Soziologie: Geschichte und Hauptprobleme [3., wenig veränd. Auflage. Reprint 2011] 9783111369938, 9783111012926


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German Pages 164 Year 1947

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Table of contents :
Vorbemerkungen
Kapitel I: Einleitung : Soziologie als selbständige Einzelwissenschaft vom zwischenmenschlichen Geschehen
Kapitel II: Die geschichtlichen Ausgangspunkte der Soziologie als Wissenschaft
Kapitel III: Die Hauptrichtungen der Soziologie
Kapitel IV: Die realistisch-systematische Soziologie
Kapitel V: Comte und Spencer
Kapitel VI: Die britische und die amerikanische Soziologie
Kapitel VII: Die Soziologie in Frankreich nach Comtes Tode
Kapitel VIII: Die ältere (enzyklopädische) Soziologie in Deutschland
Kapitel IX: Die jüngere Soziologie in Deutschland
Kapitel X: Die Lehre von den sozialen Beziehungen und den sozialen Gebilden (Beziehungslehre)
Namenregister
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Soziologie: Geschichte und Hauptprobleme [3., wenig veränd. Auflage. Reprint 2011]
 9783111369938, 9783111012926

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Sammlung Göschen

Band

101

Soziologie Geschichte und Hauptprobleme

Von Dr. phil., Dr. jur. h. c. Leopold von "Wiese o. Professor der wlrtsch. Staatswissenschaften und der Soziologie an der Universität Köln

Dritte, wenig veränderte Auflage

Walter

de G r u y t e r

& Co.

vormals G. J . Göschen'sche Verlagshandlung J . Guttentag, Verlagsbuchhandlung . Georg Reimer . Karl J . Trübner . Veit & Comp. Berlin

1947

A l l e R e c h t e , i n s b e s o n d e r e das Ü b e r s e t z u n g s r e c h t , • o n der V e r l a g s h a n d l u n g v o r b e h a l t e n

Archiv-Nr. 110 101 Druck von Erich Spandel, Nürnberg: Printed in Germany

Inhaltsübersicht Vorbemerkungen

4

K a p i t e l I: Einleitung: Soziologie als selbständige Einzelwissenschaft vom zwischenmenschlichen Geschehen

.

5

K a p i t e l II: Die geschichtlichen Ausgangspunkte der Soziologie als Wissenschaft

19

K a p i t e l III: Die Hauptrichtungen der Soziologie . . . .

33

K a p i t e l IV: Die realistisch-systematische Soziologie

58

. .

K a p i t e l V: Comte und Spencer

67

Κ a ρ i t el VI: Die britische und die amerikanische Soziolog i θ 77 K a p i t e l VII: Die Soziologie in Frankreich nach Comtes Tode

95

K a p i t e l VIII: Die ältere (enzyklopädische) Soziologie in Deutschland

105

K a p i t e l I X : Die jüngere Soziologie in Deutschland . . . 125 K a p i t e l X: Die Lehre von den sozialen Beziehungen und den sozialen Gebilden (Beziehungslehre) Namenregister

. .

.

.144 163

Vorbemerkungen zur dritten Auflage In den biographischen und literaturgeschichtlichen Mitteilungen, die die letzten zwanzig Jahre betreffen, wäre begreiflicherweise an der vor 15 Jahren erschienenen zweiten Auflage manches zu ergänzen und als überholt zu streichen gewesen. In dieser Hinsicht habe ich in der Tat einiges geändert. Aber es konnte nur in knappstem Ausmaße geschehen. Hinzu kam, daß ich seit Kriegsbeginn im Gegensatz zu den letzten Jahrzehnten vor 1939 viele persönliche Verbindungen eingebüßt habe, aber auch die literarischen Unterrichtungsmittel in steigendem Maße entbehren mußte. Nachdem ich den größeren Teil meiner eigenen Bücher und Aufzeichnungen verlören hatte und auch die früher benutzten Bibliotheken unzugänglich geworden waren, konnte ich mich fast nur noch auf mein (bisweilen trügendes) Gedächtnis verlassen. Deshalb muß ich bitten, etwaige Irrtümer und Lücken nachsichtig zu beurteilen. Auch habe ich als Schlußjahr für die geschichtlichen und biographischen Notizen das Jahr 1938 gesetzt; die seitdem weiterschreitende Entwicklung vermochte ich aus Mangel an Orientierungsmöglichkeiten nicht mehr zu überblicken: Allerdings fyat der Krieg überall unsrer Wissenschaft so viele Hemmungen gebracht, daß vermutlich das Gesamtbild gegenüber 1938 nicht allzu verändert sein wird. Aber auch die Jahre 1931 bis 1938 konnte ich nur sehr Bummarisch berücksichtigen. Ich bitte darauf hinweisen zu dürfen, daß an zwei anderen Stellen Ergänzungen über diese Jahre vorhanden sind, und zwar in meiner Schrift „System der allgemeinen Soziologie", 2. Aufl. (München und Leipzig 1933, Duncker & Humblot) und in meinem Beitrage zur Festschrift zu F. Tönnies' achtzigstem Geburtstage „Reine und angewandte Soziologie" (Leipzig 1936, H. Buske). L. v . Wiese

K a p i t e l

I

Einleitung Soziologie

als selbständige Einzelwissenschaft zwischenmenschlichen Geschehen

vom

Im folgenden wird unter Soziologie oder Gesellschaftslehre, soweit nicht die Versenkung in ihre bisherige Geschichte zu einer weiteren Fassung ihres Wesens nötigt, eine s e l b s t ä n d i g e E i n z e l w i s s e n s c h a f t verstanden, deren Aufgabe genau zu bestimmen sein wird. Damit ist schon ausgesprochen, daß wir die Soziologie nicht als einen Zweig der Philosophie (als Sozialphilosophie), auch nicht als eine Universal- oder enzyklopädische Wissenschaft auffassen. Diesen Universalcharakter wiederum könnte sie in verschiedenem Sinne besitzen: sie könnte als Zusammenfassung sämtlicher Sozialwissenschaften aufgefaßt werden, die alle Ergebnisse in sich vereinigte, welche den Sozialwissenschaften insgesamt gemein sind; sie könnte ferner unter Beiseitelassung des Sozialen in den Tier- und Pflanzenreichen als die allgemeinste Wissenschaft vom gesellig lebenden Menschen erscheinen, also entweder geistes- und naturwissenschaftliche oder bloß geisteswissenschaftliche oder bloß naturwissenschaftliche Anthropologie schlechtweg sein; sie könnte schließlich Kosmologie unter Hervorhebung der Menschensphäre sein, dergestalt, daß die Eingeordnetheit der menschlichen Gesell-

6

I. Einleitung: Soziologie als Einzelwissenschaft

schaft in die Gesamtvorgänge des Weltalls dargetan wird. Wir werden noch zu zeigen haben, daß sowohl die sozialphilosophische wie jede der drei Arten von enzyklopädischer Behandlung der Wissenschaft von der Gesellschaft versucht, ja, daß alle diese Betrachtungsweisen in einem Riesenkomplexe verknüpft worden sind, und daß man auch dafür den Namen Soziologie gewählt hat. Demgegenüber soll jedoch hier die Soziologie als E i n z e l w i s s e n s c h a f t aufgefaßt werden,dieneben anderen sozialen Einzelwissenschaften eine arteigene, eng zu fassende Fragestellung auf weist. Diese Fragestellung muß sich von der der anderen Sozialwissenschaften deutlich unterscheiden lassen, so daß die Soziologie als selbständige Wissenschaft zu fassen ist, wenn sie auch als Angehörige des Bundes aller Sozial·wissenschaften, speziell aller Sozialwissenschaften vom Menschen in dichten, noch zu charakterisierenden Nachbarschaftsund Ergänzungsverhältnissen zu ihnen steht. Schließlich liegt anderseits in unserer vorläufigen Einordnung bereits enthalten, daß wir sie nicht bloß als eine Verfahrensweise oder lediglich als einen Problemkreis im Rahmen anderer Wissenschaf ten auffassen, sondern in erster Linie und unabhängig von dem Umstände, daß es auch soziologische „Methoden" in anderen Disziplinen gibt, als eine Wissenschaft. Das als Grundlage einer ersten Verständigung hier auszusprechen, ist angesichts der in der Gegenwart so beliebten Vermengungen und Grenzverschiebungen wichtig. Der fruchtbarste Zustand der Organisation der Gesamtheit aller Wissenschaften ist dann gegeben,

I. Einleitung: Soziologie als Einzel wissensch aft

7

wenn jede einzelne ihren" eigenen Problemkreis, ihre eigene Betrachtungsweise eines Objekts, das sie als solches mit anderen Wissenschaften teilen kann, und eine spezifische, nur ihr eigene Methode besitzt. Jede muß eine grundlegende Fragestellung auf weisen, die nicht schon bei anderen Disziplinen besteht; sonst ist sie überflüssig. Diese klaren Scheidungen bilden aber grade die Voraussetzung für ihren (nicht minder wünschenswerten) Zusammenhang. Jede übernimmt Forschungsergebnisse (im Vertrauen auf das einwandfreie Verfahren der Nachbarin) als Material für eigene Zwecke, hat auch oft in abgeleiteten Problemen zweiter und dritter Ordnung eine gemeinsame Fragestellung mit anderen Wissenschaften. Eine Wegstrecke lang mögen vorübergehend die Aufgaben gemeinsam sein; danach erzwingt aber die andere Grundfrage, deren entscheidender Anspruch nie aufgegeben werden darf, eine andere Einordnung und andere Verwendung der Ergebnisse. Oft schneiden sich die Ebenen der verschiedenen Wissenschaften. Immer wieder verwendet man, wie gesagt, Ergebnisse anderer Disziplinen; aber diese Resultate bedeuten im Rahmen der von uns als Ausgang benutzten Wissenschaft etwas anderes. Unsere erste Behauptung über die Fachwissenschaft Soziologie geht also dahin: sie hat ihre eigene „Ebene", die sich mit keiner der anderen Sozialwissenschaften deckt, aber gleichsam durch sie hindurchführt. Dieser unserer Grundthese stehen vier Behauptungen entgegen, die zu prüfen sind: 1. Es gebe keine solche eigene Wissenschaftsebene (Disziplin) Soziologie, sondern nur eine soziologische

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I. Einleitung: Soziologie als Einzelwissenschaft

B e t r a c h t u n g s w e i s e in verschiedenen Wissenschaften. Sie'bestehe darin, dass man bei der speziellen Problematik der einen oder anderen Wissenschaft gelegentlich oder auch vorwiegend auf die menschliche Gesellschaft oder einzelne gesellschaftliche Erscheinungen (wie etwa die Klasse) Bezug nehme. So gebe es Soziologisches in der Jurisprudenz, Psychologie, Völkerkunde, Sprach-, Literaturgeschichte, Sozialökonomik, Kunstwissenschaft, vergleichenden Religionswissenschaft usw.; aber auch in den Naturwissenschaften bis zur Physik. Oft werden diese Problemkreise oder diese Optiken fälschlich als soziologische Methoden bezeichnet. Da diese soziologischen Teilausschnitte in anderen Wissenschaften umfangreich und sehr häufig geworden sind, so kann man von einem gewissen Soziologismus in den modernen Wissenschaften, besonders in den Geisteswissenschaften reden. Aber stets müßte doch diese häufige Bezugnahme auf die „menschliche Gesellschaft" voraussetzen, daß man genau wüßte, was diese Gesellschaft eigentlich ist. Das ist aber keineswegs der Fall. Es besteht nur ein sehr vages Vorurteil, daß man es wisse. Es fließt aus irrigen Annahmen, nämlich entweder aus dem Glauben, die menschliche Gesellschaft biete kein Problem, sondern sei eine einfache Selbstverständlichkeit, oder es ergebe sich ihr Wesen aus der eigenen Wissenschaft (so nebenher), oder die vorausgehenden Forschungen oder Spekulationen hätten es schon hinreichend festgestellt. Alle diese Annahmen sind, wie gesagt, irrig. 2. Man gelange zur Erkenntnis der Gesellschaft durch Addition der Ergebnisse der übrigen sozialen Einzelwissenschaften. Auch das ist ein Irrtum. Der Polyhistor ist

I. Einleitung: Soziologie als Einzelwissenach aft

9

am weitesten von diesem Ziele entfernt. Die übrigen Sozialwissenschaften befassen sich mit den sachlichen E r g e b n i s s e n des gesellschaftlichen Lebens. Wenn man aber Produkte häuft, kann man noch lange nichts über die Produzenten aussagen. (Das ist auch der Fehler einer heute oft als „Kultursoziologie" bezeichneten modernen Richtung der Kulturwissenschaft.) 3. Soziologie sei dasselbe wie systematisierte Geschichtswissenschaft. Am Verhältnisse von Gesellschaftslehre und Historie zeigt sich in der Tat besonders deutlich die gegenseitige Ergänzung durch Geben und Nehmen. Aber die Häufung chronologisch geordneter Tatsachen gewährt noch keine Erkenntnis der Gesellschaft. Hier fehlt noch ein entscheidender Abstraktionsvorgang, der erst aus der Wiedergabe des Geschehenen Erkenntnis des Zusammenhangs der in die Geschehnisse verwickelten Menschen schafft. 4. Die Ebene Soziologie liege völlig in der größeren Ebene Philosophie. — Zuzugeben ist: die gleichsam über allen Wissenschaften stehende Philosophie kann jede für den menschlichen Verstand greifbare Erscheinung, also auch das Phänomen: menschliche Gesellschaft vor ihren Thron zitieren. Ferner: rechnet man zur Philosophie, wie man wohl muß, Erkenntniskritik und Logik, so entnimmt ihr eine theoretische Wissenschaft wie die Soziologie das eigene Apriori. Insoweit ist die Soziologie wie jede andere Wissenschaft in der Ordnungslehre, Philosophie genannt, eingebettet. Schließlich ist anzuerkennen : es gibt eine Metaphysik der Gesellschaft, eine Metasoziologie, die mit letzten Fragen des Zusammenhangs zwischen den Menschen ringen müß und mag.

10

I. Einleitung: Soziologie als Einzelwissenschaft

Aber dieser Zweig der Philosophie, der in Spekulation, in Deutung des letzten metaphysischen Sinns und in richtender Bewertung besteht, sollte niemals mit der auf äußerer und innerer Erfahrung beruhenden, auf Beweis gerichteten Fragestellung der Einzelwissenschaft Soziologie vermengt werden. Heute wie zu allen Zeiten sind sehr viele Lehren, die als Philosophie präsentiert werden, anspruchsvoll ins Allgemeingültige erhobene Subjektivismen, sogenannte Weltanschauungen, verhüllte Normen, die man als Joch den anderen Menschen auflegen möchte. Es werden Glaubensbekenntnisse vorgebracht, die sich aber nicht als solche kundgeben. Auf diese Weise erfährt man nicht, was die Gesellschaft wirklich ist, sondern in der Kegel nur, wie der Prophet die Gesellschaft gern haben möchte. Der eigentliche Makel dieses Verfahrens liegt darin, daß sich der Prophet nicht als solchen zu erlernen gibt. Wir kommen zu dem Ergebnisse: Es ist richtig und erfreulich, daß die Nachbarwissenschaften der Soziologie viele Einzelheiten als Material zu bieten haben. Aber keine von ihnen beantwortet die Grundfrage: was hat es mit der Gesellschaft f ü r eine Bewandtnis ? Es ist auch erfreulich, daß es neben so vielen Spezialisten auch Universalisten und Polyhistoren gibt; aber was sie geben, führt von unserer Fragestellung ab. Drittens läßt sich feststellen, daß ohne Geschichtskenntnis und Geschichtsberücksichtigung nur sehr Allgemeines, Rahmenhaftes über die Gesellschaft ausgesagt werden kann. Die Füllung gewährt einmal die Geschichtsforschung, wenn ihre Ergebnisse kritisch (sehr kritisch) und mit geschickter Abstraktion behandelt werden, und zweitens

I. Einleitung: Soziologie als Einzelwissenschaft

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nicht minder die Beobachtung des Nebeneinander in der Gegenwart. Wir haben viertens ausgesprochen, daß die Philosophie zu oft die Neigung auf weist, an die Stelle des beobachteten Objekts eine Geistererscheinung zu setzen. Das ist abzulehnen. Dort aber (wäre noch ergänzend zu sagen), wo sie die Empirie nicht verachtet, sondern sich auf die systematisierte Wiedergabe von beweisbaren Erfahrungen beschränkt, wie dies S p e n c e r zu tun bestrebt war, vernachlässigt die Philosophie ihre eigene, anders geartete Aufgabe zugunsten einer Zielsetzung, die sie den eigentlichen Wissenschaften überlassen sollte. Auf dem Gesamtfelde der Wissenschaften sollte deutliche Arbeitsteilung bestehen. Jeder arbeite in seinem Garten! Von den Früchten reiche er manches über den Zaun; auch Samen begehre er vom Nachbarn. Aber jede Disziplin bedarf ihres eigenen Bodens. Wer die Geschichte anderer Wissenschaften — etwa die der Sozialökonomik —· kennt, wird keineswegs darüber erstaunt sein, daß es auch in der Soziologie sehr lange dauert, bis die Freilegung einer eigenen Problematik unserer Wissenschaft erfolgt. Sie hat eine lange Vorgeschichte, in der in Einzelheiten, wie das oft der Fall ist, Hervorragendes geleistet worden ist. Doch zeigt sich in der Gesellschaftslehre besonders deutlich, daß die Neigung, die (zunächst zu unklar geschaute) eigene Problematik in fremde Rahmenzusammenhänge einzufügen, sehr groß ist. Noch heute machen manche Autoren nicht einmal den Versuch, Aufgabenscheidungen vorzunehmen; sie behandeln die Aufschrift „Soziologie" wie einen ungeschützten „markenfreien Artikel",

12

I. Einleitung: Soziologie ale Einzelwiasenechaft

dessen Namen man beliebig benutzen könne. Vor hundert bis vor achtzig Jahren verstanden in Deutschland Robert von Mohl, Lorenz von Stein, H e i n r i c h v o n T r e i t s c h k e und andere unter Gesellschaftslehre die Wissenschaft von der „bürgerlichen Gesellschaft", die sie sich als e t w a s i n n e r h a l b d e r S t a a t s o r d n u n g vorstellten; tatsächlich war das, was sie gaben, theoretische Politik. Die C o m t e - S p e n c e r Schule verstand wieder unter Soziologie eine Abart der Biologie einerseits, der Philosophie anderseits; aus dieser Verquickung von Biologie und Soziologie entstanden die später mit Recht viel getadelten „organizistischen" Analogien, bei denen man Erkenntnisse über das gesellschaftliche Leben aus der Konstruktion eines sozialen Organismus abzuleiten suchte, der nach denselben Baugesetzen wie der jLeib geschaffen sei. Bei M a r x hingegen ist Soziologie en£ mit Sozialökonomik verflochten. D i e R o m a n t i k e r , denen ihrem ganzen Wesennach klare begriff liehe Scheidungen verhaßt waren, mischten Volkskunde, Ethik, Ästhetik und Politik. S c h l e i e r m a c h e r , H e r b a r t und andere deutsche Schriftsteller der ersten Hälfte des vorigen Jahrhunderts, die uns heute als Soziologen / vorgestellt werden, gaben schließlich in Wahrheit im Rahmen ihrer Philosophie und Psychologie geisteswissenschaftliche Anthropologie. Heute ist die Vermengung mit Sozialpsychologie häufig. Darüber haben wir an anderer Stelle 1 ) kurz gesagt: ,,Alle Psychologie befaßt sich aber (oder sollte es wenigstens t u n ) mit seelischen Prozessen, also mit !) Vgl. Artikel „Soziologie" In der 4. Aufl. des Wörterbuchs der Volkswirtschaft, Jena 1931 ff.

I. Einleitung: Soziologie ale Einzelwieeenflchaft

13

inneren Erfahrungen, während der Soziologie die Annahme zugrunde liegen muß (die vielleicht metaphysisch eine Fiktion ist, aber die selbstverständliche Voraussetzung aller Art Praxis bildet), daß es eine Außensphäre des Daseins, einen interpersonalen (nicht bloß intermentalen) Zusammenhang gibt, und daß das Soziale zu dem „Außen" des Menschenlebens gehört, also seine Erscheinungen als äußere Tatsachen genommen werden müssen, die nicht in unserer Seele sind. Freilich ist es zur Erklärung dieser Sphäre äußeren Geschehens sehr oft notwendig, auf seelische Vorgänge einzugeben, so daß also auch in der Soziologie oft von Seele und Geist zu Sprechen ist. Entscheidend für die Zuordnung eines Problemkreises im Reiche der Wissenschaft ist aber nur die Hauptfragestellung. Ob zur Findung der Antwort in alle möglichen Nachbargebiete abgeschweift werden muß, kann nicht maßgebend sein. Seelische Erscheinungen gehören sowohl zum Stoffe der Soziologie wie der Psychologie; dort, um den Zusammenhang zwischen Menschen, hier, um den Zusammenhang seelischer Vorgänge, das Innenleben der einzelnen Menschen zu erklären." Vermengungen in den entsprechenden Grundfragestellungen verhindern die Klarheit der Erkenntnis. Bei Wissenschaften, die sich mit Dingen aus der Welt der sinnlich wahrnehmbaren Körper befassen, ist dieser Fehler nicht so leicht möglich. Ehe man körperliche Dinge vermengen kann, muß man sie einzeln haben und greifen. I m Geistigen aber können wir ein Gemengsei aus teilweise leidlich klaren, teilweise ganz schemenhaften Vorstellungen schaffen, wobei däs Mischungsergebnis bisweilen ziemlich konkret erscheinen

14

I. Einleitung: Soziologie als Einzelwissenschaft

mag, weil eben dieses Produkt der Wirklichkeit nahe kommt. Es ist ihr abgelesen ; a l l e E r l e b n i s s e s i n d a b e r höchst zusammengesetzte Mischgebilde. Aus diesen Andeutungen mag schon durchschimmern, was wir als den Gegenstand der Soziologie bezeichnen müssen: die menschliche Gesellschaft. J a , mit einer (freilich erheblichen) Umwandlung des Hauptworts Gesellschaft in das Tätigkeitswort: vergesellschaften, wobei wieder dieses Verbum im doppelten Sinne im bejahenden u n d im veneinenden Sinne (gleich: eine Verbindung lösen oder lockern) zu verstehen ist. (Hier zeigt sich ein so oft fühlbarer Mangel der Sprache, daß es ihr an Worten fehlt, die e i n d e u t i g die positive wie die negative Seite bezeichnen. J a , schon der Gebrauch der Worte „positiv" (bejahend) und „negativ" (verneinend) ist irreführend, weil sich dabei die Nebenvorstellung von Bewertungen einschleicht. Wenn wir im folgenden von „negativer" Vergesellschaftung reden, ist niemals damit eine Unwertsbezeichnung oder auch nur eine Minderung gemeint; Zueinander und Auseinander gelten uns als völlig gleichwichtige, koordinierte Vorgänge; auch die UnVergesellschaftung ist Vergesellschaftung im weiteren, hier allein maßgebenden Sinne.) Ein wichtiger Satz lautet demgemäß: es gibt keine Gesellschaft, auch keinen Gesellschaftsbau oder dergleichen Substanzhaftes. Die vielen Anlehnungen der älteren Soziologie an die Biologie, ebenso die Übernahme von Vorstellungen aus der mit Spekulationen belasteten Staatslehre und Staatsphilosophie haben zu solchen irri-

I. Einleitung: Soziologie als Einzelwissenschaft

15

gen Vorstellungen der Gesellschaft als einer Substanz geführt. Der „Leviathan", den freilich niemand beschreiben kann, scheint unsterblich zu sein. D i e S o z i o l o g i e hat vielmehr d a s s o z i a l e oder z w i s c h e n m e n s c h l i c h e Geschehen zum Gegens t a n d e . I n diesem einfachen, zahllose Probleme umschließenden Satze, sind vor allem drei Thesen enthalten: 1. Es gibt eine soziale Sphäre des menschlichen Lebens; es besteht neben den Körpern und Seelen von Einzelmenschen ein. unsubstanzielles Netz von Beziehungen zwischen ihnen, aus denen alle Kultur hervorgeht. — 2. Diese Sphäre ist bisher noch nicht g e n ü g e n d i s o l i e r t von den anderen Lebensbereichen studiert worden. — 3. Erst wenn man aus systematischen Beobachungen des Menschenlebens erkannt hat, welcher Art die von der sozialen Sphäre ausgehenden Bewirkungen, ihre Möglichkeiten und ihre Grenzen sind, kann man von soziologischen Betrachtungsweisen in anderen Wissenschaften einen fruchtbaren Gebrauch machen. Ein Hindernis auf diesem Wege ist der Glaube, wir wüßten als gebildete Menschen oder als gewiegte Praktiker oder als Fachleute (Juristen, Ökonomen, Theologen usw.) längst ausreichend über die soziale Sphäre Bescheid. Aus diesem Aberglauben entsteht ein großer Teil der Fehler in Politik und sonstigem öffentlichen und privaten Leben. In Wahrheit wissen wir deshalb so wenig darüber, weil wir erlebnismäßig nur die zusammengesetzten Erscheinungen: physisch plus psychisch plus sozial kennen. Die Soziologie, die wie jede theoretische Wissenschaft auf einer spezifischen Isolierung beruht, hat also drei

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I. Einleitung: Soziologie als Einzelwissenschaft

Aufgaben: 1. das Soziale oder Zwischenmenschliche im Menschenleben vom übrigen Menschlichen zu abstrahieren; 2. festzustellen, was es bewirkt, und wie es bewirkt; 3. danach das Soziale in den Gesamtbereich des Menschenlebens wieder einzufügen, um seine Zusammenhänge mit diesem verständlich zu machen. Wir betonen: es muß sich in der Soziologie um a l l e Äußerungen und Bekundungen des zwischenmenschlichen Lebens handeln. Es sollte klar sein, daß man nicht von vornherein eine Auswahl treffen und nur bestimmte Vergesellschaftungen zu Gegenständen unserer Wissenschaft machen darf. Letzte Quellen für alles Geschehen in der Menschenund damit in der menschlichen Sozialsphäre sind die Menschenseelen und Menschenleiber. Aber erst durch die Einwirkungen des Ich auf das Du und die Verbindung beider zu einem Wir ergibt sich in positiven und negativen Spannungen das nach außen fruchtbare, das soziale Geschehen. Soziologie als Fachwissenschaft kann nur die L e h r e vom Sozialen, d. h. von den E i n w i r k u n g e n d e r M e n s c h e n a u f e i n a n d e r (im Neben- und Nacheinander) sein. Das Soziale ist dabei keine platonische Idee, die nur durch Wesensschau erkennbar wäre, sondern (wie wir noch sehen werden) eine G e s a m t h e i t v o n b e o b a c h t b a r e n P r o z e s s e n . Es handelt sich nicht um Spekulationen, sondern um nachprüfbare Beobachtungen. Diese Beobachtungen werden nur dadurch schwierig, daß die Ideologien nicht ruhen und unser Geist die Neigung besitzt, alles fließende Geschehen in Substanzen umzudichten. So machen wir aus

I. Einleitung: Soziologie als Einzel Wissenschaft

17

dem Geschehen im Bereiche einer staatlichen Verbundenheit von Menschen „den Staat", obwohl es in Wirklichkeit eben nur staatliches Geschehen gibt, d.h. Prozesse, in denen die .Menschen sich in bestimmten, nämlich politischen Distanzen begegnen. Das gleiche gilt von Kirche, Wirtschaft usw. Wir werden dabei die allgemeine Soziologie von den speziellen Soziologien zu unterscheiden haben. Jene studiert die sozialen Prozesse in jeder Provinz des zwischenmenschlichen Lebens und sucht das AllgemeinAufweisbare des zwischenmenschlichen Zusammenhangs, das Allgemein-Menschliche daran festzustellen; in den speziellen Gesellschaftslehren werden die sozialen Prozesse auf den einzelnen Kulturgebieten behandelt. Eine von vielen solchen speziellen Soziologien ist die Wirtschaftssoziologie, die von der Wirtschaftstheorie deutlich zu sondern ist 2 ). Während diese das Wesen des ökonomischen isolierend feststellt, handelt es sich in der Wirtschaftssoziologie um die in der Wirtschaftssphäre aufweisbaren, zwischenmenschlichen Prozesse. Welchen Nutzen gewährt die Fachwissenschaft Soziologie der Praxis und den anderen Wissenschaften ? Ferner: was können die anderen Wissenschaften zur Soziologie beitragen ? Die erste Frage findet ihre Antwort in dem inhaltsreichen Satze: Die Soziologie stellt fest, was der MenschMensch-Zusammenhang als solcher bewirkt. Sie allein sondert deutlich die Sphäre des Zwischenmenschlichen 2

) V·;]. meinen Artikel „Wii'tsohaft.ssoziolog-ie" in der vierten Auf· aijö des Wörterbuchs der Volkswirtschaft· von Wiese,

Soziologie.

2

18

I. Einleitung: Soziologie als Einzelwissenschaft

vom Mensch-Ding-Verhältnisse. Damit wird sie die theoretische Grundlage von jeder Art Kunstlehre der Organisation. Ueberall da, wo es auf Feststellung des Persönlichen, Menschlich-Wirksamen ankommt, gibt sie die grundlegende und geordnete Erkenntnis. Man erfährt auch aus ihr, wieweit die Kräfte des Sozialen reichen, welche Anforderungen man an Menschen stellen kann, und welche Erwartungen enttäuscht werden. Besonders die Probleme der Pädagogik, Kriminalistik, des Geschäfts- und Arbeitslebens, des Vereins- und Geselligkeitswesen, der Interessenvertretung, der Wirtschaft, des Heerwesens, der Beamten- und Angestelltenwelt haben ihre wissenschaftlich feststellbaren Wurzeln in der Soziologie. Die anderen Wissenschaften geben ihr ebenso wie die unmittelbare Lebenserfahrung die Tatsachenzusammenhänge, den Stoff. Der Jurist, der Volkswirt, der Politiker usw. beobachten je einen Ausschnitt menschlicher und damit sozialer Kultur, etwa das kapitalistische Wirtschaftssystem oder den Faschismus; sie erklären n a c h d e n G e s i c h t s p u n k t e n i h r e s F a c h s den Zusammenhang kausal und final; sie leiten ihre Gesichtspunkte aus der Idee des Rechts, der Wirtschaft, der Politik usw. ab. Sie geben sich dabei in der Regel wohl Rechenschaft darüber, daß diese Erscheinungskomplexe der Kultur im Erlebnisse nicht von der Sozialsphäre zu trennen sind; aber sie haben es eben stets mit dem M i s c h g e b i l d e Sozial-Ökonomik, Sozial-Jurisprudenz, Sozial-Politik (im allgemeinsten Sinne) zu tun. Sie wenden sich nun an den Soziologen mit der Aufforderung, aus dieser Mischung das Soziale zu destillieren.

II. Die geschichtlichen Ausgangspunkte der Soziologie 19

Es geschieht in der Gesellschaftslehre nach einem unten zu kennzeichnenden Verfahren. J e t z t erscheinen in dem Freskogemälde des Juristen usw. die grossen Linien des Mensch-Mensch-Zusammenhangs. Das Motto ist: Homo sum, oder besser noch: Homines sumus. N u n ergibt sich abermals der Gewinn für die anderen Wissenschaften und für das praktische Leben: der Gehalt an Zwischenmenschlichem wird gesondert vom Ideologischen einerseits, vom Dinglichen, Materiellen anderseits. Die Elemente des Sozialen werden geklärt; sein Feld ist überschaubar u n d wird verstanden. Nach der Isolierung muß das Soziale wieder mit dem Dinglich-Zweckhaften verbunden werden. Aber das erneut Verbundene wird nun auch in der Kombination besser erkannt.

Kapitel

II:

Die geschichtlichcn Ausgangspunkte der Soziologie als Wissenschaft Die Geschichte der Soziologie können wir, wenn wir nur das 19. und 20. Jahrhundert damit umfassen, als eine Entwicklung von der Enzyklopädie zur Einzelwissenschaft vom Sozialen ansehen. I n vielen Wissenschaften streitet man über ihren Beginn,'z. B. in der Sozialökonomik. Da neue Wissenschaften nur selten mit einem bestimmt markierten Ereignisse, etwa mit einer Entdeckung oder Erfindung, beginnen, d a vielmehr meist eine allmähliche Entwicklung des allgemeinen Winsens besteht, in der erst nach-

20

II. Die geschichtlichen Ausgangspunkte der Soziologie

träglich infolge der Notwendigkeit der Systematisierung und Abgrenzung — gewissermassen künstlich — Abschnitte gebildet werden, so ist ein solcher Streit nicht zu entscheiden. Die Frage nach dem Beginne ist eine Zweckmässigkeitsfrage. Wichtiger ist, sich der meist langen Vorgeschichte bewußt zu sein. Wir wissen, daß ökonomische Fragen in der Antike und im Mittelalter vielfach behandelt worden sind, daß sie damals aber in inneren Zusammenhang mit anderen Wissenschaften gestellt wurden. Auch über unseren Gegenstand, die zwischenmenschlichen Beziehungen, ist zu allen Zeiten nachgedacht und manches vorgebracht worden. Aber jdie Selbständigkeit dieser Problematik des Sozialen ist erst schrittweise klar geworden. In der Hauptsache erkennt man erst allmählich im 19. und 20. Jahrhundert, daß es eine selbständige Wissenschaft vom Sozialen, d. h. vom menschlichen Zusammenleben, mit einem eigenen umgrenzbaren Objekte gibt. Was vorher geschaffen wurde, ist mehr Politik, bei der Staat und Gesellschaft nicht deutlich genug geschieden werden, oder ist mehr Ethik und Morallehre als empirische Erkenntnis des Zwischenmenschlichen an sich. Nicht aufrecht zu erhalten ist ferner die Herleitung der modernen Gesellschaftslehre aus nur e i n e r geschichtlichen Wurzel. Die Wissenschaft vom menschlichen Zusammenleben keimte auf verschiedenem Boden. Ihre Entstehung entsprach den Bedürfnissen nicht nur e i n e s Volkes und nicht nur e i n e s Wissenschaftskreises. Vielmehr ergibt sich, daß, wenn die nationale Geisteskultur eines einzelnen Volkes einen bestimmten Entwicklungsgrad erreicht hat, in ihr Soziologie entsteht.

II. Die geschichtlichen Ausgangspunkte der Soziologie

21

Bei den Völkern des mittel- lind westeuropäischen Kulturkreises ist dies ungefähr an der Wende des 18. zum 19. Jahrhundert eingetreten. Doch besteht kein grundsätzliches Bedenken, den Beginn früher anzusetzen, je nachdem, was man als das Entscheidende dieses Geburtsvorganges ansieht. Es ist hier nicht möglich, allen Werdeprozessen der Soziologie erschöpfend nachzugehen; für uns mag genügen, auf drei Wurzeln hinzuweisen: 1. auf die deutsche Roman tili und die deutsche idealistische Philosophie; 2 : a u f C o m t e s Philosophie, zumal da dieser Philosoph der Sache den siegreichen Namen Soziologie gegeben h a t ; 3. auf ihre Entwicklung aus anderen Wissenschafte η als der Philosophie, nämlich vorwiegend aus Biologie, Geschichte und Sozialökonomik. Einen anderen Anfangszeitpunkt nimmt z . B . S o m b a r t !) an. Er sieht jene Denker des 17. und 18.Jahrhunderts in Frankreich und England als die Schöpfer der Naturlehre der menschlichen Gesellschaft an, die im Gegensatz zum alten (mehr oder weniger theologischen) Naturrecht die menschliche Gesellschaft samt ihrer Kultur als ein Stück Natur selbst ansahen. Er nennt beispielsweise Cumberland. Temple, Petty, Shaftesbury, Mandeville, Adam Smith und andere. Für sie sei eine neue naturalistische, die „westliche" Soziologie seitdem charakterisierende Auffassung des Gesellschaftslebens bezeichnend. l ) Vgl. W. Somharfc, Dio Anfäntro dor Soziologin i η .,Krinnnruni?3abe für Max Weber", 1. Band, S- 5 ff. M'iuofioa und Leipzig 1923

22

II. Die geschichtlichen Ausgangspunkte der Soziologie

Dem wäre entgegenzuhalten, daß auch schon manche profane Naturrechtler in Weiterführung alt überkommener Ideen des Epikureismus und erst recht manche Vertragstheoretiker zu einer kausal-empirischen Deutung des sozialen Geschehens neigten. B r i n k m a n n 2 ) sieht in der politischen Literatur des westeuropäischen Barockzeitalters von Hobbes bis Adam Smith und Rousseau, in der in ihr zum Ausdruck kommenden ,,Daueropposition der Intelligenz gegen die gesellschaftlichen Mächte" den Beginn der Soziologie. Uns will jedoch scheinen, daß das nur für die soziologische Theorie der Politik zutrifft, und daß gerade die allzu politische Einstellung von Denkern wie Hobbes, Mandeville, Ferguson sie hinderte, den Grundfragen der allgemeinen Soziologie nahezukommen Paul B a r t h hat in seiner ,,Philosophie der Geschichte als Soziologie" seinerseits anders als die Forscher, die das 17. und 18. Jahrhundert bevorzugen, darauf hingewiesen, daß die Soziologie „der Sache nach" b i s auf P l a t o zurückgehe, was Sombart nicht gelten lassen will. Jedoch haben auch schon vor Plato Heraklit und die Sophisten, nach Plato Aristoteles und besonders die Stoiker und Epikureer zahlreiche Fragen des gesellschaftlichen Lebens, besonders die nach Ursprung und Aufgaben des „Staats" — mit dem Worte politeia ist mehr als der Staat im heutigen Sinne, auch die „bürgerliche Gesellschaft" umfaßt — erörtert. Aber die Denkweise, mit der es geschah, ist — zumal bei Plato — 2

) Vgl. Brinkmann. Versuch einer Gesellschaftswissenschaft, München und Leipzig 1918 und ders-, Gesellschaft^)ehre, in der Enzyklopädie der Rechts- und Staats Wissenschaften, X X X X V I I I , Berlin 1Θ2 5.

II. Die geschichtlichen Ausgangspunkte der Soziologie 23

ausgesprochen unsoziologisch, wenn man darunter eine bestimmte Betrachtungs- und Beurteilungsweise verstehen will. Sehr richtig sagt darüber Albion W. S m a l l 3 ) : „Als ein Muster der Dialektik ist ,,der S t a a t " (Piatos) das hervorragendste Beispiel für das, w a s n i c h t Soziologie ist. Eine Gruppe von Soziologen rechnet jeden zu den Soziologen, der über soziale Verhältnisse nachgedacht hat. Der vorliegende Aufsatz vertritt die Ansicht, daß nur diejenigen Soziologen sind, die eine Methode handhaben, welche in diametralem Gegensatz zur Dialektik steht. Plato betrachtet den ,, S t a a t " nicht als eine Abhandlung zur politischen Wissenschaft oder zur Soziologie, sondern als eine Untersuchung aus dem Gebiete der Moralphilosophie. Die platonische Methode war ein Versuch, dadurch Wahrheit zu schaffen, daß man zur Uebereinstimmung zwischen Begriffen oder Lehrsätzen gelangte. Die wissenschaftliche Methode ist dagegen ein Versuch, dadurch Wahrheiten zu entdecken, daß man Gleichförmigkeit von Ursache und Wirkung in der objektiven Welt beobachtet." Jedoch gilt der überaus wichtige Einwand, daß die Philosophen wie Plato Wahrheit aus Uebereinstimmung von (willkürlichen) Ideen zu s c h a f f e n , nicht durch Beobachtung der objektiven Welt Wahrheit zu e n t d e c k e n streben, und deswegen keine Soziologen, sondern eben Philosophen sind, auch für die theologischen Denker des christlichen Mittelalters (wie Augustin und Thomas), für m a n c h e Naturrechtler und m a n c h e •) In einem Aufsatze: Sociology and Plato's Republic, American Journal of Sociology, X X X , 5.

24 II. Die geschichtlichen Ausgangspunkte der Soziologie Vertragstheoretiker, wie für viele an Gesellschaftspro blernen interessierte Philosophen der Gegenwart. I m merhin bereitet die Theorie vom „rechten" Staate, vom Gottesstaate, die Spekulation über das der gesellschaftlichen Ordnung vorausgehende Naturstudium (ζ. B. Hobbes ,,homo homini lupus"), der alte Streit der Stoiker und Epikureer über die dem Menschen angeborene (oder nichtangeborene) soziale Natur, über das Verhältnis von Umgebung und inneren Eigenschaften u. a. m. die soziologische Fragestellung vor, führt sie freilich durch das Nachwirken alter unausrottbarer Vorurteile und Antithesen oft genug irre. Man möchte dem modernen Soziologen nichts so sehr anraten, als daß er alle traditionelle Sozialphilosophie schleunigst vergesse, wenn nicht zugleich auch an ihr der tiefgehende Unterschied einer ethisch-politischen und einer soziologischen Fragestellung erkennbar würde. Othmar S p a n n 4 ) sieht in Kant und Fichte die Begründer der Gesellschaftslehre. Sicherlich läßt sich aus der deutschen Philosophie des 18. und der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts manche Verbindungslinie zur späteren eigentlichen Soziologie hinüberleiten (mit dem eben hinsichtlich der Philosophie gemachten Vorbehalte). Will man aber aus der Reihe der deutschen Philosophen einen Denker als besonders einflußreich (im guten und schlechten Sinne) ansehen, so muß H e g e l , nicht in erster Linie Kant oder (und) Fichte genannt werden. 4

) O. Spann, Gesellschaftslehre, 3- Auflage, Leipzig 1930.

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Die Romantiker e r s c h e i n e n , v o r a l l e m G e o r g v . B e l o w δ ), als Förderer soziologischer Erkenntnis, da sie .die historischen Erscheinungen nicht einseitig aus bewußten Handlungen der einzelnen Menschen herleiteten, sondern auf unbewußte Kräfte, objektive Mächte als deren Quelle hinwiesen. Besonders ihre Theorie vom Volksgeiste, aus dem Recht, Sprache und Kunst hervorgingen, sei hierfür wesentlich. Später waren jedenfalls die Forschungen R o b e r t v . M o h l s , L o r e n z v . S t e i n s und gleichstrebender Gelehrten um die Mitte des 19. Jahrhunderts, zu denen auch Heinrich v . T r e i t s c h l c e in seinen jüngeren Jahren gehörte, der Entwicklung des soziologischen Denkens sehr förderlich. Sie sonderten die Begriffe von Staat und Gesellschaft, wobei freilich Gesellschaft nicht den abstrakten Sinn hat, den wir heute damit verbinden. Es ist, wie gesagt, vielmehr die b ü r g e r l i c h e Gesellschaft , die Trägerin der öffentlichen Meinung, gemeint, die auch heute noch K a n t o r o w i c z 6 ) im Auge hat, wenn er als die „Gesellschaft im engsten S i n n e " die bürgerliche Gesellschaft ansieht. Bei Mohl vor allem sind also Staat und Gesellschaft gleichgeordnete Gebilde, die n e b e n e i n a n d e r i n Wech selbeziehungen stehen, während für die Modernen d e r 6 ) In seJrier Streitschrift „Soziologie als Lehrfach", Sondcrabdruck aus Schmollers Jahrbuch, 43. Jahrs·, 4. Heft, München u. Leipzig 1920. Vgl. zu ihrem Inhalte die Antworten von F. Tönnies und L. v. Wiese. Der Erstgenannte hat im Weltwirtsch. Archiv, Bd· 16, S- 212 ff., unter dem Titel „Soziologie und Hochschulreform", der Zweite in Schmollers Jahrb. Jg. 44, S- 347 ff. unter dem Titel „Die Soziologie als Einzelwissenschaft" erwidert. e ) Hermann Kantorowicz, Der Aufbau der Soziologie (in der be reits genannten Erinnerungsgabe für Max Weber, I. Band, S. 85).

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Staat ein Gebilde innerhalb des übergeordneten Universalgebildes Gesellschaft ist, wenn man überhaupt ein solches Universalgebilde gelten lassen will. Bei dieser Hervorhebung deutscher Denker spielt sicherlich auch das Bestreben mit, gegenüber einer einseitigen Herleitung der soziologischen Tradition von den Franzosen S t . S i m o n und C o m t e und dem Engländer Herbert S p e n c e r den Anteil der deutschen Wissenschaft und Philosophie an der Vorbereitung der neuen Wissenschaft gebührend in den Vordergrund zu stellen. Auch sonst zeigt sich gegenwärtig vielfach die Tendenz, nationale Besonderheiten und Traditionen bei der Geschichte unserer Wissenschaft und der Datierung ihres Beginns zu betonen. So weist etwa der Tscheche V a s i l K . S k r a c h 7 )auf Johann H u s u n d C h e l t s c h i z k i als Inauguratoren böhmischer Sozialphilosophie hin. C a r Ii 8 ) nennt seine Landsleute Macchiavelli und Vico neben Bodinus, Hobbes, Bossuet, Montesquieu, den Physiokraten und den Enzyklopädisten. Bei der Dehnbarkeit des Begriffs einer allgemeinen Soziologie und der Möglichkeit ihrer Gleichsetz ung mit Sozialphilosophie haben diese und andere Versuche ebensoviel Anspruch auf Anerkennung, wie es nicht schwer ist, sie bei Zugrundelegung einer anderen Auffassung der Disziplin mit guten Gründen abzulehnen. Lehrreich ist in dieser Hinsicht S m a l l s 9 ) Werk über die Anfänge der Soziologie: Es ist darin nur wenig und mehr beiläufig von Comte und Spencer sowie von ande') Vgl. seine Glossen „über die tschechische Soziologie" usw. Kölner Vierteljahrshefte, 5. Jalirg., Heft 3. 8 ) In seinem Buche „Le Teorie Sociologiche", Padua 1025. ') Vgl. Albion W. Small: Origins ο Sociology, Chicago 1924.

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ren westeuropäischen Denkern die Rede, dafür werden Thibaut und Savigny, Eichhorn, Niebuhr, Ranke, Roscher, Knies, Treitschke, Schmoller, die Kathedersozialisten u n d die österreichische Schule sehr eingehend behandelt. Adam Smiths Werk und Einfluß bleiben nicht unerwähnt; aber es wird nicht viel mehr über ihn gesagt, als in einer Geschichte der deutschen Sozialökonomik über ihn gesagt werden muß. Richtig ist ja dabei sicherlich, daß in Deutschland während des 19. Jahrhunderts viele soziologischen Probleme unter anderem Namen behandelt worden sind. Nach der im folgenden vertretenen Auffassung ist die bisherige Entwicklung der Soziologie ein sehr allmählich voranschreitender Prozeß der wachsenden Selbsterkenntnis der Disziplin von ihrer Besonderheit und Eigenart; er vollzog und vollzieht sich durch beständig zunehmende Einschränkung ihres Umfangs, durch genauere Fragestellung und durch Entwicklung einer selbständiger werdenden Methode. Da» bedeutet zugleich eine Lösung von der Sozialphilosophie, allgemeinen Kulturlehre, Ethik und von den anderen sozialen Einzelwissenschaften, die neben ihr bestehen. Da aber dieser Lösungs- und Verselbständigungsprozeß erst in der unmittelbaren Gegenwart vor sich geht, so ist eine Auffassung beweisbar, die alle Soziologie in Deutschland vor Tönnies und Simmel, in Frankreich vor Tarde, in Amerika vor Small und Giddings in die Vorgeschichte verweist. Wir behaupten in der Tat, daß die Soziologie als deutlich umgrenzte soziale Einzelwissenschaft erst jetzt entsteht.

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Aber die ersten Versuche, den Weg zu diesem Standpunkt zu finden, sind ein Jahrhundert älter. Wir u n t e r s c h e i d e n deshalb eine l a n g e V o r g e s c h i c h t e , zu der wir Antike und Mittelalter rechnen, und die wir b i s z u m A u s g a n g e d e s 18. J a h r h u n d e r t s d a t i e ren, dann ein e r s t e s S t a d i u m der Soziologie als U n i v e r s a l w i s s e n s c h a f t (19. J a h r h u n d e r t ) , in der sie sich insofern schon als selbständige Wissenschaft zu dokumentieren sucht, als sie die Frage: was ist Gesellschaft ? zu ihrer Kern- und Grundfrage macht, aber siph dadurch den Weg zur fruchtbaren Erkenntnis versperrt, daß sie im Zusammenhange damit zu viel außersoziologische, wenn auch sozialwissenschaftliche oder sozialphilosophische Fragen mit zu beantworten sucht, schließlich ein z w e i t e s S t a d i u m der Reifung einer s e l b s t ä n d i g e n u n d e i n g e g r e n z t e n W i s s e n s c h a f t d e r S o z i o l o g i e in der Gegenwart, wobei wieder die Grenze zwischen dem ersten und zweiten Stadium fließend erscheinen mag und von der Beurteilung der Leistung des einen oder anderen Forschers abhängt. Uns beschäftigt zunächst die Entstehung des ersten Stadiums, das wir ungefähr in die Jahre 1810 bis 1890 legen: Noch in der großen französischen Revolution überwog durchaus die geistige Teilnahme an den rein politischen, zumal den Verfassungsfragen. Wenn auch schon manche Denker des 17. und 18. Jahrhunderts hinter dem Wechsel politischer Erscheinungen allgemeinere Naturgesetze der sozialen Entwicklung angenommen und das Politische nur als e i n e von zahlreichen Er-

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scheinungsreihen der Gestaltung des zwischenmenschlichen Lebens angesehen hatten, so drängte sich doch die naiv-voluntaristische Auffassung, daß man den Staat und die bürgerliche Gesellschaft völlig willensmäßig gestalten könnte und dabei das politische Ethos entscheidend wäre, zu sehr hervor. Es fehlte in der Behandlung der Aufgaben des öffentlichen Lebens noch die eigentlich soziologische Denkweise, die das Gruppenund Gemeinschaftsleben insgesamt als eine Welt mit eigenen Struktur- und Bewegungsgesetzen ansieht. Sicherlich haben zu der Entbindung des Geistes der Soziologie äußere Umstände beigetragen; in der Hauptsache dieselben, die den Sozialismus (der aber nicht mit Soziologie gleichzusetzen ist) vorbereitet haben: technisch-wirtschaftliche Erscheinungen, neue Bevölkerungstatsachen, die Ansammlung der Menschen in den großen Städten, vor allem die deutlichere Vorstellung von Masse und Proletariat, die durch das Anwachsen der gewerblichen Arbeiterschichten aufgedrängt wurde. Unter den sozialen Gebilden wurde die „Klasse" neu entdeckt, und die Befassung mit dieser problematischen ,,Samtschaft" zwang zum Nachdenken über die Wechselbeziehungen von Gruppen überhaupt. Das ist gewiß nicht etwas völlig Neues gewesen; aber die Dringlichkeit und Deutlichkeit des Gesellschaftlichen wuchs. Man erkannte: auch mit einer ganz demokratischen Staatsverfassung, mit der Gleichheit der Bürger vor dem Gesetze, mit der Abschaffung der Privilegien und aller Rechte des Feudalstaats ist von den „sozialen Fragen" erst ein recht kleiner Teil „gelöst". Aus diesem europäischen Boden wuchs e i n Zweig, der von den

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Besserungsbeflisseiien gepflegt wurde: der Sozialismus. Es wuchs aber gleichzeitig der ganz anders geartete der Soziologie empor, der ein Baum der Erkenntnis, nicht der Lebensänderung werden sollte. (Doch darf dieses Bild von den zwei ungleichen Reisern nicht so ausgelegt werden, als ob es gar keine Verbindung zwischen Theorie des Sozialismus und Soziologie gäbe.) Freilich die Romantiker und die deutschen idealistischen Philosophen, zumal S e h e l l i n g und H e g e l , sind von der Gesellschafts- und Wirtschaftsstruktur des 19. Jahrhunderts verhältnismäßig wenig beeinflußt worden. Aber ihr Bestreben, zwischen dem Absoluten, Göttlichen und Geschichte, Staat, Volk und Recht einen metaphysischen Zusammenhang herzustellen, ein Streben, das schließlich zu Hegels Glauben führte, der göttliche Wille objektiviere sich im Staate, ist geschichtlich als Reaktion auf die Aufklärung, den Liberalismus und die Revolutionsgesinnung des 18. Jahrhunderts zu begreifen. Diese Philosophen hinterließen der Soziologie die Aufgabe, die großen abstrakten Kollektiva: Volk, Staat, Kirche, Genossenschaft, schließlich Gesellschaft zu erklären. Freilich ist diese Abstammung von der Spekulation eine gefährliche und verleitende Erbschaft für die deutsche Gesellschaftslehre geworden. Noch heute suchen manche Soziologen mit denselben Mitteln der Geschichte- und Sozialphilosophie die gar nicht philosophischen Probleme ihrer Wissenschaft zu lösen. Der Schreiber dieser Zeilen bekennt sich zu der Auffassung, daß man wie von Plato so auch von Schelling" und Hegel, Adam Müller und Novalis nicht lernen kann,

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wie der Soziologe an die ihm gesteckte Aufgabe herantreten darf. Es gibt sicherlich eine Metaphysik der Gesellschaft; sie pflege der Philosoph. Der Soziologe soll Realist und Empiriker sein, wobei wir von der Erfahrungs-Erkenntnis die phänomenologisch-verstehende nicht absondern, sondern ihr zugesellen. Nur daß ihr die „letzten Fragen", der objektive, absolute, gottgewollte „Sinn" der Erscheinungen nicht zu erörtern bestimmt sind, muß mit Nachdruck ausgesprochen werden. Uns will scheinen, daß wir als Soziologen von Hegel nicht die Betrachtungs- und Behandlungsweis© der Probleme lernen können, sondern mehr die Grenzen fixiert sehen, über die hinaus die Forschung nicht zu dringen vermag. Sie überläßt die umwölkten Höhen letzter Zusammenhänge den Philosophen. Aber auch die zweite geschichtliche Wurzel, von der wir eben gesprochen haben, bedarf nicht minder einer kritischen und mißtrauischen Bescliauung: die französische in der Philosophie des/ Grafen S t . S i m o n und Auguste Comtes. Wenn wir auch, der Tradition und speziell dem Beispiele Paul Barths folgend, unsere historische Übersicht mit ihnen beginnen, so geschieht es mit dem Vorbehalte, daß die heutige Soziologie, soweit sie f^chtbar und zukunftsreich ist, eine andere Arbeitsweise und andere Forschungsziele hat, als es bei Comte der Fall ist. Vielfach nimmt man heute — wenigstens in Deutschland — Anstoß daran, daß die beiden Denker, zumal der systematischere Comte, „Positivisten" waren. Gilt doch Comte als der eigentliche Begründer dieser Denkweise. Bei ihm ist Positivismus und Soziologie so eng

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miteinander verflochten, daß sie nicht voneinander zu trennen sind. Nun hat man aber im heutigen Deutschland dieser das 19. Jahrhundert beherrschenden ,naturalistisch-mechanistischen Weltanschauung" den Krieg erklärt. Eine Anerkennung Comtes als ,,Vater" der Soziologie (er ist ala Namengeber wohl ihr Pate) scheint damit auch ein Bekenntnis zur positivistischen Denkweise zu enthalten. In der Tat gelten noch heute vielen — das beweist ζ. B. Belows Vorurteil — die Soziologen schlechthin als Positivisten. Dadurch, daß sie sich so nennen, bekennen sie sich angeblich auch zu Comtes Weltanschauung. Hier zeigt sich wieder die bedenkliche Neigung, in der Soziologie eine Art Konfession und ein bestimmtes Ethos zu erblicken, die mit der ursprünglichen Verbindung zwischen ihr und der Philosophie zusammenhängt. WTir behaupten demgegenüber, daß Gesellschaftslehre als realistische Wissenschaft mit dem Gegensatz von Positivismus und Anti-Positivismus überhaupt nichts zu tun hat. Was uns in soziologischer Hinsicht an Comtes Lehre interessiert, soll noch gezeigt werden. Seinem Positivismus sollte der Soziologe als solcher neutral gegenüberstehen. (Ist er auch Philosoph oder gar im speziellen Ethiker, so mag und muß er zu seiner „Weltanschauung" Stellung nehmen.) Damit ist aber auch schon angedeutet, worin u. E. die Gefahr der Anknüpfung an Comte liegt: daß auch bei ihm das ererbte Grundstück der Soziologie mit der Hypothek der Spekulation belastet ist. Fruchtbarer als die geschichtlichen Verankerungen der Soziologie in der deutschen oder in der französischen Philosophie der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts

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scheinen uns die mannigfachen Anknüpfungen an die eigentlichen Wissenschaften, von denen gleich noch zu sprechen sein wird. Auch dabei fehlt es nicht an Irrleitungen. Es kann zweifelhaft erscheinen, ob etwa die Nachbarschaft zur Biologie der Gesellschaftslehre mehr Vorteile oder mehr Nachteile gebracht hat. Aber besonders die Anregungen und Aufgabe-Zuweisungen, die sie der Geschichte (in Deutschland ζ. B. Niebuhr, Ranke, Treitschke), der Jurisprudenz (Savigny, Eichhorn usw.), der Nationalökonomie (Knies, vor allem Schmoller und Bücher) und anderen Kulturwissenschaften verdankt, sind beträchtlich. Gerade aus Vergleichen der in den Nachbarwissenschaften herrschenden Fragestellungen und Antwortfindungen mit ihrer eigenen Problematik konnte sie allmählich das Unterscheidungs- und Selbstbewußtsein für ihr Eigenes gewinnen. So nützlich der Soziologie die mannigfachen Verbindungen mit Philosophie und einer großen Zahl anderer Wissenschaften war, so erschwerte ihr die beständige Ablenkung in fremde Gedankengänge den Reifeprozeß. Ihre Jugend war bewegt, abwechslungsreich und mannigfaltig; aber die große Geistesfamilie, in die sie sich gestellt sah, hinderte sie an der Sammlung und Besinnung auf die eigene Bestimmung. Kapitel I I I : Die Ilauptricliluinjcn der Soziologie In der geschichtlichen Entwicklung der Soziologie während ihres ersten Stadiums von (verhältnismäßiger) Selbständigkeit, also in der Hauptsache während des von Wiese,

Soziologie.

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19. Jahrhunderts, ordnen wir die H a u p t t h e o r i e n nach den Antworten, die die Autoren auf die Frage: w a s i s t G e s e l l s c h a f t ? gegeben haben; ferner nach dem jedesmaligen Z u s a m m e n h a n g e m i t e i n e r ä l t e r e n W i s s e n s c h a f t , von dem aus die Probleme der Gesellschaftslehre aufgefaßt worden sind. Die soziologischen Theorien des g e g e n w ä r t i g e n Entwicklungsstadiums werden wir jedoch zweckmäßigerweise nach einem anderen Gesichtspunkte ordnen. Es stände nichts im Wege, die beiden genannten, auf die Geschichte anzuwendenden Kriterien beizubehalten; aber da sich ζ. B. die naturwissenschaftlichen Soziologien stark vermindert haben, jedoch neue Abzweigungen hervorgetreten sind, glauben wir, ein richtigeres Bild der Gegenwart durch eine neue, der älteren verwandte Einteilung geben zu können. , a) Zur Vergangenheit: Währenddes 19. Jahrhundert ist die G e s e l l s c h a f t in der Hauptsache auf d r e i verschiedene Weisen aufgefaßt worden. Eine „Richtung" faßt sie als eine Einheit, ein Ganzes, als Substanz, jedenfalls als Seiendes auf. Dabei sind w i e d e r z w e i A n s c h a u u n g s w e i s e n zu s o n d e r n : den einen ist dieses Seiende, alten platonischen Vorstellungen folgend, eine I d e e , nach der sich die in Teilerscheinungen und körperlichen Konkretisierungen sichtbare Menschenwelt formt. Den anderen ist die Gesellschaft ein Organismus, ein (mit unseren Sinnen allerdings nicht wahrnehmbares) Lebewesen. Eine zweite Auffassung geht dahin, daß die Gesellschaft in einer Summierung von Gruppen besteht.

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Bei ihr ist es richtiger, die Einzahl durch den Plural: die Gesellschaften zu ersetzen. Jedoch sind hiernach die sozialen Gebilde Ganzheiten und Einheiten. Der dritte Kreis von Autoren faßt „die Gesellschaft" als ein Produkt von wechselnden V o r g ä n g e n d e r V e r g e s e l l s c h a f t u n g auf. Das Wort Gesellschaft ist ihr nichts Substantivisches, bezeichnet nicht ein Ding, ein Seiendes, sondern hat verbalen Charakter. Es ist ein Geschehen, eine Vielheit von Prozessen. Stellen wir neben diese Dreiteilung die Zusammenhänge mit Nachbarwissenschaften; sie sind ja zugleich auch entscheidend für das Verfahren, das die Autoren bevorzugen: Vielen war die Soziologie 1. eine N a t u r w i s s e n s c h a f t ; sie verknüpften sie vorwiegend a) mit der B i o l o g i e , manche davon speziell innerhalb dieser: a) mit R a s s e n t h e o r i e n ; die dritte naturwissenschaftlich e Verknüpfung bestand darin, daß man der Soziologie mit Gesichtspunkten und Arbeitsweisen der Physik (oder, seltener, der Chemie) nahezukommen bestrebt war. Diese „soziale Physik" sucht vorwiegend die B e w e g u n g s g e s e t z e des gesellschaftlichen Geschehen s zu erfassen, sei es, daß sie, um die wichtigsten Beispiele zu nennen, anfangs die Schwerkraft, später das Gesetz von der Erhaltung der Kraft und des Stoffes auch im Sozialen auffing. — 2. Im ersten Kapitel ist ferner bereits angedeutet worden, daß die Verbindung mit der Philosophie vielen Soziologen selbstverständlich war. Hierbei wiederum war entweder a) die Sozialphilosophie für sie 'dasselbe wie Soziologie oder speziell b) die (jener nahe verwandte) engere Geschichtsphilosophie. Dort bemühte man sich um Deutung

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der gesellschaftlichen Grunderscheinungen, suchte ihren objektiven Sinn, ihren „Geist" zu erfassen. Hier handelte es sich vorwiegend um Theorien der Kulturfolge und der Entwicklungsphasen. Nicht zu verwechseln mit dieser Verknüpfung der Soziologie mit Sozial- und Geschichtsphilosophie ist der (mehr für die Gegenwart als für das 19. Jahrhundert) bezeichnende Versuch, der Soziologie als einer speziellen Sozialwissenschaft ihre besondere erkenntnistheoretische Grundlage zu geben. Da wie jede Wissenschaft auch jede Art Soziologie in der Erkenntnistheorie ihre formale Wurzel finden muß, so hat selbstverständlich auch die Soziologie ihr allgemein formalphilosophisches Fundament. Aber es ist et Avas ganz anderes, ob man mit der ,,philosophischen" Grundlage Logik und Erkenntnistheorie und die alle Wissenschaften beherrschenden Denkgesetze meint oder den I n h a l t der viel subjektiveren Konstruktionen der Spekulation über Sinn, Geist und Wesen von Geschichte, Gesellschaft, Kultur, Zivilisation, Staat usw. Zu den S ρ e z i a l W i s s e n s c h a f t e n , an denen.man Anlehnung suchte, gehörten schließlich vorwiegend 3. die P s y c h o l o g i e und 4. die E t h n o l o g i e (Ethnographie). In seelerfkundlicher Hinsicht kam es den dabei in Frage kommenden Autoren vorwiegend darauf an, die i n n e r e n Wechselbeziehungen zwischen Menschen in ihrer Bedeutung für das gesellschaftliche Leben darzutun. Die Schriftsteller des völkerkundlichen Kreises gingen von der Überzeugung aus, daß man die verwickelten sozialen Beziehungen und Gebilde nur durch Zurückgreifen auf einfache Gruppen Verhältnisse, wie sie bei

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den Naturvölkern zu beobachten wären, erkläre η könnte. Verbinden wir die Einteilung nach dem ersten Kriterium mit der Gruppierung nach dem unterscheidenden Merkmale der zweiten Ordnung, so kann man (in beträchtlicher Vereinfachung) sagen: die Gesellschaft wurde als Einheit von Naturwissenschaftern und Natur philosophen (ζ. B . Comte), von Sozialphilosophen (ζ. B . D ü r k h e i m , S c h ä f f l e ; um einen Heutigen zu nennen: S p a n n ) , von Geschichtsphilosophen ( z . B . L o r e n z von S t e i n , B a r t h ) aufgefaßt; als Vargesellschaftung faßte sie der Philosoph S i m m e l ; als Gruppensummierung findet sie sich besonders bei manchen Amerikanern, die von der Psychologie ausgehen, aber auch — obzwar in manchmal wenig konsequenter Weise neben den beiden Auffassungen — bei den verschiedensten Standpunkten in der europäischen Literatur. b) Gegenwärtig: In der G e g e n w a r t scheint uns vor allem notwendig zu sein, zunächst Soziologie als wissenschaftliche D i s z i p l i n und Soziologie als , , M e t h o d e " innerhalb einer anderen Wissenschaft zu unterscheiden. Dabei ist die Redewendung „Soziologie als Methode" ungenau (wenn auch üblich); gemeint ist damit, daß in diesen Fällen das Soziale (das Zwischenmenschliche oder das Gruppen- und Gebildhafte) bei Fragestellungen anderer Wissenschaften wesentlich berücksichtigt wird. Innerhalb der Soziologie als Disziplin müssen wir h e u t e drei Zweige (kleinere Abspaltungen und Vermischungen ungerechnet) unterscheiden, wobei wir freilich in erster Linie die deutschen Verhältnisse im Auge haben und für die Literatur des Auslands diese Einteilung nur teilweise gelten lassen können:

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1. Soziologie als Lehre vom g e s c h i c h t l i c h e n Verlaufe des sozialen Lebens (oder ,,der Gesellschaft") ( h i s t o r i s c h e S o z i o l o g i e ) ; (gegenwärtiger Sonderzweig: die sog. Kultursoziologie); 2. Soziologie als S i n n d e u t u n g geistiger Kräfte u n d als Lehre von Bewußtseinskräften (philosophische, nämlich a) m e t a p h y s i s c h e und b) e r k e n n t n i s t h e o r e t i s c h e S o z i o l o g i e ) ; (gegenwärtiger Sonderzweig: die Wissenssoziologie); 3. Soziologie als s y s t e m a t i s c h e Wissenschaft vom gesellschaftlichen Geschehen auf realistisch-empirischer Grundlage ( s y s t e m a t i s c h e S o z i o l o g i e ) . Die historische Soziologie, die die Vorgänge der Vergangenheit als Material für ihre Abstraktionen bevorzugt, ist nicht zu verwechseln mit der soziologischen Methode in der Geschichtswissenschaft, wenn auch die Grenzen zwischen beiden fließend sind. Die erstgenannte sucht den objektiven Sinn und Geist von Kulturperioden, Kulturkreisen und-stufen, von ganzen in der Geschichte vorkommenden Sozialsystemen 'zu deuten. Als historische Soziologen ragen in Deutschland M a x und A l f r e d W e b e r , W e r n e r S o m b a r t und H a n s F r e y e r hervor. Das soziologische V e r f a h r e n , dessen sich die eigentlichen Historiker bedienen, beruht hingegen darauf, daß Geschichtsforscher, deren H a u p t aufgabe die Darstellung des Geschehens in der vergangenen Zeit ist, dabei die Gruppenerscheinungen vor den persönlichen Tatsachen bevorzugen, wie es etwa L a m p r e c h t getan hat. Es besteht eine Auffassung, die entweder überhaupt nur eine geschichtliche (keine allgemein-systematische)

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Erkenntnis des gesellschaftlichen Lebens gelten läßt oder (weniger radikal) die Vorrangstellung einer Soziologie des Nacheinander vor der des Nebeneinander behauptet. .Eine allgemeine Querschnittbetrachtung, die gewissermaßen zeitlos oder überzeitlich ist, wird verworfen, weil der ewige Wandel der Dinge nur zeitlich gebundene (aufsteigende, blühende und vergehende) Erscheinungen hervorbringe. Man könne nur bestimmte Zeitabschnitte und zugleich (wobei sich die Verwandt schaft von geschichtlichem und geographischem Determinismus zeigt) räumlich begrenzte Kulturkreise studie ren. Die Bevorzugung der Vergangenheit vor der Gegenwart empfehle sich dabei, weil „die aus der Aktualität schöpfende Soziologie" Selbsttäuschungen durch die Färbung ihrer „Tatsachen" mit unbewußten Vorurteilen, Leidenschaften und Interessen besonders ausgesetzt sei *). Auch Paul B a r t h 2) meinte: „Nicht jedes Wullen gekräusel des menschlichen Verkehrs hat diesen Grad von Wichtigkeit; sondern es haben ihn bloß die dauernden großen Strömungen des Willens und des Geistes, die man durch Jahrhunderte oder wenigstens durch Jahrzehnte verfolgen kann. Diese darzustellen und, soweit es möglich ist, zu erklären, ist die Aufgabe der Soziologie, die damit zugleich Theorie der Geschichte wird." Sombart hat sogar erklärt 3 ): „Daß alle gesellschaftliche Wirklichkeit Geschichte, d. h. Geschehenes ist, darüber kann kein Zweifel obwalten; denn es gibt x

) B r i n k m a n n , Gesell s c h a f t s lehre, I . e . , S. 2. ) B a r t h , Die Philosophie (1er Geschichte als Soziologie, 3. u. 4.Aufl., S- 151, Leipzig 1922. *) Vgl. S o m b a r t , Nationalökonomie u n d Soziologie, J e n a 1930, S- 3. 2

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keine Gegenwart, es gibt nur Vergangenheit." (Die Umkehrung wäre, scheint uns, ebenso behauptbar: es gibt keine Vergangenheit, es gibt nur Gegenwart.) Dazu wäre wohl zu sagen: Gerade der Gefahr der Unsachlichkeit wegen, auf die schon S p e n c e r in sehr ausführlichen Darstellungen in seinem „Study of Sociology" hingewiesen hat, empfiehlt sich große Vorsicht in der Hinnahme des Materials der Geschichte, besonders aber der Behauptungen der Geschichtsphilosophie. Gewiß wird der das Nebeneinander der Gegenwart bevorzugende Soziologe der Gefahren stets eingedenk sein müssen, die mit der Nichtberücksichtigung der „persönlichen Gleichung" zusammenhängen. E n t scheidend ist jedoch im Streite von Nacheinander und Nebeneinander das Maß der .Kontrollierbarkeit der Behauptungen. G e g e n w ä r t i g e s k ö n n e n w i r im allgemeinen leichter n a c h p r ü f e n als Vergang e n e s . Bei dem, was die Geschichte berichtet, ist stets mit der Willkür der Auswahl und Weglassung zu rechnen. Jedoch handelt es sich nicht um ein EntwederOder, sondern um gegenseitige Ergänzung von zwei Betrachtungsweisen. In Deutschland stand bis in die allerjüngste Zeit hinein die geschichtliche Soziologie so völlig im Vordergründe, daß gegenwärtig neben ihr ein das Nebeneinander bevorzugendes, das .Historische jedoch in den Einzelausführungen heranziehendes Verfahren dringend notwendig geworden ist. Aber es handelt sich dabei nicht nur um den Gegensatz Vergangenheit und Gegenwart, sondern um die Alternative: geschichtliche oder systematische Erfassung der Erscheinungen. Auch diese beiden Betrachtungs-

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weisen müssen sich ergänzen. Das Allgemeine ist übergeschichtlich, das Besondere geschichtlich. Die „Beziehungslehre" etwa, die systematisch, nicht geschichtlich a n g e o r d n e t ist, geht von überzeitlichen, quasi „ewigen" Kategorien aus, den Beziehungen des Zuund Auseinander, die sich fanden, finden und finden werden, solange Menschen sind. Aber die Grundprozesse zerlegen wir weiter in Hauptprozesse, diese in Unter und schließlich in Einzelprozesse. Das ist nur möglich durch allmähliche Annäherung an konkrete, geschichtliche Tatsachen. Bei diesen bevorzugen wir allerdings das Nebeneinander der Gegenwart, eben aus d e m Grunde, weil ihre Beobachtung nachprüfbar ist. Barths Einwand, man könne bei den Geschehnissen die sich vor unseren Augen abspielen, nicht wissen, ob sie wesentlich genug sind, während wir aus der Geschichte das Bedeutungsvolle, Wirksame herausheben, verkennt die Größe des Vorurteils, das gerade bei der Auswahl des Wirksamen aus dem unendlich breiten Fluß des Geschehens den Historiker lenkt oder doch lenken kann . Hingegen wissen wir, wenn wir vorher unsere Grundbegriffe und Kategorien bei einer systematischen Betrachtung gründlich geklärt haben, sehr wohl, das unserer Hauptfrage entsprechend Wichtigste aus dein Material gegenwärtiger Beobachtung herauszuheben. Der Historiker wählt zumeist auf Grund von Werturteilen aus, der Systematiker nach logischen Zusammenhängen. Schließlich kommt dabei noch in Betracht, daß wir in der wissenschaftlichen Erkenntnis des Zwischen menschlichen noch in den Anfängen stehen. Um so

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zusammengesetzte Vorgänge, wie sie uns an der Vergangenheit fesseln, erklären zu können, brauchen wir zunächst vorbereitende Studien am einfacheren Material, das wir nur aus der unmittelbaren Anschauung gewinnen können. S m a l l ist durchaus zuzustimmen, daß unsere Kenntnis der meisten unmittelbaren und persönlichen Erfahrungserscheinungen noch ganz oberflächlich ist. E r fragt: „Was sind ζ. B. die Quellen der Motive, die Vorgänge der Vermischung von Motiven und die Hilfsmittel der Kontrolle der Motive in den verschiedenen Knabengruppen in unserem eigenen Kreise ? Was ist die genaue Ordnung von Antezeden tien und Folgen, die in dem Zusammenbruche einer gegebenen Familie zutage treten; nicht zu sprechen von einer Formel der Ursachen von Familienauflösung im allgemeinen ? Worin besteht die genaue Interessenverbindung, die einem lokalen Wahlamte Dauer verleiht ? ... Wenn wir nicht die Jungens auf dem nächsten Schulhofe verstehen können, ist es kaum möglich, daß irgend jemand den Kinderkreuzzug besser verstanden hat." Der Hinweis auf die Primitiven, deren Gesellschafts bau so einfach sei, daß das völkerkundliche Studium als Vorstufe soziologischer Erkenntnis in erster Linie in Betracht käme (so früher bei Spencer, heute ζ. B. bei Vierkandt, Thurnwald, Levy-Brühl), bedarf sehr vorsichtiger Ausführung; denn die sozialen Verhältnisse der „Naturvölker" sind für uns durchaus nicht einfach, was die vielen Irrtümer der Beurteilung ihrer Einrichtungen beweisen, denen Reisende und Forscher verfallen sind. Mag die S t r u k t u r ihres Gesellschaftsbaus im

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allgemeinen einfach sein, so ist die Erklärung ihrer sozialen Bauweise durch Rückführung auf die zwischenmenschlichen Beziehungen dadurch erschwert, daß wir nur zu oft den Primitiven unsere Motive und Zielsetzungen unterschieben. Damit sollen die wertvollen Hilfen der Völkerkunde keineswegs geleugnet werden; aber das Studium einfacher zwischenmenschlicher Zusammenhänge im Beobachtungsfelde unseres eigenen Kulturkreises ist dringender und für die Zwecke der Soziologie im allgemeinen noch fruchtbarer. Der enge geschichtliche Zusammenhang zwischen Soziologie und Philosophie ist auch in der Gegenwart noch vorhanden. Recht verstanden, ist „in der Tat jede fruchtbare Soziologie philosophische Soziologie", wie Alfred V i e r k a n d t sagt. Der Versuch, das Problem Mensch und Menschheit von der Seite des Zusammenhangs zwischen Mensch und Mensch zu erfassen, gehört so sehr zu den allgemeinsten und jenseits aller bloßen Praxis, Technik und Kunstlehre stehenden Aufgaben, daß eben nur „philosophische" Köpfe schöpferisch an der Soziologie Anteil nehmen. Gerade die sozialen Erscheinungen, die ja meist nicht mit unseren Sinnen unmittelbar wahrzunehmen sind, fordern eine allgemeine, auf abstrakte Zusammenhänge weisende Betrach tungsweise nur allzu leicht heraus. Dabei führt d e r Weg häufig an die Pforten der Erkenntnistheorie u n d Metaphysik. Ds Zusammenhanges seines Gebiets mit den Unendlichkeiten und Unlösbarkeiten, an die der Philosoph — nicht der Soziologe als solcher — rühren darf und muß, wird dieser beständig gewahr: Was ist Realität ? was ist Individualität? was ist Beziehung,

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III. Die Haxiptrichtungen der Soziologie

Gebilde, was Ganzes, was Teil ? was ist Gruppengeist ? Die ganze heimliche und unheimliche Philosophie der persönlichen Fürwörter und manche andere Fragen stehen am Ende seiner Gedankengänge. Der Soziologe belichtet mit dem Scheinwerfer seiner Methode ein Stück (bei sorgfältiger Forschung) deutlich überschaubare Oberfläche des sozialen Globus; an den Grenzen verschwimmen die Wege, ja die Konturen der Gegenstände überhaupt. Seine relativ exakten Erkenntnismittel versagen hier. Es gehört zu seinen Aufgaben, die Grenze zwischen Belichtet-Sehbarem und Undeutlichem genau zu ziehen. In den Nebelreichen jenseits seiner Grenzlinie schweift der Philosoph, der mit einer anderen Kamera ausgestattet ist. Er behauptet, mit ihr ausgezeichnet sehen zu können; es gibt freilich Zweifler, die meinen, man nehme damit nur seine eigenen inneren Gesichte wahr;.die Umgebung bleibe dunkel. Uber das Verhältnis erstens von Soziologie und Sozialphilosophie und zweitens von soziologischer Fragestellung innerhalb der Philosophie, zumal der historischen Philosophie (soziologischer „Methode" in der Philosophie) einerseits und Soziologie als Disziplin anderseits sind in der Gegenwart klare Unterscheidungen endlich dringend notwendig. Viel MißVerständnis, Streit und viele falschen Ansprüche wären sogleich beseitigt, wenn man sich hier deutlich zu scheiden gewöhnte. Es ist verkehrt, die eine „Richtung" gegen die andere auszuspielen und nur e i n e r wissenschaftlichen Denkweise Daseinsrecht oder Vorrangstellung zuzubilligen. Unsere hier mit Nachdruck erhobene

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Forderung geht nicht auf Ausschluß einer Arbeitsund Denkweise, sondern auf ihre U n t e r s c h e i d u n g . Es ist hohe Zeit, daß man aufhört, Sozialphilosophie Soziologie und Soziologie Sozialphilosophie zu nennen. Sie sind ebenso voneinander unterscheidbar, wie sich jede andere Einzel wissen schaft von der Philosophie deutlich abhebt. Das Daseinsrecht einer Sozialphilosophie und in ihr einer Metaphysik des Sozialen wird von uns nicht angefochten. Nur darf Metaphysik und exakte Forschung nicht miteinander vermengt werden und nicht die eine (gewissermaßen stillschweigend) in dip andere überfließen. Wer das Bedürfnis fühlt, dem verschleierten Bildnis zu Sais zu nahen, letzte Zusammenhänge unseres menschlichen Daseins mit dem Walten der Gottheit durch menschliche Vernunft zu ergründen, ergebe sich der Metaphysik der Gesellschaft. Daß es solche Zusammenhänge gibt, daß es außer dem, was wir greifen und berechnen können, hinter aller E x a k t heit strebenden Forschung die — wie man heute so gern sagt — irrationalen, alle Empirie unendlich überwiegenden Urgründe des Ewigen gibt, ahnen wir alle. Wir sagten bereits: das Rationale grenzt überall an das Irrationale. Aber Wissenschaft ist nicht Philosophie, und Soziologie sollte nur Wissenschaft sein. Jedoch noch ein Zweifel sei nicht verschwiegen: Wenn wir Metaphysik und Forschung im Interesse dieser Forschung scheiden, aber das Daseinsrecht der Metaphysik des Sozialen nicht anfechten, so will es uns doch scheinen, als ob die Metaphysik eines Erfahrungskomplexes eigentlich erst dann beginnen sollte, wenn man sich hinreichend über diesen Kreis des Erfahrbaren klar^ge-

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III. Die Hauptrichtungen der Soziologie

worden ist. Der in Deutschland so häufige Vorgang, daß man zuerst den himmlischen Widerschein der Dinge im Absoluten aufzufangen trachtet, ehe man sich die irdische Gestalt mit offenen Augen betrachtet hat, ist unser wissenschaftliches Verhängnis. Besonders in der Gegenwart entspricht es einer anspruchsvollen Geisteshaltung, daß Fragen und Antworten nur dann eines Denkers für würdig gehalten werden, wenn sie mit letzten Werten unmittelbar zusammenhängen. Es gibt aber nicht bloß „letzte Fragen", sondern so unendlich viel Nahes und Nächstes auf Erden, das dringend einer liebevollen Versenkung des Geistes in sein Wesen mit ganz einfachen, vor allem aber k l a r e n Denk- und Arbeitsmitteln bedarf. Die „Physik" des Sozialen ist so problemreich, schwierig und größtenteils unbekannt, daß die Metaphysik unmöglich schon reif sein kann, wenn das Objekt hier wie dort dasselbe sein soll. Unbestreitbar wird viel Tief- und Scharfsinn auf die Spekulation über die Idee des Sozialen verwendet. Aber sofern diese Spekulation fruchtbar ist, ist sie es entweder, weil geniale, mit Intuition begabte Seher und Weise sie ausüben, oder weil sie ein anderes Objekt, als es der Wissenschaft vom Sozialen eigen ist, zugrunde legt, es aber für das Soziale ausgibt. So muß etwa die Geschichte, die Politik, Jurisprudenz als Boden dienen, von dem aus der Flug in die metaphysischen Gefilde des Sozialen vorgenommen wird. Dankbar, wenn auch mit Kritik, empfängt die Soziologie Bereicherungen von genialen Dichter-Denkern, wie es einst S c h ö l l i n g und H e g e l , wie es im 20. Jahrhundert M a x S c h e l e r und S p e n g l e r waren.

III. Die Hauptriehtungen der Soziologie

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Mißtrauisch aber sollte sie gegen die ^Nachahmer und Auch-Phänomenologen sein, die, weil sie einem Probleme exakter Forschung ins Auge zu schauen nicht bereit sind, alsbald in einer absichtlich dunklen, verschwommenen Sprache zur Metaphysik fliehen, Ungereimtheiten und willkürliche Thesen aufstellen und diese „Philosophie" für Soziologie ausgeben. Der heute so üppig wuchernden, die Soziologie in den Ruf der Unklarheit und Lebensfremdheit bringenden pseudometaphysischen Richtung müssen wir, soweit es sich eben um Richtungen, Schulen und um die große Masse literarischer Produktion handelt, die Behauptung entgegenstellen, daß die Zeit wahrer Metaphysik des Sozialen noch nicht gekommen ist. Metaphysik sollte (wie Philosophie überhaupt) nur die Sache der Allerwenigsten sein, für die es freilich keine zeitliche Bindung gibt, und die reden, wann und wie sie der Geist treibt. Metaphysik ist Aufgabe des Sehers, nicht rles Gelehrten. Auf abgeschlossene Systeme metaphysischer Soziologie, die sich deutlich als solche kennzeichnen, wie sie etwa Victor B r a n f o r d in England geschaffen hat, bezieht sich also unser Einwand nicht. Alan muß auch den Begriff der Soziologie sehr weit fassen, wenn man für sie Beispiele aus der deutschen Soziologie der Gegenwart nennen wollte. Dagegen ist, wie gesagt, die Durchsetzung teilweise exakter Forschungen mit metaphysischen Bestandteilen sehr verbreitet. Solche Versuche zu einer Metaphysik der Gesellschaft scheinen uns überall da zu bestehen, wo sich der Autor anheischig macht, etwas Gültiges über den letzten Sinn und das

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von Gott (dem Absoluten, dem Weltgeist, der Natur) gewollte Wesen der Gesellschaft auszusagen. Oft führen, wie bei S p a n n und seinen Anhängern, die Tendenzen des sogenannten „Universalismus" zu solchen Aussagen. Neigen doch diese Autoren dazu, die Begriffe Gesellschaft und Gott nahezu gleichzusetzen. Gegenüber diesen Ansprüchen, das Unsagbare mit den Mitteln der dafür ungeeigneten Wissenschaften autoritativ auszulegen , behaupten wir, daß nur über den s u b j e k t i v e n Sinn gesellschaftlicher Prozesse, d. h. über den Sinn, den die dabei beteiligten Menschen gemeint haben, etwas ausgesagt werden kann; den Fragen nach dem objektiven absoluten Sinn können wir nur mit einem Ignoramus begegnen. Den Kundgebungen des Überpersönlichen und Übernatürlichen nachzugehen, ist Religion. Wie aber steht es mit dem, was wir oben Soziologie als „Methode" innerhalb der Philosophie genannt haben ? Es ist begreiflich und erfreulich, daß die Philosophen in der Gegenwart so häufig urtd so intensiv sozialen Zusammenhängen bei ihren Untersuchungen über die Entwicklung des Geistes in der Menschheitsgeschichte nachgehen. Es mag richtig sein, daß sie es oft mit Resignation tun. Ihre Teilnahme gehört ihrer Aufgabe gemäß eben diesem Wege des Geistes und seinen Werken, den menschlichen Errungenschaften in der Geschichte: Zunächst sind es die großen Einzelpersönlichkeiten (Religionsstifter, Philosophen, Ethiker, Reformatoren, Staatslenker, Priester), die ihnen als die Träger der Entwicklung des sich auf Erden dokumentierenden Geistes erscheinen. Aber in unserem ,,soziologischen Zeitalter" treten ihnen immer mehr die sozialen

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Gruppen und sonstigen Gebilde, die Volksmassen, Klassen, Stände, Stämme als wesentliche Kräfte entgegen, die oft recht hemmend und vergröbend auf Geist, Religion und Kultur eingewirkt haben. Die Wirksamkeit des Geistes auf Erden ist von der Struktur und den Anforderungen der Massen und Gruppen abhängig. Das war eine zur Resignation stimmende Beobachtung, die etwa T r o e l t s c h und S c h e l e r machen mußten. Diesen Zusammenhängen wissenschaftlich forschend nachzugehen, war ihnen Pflicht. Sie wurden damit zu Soziologen (im weiteren Sinne), ohne doch aufzuhören, in erster Linie Theologen oder Philosophen zu sein; Aber die Aufgabe des soziologischen Philosophen unterscheidet sich doch wesentlich von der des Fachsoziologen: Jener verfährt (im obigen Sinne) teilweise (oft vorwiegend) soziologisch, indem er den Einfluß der sozialen Gebilde auf den Geist oder den Einfluß des Geistes auf die sozialen Gebilde beobachtet und darstellt ; dieser sieht seine Aufgabe nicht in der Erfassung der Bekundungen des Geistes auf Erden, sondern in der Erfassung der zwischenmenschlichen Beziehungen und der daraus entstehenden sozialen Gebilde. Der Philosoph nimmt in der Hauptsache die Gebilde als hinreichend analysiert und bekannt an; er operiert mit den Begriffen Staat, Volk, Gruppe, Masse, Klasse usw., als wenn sie (im wissenschaftlichen Sinne) „fertige" Größen wären; für den Soziologen besteht zunächst erst die Aufgabe, zu erforschen, was Volk, Staat, Klasse usw. ist und war. Wieder machen wir die Beobachtung, daß die NichtFachsoziologen ihre Arbeit begonnen und weit geführt haben, ehe die fachsoziologische Forschung vollendet ist. v o n W i e s e , Soziologie.

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Sie begnügen sich mit dem, was andere ältere Wissenschaften oder die ältere unexakte Soziologie darüber ausgesagt haben, teilweise auch mit dem, was man im profanen Alltage davon zu wissen glaubt. Es ist notwendig, diesen Unterschied, der durch das gemeinsam verwendete Wort Soziologie verdeckt wird, zu erkennen. Für den Fachsoziologen ist Soziologie nie bloß Optik, Betrachtungsweise, Blickrichtung auf Gruppen, sondern Wissenschaft vom Zusammenwirken der Menschen unmittelbar, nicht mehr und nicht weniger Daß die großen Philosophen, die „soziologisch gearbeitet haben, auch den Fachsoziologen viel lehren und schließlich in Einzelheiten auch rein fachlich Stoff und Erkenntnisse vermitteln können, ist unbestreitbar, wobei kritische und unterscheidende Aufnahme freilich Erfordernis für den Soziologen ist. Auch muß ausgesprochen werden, daß viel Teilnahme, die sich angeblich auf die Soziologie richtet, in Wahrheit jener soziologischen Philosophie gilt. Die Zahl der Gebildeten, die die unendliche Fruchtbarkeit und Nützlichkeit einer nicht die „Kulturgüter" und Errungenschaften des Menschen, sondern die miteinander verkehrenden Menschen selbst betrachtenden Wissenschaft erkannt haben, ist Jieute noch gering. Wir sind seit vielen Jahrhunderten an eine andere Auffassung der „Kultur" als die eigentlich zwischenmenschliche gewöhnt. Das Produkt erscheint uns greifbarer als der Vorgang, der zu ihm führt. Diese Abgrenzung von Soziologie und Philosophie ist weit entfernt von einer im vorigen Jahrhunderte nicht seltenen Philosophiefeindlichkeit oder -Verachtung. Wir

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sind nicht der Meinung, daß die Soziologie die Philosophie zu ersetzen vermöge, und daß ein angeblicher „Soziologismus" des Zeitalters die vermeintlich „scholastisch" gewordene Philosophie ablösen könne u n d solle. Zumal da die abgegrenzte Soziologie noch jung ist, kann mit Recht behauptet werden, daß in älterer und jüngster Vergangenheit manche auch für sie wertvolle Einsicht der Philosophie zu verdanken ist. Doch können diese Zugeständnisse die dringende Forderung einer klaren Scheidung zwischen beiden Arbeitsbereichen nicht abschwächen. Aber diese Scheidung von Methode und Disziplin, die wir oben an die Spitze gestellt haben, gilt nicht nur für das Verhältnis der Soziologie zu Philosophie, sondern zu allen Wissenschaften, die sich' mit Mensch ,Tier und Pflanze befassen. „Soziologisches" findet sich heute bei Jurisprudenz, Sozialökonomik, Theologie, Ästhetik, Sprachwissenschaft usw., aber auch in der Zoologie und Botanik. Da Kultur und Leben wesentlich von den Gruppierungen der Menschen und Organismen abhängen, so müssen alle Wissenschaften von Kultur und Leben in genau demselben Sinne, wie wir es oben bei der Philosophie festgestellt haben, in manchen Abschnitten (im einzelnen in sehr verschieden tiefgehendem Grade) nach Aufgabe und Ausführung „uns soziologisch kommen". Wieder erheben sich unsere Zweifel wegen eines nicht selten verfrühten Verfahrens, das zu falschen Ergebnissen führt, die nur die „Anwendung" der Soziologie in Nachbarwissenschaften in Verruf bringen. Auch betonen wir abermals ausdrücklich, daß die Verknüpfung von Erscheinungen der Kunst, Sprache, Religion, des

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Rechts usw. mit Tatsachen aus dem Kreise der sozialen Gebilde die betreffenden Wissenschaften nicht zu Gesellschaftslehren und die Autoren nicht zu Soziologen macht. Soziologische „Methoden" — entweder im strengen Sinne, daß A r b e i t s w e i s e n , die in der Soziologie üblich oder notwendig sind, auf Untersuchungen in jenen Wissenschaften angewendet werden, oder in laxem Wortgebrauche, daß Objekte, mit denen sich der Soziologe ausdrücklich zu befassen hat, gelegentlich in das Blickfeld der anderen treten — sind sehr häufig und — abgesehen von der sogenannten „reinen" oder theoretischen Soziologie — auch von den speziellen Soziologien zu scheiden. Kehren wir jedoch wieder zu unserer philosophischen Soziologie zurück, die wir in ihrem einen Hauptzweig: dem metaphysischen kennen gelernt haben. Nicht zu verwechseln mit ihrem anderen Zweige: dem erkenntnistheoretischen. Bei ihm, der in den letzten Jahrz ehnt en in M a x A d l e r einen sein er Hauptautoren besaß, wird das Soziale als eine Kategorie des Bewußtseins aufgefaßt. Unser Denken sei schon Gesellschaft. „Das Problem der Gesellschaft liegt nicht etwa erst im historischen ökonomischen Prozeß der Vergesellschaftung, sondern schon in dem seine Begriffe vergesellschaftenden Denk prozeß de3 Individuums 4 )." Schon nach Kants theoretischer Erkenntnislehre müsse man dem individuellen Bewußtsein transzendental-sozialen Charakter zusprechen. 4 ) Jahrbuch f. Soziologie, Band I, S- 25/26 und Verhandlungen des vierten deutschen rioziologentages, sowie vor allem io Adlers Buch : „Das Rätsel der Gesellschaft", Wien,193fi·

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Damit werden die Probleme der Vergesellschaftung dieser Richtung zu erkenntniskritischen Aufgaben. Es handelt sich dabei nicht um Psychologismus (wie bei manchen Engländern und Amerikanern), sondern speziell um Analyse des Inhalts und der Formen des Denkens. Wir müssen gegen diesen sich als „transzendental" bezeichnenden Standpunkt einwenden: Da das Denken teilweise Zusammenhänge zwischen (der Anschauung nach) isolierten Dingen herstellt, führt auch das Denken über Menschen sicherlich auch vom Individuellen zum Überindividuellen. Aber zum andern Teil trennt auch das Denken anschaulich Verbundenes; es schafft also auch erst die Vorstellung vom Besonderen. Der Denkprozeß vergesellschaftet u n d isoliert. Ein Primat des einen vor dem anderen Vorgange ist nicht anzuerkennen. Aber in der Soziologie handelt es sich gar nicht u m Analysen von Bewußtseinsvorgängen; wir können nicht das Soziale von den Denkgesetzen her erfassen E s ist n i c h t e i n e K a t e g o r i e d e s B e w u ß t s e i n s , sond e r n d e s L e b e n s . Es kommt darauf an, dieses L e b e η richtig (meinetwegen erkenntniskritisch naiv) zu beobachten und das Beobachtete zu ordnen. Lernt man aus dieser unvoreingenommenen Beobachtung der Wirklichkeit, so verschwindet auch der durch Erkenntniskritik künstlich auf die Spitze getriebene Gegensatz von Individuellem und Sozialem. Das E l e m e n t des Sozialen ist nicht ein Bewußtseinsvorgang, sondern der soziale Prozeß, ein objektives Geschehen. Er ist freilich meist auch ein physiologisch-psychologischer Vorgang, bei dem

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aber weniger die Denkvorgänge als die Begehrungen maßgebend sind. Dabei verhehlen wir uns nicht, daß eben dieses objektive Leben um uns mit den Kräften und Unkräften unseres Verstandes subjektiv umgestaltet, aufgenommen wird. Aber die dadurch erforderliche kritische Haltung zu unserem eigenen Erkenntnisvermögen gilt für alle Art Wissenschaft. Eine Besonderheit bietet hierin die Soziologie nicht. Aus all dem, was wir bisher über die historische und die philosophische Soziologie sagten, ist hervorgegangen, daß wir beim gegenwärtigen Stande unserer Wissenschaft neben diesen beiden Denkweisen die realis t i s c h - s y s t e m a t i s c h e Inangriffnahme der Problembewältigung für besonders notwendig und fruchtbar halten 5). Suchen wir also im nächsten Kapitel in knappster Formulierung zusammenzufassen, was diese Gattung Soziologie ist, und was sie nicht ist.' O p p e n h e i m e r hat (in seinem System der Soziologie, 1. Bandf S. 55) sicher nicht ganz unrecht, wenn er die Aufgabe einer zureichenden Klassifikation für unlösbar erklärt. Die Zuordnung der Autoren zu den einzelnen Richtungen (auch unsere eigene Zuordnung) bleibt anfechtbar, weil ja gerade die älteren Soziologen nach Universalität strebten und sich in der Regel mit den Denkhilfen und Ergebnissen e i n e r Nachbarwissenschaft nicht begnügten; das gilt besonders für Comte selbst, dessen Bezeichnung als Naturwissenschafter nicht ausreicht. £)a ferner die Einrechnung von Forschern in den Kreis der Soziologen ganz von der weiteren oder engeren Fassung des Begriffs Soziologie abhängt, so könnte man unsere Kategorien noch stark vermehren, ζ. B. noch geographische," juridische, sozialökonomische e)

Über Kultursoziolojio und über Wiasenesoaiolo^ie s- K a p - ΐ χ .

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Gruppen aufzählen, wie es Sorokin getan hat. Oppenheimer weist auch auf L o r i a s ^ S q u i l l a c e s , B a r t h s und W u n d t s Kategorisierungen hin. K a r l P r i b r a m hat in den KölnerVierteljahrsheften für Soziologie V/3 in dem Aufsatze „Zur Klassifizierung der soziologischen Theorie" — ganz in Übereinstimmung mit unserem obigen Versuch — vorgeschlagen, an den Begriff der Gesellschaft anzuknüpfen. Er unterscheidet, „entsprechend den drei für das menschliche Denken überhaupt charakteristischen Methoden", drei Gruppen: die begriffsrealistische, die in den konkreten Erscheinungen lediglich Abbilder von Ideen erblickt und die Einzelmenschen nur als Teile von Kollektiveinheiten gelten läßt, zweitens die nomiiialistisclie, nach der als wirklich vorhanden nur die Einzelmenschen anzusehen sind, und drittens die pseudorealistische, die die Wirklichkeit zunächst nominalistisch erfaßt, aber danach den sozialen Gruppen eine den Einzelmenschen gegenüber selbständige Haltung und reale Existenz außerhalb des Bewußtseins der Individuen zuschreibt. — Von dieser Dreiteilung glauben wir nun die Charakteristik der ersten Gruppe annehmen zu dürfen; sie deckt sich mit unserer oben zuerst genannten ersten Gruppe (Gesellschaft gleich Substanz). Wenn wir im übrigen Pribram nicht ganz folgen, so geschieht es, um die gefährliche und falsche Antithese Universalismus und Individualismus zu vermeiden. Mehr kann hier leider dazu nicht gesagt werden. Von Filippo C a r l i nennen wir zwei Werke, nämlich seine „Introduzione alia Sociologia Geneal" (Bologna, 1924-25) und ,,Le Teorie Sociologiche" (Padua 1925). Im zweitgenannten Werke unterscheidet er zwei Typen soziologischer Forschung. Er sagt darüber :„Insoweit die Geschichte der Soziologie systematische und rationale Untersuchungen enthält — das ist von August Comte an der Fall —, zeigt sie uns das Bestehen zweier Typen von soziologischen Untersuchungen, die durch die Art mit der das Objekt der Untersuchung aufgefaßt wird, und durch die befolgte Methode bestimmt sind. Auf der einen Seite hat man die Gesellschaft als eine Verlängerung der Natur aufgefaßt und infolgedessen von ihr die Naturgeschichte geben wollen. Da man diese Gesellschaft als ein einheitliches Ganzes konzipiert hat, sc hat die Soziologie dieses Typus denhist orisch-enzykLopädischea

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Charakter angenommen. Außerdem will man zur Erkenntnis der sozialen Realität mit Hilfe der Rekonstruktion (in Gedankenform) der Realität selbst in ihrer Ganzheit gelangen, woraus der synthetische Charakter dieses Typus stammt. Der zweite Typus der soziologischen Untersuchungen dagegen ist der, durch den man mittels der Analyse zur Erkenntnis der sozialen Wirklichkeit kommt: der Analyse der Kräfte, der Tatsachen, der Gruppen, der Beziehungen: also analytische Soziologie. Dieser zweite Typus der Soziologie begann zwischen 1885 und 1890, in einer Periode, in die die ersten Werke von T ö n n i e s , T a r d e , D ü r k h e i m u n d Simmel fallen. Aber darum hörte der Typus der historisch-enzyklopädischen Soziologie nicht auf, so daß wir in diesem Augenblicke das Bestehen beider Typen finden, wie sehr auch jetzt in einer fast ausschließlichen Weise der zweite herrschen mag." Zum ersten Typus gehören nach Carli C o m t e , J . S t u a r t M i l l , C o u r n o t , Spencer,' die ihm folgenden Organizisten (Lilienfeld, S c h ä f f l e , E s p i n a s , De Greef, Navicow, W a x w e i l e r ( ?), Worms) und die Sozialdarwinisten; ferner die Deterministen (geographische Deterministen: ζ. B. L e P l a y ; historische Deterministen: Marx usw.); schließlich der Historismus (anthropologischer, sozio-ethnographischer, historisch-evolutionistischer und phaseologischer Richtung). — Hierhin (zu den Analytikern): die psychosoziale Gruppe ( C a t t a n e o , L a z a r u s u n d S t e i n t h a l , G a b r i e l T a r d e ) , die Massenpsychologen ( L e B o n , Sighele), die Folkloristen'und die Psychoanalytiker; die objektivistischen Realisten ( E m i l D ü r k h e i m , B o u g i e , D a v y , E a u c o n n e t , Mauss), der relative soziologische Realismus (die Lehre von der Wechselbeziehung), dem F o u i l l e e , W u n d t , B a l d w i n angehören, die Sozialpsychologen D a v i s , E l l w o o d Mac D o u g a l l , B o g a r d u s usw.); die Inventionssoziologie und andere Autoren des relativen Realismus; schließlich die reine und die analytisch-formale Soziologie ( T ö n n i e s , S i m m e l , V i e r k a n d t ) ; der Pragmatismus ( R a t z e n h o f e r ) , die Nominalisten ( D u p r a t , G i d d i n g s , Roß, v. Wiese), das System P a r e t o s . — Auch dieser komplizierten Einteilung gegenüber müssen wir uns eine kritische Würdigung versagen. Sie ist hier nur abgekürzt wiedergegeben, um daran dem Leser den großen Um-

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fang und die Verwickeltheit der literaturgeschichtlichen Aufgabe anzudeuten. Zu welchen weiteren Spannungen der Soziologie man gelangt, wenn man jede Befassung mit der menschlichen Gesellschaft als Soziologie ansieht, zeigt besonders deutlich die Einteilung, die Pitirim Sorokin seinen „Contemporary Sociological Theories" (New York und London 1928) zugrunde legt. Er sondert: I. Mechanistische Schule: Soziale Mechanik Soziale Physik Soziale Energetik Mathematische Soziologie Paretoa II. Synthetische und geographische Schule Le Plays I I I . Geographische Schule IV. Biologische Schule: Pio-organizistische Richtung Rassentheoretiker, Vererbungs- und Selektionstheorie Soziologische Darwinisten (Lehre vom Kampfe ums Dasein) V. Biosoziale Schule Demographische Soziologie VI. Biopsychologische Schule VII. Soziologistische Schulen: Neopositivistische Richtung Dürkheim-Schule Gumplo wicz - S chule Formale Soziologie ökonomischstische Geschichtsinterpretation VIII. Psychologische Schulen: Behaviorismua Instinktstheorien Introspektionslehre I X . Psycho-soziologische Schulen: Interpretationen sozialer Erscheinungen in dem Begriff der Kultur, Religion, des Rechts, der öffentlichen Meinung, der Volkskunde und anderen psychosozialen Faktoren.

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IV. Die realistisch-systematische Soziologie Experimentelle Studien über die Wechselbeziehungen zwischen verschiedenen psychosozialen Erscheinungen.

Theodore Abel hat im Gegensatze zu Sorokin in einer Schrift „Systematic Sociology in Germany" (New York 1929, Colum* bia University Press) versucht, diejenigen deutschen Autoren zu charakterisieren, die die Soziologie in einem engeren Sinne als unabhängige Wissenschaft aufgefaßt hätten 6); er sondert die formale Soziologie Geörg Simmeis, die phänomenologische Alfred Vierkandts, die behavioristische Leopold v . W i e s e s und die verstehende Max Webers β).

K a p i t e l IV: Die realistisch'systematische Soziologie Schade, daß die üblichen Bezeichnungen für eine solche systematische Nur-Soziologie abgegriffen und mißverständich sind. Am häufigsten (auch in entsprechenden Fällen bei anderen Wissenschaften) ist das Attribut „rein". (Auch die Franzosen reden von sociologie pure, die Engländer und Amerikaner von pure sociology.) Etwas boshafte Kritiker haben daraus den Unterschied zwischen reiner und unreiner Wissenschaft gemacht. Aber das Wort rein soll: eigentlich, ausschließlich, unvermischt bedeuten; sein Gegensatz ist: teils angewandt, teils speziell, teils allgemein, d. h. erweitert. Will man das Mitschwingen eines Tones von Anmaßung in der Bezeichnung „reine Soziologie" vermeiden, so könnte man sie auch t h e o r e t i s c h e Soziologie nennen. e

) Vgl. dazu meine kritische Besprechung im 8· Jahrgang der „Kölner Vicrteljahrshcfto für Soziologe" (1929/30) S- 141 ff. unter der Überschrift „Systematische Soziologie in Deutschland".

I V . Di© realistisch-systematische Soziologie

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Aber dieses Adjektivum ist recht vieldeutig und interpretationsbedürftig. Gemeint ist es in dem ursprünglichen, griechischen Sinne: nur auf Erkenntnis eines IstZusammenhanges zielend. (Gegensatz: praktisch = auf ein Sollen zielend.) Zu dritt bietet sich — im anderen Sinne als eben — das Wort: allgemein dar. Diese allgemeine Soziologie ist gerade Soziologie im engsten (nicht im erweiterten) Sinne. Sie ist insofern allgemein, als sie nicht besondere Ausschnitte des gesellschaftlichen Lebens betrifft, sondern das Zusammenleben und Verhalten von Menschen insgesamt auf jedem Gebiete verfolgt, dann aber in den nichtspeziellen Zügen, sondern in denen, die sich eben überall finden. Der Umstand, daß man von „allgemeiner" Soziologie in zwiefachem, gerade entgegengesetztem Sinne reden kann, erschwert die Anwendung dieses Terminus. Da aber die Gegenüberstellung einer solchen generellen mit mehreren speziellen Soziologien die wichtigste Einteilung der Gesellschaftslehre ist, wählen wir die Bezeichnung „allgemeine Soziologie". Dagegen möchten wir den Haupttitel: formale Soziologie, den Simmel eingeführt hat, lieber vermeiden. Der Gegensatz von Form und Inhalt ist in seiner Vieldeutigkeit sehr leicht miß verständlich ; was u n t e r dem einen G e s i c h t s p u n k t F o r m ist, erscheint u n t e r einem anderen als I n h a l t . Jedenfalls ergibt sich daraus die Notwendigkeit, den Begriff Form im jeweiligen Anwendungsfalle genau zu erklären. Die Beziehungslehre ζ. B. kann nur insofern als formale Soziologie angesehen werden, als sie von dem jedesmaligen Sonderzweck einer Beziehung zwischen Menschen absieht, also

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IV. Die realistisch-systematische Soziologie

ihre Aufmerksamkeit bei einer menschlichen Verbindung nicht auf das Anstreben von Aufgaben der Religion, Wirtschaft, Technik, Politik, Kunst, Wissenschaft usw. richtet, sondern auf die Art der Verbundenheit der Menschen. Nur soweit diese durch speziellen Zweck einen besonderen Charakter bekommt, interessiert auch das Handlungsziel. Man könnte ja schließlich dieses Verhältnis von Verbundenheitsweise und Verbindungszweck als das von Form und Inhalt bezeichnen. Aber die Erfahrung hat gelehrt, daß das Wort formal vielfach so verstanden wird, als wenn die Befassung mit dieser „Form" der Beziehung eine Beschränkung auf ein äußeres und oberflächliches Gefüge der Gesellschaft bedeute und treibende Kräfte, die hinter den Vorgängen der Vergesellschaftung stehen, außer acht bleiben 1 ). Ja, es könnte manchmal so scheinen, als wenn alle für das praktische Leben wichtigen Probleme als zum „Inhalt" gehörig keinen Raum in einer „formalen" Soziologie fänden. Diese falsche Vorstellung muß bekämpft werden; sie richtet großen Schaden an. Das Gegenteil ist der Fall. Wenn wir von dem Gegenständlich-Sachlichen einer Beziehung zwischen Menschen absehen, gewinnen wir erst die Möglichkeit, in die Tiefe des Verhältnisses von Mensch zu Mensch zu dringen. Gerade das „Inhaltliche" daran wird sichtbar. Ebenso irrig ist es, anzunehmen, daß diese „formale" Soziologie die funktionale Auffassung der menschlichen Beziehungen unberücksichtigt lasse; die Beziehungen sind vielmehr ebensosehr ihrem bloßen Das behauptet ζ. B. Carl Brinkmann (in seiner „Gesellschaftslehre" S· 9) von der Beziehungslehre.

IV. Die realistisch-systematische Soziologie

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Sein nach kausal, wie auf ihre Funktionen hin teleologisch zu erklären. Auch hat keineswegs diese „formale" Soziologie bloß die Statik, nicht auch die „Dynamik", also die zu einer Entwicklung führende Bewegung der sozialen Prozesse im Auge; es steht nichts im Wege, nachdem man die im Querschnitt festgestellten Zusammenhänge der Beziehungen analysiert hat, auch den Veränderungen, die sich an ihnen in der Zeit vollziehen, nachzugehen. Damit ist schon manches darüber, was die realistischsystematische Soziologie sein will, und was sie nicht sein will, angedeutet: Erinnert sei auch an das im ersten Kapitel darüber Gesagte: Siß ist keine Enzyklopädie und krönende Synthese aller Sozialwissenschaften, noch weniger eine Zusammenfassung von Ergebnissen der Biologie und Psychologie. Sie stellt sich vielmehr als Einzelwissenschaft neben die anderen Sozialwissenschaften, wobei sie eine deutlich von diesen unterscheidbare Grundfragestellung und eine nur ihr eigene Betrachtungsweise, wie noch zu zeigen sein wird, beansprucht. Das ErgänzungsVerhältnis, das zwischen allen Sozialwissenschaften besteht, gilt auch für sie. Sie ist ferner keine Ars (Kunstlehre), sondern eben eine Wissenschaft 2). Die Kennzeichnung des Unterschieds hat Rene W o r m s in folgenden klaren Sätzen formuliert: „Die Wissenschaft strebt nicht danach zu handeln, sondern nur zu erkennen. Sie will nicht der Welt eine neue Orientierung aufnötigen; sie sucht nur zu zeigen, wie sie (die Welt) sich von sich aus orientiert. 2 ) Vgl. hierzu Worms, La Sociologio, Bibliothöque Sociologique Internationale, Kap. II, Paria 1921, M. Giard.

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Sie bekümmert sich nicht um Umänderungen, sondern sehr um Unterrichtungen. Die Ars neigt zum Ideal, die Wissenschaft zum Realen. Jene formuliert Vorschriften, diese entwickelt Gesetze. Jene will Einfluß auf die Zukunft erlangen, diese erstreckt ihre Forschungen auf die Vergangenheit und auf die Gegenwart. Jene hat notwendig subjektiven Charakter, diese sucht ganz objektiv zu sein. Kurz, die Ars ist das, was man die Theorie nannte, wenn man diese von der Praxis schied. Aber die Wissenschaft theoretisiert nicht, sie macht Feststellungen ; zum mindesten bezeichnet das Wort Theorie bei ihr nur eine Verbindung positiver Kenntnisse. Es bedarf zuerst einer Wissenschaft zur Führung der Ars. Man kann in der Tat nur dann tief und breit auf die Welt einwirken, wenn man genau weiß, was sie ist." Damit ist also deutlich gesagt, daß die Soziologie im Gegensatz zur Ethik nicht wertet und dem praktischen Handeln "keine Ziele setzt. Die Ethik aber bedarf dringend der Orientierung an der Soziologie, weil sie von ihr ein unbestochenes Urteil über das Objekt erlangen kann, das sie beeinflussen will 3 ). Damit hängt weiter zusammen, daß die Soziologie die Metaphysik des Sozialen, wie oben bereits näher dargetan wurde, nicht mitenthält. Sie ist empirisch, da sie sich an der Erfahrung orientiert, nicht an der Spekulation. Jedoch ist der Begriff der Empirie nicht in einem engen positivistisch-materialistischem Sinne gemeint ; die inneren Erfahrungen und die heute mit dem Worte Phänomenologie (im Gegensatze zu der berechen2 ) Vgl. L . v. Wiese,'Das Problem einer Ethik auf soziologischer Grundlage, Archiv f. Rechts- und Sozialphilosophie, X X X V (1942).

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baren, äußeren Erfahrung) umfaßte, auf unmittelbarer Beobachtung beruhende „Wesensscliauung" gehören nicht minder zu ihrem Tatsachenfelde. Sie ist realistisch insofern, als sie die von uns wahrnehmbaren Erscheinungen der Außenwelt als Wirklichkeiten nimmt und nicht bloß für Inhalte von Bewußtseinsvorgängen hält. Sie ist systematisch und nicht historisch, da ihr Grundzusammenhang begrifflicher Art ist und nicht auf Zeitfolge beruht. Sie bedient sich der Deduktion und der Induktion und benutzt das eine Verfahren zur Kontrolle der Ergebnisse des anderen. Sie hängt eng mit der Soziog r a p h i e zusammen. Heute besteht eine vor allem von T ö n n i e s geförderte Neigung, diese Soziographie in Wiederaufnahme von Bestrebungen des 18. Jahrhunderts zu einer eigenen Disziplin zu gestalten. Auch uns erscheinen Schilderungen und Beschreibungen von Ausschnitten des gesellschaftlichen Lebens — besonders von kleinen, gründlich beobachtbaren Ausschnitten — dringend geboten. Gerade die Beziehungslehre, von der noch zu handeln sein wird, ist ja nichts anderes als ein System der Beobachtung von Vorgängen des gesellschaftlichen Lebens. Aber das ist auch der Giund, weshatt) wir eine S c h e i d u n g v o n S o z i o l o g i e u n d S o z i o g r a p h i e n i c h t e m p f e h l e n können.DieSoziologie bedarf einer Bindung an die Induktion und an die Beschreibung, um nicht in Spekulation zu verfallen; die Soziographie wiederum würde ohne Soziologie theorielos sein. Es kann sich in der Soziographie nicht um eine ungeleitete Beschreibung von Tatsachenkom-

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plexen nach irgendeinem zufälligen (vielleicht nach einer Zählmethode) oder nach gar keinem Verfahren handeln; sondern es muß eine streng systematische, stets gleiche, isolierende und auswählende Beobachtungsmethode bestehen, die auf ganz bestimmten grundlegenden Vorstellungen von dem für die Sache Wesentlichen beruht. Erst die in der S o z i o l o g i e gegebene Theorie lehrt, was und vor allem, wie man beobachten soll. Damit wird die Soziographie zu einem inneren Bestandteil der allgemeinen Gesellschaftslehre wie der speziellen Soziologien. Sie kann nichts anderes sein als die Ausführung des allgemeinen Programms der Theorie. Widersprechen die induktiven Forschungsergebnisse der Theorie, so muß diese geändert werden. Es sollte aber nie gegenüber den Verwickeltheiten des gesellschaftlichen Lebens eine theorielose Beschreibung geben. Der Glaube, man brauche bei der Deskription die Wirklichkeit nur abzuschreiben oder mit Worten zu photographieren, ist irrig. Man muß an die Realität mit bestimmten geistigen Werkzeugen herangehen; sonst bewältigt man sie nicht. Wer nicht vorher weiß, was er eigentlich im Einzelfalle beobachten will, gerät in einen Irrgarten. Erst muß eine bestimmte Fragestellung bestehen, ehe man beobachten kann. Diese Fragestellung iet von früheren Beobachtungen stark beeinflußt (und sollte es stets sein); sie ist also selbst bis zu einem gewissen Grade das Ergebnis von Induktionen. Auch stellt sich manchmal bei und aus den Beobachtungen heraus, daß sie geändert werden muß. Das widerspricht aber nicht unserer These, daß alle Beobachtung und Beschreibung der Führung durch die Theorie bedarf.

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Daraus folgt auch, daß durchaus nicht alles, was man in der sozialen Wirklichkeit beobachten kann, soziologisch belangreich ist. Wer schlechtweg alles, was ihm unter beliebigen Gesichtspunkten im realen Gruppenleben auffällt, als wissenschaftlich beachtlich wiedergeben will, stiftet nur Verwirrung. Unsere Aufgabe ist nicht nur, die Erfahrungswelt darzustellen; sondern zur Empirie kommt als nicht minder wichtig die Systematik. Das aber bedeutet, alles das aus unseren Beobachtungen zu streichen, was für die eigentlich soziologische Isolierung nicht als Material dienen kann. Wir betonten im ersten Kapitel ausdrücklich, daß wir den MenschMensch-Zusammenhang, der sich oft hinter dem MenschDing-Verhältnisse verbirgt, zu enthüllen haben. Die meisten Beschreibungen, die vielfach auch als soziologische ausgegeben werden, betreffen aber Tatsachen, die als Mensch-Ding-Beziehungen für uns gar nicht belangreich sind, sondern andere Wissenschaften angehen. Wir werden also aus den Beobachtungen, die als Soziographien ausgegeben werden, nur diejenigen als wirklich soziographisch ünd damit soziologisch wichtig ansehen können, die direkt oder mittelbar unserer Aufgabe, der Erkenntnis des zwischenmenschlichen Zusammenhangs dienen 4 ). Die Allgemeinaufgabe der realistisch-systematischen Soziologie besteht in einer Erklärung des Sozialen, d. h. des Verhaltens von Menschen gegen Menschen und der aus diesem Verhalten hervorgehenden zwischenmenschlichen Gebilde. *) Vgl. Verh.