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German Pages 152 [160] Year 1950
S A M M L U N G G Ö S C H E N B A N D 101
Soziologie Geschichte und Hauptprobleme von
Dr.phil.,Dr.jur.h.c. Leopold von Wiese o . Professor der wirtsch. Staatswissenschaften und der Soziologie und Direktor am Forschungsinstitut für Sozial- und Verwaltungswissenschaften in Köln
Vierte Auflage
WALTER D E G R U Y T E R & CO. vormals G. J . Göschen'sche Verlagshandlung. J . Guttentag, Verlagsbuchhandlung Georg Reimer, Karl J. Triibner, V e i t & C o m p .
Berlin 1950
Archiv-Nr. 110 101 Alle Rechte, insbesondere das Übersetzungsrecht, von der Verlagshandlung vorbehalten D r u d t : Gerhard Stalling AG., Oldenburg (Oldb) Printed in Germany
Inhaltsübersicht Vorbemerkungen zur vierten Auflage
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K a p i t e l I: Einleitung: Soziologie als selbständige Einzelwissenschaft vom zwischenmenschlichen Gesthehen . . . .
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K a p i t e l I I : Die geschichtlichen Ausgangspunkte der Soziologie als Wissenschaft
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K a p i t e l I I I : Die Hauptriditungen der Soziologie
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K a p i t e l I V : Die realistisch-systematische Soziologie . . .
48
K a p i t e l V: Comte und Spencer
55
K a p i t e l V I : Die britische und die amerikanische Soziologie
65
K a p i t e l V I I : Die Soziologie in Frankreich nach Comtes Tode Kapitel
86 V I I I : Die ältere (enzyklopädische) Soziologie
in Deutschland K a p i t e l I X : Die jüngere Soziologie in Deutschland . . . Kapitel
96 114
X : Die Lehre von den sozialen Beziehungen
und den sozialen Gebilden (Beziehungslehre)
134
Nachwort
147
Namenregister
149
Vorbemerkungen
zur vierten
Auflage
Im Vorwort zur dritten Auflage mußte ich im Jahre 1946 aussprechen, daß ich infolge des Krieges aus Mangel an Möglichkeiten, mich laufend zu unterrichten, die Gesamtlage unserer Wissenschaft seit 1938 nicht mehr hinreichend zu überblicken vermöchte. Seitdem bin ich bestrebt, diese Lücke auszufüllen. Ich habe in dieser vierten Auflage manches hinzugefügt, was das letzte Jahrzehnt betrifft; dafür habe ich einiges aus der ferneren Vergangenheit gestrichen. Allerdings ist inzwischen der Strom unseres Schrifttums auf der ganzen Erde so angeschwollen, daß ich auf die Aufnähme mancher Schriftsteller und der Titel ihrer "Werke, die einen Anspruch hätten, genannt zu werden* habe verzichten müssen. Dabei war nicht nur entscheidend, daß das Bändchen nicht über eine gewisse Seitenzahl ausgedehnt werden durfte, sondern auch die Rücksicht auf diejenigen Leser, die durch die folgenden Seiten erst in die Soziologie eingeführt werden sollen. Ihnen ist mit einer Überfülle von Namen und Buchtiteln nicht gedient (an einer Stelle sind es unter diesem Gesichtspunkte schon zu viele geworden). Es scheint mir eine didaktische Notwendigkeit zu sein, daß sich der Verfasser Beschränkung auferlegt und auf Vollständigkeit verzichtet. Die Schrift soll ja keineswegs eine Literaturgeschichte oder gar eine Bibliographie ersetzen. Ich habe deshalb auch keine Berichte über das Schrifttum in anderen Ländern als Deutschland, Frankreich, England und den Vereinigten Staaten aufgenommen. Das soll keineswegs bedeuten, daß in diesen Sprachkreisen nichts Beachtliches geleistet wurde. Ich muß auf die Mitteilungen verweisen, die in der von mir herausgegebenen „Kölner Zeitschrift für Soziologie" veröffentlicht werden; sie dienen zur Ergänzung des hier Behandelten. Auch finden
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Vorbemerkungen zur vierten Auflage
sich dort im Abschnitte »Zur Literaturgeschichte" eingehendere Würdigungen von Autoren, die hier nur kurz behandelt werden können; so im 1. Jahrgang über Jacob Burckhardt, Karl Mannheim, Pitirim A. Sorokin, Paul Honigsheim, J . L. Moreno. Bei den folgenden Aufzeichnungen überwog durchaus die Aufmerksamkeit für die a l l g e m e i n e S o z i o l o g i e ; eine Versenkung in die konfessionellen Richtungen und in die b e s o n d e r e n Soziologien, z. B. die gewiß recht wichtigen Gebiete der Religions-, Rechts- und der Wirtschaftssoziologie, hätte umfangreiche Exkurse in die Bereiche der Theologie, Jurisprudenz und Ökonomik erfordert. Auch die Autoren, die auf diesen Gebieten tätig waren oder sind, konnten hier nur, wenn ihr Zusammenhang mit der allgemeinen Soziologie es nahelegte, genannt werden. L. v. Wiese
Kapitel I
EINLEITUNG Soziologie als selbständige Einzelwissenschaft vom zwischenmenschlichen Geschehen Im folgenden wird unter Soziologie oder Gesellschaftslehre, soweit nicht die Versenkung in ihre bisherige Geschichte zu einer weiteren Fassung ihres Wesens nötigt, eine s e l b s t ä n d i g e E i n z e l w i s s e n s c h a f t verstanden, deren Aufgabe genau zu bestimmen sein wird. Damit ist schon ausgesprochen, daß wir die Soziologie nicht als einen Zweig der Philosophie (als Sozialphilosophie), auch nicht als eine Universal- oder enzyklopädische "Wissenschaft auffassen. Diesen Universalcharakter wiederum könnte sie in verschiedenem Sinne besitzen: sie könnte als Zusammenfassung sämtlicher Sozialwissenschaften aufgefaßt werden, die alle Ergebnisse in sich vereinigte, welche den Sozialwissenschaften insgesamt gemein sind; sie könnte ferner unter Beiseitelassung des Sozialen in den Tier- und Pflanzenreichen als die allgemeinste Wissenschaft vom gesellig lebendeîi Menschen erscheinen, also entweder geistes- und naturwissenschaftliche oder bloß geisteswissenschaftliche oder bloß naturwissenschaftliche Anthropologie schlechtweg sein; sie könnte schließlich Kosmologie unter Hervorhebung der Menschensphäre sein, dergestalt, daß die Eingeordnetheit der menschlichen Gesellschaft in den Gesamtvorgängen des Weltalls dargetan wird. W i r werden noch zu zeigen haben, daß sowohl die sozialphilosophische wie jede der drei Arten von enzyklopädischer Behandlung der Wissenschaft von der Gesellschaft versucht, ja, daß alle diese Betrachtungsweisen in einem Riesenkomplexe verknüpft worden sind, und daß man auch dafür den Namen Soziologie gewählt hat.
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I. Soziologie als selbständige Einzelwissenschaft
Demgegenüber soll jedoch hier die Soziologie als E i n z e l w i s s e n s c h a f t aufgefaßt werden, die neben anderen sozialen Einzelwissenschaften eine arteigene, eng zu fassende Fragestellung aufweist. Diese Fragestellung muß sich von der der anderen Sozialwissenschaften deutlich unterscheiden lassen, so daß die Soziologie als selbständige Wissenschaft zu fassen ist, wenn sie auch als Angehörige des Bundes aller Sozialwissenschaften, speziell aller Sözialwissenschaften vom Menschen in dichten, noch zu charakterisierenden Nachbarschafts- und Ergänzungsverhältnissen zu ihnen steht. Schließlich liegt anderseits in unserer vorläufigen Einordnung bereits enthalten, daß wir sie nicht bloß als eine Verfahrensweise oder lediglich als einen Problemkreis im Rahmen anderer Wissenschaften auffassen, sondern in erster Linie und unabhängig von dem Umstände, daß es auch soziologische „Methoden" in anderen' Disziplinen gibt, als eine Wissenschaft. Das als Grundlage einer ersten Verständigung hier auszusprechen, ist angesichts der in der Gegenwart so beliebten Vermengungen und Grenzverschiebungen wichtig. Der fruchtbarste Zustand der Organisation der Gesamtheit aller Wissenschaften ist dann gegeben, wenn jede einzelne ihren eigenen Problemkreis, ihre eigene Betrachtungsweise eines Objekts, das sie als solches mit anderen Wissenschaften teilen kann, und spezifische, nur ihr eigene Methoden besitzt. Jede muß eine grundlegende Fragestellung aufweisen, die nicht schon bei anderen Disziplinen besteht; sonst ist sie überflüssig. Diese klaren Scheidungen bilden aber gerade die Voraussetzung f ü r ihren (nicht minder wünschenswerten) Zusammenhang. Jede übernimmt Forschungs e r g e b n i s s e (im Vertrauen auf das einwandfreie Verfahren der Nachbarin) als Material f ü r eigene Zwecke, hat auch o f t in abgeleiteten Problemen zweiter und dritter Ordnung eine gemeinsame Fragestellung mit anderen Wissenschaften. Eine Wegstrecke lang mögen vorübergehend die Aufgaben gemeinsam sein; danach erzwingt aber die andere
I. Soziologie als selbständige Einzelwissenschaft
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Grundfrage, deren entscheidender Anspruch nie aufgegeben werden darf, eine andere Einordnung und andere Verwendung der Ergebnisse. Oft schneiden sich die Ebenen der verschiedenen Wissenschaften. Immer wieder verwendet man, wie gesagt, Ergebnisse anderer Disziplinen; aber diese Resultate bedeuten im Rahmen der von uns als Ausgang benutzten Wissenschaft etwas anderes. Unsere erste Behauptung über die Fachwissenschaft Soziologie geht also dahin: sie hat ihre eigene „Ebene", die sich mit keiner der anderen Sozialwissenschaften deckt, aber gleichsam durch sie hindurchführt. Dieser unserer Grundthese stehen vier Behauptungen entgegen, die zu prüfen sind: 1. Es gebe keine solche eigene Wissenschaftsebene (Disziplin) Soziologie, sondern nur eine soziologische B e t r a c h t u n g s w e i s e in verschiedenen Wissenschaften. Sie bestehe darin, daß man bei der speziellen Problematik der einen oder anderen Wissenschaft gelegentlich oder auch vorwiegend auf die menschliche Gesellschaft oder einzelne gesellschaftliche Erscheinungen (wie etwa die Klasse) Bezug nehme. So gebe es Soziologisches in der Jurisprudenz, Psychologie, Völkerkunde, Sprach-, Literaturgeschichte, Sozialökonomik, Kunstwissenschaft, vergleichenden Religionswissenschaft usw.; aber auch in den Naturwissenschaften bis zur Physik. Oft werden diese Problemkreise oder diese Optiken fälschlich als soziologische Methoden bezeichnet. D a diese soziologischen Teilausschnitte in anderen Wissenschaften umfangreich und sehr häufig geworden sind, so kann man von einem gewissen Soziologismus in den modernen Wissenschaften, besonders in den Geisteswissenschaften reden. Aber stets müßte doch diese häufige Bezugnahme auf die „menschliche Gesellschaft" voraussetzen, daß man genau wüßte, was diese Gesellschaft eigentlich ist. Das ist aber keineswegs der Fall. Es besteht nur ein sehr vages Vorurteil, daß man es wisse. Es fließt aus irrigen Annahmen, nämlich entweder aus dem Glauben,
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I. Soziologie als selbständige Einzel Wissenschaft
die menschliche Gesellschaft biete kein Problem, sondern sei eine einfache Selbstverständlichkeit, oder es ergebe sich ihr Wesen aus der eigenen Wissenschaft (so nebenher), oder die vorausgehenden Forschungen oder Spekulationen hätten es schon hinreichend festgestellt. Alle diese Annahmen sind, wie gesagt, irrig. 2. Man gelange zur Erkenntnis der Gesellschaft durch Addition der Ergebnisse der übrigen sozialen Einzelwissenschaften. Audi das ist ein Irrtum. Der Polyhistor ist am weitesten von diesem Ziele entfernt. Die übrigen Sozialwissenschaften befassen sich mit den sachlichen E r g e b n i s s e n des gesellschaftlichen Lebens. "Wenn man aber Produkte häuft, kann man noch lange nichts über die Produzenten aussagen. (Das ist auch der Fehler einer heute oft als „Kultursoziologie" bezeichneten modernen Richtung der Kulturwissenschaft.) 3. Soziologie sei dasselbe wie systematisierte Geschichtswissenschaft. Am Verhältnisse von Gesellschaftslehre und Historie zeigt sich in der Tat besonders deutlich die gegenseitige Ergänzung durch Geben und Nehmen. Aber die Häufung chronologisch geordneter Tatsachen gewährt noch keine Erkenntnis der Gesellschaft. Hier fehlt noch ein entscheidender Abstraktionsvorgang, der erst aus der Wiedergabe des Geschehenen Erkenntnis des Zusammenhangs der in die Geschehnisse verwickelten Menschen schafft. 4. Die Ebene Soziologie liege völlig in der größeren Ebene Philosophie. — Zuzugeben ist: die gleichsam über allen Wissenschaften stehende Philosophie kann jede für den menschlichen Verstand greifbare Erscheinung, also auch das Phänomen: menschliche Gesellschaft vor ihren Thron zitieren. Ferner: rechnet man zur Philosophie, wie man wohl muß, Erkenntniskritik und Logik, so entnimmt ihr eine theoretische Wissenschaft wie die Soziologie das eigene Apriori. Insoweit ist die Soziologie wie jede andere Wissenschaft in der Ordnungslehre, Philosophie genannt, eingebettet. Schließlich ist anzuerkennen: es gibt eine Metaphysik der Gesellschaft, eine Metasoziologie, die mit letzten
I. Soziologie als selbständige Einzelwissenschaft
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Fragen des Zusammenhangs zwischen den Menschen ringen muß und mag. Aber dieser Zweig der Philosophie, der in Spekulation, in Deutung des letzten metaphysischen Sinns und in richtender Bewertung besteht, sollte niemals mit der auf äußerer und innerer Erfahrung beruhenden, auf Beweis gerichteten Fragestellung der Einzelwissenschaft Soziologie vermengt werden. Heute wie zu allen Zeiten sind sehr viele Lehren, die als Philosophie präsentiert werden, anspruchsvoll ins Allgemeingültige erhobene Subjektivismen, sogenannte Weltanschauungen, verhüllte Normen, die man als Joch den anderen Menschen auflegen möchte. Es werden Glaubensbekenntnisse vorgebracht, die sich aber nicht als solche kundgeben. Auf diese "Weise erfährt man nicht, was die Gesellschaft wirklich ist, sondern in der Regel nur, wie der Prophet die Gesellschaft gern haben möchte. Der eigentliche Makel dieses Verfahrens liegt darin, daß sich der Prophet nicht als soldien zu erkennen gibt. Ich komme zu dem Ergebnisse: Es ist richtig und erfreulich, daß die Nachbarwissenschaften der Soziologie viele Einzelheiten als Material zu bieten haben. Aber keine von ihnen beantwortet die Grundfrage: was hat es mit der Gesellschaft für eine Bewandtnis? Es ist auch erfreulich, daß es neben so vielen Spezialisten auch Universalisten und Polyhistoren gibt; aber was sie geben, führt von unserer Fragestellung ab. Drittens läßt sich feststellen, daß ohne Geschichtskenntnis und Geschichtsberücksichtigung nur sehr Allgemeines, Rahmenhaftes über die Gesellschaft ausgesagt werden kann. Die Füllung gewährt einmal die Geschichtsforschung, wenn ihre Ergebnisse kritisch (sehr kritisch) und mit geschickter Abstraktion behandelt werden, und zweitens nicht minder die Beobachtung des Nebeneinander in der Gegenwart. Es wurde viertens ausgesprochen, daß die Philosophie zu oft die Neigung aufweist, an die Stelle des beobachteten Objekts eine Geistererscheinung zu setzen. Das ist abzulehnen. Dort aber (wäre noch ergänzend zu sagen), wo sie die Empirie nicht verachtet, sondern sich auf die systematisierte Wieder-
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I. Soziologie als selbständige Einzel Wissenschaft
gäbe von beweisbaren Erfahrungen beschränkt, wie dies S p e n c e r zu tun bestrebt war, vernachlässigt die Philosophie ihre eigene, anders geartete Aufgabe zugunsten einer Zielsetzung, die sie den eigentlichen Wissenschaften überlassen sollte. Auf dem Gesamtfelde der Wissenschaften sollte deutliche Arbeitsteilung bestehen. Jeder arbeite in seinem Garten! Von den Früchten reiche er manches über den Zaun; auch Samen begehre er vom Nachbarn. Aber jede Disziplin bedarf ihres eigenen Bodens. Wer die Geschichte anderer Wissenschaften — etwa die der Sozialökonomik — kennt, wird keineswegs darüber erstaunt sein, daß es auch in der Soziologie sehr lange dauert, bis die Freilegung einer eigenen Problematik unserer Wissenschaft erfolgt. Sie hat eine lange Vorgeschichte, in der in Einzelheiten, wie das oft der Fall ist, Hervorragendes geleistet worden ist. Doch zeigt sich in der Gesellschaftslehre besonders deutlich, daß die Neigung, die (zunächst zu unklar geschaute) eigene Problematik in fremden Rahmenzusammenhängen einzufügen, sehr groß ist. Noch heute machen manche Autoren nicht einmal den Versuch, Aufgabenscheidungen vorzunehmen; sie behandeln die Aufschrift „Soziologie" wie einen ungeschützten „markenfreien Artikel", dessen Namen man beliebig benutzen könne. Vor hundert bis vor achtzig Jahren verstanden in Deutschland R o b e r t v o n M o h l , L o renz von Stein, H e i n r i c h von T r e i t s c h k e und andere unter Gesellschaftslehre die Wissensdiaft von der „bürgerlichen Gesellschaft", die sie sich als e t w a s i n n e r h a l b d e r S t a a t s o r d n u n g vorstellten; tatsächlich war das, was sie gaben, theoretische Politik. Die C o m t e - S p e n c e r - Schule verstand wieder unter Soziologie eine Abart der Biologie einerseits, der Philosophie anderseits; aus dieser Verquickung von Biologie und Soziologie entstanden die später mit Recht viel getadelten „organizistischen" Analogien, bei denen man Erkenntnisse über das gesellschaftliche Leben aus der Konstruktion eines
I. Soziologie als selbständige Einzelwissenschaft
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sozialen Organismus abzuleiten suchte, der nach denselben Baugesetzen wie der Leib geschaffen sei. Bei M a r x hingegen ist Soziologie eng mit Sozialökonomik verflochten. Die R o m a n t i k e r , denen ihrem ganzen Wesen nach klare begriffliche Scheidungen verhaßt waren, mischten Volkskunde, Ethik, Ästhetik und Politik. S c h l e i e r m a c h e r , H e r b a r t und andere deutsche Schriftsteller der ersten Hälfte des vorigen Jahrhunderts, die uns heute als Soziologen vorgestellt werden, gaben schließlich in Wahrheit im Rahmen ihrer Philosophie und Psychologie geisteswissenschaftliche Anthropologie. Heute ist die Vermengung mit Sozialpsychologie häufig. Darüber haben wir an anderer Stelle 1 kurz gesagt: „Alle Psychologie befaßt sich aber (oder sollte es wenigstens tun) mit seelischen Prozessen, also mit inneren Erfahrungen, während der Soziologie die Annahme zugrunde liegen muß (die vielleicht metaphysisch eine Fiktion ist, aber die selbstverständliche Voraussetzung aller Art Praxis bildet), daß es eine Außensphäre des Daseins, einen interpersonalen (nicht bloß intermentalen) Zusammenhang gibt, und daß das Soziale zu dem ,Außen' des Menschenlebens gehört, also seine Erscheinungen als äußere T a t sachen genommen werden müssen, die nicht in unserer Seele sind. Freilich ist es zur Erklärung dieser Sphäre äußeren Geschehens sehr oft notwendig, auf seelische Vorgänge einzugehen, so daß also auch in der Soziologie oft von Seele und Geist zu sprechen ist. Entscheidend f ü r die Zuordnung eines Problemkreises im Reiche der Wissenschaft ist aber nur die Hauptfragestellung. Ob zur Findung der Antwort in alle möglichen Nachbargebiete abgeschweift werden muß, kann nicht maßgebend sein. Seelische Erscheinungen gehören sowohl zum Stoffe der Soziologie wie der Psychologie; dort, um den Zusammenhang zwischen Menschen, hier, um den Zusammenhang 1 Vgl. Artikel „Soziologie" in der 4. A u f l . des Wörterbuchs der Volkswirtsdiaft, Jena 1931 ff.
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I. Soziologie als selbständige Einzel Wissenschaft
seelischer Vorgänge, das Innenleben der einzelnen Menschen zu erklären." Vermengungen in den entsprechenden Grundfragestellungen verhindern die Klarheit der Erkenntnis. Bei Wissenschaften, die sich mit Dingen aus der Welt der sinnlich wahrnehmbaren Körper befassen, ist dieser Fehler nidit so leicht möglich. Ehe man körperliche Dinge vermengen kann, muß man sie einzeln haben und greifen. Im Geistigen aber können wir ein Gemengsei aus teilweise leidlich klaren, teilweise ganz schemenhaften Vorstellungen schaffen, wobei das Mischungsergebnis bisweilen ziemlich konkret erscheinen mag, weil eben dieses Produkt der Wirklichkeit nahekommt. Es ist ihr abgelesen; a l l e E r l e b n i s s e sind aber höchst zusammengesetzte Mischgebilde. Aus diesen Andeutungen mag schon durchschimmern, daß als Gegenstand der Soziologie bezeichnet werden muß: die menschliche Gesellschaft. Jedoch müssen wir sogleich eine (freilich erhebliche) Umwandlung des Hauptworts Gesellschaft in das Tätigkeitswort: vergesellschaften vornehmen, wobei wieder dieses Verbum im doppelten Sinne im bejahenden u n d im verneinenden Sinne (gleich: eine Verbindung lösen oder lockern) zu verstehen ist. (Hier zeigt sich ein so oft fühlbarer Mangel der Sprache, daß es ihr an Worten fehlt, die e i n d e u t i g die positive wie die negative Seite bezeichnen. J a , schon der Gebrauch der Worte „positiv" [bejahend] und „negativ" [verneinend] ist irreführend, weil sich dabei die Nebenvorstellung von Bewertungen einschleicht. Wenn wir im folgenden von „negativer" Vergesellschaftung reden, ist niemals damit eine Unwertsbezeichnung oder auch nur eine Minderung gemeint; Zueinander und Auseinander gelten uns als völlig gleichwichtige, koordinierte Vorgänge; auch die U n Vergesellschaftung ist Vergesellschaftung im weiteren, hier allein maßgebenden Sinne.) Ein wichtiger Satz lautet demgemäß: es gibt keine Gesellschaft, auch keinen Gesellschaftsbau oder dergleichen
I. Soziologie als selbständige Einzelwissenschaft
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Substanzhaftes. Die vielen Anlehnungen der älteren Soziologie an die Biologie, ebenso die Übernahme von Vorstellungen aus der mit Spekulationen belasteten Staatslehre und Staatsphilosophie haben zu solchen irrigen Vorstellungen der Gesellschaft als einer Substanz geführt. Der „Leviathan", den freilich niemand beschreiben kann, scheint unsterblich zu sein. D i e S o z i o l o g i e hat vielmehr d a s s o z i a l e oder zwischenmenschliche Geschehen z u m G e g e n s t a n d e . In diesem einfachen, zahllose Probleme umschließenden Satze, sind vor allem drei Thesen enthalten: 1. Es gibt eine soziale Sphäre des menschlichen Lebens; es besteht neben den Körpern und Seelen von Einzelmenschen ein unsubstanzielles Netz von Beziehungen zwischen ihnen, aus denen alle Kultur hervorgeht. — 2. Diese Sphäre ist bisher noch nicht g e n ü g e n d i s o l i e r t von den anderen Lebensbereichen studiert worden. — 3. Erst wenn man aus systematischen Beobachtungen des Menschenlebens erkannt hat, welcher Art die von der sozialen Sphäre ausgehenden Bewirkungen, ihre Möglichkeiten und ihre Grenzen sind, kann man von soziologischen Betrachtungsweisen in anderen Wissenschaften einen fruchtbaren Gebrauch machen. Ein Hindernis auf diesem Wege ist der Glaube, wir wüßten als gebildete Menschen oder als gewiegte Praktiker oder als Fachleute (Juristen, Ökonomen, Theologen usw.) längst ausreichend über die soziale Sphäre Bescheid. Aus diesem Aberglauben entsteht ein großer Teil der Fehler in Politik und sonstigem öffentlichen und privaten Leben. In Wahrheit wissen wir deshalb so wenig darüber, weil wir erlebnismäßig nur die zusammengesetzten Erscheinungen: physisch plus psychisch plus sozial kennen. Die Soziologie, die wie jede theoretische Wissenschaft auf einer spezifischen Isolierung beruht, hat also drei Aufgaben: 1. das Soziale oder Zwischenmenschliche im Menschenleben vom übrigen Menschlichen zu abstrahieren;
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I. Soziologie als selbständige Einzelwissenschaft
2. festzustellen, was es bewirkt, und wie es bewirkt; 3. danach das Soziale in den Gesamtbereich des Menschenlebens wieder einzufügen, um seine Zusammenhänge mit diesem verständlich zu machen. Es muß sich in der Soziologie um a l l e Äußerungen und Bekundungen des zwischenmenschlichen Lebens handeln. Es sollte klar sein, daß man nicht von vornherein eine Auswahl treffen und nur bestimmte Vergesellschaftungen zu Gegenständen unserer Wissenschaft machen darf. Letzte Quellen für alles Geschehen in der Menschenund damit in der menschlichen Sozialsphäre sind die Menschenseelen und Menschenleiber. Aber erst durch die Einwirkungen des Ich auf das Du und die Verbindung beider zu einem Wir ergibt sich in positiven und negativen Spannungen das nach außen fruchtbare, das soziale Geschehen. Soziologie als Fachwissenschaft kann nur die L e h r e v o m S o z i a l e n , d. h. v o n d e n E i n w i r k u n g e n d e r M e n s c h e n a u f e i n a n d e r (im Neben- und Nacheinander) sein. Das Soziale ist dabei keine platonische Idee, die nur durch Wesensschau erkennbar wäre, sondern (wie wir noch sehen werden) eine G e s a m t h e i t v o n b e o b a c h t b a r e n P r o z e s s e n . Es handelt sich nicht um Spekulationen, sondern um nachprüfbare Beobachtungen. Diese Beobachtungen werden nur dadurch schwierig, daß die Ideologien nicht ruhen und unser Geist die Neigung besitzt, alles fließende Geschehen in Substanzen umzudichten. So machen wir aus dem Geschehen im Bereiche einer staatlichen Verbundenheit von Menschen „den Staat", obwohl es in Wirklichkeit eben nur staatliches Geschehen gibt, d. h. Prozesse, in denen die Menschen sich in bestimmten, nämlidi politischen Distanzen, begegnen. Das gleiche gilt von Kirche, Wirtschaft usw. Die allgemeine Soziologie haben wir von den speziellen Soziologien zu unterscheiden. Jene studiert die sozialen Prozesse in jeder Provinz des zwischenmenschlichen Lebens und sucht das Allgemein-Aufweisbare des zwischenmenschlichen Zusammenhangs, das Allgemein-Menschliche daran
I. Soziologie als selbständige Einzel Wissenschaft
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festzustellen; in den speziellen Gesellschaftslehren werden die sozialen Prozesse auf den einzelnen Kulturgebieten behandelt. Eine von vielen solchen speziellen Soziologien ist die Wirtschaftssoziologie, die von der Wirtschaftstheorie deutlich zu sondern ist 2 . Während diese das Wesen des ökonomischen isolierend feststellt, handelt es sich in der Wirtschaftssoziologie um die in der Wirtschaftssphäre aufweisbaren, zwischenmenschlichen Prozesse. Welchen Nutzen gewährt die Fachwissenschaft Soziologie der Praxis und den anderen Wissenschaften? Ferner: was können die anderen Wissenschaften zur Soziologie beitragen? Die erste Frage findet ihre Antwort in dem inhaltsreichen Satze: Die Soziologie stellt fest, was der MenschMensch-Zusammenhang als solcher bewirkt. Sie allein sondert deutlich die Sphäre des Zwischenmenschlichen vom Mensch-Ding-Verhältnisse. Damit wird sie die theoretische Grundlage von jeder Art Kunstlehre der Organisation. Überall da, wo es auf Feststellung des Persönlichen, Menschlich-Wirksamen ankommt, gibt sie die grundlegende und geordnete Erkenntnis. Man erfährt auch aus ihr, wie weit die Kräfte des Sozialen reichen, welche Anforderungen man an Menschen stellen kann, und welche Erwartungen enttäuscht werden. Besonders die Probleme der Pädagogik, Kriminalistik, des Geschäfts- und Arbeitslebens, des Vereins- und Geselligkeitswesens, der Interessenvertretung, der Wirtschaft, des Heerwesens, der Beamten- und Angestelltenwelt haben ihre wissenschaftlich feststellbaren Wurzeln in der Soziologie. Die anderen Wissenschaften geben ihr ebenso wie die unmittelbare Lebenserfahrung die Tatsadienzusammenhänge, den Stoff. Der Jurist, der Volkswirt, der Politiker usw. beobachten je einen Ausschnitt menschlicher und damit sozialer Kultur, etwa das kapitalistische Wirtschaftssystem oder den Faschismus; sie erklären n a c h d e n 2 Vgl. meinen Artikel „Wirtsdiaftssoziologie" in der vierten Auflage des "Wörterbuchs der Volkswirtschaft.
2 Soziologie
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II. Die geschichtlichen Ausgangspunkte der Soziologie
G e s i c h t s p u n k t e n i h r e s F a c h s den Zusammenhang kausal und final; sie leiten ihre Gesichtspunkte aus der Idee des Redits, der Wirtschaft, der Politik usw. ab. Sie geben sich dabei in der Regel wohl Rechenschaft darüber, daß diese Erscheinungskomplexe der Kultur im Erlebnisse nicht von der Sozialsphäre zu trennen sind; aber sie haben es eben stets mit dem M i s c h g e b i l d e Sozial-Ökonomik, Sozial-Jurisprudenz, Sozial-Politik (im allgemeinsten Sinne) zu tun. Sie wenden sich nun an den Soziologen mit der Aufforderung, aus dieser Mischung das Soziale zu destillieren. Es geschieht in der Gesellschaftslehre nach einem unten zu kennzeichnenden Verfahren. Jetzt erscheinen in dem Freskogemälde des Juristen usw. die großen Linien des Mensch-Mensch-Zusammenhangs. Das Motto ist: Homo sum, oder besser noch: Homines sumus. Nun ergibt sich abermals der Gewinn für die anderen Wissenschaften und für das praktische Leben: der Gehalt an Zwischenmenschlichem wird gesondert vom Ideologischen einerseits, vom Dinglichen, Materiellen anderseits. Die Elemente des Sozialen werden geklärt; sein Feld ist überschaubar und wird verstanden. Nach der Isolierung muß das Soziale wieder mit dem Dinglich-Zweckhaften verbunden werden. Aber das erneut Verbundene wird nun auch in der Kombination besser erkannt.
Kapitel Die geschichtlichen
II
Ausgangspunkte als Wissenschaft
der
Soziologie
Die Geschichte der Soziologie können wir, wenn wir nur das 19. und 20. Jahrhundert damit umfassen, als eine Entwicklung von der Enzyklopädie zur Einzelwissenschaft vom Sozialen ansehen. In vielen Wissenschaften streitet man über ihren Beginn, z. B. in der Sozialökonomik. D a neue Wissenschaften
II. Die geschichtlichen Ausgangspunkte der Soziologie
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nur selten mit einem bestimmt markierten Ereignisse, etwa mit einer Entdeckung oder Erfindung, beginnen, da vielmehr meist eine allmähliche Entwicklung des allgemeinen Wissens besteht, in der erst nachträglich infolge der Notwendigkeit der Systematisierung und Abgrenzung — gewissermaßen künstlich — Abschnitte gebildet werden, so ist ein solcher Streit nicht zu entscheiden. Die Frage nach dem Beginne ist eine Zweckmäßigkeitsfrage. Wichtiger ist, sich der meist langen Vorgeschichte bewußt zu sein. Wir wissen, daß ökonomische Fragen in der Antike und im Mittelalter vielfach behandelt worden sind, daß sie damals aber in inneren Zusammenhang mit anderen Wissenschaften gestellt wurden. Audi über unseren Gegenstand, die zwischenmenschlichen Beziehungen, ist zu allen Zeiten nachgedacht und manches vorgebracht worden. Aber die Selbständigkeit dieser Problematik des Sozialen ist erst schrittweise klargeworden. In der Hauptsache erkennt man erst allmählich im 19. und 20. Jahrhundert, daß es eine selbständige Wissenschaft vom Sozialen, d. h. vom menschlichen Zusammenleben, mit einem eigenen umgrenzbaren Objekt gibt. Was vorher geschaffen wurde, ist mehr Politik, bei der Staat und Gesellschaft nicht deutlich genug geschieden werden, oder ist mehr Ethik und Morallehre als empirische Erkenntnis des Zwischenmenschlichen an sich. Nicht aufrechtzuerhalten ist ferner die Herleitung der modernen Gesellschaftslehre aus nur e i n e r geschichtlichen Wurzel. Die Wissenschaft vom menschlichen Zusammenleben keimte auf verschiedenem Boden. Ihre Entstehung entsprach den Bedürfnissen nicht nur e i n e s Volkes und nicht nur e i n e s Wissenschaftskreises. Vielmehr ergibt sich, daß, wenn die nationale Geisteskultur eines einzelnen Volkes einen bestimmten Entwicklungsgrad erreicht hat, in ihr Soziologie entsteht. Bei den Völkern des mittel' und westeuropäischen Kulturkreises ist dies ungefähr an der Wende des 18. zum 19. Jahrhundert eingetreten. Doch besteht kein grundsätzliches Bedenken, den 2*
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I I . D i e geschichtlichen A u s g a n g s p u n k t e der Soziologie
Beginn früher anzusetzen, je nachdem, was man als das Entscheidende dieses Geburtsvorganges ansieht. Es ist hier nicht möglich, allen Werdeprozessen der Soziologie erschöpfend nachzugehen; für uns mag genügen, auf drei Wurzeln hinzuweisen: 1. auf die deutsche Romantik und die deutsche idealistische Philosophie; 2. auf C o m t e s Philosophie, zumal da dieser Philosoph der Sache den siegreichen Namen Soziologie gegeben hat; 3. auf ihre Entwicklung aus anderen Wissenschaften als der Philosophie, nämlich vorwiegend aus Biologie, Geschichte und Sozialökonomik. Einen anderen Anfangszeitpunkt nimmt z. B. S o m b a r t 1 an. Er sieht jene Denker des 17. und 18. Jahrhunderts in Frankreich und England als die Schöpfer der Naturlehre der menschlichen Gesellschaft an, die im Gegensatz zum alten (mehr oder weniger theologischen) Naturrecht die menschliche Gesellschaft samt ihrer Kultur als ein Stück Natur selbst ansahen. Er nennt beispielsweise Cumberland, Temple, Petty, Shaftesbury, Mandeville, Adam Smith und andere. Für sie sei eine neue naturalistische, die „westliche" Soziologie seitdem charakterisierende Auffassung des Gesellschaftslebens bezeichnend. Dem wäre entgegenzuhalten, daß auch schon manche profane Naturrechtler in Weiterführung alt überkommener Ideen des Epikureismus und erst recht manche Vertragstheoretiker zu einer kausal-empirischen Deutung des sozialen Geschehens neigten. B r i n k m a n n 2 sieht in der politischen Literatur des westeuropäischen Barockzeitalters von Hobbes bis Adam 4 V g l . W S o m b a r t , D i e A n f ä n g e der S o z i o l o g i e in „ E r i n n e r u n g s g a b e f ü r M a x W e b e r " , 1 B a n d , S . 5 ff., München und L e i p z i g 1923. 2 V g l . B r i n k m a n n , Versuch einer Gesellschaftswissenschaft, München und L e i p z i g 1918 und d e r s . , Gesellschaftslehre, in d e r E n z y k l o p ä d i e d e r R e d i t s und S t a a t s w i s s e n s d i a f t e n , X X X X V I I I , B e r l i n 1925.
II. Die geschichtlichen Ausgangspunkte der Soziologie
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Smith und Rousseau, in der in ihr zum Ausdruck kommenden „Daueropposition der Intelligenz gegen die gesellschaftlichen Mächte" den Beginn der Soziologie. Uns will jedoch scheinen, daß das nur für die soziologische Theorie der Politik zutrifft, und daß gerade die allzu politische Einstellung von Denkern wie Hobbes, Mandeville, Ferguson sie hinderte, den Grundfragen der allgemeinen Soziologie nahezukommen. Paul B a r t h hat in seiner „Philosophie der Geschichte als Soziologie" seinerseits anders als die Forscher, die das 17. und 18. Jahrhundert bevorzugen, darauf hingewiesen, daß die Soziologie „der Sache nach" bis auf Plato zurückgehe, was Sombart nicht gelten lassen will. Jedoch haben auch schon vor Plato Heraklit und die Sophisten, nach Plato Aristoteles und besonders die Stoiker und Epikureer zahlreiche Fragen des gesellschaftlichen Lebens, besonders die nach Ursprung und Aufgaben des „Staats" — mit dem Worte politeia ist mehr als der Staat im heutigen Sinne, auch die „bürgerliche Gesellschaft" umfaßt — erörtert. Aber die Denkweise, mit der es geschah, ist — zumal bei Plato — ausgesprochen unsoziologisch, wenn man darunter eine bestimmte Betrachtungs- und Beurteilungsweise verstehen will. Sehr richtig sagt darüber Albion W. S m a 113: „Als ein Muster der Dialektik ist ,der Staat 1 (Piatos) das hervorragendste Beispiel für das, was n i c h t Soziologie ist. Eine Gruppe von Soziologen rechnet jeden zu den Soziologen, der über soziale Verhältnisse nachgedacht hat. Der vorliegende Aufsatz vertritt die Ansicht, daß nur diejenigen Soziologen sind, die eine Methode handhaben, welche in diametralem Gegensatz zur Dialektik steht. Plato betrachtet den ,Staat* nicht als eine Abhandlung zur politischen Wissenschaft oder zur Soziologie, sondern als eine Untersuchung aus dem Gebiete der Moralphilosophie. Die platonische Methode war ein Versuch, dadurch Wahrheit zu schaffen, 8 I n einem A u f s i t z e : Sociology and P l a t o ' s Republic, American J o u r n a l of Sociology, X X X , 5.
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II. Die geschichtlichen Ausgangspunkte der Soziologie
daß man zur Übereinstimmung zwischen Begriffen oder Lehrsätzen gelangte. Die wissenschaftliche Methode ist dagegen ein Versuch, dadurch Wahrheiten zu entdecken, daß man Gleichförmigkeit von Ursache und Wirkung in der objektiven Welt beobachtet." Philosophen wie Plato suchen Wahrheit aus Übereinstimmung von Ideen zu s c h a f f e n , nicht durch Beobachtung der objektiven Welt Wahrheit zu e n t d e c k e n ; sie sind deswegen keine Soziologen, sondern eben Philosophen; auch für die theologischen Denker des christlichen Mittelalters (wie Augustin und Thomas), für m a n c h e Naturrechtler und m a n c h e Vertragstheoretiker, wie für viele an Gesellschaftsproblemen interessierte Philosophen der Gegenwart gilt dasselbe. Immerhin bereitet die Theorie vom „rechten" Staate, vom Gottesstaate, die Spekulation über das der gesellschaftlichen Ordnung vorausgehende Naturstudium (z. B. Hobbes „homo homini lupus"), der alte Streit der Stoiker und Epikureer über die dem Menschen angeborene (oder nichtangeborene) soziale Natur, über das Verhältnis von Umgebung und inneren Eigenschaften u. a. m. die soziologische Fragestellung vor, führt sie freilich durch das Nachwirken alter unausrottbarer Vorurteile und Antithesen oft genug irre. Zähllos sind die Anbahnungen einer Wissenschaft vom gesellschaftlichen Leben bei vielen Ethikern, Politikern und Kulturinterpreten; aber sie vermengen normative (Soll-)Wissenschaft mit der beschreibenden und systematisierenden (Seins)-Wissenschaft. Othmar S p a n n * sieht in Kant und Fichte die Begründer der Gesellschaftslehre. Sicherlich läßt sich aus der deutschen Philosophie des 18. und der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts manche Verbindungslinie zur späteren eigentlichen Soziologie hinüberleiten. Will man aber aus der Reihe der deutschen Philosophen einige Denker als 4
O . S p a n n , Gesellsdiaftslehre, 3. Auflage, Leipzig 1930.
II. Die geschichtlichen Ausgangspunkte der Soziologie
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besonders einflußreich (im guten und schlechten Sinne) ansehen, so müssen neben H e g e l Kant und Fichte genannt nannt werden. Die Romantiker e r s c h e i n e n v o r a l l e m G e o r g v. B e 1 o w 5 als Förderer soziologischer Erkenntnis, da sie die historischen Erscheinungen nicht einseitig aus bewußten Handlungen der einzelnen Menschen herleiteten, sondern auf unbewußte Kräfte, objektive Mächte als deren Quelle hinwiesen. Besonders ihre Theorie vom Volksgeiste, aus dem Recht, Sprache und Kunst hervorgingen, sei hierfür wesentlich. Später waren "jedenfalls die Forschungen Robert v. M o h 1 s , Lorenz v. S t e i n s und gleichstrebender Gelehrten um die Mitte des 19. Jahrhunderts, zu denen auch Heinrich v. T r e i t s c h k e in seinen jüngeren Jahren gehörte, der Entwicklung des soziologischen Denkens sehr förderlich. Sie sonderten die Begriffe von Staat und Gesellschaft, wobei freilich Gesellschaft nicht den abstrakten Sinn hat, den wir heute damit verbinden. Es ist, wie gesagt, vielmehr die b ü r g e r l i c h e Gesellschaft, die Trägerin der öffentlichen Meinung, gemeint. Bei Mohl vor allem sind also Staat und Gesellsdiaft gleichgeordnete Gebilde, die n e b e n e i n a n d e r in Wechselbeziehungen stehen, während für die Modernen der Staat ein Gebilde innerhalb des übergeordneten Universalgebildes Gesellschaft ist, wenn man überhaupt ein solches Universalgebilde gelten lassen will. Bei dieser Hervorhebung deutscher Denker spielt sicherlich auch das Bestreben mit, gegenüber einer einseitigen Herleitung der soziologischen Tradition von den Franzosen S t - S i m o n und C o m t e und dem Engländer Herbert S p e n c e r den Anteil der deutschen Wissenschaft 5 In seiner Streitschrift „Soziologie als Lehrfach", Sonderabdruck aus SchmoHers Jahrbuch, 43. Jahrg., 4. Heft, München und Leipzig 1920. Vgl. zu ihrem Inhalte die Antworten von F . Tonnies und L . v. Wiese. Der Erstgenannte hat im Weltwirtsch. Archiv, B d . 16, S . 212 ff., unter dem Titel „Soziologie und Hochschulreform", der Zweite in Schmollers Jahrbuch, Jahrg. 44, S . 347 ff. unter dem Titel „Die Soziologie als Einzelwissenschaft" erwidert.
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I I . D i e geschichtlichen A u s g a n g s p u n k t e d e r
Soziologie
und Philosophie an der Vorbereitung der neuen Wissenschaft gebührend in den Vordergrund zu stellen. Auch sonst zeigt sich vielfach die Tendenz, nationale Besonderheiten und Traditionen bei der Geschichte unserer Wissenschaft und der Datierung ihres Beginns zu betonen. So weist etwa der Tscheche Vasil K . S k r a c h 6 auf Johann H u s und C h e l t s c h i z k i als Inauguratoren böhmischer Sozialphilosophie hin. C a r 1 i 7 nennt seine Landsleute Machiavelli und Vico neben Bodinus, Hobbes, Bossuet, Montesquieu, den Physiokraten und den Enzyklopädisten. Bei der Dehnbarkeit des Begriffs einer allgemeinen Soziologie und der Möglichkeit ihrer Gleichsetzung mit Sozialphilosophie haben diese und andere Versuche ebensoviel Anspruch auf Anerkennung, wie es nicht schwer ist, sie bei Zugrundelegung einer anderen Auffassung der Disziplin mit guten Gründen abzulehnen. Lehrreich ist in dieser Hinsicht S m a l l s 8 Werk über die Anfänge der Soziologie: Es ist darin nur wenig und mehr beiläufig von Comte und Spencer sowie von anderen westeuropäischen Denkern die Rede, dafür werden Thibaut und Savigny, Eichhorn, Niebuhr, Ranke, Roscher, Knies, Treitschke, Schmoller, die Kathedersozialisten und die österreichische Schule sehr eingehend behandelt. Adam Smith' Werk und Einfluß bleiben nicht unerwähnt; aber es wird nicht viel mehr über ihn gesagt, als in einer Geschichte der deutschen Sozialökonomik über ihn gesagt werden muß. Richtig ist ja dabei sicherlich, daß in Deutschland, Frankreich und England während des 19. Jahrhunderts und auch heute noch viele soziologischen Probleme unter anderem Namen behandelt werden. Nach der im folgenden vertretenen Auffassung ist die bisherige Entwicklung der Soziologie ein sehr allmählich 6 Vgl. seine Glossen „über die tschechische Soziologie" usw. Kölner Vierteljahrshefte, 5. J a h r g . , Heft 3. 7 In seinem Buche „Le Teorie Sociologidie", Padua 1925. 8 Vgl. Albion W. Small: Origins of Sociology, Chicago 1924.
II. Die geschichtlichen Ausgangspunkte der Soziologie
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voranschreitender Prozeß der wachsenden Selbsterkenntnis der Disziplin von ihrer Besonderheit und Eigenart; er vollzog und vollzieht sich durch beständig zunehmende Einschränkung ihres Umfangs, durch genauere Fragestellung und durch Entwicklung einer selbständiger werdenden Methode. Das bedeutet zugleich eine Lösung von der Sozialphilosophie, allgemeinen Kulturlehre, Ethik und von anderen sozialen Einzelwissenschaften, die neben ihr bestehen. Da aber dieser Lösungs- und Verselbständigungsprozeß erst in der unmittelbaren Gegenwart vor sich geht, so ist eine Auffassung beweisbar, die alle Soziologie in Deutschland vor Tönnies und Simmel, in Frankreich vor Tarde, in Amerika vor Small, Giddings und Ross in die Vorgeschichte verweist. Ich behaupte in der Tat, daß die Soziologie als deutlich umgrenzte soziale Einzelwissenschaft erst in den letzten fünfzig Jahren entstanden ist. Aber die ersten Versuche, den Weg zu diesem Standpunkt zu finden, sind zum mindesten ein Jahrhundert älter; sie werden deutlicher umgrenzbar etwa vom Ende der großen französischen Revolution an. Wir u n t e r s c h e i d e n deshalb eine l a n g e V o r g e s c h i c h t e , zu der wir Antike und Mittelalter rechnen, und die wir b i s z u m A u s g a n g e d e s 18. J a h r h u n d e r t s datieren, dann ein e r s t e s S t a d i u m der Soziologie als U n i v e r s a l w i s s e n s c h a f t (19. J a h r h u n d e r t ) , in der sie sich insofern schon als selbständige Wissenschaft zu dokumentieren sucht, als sie die Frage: was ist Gesellschaft? zu ihrer Kern- und Grundfrage macht, aber sich dadurch den Weg zur fruchtbaren Erkenntnis versperrt, daß sie im Zusammenhange damit zu viel außersoziologische, wenn auch sozialwissenschaftliche oder sozialphilosophische Fragen mit zu beantworten sucht, schließlich ein / w e i t e s S t a d i u m der Reifung einer selbständigen und eingegrenzten Wiss e n s c h a f t d e r ' S o z i o l o g i e in der Gegenwart, wobei wieder die Grenze zwischen dem ersten und zweiten
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II. Die geschichtlichen Ausgangspunkte der Soziologie
Stadium fließend erscheinen mag und von der Beurteilung der Leistung des einen oder anderen Forschers abhängt. Uns beschäftigt zunächst die Entstehung des ersten Stadiums, das wir ungefähr in die Jahre 1810 bis 1890 legen: Noch in der großen französischen Revolution überwog durchaus die geistige Teilnahme an den rein politischen, zumal den Verfassungsfragen. Wenn auch schon manche Denker des 17. und 18. Jahrhunderts hinter dem Wechsel politischer Erscheinungen allgemeinere Naturgesetze der sozialen Entwicklung angenommen und das Politische nur als e i n e von zahlreichen Erscheinungsreihen der Gestaltung des zwischenmenschlichen Lebens angesehen hatten, so drängte sich doch die naiv-voluntaristische Auffassung, daß man den Staat und die bürgerliche Gesellschaft völlig willensmäßig gestalten könnte und dabei das politische Ethos entscheidend wäre, zu sehr hervor. Es fehlte in der Behandlung der Aufgaben des öffentlichen Lebens noch die eigentlich soziologische Denkweise, die das Gruppen- und Gemeinschaftsleben insgesamt als eine Welt mit eigenen Struktur- und Bewegungsgesetzen ansieht. Sicherlich haben zu der Entbindung des Geistes der Soziologie äußere Umstände beigetragen; in der Hauptsache dieselben, die den Sozialismus (der aber nicht mit Soziplogie gleichzusetzen ist) vorbereitet haben: technisch-wirtschaftliche Erscheinungen, neue Bevölkerungstatsachen, die Ansammlung von Menschen in den großen Städten, vor allem die deutlichere Vorstellung von Masse und Proletariat, die durch das Anwachsen der gewerblichen Arbeiterschichten aufgedrängt wurde. Unter den sozialen Gebilden wurde die „Klasse" neu entdeckt, und die Befassung mit dieser problematischen „Samtschaft" zwang zum Nachdenken über die Wechselbeziehungen von Gruppen überhaupt. Das ist gewiß nicht etwas völlig Neues gewesen; aber die Dringlichkeit und Deutlichkeit des Gesellschaftlichen wuchs. Man erkannte: auch mit einer ganz demokratischen Staatsverfassung, mit der Gleichheit der Bürger vor dem Gesetze, mit der Abschaffung der Privilegien und aller
II. L)ie geschichtlichen Ausgangspunkte der Soziologie
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Rechte des Feudalstaats ist von den „sozialen Fragen" erst ein recht kleiner Teil „gelöst". Aus diesem europäischen Boden wuchs e i n Zweig, der von den Besserungsbeflissenen gepflegt wurde: der Sozialismus. Es wuchs aber gleichzeitig der ganz anders geartete der Soziologie empor, der ein Baum der Erkenntnis, nicht der Lebensänderung werden sollte. (Doch darf dieses Bild von den zwei ungleichen Reisern nicht so ausgelegt werden, als ob es gar keine Verbindung zwischen Theorie des Sozialismus und Soziologie gäbe.) Freilich die Romantiker und die deutschen idealistischen Philosophen, zumal S c h e l l i n g und H e g e l , sind von der Gesellschafts- und Wirtschaftsstruktur des 19. Jahrhunderts verhältnismäßig wenig beeinflußt worden. Aber ihr Bestreben, zwischen dem Absoluten, Göttlichen und Geschichte, Staat, Volk und Recht einen metaphysischen Zusammenhang herzustellen, ein Streben, das schließlich zu Hegels Glauben führte, der göttliche Wille objektiviere sich im Staate, ist geschichtlich als Reaktion auf die Aufklärung, den Liberalismus und die Revolutionsgesinnung des 18. Jahrhunderts zu begreifen. Diese Philosophen hinterließen der Soziologie die Aufgabe, die großen abstrakten Kollektiva: Volk, Staat, Kirche, Genossenschaft, schließlich Gesellschaft zu erklären. Freilich ist diese Abstammung von der Spekulation eine gefährliche und verleitende Erbschaft für die deutsche Gesellschaftslehre geworden. Noch heute suchen manche Soziologen mit denselben Mitteln der Geschichts- und Sozialphilosophie die gar nicht philosophischen Probleme ihrer Wissenschaft zu lösen. Der Schreiber dieser Zeilen bekennt sich zu der Auffassung, daß man wie von Plato so auch von Schelling und Hegel, Adam Müller und Novalis nicht lernen kann, wie der Soziologe an die ihm gesteckte Aufgabe herantreten darf. Es gibt sicherlich eine Metaphysik der Gesellschaft; sie pflege der Philosoph. Der Soziologe soll Realist und Empiriker sein, wobei wir von der Erfahrungs-Erkenntnis die phänomenologisch-
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II. Die geschichtlichen Ausgangspunkte der Soziologie
verstehende nicht absondern, sondern ihr zugesellen. N u r daß ihr die „letzten Fragen", der objektive, absolute, gottgewollte „Sinn" der Erscheinungen nicht zu erörtern bestimmt sind, muß mit Nachdruck ausgesprochen werden. Uns will scheinen, daß wir als Soziologen von Hegel nicht die Betrachtungs- und Behandlungsweise der Probleme lernen können, sondern mehr die Grenzen fixiert sehen, über die hinaus die Forschung nicht zu dringen vermag. Sie überläßt die umwölkten Höhen letzter Zusammenhänge den Philosophen. Aber auch die zweite geschichtliche Wurzel, von der wir eben gesprochen haben, bedarf nicht minder einer kritischen und mißtrauischen Beschauung: die französische in der Philosophie des Grafen S t - S i m o n und Auguste C o m t e s. Wenn wir auch, der Tradition und speziell dem Beispiele Paul Barths folgend, unsere historische Übersicht mit ihnen beginnen, so geschieht es mit dem Vorbehalte, daß die heutige Soziologie, soweit sie fruchtbar und zukunftsreich ist, vorsichtiger in Verallgemeinerungen ist und die Gültigkeit ihrer Hypothesen mehr auf der Beobachtung der Wirklichkeit aufbaut, als dies Comte und sein geistvoller Lehrer getan haben. Vielfach nimmt man heute Anstoß daran, daß die beiden Denker, zumal der systematischere Comte, „Positivisten" waren. Gilt doch Comte als der eigentliche Begründer dieser Denkweise. Bei ihm ist Positivismus und Soziologie so eng miteinander verflochten, daß sie nicht voneinander zu trennen sind. N u n hat man aber dieser das 19. Jahrhundert beherrschenden „naturalistisch-mechanistischen Weltanschauung" den Krieg erklärt. Eine Anerkennung Comtes als „Vater" der Soziologie (er ist als Namengeber wohl ihr Pate) scheint damit audi ein Bekenntnis zur positivistischen Denkweise zu enthalten. In der T a t galten vielen die Soziologen schlechthin als Positivisten. Dadurch, daß sie sich Soziologen nennen, bekennen sie sich angeblich auch zu Comtes Weltanschauung. Hier zeigt sich wieder die bedenkliche Neigung, in der Soziologie
II. Die geschichtlichen Ausgangspunkte der Soziologie
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eine Art Konfession und ein bestimmtes Ethos zu erblicken, die mit der ursprünglichen Verbindung zwischen ihr und der Philosophie zusammenhängt. Ich behaupte demgegenüber, daß Gesellschaftslehre als realistische Wissenschaft mit dem Gegensatz von Positivismus und Anti-Positivismus überhaupt nichts zu tun hat. W a s uns in soziologischer Hinsicht an Comtes Lehre interessiert, soll noch gezeigt werden. Seinem Positivismus sollte der Soziologe als solcher neutral gegenüberstehen. (Ist er auch Philosoph oder gar im speziellen Ethiker, so mag und muß er zu seiner „Weltanschauung" Stellung nehmen.) Damit ist aber auch schon angedeutet, worin die Gefahr der Anknüpfung an Comte liegt: daß auch bei ihm das ererbte Grundstück der Soziologie mit der Hypothek der Spekulation belastet ist. Fruchtbarer als die geschichtlichen Verankerungen der Soziologie in der deutschen oder in der französischen Philosophie der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts sind die mannigfachen Anknüpfungen an die eigentlichen Wissenschaften, von denen gleich noch zu sprechen sein wird. Auch dabei fehlt es nicht an Irrleitungen. Es kann zweifelhaft erscheinen, ob etwa die Nachbarschaft zur Biologie der Gesellschaftslehre mehr Vorteile oder mehr Nachteile gebracht hat. Aber besonders die Anregungen und Aufgabezuweisungen, die sie der Geschichte (in Deutschland z. B. Niebuhr, Ranke, Treitschke), der Jurisprudenz (Savigny, Eichhorn usw.), der Nationalökonomie (Knies, vor allem Schmoller und Bücher) und anderen Kulturwissenschaften verdankt, sind beträchtlich. Gerade aus Vergleichen der in den Nachbarwissenschaften herrschenden Fragestellungen und Antwortfindungen mit ihrer eigenen Problematik konnte sie allmählich das Unterscheidungsund Selbstbewußtsein für ihr Eigenes gewinnen. So nützlich der Soziologie die mannigfachen Verbindungen mit Philosophie und einer großen Zahl anderer Wissenschaften war, so erschwerte ihr die beständige Ablenkung in fremde Gedankengänge den Reifeprozeß. Ihre
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III. Die Hauptriditungen der Soziologie
Jugend war bewegt, abwechslungsreich und mannigfaltig; aber die große Geistesfamilie, in die sie sich gestellt sah, hinderte sie an der Sammlung und Besinnung auf die eigene Bestimmung. Kapitel Die Hauptrichtungen
III der
Soziologie
In der geschichtlichen Entwicklung der Soziologie während ihres ersten Stadiums von (verhältnismäßiger) Selbständigkeit, also in der Hauptsache während des 19. Jahrhunderts, sind die H a u p t t h e o r i e n nach den Antworten geordnet, die die Autoren auf die Frage: w a s i s t G e s e l l s c h a f t ? gegeben haben; ferner nach dem jedesmaligen Z u s a m m e n h a n g e m i t e i n e r ä l t e r e n W i s s e n s c h a f t , von dem aus die Probleme der Gesellschaftslehre aufgefaßt worden sind. Die soziologischen Theorien des g e g e n w ä r t i g e n Entwicklungsstadiums werden wir jedoch zweckmäßigerweise nach einem anderen Gesichtspunkte ordnen. Es stände nichts im Wege, die beiden genannten, auf die Geschichte anzuwendenden Kriterien beizubehalten; aber da sich z. B. die naturwissenschaftlichen Soziologien stark vermindert haben, jedoch neue Abzweigungen hervorgetreten sind, glauben wir, ein richtigeres Bild der Gegenwart durch eine neue, der älteren verwandte Einteilung geben zu können. a) Zur Vergangenheit: Während des 19. Jahrhunderts ist die G e s e l l s c h a f t in der Hauptsache auf d r e i verschiedene Weisen aufgefaßt worden. Eine „Richtung" faßt sie als eine Einheit, ein Ganzes, als Substanz, jedenfalls als Seiendes auf. Dabei sind w i e d e r z w e i A n s c h a u u n g s w e i s e n z u s o n d e r n : den einen ist dieses Seiende, alten platonischen Vorstellungen folgend, eine I d e e , nach der sich die in Teilerscheinungen und körperlichen Konkretisierungen sichtbare Menschenwelt
III. Die Hauptrichtungen der Soziologie
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formt. Den anderen ist die Gesellschaft ein Organismus, ein (mit unseren Sinnen allerdings nicht wahrnehmbares) Lebewesen. Eine zweite Auffassung geht dahin, daß die Gesellschaft in einer Summierung von Gruppen besteht. Bei ihr ist es richtiger, die Einzahl durch den Plural: die Gesellschaften zu ersetzen. Jedoch sind hiernach die sozialen Gebilde Ganzheiten und Einheiten. Der dritte Kreis von Autoren faßt „die Gesellschaft" als ein Produkt von wechselnden V o r g ä n g e n d e r V e r g e s e l l s c h a f t u n g auf. Das Wort Gesellschaft ist ihr nichts Substantivisches, bezeichnet nicht ein Ding, ein Seiendes, sondern hat verbalen Charakter. Es ist ein Gescheheh, eine Vielheit von Prozessen. Stellen wir neben diese Dreiteilung die Zusammenhänge mit Nachbarwissenschaften; sie sind ja zugleich auch entscheidend für das Verfahren, das die Autoren bevorzugen: Vielen war die Soziologie 1. eine N a t u r w i s s e n s c h a f t ; sie verknüpften sie vorwiegend a) mit der B i o l o g i e , manche davon speziell innerhalb dieser: a) mit R a s s e n t h e o r i e ; b) eine andere naturwissenschaftliche Verknüpfung bestand darin, daß man der Soziologie mit Gesichtspunkten und Arbeitsweisen der Physik (oder, seltener, der C h e m i e ) nahezukommen bestrebt war. Diese „soziale Physik" sucht vorwiegend die B e w e g u n g s g e s e t z e des gesellschaftlichen Geschehens zu erfassen, sei es, daß sie, um die wichtigsten Beispiele zu nennen, anfangs die Schwerkraft, später das Gesetz von der Erhaltung der Kraft und des Stoffes auch im Sozialen aufwies. — 2. Im ersten Kapitel ist ferner bereits angedeutet worden, daß die Verbindung mit der Philosophie vielen Soziologen selbstverständlich war. Hierbei wiederum war für sie die Sozialphilosophie entweder a) dasselbe wie Soziologie oder speziell b) die (jener nahe verwandte) engere Geschichtsphilosophie. Dort bemühte man sich um Deutung der gesellschaftlichen Grunderscheinungen, suchte ihren objektiven Sinn, ihren „Geist" zu erfassen. Hier
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III. Die Hauptrichtungen der Soziologie
handelte es sich vorwiegend um Theorien der Kulturfolge und der Entwicklungsphasen. Nicht zu verwechseln mit dieser V e r k n ü p f u n g der Soziologie mit Sozial- u n d Geschichtsphilosophie ist der (mehr f ü r die Gegenwart als f ü r das 19. J a h r h u n d e r t ) bezeichnende Versuch, der Soziologie als einer speziellen Sozialwissenschaft ihre besondere erkenntnistheoretische G r u n d lage zu geben. D a wie jede Wissenschaft auch jede Art Soziologie in der Erkenntnistheorie ihre formale W u r z e l finden muß, so h a t auch die Soziologie ihr allgemein formalphilosophisches Fundament. Aber es ist etwas ganz anderes, ob man mit der „philosophischen" Grundlage Logik und Erkenntnistheorie u n d die alle Wissenschaften beherrschenden Denkgesetze meint oder den I n h a l t der viel subjektiveren Konstruktionen der Spekulation über Sinn, Geist u n d Wesen von Geschichte, Gesellschaft, Kultur, Zivilisation, Staat usw. Z u den S p e z i a l w i s s e n s c h a f t e n , an denen man Anlehnung suchte, gehörten schließlich vorwiegend 3. die P s y c h o l o g i e und 4. die E t h n o l o g i e (Ethnographie). In seelenkundlicher Hinsicht k a m es den dabei in Frage kommenden Autoren vorwiegend darauf an, die i n n e r e n Wechselbeziehungen zwischen Menschen in ihrer Bedeutung f ü r das gesellschaftliche Leben d a r z u t u n . Die Schriftsteller des völkerkundlichen Kreises gingen von der Überzeugung aus, d a ß man die verwickelten sozialen Beziehungen u n d Gebilde nur durch Zurückgreifen auf einfache Gruppenverhältnisse, wie sie bei den N a t u r v ö l k e r n zu beobachten wären, erklären könnte. Verbinden wir die Einteilung nach dem ersten Kriterium mit der Gruppierung nach dem unterscheidenden Merkmale der zweiten O r d n u n g , so kann man (in beträchtlicher Vereinfachung) sagen: die Gesellschaft wurde a l s E i n h e i t von Naturwissenschaftern und N a t u r philosophen (z. B. C o m t e), von Sozialphilosophen (z. B. D ü r k h e i m , S c h ä f f l e ; um einen Heutigen zu nennen: S p a n n ) , von Geschichtsphilosophen (z. B. L o r e n z
III. Die Hauptrichtungen der Soziologie
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v o n S t e i n , B a r t h ) aufgefaßt; als Vergesellschaftung faßte sie die Philosoph S i m m e l ; als Gruppensummierung findet sie sich besonders bei manchen Amerikanern, die von der Psychologie ausgehen, aber auch — obzwar in manchmal wenig konsequenter Weise neben den beiden Auffassungen — bei den verschiedensten Standpunkten in der europäischen Literatur. b) Gegenwärtig: In der G e g e n w a r t scheint uns vor allem notwendig zu sein, zunächst Soziologie als wissenschaftliche D i s z i p l i n und Soziologie als „M e t h o d e" innerhalb einer anderen Wissenschaft zu unterscheiden. Dabei ist die Redewendung „Soziologie als Methode" ungenau (wenn auch üblich); gemeint ist damit, daß in diesen Fällen das Soziale (das Zwischenmenschliche oder das Gruppenund Gebildhafte) bei Fragestellungen anderer Wissenschaften wesentlich berücksichtigt wird. Innerhalb der Soziologie als Disziplin müssen wir h e u t e d r e i Zweige (kleinere Abspaltungen und Vermischungen ungerechnet) unterscheiden, wobei wir freilich in erster Linie die deutschen Verhältnisse im Auge haben und für die Literatur des Auslands diese Einteilung nur teilweise gelten lassen können: 1. Soziologie als Lehre vom g e s c h i c h t l i c h e n Verlaufe des sozialen Lebens (oder „der Gesellschaft") (historische Soziologie); (gegenwärtiger Sonderzweig: die Kultursoziologie); 2. Soziologie als Sinndeutung geistiger Kräfte und als Lehre von Bewußtseinskräften (philosophische, nämlich a) m e t a p h y s i s c h e und b) e r k e n n t n i s theoretische Soziologie; (gegenwärtiger Sonderzweig: die Wissenssoziologie); 3. Soziologie als s y s t e m a t i s c h e Wissenschaft vom gesellschaftlichen Geschehen auf realistisch-empirisdier Grundlage ( s y s t e m a t i s c h e S o z i o l o g i e ) . Die historische Soziologie, die die Vorgänge der Vergangenheit als Material für ihre Abstraktionen bevorzugt, ist nicht zu verwechseln mit der soziologischen Methode 3 Soziologie
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III. Die Hauptrichtungen der Soziologie
in der Geschichtswissenschaft, wenn auch die Grenzen zwischen beiden fließend sind. Die erstgenannte sucht den objektiven Sinn und Geist von Kulturperioden, Kulturkreisen und -stufen, von ganzen in der Geschichte vorkommenden Sozialsystemen zu deuten. Als historische Soziologen ragen in Deutschland M a x und A l f r e d W e b e r , W e r n e r S o m b a r t , H a n s F r e y e r und A l f r e d M ü l l e r - A r m a c k hervor. Das soziologische V e r f a h r e n , dessen sich die eigentlichen Historiker bedienen, beruht hingegen darauf, daß Geschichtsforscher, deren Hauptaufgabe die Darstellung des Geschehens in der vergangenen Zeit ist, dabei die Gruppenerscheinungen vor den persönlichen Tatsachen bevorzugen, wie es etwa L a m p r e c h t getan hat. Es besteht eine Auffassung, die entweder überhaupt nur eine geschichtliche (keine allgemein-systematische) Erkenntnis des gesellschaftlichen Lebens gelten läßt oder (weniger radikal) die Vorrangstellung einer Soziologie des N a c h einander vor der des N e b e n einander behauptet. Eine allgemeine Querschnittbetrachtung, die gewissermaßen zeitlos oder überzeitlich ist, wird verworfen, weil der ewige Wandel der Dinge nur zeitlich gebundene (aufsteigende, blühende und vergehende) Erscheinungen hervorbringe. Man könne nur bestimmte Zeitabschnitte und zugleich (wobei sich die Verwandschaft von geschichtlichem und geographischem Determinismus zeigt) räumlich begrenzte Kulturkreise studieren. Die Bevorzugung der Vergangenheit vor der Gegenwart empfehle sich dabei, weil „die aus der Aktualität schöpfende Soziologie" Selbsttäuschungen durch die Färbung ihrer „Tatsachen" mit unbewußten Vorurteilen, Leidenschaften und Interessen besonders ausgesetzt sei1. Auch Paul B a r t h 2 meinte: „Nicht jedes Brinkmann, Gesellsdiaftslehre, 1. c., S. 2. Barth, Die Philosophie der Gesdiidite als Soziologie, S. 151, Leipzig 1922. 1
2
3
u. 4. Aufl.,
III. Die Hauptrichtungen der Soziologie
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Wellengekräusel des menschlichen Verkehrs hat diesen Grad von Wichtigkeit; sondern es haben ihn bloß die dauernden großen Strömungen des Willens und des Geistes, die man durch Jahrhunderte oder wenigstens durch Jahrzehnte verfolgen kann. Diese darzustellen und, soweit es möglich ist, zu erklären, ist die Aufgabe der Soziologie, die damit zugleich Theorie der Geschichte wird." Sombart hat sogar erklärt 3 : „ D a ß alle gesellschaftliche Wirklichkeit Geschichte, d. h. Geschehenes ist, darüber kann kein Zweifel obwalten; denn es gibt keine Gegenwart, es gibt nur Vergangenheit." (Die Umkehrung wäre, scheint uns, ebenso behauptbar: es gibt keine Vergangenheit, es gibt nur Gegenwart.) Dazu wäre wohl zu sagen: Gerade der Gefahr der Unsachlichkeit wegen, auf die schon S p e n c e r in sehr ausführlichen Darstellungen in seinem „Study of Sociology" hingewiesen hat, empfiehlt sich große Vorsicht in der H i n nahme des Materials der Geschichte, besonders aber der Behauptungen der Geschichtsphilosophie. Gewiß wird der das Nebeneinander der Gegenwart bevorzugende Soziologe der Gefahren stets eingedenkt sein müssen, die mit der Nichtberücksichtigung der „persönlichen Gleichung" zusammenhängen. Entscheidend ist jedoch im Streite von Nacheinander und Nebeneinander das Maß der Kontrollierbarkeit der Behauptungen. G e g e n w ä r t i g e s k ö n n e n w i r im a l l g e m e i n e n l e i c h t e r n a c h p r ü f e n a l s V e r g a n g e n e s . Bei dem, was die Geschichte berichtet, ist stets mit der Willkür der Auswahl und Weglassung zu rechnen. Jedoch handelt es sich nicht um ein Entweder-Oder, sondern um gegenseitige Ergänzung von zwei Betrachtungsweisen. In Deutschland stand bis in die allerjüngste Zeit hinein die geschichtliche Soziologie so völlig im Vordergrunde, daß gegenwärtig neben ihr ein das Nebeneinander bevorzugendes, das Historische jedoch in den Einzelausführungen heranziehendes Verfahren dringend notwendig geworden ist. 8
3*
Vgl. Sombart, N a t i o n a l ö k o n o m i e und Soziologie, Jena 1930, S. 3.
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III. Die Hauptrichtungen der Soziologie
Aber es handelt sich dabei nicht nur um den Gegensatz Vergangenheit und Gegenwart, sondern um die Alternative: geschichtliche oder systematische Erfassung der Erscheinungen. Auch diese beiden Betrachtungsweisen müssen sich ergänzen. Das Allgemeine ist übergeschichtlich, das Besondere geschichtlich. Die „Beziehungslehre" etwa, die systematisch, nicht geschichtlich a n g e o r d n e t ist, geht von überzeitlichen, quasi „ewigen" Kategorien aus, den Beziehungen des Zu- und Auseinander, die sich fanden, finden und finden werden, solange Menschen sind. Aber die Grundprozesse zerlegen wir weiter in Hauptprozesse, diese in Unter- und schließlich in Einzelprozesse. Das ist nur möglich durch allmähliche Annäherung an konkrete, geschichtliche Tatsachen. Bei diesen bevorzugen wir allerdings das Nebeneinander der Gegenwart, eben aus dem Grunde, weil ihre Beobachtung nachprüfbar ist. Barths Einwand, man könne bei den Geschehnissen, die sich vor unseren Augen abspielen, nicht wissen, ob sie wesentlich genug sind, während wir aus der Geschichte das Bedeutungsvolle, Wirksame herausheben, verkennt die Größe des Vorurteils, das gerade bei der Auswahl des Wirksamen aus dem unendlich breiten Fluß des Geschehens den Historiker lenkt oder doch lenken kann. Hingegen wissen wir, wenn wir vorher unsere Grundbegriffe und Kategorien bei einer systematischen Betrachtung gründlich geklärt haben, sehr wohl, das unserer Hauptfrage entsprechend Wichtigste aus dem Material gegenwärtiger Beobachtung herauszuheben. Der Historiker wählt zumeist auf Grund von Werturteilen aus, der Systematiker nach logischen Zusammenhängen. Schließlich kommt dabei noch in Betracht, daß wir in der wissenschaftlichen Erkenntnis des Zwischenmenschlichen noch in den Anfängen stehen. Um so zusammengesetzte Vorgänge, wie sie uns an der Vergangenheit fesseln, erklären zu können, brauchen wir zunächst vorbereitende Studien am einfacheren Material, das wir nur aus der unmittelbaren Anschauung gewinnen können. S m a 11 ist durchaus zuzustimmen, daß unsere Kenntnis der meisten
III. Die Hauptrichtungen der Soziologie
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unmittelbaren und persönlichen Erfahrungserscheinungen noch ganz oberflächlich ist. Er fragt: „Was sind z. B. die Quellen der Motive, die Vorgänge der Vermischung von Motiven und die Hilfsmittel der Kontrolle der Motive in den verschiedenen Knabengruppen in unserem eigenen Kreise? Was ist die genaue Ordnung von Antezedenzien und Folgen, die in dem Zusammenbruche einer gegebenen Familie zutage treten; nicht zu sprechen von einer Formel der Ursachen von Familienauflösung im allgemeinen? Worin besteht die genaue Interessenverbindung, die einem lokalen Wahlamte Dauer verleiht? . . . Wenn wir nicht die Jungens auf dem nächsten Schulhofe verstehen können, ist es kaum möglich, daß irgend jemand den Kinderkreuzzug besser verstanden hat." Der Hinweis auf die Primitiven, deren Gesellschaftsbau so einfach sei, daß das völkerkundlidie Studium als Vorstufe soziologischer Erkenntnis in erster Linie in Betracht käme (so früher bei Spencer, heute z. B. bei Vierkandt, Thurnwald, Levy-Bruhl), bedarf sehr vorsichtiger Anwendung; denn die sozialen Verhältnisse der „Naturvölker" sind für uns durchaus nicht einfach, was die vielen Irrtümer der Beurteilung ihrer Einrichtungen beweisen, denen Reisende und Forscher verfallen sind. Mag die S t r u k t u r ihres Gesellschaftsbaus im allgemeinen einfach sein, so ist die Erklärung ihrer sozialen Bauweise durch Rückführung auf die zwischenmenschlichen Beziehungen dadurch erschwert, daß wir nur zu oft den Primitiven unsere Motive und Zielsetzungen unterschieben. Damit sollen die wertvollen Hilfen der Völkerkunde keineswegs geleugnet werden; aber das Studium einfacher zwischenmenschlicher Zusammenhänge im Beobachtungsfelde unseres eigenen Kulturkreises ist dringender und für die Zwecke der Soziologie im allgemeinen noch fruchtbarer 4 . Der enge geschichtliche Zusammenhang zwisdien Soziologie und Philosophie ist auch in der Gegenwart noch vor4 V g l . hierzu auch Wilh. E . M ü h l m a n n , gie, Bonn 1948.
Gesdiidite der Anthropolo-
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handen. Recht verstanden, ist „in der T a t jede fruchtbare Soziologie philosophische Soziologie", wie Alfred V i e r k a n d t sagt. Der Versuch, das Problem Mensch und Menschheit von der Seite des Zusammenhangs zwischen Mensch und Mensch zu erfassen, gehört so sehr zu den allgemeinsten und jenseits aller bloßen Praxis, Technik und Kunstlehre stehenden Aufgaben, daß eben nur „philosophische" Köpfe schöpferisch an der Soziologie Anteil nehmen. Gerade die sozialen Erscheinungen, die ja meist nicht mit unseren Sinnen unmittelbar wahrzunehmen sind, fordern eine allgemeine, auf abstrakte Zusammenhänge weisende Betrachtungsweise nur allzu leicht heraus. Dabei führt aber der Weg häufig an die Pforten der Erkenntnistheorie und Metaphysik. Des Zusammenhanges seines Gebiets mit den Unendlichkeiten und Unlösbarkeiten, an die der Philosoph — nicht der Soziologe als solcher — rühren darf und muß, wird dieser beständig gewahr: Was ist Realität? was ist Individualität? was ist Beziehung, Gebilde, was Ganzes, was Teil? was ist Gruppengeist? Die ganze heimliche und unheimliche Philosophie der persönlichen Fürworter und manche andere Fragen stehen am Anfange und Ende seiner Gedankengänge. Der Soziologe belichtet mit dem Scheinwerfer seiner Methode ein Stück (bei sorgfältiger Forschung) deutlich überschaubare Oberfläche des sozialen Globus; an den Grenzen verschwimmen die Wege, ja die Konturen der Gegenstände überhaupt. Seine relativ exakten Erkenntnismittel versagen hier. Es gehört zu seinen Aufgaben, die Grenze zwischen Belichtet-Sehbarem und Undeutlichem genau zu ziehen. In den Nebelreichen jenseits seiner Grenzlinie schweift der Philosoph, der mit einer anderen Kamera ausgestattet ist. Er behauptet, mit ihr ausgezeichnet sehen zu können; es gibt freilich Zweifler, die meinen, man nehme damit nur seine eigenen inneren Gesichte wahr; die Umgebung bleibe dunkel. Uber das Verhältnis erstens von Soziologie und Sozialphilösophie und zweitens von soziologischer Fragestellung innerhalb der Philosophie, zumal der historischen Philo-
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sophie (soziologischer „Methode" in der Philosophie) einerseits und Soziologie als Disziplin anderseits sind in der Gegenwart klare Unterscheidungen endlich dringend notwendig. Viel Mißverständnis, Streit und viele falschen Ansprüche wären sogleich beseitigt, wenn man sich hier deutlich zu scheiden gewöhnte. Es ist verkehrt, die eine „Richtung" gegen die andere auszuspielen und nur e i n e r wissenschaftlichen Denkweise Daseinsrecht oder Vorrangstellung zuzubilligen. Unsere hier mit Nachdruck erhobene Forderung geht nicht auf Ausschluß einer Arbeits- und Denkweise, sondern auf ihre U n t e r s c h e i d u n g . Es ist hohe Zeit, daß man aufhört, Sozialphilosophie Soziologie und Soziologie Sozialphilosophie zu nennen. Sie sind ebenso voneinander unterscheidbar, wie sich jede andere Einzelwissenschaft von der Philosophie deutlich abhebt. Das Daseinsrecht einer Sozialphilosophie und in ihr einer Metaphysik des Sozialen wird von uns nicht angefochten. Nur darf Metaphysik und exakte Forschung nicht miteinander vermengt werden und nicht die eine (gewissermaßen stillschweigend) in die andere überfließen. Wer das Bedürfnis fühlt, dem verschleierten Bildnis zu Sais zu nahen, letzte Zusammenhänge unseres menschlichen Daseins mit dem Walten der Gottheit durch menschliche Vernunft zu ergründen, ergebe sich der Metaphysik der Gesellschaft. D a ß es solche Zusammenhänge gibt, daß es außer dem, was wir greifen und berechnen können, hinter aller nach Exaktheit strebenden Forschung die aller Empirie unzugänglichen Urgründe des Ewigen gibt, ahnen wir. Aber Wissenschaft ist nicht Philosophie, und Soziologie sollte nur Wissenschaft sein. Jedoch noch ein Zweifel sei nicht verschwiegen: Wenn wir Metaphysik und Forschung im Interesse dieser Forschung scheiden, aber das Daseinsrecht der Metaphysik des Sozialen nicht anfechten, so will es uns doch scheinen, als ob die Metaphysik eines Erfahrungskomplexes eigentlich erst dann beginnen sollte, wenn man sich hinreichend über diesen Kreis des Erfahrbaren klar geworden ist. Der
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in Deutschland so häufige Vorgang, daß man zuerst den himmlischen Widerschein der Dinge im Absoluten aufzufangen trachtet, ehe man die irdische Gestalt mit offenen Augen betrachtet hat, ist unser wissenschaftliches Verhängnis. Besonders in der Gegenwart entspricht es einer anspruchsvollen Geisteshaltung, daß Fragen und Antworten nur dann eines Denkers für würdig gehalten werden, wenn sie mit letzten Werten unmittelbar zusammenhängen. Es gibt aber nicht bloß „letzte Fragen", sondern so unendlich viel Nahes und Nächstes auf Erden, das dringend einer liebevollen Versenkung des Geistes in sein Wesen mit ganz einfachen, vor allem aber k l a r e n Denkund Arbeitsmitteln bedarf. Die „Physik" des Sozialen ist so problemreich, schwierig und größtenteils unbekannt, daß die Metaphysik unmöglich schon reif sein kann, wenn das O b j e k t hier wie dort dasselbe sein soll. Unbestreitbar wird viel T i e f - und Scharfsinn auf die Spekulation über die Idee des Sozialen verwendet. Aber sofern diese Spekulation fruchtbar ist, ist sie es entweder, weil geniale, mit Intuition begabte Seher und Weise sie ausüben, oder weil sie ein anderes Objekt, als es der Wissenschaft vom Sozialen eigen ist, zugrunde legt, es aber für das Soziale ausgibt. Für den Fachsoziologen ist Soziologie nie bloß O p t i k , Betrachtungsweise, Blickrichtung auf Gruppen, sondern Wissenschaft vom Zusammenwirken der Menschen unmittelbar, nicht mehr und nicht weniger. D a ß die großen Philosophen, die soziologisch gearbeitet haben, auch den Fachsoziologen viel lehren und schließlich in Einzelheiten auch rein fachlich Stoff und Erkenntnisse vermitteln können, ist unbestreitbar, wobei kritische und unterscheidende Aufnahme freilich Erfordernis für den Soziologen ist. Auch muß ausgesprochen werden, daß viel Teilnahme, die sich angeblich auf die Soziologie richtet, in Wahrheit jener soziologischen Philosophie gilt. Die Zahl der Gebildeten, die die Fruchtbarkeit und Nützlichkeit einer nicht die „Kulturgüter" und Errungenschaften des Menschen, son-
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dern die miteinander verkehrenden Menschen selbst betrachtenden Wissenschaft erkannt haben, ist heute noch gering. W i r sind seit vielen Jahrhunderten an eine andere Auffassung der „Kultur" als die eigentlich zwischenmenschliche gewöhnt. Das Produkt erscheint uns greifbarer als der Vorgang, der zu ihm führt. Diese Abgrenzung von Soziologie und Philosophie ist weit entfernt von einer im vorigen Jahrhundert nicht seltenen Philosophiefeindlichkeit oder -Verachtung. Ich bin nicht der Meinung, daß die Soziologie die Philosophie zu ersetzen vermöge, und daß ein angeblicher „Soziologismus" des Zeitalters die vermeintlich „scholastisch" gewordene Philosophie ablösen könne und solle. Zumal da die abgegrenzte Soziologie noch jung ist, kann mit Recht behauptet werden, daß in älterer und jüngster Vergangenheit manche auch für sie wertvolle Einsicht der Philosophie zu verdanken ist. Doch können diese Zugeständnisse die dringende Forderung einer klaren Scheidung zwischen beiden Arbeitsbereichen nicht abschwächen. Aber diese Scheidung von Methode und Disziplin, die wir oben an die Spitze gestellt haben, gilt nicht -nur für das Verhältnis der Soziologie zu Philosophie, sondern zu allen Wissenschaften, die sich mit Mensch, Tier und Pflanze befassen. „Soziologisches" findet sich heute bei Jurisprudenz, Sozialökonomik, Theologie, Ästhetik, Sprachwissenschaft usw., aber auch in der Zoologie und Botanik. D a Kultur und Leben wesentlich von den Gruppierungen der Menschen und Organismen abhängen, so müssen alle Wissenschaften von Kultur und Leben in genau demselben Sinne, wie wir es oben bei der Philosophie festgestellt haben, in manchen Abschnitten (im einzelnen in sehr verschieden tiefgehendem Grade) nach Aufgabe und Ausführung „uns soziologisch kommen". Wieder erheben sich unsere Zweifel wegen eines nicht selten verfrühten Verfahrens, das zu falschen Ergebnissen führt, die nur die „Anwendung" der Soziologie in Nachbarwissenschaften in Verruf bringen. Auch muß abermals gesagt werden, daß die Verknüpfung von
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Erscheinungen der Kunst, Sprache, Religion, des Rechts usw. mit Tatsachen aus dem Kreise der sozialen Gebilde die betreffenden Wissenschaften nicht zu Gesellschaftslehren und die Autoren nicht zu Soziologen macht. Soziologische „Methoden" — entweder im strengen Sinne, daß A r b e i t s w e i s e n , die in der Soziologie üblich oder notwendig sind, auf Untersuchungen in jenen Wissenschaften angewendet werden, oder in laxem Wortgebrauche, daß Objekte, mit denen sich der Soziologe ausdrücklich zu befassen hat, gelegentlich in das Blickfeld der anderen treten — sind sehr häufig und — abgesehen von der sogenannten „reinen" oder theoretischen Soziologie — auch von den speziellen Soziologien zu scheiden. Kehren wir jedoch wieder zu unserer philosophischen Soziologie zurück, die wir in ihrem einen Hauptzweig: dem metaphysischen kennengelernt haben. Nicht zu verwechseln mit ihrem anderen Zweige: dem erkenntnistheoretischen. Bei ihm, der in den letzten Jahrzehnten in Max A d l e r einen seiner Hauptautoren besaß, wird das Soziale als eine Kategorie des Bewußtseins aufgefaßt. Unser Denken sei schon Gesellschaft. „Das Problem der Gesellschaft liegt nicht etwa erst im historischen ökonomischen Prozeß der Vergesellschaftung, sondern schon in dem seine Begriffe vergesellschaftenden Denkprozeß des Individuums 5 ." Schon nach Kants theoretischer Erkenntnislehre müsse man dem individuellen Bewußtsein transzendental-sozialen Charakter zusprechen. Damit werden die Probleme der Vergesellschaftung dieser Richtung zu erkenntniskritischen Aufgaben. Es handelt sich dabei nicht um Psychologismus (wie bei manchen Engländern und Amerikanern), sondern speziell um Analyse des Inhalts und der Formen des Denkens. Ich muß gegen diesen sich als „transzendental" bezeichnenden Standpunkt einwenden: D a das Denken teilweise 5 Jahrbuch f . Soziologie, Band I , S . 25/26 und Verhandlungen des vierten deutsdien Soziologentages, sowie vor allem in Adlers Budi: „Das Rätsel der Gesellschaft", Wien 1936.
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Zusammenhänge zwischen (der Anschauung nach) isolierten Dingen herstellt, f ü h r t auch das Denken über Menschen sicherlich auch vom Individuellen zum Überindividuellen. Aber zum andern Teil trennt auch das Denken anschaulich Verbundenes; es schafft also auch erst die Vorstellung vom Besonderen. Der Denkprozeß vergesellschaftet und isoliert. Ein Primat des einen vor dem anderen Vorgange ist nicht anzuerkennen. Aber in der Soziologie handelt es sich gar nicht um Analysen von Bewußtseins Vorgängen; wir können nicht das Soziale von den Denkgesetzen her erfassen. Es ist n i c h t eine K a t e g o r i e des B e w u ß t s e i n s , s o n d e r n d e s L e b e n s . Es kommt darauf an, dieses L e b e n richtig (meinetwegen erkenntniskritisch naiv) zu beobachten und das Beobachtete zu ordnen. Lernt man aus dieser unvoreingenommenen Beobachtung der Wirklichkeit, so verschwindet auch der durch Erkenntniskritik künstlich auf die Spitze getriebene Gegensatz von Individuellem und Sozialem. Das El e m e n t des Sozialen ist nicht ein Bewußtseinsvorgang, sondern der soziale Prozeß, ein objektives Geschehen. Er ist freilich meist auch ein physiologischpsychologischer Vorgang, bei dem aber weniger die Denkvorgänge als die Begehrungen maßgebend sind. Dabei verhehlen wir uns nicht, daß eben dieses objektive Leben um uns mit den Kräften und Unkräften unseres Verstandes, subjektiv umgestaltet, aufgenommen wird. Aber die dadurch erforderliche kritische Haltung zu unserem eigenen Erkenntnisvermögen gilt f ü r alle Art Wissenschaft. Eine Besonderheit bietet hierin die Soziologie nicht. Aus all dem, was wir bisher über die historische und die philosophische Soziologie sagten, ist hervorgegangen, daß wir beim gegenwärtigen Stande unserer Wissenschaft neben diesen beiden D e n k w e i s e n d i e realistischs y s t e m a t i s c h e Inangriffnahme der Problembewältigung f ü r besonders notwendig und fruchtbar halten 6 . Suchen 6
Über Kultursoziologie und über Wissenssoziologie s. K a p . I X .
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wir also im nächsten Kapitel in knappster Formulierung zusammenzufassen, was diese Gattung Soziologie ist, und was sie nicht ist. O p p e n h e i m e r hat (in seinem System der Soziologie, 1. Band, S. 55) sicher nicht ganz unrecht, wenn er die Aufgabe einer zureichenden Klassifikation der Autoren für unlösbar erklärt. Ihre Zuordnung zu den einzelnen Richtungen (auch unsere eigene Zuordnung) bleibt anfechtbar, weil ja gerade die älteren Soziologen nach Universalität strebten und sich in der Regel mit den Denkhilfen und Ergebnissen e i n e r Nachbarwissenschaft nicht begnügten; das gilt besonders für C o m t e selbst, dessen Bezeichnung als Naturwissenschafter nicht ausreicht. D a ferner die Einrechnung von Forschern in den Kreis der Soziologen ganz von der weiteren oder engeren Fassung des Begriffs Soziologie abhängt, so könnte man unsere Kategorien noch stark vermehren, z. B. noch geographische, juridische, sozialökonomische Gruppen aufzählen, wie es Sorokin getan hat. Oppenheimer weist auch auf L o r i a s , S q u i l l a c e s , B a r t h s und H u n d t s K a t e gorisierungen hin. K a r l P r i b r a m hat in den Kölner Vierteljahrsheften für Soziologie V / 3 in dem Aufsatze „Zur Klassifizierung der soziologischen T h e o r i e " — ganz in Ubereinstimmung mit unserem obigen Versuch — vorgeschlagen, an den Begriff der Gesellschaft anzuknüpfen. E r unterscheidet, „entsprechend den drei für das menschliche Denken überhaupt charakteristischen Methoden", drei Gruppen: die begriffsrealistische, die in den konkreten E r scheinungen lediglich Abbilder von Ideen erblickt und die Einzelmenschen nur als Teile von Kollektiveinheiten gelten läßt, zweitens die nominalistische, nach der als wirklich vorhanden nur die Einzelmenschen anzusehen sind, und drittens die pseudorealistische, die die Wirklichkeit zunächst nominalistisch erfaßt, aber danach den sozialen Gruppen eine den Einzelmenschen gegenüber selbständige Haltung und reale Existenz außerhalb des Bewußtseins der Individuen zuschreibt. — Von dieser Dreiteilung glauben wir nur die Charakteristik der ersten Gruppe annehmen zu dürfen; sie deckt sich mit unserer oben zuerst genannten ersten Gruppe (Gesellschaft gleich Substanz). Wenn wir im übrigen Pribram nicht ganz folgen, so geschieht es, um die gefährliche und falsche Antithese Universalismus und Individualismus zu vermeiden. Mehr kann hier leider dazu nidit gesagt werden.
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Von Filippo C a r 1 i nennen wir zwei Werke, nämlich seine „Introduzione alla Sociologia General" (Bologna, 1924—25) und „Le Teorie Sociologidie" (Padua 1925). Im zweitgenannten Werke unterscheidet er zwei Typen soziologischer Forschung. Er sagt darüber: „Insoweit die Geschichte der Soziologie systematische und rationale Untersuchungen enthält — das ist von August Comte an der Fall —, zeigt sie uns das Bestehen zweier Typen von soziologischen Untersuchungen, die durch die Art, mit der das Objekt der Untersuchung aufgefaßt wird, und durch die befolgte Methode bestimmt sind. Auf der einen Seite hat man die Gesellschaft als eine Verlängerung der Natur aufgefaßt und infolgedessen von ihr die Naturgeschichte geben wollen. Da man diese Gesellschaft als ein einheitliches Ganzes konzipiert hat, so hat die Soziologie dieses Typus den historisch-enzyklopädischen Charakter angenommen. Außerdem will man zur Erkenntnis der sozialen Realität mit Hilfe der Rekonstruktion (in Gedankenform) der Realität selbst in ihrer Ganzheit gelangen, woraus der synthetische Charakter dieses Typus stammt. Der zweite Typus der soziologischen Untersuchungen dagegen ist der, durch den man mittels der Analyse zur Erkenntnis der sozialen Wirklichkeit kommt: der Analyse der Kräfte, der Tatsachen, der Gruppen, der Beziehungen: also analytische Soziologie. Dieser zweite Typus der Soziologie begann zwischen 1885 und 1890, in einer Periode, in die die ersten Werke von T ö n n i e s , T a r d e , D ü r k h e i m und S i m m e 1 fallen. Aber darum hörte der Typus der historisch-enzyklopädischen Soziologie nicht auf, so daß wir in diesem Augenblicke das Bestehen beider Typen finden, wie sehr auch jetzt in einer fast ausschließlichen Weise der zweite herrschen mag." Zum ersten Typus gehören nach Carli C o m t e , J. S t u a r t M i l l , C o u r n o t , S p e n c e r , die ihm folgenden Organizisten ( L i l i e n f e l d , S c h ä f f l e , E s p i n a s , d e G r e e f , N o v i c o w , W a x w e i l e r [?], W o r m s ) und die Sozialdarwinisten; ferner die Deterministen (geographische Deterministen: z. B. L e P l a y ; historische Deterministen: M a r x usw.); schließlich der Historismus (anthropologischer, sozioethnographischer, historisch-evolutionistischer und phaseologischer Richtung). — Hierhin (zu den Analytikern): die psychosoziale Gruppe ( C a t t a n e o , L a z a r u s und S t e i n t h a l , G a b r i e l T a r d e ) , die Massenpsychologen ( L e B o n , S i g -
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h e 1 e), die Folkloristen und die Psychoanalytiker; die objektivistischen Realisten (Emil D ü r k h e i m , B o u g l e , D a v y , F a u c o n n e t , M a u s s ) , der relative soziologische Realismus (die Lehre von der Wechselbeziehung), dem F o u i 11 e e , W u n d t , B a 1 d w i n angehören, die Sozialpsychologen D a v i s , E l l w o o d , M a c D o u g a l l , B o g a r d u s usw.); die Inventionssoziologie und andere Autoren des relativen Realismus; schließlich die reine und die analytisch-formale Soziologie ( T ö n n i e s , S i m m e l , V i e r k a n d t ) ; der Pragmatismus (R a t z e n h o f e r), die Nominalisten ( D u p r a t , Gidd i n g s , R o s s , v. W i e s e ) , das System P a r e t o s . — Auch dieser komplizierten Einteilung gegenüber müssen wir uns eine kritische Würdigung versagen. Sie ist hier nur abgekürzt wiedergegeben, um daran dem Leser den großen U m f a n g und die Verwickeltheit der literaturgeschichtlichen Aufgabe anzudeuten. Zu welch weiten Spannungen der Soziologie man gelangt, wenn man jede Befassung mit der menschlichen Gesellschaft als Soziologie ansieht, zeigt besonders deutlich die Einteilung, die Pitirim Sorokin seinen „Contemporary Sociological Theories" ( N e w York und London 19Z8) zugrunde legt. Er sondert: I. Mechanistische Schule: Soziale Mechanik Soziale Physik Soziale Energetik Mathematische Soziologie Paretos I I . Synthetische und geographische Schule Le Plays I I I . Geographische Schule IV. Biologische Schule: Bio-organizistische Richtung Rassentheoretiker, Vererbungs- und Selektionstheorie Soziologische Darwinisten (Lehre vom K a m p f e ums Dasein) V. Biosoziale Schule: Demographische Soziologie V I . Biopsychologische Schule V I I . Soziologistische Schulen: Neopositivistische Richtung DurkheinrSchule Gumplowicz-Schule Formale Soziologie ökonomistische Geschichtsinterpretation
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V I I I . Psychologische Schulen: Behaviorismus Instinktstheorien Introspektionslehre I X . Psycho-soziologische Schulen: Interpretationen sozialer Erscheinungen in dem Begriff der Kultur, Religion, des Rechts, der öffentlichen Meinung, der Volkskunde und anderen psychosozialen F a k toren. Experimentelle Studien über die Wechselbeziehungen zwischen verschiedenen psychosozialen Erscheinungen. Theodore A b e l hat im Gegensatze zu Sorokin in einer Schrift „Systematic Sociology in G e r m a n y " ( N e w York 1929, Columbia University Press) versucht, diejenigen deutschen Autoren zu charakterisieren, die die Soziologie in einem engeren Sinne als unabhängige Wissenschaft a u f g e f a ß t hätten 7 ,• er sondert die formale Soziologie Georg S i m m e 1 s , die phänomenologische A l f r e d V i e r k a n d t s , die behavioristische Leopold v. W i e s e s und die verstehende M a x W e b e r s . In englischer Sprache gibt es eine großangelegte, zweibändige Literaturgeschichte amerikanischen Ursprungs; sie ist: „Social Thought f r o m Lore to Science" von H a r r y Elmer B a r n e s und H o w a r d B e c k e r (Boston etc., 1938, D . C. H e a t h & Co.) betitelt. Der erste, hauptsächlich von Barnes v e r f a ß t e Band trägt die Überschrift: „A History and Interpretation of Man's Ideas about Life with his Fellows"; er enthält die Geschichte der Sozial- und Geschichtsphilosophie; der zweite „Sociological T r e n d s throughout the W o r l d " hat H o w a r d B e c k e r zum H a u p t v e r f a s s e r ; er u m f a ß t die Geschichte der Soziologie, nach Ländern geordnet (unter Einschluß von Osteuropa, LateinAmerika und Asien) auf über 1200 Seiten. Vgl. zu diesem Werke meine ausführlichen Besprechungen: „Zur Geschichte des Denkens über das soziale Leben" (Zeitschrift f ü r -Nationalökonomie, I X . Band, 1939). — Neuerdings hat E d w a r d S h i 1 s (in der Free Press, Glencoe, Illinois, 1948) eine gute Skizze der amerikanischen Entwicklung unter dem Titel: „The Present State of American Sociology" gegeben. 7 V g l . d a z u m e i n e kritische B e s p r e c h u n g im 8. J a h r g a n g d e r „ K ö l n e r V i e r t e l j a h r s h e f t e f ü r S o z i o l o g i e " (1929/30) S. 141 ff. u n t e r d e r O b e r s c h r i f t , S y s t e m a t i s c h e S o z i o l o g i e in D e u t s c h l a n d " .
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Ober die ältere Geschichte der Sozial- und Geschichtsphilosophie orientiert gut das umfangreiche Werk von Paul B a r t h : „Die Philosophie der Geschichte als Soziologie" (Leipzig, 3. u. 4. Aufl., 1922, Reisland). In diesem Buche sind aus der Literatur des 19. Jahrhunderts einige Schriftsteller genannt und behandelt, auf die ich nur wenig oder gar nicht im folgenden eingehen kann, z. B. E. L i t t r é , E. de R o b e r t y , G. de G r e e f , aber auch der neuerdings in der geschichtsphilosophischen Literatur öfter genannte Franzose M. H a u r i o u. Aus dem neuesten Schrifttume, das sich mit der Ideengeschichte unserer Wissenschaft befaßt, heben wir außer der ersten genannten mehr skizzierenden kleinen Schrift von S h i 1 s das in englischer und französischer Sprache erschienene Werk von Georges G u r v i t c h und Wilbert E. M o o r e hervor, das „Twentieth Century Sociology" oder „La Sociologie au X X e Siècle" betitelt ist. (Die englische Ausgabe in e i n e m Bande ist 1945 in der Philosophical Library, New York, die französische in zwei Bänden in den Presses Universitaires de France, Paris 1947, erschienen.) Da in diesem Sammelwerke in den meisten der zahlreichen Beiträge auch die Zeit vor Beginn dieses Jahrhunderts behandelt wird, kann es als eine Geschichte der Soziologie überhaupt gelten. Im Heft I I / l der Kölner Zeitschrift für Soziologie wird eine sehr eingehende Besprechung des Buches unter dem Titel: „Die Soziologie im zwanzigsten Jahrhundert; Bemerkungen zu einem Sammelwerke" stehen. In diesem Göschenbändchen werde ich mich bisweilen auf meine Ausführungen in diesem Aufsatze beziehen8.
Kapitel Die
realistisch-systematische
IV: Soziologie
Schade, daß die üblichen Bezeichnungen für eine solche systematische Nur-Soziologie abgegriffen und mißverständlich sind. A m häufigsten (auch in entsprechenden Fällen bei anderen Wissenschaften) ist das Attribut „rein". (Audi die Franzosen reden von sociologie pure, die Engländer 8 'Während des Drucks des obigen T e x t e s ist u . a . e r s c h i e n e n : A l f r e d V i e r k a n d t , K l e i n e Gesellsdiaftslehre, 2 . A u f l . , S t u t t g a r t , 1 9 4 9 , F . E n k e .
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und Amerikaner von pure sociology.) Etwas boshafte Kritiker haben darauf den Unterschied zwischen reiner und unreiner Wissenschaft gemacht. Aber das Wort rein soll: eigentlich, ausschließlich, unvermischt bedeuten; sein Gegensatz ist: teils angewandt, teils speziell, teils allgemein, d. h. erweitert. Will man das Mitschwingen eines Tones von Anmaßung in der Bezeichnung „reine Soziologie" vermeiden, so könnte man sie auch t h e o r e t i s c h e Soziologie nennen. Aber dieses Adjektivum ist recht vieldeutig und interpretationsbedürftig. Gemeint ist es in dem ursprünglichen, griechischen Sinne: nur auf Erkenntnis eines Ist-Zusammenhanges zielend. (Gegensatz: praktisch = auf ein Sollen zielend.) Zu dritt bietet sich — im anderen Sinne als eben — das Wort: allgemein dar. Diese allgemeine Soziologie ist gerade Soziologie im engsten (nicht im erweiterten) Sinne. Sie ist insofern allgemein, als sie nicht b e s o n d e r e Ausschnitte des gesellschaftlichen Lebens betrifft, sondern das Zusammenleben und Verhalten von Menschen insgesamt auf jedem Gebiete verfolgt, dann aber in den nichtspeziellen Zügen, sondern in denen, die sich eben überall .finden. Der Umstand, daß man von „allgemeiner" Soziologie in zwiefachem, gerade entgegengesetztem Sinne reden kann, erschwert die Anwendung dieses Terminus. Da aber die Gegenüberstellung einer solchen generellen, mit mehreren speziellen Soziologien die wichtigste Einteilung der Gesellschaftslehre ist, wählen wir die Bezeichnung „allgemeine Soziologie". Dagegen möchte ich den Haupttitel: f o r m a l e Soziologie, den Simmel eingeführt hat, lieber vermeiden. Der Gegensatz von Form und Inhalt ist in seiner Vieldeutigkeit sehr leicht mißverständlich; was u n t e r d e m e i n e n G e s i c h t s p u n k t F o r m ist, erscheint u n t e r e i n e m a n d e r e n a l s I n h a l t . Jedenfalls ergibt sich daraus die Notwendigkeit, den Begriff Form im jeweiligen Anwendungsfalle genau zu erklären. Die Beziehungslehre z. B. kann nur insofern als formale Soziologie angesehen wer4 Soziologie
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den, als sie von dem jedesmaligen S o n d e r z w e c k einer Beziehung zwischen Menschen absieht, also ihre Aufmerksamkeit bei einer menschlichen Verbindung nicht auf das Anstreben von Aufgaben der Religion, Wirtschaft, Technik, Politik, Kunst, Wissenschaft usw. richtet, sondern auf die Art der Verbundenheit der Menschen. N u r soweit diese durch speziellen Zweck einen besonderen Charakter bekommt, interessiert auch das Handlungs z i e l . Man könnte ja schließlich dieses Verhältnis von Verbundenheitsweise und Verbindungszweck als das von Form und Inhalt bezeichnen. Aber die Erfahrung hat gelehrt, daß das W o r t formal vielfach so verstanden wird, als wenn die Befassung mit dieser „Form" der Beziehung eine Beschränkung auf ein äußeres und oberflächliches Gefüge der Gesellschaft bedeute und treibende Kräfte, die hinter den Vorgängen der Vergesellschaftung stehen, außer acht bleiben 1 . Ja, es könnte manchmal so scheinen, als wenn alle f ü r das praktische Leben wichtigen Probleme als zum „Inhalt" gehörig keinen Raum in einer „formalen" Soziologie fänden. Diese falsche Vorstellung muß bekämpft werden; sie richtet großen Schaden an. Das Gegenteil ist der Fall. W e n n wir von dem Gegenständlich-Sachlichen einer Beziehung zwischen Menschen absehen, gewinnen wir erst die Möglichkeit, in die Tiefe des Verhältnisses von Mensch zu Mensch zu dringen. Gerade das „Inhaltliche" daran wird sichtbar. Ebenso irrig ist es, anzunehmen, daß diese „formale" Soziologie die funktionale Auffassung der menschlichen Beziehungen unberücksichtigt lasse; die Beziehungen sind vielmehr ebensosehr ihrem bloßen Sein nach kausal, wie auf ihre Funktionen hin teleologisch zu erklären. Auch hat keineswegs diese „formale" Soziologie bloß die Statik, nicht auch die „Dynamik", also die zu einer Entwicklung führende Bewegung der sozialen Prozesse im Auge; es steht nichts im Wege, nachdem man die im Querschnitt festgestellten Zusammenhänge der Be1 Das behauptet z. B. Carl Brinkmann (in seinbr „Gesellschaft sieh re" S. 9) von der Beziehungslehre.
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Ziehungen analysiert hat, auch den Veränderungen, die sich an ihnen in der Zeit vollziehen, nachzugehen. Damit ist sdion manches darüber, was die realistischsystematische Soziologie sein will, und was sie nicht sein will, angedeutet: Erinnert sei auch an das im ersten Kapitel darüber Gesagte: Sie ist keine Enzyklopädie und krönende Synthese aller Sozialwissenschaften, noch weniger eine Zusammenfassung von Ergebnissen der Biologie und Psychologie. Sie stellt sich vielmehr als Einzelwissenschaft neben die anderen Sozialwissenschaften, wobei sie eine deutlich von diesen unterscheidbare Grundfragestellung und eine nur ihr eigene Betrachtungsweise, wie noch zu zeigen sein wird, beansprucht. Das Ergänzungsverhältnis, das zwischen allen Sozial Wissenschaften besteht, gilt auch für sie. Sie ist ferner keine Ars (Kunstlehre), sondern eben eine Wissenschaft 2 . Die Kennzeichnung des Unterschieds hat René W o r m s in folgenden klaren Sätzen formuliert: „Die Wissenschaft strebt nicht danach zu handeln, sondern nur zu erkennen. Sie will nicht der Welt eine neue Orientierung aufnötigen; sie sucht nur zu zeigen, wie sie (die Welt) sich von sich aus orientiert. Sie bekümmert sich nicht um Umänderungen, sondern sehr um Unterrichtungen. Die Ars neigt zum Ideal, die Wissenschaft zum Realen. Jene formuliert Vorschriften, diese entwickelt Gesetze. Jene will Einfluß auf die Zukunft erlangen; diese erstreckt ihfe Forschungen auf die Vergangenheit und auf die Gegenwart. Jene hat notwendig subjektiven Charakter; diese sucht ganz objektiv zu sein. Kurz, die Ars ist das, was man die Theorie nannte, wenn man diese von der Praxis schied. Aber dife Wissenschaft theoretisiert nicht, sie macht Feststellungen; zum mindesten bezeichnet das Wort Theorie bei ihr nur eine Verbindung positiver Kenntnisse. Es bedarf zuerst einer Wissenschaft zur Führung der Ars. 2 Vgl. hierzu Worms, L a Sociologie, Bibliothèque nationale, K a p . II, Paris 1921, M. Girard.
Sociologique
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Man kann in der Tat nur dann tief und breit auf die Welt einwirken, wenn man genau weiß, was sie ist." Damit ist also deutlich gesagt, daß die Soziologie im Gegensatz zur Ethik nicht wertet und dem praktischen Handeln keine Ziele setzt. Die Ethik aber bedarf dringend der Orientierung an der Soziologie, weil sie von ihr ein unbestodienes Urteil über das Objekt erlangen kann, das sie beeinflussen will 3 . Damit hängt weiter zusammen, daß die Soziologie die Metaphysik des Sozialen, wie oben bereits näher dargetan wurde, nicht mitenthält. Sie ist empirisch, da sie sich an der Erfahrung orientiert, nicht an der Spekulation. Jedoch ist der Begriff der Empirie nicht in einem engen positivistisch-materialistischen Sinne gemeint; die inneren Erfahrungen und die heute mit dem Worte Phänomenologie (im Gegensatze zu der berechenbaren, äußeren Erfahrung) umfaßte, auf unmittelbarer Beobachtung beruhende „ Wesensschauung" gehören nicht minder zu ihrem Tatsachenfelde. Sie ist realistisch insofern, als sie die von uns wahrnehmbaren Erscheinungen der Außenwelt als Wirklichkeiten nimmt und nicht bloß für Inhalte von Bewußtseinsvorgängen hält. Sie ist systematisch und nicht historisch, da ihr Grundzusammenhang begrifflicher Art ist und nicht auf Zeitfolge beruht. • Sie bedient sich der Deduktion und der Induktion und benutzt das eine Verfahren zur Kontrolle der Ergebnisse des anderen. Sie hängt eng mit der S o z i o g r a p h i e zusammen. Heute besteht eine vor allem von T ö n n i e s geförderte Neigung, diese Soziographie in Wiederaufnahme von Bestrebungen des 18. Jahrhunderts zu einer eigenen Disziplin zu gestalten. Auch uns erscheinen Schilderungen und Beschreibungen von Ausschnitten des gesellschaftlichen Lebens — besonders von kleinen, gründlich beobachtbaren 3 Vgl. L. v. "Wiese, Das Problem einer Ethik auf soziologisdier Grundlage, A r d i i v f. Redits- und Sozialphilosophie, X X X V (1942).
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Ausschnitten — dringend geboten. Gerade die Beziehungslehre, von der noch zu handeln sein wird, ist ja nichts anderes als ein System der Beobachtung von Vorgängen des gesellschaftlichen Lebens. Aber das ist auch der Grund, weshalb wir eine S c h e i d u n g v o n S o z i o l o g i e u n d S o z i o g r a p h i e n i c h t e m p f e h l e n können. Die Soziologie bedarf einer Bindung an die Induktion und an die Beschreibung, um nicht in Spekulation zu verfallen; die Soziographie wiederum würde ohne Soziologie theorielos sein. Es kann sich in der Soziographie nicht um eine ungeleitete Beschreibung von Tatsachenkomplexen nach irgendeinem zufälligen (vielleicht nach einer Zählmethode) oder nach gar keinem Verfahren handeln; sondern es muß eine streng systematische, stets gleiche, isolierende und auswählende Beobachtungsmethode bestehen, die auf ganz bestimmten grundlegenden Vorstellungen von dem für die Sache Wesentlichen beruht. Erst die in der S o z i o l o g i e gegebene Theorie lehrt, was und vor allem, wie man beobachten soll. Damit wird die Soziographie zu einem inneren Bestandteil der allgemeinen Gesellschaftslehre wie der speziellen Soziologien. Sie kann nichts anderes sein als die Ausführung des allgemeinen Programms der Theorie. Widersprechen die induktiven Forschungsergebnisse der Theorie, so muß diese geändert werden. Es sollte aber nie gegenüber den Verwickeltheiten des g e s e l l s c h a f t l i c h e n Lebens eine theorielose Beschreibung geben. Der Glaube, man brauche bei der Deskription die Wirklichkeit nur abzuschreiben oder mit Worten zu photographieren, ist irrig. Man muß an die Realität mit .bestimmten geistigen Werkzeugen herangehen; sonst bewältigt man sie nicht. Wer nicht vorher weiß, was er eigentlich im Einzelfalle beobachten will, gerät in einen Irrgarten. Erst muß eine bestimmte Fragestellung bestehen, ehe man beobachten kann. Diese Fragestellung ist von früheren Beobachtungen stark beeinflußt (und sollte es stets sein); sie ist also selbst bis zu einem gewissen Grade das Ergebnis von Induktionen. Auch stellt sich mandimal bei und aus den Beobachtungen
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heraus, daß sie geändert werden muß. Das widerspricht aber nicht unserer These, daß alle Beobachtung und Beschreibung der Führung durch die Theorie bedarf. Daraus folgt auch, daß durchaus nicht alles, was man in der sozialen Wirklichkeit beobachten kann, soziologisch belangreich ist. W e r schlechtweg alles, was ihm unter beliebigen Gesichtspunkten im realen Gruppenleben auffällt, als wissenschaftlich beachtlich wiedergeben will, stiftet nur Verwirrung. Unsere Aufgabe ist nicht nur, die Erfahrungswelt darzustellen; sondern zur Empirie kommt als nicht minder wichtig die Systematik. Das aber bedeutet, alles das aus unseren Beobachtungen zu streichen, was f ü r die eigentlich soziologische Isolierung nicht als Material dienen kann. Wir betonten im ersten Kapitel ausdrücklich, daß wir den Mensch-Mensch-Zusammenhang, der sich oft hinter dem Mensch-Ding-Verhältnisse verbirgt, zu enthüllen haben. Die meisten Beschreibungen, die vielfach auch als soziologische ausgegeben werden, betreffen aber Tatsachen, die als Mensch-Ding-Beziehungen f ü r uns gar nicht belangreich sind, sondern andere Wissenschaften angehen. Wir werden also aus den Beobachtungen, die als Soziographien ausgegeben werden, nur diejenigen als wirklich soziographisch und damit soziologisch wichtig ansehen können, die direkt oder mittelbar unserer Aufgabe, der Erkenntnis des zwischenmenschlichen Zusammenhangs dienen 4 . Die Allgemeinaufgabe der realistisch-systematischen Soziologie besteht in einer Erklärung des Sozialen, d. h. des Verhaltens von Menschen gegen Menschen und der aus diesem Verhalten hervorgehenden zwischenmenschlichen Gebilde. Geben wir zum Schlüsse5 einem holländischen Soziologen, dessen Auffassung unserer Disziplin der hier vertretenen 4 Vgl. Verh. d. 7. D t . Soziologentages S. 224, Diskussionsrede Heberle, und R u d . Heberle, Soziographie, Sdimollers J a h r b . 35. Bd., S. 995. 5 Ober Tonnie's, Einteilung der Soziologie, vgl. unter diesem Titel den Artikel des Verfassers der obigen Ausführungen in Kölner Vierteljahrsheften f. Soziologie, H e f t V/4.
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nahesteht, S. R. S t e i n m e t z , das W o r t . Er unterscheidet 6 : „1. Allgemeine soziale Wissenschaft; sie betrachtet jeden Zusammenhang zwischen Menschen und gesellschaftlichen Erscheinungen. Die Folge d a v o n ist Verwischung der Grenzen von Soziologie und zahllosen anderen Wissenschaften. 2. Soziologie als Geschichtsphilosophie; sie f ü h r t leicht zu spekulativen Betrachtungen. 3. Soziologie als spezielle Wissenschaft von den menschlichen G r u p p e n . Ihr A u f b a u , ihre Geschichte, Teilung, Differenzierung u n d U n t e r g a n g sind Gegenstand der Untersuchung. Diese Auffassung ist nicht ausreichend, weil sie die individuellen Erscheinungen des Menschenlebens wie Freundschaft, H a ß , außer acht läßt. 4. Soziologie als Spezialwissenschaft von allen menschlichen Beziehungen. Die Auffassung deckt wirklich das ganze Gebiet der soziologischen Wissenschaft. Es sind zu untersuchen u n d zu ordnen die Erscheinungen, um schließlich Gesetzmäßigkeiten (keine Gesetze) zu entdecken, die wirklich da sind."
K a p i t e l V: Comte
und
Spencer
Es m u ß t e deutlich ausgesprochen werden, d a ß wir in der Gegenwart die realistisch-systematische Behandlung der Lehre v o m Sozialen f ü r d i e dem Soziologen gestellte A u f gabe ansehen, w ä h r e n d wir die „historische Gesellschaftslehre" dem Historiker, die philosophische dem Philosophen 6 In der Zeitschrift „Mensch en M a a t s d i a p p i j " , 1. Jahrg., Heft 1. — Steinmetz hat seine Lehre ausführlicher dargetan in „Inleiding tot de Sociologie", H a a r l e m 1931, und in dem Aufsatze „Die Soziologie als positive Spezialwissensdiaft" in der „Zeitschrift f ü r Völkerpsychologie und Soziologie", V I I , 1.
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zu überlassen empfehlen, wobei es uns ferner zweckmäßig erscheinen will, im zweiten und dritten Falle das Wort Soziologie (oder Gesellschaftslehre) durch Sozialgeschichte dort und Sozialphilosophie hier zu ersetzen. Unter Soziologie sollte man heute nur die Disziplin und Arbeitsweise verstehen, die wir als realistisch-systematisch gekennzeichnet haben. Indessen werden wir wohl noch auf lange Zeit in Nachwirkung der Vergangenheit mit den Begriffen: Soziologie im weitesten, im engeren und engsten Sinne zu rechnen haben. Ehe wir an die Darstellung der Grundzüge des Versuchs gehen, der unter dem Namen Beziehungslehre vom Schreiber dieses Büchleins gemacht wird, erscheint es uns zur ausreichenden Orientierung des Anfängers notwendig, noch einige Streiflichter auf repräsentative Einzelwerke aus der Geschichte der Soziologie zu werfen, um die obige Übersicht zu veranschaulichen und zu erläutern. Es ist nicht möglich, hier eine vollständige, wenn auch nur summarische Literaturgeschichte der Gesellschaftslehre zu geben. Dieser Strom ist allzu breit. Nur einige charakteristische Leistungen sollen in dem, was nach unserer (dargelegten) Auffassung an ihnen soziologisch, was außersoziologisch ist, erwähnt werden, wobei für die Auswahl ihre Nähe zu der realistisch-systematischen Lehre entscheidend sein soll. Wenn es ganz richtig ist, daß (wenigstens alle westeuropäische) Soziologie unmittelbar von C o m t e ausgegangen ist, der freilich selbst wieder in stärkstem Grade vom Grafen S a i n t - S i m o n beeinflußt worden war, so wird es zweckmäßig sein, zunächst einmal die Frage zu streifen, was Comte der heutigen Soziologie zu geben vermag 1 . Auguste C o m t e (1798—1857) muß uns heute vorwiegend als Philosoph, nicht als Soziologe gelten. Sein sechs 1 I n der Einleitung zu den Soziologisdien Lesestücken, 2. Band, K a r l s ruhe 1926, hebt G o t t f r i e d S a 1 o m o n richtig hervor, d a ß die ältere Soziologie, die v o n Comte und Spencer ausgeht, eine W i s s e n s c h a f t s l e h r e , war.
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Bände umfassender Cours de Philosophie, der 1830—1842 entstanden ist, enthält vor allem eine Wissenschaftslehre mit der Idee einer Rangordnung der einzelnen Wissenschaften, die sich untereinander nach dem Grade ihrer Allgemeinheit unterscheiden. Der Grad der Exaktheit nehme von der allgemeinsten zur speziellsten allmählich und gleichmäßig ab; zugleich wachse die Verwickeltheit ihrer Objekte. Die Gesamtheit aller eigentlichen Wissenschaften ergebe eine philosophie naturelle. Inhaltlich seien die Gegenstände der einzelnen Wissenschaften als besondere Fälle e i n e s Naturgesetzes (bei ihm noch: der Gravitation) anzusehen. Die Folge der so miteinander verbundenen Wissenschaften ist Mathematik — Astronomie — Physik — Chemie — Biologie — physique sociale oder Soziologie. Damit ist eine besonders enge Verbindung zwischen Soziologie und Biologie hergestellt, während die Psychologie als Bindeglied zwischen beiden fehlt (anders bei Spencer). Was uns hieran interessiert, ist nicht nur die Einreihung der Soziologie an einer bestimmten Stelle der Wissenschaftskette und die sich daraus ergebende Charakterisierung ihres Wesens, sondern auch die sozial- und geschichtsphilosophische Erklärung dieser Entwicklungsreihe der Wissenschaften: Sei doch jede Wissenschaft, wie die Wissenschaft überhaupt, aus der gesellschaftlichen Organisation des Zeitalters zu verstehen. Die Geschichtsphilosophie Comtes enthält hauptsächlich das noch heute viel erörterte, wenn auch zumeist abgelehnte Dreistadiengesetz der geistigen Entwicklung, das T u r g o t angedeutet und S t - S i m o n behauptet hatte. Die erste Periode sei die theologische, und zwar nacheinander die des Fetischismus, Polytheismus, Monotheismus, die zweite die metaphysische, die dritte die positive. Alles Wissen lege den Weg von der Phantasie zur Vernunft zurück. Das erste Zeitalter kennzeichne sich sozial durch das Ubergewicht der Priester und Krieger, das zweite durch das der Philosophen und Rechtsgelehrten, das dritte, positivistische, durch das der Wirtschaftsführer und Gelehrten.
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Entscheidend sei f ü r die Struktur jedes Zeitalters und f ü r den Wandel der Zeiten die auf der Entfaltung der Verstandeskräfte ruhende Weltanschauung. Geistige und soziale Entwicklung seien ein und dasselbe; die Geschichte der Gesellschaft sei die Geschichte des Denkens. Der Biologie entnimmt Comte den Organismus-Begriff; die Gesellschaft sei ein Kollektiv-Organismus, dessen Bau und Leben in Analogie zum individuellen Organismus zu verstehen sei. Der einzelne Mensch sei nur eine Abstraktion; das wahrhaft Wirkliche sei die Menschheit. Denke man sich den Zusammenhang der nebeneinander bestehenden Wissenschaften in eine Entwicklungskurve gewandelt, so ergebe sich auf diesem Wege von der Physik über die Biologie zur Soziologie, die den ganzen Bau kröne, der Fortschritt vom Einfacheren zum immer Verwickelteren. Damit vermindere sich aber auch der Grad der Exaktheit. Der Grad, in dem die Gegenstände der einzelnen Wissenschaften miteinander verknüpft seien, erscheine immer komplizierter, und innerhalb jedes Wissenschaftsfeldes sei die Verbundenheit der zu untersuchenden Phänomene um so undurchsichtiger, je höher man in der Darstellung der Objekte voranschreite. In diesem starken Empfinden Comtes f ü r die Sondereigenart der Soziologie besteht seine dauernde Nachwirkung bis auf den heutigen Tag. Er sieht richtig, daß es sich bei ihr zwar nur um einen dem Grade, nicht dem Wesen nach bestehenden Unterschied zu den anderen Wissenschaften handelt, daß aber dieser Gradunterschied so groß ist, daß er wie ein qualitativer wirkt. Schon die Biologie weise stark gesteigerte Kompliziertheit ihres Stoffes gegenüber den einfacheren Naturwissenschaften auf; aber der Schritt von ihr zur Soziologie sei noch beträchtlicher. (Dabei ist „Einfachheit" nicht im Sinne von Geringheit an Schwierigkeiten f ü r den Forscher, sondern gleich Einlinigkeit der Phänomene zu verstehen.)
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Comte zeigt aber auch, worin die Verwickeltheit der Studienobjekte besteht. Die Erscheinungen des sozialen Lebens lassen sich nicht bloß aus der Menschennatur, aber auch nicht bloß aus geschichtlichen Veränderungen erklären, sondern aus den Einflüssen eines Bereichs auf den anderen. Herbert S p e n c e r nahm die Wissenschaftslehre und den Organizismus Comtes a u f ; jedoch nicht unkritisch und mit manchen Veränderungen. Vor allem schob er die Psychologie, die für Comte nichts Selbständiges neben Biologie und Soziologie war, als wesentliches Glied in die Wissenschaftsreihe. Ablehnend stand er auch Comtes Intellektualismus gegenüber; f ü r ihn sind die (aus einfachen physischen Empfindungen hervorgehenden) Gefühle die Motoren der persönlichen und sozialen Entwicklung. Bei Comtes Scheidung zwischen sozialer Statik, die die s Theorie der natürlichen Ordnung der menschlichen Gesellschaften zu geben habe, und sozialer D y n a m i k , die eine Theorie des natürlichen F o r t s c h r i t t s der Menschheit enthalte, liegt bei ihm der Schwerpunkt durchaus auf der zweitgenannten. C o m t e war von glühendem. Reformeifer erfüllt (voir pour prevoir); er gab bei allem Positivismus mehr eine profane Glaubenslehre und ein optimistisches Bekenntnis zur Besserung des Menschenloses durch Entwicklung der Vernunft. „ D a m i t w a r " , sagt Oppenheimer, „der jungen Disziplin eine A u f g a b e gestellt, p r a k t i s c h e Wissenschaft, d. h. Kunstlehre für den Staatsmann und Gesellschaftsreformer zu werden 2 ." O. billigt ausdrücklich dieses Ziel; es habe „denn auch keiner ihrer besseren Vertreter in der Folgezeit ganz aus den Augen verloren". G a n z richtig: das Ziel, etwas durch seine geistige Arbeit zur Besserung des harten Menschenloses beizutragen, darf kein wahrer Soziologe aus den Augen verlieren. Aber der indirekte Weg, auf unmittelbar zu verwirklichende R e f o r m vorschläge zu verzichten, d a f ü r aber möglichst viel zur Erhellung der Erkenntnis der Wirklichkeit beizutragen, ist der förderlichere. 2
Franz Oppenheimer, System, I. Bd., S. 2.
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Die heutige Soziologie dankt Comte vor allem die Hinlenkung der wissenschaftlichen Teilnahme auf den Zusammenhang des gegruppten Lebens mit der geistigen Entwicklung. Gewiß war das keine neue Entdeckung von ihm; aber diese Betrachtungsweise beherrschte zentral sein ganzes System. Sehr richtig sagt H a n k i n s 3 ; »Die Werke der großen Begründer der Soziologie von Comte zu Spencer und Ward waren Mischungen von Geschichtsphilosophie, Sozialphilosophie, Pseudo-Wissenschaft und Wissenschaft. Aber im Vergleiche mit ihren Vorläufern findet sich bei ihnen eine Verminderung reiner Ideologie und ein wachsender Sinn für Tatsachen und Beobachtungen... Im ganzen muß gesagt werden, daß Comtes Soziologie größtenteils außerhalb des Feldes positiver Wissenschaft blieb. Es war Sozialphilosophie, in einer Gemütsverfassung geschrieben, die äußerst merkwürdig den Geist des Positivismus und den Geist des Mystizismus verband." H e r b e r t S p e n c e r (1820—1903) galt einer älteren Generation schlechthin als der Soziologe, und es schien gegen Ende des 19. Jahrhunderts, als ob es kaum eine andere Gesellschaftslehre als eine Spencersche geben könnte. Es mag dahingestellt bleiben, ob man ihn mit Recht als den größten Philosophen des Victorianischen Zeitalters charakterisiert hat. Jedenfalls bleibt die großartige Geschlossenheit seines umfangreichen „Systems der synthetischen Philosophie", zu dem seine Soziologie gehört, eine geistige Tat ersten Ranges4. Das nicht nur in persönlicher Hinsicht: Im Jahre 1860 veröffentlichte der noch ziemlich unbeachtete Londoner Privatgelehrte den Plan zu einem philosophischen Lebenswerk in 33 Abteilungen. Nur wenige zeichneten den Prospekt. Trotz äußerer, besonders gesundheit8 Vgl. F. H . H a n k i n s in Barnes' „History and Prospects of the Social Sciences", N e w York 1925, S. 292 und 296. 4 Vgl. über ihn als Soziologen: L. v. "Wiese, Z u r Grundlegung der Gesellsdiaftslehre (Eine kritische Untersuchung von H e r b e r t Spencers System der synthetischen Philosophie). Jena 1906. — Ferner: J . Rumney, H e r b e r t Spencer's Sociology, London 1934.
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licher Hemmnisse führte er beharrlich und zäh diese Arbeit in 36 Jahren zu Ende. In 11 stattlichen Bänden erhob sich das System, das mit den „first principles" (den philosophisdi-erkenntnistheoretischen Grundlagen) beginnt, zur Biologie fortschreitet, von da zur Psychologie; auf ihr baut sich die „Soziologie" auf, die ihrerseits durch eine „Ethik" gekrönt wird. Auch in sachlicher Hinsicht bleibt dieses einst so gepriesene, heute kaum mehr gelesene Werk hervorragend. Oppenheimers Urteil, „Spencer habe die junge Wissenschaft in das Fahrwasser der plattesten Aufklärung zurückgesteuert" 5 ist zwar nicht ganz falsch, aber einseitig und allzu scharf. Richtig ist, daß Spencer jede Tiefenforschung vermied, ja verachtete. Wer den Wert von Geisteswerken nach ihrem Gehalte an Tiefsinn und Ahnungen unaussprechbarer Wahrheit mißt, muß den Philosophen aus Derby trivial finden. Er bleibt stets an der Oberfläche. Aber welch großartiger Zusammenhang eben dieser Oberfläche tut sich auf, welche Zusammenschau des Kosmischen mit den Lebensvorgängen, mit dem Seelen- und dem Gesellschaftsleben! Vielleicht das Beste, was Spencer uns hinterlassen hat, ist sein anregend geschriebenes „Study of Sociology" 6 . Es kann heute noch als wertvolle Einführung dienen; nicht in dem Sinne, daß man sich seine sämtlichen Urteile aneignete, sondern in der Absicht einer kritischen Auseinandersetzung mit diesem gänzlich unromantischen nüchternen Denker. Wenn man ihn vielfach (nach der nun einmal unvermeidlichen, die individuelle Selbständigkeit vernachlässigenden Literaturgeschichten-Schablone) als „Schüler Comtes" bezeichnet, so ist das nur mit großer Einschränkung richtig. Er selbst behauptet in seiner Autobiographie, seine Verpflichtetheit gegen Comte sei nur die des wissenschaftlichen Gegenspielers gewesen. Das ist wohl übertrieben; 8 6
I. c. S. 54. London, 21. Aufl., 1894, Williams and Norgate.
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aber er ist keineswegs nur ein Fortführer Comtescher Gedankengänge. Allerdings besitzt auch er (und zwar in verstärktem Grade) als Philosoph wie Comte den Drang nach monistischer Synthese auf naturwissenschaftlicher Grundlage. Auch er will (intensiver als der 30 Jahre ältere Franzose) alle Erscheinungen auf Erden (unter Einschluß der zwischenmenschlichen) auf ein einziges Gesetz: die Fortwirkung der K r a f t zurückführen. Er findet die einfache und doch so inhaltsreiche Formel für die Entwicklung allen Geschehens: „Aus unbestimmter, unzusammenhängender Gleichartigkeit wird bestimmte, zusammenhängende Ungleichartigkeit." Dieses In- und Durcheinander von Integrierung und Differenzierung sucht er nun auch an der Entwicklung der Gesellschaft nachzuweisen. Ihm ist die Gesellschaft ein Überorganismus, dessen N a t u r als Aggregat sich aus der N a t u r seiner Einheiten, der Einzelmenschen, ergebe. Döch ist es nicht möglich, hier den Reichtum Spencerscher Ideen auszubreiten. Wir entsinnen uns, daß wir ja nur den geschichtlichen Zusammenhang zwischen seiner Soziologie und der realistischen, eingeschränkten Gesellschaftslehre der Gegenwart aufweisen wollen: In negativer Hinsicht müssen da zwei Eigentümlichkeiten seines sonst so einheitlichen Systems hervorgehoben werden: Aus seiner Biologie und Psychologie nimmt Spencer eine A u f f a s s u n g vom Einzelmenschen in die Soziologie hinüber, die ihn eigentlich zu dem Universalismus seines Antipoden Comte hätte führen müssen. Der Mensch erscheine ganz abhängig vom Außer-Ich; sein Geist vermöge nur das Objekt um ihn zu kopieren. Der Mensch lebe in Passivität und äußerster Gebundenheit. In der Gesellschaftslehre, (noch mehr in Politik und Ethik) ist aber Spencer der radikalste Autor des Individualismus. Comtes These von der Abhängigkeit des Einzelmenschen von der Gesellschaft kehrt Spencer ins krasse Gegenteil um. (Wie sich dieser Widerspruch subjektiv bei Spencer erklärt, muß hier übergangen werden.)
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U n d das Zweite: Seine Soziologie b e f a ß t sich fast nur unter Vernachlässigung dessen, was wir Geschichte nennen, mit den N a t u r v ö l k e r n . Sein reiches Tatsachenmaterial entnimmt er fast nur der Ethnographie. Das entspricht ganz einer Denkweise, die den Menschen als bloßes N a t u r w e s e n in Passivität a u f f a ß t u n d die aktive Bautätigkeit an der Gesellschaft in den Kulturperioden beiseite schiebt. Aber unter Zugrundelegung eines rein naturwissenschaftlichen Bildes von W e l t u n d Mensch sind die Zusammenhänge der Gesellschaft nicht hinreichend zu erklären. Den Geschichtsu n d Sozialphilosophen (und Spencer will doch dies in erster Linie sein) hätte die Frage: was ist K u l t u r (Zivilisation)? anlocken müssen. D a r a u s ergibt sich: Seine Soziologie gibt zu wenig A u f schlüsse über die Gesellschaftsordnung unseres Kulturkreises. Ferner: die E r f a h r u n g vom Menschen als bloßem N a t u r wesen reicht nicht aus, seinen Individualismus zu rechtfertigen. W a s wir heute vorwiegend an ihm schätzen, ist die reiche u n d geordnete Fülle von „ D a t a " , von Tatsachen über A n f ä n g e gesellschaftlichen Lebens 7 . Mag auch manches, was er z. B. über die A n f ä n g e der Religion sagt, nach neueren Forschungen nicht mehr völlig haltbar sein, die Planlegung f ü r eine Entwicklungssoziologie u n d besonders f ü r eine Durchforschung von Frühzuständen bleibt mustergültig. Freilich Forschungsziele u n d -methoden, wie sie sich die Beziehungslehre stellt, können auch d a v o n nur indirekten Gewinn ziehen. Spencers Bedeutung scheint uns heute mehr pädagogisch-didaktischer Art. Die Freiheit von metaphysischen u n d subjektiv-willkürlichen Beimischungen zu seiner Lehre ist das Beispielhafte an seinem Werke. Die Anregungen, die Spencer der Soziographie und besonders der Ethnographie nicht nur durch sein P r o g r a m m , sondern durch sein unermüdliches Sammeln von „ D a t a " 7 H a n k i n s sagt (1. c.) von Spencer, er sei der erste Systematiker konkreter soziologischer Tatsachen und d a r u m der wirkliche Begründer der Soziologie gewesen.
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gegeben hat, sind vielleicht stärker nachwirkend als seine Theorie. Er veranlaßte auch eine umfangreiche Zusammenstellung völkerkundlicher Tatsachenkomplexe, die unter seinem Namen und unter der Überschrift: „Descriptive Sociology" in den siebziger Jahren veröffentlicht worden ist. Der Gegensatz und die ausgleichende Ergänzung von Integrierung (Vereinigung) und Differenzierung (Scheidung) der Erscheinungen, die bei Spencer die Grundlage nicht nur einer Soziologie, sondern einer Kosmologie überhaupt ist, kehrt in der Beziehungslehre als Gegensatz des Zueinander und Auseinander wieder. Nur enthalten wir uns jeder Aussage, ob damit das Hauptprinzip a l l e s Geschehens in der Welt gegeben ist. (Die große Allgemeinbedeutung der Anziehung und im speziellen von Zentripetalkraft und Zentrifugalkraft wird von uns nicht übersehen; aber der Soziologe braucht über kosmische Prinzipien nichts auszusagen.) Bei Spencer bleibt der Gegensatz und die gegenseitige Ergänzung von Integrierung und Differenzierung sehr allgemein und inhaltsleer. In der Beziehungslehre kommt es dagegen auf die Zerlegung der beiden Grundprozesse in Untererscheinungen und auf das Verhältnis dieser Einzel- und Teilprozesse zueinander an. Aber auch bei anderen modernen Richtungen der Soziologie fehlt es — wenn auch manchmal den Autoren wenig bewußt — keineswegs an Zusammenhängen mit Spencer. Mochte Comte mehr in Frankreich nachwirken, so geht Spencers Einfluß in Amerika über Lester Ward weiter. Ja, Znaniecki scheint mir nicht unrecht zu haben, wenn er sagt 8 : „Die meisten wichtigen Probleme, die in der letzten Dekade des 19. und in den ersten des 20. Jahrhunderts hervorgetreten sind, knüpfen, sei es genetisch, sei es logisch, an sein großes Werk an."
8 Vgl. Florian Znaniecki in Gurvitch' und Moores „ T w e n t i e t h Century Sociology" (La Sociologie au X X e Siècle, N e w Y o r k 1945 und Paris 1947), S. 173 resp. Bd. I, S. 175.
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Kapitel VI : Die britische und die amerikanische
Soziologie
Die Bedeutung Herbert Spencers als des Hauptphilosophen des Viktorianischen Zeitalters (neben J . St. Mill) schien zu Beginn des letzten Drittels des vorigen Jahrhunderts England die Führung in der Soziologie zu gewähren. Der Entwicklungsgedanke, die enge Verbindung mit dem Darwinismus, der liberale Optimismus, die Verknüpfung der Gesellschaftslehre mit der Biologie charakterisieren sein System und zugleich das Denken seiner Zeit. In der Geistesgeschichte des letzten halben Jahrhunderts bildet die Stellungnahme zu Spencers Lehre in der T a t ein entscheidendes Merkmal für die Stellung des Autors. Aber in England bildete sich nach seinem Tode keine Spencer-Tradition; vielmehr scheint mir R u m n e y das Richtige zu treffen, wenn er die britische Entwicklung, wie folgt, schildert 1 : Die Soziologie habe sich in England als unabhängige Disziplin noch nicht allzu sicher gefügt, obwohl seit dem 18. Jahrhundert Annäherungen an ihren Aufgabenkreis vielfach vorhanden gewesen seien. Die Nachfolger Comtes hätten aber keinen rechten Boden gefunden, weil sie entweder als zu konservativ oder als zu unreligiös galten. Spencer wäre den Universitätsleuten, zu denen er ja nicht gehörte, zu naturalistisch erschienen. Erst vor vierzig Jahren begannen als erste H o b h o u s e und W e s t e r m a r c k an der Universität London Soziologie zu lehren. Und doch wie viele Ansätze in der Vergangenheit! Mandeville, Hume, John Brown, vor allem Ferguson und Miliar, ganz besonders aber Adam Smith. Jedoch die wissenschaftliche Teil1 Ich gebe im folgenden Absatz das wörtlidi wieder, was ich über R u m neys klare Darstellung in meiner eingehenden Besprechung des eben genannten Werkes von Gurvitdi und Moore ausgeführt habe. Rumneys Aufsatz steht a u f S . 562 ff. der amerikanischen und in Band I I , S . 569 Ii., der französischen Ausgabe. Meine Rezension ist in Heft I I / l der K ö l n e r Zeitschrift f ü r Soziologie zu finden.
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VI. Die britische und die amerikanisdie Soziologie
nähme lenkte sich mehr auf die politische Ökonomie. Von Einfluß wäre auch seit Robert Owen der Sozialismus gewesen. Rumney zeigt unter Aufführung zahlloser Namen, wieviel Soziologisches sich in anderen Disziplinen finde. Eine Zeitlang wurden in der Politik Spencers liberale Ideen von L. T . H o b h o u s e und anderen Denkern, die heute fast alle nicht mehr leben, weitergetragen; aber in der eigentlichen Soziologie kam es nicht zu einer Spencerschule in England; ja, die Soziologie als selbständige britische Wissenschaft, die als solche Spencer mehr oder weniger vorbereitet hatte, schien zunächst dahinzuschwinden, bis in den letzten Jahren vor dem zweiten Weltkrieg Morris G i n s b e r g und A. M. C a r r - S a u n d e r s , sowie ein Kreis der Universität London und des Le Play-Hauses sie neu belebten. Spencers Erbe übernahm aber in weit stärkerem Maße Amerika. In den Jahren 1910 bis 1930 gab es in England kaum noch eine zeitgenössische systematische Soziologie, jedoch manches, was wir zur Sozialpsychologie rechnen, sowie, wie gesagt, viel Soziologisches in anderen Wissenschaften (Anthropologie, Geschichte, Politik usw.). Besonders Graham W a l l a s , der 1858 geboren worden ist, ist auf dem Gebiete der Sozialpsychologie und der theoretischen Politik in erster Linie zu nennen. Edward W e s t e r m a r c k muß als Ethnologe gelten. Jedoch darf nicht übersehen werden, daß es eine Schule gibt, die bis zum Sommer 1930 von Victor B r a n f o r d geführt wurde, die aber nicht an Spencer, sondern an den Franzosen Le Play anknüpfte. Es kam zur Gründung der britischen Sociological Society auf B r a n f o r d s Anregung, bei der die ethisch-sozialreformatorischen Tendenzen überwogen, die u. a. von Patrick G e d d e s (1864—1930) mit einer Neigung zur Mystik verbunden wurden. Im allgemeinen haben sich in England die Anregungen soziologischer Schau den anderen Sozial Wissenschaften mitgeteilt; an die Stelle der Gesellschaftslehre ist eine mehr politische, psychologische und vor allem anthropologische Literatur getreten; so etwa bei Sir Ernest B a r k e r und W . Macneille D i x o n .
V I . Die britische und die amerikanische Soziologie
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Es fehlten bis zu den 30er Jahren die Systematiker, die das reiche, angehäufte Material nach Gesichtspunkten einer streng theoretischen Wissenschaft von der Gesellschaft sichteten und bearbeiteten 2 ; aber in den letzten Jahren drängt die spezielle Problemfülle, die aus den Tatsachen und Folgen der beiden Weltkriege, sowie aus den Klassenverhältnissen aufsteigt, auch in dem konservativen England zur Systematik in selbständigen Kategorien. In dieser Richtung wirken Morris Ginsberg u. a.; stark war auch bis zu seinem 1947 erfolgten Tode der Einfluß des deutschen Emigranten Karl M a n n h e i m , während Harold J . L a s k i der marxistischen Auffassung des Gesellschaftslebens nahesteht. L. T . H o b h o u s e (1864—1929) war einer der großen Liberalen, an denen England zu Ausgang des vorigen Jahrhunderts so reich war. Auch darin war er ein Kind des letzten Drittels des 19. Jahrhunderts, daß er mit einer liberalen Grundhaltung die Neigung zur Sozialreform verband. Als Politiker bekämpfte er den Imperialismus; er war in den Jahren der Geltung des älteren Chamberlain Sekretär der Free Trade Union. Von seinen zahlreichen Werken seien genannt: Democracy and Reaction (1904); Morals in Evolution (1906; neue Auflage 1915); Social Evolution and Political Theory (1911); Social Development, its Nature and Conditions (1924). Die metaphysische Staatstheorie, die Elemente der sozialen Gerechtigkeit und die soziale Entwicklung waren zusammen mit einem Buche „The Rational Good" als vier Teile eines Werkes „Principles of Sociology" gedacht. Im ersten Teile sind die Zusammenhänge des Einzelmenschen mit der Gemeinschaft, im „Rational Good" die Ziele des menschlichen Handelns, im dritten Bande die sozialen Beziehungen, die jenen Zielen dienen, und schließlich im vierten die tatsächlichen Bedingungen aufgewiesen, die dem gesellschaftlichen Leben zugrunde liegen. Als Soziologie im engeren Sinne a Uber den Stand der soziologischen Forschung in England M i t t e der 30er J a h r e unterrichtet u. a. auch der Konferenzbericht: T h e Social Sciences (London 1936, Le P l a y House Press).
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vermögen wir dieses Werk nicht anzuerkennen, da es völlig in der der Philosophie vorbehaltenen Sphäre des Wertens bleibt. Hobhouse erscheint uns als der von edelstem Wollen beseelte Philosoph des Liberalismus. Das Ethos der Menschenbeglückung und der persönlichen Freiheit hat in ihm einen Anwalt und Vorkämpfer besessen, dessen gerade die heutige Generation so sehr bedarf. Von Graham W a 11 a s (1858—1932), der wirtschaftspolitisch zu der Gruppe der Fabier gehörte, nennen wir seine Werke: Human Nature in Politics (1908), The Great Society (1914) und seine Vorlesungen in Amerika: Our Social Heritage (1921). Er hat die Methoden der älteren Psychologie auf die Behandlung politischer Probleme angewendet. In „Human Nature and Politics" heißt es: „Gegenwärtig analysieren fast alle Forscher auf dem Gebiete der Politik Institutionen und vermeiden die Analyse der Menschen. Das Studium der menschlichen Natur durch die Psychologen ist seit der Entdeckung der menschlichen Entwicklung sehr vorangeschritten; aber dieser Fortschritt hat sich ohne Einfluß auf die Durchforschung der Politik vollzogen und ohne Einfluß von ihrer Seite." Deshalb suchte er eine psychologische Methode der Theorie der Politik zu schaffen und sie von der Metaphysik zu befreien. Wer von der Soziologie nur die Gewinnung einer wissenschaftlich begründeten Grundhaltung in der Politik erwartet, wird Wallas' Leistung hochschätzen; unter diesem Gesichtspunkte nennt ihn L a s k i den weisesten unter den Soziologen. Uns will freilich scheinen, daß*man Soziologie und Politik nicht gleichsetzen darf, und daß diese in der eigentlichen Gesellschaftslehre ihren Ausgangspunkt und ihre Grundlage findet, nicht jedoch in erster Linie, wie Wallas meint, in der Psychologie. Die in England fortlebende L e P l a y - Schule wollen wir hier einordnen, obwohl ihr Begründer und alle früheren literarischen Jünger dieses Mannes Franzosen waren. Frédéric Le P l a y (1806—1882) hat vor allem in der Geschichte der Sozialreform und Sozialpolitik mit Recht einen großen
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Namen. Dieser Zeitgenosse Comtes, der jedoch das Werk des großen Positivisten nicht gekannt hat, war ein vielgereister und in der Bergwerkspraxis Rußlands bewährter Ingenieur. Vom Studium der Arbeiterfrage ausgehend, entwickelte er eine besondere Methode sozialer Beobachtung, die er vor allem in seinem Werke „Organisation du Travail" festgelegt hat. Le Plays mehr soziographische als soziologische Studien gehen von der Familie als der von ihm angenommenen Einheit der Gesellschaft aus. Er sucht die verschiedenen Elemente dieser Einheit zu messen; das Familienbudget erscheint ihm als der quantitative Ausdruck dieser elementarsten Form der Vergesellschaftung. Für die von ihm geschaffene „Sience sociale" gibt es drei Kernprobleme: O r t (Heimat), Werk (Beruf) und Volkstum. Später hat Branford zu diesen drei Mittelpunkten allen sozialen Lebens noch drei hinzugefügt: Polity [Gemeinwesen], Culture [Kultur] und Art [Kunst]. Bei Le Play und seinen Anhängern baut sich alle Befassung mit sozialen Problemen auf geographischer Grundlage auf: Der O r t bestimme das Werk, die Arbeit; Familie und Volkstum seien eng mit Heimat und Beruf verbunden. Schon der engere Kreis seiner französischen Schüler erweiterte Le Plays Programm. Von ihnen nennen wir Edmond D e m o l i n s (gest. 1907), der gleichfalls auf die britische Le Play-Schule von Einfluß gewesen ist. Zweifel entstanden, ob das Budget mit seinen Geldbeträgen der wahre Ausdruck des Familienlebens sei. Audi die allzu starke Betonung der räumlichen Umgebung und die Uberschätzung der Familie für das gesamte gesellschaftliche Leben wurden eingeschränkt. Victor B r a n f o r d und nach ihm Patrick G e d d e s , def lange in Indien gewirkt hat, suchten mit Le Playschen Anregungen Ideen Comtes zu verbinden, ohne seinen Positivismus zu übernehmen. Im Gegenteil tragen in diesem heute von dem Ehepaar F a r q u h a r s o n geführten Kreise alle soziologischen Lehren eine ausgesprochen religiöse Note, bisweilen, wie gesagt (besonders bei Geddes),
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eine mystische Färbung. Es wird eine Synthese des Geisteslebens und der praktischen Lebensführung angestrebt; Gedanken Ruskins, die auf Lebenserfüllung gerichtet sind, werden weitergetragen. Das wissenschaftliche Verfahren bezeichnet sich als R e g i o n a l i s m u s , bei dem der Mensch im Zusammenhange mit dem Boden erfaßt wird. Je mehr England in den ersten vierzig Jahren dieses Jahrhunderts — wohl nur vorübergehend — in dem Kreise der Länder der Soziologieforschung zurückgetreten war, desto mehr sind die V e r e i n i g t e n S t a a t e n v o n A m e r i k a zum (jedenfalls in quantitativer Hinsicht) fruchtbarsten Gebiete für unsere Wissenschaft geworden. Mit F a r i s 3 können wir dort das vorsoziologische Stadium, das bis etwa 1865 reicht, vom soziologischen sondern. Zunächst gab es nur Moralphilosophie. Meist unter Führung von Theologen wurde Ethik und Wohlfahrtspflege vorgetragen. In der Zeit des Bürgerkrieges tauchte „Social Science" auf, die aber wenig systematisch gestaltet wurde. Dann machte sich Spencers Einfluß geltend. Lester W a r d bemühte sich vergeblich, die Soziologie zur Königin der Wissenschaften zu machen. Erst mit Graham S u m n e r und Albion S m a 11 begann die Anbahnung einer empirischen Einzelwissenschaft vom gesellschaftlichen Zusammenhange. 1893 entstand in Chikago das erste Department of Sociology mit Small als Head. Franklin G i d d i n g s und Edward A. R o s s führten diesen Weg weiter fort. In T h o m a s ' und Z n a n i e c k i s „Polish Peasant" wird auch von Robert Faris der entscheidende Schritt zur Empirie gesehen. In den zwanziger Jahren vollzog sich die erste Blüte der Soziologie, getragen von P a r k s und B u r g e s s ' „Introduction to che Science of Sociology" (1921). Nunmehr wurden Objektivität, Empirie, aber auch Methodenstrenge Strebensziele. Über den Case Studies wurden Verallgemeinerungen 8 Vgl. bei Gurvitdl-Moore seine auch A n f ä n g e r n zum Lesen empfohlene Studie über amerikanisdie Soziologie auf S. 538 ff. oder (französisch) auf S. 546 ff. (Bd. I I ) .
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und Interpretationen keineswegs vernachlässigt. Heute ständen im Vordergrunde: Stadt-Ökologie, Rasse- und Kulturkonnexe, Sozialpsychologie und „Folk"-Sozjologie, sowie Regionalismus. Nach O g b u r n s Buch von 1922 über „Social Change" habe sich das Interesse vor allem auch diesem Gegenstande, den sozialen Wandlungen, zugewendet; dabei fesseln besonders der Einfluß des technischen Fortschritts und des „cultural lag" (des retard culturel, des Zurückbleibens der Kultur). Dodi die von den Kriegen und der Arbeiterbewegung aufgeworfenen Probleme träten immer mehr hervor. Die Kollektivforsdhung nähme zu. Hinsichtlich der Methode, speziell der Quantifizierung, weist Faris auf Stuart C. D o d d s „Dimensions of Society" (1942) hin. Doch ich will auf einiges näher eingehen: In den Vereinigten Staaten entstand also im letzten Drittel des vorigen Jahrhunderts eine zunächst von Spencer abhängige Soziologie. Allmählich aber wurde sein Biologismus durch eine psychologisierende Richtung abgelöst, wobei freilich nicht übersehen werden darf, daß schon Spencer die Gesellschaftslehre nicht wie Comte unmittelbar auf die Biologie, sondern zunächst auf die Seelenlehre aufgebaut hatte. Aber die Soziopsychologie und Psychosoziologie, die sich in den Vereinigten Staaten mit Lester F. W a r d entfaltete, löste immer mehr das Band, durch das sie mit Spencer ursprünglich verbunden war. Die vergleichsweise sehr breite Entfaltung, die in den letzten 50 Jahren die Soziologie in Amerika gefunden hat, ist im Gegensatz zu England, wo die Soziologie außerhalb der Universität London — besonders an den alten, vorwiegend humanistisch gerichteten Hochschulen in Oxford und Cambridge — wenig akademische Pflege findet, den reich ausgestatteten Universitäten und Kollegien zuzuschreiben. Eine Hochschule nach der anderen ist dazu übergegangen, ein Department oder doch wenigstens eine Division in der Faculty of Arts and Sciences für Soziologie einzurichten. Wenn dabei auch der Begriff
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Soziologie, wie meist in Amerika, ganz weit gleich Sozialwissenschaft gefaßt wird, so gilt doch, daß die anderen Sozialwissenschaften und -kunstlehren von der im Mittelpunkte stehenden systematischen Soziologie abgeleitet werden, und daß die Soziologie nicht erscheint als ein Anhängsel an anderen Fächern, z. B. an der politischen Ökonomie, die in der Regel ihr eigenes Department besitzt. Die Soziologie ist in Amerika im Gegensatz zu Europa (und besonders zu England) in erster Linie ein akademisches Lehrfach; sie trägt deutlich die Züge des Unterrichtsgegenstandes, während sie sich in Europa in erheblichem Maße seit Comte außerhalb der Hochschulen entwickelt hat. Mit Recht weist S o r o k i n 4 darauf hin, daß die amerikanische Literatur in starkem Maße aus Lehrbüchern besteht, während Europa zahlenmäßig arm an ihnen ist 5 . Die Soziologie als Forschungsgegenstand und Unterrichtsfach entstand in Amerika alsbald nach dem Bürgerkrieg 0 . Als Pioniere kommen zunächst in Frage Lester F. W a r d (1841—1913) und William Graham S u m n e r (1840—1910), der als einer der ersten vor siebzig Jahren seinen ersten Soziologie-Kursus in engstem Anschlüsse an Spencers Principles hielt. Sumner, der in den sechziger Jahren in Deutschland studiert hatte, war erst Theologe, dann Politiker und Historiker, schließlich, ehe er zur Soziologie kam, Nationalökonom. Von Lester F. W a r d s (1841—1913) Schriften kommen für uns vorwiegend sein älteres Werk „Dynamic Sociology" (1833) und seine beiden späteren Werke „Pure Sociology" (1903) und „Applied Sociology" (1908) 4 In „Social Forces" Bd. V I I I (Sept. 1929) in dem A u f s a t z e : Some Contrasts of C o n t e m p o r a r y European and American Sociology. 5 Vgl. auch George L u n d b e r g , Nels A n d e r s o n and Read B a i n : T r e n d s in American Sociology, N e w York u. London 1929, H a r p e r & Brothers. ® Wir benutzen in dieser Skizze u. a. auch den klaren Vortrag, den L. G i 11 i n als damaliger Präsident der American Sociological Society auf der 21. Jahresversammlung dieser Gesellschaft gehalten h a t . Vgl. Publications of the A m . Soc. Soc. Band X X I , Chicago 1927, University of Chicago Press.
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in Betracht 7 . W a r d , der ursprünglich Botaniker war, ist wie Spencer Evolutionist, Monist und Determinist; aber er sucht über den Naturalismus des Engländers hinauszuschreiten, indem er zwar die Entwicklung des Denkens rein biologisch-entwicklungsgeschichtlich erklärt, aber der einmal entwickelten menschlichen Vernunft eine selbständige Wirksamkeit im gesellschaftlichen Leben zuschreibt. Mit dieser Heraushebung psychischer Faktoren als treibender Kräfte im Gesellschaftsleben bereitet er den f ü r die amerikanische Soziologie so bezeichnenden Übergang von der biologischen zur sozialpsychologischen Auffassung vor. Ihm war die menschliche Gesellschaft „a play of mental factors" (worin er eher an Comte als an Spencer erinnert). In der „reinen Soziologie" heißt es: „Meine These: Gegenstand der Soziologie sind die menschlichen Errungenschaften („Acquisitionen"). Es handelt sich nicht darum, was die Menschen sind, sondern was sie tun; nicht um die Struktur, sondern um die F u n k t i o n . . . Die Soziologie beschäftigt sich mit sozialen Tätigkeiten. Sie ist das Studium von H a n d l u n g e n . . . Sie ist nicht eine beschreibende Wissenschaft im Sinne der Naturforscher." U m gleich an diesen Sätzen Übereinstimmung und Gegensatz zur Beziehungslehre zu zeigen: Die menschlichen Errungenschaften, also die sachlichen Leistungen, sind uns Objekte der Kulturphilosophie oder besonderer Einzelwissenschaften, nicht der Soziologie. Es handelt sich gerade darum, was die Menschen (im Verhältnis zueinander) sind. Freilich begreifen auch wir dieses Sein der Menschen aus ihren Handlungen und diese wieder teilweise aus den Funktionen. Schon Spencer und Schäffle, Wards Zeitgenossen, haben gezeigt, daß man die Funktion nur aus der Struktur und die Änderungen der Struktur wieder aus der Funktion erklären muß, jedoch nicht eines von beiden aus einem System ausschließen sollte. 7 Die im Verlage J . Wagner, Innsbruck, erschienenen deutschen Übersetzungen von J . V . Unger weisen wesentliche Mängel a u f .
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Der Gegensatz von „reiner" und „angewandter" Soziologie besteht bei W a r d darin, daß jene die vom zweckbewußten Einwirken der Menschen unbeeinflußte Entwicklung der Gesellschaft schildere, diese aber die künstlichen „telischen" Beeinflussungen der sozialen Entwicklung durch menschliches Handeln zum Gegenstand habe. Dieser Botaniker und Philosoph wollte offenbar dem Wesen der Kultur als der Summe der organisierten menschlichen Betätigungen mit Hilfe einer naturwissenschaftlichen Betrachtungsweise näherkommen. Zur Kritik wird man sagen müssen: Auch hier zeigt sich der Naturforscher der Bewältigung der Aufgaben, die ihm die wissenschaftliche Beherrschung der sozialen Tatsachen stellt, deshalb nicht gewachsen, weil er zu viel erreichen will. Auch "Ward fehlen historischer Sinn und historische Kenntnisse. Statt dessen sind seine Werke mit naturwissenschaftlichen Spekulationen und Analogien überladen. W a s bleibt f ü r die realistisch-empirische Soziologie?: Wards Heraushebung der Motive als sozialer Kräfte. Er sucht zu zeigen, wie die menschlichen Triebe „alle an und f ü r sich zerstörend wirken, wie aber ihre vereinte Betätigung bei gegenseitiger Hemmung darin besteht, daß sie sich im Zaume halten, ins Gleichgewicht bringen und Strukturen hervorbringen". Schließlich ist eine Mechanik des Trieblebens in der Gesellschaft zum Gegenstand seiner Soziologie geworden. Zu diesen zwei gesellen sich als Vorkämpfer Albion Woodbury S m a l l (1854—1926) und Charles H o r t o n C o o l e y (1864—1929). S m a l l , der mehr als jeder andere amerikanische Soziologe auf der anderen Erdhälfte Verständnis und Kenntnis deutscher sozialwissenschaftlicher Arbeit gepflegt und verbreitet hat, studierte 1879 bis 1881 in Leipzig und Berlin. Besonders Schmoller und Wagner waren seine Lehrer; auch von Schaffle empfing er manche Anregung. Als 1892 die Universität Chicago gegründet wurde, wurde ihm der Posten eines Vorstehers des
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Department of Sociology übertragen, der ersten Fakultät der Erde, die für unsere Wissenschaft geschaffen wurde. Im Jahre 1905 ist seine „General Sociology" erschienen, die den bemerkenswerten Untertitel trägt: „An exposition of the main development in sociological theory from Spencer to Ratzenhofer". Spencer, heißt es da, habe das Verdienst, den B a u der Gesellschaft geklärt zu haben; er betrachte sie als ein Ganzes, das aus zweckmäßig angeordneten Teilen bestehe, Schaff le habe die F u n k t i o n erläutert; nach ihm sei die Gesellschaft ein Ganzes, das aus Teilen bestehe, die zusammenwirken und dadurch Ergebnisse zeitigen. Ratzenhofer aber fasse die Gesellschaft als einen Prozeß des Ausgleichs in Konflikten zwischen Gruppen von Einzelmenschen auf. Der Begriff des Interesses, den Small für sehr instruktiv zur Erkenntnis des sozialen Lebens hält, trete mit Ratzenhofer in den Vordergrund; Small faßt ihn freilich viel allgemeiner, als es Ratzenhofer getan hat. Mit dem Interessenbegriff verknüpft sich die Idee der G r u p p e und vor allem — wenn auch nicht so klar und umgrenzt, wie wir heute den Begriff gebrauchen — die des s o z i a l e n P r o z e s s e s . Die Gruppe ist für Small das Gehäuse der organisierten Interessen und zugleich die Einheit des sozialen Prozesses. Sein letztes Werk (die zeitlich dazwischen liegenden müssen wir hier übergehen) „Origins of Sociology" vom Jahre 1924, ist tatsächlich in der Hauptsache eine Geschichte der Sozialwissenschaften, besonders der Nationalökonomie in Deutschland im 19. Jahrhundert. Gerade an diesem letzten, so umfangreiches Material verarbeitenden Werke erkennt man, daß Barnes recht hat, wenn er sagt: „Kein anderer hat so viel getan, um die grundlegenden Werke der modernen deutschen Sozialwissenschaften den amerikanischen Lesern zugänglich zu machen". Kaum einer hat wirklich in einem solchen überreichen Maße, so möchte ich hinzufügen, seinen deutschen Lehrern durch die Tat gedankt, wie es Small getan hat. Indessen war Small kein Systematiker; er mühte sich viel
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um Methodologie und versündigte sich immer wieder gerade an ihr. Er ist mehr Sozialreformer und Sozialpolitiker als Soziologe gewesen. Für die Geschichte der enger gefaßten Soziologie kommt mehr als Small C. H. C o o 1 e y in Betracht, der lange Jahre hindurch die Soziologie an der Universität des Staates Michigan gelehrt hat. Seine drei Hauptwerke tragen die Titel: Human Nature and the Social Order (1902), Social Organization, a Study of the Larger Mind (1909) und Social Process (1918). Mit Recht hat man gesagt, daß ihn die häufig auf ihn angewandte Bezeichnung als Sozialpsychologe nicht ausreichend kennzeichne. Wenn auch sein Ausgangspunkt in der Seelenlehre lag, so suchte er doch gerade über eine einseitig individualpsychologische, aber nicht minder über eine lediglich die Institutionen und die äußere Struktur der Gesellschaft betrachtende Behandlung der Gesellschaftslehre hinauszukommen. Seine Hauptthese war, daß der Einzelmensch und die Gesellschaft zwei Seiten einer und derselben Erscheinung wären. Immer schaute er die Persönlichkeit im Zusammenhang mit der Gesellschaft und umgekehrt. In der Gebildelehre ist seine Unterscheidung von primären und sekundären Gruppen bemerkenswert. Familie, Nachbarschaft und Spielgruppen seien primär und die eigentlichen Erbauer des sozialen Zusammenhangs. Zu den jüngeren „Pionieren" gehört Henry G i d d i n g s (1855—1931 8 ). Seine älteren Schriften bilden deutlich den Wendepunkt von der universalen zur strengeren und engeren Fassung der Soziologie. Konnten wir schon für die bisherige deutsche Entwicklung das Schlagwort prägen: Von der Enzyklopädie zur Einzelwissenschaft, so gilt das im stärkeren Grade für die amerikanische Soziologie. Wie wenig ist von den großen universellen Ansprüchen Spencer8 H a u p t w e r k e von G i d d i n g s : T h e P r i n c i p i e s of Sociology (1896: 3. A u f l . ) ; Elements of Sociology (1900); I n d u c t i v e Sociology (1901); S t u d i e s in the T h e o r y of H u m a n Soeiety (1922); T h e Scientific S t u d y of H u m a n Society (1924).
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Wardscher Herkunft übriggeblieben! Schon zehn Jahre nach dem Erscheinen der „Dynamic Sociology" Wards beginnt auch dort die skeptische Erörterung der Methodenfragen. 1896 erscheinen F. H. G i d d i n g s' „Principies of Sociology" 9 . Sehr richtig erklärte er damals, daß bis dahin Soziologie nichts weiter als eine Zusammenstellung sorgfältig ausgearbeiteter, verlockender Hypothesen gewesen wäre. Er ginge von dem Glauben aus, daß Soziologie eine psychologische Wissenschaft, und daß die Beschreibung der Gesellschaft in biologischen Ausdrucksformen ein Fehler wäre; er bemühte sich, die Aufmerksamkeit besonders auf die psychische Seite der sozialen Erscheinungen zu lenken. Teilweise erschien ihm Adam Smith als Vorbild, der in seiner „Theorie der moralischen Gefühle" jene Seelenkräfte zu erfassen strebte, die den Zusammenhang von Menschen herbeiführten. Für Giddings handelte es sich aber dabei nicht um Sympathie allein, sondern um das, was er consciousness of kind (Artbewußtsein) nannte. Fraglich bleibt nur, ob nicht die Lehre von diesem elementar und geschlossen gedachten „Artbewußtsein" selbst wieder bloß eine „verlockende Hypothese" ist. So sorgfältig der frühere Professor an der Columbia-Universität seinen Grundbegriff von ähnlichen, scheinbar mit ihm identischen Prinzipien sondert, so sehr wird der Soziologe mit mißtrauischen Zweifeln dieses psychischeElementwieder in soziale Beeinflussungen der Menschen aufzulösen versuchen müssen. Seitdem erkannte man immer deutlicher, daß die a m e r i k a n i s c h e Wissenschaft die F o r m e n von G r u p p e n und die sich an ihnen vollziehenden V o r g ä n g e behandelt 10 . Allmählich wird aber der Begriff „soziale 9 Bald nadi dem ersten Erscheinen oft neu aufgelegt. N a d i der 12. A u f lage ist die deutsdie Übersetzung von Paul Seliger (Leipzig 1921, philos. soziol. Büdierei in Bd. 26) erschienen. 10 In Emory S. Bogardus' „Introduction to Sociology" (erste Aufl. 1913, 4. Aufl. 1925) (Los Angeles, Jesse Ray Miller) werden z. B. G r u p p e n v e r hältnisse in 21 K a p i t e l n behandelt.
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Formen" durch den fruchtbareren der „sozialen Prozesse" ersetzt, wie es schon Cooley und Small getan hatten. In den zwanziger Jahren zerlegt sich das Gesamtfeld der Soziologie stark nach den Zusammenhängen mit den anderen Wissenschaften, von denen die einzelnen Forscher ausgegangen waren. Da sind neben den Psychologen die Geographen, Biologen, Anthropologen, Pathologen und Philosophen. Daraus ist jedoch kein Chaos, sondern eine größere Mannigfaltigkeit der Gesichtspunkte entstanden. Doch wurde immer mehr klar, daß die Soziologie ihre eigene Methode ausbilden müsse. Die nächste Aufgabe bestand, wie G i l l i n 1927 darlegte, in r e c h t e r B e s c h r e i b u n g des. zu Beobachtenden. Die Verallgemeinerung müsse später erfolgen, womit nicht gesagt sein solle, daß einleuchtende Hypothesen zur Erklärung der Erscheinungen heute auszuschließen seien. In der amerikanischen Sozialpsydiologie speziell beständen heute vier Richtungen: 1. die „social mind theory" (Giddings, Ross, Ellwood); 2. die Theorie von den sozialen Instinkten McDougall); 3. die Lehre von der sozialen Haltung und der sozialen Gewöhnung (Thomas und Dewey); 4. die Lehre von der Personalität (personality and society theory). In den letzten, an Kleinarbeit fruchtbaren beiden Jahrzehnten hat sich allerdings das Bild wohl schon wieder verschoben. Die Lehre von den Instinkten als Haupturhebern sozialer Erscheinungen verlor an Bedeutung. Edward Aisworth R o s s hat in der zweiten Auflage (1930) seiner „Principles of Sociology" die Instinktspsychologie, die in der ersten Auflage von 1920 einen erheblichen Raum einnahm, ganz gestrichen. Wie in Deutschland gegenwärtig ein unverkennbarer Gegensatz zwischen der Auffassung der Soziologie als systematischer Wissenschaft und als „Kultursoziologie" besteht, so ist auch in Amerika Streit über den Begriff der Kultur innerhalb der Gesellschaftslehre; besonders die „Kulturanthropologen" (Lowie, Kroeber, Wißler, Goldenweiser u. a.) üben von der Völkerkunde her ihren Einfluß aus und bevorzugen die Analyse
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von Kulturen. Ihnen stellen sich die Sozialpsychologen entgegen. Audi der Streit über die „Wertfreiheit" in der Forschung, der in Max Webers letzten Lebensjahren in Deutschland herrschte, findet seine Parallele in Amerika. Ethische und sozialreformatorische Forderungen durch soziologische Lehren zu stützen, suchte vor allem Charles A. E l l w o o d (1873—1948), dessen „Sociology in its psychological aspects" und dessen „Psychology of Human Society" hier genannt werden müssen. Andere Autoren widersetzen sich jeder unmittelbaren Verbindung mit praktischen sozialen Bewegungen. So betonte F. O g b u r n in seiner Präsidentenansprache auf der 24. Jahresversammlung der American Sociological Society: „Die Soziologie ist als Wissenschaft nicht an der Verbesserung der Welt, an der Ermutigung von Glaubensbekenntnissen, an der Verbreitung von Informationen und Neuigkeiten, an der Bekundung von Eindrücken des Lebens, an der Führung der Menge oder an der Leitung des Staatsschiffes interessiert. DieWissenschaftistunmittelbarnurauf e i n D i n g , auf d a s W i s s e n , a l s o a u f d i e E n t deckung neuer Erkenntnisse gerichtet." Gerade weil in Europa immer wieder behauptet wird, die Wissenschaft werde in Amerika lediglich als ein unmittelbares Hilfsmittel der Praxis betrachtet und geschätzt, mag diese auch sonst in Amerika durchaus nicht seltene Tendenz zur Theorie um der Theorie willen erwähnt werden. Dem widerspricht nicht, daß die Pflege der angewandten oder speziellen Soziologie sehr ausgedehnt ist. Neue Zweige, wie die sehr beliebte Rural Sociology (Soziologie des Landlebens) mit ihrer umfangreichen Literatur, die pädagogische Soziologie, die Religionssoziologie u. a. nehmen großen Raum ein. Mit Recht wird ferner das, was man „Social Research" nennt, und was etwa unserem Begriffe Soziographie entspricht, in den Vordergrund gestellt. Auf die Methoden der Beobachtung hat das große Werk von W. J. T h o m a s und F. Z n a n i e c k i : „The Polish Peasant in Europe and America" starken Einfluß aus-
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übt. T h o m a s (1863—1947) gehörte selbst zu den einflußreichen Vorkämpfern der Soziologie in Amerika. Er hob auch die Bedeutung der Sexualforschung hervor und untersuchte die Probleme des Standort wechseis; gerade diese Fragen der „Mobility" sind seitdem viel behandelt worden. Robert P a r k und P. S o r o k i n haben (teilweise mit ihren Schülern) hier und in den benachbarten Fragen (Negerfragen, Verstädterung usw.) Bestes gegeben. Unter dem Einfluß von P a r k s „Principles of Human Behavior" ist das Studium des „Verhaltens" der Menschen — besonders bei jüngeren Gelehrten — üblich geworden. Hierbei handelt es sich nicht um bloße Übernahme des zu eng gefaßten Behaviorismus von der hierfür in Frage kommenden Richtung der Physiologie und Psychologie; die soziologische Lehre vom Verhalten der Menschen beschränkt sich keineswegs auf ein Studium der physischen Reaktionserscheinungen von Lebewesen auf äußere Reize, wenn sie von „behavior" spricht. Im ganzen: Man ist längst abgekommen von den phantastischen Bemühungen, alles und jedes zu erklären; man will um so exakter bestimmt umgrenzte Erfahrungskomplexe studieren. So sehr diese zunehmende Begrenzung der Aufgabe ein wissenschaftlicher Fortschritt ist, so wenig läßt sich verkennen, daß die im einzelnen sehr fruchtbare amerikanische Soziologie gegenwärtig wie in Deutschland eine gewisse Zersplitterung aufweist, und daß es ihr an systematisierter Einheit gebricht. Ihr großer Vorzug bleibt die Lebensnähe, Frische der Anschauung und die beständige Ausnutzung der Beobachtungen des praktischen Gegenwartslebens für die Zwecke der Wissenschaft. Der gegenwärtige Entwicklungsstand läßt sich, soweit das in kurzen Worten überhaupt möglich ist, etwa in folgenden Sätzen skizzieren: Von den heute noch stark nachwirkenden Pionieren Robert E. P a r k , W. L. T h o m a s , C. H . C o o l e y und Edward A. R o s s lebt nur noch der Letztgenannte. Sein erstes größeres Werk von
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1901 ist „Social Control" betitelt. Seitdem ist dieser Begriff Ausgangspunkt mannigfacher Erfassungen der Kräfte des sozialen Lebens geworden. Bis in die letzten Jahre hinein dehnte sich Ross' Forschung über weite Gebiete der eigentlichen Soziologie. Seine bereits erwähnten „Principles" gaben auch unsrer Beziehungslehre manche Anregung. Eine andere im amerikanischen Schrifttum immer häufiger gewordene Kategorie, die bei ihm, wie bei O g b u r n , breiten Raum einnimmt, ist die des social change (im Sinne von Wandlungen in den das gesellschaftliche Leben vorwiegend beeinflussenden Kräften). E. A. S h i 1 s 1 1 teilt die Spezialgebiete der amerikanischen Soziologie, die vorwiegend bearbeitet werden, in folgende Gebiete: a) Soziologie der Stadt, b) der gesellschaftlichen Schichten, c) Bevölkerungsgruppen, d) Familie, e) Religion, f) öffentliche Meinung und g) kleine Gruppe. (Nicht hineingezogen hat er die nicht minder gepflegte Soziologie des Landlebens und die Demographie.) Zur Soziologie der Großstadt ist immer mehr die Erforschung der Kleinstadt getreten. In den Vordergrund treten weiter die Studien über die Gesellschaftsklassen und die Rassen- (besonders die Neger-) Fragen. Als heute vorherrschende Tediniken werden von B u r g e s s genannt 12 : I. die Statistik, II. die Methode der persönlichen Bekundung und des Studiums der Einzelfälle (case study), III. Typologie, IV. Soziometrik, V. die Befragung und das Interview. Über die seit J. L. M o r e n o s Buch: „Who shall survive?" von 1934 stark in Vordergrund getretene, in den letzten fünfzehn Jahren beständig von ihm und anderen vervollkommnete Methode der S o z i o m e t r i k habe ich versucht, mich in der Kölner Zeitschrift für Soziologie ( H e f t I / l , S . 23 ff.) und in den darauf folgenden Nummern eingehender zu äußern. Ich muß hier darauf verweisen und auch auf das, was G e i g e r unter der Überschrift >' Vgl. Shils 1. c. 12
Vgl. Burgess in G u r v i t d i - M o o r e , S. 20 ff. (englische Ausgabe).
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„Über Soziometrik und ihre Grenzen" (Heft 1/3, S. 40 ff.) schreibt. Seine wie meine Untersuchungen kommen zu folgenden, von Geiger, wie folgt zusammengefaßten Ergebnissen über quantifizierende Verfahren, zu denen die Soziometrik gehört: „1. Das objektive Gerippe der Gesellschaft kann restlos auf gemessene, quantitative Begriffe reduziert und durch sie beschrieben werden. Selbst innerhalb dieses Feldes sind zahlreiche Aufgaben, ja die meisten, noch ungelöst. 2. Was die subjektiven Faktoren des sozialen Lebens angeht, so wird die Introspektion vielleicht niemals ganz entbehrlich werden. Nichtsdestoweniger ist es von größter Wichtigkeit, quantifizierende Methoden zur Erfassung dieser subjektiven Bestandteile zu entwickeln. Jeder, wenn auch noch so bescheidene Versuch in dieser Richtung trägt dazu bei, die Soziologie zu einer strengen Wissenschaft zu machen und verdient daher Anerkennung und Ermunterung. 3. Solange das Ziel völliger Exaktheit unerreichbar bleibt, wird man introspektive Methoden ergänzend und interimistisch anwenden müssen. Methodologische Prinzipienreiterei führt zu nichts. 4. Um aber die Reinheit der Linien zu wahren und die nötige Kontrolle zu behalten, empfehle ich, daß man in der Darstellung die streng empirischen Ergebnisse quantifizierender Untersuchung einerseits und die auf introspektivem Wege vorgenommenen Deutungen andererseits streng voneinander getrennt halte." Aus der großen Zahl der heute in Amerika wirkenden Soziologen können wir zum Schlüsse dieses Kapitels nur einige wenige noch nennen. Darüber hinaus noch andere Namen aufzuzählen, würde den Anfänger nur verwirren. Doch greifen wir diejenigen heraus, deren Auffassung unserer Wissenschaft in mancherlei Betracht Verwandtschaft mit der Beziehungslehre aufweist. Freilich können nur kurze Hinweise gegeben werden; von einer ausreichenden Würdigung muß hier abgesehen werden.
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Pitirim A. S o r o k i n (geb. 1889 in Rußland) ist Professor an der Harvard-Universität und gehört dort dem Department of Social Relations an 13 . Von seinen zahlreichen Büchern sei hier nur sein systematisches Hauptwerk: „Society, Culture, and Personality, their Structure and Dynamics" 1 1 genannt. Das Kulturelle, Soziale und Persönliche erscheinen ihm als eine unteilbare Einheit dreier Schauweisen, von denen aber jede ihre besonderen Merkmale besitze. Auch er betrachtet wie wir die Wechselbeziehungen unter den Menschen (die human interactions) als den Gegenstand der Soziologie, wobei er die s i n n v o l l e n Interaktionen (die meanings, values und norms) besonders hervorhebt. Damit stellt er sich in ihm bewußten Gegensatz zu einer naturwissenschaftlichen Erfassung der Tatsachen des zwischenmenschlichen Lebens; es handele sich um die superorganische, sinnvolle Daseinsweise. Deutlich scheidet er die physikalisch-biologische von der anthropologischsoziologischen Optik. Sein Werk weist sechs Hauptteile auf: 1. Struktur-Soziologie, 2. speziell: Struktur des sozialen Universums, 3. Soziale Differenzierung und Schichtenbildung, 4. Strukturen der kulturellen und persönlichen Erscheinungsformen des überorganischen Alls, 5. Dynamik der wiederkehrenden sozialen Prozesse, 6. Dynamik der Kulturprozesse. Charakteristisch für seine Denkweise ist die starke Betonung der w e r t e n d e n Erfassung des gesellschaftlichen Lebens. Sie hängt mit der in seiner Persönlichkeit tief begründeten Neigung zusammen, Ethik und Soziologie eng zu verbinden. Doch ist zugleich sein Streben, die tatsächlichen Seinszusammenhänge des Menschenlebens systematisch und geordnet zu erfassen, unverkennbar. Sein Werk ist — ich möchte sagen — echte Soziologie. Mag man in diesem oder jenem Punkte von ihm abweichen, so bedeutet doch sein überaus fruchtbares Schaffen einen großen Fort13 V g l . L . v . Wiese: „ P i t i r i m A . S o r o k i n " S o z i o l o g i e 1/2, S . 105 ff. 14 N e w Y o r k und L o n d o n 1947, H a r p e r .
6*
in
der K ö l n e r
Zeitschrift
für
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schritt in der wissenschaftlichen Entwicklung, da es der Soziologie eine theoretische, auf das Wesentliche gerichtete Grundlage gibt. Es sind nicht bloß Teilgebiete und Lebensausschnitte, die von ihm behandelt werden, sondern allgemeine Grundtypen und Grundzusammenhänge. Auch teile ich mit ihm die Überzeugung, daß zwischen Soziologie und Ethik ein enger Zusammenhang besteht; nur scheint mir ein anderer Weg der Verbindung notwendig: die Soziologie als solche sollte sittliche Werturteile vermeiden und sie der Ethik überlassen, die von jener getrennt, aber auf ihr fußend und ihre Ergebnisse nutzend zu behandeln ist. Ferner sollte eine völlige Lösung von der Biologie, also eine Ignorierung ihrer Resultate nicht angestrebt werden. D a Sorokins Werke, nicht am wenigsten das hier herangezogene theoretische H a u p t w e r k , sehr klar und geordnet ohne künstliche Verdunklungen geschrieben sind, eignen sie sich auch f ü r das Studium von Anfängern. H o w a r d B e c k e r (Universität des Staates Wisconsin) steht unserem, im ersten Kapitel gekennzeichneten Streben besonders nahe, nicht nur, weil er in den zwanziger Jahren in Köln studiert hat, sondern auch, weil er die amerikanische Ausgabe meiner „Allgemeinen Soziologie" in englischer Sprache veranlaßt, die Übertragung geleitet und das Buch durch Zusätze ergänzt hat 1 5 . Als Theoretiker 15 Diese englische Ausgabe ist unter dem Titel „Systematic Sociology. O n the Basis of the Beziehungslehre und Gebildelehre". A d a p t e d and amplif-ed by H o w a r d Becker (New York 1932, John Wiley & Sons) erschienen. Wohl der Zusatz „adapted and amplified" hat dazu geführt, d a ß H . Becker bisweilen als „author" oder Mitverfasser des Buches bezeichnet worden ist. Das ist mißverständlich. Die alleinige Verantwortung .für den Inhalt des deutschen Originals trage ich. N i e m a n d hat bei seiner Abfassung mitgewirkt. Bei der Übersetzung ins Englische schien es aber H . Becker verständlicherweise wünschenswert, es f ü r den Unterrichtsgebrauch in den englisch sprechenden Ländern dadurch ausgiebiger zu gestalten, d a ß in ihm Ausführungen anderer Autoren ( z . B . Max Webers) zum selben Gegenstand mit aufgenommen wurden. Das hat nur den Nachteil mit sich gebracht, d a ß die systematische Geschlossenheit, um die ich mich besonders bemüht hatte, beeinträchtigt worden ist. So d a n k b a r ich f ü r die ausgezeichnete Übersetzung war, so machte mir doch die Beobachtung Sorge, d a ß die nicht immer in der Terminologie und Gedankenf ü h r u n g dazu passenden Darlegungen anderer Autoren- eingeflochten sind, ohne d a ß durch eine andere Druckform der fremde Bestandteil gekennzeichnet ist.
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und Systematiker rechnet sich Becker zu den Analytikern. Sie seien die „Grammatiker der Sozialwissenschaften". Zu den Synthetikern alten Stils zählt er Ross, Ellwood, Sorokin und Thomas; zu den Analytikern u. a. Maclver, Park und Burgeß, Abel, House, Wirth, Blumer, Parsons und sich selbst. (Es mag dahingestellt bleiben, ob die so bezeichnete Unterscheidung klar und zutreffend ist.) Jedenfalls gehört Becker einmal zu den fruchtbarsten Historikern der Ideengeschichte; dann aber ist er als Systematiker ein phantasiebegabter, zugleich f ü r die Kulturentwicklung und das Geflecht des modernen sozialen Lebens aufgeschlossener Forscher, der seinen Schriften eine völlig' eigenartige, künstlerische Form zu geben vermag. Das zeigen u. a. seine Studie über Ehe und Familie, seine tief eindringende Analyse der deutschen Jugendbewegung und seine Einführung „Man in Society", die, vom Anschaulichen und Populären ausgehend, mit didaktischer Meisterschaft in abstrakte Zusammenhänge hinüberleitet. R. M. M a c l v e r , der Herkunft nach Schotte, jetzt im Department of Political Science der Columbia-Universität in N e w York, verbindet in vieler Hinsicht die spezifisch amerikanische Schauweise mit der in Europa üblichen O p t i k ; ihn verknüpft manches mit der Tradition Hobhouses, aber auch mit der verstehenden Soziologie Max Webers, dessen Betonung der Wertfreiheit er sich zu eigen gemacht hat. Von seinen zahlreichen Werken soll hier die Aufmerksamkeit auf eines seiner neuen Bücher „Social Causation" (Boston etc. 1942) gelenkt werden. In ihm ist besonders seine Untersuchung über „group assessments" (kollektive Wertungen) hervorzuheben. Maclver gehört neben Parsons, Lundberg, Ogburn, Becker, Sorokin u. a. zu den Soziologen, die das Vorurteil, die amerikanische Gesellschaftslehre sei theorielos, entkräften. Auf die zahlreichen Autoren, die die Soziographie, die „Case Studies", die Beobachtungsmethoden und die Spezialzweige pflegen, einzugehen, muß ich mir versagen.
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VII. Die Soziologie in Frankreich nach Comtes Tode
K a p i t e 1 V 11 : Die
Soziologie
in Frankreich
nach Comtes
Tode
I n F r a n k r e i c h galt es in den letzten neunzig J a h r e n v o r allem, das W e r k C o m t e s f o r t z u f ü h r e n o d e r zu verä n d e r n . U n t e r den heute nicht m e h r 'lebenden A u t o r e n dieser J a h r z e h n t e stehen die Forscher im V o r d e r g r u n d e , v o n denen zwei das W e r k C o m t e s f o r t z u s e t z e n untern a h m e n , w ä h r e n d der dritte, G a b r i e l T a r d e , seine eigenen W e g e ging. Gabriel T a r d e s ( 1 8 4 3 — 1 9 0 4 ) Hauptwerk ist „Les Lois de l'imitation", deren erste Auflage 1895 bei Alcan, Paris, erschien, nachdem die meisten Kapitel schon seit 1882 in der R e vue philosophique publiziert worden waren. Die 7. Auflage stammt aus dem Jahre 1921. Den Hauptinhalt dieses Werkes wie seiner Schriften „L'Opposition universelle" und „La Logique sociale" hat T a r d e in seinem Büchlein „Les Lois sociales" (Alcan 1898) zusammengefaßt. In deutscher Sprache ist diese Schrift in der philosoph.-soziol. Bücherei (Bd. 4, Leipzig) unter dem Titel „Die sozialen Gesetze" erschienen. Emile D ü r k h e i m ( 1 8 5 8 — 1 9 1 7 ) hat 12 Bände der Année Sociologique bei Alcan, Paris, herausgegeben. Aus seinen Schriften nennen wir „Les règles de la méthode sociologique (Paris, Alcan, 1895, 7. Aufl. 1919). In der Vorrede zur 2. Auflage findet sich eine klare Obersicht seiner Lehre. Ferner „De la division du travail social" (ebendort 1893; 4. Auflage 1912) und das (zur Einführung in Dürkheims Theorie redit geeignete) Büchlein: „Sociologie et Philosophie" (Alcan 1924). In ihm hat Professor Bouglé (von der Sorbonne) drei wichtige Aufsätze seines Lehrers gesammelt und mit einem Vorworte versehen. René W o r m s ( 1 8 6 9 — 1 9 2 6 ) war der Herausgeber der Revue Internationale de Sociologie und der Generalsekretär des Institut International de Sociologie. Von seiner älteren Schrift „Organisme et société" (Girard & Co., Paris 1896) ist unten die Rede. Aus seinen zahlreichen anderen Veröffentlichungen nennen wir das Büchlein „La Sociologie, sa nature, son contenu, ses attaches" (Paris, Girard 1921).
V I I . Die Soziologie in Frankreich nach Comtes Tode
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Die drei kleinen Schriften: T a r d e : Les Lois Sociales, Durkheim-Bouglé: Sociologie et Philosophie und Worms: L a Sociologie, die man zu niedrigen Preisen im Buchhandel erhalten kann, sind geeignet, Anfängern das Studium der französischen Soziologie zu erleichtern.
Gabriel T a r d e , Emile D u r k h e i m und René W o r m s unterscheiden sich in ihrer Grundauffassung der Soziologie wesentlich; besonders Tarde und Durkheim können als Antipoden gelten. T a r d e sucht als Gesellschaft die Summe der seelischen Einwirkungen von Einzelmenschen zusammenzufassen. Sein Hauptsatz lautet: „La Société c'est l'imitation", die Nachahmung ist ihm die grundlegende Tatsache des zwischenmenschlichen Zusammenhangs. D u r k h e i m leitet nicht das Gesellschaftliche vom Individualpsychischen ab; vielmehr ist ihm wie Comte das Seelenleben der Menschen eine Ausdrudesform der überpersönlichen Gesellschaft; ja, er sucht so sehr den Primat und die Selbständigkeit des Sozialen hervorzukehren, daß er geradezu fordert, die sozialen Tatsachen als außerhalb des Einzelmenschen stehende Realitäten zu untersuchen. Die Haupttatsache im sozialen Leben ist ihm der Z w a n g , den die Gesellschaft auf den Menschen ausübt. („Est social le fait, qui est accompli sous la pression de la société.") Kann man Tarde als Individualisten, Durkheim als Universalisten bezeichnen, so nimmt Worms in Überwindung dieser falschen und künstlich geschaffenen Gegensätze den (unseres Erachtens einzig gerechtfertigten) vermittelnden Standpunkt ein; nach ihm ist „das Soziale aus individuellen Elementen gemacht und das Individuelle von sozialen Elementen erfüllt". Die Gesellschaft bestehe nicht n e b e n den Einzelmenschen, sondern existiere als Organisation der Menschen. Die Fundamentaltatsache des Sozialen ist bei ihm die geistige Begegnung der Wesen. („La rencontre mentale des êtres, voilà pour nous le fait social originaire.") Für T a r d e ist vor allem der Gedanke charakteristisch, daß soziale Tatsachen seelische Erscheinungen sind. Damit
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schwindet bei ihm der Unterschied von Soziologie und Sozialpsychologie. Indessen bedarf dieser Satz sogleich einer näheren Erklärung, damit er nicht mißverstanden wird: Für Tarde gibt es nur Einzelmenschen, zwischen denen seelische Beziehungen bestehen. Er verwirft alle kollektivistischen Lehren, die den Gruppen als solchen ein besonderes psychisches Leben zusprechen. Mit Recht sagt Sorokin von ihm, daß er durchaus Nominalist sei. Gerade die engere Beziehungslehre (weniger die Gebildelehre) kann aus Tardes glänzend geschriebenen Werken wertvolle Hilfe f ü r ihre Forschungen entnehmen. Aber dreierlei wird sie ablehnen müssen: So wichtig die Rolle der Nachahmung im sozialen Leben ist 1 , so wird man T a r d e nicht folgen können, wenn er in ihr d a s soziale Elementarphänomen sieht. Ferner hat Tarde mit seinen hauptsächlich intuitiv erfaßten Erkenntnissen geschichtsund kulturphilosophische Spekulationen verknüpft, die der Nachprüfung und Einschränkung bedürfen. Schließlich sind soziale Tatsachen keineswegs nur seelische Erscheinungen. Vielmehr haben wir schon im ersten Kapitel dieses Büchleins angedeutet, daß begrifflich die soziale Sphäre von der seelischen geschieden werden muß. D ü r k h e i m ist seit Comte der einflußreichste Soziologe Frankreichs gewesen, dessen Lehren (nicht ohne erhebliche Einschränkungen) heute am stärksten fortleben. Es gibt auch in der jüngsten Gegenwart eine DurkheimSchule. Seine Denkweise hat man richtig als Soziologismus bezeichnet. Anzuerkennen ist vor allem seine Grundauffassung, daß Soziologie eine reine Wissenschaft ohne Vermengung mit Philosophie oder Politik sein muß. Er tadelt an Comte, daß er allmählich vom Studium der sozialen Dynamik in die Politik und in die Begründung einer Zukunftsreligion geraten sei. Er will dagegen Tatsachen und Be1 D a ß dabei T a r d e mit Imitation nur e i n e besondere Erscheinungsf o r m der sehr zusammengesetzten Tatsache Nachahmung meinte, darüber vgl. v . Wiese, Beziehungslehre, S. 170 ff.
VII. Die Soziologie in Frankreich nadi Comtes Tode
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Ziehungen zwischen Tatsachen entdecken, nicht mehr. Er sagt sehr richtig, daß diese Tatsachen nur oberflächlich und ungenau bekannt sind, weil philosophische Ideen ihre Kenntnis verhüllen; methodische Beobachtungen seien notwendig. Wir wüßten nicht, was die Familie, der Staat, die Religion wären; aber es gebe Typen von ihnen, die wir beschreiben und vergleichen könnten. Stufenweise würden wir in die objektive Erkenntnis ihrer Wirklichkeit eindringen. Wie Spencer neigt auch Dürkheim besonders zum Studium der Einrichtungen der Naturvölker und verbindet eng Soziologie und Ethnologie. Dürkheim geht verhältnismäßig schnell (wie Max Weber in Deutschland) zum Studium der speziellen Soziologien (Religions-, Rechts-, Familien- und Sprachsoziologien) über; hier kann sich seine vergleichende Methode betätigen und bewähren. (Das von ihm begründete, periodische Sammelwerk, die Année Sociologique, dient diesen Aufgaben.) Eine positivistische Tendenz ist bei ihm unverkennbar. Bougie zeigt, daß es ihm vorwiegend auf Probleme der Moral angekommen sei. Damit ist in der Tat der Schlüssel zur Kammer seiner Einseitigkeiten gegeben. Dürkheim wollte den Mystizismus in der Ethik vermeiden und versuchte dies dadurch, daß er das Ethos zu einer rein sozialen Angelegenheit machte. Von R e n o u v i e r habe, sagt B o u g i e , D. die Lehre übernommen, daß das Ganze mehr enthalte als die Teile, von C o m t e , dessen Werk er fortzusetzen unternahm, hätte er, meint Bouglé, die Formel entnehmen können, daß man das Übergeordnete nicht durch das Untergeordnete erklären könne. Ihm ist die Gesellschaft die einzige Stätte des moralischen Lebens. Alle Imperative, die Dingen und Menschen ihren Rang zuweisen, seien Äußerungen des Gemeinwillens. Teil und Ganzes sind aber gleichzeitig und gleichwertig; es gibt da keine Rangordnung. Das Ganze dient dem Teile ebenso wie der Teil dem Ganzen. Abzulehnen ist
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VII. Die Soziologie in Frankreich nach Comtes Tode
ferner, daß alle Moral, alle religiösen und ästhetischen Normen nur als Äußerungen des Gemeinwillens anzusprechen seien. Der Zusammenhang zwischen Gott und Einzelseele wird damit durchbrochen. Der Gemeinwille ist oft unmoralischer als der Einzelwille; die Gruppe steht häufig viel tiefer als der Mensch. Das gemeinschaftliche Leben zieht nicht selten herab. Aber die Lehre von den s o z i a l e n Z w ä n g e n , die im Mittelpunkte seiner allgemeinen Gesellschaftslehre steht, wirkt weiter; einer seiner eifrigsten Schüler G. L. D u p r a t (in Genf) hat sie ihrer Zuspitzungen entkleidet und fortgeführt. René W o r m s gehörte in jüngeren Jahren zu den Orgänizisten. Damals trieb er (besonders in seinem „Organisme et Société", 1896) die Analogie zwischen Gesellschaft und Leib sehr weit. Es ist aber bemerkenswert, daß dieser Soziologe — darin S c h ä f f 1 e ähnlich — in seinen letzten Arbeiten zu einer Auffassung gelangt war, die er in den Worten ausdrückte: „Studium, Erfahrung und Nachdenken haben uns schließlich gelehrt, die Zustimmung, die wir den Prinzipien der organizistischen Lehre anfangs gegeben hatten, einzuschränken oder an ihre Stelle hinreichend deutliche Grundsätze zu stellen 2 ". N u n erklärte er, die Gesellschaft existiere als Organisation der Menschen. Es bleibe zwar etwas Organisches am Gebäude der Gesellschaft. Die Gesellschaften würden nach Art der Organismen geboren und handelten zunächst nach denselben Gesetzen wie sie. Sie schritten sodann in einer spezifisch menschlichen Art voran, indem sie sich einem Ideale zuwandten, das vom Geist erfaßt sei: einem Ideale der Gerechtigkeit, des Friedens, der Freiheit, des Lichtes. Dadurch strebten sie danach, unter ihren Mitgliedern eine Gleichheit und eine vertragsmäßige Solidarität zu schaffen. Von der organischen Welt schreite man so zur sozialen Welt ohne Erschütterungen und Unterbrechung durch Vermittlung der geistigen Welt fort. * R . Worms, 1. c., S. 55.
VII. Die Soziologie in Frankreich nadi Comtes Tode 91 Sind nicht auch das schon mehr optimistische Glaubenssätze als systematisierte Beobachtungen? Wieviel Gruppen und abstrakte Kollektiva ließen sich nennen, die sich durchaus nicht „einem Ideale der Gerechtigkeit, des Friedens, der Freiheit" zuwenden und keine Gleichheit unter ihren Gliedern schaffen? Ob das geschieht, hängt durchaus von der Einflußstärke edler E i n z e l m e n s c h e n in den Gruppen ab. W o r m s stellt sich uns also in seinen letzten Lebensjahren, wo er seines Meisters Organizismus überwunden hat, insofern als Nachfolger Comtes dar, als für ihn die Soziologie keine Spezialwissenschaft ist. Zwar will er (anders als Durkheim, für den die Soziologie die beherrschende Zusammenfassung der sozialen Einzelwissenschaften war) der einzelnen Sozialwissenschaft nicht ihren selbständigen, unterscheidbaren Charakter rauben; aber die Soziologie erscheint ihm doch als die Philosophie der Sozialdisziplinen. Er belastet sie dadurch mit Aufgaben, die ihr die klare Herausarbeitung einer eigenen, außerphilosophischen Aufgabe und deren Lösung erschweren. Von den französischen Soziologen, die zwischen den beiden Weltkriegen hervortraten, nennen wir ihren damaligen Altmeister Gaston R i c h a r d (1860—1944) von der Universität Bordeaux, die heutigen Hauptschriftsteller des ehemaligen Dürkheim-Kreises der Année Sociologique, vor allem Marcel M a u s s und Paul F a u c o n n e t in Paris, den an den politischen Problemen der Demokratie stark interessierten C. B o u g l é (geb. 1870, vor einigen Jahren in Paris gest.), den auch als Statistiker hervorragenden früher Straßburger, später Pariser Professor Maurice H a l b w a c h s , schließlich den früheren Generalsekretär des Institut International de Sociologie Professor G. L. D u p r a t von der Universität Genf. In dieser internationalen, früher mehr französischen wissenschaftlichen Gesellschaft, die im Jahre 1893 gegründet wurde, war bis zu seinem Tode René Worms die treibende Kraft. Mit dem Überwiegen der Wormsschen Richtung
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VII. Die Soziologie in Frankreich nach Comtes Tode
hing auch zusammen, daß sich die Durkheimschule der französischen Soziologie vom Internationalen Institut in den ersten 30 Jahren ziemlich fernhielt. Worms' Amt eines Generalsekretärs übernahm zunächst Gaston Richard, dann Duprat. Dieser Wechsel minderte auch den früheren Gegensatz zwischen der Durkheimschule und der Richtung Worms'. Seit Beginn des zweiten Weltkrieges besteht dieses Genfer Institut nicht mehr. Gegenwärtig sind Bestrebungen im Gange, eine neue internationale Vereinigung in Verbindung mit der „Unesco" ohne Ableitung von der älteren Organisation zu errichten. Die französische Soziologie kannte bisher in der H a u p t sache zwei Aufgabenkreise: einmal die ausgesprochen theoretische, ja spekulative Behandlung von methodologischen und erkenntniskritischen Grundfragen. Claude L é v i S t r a u ß sagt nicht mit Unrecht im Sammelwerke von Gurvitch-Moore: „Keine andere soziologische Schule hat ja so viel Aufmerksamkeit der Problematik von Begriffsbestimmungen und der Unterscheidung von wissenschaftlichen und unwissenschaftlichen Fakten gewidmet wie die französische Schule" (wobei er wohl vorwiegend an die Durkheimschule denkt). Aber er spricht auch nicht minder richtig von der Kühnheit der theoretischen Vorwegnahmen und dem Mangel an konkreten Daten. Der zweite Aufgabenkreis bestand und besteht noch heute in der Ausnutzung der Ethnographie, Kolonialtätigkeit (so besonders bei René Maunier) und der Geographie. Die „Années Sociologiques" sind angefüllt mit Material über nichteuropäische Völker und über archaische Kulturen. Hinter diesen zwei Themenkreisen ist die Soziographie des europäisch-amerikanischen Kreises, überhaupt die Beschreibung des modernen sozialen Lebens zurückgeblieben. Soziologie ist in Frankreich teils eine Schauweise bei vielen anderen Wissenschaften, teils eine Methode; dagegen fehlt die klare Absonderung als Disziplin. U m so mehr ist es zu begrüßen, daß jetzt Georges G u r v i t c h (geb. 1894), der wie Sorokin russischer Emigrant ist und — wenn audi in
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ganz anderer Ausführung — die gleiche Aufgabe wie dieser in Amerika f ü r Frankreich übernommen hat, diese Lücke ausfüllt. Gurvüch ist nicht nur Rechtssoziologe, sondern auch Systematiker der allgemeinen Soziologie. Seit er 1938 seine „Essais de Sociologie" schrieb, hat er in den hauptsächlich von ihm redigierten „Cahiers Internationaux de Sociologie" die Ergebnisse der F o r t f ü h r u n g seiner Studien gegeben. Er legt W e r t auf die T y p e n der Vergesellschaftung, sucht in bestimmter u n d veränderter Richtung die Wissenssoziologie weiter zu entwickeln und neben die amerikanische Soziometrik seine Mikrosoziologie zu stellen, die zur K l ä r u n g des Wirverhältnisses der Menschen beitragen soll 3 . Es wäre reizvoll, die Entwicklung der Durkheimschule wiederzugeben. N u r ganz weniges z u m Schlüsse: D ü r k heims Soziologismus erreichte wohl in seinem Buche über die Selbstentleibung (Le Suicide) von 1897 seinen H ö h e p u n k t . Seine danach einsetzende intensivere Befassung mit den schriftlosen Völkern, der sachliche Gegensatz zu LévyBruhl, der dabei entstand, u n d der Widerspruch aus anderen Lagern, aber auch von seinen Schülern Gaston Richard u n d G. L. D u p r a t , mochten w o h l zu einer Abschwächung seines schroffen Universalismus in seinen letzten Lebensjahren beitragen. Besonders aber die Fortsetzer seiner Arbeit, vor allem Marcel Mauss u n d in stärkerem M a ß e Maurice Halbwachs u n d C. Bouglé, vermieden die Übersteigerungen seines Soziologismus. Auch Halbwachs schrieb über die „causes du suicide"; aber da er audi Statistiker u n d Soziograph w a r , erscheint seine Auffassung des sozialen Charakters der Selbsttötung er3 Über die Franzosen Espinas (Des sociétés animales), Lévy-Bruhl (La morale et la science des moeurs), Le Bon, den Massenpsychologen, über Fouillée (La science sociale contemporaine) und den genialen J . M. Guyau (ins Deutsche übersetzte Werke): „Irréligion der Z u k u n f t " (Leipzig 1910), „Die Kunst als soziologisches P h ä n o m e n " (Leipzig 1911) und „Erziehung und Vererbung" (Leipzig 1913), muß idl mir versagen zu berichten. Gegenwärtig wird in Deutschland Le Bon wieder viel gelesen. Vielleicht darf ich hierzu auf meine Stellungnahme zu seiner „Psychologie der Massen" im „System der Allg. Soziologie", 2. A u f l . , S. 205 ff. verweisen.
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heblich, gemilderter. Erst recht ist dies bei Bougies Darstellung des Problems der Fall; er schlägt eine Brücke zu der mehr das Persönliche in diesem Tatsachenkreise betonenden Erkärung der Psychiater. Überhaupt hat der heute vordringende P e r s o n a l i s m u s , den vor allem Jean V i a 1 und Edouard M o u n i e r bekunden, den dogmatischen Gegensatz von Individualismus und Universalismus überwunden. H a l b w a c h s , den Howard Becker einen der hervorragendsten und produktivsten der Durkheimgruppe nennt, hat u. a. auch eine fesselnde Untersuchung über „Les Cadres Sociaux de la Memoire" (1925) geschrieben, in der er — hier noch ganz in Dürkheims Sinne — dartut, daß das Gedächtnis ein Produkt des sozialen Lebens sei. Doch ist es nicht möglich, länger hier bei ihm zu verweilen. Man wird beim Rückblick auf die bisherige französische Entwicklung hervorheben müssen, daß es darauf ankommt, Comtes und Dürkheims Scharfblick für die Besonderheit sozialer Zusammenhänge zu bewahren, aber manche ihrer Generalisationen zu vermeiden. Es wäre falsch, bei der Kritik an beiden so weit zu gehen, daß ihre Errungenschaften vernichtet würden, statt sie fruchtbar auszugestalten. Von anderen außerdeutschen Ländern zu erzählen, würde über den Rahmen dieser bescheidenen Einführung hinausgehen. Sonst wäre von Belgien (de Greef, Waxweiler u. a.) und dem Institut Solvay in Brüssel, von den jungen Bestrebungen in allen slavischen Ländern, von Ungarn, Rumänien, Holland, Griechenland, nicht zuletzt von Japan manches zu sagen. Vor allem aber müßten wir bei Italien verweilen. Ist doch einer der bedeutendsten Forscher, Vilfredo P a r e t o (1848—1923), Italiener gewesen4. Es scheint uns nicht richtig, ihn, wie es S o r o k i n 4 Von seinen W e r k e n n e n n e n w i r : 1. T r a t t a t o d i s o c i o l o g i a g e n e r a l e (1915/16) (auch in f r a n z ö s i s c h e r Sprache) u n d 2. Les s y s t è m e s s o c i a l i s t e s (1902). — V g l . L . v . Wiese, V i l f r e d o P a r e t o als S o z i o l o g e , Z e i t s d i r . f . N a t ö k o n . , 7. J a h r g . (1936).
V I I . Die Soziologie in Frankreich nach Comtes Tode
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getan hat, zu der „mechanistischen" Schule zu redinen. Pareto wollte die Soziologie von allen Subjektivismen befreien. Audi er übte wie Dürkheim scharfe Kritik an der Sozialphilosophie. Statt einer Deduktion von einem willkürlichen Apriori wollte er Tatsachen und die bei ihnen bestehenden Gleichmäßigkeiten aufweisen. Insofern könnte man etwa seine Lehre als naturwissenschaftlich bezeichnen. Ihn fesselte nicht zuletzt die Frage nach der Logizität gesellschaftlicher Erscheinungen. Den geringen Grad von Folgerichtigkeit in der Praxis des sozialen Lebens erklärt er aus dem großen Einflüsse von Residuen (Überbleibseln) und Derivationen (Ableitungen). Jene äußern sich in Instinkten, Gefühlen und dem, was die heutige Psychiatrie „Komplexe" nennt; Derivationen sind die Ideologien, die mehr in Einklang mit den Residuen als mit Erfahrung und Logik stehen. Von einer „experimentellen Methode" kann man im strengen Wortsinn bei Pareto nicht reden; aber den Wirkungen der Unlogik, der auf Gefühlen beruhenden Vorurteile und den willensmäßig geschaffenen Ideologien nachzugehen, ist sicherlich eine Teilaufgabe der Soziologie. Als recht fruchtbar hat sich seine Lehre vom Wechsel der Eliten erwiesen. Die Diskussion über „Eliten" hat im Rahmen der Lehre von den Gesellschaftsschichten weite Kreise gezogen. Pareto gehört trotz den vielen Einwänden, die man gegen seine eigenwilligen Auslegungen der Spielarten menschlicher Charaktere erheben kann, zu den großen Gestalten in der Ideengeschichte der Soziologie. Ich möchte ihn aber nicht zu den Soziologen, vielmehr zu den die Soziologie befruchtenden Anthropologen rechnen. Im allgemeinen haben wir an anderer Stelle die gegenwärtige Lage unserer Wissenschaft auf dem Erdenrund zusammenfassend so zu skizzieren versucht: In allen kultivierten Staaten sämtlicher Erdteile wird heute teils offiziell an Hochschulen, teils mehr in Vereinigungen und in privater Tätigkeit Soziologie getrieben. Zwischen vielen Soziologen in der ganzen Welt bestand vor dem Kriege
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VIII. Die ältere Soziologie in Deutschland
ein mehr oder weniger deutlicher Zusammenhang; er bahnt sich gegenwärtig aufs neue an. Freilich sondert sich die unter dem Einflüsse des Bolschewismus stehende Geisteswelt ab. Sie ersetzt Soziologie durch einen orthodoxen Marxismus und verleumdet eine diesem gegenüber selbständige Wissenschaft als bourgeoise Ideologie. Die Gegenwartstendenzen habe ich versucht in folgenden Sätzen zusammenzufassen, wobei die deutsche noch zu behandelnde Entwicklungsrichtung eingeschlossen ist: 1. Fast allgemein wird die Neigung, von der Spekulation zur empirischen Forschung überzugehen, festgestellt. Manche Autoren bestätigen und begrüßen darüber hinaus die Tendenz zur Quantifizierung. 2. Die Scheidung von Soziologie und Geschichtsphilosophie scheint sich überall durchzusetzen. 3. Die Verbindung zu den erfahrungswissenschaftlich arbeitenden Unterdisziplinen der Nachbarwissenschaften, besonders zur Anthropologie und Psychologie wird immer enger. Das sind drei Tendenzen, die offenbar das Schrifttum der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts im steigenden Grade kennzeichnen. Voran dabei geht Amerika.
Kapitel VIII : Die ältere (enzyklopädische)
Soziologie
in Deutschland.
Eine Skizze der geschichtlichen Entwicklung in Deutschland bietet noch größere Schwierigkeiten, als dies bei anderen Ländern der Fall ist. Sie sind zweierlei Art: einmal gibt es viele Werke und Teile von Werken, die die Entstehung einer eigentlichen Soziologie vorbereitet haben, aber im Rahmen anderer Wissenschaften und unter anderen Disziplinbezeichnungen erschienen sind; ferner aber
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werden bei der oben hervorgehobenen weiten Dehnung des Begriffs Soziologie gleich Sozialphilosophie sehr viele Werke eingerechnet werden müssen, die wir nach unserem (nicht willkürlichen, sondern — wie zu zeigen versucht worden ist — wohl begründeten) Grundgedanken nicht einzubeziehen vermögen, ohne mit diesem Schweigen etwa ein negatives Werturteil über ihre Qualität abgeben zu wollen. Die Philosophie und Theologie, vor allem aber auch die Nationalökonomie, Völkerkunde und andere Wissenschaften weisen so viele Werke von mehr oder weniger sozialwissenschaftlichem Charakter auf, daß wir in dieser skizzenhaften Einführung, die den Anfänger nicht mit zu vielen Namen belasten darf, Beschränkung üben müssen. Auch möchte ich hier einem Zweifel Ausdruck, geben, der gegenüber vielen literaturgeschichtlichen Übersichten angebracht ist. Man bemüht sich nicht selten, Schul- und Richtungszusammenhänge über Gebühr zu konstruieren. Das geschieht häufig in der Weise, daß Einflüsse eines älteren auf einen jüngeren Autor überschätzt und aufgebauscht werden. Finden sich irgendwo Ähnlichkeiten im Urteile, Zitate und Bezugnahmen auf voraufgehende Schriftsteller, so ist sehr bald die Behauptung einer „Abhängigkeit" gegeben. Solche „Strömungen" zu entdecken, scheint geradezu eine Leidenschaft mancher Literaturhistoriker zu sein. In der Tat wird man im Aufweise von Zusammenhängen zwischen Forschern eine sehr wesentliche Aufgabe sehen müssen. Nur ist allzu vieles dabei bloße, nachträgliche Konstruktion, und es wird die eigene Findung von Gedanken und Lehren bei den einzelnen Autoren erheblich unterschätzt. Jedenfalls wollen wir uns hier in der Wiedergabe solcher Strömungstheorien Zurückhaltung auferlegen; wir glauben, damit der Wahrheit näher zu kommen, als wenn wir den immer sehr gelehrt erscheinenden Geschichtskonstruktionen folgen. Die üblichste grobe Vereinfachung der Geschichte der Soziologie in Deutschland geht dahin, daß es in dieser Heimat rein spekulativer Philosophie überhaupt keine 7 Soziologie
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*VIH. Die ältere Soziologie in Deutschland
empirische und beschreibende Soziologie gebe. Man hat sich ein herkömmliches Bild * vom deutschen Gelehrten gemacht, der nicht imstande sei, die ihm umgebende Erfahrungswelt mit Hingabe zu beobachten, sondern vorziehe, sich im Hange zum Metaphysischen und zur Befassung mit „letzten Fragen" zu erschöpfen. So wandele sich in Deutschland Soziologie alsbald in spekulative Sozial- und Geschichtsphilosophie; die nationale Spielart der deutschen Soziologie stehe, wenn man überhaupt von ihr reden könne, in krassem Gegensatze zu dem matter-of-facts-Geiste der amerikanischen und britischen Soziologie, ja auch zur französischen, wo politische Oppositionshaltung gegen den Staat zur intensiven Befassung mit der — von ihm getrennt gedachten — Gesellschaft gezwungen habe. In Deutschland habe man sich aber lieber inzwischen mit dem Weltgeiste beschäftigt. Das ist eine leicht eingängige und weil halb wahre (und halb falsche), der traditionellen Typenbildung vom Nationalcharakter entsprechende Vereinfachung. Sie geht deshalb von Ideengeschichte zu Ideengeschichte, wird als eine feststehende Wahrheit betrachtet und nicht weiter nachgeprüft. So findet sie jetzt wieder ihre Zuspitzung in Albert S a 1 o m o n s Darstellung der „deutschen Soziologie" bei Gurvitch-Moore und ist (vermutlich von dort) in S h i 1 s „The Present-State of American Sociology" gedrungen. Er sagt1, wobei er die tatsächlichen Verhältnisse geradezu auf den Kopf stellt: „Nur ein deutscher Soziologe, M a x W e b e r , verstand klar die Bedeutung von systematischer Beobachtung erster Hand." So wandert ein Irrtum von Lehrbuch zu Lehrbuch. Nur einmal hat, soviel ich sehe, Weber einen Vorschlag für soziographische Untersuchungen gemacht. Das war auf dem ersten deutschen Soziologentage, als er die Presse analysieren wollte. Der Plan war gut; er ist aber nie ausgeführt worden. Der Gedanke starb, als er kaum geboren war. Webers Größe lag in 1 Vgl. E d w a r d Shils, T h e Present State of American Sociology, Glencoe, Illinois, T h e Free Press, 1948, S. 5.
VIII. Die ältere Soziologie in Deutschland
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der Höhen und Tiefen des Lebens überblickenden genialen Schau; Beobachtung des Alltags lag ihm fern. Bei Salomon findet sich (nicht etwa als Aussage über die Vergangenheit, sondern auch in bezug auf die Gegenwart) die Behauptung, daß in Deutschland „alle beschreibenden und praktischen Studien völlig fehlen (complete lack)". Es gebe in Deutschland keine Soziologie, sondern nur Soziologen. Ihr Wirken sei zu verstehen und erschöpfe sich in einer beständigen Auseinandersetzung mit Hegel und Marx. Max Weber etwa, auch Tönnies, sogar Simmel müßten aus dieser Perspektive verstanden werden. Viel richtiger ist jedoch die Betrachtungsweise Howard B e c k e r s 2 , der für die Soziologie in Deutschland sogar neun Gruppen unterscheidet: 1. geschichtliche Soziologie, 2. Wissenssoziologie, 3. systematisch-empirische Soziologie, 4. Psychosoziologie, 5. Ethnosoziologie, 6. enzyklopädisch-eklektische Richtung, 7. Soziosophie, 8. marxistische Soziologie, 9. katholische Soziologie. In der Tat, das ist eine Einteilung, die, wenn auch unvermeidlicherweise dabei Überschneidungen stattfinden, den Tatsachen gerecht wird. Freilich vermag ich nicht, sie hier in dieser Skizze, die keine erschöpfende Literaturgeschichte sein will, zugrunde zu legen. Aber die im folgenden gegebenen Mitteilungen sind bei eingehenderem Studium nach Beckers Schema zu ergänzen. Wir sagten oben, daß die erwähnte Vereinfachung nicht ganz falsch sei. In der Tat zeigt sich im 19. Jahrhundert noch ein starkes Überwiegen der Geschichtsphilosophie; dabei ist der in Zustimmung oder Ablehnung bestehende Einfluß von Hegel und Marx vielfach unverkennbar, jedoch keineswegs so hervortretend, daß er als wichtigstes Kriterium dienen kann. Selbst schon bei Lorenz v. Stein, Schäffle, Ratzenhofer u. a. (erst recht seit Tönnies) tritt das Spekulative, ins Metaphysische vorstoßende Element mehr oder weniger zurück zugunsten einer allerdings stark ge8
7*
Vgl. Barnes-Bccker, I. c., 2 Band. S. 920.
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VIII. Die ältere Soziologie in Deutschland
neralisierenden, jedodi an der Empirie geschulten Betrachtungsweise. Die moderne deutsche Soziologie ist nun aber erst recht — besonders seit Max Webers und Schelers Tode — im steigenden Maße auch empirische Forschung. Der Unterschied zur amerikanischen vermindert sich beständig, einmal dadurch, daß die Beschreibung, die Soziographie, die Quantifizierung, die Befassung mit von der Praxis gestellten Fragen in Deutschland beständig zunimmt, ferner dadurch, daß aber in Amerika (von der entgegengesetzten Seite her) die Theorie an Boden gewinnt. Werfen wir zunächst einen Blick auf das 19. Jahrhundert: Ganz beiseite lassen können wir hier einen Hinweis auf die ältere deutsche Sozialphilosophie schon deshalb nicht, weil sie ja gerade mit der enzyklopädischen Soziologie in engstem Zusammenhange steht 3 . Seit Kant und schon vor Kant seit Pufendorf und Chr. Wolf hat die Philosophie und das öffentliche Recht immer wieder soziale Probleme behandelt. Comte, den man als Ausgangspunkt der westeuropäischen Soziologie zu bezeichnen pflegt, hat auch Deutschland teils unmittelbar, teils durch Herbert Spencer mit seinem Positivismus und seinem Organismusbegriffe beeinflußt. Aber seine Ideen sind durch Marx in den ökonomischen Materialismus umgebogen worden. Im allgemeinen kann man von einer Comte-Spencer-Schule in Deutschland kaum sprechen, und der Positivismus hat außerhalb der Kreise der Marxisten nur kurze Zeit Anhänger gefunden. Dagegen läßt sich eine gewisse Parallele zwischen Comtes Lehren und der Philosophie seines Zeitgenossen H e g e l ziehen, der in erster Linie als deutscher Sozialphilosoph und Vorbereiter der Soziologie zu nennen ist. Beide, Hegel und Comte, verbindet ihre Ablehnung des Individualismus, während sie sich freilich dadurch unterscheiden, daß Hegels 8 D e r Ausdruck „enzyklopädische" Soziologie ist nicht e i n w a n d f r e i . E r scheint uns aber immer noch der verhältnismäßig geeignetste zu sein. Ihn durch „synthetisch" 2u ersetzen, geht schon deshalb nicht an, w e i l die Werke der enger gefaßten- Soziologie keineswegs auf Synthese verzichten.
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Gesellschaftsbegriff gerade nicht positivistisch, sondern ausgesprochen idealistisch gewesen ist. Wie Hegel, so müssen auch die Philosophen S c h e 1 1 i n g , S c h l e i e r m a c h e r und H e r b a r t genannt werden. Aber ich möchte nicht der Übung folgen, nun auch diese Denker als Soziologen zu bezeichnen, nur weil in ihren umfangreichen philosophischen, anthropologischen oder psychologischen Werken Gedanken geäußert werden, die f ü r die spätere Gesellschaftslehre fruchtbar geworden sind. Eine tiefer dringende und umfangreiche Literaturgeschichte mag diesen geistigen Befruchtungen nachgehen; wir müssen hier darauf verzichten*. Wir begnügen uns damit, drei große Denker der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts als Repräsentanten der älteren Periode der deutschen Soziologie hervorzuheben: L o r e n z v o n S t e i n , K a r l M a r x und Albert S c h ä f f 1 e. Neben ihnen seien gerade auch wegen bestimmter einseitiger Zuspitzungen von Lehren des Jahrhunderts genannt: P a u l v. L i l i e n f e l d (als typischer Organizist), L u d w i g Gumplowicz (wegen seiner Lehre vom Gruppenkampfe) und G u s t a v R a t z e n h o f e r (wegen seiner mit dieser Lehre vom Gruppenkampfe verwandten Theorie von der absoluten Feindseligkeit). Den meisten von ihnen (am wenigsten Karl Marx, der als Theoretiker Sozialökonom war) ist die enge und ungeklärte Verbindung von Soziologie und (meist darwinistischer) Biologie eigen. Widerstandsfähiger gegen den „Psychologismus" als in Amerika erwies sich zunächst diese biologische Richtung in Europa. Besonders der Glaube, aus der Analogie zwischen Gesellschaft und Leib (Organizismus) wären Erkenntnisse 4 Stoltenberg hat dankenswerterweise die Bedeutung der beiden T h e o logen Sdileiermacher und Richard Rothe gebührend hervorgehoben. (Vgl. s. „kurzen Abriß einer Geschichte der deutschen Soziologie" im Weltwirtsch. Archiv Bd. X X X I , S. 53 ff. F ü r die Zeit vom A n f a n g des 19. J a h r h . vgl. seine „Geschichte der deutschen Gruppwissenschaft, Leipzig 1937.) Vgl. L. v. Wiese „Albert Sdiäffle als Soziologe" in der Sammelsairift „ G r ü n d e r der Soziologie", G . Fisdier, Jena 1932.
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herzuleiten, wurde (weit über Spencers verhältnismäßig vorsichtige Versuche hinaus) von manchen Autoren mit einer gewissen Leidenschaft festgehalten. Bei jeder Analogie bemüht man sich aus dem Vergleiche zweier Dinge dadurch N u t z e n zu ziehen, d a ß man v o n dem bekannteren v o n beiden ausgeht und zu ergründen versucht, ob sich nicht an dem dunkleren und unbekannteren gleiche oder ähnliche Zusammenhänge auffinden lassen wie bei jenem. Die organizistischen Soziologen hielten den Tierleib f ü r so genau v o n A n a t o m e n , Physiologen und Pathologen durchforscht, d a ß man v o n ihm aus auf den unsichtbaren Gesellschaftsleib schließen könne. Das Seltsame ist nur, d a ß gerade umgekehrt auch die Biologen v o n der trügerischen A n n a h m e ausgingen, der Zellenleib des Staates sei ja den Sozialwissenschaften so gut bekannt, d a ß man vielleicht gut täte, den Menschenleib als einen „Staat" anzusehen.
Sehr viel Scharfsinn verwandte der Balte P a u l v. L i l i e n f e l d (Hauptwerk: Gedanken über die Sozialwissenscliaft der Zukunft, 1873—1881) auf eine Pathologie der Gesellschaft, die auf der Grundansicht beruht, die Societas sei ein wirklicher, lebendiger Organismus. Diese Neigung zu einer die Analogie mit dem Leibe nutzenden Pathologie der Gesellschaft verführte später Jakob v. U e x k ü l l , aber auch den noch ganz positivistischentwicklungsoptimistischen M ü l l e r - L y e r (gestorben 1916) zu Willkürlichkeiten, durch die der Wert ihrer Darlegungen über den Zusammenhang von Leib und Gesellschaftsleben vermindert wird. In diesem Zusammenhang wird meist auch A l b e r t S c h ä f f l e (1831—1903) genannt, obwohl man ihm vielleicht durch eine Einordnung bei den Sozialphilosophen i d e a l i s t i s c h e r Tendenz gerechter würde 5 . Es scheint uns richtig, in Schäffle recht eigentlich den deutschen Soziologen der letzten drei Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts zu sehen, da Tönnies' Einfluß in diesem Zeitabschnitte noch nicht allgemein genug war. Schäffles Werk 5 V g l . L . v . Wiese, „Albert Schäffle als Soziologe" in der Sammelschrift: „Gründer der Soziologie", G. Fisdier, J e n a 1932,
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trägt deutlich alle Merkmale dieses Zeitraums, der erst Anläufe, erstmalige Weitsichten, bloße — viel zu umfängliche — Programme zu einer deutschen Soziologie, nicht aber schon eine Gesellschaftslehre selbst aufweist. D a ß Schäffle zu den Vorbereitern (und nur zu ihnen) gehört, verkleinert — subjektiv genommen — durchaus nicht den Wert seiner Leistung. Als geistige Persönlichkeit erscheint dieser Mann so reich und überragend, wie es nur ganz selten der Fall ist. Dieser Schwabe, der als Nationalökonom zu den „Kathedersozialisten", also zu den Sozialreformatoren, aber keineswegs zu den Marxisten zu rechnen ist, hat in den vier Bänden seines „Bau und Leben des sozialen Körpers", wie er selbst im Untertitel sagt, „den enzyklopädischen Entwurf einer realen Anatomie, Physiologie und Psychologie der menschlichen Gesellschaft" zu geben versucht. Aber er besaß nicht die Geschlossenheit, Klarheit und Oberflächlichkeit seines Vorbildes Spencer. Diese fast tragische Persönlichkeit, die bei starkem, wissenschaftlidien Willen voller Widersprüche der Neigungen war, tendierte nur bis zu einem gewissen Grade zum entwicklungsgeschichtlichen Monismus und zur bloßen Kausalforschung; sie stand innerlich doch Hegel und Schelling näher als Darwin, Spencer oder Häckel. Schäffles Denkungsweise entsprach mehr eine ethisierend-teleologische Erfassung der Welt; er war Spiritualist und Idealist. Dieser Widerspruch zwischen dem Empiriker und dem Metaphysiker in ihm führte zur Unausgeglichenheit seiner Leistung. In dem von ihm hinterlässenen „Abriß der Soziologie" (1906) sucht er auch die Fesseln des Biologismus abzustreifen und sich mehr dem seiner Natur entsprechenden Spiritualismus hinzugeben. Die Gesellschaft ist ihm gleich der Völkerwelt; das Wesen des Volkes beruht in der geistigen Verknüpfung von Menschen (wie das auch später Othmar S p a n n , der Fortsetzer von Schäffles idealistischen Grundauffassungen, behauptete). Gesittung sei der Inhalt des Volkslebens; das Ideal der Gesellschaft sei zunehmende Sozialisierung.
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Leidenschaftslos das Seiende zu beobachten, ohne die Ideale mit der Realität zu vermengen, war nicht Schäffles Sache. Dazu kommt, daß es damals geradezu schien, als ob eine Soziologie, die nicht ihre Grundgedanken, ihren systematischen Aufbau und ihre Terminologie von der Biologie erborgte, eben nicht möglich wäre; es schien recht eigentlich in dieser Abzweigung unserer Wissenschaft von der Lehre vom physischen Körper das Wesen der Sache zu bestehen. Es war schon allerhand, daß Schäffle dem Organismusbegriffe nicht ohne Einschränkung gegenüberstand. Für unsere Zweifel, ob die Soziologie als Zusammenfassung der gemeinsamen Tatsachen aller sozialen Einzelwissenschaften fruchtbar ist, erscheint Schäffle als das geeignetste Beispiel. Niemand hat dieses Ziel so inbrünstig verfolgt wie er. Er wollte die zerbrochenen Stücke der Kultur, mit denen sich arbeitsteilig die einzelnen Geisteswissenschaften befassen, zusammenfügen und auch die Verbindung dieses Kultur-Alls mit der übrigen Welt, recht eigentlich mit dem Gesamtkosmos geben. Nichts sollte draußen bleiben; alle Erscheinungen des Geistes sollten ebenso berücksichtigt werden wie alle greifbaren Dinge; was die Biologie und Psychologie lehren, sollte ebenso beachtet werden wie jede Kunstlehre von technischen Objekten. Was entsteht aus diesem gigantischen Mühen?: ein Begriffsgerüst, das in manchen Teilen recht wackelig ist, das zu allgemein bleibt, um fruchtbar sein zu können. U m das dürre Gerippe zu beleben, wird es ausgefüllt mit dem allzu vergänglichen Fleische von Reformforderungen und von Gesinnungsbekundungen. Schäffles Lehre entspricht damit dieser (zumeist älteren) Richtung der Soziologie, der enzyklopädischen, die Synthese ohne arteigene soziologische O p t i k will. Bezeichnender als Spencers Bemühen ist Schäffles Kraft im Dienste dieser Aufgabe. Er überragte Spencer an Abstraktions- und Systematisierungsvermögen, während ihn der Brite an Breite der Tatsachennutzung hinter sich ließ. Aber Schäffles Mißerfolg sollte uns lehren, daß das Vorhaben falsch ist.
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Die Organizisten, über deren Analogien Sdiäffle selbst hinauskam, stehen uns besonders fern. Nichts ist in der Wissenschaft bedenklicher, als vom Gleichnis und der Metapher einen so weitgehenden Gebrauch zu machen, daß es unklar wird, ob noch ein Bild gegeben oder Identität behauptet werden soll. Von den R a s s e t h e o r e t i k e r n müssen wir uns versagen, hier Näheres zu berichten. Es ist bisher keinem von ihnen gelungen, zu einem von Neigung oder Abneigung unbeeinflußten Urteil zu gelangen. Sie alle entbehren einer ihre Willkürlichkeit bändigenden Methode. Die Vermischung von Biologie und Soziologie, die Mehrdeutigkeit des Begriffs der Rasse ist bisweilen den begabten und geistvollen Dilettanten zum Verhängnis geworden. Es fehlte an dem richtigen Gefühle, daß man die Gesetze der physischen Entwicklung des menschlichen Organismus nicht ohne weiteres auf das soziale Leben übertragen kann, daß die Gesellschaft nicht imstande ist, die Aufgaben der Natur zu übernehmen, und daß die Biologie keine ausreichende Grundlage der Politik gewährt. Die Frage, welche Eigenschaften erforderlich sind, um die sozial passendsten zu sein, ist mit steigender Kulturentfaltung immer schwerer zu beantworten. Damit ist gewiß das große Problem der sozialen Auslese nicht gegenstandslos geworden. Es darf nur nicht falsch gestellt werden. Mit seiner ganzen Schwere steht es vor uns. Nach dem vereinfachten Schema eines Pseudodarwinismus kann es nicht behandelt werden. Jedoch wollen wir wenigstens einen Augenblick bei Gustav R a t z e n h o f e r (1842—1904), dem österreichischen Feldmarschalleutnant, verweilen, ohne ihn zu den Organizisten zu rechnen. Auch er hat (nach einer reichen sozialwissenschaftlichen Produktion, in der die drei Bände seines „Wesen und Zweck der Politik" [1893] hervorragen) eine knappe Zusammenfassung seiner Lehren durch eine „Soziologie" (1907) hinterlassen, wie man ihn überhaupt in einiger Hinsicht mit Schäffle vergleichen kann: dieselbe Unausgeglichenheit zwischen naturwissenschaftlichem, an
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Spencer orientiertem Monismus und einer voluntaristischen Ethik wie bei dem genialen Schwaben. Freilich beurteilt Ratzenhof er die Menschennatur durchaus pessimistisch; die schlechten Triebe walteten in ihr vor. Sein ethisches Ziel ist: Opferung, des Individualinteresses für das Sozialinteresse. Ihm war Soziologie eine „zivilisatorische Disziplin". Die Nachwirkung seiner Lehren ist sonderbar verschieden: In Deutschland wurde er wenig verstanden, oft unterschätzt und im ganzen wenig beachtet. In Amerika wurde er durch S m a 11 und andere der Ausgangspunkt der InteressenSoziologie. Aber auch in Deutschland hat Ludwig S t e i n ® gemeint, Ratzenhofer gebühre das Verdienst, eine deutsche Soziologie an dieStellederL a z a r u s - S t e i n t h a l s c h e n „Völkerpsychologie" (die wir hier übergehen müssen) gesetzt zu haben, wenn er auch gleich den richtigen Einwand gegen seine subjektive Voreingenommenheithinzufügt: „Erst Beschreibung, dann Erklärung; aber nicht umgekehrt wie bei Ratzenhofer: erst Erklärung, dann Beschreibung". Ratzenhofer als den Begründer der „deutschen Soziologie" anzusprechen, ist anfechtbar. Vor seinen ersten in die 90er Jahre fallenden Werken liegt Tönnies' erste Auflage von „Gemeinschaft und Gesellschaft". Will man gar Oppenheimers, nach Grünfelds Vorgang gegebener Lehre folgen und L o r e n z v o n S t e i n als den ersten deutschen Soziologen bezeichnen, so müssen wir bis in die 50er Jahre zurückgehen. Aber Ratzenhofer gehört insofern nicht zu den fruchtbar nachwirkenden Vorläufern der Soziologie, als er keine soziologische Forschungsmethode besitzt, sondern entweder biologisierend verfährt oder mit genialer Subjektivität konstruiert und spekuliert. Er ist (wie oft ausgezeichnete Dilettanten) ein fesselnder Anreger, dessen aufblitzende Ideen von wissenschaftlicheren Köpfen nachgeprüft werden, so vor allem eben seine unbefangen vorgetragene, inhaltsreiche Idee des Interesses. In der Tat erklärt sich ein 6 Vgl. seinen Aufsatz „Soziologische und geschiditsphilosophische Methode" im ersten Jahrbuch f ü r Soziologie, S. 222 ff.
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großer Teil menschlicher Gruppenbildung aus einer Verbindung von verwandten oder ausZusammenprall entgegenstehender Interessen. Blickt man zurück auf die stattliche Zahl dickleibiger Werke, die von Enzyklopädisten (deren Kreis wir noch hätten erweitern können) geschrieben worden sind, so wird man wieder an die sich auch sonst oft bestätigende Wahrheit erinnert, daß es unter den schöpferischen Geistern, die nicht bloß Kärrner und technische Hilfskräfte der Wissenschaft' sein wollen, nur wenige gibt, die nicht vor allem Verkünder und Propagandisten ihrer praktischen Ideale sein wollen. Wir finden bei ihnen lange, scheinbar ganz objektiv argumentierende Beweisketten und umständliche Umwege, um zur Erhärtung einer willensmäßig vorgefaßten Forderung zu gelangen. „Theorien" aber sind nicht Soziologie! Ob die Philosophie langmütig genug ist, diese geistigen Ringer bei sich zu beherbergen? Wie aber steht es mit dem als ersten deutschen Soziologen ausgerufenenL o r e n z v o n S t e i n ( 1 8 1 5 — 1 8 9 0 ) ? Oppenheimer nennt ihn und Karl Marx die „beiden führenden deutschen Soziologen" 7 . Die Antwort auf unsere Frage hängt wieder ganz von der Ausdehnung des Begriffs „Soziologie" ab. Stein unterscheidet sich völlig von den naturwissenschaftlichen Soziologen. Er kommt von der Jurisprudenz, von der Hegeischen Philosophie und ist im ausgesprochenen Maße „Kulturwissenschafter". Seine Teilnahme gilt dem öffentlichen Leben, besonders der politischen Sphäre. Aber ihn bewegen nicht vorwiegend Verfassungs- und andere 7 Es sdieint mir übertrieben, zu sagen, daß Steins Werke „verschollen" gewesen seien. Besonders die Lehrer des öffentlichen Redits und die Redltsphilosophen beziehen sidi oft auf ihn, wie es unter den Nationalökonomen Schmoller in seinen Vorlesungen t a t . Es war aber ein Verdienst W a e n t i g s , seinen Sdlüler E . G r ü n f e l d zu der Arbeit „Lorenz v . S t e i n und die Gesellsdiaftslehre" ( J e n a 1910) angeregt zu haben. Nach dieser Wiederbelebung der Wissenschaft Ii dien Teilnahme für den Sozialphilosophen Stein erwarb sidi (München 1921) Gottfried S a l o m o n das Verdienst, Steins „Begriff der Gesellschaft usw." und „Geschichte der sozialen Bewegung in Frankreich" neu herausgegeben zu haben. Oppenheimers Ausführungen ( S . 40 ff. des 1. Bandes seines Werkes) schließen sich auch in der Wortwahl größtenteils eng an Grünfeld und Salomon an.
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Fragen des öffentlichen Rechts. Er hat sich schon in den 40er Jahren des vorigen Jahrhunderts zu intensiv mit dem französischen Sozialismus und Kommunismus befaßt, dessen Ideen er für die deutsche gebildete Welt erst gewissermaßen „entdeckte", als daß er nur den Staat allein als Gebilde des öffentlichen Lebens geschaut hätte. Ihn fesselt besonders der Zusammenhang des Staats mit der b ü r g e r l i c h e n Gesellschaft. Bei diesen tief dringenden Untersuchungen verfährt er in der Hauptsache historisch, teilweise sozialökonomisch. In der Denkweise erinnert er sehr an Schmoller. Auch die Mängel (neben den großen Vorzügen) scheinen uns bei beiden ähnlich: Die Unklarheit in der Begriffsbildung, die Verwaschenheit von Definitionen, soweit sie überhaupt vorhanden sind, schließlich das Fehlen durchsichtig aufgebauter Deduktionen. Stein, einer der geistreichsten Anreger in der deutschen Literatur des 19. Jahrhunderts, war einer der ersten, der das Wesen der gesellschaftlichen K l a s s e n darzulegen versuchte. Es mag gelten, was Oppenheimer sagt: „Überall findet man seine Spuren. Vor allem bei Marx." Aber es geht doch wohl etwas weit, wenn es bald danach heißt: „Der Einfluß des Buches ^Sozialismus und Kommunismus des heutigen Frankreich') auf die deutsche Soziologie ist kaum zu ermessen. Alle oder doch fast alle ihre Schulen knüpfen hier unmittelbar an." (Oppenheimer nennt außer den Marxisten Tönnies, Schäffle, Gymplowicz, Ratzenhofer, Rodbertus, Dühring, Adolf Wagner, Schmoller.) Ich würde sagen: Viele deutsche Staatswissenschafter, Sozialphilosophen und Nationalökonomen haben wesentliche Anregungen von ihm erhalten. Aber es ist charakteristisch für Stein, daß bei ihm „Gesellschaftslehre" ein Teil der Staatswissenschaften ist. Er gibt hervorragende Beiträge zur Erkenntnis des sozialen Gebildes, das man bürgerliche Gesellschaft nannte, das aber von dem abstrakten Allgemeinbegriff „Gesellschaft" der theoretischen Soziologie völlig p i sondern ist.
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Der Gebraudi desselben "Wortes Gesellschaftslehre einmal als Verdeutschung für Soziologie insgesamt, dann aber für die Lehre von einem bestimmten sozialen Gebilde (bürgerliche Gesellschaft) ist sehr irreführend. Dabei ist freilich zu berücksichtigen, daß Stein als Philosoph den Kreis seiner Beobachtungen durch allgemeine Betrachtungen über „Gemeinschaft" und ähnliche Kategorien so unterbaut hat, daß in der Darstellung der „bürgerlichen Gesellschaft" manches Sozial- und Geschichtsphilosophisches mitbehandelt wird. Er ist eben nicht der Mann strenger Begrenzungen und Distinktionen. G r ü n f e 1 d hat recht, wenn er (mehr als einmal) klagend ausruft: „Es ist überhaupt keine leichte Aufgabe, die SteinscheGesellschaftswissenschaft abzustecken, schon deshalb, weil ihr Schöpfer, wie so oft, es auch hier an der erwünschten Entschiedenheit und Beständigkeit fehlen läßt." Ich fürchte, daß die Nachrede, die Soziologie sei eine bloß unscharf fixierbare und verschwommene Disziplin, nur vermehrt wird, wenn wir Lorenz v. Stein zum Ahnherrn unserer Wissenschaft machen. Verlangt man vom Soziologen eine strenge Methode, die sich vom Verfahren des Historikers, theoretischen Politikers, Nationalökonomen usw. unterscheidet, so ist Stein überhaupt kein Soziologe. Aber wenn wir Männer wie Comte, Ward, Schäffle in den Stammbaum aufnehmen, so wird man den genialen Juristen, der das Nachdenken über „soziale Bewegungen" und gesellschaftliche Klassenzusammenhänge so sehr angeregt und beeinflußt hat, nicht beiseite schieben dürfen. Wie aber steht es mit Karl M a r x und dem großen Kreise mehr oder weniger marxistischer Gesellschaftstheoretiker? Nicht nur von den Marxisten selbst, sondern neben anderen von keinem Geringeren als Johann P 1 e n g e wird Marx als der wahre Begründer der deutschen Soziologie8 angesehen. „Man kann", sagt Plenge, „die geistige Stellung von Marx in der Geschichte des 19. Jahrhunderts 8 Vgl. J o h a n n Plenge: „Ist das Geisteswissenschaft?" in Kölner Vierteljahrshefte f ü r Soziologie, 9, I I I , S. 331.
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kaum übertreiben. Marx hat auch als Theoretiker eine dreifache Bedeutung in der Geschichte des deutschen Geistes und damit des Denkens überhaupt. Er bedeutet einen Wendepunkt in der Geschichte der Philosophie, einen Wendepunkt in der Geschichte der Wirtschaftstheorie und einen Wendepunkt in der Geschichte der Soziologie. Ganz zu schweigen von seiner Bedeutung in der Wirklichkeit der inneren und äußeren Politik, über die die Tatsache des Bolschewismus genügend s a g t . . . Marx hat der Soziologie mit seiner wieder nur einseitigen Lehre vom Klassenkampf eine die Listsche Lehre vom Nationenkampf ergänzende Weiterbildung der Kantschen Grundauffassung vom Aufstieg durch Kampf zum Völkerfrieden gegeben und so in die Stufentheorie des 18. Jahrhunderts die gegliederte Dynamik des von den Physiokraten entdeckten Klassengegensatzes hineingebracht. Darüber hinaus hat er mit derselben dynamischen Auffassung grundsätzlich den Blick auf das Ganze der neben- und übereinanderliegenden Lebensreichegerichtet, indem er ihre Abhängigkeit von der wirtschaftlich-technischen Grundveränderung der Gesellschaft behauptete. Das sind gewiß nur Ansätze, aber großartige Ansätze, die aus ihrer ersten Begrenztheit längst befreit sein sollten." Es ist hier nicht möglich, sich mit diesem Urteil Plenges kritisch auseinanderzusetzen; wir begnügen uns hier mit dem Versuche der Einordnung Marxens in der Geschichte u n s e r e r Wissenschaft. Dabei entscheidet wieder die Fassung, die man dem Worte Soziologie gibt. Versteht man darunter die Synthese derSozialwissenschaften, so kann man die Würdigung von Marx durch Plenge durchaus diskutierbar finden. Auch wird bei einer solchen Beurteilung nicht der Maßstab der Wissenschaft, die strenge Beweisführung, sondern das f ü r Philosophen, Reformatoren, Geistesrevolutionäre und Menschheitsführer gültige Kriterium des bewegenden Willens angelegt. Wir müssen den kleinlicheren, aber unvermeidlichen Maßstab der Fachwissenschaft verwenden. Da wäre wohl zu sagen: Gemeinsam ist allen Marxisten, daß nach ihnen Bau und Leben der sozialen Gebilde
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im wesentlichen von wirtschaftlichen Faktoren, zumal der Güterproduktion und -Zirkulation, bestimmt wird. Die Neigung, die Determiniertheit der gesellschaftlichen Entwicklung durch e i n e n Hauptfaktor darzutun, findet sich bei vielen Sozialphilosophen; bisweilen wird die Entfaltung der Ideen, bisweilen werden geographische, demographische Gegebenheiten hervorgehoben, so daß es durchaus möglich ist, die „Schulen" von Gesellschaftstheoretikern nach der jeweilig von ihnen vorgenommenen Determination zu sondern. Keine freilich hat im 19. Jahrhundert solchen praktischen Einfluß erlangt wie der ö k o n o m i s c h e D e t e r m i n i s m u s der Marxisten. Jedoch auf den Versuch, in wenigen Sätzen die Grundzüge der marxistischen Gesellschaftsauffassung anzudeuten, müssen wir verzichten. Wir setzen sie als bekannt voraus oder verweisen auf die umfangreiche Literatur über Sozialismus 9 . Dieser Marxismus ruht auf einer geschichts- und sozialphilosophischen Grundlage und ist nicht etwa bloß eine Wirtschaftstheorie und Wirtschaftspolitik. Zu einem weitesten Begriffe von Soziologie gehört auch er, und Marxisten erheben bisweilen den Anspruch, die wahre und allein richtige „Soziologie" zu besitzen. Max Adler etwa schilt die außermarxistische Soziologie „bürgerlich" gebunden und undynamisch. Er sagt 1 0 : „Es scheint uns Marxisten nämlich eine wesentliche soziologische Erkenntnis zu sein, daß es in der geschichtlichen Lage der heutigen Wissenschaft zwei Richtungen gibt, die durchaus durch Klasseninteressiertheit in letzter Linie, wenn auch vielfach unbewußt, bestimmt sind. Ich möchte die neue Richtung als die stationäre und die andere als die evolutionistische bezeichnen . . . Die stationäre Wissenschaft ist dadurch gekennzeichnet, daß die Forschung in ihr •eine 9 Werner S o m b a r t s „Proletarischer S o z i a l i s m u s " („Marxismus"), (Jena 1924), enthält z . B . im A n h a n g e des ersten B a n d e s einen u m f a n g r e i c h e n F ü h r e r durch die sozialistische L i t e r a t u r . 10 V g l . Verhandlungen des vierten deutschen S o z i o l o g e n t a g e s (Tübingen 1925), S . 200 ff.
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Grundeinstellung zeigt, die durchaus i n n e r h a l b d e r b ü r g e r l i c h e n G e s e l l s c h a f t verbleibt, diese selbst gleichsam als ihr naturgegebenes Milieu betrachtet und selbst die Entwicklung in ihr nur mit bürgerlichen Kategorien denkt, die also jeden Ausblick über sie hinaus als „unwissenschaftlich", „politisch" oder gar „utopisch" erscheinen lassen. Der Forscher ist hier gleichsam eingesenkt und verwoben in die Lebensgewohnheiten, Interessen und ideologischen Traditionen der bürgerlichen Gesellschaft, so daß ihm alles das, was an sich doch nur historische Beschaffenheit einer bestimmten Gesellschaftsstruktur ist, zur psychologichen Denknotwendigkeit und Temperierung seines Standpunktes wird." Dazu wäre viel Kritisches zu sagen. Hier nur kurz: Wir haben gesehen, daß alle ältere („bürgerliche") Soziologie (zumal Spencers, des entschiedensten Antisozialisten) gerade die Dynamik, die Entwicklung der Gesellschaft allzusehr bevorzugt hat. Alle „evolutive" Gesellschaftslehre unterliegt aber der Gefahr, Prophetie zu werden, die „bürgerliche" wie die „proletarische". Was aber diesen Gegensatz betrifft, so kann er nur dort gelten, wo allgemeine Werturteile über Kultur, Staat und Gesellschaft gefällt werden. Dabei ist die Gefahr, daß unbewußte oder bewußte Bindung des Autors an Stand und Klasse, an seine Gesellschaftsschicht sein Urteil trüben, nicht zu verkennen. Aber die empirische Soziologie ist dieser Gefahr sehr viel weniger ausgesetzt, weil sie Rangordnungen sozialer Erscheinungen nicht vornimmt und ihr Auf weis von Beziehungen und Beziehungsgebilden ein neutraler Vorgang ist, der einer „bürgerlichen" Auffassung eben so fern oder eben so nahe steht wie einer proletarischen. Es läßt sich jedoch ein anderer Unterschied zwischen der marxistisch-geschichtsphilosophischen Gesellschaftsheorie und der Beziehungslehre aufweisen, die wir als typisch für eine empirisch-systematische Soziologie ansehen: Jene hebt die aus ökonomischen Tatsachen entstandenen Gebilde der K l a s s e n in eine Primärstellung und leitet von ihrer
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Struktur und den zwischen ihnen bestehenden Zusammenhängen und Gegensätzen die zwischenmenschlichen Beziehungen ab. Für unsere Auffassung ist jedoch die „Klasse" ein ziemlich unbestimmtes Gebilde der gesellschaftlichen Schichtung, das als Produkt bestimmter sozialer Beziehungen anzusehen ist. Wir erklären nicht die Beziehungen aus den Klassen, sondern die Klassen aus den Beziehungen. Die Organisation der Produktion ist für uns überhaupt nicht eine elementare Ausgangserscheinung, sondern etwas Abgeleitetes, das freilich selbst wieder, in ein enges Gebildeund Beziehungsnetz hineingestellt, mannigfache soziale Einflüsse ausübt. Aber die Marxisten beginnen den Faden der Zusammenhänge von einem Knoten ab zu verfolgen, der ziemlich entfernt vom Ausgangspunkte der Analyse liegt und von uns aufgeknüpft wird. Beispielsweise: Die Marxisten leiten den sozialen Prozeß der Ausbeutung aus der „kapitalistischen" Wirtschaftsordnung her; ihre These ist: Kapitalismus schafft Ausbeutung. Wir unserseits leugnen nicht das Vorhandensein kapitalistischer Ausbeutung; aber es ist uns eine Erscheinungsform neben anderen Ausbeutungsphänomenen. Ausbeutung erscheint nicht bloß dort, wo kapitalistisch gewirtschaftet wird, sondern auch sonst noch recht häufig. Eine Beseitigung des sogenannten Kapitalismus beseitigt nicht die Ausbeutung, verstopft nur den Zugang zu einigen ihrer Formen und eröffnet die Möglichkeit anderer. Im übrigen kann sich mit der Teilnahme an beziehungswissenschaftlicher Forschung das „Bekenntnis" zum Sozialismus ebenso verknüpfen wie zu irgendeiner Weltanschauung oder Religion. Die Grundgedanken, auf denen der Sozialismus, speziell der Marxismus ruht, sind geschichtsphilosophische Glaubenssätze; darin unterscheidet er sich keineswegs von irgendeinem anderen „Ismus". Karl Marx' Bildnis gehört also sicherlich in den Ahnensaal der Sozialphilosophen. Auch der Wirtsdiaftssoziologe wird sich sehr eingehend mit ihm auseinanderzusetzen haben. 8 Soziologie
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IX. Die jüngere Soziologie in Deutschland
Schließlich ist auch G u m p l o w i c z 1 1 (1838—1909) als Begründer einer geschlosseneren deutschen Soziologie genannt worden. Über ihn sagt Stoltenberg 1 2 : „Von Lorenz von Stein und Karl Marx geht dann ein Strom auch zu Gumplowicz, einem polnischen Juden österreichischer Staatsangehörigkeit, von dem man es versteht, daß er die Lehre vom »Klassenkampf" auf Grund der inzwischen angewachsenen Völkerkunde eines Lippert, Bastian und Gobineau zu einer Lehre vom „Rassenkampf" (1883) oder vielmehr, wie sich aus dem „Grundriß der Soziologie" (1885) mit größerer Deutlichkeit ergibt, zu einer Lehre vom Gruppenkampf weitergebildet hat." Mit Gumplowicz verbindet uns seine Absicht, die Soziologie zu einer von Sozialphilosophie, Sozialpolitik und Sozialismus zu trennenden Wissenschaft zu machen. Aber seine unüberbietbare Verkennung der persönlichen Sphäre im Menschenleben und seine gegen andere Zusammenhänge blinde Heraushebung des Gruppenkampfes machen es uns nicht möglich, seine Bekenntnisse als Wissenschaft anzuerkennen.
Kapitel IX : Die jüngere Soziologie in
Deutschland
Auf wenigen Seiten ein vollständiges, wenn auch nur skizzenhaftes Bild vom Stande der Soziologie in Deutschland während der 30er und 40er Jahre zu geben — wenn man den Namen Soziologie auf alle Schriften anwendete, die sich so nennen — , wäre kaum möglich. Gerade in den Jahren 1926 bis 1931 sind so viele und, was hier besonders wichtig ist, so verschiedenartige Werke und Aufsätze im Zeichen unserer Disziplin erschienen, daß es nicht leicht ist, einen ausreichenden Überblick zu behalten. Die Fülle 1 1 Von ihm nennen wir „Der R a s s e n k a m p f " , 2. Aufl., 1909. — „Grundriß der Soziologie" (1885) und die (in Innsbruck 1928) gesammelten „Soziologischen Essays". 1 2 1. c . S . 60.
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von Namen und Büchertiteln, die bei einiger Vollständigkeit aufgezählt werden müßten, vor dem Anfänger auszubreiten, wäre ein didaktisch verfehltes Beginnen. Wir müssen uns damit begnügen, einige Grundlinien zu zeichnen; es ist nicht unsere Absicht, ein Autorenregister oder eine volle Literaturübersicht zu geben. Dabei können wir die Einteilung, die wir oben in Kapitel I I I gegeben haben, zugrunde legen: 1. historische und geschiehtsphilosophische Soziologie, 2. metaphysische und erkenntnistheoretische und 3. systematisch-empirische Soziologie. Die historische Gesellschaftslehre ist in der H a u p t sache zu dem geworden, was man heute K u l t u r s o z i o l o g i e nennt; von dem erkenntnistheoretischen Zweig war in den 20er und 30er Jahren die sogenannte W i s s e n s s o z i o l o g i e am fruchtbarsten, ist aber• seit 1933 in Deutschland fast ganz verschwunden, während die systematische jetzt vorwiegend von der Beziehungslehre gepflegt wird. Für die Kultursoziologie nennen wir als ausgesprochensten Repräsentanten Alfred W e b e r , f ü r die Wissenssoziologie Karl M a n n h e i m , f ü r die Beziehungslehre Johann P 1 e n g e und den Verfasser dieses Büchleins. Damit erschöpfte sich aber keineswegs der Reichtum der Bestrebungen in Deutschland. Es gab eine von Othmar S p a n n geführte sozialethische Richtung, die sich die universalistische nennt; Franz O p p e n h e i m e r hatte ein stark politisch-ökonomisches System geschaffen, das liberale und sozialistische Gedanken verknüpft. Der verstorbene Karl D u n k m a n n nannte seine Gruppenlehre angewandte Soziologie. H a n s F r e y e r will die Tendenzen der älteren deutschen Geschichtsphilosophie aufnehmen und vollenden. Statt die Reihe hervorragender Schriftsteller, die wir damit begonnen haben, fortzusetzen und zu vervollständigen, sei mehr etwas Allgemeingültiges gesagt. Angesichts der Fülle deutschen Schaffens, die zwischen 1933 und 1945 durch den Nationalsozialismus und den Krieg stark beschränkt wurde, sagte ich bereits in der ersten Auflage im Jahre 1926: 8*
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„Es wäre Torheit und Überhebung, wollte man über die geistigen Leistungen, die auf den vorausgehenden Seiten erwähnt wurden, hinweggehen, als ob sie uns nichts Wertvolles zu sagen hätten. Betrachten wir nur das deutsche Schrifttum, so haben uns die großen Toten des letzten Jahrzehnts, Max Weber und Georg Simmel, der Religionssoziologe Ernst Troeltsdi, der emsige Literaturhistoriker Paul Barth, der geistreiche Eberhard Gothein, der Wirtschaftssoziologe Gustav Schmoller, der Sozialethiker und Systematiker Adolph Wagner Werke hinterlassen, aus denen auch die engere Fachwissenschaft der Soziologie reichen Nutzen ziehen kann. Von denen, die im Jahre der ersten Auflage (1926) noch lebten, nennen wir hier noch einmal den Wegbahner Ferdinand Tönnies, den temperamentvollen und reformeifrigen Franz Oppenheimer, den grüblerischen und bei aller Romantik kampfesfrohen Othmar Spann, den durch Intuition und künstlerische Gestaltungskraft hervorragenden Wirtschaftssoziologen und Sozialhistoriker Werner Sombart, den besonders durch seine Persönlichkeit wirkenden Kultursoziologen Alfred Weber, den ideenreichen Johann Plenge und nicht zuletzt den genialen Geschichtstheoretiker Kurt Breysig. Wir müßten noch manche auch in anderen Wissenschaften bewährten Forscher aufzählen (wie Lederer, Michels, Kantorowicz, Eulenburg, Litt, Honigsheim, Stoltenberg u. a.), könnten wir hier ein einigermaßen vollständiges Bild des Schaffens auf dem Gebiete der theoretischen oder allgemeinen Sozialwissenschaft geben." Von den eben Genannten leben heute (April 1949) nur noch Paul Honigsheim, Johann Plenge, Othmar Spann, H . L. Stoltenberg und Alfred Weber. Dafür wäre die Liste u n t e r a n d e r e n zu ergänzen durch die Namen: Carl Brinkmann (Tübingen); Adolf Geck (Bonn); Theodor Geiger (Aarhus); Adolf Günther (Innsbruck); Mirko Kossitsch (früher Belgrad); Elsbet Linpinsel (Dortmund); Victor Leorttowitsch (Frankfurt); Heinz Maus (Mainz), Hanna Meuter (Aachen); Alfred Peters (Köln); Charlotte von Reichenau (Frankfurt); Max Graf zu Solms (Marburg), von dem ein größeres Werk über Gesellungslehre zu erwarten ist, in dem er seine Gefüge- und Gerüsttheorie ausgestaltet und mit einer Geltungs- und Gehaltslehre verknüpft; Max Ernst Graf zu Solms (Wilhelmshaven); Heinz Sauermann (Frankfurt); Mathilde Vaerting (Göttingen); Andreas Walther (Hamburg); Werner Ziegenfuß (Berlin). Zu den be-
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deutendsten deutschen Soziologen, die zugleich auf dem Felde der Ethnologie und Ethnographie arbeiten, gehören: Wilhelm E. Mühlmann (Mainz) und Richard und Hilde Turnwald (Berlin). Diese Reihe ist auch durch die vielen Autoren zu ergänzen, die vorwiegend auf Nachbargebieten tätig sind, aber der Soziologie nahestehen. Von ihnen gehören manche der Deutschen Gesellschaft für Soziologie an. Beispielsweise greife ich von den Nationalökonomen heraus: Gerhard Albrecht (Marburg); Erwin v. Beckerath (Bonn); Christian Eckert (Köln); Wilhelm Gerloff (Frankfurt); Ludwig Heyde (Köln); Georg Jahn (Berlin); Alfred Müller-Armack (Münster); Hans Schachtschabel (Marburg); Georg Weippert (Erlangen) und Theodor Wessels (Köln). Nach der Aufschwungsperiode der deutschen Soziologie in den Jahren 1920 bis 1932 folgte bis 1945 eine Zeit der Lähmung, in der man an ihre Stelle die biologischen Lehren von der Rasse und der Vererbung, sowie die Ideen von Volk und Volkstum zu setzen versuchte. Man verkannte dabei, daß diese biologisch begründeten Theorien dringend der Ergänzung und Festigung durch eine Wissenschaft vom kulturellen Zusammenhange der Menschen bedürfen. Biologie ohne Gesellschaftslehre bleibt für das praktische Leben unvollkommen; denn die Wissenschaft von den Gesetzen des natürlichen Daseins erreicht nicht die Wirklichkeit der tatsächlichen Erlebnisse, die sich eben an Menschen im sozialen Räume und nicht nur in der Sphäre des Vitalen abspielen. Die Biologie belehrt uns über A n l a g e n , Möglichkeiten der Lebensführung und der. Gruppierung, weist gewisse Folgen von Unterlassungen oder Begehungen auf. Aber wie sich das, was sie lehrt, vollzieht, hängt nur teilweise davon, im übrigen vom sozialen Zusammenhange ab. Jedoch wäre die Wiedergeburt einer tendenzfreien Wissenschaft vom Leben auch vom Standpunkte, der ihr seit Malthus, Comte und Spencer so nahestehenden Soziologie zu begrüßen gewesen. Der sAwere Schaden lag vielmehr darin, daß Rassenlehre, Eugenetik, Sippenlehre, Volkswissenschaft und Folklore in den Dienst einer rein praktisch orientierten Denkweise gezwungen wurden und ihnen keine selbständige Kritik gestattet war. Im einzelnen ist trotzdem auf dem Gebiete der Volkskunde und Stammesforschung in sozio g r a p h i s c h e r Hinsicht manches geschaffen worden, was nach Sichtung bleibenden Wert haben wird.
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Aus diesem Typenreichtum heben sich für eine schroff generalisierende Betrachtung zwei Grundlinien hervor: Die ältere Soziologie — das suchten wir an Comte, Spencer, Sdiäffle zu zeigen — verband zwei ungleiche Bestrebungen, an deren Mißverhältnis zueinander sie gescheitert ist: sie wollte einerseits Geschichte interpretieren und den Weg des Geistes durch die Jahrhunderte aufweisen, womöglich seine zukünftige Bahn prophezeien, und sie wollte anderseits den realen Zusammenhang der Menschen aufweisen. Dieses zweite Ziel, das uns als das eigentlich soziologische erscheint, kam gegen den erdrückenden Anspruch der philosophischen Geschichtsauslegung zu kurz. Die Vereinigung beider wurde von jenen Denkern Soziologie genannt. In die neue Epoche unserer Wissenschaft, die wir in Deutschland vom Erscheinen der ersten Auflage von Ferdinand T ö n n i e s' „Gemeinschaft und Gesellschaft" (1887) ab datieren können, wurde diese doppelte Erbschaft hinübergenommen; allmählich zerlegte sie sich aber in zwei Arme, den vorwiegend die Geschichte generalisierend interpretierenden und den das Nebeneinander des gegenwärtigen Lebens in den Vordergrund rückenden Zweig. Die erstgenannte Richtung bevorzugte dabei die Typologie von Kulturphasen. In literaturgeschichtlicher Hinsicht kann sie sich darauf berufen, daß Hegel, Comte und Schäffle dasselbe unternommen haben. D a ß eine Lehre von der empirischen Verbundenheit der Menschen untereinander etwas anderes ist, leuchtet ein. Verhängnisvoll ist nur der gemeinsame N a m e f ü r zwei innerlich verschiedene Dinge; dieser N a m e aber ist eben literaturgeschichtlich zu erklären. Alfred V i e r k a n d t versucht/den Unterschied der beiden Aufgaben dadurch auszudrücken, daß er von Kultursoziologie dort, von Gesellschaftssoziologie hier spricht. Verwickelter wird die Sache aber dadurch, daß die „Wissenssoziologie" eine Zwischenstellung einnimmt. Sie sucht nämlich die Ideologien und Utopien, die die einzelnen Zeitalter geistig be-
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herrscht haben, aus den gesellschaftlichen Bedingungen verständlich zu machen; sie „enthüllt" die Ideologien als Spiegelungen sozialer Strukturen, z. B. der jeweiligen Klassenordnungen. D a s ist nicht dasselbe wie die Kulturgeschichte älterer Richtung. Es setzt ein Eingehen auf die tatsächliche Lebens- und Sozialordnung der Menschen voraus, befaßt sich freilich nicht mit ihr als Selbstzweck der Forschung, sondern nur als Mittel zum Zweck des Verständnisses geistiger Entwicklungen. Angebahnt und vorbereitet wurde diese Wissensoziologie durch den Marxismus; die Betrachtungsweise des historischen Materialismus hat uns an die Zusammenschau von Gesellschaftsordnung und Ideenwelt gewöhnt. D i e moderne Wissenssoziologie, zu der M a x S c h e l e r wertvolle Anregungen gegeben hat, macht sich freilich ihrerseits die Lehre des Marxismus v o m „ Ü b e r b a u " nicht ohne weiteres zu eigen. Mit diesen Erscheinungen der Dreiströmung wird nicht selten der leidige, in Deutschland seit R i c k e r t zugespitzte Gegensatz von N a t u r - und Geisteswissenschaften vermischt. M a n beliebt, einen scharfen Unterschied zwischen der zu den Naturwissenschaften tendierenden Soziologie des 19. Jahrhunders (in Deutschland z. B. Schäffle) und den geisteswissenschaftlichen Grundlagen der heutigen deutschen Soziologie zu machen. W e r n e r S o m b a r t s scharf pointierte Beanspruchung der Soziologie für die Geisteswissenschaften, die jüngere Schriftsteller (wie G e r h a r d L e h m a n n und andere), die von der Philosophie herkommen, sich zu eigen machen, und die unklare H e r aushebung einer angeblich allein gültigen „verstehenden Soziologie" hat die Scheidung noch vertieft. Dadurch, daß die Termini: Geist und Geisteswissenschaft, verstehende Wissenschaft und der Modeausdruck Phänomenologie in sehr verschiedenem, meist recht schwankendem Sinne gebraucht werden, ist eine gefährliche Verwirrung entstanden. Wir müssen uns demgegenüber zu der A u f f a s s u n g bekennen, daß der Gegensatz zwischen N a t u r - und Geisteswissenschaft in der Soziologie unangemessen ist; sie muß
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ordnen, messen, quantifizieren; sie muß aber auch ein unmittelbares Verständnis für die Betätigungen und Bekundungen des menschlichen Geistes entwickeln; sie muß Ganzheiten zu schauen vermögen, muß sie aber auch in ihre Elemente zerlegen und analysieren können. Naturwissenschaftliche Ordnungsregeln und -aufgaben haben in ihr ebensoviel Raum wie das intuitive Erfassen und innerliche Miterleben von Unwägbarkeiten 1 . Diese allgemeinen Darlegungen wollen wir nur noch durch einen kurzen Hinweis auf das Lebenswerk von F e r d i n a n d T ö n n i e s und durch einige Worte des Gedenkens an die drei auch schon dahingegangenen Denker ergänzen, die neben Tönnies in den beiden ersten Jahrzehnten dieses Jahrhunderts im Vordergrunde der soziologischen Arbeit in Deutschland gestanden haben, G e o r g S i m m e l , M a x W e b e r und W e r n e r S o m b a r t . Zum Abschlüsse sei noch einiges über K a r l M a n n h e i m und A l f r e d V i e r k a n d t gesagt. In den Sammlungen von Lebensläufen von deutschen Gelehrten steht hinter dem Namen F e r d i n a n d T ö n n i e s (1855—1936) eine ungewöhnlich große Zahl von Werken aufgezeichnet, von denen sehr viele in den weiteren und teilweise auch in den engeren Kreis von Schriften der Soziologie geredinet werden müssen. In einer (hier nicht möglichen) eingehenden Würdigung dieser Lebensarbeit hätten wir zu zeigen, daß in der Erziehung des Lesers zu „soziologischer Optik" schlechtweg das große Verdienst dieses Denkers liegt. Im allgemeinen pflegt man freilich den Leitgedanken seines Gründwerks „Gemeinschaft und Gesellschaft" 2 als seine wissenschaftliche Hauptleistung hervorzuheben. Sicherlich ist auch diese Gegenüberstellung von „Gemeinschaft und Gesellschaft" die Basis 1 V g l . d a r ü b e r auch d i e vortreffliche k l e i n e Schrift von J o h a n n P 1 e n g e , Zur Ontologie der Beziehung, M ü n s t e r 1930, Staatswissenschaftl. V e r l a g s a n s t a l t m . b. H . 2 Dessen Entwurf aus den J a h r e n 1880/81 s t a m m t , dessen erste A u f l a g e im J a h r e 1887 e r f o l g t e , dessen z w e i t e A u f l a g e 1912 erschien und von dem gegenw ä r t i g die 6. u n d 7 . A u f l a g e (Berlin 1926, K a r l C u r t i u s ) v o r l i e g t .
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seiner Lehren. Tönnies unterscheidet „reine, angewandte und empirische Soziologie" (wobei seine Terminologie von der unsrigen abweicht, da wir ja „reine" und „empirische" Soziologie gleichsetzen). In seiner „reinen Soziologie" bilden G e m e i n s c h a f t u n d G e s e l l s c h a f t d i e G r u n d b e g r i f f e . (Es handelt sich also dabei um einen engeren Begriff „Gesellschaft", der sich von dem allgemeinen Begriff Gesellschaft unterscheidet.) „Der Sinn dieser Begriffe", sagt Tönnies, „ist, daß alle diese Komplexe positiver Beziehungen, die ein Band (Vinculum) konstituieren, einen zwiefachen Ursprung haben: entweder den menschlichen Wesenwillen oder den menschlichen Kürwillen. Als Wesenwillen begreife ich hier die Formen des Wollens, also der Bejahung und der Verneinung, die im Gefühl (der Neigung, dem Instinkt) ihre Wurzel haben, durch die Übung, also als Gewohnheit, sich befestigen und als Glaube oder Vertrauen sich vollenden. Dazu gehört auch das bejahende Wollen, sofern es auf Mittel zu einem Zwecke gerichtet ist, solange als diese Mittel in wesentlicher Einheit mit dem Zwecke gefühlt und gedacht werden. An diesem Punkte tritt aber der Bruch ein, wenn und insofern als Zweck und Mittel sich entzweien, d. h. als ein Mittel in vollkommener Isolierung, ja endlich in Opposition zu dem Zwecke, dennoch als zweckmäßig bejaht und gewollt wird; also auch trotz Widerwillens, mit Überwindung eines solchen, z. B. der widerstrebenden Neigung, des Ekels oder des Gewissenbisses. Die Einheit d i e s e r Formen des Wollens nenne ich Kürwillen. Als beruhend im gemeinsamen Wesenwillen wird G e m e i n s c h a f t , als hervorgebracht durch gemeinsamen Kürwillen G e s e l l s c h a f t verstanden." Einwendungen gegen den Gebrauch, den einige TönniesSchüler von dieser Zweiteilung aller sozialen Gebilde gemacht haben, brauchen hier nicht eingehender erörtert zu werden. Es haben sich nicht selten einseitige B e w e r t u n g e n an diese Antithese geknüpft; man hat die G e m e i n s c h a f t , die auf Wesenwillen beruht, allzu sehr
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gepriesen und die „Gesellschaft" verdammt. Wir würden nur bereit sein, die Gegenüberstellung anzunehmen, wenn man sich jeder Parteinahme f ü r und gegen den einen oder anderen Typus enthält. Hier handelt es sich um die historische Einschätzung jenes Versuchs aus den 80er Jahren, den Problemen des menschlichen Zusammenlebens auf dem Wege über eine aus der Erfahrung abgeleitete Zweiteilung aller Gruppierungen zu entsprechen, dabei nicht bloß an der Oberfläche zu bleiben, sondern die Willenskräfte, die sich in ihnen bekunden, durchscheinen zu lassen. Das geschah durch Tönnies in einer Zeit, wo Spencers Biologismus und Organizismus herrschte und Historiker, Juristen und Nationalökonomen (nach der Episode der Zeit Mohls und Steins um die Mitte des vorigen Jahrhunderts) ihre wissenschaftliche Teilnahme einseitig dem Staate zuwandten. Diese Zweiteilung der Gebilde und Gebildekräfte hat bis heute ihre Bedeutung — zum mindesten als heuristisches Prinzip — bewahrt. Audi wenn man, wie der Verfasser dieser Zeilen, Zweifel hat, ob nicht andere Scheidungen neben sie treten müssen, die nicht die Gefahren der Antithese und der gefühlsmäßigen Parteinahme mit sich bringen, wird man diese H i l f e bei vielen Untersuchungen nicht entbehren können. Man wird immer wieder bei Analysen von sozialen Gebilden fragen müssen, wieweit sie auf „realem, organischem Leben", wieweit auf zwecksetzendem, rechnendem Willen beruhen. Zu den deutschen Soziologen der letzten Jahrzehnte, die wir hier — unter den oben dargelegten, f ü r uns maßgebenden Gesichtspunkten — neben Tönnies nennen, gehört in erster Linie G e o r g S i m m e l (1858—1918). Auch M a x W e b e r (1864—1920), den wir oben als Autor der speziellen Soziologie und als Sozialhistoriker erwähnt haben, muß in diesem Zusammenhange noch einmal genannt werden, weil seine Methode und seine sachlichen Forschungsergebnisse der empirischen, „allgemeinen" (theoretischen) Soziologie vorgearbeitet haben.
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Wohl nur wenige Denker versagen sich einem (nun einmal unvermeidlichen) Einordnungsversuche so sehr wie Simmel. Wie ihm als Philosophen und als Soziologen die Bildung einer „Schule" fern gelegen hat, und wie er selbst in seinen Werken nur sehr selten Bezug auf das Schaffen anderer nimmt, so müssen wir ihn auch als eine wissenschaftliche Erscheinung f ü r sich auffassen, f ü r den nach seinen eigenen Worten die „persönliche Attitüde zur Welt" entscheidend war. Er war kein Soldat in Reih und Glied, freilich auch kein eigentlicher Führer, sondern ein wahrhaft geistreicher Anreger voller Ideen und Einfälle, der aber — ein umgekehrter Spencer — niemals ein System hat errichten wollen 3 . Frei zu sagen, was er denkt, stets in persönlicher Färbung und ohne den Zwang zu einer strengen Folgerichtigkeit der Planlegung — war sein Bestreben. Entkleiden wir den Begriff aller verkleinernden und geringschätzigen Nebenbedeutungen, so können wir diesen genialen Autor einen Literaten, und zwar einen der größten Literaten aller Zeiten nennen. Damit soll seine Unabhängigkeit von dem Akademisch-Schulmäßigen, allem Zünftlerischen und aller traditionellen Folgeordnung hervorgekehrt sein. Dazu kommt, daß auch dieser Soziologe, wie so viele andere, eben nicht nur Soziologe war, sondern zu Beginn seiner schriftstellerischen Tätigkeit und besonders in seinen letzten Lebensjahren (etwa von 1910 ab) vor allem Philosoph*. Sein Bedürfnis nach Metaphysik verdrängte schließ5 Viel Interesse (schon zu einer Zeit, wo in Deutschland erst eine ziemlich kleine Sdiar Simmeis Bedeutung und Begabung ganz zu würdigen wußte) haben die Amerikaner Simmel entgegengebracht. Das beste Buch kommt denn auch von d o r t ; es ist „The Social Theory of Georg Simmel" von Nidiolas J . S p y k m a n (Chicago 1925). D o r t auch auf S. 227 ff. eine ausgezeichnete Bibliographie. Uber Simmeis Gesamtpersönlichkeit und Philosophie sagt m a n ches Richtige Max A d l e r in seinem Vortrage: Georg Simmeis Bedeutung f ü r die Geistesgesdiichte (Wien, Leipzig, 1919, Anzengruber-Verlag). 4 Maria S t e i n h o f f hat in dem Aufsatz „Die Form als soziologische Grundkategorie bei Georg Simmel" (Kölner Vierteliahrshefte f ü r Soziologie, I V . Jahrg., S 215 ff.) die W a n d l u n g e n Simmeis wie folgt skizziert. W i r geben dieses Zitat zugleich als Übersicht über seine wichtigsten uns hier interessierenden Schriften: „Im Jahre 1890 veröffentlichte er als seine erste Arbeit die ,Soziale Differenzierung*. Es ist eine Eigentümlichkeit der f r ü h e n Schriften
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lieh, seine ursprüngliche Neigung zur Empirie. Der Simmel von 1915 war ein ganz anderer Mann als der von 1905. Uns geht nur dieser an, der die Soziologie zu einer empirischen Gesellschaftslehre gestalten wollte, und der eine „formale" Soziologie anbahnte. Das eigentümliche Zurückweichen, Abschweifen, das Aphoristische und Torsohafte in seiner Arbeit als Soziologe hängt mit den Vorzügen und Mangeln dieses anaylisierenden, der Systematik so abholden Schaffens zusammen. Geistige Robustheit, Diszipliniertheit und intellektuelle Selbstverleugnung waren ihm fremd. Wir tun gut, uns nur auf sein Hauptwerk „Soziologie, Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung" (1908) allein zu beziehen 5 : Simmel (der Simmel von 1908) war — etwa gleichzeitig wie Emile Waxweiler in Belgien, der freilich die Gesellschaftslehre als Naturwissenschaft behandelte — in Deutschland der erste, der die Soziologie in völliger Trennung von der Sozialphilosophie eng begrenzte. Sie war ihm eine Einzelwissenschaft mit einem bestimmten, neuen, aber ziemlich deutlich begreftzbaren Objekt. Es war eines seiner VerSimmels, d a ß sie mehr auflösend als a u f b a u e n d sind und einen eigenen positiven S t a n d p u n k t nicht erkennen lassen. Erst in einem kleinen Aufsatz in Schindlers Jahrbuch 1894 »Das Problem der Soziologie' wird das Ziel deutlicher, das der junge Simmel sich gesteckt hatte, nämlich die Begründung der Soziologie .als einer empirischen Gesellschaftslehre'. 1892 bereits war er m i t einer Schrift ,Die Probleme der Geschichtsphilosophie* hervorgetreten, die 1905 iiv völlig veränderter Auflage erschien; sie gehört nicht zu den eigentlich soziologischen Schriften, aber sie n i m m t doch von gleichen Gesichtspunkten her ihren Ausgang. Ihre geistige H a l t u n g liegt durchaus in der L i n k der von Frischeisen-Köhler als .kritisch' bezeichneten Schriften, indem sie letzten Endes dazu dient, ,Hindernisse aus dem Weg zu räumen' und »Ansprüche der Metaphysik und der Geschichtsphilosophie abzuweisen'. Nach einer längeren Pause erschien 1900 die »Philosophie des Geldes', die einerseits die bereits angeschnittenen soziologischen Probleme f o r t f ü h r t , aber dodi eine weit tiefere Fragestellung erkennen läßt, die sie in die Linie der philosophischen Schriften aus den späteren Jahren einreiht. Die bedeutendste soziologische Schrift Simmeis ist die »Soziologie' von 1908, in der er seine »formale Soziologie* d a r legt und vor allem mit einer Fülle von Einzeluntersuchungen den vorher gewiesenen Weg selbst beschreitet. Das große W e r k war f ü r ihn so etwas wie ein Abschied von der soziologischen Forschung. 5 Im folgenden gebe ich in der Hauptsache eine Reihe von Sätzen wieder, die ich bereits in einer etwas ausführlicheren Würdigung im „Archiv f ü r Sozialwissenschaft und Sozialpolitik, Band X X X I , S. 897 ff., in einem Sammelreferate „Neuere soziologische Literatur" (1910), geschrieben habe.
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dienste, daß er den Unterschied zwischen der allgemeinen modernen Tendenz zur soziologischen Betrachtung der Gegenstände verschiedener Wissenschaften, die aber durch diese neue Betrachtungsweise nichts an ihrer Selbständigkeit und Existenzsicherheit einbüßen, und der Schöpfung einer neuen Wissenschaft der Soziologie verdeutlichte. Nach ihm vermag sie zwar nicht neue Tatsachen, neues Material zutage zu fördern; aber sie legt „eine neue Linie durch Tatsachen, die als solche durchaus bekannt sind" (S. 4). Neue Gesichtspunkte, neue Abstraktionen seien mit ihr gegeben. Während nämlich der Inhalt der Vergesellschaftungsvorgänge Gegenstand der verschiedenen (älteren) Sozialwissenschaften, entsprechend den einzelnen realen Gebieten des sozialen Lebens (wie Wirtschaft, Recht usw.) sei, untersuche die Soziologie die Formen der Vergesellschaftung, wie sie zu unzähligen Zwecken mit sich wandelnden Inhalten bestehen. Die mannigfachen Verwirklichungsformen der Vergesellschaftung seien begrifflich von ihren „divergentesten Inhalten" zu lösen und als psychische Phänomene besonderer Art aufzuweisen. Trotz dieser sozialpsychologischen Grundlage sei die Soziologie keineswegs ein Zweig der Psychologie. Mögen immerhin vorwiegend seelische T a t sachen in der Soziologie behandelt werden, so geschehe es doch nicht, um Gesetze seelischer Prozesse zu finden; sondern das Ziel der Soziologie sei, eben „die Sachlichkeit der Vergesellschaftung" (die allerdings, wie gesagt, „von psychischen Vorgängen getragen" wird) zu erfassen. Wie Psychologie und Soziologie nicht identisch seien, so hebe sich auch von dem eigentlichen Gegenstande der Gesellschaftswissenschaft ihre Erkenntnistheorie und Metaphysik (wie bei allen anderen Sozialwissenschaften) ab. In die Metaphysik der Soziologie verweist Simmel die Frage nach der Stellung der Gesellschaft im Kosmos. Anderseits gehörten die Fragen: Ist die Gesellschaft möglich? besteht sie außer uns oder nur in unserem Bewußtsein? und dergleichen in die Erkenntnistheorie, also gleich jenen metaphysischen Problemen in bestimmte Unterdisziplinen der Philosophie.
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Hier ist mit allen Ansprüchen auf enzyklopädisch-universelle Geltung der Soziologie, auf eine Zusammenfassung aller sozialen Einzelwissenschaften in ihr aufgeräumt; auch die Erstreckung der naturwissenschaftlichen Betrachtungsweise auf die Tatsachen der menschlichen Gesellschaft kommt für Simmel ganz und gar nidit in Betracht. Doch die Einschränkung der Aufgaben der Soziologie geht bei Simmel, wie angedeutet, noch weiter: das Inhaltlich-Stoffliche der menschlichen Zweckhandlungen soll eine möglichst geringe Rolle in dieser Gesellschaftswissenschaft spielen; nur die formale Seite der Vergesellschaftung interessiert hier an allen historischen Vorgängen. Es erhebt sidi die Frage: Ist eine solche Beschränkung auf die Formen der Sozialisierung möglich? Beweist Simmeis Ausführung seines Programms in neun sehr lesenswerten Kapiteln (deren spezieller Inhalt hier außer Berücksichtigung bleiben muß) die Möglichkeit und Fruchtbarkeit seiner Problemstellung? Zunächst muß man sich ja davor hüten, in der Form etwas dem Inhalte gegenüber Nebensächliches, Untergeordnetes zu sehen. Das Wesen der Dinge wird oft deutlicher in ihrer Form als aus ihrem Inhalt. So ist es auch hier: Soweit wie möglich zugunsten der Darstellung menschlicher Beziehungen vom Inhaltlichen der Gemeinschaftshandlungen, also von dem, was Plenge ihren „Betreff" genannt hat, abzusehen, kann eine Befreiung vom Zufälligen, Vorübergehenden, Nebensächlichen bedeuten, die erst einen um so tieferen Blick in die Menschennatur überhaupt ermöglicht. Bisher unenthüllte Geheimnisse der menschlichen Seele, menschliche Entwicklungsmöglichkeiten, Motive und Strebungen werden erst jetzt deutlich. Das Wesen der Kultur enthüllt sich erst, wenn man sie nicht allzu gegenständlich in kompakten, derben Einzelheiten und ihren Summierungen sucht. Die äußere Einengung des Gebiets der Soziologie bedeutet eine wertvolle Vertiefung, eine innere Erweiterung der Erkenntnismöglichkeiten. Aber Simmeis Untersuchungen liefen Gefahr, zu versanden, sich zu verzetteln. Es sind sicherlich nicht nur sehr
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viele feine Betrachtungen in ihnen; sie haben auch Höhepunkte von größtem Erkenntniswerte. D a n n aber verlieren sie sich wieder in Spielereien mit der Formenfülle, mit subtilsten und feinsten Nuancierungen. Aus den zahlreichen Lehren von mannigfachen Formen der Vergesellschaftung entstand keine einheitliche Lehre von den Vergesellschaftungsformen. Trotz der Anerkennung der Bedeutung dessen, was Simmel die Formen der Vergesellschaftung nennt, und der Beibehaltung seiner Aufgabenstellung in der Beziehungslehre haben wir die Bezeichnung „formale" Soziologie, wie oben bereits erwähnt, aufgegeben, weil sie allzu häufig mißverstanden worden ist. Aber der Name ist nebensächlich. In der Hauptsache nimmt die Beziehungslehre den Faden wissenschaftlicher Forschung dort auf, wo ihn Simmel 1910 zugunsten philosophischer Studien fallen ließ. W a r doch mit seiner „Soziologie" erst ein noch unsicherer Anfang gemacht. M a x W e b e r in diesem Zusammenhange zu erwähnen, ohne seine Bedeutung gebührend zu würdigen, ist nicht minder (freilich in einem anderen Sinne wie bei Simmel) mißlich. Er wirkte so stark durch seine Gesamtpersönlichkeit, daß, ihn als bloßen Förderer einer wissenschaftlichen Methode zu nennen, ihn verkleinern heißt. Doch handelt es sich hier nur darum, einige logische Hilfsbegriffe und Kategorien aus seinem hinterlassenen und Torso gebliebenen Hauptwerke „Wirtschaft und Gesellschaft", die auch f ü r die „Beziehungslehre" fruchtbar sind, herauszugreifen und kurz zu skizzieren 6 : Für ihn war Soziologie eine Wissenschaft, die soziales Handeln deutend verstehen und in seinem Ablaufe und seinen Wirkungen ursächlich erklären will. Damit gehöre die Soziologie zu den „verstehenden" Wissenschaften. Wir könnten nicht den objektiven, sondern nur den „subjektiv 8
lichen
„Wirtschaft und Halbbänden).
G e s e l l s c h a f t " , 2. A u f l . , T ü b i n g e n
1925 (in z w e i
statt-
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gemeinten Sinn" dieses Handelns verstehen; wir suchten d e n Sinn, den die handelnden Menschen mit ihrem Tun und Lassen verbinden, verstandesmäßig zu deuten. Von allen Handlungen besdiäfligten uns in der Soziologie nur die sozialen; sie umfaßten die Handlungen, die ihrem vom Handelnden gemeinten Sinne nach auf das Verhalten a n d e r e r bezogen werden und daran in ihrem Ablaufe orientiert seien. Die Beziehungslehre stimmt mit dieser Grundauffassung Max Webers darin überein, daß auch ihr das soziale Handeln Objekt ist. Den Begriff „sozial" kann sie ebenso definieren, wie es hier von Weber geschehen ist. Nachdrücklich betont auch sie, daß nur der subjektiv gemeinte, nicht der objektive Sinn wissenschaftlich erfaßbar ist. Nur zieht sie den Rahmen der Soziologie insofern weiter, als sie mit der Verständlichmachung des sozialen Handelns seine systematische Ordnung verknüpft. Am meisten weiter wirkt in der allgemeinen Soziologie von Webers Kategorien seine Hervorhebung der verstehenden Schauweise und seine methodologische Verwendung der Idealtypen. In der weisen Beschränkung, die er der Anwendung der beiden Begriffe gegeben hat, haben sie durchaus Gültigkeit. Die verstehende Optik als subjektives Verfahren im Gegensatze zu der objektiven erklärenden Schauweise, die die Naturwissenschaften beherrscht, war von dem Philosophen D i 11 h e y besonders zur Deutung religiöser und philosophischer Überzeugungen und des Wandels der Geschichte hervorgehoben worden. Ihre Ausdehnung auf soziopsychologische und psychosoziologische Erscheinungen lag nahe, da das soziale Leben ohne Einfühlung in die mit der bloßen Logik nicht durchschaubaren Tiefenschichten der menschlichen Seele nicht hinreichend erfaßt werden kann. Wenn man den „subjektiv gemeinten Sinn" des menschlichen Handelns verdeutlichen will, ist eben das „Verstehen" ein wichtiger Weg. Falsch wurde nur die besonders von Werner S o m b a r t hervorgekehrte Denk-
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weise, die das Verstehen zur einzigen, den Geisteswissenschaften (zu denen er die Soziologie rechnete) angemessenen Optik machen wollte. Erklärende und verstehende Schauweise stehen aber, sich ergänzend, nebeneinander. Bemerkenswert ist die gegenwärtig in den Vereinigten Staaten hervortretende „Weber-Renaissance", die fast modenmäßig die ein paar Jahre zuvor hier und da vorherrschende Vorliebe f ü r Pareto abgelöst hat. H o w a r d B e c k e r sucht das Verfahren Max Webers zur Methode der Interpretation auszugestalten. Mit der „verstehenden Methode" hängt die sogenannte „Wissenssoziologie" eng zusammen, dieMax S c h e 1 e r und Karl M a n n h e i m (neben anderen) in den 20er Jahren in Deutschland entwickelt haben. Auch hier ist bemerkenswert, daß in dem Maße, in dem sie jiach der teilweise überscharfen Kritik, die sie von Ludwig C u r t i u s und anderen Kulturphilosophen erfahren hat, in Deutschland vorübergehend zurückgetreten ist, sie in Amerika an Boden zu gewinnen scheint. Mannheim hat in seinen letzten Lebensjahren dort und im Exil in England, wo er zuletzt lehrte, viel Beachtung gefunden; a u c h G u r v i t c h hebt sie hervor. In den Kreisen um H o r k h e i m e i t und im Institute of Social Research (New York) arbeitet man an ihr weiter. Grade Denker, die dem Determinismus nahe stehen, der dem Marxismus eigen ist, aber nicht alle schroffen Konsequenzen der ökonomischen Geschichtsauffassung zu ziehen bereit sind, neigen zu den Auffassungeiii, die in der Erklärung g e i s t i g e r Phänomene aus zwischenmenschlichen Zusammenhängen die hauptsächliche Aufgabe unsrer Wissenschaft sehen. Besonders die Religionssoziologen (die wir hier nicht behandeln können) sehen hier ihr Feld. Auch hier ist es eine Frage des Maßes, von der die Beurteilung abhängig gemacht werden muß. Es wäre töricht, ja gradezu böotisch, wollte man diesem Forschungszweige die Daseinsberechtigung absprechen. Aber das Geistige darf nicht mit dem Sozialen gleichgesetzt werden. Das haben auch Weber und Scheler nie getan. 9 Soziologie
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Was die Idealtypen betrifft, so handelt es sich bei ihnen um eine Bereicherung soziologischer Methodenlehre. (Das zu begründen, würde den Rahmen dieser Einführung sprengen.) Bei der Gesamtbeurteilung von M a x W e b e r hat sidi im Verlaufe der obenerwähnten Vereinfachung hier und da eine gewisse Mythenbildung entwickelt, die aber dem Andenken dieses faustisch ringenden Geistes nur Abbruch tun kann. Seine Bedeutung liegt einerseits auf dem Gebiete der Erkenntniskritik, Wissenschaftslehre und Anthropologie, anderseits in der Förderung der Geschichts- und Kulturerkenntnis, besonders auf dem Felde der Religionssoziologie. Dagegen fehlt es seiner ungestüm vorandrängenden Natur an Geduld zur Kleinarbeit und folgerichtigen Analyse und Systematik. Vieles ist bei ihm Torso und bloße Anregung geblieben; wie er sich zur Soziographie verhielt, wurde oben angedeutet. Das, scheint mir, muß gesagt werden, nicht um seine ragende Gestalt zu verkleinern, sondern um seine Bedeutung auf dem richtigen Felde der Geistesarbeit zu suchen und zu finden. Werner S o m"b a r t s wissenschaftliches und persönliches Charakterbild habe ich an zwei Stellen zu zeichnen versucht7. Wer die Aufsätze gelesen hat, wird mir recht geben, wenn ich hier ausspreche, daß es unmöglich ist, seine Eigenart in wenigen Worten zu kennzeichnen; es müßte mißverständlich bleiben. Hier sei nur hervorgehoben, daß er, der Verfasser des „modernen Kapitalismus", keineswegs bloß Nationalökonom war, daß er vielmehr (irrigerweise) sogar Wirtschaftstheorie und Wirtschaftssoziologie gleichsetzte, vor allem aber, daß Werke wie sein „Bourgeois" oder sein „Die Juden und das Wirtschaftsleben" und manches andere noch durchaus auch in die Ideengeschichte unserer Wissenschaft gehören. Seine methodologischen Untersuchungen müssen Widerspruch herausfordern. Aber seine 7 In den K ö l n e r Vierteljahrsheften, B a n d X I , S . 253 ff. und in der Z e i t schrift für die gesamte Staatswissenschaft, 101. B a n d , S. 597 ff.
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Fähigkeit, Menschentypen und ihre Motive zu zeichnen, Kulturphasen in lebendiger Schilderung vor uns hinzustellen, war ungewöhnlich groß. In den 20er Jahren standen Max Weber und Werner Sombart ganz im Vordergrunde der soziologischen Forschung in Deutschland. Beide waren von Haus aus Volkswirte und, im ersten Jahrzehnt des Jahrhunderts zunächst mit der Schmoller-Schule verbunden, im Verein für Sozialpolitik als Nationalökonomen zur Geltung gekommen. Sie bildeten dort bald das wichtigste Paar einer gewissen Opposition gegen die ältere, konservativere Generation. Dieser Gegensatz führte sie zugleich auch zur Soziologie und zur deutschen Gesellschaft für Soziologie, von der hier nichts weiter gesagt werden kann. Ich schrieb über diesen Szenenwechsel und die beiden Protagonisten: „So wandelte sich um jene Zeit die Bühne unserer Wissenschaft. An Stelle des Chors der vom Chorführer Schmoller in Disziplin gehaltenen Volkswirteschar trat ein Dioskurenpaar in den Vordergrund: Max Weber und mindestens im gleichen Grade Werner Sombart. Beide waren ganz anders geartet als die große Mehrzahl der älteren Generation. Beide waren revolutionäre Geister, Neuerer und Zerstörer von starkem Selbstund Überlegenheitsgefühle, Männer mit neuen und selbständigen Einfällen leidenschaftlich und rücksichtslos, ohne viel Respekt vor der Tradition und ohne Besorgnis, sie könnten übertreibend und unsachlich erscheinen. Max Weber war mehr der Mann des Alles oder Nichts, des sittlichen Heroismus, der Askese, der unbedingten Gerechtigkeit und absoluten Parteinahme. Sombart besaß mehr die Orginalität eines unabhängigen Künstlers, mehr Lust am Widerspruche, um zu verblüffen, mehr Abneigung gegen Autoritäten, mehr Phantasie und Geschmack, allerdings auch ein wenig Primadonneneitelkeit und Lust an der Schauspielerei. Weber war in stärkerem Maße von sittlichem und politischem Radikalismus erfüllt; Sombart hatte mehr lite9*
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rarischen Intellektuellenehrgeiz, dabei eine unvergleichlich höhere Darstellungskunst und Klarheit des Stils in Schrift und Rede." Alfred V i e r k a n d t (geboren 1867) suchte in seinem ersten größeren Werke „Die Stetigkeit im Kulturwandel" (1908) im Gegensatze zu Tarde, f ü r den die Neuerung in der Geschichte das Geheimnis des Genies war, das aus nichtgesellschaftlichen Quellen in freien Kombinationen schöpfe, zu zeigen, daß jedes zivilisatorisch Neue tief vom Alten, Vorausgehenden abhängig wäre. Er betonte die Gewalt der Überlieferung und groben Masseninstinkte. Die tragenden und treibenden Beweggründe seien vorwiegend und ausschließlich trivialer N a t u r . Das Große in den menschlichen Dingen bestehe überall aus einer Anhäufung kleiner Bestandteile. Wenn ich ihm auch in der Geringschätzung des Genialen nicht zu folgen vermochte, so schien mir doch Vierkandt besonders in der Betonung der Bedeutung der Beziehung f ü r die Soziologie, die er in seiner „Gesellschaftslehre" (erste Auflage 1923) vorgenommen hat, auf dem rechten Wege zu sein, den Simmel vorgezeichnet hatte. Aber er hat diesen Ansatz zu einer Beziehungslehre später nicht mehr verfolgt. D a f ü r mehrten sich seine wertvollen Beiträge zur Ethnologie. Immer kennzeichnet ihn der unablenkbare Wille, illusions- und phrasenlos ein realistisches Bild des Menschen zu geben. In der Festschrift zu meinem siebzigsten Geburtstage, deren erster Band 1948 unter dem Titel: „Studien zur Soziologie" in Mainz erschienen ist, finden sich in seinem Aufsatze: „Das neue Bild des Menschen und der menschlichen Gesellschaft im Zusammenhange des neuen Weltbildes" die. W o r t e : „Wir sehen heute, wie die alte Auffassung" (vom Menschen) „viel zu hoch gegriffen h a t . . . In der Wirklichkeit des Lebens bleibt sein typisches Verhalten weit hinter diesem Bilde zurück." Grade die W a r nung, nicht zuviel auf einmal von der sittlichen und geistigen
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Leistungsfähigkeit der durchschnittlichen Menschen zu erwarten, vielmehr mit den Unvollkommenheiten ihrer noch im Triebleben mannigfach verankerten N a t u r bei allen sozialen Zielsetzungen zu rechnen, können wir Vierkandts stets so vorsichtiger Urteilsweise entnehmen. Karl M a n n h e i m (1893—1947), mit dem ich diese ergänzungsbedürftige Obersicht schließen muß, erweiterte die ökonomistische Geschichtsauffassung von Karl Marx zu der eben hervorgehobenen Soziologie der Erkenntnis (gewöhnlich als „Wissenssoziologie" bezeichnet). Als Heidelberger Privatdozent schrieb er 1929 seine „Ideologie und Utopie". Schon vorher hatte er seit 1922 (u. a. auf dem sechsten Soziologentag in Zürich) zu zeigen versucht, daß der Inhalt des geistigen und politischen Lebens völlig von den Normen und immanenten Entwicklungsgesetzen der sozialen Struktur abhängig und bestimmt sei. Als Emigrant übernahm er eine Lehrtätigkeit an der London School of Economics und wurde schließlich 1945 Professor der Soziologie der Erziehung an der Universität London. Noch eine Frucht seiner letzten Tätigkeit in Deutschland war sein (m. E. in manchen Zügen recht problematisches) "Werk „Mensch und Gesellschaft". In die letzten Jahre seines Lebens fällt ein pädagogisch-soziologisches Werk. Es k a n n nicht bezweifelt werden, daß Mannheim mit großer Geistesschärfe und Denkkraft in die Tiefen der Zusammenhänge von Mensch und Gesellschaft gedrungen ist und nach Max Webers und Schelers Tode zu den anregendsten und ideenreichsten Forschern und vor allem Lehrern unserer Wissenschaft gehört hat. Vor 1933 war er derjenige unter den jüngeren Gelehrten, von dem man mit Recht erwarten konnte,- daß er die unvollendete Arbeit der Männer, die besonders das Grenzgebiet von Philosophie, Politik, Ökonomie und Soziologie angebaut hatten und dabei die Soziologie als die Synthese der anderen Disziplinen ansahen, zu einem überzeugenden Abschluß führen würde.
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X. Die Lehre von den sozialen Beziehungen
Kapite 1X : Die Lehre von den sozialen Beziehungen sozialen Gebilden
und den
(Beziehungslehre)
Am Ende des ersten Kapitels haben wir zu zeigen versucht, daß Soziologie als Fachwissenschaft nur die Lehre vom Sozialen, d. h. von den Einwirkungen der Menschen aufeinander sein sollte. Aus diesen Einwirkungen entstehen die Vorstellungen von großen und kleinen Gebilden, die als Massen, Gruppen und Körperschaften unser soziales Leben beherrschen und den Hauptgegenstand des engsten Kreises der Soziologie bilden. Der Erforschung der sozialen Prozesse und Gebilde muß ein besonders dafür geeignetes Verfahren gewidmet sein, das sich von den Methoden anderer Wissenschaften unterscheidet. Wir wollen auf dem Wege der Lehre von den sozialen Beziehungen richtig sehen lernen das Verhalten von Menschen gegen Menschen, die daraus entstehenden Bindungen und Lösungen und jene eigentümlichen Verdichtungen von Beziehungen, die wir soziale Gebilde nennen, für die die Gruppe (im weitesten Sinne) der am leichtesten durchschaubare Typus ist. Uns beschäftigt eine (in der Grundform einfache, aber in mannigfachen Abwandlungen auftretende) folgenreiche Tatsache: daß sich Menschen miteinander verbinden, und daß sie sich zu meiden suchen. Wir erkennen weiter, daß die daraus entstehenden Vergesellschaftungstatsachen mindestens ebenso folgenreich sind wie die physische und psychische N a t u r des Einzelmenschen. Untersucht die Physiologie jene, die Psychologie diese Erscheinungen, so wollen wir die Tatsachen der Vergesellschaftung (im positiven und negativen Sinne) auf Zusammenhang. Folgen und Funktion hin untersuchen.
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Je mehr sich die Soziologie oder Gesellschaftslehre aus den Verflechtungen ihrer Grundfragen mit anderen Sozialwissenschaften, mit Sozialpsychologie und Sozialphilosophie löst, desto deutlicher wird, daß die ihr eigene und nur ihr zukommende Aufgabe in der Erklärung .dessen liegt, was wir den Bereich des Sozialen im menschlichen (im weiteren Sinne auch im tierischen und pflanzlichen) Dasein nennen. Das Soziale aber umfaßt alle Äußerungen und Bekundungen des z w i s c h e n menschlichen Lebens. Einer solchen Soziologie muß die Auffassung zugrunde liegen, daß ein großer Teil des Inhalts des menschlichen Lebens nicht in individuellen Betätigungen der einzelnen Leiber und Seelen und ihrer Summierungen, sondern aus den Einwirkungen von Mensch auf Mensch und aus den Zusammenhängen zwischen zahlreichen Menschen besteht. Es handelt sich um die Erklärung dessen, was man das Mensch-All (Stoltenberg) genannt hat. Wir untersuchen, ordnen und verfolgen in ihren Wirkungen die Erscheinungen des Zwischenmenschlichen, mit anderen Worten: das Soziale im Leben der Menschen. Durch begriffliches Denken und durch einen bestimmten Abstraktionsprozeß suchen wir diese Sphäre des Daseins von der körperlichen und seelischen der Einzelmenschen zu scheiden, während die Wirklichkeit im Erlebnisse immer nur eine Verbundenheit der drei Daseinsbereiche aufweist. Zweck solcher Abstraktion der Sozialsphäre ist die Aufweisung der Kräfte und Wirkungen, die auf den Zusammenhang der Menschen untereinander und nur auf ihn zurückzuführen sind. Dabei können aber nicht die zahllosen E r g e b n i s s e des Zwischenmenschlichen selbst Gegenstand der Forschung sein. Es ist in diesem Zusammenhange nicht das zu durchforschen, was den Inhalt menschlicher Errungenschaften, Kulturen, Zivilisationen bildet. Diese — oft auch irreführend als Kultursoziologie bezeichnete— Kulturlehre darf mit dem hier behandelten Gegenstande nicht verwechselt werden. Es gibt zahlreiche Einzelfragen, bei denen sich
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Kulturlehre und allgemeine Soziologie berühren. Ferner zeigt sich auch hier die unleugbare Tatsache, daß die einzelnen Wissenschaften einander Material liefern. Will man etwa Kulturen wie die ägyptische oder altrömische erklären, so muß auf die Art, wie in jener Zeit die Menschen untereinander verbunden waren, eingegangen werden. Aber für eine beziehungswissenschaftliche Soziologie ist diese Art der Verbundenheit das Objekt der Forschung, zu dem auch jene geschichtlichen Zeitabschnitte Stoff darbieten. Man kann es auch so ausdrücken: Nicht das Produkt, sondern die Beziehungen der Produzenten ist unser Forschungsgebiet. Eigentlich müßte die Befassung mit den Kulturen oder Ausschnitten aus ihnen (Kunst, Technik, Sprache usw.) voraussetzen, daß vorher die Beziehungslehre als Lehre von den Kultur schaffenden M e n s c h e n ganz entwickelt wäre. Wie so oft nimmt aber auch hier die Geschichte der wissenschaftlichen Erkenntnis den umgekehrten Weg. Die Folge davon, daß es erst Kulturlehre aller Art gegeben hat und erst jetzt die beziehungswissenschaftliche Soziologie entsteht, war, daß man die Ergebnisse anderer dafür weniger geeigneter Wissenschaften (z. B. der Psychologie) als Grundlagen benutzt oder sich auf Grund einer unausreichenden Vorstellung von der Sozialsphäre den Anschein gegeben hat, als ob sie hinreichend durchforscht wäre. Die Frage, wie aus dem Zusammenhange der Menschen untereinander Kultur (im weitesten Sinne) entsteht, ist in ihrer letzten Allgemeinheit eine metaphysische Frage. Letztlich läuft alle Erfahrung in Metaphysik aus. Die beziehungswissenschaftlidie Soziologie beschränkt sich auf das Gebiet direkter und indirekter Beobachtung im Bereiche des Erfahrbaren in Gegenwart und Vergangenheit. Dabei sucht sie sich die äußeren, durch die Sinne vermittelten Erfahrungen ebenso nutzbar zu machen wie die innere Erfahrung, der sie durch „Verstehen" nahezukommen sucht.
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Wir wollen die Kräfte erkennen, die aus dem sozialen Bereiche des Menschenlebens hervorgehen. Die Schwierigkeit der Aufgabe liegt darin, daß die Erscheinungen der Sozialsphäre einerseits nicht bloß wahrnehmbar, anderseits nicht bloß seelisch sind, daß wir aber die Ergebnisse unserer Beobachtungen zumeist in Sprachformen ausdrücken müssen, die dem Bereiche des Seelischen oder des Körperlichen entnommen sind. Bei allen Erforschungen der Sozialsphäre besteht die Gefahr des Abirrens in den Bereich der Fragestellung anderer Wissenschaften. Deshalb ist hier in einem besonders starken Grade die Forderung der Methodenstrenge aufzustellen. Es handelt sich darum, die t a t s ä c h l i c h b e s t e h e n d e n Zusammenhänge zwischen den Menschen und Menschenverbindungen ( n i c h t die darüber von den Menschen gehegten Ideologien, Wünsche, Postulate und deren Objektivationen) zu beobachten, zu analysieren, systematisch zu ordnen und, soweit dies möglich ist, zu „verstehen". Die Soziologie muß die reiche Erfahrungsmenge, die ihr die unmittelbare Lebenserfahrung, die Geschichte und die anderen Wissenschaften liefern, in einem bestimmten Verfahren dergestalt verallgemeinern, daß aus jedem Geschehnis, an dem mehrere Menschen beteiligt sind, nur das hervorgehoben und durchforscht wird, was als Verhalten von Mensch zu Mensch oder Gruppe zu Gruppe erkennbar ist. Die Hauptsache ist demnach die Ausgestaltung eines angemessenen selbständigen V e r f a h r e n s d e r B e o b a c h t u n g der zwischenmenschlichen Sphäre. Das soziale Leben ist eine unaufhörliche Kette von Geschehnissen, in denen sich Menschen enger miteinander verbinden oder voneinander lösen. Die Bindungs- und Lösungsakte, die Näherungen und Entfernungen sind die Vorgänge, in denen sich das ganze zwischenmenschliche Dasein abspielt. Die letzten Kräfte sind persönliche, die die einzelnen Menschen besitzen: körperliche, seelische, 10 Soziologie
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geistige. Aber fruchtbar und zu Handlungen werden diese Kräfte durch die räumlich und zeitlich weiterwirkenden Verbindungen von Mensch zu Mensch. Entwicklungsgeschichtlich handelt es sich beim Aufbau der Kulturen um Anhäufung (Akkumulation) und unterbrochenen Zusammenhang (Kontinuität). In vielleicht geometrischer Progression steigern sich im Laufe der Zeit die Wirkungen des menschlichen Verkehrs. Jede zwischenmenschliche Leistung wird der Ausgangspunkt f ü r verwickeitere neue soziale Leistungen. Der heute bestehende, höchst komplizierte Bau einer sozialen Gesamtheit des Mensch-Alls mit seiner unermeßlichen geschichtlichen Tiefe stellt uns vor eine schwierige Aufgabe, wenn wir seine Grundstruktur erkennen wollen. N u r durch Anwendung des altbewährten und durch nichts anderes ersetzbaren Weges der Erkenntnis-, nämlich durch 'Auflösung des Ganzen in seine Elemente und Wiederzusammensetzung aus diesen Elementen, gelangen wir zum Ergebnisse. Betrachten wir den gesellschaftlichen Zusammenhang im Ruhezustande eines bestimmten Augenblicks, im Querschnitte des Nebeneinanders, so ergeben sich als die Elemente des Baus die s o z i a l e n B e z i e h u n g e n der Menschen und Menschenvereinigungen. Formal betrachtet, sind es A b s t ä n d e ( D i s t a n z e n ) zwischen ihnen. Wollen wir uns diese in unendlicher Fülle abgestuften Abstände, die den Kräften der menschlichen Seelen und Körper einen stets verschiedenen Wirkungsgrad und eine stets verschiedene Wirkungsweise ermöglichen, erklären, so müssen wir den f ü r die „statische" Betrachtung in Starre gelegten Menschenzusammenhang in die lebendige Bewegung von Vorgängen auflösen. Die sozialen Beziehungen erscheinen alsdann als die Ergebnisse von s o z i a l e n P r o z e s s e n . Wir können unter diesem Gesichtspunkte eine soziale Beziehung als einen durch einen sozialen Prozeß oder (meist) durch mehrere soziale Prozesse herbeigeführten labilen Zustand verhältnismäßiger Verbundenheit oder Getrenntheit zwischen Menschen bezeichnen. Der soziale Pro-
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zeß selbst ist ein Vorgang, durch den Menschen mehr miteinander verbunden oder mehr voneinander gelöst werden. Unsere Hauptkategorie ist demnach die der sozialen Prozesse. Wir können geradezu die beziehungswissenschaftliche Soziologie als die Lehre von den sozialen Prozessen umgrenzen. Die sozialen Prozesse häufen sich in unendlichen Formen und Wiederholungen. Manche Prozesse von großer Ähnlichkeit führen bisweilen zu Abstandsverhältnissen zwischen Menschen, die als verhältnismäßig fest und schwer veränderlich aufgefaßt zu werden pflegen. Wir nennen solche scheinbar substanzhaften Abstandsverhältnisse s o z i a l e G e b i l'd e. Statisch betrachtet, wäre zu sagen: Eine Mehrzahl von bestehenden sozialen Beziehungen, die so miteinander verbunden sind, daß man sie als Einheiten auffaßt, bezeichnen wir als soziale Gebilde. Die Grundbegriffe, die die beziehungswissenschaftliche Soziologie als Handwerkszeug benutzt, sind also: s o z i a l e P r o z e s s e , A b s t a n d ( D i s t a n z ) und s o z i a l e G e b i l d e . Die Aufgaben dieser Art Soziologie zerlegen sich in zwei Kreise: 1. Analyse und Ordnung der sozialen Prozesse und 2. Analyse der sozialen Gebilde durch ihre Rückführung auf soziale Prozesse und Ordnung der sozialen Gebilde. Das V e r f a h r e n d e r B e o b a c h t u n g u n d O r d n u n g der zwischenmenschlichen Sphäre muß geeignet sein, die sozialen Prozesse nach einheitlichem Schema zu analysieren. Dasselbe Verfahren und dasselbe Schema muß zweitens auf die sozialen Gebilde angewendet werden, die ja als Verbindungen von sozialen Prozessen aufzufassen sind. Von den ersten Kontakten zwischen zwei Menschen bis zu den verwickeltsten Kollektivgebilden, wie es Staaten und Kirchen sind, muß eine einheitliche Behandlung vorgenommen werden. Das, was alle sozialen Prozesse bei aller qualitativen Verschiedenheit gemeinsam haben, ist die durch sie bewirkte Tatsache der Abstandsverschiebung. Auf ihre Feststellung 10*
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ist die Analyse der sozialen Prozesse gerichtet. Die einheitliche Analyseform ist P = H:S Sie will besagen, daß der soziale Prozeß das Ergebnis aus der H a l t u n g der an ihm beteiligten Menschen und der bestehenden S i t u a t i o n ist. Mag es sidi um so verschiedene Vorgänge wie beispielsweise einen Fall von Hochstapelei, eine Parteigründung, eine Thronentsagung, einen Bankrott, einen Ehebruch handeln, mag es ein Geschehnis des alltäglichen bürgerlichen Lebens oder ein geschichtlich bemerkenswerter Vorgang sein — stets ist ein Vorgang der Distanzveränderung gegeben. Das soziale Gefüge ist durdi ihn an einem Punkte verändert. Mit unsrer einfachen Analyseformel soll sowohl der Fehler der Nur-Psychologen, die das soziale Geschehnis nur aus der persönlichen Haltung der beteiligten Menschen herleiten, wie die Einseitigkeit der Milieu-Theoretiker, die es nur auf die Faktoren der gerade gegebenen Umwelt zurückführen, vermieden werden. Jeder soziale Prozeß ist das Mischerzeugnis aus persönlichen und sachlichen Gegebenheiten, eben aus Haltung und Situation. Niemals geht in ein zwischenmenschliches Ereignis die ganze Person über; je nach der Situation finden stets nur einige Anlagen, Neigungen, Erfahrungen der Menschen Betätigungsraum. Dieser oder jener Wesenszug wird durch die Situation verstärkt, ein anderer zurückgedrängt. Jeder soziale Prozeß verwandelt auch den beteiligten Menschen; er tritt aus ihm verändert hervor. Ebenso wird die Situation von den Beteiligten wie von den Beobachtern nicht als objektives Faktum erfaßt. Wir kennen die Situationen nur aus menschlichen Wahrnehmungen und Aussagen. Die Faktoren Haltung und Situation sind weiter zerlegbar in einer Weise, die hier nicht näher dargestellt werden kann. Nur das sei angedeutet: Die Haltung betrachten wir, soweit sie nicht situationsbedingt ist, als das Ergebnis der angeborenen Artung des Einzelmenschen und der Nach-
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Wirkungen seiner Vergangenheit (seiner Erlebnisse, Erziehung und Gewöhnung). Der Faktor Situation zerlegt sich in die Summe der Einzelheiten der außermenschlichen, sachlichen Umwelt und in die Haltung der anderen, beim vorliegenden sozialen Prozeß beteiligten Menschen. Jede Durchforschung menschlicher Haltung wird in erheblichem Grade zur Motiverkundung. In dieser Aufgabe berühren sich Soziologie und Psychologie. Aber die soziologische Motivforschung darf nicht bloß im Bezirke des Inner-Seelischen verharren. Seelisches weist wieder auf Soziales wie Soziales auf Seelisches. Teilweise verstehen wir Bewußtseinsvorgänge aus sozialen Zusammenhängen und sozialen Vorgängen, die den Motivationen vorausgegangen sind. Die Neigung mancher Psychologen, das soziale Leben letztlich nur aus Trieben oder Instinkten zu erklären, erscheint uns einseitig. Dabei wird nur e i n Zusammenhang hervorgehoben; aber die Abhängigkeit aller Gefühle und Vorstellungen, die sich als seelische Erscheinungen aus der Differenzierung und Verfeinerung der Triebe erklären mögen, von der Organisation des sozialen Lebens wird dabei übersehen. Wie wir die Einheitlichkeit in der Analyse der Ichheiten mit Hilfe der Lehre von den sozialen Wünschen zu erreichen suchen, muß hier übergangen werden. Die Analyse des einzelnen sozialen Prozesses nach einheitlichem Verfahren für jeden Fall führt zur Kennzeichnung des gegebenen konkreten Einzelgeschehens in einer abkürzenden, typisierenden Bezeichnung; etwa als Anpassung, Konkurrenz, Boykott, Ausbeutung usw. Es ergibt sich als zweite Aufgabe seine Einordnung in einem Rahmenwerk aller sozialen Prozesse, dessen allgemeinste Kategorien die des Bindens oder Lösens (der positiven oder negativen Abstandsverschiebung) sein müssen. Diese Kategorientafel der sozialen Prozesse muß Vollständigkeit und strenge Systematik aufweisen. Das Ziel ist eine gegliederte Gesamtordnung aller typischen zwischenmenschlichen Vorgänge, um auf .diese Weise zu einer einheitlichen Gesamtübersicht über das soziale Leben zu ge-
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langen. Wie auf der einen Seite jedes zwischenmenschliche Vorkommen ebenso analysiert werden muß, wie jedes andere, vielleicht einem ganz entlegenen Bereiche des sozialen Globus angehörige Ereignis, so muß dieses wie jenes Geschehnis seinen Platz im Gesamtgeschehen des sozialen Lebens finden. Die sozialen Prozesse werden dadurch vergleichbar. Es wird erkennbar, welche „Chance" für ein bestimmtes Vorkommnis besteht, das soziale Leben nach dieser oder jener Richtung zu beeinflussen. Zur Analyse und Systematik der sozialen Prozesse tritt die Analyse und Ordnung der s o z i a l e n G e b i l d e . Jede Art von Kollektivität (Paar, Gruppe, Masse, Staat, Volk, Nation, Klasse, Stand usw.) wird nunmehr Gegenstand der Forschung. Freilich ist der Zusammenhang zwischen den äußerlich einfachen Verbindungen zweier konkreter Menschen mit den großen abstrakten Kollektiva, den Gemeinwesen, sehr stufenreich. Diese „Körperschaften" (besonders die Staaten und Kirchen) sind so sehr mit den Ideologien zahlloser Menschengenerationen bedeckt, daß es meist geleugnet wird, daß Gemeinwesen nichts anderes sind als höchst verwickelte Regelungen von Abstandsverhältnissen zwischen Menschen — und zwar Distanzregelungen, die oft über viele Generationen dauern. Auch erschwert der Umstand, daß diese — von R. MüllerFreienfels als „Festgebilde" bezeichneten — Kollektivitäten scheinbar „sich konkretisieren und Abstraktionen ausgestalten" (Müller-Freienfels), ihre Erkennung. Unsere Aufgabe besteht aber hier (im Gegensatz zur Philosophie) in der Erklärung der Kollektivkräfte aus den tatsächlich in ihnen gegebenen Verbundenheiten, nicht aus den über sie bestehenden Ideologien. Aber selbst wenn man in ihnen geistige Substanzen oder metaphysische Ganzheiten sieht, so bleibt auch bei dieser Deutung die Aufgabe bestehen, darzutun, welche Reihen von sozialen Prozessen in ihnen vorwiegen. Wir begreifen jedenfalls im Rahmen unserer Aufgabe die Kollektivkräfte (Staat, Kirche, Verein, Unternehmung usw.) als verschiedene soziale Gebildetypen, die
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sich darin voneinander unterscheiden, daß in ihnen Menschen und Menschengruppen jeweils anders miteinander verbunden sind. Nimmt man aber die Kollektivkräfte des Mensch-Alls als Ordnungen von (positiven und negativen) Verbundenheiten, so ist klar, daß ihre Elemente nur soziale Prozesse sein können. Sie sind als soziale Gebilde Formen verhältnismäßig dauernder Distanzierungen unter Menschen. Die Menschen verhalten sich zum Beispiel in der staatlichen Sphäre anders zueinander als in der Sphäre der Kirchen oder der "Wirtschaft. In der Gebildelehre (genauer: in der Lehre von den sozialen Gebilden) suchen wir die spezifischen sozialen Prozesse bloßzulegen, die dem einzelneh Gebildetypus den Charakter geben. Audi hier lösen wir die zunächst substanzhaft vorgestellten Gebilde in das bewegte Leben von Handlungen auf. Wir suchen etwa bei einer Masse im Aufruhr, einem Gesangverein, einer bestimmten Familie, einer politischen Partei, einem Trust, einer Kommune, der evangelischen Kirdie, dem Römerreich diejenigen sozialen Prozesse zu erfassen, die sich besonders oft in ihnen wiederholen und dabei stark auf das Gebildeleben einwirken. Anwendungsgebiet des Verfahrens der „Beziehungslehre" — es handelt sich bei diesem Terminus um eine Abkürzung für „Lehre von den sozialen Beziehungen und sozialen Gebilden" — ist das Studium aus jedem Bereiche des zwischenmenschlichen Lebens. Die Beziehungslehre' ist zugleich weit und eng: weit hinsichtlich des Beobachtungsfeldes, eng in bezug auf die Fragestellung. Immer handelt es sich um Verhältnisse der Verbundenheit oder Ent'ferntheit im Mensch-All. Damit bildet sie auch die Grundlage für eine O r g a n i s a t i o n s l e h r e . Wo man organisiert, handelt es sich einmal um Regelungen, die ihr Gepräge durch die Eigenschaften der dabei benutzten Sachen erhalten (Sachbeziehungen), dann aber nicäit minder um die uns hier allein angehenden Personal-, d. h. zwischenmensch-
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liehen Beziehungen. Diese Organisationsaufgabe ist außertechnischer, ist zwischenmenschlicher Art. Indessen besteht heute (besonders in der Praxis) vielfach noch der folgenschwere Irrtum, die durch Organisation vorzunehmende Anordnung der Menschenkräfte ergebe sich ohne weiteres allein aus den Sachbeziehungen. Die beziehungswissenschaftliche Soziologie sucht demgegenüber bei j e d e r Organisationsaufgabe (im weitesten Sinne) die besonderen Anforderungen aufzuweisen, die sich aus dem MenschMensch-Zusammenhange herleiten. Daraus ergeben sich weiterhin zahlreiche Folgerungen für alle Arten von Kunstlehren praktischer Menschenbehandlung und Menschennutzung. Schon die hier vorgenommene Heraushebung der Bedeutung der sachlichen Beobachtung zeigt, wie eng die beziehungswissenschaftliche Sozio 1 o g i e mit der Soziog r a p h i e verknüpft ist. In den letzten Jahrzehnten hat die Beziehungslehre u. a. auch Anwendung gefunden beim Studium von Siedlungsgebilden (Dorf, Kleinstadt, einsame Insel, Stadtviertel). Andere besonders naheliegende Anwendungsgebiete sind die Kriminalistik, Pädagogik, Polizeiwissenschaft, Sozialwirtschaft u. a. m. 1 Auch die Kölner Zeitschrift für Soziologie, die als Fortsetzung der früheren Vierteljahrshefte seit 1948 erscheint, 1 Das System der B.eziehungslehre ist dargestellt in Leopold v . W i e s e , Allgemeine Soziologie, 2. Aufl., München und Leipzig 1933, Duncker & H u m b l o t . Ober Anwendungen des beziehungswissensdi. Verfahrens vgl. besonders K ö l n e r Vierteljahrshefte f ü r Soziologie, T e i l I I : Archiv f ü r B e ziehungslehre (im speziellen über Siedlungsgebilde) d o r t : W . L a t t e n , Niederrheinisdie Kleinstadt in V I I I , 3 und derselbe, D i e H a l l i g e n in V I I I , 4, ferner die Ergänzungshefte zu den K ö l n e r Vierteljahrsheften f ü r Soziologie (München 1928 ff.), vor allem Heft I : Das. D o r f als soziales Gebilde. Aus der zahl reichen L i t e r a t u r über soziale Beziehungen: Eugène D u p r c e 1 : L e rapport social. Essay sur l ' o b j e t et la méthode de la sociologie ( P a n s 1912). Wilhelm S t o k : Das Wesen der sozialen Beziehung ( K ö l n . V i e r t e l j h . f . Soziologie V , 4 u . V I , 1 ) ; derselbe: Nähe und Ferne in den sozialen B e ziehungen: Zeitsdlr. f . angewandte Psychologie, B d . 28, 3/4, und: D i e K o n tinuität der Beziehung Ethos, 11. J g . , 1 und 2.
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enthält in jedem Hefte Beiträge zum Archiv für Beziehungslehre. In den 30er Jahren fanden unsere Versuche2 eine selbständige Fortführung und Ausgestaltung in einer anderen Richtung bei J o h a n n P l e n g e und in seinem Forschungsinstitut für Organisationslehre und Soziologie in Münster i. W., dessen Assistent J o s e f P i e p e r war. Größere Veröffentlichungen über sein soziologisches System hat P l e n g e nicht vorgenommen. Hauptsächlich fand dieses System seine Darstellung in großen, veranschaulichenden „Tafeln". Plenge sieht in der Beziehungslehre nicht die ganze allgemeine Soziologie, jedoch ihre Elementartheorie. „An der Wurzel aller Unterscheidungen und Untersuchungen der eigentlichen Soziologie steht die Beziehungslehre, und sie wirkt durch das ganze System hindurch." Er sieht in ihr eine soziale Histologie (Lehre vom sozialen Gewebe), ergänzt sie jedoch und führt sie fort durch eine Soziosomatologie (Lehre vom sozialen Körper). Da es ihm vor allem auf ein Kategoriensystem ankommt, das in gut umgrenzten und eingeordneten Begriffen alle Möglichkeiten des Beziehungsgewebes erfaßt, ist seine Beziehungslehre reicher an Grundbegriffen als die unsrige, die manche der bei P l e n g e einbezogenen Zusammenhänge den speziellen Soziologien oder der Sozialpsychologie überläßt. Auch besteht zwischen P 1 e n g e s und unseren Versuchen hauptsächlich der Unterschied, den wir immer noch am besten als den zwischen Statik (bei P l e n g e ) und Über soziale Prozesse: E d w a r d Alsworth R o s s : Principles of Sociology (New York, 2. Aufl. 1930, T h e C e n t u r y C o . ) ; deutsch: Das Buch der Gesellschaft (Karlsruhe 1926, G. Braun). Über die Beziehungslehre als Bestandteil seines soziologischen Gesamtsystems vgl.: J o h a n n P l e n g e : Als d r i t t e r Redner im Symposion (Zeitschr. f . Völkerpsychologie u. Soziologie V, 4); derselbe: Wie k o m m t die Soziologie zur Übersicht ihrer Probleme? (Archiv f . angewandte Soziologie, I I , 3) u n d : Johann Plenges Problemsystem der theoretischen Soziologie (Kölner Vierteljhsh. f . Soziologie V I I I , 3). 2 Diese kurzen Ausführungen über Plenges Arbeit stimmen mit unseren Bemerkungen im Artikel „Beziehungssoziologie" im Handwörterbuch der Soziologie wörtlich überein.
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Dynamik (bei uns) charakterisieren zu können glauben. P 1 e n g e s Tafeln der Beziehungslehre gehen vom „Bevölkerungsgewebe" aus, womit das gemeint ist, „was man eine Gesellschaft nennt". Innerhalb der Problematik des Beziehungsgewebes, das nach Ablösung von der mehr statistisch beachtlichen „Bevölkerung" entsteht, ergibt sich ein vierfaches Ganzes von Aufgaben: erstens die isolierte Beziehung, zweitens die durch Beziehungen zusammengehaltenen Gebilde (Mehrschaften, Gruppen), drittens die „Beziehungsfelder" der einzelnen Menschen, viertens die Gesamttatsache des Beziehungsgewebes in seiner Ganzheit. Die Lehre von der i s o l i e r t e n B e z i e h u n g ist von P 1 e n g e wohl erschöpfend, jedenfalls sehr beachtenswert ausgestaltet. Es ist nicht möglich, hier darüber Näheres zu berichten; die bloße unkommentierte Wiedergabe der gewählten Termini wäre eher irreführend als erläuternd. Die Beziehungslehre ist bei Plenge nicht bloß ein Bestandteil der Soziologie, sondern auch der Ontologie schlechtweg. In ihr gilt der Satz: „Unsere Wirklichkeit ist so weit wie unsere Beziehungen." „Indem schlechthin Beziehung im allerweitesten Sinne", lehrt P l e n g e , „die das Eine und das Andere verbindet, überall das Wirklichkeitsband dieser unserer Welt ist, gewinnen wir den in dieser Wirklichkeit gemäßen Grundbegriff der ,Synheteronomie', der, mitmenschlich erlebt und bejaht, die innerste Sittlichkeit der Gesellschaftslehre begründet: naturaliter christiana. Eben aus derselben Einsicht heraus ist eine B e z i e h u n g s w i r k l i c h k e i t von Grund aus d i a l e k t i s c h und p o 1 a r."
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Nachwort Wer wie der Verfasser dieses Büchleins bestrebt ist, eine bestimmte Schauweise und Methode, das, was man eine „Richtung" nennt, auszugestalten und zu handhaben, scheint sich in einen unvermeidlichen Widerspruch zu verwickeln. Er kann sich ja nur im Sinne dieser seiner „Richtung" betätigen, da er sie für fruchtbarer hält als andere Arbeitsweisen. Hätte er in dieser Hinsicht Zweifel, so müßte er seine Auffassungen zugunsten des ihm geeigneter erscheinenden Verfahrens aufgeben. Es folgt auch aus dieser Uberzeugung die Notwendigkeit, vor den Lesern und Hörern die Vorzüge, die er mit seinem Verfahren erlangt zu haben glaubt, so beweiskräftig und nachdrücklich, wie es ihm möglich ist, zu dokumentieren. Damit setzt sich ein solcher Forscher aber dem Verdachte des geistigen Hochmuts, der Engherzigkeit und Enggeistigkeit, der Unverträglichkeit und des Mangels an Gemeinsinn aus. Die Peinlichkeit dieses Anscheins ist noch drückender, wenn man zugleich das Verlangen hat, gerade zur Sammlung der so leicht auseinander strebenden geistigen Kräfte beizutragen und den unerfreulichen Schulstreit, der stets kleinlich wirkt und den vertrauensvollen Anfänger abschrecken muß, nicht zu vermehren, sondern zu vermindern. In diesem Widerspruche, der zwischen zwei gleich wichtigen Anforderungen besteht, gibt es nur einen Ausweg, der auch sonst im Leben die rechte Haltung bedeutet: Man soll klar, sachlich und ohne Übertreibung, aber auch ohne Duckmäuserei das, was man für richtig halten muß, aussprechen, zugleich aber erkennen und bekennen, daß die Wege der anderen (im speziellen die anderen „Richtungen") nicht minder Anspruch auf Geltung haben. Die Entscheidung liegt bei der Bewährung und bei der objektiven Kritik. Auch muß man wissen, daß sich verschiedene Denkweisen zumeist nicht radikal ausschließen, sondern ergänzen, daß die mit allen Generalisationen verknüpften Vergewaltigungen der Wirklichkeit dadurch abgeschwächt
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X. Die Lehre von den sozialen Beziehungen
werden, daß auf anderem Felde in anderer Weise verallgemeinert und isoliert wird. Audi in der Arbeit an der Soziologie muß man sowohl differenzieren wie integrieren. Die Fachrichtungen müssen in friedlichem Wettbewerbe ihre Eigentümlichkeiten pflegen, immer wieder überprüfen und vervollkommnen, zugleich aber das befruchtende Nachbarsdiaftsverhältnis untereinander so eng wie möglich gestalten. Die Freunde unserer Wissenschaft müssen erkennen können, daß es in ihr eine die Richtungen überragende Einheit der verbundenen „Fakultäten" gibt. Ebenso wie die Neigung, die eigene Arbeit als die einzig wahre Lehre hinzustellen, vom Übel ist, so falsch ist auch der so häufige Anspruch der völligen Neuheit der Arbeitsweise und der Optik des Autors. Es wird an seinen Schriften, wenn er nicht bloß Epigone und Nachbeter ist, manches neu, manches alt sein. Er wird Vorläufer und Wegbahner haben; er wird aber dies oder jenes anders sehen und anders sagen als sie. Nicht nur im Nebeneinander der gleichzeitig lebenden Gelehrten, sondern auch im Nacheinander der Generationen gibt es Zusammenhang u n d Besonderheit. Was die Beziehungslehre betrifft, schien es mir richtig zu sein, eher zuviel als zuwenig auszusprechen, worin ich mich früheren Forschern verpflichtet fühle. Ich bin mir bewußt, manchmal eine selbst erarbeitete Gedankenfolge oder eine bestimmte Terminologie lieber durch die eines anderen, verwandten Autors unter Hinweis auf ihn ersetzt, als die ältere Arbeit schweigend beiseite geschoben zu haben. Manches habe ich von Spencer, Simrnel, Waxweiler, Park und Ross gelernt und übernommen. Dagegen ist die oft geäußerte Behauptung, die heutigen deutschen Soziologen fußten alle auf Max Weber unrichtig. Die Grundgedanken der Beziehungslehre etwa habe ich bereits in meiner Spencerschrift im Jahre 1906 angedeutet, als ich noch kein Wort von Weber gelesen hatte. Als ich seine Werke kennen lernte, waren die wesentlichen Züge der Beziehungslehre bereits abgeschlossen.
149
Namenregister Abel 47, 85 Adler 42, 111, 123 Albredit 117 Anderson 72 Aristoteles 21 Augustinus 22 Bain 72 Baldwin 46 Barnes 47, 75 Barth 21, 28, 33, 34, 36, 44, 48, 116 Barker 66 Bastian 114 Becker 47, 84, 85, 94, 99, 129 von Beckerath 117 von Below 23 Blumer 85 Bodinus 24 Bogardus 46 Bossuet 24 Bouglé 46, 89, 91, 93, 94 Brandford 66, 69 Breysig 116 Brinkmann 20, 50, 116 Brown 65 Burckhardt 6 Biichèr 29 Burgess 70, 81, 85 Carli 24, 45 Carr-Saunders 66 Cattaneo 45 Chamberlain 67 Cheltsdiizki 24 Comte 20, 23, 24, 29, 32, 45, 55 ff., 88, 89, 100, 109, 117, 118 Cooley 74, 76, 78, 80 Cournot 45 Cumberland 20 Curtius 129 Darwin 103 Davis 46 D a v y 46 Demolins 69 Dewey 78 Dilthey 128 Dixon 66 Dodds 71 Dougall 46, 78 Duhring 108 Dunkmann 115
Dupréel 144 Duprat 46, 89 ff. Dürkheim 32, 45, 46, 86 ff. Ediert 117 Eichhorn 24, 29 Ellwood 46, 74, 78, 85 Espinas 45, 93 Eulenburg 116 Faris 70, 71 Farquharson 69 Fauconnet 46, 91 Ferguson 21, 56 Fichte 22, 23 Fouillée 46 Freyer 34, 115 Frisdieisen-Köhler 124 Geck 116 Geddes 66, 69 Geiger 81, 116 Gerloff 117 Gidding 25, 46, 70, 76 ff. Gillin 71, 78 Ginsberg 76, 77 Gobineau 114 Goldenweiser 78 Gothein 116 de Greef 45, 48, 94 Grünfeld 106 ff. Gumplowicz 101, 108, 114 Günther 116 Gurvitch 48, 92, 93, 98, 129 Gurvitch-Moore 92, 98 Guyau 93 Haeckel 103 Halbwachs 23, 91, 94 Hankins 60 Haurian 78 Hegel 23, 27, 99 ff., 118 Heraklit 21 Herbart 13, 101 Heyde 117 Hobbes 20, 22 Hobhouse 65 ff. Honigsheim 6, 116 House 85 Horkheimer 129 Hume 65 Hus 24
150 M a c l v e r 85 J a h n 117 K a n t , 22, 23, 42, 100, 110 Kantorowicz 116 Knies 24, 29 Kossitsch 116 Kroeber 7? Lamprecht 34 Laäki 67, 68 Latten 144 Lazarus 45, 106 Le Bon 93, 94 Lederer 116 Le Play 45, 66 ff. Levy-Brühl 37, 93 Levy-Strauß 92 Leontowitsch 116 von Lilienfeld 45, 101, 102 Linpinsel 116 Lippert 114 List 110 Litt 116 Littré 48 Lorenz 114 Loria 44 Lowie 78 Lundberg 72 Madiiavelli 24 Mandeville 20, 21 Malthus 117 Mannheim 6, 67, 115, 120 129, 133 M a r x 13, 45, 99 ff., 133 Maus, H e i n z 116 Mauss 46, 91, 93 Maunier 92 Meuter, H a n n a 116 Michels 116 Mill 45, 65 Miliar 65 von Mohl 12, 13, 122 Montesquieu 24 Mounier 94 Moore 48 92 Moreno 6, 81 Mühlmann 117 Müller, A d a m 27 Müller-Armatk 33, 117 Müller-Freienfels 142 Müller-Lyer 102 N i e b u h r 24, 29 Novalis 67 N o v i c o w 45
Ogburn 71, 79, 81 Oppenheimer 44, 59, 61, 106, 107, 108, 115, 116 O w e n 66 Pareto 46, 94, 95, 129 P a r k 70, 80, 85, 148 Parsons 85 Peters 116 Petty 20 Pieper 145 Plato 21, 22, 27 Plenge 109, 110, 115, 116, 120, 145, 146 P r i b r a m m 44 Puf.endorf 100 R a n k e 24, 29 R a t z e n h o f e r 46, 75, 99, 101, 105, 106, 108 von Reidienau, C h . 116 Renouvier 89 Richard 91 ff. Ridtert 119 Roberty 48 Rodbertus 108 Roscher 24 Ross 25, 46, 70, 78, 80, 81, 85, 145, 148 Rothe 101 Rousseau 21 Ruskin 70 St-Simon 23, 28, 56, 57 Salomon 56, 98, 99, 107 Sauermann 116 von Savigny 24, 29 Schaffte 32, 55, 73, 74, 90, 101 ff., 118 Sdieler 100, 119, 129, 133 Schelling 27, 101, 103 Schleiermacher 13, 101 Sdimoller 24, 29, 74, 103, 108, 116, 131 Shaftesbury Shils 47, 48, 81, 98 Sighele 45 Simmel 25, 33, 45, 46 ff., 99, 116, 120 ff., 132, 148 Skradi 24 Small 21, 24, 25, 35, 70, 74, 75, 76, 106 Smith 20, 21, 24, 65, 77 Solms, Ernst zu 116 Solms, Max 116 Sombart 20, 21, 34, 111, 116, 119, 120, 128, 130, 131 Sorokin 6, 44, 46, 47, 73, 80 ff., 92
151 Spann 22, 32, 103, 115, 116 Spencer 12, 23, 24, 35, 37, 45, 55, 57, 59 ff., 70 f., 89, 100 ff., 112, 114, 118, 123, 148 Spyckmann 123 Squillaces 44 von Stein 12, 23, 33, 101, 106, 107 Stein, Ludwig 99, 106, 108, 114, 122 Steinhoff 123 Steinmetz 55 Steinthal 45, 106 Stok 144 Stoltenberg 101, 114, 116, 135 Sumner 70, 72 Tarde 25, 45, 86 ff., 132 Tempie 20 Thibaut 24 Thomas v . Aquino 22 Thomas, W . J . 70, 78, 79, 85, 90 Thurnwald, Richard u. Hilde 37, 117 Tónnies 23, 25, 45, 46, 52, 102, 108, 116, 118, 120 von Treitschke 12, 23, 24, 29 Troeltsch 116 Tourgot 57 Uexküll 102
Vaerting, Math. 116 Vial 94 Vico 24 Vierkandt 37, 38, 46, 47, 118, 120, 132, 133 Waentig 107 Wagner 74, 108, 116 Wallas 66, 68 Walther 116 Ward 60, 64, 70, 71 ff., 77, 109 Waxweiler 45, 94, 124, 148 Weber, Alfred 34, 115, 116 Weber, Max 34, 47, 79, 89, 98, 99, 100, 116, 120, 122, 127 ff., 148 Weippert 117 Wessels 117 Westermardc 65, 66 von Wiese 23, 46, 52, 60, 83, 88, 94, 124 Wirth 85 Wißler 78 Wolf 100 Worms 45, 51, 86, 87, 90 ff. Wundt 44, 46 Ziegenfuß 116 Znaniecki 70, 79
152 DM Böhm, ff., Goethe. Grundzüge seines Lebens und Werkes. Mit 8 Bildern. 3. Aufl. 1944. IX, 280 S 4,50 Hartmann, N., Der Aufbau der realen Welt. Grundriß der allgemeinen Kategorienlehre. 2. Aufl. In Vorbereitung. —, Ethik. 3. Aufl. etwa 800 S 18,60 gebunden 20,00 —, Grundzüge
einer Metaphysik
der Erkenntnis.
4. Aufl. XVI, 572 S. Ganzleinen —, Das Problem des geistigen Seins. Untersudiungen zur Grundlegung der Geschichtsphilosophie und der Geisteswissenschaften. 2. Aufl. 1949 . 564 S. Halbleinen
22,00 24,00 18,00 20,00
Jaspers, K., Descartes und die Philosophie. 2. Aufl. 104 S. 1948 6,00 —, Nietzsche. Einführung in das Verständnis seines Philosophierens. з. unveränderte Aufl. 1949. 487 S. In Vorbereitung. —, Die geistige Situation der Zeit (1931). Unveränderter Abdruck der im Sommer 1932 bearbeiteten 5. Aufl. 1949. 232 S 2,40 (Sammlung Göschen N r . 1000). Kirn, P., Einführung in die Geschichtswissenschaft. (Sammlung Gösdien N r . 270).
1947. 132 S
2,40
Lebendige Soziologie. Schriften und Texte zum Studium der modernen Gesellschaft und der Gesellschaftslehre. Herausgegeben v.Werner Ziegenfuß. Ziegenfuß, W., Lenin. Soziologie und revolutionäre Aktion im politischen Geschehen. 1948. 166 S 6,00 —, Die Genossenschaften. 1948. 144 S 5,50 —, Augustin. Christliche Transzendenz in Gesellschaft und Geschichte 1948. 180 S 7,00 —, Gerhart Hauptmann. Dichtung und Gesellschaftslehre des bürgerlichen Humanismus. 1948. 182 S 7,00 —, Die bürgerliche Welt. 1949. 240 S 8,50 Mellerowicz, K., Allgemeine Betriebswirtschaftslehre. и. erweit. Aufl. 1948. 134 S —, 2. Band. 6. unveränd. Aufl. 1948. 123 S —, 3. Band. 6. unveränd. Aufl. 1948. 153 S (Sammlung Gösdien N r . 1008, 1153, 1154).
l . B a n d . 5. verbess. 2,40 2,40 2,40
Philosophenlexikon. Handwörterbuch der Philosophie nach Personen. Unter Mitwirkung von Gertrud Jung verfaßt und herausgegeben von Werner Ziegenfuß. 2 Bde. 1400 S. Bd. I (A—K) 1949. 640 S. Ganzleinen 30,00 Bd. II erscheint noch im Laufe des Jahres 1949.
VERLAG WALTER DE GRUYTER & C O . / B E R L I N W 35
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GOSCHEN neue
Bände
D M 2.40
A. Geisteswissenschaften Nr. 19 Nr. 30 Nr. 42 Nr. 59 Nr. 66 Nr. 70 Nr. 101 Nr. 125 Nr. 200 Nr. 238 Nr. 270 Nr. 279
Nr. 280 Nr. 500
Altheim, F., Römische Geschichte. I. Teil: Bis zur Schlacht bei Pydna. 1948. 123 S. Kleffner, W., Kartenkunde. 3. Aufl. 1950. 152 S Behn, F., Vorgeschichte Europas. 7. Aufl. Mit 47 Abb. 1949. 125 S. Krähe, H., Indogermanische Sprachwissenschaft. 2. Aufl. 1948. 134 S. Berneker, E., u. M. Vasmer, Russische Grammatik. 6., unveränderte Aufl. 1947. 155 S. Nestle, W., Geschichte der griechischen Literatur. 1. Von den Anfängen bis auf Alexander d. G r . 2., verb. Aufl. Neudruck. 1950, 144 S. Wiese, L. v., Soziologie. Geschichte und Hauptprobleme. 4. Aufl. 1950. 148 S. Vossler, K., Italienische Literaturgeschichte. Unveränderter Nachdruck der 1927 erschienenen 4., durchges. und verbesserten Aufl. 1948. 148 S. Gottschald, M., Rechtschreibungswörterbuch. In Vorbereitung. Krähe, H., Germanische Sprachwissenschaft. Bd. I. 2. Aufl. 1948. 127 S. Kirn, P., Einführung in die Geschichtswissenschaft. 1947. 132 S. Jacob, K., Quellenkunde der deutschen Geschichte im Mittelalter (bis zur Mitte des 15. Jahrh.). I: Einleitung. Allgemeiner Teil. Die Zeit der Karolinger. 5. Aufl. 1949. 1 1 8 S. —•—, II: Die Kaiserzeit (918—-1250). 4. Aufl. 1949. 127 S. Simmel, G., Hauptprobleme der Philosophie. 7., unveränderte Aufl. 1950. In Vorbereitung.
Nr. 557 Nr. 564 Nr. 565 Nr. 566 Nr. 573 Nr. 677 Nr. 770 Nr. 780 Nr. 781 Nr. 807 Nr. 929 Nr. iooo Nr. 1008 Nr. 1031 Nr. 1034 Nr. 1045 Nr. 1065 Nr. 1085
Nestle, W., Geschichte der griechischen Literatur. II. Von Alexander d. Gr. bis zum Ausgang der Antike. 2. verbesserte Aufl. 1945. 128 S. Behn, F., Kultur der Urzeit. Bd. I. Steinzeit. 3. Aufl. In Vorbereitung. , Bd. II. Bronzezeit. 4. Aufl. In Vorbereitung. , Bd. I I I . Eisenzeit. 4. Aufl. In Vorbereitung. Helbok, A., Die Ortsnamen im Deutschen. Durchgesehener Neudruck. Mit 6 Karten. 1944. 126 S. Altheim, F., Römische Geschichte. II. Teil: Bis zur Begründung des Prinzipats. 1948. 141 S. Beckli, H., Buddhismus (Buddha und seine Lehre). II. Die Lehre. 3. Aufl. 1928. 135 S. Krähe,H., Germanische Sprachwissenschaft.Bd. II. 2. Aufl. 1948. 140 S. Weigert, H., Stilkunde. II. Spätmittelalter. Neuzeit. Neudruck. Mit 84 Abb. 1944. 141 S. Kropp, G., Erkenntnistheorie. I. Allgemeine Grundlegung. 1950. 143 S. Schirmer, A., Deutsche Wortkunde. 3. Aufl. 1949. 109 S. Jaspers, K., Die geistige Situation der Zeit (1931). Zweiter unveränderter Abdruck der im Sommer 1932 bearbeiteten 5. Aufl. 194.9. 2 3 2 S. Mellerowicz, K., Allgemeine Betriebswirtschaftslehre. 1. Bd. 6., unveränderte Aufl. 1948. 134 S. Apel, M., Philosophisches Wörterbuch. 3. Aufl. In Vorbereitung. Kranefeldt, W. M., Therapeutische Psychologie. Analytische Psychologie (Freud, Adler, J u n g ) . 2. Aufl. 1950. Ip Vorbereitung. Schubert, H., Die Technik des Klavierspiels. 2. Aufl. 1946. 132 S. Haller, J., Von den Karolingern zu den Staufern. Die altdeutsche Kaiserzeit (900—1250). Mit 4 Karten. 3. Aufl. 1944. 141 S. Lietzmann, H., Zeitrechnung der römischen Kaiserzeit, des Mittelalters und der Neuzeit für die Jahre 1—2000 n.Chr. Neudruck. 1946. 127 S. -
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N r . 1086 M ü l l e r , G . , D e u t s c h e s D i c h t e n und Denken von» Mittelalter z u r N e u z e i t ( 1 2 7 0 — 1 7 0 0 ) . 2. A u f l . ! 949' 5 9 S. Nr. 1094 H e r n r i e d , R . , S y s t e m a t i s c h e M o d u l a t i o n . 2. A u f l . In Vorbereitung. N r . 1096 V i e t o r , K . , D e u t s c h e s D i c h t e n und D e n k e n . V o n der A u f k l ä r u n g bis z u m R e a l i s m u s ( 1 7 0 0 — 1 8 9 0 ) . 2. A u f l . 1949. 156 S. Nr. 1 1 1 5 R a n k e , F., Altnordisches E l e m e n t a r b u c h . Neudruck. 1949. 146 S. Nr. 1 1 1 6 M e i ß n e r , P., E n g l i s c h e L i t e r a t u r g e s c h i c h t e . II. V o n der Renaissance bis zur A u f k l ä r u n g . D u r c h gesehener N e u d r u c k . 1944. 139 S. N r . 1 1 1 7 H a l l e r , J., D e r Eintritt der G e r m a n e n in die G e schichte. M i t sechs K a r t e n s k i z z e n . 2., verbess. A u f l . 1944. 1 1 9 S. Nr. 1122 Feist, H . , Sprechen und S p r a c h p f l e g e . M i t 25 A b b . 1938. 107 S. Nr. 1 1 2 4 M e i ß n e r , P., E n g l i s c h e L i t e r a t u r g e s c h i c h t e . III. R o m a n t i k und Victorianismus. D u r c h g e s e h e n e r N e u d r u c k . 1944. 150 S. Nr. 1 1 2 5 L e h n e r t , M . , A l t e n g l i s c h e s E l e m e n t a r b u c h . 2., verbesserte u n d v e r m e h r t e A u f l . 1950. 176 S . Nr. 1130 D i b e l i u s , 141 S.
M.,
Jesus.
2. A u f l .
Neudruck.
1949.
N r . 1 1 3 5 L e h n e r t , M . , B e o w u l f . 2., verbesserte A u f l . 1949. ' 3 5 S. N r . 1 1 3 6 M e i ß n e r , P., E n g l i s c h e L i t e r a t u r g e s c h i c h t e . I\. D a s 20. J a h r h u n d e r t . D u r c h g e s e h e n e r N e u d r u c k . 1944. 157 S. Nr. 1148 P e p p i n g , E . , D e r P o l y p h o n e Satz. I. D e r c a n t u s f i r m u s Satz. 2. A u f l . 1950 224 S. Nr. 1149 Wiesner, J., V o r - und Frühzeit der Mittelmeerländer. I. D a s östliche M i t t e l m e e r . M i t einer T e x t a b b . und 7 T a f e l n . 1943. 177 S. Nr. 1 1 5 0
, I I . D a s westliche M i t t e i m e e r . M i t 3 T e x t a b b . u n d 7 T a f e l n . 1943. 129 S.
N r . 1 1 5 3 M e l l e r o w i c z , K . , A l l g e m e i n e Betriebswirtschaftslehre. 2. Bd. 6. u n v e r ä n d e r t e A u f l . 1948. 123 S. Nr. 1 1 5 4
, 3. Bd.
6. u n v e r ä n d e r t e A u f l . -
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1948.
153 S.
B. Naturwissenschaften und Technik Nr. 3 Nr. 29 Nr. 37 Nr. 38 Nr. 47 N r . 51 Nr. 71 Nr. 87 Nr. 88 Nr. 136 Nr. 142 Nr. 143 Nr. 146 Nr. 147 Nr. 173 Nr. 180
Ende, E. vom, Die Maschinenelemente. 2., verbesserte Aufl. Mit 175 Fig. und 12 Tafeln. 1950. I n Vorbereitung. Brauns, R., u. K. F. Chudoba, Mineralogie. 8., neubearbeitete Aufl. Mit 125 Textfiguren und 9 Abb. auf einer Tafel. 1943. 143 S. Klemm, W., Anorganische Chemie. 6. Aufl. Mit 18 Abb. 1944. 184 'S. Schlenk, W., Organische Chemie. 5. Aufl. Mit 17 F i S- ! 949- 239 S. Fischer, P. B., Arithmetik. 2. Aufl. 1948. 152 S. Ringleb, F., Mathematische Formelsammlung. 5., verbesserte Aufl. Mit 57 Fig. 1949. 274 S. Schulze, W., Allgemeine und physikalische Chemie. I. Teil. 3., durchgesehene Aufl. Mit 22 Fig. 1949. 146 S. Witting, «A.., Differentialrechnung. 3., neubearb. Aufl. Mit 95 Fig. und 200 Beispielen. Durchgesehener Neudruck. 1949. 201 S. —, Integralrechnung. 2., verbesserte Aufl. Durchgesehener Neudruck. Mit 62 Fig. und 190 Beispielen. 1949. 176 S. Mahler, G., Physikalische Formelsammlung. 8., verbess. Aufl. 1950. 153 S. I n Vorbereitung. Haussner, R., Darstellende Geometrie. 1. Teil: Elemente, Ebenflächige Gebilde. 6., unveränderte Aufl. Mit 110 Fig. im Text. 1947. 207 S. , 2 . Teil: Perspektive ebener Gebilde, Kegelschnitte. 5,. unveränderte Aufl. Mit 88 Fig. im Text. 1947. 168 S. Witting, A., Repetitorium und Aufgabensammlung zur Differentialrechnung. 2. Aufl. Neudruck. 1949. 122 S. —-, Repetitorium und Aufgabensammlung zur Integralrechnung. 2. Aufl. Neudruck. 1949. 1 2 1 S . Bruhns, W., u. P. Ramdohr, Petrographie. 3., durchgesehene Aufl. Mit 10 Figuren. 1949. 117 S. Böhm, F., Versicherungsmäthematik. I. Elemente der Versicherungsrechnung. 2., vermehrte und verbesserte Aufl. Durchgesehener Neudruck. 1946. 151 S. -
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Nr. 445 Nr. 468
Nr. 469
Nr. 483
Nr. 585
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Nr. 668 Nr. 691
N r . 692 N r . 698 Nr. 703 Nr. 711 Nr. 718 Nr. 768
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Nr. 837 Nr. 862
Nr. 877 Nr. 878 Nr. 881 Nr. 931 Nr. 932 Nr. 952 Nr. 972 Nr, 97^ Nr. 984 Nr. 999 Nr. 1002
Nr. 1057 Nr. 1070 Nr. 1082 Nr. 1084 Nr. 1092
Baumgartner, L., Gruppentheorie. 2. Aufl. Mit 6 Fig. 1949. 1 1 5 S. Werkmeister, P., Vermessungskunde. I I I . Trigonometrische und barometrische ohenmessung. Tachvmetrie und Topographie. fc>. Aufl. Mit 64 Fig. 1949. 147 S. Knopp, K., Aufgabensammlung zur Funktionentheorie. I. Aufgaben zur elementaren Funktionentheorie. 4. A u f 1949. 13") S. , I I . Aufgaben zur höheren Funktionentheorie. 4. Aufl. 1949. 1 5 1 S. Humburg, K., Die Gleichstrommaschine II. Mit 38 Abb. Durchgesehener Neudruck. 194g. 98 S. Hasse, H., Höhere Algebra I. Lineare Gleichungen. 3. Aufl. 1950. 160 S. In Vorbereitung. , I I . Gleichungen hol < ren Grades. 3. Aufl. M i t 5 Fig. 1950. 158 S. In Vorbereitung. Schäfer, W., Transformatoren. 2. Aufl. Mit 74 A b b . 1949. 128 S. Herter, K., Vergleichende Physiologie der Tiere I: Stoff- und Energiewechsel. 3. Aufl. Mit 64 Abb. 195°- 1 5 5 S , 1 1 . : Bewegung und Reizerscheinungen. 3. Aufl. Mit 1 1 0 A b b . 1950. 148 S Graf, O., Die wichtigsten Baustoffe des Hoch- u. Tiefbaues. 3., verb Aufl. Mit 58 Abb. 1947. 1 2 6 S . K a m k e , E., Mengenlehre. 2., durchges. Aufl. Mit 6 Fig. 1947. 160 S. Jander, G., u d K. F. Jahr, Maßanalyse. Theorie und Praxis der klassischen und der elektrochemischen Titrierverfahrqn. Band 2. 5. Aufl. Mit 24 Fig. 1948. 139 S. Roth, W. A.,Thermochemie. 2., verbess. Aufl. 1947. 109 S. Sauter, F., Differentialgleichungen der Physik. 2. Aufl. Mit 16 Fig. 1950. 148 S. Hasse, H., Aufgabensammlung zur höheren Algebra. 2. Aufl. 1950. In Vorbereitung. Nußelt, W., Technische Thermodynamik. I.. Grundlagen. 3., verbess. Aufl. M i t 71 Abb. 1950 144 S. In Vorbereitung. Wickop, W., Fenster, Türen, Tore aus Holz und Eisen. 3., überarbeitete und ergänzte Aufl. Mit 96 A b b . 1949. 154 S. -
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Walter de Gruyter & Co., Berlin W 35 (386) MDV, Druckerei Luckenwalde 121. 120 000. 3. 50.