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German Pages 176 [208] Year 1964
SAMMLUNG
GÖSCHEN
BAND
101
SOZIOLOGIE GESCHICHTE UND HAUPTPROBLEME
Dr. phil., Dr. jur. h. c., Dr. rer. pol. h. c.
LEOPOLD
VON
WIESE
o. Professor der wirtsch. Staatswissenschaften und der Soziologie an der Universität Köln
Siebente Auflage
WALTER DE GRUYTER & CO. vormals G. J . Göschen'eche Verlagshandlung • J . Guttentag, Verlagsbuchhandlung • Georg Reimer « Karl J . Trübner • Veit & Comp.
BERLIN
1964
©
Copyright 1964 by Walter de Gruyter & Co., vormals G, J. Göschen'sche Verlagshandlung - J. Guttentag, Verlagsbuchhandlung - Georg Reimer Karl J . Trübner - Veit & Comp., Berlin 30. — Alle Rechte, einschl. der Rechte der Herstellung von Photokopien und Mikrofilmen, vom Verlag vorbehalten. — Archiv-Nr. 7580640. — Satz und Druck: Paul Funk, Berlin 30. — Printed in Germany.
Inhaltsübersicht Seite
Vorbemerkungen
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K a p i t e l I : Einleitung: Soziologie als Wissenschaft vom zwischenmenschlichen Geschehen
5
Kapitel
I I : Die geschichtlichen Ausgangspunkte der
Soziologie als Wissenschaft Kapitel
14
III:
Die Hauptrichtungen der Soziologie . . . .
27
Kapitel
IV:
Comte und Spencer
50
Kapitel
V : Die britische und die amerikanische Soziologie
59
K a p i t e l V I : Die Soziologie in Frankreich und einigen anderen Ländern nach Comtes Tode
83
K a p i t e l V I I : Die ältere (enzyklopädische) Soziologie in Deutschland
98
K a p i t e l V I I I : Die jüngere Soziologie in Deutschland bis 1954
115
K a p i t e l I X : Die Lehre von den sozialen Beziehungen und den sozialen Gebilden (Beziehungslehre) 139 K a p i t e l X: seit 1955
Die allgemeine Soziologie in Deutschland
Namenregister
156 175
Vorbemerkungen zur sechsten Auflage Bei der Nachprüfung, ob und in welchem Maße die f ü n f t e Auflage, die 1954 erschienen ist, Änderungen erfordert, glaube ich feststellen zu können, daß sich die neue Auflage auf einige Verbesserungen von Druckfehlern und die Beifügung neuer Fußnoten beschränken soll. Dagegen war die Einfügung eines zehnten Kapitels notwendig, das die Überschrift trägt: „Die allgemeine Soziologie in Deutschland seit 1955." Die Ausdehnung dieses Berichts auf die gesamte Weltliteratur, die in den Übersichten bis 1955 angestrebt wird, ist im Rahmen eines kurzen Kapitels nicht möglich, zumal da das Schrifttum überall stark angewachsen ist. Das gilt allerdings m e h r f ü r die besonderen Soziologien und vor allem für die Soziographie und die Hilfsdisziplinen und -techniken der Soziologie; aber auch bei Beschränkung auf die allgemeine Soziologie wäre es mir nicht möglich gewesen, eine ausreichende Würdigung der Weltliteratur zu geben, da gerade in den letzten fünf Jahren z. B. Spanien, Japan, besonders Mittel- und Südamerika viel zur Verbreiterung des Schrifttums beigetragen haben. Jedoch steht Deutschland keineswegs an U m f a n g der Veröffentlichungen zurück. Soviel auch an Institutsarbeiten, Wörterbüchern und Sammelschriften publiziert worden ist, so fehlen doch neue systematsiche Werke keineswegs. Sich mit ihnen zu befassen, erschien mir als die wichtigste Aufgabe für das neue Kapitel.
Vorbemerkungen zur siebenten Auflage D e n Bemerkungen zur sechsten Auflage möchte ich n u r hinzufügen, daß ich das einleitende Kapitel I umgearbeitet habe, u m es Anfängern zu vereinfachen. Mir scheint, daß es in der f r ü h e r e n Fassung einige A u s f ü h r u n g e n enthielt, die zu ihrer Beurteilung schon gewisse Fachkenntnisse voraussetzen. Das letzte Kapitel (X) habe ich durch Bemerkungen über die Literatur seit 1955 ergänzt. L. v. Wiese
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Kapitel I Einleitung Soziologie als Wissenschaft vom zwischenmenschlichen Geschehen Zunächst ist es meine Aufgabe, eine kurze Begriffsbestimmung der Soziologie zu geben und sie im Gesamtrahmen der Wissenschaften einzuordnen. Sie ist ein Zweig der Wissenschaften vom Menschen. Sie ist Anthropologie (im allgemeinen, nicht bloß im naturwissenschaftlichen Sinne). In diesem Rahmen behandelt sie den Menschen als Mit- und Gegenmenschen, also nicht als Lebewesen schlechtweg, wie es die Naturwissenschaften der Biologie, Anatomie, Physiologie tun; sie befaßt sich mit den Einwirkungen, die von Menschen auf andere Menschen ausgeübt werden. Damit übernimmt sie auch einen besonderen Aufgabenkreis in den Geisteswissenschaften, neben den Fächern der Psychologie, Geschichte, Theologie usw. Eine scharfe Trennung von Natur- und Geisteswissenschaften ist vom Standpunkte der Soziologie nicht durchführbar. Im Zusammenhang mit ihr ist vor allem die Psychologie eine Verbindung beider Schauweisen. Ein anderes Beispiel ist die Technik. Ihr Gegenstand ist das Verhältnis der unbeseelten Dinge zu den sie nutzenden Menschen. Sie stützt sich auf die Naturwissenschaften; doch ist der Grad der Nutzung stark von psychologischen und sozialen Faktoren abhängig. Besonders wichtig ist der Versuch, die Soziologie von den eigentlichen Nachbar-Wissenschaften zu sondern, was,
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I. Wissenschaft v o m zwischenmenschlichen Geschehen
wie wir noch sehen werden, Schwierigkeiten bietet, weil es mannigfache Ubergänge zu ihnen gibt: Während die Theologie das Verhältnis der Menschen zur Gottheit, die Psychologie das Seelen- und Geistesleben der Menschen behandelt, hat es die Soziologie mit dem Handeln der Menschen in ihren Beziehungen zu den anderen Geschöpfen des Genus H o m o zu tun, und zwar bald als Typus, bald mehr als Person. Immer muß dabei zweierlei beachtet werden: 1. Die Menschen leben nicht vereinzelt, sondern in Verbindungen miteinander, die in hohem Grade das Verhalten der Einzelnen beeinflussen. 2. Das Handeln des Menschen (also der eigentliche Gegenstand unserer Disziplin) ist ohne Versenkung in das Innenleben (also ohne Psychologie) nicht möglich, so daß nicht bloß zu prüfen ist, welche Geschehnisse im Verkehr der Menschen untereinander beobachtet werden können, sondern w i e diese Geschehnisse aus der Artung von Seele, Geist und Körper der Beteiligten zu erklären sind. Besondere Beachtung verlangt das Verhältnis der Soziologie zur Geschichte. So eng dieser Zusammenhang ist, so ist es doch falsch, die historische Betrachtung gegen die systematische auszuspielen. Beide Schauweisen ergänzen sich. Die Systematik kennzeichnet sich durch den Aufbau eines Begriffssystems als Grundlage und benutzt als Hauptkategorien die unveränderlichen, vorn Wandel der Zeit unbeeinflußten, naturgegebenen Elemente des Lebens. Beim Studium der einzelnen Tatsachenkreise ergibt sich die Notwendigkeit, auf die geschichtlichen Veränderungen einzugehen, die sich innerhalb des Menschentums im Laufe der Zeit vollziehen. Aber die Rahmen begriffe der Systematik sind keineswegs leer und rein formal; sie sind erfüllt von der Problematik der Betätigungsfelder der Menschen. Immer muß unsere Aufmerksamkeit sowohl auf das übergeschichtlich Beständige wie auf den Wandel gerichtet sein. Daß das Gebiet der Politik bisher noch nicht genannt wurde, erklärt sich daraus, daß dieses Studienfeld ein Teil der Soziologie ist und nicht bloß im Nachbarverhältnis zu
I. Wissenschaft vom zwischenmenschlichen Geschehen
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ihr steht. Sie hat die Erscheinungen der A/rfci>iverteilung zu ihrem Gegenstande und ist damit ein Spezialgebiet der Lehre vom Mit- und besonders vom Gegenmenschen. Ähnlich steht es mit der Abgrenzung vom Recht. Dieses ist viel älter als die Soziologie und kann historisch als ein Rahmen aufgefaßt werden, innerhalb dessen sich bestimmte Problemkreise der Soziologie entfaltet haben, zum mindesten vorbereitet worden sind. Aber wie sich die Politik auf dem Fundamente der Macht entfaltet hat, so das Recht auf dem Prinzipe der Ordnung. Beide sind soziale Faktoren und soziologisch zu erfassen. Damit ist bereits die Zweiteilung in allgemeine und spezielle Soziologie berührt. Jene befaßt sich mit dem Zusammenhange (oder Nicht-Zusammenhange) der Menschen auf allen Betätigungsgebieten. Aber das Leben der Menschen ist so mannigfach gestaltet und zerfällt in so viele Teilgebiete des Handelns, daß es eine Fülle von Spezialgebieten gibt, zu der auch die Rechtssoziologie und Politik gehören. Jedes Feld zwischenmenschlicher Betätigung kann eine besondere Soziologie entwickeln. Es ist eine Frage des jeweiligen Standes der geistigen Interessen, welche speziellen Soziologien gerade gepflegt werden; hier seien nur genannt Religions-, Wirtschafts- (in ihrem Rahmen u. a. die Betriebssoziologie), Kunst-, pädagogische Soziologie u. a. Diese speziellen Soziologien unterscheiden sich, von der allgemeinen dadurch, daß sie das mit- und gegenmenschliche Verhalten auf einem besonderen Betätigungsgebiete untersuchen, so daß nicht nur die anthropologische Basis der Geschehnisse hervorgehoben, sondern der zwischenmenschliche Zusammenhang unter dem Einfluß eines Aufgabenkreises gezeigt wird, der seine eigenen Regeln den Menschen auferlegt. Die Personen kommen nur mit gewissen Seiten ihres Wesens vorwiegend zur Geltung, während die übrigen Verhaltensweisen peripherisch bleiben. Wieder eine andere Optik als Politik und Recht verlangen in ihrem Verhältnisse zur Soziologie die Ästhetik und die Ethik, also die Beziehungen des Menschen zum Schönen
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I. Wissenschaft v o m zwischenmenschlichen Geschehen
und zum Guten (positiv und negativ). Bei der Versenkung in ihre Problematik wird deutlich, daß sie nicht spezielle Soziologien, sondern Afefasoziologien sind, also Wissensgebiete, die auch über die allgemeine Soziologie hinausragen. In der Soziologie der Ästhetik beschäftigen uns der Einfluß der Cliquen, der Grad der Selbständigkeit des einzelnen Schaffenden, der Wandel des herrschenden Urteils, die Gewalt der „Ismen", die Wiederkehr des zeitweilig Ausgeschlossenen, der Einfluß der Ökonomik, der Mode, Kunst als Geschäft, der Snobismus. Sehr wichtig ist das Verhältnis der Soziologie zur Ethik. Hier besteht der so wesentliche Gegensatz der Wissenschaften vom Sein, die sich auf Beobachtungen und auf die sich aus ihnen ergebenden Vorstellungen gründen, und der Versenkung in das Sollen, bei dem die viel umstrittene Frage auftaucht, ob und wie weit es überhaupt als Wissenschaft gelten kann. Bei der Befassung mit dem Sollen betritt man das Gebiet des Wertens, das über den Bereich der Logik hinausreicht. Soll man den Standpunkt vertreten, daß diese Schauweise ins Gebiet der Metaphysik führt und ihr eine rationale Behandlung versagt ist? T r i t t hier an die Stelle des Wissens der Glaube? Die Vergangenheit (besonders die Zeit vor der Aufklärung) verwob beide Gebiete ineinander. Gegenüber dieser Verwirrung von subjektiver Schauung des Gefühls und logischem Denken muß man grundsätzlich die Trennung von Sein und Sollen fordern. Aber diese Grenzziehung ist noch schwieriger als bei Politik und Ästhetik. Es sollte jedesmal möglichst klar sein, ob es sich um eigentliche Wissenschaft, also um das beweisbare Sein, oder um Geglaubtes handelt. (Grenzgebiet ist die Hypothese; auch die Wissenschaft kann sie nicht entbehren). Aber ein Fehler liegt dann vor, wenn die eine Urteilsweise in der Maske der anderen erscheint. Soziologie ist nicht selbst Metaphysik, aber als Wissenschaft eine ihr vorausgehende Grundlage. Sie ist nichts als Wissenschaft — nichts mehr und nichts weniger. Reli-
I. Wissenschaft v o m zwischenmenschlichen Geschehen
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gion, Kunst, spekulative Philosophie befassen sich wie jene auch mit dem beseelten Menschen, aber nicht als Wissenschaften 1 ). Sie ziehen dei Phantasie keine Grenzen und schließen das Nicht-Beweisbare nicht aus. Der Soziologe gelangt seinerseits an eine Grenze, wo sein Feld, das Interhumanum ins H u m a n u m übergeht und seine Fragen über das Menschentum in die Metaphysik und in die Sollsphäre der Ethik einmünden. Die Ethik hat selbst zwei Bereiche; der eine betrifft das Verhältnis zur Gottheit, der andere die Beziehungen zwischen den Menschen. Dieser zweite Bereich der Ethik bedarf der Kenntnis des zwischenmenschlichen Verhaltens, der Soziologie. Diese aber kann nicht der Fundamentierung in der Ratio entbehren. Sie muß durch Beobachtung und Beweis gefestigt sein; aber sie hat das Ziel, der Ethik die gründliche Kenntnis des Tatsächlichen zu vermitteln. Eine rein spekulative Ethik richtet nur Unheil an. Die Forderung, die Bewertungen, die die Ethik beherrschen, sollten keinen Zugang zur Soziologie haben, kann aber wieder nicht mit der Strenge eines mathematischen Satzes aufgestellt werden. Es wurde ausgesprochen, daß sich die soziologischen Aussagen auf Beobachtungen der Umwelt und unseres eigenen Körper- und Seelenlebens aufbauen sollen, um objektive Gültigkeit zu erlangen. Aber auch diese Beobachtungen sind von unserer Subjektivität abhängig. Schon die Auswahl in den unzähligen Wahrnehmungen wird von unserer Denk- und Gefühlsweise mitbestimmt; wir übersehen manches und bevorzugen anderes. Bisweilen ist diese Mischung des Subjektiven mit dem Objektivem eine ergiebigere Quelle der Erkenntnis als die unerreichbare völlige Objektivtät. 1
) Vgl. über den Zusammenhang von Philosophie und Soziologie, sowie über die beiden Bereiche der Philosophie: L. v. W i e s e , Philosophie und Soziologie, Berlin 1959, Duncker & Humblot. Vgl. Gerhard W e i s s e r : Normative Sozialwissenschaft im Dienste der Gestaltung des sozialen Lebens, in Soziale Welt, Jahrgang 7, Heft 1, und derselbe: Politik als System aus normativen Urteilen, in Monographien zur Politik, Heft 1, hrsg. vom Forschunsginslitut für Sozial- und Verwaltungswissensdiaften an der Universität Köln, Abteilung Sozialpolitik, Göttingen 1951.
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I- Wissenschaft v o m zwischenmenschlichen Geschehen
Alle Scheidungen, die doch die H a u p t a u f g a b e der Logik bilden, gelten hier nur als Heraushebungen, des H a u p t sächlichen, während die Peripherien der Begriffskomplexe unscharf sind. Ihre Richtigkeit ist nur mit Zusätzen wie „in der Regel, teilweise, bis zu einem gewissen Grade, usw." gültig. Der Zusammenhang zwischenmenschlichen Verhaltens ist so vermischt und so vielen wechselnden, verschieden starken Beeinflussungen ausgesetzt, daß wir nur mit Einschränkungen Aussagen geben können. Vor allem ist die Verbindung der positiven mit den negativen Merkmalen unvermeidlich, wobei uns die Mängel der Sprache besonders hinderlich sind. Sie enthält vielfach Wörter, die nur die Bejahung oder Verneinung ausdrücken. Soziologisch denken bedeutet aber, beide Seiten bei allen Phänomenen in Betracht zu ziehen. Dieses beständige Hinüberschauen und Benutzen anders rubrizierter Gebiete gilt besonders für das Verhältnis unserer Wissenschaft zu den Nachbarfächern. Auf langen Strecken überwiegen psychologische, ökonomische oder statistische Tatsachen. Das hängt mit der Daseinsfülle des zwischenmenschlichen Geschehens zusammen. Aber es nötigt auch, das H a u p t t h e m a nie aus den Augen zu lassen und die Versenkung in die Nebenfragen nur als Mittel zum Zwecke zu erkennen. N i e sollte sich die Soziologie zu einem Sammelsurium von Allerlei auflösen. Gerade die Spezial-Unterfächer müssen darauf achten, daß ihre Aufgabe darin besteht, Material für die universelle Erkenntnis des Mitmenschlichen zu liefern, und sie sollten der allgemeinen Soziologie ihre Grundfragen entnehmen. Aber wie die Spezialsoziologien durch die Aufnahme von Material aus anderen Wissenschaften gekennzeichnet sind, so weisen diese anderen Disziplinen manche Elemente auf, die sie der soziologischen Betrachtungsweise entnehmen und die sie mit ihrer eigenen Grundproblematik verknüpfen. Die Abgrenzung ist stets fragwürdig. Es hängt vom Umfange und der jeweils der Sache bei-
I. Wissenschaft v o m zwischenmenschlichen Geschehen
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gelegten Bedeutung ab, ob man diese Schriften bei den Spezialsoziologien oder bei den „soziologisierenden" Erzeugnissen der Nachbargebiete einreihen soll. Doch ich will den Überblick über die Einteilung der Soziologie dem nächsten Kapitel überlassen und midi hier noch etwas mit dem weiten Rahmen, dem sie angehört, befassen. Ich meine die Anthropologie, die Wissenschaft vom Menschen, aus der die Soziologie als Spezialfach die Lehre vom Mit- und Gegenmenschen entnimmt. Aber wie innerhalb ihrer, wie gesagt, der Zusammenhang ihrer Spezialfächer mit der allgemeinen Soziologie gewahrt werden muß, so muß sich diese selbst der Anthropologie einordnen. Noch im 19. Jahrhundert wurde die Anthropologie zumeist als Wissenschaft vom menschlichen Leibe verstanden, mit der sich Biologen und Mediziner befaßten. Freilich wurde bald mit dieser naturwissenschaftlichen, hauptsächlich vom Typus Homo ausgehenden Forschung und Lehre ein ganz anderer Gegenstand verknüpft: die Völkerkunde, besonders die Lehre von den nichtweißen Rassen, Stämmen und Völkern; die Ethnographie und Ethnologie. Die Biologen hatten vielfach die Beschaffenheit der „primitiven" Menschen als Arbeitsgebiet. Das führte zum Studium ihres Gruppenlebens und berührte sicäi auch mit der soziologischen Problematik. Aber neben der naturwissenschaftlichen Betrachtung des Menschenleibes waren der menschliche Geist und die menschliche Seele ein tief in die Antike reichendes Gebiet von Forschung und Lehre. Nur wurde dafür der Terminus Anthropologie höchst selten und mehr nebensächlich auf sie angewendet. Man betrachtete diesen Fragenkomplex als Philosophie. Der Dualismus Körper und Geist beherrschte — zumal unter dem Einflüsse der Theologie — das wissenschaftliche Leben bis in unsere Zeit. Erst in den letzten Jahrzehnten erweitert man die Anthropologie zu einer einheitlichen,
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I. Wissenschaft v o m zwischenmenschlichen Geschehen
vielschichtigen Theorie vom Menschen, bei der bald der Leib, bald Seele und Geist Hauptgegenstand ist. Eine Stellungnahme ist dadurch recht erschwert, daß auch zwischen Geist und Seele von Philosophen und Psychologen unterschieden wird. Unter dem Einflüsse des antipositivistischen Idealismus wird oft dem Geiste eine metaphysische, die Materie weit überragende Bedeutung zugemessen, während man bei der individuellen Seele einen engen Zusammenhang mit den Funktionen der Nerven und des Gehirns erkennt, so daß eine Trennung naturwissenschaftlicher und geisteswissenschaftlicher Betrachtung nur bei bestimmten Spezialfragen möglich ist. Die geistige Teilnahme am Menschen richtet sich in der Regel auf zwei verschiedene, aber eng benachbarte Seiten seines Wesens, entweder auf die ihm eigenen Vorgänge innerhalb seines Geistes-, Seelen- und Körperlebens oder auf die Einwirkungen, die von den Zusammenhängen ausgehen, in die er zu anderen Menschen und Menschenmehrschaften gestellt ist. Der erste Tatsachenkreis ist das Thema der Psychologie (und Physiologie), der zweite das der Soziologie. Der Gegensatz besteht zwischen der Schau ins Innere des Menschen und einer Beobachtung des sich wahrnehmbar bekundenden Verhaltens in der Außenwelt des zwischenmenschlichen Verkehrs. Damit berühren wir die Abgrenzung zur Psychologie, die jedoch durch das Zwischenfeld der Sozialpsychologie erschwert wird. Vermengungen von ihr und Soziologie sind heute nicht selten. Richtig ist, daß es überflüssig und unfruchtbar ist, soziologische und sozialpsychologische Erklärungsweisen gegeneinander auszuspielen, es so darzustellen, als ob man entweder den Menschen als selbständiges Singulare (ich sage lieber Singulare statt Individuum) oder als von Kollektivkräften geleitetes und geformtes Wesen auffassen müsse. Aber mit der Ablehnung dieser überspitzten Antithese ist es nicht getan. Es genügt nicht zu sagen: Innenwelt und Außenwelt sind nicht ein und
I. Wissenschaft v o m zwischenmenschlichen Geschehen
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dasselbe; man möchte auch wissen, wie sich nun die beiden Welten als gestaltende Kräfte zueinander verhalten. O f t taucht innerhalb der allgemeinen Anthropologie — ganz im Gegensatz zu der älteren ethnologischen Abgrenzung — die Problematik der Kultur und Zivilisation auf; sie wird in Verbindung mit Geschichte und Philosophie behandelt. Die beständig wiederkehrende Frage: was ist Kultur? geht dann wieder den Soziologen besonders an; der Fragenkomplex des zwischenmenschlichen Bereichs nimmt gerade unter dieser Überschrift beträchtlichen Raum ein. Darüber hinaus wird der Kulturmensch nicht selten mit dem natürlichen Triebmenschen verglichen; es wird die Frage aufgeworfen, wie weit der Naturmensch unter dem starken Einflüsse des sozialen Zwangs, der gesellschaftlichen Institutionen u n d der mannigfachen Organisationen verändert, teils sittlich und ästhetisch gefördert, teils geschwächt und der N a t u r entfremdet worden ist. Diese und zahlreiche verwandte andere Fragen verknüpfen Biologie, Anthropologie, Philosophie, Psychologie und nicht zuletzt Soziologie. Lezte Quellen f ü r alles Geschehen in der Menschenund damit in der menschlichen Sozialsphäre sind die Menschenseelen und Menschenleiber. Aber erst durch die Einwirkungen des Ich auf das Du und die Verbindung beider zu einem Wir ergibt sich in positiven und negativen Spannungen das nach außen fruchtbare, soziale Geschehen. Soziologie als Fachwissenschaft kann nur die Lehre vom Sozialen, d. h, von den Einwirkungen der Menschen aufeinander (im Neben- und Nacheinander) sein. Das Soziale ist dabei keine platonische Idee, die nur durch Wesensschau erkennbar wäre, sondern (wie wir noch sehen werden) eine Gesamtheit von beobachtbaren Prozessen. Es handelt sich nicht um Spekulationen, sondern um nachprüfbare Beobachtungen. Diese Beobachtungen werden nur dadurch
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I I . Die geschichtlichen Ausgangspunkte der Soziologie
schwierig, daß die Ideologien nicht ruhen und unser Geist die Neigung besitzt, alles fließende Geschehen in Substanzen umzudichten. So machen wir aus dem Geschehen im Bereiche einer staatlichen Verbundenheit von Menschen „den Staat", obwohl es in Wirklichkeit eben nur staatliches Geschehen gibt, d. h. Prozesse, in denen die Menschen sich in bestimmten, nämlich politischen, Distanzen begegnen. Das gleiche gilt von Kirche, Wirtschaft usw.
Kapitel
II
Die geschichtlichen Ausgangspunkte der Soziologie als Wissenschaft Die Geschichte der Soziologie können wir als eine Entwicklung von der Enzyklopädie zur Einzelwissenschaft vom Sozialen ansehen. In vielen Wissenschaften streitet man über ihren Beginn, z. B. in der Sozialökonomik. D a neue Wissenschaften nur selten mit einem bestimmt markierten Ereignisse, etwa mit einer Entdeckung oder Erfindung, beginnen, da vielmehr meist eine allmähliche Entwicklung des allgemeinen Wissens besteht, in der erst nachträglich infolge der Notwendigkeit der Systematisierung und Abgrenzung — gewissermaßen künstlich — Abschnitte gebildet werden, so ist ein solcher Streit nicht zu entscheiden. Die Frage nach dem Beginne ist eine Zweckmäßigkeitsfrage. Wichtiger ist, sich der meist langen Vorgeschichte bewußt zu sein. Wir wissen, daß ökonomische Fragen in der Antike und im Mittelalter vielfach behandelt worden sind, daß sie damals aber in inneren Zusammenhang mit anderen Wissenschaften gestellt wurden. Auch über unseren Gegenstand, die zwischenmenschlichen Beziehungen, ist zu allen Zeiten nachgedacht und manches vorgebracht worden. Aber die Selbständigkeit dieser Problematik des Sozialen ist erst schrittweise klargeworden. In der Hauptsache erkennt man
I I . D i e geschichtlichen A u s g a n g s p u n k t e der S o z i o l o g i e
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erst allmählich im 19. und 20. Jahrhundert, daß es eine selbständige Wissenschaft vom Sozialen, d. h. vom menschlichen Zusammenleben, mit einem eigenen umgrenzbaren Objekt gibt. Was vorher geschaffen wurde, ist mehr Politik, bei der Staat und Gesellschaft nicht deutlich genug geschieden werden, oder ist mehr Ethik und Morallehre als empirische Erkenntnis des Zwischenmenschlichen an sich. Nicht aufrechtzuerhalten ist ferner die Herleitung der modernen Gesellschaftslehre aus nur einer geschichtlichen Wurzel. Die Wissenschaft vom menschlichen Zusammenleben keimte auf verschiedenem Boden. Ihre Entstehung entsprach den Bedürfnsisen nicht nur eines Volkes und nicht nur eines Wissenschaftskreises. Vielmehr ergibt sich, daß, wenn die nationale Geisteskultur eines einzelnen Volkes einen bestimmten Entwicklungsgrad erreicht hat, in ihr Soziologie entsteht. Bei den Völkern des mittel- und westeuropäischen Kulturkreises ist dies ungefähr an der Wende des 18. zum 19. Jahrhundert eingetreten. Doch besteht kein grundsätzliches Bedenken, den Beginn früher anzusetzen, je nachdem, was man als das Entscheidende dieses Geburtsvorganges ansieht. Es ist hier nicht möglich, allen Werdeprozessen der Soziologie erschöpfend nachzugehen; f ü r uns mag genügen, auf drei Wurzeln hinzuweisen: 1. auf die deutsche Romantik und die deutsche idealistische Philosophie; 2. auf C o m t e s Philosophie, zumal da dieser Philosoph der Sache den siegreichen N a m e n Soziologie gegeben hat; 3. auf ihre Entwicklung aus anderen Wissenschaften als der Philosophie, nämlich vorwiegend aus Biologie, Geschichte und Sozialökonomik. Einen anderen Anfangszeitpunkt nimmt z. B. S o m h a r t 1 ) an. Er sieht jene Denker des 17. und 18. J a h r Vgl. W. S o m b a r t , Die Anfänge der Soziologie in „Erinnerungsgabe für Max Weber", 1. Band, S. 5 ff., München und Leipzig 1923.
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II. Die geschichtlichen Ausgangspunkte der Soziologie
hunderts in Frankreich und England als die Schöpfer der Naturlehre der menschlichen Gesellschaft an, die im Gegensatz zum alten (mehr oder weniger theologischen) N a turrecht die menschliche Gesellschaft samt ihrer Kultur als ein Stück N a t u r selbst ansahen. Er nennt beispielsweise Cumberland, Temple, Petty, Shaftesbury, Mandeville, Adam Smith und andere. Für sie sei eine neue naturalistische, die „westliche" Soziologie seitdem charakterisierende Auffassung des Gesellschaftslebens bezeichnend. Dem wäre entgegenzuhalten, daß auch schon manche profane Naturrechtler in Weiterführung alt überkommener Ideen des Epikureismus und erst recht manche Vertragstheoretiker zu einer kausal-empirischen Deutung des sozialen Geschehens neigten. B r i n k m a n n 2 ) sieht in der politischen Literatur des westeuropäischen Barockzeitalters von Hobbes bis Adam Smith und Rousseau, in der in ihr zum Ausdruck kommenden „Daueropposition der Intelligenz gegen die gesellschaftlichen Mächte" den Beginn der Soziologie. Uns will jedoch scheinen, daß das nur f ü r die soziologische Theorie der Politik zutrifft, und daß gerade die allzu politische Einstellung von Denkern wie Hobbes, Mandeville, Ferguson sie hinderte, den Grundfragen der allgemeinen Soziologie nahezukommen. Auch D ü r k h e i m s Auffassung, daß man mit den Enzyklopädisten, zumal mit H o 1 b a c h , beginnen müsse, läßt sich verteidigen. Paul B a r t h hat in seiner „Philosophie der Geschichte als Soziologie" seinerseits anders als die Forscher, die das 17. und 18. Jahrhundert bevorzugen, darauf hingewiesen, daß die Soziologie „der Sache nach" bis auf Plato zurückgehe, was Sombart nicht gelten lassen will. 2 ) Vgl. B r i n k m a n n , Versuch einer Gesellschaftswissenschaft, München u n d Leipzig 1918 u n d d e r s . , G e s e l l s c h a f t s l e h r e , in d e r E n z y k l o p ä d i e d e r R e d i t s - u n d S t a a t s w i s s e n s c h a f t e n , X X X X V I I I , B e r l i n 1925.
II. Die geschichtlichen Ausgangspunkte der Soziologie
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Jedoch haben auch schon vor Plato Heraklit und die Sophisten, nach Plato Aristoteles und besonders die Stoiker und Epikureer zahlreiche Fragen des gesellschaftlichen Lebens, zumal die nach Ursprung und Aufgaben des „Staats" — mit dem Worte politeia ist mehr als der Staat im heutigen Sinne, auch die „bürgerliche Gesellschaft" u m f a ß t — erörtert. Aber die Denkweise, mit der es geschah, ist — zumal bei Plato — ausgesprochen unsoziologisch, wenn man darunter eine bestimmte Betrachtungsund Beurteilungsweise verstehen will. Sehr richtig sagt darüber Albion W . S m a l l 1 ) : „Als ein Muster der Dialektik ist ,der Staat' (Piatos) das hervorragende Beispiel f ü r das, was nicht Soziologie ist. Eine Gruppe von Soziologen rechnet jeden zu den Soziologen, der über soziale Verhältnisse nachgedacht hat. Der vorliegende Aufsatz vertritt die Ansicht, daß nur diejenigen Soziologen sind, die eine Methode handhaben, welche in diametralem Gegensatz zur Dialektik steht 2 ). Plato betrachtet den ,Staat" nicht als eine Abhandlung zur politischen Wissenschaft oder zur Soziologie, sondern als eine Untersuchung aus dem Gebiete der Moralphilosophie. Die platonische Methode war ein Versuch, dadurch Wahrheit zu schaffen, daß man zur Übereinstimmung zwischen Begriffen oder Lehrsätzen gelangte. Die wissenschaftliche Methode ist dagegen ein Versuch, dadurch Wahrheiten zu entdecken, daß man Gleichförmigkeit von Ursache und Wirkung in der objektiven Welt beobachtet." Philosophen wie Plato suchen Wahrheit aus Übereinstimrtiung von Ideen zu schaffen, nicht durch Beobachtung der objektiven Welt Wahrheit zu entdecken; sie sind deswegen keine Soziologen, sondern eben Philosophen; auch f ü r die theologischen Denker des christlichen Mittelalters (wie Augustin und Thomas), f ü r manche N a t u r rechtler und manche Vertragstheoretiker, wie für viele an Gesellschaftsproblemen interessierte Philosophen der Ge!) In einem Aufsatze: Sociology and Plato's Republic, American Journal of Sociology, XXX, 5. 2
2
) Die Hineinziehung des Begriffs „Dialektik" ist leicht irreführend. von Wiese, Soziologie
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I I . Die geschichtlichen Ausgangspunkte der Soziologie
genwart gilt dasselbe. Immerhin bereitet die Theorie vom „rechten" Staate, vom Gottesstaate, die Spekulation über das der gesellschaftlichen Ordnung vorausgehende N a t u r stadium (z. B. Hobbes' „homo homini lupus"), der alte Streit der Stoiker und Epikureer über die dem Menschen angeborene (oder nicht angeborene) soziale N a t u r , über das Verhältnis von Umgebung und inneren Eigenschaften u. a. m. die soziologische Fragestellung vor, führt sie freilich durch das Nachwirken alter unausrottbarer Vorurteile und Antithesen o f t genug irre. Zahllos sind die Anbahnungen einer Wissenschaft vom gesellschaftlichen Leben bei vielen Ethikern, Politikern u n d Kulturinterpreten; aber sie vermengen normative (Soll-)Wissenschaft mit der beschreibenden und systematisierenden (Seins-)Wissenschaft. Rechnet man die Sozialphilosophie mit ein, so muß man jedoch nicht nur in Hellas die Sophisten und Sokrates mit hinzunehmen, sondern Spuren in Ägypten, Mesopotamien, Indien und China in weit davor zurückliegende Zeiten nachgehen. Othmar S p a n n 1 ) sieht in K a n t und F i c h t e die Begründer der Gesellschaftslehre. Sicherlich läßt sich aus der deutschen Philosophie des 18. und der ersten H ä l f t e des 19. Jahrhunderts manche Verbindungslinie zur späteren eigentlichen Soziologie hinüberleiten. Will man aus der Reihe der deutschen Philosophen einige Denker als besonders einflußreich (im guten und schlechten Sinne) ansehen, so müssen neben H e g e l , K a n t und F i c h t e genannt werden. Die Romantiker erscheinen vor allem Georg v. B e 1 o w 2 ) als Förderer soziologischer Erkenntnis, da sie die historischen Erscheinungen nicht einseitig aus bewußten H a n d l u n gen der einzelnen Menschen herleiteten, sondern auf unbe1) O. S p a n n , GeseHsdiaftslehre, 3. Auflage, Leipzig 1930. 2 ) In seiner Streitschrift „Soziologie als Lehrfach", Sonderabdruck aus Schmollers Jahrbuch, 43. Jahrg., 4. Heft, München und Leipzig 1920. Vgl. zu ihrem Inhalte die Antworten von F. Tönnies und L. v. Wiese. Der Erstgenannte hat im Weltwirtsdi. Archiv, Bd. 16, S. 212 ff., unter dem Titel „Soziologie und Hochschulreform", der Zweite in Schmollers J a h r buch, J a h r g . 44, S. 247 ff. unter dem Titel „Die Soziologie als Einzelwissenschaft" erwidert.
II. Die geschichtlichen Ausgangspunkte der Soziologie
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wußte Kräfte, objektive Mächte als deren Quelle hinwiesen. Besonders ihre Theorie vom Volksgeiste, aus dem Recht, Sprache und Kunst hervorgingen, sei hierfür wesentlich. Später waren jedenfalls die Forschungen Robert v. M o h 1 s , Lorenz v. S t e i n s und gleichstrebender Gelehrten um die Mitte des 19. Jahrhunderts, zu denen auch Heinrich v. T r e i t s c h k e in seinen jüngeren Jahren gehörte, der Entwicklung des soziologischen Denkens sehr förderlich. Sie sonderten die Begriffe von Staat und Gesellschaft, wobei freilich die Gesellschaft nicht den abstrakten Sinn hat, den wir heute damit verbinden. Es ist, wie gesagt, vielmehr die bürgerliche Gesellschaft, die Trägerin der öffentlichen Meinung gemeint. Bei Mohl vor allem sind also Staat und Gesellschaft gleichgeordnete Gebilde, die nebeneinander in Wechselbeziehungen stehen, während f ü r die Modernen der Staat ein Gebilde innerhalb des übergeordneten Universalgebildes Gesellschaft ist, wenn man überhaupt ein solches Universalgebilde gelten lassen will. Bei dieser Hervorhebung deutscher Denker spielt sicherlich auch das Bestreben mit, gegenüber einer einseitigen Herleitung der soziologischen Tradition von den Franzosen S t - S i m o n und C o m t e und dem Engländer Herbert S p e n c e r den Anteil der deutschen Wissenschaft und Philosophie an der Vorbereitung der neuen Wissenschaft gebührend in den Vordergrund zu stellen. Auch sonst zeigt sich vielfach die Tendenz, nationale Besonderheiten und Traditionen bei der Geschichte unserer Wissenschaft und der Datierung ihres Beginns zu betonen. So weist etwa der Tscheche Vasil K. S k r a c h auf Johann H u s und C h e l t s c h i z k i als Inauguratoren böhmischer Sozialphilosophie hin. C a r 1 i 2 ) nennt seine Landsleute Machiavelli und Vico neben Bodinus, Hobbes, Bossuet, Montesquieu, den Physiokraten und den Enzyklopädisten. 3 ) Vgl. seine Glossen „über die tschediische Soziologie" usw. Kölner Vierteljahrshefte, 5. Jahrg., Heft 3. 2 ) In seinem Buche „Le Teorie Sociologidie", Padua 1925. 2"
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II. Die geschichtlichen Ausgangspunkte der Soziologie
Bei der Dehnbarkeit des Begriffs einer allgemeinen Soziologie und der Möglichkeit ihrer Gleichsetzung mit Sozialphilosophie haben diese und andere Versuche ebensoviel Anspruch auf Anerkennung, wie es nicht schwer ist, sie bei Zugrundelegung einer anderen Auffassung der Disziplin mit guten Gründen abzulehnen. Lehrreich ist in dieser Hinsicht S m a 11 s Werk über die Anfänge der Soziologie: Es ist darin nur wenig und mehr beiläufig von Comte und Spencer sowie von anderen westeuropäischen Denkern die Rede, dafür werden T h i baut und Savigny, Eichhorn, Niebuhr, Ranke, Roscher, Knies, Treitschke, Schmoller, die Kathedersozialisten und die österreichische Schule sehr eingehend behandelt. Adam Smith' Werk und Einfluß bleiben nidit unerwähnt; aber es wird nicht viel mehr über ihn gesagt, als in einer Geschichte der deutschen Sozialökonomik über ihn gesagt werden muß. Richtig ist ja dabei sicherlich, daß in Deutschland, Frankreich und England während des 19. Jahrhunderts und auch heute noch viele soziologische Probleme unter anderem N a m e n behandelt werden. Nach der im folgenden vertretenen Auffassung ist die bisherige Entwicklung der Soziologie ein sehr allmählich voranschreitender Prozeß der wachsenden Selbsterkenntnis der Disziplin von ihrer Besonderheit und Eigenart; er vollzog und vollzieht sich durch beständig zunehmende Einschränkung ihres Umfangs, durch genauere Fragestellung und durch Entwicklung einer selbständiger werdenden Schauweise. Das bedeutet zugleich eine Lösung von der Sozialphilosophie, allgemeinen Kulturlehre, Ethik und von anderen sozialen Einzelwissenschaften, die neben ihr bestehen. Da aber dieser Lösungs- und Verselbständigungsprozeß erst in der unmittelbaren Gegenwart vor sich geht, so ist eine Auffassung beweisbar, die alle Soziologie in Deutschland vor T ö n n i e s und S i m m e l , in Frankreich vor T a r d e, in Amerika vor S m a l l , G i d d i n g s und R o s s in die Vorgeschichte verweist. Ich behaupte in der Vgl. Alboin W . S m a l l :
Origins of Sociology, Chicago 1924.
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T a t , daß die Soziologie als deutlich umgrenzte soziale Einzelwissenschaft erst in den letzten 75 Jahren entstanden ist. Aber die ersten Versuche, den Weg zu diesem Standpunkt zu finden, sind zum mindesten ein Jahrhundert älter; sie werden deutlicher umgrenzbar etwa vom Ende der großen französischen Revolution an. "Wir unterscheiden deshalb eine lange Vorgeschichte, zu der wir Antike und Mittelalter rechnen und die wir bis zum Ausgange des 18. Jahrhunderts datieren, dann ein erstes Stadium der Soziologie als Universalwissenschaft (19. Jahrhundert), in der sie sich insofern schon als selbständige Wissenschaft zu dokumentieren sucht, als sie die Frage: was ist Gesellschaft? zu ihrer Kern- und Grundfrage macht, aber sich dadurch den Weg zur fruchtbaren Erkenntnis versperrt, daß sie im Zusammenhange damit zu viel außersoziologische, wenn auch sozialwissenschaftliche oder sozialphilosophische Fragen mit zu bantworten sucht, schließlich ein zweites Staeingegrenzten dium der Reifung einer seihständigen und Wissenschaft der Soziologie in der Gegenwart, wobei wieder die Grenze zwischen dem ersten und zweiten Stadium fließend erscheinen mag und von der Beurteilung der Leistung des einen oder anderen Forschers abhängt. Uns beschäftigt zunächst die Entstehung des ersten Stadiums, das wir ungefähr in die Jahre 1810 bis 1890 legen: Noch in der großen französischen Revolution überwog durchaus die geistige Teilnahme an den rein politischen, zumal den Verfassungsfragen. Wenn auch schon manche Denker des 17. und 18. Jahrhunderts hinter dem Wechsel politischer Erscheinungen allgemeinere Naturgesetze der sozialen Entwicklung angenommen und das Politische nur als eine von zahlreichen Erscheinungsreihen der Gestaltung des zwischenmenschlichen Lebens angesehen hatten, so drängte sich doch die naiv-voluntaristische Auffassung, d a ß man den Staat und die bürgerliche Gesellschaft völlig willensmäßig gestalten könnte und dabei das politische Ethos entscheidend wäre, zu sehr hervor. Es fehlte in der Behandlung der Aufgaben des öffentlichen Lebens noch die
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eigentlich soziologische Denkweise, die das Gruppen- und Gemeinschaftsleben insgesamt als eine "Welt mit eigenen Struktur- und Bewegungsgesetzen ansieht. Sicherlich haben zu der Entbindung des Geistes der Soziologie äußere U m stände beigetragen; in der Hauptsache dieselben, die den Sozialismus (der aber nicht mit Soziologie gleichzusetzen ist) vorbereitet haben: technisch-wirtschaftliche Erscheinungen, neue Bevölkerungstatsachen, die Ansammlung von Menschen in den großen Städten, vor allem die deutlichere Vorstellung von Masse und Proletariat, die durch das Anwachsen der gewerblichen Arbeiterschichten aufgedrängt wurde. Unter den sozialen Gebilden wurde die „Klasse" neu entdeckt, und die Befassung mit dieser problematischen „Samtschaft" zwang zum Nachdenken über die Wechselbeziehungen von Gruppen überhaupt. Das ist gewiß nicht etwas völlig Neues gewesen; aber die Dringlichkeit und Deutlichkeit des Gesellschaftlichen wuchs. Man erkannte: auch mit einer ganz demokratischen Staatsverfassung, mit der Gleichheit der Bürger vor dem Gesetze, mit der Abschaffung der Privilegien und aller Rechte des Feudalstaats ist von den „sozialen Fragen" erst ein recht kleiner Teil „gelöst". Aus diesem europäischen Boden wuchs ein Zweig, der von den Besserungsbeflissenen gepflegt wurde: der Sozialismus. Es wuchs aber gleichzeitig der ganz anders geartete der Soziologie empor, der ein Baum der Erkenntnis, nicht der Lebensänderung werden sollte. (Doch darf dieses Bild von den zwei ungleichen Reisern nicht so ausgelegt werden, als ob es gar keine Verbindung zwischen Theorie des Sozialismus und Soziologie gäbe.) Freilich die Romantiker und die deutschen idealistischen Philosophen, zumal S c h e l l i n g und H e g e l , sind von der Gesellschafts- und Wirtschaftsstruktur des 19. Jahrhunderts verhältnismäßig wenig beeinflußt worden. Aber ihr Betreben, zwischen dem Absoluten, Göttlichen und Geschichte, Staat, Volk und Recht einen metaphysischen Zusammenhang herzustellen, ein Streben, das schließlich zu Hegels Glauben führte, der göttliche Wille objektiviere
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sich im Staate, ist geschichtlich als Reaktion auf die A u f klärung, den Liberalismus und die Revolutionsgesinnung des 18. Jahrhunderts zu begreifen. Diese Philosophen hinterließen der Soziologie die A u f gabe, die großen abstrakten Kollektiva: Volk, Staat, Kirche, Genossenschaft, schließlich Gesellschaft zu erklären. Freilich ist diese Abstammung von der Spekulation eine gefährliche und verleitende Erbschaft f ü r die deutsche Gesellschaftslehre geworden. Noch heute suchen manche Soziologen mit denselben Mitteln der Geschichts- und Sozialphilosophie die gar nicht philosophischen Probleme ihrer Wissenschaft zu lösen. Der Schreiber dieser Zeilen bekennt sich zu der Auffassung, daß man wie von Plato so auch von Schelling und Hegel, Adam Müller und N o valis nicht lernen kann, wie der Soziologe an die ihm gestellte Aufgabe herantreten darf. Es gibt sicherlich eine Metaphysik der Gesellschaft; sie pflege der Philosoph. Der Soziologe soll Realist und Empiriker sein, wobei wir von der Erfahrungs-Erkenntnis die phänomenologisch-verstehende nicht absondern, sondern ihr zugesellen. N u r daß ihr die „letzten Fragen", der objektive, absolute, gottgewollte „Sinn" der Erscheinungen nicht zu erörtern bestimmt sind, muß mit Nachdruck ausgesprochen werden. Uns will scheinen, daß wir als Soziologen von Hegel nicht die Betrachtungs- und Behandlungsweise der Probleme lernen können, sondern mehr die Grenzen fixiert sehen, über die hinaus die Forschung nicht zu dringen vermag. Sie überläßt die umwölkten Höhen letzter Zusammenhänge den Philosophen. Aber auch die zweite geschichtliche "Wurzel, von der wir eben gesprochen haben, bedarf nicht minder einer kritischen und mißtrauischen Beschauung: die französische in der Philosophie des Grafen S t - S i m o n und Auguste C o m t e s. Wenn wir auch, der Tradition und speziell dem Beispiele Paul Barths folgend, unsere historische Übersicht mit ihnen beginnen, so geschieht es mit dem Vorbehalte, daß die heutige Soziologie, soweit sie fruchtbar und zukunftsreich ist, vorsichtiger in Verallgemeinerungen
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ist und die Gültigkeit ihrer Hypothesen mehr auf der Beobachtung der Wirklichkeit aufbaut, als dies Comte und sein geistvoller Lehrer getan haben. Vielfach nimmt man heute Anstoß daran, daß die beiden Denker, zumal der systematischere Comte, „Positivisten" waren. Gilt doch Comte als der eigentliche Begründer dieser Denkweise. Bei ihm ist Positivismus und Soziologie so eng miteinander verflochten, daß sie nicht voneinander zu trennen sind. N u n hat man aber dieser das 19. Jahrhundert beherrschenden „naturalistisch-mechanistitischen Weltanschauung" den Krieg erklärt. Eine Anerkennung Comtes als „Vater" der Soziologie (er ist als Namengeber wohl ihr Pate) scheint damit auch ein Bekenntnis zur positivistischen Denkweise zu enthalten. In der T a t galten vielen die Soziologen schlechthin als Positivisten. Dadurch, daß sie sich Soziologen nennen, bekennen sie sich angeblich auch zu Comtes Weltanschauung. Hier zeigt sich wieder die bedenkliche Neigung, in der Soziologie eine Art Konfession und ein bestimmtes Ethos zu erblicken, die mit der ursprünglichen Verbindung zwischen ihr und der Philosophie zusammenhängt. Ich behaupte demgegenüber, daß die Gesellschaftslehre als realistische Wissenschaft mit dem Gegensatz von Positivismus und Anti-Positivismus überhaupt nichts zu tun hat. Was uns in soziologischer Hinsicht an Comtes Lehre interessiert, soll noch gezeigt werden. Seinem Positivismus sollte der Soziologe als solcher neutral gegenüberstehen. (Ist er auch Philosoph oder gar im speziellen Ethiker, so mag und muß er zu seiner „Weltanschauung" Stellung nehmen.) Damit ist aber auch schon angedeutet, worin die Gefahr der Anknüpfung an Comte liegt: daß auch bei ihm das ererbte Grundstück der Soziologie mit der Hypothek der Spekulation belastet ist. Fruchtbarer als die geschichtlichen Verankerungen der Soziologie in der deutschen oder in der französischen Philosophie der ersten H ä l f t e des 19. Jahrhunderts sind die mannigfachen Anknüpfungen an die eigentlichen Wissenschaften, von denen gleich noch zu sprechen sein
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wird. Auch dabei fehlt es nicht an Irrleitungen. Es kann zweifelhaft erscheinen, ob etwa die Nachbarschaft zur Biologie der Gesellschaftslehre mehr Vorteile oder mehr Nachteile gebracht hat. Aber besonders die Anregungen und Aufgabezuweisungen, die sie der Geschichte (in Deutschland z. B. Niebuhr, Ranke, Treitschke), der Jurisprudenz (Savigny, Eichhorn usw.), der Nationalökonomie (Knies, vor allem Schmoller und Bücher) und anderen Kulturwissenschaften verdankt, sind beträchtlich. Gerade aus Vergleichen der in den Nachbarwissenschaften herrschenden Fragestellungen und Antwortfindungen mit ihrer eigenen Problematik konnte sie allmählich das Unterscheidungsund Selbstbewußtsein f ü r ihr Eigenes gewinnen. So nützlich der Soziologie die mannigfachen Verbindungen mit Philosophie und einer großen Zahl anderer Wissenschaften war, so erschwerte ihr die beständige Ablenkung in fremde Gedankengänge den Reifeprozeß. Ihre Jugend war bewegt, abwechslungsreich und mannigfaltig; aber die große Geistesfamilie, in die sie sich gestellt sah, hinderte sie an der Sammlung und Besinnung auf die eigene Bestimmung. Thesenartige Zusammenfassung des z w e i t e n K a p i t e l s 1. Die Geschichte jeder Wissenschaft weist im Laufe der Jahrhunderte zumeist allmähliche Einengung ihres Studienfeldes, bisweilen aber auch das Gegenteil, eine Ausweitung, auf. Die Soziologie wandelt sich in der H a u p t sache von einer Enzyklopädie aller Sozialwissenschaften zu einer Einzelwissenschaft vom sozialen Leben der Menschen neben anderen solchen Einzelwissenschaften; jedoch nimmt sie den Platz der theoretischen Grundwissenschaft in diesem Kreise ein. 2. Faßt man sie aber, wie es noch immer hier und da geschieht, als eine enzyklopädische Wissenschaft vom Sozialen auf, so ist sie eine der ältesten Wissenschaften überhaupt. Faßt man sie als eine Einzelwissenschaft im Kreise der Sozialwissenschaften auf, so ist sie nicht
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älter als höchstens fünfundsiebzig Jahre. W i r folgen dieser zweiten Auffassung und rechnen die Fülle der sozialphilosophischen W e r k e der Vergangenheit zu ihrer Vorgeschichte. 3. In der Vorgeschichte w a r die Sozialphilosophie in der Hauptsache eine .So//Wissenschaft (normative W . ) ; heute sollte die Soziologie eine Sems Wissenschaft (erklärende oder verstehende W.) sein, w ä h r e n d die von ihr abzweigenden Nachbarwissenschaften mehr oder weniger in das Gebiet der Sollwissenschaften hinüberreichen, so z. B. der Sozialismus oder die Sozialpolitik 1 ). E r l ä u t e r u n g e n z u m K a p i t e l II Die umfangreichste und den weitesten Kreis der Ideengeschichte umspannende Literaturgeschichte, die auch besonders die lange Vorgeschichte behandelt, ist H a r r y Elmer B a r n e s ' u n d H o w a r d B e c k e r s „Social T h o u g h t f r o m Lore t o Science" (2 Bde. Boston 1938). Einer ihrer G r u n d gedanken ist der Nachweis, d a ß sich das Denken über das gesellschaftliche Leben als Übergang v o m Mythos (Becker sagt: „sacred") zu verweltlichten (säkularen) Auffassungen vollzogen habe 2 ). Barnes u n d Becker haben sich auch in anderen W e r k e n als Historiker der Sozialwissenschaften betätigt. So u. a. Barnes in seiner „History of Sociology" (Chicago 1948) 3 ). Pitrim S o r o k i n s , eines der fruchtbarsten Autoren der Sozialwissenschaften, vierbändiges großes W e r k „Social a n d Cultural Dynamics" ( N e w York 1937 u. ff.) ist nicht bloß Literaturgeschichte; es ist K u l t u r u n d Zivilisationsgeschidite nach soziologischen u n d vor !) Die Neigung, die Problematik des Sollens hervorzukehren, ist heute außer bei dem oben erwähnten Otto K ü h n e auch stark wirksam bei W e r n e r Z i e g e n f u ß . Gerhard W e i s s e r sudit der Gefahr der Vermischung dadurch zu begegnen, daß er explikative und normative Soziologie unterscheidet. Das entspricht unserer Gegenüberstellung von system a t i s i e r und Metasoziologie. 2 ) Vgl. dazu meine eingehende Besprechung in der „Zeitschrift für Nationalökonomie", Band IX, S. 470 ff. ••) Howard B e c k e r hat neuerdings mit Alvin B o s k o f f ein Sammelwerk unter dem Titel: „Modern Sociological Theory in Continuity and Change" herausgegeben (New York 1957, The Dryden Press).
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allem ethischen Gesichtspunkten; es enthält über vergangene Jahrhunderte und ihr Schrifttum reiches Material. — Ähnlich einzuordnen ist Vilfredo P a r e t o s „Trattato di Sociologia Generale" (auch französisch) (freilich mit einer von der Tendenz Sorokins stark abweichenden Schauweise). — Von den älteren deutschen Werken, die die Ideengeschichte von der Antike ab ausführlich behandeln, muß Paul B a r t h s „Philosophie der Geschichte als Soziologie" (Leipzig 1922, dritte und vierte Aufl.) besonders hervorgehoben werden 1 ). Keine Trennung von Vorgeschichte und Geschichte nimmt H . L. S t o l t e n b e r g in seinem Artikel „Geschichte der Soziologie" im Handwörterbuch der Soziologie (1931) und im ersten Band seiner „Geschichte der deutschen Gruppwissenschaft (Soziologie)" vor (Leipzig 1937). Dieser erste Teil umfaßt die Zeit bis zum Anfang des 19. J a h r hunderts; er behandelt das deutsche Mittelalter und besonders eingehend das 18. Jahrhundert. Der Begriff der „Gruppwissenschaft" ist darin sehr weit gefaßt. Kapitel
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Die Hauptrichtungen der Soziologie In der geschichtlichen Entwicklung der Soziologie w ä h rend ihres ersten Stadiums von (verhältnismäßiger) Selbständigkeit, also in der Hauptsache während des 19. J a h r hunderts, sind die Haupttheorien nach den Antworten geordnet, die die Autoren auf die Frage: was ist Gesellschaft? gegeben haben; ferner nach dem jedesmaligen Zusammenhange mit einer älteren Wissenschaft, von dem aus die Probleme der Gesellschaftslehre aufgefaßt worden sind. Die soziologischen Theorien des gegenwärtigen Entwicklungsstadiums werden wir jedoch zweckmäßigerweise nach einem anderen Gesichtspunkte ordnen. Es stände nichts im Wege, die beiden genannten, auf die Geschichte anzuwendenden Kriterien beizubehalten; aber da sich z. B. die naturwissenschaftlichen Soziologien stark vermindert haUber neueste deutsche Wörterbücher vgl. Kap. X.
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ben, jedoch neue Abzweigungen hervorgetreten sind, glauben wir, ein richtigeres Bild der Gegenwart durch eine neue, der älteren verwandte Einteilung geben zu können. a) Zur Vergangenheit: W ä h r e n d des 19. Jahrhunderts ist die Gesellschaft in der Hauptsache auf drei verschiedene Weisen aufgefaßt worden. Eine „Richtung" f a ß t sie als eine Einheit, ein Ganzes, als Substanz, jedenfalls als Seiendes auf. Dabei sind wieder zwei Anschauungsweisen zu sondern: den einen ist dieses Seiende, alten platonischen Vorstellungen folgend, eine Idee, nach der sich das in Teilerscheinungen und körperlichen Konkretisierungen sichtbare Menschenwerk formt. Den anderen ist die Gesellschaft ein Organismus, ein (mit unseren Sinnen allerdings nicht wahrnehmbares) Lebewesen. Eine zweite Auffassung geht dahin, daß die Gesellschaft in einer Summierung von Gruppen besteht. Bei ihr ist es richtiger, die Einzahl durch den Plural: die Gesellschaften zu ersetzen. Jedoch sind hiernach die sozialen Gebilde Ganzheiten und Einheiten. Der dritte Kreis von Autoren f a ß t „die Gesellschaft" als ein Produkt von wechselnden Vorgängen der Vergesellschaftung auf. Das W o r t Gesellschaft ist ihr nichts Substantivisches, bezeichnet nicht ein Ding, ein Seiendes, sondern hat verbalen Charakter. Es ist ein Geschehen, eine Vielheit von Prozessen. Stellen wir neben diese Dreiteilung die Zusammenhänge mit Nachbarwissenschaften; sie sind ja zugleich auch entscheidend für das Verfahren, das die Autoren bevorzugen: Vielen war die Soziologie 1. eine Naturwissenschaft; sie verknüpften sie vorwiegend a) mit der Biologie, manche davon speziell innerhalb dieser: mit Rassentheorie; b) eine andere naturwissenschaftliche Verknüpfung bestand darin, daß man der Soziologie mit Gesichtspunkten und Arbeitsweisen der Physik (oder, seltener, der Chemie) nahezukommen bestrebt war. Diese „soziale Physik" sucht vorwiegend die Bewegungsgesetze des gesellschaftlichen Geschehens zu erfassen, sei es, daß sie, um die wichtigsten Beispiele zu nennen, anfangs die Schwerkraft, später das Gesetz von
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der Erhaltung der Kraft und des Stoffes auch im Sozialen aufwies. — 2. Im ersten Kapitel ist ferner bereits angedeutet worden, daß die Verbindung mit der Philosophie vielen Soziologen selbstverständlich war. Hierbei wiederum war für sie die Sozialphilosophie entweder a) dasselbe wie Soziologie oder speziell b) die (jener nahe verwandte) engere Geschichtsphilosophie. Dort bemühte man sich um Deutung der gesellschaftlichen Grunderscheinungen, suchte ihren objektiven Sinn, ihren „Geist", zu erfassen. Hier handelte es sich vorwiegend um Theorien der Kulturfolge und der Entwicklungsphasen. Nicht zu verwechseln mit dieser Verknüpfung der Soziologie mit Sozial- und Geschichtsphilosophie ist der (mehr für die Gegenwart als für das 19. Jahrhundert) bezeichnende Versuch, der Soziologie als einer speziellen Sozialwissenschaft ihre besondere erkenntnistheoretische Grundlage zu geben. Da wie jede Wissenschaft auch jede Art Soziologie in der Erkenntnistheorie ihre formale Wurzel finden muß, so hat auch die Soziologie ihr allgemein formalphilosophisches Fundament. Aber es ist etwas ganz anderes, ob man mit der „philosophischen" Grundlage Logik und Erkenntnistheorie und die alle-Wissenschaften beherrschenden Denkgesetze meint oder den Inhalt der viel subjektiveren Konstruktionen der Spekulation über Sinn, Geist und Wesen von Geschichte, Gesellschaft, Kultur, Zivilisation, Staat usw. Zu den Spezialwissenschaften, an denen man Anlehnung suchte, gehörten schließlich vorwiegend 3. die Psychologie und 4. die Ethnologie (Ethnographie). In seelenkundlicher Hinsicht kam es den dabei in Frage kommenden Autoren vorwiegend darauf an, die inneren Wechselbeziehungen zwischen Menschen in ihrer Bedeutung für das gesellschaftliche Leben darzutun. Die Schriftsteller des völkerkundlichen Kreises gingen von der Überzeugung aus, daß man die verwickelten sozialen Beziehungen und Gebilde nur durdi Zurückgreifen auf einfache Gruppenverhältnisse, wie sie bei den Naturvölkern zu beobachten wären, erklären könnte.
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Verbinden wir die Einteilung nach dem ersten Kriterium mit der G r u p p i e r u n g nach dem unterscheidenden Merkmale der zweiten O r d n u n g , so k a n n m a n (in beträchtlicher Vereinfachung) sagen: die Gesellschaft w u r d e als Einheit von Naturwissenschaftern u n d Naturphilosophen (z. B. C o m t e), von Sozialphilosophen (z. B. D ü r k h e i m , S c h ä f f l e , (um einen jüngeren A u t o r zu nennen: S p a n n ) , v o n Geschichtsphilosophen ( z . B . L o r e n z v o n S t e i n , B a r t h ) a u f g e f a ß t ; als Vergesellschaftung f a ß t e sie der Philosoph S i m m e 1 ; als G r u p p e n summierung findet sie sich besonders bei manchen Amerikanern, die von der Psychologie ausgehen, aber auch — obz w a r in manchmal wenig konsequenter "Weise — neben den beiden Auffassungen bei den verschiedensten S t a n d punkten in der europäischen Literatur. b) Gegenwärtig: I n der Gegenwart scheint uns vor allem notwendig zu sein, zunächst Soziologie als wissenschaftliche Disziplin u n d Soziologie als „Methode" innerhalb einer a n deren Wissenschaft zu unterscheiden. Dabei ist die Redewendung „Soziologie als M e t h o d e " ungenau (wenn auch üblich); gemeint ist damit, d a ß in diesen Fällen das Soziale (das Zwischenmenschliche oder das G r u p p e n - u n d Gebildh a f t e ) bei Fragestellungen anderer Wissenchaften wesentlich berücksichtigt wird. Innnerhalb der Soziologie als Disziplin müssen wir drei Zweige (kleinere Abspaltungen u n d Vermischungen ungerechnet) unterscheiden, wobei wir freilich in erster Linie die deutschen Verhältnisse im Auge haben u n d f ü r die Literatur des Auslands diese Einteilung nur teilweise gelten lassen k ö n n e n : 1. Soziologie als Lehre v o m geschichtlichen V e r l a u f e des sozialen Lebens (oder „der Gesellschaft") {historische Soziologie); (gegenwärtiger Sonderzweig: die Kultursoziologie); 2. Soziologie als Sinndeutung geistiger K r ä f t e u n d als Lehre von Bewußtseinskräften (philosophische, nämlich a) metaphysische u n d b) erkenntnistheoretische Soziologie );
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3. Soziologie als systematische Wissenschaft vom gesellschaftlichen Geschehen auf realistisch-empirischer Grundlage (systematische Soziologie).1) D i e historische Soziologie, die die Vorgänge der Vergangenheit als Material f ü r ihre Abstraktionen bevorzugt, ist nicht zu verwechseln mit der soziologischen Methode in der Geschichtswissenschaft, w e n n auch die Grenzen zwischen beiden fließend sind. Die erstgenannte sucht den objektiven Sinn u n d Geist von Kulturperioden, Kulturkreisen u n d -stufen, v o n ganzen in der Geschichte vorkommenden Sozialsystemen zu deuten. Als historische Soziologen ragen in Deutschland H a n s F r e y e r , A l f r e d MüllerA r m a c k , Alexander R ü s t o w , A l f r e d W e b e r u n d Georg W e i p p e r t hervor. Das soziologische Verfahren, dessen sich die eigentlichen Historiker bedienen, beruht hingegen d a r a u f , d a ß Geschichtsforscher, deren H a u p t a u f gabe die Darstellung des Geschehens in der vergangenen Zeit ist, dabei die Gruppenerscheinungen vor den persönlichen Tatsachen bevorzugen, wie es etwa L a m p r e c h t getan hat. Es besteht eine Auffassung, die entweder überhaupt nur eine geschichtliche (keine allgemein-systematische) E r k e n n t nis des gesellschaftlichen Lebens gelten läßt oder (weniger radikal) die Vorrangstellung einer Soziologie des Nacheinander v o n der des Nebeneinander behauptet. Eine allgemeine Querschnittbetrachtung, die gewissermaßen zeitlos oder überzeitlich ist, w i r d v e r w o r f e n , weil der ewige W a n d e l der Dinge nur zeitlich gebundene (aufsteigende, blühende u n d vergehende) Erscheinungen hervorbringe. M a n könne nur bestimmte Zeitabschnitte u n d zugleich (wobei sich die V e r w a n d t s c h a f t v o n geschichtlichem u n d geographischem Determinismus zeigt) räumlich begrenzte K u l t u r kreise studieren. Die Bevorzugung der Vergangenheit vor der Gegenwart empfehle sich dabei, weil „die aus der W e i t e r unten wird in größter Vereinfachung nur systematische und •geschichtliche Soziologie unterschieden, so daß die oben als philosophische Richtung bezeichnete Kategorie 2 teils der systematischen, teils •der historischen Schule zugewiesen wird.
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Aktualität schöpfende Soziologie" Selbsttäuschungen durch die Färbung ihrer „Tatsachen" mit unbewußten Vorurteilen, Leidenschaften und Interessen besonders ausgesetzt sei1). Audi Paul B a r t h 2 ) meinte: „Nicht jedes Wellengekräusel des menschlichen Verkehrs hat diesen Grad von Wichtigkeit; sondern es haben ihn bloß die dauernden Strömungen des Willens und des Geistes, die man durch Jahrhunderte oder wenigstens durch Jahrzehnte verfolgen kann. Diese darzustellen und, soweit es möglich ist, zu erklären, ist die Aufgabe der Soziologie, die damit zugleich Theorie der Geschichte wird." Sombart hat sogar erklärt 3 ): „Daß alle gesellschaftliche Wirklichkeit Geschichte, d. h. Geschehenes, ist, darüber kann kein Zweifel obwalten; denn es gibt keine Gegenwart, es gibt nur Vergangenheit." (Die Umkehrung wäre, scheint uns, ebenso behauptbar: es gibt keine Vergangenheit, es gibt nur Gegenwart.) Dazu wäre wohl zu sagen: Gerade der Gefahr der U n sachlichkeit wegen, auf die schon S p e n c e r in sehr ausführlichen Darstellungen in seinem „Study of Sociology" hingewiesen hat, empfiehlt sich große Vorsicht in der H i n nahme des Materials der Geschichte, besonders aber der Behauptungen der Geschichtsphilosophie. Gewiß wird der das Nebeneinander der Gegenwart bevorzugende Soziologe der Gefahren stets eingedenk sein müssen, die mit der Nichtberücksichtigung der „persönlichen Gleichung" zusammenhängen. Entscheidend ist jedoch im Streite von Nacheinander und Nebeneinander das Maß der Kontrollierbarkeit der Behauptungen. Gegenwärtiges können wir Bei im allgemeinen leichter nachprüfen als Vergangenes. dem, was die Geschichte berichtet, ist stets mit der Willkür der Auswahl und Weglassung zu rechnen. Jedoch handelt es sich nicht um ein Entweder-Oder, sondern um gegenseitige Ergänzung von zwei Betrachtungsweisen. In Deutschland stand bis in die allerjüngste Zeit hinein die geschicht!) B r i n k m a n n , Gesellschaftslehre, 1. c.f S. 2. 2 ) B a r t h , Die Philosophie der Geschichte als Soziologie, 3. u. 4. Aufl., S. 151, Leipzig 1922. 3 ) Vgl. S o m b a r t , Nationalökonomie und Soziologie, J e n a 1930, S. 3.
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liehe Soziologie so völlig im Vordergrunde, d a ß gegenwärtig neben ihr ein das Nebeneinander bevorzugendes, das Historische jedoch in den Einzelausführungen heranziehendes V e r f a h r e n dringend notwendig geworden ist. Aber es handelt sich dabei nicht nur um den Gegensatz Vergangenheit und Gegenwart, sondern u m die Alternative: geschichtliche oder systematische Erfassung der E r scheinungen. Audi diese beiden Betrachtungsweisen müssen sich ergänzen. Das Allgemeine ist übergeschichtlich, das Besondere geschichtlich. Die „Beziehungslehre" etwa, die systematisch, nicht geschichtlich angeordnet ist, geht von überzeitlichen, quasi „ewigen" Kategorien aus, den Beziehungen des Z u - u n d Auseinander, die sich fanden, finden und finden werden, solange Menschen sind. Aber die Grundprozesse zerlegen wir weiter in Hauptprozesse, diese in U n t e r - u n d schließlich in Einzelprozesse. Das ist nur möglich durch allmähliche A n n ä h e r u n g an konkrete, geschichtliche Tatsachen. Bei diesen bevorzugen wir allerdings das Nebeneinander der Gegenwart, eben aus dem Grunde, weil ihre Beobachtung nachprüfbar ist. Barths Einwand, m a n könne bei den Geschehnissen, die sich vor unseren Augen abspielen, nicht wissen, o b sie wesentlich genug sind, w ä h r e n d wir aus der Geschichte das Bedeutungsvolle, W i r k same herausgeben, verkennt die Größe des Vorurteils, das gerade bei der Auswahl des Wirksamen aus dem unendlich breiten Fluß des Geschehens den Historiker lenkt oder doch lenken k a n n . D e r Hinweis auf die Primitiven, deren Gesellschaftsbau so einfach sei, d a ß das völkerkundliche Studium als V o r stufe soziologischer Erkenntnis in erster Linie in Betracht k ä m e (so f r ü h e r bei Spencer, heute z. B. bei Vierkandt, T h u r n w a l d , Levy-Bruhl), bedarf sehr vorsichtiger A n wendung; denn die sozialen Verhältnisse der „ N a t u r völker" sind f ü r uns durchaus nicht einfach, was die vielen Irrtümer der Beurteilung ihrer Einrichtungen beweisen, denen Reisende und Forscher verfallen sind. Mag die Struktur ihres Gesellschaftsbaus im allgemeinen einfach sein, so ist die Erklärung ihrer sozialen Bauweise durch 3 von Wiese,
Soziologie
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III. Die Hauptriditungen der Soziologie
Rückführung auf die zwischenmenschlichen Beziehungen dadurch erschwert, daß wir nur zu oft den Primitiven unsere Motive und Zielsetzungen unterschieben. Damit sollen die wertvollen Hilfen der Völkerkunde keineswegs geleugnet werden; aber das Studium einfacher zwischenmenschlicher Zusammenhänge im Beobachtungsfelde unseres eigenen Kulturkreises ist dringender und für die Zwecke der Soziologie im allgemeinen -noch fruchtbarer 1 ). In letzter Vereinfachung kann man in der Gegenwart innerhalb der allgemeinen (theoretischen) Soziologie geschichtliche und systematische Soziologie unterscheiden oder unten verwandten Gesichtspunkten Kultur- und Beziehungssoziologie. Dabei ergibt sich ein engeres Verhältnis zwischen Kultur- und geschichtlicher Soziologie einerseits und zwischen systematischer und Beziehungssoziologie andererseits. Die Kultursoziologie erfaßt ihre Gegenstände meist in historischer Ordnung und wird damit zur Geschichtsphilosophie (z. B. bei Toynbee) ; die Beziehungssoziologie verfährt in erster Linie systematisch. Als eine Unterdisziplin der Kultursoziologie kann man die (mit dem ungeschickt gewählten) Worte: Wissenssoziologie bezeichnete Forschungsrichtung bezeichnen. Sie kann ebenso gut zur erkenntnistheoretischen wie zur historischen Schule gerechnet werden. Aber diese aus methodologischen Absichten vorgenommenen Zweiteilungen bedeuten keine absolute Trennung, sondern nur ein Mehr oder Weniger. Die Geschichte kann nicht der Systematik, die Systematik nicht der Chronologie entbehren. Als veraltet und überwunden kann man indessen den einst stark hervorgekehrten Gegensatz von individualistischer und kollektivistischer Denkweise bezeichnen. Hierüber schrieb ich im Handwörterbuch der Sozialwissenschaften 2 ): „Gegenüber dem künstlich geschaffenen Gegensatze von „Individualismus" und „Kollektivismus" muß zu1) Vgl. hierzu auch Wilh. E. M ü h l m a n n , pologie, Bonn 1948 2) Im Artikel .Soziologie*.
Geschichte der Anthro-
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nächst ausgesprochen werden, daß das Verhältnis des einzelnen Lebewesens Mensch zu den gesellschaftlichen Kollektivkräften in der T a t das Kernproblem aller Soziologie ist. Keine andere ihr gestellte Frage kommt ihr an entscheidender Bedeutung gleich; mit seiner Aufrollung hat man das Wesentlichste aller Gesellschaftslehre angepackt. Aber alsbald betrat man schon in den Anfängen des Nachdenkens über das soziale Leben einen brüchigen Boden, als man die Frage dahin auslegte, daß zu entscheiden sei, wem von beiden, dem Menschen von Fleisch und Blut (dem „Individuum") oder dem Kollektiv, der logische, sittliche oder womöglich der zeitliche Vorrang, das bestimmende und entscheidende Prius zuzubilligen sei. Aristoteles hat mit der anscheinend so selbstverständlichen Formel: „Das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile" und der Anwendung dieses tiefsinnig anmutenden Satzes die Vorstellungen von Jahrhunderten in eine falsche Richtung gelenkt. Die Gegner dieser These kehrten ihrerseits den Satz ins Gegenteil um. Es ergab sich eine unheilvolle Dogmatik, deren Verfechtung vielfach zu einem erbitterten, an Verunglimpfungen reichen Kampf der Gesinnungen aufgebauscht wurde. Noch O t h m a r Spann goß die ganze Schale seiner Verachtung auf die, wie ihm schien, im Materialismus und Egoismus versumpfenden Individualisten aus. Die alte Formel, die dann manchmal in dem Satze, daß das Ganze etwas anderes sei als die Summe der Teile, abgeschwächt wurde, und die Anti-These, daß das Ganze lediglich durch die N a t u r seiner Einheiten bestimmt werde, die u. a. Spencer vertrat, beruhen beide auf Denkfehlern, nämlich auf Absolut-Setzungen von Teilwahrheiten, die Ergänzungen verlangen. Zunächst wäre hinsichtlich der Behauptung einer zeitlichen Priorität zu sagen, daß Ganzheiten und Teile nur gleichzeitig sein können. Meint man einen denknotwendigen logischen Vorrang, so sind zwei verschiedene Arten von Abhängigkeit festzustellen: das Ganze beherrscht die Teile, gibt ihnen Funktionen und verändert durch Zusammen-
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III. Die Hauptrichtungen der Soziologie fügung und Differenzierung manches an ihren Eigentümlichkeiten, die sie in der Isoliertheit hätten. Ob damit eine Werterhöhung der Elemente erfolgt, ist keineswegs entschieden; die Steigerung der Leistungsfähigkeit wird häufiger sein, ist aber durchaus nicht stets gesichert. Ob die Verbindung von Elementen zu Ganzheiten einen Fortschritt in irgendeinem Sinne bedeutet, hängt von der Qualität des Ganzen, aber nicht minder von der Beschaffenheit der Elemente ab. Das ist die andere Art der Abhängigkeit. Für das soziale Leben der Menschen ist aber ferner die These des Aristoteles schon deshalb unangemessen, weil Mensch und Gesellschaft überhaupt nicht im Verhältnisse von Teil und Ganzem stehen; die Elemente der Scheinsubstanz Gesellschaft sind die sozialen Prozesse, also Vorgänge, nicht konkrete Menschen. Hier besteht ein wesentlicher Unterschied zwischen biologischer und soziologischer Schauweise. Ein Arm ist ein Glied des Leibes; ein Mensch gehört aber nie völlig als Glied einer sozialen Körperschaft an, sondern nur in bestimmten Funktionen. Es ist ein arger Fehler des herkömmlichen, uorsoziologischen Denkens, daß es diese Antithese zu einem Dogma, in dem sich „weltanschauliche" Gesinnungen verbergen sollen, gemacht hat. Richtig aber ist, daß es für die theoretische Forschung zwei verschiedene Wege gibt, auf denen man dem Problem „Gesellschaft und Person" nahekommen kann. Auf dem einen nimmt man die Gebilde, also die Kollektiva, auf dem anderen die Vorgänge zwischen Personen in kleinen Gruppen als Ausgangspunkte und schreitet von ihnen zu den Körperschaften vor, in denen dabei aber keineswegs ihre starken Einwirkungen auf die in ihnen vorgehenden Prozesse und damit auf die Beschaffenheit der stets veränderlichen Personen verkannt werden. Wieder ergibt sich, daß die Wahl des Wegs eine Zweckmäßigkeitsfrage ist, allerdings auch von der Subjektivität des Forschers abhängt. Bei jeder der beiden Schauweisen ist man aber im Verlaufe
III. Die Hauptrichtungen der Soziologie
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weiterer Studien gezwungen, die Argumentation des vermeintlichen Gegners in die eigenen Gedankengänge aufzunehmen." Abgelehnt werden muß auch die besondere H e r v o r hebung einer modernen Richtung, die sich unter Benutzung eines unglücklichen, von Wilhelm D i 11 h e y geprägten Ausdruckes als „Gegenwartswissenschaft" bezeichnet. Sie stellt sich als die Fortsetzung der sogenannten „Wirklichkeitswissenschaft" dar 1 ). Beide Betitelungen gehen auf eine captatio benevolentiae der Leser aus; sie bedienen sich zugkräftiger Schlagwörter, was den Mißstand zur Folge hat, daß andere Richtungen, die dieses Aushängeschild nicht benutzen, als lebensfremd und praktisch unbrauchbar erscheinen müssen. Überschaut man das Gesamtfeld der heutigen Soziologie 2 ), springt am meisten in die Augen die Zweiteilung in a) theoretische Soziologie und b) Soziographie (Social Research). Es ist ein Mangel des gegenwärtigen Sprachgebraudis, daß die Termini Systematik, Soziographie, Schauweise (Optik), Methode (Technik) häufig nicht genügend getrennt werden. Im ersten Kapitel wurde ausgesprochen, daß man Soziologie und Soziographie (Social Research) nicht als zwei voneinander getrennte Disziplinen ansehen dürfe, weil sie zu sehr voneinander abhängig sind und beide der Beantwortung derselben zwei Grundfragen dienen. Aber wie man Ethnologie und Ethnographie innerhalb einer und derselben Wissenschaft als Unterdisziplinen sondert, so muß man systematische (theoretische Soziologie und Soziographie im Kreise der Gesellschaftslehre unterscheiden. Die Soziographie beschreibt Tatsachen, die sie vorher beobachtet hat. Beobachtung und Deskription sind ihre Erkenntnismittel 3 ). !) Dasselbe gilt für den Terminus .Realsoziologie". 2) Vorher haben wir innerhalb der allgemeinen Soziologie Zweiteilungen vorgenommen; nunmehr handelt es sich darum, der theoretischen Soziologie insgesamt die bloße Besdireibung gegenüberzustellen. 3 ) Vgl. Gerhard W e i s s e r , Soziographie und theoretische Sozialforschung (eine Thesenfolge), in .Kölner Zeitschrift für Soziologie", Bd. V, S. 412 ff.
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III. Die Hauptrichtungen der Soziologie
Bestand vor hundert Jahren eine Gefahr für die deutsche Soziologie im Überwiegen der Spekulation und der Ideologie, so bedroht heute — besonders in Amerika und Skandinavien — eine Überhandnähme der bloßen Beschreibung; und der kritikarmen Wiedergabe von mündlichen oder schriftlichen Erkundigungen die theoretisch strenge Verarbeitung und Vereinheitlichung des wissenschaftlichen Gehalts der Forschung. Zu einem großen Teile wird damit die Soziologie zur Statistik. Beide Arbeitsweisen, der logisch strenge Aufbau von Systemen und die Beobachtung und Tatsachensichtung, müssen eng Hand in Hand gehen. Das Bestreben nach Registrierung und Bewältigung der sonst unübersehbaren Fülle von Facta durch „Research", das Studium der Einzelfälle (Case Work), die Befragungen sind unerläßlich. „Nur", schreibe ich im Handwörterbuch der Sozialwissenschaften, „darf über der massenhaften Kleinarbeit das W i r ken der Wenigen am Ausbau der Theorie nicht vergessen werden. Wissenschaft ist nicht bloß Handwerk. Die von der sogenannten Gegenwarts- und Wirklichkeitswissenschaft geforderte Bedachtnahme auf praktische Anwendung ist anzuerkennen. Doch darf sich diese Schauweise nicht allzu sehr an den gegenwärtigen Alltag binden, damit sie nicht von den Tendenzen und Irrtümern des Augenblicks abhängig wird. Man muß den Alltag schauen und über ihn hinausschauen können." Die Zweiteilung: Systematik und Beschreibung darf nicht verwechselt werden mit dem oben aufgewiesenen Unterschied von allgemeiner Soziologie, die Gegenstand dieses Büchleins ist, und den vielen Spezialsoziologien, auf die wir hier nicht eingehen können, weil ihre Behandlung der Befassung mit der Eigenart ihrer besonderen Objekte (Betreffe) wie Wirtschaft, Recht, Religion, Sprache, Kunst usw. bedarf. Auch jede dieser speziellen Soziologien hat ihre theoretischen und ihre deskriptiven Elemente. Sie ist niemals bloße Soziographie. Schwierigkeiten der Einordnung bietet nur die heute in Deutschland, Amerika und Frankreich besonders ver-
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breitete Betriebssoziologie, die ein Unterzweig der Wirtschaftssoziologie ist, wie die Betriebswirtschaftslehre zur Ökonomik gehört. Statt Betriebssoziologie wird auch Arbeitswissenschaft oder (in Amerika) „Industrial Sociology" gesagt. Diese industrielle Soziologie wird vielfach als ein ganz neuer, von Amerika nach Europa dringender Forschungszweig angesehen. Sie ist aber in Deutschland alten Datums, wenn sie uns auch einige neue Termini, die meist wenig klar umgrenzt sind, beschert hat (wie „public relations" oder auch in geradezu irreführender denkbar größter Einengung des Ausdrucks „human (!) relations" genannt), ferner den „Manager". Es ist anzuerkennen, daß einige Verfahrensweisen, die auf Gruppentätigkeit (team work) beruhen, erst durch die Arbeit der modernen kostspieligen Institute möglich geworden sind. Vor fünfzig Jahren waren bei uns die Forscher auf ihre eigene, meist isolierte Beobachtungsarbeit angewiesen und konnten sich noch nicht der Maschinerie von mechanischen Apparaten (Hollerithmaschinen usw.) bedienen. In der dadurch möglichen Bewältigung von großen Mengenergebnissen in Werkstätten liegt ein Fortschritt. Aber die frühere selbständige, nicht mechanisierte Einzelarbeit stellte größere Anforderungen an die Urteilsfähigkeit und die geistige Bildung des Forschers und zeitigte infolgedessen wissenschaftlich wertvollere Ergebnisse. Diese ältere Forschung in Deutschland vollzog sich jedoch nicht unter der Bezeichnung Soziologie, sondern als Sozialpolitik, die ihrerseits eine lange, ins 18. Jahrhundert zurückreichende Vorgeschichte hat. Vieles von dieser regen Arbeit wird heute von denen, die die Entwicklung des deutschen Vereins für Sozialpolitik und verwandter Einrichtungen (wie z. B. der Gesellschaft für soziale Reform) nicht kennen, ignoriert. Man redet ungerechtfertigterweise von Neuentdeckungen. Die heutige „Industrial Sociology" ist aber nichts anderes als die deutsche theoretische Arbeit an der Sozialpolitik aus den Jahren 1871 bis 1914. Von dieser Sonderung der beiden Unterdisziplinen der Soziologie (Theorie und Beschreibung) ist die Problematik
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der Methoden und Techniken zu sondern. Von der soziologischen Optik, bei der es sich um die Frage handelt, auf welche Erscheinungsseiten des zwischenmenschlichen Lebens, das stets verwickelt zuammengesetzt und nie von einem Blickpunkte aus in seiner Ganzheit erfaßt werden kann, hebt sich die Frage, wie man verfahren soll, ob man zählt, mißt, experimentiert, Menschen ausforscht, deutlich ab. Diese Frage nach der zweckmäßigerweise anzuwendenden Methode wird oft mit den Schauweisen verwechselt, und dem Terminus Methode wird eine unangemessene Ausweitung gegeben. Die Methode betrifft die anzuwendenden Denktechniken und die mechanischen Verfahren. Über sie, besonders über Soziometrik und Meinungserforschung wäre sehr viel zu sagen; aber ich muß midi hier mit dem Hinweise auf das anschwellende Schrifttum begnügen. Wieder muß ausgesprochen werden, daß dieses geistige Hilfshandwerk heute nicht zu entbehren ist; nur sollte man es nicht für das Wesentliche in der Wissenschaft halten. Audi in Deutschland, das eine ganz andere Tradition besitzt, neigt man heute manchen Orts dazu, amerikanischer als die Amerikaner zu sein und Handwerk und Wissenschaft zu verwechseln. Dem muß widersprochen werden, ehe es zu spät ist. Immer bleibt der schöpferische Gedanke das, worauf es ankommt. E r l ä u t e r u n g e n und Z u s a m m e n f a s s u n g e n z u m K a p i t e l III I.
Zur Wissenssoziologie: Sehr wenig ist im Vorausgehenden von der „Wissenssoziologie" gesagt worden, die man deutlicher als die Lehre von den Ideologien und Utopien oder von der sogen. Seinsverbundenheit der Erkenntnis bezeichnen sollte. Sie sucht einen großen Teil des Inhalts der Urteile und Vorstellungen der Menschen, besonders der Gruppen und Körperschaften auf den Stand und die Entwicklung der sozialen Organisation zurückzuführen. Ausgangspunkt war Karl Marx' Theorie, wonach der geistige Oberbau der Sozialwirtschaft nicht selbständig, sondern auf die Produktions-
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Verhältnisse und Produktionskräfte zurückzuführen wäre. Diese Einseitigkeit des ökonomischen Materialismus wurde von Karl M a n n h e i m , Max S c h e 1 e r und anderen dahin erweitert, daß die gesamte Sozialorganisation, nidit bloß die Wirtschaft, eine Basis (einige sagen: die Basis) des Komplexes der Urteile (und besonders der Vorurteile) sei. Übertreibungen dieser Lehre sind heute in der Ideologienlehre Max H o r k h e i m e r s und Theodor W. A d o r n o s , aber auch in der amerikanischen Literatur überwunden. Die Beurteilung dieser Theorien hängt von dem Maße des Geltungsanspruchs der „Seinsverbundenheit" ab. Will man nur den sozialen Zwang als ein gestaltendes Element des Inhalts der Erkenntnis ansehen, das mit der Eigenentwicklung des Geisteslebens ringt, so wird man in dieser Wissenssoziologie ein sehr wesentliches Grenzgebiet von Philosophie, Geschichte und Soziologie erblicken müssen. Jeder Absolutheitsanspruch dieser Entwicklungslehre ist jedoch als Irrlehre abzuweisen1). II. Max Adlers Transzendental-Soziologie: Eine andere Fortführung des Ökonomismus von Karl Marx zeigte sich in den dreißiger Jahren in Max A d l e r s Erkenntnistheorie, die Kant und Marx zu verbinden suchte. Heute wird diese Überspitzung des Idealismus, soweit ich sehen kann, wohl kaum noch vertreten; aber die deutsche Neigung, das Soziale zu verinnerlichen, ist keineswegs überwunden. Deshalb noch (wie in der 5. Auflage) ein Hinweis auf Max Adlers Theorie: Bei ihm ist das Soziale eine Kategorie des Bewußtseins. Unser Denken sei schon Gesellschaft. „Das Problem der Gesellschaft liegt nicht etwa erst im historischen ökonomischen Prozeß der Vergesellschaftung, sondern schon in dem seine Begriffe vergesellschaftenden Denkprozeß des Individuums."2) Schon nach Eine redit gute erste Unterrichtung über „Sociologie of Knowledge" (Wissenssoziologie) bietet unter diesem Titel Robert K. M e r t o n im Sammelwerke von G u r v i t c h — Moore: „La Sociologie en X X e S i è c l e " , Paris 1947; auch in englischer Sprache („Twentieth Century S o c i o l o g y " , New York 1945). 2) Jahrbudi f. Soziologie, Band X, S. 25/26 und Verhandlungen des vierten deutschen Soziologentages, sowie vor allem in Adlers Buch: .Das Rätsel der Gesellschaft", W i e n 1936.
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Kants theoretischer Erkenntnislehre müsse man dem individuellen Bewußtsein transzendental-sozialen Charakter zusprechen. Damit werden die Probleme der Vergesellschaftung dieser Richtung zu erkenntniskritischen Aufgaben. Es handelt sich dabei nicht um Psychologismus (wie bei manchen Engländern und Amerikanern), sondern speziell um Analyse des Inhalts und der Formen des Denkens. Ich muß gegen diesen sich als „transzendental" bezeichnenden Standpunkt einwenden: Da das Denken teilweise Zusammenhänge zwischen (der Anschauung nach) isolierten Dingen herstellt, führt auch das Denken über Menschen sicherlich auch vom Individuellen zum Überindividuellen. Aber zum andern Teil trennt audi das Denken anschaulich Verbundenes; es schafft also auch erst die Vorstellung vom Besonderen. Der Denkprozeß vergesellschaftet und isoliert. Ein Primat des einen vor dem anderen Vorgange ist nicht anzuerkennen 1 ). Aber in der Soziologie handelt es sich gar nicht um Analysen von Bewußtseinsvorgängen; wir können nicht das Soziale von den Denkgesetzen her erfassen. Es ist nicht eine Kategorie des Bewußtseins, sondern des Lebens. Es kommt darauf an, dieses Leben richtig (meinetwegen erkenntniskritisch naiv) zu beobachten und das Beobachtete zu ordnen. Lernt man aus dieser unvoreingenommenen Beobachtung der Wirklichkeit, so verschwindet auch der durch Erkenntniskritik künstlich auf die Spitze getriebene Gegensatz von Individuellem und Sozialem. Das Element des Sozialen ist nicht ein Bewußtseinsvorgang, sondern der soziale Prozeß, ein objektives Geschehen. Er ist freilich meist auch ein physiologisch-psychologischer Vorgang, bei dem aber weniger die Denkvorgänge als die Begehrungen maßgebend sind. J ) Von diesem Gebrauche des W o r t e s „transzendental" ist seine Verwendung bei W e r n e r Ziegenfuß und in wieder anderem Sinne bei G. Weisser zu unterscheiden. Ziegenfuß spricht von der Notwendigkeit, das Wertvolle zu „transzendieren", also aus einer bloß beschreibenden Behandlung herauszuheben; Weisser verbindet den Begriff mit seiner For derung einer normativen Soziologie. Vgl. über Ziegenfuß besonders seinen einleitenden Artikel im Handbuch der Soziologie, Stuttgart 1956, S. XXI ff.
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Dabei verhehlen wir uns nicht, daß eben dieses objektive Leben um uns mit den Kräften und Unkräften unseres Verstandes, subjektiv umgestaltet, aufgenommen wird. Aber die dadurch erforderliche kritische Haltung zu unserem eigenen Erkenntnisvermögen gilt für alle Art Wissenschaft. Eine Besonderheit bietet hierin die Soziologie nicht. III. Beispiele anderer Einteilungen der modernen Geschichte der Soziologie: In der vierten Auflage habe ich auf Seite 44 ff. einige ältere Einteilungen der Soziologie aufgeführt, so die von Karl P r i b r a m, Filippo C a r 1 i und S o r o k i n. Ich muß mich damit begnügen, darauf hinzuweisen. Hier seien neu genannt die Versuche von Raymond A r o n , der auch auf G e i g e r s ältere Vorschläge hinweist. Raymond A r o n teilt in seiner Schrift „Deutsche Soziologie der Gegenwart" 1 ) diese in a) systematische, b) historische, c) die Synthese von beiden Schulen durch Max Weber ein. (Die Verselbständigung Max Webers ist anfechtbar.) G e i g e r hatte im Handwörterbuch der Soziologie gesondert: 1. Soziosophie (spekulative Gesellschaftslehre), 2. materielle Geschichtsphilosophie oder Evolutionslehre der Gesellschaft, 3. Soziologismus (wieder untergeteilt in Sozial-Enzyklopädik und erkenntnistheoretische Soziologie), 4. einzelwissenschaftlidie, empirische Soziologie. IV. Zur Politik als Wissenschaft: Schon vor fast hundert Jahren gab es in Deutschland eine blühende Wissenschaft von der Politik. Es ist befremdend, in welchem Grade heute, wo man die Politik wieder als Forschungsgebiet und Lehrfach zu pflegen beginnt, diese Tradition und das Gedächtnis an Denker wie Robert v. M o h 1 wenig beachtet wird. Audi hier wie bei der Betriebssoziologie scheint vielfach die Vorstellung zu bestehen, daß man dabei ein scientifisches Gebiet neu entRaymond A r o n , „Die Deutsche Soziologie der Gegenwart", Stuttgart 1953, Kröner (übersetzt nach der älteren französischen Ausgabe).
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deckt, statt die wertvollen Anfänge fortzuführen. Auch scheint hier und da der enge Zusammenhang und die Ableitung der Politik als Unterdisziplin von der Soziologie verkannt zu werden. Sie gehört aber durchaus in das Gebiet der speziellen Soziologien; sie kann gar nichts anderes sein als spezielle Soziologie, nämlich Lehre vom Zusammenleben der Menschen auf dem Gebiete der Machtverteilung und Machtordnung. V. Üher das Verhältnis der Soziologie zur Anthropologie: Daß wir die Soziologie als Wissenschaft vom Mit- und Gegenmenschen in den größeren Kreis der Anthropologie einfügen, wurde bereits im ersten Kapitel hervorgehoben, wobei diese Universalwissenschaft zum mindesten im gleichen Maße als philosophisch-geisteswissenschaftliche (von mir in „Homo sum" als zuammenfassende Anthropologie bezeichnet) wie als naturwissenschaftliche Disziplin gemeint ist. Eine andere Einengung der Anthropologie, die hier abgelehnt wird, ist die zur Ethnologie. Besonders S p e n c e r und die französische Durkheimschule sehen in der Befassung mit den „Naturvölkern" (schriftlosen Völkerschaften) einen geeigneten Weg, dem Problem Mensch und Gesellschaft nahezukommen. D ü r k h e i m und seine Schüler F a u c o n n e t und M a u s s haben wertvolle, für die Soziologie fruchtbare, aber auch gefährliche Studien über die Welt des „Archaischen", wie sie sie nannten, geschaffen 1 ). VI. Ihr Verhältnis zur Psychoanalyse: Im gleichen Hefte bot mir Roger B a s t i d e s Sdirift „Sociologie et Psychoanalyse" (in der gleichen Sammlung) Gelegenheit, das Verhältnis zur Psychoanalyse zu behandeln. Die Auffassung R i m e t s , daß diese vorwiegend die Grundlage der Soziologie bilden müsse, wird von ihm l ) w i e sich diese Durkheimsdiule zum Soziologismus, zur Beziehungslehre und zur Ethik verhält, darüber vgl. meinen Aufsatz .Soziologie und Anthropologie" in Heft IV, 4 der .Kölner Zeitschrift für Soziologie". Diese Studie knüpft an Marcel M a u s s ' .Sociologie et Anthropologie" (Paris 1950, Bibliothèque de Sociologie Comtemporaine) an.
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und mir nicht geteilt. Jedoch beschloß ich jene Untersuchung mit den Worten: „Wenn auch ihr (der Soziologie) eigentlicher Gegenstand nicht das Innenleben des Einzelmenschen ist, sondern die durch Beobachtung von außen feststellbaren Einwirkungen von Mensch auf Mensch und von Gruppe auf Gruppe, so ist doch diese ihre Aufgabe gar nicht lösbar, ohne daß das eine der beiden Elemente der sozialen Prozesse, die Haltung, ausgiebig studiert wird. Aber die Haltung erklärt sich wieder zur einen H ä l f t e aus den Motiven des beteiligten Menschen. Die Motive aber gehören teilweise der Ratio, teilweise der Sphäre der Gefühle und Triebe an, wobei wieder Eros und Sexus weite Felder der Seele, jedoch keineswegs allein, beherrschen. D a ß dieser eine Bereich der Seele, die Geschleditlichkeit, von der Psychoanalyse in einigen seiner Erscheinungsweisen so stark beleuchtet worden ist, macht trotz allen Übertreibungen und Abirrungen ihre Bedeutung f ü r die Soziologie aus." VII. Verhältnis der Soziologien zu den Kulturwissenschaften: Im ersten Kapitel suchte ich ihr Verhältnis zu den o f t recht unklar umgrenzten Kulturwissenschaften dadurch zu veranschaulichen, daß ich sagte, die Soziologie (wie alle Sozialwissenschaften) befasse sich mit den Produzenten, die Kulturwissenschaften mit den Produkten des gesellschaftlichen Lebens. Es gibt jedoch eine Ausdehnung der Kategorie Kulturwissenschaften, bei der die gesamte Soziologie dem Universalbereiche Kulturwissenschaften eingeordnet ist. So f a ß t auch Florian Z n a n i e c k i in seinem Buche: „Cultural Sciences" diese als den jene umschließenden Kreis auf. Dazu schrieb, ich in H e f t IV, 4 (S. 531) der „Kölner Zeitschrift für Soziologie": „Die Schwierigkeit einer Verständigung über diese Zurechnung scheint mir in der Vieldeutigkeit des Wortes Kultur zu liegen. Ich habe midi jedenfalls schon S o m b a r t gegenüber gegen eine Gleidisetzung der Begriffe „so-
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zial" und „kulturell" gewendet. Eine „Gesellschaft" ist kein „Kultursystem." Doch mit einer radikalen Ausmerzung von Wort und Begriff „Kultur" würde nur Schaden angerichtet werden. Ich wende mich hier nur gegen die Einordnung der gesamten Soziologie in einer Universalkategorie Kulturwissenschaft. Jedoch zweierlei bleibt dabei unangefochten: Daß man Natur- und Kulturwissenschaften unterscheidet, ist unvermeidlich. Man sollte es aber nur in dem Sinne tun, daß man unter jenen die Disziplinen versteht, die das von Natur vorhandene untersuchen, und unter Kulturwissenschaften Wissenszweige, die das von Menschen zur Verbesserung und Veredelung Geschaffene, die menschlichen Errungenschaften, zum Gegenstande haben. Damit ist aber ausgesprochen, daß eine Wissenschaft, die wie die Soziologie sich mit dem Zusammenleben und Zusammenwirken der Menschen (also nicht mit den Produkten [Errungenschaften], sondern mit den Produzenten selbst) beschäftigt, nicht zu den Kulturwissenschaften gehört. Sie hat ein selbständiges Feld. Wie sie unter anderem Aspekt zwischen Geistes- und Naturwissenschaften steht, so auch zwischen Kulturwissenschaften und Naturwissenschaften. (Es trägt das auch zu ihrer Bereicherung bei, da sie von den Nachbarfeldern Forschungsergebnisse nutzen kann.) Aber das Vorhandensein von Kulturwissenschaften wird damit nicht angefochten. — Das zweite ist, daß es innerhalb der Soziologie auch eine Kultursoziologie als Lehre von den Gesellungsvorgängen beim kulturellen Schaffen gibt. Daß sich Denker wie Alfred Weber, Sorokin, Toynbee u. a. mit den geschichtlichen Ordnungen der Kultursysteme befassen, ist von größter Bedeutung. Nur scheint mir das Verhältnis von Kulturwissenschaft und Soziologie grade umgekehrt zu der Anordnung zu bestehen, die Znaniecki aufstellt: Nidit die Soziologie (als Grunddisziplin aller Sozialwissenschaft) ist ein Bestandteil der Kulturwissenschaften, sondern die oben formulierte Befassung mit der Kultur ist eine Sonderbetrachtungsweise innerhalb der Soziologie.
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Ordnet man die Soziologie insgesamt bei den Kulturwissenschaften ein, so bleibt kein Raum für eine Schau-weise, die die Kategorie Kultur nicht zum Ausgangs- und Mittelpunkt hat, also f ü r die Beziehungssoziologie. V I I I . Thesenartige 1.
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Zusammenfassung
des Kapitels
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I. Teil Innerhalb der modernen allgemeinen Soziologie lassen sich die beiden Richtungen der Kultur- und der Beziehungssoziologie unterscheiden, die sich jedoch mannigfach ergänzen. Verwandt mit dieser Zweiteilung ist die Gegenüberstellung von historischer und systematischer Soziologie und drittens von Struktur- und Prozeß-Soziologie derart, daß Kultur-, historische und Struktursoziologie die gleiche Schauweise aufweisen und Beziehungs-, systematische und Prozeßsoziologie identisch sind. Die Beziehungssoziologie (eben als Prozeßsoziologie) löst die scheinbar festen Strukturen und ihre Sdiiditungen in Vorgänge auf. Operiert die Kultursoziologie mit der Analogie zu Stoffen, so jene mit den Vorstellungen von Kräften, Geschehnissen und Tätigkeiten. Auch sie macht soziale Gebilde wie Staaten, Kirchen, Unternehmungen usw. zu Gegenständen ihrer Studien; bei ihrer Analyse werden diese aber aus der besonderen Art der in ihnen vor sich gehenden Prozesse erklärt. Der frühere Gegensatz von individualistischer und kollektivistischer Denkweise betrifft zwar das H a u p t problem aller Soziologie, das Verhältnis des Einzelmenschen zu den gesellschaftlichen Kollektivkräften, beruhte aber auf einer Absolutsetzung eines nur relativen Gegensatzes. Der einzelne konkrete Mensch steht dem Kollektiv nicht im Verhältnisse eines Teils zum Ganzen gegenüber. Das Element der „Gesellschaft" ist der soziale Prozeß. Gegenwärtig steht im Vordergrunde der Gegensatz und Zusammenhang von Systematik (Theorie) und Sozio-
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III. Die Hauptriditungen der Soziologie graphie (Social Research), deren Gegenstand die auf Beobachtung beruhende Beschreibung von Tatsachen (Data) bildet. N u r die Theorie k a n n die Fragen beantworten, was und w a r u m etwas beobachtet werden soll, und in welchem Zusammenhange das Beobachtete einzuordnen ist. Z u r Soziographie gehören auch die Arbeiten außerhalb der Studierstube (das sogen. „Field W o r k " ) . H a u p t z w e i g e des „Research" sind gegenwärtig in Deutschland: Beobachtungen über Umschichtung der gesellschaftlichen Klassen, Flüchtlings- und Vertriebenen-Fragen, Lage der Jugend, das Parteiwesen u. a. In Amerika (aber auch in Europa) k a n n man folgende Zusammenstellung vornehmen: 1. Ökologie (Verbindungen von Sozialordnung mit dem physischen Räume), u n d z w a r : a) Soziographie des Landlebens (Rural Sociology), b) Stadtsoziographie ( U r b a n Sociology) [ G r o ß stadt (City), aber nicht minder Mittel- und Kleinstadt], 2. Rassenstudien (z. B. bei Negern und Indianern), 3. Sexual-, Ehe- und Familienstudien, 4. Bevölkerungserscheinungen (z. B. Lage der Einwanderer), 5. Betriebssoziographie (u. a. das Managertum). Soziographie reicht in Deutschland ins 18. J a h r h u n d e r t zurück („Staatsmerkwürdigkeiten") und w u r d e seit 1870 besonders vom Verein f ü r Sozialpolitik gepflegt.
II. Teil: Methoden und Techniken 1. Im Terminus „Soziologische Methoden" wird häufig zweierlei unklar v e r k n ü p f t , was voneinander geschieden werden sollte: Soziologische Schauweise (Optik) u n d Methoden (im engeren Sinne). 2. In der Systematik, bei der die Schauweise zur Geltung kommt, wird die Idee der Aufgabe, ihr Ziel, ihr K a u salzusammenhang, werden die tragenden Begriffe und der Gang der Beweisführung festgestellt; bei der Me-
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thodik handelt es sich jedoch um die Fragen des Vorgehens, mit der die gestellte Aufgabe zu bewältigen ist: es wird isoliert, beobachtet, gezählt, gemessen, experimentiert. Die Gesamtheit der Methoden ist ihre Technik, in der die Summe der angewendeten Hilfsmittel zur Erreichung der Klärung und Ordnung der verfolgten Idee zusammengefaßt wird. Hauptsächliche Methoden der Soziographie sind: a) Statistik, b) Beobachtung von Einzelfällen (Case Work), c) Typologie, d) Befragung, e) Soziometrik, f) Experiment. Zu c: Zu unterscheiden sind Idealtypen (besser ausgedrückt: konstuierte Typen) und Realtypen. Die Bildung von Realtypen ist eines der Ziele der Soziographie; doch sind die konstruierten Typen auch f ü r sie unentbehrlich, da erst aus dem Vergleiche mit ihnen die Bedeutung der Realtypen beurteilt werden kann. Zu d: Die Meinungserforschung ist ein wichtiges Unterrichtungsmittel. Das gilt besonders von der Aussprache (Interview). Doch erfordert die Erhebungs- und Auswertungstechnik große Vorsicht (zumal bei den Schlußfolgerungen). Zu e: Soziometrik im allgemeinen Sinne u m f a ß t die Versuche, soziale Tatsachen zu messen. Die Schwierigkeit liegt in der Auffindung einer möglichst unveränderlichen Maßeinheit. Im speziellen sind unter Soziometrik die Versuche zu verstehen, nach M o r e n o s Vorschlag Gruppenbildungen mit Hilfe des sog. Spontaneitätstestes vorzunehmen. Zu f: Experimente, die auf planmäßiger Isolierung von zu beobachtenden Gegenständen beruhen, sind auch im Bereiche des sozialen Lebens möglich. Ihre Schwierigkeit liegt (ähnlich wie bei den Punkten d und e) in der
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richtigen Rückführung der beobachteten Erscheinungen auf die wahren Ursachen. 9. Die Terminologie der Soziologie, besonders der Soziographie, wird gegenwärtig beständig vermehrt und o f t willkürlich verändert. Ausdrücke wie Symbol, Modell, Panel u. a. bedürfen einer beschränkenden Interpretation. Kapitel
IV
Comte und Spencer Wenn wir uns in den nunmehr folgenden Kapiteln der Literaturgeschichte der Gesellschaftslehre zuwenden, müssen wir uns darauf beschränken, einige charakteristische Leistungen hervorzuheben und auch an ihnen nur das aufzuweisen, was uns daran vorwiegend soziologisch erscheint. Wir wollen dabei der üblichen, wenn auch angefochtenen Tradition folgen, von C o m t e auszugehen. Es geschieht tendenzlos; auch wenn man im Bereich der französischen Wissenschaft bleibt, kann nicht nur der Hinweis auf die großen Autoren des 17. und 18. Jahrhunderts zu Zweifeln an dieser Vaterschaft führen; vor allem scheint dabei vergessen zu sein, daß Comte im stärksten Grade vom jüngeren Grafen S a i n t - S i m o n beeinflußt war. Auguste C o m t e (1798—1857) muß uns heute vorwiegend als Philosoph, nicht als Soziologe gelten. Audi erschien es ihm in dieser zweiten Eigenschaft als die H a u p t aufgabe, Entwicklungsgesetze der Gesellschaft zu enthüllen. Dabei kam es ihm allerdings ebenso sehr auf den Zusammenhang der sozialen Gebilde im Nacheinander wie auf die gegenseitige Abhängigkeit an, wonach sich Veränderungen in einem Bereiche allen anderen mitzuteilen pflegen. Doch scheute er vor einer Vertiefung in die Zustände der Gegenwart zurück; er neigte zum Historismus. In die Systematik hoffte er Klarheit durch den bis heute nachwirkenden Gegensatz von Statik und Dynamik zu bringen. Aber jene war nur Gegenstand eines einzigen Kapitels seines „Cours de Philosophie positive"; der
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Nachdruck lag bei diesem Entwicklungstheoretiker auf dem, was er (falsch) Dynamik nannte, bei der Lehre vom Fortschritt, also von der Bewegung auf einen höheren Stand der Entwicklung hin. Die sechs Bände dieses Cours de Philosophie, der 1830 bis 1842 entstanden ist, enthält vor allem eine Wissenschaftslehre mit der Idee einer Rangordnung der einzelnen Wissenschaften, die sich untereinander nach dem Grade ihrer Allgemeinheit unterscheiden. Der Grad der Exaktheit nehme von der allgemeinsten zur speziellsten allmählich und gleichmäßig ab; zugleich wachse die Verwickeltheit ihrer Objekte. Die Gesamtheit aller eigentlichen Wissenschaften ergebe eine philosophie naturelle. Inhaltlich seien die Gegenstände der einzelnen Wissenschaften als besondere Fälle eines N a t u r gesetzes (bei ihm noch: der Gravitation) anzusehen. Die Folge der so miteinander verbundenen Wissenschaften ist Mathematik — Astronomie — Physik — Chemie — Biologie — physique sociale oder Soziologie. Damit ist eine besonders enge Verbindung zwischen Soziologie und Biologie hergestellt, während die Psychologie als Bindeglied zwischen beiden fehlt (anders bei Spencer). Was uns hieran interessiert, ist nicht die Einreihung der Soziologie an einer bestimmten Stelle der Wissenschaftskette und die sich daraus ergebende Charakterisierung ihres Wesens, sondern auch die sozial- und geschichtsphilosophische Erklärung dieser Entwicklungsreihe der Wissenschaften: Sei doch jede Wissenschaft, wie die Wissenschaft überhaupt, aus der gesellschaftlichen Organisation des Zeitalters zu verstehen. Die Geschichtsphilosophie Comtes enthält hauptsächlich das noch heute viel erörterte, wenn auch zumeist abgelehnte Dreistadiengesetz der geistigen Entwicklung, das T u r g o t angedeutet und S t - S i m o n behauptet hatte. Die erste Periode sei die theologische, und zwar nacheinander die des Fetischismus, Polytheismus, Monotheismus, die zweite die metaphysische, die dritte die positive. Alles Wissen lege den Weg von der Phantasie zur Vernunft zurück. Das erste Zeitalter kennzeichne sich sozial A"
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durch das Übergewicht der Priester und Krieger, das zweite durch das der Philosophen und Rechtsgelehrten, das dritte, positivistische, durch das der Wirtschaftsführer und Gelehrten. Entscheidend sei f ü r die Struktur jedes Zeitalters und f ü r den Wandel der Zeiten die auf der Entfaltung der Verstandeskräfte ruhende Weltanschauung. Geistige und soziale Etwicklung seien ein und dasselbe; die Geschichte der Gesellschaft sei die Geschichte des Denkens. Der Biologie entnimmt Comte den Organimus-Begriff; die Gesellschaft sei ein Kollektiv-Organismus, dessen Bau und Leben in Analogie zum individuellen Organismus zu verstehen sei. Der einzelne Mensch sei nur eine Abstraktion; das w a h r h a f t Wirkliche sei die Menschheit. Denke man sich den Zusammenhang der nebeneinander bestehenden Wissenschaften in eine Entwicklungskurve gewandelt, so ergebe sich auf diesem Wege von der Physik über die Biologie zur Soziologie, die den ganzen Bau kröne, der Fortschritt vom Einfacheren zum immer Verwickelteren. Damit vermindere sich aber auch der Grad der Exaktheit. Der Grad, in dem die Gegenstände der einzelnen Wissenschaften miteinander verknüpft seien, erscheine immer komplizierter, und innerhalb jedes Wissenschaftsfeldes sei die Verbundenheit der zu untersuchenden Phänomene um so undurchsichtiger, je höher man in der D a r stellung der Objekte voranschreite. In diesem starken Empfinden Comtes für die Eigenart der Soziologie besteht eine dauernde Nachwirkung bis auf den heutigen Tag. Er sieht richtig, daß es sich bei ihr zwar nur um einen dem Grade, nicht dem Wesen nach bestehenden Unterschied zu den anderen Wissenschaften handelt, daß aber dieser Gradunterschied so groß ist, daß er wie ein qualitativer wirkt. Schon die Biologie weise stark gesteigerte Kompliziertheit ihres Stoffes gegenüber den einfacheren Naturwissenschaften auf; aber der Schritt von ihr zur Soziologie sei noch beträchtlicher. (Dabei ist „Einfachheit" nicht im Sinne von Geringheit an Schwierig-
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keiten für den Forscher, sondern gleich Einlinigkeit der Phänomene zu verstehen.) Comte zeigt aber auch, worin die Verwickeltheit der Studienobjekte besteht. Die Erscheinungen des sozialen Lebens lassen sich nicht bloß aus der Menschennatur, aber auch nicht bloß aus geschichtlichen Veränderungen erklären, sondern aus den Einflüssen eines Bereichs auf den anderen. Herbert S p e n c e r nahm die Wissenschaftslehre und den Organizismus Comtes auf; jedoch nicht unkritisch und mit manchen Veränderungen. Vor allem schob er die Psychologie, die für Comte nichts Selbständiges neben Biologie und Soziologie war, als wesentliches Glied in die Wissenschaftsreihe. Ablehnend stand er auch Comtes Intellektualismus gegenüber; für ihn sind die (aus einfachen physischen Empfindungen hervorgehenden) Gefühle die Motoren der persönlichen und sozialen Entwicklung. Bei Comtes Scheidung zwischen sozialer Statik, die die Theorie der natürlichen Ordnung der menschlichen Gesellschaften zu geben habe, und sozialer Dynamik, die eine Theorie des natürlichen Fortschritts der Menschheit enthalte, liegt bei ihm der Schwerpunkt durchaus auf der zweitgenannten. Comte war von glühendem Reformeifer erfüllt (voir pour prevoir); er gab bei allem Positivismus mehr eine profane Glaubenslehre und ein optimistisches Bekenntnis zur Besserung des Menschenloses durch Entwicklung der Vernunft. „Damit war", sagt Oppenheimer, „der jungen Disziplin eine Aufgabe gestellt, praktische Wissenschaft, d. h. Kunstlehre für den Staatsmann und Gesellschaftsreformer zu werden" 1 ). O. billigt ausdrücklich dieses Ziel; es habe „denn auch keiner ihrer besseren Vertreter in der Folgezeit ganz aus den Augen verloren". Ganz richtig: das Ziel, etwas durch seine geistige Arbeit zur Besserung des harten Menschenloses beizutragen, darf kein wahrer Soziologe aus den Augen verlieren. Aber der indirekte Weg, auf unmittelbar zu verwirklichende Reformvorschläge zu verzichten, dafür aber möglichst viel zur M Franz O p p e n h e i m e r ,
System, I. Bd., S. 2.
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Erhellung der Erkenntnis der Wirklichkeit beizutragen, ist der förderlichere. Die heutige Soziologie dankt Comte vor allem die Hinlenkung der wissenschaftlichen Teilnahme auf den Zusammenhang des gegruppten Lebens mit der geistigen Entwicklung. Gewiß war das keine neue Entdeckung von ihm; aber diese Betrachtungsweise beherrschte zentral sein ganzes System. Sehr richtigt sagt H a n k i n s 1 ) : „Die Werke der großen Begründer der Soziologie von Comte zu Spencer und Ward waren Mischungen von Geschichtsphilosophie, Sozialphilosophie, Pseudo-Wissenschaft und Wissenschaft. Aber im Vergleiche mit ihren Vorläufern findet sich bei ihnen eine Verminderung reiner Ideologie und ein wachsender Sinn für Tatsachen und Beobachtungen . . . Im ganzen muß gesagt werden, daß Comtes Soziologie größtenteils außerhalb des Feldes positiver Wissenschaft blieb. Es war Sozialphilosophie, in einer Gemütsverfassung geschrieben, die äußerst merkwürdig den Geist des Positivismus und den Geist des Mystizismus verband." H e r b e r t S p e n c e r (1820—1903) galt einer älteren Generation schlechthin als der Soziologe, und es schien gegen Ende des 19. Jahrhunderts, als ob es kaum eine andere Gesellschaftslehre als eine Spencersche geben könnte. Es mag dahingestellt bleiben, ob man ihn mit Recht als den größten Philosophen des Victorianischen Zeitalters charakterisiert hat. Jedenfalls bleibt die großartige Geschlossenheit seines umfangreichen „Systems der synthetischen Philosophie", zu dem seine Soziologie gehört, eine geistige Tat ersten Ranges2). Das nicht nur in persönlicher Hinsicht: Im Jahre 1860 veröffentlichte der noch ziemlich unbeachtete Londoner Privatgelehrte den Plan zu einem philosophi1) Vgl. F. H. H a n k i n s in Barnes' .History and Prospects of the Social Sciences", New York 1925, S. 292 und 296. 2 ) Vgl. über ihn als Soziologen: L. v. W i e s e , Zur Grundlegung der Gesellsdiaftslehre (Eine kritische Untersudiung von Herbert Spencers System der synthetischen Philosophie). Jena 1902. — Ferner: J. Rumney. Herbert Spencer's Sociology, London 1934, und L. v. W i e s e , Herbert Spencer's Einführung in die Soziologie, Köln 1960.
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sehen Lebenswerk in 33 Abteilungen. N u r wenige zeichneten den Prospekt. T r o t z äußerer, besonders gesundheitlicher Hemmnisse f ü h r t e er beharrlich und zäh diese Arbeit in 36 J a h r e n zu Ende. In 11 stattlichen Bänden erhob sich das System, das mit den „first principles" (den philosophisch-erkenntnistheoretischen Grundlagen) beginnt, zur Biologie fortschreitet, von da zur Psychologie; auf ihr baut sich die „Soziologie" auf, die ihrerseits durch eine „Ethik" gekrönt wird. Audi in sachlicher Hinsicht bleibt dieses einst so gepriesene, heute k a u m mehr gelesene W e r k hervorragend. Oppenheimers Urteil, „Spencer habe die junge Wissenschaft in das Fahrwasser der plattesten A u f k l ä r u n g zurückgesteuert" 1 ), ist z w a r nicht ganz falsch, aber einseitig und allzu scharf. Richtig ist, d a ß Spencer jede T i e f e n forschung vermied, ja verachtete. W e r den W e r t von Geisteswerken nach ihrem Gehalte an Tiefsinn und A h n u n gen unaussprechbarer W a h r h e i t mißt, m u ß den Philosophen aus Derby trivial finden. Er bleibt stets an der Oberfläche. Aber welch großartiger Zusammenhang eben dieser O b e r fläche tut sich auf, welche Zusammenschau des Kosmischen mit den Lebensvorgängen, mit dem Seelen- und dem Gesellschaftsleben! Vielleicht das Beste, was Spencer uns hinterlassen hat, ist sein anregend geschriebenes „Study of Sociology" 2 ). Es k a n n heute noch als wertvolle E i n f ü h r u n g dienen; nicht in dem Sinne, d a ß man sich seine sämtlichen Urteile aneignete, sondern in der Absicht einer kritischen Auseinandersetzung mit diesem gänzlich unromantischen nüchternen Denker. W e n n man ihn vielfach (nach der nun einmal unvermeidlichen, die individuelle Selbständigkeit vernachlässigenden Literaturgeschichten-Schablone) als „Schüler C o m tes" bezeichnet, so ist das nur mit großer Einschränkung richtig. Er selbst behauptet in seiner Autobiographie, seine Verpflichtetheit gegen Comte sei nur die des wissenschaftlichen Gegenspielers gewesen. Das ist wohl übertrieben; 1) 1. c. S. 54. ) London, 21. Aufl., 1894, Williams and Norgate.
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aber er ist keineswegs nur ein Fortführer Comtescher Gedankengänge. Allerdings besitzt auch er (und zwar in verstärktem Grade) als Philosoph wie Comte den Drang nach monistischer Synthese auf naturwissenschaftlicher Grundlage. Auch er will (intensiver als der fast 30 Jahre ältere Franzose) alle Erscheinungen auf Erden (unter Einschluß der zwischenmenschlichen) auf ein einziges Gesetz: die Fortwirkung der K r a f t zurückführen. Er findet die einfädle und doch so inhaltsreiche Formel für die Entwicklung allen Geschehens: „Aus unbestimmter, unzusammenhängender Gleichartigkeit wird bestimmte, zusammenhängende Ungleichartigkeit." Dieses In- und Durcheinander von Integrierung und Differenzierung sucht er nun auch an der Entwicklung der Gesellschaft nachzuweisen. Ihm ist die Gesellschaft ein Überorganismus, dessen N a t u r als Aggregat sich aus der N a t u r seiner Einheiten, der Einzelmenschen ergebe. Doch ist es nicht möglich, hier den Reichtum Spencerscher Ideen auszubreiten. Wir entsinnen uns, daß wir ja nur den geschichtlichen Zusammenhang zwischen seiner Soziologie und der realistischen, eingeschränkten Gesellschaftslehre der Gegenwart aufweisen wollen: In negativer Hinsicht müssen da zwei Eigentümlichkeiten seines sonst so einheitlichen Systems hervorgehoben werden: Aus seiner Biologie und Psychologie nimmt Spencer eine Auffassung vom Einzelmenschen in die Soziologie hinüber, die ihn eigentlich zu dem Universalismus seines Antipoden Comte hätte führen müssen. Der Mensch erscheine ganz abhängig vom Außer-Ich; sein Geist vermöge nur das Objekt um ihn zu kopieren. Der Mensch lebe in Passivität und äußerster Gebundenheit. In der Gesellschaftslehre (noch mehr in Politik und Ethik) ist aber Spencer der radikalste Autor des Individualismus. Comtes These von der Abhängigkeit des Einzelmenschen von der Gesellschaft kehrt Spencer ins krasse Gegenteil um. (Wie sich dieser Widerspruch subjektiv bei Spencer erklärt, muß hier übergangen werden.)
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U n d das Zweite: Seine Soziologie befaßt sich fast nur unter Vernachlässigung dessen, was wir Geschichte nennen, mit den Naturvölkern. Sein reiches Tatsachenmaterial entnimmt er fast nur der Ethnographie. Das entspricht ganz einer Denkweise, die den Menschen als bloßes Naturwesen in Passivität auffaßt und die aktive Bautätigkeit an der Gesellschaft in den Kulturperioden beiseite schiebt. Aber unter Zugrundelegung eines rein naturwissenschaftlichen Bildes von Welt und Mensch sind die Zusammenhänge der Gesellschaft nicht hinreichend zu erklären. Den Geschichtsund Sozialphilosophen (und Spencer will doch dies in erster Linie sein) hätte die Frage: was ist Kultur (Zivilisation)? anlocken müssen. Daraus ergibt sich: Seine Soziologie gibt zu wenig Aufschlüsse über die Gesellschaftsordnung unseres Kulturkreises. Ferner: die Erfahrung vom Menschen als bloßem Naturwesen reicht nicht aus, seinen Individualismus zu rechtfertigen. Was wir heute vorwiegend an ihm schätzen, ist die reiche und geordnete Fülle von „Data", von Tatsachen über Anfänge gesellschaftlichen Lebens 1 ). Mag auch manches, was er z. B. über die Anfänge der Religion sagt, nach neueren Forschungen nicht mehr völlig haltbar sein, die Planlegung für eine Entwicklungssoziologie und besonders f ü r eine Durchforschung von Frühzuständen bleibt mustergültig. Freilich Forschungsziele und -methoden, wie sie sich die Beziehungslehre stellt, können auch davon nur indirekten Gewinn ziehen. Spencers Bedeutung scheint uns heute mehr pädagogisch-didaktischer Art. Die Freiheit von metaphysischen und subjektiv-willkürlichen Beimischungen zu seiner Lehre ist das Beispielhafte an seinem Werke. Die Anregungen, die Spencer der Soziographie und besonders der Ethnographie nicht nur durch sein Programm, sondern durch sein unermüdliches Sammeln von „Data" gegeben hat, sind vielleicht stärker nachwirkend als seine 1) Hankins sagt (1. c.) von Spencer, er sei der erste Systematiker konkreter soziologischer Tatsachen und darum der wirkliche Begründer dei Soziologie gewesen.
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Theorie. Er veranlaßte auch eine umfangreiche Zusammenstellung völkerkundlicher Tatsachenkomplexe, die unter seinem Namen und unter der Überschrift: „Descriptive Sociology" in den siebziger Jahren veröffentlicht worden ist. Der Gegensatz und die ausgleichende Ergänzung von Integrierung (Vereinigung) und Differenzierung (Scheidung) der Erscheinungen, die bei Spencer die Grundlage nicht nur einer Soziologie, sondern einer Kosmologie überhaupt ist, kehrt in der Beziehungslehre als Gegensatz des Zueinander und Auseinander wieder. N u r enthalten wir uns jeder Aussage, ob damit das Hauptprinzip a l l e s Geschehens in der Welt gegeben ist. (Die große Allgemeinbedeutung der Anziehung und im speziellen von Zentripetalkraft und Zentrifugalkraft wird von uns nicht übersehen; aber der Soziologe braucht über kosmische Prinzipien nichts auszusagen.) Bei Spencer bleibt der Gegensatz und die gegenseitige Ergänzung von Integrierung und Differenzierung sehr allgemein und inhaltsleer. In der Beziehungslehre kommt es dagegen auf die Zerlegung der beiden Grundprozesse in Untererscheinungen und auf das Verhältnis dieser Einzel- und Teilprozesse zueinander an. Außer dieser Hervorhebung der Polarität von Vereinigung und Scheidung verdanken wir seiner Vertiefung in die Zusammenschau von allgemein vitalen (biologischen) und sozialen Vorgängen die stets wichtige Betrachtung der Wechselbeziehung von Bau und Wachstum und von Struktur und Funktion. Aber auch bei anderen modernen Richtungen der Soziologie fehlt es — wenn auch manchmal den Autoren wenig bewußt — keineswegs an Zusammenhängen mit Spencer. Mochte Comte mehr in Frankreich nachwirken, so geht Spencers Einfluß in Amerika über Lester Ward weiter. Ja, Znaniecki scheint mir nicht unrecht zu haben, wenn er sagt 1 ): „Die meisten wichtigen Probleme, die in der letzten Dekade des 19. und in !) Vgl. Florian Z n a n i e c k i in Gurvitch' und Moores .Twentieth Century Sociology" (La Sociologie au XXe Siècle, New York 1945 und Paris 1947), S. 173 resp. Bd. I, S. 175.
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den ersten des 20. Jahrhunderts hervorgetreten sind, knüpfen, sei es genetisch, sei es logisch, an sein großes Werk an." B e m e r k u n g e n zu C o m t e u n d S p e n c e r : Die Literaturgeschichte, aber auch fast alle Kompendien der Gesellschaftslehre nehmen Bezug auf beide Autoren, jedoch mehr auf Comte als auf Spencer. Eine recht aufschlußreiche Einführung in Comtes Werke gibt Heinz M a u s in „Bemerkungen zu Comte" (Kölner Zeitschrift für Soziologie V, 4 S. 513 ff.). Recht gut gewährt in das geistige Verhältnis von Comte zu Dürkheim Einblick D u p r a t s Vortrag: Auguste Comte et Emile Dürkheim in „Gründer der Soziologie" (Jena 1932, Gustav Fischer, S. 109 ff.). Ein Ergebnis meiner jahrelangen Befassung mit Herbert Spencers Werken war meine Habilitationsschrift: Zur Grundlegung der Gesellschaftslehre; eine kritische Untersuchung von Herbert Spencers System der synthetischen Philosophie (Jena 1906, Gustav Fischer). Kapital
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Die britische und die amerikanische Soziologie a) G r o ß b r i t a n n i e n Die Bedeutung Herbert Spencers als des Hauptphilosophen des Viktorianischen Zeitalters (neben J. St. Mill) schien zu Beginn des letzten Drittels des vorigen Jahrhunderts England die Führung in der Soziologie zu gewähren. Der Entwicklungsgedanke, die enge Verbindung mit dem Darwinismus, der liberale Optimismus, die Verknüpfung der Gesellschaftslehre mit der Biologie charakterisieren sein System und zugleich das Denken seiner Zeit. In der Geistesgesdiichte des letzten halben Jahrhunderts bildet die Stellungnahme zu Spencers Lehre in der T a t ein entscheidendes Merkmal f ü r die Stellung des Autors. Aber in England bildete sich nach seinem Tode keine Spencer-Tradition; vielmehr scheint mir R u m n e y das Richtige zu treffen,
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wenn er die britische Entwicklung, wie folgt, schildert 1 ): Die Soziologie habe sich in England als unabhängige Disziplin noch nicht allzu sicher gefügt, obwohl seit dem 18. Jahrhundert Annäherungen an ihren Aufgabenkreis vielfach vorhanden gewesen seien. Die Nachfolger Comtes hätten aber keinen rechten Boden gefunden, weil sie entweder als zu konservativ oder als zu unreligiös galten. Spencer wäre den Universitätsleuten, zu denen er ja nicht gehörte, zu naturalistisch erschienen. Erst vor vierzig Jahren begannen als erste H o b h o u s e und W e s t e r m a r c k an der Universität London Soziologie zu lehren. Und doch wie viele Ansätze in der Vergangenheit! Mandeville, Hume, John Brown, vor allem Ferguson und Miliar, ganz besonders aber Adam Smith. Jedoch die wissenschaftliche Teilnahme lenkte sich mehr auf die politische Ö k o nomie. Von Einfluß wäre auch seit Robert Owen der Sozialismus gewesen. Rumney zeigt unter Aufführung zahlloser Namen, wieviel Soziologisches sich in anderen Disziplinen finde. Eine Zeitlang wurden in der Politik Spencers liberale Ideen von L. T . H o b h o u s e und anderen Denkern, die heute fast alle nicht mehr leben, weitergetragen; aber in der eigentlichen Soziologie kam es nicht zu einer Spencerschule in England: ja, die Soziologie als selbständige britische Wissenschaft, die als solche Spencer mehr oder weniger vorbereitet hatte, schien zunächst dahinzuschwinden, bis in den letzten Jahren vor dem zweiten Weltkrieg Morris G i n s b e r g und A. M. C a r r - S a u n d e r s , sowie ein Kreis der Universität London und des Le PlayHauses sie neu belebten. Spencers Erbe übernahm aber in weit stärkerem Maße Amerika. In den Jahren 1910 bis 1930 gab es in England kaum noch eine zeitgenössische Idi gebe im folgenden Absatz das wörtlidi wieder, was ida über Rumneys klare Darstellung in meiner eingehenden Besprechung des eben genannten W e r k e s von Gurvitdi und Moore ausgeführt habe. Rumneys Aufsatz steht auf S. 562 ff. der amerikanischen und in Band II, S. 569 ö., der französisdien Ausgabe. Meine Rezension ist in Heft II/l der Kölner Zeitschrift für Soziologie zu finden.
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systematische Soziologie, jedoch manches, was wir zur Sozialpsychologie rechnen, sowie, wie gesagt, viel Soziologisches in anderen Wissenschaften (Anthropologie, Geschichte, Politik usw.). Besonders Graham W a 11 a s , der 1858 geboren worden ist, ist auf dem Gebiete der Sozialpsychologie und der theoretischen Politik in erster Linie zu nennen. Edward W e s t e r m a r c k muß als Ethnologe gelten. Jedoch darf nicht übersehen werden, daß es eine Schule gibt, die bis zum Sommer 1930 von Victor B r a n f o r d geführt wurde, die aber nicht an Spencer, sondern an den Franzosen Le Play anknüpfte. Es kam zur Gründung der britischen Sociological Society auf B r a n f o r d s Anregung, bei der die ethisch-sozialreformatorischen Tendenzen überwogen, die u . a . von Patrick G e d d e s (1864 bis 1930) mit einer Neigung zur Mystik verbunden wurden. Im allgemeinen haben sich in England die Anregungen soziologischer Schau den anderen Sozialwissenschaften mitgeteilt; an die Stelle der Gesellschaftslehre ist eine mehr politische, psychologische und vor allem anthropologische Literatur getreten; so etwa bei Sir Ernest B a r k e r und W . Macneille D i x o n. Es fehlten bis zu den 30er Jahren die Systematiker, die das reiche, angehäufte Material nach Gesichtspunkten einer streng theoretischen Wissenschaft von der Gesellschaft sichteten und bearbeiteten 1 ); aber in den letzten Jahren drängt die spezielle Problemfülle, die aus den Tatsachen und Folgen der beiden Weltkriege, sowie aus den Klassenverhältnissen aufsteigt, auch in dem konservativen England zur Systematik in selbständigen Kategorien. In dieser Richtung wirken Morris Ginsberg u. a.; stark war auch bis zu seinem 1947 erfolgten Tode der Einfluß des deutschen Emigranten Karl M a n n h e i m , während H a r o l d J. L a s k i der marxistischen Auffassung des Gesellschaftsleben nahestand. L. T . H o b h o u s e (1864—1929) war einer der großen Liberalen, an denen England zu Ausgang des vorigen Jahr1) Uber den Stand der soziologischen Forschung in England Mitte der 30er J a h r e unterrichtet u. a. audi der Konferenzbericht: The Social Sciences (London 1936, Le Play House Press).
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hunderts so reich war. Auch darin war er ein Kind des letzten Drittels des 19. Jahrhunderts, daß er mit einer liberalen Grundhaltung die Neigung zur Sozialreform verband. Als Politiker bekämpfte er den Imperialismus; er war in den Jahren der Geltung des älteren Chamberlain Sekretär der Free T r a d e Union. Von seinen zahlreichen Werken seien genannt: Democracy and Reaction (1904); Morals in Evolution (1906; neue Auflage 1915); Social Evolution and Political Theory (1911); Social Development, its N a t u r and Conditions (1924). Die metaphysische Staatstheorie, die Elemente der sozialen Gerechtigkeit und die soziale Entwicklung waren zusammen mit einem Buche „The Rational Good" als vier Teile eines Werkes „Principles of Sociology" gedacht. Im ersten Teile sind die Zusammenhänge des Einzelmenschen mit der Gemeinschaft, im „Rational Good" die Ziele des menschlichen Handelns, im dritten Bande die sozialen Beziehungen, die jenen Zielen dienen, und schließlich im vierten die tatsächlichen Bedingungen aufgewiesen, die dem gesellschaftlichen Leben zugrunde liegen. Als Soziologie im engeren Sinne vermögen wir dieses Werk nicht anzuerkennen, da es völlig in der der Philosophie vorbehaltenen Sphäre des Wertens bleibt. Hobhouse erscheint uns als der von edelstem Wollen beseelte Philosoph des Liberalismus. Das Ethos der Menschenbeglückung und der persönlichen Freiheit hat in ihm einen Anwalt und Vorkämpfer besessen, dessen gerade die heutige Generation so sehr bedarf. Von Graham W a l l a s (1858—1932), der wirtschaftspolitisch zu der Gruppe der Fabier gehörte, nennen wir seine Werke: H u m a n N a t u r e in Politics (1908), T h e Great Society (1914) und seine Vorlesungen in Amerika: Our Social Heritage (1921). Er hat die Methoden der älteren Psychologie auf die Behandlung politischer Probleme angewendet. In „ H u m a n N a t u r e and Politics" heißt es: „Gegenwärtig analysieren fast alle Forscher auf dem Gebiete der Politik Institutionen und vermeiden die Analyse der Menschen. Das Studium der menschlichen N a t u r durch die Psychologen ist seit der Entdeckung der menschlichen
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Entwicklung sehr vorangeschritten; aber dieser Fortschritt hat sich ohne Einfluß auf die Durchforschung der Politik vollzogen und ohne Einfluß von ihrer Seite." Deshalb suchte er eine psychologische Methode der Theorie der Politik zu schaffen und sie von der Metaphysik zu befreien. Wer von der Soziologie nur die Gewinnung einer wissenschaftlich begründeten Grundhaltung in der Politik erwartet, wird Wal las' Leistung hochschätzen; unter diesem Gesichtspunkte nennt ihn L a s k i den weisesten unter den Soziologen. Uns will freilich scheinen, daß man Soziologie und Politik nicht gleichsetzen darf, und daß diese in der eigentlichen Gesellschaftslehre ihren Ausgangspunkt und ihre Grundlage findet, nicht jedoch in erster Linie, wie Wallas meint, in der Psychologie. Die in England fortlebende L e P l a y - S c h u l e wollen wir hier einordnen, obwohl ihr Begründer und alle früheren literarischen Jünger dieses Mannes Franzosen waren. Frédéric L e P 1 a y (1806—1882) hat vor allem in der Geschichte der Sozialreform und Sozialpolitik mit Recht einen großen Namen. Dieser Zeitgenosse Comtes, der jedoch das Werk des großen Positivisten nicht gekannt hat, war ein vielgereister und in der Bergwerkspraxis Rußlands bewährter Ingenieur. Vom Studium der Arbeiterfrage ausgehend, entwickelte er eine besondere Methode sozialer Beobachtung, die er vor allem in seinem Werke „Organisation du Travail" festgelegt hat. Le Plays mehr soziographische als soziologische Studien gehen von der Familie als der von ihm angenommenen Einheit der Gesellschaft aus. Er sudit die verschiedenen Elemente dieser Einheit zu messen; das Familienbudget erscheint ihm als der quantitative Ausdruck dieser elementarsten Form der Vergesellschaftung. Für die von ihm geschaffene „Science sociale" gibt es drei Kernprobleme: Ort (Heimat), Werk (Beruf) und Volkstum. Später hat Branford zu diesen drei Mittelpunkten allen sozialen Lebens noch drei hinzugefügt: Polity [Gemeinwesen], Culture [Kultur] und Art [Kunst]. Bei Le Play und seinen Anhängern baut sich alle Befassung mit sozialen Problemen auf geographischer Grundlage auf:
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Der Ort bestimme das Werk, die Arbeit; Familie und Volkstum seien eng mit Heimat und Beruf verbunden. Schon der engere Kreis seiner französischen Schüler erweiterte Le Plays Programm. Von ihnen nennen wir Edmond D e m o l i n s (gest. 1907), der gleichfalls auf die britische Le Play-Schule von Einfluß gewesen ist. Zweifel entstanden, ob das Budget mit seinen Geldbeträgen der wahre Ausdruck des Familienlebens sei. Auch die allzu starke Betonung der räumlichen Umgebung und die Überschätzung der Familie für das gesamte gesellschaftliche Leben wurden eingeschränkt. Victor B r a n f o r d und nach ihm Patrick G e d d e s , der lange in Indien gewirkt hat, suchten mit Le Playschen Anregungen Ideen Comtes zu verbinden, ohne seinen Positivismus zu übernehmen. Im Gegenteil tragen in diesem später von dem Ehepaar F a r q u h a r s o n geführten Kreise alle soziologischen Lehren eine ausgesprochen religiöse Note, bisweilen, wie gesagt (besonders bei Geddes), eine mystische Färbung. Es wird eine Synthese des Geisteslebens und der praktischen Lebensführung angestrebt; Gedanken Ruskins, die auf Lebenserfüllung gerichtet sind, werden weitergetragen. Das wissenschaftliche Verfahren bezeichnet sich als Regionalismus, bei dem der Mensch im Zusammenhange mit dem Boden erfaßt wird. In den letzten Jahren hat die britische Soziologie eine starke Wiederbelebung durch eine neue Zeitschrift, das „British Journal of Sociology", erfahren. Als Herausgeber zeichnen die drei Professoren der Universität London, Morris G i n s b e r g , der einen der drei Vicepräsidenten der International Sociological Society ist, ferner D. V. G 1 a s s , der seit Mai 1949 dieser Universität angehört, und F. H . M a r s h a 11, dessen Lehrstuhl genauer als Professur für Social Institutions bezeichnet wird. b) V e r e i n i g t e S t a a t e n v o n A m e r i k a Je mehr England in den ersten vierzig Jahren dieses Jahrhunderts — wohl nur vorübergehend — in dem Kreise der Länder der Soziologieforschung zurückgetreten war,
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desto mehr sind die Vereinigten Staaten von Amerika zum (jedenfalls in quantitativer Hinsicht) fruchtbarsten Gebiete für unsere Wirtschaft geworden. Mit F a r i s l ) können wir dort das vorsoziologisdie Stadium, das bis etwa 1865 reicht, vom soziologischen sondern. Zunächst gab es nur Moralphilosophie. Meist unter Führung von Theologen wurde Ethik und Wohlfahrtspflege vorgetragen. In der Zeit des Bürgerkrieges tauchte „Social Science" auf, die aber wenig systematisch gestaltet wurde. Dann machte sich Spencers Einfluß geltend. Lester W a r d bemühte sich vergeblich, die Soziologie zur Königin der Wissenschaften zu machen. Erst mit Graham S u m n e r und Albion S m a 11 begann die Anbahnung einer empirischen Einzelwissenschaft vom gesellschaftlichen Zusammenhange. 1893 entstand in Chicago das erste Department of Sociology mit Small als Head. Franklin G i d d i n g s und Edward A. R o s s führten diesen Weg weiter fort. In T h o m a s ' und Z n a n i e c k i s „Polish Peasant" wird auch von Robert Faris der entscheidende Schritt zur Empirie gesehen. In den zwanziger Jahren vollzog sich die erste Blüte der Soziologie, getragen von P a r k s und B u r g e s s ' „Introduction to the Science of Sociology" (1921). Nunmehr wurden Objektivität, Empirie, aber auch Methodenstrenge Strebensziele. Über den CaseStudies wurden Verallgemeinerungen und Interpretationen keineswegs vernachlässigt. Heute ständen im Vordergrunde: Stadt-Ökologie, Rasse- und Kulturkonnexe, Sozialpsychologie und „Folk"-Soziologie, sowie Regionalismus. Nach O g b u r n s Buch von 1922 über „Social Change" habe sich das Interesse vor allem auch diesem Gegenstande, den sozialen Wandlungen, zugewendet; dabei fessele besonders der Einfluß des technischen Fortschritts und des „cultural lag" (des rétard culturel, des Zurückbleibens der Kultur). Doch die von den Kriegen und der Arbeiterbewegung aufgeworfenen Probleme träten immer M Vgl. hei Gurvitch-Moore seine auch Anfängern zum Lesen empfohlene Studie über amerikanische Soziologie auf S. 538 ff. oder (französisdi) auf S. 546 ff. (Bd. II). 5 von Wiese, Soziologie
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mehr hervor. Die Kollektivforschung nähme zu. Hinsichtlich der Methode, speziell der Quantifizierung, weist Faris auf Stuart C. D o d d s „Dimensions of Society" (1942) hin. Doch ich will auf einiges näher eingehen: In den Vereinigten Staaten entstand also im letzten Drittel des vorigen Jahrhunderts eine zunächst von Spencer abhängige Soziologie. Allmählich aber wurde sein Biologismus durch eine psychologisierende Richtung abgelöst, wobei freilich nicht übersehen werden darf, daß schon Spencer die Gesellschaftslehre nicht wie Comte unmittelbar auf der Biologie, sondern zunächst auf der Seelenlehre aufgebaut hatte. Aber die Soziopsychologie und Psychosoziologie, die sich in den Vereinigten Staaten mit Lester F. W a r d entfaltete, löste immer mehr das Band, durch das sie mit Spencer ursprünglich verbunden war. Die vergleichsweise sehr breite Entfaltung, die in den letzten 50 Jahren die Soziologie in Amerika gefunden hat, ist im Gegensatz zu England, wo die Soziologie außerhalb der Universität London — besonders an den alten, vorwiegend humanistisch gerichteten Hochschulen in O x f o r d und Cambridge — wenig akademische Pflege findet, den reich ausgestatteten Universitäten und Kollegien zuzuschreiben. Eine Hochschule nach der anderen ist dazu übergegangen, ein Department oder doch wenigstens eine Division in der Faculty of Arts and Sciences für Soziologie einzurichten. Wenn dabei auch der Begriff Soziologie, wie meist in Amerika, ganz weit gleich Sozialwissenschaft gef a ß t wird, so gilt doch, daß die anderen Sozialwissenschaften und -kunstlehren von der im Mittelpunkte stehenden systematischen Soziologie abgeleitet werden, und daß die Soziologie nicht erscheint als ein Anhängsel an anderen Fächern, z. B. an der politischen Ökonomie, die in der Regel ihr eigenes Department besitzt. Die Soziologie ist in Amerika im Gegensatz zu Europa (und besonders zu England) in erster Linie ein akademisches Lehrfach; sie trägt deutlich die Züge des Unterrichtsgegenstandes, während sie sich in Europa in erheblichem Grade seit Comte außerhalb der
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Hochschulen entwickelt hat. Mit Recht weist S o r o k i n *) darauf hin, daß die amerikanische Literatur in starkem Maße aus Lehrbüchern besteht, während Europa zahlenmäßig arm an ihnen ist 2 ). Die Soziologie als Forschungsgegenstand und Unterrichtsfach entstand in Amerika alsbald nach dem Bürgerkrieg 3 ). Als Pioniere kommen zunächst in Frage Lester F. W a r d (1841—1913) und William Graham S u m n e r (1840—1910), der als einer der ersten vor siebzig Jahren seinen ersten Soziologie-Kursus in engstem Anschlüsse an Spencers Prinziples hielt. Sumner, der in den sechziger Jahren in Deutschland studiert hatte, war erst Theologe, dann Politiker und Historiker, schließlich ehe er zur Soziologie kam, Nationalökonom. Von Lester F. W a r d s (1841—1913) Schriften kommen f ü r uns vorwiegend sein älteres Werk „Dynamic Sociology" (1893) und seine beiden späteren Werke „Pure Sociology" (1903) und „Applied Sociology" (1908) in Betracht 4 ). Ward, der ursprünglich Botaniker war, ist wie Spencer Evolutionist, Monist und Determinist; aber er sucht über den Naturalismus des Engländers hinauszuschreiten, indem er zwar die Entwicklung des Denkens rein biologisch-entwicklungsgeschichtlich erklärt, aber der einmal entwickelten menschlichen Vernunft eine selbständige Wirksamkeit im gesellschaftlichen Leben zuschreibt. Mit dieser Heraushebung psychischer Faktoren als treibender Kräfte im Gesellschaftsleben bereitet er den f ü r die amerikanische Soziologie so bezeichnenden Übergang von der biologischen zur In „Social Forces" Bd. VIII (Sept. 1929) in dem Aufsatze: Some Contrasts of Comtemporary European and American Sociology. 2 ) Vgl. auch George L u n d b e r g , Nels A n d e r s o n and Read B a i n : Trends in American Sociology, New York u. London 1929, Harper & Brothers. 3 ) Wir benutzen in dieser Skizze u. a. audi den klaren Vortrag, den L. G i 1 1 i n als damaliger Präsident der American Sociological Society auf der 21. Jahresversammlung dieser Gesellschaft gehalten hat. Vgl. Publications of the Am. Soc. Soc. Band XXI, Chicago 1927, University of Chicago Press. 4 ) Die im Verlage J . Wagner, Innsbruck, erschienenen deutschen Ubersetzungen von J. V. Unger weisen wesentliche Mängel auf. 5"
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sozialpsydiologischen Auffassung vor. Ihm war die menschliche Gesellschaft „a play of mental factors" (worin ei eher an Comte als an Spencer erinnert). In der „reinen Soziologie" heißt es: „Meine These: Gegenstand der Soziologie sind die menschlichen Errungenschaften („Acquisitionen"). Es handelt sich nicht darum, was die Menschen sind, sondern was sie tun; nicht um die Struktur, sondern um die Funktion . . . . Die Soziologie beschäftigt sich mit sozialen Tätigkeiten. Sie ist das Studium von Handlungen . . . Sie ist nicht eine beschreibende Wissenschaft im Sinne der Naturforscher." Um gleich an diesen Sätzen Übereinstimmung und Gegensatz zur Beziehungslehre zu zeigen: Die menschlidien Errungenschaften, also die sachlichen Leistungen, sind uns Objekte der Kulturphilosophie oder besonderer Einzelwissenschaften, nicht der Soziologie. Es handelt sich gerade darum, was die Menschen (im Verhältnis zueinander) sind. Freilich begreifen auch wir dieses Sein der Menschen aus ihren Handlungen und diese wieder teilweise aus den Funktionen. Schon Spencer und Schäffle, Wards Zeitgenossen, haben gezeigt, daß man die Funktion nur aus der Struktur und die Änderungen der Struktur wieder aus der Funktion erklären muß, jedoch nicht eines von beiden aus einem System ausschließen sollte. Der Gegensatz von „reiner" und „angewandter" Soziologie besteht bei Ward darin, daß jene die vom zweckbewußten Einwirken der Menschen unbeeinflußte Entwicklung der Gesellschaft schildere, diese aber die künstlichen „telischen" Beeinflussungen der sozialen Entwicklung durch menschliches Handeln zum Gegenstand habe. Dieser Botaniker und Philosoph wollte offenbar dem Wesen der Kultur als der Summe der organisierten mensdilichen Betätigungen mit Hilfe einer naturwissenschaftlichen Betrachtungsweise näherkommen. Zur Kritik wird man sagen müssen: Auch hier zeigt sich der Naturforscher der Bewältigung der Aufgaben, die ihm die wissenschaftliche Beherrschung der sozialen Tatsachen stellt, deshalb nicht gewachsen, weil er zu viel erreichen
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will. Auch Ward fehlen historischer Sinn und historische Kenntnisse. Statt dessen sind seine Werke mit naturwissenschaftlichen Spekulationen und Analogien überladen. Was bleibt für die realistisch-empirische Soziologie?: Wards Heraushebung der Motive als sozialer Kräfte. Er sucht zu zeigen, wie die menschlichen Triebe „alle an und für sich zerstörend wirken, wie aber ihre vereinte Betätigung bei gegenseitiger Hemmung darin besteht, daß sie sich im Zaume halten, ins Gleichgewicht bringen und Strukturen hervorbringen". Schließlich ist eine Mechanik des Trieblebens in der Gesellschaft zum Gegenstand seiner Soziologie geworden. Zu diesen zwei gesellen sich als Vorkämpfer Albion Woodbury S m a l l (1854—1926) und Charles Horton C o o l e y (1864—1929). S m a l l , der mehr als jeder andere amerikanische Soziologe auf der anderen Erdhälfte Verständnis und Kenntnis deutscher sozialwissenschaftlicher Arbeit gepflegt und verbreitet hat, studierte 1879 bis 1881 in Leipzig und Berlin. Besonders Schmoller und Wagner waren seine Lehrer; auch von Schäffle empfing er manche Anregung. Als 1892 die Universität Chicago gegründet wurde, wurde ihm der Posten eines Vorstehers des Department of Sociology übertragen, der ersten Fakultät der Erde, die für unsere Wissenschaft geschaffen wurde. Im Jahre 1905 ist seine „General Sociology" erschienen, die den bemerkenswerten Untertitel trägt: „An exposition of the main development in sociological theory from Spencer to Ratzenhofer". Spencer, heißt es da, habe das Verdienst, den Bau der Gesellschaft geklärt zu haben; er betrachte sie als ein Ganzes, das aus zweckmäßig angeordneten Teilen bestehe, Schäffle habe die Funktion erläutert; nach ihm sei die Gesellschaft ein Ganzes, das aus Teilen bestehe, die zusammenwirken und dadurch Ergebnisse zeitigen. Ratzenhofer aber fasse die Gesellschaft als einen Prozeß des Ausgleichs in Konflikten zwischen Gruppen von Einzelmenschen auf. Der Begriff des Interesses, den Small für sehr instruktiv zur Erkenntnis des sozialen Lebens hält, trete mit Ratzenhofer in den Vordergrund; Small faßt ihn
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freilich viel allgemeiner, als es Ratzenhofer getan hat. Mit dem Interessenbegriff verknüpft sich die Idee der Gruppe und vor allem — wenn auch nicht so klar und umgrenzt, wie wir heute den Begriff gebrauchen — die des sozialen Prozesses. Die Gruppe ist f ü r Small das Gehäuse der organisierten Interessen und zugleich die Einheit des sozialen Prozesses. Sein letztes Werk (die zeitlich dazwischen liegenden müssen wir hier übergehen) „Origins of Sociology" vom Jahre 1924, ist tatsächlich in der Hauptsache eine Geschichte der Sozialwissenschaften, besonders der Nationalökonomie in Deutschland im 19. Jahrhundert. Gerade an diesem letzten, so umfangreiches Material verarbeitenden "Werke erkennt man, daß Barnes recht hat, wenn er sagt: „Kein anderer hat so viel getan, um die grundlegenden Werke der modernen deutschen Sozialwissenschaften den amerikanischen Lesern zugänglich zu machen". Kaum einer hat wirklich in einem solchen überreichen Maße, so möchte ich hinzufügen, seinen deutschen Lehrern durch die T a t gedankt, wie es Small getan hat. Indessen war Small kein Systematiker; er mühte sich viel um Methodologie und versündigte sich immer wieder gerade an ihr. Er ist mehr Sozialreformer und Sozialpolitiker als Soziologe gewesen. Für die Geschichte der enger gefaßten Soziologie kommt mehr als Small C. H . C o o 1 e y in Betracht, der lange Jahre hindurch die Soziologie an der Universität des Staates Michigan gelehrt hat. Seine drei Hauptwerke tragen die Titel: H u m a n N a t u r e and the Social Order (1902), Social Organization, a Study of the Larger Mind (1909) und Social Process (1918). Mit Recht hat man gesagt, daß ihn die häufig auf ihn angewandte Bezeichnung als Sozialpsychologe nicht ausreichend kennzeichne. Wenn auch sein Ausgangspunkt in der Seelenlehre lag, so suchte er doch gerade über eine einseitig individualpsychologische, aber nicht minder über eine lediglich die Institutionen und die äußere Struktur der Gesellschaft betrachtende Behandlung der Gesellschaftslehre hinauszukommen. Seine Hauptthese war, daß der Einzelmensch y n d die Gesellschaft zwei
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Seiten einer und derselben Erscheinung wären. Immer schaute er die Persönlichkeit im Zusammenhang mit der Gesellschaft und umgekehrt. In der Gebildelehre ist seine Unterscheidung von primären und sekundären Gruppen bemerkenswert. Familie, Nachbarschaft und Spielgruppen seien primär und die eigentlichen Erbauer des sozialen Zusammenhangs. Zu den jüngeren „Pionieren" gehört H e n r y G i d d i n g s (1855—1931) 1 ). Seine älteren Schriften bilden deutlich den Wendepunkt von der universalen zur strengeren und engeren Fassung der Soziologie. Konnten wir schon f ü r die bisherige deutsche Entwicklung das Schlagwort prägen: Von der Enzyklopädie zur Einzelwissenschaft, so gilt das im stärkeren Grade für die amerikanische Soziologie. Wie wenig ist von den großen universellen Ansprüchen SpencerWardscher H e r k u n f t übriggeblieben? Schon zehn Jahre nach dem Erscheinen der „Dynamic Sociology" Wards beginnt auch dort die skeptische Erörterung der Methodenfragen. 1896 erscheinen F. H . G i d d i n g s ' „Principies of Sociology" 2 ). Sehr richtig erklärte er damals, daß bis dahin Soziologie nichts weiter als eine Zusammenstellung sorgfältig ausgearbeiteter, verlockender Hypothesen gewesen wäre. Er ginge von dem Glauben aus, daß Soziologie eine psychologische Wissenschaft und daß die Beschreibung der Gesellschaft in biologischen Ausdrucksformen ein Fehler wäre; er bemühte sich, die Aufmerksamkeit besonders auf die psychische Seite der sozialen Erscheinungen zu lenken. Teilweise erschien ihm Adam Smith als Vorbild, der in seiner „Theorie der moralischen Gefühle" jene Seelenkräfte zu erfassen strebte, die den Zusammenhang von Menschen herbeiführten. Für Giddings handelte es sich aber dabei nicht um Sympathie allein, sondern um das, was er consciousness of kind (Artbewußtsein) nannte. !) Hauptwerke von Giddings: The Principies of Sociology (1896: 3. Aufl.); Elements of Sociology (1900); Inductive Sociology (1901); Studies in the Theory of Human Society (1922); The Scientific Study of Human Society (1924). 2 ) Bald nach dem ersten Erscheinen oft neu aufgelegt. Nach der 12. Auflage ist die deutsche Ubersetzung von Paul Seliger (Leipzig 1921, philos. soziol. Bücherei in Bd. 26) erschienen.
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Fraglich bleibt nur, ob nicht die Lehre von diesem elementar und geschlossen gedachten „Artbewußtsein" selbst wieder bloß eine „verlockende Hypothese" ist. So sorgfältig der frühere Professor an der Columbia-Universität seinen Grundbegriff von ähnlichen, scheinbar mit ihm identischen Prinzipien sondert, so sehr wird der Soziologe mit mißtrauischen Zweifeln dieses psychische Element wieder in soziale Beeinflussungen der Menschen aufzulösen versuchen müssen. Seitdem erkannte man immer deutlicher, daß die amerikanische Wissenschaft die Formen von Gruppen und die sich an ihnen vollziehenden Vorgänge behandelt 1 ). Allmählich wird aber der Begriff „soziale Formen" durch den fruchtbareren der „sozialen Prozesse" ersetzt, wie es schon Cooley und Small getan hatten. In den zwanziger Jahren zerlegt sich das Gesamtfeld der Soziologie stark nach den Zusammenhängen mit den anderen Wissenschaften, von denen die einzelnen Forscher ausgegangen waren. Da sind neben den Psychologen die Geographen, Biologen, Anthropologen, Pathologen und Philosophen. Daraus ist jedoch kein Chaos, sondern eine größere Mannigfaltigkeit der Gesichtspunkte entstanden. Doch wurde immer mehr klar, daß die Soziologie ihre eigene Methode ausbilden müsse. Die nächste Aufgabe bestand, wie G i 11 i n 1927 darlegte, in rechter Beschreibung des zu Beobachtenden. Die Verallgemeinerung müsse später erfolgen, womit nicht gesagt sein solle, daß einleuchtende Hypothesen zur Erklärung der Erscheinungen heute auszuschließen seien. In der amerikanischen Sozialpsychologie speziell beständen vier Richtungen: 1. die „social mind theory" (Giddings, Ross, Ellwood); 2. die Theorie von den sozialen Instinkten (McDougall); 3. die Lehre von der sozialen Haltung und der sozialen Gewöhnung (Thomas und Dewey); 4. die Lehre von der Personalität (personality und society theory). i) In Emory S. Bogardus' „Intruduction to Sociology* (erste Aufl. 1913. 4. Aufl. 1925) (Los Angeles, Jesse Ray Miller) werden z. B. Gruppenverhältnisse in 21 Kapiteln behandelt.
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In den letzten, an Kleinarbeit fruchtbaren beiden Jahrzehnten hat sich allerdings das Bild wohl schon wieder verschoben. Die Lehre von den Instinkten als Haupturhebern sozialer Erscheinungen verlor an Bedeutung. Edward Aisworth R o s s hat in der zweiten Auflage (1930) seiner „Principles of Sociology" die Instinktspsychologie, die in der ersten Auflage von 1920 einen erheblichen Raum einnahm, ganz gestrichen. Wie in Deutschland gegenwärtig ein unverkennbarer Gegensatz zwischen der Auffassung der Soziologie als systematischer Wissenchaft und als „Kultursoziologie" besteht, so ist auch in Amerika Streit über den Begriff der Kultur innerhalb der Gesellschaftslehre; besonders die „Kulturanthropologen" (Lowie, Kroeber, Wißler, Goldenweiser u. a.) üben von der Völkerkunde her ihren Einfluß aus und bevorzugen die Analyse von Kulturen. Ihnen stellen sich die Sozialpsychologen entgegen. Auch der Streit über die „Wertfreiheit" in der Forschung, der in Max Webers letzten Lebensjahren in Deutschland herrschte, findet seine Parallele in Amerika. Ethische und sozialreformatorische Forderungen durch soziologische Lehren zu stützen, suchte vor allem Charles A. E 1 1 w o o d (1873—1948), dessen „Sociology in its psy(hological aspects" und dessen „Psychology of Human Society" hier genannt werden müssen. Andere Autoren widersetzen sich jeder unmittelbaren Verbindung mit praktischen sozialen Bewegungen. So betonte F. O g b u r n in seiner Präsidentenansprache auf der 24. Jahresversammlung der American Sociological Society: „Die Soziologie ist als Wissenschaft nicht an der Verbesserung der Welt, an der Ermutigung von Glaubensbekenntnissen, an der Verbreitung von Informationen und Neuigkeiten, an der Bekundung von Eindrücken des Lebens, an der Führung der Menge oder an der Leitung des Staatsschiffes interessiert. Die Wissenschaft ist unmittelbar nur auf ein Ding, auf das Wissen, also auf die Entdeckung neuer Erkenntnisse gerichtet." Gerade weil in Europa immer wieder behauptet wird, die Wissenschaft werde in Amerika lediglich als ein unmittelbares Hilfsmittel der Praxis betrachtet und
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geschätzt, mag diese auch sonst in Amerika durchaus nicht seltene Tendenz zur Theorie um der Theorie willen erwähnt werden. Dem widerspricht nicht, daß die Pflege der angewandten oder speziellen Soziologie sehr ausgedehnt ist. Neue Zweige wie die sehr beliebte Rural Sociology (Soziologie des Landlebens) mit ihrer umfangreichen Literatur, die pädagogische Soziologie, die Religionssoziologie u. a. nehmen großen Raum ein. Mit Recht wird ferner das, was man „Social Research" nennt und was etwa unserem Begriffe Soziographie entspricht, in den Vordergrund gestellt. Auf die Methoden der Beobachtung hat das große "Werk von W . J. T h o m a s und F. Z n a n i e c k i : „The Polish Peasant in Europe and America" starken Einfluß ausgeübt. T h o m a s (1863—1947) gehörte selbst zu den einflußreichen Vorkämpfern der Soziologie in Amerika. Er hob auch die Bedeutung der Sexualforschung hervor und untersuchte die Probleme des Standort wechseis; gerade diese Fragen der „Mobility" sind seitdem viel behandelt worden. Robert P a r k und P. S o r o k i n haben (teilweise mit ihren Schülern) hier und in den benachbarten Fragen (Negerfragen, Verstädterung usw.) Bestes gegeben. Unter dem Einfluß von P a r k s „Principles of H u m a n Behavoir" ist das Studium des „Verhaltens" der Menschen — besonders bei jüngeren Gelehrten — üblich geworden. Hierbei handelt es sich nicht um bloße Übernahme des zu eng gefaßten Behaviorismus von der hierfür in Frage kommenden Richtung der Physiologie und Psychologie; die soziologische Lehre vom Verhalten der Menschen beschränkt sich keineswegs auf ein Studium der physischen Reaktionserscheinungen von Lebewesen auf äußere Reize, wenn sie von „behavior" spricht. Im ganzen: Man ist längst abgekommen von den phantastischen Bemühungen, alles und jedes zu erklären; man will um so exakter bestimmt umgrenzte Erfahrungskomplexe studieren. So sehr diese zunehmende Begrenzung der Aufgabe ein wissenschaftlicher Fortschritt ist, so wenig läßt sich ver-
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kennen, daß die im einzelnen sehr fruchtbare amerikanische Soziologie gegenwärtig wie in Deutschland eine gewisse Zersplitterung aufweist und daß es ihr an systematisierter Einheit gebricht. Ihr großer Vorzug bleibt die Lebensnähe, Frische der Anschauung und die beständige Ausnutzung der Beobachtungen des praktischen Gegenwartslebens für die Zwecke der Wissenschaft. Der gegenwärtige Entwicklungsstand läßt sich, soweit das in kurzen Worten überhaupt möglich ist, etwa in folgenden Sätzen skizzieren: Von den heute noch stark nachwirkenden Pionieren Robert E. P a r k , W . L. T h o m a s , C. H . C o o l e y und Edward A. R o s s lebt heute keiner mehr. Ross' erstes größeres Werk von 1901 ist „Social Control" betitelt. Seitdem ist dieser Begriff Ausgangspunkt mannigfacher Erfassungen der K r ä f t e des sozialen Lebens geworden. Bis in die letzten Jahre hinein dehnte sich Ross' Forschung über weite Gebiete der eigentlichen Soziologie. Seine bereits erwähnten „Principles" gaben auch unsrer Beziehungslehre manche Anregung. Eine andere im amerikanischen Schrifttum immer häufiger gewordene Kategorie, die bei ihm, wie bei O g b u r n , breiten Raum einnimmt, ist die des social change (im Sinne von Wandlungen in den das gesellschaftliche Leben vorwiegend beeinflussenden Kräften). E. A. S h i 1 s *) teilt die Spezialgebiete der amerikanischen Soziologie, die vorwiegend bearbeitet werden, in folgende Gebiete: a) Soziologie der Stadt, b) der gesellschaftlichen Schichten, c) Bevölkerungsgruppen, d) Familie, e) Religion, f) öffentliche Meinung und g) kleine Gruppe. (Nicht hineingezogen hat er die nicht minder gepflegte Soziologie des Landlebens und die Demographie.) Zur Soziologie der Großstadt ist immer mehr die Erforschung der Kleinstadt getreten. In den Vordergrund treten weiter die Studien über die Gesellschaftsklassen und die .Rassen- (besonders die Neger-) Fragen. 1) Vql. Shils 1. c.
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Als heute vorherrschende Techniken werden von B u r g e s s genannt 1 ): I. die Statistik, II. die Methode der persönlichen Bekundung und des Studiums der Einzelfälle (case study), III. Typologie, IV. Soziometrik, V. die Befragung und das Interview. Über die seit J. L. M o r e n o s Buch: „Who shall survive?" von 1934 stark in Vordergrund getretene, in den letzten fünfzehn Jahren beständig von ihm und anderen vervollkommnete Methode der Soziometrik habe idi versucht, mich in der Kölner Zeitschrift für Soziologie (Heft 1/1, S. 23 ff.) und in den darauf folgenden Nummern eingehender zu äußern. Ich muß hier darauf verweisen und auch auf das, was G e i g e r unter der Uberschrift „Über Soziometrik und ihre Grenzen" (Heft 1/3, S. 40 ff.) schreibt. Seine wie meine Untersuchungen kommen zu folgenden, von Geiger, wie folgt, zusammengefaßten Ergebnissen über quantifizierende Verfahren, zu denen die Soziometrik gehört: „1. Das objektive Gerippe der Gesellschaft kann restlos auf gemessene, quantitative Begriffe reduziert und durch sie beschrieben werden. Selbst innerhalb dieses Feldes sind zahlreiche Aufgaben, ja die meisten, noch ungelöst. 2. Was die subjektiven Faktoren des sozialen Lebens angeht, so wird die Introspektion vielleicht niemals ganz entbehrlich werden. Nichtsdestoweniger ist es von größter Wichtigkeit, quantifizierende Methoden zur Erfassung dieser subjektive Bestandteile zu entwickeln. Jeder, wenn auch noch so bescheidene Versuch in dieser Richtung trägt dazu bei, die Soziologie zu einer strengen Wissenschaft zu machen und verdient daher Anerkennung und Ermunterung. 3. Solange das Ziel völliger Exaktheit unerreichbar bleibt, wird man introspektive Methoden ergänzend und interimistisch anwenden müssen. Methodologische Prinzipienreiterei führt zu nichts. 1) Vgl. Burgess in Gurvitch-Moore, S. 20 ff. (englisdie Ausgabe).
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4. Um aber die Reinheit der Linien zu wahren und die nötige Kontrolle zu behalten, empfehle ich, daß man in der Darstellung die streng empirischen Ergebnisse quantifizierender Untersuchung einerseits und die auf introspektivem Wege vorgenommenen Deutungen andererseits streng voneinander getrennt halte." Aus der großen Zahl der heute in Amerika wirkenden Soziologen können wir zum Schlüsse dieses Kapitels nur einige wenige noch nennen. Darüber hinaus noch andere Namen aufzuzählen, würde den Anfänger nur verwirren. Doch greifen wir diejenigen heraus, deren Auffassung unserer Wissenschaft in mancherlei Betracht Verwandtschaft mit der Beziehungslehre aufweist. Freilich können nur kurze Hinweise gegeben werden; von einer ausreichenden Würdigung muß hier abgesehen werden. Pitirim A. S o r o k i n (geb. 1889 in Rußland) ist Professor an der Harvard-Universität und gehört dort dem Department of Social Relations an 1 ). Von seinen zahlreichen Büchern sei hier nur sein systematisches Hauptwerk: „Society, Culture, and Personality, their Structure and Dynamics" 2 ) genannt. Das Kulturelle, Soziale und Persönliche erscheinen ihm als eine unteilbare Einheit dreier Schauweisen, von denen aber jede ihre besonderen Merkmale besitze. Auch er betrachtet wie wir die Wechselbeziehungen unter den Menschen (die human interactions) als den Gegenstand der Soziologie, wobei er die sinnvollen Interaktionen (die meanings, values und norms) besonders hervorhebt. Damit stellt er sich in ihm bewußten Gegensatz zu einer naturwissenschaftlichen Erfassung der Tatachen des zwischenmenschlichen Lebens; es handele sich um die superorganische, sinnvolle Daseinsweise. Deutlich scheidet er die physikalisch-biologische von der anthropologisch-soziologischen Optik. Sein Werk weist sedis Hauptteile auf: 1. Struktur-Soziologie, 2. speziell: Struktur des sozialen Universums, 3. soziale Differenzierung 1 ) Vgl. L. v. W i e s e : „Pitirim A. Sorokin" in der Kölner Zeitsdirift für Soziologie 1/2, S. 105 ff. 2 ) New York und London 1947, Harper.
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und Schichtenbildung, 4. Strukturen der kulturellen und persönlichen Erscheinungsformen des überorganischen Alls, 5. Dynamik der wiederkehrenden sozialen Prozesse, 6. Dynamik der Kulturprozesse. Charakteristisch für seine Denkweise ist die starke Betonung der wertenden Erfassung .des gesellschaftlichen Lebens. Sie hängt mit der in seiner Persönlichkeit tief begründeten Neigung zusammen, Ethik und Soziologie eng zu verbinden. Doch ist zugleich sein Streben, die tatsächlichen Seinszusammenhänge des Menschenlebens systematisch und geordnet zu erfassen, unverkennbar. Sein Werk ist — ich möchte sagen — echte Soziologie. Mag man in diesem oder jenem Punkte von ihm abweichen, so bedeutet doch sein überaus fruchtbares Schaffen einen großen Fortschritt in der wissenschaftlichen Entwicklung, da es der Soziologie eine theoretische, auf das Wesentliche gerichtete Grundlage gibt. Es sind nicht bloß Teilgebiete und Lebensausschnitte, die von ihm behandelt werden, sondern allgemeine Grundtypen und Grundzusammenhänge. Auch teile ich mit ihm die Uberzeugung, daß zwischen Soziologie und Ethik ein enger Zusammenhang besteht; nur scheint mir ein anderer Weg der Verbindung notwendig: die Soziologie als solche sollte sittliche Werturteile vermeiden und sie der Ethik überlassen, die von jener getrennt, aber auf ihr fußend und ihre Ergebnisse nutzend zu behandeln ist. Ferner sollte eine völlige Lösung von der Biologie, also eine Ignorierung ihrer Resultate nicht angestrebt werden. Da Sorokins Werke, nicht am wenigsten das hier herangezogene theoretische Hauptwerk, sehr klar und geordnet ohne künstliche Verdunklungen geschrieben sind, eignen sie sich auch für das Studium von Anfängern. Gegenwärtig hat sich S o r o k i n in zahlreichen, sehr eindringlich geschriebenen Werken mehr der sozialen Ethik und einer wertenden Geschichtsphilosophie zugewandt. Er steht unter dem erschütternden Eindrucke der großen politischen Ereignisse und ihrer Einflüsse auf den Zusammenhang unter den Menschen. Er sieht eine Rettung in der
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Festigung der Nächstenliebe. Das kommt besonders (aber nicht nur hier) in dem von ihm herausgegebenen Sammelwerke: „Explorations in Altruistic Love and Behavior" (Boston 1950) zum Ausdrucke. In diesem Sinne hat er auch in Cambridge, Mass., das H a r v a r d Research Center in Altruistic Integration and Creativity gegründet. Darüber schreibt Harriet H o f f m a n n in der Kölner Zeitschrift für Soziologie (Bd. IV, S. 104): „Mit solchen Veröffentlichungen strebt das Harvard Research Center in Altruistic Integration and Creativity danach, der Menschheit einen glücklicheren Weg für ihre Zukunft zu weisen. Sorokin ist davon überzeugt, daß ein reicheres Wissen um den einzelnen Menschen, um Menschengruppen, soziale Institutionen und Kultur dazu führen müsse, den Egoismus von Einzelwesen und Kollektiven zu vermindern. Aufgabe des von ihm geleiteten Instituts sei darum, die Haupteigenschaften und -funktionen der altruistischen Liebe aufzuspüren und vor allem die geeigneten Mittel und Wege für die Altruistisierung der Menschen und Menschengruppen und die Ausbreitung dieser Altruistisierung zu finden." Howard B e c k e r (Universität des Staates Wisconsin) steht unserem, im ersten Kapitel gekennzeichneten Streben besonders nahe, nicht nur, weil er in den zwanziger Jahren in Köln studiert hat, sondern auch, weil er die amerikanische Ausgabe meiner „Allgemeinen Soziologie" in englischer Sprache veranlaßt, die Übertragung geleitet und das Buch durch Zusätze ergänzt hat 1 ). Als Theoretiker und Systematiker rechnet sich Becker zu den Analytikern. Sie seien die „Grammatiker der Sozialwissenschaften". Zu !) D i e s e e n g l i s c h e A u s g a b e ist u n t e r d e m Titel „ S y s t e m a t i k S o c i o l o g y . O n the B a s i s of t h e B e z i e h u n g s l e h r e u n d G e b i l d e l e h r e * . A d o p t e d a n d a m p l i f i e d by H o w a r d Becker (New York 1932, J o h n W i l e y & Sons) erschienen. W o h l d e r Z u s a t z „ a d a p t e d a n d a m p l i f i e d " h a t d a z u g e f ü h r t , d a ß H. Becker b i s w e i l e n als „ a u t h o r " o d e r M i t v e r f a s s e r d e s Buches b e zeichnet w e r d e n ist. Das ist m i ß v e r s t ä n d l i c h . Die a l l e i n i g e V e r a n t w o r tung für d e n I n h a l t d e s d e u t s c h e n O r i g i n a l s t r a g e ich. N i e m a n d h a t bei s e i n e r A b f a s s u n q m i t g e w i r k t . Bei d e r U b e r s e t z u n g ins Englische schien es a b e r H Becker v e r s t ä n d l i c h e r w e i s e w ü n s c h e n s w e r t , e s f ü r den l l n t e r r i c h t s q e b r a u c h in den englisch s p r e c h e n d e n L ä n d e r n d a d u r c h a u s g i e b i g e r zu g e s t a l t e n , d a ß in ihm A u s f ü h r u n g e n a n d e r e r A u t o r e n (z. B. Max W e b e r s ) zum s e l b e n G e g e n s t a n d mit a u f g e n o m m e n w u r d e n . D a s h a t n u r d e n N a c h t e i l m i t sich g e b r a c h t , d a ß d i e s y s t e m a t i s c h e Geschlos-
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den Synthetikern alten'Stils zählt er Ross, Ellwood, Sorokin und Thomas; zu den Analytikern u. a. Maclver, Park und Burgess, Abel, House, Wirth, Blumer, Parsons und sich selbst. (Es mag dahingestellt bleiben, ob die so bezeichnete Unterscheidung klar und zutreffend ist.) Jedenfalls gehört Becker einmal zu den fruchtbarsten Historikern der Ideengeschichte; dann aber ist er als Systematiker ein phantasiebegabter, zugleich für die Kulturentwicklung und das Geflecht des modernen sozialen Lebens aufgeschlossener Forscher, der seinen Schriften eine völlig eigenartige, künstlerische Form zu geben vermag. Das zeigen u. a. seine Studie über Ehe und Familie, seine tief eindringende Analyse der deutschen Jugendbewegung und seine Einführung „Man in Society", die, vom Anschaulichen und Populären ausgehend, mit didaktischer Meisterschaft in abstrakte Zusammenhänge hinüberleitet 1 ). In den letzten Jahren betont Howard Becker in seinen Schriften, wie u. a. sein Werk: „Through Values to Social Interpretations" zeigt, die Bedeutung der Werte im sozialen Leben. Es geschieht im Verein mit Robert R e d f i e 1 d , Talcott P a r s o n s , P. A. S o r o k i n , R. C. A n g e l l , Ralph L i n t o n , Ruth B e n e d i c t u. a. Diese Autoren suchen den in den zwanziger und dreißiger Jahren im Vordergrund stehenden Behaviorismus, wie ihn besonders G. A. L u n d b e r g und S. C. D o d d verraten, entgegenzutreten. R. M. M a c l v e r , der Herkunft nach Schotte, jetzt im Department of Political Science der Columbia-Universität in New York, verbindet in vieler Hinsicht die spezifisch senheit, um die ich midi besonders bemüht hatte, beeinträditigt worden ist. So dankbar ich für die ausgezeichnete Ubersetzung war so machte mir dodi die Beobachtung Sorge, daß die nicht immer in der Terminologie und Gedankenführung dazu passenden Darlegungen anderer Autoren eingeflochten sind, ohne daß durch eine andere Drudsform der fremde Bestandteil gekennzeichnet ist. W ä h r e n d des Drudcs des obigen Textes ist von Howard B e c k e r ein neues Werk in einer Ubersetzung von Helmut V i e b r o c k erschienen: .Soziologie als Wissenschaft vom sozialen Handeln" (Würzburg 1959, Holzner). Es hebt besonders nachdrücklich die Bedeutung des W e r t e s hervor, gipfelnd in der These: .Menschliche Wirklichkeit ist Wertwirklichkeit."
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amerikanische Schauweise mit der in Europa üblichen Optik; ihn verknüpft manches mit der Tradition Hobhouses, aber auch mit der verstehenden Soziologie Max Webers, dessen Betonung der Wertfreiheit er sich zu eigen gemacht hat. Von seinen zahlreichen Werken soll hier die Aufmerksamkeit auf eines seiner neuen Bücher „Social Causation" (Boston etc. 1942) gelenkt werden. In ihm ist besonders eine Untersuchung über „group assessments" (kollektive Wertungen) hervorzuheben. Maclver gehört neben Parsons, Lundberg, Ogburn, Becker, Sorokin u. a. zu den Soziologen, die das Vorurteil, die amerikanische Gesellschaftslehre sei theorielos, entkräften. Auf die zahlreichen Autoren, die die Soziographie, die „Case Studies", die Beobachtungsmethoden und die Spezialzweige pflegen, einzugehen, muß ich mir versagen. Jedoch wäre es, wie gesagt, falsch, die heutigen Bemühungen um die theoretischen Grundlagen in Amerika über der massenhaften „Resear