bereich des Nicht-Falsifizierbaren oder in den Bereich des Un14 15

Vgl. Birkmeyer: Was sind gute Lernaufgaben? Die verborgene Relevanz von Fragen im Literaturunterricht. Vgl. Artelt/Schlagmüller: Der Umgang mit literarischen Texten als Teilkompetenz im Lesen? Die Arbeit konnte diese Unvereinbarkeit anhand des teilweise veränderten Vollzugs bestimmter mentaler Operationen während des Leseprozesses ästhetischer Texte konkretisieren: So treten hier Fragen der Gestaltungsform nicht hinter inhaltliche Aussagen zurück, vielmehr hängen diese oftmals von jenen ab. Ähnlich verhält es sich mit ›Makroskopierungen‹ des Textes im Zuge des Aufbaus mentaler Verstehensmodelle: Da sich literarische Texte oftmals einer letztgültigen kognitivbegrifflichen Auflösung verweigern, provozieren sie eine aufmerksame und in sich veränderbare Wahrnehmung der sprachlichen Details sowie Wiederholungslektüren. Im Gegensatz zu Modellen allgemeiner Lesekompetenz kann ein möglichst hoher Grad an Automatisierung der Abläufe hier dem Zugang zu den Texten sogar hinderlich sein, da diese oftmals gerade Irritationen resp. Nichtverstehen auslösen, Lesegewohnheiten durchbrechen und so zu Relektüren animieren wollen.

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Literarästhetische Literalität

verfügbaren.«16 Zum ersten zählt für sie »das Feld der Assoziationen, Einfälle und letztlich auch der Vorstellungsbildung«, zum zweiten »Empfindungen, Einstellungen, Werthaltungen, die unter individuellem inneren Vorbehalt stehen. Ihre äußeren Anzeichen können zwar erbracht werden, sind aber kein verlässliches Indiz für den Erwerb oder das Vorhandensein der intendierten inneren Ausrichtung.« 17 In der Tat bleiben beide Bereiche aus den Standards weitgehend ausgeklammert.18 Vor dem Hintergrund der Bedeutung, die die Vorstellungsbildung auch für kognitiv-begriffliche Zugänge zum Text gewinnt, stellt die Nichtberücksichtigung des erstgenannten Feldes ein ebenso gravierendes Manko dar wie die Ausblendung von Empfindungen (zu denen nicht zuletzt auch ästhetischer Genuss zu rechnen wäre), Einstellungen und Werthaltungen. Auch wenn Literaturunterricht deren Ausbildung, wie Köster zu Recht vermerkt, nicht garantieren kann19 , ist ihre Vermittlung als Horizont, vor dem die Auseinandersetzung mit literarischen Texten im Unterricht erfolgt, nicht wegzudenken, da sie nicht nur eine Bedeutung für den Gegenstand selbst erhalten, sondern ihnen zugleich eine unmittelbare Relevanz für den schulischen Bildungsauftrag zukommt. Zum zweiten halten die Bildungsstandards im Fach Deutsch für die Allgemeine Hochschulreife zwar am Ziel einer Vermittlung genuin ästhetischer Fähigkeiten im Bereich begrifflich-kognitiver Zugänge fest, doch gerät dies auch hier in Teilen in Konflikt mit dem zugrunde gelegten Kompetenzbegriff. Dies schlägt sich in den Aufgabenbeispielen nieder: Das zu einer kurzen Erzählung, die aus dem Nachlass Kafkas publiziert wurde, erstellte Aufgabenset (»Poseidon«) prägt eine ambivalente Struktur: Es knüpft einerseits in Form und Inhalt an PISA- bzw. VERA-8-Formate an, was die Arbeit mit Multiple-Choice-Aufgaben betrifft, denen die Funktion zukommt, gleich zu Beginn ein inhaltliches Textverständnis zu sichern.20 Dies ist hier aber nur wenig weiterführend, da die Ermittlung inhaltlicher Textinformationen nur auf Fragen der Gestaltung und individuellen Rezeption zurückverweist. Andererseits finden aber auch solche Aufgaben Berücksichtigung, die den in den einleitenden Passagen der Bildungsstandards formulierten Anspruch eines spezifisch ästhetischen Lernens auf kognitiver Ebene angemessen umsetzen. Sie sind dann aber nicht mehr durchgehend kompetenzorientiert vermittelbar, da sie so prononciert individualisierte Zugänge ermöglichen, dass das Kriterium der Messbarkeit der Bearbeitungen nicht länger erfüllt ist. 16

17 18

19 20

Köster, Juliane: Von der Lebenswelt zur Literatur. Zu Erich Kästners »Fauler Zauber«. In: Clemens Kammler (Hg.): Literarische Kompetenzen – Standards im Literaturunterricht. 2. Auflage. Seelze: Klett Kallmeyer 2012. S. 50-64. S. 62. Ebd. An den wenigen Stellen, wo sie mit einbezogen werden – etwa bei der Kompetenz »Die Schülerinnen und Schüler können […] die in literarischen Werken enthaltenen Herausforderungen und Fremdheitserfahrungen kritisch zu eigenen Wertvorstellungen, Welt- und Selbstkonzepten in Beziehung setzen« (Bildungsstandards im Fach Deutsch für die Allgemeine Hochschulreife. S. 19) – bleibt die von Köster angesprochene Frage offen, wie dies operationalisier- und prüf- bzw. messbar gemacht werden kann. Gleiches gilt für die im Rahmen der »[a]llgemeinen Ziele des Faches« in der »Fachpräambel« genannten Punkte des Erwerbs eines »ästhetische[n] Bewusstsein[s]« und einer Förderung der »Wertschätzung künstlerischer Produktion«. Ebd. S. 13. Vgl. Köster: Von der Lebenswelt zur Literatur. S. 63. Vgl. Bildungsstandards im Fach Deutsch für die Allgemeine Hochschulreife. S. 125.

Fazit

(Aus-)Wege der Kunst Von der »Sorge des Hausvaters« zum »Lachen« Odradeks und der »Lust«, die auch den besorgten Erzähler von Zeit zu Zeit anzuwandeln scheint, mit ihm ins Gespräch zu treten. Dass diese Begegnungen sich recht kurz gestalten und dass das vom Erzähler »wie ein Kind« »behandelt[e]« Wesen »nicht immer« Antwort auf die Fragen des Erzählers gibt, sondern »oft […] lange stumm [ist]«, verwundert nicht weiter. Denn Sinn und Zweck dieser Gespräche ist es, seiner habhaft zu werden, seine Identität festzustellen – und dem verweigert es resp. er sich auf seine ganz eigene Weise: durch sein Lachen sowie die Unverständlichkeit der Antwort, was den Namen betrifft, und die Ungreifbarkeit, was den Wohnsitz angeht. Liest man dieses »Ding-Wesen« als literarische Selbstreferenz, sollte sich die Literaturvermittlung mit drei anderen Fragen als denen nach Namen und Wohnsitz befassen, will man mit den Texten produktiv ›ins Gespräch kommen‹: erstens damit, in welcher Form hier Sprache verwendet wird. Zweitens damit, inwieweit dies auf Rezeptionsebene eine im Vergleich zu pragmatischen Sprachverwendungsformen andere, ästhetische Form des Gebrauchs menschlicher Erkenntnisvermögen einfordert. Und drittens damit, welche Möglichkeiten aus der hiermit verbundenen literarisch-performativen Inszenierung eines solchen experimentellen, aus vielen verschiedenen Fäden zusammengesetzten »Ich[s] ohne Gewähr«21 , von dem Ingeborg Bachmann im Kontext ihrer Frankfurter Poetikvorlesung spricht22 , gerade für Heranwachsende hervorgehen. Nur auf dieser Grundlage wird es möglich, auch nach der kompetenzorientierten Wende das von der Kultusministerkonferenz in ihrem Grundlagenpapier Bildungsstandards der Kultusministerkonferenz – Erläuterungen zur Konzeption und Entwicklung genannte Ziel schulischer Allgemeinbildung für literarästhetisches Lernen zu realisieren: »Der Auftrag der schulischen Bildung geht weit über die funktionalen Ansprüche von Bildungsstandards hinaus. Er zielt auf Persönlichkeitsentwicklung und Weltorientierung, die sich aus der Begegnung mit zentralen Gegenständen unserer Kultur ergeben.«23 Gerade mit Blick hierauf kommt künstlerischen Fächern (auch) eine kompensatorische Funktion zu. Während die weit überwiegende Zahl der Unterrichtsfächer linearisierte und begrifflich-finalisierte Formen des Gebrauchs der menschlichen Erkenntnisvermögen schult, die Kants Begriff der bestimmenden Urteilskraft folgen, steht und fällt die Legitimation von Literaturunterricht damit, inwieweit es gelingt, Schüler_innen einen hiervon abweichenden künstlerisch-ästhetischen Gebrauch zu vermitteln24 – nicht nur für Kant ein anderer, zweiter Modus des Gebrauchs der Erkenntnisvermögen, der von grundlegender anthropologischer Bedeutung ist. Hierfür bieten erweiterte (Multi-)Literalitätskonzepte entscheidende Anknüpfungsmöglichkeiten. Sie fokussieren im Rahmen ihres Ziels, einen reflektiert-kritischen Zugang zu gesellschaftlichen Diskursen und Kulturtechniken zu eröffnen, Fähigkeiten, die auf der Gegenstandsebene zu verorten sind, verlassen hierbei aber 21 22 23 24

Bachmann: Frankfurter Vorlesungen: Probleme zeitgenössischer Dichtung. S. 237. Vgl. hierzu die Ausführungen in Kapitel 3.1.1. dieser Arbeit. Bildungsstandards der Kultusministerkonferenz – Erläuterungen zur Konzeption und Entwicklung. S. 6. Vgl. Zabka: Ästhetische Bildung. S. 459.

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Literarästhetische Literalität

den engen Rahmen des Weinert’schen Kompetenzbegriffs. Das Modell der New London Group stellt dabei die Frage in den Vordergrund, aufgrund welcher sprachlich bzw. medial vermittelten Prozesse25 sich kulturell codierte Bedeutungen etablieren. Durch diese Ausrichtung auf die Ebene sprachlicher Materialität und ihrer Gestaltung sowie durch die Ermöglichung und Förderung individueller Zugänge zu den Lerngegenständen und nicht zuletzt auch aufgrund des hohen Stellenwerts, der dem eigenen aktiven Gestalten zukommt, ist das Konzept im Besonderen anschlussfähig auch für ästhetische Diskurse. In dem in Teilen hierauf aufbauenden, von dieser Arbeit begründeten Modell einer literarästhetischen Literalität wird das Primat einer outputorientierten Messbarkeit von rein kognitiv erarbeiteten Problemlösungen aufgegeben. Im Gegenzug eröffnen sich Möglichkeiten, den Begriff schulischer Literaturvermittlung auf der Gegenstandsebene in einer Weise zu fassen, die kunstphilosophisch-ästhetischen Prämissen gerecht wird. Dies betrifft zunächst den Einschluss von Fähigkeiten, die sich der äußeren Beobachtbarkeit entziehen, wie etwa die Ausbildung von Vorstellungen und Imaginationen. Weiterhin fallen hierunter Zugänge, die primär im Bereich körperlich-sinnlicher Wahrnehmung angelegt sind, wie etwa eine Sensibilisierung für das Klangbild ästhetischer Sprachverwendungsformen, und Auffassungen des Gegenstandes, die so stark individualisiert sind, dass sie sich einer Prognostizierbarkeit und Standardisierbarkeit entziehen, worunter abermals beispielsweise die Vorstellungs- und Imaginationsbildung fällt. Schließlich gilt dies für prozess- und nicht produktorientiert ausgerichtete Zugänge, wie etwa das Sicheinlassen auf die »Unabschließbarkeit des Sinnbildungsprozesses«26 : Kognitive Formen der Auseinandersetzung, die sich im Modus eines kaleidoskopartigen Zugangs dem Gegenstand nähern, und so »ein Spiel der Bildung von Zusammenhängen freisetz[en], die zwar in Abstraktion von ihrem Spiel interpretierend bezeichnet werden können, ohne sie jedoch in ihrem Potential je auszuschöpfen«27 , sind nicht auf vorab bestimmbare Lösungen oder Ergebnisse ausgerichtet. Denn es ist gerade das freie Spiel von Einbildungskraft und Verstand, in dem Kant das interesselose ästhetische Wohlgefallen begründet sieht.28 Der für die literacy-Modelle zentrale Gedanke des Ermöglichens kultureller Partizipation realisiert sich im Kontext einer literarästhetischen Literalität in zwei Formen: zum einen im Sinne der Erschließung eines Zugangs zum kulturellen Feld von Kunst bzw. Literatur, d.h. in der Vermittlung eines gegenstandsadäquaten Umgangs mit Form und Funktion ästhetischen Sprachgebrauchs. Zum anderen aber auch mit Blick darauf, 25

26 27 28

Der sprachliche Bereich ist für diese Arbeit zuvorderst relevant, das Modell bezieht aber ebenfalls die Gestaltungsformen anderer Medien mit ein: »Audio Design«, »Spatial Design«, »Gestural Design« und »Visual Design«. (The New London Group: A Pedagogy of multiliteracies. S. 78.) Spinner: Literarisches Lernen. S. 12. Menke: Die Souveränität der Kunst. S. 148. Vgl. Kant: Kritik der Urteilskraft. S. 132. Unabhängig von diesem Verständnis ästhetischer Lust als eines ästhetischen Urteilen zugrunde liegenden interesselosen Wohlgefallens bei Kant (vgl. ebd. S. 124) hat die Arbeit aufgezeigt, dass der Begriff auch auf andere Formen ästhetischen Erfahrens bezogen werden kann, die ebenso wenig outputorientiert operationalisierbar und messbar sind. Vgl. hierzu die sich u.a. auf Kleimann: Das ästhetische Weltverhältnis beziehenden Ausführungen im Kapitel 2.4. dieser Arbeit.

Fazit

dass hierüber wiederum eine kritische Reflexion von Kultur und Gesellschaft möglich wird. An diesem Punkt öffnet sich der Literalitätsbegriff zugleich für bildungsrelevante Impulse, die sich – ebenso wie die auf der Gegenstandsebene zu verortenden Lernprozesse – weitgehend den Prämissen der Kompetenzorientierung entziehen. So werden etwa im Bereich der Vorstellungs- und Imaginationsbildung angesiedelte Formen der Auseinandersetzung mit dem Text zentral für einen Anschluss an die eigene, soziokulturell vermittelte Erfahrungswelt und so für die individuelle Bedeutung von Lernprozessen. Will der Literaturunterricht Impulse für die Schüler_innen bereithalten, die es ihnen erlauben, veränderte Perspektiven auf sich selbst und gesellschaftliche Diskurse einzunehmen, dann sind dies Prozesse, die nur bedingt von außen beobachtbar sind und die sich weder in ihren jeweiligen Ausprägungen falsifizieren noch im zeitlich begrenzten Rahmen einer Lerneinheit in Form von prä-/post-Tests messen lassen. Sie können, wie im anfangs zitierten Tagebucheintrag Kafkas, über Monate, Jahre oder sogar ein ganzes Leben hinweg verlaufen. Ein über das Kompetenzparadigma hinausgehendes literacy-Modell hat solche kritischen Auseinandersetzungen mit der Welt, in der die Schüler_innen leben, und mit ihrer eigenen Rolle, die sie hierin einnehmen wollen, als Horizont, auf den hin Lernprozesse angelegt werden, immer schon mit im Blick.29 Denn ein Vertrautwerden mit Formen literarästhetischen Wahrnehmens, Vorstellens und Denkens ermöglicht es den Lernenden auch, sich die Grundlagen kulturell etablierter, funktionaler Verstehens- und Handlungskontexte bewusst(er) zu erschließen und somit kritisch-reflexiv an ihnen teilzuhaben. Auf Grundlage dieser Gedanken lässt sich das Zusammenspiel der Ausbildung von literarischen Kompetenzen im Sinne Weinerts, darüber hinausgehenden Fähigkeiten, die sich innerhalb eines umfassenderen Literalitätsmodells verankern lassen, und bildungsrelevanten Lernimpulsen und -zielen innerhalb eines übergreifenden literaturdidaktischen Modells in folgender Weise zusammenfassen: Hinsichtlich des Gegenstandsbezugs bilden Kompetenzen einen Teilbereich literarästhetischer Literalität, sind hiermit aber keinesfalls gleichzusetzen. Operationalisier- und messbare Bereiche literarischen Lernens30 befördern die Ausbildung einer literarästhetischen Literalität, die aber weder hinsichtlich ihrer Inhalte und Zielsetzungen noch der hierfür zu vermittelnden Fähigkeiten darin aufgeht. Sie umfasst vielmehr auch die oben genannten weiteren Bereiche, die nicht im Kompetenzparadigma abbildbar sind: sinnliche Wahrnehmungen, Vorstellungen und Imaginationen sowie prozessbezogene, nicht letztgültig fixierbare kognitiv-begriffliche Operationen. Um den Umgang mit Literatur für bildungsrelevante Lernprozesse zu öffnen, die an genuin ästhetischen Rezeptionsformen ansetzen, ist die Etablierung einer solchen zweiten gegenstandsbezogenen Ebene unabdingbar. Die drei Begriffe Kompetenz, Literalität und Bildung stehen folglich in einem Verhältnis, das Kompetenz als einen Teilbereich der Literalität und diese wiederum als 29

30

Vgl. die im Kontext der Einleitung ausgeführte Auffassung der beiden Mitbegründer der New London Group Cope/Kalantzis, wonach Lernen ein Prozess der »self-re-creation« sei, der »[c]ultural dynamism and diversity« zur Folge hätte. (Cope/Kalantzis: »Multiliteracies«. S. 184.) Vgl. zu einem solchen Ansatz Schilcher/Pissarek (Hg.): Auf dem Weg zur literarischen Kompetenz.

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Literarästhetische Literalität

einen Teilbereich von Bildung ansieht.31 Der in dieser Arbeit primär fokussierten literarästhetischen Literalität kommt somit eine Brückenfunktion zwischen Kompetenz- und Bildungsparadigma zu, ohne die ein Übergang vom einen zum anderen im Bereich ästhetischen Lernens nicht möglich erscheint. Dieses Verhältnis lässt sich graphisch wie folgt darstellen:

Die Grundlagen eines solchen Modells wurden, da es zunächst auf der Gegenstandsebene operiert, ausgehend von Kunstphilosophien32 und Literaturtheorien33 bestimmt, die an den Besonderheiten literarischen Sprachgebrauchs und den hieraus hervorgehenden rezeptiven Anforderungen ansetzen. So war es möglich, die distinkten Merkmale ästhetischer Rezeptionsformen aus dem Vergleich zu anderen Formen des Gebrauchs menschlicher Erkenntnisvermögen zu fokussieren und hierüber zugleich die Spezifika literarischer Sprachverwendung im Unterschied zu alltagspragmatischer. Dabei sind folgende Ergebnisse festzuhalten, die die Relevanz einer über die Kompetenzorientierung hinausgehenden Vermittlung auf Grundlage eines literarischen Literalitätskonzepts anhand des entwickelten Mehrebenenmodells ästhetischer Rezeption konkretisieren und an unterrichtsmethodische Zugänge anbinden.

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Wissen bildet hierbei zunächst eine Grundlage für Kompetenzen, insofern diese sich als eine anwendungsbezogene Form von Wissen begreifen. Andererseits kann die Relevanz von Wissensvermittlung aber auch nicht alleine auf die Kompetenzebene beschränkt bleiben: Denn auch einzelnen Fähigkeiten literarästhetischer Literalität liegen Wissensbestände zugrunde, und zwar sowohl im Bereich deklarativen Wissens als auch (und vor allem) prozeduralen und metakognitiven Wissens. Gleiches gilt für die Bildungsebene: Auch hier können Bildungsprozesse differenzierter und nachhaltiger ausfallen, wenn sie auf einem umfassenden Wissen basieren, das andererseits aber nicht in jeder Hinsicht zur notwendigen Voraussetzung gemacht werden kann. Relevant im Kontext des Ansatzes dieser Arbeit sind vornehmlich: Kant: Kritik der Urteilskraft; Menke: Die Souveränität der Kunst sowie verschiedene kunstphilosophische Schriften Seels. (Vgl. Kap. 2.3.) Bezugspunkte bilden in erster Linie die Theorien des Russischen Formalismus und hieraus hervorgehende semiotische sowie (post)strukturalistische Ansätze. Hinsichtlich der Konturierung einer rezeptionsästhetischen Perspektive und der Bedingungen, unter denen sich eine ästhetische TextLeser-Kommunikation einstellt, sind die frühen Schriften Wolfgang Isers, insbesondere Der Akt des Lesens, relevant. (Vgl. zu beidem Kapitel 3.2.)

Fazit

1. Das Gelingen einer ästhetischen Auseinandersetzung mit einem Gegenstand entscheidet sich bereits auf der Wahrnehmungsebene: Ästhetische Wahrnehmung lässt sich in besonderer Weise auf die sinnlich vermittelte Präsenz des Objekts ein und vermag dieses so aus alltagspragmatischen Kontexten zu lösen.34 Dies führt dazu, dass die Wahrnehmungen nicht in begrifflichen Bestimmungen aufgelöst werden und somit das Objekt verschiedenartig perspektivieren können. Ausgehend von Baumgartens Ästhetik lässt sich von einer Rehabilitation der sinnlichen Wahrnehmung sprechen, die nicht umgehend auf kognitive Begriffsfindung hin ausgerichtet bleibt, sondern der ein Eigenwert zukommt. Dies erfordert eine höhere Wahrnehmungssensibilität als im Falle automatisierter Formen der Wahrnehmung, die rasch in eine Identifizierung der für den jeweiligen Kontext relevanten Elemente des Objekts und deren funktionale begriffliche Erfassung übergehen. Im Unterschied hierzu kann sich die Aufmerksamkeit in ästhetischen Rezeptionsprozessen zwar auch auf einzelne ausgewählte Elemente richten, die als Bedeutungsträger identifiziert und der näheren Auseinandersetzung zugrunde gelegt werden, doch bleibt deren Selektion und Gruppierung im weiteren Verlauf variabel35 – und ist folglich nicht auf kognitive Problemlösungen hin ausgerichtet, die die perzeptiven Akte überformen. Von der bewussten Fokussierung auf perzeptive Akte leitet sich zugleich Seels Begriff der ästhetischen Wahrnehmung ab, den eine Wahrnehmung zweiter Ordnung auszeichnet, also ein bewusstes Wahrnehmen des Wahrnehmens.36 Diese Form der ästhetischen Wahrnehmung kann nicht nur Anwendung auf künstlerische Objekte finden, sondern sich zugleich in Alltagssituationen einstellen, wenn funktional-pragmatische Kontexte durchbrochen und ein Gegenstand, eine Szenerie oder eine Situation um ihrer selbst willen – also ästhetisch – wahrgenommen wird. Wenn Viktor Šklovskij in ähnlicher Weise den »Weg der Kunst« als »verschlungene[n] Weg« definiert, »de[n] Weg, auf dem der Fuß die Steine spürt, de[n] zum Ausgangspunkt zurückführende[n] Weg«37 , dann wird deutlich, warum das Kompetenzparadigma im Kontext literarästhetischen Lesens durch ein umfassenderes Modell literarästhetischer Literalität erweitert werden muss: Der Weg ist hier auch das Ziel, sei es, um sich von verschiedenen Warten aus, von denen keine absolut gesetzt werden kann, ein Bild zu machen oder um die zweckfreie Bewegung selbst an sich bewusst zu erfahren. In beiden Fällen greift eine Ausrichtung auf Ergebnisse, auf Problemlösungen nicht, weil literarische Sprachverwendung nicht auf eine möglichst rasche Entschlüsselung bestimmter Informationen, die sie vermeintlich transportiert, ausgerichtet ist, sondern die Aufmerksamkeit in einer ganz anderen Form binden will. In welcher Form dies genau geschieht, geht aus einem weiteren Punkt, den Šklovskij in dem Zitat anspricht, hervor. Er betrifft die herausgehobene Rolle der Wahrnehmung. Denn auch wenn die Wahrnehmungsebene in der Kunstform Literatur auf den

34 35 36 37

Vgl. Seel: Ein Schritt in die Ästhetik. Vgl. Menke: Die Souveränität der Kunst. S. 52-55. Vgl. Seel: Ästhetik des Erscheinens. S. 51. Šklovskij: Der Zusammenhang zwischen den Verfahren der Sujetfügung und den allgemeinen Stilverfahren. S. 37.

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buchstäblich ersten Blick vielleicht nicht so präsent ist wie im Falle bildender Kunst, haben insbesondere die Russischen Formalisten ihre Bedeutung auf Grundlage der Fokussierung der sprachlichen Materialität und ihrer Gestaltung in literarischen Sprachverwendungsformen immer wieder herausgehoben.38 Sprache ist dort, wo sie gesprochen oder gesungen wird, ein akustisches Medium, das sich zu Klangbildern formen lässt, Rhythmen und Melodien folgen kann und hierbei von Stimmen getragen wird, die ihrerseits wiederum über einen besonderen Ton, ein Timbre verfügen, das bewusst gehört sein will. Analog gilt dies auch für literarische Formen, die, wie etwa die Konkrete Poesie, auf optischer Ebene mit dem Bild von Schrift arbeiten oder Bild und Schrift intermedial aufeinander beziehen. Die bewusste Wahrnehmung der sinnlichen Dimension von Sprache erhält in literarästhetischer Sprachverwendung häufig eine Bedeutung, die nicht in begrifflich-kognitiven Zugriffen aufgeht. Das Gegenteil ist der Fall: Da die Perzeption der Kognition m.E. vorgelagert ist, brechen sich begriffliche Zugriffe immer wieder an ihr. Um dies auf dem Gebiet von Klangphänomenen zu vermitteln, ist eine allgemeine hördidaktische Grundlage zu schaffen; mit dem Ziel, zu einem bewussten Hören anzuleiten, das sich sowohl auf Alltags- als auch auf literarische Kontexte beziehen lässt.39 Eine literarästhetische Literalität vermag Schüler_innen von hier aus sensibel für die Wahrnehmung (und den Genuss) des Klangs literarischer Sprache zu machen. Hier bieten sich ggf. zunächst Formen an, die diese Dimension ins Zentrum der Aufmerksamkeit rücken: Angefangen bei einfachen Kinderliedern und -reimen, über musikalische Formen des Rap bis hin zu Lautgedichten, wie sie die Dadaisten verfassten, kann die Bedeutung, die sinnlich vermittelte Zugänge im Kontext literarischer Sprachverwendungsformen erhalten können, so erfahrbar gemacht werden. Dies lässt sich rezeptiv, z.B. anhand von Textvorträgen und -rezitationen40 , oder produktiv, etwa im eigenen Vortrag oder der Ausarbeitung von Hörspielen, dann auch an Texten schulen, die vielleicht weniger auffällig, aber gleichwohl nicht minder kunstvoll mit sprachlichem Klang arbeiten. Ein Austausch über die individuellen Wirkungen oder unterschiedlichen Ausgestaltungen wird aufzeigen, für wie viele Fragen hier keine verbindlichen, überindividuellen Kriterien ausgemacht werden können, die sich standardisieren ließen. Doch kann auf diesem Wege gerade kognitiv weniger begabten Lernenden ein Zugang zur Literatur vermittelt werden, der ihren Voraussetzungen und Interessen entspricht – und analytisch-begriffliche Zugänge ergänzen oder vielleicht in Teilen auch ersetzen kann. Eine weitere Möglichkeit, literarästhetische Literalität auf dieser Ebene zu vermitteln, bietet das von Lösener konzipierte Modell des hörenden Lesens.41 Ziel ist es, die in den Text eingeschriebene Rede beim Lesen wieder zu reartikulieren und so Akte der Sinnzuschreibung an sinnliche Aktivitäten zu koppeln. Lösener hebt diesbezüglich die hieraus resultierende bzw. hiermit einhergehende »semantische Performativität«42 38 39 40 41 42

Vgl. etwa Bernšteijn: Ästhetische Voraussetzungen einer Theorie der Deklamation. Vgl. zur Unterscheidung von Hördidaktik und Hörästhetik Wermke: Hördidaktik und Hörästhetik. Lesen und Verstehen auditiver Texte. Vgl. Müller: Hörtexte im Deutschunterricht. Vgl. Lösener: Zwischen Wort und Wort und ders.: Ist das literarische Lesen eine Kompetenz? Ebd. S. 109. Im Original kursiviert.

Fazit

hervor, die die in den Text eingegangenen Stimmen in der Lektüre wieder hörbar werden lässt, was in Form des lauten oder halblauten Lesens43 , m.E. aber auch über Subvokalisation möglich ist. Die Auseinandersetzung mit dem Text verläuft hier über eine Lektüre, die vorstellend-imaginative und begrifflich-kognitive Zugänge an die sinnliche Wahrnehmung und Artikulation von Sprache koppelt und somit kognitiven an perzeptiven Sinn zurückbindet.44 2. Auch die Vorstellungs- und Imaginationsbildung folgt bei der Rezeption literarischer Sprache anderen Mustern als in alltagspragmatisch-funktionalen Kontexten. Die mentalen Aktivitäten streuen hier breiter, sie sind stärker individualisiert und lassen sich folglich weniger gut standardisieren; zudem erhalten sie eine höhere Bedeutung, da die nicht finalisierte Begriffsbildung stetig wieder auf sie rekurriert. Vorstellungen korrelieren mit einzelnen Beobachtungen und können diese in ästhetischen Rezeptionskontexten verschiedenartig miteinander verbinden, wobei in der Regel eine imaginative Erweiterung erfolgt. Dabei ermöglichen die so zur Vorstellung gebrachten literarischen Welten einen veränderten Blick auf die ›wirkliche‹ Welt oder das eigene Ich. Hinsichtlich der auf diesem Feld relevanten Lernprozesse spielt eine Eigenschaft des auf Vorstellungsbildung notwendig verwiesenen Mediums Sprache eine zentrale Rolle: Die Dual-Coding-Theory geht von einer zweifachen Recodierung sprachgebundener Verstehensprozesse aus45 : einer begrifflichen sowie einer nichtverbalsprachlichen, figurativen. Auf kognitive Prozesse greifen beide zurück, aber in unterschiedlicher Form: Dies geschieht einmal vermittelt über Vorstellungen und Imaginationen, die sich auf Bilder, aber auch auf andere Wahrnehmungseindrücke zurückbeziehen können, ein andermal vermittelt über sprachliche Begriffe. Beide Formen interagieren hierbei und tragen in ihrem Zusammenspiel zur Auffassung der sprachlichen Mitteilung bei. Literarische Sprache macht sich dies auf verschiedene Art und Weise zunutze. So können Metaphern etwa über die aufgerufenen Vorstellungsbilder einen ›Sinnüberschuss‹ produzieren, der sich im begrifflichen Verstehen nicht absorbieren lässt, oder die Verstehensversuche immer wieder auf sich jedem Verstehen Entziehendes zurückführen und somit Grenzen kognitiv-begrifflichen Verstehens aufzeigen. Beides trägt entscheidend zu jener Beweglichkeit des literarischen Objekts bzw. seiner Rezeption bei, die versinnbildlicht die Figur des Odradek auszeichnet. Zudem verbleiben die literarischen Vorstellungswelten im Modus der Fiktion, sie entwerfen künstliche, nicht reale Welten und ermöglichen – auch in Verbindung zu begriffsgebundenen Recodierungen – eine Distanz zu vertrauten Denk- und Wahrnehmungsgewohnheiten. Auf diese Weise vermag Literatur die Vorstellungswelt der Leser_innen von alltagspragmatischen 43 44

45

Vgl. Lösener: Ist das literarische Lesen eine Kompetenz? S. 53. Die Frage, ob dies alles im Rahmen der Kompetenzorientierung zu vermitteln sei, macht Lösener zum Titel einer seiner auf diesem Modell basierenden Publikationen (vgl. ebd.), lässt sie am Ende aber bewusst offen (vgl. ebd. S. 54). Vor dem Hintergrund der Ergebnisse dieser Arbeit kann gesagt werden: Im Rahmen des Weinert’schen Kompetenzbegriffs erscheint dies aufgrund der Prozessstruktur einer solchen Lektüre, der Verschiedenartigkeit möglicher Zugänge und des komplexen Ineinandergreifens unterschiedlicher mentaler Operationen, auf denen eine literarästhetische Rezeption basiert, nicht möglich. Vgl. hierzu Jesch: Dual-Coding-Theorie.

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Kontexten abzukoppeln und Gegenwelten zu etablieren. Für Stefan Matuschek ist es »dieses Vermögen der Literatur, eigenwillige Lebenswelten zu simulieren, woraus sie ihren hauptsächlichen Reiz und ihre Relevanz gewinnt«46 . Ohne eine gezielte Schulung der Vorstellungs- und Imaginationsfähigkeit bleibt Lernenden ein Zugang zu diesen Welten verschlossen. Gezielt die Vorstellungsbildung fördernde Lernwege sind im Literaturunterricht – abgesehen von handlungs- und produktionsorientierten Verfahren – aber seit jeher unterrepräsentiert. Die rein kognitive Ausrichtung der Kompetenzorientierung verschärft diese Problematik. Auch hier sind folglich Erweiterungen notwendig, die das Modell einer literarästhetischen Literalität ermöglicht; und dies nicht nur deshalb, weil eine differenzierte und reichhaltige Vorstellungsbildung zugleich analytischen Operationen zugutekommt und diese auf eine breitere Basis stellt. Vielmehr auch, weil der Anschluss des Textes an die je individuelle Erfahrungswelt der Schüler_innen primär über die Ausbildung von Vorstellungen und sich hieran anschließende Imaginationen erfolgt. Gelingt dies, können analytische Auseinandersetzungen etwa im Zuge reflektierter Symbolbildungsprozesse auf diese zunächst individuellen Wirkungen, die der Text entfaltet, und somit auf konkrete Erfahrungen mit ihm zurückgreifen, indem etwa Stimmungsbilder, die aufgerufen werden, auf einzelne sprachliche Gestaltungstechniken zurückgeführt und so bewusst reflektiert werden. Dabei vermag gerade die Vorstellungs- und Imaginationsbildung bei der Rezeption eine Dialektik von subjektiver Involviertheit, die dadurch entsteht, dass man in die literarischen Welten eines Textes buchstäblich ›eintauchen‹ kann, und Distanz freizusetzen, die Folge der Tatsache ist, dass man diese Welten immer als fiktive und somit auch konstruierte, nach bestimmten Aspekten gestaltete wahrnimmt. Zur Schulung der Vorstellungs- und Imaginationsbildung wurde in Anlehnung an Formen textnahen Lesens das Verfahren des interlinearen Lektürekommentars in Verbindung zu darauf folgenden Wiederholungslektüren vorgestellt. Die Arbeiten der Schüler_innen konnten zum einen das Ineinandergreifen und die wechselseitige Abhängigkeit von figurativen und begrifflichen Recodierungen des Textes nachweisen. Zum anderen zeigte sich, dass der interlineare Lektürekommentar geeignet ist, um die Dialektik von Distanz und Involviertheit im Unterricht fruchtbar werden zu lassen: Die Verlangsamung des Lektüreprozesses ermöglicht eine intensivierte Auseinandersetzung mit dem Text und eine reichhaltige Vorstellungs- und Imaginationsbildung, die Raum für individuelle Zugänge lässt und die Lernenden so involviert. Das verlangsamte, genaue Lesen vermag dabei zugleich einer bewussten Wahrnehmung der sprachlichen Konstruiertheit des Textes zuzuspielen und so eine Distanz aufzubauen.47 46

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Matuschek, Stefan: Was heißt: »Literatur lesen lernen«? In: Helmuth Feilke, Juliane Köster u. Michael Steinmetz (Hg.): Textkompetenzen in der Sekundarstufe II. Stuttgart: Fillibach 2012. S. 63-74. S. 70. Die zurückhaltenden Formulierungen haben ihren Grund darin, dass die Bearbeitungen der Schüler_innen auch auf zwei mit dieser Methode verbundene Gefahren hinwiesen, von denen eine in der projektiven Überformung der Textgrundlage besteht, eine andere in einer Überforderung einzelner Schüler_innen, die sich möglicherweise mit dem Text ›alleine gelassen‹ fühlten. Um eigene Involviertheit und genaue Wahrnehmung (und somit auch eine gewisse Distanz zum Text) aufrechtzuhalten, bedarf es folglich einer auf die Stärken und Schwächen der einzelnen Schüler_in-

Fazit

3. Aufgrund der kulturell vermittelten Bedeutung bestimmter Bilder können Vorstellungen und Imaginationen auch zu ersten symbolischen Auffassungen des Objekts führen.48 Kognitiv-begriffliche Verstehensprozesse im engeren Sinne setzen dann ein, wenn diese Symbolbildungen reflexiv werden. Dabei greifen sie auf die sinnliche Wahrnehmung, Vorstellungsbildung und Imagination notwendig zurück und durchlaufen diese Ebenen auch infolge veränderter Selektionen und Kombinationen des Materials stetig neu. Denn wie bestimmte vom Text aufgerufene Bilder gedeutet werden, kann sich zum einen je nach Fortgang der Lektüre verändern und auch in Wiederholungslektüren variabel bleiben. Deshalb steht die Differenziertheit begrifflich-kognitiver Prozesse auch in einer Wechselbeziehung zur Genauigkeit und Intensität der Wahrnehmungs- und Vorstellungsbildung. In der ästhetischen Auseinandersetzung sind zwei Formen kognitiver Zugänge zu unterscheiden: eine, die relationale Bezüge im rezipierten Objekt in den Blick nimmt und der Frage nachgeht, wie hier verschiedene Elemente arrangiert werden, etwa in Gestalt einer bestimmten Erzähltechnik oder der Etablierung semantischer Ordnungen durch Äquivalenz- oder Oppositionsbeziehungen49 , sowie eine zweite, hiermit verbundene, die auf dieser Grundlage begriffliche Semantisierungen und Sinnzuschreibungen vornimmt50 , die aber im Modus des Vorläufigen verbleiben.51 Zunächst zum Erstgenannten: Indem literarische Sprache die Wahrnehmung auf das sprachliche Material und seine Gestaltung lenkt und Fragen der Sinnzuschreibung immer wieder hieran brechen lässt, eröffnet sie Schüler_innen die Möglichkeit einer analytischen Untersuchung, über welche Gestaltungsmittel sich Bedeutungen in welcher Form aufbauen. Hierzu eignen sich einerseits durchaus kompetenzorientiert zu vermittelnde Analysetechniken, andererseits wird aber auch deutlich, dass solche Verfahren nicht zum eigentlichen Sinn und Zweck der Auseinandersetzung werden können, da sie der Zweckfreiheit als ästhetischem Zweck funktional untergeordnet sind. »[S]innlos, aber in seiner Art abgeschlossen« heißt es von Odradek, und genau diese Form der Abgeschlossenheit zeigt, dass zwar sehr wohl ein Kompositionsprinzip, eine strukturierte Form hinter diesem Sinnbild des Literarischen steht, diese sich aber nur dem erschließt, der sich der ebenso künstlich wie kunstvoll geformten Zwirnspule ästhetisch nähert. Hinzu kommt, dass die verschiedenen Fäden der literarischen Textur so ineinander verwoben und verworren sind, dass jedes Bemühen, hier Ordnung hineinzubringen,

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nen Bezug nehmenden Binnendifferenzierung, etwa in der Form, dass ein früherer Austausch über gebildete Vorstellungen stattfindet und/oder kürzere Textpassagen zur Bearbeitung gegeben werden. Vgl. Zabka: Ästhetische Bildung. S. 457. Dieser Frage gehen insbesondere strukturalistische Ansätze nach, die im dritten Kapitel mit Blick auf literarische Fragestellungen näher thematisiert wurden. Hier ist im Kontext dieser Arbeit primär die Wirkungsästhetik Isers zu nennen. Die Unterscheidung dieser beiden Formen ist heuristisch, da sie ineinander spielen. Sie entspricht der im schulischen Literaturunterricht und z.T. auch in der didaktischen Diskussion vorgenommenen Differenzierung zwischen den Begriffen »Analyse« und »Interpretation«, die dann angreifbar ist, wenn beide Formen der Auseinandersetzung mit dem Text als unabhängig voneinander gedacht werden.

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nur vorläufiger Natur sein kann, da es die hierhinter liegende prinzipielle Unentwirrbarkeit nicht auflöst, sondern weiterhin zur Grundlage hat. Das komplexe In- und oftmals auch ›Gegeneinander‹ verschiedener Gestaltungsformen des sprachlichen Materials52 mündet in nicht gänzlich prognostizierbare – und somit auch nicht messbare – Rezeptionsweisen.53 Bereits analytische Zugriffe erweisen sich so m.E. als abhängig von den Strukturierungen der jeweiligen Rezipient_innen.54 Auch die unter Bezug auf ausgewählte Signifikanten und ihre strukturellen Vernetzungen erfolgenden Sinnzuschreibungen und Prozesse einer reflektierten Symbolbildung als einer zweiten Form der begrifflich-kognitiven Auseinandersetzung bleiben abhängig vom ästhetischen Spiel der Erkenntniskräfte von Einbildungskraft und Verstand.55 Die einzelnen Signifikanten gehen nicht in ihrer instrumentellen Funktion als Träger einer bestimmten, letztgültig fixierbaren Bedeutung auf. So werden die Verstehensvollzüge mitsamt der hieraus hervorgehenden Verstehensgehalte immer wieder auf ihre eigenen Bedingungen und Bedingtheiten zurückbezogen, die auf der Wahrnehmungsebene bei der variablen Auswahl und Vernetzung des signifikanten Materials beginnen und zugleich die hiervon ausgehenden Vorstellungs- und Imaginationsbildungen mit einbegreifen. Hierüber setzt Literatur zentrale Konventionen pragmatischer Sprechhandlungen außer Kraft und folgt einer anderen Mitteilungsstruktur: Sie schreibt Bedeutungen nicht fest und bildet Wirklichkeit nicht ab, sondern ermöglicht neue, variable Perspektiven auf sie56 , die ihrerseits aus dem Verlauf der Text-Leser-Kommunikation erwachsen. Die Sinnzuschreibungen ermöglichen den reflexiven Blick auf das, was in einer Gesellschaft und in ihren Individuen vorgeht, auf ihre Denk- und Verhaltensweisen, auf Mechanismen der Interaktion, aber auch auf ganz andere Welten, auf possible worlds, aus deren Perspektive auch die reale Welt als eine, aber eben nur eine possible world erscheint, zu der aus vielerlei Gründen Alternativen existieren.57 52

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Die literaturtheoretische Basis, auf der diese Überlegungen beruhen und in deren Kontext sie im dritten Kapitel entfaltet wurden, bildet Lotmans Gedanke der »Ungleichmäßigkeit – das Nebeneinander konstruktionsmäßig heterogener Elemente« als »eines der grundlegenden Strukturgesetze des künstlerischen Textes«. Lotman: Die Struktur literarischer Texte. S. 395. Ein Punkt, auf den die Umschlagsgestaltung dieses Bandes Bezug nimmt: Über die Schrift – in diesem Fall ist es die erste Seite der Handschrift von Kafkas Der Process – lagern sich die Schirm- resp. Scheibenquallen in der Darstellung Ernst Haeckels. In dieser Komposition verweisen sie weniger auf »Kunstformen der Natur«, als deren Beispiel sie bei Haeckel fungieren, sondern bilden ein Simulacrum (um einen Begriff Barthes’ im Kontext seines Aufsatzes Die strukturalistische Tätigkeit aufzugreifen, vgl. Kapitel 3.2.7. dieser Arbeit) des Ästhetischen, dessen selbstzweckhafte und zugleich irritierende Schönheit, Verworrenheit, Flüchtigkeit, Veränderbarkeit und Zerbrechlichkeit sie zur Darstellung bringen. Durch ihr partiell transparentes, farbenreiches Spiel (das, denn an den Tentakeln liegen die Nesselkapseln auf, nicht immer ein ganz ungefährliches sein muss) als Momentaufnahme einer Bewegung blickt man auf den schemenhaften, aber unveränderlichen Grund der Schrift; beide Elemente konturieren und bedingen sich wechselseitig. Vgl. Barthes: Die strukturalistische Tätigkeit. Vgl. Kant: Kritik der Urteilskraft. S. 132. Vgl. Iser: Der Akt des Lesens. S. 88. Hallet: Literature and Literacies. S. 63.

Fazit

Wie solche Impulse sich aus ästhetischen Lernprozessen ableiten lassen und somit literarisch begründete Bildungsprozesse in Gang setzen können, konnte am Beispiel der Unterrichtseinheit zu Kafkas Erzählung Ein altes Blatt exemplarisch dargelegt werden. Die Reflexion eigener »Denk- und Verhaltensweisen« gründet darin, dass die Leser_innen (in diesem Fall aufgrund des unzuverlässigen Erzählens) im Verlauf der Auseinandersetzung mit dem Text bisherige Standpunkte verlassen und sich dafür neu ausrichten müssen. Iser sieht in dem ein grundlegendes Charakteristikum einer in ihrer Verlaufsdimension verstandenen Lektüre, woraus er folgert, dass die wechselnden Situationsbezüge sich in ihren jeweilig verändernden Perspektiven weniger in Form fixierbarer Aussagen denn als performatives Wirkungsgeschehen bestimmen lassen.58 Vorherige Zugänge werden infrage gestellt und hiermit zugleich auch die Bedingungen, die ihnen zugrunde lagen. Diese wechselnden Situationsbezüge und Neuausrichtungen können den Prozess der Sinnzuschreibung selbst reflexiv werden lassen. Die vorgenommenen Modifikationen im Verstehensprozess vermögen die Leser_innen zu Einsichten über sich selbst, zu Grundlagen ihrer Wahrnehmung und/oder sie bestimmenden Ansichten in ihrem Denken zu führen, die ihnen auf anderen Wegen verschlossen blieben.59 Bezogen auf den Lesevorgang kann dies im Unterricht für Schüler_innen individuell, etwa in Form des im Kapitel 5.2.2. entwickelten Verfahrens des interlinearen Lektürekommentars mit seinen jeweiligen Neuausrichtungen, dokumentierbar gemacht werden; bezogen auf Sinnzuschreibungen aus einer ex-post-Perspektive kann der Abgleich mit anderen Sichtweisen der Mitschüler_innen auf den Text eine entsprechende Reflexion befördern. Solchen Prozessen kommt eine unmittelbar bildungsrelevante Funktion zu; Voraussetzung hierfür ist es aber, sich auf die Irritationen und Neuausrichtungen im Verlauf der Lektüre einzulassen. Dies wiederum bedingt eine notwendige Ausrichtung auf Prozesse, die dem Modell literarästhetischer Literalität zugrunde liegt, anstelle finaler Problemlösungen, die die Etablierung einer solchen Verlaufsstruktur gerade unterbinden können. Das ästhetische Verstehen folgt auf kognitiv-begrifflicher Ebene somit einer Struktur, deren Eigenwert nicht aus bestimmten Ergebnissen, sondern aus der ihr eigenen Prozesshaftigkeit und ihrem Geschehenscharakter ableitbar ist. In den Worten Christoph Menkes: »Wir verstehen ästhetisch nicht etwas anderes, sondern wir verstehen anders.«60 Dies gilt umso mehr für die von dieser Spezifik ästhetischen Verstehens abgrenzbaren Konzepte ästhetischer Erfahrung resp. ästhetischen Erfahrens, die stärker noch auf den Eigenwert einzelner Erkenntnisvermögen, wie einer ästhetischen Wahrnehmung und/oder Vorstellungs- resp. Imaginationstätigkeit, abheben können und dies hinsichtlich der Auswirkungen auf das Subjekt untersuchen. Diese Prozesse nehmen ihren Ausgang zwar von gegenstandsorientierten Zugängen und somit ei58 59

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Vgl. Iser: Der Akt des Lesens. S. 113. Dies kann als eine Weiterentwicklung der These Kants gesehen werden, der zufolge das ästhetische Spiel von Einbildungskraft und Verstand bzw. die hieraus resultierende Lust den Menschen auf den Grund seiner Kognition zurückführe und grundlegende Funktionsweisen des menschlichen Erkenntnisapparates bewusst werden lasse. Vgl. Vesper: Lust als »cognitio intuitiva perfectionis«. Vollkommenheitsästhetik bei Wolff und ihre Kritik durch Kant. S. 293. Menke: Die Souveränität der Kunst. S. 51.

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nem Begriff ästhetischer Literalität, entfalten ihr Bedeutungspotential aber primär auf dem Gebiet bildungsrelevanter Impulse, da sie zu einer veränderten Form der Weltund/oder Selbstwahrnehmung führen und ggf. zu dauerhaften Veränderungen bzw. Neuausrichtungen.61 Literarästhetische Lernprozesse können so zugleich wiederum fruchtbar für die soziale Handlungsfähigkeit auch auf nichtliterarischen Feldern werden. Dies kann seinen Ausdruck in Form eines bewussteren Sprachgebrauchs und einer erhöhten Sprachsensibilität finden, die gleichermaßen zu einer Verbesserung eigener Ausdrucksmöglichkeiten als auch zu einem reflektierten Umgang mit vorgefundenen gesellschaftlichen Diskursen führen, sodass nicht nur deren Inhalte, sondern auch ihre jeweiligen bedeutungstragenden Konstruktions- und Gestaltungsformen zur Reflexion gelangen.62 Hieran gekoppelt sind gesellschaftlich-kulturell relevante Lernprozesse, wie am Beispiel des interkulturellen Lernens nachgewiesen werden konnte. Diese Lernprozesse, die nicht mehr auf dem eigentlichen Feld von Kunst und Ästhetik angesiedelt sind, können sich aber nur dann einstellen, wenn am Ästhetischen selbst angesetzt wird. Das in dieser Arbeit entwickelte Modell einer literarästhetischen Literalität vermag dieses bildungsrelevante Potential von Literatur aus seinem eigenen Selbstverständnis heraus zu erschließen. Wo, wenn nicht in literarischen Texten, lässt sich in unübertrefflicher Komplexität und in einzigartiger Fokussierung das Individuum in seinen sozialen Zusammenhängen und zugleich in der Auseinandersetzung oder im Konflikt mit diesen beobachten? Wo werden Formen und Wege der Teilhabe des Individuums an sozialen Prozessen so überschaubar und eingängig modelliert wie in der Literatur? Wo sonst ist die gelassendistanzierte Reflexion über die Rolle des Subjekts in unseren und in anderen Kulturen, wo eine kritische Sicht auf die Gefährdungen der Subjektfähigkeit des Individuums in vergleichbarer Weise möglich?63

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Vgl. Fischer-Lichte: Ästhetische Erfahrung als Schwellenerfahrung. An diesem Punkt greift die im zweiten Kapitel vorgenommene Differenzierung zwischen einem Begriff des ästhetischen Erfahrens, dessen Bezug auf dem jeweiligen Moment des Erfahrens liegt, und dem der ästhetischen Erfahrung, der aus einer ex-post-Perspektive auf Veränderungen Bezug nimmt, die ihren Ausgang von einem solchen ästhetischen Erfahren nehmen, sich jedoch verstetigen. Vgl. zu einer kritischen Untersuchung verschiedener Konzepte einer Verbindung sprachlichen und literarischen Lernens Zabka: Konzepte der Integration sprachlicher und literarischer Bildung. Hallet: Literature and literacies. S. 58.

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Die tägliche Schrift Peter Handke als Leser 2019, 386 S., kart., Dispersionsbindung 39,99 € (DE), 978-3-8376-4055-7 E-Book: 39,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4055-1

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Literaturwissenschaft Wolfgang Johann, Iulia-Karin Patrut, Reto Rössler (Hg.)

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Jürgen Brokoff, Robert Walter-Jochum (Hg.)

Hass/Literatur Literatur- und kulturwissenschaftliche Beiträge zu einer Theorie- und Diskursgeschichte 2019, 426 S., kart., 2 SW-Abbildungen 44,99 € (DE), 978-3-8376-4645-0 E-Book: 44,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4645-4

Wilhelm Amann, Till Dembeck, Dieter Heimböckel, Georg Mein, Gesine Lenore Schiewer, Heinz Sieburg (Hg.)

Zeitschrift für interkulturelle Germanistik 10. Jahrgang, 2019, Heft 1 2019, 190 S., kart., 5 SW-Abbildungen 12,80 € (DE), 978-3-8376-4459-3 E-Book: 12,80 € (DE), ISBN 978-3-8394-4459-7

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