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German Pages 299 Year 1976
H E N N I N G VON WEDEL
Das Verfahren der demokratischen Verfassunggebung
Schriften zum öffentlichen Band 310
Recht
Das Verfahren der demokratischen Verfassunggebung Dargestellt am Beispiel Deutschlands 1848/49,1919,1948/49
Von D r . H e n n i n g von W e d e l
D U N C K E R
&
H U M B L O T
/
B E R L I N
CIP-Kurztitelaufnahme der Deutschen Bibliothek Wedel, Henning von Das Verfahren der demokratischen Verfassungsgebung: (dargest. am Beispiel Deutschlands 1848/49, 1919, 1948/49). — l.Aufl. — Berlin: Duncker u n d Humblot, 1976. (Schriften zum öffentlichen Recht; Bd. 310) I S B N 3-428-03775-8
Alle Rechte vorbehalten © 1976 Duncker & Humblot, Berlin 41 Gedruckt 1976 bei Buchdruckerei Bruno Luck, Berlin 65 Printed in Germany I S B N 3 428 03775 8
For forms of government let fools contest, w h a t e'er is best administered is best. Alexander Pope
Süß ist es, sich Verfassungen auszudenken Immanuel Kant
Vorwort
Diese Arbeit wurde geschrieben, während der Verfasser am Institut für Internationale Angelegenheiten der Universität Hamburg sich hauptamtlich mit Völkerrecht und ausländischem Verfassungsrecht befaßte. Die rechtsvergleichende Arbeit an diesem Institut und die redaktionelle Arbeit an der Zeitschrift „Verfassung und Recht i n Übersee" führten zu einer Beschäftigung m i t allgemeiner Verfassungstheorie. Der Verfasser hat deshalb gern die Anregung Professor Dr. Herbert Krügers aufgegriffen, sich des vernachlässigten Themas der Verfassunggebung anzunehmen. Die Arbeit war zunächst auch international vergleichend geplant. Der Verfasser hat sich dann aus den i n der Einleitung genannten Gründen doch auf das Beispiel Deutschland beschränkt. Die Arbeit hat dem Fachbereich Rechtswissenschaft der Universität Hamburg i m Sommer 1975 als Dissertation vorgelegen. Der Verfasser ist vielen zu Dank verpflichtet, die alle i n irgendeiner Weise zum Entstehen und zur Drucklegung dieser Arbeit beigetragen haben: den Kollegen i m Institut für Diskussion und Rücksichtnahme während der Niederschrift, Frau Zimmermann und Frau Reitsch für die Übertragung des Manuskripts i n die Reinschrift, Herrn Professor Ingo v. Münch für die Zurverfügungstellung als Erstvotant, Herrn Ministerialrat a. D. Professor Dr. Broermann für die Aufnahme der Arbeit i n diese Reihe, und nicht zuletzt meiner Familie für Unterstützung, Rücksichtnahme und manche Entbehrung. I n erster Linie aber verdankt der Verfasser die Möglichkeit zu wissenschaftlicher Arbeit Herrn Professor Herbert Krüger, der den Verfasser anregte sich mit der Rechtsvergleichung i m öffentlichen Recht zu beschäftigen, der ihn an das Institut holte, i h m dort die Möglichkeit zu vielseitiger und freier Arbeit schuf, und ihn immer wieder i m persönlichen Gespräch an seiner eigenen Arbeit teilnehmen ließ und i h n dadurch i n unschätzbarer Weise anregte und förderte. Der Verfasser möchte hiermit, wenn auch i n unzureichender Weise, seinem Lehrer danken.
Inhaltsverzeichnis Einleitung
15
1. Verfassung u n d Verfassungsgesetz
18
2. Verfassunggebung u n d Verfassunggebende Gewalt
22
3. Verfassunggebung als Problem des demokratischen Staates
26
4. Beschränkung auf die deutsche Verfassungsgeschichte
28
5. Gang der Untersuchung
29 1. Teil
Verfassunggebung in der Theorie 1. Kapitel:
Verfahrensfragen
33 33
1. Die Ausgangslage
33
2. Die Träger des Neuerungswillens
38
3. Die Schaffung eines Organs für die Verfassunggebung u n d das V e r fahren
40
4. Die Haltung des Verfassunggebers gegenüber seiner Aufgabe
46
5. Die Bedeutung des Ratifikationsverfahrens
50
2. Kapitel:
Inhaltliche
Fragen
1. Die L e g i t i m i t ä t der Verfassung
57 57
a) Die N o r m a t i v i t ä t der Verfassung
59
b) Die richtige Verfassung
61
2. Die F o r m u n d Gestalt der Verfassung
66
3. Der notwendige I n h a l t der Verfassung
69
a) Materielle u n d formelle Verfassung
71
b) Der Hauptinhalt der Verfassung i m organisatorischen Bereich..
72
c) Der aa) bb) cc)
75 76 77 79
H a u p t i n h a l t der Verfassung i n materieller Sicht Sicherung der Einheit Sicherung der Leistungsfähigkeit Sicherung des Bestandes der Verfassung
d) Verfassung f ü r heute oder für morgen
81
10
Inhaltsverzeichnis 2. Teil Verfassunggebung in der Praxis
1.Kapitel:
85
Die Ausgangslage
87
1. Die Ausgangslage 1848
87
a) Die Verfassung des Deutschen Bundes
87
b) Die Verfassung der konstitutionellen Monarchie
91
c) Die Revolution
92
2. Die Ausgangslage 1918/19
97
a) Revolution oder Umsturz
98
b) Die vorläufige Verfassung
101
3. Die Ausgangslage 1948
103
a) Fortgeltung der Weimarer Verfassung bis 1945
105
b) Fortbestand des Deutschen Reiches aa) Völkerrechtliche Lage bb) Staatsrechtliche Lage Gesamtdeutschlands
107 107 111
c) Staatsrechtliche Lage der Länder aa) Amerikanische Zone bb) Französische Zone cc) Britische Zone
115 116 119 120
4. Zusammenfassung u n d Vergleich 2. Kapitel:
Die Träger
123
des Neuerungswillens
126
1. Die Träger des Neuerungswillens 1848
126
2. Die Träger des Neuerungswillens 1918/19
132
3. Die Träger des Neuerungswillens 1948
136
a) Verfassungspläne der A l l i i e r t e n
136
b) Deutsche Verfassungspläne aa) Verfassungspläne f ü r Gesamtdeutschland oder f ü r deutschland bb) Die Annahme der Frankfurter Dokumente
139
4. Zusammenfassung u n d Vergleich 3. Kapitel:
Die Schaffung
eines Organs für die Verfassunggebung
1. Die Schaffung eines Organs 1848
West-
144 147 149 152 152
a) Die Entscheidung f ü r eine Nationalversammlung
153
b) Das Wahlsystem
155
c) Die Kandidatenaufstellung
159
d) Die Zusammensetzung der Nationalversammlung
161
Inhaltsverzeichnis e) Die Aufgabe der Nationalversammlung
164
f) Der Tagungsort
166
g) Der Verfassungsausschuß der Nationalversammlung
167
2. Die Schaffung eines Organs 1918/19
170
a) Die Entscheidung für eine Nationalversammlung
170
b) Das Wahlsystem
171
c) Die Kandidatenaufstellung
173
d) Die Zusammensetzung der Nationalversammlung
174
e) Die Aufgabe der Nationalversammlung
176
f) Der Tagungsort
178
g) Der Verfassungsausschuß
179
3. Die Schaffung eines Organs 1948
181
a) Die Entscheidung gegen eine Nationalversammlung
181
b) Die Zusammensetzung des Parlamentarischen Rates
184
c) Der Hauptausschuß
186
4. Zusammenfassung u n d Vergleich 4. Kapitel:
Die Schaffung
eines Verfassungsentwurfes
1. Die Schaffung eines Entwurfs 1848
188 191 191
a) Vor entwürfe aa) Der E n t w u r f des Siebzehnerausschusses bb) Andere E n t w ü r f e
191 191 193
b) Der E n t w u r f des Verfassungsausschusses aa) Die Grundrechte i m Ausschuß bb) Die Reichsverfassung i m Ausschuß
196 198 201
c) Der E n t w u r f der Nationalversammlung aa) Die Grundrechte i m Plenum bb) Die Reichs Verfassung i m Plenum
206 206 211
2. Die Schaffung eines Entwurfs 1918/19
217
a) Vorentwürfe aa) Offizielle E n t w ü r f e α) Der Weg zum offiziellen E n t w u r f ß) Der erste Regierungsentwurf γ) Die Beteiligung der Einzelstaaten bb) Private E n t w ü r f e cc) Einbringung des Entwurfes i n der N V
217 217 219 221 222 226 227
b) Die aa) bb) cc)
227 227 230 235
Verfassungsberatungen i m Einzelnen Die Generaldebatte i m Plenum Die Beratungen i m Verfassungsausschuß Die Einzeldebatte i m Plenum
12
Inhaltsverzeichnis
3. Die Schaffung eines Entwurfs 1948 a) Vorentwürfe aa) Der E n t w u r f von Herrenchiemsee bb) Andere Entwürfe
239 239 239 242
b) Die Beratungen i m Parlamentarischen Rat 245 aa) Die erste Beratung i m Plenum 245 bb) Die Organisation des Parlamentarischen Rates u n d der Beratungen 249 cc) Die Beratungen i m Hauptausschuß 253 dd) Die Einflußnahme der Besatzungsmächte 258 ee) Schlußdebatte i m Plenum 262 4. Zusammenfassung u n d Vergleich 5. Kapitel:
Die Ratifikation
1. Die Ratifikation 1848/49
267 270 270
a) Die Souveränität der Nationalversammlung
270
b) Die Verabschiedung u n d Publikation
273
2. Die Ratifikation 1919
275
3. Die Ratifikation 1948/49
277
4. Zusammenfassung u n d Vergleich
281
Zusammenfassung Literaturverzeichnis
der Ergebnisse
283 287
Abkürzungsverzeichnis Abi. ARA AöR Bericht
= Amtsblatt = Allgemeiner Redaktionsausschuß = Archiv des öffentlichen Rechts = Bericht des Verfassungskonvents auf Herrenchiemsee, s. aber auch Wahlen-Bericht
BV BVerfG BVerfGE DJZ DÖV Droysen I Droysen I I
Bundesversammlung Bundesverfassungsgericht Bundesverfassungsgerichtsentscheidungen Deutsche Juristenzeitung Die öffentliche V e r w a l t u n g Protokolle des V e r f A der N V 1848 Aktenstücke u n d Aufzeichnungen zur Geschichte der Frankfurter Nationalversammlung aus dem Nachlaß Droysens (Hübner Hrsg.)
DRZ DV EA HA JIR
Deutsche Rechtszeitung Deutsche V e r w a l t u n g Europa A r c h i v Hauptausschuß Jahrbuch f ü r Internationales u n d ausländisches-öffentliches Recht
JO JöR MDR v. M o h l
= = = =
Journal officielle Jahrbuch f ü r öffentliches Recht Monatsschrift f ü r Deutsches Recht Die Abfassung von Rechtsgesetzen i n : v. Mohl, Staatsrecht I I (vgl. Literaturverz.)
MR NJ NJW NV Pari. R. Prot. RStHG Sten. Ber. VA Verh. VO VRÜ Wahlen-Bericht Wigard WV
= = = = = = = = = = = = = = =
Militärregierung Neue Justiz Neue Juristische Wochenschrift Nationalversammlung Parlamentarischer Rat Protokolle Reichsstatthaltergesetz Stenographische Berichte Verfassungsausschuß Verhandlungen (vgl. Literaturverz.) Verordnung Verfassung u n d Recht i n Übersee Vgl. Arbeitsgruppe i m Literaturverz. Sten. Ber. der N V 1848 vgl. Literaturverz. Weimarer Verfassung
Einleitung I n allen modernen parlamentarischen Systemen w i r d die Staatsgewalt nicht abgeleitet von einer äußeren höheren Macht, sondern autonom durch einen verfassunggebenden A k t gesetzt. Die Staatsgewalt entsteht durch die Hervorbringung einer staatlichen Ordnung aus dem Volke heraus. I n einer der ersten geschriebenen neuzeitlichen Verfassungen, der Unionsverfassung der Vereinigten Staaten, heißt es: „We the Peeople of the United States, i n Order to form a more perfect Union, establish Justice, insure domestic Tranquillity, provide for the common defence, promote the general Welfare, and secure the Blessings of Liberty to ourselves and our Posterity, do ordain and establish this Constitution for the United States of America." Diese Verfassung hat die meisten modernen Verfassungen, teils direkt, teils durch die französischen Revolutionsverfassungen, beeinflußt. So lautet die Indische Verfassung: „We the People of India, having solemnly resolved, to constitute India into a sovereign Democratic Republic and to secure to all citizens: Justice , social, economic and political, Liberty of thought, expression, belief, faith and worship, Equality of status and opportunity and to promote among them all Fraternity assuring the dignity of the individual and the unity of the Nation in our constituent assembly this twenty-sixth day of November 1949 do herby adopt, enact and give to ourselves this constitution ." I n der Präambel des Grundgesetzes ist diese direkte und alleinige Gründung der Verfassung auf den autonomen Setzungsakt relativiert, indem der verfassunggebende A k t als i n der Verantwortung vor Gott und Menschen und gegenüber den Nachbarstaaten erfolgt. Damit weist es die Besonderheit auf 1 , daß es seine Primärmotivation von außen, 1 Zumindest soweit es säkularisierte Staaten betrifft, ist die A n r u f u n g Gottes ungewöhnlich. Sie ist teils noch als historisches Relikt vorhanden. Vgl. zur Eingangsformel der Verfassung der Schweiz „ I m Namen Gottes des Allmächtigen" Wahlen-Bericht, S. 59 f. Anders gilt f ü r p r i m ä r religiös motivierte Verfassunggebung w i e etwa i n Pakistan. Die Präambel gleicht der des Grundgesetzes, vgl. Verfassungstexte, „Pakistan", S. 1.
16
Einleitung
nicht aus der Ordnung des eigenen Lebens bezieht. Die Ordnung i n der BRD w i r d als notwendig angesehen, w e i l anders ein geeintes Europa und dauerhafter Frieden i n diesem Raum nicht möglich erscheint. Man mag hieran die Verordnung der Verfassung durch die Besatzungsmächte ablesen. Nicht aus freiem Wunsch, sondern unter dem Druck der Verhältnisse w i r d eine provisorische Ordnung errichtet. Aber noch ein Weiteres ist hervorzuheben: die „Verantwortung vor Gott und den Menschen". Damit w i r d ein naturrechtlicher überpositiver, nicht autonom gesetzter Maßstab herangezogen. A r t i k e l 1 des Grundgesetzes bestätigt dies, indem die Grundrechte als vorgegeben, nicht als freiw i l l i g gesetzte Prinzipien angesehen werden. Abgesehen von diesem Sonderfall w i r d der allgemeinen Theorie nach, die sich i n den Präambeln niederschlägt, die staatliche Ordnung i m wesentlichen autonom gesetzt. Dies ist natürlich nur sehr bedingt richtig; denn i n allen Staaten herrschte ja vor der Verfassunggebung nicht ein anarchischer ungesellschaftlicher Zustand, sondern eine mehr oder minder ausgeprägte Ordnung, i n der die späteren Verfassungsgrundsätze schon vorgeprägt waren oder schon galten. Der A k t der Verfassunggebung dient häufig nur der Präzisierung, der Formulierung und Bewußtmachung der gesellschaftlichen Ordnung. Dies hindert andererseits nicht, daß die Verfassunggebung i n Teilbereichen eine revolutionäre neue Ordnung setzt. Aber auch diese lehnt sich gewöhnlich an bestehende Vorbilder und schon i n der Gesellschaft vorgegebene Strukturen an. Gleichwohl weist die Theorie der autonomen Setzung der staatlichen Ordnung insoweit einen richtigen K e r n auf, als dieser Setzungsakt und die durch i h n gegebene Ordnung generell nicht an einem außerhalb der Setzung liegenden Maßstab gemessen werden darf, sondern nur aus sich selbst heraus entwickelt und interpretiert werden kann. Dieser Umstand sollte den Blick auch darauf lenken, wie denn nun eigentlich eine solche autonom gesetzte Ordnung hervorgebracht und wie ihr die Form einer geschriebenen Verfassung gegeben wird. Obwohl nun alle modernen demokratischen Verfassungen auf der Theorie der Volkssouveränität beruhen und davon ausgehen, daß dem Volk eine irgendwie geartete verfassunggebende Gewalt innewohne, hat sich die Theorie bisher m i t dem tatsächlichen Vorgang der Verfassunggebung nur sehr wenig befaßt 2 . Dies ist u m so erstaunlicher, als R. v. Mohl bereits vor mehr als 100 Jahren i n seiner Abhandlung „Die Abfassung von Rechtsgesetzen" i m Hinblick auf das Verfahren der 2 Krüger, der sich kürzlich m i t diesem Problem befaßt hat, stellt das Fehlen jeglicher L i t e r a t u r fest. V R Ü 1974, S. 233 ff. Er scheint den Stand der Wissenschaft von der Gesetzgebung sogar stark zu überschätzen, Noll, S. 9. Lediglich vor 1850 gab es eine reiche Literatur, vgl. die Nachweise bei Noll, S. 14; Fleischmann, S. 233.
Einleitung
Verfassunggebung ausgeführt hat 3 : „Es muß als ein kaum eines besonderen Beweises fähiges A x i o m gelten, daß jeder Staat bei einer von i h m ausgehenden Feststellung (Gründung sowohl als Abänderung) von Verfassungsrechten die höchste i n seinem Wesen und i n seinen M i t t e l n liegende Sorgfalt anzuwenden hat, damit ein nach Form und Inhalt untadeliges Erzeugnis gewonnen werde" und dann eine besondere wissenschaftliche Untersuchung des Gesetzgebungsverfahrens folgen läßt. Das Fehlen theoretischer Beschäftigung mit dem Verfahren einer Verfassunggebung mag daran liegen, daß die Theorie von der Volkssouveränität für eine vorwiegend normativ denkende Rechtswissenschaft ausreichte, u m alle Zweifelsfragen zu klären 4 . Es ist aber doch interessant, daß gerade i n einer Zeit, i n der ständig irgendwo auf der Welt an Verfassungen gearbeitet w i r d und i n einem Lande wie der Bundesrepublik, i n der seit Jahren von einer Totalrevision des Grundgesetzes gesprochen wird, die Untersuchung der tatsächlichen Vorgänge kaum Beachtung findet. Allerdings mehren sich i n letzter Zeit Einzeluntersuchungen zur Gründungsgeschichte der Bundesrepublik Deutschland 5 . Eine umfassende Gesamtdarstellung fehlt leider immer noch und w i r d auch hier nicht versucht. Es soll lediglich untersucht werden, welches Verfahren bei den Versuchen, eine demokratische Verfassung zu geben, i n Deutschland beobachtet worden ist, und welche Gemeinsamkeiten und Unterschiede sich dabei ergeben. Allerdings hofft der Verfasser damit, einen ersten Baustein für eine umfassende Theorie der Verfassunggebung beizusteuern. Dem Verfasser ist an Literatur, die sich ausdrücklich der Verfahrensfrage zuwendet, nur das kleine Heft von K . v. Beyme, „Die Verfassungsgebende Gewalt des Volkes", bekannt geworden. Dagegen befassen sich alle anderen Publikationen®, wenn überhaupt, nur sehr am Rande mit dem tatsächlichen Verfahren der Verfassunggebung und versuchen, entweder den Vorgang i n der demokratischen Theorie zu erfassen, oder handeln von Grenzen und inhaltlichen Möglichkeiten. Es war deshalb nötig, i n einem ersten Teil die Bedeutung der Verfahrensfragen und der Technik der Verfassunggebung etwas näher theoretisch zu betrachten, ehe an die Darstellung der tatsächlichen Vorgänge i n Deutschland herangegangen werden konnte. 3
v. Mohl, S. 406. Noll, der gleiches f ü r die Gesetzgebung feststellt, weist auf den ideologischen Gehalt der wissenschaftlichen Abstinenz, sich m i t den Niederungen der Gesetzgebungstechnik zu befassen, hin, S. 14 ff. 6 Vgl. die Werke von Otto, Soergel, Niclauß u n d Morsey. I m m e r noch am genauesten, was die technische A b w i c k l u n g angeht, die Einleitung zum Bonner K o m m e n t a r v o n Dennewitz, die m i t 130 Druckseiten eine echte Monographie darstellt. 8 V o r allem die i m theoretischen T e i l u n d der Einleitung zitierten Werke, insbesondere Steiner, Henke, Gutmann. 4
2 von Wedel
18
Einleitung
Jede vergleichende Arbeit sieht sich vor dem Problem der Materialfülle. Die aktenmäßige Untersuchung auch nur einer einzigen Verfassunggebung ist schon eine die Arbeitskraft eines Einzelnen fast übersteigende Aufgabe. Nicht zuletzt deshalb sind bisher nur spezielle Themenkreise an Hand der Quellen untersucht worden. Das vorliegende Thema, das i n der Untersuchung des Verfahrens besteht, würde bei aktenmäßiger Bearbeitung die Durcharbeitung aller vorhandenen Materialien erfordern, da die Verfahrensfragen nicht getrennt vom materiellen Fortgang der Verfassunggebung behandelt werden, sondern i n den Gesamtablauf eingebettet sind. Der Verfasser hat daher nur die gedruckten Quellen benutzt. Auch mußte an vielen Stellen auf eine Auswertung weiterführenden Schrifttums verzichtet werden wie ζ. B. des umfangreichen Schrifttums über die Revolutionen und die allgemeine Rechtstheorie, u m nur zwei sehr unterschiedliche, hier relevante Bereiche zu nennen. Angesichts der Spärlichkeit der Literatur zu der hier zu untersuchenden speziellen Problematik und der geradezu überwältigenden Fülle der Literatur zu Staats- und Verfassungslehre i m allgemeinen einerseits, der Fülle des für die Theorie der Verfassunggebung wahrscheinlich ergiebigen Materials andererseits stellt die Arbeit einen ersten Versuch dar, ein sprödes, aber doch hoch interessantes Thema vergleichend anzugehen, und so aus der reinen Theorie auf eine praktischere Ebene zu ziehen.
1. Verfassung und Verfassungsgesetz Wenn hier der Verfassunggebung nachgegangen werden soll, ist zunächst der Begriff der Verfassung zu klären, denn dieser Begriff bezeichnet die inhaltliche Komponente der Verfassunggebung. Verfassung ist das, was hier „gegeben" werden soll, worauf die Verfassunggebung gerichtet ist. Verfassung hat offensichtlich etwas mit der Verfaßtheit eines Gegenstandes zu tun. Hier handelt es sich um den Gegenstand Staat und damit u m seine Verfaßtheit i m allgemeinen und u m die Verfassung Deutschlands und die Verfaßtheit des deutschen Staates i m besonderen. M i t der geläufigen Bezeichnung „Staatsverfassung" oder „Verfassung des Staates" ist schon eine gewisse Vordefinition getroffen. Es w i r d nämlich hiermit vorausgesetzt, daß Verfassung und Staat verschiedene Dinge sind, die sich auch unabhängig voneinander vorfinden. Eine solche Begriffsbildung ist ja nur sinnvoll, wenn die Verbindung der Worte Staat und Verfassung mehr auszusagen geeignet ist, als eines der Worte allein. Die Definitionen von Staat und Verfassung werden deckungsgleich, wenn Verfassung verstanden w i r d als der konkrete Zustand der poli-
1. Verfassung u n d Verfassungsgesetz
19
tischen Einheit und Ordnung eines bestimmten Staates 7 . Der Staat setzt eine solche Ordnung, die auf Dauer angelegt ist und eben deshalb politische Einheit notwendig macht, gerade voraus. Carl Schmitt hat die Folge eines solchen Verfassungsbegriffs treffend formuliert: „Der Staat hat nicht eine Verfassung ,„der gemäß4 ein staatlicher Wille sich bildet und funktioniert, sondern der Staat ist Verfassung, d. h. ein seinsmäßiger vorhandener Zustand, ein Status von Einheit und Ordnung 8 ." Ein solcher Verfassungsbegriff, der die Verfassung m i t dem Sein des Staates, seiner tatsächlichen Verfaßtheit identifiziert, sagt nicht mehr aus, als der Begriff des Staates enthält. Man kann den Begriff der Verfassung aber auch reduzieren auf die konkrete Form der Herrschaftsausübung. I n diesem Sinne kann man dann von einer demokratischen, autokratischen oder totalitären Verfassung sprechen. Auch hier wieder ist Verfassung eine Kategorie des Seins, einer bestimmten Daseinsform der politischen Ordnung. Schließlich kann als dritte Form der konkreten Verfassung unter diesem Begriff der Vorgang der Hervorbringung der gemeinsamen Ordnung, die sich immer wieder neu herstellende und bewährende Einheit aller Lebensäußerungen i m Staate verstanden werden. Diesen Vorgang hat Rudolf Smend m i t dem Begriff der Integration gekennzeichnet 9 . Alle diese Definitionen der „Verfassung" gehen von allein i m konkreten Sein beobachtbaren Tatbeständen aus. Sie definieren damit einen nicht rechtlichen, sondern soziologischen Verfassungsbegriff 10 . Juristisch fruchtbar w i r d der Verfassungsbegriff erst, wenn i h m eine normative Komponente zugeordnet w i r d 1 1 . Jedoch muß dies nicht so ausschließlich geschehen, wie es die ,Reine Rechtslehre 1 verlangt, die die Verfassung als ein bloßes Normensystem begreift. Die Definitionen, die die Verfassungstheorie i n den letzten Jahrzehnten hervorgebracht hat, versuchen ausnahmslos schon i n der Definition des Begriffs einen 7
So etwa bei Lasalle, Über Verfassungswesen 1862. C. Schmitt, Verfassungslehre, S. 4. 9 R. Smend, Verfassung u n d Verfassungsrecht, 1928. 10 H. Kelsen, Der soziologische u n d der juristische Staatsbegriff, ist allerdings der Auffassung, der Begriff des Staates könne überhaupt n u r normativ erfaßt werden. Vgl. seine Auseinandersetzung m i t den soziologischen Staatsbegriffen, S. 8, 33, 45, 58, 66, 82 u n d passim. I m zweiten Teil, S. 75 ff., entwickelt er dann seine eigene Theorie, vgl. besonders S. 82, 87, 91. Vgl. auch Renner, S. 44 ff. 11 Verfassung als Wertbegriff, vgl. Renner, S. 6, 16. Renners Werk gibt einen hervorragenden Überblick über die ideengeschichtliche Entwicklung des Verfassungsbegriffs i n neuerer Zeit. Z u r Parallelität der schweizerischen m i t der deutschen Entwicklung: Renner, S. 82 ff. 8
2*
Einleitung
20
Bezug zwischen dem konkreten Sein des Staates und dem Gesolltsein des Staates herzustellen 12 . So hat Rudolf Smend die Verfassung als rechtliche Ordnung des Integrationsvorganges definiert 1 3 . Schmitt definiert Verfassung als die Gesamt-Entscheidung über A r t und Form der politischen Einheit 1 4 . Heller sucht i n ihr einen Prozeß des planmäßigen organisierten Zusammenwirkens 15 . Kaegi versteht darunter die rechtliche Grundform des Staates 16 ; Scheuner ergänzt Kaegis Definition noch um die auf Dauer angelegte Ordnung 1 7 . Burdeau beschränkt den Begriff auf die Regeln, nach denen den Regierenden die politische Macht zugewiesen w i r d 1 8 . Verfassung soll aber nach all diesen Definitionen i n das Staatliche Sein normativ eingreifen oder es i m Sinne einer bestimmten Vorstellung davon wie staatliches Sein beschaffen sein soll, konstituieren 1 9 . Der Begriff der Verfassung ist m i t h i n ein normativer Begriff 2 0 . Er umschreibt ein Sollen. Es sind also zwei Verfassungsbegriffe zu unterscheiden, ein soziologischer und ein juristischer oder normativer Verfassungsbegriff. Wenn w i r uns mit der Verfassunggebung beschäftigen wollen, so muß hier ebenfalls unterschieden werden zwischen dem Hervorbringen einer bestimmten Ordnung des Staates i m Sein und der Hervorbringung einer Verfassungsnorm, also einer normativen Ordnung des Staates. Diesen beiden Verfassungsbegriffen entsprechen zwei Disziplinen der juristischen Wissenschaft. Die allgemeine Staatslehre beschäftigt sich m i t dem konkreten Sein des Staates m i t seiner Natur i m ontologischen Sinne, das Verfassungsrecht 21 beschäftigt sich m i t der normativen Struktur des Staates. Weil aber Normen gesetzt werden, u m i n die ontologische Struktur einzuwirken 2 2 , besteht ein enger Zusammenhang 12
Sehr deutlich w i r d dieses Bemühen bei Smend, S. 76 f. Heller, Staatslehre, S. 363 ff. 13 Smend, S. 78 f.; i n diese Richtung deutet auch R. v. Mohls Definition: Die Verfassung gibt die allgemeinen Grundsätze über Ziele, Maß u n d M i t t e l des einheitlichen Volkslebens, S. 408. 14 Verfassungslehre, S. 20 ff. 15 Staatslehre, S. 341. 16 Die Verfassung als rechtliche Grundordnung des Staates, S. 40 ff. Dazu näher Renner, S. 489. 17 Scheuner, Staatslexikon, Sp. 118. 18 Burdeau, Droit Constitutionel, S. 54. 19 Vgl. Krüger, Verfassung, der es vermeidet, eine griffige Definition zu geben. 20 Wahlen-Bericht, S. 28 f. 21 Der Begriff der Verfassungslehre w i r d von Loewenstein i m Sinne einer Kratologie der allgemeinen Staatslehre angenähert; Verfassungslehre 1959. 22 Hesse, Normative K r a f t , S. 9.
. Verfassung u n d V e r f a s s u n g g e e t
21
zwischen beiden Wissenschaftsdisziplinen, so daß die Staatslehre auch Aussagen über die normative Struktur machen muß, wie ebenso die Verfassungslehre sich mit der konkreten Verfassung des Staates beschäftigen muß, w i l l sie nicht i n blinden Positivismus verfallen 2 3 . Der Begriff der Verfassung darf daher nicht allein auf das Verfassungsgesetz eingegrenzt werden, wie andererseits nicht die bloße Verfaßtheit des Staates i m konkreten Sein damit gemeint sein kann 2 4 . Das Problem stellt sich auch, wenn man der marxistischen Theorie folgt. Zwar stellt sich die Staatsverfassung als Teil des Überbaus zunächst nur als Folge, als konkrete Ideologie, einer bestimmten Basis dar. Indem aber der Widerspruch zwischen tatsächlichen und scheinbaren Bedürfnissen erkennbar ist, kann auch das Bewußtsein sich dahingehend ändern, daß die das allgemeine Bewußtsein und die Staatsideologie bestimmenden Produktionsverhältnisse abänderbar werden. Damit kommt auch i n die marxistische Theorie ein normatives Element, wenngleich diese Normen nicht als autonom setzbar angesehen werden, sondern als objektive Geschichtstatsachen25. Der revolutionäre Elan und das Pathos, die nötig sind, u m die Verhältnisse zu ändern, folgt aber nicht aus der geschichtlichen Situation allein, sondern setzt die autonome Entscheidung des Revolutionärs voraus, die davon bestimmt ist, daß durch das Handeln tatsächlich etwas verändert werden kann 2 6 . Das heißt aber, daß auch