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German Pages 175 [200] Year 1960
SAMMLUNG
GÖSCHEN
BAND
101
SOZIOLOGIE GESCHICHTE
UND
HAUPTPROBLEME
Dr. phil., Dr, jur. h. c . , Dr. rer. pol. h. c .
LEOPOLD
VON
WIESE
o. Professor der wirtsch. Staatswissenschaften und der Soziologie an der Universität K ö l n
Sechste Auflage
WALTER DE GRUYTER & CO. vormals G . J. Göschen'sche Verlagshandlung • J . Guttentag, Verlagsbuchhandlung Georg Rrimer Karl J . T r ü b n e r • Veit & Comp,
BERLIN
1960
©
Copyright 1960 by W a l t e r de Gruyter & Co., Berlin W 35. — Alle Rechte, einschl. der Rechte der Herstellung von Photokopien und Mikrofilmen, von der Verlagshandlung vorbehalten. — Archiv-Nr. 1101 01. — Satz und Drude: Paul Funk, Berlin W 3 5 . — Printed in Germany. —
Inhaltsübersicht Seite V o r b e m e r k u n g e n z u r sechsten Auflage
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K a p i t e l I : E i n l e i t u n g : Soziologie als selbständige E i n z e l wissenschaft v o m zwischenmenschlichen Geschehen . . . . Kapitel
I I : D i e geschichtlichen A u s g a n g s p u n k t e
5
der
Soziologie als Wissenschaft
21
Kapitel
I I I : D i e H a u p t r i c h t u n g e n der Soziologie . . . .
34
Kapitel
I V : C o m t e u n d Spencer
57
Kapitel
V : D i e britische u n d die amerikanische Soziologie
66
K a paintdee rle n VLI ä: n D u n d einigen d ei er n Soziologie nach C o m t eins TFrankreich ode
90
K a p i t e l V I I : D i e ältere (enzyklopädische) Soziologie in Deutschland 105 K a p i t e l V I I I : D i e jüngere bis 1954
Soziologie
in
Deutschland 122
K a p i t e l I X : D i e Lehre v o n den sozialen Beziehungen u n d den sozialen Gebilden ( B e z i e h u n g s k h r e ) 146 K a p i t e l X : D i e allgemeine Soziologie in seit 1955 Namenregister
Deutschland 163 174
Vorbemerkungen zur sechsten Aullage Bei der Nachprüfung, ob und in welchem Maße die f ü n f t e Auflage, die 1954 erschienen ist, Änderungen erfordert, glaube ich feststellen zu können, daß sich die neue Auflage auf einige Verbesserungen von Druckfehlern und die Beifügung neuer Fußnoten beschränken soll. Dagegen war die Einfügung eines zehnten Kapitels notwendig, das die Überschrift trägt: „Die allgemeine Soziologie in Deutschland seit 1955." Die Ausdehnung dieses Berichts auf die gesamte Weltliteratur, die in den Übersichten bis 1955 angestrebt wird, ist im Rahmen eines kurzen Kapitels nicht möglich, zumal da das Schrifttum überall stark angewachsen ist. Das gilt allerdings mehr für die besonderen Soz ; ologien und vor allem für die Soziographie und die Hilfsdisziplinen und -techniken der Soziologie; aber auch bei Beschränkung auf die allgemeine Soziologie wäre es mir nicht möglich gewesen, eine ausreichende Würdigung der Weltliteratur zu geben, da gerade in den letzten fünf Jahren z. B. Spanien, Japan, besonders Mittel- und Südamerika viel zur Verbreiterung des Schrifttums beigetragen haben. Jedoch steht Deutschland keineswegs an U m f a n g der Veröffentlichungen zurück. Soviel auch an Institutsarbeiten, Wörterbüchern und Sammelschriften publiziert worden ist, so fehlen doch neue systematsiche Werke keineswegs. Sich mit ihnen zu befassen, erschien mir als die wichtigste Aufgabe für das neue Kapitel. L. v. Wiese
Kapitel
I
Einleitung Soziologie als selbständige Einzelwissenschaft vom zwischenmenschlichen Geschehen Im folgenden wird unter Soziologie oder Gesellschaftslehre, soweit n'cht die Versenkung in ihre bisherige Geschichte zu einer weiteren Fassung ihres Wesens nötigt, eine selbständige Einzelwissenschah verstanden, deren Aufgabe genau zu bestimmen sein wird. Die Soziologie ist die 0««c/wissenschaft der Sozialwissenschaften. Es ist unhaltbar, eine der anderen Sozialwissenschaften, etwa die Volkswirtschaftslehre oder die Tunsprudenz. zur Grundwissenschaft zu machen, weil sich diese nur auf bestimmte Anfgabenkreise des sozialen Lebens, nicht auf seine Gesamtheit beziehen. Die seltsamerweise auch heute noch zu vernehmende BehauDfnns?. d^ß das Th^ma der ^ozioloeie unbestimmt und unscharf sei, und daß man sie nicht umgrenzen könne, ist fa'sch. Man sollte dem stets entschieden widerstvechen, da diese durchaus unzutreffende Ansicht unserer Wissenschaft sehr schadet und sie von vornherein dem Dilettantismus anheim fibr. Sie weist zwei en® verbundene Grundfragen auf. Behält man diese Problemstellung bei allen unerläßlichen Umwegen des Studiums ihrer abgele'teten Einzelfragen stets im Auge, so ist ein Abirren in andere Wissensgebiete und eine Verkennung dessen, worum es sich handelt, vermieden. Sie teilt Einzeluntersuchungen mit vielen anderen Wissenschaften; aber was sie auf diesen Feldern sucht, macht ihre Eigentümlichkeit aus. Jede Wissenschaft hat ihre eigenen Grundfragen. Sie sind es, die sie von anderen Wissenchaften unterscheiden; nicht die Gegenstände machen die Unterschiede aus. Denn nicht sei-
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I. Soziologie als selbständige Einzelwissenschaft
ten teilt sie den zu erforschenden Daseinsbereich mit anderen Fächern; aber diese stellen nicht dieselben Fragen an ihn. 1 ) Die zwei Grundfragen der Soziologie sind: Wie erklärt sich das Geschehen, das wir das Soziale nennen? 2. "Was wird vom Sozialen in der Menschensphäre bewirkt? Damit ist schon ausgesprochen, daß wir die Soziologie nicht als einen Zweig der Philosophie (als Sozialphilosophie), auch nicht als eine Universal- oder enzyklopädische Wissenschaft auffassen. Diesen Universalcharakter wiederum könnte sie in verschiedenem Sinn besitzen: sie könnte als Zusammenfassung sämtlicher Sozialwissenchaften aufgefaßt werden, die alle Ergebnisse in sich vereinigte, welche den Sozialwissenschaften insgesamt gemein sind; sie könnte ferner unter Beiseitelassung des Sozialen in den Tier- und Pflanzenreichen als die allgemeinste Wissenschaft vom gesellig lebenden Menschen erscheinen, also entweder geistes- und naturwissenschaftliche oder bloß geisteswissenschaftliche oder bloß naturwissenschaftliche Anthropologie schlechtweg sein; sie könnte schließlich Kosmologie unter Hervorhebung der Menschensphäre sein, dergestalt, daß die Eingeordnetheit der menschlichen Gesellschaft in den Gesamtvorgängen des Weltalls dargetan wird. Wir werden noch zu zeigen haben, daß sowohl die sozialphilosophische wie jede der drei Arten von enzyklopädischer Behandlung der Wissenschaft von der Gesellschaft versucht, ja, daß alle diese Betrachtungsweisen in einem Riesenkomplexe verk n ü p f t worden sind, und daß man auch dafür den Namen Soziologie gewählt hat. Demgegenüber soll jedoch hier die Soziologie als Einzelwissenschaft aufgefaßt werden, die neben anderen sozialen Einzelwissenschaften eine arteigene, eng zu fassende Fragestellung aufweist. Diese Fragestellung muß sich von der der anderen Sozialwissenschaften deutlich unterscheiden lassen, so daß die Soziologie als selbständige Wissenschaft Vgl. dazu meinen Beitrag zu der von Max G r a f z u S o l m s herausgegebenen Sammlung „Aus der W e r k s t a t t des Sozialforsdiers", F r a n k f u r t a. M. 194B. Kurt Schauer, S. 7 ff.
I. Soziologie als selbständige Einzelwissenschaft
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zu fassen ist, w e n n sie auch als A n g e h ö r i g e des Bundes aller S o z i a l Wissenschaften, speziell aller S o z i a l Wissenschaften v o m Menschen in dichten, noch zu charakterisierenden N a c h b a r s c h a f t s - und Ergänzungsverhältnissen zu ihnen steht. Schließlich liegt andererseits in unserer v o r l ä u f i g e n E i n ordnung bereits e n t h a l t e n , d a ß wir sie nicht b l o ß als eine V e r f a h r e n s w e i s e o d e r lediglich als einen Problemkreis im R a h m e n anderer Wissenschaften auffassen, sondern in erster L i n i e u n d unabhängig v o n dem U m s t ä n d e , d a ß es auch soziologische „ M e t h o d e n " in anderen Disziplinen gibt, als eine Wissenschaft. D a s als G r u n d l a g e einer ersten V e r s t ä n d i g u n g hier auszusprechen, ist angesichts der in der G e g e n w a r t so beliebten V e r m e n g u n g e n und Grenzverschiebungen wichtig. Der fruchtbarste Zustand der O r g a n i s a t i o n der G e s a m t h e i t aller Wissenschaften ist dann gegeben, w e n n jede einzelne ihren eigenen P r o b l e m k r e i s , ihre eigene Betrachtungsweise eines O b j e k t s , das sie als solches mit anderen Wissenschaften teilen k a n n , besitzt. J e d e m u ß eine grundlegende F r a g e stellung aufweisen, die nicht schon bei anderen Disziplinen besteht; sonst ist sie überflüssig. Diese k l a r e n Scheidungen bilden aber gerade die V o r a u s s e t z u n g für ihren (nicht m i n d e r wünschenswerten) Z u s a m m e n h a n g . J e d e ü b e r n i m m t Forschungsergebnisse (im V e r t r a u e n auf das e i n w a n d f r e i e V e r f a h r e n der N a c h b a r i n ) als M a t e r i a l für eigene Zwecke, h a t auch o f t in abgeleiteten P r o b l e m e n z w e i t e r und d r i t ter O r d n u n g eine gemeinsame Fragestellung mit anderen Wissenschaften. E i n e Wegstrecke lang mögen v o r ü b e r gehend die A u f g a b e n gemeinsam sein; danach e r z w i n g t aber die a n d e r e G r u n d f r a g e , deren entscheidender A n spruch nie aufgegeben w e r d e n d a r f , eine andere E i n o r d n u n g und andere V e r w e n d u n g der Ergebnisse. O f t schneiden sich die E b e n e n der verschiedenen W i s s e n schaften. I m m e r wieder v e r w e n d e t m a n , wie gesagt, E r gebnisse a n d e r e r D i s z i p l i n e n ; aber diese R e s u l t a t e bedeuten im R a h m e n der v o n uns als Ausgang benutzten Wissenschaft etwas anderes.
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I. Soziologie als selbständige Einzel Wissenschaft
Unsere erste Behauptung über die Fachwissenschaft Soziologie geht also dahin: sie hat ihre eigene „Ebene", die sich mit keiner der anderen Sozialwissenschaften deckt, aber gleichsam durch sie hindurchführt. Dieser unserer Grundthese stehen vier Behauptungen entgegen, die zu prüfen sind: 1. Es gebe keine solche eigene Wissenschaftsebene (Disziplin) Soziologie, sondern nur eine soziologische Betrachtungsweise in verschiedenen Wissenschaften. Sie bestehe darin, daß man bei der speziellen Problematik der einen oder anderen Wissenschaft gelegentlich oder auch vorwiegend auf die menschliche Gesellschaft oder einzelne gesellschaftliche Erscheinungen (wie etwa die Klasse) Bezug nehme. So gebe es Soziologisches in der Jurisprudenz, Psychologie, Völkerkunde, Sprach-, Literaturgeschichte, Sozialökonomik, Kunstwissenschaft, vergleichenden Religionswissenchaft usw., aber auch in den Naturwissenschaften bis zur Physik. Oft werden diese Problemkreise oder diese Optiken fälschlich als soziologische Methoden bezeichnet. Da diese soziologischen Teilausschnitte in anderen Wissenschaften umfangreich und sehr häufig geworden sind, so kann man von einem gewissen Soziologismus in den modernen Wissenschaften, besonders in den Geisteswissenschaften reden. Aber stets müßte doch diese häufige Bezugnahme auf die „menschliche Gesellschaft" voraussetzen, daß man genau wüßte, was diese Gesellschaft eigentlich ist. Das ist aber keineswegs der Fall. Es besteht nur ein sehr vages Vorurteil, daß man es wisse. Es fließt aus irrigen Annahmen, nämlich entweder aus dem Glauben, die menschliche Gesellschaft biete kein Problem, sondern sei eine einfache Selbstverständlichkeit, oder es ergebe sich ihr Wesen aus der eigenen Wissenschaft (so nebenher), oder die vorausgehenden Forschungen oder Spekulationen hätten es schon hinreichend festgestellt. All diese Annahmen sind, wie gesagt, irrig. 2. Man gelange zur Erkenntnis der Gesellschaft durch Addition der Ergebnisse der übrigen sozialen Einzelwissenschaften. Auch das ist ein Irrtum. Der Polyhistor ist am
I. Soziologie als selbständige Einzelwissenschaft
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weitesten v o n diesem Z i e ' e e n t f e r n t . D i e ü b r i g e n Sozialwissenschafren befassen sich m i t d e n sachlichen Ergebnissen des gesellschaftlichen Lebens. "Wenn m a n a b e r P r o d u k t e h ä u f t , k a n n m a n noch l a n g e nichts ü b e r die P r o d u z e n t e n aussagen. ( D a s ist auch d e r F e h l e r einer h e u t e o f t als „ K u l t u r s o z i o l o g i e " bezeichneten m o d e r n e n R i c h t u n g d e r Kulturwissenschaft.) 3. Soziologie sei dasselbe w i e systematisierte Geschichtswissenschaft. A m V e r h ä l t n i s s e v o n Gese'lschaftslehre u n d H i s t o r i e zeigt sich in d e r T a t b e s o n d e r dentlich d ; e gegenseitige E r g ä n z u n g durch G e b e n u n d N e h m e n . A b e r die H ä u f u n g chronolog'sch g e o r d n e t e r T a t s a c h e n c e w ä h r t noch keine E r k e n n t n i s d e r Gesellschaft. H i e r f e h l t noch ein entscheidender A b s t r a k t i o n s v o r g a n g , d e r erst aus d e r W i e d e r g a b e des Geschehenen E r k e n n t n i s des Z u s a m m e n h a n g s d e r in die Geschehnisse v e r w i c k e l t e n Menschen schafft. 4. Di