»Vorvertragliche« und »vertragliche« Schutzpflichten [1 ed.] 9783428448203, 9783428048205


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German Pages 261 Year 1981

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»Vorvertragliche« und »vertragliche« Schutzpflichten [1 ed.]
 9783428448203, 9783428048205

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MARINA FROST

" Vorvertragliche" und "vertragliche" Schutz pflichten

Schriften zum Bürgerlichen Recht Band 63

.,.,Vorvertragliche" und .,.,vertragliche" Schutzpflichten

Von

Marina Frost

DUNCKER

&

BUMBLOT /

BERLIN

Alle Rechte vorbehalten

® 1981 Duncker & Humblot, BerUn 41

Gedruckt 1981 bel Buchdruckerei Richard Schröter, Berlln 61 Prlnted in Germany ISBN 342804820 2

Inhaltsverzeichnis Einleitung und Problemstellung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13 Erster Teil

Die "vorvertragliche" Schutzpflicht

22 22

A. überblick

B. Problemstellung: Sind die Schutzpflichten echte schuldrechtliche Pflichten? .......................................................... 24 C. Die typischen Eigenschaften echter schuldrechtlicher Pflichten ...... 1. Die Eigenarten der schuldrechtlichen Pflichten, die auf ein ding-

25

liches Recht Bezug nehmen ....................................

27

11. Die Eigenarten der Pflichten, die bei einer Geschäftsführung ohne Auftrag (§§ 677 ff. BGB) wirken ................................

31

111. Die Eigenarten der Pflichten, die in einem vertraglichen Schuldverhältnis wirken ..............................................

35

IV. Die Strukturmerkmale echter schuldrechtlicher Pflichten ........

38

D. Das Verhandlungsverhältnis als Sonderverbindung - die Grundvoraussetzung für die Annahme besonderer Schutzpflichten ............

40

1. Die Einordnung des Verhandlungsverhältnisses als "gesetzliches

Schuldverhältnis ohne primäre Leistungspflichten" ..............

40

11. Die Entwicklungsgeschichte der "culpa in contrahendo" und ihre Bedeutung für die rechtliche Erfassung des Verhandlungsverhältnisses .......................................................... 43 1. Das Verhandlungsverhältnis als

vertragsabhängige Rechts.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..

43

2. Das Verhandlungsverhältnis als vom Vertrag losgelöste Rechtsbeziehung ............................................

44

3. Zusammenfassung

47

beziehung

4. Folgen für die Begründung der im vorvertraglichen Stadium wirkenden Pflichten ........................................ 47 111. Problemstellung: Ist das Verhandlungsverhältnis wirklich eine Sonderverbindung, die ein Schuldverhältnis mit besonderen schuldrechtlichen Pflichten hervorbringen kann? ................ 48

Inhaltsverzeichnis

6

IV. Die Merkmale einer Sonderverbindung 1. Erkenntnisse für die Merkmale einer Sonderverbindung aus dem Meinungsstreit um die Rechtsnatur des nachbarlichen etemeinschaftsverhältnisses .................................. 2. Die rechtsgeschäftliche "Bindung" als intensivste Form einer selbstbestimmten Regelung von Rechtsbeziehungen .......... 3. Der "Mindesttatbestand" einer Sonderverbindung ............ a) Die "Zuordnung" als wesentliches Element einer Sonderverbindung .............................................. b) Die Herstellung einer verbindenden Zuordnung und ihre Abgrenzung zur rechtmäßigen deliktischen Berührung .... c) Zusammenfassung ........................................ V. Subsumtion des Verhandlungsverhältnisses unter diesen "Mindesttatbestand" einer Sonderverbindung ........................

49 50 53 55 55 57 64 66

E. Die Schutzpflichten als durch den Zuordnungstatbestand der - verhandlungsbedingten - Sonderverbindung geprägte schuldrechtliche Pflichten .......................................................... 68 I. Der Schutzkonflikt einer verhandlungsbedingten Sonderverbindung .......................................................... 69 II. Bedarf dieser Konflikt eines Ausgleichs durch besondere schuldrechtliche Pflichten in Form von Schutzpflichten? .............. 70 1. Die Wertungsmaßstäbe des etesetzgebers bei §§ 545, 550, 618, 701 BetB .................................................... 72 2. übertragung dieser Wertungsmaßstäbe auf den Schutzkonfiikt einer verhandlungsbedingten Sonderverbindung .............. 77 III. Die Rechtsgrundlage der Schutzpflicht .......................... 1. Der Schutzkonflikt und § 242 BetB .......................... 2. Die "Vertrauenshaftung" als pflichtenbegründendes Hilfsmittel a) Einwand von Frotz gegen die "Vertrauenshaftung" ........ b) Schutzkonflikt und "Vertrauenshaftung" .................. c) Zusammenfassung ........................................

80 80 82 83 85 89

IV. Die Schutzpflichten und die Strukturmerkmale beesonderer schuldrechtlicher Pflichten ...................................... 90 F. Ergebnis

91

et. Der Inhalt der "Vertrauenshaftung" für Schutzpflichtverletzungen ..

93

I. Praktikabilität eines "subjektiven" Vertrauensbegriffs im Recht..

93

II. Der "subjektive" Vertrauensbegriff und die eterechtigkeitsfunktion des § 242 BetB ............................................

96

III. Der "subjektive" Vertrauensbegriff und die eingeschränkte Begünstigungsfunktion des Vertrauens bei der Begründung von Schutzpflichten ................................................ 97 IV. Ersetzung des subjektiven Vertrauenstatbestandes durch einen objektiv-wertenden Vertrauenstatbestand ...................... 99

Inhaltsverzeichnis

7

V. Zweifelsfragen betreffend die Entstehung eines Vertrauenstatbestandes ...................................................... 103 VI. Die Gefahren bergende Sonderverbindung und die Höhe des im Verletzungsfall zu leistenden Schadensersatzanspruches .......... 104 VII. Zusammenfassung .......•.........•............•............... 105 H. Abgrenzung der Schutzpflichtverletzungen gegenüber den unerlaubten Handlungen ........................................................ 106 J. Die "Warenhausfälle" - Verhandlungsverhältnisse mit besonderen Schutzpflichten oder allgemeine Rechtsbeziehungen mit nur deliktischen Pflichten? ................................................... 112

I. Problemstellung ................................................ 112 II. Die Anzahl der Warenhausbesucher - ein geeignetes Kriterium für die Bestimmung der Rechtsnatur der Warenhausfälle? ...... 115 III. Schafft bereits das Betreten des Kaufhauses eine verhandlungsbedingte Sonderverbindung? .................................... 120 IV. Welche Personen werden schon mit Betreten des Warenhauses Partner dieser - verhandlungsbedingten - Sonderverbindung? 125 V. Zusammenfassung .............................................. 134 K. Abschlußbetrachtung zum Wesen der "vorvertraglichen" Schutzpflicht 136 Zweiter Teil

Die "vertragliche" Schutzpflicht überblick

138

A. Das Verständnis der herrschenden Lehre vom Wesen der "vertraglichen" Schutzpflicht ................................................ 138 I. Die Entwicklungsgeschichte der "positiven Vertragsverletzung" und ihre Bedeutung für die Annahme der "vertraglichen" Schutzpflicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 139 II. Die Umwandlungstheorie der herrschenden Meinung ............ 141 B. Die Ansicht der neueren Lehre .................................... 142 1. Abschnitt

Inhalt und Eigenarten der "vertraglichen" Scbutzpßidlt A. Problemstellung .................................................... 144 B. Dogmatische Probleme bei der Einordnung der "vertraglichen" Schutzpflicht als vertragliche Pflicht ................................ 144

8

Inhaltsverzeichnis I. Müssen sich die "vorvertraglichen" Schutzpflichten notwendigerweise in "vertragliche" Pflichten verwandeln? .................. 144 II. Verbietet der Entstehungsgrund der "vorvertraglichen" Schutzpflicht eine Umwandlung in eine "vertragliche Pflicht"? ........ 149 III. Ergebnis

153

C. Der Einfluß des Vertrages auf die Schutzpflicht .................... 153 I. Verleihung "vertragsgemäßer äußerer Eigenschaften" durch den Vertrag ........................................................ 1. Die Erzwingbarkeit .......................................... 2. Der Umfang des Schadensersatzanspruches .................. 3. Ergebnis ....................................................

154 154 155 156

II. Inhaltsgestaltung der Schutzpflicht durch den Vertrag .......... 1. Inhaltsgestaltung durch den Vertragsschluß selbst ....... . .... 2. Einflußnahme durch die Leistungsbeziehung ................ 3. Ergebnis ................................................. . ..

156 156 158 161

III. Verquickung der Schutzpflicht mit den Leistungspflichten ........ 1. Verknüpfung der wichtigsten "Nebenpflichten" mit den Leistungspflichten .............................................. 2. Wirkungsweise der "vertraglichen" Schutzpflicht bei bzw. vor Vertragserfüllung anhand von Fällen ........................ 3. Vergleich der Schutzpflicht mit den oben erörterten Pflichtenkomplexen der "positiven Vertragsverletzung" ..............

161 161 166 170

IV. Zwischenergebnis .............................................. 172 2. Abschnitt tJberprüfung des bisherigen Ergebnisses

174

A. Das Verhältnis der Schutzpflicht zur Anzeigepflicht ................ 174 B. Das Verhältnis der Schutzpflicht zu den besonderen Obhutspflichten 180 I. Das Verhältnis der Schutzpflicht zu der Instandsetzungs- und

Erhaltungspflicht des Vermieters ................................ 181

II. Das Verhältnis der Schutzpflicht zu der mietvertraglichen Obhutspflicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 187 III. Das Verhältnis der Schutzpflicht zu der Obhutspflicht des Verwahrungsvertrages ............................................ 193 IV. Zusammenfassung .............................................. 197 C. Das Verhältnis von Dauerschuldverhältnis und Schutzpflicht ........ 198

D. Ergebnis

201

Inhaltsverzeichnis

9

3. Abschnitt

Charakteristik der "vertraglichen" Scllutzpßicllt

202

Dritter Teil

Vergleich von "vorvertraglicher" und "vertraglicher" Schutzpflicht

204

A. Der Schutzzweck von "vorvertraglicher" und "vertraglicher" Schutzpflicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 205 B. Bedeutung der "Verhandlungen" bzw. des "Vertrages" für diesen übereinstimmenden Schutzzweck .................................... 205 C. Die Verwirklichung von "vorvertraglicher" und "vertraglicher" Schutzpflicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 206 D. Der Haftungsgrund der "vorvertraglichen" sowie "vertraglichen" Schutzpflicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 207 209

E. Ergebnis Vierter Teil

Das Verhältnis der Schutzpflicht zu den "vertraglichen Pflichten" und dem "vertraglichen Schuldverhältnis" A. Können die Schutzpflichten nicht neben den "vertraglichen Pflichten" in einem einheitlichen Schuldverhältnis existieren? ................

211 21~

B. Können innerhalb einer Sonderverbindung zwei denselben Lebenssachverhalt betreffende Schuldverhältnisse existieren? .............. 216 C. Inwieweit kann das Schuldverhältnis durch die Annahme besonderer Pflichtenkomplexe bzw. einer Rahmenbeziehung faßbar gemacht werden? .......................................................... 217 D. Die Einordnung der Schutzpflichten in das einheitliche Schuldverhältnis ................................................................ 219 Fünfter Teil

Ergebnis

221

Sechster Teil

Auswirkungen des gefundenen Ergebnisses

224

A. Das Unwerturteil der einzelnen Nichtigkeitstatbestände und die Schutzpflichten ..................... . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 224

10

Inhaltsverzeichnis

B. Haftungsbeschränkungen und Schutzpflichten ...................... 229 I. Die gesetzlichen Haftungsbeschränkungen bei der Vertragsdurch-

führung ........................................................ 229

11. Die gesetzlichen Haftungsbeschränkungen und die "vorvertraglichen" Schutzpflichten ........................................ 234 III. Die vertraglichen Haftungsbeschränkungen und die Schutzpflichten ............................................................ 235 IV. Ergebnis

237

C. Anwendung der erarbeiteten Grundsätze auf den "Vertrag mit Schutzwirkung für Dritte" .......................................... 237

Zusammenfassung .................................................... 241 Literaturverzeiclmis ................................................. 243 Stichwortverzeiclmis .. . .............................................. 256

Abkürzungsverzeichnis AcP ArchbR AG BAGE BayVBl. BB Betrieb BGH BGHSt BGHZ BVerwG BVerwGE DJT DJZ DNotZ DÖV DRiZ DVBI. FamRZ FVE GG Gruchot HdR JherJb. JA JJB JR JuS JW JZ KG LG LZ MDR NJW ÖJZ OLG OLGE OVG OVGE RabelsZ

Archiv für die zivilistische Praxis Archiv für Bürgerliches Recht Amtsgericht Entscheidungen des Bundesarbeitsgerichts Bayerische Verwaltungsblätter Der Betriebsberater Der Betrieb Bundesgerichtshof Entscheidungen des Bundesgerichtshofs in Strafsachen Entscheidungen des Bundesgerichtshofs in Zivilsachen Bundesverwaltungsgericht Entscheidungen des Bundesverwaltungsgerichts Deutscher Juristentag Deutsche Juristenzeitung Deutsche Notarzeitschrift Die öffentliche Verwaltung Deutsche Richterzeitung Deutsches Verwaltungsblatt Ehe und Familie im privaten und öffentlichen Recht. Zeitschrift für das gesamte Familienrecht Fremdenverkehrsrechtliche Entscheidungen Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland v. 23. 5. 1949 Beiträge zur Erläuterung des Deutschen Rechts, begründet von Gruchot Handwörterbuch der Rechtswissenschaft Jherings Jahrbücher der Dogmatik des bürgerlichen Rechts Juristische Arbeitsblätter Juristen -J ahrbuch Juristische Rundschau Juristische Schulung Juristische Wochenschrift Juristenzeitung Kammergericht Landgericht Leipziger Zeitschrift für Deutsches Recht Monatsschrift für Deutsches Recht Neue Juristische Wochenschrift Österreichische Juristenzeitung Oberlandesgericht Sammlung der Rechtsprechung der Oberlandesgerichte in Zivilsachen Oberverwaltungsgericht Sammlung der Rechtsprechung der Oberverwaltungsgerichte Zeitschrift für ausländisches und internationales Privatrecht, begründet von Ernst Rabel

12 Recht RG RGZ Rpfl. SeuffArch.

Abkürzungsverzeichnis

Zeitschrift "Das Recht" Reichsgericht Entscheidungen des Reichsgerichts in Zivilsachen Der Deutsche Rechtspfleger Seufferts Archiv für Entscheidungen der obersten Gerichte in den deutschen Staaten VersR Versicherungs recht. Juristische Rundschau für die Individualversicherung Verwaltungs- Verwaltungsrechtsprechung in Deutschland rechtsprechung VG Verwaltungsgericht VGH Verwaltungsgerichtshof VwVfG Verwaltungsverfahrensgesetz vom 25. 5. 1967 WarnRspr. Warneyer, Die Rechtsprechung des Reichsgerichts ZBl. Zentralblatt für die juristische Praxis ZfRV Zeitschrift für Rechtsvergleichung ZStW Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft ZZP Zeitschrift für Zivilprozeß

Einleitung und Problemstellung "Culpa in contrahendo" und "positive Vertragsverletzung" sind dem Rechtsleben seit langer Zeit vertraut. Trotz zahlreicher Urteile und vieler Abhandlungen sind aber noch nicht sämtliche Streitfragen geklärt. Insbesondere besteht Streit über die Einordnung und die rechtliche Behandlung der Schutzpflichten. Ihnen nachzugehen, soll Aufgabe dieser Arbeit sein. Schutzpflichten begegnen uns sowohl bei der Anbahnung als auch bei der Durchführung des Vertrages. Sie sind kurz als besondere Rechtsplfichten des Verhandlungs- bzw. Vertragspartners zu kennzeichnen, die Rechtsgüter des anderen nicht zu verletzen 1 . Der Ausdruck "Schutzpflichten" geht auf Sta1l 2 zurück. Er stellte sie den Leistungspflichten gegenüber, die unmittelbar die Erfüllungshandlung betreffen oder diese vorbereiten. Die Besonderheit der Schutzpflichten sah er demgegenüber darin, daß diese mit dem Vertragsinhalt, insbesondere der Leistung, keinen Zusammenhang aufwiesen, weil sie Schäden abwehren sollten, die den Rechtsgütern der Beteiligten bei der Vertragsdurchführung drohten. Schon diese Gegenüberstellung von Leistungspflichten und Schutzpflichten macht deutlich, in welche Richtung die angesprochenen Einordnungsschwierigkeiten gehen. Da die Schutzpflichten wie die Deliktspflichten den Rechtsgüterschutz zum Gegenstand haben, wird bezweifelt, ob sie ihrer Rechtsnatur nach "geborene" besondere Rechtspflichten sind, die als echte schuldrechtliche Pflichten notwendigerweise nicht mit den deliktischen Pflichten identisch sind3 • Vielfach wird vertreten, daß sie in Wirklichkeit echte deliktische Pflichten seien, die zur Umgehung des § 831 BGB als besondere schuldrechtliche Pflichten "erfunden" und entsprechend ihrer wahren Rechtsnatur zu behandeln seien 4 • Diese Bedenken werden aber erstaunlicherweise nur bei der "varvertraglichen", nicht jedoch bei der "vertraglichen" Schutzpflicht geäußert. 1 BaHerstedt, AcP 151, S. 501 (506); Canaris, JZ 1965, S. 475 (476); Thiele, JZ 1967, S. 649 ff.; Larenz, Festschrift für Ballerstedt, S. 397 (400). 2 StaH, Leistungsstörungen, S. 26 ff. 3 So aber Canaris, JZ 1965, S. 475 ff.; Thiele, JZ 1967, S. 649 ff.; Eike Schmidt, Nachwort, S. 131 (144 ff.); Baumert, S. 40; Diers, S. 59; Steinberg, S. 90; BGH NJW 1962, S. 31 f.; BGHZ 66, S. 51 (54). 4 von Caemmerer, Festschrift DJT 1960, S. 49 ff.; Posch, ZfRV 15 (1974), S. 165 ff.; Hans StaH, Festschrift für von Caemmerer, S. 837 (862); Larenz, Festschrift für Ballerstedt, S. 397 (402).

14-

Einleitung

Im vorvertraglichen Bereich gaben die sog. Warenhausfälle, die häufig die Rechtsprechung beschäftigten, allerdings auch reichlichen Stoff für diese Zweifel. Das "berühmteste" Beispiel für einen solchen Warenhausfall ist das im Jahre 1911 entschiedene Linolurteil 5 : Die Klägerin (K) bat den Angestellten eines Warenhauses (W), ihr einen Linolteppich zu zeigen. Der Angestellte holte die bezeichnete Rolle hervor und setzte dabei zwei weitere Rollen beiseite. Diese fielen um und verletzten die K sowie ihr Kind. Das Reichsgericht sprach der Klägerin einen Schadensersatzanspruch gegen W zu: Zwischen den Parteien sei ein den Kauf vorbereitendes Rechtsverhältnis mit rechtsgeschäftsähnlichem Charakter entstanden. Daraus erwachse für K wie für W die Pflicht, bei der Vorlegung und Besichtigung der Ware die gebotene Sorgfalt für Gesundheit und Eigentum des anderen zu beobachten 6 • Diese Begründung hält zwar den inzwischen entwickelten Grundsätzen nicht mehr stand, denn heute stützt die herrschende Meinung die Haftung für vorvertragliche Pflichtverletzungen überwiegend auf das "in Anspruch genommene und gewährte Vertrauen"7: Durch die Aufnahme der Verhandlungen entstehe zwischen Wund Kein "gesetzliches Schuldverhältnis" ohne primäre Leistungspflichten, das besondere Sorgfalts- und Rücksichtspflichten wie die Schutzplichten hervorbringen. Haftungsgrund für diese Pflichten sei das besondere Vertrauen, das K dem W entgegenbringe und das W der K gewähre, wenn sie sich in dessen Rechtssphäre begebe, wo ihr Körper, Eigentum und sonstige Rechtsgüter dem Einfluß des Wausgesetzt seien. Für dieses gewährte Vertrauen einzustehen, sei ein Gebot von Treu und Glauben. Die Interessenlage ist jedoch ungeachtet dieser entwicklungsbedingten Verfeinerungen der "culpa in contrahendo" unverändert. Könnte sich K nicht darauf berufen, daß W besondere schuldrechtliche Schutzpflichten verletzt habe, so wären ihre Aussichten, Schadensersatz zu erlangen, nicht günstig. W würde darauf verweisen können, daß sein Angestellter immer sehr sorgfältig arbeite, und könnte sich gemäß § 831 Satz 2 BGB entlasten. Dagegen ist es nicht immer möglich, von dem Angestellten selbst Ersatz zu erlangen. Ist die Annahme besonderer Schutzpflichten aber wirklich eine systematisch unkorrekte Hilfskonstruktion? Schließlich wird K doch während der Verhandlungen verletzt, und es ist zu fragen, ob tatsächlich eine vergleichbare Situation vorliegt, wenn ein Linolteppich beim RGZ 78, S. 239 ff. RGZ 78, S. 239 (240). 7 BaUerstedt, AcP 151, S. 501 (506); Larenz, SR AT, § 9 I, S. 91 ff.; ders., Festschrift für Ballerstedt, S. 397 ff.; Eike Schmidt, Nachwort, S. 131 (144 f.); Koziol, Bd. H, S. 62; Palandt / Heinrichs, § 276 Anm. 7 a. 5

o

Einleitung

15

Entladen vor dem Kaufhaus umstürzt und einen Passanten verletzt. Der Umstand, daß K während der Verhandlungen verletzt wurde, erlaubte im Linolfall jedenfalls noch, von einer Verletzung "in contrahendo" zu sprechen. Im nachfolgend wiederzugebenden "Bananenschalenurteil"B wird es dagegen weit schwieriger, das Argument abzuwehren, es seien nur deliktische Pflichten verletzt: K wollte im Kaufhaus der W etwas einkaufen. In einem Gang der Textilabteilung rutschte sie auf einer Bananenschale aus und verletzte sich schwer. Auch K wurden Schadensersatzansprüche zugesprochen, weil W die im vorvertraglichen Stadium zu beachtende Schutzpflicht verletzt habe 9 • Dabei hatte sie noch nicht einmal Verhandlungen mit einem Verkäufer aufgenommen, sie hatte lediglich den von W beherrschten räumlichen Bereich betreten. Die Exkulpationsmöglichkeit des § 831 Satz 2 BGB kann in diesem Fall keine Rolle spielen. Das Kaufhaus würde sich nämlich auf der deliktischen Ebene dem Vorwurf gegenübersehen, daß es seine eigene, nicht auf Angestellte abwälzbare Verkehrssicherungspflicht verletzt habe. Dennoch ist diese Entscheidung nicht auf die Verletzung einer Verkehrssicherungspflicht und damit nicht auf § 823 Abs. I BGB gestützt worden. Der Grund dafür ist bislang nicht in einleuchtender Weise dargelegt worden. Gibt diese Entscheidung etwa nur dem Rechtsgefühl Ausdruck, das eine Käuferin, die noch keinen Verkäufer gefunden hat, genauso behandelt sehen will wie eine glücklichere Kundin, der bereits ein Ansprechpartner begegnet istl°? Dies wäre eine allzu brüchige Begründung; dies um so mehr, als bislang noch keine Klarheit über das Kriterium besteht, nach dem sich die allgemeinen, auf die Deliktstatbestände bezogenen Verhaltenspflichten in besondere Pflichten verwandeln. Gerade die "Warenhausfälle" sind wegen der großen Vielzahl von Besuchern (möglichen und wirklichen Kunden, Begleitern etc.) nicht in unmittelbar einleuchtender Weise aus den bloß deliktischen Beziehungen herausgehoben. Weiter soll für alle Verhandlungspflichten, also auch für die Schutzpflichten, ein einheitlicher Haftungsgrund gelten: "das in Anspruch genommene und gewährte Vertrauen"lI. Diese Ansicht ist nicht unbestritten - es sei nur an Dölles Lehre vom sozialen Kontakt 12 erinnert, auf die noch einzugehen sein wird. Wenn man sich aber auch bei den 8

9

BGH NJW 1962, S. 31 ff. BGH NJW 1962, S. 31 (32).

von Lackum, S. 114. BaHerstedt, AcP 151, S. 501 (506 f.); Larenz, SR AT, § 9 I, S. 91 ff.; Patandtl Heinrichs, § 276 Anm. 6a; StaudingerlWeber, § 242 A 417; MK-Kramer, Ein!. zu § 241 Anm. 78. 12 DäHe, zStw 103, S. 67 ff. 10 11

16

Einleitung

Schutzpflichten für eine Vertrauenshaftung entscheidet, muß man dann nicht von Fall zu Fall feststellen, ob das zur Haftungsbegründung bemühte "Vertrauen" vorliegt1 3 ? Es könnte im Linolfall einen Unterschied machen, ob die Kundin in einem übersichtlich geordneten Warenhaus bzw. Selbstbedienungsladen oder in einem Kramladen einkauft, in dem die Gegenstände so gleichgültig gestapelt sind, daß sie umzufallen drohen 14 • Läßt eine solche Unordnung überhaupt das Vertrauen zu, nicht verletzt zu werden? Oder entfällt eine Haftung, wenn die Kundin, an peinliche Ordnung gewöhnt, jederzeit befürchtet, von herabstürzenden Gegenständen verletzt zu werden, und also nicht " vertraut"? Bedenken hinsichtlich der Rechtsnatur und hinsichtlich der Einzelheiten des Haftungsgrundes werden aber eben nur bei der" vorvertraglichen" Schutzpflicht geäußert; bei der "vertraglichen" Schutzpflicht fehlt ein ähnlicher Meinungsstreit. Der Hauptgrund dafür liegt sicherlich darin, daß sie als "vertragliche Nebenpflicht" angesehen wird 15 • Nach der herkömmlichen Auffassung beruht die "vertragliche" Schutzpflicht nämlich nicht auf dem Vertrauen, sondern auf dem Vertrag, da der Haftungsgrund des enttäuschten Verhandlungsvertrauens gewissermaßen von der Haftung für das gegebene Wort überrollt werde und die "vertragliche" Schutzpflicht mit Vertragsschluß an die Stelle der "vorvertraglichen" Schutzpflicht trete 16 • Diese Gegenüberstellung von "Vertrag" und "Vertrauen" ist, wie noch zu zeigen sein wird, sehr zweifelhaft. Doch konnte der Verdacht, daß auch die "vertragliche" Schutzpflicht in Wirklichkeit eine deliktische Pflicht sei, gar nicht aufkommen, da vertragliche Pflichten, und damit auch die "vertraglichen Nebenpflichten", nun einmal als "geborene" besondere Pflichten angesehen werden. Aber ist die bei der Vertragsdurchführung zu beachtende Schutzpflicht wirklich eine vertragliche Pflicht? Bekannt geworden ist der folgende FaIP7: Ein Kellner goß einem Gast im Vorübergehen Bratensoße auf den Rock. Obwohl der Kellner gar nicht ihn, sondern einen anderen Gast bedient hatte, hat der betreffende Gast Schadenersatz wegen einer SchutzpflichtZu dieser Frage Thiele, JZ 1967, S. 649 (651 f.). Beispiel von Medicus, JuS 1965, S. 209 (213). 15 Larenz, SR AT, § 24 I, S. 299 f.; Palandt / Heinrichs, § 276 Anm. 7 c bb; Erman / Battes, § 276 Anm. 88, 89; § 242 Anm. 50 ff.; Staudinger / Weber, § 242 A 802; BGHZ 14, S. 83. 16 BaHerstedt, AcP 151, S. 501 (521); Larenz, SR AT, § 9 II, S. 101; Dömpke, S. 61 f.; Schleeh, S. 167; Hartig, S. 65; Oertmann, LZ 1914, Sp. 515; BGH VersR 1964, S. 977 (979). 17 Das Recht 1915, Sp. 315 (mitgeteilt von Fraenkel, das entscheidende Gericht ist nicht bekannt). 13 14

Einleitung

17

verletzung erhalten: Der Wirt habe dafür einzustehen, daß der Gast unangetastet in seinen Räumen verweile. Mit dem eigentlichen Vertragsgegenstand, dem Servieren bestellter Speisen und Getränke, hat die hier in Frage stehende Schutzpflicht offensichtlich nichts zu tun, denn der Vorfall ereignete sich im "Vorübergehen" und nicht, während der verletzte Gast bedient wurde. Dennoch bejaht die herrschende Meinung eine vertragliche Schutzpflichtverletzung als Unterfall einer "positiven Vertragsverletzung": Da der Schuldner nicht nur überhaupt zu leisten habe, sondern eine gute und im weitesten Sinne sorgfättige Leistung erbringen müsse, habe er auch eine vertragliche Pflicht, die Rechtsgüter des anderen nicht zu verletzen: Während der Vertragsdurchführung werde ein enger Kontakt zu der Person und den Vermögensgütern des anderen geschaffen, und jeder Teil besitze eine große Einwirkungsmöglichkeit auf die Rechtsgüter des anderen. Um dem berechtigten Interesse der Beteiligten Rechnung zu tragen, bei dieser engen Berührung nicht verletzt zu werden, seien vertragliche Schutzpflichten des Inhalts notwendig, die Rechtsgüter des Vertragspartners sorgsam zu behandeln l8 • Schon bei einem oberflächlichen Vergleich fällt auf, daß diese "vertraglichen" Schutzpflichten den "vorvertraglichen" Schutzpflichten zumindest ähneln. Aufgrund konstruktiver Überlegungen sind sie aber nach der herrschenden Meinung wesensverschieden gegenüber den "vorvertraglichen" Schutzpflichten, weil sie anders als jene auf dem Vertrag, nicht aber auf der Inanspruchnahme und Gewährung von Vertrauen beruhten 19 • Immerhin ist es solange nicht bedenklich, derartige Verletzungshandlungen als "positive Vertragsverletzungen" zu würdigen, wie sich die zu entscheidenden Sachverhalte ohne auffällige Widersprüche zu anderen Grundsätzen lösen lassen und auch ein praktisch befriedigendes Ergebnis erzielt wird. Solche Schwierigkeiten ergeben sich aber bei dem folgenden Sachverhalt, den der BGR im Jahre 1953 zu entscheiden hatte20 : Der Angestellte A brachte das Kraftfahrzeug des E zur Reparatur bei U. Seine Vertretungsmacht reichte zum Abschluß des Reparaturvertrages jedoch nicht aus, so daß der Vertrag nicht zustande kam. Bei der Reparatur wurde der Wagen durch das Verschulden eines Gehilfen des U zerstört; der Gehilfe hatte den defekten Tank des Wagens löten wollen, obwohl dieser noch mit Benzin gefüllt war. Versteht man die bei der Vertragsdurchführung zu beachtende Schutzpflicht als vertragliche Pflicht, so scheitert ein vertraglicher 18 Köpcke, S. 79 f.; Palandt / Heinrichs, § 242 Anm. 4 B b; Huber, Festschrift für von Caemmerer, S. 837 (843); BGH VersR 1964, S. 977 (979); Wolf, AcP

153, S. 97 (112 f.).

19 So ausdrücklich Ballerstedt, AcP 151, S. 501 (521); Koziol, Band H, S. 66; BGH VersR 1964, S. 977 (979). 20 BGH BB 1953, S. 956.

2 Frost

Einleitung

18

Schadensersatz anspruch daran, daß der Vertrag nicht zustande gekommen ist, und wegen der nach § 831 BGB bestehenden Exkulpationsmöglichkeit würde E auch keine deliktischen Ansprüche gegen U haben. Dieses Ergebnis erschien auch dem BGH unbillig, denn schließlich hatten die Parteien einen, wenn auch nichtigen Vertrag abgeschlossen und hatten mit dessen Durchführung begonnen; sie waren einander dadurch näher als Verhandlungspartner gekommen. Der BGH sah dann auch einen Weg, dem E zu Schadensersatzansprüchen zu verhelfen. Die Besonderheit dieses Falles bestand nämlich darin, daß das Fahrzeug schon vor dem vermeintlichen Vertragsabschluß in die Werkstatt des U gelangt war. Daher waren für U schon zu dem Zeitpunkt (vorvertragliche) Schutzpflichten des Inhalts entstanden, das Fahrzeug nicht zu beschädigen. Der BGH nimmt nun an, daß es trotz des äußerlich gegebenen Vertragsabschlusses möglich sei, aus dem vorangegangenen Verhandlungsverhättnis Schutzpflichten auch für die spätere Zeit der vermeintlichen Vertragserfüllung abzuleiten 2 !. Wie zweifelhaft diese Lösung ist, zeigt, daß dem BGH dieser Weg nicht offen gestanden hätte, wenn der Wagen erst bei Vertragsabschluß übergeben worden wäre. Doch bestehen auch vom Standpunkt der herrschenden Meinung her erhebliche konstruktive Bedenken: Raum für das "gesetzliche Schuldverhältnis" der Vertragsverhandlungen und für die dadurch erzeugten Rechtspflichten soll nämlich nur sein, bis der Vertrag abgeschlossen ist. Mit Vertragsabschluß werden die vorvertraglichen Pflichten - gewissermaßen durch Zweckerreichung - sodann zu vertraglichen Pflichten und müssen also erlöschen 22 ; auf sie zurückzugreifen, ist nicht möglich. Diese Schwierigkeiten wollte ein Teil der herrschenden Meinung durch die Annahme einer "vertragsentkleideten positiven Vertragsverletzung" überwinden 23 : Die "positive Vertragsverletzung" sei nicht unbedingt als Verletzung einer Leistungspflicht anzusehen. Anknüpfungspunkt könne auch eine sekundäre Pflicht und damit auch eine Schutzpflicht sein. Dann aber sei eine positive Vertragsverletzung in Form einer Schutzpflichtverletzung auch möglich, wenn eine Leistungspflicht nicht bestehe. Grund für die Einstandspflicht sei nämlich das verletzte Vertrauen, das eine Leistungsbeziehung nicht voraussetze. BGH BB 1953, S. 956. "Der Haftungsgrund des enttäuschten Verhandlungsvertrauens wird gleichsam überrollt von der stärkeren Haftung für das gegebene Wort": BlI,llerstedt, AcP 151, S. 501 (521); Hans Stoll, Festschrift für von Caemmerer, S. 435 (455): die vorvertragliche Haftung sei irrtümlich auf den ureigenen Bereich der Vertragshaftung ausgedehnt worden. 23 Palandt / Danekelmann, 28. Auf!., § 276 Anm. 7; Köpcke, S. 136 f. 2!

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Einleitung

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Schon der Ausdruck "vertragsentkleidete positive Vertragsverletzung" ist ein Widerspruch in sich selbst, denn nach der Auffassung dieser Autoren setzt eine "positive Vertragsverletzung" einen Vertrag gerade nicht voraus. Diese Ansicht ist aber auch aus anderen Gründen nicht haltbar: Sie geht nämlich wie die sonstige herrschende Meinung von der Verschiedenheit der "vorvertraglichen " und "vertraglichen" Schutzpflicht aus. Dann kann sie aber ihre Konstruktion nicht dadurch rechtfertigen, daß sie bei der "vertraglichen" Schutzpflicht den Haftungsgrund ebenso wie bei der "vorvertraglichen" Schutzpflicht im Vertrauen sieht - denn die herrschende Meinung führt die vertragliche Schutzpflicht ja auf den Vertrag zurück. Diese Ungereimtheiten bei der Behandlung nichtiger Verträge nahm Canaris 24 zum Anlaß, die Einordnung der bei der Vertragsdurchführung zu beachtenden Schutzpflicht als vertragliche Pflicht zu überprüfen. Dabei kam er zu dem Ergebnis, daß diese bisherige Einordnung unzutreffend sei, weil die "vertragliche" Schutzpflicht nicht wie die übrigen vertraglichen Pflichten am Erfüllungsinteresse orientiert sei. Vielmehr müsse angenommen werden, daß sie mit der "vorvertraglichen" Schutzpflicht übereinstimme, da sie wie die "vorvertragliche" Schutzpflicht das Erhaltungsinteresse im Auge habe. Es gebe daher nur eine einheitliche Schutzpflicht, die mit Aufnahme der Verhandlungen beginne und sich auch durch den Vertragsabschluß nicht ändere 25 • Dieses neue Verständnis der Schutzpflichten hat sowohl Zustimmung26 als auch Kritik 27 gefunden. In der Tat hat Canaris bislang nur dargetan, daß die Schutzpflichten einen nicht auf den jeweiligen Vertragsgegenstand bezogenen Inhalt haben. Er hat aber nicht untersucht, wie die Schutzpflichten innerhalb des vertraglichen Bereichs wirken. Dies wäre aber notwendig, weil die herrschende Meinung die Schutzpflichten immerhin jahrzehntelang widerspruchslos als vertragliche Pflichten behandelt hat. Warum soll nicht mehr die Rede davon sein, daß die Schutzpflichten die Leistung begleiten, da sie doch unbestritten bei der Leistung zu beachten sind? Werden sie nicht dadurch mit dem Leistungsgegenstand und infolgedessen auch mit dem Vertrag verknüpft? Weiter muß gefragt werden, wie sich diese "herausgelösten" Schutzpflichten zu dem Vertrage verhalten. Canaris hat diese Frage Canaris, JZ 1965, S. 475 ff. Canaris, JZ 1965, S. 475 (478 ff.). 26 Thiele, JZ 1967, S. 649 ff.; MüHer-Graft, JZ 1976, S. 153 (155); von Lackum, S. 158 ff.; Eike Schmidt, Nachwort, S. 131 (149 ff.); Gerhardt, JuS 1970, S. 597 ff.; ders., JZ 1970, S. 535 ff.; MK-Kramer, Einf. zu § 241 Anm. 73 ff.; MK-Emmerich, Vorbem. 90 zu § 275. 27 LaTenz, SR AT, § 9 Ir, S. 101 - 104; Palandt / Heinrichs, § 276 Anm. 7 a bb; Hans StoH, AcP 176, S. 145 (150 m. Fußn. 21). 24

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2'

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Einleitung

offengelassen und hat sich auf den Hinweis beschränkt, daß die Lehre vom Schuldverhältnis neu überdacht werden müsse28 • Kann es aber wirklich besondere Pflichten geben, die neben dem Vertrag existieren? Ist nicht der Vertrag als "vertragliches Schuldverhältnis" notwendigerweise das Auffangbecken für alle besonderen Pflichten, die bei der Vertragsdurchführung zu beachten sind? Die Lehre Canaris hat damit eine Vielzahl neuer Schwierigkeiten aufgeworfen. Ihnen nachzugehen, ist aber nicht nur eine dogmatische Spielerei. Vielmehr hätte diese neue Lehre, erwiese sich die Vertragsunabhängigkeit der Schutzpflichten als richtig, erhebliche praktische Folgen. Es müßte jeweils gefragt werden, ob die für den Vertrag geltenden Grundsätze auch für die Schutzpflicht maßgeblich sind. Da diese Arbeit aber vor allem die Fragen klären soll, die die Einordnung und den Inhalt der Schutzpflichten betreffen, können zum weiteren Verständnis nur einige Problemkreise angesprochen werden, die bei einer Vertragsunabhängigkeit der Schutzpflichten neu überdacht werden müßten. Große Bedeutung hätte die neue Lehre, wie schon der obige Beispielsfall zeigte, bei der Nichtigkeit des Vertrages. Wenn sich der Vertrag als nichtig erweist, entfallen zwar notwendigerweise die vertraglichen Pflichten; aber ergreift die Nichtigkeit auch die Schutzpflichten? Macht es einen Unterschied, ob· der Werkvertrag wegen Geschäftsunfähigkeit des U nichtig ist, oder ob er nur mangels Vertretungsmacht des A nicht zustande kam29? Ein weiterer Problemkreis betrifft die gesetzlichen sowie vertraglichen Haftungsbeschränkungen. Wenn A bei einer Fahrt mit dem geliehenen Auto des B verletzt wird, weil B ihm aus leichter Fahrlässigkeit nicht gesagt hat, daß das Fahrzeug bei plötzlichem Bremsen nach rechts ausschert, so hängt die Frage, ob A gegen B Schadensersatzansprüche hat, davon ab, ob sich die Haftungsmilderung des § 599 BGB auch auf die vorliegende Schutzpflichtverletzung erstreckt. Die herrschende Meinung konnte dies bislang bedenkenlos bejahen: Da Schutzpflichten nach ihrer Auffassung vertragliche Pflichten sind, müssen die für den jeweiligen Vertragstyp geltenden Vorschriften auch bei Schutzpflichtverletzungen angewandt werden30• Diese Konsequenz tritt nach der neueren Lehre jedoch nicht zwangsläufig ein, wenn beispielsweise die gesetzlichen Haftungsbeschränkungen (§§ 524, 599, 690, 708 BGB) nur für die Vertragspflichten gelten. Oder muß sie die strenge Trennung von Schutz- und Leistungspflichten dann aufCanaris, JZ 1965, S. 475 (478). Hierzu Canaris, JZ 1965, S. 475 (481 f.); von Lackum, S. 169 ff. 30 Die herrschende Meinung hat die Frage, ob für Schutzpflichtverletzungen ein anderer Haftungsmaßstab gelten könne, gar nicht gesehen (so LaTenz, SR BT, bis zur 10. Aufl., § 47 II a, S. 129; § 50, S. 188). 28

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Einleitung

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geben, wenn die Schutzpflichtverletzung durch die Leistung erfolgt, also gewissermaßen ein "Mangelfolgeschaden" vorliegt31 ? Es könnte nämlich unbillig sein, daß der Schuldner bei leichter Fahrlässigkeit nicht haftet, wenn das Bein des verschenkten Tisches nicht mehr standfest ist, er aber unbeschränkt einstehen soll, wenn auf dem Tisch abgestelltes Geschirr zerbricht, weil der nicht standfeste Tisch umfällt. Weiter muß gefragt werden, ob angesichts der neuen Schutzpflichtlehre noch von einem "Vertrage mit Schutzwirkung für Dritte" die Rede sein kann und welche Regeln für die den Dritten begünstigenden Schutzpflichten gelten 32 • Nach der herrschenden Meinung standen dem Dritten beispielsweise bei Nichtigkeit des Vertrages keine Schutzansprüche mehr zu, da vertragliche Ansprüche mangels eines wirksamen Vertrages ja nicht auf ihn erstreckt werden konnten. Wie aber ist seine Position nach der neueren Lehre? Spielt es für seinen Anspruch eine Rolle, aus welchem Grunde der Vertrag zwischen Gläubiger und Schuldner nichtig ist? Alle diese Fragen zeigen, daß "culpa in contrahendo" und "positive Vertragsverletzungen" doch nicht so "ausgeforscht" sind, wie dies häufig leichthin angenommen wird, und daß insbesondere eine Untersuchung über die Schutzpflichten auch heute noch ihre Berechtigung hat.

31 3t

Thiele, JZ 1967, S. 649 (654), Gerhardt, JuS 1970, S. 597 (600 f.). Canaris, JZ 1965, S. 475 (477).

Erster Teil

Die "vorvertragliehe" Schutzpflicht Die Rechtsnatur der "vorvertraglichen" Schutzpflicht ist umstritten. Bevor ein Überblick über die vertretenen Meinungen gegeben wird, soll die Interessenlage an dem nachfolgenden Beispielsfall verdeutlicht werden: A und B verhandelten über den Ankauf von Waren. Auf dem Wege vom Geschäftsgebäude zum Lager des A kam B zu Fall und verletzte sich; es herrschte Glatteis, und A hatte auf seinem Hof nicht ausreichend gestreut*. Es bestehen keine Bedenken, dem Beinen Schadensersatz anspruch nach § 823 Abs. I BGB zuzubilligen, denn A hat durch die Nichtbeachtung der Streupflicht seine Verkehrssicherungspflicht verletzt. Könnte nicht aber auch eine Schutzpflichtverletzung vorliegen? B wäre auf dem Hof des A sicher nicht ausgerutscht, wenn er nicht mit A über Warenverkäufe verhandelt hätte, denn nur aus diesem Grunde kam er mit der von A beherrschten Rechtssphäre in Berührung. Da dem B aber schon nach den deliktischen Vorschriften ein Schadensersatzanspruch zusteht, ließe sich eine besondere Schutzpflicht nur annehmen, wenn die Schutzpflicht nicht nur "Lückenbüßer" für die Fälle ist, in denen das Deliktsrecht keine befriedigende Lösung erlaubt. Dann müßte das Entstehen der Schutzpflicht aber - ungeachtet der deliktischen Haftungslage - durch die Eigenart des Verhandlungsverhältnisses bedingt sein: jeder Verhandlungspartner müßte gegenüber dem anderen Schutzpflichten allein deshalb zu beachten haben, weil er mit ihm Verhandlungen aufgenommen hat.

A. tJberblick Die Ansicht, daß besondere Schutzpflichten durch die Eigenart des Verhandlungsverhältnisses bedingt seien, wird in der Tat von vielen vertreten!: Die Schutzpflichten bestünden unabhängig von den delik* Sachverhalt nach RG JW 1937, S. 2651. Canaris, JZ 1965, S. 475 ff.; Thiele, JZ 1967, S. 649 ff.; Gerhardt, JZ 1970, S. 535 ff.; ders., JuS 1970, S. 597 ff.; Eike Schmidt, Nachwort, S. 131 (144 ff.); Baumert, S. 40; Diers, S. 59; Kober, S. 10; Holz, S. 34, 43; Meyer, S. 7; Fischer, S. 65; Dömpke, S. 55 Fußn. 124 a; Geiß, S. 23; Sommer, S. 22; Krasser, S. 29; Zweig, S. 13 ff.; Paterna, S. 2; Schulze, S. 27 f.; Crodel, S. 4; Staege, S. 3; Schönwald, S. 18; Koerfer, S. 64; Stöcker, S. 104; Steinberg, S.90; Ottens1

A. überblick

23

tischen Pflichten, insbesondere auch unabhängig von den Verkehrssicherungspflichten. Sie gewährten neben den deliktischen Pflichten Schutz für alle Schädigungen durch den Partner sowie durch dessen Rechtssphäre und seien in Existenz und Tragweite mit den deliktischen Pflichten nicht identisch. Das Hauptunterscheidungsmerkmal zwischen Schutzpflicht und deliktischer Pflicht sei darin zu sehen, daß die Schutzpflichten einen bestimmten Einzelnen begünstigten, während sich die deliktischen Pflichten an die Allgemeinheit richteten 2 • Die Einbeziehung der Schutzpflichten in den Kreis der vorvertraglichen Verhandlungspflichten führe nicht zu einer wesensfremden Ausuferung der "culpa in contrahendo". Gerade die Vertragshandlungen machten die Partner in besonderem Maße verletzbar und erforderten aus diesem Grund gesteigerte Sorgfaltspflichten in Form der Schutzpflichten. Daher bestehe ein nicht nur äußerer Zusammenhang mit dem Zielvertrag, und die Schutzpflichten seien echte vorvertragliche Pflichten3 , die wie die übrigen Verhandlungspflichten auf dem "in Anspruch genommenen und gewährten Vertrauen" beruhten. Eine starke Meinungsgruppe in der Literatur vertritt demgegenüber die Ansicht, daß besondere Schutzpflichten nicht existierten4 : Die sogenannten Schutzpflichten seien in Wirklichkeit echte deliktische Pflichten, die unter Leugnung ihrer wahren Rechtsnatur als Verhandlungspflichten behandelt würden. Die vorvertragliche Haftung sei auf die Fälle zu beschränken, bei denen Pflichten, die den Ziel vertrag unmittelbar berührten, verletzt würden5 • Zu diesen Pflichten zählten die Schutzpflichten nicht. Sie wiesen keinerlei innere Beziehung zu dem zukünftigen Vertragsinhalt auf, und der Schaden treffe den anderen nicht in seiner Eigenschaft als Verhandlungspartner, sondern nur anläßlich der Vertragsverhandlungen. Daher entstehe die Verpflichtung, die Rechtsgüter des anderen nicht zu verletzen, nicht als besondere meyer, S. 40, 42; Kruse, S. 13 f.; Bogusch, S. 44, 55 f.; Ehwald, S. 4; Schultz, S. 68; Esser, JZ 1952, S. 257 (259); RG JW 1937, S. 2651; BGH NJW 1962,

S. 31 f.; BGHZ 66, S. 51 (54). 2 Krasser, S. 29; Bogusch, S. 55 Fußn. 2; Schultz, S. 68; Schleeh, S. 76; Esser, JZ 1952, S. 257 (259). 3 Ottensmeyer, S. 40, 42; Fischer, S. 65; Geiß, S. 23; Sommer, S. 32; Paterna, S. 2; Meyer, S. 7; Thiele, JZ 1967, S. 649 (650); Diers, S. 59; Baumert, S. 40; Christensen, S. 72. 4 Nirk, RabelsZ 18, S. 310 (352); Eichler, AcP 162, S. 401 (414 f.); Hans StoU, AcP 176, S. 145 (150 f. Fußn. 21); ders., Festschrift für von Caemmerer, S. 435 (452); Huber, AcP 177, S. 281 fi.; Kreuzer, JZ 1976, S. 778 (789); Rietzler, RabelsZ 5, S. 567 (569 f.); Rabel, S. 158; Hartig, S. 67 f.; Ortner, S. 71 f.; Hildebrandt, S. 134; Faber, S. 67; Titze, HdR VI, S. 516; Cabjolsky, S. 45; Schönemeyer, S. 36 f.; Böhmer, MDR 1961, S. 566 (567); von Caemmerer, Festschrift DJT 1960, S. 49 fi.; Posch, ZfRV 15 (1974), S. 165 fi. S von Caemmerer, Festschrift DJT 1960, S. 49 (57); Titze, HdR VI, S. 516 (517); Hildebrandt, S. 134; Schönemeyer, S. 36.

24

1. Teil: Die "vorvertragliche" Schutzpflicht

Pflicht mit Verhandlungsbeginn; es handele sich vielmehr auch hier lediglich um die allgemeine Sorgfaltspflicht des § 823 BGB, die schon von vornherein gegenüber jedermann und ohne Rücksicht auf den Anlaß der Rechtsgüterberührung bestehe6 • Diese allgemeine Sorgfaltspflicht durch die Annahme einer besonderen Schutzpflicht zu einer vorvertraglichen Pflicht zu machen, verbiete sich, weil dadurch der gefestigte Bereich der "culpa in contrahendo" verlassen und der erste Schritt auf eine uferlose Ausdehnung dieser Institution getan werde 7 • Die Schutzpflichten müßten endlich wieder als das behandelt werden, was sie in Wirklichkeit seien - als deliktische Pflichten. Ihre gegenwärtige Behandlung als vorvertragliche Pflichten sei wegen der unbefriedigenden Haftungsregelung des § 831 Satz 2 BGB zwar verständlich, beruhe aber auf einer systemwidrigen Fehlentwicklung8 . Andere gehen zwar ebenfalls von einer deliktischen Rechtsnatur der Schutzpflichten aus, wollen an der gegenwärtigen Behandlung der Schutzpflichten als vorvertragliche Verhandlungspflichten aber nichts ändern. Die Haftungsregelung des § 831 Satz 2 BGB sei dermaßen unzureichend, daß zum Ausgleich von Unbilligkeiten solange nicht auf die Annahme besonderer Schutzpflichten verzichtet werden könne, wie nicht eine Neufassung des § 831 BGB eine gerechte Lösung der sich stellenden Haftungsprobleme sichere9 •

B. Problemstellung Zur Begründung der einzelnen Auffassungen sind die verschiedensten Argumente vorgebracht worden, die in der Folgezeit immer wieder gegeneinander abgewogen worden sind 1 . Doch täuschen diese ständig 8

Schleeh, S. 69; Titze, HdR VI, S. 516 (517); Ortner, S. 71, 100; Cabjolsky,

S.45.

7 Nirk, RabelsZ 18, S. 310 (352); Kreuzer, JZ 1976, S. 778 (780); Titze, HdR VI, S. 516 (517); Hartig, S. 67; Hildebrandt, S. 133. 8 Kreuzer, JZ 1976, S. 778 (780); Hans Stall, AcP 176, S. 145 (150 f. Fußn.21). U Schleeh, S. 84 f.; Schlechtriem, VersR 1973, S. 581 (583); Larenz, Festschrift für Ballerstedt, S. 397 (402); Medicus, Bürgerl. Recht, § 32 IV Anm. 800; Zweigert / Kötz, S. 355 f.; Erdsiek, JJB 8 (1967/8), S. 36 (45 H.); Palandt / Heinrichs, § 276 Anm. 6 a. 1 Für die Annahme besonderer Schutzpflichten werden vor allem folgende Argumente bemüht: Sie zeichneten sich durch ein besonderes persönliches Band zwischen den Beteiligten aus (Ottensmeyer, S. 40, 42; Sommer, S. 32; Meyer, S. 46); sie wirkten innerhalb einer konkreten und individuellen Lebensbeziehung (Steffen, S. 28 f.; Holz, S. 3, 28, 43 f.; Kruse, S. 10; Christensen, S. 72; Diers, S. 59; Baumert, S. 40); sie wiesen ein besonderes Willensmoment auf (Baumert, S. 40 f.; Diers, S. 59; Kruse, S. 10). Gegen die Annahme besonderer Schutzpflichten wird insbesondere vorgebracht, daß ihr Schutzzweck mit dem der deliktischen Pflicht übereinstimme

C. Die Eigenschaften schuldrechtlicher Pflichten

25

bemühten Einzelargumente darüber hinweg, daß der Meinungsstreit um die Rechtsnatur der Schutzpflichten in einer einzigen Frage zusammengefaßt werden kann: Sind die Schutzpflichten echte schuldrechtliche Pflichten2 oder nicht? Diese Frage kann aber nicht - wie geschehen - anhand von Einzelargumenten entschieden werden, die in dem Bemühen, einen Zusammenhang zwischen Zielvertrag und Schutzpflicht zu bejahen bzw. zu verneinen, immer durch Wertungen beeinflußt sein müssen. Es kommt entscheidend darauf an, durch welche Eigenschaften sich besondere schuldrechtliche Pflichten allgemein auszeichnen und ob die Schutzpflichten diese Voraussetzungen erfüllen.

C. Die typischen Eigenschaften echter schuldrechtlicher Pflichten Zu der Frage, durch welche Eigenschaften sich echte schuldrechtliche Pflichten! auszeichnen, finden sich kaum Hinweise. Es wird als selbstverständlich angesehen, daß schuldrechtliche Pflichten einen "relativen Charakter" haben, den Schuldner also nur gegenüber seinem Gläubiger, nicht aber gegenüber jedermann zu einem bestimmten Verhalten verpflichten2 ,3. Doch bezeichnet der "relative Charakter" schuldrechtlicher Pflichten nur, daß der Gläubiger ein bestimmtes Verhalten (Handlung oder Unterlassung) fordern kann. Es wird dagegen nicht erklärt, wodurch diese Pflichten ihren relativen Charakter erhalten. Eigenart und Wirkungsweise schuldrechtlicher Pflichten betreffen aber die Frage, warum dem Schuldner ein bestimmtes Verhalten, das den Inhalt der schuldrechtlichen Pflichten ausmacht, abverlangt werden kann. Um Aufschluß hierüber zu gewinnen, ist es erforderlich aufzuzeigen, auf welche Weise Inhalt und Zweck derjenigen Pflichten bestimmt wird, die in den vertraglichen sowie gesetzlichen Schuldverhältnissen wirken. (Kreuzer, JZ 1976, S. 778 (780); Stoll, AcP 176, S. 145 (150 f. Fußn. 21); früher berief man sich auf die fehlende Klagbarkeit der Schutzpflichten (Holz, S. 3, 42; Bickenbach, S. 17; Geiß, S. 23 ff.; Faber, S. 66 ff.; Bogusch, S. 53). 2 Zu dem Ausdruck "echte" schuldrechtliche Pflichten, siehe Fußnote 1 im. nachfolgenden Abschnitt C. 1 Der Ausdruck "echte" schuldrechtliche Pflichten soll in diesem Zusammenhang den Gegensatz zu verschleierten allgemeinen Pflichten, die in Wirklichkeit der Ebene des Deliktsrechts angehören und zu denen nach Ansicht vieler auch die Schutzpflichten zählen (siehe Fußnote 4 unter A), hervorheben. 2 Erman!Sirp, Ein!. zu § 241 Anm. 2; Larenz, SR AT, § 2 II, S. 13f.; MK-Kramer, Ein!. zu § 241 Anm. 14; Soergel! Schmidt, § 241 Anm. 5 f.; Palandt! Heinrichs, § 241 Anm. 1 b. 3 Ausführlich zu der Frage, inwieweit die Größe des beteiligten Personenkreises dem relativen Charakter der Schutzpflichten entgegenstehen könnte, unter J II.

26

1. Teil: Die" vorvertragliche" Schutzpilicht

Nun beziehen sich die vertraglichen und gesetzlichen Schuldverhältnisse zwar auf inhaltlich völlig verschiedene Regelungsmaterien. Ungeachtet der Verschiedenheit der zugrunde liegenden Rechtsverhältnisse besteht jedoch eine Gemeinsamkeit im Regelungszweck. In allen Fällen handelt es sich nämlich um Sonderverbindungen, die aus der Deliktssphäre herausgehoben sind und gerade aus diesem Grunde nicht mehr durch die allgemeinen deliktischen Pflichten erfaßt werden können; es bedarf vielmehr besonderer Pflichten, die den Eigenarten dieser Sonderverbindungen gerecht werden. Allerdings schaffen diese besonderen Pflichten nur eine Sonderordnung für die mit der jeweiligen Sonderverbindung zusammenhängenden Fragen, konkurrieren also mit den allgemeinen Pflichten nur so weit, wie die Sonderordnung reicht. Dieses Nebeneinander von allgemeinen und besonderen Pflichten kann zu Abgrenzungsproblemen führen, denn gerade wegen dieses Nebeneinanders zwingt die Beobachtung, daß ein schädigendes Ereignis während der zeitlichen Geltungsdauer einer Sonderverbindung stattgefunden hat, nicht zu der Feststellung, daß besonderen Pflichten zuwidergehandelt wurde 4 • Ein solches Abgrenzungsproblem betrifft auch der dargestellte Meinungsstreit um die Rechtsnatur der Schutzpflichten. Es bestehen Zweifel, ob während der zeitlichen Geltungsdauer des Verhandlungsverhältnisses besondere Schutzpflichten oder lediglich allgemeine deliktische Pflichten verletzt werden. Aufgabe dieser Untersuchung muß daher sein, anhand der einzelnen Schuldverhältnisse Maßstäbe dafür zu gewinnen, inwieweit die Sonderordnung, die durch das Wirken besonderer Pflichten gekennzeichnet ist, reicht. Das BGB kennt eine Vielzahl von gesetzlichen und vertraglichen Schuldverhältnissen. Hier sollen zunächst die Eigenarten derjenigen (gesetzlichen) Schuldverhältnisse aufgezeigt werden, die ein dingliches Recht betreffen5 , weil bei ihnen ein Gegenstand der Sonderordnung besonders fest umrissen ist. Dadurch werden sich gleichzeitig Hinweise auf die Struktur der inhaltlich weniger leicht faßbaren Schuldverhältnisse Vertrag und Geschäftsführung ohne Auftrag (§§ 677 ff. BGB) ergeben 6 • 4

Berger, S. 46.

Dies sind das Verhältnis Eigentümer-Finder (§§ 965 ii.), das EigentümerBesitzer-Verhältnis (§§ 987 ff.), das Verhältnis Eigentümer-Grunddienstbarkeitsberechtigter (§§ 1020 - 1023), das Verhältnis Eigentümer-Nießbraucher (§§ 1030 fi.), das Verhältnis Verpfänder-Pfandgläubiger (§§ 1204 ff.). 6 Die gesetzlichen Schuldverhältnisse der §§ 812 ff. BGB und §§ 823 ff. BGB werden von dieser Untersuchung ausgenommen. Sie sind für die uns interessierenden Strukturmerkmale besonderer schuldrechtlicher Pflichten wenig aufschlußreich, da sie lediglich die Rechtsfolgen einer bereits eingetretenen ungerechtfertigten Vermögensverschiebung bzw. einer Verletzung von Rechtsgütern regeln. 5

C. Die Eigenschaften schuld rechtlicher Pflichten

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I. Die Eigenarten der schuldrechtlichen Pßichten, die auf ein dingliches Recht Bezug nehmen 1. Fan: Eigenarten der Pflichten, die eine Grunddienstbarkeit

(§§ 1018 ff. BGB) betreffen

B stand die Grunddienstbarkeit zu, über den Hofraum des K Vieh zu treiben. Dabei kam es wiederholt zu Verunreinigungen des Hofraumes, die B jedoch nicht beseitigte1 . Inhalt der vorliegenden Grunddienstbarkeit ist ein Wegerecht: B darf das Grundstück des K in eng begrenzter Weise, nämlich zur Durchführung des Viehtriebes, benutzen. Entsprechend wird das Eigentum des K eingeschränkt. K muß sich die Sachherrschaft über den Hofraum mit B teilen; die Grundstücksfläche wird mit Rücksicht auf die Grunddienstbarkeit beiden zugeordnet8 • Dem Ausgleich des dadurch entstehenden Interessenwiderstreites dienen §§ 1020 bis 1023 BGB. B werden kraft gesetzlicher Anordnung schuldrechtliche Pflichten auferlegt, die Auskunft darüber geben, wie er sich bei der Ausübung seiner Grunddienstbarkeit zu verhalten hat. Diese schuldrechtlichen Pflichten machen den Inhalt des zwischen Kund B bestehenden gesetzlichen Schuldverhältnisses aus. Sie sind streng an dem Inhalt der betreffenden Grunddienstbarkeit orientiert; ihr Umfang und ihre Grenzen bestimmen sich nach Sinn und Zweck der Grunddienstbarkeit, weil sie gerade den Interessenwiderstreit ausgleichen wollen, der wegen der Grunddienstbarkeit entsteht9 • So war bei dem vorliegenden Wegerecht zwar unvermeidbar, daß das Vieh den Hofraum verunreinigte. Doch hatte B bei der Ausübung des Wegerechts auf die Interessen des K Rücksicht zu nehmen. Um die Belange des K zu schonen (§ 1020 BGB), mußte er für eine alsbaldige Beseitigung der Verunreinigung sorgen. 2. Fan: Eigenarten der Pflichten, die bei einem Nießbrauch

(§§ 1030 ff. BGB) wirken

S ist von seinem Vater V als Alleinerbe eines großen Mietshauses eingesetzt worden. Gleichzeitig hat V bestimmt, daß dem Neffen N für die Dauer von zehn Jahren der Nießbrauch des Hausgrundstücks zustehen soll. Inhalt des dem N eingeräumten Nießbrauches ist das Recht, Nutzungen aus dem Mietshaus zu ziehen. Zwar ist S Eigentümer des Grundstücks; die Nutzungen, die ja Ausfluß des Eigentums sind, stehen jedoch einer anderen Person, dem N, zu. Diese doppelte Zuordnung des GrundOLG Hamm, OLGE 18, S. 147. Zu dem Begriff der "Zuordnung" bei Palandt I Bassenge, Einl. zu § 854 Anm.5c. 9 RGRK-Rothe, § 1020 Anm. 1; Stau dinger I Ring, § 1020 Anm. 1, 3; Erman I Ronke, § 1020 Anm. 1; Soergell Baur, § 1020 Anm. 1 - 3; Palandt I Bassenge, § 1020 Anm. 1 f. 1

8

28

1.

Teil: Die" vorvertragliche" Schutzpflicht

stücks10 führt wiederum zu einem Interessenwiderstreit der Beteiligten. Wer muß das Grundstück erhalten, bewirtschaften, versichern? Wer trägt die gewöhnlichen öffentlichen und privaten Lasten? Wie kann der Eigentümer verhindern, daß der Nießbraucher das Grundstück durch eine sorglose Wirtschaftsführung ruiniert? Der Gesetzgeber hat sich diesen Fragen eingehend gewidmet; er hat den Beteiligten in sorgsam gefaßten Vorschriften sowohl Rechte als auch Pflichten auferlegt und hat auf diese Weise das gesetzliche Schuldverhältnis zwischen Eigentümer und Nießbraucher geschaffen. Diese Vorschriften betreffen allesamt Ausmaß und Inhalt des Nießbrauchs, sichern die Rechtsposition des Eigentümers und regeln, wer die Lasten und Aufwendungen für das Grundstück zu tragen hatl l . Also sind diese Pflichten streng auf den Gegenstand des Nießbrauches bezogen und nehmen auf dessen Eigenarten Bezug. 3. FalZ: Eigenarten der Pflichten, die bei einem Fund

(§§ 965 ff. BGB) wirken

G fuhr mit einigen Kegelbrüdern in einem planmäßigen Eilzug von Köln nach Bonn. Unterwegs suchte er den Speisewagen auf. Dort vergaß er sein auf dem Tisch liegendes silbernes Zigarettenetui und sein Feuerzeug. Ein am Nebentisch sitzender Gast X machte den Oberkellner 0 auf die vergessenen Gegenstände aufmerksam. 0 nahm die Sachen zunächst an sich, händigte sie aber dem X bei der Ankunft auf dem Zielbahnhof Frankfurt aus, weil dieser vorgab, mit G gut befreundet zu sein und ihm die Gegenstände beim nächsten Kegelabend übergeben zu wollen. G bekam die Sachen jedoch niemals wieder zu sehenlZ•

°

Schon dadurch, daß die Gegenstände in Besitz nahm, entstand zwischen dem Finder, dem Arbeitgeber des 0, und dem Eigentümer G ein gesetzliches Schuldverhältnis13 • Seine Existenz erklärt sich auch hier aus der doppelten Zuordnung der betreffenden Sache. Eigentümer der Sachen war G geblieben, denn er hatte die Gegenstände lediglich vergessen. Den unmittelbaren Besitz übte jedoch der Finder aus. Dessen vorrangige Aufgabe sieht das Gesetz darin, in dem Interesse des Eigentümers tätig zu werden: Er muß dafür sorgen, daß der Eigentümer die Sachen zurückerhält und daß sich in der Zwischenzeit der Zustand der Sachen nicht verschlechtert. Diesem Interesse tragen die Vorschriften der §§ 965 ff. BGB Rechnung: Der Finder muß den Fund anzeigen Palandt / Bassenge, Einl. zu § 854 Anm. 5 c. Soergel / Baur, Vorbem. 1 a und 11 zu § 1030; Palandt / Bassenge, Einf. vor § 1030 Anm. 1; Erman / Ronke, Vorbem. 16 zu § 1030; Staudinger / Spreng, Vorbem. 1 a zu § 1030; RGRK-Rothe, Vorbem. 2 zu § 1030. 10

11

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LG Frankfurt, NJW 1956, S. 873.

Erman / Hefermehl, Vorbem. zu § 965; Soergel / Mühl, Vorbem. 2 zu § 965; § 965 Anm. 6, § 968 Anm. 1; Palandt / Bassenge, Vorbem. 2 zu § 965; BaUT, § 53 g III. 13

C. Die Eigenschaften schuldrechtlicher Pflichten

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(§ 965 BGB), muß für die Verwahrung (§ 966 BGB) und Ablieferung (§ 967 BGB) der Sache sorgen. Einen Anreiz, die hiermit verbundene Mühe auf sich zu nehmen, gibt der Finderlohn (§ 971 BGB), den der Finder vom Eigentümer verlangen kann. Ferner kann er den Ersatz seiner Aufwendungen fordern 14 • Die Gesamtheit dieser Rechte und Pflichten macht das gesetzliche Schuldverhältnis zwischen dem Finder und dem Empfangsberechtigten aus.

4. Fall: Eigenarten der Pflichten, die beim Pfandvertrag wirken (§§ 1204 ff. BGB)

A hatte aus seiner Geschäftsverbindung mit der Bank B Schulden. Er erkannte diese Schuld in einer notariellen Urkunde an und unterwarf sich der sofortigen Zwangsvollstreckung. Gleichzeitig verpfändete er der Beine Reihe von Wertpapieren, darunter 25 Stück Petersburger-InternationaleHandelsbank-Aktien ("Peter-Inter"). Als die russischen Bürgerkriegswirren einsetzten, erteilte Ader B den Auftrag, die "Peter-Inter" zu verkaufen und statt ihrer sichere deutsche Aktien als Pfand zu nehmen. B lehnte dies ab. Beim späteren Verkauf der "Peter-Inter" entstand dem A durch den Kursverfall dieser Aktien ein beträchtlicher Schadenl5 • Durch die Ablehnung des Auftrags, die "Peter-Inter" zu verkaufen, verstieß B gegen eine ihr obliegende Pflicht aus § 1218 BGB und machte sich schadensersatzpflichtig. Auch die Beziehung zwischen Verpfänder und Pfandgläubiger ist durch eine doppelte Zuordnung der verpfändeten Sache gekennzeichnet, denn der unmittelbare Besitz wird von dem Pfandgläubiger ausgeübt. Diese Rechtsstellung des Gläubigers ist durch die Auslösung des Pfandes auflösend bedingt, und daher muß der Pfandgläubiger sein Möglichstes tun, damit die Sache während der Verpfändung nicht an Wert verliert. So hat er für eine ordentliche Verwahrung der Sache zu sorgen, hat Mängel anzuzeigen und hat auch - wie im vorliegenden Fall - bei allen Handlungen mitzuwirken, die der Sicherung des Pfandes bzw. seiner Ersetzung durch ein anderes dienen. Mit Rücksicht auf diese Rechte und Pflichten der Beteiligten, die gerade wegen der doppelten Zuordnung der Sache zu beachten sind, entsteht ein gesetzliches Schuldverhältnis, das eine Sonderordnung für alle Fragen schafft, die die Behandlung des Pfandes betreffen l6 • 5. Fall: Eigenarten der Pflichten, die bei einem Eigentümer-BesitzerVerhältnis (§§ 987 ff. BGB) zu beachten sind

E verkauft und übereignet seine Apotheke an D. Nach einem Jahr stellt sich heraus, daß Kaufvertrag und übereignung nichtig sind. E ist nicht 14 Hierin zeigt sich eine gewisse Parallele zur Geschäftsführung ohne Auftrag (§§ 677 ff.). 15 RGZ 101, S. 47 ff. 18 Palandt I Bassenge, überblick vor § 1204 Anm. 1 c bb; Soergel/ Augustin, § 1215 Anm. 1; Staudinger / Spreng, Vorbem. 5 zu § 1204.

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1. Teil: Die" vorvertragliche" Schutzpflicht

bereit, dem D die Apotheke weiter zu überlassen, weil er inzwischen ein günstigeres Angebot erhalten hat. D hat zwischenzeitlich Nutzungen von 50000,- DM gezogen. Gleichzeitig hat er für 5000,- DM Verbesserungen an der Innenausstattung vorgenommen. Kann E von D die Herausgabe der Nutzungen fordern? Hat D einen Anspruch auf Ersatz seiner Verwendungen? Die beidseitigen Ansprüche der Beteiligten bestimmen sich nach §§ 987 ff. BGB, denn mit Rücksicht auf die Nichtigkeit von Kaufvertrag und Übereignung war D unrechtmäßiger Besitzer der Apotheke. Für die Beziehungen zwischen Eigentümer und Besitzer stellen §§ 987 ff. BGB eine Sonderordnung auf, die den Anspruch des Eigentümers auf Herausgabe der Sache um Nebenansprüche (§§ 987 bis 993 BGB) ergänzen und dem Besitzer Gegenrechte wegen von ihm gemachter Verwendungen (§§ 994 bis 1003 BGB) geben. Dadurch entsteht auch hier ein gesetzliches Schuldverhältnis mit gegenseitigen Rechten und Pflichten 17 : Zweck der Nebenansprüche des Eigentümers ist es, diesem Ausgleich für die ungerechtfertigte Trennung von Eigentum und Besitz zu geben; so erklärt sich sein Schadensersatzanspruch bei Abnutzung oder Zerstörung der Sache sowie sein Anspruch auf Herausgabe der Nutzungen. Die Gegenrechte des Besitzers tragen dagegen dem Umstand Rechnung, daß die Sache durch seine Verwendungen erhalten oder gar verbessert wurde. Im einzelnen ist die Ausgestaltung der Rechte und Pflichten davon abhängig, wie schutzbedürftig der Besitzer ist, ob er also den Mangel seines Rechts kannte oder nicht. Gemeinsam ist ihnen jedoch, daß sie Bezug auf die herauszugebende Sache nehmen, denn es geht ausschließlich um Nutzungen der Sache, Verwendungen für die Sache, um Schadensersatzansprüche wegen einer Verschlechterung bzw. eines Untergangs der Sache. Von den Eigenarten derjenigen gesetzlichen Schuldverhältnisse, die ein dingliches Recht betreffen, ergibt sich damit folgendes Bild: In allen Fällen erklärt sich die Existenz der betreffenden gesetzlichen Schuldverhältnisse durch die doppelte Zuordnung einer Sache 18 • Dadurch, daß Eigentum und Besitz zeitweise getrennt sind, kommt es zu einem Interessenkonflikt zwischen den Beteiligten: Der Besitzer übt seinen Besitz regelmäßig in der Weise aus, daß eine Einflußnahme des Eigentümers ausgeschlossen ist; bei einer Grunddienstbarkeit und bei einem Nießbrauch darf der Besitzer das Grundstück sogar für sich nutzen bzw. benutzen. Da er jedoch nicht Eigentümer der Sache ist, besteht die Gefahr, daß er sich frei von aller Verantwortung für den Zustand der Sache fühlt. Der Eigentümer will aber die Sache, auf deren Behandlung durch den Besitzer er keinen Einfluß hat, in guten Händen wissen; er 17 Wolft / Raiser, § 85 I; RGRK-Pickart, § 987 Anm. 1; Palandt / Bassenge, Vorbem.l a cc zu § 987; Vorbem. 1 a zu § 994. 18 Palandt / Bassenge, Ein!. zu § 854 Anm. 5 c.

c. Die Eigenschaften schuld rechtlicher Pflichten

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will sie verwahrt und gepflegt sehen. Seine fehlende tatsächliche Einflußmöglichkeit wird dadurch ausgeglichen, daß ihm Rechte eingeräumt werden, kraft derer er vom Besitzer ein bestimmtes Verhalten verlangen kann; seinen Rechten entsprechen Verhaltenspflichten des Besitzers. Der Inhalt dieser Rechte bzw. Pflichten ist bei allen gesetzlichen Schuldverhältnissen im wesentlichen gleich. Es handelt sich um Verwahrungs- und Schonungspflichten 19, um Anzeige- und Ablieferungspflichten20 , und bei einem schadensstiftenden Verstoß gegen diese Pflichten ist ein Schadensersatzanspruch des Eigentümers vorgesehen 21 . Als Gegenrecht des Besitzers ist insbesondere der Anspruch auf Ersatz der Verwendungen zu nennen, die er für die Sache gemacht hat22 . Diese inhaltliche Identität der Pflichten ist nicht zufällig. Sie ergibt sich notwendigerweise aus der übereinstimmenden Interessenlage im Verhältnis des Eigentümers zu dem Besitzer: Die Sonderordnung, die diese Pflichten schaffen, hat nämlich in allen Fällen einen gegenstandsbezogenen Anknüpfungspunkt: Bei Grunddienstbarkeit und Nießbrauch ist dies ein Grundstück, bei Fund und Verpfändung eine Sache, beim Eigentümer-Besitzer-Verhältnis ein Grundstück oder eine bewegliche Sache. Daher läßt sich die Reichweite dieser Sonder ordnung auch leicht eingrenzen. Sie betrifft den Interessenkonflikt, der aufgrund der doppelten Zuordnung einer Sache bzw. eines Grundstücks entsteht. Damit lassen sich diese Pflichten wie folgt charakterisieren: 1. sie sind gegenstandsbezogen, 2. sie wollen den Interessenkonflikt regeln, der durch die doppelte Zuordnung einer Sache bzw. eines Grundstücks entsteht, 3. ihr Gegenstand ist wegen dieser Zielsetzung durch die jeweilige Art der Zuordnung geprägt.

n. Die Eigenarten der Pflichten, die bei einer Geschäftsführung ohne Auftrag (§§ 677 ff. BGB) wirken Ausgehend von diesen Erkenntnissen soll versucht werden, die Struktur des gesetzlichen Schuldverhältnisses der Geschäftsführung ohne Auftrag näher zu ergründen. Zur Einführung folgendes Beispiel: B ist bekannt, daß ihre Freundin F in Urlaub gefahren ist. Sie weiß, daß die alte Mutter M der F regelmäßig das Haus der F hütet. Als sie zufällig 19 § 966 (Fund), § 1020 (Grunddienstbarkeit), § 1051 ff. (Nießbrauch), §§ 1215, 1218 (Pfandvertrag). 20 §§ 965, 967 (Fund), § 1042 (Nießbrauch). u § 968 (Fund), §§ 989, 990, 992 (Eigentümer-Besitzer-Verhältnis), § 1227 (Pfandvertrag). 22 § 970 (Fund), §§ 994 ff. (Eigentümer-Besitzer-Verhältnis), §§ 1041, 1043. 1045, 1047, 1049 (Nießbrauch), §§ 1214, 1216 (Pfandvertrag).

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1. Teil: Die "vorvertragliche" Schutzpflicht

bemerkt, daß in einigen Zimmern des Hauses am hellichten Tage Licht brennt, nimmt sie an, daß M etwas zugestoßen sei. Sie läßt die Tür des Hauses aufbrechen. 1. M befindet sich nicht im Hause der F. Wegen ihres schlechten Gesundheitszustandes hat sie dieses Mal nicht die Sorge für das Haus übernommen. Das Licht hatte im Auftrage der F ein Nachbar eingeschaltet, um den Eindruck zu erwecken, daß das Haus bewohnt sei. 2. M befindet sich tatsächlich im Hause und bedarf, wie B befürchtet hat, dringend ärztlicher Hilfe. Sie war am Abend so unglücklich ausgerutscht, daß sie sich aus eigener Kraft nicht mehr aufrichten konnte. Nur im Fall 2. handelt es sich um eine berechtigte Geschäftsführung ohne Auftrag, d. h. eine Geschäftsführung, die dem Interesse sowie dem wirklichen bzw. mutmaßlichen Willen der F entspricht. Hier kommt allein aufgrund der Tatsache, daß B bewußt und gewollt ein Geschäft der F geführt hat, ein gesetzliches Schuldverhältnis zwischen Fund B zustande23 • Im Fall 1. liegt hingegen eine unberechtigte Geschäftsführung ohne Auftrag vor, die deshalb kein gesetzliches Schuldverhältnis entstehen läßt, weil das Geschäft dem Interesse und dem Willen des Geschäftsherrn zuwiderläuft 24 • Da aber die äußerliche Handlungsweise des Geschäftsführers in beiden Fällen identisch ist, läßt sich der Entstehungstatbestand dieses gesetzlichen Schuldverhältnisses sowie die Ausprägung der in ihm wirkenden Pflichten an der unterschiedlichen Behandlung von berechtigter und unberechtigter Geschäftsführung ohne Auftrag besonders klar ablesen. Der entscheidende Unterschied liegt ungeachtet der übereinstimmenden äußerlichen Handlungsweise des Geschäftsführers darin, daß bei einer berechtigten Geschäftsführung ohne Auftrag der Eingriff in die fremde Rechtsphäre gerechtfertigt ist, weil er vom Interesse und vom Willen des Geschäftsführers getragen ist 25 • Bei einer unberechtigten Geschäftsführung ist der Eingriff hingegen nicht gerechtfertigt26 • So bestand in unserem Beispielsfall 1. kein Anlaß, die Tür aufbrechen zu lassen. Entsprechend dieser Interessenlage sind auch die Ansprüche der Beteiligten ausgestaltet. Bei einer berechtigten Geschäftsführung wird das Geschäft dem Begünstigten in der Weise zugeordnet, daß er mit seinem Vermögen für das für ihn getätigte Geschäft aufzukommen 23 Staudinger I Nipperdey, Vorbem. 7 f., 21 f., zu § 677; RGRK-Denecke, Vorbem. 1 zu § 677; Palandt I Thomas, § 677 Anm. 1 c; Soergel/ Müht, Vorbem. 1,2 zu § 677; Erman I Hauß, Vorbem. 17 zu § 677; Baumert, S. 36. 24 Staudinger I Nipperdey, Vorbem. 9, 13 zu § 677; Soergell Mühl, Vorbem. 2 zu § 677; Erman I Hauß, Vorbem. 16 zu § 677. 25 Staudinger I Nipperdey, Vorbem. 8 zu § 677; Erman I Hauß, Vorbem. 15 zu § 677; Soergell Müht, Vorbem. 10 zu § 677. 28 Staudinger I Nipperdey, Vorbem. 9 zu § 677; Erman I Hauß, Vorbem. 16 zu § 677.

c. Die Eigenschaften schuldrechtlicher Pflichten

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hat 27 • Diese Zuordnung macht in zweifacher Hinsicht eine gesetzliche Regelung erforderlich. Einmal muß zum Schutze des Geschäftsherrn festgelegt sein, wie der Geschäftsführer das Geschäft zu betreiben hat und daß er, beispielsweise zur Vermeidung von Doppelverkäufen, von dem Tätigwerden des Geschäftsführers unterrichtet wird. Zum anderen muß dem Geschäftsführer, gerade weil der Geschäftsherr aufgrund der Zuordnung des Geschäfts zu seinem Vermögen die daraus fließenden Vorteile für sich in Anspruch nimmt, gewährleistet werden, daß er seine Aufwendungen für das Geschäft ersetzt bekommt. Entsprechende Regelungen sieht das Gesetz in §§ 677 bis 697 bzw. 693, 694 BGB vor. Auch diese Rechten und Pflichten fügen sich in das Strukturschema ein, das wir bei den gegenstandsbezogenen gesetzlichen Schuldverhältnissen kennengelernt haben28 • Den dort normierten Fürsorgepflichten für die Sache entspricht hier die Pflicht, das Geschäft mit Rücksicht auf das Interesse und den Willen des Geschäftsherrn zu führen. Weiter finden wir auch hier einen Anspruch des Geschäftsherrn auf Schadensersatz sowie einen Anspruch des Geschäftsführers auf Ersatz seiner Aufwendungen. All diese Pflichten sind dadurch gekennzeichnet, daß sie dem Ausgleich der Interessen dienen, die durch das Führen eines fremden Geschäftes berührt sind. Der inhaltliche Unterschied zu den bereits behandelten gegenstandsbezogenen Pflichten besteht darin, daß sie personenbezogen sind, indem sie auf den Willen und das Interesse des Geschäftsherrn und damit auf dessen persönliche Verhältnisse Bezug nehmen. Eine solche Zuordnung zum Vermögen des Geschäftsherrn fehlt bei der unberechtigten Geschäftsführung ohne Auftrag. Wenn der Geschäftsherr das Geschäft nicht will, braucht er auch nicht mit seinem Vermögen für das betreffende Geschäft aufzukommen29 • Er muß dem Geschäftsführer nicht die von diesem gemachten Aufwendungen erstatten, und er haftet nur bereicherungsrechtlich, wenn ihm Vorteile aus dem Geschäft zugeflossen sind. Gerade an dieser milden Bereicherungshaftung wird deutlich, daß das Geschäft nicht dem Geschäftsherrn zugeordnet wird. Die innere Beziehungslosigkeit zum Vermögen des Geschäftsherrn zeigt sich darin, daß die Bereicherung mangels eines entsprechenden Zuordnungswillens "ohne Rechtsgrund" erfolgt ist30 • Damit können nunmehr die Eigenarten derjenigen Pflichten aufgezeigt werden, die in dem gesetzlichen Schuldverhältnis der Geschäfts27 Staudinger I Nipperdey, Vorbem. 18 zu § 677; PaZandt I Thomas, § 677 Arun.l d. 28 Siehe unter C I. 28 Staudinger I Nipperdey, Vorbem. 7 zu § 677; Erman I Hauß, Vorbem. 16 zu § 677. 30 Staudinger I Nipperdey, Vorbem. 13 zu § 677; SoergeZ I Mühl, § 684 Anm. 1; RGRK-Denecke, § 684 Anm. 1.

3 Frost

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1. Teil: Die "vorvertragliche" Schutzpflicht

führung ohne Auftrag wirken; gleichzeitig wird ein Vergleich mit den Pflichten der gegenstandsbezogenen gesetzlichen Schuldverhältnisse möglich: Der Grund für die Entstehung besonderer schuldrechtlicher Pflichten liegt bei der Geschäftsführung ohne Auftrag darin, daß ein Geschäft dem Vermögen des Begünstigten, des Geschäftsherrn, zugeordnet wird. Anders als bei den gegenstandsbezogenen Schuldver hältnissen handelt es sich hier jedoch nicht um eine doppelte, sondern um eine einseitige Zuordnung, die durch das Tätigwerden des Geschäftsführers bewirkt wird. Es mag zunächst erstaunen, daß das Tätigwerden einer Person schuldrechtliche Pflichten zweier Personen erzeugen kann. Doch darf die Handlungsweise des Geschäftsführers, wie die Fälle der unberechtigten Geschäftsführung ohne Auftrag zeigen, nicht ohne Bezug zu der Person des Geschäftsherrn gesehen werden. Sie bringt nämlich schuldrechtliche Pflichten nur hervor, weil sie dem Interesse und Willen des Geschäftsherrn entspricht31 • Eine "Zwangsbeglückung" , wie dies letztlich die unberechtigte Geschäftsführung darstellt, kann hingegen keine innere Beziehung zwischen dem Vermögen des Geschäftsherrn und der Tätigkeit des unberechtigt handelnden Geschäftsführers schaffen, wie sie für eine solche Zuordnung erforderlich wäre. Was nun den Inhalt der schuldrechtlichen Pflichten der Geschäftsführung ohne Auftrag angeht, so läßt sich feststellen, daß sie in gleich starker Weise auf das Geschäft wie auf die persönlichen Verhältnisse des Geschäftsherrn bezogen sind. Durch dieses personenbezogene Element unterscheiden sie sich zwar von den Pflichten der gegenstandsbezogenen gesetzlichen Schuldverhältnisse. Doch verfolgen auch sie das Ziel, den Interessenwiderstreit, der durch eine Zuordnung (hier eines Geschäfts zum Vermögen des Geschäftsherrn) entsteht, auszugleichen. Infolgedessen sind sie ebenfalls durch die Art der jeweiligen Zuordnung geprägt. Die Eigenarten der Pflichten, die in dem gesetzlichen Schuldverhältnis der Geschäftsführung ohne Auftrag wirken, lassen sich damit folgendermaßen zusammenfassen: 1. Diese Pflichten sind auf das Geschäft und auf die Person des Geschäftsherrn bezogen, 2. sie wollen den Interessenwiderstreit regeln, der durch die einseitige Zuordnung eines Geschäfts zum Vermögen des Geschäftsherrn entsteht,

3. ihr Inhalt ist wegen dieser Zielsetzung durch die jeweilige Art der Zuordnung geprägt.

31 Staudinger / Nipperdey, Vorbem. 18, 28 zu § 677; Erman / Hauß, Vorbem. 15 zu § 677; Palandt / Thomas, § 677 Anm. 4 b; Sticht, S. 29 Fußn. 2.

C. Die Eigenschaften schuldrechtlicher Pflichten

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111. Die Eigenarten der Pflichten, die in einem vertraglichen Schuldverhältnis wirken

Die Eigenarten derjenigen Pflichten zu erfassen, die in einem vertraglichen Schuldverhältnis wirken, ist ungleich schwieriger, als die Struktur der in den gesetzlichen Schuldverhältnissen wirkenden Pflichten aufzuzeigen. Aus dem Gesetz lassen sich nämlich nur der Vertragstypus sowie die für ihn charakteristischen Hauptleistungspflichten entnehmen. Zur Einführung folgender Fall: A verkauft dem B eine Betonmischmaschine zum Preise von 10000,- DM. Es handelt sich um eine komplizierte Neuentwicklung, die im Vergleich zu den bislang gebräuchlichen Modellen erhebliche Neuerungen aufweist. Bei einem solchen Kaufvertrag führt nicht schon der bloße Abschluß des Vertrages zur Zuordnung irgendeines Gegenstandes; auch die aus dem Geschäft zu erwartenden Vorteile sind noch nicht dem Vermögen der Beteiligten zugeordnet. Die Zuordnung des Kaufpreises bzw. des Kaufgegenstandes ist aber das Ziel des Vertrages 32 • Diesem Zweck dient die rechtsgeschäftliche Bindung der Beteiligten, kraft derer A die Zahlung des Kaufpreises, B die Lieferung und Übereignung der Maschine verlangen kann. Dabei wird die Art des Geschäftes nicht wie bei der Geschäftsführung ohne Auftrag durch eine Person bestimmt; ein Vertrag und die daraus resultierende rechtsgeschäftliche Bindung beruhen darauf, daß beide Beteiligte ihre Vorstellungen und Interessen in Einklang gebracht haben. Deshalb kommt der interessenmäßigen Vereinigung der Vertragspartner, die einer Umschichtung der Vermögensmassen dient, dieselbe Bedeutung zu wie der gegenstands- bzw. personenbezogenen Zuordnung, die wir bei den gesetzlichen Schuldverhältnissen kennengelernt haben: sie bewirkt das Entstehen einer Sonderverbindung. Wird dagegen die angestrebte Zuordnung der Vermögensmassen bewirkt, so findet mit der Zuordnung die zwischen den Beteiligten bestehende Sonderverbindung regelmäßig ihr Ende. Aus dieser Struktur der vertraglichen Pflichten folgt, daß sie inhaltlich zwei verschiedene, aber doch innerlich miteinander verknüpfte Ziele verfolgen, und aus diesem Grunde ist das vertragliche Schuldverhältnis notwendigerweise komplexer als die bereits behandelten gesetzlichen Schuldverhältnisse. Einmal gibt es Pflichten, die unmittelbar die angestrebte Zuordnung der vertraglich bestimmten Leistungsbeiträge betreffen 33 • Dies sind vor allem die primären Leistungspflichten, in unserem Beispiel also die Zahlungspflicht des B sowie die Lieferpflicht des A. Daneben existieren aber noch weitere Pflichten, 32 MK-Kramer (Ein!. zu § 241 Anm. 85 Fußn. 198) verweist auf den Begriff des "Zielschuldverhältnisses" im österreichischen Recht. 33 Dazu ausführlich im 2. Teil, 1. Abschnitt, C III 1.

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1. Teil: Die" vorvertragliche" Schutzpflicht

deren Beobachtung erforderlich ist, damit eine sinnvolle Zuordnung der beidseitigen Leistungsbeiträge überhaupt erreicht werden kann. Hierzu zählen insbesondere Anzeige- und Beratungspflichten34 • So hat A den B darüber zu unterrichten, wie die Maschine am besten aufgestellt werden muß, wie sie die höchsten Arbeitsleistungen erbringt, bei welchen Witterungsbedingungen sie besonders anfällig ist. Entsprechend treffen auch BAnzeigepflichten, wenn sich nach Ablieferung der Maschine Schwierigkeiten zeigen, die nicht auf einen Fehler der Maschine zurückzuführen sind. Weiter muß B dabei mitwirken, daß die Maschine so aufgestellt wird, daß sie möglichst nutzbringend arbeitet 35 • Diesem Pflichtenkomplex, der unmittelbar die angestrebte Zuordnung, also das Vertragsziel und die Vertragsdurchführung, betrifft, stehen anders strukturierte Pflichten gegenüber, die zwar auch durch die angestrebte Zuordnung bedingt sind, ihre Entstehung aber der interessenmäßigen Vereinigung der Beteiligten verdanken: Da die Beteiligten dem anderen vor Abschluß des Vertrages ihre Interessen offengelegt haben, gewinnen sie einen Einblick und demzufolge einen gewissen Einfluß auf die Rechtssphäre des anderen. Dieses besondere Wissen und diese erhöhte Einflußmöglichkeit auf die Rechts- und Vermögenssphäre des anderen geben den Vertragspartnern eine Macht, über die außenstehende Dritte nicht verfügen 36 • Doch dürfen sie diese Macht nicht für eigene Zwecke ausnutzen, da dieser Einblick bzw. Einfluß nur wegen des in Aussicht genommenen Zieles, eine interessenmäßige Vereinigung der Beteiligten herbeizuführen, gestattet wurde. Diese Forderung nach einem redlichen Verhalten der Vertragspartner schlägt sich in den verschiedensten "Nebenpflichten" nieder. So darf B das vertrauliche Wissen, das er über das Funktionieren der Maschine, über den Geschäftsbetrieb des A erhalten hat, nicht einem Konkurrenten des A hinterbringen. A muß seinerseits berücksichtigen, daß die Beweggründe, die den B zum Kauf der Maschine veranlaßt haben, eine interne Mitteilung zwischen den Vertragspartnern bleiben sollen, und darf sein Wissen nicht zum Schaden des B ausnutzen. Darüber hinaus beinhalten diese Verhaltenspflichten allgemein das Gebot, die Rechtsgüter des anderen nicht zu verletzen. Jeder Einblick und jede Einflußnahme in eine fremde Rechtssphäre geht notwendigerweise mit der 34 Staudinger / Weber, § 242 A 775; Soergel/ Schmidt, Vorbem. 37 zu § 275; Palandt / Heinrichs, § 242 Anm. 4 B d und e, § 276 Anm. 7 b ce, 7 c dd; MKRoth, § 242 Anm. 202 ff.; Erman / Sirp, § 242 Anm. 63; Erman / Battes, § 276

Anm. 92, 96.

35 Palandt / Heinrichs, § 276 Anm. 7 c ce, § 242 Anm. 4 B a und c; MK-Roth, § 242 Anm. 165; Erman / Sirp, § 242 Anm. 67; Staudinger / Weber, § 242 A 775. 36 Erman/ Sirp, § 242 Anm. 50; MK-Roth, § 242 Anm. 181 ff.; Palandt / Heinrichs, § 242 Anm. 4 B a und b; ausführlich dazu im 2. Teil, 1. Abschnitt, C UI 2.

C. Die Eigenschaften schuldrechtlicher Pflichten

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Schwächung der Rechtsposition des anderen einher; seine Rechtsgüter werden anfälliger gegen Verletzungen, und hierauf muß der eindringende Teil Rücksicht nehmen 37 • Zusammenfassend läßt sich also feststellen, daß in den vertraglichen Schuldverhältnissen zwei Pflichtenkomplexe wirken, die durch die Eigenart der vertraglichen Beziehung bedingt sind. Einmal sind dies die Pflichten, die unmittelbar die angestrebte Zuordnung der vertraglichen Leistungsbeiträge bestimmen. Da sie auf den Vertragsgegenstand Bezug nehmen, können wir sie im weiteren Sinne als "gegenstandsbezogen" bezeichnen. Daneben gibt es eine Vielzahl von Nebenpflichten, die wegen der interessenmäßigen Vereinigung der Beteiligten und damit mittelbar mit Rücksicht auf die angestrebte Zuordnung der Leistungsbeiträge entstehen. Diese Pflichten sind eher "personenbezogen", da sie die persönlichen Interessen der Vertragspartner sowie die Unversehrtheit von deren Rechtssphäre betreffen. Ihre Existenz ist dadurch bedingt, daß anders als bei der Geschäftsführung ohne Auftrag nicht eine Person die Art des Geschäftes bestimmt, sondern ein beidseitiges Mitwirken der Beteiligten erforderlich ist. Dies führt dazu, daß die Beteiligten im Vorfeld der eigentlichen Zuordnung der beidseitigen Leistungsbeiträge schützenswerte Interessen preisgeben, deren Beobachtung nicht mehr durch das Gebot der "gegenstandsbezogenen" Pflichten, sondern nur durch besondere Verhaltenspflichten bewirkt werden kann. Diese Verhaltenspflichten dienen jedoch nicht lediglich der Ergänzung der "gegenstandsbezogenen" Pflichten; sie sind eine Notwendigkeit, ohne die die Sonderordnung des vertraglichen Schuldverhältnisses unvollständig wäre. Die Eigenart der vertraglichen Beziehung ist nämlich nicht mit dem bloßen Austausch der Leistungen erschöpft. "Minutenkäufe", bei denen Ware gegen Geld ausgehändigt wird, stellen nicht mehr unbedingt den Regelfall eines Kaufes dar. Die vertragliche Beziehung gewinnt ihre Prägung häufig erst dadurch, daß die beidseitigen Interessen in Einklang gebracht werden, und entsprechend dieses Gewichtes der Interessenübereinstimmung zählen die Verhaltenspflichten, die gerade auf die Interessen der Beteiligten Bezug nehmen, zum wesentlichen Inhalt der vertraglichen Sonderordnung. Auch sie weisen die Strukturmerkmale auf, die wir bei den übrigen, bereits behandelten schuldrechtlichen Pflichten festgestellt haben: - Sie bezwecken den Ausgleich des Interessenkonfliktes, der durch die beabsichtigte Zuordnung und die damit notwendig verbundene Offenlegung der beidseitigen Interessen entsteht, 37 Staudinger / Weber, § 242 A 775; Erman / Battes, § 276 Anm. 89, 96; MKRoth, § 242 Anm. 181 ff.; Palandt / Heinrichs, § 242 Anm. 4 B b.

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1. Teil:

Die "vorvertragliche" Schutzpflicht

- sie sind durch die Eigenart des Interessenkonfliktes geprägt und stellen wegen dieser Prägung nicht nur einen Annex der "gegenstandbezogenen" Pflichten dar; sie sind vielmehr eine Notwendigkeit der durch die Interessenübereinkunft geschaffenen Sonderordnung. Bei einer vertraglichen Beziehung sind diese Verhaltenspflichten besonders vielfältig ausgestaltet; denkbar sind sie aber auch bei den eingangs behandelten gesetzlichen Schuldverhältnissen. Es kommt jeweils darauf an, ob neben den im Vordergrund stehenden "gegenstands"bzw. "personenbezogenen" Pflichten auch persönliche Interessen berührt sind und ob die Eigenart der betreffenden Sonderordnung eine solche Berührung bedingt. IV. Die strukturmerkmale echter schuldrechtlicher Pflichten

Mit der Feststellung, daß Verhaltenspflichten zum notwendigen Inhalt einer Sonderordnung gehören können, wird die Kernfrage des Meinungsstreites über die Rechtsnatur der Schutzpflichten angesprochen 1• Schutzpflichten sollen bei den Verhandlungen zu beachten sein. Zu den Pflichten, die die eigentlichen Verhandlungen betreffen, können sie aber nicht gehören, denn sie gebieten den Beteiligten lediglich, die Rechtsgüter des anderen nicht zu verletzen, nehmen also nicht auf den Verhandlungsgegenstand Bezug. Entsprechend den vorstehend gefundenen Strukturmerkmalen können sie also nicht zu den "gegenstandsbezogenen" Pflichten gehören. Sie könnten aber zu dem Kreis derjenigen Pflichten zählen, die wir als "personenbezogene" Pflichten erkannt haben. Um feststellen zu können, ob dies der Fall ist, sollen nunmehr die Merkmale zusammengefaßt werden, die die Eigenart der in einer Sonderordnung wirkenden schuldrechtlichen Pflichten ausmachen: Grundvoraussetzung ist, daß zwischen den Beteiligten eine Sonderverbindung besteht. Für besondere schuldrechtliche Pflichten ist nämlich nur Raum, wenn die zugrundeliegende Regelungsmaterie einer Sonderbehandlung bedarf, derer die allgemeinen Pflichten nicht gerecht werden. Was nun den Inhalt der besonderen schuldrechtlichen Pflichten angeht, so schaffen sie eine Sonderordnung für alle mit dieser Sonderverbindung zusammenhängenden Fragen. Eigenart und Reichweite der schuldrechtlichen Pflichten hängen davon ab, warum bei der jeweiligen Kategorie gesetzlicher oder vertraglicher Schuldverhältnisse eine Sonderordnung notwendig wird. Als Gemeinsamkeit aller Schuldverhältnisse haben wir erkannt, daß es um die Zuordnung eines Gegenstandes, eines Grundstücks, eines Geschäftes oder eines Leistungsbeitrages geht2 • Weiter haben wir gesehen, daß ein der Zuordnung ent1 2

Siehe unter A. Siehe unter C I.

C. Die Eigenschaften schuld rechtlicher Pflichten

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sprechender Tatbestand vorliegt, wenn die Beteiligten ihre Interessen und damit ihre Rechtssphäre dem anderen preisgeben3 . Zweck der schuldrechtlichen Pflicht ist nun, den Interessenkonflikt auszugleichen, der wegen der verschiedenen Arten der Zuordnung entsteht. Es existiert also eine enge Wechselbeziehung zwischen den schuldrechtlichen Pflichten und der jeweiligen Zuordnung. Letztere prägt die schuldrechtlichen Pflichten, weil es gerade wegen der Zuordnung zu einem Interessenkonflikt kommt, den auszugleichen Aufgabe der schuldrechtlichen Pflichten ist. Daraus erklärt sich, warum die Pflichten, die mit der gesteigerten Einflußnahme auf den fremden Rechtskreis zusammenhängen, einen wesentlichen Inhalt dieser Sonderordnung ausmachen: Die angestrebte Zuordnung der Leistungsbeiträge ist notwendigerweise mit einer Einflußnahme auf den fremden Rechtskreis verbunden. Halten wir also folgende Strukturmerkmale echter schuldrechtlicher Pflichten fest: 1. sie wirken in einer Sonderverbindung,

2. die Sonderverbindung bedarf einer Sonderordnung durch besondere schuldrechtliche Pflichten, soweit es wegen der durch die Sonderverbindung bedingten Zuordnung eines Gegenstandes, Geschäftes oder der betroffenen Interessen zu einem Konflikt zwischen den Beteiligten kommen kann, 3. die schuldrechtlichen Pflichten sind entweder gegenstands- oder personen bezogen, 4. sie bezwecken den Ausgleich der Interessen, die durch die konkrete Art der Zuordnung berührt werden, 5. ihr Inhalt ist wegen dieser Zielsetzung durch die Art der Zuordnung geprägt.

Anhand dieser gefundenen Strukturmerkmale echter schuldrechtlicher Pflichten kann nunmehr geklärt werden, ob auch die Schutzpflichten echte schuldrechtliche Pflichten sind. Voraussetzung dafür, daß den Schutzpflichten eine solche Rechtsnatur zuerkannt werden kann, ist: -

daß das Verhandlungsverhältnis eine Sonderverbindung ist,

- daß die Schutzpflichten den Strukturmerkmalen der in einer Sonderverbindung wirkenden Pflichten entsprechen, insbesondere durch diese geprägt sind.

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Siehe unter C 111.

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1. Teil: Die "vorvertragliche" Schutzpflicht

D. Das Verhandlungsverhältnis als Sonderverbindungdie Grundvoraussetzung für die Annahme besonderer Schutzpflichten Die Beantwortung der Frage, ob das Verhandlungsverhältnis eine Sonderverbindung ist, scheint keine großen Schwierigkeiten zu machen, denn das Verhandlungsverhältnis wird nach einhelliger Meinung als "gesetzliches Schuldverhältnis ohne primäre Leistungspflichten" qualifiziert!, in dem besondere, auf dem Vertrauen beruhende Pflichten wirken2 • Nun sind zwar die Existenz eines besonderen Verhandlungsverhältnisses und die Institution der "culpa in contrahendo" gewohnheitsrechtlich anerkannt; die bei den Verhandlungen zu beobachtenden Pflichten und damit die Reichweite der durch die "Verhandlungen" begründeten Pflichten geben, wie der Streit um die Rechtsnatur der Schutzpflichten zeigt, indessen immer noch Anlaß zu Zweifeln. Daher soll zunächst gefragt werden, was die Einordnung des Verhandlungsverhältnisses als gesetzliches Schuldverhältnis besagt; im Anschluß daran soll erörtert werden, worin der Grund für diese Einordnung besteht, insbesondere, ob sie zurecht geschah. I. Die Einordnung des Verhandlnngsverhältnisses als "gesetzliches Schuldverhältnis ohne primäre Leistnngspmchten"

Die einhellige Feststellung, daß es sich bei dem Verhandlungsverhältnis um ein "gesetzliches Schuldverhältnis ohne primäre Leistungspflichten" handele, weist auf zahlreiche Eigenarten des Verhandlungsverhältnisses hin: Sie beinhaltet einmal die Behauptung, daß zwischen den Verhandlungspartnern eine Sonderverbindung bestehe3 ; wie wir gesehen haben, ist für ein überdeliktisches Schuldverhältnis ja nur Raum, wenn die Beteiligten die Deliktssphäre verlassen haben. Zum anderen besagt die Benennung als "gesetzliches Schuldverhältnis", daß dem Verhalten der Beteiligten unabhängig von ihrem tatsächlichen Willen bestimmte Rechtswirkungen beigelegt werden4 : das Entstehen besonderer schuldrechtlicher Pflichten, die für das Verhandlungsverhältnis eine Sonderordnung schaffen. Daneben macht der Zusatz 1 MK-Emmerich, Vorbem. 86 zu § 275; Erman I Battes, § 276 Anm. 107; SoergelI Schmidt, Vorbem. 5 zu § 275; StaudingerlWeber, § 242 A 417; Larenz, SR AT, § 9 I, S. 92; ders., Festschrift für Ballerstedt, S. 397 ff.; Koziol. Band II, S. 62; Nirk, Festschrift für Möhring, 1965, S. 385 (392); Hans Stoll,

Festschrift für von Caemmerer, S. 535 ff.; BGHZ 6, S. 330 (333). 2 Ballerstedt, AcP 151, S. 501 (506); Larenz, SR AT, § 9 I, S. 92; Palandt I Heinrichs, § 276 Anm. 6 a; Soergell Schmidt, Vorbem. 5 zu § 275. 3 MK-Kramer, Ein!. zu § 241 Anm. 83; MK-Roth, § 242 Anm. 192 ff.; Larenz, SR AT, § 9 I, S. 92. , MK-Kramer, Ein!. zu § 241 Anm. 74; Soergell Schmidt, Vorbem. 3 zu § 275; Larenz, SR AT, § 9 I, S. 95; BGHZ 6, S. 330 (333).

D. Das Verhandlungsverhältnis als Sonderverbindung

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"Schuldverhältnis ohne primäre Leistungspflichten" darauf aufmerksam, daß sich das Verhandlungsverhältnis von den übrigen gesetzlichen Schuldverhältnissen und von dem Vertrag durch eine Besonderheit auszeichnet: es existieren keine primären Leistungspflichten; die vorvertragliche Sonderordnung erschöpft sich in Verhaltenspflichten5 • Damit gewinnt die oben getroffene Feststellung, daß Verhaltenspflichten zum notwendigen Inhalt eines Schuldverhältnisses gehören können 6 , für das Verhandlungsverhältnis eine ganz besondere Bedeutung. Hier soll eine überdeliktische Sonderordnung sogar ausschließlich durch Verhaltenspflichten geprägt sein. Zur Erklärung dieser Besonderheit könnte man sich mit dem Hinweis begnügen, daß sich die Beteiligten eben nur zu zwanglosen Verhandlungen zusammengefunden hätten, und damit vertrage sich die Annahme von Leistungspflichten nicht. Doch beantwortet die Feststellung, daß Verhandlungen zwanglos sind, nicht die Frage, warum trotz dieser Zwanglosigkeit Verhaltenspflichten erforderlich sein sollen. Sollte dieser Hinweis auf die Zwanglosigkeit der Verhandlungen besagen, daß im Verhältnis der Verhandlungspartner eine irgendwie geartete "Zuordnung" nicht stattgefunden hat, so würde dies entsprechend den oben entwickelten Strukturmerkmalen besonderer schuldrechtlicher Pflichten bedeuten, daß überhaupt kein Interessenkonflikt entstehen kann, der des Ausgleichs durch schuld rechtliche Pflichten bedarf. Die Befürworter vorvertraglicher Verhaltenspflichten erklären die Existenz dieser Pflichten damit, daß im Verhandlungsstadium ein "besonderes Vertrauen in Anspruch genommen und gewährt" worden seF. Doch auch eine solche "Vertrauenshaftung"8, bei der es sich um einen Anwendungsfall des eigenständigen Rechtsinstituts "Vertrauenshaftung" und nicht etwa um einen vagen oder gar mystischen Haftungsgrund handelt, ist nur unter bestimmten Voraussetzungen möglichu• Für den allgemeinen Rechtsgedanken, daß derjenige, der eine rechtlich bedeutsame Handlung vornimmt, sich so zu verhalten habe, daß der auf den Akt "Vertrauende" nicht getäuscht oder geschädigt werde 10, ist nur Raum, wenn die Beteiligten eine Sonderverbindung 5 Erman / Battes, § 276 Anm. 107; Palandt / Heinrichs, § 276 Larenz, SR AT, § 9 I, S. 92; MK-Kramer, Einl. zu § 241 Anm. 74.

5

Anm. 6 a;

Siehe oben unter C III (am Ende) und C IV.

Palandt / Heinrichs, § 276 Anm. 6 a; Soergel/ Schmidt, Vorbem. 5 zu § 275; BaHerstedt, AcP 151, S. 501 (506); Larenz, SR AT, § 9 I, S. 92; Staudinger / Weber, § 242 A 417; Eike Schmidt, Nachwort, S. 131 (144). 7

8 Der Begriff "Vertrauenshaftung" wird in diesem Zusammenhang mit verschiedenem Sinn belegt; dazu unter E III 2 b. 8 Canaris, Vertrauenshaftung, S. 491 ff.; Larenz, MDR 1954, S. 515 (517); Soergel / Schmidt, Vorbem. 5 zu § 275. 10

Eichler, S. 18.

42

1. Teil: Die "vorvertragliche" Schutzpflicht

miteinander eingegangen sind l l . Im deliktischen Bereich, der durch die Beziehungslosigkeit der Rechtsindividuen gekennzeichnet ist, gibt es nämlich nichts, worauf "vertraut" werden könnte 12 • Dies ändert sich erst, wenn die Beteiligten die deliktische Sphäre verlassen haben und miteinander eine Sonderverbindung eingegangen sind. Jedes Eingehen einer Sonderverbindung bedeutet nämlich, daß die Beteiligten von der ihnen eingeräumten privatautonomen Gestaltungsbefugnis Gebrauch gemacht haben und daß aus Fremden "Partner" geworden sind. Eine solche selbstbestimmte Verbindung schafft aber auch eine verstärkte Selbstverantwortung 13 . Im Rahmen einer Sonderverbindung wird nämlich jedes Verhalten der Partner an dem Maßstab des § 242 BGB gemessen 14 • Gerade weil jedem Erklärungsakt und jedem Handeln ein bestimmter Aussagewert beigelegt wird, wird gefragt, was der andere Teil dem Verhalten des Partners entnehmen konnte, welche Vorstellungen und Erwartungen bei ihm geweckt wurden und ob er mit Rücksicht hierauf schützenswert ist1 5 • Dementsprechend muß sich aber jeder Partner darauf einrichten, daß sein Handeln Wertungen unterworfen wird und daß er diese Wertungen zu verantworten hat 16 • Auf diesen feinen, fallbezogenen Wertungen beruht die gesamte Vertrauenshaftung, und sie ist nicht etwa nur eine behelfsmäßige Erfindung, die die sich auftuenden Unbilligkeiten im Verhältnis von "Partnern" ausräumen soll, sondern sie ist die notwendige Folge und Ergänzung jedes privat autonomen HandeIns, das auf der besonderen Regeln unterworfenen Ebene einer Sonderverbindung geschieht1 7 • Daher steht aber auch der erklärende Hinweis, die vorvertragliche Haftung beruhe auf dem "in Anspruch genommenen und gewährten Vertrauen", unter dem Vorbehalt, daß zwischen den Beteiligten eine Sonderverbindung besteht und daß wegen der besonderen Interessenlage tatsächlich Raum für eine solche "Vertrauenshaftung" ist. Dagegen kann zur Erklärung der vorvertraglichen Haftung nicht einfach auf irgendein, nicht recht faßbares Vertrauen zurückgegriffen werden, das 11

Dies ergibt sich aus der überlegung, daß die Vertrauenshaftung auf

§ 242 BGB beruht, für diese Vorschrift aber nur innerhalb bestehender Sonderverbindungen Raum ist; MK-Roth, § 242 Anm. 1, 55; Siebert I Knopp, § 242 Anm. 17; Erman I Sirp, § 242 Anm. 19, 21; Palandt I Heinrichs, § 242

Anm.l c. 12 Hierauf weist Larenz (MDR 1954, S. 515, 517) zu Recht hin. 13 Canaris, Vertrauens haftung, S. 433 ff.; Esser I Schmidt, SR AT, 2. Teilband, § 29 I, S. 91. 14 Eichler, S. 19 ff.; Canaris, Vertrauenshaftung, S. 273 ff.; Höxter, S. 22; Hammel, S. 45; Sieg, NJW 1951, S. 506. 15 Larenz, Vertrag und Unrecht, Band I, S. 62; Meier-Hayoz, S. 25; Simonius, S. 239 f.; Höxter, S. 11; Flume, AcP 163, S. 52 (63); Eichler, S. 9 ff. 16 Canaris, Vertrauenshaftung, S. 440. 17 Canaris, Vertrauenshaftung, S. 412 ff.

D. Das Verhandlungs verhältnis als Sonderverbindung

43

in einem gesetzlichen Schuldverhältnis wirkende schuldrechtliche Pflichten hervorbringen SOll18. Gleichzeitig zeigt diese Feststellung, warum notwendigerweise danach gefragt werden muß, ob das Verhandlungsverhältnis zu Recht als "gesetzliches Schuldverhältnis ohne primäre Leistungspflichten" eingeordnet worden ist.

u. Die Entwicklungsgeschichte der "culpa in contrahendo" und ihre Bedeutung für die rechtliche Erfassung des Verhandlungsverhältnisses Betrachtet man unter diesem Gesichtspunkt die Entstehungsgeschichte der "culpa in contrahendo", so tun sich, soweit es um die rechtliche Qualifizierung des Verhandlungsverhältnisses geht, erschreckende Begründungslücken auf. 1. Das VerhandZungsverhältnis als vertragsabhängige Rechtsbeziehung Zunächst wurde das Verhandlungsverhältnis als vertragsabhängig verstanden. So wollte Jhering 19 , der Begründer der "culpa in contrahendo", mit seiner Lehre zunächst nur solche Fälle erfassen, in denen der Vertrag zwar äußerlich abgeschlossen wurde, wegen des schuldhaften Verhaltens eines Partners aber entweder nichtig oder gar nicht zustandegekommen war. Sein Anliegen war es, dem anderen Partner, der im Vertrauen auf den vermeintlich abgeschlossenen Vertrag einen Schaden erlitten hatte, einen Ersatzanspruch zu geben 20 . Eine eigenständige Bedeutung räumte er dem Verhandlungsverhältnis aber noch nicht ein. Für ihn war der Vertragsschluß der entscheidende Einschnitt, der Tatbestand, der das Vertrauen auf die Erklärungen des Partners rechtfertigte. Daher konnte nach Jhering kein Schadensersatz gewährt werden, wenn der Schaden vor oder ohne Vertragsabschluß eintrat 21 . Die Lehre Leonards 22 erweiterte den Anwendungsbereich der "culpa in contrahendo" dann zwar erheblich, brachte für die rechtliche Erfassung des Verhandlungsverhältnisses aber keine wesentlichen Neuerungen, dieses wurde weiterhin als vertragsabhängig behandelt. Indem sie auch solche Schadensfälle einbezog, die sich vor Vertragsschluß ereignet hatten, wurde nunmehr für alle Pflichtverletzungen vor Vertragsabschluß gehaftet. Doch sollte das Bestehen der vorvertraglichen Pflichten, ähn18 Diesen Weg beschreitet aber Dölle (ZStW 103, s. 67 ff.); hierauf wird noch ausführlich einzugehen sein (D IV 3 b). 19 Jhering, JherJb. 4, S. 1 ff. 20 Jhering, JherJb. 4, S. 1 (26 ff., 56 ff.). 21 Jhering, JherJb. 4, S. 1 (43). 22 Leonard, SR AT, S. 544 ff. (565); ders., Verschulden bei Vertragsschluß, S. 46 ff.; dieser Lehre schloß sich zunächst die Rechtsprechung an: RGZ 96, S. 58 (60); RGZ 103, S. 47 (50); RG JW 1912, S. 743 (744).

1. Teil: Die "vorvertragliche" Schutzpflicht

lich wie nach Jhering, davon abhängen, daß anschließend der Vertrag abgeschlossen wurde. Diese Lehre Leonards ist zwar schon seit langer Zeit überwunden; wegen der dogmatischen Erkenntnisse, die zur Ablehnung dieser Lehre führten, hat sie aber heute noch eine gewisse Bedeutung. Leonards Konstruktion erwies sich deshalb als anfechtbar, weil sie das Bestehen vorvertraglicher Pflichten von dem späteren Vertragsschluß abhängig machte. Ein solches späteres Ereignis kann aber nicht zur Rechtsbedingung für schon vorher wirkende Pflichten erhoben werden; es können nämlich nur bestehende Pflichten verletzt werden, nicht aber solche, von denen die Beteiligten mangels eines Vertragsschlusses noch gar nichts wissen. Dennoch sollte diese Konstruktion nicht abfällig abgetan werden. Sie ist Ausdruck einer auch heute noch anzutreffenden Grundtendenz, spätere Vorgänge auf vorangegangene Ereignisse zu beziehen, und wird uns im Verlauf dieser Arbeit noch beschäftigen 23 •

2. Das Verhandlungsverhältnis als vom Vertrag losgelöste Rechtsbeziehung Diese dogmatisch nicht haltbare Konstruktion Leonards, Vertrag und Verhandlungen miteinander zu verbinden, gab den Anstoß dazu, das Verhandlungsverhältnis endlich vom Vertrag zu lösen. Doch bereitete die rechtliche Einordnung des nunmehr als selbständig erkannten Verhandlungsverhältnisses noch lange Zeit Schwierigkeiten. Von besonderem Interesse für das heutige Verständnis der "culpa in contrahendo" sind die ähnlich klingenden, in ihrer Grundtendenz aber völlig verschiedenen Kennzeichnungen als "vertragsähnliches Rechtsverhältnis" einerseits und als "vorbereitendes Rechtsverhältnis" andererseits. Die Einordnung als "vertragsähnliches Rechtsverhältnis"24 betont noch die Nähe des Verhandlungsverhältnisses zum Vertrag sowie das Vorhandensein eines dem Vertragsabschluß ähnlichen "Verhandlungstatbestandes" und rechtfertigt hieraus die "vertragsähnliche" Haftung: Einmal bereiteten die Beteiligten durch die Verhandlungen einen rechtsgeschäftlichen Erfolg, den Vertragsabschluß, vor, und zum anderen kämen Verhandlungen, ähnlich wie der Vertragsabschluß zwei korrespondierende Willenserklärungen voraussetze, erst dadurch zustande, daß der Antrag auf Einleitung der Vertragsverhandlungen durch ein entsprechendes Verhalten des anderen Teils angenommen werde 25 • Das "vorbereitende Rechtsverhältnis"26 löst das Verhandlungsverhältnis von solchen rechtsgeschäftlichen bzw. "vertragsähnlichen" KomSiehe unter G IH. Grundlegend RGZ 78, S. 239 ff. ("Linol-Fall"). 25 RGZ 78, S. 239 ff.; RG WarnRspr. 1912, S. 449 = JW 1913, S. 23 ("Metallständer-Fall"); RG JW 1914, S. 759 ("Attrappen-Fall"). 28 Fischbach, ArchbR 41, S. 160 ff. 23

24

D. Das Verhandlungsverhältnis als Sonderverbindung

45

ponenten. Es stellt in den Vordergrund, daß das Handeln der Beteiligten von seinem tatsächlichen Erscheinungsbild her den Vertragsabschluß technisch vorbereite und ähnlich wie die Handlungen, die aufgrund eines Vorvertrages geschähen, eigene Aussagekraft habe und daher ein von dem späteren Vertragsabschluß selbständiges Rechtsverhältnis ausmache. Genau besehen beginnt also schon hier der Streit, ob das Verhandlungsverhältnis "rechtsgeschäftlich" oder "tatsächlich" zu erfassen ist - eine Frage, die in späterer Zeit eine noch viel größere Bedeutung gewinnen sollte27 • Von dieser Tendenz, das Vertragsverhältnis entweder rechtsgeschäftlich oder tatsächlich zu erfassen, ließen sich so dann alle weiteren Versuche, die Eigenständigkeit dieser Rechtsbeziehung zu begründen, leiten. Aus der Vielzahl dieser Konstruktionen soll nur die Lehre Sibers 28 genannt werden, weil bei ihr das Bestreben, das Verhandlungsverhältnis rechtsgeschäftlich zu erklären, besonders stark ausgeprägt ist. Siber wollte nicht erst den Inhalt der Verhandlungen, sondern sogar das ganze Verhandlungsverhältnis rechtsgeschäftlich erfassen. Zu diesem Zwecke nahm er einen "namenlosen Hauptvertrag" an, der die vorvertraglichen Pflichten begründe. Das Angebot, einen Vertrag dieses Inhalts abzuschließen, sah er bereits in dem "Offenhalten einer Verkaufsstelle" ; dieses Angebot richte sich an eine noch unbekannte, also unbestimmte Person, die den Antrag durch das Betreten des fremden Rechtskreises annehme. Diese Lehre mußte daran scheitern, daß sie den Beteiligten einen Gedanken, ja sogar einen rechtsgeschäftlichen Willen unterstellte, den sie regelmäßig gar nicht hatten. Denn wer denkt vor Aufnahme der eigentlichen Verhandlungen schon an vorvertragliche Verhaltenspflichten? Die Beteiligten wollen über den Zielvertrag verhandeln, nicht aber Pflichten regeln, die im Vorfeld des Vertrages liegen29 • Betrachten wir nun das heutige Verständnis der "culpa in contrahendo", so stellen wir fest, daß die herrschende Meinung bei ihrem "gesetzlichen Schuldverhältnis ohne primäre Leistungspflichten"30 rechtsgeschäftliche und tatsächliche Elemente miteinander verbunden, 27 Gemeint ist der Meinungsstreit zu der Frage, ob ein "geschäftlicher" Kontakt erforderlich ist, oder ob ein bloßer "sozialer" Kontakt ausreicht; siehe unter D IV 3 b. 28 Siber, JherJb. 70, S. 223 (260); PZanck I Siber, Vorbem. 4 zu § 241; ähnlich Fürst, LZ 1910, Sp. 177 f.; HiZdebrandt. S. 225 ff. 20 Ablehnend auch Baumert, S. 19 f.; Diers, S. 22; Sticht, S. 17 f.; Levy, JW 1922, S. 1313; StolZ, LZ 1923, Sp. 532 (536). 30 Erman I Battes, § 276 Anm. 108; MK-Emmerich, Vorbem. 86 zu § 275; SoergeZ I Schmidt, Vorbem. 3 zu § 275; Staudinger I Weber, § 242 A 417; Larenz, SR AT, § 9 I, S. 92; ders., Festschrift für Ballerstedt, S. 397 ff.; Koziol, Band II, S. 62; Nirk, Festschrift für Möhring, 1965, S. 385 (392); BGHZ 6, S. 330 (333).

46

1. Teil: Die" vorvertragliche" Schutzpflicht

also gewissermaßen den Mittelweg zwischen den gegensätzlichen Tendenzen eingeschlagen hat. Das rechtsgeschäftliche Element berücksichtigt sie, indem sie das Entstehen des "gesetzlichen Schuldverhältnisses" von einem "rechtsgeschäftlichen Kontakt" der Beteiligten abhängig macht 31 ; der tatsächlichen Verhaltensweise der Beteiligten trägt sie dadurch Rechnung, daß sie dieses "Schuldverhältnis" als "gesetzliches" bezeichnet, und damit herausstellt, daß es auf den Willen der Beteiligten, das Schuldverhältnis zu begründen, nicht ankommt - diese Annahme verbot sich sogar nach Sibers gescheitertem Konstruktionsversuch. Entscheidend ist, daß die Beteiligten tatsächlich Verhandlungen aufgenommen haben, und ihr Verhalten wird nicht auf einen bestimmten Willen hin erforscht; gewisse Pflichten werden vielmehr als bestehend angenommen, weil dies "der Interessenlage" entspricht32 . Wie ist es nun dazu gekommen, daß das Verhandlungsverhältnis als "gesetzliches Schuldverhältnis ohne primäre Leistungspflichten" eingeordnet wurde? Entscheidenden Anteil an dieser Entwicklung hatte Stoll 33 mit seiner bereits erwähnten Unterscheidung von "Schutzund Leistungspflichten". Bevor sich die herrschende Meinung diese Unterscheidung für den vorvertraglichen Bereich nutzbar machte, ging sie davon aus, daß besondere schuldrechtliche Pflichten notwendigerweise "leistungsorientiert", also stets Inhalt oder Ausfluß der vertraglichen Leistungspflicht seien. Stoll zeigte dann jedoch auf, daß nicht alle als "vertraglich" verstandenen Pflichten mit der Leistungspflicht und dem angestrebten Leistungserfolg zusammenhängen müßten. Die "Schutzpflichten" dienten lediglich der Abwehr von Schädigungen, die sich aus der Berührung der beteiligten Rechtskreise ergeben könnten, und seien daher mit der Leistung als vertragsbedingter Austauschbeziehung nicht verknüpft 34 • Daraus wurde sodann gefolgert, daß die nicht leistungsbezogenen Pflichten - da sie ja einen Vertrag nicht voraussetzten - dann auch eigenständig im vorvertraglichen Bereich wirken könnten 35 • Doch ist dieser Gedankengang in einem wesentlichen 81 MK-Kramer, Einl. zu § 241 Anm. 74; Patandt / Heinrichs, § 276 Anm. 6 a; Saerget / Schmidt, Vorbem. 5 zu § 275; Larenz, MDR 1954, S. 515 ff.; Schapp,

Rpfl. 1966, S. 292; BGHZ 66, S. 51 ff. 32 Saerget / Schmidt, Vorbem. 3 zu § 275; MK-Kramer, Einl. zu § 241 Anm. 74; Larenz, SR AT, § 9 I, S. 95; BGHZ 6, S. 330 (333). 33 StaH, Leistungsstörungen, S. 26 ff. 34 StaH, Leistungsstörungen, S. 26 ff. 35 Genau besehen handelt es sich hier auch um die Auswirkungen der vom Reichsgericht vertretenen "vertragsähnlichen Haftung". Das Reichsgericht erkannte Schutzpflichten vor Vertragsschluß insbesondere deshalb an, weil das vorvertragliche Verhältnis "vertragsähnlich" sei und die Beteiligten einander daher dieselbe Sorgfalt schuldeten wie nach Vertragsschluß. Zwar wurde diese vertragsbezogene Betrachtungsweise aufgegeben; gewissermaßen als Relikt blieb aber die Vorstellung, daß die Beteiligten auch im vor-

D. Das Verhandlungsverhältnis als Sonderverbindung

47

Punkt zu beanstanden. Auch wenn es "nichtleistungsbezogene Pflichten" gibt, so bedeutet dies nicht zwangsläufig, daß diese Pflichten im vorvertraglichen Stadium bestehen können. Zuvor wäre dazulegen gewesen, ob die Eigenart des Verhandlungsverhältnisses die Annahme und Anerkennung dieser Pflichten rechtfertigt. Ebensowenig kann eine Beziehung mit dem Hinweis als "Schuldverhältnis" bezeichnet werden, daß besondere schuldrechtliche Pflichten vorlägen; umgekehrt muß vielmehr zunächst einmal festgestellt werden, daß eine Sonderverbindung existiert, die solche Pflichten und damit ein Schuldverhältnis hervorbringt 36 •

3. Zusammenfassung Zusammenfassend läßt sich die Entwicklung der "culpa in contrahendo" zu dem heute gebräuchlichen "gesetzlichen Schuldverhältnis ohne primäre Leistungspflichten" daher wie folgt kennzeichnen: - eine Erklärung durch den nachfolgenden Vertrag war nicht möglich, - das Verhandlungsverhältnis mußte vom Vertrag gelöst werden, - die Kennzeichnung der herrschenden Meinung, das Verhandlungsverhältnis sei ein gesetzliches Schuldverhältnis, ist eine Leerformel; sie ist entstanden, ohne daß zuvor die Eigenarten des Verhandlungsverhältnisses untersucht wurden; es wurde insbesondere nicht gefragt, ob überhaupt die Voraussetzungen für die Annahme eines Schuldverhältnisses vorlagen.

4.

Fo~gen

für die Begründung der im Stadium wirkenden Pf~ichten

vorvertrag~ichen

Diese Unterlassung, die Eigenarten des Verhandlungsverhältnisses herauszuarbeiten, konnte bei den vorvertraglichen Erklärungspf~ichten nicht schaden. Da der Vertrag als Sonderverbindung eine schuldrechtliche Sonderregelung darstellt37 , mußten diejenigen vorvertraglichen Pflichten, die diese in Aussicht genommene Sonderbeziehung unmittelbar betreffen, schon nach natürlichem Rechtsempfinden die Rechtsnatur der vertraglichen Pflichten teilen und folglich als "besondere vertraglichen Stadium wie ein Gläubiger bzw. Schuldner Verhaltensregeln beachten müßten: "Wer einmal Gläubiger oder Schuldner werden will, muß sich schon vorher gemäß Treu und Glauben und unter Berücksichtigung der Verkehrssitte verhalten" (Fikentscher, § 20 III 1, S. 66). Diese Auffassung ließ sich, nachdem das Verhandlungsverhältnis vom späteren Vertragsschluß losgelöst worden war, nur dadurch rechtfertigen, daß gewisse Verhaltenspflichten - entsprechend der Auffassung Stolls - auch unabhängig von einem Vertrag bestehen könnten. Dazu auch: Esser / Schmidt, SR AT, 2. Teilband, § 29 II, S. 96 unten; MK-Kramer, Einl. zu § 241 Anm. 73; Canaris, JZ 1965, S. 475 (476). 36 Diese Begründungsschwäche erkennt auch Frotz, Gedenkschrift für Gschnitzer, S. 163 (170 f.) und Verkehrsschutz, S. 63 ff. 37 Siehe oben unter C III.

48

1. Teil: Die" vorvertragliche" Schutzpflicht

Pflichten" eingeordnet werden. Zu diesen Pflichten, die sich durch einen Bezug zu dem angestrebten Vertrag auszeichnen, zählen die Erklärungspflichten eindeutig; sie halten die Verhandlungsparteien dazu an, sich über alle den Vertragsgegenstand betreffenden Punkte zu erklären, die für die Entschließung des anderen wesentlich sein können. Ihre Einordnung als "besondere Pflichten" hat daher auch nie Bedenken erregt. Diese Möglichkeit, an den angestrebten Vertrag anzuknüpfen, fehlt bei den SchutzpfZichten völlig. Sie haben lediglich den Rechtsgüterschutz zum Inhalt, verfolgen also einen von dem Zielvertrag nicht beeinflußten Zweck. Aus diesem Grunde mußte fast zwangsläufig eine Diskussion darüber beginnen, wie sich diese Schutzpflichten begründen ließen. Hätten jedenfalls die Befürworter der Schutzpflichten aufgezeigt, warum im Verhandlungsstadium ein Schuldverhältnis vorliegt, so hätten sie einen greifbaren Anknüpfungspunkt geschaffen, aus dem sich die Existenz besonderer Schutzpflichten vielleicht begründen ließe38 • Sie "fordern" jedoch vorvertragliche Schutzpflichten, weil dies "der Interessenlage" entspreche, erläutern aber nicht die Besonderheit dieser Interessenlage.

m. Problemstellung Die Entwicklungsgeschichte der "culpa in contrahendo" zeigt also deutlich, daß die herrschende Meinung von unbewiesenen Behauptungen ausgegangen ist, als sie das Verhandlungsverhältnis als Schuldverhältnis einordnete: ihre Darlegungen stehen allesamt unter dem Vorbehalt, daß im vorvertraglichen Stadium tatsächlich eine Sonderverbindung existiert, die besondere schuldrechtliche Pflichten und damit ein Schuldverhältnis hervorbringt. Gleichzeitig wird verständlich, warum die Diskussion um die "culpa in contrahendo" immer noch nicht abgeschlossen ist 39 und warum sich eine breite Gegenmeinung 40 gegen die Annahme besonderer Schutzpflichten wendet - unbewiesene Behauptungen sind stets mit Recht angreifbar. 38

Hiergegen wendet sich auch Fratz, Gedenkschrift für Gschnitzer, S. 163

(171); ders., Verkehrs schutz, S. 65.

39 Siehe hierzu aus der neueren Literatur Larenz, Festschrift für Ballerstedt, S. 397 ff.; Hans Stall, Festschrift für von Caemmerer, S. 435 ff. 40 Nirk, RabelsZ 18, S. 310 (352); Eichter, AcP 162, S. 401 (414 f.); Hans Stall, AcP 176, S. 145 (150 f. Fußn. 21); ders., Festschrift für von Caemmerer, S. 435 (452); Huber, AcP 177, S. 281 ff.; Kreuzer, JZ 1976, S. 778 (780); Rietzter, RabelsZ 5, S. 567 (569 f.); Rabet, S. 158; Hartig, S. 67 f.; Ortner, S. 71 f.; Hildebrandt, S. 134; Faber, S. 67; Titze, HdR VI, S. 516; Cabjolsky, S. 45; Schönemeyer, S. 36 f.; Böhmer, MDR 1961, S. 566 (567); von Cammerer, Festschrift DJT 1960, S. 49 ff.; Pasch, zmv 15 (1974), S. 165 ff.

D. Das Verhandlungsverhältnis als Sonderverbindung

49

Aufgabe dieser Untersuchung muß daher sein, diese Begründungslücke zu schließen und den Grund dafür darzulegen, daß das Verhandlungsverhältnis tatsächlich eine Sonderverbidnung ist, die echte schuldrechtliche Pflichten hervorzubringen vermag. Die sorgfältige Aufzeichnung der Eigenarten des Verhandlungsverhältnisses, die zur Annahme einer Sonderverbindung zwingen könnten, ist gleichzeitig für die Anerkennung oder Ablehnung besonderer Schutzpflichten von großer Bedeutung. Da eine Sonderverbindung nur insoweit der Sonderordnung durch schuldrechtliche Pflichten bedarf, wie dies wegen des für die betreffende Sonderverbindung eigentümlichen Interessenkonfliktes erforderlich ist4 t, lassen sich aus den Eigenschaften, die für die Einordnung des Verhandlungsverhältnisses als Sonderverbindung maßgeblich sein können, auch Hinweise auf das mögliche Entstehen eines Schutzkonfliktes entnehmen, den auszugleichen Aufgabe der Schutzpflichten sein soll. IV. Die Merkmale einer Sonderverbindung

Die Feststellung, ob das Verhandlungsverhältnis tatsächlich eine Sonderverbindung ist, kann nun nicht in der Weise getroffen werden, daß das Verhandlungsverhältnis unter festgefügte "Tatbestandsmerkmale" einer Sonderverbindung subsumiert wird; vielmehr muß erst einmal nach derartigen "Tatbestandsmerkmalen" gesucht werden - die Lehre hat nämlich bislang keine Richtlinien dafür aufgestellt, welche Eigenschaften eine Beziehung aufweisen muß, damit sie als Sonderverbindung bezeichnet werden kann 42 • Leichter ist es schon, eine Anzahl von Rechtsverhältnissen zu benennen, die gewöhnlich als Sonderverbindung qualifiziert werden: alle vertraglichen und gesetzlichen Schuldverhältnisse, das Prozeßrechtsverhältnis43, die Beziehung der öffentlichen Verwaltung zu dem einzelnen Bürger4 4 ; umstritten ist dagegen die Einordnung des nachbarlichen Gemeinschaftsverhältnisses. Es seien weiter wahllos diverse Definitionen der Sonderverbindung genannt, die sich allesamt dadurch auszeichnen, daß sie farblose und inhaltslose Schlagworte, nicht aber praktisch verwertbare "Tatbestandsmerkmale" wiedergeben: Siehe oben unter C, insbesondere unter C IV. Dies erklärt die Scheu der Literatur, sich mit der Frage auseinanderzusetzen, ob die Einordnung des Verhandlungsverhältnisses als "gesetzliches Schuldverhältnis" zutreffend ist (Ansätze dazu bei Thiele. JZ 1967, 41

42

S. 649 (652). 43 Baumgärtel. ZZP 83 (1956), S. 89 (93 ff., 131). 44 Forsthoff. § 10, S. 180 ff. 4 Frost

50

1. Teil: Die" vorvertragliche" Schutzpflicht

jeder soziale Kontakt 45 , ein bestimmtes menschliches Miteinander 46 , durch Rechtsvorschriften geordnete Beziehungen von Personen zu anderen Personen 47 , eine mehr oder minder enge Treubindung zwischen zwei konkreten Personen 48 , jede engere Verbindung als eine gesellschaftliche 49 , ein rechtlich bedeutsames und daher vom Recht bestimmtes Lebensverhältnis, das in einer rechtswirksamen Beziehung von Person zu Person besteht50 •

Schon dieser kurze Überblick zeigt, welch vager Begriff die "Sonderverbindung" geblieben ist - dies wohl deshalb, weil Literatur und Rechtsprechung bis auf die rechtliche Einordnung des nachbarlichen Gemeinschaftsverhältnisses nie einen Anlaß sahen, sich mit der Ausfüllung dieses Begriffs zu beschäftigen. Es scheint, daß die obengenannten Beispiele einer Sonderverbindung ihre rechtliche Einordnung dem Gefühl verdankten, daß diese "Einordnung so richtig sein müsse". 1. Erkenntnisse für die Merkmale einer Sonderverbindung aus dem Meinungsstreit um die Rechtsnatur des nachbarlichen Gemeinschaftsverhältnisses An dem umstrittenen Grenzfall des nachbarlichen Gemeinschaftsverhältnisses kann aufgezeigt werden, welche Qualitäten eine Sonderverbindung haben muß, bzw. welche Eigenschaften nicht ausreichen, denn hier besteht Streit über alle Punkte, die für eine Einordnung als Sonderverbindung möglicherweise maßgeblich sind. Teilweise51 wird in dem nachbarlichen Gemeinschaftsverhältnis generell eine Sonderverbindung gesehen: Die Grundstücksnachbarschaft mache mehr als das nur tatsächliche Zusammenliegen der Grundstücke im Raum aus. Diese tatsächliche Beziehung sei nämlich durch besondere Umstände, insbesondere durch die Pflicht zur gegenseitigen Rücksichtnahme, dermaßen konkretisiert, daß die nachbarlichen Pflichten gegenüber den allgemeinen Verkehrssicherungspflichten erhöht seien. Andere nehmen eine Sonderverbindung zwischen den Nachbarn nur an, wenn die Grundstücke über eine gemeinsame Giebelmauer verfügen 52 : In einem solchen Fall könne nicht mehr von einem bloßen räumlichen Nebeneinander der Nachbarn die Rede sein. Durch die Her45 Dölle, zstw 103, S. 67 ff.; Btomeyer, SR AT, S. 72; Barth, S. 61 f.; Baumert, S. 28 f. 46 Fechner, S. 23 f. 47 Elger, S. 9; Geiß, S. 11; Sticht, S. 39. 48 Böhmer, MDR 1961, S. 566. 49 Ehwald, S. 5. 50 Enneccerus / Nipperdey, BGB AT, 1. Halbband, § 71, S. 427; ähnlich von Tuhr, AcP 121, S. 359 (360). 51 Müht, NJW 1960, S. 1133 (1136); Erman / Westermann, § 909 Anm. 2. 52 Weitnauer, DNotZ 1966, S. 764; Korbion / Scherer, G 31; Medicus, Bürger!. Recht, § 32 IV Anm. 799; Palandt / Bassenge, § 922 Anm. 5; Heck, SR,

§ 52, S. 225; OLG Düsseldorf, NJW 1959, S. 580 f. und NJW 1965, S. 539 (541).

D. Das Verhandlungs verhältnis als Sonderverbindung

5l

stellung der gemeinsamen Grenzeinrichtung seien ihre Beziehungen besonders ausgestaltet und dermaßen intensiviert worden, daß auch das Gesetz diese Rechtsbeziehung für regelungsbedürftig gehalten habe. Indem das Gesetz in § 922 Abs. IV BGB auf die Vorschriften über die Gemeinschaft verweise, zeige es auf ein zwischen den Nachbarn bestehendes Schuldverhältnis hin. Heiseke 53 betont in diesem Zusammenhang, daß sich die Rechtskreise der Eigentümer nicht im gegensätzlichen Sinne berührten, wenn eine Kommunmauer vorliege. Die Nachbarn hätten vielmehr ein zweckbestimmtes, gleichgerichtetes Interesse an der Erhaltung der Giebelmauer. Ihr Verhältnis könne entweder als Gemeinschaft im Sinne der §§ 741 ff. BGB oder aber ganz allgemein als schuldrechtliche Sonderverbindung gekennzeichnet werden, die dem gemeinsamen Willen und Interesse beider Partner entspringe. Überwiegend 54 wird jedoch angenommen, daß das bloße Nebeneinander von Grundstücken nicht ausreiche, um zwischen den Nachbarn eine Sonderverbindung zu schaffen: Das Nachbarschaftsverhältnis beschränke zwar die Rechtsausübung gegenüber dem Nachbarn in bestimmtem Umfang, erzeuge aber keine weitergehenden schuldrechtlichen Ansprüche. Auch eine enge tatsächliche Lebensgemeinschaft, wie sie bei dem Vorliegen einer gemeinsamen Giebelmau2r gegeben sei, begründe noch keine Rechtsgemeinschaft und damit keine Sonderverbindung 55 • Zwar seien die widerstreitenden Interessen nach Treu und Glauben auszugleichen; doch sei diese Rechtsbeziehung, die durch den Anbau an die gemeinsame Giebelmauer entstanden sei, ausschließlich dinglicher Natur. Den Beteiligten werde ausschließlich ein gemeinschaftliches Nutzungsrecht eingeräumt, und dieses sachenrechtliche Rechtsverhältnis werde nicht dadurch zu einer schuldrechtlichen Beziehung, daß das Gesetz in § 922 Abs. IV BGB auf einige Vorschriften des Rechtes der Gemeinschaft verweise 56 • Dieser Streit um die Einordnung der sich aus dem Nachbarrecht ergebenden Konfliktsfälle braucht hier nicht entschieden zu werden; insbesondere die Auseinandersetzung um die gemeinsame Giebelmauer betrifft arteigene Sonderfragen57 • Zutreffend ist aber die Ansicht, daß Heiseke, MDR 1961, S. 461 ff. Palandt I Bassenge, Vorbem. 2 d aa vor § 903; Gläser I Dräschel, S. 89; Scherer, DRiZ 1963, S. 49; Schultz, MDR 1955, S. 260 ff.; RGZ 132, S. 52; 53

54

RGZ 167, S. 14 (24); BGHZ 28, S. 110 (114); BGHZ 42, S. 373 (377); BGH VersR 1958, S. 834 (835); BGH VersR 1965, S. 689. 55 BGHZ 42, S. 373 (380); LG Dortmund, MDR 1955, S. 202 (203); OLG Köln, NJW 1965, S. 539 (540); Hodes, NJW 1965, S. 539 (540). 5& BGHZ 42, S. 373 (380); LG Dortmund, MDR 1955, S. 202 (203). 57 Hier geht es insbesondere darum, welches Gewicht die Verweisung des § 922 Abs. IV BGB auf die Vorschriften des Rechtes der Gemeinschaft (§§ 741 ff.) hat.

1. Teil:

52

Die "vorvertragliche" Schutzpflicht

das bloße Nebeneinander der Nachbarn keine schuldrechtliche Sonderverbindung hervorbringe; diese räumliche Nähe erzeugt lediglich eine äußere Verbindung. Das OLG Köln58 führt hierzu mit Recht aus, daß die Beziehung zwischen Grundstücksnachbarn keine andere sei wie die zwischen verschiedenen Mietern desselben Hauses. In der Tat ist es den Mietern wie Nachbarn letztlich gleichgültig, ob und welche Personen in ihrer Nähe wohnen. Die Betreffenden haben zwar ortsgebundene Berührungspunkte, sie wollen aber nichts miteinander zu tun haben - dies ist jedoch, wie noch ausführlich zu zeigen sein wird 59 , die typische Interessenlage des Deliktsrechts; für besondere Pflichten ist hier daher kein Raum. Ungeachtet der arteigenen Sonderprobleme des Nachbarrechts ergeben sich aber aus diesem Meinungsstreit für die uns interessierende Frage, welche Umstände für das Entstehen einer Sonderverbindung bedeutsam sind, folgende allgemeine Lehren: - Es ist erforderlich, daß die Beteiligten durch einen bestimmten Lebenssachverhalt, wie ihn im Nachbarrecht die enge räumliche Beziehung darstellt, zusammengeführt werden. - Dieses Zusammenführen muß weitergehend sein als ein bloßes enges Nebeneinander. - Die zeitliche Dauer sowie die gegenständliche Nähe dieses Nebeneinanders besagen nichts über die Intensität einer Beziehung. Dies zeigt sich gerade im Nachbarrecht: Auch wenn ein Nachbarschaftsverhältnis jahrzehntelang andauert und wenn sogar die Lebensbereiche der Nachbarn in enger räumlicher Berührung stehen - das Verhältnis zwischen den Nachbarn erfährt durch diese äußeren Elemente keine grundlegende Änderung. - Auch eine allgemeine Pflicht zur Rücksichtnahme, wie sie unter Nachbarn besteht, ist nicht geeignet, die Beteiligten im Sinne einer Sonderverbindung miteinander zu "verbinden". Dies folgt bereits aus dem Wesen der Rücksichtnahme. So trifft den Nachbarn zwar die Pflicht, sich in der Entfaltung seiner Interessen einzuschränken, soweit die Belange des Nachbarn beeinträchtigt werden. Diese Rücksichtnahme verfolgt aber den Zweck, die betroffenen Rechtskreise zu trennen. Es soll ein widerstreitendes überlappen beider Rechtskreise vermieden werden, Reibungsflächen sollen beseitigt und dem Entstehen tiefgreifender Berührungspunkte soll vorgebeugt werden. Der Inhalt der allgemeinen Pflicht zur Rücksichtnahme ist also das Wahren einer distanzierten Haltung und entspringt letztlich Art. 2 GG. Diese Betrachtung des nachbarlichen Gemeinschaftsverhältnisses gibt damit zwar keinen Aufschluß darüber, welche Qualitäten eine Sonder58 59

OLG Köln, NJW 1963, S. 1831 (1832); auch BGH NJW 1974, S. 1189. Siehe unter D IV 2 und 3.

D. Das Verhandlungsverhältnis als Sonderverbindung

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verbindung haben muß; sie zeigt aber, welche Eigenschaften für die Annahme einer Sonderverbindung nicht ausreichen. Dies sind: - die enge räumliche Nähe - das langanhaltende Nebeneinander - die allgemeine Rücksichtnahme, die nicht als "Hinwendung", sondern als Distanzwahrung zu werten ist. Diese Feststellung erlaubt jedoch den Umkehrschluß, daß an die Stelle der "engen räumlichen Nähe" eine "enge innere Interessenverknüpfung" und an die Stelle des "Nebeneinanders" ein "Miteinander" treten muß. Weiter ist erforderlich, daß die Distanzhaltung, die der allgemeinen Pflicht zur Rücksichtnahme zueigen ist, einer positiven Hinwendung weicht.

2. Die rechtsgeschäfaiche "Bindung" als intensivste Form einer selbstbestimmten Regelung von Rechtsbeziehungen Auf welche Weise diese Voraussetzungen des "Sich-Verbindens" erfüllt werden können, soll an dem Beispiel des Vertragsschlusses gezeigt werden. Der Vertragsschluß erzeugt zwar nicht nur eine Sonder"Verbindung", sondern sogar eine rechtsgeschäftliche "Bindung" und ist, unter dem Gesichtspunkt der selbstbestimmten Regelung von Rechtsbeziehungen betrachtet, sicher die intensivste Form einer Sonderverbindung. Ausgehend vom Vertrag kann aber der "Mindesttatbestand", der für das Zustandekommen einer Sonderverbindung erforderlich ist, zurückverfolgt werden. Ein Vertragsschluß setzt zunächst voraus, daß die Parteien ihre Isolation, ihr bloß vom Deliktsrecht erfaßtes "Nebeneinander" aufgeben60 • Um ihr gemeinsames Ziel, den Abschluß eines Vertrages erreichen zu können, müssen sie sich aufeinander einstellen61 • Die Freiheit, die eigenen Angelegenheiten ohne Rücksicht auf andere erledigen zu können, weicht dem Zwang, die eigenen Vorstellungen von der Erbringung der Leistung mit denen des "Partners" in Einklang bringen zu müssen62 , 63; es müssen jetzt die Bedingungen des Vertragsabschlusses und der Vertragsdurchführung ausgehandelt werden. Auf diese Weise wird das bisherige " Nebeneinander " zu einem "Miteinander", und dieses "Miteinander" beeinflußt das Handeln der Beteiligten solange maßgeblich, bis der abgeschlossene Vertrag durchgeführt ist. Zwar ist der Entschluß, dieses Miteinander zu schaffen, freiwillig; er

Bogusch, S. 55. Höxter, S. 21. 82 In diesem Sinne auch Dömpke, S. 15 f.; Tammena, S. 33; Esser, JZ 1952, S. 257 (258). 83 Zu den Handkäufen siehe Fußn. 64. 80

61

64

1. Teil:

Die "vorvertragliche" Schutzpflicht

entwickelt sich aber mit der Abgabe der Willenserklärungen zu einer rechtsgeschäftlichen Bindung. Diese Bindung kann nicht mehr mit dem Bemerken, doch lieber in die vorherige Beziehungslosigkeit zurückkehren zu wollen, abgestreift werden. Dies zeigt, daß der Lebenssachverhalt des Vertragsschlusses die Parteien nicht nur miteinander "verbindet", sondern sogar aneinander "fesselt". Dieses Zusammenführen ist ungleich intensiver als die zeitliche Dauer eines Nebeneinanders oder die gegenständliche, äußere Nähe, die statische Begriffe wie Zeit und äußere Nähe betreffen; hier geht es um die lebendigen Interessen der Beteiligten. Der Vertragsschluß entspricht dem Interesse des einen Partners, der etwa einen Gegenstand verkaufen will, und dem korrespondierenden Interesse des anderen Partners, gerade diesen Gegenstand erwerben zu wollen. Unabhängig von diesen abweichenden Einzelvorstellungen sind jedoch die Interessen beider darauf gerichtet, sich über den Vertragsschluß zu einigen und den Vertrag entsprechend den Vereinbarungen abzuwikkeIn - diese Interessen bilden gewissermaßen den "gemeinsamen Nenner" des beidseitigen HandeIns. Da die Beteiligten also nunmehr zu einer Zusammenarbeit gezwungen sind, können sie auch nicht mehr ihr uneingeschränktes Eigenleben führen. Um den Leistungsaustausch zu ermöglichen, müssen sie ihre Rechtskreise dem anderen öffnen und müssen eine teilweise Verschmelzung der beteiligten Rechtskreise zulassen 64 • Dieses notwendige Öffnen des Rechtskreises verlangt von den Beteiligten eine Disposition, ein aktives Tätigwerden, das sich in einer Hinwendung in Richtung auf den anderen, in einem Zugänglichmachen der eigenen Rechtssphäre ausdrückt. Die Barrieren, die zum Schutz des eigenen Rechtskreises aufgebaut worden waren, werden gelockert, und die Distanzhaltung, die der allgemeinen Pflicht zur Rücksichtnahme zueigen war, wird aufgegeben. An ihre Stelle tritt die teilweise Verschmelzung der beteiligten Rechtskreise, die auf dem Willen beider beruht und die der Erreichung eines gemeinsamen Ziels dient - dem Vertragsschluß und der Vertragsdurchführung. 64 In vielen Fällen, insbesondere beim Handkauf, ist diese Rechtskreisverschmelzung allerdings auf ein Minimum reduziert. Da Ware gegen Geld ausgehändigt wird, erschöpft sich die Rechtskreisberührung der Vertragspartner in dem kurzzeitigen Betreten eines Geschäftes. Die hier eintretende Sonder-"Verbindung" ist zwar nur flüchtig und von kurzer Dauer. Rechtstechnisch ist die Bezeichnung "Sonderverbindung" aber dennoch gerechtfertigt. Der minutenschnelle Austausch der Leistungsbeiträge beruht nämlich lediglich darauf, daß die gattungsmäßige Beschaffenheit sowie der Einzelpreis des betreffenden Gegenstandes von vornherein feststehen und der Käufer - regelmäßig schon vor Betreten des Geschäftes - nur darüber entscheidet, wie viele Stücke der betreffenden Ware er kaufen will. Kommen hinsichtlich eines dieser Faktoren Zweifel auf, so ergibt sich auch hier die Notwendigkeit, durch Aushandeln einen Interesseneinklang zu erzielen.

D. Das Verhandlungsverhältnis als Sonderverbindung

55

Die rechtsgeschäftliche Bindung des Vertragsschlusses zeichnet sich also durch folgende Merkmale aus: _. Die Beteiligten geben zur Erreichung eines gemeinsamen Ziels, des Vertragsschlusses und der Vertragsdurchführung, ihre Isolation auf, die allein nach den Regeln des Deliktsrechts zu beurteilen ist. - An die Stelle des Nebeneinanders, die sich durch die Freiheit auszeichnet, die eigenen Angelegenheiten ohne Rücksicht auf den anderen regeln zu können, tritt ein "Miteinander". - Dieses Miteinander ist durch die Abstimmung des beidseitigen Verhaltens geprägt und beruht auf dem gemeinsamen Interesse, sich über den Vertragsschluß zu einigen und den abzuschließenden Vertrag entsprechend den getroffenen Vereinbarungen abzuwickeln. - Da die Parteien bei Abschluß des Vertrages rechtsgeschäftlich bindende Willenserklärungen abgeben, werden sie nicht nur miteinander "verbunden", sie werden sogar aneinander "gefesselt". Inhalt dieser Bindung ist die Verpflichtung zum Austausch der vertraglich vereinbarten Leistung. - In tatsächlicher Hinsicht wird diese Bindung durch eine Verschmelzung der beteiligten Rechtskreise offenkundig. Der Austausch der Leistungen setzt voraus, daß die Beteiligten ihre Rechtskreise öffnen und dem "Partner" die eigene Rechtssphäre zugänglich machen. - Dieses Öffnen der Rechtskreise beruht zwar auf der rechtsgeschäftlichen Verpflichtung zum Leistungsaustausch; die Verpflichtung selbst wird aber freiwillig eingegangen. Sie beruht auf dem Willen beider Beteiligter und dient der Erreichung des gemeinsamen Ziels, den abgeschlossenen Vertrag vereinbarungsgemäß durchzuführen.

3. Der "Mindesttatbestand" einer Sonderverbindung Nun können die Merkmale, die den Lebenssachverhalt des Vertragsschlusses prägen, nicht als allgemeiner Maßstab für das Zustandekommen einer Sonderverbindung gelten, da die rechtsgeschäftliche "Bindung" eben nur eine notwendige und typische Besonderheit des Vertrages ist. Dies führt zu der Frage, welches Maß an "Abstimmung" für das Entstehen einer "gewöhnlichen" Sonderverbindung erforderlich, aber auch ausreichend ist. Dabei muß - insbesondere mit Rücksicht auf die oben behandelten gesetzlichen Schuldverhältnisse - nach einer weniger intensiven Form der "Verbindung" gesucht werden, als dies die rechtsgeschäftliche Bindung darstellt. a) Die "Zuordnung" als wesentliches Element einer Sonderverbindung Hier ergibt sich nun eine Nutzanwendung der oben entwickelten Strukturmerkmale besonderer schuldrechtlicher Pflichten. Wir haben gesehen 65 , daß besondere schuldrechtliche Pflichten den Konflikt ausgleichen sollen, der wegen der Zuordnung von gemeinsam betroffenen 85

Siehe oben unter C IV.

1. Teil: Die "vorvertragliche" Schutzpflicht

66

Interessen an einem Gegenstand, Geschäft oder Leistungsbeitrag besteht. Dann muß eine solche Zuordnung aber auch gleichzeitig der Tatbestand sein, der die Beteiligten zu einer Sonderverbindung zusammenführt. Wenn nämlich die schuldrechtliche Sonderordnung alle Fragen regeln soll, die sich im Zusammenhang mit einer Sonderverbindung ergeben, und wenn diese Fragen eine stattgefundene Zuordnung betreffen, so ergibt sich aus dieser Aufgabe schuldrechtlicher Pflichten, daß die Zuordnung das verbindene Element einer Sonder"Verbindung" ausmacht. Auch Forsthoff66 meint eine solche "Zuordnung", wenn er die mindere Intensität eines verwaltungsrechtlichen Rechtsverhältnisses gegenüber einem Vertragsverhältnis dem Umstand entnimmt, daß die Beteiligten lediglich "koordiniert" seien. Ist aber eine " Zuordnung " die wesentliche Entstehungsvoraussetzung einer Sonderverbindung, so muß nunmehr gefragt werden, was die Merkmale einer verbindenden Zuordnung sind und wodurch sie sich von einer rein deliktischen Berührung unterscheidet. Eine "Zuordnung" stellt eine weniger intensive Aufgabe der abwehrbereiten Isolation dar, als sie bei der rechtsgeschäftlichen "Bindung" vorliegt. Sie ist gekennzeichnet durch ein " Miteinander " und beinhaltet daher die Forderung und die Feststellung einer gewissen Überschneidung der beteiligten Rechtskreise 67 • Eine derartige Verschmelzung der Rechtskreise kann mit Rücksicht auf übereinstimmende Geschäfts- und Vermögensinteressen erfolgen; sie kann aber auch in einem körperlichen Kontakt von Rechtsgütern bestehen. Bei einer körperlichen Rechtskreisberührung läßt sich das "Miteinander" an Tatsachen ablesen; geht es dagegen um Vermögens- und Geschäftsinteressen, so läßt sich regelmäßig nur aufgrund einer rechtlichen Wertung feststellen, ob eine Überschneidung der beteiligten Rechtskreise vorliegt. Beispiele für ein tatsächliches "Miteinander" stellen die gesetzlichen Schuldverhältnisse dar, die auf dingliches Recht Bezug nehmen68. Dort folgt ein "Miteinander" daraus, daß Besitz und Eigentum an einer Sache auseinanderfallen. Bei einer Geschäftsführung ohne Auftrag kann dieses "Miteinander" sowohl an den tatsächlichen Gegebenheiten als auch aufgrund einer Wertung abzulesen sein: "Tatsächlich" ist dieses "Miteinander" dann, wenn das Geschäft in einer Tathandlung besteht; aus einer "rechtlich-wertenden Betrachtung" ergibt sich dieses "Miteinander", wenn sich erst aus der Willensrichtung des Geschäftsführers feststellen läßt, daß ein fremdes Geschäft wahrgenommen werden soll. Ein Vertragsschluß ist dagegen das typische Beispiel eines "rechtlichwertenden Miteinander". Eine rechtsgeschäftliche Bindung stellt zu86

87 88

Forsthoff, § 10, S. 180.

In diesem Sinne auch Höxter, S. 21. Siehe unter C 1.

D. Das Verhandlungsverhältnis als Sonderverbindung

57

nächst nur eine Interessenverknüpfung dar und sieht ein Leistungsprogramm vor, das auf die Zukunft angelegt ist. An Tatsachen wird dieses "Miteinander" jedoch dort nachvollziehbar, wo es mit Rücksicht auf das Leistungsprogramm zu einer körperlichen Berührung der beteiligten Rechtskreise kommt. Gemeinsam ist all diesen Zuordnungstatbeständen, daß sie eine Zuwendung der Beteiligten beinhalten. Diese Zuwendung fehlt bei einer deliktischen Berührung. Das Deliktsrecht setzt nämlich die Neutralität aller Menschen voraus. Als unbeteiligte Dritte stehen sie sich lediglich in einem tatsächlichen "Nebeneinander" gegenüber69 • Ihre Rechtskreise sind durch Barrieren abgeschirmt, die entweder das Gesetz oder sie selbst aufgebaut haben. Jede Verquickung der Rechtskreise ist unerwünscht, solange keine ausdrückliche Einwilligung vorliegt. Die verbindende Zuwendung steht im Gegensatz zu dieser starren Abkapselung der Rechtskreise, die Folge der auf der Ebene des Deliktsrechts bestehenden Beziehungslosigkeit ist. Sie ist Ausdruck der Handlungsfreiheit, die unser Recht dem Einzelnen einräumt; er hat die Wahl, ob er sich dem anderen zuwenden oder ob er sich weiterhin isolieren will. Seine Wahl ist aber nicht allein entscheidend. Genauso bedeutsam ist die Reaktion desjenigen, den er ansprechen will. Nimmt dieser seine Zuwendung an, so stehen dem Abbau der zum Selbstschutz errichteten Schutzbarrieren keine Hindernisse mehr entgegen; lehnt er jedoch die Zuwendung des anderen ab, dauert die Isolation beider fort. Mißachtet nun einer der Beteiligten diesen fortbestehenden Isolationswillen, so berührt er den fremden Rechtskreis gegen den Willen des Rechtskreisträgers; dies macht sein Vorgehen widerrechtlich, und die Rechtsordnung wertet sein Verhalten als unerlaubte Handlung. Die Rechtskreisberührung geschieht nur dann nicht widerrechtlich, wenn der andere seinen Rechtskreis willentlich öffnet. Dazu bedarf es eines offenkundigen Entgegenkommens, das auf dem natürlichen Willen beruht, überhaupt die Öffnung herbeiführen zu wollen. Ein rechtsgeschäftlicher Verpflichtungswille oder gar eine bereits vollzogene rechtsgeschäftliche Bindung ist nicht erforderlich. b) Die Herstellung einer verbindenden Zuordnung und ihre Abgrenzung zur rechtmäßigen deliktischen Berührung Dies führt zu der Frage, wie Berührungen auf der Ebene des Deliktsrechts, die wegen der Einwilligung des einen Rechtskreisträgers nicht widerrechtlich sind, von unserer durch eine verbindene Zuwendung geprägten überschneidung zweier Rechtskreise abzugrenzen sind. Hinweise zu diesem Abgrenzungsproblem lassen sich den sogenannten 68

Bogusch, S. 55.

f>8

1. Teil: Die "vorvertragliche" Schutzpflicht

"Kontaktlehren" entnehmen, die sich unter engerem Blickwinkel mit der Frage aussetzen, wann eine Rechtsgüterberührung besondere Schutzpflichten entstehen läßt. Ausgehend von der - zutreffenden - Erkenntnis, daß die eigentlichen Verhandlungen und der Inhalt des angestrebten Vertrages keinen inhaltlichen Einfluß auf die Schutzpflichten ausüben, gelangte DöHe zu der Ansicht, daß bereits jeder "soziale Kontakt" Schutzpflichten entstehen lasse 70 . Ein solcher "sozialer Kontakt" liege bereits bei jeder bewußten Rechtsgüterberührung vor, die der Erreichung eines bestimmten, von der Rechtsordnung nicht mißbilligten Zweckes diene 71 • Zur Begründung besonderer Schutzpflichten sei eine solche Rechtsgüterberührung deshalb geeignet, weil bei jedem "sozialen Kontakt" besonderes Vertrauen dadurch entgegengebracht werde, daß die eigenen Rechtsgüter dem Einfluß des anderen ausgesetzt würden 72 . Zufällige Kontakte, wie sie bei gesellschaftlichen Einladungen stattfänden, ließen jedoch keine Schutzpflichten entstehen, "weil der Zweck keine Haftung fordere"73. Dagegen erfüllt das Verhandlungsverhältnis nach der Auffassung Dölles die an einen "sozialen Kontakt" zu stellenden Voraussetzungen, so daß während der Verhandlungen Schutzpflichten zu beachten seien74 . Diese Lehre vom "sozialen Kontakt" läßt viele Fragen offen. Insbesondere ist unklar, wie eine solche Vertrauenshaftung in das Rechtssystem eingeordnet werden soll. So soll dieser "vertrauensgetragene Kontakt" Schutzpflichten hervorbringen, die ein "konkretes Schuldverhältnis" darstellen 75 . Doch ist ein irgendwie geartetes Vertrauen, wie an anderer Stelle erörtert76 , zur Begründung schuldrechtlicher Pflichten nicht geeignet, und darüber hinaus existiert auch kein allgemeiner Rechtssatz des Inhalts, daß haftungsbegründendes und damit rechtlich erhebliches Vertrauen immer dann gewährt wird, wenn jemand seine Rechtsgüter dem Einfluß eines anderen aussetzt. Vielmehr ist für eine solche "Vertrauenshaftung" erst Raum, wenn zwischen den Beteiligten eine Sonderverbindung besteht, weil wegen der jetzt anwendbaren Vorschrift des § 242 BGB77 nach Treu und Glauben ein bestimmtes Verhalten zu beobachten ist und hierauf auch vertraut 70 Däne, ZStW 103, S. 67 ff.; ihm folgend Baumert, S. 28 f.; Barth, S. 61 f.; Blomeyer, SR AT, S. 72. 71 Dälle, ZStW 103, S 67 ff. (84). 72 Däne, ZStW 103, S. 67 (74). 73 Dälle, zStW 103, S. 67 (77). 74 Däne, ZStW 103, S. 67 (74 ff.). 75 Däne, ZStW 103, S. 67 (85). 78 Siehe oben unter D I. 77 MK-Roth, § 242 Anm. 1, 55; Palandt / Heinrichs, § 242 Anm. 1 c; Siebert I Knopp, § 242 Anm. 17; Erman / Sirp, § 242 Anm. 19, 21.

D. Das Verhandlungsverhältnis als Sonderverbindung

59

werden kann 78 . Weiter muß gefragt werden, welcher Wertungsmaßstab über Haftung oder Nichthaftung aus "sozialem Kontakt" entscheiden soll, wenn der "Zweck" bei gesellschaftlichen Begegnungen angeblich keine Haftung fordere, obwohl doch auch hier eine ebenso große Einflußmöglichkeit besteht, wie bei Verhandlungskontakten. Doch zwingt der Einwand, daß eine solche von Dölle befürwortete "Vertrauenshaftung" nur bei bestehenden Sonderverbindungen eingreifen kann, nicht gleichzeitig zu dem Schluß, daß der von dieser Lehre für maßgeblich erachtete "bestimmte, von der Rechtsordnung nicht mißbilligte Zweck" dann auch keine Bedeutung für das Zustandekommen einer Sonderverbindung haben kann. Schließlich würde der Versuch, das Merkmal eines solchen "Zweckes" in Beziehung zu dem Entstehungstatbestand einer Sonderverbindung zu setzen, lediglich eine aus der Lehre vom "sozialen Kontakt" gewonnene Erkenntnis nutzbar machen und diese Lehre also in einen gänzlich anderen Zusammenhang stellen. Es ist nämlich in der Tat zu bedenken, daß die vorherige abwehrbereite Isolation nicht ohne Grund aufgegeben wird. Jede Rechtsgüterberührung, die zu einer verbindenden Verschmelzung der beteiligten Rechtskreise führt, bringt auch erhöhte Gefahren für die betroffenen Rechtsgüter mit sich, weil - wie Dölle 7u zu Recht dargelegt hat - eine erhöhte Einflußmöglichkeit auf diese Rechtsgüter besteht. Diese Gefahren sind nicht so gering einzuschätzen, daß sie für den Entschluß, die bestehende abwehrbereite Isolation zu verlassen, ohne Einfluß wären. Sie werden daher nur in Kauf genommen, wenn mit der Rechtskreisberührung ein besonderer Zweck verfolgt wird, der die mit der Berührung verbundenen Gefahren in der Vorstellung der Beteiligten zurücktreten läßt. Fraglich ist nur, ob - wie von Dölle80 vertreten - "jeder von der Rechtsordnung nicht mißbilligte Zweck" ausreicht, oder ob die Berührung "geschäftlichen Zwecken" dienen muß, wie dies Larenz 81 annimmt. Larenz entwickelte das Merkmal des "geschäftlichen Kontaktes" aus einer angeblichen inneren Beziehung zwischen der Schutzpflicht und der Vorschrift des § 278 BGB82: Da das Hauptanliegen der 78 79

80

81

Dazu im einzelnen unter E III 2 b und unter G.

DäHe, ZStW 103, S. 67 (73 ff.). DäHe, ZStW 103, S. 67 (84). Larenz, MDR 1954, S. 515 ff.; auf seinen überlegungen zum "geschäft-

lichen Kontakt" beruht die heute herrschende Auffassung, daß das Sc..h.uldverhältnis der Vertragsverhandlungen einen Kontakt auf geschäftlicher Ebene voraussetze: Palandt / Heinrichs, § 276 Anm. 6 a; Soergel / Schmidt, Vorbem. 5 zu § 275; Erman / Battes, § 276 Anm. 108; Schopp, Rpfl. 1966, S. 292; BGHZ 66, S. 51 ff.; MK-Kramer, Einl. zu § 241 Anm. 74. 82 Larenz, MDR 1954, S. 515 (518); ihm in dieser Begründung folgend Schleeh, S. 77 ff.

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1. Teil: Die "vorvertragliche" Schutzpflicht

Schutzpflichten darin zu sehen sei, diese Vorschrift anwendbar zu machen, könnten Schutzpflichten nur in dem Umfang bestehen, wie dies mit dem Rechtsgedanken des § 278 BGB vereinbar sei. Daher müsse auch im Hinblick auf die Schutzpflichten berücksichtigt werden, daß § 278 BGB nur an ein Handeln aus geschäftlichem Interesse, die Erweiterung des Geschäftskreises durch den Einsatz von Gehilfen, eine strengere Haftung knüpfe, und demzufolge sei für die Annahme besonderer Schutzpflichten erforderlich, daß der Kontakt aus geschäftlichem Interesse erfolgt sei. Diese Beschränkung auf "geschäftliche Kontakte" ist indessen schon in ihrem Ausgangspunkt nicht haltbar. § 278 BGB wird nämlieh nicht schon dadurch anwendbar, daß eine Rechtskreisberührung aus geschäftlichem Interesse geschieht; diese Vorschrift setzt vielmehr voraus, daß bereits eine Sonderverbindung mit besonderen schuldrechtlichen Pflichten entstanden ist, zu deren Erfüllung ein Gehilfe eingesetzt wird 83 • Solche schuldrechtliche Pflichten brauchen aber weder geschäftlichen noch rechtsgeschäftlichen Interessen zu dienen; sie können, wie bei dem gesetzlichen Schuldverhältnis zwischen Eigentümer und Grunddienstbarkeitsberechtigten, auch in der bloßen Pflicht zur Rücksichtnahme bestehen84 • Darüber hinaus muß eine bestehende Sonderverbindung - wie die Beispiele des Fundes, des Eigentümer-BesitzerVerhältnisses 8s sowie des verwaltungsrechtlichen Rechtsverhältnisses zeigen - jedenfalls nicht begriffsnotwendig durch rechtsgeschäftliche oder geschäftliche Elemente beeinflußt oder geprägt sein. Doch auch bei Sonderverbindungen, die wie die Geschäftsführung ohne Auftrag eine rechtsgeschäftliche Tätigkeit zum Inhalt haben können, macht der "geschäftliche Zweck" nicht das einzig denkbare Zuordnungselement aus. Wie bereits erwähnt8S , muß das übernommene Geschäft nicht unbedingt ein Rechtsgeschäft sein; es kann vielmehr auch in einer bloßen Tathandlung bestehen. Vor allem übernimmt der auftragslose Geschäftsführer die Tätigkeit hauptsächlich in dem Bestreben, dem Geschäftsherrn - aus welchen Gründen auch immer - dienlich zu sein, nicht aber, weil es ihm auf den Aufwendungsersatz ankommt und er "geschäftliche Interessen" verfolgt. Für den Vertragsschluß ist der "geschäftliche Zweck" hingegen notwendigerweise das maßgebliche Zuordnungselement; Zweck des Vertragsschlusses ist nämlich stets die rechtsgeschäftliche Bindung, die den Austausch bei beidseitigen Leistungsbeiträge ermöglichen soll. 83 Palandt / Heinrichs, § 278 Anm. 1 b; Soergel/ Schmidt, § 278 Anm. 4 ff.; Erman / Battes, § 278 Anm. 1 f.; Staudinger / Löwisch, § 278 Anm. 3 f. 84 85 86

Siehe oben unter C I, 1. Fallgruppe. Siehe oben unter C I, 5. Fallgruppe. Siehe oben unter eIl sowie unter D IV 3 a.

D. Das Verhandlungsverhältnis als Sonderverbindung

61

Besondere Bedeutung erlangt die Frage, ob nur ein "geschäftlicher Zweck" die Zuordnung bewirkt, aber bei den uns interessierenden Verhandlungsverhältnissen. Sicher kann von einem "geschäftlichen Zweck" des Kontaktes dann die Rede sein, wenn die Beteiligten in die eigentlichen Verhandlungen eingetreten sind. Kann aber mit der gleichen Selbstverständlichkeit ein "geschäftlicher Zweck" auch dann angenommen werden, wenn jemand ein Geschäft, einen Selbstbedienungsladen, ein Kaufhaus lediglich betritt und noch nicht feststeht, ob er überhaupt etwas kaufen will? Larenz87 sieht hierin ein Beweisproblem und meint, daß der erforderliche "geschäftliche Zweck" auch bei "möglichen Kunden"88 gegeben sei. Damit weicht er aber der Frage aus, warum auch bei "möglichen geschäftlichen Zwecken", die sich nicht in Verhandlungen ausdrücken, bereits eine Sonder-"Verbindung" zustandekommen kann; zwischen "möglichem geschäftlichen Zweck" und "Verbindung" besteht nämlich ein gewisser gedanklicher Widerspruch, weil eine "Verbindung" die Vorstellung einer unbedingten und nicht nur "möglichen" Zuwendung erweckt. Wenn aber das Rechtsgefühl tatsächlich fordern sollte, daß diese Personen echten Verhandlungspartnern gleichgestellt werden und Sonderverbindungen auch unabhängig von einem "geschäftlichen Zweck" entstehen können, so bedeutet dies, daß eine verbindende Zuordnung dann auch durch einen anderen als einen unbedingt "geschäftlichen Zweck" herbeigeführt werden kann und daß für den "Mindesttatbestand" einer Sonderverbindung ein weniger spezieller "Zweck" ausreicht. Fragt man nun entsprechend dieser Erkenntnis, unter welchen Oberbegriff die "Zwecke" zu fassen sind, die mit den eingangs behandelten Sonderverbindungen verfolgt werden, so zeigt sich, daß diese Sonderverbindungen nach der Art ihrer Zielsetzung in zwei Gruppen einzuteilen sind. Die eine Gruppe bilden Sonderverbindungen, bei denen beiden Teilen oder auch nur einem Partner aus der Zuwendung Vorteile erwachsen sollen, und die ihr Ende finden, sobald dieses Ziel erreicht ist. Diese Sonderverbindungen lassen sich dementsprechend als "Sonderverbindungen mit positiver Zielsetzung" kennzeichnen89 . Zu dieser Gruppe zählen die Geschäftsführung ohne Auftrag, der Fund und der Vertragsschluß. Beim Vertragsschluß ist diese positive Zielsetzung, weil sie beide Teile betrifft, am ausgewogensten: Ziel des Vertragsschlusses ist der Austausch der beidseitigen Leistungsbeiträge, und gerade hiervon versprechen sich beide Teile Nutzen und Vorteile. Zur Erreichung dieses Zieles ist - wie sich etwa an der Zug-um-Zug-Leistung, in ande87

88 89

Larenz, MDR 1954, S. 515 (518).

Zu dem Begriff des "möglichen Kunden" ausführlich unter J IV. MK-Kramer, Einl. zu § 241 Anm. 85 Fußn. 198, verweist auf einen ähn-

lichen Begriff ("Zielschuldverhältnis") im österreichischen Recht.

62

1. Teil: Die "vorvertragliche" Schutzpflicht

ren Fällen an der Vorleistungspflicht des einen Teils zeigt - ein echtes Zusammenwirken der Beteiligten und damit eine Aufgabe der abwehrbereiten Isolation notwendig. Geschäftsführung ohne Auftrag und Fund zeichnen sich ebenfalls durch diese positive Zielsetzung aus, weisen gegenüber dem Vertrag aber die Besonderheit auf, daß nur ein Teil (der Geschäftsführer bzw. der Finder) aktiv tätig wird. In der Regel bleibt bei einem solchen einseitigen Tätigwerden die abwehrbereite Isolation deshalb bestehen, weil der Betreffende lediglich seine eigenen Belange wahrnehmen will. Hier dient das Handeln des Geschäftsführers bzw. des Finders jedoch nicht dem eigenen Interesse; er wird vielmehr "für" einen anderen tätig, und gerade an einem solchen fremdnützigen Tätigwerden wird die Aufgabe der starren Abwehrhaltung besonders deutlich. Dem anderen wird diese Zuwendung des Geschäftsführers bzw. Finders auch nicht aufgedrängt; da sie in seinem Interesse bzw. nach seinem wirklichen oder mutmaßlichen Willen geschieht, ist auch von seiner Seite das Bestreben, die zum Selbstschutz errichteten Schutzbarrieren zu erhalten, gebrochen. Der Unterschied zu einer bloßen Berührung auf der Ebene des Deliktsrechts ist bei diesen "Sonderverbindungen mit positiver Zielsetzung" besonders stark ausgeprägt9o • Bei rechtmäßigen deliktischen Berührungen fehlt eine gemeinsame oder fremdnützige Zuwendung; das Handeln des einen Teils dient eigenen Zwecken, und das Verhalten des anderen trägt den Charakter eines passiven Duldens, das ungeachtet der Berührung die auf Isolation bedachte starre Abwehrhaltung nicht aufgeben will. Hier bestätigt sich also, welche hervorragende Rolle der "Zweck" der Rechtskreisöffnung für die Feststellung spielt, ob sich die beteiligten Rechtskreise auf der deliktischen Ebene oder in Form einer Sonder-"Verbindung" überschneiden. Nur eine Rechtskreisberührung, die eine gemeinsame oder fremdnützige positive Zielsetzung aufweist, führt zu einer tatsächlichen Zuwendung der Beteiligten und damit zu einer verbindenden Überschneidung der betreffenden Rechtskreise. Die Rechtskreise stehen nun nicht mehr neutral nebeneinander; der gemeinsame Wille und die verfolgte positive Zielsetzung schafft die für eine Sonderverbindung erforderliche Zuordnung. Diese positive Zielsetzung lassen alle die Sonderverbindungen vermissen, die auf ein dingliches Recht Bezug nehmen D1 • Dies erklärt sich daraus, daß das verbindende "Miteinander", das sich in einer doppelten Zuordnung einer Sache zeigt, bereits durch die tatsächlichen Verhältnisse vorgegeben ist. Ziel dieser Sonderbindungen kann daher auch nur sein, 90 Hiervon ist die Frage zu trennen, woran deliktische Handlungen zu erkennen sind, die sich während der Dauer einer Sonderverbindung ereignen; dazu ausführlich unter H. 91 Siehe oben unter C 1.

D. Das Verhandlungs verhältnis als Sonderverbindung

63

der besonderen Gestaltung dieser tatsächlichen Verhältnisse Rechnung zu tragen; aus diesem Grunde macht aber eine systematische Abgrenzung zu den rechtmäßigen deliktischen Berührungen, die ebenfalls in einem tatsächlichen, aber nicht "verbindenden Miteinander" bestehen können, jetzt größere Schwierigkeiten als bei den vorgenannten "Sonderverbindungen mit positiver Zielsetzung". Es ist jedoch zu bedenken, daß sich eine Berührung auf der deliktischen Ebene in der Möglichkeit erschöpft, auf fremde Rechtsgüter "einzuwirken". Bei den Sonderverbindungen, die auf ein dingliches Recht Bezug nehmen, erreicht die bloße Einwirkungsmöglichkeit eine ungleich höhere Intensität, weil der Betreffende die fremde Sache jetzt in Besitz hat und daher sogar Nutzen aus der Sache ziehen kann 92 • So darf der Berechtigte einer Grunddienstbarkeit beispielsweise eine bestimmte Fläche benutzen; Nießbraucher und Besitzer können Früchte ziehen; der Pfandgläubiger darf die ihm übergebene Sache bei Pfandreife verwerten. Wir haben nun gesehen 93 , daß aus dieser besonderen Konstellation, bei der Eigentum und Besitz auseinanderfallen, die verbindende Zuordnung folgt. Weiter haben wir erkannt94, daß diese doppelte Zuordnung einer Sache deshalb verbindende Wirkungen hat, weil sich zwischen Eigentümer und Besitzer ein auf den betreffenden Gegenstand bezogener Interessenkonflikt ergibt. Hieraus folgt aber, daß das Ziel dieser Sonder"Verbindungen" dann sein muß, einen möglichst gerechten Interessenausgleich zu schaffen. Die Verwirklichung dieses Ziels hat der Gesetzgeber den Beteiligten dadurch erleichtert, daß er in zahlreichen Vorschriften die Rechte und Pflichten der Beteiligten festgelegt und nur in einzelnen Fällen eine abweichende Vereinbarung der Beteiligten zugelassen hat. Dient die verbindende Verknüpfung aber lediglich dazu, die Beteiligten zur gegenseitigen Rücksichtnahme anzuhalten sowie ihre Rechte und Pflichten im Hinblick auf die betreffende Art der Zuordnung konkreter gegeneinander abzugrenzen, so läßt diese Beobachtung die Feststellung zu, daß diesen Sonderverbindungen eine "negative Zielrichtung" eigentümlich ist. Eine solche negative Zielsetzung von Sonderverbindungen steht der deliktischen Ebene deshalb nahe, weil die dort feststellbare Isolation ebenfalls von dem Bestreben geleitet ist, die Rechte und Pflichten der Rechtskreisträger gegeneinander abzugrenzen. Ein wesentlicher Unterschied zwischen diesen Sonderverbindungen, die auf ein dingliches Recht Bezug nehmen, und den rein deliktischen Begegnungen ist jedoch in der Regelungsmaterie begründet: Die tatsächlichen Verhältnisse müssen in der Weise gestaltet sein, daß eine vom Eigentümer 92

93 94

Siehe oben unter C I, Zusammenfassung am Ende. Siehe oben unter C I, Fallgruppen 1. - 5. Siehe oben unter C I, Zusammenfassung am Ende.

64

l. Teil: Die "vorvertragliche" Schutzpflicht

verschiedene Person nicht nur eine bloße, vielleicht nur theoretische "Einwirkungsmöglichkeit" auf die für ihn fremde Sache hat; vielmehr muß eine doppelte Zuordnung der Sache vorliegen, die ihm weiter~ gehend sogar eine Nutzungsmöglichkeit verschafft. Entsprechend dieser an rein tatsächlichen Umständen orientierten Abgrenzung von "Sonderverbindungen negativer Zielsetzung" und deliktischen Begegnungen kommt dem "Zweck" hier ein sehr viel geringeres Gewicht zu als bei den "Sonderverbindungen mit positiver Zielrichtung". Der "Zweck" wird erst dann bedeutsam, wenn die tatsächliche Zuordnung eines Gegenstandes bereits bewirkt worden ist. c) Zusammenfassung Zusammenfassend bleibt damit folgendes festzuhalten: Bei dem von uns gesuchten Mindesttatbestand einer Sonderverbindung ist zwischen "Sonderverbindungen mit positiver Zielsetzung" und "Sonderverbindungen mit negativer Zielsetzung" zu unterscheiden. Diese Unterscheidung hat aber nur für das Zustandekommen der betreffenden Sonderverbindung Bedeutung; das Erscheinungsbild einer bereits existenten Sonderverbindung ist dagegen ungeachtet der verschiedenen Zielsetzung stets gleich: Die abwehrbereite Isolation, die sich in einem "Nebeneinander" der Rechtskreise widerspiegelt, ist einem "Miteinander" gewichen, das durch eine verbindende Zuordnung der betreffenden Rechtskreise geprägt ist. Die Zielsetzung der angestrebten Sonderverbindung entscheidet nun darüber, welche Eigenschaften eine verbindende Zuordnung der Rechtskreise aufweisen muß. In jedem Fall setzt eine solche verbindende Zuordnung aber voraus, daß die Beteiligten ihre Rechtskreise öffnen und eine Verschmelzung der betreffenden Rechtskreise zulassen. Bei "Sonderverbindungen mit positiver Zielsetzung" wird die Verbindung der Rechtskreise wie folgt herbeigeführt: - die Rechtskreisöffnung muß einem gemeinsam verfolgten Ziel dienen, - aus der Erreichung dieses Zieles erwachsen entweder allen beteiligten Rechtskreisträgern oder auch nur einem Teil Nutzen und Vorteile, - dieses Ziel "verbindet" und zwingt zur Aufgabe der bisherigen abwehrbereiten Isolation, weil das betreffende Ziel nur durch ein gemeinsames Zusammenwirken oder durch ein fremdnütziges Tätigwerden eines anderen erreicht werden kann. Bei den "Sonderverbindungen mit negativer Zielsetzung" kommt dem "Zweck" der Rechtskreisöffnung eine weniger große Bedeutung zu, weil das für die Sonderverbindung erforderliche "Miteinander" bereits durch die tatsächlichen Verhältnisse vorgegeben ist:

D. Das Verhandlungsverhältnis als Sonderverbindung

65

- der Eigentümer muß seinen Rechtskreis in der Weise öffnen, daß der Besitz einer ihm gehörenden Sache von einer anderen Person ausgeübt werden kann, - diese Person muß eine so große Einwirkungsmöglichkeit auf die Sache haben, daß sie die Sache sogar nutzen bzw. verwerten kann, - diese doppelte Zuordnung einer Sache verbindet die Beteiligten mit "negativer Zielrichtung", weil die Rechte und Pflichten der Beteiligten gerade wegen dieser intensiven tatsächlichen Berührung gegeneinander abzugrenzen sind. Diese gefundenen Merkmale für eine Sonderverbindung stehen auch im Einklang mit den obenD5 aufgestellten Forderungen, die sich als Umkehrschluß aus den allgemeinen Lehren des Nachbarrechts ergaben: - an die Stelle des "Nebeneinander" ist ein "Miteinander" getreten, - die enge räumliche Nähe ist der engen inneren Interessenverknüpfung, dem gemeinsamen Verfolgen eines bestimmten Zweckes, gewichen, - die distanzierte Rücksichtnahme wurde durch eine positive Hinwendung in Richtung auf den anderen ersetzt. Verglichen mit den Sonderverbindungen, die eine "positive Zielsetzung" aufweisen, hat die Gruppe von "Sonderverbindungen mit negativer Zielsetzung" für die praktische Nutzanwendung jedoch eine sehr viel geringere Bedeutung. Dies ergibt sich zwangsläufig daraus, daß der Kreis der dinglichen Rechte und damit auch die Anzahl der Sonderverbindungen, die auf ein dingliches Recht Bezug nehmen, begrenzt ist. "Sonderverbindungen mit positiver Zielsetzung" sind dagegen stets anzunehmen, wenn Personen in der genannten Weise zur Erreichung eines bestimmten Zieles zusammenwirken, und auch das uns interessierende Verhandlungsverhältnis könnte - mangels einer Bezugnahme auf dingliche Rechte - nur zu dieser Gruppe von Sonderverbindungen gehören. Diese Strukturmerkmale "verbindender Berührungen" sind jetzt auch so gefestigt, daß eine Abgrenzung zu rechtmäßigen deliktischen Berührungen keine Schwierigkeiten mehr macht. Zwar geht rechtmäßigen deliktischen Berührungen - wie wir gesehen haben - ebenfalls eine einverständliche Öffnung der beteiligten Rechtskreise voraus. Doch dient diese Öffnung keinen gemeinsamen oder fremdnützigen Zwecken. Auch wenn einem anderen die Einwirkung auf die eigenen Rechtsgüter ermöglicht wird, bleibt daher die abwehrbereite Isolationshaltung gewahrt. Das Handeln des anderen wird lediglich "geduldet", ohne daß es zu einem Zusammenwirken oder einem fremdnützigen Tätigwerden für diesen anderen kommt.

g5

Siehe oben unter D IV 1.

5 FrO! t

66

1. Teil:

Die "vorvertragliehe" Schutzpflicht

V. Subsumtion des Verhandlungsverhältnisses unter diesen "Mindesttatbestand" einer Sonderverbindung

Nachdem nunmehr der gesuchte "Mindesttatbestand" für eine Sonderverbindung vorliegt, kann die Frage entschieden werden, ob das Verhandlungsverhältnis als Sonderverbindung angesehen werden kann. Wie bereits bemerkt, könnte das Verhandlungsverhältnis mangels Bezugnahme auf ein dingliches Recht nur zu der Gruppe von Sonderverbindungen gehören, die eine "positive Zielsetzung" aufweisen. Also müßte die Aufnahme der Verhandlungen das bisherige auf der Ebene des Deliktsrechts bestehende "Nebeneinander" zu einem "Miteinander" gemacht haben, das sich durch eine zweckbestimmte Zuordnung der beteiligten Rechtskreise auszeichnet. Die für eine solche Zuordnung erforderliche Rechtskreisöffnung zeigt sich in der Einladung eines Verhandlungspartners an einen anderen Rechtskreisträger, sich von seinen Angeboten einen Eindruck zu verschaffen und zu diesem Zwecke seinen Rechtskreis aufzusuchen. Eine solche Einladung macht es nämlich stets erforderlich, daß der Einladende dem anderen seinen Rechtskreis zugänglich macht. Entweder muß der Einladende Geschäfts- oder Vermögensinteressen preisgeben, oder er muß, wenn es zu einer unmittelbaren Berührung mit dem anderen kommt, Leben und Eigentum dem Einfluß des anderen aussetzen. Diese Zuwendung des Einladenden hat der andere Rechtskreisträger auch billigend entgegengenommen, denn seine Bereitschaft, die Angebote des anderen zu überprüfen, zeigt sich darin, daß er dessen Rechtskreis betritt. Dabei muß auch er seine Interessen preisgeben, insbesondere bringt er seine Rechtsgüter, wie Leben und Eigentum, in die Rechtssphäre des anderen ein, und ermöglicht diesem eine Einwirkung. Weiter muß dieser Abbau der beidseitigen Schutzbarrieren zu einer verbindenden Verschmelzung der beteiligten Rechtskreise führen, die der Erreichung eines gemeinsam verfolgten Zweckes dient. Insoweit ist festzustellen, daß die Einwirkungsmöglichkeiten der Beteiligten nicht zufällig sind. Sie wollen den Kontakt miteinander und verfolgen mit diesem Kontakt das Ziel, einen intensiven Gedanken- und Interessenaustausch herbeizuführen. Sie wollen sich die Möglichkeit verschaffen, die Angebote des anderen zu überprüfen und die eigene Verhandlungsposition darzulegen. Fernziel dieses Kontaktes ist der Vertragsschluß; gleichgültig aber, ob dieses Ziel aufgrund der durchgeführten Verhandlungen erreicht wird, ist in jedem Fall erforderlich, daß die Beteiligten durch die Überprüfung ihrer Angebote und die Darlegung ihrer Verhandlungspositionen zusammenwirken. Dieses gemeinsame Zusammenwirken führt dazu, daß die Rechtskreise der Beteiligten nicht mel}r

D. Das Verhandlungs verhältnis als Sonderverbindung

67

neutral nebeneinander stehen. Der gemeinsame Wille und der von den Beteiligten gemeinsam verfolgte Zweck, zur Aufnahme von Verhandlungen zusammenzutreffen, ordnet ihre Rechtskreise einander zu und erzeugt die Sonderverbindung des Verhandlungsverhältnisses. Damit ist die zu entscheidende Frage beantwortet: das Verhandlungsverhältnis ist als Sonderverbindung zu qualifizieren und läßt sich zusammenfassend wie folgt kennzeichnen: - an die Stelle des abwehrbereiten "Nebeneinanders" tritt ein "Miteinander", das auf die überprüfung der beidseitigen Angebote gerichtet ist, - dieser übereinstimmende Wille und Zweck verknüpft die Interessen der Beteiligten miteinander, - in tatsächlicher Hinsicht führt diese Interessenverknüpfung zu einer Hinwendung der Beteiligten, die sich in einem Öffnen ihrer Rechtskreise zeigt und eine überschneidung dieser Rechtskreise bedingt. Will man nun den Zweck, der die Beteiligten bei dieser verhandlungsbedingten Sonderverbindung einander zuordnet, schlagwortartig konkretisieren, so kann man hier von einem "geschäftlichen Zweck" sprechen. Damit tut sich aber nur eine scheinbare Parallele zu der auf Larenz 96 zurückgehenden Lehre vom geschäftlichen Kontakt 97 auf, die das Entstehen des vorvertraglichen gesetzlichen Schuldverhältnisses damit rechtfertigt, daß die Beteiligten wegen ihres "geschäftlichen Kontaktes" Sorgfalts- und Rücksichtspflichten zu beachten hätten. Nach der hier vertretenen Ansicht ist der "geschäftliche Zweck", die beidseitigen Angebote zu überprüfen, nämlich nur einer der Zwecke, die mit einer Sonderverbindung positiver Zielsetzung verfolgt werden können. Entscheidend ist, daß die Beteiligten überhaupt ein gemeinsames Ziel anstreben und mit Rücksicht hierauf eine verbindende Verschmelzung ihrer Rechtskreise zulassen. Diese enge Beziehung zwischen "Zweck" und "Sonderverbindung", die als allgemeiner Grundsatz und nicht nur als Besonderheit des Verhandlungsverhältnisses zu beachten ist, hat die Lehre vom geschäftlichen Kontakt bislang nicht erkannt. Für sie war der "geschäftliche Zweck" des Kontaktes das alleinentscheidende Element, das es rechtfertigte, die Beteiligten mit Sorgfalts- und Rücksichtspflichten zu belasten; das Zwischenglied "Sonderverbindung" wurde höchstens am Rande erwähnt98 , obwohl besondere schuldrechtliche Pflichten nur innerhalb einer nach einer Sonderordnung verlangenden Sonderverbindung wirken und nicht allein isoliert auf irgendeinen Zweck gestützt Larenz, MDR 1954, S. 515 (518); ders., SR AT, § 9 I, S. 91 ff. Palandt I Heinrichs, § 276 Anm. 6 a; Soergell Schmidt, § 275; Erman I Battes, § 276 Anm. 108; Schopp, Rpfl. 1966, Kramer, Einl. zu § 241 Anm. 74; BGHZ 66, S. 51 ff. 98 Larenz, SR AT, § 9 I, S. 92. 96

97

5*

Vorbem. 5 zu S. 292 f.; MK-

1. Teil: Die "vorvertragliche" Schutzpflicht

68

werden können. Daher mag man im Zusammenhang mit dem vorvertraglichen gesetzlichen Schuldverhältnis zwar weiterhin von dem "geschäftlichen Zweck" sprechen, den die Beteiligten verfolgen, sollte aber stärker betonen, daß dieser Zweck in erster Linie für das Entstehen der Sonderverbindung bedeutsam ist, die die vorvertraglichen Pflichten hervorbringt. An dieser Stelle soll noch kurz auf den Einwand eingegangen werden, das Verhandlungsverhältnis könne deshalb keine Sonderverbindung sein, weil die Verhandlungen jederzeit sanktionslos abgebrochen werden könnten 99 • Hier ist zu bedenken, daß ein Zwang, einmal begonnene Verhandlungen unbedingt zu Ende führen zu müssen, nicht dem Sinn eines "Verhandelns" entspricht. Für ein "Verhandeln" ist gerade die Freiheit des Vertragsabschlusses typisch. Da noch keine rechtsgeschäftliche "Bindung", sondern nur eine "Verbindung" besteht, kann die Rechtsstellung des Verhandlungspartners daher noch gar nicht in der Weise gefestigt sein, daß sich ein Abbruch der Verhandlungen verbietet oder Sanktionen nach sich zieht10o • Im übrigen kann ein Abbruch der Verhandlungen nicht die Eigenart der zuvor begründeten Rechtsbeziehung zerstören; diese kann nicht einfach "weggewischt" werden. Sobald eine Beziehung die Merkmale einer Sonderverbindung erfüllt, wird sie zu einem rechtlich erheblichen "Rechtsverhältnis". Dieses kann zwar für die Zukunft, nicht aber für die Vergangenheit aus der Welt geschafft werden 101 •

E. Die Schutzpflichten als durch den Zuordnungstatbestand der - verhandlungsbedingten - Sonderverbindung geprägte schuldrechtliche Pflichten Die Feststellung, daß das Verhandlungsverhältnis als Sonderverbindung einzuordnen ist, hat für die uns interessierende Frage, ob die Schutzpflichten echte schuldrechtliche Pflichten sind, folgende Bedeutung: - Es steht jetzt fest, daß das Verhandlungsverhältnis wegen seines Charakters als Sonderverbindung der Regelung durch besondere schuldrechtliche Pflichten bedarf, - die Schutzpflichten würden zu den notwendigen schuldrechtlichen Pflichten dieser verhandlungsbedingten Sonderverbindung gehören, wenn sie die Strukturmerkmale besonderer, in einer Sonderverbindung wirkender Pflichten aufweisen. Damit ist gleichzeitig die weitere Aufgabenstellung dieser Arbeit umrissen. Anhand der oben 1 entwickelten Strukturmerkmale besonOrtner, S. 70; Jakoby, S. 34; Steffen, S. 29. Mühlich, S. 58/59; Stöcker, S. 63; Ottensmeyer, S. 45. 101 Bogusch, S. 58. 99

100

E. Qualifizierung als echte schuldrechtliche Pflicht

69

derer schuldrechtlicher Pflichten muß nunmehr entschieden werden, ob die Schutzpflichten diesem Bild entsprechen und als schuldrechtliche Pflichten einzuordnen sind. Zur Verdeutlichung sei nochmals an die Definition der Schutzpflicht erinnert, wie sie von deren Befürwortern2 vertreten wird: Die Schutzpflicht soll eine "kraft Gesetzes"3 entstehende besondere Pflicht des einen Verhandlungspartners gegenüber dem anderen Partner sein, ihn vor solchen Schäden an Körper, Eigentum und sonstigen Rechtsgütern zu bewahren, die aus der Gefährlichkeit seiner Rechtssphäre herrühren.

Dem seien die Strukturmerkmale besonderer, in einer Sonderverbindung wirkender schuldrechtlicher Pflichten gegenübergestellt, an denen zu messen ist, ob die Einordnung der Schutzpflicht als besondere verhandlungsbedingte Pflicht zu Recht geschehen ist 4 : - eine Sonderordnung durch besondere schuldrechtliche Pflichten ist erforderlich, soweit es wegen des verbindenden Zuordnungstatbestandes zu einem Konflikt zwischen den Beteiligten kommen kann, - besondere schuldrechtliche Pflichten sind entweder gegenstands- oder personenbezogen, - sie bezwecken den Ausgleich der Interessen, die durch die konkrete Art der Zuordnung berührt werden, - ihr Inhalt ist wegen dieser Zielsetzung durch die Art der Zuordnung geprägt.

L Der Sdlutzkonmkt einer verhandlungsbedingten Sonderverbindung

Unter Berücksichtigung der oben genannten Definition der Schutzpflicht ist daher als erstes zu fragen, ob es gerade wegen des verbindenden Zuordnungstatbestandes des Verhandlungsverhältnisses zu einem Konflikt kommt, der es erforderlich macht, die Schutzinteressen des anderen zu beachten. Wie wir gesehen habenS, zählt das Verhandlungsverhältnis zu den "Sonderverbindungen mit positiver Zielsetzung". Der verbindende Siehe oben unter C IV. Canaris, JZ 1965, S. 475 ff.; Thiele, JZ 1967, S. 649 ff.; Gerhardt, JZ 1970, S. 535 ff.; ders., JuS 1970, S. 597 ff.; Eike Schmidt, Nachwort, S. 131 (144 ff.); Baumert, S. 40; Diers, S. 59; Kober, S. 10; Holz, S. 34, 43; Meyer, S. 7; Fischer, S. 65; Dömpke, S. 55 Fußn. 124 a; Geiß, S. 23; Sommer, S. 22; Krasser, S. 29; Zweig, S. 13 ff.; Paterna, S. 2; Schulze, S. 27 f.; erodel, S. 4; Staege, S. 3; Schönwald, S. 18; Koerfer, S. 64; Stöcker, S. 104; Steinberg, S. 90; Ottensmeyer, S. 40, 42; Kruse, S. 13 f.; Bogusch, S. 44, 55 f.; Ehwald, S. 4; Schultz, S. 68; Esser, JZ 1952, S. 257 (259); RG JW 1937, S. 2651; BGH NJW 1962, S. 31 f.; BGHZ 66, S. 51 (54). 3 Die Kennzeichnung "kraft Gesetzes" besagt, daß die Entstehung der Schutzpflichten nicht von dem Parteiwillen abhängt, sondern allein durch die Tatsache der Kontaktaufnahme bedingt ist: Larenz, SR AT, § 9 I, S. 95; MK-Kramer, Ein!. zu § 241 Anm. 74; BGHZ 6, S. 330 (333). 4 Siehe oben unter C IV. 5 Siehe oben unter D V. 1

2

70

1. Teil: Die "vorvertragliche" Schutzpflicht

Zuordnungstatbestand dieser Sonderverbindungen zeichnet sich dadurch aus, daß beide Teile ihre Rechtskreise öffnen und ihre Rechtsgüter dem Einfluß des anderen preisgeben, um im Zusammenwirken mit diesem das von ihnen gemeinsam angestrebte Ziel zu erreichen. Dieses Ziel ist bei einem Verhandlungsverhältnis die Überprüfung der beidseitigen Angebote mit dem Fernziel eines Vertragsschlusses, bei bereits vollzogener rechtsgeschäftlicher Bindung der Austausch der beidseitigen Leistungsbeiträge. Doch hat dieser verbindende Zuordnungstatbestand nicht nur positive Seiten. Gerade weil er notwendigerweise eine Rechtskreisöffnung bedingt, bringt er auch Gefahren für die Beteiligten mit sich. Daraus, daß sich deren Rechtsgüter mit Rücksicht auf die eingegangene "Verbindung" berühren, kann sich ein Konflikt ergeben - die Verletzung dieser Rechtsgüter. Diese Gefahr ist vorhersehbar, die Art des Konfliktes jedoch nicht. Die Beteiligten wissen aber, daß die Rechtsgüter des anderen unter Abbau der zum Selbstschutz errichteten Schutzbarrieren ihrer Einwirkung ausgesetzt sind; auch sind sie sich darüber im klaren, daß sie die positive Zuwendung des anderen nicht dadurch ausnutzen dürfen, daß sie dessen Rechtsgüter verletzen. Als Kehrseite dieser Zuwendung, die mit der Entblößung dieser Schutz barrieren einhergeht, ist der andere nämlich nicht nur verstärkt angreifbar; da seine entblößende Zuwendung ausschließlich dem von beiden Teilen gemeinsam verfolgten Zweck dient, ist er auch in besonderem Maße schützenswert und schutzbedürftig. Damit läßt sich also feststellen, daß der verbindende Zuordnungstatbestand von "Sonderverbindungen mit positiver Zielsetzung" in der Tat einen Konflikt schafft, der die Beteiligten wegen der notwendigen Rechtskreisöffnung in besonderem Maße schützenswert und schutzbedürftig macht. ß. Bedarf dieser Konflikt eines Ausgleichs durch besondere schuldrechtIiche Pflichten in Form von Schutzpflichten?

Dies führt zu der zweiten Frage, die entsprechend den gefundenen Strukturmerkmalen besonderer schuldrechtlicher Pflichten gestellt werden muß: Bedarf dieser Konflikt eines Ausgleichs durch besondere schuldrechtliche Pflichten in Form von Schutzpflichten? Vergegenwärtigt man sich in diesem Zusammenhang den Meinungsstreit um die Rechtsnatur der Schutzpflichten6, so drängt sich der Eindruck auf, daß Anerkennung oder Ablehnung besonderer Schutzpflkhten mehr oder minder auf der persönlichen Wertung der jeweiligen 6

Siehe oben unter A.

E. Qualifizierung als echte schuldrechtliche Pflicht

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Autoren beruhen. Sicher weist die Schutzpflicht, wie sie deren Befürworter verstehen, gewisse inhaltliche Parallelen mit der deliktischen Pflicht auf. So beinhaltet die Schutzpflicht neben der Pflicht, fremde Vermögensinteressen zu beachten, auch das Gebot, absolute Rechtsgüter nicht zu verletzen, und sie umfaßt, indem sie auf der Verantwortung für den eigenen Rechtskreis aufbaut, ebenfalls den Anwendungsbereich der Verkehrssicherungspflicht7. Eine gewisse inhaltliche Parallelität mit den deliktischen Pflichten ist jedoch auch den Obhutspflichten und den Pflichten zu Schutzmaßnahmen eigentümlich, die der Gesetzgeber in den Vorschriften der §§ 545, 550, 618, 701 BGB ausdrücklich als besondere schuldrechtliche Pflichten ausgewiesen hat. So bezweckt die mietvertragliche Obhutspflicht den Schutz von fremdem Eigentum, nämlich der Mietsache; der Dienstberechtigte ist nach § 618 BGB mit der Pflicht belastet, Schutzmaßnahmen für Leben, Gesundheit und EigentumS des Dienstverpflichteten zu treffen, und der Gastwirt haftet aus dem Gesichtspunkt, daß er die Verantwortung für die Gefahrlosigkeit seines Rechtskreises trägt 9, ohne Verschulden für Schäden, die dem Gast an von ihm eingebrachten Sachen entstehen. Hier haben sich jedoch nie Zweifel hinsichtlich der Rechtsnatur dieser Pflichten erhoben. Warum soll diesen "Schutzpflichten im engeren Sinne" dann aber nicht im Wege der Rechtsfortbildung eine allgemeinere schuldrechtliche Schutzpflicht hinzugefügt werden können? Daß überhaupt eine Regelungslücke besteht, zeigt das umfangreiche System der "vertraglichen Nebenpflichten", deren Nichtbeachtung zu einer positiven Vertragsverletzung führtl°; der Gesetzgeber hat eben nicht überall bedacht, daß bei Sonderverbindungen wegen der notwendigen Verschmelzung der beteiligten Rechtskreise auch andere Konflikte entstehen können, als solche, die primäre Leistungspflichten betreffen l l . Dies gilt in besonderem Maße für das Verhandlungsverhältnis, das überhaupt keine primären Leistungspflichten aufweist, wegen seines Charakters als Sonderverbindung aber dennoch einer Sonderordnung durch besondere schuldrechtliche Pflichten bedarf. Die Art dieser Pflichten zu bestimmen, hat der Gesetzgeber hier ausdrücklich der Wissenschaft überlassen12. Schteeh, S. 53; Berger, S. 42; Mühlich, S. 22; Hildebrandt, S. 119, 134, 222. Zur Erweiterung des § 618 BGB auf das Eigentum des Dienstverpflichteten: Staudinger I Nipperdey, § 618 Anm. 3, 31. 9 Soergell Müht, § 701 Anm. 1; Staudinger I Nipperdey, Vorbem. 8 zu § 701; Larenz, SR BT, § 59, S. 330; RGRK-Denecke, Vorbem. 2 zu § 701, § 701 Anm. 2. 10 Dazu ausführlich im 2. Teil, 1. Abschnitt C III 1. 11 Erman I Battes, § 276 Anm. 87; MK-Roth, § 242 Anm. 182; Esser I Schmidt, SR AT, 2. Teilband, § 29 I, S. 94. 12 Motive, Band I, S. 195; Motive, Band H, S. 745; Delius, DJZ 1914, S. 206; Dietz, RabelsZ 1962, S. 181 (189). 7

8

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1. Teil: Die "vorvertragliche" Schutzpflicht

Voraussetzung für die Anerkennung einer solchen schuldrechtlichen Schutzpflicht ist allerdings, daß der aufgezeigte Schutzkonflikt, der bei "Sonderverbindungen mit positiver Zielrichtung" notwendigerweise aus der Rechtskreisöffnung folgt, den Wertungsmaßstäben entspricht, die den Gesetzgeber in §§ 545, 550, 618, 701 BGB zur ausdrücklichen Anerkennung von Schutzpflichten veranlaßt haben.

1. Die Wertungsmaßstäbe des Gesetzgebers bei §§ 545, 550, 618, 701 BGB Bei der Frage danach, von welchen Wertungsmaßstäben sich der Gesetzgeber bei der Schaffung dieser Vorschriften hat leiten lassen, fällt schon bei einer oberflächlichen Betrachtung auf, daß es sich in allen Fällen um solche Interessenkonflikte handelt, die sich aus der verstärkten Einwirkungsmöglichkeit auf fremde Rechtsgüter ergeben:

§§ 545, 550 BGB betreffen die Obhutspflicht des Mieters. Mit der Vermietung einer Sache ist stets eine Rechtskreisöffnung von besonderer Intensität verbunden. Der Vermieter überläßt dem Mieter den Besitz der Mietssache, ohne zu wissen, ob der Mieter aufgrund seiner persönlichen Einstellung bereit ist, sein Eigentum zu achten 13 • Er begibt sich damit gleichzeitig jeder weiteren Einflußmöglichkeit auf die betreffende Sache 14 ; er kann nicht kontrollieren, ob der Mieter die Wohnung regelmäßig säubert, ob er bei Regen die Fenster schließt. Umgekehrt erlangt der Mieter eine ungehinderte Einwirkungsmöglichkeit auf die fremde Sache 15 ; er darf sie benutzen, er kann sie aber auch beschädigen oder gar zerstören und würde damit dem Interesse des Vermieters, die Mietsache in gutem Zustand erhalten zu sehen, zuwiderhandeln. Der Gesetzgeber hat nun vor diesem Interessenkonflikt, der sich aus dem Auseinanderfallen von Eigentum und Besitz ergibt, nicht die Augen geschlossen; er hat ihn dahin entschieden, daß er den Mieter mit einer besonderen Obhutspflicht belastet und an deren Verletzung Konsequenzen geknüpft hat, die über einen bloßen Schadensersatzanspruch des Vermieters hinausgehen16 • Zunächst hat er die Obhutspflicht dazu benutzt, den Umfang des vertragsgemäßen Gebrauchs zu um13 Larenz, SR BT, § 48 Ir, S. 175; § 58, S. 326; Esser / Weyers, ST BT, 1. Teilband, § 38 I, S. 300; Roquette, S. 312; Gitter, § 2, S. 15; Saergel/ Mezger, §§ 535, 536 Anm. 157. 14 Larenz, SR BT, § 48 Ir, S. 175 f. 15 Gitter, § 2, S. 15; Raquette, S. 312. 11 Eine ausdrückliche Normierung dieser Obhutspflicht fehlt; der Gesetzgeber hat aber in §§ 545 ff. BGB die Rechtsfolgen einer Pflichtverletzung geregelt: Esser / Weyers, ST BT, 1. Teilband, § 38 I, S. 300; Palandt / Putza, § 545 Anm. 1; Gitter, § 2, S. 15; Erman / Schapp, § 535 Anm. 45; Planck / Knoke, § 535 Anm. 6 c.

E. Qualifizierung als echte schuldrechtliche Pflicht

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reißen. Der Mieter hat die Mietsache pfleglich zu behandeln und mit der im Verkehr erforderlichen Sorgfalt zu benutzen17 ; kommt er dem nicht nach, so kann der Vermieter gemäß § 550 BGB die Unterlassung eines vertragswidrigen Gebrauchs fordern und kann bei fortgesetzten krassen Verstößen sogar das Mietsverhältnis aufkündigen. Weiter hat der Mieter jede Verschlechterung der Mietsache anzuzeigen, damit dem Vermieter, der den ordnungsgemäßen Zustand der Mietsache ja nicht kontrollieren kann, die Instandsetzung ermöglicht wird 18 • Die Einhaltung dieser Anzeigepflicht hat der Gesetzgeber dadurch sicherzustellen versucht, daß er dem Vermieter das Recht eingeräumt hat, ein auf den Mangel gestütztes Verlangen des Mieters auf Mietminderung zurückzuweisen und weitergehend den Vertrag sogar zu kündigen 19 (§ 545 BGB). Damit läßt sich zur Funktion der mietvertraglichen Obhutspflicht folgendes feststellen: - sie gleicht einen Interessenkonflikt zwischen Vermieter und Mieter aus, - dieser Konflikt ist dadurch bedingt, daß Eigentum und Besitz der Mietsache auseinanderfallen, also eine "doppelte Zuordnung" der Mietsache vorliegt: Der Vermieter verliert mit der Überlassung der Mietsache an den Mieter jeden Einfluß auf die Mietsache, und der Mieter erlangt mangels Kontrollmöglichkeiten des Vermieters eine unbeschränkte Einwirkungsmöglichkeit auf die Mietsache, - diesen Konflikt wertet der Gesetzgeber dahin, daß der Vermieter in erhöhtem Maße schützenswert und schutzbedürftig ist, und trägt dem durch die Schaffung einer besonderen Obhutspflicht Rechnung, kraft derer dem Mieter eine pflegliche Behandlung der Mietsache abverlangt werden kann. Dieses Bild der mietvertraglichen Obhutspflicht erklärt sich aus einer Parallelität zu der Interessenlage, wie sie bei den "Sonderverbindungen mit negativer Zielsetzung" vorzufinden ist. Diese Sonderverbindungen, die auf ein dingliches Recht Bezug nehmen, hatten wir als Tatbestände "doppelter Zuordnung" erkannt20 und hatten gesehen, daß sie mit Rechten und Pflichten ausgestaltet sind, deren Inhalt im wesentlichen gleich ist21 • Diese inhaltliche Identität ergab sich notwendigerweise aus der übereinstimmenden Interessenlage im Verhältnis des Eigentümers zu dem Besitzer und spiegelt sich u. a. darin wider, daß Grunddienstbarkeitsberechtigter, Nießbraucher und Pfandgläubiger gemäß §§ 1020 Satz 2, 1041, 1215 BGB zur schonenden Behandlung bzw. 17 Gitter, § 2, S. 15; Roquette, S. 310 f.; Planck / Knoke, § 548 Anm. 1; Erman / Schopp, § 548 Anm. 3. 18 Larenz, SR BT, § 48 II, S. 175 f. 19 Palandt / Putzo, § 545 Anm. 3; Larenz, SR BT, § 48 II, S. 176; Roquette,

S. 313 unten. 20 Siehe oben unter C I, Fallgruppen 1. - 5. 21 Siehe oben unter C I, Zusammenfassung am Ende.

74

1. Teil: Die "vorvertragliche" Schutzpflicht

Verwahrung der von der "doppelten Zuordnung" betroffenen Sache deshalb verpflichtet sind, weil Besitz und Eigentum auseinanderfallen und der Eigentümer keine Kontrollmöglichkeit über seine Sache mehr hat 22 • Bei der Überlassung einer Mietsache an einen Mieter liegt nun gen au dieselbe Interessenlage vor wie bei den vorgenannten Sonderverbindungen mit "negativer Ziel richtung " ; Besitz und Eigentum fallen auseinander, und wegen der "doppelten Zuordnung" fehlt dem Eigentümer eine Kontrollmöglichkeit über die Sache. Wenn der Gesetzgeber also den aus der "doppelten Zuordnung" der Mietsache folgenden Interessenkonflikt in der Weise ausgeglichen hat, daß er den Mieter mit einer besonderen Obhutspflicht belastet hat, so hat er nicht mehr getan, als daß er übereinstimmende Interessenlagen gleich behandelt hat. Gleichzeitig kann es aber auch nicht mehr erstaunen, daß der Gesetzgeber auch bei anderen "Sonderverbindungen mit positiver Zielsetzung" überall dort besondere "Obhuts- bzw. Verwahrungspflichten" vorgesehen hat, wo durch das Zusammenwirken der Beteiligten eine "doppelte Zuordnung" der Sache geschaffen wurde. So erklärt sich die Normierung einer besonderen "Obhuts- bzw. Verwahrungspflicht" beim Fund (§ 966 BGB), bei der Pacht (§§ 586, 588 BGB) und bei der Leihe (§§ 601, 603 BGB); bei der Verwahrung (§§ 688 ff. BGB) ist die Obhutspflicht sogar Hauptpflicht des Vertrages. In all diesen Vorschriften spiegelt sich der allgemeine Grundsatz wider, daß "Obhut" im weitesten Sinne dann geschuldet wird, wenn im Rahmen einer Sonderverbindung eine den Einfluß des anderen ausschließende Einwirkungsmöglichkeit auf fremde Sachen geschaffen wird. Eine solche "doppelte Zuordnung" einer Sache fehlt im Dienstvertragsrecht und bei dem Vertrag zwischen Gastwirt und Gast. Dennoch finden sich auch in §§ 618, 701 BGB gesetzlich normierte "Obhutspflichten"; nach § 618 BGB trifft den Dienstberechtigten die Pflicht zu Schutzmaßnahmen für Leben, Gesundheit und Eigentum des Dienstpflichtigen, nach § 701 BGB haftet der Gastwirt auch ohne. Verschulden für Schäden, die dem Gast an seinen in den Betrieb des Gastwirts eingebrachten Sachen entstehen. Hier behalten Dienstpflichtiger wie Gast zwar den Besitz an ihren Rechtsgütern; doch läßt sich auch hier eine intensive Einwirkungsmöglichkeit derer feststellen, denen sie ihren Rechtskreis geöffnet haben: Wie bei jeder Sonderverbindung sind sowohl der Dienstpflichtige als auch der Gast gezwungen, ihre Rechtsgüter in den Rechtskreis des anderen einzubringen. Regelmäßig kann der betreffende Rechtskreisträger die Verschmelzung der beteiligten Rechtskreise nun insoweit beherrschen, als daß er die Intensität der Rechtskreisberührung auf ein 22

Siehe oben unter C I, Zusammenfassung am Ende.

E. Qualifizierung als echte schuldrechtliche Pflicht

75

Mindestmaß beschränken kann. So hat der Käufer, dem der Zustand der Geschäftsräume des Verkäufers bedenklich erscheint, die Möglichkeit, auf einen anderen Verhandlungsort zu dringen; er kann sein bewegliches Eigentum im Auge behalten und kann ihm durch seine eigene Person Schutz geben. Diese Möglichkeiten, die Intensität der Rechtskreisberührung zu bestimmen, sind für den Dienstpflichtigen bzw. Gast nicht gegeben. Der Dienstpflichtige muß sich an seinem Dienstort aufhalten, der Gast muß seine im Koffer befindliche Habe in seinem Hotelzimmer belassen. Dieser Zwang der äußeren Verhältnisse, der als ein "Ausgeliefertsein" zu kennzeichnen ist, führt dazu, daß Schutzvorkehrungen, die ein fremder Rechtskreisträger regelmäßig selbst treffen kann, jetzt dem Dienstberechtigten bzw. Gastwirt überlassen werden müssen 23 • Fragt man unter diesem Gesichtspunkt, warum der Gesetzgeber den Dienstberechtigten bzw. Gast in §§ 618, 701 BGB zur "Obhut" verpflichtet hat, so ergibt sich, daß der Gesetzgeber den Dienstpflichtigen bzw. Gast nicht zu einem bloßen Instrument geschäftlichen Eigennutzes degradiert wissen wollte 24 • In beiden Fällen profitiert der betreffende Rechtskreisträger nämlich aus der Aufnahme des Dienstpflichtigen bzw. Gastes in seinen Rechtskreis: der Dienstberechtigte zieht den Dienstpflichtigen zu Aufgaben heran, die seinem Geschäft förderlich sind, und der Gastwirt "lebt" gerade durch den wechselnden Verkehr verschiedenster Personen in seinem Rechtskreis 25 • Daher entspricht die Normierung besonderer "Obhutspflichten" hier der Eigenart und dem Sinn des zwischen den Beteiligten bestehenden Vertragsverhältnisses. Gerade weil Dienstberechtigter wie Gastwirt aus der Aufnahme dieser Personen in ihren Rechtskreis Nutzen ziehen, hielt es der Gesetzgeber für gerechtfertigt, die ihnen erwachsende verstärkte Einwirkungsmöglichkeit auf fremde Rechtsgüter durch solche Pflichten auszugleichen, die zur besonderen Rücksichtnahme auf die Schutzinteressen des "aufgenommenen" Rechtskreisträgers anhalten sollen 26 • Also belastete er den Dienstberechtigten in § 618 BGB mit Schutzmaßnahmen, die Ausdruck einer diesem obliegenden Fürsorgepflicht sind, und verpflichtete den Gastwirt in § 701 BGB zu einer verschuldensunabhängigen Haftung für Schäden, die dem Gast an von ihm eingebrachten Sachen entstehen. Damit erreichte der Gesetzgeber, daß der Rechtskreis des Dienstberechtigten bzw. Gastwirts zu einem Schutzbereich zugunsten des Dienstpflichtigen bzw. Gastes ausgestaltet wurde 27 ; der betreffende RechtsLarenz, SR BT, § 59, S. 330. RGRK-Denecke, Vorbem. 1 zu § 701. 25 Staudingerl Nipperdey, Vorbem. 8 zu § 701; RGRK-Denecke, Vorbem. zu § 701; Larenz, SR BT, § 59, S. 330; RGZ 112, S. 58 (59). 28 Larenz, SR BT, § 59, S. 330; Soergel I Wlotzke I Voltze, § 611 Anm. 1. 27 Soergel I Mühl, § 701 Anm. 1, 8; Larenz, SR BT, § 59, S. 330. 23

24

1. Teil: Die "vorvertragliche" Schutzpflicht

76

kreisträger hat jetzt nämlich nicht nur über seine eigenen Rechtsgüter, sondern auch über die des "aufgenommenen" Dienstpflichtigen bzw. Gastes zu wachen, so daß auf diese Weise ein Ausgleich der begrenzten Beherrschungsmöglichkeiten dieser Personen gegenüber dem fremden Rechtskreis herbeigeführt wird. Zusammenfassend lassen sich aus den Vorschriften der §§ 618, 701 BGB daher folgende Wertungsmaßstäbe des Gesetzgebers ablesen: 1. Fehlt demjenigen, der seinen Rechtskreis einem anderen mit Rücksicht auf eine bestehende Sonderverbindung öffnet, die Möglichkeit, die aus einem fremden Rechtskreis fließenden Gefahren zu beherrschen, so wird der andere Rechtskreisträger mit der Pflicht belastet, auf die Schutzinteressen dieser Person Rücksicht zu nehmen. 2. Diese Uberbürdung von Schutzaufgaben auf den "aufnehmenden" Rechtskreisträger beruht auf der überlegung, daß der andere nicht zum Instrument eigener Interessen degradiert werden darf, wenn der betreffende Rechtskreisträger gerade aus der Aufnahme des anderen in seinen Rechtskreis seinen Nutzanteil aus der zwischen den Beteiligten bestehenden Sonderverbindung zieht. 3. Die Möglichkeit, den eigenen Rechtskreis in der Weise zu beherrschen, daß hiervon gleichzeitig die Erhaltung und Achtung fremder Rechtsgüter abhängt, macht aus der räumlichen Rechtssphäre des betreffenden Rechtskreisträgers einen Schutzbereich zugunsten des fremden Rechtskreisträgers.

Vergleicht man nun diese bei den Vorschriften der §§ 618, 701 BGB zum Ausdruck gekommenen Wertungsmaßstäbe mit dem, was oben 28 als Funktion der mietvertraglichen Obhutspflicht erkannt wurde, so ergeben sich ungeachtet der Tatsache, daß es sich bei der mietvertraglichen Obhutspflicht um einen Tatbestand "doppelter Zuordnung" handelt, Gemeinsamkeiten. In allen Fällen entstehen Schutzaufgaben zugunsten eines fremden Rechtskreisträgers immer dann, wenn der aufnehmende Rechtskreisträger eine ausschließliche oder überwiegende Einflußmöglichkeit auf fremde Rechtsgüter erlangt. Voraussetzung ist allerdings, daß diese verstärkte Einflußmöglichkeit mit der Erreichung des mit der betreffenden Sonderverbindung verfolgten Zieles notwendigerweise verbunden ist. Bei der mietvertraglichen Obhutspflicht ergibt sich diese Einflußnahme daraus, daß der Inhalt eines Mietverhältnisses notwendigerweise darin besteht, dem Mieter eine Gebrauchsmöglichkeit über die ihm überlassene Sache zu geben; beim Dienstvertrag muß sich der Dienstverpflichtete am Dienstort und somit in der Rechtssphäre des Dienstberechtigten aufhalten, damit der Dienstberechtigte aus seinem vertraglich vereinbarten Einsatz Nutzen ziehen kann, und der Gastwirt lebt davon, daß fremde Rechtskreisträger seine Räumlichkeiten in Anspruch nehmen. 28

Siehe oben unter E II 1, 1. Fallgruppe gesetzlicher Obhutspflichten BGB).

(§§ 545, 550

E. Qualifizierung als echte schuldrechtliche Pflicht

77

2. Übertragung dieser Wertungsmaßstäbe auf den Schutzkonflikt einer verhandlungsbedingten Sonderverbindung Aus den vorstehend getroffenen Feststellungen lassen sich die Wertungsmaßstäbe ablesen, die darüber entscheiden, ob diese "Obhutspflichten" wegen des durch eine Sonderverbindung entstandenen Konflikts der Schutzinteressen um eine allgemeine schuldrechtliche Schutzpflicht ergänzt werden dürfen: Die Anerkennung oder Ablehnung besonderer Schutzpflichten hängt davon ab, ob wegen des mit der Sonderverbindung angestrebten Zieles notwendigerweise eine ähnlich starke Einflußmöglichkeit der beteiligten Rechtskreisträger auf fremde Rechtsgüter entsteht wie in den Fällen der §§ 545, 550, 618, 701 BGB. Wie wir oben gesehen haben 29 , setzt eine Sonderverbindung schon von ihrem "Mindesttatbestand" her voraus, daß die Beteiligten ihre Rechtskreise öffnen und eine Verschmelzung der betreffenden Rechtskreise zulassen. Daher ist mit jeder verbindenden Zuordnung zwangsläufig eine Einwirkungsmöglichkeit auf fremde Rechtsgüter verbunden. Jedoch fehlt es an einer die Einflußnahme des anderen ausschließenden Besitzübertragung, wie sie bei den Tatbeständen "doppelter Zuordnung" vorzufinden ist, und die Beteiligten haben auch nicht - wie bei §§ 618, 701 BGB - die Möglichkeit verloren, die Intensität des Rechtsgüterkontakts zu beherrschen. Tatsächlich treten sich die Beteiligten jedoch vorbehaltslos gegenüber und setzen ihre Rechtsgüter in genau so starkem Maße dem Einfluß des anderen aus, wie wenn sich die fehlende Möglichkeit zu Selbstschutzmaßnahmen aus der Natur des Rechtsgüterkontaktes ergäbe. Ist dieses Verhalten nun Ausdruck einer an Leichtsinn grenzenden Sorglosigkeit? Oder haben sich die Beteiligten durch die Handlungsweise des anderen Teils veranlaßt gesehen, Selbstschutzmaßnahmen zu unterlassen? Wäre die gesteigerte Schutzbedürftigkeit der Beteiligten, die gerade aus dem Unterlassen von Selbstschutzmaßnahmen folgt, durch deren eigene Sorglosigkeit bedingt, so ließe sich gegen die Anerkennung besonderer Schutzpflichten einwenden, daß jeder die Folgen der eigenen Sorglosigkeit selbst tragen müsse und daß nicht aus eigenen Versäumnissen Schutzaufgaben für einen anderen erwachsen dürften. Würde das Unterbleiben der möglichen Schutzmaßnahmen aber auf die Verhaltensweise des Partners der Sonderverbindung zurückzuführen sein, so müßte eingeräumt werden, daß dieser es tatsächlich übernomlllen hat, die Schutzinteressen des anderen zu achten, oder aber einen entsprechenden Eindruck erweckt hat. Daß die Verhaltensweise des Partners einer Sonderverbindung ein geeigneter Anknüpfungspunkt ist, ergibt sich aufgrund der Überlegung, 29

Siehe oben unter D IV 3.

78

1. Teil:

Die "vorvertragliche" Schutzpflicht

daß sich die betreffenden Rechtskreisträger im Rahmen einer Sonderverbindung begegnen und damit von der ihnen eingeräumten privatautonomen Gestaltungsbefugnis Gebrauch gemacht haben. Wie an anderer Stelle bereits ausgeführt 30 , schafft eine solche selbstbestimmte Verbindung gleichzeitig eine verstärkte Selbstverantwortung für das eigene Tun, weil jede Verhaltensweise der Partner an dem Maßstab des § 242 BGB gemessen wird. Jedem Erklärungsakt und jedem Handeln wird ein bestimmter Aussagewert beigelegt, und es wird gefragt, welche Vorstellungen und Erwartungen hierdurch bei dem Partner geweckt wurden 31 • Daher ist nunmehr zu fragen, ob dem Handeln der Beteiligten hier ein Aussagewert zukommt, der den anderen zur Unterlassung möglicher Schutzmaßnahmen veranlaßt hat. Die konkrete Handlungsweise der Beteiligten ist allerdings von dem Charakter der jeweiligen Sonderverbindung abhängig und wird in ihren Modalitäten wesentlich durch das Ziel der verbindenden Zuordnung beeinflußt. Auf all diese Einzelheiten einzugehen, ist im Rahmen dieser Arbeit, die speziell die Rechtsnatur der vorvertraglichen Schutzpflichten ergründen will, nicht möglich; hier muß eine Beschränkung auf das Verhalten bei der Einleitung von Vertragsverhandlungen vorgenommen werden. Die nachfolgenden Darlegungen sind jedoch repräsentativ für alle "Sonderverbindungen positiver Zielrichtung" und sind unter Berücksichtigung von deren jeweiliger Zielsetzung der Verallgemeinerung fähig 32 • Vergegenwärtigen wir uns also an dieser Stelle nochmals die Interessenlage derer, die zu Verhandlungen zusammentreffen. Die betreffenden Rechtskreisträger geben ihre abwehrbereite Isolation auf, weil sie die Angebote des anderen überprüfen und ihre eigene Verhandlungsposition kundtun wollen; wegen dieses von beiden gemeinsam verfolgten Ziels ermöglichen sie dem anderen eine Einflußnahme auf ihre Rechtsgüter. Der Aussagewert der die Verhandlungen einleitenden Verhaltensweise steht nun in einer engen Wechselbeziehung mit den Folgen, die eine mangelnde Rücksichtnahme auf die fremden Rechtsgüter für die Verhandlungspartner hätte. Gerade weil die Verhandlungen in erster Linie dem positiven Ziel dienen, der eigenen Rechtssphäre Vorteile und Nutzen zu bringen, wird eine - eher lästige - Bereitschaft zur Rücksichtnahme auf fremde Schutzinteressen nämlich nur gezeigt werden, wenn diese fremdnützige Rücksichtnahme gleichzeitig das eigennützige Ziel der Vertragsverhandlungen fördert. Insoweit ist festzustellen, daß eine fehlende Rücksichtnahme auf fremde Schutzinteressen spürbare Siehe oben unter D I. Canaris, Vertrauenshaftung, S. 273 ff., 440; Eichler, S. 19 ff.; Höxter, S. 22; Hammel, S. 45; Sieg, NJW 1951, S. 506 (509). 30

31

32 Von besonderer Bedeutung ist diese Untersuchung über die Eigenarten von Sonderverbindungen und Schutzpflichten insbesondere für die seit langem umstrittenen Gefälligkeitsverhältnisse.

E. Qualifizierung als echte schuldrechtliche Pflicht

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Folgen für die eigenen Geschäftsinteressen des betreffenden Partners hätte. Bei einer Verletzung des anderen droht ihm nicht nur ein Schadensersatzanspruch; gleichzeitig muß er befürchten, daß das von beiden angestrebte Ziel eines Vertragsschlusses gefährdet wird. Ein typisches Beispiel für ein solches verletzungsbedingtes Scheitern von Vertragsverhandlungen ist der bereits erwähnte "Linol-Fall"33. Dort kam der angestrebte Kauf nur deshalb nicht zustande, weil die verletzte Kundin über die Geschehnisse dermaßen erregt war, daß sie den beabsichtigten Kauf eines Linolteppichs von sich wies. Dies zeigt, daß es in der Tat in dem eigenen Interesse der Beteiligten liegt, dem Schutzbedürfnis des anderen durch das eigene Verhalten Rechnung zu tragen. Weitergehend kann sogar festgestellt werden, daß ohne diese Rücksichtnahme der gemeinsam verfolgte Zweck, mit dem Fernziel eines Vertragsabschlusses die beidseitigen Angebote überprüfen zu wollen, nicht erreicht werden kann. Bedingt aber dieser gemeinsame Zweck notwendigerweise eine gegenseitige Rücksichtnahme, so ist das eigene Interesse, die Verhandlungen nicht an der Verletzung des anderen scheitern zu lassen, in derartig enger Weise mit einer Rücksichtnahme auf fremde Schutzinteressen verknüpft, daß aus der Bereitschaft, mit dem anderen zu Verhandlungen zusammenzutreffen, gleichzeitig die Bereitschaft zur Achtung der fremden Schutzinteressen folgt. Mithin kann und darf also jeder Verhandlungspartner aus dem Verhalten desjenigen, der sich zu einer verbindenden Zuordnung entschließt, entnehmen, daß dieser auf seine eigenen Rechtsgüter Rücksicht nehmen wird. Dann ist es aber auch keine an Leichtsinn grenzende Sorglosigkeit, die ihn zur Unterlassung möglicher Schutzmaßnahmen veranlaßt; er darf davon ausgehen, daß sich der andere entsprechend seiner Bereitschaft, fremde Schutzinteressen zu achten, verhalten wird. Damit läßt sich die entscheidende Frage, ob zum Ausgleich des Schutzkonfliktes zwischen den Partnern einer Sonder verbindung eine besondere Schutzpflicht erforderlich ist, jetzt eindeutig bejahen. Wir hatten oben34 als Wertungsmaßstab für die Anerkennung oder Ablehnung besonderer Schutzpflichten erkannt, daß wegen des mit einer Sonderverbindung angestrebten Zieles notwendigerweise eine ähnlich starke EinfluBmöglichkeit auf fremde Rechtsgüter entstehen muß wie in den Fällen der §§ 545, 550, 618, 701 BGB. Aus den vorstehenden Ausführungen ergibt sich nun, daß sich die Beteiligten vorbehaltslos gegenübertreten. Sie unterlassen mögliche Selbstschutzmaßnahmen, weil sie dem Verhalten des anderen mit Rücksicht auf das von beiden angestrebte Ziel die Bereitschaft entnehmen dürfen, daß dieser ihre Rechts33 34

Sachverhalt des "Linol-Falls" (RGZ 78, S. 239 ff.) siehe Einleitung. Siehe oben unter E II 1.

80

1. Teil: Die "vorvertragliche" Schutzpflicht

güter achten wird. Dies führt aber dazu, daß ihre Rechtsgüter in genau so starkem Maße dem Einfluß des anderen Rechtskreisträgers ausgesetzt werden, wie wenn sich die ausgeprägte Intensität des Rechtsgüterkontaktes aus der Natur der Rechtskreisöffnung ergäbe: 1. Aus der Bereitschaft, sich einem Rechtskreisträger in einer verbindenden Zuordnung zuzuwenden, folgt gleichzeitig die Bereitschaft, dessen Schutzinteressen zu achten. 2. Diese Wechselwirkung zwischen Verbindungs- und Schutzbereitschaft ist dadurch bedingt, daß ohne die Achtung der fremden Schutzinteressen das von den Beteiligten mit der Sonderverbindung angestrebte Ziel gefährdet ist. 3. Diese Schutzbereitschaft veranlaßt den anderen, mögliche Schutzmaßnahmen zu unterlassen; dadurch wird er in so besonderem Maße schützenswert, daß zum Ausgleich seiner erhöhten Schutzbedürftigkeit eine besondere Schutzpflicht desjenigen erforderlich ist, der seine Schutzbereitschaft kundgetan hat.

m.

Die Rechtsgrundlage der Schutzpßicht

Dieser Feststellung muß sich nun notwendigerweise die Frage anschließen, auf welche rechtliche Grundlage eine solche Schutzpflicht zurückgeführt werden kann. 1. Der Schutzkonflikt und § 242 BGB

Bei der Frage nach der rechtlichen Grundlage der Schutzpflicht ist zu bedenken, daß innerhalb bestehender Sonderverbindungen die Vorschrift des § 242 BGB Anwendung findet 35 • Sie stellt den Grundsatz auf, daß sich die Partner einer Sonderverbindung so zu verhalten haben, wie dies Treu und Glauben fordern. Diese Generalklausel bedarf aber der Ausfüllung; es ist unter Berücksichtigung der jeweiligen Konfliktslage zu entscheiden, auf welche Interessen nach Treu und Glauben Rücksicht zu nehmen ist 36 • Hier haben die vorstehenden Ausführungen nun die Erkenntnis gebracht, daß im Rahmen bestehender Sonderverbindung spezielle Schutzinteressen des anderen immer dann schützenswert sind, wenn der Partner einer Sonderverbindung wegen des mit der verbindenden Zuordnung verfolgten Zieles eine besonders starke Einwirkungsmöglichkeit auf die fremden Rechtsgüter erhält. Dann ist das Gebot, fremde Schutzinteressen zu beachten, aber nicht dem Deliktsrecht entliehen; es präzisiert vielmehr die allgemeine Forderung des § 242 BGB, sich so zu verhalten, wie Treu und Glauben dies verlangen. Gerade weil diese Vorschrift das "Zusammenleben" inner35 MK-Roth, § 242 Anm. 1, 55; Palandt / Heinrichs, § 242 Anm. 1 c; Soergel/ Knopp, § 242 Anm. 5ff.; Erman/ Sirp, § 242 Anm. 19, 21; LaTenz, SR AT, § 10 I, S. 107; Hueck, Treuegedanke, S. 10; Sticht, S. 39. 36 Staudinger / Weber, § 242 A 109 ff.; MK-Roth, § 242 Anm. 21 ff.; Soergel/ Knopp, § 242 Anm. 5 ff.; Palandt / Heinrichs, § 242 Anm. 1 a bb; ETman / Sirp, § 242 Anm. 42 ff.; Larenz, SR AT, § 10 I, S. 105 ff.; Eichler, S. 13 ff.

E. Qualifizierung als echte schuldrechtliche Pflicht

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halb bestehender Sonderverbindungen regelt, wird lediglich den Eigenarten einer Sonderverbindung Rechnung getragen, wenn den Beteiligten eine Rücksichtnahme auf fremde Schutzinteressen abgefordert wird. Wie wir gesehen haben, besteht die Eigenart einer Sonderverbindung nun einmal notwendigerweise darin, daß dem anderen wegen des gemeinsam verfolgten Zieles der eigene Rechtskreis vorbehaltslos geöffnet wird und die zum Selbstschutz errichteten Schutzbarrieren abgebaut werden37 • Diese enge innere Verknüpfung zwischen Sonderverbindung, allgemeiner Rücksichtnahme und Beachtung fremder Schutzinteressen haben auch die Befürworter der Schutzpflicht38 "gefühlt", als sie darauf hinwiesen, daß besondere Schutzpflichten wegen der Eigenart des Verhandlungsverhältnisses erforderlich seien. Sie haben diese Eigenarten nur nicht erklären können, weil sie sich nicht genügend Gedanken über die Rechtsnatur des Verhandlungsverhältnisses gemacht und die Schutzpflicht als ausschließliche Besonderheit der Verhandlungen angesehen haben. Dies hat nicht nur das allgemeine Verständnis vom Wesen der Schutzpflicht erschwert; ihre Befürworter haben selbst damit zu kämpfen, wie sie ihre für notwendig erachteten Schutzpflichten erklären können. Insbesondere haben sie gerade durch den Hinweis auf die "Eigenart" der Verhandlungen unbewußt verschleiert, daß sie hiermit nur die Rechtsnatur des Verhandlungsverhältnisses ansprechen wollen und daß es die Eigenart einer verhandlungsbedingten Sonderverbindung ist, die zur Annahme besonderer Schutzpflichten zwingt. Halten wir also fest: - Die Schutzpflicht findet ihre rechtliche Grundlage in § 242 BGB. - Die mit der Schutzpflicht geforderte Rücksichtnahme auf fremde Schutzinteressen präzisiert nur die allgemeine Forderung des § 242 BGB, sich so zu verhalten, wie Treu und Glauben dies gebieten, und ist als solche die notwendige Folge einer jeden Sonderverbindung, deren Eigenarten eine gesteigerte Einflußmöglichkeit auf fremde Rechtsgüter bedingen. - Daß die Beteiligten bei einer gesteigerten Einflußmöglichkeit auf fremde Rechtsgüter dem Schutzbedürfnis des anderen Rechnung zu tragen haben, ergibt sich daraus, daß sie den anderen zur Unterlassung möglicher Schutzmaßnahmen veranlaßt haben; dadurch haben sie eine so große Einwirkungsmöglichkeit auf die fremden Rechtsgüter erlangt, daß die Interessenlage den Siehe oben unter D IV 3. Canaris, JZ 1965, S. 475 ff.; Thiele, JZ 1967, S. 649 ff.; Gerhardt, JZ 1970, S. 535 ff.; ders., JuS 1970, S. 597 ff.; Eike Schmidt, Nachwort, S. 131 (144 ff.); BaumeTt, S. 40; DieTs, S. 59; KobeT, S. 10; Holz, S. 34, 43; MeyeT, S. 7; FischeT, S. 65; Dömpke, S. 55 Fußn. 124 a; Geiß, S. 23; SommeT, S. 22; KTasseT, S. 29; Zweig, S. 13 ff.; PateTna, S. 2; Schulze, S. 27 f.; CTodel, S. 4; Staege, S. 3; Schönwald, S. 18; KoeTjer, S. 64; StöckeT, S. 104; SteinbeTg, S. 90; OttensmeyeT, S. 40, 42; KTuse, S. 13 f.; Bogusch, S. 44, 55 f.; Ehwald, S. 4; Schultz, S. 68; EsseT, JZ 1952, S. 257 (259); RG JW 1937, S. 2651; BGH NJW 1962, S. 31 f.; BGHZ 66, S. 51 (54). 37

38

6 Frost

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1. Teil: Die" vorvertragliche" Schutzpflicht

Fällen der §§ 545, 550, 618, 701 BGB ähnelt, wo der Gesetzgeber Schutzmaßnahmen bzw. Obhutspflichten für notwendig erachtet hat. 2. Die "Vertrauenshaftung" als pflichtenbegründendes Hilfsmittel

Die Forderung, gemäß § 242 BGB auf die Schutzinteressen des anderen Rücksicht zu nehmen, zeigt aber nur auf, wie sich die Beteiligten verhalten sollten; sie gibt aber keine Auskunft darüber, warum aus der aus § 242 BGB hergeleiteten Verhaltensregel eine Verhaltenspflicht wird. Daher können die Schutzpflichten nicht unmittelbar aus § 242 BGB hergeleitet werden; lediglich ihr Inhalt findet seine Rechtfertigung in dieser Vorschrift. Es muß daher nach einem weiteren Wertungsmaßstab gesucht werden, der die Verhaltensregel des § 242 BGB in der Weise umsetzt, daß den Beteiligten eine Pflicht zur Rücksichtnahme auf fremde Schutzinteressen auferlegt wird. Die Befürworter der Schutzpflicht39 helfen hier mit dem "Vertrauen".' Die Schutzpflicht, bei deren Verletzung auf Schadensersatz gehaftet wird, beruhe auf dem "in Anspruch genommenen und gewährten Vertrauen": Derjenige, der einen anderen zu Verhandlungen einlade, erwecke bei diesem das Vertrauen, daß er seine Rechtsgüter nicht verletzen werde; der Eingeladene gewähre dieses Vertrauen, indem er den Rechtskreis des anderen betrete 40 • Diese Pflichtenbegründung über das "Vertrauen" soll der durch § 242 BGB zu rechtfertigenden Redlichkeitserwartung innerhalb bestehender Sonderverbindungen Ausdruck geben 41 : Derjenige, der mit einem anderen eine Sonderverbindung eingehen wolle, dürfe erwarten, es mit einem redlich denkenden, sich loyal verhaltenden Partner zu tun zu haben. Da er nur unter diesen Voraussetzungen die eigenen Rechtsgüter der Einwirkungsmöglichkeit des anderen Rechtskreisträgers aussetze, begründe diese Vertrauenslage eine Verhaltenspflicht des anderen Rechtskreisträgers. Die Redlichkeitserwartung der Beteiligten verdiene den Schutz der Rechtsordnung deshalb, weil ohne sie ein reibungsloser Geschäftsverkehr nicht möglich wäre 42 • sv Canaris, JZ 1965, S. 475 ff.; ThieLe, JZ 1967, S. 649 ff.; Gerhardt, JZ 1970, S. 535 ff.; ders., JuS 1970, S. 597 ff.; Eike Schmidt, Nachwort, S. 131 (144 ff.); Baumert, S. 40; Diers, S. 59; BGH NJW 1962, S. 31 f.; BGHZ 66, S. 51 (54 f.). 40 BaHerstedt, AcP 151, S. 501 (506 f.); SoergeL / Schmidt, Anm. 5 vor § 275; Eike Schmidt, Nachwort, S. 131 (144 f.); ThieLe, JZ 1967, S. 649 (651 f.); Larenz, SR AT, § 9 I, S. 94 ff.; PaLandt / Heinrichs, § 276 Anm. 6 a; Staudinger / Weber, § 242 A 417; MK-Kramer, Ein!. zu § 241 Anm. 78. 41 Larenz, SR AT, § 9 I, S. 91; MK-Kramer, Einl. zu § 241 Anm. 78. 42 Larenz, SR AT, § 9 I, S. 91 f.; ders., Festschrift für Ballerstedt, S. 397 ff.; MK-Kramer, Einl. zu § 241 Anm. 78; Nirk, Festschrift für Möhring, 1965, S. 385 (386 f.); ders., Festschrift für Möhring, 1975, S. 71 (72 f.); Medicus, JuS 1965, S. 209 (213).

E. Qualifizierung als echte schuldrechtliche Pflicht

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a) Einwand von Frotz gegen die "Vertrauenshaftung" Gegen dieses "pflichtenbegründende Vertrauen" hat in letzter Zeit insbesondere Frotz 43 Kritik erhoben. Frotz beanstandet, daß auch das normale außervertragliche Leben recht enge Kontakte und ausgeprägtes Vertrauen kenne und das Vertrauen somit nicht zur Begründung besonderer Schutzpflichten herangezogen werden könne 44 • Frotz schlägt daher vor, auf eine "resignierende Hilfskonstruktion", mit der Annahme vertrauensbedingter Pflichten die Entstehung eines Schuldverhältnisses begründen zu wollen, zu verzichten45 • Schutzpflichten ließen sich auch ohne Bezugnahme auf ein "Vertrauen" oder ein erst zu konstruierendes Schuldverhältnis in dogmatisch einwandfreier Weise begründen, indem man sie als "Korrelat privatautonomer Gestaltungsmöglichkeit" verstehe4 ?: Da schon im Vorbereitungsstadium "rechtsgeschäftlicher Kommunikation" ein größeres Schadensrisiko als im gewöhnlichen Zusammenleben bestehe, folge aus der Privatautonomie gewissermaßen als deren Kehrseite - eine "soziale Verantwortung" gegenüber dem Partner. Daher sei derjenige zu schützen, der sich mit Rücksicht "auf die ihm gesetzlich eingeräumte Möglichkeit privatautonomer Gestaltung" in einen fremden Einflußbereich begebe. Dem Verhandlungspartner sei zwar nicht jedes Risiko abzunehmen, aber doch das Risiko, das ihm aus dem "Aktionsbereich" des anderen erwachse, und insoweit müsse der andere mit besonderen Schutzpflichten belastet werden41 • Frotz ist zugute zu halten, daß eine "Vertrauenshaftung" für Schutzpflichten in der Tat so lange farblos bleibt, wie der Zusammenhang zwischen den "vertrauensbedingten Schutzpflichten" und der Sonderverbindung nicht erklärt wird. Indessen sind seine Angriffe gegen diese "Vertrauenshaftung" dem Grunde nach unberechtigt 48 • Schon Larenz verwies darauf, daß gegenseitiges Vertrauen nur in Verbindung mit anderen Momenten eine überdeliktische Haftung zu rechtfertigen vermöge4D • Solche "anderen Momente" liegen hier vor, nur haben die Befürworter der Schutzpflichten diese nicht genügend zu betonen gewußt. Wenn das "Vertrauen" nämlich wirklich ein geeigneter Wertungsmaß43 Frotz, Verkehrsschutz, S. 66 ff.; ders., Gedenkschrift für Gschnitzer, S. 163 ff.; zustimmend Welser, Vertretung, S. 76 ff.; ders., ÖJZ 1973, S. 281 (284). 44 Frotz, Gedenkschrift für Gschnitzer, S. 163 (171 f.). 45 Frotz, Gedenkschrift für Gschnitzer, S. 163 (172/3). 48 Frotz, Gedenkschrift für Gschnitzer, S. 163 (173). 47 Frotz, Gedenkschrift für Gschnitzer, S. 163 (174 ff.); ders., Verkehrsschutz, S. 66 ff. 48 Ebenfalls ablehnend Canaris, Vertrauenshaftung, S. 442 Fußn. 16; Larenz, Festschrift für Ballerstedt, S. 397 (398 f.). 49 Larenz, MDR 1954, S. 515 (517).

6"

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1. Teil:

Die "vorvertragliche" Schutzpflicht

stab dafür sein sollte, eine Verhaltensregel des § 242 BGB in eine Verhaltenspflicht umzusetzen, so würde es sich um eine "Vertrauenshaftung" für ein Verhalten handeln, das innerhalb bestehender Sonderverbindungen geschuldet würde. Die grundsätzliche Berechtigung einer "Vertrauenshaftung" innerhalb bestehender Sonderverbindungen wird aber auch Frotz nicht anzweifeln wollen, denn insbesondere aufgrund der überzeugenden Untersuchung von Canaris 50 kann es als feststehend erachtet werden, daß "die Vertrauenshaftung" ein selbständiges Rechtsinstitut neben der Rechtsgeschäftslehre darstellt51 • Daher ist auch die Kritik von Frotz so zu verstehen, daß er das "Vertrauen" nicht für geeignet hält, zur Begründung besonderer Schutzpflichten herangezogen zu werden. Indessen bringt auch die eigene Lehre von Frotz insoweit keine Neuerungen und enthält in ihrem Kern eher eine Bestätigung der Vertrauenslehre, als daß sie einen Gegensatz aufzuzeigen vermag. So hat der Gedanke der "Verantwortung" bereits in starkem Maße Eingang in die Rechtslehre gefunden; ein großer Teil der Lehre von Treu und Glauben beruht auf der Erkenntnis, daß die privatautonome Gestaltungsbefugnis auch eine gewisse Verantwortung gegenüber dem anderen bedingt. Darüber hinaus wird nach § 242 BGB nicht nur gefordert, daß die eigene Verhaltensweise der Beteiligten Treu und Glauben entsprechen müsse; weitergehend wird mit Hilfe dieser Vorschrift auch begründet, ob und wann der andere Teil schützenswert ist, sowie welche Eindrücke und Erwartungen das Verhalten seines Partners in ihm erweckt hat 52 • Gerade solche Wertungsmaßstäbe, die auch auf die persönlichen Verhältnisse des anderen Bezug nehmen, kann die von Frotz in isolierter Form bemühte "soziale Verantwortung" nicht vorweisen; dies ist jedoch erforderlich, um die "soziale Verantwortung" nicht über Gebühr zu strapazieren und nur denjenigen zu schützen, der auch wirklich schutzwürdig ist. Damit ermöglicht aber bereits das Gesetz eine konkretere und interessengerechtere Berücksichtigung des Vertrauensprinzips, und daher bedeutet der Versuch, Schutzpflichten als "Korrelat privatautonomer Gestaltungsbefugnis" zu erklären, nicht mehr als ein terminologisches Ausweichen vor der Frage, warum der andere so schützenswert ist, daß sein Partner mit besonderen Schutzpflichten belastet werden muß. Gerade in dieser Frage hat die vorstehende Untersuchung weitgehend Klarheit gebracht. Einmal konnte gezeigt werden, daß die Rücksichtnahme auf fremde Schutzinteressen in einer engen Wechselbezie50

"Die Vertrauenshaftung im Deutschen Privatrecht".

Canaris, Vertrauenshaftung, S. 412 ff. 52 Ermanl Sirp, § 242 Anm. 43; Soergetl Knopp, § 242 Anm. 11; MK-Roth, § 242 Anm. 32 ff.; Eichter, S. 18 ff.; Sticht, S. 42. 51

E. Qualifizierung als echte schuldrechtliche Pflicht

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hung zu den Eigenarten einer Sonderverbindung steht. Vor allem konnte aber auch begründet werden, warum die Beteiligten die Schutzinteressen des anderen zu beachten haben; wir haben gesehen, daß es das Verhalten der Beteiligten war, das die Unterlassung möglicher Schutzmaßnahmen bedingte und zu einer weitgehenden Einwirkungsmöglichkeit auf die fremden Rechtsgüter führte. b) Schutzkonflikt und "Vertrauenshaftung" Daher kann unter Zugrundelegung dieser Erkenntnisse jetzt gefragt werden, ob eine vertrauensbedingte Begründung von Schutzpflichten den Eigenarten des bei einer Sonderverbindung entstehenden Interessenkonflikts nicht sogar in besonderem Maße Rechnung trägt. "Vertrauens"-Haftung bedeutet in diesem Zusammenhang schließlich, daß wegen der besonderen Erwartungslage, die der eine Teil bei dem anderen hervorgerufen hat, gemäß § 242 BGB ein entsprechendes Verhalten geschuldet wird und daß bei Enttäuschung dieses Vertrauens Schadensersatz zu leisten ist53 • Wir haben bereits festgestellt, daß die Beteiligten aus der Bereitschaft des anderen, eine Sonderverbindung mit einem gemeinsam verfolgten Ziel einzugehen, gleichzeitig auf eine Bereitschaft zur Rücksichtnahme auf die eigenen Schutzinteressen schließen konnten. Also muß jetzt nur noch gefragt werden, ob diese Erwartungslage als so gefestigt anzusehen ist, daß sie als Grundlage für eine Vertrauenshaftung dienen kann. Jede Vertrauenshaftung setzt zunächst das Vorliegen eines Vertrauenstatbestandes voraus. Dafür reicht jeder Tatbestand aus, der geeignet ist, in bestimmter Weise Vertrauen zu erwecken54 • Canaris bezweifelt hier nun das Vorliegen eines Tatbestandes, auf den sich ein Vertrauen stützen könne 55 • In der Tat fehlt es an ausdrücklichen Erklärungen dahin, die Schutzinteressen des anderen achten zu wollen. An anderer Stelle weist jedoch Canaris selbst darauf hin, daß auch ein konkludentes Verhalten Grundlage für eine Vertrauenshaftung sein könne, weil das geltende Recht das konkludente Verhalten der ausdrücklichen Erklärung grundsätzlich gleichgestellt habe 56 • Canaris verwahrt sich nun ausdrücklich dagegen, eine konkludente Erklärung des Inhalts annehmen zu wollen, daß die Betreffenden die erforderliche Sorgfalt walten lassen würden etc. - dies sei reine Fiktion57 • 53 Ballerstedt, AcP 151, S. 501 (506 f.); Ftume, AcP 163, S. 52 (63); Sticht, S. 41 ff.; Meier-Hayoz, S. 25; Simonius, S. 239 f.; Höxter, S. 11. 54 Canaris, Vertrauenshaftung, S. 491 f. 55 Canaris, Vertrauenshaftung, S. 540. 58 Canaris, Vertrauenshaftung, S. 492. 57 Canaris, Vertrauenshaftung, S. 540 Fußn. 78.

1. Teil: Die "vorvertragliche" Schutzpflicht

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Wie Siber's Lehre vom ErhaitungsvertragS8 gezeigt hat, besteht dort, wo gesprochene Worte fehlen, in der Tat die Gefahr, daß mit Rücksicht auf das gewünschte Ergebnis dem Verhalten der Beteiligten ein Erklärungswert beigelegt wird, der durch die tatsächlichen Gegebenheiten nicht zu rechtfertigen ist. Allerdings sind die tatsächlichen Gegebenheiten dann auch eingehend zu würdigen, bevor vorschnell das Unwerturteil der Fiktion ausgesprochen wird. Solange nun der Zusammenhang zwischen Schutzpflicht und Sonderverbindung nicht aufgezeigt werden konnte, konnte den tatsächlichen Gegebenheiten nur entnommen werden, daß Personen ohne Erörterung ihrer auf dem Spiel stehenden Schutzinteressen mit dem Fernziel eines Vertragsschlusses zusammentreffen; möglicher Vertragsschluß und Schutzinteressen schienen so verschiedenen Ebenen anzugehören, daß ein Verhalten, das auf die Einleitung von Verhandlungen abzielte, unmöglich in Zusammenhang mit den Schutzinteressen der Beteiligten gebracht werden konnte; auf dieser Grundlage ist also der Vorwurf einer Fiktion gar nicht so unberechtigt. Nachdem es jetzt aber in der vorstehenden Untersuchung gelungen ist, die Wechselwirkung zwischen Schutzpflicht und Sonderverbindung zu ergründen, erscheinen auch diese tatsächlichen Gegebenheiten in einem anderen Licht. Wir wissen jetzt, mit welchen Zielvorstellungen die Beteiligten zusammentreffen, und können, nachdem wir die Bedeutung dieses Ziels für das Zustandekommen einer Sonderverbindung erkannt haben, ermessen, daß die Erreichung dieses Zieles untrennbar mit einer Rücksichtnahme auf fremde Schutzinteressen verknüpft ist 59 . Daher ergibt sich aus dem Verhalten der Beteiligten jetzt auch ein Erklärungswert, der nach den bisherigen Erkenntnissen noch nicht einsichtig war. Dieser besteht darin, daß der Bereitschaft, zur Erreichung eines bestimmten Ziels mit einem anderen eine Sonderverbindung einzugehen, gleichzeitig die Bereitschaft entnommen werden kann, die fremden Schutzinteressen achten zu wollen, weil ohne diese - eher lästige - Rücksichtnahme das gemeinsame Ziel der verbindenden Zuordnung gefährdet wäre 6o • Daher darf der andere Partner, und zwar gerade angesichts dieser für die Sonderverbindung lebensnotwendigen Bereitschaft, aber auch davon ausgehen, daß seine Schutzinteressen geachtet werden; er darf erwarten, daß sein berechtigtes Interesse, nicht verletzt zu werden, berücksichtigt wird, und er darf sogar darauf vertrauen, daß sich der andere entsprechend seiner Bereitschaft verhalten wird, weil ohne eine gemeinsame Rücksichtnahme das gemeinsame Ziel der Sonderverbindung nicht erreicht werden wird. 58 59

GO

Siehe oben·unter D II 2. Siehe oden unter E II 2. Siehe oben unter E n 2 am Ende.

E. Qualifizierung als echte schuldrechtliche Pflicht

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Damit kann folgendes festgehalten werden: Wenn ein Rechtskreisträger mit einem anderen eine Sonderverbindung eingehen will, insbesondere wenn er ihn zu Verhandlungen einlädt, so schafft er einen Vertrauenstatbestand. Er gibt zu erkennen, daß er zur Rücksichtnahme auf die fremden Schutzinteressen bereit ist, und nimmt dadurch in zurechenbarer Weise Vertrauen für sich in Anspruch. Ausgehend von dieser Erkenntnis läßt sich nun auch unschwer begründen, daß der andere dieses in Anspruch genommene Vertrauen gewährt. Als Folge der Bereitschaft, fremde Schutzinteressen achten zu wollen, haben wir nämlich erkannt, daß mögliche Selbstschutzmaßnahmen unterlassen werden; die eigenen Rechtsgüter werden in den fremden Rechtskreis in einer Weise eingebracht, die eine erhöhte Einwirkungsmöglichkeit des anderen auf diese Rechtsgüter schafft. Canaris61 bestreitet nun auch die Vertrauensgewährung; es fehle eine "Disposition" in dem Sinne, daß der Vertrauende bestimmte Maßnahmen vorgenommen oder unterlassen habe. Er meint, daß diese Fälle aber dennoch der "Vertrauenshaftung" zugeordnet werden könnten, indem er sie einer besonderen Untergruppe, einer sogenannten "Anvertrauenshaftung" , zuweist. Der Vertrauensgedanke spiele hier insofern eine entscheidende Rolle, als daß die - im Vergleich zum Deliktsrecht wesentlich strengere - Haftung ihre Rechtfertigung darin finde, daß der Verletzte seine Rechtsgüter im Rahmen des rechtsgeschäftlichen Verkehrs der Einwirkungsmöglichkeit des anderen aussetze und sie ihm in diesem Sinne "anvertraut" habe. Gegen eine solche "Anvertrauenshaftung" ist aber eine Kritik zu erheben, wie Canaris sie in ähnlicher Weise selbst an der Lehre von Frotz geübt hat. Canaris beanstandete, daß Frotz nicht die Frage berücksichtigt habe, ob und warum der andere in besonderem Maße schutzwürdig sei, und daß er die Interessenlage daher einseitig beleuchtet habe 62 • Eine "Anvertrauenshaftung" würde die Interessenlage jedoch ebenfalls in einseitiger Weise würdigen; es fehlt nämlich eine Begründung dafür, warum demjenigen, dem fremde Rechtsgüter "anvertraut" werden, durch diese einseitige Zuwendung des fremden Rechtskreisträgers eine strengere "Haftung" aufgebürdet werden kann. Auch ein unmittelbarer Vergleich mit der Gastwirtshaftung (§§ 701 ff. BGB) ist hier nicht angebracht63 • Dort hatten wir gesehen, daß das Einbringen fremder Rechtsgüter, das als "Anvertrauen" bezeichnet werden mag, deshalb eine strengere Haftung des Gastwirtes nach sich zieht, 61 62 n3

Canaris, Vertrauenshaftung, S. 540. Canaris, Vertrauenshaftung, S. 442 Fußn. 16. So aber Canaris, Vertrauenshaftung, S. 541.

1. Teil: Die "vorvertragliche" Schutzpflicht

88

weil der Gastwirt aus der Aufnahme des Gastes in seinen Rechtskreis profitiert und gerade daher seine verstärkte Einwirkungsmöglichkeit durch besondere Obhutspflichten zugunsten des Gastes auszugleichen ist 64 • Bei der von Canaris vertretenen "Anvertrauenshaftung" liegt keine damit übereinstimmende Interessenlage vor; es fehlt an einem "Ausgeliefertsein" innerhalb einer fremden Rechtssphäre, und dem fremden Rechtskreisträger erwachsen auch nicht bereits aus der Aufnahme des anderen in seinen Rechtskreis spürbare geschäftliche Vorteile; das "Anvertrauen" steht als einzige Komponente, die für eine Haftungsbegründung eine Rolle spielen soll, isoliert im Raum. Zudem befremdet es, mit welcher Selbstverständlichkeit Canaris behauptet, es würden "keine Maßnahmen vorgenommen oder unterlassen". Schließlich ist kaum eine stärkere "Disposition" denkbar als die, daß jemand seinen eigenen Rechtskreis öffnet und seine Rechtsgüter unter Abbau der fremden Einfluß abwehrenden Schutzbarrieren sowie unter Nichtvornahme möglicher Selbstschutzmaßnahmen in einen fremden Rechtskreis einbringt. Ungeachtet der Kritik von Canaris läßt sich damit feststellen, daß eine vertrauensbedingte Begründung von Schutzpflichten den Eigenarten des bei einer Sonderverbindung entstehenden Interessenkonfliktes in besonderem Maße Rechnung trägt, und damit ist mit dem "Vertrauen" in der Tat ein geeigneter Wertungsmaßstab gefunden, der die Verhaltensregel des § 242 BGB in eine Verhaltenspflicht umzusetzen vermag: Zu einem Anspruch wird die als berechtigt erkannte vertrauensvolle Erwartung desjenigen, der seine Rechtsgüter in einen fremden Rechtskreis einbringt, nämlich dadurch, daß aufgrund der Vertrauenswerbung des anderen (seiner "Inanspruchnahme von Vertrauen") nunmehr verlangt werden kann, daß der andere auf die eigenen Schutzinteressen Rücksicht nimmt; diesem Anspruch steht eine korrespondierende Pflicht gegenüber - die Schutzpflicht. Der auf Ballerstedt 85 zurückgehende Gedanke, das "Vertrauen" zur Pflichtenbegründung nutzbar zu machen, wird allerdings vielfach in veränderter Form wiedergegeben. Es wird davon gesprochen, daß eine "Haftung" wegen des "enttäuschten Vertrauens" eintrete G6, und es wird der Eindruck erweckt, als entstünden im Vorfeld dieser Haftung gar keine vertrauensbedingten "Pflichten". Dabei wird nicht recht klar, ob dies lediglich die Folge einer unscharfen Terminologie ist oder ob die vertrauensbedingte Pflichtenbegründung schlechthin geleugnet wird. Siehe oben unter E II 1. Ballerstedt, AcP 151, S. 501 (506 f.). 86 Larenz, Festschrift für Ballerstedt, S. 397 (402); MK-Roth, § 242 Anm. 181 (widersprüchlich betreffend unmittelbare Vermögensschäden); Canaris, Vertrauenshaftung, S. 540, mit seiner "Anvertrauenshaftung" widerspricht er dem von ihm "erfundenen" SchutzpflichtverhäItnis (JZ 1965, S. 475 ff.). 64

85

E.

Qualifizierung als echte schuldrechtliche Pflicht

89

Jedenfalls würde eine Konstruktion, die eine vertrauensbedingte Begründung von Schutz-"Pflichten" außer acht ließe, die Interessenlage nicht ausschöpfen. Demjenigen, der seine Rechtsgüter in eine fremde Rechtssphäre einbringt, ist nämlich nicht damit gedient, im Verletzungsfalle Schadensersatz zu erhalten. Er setzt seine Rechtsgüter überhaupt nur dem Einfluß des anderen aus, weil er von diesem erwartet, während der Dauer der Rechtskreisverschmelzung seine Rechtsgüter zu achten, und er will von diesem ein entsprechendes Verhalten auch verlangen können. Diesem Interesse kann aber nur durch die vertrauensbedingte Schutz-"Pflicht" Rechnung getragen werden. c) Zusammenfassung Zusammenfassend ist damit festzuhalten, daß das Vertrauen ein geeigneter Wertungsmaßstab ist, um die präzisierte Verhaltensregel des § 242 BGB, innerhalb bestehender Sonderverbindungen auf fremde Schutzinteressen Rücksicht zu nehmen, in eine Verhaltenspflicht umzusetzen. Eine Pflichtenbegründung über das "in Anspruch genommene und gewährte Vertrauen" trägt den Eigenarten des wegen der verbindenden Zuordnung entstehenden Schutzkonfliktes sogar in besonderem Maße Rechnung. Es wird berücksichtigt, - daß der fremde Rechtskreisträger durch seine Bereitschaft, zur Erreichung eines bestimmten Zieles mit einem anderen eine Sonderverbindung einzugehen, in zurechenbarer Weise einen Vertrauenstatbestand schafft, weil sein Verhalten gleichzeitig die Bereitschaft erkennen läßt, die Schutzinteressen des anderen achten zu wollen, - daß der andere dieses in Anspruch genommene Vertrauen gewährt, indem er seine Rechtsgüter unter Abbau der auf Isolation bedachten Schutzbarrieren und unter Nichtvornahme möglicher Selbstschutzmaßnahmen in den fremden Rechtskreis einbringt, - daß aufgrund dieses "in Anspruch genommenen und gewährten Vertrauens" jetzt auch verlangt werden kann, daß der um Vertrauen Werbende auf die eigenen Schutzinteressen Rücksicht nimmt, und daß der andere deshalb mit einer entsprechenden Schutzpflicht belastet wird. Betrachten wir das "Vertrauen" unter diesem Gesichtspunkt, so verliert es den "Beigeschmack" eines vagen oder gar mystischen Haftungsgrundes. Es kennzeichnet die Interessenlage treffend und ist, da es der Bereitschaft und Erwartung nach gesteigerter Rücksichtnahme Ausdruck gibt, selbst auf § 242 BGB zurückzuführen 67 •

67 EichleT, S. 13; MK-KrameT, Ein!. zu § 241 Anm. 78; StaudingeT / WebeT, § 242 A 417; BalleTstedt, AcP 151, S. 501 (506 Fußn. 16); Sticht, S. 38; Geiß, S.19.

1. Teil: Die "vorvertragliche" Schutzpflicht

90

IV. Die Schutzpflichten und die Strukturmerkmale besonderer schuldrechtlicher Pflichten

Dieses Bild der Schutzpflicht ist jetzt auch so gefestigt, daß die Frage, ob die so gestaltete Schutzpflicht den Strukturmerkmalen echter schuldrechtlicher Pflichten entspricht, unschwer beantwortet werden kann. In der vorstehenden Untersuchung haben wir Aufschluß darüber erlangt, ob die Schutzpflicht über die wichtigsten Strukturmerkmale schuldrechtlicher Pflichten verfügt. Wir hatten gefragt, ob es gerade wegen des verbindenden Zuordnungstatbestandes von "Sonderverbindungen mit positiver Zielrichtung" zu einem Konflikt kommt, der es erforderlich macht, die Schutzinteressen des anderen zu beachten68 . Insoweit war festzustellen, daß eine verbindende Rechtskreisöffnung durch den Abbau der fremden Einfluß abwehrenden Schutzbarrieren zwangsläufig einen Konflikt schafft, der die Beteiligten in besonderem Maße schutzbedürftig und schützenswert macht. Der maßgebliche Gesichtspunkt, der über Anerkennung oder Ablehnung besonderer Schutzpflichten entschied, war aber, ob dieser Konflikt eines Ausgleichs durch besondere schuldrechtliche Pflichten in Form von Schutzpflichten bedarf 69 . Diese Frage konnte, nachdem aus §§ 545, 550, 618, 701 BGB die erforderlichen Wertungsmaßstäbe hergeleitet worden waren, eindeutig bejaht werden, und daneben konnte auch die rechtliche Grundlage der Schutzpflichten aufgezeigt werden. Jetzt können wir darüber hinaus feststellen, daß die Schutzpflicht - wie bereits an anderer Stelle angedeutet7° - eine personenbezogene Pflicht ist. Sie nimmt auf die persönlichen Verhältnisse derjenigen Rechtskreisträger Bezug, die ihre Rechtsgüter in die Rechtssphäre des anderen einbringen; sie verpflichtet zur Rücksichtnahme auf Leben, Gesundheit und Eigentum, verleiht aber auch den Geschäfts- und Vermögensinteressen des betreffenden Rechtskreisträgers besonderen Schutz. Dieser Inhalt der Schutzpflicht ist auch - wie die Strukturmerkmale besonderer schuldrechtlicher Pflichten weiterhin fordern 71 - gerade durch die Eigenart des Konfliktes bedingt, den auszugleichen die Schutzpflichten bestimmt sind. Das Interesse der Beteiligten geht dahin, ihre Rechtsgüter geachtet zu sehen; eben dieses Schutzinteresse prägt aber den Inhalt der Schutzpflichten. Sie belasten die betreffenden Rechtskreisträger mit der Pflicht, die fremden Rechtsgüter schadlos zu halten, und machen aus dem fremden Rechtskreis einen Schutzbereich zugunsten desjenigen, der seine Rechtsgüter in diese fremde Rechtssphäre einbringt. Siehe oben unter E I. Siehe oben unter E II. 70 Siehe oben unter C 111. ,I Siehe oben unter C IV.

68 69

F. Ergebnis

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F. Ergebnis Damit ist die eingangs gestellte Aufgabe', die wahre Rechtsnatur der "vorvertraglichen " Schutzpflicht anhand der Strukturmerkmale echter schuldrechtlicher Pflichten zu ergründen, gelöst. Ohne daß ihre Ablehnung oder Anerkennung von persönlichen Wertungen beeinflußt wäre, läßt sich feststellen, daß die Schutzpflicht in der Tat eine echte schuldrechtliche Pflicht ist: 1. Eine Sonderordnung durch besondere Schutzpflichten ist erforderlich, weil es wegen des verbindenden Zuordnungstatbestandes eines Verhandlungsverhältnisses zu einem Schutzkonflikt zwischen den Beteiligten kommt.

2. Diese Schutzpflicht ist personenbezogen, weil sie auf die persönlichen Verhältnisse derjenigen Rechtskreisträger Bezug nimmt, die ihre Rechtsgüter in die Rechtssphäre des anderen einbringen. 3. Sie bezweckt den Ausgleich der Schutzinteressen, die durch die konkrete Art der Zuordnung deshalb berührt werden, weil gerade der Abbau der auf Isolation bedachten Schutzbarrieren und die Unterlassung möglicher Selbstschutzmaßnahmen die betreffenden Rechtskreisträger in besonderem Maße schutzbedürftig und schützenswert macht. 4. Der Inhalt der Schutzpflicht, auf Leben, Gesundheit und Eigentum, aber auch auf Geschäfts- und Vermögensinteressen des betreffenden Rechtskreisträgers Rücksicht zu nehmen, ist gerade durch die Eigenart des Schutzkonfliktes bedingt, den auszugleichen die Schutzpflicht bestimmt ist.

Dieses Ergebnis deckt sich in vollem Umfang mit der Auffassung der Befürworter der Schutzpflichten2 • Nur konnten diese bislang nicht erklären, warum die Schutzpflichten durch die Eigenart des Verhandlungsverhältnisses bedingt seien. Diese Untersuchung hat die erforderliche Erklärung nachgeholt und hat aufgezeigt, daß die Schutzpflichten die notwendige Folge einer jeden Sonderverbindung sind. Daher kann sie auch den Argumenten der Gegenmeinung 3 standhalten, die die fest1

Siehe oben unter B.

Canaris, JZ 1965, S. 475 ff.; Thiele, JZ 1967, S. 649 ff.; Gerhardt, JZ 1970, S. 535 ff.; ders., JuS 1970, S. 597 ff.; Eike Schmidt, Nachwort, S. 131 (144 ff.); Baumert, S. 40; Diers, S. 59; Kober, S. 10; Holz, S. 34, 43; Meyer, S. 7; Fischer, S. 65; Dömpke, S. 55 Fußn. 124 a; Geiß, S. 23; Sommer, S. 22; Krasser, S. 29; Zweig, S. 13 ff.; Paterna, S. 2; Schulze, S. 28 f.; Crodel, S. 4; Staege, S. 3; Schönwald, S. 18; Koerjer, S. 64; Stöcker, S. 104; Steinberg, S. 90, Ottensmeyer, S. 40, 42; Kruse, S. 13 f.; Bogusch, S. 44, 45 f.; Ehwald, S. 4; Schultz, S. 68; Esser, JZ 1952, S. 257 (259); RG JW 1937, S. 2651; BGH NJW 1962, 2

S. 31 f.; BGHZ 66, S. 51 (54). 3 Nirk, RabelsZ 18, S. 310 (352); Eichler, AcP 162, S. 401 (414 f.); Hans Stall, AcP 176, S. 145 (150 f. Fußn. 21); ders., Festschrift für von Caemmerer, S. 435 (452); Huber, AcP 177, S. 281 ff.; Kreuzer, JZ 1976, S. 778 (780); RietzIer,

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1. Teil: Die" vorvertragliche" Schutzpflicht

gestellten Begründungslücken als Schwäche der Schutzpflichten gewertet hat und diese zu Unrecht in das Deliktsrecht verweisen wollte. Die Schutzpflichten sind aber, da sie die notwendige Folge einer jeden Sonderverbindung sind, "geborene" besondere Pflichten. Als solche sind sie spezieller als die allgemeinen deliktischen Pflichten. Der übereinstimmende Schutzzweck von Schutzpflicht und deliktischer Pflicht bedeutet nur, daß diese Pflichten nebeneinander in einem Konkurrenzverhältnis stehen, wobei der Schutzpflicht wegen ihrer Spezialität der Vorrang gebührt 4 • Auch unter diesem Gesichtspunkt bestätigt diese Arbeit die Richtigkeit der Auffassung, daß Ansprüche wegen einer Schutzpflichtverletzung auch dann gegeben sind, wenn das Deliktsrecht eine befriedigende Lösung des eingetretenen Rechtsgüterkonfliktes erlaubt5 • Diese Betrachtungsweise trägt der notwendigen Spezialität der Schutzpflicht Rechnung, die die Befürworter der Schutzpflicht nur gefühlt, nicht aber begründet hatten. Im einzelnen ergibt sich aufgrund der vorstehenden Untersuchung folgendes Bild vom Wesen der "vorvertraglichen" Schutzpflicht: - Schutzpflichten sind nicht dem Deliktsrecht entliehen, - sie sind die notwendige Folge einer jeden verhandlungsbedingten Sonderverbindung, - sie präzisieren die Forderung des § 242 BGB nach einem Verhalten, das Treu und Glauben entspricht, - sie beruhen auf dem "in Anspruch genommenen und gewährten Vertrauen", - dieses Vertrauen ist gerade wegen der Eigenart einer verhandlungsbedingten Sonderverbindung berechtigt, - die Öffnung der beteiligten Rechtskreise sowie die gewollte und zweckgerichtete Zuwendung, die eine Sonderverbindung entstehen läßt, verlangen von den Beteiligten eine gesteigerte Rücksichtnahme, - damit der enge Rechtsgüterkontakt, der für die Sonderverbindung eigentümlich ist, nicht zu einem Konflikt - der Verletzung der sich berührenden Rechtsgüter - führt, wird beiden Teilen eine Rücksichtnahme auf die betreffenden Rechtsgüter abverlangt, - auf die Gewährung dieser Rücksichtnahme kann vertraut werden, denn mit seiner Einladung zu Verhandlungen wirbt der Einladende um dieses RabelsZ 5, S. 567 (569 f.); Rabel, S. 158; Hartig, S. 67 f.; Ortner, S. 71 f.; HiZdebrandt, S. 134; Faber, S. 67; Titze, HdR VI, S. 516; CabjoZsky, S. 45; Schönemeyer, S. 36 f.; Böhmer, MDR 1961, S. 566 (567); von Caemmerer, Festschrift DJT 1960, S. 49 ff.; Posch, zmv 15 (1974), S. 165 ff. t Larenz, Vertrag und Unrecht, Band II, S. 74; Dietz, RabelsZ 1962, S. 181

(183 ff.). 5 In dem eingangs (vor A) berichteten Sachverhalt hat das Reichsgericht (RG JW 1937, S. 2651) seine Entscheidung auf eine Schutzpflichtverletzung gestützt, obwohl sich auch ein Anspruch wegen der Verletzung einer Verkehrssicherungspflicht ergab.

G. Inhalt der "Vertrauenshaftung" für Schutzpflichtverletzungen

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Vertrauen; er weiß, daß der von bei den verfolgte Zweck eines Vertragsschlusses nur erreicht werden kann, wenn er auf die Interessen des anderen Rücksicht nimmt, - mit der Annahme seiner Einladung an den anderen entsteht für ihn die "Schutzpflicht", denn sein Partner, der sich im Vertrauen auf diese seine Bereitschaft, die fremden Rechtsgüter zu achten, in Verhandlungen eingelassen hat, kann nunmehr verlangen, daß er diese Bereitschaft in die Tat umsetzt.

G. Der Inhalt der "Vertrauenshaftung" für Schutzpflichtverletzungen Wie wir gesehen haben, dient das "Vertrauen" dazu, die generelle Verhaltensregel des § 242 BGB nach einer Rücksichtnahme auf fremde Schutzinteressen in einen Anspruch umzusetzen. Einige Autoren l meinen nun, daß bei der Anspruchsbegründung jeweils überprüft werden müsse, ob der Anspruchsteller tatsächlich "vertraut" habe. Seine Vorstellungswelt sei darauf zu untersuchen, ob er unabhängig von der Vertrauenswerbung des anderen - wirklich geglaubt habe, daß dieser sein Sicherungsbedürfnis befriedigen werde. Die notwendige Folge einer solchen "subjektiven Betrachtungsweise" ist, daß demjenigen, der - aus welchen Gründen auch immer - "mißtrauisch" gewesen ist, Schutzansprüche abgesprochen werden. Trägt eine solche Betrachtungsweise aber den Besonderheiten der Schutzpflicht in ausreichendem Maße Rechnung? Führt sie überhaupt zu Ergebnissen, die mit der Gerechtigkeitsfunktion des § 242 BGB2 vereinbar sind? Kann das Recht die fein nuancierten Vorstellungen der Anspruchsteller wirklich in einer derartig konkreten Weise erforschen, wie es diese Autoren fordern? I. Praktikabilität eines "subjektiven" Vertrauensbegriffs im Recht

Diese Schwierigkeiten, die sich aus einer "subjektiven Betrachtungsweise" ergeben, sollen die nachfolgenden Beispiele deutlich machen: 1. Fall: Bauherr B sucht den Zimmermann Z auf; er will mit diesem über Zimmerarbeiten an seinem Neubau verhandeln. Er trifft Z auf einem Hof an, auf dem Bauholz gelagert ist. Während der Verhandlungen fällt ein nicht sachgerecht gelagerter Balken herab und verletzt B schwer.

Hier ist das Entstehen von Schutzpflichten noch unbedenklich zu bejahen: B hat das dem Z gehörende Gelände betreten, um mit diesem über den Abschluß eines Werkvertrages zu verhandeln. Zu diesem Zwecke haben sowohl Z als auch B ihre Rechtskreise geöffnet, und 1 Baumert, S. 27 f.; Geiß, S. 12; Bickenbach, S. 16; Nell, S. 53, 65; Meyer, S. 43; Voswinket, S. 26, SiZbermann, S. 30. 2 Stöcker, S. 90; Eichter, S. 30.

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1. Teil: Die" vorvertragliche" Schutzpflicht

beide haben ihre Rechtsgüter dem Einfluß des anderen ausgesetzt. Aufgrund dieser zweckbestimmten Zuwendung, die zum Entstehen einer Sonderverbindung führte, wurde beiden die Pflicht auferlegt, den anderen nicht zu verletzen. Diese Schutzpflicht hat Z schuldhaft verletzt, und er muß dem B Schadensersatz leisten. Warum macht es hier aber keine Schwierigkeiten, die Schutzansprüche des B zu begründen? Vergegenwärtigen wir uns die Forderung der "subjektiven Theorie", die Gefühlslage des Anspruchstellers auf das Vorhandensein von Vertrauen zu überprüfen, so erkennen wir, daß nach der "subjektiven Betrachtungsweise" Ansprüche deshalb zuzubilligen sind, weil über das Gefühlsleben des B nichts bekannt ist, das Anlaß zu Zweifeln über sein Vertrauen gibt. Die "subjektive Theorie" muß sich mit der Feststellung begnügen, daß B seine Rechtsgüter in den Rechtskreis des Z eingebracht und dadurch Vertrauen erwiesen hat. Hier muß also auch die "subjektive Theorie" mit einer bloßen Tatsachenwertung arbeiten.

2. Fall: Nicht B, sondern der von ihm mit allen Vollmachten ausgestattete Architekt A sucht Z auf. Infolge seiner besonderen Sachkunde erkennt er, welche Gefahr von den unsachgemäß gelagerten Balken ausgeht. Um den Auftrag des B zu erfüllen, beginnt er aber dennoch ein Gespräch mit z. Während der Verhandlungen wird er von einem herabfallenden Balken verletzt.

Dieser Sachverhalt unterscheidet sich von dem vorgenannten Beispiel dadurch, daß die Vorstellungen des Anspruchstellers jetzt bekannt sind. A wußte, welcher Gefahr er sich aussetzte; er hat lediglich gehofft, daß sie sich nicht verwirklichen würde. Er hat aber nicht darauf "vertraut", daß der Rechtskreis des Z frei von Gefahren sein würde. Daher würden ihm nach der "subjektiven Theorie" keine Schutzansprüche zustehen. Ist es aber nicht ungerecht, daß A nur deshalb seiner Schutzansprüche beraubt sein soll, weil über seine Vorstellungen mehr bekannt ist als über die des B? Darf die augenblicksbezogene, oft rein gefühlsmäßige Einschätzung der Situation überhaupt darüber entscheiden, ob für den anderen Schutzpflichten entstehen oder entfallen? Macht die Wahrnehmung von Gefahren den aufmerksamen Beobachter wirklich weniger schutzbedürftig als denjenigen, der die Gefahren nicht entdeckt? Noch offenbarer werden diese Zweifel bei folgender Fallkonstellation: 3. Fall: A begleitet B auf dem Geschäftsgang zu Z. B hat ihn ausdrücklich darum gebeten, weil er selbst das Angebot des Z nicht beurteilen könne. Beide werden von dem herabstürzenden Balken verletzt, bevor A die Möglichkeit hat, B auf die drohende Gefahr hinzuweisen. Sollen A und B tatsächlich verschieden behandelt werden, weil A mehr "wußte" als B? Hier muß sich das Rechtsempfinden doch geradezu

G. Inhalt der "Vertrauenshaftung" für Schutzpflichtverletzungen

95

gegen eine Andersbehandlung des A sträuben! Schließlich haben beide ihre Rechtsgüter in gleicher Weise in den Rechtskreis des Zeingebracht, und A hat den B nicht zu seinem Vergnügen, sondern kraft seiner vertraglichen Obliegenheiten begleitet. Zur Rechtfertigung ihrer Ansicht können sich die Vertreter der "subjektiven Theorie" allerdings darauf berufen, daß über das Vorhandensein eines "natürlich-sittlichen" Vertrauens allein die Gefühlslage des Anspruchstellers entscheidet3 • "Vertrauen" bedeutet einen höheren Grad der Erwartung als den der Hoffnung, es erreicht aber nicht das intensive Gefühl der Zuversicht4 . Für das Entstehen eines solchen Vertrauens sind viele innere und äußere Momente maßgeblich Gründe, die für einen Außenstehenden nicht nachvollziehbar sind'. Ein Dritter kann nicht nachempfinden und nicht durch Tatsachen belegen, warum die Betreffenden dem Verhalten des anderen eine besondere, Vertrauen erweckende Redlichkeit entnehmen, warum erwartet wird, daß das entgegengebrachte Vertrauen erwidert werden wird 6 • Die Reaktionsweise des Vertrauenden ist durch Gesinnungen und Erwartungen gekennzeichnet, die ausschließlich seinem Vorstellungs- und Empfindungsleben angehören. Gerade deshalb muß aber gefragt werden, wie sich die Vertreter der subjektiven Theorie eine rechtliche Umsetzung dieses "natürlich-sittlichen" Vertrauens vorstellen. Wie wollen sie herausfinden, ob A im Gegensatz zu B die besondere Gefahr erkannt hat? Schließlich hat sich A nach außen hin nicht anders verhalten als B. Die feinen Nuancen der Gefühlswelt kann das Recht nun einmal nicht plastisch machen 7 ; es kann nur mit Tatsachen arbeiten, und es kann sich nur auf die Tatsachen stützen, die sich aus einer Beweisaufnahme ergeben. Eine Beweisaufnahme über das Gefühlsleben des Anspruchstellers ist jedoch undenkbar 8 • Da über Schutzpflichten nicht gesprochen wird und niemand ausdrücklich sagt, daß er einem anderen seine Gesundheit und sein Eigentum anvertraue 9 , stellt sich die Sachlage in den Fällen 2. und 3., soweit es um die für die Anspruchsbegründung maßgeblichen Tatsachen geht, nicht anders dar als im Ausgangsfall 1. Es könnte allenfalls auf Hilfstatsachen zurückgegriffen werden, die möglicherweise den Schluß auf die Haupttatsache "Vertrauen" zulassen. Damit wäre aber 3 Sticht, S. 41; von Craushaar, S. 13. • Eichler, S. 3; Stöcker, S. 65. 5 Eichler, S. 2 ff.; von Craushaar, S. 11; Stöcker, S. 65, 84; Sticht, S. 41 ff. 6 Eichler, S. 2 f.; Sticht, S. 42; Stöcker, S. 84. 1 Sticht, S. 41 f.; Eichler, S. 4 f.; Stöcker, S. 65. 8 Stöcker, S. 65. 9 Dies zeigte bereits die Diskussion über Sibers Lehre vom Erhaltungs-

vertrag (unter D II 2).

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1. Teil: Die "vorvertragliche" Schutzpflicht

die Idee, das "natürlich-sittliche" Vertrauen "rein" in das Recht umzusetzen, verlassen - schließlich sind auch Hilfstatsachen objektive Gesichtspunkte, die losgelöst von allen subjektiven Besonderheiten zu werten sind. Bezeichnenderweise schweigen die Vertreter der subjektiven Theorie dazu, wie sie diese Umsetzungsschwierigkeiten überwinden wollen. Sollte ihnen hier bewußt geworden sein, daß eine unüberbrückbare Kluft zwischen ihrer Rechtstheorie und der Rechtspraxis besteht? Sollten sie hier bemerkt haben, daß doch letztlich die Praxis über die Verwendbarkeit einer jeden Theorie entscheidet? Damit können wir folgendes festhalten: - zu der Idee, bei der rechtlichen Umsetzung des Vertrauens subjektive Momente zu berücksichtigen, verführt der Begriff des "natürlich-sittlichen" Vertrauens, - das "natürlich-sittliche" Vertrauen ist notwendigerweise subjektiv geartet, sein Entstehen wird ausschließlich durch innere Reaktionen bestimmt - diese Vorgänge sind aber Außenstehenden nicht zugänglich, - an der fehlenden Möglichkeit, die inneren Vorgänge, die das Entstehen von Vertrauen beeinflussen, nachzuempfinden, scheitert das Unterfangen, auch im Recht von einem subjektiven Vertrauenstatbestand auszugehen, - das Recht kann nicht die fein nuancierte Gefühlswelt des einzelnen erforschen; es muß mit Tatsachen arbeiten und ist daher auf einen tatsachenbezogenen objektiven Vertrauenstatbestand angewiesen. Aber noch weitere Gesichtspunkte sprechen gegen einen subjektiven Vertrauenstatbestand. 11. Der "subjektive" Vertrauensbegriff und die Gerechtigkeitsfunktion des § 242 BGB

Wenn der "Partner" um Vertrauen geworben hat, ist der andere schon deshalb schützenswert, weil er seine Rechtsgüter der erhöhten Einflußmöglichkeit des anderen aussetzt. Es liegt häufig nicht einmal in seinem Beherrschungsvermögen, die drohende Gefahr abzuwenden 10 • In jedem Fall ist sein Interesse, die von beiden angestrebte Sonderverbindung zustandekommen zu lassen, so vorrangig, daß er den eigenen Schutz zurückstellt. Dann ist es aber mit der Gerechtigkeitsfunktion des § 242 BGB unvereinbar, daß ihm unter Zugrundelegung der "subjektiven Theorie" alle Schutzansprüche abgesprochen werden sollen. Die Vorschrift des § 242 BGB will die Interessen der Beteiligten ausgleichen und will einen reibungslosen Ablauf des Rechtsverkehrs ermöglichen l l . Der Rechtsverkehr würde jedoch unerträglich durch ängstliche Vorsicht und durch Mißtrauen behindert, wenn jeder vor dem Entschluß, seine Rechtsgüter in die Sphäre des anderen einbringen zu wollen, zunächst 10 11

von Craushaar, S. 25. Meier-Hayoz, S. 81 ff.; Raiser, AcP 127, S. 1 (27 f.).

G. Inhalt der "Vertrauenshaftung" für Schutzpflichtverletzungen

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eingehend prüfen müßte, ob die Umstände wirklich ein Vertrauen seinerseits zulassen12 •

m. Der "subjektive" Vertrauensbegriff uud die eingesdlränkte Begünstigungsfunktion des Vertrauens bei der Begründung von Sdlutzpflicb.ten Insbesondere trägt die "subjektive Theorie" der eingeschränkten Begünstigungsfunktion des Vertrauens nicht hinreichend Rechnung. Das Vertrauen soll nach übereinstimmender Ansicht zur Anspruchsbegründung dienen. Es verleiht demjenigen, der seine Rechtsgüter in den Rechtskreis eines anderen einbringt, eine vorteilhafte Rechtsposition 13 • Doch kann das Vertrauen nicht eigenständig besondere Pflichten hervorbringen. Es setzt lediglich die Verhaltensregel des § 242 BGB in eine Verhaltenspjlicht um, die einen korrespondierenden Anspruch hervorbringt - die Schutzpflicht. Grundvoraussetzung für das Entstehen von Schutzpflichten ist daher, daß zwischen den Beteiligten eine Sonderverbindung zustande kommt. Nur weil die Beteiligten ihr abwehrbereites Nebeneinander aufgeben und durch ein verbindendes, gegenseitige Rücksicht verlangendes Miteinander ersetzen, sind sie in einem so hohen Maß schützenswert, daß die Vorschriften des Deliktsrechts nicht mehr passen und der Rechtsgüterschutz durch besondere Schutzpflichten gewährleistet werden muß. Wie wird nun die erforderliche Feststellung getroffen, daß jemand wegen des Zustandekommens einer Sonderverbindung in besonderem Maße schützenswert ist? Wir haben gesehen, daß zunächst gefragt wird, ob die Beteiligten einander willentlich und zweckbestimmt ihre Rechtskreise geöffnet haben. Es wird nach Tatsachen gesucht, aus denen sich eine derartige Rechtskreisöffnung ergibt; der noch nicht in die Tat umgesetzte geheime Wille, dem anderen den eigenen Rechtskreis öffnen zu wollen, reicht nicht aus. Weiter müssen die Beteiligten ihre Rechtsgüter in den Rechtskreis des anderen eingebracht haben; dazu müssen sie die auf Isolation bedachten Schutzbarrieren abgebaut und ihre Rechtsgüter dem Einfluß des anderen ausgesetzt haben. Wenn diese Tatsachen vorliegen und durch eine Beweisaufnahme festzustellen sind, ist Raum für den Wertungsmaßstab des § 242 BGB: das Recht wertet diese Tatsachen dahin, daß für die Beteiligten ein so hohes Schutzbedürfnis besteht, daß sie einander ein "schützendes Verhalten" schulden. Damit beruhen die für ein Entstehen von Schutzpflichten erforderlichen Voraussetzungen ausschließlich auf Tatsachen und auf tatsachenbezogenen 12 Canaris, Vertrauenshaftung, S. 442 Fußn. 16; Schönwald, S. 15; Frotz, Verkehrsschutz, S. 172; Meier-Hayoz, S. 109; Hammel, S. 56; von Craushaar, S.21. 13 Hübner, Festschrift für Nipperdey, S. 373 (397).

7 Frost

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l. Teil: Die "vorvertragliche" Schutzpflicht

Wertungen; subjektive Erwägungen werden gänzlich außer acht gelassen, es sind allein objektive Gesichtspunkte maßgeblich. Kann ein "schützendes Verhalten" aber nur dann gefordert werden, wenn diese Voraussetzungen für das Zustandekommen einer Sonderverbindung vorliegen, kommt dem Vertrauen für die Begründung von Schutzpflichten zwar eine Begünstigungsfunktion zu; dies ist aber nur eine Hilfsfunktion - mit dem Bejahen einer Sonderverbindung steht ja bereits fest, daß ein schützendes Verhalten geschuldet wird, und dieses nach Treu und Glauben zu beobachtende Verhalten macht gerade den Inhalt der Schutzpflicht aus. Die Bedeutung des Vertrauens erschöpft sich also darin, diese Verhaltensregel, die aufgrund einer tatsachenbezogenen Wertung gewonnen wurde, in einen Anspruch umzusetzen. Welche Bedeutung hat diese eingeschränkte Begünstigungsfunktion nun für den Inhalt der Vertrauenshaftung? Das Vertrauen setzt festgestellte Tatsachen und getroffene Wertungen, die Grundvoraussetzungen für das Entstehen der Schutzpflicht sind, in einen Anspruch um; diese Tatsachen und Wertungen sind maßgeblich dafür, ob jemand schützenswert ist. Dann kann das Vertrauen aber nicht plötzlich eigenständig darüber entscheiden, ob ein "schützendes Verhalten" wirklich geschuldet wird. Diese Voraussetzung war ja bereits zuvor bejaht worden, und sie kann jetzt nicht nachträglich wieder dadurch unterlaufen werden, daß bei dem Vertrauen subjektiv geartete Empfindungen des einzelnen berücksichtigt werden. Ein solches Vorgehen verbietet sich wegen der bloßen Hilfsfunktion des Vertrauens. Schutzpflichten beruhen ja nicht auf einer isolierten Vertrauenshaftung; sie können nur entstehen, weil eine Sonderverbindung vorliegt, und an den zuvor getroffenen Wertungen muß auch das zur Anspruchsbegründung bemühte Vertrauen festhalten. Dieses Vertrauen ist dann zwar nicht mehr identisch mit dem "natürlich-sittlichen" Vertrauen; es darf diese Identität aber auch nicht mehr aufweisen, weil ihm eine bloße Hilfsfunktion, die auf Tatsachen Bezug nimmt, zukommt. Diese Hilfsfunktion haben die Vertreter der "subjektiven Theorie" verkannt. In ihrem Bestreben, die Gefühlswelt des einzelnen berücksichtigen zu wollen, haben sie übersehen, daß das "Vertrauen" nicht um des Vertrauens willen besondere Schutzpflichten hervorbringt. Bei dieser eingeschränkten Begünstigungsfunktion ist aber noch ein weiterer Gesichtspunkt zu bedenken. Wenn das Entstehen von Schutzpflichten davon abhängen würde, daß ein "natürlich-sittliches" Vertrauen vorliegt, wäre der "Partner" immer dann nicht mit Schutzpflichten belastet, wenn der andere "mißtrauisch" ist. Wie soll in unseren Beispielsfällen der an sich schutzpflichtige Z aber erkennen, ob A ihm

G. Inhalt der "Vertrauenshaftung" für Schutzpflichtverletzungen

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vertraut oder nicht? Schließlich hat sich A in den Augen des Z und auch in den Augen eines jeden Außenstehenden nicht anders verhalten als B; wie dieser hat A seine Rechtsgüter in den Rechtskreis des Z eingebracht. Also könnte die Frage, ob Z schutzpflichtig "war", erst nachträglich geklärt werden. Bis zu dieser nachträglichen Klärung wäre sich Z im unklaren darüber, ob er nun pflichtig war oder nicht, ob von ihm ein bestimmtes Tätigwerden verlangt werden konnte oder nicht über das Bestehen einer etwaigen Schutzpflicht würde mithin erst nach der Verletzungshandlung entschieden werden. Diese Aussicht muß aber die Erinnerung an die dogmatisch nicht haltbare Lehre Leonhards wecken 14 • Dort hatten wir erkannt, daß nur solche Pflichten verletzt werden können, die bereits im Zeitpunkt der Verletzungshandlung bestehen. Daher würde eine subjektive Begründung der Vertrauenshaftung eine heimliche Rückkehr zu den längst überwunden geglaubten Thesen Leonhards bedeuten. Dies zeigt die Unhaltbarkeit der "subjektiven Theorie": Über das Bestehen von Schutzpflichten darf weder für den Begünstigten noch für den Pflichtigen Zweifel bestehen; dies würde der Begünstigungsfunktion des Vertrauens zuwiderlaufen: Schutzpflichten existieren wegen des erhöhten Schutzbedürfnisses der Beteiligten; wäre die Frage, ob jemand schutzbedürftig ist, nicht von vornherein eindeutig geklärt, könnte von einer echten Zuwendung der Beteiligten, die Merkmal einer Sonderverbindung ist, nicht mehr die Rede sein. IV. Ersetzung des subjektiven Vertrauenstatbestandes durch einen objektiv-wertenden Vertrauenstatbestand

Diese Schwäche der "subjektiven Theorie", über das Entstehen von Schutzpflichten nicht von vornherein zweifelsfrei Auskunft geben zu können, hat insbesondere Thiele 15 erkannt. Er sowie eine Anzahl anderer Autoren 16 vertreten daher die Ansicht, daß das "natürlich-sittliche" Vertrauen im Recht durch einen "objektiv-typisierten Vertrauenstatbestand" ersetzt werden müsse. Zu dessen Bejahung reiche aus, daß eine Vertrauenswerbung sowie ein Vertrauenserweis vorliege, der in der Einbringung der eigenen Rechtsgüter zu sehen sei. Das Vorhandensein eines subjektiv gewachsenen Vertrauens sei daneben nicht erforSiehe unter DIll. JZ 1967, s. 649 (652); ähnlich Berger, S. 22; Goldscheider, Gruchot 60, S. 369 (372) für die Gastwirtshaftung. 16 Canaris, Vertrauens haftung, S. 528, 540; Sticht, S. 42 f.; Fratz, Verkehrsschutz, S. 60; ders., Festschrift für Gschnitzer, S. 163 (168); Eichler, S. 12 ff.; von Craushaar, S. 20 f.; Ballerstedt, AcP 151, S. 501 (506 ff.); Daum, NJW 1968, S. 372 (376); Medicus, JuS 1965, S. 209 (213); Wesenberg, DRiZ 1953, S. 13; Flume, AcP 161, S. 52 (63); Erman, AcP 139, S. 273 (311 f.); Hübner, Festschrift für Nipperdey, S. 373 (400, Fußn. 100); Stöcker, S. 65, 89; Paterna, S. 28 ff.; N egedanck, S. 25. 14

15

7*

Thiele,

100

1. Teil:

Die "vorvertragliche" Schutzpflicht

derlich. Das Recht könne die jeweilige Gefühlslage des Anspruchstellers nicht berücksichtigen; es könne nur dem Verhalten der Beteiligten bestimmte Rechtsfolgen beilegen, und bei Vorliegen des genannten objektiven Vertrauenstatbestandes werde angenommen, daß vertraut worden sei. Entscheidend sei daher, ob ein unbeteiligter Dritter die Umstände dahin werten würde, daß Vertrauen in Anspruch genommen und gewährt worden sei. Hinter dieser Ansicht verbirgt sich vor allem ein Unbehagen gegenüber einer zu starken Berücksichtigung von subjektiven Empfindungen. Es wurde erkannt, daß das Recht nicht von dem Leitbild des "natürlichsittlichen" Vertrauens ausgehen kann, weil es keinen Einblick in das fein nuancierte Gefühlsleben der Beteiligten hat. Ein gewisses Bedenken blieb aber bestehen. Schließlich hat sich dieses "wertende Vertrauen" durch die Außerachtlassung von subjektiven Momenten so weit von dem "natürlich-sittlichen" Vertrauen entfernt, daß nun insgeheim gefragt werden mußte, ob es die Bezeichnung "Vertrauen" überhaupt noch verdient 17 • Dieses Bedenken war um so größer, weil sich die Befürworter des "objektiv-typisierten Vertrauenstatbestandes" zwar immer auf § 242 BGB berufen hatten, aber dennoch von einer eigenständigen Vertrauenshaftung ausgegangen waren und die Wechselwirkung von Sonderverbindung und Schutzpflicht nicht erkannt hatten. Über die inhaltliche Berechtigung einer "Vertrauens"-Haftung wurde daher resignierend geschwiegen, und es wurde nicht einmal versucht, Gemeinsamkeiten zwischen dem "natürlich-sittlichen" und dem "objektiv-wertenden" Vertrauen aufzuzeigen. Eher schüchtern wurde behauptet, daß das "objektiv-wertende" Vertrauen eine Lücke der Rechtsgeschäftslehre schließe, die durch das Fehlen einer rechtsgeschäftlichen Bindung gekennzeichnet seilS. Die Beteiligten könnten einen Rechtsgüterkonflikt nicht aus eigener Kraft vermeiden, und daher müsse das Vertrauen dort, wo die eigene Macht nicht reiche, aushelfenlU. Doch kann der bloße Hinweis auf die lückenhafte Rechtsgeschäftslehre nicht erklären, welche Verwandtschaft zwischen dem "natürlichsittlichen" und dem "objektiv-wertenden" Vertrauen besteht. Ebensowenig wird klar, warum die fehlende Möglichkeit, die aus dem fremden Rechtskreis fließenden Gefahren abzuwehren, ein rechtlich bedeutsames Vertrauen bedingen soll. Immerhin hat aber die vorstehende Untersuchung gezeigt, daß eine rechtsgeschäftliche Bindung die inten17 Canaris, Vertrauenshaftung, S. 1: "Von ,Vertrauens haftung' zu sprechen ist nur sinnvoll, wo das Vertrauen für den Eintritt der Rechtsfolge überhaupt eine Rolle spielt." 18 Eichler, S. 11 ff.; Canaris, Vertrauenshaftung, S. 440, 442.

19

Sticht, S. 36; von Craushaar, S. 25.

G. Inhalt der "Vertrauenshaftung" für Schutzpflichtverletzungen

101

sivste Form einer selbstbestimmten Sonderverbindung darstellt, und daher könnten gerade die Eigenarten einer rechtsgeschäftlichen Bindung Aufschluß über die Besonderheiten einer Vertrauenshaftung geben. Bei einer rechtsgeschäftlichen Bindung haben sich die Beteiligten zu einem bestimmten Verhalten verpflichtet; sie haben ausdrücklich erklärt, daß sie in der vertraglich vereinbarten Weise tätig werden wollen, und haben durch ihre Worte bei dem anderen die Zuversicht oder zumindest die Erwartung erweckt, daß sie sich entsprechend verhalten würden. Fehlt nun eine rechtsgeschäftliche Bindung, so geben Worte keinen Anhaltspunkt dafür, welches Verhalten der andere beobachten wird 20. Insbesondere wird nicht darüber gesprochen, daß beide die Rechtsgüter des anderen schützen werden. Hier tut sich also in der Tat eine gewisse Lücke der Rechtsgeschäftslehre auf. Gibt aber nicht schon das eigene Handeln der Beteiligten genügende Anknüpfungspunkte dafür, wie sie sich in Zukunft verhalten werden? Wenn die Beteiligten eine Sonderverbindung miteinander eingehen, verlassen sie das allgemeine auf Isolation bedachte Nebeneinander; sie begegnen sich nunmehr auf einer Ebene des Rechtsverkehrs, auf der gemäß §§ 133, 157, 242 BGB jedem Handeln, das in Richtung auf einen anderen vorgenommen wird, ein bestimmter Erklärungswert zukommt21 • Daher ist jetzt zu fragen, ob dem Verhalten der Beteiligten ein Erklärungswert zu entnehmen ist, der die für ein "natürlich-sittliches" Vertrauen typische In teressenlage schafft22 • Das "natürlich-sittliche" Vertrauen ist dadurch gekennzeichnet, daß die Verhaltensweise eines Teils bei dem anderen die gefühlsmäßige Erwartung weckt, daß er in bestimmter Weise tätig werden wird. Folglich ist der Tatbestand, der ein "natürlich-sittliches" Vertrauen entstehen läßt, in dem Augenblick erfüllt, in dem der andere aufgrund irgendwelcher Umstände die Vorstellung gewinnt, dem anderen vertrauen zu dürfen. Das Recht kann sich mit derartigen inneren Vorgängen nicht begnügen; es kann nicht feststellen, wann der innere Vorgang der Vertrauensgewährung abgeschlossen ist. Es muß nach Tatsachen suchen, die auf eine Vertrauenswerbung und auf einen Vertrauenserweis hindeuten. Um zu dieser Feststellung zu gelangen, muß es notgedrungen die inneren Vorgänge der Betreffenden außer acht lassen - diese sind ihm nicht zugänglich; es kann nur mit Tatsachen arbeiten, die Ausdruck einer in die Wirklichkeit umgesetzten Gesinnung sind, und als Tatsachen objektiv feststellbar sind sowie rechtlich bewertet werden EichleT, S. 10, 17; SiZbeTmann, S. 30. HöxteT, S. 22; Hammel, S. 45; Sieg, NJW 1951, S. 506 (509). 22 LaTenz, Vertrag und Unrecht, Band I, S. 62; MeieT-Hayoz, nius, S. 239 f.; HöxteT, S. 11; Flume, AcP 161, S. 52 (63). 20 21

S. 25; Simo-

102

1. Teil: Die "vorvertragliche" Schutzpflicht

können 23 . Die das Vertrauen kennzeichnende Erwartung muß sich also im Recht wertend der Verhaltensweise der Beteiligten entnehmen lassen. Dem Verhalten des einen Teils muß der Erklärungswert zukommen, bei dem anderen eine bestimmte Erwartung hervorrufen zu wollen - die Erwartung, seine Rechtsgüter nicht zu verletzen 24 • Eine solche Vertrauens werbung liegt, wie wir gesehen haben, immer schon dann vor, wenn ein anderer zu Verhandlungen eingeladen wird. Damit wird die Bereitschaft bekundet, die Rechtsgüter des anderen achten zu wollen. Diese Bereitschaft ist insbesondere deshalb anzunehmen, weil es im eigenen Interesse des Einladenden liegt, daß der andere die Verhandlungen unversehrt "übersteht"25. Einem Verkäufer eines Gebrauchtwagens mag viel daran liegen, einen möglichst hohen Preis für seinen Wagen zu erzielen. Doch kann er als gerissen nur insoweit bezeichnet werden, wie es um den eigentlichen Vertragsgegenstand geht. Gesundheit und Eigentum des anderen will und muß auch er achten - im Verletzungsfall würden sich nämlich seine Chancen, dem Interessenten seinen Wagen verkaufen zu können, beträchtlich verringern. Ähnlich ist öie Interessenlage des möglichen Käufers: er will zwar den Kaufpreis für den ihm angebotenen Wagen möglichst stark "drücken"; seinen Verkäufer will er sich jedoch erhalten, dieser würde ihm im Verletzungsfalle nur noch schwerlich einen Wagen verkaufen. Weiter ist erforderlich, daß der andere aufgrund der bei ihm geweckten Erwartung dazu veranlaßt wird 26 , seine Rechtsgüter in den Rechtskreis des anderen einzubringen. Diese Maßnahme wertet das Recht als Vertrauenserweis. Auf diese Weise wird der für das Recht maßgebliche Vertrauenstatbestand zwar jeder Bezugnahme auf innere Vorgänge beraubt; die typische Interessenlage des "natürlich-sittlichen" Vertrauens bleibt aber dennoch gewahrt 27 : - die Beteiligten wissen nicht, wie sich der andere verhalten wird; ihr Handeln hat aber die Erwartung geweckt, daß der andere die eigenen Rechtsgüter nicht verletzen werde, - diese Erwartung ist größer als eine bloße Hoffnung, sie erreicht aber nicht das starke Gefühl der Zuversicht, - sie zeigt sich darin, daß die eigenen Rechtsgüter in den Einflußbereich des anderen eingebracht werden, - die Rechtsordnung bewertet ein solches Vertrauen so stark, daß sie dem 23 24

25

Stöcker, S. 65, 89; von Craushaar, S. 20 f. Thiete, JZ 1967, S. 649 (652); Eichter, S. 18; Stöcker, S. 85. Canaris, Vertrauenshaftung, S. 473, 480 f.; Höxter, S. 12, 22; Hübner,

Festschrift für Nipperdey, S. 373 (384), siehe oben unter E III 2. 26 Eichter, S. 18, 115; Stöcker, S. 85; Thiete, JZ 1967, S. 649 (652); BaHerstedt, AcP 151, S. 501 (506 ff.); Frotz, Verkehrsschutz, S. 6; ders., Festschrift für Gschnitzer, S. 163 (169). 27 Eichter, S. 10, 18, 112; Stöcker, S. 85; Thiele, JZ 1967, S. 649 (652).

G. Inhalt der "Vertrauenshaftung" für Schutzpflichtverletzungen

103

Vertrauenden sogar einen Anspruch einräumt und den anderen mit einer Pflicht belastet - der Schutzpflicht. Die Bezeichnung "Vertrauen" ist also trotz der einfließenden Wertungen berechtigt. Diejenigen Autoren, die sich nicht mit Tatsachen begnügen, sondern die jeweilige Gefühlslage der Beteiligten überprüfen wollen, schießen über das Ziel hinaus. Sie berücksichtigen nicht, - daß dem Recht Grenzen gesetzt sind, weil es nur Tatsachen beurteilen kann, - daß das Recht nicht die Gefühlslage der Beteiligten erforschen kann, - daß das Recht nur mit bestehenden Ansprüchen arbeiten kann, nicht aber mit solchen, deren Existenz lediglich für möglich gehalten wird. V. Zweifelsfragen betreffend die Entstehung eines Vertrauenstatbestandes

Abschließend gilt es zu klären, ob es dann überhaupt Fallkonstellationen gibt, bei denen das Entstehen von Vertrauen ausgeschlossen ist. Wir haben gesehen, daß der über ein "Vertrauen" entscheidende Tatbestand aufgrund von Tatsachen festgestellt wird und daß dieser Tatbestand eine Vertrauenswerbung und einen Vertrauenserweis fordert. Es ist allerdings denkbar, daß zwar eine Vertrauenswerbung vorliegt, zugleich jedoch Tatsachen bekannt sind, die gegen eine Gefahrlosigkeit des fremden Rechtskreises sprechen. Ebenso besteht die Möglichkeit, daß der andere zwar seine Rechtsgüter in den Rechtskreis des anderen einbringt, die ihm drohende Gefahr aber so offensichtlich ist, daß er sie erkennt oder hätte bemerken müssen. Kann dann noch von einer Vertrauenswerbung bzw. einem Vertrauenserweis die Rede sein? Auch hier verführt der Begriff des "natürlich-sittlichen" Vertrauens dazu, die Voraussetzungen für eine Vertrauenshaftung als nicht erfüllt anzusehen. Es kann jedoch nicht übersehen werden, daß ungeachtet der drohenden Gefahr eine Sonderverbindung entsteht. Daher muß richtigerweise gefragt werden, ob eine solche Gefahren bergende Sonderverbindung die Beteiligten weniger schützenswert macht. Schutzpflichten sind, wie die vorstehende Untersuchung gezeigt hat, die notwendige Folge einer jeden Sonderverbindung. Mithin ist allein entscheidend, ob die Voraussetzungen vorliegen, bei deren Vorhandensein ein "schützendes Verhalten" gefordert werden kann. Betrachten wir eine Gefahren bergende Sonderverbindung unter diesem Gesichtspunkt, so stellen wir fest, daß auch hier die beteiligten Rechtskreise geöffnet werden, daß die beidseitigen Rechtsgüter in den Einflußbereich des anderen eingebracht werden. Diese Überlegung muß also mit dem Ergebnis schließen, daß die Beteiligten auch in einer solchen Sonderverbindung schützenswert sind.

104

1. Teil: Die "vorvertragliche" Schutzpflicht

Der von der Vertrauenswerbung Angesprochene sieht sich jedoch einem Konflikt gegenüber. Auf der einen Seite nimmt er die Vertrauenswerbung des anderen wahr, die in ihm die Erwartung wecken will, daß seine Rechtsgüter unversehrt bleiben werden; auf der anderen Seite muß er sich damit auseinandersetzen, daß der fremde Rechtskreis Gefahren für seine Rechtsgüter birgt - Gefahren, die sich jederzeit verwirklichen können. Entschließt er sich dennoch, seine Rechtsgüter in den fremden Rechtskreis einzubringen, so macht dieser Entschluß seine Erwartung deutlich, daß sich die ihm bekannten Gefahren nicht realisieren werden, daß der andere Maßnahmen ergreifen wird, um das Verletzungsrisiko zu mindern. Dann geht es aber auch hier darum, daß ein Teil erwartet, nicht verletzt zu werden. Der einzige Unterschied zu einer intakten Begleitlage besteht darin, daß die drohende Gefahr gesehen wird; dies ändert aber nichts an der Erwartung, die eigenen Rechtsgüter respektiert zu sehen. Weicht der Inhalt dieser Erwartung aber nur in diesen feinen Nuancen von der Vorstellung ab, die bei einer intakten Begleitlage gehegt wird, liegt hier wie dort ein "Vertrauen" in dem oben entwickelten Sinne vor: die typische, ein Vertrauen kennzeichnende Interessenlage ist mit dem Erwecken der Erwartung gegeben, während der Dauer der Sonderverbindung nicht verletzt zu werden; der erforderliche Vertrauenserweis wird in dem Augenblick nach außen hin kundgetan, in dem der Vertrauende seine Rechtsgüter in den fremden Rechtskreis einbringt. Die Frage, ob bei gewissen Fallkonstellationen das Entstehen von Schutzpflichten ausgeschlossen ist, muß daher verneint werden. VI. Die Gefahren bergende Sonderverbindung und die Höhe des im Verletzungsfall zu leistenden Scbadensersatzanspruches

Allerdings wäre es häufig ungerecht, demjenigen, der sich im vollen Bewußtsein um die gefahrdrohende Lage in den Einflußbereich eines anderen begeben hat, im Verletzungs fall seinen vollen Schaden zu erstatten. Hier ist es angemessen, die Höhe des Schadensersatzanspruches zu kürzen. Rechtstechnisch kann dies dadurch geschehen, daß das Wissen um die Gefahren als ein Mitverschulden im Sinne des § 254 BGB berücksichtigt wird. Inwieweit die Ansprüche gekürzt werden, ist aber auch hier eine Frage der Beweisbarkeit - das Denken der Beteiligten gibt keinen faßbaren Anknüpfungspunkt; es können nur die bekannten oder durch eine Beweisaufnahme festgestellten Tatsachen dahin gewertet werden, daß der Anspruchsteller die Gefahr hätte erkennen müssen. Eine solche Lösung hat insbesondere den Vorzug, daß nicht an dem gefundenen Vertrauenstatbestand gerüttelt wird; dieser muß deshalb möglichst festgefügt sein, damit hinsichtlich des Entstehens von Schutz-

G. Inhalt der "Vertrauens haftung" für Schutzpflichtverletzungen

105

pflichten keine Zweifel aufkommen. Beide Beteiligten müssen jederzeit wissen, daß der andere schützenswert ist, sobald er seinen Rechtskreis geöffnet und seine Rechtsgüter in den fremden Rechtskreis eingebracht hat. VII. Zusammenfassung

Die Untersuchung über den Inhalt der Vertrauenshaftung läßt sich daher wie folgt zusammenfassen: 1. das für das Recht maßgebliche Vertrauen ist mit dem sittlichen" Vertrauen nicht identisch:

"natürlich~

- das Recht kann die Gefühlslage des Anspruchstellers nicht nachempfinden, - das Recht ist auf einen objektiven Vertrauenstatbestand angewiesen, der aufgrund von Tatsachen festgestellt werden kann. 2. Dieser objektive Vertrauenstatbestand trägt auch der eingeschränkten Begünstigungsfunktion des Vertrauens Rechnung: - Schutzpflichten werden nicht durch eine eigenständige Vertrauenshaftung hervorgebracht, - das Vertrauen setzt lediglich die Verhaltensregel des § 242 BGB in eine Verhaltenspflicht um, - diese Verhaltensregel wird aufgrund einer Tatsachenwertung gewonnen; es ist erforderlich, daß die Beteiligten ihre Rechtskreise geöffnet und ihre Rechtsgüter in den fremden Rechtskreis eingebracht haben, - an diese Wertungen muß sich auch das Vertrauen halten; daher greift die "Vertrauenshaftung" ein, sobald jemand wegen des Entstehens einer Sonderverbindung in besonderem Maße schützenswert ist, - für subjektive Gesichtspunkte, die gegen das Entstehen eines "natürlichsittlichen" Vertrauens sprechen, ist dann kein Raum mehr. 3. Die Berücksichtigung von subjektiven Gesichtspunkten würde auch dazu führen, daß die Beteiligten über das Entstehen von Schutzpflichten zweifeln müßten. Die innere Einstellung der Beteiligten zu~ einander könnte dann erst nachträglich geklärt werden. Verletzt werden können aber nur bestehende Pflichten, nicht aber solche, deren Entstehen für möglich gehalten wird. 4. Obwohl dieses "objektiv-wertende" Vertrauen aller subjektiven Gesichtspunkte beraubt ist, bleibt die das Vertrauen kennzeichnende Erwartungslage bestehen; daher ist es auch hier berechtigt, von "Vertrauen" zu sprechen: - die Beteiligten wissen nicht, wie der andere handeln wird, - aufgrund seines Verhaltens können sie aber erwarten, daß er die in seinen Rechtskreis eingebrachten Rechtsgüter nicht verletzen wird. 5. Der Vertrauenstatbestand ist auch erfüllt, wenn Tatsachen bekannt oder offenbar sind, die gegen eine Gefahrlosigkeit des fremden

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1. Teil: Die" vorvertragliche" Schutzpflicht

Rechtskreises sprechen. An der Erwartung, nicht verletzt zu werden, ändert sich auch in diesen Fällen nichts; ungeachtet der drohenden Gefahr wird gehofft, daß sich diese nicht verwirklichen wird und daß der andere geeignete Maßnahmen ergreifen wird, um eine Verletzung zu verhindern. Damit ist die typische, ein Vertrauen kennzeichnende Interessenlage gegeben. 6. Der Anspruchsteller muß jedoch unter Umständen eine Kürzung seiner Schadensersatz ansprüche hinnehmen, wenn er sich im vollen Bewußtsein um die Gefahren in den fremden Rechtskreis begeben hat. Sein Verhalten wird als Mitverschulden im Sinne des § 254 BGB gewertet. Dies hat den Vorteil, - daß der Vertrauenstatbestand festgefügt bleibt, - daß die Beteiligten wissen, daß sie dem anderen ungeachtet der drohenden Gefahr ein "schützendes Verhalten" schulden.

H. Abgrenzung der Schutzpflichtverletzungen gegenüber den unerlaubten Handlungen Die vorstehende Untersuchung hat gezeigt, daß Schutzpflichten die notwendige Folge einer jeden Sonderverbindung sind und als solche dem Deliktsrecht nicht entliehen werden. Um dieses Bild von der eigenständigen Wirkungsweise der Schutzpflicht abzurunden, soll abschließend aufgezeigt werden, wie Schutzpflichtverletzungen von den bloßen Verletzungen einer deliktischen Pflicht abzugrenzen sind. Wie bereits oben 1 festgestellt, muß nämlich nicht jeder Schaden, der während der zeitlichen Dauer einer Sonderverbindung eintritt, auf einer Verletzung einer durch die Sonderverbindung erzeugten Pflicht beruhen. Zur Einführung in die Problematik folgender Fall: A sucht den Laden des B auf und läßt sich von B sowie dessen Gehilfen C diverse Fernsehapparate vorführen. Er legt seine Ledertasche, in der sich seine Papiere und sein Portemonnaie befinden, auf einem Ausstellungsstück ab. C entwendet ihm Geld aus dem Portemonnaie, als sich A in Begleitung des B in einen anderen Teil des Geschäftes begibt. Ist dieser Diebstahl des C auch als eine dem B gemäß § 278 BGB zurechenbare Schutzpflichtverletzung anzusehen? Oder liegt nur eine unerlaubte Handlung vor, die dem B die Exkulpationsmöglichkeit nach § 831 BGB gibt? Einige Autoren 2 vertreten die Ansicht, daß jede Rechtsgutverletzung, die während der Verhandlungen geschehe, schon deshalb als I

Siehe oben unter C.

Eike Schmidt, AcP 170, S. 502 (512); ders., JurA 1971, S. 33; SoergeL I Schmidt, § 278 Anm. 5; Esser I Schmidt, SR AT, 2. Teilband, § 27 I 3, 2, S. 56 f.; Köpcke, S. 120 ff.; auch Fischer, S. 32; Feder, S. 41. 2

H. Schutzpflichtverletzung und unerlaubte Handlung

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Schutzpflichtverletzung zu bewerten sei, weil sie sich ja schließlich "während" der Verhandlungen ereignet habe. Auf die konkreten Umstände komme es nicht an; entscheidend sei, daß die Verhandlungen die Gelegenheit zu Schädigungen gegeben hätten. Aber reicht die Feststellung, daß die Verhandlungen die Gelegenheit zu einer Verletzung gegeben haben, wirklich aus, um von einer Schutzpflichtverletzung sprechen zu können? Bilden die Verhandlungen in Unserem Beispielsfall nicht nur den äußeren Rahmen für den von C begangenen Diebstahl? Die Definition der Schutzpflicht3 ist so allgemein gehalten, daß aus dem Umstand, daß C die "Rechtsgüter" seines "Verhandlungspartners" A verletzt hat, auf eine Schutzpflichtverletzung geschlossen werden könnte. Doch leiden Definitionen regelmäßig darunter, daß sie zwar eine Vorstellung von dem Inhalt des zu Erklärenden geben, der einprägsamen Kürze und Knappheit wegen aber seinen Sinn und Zweck vernachlässigen. Daher kann für die Entscheidung, ob ein solcher Diebstahl zugleich eine Schutzpflichtverletzung darstellt, nicht allein maßgeblich sein, daß die Definition "paßt"; viel bedeutsamer ist, daß eine solche Einordnung dem Sinn und Zweck der Schutzpflicht Rechnung trägt. Wir haben gesehen, daß die Partner einer Sonderverbindung mit Schutzpflichten belastet werden, weil die Betreffenden in besonderem Maße schutzbedürftig sind. Sie öffnen einander ihre Rechtskreise und setzen die eigenen Rechtsgüter dem Einfluß des fremden Rechtskreises aus. Damit dieser Rechtsgüterkontakt nicht zu einem Rechtsgüterkonflikt führt, schulden sie einander eine besondere Rücksichtnahme, die sich in der Schutzpflicht ausdrückt. A ist daher beispielsweise verpflichtet, die in dem Laden des B befindlichen Fernsehapparate nicht zu beschädigen, und B muß darauf achten, daß die Fernsehapparate nicht so unvorsichtig aufgestellt sind, daß sie bei einer leichten Berührung umstürzen und A verletzen. Diese Gefahren sind typisch für einen verbindenden Rechtsgüterkontakt, der zum Zwecke von Verhandlungen in einem Elektrogeschäft stattfindet. Ist aber auch der Diebstahl von Geld eine solche typische verhandlungsbedingte Kontaktgefahr? Jeder Rechtsgüterkontakt, der zum Entstehen einer Sonderverbindung führt, ist - wie wir erkannt haben - durch einen bestimmten Zweck gekennzeichnet. Da nun das Entstehen von Schutzpflichten gerade an einem solchen zweckgerichteten Rechtsgüterkontakt anknüpft, muß der Zweck des Kontaktes auch darüber entscheiden, inwieweit besondere Schutzpflichten den Kontakt sichern müssen. Schon diese Feststellung widerlegt aber die Ansicht, daß Schutzpflichtverletzungen immer dann vorlägen, wenn die Verhandlungen die Gelegenheit 3

Siehe oben unter E.

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1. Teil: Die "vorvertragliche" Schutzpflicht

zur Verletzung gegeben hätten. Die Anforderungen, die die Beteiligten bei einem verhandlungsbedingten Rechtsgüterkontakt erfüllen müssen, um ihre Pflicht nach einem "schützenden Verhalten" zu erfüllen, sind verschieden; ihre Ausgestaltung hängt davon ab, wie der jeweilige Kontakt beschaffen ist. Umfang und Inhalt der Schutzpflichten richten sich daher nach dem Zweck des Rechtsgüterkontaktes. Wie läßt sich aber der innere Zusammenhang, der danach zwischen dem Zweck des Rechtsgüterkontaktes und den Schutzpflichten besteht, konkreter fassen? Aufschluß über diese Frage können die allgemeinen Abgrenzungskriterien geben, anhand derer die herrschende Meinung darüber entscheidet, wann sich eine unerlaubte Handlung des Gehilfen zugleich als die Verletzung einer schuldrechtlichen Pflicht darstellt. Die herrschende Meinung trennt zwischen Verletzungshandlungen, die sich "bei Gelegenheit" und "in Ausübung" der Erfüllung einer schuldrechtlichen Pflicht ereignen 4 • Im ersten Fall nimmt sie an, daß ausschließlich eine unerlaubte Handlung des Gehilfen vorliege, die dem Geschäftsherrn die Möglichkeit des Entlastungsbeweises nach § 831 BGB öffnet; im zweiten Fall rechnet sie dem Geschäftsherrn das Verhalten des Gehilfen nach § 278 BGB als eigene Pflichtverletzung zu. Die bloße Feststellung, daß nach diesen Abgrenzungskriterien der Diebstahl des C gleichzeitig eine Schutzpflichtverletzung ist, wenn er "in Ausübung" der Schutzpflicht geschehen ist, hilft jedoch nicht weiter. Sie gibt keinen Anhalt dafür, ob C "in Ausübung" der Erfüllung gehandelt hat. Die Notwendigkeit, das Merkmal "in Ausübung" der Erfüllung zu verfeinern, hat auch die herrschende Meinung gesehen: Anfangs forderte sie daher zusätzlich, daß die unerlaubte Handlung in

ursächlichem Zusammenhang mit der zu erfüllenden Pflicht stehen müsse 5

-

dieses Kriterium erwies sich jedoch als zu farblos, weil nach diesen Grundsätzen praktisch jede unerlaubte Handlung gleichzeitig eine schuld rechtliche Pflichtverletzung darstellen würde und von einer "Abgrenzung" nicht mehr die Rede sein könnte. In dem Bestreben, möglichst klare Abgrenzungskriterien zu schaffen, wurde sodann angenomI11en, daß nur fahrLässige unerlaubte Handlungen gleichzeitig eine schuldrechtliche Pflichtverletzung sein könnten; vorsätzliche unerlaubte Handlungen seien stets "bei Gelegenheit" der Erfüllung beg an4 Enneccerus / Lehmann, § 44 II 2, S. 196; Esser, SR AT, 4. Auf!., § 39 II 3 a, S. 258; Erman / Battes, § 278 Anm. 40 ff.; Larenz, SR AT, § 20 VIII, S. 248 ff.; Fikentscher, § 54 V, S. 286; Staudinger / Löwisch, § 278 Anm. 24; PaLandt / Heinrichs, § 278 Anm. 4 c; BGH VersR 1953, S. 161; BGH VersR 1956, S. 307; BGH VersR 1960, S. 424 (425). 5 Enneccerus / Lehmann, § 44 II 2, S. 196; EhwaLd, S. 53; RGZ 84, S. 222; RGZ 87, S. 276 (277); RGZ 159, S. 33; RGZ 160, S. 314 (315).

H. Schutzpflichtverletzung und unerlaubte Handlung

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gen, weil der Gehilfe in diesem Fall lediglich eine sich ihm bietende Gelegenheit für seine Zwecke ausgenutzt habe 6 • Hier erhob sich jedoch der Einwand, daß eine solche "klare" Abgrenzung nur auf Kosten von sachgerechten Lösungen durchzuführen und daher praktisch nicht brauchbar seF. In der Tat verstößt der Gehilfe eines Verwahrers oder Lagerhalters ganz offensichtlich gegen eine schuldrechtliche Pflicht, wenn er die ihm anvertraute Sache stiehlt oder vorsätzlich in Brand setzt8 • Solche und ähnliche Sachverhalte führten dann schließlich zu der Erkenntnis, daß auch eine vorsätzliche unerlaubte Handlung als schuldrechtliche Pflichtverletzung anzusehen sei, wenn die Schädigung ihren Unrechts gehalt gerade aus der übertragenen Aufgabe empfange 9 • Aus dieser Erkenntnis entwickelte die herrschende Meinung das auch noch heute maßgebliche Abgrenzungskriterium dafür, wann eine unerlaubte Handlung "in Ausübung" der Erfüllung einer schuld rechtlichen Pflicht begangen wird und daher gleichzeitig eine schuldrechtliche Pflichtverletzung vorliegtl°: das verletzende Verhalten des Täters muß einen nicht nur äußeren, sondern auch einen inneren Zusammenhang zu der ihm konkret übertragenen Aufgabe aufweisen. Es ist also nicht abstrakt nach der Gewichtigkeit der unerlaubten Handlung oder nach der kriminellen Verbrechensenergie des Täters zu fragen; entscheidend sind die Umstände des Einzelfalls. Es kommt darauf an, welche besonderen Aufgaben der Schuldner bzw. sein Gehilfe zu erfüllen hat. Damit läßt sich die Frage, wie der innere Zusammenhang zwischen dem Zweck des Rechtsgüterkontaktes und den Schutzpflichten genauer dargestellt werden kann, unter Berücksichtigung dieses Abgrenzungskriteriums jetzt beantworten: das Bindeglied zwischen dem Zweck des Rechtsgüterkontaktes und dem Umfang sowie Inhalt der Schutzpflichten bildet die aus der konkreten Rechtsbeziehung folgende Schutzaufgabelt. Dabei entscheidet der Zweck des Rechtsgüterkontaktes darüber, welche Schutzaufgaben erwachsen; diese Schutzaufgaben bestimmen wiederum den Inhalt und Umfang der Schutzpflicht. Das "schützende Verhalten", das den Partnern einer Sonderverbindung mit der 6 RGZ 63, S. 344; BAGE 10, S. 176 (182); BGH VersR 1963, S. 758; Fikentscher, § 54 V, S. 286. 7 BGH VersR 1953, S. 161; BGH VersR 1956, S. 307 (308); Esser, SR AT, 4. Aufl., § 39 II 3 a, S. 258; Erman / Battes, § 278 Anm. 42. 8 RGZ 101, S. 349 (350); BGH VersR 1953, S. 161; BGH VersR 1956, S. 307. g RGZ 101, S. 349 (350); RGZ 104, S. 141 (149); BGH VersR 1953, S. 161; BGH VersR 1956, S. 307 f.; Erman / Battes, § 278 Anm. 42; Larenz, SR AT, § 20 VIII, S. 248; Zunft, AcP 153, S. 373 (379). 10 Erman / Battes, § 278 Anm. 40 ff.; Larenz, SR AT, § 20 IU, S. 248; Staudinger / Löwisch, § 278 Anm. 26; Esser, SR AT, 4. Aufl., § 39 II 3 a, S. 258; BGH VersR 1960, S. 424 (425); BGH VersR 1956, S. 307 f. 11 Ähnlich im Ansatzpunkt, aber weniger konkret: Staudinger / Löwisch, § 278 Anm. 25.

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1. Teil: Die "vorvertragliche" Schutzpflicht

Schutzpflicht abverlangt wird, ist danach keine abstrakte Größe; es orientiert sich an den Eigenarten der zwischen ihnen bestehenden Rechtsbeziehung. Bei "gewöhnlichen" Vertragsverhandlungen, wie sie in unserem Beispielsfall im Elektrogeschäft des B stattfinden, bestehen diese Schutzaufgaben einmal darin, den eigenen Rechtskreis gefahrlos zu halten und dafür zu sorgen, daß die eigenen Rechtsgüter keine schädigenden Auswirkungen auf die fremden Rechtsgüter ausüben. Solche Gefahren verwirklichen sich beispielsweise, wenn sich beim Vorführen der Fernsehgeräte ein Kurzschluß ereignet und A verletzt wird. Weiter müssen die Beteiligten ihr eigenes Verhalten so einrichten, daß ein pfleglicher Umgang mit den fremden Rechtsgütern gewährleistet ist. So muß B darauf achten, daß der ihm zur Begutachtung übergebene Kassettenrecorder des A nicht auf den Boden fällt. Wenn aber der musikbesessene Lehrling des B auf den Gedanken kommt, eine dem Kassettenrecorder beigefügte Musikkasette für sich zu behalten, so ereignet sich diese unerlaubte Handlung nicht mehr bei dem "Umgang" mit dem Eigentum des A. Das Verhalten des Lehrlings stellt vielmehr einen gewollten und bezweckten Angriff auf das Eigentum des A dar. Diesem Verhalten fehlt der innere Zusammenhang mit der Schutzaufgabe, das Eigentum des A pfleglich zu behandeln; es beruht auf dem Entschluß, die durch die Schutzpflicht auferlegte Pflicht zur Rücksichtnahme zu durchbrechen und die erlangte Einwirkungsmöglichkeit zum Zwecke einer bewußten Rechtsgutverletzung auszunutzen. Heißt dies nun, daß unerlaubte Handlungen, die einen gewollten und bezweckten Angriff auf fremde Rechtsgüter beinhalten, niemals als gleichzeitige Schutzpflichtverletzung angesehen werden können? Ein gewollter und bezweckter Angriff auf fremde Rechtsgüter wird von der Rechtsordnung als vorsätzliche unerlaubte Handlung gewertet. Würde aus den vorgenannten Beispielsfällen nun vorschnell gefolgert, daß derjenige, der gewollt und bezweckt fremde Rechtsgüter verletzt, niemals gleichzeitig eine Schutzpflichtverletzung begehen kann, so würde eine Erkenntnis vernachlässigt, die als "entscheidend" bezeichnet wurde: auch vorsätzliche unerlaubte Handlungen können gleichzeitig eine schuldrechtliche Pflichtverletzung darstellen, wenn diese Pflichtverletzung ihren besonderen Unrechtsgehalt aus der übertragenen Aufgabe empfängt. Zur Verdeutlichung dieser Problematik wollen wir uns die Pflichtenlage eines Verwahrers vergegenwärtigen und fragen, warum auch eine schuldrechtliche Pflichtverletzung vorliegt, wenn der Gehilfe des Verwahrers die anvertraute Sache stiehlt oder in

H. Schutzpflichtverletzung und unerlaubte Handlung

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Brand setzt: Hier ist zu bedenken, daß den Verwahrer nicht nur die Pflicht trifft, mit der ihm anvertrauten Sache pfleglich umzugehen. Er ist darüber hinaus vertraglich verpflichtet, alle Angriffe abzuwehren, die sich gegen das fremde Eigentum richten. Gibt er einem anderen die Möglichkeit, die anvertraute Sache zu entwenden oder zu beschädigen, so wird er schadensersatzpflichtig, weil er seine Obhutspflicht verletzt hat. Die rechtliche Beurteilung dieser Pflichtenlage ändert sich nicht, wenn der Verwahrer selbst oder sein Gehilfe die anvertraute Sache stiehlt oder entwendet. Eine schuldrechtliche Pflichtverletzung liegt in gleicher Weise vor, wie wenn ein Dritter in das fremde Eigentum eingegriffen hätte; nur hat die schuldrechtlich zur Obhut verpflichtete Person hier auch die unerlaubte Handlung begangen. Für unsere Schutzpflichtsfälle ergibt sich aus dieser Feststellung, daß eine unerlaubte Handlung nur dann gleichzeitig eine Schutzpflichtverletzung darstellt, wenn nicht nur ein pfleglicher Umgang mit den fremden Rechtsgütern geschuldet wird, sondern der Pflichtige darüber hinaus alle Angriffe gegen diese Rechtsgüter abzuwehren hat. Dazu ist jedoch erforderlich, daß die Verhandlungspartner einverständlich davon ausgehen, daß die fremden Rechtsgüter nicht nur pfleglich behandelt, sondern auch in besondere Obhut genommen werden sollen. Kann dem Verhalten der Beteiligten aber ein derartiger Erklärungswert entnommen werden? Die Aufnahme von Verhandlungen ist dadurch gekennzeichnet, daß die beteiligten Rechtskreise geöffnet und die beidseitigen Rechtsgütel' dem Einfluß des anderen ausgesetzt werden. Diese Situation erweckt bei den Beteiligten das Vertrauen, daß der Rechtsgüterkontakt von beiderseitiger Rücksichtnahme getragen sein wird. "Rücksichtnahme" beinhaltet aber lediglich den Willen, die Rechtsgüter des anderen pfleglich behandeln zu wollen, nicht wird aber gleichzeitig die Bereitschaft bekundet, die fremden Rechtsgüter in besondere Obhut zu nehmen und gegen sie gerichtete Gefahren abwehren zu wollen. Daher kann eine solche gesteigerte Obhut den Beteiligten nur abverlangt werden, wenn besondere Umstände auf eine entsprechende Bereitschaft hindeuten. Verhandlungen dienen jedoch vor allem dem Zweck, die Geschäftspositionen hinsichtlich des Verhandlungsgegenstandes abzustecken; das gegenseitige Einbringen von Rechtsgütern ist zwar notwendige Voraussetzung und Folge dieser Sonderverbindung, im Vordergrund des Denkens und HandeIns der Beteiligten steht jedoch der Verhandlungsgegenstand, und daher wird für einen übereinstimmenden Willen, die eigenen Rechtsgüter während der Verhandlungen in besonderer Obhut zu sehen, kaum jemals ein Anhaltspunkt bestehen.

112

1. Teil: Die" vorvertragliche" Schutzpflicht

Solche Anhaltspunkte fehlen auch in unserem Ausgangsbeispiel; daher muß die Frage, ob der Diebstahl des C gleichzeitig eine Schutzpflichtverletzung darstellt, verneint werden: Die Beteiligten schulden einander nur eine gegenseitige Rücksichtnahme; B ist zwar verpflichtet, die Rechtsgüter des A pfleglich zu behandeln, er hat die Ledertasche des A jedoch nicht in besondere Obhut genommen. Diese beschränkte Pflichtenlage gilt auch für C, so daß ein Diebstahl nur als unerlaubte Handlung zu bewerten ist und für B die Entlastungsmöglichkeit nach § 831 BGB besteht. Als Ergebnis dieser Untersuchung bleibt damit folgendes festzuhalten: 1. Eine unerlaubte Handlung stellt nicht schon deshalb gleichzeitig eine Schutzpflichtverletzung dar, weil sich die Rechtsgutverletzung während der Verhandlungen ereignet. 2. Von einer Schutzpflichtverletzung kann nur die Rede sein, wenn die speziellen Schutzaufgaben, die die jeweilige Sonderverbindung stellt, verletzt werden. 3. Inhalt und Umfang der Schutzaufgaben ergeben sich aus dem Zweck des Rechtsgüterkontaktes; entsprechend diesen Schutzaufgaben werden die Beteiligten mit Schutzpflichten belastet. 4. Bei "gewöhnlichen" Verhandlungsverhältnissen erschöpfen sich diese Schutzaufgaben darin, einen Rechtsgüterkonflikt zu vermeiden; die Beteiligten haben den eigenen Rechtskreis gefahrlos zu halten und müssen die fremden Rechtsgüter pfleglich behandeln. 5. Eine weitergehende Aufgabe, die fremde Sache in Obhut zu nehmen und alle gegen sie gerichtete Angriffe abzuwehren, die als vorsätzliche unerlaubte Handlungen zu werten sind, besteht regelmäßig nicht. 6. Wegen dieser regelmäßig eingeschränkten Schutzaufgaben der Schutzpflicht stellt eine vorsätzliche unerlaubte Handlung im allgemeinen keine gleichzeitige Schutzpflichtverletzung dar; dies ist nur dann anders, wenn die Beteiligten auch die Aufgabe übernommen haben, alle Angriffe gegen die fremden Rechtsgüter abzuwehren. 7. Fahrlässige unerlaubte Handlungen verstoßen gewöhnlich gegen die Schutzaufgabe, beim Umgang mit den fremden Rechtsgütern pfleglich zu verfahren, und sind daher auch als Schutzpflichtverletzungen anzusehen.

J. Die "Warenhausfälle" - Verhandlungsverhältnisse mit besonderen Schutzpflichten oder allgemeine Rechtsbeziehungen mit nur deliktischen Pflichten?

I. Problemstellung Nachdem nunmehr feststeht, daß das Verhandlungsverhältnis als Sonderverbindung einzuordnen ist und daß in dieser verhandlungsbedingten Sonderverbindung besondere Schutzpflichten wirken, sind die Voraussetzungen geschaffen, um einen weiteren, seit langem diskutierten Problemkreis einer befriedigenden Lösung zuzuführen. Gemeint

I. Die Warenhausfälle

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sind die sogenannten Warenhausfälle; sie sind kurz als Tatbestände zu kennzeichnen, bei denen ein Rechtskreisträger in einem Warenhaus oder Selbstbedienungsladen an Leben, Gesundheit oder Eigentum verletzt wird. Hier stellen sich, wie eingangs! angedeutet, zahlreiche Sonderfragen; zur Verdeutlichung mag das nachfolgende BeispieF dienen: Frau K suchte das Warenhaus M auf. Bevor sie dazu kam, etwas zu kaufen, stürzte von der Galerie des 1. Stockwerks ein metallener, ungefähr 11/2 kg schwerer Ständer herab und traf Frau K am Kopf. Der Ständer hatte - ohne Schutzvorkehrungen gegen das Herabfallen - auf einem zur Auslage von Waren bestimmten Brett gestanden; dieses Brett war unmittelbar an dem die Galerie abschließenden Geländer in gleicher Höhe mit dem oberen Rand der Galerie angebracht gewesen. Ein großer Teil von Literatur und Rechtsprechung sieht auch in diesen Warenhausfällen "Verhandlungsverhältnisse" und unterstellt sie den Regeln der "culpa in contrahendo"3. Andere meinen hingegen, daß eine Einbeziehung der Warenhausfälle in den Kreis der Verhandlungsverhältnisse zu einer unangemessenen Ausuferung der "culpa in contrahendo" führe, und qualifizieren die Warenhausfälle als allgemeine deliktische Rechtsbeziehungen 4 • In der Tat unterscheidet sich unser Beispielsfall von den "gewöhnlichen" Verhandlungsverhältnissen, wie wir sie in der vorstehenden Untersuchung kennengelernt haben, dadurch, daß die eigentlichen Verhandlungen nicht begonnen haben; Frau K hat lediglich das Kaufhaus betreten, und es muß gefragt werden, ob bereits dieses "Betreten" ausreicht, um den verbindenden Zuordnungstatbestand einer verhandlungsbedingten Sonderverbindung zu schaffen. Dabei ist auch zu berücksichtigen, daß der mögliche Kunde nicht immer sofort einen Verkäufer findet, mit dem er über seine Kaufwünsche sprechen kann, und daß er häufig selbst das Warenangebot überprüfen muß. Darf in diesen Fällen das Entstehen einer verhandlungsbedingten Sonderverbindung wirklich daran scheitern, daß der Kaufhausbesucher keinen Ansprechpartner vorfindet? Die Verzögerung bzw. das Nichtzustandekommen eines Verhandlungseintritts ist doch nicht dadurch bedingt, daß die Beteiligten keine Verhandlungen walZen, sondern ist darin begründet, Siehe Einleitung. RG JW 1913, S. 23 ("Metallständer-Fall"). 3 Nirk, Festschrift für Möhring, 1965, S. 385 (404 f.); Welser, Vertretung, S. 82 ff.; Eike Schmidt, Nachwort, S. 131 (146 ff.); Larenz, MDR 1954, S. 515 (518); Schapp, Rpfl. 1966, S. 292 f.; Baumert, S. 35 f.; Steinberg, S. 94; Wilburg, S. 163 ff.; Palandt / Heinrichs, § 276 Anm. 6 a; Staudinger / Weber, § 242 A 803; Erman / Battes, § 276 Anm. 116. 4 Pasch, zmv 15 (1974), S. 165 ff.; MK-Kramer, Einl. zu § 241 Anm. 83; Huber, AcP 177, S. 281 (319f.); ders., Festschrift für von Caemmerer, S. 837 (865); Hans Stall, AcP 176, S. 145 (150 f. Fußn. 21); Nirk, RabelsZ 18, S. 310 (352); von Caemmerer, Festschrift DJT, S. 49 (56 ff.). 1

2

8 Frost

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1. Teil:

Die "vorvertragliche" Schutzpflicht

daß nicht genügend Bedienungspersonal zur Verfügung steht, um jeden eintretenden Kunden sofort nach seinen Wünschen befragen zu können. Weiter ist zu bedenken, daß Frau K nicht die einzige Person ist, mit der in einem Warenhaus bzw. Selbstbedienungsladen ein Rechtsgüterkontakt stattfindet; eine Vielzahl von Besuchern betritt das Warenhaus gleichzeitig und hält sich dort auf. Wie wir gesehen habens, zählt aber gerade die Relativität einer "Gläubiger-Schuldner-Beziehung" zu den charakteristischen Merkmalen einer schuldrechtlichen Pflicht; nur seinem Gläubiger gegenüber ist der Schuldner zu einem bestimmten Tun oder Unterlassen verpflichtet. Können dann in den Warenhausfällen überhaupt schuldrechtliche Pflichten zwischen dem Warenhausinhaber und jedem einzelnen Besucher bestehen, obwohl ein gleichzeitiger Rechtsgüterkontakt mit einer Vielzahl von Personen stattfindet? Der Umstand, daß sich ein großer Personenkreis im Warenhaus bzw. im Laden aufhält, deutet doch darauf hin, daß eine allgemeine deliktische Rechtsbeziehung, nicht aber eine verhandlungsbedingte Sonderverbindung vorliegt. Aber auch wenn diese Zweifel ausgeräumt und in den Warenhausfällen ebenfalls verhandlungsbedingte Sonderverbindungen angenommen werden könnten, wären noch nicht alle Schwierigkeiten überwunden. Nun müßte nämlich gefragt werden, ob eine solche verhandlungsbedingte Sonderverbindung mit jeder Person entsteht, die das Kaufhaus betritt. Partner einer "verhandlungsbedingten" Sonderverbindung könnten eigentlich nur solche Personen sein, die kaufwillig sind oder sich ernsthaft über die Angebote informieren wollen. Wie aber soll dieser Besucherkreis von den Personen abgegrenzt werden, die nur Begleitpersonen sind, das Kaufhaus lediglich zur Wegabkürzung durchschreiten, oder aber Schutz vor Regen suchen? Da sie andere Zwecke als die Vorbereitung eines möglichen Kaufvertrages verfolgen, könnte es hier an dem Merkmal des gemeinsam verfolgten Zwecks fehlen, das wie dargestellt - ein wesentliches Strukturelement von Sonderverbindungen mit positiver Zielsetzung ausmacht 6 . Alle diese Fragen sind in der Vergangenheit häufig erörtert worden. Von einer Lösung sind die gefundenen gegensätzlichen Ergebnisse jedoch noch weit entfernt, da die Eigenarten dieser Warenhausfälle solange nicht erfaßt werden konnten, wie die Grundlagen fehlten. Die rechtliche Bedeutung dieser aufgezeichneten Besonderheiten kann nämlich erst ermessen werden, wenn Klarheit über die Rechtsnatur und die Siehe oben unter C. Diese Abgrenzungsschwierigkeiten betonen Wilburg (ZBl. 1930, S. 721 (739 f.» und Erdsiek (JJB 8 (1967/68», S. 36 (50). 5

8

I. Die Warenhaus fälle

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" Grundform " des Verhandlungsverhältnisses sowie über die Strukturelemente einer verhandlungsbedingten Sonderverbindung besteht. Diese erforderlichen Grundlagen hat die vorstehende Untersuchung geschaffen, und es muß nunmehr Aufgabe dieser Arbeit sein, die Tragweite der sich stellenden Sonderprobleme anhand der bisher gefundenen Ergebnisse zu überprüfen. Entsprechend dieser Aufgabenstellung seien die Besonderheiten der Warenhaus fälle noch einmal zusammenfassend genannt: - die vom Kaufhaus beherrschte Rechtssphäre wird nicht nur von einer einzigen Person, sondern von vielen Personen gleichzeitig berührt, - die eigentlichen Verhandlungen sind noch nicht aufgenommen worden, - die möglichen Kunden haben lediglich das Kaufhaus betreten und halten sich in dem räumlichen Bereich des Kaufhauses auf, - teilweise scheitert oder verzögert sich die Aufnahme der eigentlichen Verhandlungen, weil im Moment kein Bedienungspersonal des Kaufhauses verfügbar ist, - Warenhäuser und Selbstbedienungsläden werden nicht nur von möglichen Kaufinteressenten, sondern auch von Personen betreten, die andere Zwecke als den Abschluß eines möglichen Kaufvertrages verfolgen. 11. Die Anzahl der Warenhausbesucher - ein geeignetes Kriterium für die Bestimmung der Rechtsnatur der Warenhausfälle?

Bei diesen Warenhausfällen deutet die Größe des beteiligten Personenkreises darauf hin, daß es in Wirklichkeit nur um Rechte und Pflichten gegenüber der Allgemeinheit geht: Es mag zwar nur einen Warenhausinhaber und damit nur einen Schuldner geben; ihm steht aber eine Vielzahl von Gläubigern gegenüber, denn alle seine Kunden nehmen. für sich den Schutz vor Verletzungen in Anspruch. Dennoch sollen auch in den Warenhausfällen zwischen dem Warenhausinhaber und seinen Kunden besondere Schutzpflichten wirken; der Personenkreis der Kaufhausbesucher sei nämlich bestimmbar, und dies nehme den Kaufhausfällen den Makel, eine verschleierte allgemeine Rechtsbeziehung und kein Verhandlungsverhältnis zu sein7 • Der Gedanke, daß eine "Bestimmbarkeit" des beteiligten Personenkreises ausreichen soll, um die für besondere schuldrechtliche Pflichten charakteristische Relativität einer "Gläubiger-Schuldner-Beziehung" zu schaffen, mag zunächst befremden. Jedoch ist im öffentlichen Recht seit langem anerkannt, daß eine "individuell-konkrete Verantwortlichkeit", wie sie in gleicher Weise mit der Relativität schuldrechtlicher Pflichten gemeint ist, auch vorliegt, wenn der angesprochene Personenkreis lediglich "bestimmbar" ist; diese Erkenntnis war sogar ausschlaggebend 7

8'

Steinberg, S. 94; Baumert, S. 35 f.; Eike Schmidt, Nachwort S. 131 (146).

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1. Teil: Die "vorvertragliche" Schutzpflicht

für die wichtige Konstruktion der Allgemeinverfügung8 • Ebenso wie das Bürgerliche Recht gerade in den Warenhausfällen Schwierigkeiten mit der Zweiteilung von "Schuldverhältnis" und "Delikt" hat, sah sich nämlich auch das öffentliche Recht in den Fällen, wo sich eine Verfügung an mehrere Adressaten richtete, vor das Problem gestellt, wie diese Tatbestände mit der für das öffentliche Recht maßgeblichen Zweiteilung in "Verwaltungsakt" und "Rechtsnorm" zu vereinbaren waren. Ein typisches Beispiel für diese Fallgruppe ist der sogenannte "Endiviensalat-Fall"9: In der Großstadt S und ihrer Umgebung treten epidemische Erkrankungen von Typhus auf. Mit großer Wahrscheinlichkeit ist Endiviensalat die Ansteckungsquelle. Der Regierungspräsident verbietet durch eine über Funk und Fernsehen verbreitete Verlautbarung den Verkauf von Endiviensalat in allen Städten seines Bezirkes. Die Qualifizierung dieser Verlautbarung als Verwaltungsakt, der als "konkret-individuelle Regelung" zu kennzeichnen ist, schien zunächst nicht ganz zu "passen", weil mehrere Bürger ("die Gemüsehändler") angesprochen wurden. Ein Verwaltungsakt wird nämlich herkömmlicherweise wie folgt definiert: Der Verwaltungsakt betrifft das Rechtsverhältnis gegenüber dem einzelnen Bürger und ist als die einen Einzelfall regelnde besondere konkrete Maßnahme zu kennzeichnen, bei der der Adressat meist namentlich genannt wird10• Doch auch eine mögliche Einordnung als "Rechtsnorm" und damit als "abstrakt-generelle Regelung" konnte nicht befriedigen, weil zwar mehrere Personen von dieser Verlautbarung betroffen waren, es sich aber nicht um einen abstrakten Fall handelte, wie die nachfolgend genannte Definition der Rechtsnorm fordert: Die Rechtsnorm enthält eine abstrakte Regelung, die für eine Vielzahl von Fällen für alle Bürger gilt11 • So entschloß man sich denn zu einer genaueren dogmatischen Überprüfung dieser Fallgruppe. Diese ergab, daß die strenge Gegenüberstellung von "Allgemeinheit" (Rechtsnorm) und "Einzelperson" (Verwaltungsakt) nicht haltbar war. Ein besonderes öffentlich-rechtliches 8 BVerwGE 3, S. 237 ff.; BVerwGE 12, S. 87 ff.; OVG Lüneburg, OVGE 6, S. 265 (267); VGH Stuttgart, Verwaltungs rechtsprechung Bd. 1, S. 108 ff.; VwVfG-Stelkens, § 35 Anm. 130 ff.; Forsthoff, § 11, S. 201; Wolff I Bachof, § 46 VI a 3, S. 385 ff.; Ule, Anhang zu § 32 Irr 3; Mörtel, BayVB1. 1956, S. 321 (323); Penski, DÖV 1966, S. 845 (847); Renck, JuS 1967, S. 545 (548 f.); Volkmar, S. 166 f.; Obermayer, S. 78. 9 BVerwGE 12, S. 87 ff. 10 § 35 VwVfG; § 106 Landesverwaltungsgesetz Schleswig-Holstein; Martens, DVBl. 1968, S. 322 (328); Fuß, DÖV 1964, S. 522 (526). 11 Forsthoff, § 11, S. 200; Renck, JuS 1967, S. 545 (548); Obermayer, S. 76 ff.

1. Die Warenhausfälle

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Verhältnis zwischen Staat und Bürger braucht nicht notwendig gegenüber einem Bürger zu bestehen. Betrifft ein Einzelfall mehrere Bürger gleichzeitig, so entfaltet dieser Einzelfall gegenüber jedem Einzelnen dieselbe Intensität der Rechtswirkungen, wie wenn der Einzelfall nur auf einen Bürger passen würde l2 • Doch kann von einem " Einzelfall " nur die Rede sein, wenn der angesprochene Personenkreis jedenfalls "bestimmbar" ist; gilt die betreffende Maßnahme nämlich für eine unbestimmte Anzahl von Bürgern, so erlangt sie dadurch einen solchen Grad von Abstraktheit, daß sie jetzt eindeutig als Rechtsnorm auszuweisen ist l3 . Im öffentlichen Recht ist diese Erkenntnis zu einer Selbstverständlichkeit geworden. Im Bürgerlichen Recht werden dagegen dem Bestreben, bei einer Beteiligung mehrerer Personen nicht sofort auf die deliktischen Vorschriften zu verweisen, immer noch große Widerstände entgegengesetzt. Indessen ist das sich im Bürgerlichen Recht stellende Einordnungsproblem nicht anders gelagert als im öffentlichen Recht. Hier wie dort geht es darum, ob die Rechtsnatur der zugrunde liegenden Rechtsbeziehung ausschließlich an der Größe des beteiligten Personenkreises zu messen ist. Das Bekenntnis des öffentlichen Rechts, daß die Größe des beteiligten Personenkreises solange eine Äußerlichkeit darstelle, wie dieser Personenkreis jeweils "bestimmbar" sei, ist eindeutig. Angesichts der übereinstimmenden Einordnungsproblematik bestehen keine Bedenken, die im öffentlichen Recht gefundenen Ergebnisse auch auf das Bürgerliche Recht zu übertragen. Mit der Lehre vom "Vertrag mit Schutzwirkung für Dritte" ist im übrigen bereits ein Anfang dazu gemacht worden, das Bürgerliche Recht der im öffentlichen Recht festgestellten Entwicklung anzupassen; dort wurde nämlich bereits die Vorstellung aufgegeben, daß konkrete Pflichten nur zwischen von vornherein "individualisierten" Personen bestehen können, und es wurde als entscheidend erkannt, daß die "Dritten" einer genauso intensiven Berührung ausgesetzt sind wie die Vertragspartner selbst14 • Damit bleibt folgendes festzuhalten: - Die Beteiligung eines größeren Personenkreises zwingt nicht dazu, eine deliktische Beziehung anzunehmen, - die Größe des beteiligten Personenkreises ist solange eine Äußerlichkeit, wie dieser Personenkreis jedenfalls "bestimmbar" ist, 12

BVerfGE 12, S. 87 ff.; Forsthoff, § 11, S. 201; Penski, DÖV 1966, S. 845

(847); Volkmar, S. 166 f.

BVerwGE 12, S. 87 ff.; Martens, DBVl. 1968, S. 322 (328). Larenz, SR AT, § 17 II; Palandt I Heinrichs, § 328 Anm. 2 b; Soergel/ Schmidt, Vorbem. 12 ff. zu § 328; BGH NJW 1954, S. 1648; BGH NJW 1970, 13

14

S. 40; BGHZ 49, S. 354; BGHZ 66, S. 51 ff.; OLG Hamm, FamRZ 1977, S. 318 (319).

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1. Teil: Die "vorvertragliche" Schutzpflicht

- nur bei einer unbestimmten Vielzahl von Personen muß eine deliktische Beziehung vorliegen. Für unsere Kaufhausfälle bedeutet diese Feststellung, daß eine deliktische Beziehung hier nicht schon deshalb vorliegen muß, weil sich ein größerer Personenkreis gleichzeitig im Kaufhaus aufhält. Es kommt vielmehr darauf an, ob der Kreis der Kaufhausbesucher "bestimmbar" ist oder ob es sich um eine unbestimmte Vielzahl von Personen handelt. Da eine "Bestimmbarkeit" dieses Personenkreises bislang nur behauptet, nicht aber dargetan wurde l5 , wird dieser Frage im folgenden nachzugehen sein. Darüber hinaus wird zu erörtern sein, ob ausschließlich eine mögliche "Bestimmbarkeit" darüber entscheidet, ob in den Kaufhausfällen eine verhandlungsbedingte Sonderverbindung mit besonderen Schutzpflichten vorliegt. Zu der Frage, welche Maßstäbe über eine "Bestimmbarkeit" eines Personenkreises entscheiden, gibt das öffentliche Recht ebenfalls Aufschluß. Danach ist der beteiligte Personenkreis jedenfalls dann ausreichend "bestimmt", wenn seine Größe zwar im Moment nicht zahlenmäßig feststeht, aber nach sachlichen Merkmalen kenntlich gemacht ist und jederzeit festgestellt werden kann. Mit solchen "sachlichen Merkmalen" sind insbesondere gattungsmäßige Merkmale gemeint, die in der Person der Beteiligten begründet sind und sich somit durch eine gewisse Dauerhaftigkeit auszeichnen l6 . In unseren Kaufhausfällen ist eine solche zahlenmäßige Bestimmbarkeit allerdings nicht festzustellen. Zwar können die Kaufhausbesucher mit Betreten des Kaufhauses als "Kaufinteressenten" bzw. "mutmaßliche Kaufinteressenten" bezeichnet werden. Doch steht deren Anzahl nicht fest. Ständig betreten und verlassen Personen das Kaufhaus, und wegen dieses ständigen Wechsels verändert sich auch der Kreis der "Kaufinteressenten" von Minute zu Minute. Doch ist die erforderliche "Bestimmbarkeit" auch gewahrt, wenn der betreffende Personenkreis überhaupt irgend wie festgelegt werden kann 17 • Diese Erkenntnis ergab sich im öffentlichen Recht aus der Diskussion um die Rechtsnatur der Verkehrsschilder: Zwar richteten sich Verkehrsschilder an eine zahlenmäßig nicht bestimmte Personenmenge. Von ihnen konkret angesprochen würden aber nur diejenigen Verkehrsteilnehmer, die die von den Verkehrsschildern bezeichnete Stelle passierten. Nur für diese Verkehrsteilnehmer gelte die durch das betreffende Schild geforderte Gehorsamspflicht, und sie bildeten während des Steinberg, S. 94; Baumert, S. 35 f.; Eike Schmidt, Nachwort S. 131 (146). BVerwGE 12, S. 87 ff.; VwVfG-Stelkens, § 35 Anm. 130 ff.; Forsthoff, § 11, S. 200 f.; Wolff / Bachof, § 46 VI a 3, S. 385; Mörtel, BayVBI. 1956, S. 321 (323). 17 BGH NJW 1964, S. 783; BVerwG NJW 1967, S. 1627; VwVfG-Stelkens, § 35 Anm. 131; Renck, JuS 1967, S. 545; Penski, DÖV 1966, S. 845 (847)'; Wolff I Bachof, § 46 VIII, S. 389. 15

16

I.

Die Warenhausfälle

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Zeitraums, während dessen sie den an die Örtlichkeit gebundenen Anordnungen der Verkehrsschilder unterworfen seien, keinen unbestimmten, sondern einen - etwa durch Anhalten18 - jederzeit bestimmbaren Personenkreis. Eine ähnliche Möglichkeit, den Kreis der Kaufhausbesucher zu bestimmen, besteht auch in den Kaufhausfällen. Auf den ersten Blick handelt es sich bei den Kaufhausbesuchern um einen unübersehbar großen Personenkreis; doch kann dieser "individualisiert" werden. Genauso wie die Identität der Verkehrsteilnehmer durch Anhalten im Geltungsbereich der Verkehrsschilder ermittelt werden kann, besteht die Möglichkeit, etwa die Ausgänge des Kaufhauses zu schließen und dadurch den das Kaufhaus besuchenden Personenkreis zu "bestimmen". Damit kann also bei den Kaufhausfällen über den "Trick" der Ortsgebundenheit wie bei den Verkehrsschildern eine "Bestimmbarkeit" des Personenkreises herbeigeführt werden. Dem muß sich die Frage anschließen, ob mit der "Bestimmbarkeit" des Personenkreises tatsächlich ein Merkmal gefunden ist, das allein und ausschließlich den Kaufhausfällen den ihnen anhaftenden Makel einer verschleierten allgemeinen Rechtsbeziehung nimmt. Dazu das nachfolgende Beispiel: G bewohnt ein Haus in einem Bergdorf. Das Haus des G verfügt über eine beträchtliche Dachschrägung. Dies führt im Winter bei Tauwetter dazu, daß die Schneernassen, die sich bei Schneefall auf dem Dach abgelagert haben, auf den Bürgersteig herabstürzen. An einem Tag, an dem das Bergdorf durch die Schneernassen von der Außenwelt abgeschnitten ist, wird der vorübergehende X von den vom Dach herabstürzenden Schneernassen getroffen und verletzt. Auch hier ist es mittels des Tricks der Ortsgebundenheit möglich, eine "Bestimmbarkeit" des betroffenen Personenkreises zu konstruieren; schließlich ist nur eine begrenzte Anzahl von Personen der Gefahr ausgesetzt, von den herabstürzenden Schneemassen verletzt zu werden. Doch liegt hier ein eindeutiger Fall der Verletzung von Verkehrssicherungspflichten und nicht etwa ein Fall einer Schutzpflichtverletzung vor. Dann kann aber eine "Bestimmbarkeit" des jeweiligen Personenkreises auch bei besonders gelagerten Fällen vorliegen, die eindeutig dem Deliktsrecht zuzurechnen sind. So haben sich auch im öffentlichen Recht vermehrt Stimmen erhoben, die einer festgestellten "Bestimmbarkeit" des Personenkreises die Bedeutung absprechen, allein und ausschließlich über das Vorliegen einer Allgemeinverfügung zu entscheiden1D • Damit muß abschließend festgestellt werden, daß der Kreis der Kaufhausbesucher zwar bestimmbar ist. Eine solche Bestimmbarkeit ist 18 18

Grundlegend BVerwG NJW 1967, S. 1627. VG Münster, NJW 1967, S. 1630; BVerwG NJW 1967, S. 1628.

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1. Teil: Die "vorvertragliche" Schutzpflicht

jedoch nicht allein und ausschließlich geeignet, den Kaufhausfällen den Makel einer verschleierten allgemeinen Rechtsbeziehung zu nehmen. Eine gewisse Bedeutung behalten die erarbeiteten Regeln über die "Bestimmbarkeit" eines Personenkreises aber dennoch: Zwar zwingt die Feststellung, daß ein Personenkreis "bestimmbar" ist, nicht dazu, eine Sonderverbindung anzunehmen. Umgekehrt kann aber keinesfalls eine Sonderverbindung vorliegen, wenn der angesprochene Personenkreis überhaupt nicht bestimmbar ist. Also entscheidet das Merkmal der Bestimmbarkeit eines Personenkreises darüber, ob überhaupt eine Sonderverbindung vorliegen kann. Mit Rücksicht darauf sollen die Grundregeln, anhand derer eine mögliche "Bestimmbarkeit" des beteiligten Personenkreises überprüft werden kann, festgehalten werden: - Die erforderliche Bestimmbarkeit ist eindeutig gegeben, wenn eine Rechtsbeziehung zwischen zwei Personen besteht. Das sind die Fälle, in denen beispielsweise Verhandlungen nur zwischen zwei Personen geführt werden. - Eine Bestimmbarkeit des Personenkreises liegt auch vor, wenn eine von vornherein festgelegte Personenzahl an den Verhandlungen beteiligt ist und diese Personenzahl von Anfang an nach sachlichen Merkmalen zahlenmäßig bestimmt werden kann. Ein solcher Fall liegt vor, wenn die gesamte Belegschaft eines Betriebes an den Werbevorführungen eines Unternehmens teilnimmt. - Ausreichend bestimmt ist aber auch ein Personenkreis, der zwar nicht von Anfang an, aber doch jederzeit - etwa durch den "Trick" der Ortsgebundenheit - festgestellt werden kann. In diese Gruppe lassen sich die Kaufhausfälle zwanglos einordnen. Der betreffende Personenkreis hält sich ortsgebunden in den Verkaufsräumen des Kaufhauses auf. Zwar wechselt der Kreis der Besucher ständig; die Identität der Besucher und die Größe des Besucherkreises lassen sich jedoch jederzeit feststellen, indem man etwa die Türen des Kaufhauses versperrt.

m. Smattt bereits das Betreten des Kanfhauses eine verhandlungsbedingte Sonderverbindung?

Die vorstehende Untersuchung hat gezeigt, daß in den Warenhausfällen das Vorliegen einer Sonderverbindung nicht schon mit der Begründung abgelehnt werden kann, ein großer Personenkreis betrete das Kaufhaus gleichzeitig. Der den Warenhausfällen anhaftende Makel, in Wirklichkeit eine verschleierte allgemeine Rechtsbeziehung zu sein, kann aber nur beseitigt werden, wenn nunmehr bewiesen wird, daß bereits das Betreten sowie der bloße Aufenthalt im Kaufhaus eine Sonderverbindung entstehen läßt - die Sonderverbindung der Vertragsverhandlungen. Literatur und Rechtsprechung haben sich dieser Fragestellung bislang verschlossen; sie haben die Kaufhausfälle lediglich unter dem Aspekt behandelt, ob die Einstandspflicht für "culpa in contrahendo"

1. Die Warenhausfälle

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schon vor Aufnahme der eigentlichen Verhandlungen beginne. Diese Betrachtungsweise ist aber ungenau. Sie läßt außer acht, daß der "Beginn der Einstandspflicht" die Existenz der Rechtsbeziehung voraussetzt, aus der die vorvertragliche Haftung folgt: die Sonderverbindung des Verhandlungsverhältnisses. Diese Ungenauigkeit führte dazu, daß die "Einstandspflicht" isoliert und damit unter Übergehung ihres "Entstehungsgrundes", der Sonderverbindung, abgehandelt wurde. Die Folge waren Konstruktionen, die das Wesen einer Sonder-"Verbindung" unberücksichtigt ließen und insbesondere nicht erkannten, daß eine derartige Sonderverbindung nur aufgrund einer zweiseitigen Zuwendung entstehen kann. So sollte die vorvertragliche Einstandspflicht schon beginnen, sobald es ein Teil (!) "unternimmt"20, die Vertragsverhandlungen aufzunehmen, sobald ein Partner erkennbar Willenserklärungen abgibt, die die Einleitung von Verhandlungen bezwecken, oder er auch nur entsprechende Handlungen tätigt 21 , 22. Da aber bereits die allgemeine Einladung des Kaufhausinhabers, sein Warenangebot zu überprüfen, die Kauflust der Kunden wecken will, mußte nach diesen Auffassungen die Einstandspflicht für vorvertragliches Fehlverhalten sogar schon entstanden sein, bevor die Kunden das Kaufhaus betreten. Mit derartigen Konstruktionen wird aber das Wesen des Verhandlungsverhältnisses grundlegend verkannt. "Verhandlungspflichten" können frühestens in dem Zeitpunkt entstehen, in dem der andere Teil erkennbar seine Bereitschaft zeigt, die an ihn gerichtete Einladung annehmen zu wollen; erst die beidseitige Zuwendung führt zur Zuordnung der beteiligten Rechtskreise und damit zur Sonder-"Verbindung". Andere 23 forderten demgegenüber einfach, daß die Pflichtigkeit des Kaufhausinhabers beginnen müsse, sobald ein anderer das Kaufhaus betrete; zwar wird teilweise 24 zusätzlich verlangt, daß der Eintretende eine konkrete Kaufabsicht haben müsse; in welchem Zusammenhang Kaufabsicht, Betreten des Kaufhauses und Verhandlungsverhältnis stehen, wird aber auch von diesen Autoren nicht klargestellt. Führt man sich diese erheblichen Mängel, ja sogar Trugschlüsse der Auffassungen vor Augen, die die vorvertragliche Haftung schon mit dem Betreten des Kaufhauses beginnen lassen wollen, so kann der Widerspruch, den diese angebliche Haftungsausweitung hervorgerufen Krasser, S. 44. Steinberg, S. 93 f.; Hildebrandt, S. 93 Fußn. 52; Berger, S. 36; Stall, JW 1933, S. 36; ders., LZ 1923, Sp. 532 (544/5); Erman, AcP 139, S. 273 (324). 22 Weitergehend verlangt Hartig, S. 55, den Zugang dieser Handlungen 20

21

bzw. Willenserklärungen beim Verhandlungspartner.

23 Schönwald, S. 29; Holz, S. 34, 45 f.; Ehwald, S. 23; Diers, S. 55; Palandt / Heinrichs, § 276 Anm. 6 b dd; BGH NJW 1962, S. 31 (32). 24 Koerfer, S. 63 f.; Bogusch, S. 55 f.; Dömpke, S. 41, 45; Meyer, S. 31.

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1. Teil: Die "vorvertragliche" Schutzpflicht

hat, nicht erstaunen. Auffassungen, die in dem Bestreben, dem schutzwürdigen Kunden helfen zu wollen, den Zusammenhang zu dem "Verhandlungs"-Verhältnis völlig "vergessen" oder den von ihnen angenommenen Zusammenhang nicht begründen, können nicht überzeugen. Verwundert nun noch das ängstliche Beharren der Gegenmeinung, die das Vorliegen eines Verhandlungsverhältnisses von der Aufnahme der eigentlichen Verhandlungen abhängig macht 25 ? Doch gerade ein Vertreter dieser ablehnenden Meinung weist auf einen Umstand hin, der dafür spricht, die Haftung schon mit dem Betreten des Kaufhauses beginnen zu lassen: Voswinkel hebt nämlich hervor, daß der Kunde bei Betreten eines Kaufhauses nicht sofort nach seinen Wünschen gefragt werde 26 • Der Ausgangspunkt dieses Hinweises war allerdings ein anderer: Voswinkel nimmt an, daß derjenige, der die Verkaufs räume eines mittle~ ren oder kleineren Unternehmens betrete, von vornherein ernsthafte Kaufwünsche habe und daher sofort nach seinem Wunsche gefragt werden wolle; auch würden Kaufinteressenten Läden dieser Größenordnung selten verlassen, ohne tatsächlich etwas gekauft zu haben. Daher sei es hier für den Ladeninhaber zumutbar, daß seine Pflichtigkeit schon beginne, sobald ein Kunde seine Verkaufsräume betrete. Würde seine Pflichtigkeit erst mit Aufnahme der Verhandlungen beginnen, so wäre die Schnelligkeit entscheidend, mit der das Bedienungspersonal der Kundschaft zur Verfügung stehe - dem Geschäftsherrn wäre dann "natürlich" eine träge Bedienung am liebsten, denn auf diese Weise könnte er einer Haftung zunächst aus dem Wege gehen 27 • Hier spricht Voswinkel einen wichtigen Gesichtspunkt an: Darf die Haftung für vorvertragliches Fehlverhalten von Zufällen, nämlich der Schnelligkeit des jeweiligen Bedienungspersonals abhängig sein? Hat es der Kunde zu vertreten, daß der Unternehmer nicht so viele Verkäufer einstellt, daß er sofort bedient werden kann? Voswinkel meint, der Unterschied zwischen einem Warenhaus und einem kleineren Unternehmen bestehe darin, daß sich der "Warenhauskäufer" nicht scheue, das Warenhaus zu verlassen, ohne einen Kauf getätigt zu haben, während er bei kleineren Läden gewissermaßen unter Kaufzwang stehe. Aber gebieten diese sicherlich zutreffenden Unterschiede tatsächlich eine rechtliche Andersbehandlung? Es ist doch nicht zu übersehen, daß die Anonymität eines Kaufhauses dem Inhaber auch Vorteile bringt. Gerade weil der Kunde häufig nicht sofort nach seinem Wunsch gefragt wird, kann er das ihm unterbreitete Warenangebot stärker auf sich wirken lassen und sich deshalb zu dem 25 Schultz, S. 68; Schulze, S. 28; Voswinkel, S. 21 f.; RGZ 78, S. 239 ff.; RG Warn Rspr. 1912, S. 418. 26 Voswinkel, S. 21. 27 Voswinkel, S. 22.

I.

Die Warenhausfälle

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Kauf einer Sache entschließen, die zu besitzen er zuvor gar nicht das Bedürfnis gehabt hatte. Diese "Bedürfnisweckung" ist aber gerade einer der kaufmännisch-taktischen Gründe, weshalb Artikel in bestimmter Weise in den Verkaufs räumen angeordnet werden, weshalb mehr und mehr Selbstbedienungsläden eingerichtet werden und auf eine unmittelbare Bedienung verzichtet wird. Ist es dann nicht nur billig, daß der Kaufhausinhaber als Gegengewicht zu seiner erhöhten Verkaufschance, die gerade wegen des nicht ausreichenden Bedienungspersonals besteht, bereits haftet, sobald der Kunde das Warenhaus betritt? Schließlich kann der Kunde schon von diesem Zeitpunkt ab das Warenangebot auf sich wirken lassen, und daher beginnen für den Inhaber des Warenhauses die konkreten Verdienstchancen auch schon zu diesem frühen Zeitpunkt. Dies sind aber zunächst nur Erwägungen, die das Rechtsgefühl ansprechen und die über die rechtliche Einordnung der Kaufhausfälle nicht allein entscheiden dürfen. Aber kann die Erkenntnis, daß schon das Betreten des Kaufhauses dem Eintretenden "neue Horizonte" erschließt und dem Kaufhausinhaber eine erhöhte Verdienstchance gibt, nicht auch für das angewandte Recht nutzbar gemacht werden? Versuchen wir einmal, die Kaufhausfälle unter diesem Aspekt als verhandlungsbedingte Sonderverbindung einzuordnen. Nicht anders als den Fällen, in denen es zur Aufnahme der eigentlichen Verhandlungen gekommen ist, hat ein Teil einen anderen eingeladen, seinen Rechtskreis aufzusuchen: schon durch das Offenhalten des Kaufhauses will der Inhaber Interessenten anlocken; sie sollen das Kaufhaus betreten, die angebotenen Waren begutachten und sich bei Gefallen zu einem Kauf entschließen. Wie ist in diesem Zusammenhang nun die Tatsache zu bewerten, daß Personen das Kaufhaus betreten? Dieses Verhalten stellt zunächst einmal eine Reaktion dieser Personen auf das Offenhalten des Kaufhauses dar. Gleichzeitig nehmen sie aber mit dem Betreten des Warenhauses die Einladung des Kaufhausinhabers an, seine Angebote zu überprüfen. Dies deutet darauf hin, daß schon zu diesem Zeitpunkt eine beidseitige Zuwendung der Beteiligten vorliegt, die Voraussetzung für das Entstehen einer Sonderverbindung ist. Entgegenstehen könnte, daß der Eintretende nicht sofort mit einem Verkäufer über seine Wünsche spricht. Dann müßte aber dieses gesprächsweise Gegenübertreten eine nicht ersetzbare Bedingung für eine Sonderverbindung sein. Das Gespräch gibt beiden Beteiligten die Möglichkeit, die Vor- und Nachteile eines Vertragsschlusses zu erörtern. Tritt aber erst durch diese Erörterung eine gewollte und zweckgerichtete Öffnung der beteiligten Rechtskreise ein? Hier ist zu bedenken, daß die Öffnung des eigenen Rechtskreises dem anderen eine Einwirkung auf verschiedenste

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1. Teil: Die "vorvertragliche" Schutzpflicht

rechtlich geschützte Interessen erlaubt. Vermögens-, insbesondere Geschäftsinteressen werden dem anderen regelmäßig erst zugänglich, so~ bald die Beteiligten miteinander sprechen; andere Rechtsgüter, wie Leben, Gesundheit und Eigentum, können demgegenüber schon zu einem früheren Zeitpunkt dem Zugriff des anderen unterliegen. In unseren Kaufhausfällen ist dies der Augenblick, in dem sich die Rechtskreise der BeteiligtEm erstmals berühren - das Betreten des Kaufhauses. Wie wir gesehen haben, kommt dem Überschneiden zweier Rechtskreise aber erst dann die Bedeutung einer verbindenden Zuwendung zu, wenn beide Teile gewollt und zweckgerichtet ihre Rechtskreise öffnen. Zweck der Einladung des Kaufhausinhabers ist, Kaufinteressenten anzulocken und diese durch die Menge des Warenangebotes zu einem Vertragsschluß zu veranlassen. Da aber nicht für jeden Verkaufstisch und nicht für jeden möglichen Kunden ein Verkäufer zur Verfügung steht, bezweckt diese Einladung nicht notwendig, dem möglichen Vertragsschluß ein Gespräch mit dem Bedienungspersonal vorangehen zu lassen. Das "Bedienungspersonal" wird nach dem Willen des Kaufhausinhabers sogar weitgehend zu einem "Beobachtungs- und Kassenpersonal" degradiert. Auf diese Weise wird jedoch die verhandlungsbereite "gefällige" Bedienung, die mit dem Kunden das Verhandlungsobjekt bespricht, in den Kaufhäusern durch die Masse des Angebots ersetzt, das für sich selbst sprechen soll. Dieses große Angebot soll nun nach dem Willen des Kaufhausinhabers schon von dem Augenblick ab auf den Kunden wirken, in dem er das Kaufhaus betritt, und daher ist für ihn das Betreten des Kaufhauses gleichbedeutend mit der Aufnahme von Verhandlungen. Um die Anonymität des Kaufhauses weiß auch derjenige, der das Kaufhaus betritt. Er ist sich darüber im klaren, daß ihn mit Betreten des Kaufhauses zunächst nur die Masse des Angebotes, nicht aber ein bedienungswilliger Verkäufer erwartet. Oft sucht er ein Kaufhaus auch gerade mit dem Ziel auf, sich ungestört über die Angebote zu informieren. Wenn er dann das Warenhaus verläßt, ohne etwas gekauft zu haben - warum soll dies nicht gleichbedeutend mit dem Abbruch gesprächsweise geführter Verhandlungen sein? Mit dem Verlassen des Kaufhauses hat er sich innerlich entschieden, nichts zu kaufen; diese Entscheidung trifft er aber auch, wenn er ausdrücklich erklärt, einen Vertrag nicht abschließen zu wollen. Zusammenfassend ist daher festzuhalten, daß die Kaufhausfälle als echte Verhandlungsverhältnisse einzuordnen sind. Durch die Entwicklung des modernen Geschäftslebens sind diese Verhandlungsverhältnisse lediglich in ein anderes Gewand als die herkömmlichen Verhandlungsverhältnisse gekleidet. Sie teilen auch deren Rechtsnatur als Son-

1. Die Warenhausfälle

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derverbindungen, da bereits das bloße Betreten des Warenhauses die Voraussetzungen erfüllt, die unser Mindesttatbestand einer Sonderverbindung fordert: - bereits mit dem Betreten des Kaufhauses kommt es zu einer gewollten und zweckbestimmten Zuordnung der beteiligten Rechtskreise, - diese Zuordnung zeigt sich darin, daß die Beteiligten ihre Rechtskreise öffnen und dem anderen eine Einwirkung auf Rechtsgüter wie Leben, Gesundheit und Eigentum erlauben, - dieser Rechtsgüterkontakt, der aus dem Betreten des Kaufhauses folgt, kann zwar weniger intensiv sein als eine Berührung, die sich bei einem gesprächsweisen Gegenübertreten der Beteiligten ergibt; doch reicht für eine verbindende Zuordnung aus, daß die Beteiligten ihren Willen, dem anderen die eigene Rechtssphäre zur Erreichung eines bestimmten Zwecks zugänglich zu machen, überhaupt kundtun; diese Bereitschaft ist hier schon feststellbar, bevor es zu einem Gespräch kommt. Abschließend sollen noch die Besonderheiten aufgezeigt werden, die die Warenhausfälle von den herkömmlichen Verhandlungsverhältnissen unterscheiden: - Verhandlungspartner ist nicht mehr nur das Bedienungspersonal, mit dem die Vor- und Nachteile eines bestimmten Gegenstandes erörtert werden können; die "Verkäufer" sind sogar weitgehend zu einem "Beobachtungs- und Kassenpersonal" degradiert worden. - Das Bedienungspersonal wird durch die Warenauslagen ersetzt, die durch ihre Masse und Vielfältigkeit für sich sprechen sollen. - Sowohl von seiten des Kaufhausinhabers als auch von seiten des Kunden ist gewollt und bezweckt, daß sich der Kunde weitgehend selbst mit dem Warenangebot beschäftigt: der Kaufhausinhaber verspricht sich eine erhöhte Verdienstchance, weil in dem Kunden von diesem selbst nicht erahnte Kaufbedürfnisse geweckt werden; der Kunde hingegen zieht das ungestörte Überprüfen der Artikel in der Anonymität des Kaufhauses vor. - Unter diesem Gesichtspunkt beginnen die Verhandlungen, sobald der Kunde das Warenangebot auf sich wirken lassen kann - also mit Betreten des Kaufhauses. Schon zu diesem Zeitpunkt wenden sich die Beteiligten einander gewollt und zweckbestimmt zu; die Öffnung der beteiligten Rechtskreise zeigt sich darin, daß sie Rechtsgüter wie Leben, Gesundheit und Eigentum dem Einfluß des anderen aussetzen. - Das Verlassen des Kaufhauses ist gleichbedeutend mit dem ausdrücklichen Abbruch der Verhandlungen; hier wie dort hat sich der Kunde entschieden, nicht kaufen zu wollen. Die bereits zuvor entstandene Sonderverbindung wird dadurch aber nicht rückwirkend beseitigt. IV. Welche Personen werden schon mit Betreten des Warenhauses Partner dieser - verhandlungsbedingten - Sonderverbindung?

Mit der Feststellung, daß Warenhausbesuche echte verhandlungsbedingte Sonderverbindungen entstehen lassen, können wir uns der letzten, noch offenen Frage dieses Problemkreises zuwenden: Es ist jetzt zu entscheiden, ob Partner dieser Sonderverbindungen nur solche

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1. Teil: Die" vorvertragliche" Schutzpflicht

Besucher sein können, die kauflustig sind bzw. sich ernsthaft über die Angebote informieren wollen, oder ob eine solche verhandlungsbedingte Sonderverbindung mit jeder Person entsteht, die ein Kaufhaus bzw. einen Selbstbedienungsladen betritt. Das Bekenntnis zum Vorliegen oder Nichtvorliegen einer Sonderverbindung bedeutet gleichzeitig eine Entscheidung über die Entstehungsmöglichkeit von Schutzpflichten, denn die Wohltat besonderer Schutzpflichten können nur solche Personen für sich in Anspruch nehmen, die entweder Partner dieser Sonderverbindung oder aber "Dritte" im Sinne des "Vertrages mit Schutzwirkung für Dritte" sind. Alle anderen erfahren nur den Schutz der allgemeinen deliktischen Vorschriften und sind hier insbesondere der unbefriedigenden Regelung des § 831 Satz 2 BGB unterworfen. Einschränkend muß allerdings bemerkt werden, daß die Bedeutung dieser Fragen mehr auf theoretischem als auf praktischem Gebiet liegt. Ob jemand "kaufwillig" ist oder nicht, können Außenstehende nämlich nicht nachvollziehen. Diese müssen sich an die Tatsachen halten, und es ist nun einmal keinem Menschen anzusehen, ob er sich die ausgelegten Waren ansehen will oder nicht. Letztlich kann ein Gericht die Information über die inneren Vorgänge des Betreffenden daher nur von einem juristisch nicht beratenen Laien erhalten, der nicht über die Unterschiede von Schutzpflichten und allgemeinen deliktischen Pfichten weiß und sich aus bloßer Unkenntnis solcher Rechte begibt, die für ihn günstig sind. Dies ist jedoch kein Argument, das auf diesem Gebiet gegen die Anerkennung besonderer Schutzpflichten vorgebracht werden kann, denn eine für den Kaufhausbesucher günstige Beweislage kann unmöglich über die Existenzberechtigung der von ihm geltend gemachten Ansprüche entscheiden. Bei der Frage, welche Personen Partner einer verhandlungsbedingten Sonderverbindung sein können, spielen insbesondere zwei Gesichtspunkte eine entscheidende Rolle. Einmal ist zu bedenken, daß eine verhandlungsbedingte Sonderverbindung nur entstehen kann, wenn sich die beteiligten Rechtskreisträger gemeinsam von dem Ziel leiten lassen, mit dem Fernziel eines Vertragsschlusses zusammentreffen zu wollen; diese Feststellung entspricht der Bedeutung, die der "Zweck" für das Zustandekommen einer "Sonderverbindung mit positiver Zielsetzung" hat. Auf seiten des Warenhauses bzw. Selbstbedienungsladens kann diese Zielsetzung unzweifelhaft bejaht werden, denn - wie vorstehend ausgeführt - will der Inhaber schon durch das Offenhalten des Geschäftes Interessenten anlocken, die die angebotenen Waren begutachten und sich bei Gefallen zu einem Kauf entschließen sollen. Schwieriger ist es dagegen, die inneren Vorstellungen des Besuchers zu erfassen. Seine Vorstellungswelt ist abhängig von den auf ihn einwir-

I. Die Warenhausfälle

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kenden Eindrücken, denn häufig endet ein Geschäftsbesuch auch für eine Person, die eigentlich gar nichts kaufen wollte, doch mit dem Erwerb einer Sache; der Grund für diese Entwicklung liegt darin, daß bei dieser Person die kaufmännisch-taktischen Erwägungen des Inhabers, in dem Besucher durch die Anordnung und durch die Masse des Angebotes selbst nicht erahnte Bedürfnisse zu erwecken, auf fruchtbaren Boden gefallen sind. Diese möglicherweise später eintretende Bedürfniserweckung ist der zweite entscheidende Gesichtspunkt, der zu berücksichtigen sein wird, und der das Erfordernis, daß der Warenhausbesucher von Anfang an einen zumindest möglichen Kaufwillen haben muß, vielleicht einschränken könnte. Im einzelnen wird diese Frage an Hand der nachfolgenden Beispielsfälle zu erörtern sein. Fall 1: Frau F will im Textilkaufhaus T einen Mantel kaufen. Sie wird von ihrem Mann und ihrer kleinen Tochter begleitet. Wegen der ernsthaften Kaufabsicht der F ist zwischen Fund T bereits mit Betreten des Kaufhauses eine verhandlungsbedingte Sonderverbindung entstanden. Doch sind auch ihre Begleiter mit dem Warenhausinhaber eine verhandlungsbedingte Sonderverbindung eingegangen? Wegen der engen verwandtschaftlichen Beziehungen zwischen Fund ihren Begleitern ist die Beantwortung dieser Frage, die im Regelfall gleichzeitig über Entstehen oder Nichtentstehen besonderer Schutzpflichten zugunsten dieser Personen entscheidet, von untergeordneter praktischer Bedeutung. Ehemann und Kind sind nämlich "Dritte" im Sinne des "Vertrages mit Schutzwirkung für Dritte" und können daher auch im vorvertraglichen Bereich die Wohltaten von auf sie erstreckten Schutzpflichten in jedem Falle für sich in Anspruch nehmen 28 • Um allgemeingültige Maßstäbe zu gewinnen, soll aber auch hier gefragt werden, ob es der Interessenlage angemessen ist, daß diese Personen mit Betreten des Kaufhauses selbständige Partner einer Sonderverbindung werden. Obwohl sie bei Betreten des Kaufhauses noch keinerlei Kaufabsicht haben, sind auch sie den Verlockungen des Kaufhausangebotes ausge" setzt; daher kann nicht ausgeschlossen werden, daß während des Passierens der verschiedenen Abteilungen des Kaufhauses auch bei ihnen Kaufbedürfnisse geweckt werden. Doch kann Partner einer verhandlungsbedingten Sonderverbindung nur eine Person sein, die selbständig entscheiden kann, ob sie den bei ihr geweckten Kaufbedürfnissen Verhandlungen und möglicherweise sogar einen Vertragsschluß nachfolgen lassen will. Unter diesem Gesichtspunkt erheben sich aber gerade aus dem Grundgedanken des "Vertrages mit Schutzwirkungen für Dritte" Bedenken dahin, ob "Dritte" in der Zeitspanne zwischen dem Betreten 28

BGHZ 66, S. 51 ff.

=

BGH NJW 1976, S. 712.

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1. Teil: Die "vorvertragliche" Schutzpflicht

des Kaufhauses und der Aufnahme von auf ihre Person bezogenen Verhandlungen gleichzeitig selbständige Partner einer Sonderverbindung sein können. Der "Vertrag mit Schutzwirkungen für Dritte" beruht nämlich auf dem Grundgedanken, daß Personen, für deren "Wohl und Wehe" der Gläubiger verantwortlich ist, in gleicher Weise an der intensiven Berührung der Beteiligten teilhaben wie die Partner selbst, und daß ihnen gegenüber daher auch die gleiche Sorgfalt geschuldet wird wie gegenüber dem Vertragspartner 29 • Fragt man nun, welche Funktion die "Dritten" im Verhältnis zwischen Gläubiger und Schuldner ausüben, so läßt sich feststellen, daß ihre Rolle ausschließlich duldenden Charakter hat; "Dritte" nehmen den Kontakt hin, sie entwickeln keine Eigeninitiative in Richtung auf den Schuldner. Sie sind lediglich in einen Kontakt mit einbezogen und bilden zusammen mit dem eigentlichen Initiator des Kontaktes ein "Ganzes". Diese unterschiedliche Rollenverteilung ändert sich nicht wesentlich, wenn eine Familie ein Kaufhaus betritt. Sämtliche Familienangehörige bilden bei einem solchen Kaufhausbesuch - gleich ob der Mann die Frau begleitet oder umgekehrt - eine einheitliche Gruppe. Partner einer verhandlungsbedingten Sonderverbindung ist aber zunächst nur derjenige, der bereits bei Betreten des Kaufhauses kaufwillig ist, denn nur er verfolgt - wie für das Zustandekommen dieser Sonderverbindung erforderlich - das Ziel, sich von den Angeboten einen Eindruck zu verschaffen. Die "Dritten" verharren dagegen so lange in ihrer duldenden, eben nur "begleitenden" Rolle, wie nicht - regelmäßig nach Absprache untereinander - ihre Eigenverantwortlichkeit dadurch hergestellt wird, daß sie auf ihre Person bezogene Verhandlungen aufnehmen. Obwohl die "Dritten" erst zu diesem Zeitpunkt selbständige Partner einer verhandlungsbedingten Sonderverbindung werden können, werden sie wie Verhandlungspartner geschützt. Ihrem Schutzbedürfnis wird nämlich dadurch genügt, daß Schutzpflichten auf sie erstreckt werden. Doch muß nun einmal berücksichtigt werden, daß sie durch die familieninterne Rollenverteilung in ihrer Beweglichkeit, spontane Entschlüsse eigenverantwortlich treffen zu können, beschränkt sind. Vor allem muß aber nochmals betont werden, daß diese Fragen lediglich theoretischer Natur sind. Wenn nämlich alle Familienmitglieder behaupten, von vornherein kaufwillig gewesen zu sein, kann ihnen das Gegenteil nicht bewiesen werden. Dennoch lassen sich schon aus diesem Beispiel gerade durch die Gegenüberstellung von "Dritten" und "selb29 MK-Kramer, Ein!. Heinrichs, § 328 Anm.

zu § 241 Anm. 80; Larenz, SR AT, § 17 II; Palandt I 2 b; Soergell Schmidt, Vorbem. 12 ff. zu § 328; BGH NJW 1954, S. 1648; BGH NJW 1970, S. 40; BGHZ 49, S. 354; BGHZ 66, S. 51 ff.; OLG Hamm, FamRZ 1977, S. 318 (319).

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ständigen Partnern einer Sonderverbindung" wichtige Erkenntnisse für die Erfassung des Personenkreises ablesen, der bereits mit Betreten des Kaufhauses Partner einer verhandlungsbedingten Sonderverbindung sein kann: - die betreffenden Personen müssen den Verlockungen des Kaufhausangebotes und dem dadurch angestrebten "psychologischen Effekt", ungeahnte Bedürfnisse zu erwecken, ausgesetzt sein, - sie dürfen in ihrer Entschlußfreiheit, spontanen Bedürfniserweckungen eigenverantwortlich zu folgen, nicht eingeschränkt sein. FaH 2: Frau F wird bei ihrem Kaufhausbesuch, von dem sie sich einen Mantelkauf verspricht, jetzt von ihrer Freundin B begleitet. Kann auch B mit Betreten des Kaufhauses Partnerin einer verhandlungsbedingten Sonderverbindung werden?

Der Entscheidung über diese Frage kommt hier größere Bedeutung zu als im vorherigen Beispiel, denn nach den bisher üblichen Maßstäben ist es nicht möglich, die B als "Dritte" im Sinne des "Vertrages mit Schutzwirkungen für Dritte" anzusehen3o • Das Betreten des Kaufhauses kann daher nur dann der maßgebliche Tatbestand für das Entstehen von Schutzansprüchen der B sein, wenn sie bereits zu diesem Zeitpunkt selbst Partnerin einer verhandlungsbedingten Sonderverbindung werden kann. Als Begleitperson ist B den Verlockungen des Kaufhausangebotes bereits mit Betreten des Kaufhauses ausgesetzt. Aber gerade weil Frau F nicht auch für ihr " Wohl und Wehe" aufkommen muß, hat sie eine größere Eigenverantwortung für ihr Kaufverhalten als die Begleitpersonen im Beispieisfalll. B ist in ihrer Entschlußfreiheit nicht beschränkt; die Entscheidung, ob sie einem durch das Waren angebot geweckten Kaufbedürfnis folgen soll, liegt allein bei ihr. Die Wahrscheinlichkeit, daß B einen anfangs nicht geplanten Kauf tätigt, ist auch recht hoch. Es liegt in der Natur der Sache, daß gerade eine Begleiterin, die ohne vorgefaßte Vorstellungen das Warenangebot mustert, leichter einen ihr gefallenden Gegenstand findet als eine zwar von vornherein kaufwillige, aber auf ein bestimmtes Stück fixierte Besucherin. Daher läßt sich zusammenfassend feststellen, daß B die Voraussetzungen erfüllt, die wir oben als wichtig für die Erfassung des Personen kreises erkannt haben, der bereits mit Betreten des Kaufhauses Partner einer verhandlungsbedingten Sonderverbindung sein kann. FaH 3: Nach getätigten Einkäufen soll Frau F von ihrem Mann im Kaufhaus abgeholt werden; als Treffpunkt haben beide den Erfrischungsraum im zweiten Stockwerk verabredet. Kann M mit Betreten des Kaufhauses 30 BGHZ 66, S. 51 (57); kritisch Hohlach, JuS 1977, S. 302 (304 f.); Sonnenschein, JA 1979, S. 225 (227).

9 Frost

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1. Teil:

Die "vorvertragliche" Schutzpflicht

selbständiger Partner einer verhandlungsbedingten Sonderverbindung werden? Hier ist schon zweifelhaft, ob M bei einem bloßen Durchschreiten der zum Erfrischungsraum führenden Verkaufsgänge überhaupt den Verlockungen des Warenangebotes ausgesetzt ist. Doch ist zu bedenken, daß zu den ausgeklügelten Geschäftstaktiken eines Kaufhauses auch die Anordnung des Warenangebotes gehört: Gerade an den Gängen und an den Zuwegen zu den Rolltreppen werden besonders preiswerte und "aufreizende" Waren angebote ausgestellt; diese Angebote stellen schon durch ihre Aufmachung einen Blickfang dar und erregen auch die Aufmerksamkeit eines Besuchers, der wie M für solche Angebote eigentlich gar nicht aufnahmebereit ist. Weiter ist zu fragen, ob M selbständig entscheiden kann, ob er spontanen Kaufbedürfnissen folgen will. Gegenüber dem Beispielsfall 1. liegt hier eine veränderte Sachlage insoweit vor, als daß "die Familie" nicht als einheitliche Gruppe auftritt. Entsprechend größer sind die Möglichkeiten des M, sein Kaufverhalten eigenständig zu bestimmen. Daher ist M in diesem Beispielsfall nicht nur "Dritter", der an dem von seiner Frau F eingeleiteten Kontakt lediglich duldend teilnimmt; seine Eigenverantwortlichkeit läßt ihn dem Personenkreis angehören, der gerade wegen seiner Entschlußfreiheit selbständiger Partner einer verhandlungs bedingten Sonderverbindung sein kann. Fan 4: Nicht der Ehemann M, sondern die Freundin B will Frau F vereinbarungsgemäß im Erfrischungsraum des Kaufhauses treffen. Wie sich bereits im Beispielsfall 3. andeutete, macht es bei den Sachverhalten, bei denen das Kaufhaus lediglich als Treffpunkt vereinbart ist, vor allem Schwierigkeiten, die Aufnahmebereitschaft der betreffenden Besucher gegenüber den Warenangeboten festzustellen. Die Frage, ob diese Personen spontanen Kaufbedürfnissen eigenverantwortlich folgen können, tritt dagegen in den Hintergrund. Ausgehend von dieser Erkenntnis kann festgestellt werden, daß es keinen Unterschied macht, ob Treffpunktpartner der Frau F nun ihr Ehemann ist oder die Freundin B. Die Geschäftstaktik des Kaufhauses, durch ausgewählte Angebote das Interesse der Besucher zu wecken, ist auch geeignet, die B anzusprechen. Was ihre Entschlußfreiheit angeht, so trägt sie - wie im Beispielsfall 2. ausgeführt - die alleinige Verantwortung für ihr Kaufverhalten und kann also auch in diesem "Treffpunktfall" selbständige Partnerin einer verhandlungsbedingten Sonderverbindung sein. Fan 5: student S kürzt den Weg zur Universität dadurch ab, daß er das Erdgeschoß des Kaufhauses durch den Nordeingang betritt und - dem Hauptgang folgend - durch den Südausgang wieder verläßt. Kann S durch das bloße Betreten des Kaufhauses Partner einer verhandlungsbedingten Sonderverbindung werden?

1. Die Warenhaus fälle

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Dieser "Passier-Fall" ähnelt den bereits behandelten "TreffpunktFällen" mehr, als es zunächst scheint. Auch hier geht es nämlich um die Frage, ob bei einer Person, die lediglich an den Warenangeboten des Geschäfts vorbeigehen will, Kaufbedürfnisse geweckt werden können. Ähnlich wie bei Fall 3. und 4. ist zu bedenken, daß die Kaufhäuser gerade die Hauptgänge mit Angeboten bestücken, die entweder "Preisschlager" sind oder einen ohnehin geringen Einzelpreis haben. Auch diese Waren anordnung ist Teil der ausgeklügelten Geschäftstaktiken; es wird die Aufmerksamkeit des Besuchers erregt und gleichzeitig wird ihm der "Preisschreck" genommen; dadurch kann er leichter dazu verführt werden, spontane Käufe zu tätigen. Entgegen einer weit verbreiteten Auffassung 3 ! ist der Besucher daher in derartigen "Passier-Fällen" den Verlockungen des Angebotes ausgesetzt. Seine Entschluß freiheit, dem bei ihm auf diese Weise erweckten Kaufbedürfnis zu folgen, ist im übrigen bedenkenlos zu bejahen. Fall 6: Tourist T befindet sich auf einer Stadtbesichtigung. Als er vom Regen überrascht wird, sucht er in dem Kaufhaus K Schutz. Macht es einen Unterschied, ob sich T in der Vorhalle oder im Innern des Kaufhauses unterstellt?

Auch bei derartigen "Unterstell-Fällen" wurde bislang nie ernsthaft erwogen, ob die betreffende Person gegen den vom Kaufhaus angestrebten "psychologischen Effekt", ungeahnte Kaufbedürfnisse zu wekken, wirklich gewappnet ist32 • Es wurde insbesondere übersehen, daß diese Personen schon dadurch zu "Kaufhausbesuchern" werden, daß sie sich in der Sphäre des Kaufhauses aufhalten; daher sind sie den Verlockungen des Warenangebotes nicht anders ausgesetzt als die Besucher, die ein Kaufhaus gewollt und ziel bewußt aufsuchen. Insbesondere kann es schon gar nicht mehr überraschen, daß die moderne Geschäftstaktik auch diese "Zufallsbesucher" miteinkalkuliert hat. Nicht umsonst befinden sich nämlich gerade an den Eingängen der Kaufhäuser sogenannte "Grabbeltische", auf denen die verschiedensten Artikel zu Tiefpreisen angeboten werden. Sie sollen den Besucher gerade dazu verlocken näherzutreten, und allzu leicht fällt der Blick dann auch auf die sonstigen "Preisschlager", die sorgsam am Rande des Ganges aufgebaut sind. Damit hat das Kaufhaus aber sein Ziel, in dem Besucher durch die Masse des Angebotes Bedürfnisse zu wecken, erreicht. Dann kann es jedoch auch keinen Unterschied machen, ob sich der Betreffende im Vorraum oder im Inneren des Kaufhauses unterstellt. Neu31 Larenz, MDR 1954, S. 515 (518); MK-Emmerich, Vorbem. 142 zu 275; Palandt / Heinrichs, § 276 Anm. 6 a; Staudinger / Löwisch, Vorbem. 42, 43 zu §§ 275 - 283; Palandt / Heinrichs, § 276 Anm. 6 a; Welser, Vertretung, S. 83; Diers, S. 65 f.; BGHZ 66, S. 51 (55). 32 Larenz, MDR 1954, S. 515 (518); MK-Emmerich, Vorbem. 142 zu § 275; Palandt / Heinrichs, § 276 Anm. 6 a; Diers, S. 56 f.; BGHZ 66, S. 51 (55).



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1. Teil:

Die "vorvertragliche" Schutzpflicht

gierig wird er nämlich "gemacht", sobald er die erste Außentür des Kaufhauses durchschritten hat. Seine Fähigkeit, der Bedürfniserwekkung die Tat nachfolgen zu lassen, steht auch hier außer Frage und ist daher nur am Rande zu erwähnen. Zusammenfassend bleibt daher folgendes festzuhalten: - jeder Kaufhausbesucher ist mit Betreten der Geschäftsräume den Verlockungen des Warenangebotes ausgesetzt, - bei jedem Besucher besteht die Wahrscheinlichkeit, daß er auf den vom Kaufhaus angestrebten "psychologischen Effekt", ungeahnte Kaufbedürfnisse zu erwecken, anspricht, - regelmäßig ist bei jedem Besucher die Entschlußfreiheit gegeben, den spontanen Kaufbedürfnissen zu folgen und einen anfangs nicht geplanten Kauf zu tätigen, - eingeschränkt ist diese eigenverantwortliche Entschlußfreiheit nur, wenn insbesondere eine Familie als Gruppe ein Kaufhaus betritt. Die ohne eigenen Kaufwunsch eintretenden Familienmitglieder bleiben solange "Dritte", wie nicht auf ihre Person bezogene Verhandlungen aufgenommen werden; diese Einschränkung ergibt sich aus der familieninternen Rollenverteilung. Der Feststellung, daß jeder Besucher33 , der nicht gerade "Dritter" im Sinne des "Vertrages mit Schutzwirkungen für Dritte" ist, bereits mit Betreten des Kaufhauses Partner einer verhandlungsbedingten Sonderverbindung werden kann, muß sich nun die Frage anschließen, wie diese Erkenntnisse für das Recht nutzbar gemacht werden können. Zunächst zwingt diese Feststellung dazu, den Begriff des "möglichen Kunden" auszudehnen. Nach dem bisherigen Verständnis konnte "möglicher Kunde" nur eine Person sein, die ein Kaufhaus mit der grundsätzlichen Bereitschaft betritt, die Angebote zu überprüfen 34 • Die vorstehenden Beispielsfälle haben nun eindeutig gezeigt, daß eine solche enge Betrachtungsweise dem modernen Geschäftsleben, insbesondere den angewandten Verkaufstaktiken, in nicht genügendem Maße Rechnung trägt. Gerade weil die Wahrscheinlichkeit besteht, daß auch ein anfangs kaufunlustiger Besucher aufgrund der modernen Geschäftspraktiken plötzlich doch noch ungeahnte Kaufbedürfnisse entdeckt, ist aus der Sicht des Kaufhauses jede Person, die das Kaufhaus betritt, bereits ein "möglicher Kunde". Häufig verspürt allerdings ein anfänglich kaufunlustiger Besucher auch nachträglich keine Kauflust. Dieses Besucherverhalten macht es jedoch nicht erforderlich, von dem neuen Verständnis des "möglichen Kunden" abzugehen. Wenn ein Besucher die Angebote überprüft, sich jedoch nicht zu einem Kauf entschließen kann, liegt praktisch besehen derselbe Fall vor. 33

Zu den Schutzansprüchen des Warenhausinhabers siehe Fußnote 38.

Larenz, MDR 1954, S. 515 (518); MK-Emmerich, Vorbem. 142 zu § 275; Palandt / Heinrichs, § 276 Anm. 6 b dd; Diers, S. 56 f.; BGHZ 66, S. 51 (55). 34

I. Die Warenhausfälle

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Die Erkenntnis, daß grundsätzlich jede Person, die das Kaufhaus betritt, als "möglicher Kunde" anzusehen ist, schafft darüber hinaus die Möglichkeit, die genannten "Begleiter-, Treffpunkt-, Passier- und Unterstell-Fälle" durch ein differenzierteres Verständnis vom Wesen einer verhandlungsbedingten Sonderverbindung einer sachgerechten Lösung zuzuführen: Wir haben erkannt, daß der "Zweck" der beidseitigen Zuwendung ein entscheidendes Element für das Zustandekommen einer "Sonderverbindung mit positiver Zielsetzung" darstellt 35 • Weiter haben wir gesehen, daß eine verhandlungs bedingte Sonderverbindung dann entsteht, wenn die Beteiligten zusammentreffen, um gesprächsweise ihre Verhandlungspositionen darzulegen 36 ; hier ist der "Zweck" sicher am stärksten ausgeprägt. Ausreichend für die Annahme eines "verbindenden Zwecks" ist aber auch, daß die Beteiligten, ohne daß sie Verhandlungs-"Gespräche" führen müßten, nach Betreten eines Kaufhauses bzw. Selbstbedienungsladens die Angebote des anderen in eigener Verantwortung ernsthaft überprüfen 37 • Aufgrund der nun gewonnenen Erkenntnisse muß diesen Fallgruppen jetzt noch eine weitere hinzugefügt werden, bei der der "verbindende Zweck" allerdings noch weniger stark ausgeprägt ist, als bei der zweiten Fallgruppe. Danach ist dem Erfordernis des "verbindenden Zwecks" auch genügt, wenn ein Teil einen unbedingten Verbindungswillen zeigt und der andere Teil jedenfalls aufnahmebereit für diese fremde Zuwendung ist. Es darf bei diesen Warenhausfällen nämlich nicht übersehen werden, daß gerade die ausgeklügelten Geschäftstaktiken ein beredtes Zeugnis über das Ziel des Unternehmers ablegen, den Besucher auf jede denkbare Weise "einzufangen" und zu einem Vertragsschluß zu bewegen. Nur dieses starke Zweckdenken, das Richtung auf jede, das Kaufhaus betretende Person nimmt und allzu häufig vom Erfolg gekrönt ist, rechtfertigt es, eine verhandlungsbedingte Sonderverbindung schon anzunehmen, bevor der Besucher auf die ihm präsentierten Angebote reagiert38 • Schließlich ist ein Besucher nun einmal mit Siehe oben unter D IV 3 b. Siehe oben unter D V. 37 Siehe oben unter J IIl. 38 Den Schutzpflichten des Warenhausinhabers, die diesen mit Zustandekommen der verhandlungsbedingten Sonderverbindung treffen, entsprechen SchutzanspTÜche gegenüber den Kaufhausbesuchern. Für die Frage, ob Ladendiebstähle nicht nur unerlaubte Handlungen, sondern gleichzeitig Schutzpflichtverletzungen der Kunden darstellen, ist auf die Ausführungen zu H zu verweisen. Nach den dort aufgestellten Abgrenzungskriterien liegt bei Diebstählen zwar ein Angriff auf das Eigentum des Warenhausinhabers vor; dieser ist aber deshalb nicht als Schutzpflichtverletzung anzusehen, weil sich die Schutzpflichten der Kunden darauf beschränken, einen Rechtsgüterkonflikt zu vermeiden - diese haben nämlich nicht weitergehend die Aufgabe übernommen, Angriffe auf die Rechtsgüter des Warenhausinhabers abzuwehren. 85

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Teil: Die "vorvertragliche" Schutzpflicht

Betreten des Kaufhauses den Verlockungen des Warenangebotes ausgesetzt, und es ist eine Erfahrungstatsache, daß erst die modernen Verkaufstaktiken die grundsätzliche Aufnahmebereitschaft für diese Angebote schaffen. Dieser Erfahrungstatsache kann das Recht aber nur in einem schematischen Verbindungstatbestand Rechnung tragen. Das Recht kann nämlich nicht feststellen, wann diese Aufnahmebereitschaft hergestellt wird, da sich diese Vorgänge weitgehend im Inneren des Besuchers abspielen. Mit Rücksicht auf diese Erfahrungstatsache darf, es aber voraussetzen, daß diese Aufnahmebereitschaft mit Betreten des Kaufhauses entsteht, und kann diese vorauszusetzende Aufnahmebereitschaft gegenüber den Angeboten des anderen zugleich als verbindendes Zweckmoment verwerten. Damit läßt sich die Untersuchung darüber, welcher Personenkreis bei den Warenhausfällen Partner einer verhandlungsbedingten Sonderverbindung wird, mit folgendem Ergebnis abschließen: - "möglicher Kunde" ist jede Person, die ein Kaufhaus betritt, - auf einen anfänglichen Kaufwillen kommt es nicht an; es macht insbesondere keinen Unterschied, ob die Besucher Begleiter sind oder das Kaufhaus als Treffpunkt, Wegabkürzung oder Wetterschutz benutzen, - wegen der ausgeklügelten Verkaufstaktiken des Kaufhauses darf die grundsätzliche Aufnahmebereitschaft aller Besucher gegenüber dem Warenangebot vorausgesetzt werden, - diese vorauszusetzende Aufnahmebereitschaft stellt auf seiten des Besuchers das verbindende Zweckmoment dar, das für das Zustandekommen einer verhandlungsbedingten Sonderverbindung erforderlich ist, - die Berücksichtigung eines derartig abgeschwächten Zweckmomentes rechtfertigt sich aus der Überlegung, daß das Warenhaus mit seinen Angeboten gerade das Ziel verfolgt, bei dem Besucher eine Aufnahmebereitschaft für die eigenen Angebote herzustellen, um auf diese Weise sein Fernziel, einen Vertragsabschluß, zu erreichen.

v. Zusammenfassung Diese Betrachtung über die Eigenarten der Warenhausfälle hat gezeigt, daß dieser Problemkreis nur unter Berücksichtigung der Prakti. ken, die das moderne Geschäftsleben mit sich gebracht hat, einer befriedigenden Lösung zugeführt werden kann. Als wichtigstes Ergebnis ist herauszustellen, daß diese Warenhausfälle entgegen einer weit verbreiteten Meinung echte Verhandlungsverhältnisse und keine allgemeinen Rechtsbeziehungen sind; die Fehleinschätzung der Gegenmeinung beruht vor allem darauf, daß sie die Eigenarten einer Sonderverbindung und die modernen Verkaufstaktiken, die eine gesprächsweise Beratung durch das Bedienungspersonal gerade auf ein Minimum reduzieren wollen, nicht ausreichend in Betracht gezogen hat. Weiter

I.

Die Warenhaus fälle

135

haben sich bedeutsame Erkenntnisse über die Rechtstellung der Kaufhausbesucher ergeben. Einmal konnte gezeigt werden, daß verhandlungsbedingte Sonderverbindungen mit allen Kaufhausbesuchern nicht deshalb ausgeschlossen sind, weil viele Personen das Kaufhaus gleichzeitig betreten; vielmehr spielt die Größe des Personenkreises solange keine Rolle, wie dieser Personenkreis jedenfalls "bestimmbar" ist, und wir haben gesehen, daß auch in den Warenhausfällen mittels des "Tricks" der Ortsgebundenheit eine derartige "Bestimmbarkeit" herbeigeführt werden kann. Zum anderen wurde an Hand von Beispielsfällen deutlich, daß wegen der ausgeklügelten Geschäftstaktiken des Kaufhauses grundsätzlich jeder Besucher, der ein Kaufhaus betritt, als "möglicher Kunde" anzusehen ist. Gegenüber dem bisherigen Verständnis bedeutet dies eine erhebliche Ausdehnung des Begriffs "möglicher Kunde", weil jetzt nicht mehr der anfängliche Kaufwille, sondern die Aufnahmebereitschaft gegenüber dem Warenangebot über die Zugehörigkeit zu diesem Personenkreis entscheidet. Gleichzeitig erwies es sich als erforderlich, diese bereits bei Betreten des Kaufhauses vorhandene Aufnahmebereitschaft auch als Zweckrnoment, das eine verhandlungsbedingte Sonderverbindung entstehen läßt, zu berücksichtigen; damit eröffnet sich jetzt die Möglichkeit, grundsätzlich alle Besucher mit Betreten des Kaufhauses als Partner einer verhandlungsbedingten Sonderverbindung anzusehen. Insbesondere die Feststellung, daß Warenhausbesuche echte Verhandlungsverhältnisse entstehen lassen, hat weitgehende allgemeine Konsequenzen: Sie zeigt, daß die Warenhausfälle in der Tat den Regeln der "culpa in contrahendo" unterstellt werden müssen 39 , und ist daher von großer Bedeutung für unsere Schutzpflichten, die gerade anhand solcher Warenhausfälle entwickelt wurden40 • So wird jetzt einem Teil der massiven Vorwürfe4 t, die sich gegen die Annahme besonderer Schutzpflichten richten, der Boden entzogen: - es verbietet sich der Einwand, daß die Annahme besonderer Schutzpflichten deshalb nicht gerechtfertigt sei, weil sie an den "allgemeinen Rechts38 Nirk, Festschrift für Möhring, 1965, S. 385 (404 f.); Welser, Vertretung, S. 82 ff.; Eike Schmidt, Nachwort, S. 131 (146 ff.); Larenz, MDR 1954, S. 515 (518); Schapp, Rpfl. 1966, S. 292 f.; Baumert, S. 35 f.; Steinberg, S. 94; Wilburg, Schadensrecht, S. 163 ff.; Palandt / Heinrichs, § 276 Anm. 6 a; Staudinger / Weber, § 242 A 803; Erman / Battes, § 276 Anm. 116. 40 Grundlegend RGZ 78, S. 239 ff. ("Linol-Fall"). 41 Titze, HdR VI, S. 516 (517); Nirk, RabelsZ 18, S. 310 (352); Hans Stall, AcP 176, S. 145 (150 f. Fußn. 21); ders., Festschrift für von Hippel, S. 517 (527 f.); Kreuzer, JZ 1976, S. 778 (780); Pasch, ZfRV 15 (1974), S. 165 ff.; Rietzler, RabelsZ 5, S. 567 (569 f.); Hildebrandt, S. 133; Hartig, S. 67.

136

1.

Teil: Die "vorvertragliche" Schutzpflicht

beziehungen" der Warenhausfälle entwickelt worden seien und solche allgemeinen Rechtsbeziehungen unmöglich besondere Pflichten hervorbringen könnten, - es kann nicht mehr gesagt werden, daß die Befürworter der Schutzpflichten den Unterschied von allgemeiner und besonderer Rechtspflicht verwässerten, wenn sie ihre angeblich besonderen Schutzpflichten auch auf die Warenhausfälle anwendeten. All diese Vorwürfe verkennen nämlich die nunmehr bewiesene Tatsache, daß die Warenhausfälle echte verhandlungsbedingte Sonderverbindungen und keine allgemeinen Rechtsbeziehungen sind.

K. Abschlußbetrachtung zum Wesen der "vorvertraglichen" Schutzpflicht Diese Untersuchung hat gezeigt, daß die Bestandsberechtigung der vorvertraglichen Schutzpflicht bis heute umstritten geblieben ist, weil deren Befürworter die Eigenarten dieser Pflicht nicht erklären konnten. Diese Begründungslücke hat die Gegenmeinung dazu verführt, Schwächen der Schutzpflicht anzunehmen und sie dem Deliktsrecht zuzuordnen. Der Vorwurf, daß die Schutzpflicht in Wirklichkeit eine deliktische Pflicht sei, die unzulässigerweise zu einer besonderen Pflicht erhoben wurde, ist jedoch unberechtigt. Schutzpflichten sind "geborene" besondere Pflichten, die als notwendige Folge einer jeden Sonderverbindung entstehen. Die mit der Schutzpflicht geforderte Rücksichtnahme auf fremde Schutzinteressen trägt den mit dem Deliktsrecht nicht vergleichbaren Besonderheiten einer Sonderverbindung Rechnung: Die Beteiligten, die ihre Rechtskreise geöffnet und ihre Rechtsgüter in den Rechtskreis des anderen eingebracht haben, sind gerade wegen dieser Tatsache in einem so hohen Maße schützenswert, daß die deliktischen Vorschriften nicht mehr passen und der Rechtsgüterschutz durch besondere Schutzpflichten gewährleistet werden muß. Zwar dienen sowohl die Schutzpflicht als auch die deliktische Pflicht dem Zweck, die Rechtsgüter des anderen vor Schäden zu bewahren. Das Leitbild einer deliktischen Pflicht ist jedoch dadurch gekennzeichnet, daß die Beteiligten in einer abwehrbereiten Isolation ausharren und ihre Rechtsgüter unter Durchbrechung der selbst errichteten Schutz barrieren verletzt werden. In einer Sonderverbindung sind diese Schutzbarrieren demgegenüber freiwillig abgebaut worden, um die von beiden bezweckte Zuwendung zu ermöglichen. Dieses Miteinander, das eine Sonderverbindung kennzeichnet, bietet verstärkt Angriffsflächen; eine rücksichtsvolle Zusammenarbeit ist daher nur denkbar, wenn die Beteiligten in besonderem Maße auf die Interessen des anderen Rücksicht nehmen. Dazu werden sie mit

K. Abschlußbetrachtung

137

besonderen Schutzpflichten belastet, die die Forderung des § 242 BGB, sich so zu verhalten, wie Treu und Glauben dies fordern, präzisieren. Diese Feststellung einer Wechselwirkung zwischen Sonderverbindung und Schutzpflicht ist die entscheidende Erkenntnis, die diese Untersuchung gebracht hat. Die notwendige Spezialität der Schutzpflichten haben deren Befürworter zwar immer gefühlt; sie haben sich die Möglichkeit, das Wesen der Schutzpflicht erklären zu können, aber dadurch erschwert, daß sie diese Pflichten als ausschließliche Besonderheit des Verhandlungsverhältnisses verstanden. Gleichzeitig haben sie versäumt, die Rechtsnatur des Verhandlungsverhältnisses aufzuzeigen. Dieses Versäumnis versuchten sie dadurch zu verdecken, daß sie die Schutzpflichten in den Kreis der echten vorvertraglichen Pflichten einbezogen, obwohl diese keine innere Beziehung zu dem Verhandlungsgegenstand aufweisen. Es konnte daher nicht verwundern, daß dieser Begründungsversuch oberflächlich bleiben mußte und sich infolgedessen heftigen Anfeindungen ausgesetzt sah. Die nun gefundene Lösung vermag die Existenz der Schutzpflichten in dogmatisch einwandfreier Weise zu erklären. Es wurde dargestellt, daß innerhalb des Verhandlungsverhältnisses besondere Pflichten deshalb wirken können, weil das Verhandlungsverhältnis als Sonderverbindung zu qualifizieren ist. Insbesondere wurde aber aufgezeigt, daß Schutzpflichten als besondere Pflichten einzuordnen sind, weil sie die Rechtsbeziehungen innerhalb dieser verhandlungsbedingten Sonderverbindung regeln.

Zweiter Teil

Die "vertragliche" Schutzpflicht überblick A. Das Verständnis der herrschenden Lehre vom Wesen der "vertraglichen" Schutzpflicht Die bei der Vertragserfüllung zu beobachtende Schutzpflicht hat beileibe nicht soviel Aufmerksamkeit gefunden wie die "vorvertragliche" Schutzpflicht. Bis in die neueste Zeit hinein wurde weder ihre Bestandsberechtigung noch ihre Rechtsnatur als vertragliche Pflicht angezweifelt. Erst der Beitrag von Canarisl, der mit allen überkommenen Vorstellungen über das Wesen der "vertraglichen" Schutzpflicht brach, hat dazu geführt, daß auch der "vertraglichen" Schutzpflicht verstärkt Beachtung geschenkt wurde. Zur Einführung folgendes Beispiel: A ließ die undicht gewordene Brennstoffleitung seines Lastwagens bei W reparieren. Bei der Reparatur stellten die Gehilfen des W versehentlich einen Hebel an der Reifenfüllflasche um, so daß dem Bremszylinder keine neue Druckkraft zugeführt wurde. Bei einem Bremsmanöver verunglückte A mit dem Lastwagen 2 • Die herrschende Meinung begründet die Schadensersatzansprüche des A damit, daß die Gehilfen des Weine diesem gemäß § 278 BGB zurechenbare "positive Vertragsverletzung"3 begangen hätten: W treffe eine vertragliche Nebenleistungspflicht des Inhalts, die Rechtsgüter des A nicht zu verletzen. Gegen diese Pflicht habe er verstoßen, weil auch solche Teile des Wagens, die nicht Gegenstand der Reparatur gewesen seien, nicht in der Weise verändert werden dürften, daß die Gesundheit des A gefährdet sei. Warum wird hier aber der Werkvertrag, der doch die Vornahme einer bestimmten Reparatur zum Inhalt hatte, plötzlich in der Weise ausgedehnt, daß nicht nur für die Gefahrenfreiheit des ganzen Wagens, sondern allgemein für die Unversehrtheit der Rechtsgüter des W ge1

2

3

Canaris, JZ 1965, S. 475 ff. BGH VersR 1963, S. 385. BGH VersR 1963, S. 385.

A. Das Verständnis der herrschenden Lehre

139

haftet wird? Es geht doch gar nicht mehr um das geschuldete Werk, eine Reparatur von anderen Teilen des Wagens, sondern um den Rechtsgüterschutz des A. Wenn es hier aber in Wirklichkeit um eine Schutzpflicht geht - was hat die herrschende Meinung dann veranlaßt, diese Schutzpflicht zu einer vertraglichen Pflicht zu erheben? Die herrschende Meinung bemerkt hierzu, daß aus jedem Vertrag gleich welchen Inhalts - die vertragliche Pflicht folge, die Rechtsgüter des anderen nicht zu verletzen 4 • Braucht aber die "vertragliche" Schutzpflicht keinen inhaltlichen Zusammenhang mit dem Vertragsgegenstand aufzuweisen, besteht eine zumindest erhebliche Verwandtschaft mit der "vorvertraglichen" Schutzpflicht. - Zu deren Bejahung reicht allein die Feststellung aus, daß die Beteiligten wegen des Entstehens einer Sonderverbindung in besonderem Maße schützenswert sind, auf den konkreten Verhandlungsgegenstand kommt es nicht an. Warum wird dann aber nicht auch bei der "vertraglichen" Schutzpflicht das Bedenken geäußert, daß diese Schutzpflicht in Wirklichkeit eine deliktische Pflicht sei? Oder stellt das Vorhandensein eines Vertrages einen so gewichtigen Umstand dar, daß die unter der Herrschaft des Vertrages zu beachtende Schutzpflicht notwendigerweise eine "vertragliche Nebenleistungspflicht" darstellt? I. Die Entwicklungsgesdlicllte der "positiven Vertragsverletzung" und ihre Bedeutung für die Annahme der "vertraglicllen" Scllutzpflicllt

Wie es dazu gekommen ist, daß dip herrschende Meinung die "vertragliche" Schutzpflicht mit größter Selbstverständlichkeit als "vertragliche Nebenleistungspflicht" ansieht, bei deren Nichtbeachtung eine "positive Vertragsverletzung" vorliegt, läßt sich der Entwicklungsgeschichte der "positiven Vertragsverletzung" entnehmen.

Staub hatte mit seiner Lehre von der positiven Vertragsverletzung nur die Fälle der "Schlechtleistung" sachgerechter lösen wollen 5 . Er hatte festgestellt, daß weder die Voraussetzungen der Unmöglichkeit noch die des Verzuges vorliegen, wenn der Schuldner den Gläubiger durch eine unsorgsame Ausführung der Leistung schädigt. Seine Erkenntnis, daß der Schuldner schadensersatzpflichtig sei, wenn er "etwas tut, was er unterlassen soll"6, bezog sich zwar zunächst nur auf die Fälle , Larenz, SR AT, § 24 I, S. 298 f.; Palandt / Heinrichs, § 276, Anm. 7 c bb; Erman / Battes, § 276, Anm. 88, 89; § 242, Anm. 50 ff.; Staudinger / Weber, § 242, A 802; BGHZ 14, S. 83. 5 Staub, S. 6 ff. 6 Staub, S. 5 ff.

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2. Teil: Die "vertragliche" Schutzpflicht I überblick

der Schlechtleistung, wurde dann aber allmählich auf andere Fallgruppen übertragen. Man begann nämlich zu fragen, welche Pflichten der Schuldner nach dem Sinn des Vertrages außer der eigentlichen Leistungspflicht zu beobachten habe. Dabei "entdeckte" man eine Vielzahl von Pflichten, die man nunmehr als "vertragliche Nebenpflichten" bezeichnete; darüber hinaus erkannte man, daß Staubs Beschränkung auf "Unterlassungspflichten" zu eng war, weil der Schuldner nach dem Sinn des Vertrages auch zu einem aktiven Tun verpflichtet sein konnte. Diese Nebenpflichten wurden dann nachträglich, als ihre Häufigkeit eine gewisse inhaltliche Systematisierung erlaubte, unter die Oberbegriffe gefaßt, die wir heute kennen 7 : bei Schlechtleistung verletzte Pflichten, Mitwirkungspflichten, Treupflichten, Treuleistungspflichten - und Schutzpflichten. Dabei lag keine Besonderheit darin, daß die Schutzpflichten in den Kreis der "vertraglichen Nebenpflichten" miteinbezogen wurden. Nach der damaligen Betrachtungsweise war dies sogar zwingend. Ausgehend von dem zu entscheidenden Einzelfall wurde nämlich der Vertragsinhalt gemäß §§ 157, 242 BGB "gedeutet" und sodann festgestellt, daß bei der Vertrags durchführung auch darauf zu achten sei, daß Leben und Gesundheit des Vertragspartners nicht gefährdet würden. Ein typisches Beispiel für dieses fallbezogene "Herauslesen" von Schutzpflichten stellt der folgende, vom Reichsgericht im Jahre 1933 entschiedene Fall dar 8 : Ein Dachdecker, der für das Blechdach einer Scheuer maßnehmen wollte, brach auf dem oberen Boden der Scheuer durch ein morsches Brett und verletzte sich schwer. Das Reichsgericht bejahte einen Schadensersatzanspruch des Dachdeckers mit folgender Begründung: Der Beklagte sei aufgrund des mit dem Kläger geschlossenen Vertrages verpflichtet, für die Haltbarkeit des vorhandenen Bodenbelages einzustehen: "Der Kläger mußte, wie auch der Beklagte wußte, zur Ausführung und Vorbereitung des ihm übertragenen Werkes den oberen Boden der Scheuer betreten. Daraus ergibt sich die Nebenverpflichtung des Beklagten als Besteller des Werkes, daß er dem Kläger die von ihm zu benutzenden Räume und Zugänge zu seiner Arbeitsstelle ... in verkehrssicherem Zustand zur Verfügung stellen mußte ... Eine (solche) Verpflichtung des Beklagten ist aus der sachgemäßen Auslegung des Werkvertrages in Verbindung mit § 242 BGB herzuleiten 9 • " 1 Esser I Schmidt, SR AT, 2. Teilband, § 29 III, S. 105; Schlechtriem, VersR 1973, S. 581; Thiele, JZ 1967, S. 649.

8 9

RG SeuffArch 88, S. 206. RG SeuffArch 88, S. 206 (207).

A. Das Verständnis der herrschenden Lehre

141

Durch zahlreiche Gerichtsentscheidungen lO und Veröffentlichungen!! immer wieder bestätigt, sind die "vertraglichen" Schutzpflichten heute nun eine Selbstverständlichkeit. Zwar hatte StolP 2 erkannt, daß die Schutzpflichten im Gegensatz zu den anderen Nebenleistungspflichten das eigentliche Leistungsinteresse nicht berührten, und hatte demgemäß eine Andersbehandlung der Schutzpflichten gefordertl 3 • Dies veranlaßte die herrschende Meinung jedoch nicht, die Zuordnung der Schutzpflichten zu den "vertraglichen Nebenpflichten" zu überdenken; sie verwertete Stolls Ausführungen nur dort, wo die Unterscheidung zwischen "Leistungsinteresse" und "Schutzinteresse" für die Höhe eines zu gewährenden Schadensersatzes von Nutzen war. Auch die Entwicklung der "culpa in contrahendo" wirkte sich auf das Verständnis der "vertraglichen" Schutzpflichten nicht aus. Dort trug man dem Gedanken Stolls Rechnung, indem man die Verhaltenspflichten aus dem Zusammenhang mit den primären Leistungspflichten herauslöste und feststellte, daß diese Pflichten auch ohne den Bezug zu dem Leistungsverhältnis existieren könnten. über die Bedeutung, die dieser Schritt für die "positive Vertragsverletzung" haben konnte, war man sich jedoch nicht im klaren. Schon hier wäre nämlich die Frage angebracht gewesen, inwieweit sich die "vertraglichen" Schutzpflichten tatsächlich aus dem Sinn des Vertrages, also der auf die Leistungserbringung gerichteten Beziehung, ergeben. Jedoch betrachtete man "culpa in contrahendo" und "positive Vertragsverletzung" stets als etwas "Verschiedenes", betraf die "culpa in contrahendo" doch das vorvertragliche Stadium, die "positive Vertragsverletzung" hingegen die vertragliche Beziehung. Von da her kann es nicht erstaunen, daß die These Canaris', die Schutzpflichten seien gar keine "vertraglichen Pflichten", als geradezu revolutionär anmuten mußte. ll. Die Umwandlungstheorie der herrschenden Meinung

Die herrschende Meinung blieb jedoch bei ihrer Ansicht, daß die "vertragliche" Schutzpflicht als "vertragliche Nebenleistungspflicht" anzusehen sei: Zur Erfüllung der Vertragsverbindlichkeit gehöre, daß sich der Schuldner vertragsgerecht verhalte. Daher seien alle Neben10 RG JW 1914, S. 34; RGZ 80, S. 27; RGZ 83, S. 343; RG WarnRspr. 1930, S. 312; BGH VersR 1964, S. 977 (979). 11 BalZerstedt, AcP 151, S. 501 (506); Köpcke, S. 79 ff.; Palandt I Heinrichs, § 276 Anm. 7 c bb; Erman I Battes, § 276 Anm. 88, 89; § 242 Anm. 50 ff.; Staudinger I Weber, § 242 A 802; Larenz, SR AT, § 24 I, S. 298 ff.; ders., Festschrift für Ballerstedt, S. 397 ff. 12 StolZ, Leistungsstörungen, S. 26 ff. 13 StolZ, LeistungssWrungen, S. 29.

142

2. Teil: Die "vertragliche" Schutzpflicht / Überblick

pflichten, die er bei der Vertragsdurchführung zu beachten habe, vertragliche Pflichten, und folglich könne auch das durch die Schutzpflicht geforderte "sorgfältige Verhalten" nicht Gegenstand einer vom Vertrag losgelösten Pflicht sein. Vielmehr gehöre die sorgfältige Ausführung der Leistung zum unmittelbaren Inhalt der Schuld und sei lediglich eine Modalität der Leistung l4 . Allerdings übersieht auch die herrschende Meinung nicht, daß bereits im vorvertraglichen Stadium Schutzpflichten existieren, die eine nichtvertragliche Grundlage haben. Ebenso gesteht sie ein, daß der Schutzzweck der "vertraglichen" Schutzpflichten mit dem der "vorvertraglichen" Schutzpflichten überstimmen könnte l5 . Sie meint jedoch, daß es auf eine etwaige Identität dieser Pflichtenkomplexe nicht ankomme, weil die auf dem Vertrauen beruhende "vorvertragliche" Schutzpflicht durch den Vertrag verdrängt werde. Jene habe ihre Bestandsberechtigung nur, solange das "gesetzliche Schuldverhältnis" der Vorverhandlungen andauere. Dieses gesetzliche Schuldverhältnis ende jedoch mit dem Vertragsschluß, der ein von dem "gesetzlichen" Verhandlungsverhältnis streng zu trennendes vertragliches Schuldverhältnis hervorbringe l6 • Also werde der Haftungsgrund des enttäuschten Verhandlungsvertrauens gewissermaßen von der stärkeren Haftung für das gegebene Wort überrollt, und die vertragliche Schutzpflicht trete mit dem Vertragsschluß an die Stelle der vorvertraglichen Schutzpflicht l7 .

B. Die Ansicht der neueren Lehre Die auf Canaris l zurückgehende neuere Lehre 2 wendet sich vor allem gegen diese von der herrschenden Lehre vertretene Umwandlungsfunktion des Vertrages; über die von ihr behauptete inhaltliche Identität der "vertraglichen" Schutzpflicht mit der "vorvertraglichen" Schutzpflicht hat sie hingegen kaum Ausführungen gemacht: 14 Erman / Sirp, § 242 Anm. 59; Soerget / Schmidt, Vorbem. 37 zu § 275; Wotf, AcP 153, S. 97 (112 f.); Wicher, AcP 158, S. 297 ff.; Larenz, SR AT, § 24 I, S. 298 f. 15 Dömpke, S. 53; Schteeh, S. 86; Oertmann, LZ 1914, S. 515. 18 Schteeh, S. 167; Koziot, Band 11, S. 66; BaHerstedt, AcP 151, S. 501 (505 Fußn. 10,529); Dömpke, S. 47, 56; Hartig, S. 65; Larenz, SR AT, § 9 11, S. 101 f. 17 BaHerstedt, AcP 151, S. 501 (521); Dömpke, S. 61 f.; Schteeh, S. 167; Hartig, S. 65; Oertmann, LZ 1914, Sp. 515; BGH VersR 1964, S. 977 (979). 1 Canaris, JZ 1965, S. 475 ff. 2 Thiete, JZ 1967, S. 649 ff.; Gerhardt, JZ 1970, S. 585 ff.; ders., JuS 1970, S. 597 ff.; MüHer-Graft, JZ 1976, S. 153 (155); MüHer, NJW 1969, S. 2169 ff.; Diers, S. 75 ff.; Sticht, S. 109 f.; Eike Schmidt, Nachwort, S. 131 (149 ff.); von Craushaar, S. 95 ff.; von Lackum, S. 158 ff.; MK-Emmerich, Vorbem. 90 zu § 275.

B. Die Ansicht der neueren Lehre

143

Im vorvertraglichen Stadium habe sich gezeigt, daß Schutzpflichten auch ohne primäre Leistungspflichten existieren könnten. Daher müßten sie auch während der Vertragsdurchführung selbständig bleiben und könnten sich nicht in vertragliche Pflichten verwandeln 3 • Schließlich verfolge auch die "vertragliche" Schutzpflicht nur den Zweck, dem Vertragspartner die Unversehrtheit seiner Rechtsgüter zu sichern; sie diene aber - anders als die leistungsbezogenen Pflichten - nicht dazu, dem Vertragspartner "etwas zu verschaffen, was er noch nicht habe"'. Die Rolle des Vertragsschlusses erschöpfe sich folglich darin, dem Vertragspartner verstärkt Möglichkeiten zu schaffen, auf die Rechtsgütel' des anderen einzuwirken5 • Daher ende das durch die Vertragsverhandlungen begründete Vertrauensverhältnis mit dem Vertragsabschluß nicht, es werde lediglich in seiner Intensität gesteigertti. "Culpa in contrahendo" und "positive Vertragsverletzung" bezeichneten, soweit es um die Schutzpflicht gehe, also nur den Zeitpunkt der Rechtsgutverletzung 7 ; eine inhaUliche Bedeutung hätten diese Rechtsinstitute für die Schutzpflicht jedoch nicht. Insbesondere verdränge der Vertrag das "gesetzliche Schuldverhältnis" der Vorverhandlungen nicht, so daß dem Weiterbestehen der im vorvertraglichen Stadium begründeten Schutzpflichten auch keine dogmatischen Bedenken entgegenständen 8 .

3 Canaris, JZ 1965, S. 475 (478 f.); ThieZe, JZ 1967, S. 649 (653); Müller, NJW 1969, S. 2169 (2174); Jakobs, S. 39 f.; von Lackum, S. 158 ff. 4 Stoll, Leistungsstörungen, S. 26 ff.; Kinze, S. 75; Kober, S. 75; Eike Schmidt, JurA ZR 1971, S. 32; Canaris, JZ 1965, S. 475 (479 Fußn. 35); ThieZe, JZ 1967, S. 649 (654); Diers, S. 84 ff.; MüHer, NJW 1969, S. 2169 (2174); Jakobs, S. 39 f. 5 Sticht, S. 109; MüHer, NJW 1969, S. 2169 (2173); Diers, S. 75 ff.; Canaris, JZ 1965, S. 475 (476); MK-Emmerich, Vorbem. 90 zu § 275; auch schon Kinze, S.75. 6 Diers, S. 75 ff.; S. 109; Canaris, JZ 1965, S. 475 (476 ff.). 7 Richter, JW 1921, S. 664 (665); Sticht, S. 110. B Canaris, JZ 1965, S. 475 (479 Fußn. 35); Gerhardt, JZ 1970, S. 535 (536); Thiele, JZ 1967, S. 649 (654); Sticht, S. 110; Diers, S. 84 ff.; allerdings sind die Meinungen darüber, wie sich die Schutzpflichten zu den anderen zwischen den Beteiligten bestehenden Rechtspflichten verhalten, geteilt; darüber im 5. Teil.

1. Abschnitt

Inhalt und Eigenarten der "vertraglichen" Schutzpflicht A. Problemstellung Die Gegenüberstellung der Meinungen zeigt, daß der Streit um "vertragliche" Schutzpflicht zwei Aspekte hat: Einmal stellt sich die Frage, ob die "vertragliche" Schutzpflicht tatsächlich mit dem Vertrag verknüpft ist und durch diesen inhaltlich gestaltet ist, wie dies die herrschende Meinung annimmt, oder ob sie entsprechend der neueren Lehre keinen Bezug zu dem Vertrag aufweist und inhaltlich mit der "vorvertraglichen" Schutzpflicht übereinstimmt. Zum anderen geht es um dogmatische Probleme. Ist die Annahme einer "vertraglichen" Schutzpflicht zwingend, weil die Struktur des Schuldverhältnisses eine Umwandlung der "vorvertraglichen" Schutzpflicht in eine besondere "vertragliche" Schutzpflicht fordert? Oder kann es etwa eine umgewandelte "vertragliche" Schutzpflicht gar nicht geben, weil die "vorvertragliche" Schutzpflicht, die ja keine vertraglich vereinbarte Pflicht ist, einer solchen Wandlung nicht fähig ist und wegen ihres nicht rechtsgeschäftlichen Ursprungs auch während der Herrschaft des Vertrages weiterbestehen muß? Diesen dogmatischen Fragen soll vorab nachgegangen werden. Wenn nämlich die Entstehung einer "vertraglichen" Schutzpflicht dogmatisch zwingend ist, bleibt für die Frage, ob "vorvertragliche" und "vertragliche" Schutzpflicht identisch sind, kein Raum. Andererseits erübrigen sich jegliche Ausführungen darüber, ob der Vertrag die Schutzpflicht prägt, wenn die "vorvertragliche" Schutzpflicht wegen ihrer Rechtsnatur überhaupt nicht wandlungsfähig ist.

B. Dogmatische Probleme bei der Einordnung der "vertraglichen" Schutzpflicht als vertragliche Pflicht I. Müssen sich die "vorvertraglichen" Schutzpßichten notwendigerweise in "vertragliche" Pflichten verwandeln?

Die Ansicht der herrschenden Meinung, das vorvertragliche Schuldverhältnis ende mit dem Abschluß des Vertrages, macht es erforderlich, auf Begriff und Inhalt des Schuldverhältnisses einzugehen.

B. Dogmatische Probleme bei der Einordnung als Vertragspflicht

145

Insbesondere aufgrund der wegweisenden Darlegungen Sibers 1 ist heute allgemein anerkannt2, daß der Gesetzgeber dem Begriff des Schuldverhältnisses eine engere und eine weitere Bedeutung beigemessen hat. Aus § 241 BGB ergibt sich die Legaldefinition des Schuldverhältnisses im engeren Sinne. Danach ist ein Schuldverhältnis eine Rechtsbeziehung von mindestens zwei Personen, kraft derer die eine von der anderen eine Leistung fordern kann. Dieses Verständnis des Schuldverhältnisses liegt auch §§ 362, 364, 397 BGB zugrunde. In §§ 273 Abs. I, 292 Abs. I, 245 BGB hingegen wird das Schuldverhältnis im weiteren Sinne als Gesamtheit der Rechtsbeziehungen zwischen Gläubiger und Schuldner aufgefaßt, dem die Einzelrechte, also auch der Vertrag entspringen. Im Verhältnis zum Vertrag als bloßer Leistungsbeziehung bildet daher das Schuldverhältnis im weiteren Sinne ein Gebilde höherer Ordnung; der Vertrag ist lediglich in das Schuldverhältnis "eingebettet" und ist mit diesem nicht identisch3 • Als solches Gebilde höherer Ordnung braucht das Schuldverhältnis daher auch nicht das Schicksal des Vertrages zu teilen. Diese unheitliche Gesetzesterminologie hat der Lehre 4 bei der Darstellung des Schuldverhältnisses im weiteren Sinne insbesondere unter dem Gesichtspunkt Schwierigkeiten bereitet, ob dieses Schuldverhältnis im weiteren Sinne auch bei Veränderungen im Verhältnis zwischen den Parteien wie etwa dem Rücktritt erhalten bleibt, m. a. W. welcher Wandlungen das einmal begründete Schuldverhältnis fähig ist, ohne daß es seine Identität verliert. Eben diese Frage taucht auch auf, wenn sich aus dem durch die Verhandlungen begründeten Schuldverhältnis ein Vertragsverhältnis entwickelt. Ausgehend von diesem komplexen Begriff des Schuldverhältnisses kann zunächst festgestellt werden, daß die herrschende Lehre mit ihrer Konstruktion, das "vertragliche Schuldverhältnis" löse das "vorvertragliche Schuldverhältnis" notwendigerweise ab, nicht hinreichend zwischen dem Schuldverhältnis im engeren und im weiteren Sinne unterschieden hat. Die herrschende Meinung geht davon aus, daß das "vorvertragliche Schuldverhältnis" sein Ende finden muß, wenn sich an die zwanglosen Vorverhandlungen ein Vertragsschluß anschließt. Diese von der herrschenden Meinung angenommene Notwendigkeit läßt aber Planck / Siber, Vorbem. I 1 a zu § 241 BGB. Larenz, SR AT, § 2 V, S. 24 ff.; Soergel / Schmidt, Vorbem. 3 zu § 241, Erman / Sirp, Ein!. zu § 241 BGB Anm. 3, § 241 Anm. 5; Palandt / Heinrichs, Vorbem. 1 a zu § 241; Emmerich, Grundlagen, § 2 I, S. 293; Leonard, SR AT, § 21 S. 55 f.; Henle, SR, § 5, S. 21. 3 Larenz, JZ 1962, S. 105 (107 ff.); Wolf, Festschrift für Herrfahrdt, S. 197 (202 f.); Herholz, AcP 130, S. 257 (276), Siber, SR, S. 1 f.; Zepos, AcP 155, S. 483 (492 ff.), Oertmann, Vorbem. vor § 241, S. 2. • Herholz, AcP 130, S. 297 ff.; Stoll, AcP 131, S. 141 (182 f.), JW 1928, S. 57. 1

2

10 Frost

146

2. Teil: Die "vertragliche" Schutzpflicht 11. Abschnitt

eine Untersuchung dahingehend vermissen, wodurch die Identitätseinbuße des einmal entstandenen Schuldverhältnisses bedingt ist. Offensichtlich setzt die herrschende Lehre gerade in diesem Bereich den Vertrag als Schuldverhältnis im engeren Sinne mit dem Schuldverhältnis im weiteren Sinne gleich und läßt unberücksichtigt, daß das Schuldverhältnis im weiteren Sinne nicht vom Inhalt und auch nicht vom zeitlichen Beginn her mit dem Vertrag identisch ist. Die Leistungsbeziehung und damit das Schuldverhältnis im engeren Sinn muß zwar notwendigerweise mit dem Vertragsschluß beginnen und muß ebenfalls mit dem Bewirken der Leistung ihr Ende finden 5 • Demgegenüber kann das Schuldverhältnis im weiteren Sinne bereits zu einem früheren Zeitpunkt beginnen6 , da es nicht wie der Vertrag von dem Bestehen bindender Rechte und Pflichten abhängig ist, sondern - wie die vorstehende Untersuchung des Verhandlungsverhältnisses gezeigt hat bereits entsteht, sobald überhaupt Rechtsbeziehungen zwischen Personen hergestellt werden, die über die Deliktssphäre hinausreichen. Besteht aber bereits zwischen den Parteien ein Schuldverhältnis, bevor es zu dem späteren Vertragsschluß kommt, so muß die Frage dahin lauten, ob dieses durch die Vorverhandlungen entstandene Schuldverhältnis bei Vertragsschluß erhalten bleibt, was - wie bereits oben angesprochen - eine Frage der Identität des Schuldverhältnisses ist. Mit diesem Problem hat sich insbesondere StolP beschäftigt. Stoll ist der Ansicht, daß das Verhandlungsverhältnis und der Vertrag nur Erscheinungsformen eines einheitlichen Schuldverhältnisses darstellten. Während die Erscheinungsform eines Schuldverhältnisses nur etwas über den jeweiligen Inhalt, die Natur des Schuldverhältnisses aussage, enthalte das Schuldverhältnis als "Organismus" die Grundlage für die gesamten Rechtsbeziehungen zwischen den Parteien und damit für sämtliche Erscheinungsformen des Schuldverhältnisses. Daher bewahre das Schuldverhältnis als Organismus seine Identität, auch wenn diese (inhaltliche) Erscheinungsform des Schuldverhältnisses dadurch wechsele, daß sich Rechte und Verbindlichkeiten änderten, dieselben untergingen oder neue erwüchsen8 • Den Ausdruck vom Schuldverhältnis als "Organismus" hat Siber 9 geprägt. Er wollte damit die Entwicklungs- und Wandlungsfähigkeit Klein, Zweckerreichung, S. 88; LaTenz, SR AT, § 2 V, S. 26 f. Stall, AcP 131, S. 141 (184 f); ders., Leistungsstörungen, S. 26 f.; Planck 1 Siber, S. 4; Stau dinger 1 Weber, § 242 A 183; Esser / Schmidt, SR AT, 2. Teilband, § 29 III, S. 107. 7 Stoll, LZ 1923, Sp. 532 (Sp. 544 und Fußn. 30); ders., JW 1927, S. 1086; ders., JW 1928, S. 1285; ders., AcP 131, S. 141 (184 Fußn. 88). 8 Stall, AcP 131, S. 141 (S. 184 Fußn. 88); ders., LZ 1923, Sp. 532 (Sp. 544). 9 Planck / Siber, Vorbem. I 1 a; § 305, Erl. II 2. 5

6

B. Dogmatische Probleme bei der Einordnung als Vertragspflicht

147

des Schuldverhältnisses als einer zur Erzeugung von Einzelrechten geeigneten "Quelle" plastischer machen. Seine Ausführungen haben Beifall10, aber auch Kritik l l gefunden; andere haben versucht, das Funktionieren des Schuldverhältnisses dadurch zu erklären, daß sie es ein "Gefüge"12, einen "Prozeß"13, einen "Zweckzusammenhang"14 nannten. Alle diese Ausdrücke wollen jedoch nur wiedergeben, daß das Schuldverhältnis kein starres Gebilde ist, sondern in der Situationsgebundenheit "lebt" und entsprechende neue Ansprüche und Rechte hervorbringen kann 15 . Insbesondere die Bezeichnung des Schuldverhältnisses als "Prozeß" nimmt Bezug auf die Eigenschaft des Schuldverhältnisses als eines in der Zeit ablaufenden Vorganges, der auf die Verwirklichung eines bestimmten Ziels, der Vertragsabwicklung, hindringt1 6 • Gleichzeitig macht diese Feststellung, daß das Schuldverhältnis auf die Zukunft angelegt ist, deutlich, daß das Schuldverhältnis Veränderungen durchmachen muß und kann. Stoll nennt diese Veränderungen "Erscheinungsformen"; er legt aber nicht dar, wie die Abgrenzung zu Veränderungen ist, die die Identität des Schuldverhältnisses zerstören. Zur Erfassung dieses Identitätsproblems muß auf die weitgehend von Klein 17 entwickelte allgemeine Identitätslehre zurückgegriffen werden. Nach der Identitätslehre darf die Inhaltsänderung nicht so weit reichen, daß das entstandene Schuldverhältnis in eine ganz andere Richtung abgedrängt wird 18 . Entscheidend ist, daß die an dem Schuldverhältnis beteiligten Personen dieselben sind und der Inhalt des Schuldverhältnisses demselben Zweck dient, indem der neu begründete Anspruch auf demselben Lebensprinzip beruht und derselben speziellen Bedürfnisbefriedigung des Gläubigers dient19. Die danach geforderte Personenidentität ist bei den Verhandlungen mit nachfolgendem Vertragsschluß notwendigerweise gegeben. 10 Oertmann, Vorbem. vor § 241, S. 2; KLein, Vertragl. Änderung, S. 50; ders., Zweckerreichung, S. 19 f.; Dernburg, Einl. § 1, S. 2; PaLandt / Heinrichs, Vorbem. 1 a zu § 241; Soergd / Schmidt, Vorbem. 3 zu § 241. 11 HenLe, SR, § 5, S. 22, spricht von "juristischer Romantik"; HerhoLz, AcP 130, S. 257 (282 f.). 12 Staudinger / Weber, § 242 A 183; Larenz, SR AT, § 2 V, S. 25. 13 Emmerich, Grundlagen, § 2 I, S. 294. 14 De Boor, S. 150. 15 So insbesondere Oertmann, Vorbem. vor § 241, S. 2. 16 Emmerich, Grundlagen, § 2 I, S. 294; Zepos, AcP 155, S. 485 (491); Esser / Schmidt, SR AT, 1. Teilband, § 3 III; Larenz, SR AT, § 2 V, S. 26. 17 KLein, Zweckerreichung, S. 75 ff.; ders., vertragliche Änderung, S. 49 ff.

18

KLein, Vertragliche Änderung, S. 49.

KLein, Vertragliche Änderung, S. 61; ders., Zweckerreichung, S. 75 ff.; ebenso: PLanck / Siber, Vorbem. II 2, § 305 Anm. 1 aß bb; Leonard, SR AT, § 22, S. 57; Emmerich, Grundlagen, § 2 I, S. 294. IV

10'

148

2. Teil: Die "vertragliche" Schutzpflicht 11. Abschnitt

Ob auch praktische Identität hinsichtlich des inhaltlichen Zwecks von vorvertraglicher und vertraglicher Beziehung besteht, soll an folgenden Beispielen erläutert werden. Fan a) Ein Sommergast wünscht ein bestimmtes Sonnenschutzmittel zu kaufen. Da er sich nicht über den Preisvorteil der größeren bzw. kleineren Pakkung im klaren ist, läßt er sich kurz beraten. Der Kauf selbst geht in Sekundenschnelle (Ware gegen Geld) vor sich. Fan b) Ein Mieter verhandelt mit dem Hausbetreuer über die Vermietung einer neuen Wohnung. Schließlich sagt ihm der Hausbetreuer den Bezug der Wohnung zum 1. des nächsten Monats zu. Ein Vertrag mit dem Vermieter kann nur deshalb nicht abgeschlossen werden, weil dieser auf Urlaub ist. Der Mieter kündigt auf die Zusage des Hausbetreuers hin seine alte Wohnung und zieht in die neue Wohnung ein. Zwei Wochen nach Einzug wird ihm der Mietvertrag präsentiert.

In beiden Fällen geht es den Beteiligten zunächst darum, zu einem Vertragsabschluß zu kommen. Verhandlungen bzw. ein vertragsloser Zustand gingen dem Vertragsabschluß aber nur voraus, weil im Fall a) der Käufer nicht sachkundig genug, im Fall b) der Vermieter nicht erreichbar war. Hätte im Fall a) der Käufer eine bestimmte Packung verlangt, hätte er gegen sein Geld sofort die Ware erhalten, während im Fall b) der Mieter bei Anwesenheit des Vermieters sofort mit einem Mietvertrag eingezogen wäre. Die Verhandlungen bereiten den Vertrag und den Leistungsempfang also nur vor, weil der Käufer bzw. die Mietparteien zu einer sofortigen Entscheidung nicht in der Lage sind. Dabei bilden sowohl die Verhandlungen als auch der Vertrag nur ein Mittel zum Zweck; hinsichtlich des von der Identitätslehre aufgestellten Kriteriums der Bedürfnisbefriedigung steht der Leistungsempfang im Vordergrund. Dieser Wille zur Bedürfnisbefriedigung ist bei den Verhandlungen und dem Vertrag in gleicher Weise vorhanden. Für den Käufer bzw. Mieter bedeuten Verhandlungen bzw. ein vertragloser Zustand nur eine leidige Vorstufe. Der Mieter wohnt nur deshalb ohne Vertrag in der Wohnung, weil der Vermieter nicht erreichbar ist, und für ihn führt der Vertrag nicht einmal zu einer Änderung des bereits bestehenden tatsächlichen Zustandes. Die Rolle des Vertrages besteht nur darin, daß er den Rechtsgrund für den Empfang bzw. das Behalten der gewünschten Leistung abgibt. So läßt sich wegen des vorrangigen Befriedigungsbedürfnisses auch erklären, warum bei den Bargeschäften des täglichen Lebens der unmittelbare Austausch "Ware gegen Geld" bei den Beteiligten gar nicht den Gedanken hervorruft, daß sie zwei übereinstimmende Willenserklärungen abgegeben und damit einen Kaufvertrag abgeschlossen hätten. Nicht der Vertrag wird als einschneidendes Ereignis empfunden; wichtig ist allein, daß die Beteiligten die gewünschte Ware bzw. das Warenentgelt in Händen haben.

B. Dogmatische Probleme bei der Einordnung als Vertragspflicht

149

Aus den Beispielen a) und b) ergibt sich also, daß wegen des bei den Verhandlungen und beim Vertragsschluß übereinstimmend vorhandenen Willens zum Leistungsempfang auch eine praktische Identität hinsichtlich des inhaltlichen Zwecks vorliegt. Verhandlungen und Vertragsbeziehung bilden daher ein einheitliches Schuldverhältnis20 • Diese Einordnung trägt auch dem praktischen Empfinden Rechnung. Eine Aufsplitterung in zwei getrennt von einander zu beurteilende Schuldverhältnisse würde etwa bei den Geschäften des täglichen Lebens wie im Fall a) - nahezu an das Absurde grenzen. Verhandlungen, Vertrag und Leistungsempfang stellen in diesen Fällen eine natürliche Handlung innerhalb eines einheitlichen Lebensvorganges dar. Auch der Fall b) zeigt, daß eine Trennung in zwei Schuldverhältnisse lebensfremd wäre, erhält doch der Mieter in tatsächlicher Hinsicht durch den Vertrag nicht mehr eingeräumt, als er vor Vertragsschluß bereits hatte. Als Ergebnis dieser Untersuchung ist daher festzuhalten, daß die herrschende Lehre für ihre Ansicht, die "vorvertragliche Beziehung" werde durch die "vertragliche Beziehung" abgelöst, keine Stütze in der Struktur des Schuldverhältnisses findet. Die Feststellung, daß Vertrag und Verhandlungen in ein einheitliches Schuldverhältnis eingegliedert sind, spricht eher für die neuere Lehre, die von einem Weiterwirken der im vorvertraglichen Stadium begründeten Pflichten ausgeht. D. Verbietet der Entstehungsgrund der "vorvertraglichen" Schutzpflicht eine Umwandlung in eine "vertragliche Pflicht"?

Ein Weiterbestehen der "vorvertraglichen" Schutzpflicht wäre dogmatisch zwingend, wenn diese wegen ihres nicht rechtsgeschäftlichen Ursprungs durch den Vertrag überhaupt nicht in eine vertragliche Pflicht verwandelt werden kann; dann wäre nicht nur die Identität von "vorvertraglicher" und "vertraglicher" Schutzpflicht, sondern gleichzeitig die Unrichtigkeit der herrschenden Meinung erwiesen. Zu dieser dogmatischen Frage finden sich bei Canaris21 und Sticht22 lediglich Hinweise. Canaris legt zwar in seinem grundlegenden Aufsatz 23 nicht dar, warum die Schutzpflichten nicht wandlungs- und nicht anpassungsfähig seien; an anderer Stelle24 findet sich aber der Satz, 20 CanaTis, JZ 1965, S. 475 (479); DieTs, S. 83; GeThaTdt, JZ 1970, S. 535 (536); MülleT, NJW 1969, S. 2169 (2173); von Lackum, S. 158 ff.; EichteT, S. 9; HeTholz, AcP 130, S. 257 (276, 313 ff.); Stoll, LZ 1923, Sp. 532 (Sp. 544 und Fußn.30). !1 Canaris, NJW 1964, S. 1987 (1988). 22 Sticht, S. 50 f. 23 Canaris, JZ 1965, S. 475 ff. 24 Canaris, NJW 1964, S. 1987 (1988).

150

2. Teil: Die "vertragliche" Schutzpflicht / 1. Abschnitt

die Aufnahme des geschäftlichen Kontaktes sei eine reine Tathandlung, bei der der Parteiwille ohne jede Bedeutung sei. Gleichzeitig lehnt es Canaris in diesem Aufsatz ab, "den Eintritt in Vertragsverhandlungen" oder "die Aufnahme des geschäftlichen Kontaktes" als rechtsgeschäftsähnliche Handlung zu qualifizieren. Die Ausführungen Canaris' führen zu der Überlegung, ob nicht etwa der von ihm genannte "Eintritt in die Verhandlungen" ein Realakt sein könnte, wie dies auch tatsächlich teilweise vertreten wird 25 . In dem Fall könnte durch den Vertragsabschluß gar keine Wandlung der im vorvertraglichen Stadium begründeten Schutzpflichten erfolgen, da die Wirkungen des Realaktes allein im tatsächlichen Bereich liegen und vom Parteiwillen weder herbeigeführt noch beeinflußt werden können 26 • Die Lehre hat sich mit der Frage, wie der Eintritt in Verhandlungen bzw. die Kontaktaufnahme rechtlich zu bewerten ist, nur teilweise und dies auch nur in anderem Sachzusammenhang beschäftigt. In der Rechtsprechung findet sich dagegen überhaupt kein Hinweis. Einen rechtsgeschäftlichen Charakter des Verhandlungseintritts nahm ursprünglich Sto1l27 an. Das Schuldverhältnis der Vertragsverhandlungen komme durch einseitiges Rechtsgeschäft zustande - entweder durch ein Verhandlungsangebot oder den Eintritt in Vertragsverhandlungen. Ein Teil der Lehre sieht demgegenüber in dem Verhandlungseintritt eine rechtsgeschäftsähnliche Handlung 28 • Unter diesen Begriff sind Handlungen zu fassen, die in engem Zusammenhang mit einem Zielgeschäft stehen, etwa auf einen Anspruch oder ein Rechtsverhältnis Bezug nehmen, und die Äußerung eines Willens oder einer Vorstellung dahingehend beinhalten, daß mit der Handlung mittelbar ein rechtlich relevanter Erfolg herbeigeführt werden so1l29. Dementsprechend seien die beim Verhandlungseintritt entstehenden Sorgfaltspflichten zwar nicht gewollt30 , und die sich in der Eröffnung von Verhandlungen zeigende Willensäußerung sei nicht auf die Begründung einer Rechtsfolge im rechtsgeschäftlichen Sinne gerichtet. Es liege aber immerhin eine Siehe Fußnoten 32, 35 in diesem Abschnitt. Manigk, S. 470; Leonard, Fahrniserwerb, S. 57, S. 70; Flume, § 9, 2, S. 108 f.; Stöcker, S. 98. 27 Stoll, JW 1927, S. 1086; ders., JW 1928, S. 1285; ders., LZ 1923, Sp. 532 ff. (544, 548), diese Meinung gab er auf in JW 1933, 34 (36) unter dem Einfluß von Hildebrandt (Erklärungshaftung); ebenso Schönwald, S. 28, 31. 28 Raiser, AcP 127, S. 1 (22, N 75); Hildebrandt, S. 90, 91, ihm folgend Stoll, JW 1933, S. 34 (36); Dorn, NJW 1964, S. 799 (804); Berger, S. 36; Steffen, S. 30. 2' Sticht, S. 51; Larenz, BGB AT, § 32, S. 495; Canaris, NJW 1964, S. 1987 (1988). 30 Hildebrandt, S. 91; Berger, S. 36. 25

26

B. Dogmatische Probleme bei der Einordnung als Vertragspflicht

151

Willensäußerung vor, die Vertragsverhandlungen mit dem Fernziel des Vertragsabschlusses tatsächlich einzuleiten31 • Damit sei der für die Einordnung als "rechtsgeschäftsähnliche Handlung" erforderliche Zusammenhang hergestellt. Andere 32 nehmen hingegen an, daß der Verhandlungseintritt als Realakt zu qualifizieren sei. Beim Realakt treten die Rechtswirkungen allein durch die Verwirklichung eines bestimmten Tatbestandes ein, ohne daß dafür der Parteiwille entscheidend ist 33 • Diese Voraussetzungen für die Annahme eines Realaktes seien bei dem Verhandlungseintritt schon deshalb gegeben, weil die Aufnahme des geschäftlichen Kontaktes eine reine Tathandlung sei, bei der der Parteiwille keine Rolle spiele34 • Eine differenzierende Meinung vertritt Sticht35 • Danach soll die Kontaktaufnahme Realakt, die Aufnahme von Vertragsverhandlungen aber eine rechtsgeschäftsähnliche Handlung sein. Diese Unterscheidung rechtfertige sich aus der Andersartigkeit der bei dem Kontakt bzw. dem Verhandlungseintritt entstehenden Pflichten. Mit dem bloßen Kontakt entstünden lediglich die Sorgfaltspflichten, während mit dem Verhandlungseintritt die mehr auf den Vertrag Bezug nehmenden Aufklärungspflichten begründet würden. Vorab läßt sich feststellen, daß das vorvertragliche Verhandlungsverhältnis keinesfalls mit rechtsgeschäftlichem Charakter belegt werden kann: Die Sonderverbindung des Verhandlungsverhältnisses entsteht auch ohne Rücksicht auf den Willen der Beteiligten, sobald die betreffenden Voraussetzungen, die ausschließlich objektiver Wertung unterliegen, gegeben sind36 • Die rechtsgeschäftliche Willenskomponente findet dabei in keiner Weise Berücksichtigung. Gerade aus diesem Grunde wird das Verhandlungsverhältnis als "gesetzliches Schuldverhältnis" bezeichnet und damit der Gegensatz zu dem "vertraglichen Schuldverhältnis" herausgestellt. Diese Eigenart des Verhandlungsverhältnisses gibt allerdings für die Unterscheidung zwischen "Realakt" und "rechtsgeschäftsähnlicher Handlung" nichts her. Beiden ist eigentümlich, daß sie auf einen tatsächlichen Erfolg gerichtet sind, und daß die durch sie hervorgebrachten Rechtswirkungen ohne Rücksicht auf den Willen der Beteiligten eintreten37 • Steffen, S. 30. Larenz, SR AT, § 9, S. 95; Canaris, NJW 1964, S. 1987 (1988); Ballerstedt, AcP 151, 501 (516); Diers, S. 84. 33 Müller-Freienfels, S. 56 f. Fußn. 1, S. 25, a. 34 Canaris, NJW 1964, S. 1987 (1988). 35 Sticht, S. 52. 35 Diers, S. 60; Dömpke, S. 13; Staudinger / Weber, Anm. 780 zu § 242 BGB; Mühlich, S. 16, 20. 37 Sticht, S. 50. 31

32

152

2. Teil: Die "vertragliche" Schutzpflicht /1. Abschnitt

Darüber hinaus läßt sich gerade hinsichtlich des Verhandlungseintritts bzw. der Kontaktaufnahme eine beträchtliche Begriffsverwirrung feststellen, bei der zwischen Haftungsgrund und Haftungsbeginn nicht hinreichend unterschieden wird. Bei den oben angeführten Meinungen klingt die Ansicht an, daß bereits die bloße Kontaktaufnahme die Haftung für Schutzpflichtverletzungen begründe. Diese Meinung kann aber eigentlich nur von den Vertretern jener Lehransicht vertreten werden, die gerade in dem sozialen oder geschäftlichen Kontakt den Haftungsgrund für Schutzpflichtverletzungen sieht, und lediglich nach dieser Ansicht liegt in der Kontaktaufnahme notwendigerweise sowohl der Haftungsgrund als auch der Haftungsbeginn. Die herrschende Meinung muß dagegen, wie sich aus der obenstehenden Untersuchung ergibt, zwischen Haftungsgrund und Haftungsbeginn unterscheiden. Die sog. Kontaktaufnahme ist nach der herrschenden Lehre gleichbedeutend mit dem Öffnen des Rechtskreises, der für die Begründung einer Sonderverbindung wesentlichen Disposition. Das Vorliegen einer Sonderverbindung bedeutet aber noch nicht, daß der spezielle Haftungsgrund des "in Anspruch genommenen und gewährten Vertrauens" vorliegt. Begründung der Sonderverbindung und Inanspruchnahme und Gewährung von Vertrauen fallen allerdings zugegebenermaßen häufig zusammen, wobei die Kontaktaufnahme gleichzeitig als Vertrauenserweis und damit als Beginn der Haftung gewertet wird. Diese Untersuchung macht deutlich, daß der Meinungsstreit um die Rechtsnatur der Kontaktaufnahme bzw. des Verhandlungseintritts letztlich nur die Frage betrifft, auf welche Art und Weise die Sonderverbindung des Verhandlungsverhältnisses geschaffen wird. Allein aufgrund der rechtlichen Qualifizierung dieses Begründungstatbestandes kann aber noch nicht die weitergehende Feststellung getroffen werden, wie die Pflichten innerhalb dieser Sonderverbindung geartet sind. Damit muß die Fragestellung richtigerweise dahingehen, wie denn die "Inanspruchnahme und Gewährung von Vertrauen" rechtlich zu bewerten ist. Auch die Vertrauenshaftung tritt, wie oben38 dargestellt, kraft Gesetzes und zwar unter Zugrundelegung von objektiven Maßstäben ein. Insoweit besteht eine strukturelle übereinstimmung zu der Kontaktaufnahme bzw. dem Verhandlungseintritt. Schon wegen des Begriffs des Vertrauens verbietet sich aber jegliche überlegung, die auf einen Realakt hinzielt. Für den Realakt ist wesentlich, daß ein tatsächlicher, dem Gebiete des Rechts nicht zugehöriger technischer Erfolg herbeigeführt wird. Eine irgend wie geartete technische Komponente fehlt dem Vertrauensbegriff aber völlig. Auch Canaris39 stellt an anderer 38

Vgl. oben Teil! unter G.

C. Der Einfluß des Vertrages auf die Schutzpflicht

153

Stelle heraus, daß die Vertrauenshaftung das "Korrelat der Privatautonomie" darstelle und sich in ihr die gesteigerte Selbstverantwortung konkretisiere, die mit der rechtsgeschäftlichen Gestaltungsfreiheit verbunden sei. Daher sei die Vertrauenshaftung zwar eine Haftung kraft Gesetzes und nicht kraft Rechtsgeschäftes, aber doch immerhin eine Haftung kraft Teilnahme am rechtsgeschäftlichen Verkehr. Im übrigen hat auch eine verbindende Kontaktaufnahme zweier Personen zur Voraussetzung, daß diese eine verhandlungsbedingte Rechtsgüterberührung wollen und bezwecken; wegen dieser erforderlichen willentlichen und zweckbestimmten Zuwendung darf aber die Kontaktaufnahme dem Bereich des Realaktes, der allein technische Vorgänge einer rechtlichen Wertung zugänglich macht, in keinem Fall zugeordnet werden. Aus dieser Untersuchung ergibt sich damit, daß der Streit um die Rechtsnatur der verhandlungsbedingten Kontaktaufnahme jedenfalls nicht für die Frage fruchtbar ist, ob "vorvertragliche" und "vertragliche" Schutzpflicht notwendigerweise identisch sind. Vertrauensgewährung und Kontaktaufnahme sind keine nur technischen Vorgänge, wie dies für die Annahme eines Realaktes erforderlich wäre. Diese Rechtsnatur müßten sie aber haben, damit die "vorvertragliche" Schutzpflicht, die als kontaktbedingte Vertrauenshaftung zu kennzeichnen ist, durch den Vertragsschluß nicht in eine "vertragliche Pflicht" verwandelt werden könnte.

m.

Ergebnis

1. Eine Umwandlung der "vorvertraglichen" Schutzpflicht in eine "vertragliche" Pflicht ist keine dogmatische Notwendigkeit, die aus der Struktur des Schuldverhältnisses folgt; vorvertragliche und vertragliche Beziehung lassen sich zwanglos in ein einheitliches Schuldverhältnis einordnen.

2. Eine Nichtumwandlung der "vorvertraglichen" Schutzpflicht kann nicht aus deren Entstehungsgrund entnommen werden: die Schutzpflicht entsteht nicht kraft eines Realaktes, sondern kraft beiderseits bewußter und bezweckter Teilnahme am rechtsgeschäftlichen Verkehr.

c.

Der Einfluß des Vertrages auf die Schutzpflicht

Da also dogmatische Gesichtspunkte weder für noch gegen das Bestehen einer besonderen vertraglichen Schutzpflicht sprechen, muß die Frage, ob es die "vertragliche" Schutzpflicht gibt, allein danach ent39 Canaris, Vertrauenshaftung, S. 443; ders., HGB, Anhang zu § 357, Bankvertragsrecht, A II, Anm. 10.

154

2. Teil: Die "vertragliche" Schutzpflicht/ 1. Abschnitt

schieden werden, ob der Vertrag die Schutzpflicht tatsächlich prägt. Die Ansicht der herrschenden Lehre, das durch die Schutzpflicht geforderte "sorgfältige Verhalten" könne nicht Gegenstand einer eigenständigen Pflicht sein, behält nämlich solange den Charakter eines farblosen Schlagwortes, wie nicht feststeht, daß und in welchem Umfang die Schutzpflicht mit der Leistungsbeziehung verknüpft ist. Demgemäß soll zunächst untersucht werden, ob der Vertrag der Schutzpflicht "vertragsgemäße äußere Eigenschaften" verleiht; darunter sind die Ausgestaltung und die Erzwingbarkeit des Schadensersatzanspruches zu verstehen. Sodann ist die von der herrschenden Lehre unterstellte inhaltliche Einflußnahme des Vertrags auf die Schutzpflicht zu verfolgen. I. Verleihung "vertragsgemäßer äußerer Eigenschaften" durch den Vertrag 1. Die Erzwingbarkeit

Eine der wichtigsten Eigenschaften vertraglicher Pflichten ist in § 241 BGB festgelegt. Nach dieser Vorschrift kann der Gläubiger die Erfüllung der vertraglich geschuldeten Leistung fordern. Er kann die Erfüllung sogar gerichtlich erzwingen, indem er den Schuldner auf Leistung verklagt. Diese typisch vertragsgemäße Eigenschaft, die Einhaltung der vertraglichen Pflicht mittels eines Erfüllungsanspruchs verlangen zu können, fehlt bei der Schutzpflicht. Der Gläubiger kann nicht darauf klagen, daß der Schuldner seiner Pflicht, die fremden Rechtsgüter schadlos zu halten, nachkommt. Überwiegend wird sogar angenommen, daß die Schutzpflicht überhaupt nicht klagbar seil. Nur wenige Autoren 2 vertreten die Ansicht, daß der Gläubiger jedenfalls einen klagbaren vorbeugenden Unterlassungs anspruch habe, wenn sich die seinen Rechtsgütern drohende Gefahr konkretisiert habe. Sie weisen aber gleichzeitig darauf hin, daß eine derartige konkretisierte Gefahrenlage nur in sehr seltenen Fällen vorliege. In der Tat wird für eine solche vorbeugende Unterlassungsklage, wenn man sie überhaupt anerkennen will, bei einmaligen Rechtsgüterkontakten kein Raum sein. Dort ist den Beteiligten nämlich unbekannt, ob der fremde Rechtskreis Gefahren birgt: Diese treten erst während des Rechtsgüterkontaktes und damit erst während des situationsbedingten Geschehensablaufes zutage. Eine vorbeugende Unterlassungsklage ist dann aus tatsächlichen Gründen nicht mehr möglich; sie würde insbesondere zu spät kommen. Daher beschränkte sich eine solche Unterlassungsklage weitgehend auf Dauerschuldverhältnisse, die einen häufigen Rechtsgüterkontakt und damit gleichzeitig eine Kenntnis der fremden Rechtssphäre bedingen. 1 Erman I Sirp, § 242 Anm. 54; Soergel/ Knopp, § 242 Anm. 106 - 111; Enneccerus I Lehmann, § 4 II 2; Staudinger / Weber, §241 Anm. 103. 2 Sfürner, JZ 1976, S. 384 (385 ff.); MK-Roth, § 242 Anm. 201.

C. Der Einfluß des Vertrages auf die Schutzpflicht

155

Doch unabhängig davon, ob man bei der "vertraglichen" Schutzpflicht jedenfalls eine solche vorbeugende Unterlassungsklage anerkennt oder nicht, diese auf eine konkretisierte Gefahrenlage beschränkte Klagbarkeit reicht in keinem Fall aus, um der Schutzpflicht von der Ausgestaltung ihrer Erzwingbarkeit her eine äußere vertragsgemäße Eigenschaft zu verleihen. Die Möglichkeit einer vorbeugenden Unterlassungsklage würde nämlich eher auf eine Verwandtschaft der Schutzpflicht zu den deliktischen Pflichten hindeuten, denn dort findet die vorbeugende Unterlassungsklage ihren ureigenen Anwendungsbereich. Auf diese Weise würde also sogar eine Ferne der "vertraglichen" Schutzpflicht zu dem Vertrag betont, der eine mit einem Erfüllungsanspruch erzwingbare Leistungsbeziehung schafft. 2. Der Umfang des Schadensersatzanspruches

Ebenso trägt der Schadensersatzanspruch aus Verletzung der Hauptleistungspflichten der durch den Vertrag geschaffenen Rechtslage Rechnung. Die Erfüllung der vertraglich ausbedungenen Leistungspflicht soll dem Gläubiger etwas verschaffen, was er noch nicht hat, und verfolgt daher ein positives ZieP. Der Schadensersatzanspruch des Gläubigers richtet sich daher nach dem Interesse des Gläubigers an der vertraglichen Leistung, er umfaßt das sogenannte "Erfüllungsinteresse" oder "positive Interesse"4. Demgegenüber haben die Schutzpflichten - wie auch die herrschende Lehre anerkannt - eine negative Zielrichtung. Anders als bei den Leistungspflichten soll dem Gläubiger durch deren Erfüllung nicht etwas Zusätzliches verschafft werden; es soll vielmehr der gegenwärtige Bestand seiner Rechtsgüter gesichert werdenS. Erleidet der Gläubiger durch eine Schutzpflichtverletzung des Schuldners einen Schaden, so kann sein Schadensersatzanspruch nach dem Sinn dieser verletzten Pflicht nur dahin gehen, ihn so zu stellen, als wenn das schädigende Ereignis nicht eingetreten wäre 6 • Dieser Ausgleich der Differenz zwischen dem Vermögensstand nach der Verletzungshandlung und vor dem schädigenden Ereignis bezweckt daher die Wiederherstellung des status quo und geht auf das sogenannte "negative Interesse"7. Stoll, AcP 136, S. 257 (287 ff.). Jakobs, S. 34, 40; Fichtner, S. 102; Emmerich, Grundlagen, § 16, S. 434; Stoll, AcP 136, S. 257 (287 ff.). 5 Emmerich, Grundlagen, § 3, S. 306; § 16, S. 434; Jakobs, S. 40; Stoll, AcP 136, S. 257 (288 f., 298); ders., Leistungsstörungen, S. 27 ff. S Fichtner, S. 105; von Lackum, S. 159; Freitag, S. 98; Eike Schmidt, Nachwort, S. 131 (137, 141); Köpcke, S. 134, 150 ff. 7 Jakobs, S. 32 ff.; Köpcke, S. 150 ff.; Rengier, S. 29, 53; Medicus, Festschrift für Kern, S. 313 (324 - 331). 3 4

156

2. Teil: Die "vertragliche" Schutzpflicht /1. Abschnitt

3. Ergebnis

Als Ergebnis ist damit folgendes festzuhalten: Der Vertrag verleiht der Schutzpflicht, was die Erzwingbarkeit und die Ausgestaltung des Schadensersatz anspruchs angeht, keine "vertragsgemäßen äußeren Eigenschaften": - die Beachtung der Schutzpflicht kann nicht mit einem Erfüllungsanspruch erzwungen werden; in einigen seltenen Fällen ist höchstens die Möglichkeit einer vorbeugenden Unterlassungsklage zu erwägen, - der bei Verletzung der Schutzpflicht zu leistende Schadensersatzanspruch ist nicht auf das "positive Interesse", sondern nur auf das "negative Interesse" gerichtet. ll. Inhaltsgestaltung der Schutzpßicht durch den Vertrag

Als nächstes ist zu untersuchen, in welchem Umfang die Schutzpflicht und der Vertrag inhaltlich miteinander verknüpft sind. Im Rahmen dieser Untersuchung wird im einzelnen zu erörtern sein, ob der Vertrag den Pflichtengehalt der Schutzpflicht prägt und inwieweit sie mit den Leistungspflichten, ja sogar mit dem Schicksal des ganzen Vertrages verquickt ist. 1. InhaUsgestaltung durch den Vertragsschluß selbst

Mit dem Vertrag stellt das Gesetz den Rechtsindividuen das Instrument zur Verfügung, Rechtsfolgen selbsttätig zu regeln. Ein Vertrag kommt zustande, wenn zwei ineinander passende Willenserklärungen, betreffend die Herbeiführung eines bestimmten Erfolges, vorliegen. Dabei wird der wesentliche Vertragsinhalt durch Parteivereinbarung bestimmt8 ; er umfaßt die Festlegung der Leistung sowie der Gegenleistung und der Modalitäten der Leistung bzw. Gegenleistung wie Zeit und Ort. Weitere Einzelheiten werden regelmäßig nicht vereinbart. Entweder ergeben sie sich aus Art und Inhalt der Leistung, oder aber ein bestimmtes Verhalten kann und darf allein aufgrund der Umstände von dem Vertragspartner verlangt werden. Zu diesen nicht festgelegten Einzelheiten gehören sämtliche Nebenpflichten der Leistung 9 , bei deren Nichtbeachtung die herrschende Lehre eine "positive Vertragsverletzung" annimmt, und zu denen sie auch die Schutzpflichten zählt. Gerade das Fehlen detaillierter Parteivereinbarungen macht die Behandlung der Schutzpflichten und der sonstigen Nebenpflichten so schwierig. Bei Problemfällen wie der Nichtigkeit des Vertrages fehlt die Möglichkeit, zur sachgerechten Lösung auf den ausdrücklich oder 8 9

MühHch, S. 16; siehe auch Köpcke, S. 66 f.; Schneider, S. 193 f. Koziol, Band I, S. 268/9; Erman / Sirp, § 242 Anm. 51; Fichtner, S. 19 f.

C. Der Einfluß des Vertrages auf die Schutzpflicht

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konkludent erklärten Parteiwillen zurückgreifen zu können. Das, was objektiv im Interesse der Vertragsparteien liegt, kann nicht zur alleinigen Richtlinie der Entscheidung gemacht werden. Demgemäß hatte Siber mit seiner Lehre vom Erhaltungsvertrag versucht, dem typischen Verhalten der Parteien einen bestimmten Erklärungswert beizulegen, der die Merkmale einer Willenserklärung erfüllt. Aus seinem Konstruktionsversuch lassen sich wichtige Hinweise auch auf die Beschaffenheit der "vertraglichen" Schutzpflicht entnehmen. Siber 10 ging davon aus, daß bei den "vorvertraglichen" Schutzpflichten in dem "Offenhalten einer Verkaufsstelle" ein Vertragsangebot zu sehen sei; angesprochen sei eine noch unbekannte Person, die den Antrag durch das Eintreten in den fremden Rechtskreis annehme. Dadurch komme ein namenloser Hauptvertrag zustande, der den Parteien als primäre Pflicht das Gebot auferlege, die Sicherheit und die Rechtsgüter des anderen nicht zu gefährden. Diesem begrüßenswerten Bestreben, das Verhalten der Parteien durch die vom BGB zur Verfügung gestellten Mittel zu erfassen, mußte jedoch der Vorwurf der Fiktion entgegengehalten werden l l • Bei der Rechtsgüterberührung denkt keiner der Beteiligten daran, daß es zu Verletzungen kommen wird. Demgemäß fehlt der Wille, diesen Bereich rechtsgeschäftlich zu regeln und dem eigenen Verhalten die Bedeutung einer Willenserklärung zuzulegen. Diese Erkenntnis läßt sich auch für die "vertragliche" Schutzpflicht nutzbar machen, ist doch die Interessenlage, was die Rechtsgüterberührung angeht, keine andere. Wollte man bei dem Vertragsschluß zu einer konkludenten Vereinbarung von "Erhaltungspflichten" kommen, müßte man gleichzeitig annehmen, daß die Parteien im Zeitpunkt des Vertragsabschlusses die Möglichkeit einer solchen Verletzung ins Auge fassen und diesen Konfliktsfall regeln wollen. Das genaue Gegenteil ist aber der Fall: wenn die Parteien überhaupt daran denken, daß es zu Schutzpflichtverletzungen kommen könnte 12 , so hoffen sie doch, daß solche Verletzungen nicht eintreten werden, und unterwerfen diesen Punkt schon aus dem Grunde keiner ausdrücklichen Regelung. Man müßte - folgt man Sibers Theorie - sogar noch einen Schritt weiter gehen und sich dazu bekennen, daß die Schutzpflichten ebenso wie die Leistungspflichten der freien rechtsgeschäftlichen Disposition unterliegen13 , daß sie nur als vereinbart gelten, wenn Anhaltspunkte für eine 10 Siber, JherJb. 70, S. 223 (260); Planck / Siber, Vorbem. 4 zu § 241; ebenso: Fürst, LZ 1910, Sp. 177 f.; HHdebrandt, S. 225 ff. 11 Larenz, MDR 1954, S. 515 (516); StoU, LZ 1923, Sp. 532 (539); Fischer, S. 62 ff.; Krausse, S. 25; Balterstedt, AcP 151, S. 501 (505); Baumert, S. 20 f.; Schlechtriem, VersR 1973, S. 581 (583). \!

13

Was im allgemeinen nicht geschieht. Diese Gefahr sieht Eike Schmidt, Nachwort, S. 131 (150).

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2. Teil: Die "vertragliche" Schutzpflicht /1. Abschnitt

solche Abmachung vorliegen, daß sie unbeschränkt ausgeschlossen werden können. Diese Vorstellung muß befremden und macht in noch größerem Maße deutlich, daß es hinsichtlich der Schutzpflichten keine Anhaltspunkte für einen rechtsgeschäftlichen Regelungswillen der Parteien gibt. Damit wird gleichzeitig klar, daß die Schutzpflichten nicht nur bei Vertragsabschluß nicht erwähnt, sondern darüber hinaus nicht einmal vereinbart sind. Werden sie aber durch den Vertragsabschluß als solchen nicht hervorgebracht, so muß die Selbstverständlichkeit überraschen, mit der die Schutzpflichten sowie die übrigen Nebenpflichten dem Vertrag bzw. dem Vertragsabschluß zugeordnet werden. Es muß sich darüber hinaus Skepsis gegenüber der These des BGH14 erheben, wonach die "vorvertraglichen" und "vertraglichen" Schutzpflichten nicht gleichartig sein könnten, weil die nach dem Vertragsabschluß auftretenden Schutzpflichten auf dem Vertragsabschluß selbst, nicht aber wie im vorvertraglichen Bereich auf der Inanspruchnahme und Gewährung von Vertrauen beruhten.

2. Einflußnahme durch die Leistungsbeziehung Allerdings wäre es ein Trugschluß, wenn man aufgrund der Feststellung, daß durch den Vertragsabschluß als solchen die Regelung der Schutzpflichten nicht erfolgt, ohne weiteres annehmen wollte, daß der Vertrag hinsichtlich der Schutzpflichten keinerlei Inhaltsgestaltung ausüben kann. Versteht man den Vertrag als Leistungsbeziehung, so liegt eine Inhaltsgestaltung durch den Vertrag auch vor, wenn im Hinblick auf die Leistungsbeziehung gewisse Verhaltensmuster für die Schutzpflichten zwingend vorgegeben werden. Der Abschluß eines Vertrages erzeugt nicht nur eine innere RechtePflichten-Bindung der Beteiligten hinsichtlich der Leistungspflichten. Ihm kommt auch die weitere Bedeutung zu, daß durch ihn eine Zuordnung der betreffenden Rechtskreise erfolgt, und zwar mit einer solchen Intensität, daß der Vertrag die denkbar stärkste Form einer selbstbestimmten Regelung von Rechtsbeziehungen darstellt. Den Vertragspartnern ist das Aufsuchen des jeweils fremden Rechtskreises nicht nur gestattet, sie sind zu einem derartigen Verhalten sogar berechtigt. Gerade im Zusammenhang mit der Leistungspflicht darf sich der eine Vertragspartner den Rechtsgütern des anderen nähern und ist in der Lage, auf diese mit seinen eigenen Sachen und Handlungen einzuwirken 15 . Dieses Mehr an Intensität der Rechtskreisberührung, das gerade wegen der Erfüllung und Abwicklung der Leistungsbeziehung 14

15

BGH VersR 1964, S. 977 (979). Freitag, S. 72, 73; ähnlich Koziol, Band II, S. 66.

c. Der Einfluß des Vertrages auf die Schutzpflicht

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entsteht, könnte vom Haftungsinhalt her besondere Schutzpflichten hervorbringen. Anlaß zu dieser Untersuchung gibt die Behandlung im amerikanischen Recht, wo dieser Unterschied zwischen "gestattetem" und "berechtigtem" Zutritt in den gestaffelten Sorgfaltspflichten zwischen dem "invitee" und gegenüber dem "licensee" Niederschlag gefunden hat: Den "invitees" gegenüber wird die größte Sorgfalt geschuldet. Diese Personen sind zum Betreten des Gebäudes etc. aufgefordert worden, der Besitzer hat ihnen gegenüber ein wirtschaftliches Interesse. Der Besitzer haftet bei Verletzungen, wenn er die Pflicht zur Warnung vor außergewöhnlichen Gefahren vernachlässigt hat1 6 . Die nächste Sorgfaltsstufe betrifft die Haftung gegenüber den "licensees". Dieser Personengruppe ist das Betreten des Gebäudes zwar ausdrücklich oder stillschweigend erlaubt, doch geschieht es auf eigene Gefahr. Der Besitzer haftet grundsätzlich nicht, er hat nur Vorkehrungen gegen ihm bekannte verborgene Gefahren zu treffen, hat aber ansonsten keine Nachforschungspflicht1 7 • Es wird deutlich, daß die Sorgfaltspflichten gegenüber den "invitees" im Verhältnis zu den "licensees" eine sehr viel größere Intensität haben. Für die Beantwortung der Frage, ob eine ähnliche Staffelung auch im deutschen Recht denkbar ist, ist zunächst das bei der Behandlung der "vorvertraglichen" Schutzpflicht gefundene Ergebnis 1B in Erinnerung zu rufen. Das deutsche Recht kennt überhaupt nur die Zweiteilung DeliktSonderverbindung. Diese Pflichtenkomplexe unterscheiden sich dadurch, daß dem Deliktsrecht die allgemeinen Pflichten, dem Recht der Sonderverbindung die besonderen Pflichten zugeordnet werden. Dabei weisen die besonderen Pflichten eine größere Haftungsintensität als die allgemeinen Pflichten auf, was sich beispielsweise in dem Gegensatz von § 278 BGB zu § 831 BGB zeigt. Ist nun einmal der Bereich der deliktischen Haftung überschritten und der Komplex der Sonderverbindung erreicht, so ist - abgesehen von speziellen gesetzlichen Haftungsverschärfungen - eine noch größere Haftungsintensität als allgemein für den Komplex der Sonderverbindung vorgesehen nicht mehr denkbar. Was die Schutzpflichten des vorvertraglichen Stadiums angeht, so hat die vorstehende Untersuchung 19 gezeigt, daß bereits diese "vorvertraglichen" Schutzpflichten aus der Deliktssphäre herausgehobene be16 Nirk, RabelsZ 18 (1958), S. 310 (353 Fußn. 2); Rietzter, RabelsZ 5 (1931), S. 567 (620). 17 Nirk, RabelsZ 18 (1958), S. 310 (353 Fußn. 2); Rietzter, RabelsZ 5 (1931), S. 567 (621). 18 Siehe oben, 1. Teil, E UI 2 c. 19 Siehe oben, 1. Teil, E IU 2 c.

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2. Teil: Die "vertragliche" Schutzpflicht! 1. Abschnitt

sondere Pflichten im Rahmen einer Sonderverbindung sind. Daher ist auch unter der Herrschaft des Vertrages, der jetzt zum Aufsuchen des fremden Rechtskreises berechtigt, eine weitere Steigerung der Haftungsintensität nicht möglich. Sowohl die "vorvertraglichen" als auch die "vertraglichen" Schutzpflichten sind Pflichten innerhalb einer Sonderverbindung und sind damit beide denselben für die Sonderverbindung geltenden gesetzlichen Vorschriften unterworfen. Die Leistungsbeziehung in ihren Entwicklungsmöglichkeiten bei der Erfüllung bzw. Abwicklung der Leistung könnte, wenn auch nicht den Haftungsinhalt, so aber doch den Pflichtengehalt der Schutzpflicht beeinflussen, indem sie ihn in zwingender Weise voraussehbar macht. Insoweit hat die Untersuchung der "vorvertraglichen" Schutzpflicht ergeben, daß das Bedürfnis nach einer besonderen Schutzpflicht in dem Augenblick entsteht, in dem die Beteiligten ihre "starre Abwehrhaltung" aufgeben und eine von ihrem natürlichen Willen getragene Verschmelzung der Rechtskreise eintritt. Ausgehend von diesem Schutzbedürfnis kann der Vertrag keine Änderung bringen. Das Bedürfnis nach Schutz besteht in gleicher Weise fort. Es wird zwar aufgrund der Intensivierung der Beziehung noch stärker20 . Doch sind auch die im vorvertraglichen Stadium entstandenen Schutzpflichten bereits besondere Pflichten und sind damit anders strukturiert als die allgemeinen Pflichten der Deliktssphäre. Allerdings wird mit Vertragsabschluß der Ablauf der Vertragserfüllung hinsichtlich Zeit und Ort festgelegt. Der Schuldner weiß nunmehr, wann er die Geschäftsräume des Gläubigers entsprechend den ausgehandelten Vertragsbedingungen aufsuchen soll; sowohl er als auch der Gläubiger können sich auf dieses Gegenübertreten rechtzeitig einstellen. Dadurch schafft die Leistungsbeziehung auch hinsichtlich der Schutzpflichten ein generelles Verhaltensschema. Der Rechtsgüterkontakt wird, soweit er mit der Leistungsbeziehung zusammenhängt, vorhersehbar, und so wird der Pflichtengehalt der Schutzpflicht jedenfalls teilweise schon mit dem Vertragsabschluß festgelegt. Auf diese Weise gewinnen die Schutzpflichten letztlich doch wegen des Vertragsabschlusses einen plastischeren und konkreteren InhaJt21. Ungeachtet dieser vertraglich festgelegten Zeitpunkte der Rechtsgüterberührung ist den Vertragsparteien aber freigestellt, den anderen im Zusammenhang mit der Vertragsdurchführung aufzusuchen, etwa um unangemeldet die Fortschritte bei der Neulackierung eines Fahrzeuges zu überprüfen. Schließlich ist den Vertragspartnern durch den Vertrag vor anderen Personen das Recht eingeräumt, in die Sphäre des 20 21

Koziol, Band II, S. 66; Steffen, S. 29; Kinze, S. 75; Schleeh, S. 53. Stürner, JZ 1976, S. 384 (386).

C. Der Einfluß des Vertrages auf die Schutzpflicht

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anderen einzudringen, ohne dabei rechtswidrig zu handeln22 • Wegen dieser erweiterten Möglichkeiten der Vertragsparteien können sich die Pflichtengebote der "vertraglichen" Schutzpflicht auch situationsbedingt entwickeln. Sie können sich zwar auf das durch die Leistungsbeziehung vorgegebene starre Verhaltensmuster beschränken; dieses Verhaltensschema ist jedoch nicht zwingend, so daß sich Schutzpflichten auch zu nicht voraussehbaren Zeiten ergeben können.

3. Ergebnis Die Untersuchung der Frage, inwieweit der Vertrag die Schutzpflicht inhaltlich gestaltet, ergibt also folgendes: - Die Schutzpflicht wird bei dem Vertragsabschluß nicht vereinbart. - Sie wird aber in ihren Pflichtengeboten indirekt durch den Vertrag vorhersehbar gemacht, da sie von ihrer Funktion her die durch den Vertrag starr festgelegten Leistungspflichten begleitet. - Diese Vorhersehbarkeit ist aber nur teilweise gegeben, da die Vertragspartner aufgrund des Vertrages ganz allgemein berechtigt sind, den Rechtskreis des anderen aufzusuchen. Eine darüber hinausgehende Gestaltung des Pflichteninhalts der Schutzpflicht führt der Vertrag jedoch nicht herbei, so daß das Ausmaß der Inhaltsgestaltung durch den Vertrag als sehr gering zu bezeichnen ist.

m. Verquickung der Schutzpßicht mit den Leistungspßidlten Die Bezeichnung der Schutzpflicht als vertragliche Pflicht wäre aber auch dann berechtigt, wenn die Schutzpflicht von ihrer Erscheinungsform her mit den durch den Vertrag hervorgebrachten Leistungspflichten untrennbar verknüpft ist. Im Rahmen dieses Abschnitts soll, um einen Vergleichsmaßstab zu den übrigen "vertraglichen Nebenpflichten" zu gewinnen, zunächst untersucht werden, inwieweit die einzelnen Pflichtenkreise der wichtigsten Nebenpflichten mit den Leistungspflichten verbunden sind. Anschließend soll die Wirkungsweise der Schutzpflicht anhand von Fällen erörtert und den übrigen "vertraglichen Nebenpflichten" gegenübergestellt werden. 1. Verknüpfung der wichtigsten "Nebenpflichten"

mit den Leistungspflichten

Die Untersuchung, inwieweit die einzelnen Pflichtenkreise der positiven Vertragsverletzung mit den Hauptleistungspflichten bzw. dem Vertragszweck verknüpft sind, kann nicht erschöpfend sein. Sie will 22

Freitag, S. 73.

11 Frost

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2. Teil: Die "vertragliche" Schutzpflicht/ 1. Abschnitt

auch keinen neuen Beitrag zur Systematisierung der betreffenden Pflichtenkreise liefern23 • Daher sind für die vorliegende Untersuchung aus der fast unüberschaubaren Judikatur einige für die einzelnen Pflichtengruppen typische Fälle ausgewählt worden, die unter weitgehender Nichtbeachtung ihrer systematischen Einordnung lediglich auf ihre inhaltliche Wirkungsweise hin geprüft werden. 1. Fallgruppe: Schlechtleistung, die nicht von den gesetzlichen Gewährleistungsvorschriften erfaßt wird

A begab sich wegen einer Handverletzung ins Krankenhaus. Bei einer Bluttransfusion wurde dem A Blut des B, der an Lues erkrankt war, übertragen. A wurde daraufhin angesteckt24 • Die Bluttransfusion zählte zu den Heilmaßnahmen, die nach dem Inhalt des Krankenhausaufnahmevertrages (eines Dienstvertrages, § 611 BGB) durchzuführen waren. Da bei der Transfusion Lueserreger mitübertragen wurden, wurde die Hauptleistungspflicht, die Heilmaßnahme entsprechend den Regeln der ärztlichen Kunst vorzunehmen, schuldhaft schlecht erfüllt. Diese Schlechtleistung stellt eine "Vertragsverletzung" im wahrsten Sinne des Wortes dar: der Vertrag liefert den Maßstab dafür, in welcher Weise die vertragliche Leistung zu erbringen ist. Erweist sich die Leistung als mangelhaft, so liegt ein Verstoß gegen den Vertrag, eine "Vertragsverletzung" vor 25 . 2. Fallgruppe: Verletzung von Anzeigepflichten

Die Stadt S chlorte im Jahre 1948 auf Anordnung der Militärregierung das Leitungswasser, ohne den Zusatz des Chlors einer von ihr versorgten Gurkenfabrik bekanntzugeben. In der Gurkenfabrik, die das Wasser zu Konservierungszwecken verwendete, verdarben die Konserven 26 • Der BGH hat angenommen, daß S eine Anzeigepflicht verletzt habe: S habe damit rechnen müssen, daß die Konserven aufgrund des Chlorzusatzes verderben würden; diese Gefahr habe nur sie erkennen können; daher habe sie der Fabrik die Chlorung anzeigen und dadurch die Möglichkeit geben müssen, geeignete Gegenmaßnahmen zu treffen. Der BGH leitet diese Anzeigepflicht aus der überlegenen Sachkunde der S her: drohende Gefahren für Rechtsgüter der Fabrik seien anzu23 Eine Durchsicht der bisherigen Systematisierungsversuche zeigt, daß zwar eine inhaltliche Präzisierung der Pflichtengruppen mit Erfolg durchzuführen ist; eine unanfechtbare systematische Aufgliederung wird mit der von vielen Autoren angestrebten Perfektion jedoch nicht zu erreichen sein, weil es unter dem systematischen Aspekt jeweils auf den betreffenden Sachverhalt und den Ansatzpunkt des Betrachters ankommt. 24 BGHZ 5, S. 321 ff. 25 Larenz, SR AT, § 24 I, S. 298 f.; Esser / Schmidt, SR AT, 2. Teilband, § 29 III, S. 105; Koziol, Band II, S. 68; Köpcke, S. 32, 44 (mißlungener Erfüllungsversuch). 26 BGHZ 17, S. 191 ff.

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zeigen, um den unterschiedlichen Wissensstand der Beteiligten auszugleichen 27 • Eine Anzeigepflicht kann sich jedoch auch aus anderen Umständen ergeben, wie der nachfolgende Fall zeigt: Reeder R hat C für einen bestimmten Tag einen Dampfer zur Verfügung gestellt. Einen Tag vor diesem Termin erfährt R, daß das Schiff beschädigt ist und daher dem C nicht übergeben werden kann28 • Wegen der Havarie kann R seine Leistung nicht mehr erbringen. Da er diese nachträgliche Unmöglichkeit nicht verschuldet hat, wird er von seiner Leistungspflicht frei (§ 323 BGB). Er hat jedoch dem C Mitteilung von den Ereignissen zu machen, damit dieser nicht nutzlose Aufwendungen für diese geplante Dampferfahrt macht2D • Hier steht bei der Anzeigepflicht das Interesse des C, über die Nichtdurchführbarkeit des Vertrages informiert zu werden, im Vordergrund. Da Leistungspflichten nicht mehr bestehen, stellt die Anzeigepflicht gewissermaßen den "Überrest" des Vertrages dar. Vergleicht man diese beiden Fälle, so beruht die Anzeigepflicht jeweils auf dem Gedanken, daß der durch sein besonderes Wissen überlegene Teil fremde Interessen wahrzunehmen hat; die Anzeigepflicht ist daher unter den Oberbegriff "Fürsorgepflicht" zu fassen 3o • Inhaltlich besteht aber ein Unterschied zwischen diesen beiden Fällen: da im "Gurken"-Fall durch eigenes Handeln Gefahr für fremde Rechtsgüter geschaffen wurde, die auszugleichen Sinn der Anzeigepflicht ist, rückt die Anzeigepflicht zumindest in die Nähe einer Schutzpflicht. Im "Havarie"-Fall hingegen tritt die Anzeigepflicht an die Stelle der nicht mehr bestehenden Leistungspflicht und weist daher einen unmittelbaren Bezug zum Vertrag auf. Aus diesem Grunde ist die Anzeigepflicht im "Havarie"-Fall eine echte, aus dem Vertrag folgende Pflicht. Im "Gurken"-Fall mag man jedoch hinsichtlich der Einordnung der Anzeigepflicht zweifeln: die Anzeigepflicht steht zwar in Zusammenhang mit der Hauptleistungspflicht der S, der Fabrik Wasser zu liefern; im Vordergrund steht aber das Bestreben, die Rechtsgüter der Fabrik zu schützen. Demgegenüber ist es allgemein üblich3 t, die Anzeigepflicht als isolierte "vertragliche Nebenpflicht" einzuordnen. Dieser Widerspruch fordert dazu heraus zu untersuchen, in welcher Beziehung Anzeigepflicht und Schutzpflicht stehen. Dies soll im nachfolgenden BGHZ 17, S. 191 (193, 195). OLG Hamburg, SeuffArch 56, S. 392. 29 OLG Hamburg, SeuffArch 56, S. 392; Köpcke, S. 104 f., insbes. Fußn. 39. 30 Köpcke, S. 105 ff. 31 Schneider, S. 197; Koziol, Band II, S. 69; Köpcke, S. 104 ff., behandelt sie als besonderen "Typ" der positiven Vertragsverletzung; Erman/ Sirp, § 242, Anm. 54 (dem Erfüllungszweck immanente unselbständige Nebenpflicht). 27

28

11·

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2. Teil: Die "vertragliche" Schutzpflicht /1. Abschnitt

Abschnitt geschehen. Jedenfalls zeigen bereits diese beiden Fälle, daß es "die" Anzeigepflicht nicht gibt.

3. Fallgruppe: Verletzung von Mitwirkungspflichten A hat eine Parzelle gekauft. Er trat den Auflassungsanspruch an G ab, der sofort den Kaufpreis an A zahlte und mit der Bewirtschaftung der Parzelle begann. Später veranlaßte A, daß die Parzelle an ihn und nicht an G aufgelassen wurde 32 • L, ein Lizenznehmer, hatte mit P, dem Patentinhaber, einen Patentvertrag mit gesellschaftlichem Charakter geschlossen, bei dem das Patent gemeinsam ausgenutzt werden sollte. Nach einiger Zeit griff L das Patent mit der Nichtigkeitsklage an33 •

In beiden Fällen ist durch das Verhalten des einen Vertragspartners der eigentliche Vertragserfolg verhindert worden: im Fall 1) die Auflassung an G, im Fall 2) die gemeinsame Patentausnutzung. Damit haben die Betreffenden ihrer Verpflichtung zuwidergehandelt, alles zu unterlassen, was die Erreichung des Vertragszweckes beeinträchtigen könnte. Nimmt schon der Begriff der Mitwirkungspflicht auf die Pflicht der Parteien Bezug, zur Durchführung des Vertrages zusammenzuarbeiten 34, so zeigen erst recht die vorstehenden Fälle, daß die Mitwirkungspflicht eine mit dem Vertragszweck zusammenhängende vertragliche Pflicht ist. Der Zusammenhang mit dem Vertragszweck ist daher zwingend. 4. Fallgruppe: Vereitlung von Vertragsnebenzielen N kaufte von Rein Baugrundstück wegen seiner besonders schönen landschaftlichen Lage. Nach dem damals gültigen Bebauungsplan sollte das hinter dem Grundstück liegende Gelände nicht bebaut werden. Nachdem N auf seinem Grundstück ein Haus errichtet hatte, erwarb R das hinter diesem Grundstück gelegene Gelände. Nach dem Vertrag zwischen R und dem Verkäufer sollte das Gelände nur unter der Bedingung Baugelände werden, daß R dieses Gelände durch eine Stichstraße erschließen lassen würde. R erwirkte daraufhin eine Änderung des Bebauungsplanes, ließ die geforderte Stichstraße anlegen und errichtete hinter dem Haus des N ein Gebäude mit freistehendem Schuppen35 : Hier hat das Reichsgericht zu Recht hervorgehoben, daß N keine Einwendungen hätte erheben können, wenn ein Dritter das rückwärtige Gelände bebaut hätte. Weil aber R als ehemaliger Vertragspartner die Bebauung durchführte, verstieß dieser gegen "seine redlich verstandenen Schuldnerpflichten", war ihm doch bekannt, daß N das Gelände seiner schönen Lage wegen und wegen der nach dem alten BebauungsRGZ 111, S. 298 ff. BGH BB 1957, S. 449 f. 34 Erman / Battes, § 276, Anm. 96; Erman / Sirp, § 242 Anm. 67; Palandt / Heinrichs, § 242 Anm. 4 B c; Larenz, SR AT, § 24 I, S. 299 f.; Köpcke, S. 70. 35 RGZ 161, S. 320 ff. 32

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c. Der Einfluß des Vertrages auf die Schutzpflicht

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plan ausgewiesenen Unbebaubarkeit des rückwärtigen Geländes erworben hatte. Sachmängelansprüche des N kamen im vorliegenden Fall nicht in Betracht; die schöne Lage und Unbebaubarkeit des anderen Grundstücks waren nicht Vertragsinhalt geworden. Dennoch stellten diese Gesichtspunkte ein dem R bekanntes Vertragsnebenziel dar, das er durch sein aktives Tun vereitelt hat 36 • Wegen dieser zu dem Vertrag bestehenden Verknüpfung ist es gerechtfertigt, von einer "Vertragsverletzung" zu sprechen. 5. FaUgruppe: Auskunfts- bzw. Rechenschaftspflichten Eine Fabrik, die Kalksorten herstellt, hat einem Generalvertreter den Alleinvertrieb für einige Erzeugnisse übertragen. Entgegen dieser Vereinbarung tätigt sie in dem Absatzgebiet ihres Generalvertreters G selbst Abschlüsse. G will Schadensersatzansprüche gegen die Fabrik geltend machen 37 •

Das Verhalten der Fabrik stellt eine Vertragsverletzung dar, hat sie doch eindeutig gegen eine vertragliche Hauptpflicht, sich eigener Verkaufstätigkeit im Absatzgebiet des G zu enthalten, verstoßen. Um jedoch Schadensersatzansprüche gegen die Fabrik geltend machen zu können, muß G zunächst Auskunft über den Umfang der von der Fabrik selbst getätigten Geschäfte erhalten. Einen solchen Auskunftsanspruch hat ihm das RG auch zugestanden3s, war er doch in entschuldbarer Weise über den Umfang seiner Rechte im Ungewissen, während die Fabrik ihm unschwer Auskunft erteilen konnte. Die Auskunftspflicht tritt also im vorliegenden Fall gewissermaßen als Vorstufe zur Durchsetzung von Rechten auf, die sich aus der Verletzung einer vertraglichen Pflicht ergeben, und hat daher einen unmittelbaren, nicht hinweg denkbaren Bezug zum Vertrag. Kommt die Fabrik der Auskunftspflicht nur mangelhaft nach, so begeht sie eine weitere Vertragsverletzung. 6. FalZgruppe: Verstoß gegen ein Konkurrenzverbot Zwei Arzte, die in verschiedenen Städten wohnen, vereinbaren einen Praxistausch. Der eine Tauschpartner will nach kurzer Zeit wieder seine Praxis in dem früheren Niederlassungsort oder jedenfalls in dessen unmittelbarer Nähe ausüben39 •

Der BGH hat angenommen, daß der Zweck des Tauschvertrages weitgehend gefährdet würde, wenn der eine Tauschpartner kurze Zeit nach Vollzug des Tauschvertrages zurückkehren könnte. Mit dem Tauschvertrag hätten die Beteiligten den Zweck verfolgt, den Patientenstamm des 38 Larenz, SR AT, § 24 I, S. 299; Palandt / Heinrichs, § 276 Anm. 7 d; Staudinger / Weber, § 242 A 775 (5); Fichtner, S. 22 f. 37 RGZ 92, S. 201 ff. 38 RGZ 92, S. 201 ff.; KG DJZ 1910, Sp. 84; BGHZ 10, S. 385 (387); Köpcke, S. 115 f.; Erman / Sirp, § 242 Anm. 65. 39 BGHZ 16, S. 71 ff.

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2. Teil: Die "vertragliche" Schutzpflicht /1. Abschnitt

Tauschpartners übernehmen und die Praxis entsprechend weiterführen zu wollen. Bei Rückkehr des einen Tauschpartners bestehe die Gefahr, daß der übernommene Patientenstamm verringert würde. Auch hier taucht also die Erwägung auf, der Vertragszweck würde durch das Verhalten des einen Tauschpartners verletzt werden 40 • Ebenso wie bei den Mitwirkungspflichten kann das Konkurrenzverbot daher in Bezug zu dem Vertrag gesetzt werden.

Zusammenfassend ergibt sich damit, daß die Fälle der Schlechtleistung, der Mitwirkungspflichten, der Vereitelung von Vertragsnebenzielen, der Auskunfts- bzw. Rechenschaftspflicht und des Konkurrenzverbots entweder die eigentliche Hauptleistungspflicht oder aber den Vertragszweck, wie er sich aufgrund der Parteivereinbarung oder aus bei Vertragsabschluß offensichtlichen Umständen ergibt, betreffen. Ohne den Vertrag lassen sich diese Pflichten daher weder erklären, noch haben sie bei Fehlen des Vertrages eine denkbare eigene Existenzberechtigung. So kann es ohne den Vertrag zu keiner Schlechtleistung kommen, da der Vertrag die Leistungspflicht bestimmt; eine Mitwirkungspflicht ist nur denkbar, wenn eine Grundlage, nämlich der Vertrag, den Anhalt dafür gibt, bei was die Betreffenden zusammenzuwirken haben. Dasselbe gilt auch für die Vereitelung von Vertragsnebenzielen. Was die Auskunftspflichten angeht, so werden diese nur bedeutsam, wenn ein Leistungsrecht bzw. eine Leistungspflicht in Frage steht, und zu Konkurrenzverboten kann es nur kommen, wenn nicht der freie Wettbewerb betroffen ist, sondern eine sich aus dem Vertrag ergebende Pflicht zur Rücksichtnahme mahnt. Nach der bisherigen Untersuchung scheint allerdings die Anzeigepflicht eine besondere Stellung einzunehmen. Sie kann mit einer vertraglichen Pflicht in Zusammenhang stehen, kann aber auch in die Nähe einer Schutzpflicht rücken. Wegen dieser eigenartigen Erscheinungsform der Anzeigepflicht wird auf ihren Sinn und Inhalt im nachfolgenden Abschnitt noch ausführlicher einzugehen sein. Diesen Pflichtenkomplexen der "positiven Vertragsverletzung" bei denen sich die Bezeichnung als "Vertragsverletzung" als weitgehend zutreffend erwiesen hat, soll nunmehr die Schutzpflicht gegenübergestellt werden; dabei soll die Wirkungsweise der Schutzpflicht anhand der nachfolgenden Fälle erläutert werden.

2. Wirkungsweise der "vertragtichen" SchutzpfHcht bei bzw. vor der VertragserfüHung anhand von FäHen Ausgangspunkt der herrschenden Lehre ist, daß die Schutzpflicht nicht aus dem Vertragsverbund herausgelöst werden könne, weil der 40

Köpcke, S.117; Erman/ Battes, § 276 Anm. 92.

c. Der Einfluß des Vertrages auf die Schutzpflicht

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Schuldner nie sorgfältiges Verhalten als solches schulde, sondern nur ein sorgfältiges Leisten; die sorgfältige Ausführung der Leistung gehöre nämlich zum unmittelbaren Inhalt der Schuld41 • Die neuere Ansicht geht demgegenüber davon aus, daß die Schutzpflicht auch während der Vertragsabwicklung ein eigenständiges und damit von den Leistungspflichten unabhängiges Leben führe 42 • Das Funktionieren der Schutzpflicht innerhalb der vertraglichen Beziehung und insbesondere bei der Vertragserfüllung betrifft, wie der Meinungsstreit zeigt, die Frage nach dem Ausmaß der Wechselwirkung zwischen Leistungspflicht und Schutzpflicht43 • Der Inhalt der Leistung besteht lediglich in der vertragsgemäßen Verpflichtung des Schuldners, einen bestimmten Leistungserfolg herbeizuführen, wobei ihm ein bestimmtes Leistungsverhalten abverlangt wird. Könnte man nun hinsichtlich der Schutzpflichtverletzung am Leistungsverhalten anknüpfen, so wäre es mit der herrschenden Lehre gerechtfertigt, von einer "nicht sorgfältigen Leistung" zu sprechen. Ob diese Anknüpfungsmöglichkeit besteht, soll an hand folgender Beispielsfälle erörtert werden. Fan a) A bestellt beim Tischler T einen Handarbeitsschrank. Bei der Auslieferung beschädigt der Geselle des T eine Tür im Hause des A.

Hier fällt die Schutzpflichtverletzung mit dem Erbringen der Leistung zusammen, so daß von einem unsorgfältigen Leistungsverhalten gesprochen werden könnte. Es muß allerdings bereits an dieser Stelle darauf hingewiesen werden, daß die Schutzpflichtverletzung nicht zu einem Mißverhältnis von Leistung- und Gegenleistung führt. Das Mißgeschick des Gesellen des T hat keinen Einfluß darauf, daß T den Schrank vertragsgemäß hergestellt hat. Mit der Ablieferung des Schrankes hatte T seine vertragliche Leistungspflicht erfüllt, und A konnte aufgrund des schädigenden Ereignisses nicht seine Gegenleistung nach dem vertraglichen Gewährleistungsrecht mindern44 • Dies deutet darauf hin, daß die Schutzpflichtverletzung nur äußerlich mit dem Erbringen der Leistung zusammenfällt, weil die Leistungserbringung für T eine der ihm durch den Vertrag eingeräumten Möglichkeiten darstellt, auf nicht widerrechtliche Weise in den Rechtskreis des A einzudringen 45 • 41 Wolf, AcP 153, S. 97 (112 f.); Erman / Sirp, § 242 Anm. 59; Fikentscher, § 47 I, S. 228 ff. 42 Canaris, JZ 1965, S. 475 ff.; Thiele, JZ 1967, S. 649 ff.; von Lackum, S. 158 ff.; Gerhardt, JZ 1970, S. 535 ff.; ders., JuS 1970, S. 597 ff.; MK-Emmerich, Vorbem. 90 zu § 275. 43 Larenz, SR AT, § 9 II, S. 102 - 104. 44 Freitag, S. 75, 76; Fritz, S. 12,22.