Das Okzitanische: Sprachgeschichte und Soziologie [Reprint 2012 ed.] 9783110963489, 9783484540231


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German Pages 104 Year 1981

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Table of contents :
0. Zur Sprachensituation in Südfrankreich
1. Okzitanisch und Französisch: zwei Sprachen in einem Gebiet
1.1. Französisch – Francitan – Okzitanisch: Verhältnis und wechselseitige Einflüsse von Sprachformen
1.2. Das Gebiet des Okzitanischen
1.3. Die Sprecher des Okzitanischen
1.4. Zum Namen der Sprache
1.5. Diglossie und Sprachkonflikt im okzitanischen Sprachgebiet
1.6. Arbeitsaufgaben
1.7. Literatur
2. Die wichtigsten Etappen der Geschichte des Okzitanischen
2.1. Die Vorgeschichte
2.2. Die altokzitanische Blütezeit
2.3. Langsames Eindringen des Französischen in den schriftlichen Bereich (1271–1539)
2.4. Durchsetzung des Französischen im offiziellen (schriftlichen) Verkehr und allmähliche Fortschritte im mündlichen Gebrauch (1539–1789)
2.5. Beginn der massenhaften Substitution im mündlichen Gebrauch im Zuge der politischen Neuorientierung seit der Revolution (1789–1881)
2.6. Planmäßige Durchsetzung des Französischen im Zuge der allgemeinen Schulpflicht (seit 1881)
2.7. Arbeitsaufgaben
2.8. Literatur
3. Zur internen Differenzierung des Okzitanischen
3.1. Zum Begriff der "historischen Sprache"
3.2. Die Nominalflexion im Okzitanischen
3.3. Zur okzitanischen Verbalmorphologie
3.4. Syntax
3.5. Gibt es eine okzitanische Sprache?
3.6. Arbeitsaufgaben
3.7. Literatur
4. Wer spricht heute wann mit wem worüber Okzitanisch?
4.1. Schwierigkeiten und Bedingtheiten der Forschung
4.2. Einige Resultate aus Umfragen
4.3. Fragezeichen
4.4. Arbeitsaufgaben
4.5. Literatur
5. Bedeutung und Grenzen der okzitanischen Renaissance
5.1. Die wichtigsten historischen Etappen der Renaissance
5.2. Ein Streitpunkt: die Kodifikation
5.3. Überlegungen zum “sozialen Wert” einer Sprache
5.4. Arbeitsaufgaben
5.5. Literatur
Textanhang
Bibliographie
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Das Okzitanische: Sprachgeschichte und Soziologie [Reprint 2012 ed.]
 9783110963489, 9783484540231

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Romanistische Arbeitshefte

23

Herausgegeben von Gustav Ineichen und Christian Rohrer

Georg Kremnitz

Das Okzitanische Sprachgeschichte und Soziologie

Max Niemeyer Verlag Tübingen 1981

FÜR W.

CIP-Kurztitelaufnahme der Deutschen Bibliothek Kremnitz, Georg: Das Okzitanische: Sprachgeschichte u. Soziologie / Georg Kremnitz. - Tübingen: Niemeyer, 1981. (Romanistische Arbeitshefte; 23) ISBN 3-484-54023-0

ISBN 3-484-54023-0

ISSN 0344-676x

© Max Niemeyer Verlag Tübingen 1981 Alle Rechte vorbehalten. Ohne ausdrückliche Genehmigung des Verlages ist es auch nicht gestattet, dieses Buch oder Teile daraus auf photomechanischem Wege zu vervielfältigen. Printed in Germany. Druck: Becht-Druck, 7403 Ammerbuch-Pfäffingen

INHALTSVERZEICHNIS

0. Zur Sprachensituation in Südfrankreich

1

1. Okzitanisch und Französisch: zwei Sprachen in einem Gebiet

3

1.1. Französisch - Francitan - Okzitanisch: Verhältnis und wechselseitige Einflüsse von Sprachformen 1.2. Das Gebiet des Okzitanischen 1.3. Die Sprecher des Okzitanischen 1.4. Zum Namen der Sprache 1.5. Diglossie und Sprachkonflikt im okzitanischen Sprachgebiet 1.6. Arbeitsaufgaben 1.7. Literatur 2. Die wichtigsten Etappen der Geschichte des Okzitanischen 2.1. Die Vorgeschichte 2.2. Die altokzitanische Blütezeit 2.3. Langsames Eindringen des Französischen in den schriftlichen Bereich (1271-1539) 2.4. Durchsetzung des Französischen im offiziellen (schriftlichen) Verkehr und allmähliche Fortschritte im mündlichen Gebrauch (1539-1789) 2.5. Beginn der massenhaften Substitution im mündlichen Gebrauch im Zuge der politischen Neuorientierung seit der Revolution (1789-1881) 2.6. Planmäßige Durchsetzung des Französischen im Zuge der allgemeinen Schulpflicht (seit 1881) 2.7. Arbeitsaufgaben 2.8. Literatur 3. Zur internen Differenzierung des Okzitanischen 3.1. 3.2. 3.3. 3.4. 3.5. 3.6. 3.7.

3 8 11 15 16 19 19 20 20 22 23

24

26 31 31 32 33

Zum Begriff der "historischen Sprache" Die Nominalflexion im Okzitanischen Zur okzitanischen Verbalmorphologie Syntax Gibt es eine okzitanische Sprache? Arbeitsaufgaben Literatur

33 37 43 47 52 53 54

4. Wer spricht heute wann mit wem worüber Okzitanisch?

55

4.1. 4.2. 4.3. 4.4. 4.5.

Schwierigkeiten und Bedingtheiten der Forschung Einige Resultate aus Umfragen Fragezeichen Arbeitsaufgaben Literatur

55 59 67 68 69.

VI 5. Bedeutung und Grenzen der okzitanischen Renaissance 5.1. 5.2. 5.3. 5.4. 5.5.

Die wichtigsten historischen Etappen der Renaissance Ein Streitpunkt: die Kodifikation Überlegungen zum "sozialen Wert" einer Sprache Arbeitsaufgaben Literatur

70 71 80 86 88 88

Textanhang

89

Bibliographie

93

Ο.

ZUR SPRACHENSITUATION IN SÜDFRANKREICH

Folgt man offiziellen französischen Sprachkarten, so wird Frankreich von einer einzigen Sprachgemeinschaft, der französischen, berohnt. Noch während der französischen Revolution jedoch, am 16. Prairial des Jahres II (4.6.1794), beklagt der Abbe Gregoire in seinem Bericht vor dem Konvent, wie zahlreich die Bürger des neuen revolutionären Staates seien, die kein Französisch beherrschen, und die Umfrage des Unterrichtsministers Victor Duruy im Jahre 1864 (die letzte offizielle Untersuchung der sprachlichen Situation) ergibt, daß in einzelnen Departements wie Aveyron, Ariege, Gers noch mehr als 90% des Französischen nicht mächtig seien. Selbst wenn diese Angaben überhöht sind, stellen sie auch die heutigen Sprachkarten in Frage. Gehen wir weiter zurück, so stellen wir fest, daß die erwähnten Gebiete, zusammen mit dem größten Teil des heutigen Südfrankreich, schon im 14. Jahrhundert als Gebiet der lingua d'oa (1290) oder ocoitana (1302) bezeichnet werden. Das bedeutet: entweder die offiziellen Angaben sind richtig, dann hat seit der Revolution eine Ersetzung (Substitution) des Okzitanischen durch das Französische stattgefunden, oder sie stinmen nicht, dann muß das Okzitanische auch heute noch in Südfrankreich beobachtbar sein, da dann beide Sprachen nebeneinander gesprochen werden. Wir vollen in diesem Arbeitsheft versuchen, einigen der damit zusanmenhängenden Fragen nachzugehen. Dabei betrachten wir einige soziale Bedingungen sprachlichen Verhaltens und die Folgen, die sich daraus für Sprache und Sprecher· ergeben können. Die folgenden Leitfragen müssen besondere Berücksichtigung finden: 1. In welchem Verhältnis stehen Französisch und Okzitanisch? Beeinflussen sie sich gegenseitig? Vielehen besonderen Existenzbedingungen unterliegt das Okzitanische? 2. Läßt sich die Herausbildung der heutigen Situation wenigstens in den wichtigsten Stationen nachzeichnen? 3. Ist die Annahme der Existenz einer einzigen okzitanischen Sprache überhaupt gerechtfertigt? 4. Wer spricht heute wann zu wem vrorüber Okzitanisch?

2 5. Kann das Okzitanische überhaupt die Aufgaben einer modernen Kultursprache erfüllen? Dieser Fragenkatalog zeigt, daß linguistische Fragestellungen allein nur sehr wenig über sprachliches Verhalten aussagen können - die Sprachwissenschaft gehört, insoweit sie nicht nur grammatische Theorien aufstellen, sondern auch das konkrete Verhalten der Sprecher untersuchen und erklären will, in den Kreis der Sozialwissenschaften. Die deskriptive Linguistik, welcher Obödienz sie sich auch zurechnet, ist dabei nur eine Kcxnponente. Ich möchte an dieser Stelle den Herausgebern der Arbeitshefte, vor allem Herrn Gustav Ineichen und Herrn Bernd Kielhöfer, für zahlreiche Anregungen und Verbesserungsvorschläge danken.

1.

OKZITANISCH UND FRANZÖSISCH: ZWEI SPRACHEN IN EINEM GEBIET

1.1.

Französisch - Francitan - Okzitanisch: Verhältnis und wechselseitige Einflüsse von Sprachformen

Selbst bei einer oberflächlichen Betrachtung wird deutlich, daß sich das Französische im dkzitanischen Sprachgebiet in vielerlei Hinsicht von den als sprachliche Norm angesehenen Französisch der Bourgeoisie des Nordens unterscheidet. Dabei ist klar, daß sich auch innerhalb des Französischen im Süden geographische und soziale Differenzierungen ausmachen lassen. Dieses Französisch ist bisher noch wenig untersucht, es liegen allenfalls punktuelle und meist wenig systematische Beobachtungen vor. Wir wollen hier nur auf einige der für unser Thema wichtigen Merkmale eingehen: Phonetik und Phänologie·. Im Bereich des Vokalismus steht dem nordfranzösischen System der Oralvokale, das, wenn wir der Darstellung von W. Rothe folgen, maximal 12 Einheiten umfaßt, ein südliches Inventar gegenüber, das nur über sieben oder acht Einheiten verfügt: i

y

e

ae

u ο

• (a) . . e αε c ου a a

nordfranzösische Oralvokale

i Ε

y CE

u 0

(e) ^ a südfranzösische Oralvokale

(Vokale, deren Phonem-Charakter nicht außer Zweifel steht, stehen in Klammern.)

Damit werden Minimalpaare wie Anne - äne [an - an] oder patte - pate [pat pat] im Süden nicht unterschieden: [ans - ans], [pats - pats]. Auffällig innerhalb des südlichen Systems ist die Realisierung des Phonems /o/, das außer im absoluten Aaslaut stets als [o] gesprochen wird. Aussprachen wie [la/ozs] la chose gelten als typisch für den Süden. Nicht weniger einschneidend sind die Unterschiede im Bereich der Nasalvokale, denn eine nicht νατι Nordfranzösischen als Bezugsgröße ausgehende Analyse muß feststellen, daß in dieser Varietät des Französischen die Nasal-vokale nicht

4 als Phonems gelten körnen, sondern nur als karbinatorische Varianten der Oralvdkale vor Nasalkonsonanten in geschlossener Silbe. Der nordfranzösischen Form [abOdas] steht hier [abondänsg] gegenüber. Aus der phonetischen Uftischreibung wird deutlich, daß im Süden ein Laut mehr gesprochen wird. Damit stehen insgesamt 16 oder 15 vokalischen Phonemen im Nordfranzösischen nur 7 bis 8 in der südlichen Varietät gegenüber. Im Bereich des Konsonantismus sind die Unterschiede weniger einschneidend, da sie in aller Pegel nicht das Phoneminventar selbst betreffen. Weit verbreitet ist die Entsonorisierung der Konsonanten im Auslaut, die im Nordfranzösischen kaum vorkamt: [syt] sud gegen nördlich [syd]. Dabei handelt es sich um eine Neutralisierung des Merkmals Stinirihaftigkeit. Der Ersatz des Zäpfchen-r, wie es im Norden üblich ist, durch ein gerolltes r wird in einem weiten Bereich westlich von Beziers gemacht, daneben auch im größten Teil des Zentralmassivs, ζ. B. [narbons] Narbonne. Schließlich wird der Artikulationsort der Frikativen /s/ und /z/ inmer weiter zurückgezogen, je weiter man nach Südwesten kaimt und gleicht sich stärker der Aussprache der entsprechenden Leute auf der iberischen Halbinsel an. Die auffälligste und letztlich auch wichtigste Differenz zwischen dem Standardfranzösischen und dem Französischen des Beobachtungsgebietes in lautlicher Hinsicht liegt jedoch in der unterschiedlichen Silbenzahl und -struktur und in der unterschiedlichen Anzahl der phonetischen Wörter. Im Süden werden alle labilen [Θ] atisgesprochen, während im Norden der weitaus größte Teil verstummt ist. Damit stehen sich etwa die folgenden Aussprachevarianten eines Satzes gegenüber: [lafijdlavuazin esoRti dsa/äb(R)] nördlich: 10 Silben [lafija dalavuazina esorti da sa/ambra] südlich: 15 Silben la fille de la voisine

est sortie

de sa chajnbre

Durch die Aussprache des labilen [a] vergrößert sich die Zahl der Silben beträchtlich, und es werden zusätzlich Pausen notwendig. Außerdem vergrößert sich die Zahl der offenen Silben des Typs Konsonant - Vokal und der Anteil geschlossener Silben sinkt. Schließlich steht dem inmer auf der letzten Silbe des phonetischen Wortes betonten Nordfranzösisch im Süden eine vielfach auf der vorletzten Silbe betonte Sprache gegenüber (Oxytonie gegen Paroxytonie) . Lexikon: gewöhnlich fragen die Bäckersfrauen in Montpellier oder Toulouse ihre Kunden: Voulez-vous que je vous plie le pain? (=enveloppe). Man kann sogar die Aufforderung hören: Viens plier la table! (=enlever le couvert). Die Begrüßung Adieu (=bon jour) verwirrt Nordfranzosen und Ausländer in gleicher Weise. Neben Wörtern, die in der Pariser Norm mit anderen Bedeutungen

5 vorkamen, wie den eben angeführten, stehen andere, die nur im Süden auftreten. Dabei handelt es sich nicht ausschließlich um Bezeichnungen für Konzepte, die nur dort existieren: le ramonet [Ramjne] (=r4gisseur d'une plantation agrioole), esoaner (=etrangier und, vor allem im Südosten: voler). Wörter wie le aabanon und la gal&jade sind dagegen im Begriff, in das Normfranzösische einzudringen, da sie als charakterisierend für den Süden und das Verhalten seiner Bewohner empfunden werden. Lexikalische Differenzierungen im Raum sind überall in großer Zahl anzutreffen und haben daher, sprachwissenschaftlich gesehen, keinen hohen Aussagewert, obwohl sie im allgemeinen von den Sprechern sehr wohl wahrgenaimen werden und, neben phonetischen Eigenschaften, vielfach als Kriterien zur populären dialektalen Gliederung dienen. Wir wollen daher diese Aufzählung nicht fortsetzen, die wegen der großen Zahl der zu berücksichtigenden lexikalischen Einheiten und der Komplexität der semantischen Veränderungen sehr umfänglich werden imißte, zumal bisher nur Vorarbeiten, aber noch keine systematischen Untersuchungen vorliegen. Syntax: Auch die Syntax in unserem Beobachtungsraum zeigt zahlreiche Eigenheiten. Bekannt sind Erscheinungen wie der Gebrauch des bestimmten Artikels in Sätzen wie Mettez le ahapeau (=votre), j'ivai me promener avea les aamarades (=mes), oder tu as le aanif qui taille? (=ton canif taille-t-il?). Häufig unterscheidet sich die Rektion der Verben von derjenigen der französischen Norm, etwa bei languir qn. ("sich nach jemandem sehnen") oder tomber qah. im Sinne von "fallen lassen" (j 'ai tombi mon mouahoir) oder "ablegen" (je tombe ma veste). Man stößt auch auf den häufigen Gebrauch des sogenannten dativus ethicus, d. h. den reflexiven Gebrauch an sich nicht reflexiver Verben, häufig zur Kennzeichnung einer perfektiven oder intensiven Sinn-Nuance: je me suis mang& la pornnet la vaahe m'est orev&e. Vfendungen des Typs je vous embrasse ά tous, die auf der iberischen Halbinsel genaue Entsprechungen finden, können vor allem im Südwesten vor, allerdings sind sie auch in der Provence nicht unbekannt. Hinzu kennen zahlreiche Unterschiede im Gebrauch der Präpositionen. Auch das Temporal system der Verben entspricht nicht ganz den heutigen französischen Normen: zwar kann nan heute nur noch selten das Passe simple in der gesprochenen Sprache hören, die Regeln der französischen Zeitenfolge werden jedoch recht großzügig angewendet. Sicher ist ein Teil der syntaktischen Besonderheiten des Französischen im Süden für gesprochene Sprache im allgemeinen charakteristisch, zahlreiche andere Züge sind jedoch nur für dieses Gebiet typisch. Morphologie: Unterschiede in der Morphologie (wir gebrauchen den Terminus hier im engeren, traditionellen Sinn) treten dagegen kaum auf. Die Erklärving

6

dafür dürfte zum einen im häufigen Vorkamen der Formen zu suchen sein, zum anderen darin, daß das Französische im Süden eine importierte Sprache ist und sich intern nur wenig differenziert hat, zumal die offizielle, der Norm entsprechende Morphologie gerade in den prestigeträchtigen Sprachfonren, die zuerst auf Französisch Verbreitung fanden, vertreten war. Die Parallelen zur vergleichsweise geringen Differenzierung des Kastilischen in Südamerika sind auffällig. Dieser surtmarische Überblick zeigt, daß die Unterschiede zwischen dem Französischen im Süden und dem neutralen Französisch zahlreich sind. Sie haben irmer wieder das Interesse von Sprachwissenschaftlern geweckt, die diesen Eigentümlichkeiten unter der Sammelbezeichnung frangais regional nachgingen und damit, teilweise wohl unbewußt, andeuten wollten, daß es sich um ein erst sekundär in den Süden verpflanztes Französisch handelt, das neben einem anderssprachigen Substrat/Adstrat steht. Das frangais regional wurde so von den französischen Dialekten im engeren Sinne tinterschieden, wie sie im ursprünglichen (nord-) französischen Sprachgebiet vorkamen. Diese Dialekte unterscheiden sich in anlerer Weise van Normfranzösischen, bei ihnen nehmen ζ. B. morphologische Unterschiede einen wichtigen Platz ein. In Etankreich wird der in der Praxis unbrauchbare Begriff patois für beide Typen von Varietäten des Französischen verwendet. In unserem Falle würde der Vergleich mit dem Ckzitanischen zeigen, daß alle bisher angeführten Beispiele für Sonderentwicklungen sich von dieser Sprache her erklären lassen. Allerdings hat man erst in den letzten Jahren damit begonnen, die besonderen Entstehungsbedingungen auch explizit zu berücksichtigen und auf den für den Einzelfall zu unscharfen Begriff frangais regional zu verzichten; er wird heute durch Bezeichnungen wie franaitan (Y. Couderc) oder frangais d'oa (J. Mazel) ersetzt (nachdem L. Michel schon vor dreißig Jahren von einem frangais meridional usiti dans tous les pays d'oa gesprochen hatte), welche die ständige gleichzeitige Präsenz zweier sprachlicher Systeme festhalten sollen, auch dann, wenn etwa der einzelne Sprecher nur über eines der beiden verfügt. Das andere System existiert ja dennoch als soziales Phänonen und wird als solches von der ganzen Sprechergemeinschaft im Süden wenigstens teilweise rezipiert. Selbstverständlich treten Züge des Francitan auch in anderen Varietäten des Französischen auf; es handelt sich dabei vorwiegend um Züge gesprochener Sprache gegenüber der stärker normierten Schriftsprache. Allerdings genügt das Kriterium der Oralität nicht zur Erklärung aller Eigentümlichkeiten des Francitan. Damit stellt sich die Frage, ob es nur als eine Varietät neben anderen einzuschätzen ist.

7 Terminologische Anmerkung: als Substratsprache bezeichnet man eine Sprache, die in einem gegebenen Gebiet gesprochen wurde, bevor sie von einer anderen, augenblicklich gesprochenen, überlagert und abgelöst wurde. Die unterlegene Sprache hinterläßt dabei in der erfolgreichen Sprache gewisse Reste. So ist ζ. B. das Keltische eine Substratsprache des Französischen, das Ligurische eine Substratsprache des Italienischen. Die sehr komplexen sozialen Vorgänge, die zu einer solchen Sprachablösung führen, lassen sich unter der Bezeichnung sprachlicher Konflikt subsummieren. Als Adstratsprache wird eine gleichzeitig gesprochene, geographisch benachbarte (oder in Gemengelage vorkommende) Sprache bezeichnet, die Einflüsse auf eine andere Sprache ausübt. Auch dieser Terminus abstrahiert weitgehend von den sozialen Erscheinungen, die eine solche Situation kennzeichnen und ist Ausdruck einer statischen, nicht einer dynamischen Sprachkonzeption. Wir behalten beide Begriffe hier nur der Einfachheit halber bei.

Trotz der offiziellen Darstellungen wird auch heute noch Okzitanisch gesprochen und geschrieben. Ein Blick in die okzitanischen Spalten der großen Tageszeitungen oder in die zahlreichen okzitanischen Periodika genügt, um sich davon zu überzeugen. So wie sich Einflüsse des okzitanischen Substrates auf den Französischsprecher auanachen lassen, ließen sich auch die Einflüsse des Französischen auf den Ckzitanisch Sprechenden zeigen. Zwar sind sie im phonetischen und phonologischen Bereich nur schwach spürbar - man ist versucht, das allmähliche geographische und soziale Vordringen des uvularen [R] teilweise auf französischen Einfluß zurückzuführen -, deutlich spürbar werden sie dagegen im Lexikon. Ursprünglich okzitanische Wörter wie lo paire [lupaire] "der Vater", la maire [la maire] "die Mutter" werden durch die französischen Fremdwörter lou pero [lu peRo], la mero [la meRo] ersetzt, aus einem aonee [kunse] "Bürgermeister" wird ein mero [m^Ro], dessen Herkunft leicht aus französisch maire abzuleiten ist. Berufsbezeichnungen ändern sich: der sartre "Schneider" wird zum talhur [talyR], der forniSr [fumie] "Bäcker" zum boulangier [buländjie]. Die Frage, ob und in welchem Umfange solche in der gesprochenen Sprache verbreiteten französischen Ausdrücke im Okzitanischen geduldet werden sollen, bildet seit langem einen Diskussionsgegenstand der okzitanischen Sprachwissenschaftler und Schriftsteller. In ähnlicher Weise müssen auch in der Syntax französische Einwirkungen angencmoen werden. Es ist aufgrund mangelnder Vorarbeiten derzeit nicht möglich, die französischen Einflüsse auf das Okzitanische genau zu beschreiben. Allerdings würde ihre Erfassung auch dadurch erheblich erschwert, daß sich zwischen dem "neutralen" Standardfranzösisch und dan Okzitanischen, wie es sich in den besten literarischen Texten zeigt, ein sprachliches Kontinuum feststellen läßt, das alle möglichen Zwischenpositionen umfassen kann. Gerade diese Zwischenformen werden heute als Francitan bezeichnet.

8 Terminologische Anmerkung: der Begriff Kontinuum wurde zuerst für gewisse kreolische Sprachgemeinschaften, wie etwa Jamaika, geprägt. Dort hat sich zwischen dem Kreolischen und dem Standardenglischen eine große Anzahl von Zwischenformen gebildet, die im einzelnen nur schwer dem Kreolischen oder dem Englischen zuzuordnen sind. Derartige Erscheinungen sind charakteristisch für wenig stabile sprachliche (und soziale) Situationen. Der Terminus läßt sich unseres Erachtens auf die okzitanisch-französische Sprachsituation übertragen.

Diese Situation wird nur verständlich, wenn man sich vor Augen hält, daß seit Jahrhunderten Französisch und Okzitanisch einer unterschiedlichen Bewertung durch die Sprecher unterliegen. Sie läßt sich bereits mit der unterschiedlichen Natur der jeweiligen sprachlichen Einflüsse belegen. Die relativ ausgeprägten akzitanisehen Substrateinflüsse in der Phonetik deuten darauf hin, daß die Aneignung der ursprünglich fremden Sprache (des Französischen) nicht vollständig gelungen ist. Bei vielen lexikalischen Okzitanismen handelt es sich um (ursprünglich) fachsprachliche Ausdrücke, deren französische Entsprechungen dem gewöhnlichen Sprecher kaum zur Verfügung stehen oder um Begriffe mit abwertenden Konnotationen, für die das Französische nach Auffassung der Sprecher zu "fein" ist. Dagegen sind die französischen Züge im Okzitanisehen meist prestigeträchtig; durch sie soll - bewußt oder unbewußt - das Okzitanische "verbessert" werden. Das läßt sich anhand der oben gezeigten lexikalischen Beispiele ebenso belegen wie bei den zahlreichen syntaktischen französischen Zügen, die in dkzitanischen Texten auftauchen. Allerdings ninmt der einzelne Sprecher derartige Veränderungen in unterschiedlichem Umfang und nicht immer in gleichem Maße vor, so daß zahlreiche Varianten entstehen. Aus dem bisher Gesagten resultiert, daß jede Arbeit über das Okzitanische heute berücksichtigen muß, daß es sich in ständigem Kontakt mit dem Französischen befindet, daß es nicht mehr allein auftritt, sondern immer vor dem Hintergrund der "anderen" Sprache (dasselbe gilt natürlich umgekehrt auch für das Französische im dkzitanischen Sprachgebiet). Daher kann man nur unter dieser Einschränkung heute vcm geographischen Gebiet des Okzitanischen sprechen, ebenso sind die Okzitanischsprecher alle zugleich auch der anderen Sprache (wenn auch in unterschiedlichem Umfang) mächtig. Diese Tatsachen muß man sich für die folgenden Angaben vor Augen halten, nach denen wir uns der sozialen Stellung des Okzitanischen zuwenden. 1.2.

Das Gebiet des Okzitanischen

Das Gebiet, in dem heute Okzitanisch gesprochen wird, ist mit knapp 200 000 krn^ einer der größeren Sprachräume in Europa. Allerdings handelt es sich dabei um ein mehr oder weniger fiktives Sprachgebiet, da heute überall

9 auch Französisch, gesprochen wird und das Okzitanische in den letzten Jahrzehnten stark zurückgedrängt warden ist. Die Karte kann daher nur einen statischen Überblick über eine sich rasch verändernde Situation geben. Danach bildet, grob gesagt, das südliche Drittel des französischen Staatsgebietes den okzitanischen Sprachram, wovon man die westliche Hälfte des Departements Pyrenees Atlantiques abziehen muß (es handelt sich dabei um das Nordbaskenland/Euskadi-Nord), scwie das Departement Pyrenees Orientales mit Ausnahme eines Kantons, welches zum katalanischen Sprachgebiet gehört und als Nordkatalonien bezeichnet wird. Außerhalb des französischen Staatsgebietes befindet sich das obere Tal der Garonne, das zum autonomen Katalonien im Spanischen Staat gehört und als Val d'Aran bezeichnet wird, und schließlich der östliche Alpenhang, der sich im italienischen Staatsgebiet befindet; scweit man hier angesichts der unmerklichen Übergänge zwischen Okzitanisch und Piemontesisch überhaupt von einer Sprachgrenze sprechen möchte, wäre sie dort anzunehmen, vro die Täler sich zur Ebene hin öffnen. Wir wollen hier nicht näher auf die okzitanischen Sprachinseln außerhalb dieses "geschlossenen" Gebietes eingehen, wie die Gemeinde Guardia Pisnontese in Kalabrien oder den Ort Pigue in Argentinien, die in verschiedenen Jahrhunderten als Auswanderungskolonien entstanden sind. Auch in Deutschland gab es mehrere okzitanische Dörfer, die aus Glaubensgründen aus ihrer Heimat am Ostalpenhang vertriebene Waldenser im 18. Jh. gründeten; die letzten Sprecher dieser Sprachinseln (v. a. in Württoröerg, Baden und Hessen) sind in der ersten Hälft ?0. Jh. gestorben. Umgekehrt gab es im geschlossenen okzitanischachgebiet durch Massenumsiedlungen schon seit dem 16. Jh. französische Sprachinseln. Es ist unter Sprachwissenschaftlern unbestritten, daß das okzitanische Sprachgebiet sich früher weiter nach Norden erstreckte, nach den zuerst von E. Gamillscheg und W. v. Wartburg formulierten Annahmen ursprünglich bis zur Loire. Noch heute lassen sich okzitanische Züge im Französischen bis weit in die Vendee hinein feststellen. Man kann annehmen, daß die okzitanisch-französische Sprachgrenze nach und nach, im Zuge der Ausdehnung des Einflusses des französischen Königtums und der Neuorganisation der Kamrunikationslinien, die sich daraus ergab, nach Süden verschoben wurde. Es dürfte sich allerdings in diesen Grenzgebieten inner um Übergangs-Sprachformen gehandelt haben. Wir wollen hier eine sprachwissenschaftliche Charakterisierung des Okzitanischen nicht vornehmen, sie ist von P. Bec, der sich auf die Darstellung von J. Ronjat stützt, in vorbildlicher Weise geleistet worden (vgl. Bec 1963/73, 25-33). Bec zeigt auf, wie stark sich das Okzitanische vcm Französischen unterscheidet und wie ähnlich es den anderen südrcmanischen Sprachen

10 ist. Einmal mehr wird deutlich, wie weit sich das Französische von der gemeinsamen Basis der romanischen Sprachen entfernt hat. Das Okzitanische ist dagegen dem Ausgangspunkt, dem gesprochenen Latein, soweit wir es kennen, recht nahe geblieben. Dies zeigt sich besonders anhand der zahlreichen Gemeinsamkeiten mit einer anderen sehr konservativen Sprache, dem Katalanischen. Man spricht daher häufig von einer dkzitano-rcmanischen Sprachgruppe innerhalb der Rcmania; sie bildet zugleich, sprachlich und geographisch, die Brücke zwischen Iberorcmania, Italorcmania und Gallorcmania. Intern gliedert sich das Ckzitanische in drei große Dialektgruppen: das Süddkzitanische, das Nordokzitanische und das Gaskognische. Die größte und sprachlich konservativste dieser Gruppen ist das Süddkzitanische; sie läßt sich ihrerseits wieder in das Languedokische und das Provenzalische gliedern, die zwei großen Dialekte, die bisher bei der sprachlichen Renaissance die größte Rolle gespielt haben. Im allganeinen betrachtet man als Grenze zwischen Süd- und Nordokzitanisch (dabei verhält sich hier das Gaskognische wie das Südokzitanische) die Südgrenze der Palatalisation der lateinischen Konsonanten A / und /g/ vor /a/: Lat. CANTAT GALLINA

ergibt südokzitanisch canta [kanto] keine Palatalisierung aber nordokzitanisch chanta [t/anto] Palatalisierung ergibt südokzitanisch galina [galino] keine Palatalisierung aber nordokzitanisch jalina [djalino] Palatalisierung

Eine Anzahl anderer sprachlicher Erscheinungen bestätigen diesen Einschnitt zwischen Nord und Süd, sodaß er als Gliederungskriterium verwendbar ist. Das Nordokzitanische gliedert sich in drei hauptsächliche Dialekte, das Limousinische, das Auvergnatische und das Delfinatische oder Alpine (bisweilen wird noch die wenig glückliche Bezeichnung Alpenprovenzalisch dafür verwendet). An der Grenze zum Französischen finden sich darüber hinaus noch übergangsmundarten, deren eindeutige Zuordnung zu einer der beiden Sprachen in der Praxis kaum möglich ist (man bezeichnet diese Gegend, ihrer Form auf der Karte gemäß, als croissant). Die interne Gliederung des Norddkzitanischen und seiner Dialekte ist stark ausgeprägt, wohl nicht zuletzt aufgrund der geographischen Beschaffenheit (Gebirgslandschaften vor allem in der Auvergne und im Dauphine). Das Gaskognische, das schon im Mittelalter als lengatge estranh (Raimbaut de Vaqueiras) bezeichnet worden ist, unterscheidet sich in mehreren wichtigen Zügen von den beiden anderen großen Gruppen (vgl. Baldinger, 1958): Lateinisches F wird zu /h/ (dieses h wird gesprochen, nur vorkonsonantisch ist es verstumrrt)

11. FILIA

ergibt süd.-/rtordok. gaskognisch FRIGIDÜM süd.-/nordok. gaskognisch

filha hilha fred hred

[filo] [hilo] [fred] [red]

Intervokali sches lateinisches -N- fällt FARINA

ergibt süd.-/nordok. gaskognisch

farina harla

[farino] [hario]

Die Zahl der Unterschiede ist auch in Morphologie und Syntax recht groß, so daß man bisweilen das Gaskognische als eigenständige romanische Sprache betrachtet hat. Die Unterschiede hängen mit den unterschiedlichen historischen Entwicklungen zusammen und möglicherweise mit dem besonderen, aquitanischen Substrat des Gaskognischen. Allerdings sind auch die Unterschiede zwischen dem Süddkzitanischen und manchen nordokzitanischen Mundarten bedeutsam. Solange angesichts der Gemeinsamkeiten zwischen dem Gaskognischen und den übrigen Formen des Ckzitanischen die Sprecher in ihrer großen Mehrheit das Gaskognische als eine Form des Ckzitanischen betrachten und auch eine globale sprachliche Analyse, wie sie etwa im Zuge der Erarbeitung des Atlas Linguistique et Ethnographique de la Gasaogne geleistet wurde, dem nicht widerspricht, besteht kein Grund, diese Ausgliederung nachzuvollziehen. Bisher wurden die neueren Wanderungsgebiete der okzitanischsprachigen Bevölkerung innerhalb Frankreichs nie weiter berücksichtigt, da allgemein die rasche Assimilation der Auswanderer angenommen wurde. Das kulturelle, politische und sprachliche Gewicht der aus Okzitanien stannenden Bevölkerung in Groß-Paris, aber auch in Lyon und einigen anderen Städten, läßt eine solche Mißachtung nicht länger zu. 1.3.

Die Sprecher des Ckzitanischen

J. Ponjat konnte vor knapp sechzig Jahren die Zahl der CJczitanischsprecher noch mit zehn Millionen angeben und gewiß sein, daß diese Zahl ungefähr stürmte. Wenn auch damals bereits fast die Gesamtheit der Bevölkerung das Französische mehr oder weniger beherrschte, so konnte dieselbe Feststellung für das Ckzitanische gemacht werden; es war in vielen Fällen noch ein notwendiges Kanmunikationsmittel. Die Entwicklung der letzten Jahrzehnte lief darauf hinaus, daß nach der Ausbreitung des Französischen auf die gesamte Bevölkerung, die ungefähr mit dem 1. Weltkrieg abgeschlossen war, der rasche Abbau der Okzitanischkenntnisse einsetzte, d. h. die nachwachsenden Generationen das Ckzitanische immer weniger und weniger gut lernten. Daher ist es derzeit nicht möglich, eine auch nur annähernd genaue Zahl'

12

FRANKREICH

FRANZÖSISCH SCHWEIZ

Λ Poitiers ?RANKO-l PROVENZALISCi An&puleme r

ATLANTIK

β Lyon iimoges ;IermonT >t.Etienne Limouainisch 'Auvergna-

Bordeai

tisch

gask. hlorir besonders auf.

3.3.2. Das einfache Perfekt (passat simple)·. Beginnen wir wieder im Languedoc, so finden wir dort die folgenden Formen: canteri [kantferi] canteres [kanteres] cantet [kantet] canterem, [kanteren -eriam -eriän] canteretz, [kanterets -eriatz -eriäts] canteron [kanteru] (Graphie des IEO)

cantegui cantegues cantec cantöguem

[kantegi] florigueri florigueres [kant§k] floriguet floriguerem, -eriam canteguetz floriguöretz, -eriatz canteguen florigueron

florigui florigues floric floriguem floriguetz floriguen

Von sentir gibt es drei verschiedene Formenreihen, ebenso wie von batre: senteri, bateri (wie canteri) sentigui, batigueri (wie florigueri) sentigui, bategui (wie florigui) Die Formenreihen auf -gui sind im äußersten Süden, zwischen Toulouse und der Sprachgrenze zum Katalanischen, üblich. Die Situation ist in der Provence etwas einfacher: cantere canteres cante canterian canterias canteron

[kanteRe] [kanteRes] [kante] [kanteRi&n] [kanteRiSs] [kanteRon]

flouriguere flourigueres flourigue flourigerian flouriguerias flourigueron

ebenso sentiguere und bateguere

(Graphie des Felibrige)

46

Dagegen ist der Polymorphismus in der Auvergne und im Limousin relativ stark: chantei chantes, chanteras chantet chanter am, chanterem chanteratz chanteretz chanteron chantören

flori floris

floriguei florigueres

floriguei florigues florigueras florit floriguet floriguet florim floriguerem floriguem florigueram floritz florigueretz floriguetz florigueratz floriron floriguören florigueron

florissei florisses florissdres florisset florissem florisserem florissetz florissöretz florisseron florisseren

Auch von sentir sind alle diese Typen, außer dem letzten, vorhanden; hinzu kaimen: sentei sentes sentet sentem sentetz senteron

batei bates, -eras batet batem, -eram batetz, -eratz bateron

batei batöres batet baterem bateretz bateren

(Graphie des IEO)

In der Gaskogne liegen die folgenden Formen vor: que cantei cantes cante(c) cantero cantetz canten

cantei cantäs cantä cantam cantatz cantän

canteri canteres cantet canterem canteretz canteren

sentii sentis senti(c) sentim sentitz sentin

sentiscoi sentiscös sentiscoc sentiscom sentiscotz sentiscön

sentiri sentires sentit sentirem sentiretz sentiren

die beiden ersten Formen von sentir gelten auch für Klorir. Hinzu kamen: batoi [batüi] baturi batös [batüs] batures batö [batü] batut batom [batüm] batürem batotz [batuts] batüretz baton [batün] baturen (Graphie des IEO)

[bat^ri] [batures] [bat^t] [baterem] [bat^rets] [batjren]

batori batores batot batörem batöretz batoren

[batüri] [batures] [batut] [batürem] [batürets] [batüren]

Zwar ist die Zahl der unterschiedlichen Formen eindrucksvoll, doch hängen fast alle eng miteinander zusanmen bzw. lassen sich aus dem Altokzitanischen erschließen. Außerdem handelt es sich oftmals um Nebenformen, die nur auf begrenztem Gebiet verbreitet sind. Eine derartige dialektale Formenvielfalt stellt, sofern sie nicht durch eine oder wenige überregionale Formen gestützt wird, ein Problem für die weiträvmige Verständigung dar: ein Problem allerdings, das für eine normale Rxmunikationssituation, in der sich viele Okzitanischsprecher immer wieder befinden, nicht unüberwindlich ist. Dieselben Bemerkungen gelten für den Polymorphismus der beiden Hilfsverben

47 estre oder isser und aver. Wir konnten allein für den Indikativ des Präsens von isser bis zu neun Varianten für einzelne Formen finden, wenn sie sich auch meist in zwei oder drei Typen aufgliedern ließen. Allerdings unterscheiden sich diese zahlreichen Forinvarianten nicht von der Situation anderer Sprachen. Ein Blick in die Sprachatlanten genügt, um sich davon zu überzeugen. Die Besonderheit für die Bereiche der Morphologie, die wir bisher betrachtet haben, liegt nicht in der Vielfalt der Formen sondern im Fehlen einer allgemein anerkannten Norm. 3.4.

Syntax

Lange Zeit hat man die okzitanische Syntax wenig beachtet, und noch zu Beginn dieses Jahrhunderts wurde die Behauptung aufgestellt, das Okzitanische habe praktisch keine eigene Syntax, die französischen Regeln ließen sich auch hier anwenden. Diese Behauptung ist inzwischen widerlegt; man hat eine stattliche Anzahl besonderer syntaktischer Züge des Okzitanischen entdeckt. Das Problem, das sich im Zusammenhang mit unseren Überlegungen hier stellt, ist die Frage, ob das Okzitanische eine mehr oder weniger einheitliche Syntax hat oder ob die bisher herausgestellten Züge nur für einzelne Gebiete des Okzitanischen charakteristisch und daher Belege gegen seine sprachliche Einheit sind. Dabei ist natürlich, daß einzelne Eigenschaften bestürmter Dialektgruppen nicht für Schlüsse hinreichen, zumal bekannt ist, daß syntaktische Fakten oft eine weiträumigere Verbreitung haben als andere sprachliche Erscheinungen. Grundsätzlich muß man sich vor Augen halten, daß das Okzitanische seit ca. 400 Jahren eine vor allem gesprochene Sprache ist, das den zunehmenden Verschriftungs- (und damit in mancher Hinsicht Erstarrungs-)Prozeß der europäischen Sprachen kaum nachvollzogen hat. Diese Situation macht sich in den ersten Versuchen moderner wissenschaftlicher Prosa zu Beginn unseres Jahrhunderts bemerkbar. Da den Autoren keine Vorbilder zur Verfügung stehen, imitieren sie entweder die französische wissenschaftliche Prosa oder sie behalten den populären Stil der leichteren Uhterhaltungsprosa bei, der einzigen, die in größerem Umfange verbreitet war. 3.4.1. Nominalsyntax: Wir haben bereits auf die Möglichkeiten des adjektivischen und pronominalen Gebrauches der Demonstrativa hingewiesen. Im Bereich der Possessiva liegen die Dinge ähnlich, da auch hier betonte und unbetonte Formen adjektivisch gebraucht werden können (pronominal nur die betonten). Innerhalb dieses Grund-

48

prinzips haben die einzelnen Dialektgruppen unterschiedliche Präferenzen. Damit stehen sich folgende NBglichkeiten gegenüber: Languedokisch: iron paire/lo mieu paire - lo mieu Provenzalisch: mon paire/lo paire mieu, lo mieu paire - lo mieu Gaskognisch:

mon pair/lo men pair.

Einzelne Dialekte, etwa im Zentralmassiv oder in Nizza, haben die betonte Form verallgemeinert, auch im Gaskognischen ist sie weit verbreitet, während im Provenzalischen fast ausschließlich die unbetonte Form im adjektivischen Gebrauch verwendet wird. Häufig wird im gesamten Sprachraum das Possessivum durch eine Wendung des Typs bestürmter Artikel + Personalpronanen ersetzt. Beispiele: son gos es mört = lo gos Ii es mört [lugüs li§s^m6rt], wörtl.: "der Hund ist ihm gestorben" (lo) nöstre drölle es malaut = avem lo drölle malaut [aben ludrölle maläutj, wörtl.: "wir haben den Jungen krank"

Die Möglichkeit des pronominalen Gebrauchs erstreckt sich auf den bestimmten Artikel: ai pas de möstra, la qu'as vista es de mon paire, wörtl.: "ich habe keine Uhr, die welche du gesehen hast, gehört meinem Vater" ai pas legit lo diari d'iör, ni lo de uei, wörtl.: "ich habe die Zeitung von gestern nicht gelesen, noch die von heute"

Ähnliche Züge lassen sich in der Verwendung der Präposition α zur Einführung eines direkten Objekts finden, wenn es belebt ist (ähnlich wie im Kastilischen): l'estimi mai qu'a tu, wörtl.: "ich schätze ihn mehr als dich"

Zur Angabe eines unbestinmten Teils einer Gesamtmenge kennt das Okzitanische drei Möglichkeiten, die sich in unterschiedlicher Verbreitung finden. Der Häufigkeit und Bedeutung nach sind das: völi de pan (Präp. de + Substantiv) völi pan (Substantiv) völi del pan (de + Artikel + Substantiv)

Die normativen Grammatiken stellen den ersten Typ heraus. 3.4.2. Verbalsyntax:

dem Beobachter wird hier zuerst auffallen, daß das Per-

sonalpronomen in Subjektsfunktion nicht obligatorisch ist, da die Verbalendungen noch als Morpheme funktionieren. Die nur fakultative Setzung des Pronomens

49 läßt die Formen für stilistische Verwendungen frei. Die einzelnen Dialekte machen in unterschiedlicher Weise von dieser IVBglichkeit Gebrauch. Während sie im südlichen Langueddkischen und Gaskognischen ein relativ starkes Mittel zur Kennzeichnving der Qnphase ist, taucht sie in den nordokzitanisehen Dialekten häufiger auf. Der Gebrauchsfrequenz nach, nicht der Funktion gemäß, bilden sie ein Übergangsgebiet zum Französischen. Eine ebenfalls gesamtokzitanische Erscheinung ist die Bewahrung der Konjunktivformen zum Ausdruck des Verbots (wie im klassischen Latein). Folgende Formen stehen sich gegenüber: canta! ("sing!") cantatz! ("singt")

cantes pas! cantetz pas!

("sing nicht!") ("singt nicht!")

Ebenfalls im gesamtokzitanischen Sprachgebiet wird das zusammengesetzte Perfekt des Verbs esser mit es sei· gebildet: soi estat malaut, bzw. soi estada malauta

"ich bin krank gewesen"

Das Passiv kann im gesamten Sprachgebiet mit Hilfe reflexiver Formen zun Ausdruck gebracht werden. Diese Möglichkeit existiert auch im Französischen, im Okzitanischen wird sie, entsprechend dem Gebrauch in den südrcmanischen Sprachen, viel häufiger angewendet. Die eigentlichen Passivformen haben nur eine geringe Gebrauchsfrequenz. Wir finden: lo vin s'es begut dins pauc de temps "der Wein wurde in kurzer Zeit getrunken"

Diese reflexiven Formen können auch dem unbestimmten deutschen Subjekt "man" entsprechen: se ditz I ^ se dison )

causas falsas

"man sagt falsche Dinge"

Em Okzitanischen werden zahlreiche Verben häufig mit dem sogenannten Dativus ethiaus konstruiert. Es handelt sich um den Einschub eines Personalpronanens, das die besondere Beziehung des Subjekts zur Handlung ausdrücken soll. Dabei sind zwei Fälle zu unterscheiden: 1. der reflexive Dativus ethiaus, bei dan ein Reflexivpronomen den Rückbezug der Handlung auf das Subjekt andeuten soll. Häufig treten Redebedeutungen auf, die einen Abschluß der Handlung bedeuten: Peire s'es manjat una poma se dormis dins un recanton me pensi que i cal anar

"Peter hat einen Apfel gegessen" "er schläft in einem Winkel" "ich denke, ich muß dort hingehen"

2. der eigentliche Dativus ethiaus, bei dem ein Personalpronomen den Bezug zum

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Sprecher oder zur angesprochenen Person herstellt. Es handelt sich um einen Zug der gesprochenen Sprache, der in allen Dialekten häufig vorkamt: te me son partits sul pic, wörtl.: "sie sind mir dir auf der Stelle aufgebrochen" te m'i lan9a un cöp de pe, wörtl.: "er gibt ihm dir mir einen Fußtritt"

Eine wichtige Erscheinung ist die Existenz der doppelt zusammengesetzten Tempora. Sie haben im einzelnen unterschiedliche Redebedeutungen, allen gemein ist jedoch der Aufbau einer weiteren ("tertiären", Coseriu) Perspektive in der Vergangenheit. Diese Tempora existieren auch in anderen rananischen Sprachen, meist nur marginal. Oft, wie im Französischen, werden sie von den normativen Grammatiken nicht ohne weiteres akzeptiert. Auffällig ist, daß die Verbreitung der doppelt zusanmengesetzten Zeiten neben dem Ckzitanischen vor allem das Frankoprovenzalische, Französische, Rätoromanische und Oberitalienische erfaßt. Ihre Existenz ist auch in den angrenzenden süddeutschen Mundarten belegt. Bildung: finites Hilfsverb + Perfektpartizip eines Hilfsverbs + Perfektpartizip eines Verbs. Man kann daher die folgenden drei Formenreihen gemäß diesen drei Perspektiven feststellen: Tempus der konj. Verbform

einfache Formen

zusammenges. Formen

doppelt zusammenges. Formen

Ind. Präs. Imp. Perfekt Futur Konditional Konj. Präs. Verg.

canti cantavi canteri cantarai cantariai (que) cante (que) cantesse

ai cantat aviai cantat agueri cantat aurai cantat auriai cantat aja cantat aguesse cantat

ai agut cantat aviai agut cantat agueri agut cantat aurai agut cantat auriai agut cantat aja agut cantat aguesse agut cantat

Für die Verben, die mit esser konstruiert werden, gilt das auch in der teriären Perspektive: Ind. Präs.

veni

soi vengut

soi estat vengut

Die Übersetzung der Formen ins Deutsche wirft Probleme auf: aqueste matin ai agut acabat lo trabalh vers nöu oras, mentre que, aqueste vespre, ai pas encara fait e son eine oras "Heute früh habe ich die Arbeit gegen neun Uhr abgeschlossen (wörtl.: gehabt), wogegen ich sie heute nachmittag noch nicht getan habe und es ist (schon) fünf Ohr (obwohl es fünf Uhr ist)"

51 3.4.3. Satzsyntax: Auf einige Besonderheiten haben wir bereits hingewiesen, vor allem auf die satzeinleitenden Morphems im Gaskognischen. Sie tauchen in den anderen Dialekten nicht auf. Andere syntaktische Züge lassen sich wieder im ganzen okzitanischen Raum beobachten. Das sind u. a.: der Gebrauch der Konjunktion que als allgemeines Morphem zur Einleitung von Nebensätzen, wobei der semantische Inhalt von que (bzw. seiner Kaiposita) offen bleibt und von Fall zu Fall verschieden gedeutet werden kann: dintri que plöu

"ich gehe hinein,

weil es regnet obwohl es regnet wenn es regnet sooft es regnet

Bisweilen werden einzelne Bedeutungsvarianten durch den Kontext ausgeschlossen: me ditz que vendrä völi que m'escotes veni que jogarem

"er sagt mir, daß er kommen werde (er werde k.)" "ich will, daß du mir zuhörst" "komm, damit wir spielen" "komm, wir spielen"

Natürlich liegen lexikalische Möglichkeiten vor, den Sinn zu präzisieren, wenn es dem Sprecher notwendig scheint. Aber keine der anderen Konjunktionen erreicht die Frequenz von que. Aus der weitgehenden Eindeutigkeit der Verbalendungen resultiert eine große Freiheit der Wortstellung im Satz, die zu stilistischen Zwecken verändert werden kann. Erwähnenswert ist der häufige Gebrauch sinngemäßer Konstruktionen, d. h. solcher Konstruktionen, die sich nicht nach den rein formalen graiimatischen Beziehungen richten, sondern in denen der Sprecher sich nach dem realen semantischen Gehalt der Lexeme richtet. Derartige Konstruktionen finden sich etwa in folgenden Fällen: lo teu paire amb lo meu eran fraires "dein Vater und der meine waren Brüder" la mitat quitarän (pi.) la vila lo matin "die Hälfte wird (s.) die Stadt am Morgen verlassen" parli coma fan nöstre mond "ich spreche wie unsere Leute das tun" un fum de gents dintreron (pl.) "eine Menge Menschen trat ein" degun vendrän (pl.) pas "keiner wird kommen"

In diesem Kontext gehört die Frage der Veränderbarkeit der Partizipialform bei den zusammengesetzten Tempora der Verben, die mit aver konstruiert werden. Auch hier spielen inhaltliche Kriterien eine größere Rolle als formale Hegeln. Daher stehen sich die beiden folgenden Satztypen gegenüber: mon vesin a vendut sa böria mon vesin a venduda sa böria

"mein Nachbar hat seinen Hof verkauft"

Im ersten Fall handelt es sich um einen Satz, der die Handlung hervorhebt, während das zweite Beispiel stärker auf das Resultat hinweist.

52

Es zeigt sich, daß die von uns herausgegriffenen syntaktischen Besonderheiten zu einem großen Teil im gesamten okzitanischen Raum vorkamen. Sicher lassen sich nicht alle in gleicher Weise überall feststellen und sicher gibt es auch Gegenbeispiele, im ganzen ist im Bereich der Syntax die Einheitlichkeit des Okzitanischen erstaunlich, zumal wenn man die okzitanische Situation mit derjenigen anderer Sprachen vergleicht, deren Existenz keine sozialen Restriktionen unterworfen ist. 3.5.

Gibt es eine okzitanische Sprache?

Nach dem Gesagten könnte man die Frage für rhetorisch halten. Sie wird jedoch tatsächlich da und dort aufgeworfen - etwa im französischen Unterrichtsministerium. Daher müssen wir die Argumente nochmals wägen. Dabei wird man vor allem zwei Elemente in Rechnung ziehen müssen: die Analyse der sprachlichen Fakten im engeren Sinne und die sozialen Aspekte, welche mit dem tatsächlichen Sprachgebrauch und dem Bewußtsein der Sprecher aufs engste zusaitmenhängen. 3.5.1. Die sprachliche Seite: Wir haben versucht, Argumente für die Einheitlichkeit oder Differenzierung des Okzitanischen anhand zweier Elemente - der Morphologie und der Syntax - zu sairmeln. Wir haben Phonetik und Phonologie kaum berücksichtigt, da sie uns für die gestellte Frage nur wenig auszusagen scheinen: die ersten und jedem Sprecher und Hörer am deutlichsten wahrnehmbaren sprachlichen Differenzierungen sind solche in der Lautung. Man kann daher von vorn herein nur das Auftreten größerer Unterschiede erwarten. Da diese Beobachtung jedoch für jede auf größerem Raum gesprochene Sprache gilt, können wir sie hier nicht als Argument berücksichtigen. Ebenso haben wir das Lexikon außer Acht gelassen, um einen da hier die Zahl der zu betrachtenden Einheiten sehr groß wäre, falls wir zu einem Ergebnis kcrrmen wollten, das eine gewisse Aussagekraft hätte, zum anderen, weil das Lexikon den verschiedensten Einflüssen von außen geöffnet, aber auch regional und lokal stark gegliedert ist. In den beiden betrachteten Bereichen zeigt sich, daß die interne Differenzierung relativ gering ist. Das gilt im großen und ganzen auch für das Gaskognische, das im Bereich der Morphologie bisweilen eigene Wege geht. Diese Abweichungen werden durch Geneinsamkeiten auf anderen Gebieten zwischen Gaskognisch und v. a. Languedokisch wieder ausgeglichen. Im Falle des Nordokzitanischen sind die Unterschiede vielfach phonetischer Natur - sie sind daher für den Hörer im ersten Augenblick umso frappierender. Im ganzen betrachtet zeigen die okzitanischen Dialekte jedoch eine erstaunliche sprachliche Kohärenz. Diese Feststellung könnte durch Vergleiche

53 mit den romanischen Nachbarsprachen, d. h. Katalanisch, Kastilisch, Französisch, Frankoprovenzalisch und Italienisch verfeinert werden. Bisher spricht jedoch auf sprachlicher Ebene nichts dagegen, das Okzitanische als eine eigenständige Einheit im Rahmen der rananischen Sprachen anzusehen. 3.5.2. Die sozialen Aspekte: Hier sind die Dinge komplizierter, denn wir wissen, daß eine einheitliche, allgemein anerkannte Kodifikation des Okzitanischen bis heute nicht existiert. Die Abwesenheit einer solchen deutet darauf hin, daß auch ein gemeinsames panbkzitanisches Bewußtsein der Sprecher nicht, oder nur bei Teilen der Sprachgeireinschaft vorhanden ist. Außerdem ist auch der Karnmxkationsumfang im Okzitanischen durch die Stellung des Französischen und seine ausschließliche Anwendung im offiziellen Bereich beeinträchtigt. Diese sozialen Fakten beeinflussen wieder das Bewußtsein der Sprecher und damit letztlich ihre sprachlichen Fähigkeiten. Mit anderen Worten: wer der Uberzeugung ist, er könne einen Nachbardialekt nicht verstehen, weil es sich um eine andere Sprachform handle, wird diesen Dialekt in der Tat schwer verstehen. Auf diese Art hat die Fragmentierung des Sprachbewußtseins der okzitanischsprachigen Bevölkerung ihre Fähigkeit zur Interkcmprehension beeinträchtigt und damit den Gebrauchsumfang der Sprache verringert und scmit zu ihrer strukturellen Fragmentierung beigetragen. So sehr man also von der objektiven linguistischen Existenz einer okzitanischen Sprache ausgehen kann, so unsicher wird die Antwort, wenn man die sozialen Gegebenheiten mitbetrachtet. Eine "historische Sprache" in dem eingangs definierten Sinne ist es sicher nicht ohne weiteres. Aber nur eine Vielzahl von Mundarten ohne jegliche normative Bemühung ist es auch nicht - allein der Umfang der Kodifizierungsdiskussian verbietet diesen Schluß. So wäre man geneigt, in der Gegenwart von einer potentiellen historischen Sprache zu sprechen. Dabei ist es völlig eindeutig, daß das Okzitanische in der Vergangenheit auf dem Wege war, eine den anderen vergleichbare historische Sprache zu werden. Diese letzten Überlegungen machen die Notwendigkeit einer Betrachtung der Gebrauchsbedingungen und des Gebrauchs umfanges des Ckzitanischen deutlich.

3.6.

Arbeitsaufgaben

1. Versuchen Sie, möglichst viele unterschiedliche Formen des bestimmten Artikels in deutschen Mundarten ausfindig zu machen und sie ihrer Zusammengehörigkeit gemäß zu ordnen.

54 2. Stellen Sie fest, auf wie viele verschiedene Arten und mit welchen sprachlichen Mitteln die Numerus- und Genusdifferenzierung in den aufgeführten Beispielen durchgeführt wird. 3. Stellen Sie fest, welche Morpheme in verschiedenen deutschen Mundarten als Demonstrativa funktionieren. 4. Vergleichen die heutigen Verbalparadigmata und die unregelmäßigen Verben des Okzitanischen mit dem mittelalterlichen Zustand anhand einer Grammatik des Altokzitanischen (Anglade 1921, Schultz-Gora 1906/73, Mok 1977) . Versuchen Sie, die Entwicklung historisch zu erklären. 5. Übersetzen Sie die Satzbeispiele in 3.4.1. in korrektes Französisch und stellen Sie die Unterschiede fest. 6. Suchen Sie in Ihrer Heimatmundart nach ähnlichen expressiven Möglichkeiten wie dem Dativus ethicus. 7. Stellen Sie fest, in welchen deutschen Dialekten doppelt zusammengesetzte Tempora existieren und wie sie gebildet werden. 8. Übersetzen Sie die Satzbeispiele in 3.4.3. ins Französische. Welche Unterschiede lassen sich feststellen?

3.7.

Literatur zu diesem Kapitel

Alibert 1976; Anglade 1921; Ascoli 1873, 1878; Baiion - Lafont 1969; Bayle 1971; Bazalgues 1975/77; Bec 1959, 1963/73, 1973; Bonnaud 1970; Compan 1971; Coseriu 1966, 1968; Dauge 1905; Decomps 1978; Flydal 1952; Grosclaude 1977; Journot 1967; Kremnitz 1974; Martin - Poggio - Barsotti 1971; Miremont 1976; Mok 1977; Ronjat 1930-41; Salvat 1943; Schultz-Gora 1906/73; Teulat 1972, 1976; Tintou 1969/73.

4.

WER SPRICHT HEUTE WANN MIT WEM WORÜBER OKZITANISCH? 1

4.1.

Schwierigkeiten und Bedingtheiten der Forschung

Bevor wir versuchen können, einige Elemente einer Antwort auf die Hauptfrage zu geben, wird es notwendig sein, sich Gedanken über die Möglichkeiten und Grenzen dessen zu machen, was im Rahmen wissenschaftlicher Methoden erfahrbar ist. Erst durch die Bewußtmachung dieser Grenzen gewinnt das Erfahrene seinen wirklichen Wert. Die wichtigsten ißglichkeiten im Rahmen der Erforschung sozialen sprachlichen Verhaltens sind nach wie vor die verschiedenen Formen der Befragung (enquete) und der Beobachtung (observation) . Eine gewisse Bedeutung kennt auch den neist literarischen Zeugnissen und Selbstzeugnissen zu, ganz besonders für Situationen der Vergangenheit.

4.1.1. Die Befragung: über die Gefahren, welche die enquete mit sich bringt, wird in der Sprachwissenschaft seit den ersten großen Sprecherbefragungen, die im Hinblick auf die Erarbeitung der ersten Generation von Sprachatlanten stattfanden (Gillieron-Ednont, 1902-10), geschrieben. Es werden jedoch inner neue Befragungen mit inner feineren Methoden und erweiterten Zielsetzungen durchgeführt. Die Sprachverhaltensforschung hat sich die Erkenntnisse der Dialektologie zunutze machen können, gerade im Hinblick auf die Befragung. Allerdings muß man sich die unterschiedlichen Ziele der Befragungen und ihre Methoden vor Augen führen: die enquete ist sinnvoll und nützlich, wenn der Fragende weiß, was er als Resultat bekamen möchte und was er bekamen kann. So ist es unter gewissen Bedingungen leichter, Befragungen zur Phonetik oder zur Lexikologie durchzuführen, als solche, welche sprachpsychologische oder -soziologische Tatbestände implizieren. Letztlich hängen die Resultate von drei Variablen ab: dem Befrager und der Art, wie die Fragen gestellt werden, dem Befragten und dem Medium, das die Befragung festhält. Es hat sich in allen soziolinguistischen Befragungen der letzten Jahre, wie sie vor allem in den Vereinigten Staaten mit gewaltigem Aufwand durchgeführt werden, gezeigt, daß die Person des Befragenden von größter Bedeutung ist. Neben seinem persönlichen Verhalten spielt seine Sprachbeherrschung und 1

Dieses Kapitel verdankt zahlreiche Anregungen und Fakten der unveröffentlichten Staatsarbeit von Waltraud Rogge, Aspekte der französisch-okzitanischen Diglossie: Ergebnisse einer Schülerbefragung im Departement Lozere, Münster 1979.

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seine Integration in die Sprachgemeinschaft eine Rolle. Nur in seltenen Fällen wird ein Außenstehender "ebenso gute" oder "bessere" Informationen erhalten als ein wenigstens teilweise in die Sprachgemeinschaft integrierter Befrager; dabei handelt es sich um Gesellschaften mit heftigen aber nicht offen zugegebenen Sprachkonflikten. Befragungen über sprachliches Verhalten, vor allem über Interferenz- und Sprachwechselerscheinungen von Befragem, die nicht eine einigermaßen sichere Kompetenz in allen Sprachen haben, die in Kontakt stehen, dürfte man als wenig ertragreich ansehen. Hinzu könnt die Notwendigkeit einer genauen Kenntnis des Milieus, welche allein eine gewisse Kontrolle der Antworten gestattet. Die "Adoptierung" des Befragers durch die Befragten ist die notwendige Voraussetzung für deren Mitarbeit. In den allermeisten Fällen ist die mündliche, direkte Befragung das beste Vorgehen. Praktische Schwierigkeiten setzen ihm jedoch oft Grenzen, so daß in vielen Fällen - oft wider besseres Wissen - schriftlich abgefragt werden muß. Im Nörmalfall geht den Antworten schriftlicher Befragungen jegliche Spontaneität verloren. Aber auch innerhalb der mündlichen Befragung gibt es erhebliche Unterschiede, je nachdem, bb die Antworten mitnotiert werden oder ob ein Tonband läuft oder beides zugleich. Daß auch die Befragten (Zeugen) ganz unterschiedliche Vor- und Nachteile bieten können, ist ein Gemeinplatz unter Dialektologen. Allerdings hängen die Qualitäten von Ziel der Umfrage ab: der berühmte Zeuge, der nur noch einen Zahn besitzt, wird zwar für phonetische und lexikalische Umfragen nicht unbedingt heranzuziehen sein, kann aber ein sehr interessanter Gesprächspartner für Fragen des sprachlichen Verhaltens sein. Vor der Beurteilving der Ergebnisse einer Befragung muß man die Fragen stellen: wer hat wen worüber auf welche Vfeise befragt? Nur dann wird man die Aussagekraft der Resultate einigermaßen gerecht einschätzen können. Eine weitere Frage kennt hinzu: die nach dem Wann? Das gilt nicht nur für dialektologische Untersuchungen, vro oftmals besonders archaische Sprachzustände festgehalten werden sollen, sondern ganz besonders auch für Umfragen zum Sprachverhalten. Das zeigt sich in Teilen des dkzitanischen Sprachgebietes, wo die soziale und politische Bewegung der letzten fünfzehn Jahre das sprachliche Bewußtsein größerer Sprechergruppen beeinflußt hat. Ein Problem, das bisher bei der Betrachtung der Befragung viel zu wenig berücksichtigt wurde, ist das der sozialen Interaktion zwischen Befrager und Befragtem, d. h. zwischen der Wissenschaft und ihrem "Gegenstand". Während in der klassischen Dialektologie der Befragte ein wenig als "Cfojekt" gesehen wird, das sein sprachliches Wissen zur Verfügung stellt, aber nicht am Prozeß der

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Wissensverarbeitung beteiligt ist, verstehen manche Zweige der Sozialwissenschaften und der Soziolinguistik den Befragten als einen Interaktionspartner, der nicht nur sein eigenes Wissen zur Verfügung stellt, sondern auch an der Organisation dieses Wissens beteiligt ist und dem der Wissenschaftler Bericht erstattet. Methodisch, aber auch von Selbstverständnis der Wissenschaft her, erscheint dieser Schritt bedeutsam, denn die Kluft zwischen wissendem Spezialisten und unwissendem Laien wird teilweise geschlossen und Ansätze zu einer sozialen Kontrolle der Wissenschaft werden sichtbar. Derartige Überlegungen gehen von der katalanischen und okzitanischen Sprachwissenschaft aus (Couderc, 1976, 1976a; Bernard6 1979, 1979a).

4.1.2. Die Beobachtung hat gegenüber der Befragung vor allem den Nachteil, keine quantitativ verifizierbaren Aussagen zu gestatten sondern nur Einzelfälle zu betreffen, von denen aus eine Verallgemeinerung mit Risiken verbunden ist. Sie genügt methodischen Ansprüchen in geringerem Umfange. Zudem spielt auch hier die Person des Beobachters eine Polle, ebenso wie die Form seiner Anwesenheit und die Art seiner Aufnahme der Daten. Auf der anderen Seite wird nur die teilnehmende Beobachtung eines seit langem in eine Gemeinschaft integrierten bzw. von ihr akzeptierten Beobachters, deren Resultate nachträglich festgehalten werden, eine minimale Verzerrung des üblichen sprachlichen Verhaltens mit sich bringen. Bereits die Anwesenheit eines Tonbandgerätes kann zu einer erheblichen Formalisierung des sprachlichen (und sozialen) Verhaltens führen.

4.1.3. Daraus wird deutlich, daß der Erfahrbarkeit sprachlichen Verhaltens auf direktem Wege Grenzen gesetzt sind, Grenzen, die nicht zuletzt mit der Einmaligkeit jedes sprachlichen Handlungsaktes zusaitmenhängen. Was kann eine enquSte zum sprachlichen Verhalten an Erkenntnissen vermitteln? In erster Linie Repräsentationen, Darstellungen des sprachlichen Verhaltens, Erklärungen, wie man sich verhält. Die Befragten teilen mit, wie sie glauben oder behaupten, sich zu verhalten. Damit versetzen sie sich selbst in eine Rolle. Die Motive, die zur Beschreibung der Rolle führen, können verschieden sein; nicht an letzter Stelle kcmrrt die Absicht, dem Befragenden das zu geben, was er sucht, d. h. in den meisten Fällen die lokale Sprachform. Die wichtigste Rolle spielt jedoch das Sprachbewußtsein des Befragten. Das bedeutet oftmals, daß Erklärungen über das sprachliche Verhalten und wirkliche sprachliche Praxis im Widerspruch stehen. So ist es nicht selten, okzitanistische Erklärungen auf Französisch zu hören, auch solche zum angeblich zu erstrebenden

58 kollektiven Sprachverhalten usw. Gerade eine Anzahl Befragungen, die im Rahmen des Groupe de Recherche sur la Diglossie Franco-occitane in Montpellier gemacht wurden und in der Zeitschrift Lengas veröffentlicht sind, liefern für diese Widersprüche eindrucksvolle Beispiele. Man darf daraus schließen, daß bei den Sprechern Elemente eines sprachlichen Bewußtseins vorhanden sind, die nicht ohne weiteres miteinander in Übereinstinrnung gebracht werden können, daß aber das tatsächliche sprachliche Verhalten sich letztlich nach der gesellschaftlichen Gesamtlage richtet. D. h. okzitanisches Bewußtsein wird nur metasprachlich verbalisiert und nicht in sprachliche Praxis umgesetzt, solange das Okzitanische im Bewußtsein der Sprecher das patois bleibt. Nur diese Widersprüche erklären das häufige "Abgleiten" ins Französische derjenigen Befragten, die überhaupt eine Befragung auf Qkzitanisch mitzumachen bereit sind. Diese Widersprüche sind weniger offensichtlich bei einigen Befragungen aus Toulouse: allerdings stairmen dort Befrager und Befragte aus demselben Ort und kennen sich seit langen Jahren (Gonzalez 1977, Jagueneau-Valiere 1977), außerdem handelt es sich um lange Gespräche nicht über die Sprache sondern über andere Sachthemen. Es steht außer Zweifel, daß in einer sprachlichen Situation wie der des Ckzitanischen direkte Befragungen zu sprachlichen Themen mehr über ideologische Mcmente in Erfahrung bringen als über das tatsächliche Verhalten, denn sowohl die Weigerung, in der Befragung Ckzitanisch zu sprechen als auch der ostentative Gebrauch des Okzitanischen sind möglicherweise Reaktionen auf die vermuteten Erwartungen des Befragers, so daß Elemente des tatsächlichen gewohnheitsmäßigen sprachlichen Verhaltens nur dort sichtbar werden, wo sie durch die Maschen der Selbstzensur rutschen. Doch wann ist das der Fall? In vieler Hinsicht bekannt die enquete damit eine andere Rolle als ursprünglich gedacht: sie zeigt die Normen auf, denen die Sprecher in ihrem tatsächlichen Verhalten folgen, durch ihre Anlage aber stellt sie diese Normen auch in Frage und spielt eine Rolle nicht nur als Darstellung vorhandener Normen sondern auch als Infragestellung oder Durchbrechimg dieses Schemas beim Befragten. Sie kann bewußtseinsverändernd wirken durch die explizite Formulierung der gelebten und erlebten sprachlichen Konflikte. Lektüre und Interpretation sprachwissenschaftlicher, insbesondere soziolinguistischer Befragungen müssen einiges von ihrer Bedingtheit berücksichtigen, ehe sie ihre eigentliche Aussagekraft deutlich werden lassen. Sicher wird die eigentlich wichtige Aussage nicht inner quantifizierbar sein.

59

4.2.

Einige Resultate aus Umfragen

4.2.1. Die Zahl der veröffentlichten soziolinguistisch orientierten Umfragen zum Gebrauch des Okzitanischen ist nicht groß, zumal etliche von ihnen eine nur unzureichende methodische Basis aufweisen, andere aufgrund der gewählten Methode, nämlich biographisch orientierter Einzelbefragungen, Material zur Verfügung stellen, das kaum Extrapolationen erlaubt. Nur wenige Befragungen stützen sich auf in irgendeiner Weise repräsentative Gruppen, sei es, daß Bewohner gewisser Orte, sei es, daß Angehörige sozialer und professioneller Kategorien befragt wurden (vgl. Kramnitz 1977). Die programmatischen Forderungen bezüglich einer großen Untersuchung des Sprachgebrauchs im Süden Frankreichs, die R. Tafont 1952 erhob, sind bis heute noch nicht annähernd verwirklicht (Lafont 1952). Die wichtigsten Untersuchungen ganzer Sprechergrippen werden dargestellt in: Tabouret-Keller 1962, 1964, Gagin 1975, Valkhoff 1977, 1978, Perez 1978, Schlieben-Lange 1978, Eschmann 1979, Mercier 1979, Rogge 1979. Die wichtigsten EinzeUbefragungen sind veröffentlicht bei: Baudou 1977, Gonzalez 1977, Jagueneau-Valiere 1977, Martin 1977, Pecout 1977, Marconot 1978, Pons-Sauzet 1978, Lafont 1979, 1979a. In einigen wichtigen Punkten stimmen diese Umfragen überein und bestätigen sich, gerade aufgrund ihrer unterschiedlichen und ζ. T. unzureichenden Methoden gegenseitig. Sie wurden in ganz unterschiedlichen Gebieten durchgeführt, alle jedoch in ländlicher oder kleinstädtischer Umgebung, was ihrer Allgemeingültigkeit Grenzen setzt. Wir wollen einige der Ubereinstiirrnungen festhalten: 4.2.2. Die weite Verbreitung der Ckzitanischkenntnisse bei der älteren Generation, vgl. u. a. Valkhoff 1978, Eschmann 1979. Noch heute versteht in vielen Gegenden der weitaus größte Teil der über Sechzigjährigen das Okzitanische, soweit sie auch aus dkzitanisch-sprachigen Gebieten stannen. Diese residuelle Kenntnis beweist, in welchem Umfang das Okzitanische noch nach dem Ersten Weltkrieg eine kcnrnunikative Funktion hatte. Natürlich ninmt der Grad der Ckzitanischkenntnisse in dem Maße zu, in dem man die soziale Stufenleiter hinabsteigt: die besten Ckzitanischkenntnisse finden sich in den untersten sozialen Schichten, mit besonderer Betonung aller landwirtschaftlichen Berufe. Es handelt sich dabei um ein Wissen, das als für den sozialen Aufstieg wertlos empfunden wurde. Die unterschiedlichen Befragungsmodalitäten gestatten es nicht, die Ergebnisse in Zahlen auszudrücken. 4.2.3. Die Unterschiede im Gebrauch des Okzitanischen zwischen weiblichen und

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männlichen Sprechern. Während die älteren Untersuchungen noch bis ins 20. Jh. hinein auf den sprachlichen Konservativismus der weiblichen Sprecher hinweisen urxl den starken Gebrauch des Okzitanischen, zeigen alle Untersuchungen der letzten Jahrzehnte das gegenteilige Bild: weibliche Sprecher geben seltener Ckzitanischkenntnisse zu und benützen vor allem die Sprache, den Angaben zufolge, viel weniger. So stellt die kleine Umfrage von Kirsch die folgenden Verhältnisse fest: "In 68,8% aller Fälle gebraucht der Vater seinen Dialekt im Umgang mit den Nachbarn, den Großeltern und anderen alten Leuten [...] 58,7% der Mütter verstehen und sprechen das Okzitanische, machen aber selten oder niemals von diesem Können Gebrauch." (Kirsch 1966, 161-162)

Die Veränderung des sprachlichen Verhaltens der Frauen dürfte mit ihrer sozialen Situation zusarrmenhängen: während sie lange Zeit aufgrund der geringeren Alphabetisierung und der geringeren Beweglichkeit weniger Gelegenheit hatten, das Französische zu lernen als die Männer, hat sich die Situation im Zuge der Verwirklichimg der allgemeinen Schulpflicht geändert. Jetzt ist es gerade ihre abhängige soziale Situation, die sie dazu treibt, durch Überanpassung an das französische Vorbild ihr Prestige zu erhöhen und möglichkerweise auch den sozialen Status. In dem Maße, in dem das Okzitanische zu einer Sprache archaischer ländlicher Strukturen geworden ist, in denen die Rolle der Frau besonders bedrückend ist, gewinnt diese Hypothese an Glaubwürdigkeit. Dagegen haben sich in der männlichen Gesellschaft eine Anzahl dkzitanischer Manente erhalten, die als Gelegenheiten des sozialen Zusanmenhaltes von Bedeutung sind: Jagd, Wirtshaus, Sportplatz, gewisse landwirtschaftliche Tätigkeiten, vor allem auf Märkten. Diese Kulminationspunkte des sozialen Lebens sichern dem Okzitanischen einen Platz in der männlichen Gesellschaft, begründen aber zugleich die Zurückhaltung der Frauen. 4.2.4. Ein weiteres entscheidendes Mcment ist das sprachliche Verhalten den Kindern gegenüber. Spätestens seit Einführung der Schulpflicht gilt es als eherne Regel, kein patois mit den Kindern zu sprechen, damit deren französische Sprachkaipetenz nicht negativ beeinflußt werde. Aufgrund dieses Verhaltens kannte in Extremfällen eine weitgehende Sprach-losigkeit zwischen den Generationen entstehen. Dieses Verhalten, das dem Wunsch entspringt, den Kindern die Möglichkeiten zum sozialen Aufstieg nicht zu nehmen, scheint erst in den letzten Jahren nachzulassen. Wenigstens geben die Utafragen Gagin 1975 und Rogge 1979 Hinweise darauf, während Valkhoff (1978, 1112) die alte Praxis noch deutlich zeigt: nach Valkhoffs Ergebnissen verwenden nur 19% der Okzitanisch-

61 Sprecher die Sprache mit (ihren) Kindern. Bei Gagin (1975, 10) werden dagegen auf die Frage: "Doit-on parier provenijal aux enfants?" folgende Antworten gegeben: Oui Non Ne sait pas

305 94 22

72,5% 22,3% 5,2%

Sicher sind die Antworten von der Fragestellung beeinflußt. Jedoch zeigt auch die Antwort auf die Frage: "[vos parents] parlent-ils l'occitan avec vous?" bei Rogge (1979, 68ff.) eine Abschwächung der Vorurteile, denn von den das Okzitanische beherrschenden Eltern sprechen inmerhin 43% die Sprache mit ihren Kindern. Mit anderen Worten: man wird die Intentionen der Antworten bei Gagin für ehrlich halten können, wenn man davon ausgeht, daß solche Absichtserklärungen nur zum Teil von Taten gefolgt warden. Rogge hat S. 30 die berufliche Verteilung der Eltern aufgeschlüsselt, die, obwohl selbst des Qkzitanisehen mächtig, sich weigern, es im Gespräch mit ihren Kindern zu verwenden. Dabei stellt sie fest: Arbeiter/Angestellte Geistig Tätige Landwirte Geschäftsleute/ Handwerker

50% bei einem Anteil an den Befragten von 48,1% 25% 14,8% 16% 23,5% 9%

8,6%

Alle Umfragen machen eine starke Abnahme der aktiven und passiven Sprachkenntnisse in Okzitanisch mit abnehmendem Lebensalter deutlich, allerdings hatten schon Brun 1927 und Boutiere 1936 ähnliche Feststellungen gemacht. Die Situation erklärt sich heute daher, daß nur noch vereinzelt Kinder Okzitanisch als erste Sprache erlernen, die meisten jedoch als zweite in dem Maße, in dem sie nach und nach in die erwachsene Gesellschaft hineinwachsen. Rogge 1979 hat abgefragt, welche Sprache als erste erlernt wurde und in 100% der Fälle Französisch als Antwort erhalten. Tabouret-Keller (1964, 615) konnte feststellen, daß 15% der Schüler im Alter von 8/9 Jahren Okzitanisch sprechen, jedoch 40% derer, die 13 Jahre und älter sind. Damit dürfte ein erster Schub des Erwerbs von Okzitanisch-Kenntnissen in der Schulzeit liegen. Die Vermutung liegt nahe, daß das heute noch der Fall ist. Gagin (1975, 5) stellt bei 64% passive und bei 54% der von ihm befragten Schüler aktive Okzitanischkenntnisse fest (davon 50% "un peu" und nur 4% "suffisarrment"). Die ausführlichsten und interessantesten Antworten zu diesem Kcxnplex legt Rogge (1979, 71) vor. Sie stellt fest:

62 Jugendlicher versteht Okzitanisch 66% versteht nicht 34% spricht " fließend 14% ein wenig 44% gar nicht 42%

Daneben stellt sie die Kontrollfrage, ob die Jugendlichen "patois" sprechen; dabei erhält sie positive Antworten negative Antworten keine Antwort

43% 44% 13%

wobei die jeweiligen Antwortgruppen beider Fragen nicht völlig übereinstinmen. Es läßt sich nicht genau unterscheiden, inwieweit die Unterschiede auf Unsicherheit der Befragten oder auf Ablehnung der zweiten Frage zurückzuführen sind. Interessant ist auch die Feststellung, daß 69% der männlichen Befragten, aber nur 52% der weiblichen angaben, Okzitanisch zu sprechen. 4.2.5. Ein schwieriges Problem stellt die sprachliche Selbsteinschätzung dar. Die Antworten sind auf diesem Gebiet sehr widersprüchlich, wenn man etwa die Selbsteinschätzung der aktiven Sprachkenntnisse bei Gagin und Rogge (s. o.) und bei Eschmann 1979 vergleicht, der bei der Sprechfähigkeit folgende Selbsteinschätzung notiert: eher gut bis sehr gut eher schlecht sehr schlecht bzw. gar nicht

44% 33% 22%

Das Hauptproblem dürfte hier eine Definition der einzelnen Kenntnisstufen sein, die aber ohne einen längeren Kcrmentar nicht möglich wäre und nicht gegeben wird. Eine Möglichkeit zur Feststellung des Kenntnisstandes, die bisher noch nicht ausgenützt vrorden ist, wäre der Versuch, die schulischen Resultate zu vergleichen und gewisse Arbeitsformen (wie etwa den freien Bericht o. ä.) als Anhaltspunkt für die aktiven Ckzitanischkenntnisse zu nehmen - am besten in mündlicher Form. 4.2.6. Von großer Bedeutung wären Antworten auf die Fragen nach den eventuellen Gesprächspartnern, den Gelegenheiten und damit den Gesprächsthemen. Unglücklicherweise sind diese Größen besonders der Korrektur durch den Befragten unterworfen, so daß nur Befragung + Beobachtung einigermaßen sichere Grundlagen für eine Beurteilung geben könnten. Allerdings stinmen die vorliegenden Antworten in ziemlich hohem Maße überein, was ihnen eine erhöhte Glaubwürdigkeit verleiht.

63 Valkhoff 1978, 1112 notiert die folgenden Gesprächspartner: Eltern Ehegatten Kinder Gleichaltrige Jüngere Nachbarn Andere

42% 31% 19% 81% 21%

der Okzitanischsprecher

49% 33%

Rogge (1979, 103ff.) hält fest (allerdings muß iran sich vor Augen halten, daß in ihrem Fall die Befragten ausschließlich Schüler sind, während Valkhoffs Befragung alle Altersgruppen umfaßte): Gebrauch in der Familie im Freundeskreis in der Schule mit jungen Leuten mit älteren Leuten im dörflichen Bereich in der Stadt (Mende)

66% 42% 32% 22% 88% 66% 10%

der Okzitanischsprecher

Diese Aufstellungen (sie ließen sich durch weitere ergänzen) machen den ländlichen Gebrauchskreis und das relativ hohe Alter der Menschen deutlich, die häufiger Okzitanisch sprechen. Der Stadt-Land-Gegensatz wird ergänzt durch die soziale Charakterisierung der Sprecher. Auf die Frage: "Croyez-vous qu'il y a une repartition sociale entre 1' anploi du franyais et de l'occitan?" antworten bei Rogge (1979, 130ff.): ja nein keine Antwort

55% 23% 22%

der Befragten

4.2.7. Wichtig sind die geäußerten Einstellungen, lassen sich daraus doch mögliche Entwicklungslinien für die Zukunft ablesen. Darunter zählen Auskünfte wie diese (Perez 1978, 93) nach dem Charakter des Okzitanisehen: ein einfacher Dialekt ("dialecte") ein "patois" eine lebende Sprache ohne Antwort

17% 40,5% 42% 2%

der Befragten

Ein ähnlicher Eindruck entsteht bei Rogge (1979, 143), wo zwar keine entsprechende Frage gestellt wurde (damit auch keine Antwort suggeriert), sondern wo nur das Vorkamen der Begriffe Sprache, Dialekt, patois und Jargon ausgezählt ist; Rogge stellt fest, daß mehr als 50% der Befragten das Okzitanische als eigene Sprache ansehen. Der Eindruck verstärkt sich noch, wenn in der Folge gefragt wird, ob das Okzitanische für die Befragten Syrrbol einer beson-

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deren Kultur sei und 63% der Befragten darauf affirmativ antworten, 21% negativ und 16% die Antwort schuldig bleiben. Das Bewußtsein hat sich vor allem bei jüngeren Sprechern deutlich verändert. So erfolgt auf die Frage: "Pensezvous que le fait de parier occitan soit vulgaire? dfepassfe? du snobisme? naturel?

0,6% 10,5% 4,5% 84,5%

bei Perez 1978, 93 eine eindeutige Antwort. Der Abbau der Komplexe kann heute überall festgestellt werden: die Haltung der Sprecher hat sich entkrampft. Allerdings muß man sich zugleich vor Augen halten, daß derzeit das Sprachenproblem in Frankreich als gelöst gilt: die Kenntnis des Französischen ist inzwischen praktisch allgemein und eine Veränderung der staatlichen Sprachpolitik scheint nur langsam und in Nuancen denkbar, falls sich dafür die entsprechenden politischen Mehrheiten finden sollten. Daher muß man annehmen, daß eine einschneidende Änderung der Sprachpolitik, wie sie von nicht wenigen Sprechern gefordert wird, nur für die wenigsten wirklich vorstellbar ist. Allerdings ist eine Öffnung nicht zu leugnen, zumal die Entwicklung der allgemeinen Lebensbedingungen einer großen Zahl von Sprechern die Wünschbarkeit tiefgreifender Veränderungen deutlicher erscheinen läßt. Die Bewußtseinsveränderung zeigt sich auch darin, daß alle Antworten bei Valkhoff 1978 ein mögliches Verschwinden des Okzitanischen bedauern. Ähnlich wünschen nicht weniger als 92% der von Rogge Befragten, das Okzitanische solle weiterhin gesprochen werden (dagegen sprechen sich 6% aus). Ein ähnliches Bild gibt die Einstellung der Befragten zum stärkeren öffentlichen Gebrauch des Ckzitanischen. So fordern bei Perez (1978, 93) 80% der Befragten okzitanischsprachige Sendungen im Femsehen (gegen 17% negative Antworten), bei Gagin (1975, 5) liegt die Zahl der Befürworter noch bei 69% (27% negative Antworten). In diesem Zusanmenhang wird vielfach das nur nach Minuten bemessene Angebot an Radiosendungen auf Ckzitanisch kritisiert, oft werden auch die Sendungen selbst einer deutlichen Kritik unterzogen, da sie zu wenig an der Aktualität orientiert seien und zu stark die folkloristische Rolle verkörpern, die den Sprachen der Minderheiten in Frankreich zugedacht ist. Die Sprecher lehnen den Exotismus ab, den offizielle Stellen den Sprachen zudenken. Hand in Hand mit der Entkrampfung des sprachlichen Selbstbewußtseins geht eine bessere Information über das Gebiet und die Grenzen des Ckzitanischen, seine Geschichte usw. Es ist nicht überraschend, daß die jüngeren und jüngsten Befragten die präzisesten Vorstellungen haben: wenn der Schulunterricht auch

65 nicht alle Wünsche erfüllt, eine nicht zu unterschätzende informatorische und bewußtseinsbildende Rolle katmt ihm zu. Er macht die weitgehende Abwesenheit des Okzitanischen im öffentlichen Leben deutlich. Obwohl einige Städte in den letzten Jahren dazu übergegangen sind, Straßenschilder zweisprachig aufzustellen, ofcwohl bei dem einen oder anderen öffentlichen Ereignis auch Okzitanisch gesprochen wird, haben alle diese Kundgebungen bisher den Charakter des Vereinzelten und Demonstrativen. Es wird sich zeigen, ob sie selbstverständlicher werden oder ihren Ausnahmewärt behalten. 4.2.8. Fügen wir einige Angaben zur Kulturstatistik an, die indirekte Aussagekraft haben. Dazu gehören die Teilnehmer an den Qkzitanischprüfungen im Rahmen der Reifeprüfung, die seit 1952 stattfinden (vgl. Kremnitz 1974, 1978, 1980). Zu diesen Prüfungen meldeten sich an Kandidaten insgesamt: 1952 1962 1972

236 977 4666 g^jj

1975 1978 1979

9021 8971

Dabei muß berücksichtigt werden, daß 1970 ein ministerieller Erlaß die okzitanische Sprachprüfung aufgewertet hat und sie seither wie alle anderen Teilprüfungen für das Bestehen mitentscheidend ist. Das war 1952-70 nicht der Fall.

Ein Indiz für das kulturelle Leben kann die Buchproduktion sein. Um weniger von zufälligen Schwankungen abhängig zu sein, erveist es sich als günstig, den Durchschnitt mehrerer Jahre zu berechnen. Danach sind an Titeln in okzitanischer Sprache jährlich im Durchschnitt erschienen (ohne Periodika): 1919-23 1924-28 1929-33 1934-38 1939-43 1944-48 1949-53 1954-58 1959-63 1964-68 1969-73

29,4 Titel 45,2 II 46,0 II 35,4 II 23,6 II 14,8 • I 20,0 II 23,2 II 29,6 II 36,0 II 67,8 Μ

Weitere Zahlen können bislang noch nicht ermittelt werden. Diese Aufstellung ist in Vergleich zu setzen mit denen anderer Sprachgemeinschaften ähnlicher Größe oder ähnlicher äußerer Lebensbedingungen. So betrug die katalanische Titelproduktion: 1927 1936 1944 1950

660 865 5 43

Titel Titel " "

66 1960 1970 1977

183 Titel 493 " 1021 "

(Zahlen nach Reixach-Güell 1978, 83)

Im Stichjahr 1972 wurden produziert (Vergleichszahlen nach UNESCO-Statistiken:

Bücher in

Okzitanisch Katalanisch Singhalesisch Tamil Estnisch Georgisch

77 444 607 208 1507 1667

Bulgarien Chile Griechenland Neuseeland Peru

3978 997 2621 1215 858

(nach Reixach-Güell) Sri Lanka

Diese wenigen Vergleichszahlen haben vielleicht die größte Aussagekraft in bezug auf die kulturelle Situation des Okzitanischen. Ein ähnliches Bild zeigt ein Blick auf die ckzitanische Presseorgane: das Okzitanische kann sich nur in bescheidenem Umfang in formellen Situationen behaupten, ein Großteil der Periodika ist zwei- oder mehrsprachig. 1972 waren von 38 erfaßten Zeitschriften nur 8 einsprachig okzitanisch (Kremnitz 1973, 289). Es existierten keine täglich oder wöchentlich erscheinenden Blätter. Daran hat sich seither nichts geändert (Margnes 1979). 4.2.9. Manche Aussagen aus den Umfragen geben unfreiwillige Auskünfte über die Situation und ihre Grenzen. So stellte Rogge (1979, 165) die Frage, ob es sinnvoll und nützlich sei, Unterrichtsstunden auf Okzitanisch abzuhalten, d. h. das Okzitanische als Unterrichtssprache zu verwenden. Darauf erfolgten 74% positive Antworten, 21% negative, 5% der Befragten gaben keine Antwort. Diesen Antworten zufolge wäre ein großer Teil der Betroffenen zu einer entscheidenden Funktiansausweitung der Sprache bereit. Allerdings faßte der größte Teil der Befragten die Frage falsch auf: "Der größte Teil der Jugendlichen verstand trotz der unserer Ansicht nach klaren Fragestellung nicht, daß von der Möglichkeit der Verwendung der okzitanischen Sprache als Unterrichtssprache die Rede war - nicht zuletzt ein Nachweis der absoluten Verinnerlichung bestehender Werturteile, wenn nicht Vorurteile - sondern, daß es um die Legitimation des Okzitanisch-Unterrichts ginge. Dieser Irrtum läßt [...] darauf schließen, welch relativ geringe Bedeutung der Jugendliche der okzitanischen Sprache [...] immer noch beimißt, und daß die diglossischen Mechanismen und Ideologien noch in voller Funktion sind. Dies wird besonders dann klar, wenn von rein theoretischen Überlegungen abgehend mögliche Wege der praktischen Realisierung angesprochen werden." (Rogge 1979, 166-167)

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Bezeichnenderweise haben die 21%, die negativ antworteten, die Frage im ursprünglichen Sinne verstanden. Nur bei bewußten Okzitanisten, die kulturelle und politische Forderungen verbinden, kann überhaupt von der Vorstellbarkeit einer tatsächlich zweisprachigen Gesellschaft ausgegangen werden. Ihre Zahl ist noch nicht so groß, daß sie in entscheidender und dauerhafter Weise auf die öffentliche Msinung einwirken könnten. 4.3.

Fragezeichen

Alle Angaben können nicht darüber hinwegtäuschen, daß sie über das "wirkliche Sprachverhalten" sehr viel weniger mitteilen als sie an Fragen offenlassen. Nur durch teilweise Übereinstimmungen und unabhängige Beobachtungen kann man vermuten, daß sich das wirkliche Verhalten mit den Antworten in Verbindung bringen läßt. Dieselben Reserven müssen für die Beurteilung der Einstellungen zur Sprache gelten: es wird niemals ganz deutlich, inwiefern die Erwartungshaltung des Fragenden bzw. die Vermutung der Befragten darüber nicht nur die Antworten sondern sogar das sprachliche Verhalten beeinflussen. Charakteristisch dafür ist die folgende Feststellung: "So zeigte sich, daß meine Anwesenheit und die Tatsache, daß ich mich für das Provenzalische interessierte, nach kurzer Zeit viele Leute dazu brachte, die Sprache häufiger zu verwenden, als sie es bisher getan hatten, und häufiger über die Sprache zu diskutieren." (Eschmann 1979, 59)

Es scheint in vielen Fällen eine gewisse Disponibilität zugunsten des Qkzitanischen zu bestehen, welche aber, um zu einem entsprechenden Sprachverhalten zu führen, noch günstiger Begleitumstände bedarf: eines zusätzlichen Anreizes oder einer Aufforderung. Gerade diese Tatsache, daß die okzitanische Kcmpetenz meist in Reserve gehalten wird, nacht es dem Fremden schwer, überhaupt auf Qkzitanischsprecher zu stoßen. Erst wenn das Interesse für das Okzitanische feststeht, sind die meisten Qkzitanischsprecher bereit, ihre Sprache vor Unbekannten zu verwanden. Die Zurückhaltung hängt u. a. damit zusammen, daß für viele Sprecher das Okzitanische die Sprache der Kindheit und Jugend, mithin der im allgemeinen besonnten Vergangenheit ist. Es stellt damit ein Stück Intimität dar, das nicht ohne weiteres preisgegeben wird. Diese Feststellung läßt sich insbesondere für betagtere Sprecher machen. Bei ihnen ist der Unglaube an die Zukixift des Okzitan i.schen besonders stark ausgeprägt (die Verbindung Okzitanisch - Tradition wird in allen Umfragen als ein wichtiges Element der Sprachbewahrung deutlich). Im Zusamnenhang damit steht die Beobachtung, daß die

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meisten Sprecher wohl über eine Nonnvorstellung des Okzitanischen verfügen, daß sich die Nonn, auf die sie verweisen, jedoch inner an anderer Stelle befindet. Diese Haltung ist schon alt, bereits Montaigne schreibt in seinen Essais: "II y a bien au-dessus de nous, vers les montaignes, un Gascon que je treuve singulierement beau, sec, bref, signifiant, et ä la verite un langage masle et militaire plus qu'autre que j'entende; autant nerveux, puissant et pertinant, comme le Francois est gratieus, delicat et abondant." (Essais 11,17)

Diese Situierung im ailleurs verrät die Unsicherheit der Sprecher in bezug auf ihre Sprache, eine Unsicherheit, die mit der sozialen Mißachtung durch die französischsprachigen Institutionen zu erklären ist, die zugleich die Sympathie für die Sprache ausdrückt. Allerdings erhält sie einen Beigeschmack der Unwirklichkeit, welcher für die Fortexistenz der Sprache als Kcmnunikationsmittel ein ernstes Hindernis bedeutet. Die abstrakte Sympathie für das Ckzitanische wird ausgeglichen durch die praktischen Notwendigkeiten des täglichen Lebens, die alle eine möglichst vollständige Beherrschung des Französischen erfordern. Das gilt insbesondere für den Bereich der Arbeit. Oft ist die Möglichkeit, Arbeit zu finden mit der Verpflichtung zum Verlassen der Heimat verbunden. Die Verknüpfung ist der heutigen Jugend bewußt, und wann auch ein großer Teil von ihr im heimatlichen Gebiet bleiben möchte, so ist klar, daß dieser Wunsch nur für einen Teil erfüllbar ist. Wenn aber das Französische schon an Ort und Stelle für die Ausbildung notwendig ist, im Norden Frankreichs wird das Ckzitanische zunächst völlig funktionslos. Für viele jüngere Sprecher ist so die Rolle, die das Ckzitanische im eigenen Leben spielen kann, nur schwer zu bestirrmen und für mehr als einen erscheint es als Luxus, den man sich nur in begrenzten Maße leisten kann. Die Gleichung Okzitanisch = Vergangenheit und Französisch = Zukunft und soziales Fortkamen ist auf die Dauer eines der für das Ckzitanische gefährlichsten Überbleibsel des einstigen Patois-Bewußtseins. Vor diesem Hintergrund sind die oben zitierten Umfrageergebnisse zu interpretieren. 4.4.

Arbeitsaufgaben

1. Vergleichen Sie das Verhältnis Zahl der Sprecher : Titelproduktion in bezug auf die angeführten Sprachgemeinschaften und Staaten. Welche Schlüsse erscheinen Ihnen möglich? 2. Weshalb und in welcher Hinsicht sind die okzitanischen Zahlen nur bedingt mit denen der anderen Sprachen vergleichbar?

69 3. Wieviele okzitanische Titel pro Jahr wären zu erwarten, wenn Sprecher-Titel-Relation der anderen Sprachen, etwa des Estnischen, Georgischen, Katalanischen oder Singhalesischen entsprechen würde? Welche methodischen Probleme wirft dieser angenommene Vergleich auf? Welche Aussagen kann man überhaupt hinsichtlich der Vergleichbarkeit der angegebenen Zahlen machen? 4. Lesen Sie einige soziolinguistische Umfragen und überlegen Sie, welchen methodischen Beschränkungen sie unterliegen und welche Folgen das für die Resultate und ihre Verallgemeinerbarkeit hat. Weisen die Arbeiten auf diese Beschränkungen hin?

4.5.

Literatur zu diesem Kapitel

Baudou 1977; Bernardo 1979, 1979a; Boutiere 1936; Brun 1927; Companys 1956/58; Dexet 1978; Eschmann 1979; Gagin 1975; Gonzalez 1977; Jagueneau - Valit5re 1977; Kirsch 1966; Kremnitz 1973, 1974, 1977, 1978, 1980; Lafont 1952, 1979; Marconot 1978; Margnes 1979; Martin 1977; Mercier 1979; Merle 1977; P6cout 1977; Perez 1978; Pons - Sauzet 1978; Reixach - Güell 1978; Rogge 1979; Schlieben-Lange 1978; Tabouret-Keller 1962, 1964; Valkhoff 1977, 1978.

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BEDEUTUNG UND GRENZEN DER OKZITANISCHEN RENAISSANCE

5.1.

Die wichtigsten historischen Etappen der Renaissance

Wir haben im Zusammenhang mit der Darstellung der Etappen der teilweisen Substitution des Qkzitanischen (Kap. 2) darauf hingewiesen, daß Niedergang der Literatur und Rückgang des Sprachgebrauches zeitlich nicht Hand in Hand gehen: der Zusarmenbruch der Trobadorlyrik hat keinen Einfluß auf den Gebrauch des Ckzitanischen und bildet hauptsächlich für den Literaturwissenschaftler einen Einschnitt, nur in beschränktem Maße für den Sprachhistoriker. Eher aufzeigbar ist ein Zusammenhang zwischen Einschränkung des Sprachgebrauches in der Gesellschaft und erhöhter literarischer Anstrengung: so ist die literarische Renaissance des 16. Jh. ausdrücklich als Verteidigung der einheimischen Sprache gedacht, wie etwa Peir de Garros (um 1525-1581), der berühmteste Vertreter dieser Renaissance in der Gaskogne formuliert: "De mi vos n'eratz pas estat en vaganau sollicitat a prene la causa damnada de nosta lenga mespresada ... per l'aunor deu pais sostengue e per sa dignitat mantengue." (Epistola 3)

Ihr seid von mir nicht vergeblich aufgefordert worden, Euch der verlorenen Sache unserer verachteten Sprache anzunehmen ... um die Ehre des Landes zu erhalten und um seine Würde zu bewahren

Eine ähnliche Beziehung scheint sich in der Renaissance des 19. Jh. zu ergeben. Zwar wurden das ganze 17. und 18. Jh. über literarische Texte auf Ckzitanisch geschrieben, eine renaissentistische Bewegung zeichnet sich jedoch erst mit der Revolutionszeit ab, als erneut der soziale Anwendungsbereich der Sprache sich einzuengen beginnt. In dieser Zeit kamen eine ganze Anzahl Elemente zusanmen, welche die Bewußtwerdung des Qkzitanischen Problems begünstigten. 5.1.1. Beginn in der Romantik: entscheidenden Einfluß auf die geistigen Grundlagen hatte das romantische Gedankengut, das sich in verstärkten literarischen und philologischen Interessen für jene Epochen und Literaturen äußerte, die nicht dem klassischen Kanon angehörten. Hierzu gehörten die Wiederentdeckung der Trobadorliteratur, das neuerwachte Interesse an der mittelalterlichen Geschichte und die allmähliche Ablösung der klassischen und nach-

71 klassischen Formen. Als Vorläufer ist im ausgehenden 18. Jh. die Trobadormode zu werten. Man darf annehmen, daß diese kulturellen und literarischen Strömungen die Ausdrucksformen der beginnenden Renaissance beeinflußt haben, kaum jedoch ihre Existenz und Lebhaftigkeit. Diese dürften vielmehr auf die grundlegenden mteriellen und sozialen Veränderungen zurückzuführen sein, die sich damals andeuteten. Wir können hier keine Sozialgeschichte der französischen Revolution liefern, sondern nur einige Elemente betrachten, die auf die sprachliche Situation im Süden Einfluß hatten. Bereits in der zweiten Hälfte des 18. Jh. muß es in den Städten eine schmale Bevölkerungsgruppe gegeben haben, die des Französischen im mündlichen Verkehr mächtig war und begann, es auch tatsächlich zu sprechen. Man wird diese Gruppe bei den Juristen im weitesten Sinne zu suchen haben, beim Klerus, vor allem beim Bürgertum, das aufgrund des zunehmenden Unfanges der staatlichen Verwaltung, der neuen Produktionsbedingungen usw. in zunehmendem Maße des Lesens und Schreibens mächtig sein maßte. In jener Zeit läßt sich eine Zunahme der Zahl der Schulen und Ausbildungsstätten feststellen. Zudem fand das Bürgertum vielfach seine Ideen bei den Aufklärern literarisch formuliert vor. Die zweisprachigen Gruppen dürften zum größten Teil des Lesens und Schreibens mächtig gewesen sein. Auf dan flachen Land war dagegen die Zahl der Zweisprachigen gering. Die Anhänger der Renaissance konnten praktisch nur aus diesen Schichten stanmen, denn das Bekenntnis zum Ckzitanischen, zumal in historischer Form, setzte die Kenntnis des Französischen, des einzigen Vehikels der damals modernen Bildung voraus. Die Ausdehnung der Französischkenntnisse läßt sich an einer Anzahl von Veröffentlichungen zur Verbesserung des Französischen feststellen, deren berühmteste Desgrouais (Pseudonym), Les gasoonismes oorriges, Toulouse 1766 ist, das in mehreren Auflagen erschien; alle dkzitanischen Züge werden als Gasoonismes bezeichnet, da das Gaskognische während der Regierungszeit Heinrichs IV seinen Einzug in Paris gehalten hatte und bis zu einem gewissen Grade zum Inbegriff des Ckzitanischen geworden war. R. Lafont und Chr. Anatole haben in ihrer Literaturgeschichte (1970-71) die erste Phase der Renaissance Vinter dem Titel La Renaissance inorganis&e dargestellt und so in glücklicher Weise die vielfältig miteinander verschlungenen literarischen und wissenschaftlichen Aktivitäten gekennzeichnet. Allerdings wird man kaum annehmen können, daß die Angehörigen der Bourgeoisie, die gerade mit vieler Mühe das Okzitanische abgelegt haben, um ihren sozialen Aufstieg zu fördern, sich nun sofort für das Studiim der Sprache interessieren, die sie verworfen haben. Ein solches Interesse ist eher in Kreisen zu erwarten, deren Zweisprachigkeit schon länger bestand und deren soziales Prestige von

72 ihrem sprachlichen Verhalten unabhängig war: das war im Adel der Fall, der mit sprachlichen Erinnerungen solche an seinen einstigen politischen Einfluß verband, der im Zuge des absolutistischen Staatsaufbaus verlorengegangen war. Das Bewußtsein einer selbständigen politischen Vergangenheit war vor allem in der Provence und in der Gaskogne lebendig (einzelne Gemeinden im 1620 annektierten Bearn führten das Französische als Verwaltungssprache bis 1789 nicht ein). So kann es nicht verwundern, daß E. Ripert in seiner noch irrmer grundlegenden Darstellung der Renaissance bis 1860 (1918) als ersten von drei Strängen der Renaissance eine gelehrte Bewegung feststellt. Die Trdbadore wurden wiederentdeckt. Eine Anzahl Gelehrter, von denen einige dan provenzalischen Adel angehörten, beschäftigte sich mit ihnen. 1774 gab der Abbe Millot anonym die erste Trobadoredition heraus, die sich auf das Material stützte, das J. B. Lacume de Sainte Palaye in jahrzehntelanger Arbeit gesarrmelt hatte. Andere Editionen, darunter die wichtigsten von Faynouard und Rochegude, folgten. Neben den rein literarisch-philologischen Interessen machten sich bald auch historische bemerkbar, die in den ersten Jahrzehnten des 19. Jh. zu zahlreichen Darstellungen führten: vor allem A. Thierry (1795-1856), C. Fauriel (1772-1844) und Mary-Lafon (1812-1884) sollten hier starken Einfluß auf das Publikum ausüben. Diese Gelehrten legten durch ihre Arbeiten den Grundstein für die Wiederentdeckung der okzitanischen Vergangenheit durch einen Teil der Okzitanen. Eine Sonderstellung nimmt Antoine Fabre d'Olivet (1767-1825) ein, da er die sprachliche Einheit nicht nur in der Vergangenheit sieht sondern auch in der Gegenwart und ein Konzept für die Wiedereinsetzung des Okzitanischen als allgemeiner Gebrauchssprache aufstellt. Einige seiner Beobachtungen behalten noch heute ihr Interesse: er hat die geographische und historische Einheit der Sprache festgestellt und sucht nach einem übergreifenden Namen (OaaitaniqueΛ Oaaitarvie); er sieht im Okzitanischen eine dem Französischen grundsätzlich gleichwertige Sprache und lehnt die Bezeichnung patois ab; schließlich versucht er, eine vom Französischen unabhängige Sprachkodifikation zu erarbeiten, die er als unerläßlich für die Verwirklichung seiner Ziele ansieht. Nicht zu Unrecht konnte Lafont (1970a) feststellen, daß er als erster das moderne ökzitanische Bewußtsein verkörpere. Fabres Tragik lag darin, daß sein Hauptwerk La Langue d'Oo Retablie dans ses prinaipes oonstitutifs, das er ab 1817 verfaßte, bis heute Manuskript geblieben ist und keine Wirkung erzielen konnte.

73 Auch die Arbeiten des Arztes und Philologen S. J. Hannorat (1786-1850) hatten nur teilweise Erfolg: zwar ist sein umfangreiches Wörterbuch zur Grundlage fast aller späteren lexikographischen Versuche geworden, aber Alter und Krankheit hinderten ihn an der Verwirklichung seiner Pläne, eine vollständige moderne Kodifikation des Ckzitanischen auszuarbeiten. Die Beispiele dieser beiden Gelehrten zeigen, daß schon in dieser frühen Phase der wissenschaftlichen Aufarbeitung die Erkenntnis Hand in Hand geht mit Tendenzen zur Spracherhaltung, daß Wissenschaft und Engagement sich zu verbinden begannen. Als zweiten Strang der Renaissancebewsgung bezeichnet Ripert die Arbeiterdichter, die sich in den großen Städten zu Beginn des 19. Jh. in Arbeiterbildungsvereinen u. ä. finden. Hier ist viel, meist heute kann noch lesbare, Dichtung entstanden; die eigentliche Bedeutung der Bewegung liegt darin, daß sie größere Bevölkerungsgruppen erreichte und jenes Echo fand, das den Gelehrten vielfach fehlte. Es handelt sich weniger im ein literarisch als sozial bedeutsames Phänomen. Als drittes Element nennt Ripert die dialektalen Dichter im engeren Sinne, die es inner gegeben hatte und die eine beträchtliche Resonanz im Publikun hatten. Neben gelehrten, oft aristokratischen Dichtern, welche idealistische Literatur hervorbrachten (vor allem als Zeitvertreib oder Spielerei) standen Dichter niedriger sozialer Herkunft, die sich als Rezitatoren ein Publikum verschafften. Diese Autoren zeigen bisweilen realistische Züge. Das bedeutendste Beispiel ist Jacques Βοέ, genannt Jasmin (1798-1864), der populärste Dichter des okzitanischen Sprachraumes, ein Barbier aus Agen, der überall seine Gedichte mit ungeheurem Erfolg vortrug. In mancher Hinsicht ein Gegenstück war der Marseiller Chanson-Autor, Sänger und Prosaist Victor Gelii (1806-1885), der die sozialen Probleme der Kleinbürger und Arbeiter zum Ausdruck brachte. Beiden war gemein, daß sie sich als die letzten ansahen, die auf Okzitanisch dichteten. Diesen volkstümlichen Dichtern geht ein wirkliches okzitanisches Sprachbewußtsein ab, sie verwenden Bezeichnungen wie patois oder idiome und haben nur eine unklare Vorstellung von okzitanischen Sprachgebiet. Dabei ist die Sprache kurzfristig keineswegs in ihrer Existenz bedroht; die Dichter beobachten nur die rasch zunehmende Französischkarpetenz in der Bevölkerung, vor allem in ihrer eigenen sozialen Schicht. Daher läßt sich vielfach ein nostalgischer Zug feststellen. Ihr Auftreten bedeutet auch, daß die sozialen Schichten, die zuletzt der französischsprachigen Akkulturation unterlegen haben, diese zum Teil überwinden bzw. nicht akzeptieren. Trotz ihrer Zwiespältigkeiten bilden sie eine Chance für das Okzitanische, denn sie stehen mitten in den Probierten der sozialen Unterschichten, die noch in der Hauptsache

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okzitanisch sprechen. Das vorübergehende Entstehen nichtliterarischer Zeitschriften zeigt diese Möglichkeit auf. Der ttnfang der schriftlichen Textproduktion läßt Probleme wie das der sprachlichen Kodifizierung, der Sprachregister usw. in das Bewußtsein treten. Die kodifikatorische Anarchie wird ebenso als Schwäche empfunden wie der Mangel an Organisation. 5.1.2. Ein erster Organisationsversuch: der Felibrige (1854-1914). Am 21. Mai 1854 versarrmelten sich sieben junge Dichter auf dem Schloßgut Font-Segugne bei Chäteauneuf-de-Gadagne (Provence) und gründeten eine literarische Vereinigung namens Felibrige (über die Etymologie dieses Wortes existieren mehrere Theorien). Die wichtigsten Mitglieder waren Frederic Mistral (1830-1914), Joseph Roumanille (1818-1891) und Theodore Aubanel (1829-1886). Die Gruppe einigte sich auf die folgenden Grundlagen: Wiederherstellung des provenzalischen Selbstbewußtseins und "Restauration der natürlichen und historischen Sprache des Landes" (Mistral 1906, 388) durch die Schaffung literarisch hochwertiger Dichtung. Die Gruppe blieb in den ersten Jahren eine unter anderen, erst der Erfolg von Mistrals Epos Mireio (1859) sorgte für eine Sonderstellung des Felibrige. Allerdings blieben die geographische Beschränkung auf die Provence und der Versuch, ein bestirrirttes graphisches System für alle Mitglieder verbindlich zu machen, Hindernisse für eine weitere Ausbreitung. Die Gruppe hat sich erst 1876 institutionalisiert; man ist versucht, die Frage aufzuwerfen, ob dieser Schritt nicht das Eingeständnis des Scheiterns der ursprünglichen Konzeption war: in der Tat nimmt der wirkliche Einfluß des Felibrige auf die Renaissance in dem Maße ab, in dem Institutionalisierung und Formalismus zunehmen. Mistral bleibt bis zu seinem Tode 1914 die bestürmende Gestalt, neben ihm hat vor allem der katholisch-konservative Roumanille Einfluß, während der bedeutende Autor und liberale Katholik Aubanel schon 1879 ausgeschaltet wird. In der ersten Periode des Felibrige (1854-76) lassen sich mehrere Phasen feststellen; ihnen allen ist die politische Zielsetzung gemeinsam. Mistral und seine Freunde haben die Absicht, politische Grundlagen für die Wiedergeburt der Provence und des Provenzalischen (wie sie sagen) zu schaffen. Mistrals zweites Epos Calendau (1868) trägt provenzalische nationalistische Züge. Es erscheint im Augenblick engster Verbundenheit mit der katalanischen Renaissance, die während der ersten Spanischen Republik (1868-73) politische Zielsetzungen bekam. Ihr Scheitern, vor allem der deutsch-französische Krieg 1870-71 und das Auftreten der Ccrrrnune in Paris und mehreren dkzitanischen Städten (Marseille, Toulouse, Narbonne) beeinflussen Mistrals politisches Verhalten nachdrücklich:

75 der Felibrige schließt sich mehr und mehr der politischen Fechten an, zumal er auf dem Boden des Katholizismus steht. Diese Orientierung macht sich bereits in der gesamtronanischen ("lateinischen") Phase des Felibrige bemerkbar, die in den siebziger Jahren zu lebhaften Beziehungen mit Italien und Rumänien führt. Dabei gehen die konkreten politischen Ziele nehr und mehr verloren. Die Republikaner im Felibrige stennen sich ohne Erfolg gegen diese Entwicklung, zimal sie selbst die Republik als einen Fortschritt gegenüber den vorherigen Regierungsformen ansehen. Hinzu kaimt, daß eine soziale Analyse der gesellschaftlichen und sprachlichen Situation außerhalb des Interessenbereichs des Felibrige lag. In dieser Hinsicht ist der Anfang von Mireio bezeichnend: "Car cantan que p£r vautre, ο pastre e gdnt di mas" ("Car nous ne chantons que pour vos, δ pStres et habitants des mas" 1,2)

Die angeblichen Zielgruppen waren die noch irritier einsprachigen Bewohner des flachen Landes. Sie wurden idyllisch gesehen, ihre Probleme, die Veränderungen der Gesellschaft durch die zunehmende Industrialisierung ließ man außer Acht. So beschränkte sich die Aktien des Felibrige weitgehend auf die Idealisierung der Vergangenheit mit ihren sozialen Ungerechtigkeiten, die Probleme der Gegenwart blieben ausgeklammert. Für die Cberschicht blieb der Gebrauch des Okzitanischen eine angenehme Zerstreuung. Allenfalls konnte sie ein geographisches Zusamrengehörigkeitsgefühl schaffen und die sozialen Auseinandersetzungen teilweise überbrücken, überspitzt formuliert führte das Klasseninteresse der Mittelschicht zur partiellen Allianz mit der Staatsmacht. Die Hoffnung auf eine stärker ökzitanisierte Gesellschaft war aufgrund dieser Positionen kaum zu begründen. Die politischen Zielsetzungen des Felibrige verschwinden nach 1876 ganz, er wird zu einer Dichtergesellschaft, die zwar nach und nach den ganzen okzitanischen Sprachraum umfaßt (zu Anfang gehören ihm auch Katalanen an), aber letztlich sogar außerstande ist, kohärente sprachliche Forderungen aufzustellen, zimal mit der geographischen Ausbreitung der Kodifikationsstreit innerhalb des Verbandes aufbricht. Sämtliche politischen Initiativen finden fortan außerhalb des Verbandes statt, um den Minimalkonsens nicht zu gefährden. Daher bleiben sie ohne Erfolg, db es sich um die Declaration des filibres federalistes von 22. 2. 1892 oder die Erklärung des Comite d'Action des Revendicatione nationales du Midi ven 1922 handelt. Auch die Winzerrevolte im Languedoc vollzieht sich 1907 ohne den Felibrige. Damit war es dem Felibrige bis Mistrals ltd (1914) weder gelungen, die Einengung des sozialen Gebrauchs des Okzitanischen einzudännen noch die

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Herbeiführung eines Konsensus über die Sprachkodifikation zu erreichen. Die Infragestellung der politischen Strukturen des französischen Staates war aufgegeben worden: neben Separatisten und Regionalisten waren auch politische Zentralisten Mitglieder. Der Frage, welche Rolle die Sprache in der Schule spielen sollte, wurde nur geringe Bedeutung beigemessen. 5.1.3. Zögernde Neuansätze: der Okzitanismus bis 1968. Anstöße zur Überwindung dieser politischen Untätigkeit sollten vor allem aus anderen Dialektgebieten kamen. Seit ca. 1875 ist die Graphie wieder umstritten, auch die Bezeichnung Provenzalisch für die Sprache stößt auf zunehmenden Widerstand. Hinter diesen Widersprüchen verbirgt sich eine andere Sprachkonzeption. Am deutlichsten vertreten sie zwei languedokische Mitglieder: Antonin Perbosc (1861-1944) und Prosper Estieu (1860-1939). Sie legen großen Wert auf den sozialen Gebrauch der Sprache, sehen jedoch als seine Voraussetzung die Einheit der Kodifikation an (beide waren lange als Lehrer tätig). Ihre Positionen lassen einen gewissen Nationalismus erkennen: "pensam qu'al desus dels parlars popularis e de la literatura popularia cal edificar la lenga nacionala d'Occitania, la granda literatura occitana." (Perbosc 1904, 117)

Die Literatursprache ist für sie nicht von der gesprochenen Alltagssprache zu trennen, und beide haben inner wieder auf den Platz des Okzitanischen im Schulwesen hingewiesen. Die Sprachpolitik beginnt, einen entscheidenden Platz einzunehmen. Im Hinblick auf die Kodifikation können Perbosc und Estieu als Vorläufer von Lois Alibert (1884-1959) angesehen werden. Die Jahre nach dem ersten Weltkrieg bringen das ansatzweise Entstehen eines politischen Ckzitanismus mit sich. Als eines der Zentren entpuppt sich Toulouse, wo seit 1923 die Zeitschrift Oa im Bruch mit dem Felibrige erscheint; sie legt großen Nachdruck auf die Verbindungen zu Katalonien und versucht, aus den Erfolgen des politischen Katalanismus Rückschlüsse zu ziehen. Oa ist der Ausdruck eines modernen bürgerlichen Nationalismus, der die staatlichen Strukturen der Dritten Republik in Frage stellt und eine Autoncmie anstrebt, die der Kataloniens in der zweiten spanischen Republik 1931-39 nahekarmt. Seit Anfang der dreißiger Jahre unterstützt Oa die kodifikatorischen Bemühungen Aliberts, 1944/45 bereitet der Mitherausgeber von Oa, Ismael Girard (1898-1976) die Gründving des Institut d'Estudis Oocitans vor. Die Ziele des Kreises um Oa wurden nur teilweise verwirklicht, da die Grundlagen für das Gelingen der katalanischen Renaissance, der Rückhalt in der van staatlichen Zentrum unabhängigen Bourgeoisie fehlte.

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Andere politische Ansätze wurden in Montpellier sichtbar, vro die Gruppe Novel Lengadoa Anfänge eines politischen Programms formulierte. Diese Gruppe junger Felibres griff wie die Erklärung von 1892 auf die Ziele des jungen Mistral zurück. Sie stand unter dem Einfluß von P. Azema (1891-1967), der einen politischen Felibrige forderte. Ähnliche föderalistische Gruppierungen existierten auch in anderen Gegenden. Besondere Bedeutung gewann die Gruppe um Ch. Camproux (geb. 1908), der in seiner Zeitschrift Ocoitania für ein autonomes Qkzitanien innerhalb des französischen Staatsverbandes eintrat. Er wurde zum Mitgründer der ersten politischen Partei, des Partit Prouvengau, dessen Entwicklung durch den Kriegsbeginn 1939 vorzeitig unterbrochen wurde. Auch in der politischen Rechten gab es okzitanistische Überlegungen. Sie stanmten aus Kreisen, die der Action Franyaise des Felibres Ch. Maurras (1868-1952) nahestanden. Kristallisationsfiguren waren die gaskognische Dichterin Filadelfe de Gerde (Claude Duclos, 1871-1952) und der Dcnherr Joseph Salvat (1889-1972). Eine ckzitanische Linke existierte noch nicht; allerdings war die kaimunistische Partei den okzitanischen Forderungen auf kulturellem Gebiet sehr aufgeschlossen, auch manche politische Forderungen ließen sich mit ihren Zielen vereinigen. Der Krieg 1939-45 zerstörte eine Anzahl von Versuchen, das okzitanische Problem nicht nur als literarisches und sprachliches zu verstehen, sondern auch als wirtschaftliches und politisches. Die Spaltung in zwei Lager, einem auf Seiten Potains und einem im Urrkreis der Resistance, hat auch die Ckzitanisten getroffen. Hinzu kamen die Versuche der Deutschen, den Autoncmismus der Bretonen und Elsässer für ihre Zwecke auszunützen und darauf das Mißtrauen der Pariser Zentralregierung gegenüber jeglichen autoncmistischen und regionalistischen Bestrebungen. Die Konsequenz daraus ist die Beschränkung des 1945 gegründeten IEO auf kulturelle Aktionen und die vorläufige Abwesenheit politischer Zielsetzungen. Diese Selbstbeschränkung wird noch in einer Erklärung vcm 9.3. 1952 deutlich: "Ce que nous d&fendons est une culture francpaise d'expression occitane, legitim&e par 1'existence d'un bilinguisme populaire de fait en Pays d'Oc, ainsi que l'enseignement de cette culture et de la langue qui lui sert de support. [...] I 1 Institut d 1 Etudes Occitanes, organisme para-universitaire n& de la liberation et reconnu d'utilite publique depuis lors, ne saurait defendre dans son action culturelle que des positions communes ä tout le peuple de France, et les d&fend effectivement." (Oc, no. 16, April 1952, 47-48)

Die Ansätze zu politischen Alternativen haben kein Echo (Lafont 1974). Den einzigen meßbaren Fortschritt bildet das Gesetz vcm 11. 1. 1951 (Loi Deixonne), das den freiwilligen Unterricht des Bretonischen, Baskischen, Katalanischen

78 und Ökzitanischen an den höheren Schulen sowie die Mäglichkeit einer freiwilligen Prüfung im Rahmen der Reifeprüfung vorsieht. Es bildet noch heute die Grundlage des Ckzitanischunterrichts (zum Text vgl. Kremnitz 1974, 436-437) Es kamt nur nach schweren Kämpfen zustande und wird von den Schulverwaltungen jahrelang sabotiert. Seine Schwäche liegt darin, daß es den Sprachunterricht nur für die höheren Schulen vorsieht, nicht aber für die Grundschule, scmit werden die Minderheitensprachen zum Luxus für die Gebildeten, ihr Wert als soziales Karmunikationsmittel wird nicht anerkannt. Erst im Jahre 1962 katmt es zu einem Versuch, die okzitanische Frage wieder politisch zu verstehen. Anlaß dazu bildet ein Streik in den Kohlengruben von Decazeville (Ck. La Sala), die als unrentabel geschlossen werden sollen. Der Streik führt zur Solidarisierung weiter Teile des Südens, da die Bedrohung der örtlichen Arbeitsplätze exemplarisch deutlich wird. Der Streik endet mit einer Niederlage, eine seiner Folgen ist jedoch die Gründung des Comite Occitan d'Etudes et d'Action (CQEA), das neben der Analyse der wirtschaftlichen und politischen Situation auf Seiten der französischen Linken handeln will. Das OQEA erbringt zwei neue Elemente der Analyse und einen Lösungsversuch: danach ist die okzitanische Bevölkerung Opfer eines internen Kolonialismus, der trotz politischer Gleichberechtigung den Süden einer Kolonie des Nordens gleichsetzt. Der ökzitanischen Bevölkerung sind scmit politisch und wirtschaftlich die Möglichkeiten zur Selbstbestimnung gencnmen. Außerdem unterliegt sie einer sprachlichen und kulturellen Entfremdung, d. h. sie läßt sich nicht nur nach und nach ihrer Sprache berauben, sondern ihrer gesamten kulturellen und historischen Identität - nicht zuletzt des Bewußtseins der eigenen Verschiedenheit von Norden. Diese Analysen, die von Robert Lafont (geb. 1923) in mehreren Büchern veröffentlicht wurden, fanden in weiten Kreisen Südfrankreichs lebhaftes Echo (wie auch bei zahlreichen anderen Minderheiten Europas), stießen aber auf erbitterten Widerstand der Regierungskreise. Damit waren theoretische Grundlagen für einen politischen Ckzitanismus gelegt, der zum ersten Male seit langem zu einem Machtfaktor werden konnte. Die von CQEA vorgeschlagene Lösung wurde als Regionalismus bezeichnet: auf der Ebene der Region (die anders definiert wurde als die derzeit existierenden Programmregionen) sollte ein Pouvoir regional als politische Instanz gebildet werden. Die Positionen Lafonts und des CQEA zeigen, daß der politische Ckzitanismus sich fortan als ein Teil der Linken versteht. Dadurch wird ein Gegensatz zu einer partikularistischen rechten Tradition in Frankreich aufgebaut.

5.1.4. Der zeitgenössische Ckzitanismus seit 1968: die Analysen Lafonts erschienen rechtzeitig zur Mairevolte 1968. Die Maiereignisse bildeten denn auch

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für die Aufnahme seiner Thesen einen entscheidenden Katalysator. Denn in dieser Periode stellen alle Minderheitengebiete das Problem der ungleichen Entwicklung innerhalb Frankreichs fest, übereil 1 kamt es zu Demonstrationen gegen den französischen Zentralismus. Lafont wird zum Sprecher aller Bewegungen. Der Erfolg zeigt sich zunächst in einer Vervielfachung der okzitanischen politischen Organisationen und Publikationen, dann aber auch im zunehmenden Interesse der französischen Parteien an den Problemen der "Regionen". Der zahlenmäßige Erfolg der Bewegung läßt sich auf allen Ebenen ablesen. Allerdings lahmen sich viele Gruppierungen nach kurzer Zeit gegenseitig, da sie neben der Gegnerschaft zu konkurrierenden okzitanischen Organisationen oft den gemeinsamen Gegensatz zum französischen Zentralismus vergessen. Auch die größte, die 1974 entstandene WAP (Volem Viure Al Pais = Wir Wollen Im Lande Leben), konnte nicht zu einer politisch bedeutsamen Bewegung werden, obwohl örtliche Wahlerfolge zeigen, daß der politische Okzitanismus für die Bevölkerung glaubwürdig geworden ist. Daher ist die Wirkung auf die öffentliche Meinung weiterhin das bedeutendere Element: die autoncmistischen Ihesen haben eine so breite Aufnahme bei der Bevölkerung gefunden, daß alle größeren Parteien ihnen Rechnung tragen müssen. Am deutlichsten ist diese Breitenwirkung heute im Bereich der Linken, wo Sozialistische und Kcmnunistische Partei seit langem im die Verwirklichung der kulturellen Forderungen des Okzitanismus wetteifern. Aufgrund der Übermachtstellung der Linken im Süden haben sich auf lokaler und regionaler Ebene zahlreiche Reformen durchsetzen lassen. Dazu gehören die Einrichtung einer Bibliotiaa d'Oooitania in Beziers, der okzitanischen Sonmeruniversität in Nimes sowie verschiedener okzitanischer Satmerschulen. Außerdem stehen lokale und regionale Instanzen dem Ausbau des Okzitanischunterrichts positiv gegenüber. Zu einem Teil vrerden die politischen Analysen übemcmren, so daß der Gedanke eines pouvoir regional oder gar einer Autonomie in der politischen Diskussion ist. Die wirtschaftliche Benachteiligung des Südens wird von fast allen Parteien anerkannt. Allerdings ist die Unterstützung der autoncmistischen Forderungen durch bislang zentralistische französische Parteien bei gleichzeitigem Fehlen starker okzitanischer Parteien nicht ohne Gefahren, denn selbst falls die Linke ihre Reformvorhaben eines Tages durchführen sollte, wären wiederum nicht die Okzitanen die Entscheidungsinstanz. An dieser Stelle zeigen sich nach über einem Jahrzehnt die Grenzen der Renaissance. Eine weitere Frage ist, ob und in welcher Weise das kulturelle Angebot

80 der Renaissance von der Bevölkerung angencnmen wird. Hier lassen sich bisher drei Beobachtungen formulieren: die Zahl der okzitanischen Sprachkurse hat sich vervielfacht, ein Erfolg, der als ermutigend angesehen werden darf, wenn auch nur schmale Schichten der Bevölkerung berührt werden. Den zweiten Erfolgsmesser bilden die Theatertruppen, allen voran das Teatve de la Carriera ("Straßentheater") in Arles, die seit zehn Jahren das Land mit ihren meist selbst verfaßten Stücken durchziehen und große Publikumserfolge haben. Im allgemeinen bringen diese Truppen zweisprachige Stücke auf die Bühne, die eine gewisse Beherrschung des Okzitanischen erfordern. Ihre Erfolge sind bedeutsam, weil sie ein Publikum anziehen, das gewöhnlich nicht in Theatersälen zu finden ist. Den größten Erfolg des Okzitanismus stellt zweifellos das Chanson dar, das sich seit der Mitte der sechziger Jahre entwickelt hat und dank vieler tausend Auftritte zu einem Kristallisationspurikt des okzitanischen Bewußtseins geworden ist. Die Breitenwirkung des Dichters und Sängers G. Marti (geb. 1940) kann nur mit der eines Jasmin im vergangenen Jahrhundert verglichen werden. Alle drei Beobachtungen zusammen erlauben die Folgerung, daß sprachliche Minderwertigkeitsgefühle und Komplexe in diesen zehn Jahren abgebaut worden sind. Insofern bedingen politische und sprachliche Aktion sich gegenseitig. 5.2.

Ein Streitpunkt: die Kodifikation

Wir haben darauf hingewiesen, daß vielfach die politischen Auseinandersetzungen innerhalb der Renaissance in zwei Problemkreisen zum Ausdruck katmen: dem der Bezeichnung der Sprache und dem der Kodifikation. Wir wollen kurz die Auseinandersetzungen um die Kodifikation betrachten, da sie uns hohe allgemeine Aussagekraft zu besitzen scheinen (Kremnitz 1974, 1979a). 5.2.1. Als sprachliche Kodifikation bezeichnen wir die Fixierimg einer Sprachform als verbindlich oder empfohlen anhand normativer Vförterbücher, Granmatiken usw. Im Normalfall liegt einer Kodifikation eine präskriptive Norm zugrunde, d. h. der Konsens einer Sprachgemeinschaft darüber, welche sprachlichen Ausdrucks formen in unterschiedlichen Kcmrtunikationss ituationen als angemessen enpfunden werden. Dieser Konsens bezieht sich auf alle Bereiche der Sprache: Phonetik, Granrnatik, Lexikon und Orthographie. Wir wollen dabei die Realität nicht aus den Augen lassen: der Konsens ist weitgehend Fiktion, da die meisten Grammatiken das Werk einzelner sind, die ihr spezifisches Sprachund Gesellschaftsbewußtsei_n mit einbringen und scmit inner nur Teile des sehr komplexen normativen Geflechts beschreiben, im Normalfall jene, die ihrer Meinung nach hohes soziales Prestige genießen. Inmerhin werden diese Fixierun-

81 gen in Sprachgemeinschaften mit dauernder Unterstützung eines staatlichen Apparates von großen Teilen der Gesellschaft akzeptiert und auch in gewissen Abständen revidiert. Meist verstehen sich die normativen Gramtatiker mehr als Protokollanten des gesellschaftlichen Konsens und seiner Veränderungen; dadurch wird die Distorsion verringert. Man wird im Hinblick auf das Okzitanische kaum von einer solchen Norm sprechen können, denn seit Jahrhunderten hat ein sozialer Konsens durch intensive Kcmnunikation sich nur teilweise ausdrücken können, spätestens seit der Einführung der allgemeinen Schulpflicht und der Verbannung des Okzitanischen aus dem öffentlichen Leben kann er überhaupt nicht mehr hergestellt werden. Somit unterliegen die okzitanischen Granrnatiker noch weniger der Kontrolle der Gesellschaft, sie müssen bewußt eine "neue" Kodifikation schaffen, in der Hoffnung, daß sie als Norm von den Sprechern angenommen wird. Die Arbeit des Kodifikators wird dadurch erschwert. Die Auseinandersetzungen zwischen den Anhängern der verschiedenen Kodifikationen sind auf diesem Hintergrund zu sehen. Nach dem geographischen Geltungsbereich kann man zwischen drei Gnppen von Kodifikationen unterscheiden: 1. Als Lokalismus kann man die Grundhaltung von Kodifikationen bezeichnen, die nur einzelne Orte umfassen sollen. In diesem Falle werden die Differenzen zwischen örtlichen Sprachformen als bedeutend und nicht auf einen einzelnen Typ reduzierbar betrachtet, daneben wird die Notwendigkeit überörtlicher Kcrrmunikation als unerheblich angesehen; 2. als Dialektalismus wäre die Kodifizierung auf der Grundlage eines regionalen Dialektes zu bezeichnen. Dabei wird eine Sprache auf eine Anzahl hauptsächlicher Ausdrucksformen reduziert, deren Unterschiede als nicht ohne weiteres aufhebbar angesehen werden (der Dialektalismus ist dann bewußt, wann der Kodifikator seine Kodifikation nur als Teilkodifikation sieht, er ist unbewußt, wenn der Kodifikator seinen Dialekt als eigenständige Sprache ansieht - wobei ein subjektives Mcnent sich nie ausschalten läßt); 3. Unitarismus liegt vor, wenn eine Kodifikation für den gesamten Bereich einer historischen Sprache gelten soll. Dabei kann man unterscheiden zwischen natürlichem Unitarismus, d. h. der Beförderung einer lokalen oder dialektalen Sprachform zur kodifizierten Sprache, und dem synthetischen Unitarismus, d. h. der Erarbeitung einer Kodifikation unter Berücksichtigung verschiedener natürlicher Sprachformen. Im allgemeinen setzen unitarische Kodifikationen eine umfassende Kcninunikationsfunktion der betreffenden Sprache voraus. Jede Kodifikation geht auch von ideologischen Prämissen aus. Dazu gehören Vorstellungen

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über das Sprachgebiet, die Sprachgemeinschaft, die sozialen Funktionen der Sprache, das Bewußtsein der Sprecher, über die Verwandtschaft oder Zuneigung zu anderen Sprach- und Kulturgebieten usw. Alle diese Größen, die das sprachliche Verhalten der Sprecher beeinflussen, werden dort besonders bedeutsam, vro die Durchsetzung einer Kodifikation nicht mit Hilfe staatlicher Stellen erreicht werden kann. 5.2.2. Die Geschichte der okzitanischen Renaissance läßt sich u. a. als eine Geschichte kodifikatorischer Auseinandersetzungen verstehen, als ein Ringen unterschiedlicher Konzeptionen über die Funktion des Okzitanischen miteinander. Dabei lassen sich die historischen Etappen der Renaissance weitgehend mit denen der Kodifikation in Übereinstinntung bringen. 5.2.2.1. Die erste Periode bis zum Auftreten des Felibrige ist durch ein anarchisches Nebeneinander der unterschiedlichsten Konzeptionen gekennzeichnet, vrabei ldkalistische und dialektale Vorschläge breiten Raum einnehmen. Die Diskussion spitzt sich auf die Frage phonetische oder etymologische Ausrichtung der Graphie zu; als phonetisch wird die weitgehende Übernahme französischer Graphiekonventionen bezeichnet, während die etymologischen Tendenzen auch Elemente der traditionellen okzitanischen Graphie übernehmen. Nur die Überlegungen Fabre d'Olivets und Honnorats gehen über diese Ebene hinaus. Man muß sich vor Augen heilten, daß die frühen Kodifikatoren nur über die Kodifizierung der Schrift, nicht über die der Sprache nachdenken.

5.2.2.2. Die Gründung des Felibrige setzt jahrelangen orthographischen Auseinandersetzungen zwischen Mistral und Roumanille ein Ende. Xn dem Kcmprcmiß von 1854 setzt Roumanille weithin sein phonetisch ausgerichtetes System durch. Seither ist diese Kodifikation praktisch nicht mehr verändert worden. Es handelt sich im eine dialektale Kodifikation, die für die Provence bestürmt ist. Die Einheit des Okzitanischen wird kaum hervorgeheben, die Sprache gewöhnlich als Provenzalisch bezeichnet. Sprachliche Grundlage ist die unterrhcnische Mundart; sie zeichnet sich durch starke sprachliche Neuerungstendenzen aus und unterscheidet sich auch ven den benachbarten provenzalischen Mundarten deutlich. Die Graphie benützt weitgehend Grapheme und Konventionen des Französischen, Morphologie und Wörtschatz beruhen ebenfalls auf unterrhonischer Grundlage, die Syntax fand lange Zeit nur geringe Beachtung. Dieser Kodifikaticnsversuch war für Teile der Provence durchaus vorteilhaft, sein enger geographischer Rahmen ließ eine Ausdehnung auf weitere Teile des okzi-

83 tanischen Sprachgebietes von Anfang an wenig wahrscheinlich werden. Außerdem lagen der Kodifikation keine weitergehenden Überlegungen zur sozialen Rolle der Sprache zugrunde, nur ihre Verwendbarkeit in der Poesie war von Bedeutung. Weder wurde bewußter Sprachausbau, etwa durch Erneuerung der Fachsprachen und Anwendung des Okzitanischen auf nichtliterarische Texte betrieben, noch wurde die Diglossie-Situation mit der übermächtig werdenden Stellung des Französischen als sprachliches Problem gesehen. War die Situation vor der organisatorischen Ausweitung des Felibrige auf die anderen Dialekte einfach, so konnte danach die kodifikatorische Einheit nicht einmal innerhalb des Verbandes aufrechterhalten werden, da die Vertreter der anderen Dialekte nicht zur Aufgabe ihrer Sprachformen zu bewegen waren. So entstanden weitere dialektale Kodifikationen, die sich auf die Prinzipien dieser Kodifikation beriefen, ohne jedoch die Lösungen im einzelnen zu übernehmen. Dadurch wurde die Gesamtsituation wieder unübersichtlich, der Lokalismus schien zu triumphieren. Die Situation änderte sich, als in der zweiten Generation des Felibrige einige Anhänger Mistrals in dieser Kodifikation die verbindliche Schriftsprache für den gesamten okzitanischen Raum sahen und damit einen natürlichen Unitarismus forderten. Nach Meinung von P. Devoluy (P. Gros-Long, 1862-1932) und S. A. Peyre (1890-1961) hatte Mistral durch sein literarisches Werk die Kodifizierung des Okzitanischen ein für alle Male vollbracht; an diesem als Droit de chef-d'oeuvre bezeichneten miraole mistralien dürfe nichts mehr verändert werden. Diese Positionen wurden innerhalb des Felibrige kaum gestützt, zumal ihnen eine ahistorische Sprachkonzeption zugrunde liegt. Heutzutage wird der Anspruch nur noch für die Provence aufrechterhalten, was zu der eigenartigen Konsequenz geführt hat, daß die Vertreter dieser These das Provenzalische als eigene, von Okzitanischen verschiedene Sprache ansehen.

5.2.2.3. Zur Entstehung der Kodifikation des IEO führen mehrere Etappen, deren wichtigste die überlegungen Perboscs und Estieus sind. Den entscheidenden Schritt stellt die Veröffentlichimg der Graitmatik Aliberts (1935) dar, die später nur geringfügig verändert wird. Alibert geht bei seinen Überlegungen weniger von einer Einzelsprache aus als von der okzitano-rcmanischen Sprachgruppe, zu der auch das Katalanische gehört. Im Rahmen einer solchen Konzeption wird das Languedokische zum zentralen Dialektgeibiet und bietet sich als Grundlage einer Kodifikation an, zumal es sich um einen konservativen Dialekt handelt. Alibert sieht aber auch die Grenzen, die einer Kodifizierung um 1930 gestellt sind: es gilt, einen Kcmproniß zwischen den existierenden

84 Kodifikationen zu finden, wobei dem katalanischen System besondere Bedeutung zukcont; die Vereinheitlichung der Sprache kann zunächst nur teilweise erfolgen, eine gemeinsame Referenzsprache, die die Unterschiede zwischen den großen Dialektgruppen überbrückt, ist noch nicht vorhanden. Der Sprachausbau inuß gefördert warden, wenn das Ckzitanische in die Lage kamen soll, die Rolle einer modernen Verkehrssprache zu erfüllen. Daher sieht Alibert den Geltungsbereich seiner Grannatik in der Hauptsache im languedokischen Raum. Eine einheitliche Kodifikation sei erst nach der Kodifikation auf der Grundlage der großen Dialekte möglich (sieraüßteseinem Verständnis zufolge auch das Katalanische umfassen). Diese Reserven Aliberts sind später im IEO etwas in Vergessenheit geraten, manche glaubten, mit Aliberts Kodifikation schon die definitive Schriftsprache zu haben, was Probleme aufwarf, als die stärker peripheren Dialekte in größerem Maße von der Renaissance ergriffen wurden. In den Augen Aliberts sind dem Okzitanischen durch historische umstände die üblichen Entfaltungsmöglichkeiten versagt geblieben. Voraussetzung für. eine umfassende KatinunikationsfuhktiQn ist daher eine Kodifikation, die auf die Sprache der klassischen Trobadortexte zurückgreift. Er entwickelt den Begriff der literarischen Sprache als oberste sprachliche Norm, ein angesichts seiner sonstigen Positionen überraschend statisches und einseitig orientiertes Konzept, das anderen sprachlichen Varietäten kaum gerecht wird. In der Graphie Aliberts überwiegen rrorphonologische Lösungen, was zugleich eine relativ starke Berücksichtigung des etymologischen Moments bedeutet. Deutlich ist die Abkehr von der französischen Graphie und die Besinnung auf die Gemeinsamkeiten der südrananischen Sprachen. Alibert fordert eine weitgehende Vereinheitlichung der Morphologie und legt großen Wert auf die Bewahrung der okzitanischen Syntax. Im Lexikon zeigt sich vor allem das Problem der "Franzismen" und ihrer Ersetzung. An vielen Stellen bemerkt man den Einfluß der katalanischen Kodifizierung. Daraus ist Alibert in jüngster Zeit ein Vorwurf gemacht worden. Weniger kritisiert wurden seine Ansätze zur Erarbeitung einer relativ statischen Akademienorm mit starker Hierarchisierung der einzelnen Register: Gerade in diesem Punkt lehnt Alibert sich letztlich an die Sprachkonzeption der französischen Akademie an. Ein weiterer Punkt der Kritik ist die Überbewertung der altokzitanischen Texte und die Bewahrung etymologischer Graphien, auch wenn ihnen nirgends mehr eine gesprochene Realität entspricht. Nach dem zweiten Weltkrieg tritt das kodifikatorische Schisma offen zutage, wobei das IEO und der provenzalische Felibrige die Hauptrollen ein-

85 nehmen; nur am Rande spielen die Graphien der gaskognischen Anhänger des Felibrige (Esoole Gastoü Febus) oder andere isolierte Systeme eine Rolle. Die kodifikatorischen Differenzen verdecken dabei tiefergehende politische und sprachpolitische, die vor 1968 kaum formuliert werden. Aber seit 1945 besteht zwischen dem "rechten" Felibrige, der ζ. T. die Petain-Herrschaft mitgetragen hat und in seiner Mehrzahl katholisch-konservativ ist, und dem "linken" IEO, dessen Mitglieder ζ. T. in der Resistance känpften, ein weltanschaulicher Gegensatz, der mit der zunehmenden Politisierung des Okzitanismus und den Erfolgen der autoncmistischen Thesen im Laufe der sechziger Jahre nur schärfer wurde.

5.2.2.4. Die Frage nach der Fixierung einer einheitlichen schriftsprachlichen Form für den ganzen okzitanischen Raum wurde erst mit der starken Vergrößerung der okzitanischen Bewegung nach 1968 als akutes Problem angesehen. Damit ging eine punktuelle Revision der Kodifikations Aliberts Hand in Hand. Als erster brachte P. Bec (geb. 1921) den Begriff der referentiellen Sprachform (heute spricht er von Standardsprache) in die Diskussion. Er sieht ihre Notwendigkeit vor allem für den "normativen, pädagogischen und vehikularen" Sprachgebrauch, während er den Dialekten kleinräumigere Komiunikationsfunktionell zuweist. Bec steht vollauf in der Tradition Aliberts. Er zeichnet sich durch ein starkes pan-okzitanisches Bewußtsein aus (unter Ausschluß des Katalanischen aus historischen Gründen) und durch die nachdrückliche Betonung einer umfassenden Katmunikationsfunktion. Allerdings berücksichtigt er die derzeitige soziale und sprachliche Situation der Okzitanischsprecher (Diglossie) wenig. Die Vorstellungen von R. Teulat (geb. 1938) sind stärker im Detail ausgearbeitet. Er sieht die Notwendigkeit zur "Normalisation" vor allem in den Erfordernissen des Unterrichts; Gründe der täglichen Kcnraunikation spielen nur irtplizit eine Rolle. Teulat geht von einer maximalistischen Normalisation aus, welche sich auf den objektiven Sprachraum stützt (einschließlich des Val d'Aran und der piemontesischen Täler aber unter Ausschluß des Katalanischen) . Seiner maximalistischen Konzeption stellt er minimalistische gegenüber, »reiche jeweils nur sprachliche Teilbereiche berücksichtigen. Daneben bedeutet Minimalismus für ihn Hinnahme der Diglossie-Situation, Maximalismus impliziert die Forderung nach ihrer Beseitigung. Er legt großen Wert auf objektive Fakten und scheint davon auszugehen, daß eine praktisch zeitlose sprachliche Norm existiert, welche es zu erkennen und in Regeln zu fassen gilt. Teulat stellt sich auf die Grundlagen der Granmatik Aliberts, weicht aber in verschiedenen Einzelpunkten davon ab, vor allem durch die starke

86 Betonung eines genau umschriebenen Referenzgebietes im Zentrallanguedokischen und die Ausrichtung der Graphien an den Lautungen dieses Gebiets. Das zwingt ihn zur Fixierung einer Standardaussprache, welche im Rahmen der Kodifikation Aliberts nicht notwendig war. Dabei wird deutlich, daß sein Nornbegriff statisch ist und sich stark dem Prinzip der französischen Akademienorm nähert. Diese Tendenzen zeigen sich verstärkt bei der Arbeit der 1973 gebildeten Kernmission für philologische Normalisierung des IEO, die bisher punktuelle Änderungen vorschlug, sich aber weder zu Fragen der Kannunikationsfunktion des Ckzitanischen, noch zu Probienen der dialektalen und soziolektalen Varietäten geäußert hat. Die Überbewertung von Einzelheiten und ein präskriptiver Perfektionismus gehen Hand in Hand mit einer starren und engen Nonnvorstellung. Gegen diese Tendenzen ist aus zwei Richtungen Kritik laut geworden: einmal von stärker konservativen Gruppen, welche möglichst wenig an den Festlegungen Aliberts verändern möchten, dann aus Kreisen, welche versuchen, eine grundsätzliche Diskussion über die sprachliche Norm und Kodifikation in Gang zu bringen und stärker auf die sozialen Inplikationen jeder Kodifizierung eingehen. 5.2.2.5. Damit ist nach über 150 Jahren das Kodifikationsproblem noch zu keiner endgültigen Lösung gekarrten. Das Fehlen staatlich anerkannter Institutionen, unterschiedliche Sprachkonzeptionen und unterschiedliche politische Zielsetzungen haben das Ende einer Auseinandersetzung verhindert, das von vielen als Voraussetzung für eine Weiterexistenz des Ckzitanischen betrachtet wird. Die Lösung scheint auch nicht unmittelbar bevorzustehen. Exemplarisch interessant wird der Streit nicht wegen der einzelnen Lösungsvorschläge oder Anekdoten, sondern dadurch, daß man mit seiner Hilfe die soziale Bedingtheit sprachlicher Norman und Kodifikationen aufzeigen kann, sewie die Verwendung sprachlicher Argumente zur Verschleierung politischer Unterschiede. Die sprachlichen Auseinandersetzungen werden zu einem Aspekt der sozialen Spaltungen einer Gesellschaft. 5.3.

Überlegungen zum "sozialen Vfert" einer Sprache

Die dkzitanische Bewegung hat in den letzten 150 Jahren erstaunliche Erfolge erzielt, etwa auf literarischem Gebiet, aber auch im Bereich der wissenschaftlichen Forschung, vor allem in den geisteswissenschaftlichen Disziplinen. Zu wiederholten Malen ist sie auch Ausdruck einer breiten Unzufriedenheit der Bevölkerung mit den bestehenden Verhältnissen gewesen. Das gilt für die Re-

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volte von 1907 ebenso wie für den Streik von Decazeville oder die Unruhen der siebziger Jahre. Allerdings haben alle Erfolge zu keinen dauerhaften Veränderungen geführt: die sprachlichen Vorurteile sind nicht ganz verschwunden, die Abnahme der Sprecherzahl konnte nicht verhindert werden, die politischen Strukturen sind nur in Kleinigkeiten weniger zentralistisch als früher. Dabei wird man die Sympathiebekundungen der Okzitanen für ihre Sprache und Kultur sicher als echt auffassen können. Dieser offensichtliche Widerspruch scheint darauf hinzudeuten, daß die entscheidenden Faktoren für das sprachliche Verhalten, zumindest in einer Gesellschaft, deren Mitglieder sämtlich staatliche Erziehungsinstitutionen durchlaufen haben, und die hinreichend "offen" ist, um dem einzelnen einen gewissen sozialen Aufstieg zu erlauben, auf anderer Ebene zu suchen sind. Wir haben im Rahmen dieser Darstellung inner wieder auf die Kanmunikationsfunktion der Sprache in der Gesellschaft hingewiesen. Sobald in einer Gesellschaft zwei Sprachen gebraucht werden, stellt sich die Frage, inwieweit die KannunikationsrrDglichkeiten für den einzelnen verbessert werden, wenn er beide beherrscht. Das ist dann der Fall, wenn größere Teile der Bevölkerung nur eine der beiden Sprachen beherrschen. Wenn aber die Quasi-Gesamtheit der Bevölkerung sich in einer der beiden Sprachen gut ausdrücken kann, dann ist die andere weitgehend redundant. Ihrer Zurückdrängung bei den Sprechern steht nichts mehr im Wege, außer sie wird durch besondere Umstände wenigstens in manchen Funktionen gestützt (etwa das Latein als Kirchensprache). In diesem Fall kann eine Hierarchisierung der beiden Sprachen eintreten, die zum Tragen kcmmt, wenn die Gesellschaft offen ist: dann werden alle Sprecher danach trachten, möglichst rasch die sozial höher bewertete Sprache zu erlernen. Der anderen, niedriger bewerteten bleibt inner weniger Raum, ihre Funktionen zu erfüllen, sie läuft Gefahr, überflüssig zu werden, zumal die Kenntnis der höher eingestuften Sprache im Laufe der Zeit immer größere Bedeutung auch für die materielle Existenz der Sprecher zukamrt - ihre Beherrschung ist nicht nur für die Katntunikaticn sondern indirekt auch für die materielle Existenz notwendig: sie ist sozial "rentabel". Die andere Sprache wird inner mehr zum "Luxus", denn ihre Kenntnis ist kaum mehr notwendig, allenfalls in informellen Situationen kann sie verwendet werden. Dadurch werden Vorurteile gegen sie aufgebaut, allmählich tritt zun Abbau der Funktion der Abbau der Kenntnis der Funktion. Bislang ist es nur in wenigen Sprachgemeinschaften gelungen, derartige Entwicklungen anzuhalten oder rückgängig zu machen, etwa bei den Katalanen oder insbesondere beim Hebräischen. Nicht einmal die staatliche Unabhängigkeit reicht dafür aus, wie das irische Beispiel zeigt. Die beiden Beispiele zeigen, daß die Voraussetzung für eine einigemaßen dauerhafte Sprachbewahrung das Bewußtsein der Sprecher

88 sein muß, daß ihre eigene Sprache, etwa das Katalanische, nicht nur eine wirkliche Koiinunikaticaisfuriktion hat, sondern auch, daß seine Beherrschung den sozialen Aufstieg nicht verhindert und die eigene Situation nicht einengt. Konkret bedeutet das, daß die sozial führenden Schichten sich ebenfalls der betreffenden Sprache, im Beispiel des Katalanischen, bedienen müssen. Eine solche Situation ist im okzitanischen Sprachraum (noch) nicht erreicht, der Entscheidung jedes Sprechers für das Qkzitanische haftet noch inner etwas von einem "sprachlichen Luxus" an, den man sich nur in beschränktem Umfang leisten kann. Daher muß dem Okzitanischen, soll es weiterhin eine gesprochene Sprache bleiben, eine feste Punktion in der Gesellschaft zukamen. Das bedeutet aber auch, daß die soziale Situation sich verändern muß, daß den Sprechern des Okzitanischen ein gleichberechtigter Platz eingeräumt werden muß. Spätestens an diesem Punkt schlägt das sprachliche Problem in ein politisches und soziales un. Seine Lösung liegt zum größten Teil in den Händen der okzitanischen Bevölkerung.

5.4.

Arbeitsaufgaben

1. Lesen und analysieren Sie die D6claration des F^libres R6gionalistes (ζ. B. in Charles-Brun 1911, 273-276; Jouveau 1970, 186-188; Lafont 1974, 152-155) . 2. Welche internen Widersprüche machen den Kompromißcharakter der Loi Deixonne sichtbar? Welchen Beschränkungen unterliegen die Maßnahmen zugunsten der "lokalen" Sprachen? Welche Sprachen berücksichtigt das Gesetz nicht? Warum? 3. Versuchen Sie, die grundlegenden theoretischen Unterschiede in den Sprachkonzeptionen des Felibrige und des IEO deutlich zu machen. Welche Folgerungen für das Auftreten der Gruppen können daraus gezogen werden? 4. Informieren Sie sich über die wichtigsten Ziele und Leistungen der katalanischen Renaissance im 19. Jh. und vergleichen Sie mit den Bestrebungen im Okzitanischen.

5.5.

Literatur zu diesem Kapitel:

Barta 1979; Barthe 1962; Bec 1972; Camproux 1935; Charles-Brun 1911; Comitfe Occitan d'Etudes et d'Action 1964; Couderc 1976, 1976a; Dubet 1976, 1978; Garavini 1967, 1970; Institut d'Etudes Occitanes 1949/50; Jourdanne 1897; Jouveau 1970, 1977; Kirsch 1966; Kremnitz 1974, 1979a; Lafont 1967, 1968, 1970a, 1971, 1974; Lafont - Anatole 1970-71; Mistral 1906; Perbosc 1904; Ripert 1918, 1948; Roqueta 1975; Sarrieu 1924; Teulat 1972, 1974, 1975, 1979.

TEXTANHANG

1. Epitaph d e s Simon de Mantfort Tot dreit a Carcassona l'en portan [sebelhir Ε -1 moster Sent Nazari, celebrar et [ufrir.

Iis 11apportörent tout droit ä Carcassonne [pour l'enterrer dans l'eglise Saint-Nazaire et [c&löbrer messes et offices.

Ε ditz e l'epictafi, cel qui-1 sab [ben legir, Qu'el es sans ez es martirs e que deu [resperir 5 Ε dins e'l gaug mirable heretar e [florir Ε portar la corona e e·1 regne sezir. Ez ieu ai auzit dire c'aisi's deu [avenir Si, per homes aucirre ni per sanc [espandir Ni per esperitz perdre ni per mortz [cosentir 10 Ε per mals cosselhs creire e per focs [abrandir Ε per baros destruire e per Paratge [aunir Ε per las terras toldre e per Orgolh [suffrir Ε per los mals escendre e pels bes [escantir Ε per donas aucirre e per efans delir, 15 Pot hom en aquest segle Jhesu Crist [comquerir, El deu portar corona e e'l cel [resplandir.

II est dit dans son epitaphe, pour qui [sait lire, qu'il est un saint et un martyr, qu'il doit [ressusciter, avoir sa part d'heritage et fleurir dans la merveilleuse [joie, porter la couronne et sieger dans le royaume. Et moi, j'ai entendu dire que c'est ainsi [qu'il en doit §tre si, en tuant des hommes et en repandant le [sang, en causant la perte des Smes, en autorisant des [tueries, en suivant les mauvais conseils, en allumant des [incendies, en ruinant des barons et en deshonorant Parage, en [s'emparant de terres et en soutenant Orgueil, en attisant [le mal et en fetouffant le bien, en massacrant des femmes et [en tuant des enfan ts, un homme peut, en ce monde, conquferir [Jesus-Christ; alors celui-lä a le droit de porter la [couronne et de resplendir dans le ciel.

Quelle: La Chanson de la Croisade Albigeoise, ed. E. Martin-Chabot, Paris 1961, Bd. Ill, 226-229. Entstehungszeit: um 1228.

90 2. For d'Oloran (Beam), bearnesische Graphie Art.16. - Io Sentolh, per la gracia de Diu, vesconte de B e a m et conte de Begorra, vulh que aquesta ciutat qui era despoblade, per conselh et adjutori de mons baroos de Bearn, a ma honor et proffieyt de totz moos successors, fosse poblade. A laquoau poblation bienco homis de diverses partides, et aperatz lor ensemps, plago a mi que jo partis, tot pleneramentz ab lor, las leys et los dretz et las franquessas.

Art.16. - Moi Centulle, par la gräce de Dieu, vicomte de B e a m et comte de Bigorre, ai voulu avec le conseil et l'appui de mes barons de Bfearn, ä mon honneur et au profit de tous mes successeurs, que cette ville, qui etait depeuplee, füt repeuplee. Pour ce repeuplement, il vint des hommes de divers c5t6s; et, eux appeles ensemble, il m'a plu que je leur rkpartisse, tout plenierement avec eux, les droits, les lois et les franchises.

Quelle: Lespy, Vastin, Crammaire bearnaise suivie d'une vocabulaire bäarnais-francfais, 2. Aufl., Paris 1880, 107-108. 3. Auger Galhard (um 1530-?) Sounet al rey Dedins aquest' sounet, noble Rey de [la Franso, Se recoumando a vous lou paüre Aügie [Gaillard; Vous pregan humblomen de preno en [bouno part, Quant de ma paüretat vous faü la [demoustranso.

Dans ce sonnet, noble Roi de France, Se recommande ä vous le pauvre Augier [Gaillard, Vous priant humblement de le prendre en [bonne part, Quand il vous represente sa pauvrete.

Ieü fario de beleü de rimos [d1impourtanso, Se de vostres denies me fasiats [quelque part; Mas ieü no podi pas farga re de [bragart, Se vostro Magestat qualque paüc nou [m'abanso.

J'aurais bientöt fait des vers [d1 importance, Si vous me faisiez quelque part de vos [deniers; Mais je ne peux rien faire de brillant

Ieü souy, coumo vous die, roudie [de moun estat; Mas ieü me recoumandi ä vostro [Magestat; Se n'eri poun roudie fario quicon [de bei.

Je suis, comme je vous le dis, charron [de mon etat; Mais je me recommande ä Votre Majeste;

Ο noble Rey sourtit d'uno tant [noblo rasso, Suffriretz-vous que ieü reprengo [la pigasso? N'aürets pas vous pietat d'aquest1 [poueto noubel?

Ο noble Roi, sorti d'une si noble race,

Si Votre Majeste ne m'apporte quelque [aide.

Si je n'etais charron je ferais de belles [choses.

Souffrirez-vous que je reprenne la [cognee? N'aurez-vous pas pitie de ce nouveau [poete?

Quelle: A. Berry, Anthologie de la poesie occitane, Paris 1961, 124.

91 4. Frederi Mistral (1830-1914) La Coupo Prouveivpau, veici la coupo Que nous v£n di Catalan: A-de-reng beguen en troupo Lou vin pur de noste plant. Coupo santo Ε versanto, Vuejo ä plen bord, Vuejo abord Lis estrarabord Ε l'enavans di fort!

Proven9aux, voici la coupe - qui nous vient des Catalans: - tour ä tour buvons ensemble - le vin pur de notre crQ. - Coupe sainte et dfebordante, - verse ä pleins bords, - verse d flots - les enthousiasmes - et l'fenergie des forts!

D'un νίέί pople fier e libre Sian bessai la finicioun; E, se toumbon li Felibre, Toumbara nosto nacioun.

D'un ancien peuple fier et libre - nous sommes peut-etre la fin; - et, si les Felibres tombent, - tombera notre nation.

D'uno rayo que Sian bessai li Sian bessai de Li cepoun emai

D'une race qui regerme - peut-etre sommesnous les premiers jets; - de la patrie, peut-§tre, nous sommes - les piliers et les chefs.

regreio proumife greu; la patrio li prieu.

Quelle: Frederic Mistral, Lis isclo d'or, ed. P. Rollet, [Aix] 1966, 84-87.

5. Filadelfe de Gerde (1871-1952) En Carcasona Lengadöc! Provensa! Gasconha! Cau pas que-s posquie dize enlöc Que-d pöble noste aye vergonha D1arreconeche ed parld d'Oc! Cau pas qu'enlöc es posquie crfeie, Ε qu'em aci ta pla he v&ie Qu'autant en ib£r que-n estiu, Dera mar verda arä mar blüa, R'arrasa d'Oc ei tostem üa Ε sab sö qui vö, gräcia ä Diu!

Languedoc! Provence! Gascogne! il ne faut pas qu'on puisse dire nulle part que le peuple nötre a vergogne de reconnaitre le parier d'Oc! Ii ne faut pas qu'on le puisse croire en aucun lieu! Et nous sommes ici pour affirmer qu'autant 1'hiver que l'etfe, de la mer verte ä la mer bleue, la race d'Oc est toujours une et qu'elle sait ce qu'elle veut, grSce ä Dieu!

Quelle: Philadelphe de Gerde, Eds Crids, Toulouse-Paris 1930, 28-29.

6. Joan Bodon (1920-1975) Lo darrier joc

Le dernier jeu

Que nos demöra de perdre Acuolats contra lo röc? Se demöra res a pördre Jogarem lo darrier jöc:

Que nous reste-t-il ä. perdre Accules contre le roc? S'il ne reste rien ä perdre Nous jouerons le dernier jeu.

Darrier sang per cada vena, Cada vida la siä mört, Cada dolor la siä pena, Lo pus flac contra lo fört.,

II y a du sang pour chaque veine. Pour chaque vie il existe une mort. Pour chaque douleur sa peine, Le plus faible contre le fort.

92 Son bonas totas las armas, Val lo cuol coma lo c