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German Pages [368] Year 1978
Christian-Erdmann Schott Möglichkeiten und Grenzen der Aufklärungspredigt
Arbeiten zur Pastoraltheologie Herausgegeben von Martin Fischer und Robert Frick
B A N D 16
VANDENHOECK & RUPRECHT IN
GÖTTINGEN
Möglichkeiten und Grenzen der Aufklärungspredigt Dargestellt am Beispiel Franz Volkmar Reinhards
Von CHRISTIAN-ERDMANN
SCHOTT
VANDENHOECK & RUPRECHT IN G Ö T T I N G E N
CIP-Kurztitelaufnahme Schott,
der Deutschen Bibliothek
Christian-Erdmann:
Möglichkeiten und Grenzen der Aufklärungspredigt: dargest. am Beispiel Franz Volkmar Reinhards. - Göttingen : Vandenhoeck und Ruprecht, 1978. (Arbeiten zur Pastoraltheologie ; Bd. 16) ISBN 3-525-57119-4
© Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1978 - Printed in Germany. Ohne ausdrückliche Genehmigung des Verlages ist es nicht gestattet, das Buch oder Teile daraus auf foto- oder akustomechanischem Wege zu vervielfältigen. Gesamtherstellung: Hubert & Co., Göttingen
Vorwort Die vorliegende Arbeit ist von Herrn Professor D. Martin Schmidt DD, der in Berlin und Mainz mein Lehrer in der Kirchengeschichte war und mich in vielfältiger Weise von meinen ersten Studiensemestern an gefördert hat, angeregt und durch Jahre hindurch begleitet worden. Sie ist dann von Herrn Professor D. Martin Fischer DD und von Herrn Pastor D. Robert Frick in die Reihe „Arbeiten zur Pastoraltheologie" aufgenommen worden und kann nun erscheinen, nachdem die Vereinigte Evangelisch-Lutherische Kirche Deutschlands (VELKD) einen bedeutenden Druckkostenzuschuß zur Verfügung gestellt hat, der durch einen Druckkostenzuschuß der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau ergänzt worden ist. Frau Anneliese Bartholomeyczik in Mainz-Gonsenheim war so freundlich, die Reinschrift des Manuskriptes zu übernehmen. Für diese freundliche Förderung und Hilfe möchte ich allen genannten Damen, Herren und Institutionen herzlich danken. Zugleich danke ich meiner Frau und meinen Eltern für die stetige Anteilnahme und für das große Verständnis, mit dem sie das Entstehen dieses Buches immer begleitet haben. Mainz-Gonsenheim, Pfingsten 1978 Christian-Erdmann Schott
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Inhaltsverzeichnis Vorwort
5
Einleitung: Das neuerwachte Interesse an der Aufklärungspredigt in der d e u t s c h e n evangelischen H o m i l e t i k der Gegenwart . . .
11
I.Kapitel: Franz Volkmar Reinhard — der erfolgreichste Prediger der d e u t s c h e n Aufklärung
15
1. Reinhards Erfolg 2. Biographische Daten 3. Die Quellen
15 16 18
II. Kapitel: D i e allgemeine Situation in Deutschland z w i s c h e n 1 7 8 0 und 1 8 1 3
21
1. Die Herrschaft der aufgeklärten Weltanschauung 2. Die Krise der aufgeklärten Weltanschauung
21 28
III. Kapitel: D i e theologische u n d p h i l o s o p h i s c h e E n t w i c k l u n g Reinhards während der Wittenberger Professorenjahre 1. Die Jugendkrise (1778-1784) a) ihre Bedeutung hinsichtlich des Verhältnisses zu Crusius b) ihre Bedeutung hinsichtlich des Verhältnissses zu den theologischen Auseinandersetzungen der Zeit c) ihre Bedeutung hinsichtlich des Verhältnisses zur Bibel 2. Der Ausbau der eigenen Position (1784-1792) a) Philosophisch b) Homiletisch c) Ethisch d) Dogmatisch 3. Die Berufung zum Oberhofprediger
46 46 50 53 65 69 69 74 77 84 92
IV. Kapitel: D i e T h e o l o g i e Reinhards in d e n Predigten der Dresdener Zeit ( 1 7 9 2 - 1 8 1 2 ) - Materiale H o m i l e t i k
96
1. Das Grundanliegen der Predigten: Die Besserung a) Die Predigt als Besserungsmittel b) Die Sinnesänderung als Ausgangspunkt der Besserung 2. Der Fortschrittsgedanke a) Der individuelle Fortschritt b) Der Fortschritt in der Geschichte
96 96 107 123 123 133 7
3. Die gesellschaftliche Dimension 159 a) Kirche, Staat, Vaterland 159 b) Der einzelne auf seinem Platz 189 4. Die Rechtfertigungslehre 195 a) Die kritische Funktion der Rechtfertigungslehre 195 b) Rechtfertigung und Besserung 200 5. Anhang: Reinhards auf äußere Verbesserungen gerichtetes Handeln . 210 a) In der sächsischen Landeskirche 210 b) Im sächsischen Bildungswesen 213
V.Kapitel: Das Eigentümliche der Reinhardschen Predigtweise — Formale Homiletik
218
1. Die neuhumanistischen und persönlichen Voraussetzungen der Reinhardschen Predigtweise 2. Die Form der Predigten a) Text und Thema b) Die Durchführung des Themas 3. Der soziologische Ort der Predigten (Die Hörer) 4. Reinhards Urteil über seine Predigten 5. Die Aufnahme der Predigten in der wissenschaftlichen Welt
218 222 222 228 233 234 239
VI. Kapitel: Reinhards Auseinandersetzung mit anderen Richtungen der Aufklärung in Philosophie und Theologie . . . 241 1. Die grundlegende Auseinandersetzung mit Kant 2. Die Reformationsfestpredigt von 1800 3. Die Abgrenzung gegen die aufgeklärte Vermittlungstheologie und gegen den Rationalismus 4. Die Abgrenzung gegen die Naturphilosophie
264 268
VII. Kapitel: Reinhard im Spiegel der Beurteilungen und seiner Wirkungen
270
1. 2. 3. 4.
Die Nachrufe bei seinem Tode und die frühen Biographien Zeugnisse bedeutender Zeitgenossen Reinhards Wirkung im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts Der Kampf gegen Reinhard im zweiten Drittel des 19. Jahrhunderts 5. Die Beurteilungen Reinhards vom letzten Drittel des 19. Jahrhunderts bis zur Gegenwart
270 279 286 304 319
VIII.Kapitel: Zusammenfassung und Schluß: Möglichkeiten und Grenzen der von Reinhard repräsentierten Aufklärungspredigt 1. Reinhard als Theologe und Prediger des Bürgertums seiner Zeit 2. Reinhards Aporien — ein Nachwort für das Gespräch in der Homiletik unserer Zeit
8
241 250
333
. . . 333 340
Literaturverzeichnis 1. Bibliographie Reinhards 2. Weitere Quellen und Literatur zu Reinhard 3. Literatur aus der homiletischen und geistesgeschichtlichen Forschung der Gegenwart Personenregister
347 347 352 362 364
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EINLEITUNG
Das neuerwachte Interesse an der Aufklärungspredigt in der deutschen evangelischen Homiletik der Gegenwart
Noch vor vierzig Jahren hat sich für die Predigt der Aufklärung in Deutschland niemand interessiert. Der einzige, der damals ein praktischtheologisches Buch über die Aufklärung schrieb, war Paul Graff 1 . Es wurde ein ausgesprochen negatives Buch, in dem diese ganze Epoche der Theologiegeschichte unter dem Gesichtspunkt der Auflösung und des Verfalls der alten frommen Formen angesehen wird. Der Predigt dieser Zeit widmet Graff dabei ganze sieben Seiten, auf denen er nicht eigentlich ihre Anliegen und ihre Absichten darstellt und diskutiert, sondern anhand von ausgewählten Extremprodukten ihre Abwegigkeit, wenn nicht gar ihre Lächerlichkeit darzutun versucht. Diese Einstellung der Praktischen Theologie im Hinblick auf die Aufklärung hat inzwischen ihre Allgemeingültigkeit verloren. Auf der Suche nach Wegen, die uns aus der heute von so vielen beklagten Predigtkrise herausführen könnten, ist auch die Predigt der Aufklärung wieder ins Gespräch gebracht worden als ein Weg oder als eine Möglichkeit, die uns vielleicht helfen könnte. Der erste, der dabei einen Schritt zu einer positiveren Einschätzung der Aufklärungspredigt getan hat, war Alfred Niebergall 2 . Für ihn bleibt bezeichnend, daß ihm die Aufklärungspredigt praktisch-homiletisch wegweisend erscheint, während er ihrer Dogmatik skeptisch gegenübersteht. Ähnlich urteilen nach ihm Reinhard Krause 3 und Friedrich Winter 4 .
1
P. Graff: „Geschichte der Auflösung der alten gottesdienstlichen Formen in der evangelischen Kirche Deutschlands". Band 2: „Die Zeit der Aufklärung und des Rationalismus". Göttingen 1939. 2 A. Niebergall: „Die Geschichte der christlichen Predigt". Leiturgia — Handbuch des ev. Gottesdienstes. Band 2 Kassel 1955 S. 313ff. 3 R. Krause: „Die Predigt der späten deutschen Aufklärung 1770—1805". Stuttgart 1965 S. 143. 4 F. Winter: „Die Predigt". In: Handbuch der Praktischen Theologie 2. Band. EVABerlin 1974. S. 241.
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Ober diese noch vorsichtig-kritisch reflektierende Betrachtungsweise ist bald hinausgegangen worden. Hans-Eckehard Bahr sieht zwar auch Mängel der Predigt der Aufklärung, findet sie zuletzt aber „imponierend" als Versuch, „die sich emanzipierende Gesellschaft mit allen ihren Ausformungen in die Verkündigung einzubeziehen" 5 . Sie zeige einen Ansatz, der der Aufgabe der Verkündigung in einer demokratischen Gesellschaft eher gerecht werden kann als die spät-lutherische Wort-Gottes-Theologie und -Homiletik unserer Väter. In ähnlich signifikanter Weise geht es Gert Otto um den „Versuch einer Rezeption der Aufklärung" 6 , das heißt genauer darum, solche Intentionen und Impulse der Aufklärung, die für die heutige Situation von Kirche und Theologie bedeutsam sein können, aufzugreifen und fortzuschreiben. Die Homiletik hat damit Anregungen erhalten, die es zu bedenken gilt. Sie ist dabei aber für ein wirkliches Gespräch über die Aufklärungspredigt schlecht gerüstet. Im Grunde wissen wir viel zu wenig, wie und was damals wirklich gepredigt worden ist. Die Aufklärungspredigt ist weithin einfach unbekannt. Darum werden wir in der Diskussion über ihre Rezeption oder Nicht-Rezeption auch kaum weiterkommen, wenn wir uns nicht die Mühe machen, danach zu fragen, was damals homiletisch eigentlich geschehen ist und also die Aufklärungspredigt auf ihre eigenen Möglichkeiten hin, nach ihrem theologischen Gehalt, ihrem Erfolg und ihrer Wirkung, aber auch nach ihren Grenzen und Schwächen zu befragen. In der vorliegenden Untersuchung will ich versuchen, am Beispiel Franz Volkmar Reinhards die Aufklärungspredigt unter diesen Gesichtspunkten zum Sprechen zu bringen. Daß es gerade Reinhard ist, der hier als Beispiel herangezogen wird, hat dabei zwei konkrete Gründe: Der eine, der hier jetzt freilich nur angedeutet werden kann, ist, daß Reinhard von allen deutschen Aufklärungspredigern deqenige war, der den größten Erfolg und die weitestreichende Wirkung gehabt hat. Kein deutscher Prediger der Aufklärungszeit ist ihm darin gleich- oder auch nur nahegekommen. Und zum anderen: Gerade über diesen Mann gibt es keine umfassende Gesamtdarstellung. Ja, man wird ohne Übertreibung sagen können, daß Reinhard heute im Grunde vergessen ist. Darum soll die vorliegende Untersuchung auch beides verbinden: Sie soll Reinhard möglichst umfassend erschließen, indem sie ihn aus seiner Zeit, aus seiner persönlichen Geschichte und aus seiner Eigenart heraus 5 H.-E. Bahr: „Verkündigung als Information. Zur öffentlichen Kommunikation in der demokratischen Gesellschaft". Hamburg 1968 S. 45f. 6 G. Otto: „Vernunft. Aspekte zeitgemäßen Glaubens". Stuttgart/Berlin 1970 S. 10.
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zum Sprechen bringt, sie soll ihn im Spiegel der Urteile, die über ihn abgegeben worden sind, wie im Lichte seiner Wirkungen zeigen. Sie soll aber gleichzeitig und darin ein Versuch sein, das Gespräch über die Bedeutung der Aufklärung für uns in dem Sinne weiterzuführen, daß sie am konkreten historischen Beispiel zeigt, was die Aufklärungspredigt tatsächlich zu leisten vermochte und was sie nicht leisten konnte. In diesem Verständnis ist es das Ziel dieser Untersuchung, die Möglichkeiten und die Grenzen der Aufklärungspredigt herauszuarbeiten.
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I. KAPITEL
Franz Volkmar Reinhard — der erfolgreichste Prediger der deutschen Aufklärung
1. Reinhards Erfolg Die Aufklärung hat eine ganze Reihe von bedeutenden Kanzelrednern hervorgebracht. Ich erinnere hier besonders an Joh. Friedrich Wilhelm Jerusalem (1709—1789) in Wolfenbüttel, an Joh. Joachim Spalding (1714-1804) und an Wilhelm Abraham Teller (1734-1804) in Berlin, an Georg Joachim Zollikofer (1730—1788), den Prediger der reformierten Gemeinde in Leipzig, Christoph Friedrich von Ammon (1766—1850) in Erlangen, Göttingen und Dresden, Gottlieb Marezoll (gest. 1828) in Jena, August Friedrich Wilhelm Sack (1703—1786) und dessen Sohn Friedrich Samuel Gottfried Sack (1738—1817), beide in Berlin, Johann Andreas Cramer (1723—1788) zuletzt in Kiel, Christoph Christian Sturm (1740-1786) zuletzt in Hamburg, Gottfried Less (1736-1797) in Hannover und an Joh. Georg Rosenmüller (1736—1815) in Meißen. Wenn man sie auch nicht als Aufklärungsprediger ansehen kann, so gehören sie doch zu den großen Predigern dieser Zeit, nämlich Joh. Gottfried Herder (1744-1803), Joh. Caspar Lavater (1741-1801) und der die Aufklärung schon wieder überwindende Schleiermacher. Derjenige von ihnen allen aber, der den größten Erfolg und die weitestreichende Wirkung als Prediger hatte, war Franz Volkmar Reinhard. Das gilt in doppelter Hinsicht: Einmal hatte er einen ganz ungewöhnlichen Hörererfolg, indem sich während der zwanzig Jahre, in denen er Oberhofprediger in Dresden war, an jedem Sonn- und Feiertag 3—4000 Menschen in die Predigt drängten, zum andern wurde er von anderen Predigern seiner Zeit ungewöhnlich häufig nachgeahmt. Kein Prediger zwischen 1795 und der Mitte der dreißiger Jahre des 19. Jahrhunderts ist über seinen eigentlichen Wirkungsbereich hinaus in ganz Deutschland so vielfältig kopiert und nachgepredigt worden wie er 1 . Dadurch ist natürlich 1
Die Belege finden sich in Kap. VII,3.
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sehr viel von seinem Geist und seiner Theologie in die Gemeinden gekommen und hat dort seine Wirkung getan. Seine allgemeine Wirkung unter den Predigern seiner Zeit liegt dabei auch über der von Herder und Schleiermacher, die als Theologen bedeutender, in ihren Wirkungen im 19. und 20. Jahrhundert weitreichender sind, an allgemeiner Wirkung aber in dieser Zeit hinter Reinhard zurückstehen. Die Frage drängt sich auf, was an diesem Mann so Beeindruckendes gewesen sein mag, das ihn seinen Predigthörern in Dresden und seinen predigenden Zeitgenossen darüber hinaus so anhaltend bewunderswürdig gemacht hat. Darüber hinaus stellt sich die Frage, wie es kommt, daß dieser Mann heute nahezu vergessen ist. Sein Name erscheint nur noch in einigen wenigen speziellen Untersuchungen. Im wesentlichen ist die Erinnerung an ihn auf Predigt-, Theologie- und Kirchengeschichten eingeschränkt, eine lebendige Beziehung zu ihm besteht nicht. Die Aufhellung des Schicksals dieses Mannes und seiner Predigt bedeutet zuletzt ein Stück Aufklärungsarbeit über die Aufklärungspredigt überhaupt, über ihre Möglichkeiten und Grenzen. Denn Reinhard ist mehr als nur irgendein Prediger seiner Zeit. Seine Name ist der glanzvollste Predigername des ausgehenden 18. und ersten Drittels des 19. Jahrhunderts. Wie ist es dazu gekommen, und was bedeutet das?
2. Biographische Daten 12.3.1753
Franz Volkmar Reinhard wurde als Sohn des Predigers Johann Stefan Matthias Reinhard und dessen zweiter Ehefrau Sophia Maria Johanna geb. Müller, Tochter des Predigers und Seniors Müller zu Selbitz bei Bayreuth, in Vohenstrauß im Herzogtum Sulzbach/Oberpfalz geboren. Der Vater hatte aus erster Ehe drei, aus zweiter Ehe zehn Kinder. Von diesen 13 Kindern starben neun im jungen Alter. Bis zum 16. Lebensjahr wurde Reinhard von seinem Vater unterrichtet.
6.10.1768
Tod des Vaters
April 1769
Tod der Mutter
Herbst 1768 bis Reinhard besucht das Gymnasium poeticum in RegensHerbst 1772 bürg 16
Winterhalbjahr 1772-1773
wird Hörer im Auditorium in Regensburg; das ist eine Art Voruniversität für die Absolventen des Gymnasiums, die von dessen Lehrern veranstaltet wurde
6. Sonntag nach Erste Predigt in Dietrichsdorf bei Wittenberg zur ErTrinitatis 1773 probung der Stimmkraft 1773-1776
Studium in Wittenberg. Die bevorzugten Lehrer waren Christian Friedrich Schmid (Prof. der Philosophie von 1771—1778) und später Johann Matthias Schroeckh (Prof. der Kirchengeschichte 1775-1808)
Ende 1777
Habilitation für Philosophie und Philologie
Ostern 1778
Beginn der philosophischen, philologischen und theologischen Vorlesungen Reinhard wird Baccalaureus der Theologie a.o. Prof. der Philosophie in Wittenberg
Nov. 1778 Juli 1780 14.10.1780
Nov 1782
Eheschließung mit der Witwe seines Lehrers Christian Friedrich Schmid, Christine Dorothea, geb. 27.4.1754, Tochter des Archidiakonus an der Nicolaikirche in Leipzig D. Matthesius Promotion zum Dr. theol.
Dez. 1782
Berufung zum o. Prof. der Theologie in Wittenberg unter Beibehaltung der a.o. Professur für Philosophie
Mariä Verkündigung 1784
Antrittspredigt als Propst an der Schloßkirche- und Universitätskirche in Wittenberg. Neben der akademischen Tätigkeit besteht nun auch die Verpflichtung, an allen Sonn- und Festtagen zu predigen. Gleichzeitig Ernennung zum Assessor am Konsistorium in Wittenberg
1788
Bewerbung auf einen theologischen Lehrstuhl in Leipzig schlägt fehl
1790
Ablehnung eines vom Herzog von Braunschweig ausgesprochenen Rufes nach Helmstedt
25.3.1792
Abschiedspredigt in Wittenberg
22.4.1792
Antrittspredigt als Oberhofprediger in der Sophienkirche in Dresden
11.12.1792
Tod von Christine Dorothea
27.2.1794
Zweite Eheschließung mit Ernestine, 1776 geborene Tochter des Freiberger Bergrates und späteren Berg-
2 Schott, Aufkläningspredigt
17
hauptmannes von Charpentier. Auch diese Ehe blieb kinderlos. Ernestine Reinhard war die Schwester der Braut von Novalis-Hardenberg Sommer 1808
Berufung zum Visitator der Universität Leipzig
1809
Reinhard lehnt den Ruf, den Wilhelm v. Humboldt im Namen Friedrich Wilhelms III. ausspricht, mit dem Titel eines Staatsrates in das preußische Kultusministerium einzutreten, ab
1809
Ernennung zum Vizepräsidenten des Dresdener Oberkonsistoriums
1810
Visitation und Revision der sächsischen Universitäten und Fürstenschulen durch Reinhard
6.9.1812
Sein Tod in Dresden
3. Die Quellen Im ganzen sind von Reinhard ca. 850 Predigten und Predigtentwürfe erhalten. Davon stammen mit Sicherheit 40 aus der Wittenberger, die übrigen wohl fast alle aus der Dresdener Zeit. Immer wieder sind Predigten auch einzeln gedruckt worden. Die meisten dieser Drucke sind aber heute nicht mehr greifbar. Die Forschung bleibt wesentlich angewiesen auf die vier großen Sammlungen, die von Reinhards Predigten gemacht worden sind, von denen aber keine das gesamte gedruckte Material enthält 2 . Trotz wiederholter Nachforschungen bei verschiedenen Bibliotheken der Bundesrepublik und der DDR lassen sich über die ersten beiden großen Ausgaben, die von 1795—1812 bei Seidel in Sulzbach erschienen sind, hinsichtlich der Bändezahl keine exakten Angaben machen, weil sie vollständig offensichtlich nicht mehr zu greifen sind und die Angaben der 2
Nicht erfaßt werden konnten die Predigten, die Reinhard damals im Predigermagazin veröffentlicht hat, weil es darüber keine Nachweise gibt. Lediglich aus der Vorrede in Band 1 des von Wilhelm Abraham Teller herausgegebenen „Neuen Magazin für Prediger" (10 Bände Züllichau und Freystadt 1 7 9 2 - 1 8 0 2 ) läßt sich erkennen, daß Reinhard hier auch veröffentlicht hat. Er blieb aber wie alle Verfasser anonym. Erst seit 1799 sind die Verfassernamen erkennbar, da ist Reinhard aber nicht mehr dabei. Mit Sicherheit läßt sich nur sagen, daß die Karfreitagspredigt in Band 2 (1793) S. 236ff von Reinhard ist. Sie ist dann wieder abgedruckt in der Reutlinger Ausgabe Band 1 S. 272ff.
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Kataloge auseinandergehen. Die Angaben gehen dahin, daß beide Ausgaben aus 34 oder 35 Bänden bestehen. Dabei wäre die erste dieser beiden Ausgaben als die Normalausgabe anzusehen. Hier werden die Predigten immer ein Jahr, nachdem sie gehalten wurden, veröffentlicht. Der erste Band trägt den Titel: „Predigten, im Jahr 1795 bey dem Churfürstl. Sächsischen Evangelischen Hofgottesdienste zu Dresden gehalten von D. Franz Volkmar Reinhard, Churfürstlichem Oberhofprediger, Kirchenrathe und Oberconsistoriali." Sulzbach 1796. Gleichzeitig mit ihr erschien in Nürnberg und Sulzbach die „Neue für Minderbegüterte veranstaltete Auflage" in kleinerem Format. Beide Ausgaben bringen nur die Predigten der Dresdener Zeit ab 1795, diese aber vollständig, wenn auch teilweise nur als Entwürfe. So sind für die Jahre von 1795 bis 1797 außer ausgeführten Predigten auch 88 Predigtentwürfe abgedruckt, die sich dann nicht in allen Ausgaben wiederfinden. Von 1815 bis 1821 erschien in Reutlingen eine neue 42 Bände umfassende Ausgabe, die von Hacker herausgegeben wurde. Diese Reutlinger Ausgabe erfaßt auch die von Reinhard selbst veröffentlichten Wittenberger Predigten, ferner die von Reinhard 1799 bei Göschen in Leipzig herausgegebene Sammlung „Predigten zur Schärfung des sittlichen Gefühls und der Aufmerksamkeit auf den Zustand des Herzens", weiter die Sammlung „Predigten über einzelne Theile der Lehre von der göttlichen Vorsehung", die er 1805 aus ungedruckten Predigten, die er zwischen 1792 und 1794 in Dresden gehalten hatte, zusammengestellt hatte, und schließlich eine Sammlung ungedruckter Predigten aus dem Nachlaß. Hacker hatte diese zuletzt genannten Predigten zuerst 1813 unter dem Titel „Predigten über die sonn- und festtägigen Evangelien des ganzen Jahres zur häuslichen Erbauung aus D. Franz Volkmar Reinhards hinterlassenen, noch ungedruckten Predigten gesammelt und herausgegeben" in 4 Bänden erscheinen lassen. Die 88 Entwürfe von 1795 bis 1797 dagegen fehlen. Trotzdem dürfte die Reutlinger Ausgabe die relativ umfassendste und wissenschaftlich brauchbarste Sammlung sein. Auch ist sie vollständig zugänglich. Aus diesen Gründen wurde hier nach dieser Ausgabe gearbeitet und zitiert, wobei die Normal-Ausgabe zur Ergänzung herangezogen wurde, was dann im einzelnen Fall ausdrücklich vermerkt worden ist. Schließlich erschien 1831—1836 in Sulzbach noch einmal eine „Neueste nach dem Originalmanuscript gedruckte Ausgabe" von 39 Bänden. Sie erfaßt in Band 1—35 die Predigten von 1795 bis 1812 und in Band 36—39 die eben erwähnten „Predigten . . . zur häuslichen Erbauung" nach der Edition Hackers. Diese Ausgabe ist vollständig zugänglich. Da 19
in sie aber die frühen Predigten, auch die inzwischen 1826 von Kenzelmann zusätzlich veröffentlichten Wittenberger Predigten und die separaten Sammlungen nicht aufgenommen sind, ist sie wissenschaftlich nicht so brauchbar wie die vorige. Die Beschaffung des übrigen wissenschaftlichen Schrifttums Reinhards bot keine besonderen Schwierigkeiten. Die größeren Werke sind z.T. in mehreren Auflagen greifbar und die kleineren lateinischen akademischen Schriften hat Pölitz bereits 1808 und 1809 in den 2bändigen Opuscula academica zusammengefaßt veröffentlicht. Darauf wurde hier zurückgegriffen. Die Liste der von Reinhard angeregten und unter seinem Präsidium verteidigten Disputationen und Dissertationen wurde über das, was Pölitz davon teilweise schon in den Opuscula academica veröffentlicht hatte, hinaus nach Möglichkeit vervollständigt. Diese Schülerarbeiten sind bei der Darstellung von Reinhards wissenschaftlichem Entwicklungsgang unter besonderer Kennzeichnung mit herangezogen worden, weil solche Arbeiten damals besonders für den Lehrer bezeichnend waren. Sie wurden damals in der Literatur z.T. sogar unter Reinhards Namen zitiert. Ebenfalls herangezogen wurden schließlich zwei Handschriften-Bände, die sich heute im Besitz des Predigerseminars in Wittenberg befinden. Sie geben den Teil der philosophischen Vorlesungen wieder, die Reinhard von 1783 bis 1786 in Wittenberg gehalten hat. Über das eigene homiletische und wissenschaftliche Werk hinaus besteht für eine Untersuchung über Reinhard eine große Menge an weiteren Quellen und weiterer Literatur. Sie ist hier möglichst umfassend zusammengetragen worden. Dabei ist es in einzelnen Fällen nicht möglich gewesen, in der Literatur zitierte Schriften zu erhalten, obwohl sie in ganz Deutschland gesucht worden sind. Die Fehlanzeige ist dann an entsprechender Stelle vermerkt. In das Literaturverzeichnis sind nachweislich verlorengegangene Schriften nicht mehr aufgenommen worden.
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II. KAPITEL
Die allgemeine Situation in Deutschland zwischen 1780 und 1813
Bevor wir uns nun Reinhard selbst zuwenden, wird es gut sein, zunächst einen allgemeinen Überblick über die Zeit zu geben, in der er gewirkt hat und aus der heraus seine Wirkung weithin überhaupt erst verständlich wird. Dieser Überblick soll hier in zwei Teilen versucht werden:
1. Die Herrschaft der aufgeklärten Weltanschauung Wenn man die geistig-weltanschauliche und politische Situation in Deutschland etwa zwischen 1780 und 1813 charakterisieren soll, dann wird man zunächst vor allem anderen darauf hinweisen müssen, daß in dieser Zeit die Aufklärung zur herrschenden Weltanschauung geworden ist. Das zeigt sich schon an der Sprache dieser Zeit. Es ist die Sprache der Aufklärung, der sich nur wenige Zeitgenossen ganz entziehen können. Im Grunde verrät die Sprache mehr als alles andere, daß das Herz dieser Zeit bei der Aufklärung schlägt. Aber was heißt Weltanschauung der Aufklärung? Man wird diesem Phänomen wohl am nächsten kommen, wenn man darunter einen etwas abgeflachten und abgeschliffenen Wolffianismus versteht. Christian Wolff war nun einmal der größte Aufklärungsphilosoph nach Leibniz, der aber an allgemeiner Breitenwirkung Leibniz deutlich überlegen ist. Er ist gewissermaßen der geistige Vater der herrschenden aufgeklärten Weltanschauung jener Zeit. Versucht man sie zu charakterisieren, dann ergibt sich etwa folgendes Bild: Das Fühlen und Denken der Menschen ist stark von der Erfahrung der Schöpfung her bestimmt. Die Physiko-Theologie, die sehr angesehen war und eine Fülle von Naturforschungen und -entdeckungen zur Folge hatte, hat auch gegen Ende des 18. Jahrhunderts noch einen durchaus populären Gottesbeweis hergegeben. Dabei sah man in der Schöpfung nicht 21
so sehr den gegenseitigen Kampf, sondern man verstand sie einseitig als wunderbare Ordnung und Harmonie. Man stellte Naturgesetze fest und erbaute sich an der Planmäßigkeit, die man in allem fand. Der Mensch nimmt dabei in der sichtbaren Schöpfung den ersten Platz ein; er ist eigentlich das größte Wunder, die Krone der Schöpfung, weil er die Vernunft besitzt, um alle diese Werke Gottes, diese Schönheit und ihre Regeln zu erkennen; weil er die Sprache besitzt, dieses Erkennen in Worte zu fassen, und einen Willen, um Konsequenzen für sein Leben daraus zu ziehen. So ist es denn auch ganz folgerichtig, wenn schon Christian Fürchtegott Geliert, der beliebteste Dichter der mittleren Aufklärung, ganz im Sinne dieses Empfindens sagen kann: „Der Mensch, ein Leib, den deine Hand so wunderbar bereitet, der Mensch, ein Geist, den sein Verstand, dich zu erkennen leitet, der Mensch, der Schöpfung Ruhm und Preis ist sich ein täglicher Beweis von deiner Gut und Größe." 1 Man muß allerdings sehen, daß der Mensch nur die Krone der sichtbaren Schöpfung ist. Der geheime Reiz der Kosmologie der Aufklärung besteht gerade darin, daß sie über das Diesseits ins Jenseits hinübergreift, indem die Aufklärer an eine unendliche Kette des Seins glauben, die sich vom anorganischen über das organische bis ins himmlische Leben erstreckt 2 . Der Glaube an die Unsterblichkeit der Seele und die Metaphysik der Zeit gehen hier in der Kosmologie eine geradezu materiehafte Verdichtung ein, die sich dann anthropologisch dahingehend auswirkt, daß der Mensch neben seiner Erhabenheit über die übrige Schöpfung, insbesondere die Tiere, zugleich als Geschöpf im Vorfeld der Ewigkeit angesehen wird, das schon hier für sein späteres Sein zu wirken bestimmt ist. Dabei ergibt sich dann von dieser kosmologischen Sonderstellung und Einbettung her für den Menschen die Aufgabe, sich immer mehr über das, was ihn an die übrige Schöpfung bindet und was er mit ihr gemeinsam hat, zu erheben. Immer mehr soll er sich über das Tierische, das ihm noch teilweise anhaftet, hinausentwickeln und emporbilden zu Gott. Das geschieht dadurch, daß er die tierischen Triebe in sich bekämpft und unter die Leitung der Vernunft stellt. Damit ist dann aber an dieser Stelle das kosmologische Denken der Aufklärer schon übergegangen in das moralische, für das die positive Überzeugung kennzeichnend ist, daß der Mensch aufgrund seiner ihm von Gott gegebenen Vernunft und Freiheit wirklich in der Lage ist, seine 1
Strophe 5 des Liedes „Wenn ich, ο Schöpfer, deine Macht . . . " Evangel. Kirchengesangbuch, Ausgabe für die ev. Kirche in Hessen und Nassau Nr. 473. 2 Einige Belege dafür bietet Wolfgang Philipp: „Das Zeitalter der Aufklärung". In: Klassiker des Protestantismus Band VII. 1963 S. LXXVIff.
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irdisch-tierhaften Triebe und seine Neigungen, d.h. seine Sinnlichkeit, die dann auch als der Sitz des Bösen in ihm, das ihn überwältigen und niederziehen will, verstanden wird, niederzuhalten und zu beherrschen. Dabei hilft ihm auch die Religion und nicht nur sie allein. Denn auch der Aufblick zu vollendeten und tugendhaften Menschen, etwa zu Sokrates, der für viele das große Vorbild eines wahrhaft Weisen ist, der sich aus natürlicher Vernunft und Sittlichkeit gebildet hat, hilft im moralischen Kampf um die eigene Versittlichung. Aber wiederum doch auch die christliche Religion. Sie zeigt in Jesus den eigentlichen, von Gott gemeinten Menschen, den wahrhaft tugendhaften, dem wir ähnlich werden sollen. Diese Offenbarung des wahren Menschseins, wie sie uns die Bibel zeigt, stimmt mit den Anlagen der menschlichen Natur und mit dem inneren und eigentlichen Streben der Sittlichkeit und Vernunft überein. Die Offenbarung, in der uns Gott das Zielbild und Vorbild unseres sittlichen Strebens vor Augen hält, und unsere Natur und Vernunft stehen so in vollkommener Harmonie. Darum besteht auch zwischen Sokrates und Jesus eine große Ähnlichkeit. Jesus trägt in dieser Zeit die Züge des Sokrates und umgekehrt. Durch das Aufzeigen dieses Jesus als des Vorbildes und Lehrers wahren Menschseins kommt Gott dem Menschengeschlecht zu Hilfe. Er zeigt ihm einen Weg und weist seinem sittlichen Streben die Richtung. Das ist Gnade, begründet in dem göttlichen Erziehungswillen, durch den Gott die Menschheit langsam und in einem fortschreitenden Prozeß auf die von Anfang an von der Schöpfung her gemeinte Höhe führt. Lessing hat diesen Gedanken von dem zielstrebigen pädagogischen Handeln Gottes dem allgemeinen Denken der Zeit durch seine Schrift „Erziehung des Menschengeschlechts" von 1780 unübersehbar eingeprägt und damit den herrschenden Wolffianismus um ein wesentliches Moment bereichert. Gott ist jetzt nicht allein der Garant der Weltordnung, sondern auch der weise Erzieher des Menschengeschlechts, der die Menschheit von Stufe zu Stufe ihrer geistigen Höherentwicklung führt. Mittel sind ihm dabei die Offenbarungen im Alten und Neuen Testament, die den jeweiligen Erkenntnisstufen der Menschheit angepaßt und angemessen sind und nach Wolff auch sein müssen. Die Mitwirkung, die Kooperation an dieser Höherentwicklung der Menschheit ist aber auch Sache jedes einzelnen Menschen. Sie ist nicht allein Gottes Sache; die Menschen sollen aktiv an ihr teilnehmen und sich in ihren Dienst stellen. Dem Fortschritt der Menschheit haben die Aufklärer darum alle, jeder auf seine Weise und an seiner Stelle, dienen wollen. Sie alle waren keineswegs bloße Betrachter der Entwicklung, son23
dem immer auch zugleich ihre Beförderer. Beförderer, die den Einzelnen und die Menschheit in gleicher Weise und zusammen im Auge haben. Das eine besteht nicht ohne das andere. Schon Leibniz hatte nicht nur die Pflichten des Einzelnen gegen sich selbst beschrieben, sondern zugleich auch die Pflichten des Menschen gegen die Mitmenschen, ja, gegen die Mitgeschöpfe überhaupt und gegen Gott und sie vom Schöpfer her im Rahmen der sittlichen Weltordnung als zusammengehörend und innerlich verbunden verstanden. Dieser Zusammenhang der Pflichten wird über Wolff zu einem allgemeinen Gedankengut der aufgeklärten Weltanschauung. Darum gilt, daß der Einzelne dort dem Willen Gottes gemäß, und das heißt seiner Bestimmung gemäß, nämlich moralisch handelt, wo er seiner sittlichen Natur, Anlage und Vernunft entspricht. Auf diese Weise erfüllt er in der Hineingebundenheit in die Menschheit seine Pflichten gegen sich, die Mitmenschen und Gott. Vernünftiges, moralisches, gutes, für die Umwelt nützliches und pflichtmäßiges Handeln ist identisch. Es bewirkt im Bewußtsein und Leben des Handelnden einen Zustand der Zufriedenheit, des guten Gewissens, der Glückseligkeit. Tugend und Glückseligkeit gehören darum für die Aufklärung innerlich zusammen. Und darum ist die Moralvorstellung der Aufklärung auch schon in der Aufklärung selbst immer wieder als eine Art Glückseligkeitslehre beschrieben worden, als der Weg zum Glück und zur Zufriedenheit. Sie hatte tatsächlich etwas Eudämonistisches und Nützlich-Zweckhaftes, etwas von der Überzeugung, daß sich Sittlichkeit — für alle — lohnt. Der Optimismus aller dieser Vorstellungen ist deutlich. Er besteht darin, daß das Böse, dessen Vorhandensein man durchaus nicht leugnet, in seiner Tiefe und Rätselhaftigkeit nicht so ernst genommen wird, daß durch sein Vorhandensein die Harmonie der Welt als ernsthaft gefährdet oder gar gestört empfunden wird. Die Welt, vom Standpunkt der aufgeklärten Weltanschauung her gesehen, ist schön, die beste aller denkbaren, tendenziell vollkommen. Und wo sie es nicht ist, muß man an ihrer Vervollkommnung und Höherentwicklung arbeiten. Darum setzen die Aufklärer alles daran, daß sie ihre Pflichten erkennen und danach handeln können. Deshalb ihr Kampf gegen Vorurteile und Aberglauben, deshalb ihr Bemühen um Aufklärung auf allen Gebieten des Lebens, ihr Streben nach Licht, der Einsatz bei der Erziehung und Bildung der Jugend (Pestalozzi, Basedow, die Philantropinisten) und des einfachen Volkes, das Streben nach geistig-sittlicher Weiterbildung und Vervollkommnung (Freimaurer· Logen), die Hoffnung, die Menschen zu brauchbaren Gliedern der Gesellschaft zu machen, und der alles tragende Glaube, daß dieses alles durch Aufklärung möglich ist. Sie sehen die Hindernisse für Tugend, 24
Brauchbarkeit und Glück wesentlich in der Unwissenheit, in Vorurteilen, im Aberglauben und glauben daran, daß der Mensch, wenn er nur hinreichend aufgeklärt ist, auch seine Pflicht tun und glücklich werden wird. Dieser Weltanschauung entspricht ein Menschentum, das es erst von jetzt ab als neuen Typ gibt: der Bürger. Er ist der neue Mensch, den gerade die evangelischen Prediger in den Städten in ihren Predigten und zahllosen Erziehungs- und Bildungsromanen aus dem religiös-sittlichen Geist der aufgeklärten Weltanschauung heraus bilden und prägen. Niemals mehr haben die evangelischen Theologen einen solchen durchschlagenden sozial-ethischen Erfolg gehabt. Sie eigentlich haben das Bild des Bürgers geprägt 3 . Es ist der tugendhafte, praktisch-tüchtige, nüchterne, gottesfürchtige, strebsame und zugleich sozial verantwortlich denkende Bürger des Mittelstandes, der ihnen als der wahre, von Gott gemeinte Mensch und Christ vorschwebt und dem sie sich selbst verbunden wissen. Es ist das Bild eines Menschentums, das sich bewußt ist, nicht zum Bauernstand, aber auch nicht zum Herrenstand zu gehören, und das sein neues Selbstbewußtsein in der Ausbildung einer neuen bürgerlichen Kultur und Ehre, in einem neuen bürgerlichen Ordnungssystem abgrenzt und ausdrückt, dessen Säulen Leistung, Arbeit und Pflicht sind. Oben ist gesagt worden, daß die herrschende Weltanschauung der Aufklärung im ausgehenden 18. und beginnenden 19. Jahrhundert als ein abgeflachter, abgeschliffener Wolffianismus beschrieben werden muß. Diese Aussage muß jetzt dahingehend präzisiert werden, daß deutlich wird, was von Wolffs Philosophie abgeschliffen worden ist. Man kann sich das dadurch klarmachen, daß man sich vor Augen hält, daß Wolff im Gefolge von Leibniz einen strengen Determinismus vertreten hat. Wolff ging mit Leibniz davon aus, daß der Schöpfer die Welt so eingerichtet hat, daß nichts in ihr ohne einen zureichenden, Wirkung und Folge begründenden Grund geschieht. Alles in der Welt, einschließlich des seelischen Geschehens bei den einzelnen Menschen (Monaden), läuft nach Gesetzen und Regeln ab, die der Weltenbaumeister von Anbeginn 3
Cf. hierzu besonders: Alexandra Schlingensiepen—Pogge: „Das Sozialethos der lutherischen Aufklärungstheologie am Vorabend der Industriellen Revolution". Göttingen, Berlin, Frankfurt 1967. — Diese Arbeit stellt eine Ergänzung nach der lutherischen Seite hin und eine Kritik an der Einseitigkeit der These von Max Weber dar, wonach vor allem der Calvinismus dem Kapitalismus den Weg bereitet hat. Cf. Max Weber: „Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus". In: Ges. Aufsätze zur Religionssoziologie Bd. 1. 4. Aufl. Tübingen 1947. Und: „Die protestantischen Sekten und der Geist des Kapitalismus". Ges. Aufsätze Bd. 4.
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bestimmt hat, und die wiederum der Grund dafür sind, daß alles in seiner Ganzheit und Gesamtordnung funktioniert. Dieses Funktionieren ist somit begründet in der von Gott geplanten, vollkommen eingerichteten prästabilisierten Harmonie aller ihrer Teile. Diese lassen darum, konsequent gedacht, auch keine Ausnahmen, Wunder oder andere Regellosigkeiten zu. Alles Geschehen, einschließlich des menschlichen Willens, ist gesetzlich geregeltes, determiniertes Geschehen, aus dem es kein Entfliehen gibt. Dieser schroffe Determinismus ist im Denken der meisten Zeitgenossen nur verblaßt zur Wirkung gekommen, indem sie philosophisch unscharf einen gewissen Determinismus als Glauben an die natürliche und sittliche Weltordnung mit dem Pathos der moralischen Freiheit verbanden. In diesem Sinne ist eingangs von einem abgeflachten Wolffianismus gesprochen worden. Er hat damals in der Allgemeinheit geherrscht. Aber der Wölfische Determinismus hat nicht nur diese allgemeine verharmloste Wirkung gehabt. Er hat auch das moderne naturwissenschaftliche Denken mit heraufführen helfen, das überall nach mathematischmechanischen Regeln suchte und überhaupt dem Seelenlos-Formalen und Mechanisch-Technischen im Denken mancher Gebildeten Vorschub geleistet hat. Gegen dieses Denken, das zugleich die Voraussetzung für die heraufziehende industrielle Revolution ist, ist denn auch von verschiedenen Seiten angekämpft worden. So war es zunächst eine Reihe von Theologen und Philosophen, die Wolff wegen seines Determinismus schon zu seinen Lebzeiten bekämpft haben und dann sogar seine zeitweilige Vertreibung aus Halle durchsetzen konnten. Der wohl umfassendste und großlinigste Gegner Wolffs aber war der Leipziger Theologe Christian August Crusius (1715—1775). Er vertritt eine biblisch-realistische Schau der Heilsgeschichte, die nach ihm geradlinig und planmäßig von den Propheten bis zum 2000jährigen Reich Gottes auf Erden verläuft, und zugleich eine biblisch-realistische Kosmologie, die die himmlische und irdische Welt als Teile des einen Gottesreiches begreift. Crusius nun hat gegen Wolffs Determinismus die menschliche und göttliche Freiheit zu verteidigen gesucht 4 . Seine wichtigsten Argumente waren: Gott wäre nicht vollkommen, wäre er nicht frei von den durch ihn geschaffenen Gesetzen, und der Mensch wäre nicht von Gott auf Vollkommenheit hin angelegt, wäre er nicht frei angelegt (Teleologischer BeCf. hier zum Folgenden Anton Seitz: „Die Willensfreiheit in der Philosophie des Chr. Aug. Crusius gegenüber dem Leibniz—Wolff'schen Determinus in historischpsychologischer Begründung und systematischem Zusammenhang. Historisch-philosophische Studie". Würzburg 1899. Besonders S. lOOff.
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weis). Sodann: Der Determinismus hebt die Verantwortlichkeit des Menschen auf. Denn wie soll dem Menschen Schuld, Verdienst, Lohn und Strafe zugerechnet werden, wenn er nicht die Freiheit des Willens hat? (Ethischer Beweis). Und schließlich: Dem Determinismus widerspricht die praktische Erfahrung des Menschen, der sich seiner Freiheit im Vorstellen, Denken und Handeln ständig bewußt wird und ist. (Psychologischer Beweis). Das Hauptgewicht legt Crusius auf diesen letzten Beweis. Er, der 1775 hochgeehrt starb, wirkte auch nach seinem Tode noch nach, auch wenn es ihm nicht gelungen war, den Wolffianismus zu überwinden und sein biblisch-realistisches System durchzusetzen. Das ist wiederum auch darauf zurückzuführen, daß Crusius vielfach als schwer verständlich, ja als dunkel empfunden wurde und gegen die bestehende Präzision und die mathematische Klarheit eines Wolff nicht ankam. Gegen das umsichgreifende deterministisch-mechanistische Denken besonders in den Naturwissenschaften hat aber auch Goethe sich mit seinen naturwissenschaftlichen Forschungen gerichtet. Sie zielen auf eine nicht-mechanistische Gesamtschau der Urphänomene der Natur, auf eine Lebensschau, und möchten ihr einen Weg bereiten helfen. Schließlich muß in diesem Zusammenhang auch der spätere „Patriarch der Erweckung" Johann Heinrich Jung-Stilling (1740—1817) genannt werden 5 , der, darin stellvertretend für alle Pietisten und Stillen im Lande empfindend, durch die Begegnung mit dem Wölfischen Determinismus in seinem Glauben tief angefochten wurde. Er vermochte die Gewißheit des Glaubens, die in ihm lebte, die Gewißheit der ganz persönlichen, z.T. wunderbaren Führung seines Lebens durch Gott, die Freiheit Gottes und den Sinn des Betens nicht mit der mechanistischen Gottes-, Weltund Lebenssicht zu vereinbaren. Ohne selbst den deterministischen Zwang überwinden zu können, hat ihm der Rekurs auf die wunderbaren Führungen seines eignen Lebens die Kraft gegeben, an dem Glauben eines freien göttlichen Waltens, in dem sich der Mensch geborgen wissen darf, festzuhalten. Jung—Stilling hat so versucht, die persönliche Erfahrung des Glaubens gegen den Determinismus zu stellen und ist damit in seiner Zeit zum Vertreter einer Theologie der Providentia specialissima geworden. Um sie zu veranschaulichen, veröffentlichte er zwischen 1777 und 1817 in sechs z.T. zeitlich weit auseinanderliegenden Teilen seine Lebensgeschichte.
5 Cf. zum Folgenden Max Geiger: „Aufklärung und Erweckung. Beiträge zur Erforschung Joh. Heinrich Jung-Stillings und der Erweckungstheologie". Zürich 1963, bes. S. 443ff.
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Alle diese Richtungen — die von Crusius repräsentierte, aber auch die naturwissenschaftliche Richtung Goethes oder die Richtung Jung—Stillings wie überhaupt der Pietismus — sind damals nicht herrschend geworden und haben sich breit nicht durchsetzen können. Sie sind Nebenströmungen geblieben. Herrschend war die Weltanschauung der von Wolff bestimmten Aufklärung, die vornehmlich die Weltanschauung des Bürgertums in den mittleren und größeren Städten war. Aber diese Weltanschauung ist, trotz ihrer Herrschaft, in der Krise. Sie herrscht, auch abgesehen von diesen Nebenströmungen, nicht mehr unangefochten. Davon wird nun zu berichten sein.
2. Die Krise der aufgeklärten Weltanschauung Ein erstes Krisensymptom dieser Zeit, das hier erwähnt werden muß, ist die Tatsache, daß sich jetzt zunehmend auch Stimmen zu Wort melden, die den allgemeinen Glauben der Aufklärung an ihre eigene Fortschrittlichkeit in Zweifel ziehen. Es sind Stimmen von Leuten, die sich selbst der Aufklärung verpflichtet wissen, die aber nicht mehr so recht davon überzeugt sind, daß die Aufklärung nur Positives gebracht hat, nur Segen und Fortschritt. Der rheinische Pfarrer Johann Wilhelm Reche z.B. unterscheidet in seinen Schriften 6 jetzt kritisch zwischen „wahrer" und „falscher" Aufklärung. Für ihn oder auch für Christian Friedrich Reinicke 7 ist Aufklärung zu einem ambivalenten Begriff geworden. So etwa vermag Reche nicht einzusehen 8 , warum man die Mode, oberflächliche Romane oder Theaterstücke zu schreiben und zu lesen, für einen echten Fortschritt der allgemeinen Bildung ansehen kann; oder wie die Verbreitung von Wissen und Kenntnissen, mit denen viele gar nichts anfangen können, nutzbar sein soll; oder wie es als Fortschritt vermerkt werden kann, daß der an sich berechtigte Kampf gegen den Aberglauben nun zur Aufkündigung des echten und wahren Glaubens an Gott führt und an die Stelle größerer Selbstverantwortung und Freiheit in Religionsdingen eine immer stärkere Unkirchlichkeit tritt. An solchen Beispielen 6
Johann Wilhelm Reche: „Neuer Versuch über die Grenzen der Aufklärung". Düsseldorf 1789 und: „Vermischte Papiere zur Beförderung wahrer Aufklärung". 1. Teil Düsseldorf 1790. 7 Christian Friedrich Reinicke: „Über die Gränzlinien der Aufklärung, Berlin 1788. 8 Cf. hierzu meinen Beitrag: „Gränzen der Aufklärung". In: Deutsches Pfarrerblatt 1971 Nr. 9 Sp. 279ff, in dem ich Reches Position dargestellt habe.
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wird deutlich, daß die Aufklärung von manchen Zeitgenossen nicht mehr ausschließlich positiv angesehen wird. Man erkennt auch Fehlentwicklungen, Ubersteigerungen, Verirrungen. Das trägt zu seinem Teil an der Erschütterung des selbstverständlichen Fortschrittsglaubens und -Bewußtseins der Aufklärung bei. Es führt zu Zweifeln an der Aufklärung und zur Kritik an ihr. Dabei ist es sicher kein Zufall, daß Reche und Reinicke Pfarrer sind. Den Theologen wird die Aufklärung hinsichtlich der Kirchlichkeit des Volkes überhaupt zunehmend problematisch. Die Entwicklung, die sich hier abzeichnet, können sie, auch wenn sie sich selbst als Aufklärer verstehen, kaum gutheißen. So klagt etwa Christoph Friedrich von Ammon in einer Predigt vom 1.1.1801 in Göttingen: „Nicht genug, daß die Tempel verlassen stehen, nicht genug, daß die gottesdienstlichen Gebräuche und Handlungen, welcher die Menschen als sinnliche Wesen nie werden ganz entbehren können, mehr als jemals an der allgemeinen Teilnahme verloren haben; nicht genug endlich, daß der kirchliche Gemeingeist der Christen, der sonst Heere bekämpfte und die Gewalt der mächtigsten Staaten besiegte, beinahe ganz verschwunden ist: auch der Glaube an die wesentlichsten Wahrheiten der Religion hat für unendlich viele seine Gewißheit und Stärke verloren. Zweifelsucht und Gleichgültigkeit sind häufig an seine Stelle getreten, der Geist der Andacht und des Gebetes, ja selbst der Gedanke an Gott und eine künftige Welt ist ganzen Familien und Gesellschaften fremd geworden, und die gegenwärtige sinnliche Stimmung der Gemüter würde nur noch ein Jahrzehnt fortdauern dürfen, um das ganze künftige Geschlecht dem namenlosen Elend preiszugeben, daß von einem herrschenden religiösen Unglauben unzertrennlich ist." 9 Solche Klagen lassen sich auch durch Zahlen belegen: So sank etwa in dem Jahrzehnt zwischen 1790 und 1800 die Zahl der Abendmahlsgäste z.B. im Oldenburgischen zwischen 40 und 50 Prozent, z.T. wie in Nürnberg sogar noch stärker 10 . Auch für Dresden ist der Rückgang der Zahlen für Abendmahlsgäste und der Kollektengelder, der wiederum auf den Rückgang der Kirchenbesucher schließen läßt, belegt 11 . An solchen Erscheinungen wird deutlich, daß die Aufklärung, die ursprünglich gerade von 9
Zitiert bei Reinhold Seeberg: „Die Kirche Deutschlands im neunzehnten Jahrhundert. Eine Einführung in die religiösen theologischen und kirchlichen Fragen der Gegenwart". 4. Aufl. von „An der Schwelle des zwanzigsten Jahrhunderts". Leipzig 1903 S. 3. 10 Genaue Statische und exakte Zahlenangaben bringt: Fritz Valjavec: „Geschichte der abendländischen Aufklärung". Wien und München 1961 S. 349f. 11 Cf. Paul Flade: „Das kirchliche Leben Dresdens im Zeitalter des Rationalismus". In: Dresdener Geschichtsblätter 1902 Nr. 3 S. 119.
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den evangelischen Predigern und deren Söhnen getragen wurde, nun eine Richtung nimmt, die von ihnen nicht beabsichtigt war und nicht gutgeheißen wird. Das ist eine krisenhafte Erscheinung. Kritik an einzelnen Folgeerscheinungen der Aufklärung wird aber nicht nur von Männern geübt, die sich ihr verbunden wissen und im großen ganzen sich trotz ihrer negativen Seiten weiter zu ihr bekennen. Kritik wird zu jener Zeit auch von Regierungsstellen geübt, denen das allgemeine Umsichgreifen aufgeklärten Denkens unerwünscht ist. Denn es läßt sich nicht absehen, wohin diese Entwicklung staats- und kulturpolitisch führt. Sie kritisieren die Aufklärung auch von ihren Folgen her, da sich eine starke Liberalisierung der Beziehungen des öffentlichen und privaten Lebens abzeichnet. Diese Kritiker treten nicht als Freunde wahrer Aufklärung auf. Ihr Ziel ist es, die Aufklärung und überhaupt die mit ihr verbundene geistig-politische Entwicklung unter die Kontrolle des Staates zu bringen. Ihr Interesse ist primär ein politisches. So ist es zu verstehen, daß ein J a h r vor Ausbruch der Französischen Revolution, 1788, in Preußen, das unter Friedrich dem Großen noch das Kernland der Aufklärung war, das Woellnersche Religionsedikt erlassen werden konnte 1 2 . Es ist in seinem Kern der Versuch der preußischen Staatsregierung, die weltanschaulich-politische Entwicklung durch Reglementierung der Lehrer, der Geistlichen und der Professoren in den Griff zu bekommen. Daß ihm schließlich kein Erfolg beschieden war, zeigt, wie stark der Zeitgeist von der Aufklärung bestimmt war. Es wird aber durch diesen Versuch auch deutlich, daß die Aufklärung nicht mehr unangefochten das geistige Klima dieser Jahre bestimmt. Auch das Hereinbrechen der kritischen Philosophie — Kants Hauptschriften erscheinen 1781—1793 — mit ihren Folgen trägt bedeutend zur Krise der aufgeklärten Weltanschauung bei. Denn diese Philosophie bedeutet nur auf der einen Seite die bestätigende Anwendung wesentlicher Grundeinsichten der Aufklärung. Auf der anderen Seite bedeutet sie auch die Kritik der bisherigen Aufklärung und ihre Sprengung. Diese doppelte Bedeutung der kritischen Philosophie Kants als Anwendung und zugleich als Kritik und Überwindung der bisherigen Aufklärung sehe ich in drei Momenten besonders deutlich gegeben: Einmal muß man sehen, daß Kant ganz selbstverständlich die allgemeine Meinung der Aufklärung teilt und voraussetzt, daß die Vernunft der eigentliche Maßstab des Urteilens und Handelns sein soll. Gerade diese 1 2 Fritz Valjavec: „Das Woellnersche Religionsedikt und seine geschichtliche Bedeutung". In: Historisches Jahrbuch der Görres-Gesellschaft 72. Jahrgang 1 9 5 3 .
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grundlegende Auffassung der Aufklärung, die für Kant dann auch ihre moralisch verpflichtende Bedeutung hat, führt ihn zu der Untersuchung der Reichweite bzw. der Voraussetzungen und Möglichkeiten des Erkennens der Vernunft. So entsteht sein erstes großes Werk der kritischen Periode, die „Kritik der reinen Vernunft". Sie bedeutet, daß die Vernunfterkenntnis für ihren Bereich nach ihren Möglichkeiten und Voraussetzungen kritisch abgesteckt wird, aber — und darin liegt die kritische Sprengkraft dieser Untersuchung — eben nur in ihrem Bereich, das heißt in dem Bereich der Erfahrung. Alle nicht-erfahrungsmäßig, nicht-empirisch begründeten Aussagen der Philosophie verfallen damit dem Urteil der Überschreitung der Grenze, die unserm Vernunfterkennen gesetzt ist. Folgerichtig geht Kant über zur Kritik der Metaphysik überhaupt. Damit bricht das philosophisch-wissenschaftlich-theologisch gezimmerte Weltbild der Aufklärung zusammen. Die Vernunft wird voll in ihre Rechte eingesetzt, das ist die Bestätigung der Aufklärung und ihre Anwendung, und doch zerbricht darüber die wissenschaftliche Begründung von Religion und Sittlichkeit der Aufklärung. Das ist ein Moment der Krise. Dabei ist Kant aber so konsequent kritisch in der Begrenzung der Reichweite der Vernunfterkenntnis, daß er erkenntnistheoretisch die Möglichkeit Gottes — er spricht vom Reich des Intelligiblen und vom Ding an sich — nicht ausschließt und prinzipiell verneint, sondern als Frage und Geheimnis offenstehen läßt und zugleich aus praktisch-moralischen Gründen Gott postuliert. Diese offenen Möglichkeiten haben dann als Eingeständnis der Grenzen der Vernunft und als Möglichkeiten für das positive Christentum eine bedeutende Rolle gespielt. Auf jeden Fall hat, um das hier gleich anzufügen, etwa Jung-Stilling gerade die erkenntnistheoretisch begründete Selbstbegrenzung der Vernunft als eine wahre Befreiung von seinen Glaubenszweifeln tief begrüßt, weil sie ihm die Möglichkeit bot, den Wölfischen Determinismus als eine die uns gezogenen Grenzen überschreitende und darum durchaus nicht verbindliche Vorstellungsart zu durchschauen 13 . Auch an einer anderen Stelle bedeutete das Hereinbrechen der Kantschen Philosophie Bestätigung und Sprengung der aufgeklärten Weltanschauung, nämlich ihrer Moralvorstellung. Kant teilt auch hier die allgemeine Auffassung der Aufklärung, daß der Mensch aus Pflicht in Ubereinstimmung mit seinem Schöpfer handeln soll. Allein Kant gibt dieser Ansicht eine neue Wendung. Er versteht die Pflicht nicht mehr als ein Handeln gemäß der vernünftig sittlichen Natur des Menschen, das sich dann für den Einzelnen wie für die Allgemeinheit positiv auswirkt und auswirken soll, 13 Max Geiger a.a.O. S. 497ff.
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sondern als ein Handeln aus „Achtung fürs Gesetz" 14 , das sich unableitbar und dennoch klar vernehmbar im menschlichen Gewissen findet. An die Stelle der kosmologisch eingebetteten, auf die sittliche Natur des Menschen gegründeten Moral der Aufklärung tritt bei Kant eine Gehorsamsethik, die den Gehorsam gegen das Gesetz in mir bzw. den Willen zum Gehorsam gegen das Gesetz in mir zum alleinigen Maßstab der Sittlichkeit macht. Nicht mein Wohl, mein Glück oder das Glück anderer, meine Zufriedenheit, meine Lust oder die Neigung meiner Natur dürfen nach Kant Maßstab des sittlichen Handelns sein, sondern allein die Pflicht, die Gesinnung gegenüber dem moralischen Gesetz, der gute Wille. Darum beginnt Kant den ersten Abschnitt zur „Grundlegung der Metaphysik der Sitten" von 1785 mit dem berühmt gewordenen Satz: „Es ist überall nichts in der Welt, ja überhaupt auch außer derselben zu denken möglich, was ohne Einschränkung für gut könnte gehalten werden, als allein ein guter Wille." 15 Und etwas später heißt es erläuternd dazu: „Der gute Wille ist nicht durch das, was er bewirkt oder ausrichtet, nicht durch seine Tauglichkeit zur Erreichung irgend eines vorgesetzten Zweckes, sondern allein durch das Wollen, d.i. an sich gut und für sich selbst betrachtet, ohne Vergleich weit höher zu schätzen als alles, was durch ihn zu Gunsten irgend einer Neigung, ja wenn man will der Summe aller Neigungen, nur immer zustande gebracht werden könnte." 1 6 Damit hat die Nützlichkeits- bzw. Zweck- und Tugendethik, die gesamte so tief in den Grundgedanken der Aufklärung verursachte Morallehre der Zeit eine Kritik erfahren, die im Grunde besagt, daß sie keine wirkliche Sittlichkeit ist. Das hat zur Krise der aufgeklärten Moral beigetragen, auch wenn Kant hier durchaus auch widersprochen worden ist, selbst von Männern, die ihm innerlich nahestanden. Ich erinnere nur an das Distichon Schillers: „Gerne dien' ich den Freunden, doch tu ich es leider mit Neigung, und so wurmt es mir oft, daß ich nicht tugendhaft bin." 1 7 Aber dieser und auch der Widerspruch anderer Zeitgenossen kann nicht darüber hinwegsehen lassen, daß Kant auch hinsichtlich des ethischen Denkens eine die allgemeinen Vorstellungen der Aufklärung sprengende Bedeutung hat. Das gilt schließlich auch hinsichtlich des Verhältnisses von Vernunft und Offenbarung bzw. von natürlicher Religion und positivem geschichtlichem 14
In der „Grundlegung der Metaphysik der Sitten gibt Kant die Definition: „Pflicht ist die Notwendigkeit einer Handlung aus Achtung fürs Gesetz". I. Kant: Werke in sechs Bänden. Herausgegeben von Wilhelm Weischedel. Bd. IV S. 26. is Ebd. S. 18. 1« Ebd. S. 19. 17 Schiller in dem Gedicht: „Die Philosophen" in Schillers Werke, bearbeitet und herausgegeben von Chr. Christiansen. Bd. 11. Hamburg 1925 S. 157.
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Christentum. Das allgemeine Denken der Aufklärung war ja auch in diesem Punkte dahingehend vom Wolffianismus geprägt, daß man meinte, Vernunft und natürliche Religion bestätigen eigentlich die Offenbarung und das Christentum. Gerade in dieser Zustimmung der Vernunft zu den geoffenbarten Wahrheiten sah man den entscheidenden Vernunftbeweis für das Christentum. Umgekehrt setzt danach aber auch die Offenbarung die natürlich-religiös-sittlichen Erkenntnisse der Vernunft voraus, knüpfte an sie an und bestätigte sie. Vernunft und Offenbarung, Offenbarung und Vernunft stützten sich gegenseitig in einer vollkommenen Harmonie. Sie wurde durch Kant gesprengt, indem er die Vernunft für den Maßstab erklärte, an dem sich Offenbarung und Christentum messen lassen müssen. Das heißt: Nach Kant können Christentum und Offenbarung nur so lange und so weit Anrecht auf Geltung beanspruchen, als sie sich vor der Vernunft ausweisen können, wie sie vor ihr bestehen und ihr zu ihrem eigenen, dem reinen, moralischen Vernunftglauben verhelfen können. Die Offenbarung ist nicht Selbstzweck, sondern steht im Dienst der Ausbildung der reinen moralischen Vernunftreligion. Diese ist das eigentliche Ziel der Religionsgeschichte. Die Harmonie, die bis dahin zwischen Philosophie und Theologie geherrscht hatte, erhielt damit durch Kant einen sie sprengenden Akzent in Richtung auf eine reine moralisch-philosophische Vernunftsreligion. Schon im Titel von Kants religionsphilosophischer Hauptschrift „Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft" von 1793 spricht sich diese Wende klar aus. Sie ist, wie Emanuel Hirsch sagt, der Schritt in einen „echten, rein gezüchteten Rationalismus" 18 , der die bisherige Harmonie von Vernunft und Offenbarung hinter sich läßt und kritisch aufhebt. Während Kant mit der herrschenden Weltanschaung der Aufklärung immer noch in einer starken Verbindung steht, auch dort wo er über sie hinausgeht, haben Fichte, Schelling und der junge Hegel unter Aufnahme Kant'scher Prinzipien die allgemeine Aufklärung noch weiter hinter sich gelassen und nun auch über Kant hinaus das Ziel, alles Erkennen ganz vom Objektiven zu lösen und ausschließlich im Ichbewußtsein zu verankern. In diesem Sinne ist der Deutsche Idealismus ein konsequenter Transzendentalismus, der mit seinen Entwürfen eine Herausforderung für die herrschende allgemeine Aufklärung bedeutet. Es sei hier nur an Fichtes Atheismusstreit erinnert. Damit gehört aber auch der Deutsche Idealismus in die Reihe der geistigen Strömungen, die in dieser Zeit zur Krise der aufgeklärten Weltanschauung beitragen und sie verstärken. 18
Emanuel Hirsch: „Geschichte der neueren evangelischen Theologie". 3. Aufl. 1964 Bd. 4 S. 321.
3 Schott, Aufklärungspredigt
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Von hier aus ist es aber auch ohne weiteres verständlich, daß die Entwicklung in der Philosophie, vor allem aber das Hervortreten der Religionsphilosophie Kants, nicht ohne Rückwirkungen auf die zeitgenössische Theologie bleiben konnte. Tatsächlich hat Kants Philosophie wesentlich zur Verschärfung der Krise der Neologie beigetragen. Dabei muß man aber sehen, daß sich die Lage der Neologie schon vorher und von anderen Seiten her kritisch zugespitzt hatte. Zu erinnern ist hier an den von Lessing entfachten Fragmentenstreit, der für die Neologen gerade darum so aufregend ist, weil sie hier gleichsam negativ-kritisch überholt werden. Sie selbst sind es gewesen, die klar greifbar seit Johann Salomo Semler (1725—1791), damit angefangen haben, sich von den Dogmen, vom Piatonismus und Augustinismus der Kirchenlehre zu lösen und kritisch zur Bibel zurückzuwenden, um nun auch innerhalb der Bibel die zeitlos-gültige, ewige Wahrheit der Offenbarung von ihrer zeitgebundenen Einkleidung, ihrer Akkomodation zu unterscheiden. Sie selbst sind es damit gewesen, die erste Schritte zu einer kritischen Betrachtung der Kirchenlehre und der Bibel getan haben, nur eben, daß sie damit Jesus Christus, der Offenbarung, dem Christentum und der Kirche völlig positiv gegenüberstanden und gerade so den Weg zu einem vernünftigen Christentum bereiten wollten. Umso mehr mußten sie sich durch den Fragmentisten herausgefordert fühlen, weil ihre Kritik nun durchaus übelwollend radikal überboten wurde. Lessing wollte die Neologen durch die Veröffentlichung der Fragmente in diese Zwangslage bringen und sie so veranlassen, ihre positive Lehre über Wesen, Inhalt und Bedeutung der Offenbarung grundsätzlich offen darzulegen. Lessing ist es auch, der in ebendemselben Zusammenhang die Harmonie von Vernunft und Offenbarung, die j a gerade für die Neologie so kennzeichnend ist und auf die die Neologen so stolz sind, kritisch in Frage stellt: „Die Kanzeln, anstatt von der Gefangennehmung der Vernunft unter den Gehorsam des Glaubens zu ertönen, ertönen nun von nichts als von dem innigen Bande zwischen Vernunft und Glauben. Glaube ist durch Wunder und Zeichen bekräftigte Vernunft, und Vernunft räsonnierender Glaube geworden. Die ganze geoffenbarte Religion ist nichts als eine erneuerte Sanktion der Religion der Vernunft." Wozu ist dann aber noch eine Offenbarung notwendig, wenn sie doch bloß offenbart, was die Vernunft schon weiß? Lessing: „Denn was ist eine Offenbarung, die nichts offenbaret?" 1 9
1 9 Lessing in den Zusätzen zum „5. Fragment des Ungenannten". 1 7 7 7 . In: Lessings Werke, herausgegeben von Georg Witkowski. 7. Band S. 58.
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Damit ist deutlich, daß sich sowohl von der Anfrage des Fragmentisten her als auch von dem Bestreben zur Harmonisierung von Vernunft und Offenbarung, also vom Wolffianismus her, für die Neologie die Notwendigkeit ergibt, in der Offenbarungsfrage eine klare Aussage zu machen. Das heißt: Die Neologie steht vor der Notwendigkeit, zu sagen, was ihr die Offenbarung (noch) ist, was zu ihr gehört und was sie ihr bedeutet. An diesem Punkt gerät die Neologie in ihre Krise, die nun durch die Auflösung der Harmonie von Vernunft und Offenbarung durch Kants Herausstellung der Maßstäblichkeit allein der Vernunft in Glaubens- und Religionsdingen noch verschärft wird. Zunehmend wird erkennbar, daß es den Neologen nicht mehr gelingt, eine einheitliche überzeugende Antwort in der Offenbarungsfrage zu geben. Ungefähr ab 1790 bricht die Neologie in verschiedene Richtungen auseinander. Versucht man sie zu charakterisieren, so ergibt sich etwa folgendes Bild: Am radikalsten urteilte in der Offenbarungsfrage Karl Friedrich Bahrdt (1741—1792), der eine besondere Offenbarung überhaupt für überflüssig erklärte. Der Mensch habe, was ihm etwa offenbart werden könnte, schon von Natur aus in sich, nämlich ein Wissen um den Weg zur Tugend und zur Seligkeit. Soweit es ihm möglich ist, versuche er es auch zu verwirklichen: „Was bedarfs denn also des positiven Krams, wozu denn Offenbarung, wenn die menschliche Natur den Stoff der Wahrheit und Seligkeit in sich selbst h a t ? " 2 0 Dieser Standpunkt ist damals unter dem Schlagwort Naturalismus zur Kenntnis genommen und gegen ihn ist auch kräftig polemisiert worden; er wurde aber von ernsthaften Theologen nicht vertreten. Bahrdt war und blieb im ganzen ein — wenn auch viel gelesener — Außenseiter. Weniger radikal und durchaus keine Außenseiter hingegen waren die sogenannten Rationalisten. Hier wären etwa für unseren Zeitraum, abgesehen von den dann später sich Auswirkenden, zu nennen Heinrich Philipp Konrad Henke ( 1 7 5 2 - 1 8 0 9 ) , Wilh. Abraham Teller ( 1 7 3 4 - 1 8 0 4 ) , Josias Friedrich Christian Löffler (1752—1816), die beiden Kantschüler Wilh. Traugott Krug ( 1 7 7 0 - 1 8 4 2 ) und Johann Heinrich Tieftrunk ( 1 7 5 9 - 1 8 3 7 ) und schließlich J o h . Friedrich Röhr ( 1 7 7 7 - 1 8 4 8 ) . Von diesen hat der Letztgenannte 1813 anonym vielbeachtete „Briefe über den Rationalismus" erscheinen lassen, die gut verdeutlichen, worauf es dem Rationalismus in der Offenbarungsfrage ankommt. Nämlich darauf, daß die Offenbarung in Jesus Christus nicht als ein wunderhaftes, übernatürliches und unmittelbares Eingreifen Gottes in den gesetzlich geregelten Weltzusammenhang und Geschichtsablauf verstanden wird, sonCarl Friedrich Bahrdt: „Geschichte seines Lebens, seiner Meinungen und Schicksale. Von ihm selbst geschrieben". Dritter Theil. Berlin 1791 S. 218f. 20
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dem als ein Werk der göttlichen Vorsehung, die sich der natürlichen Gesetze der Welt bedient. Darum kann und muß die christliche Offenbarung auch vernunftgemäß aufgefaßt werden, trotz ihrer wunderhaften Einkleidung, die durchaus nicht zu ihrem Kern und Wesen gehört und darum auch historisch-kritisch betrachtet werden muß. Denn Kern und Wesen der Offenbarung sind letztlich die Kundmachung dessen, was die Menschheit religiös-sittlich weiterbringt, was sie bessert, veredelt, beglückt und ihr so zum Heil dient. In diesem Sinne „betrachtet der Rationalist zuvörderst den großen Stifter des Christentums selbst als eine rein menschliche Erscheinung, bei deren Erklärung er seine Zuflucht durchaus nicht zu einer übernatürlichen Causalität nehmen zu müssen glaubt. Jesus, spricht er, war in der vollsten, umfassendsten Bedeutung des Wortes Mensch wie wir; ein natürliches Produkt seines Volkes und Zeitalters; aber in Ansicht auf Geist, Weisheit, Tugend und Religiosität von keinem Sterblichen der Vor- und Nachwelt übertroffen; ein Heros der Menschheit im erhabensten Sinne; eine, wenn mir dieser uneigentliche Ausdruck erlaubt ist, himmlische Erscheinung auf dieser sublunarischen Welt" 21 . Er verehrt „in ihm nur einen, im gewöhnlichen Verstände von Gott gesandten Lehrer der Wahrheit, in dessen Leben und Schicksalen sich die Vorsehung vorzüglich verherrlichte" 22 . Während die Berichte von dieser Offenbarung mit historisch-kritischer Vernunft gelesen werden müssen, muß der Inhalt der Offenbarung mit ethisch-religiös-kritischer Vernunft betrachtet werden. Denn der Rationalist nimmt sie nicht einfach auf Autorität hin an und unterwirft sich ihr, sondern macht die Vernunft zum Maßstab der Offenbarung und schenkt „ihren Lehren und Sätzen nur dann und darum seinen Beifall, wenn und weil sie mit seiner eignen Einsicht übereinstimmen, als Resultate eigenen vernünftigen Nachdenkens gewonnen werden können, und weist alle die als unannehmbar von sich, die nicht den Charakter der Allgemeingültigkeit und strenger Angemessenheit zu sittlichen Zwecken an sich tragen" 23 . Das bedeutet aber nicht, daß die Rationalisten die Offenbarung überhaupt verwerfen. Sie nehmen sie dankbar an, um mit ihrer Hilfe an der religiösen und sittlichen Bildung und Besserung der Menschen zu arbeiten. Und das heißt: Sie stellen die Offenbarung in den Dienst der religiös-sittlichen Höherentwicklung der Menschheit. Den gegenteiligen Standpunkt nehmen die Supranaturalisten ein. Sie vertreten ihn in zwei Spielarten, einer mitteldeutschen, die durch Franz 21
J. F. Röhr: „Briefe über den Rationalismus" Aachen 1813 S. 26. » Ebd. S. 16. ö Ebd. S. 16.
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Volkmar Reinhard repräsentiert wird — sie wird in dieser Arbeit noch herausgearbeitet werden — und einer süddeutschen, deren wichtigste Vertreter der Tübinger Theologe Gottlob Christian Storr ( 1 7 4 6 - 1 8 0 5 ) und seine Schüler sind. Daß dabei Tübingen zum Vorort des süddeutschen Supranaturalismus wurde, ist auf den auch in der Aufklärungszeit stark wirksam gebliebenen Pietismus, in diesem Falle Bengelscher Prägung, in Württemberg zurückzuführen. Dieser biblizistische Pietismus wirkt sich in unserem Zeitraum nun — auch — als Supranaturalismus aus, indem Storr gleichsam von zwei Seiten den Versuch unternimmt, an der Obernatürlichkeit und Unmittelbarkeit der Schrift-Offenbarung festzuhalten und ihre unbedingte, die Unterwerfung im Gehorsam des Glaubens fordernde Autorität zu erweisen: Die eine Beweiskette hat er seit 1793 vorgetragen 24 , indem er die Ubernatürlichkeit oder, wie er sagt, Göttlichkeit des Neuen Testaments damit begründet, daß Jesus selbst die Göttlichkeit seiner Sendung und Lehre behauptet und in seinem Denken, Handeln und seinen Wundern bewährt hat. Nach Jesu Versicherung hat dann auch die Lehre seiner Apostel göttliches Ansehen, auch die des wunderhaft dazu berufenen Paulus. Ist so von Storr die göttliche Autorität des Neuen Testamentes erwiesen, so wird die des Alten Testamentes auf die Aussagen Jesu und der Apostel über das Alte Testament gegründet. Denn weil Jesus und die Apostel das Alte Testament für ein göttliches Buch gehalten haben, ist es das auch. Das Resultat aller dieser Erweise ist: Die Heilige Schrift muß die Norm unserer theologischen Urteile sein. Ihre Wahrheit und Göttlichkeit wird dabei zugleich bestätigt durch die eigene innere Erfahrung, d.h. durch das innere Zeugnis des Heiligen Geistes. Die zweite Beweisreihe hat Storr ebenfalls zum ersten Mal vorgetragen 25 ; diesmal in Auseinandersetzung mit Kant. Er hat Kant darin zugestimmt, daß die Vernunft Aussagen, die über unsere Erfahrungen hinausgehen, nicht machen kann. Wenn sie trotzdem aus praktischen religiös-sittlichen Gründen an Gott, an der Vergeltung von Gut und Böse, am moralischen Gesetz, am Schöpfer festhält, kann sie über dieses Festgehaltene und Postulierte im Grunde keine Aussagen machen, es sei denn, ihr kommt die positive, historische Offenbarung zu Hilfe. Sie offenbart, was die Ver-
In der „Doctrinae christianae pars theoretica e sacris literis repetita". Sie erschien 1803 deutsch als „Lehrbuch der christlichen Dogmatik"; cf. hier zum Folgenden Erstes Buch § 1 - 1 6 . 2 S In den „Annotationes quaedam theologicae ad philosophicam Kantii de religione doctrinam". Deutsch unter dem Titel: „Bemerkungen über Kants philosophische Religionslehre". Tübingen 1794. M
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nunft sich selbst nicht sagen kann und füllt die Postulate mit göttlich autorisiertem Inhalt, gegen den die Vernunft, will sie die selbstgezogenen Grenzen nicht überschreiten, nichts einwenden kann und den sie darum als göttliche Offenbarung hinnehmen muß. Daß damit beide Beweisreihen, die theologische und die philosophische, sich gegenseitig ergänzen, dürfte deutlich sein. Zwischen diesen beiden Standpunkten des Rationalismus und des Supranaturalismus gibt es damals in der Offenbarungsfrage schließlich auch den vermittelnden Standpunkt des rationalen Supranaturalismus bzw. supranaturalistischen Rationalismus. Dazu wären etwa zu rechnen: Christoph Friedrich von Ammon (1766—1850); Karl Friedrich Stäudlin ( 1 7 6 1 - 1 8 2 6 ) ; Gottlieb J a k o b Planck ( 1 7 5 1 - 1 8 3 3 ) ; Karl Gottlieb Bretschneider ( 1 7 7 6 - 1 8 4 8 ) und Heinrich Gottlieb Tzschirner ( 1 7 7 8 - 1 8 2 8 ) . Sie versuchen, an der Übernatürlichkeit und — mit Einschränkungen — auch an der Unmittelbarkeit der Offenbarung festzuhalten und zugleich die Maßstäblichkeit der Vernunft in Religion und Moral zu behaupten. Bei den Begründungen gehen die einzelnen Vertreter dieses Standpunktes auseinander, indem etwa Ammon mehr von der Praktikabilität dieses Standpunktes her argumentiert oder Stäudlin betont, daß es sich hier um zwei Aspekte des Christentums handelt, die zusammen gesehen werden müssen. Tzschirner hat in eigenständiger Weise 1810 den Standpunkt des supranaturalistischen Rationalismus dahingehend zu begründen versucht, daß er zunächst die Prämisse aufstellt, nach der in der Offenbarungsfrage geurteilt werden muß. Sie heißt, „daß die Unterstützung des Menschengeschlechts bey seiner sittlichen Ausbildung, daß die Beförderung der Sittlichkeit der einzige Zweck der Offenbarung und der durch sie gegründeten Kirche sey . . , " 2 6 . Damit ist prinzipiell an der Offenbarung festgehalten und es ist zugleich nur ein Schritt, um auch die Vernunft in ihr Recht einzusetzen, ethisch-kritisch Wert und Wahrheit der Offenbarung zu prüfen und dann auch auszulegen. Es ist aber damit noch nicht erwiesen, warum sich Jesus bzw. Gott durch und in Jesus dann übernatürlicher Offenbarungen, also Wunder, bedienen mußte, um dieses Ziel zu erreichen. Tzschirner antwortet, daß Gott seinen Gesandten durch Wunder auszeichnen und ausweisen mußte, damit seine neue bessere Religions- und Sittenlehre von dem damals noch in Sinnlichkeit befangenen Menschengeschlecht aufgenommen werde. Insofern Heinrich Gottlieb Tzschirner: „Beurtheilende Darstellung der dogmatischen Systeme, welche in der protestantischen Kirche gefunden werden". In: Memorabilien für das Studium und die Amtsführung des Predigers. Erster Band, erstes Stück Leipzig 1810 S. 30. 26
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dient das Ubernatürliche der Beglaubigung des Gesandten und seiner Lehre und zeigt die „Weisheit und Güte des Allerhöchsten", der „der Schwäche seiner vernünftigen Geschöpfe damit zu Hilfe gekommen" ist 27 . Zugleich wird aber deutlich, daß den Wundern ein Ende gesetzt werden mußte. Sie waren Mittel, nicht Zweck, und dienten nur der Einführung der besseren Lehre. Zur Frage, wie so etwas ohne Unterbrechung des Naturlaufes möglich ist, meint Tzschirner, daß es sich hier um direkte moralische Wirkungen Gottes auf die Menschen handeln könne, wie sie auch sonst zwischen Personen vorkommen. Auch sei denkbar, daß Gott Naturkräfte in Dienst genommen habe, die wir nicht kennen. Damit ist aber keineswegs alles Wunderhafte der Bibel verteidigt. Viele Anschauungen der Bibel, z.B. die Dämonologie, die Angelologie, die Vorstellungen von der Wiederkunft Christi u.a., die einer ethisch-kritischen und einer historisch-kritischen Betrachtung nicht standhalten, müssen preisgegeben werden. Das fordert die Vernunft, unbeschadet der Tatsache, „daß das Christentum eine durch Gottes außerordentliche Einwirkung für die Erziehung und Bildung des Menschengeschlechtes gegründete Anstalt sey" 28 . Das Suchen und Neuentwerfen in der Philosophie des Deutschen Idealismus hat seine Entsprechungen auch in der Kunst jener Zeit, vor allem in der sogenannten Klassik 29 . Das Schaffen Goethes und Schillers ist negativ gerade dadurch gekennzeichnet, daß es sich nicht mehr an den herrschenden, von der Aufklärung bestimmten Geist der Zeit anlehnt oder ihn gar ausspricht und repräsentiert, sondern daß hier positiv der Versuch gemacht wird, Kunst und Leben aus neuen Begründungen und Bezügen heraus zu gestalten. Das führt, wie etwa Goethes Arbeiten am Faust II zeigt, zu einem unaufhörlichen Experimentieren, einem lebenslangen Suchen nach tragenden Möglichkeiten. Kunst ist hier nicht gestalteter Zeitgeist, gestalteter Glaube der Zeit, sondern wird zur Suche nach Glauben, nach der neuen Religion, auch wenn sie aus einer letzten Natur-Religiosität wie bei Goethe, oder einem letzten Glauben an den „Gott in uns" (Schiller) geschieht, weil der christliche Glaube zerbrochen ist, sei er nun pietistisch, orthodox oder aufgeklärt. Damit ist die Klassik zugleich Kritik und Herausforderung der Aufklärung, auch der christlichen, selbst wenn die Klassiker der Aufklärung keine echte Chance für eine umfassende Sinngebung des Lebens mehr geben. Sie sind 2' Ebd. S. 67. 28 Heinrich Gottl. Tzschirner: „Briefe, veranlafit durch Reinhards Geständnisse seine Predigten und seine Bildung zum Prediger betreffend". Leipzig 1811 S. 76. 29 Cf. hier zum Folgenden Ehrenfried Muthesius: „Ursprünge des modernen Krisenbewußtseins". München 1963, besonders das Kap. „Literatur der Krisenzeit" S. 110-144.
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durch die Aufklärung hindurchgegangen und sehen sie, dem Zeitgeist darin unbedingt voraus, nur noch als eine Stufe, eine Möglichkeit des Lebens und Denkens an. Sie selbst haben diese Möglichkeit im wesentlichen hinter sich gelassen und sich neuen Stufen und Möglichkeiten suchend zugewandt. So gesehen aber sind die Klassiker Gestalten der Krise, deren menschliche und künstlerische Größe darin liegt, daß sie an ihr nicht zerbrechen, sondern ihr in der Kunst gestaltete neue Möglichkeiten und Versuche des Lebens abzuringen vermochten. Dieses Suchen läßt sie sich auch hinwenden zu orientalischen Mythen und Glaubensgestalten (Goethes „West-Östlicher Divan") bzw. zu den „Göttern Griechenlands" (Schiller), die ihnen als ideale Gestalten eines idealisierten Glaubens 3 0 vom zeitgenössischen Neuhumanismus im Gefolge der Arbeiten Johann Joachim Winckelmanns nahekommen. Sie scheinen ihnen eine Möglichkeit des Glaubens zu eröffnen, die dann in der künstlerischen Gestaltung Ausdruck gewinnt (Iphigenie, Tasso), ohne dann doch eine letzte tiefe und bleibende Bedeutung für ihr Leben zu erlangen. Der Neuhumanismus, der auf viele damals seinen Einfluß ausübt, der den Baustil als Klassizismus prägt, der die humanistische klassische Bildung in Gymnasium und Universität (Wilh. von Humboldt) zum beherrschenden Bildungsideal der Zeit erhebt, ist zutiefst ein Suchen nach dem neuen, allseitig gebildeten Menschen. Er ist aber auch ein Suchen nach der Persönlichkeit, die an die Stelle des praktisch-vernünftigen Tugendmenschen der Aufklärung treten soll, aber auch ein Suchen nach Religion, nach einer ästhetischen Religion, das, aufs Ganze gesehen, dann doch die Krise nicht behebt und den neuen Glauben nicht hergeben kann. Die Klassiker setzen damit auf ihre Weise eine Entwicklung fort, die mit Lessing, bis zu einem gewissen Grade auch mit Wieland, Moses Mendelssohn und Friedrich Nicolai ihren ersten Ausdruck gesucht und gefunden hat: Daß der Dichter sich als Sprecher und Künder des rein Menschlichen, der wahren Humanität und Religiosität versteht und so eine humanistische Verkündigung und Kultur neben die kirchliche Verkündigung und Kultur tritt. Besonders deutlich ist das etwa auch bei Hölderlin, der, ursprünglich zum Pfarrer bestimmt, nun das Gesetz seines Lebens darin erkennt, die Berufung des Dichters trotz aller Angefochtenheit, Einsamkeit, inneren und äußeren Bedrohtheit mit religiöser Hingabe und heiligem Ernst in einer dafür als unempfänglich und dürftig empfundenen Zeit zu erfüllen. Walter Rehm: „Griechentum und Goethezeit. Geschichte eines Glaubens". 3. Aufl. München 1952. 30
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Aber diese großen Dichter sind in ihrer Wirkung auf den Zeitgeist durchaus begrenzt und nicht unbestritten. Ich erinnere nur daran, daß Herder Goethe und überhaupt der Weimarer Klassik zunehmend kritischer gegenübersteht und seinerseits, zuletzt in Verbindung mit Jean Paul, versucht, einen eigenen Weg zu gehen. Dieser Weg ist unabhängig von der Klassik und der Aufklärung, von der Herder sich unter dem Einfluß Hamanns schon als Königsberger Student abgewandt hatte, ebenso wie von der kritischen Philosophie Kants. Herder ist einer der originalen religiösen Denker dieser Zeit, dessen Bedeutung — darin dann von Schleiermacher überstrahlt — ganz wesentlich darin liegt, die Religion, das Innewerden und Erahnen des Göttlichen, das uns in allem Leben umgreift, als das entscheidende Element für die Ausbildung wahrer Humanität (der Ausdruck geht auf ihn zurück) gesehen und herausgestellt zu haben. Gerade darin erweist er sich in seiner Zeit unter den Männern, die sich vom Christentum innerlich weitgehend gelöst haben, in der Krise der Zeit als religiös-christliche Existenz. Uberall in der Geschichte, den Sprachen, der Volkskunst, den Mythen, den Evangelien wird er des Göttlichen als der Urkraft inne. Aus diesem Erleben Gottes kann er darum als Geschichtsphilosoph, Schriftsteller, Kritiker, Prediger und Seelsorger wirken und sich dabei bewußt als Diener und Mann Gottes begreifen. Aber auch die frühe Romantik gehört zu den schöpferischen Ansätzen und Durchbrüchen dieser reich bewegten Zeit 31 . In ihr verbindet sich die Kritik an der als philisterhaft empfundenen Aufklärung mit der Hinwendung zum Gefühl, zur Phantasie, zum Schöpferischen im Menschen. Französische Einflüsse (Rousseau), Zinzendorfsches Erbe, Herdersche Anschauungen, Sturm und Drang, Deutscher Idealismus, die Wiederentdekkung Shakespeares und des Genies, des Mittelalters und der Nation fließen zusammen und prägen eine Haltung der Offenheit, der grenzenlosen Bereitschaft, sich von allem Seienden erfüllen und ergreifen zu lassen. Romantik ist zunächst ganz wesentlich Gefühl. Friedrich von HardenbergNovalis, als der bedeutendste Vertreter der frühen Romantik, sucht dieses grenzenlose Gefühl zu erfassen als die Einheit alles Seienden einschließlich des Todes, bis er sich dann einem freien, die konfessionellen Grenzen überschreitenden Christentum zuwendet. Ursprünglich besitzt die frühe Romantik keine klare Beziehung zum Christentum. Diese entsteht erst allmählich, und dazu trägt entscheidend Friedrich Daniel Schleiermacher bei, der bedeutendste deutsche Theologe an der Schwelle des 19. Jahrhunderts, der einem wesentlichen Teil der deutschen Theologie 31
Ricarda Huch: „Die Romantik. Ausbreitung, Blütezeit und Verfall". Sonderausgabe Tübingen 1951.
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und Philosophie der Nach-Aufklärung den Weg zeigt und durch das ganze 19. Jahrhundert hindurch wirkt, praktisch bis in die Gegenwart hinein, in der er wieder neu entdeckt wird. Der Gegensatz von der Aufklärung bzw. die Kritik an ihr wird von Schleiermacher zum ersten Mal in den „ R e d e n " von 1799 öffentlich ausgesprochen, indem er bereits in der ersten Rede darauf aufmerksam macht, daß die Verbindung von Religion und Moral, wie sie für die Aufklärung bezeichnend ist, beiden Größen nicht gerecht wird. Die Moral ist etwas durchaus Selbständiges, und umgekehrt entwertet man die Religion, wenn man sie für die Moral, für einen praktischen Nutzen verwertet: „Sie (sc. die Religion) soll ganz eigentlich dienen wie jene es wollen, einen Zweck soll sie haben, und nützlich soll sie sich erweisen. Welche Erniedrigung!" 3 2 Demgegenüber kommt es Schleiermacher darauf an, die Eigenständigkeit und Freiheit der Religion, fern aller wie auch immer gearteten Nützlichkeit und Verwertbarkeit sicherzustellen: „Daß sie aus dem Inneren jeder beßern Seele nothwendig von selbst entspringt, daß ihr eine eigne Provinz im Gemüthe angehört, in welcher sie unumschränkt herrscht, daß sie es würdig ist, durch ihre innerste Kraft die Edelsten und Vortrefflichsten zu bewegen; das ist es was ich behaupte, und was ich ihr gern sichern möchte . . , " 3 3 Damit hat Schleiermacher den Nerv der aufgeklärten Religions- und Weltanschauung, wie sie von so vielen aufgeklärten Predigern, und zwar durchaus unabhängig von ihrer Stellungnahme in der Offenbarungsfrage, vertreten wurde, getroffen. Diese große Mehrheit der Prediger lehrte eben die Religion als etwas praktisch-moralisch Nützliches und verteidigte sie als etwas, womit der Einzelne und die Allgemeinheit etwas anfangen konnten und was sie für ihren Bestand und den Fortschritt der Menschheit brauchten. Das haben sie im allgemeinen aber auch weiter so vertreten. Denn Schleiermachers Wirkung darf man sich wiederum nicht zu groß vorstellen. Sie war durchaus begrenzt. Schleiermacher hat aber auf der andern Seite in unserem Zeitraum, während der letzten beiden Jahrzehnte, die Krise der Aufklärung mit verschärft und, wenn auch seine Wirkung begrenzt war, mit dazu beigetragen, daß die Herrschaft der aufgeklärten Weltanschauung nicht fraglos und selbstverständlich fortdauerte. Die Situation im Deutschland zwischen 1780 und 1813 wäre jedoch nur sehr unvollständig beschrieben, wenn hier nicht an das große und entscheidende politische Ereignis jener Zeit erinnert würde, an die Franzö„Uber die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern". Berlin 1799 S. 35. 33 Ebd. S. 37. 32
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sische Revolution mit ihren politischen Folgen, den Napoleonischen Kriegen und der Franzosenherrschaft in Deutschland ab 1806. Diese politischen Ereignisse haben für die herrschende aufgeklärte Weltanschauung in Deutschland eine besondere Herausforderung dargestellt. Die Grundforderungen der Französischen Revolution nach Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit wurden als die legitimen moralisch-politischen Folgerungen aus der Aufklärung ausgegeben und auch von vielen in Deutschland zuerst tatsächlich so aufgefaßt und leidenschaftlich begrüßt. Die Französische Revolution erschien vielen zunächst als die im politischen Bereich konsequent angewandte und durchgeführte Aufklärung, als ihr einzig möglicher moralisch-politischer Vollzug. Nach einigen Jahren aber, schon etwa ab 1792, setzte auf der andern Seite gerade in Deutschland ein Umschwung in der Beurteilung der Revolution ein, der zu einem wesentlichen Teil in den Gewalttaten und Greueln der Revolutionäre selbst seinen Grund hatte 3 4 . Die deutschen Beobachter wurden von jetzt ab zunehmend kritischer gegen die Ereignisse in Frankreich, eben aus ihrer aufgeklärt-moralischen Grundhaltung heraus. Sie standen im Grunde mehr oder weniger klar vor der Frage, ob Unmoral, Greuel und Gewalttaten einer moralischen Idee wegen, der Freiheit und des Fortschrittes der Menschheit wegen verantwortet und gerechtfertigt werden können. In diesem Sinne blieben die meisten Deutschen moralisch denkende und urteilende Aufklärer, die nun in der Zwangssituation waren, die moralische Kritik gegen die ins Unmoralische umgeschlagene Aufklärung ihrer Nachbarn wenden zu müssen. Das bedeutet einen weiteren Beitrag zur Krise der Aufklärung, die nur darum nicht restlos in die Tiefe der Anfechtung führte, weil es eben die anderen, das Nachbarvolk war, das diese Wendung zum Abwegigen vollzog, während man selbst sich mit dem aufgeklärten Absolutismus der eigenen Fürsten und Landesherrn ganz wohl befindet und eine Revolution nicht für nötig hält. So kommt es, daß die gebildeten und wachen Deutschen das Problem sahen, aber sich in Deutschland zu sehr geborgen fühlten und aus einer gewissen politischen Sicherheit und Distanz heraus lebten und urteilten. Dieses Gefühl änderte sich spätestens seit der preußisch-sächsischen Niederlage von 1806 und der Okkupation durch Napoleon. J e t z t waren die Deutschen nicht mehr nur Zuschauer und moralische Betrachter des Zeitgeschehens, sondern unmittelbar Betroffene, die einem ideologisch oder moralisch kaum noch verbrämten Eroberungswillen ausgeliefert 3 4 Cf. hierzu Klothilde Kirschbaum: „Deutsche Zeitgenossen zu den Gewalttaten der Französischen Revolution. Meinungsbildung, Erlebnisse, Urteilsbegründung in der Sicht der deutschen Gebildeten". Diss. phil. Göttingen 1 9 5 1 , bes. S. 145ff.
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waren. Das war eine neue Herausforderung an den Glauben der Aufklärung. Denn wie ließ sich diese brutale Niederwerfung des eigenen Volkes mit dem optimistischen Glauben der Aufklärung an die moralische Weltordnung und an Gott als ihren allweisen und allmächtigen Garanten vereinen? Brach hier nicht das ganze Weltbild zusammen? Es ist nicht zusammengebrochen, aber es ist deutlich: Auch von dieser Seite her wurden diese Zeiten zu einer Herausforderung an den Glauben der Aufklärung, der zeigen mußte, welche Kräfte in ihm lebten. Daneben und über ihn hinausweisend haben sich damals auch andere, neue Kräfte in Deutschland geregt, die Kräfte des Nationalen, des Vaterländischen, die Kräfte der volkshaften Tradition. Diese Kräfte sind darum neu, weil in der Aufklärung die Unterschiede zwischen den Völkern und den Eigenarten der Stämme weitgehend eingeebnet waren zu Gunsten der allgemeinen Menschennatur und ihrer Anlagen. Darum dachte die Aufklärung auch weithin menschheitlich, brüderlich-weltbürgerlich. Demgegenüber kommt es auch jetzt nicht zu einer krassen Absage an den Menschheitsgedanken, aber doch zusätzlich und romantisch verstärkt zur Betonung des Individuellen, Eigenen, Vaterländischen. Das zeigt sich nicht nur in Preußen, hat aber von dort her besondere Folgen. Hier arbeiten die neuen Kräfte aus mehreren Richtungen zusammen im einem Neuanfang und Neuaufbau von innen her: Der Freiherr vom Stein an der Bauernbefreiung und an der Städteordnungs- und Verwaltungsreform; Scharnhorst und Gneisenau an der Heeresform; Wilhelm von Humboldt an der Bildungsreform. Schleiermacher hält als patriotischer Prediger seine aufrüttelnden Predigten in der Berliner Dreifaltigkeitskirche, Fichte in der Universität seine „Reden an die deutsche Nation", Ludwig Jahn führt das Turnen für die männliche Jugend ein und Ernst Moritz Arndt stellt dem antichristlichen Frankreich das Ideal einer christlich-germanischen Volks- bzw. Völkergemeinschaft entgegen. Alles das hat mit dazu beigetragen, daß Preußen damals innerlich nicht untergegangen ist und hat Kräfte geweckt, die dann über den Sturz Napoleons hinaus sich als wirksam und zukunftsweisend erwiesen haben. Es dürfte durch die Aufzählung aller dieser Erscheinungen, Strömungen und Symptome deutlich geworden sein, daß die Herrschaft der aufgeklärten Weltanschauung in unserem Zeitraum nicht mehr selbstverständlich ist, daß die Aufklärung in die Krise geraten und von den verschiedensten Seiten herausgefordert ist. Das Gefühl, in einer Krisenzeit zu leben, ist denn auch überall greifbar. Zugleich aber muß hinzugesetzt werden, daß diese Krise zwar die fraglose Herrschaft der Aufklärung im Bürgertum eingrenzen, sie aber nicht einfach zusammenbrechen ließ 44
und mit einem Schlage wegfegen konnte. Im Gegenteil: Daß die Weltanschauung der Aufklärung damals die herrschende war, gilt auch jetzt noch, trotz aller dieser genannten Erscheinungen, die, davon war j a öfter die Rede, in ihren Auswirkungen auf die Allgemeinheit für unseren Zeitraum auch nicht überschätzt werden dürfen. Die aufgeklärte Weltanschauung blieb trotz der Herausforderungen durch die neuen Strömungen und die Revolution weiterhin herrschend. Das Bürgertum hat seine Weltanschauung nicht einfach plötzlich aufgegeben, sondern hat an ihr festgehalten, daran geglaubt und aus ihr gelebt. Und das begründet, um es vorwegzunehmen, auch den Erfolg Reinhards. Er ist in der Krise der Aufklärung der Sprecher derer, die der aufgeklärten Weltanschauung anhängen und in ihr leben, der Prediger, der gerade durch seinen Glauben und sein Festhalten an der wahren Aufklärung das angefochtene Bürgertum gestärkt, ermuntert, getröstet und ihm so geholfen hat, in der Krise seiner Weltanschauung zu bestehen. Daß dieses alles in dem tiefen Bewußtsein der Krise, in der persönlichen Betroffenheit und Angefochtenheit durch sie geschieht, wird noch deutlich werden, wenn wir uns seinen Predigten zuwenden. Zunächst aber soll Reinhards Entwicklung nachgezeichnet und gezeigt werden, wie er das geworden ist, was er seinen Zeitgenossen dann sein konnte.
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III. KAPITEL
Die theologische und philosophische Entwicklung Reinhards während der Wittenberger Professorenjahre
1. Die Jugendkrise (1778-1784) Um den theologisch-philosophischen Entwicklungsgang Reinhards erfassen zu können, soll hier von der Krise im Leben des jungen Reinhard ausgegangen werden, von der her seine Theologie und Philosophie einen neuen Ausgang genommen hat. Von ihr sollen nach rückwärts und nach vorwärts die Linien ausgezogen werden. Das hat gegenüber einem rein chronologischen Abriß auf der Grundlage der Veröffentlichungen den Vorteil, daß die Linien, die sich von der Bibliographie her nur in ständigen Abbrüchen und diskontinuierlich aufzeigen ließen, so im Zusammenhang herausgearbeitet werden können. Reinhard hat über diese Krise während seiner Zeit als Wittenberger Professor aus dem langen Abstand von etwa 30 Jahren in seiner homiletischen Autobiographie „Geständnisse seine Predigten und seine Bildung zum Prediger betreffend in Briefen an einen Freund" 1 einen sehr lebendigen Bericht gegeben. Er soll hier zunächst wiedergegeben werden 2 : „Und hier kann ich denn nicht umhin, Ihnen mein Freund, den sonderbaren, für meine ganze gelehrte Bildung so wichtigen Kampf zu beschreiben, der in den ersten Jahren meines akademischen Lehramtes in meinem Innern vorgegangen ist. Ich habe Ihnen schon gesagt, ich war ein eifriger Crusianer, als ich Vorlesungen zu halten anfing; ich wollte mir auch die Mühe, mit der ich mich in das System des etwas schwerfälligen Crusius einstudirt hatte, nicht umsonst gegeben haben; ich trug es also in meinen ersten Vorlesungen vor. Dabey fühlte ich denn aber das dringende Bedürfniß, auch die übrigen philosophischen Systeme kennen zu lernen; theils weil ich wissen wollte, was die besten Köpfe aller Zeiten über die großen Auf1 2. Aufl. Sulzbach 1811 (1. Aufl. ebd. 1810). 2 Ebd. S. 68-75. 46
gaben, welche die Philosophie lösen sollte, gedacht haben; theils weil ich einsah, mein eigner Vortrag könne dann erst gründlich und genugthuend werden, wenn er mit einer solchen Umsicht, mit einer genauen Kenntnis aller, auch der entgegenstehenden Systeme, gegeben werde. Und so fieng ich denn mit großem Eifer an, mich in den berühmtesten philosophischen Lehrgebäuden der alten und neuen Welt umzusehen, und vornehmlich die über jedes System vorhandenen Hauptschriftsteller zu lesen. Aber wie erstaunte ich, in welche Verlegenheit geriet ich, als mir bei diesem Studio an meinem eignen System eine Menge schwacher Seiten sichtbar wurden, von denen ich zuvor keine Ahnung gehabt hatte. J e vielseitiger meine philosophischen Einsichten wurden; je mehr ich begreifen lernte, daß sich für Behauptungen, die dem parteiischen Crusianer sonst entweder abgeschmackt oder gefährlich geschienen hatten, gar manches sagen lasse; je stärker ich zu fühlen anfing, jedes System enthalte Wahres und Gutes, in jedem offenbare sich die menschliche Vernunft auf eine eigne merkwürdige Weise, jedes verdiene daher erforscht und gewürdigt zu werden: desto mehr Zweifel entwickelten sich in meiner Seele; desto schwankender wurde der Boden, auf welchem ich sonst so vest zu stehen glaubte; und endlich, warum sollte ich's Ihnen nicht gestehen, endlich kam es dahin, daß ich gar nichts Vestes unter meinen Füßen hatte, daß ich, in das Gewirre der streitenden Speculationen verwickelt, gleichsam in der Luft schwebte und nicht mehr wußte, wo Grund zu finden sey. Diese fürchterliche Gährung in meinem Innern wurde durch die Streitigkeiten, die um diese Zeit auch in der theologischen Welt immer allgemeiner wurden, und sonderlich die dogmatische Theologie nicht bloß zu erschüttern sondern wirklich umzustürzen drohten, recht eigentlich verwirrend und stiegen zuweilen bis zur peinlichen Unruhe. Auch von jenen Streitigkeiten Kenntnis zu nehmen, trieb mich nicht bloß Herz und Gewissen; die Frage, wie sich die Philosophie zur Offenbarung verhalte und wie beyde in Übereinstimmung zu bringen seyen, wurde mir immer wichtiger, zumal da ich den Beruf erhalten hatte, theologische Vorlesungen zu halten. Ich strebe vergeblich, Ihnen den traurigen, mit jedem Morgen, bei jeder Vorbereitung auf meine Vorlesungen sich erneuernden, oft die höchste Verlegenheit und Rathlosigkeit herbeiführenden Kampf zu beschreiben, in welchen ich mich verwickelt sah. Vor dem Gedanken, einem schrecklichen Irrthume das Wort zu reden und die Jugend damit anzustecken, zitterte ich. Gleichwohl waren mir tausend Dinge, von denen ich sprechen, über die ich mich erklären sollte, so problematisch, daß ich es noch zu keiner gewissen Überzeugung hatte 47
bringen können. Mit Thränen in den Augen und mit dem feurigsten Gebete zu Gott, er möchte mich so leiten, daß mir wenigstens nichts für Religion und Sittlichkeit Gefährliches entfallen möchte, gieng ich also, wenn die Stunde, die mich ins Collegium rief, bereits geschlagen hatte, oft noch in meinem Zimmer auf und ab, und nicht selten hatte ich die größte Mühe, zu verhüten, daß meine innere Unruhe meinen Zuhörern sichtbar wurde. Bei der gänzlichen Ungewißheit, welche um diese Zeit in meiner ganzen Erkenntniß herrschte, was ich sonst für unumstößlich gewiß gehalten hatte, standen jedoch zwey Grundsätze unerschütterlich vest, die Grundsätze, mich in der Philosophie für nichts zu erklären, was meinem sittlichen Gefühl widersprach, und in der Theologie nichts zu behaupten, was mit den klaren Aussprüchen der Bibel stritt. Daß in der Philosophie etwas wahr seyn könne, das der Sittlichkeit nachteilig sey, davon konnte ich mich auf keine Weise überzeugen; Sätze dieser Art, wie scheinbar sie auch vorgetragen seyn mochten, empörten mich; durch die Erziehung, welche ich erhalten, und durch den Fleiß, welchen ich auf meine Besserung gewendet hatte, war das moralische Gefühl in mir zu wirksam geworden, als daß es unmoralische Behauptungen nicht sogleich mit Unwillen verworfen hätte; auch gelang es mir immer sehr bald, sie für falsch zu erkennen und die dabey zum Grunde liegenden Trugschlüsse aufzudecken. Wenn ich also gleich im Ganzen noch keine Parthey genommen und es noch lange nicht zu einem vesten und durchausgeprüften und mir selbst genugthuenden System gebracht hatte; so nahm ich doch nie eine gefährliche, der Moralität nachtheilige Meinung in Schutz und war im Übrigen ein Eclectiker, der das zusammen zu fassen und zu einer bequemen Ubersicht zu ordnen suchte, was ihm in allen Systemen das Haltbarste und Beste zu seyn schien. Daß sich auf diese Art meine philosophischen Vorlesungen immer anders gestalten und bey jeder Wiederholung eine neue Einrichtung erhalten mußten, war natürlich; ich forschte j a immer weiter und gelangte zu neuen Einsichten und Ueberzeugungen. Meinen Zuhörern konnte daraus kein Nachtheil erwachsen; ich gab ihnen jedesmal das, was ich nach Pflicht und Gewissen für das Wahrste und Beste hielt; und hörten sie mich dieselbe Wissenschaft noch einmal vortragen, so wurden sie durch die Veränderungen, welche sie dabey wahrnahmen, zu eignem Nachdenken veranlaßt und der Geist der Prüfung geweckt; und diesen zu schärfen, meine Zuhörer dahin zu bringen, daß sie selbst untersuchen und auf eignen Füßen möchten stehen lernen, war bey allen meinen Vorlesungen, und bei den philosophischen ganz besonders, mein Hauptzweck. Was die Theologie anlangt, so erhielt mich der Grundsatz, nichts zu billigen, was mit den klaren Behauptungen der Bibel streite, auf einem Mit48
telweg, wo ich hinlängliche Freyheit zum Prüfen hatte, ohne mich allzuweit verirren zu können. Daß hiebei ein Vorurtheil der Jugend mitwirkte, will ich gar nicht in Abrede seyn. Da ich die Bibel, wie ich Ihnen neulich erzählt habe, mein Freund, schon als Kind gelesen, sie als Wort Gottes an die Menschen gelesen und sie zu gebrauchen nie aufgehört hatte, so war sie mir so heilig, ihr Ansehen war mir so entscheidend geworden, daß ein Satz, der ihr widersprach, mein Religionsgefühl so sehr empörte als eine unsittliche Behauptung meinen moralischen Sinn. Daß ich in der Folge nicht unterließ, die Gründe zu prüfen, auf welchen das Ansehen der Schrift beruht, werden Sie mir zutrauen. Allein schon ehe dieß geschehen war, war es mir Gewissenssache, mich in keinen Streit mit einem Buche zu verwickeln, das einem so großen Theil unsers Geschlechts ein von Gott selbst herrührender Unterrricht ist; dessen göttliche Kraft ich so oft an meinem eignen Herzen empfunden hatte und für das sich mein ganzes Gefühl immer entscheidender erklärte. Ich war noch überdieß in einer Kirche geboren, die das eigentliche Reich der Schrift ist, wo sie allein und unbeschränkt herrscht und den ganzen Lehrbegriff bestimmt. Dieser schien mir auch der Schrift, wenn man nicht an ihr künstelt und sie gewaltsam verdreht, weit gemäßer zu seyn als der Lehrbegriff irgend einer anderen christlichen Religionsparthey. Daher kam es denn, daß ich, so groß auch die Gährung in meinem Inneren war, und solang ich auch mit Zweifeln aller Art zu kämpfen hatte, dennoch den Lehrbegriff der evangelischen Kirche gleich von Anfang an nicht nur vortragen konnte, sondern, wenn ich gewissenhaft handeln wollte, auch vortragen mußte. Natürlich geschah dieß in der Folge immer gründlicher und mit immer größerer Freudigkeit, weil ich mich immer mehr überzeugte, in seinen wesentlichen Bestandteilen sey er die wahre Lehre der Schrift und zu tief in derselben gegründet, als daß man ihn in derselben verkennen oder durch Künste der Interpretation daraus verdrängen könnte. Und nun das Resultat, mein theuerster Freund! Für eine unmittelbare und genau berechnete Vorbereitung zum Predigtamte kann man wohl die sechs Jahre von 1778—1784, die ich bisher beschrieben habe, nicht halten; sie waren die merkwürdige Periode eines heftigen Ringens nach Wahrheit, Gewißheit und Ueberzeugung von dem, was jedem vernünftigen Menschen das Wichtigste und Heiligste seyn soll; an das Geschäft des Predigens wurde während dieses Kampfes gar nicht gedacht. Daß es aber mittelbar unendlich wichtig für dasselbe wurde, werden Sie selbst bemerken." Soweit der Bericht über die Krise. 4 Schott, Aufklämngspredigt
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α) Ihre Bedeutung hinsichtlich des Verhältnisses zu Crusius Das Verhältnis zu Christian August Crusius spielt in dem Bericht eine besondere Rolle, und man kann den Vorgang in gewissem Sinne auch als eine Lösung von diesem von Reinhard hochverehrten Theologen und Philosophen ansehen. Diese Lösung mußte ihm umso schmerzlicher werden, als er seit seiner Zeit im Regensburger Auditorium, also seit 1772, unter dem Einfluß von Crusius gestanden hatte. Sein dortiger Lehrer, der Professor Johann Ludwig Grimm (geb. 1745), war Crusianer3. Auch sein Gönner, der kursächsische Legationssekretär Carl Gottfried Mirus (1713— 1790) war es 4 . Und dann vor allem der von ihm so sehr verehrte Lehrer in Wittenberg Christian Friedrich Schmid ( 1 7 4 1 - 1 7 7 8 ) 5 , der ein Neffe von Crusius war. Reinhard hatte sozusagen im Crusiusschen System bis dahin seine geistige Heimat gehabt. Das alles, was er bisher gelernt und vertreten hatte, wurde ihm nun plötzlich fragwürdig. Und das wiederum führte zu seiner Unsicherheit. Er wußte nicht mehr, was er den Studenten vortragen sollte, wie er in den theologischen Streitfragen urteilen und wie er das Verhältnis von Philosophie und Offenbarung ansehen sollte. Trotz seiner Lösung von Crusius hat er auf der anderen Seite aber nie ein Hehl daraus gemacht, daß er einmal von dessen System ausgegangen ist. Der Bericht selbst zeigt das ja am besten, und nicht nur dieser 6 . 3
Geständnisse S. 35f. Geständnisse S. 37. 5 Geständnisse S. 41. — Schmid lehrte seit 1763 in Leipzig, wurde 1767 a.o. Professor der Philosophie, ging 1772 als Prof. der Theologie nach Wittenberg. In Leipzig hatte er eine „Vernunftlehre" (1769) und eine „Metaphysik" (1770) herausgegeben. Außer Schmid, mit dem ihn offensichtlich auch menschlich viel verbunden hat, hat ihn dann gegen Ende seiner Studienzeit auch der Historiker Johann Matthias Schroeckh (1753—1808) angezogen. Den übrigen Professoren und seinen Kommilitonen gegenüber verhielt er sich hingegen sehr zurückhaltend. Das geht aus den „Geständnissen" hervor, aber auch aus: Otto Richter: „Erlebnisse eines Annenschülers 1758—72. Aus der Selbstbiographie des Pastors Christian Heinrich Schreyer". In: Dresdener Geschichtsblätter XVI. Jahrgang 1907 Nr. 3 S. 154 und 155 Anm. Schreyer (1751—1823), der Kommilitone Reinhards in Wittenberg war, erzählt, daß Reinhard seinen Kommilitonen als homo obscurus erschien, außer den Schmidschen keine Kollegs besuchte, sich merkwürdig kleidete und daß man „seine finstere Physionomie ebenso auffallend wie abstoßend fand". Schreyer hat nach dem Kandidatenexamen fast 25 Jahre auf eine Pfarrstelle warten müssen. Durch Verwendung Reinhards erhielt er mit 50 Jahren dann die Pfarrstelle Ortrand. 6 Auch in den ungedruckten philosophischen Vorlesungen von 1783—1786 hat Reinhard Crusius reichlich zitiert. Darüber hinaus zeigt das auch die Lehrart seines philosophischen Schülers Gottlieb Ernst Schulze (1761—1833), der wesentlich unter dem 4
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Reinhard hat sich zwar in dieser Krise von der ausschließlichen Bindung an Crusius, vom Crusianismus, gelöst, aber es gibt auch Hinweise darauf, daß die Herkunft von Crusius für die Ausbildung seiner eigenen Position nicht ohne Wirkungen geblieben ist. Diese Wirkungen dürften im wesentlichen in vier Momenten zu erkennen sein: 1. Reinhard ist philosophisch sein Leben lang Realist gewesen. Das ist in gewissem Sinne eine Vereinseitigung des Crusius, der Transzendentalismus und Realismus noch zu verbinden gewußt hatte 7 . Nach Crusius tritt hier eine Aufspaltung ein, indem sich die Fragestellung auf der einen Seite stärker auf die Bedingungen des Erkennens auf unserer Seite richtet und also der transzendentale Erkenntnisvorgang selbst mit seinen Voraussetzungen, Möglichkeiten und Grenzen untersucht wird. Diesen Weg ist damals Kant, der ebenfalls von Crusius beeinflußt ist, gegangen. Auf der andern Seite konnten die ontologischen Aussagen und Voraussetzungen von Crusius weiter verfolgt werden, also vor allem seine Auffassung, daß Raum und Zeit reale Wesensbedingungen jeder möglichen Existenz sind und sein müssen und daß damit auch „Geistern" und sogar Gott Raum als Daseinsform zuerkannt werden muß. Diese Richtung hat Reinhard eingeschlagen. Die Bedeutung des Realismus als philosophischer Voraussetzung von Reinhards theologischem Weltbild wird man sehr hoch veranschlagen müssen. 2. Unter Weiterführung von Gedanken Johann Albrecht Bengels hatte Crusius die Heilsgeschichte von den Anfängen des Alten Testamentes an unter dem Gesichtspunkt des allmählichen Fortschritts und der stufenweisen Verwirklichung des Reiches Gottes auf Erden verstanden 8 . Diese Fortschrittsauffassung hat Reinhard nie aufgegeben. Sie bot ihm den Ansatz und den Anknüpfungspunkt für die Ergänzung durch ähnliche von der Aufklärungsphilosophie unabhängig von Bengel und Crusius ausgebildete Vorstellungen. Einfluß von Crusius steht, was wiederum auf die Vermittlung durch Reinhard zurückgeht. Schulze wurde 1785 Adjunkt in Wittenberg, ging 1790 auf Empfehlung Reinhards als Prof. der Philosophie nach Helmstedt und nach dessen Auflösung 1810 nach Göttingen, wo er Lehrer Schopenhauers wurde, auch auf Herbart Einfluß hatte. Berühmt war damals seine Kritik an Reinhold (1792). 7 Hierzu Max Wundt: „Die deutsche Schulphilosophie im Zeitalter der Aufklärung". Tübingen 1945 S. 338f und Heinz Heimsoeth: „Metaphysik und Kritik bei Chr. A. Crusius. Ein Beitrag zur ontologischen Vorgeschichte der ,Kritik der reinen Vernunft'". Berlin 1926, bes. S. 58ff. 8 Hierzu Franz Delitzsch: „Die biblisch-prophetische Theologie, ihre Fortbildung durch Cr. A. Crusius und ihre neueste Entwicklung seit der Christologie Hengstenbergs". Leipzig 1845, bes. S. 1 1 5 - 1 6 3 .
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3. Crusius hatte neben der Entwicklungsgeschichte in der sichtbaren Welt und Geschichte eine parallele Entwicklungsgeschichte in der unsichtbaren Welt angenommen, „denn das Reich Gottes umspannt Himmel und Erde und beide haben ihre Geschichte" 9 . Das hatte ein verstärktes Interesse an der Angelologie hervorgerufen, vor allem aber zu einer Fortbildung der Lehre von den gefallenen Engeln, der Dämonologie, geführt und, auch wiederum unter Wirkung Bengelschen Einflusses, eine starke Beobachtung der endzeitlichen Vorstellungen der Offenbarung des Johannes mit sich gebracht, bei denen besonders die endzeitlichen Notzeiten und der endzeitliche Kampf und schließliche Sieg Christi über die bösen Engels- und Teufelsmächte herausgestellt werden. Reinhard hat aus diesem ganzen Vorstellungskomplex das meiste nicht übernommen. Vor allem hat er sich die apokalyptischen Vorstellungen nicht zu eigen gemacht, auch hat die Dämonologie für ihn niemals eine konstitutive Bedeutung gehabt 10 . Ihn hat offensichtlich nur das Positive und Lichtvolle an diesen Vorstellungen angezogen. Und da ist Crusius insofern für ihn bedeutsam gewesen, als ihm schon von ihm her die sichtbare und die unsichtbare Welt, Erde und Himmel ak eine zusammenhängende Wirklichkeit, als das Reich Gottes erschienen, das nicht getrennt und aufgespalten werden darf. Diese Reich-Gottes-Vorstellung kennt zuletzt keine zeitlichen und räumlichen Grenzen. Darum hat Reinhard auch der Angelologie, nicht aber der Dämonologie stets größtes Interesse geschenkt, weil sie die überirdisch jenseitige Möglichkeit und Form des Lebens im Reiche Gottes zur Anschauung bringt 11 . 4. Mit Einschränkung kann schließlich gesagt werden, daß Reinhard von Crusius den Begriff der Vollkommenheit übernimmt und zwar in dem Sinne, daß Gott es ist, der den Menschen zur Vollkommenheit führen will 12 . Mit Einschränkung muß das insofern gesagt werden, als der Vollkommenheitsbegriff nicht von Crusius stammt, sondern einerseits 9
Mit diesem Satz charakterisiert Delitzsch Crusius ebd. S. 123. 10 Daß Reinhard in den „Vorlesungen über die Dogmatik" 1. Aufl. 1801 zum Erstaunen manches Zeitgenossen auch Dämonologie und Satanologie vorträgt, ist von seiner Herkunft von Crusius her zu verstehen. Es besagt aber nicht, daß sich diese Lehren systematisch bei ihm ausgewirkt hätten. 11 Mit diesem Interesse an der Angelologie steht Reinhard nicht allein. Wolfgang Philipp („Das Zeitalter der Aufklärung". In: Klassiker des Protestantismus Bd. VII. Bremen 1963 S. LXXVIIf) hat zuerst darauf aufmerksam gemacht, daß die Angelologie in der Verbindung mit der Kosmologie für viele Neologen eine große Bedeutung hat. 12 Katharina Franz geb. Korn: „Der Einfluß der stoischen Philosophie auf die Moralphilosophie der deutschen Aufklärung". Diss. phil. Halle 1940 S. 59.
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auf Leibniz 13 zurückgeht und andererseits auf Philipp Jakob Spener 14 . Der Vollkommenheitsbegriff hat von diesen beiden her im philosophischen und theologischen Denken damals allenthalben eine große Rolle gespielt, wobei natürlich individuelle Ausprägungen, wie etwa bei Crusius, möglich waren. Wenn hier trotzdem behauptet wird, daß Reinhard auch diesen Begriff von Crusius übernommen hat, dann gilt das in dem Sinne, daß Reinhard dieser Begriff durch Vermittlung des Crusius'schen Systems überliefert worden ist, und in dem Sinne, daß er an der Crusius' sehen Fassung neben anderem immer auch festgehalten hat. Das alles zeigt, daß von Crusius doch auch bleibende Wirkungen auf Reinhard ausgegangen sind. Es zeigt aber auch, daß er recht hat, wenn er sich in dem Bericht über die Krise für die folgende Zeit als Eklektiker bezeichnet. Das ist er, weil er von Crusius eben nur das übernimmt, was ihm etwas bedeutet und auch in Zukunft wichtig geblieben ist.
b) Ihre Bedeutung hinsichtlich des Verhältnisses zu den theologischen Auseinandersetzungen der Zeit In dem Bericht über die Krise schreibt Reinhard auch von der Verwirrung, die die theologischen Streitigkeiten der damaligen Zeit in ihm hervorgerufen haben. Man fragt sich, was er damit gemeint haben könnte. Ein Blick auf sein Schrifttum, das in diesen Jahren entstanden ist, zeigt, daß es einmal der Fragmentenstreit ist, der ihn beunruhigt, zum andern die zunehmende Radikalisierung der Neologie. Zu beiden Komplexen liegen Schriften vor, die jetzt näher untersucht werden müssen. 1. Reinhards Stellung im
Fragmentenstreit
Reinhard konnte im Fragmentenstreit, der 1777 voll einsetzt, nicht mehr die dogmatisch-biblische Position von Crusius einnehmen. Es muß ihm beim Verfolgen der Auseinandersetzungen klar geworden sein, daß dem Angriff des zunächst ungenannten Fragmentisten auf die Glaubwürdigkeit von Bibel und Christentum nicht dogmatisch, sondern historisch geantwortet werden muß. Hierbei kann ihm Crusius nicht mehr helfen. Die Herausforderung durch den Fragmentisten macht das offenbar. Eine neue Zeit mit neuen Fragestellungen ist angebrochen. Aber Reinhard nimmt diese Herausforderung, die die Theologie zwingt, auf ihre Quellen zurück13 Emanuel Hirsch: „Geschichte der neuern evangelischen Theologie". 3. Aufl. Gütersloh 1964 Bd. 2 S. 3Iff. Μ Ebd. S. 148ff.
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zugehen, an und wird so zu einem der Väter der Leben-Jesu-Theologie 15 . Das entscheidende Buch, das der 28-jährige gegen den Ungenannten 16 schreibt, erscheint 1781 zum ersten Mal 17 unter dem Titel: „Versuch über den Plan, den der Stifter der christlichen Religion zum Besten der Menschen entwarf; ein Beytrag zu den Beweisen für die Wahrheit dieser Religion". Die Vorarbeit dazu bildet das Programm, das er zum Antritt der a.o. philosophischen Professur im Juli 1780 unter dem Titel Consilium bene merendi de universo humano genere ingenii supra hominem elati documentum vorgelegt hatte. Hier zunächst eine kurze Übersicht über den Inhalt dieses Buches: Nach Reinhard besteht die Größe Jesu darin, daß er einen Plan entwarf, der die Beglückung des ganzen Menschengeschlechtes zum Ziel hat. Zwar beginnt Jesus zunächst in der Begrenztheit seines Vaterlandes. Aber er läßt doch während seiner ganzen Wirksamkeit keinen Zweifel darüber aufkommen, daß er über das Judentum hinaus auf alle Menschen zielt. Das gibt seiner Tätigkeit eine gewisse Spannung: Einerseits knüpft er im Judentum an, nimmt jüdische Vorstellungen auf, ist Jude, andererseits durchbricht er die Grenzen des Jüdischen ständig und dringt auf das Allgemeine, das Menschliche, das Geistig-Moralische. Er nimmt Kontakt mit Heiden auf, mit Verachteten, mit Kindern und sucht so „den hohen Werth der menschlichen Natur" 1 8 überall ins Licht zu stellen. Universal verkündet er Gott als den Vater aller Menschen und entwickelt den Begriff des Nächsten. Das, was er erreichen will, faßt er in den Begriff des Reiches Gottes. Darin liegt der Vorteil, daß er für seine Verkündigung des Interesses des jüdischen Volkes gewiß sein kann, aber auch die Notwendigkeit, die irdisch-politischen Vorstellungen, die die Juden mit diesem Begriff ver1 5 Cf. hierzu Albert Schweitzer: „Geschichte der Leben-Jesu-Forschung". 6. Aufl. Tübingen 1 9 6 1 , der S. 31ff auf Reinhard eingeht, und Emanuel Hirsch a.a.O., der Reinhards Bedeutung im Rahmen des Fragmentenstreits Bd. 4 S. 162ff würdigt. 1 6 Er schreibt gegen den Ungenannten, will aber auf Polemik verzichten: „Weitläufig streiten werden wir aber hierbey nicht. Es ist der Mühe nicht werth, wider die Bosheit, womit jener Ungenannte, dem es so sehr an Unpartheyligkeit und Wahrheitsliebe mangelt, zum Zwecke Jesu geschrieben, und die wohlthätigsten Absichten, die jemals in einem menschlichen Geiste gewesen sind, durch die giftigsten Verläumdungen verdächtigt zu machen gesucht hat, etwas zu erinnern; sie ist zu auffallend, zu erbittert und zu feindselig, jene Bosheit, als daß sie nicht jeden Menschen von unverdorbnem Herzen empören und mit Unwillen erfüllen sollte". „Versuch über den Plan . . . " 4. Aufl. S. 10.
" Weitere Aufl.: 1784. 1 7 8 9 , 1 7 9 8 , 1 8 3 0 . Hier ist die 4. Aufl. von 1 7 9 8 zitiert. 18 Ebd. S. 48.
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banden, zu vergeistigen. Damit seine Umwelt erkennt, wie wenig es ihm auf politische Herrschaft ankommt, begibt er sich freiwillig in den Tod. Dadurch wurde noch einmal deutlich, was er unter Reich Gottes verstand: Ein Reich der Sittlichkeit und Tugend, ein Reich der Anbetung Gottes im Geist und in der Wahrheit. Insofern ist Jesus religiös-sittlicher Weltverbesserer. „Eine neue sittliche Schöpfung war es demnach, was Jesus vorhatte; eine Belebung der ganzen Menschheit zu einem besseren Daseyn; eine Erweckung, Richtung und Veredelung aller in ihr vorhandenen geistigen Kräfte; eine Erhebung des ganzen menschlichen Geschlechts zu einer wahren moralischen Würde und Wohlfahrt. Dieß war der Begriff vom Reiche Gottes, der Jesus vorschwebte" 1 9 . Wollte er das erreichen, so mußte er sowohl den Aberglauben, der alle wahre Religion verdunkelt hatte, stürzen als auch die Sittenlehre reinigen, d.h. „sie der menschlichen Natur anpassen" 2 0 , und schließlich in die gesellschaftlichen Verhältnisse einen humaneren Geist bringen. Er tat das, indem er bessere Begriffe von Gott (Gott als Vater, Wohltäter, Gott als Güte und Vollkommenheit) und von der Sittlichkeit (Sittlichkeit als Liebe) herausstellte. Damit hat er Religion und Sittenlehre nicht nur von allen unwürdigen und unvernünftigen Beimischungen gereinigt, sondern durch die Forderung der Gottes- und Nächstenliebe auch miteinander verbunden, ohne doch beiden ihre Eigenständigkeit zu nehmen. D.h. Jesus begründete weder die Religion mit Hilfe der Moral, weil die Religion auf ihren eigenen Gründen ruht, noch baute er die Moral auf die Religion. Denn auch die Moral hat ihre eigenen, von der Religion verschiedenen Grundlagen. Durch die Liebesforderung entstand aber „eine Zusammenordnung beider, ein schwesterlicher B u n d " 2 1 , denn nun konnte die Religion moralische und die Moral religiöse Züge annehmen, was vor Jesus so nicht der Fall war. Zugleich konnte er durch den Begriff der Liebe die Moral von Vorstellungen des Eigennutzes und von knechtischer Furcht befreien, denn der Liebende sucht keinen Lohn und das Gotteskind kennt keine Furcht. Durch die Liebesforderung konnte Jesus aber auch die Wurzel aller ungerechten gesellschaftlichen Zustände treffen: die Selbstsucht. Jesus sah keine Notwendigkeit, als politischer Revolutionär zu wirken. Er versprach sich eine Besserung aller Verhältnisse durch den immer weiter und überall verändernd wirkenden Geist der Liebe.
« Ebd. S. 73. 20 Ebd. S. 74. 21 Ebd. S. 102.
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Nachdem Reinhard so gezeigt hat, wie Jesus seinen Plan entworfen hat, und wie er für dessen Verwirklichung kämpfte und starb, sucht er im zweiten Teil seines Buches nachzuweisen, daß „kein großer Mann des Alterthums vor J e s u einen wohltätigen Plan für das ganze menschliche Geschlecht entworfen h a t " 2 2 . Die Großen waren bei aller Ehrfurcht, die man vor ihnen haben sollte, zuletzt doch begrenzt, eingeschränkt auf ihr Vaterland oder eine Schule. Universal wie Jesus waren sie alle nicht. Damit man aber die Größe J e s u und seines Planes ganz ermessen kann, will Reinhard nun im dritten Teil zeigen, daß dieser Entwurf nicht überspannt und unvernünftig, sondern durchaus praktikabel ist. Seine Ausführbarkeit wird dann in drei Eigenschaften gesehen: Dieser Plan ist sittlich, faßlich und geistig 23 . Sittlich, d.h. daß er der menschlichen Natur, dem tiefsten Wesen des Menschen, „den Anlagen zur Moralität", Rechnung trägt; faßlich, d.h. daß er auf die Allgemeinheit, also auch auf die Ungebildeten, Rücksicht nimmt; geistig, d.h. daß er in allen Ländern, Sprachen und gesellschaftlichen Verfassungen Eingang finden kann. Damit besitzt der Plan Jesu, besitzt das Christentum alle Eigenschaften einer Universalreligion. Daß Jesus aber einen solchen Plan entwerfen konnte, zeigt, daß in seinem Charakter höchste Weisheit, unerschütterliche Seelenstärke, sittliche Größe und tiefe Liebe zum Menschengeschlecht gelegen haben müssen. Die Frage sei deshalb, ob diese Eigenschaften sich in Jesus nach den gewöhnlichen Wachstumsgesetzen großer Naturen entwickelt haben, oder ob höherer Einfluß anzunehmen ist. Da man die religiös-sittliche Entwicklung J e s u rein aus den Umständen nicht erklären könne, müsse man höheren Einfluß annehmen und sich fragen, ob die Meinung derer, die „den Stifter der christlichen Religion auch um einer Menge anderer Beweise willen für den erhabensten Gesandten Gottes an unser Geschlecht, für den Erlöser und Heiland desselben halten, nicht viel vernünftiger ist, als der Leichtsinn derer, die ohne vernünftige Ursachen, das Gegentheil glauben" 2 4 . Das Besondere an diesem Buch ist zunächst einmal die Methode, mit der es gearbeitet ist. Sie besteht in einem geistesgeschichtlichen Vergleich: „Hier betrachten wir Jesus wie jeden großen Mann des Alterthums und erklären bloß diejenigen Stücke seines Entwurfs, die eine Ähnlichkeit mit den wohlthätigen Absichten anderer verehrter Männer haben; um daraus den Schluß ziehen zu können, sein Plan sey der größte, erhabenste und wohltätigste, der gedacht worden ist und gedacht werden 22 Ebd. S. 230. 23 Ebd. S. 382ff. 24 Ebenda S. 512 56
kann" 2 5 . Es soll sich dem Leser die Einsicht ergeben, „er habe seinesgleichen nicht in der Geschichte" 26 , und „daß er ein außerordentlicher Mensch und ein von Gott gesandter Lehrer sein müsse" 27 . Diese Methode hat zwei Vorteile. Einmal den, daß sich wenigstens der gebildete Leser damals unter Jesus und seinen Absichten etwas vorstellen kann. Er ist nach diesem Verfahren vergleichbar mit anderen großen Männer des Altertums. Dabei spricht alles dafür, daß sowohl Reinhard als auch die Leser bei dem Stichwort „Lehrer" nicht so sehr an einen jüdischen Rabbi sich erinnert fühlten, sondern die Nähe dieses Jesus zu Sokrates empfunden haben. Es ist zu Recht darauf hingewiesen worden, daß man das Jahrhundert der Aufklärung seinem Wesen und Selbstverständnis nach auch das „sokratische Jahrhundert" nennen kann 28 . Tatsächlich fühlte sich das Jahrhundert der Aufklärung keinem Philosophen so verbunden wie gerade Sokrates. Das steht in innerstem Zusammenhang mit der weitverbreiteten Griechenbegeisterung, die gelegentlich schon eine Gräcomanie war, wie sie durch die Arbeiten von Johann Joachim Winckelmann ausgelöst worden ist 29 , und mit dem enormen Einfluß, den die Stoa namentlich auf die Moralphilosophie und auf die Fassung und Füllung der Moralbegriffe gewonnen hatte 3 0 . Keiner geschichtlichen Zeit und Kultur fühlte sich die Aufklärung bzw. der Neuhumanismus so nahe und hat so intensiv aus ihren Vorstellungen geschöpft und sich angereichert wie der klassisch-griechischen, wobei dann in Philosophie und Moral vor allem die sokratisch-stoische Tradition zum Tragen kam. Davon ist auch Reinhard geprägt. Er nennt Sokrates den vir singularis et antiquorum philosophorum facile princeps 31 . Von den vier philosophischen Veröffentlichungen, die er bis zum Erscheinen seines Jesus-Buches vorgelegt hat, gelten zwei Sokrates bzw. seiner Methode 3 2 . κ * " μ
Ebenda S. 9f. Ebenda S. 1. Ebenda S. 357. Gerhard Funke: „Die Aufklärung". 1963, bes. S. lOff. 29 Cf. hier zum Ganzen: W. Rehm: „Griechentum und Goethezeit. Geschichte eines Glaubens". 3. Aufl. München 1952. 30 Katharina Franz geb. Korn: „Der Einfluß der stoischen Philosophie auf die Moralphilosophie der deutschen Aufklärung". Diss. phil. Halle 1940. 31 Opuscula academica Bd. 1 S. 315. 32 Nämlich einmal das Programm De veterum inductione ad locum Diogenes Laertii liber III Segmentum 53—54 von 1780, wo Reinhard von einer zu wenig beachteten Stelle aus dem Diogenes Laertius her die Bedeutung der induktiv-sokratischen Methode bei den Nachsokratikern aufzuzeigen versucht. Zum andern die akademische Rede De ratione docendi socratica in institutis philosophiae academicis, ebenfalls
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Und für das von 1782—1787 in Helmstedt erscheinende Rezensionsorgan Annales Literarii33, dessen Mitarbeiter er war, steuert er eine ausführliche gelehrte Rezension über ein damals erschienenes Sokratesbuch bei 34 . So legt sich, auch wenn Reinhard in dem Jesus-Buch selbst auf Sokrates nicht übermäßig ausführlich eingeht, doch die Meinung nahe, daß hinter diesem Jesus-Bild das Bild des Sokrates steht, und man kann sagen, zuletzt ist dieser Jesus ein in Menschheitsdimensionen vergrößerter Sokrates. Damit wird er vorstellbar. Zum andern wird aber gerade so auch wieder die Einzigkeit Jesu herausgestellt und gewahrt. Um sie hat Reinhard auch gekämpft. Es ist interessant zu sehen, daß er um diese Zeit (1781) zwei seiner Schüler gegen die Überschätzung des Sokrates 35 und gegen die Gräcomanie, hier 1780, mit der Reinhard zur Anwendung der sokratischen Methode auch auf den deutschen Hochschulen ermuntern will. In dem folgenden additamentum De methodo docendi socratia untersucht er Berichte über die sokratische Methode in der antiken Literatur. Die beiden anderen philosophischen Veröffentlichungen sollen hier ebenfalls angeführt werden: Die Disputation De morte voluntaria quid et quam clare praecipiat philosophia, ad locum Piatonis in Phaedon Cap. VI, vorgelegt 1778, um A d j u n k t in der philosophischen Fakultät zu werden. Hier erklärt Reinhard, daß er trotz der guten und z.T. auch weiterführenden (christlichen) Argumente, die Crusius und Mendelssohn zuletzt gegen den Selbstmord vorgetragen haben, doch vorerst bei dessen rein philosophischer Ablehnung durch Plato bleiben möchte. Die Disputation hat so drei Teile: Im 1. werden Gründe genannt, die einen Selbstmord veranlassen können, im 2. wird Piatos Gegenargumentation vorgetragen, im 3. wird sie verteidigt. — In der akademischen Rede De coniungenda cum tradendis philosophiae placitis eorundem historia von 1780 tritt Reinhard dafür ein, daß die Philosophiegeschichte als Ideengeschichte (historia placitorum) vorgetragen wird, nicht wie bisher meist als bloße Philosophengeschichte (historia philosophorum) oder als Entwicklungsgeschichte des menschlichen Geistes (historia mentis humanae). Die Vorteile wären größere Lebendigkeit und größerer Durchblick. 33 Herausgegeben von Heinrich Philipp Konrad Henke (1752—1809) und Paul J a k o b Bruns ( 1 7 4 3 - 1 8 1 4 ) . Diese Rezension findet sich in Bd. 2 von 1784 S. 2 9 3 - 3 1 7 und bezieht sich auf das Buch „Osiris und Sokrates", Berlin 1783, von Friedrich Viktor Leberecht Plessing. Reinhard lehnt hier die These Plessings, daß Sokrates eigentlich gegen den damals auch in Griechenland verbreiteten Osiris-Aberglauben gekämpft habe, entschieden ab und bestreitet, daß die Osiris-Religion so weltweit verbreitet war, wie Plessing annimmt. 3S J o h . Georg August Hacker: Imago vitae m o r u m q u e Socratis e scriptoribus vetustis expressa. Hacker nennt als einen der Gründe für seine Arbeit, daß in der Gegenwart Socrates stets so dargestellt werde, daß es nicht zum christlichen Glauben
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speziell gegen die unkritische Verherrlichung des perikleischen Athen 3 6 , disputieren läßt. Der Kampf um die Person Jesu wird hier in die Geistesgeschichte verlagert. Mit der Methode hängt die andere Eigenart dieses Buches zusammen, nämlich die Tatsache, daß es sich hier inhaltlich um eine rein positivkonzeptionelle Gegendarstellung gegen den Fragmentisten handelt. Exegetisch-historische Details, die Reinhard noch in den beiden diesem Buch vorangegangenen, seinen ersten theologisch-exegetischen Schriften 37 beschäftigt hatten, spielen keine Rolle. Das Neue Testament wird reichlich zitiert und überall als historisch echt vorausgesetzt. Der Ton liegt auf dem positiven Gesamtbild, das von Jesus gezeichnet wird, das man im ganzen um seiner inneren Geschlossenheit als wahr annehmen oder ablehnen muß. Diese Gegenkonzeption erwies sich gegenüber dem Fragmentisten als wirkungsvoller als alle Detailkritik. Darum haben die Zeitgenossen dieses Buch auch sehr geschätzt und, wie man an den häufigen Bezugnahmen sehen kann, sich weithin innerlich angeeignet 38 .
hinführe. Er schildert dann Sokrates eindrucksvoll und bewundernd als wahren Aufklärer, Patrioten, Hausvater und Menschenfreund, zeigt aber dann doch auch seine Grenzen, die vor allem darin liegen, daß er aus einer abergläubischen Erwählungsgewißheit gelebt habe, moralisch nicht ohne eine gewisse Leichtfertigkeit war und den öffentlichen Kampf gegen den Aberglauben zuletzt gescheut habe. 36 Friedrich Gottlieb Merkel: Utrum Athenienses cum florentissimam haberent rempublicam vere felices fuerint. Auch Merkel wendet sich gegen die Tendenz der Zeit, zum Schaden des Ansehens der christlichen Religion die Athener nur darum glücklich zu nennen, weil sie mächtig waren und sucht demgegenüb er nachzuweisen, daß die vorchristlichen Athener eigentlich gar nicht so glücklich waren, wie man meint. 37 Hierbei handelt es sich einmal um Reinhards Habilitationsdisputation von 1777 De versionis Alexandrinae auctoritate et usu constituenda librorum hebraicorum lectione genuina, in der Reinhard den Versuch unternimmt, die weithin bestrittene Echtheit des codex Alexandrinus nachzuweisen. Zur Erlangung des Baccalaureates in der Theologie legte Reinhard 1778 seine zweite theologische Schrift vor, die Disputation Symbola ad interpretationem Psalmi sexagesimi octavi. Specimen I et II. Diese Auslegung stützt sich besonders auf J o h . Heinrich Michaelis, auf J o h . David Michaelis, auf Stark und zieht neben hebräischen auch griechische, lateinische und arabische Schriftsteller heran. 38 Von der vierten Auflage an hat Reinhard diesem Buch noch einen besonderen Akzent gegeben, indem er ein Kapitel gegen die Geheimbünde (Logen, Bruderschaften, studentische Orden) einfügte und zu zeigen versuchte, daß Jesus sich zur Ausführung seines Planes solcher gefährlichen und abzulehnenden Verschwörungen nicht bedient hat. Auch einen Schüler, J o h . Georg Karl Klotzsch, ließ er 1786 gegen die Geheimverschwörungen disputieren: De Christo ab instituenda societate clandestina alieno. Auch in Predigten hat sich Reinhard gegen die Geheimgesellschaften ausgesprochen, z.B. Reutlinger Ausgabe Bd. 14 S. 372.
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Als Diskussionsbeitrag im Rahmen des Fragmentenstreites muß auch Reinhards Buch „Über das Wunderbare und die Verwunderung ein psychologischer Entwurf; erster Teil" von 1782 angesehen werden. Drei Jahre früher hatte er schon einmal über die Wunderproblematik disputieren lassen, und zwar von Franz Jakob Theodor Meyer unter der Fragestellung: Utrum ad iudicium de miraculis requiratur universae accurata cognitio. In dieser Disputation wird die Frage bejaht, weil das Kennzeichen des Wunders die Durchbrechung der Naturgesetze ist, die der Mensch kennen muß, um Wunder als Wunder zu erkennen. Solche Durchbrechung geschieht von Gott mit dem Ziel, bestimmte auserwählte Männer (viri divini) durch beglaubigende Mirakel auszuweisen und zu empfehlen (commendare), um die Aufmerksamkeit für ihre Botschaft zu erreichen, die dann ihrerseits die Entwicklung der Menschheit weiterbringt. Diese Konzeption ist noch deutlich von Crusius bestimmt. Er hatte die Wunder als notwendige Bestätigung der Offenbarung verstanden und sie so dem Gesamtplan Gottes zur Weiterführung der Menschheit eingefügt gesehen 39 . Jetzt, in dem neuen Buch, hat Reinhard sich von Crusius gelöst und sucht statt einer solchen theologischen eine mehr anthropologisch-psychologische Erklärung der Wunder. Seine These ist, daß der Begriff „Wunder" aufgelöst werden muß in den allgemeinen Begriff des „Wunderbaren". Das ist aber ein psychologischer Begriff, weil „wunderbar" nur ist, was mir als wunderbar erscheint. In diesem Sinne gilt ihm der Satz: „Nichts ist überhaupt und absolut, d.h. für alle denkenden Wesen zusammengenommen, wunderbar, alles Wunderbare ist es nur beziehungsweise" 40 . Was dem Menschen als wunderbar erscheint, muß es für Gott noch lange nicht sein. Und auch bei den Menschen gibt es Unterschiede, denn der Unwissende wird manches leichter bewundern, was sich dann doch erklären läßt; andererseits können Weisheit und Tiefsinn manches Wunderbare überhaupt erst entdecken. Für den Menschen ist das Sich-Verwundern-Können etwas Positives. Denn daß einem Wunderbares auffällt, reizt zur Aufhellung, und insofern ist die Verwunderung die Mutter aller Wissenschaft und allen Fortschritts. Das könne am besten im Leben selbst beobachtet werden, wo aus der Verwunderung des Kindes Neugier und Entdeckungsdrang wird. Insofern ist das Sich-Verwundern für die Entwicklung des menschlichen Geistes ganz allgemein von großer Bedeutung: „Betrachtet man endlich die Fortgänge der Aufklärung bey dem menschlichen Geschlecht im ganzen, so trifft man die bisher bemerkte Bahn noch einmal an. Auch das ganze » Cf. Franz Delitzsch a.a.O. S. 65ff. „Über das Wunderbare . . . " S. 34.
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menschliche Geschlecht erhebt sich nur langsam, und nachdem es sich viele Jahrhunderte in der Gegend des Wunderbaren verweilt hat, zum reifern männlichen Alter der Vernunft" 4 1 . Die Verwunderung ist so eine Vorstufe, eine Entwicklungsstufe des Einzelnen wie der Menschheit auf dem Wege zu einer vernünftigen Erfassung der Dinge. Schließlich müsse aber gesehen werden, daß die Verwunderung niemals ganz, trotz aller Aufklärung, aufhören wird, und daß ein völliges Aufhören auch gar nicht wünschenswert sein kann; mit der Wißbegierde würde es dann zu einem Ende kommen. Die menschliche Natur hat einen bleibenden Hang zum Wunderbaren und zur Verwunderung, der nicht überholt werden kann. Die höchste Bewunderung gilt Gott. Zu einer abschließenden Antwort ist Reinhard auf diesem Wege nicht gekommen und seine spezielle Absicht, in einem zweiten Teil von hier aus die Wunder Jesu zu erklären, hat er nicht durchgeführt. Karl Heinrich Ludwig Pölitz 42 , Freund und Biograph Reinhards, berichtete später, er habe diesen Versuch nicht fortgesetzt, „weil ihm einige ungünstige Beurteilungen in seiner Nähe von der Fortsetzung seiner Schrift zurückhielten" 43 . Das kann man sich gut vorstellen, weil dieser Ansatz — trotz des Schlusses, der die bleibende Bedeutung der menschlichen Verwunderungsfähigkeit betont —, im Grunde darauf hinausläuft, die Wunder als für frühere Entwicklungsstufen der Menschheit wichtig, für die Gegenwart aber zuletzt als unerheblich anzusehen. Damit nähert sich Reinhard einer Auffassung, wie sie damals etwa von Lessing vertreten wurde, der die Wunder zu den zufälligen Geschichtswahrheiten, nicht aber zu den notwendigen VernunftsWahrheiten des Christentums rechnet 44 . Diese Konsequenz, daß die Wunder durch die Entwicklung des menschlichen Geistes überholt und also nicht wesentlicher Bestandteil des Christen-
« Ebd. S. 177. « Pölitz ( 1 7 7 2 - 1 8 3 8 ) erhielt 1794 durch Verwendung Reinhards die Professur für Moral und Geschichte an der Ritterakademie in Dresden. Ab 1804 war er o. Prof. des Natur- und Völkerrechts in Wittenberg, 1805 o. Prof. der Geschichte und Statistik Sachsens in Leipzig, 1820 ebendort Prof. der Staatswissenschaften. Pölitz stand während seiner Dresdener Zeit in freundschaftlichem Verkehr mit Reinhard, der von Wittenberg aus in einem ständigen Briefwechsel fortgesetzt wurde. Zu den verschiedenen Veröffentlichungen von Pölitz speziell über Reinhard cf. das Literaturverzeichnis. 43
Κ. H. L. Pölitz: „D. Franz Volkmar Reinhard nach seinem Leben und Wirken dargestellt." 2 Bände Leipzig 1813 und 1815. Hier Band I S. 73. 44 Ausgesprochen von Lessing 1777 in der Schrift gegen Schuman: „Uber den Beweis des Geistes und der Kraft": „Zufällige Geschichtswahrheiten können der Beweis von notwendigen Vernunftwahrheiten nie werden".
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turns sind, hat Reinhard offensichtlich nicht aussprechen wollen. Von der Anlage seines Buches her wäre das aber trotz des versöhnlichen Schlußteils eigentlich folgerichtig. 2. Reinhards Position angesichts der sich radikalisierenden
Neologie
Mit keiner seiner Jugendschriften hatte Reinhard einen solchen Erfolg in der akademischen Welt wie mit seinem Jesus-Buch. Von der weiteren theologischen Entwicklung her gesehen, dürfte dieses Buch aber in seiner Bedeutung für ihn selbst trotzdem nicht überschätzt werden. Denn er hat den Weg, den er dort eingeschlagen hat, nicht konsequent weiter verfolgt. Hätte er das getan, dann wäre ihm Jesus zu einer verehrungswürdigen Gestalt der Geistes- und Religionsgeschichte, zu einem Menschheitslehrer und Beglücker geworden, dessen Bedeutung sich in seinem Plan, seiner Lehre und seinem Vorbild erschöpft. Reinhard hat diese Konsequenz in Ausschließlichkeit nicht gezogen. Sie ist ihm aber in mehr oder weniger abgewandelter Gestalt bei anderen Zeitgenossen entgegengetreten, nämlich bei den sich zunehmend radikalisierenden Neologen. Sie sprachen das aus, was sich bei ihm auch angelegt fand. Deshalb fühlte er sich wohl veranlaßt, sich mit ihnen auseinanderzusetzen. Der Gegner, den er sich dabei herausgreift, ist Gotthelf Samuel Steinbart (17 38—1809) 45 , Schüler von Sigmund Jakob Baumgarten ( 1 7 0 6 1757), Wilhelm Abraham Teller ( 1 7 3 4 - 1 8 0 4 ) und Johann Gottlieb Toellner (1724—1774). Er hatte 1778 ein „System der reinen Philosophie, oder Glückseligkeitslehre des Christenthums, für die Bedürfnisse seiner aufgeklärten Landsleute und anderer, die nach Weisheit fragen, eingerichtet" erscheinen lassen, das immer wieder aufgelegt wurde und 1794 in 4. Aufl. erschien. In dieser und anderen ähnlichen Schriften hatte Steinbart neben scharfer Kritik am Alten Testament und der von ihm bestimmten Genugtuungslehre vor allem die These vertreten, die Aufgabe Jesu sei entscheidend darin zu sehen, den Menschen durch die Lehre von Tugend den Weg zur „Glückseligkeit" zu zeigen, die ihrerseits wiederum als das höchste Ziel des Christentums anzusehen sei. Dagegen wendet sich Reinhard in seiner theologischen Doktor-Dissertation vom 15. Nov. 1782: De notione felicitatis humanae ad iudicium de placitis christianae religionis parum idonea. Diese Dissertation stellt in der theologischen Entwicklung Reinhards einen bedeutsameren Schritt « In einem Brief vom 10. März 1808 an Pölitz (dort a.a.O. Bd. 1 S. 257) hat Reinhard später bekannt, daß es Steinbart war, den er im Auge hatte, als er in diese Auseinandersetzung eintrat.
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dar als alle früheren Schriften, auch als das Jesus-Buch. Denn hier werden zum ersten Mal theologische Grundgedanken greifbar, die von Reinhard dann in besonderer Weise ausgebaut und in hohem Maße bezeichnend für ihn geworden sind. Damals ist dieses Buch allerdings kaum beachtet worden. Er geht davon aus, daß sich von der Alten Kirche an durch die ganze Kirchengeschichte hindurch die Tendenz nachweisen läßt, das Christentum mit der Philosophie zu verbinden oder durch sie zu stützen. Das habe häufig zu einer Verdunklung der Religion geführt. Diese Gefahr besteht auch in der Gegenwart. Jetzt ist man dabei, den Sinn der Religion darin zu sehen, daß sie dem Menschen Glück verschaffen soll. Was darunter zu verstehen ist, wird bezeichnenderweise nicht aus der Bibel, sondern aus der Philosophie abgeleitet. Dadurch findet zuletzt eine Überfremdung der Religion statt. Dem will er entgegentreten. Er geht dabei so vor, daß er zunächst durchaus zugibt, daß es in der Religion um das Glück des Menschen geht. Die Gebote beispielsweise sind dem Menschen zu seinem Glück und Heil verordnet. Darin zeigt sich die Vaterliebe Gottes, die für den Menschen stets das Beste will. Die Frage ist aber, was den Ausschlag gibt: Ist es das menschliche Glück, an dem sich Gott orientiert, oder ist es der eigene Wille Gottes, die necessaria natura Dei? Reinhard meint, daß das letztere das göttliche Handeln bestimmt, daß aber die natura Dei als auf das Glück des Menschen gerichtet verstanden werden muß, daß sie es will, auch wenn sie sich nicht an ihm orientiert. Im zweiten Teil wird die Frage gestellt, wie „Glück" vom Menschen her zu beschreiben wäre. Ist es nur eine gewisse Freundlichkeit des Lebens, ein Zustand? Eine solche Auffassung übersähe, daß der Mensch ständig in Bewegung ist, daß er ständig hofft, wünscht, strebt, immer in der Meinung, seinen Zustand zu verbessern und zu vervollkommnen. Glück des Menschen kann so eigentlich nur als Prozeß beschrieben werden, in dem wir unserer Vollkommenheit so nahe als möglich zu kommen versuchen. Da wir aber gesellige Wesen sind, kann Glück nicht nur in dem Streben nach individueller Vervollkommnung bestehen, sondern wird auch alle Verantwortung einschließen, die wir für die allgemeine Vervollkommnung der Menschheit haben. Dabei müssen wir uns bewußt sein, daß das Menschengeschlecht seinerseits wieder nur ein Teil des Reiches Gottes (civitas Dei) ist, daß die Menschheit mit den übrigen Teilen dieses Reiches zusammenhängt, wie die Bibel sagt, daß sich die Engel über unser Glück freuen. 63
Wenn das aber so ist, dann könnte der Mensch durchaus nicht glücklich sein oder werden, wenn ihm für dieses Fortschreiten eine Grenze gesetzt würde. Im Gegenteil: Wenn Glück Vervollkommnung heißt, dann muß er sogar die Hoffnung auf Unsterblichkeit und unbegrenzten Fortschritt (infinita progressio) hegen dürfen. In dieser Hoffnung lebten schon die Alten; sie wußten, wirkliches Glück kann nicht begrenzt sein. Im dritten Teil schließlich kommt Reinhard wieder auf die Ausgangsfrage zurück und erklärt, daß der Begriff der felicitas humana wegen seiner Unklarheit und Mehrdeutigkeit nicht geeignet ist, um von ihm her die Religion zu bestimmen. Wenn man in dieser Frage von der Religion her etwas sagen will, muß man von der Schrift ausgehen. Die heilige Schrift gibt den Maßstab aller Erkenntnis über den Menschen und die Religion ab. In der Schrift wird deutlich, daß die Religion durchaus einen Bezug auf unser Glück hat, wenn man den Begriff so auffaßt, wie es im zweiten Teil geschehen ist. Einmal nämlich stellt die Schrift das Glück des Einzelnen hinein in den großen Zusammenhang des Heils aller Menschen und" überhaupt aller Teile des Reiches Gottes. Glück ist in diesem Sinne keine Privatsache. Darum kann nur derjenige Aussagen über das Glück machen, der durch die Schrift über diese umfassenden Zusammenhänge unterrichtet ist, d.h. der ihr glaubt. Er glaubt, daß Gott in seinem ganzen Reich von der Schöpfung bis zu den Engeln alles nach seinem Willen und seiner Einsicht ordnet. Die Vorstellungen von Glück, die wir uns von unserem Standpunkt aus machen, reichen niemals aus, sie reichen auch nicht aus, um eine Gestalt wie die des Christus voll zu erfassen. Deshalb können unsere Glücksvorstellungen niemals der Maßstab sein, an dem die Religion zu messen ist. „Wer bist du, Mensch, was ist die Kraft deiner Einsicht, daß du in einer so großen und schwerwiegenden Sache wagst, zu entscheiden, was die Weisheit Gottes verfolgen und festsetzen soll?" 4 6 Zum andern kann unsere irdische Vorstellung vom Glück aber auch darum nicht Maßstab der Religion sein, weil wir in das jenseitige Leben nicht hinüberschauen können. Wir sind mit unserer Erkenntnis an das Diesseits gebunden. In allem, was darüber hinausgeht, müssen wir glauben und uns von Gott durch die Schrift belehren lassen. Diese Dissertation zeigt, was Reinhard meint, wenn er in seinem Bericht über die Krise davon spricht, daß er sich von der Bibel bestimmen lassen und sie als obersten Orientierungsmaßstab ansehen will. Hier wird diese Wende zur Bibel greifbar in dem doppelten Sinne, daß die Bibel mit der Opuscula academica Bd. 1 S. 464.
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Moral bzw. mit dem unendlichen moralischen Streben nach Vollkommenheit verbunden ist, indem sie uns die Lehren vermittelt, die dieses Streben voraussetzen und anregen, und in dem Sinne, daß sie den Menschen in den großen Zusammenhang des Reiches Gottes hineinstellt. In beiden Gesichtspunkten liegt zugleich auch der Unterschied zu Steinbart. Bei ihm dient die Religion letztlich dem eudämonistisch-egoistisch verstandenen menschlichen Glück und wird dem Glücksstreben ein- bzw. untergeordnet, so daß der Mensch zuletzt zum Maß der Bibel, der Religion und ihrer Aneignung wird. Demgegenüber zeigt die Bibel nach Reinhard, daß nicht der Mensch, sondern Gott das Maß und der Herr der Wirklichkeit ist. Das Wirklichkeitsverständnis, mit dem Reinhard dabei arbeitet, ist realkosmologisch. Es ist in seinen Grundzügen von Crusius, vor allem aber von Leibniz und Christian Wolff bestimmt, über deren Einfluß, der hier zum ersten Mal greifbar ist, noch zu berichten sein wird. Die Bedeutung dieser Dissertation liegt so zuletzt darin, daß sich Reinhard erstmalig als Supranaturalist zeigt. Während Steinbart die theologische Linie vertritt, die dann zum Rationalismus führt, der letztlich den Menschen zum Ausgangspunkt des Bibelverständnisses macht, vertritt Reinhard die Linie, die die Unterordnung unter die Autorität der Bibel fordert. Das ist das entscheidende Kennzeichen des Supranaturalismus, wobei bei Reinhard diese Unterordnung wesentlich als Einordnung in die umfassende Wirklichkeit des Reiches Gottes zu verstehen ist, in die uns die Bibel hineinstellt.
c) Ihre Bedeutung hinsichtlich des Verhältnisses zur Bibel In dem Geständnis über die Jugendkrise stellt Reinhard die Entscheidung für die Bibel als Konsequenz seines theologischen Ringens, seiner moralischen Einsicht und seiner Erziehung dar. Es besteht kein Grund, an diesen Angaben zu zweifeln. Wenn es auch nicht direkt ausgesprochen wird, so besagen sie zugleich, daß diese Entscheidung ohne Beeinflußung von außen zustande gekommen ist. In Frage käme hier der Supranaturalismus von Gottlob Christian Storr und seiner Tübinger Schule. So wie Reinhard seine Entwicklung beschreibt, muß seine Wendung zur Bibel als ein von den Tübingern unabhängiger, selbständiger Vorgang verstanden werden. Dafür spricht auch, daß er die Bibel in so engem Zusammenhang mit der Moral und der Reich-Gottes-Vorstellung sieht. Beides trifft bei den Tübingern nicht zu. Schließlich spricht auch dafür, daß er auch jetzt nicht und überhaupt nie aufhört, die Bibel auch historisch zu lesen. Er ist im Unterschied von den Tübingern der zuerst von Semler 5 Schott, Aufklämngspredigt
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vertretenen und dann von der Neologie breit aufgenommenen Ansicht, daß sich in der Bibel auch vieles Zeit- und Situationsgebundene findet, was darauf zurückzuführen ist, daß sich Jesus und die Apostel den Vorstellungen der Zeitgenossen akkomodiert haben. Daß Reinhard dem geschichtlichen Verständnis der Bibel in diesem Sinne zuneigt, war schon in dem Jesus-Buch zu erkennen, das Wunder-Buch hatte es erneut gezeigt. Darüber hinaus hatte er seinen Schüler Carl Adolph Beutler 1780 De locis quibusdam, qui in sermonibus Domini temere putantur communes disputieren lassen. Dieser wies darauf hin, daß man die Bibel nicht als allgemein gehaltenes, zeitlos-religiöses Buch ansehen darf, das sich ohne Rücksicht auf Kontext, Grammatik, Zeit, Ort und Umstände der Abfassung zitieren läßt. Auch die orthodoxe Auffassung vom mehrfachen Schriftsinn muß als unbrauchbar abgelehnt werden. Am Beispiel von Matth. 11,28—30 wird dann in dieser Disputation gezeigt, wie eine historisch-philologisch korrekte Exegese aussehen muß. Reinhard hat sich aber auch selbst ausdrücklich zur Akkomodationstheorie bekannt. Anläßlich seiner Ernennung zum ordentlichen Professor der Theologie legte er am 11. Dezember 1782 ein Programm vor, in dem es um die Frage ging: Utrum et quando possint oratores divini in administrando munere suo demittere se ad vanas hominum opiniones. Er macht eingangs darauf aufmerksam, daß er zu der Diskussion um die Akkomodation hier nur einen Beitrag leisten will, indem er untersucht, was sich zu dieser Frage von der Geschichte der Alten Kirche her sagen läßt. Sein Ergebnis ist: Einmal, daß die Akkomodationstheorie nicht eine neue Erfindung der Aufklärung sei, sondern daß die Kirchenväter, ja sogar die Apostel und Jesus sich bereits der Akkomodation bedient haben. Von den Kirchenvätern ist sie aus apologetischen Interessen dann geradezu perfektioniert worden. Zum andern haben sie die Kirchenväter grundsätzlich für moralisch erlaubt gehalten, sofern sie zum Segen des Menschengeschlechtes angewendet wird. Dem gleichen Thema im gleichen Zusammenhang (Ernennung zum o. Prof.) gilt auch die öffentliche akademische Rede am selben Tage: De prudentia theologi, in comparanda et augenda eruditione theologica aetatis suae rationem habentis. Hier geht es nicht um die Akkomodation der Alten, sondern um die, die der gegenwärtige Theologe seiner Zeit gegenüber üben soll. Reinhard hält sie für notwendig. Zwar soll der Theologe nicht überall und über alles mitreden wollen, sondern bei der Sache der Religion bleiben und sie rein bewahren wollen, aber nicht ohne Rücksicht auf den Zeitgeist. Das kann einmal dadurch geschehen, daß er sich „hauptsächlich solchen Themen (aus dem Gesamtbereich der Theologie) 66
zuwendet, für die eine Affinität im Zeitgeist besteht (quae temporibus accomodate), und die darum für die Illustration und Bewahrung der Religion in einem bestimmten Zeitalter besonders geeignet scheinen" 47 . Zum andern soll er es in der Weise tun, daß er die guten Tendenzen im Zeitgeist stärkt und in Beziehung zur Religion setzt. Schließlich soll er auf eine gute Form im Vortrag Wert legen, sich nach dem guten Geschmack richten und sich ihm akkomodieren, wissend, daß er damit selbst zur Verfeinerung beiträgt und der Religion Achtung erwirbt. Eine grundsätzliche Schwierigkeit, das historische mit dem offenbarungsmäßigen Verständnis des Neuen Testamentes zu verbinden, hat Reinhard offensichtlich nicht gesehen. Das brauchte er auch nicht, weil die Akkomodationstheorie ja selbst zwischen den allgemeinen und ewig geltenden Lehren der Religion einerseits und ihrer zeitbestimmten Einkleidung andererseits unterschied. Die Akkomodation des göttlichen Lehrers bestand gerade in der Fähigkeit, das Ewige so zeitgemäß auszusagen, daß es verstanden werden konnte. Grundsätzlich bestand für Reinhard von daher keine Schwierigkeit, historisches und offenbarungsmäßiges Verständnis der Bibel im Zusammenhang zu sehen. Die Frage war nur, wie weit reicht die Akkomodation des göttlichen Lehrers, wie weit geht seine Herablassung, oder umgekehrt, was ist ewig gültige Religionswahrheit? Diese Frage hat Reinhard in einer aufschlußreichen Rezension im Jahre 1789 in der „Allgemeinen Literatur-Zeitung" gestellt 48 . Er hat im Rahmen dieser Rezension freilich nur dazu auffordern können, daß man viel genauer untersuchen möchte, was die Juden zur Zeit Jesu nun tatsächlich geglaubt haben. Aus dem Unterschied sollte das Zeitlos-Bleibende an der Offenbarung Jesu erkannt und so versucht werden, aus der Willkür und Unsicherheit herauszukommen, in der man nie recht weiß, was zur Offenbarung und was zur Akkomodation zu rechnen ist. Damit zeigt diese Rezension aber nur noch einmal, was Reinhard vorher schon vertreten hatte und auch weiterhin vertritt: Die Akkomodationstheorie ist grundsätzlich ein brauchbares Mittel zum Verständnis der Bibel, selbst wenn es hinsichtlich ihrer Reichweite offene Fragen gibt. Mit der Hinwendung zur Akkomodationstheorie hat Reinhard den Anschluß an die damals moderne Bibelwissenschaft gefunden. Etwas Eigenständiges, Neues bedeutet das nicht. Das mag auch der Grund dafür sein, daß er in dem Krisen-Geständnis nicht besonders darauf eingegangen ist. Neu ist hingegen die Tatsache, daß er sich in der Krise dazu durchringt, die Bibel zum Orientierungsmaßstab seines Denkens zu machen; seine 47 48
Opuscula academica Bd. 1 S. 517. Dort Nr. 323 Sp. 1 4 5 - 1 4 9 .
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Dissertation zeigt ja bereits die erste Wirkung. Wenn man den Sinn dieser Entscheidung nicht verfehlen will, muß man sie in dem Zusammenhang des Geständnisses sehen, in dem von dem problematisch gewordenen Verhältnis von Vernunft und Offenbarung, Philosophie und Theologie die Rede ist. Steinbart ist nur ein Beispiel dafür, daß die Harmonie zwischen diesen Größen, von der die ganze mittlere Aufklärung gelebt hatte, nicht mehr selbstverständlich ist. Jetzt gibt es die Tendenz, diese Harmonie in Richtung auf die Dominanz und Maßstäblichkeit der Vernunft hin zu verschieben und so aufzulösen. Kann sich Reinhard dieser i'endenz zu einem Vernunft-Christentum, zum Rationalismus einschließen? Das ist die entscheidende Frage, vor der er steht. Das heißt, er hat eine grundsätzliche, in der allgemeinen Entwicklung der Aufklärungstheologie sich abzeichnende Problematik ganz persönlich genommen, persönlich durchlitten und sich dabei für die Bibel entschieden. Er wollte ein nicht primär von der Vernunft, sondern von der Bibel bestimmter Theologe sein. Das ist der nur aus der damaligen Situation und aus dem Kontrast zur Tendenz des aufkommenden Rationalismus heraus zu verstehende eigentliche Ertrag der Krise. Er besteht darin, daß die Bibel für Reinhard zu Maßstab und Autorität seines theologischen, moralischen, ja seines philosophischen Denkens geworden ist. Wie dann die Vernunft bewertet und das Verhältnis von Bibel und Vernunft bestimmt werden muß, wird von jetzt an eines der großen Themen, mit denen er sich zeit seines Lebens auseinandergesetzt hat. Zugleich ist diese Entscheidung eine Entscheidung für die Theologie überhaupt. Reinhard hatte auf dem Katheder die Philosophie und die Theologie zu vertreten. So lange beide Disziplinen in Harmonie miteinander arbeiteten und das Leibniz-Wolffsche System nachwirkte, mußte es nicht zu schweren Problemen bezüglich des Miteinanders kommen. Doch das Geständnis über die Krise ist ein Zeugnis auch dafür, daß für einen aufmerksamen Theologen die Frage beunruhigend werden konnte, wie lange diese Gemeinsamkeit noch bestehen würde, wie lange es noch dauern würde, bis die Philosophie ihren eigenen Gesetzen folgend sich von der Theologie lösen und zu einer selbständigen geistigen Macht werden würde. Kants Wirkung stand unmittelbar bevor. Reinhard deutet in seinem Geständnis auch die Stimmung eines sensiblen Theologen am Vorabend der Kant'schen Revolution an. Daß er sich für die Theologie entscheidet, durchaus unter Beibehaltung seiner Lehrverpflichtungen in der philosophischen Fakultät, bedeutet zugleich die Notwendigkeit, die Grundlage theologischer Arbeit im Unterschied zu der der Philosophie 68
festzustellen. Und diese Grundlage ist eben nach seiner Meinung die Offenbarung, die Bibel, während es dann in der Philosophie die Vernunft ist. Womit deutlich sein wird, daß die Entscheidung für die Bibel der Konsequenz nicht entbehrt, obwohl sie in einem lebenslangen Gespräch mit der Vernunft in Christentum und Philosophie durchgehalten werden will.
2. Der Ausbau der eigenen Position (1784—1792) Die Jahre, die auf die Krise folgen, sind bestimmt von dem Ringen um den Ausbau einer eigenen Position. Ansätze dazu waren schon in der Krise gefunden worden und hatten einen ersten Niederschlag vor allem in der Dissertation vom 15. Nov. 1782 gefunden. Nun kam es darauf an, von diesen und anderen in der Krise gewonnenen Anschauungen aus weiterzubauen. Davon soll jetzt die Rede sein.
a)
Philosophisch
Hier sind wir in der glücklichen Lage, ziemlich genau sagen zu können, welche Haltung Reinhard als Philosoph in den der Krise folgenden Jahren eingenommen hat, weil Teile der philosophischen Vorlesungen, die er damals gehalten hat, sich in Nachschriften von Studenten noch heute im Besitz der Bibliothek des Predigerseminars in Wittenberg befinden. Es handelt sich um zwei starke Bände, von verschiedenen Händen geschrieben, die den 2. und 3. Band eines drei Bände umfassenden Gesamtprogramms darstellen. Der erste Band fehlt. Nach allem, was sich aus Bemerkungen der Nachschreiber und aus dem von Pölitz veröffentlichten Verzeichnis von Reinhards Vorlesungen 49 ergibt, müssen die vorhandenen Nachschriften in die Zeit vom Wintersemester 1783/84 bis zum Ende des Sommersemesters 30. September 1786 datiert werden. Verschiedene Rückverweise lassen erkennen, daß er mit der Psychologie begonnen und danach die Logik und Ästhetik angeschlossen hatte. Die Psychologie und die Logik sind heut verschollen. Die Ästhetik ist noch in einer freien Wiedergabe in dem von einem gewissen Adam — ohne Reinhards Wissen — herausgegebenen Buch „Über die Grundsätze und «® Pölitz a.a.O. Bd. 1 S. 83ff.
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die Natur des Schönen", Berlin 1797, vorhanden. Es zeigt gegenüber den beiden der Ästhetik zuzurechnenden philosophischen Disputationen von Joseph Friedrich Tierfeldt 50 und Emanuel Konstantin Fahr 51 , die Reinhard früher angeregt hatte und die deutlich an der Antike orientiert sind, eine spürbare Konzentration der Betrachtung auf den Begriff der Vollkommenheit, der auch in anderen Vorlesungen wichtig ist. Der nächste Band (II) bietet die Metaphysik, die als Ontologie (§ 104— 117), natürliche Theologie (§ 1 1 8 - 1 3 7 ) und Kosmologie (§ 1 3 8 - 1 4 5 ) gelesen wird. Der letzte Band schließlich bietet dann die praktische Philosophie, also die philosophische Ethik, die in 4 Abschnitten die allgemeinsten Gründe der Sittlichkeit (§ 146—158), die Pflichten des Menschen gegen sich selbst (§ 159—168), gegen die Mitgeschöpfe (§ 169— 184) und gegen Gott (§ 1 8 5 - 1 8 9 ) abhandelt. Diese Vorlesungen zeigen nun vor allem, daß Reinhard sich dem Leibniz-Wolffschen System zugewendet hat. Überall ist der bestimmende Einfluß dieser Philosophie geradezu mit Händen zu greifen. Daß er sich gerade ihr zuwendet, ist eigentlich eine Wende ins Konservative, denn die Leibniz-Wolffsche Philosophie stand bereits nicht mehr in ihrer vollen Herrschaft. Sie befand sich schon vor ihrer Überholung durch die sich radikalisierende Neologie und durch Kant. Es ist heute nicht mehr festzustellen, wann Reinhard diese Wende vollzogen hat. Es kann nur nach der Lösung von Crusius gewesen sein, denn Crusius gerade war ja 50
Tierfeldt disputiert über die Frage: Carmina poetarura cur placeant constantiis, quam sapientiae doctorum philosophumena. 1780. Seine Disputation besteht aus zwei Teilen: im ersten werden die Gründe untersucht, warum die Dichter anhaltenderen und allgemeineren Beifall finden als die Philosophen. Als Gründe werden genannt: Leichtigkeit, Gefälligkeit, Verständlichkeit und Eleganz der Darbietung. Unter den Philosophen kommen den Dichtern hier nur Plato und Cicero, überhaupt die Sokratiker, nahe. Darum wird im zweiten Teil die Anwendung gemacht, daß die Philosophen von den Dichtern lernen und sich um eine klare Sprache mühen sollten, so wie es in der Gegenwart z.B. von Geliert, Sulzer, Mendelssohn und Garve geschieht. 51 Fahr untersucht die Frage: Utrum Sulzeri cum Piatone de vera bonarum artium dignitate consensus vana consilia suadeat. 1781. Zugrundegelegt sind Sulzers „Allgemeine Theorie der schönen Künste", Leipzig 1773 und 1775 und Piatos Erörterungen zum Thema der Künste in De legibus und De republica. Fahr sucht nachzuweisen, daß Sulzer und Plato trotz einzelner Unterschiede im großen darin übereinstimmen, daß die Künste den Menschen veredeln, tugendhafter machen sollen, das Leben verschönern und sich zuletzt auch auf den Staat positiv auswirken. Darum sollen sie auch staatlich gefördert werden. Der Maßstab staatlicher Kunstförderung muß zuletzt darin liegen, ob Kunst in diesem Sinne als gute und edle Kunst anzusprechen ist, was nach Fahr in Vergangenheit und Gegenwart leider nicht überall gilt.
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Kritiker Wolffs gewesen. Es spricht alles dafür, daß diese Wende um die Zeit der Abfassung der Dissertation vor sich ging, denn diese zeigt bereits den neuen Einfluß. Im Laufe der nächsten Jahre hat dieser Einfluß mit Sicherheit zugenommen. Die philosophischen Vorlesungen beweisen das 52 . Es erscheint als wenig sinnvoll, alle oder auch nur alle wichtigen Gedanken dieser Vorlesungen hier mitzuteilen. Für das Verständnis der Reinhard'schen Position dürfte wichtiger sein, das ins Auge zu fassen, was er von Leibniz und Wolff bleibend übernommen hat. Und das ist in der Tat viel. 1. Der Gottesbegriff: Reinhard hat ihn in der natürlichen Theologie von Wolff her definiert und auch danach die Eigenschaftslehre entwickelt. Seine Definition heißt: „Das vollkommenste Wesen, das der menschliche Geist denken kann, ist Gott". Gott ist dabei denkend zu erreichen, indem wir uns „von der Sinnlichkeit so ganz losreißen" und uns auf Vorstellungen einlassen, „die bloß die Vernunft faßt" (§ 118). Diesem Ansatz entspricht die Eigenschaftslehre: „Die einzelnen Bestimmungen, womit unser Verstand die höchste Vollkommenheit denkt, sind seine Eigenschaften" (§ 218). Alle Eigenschaften Gottes, also seine vollkommne Freiheit, Macht, Wahrheit, Gerechtigkeit, Liebe u.a. sind bezogen auf das Universum und garantieren vor allem den Zusammenhang und die Harmonie der Weltordnung. Dazu 2. Die vom Menschen überblickbare Welt besteht nicht aus einer Ansammlung regelloser Erscheinungen, sondern bildet eine Ordnung, in der jede Erscheinung einen zureichenden Grund hat, der auch dann angenommen werden muß, wenn er von uns nicht eingesehen werden kann. Eine Versenkung des Menschen in diese objektive, d.h. außer uns vorhandene, zuletzt vom Schöpfer verursachte Ordnung ist möglich. Sie führt, etwa in der Physikotheologie, zur Erkenntnis vom stufenweisen, sich vom Niederen zum Höheren erhebenden Aufbau dieser weisen Naturordnung und ihrer Erhabenheit. Die vom Menschen überblickbare Welt, die zugleich als die beste aller denkbaren angenommen werden muß, ist dabei Teil eines viel Größeren, umfassenderen Ganzen, des Universums. 52
Daß sich Reinhard gleichzeitig mit der übrigen zeitgenössischen Philosophie intensiv auseinandersetzt, zeigen die sehr gründlichen Rezensionen in den Helmstedter Annales Literarii, die z.T. schon kleine Abhandlungen sind. Erwähnt werden müssen hier besonders die Rezensionen über Platner, Hemsterhuis, Ulrich und Mendelssohn. Reinhard hat diese und weitere zeitgenössische Philosophen in den Vorlesungen auch reichlich zitiert. Angeschlossen hat er sich jedoch keinem von ihnen. Zu den Einzelheiten cf. das Literaturverzeichnis.
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Aus der in der sichtbaren Welt zu beobachtenden Naturordnung muß geschlossen werden, daß eine Ordnung den Kosmos durchwaltet, von der das uns Erkennbare nur einen Ausschnitt darstellt. Von daher sind auch die uns als Regellosigkeit erscheinenden Ausnahmen (Wunder) in der Naturordnung zu erklären, „die einen anderen Geist bei erweitertem Gesichtskreis nicht beunruhigen werden" (§ 123). Diese Naturordnung ist aber auch eine sittliche Ordnung, indem jedes Geschöpf von Gott nach einem vorherbestimmten Plan und Entwurf dorthin gestellt ist, wo es im Rahmen des Weltganzen sein soll. Zugleich schreibt Gott die Regeln und Gesetze vor, nach denen sich die Geschöpfe in diesem Rahmen verhalten sollen. Von der Einhaltung dieser Regeln hängt die Wohlfahrt und das Glück der Geschöpfe ab. Der Verstoß hingegen zeitigt Übel. Gott ist so immer beides: Verursacher der natürlichen und sittlichen Weltordnung, die nicht auseinandergerissen werden darf, wie auch ihr Bewahrer und Beschützer, der die Übertretung der Ordnung bestraft. Er tut dies nicht aus kleinlicher Willkür, sondern um der Aufrechterhaltung der Ordnung und um der Glückseligkeit des Menschen willen. 3. Dieses eben angedeutete Folgeschema zeigt die vergeltende göttliche Gerechtigkeit. Man muß bei ihr unterscheiden zwischen natürlichen und willkürlichen Strafen bzw. Belohnungen. Natürlich sind „solche, die aus dem Betragen des handelnden Geschöpfes unmittelbar verständlich sind". So folgt z.B. natürlich aus Mäßigung Gesundheit, aus Unmäßigkeit Zerrüttung der Gesundheit. Willkürliche Folgen, wie Glück oder Unglück, sind nicht aus unserm Betragen ableitbar. Es sollte aber eingesehen werden, „daß die willkürlichen oder moralischen Strafen ebenso nothwendig sind als die natürlichen, weil sie den Grund im Zusammenhang mit dem Ganzen haben und von Gott dem Betragen derer, die sie betreffen, aufs genaueste angepaßt werden. Sie bekommen deswegen für uns eben den Schein des Willkürlichen, weil wir die Gründe derselben und ihren Zusammenhang mit dem jedesmaligen Betragen der Menschen nicht deutlich genug einsehen". Zuletzt sind alle Strafen Gottes eigentlich „von wohlthätiger Natur", weil sie auf „die Besserung und Glückseligkeit der Gestraften abzwecken" (§ 132). 4. Zu den Eigenschaften Gottes, die unter sich alle zusammenhängen, gehören auch seine Wahrhaftigkeit und Güte, die ihn treiben, sich den Menschen durch Offenbarungen mitzuteilen, um sie so zu vervollkommnen und damit glücklicher zu machen. „Dieser allgemeine Erziehungsplan, dessen Ausführung freilich nur langsam fortschreiten kann, ist auch in der Geschichte des menschlichen Geschlechts unmöglich zu verkennen" (§ 132) und hängt eng mit der Erhaltung und Regierung der Welt durch 72
Gott zusammen, die dem Plan und „Hauptzweck" Gottes dienen, nämlich der „Hervorbringung der größten Summe von Glückseligkeit in der Welt" (§ 137). Wobei die Möglichkeiten der Vervollkommnung als nicht auf dieses Leben begrenzt anzusehen sind, sondern einen Prozeß eröffnen, der dank der Unsterblichkeit der Seele über den Tod hinausgeht und sich im Jenseits fortsetzt. 5. „Der einzige Zweck also, den Gott bei allen Einrichtungen, aus welchen die Gesetze der Natur entspringen, gehabt haben kann und der seiner Güte würdig ist, muß unsere Vollkommenheit und Wohlfahrt sein." Das hat Folgen für die Sittlichkeit des Menschen: „Mithin müßte das höchste Gesetz der ganzen Moral dieses sein: Suche dich und deinen Zustand so vollkommen zu machen als möglich ist. Weil aber dieses nicht anders geschehen kann als dadurch, daß man die Vollkommenheit des Ganzen suche, so schließt dieses Gesetz alle Selbstsucht aus und verbindet jeden in Gesellschaft mit anderen durch die Beförderung des gemeinen Besten nach seiner Glückseligkeit zu trachten. Das Nützliche ist also wirklich die Mutter dessen, was auch edel ist". Der höchste Grundsatz der Moral kann dementsprechend auch heißen: „Suche dein und deiner Mitgeschöpfe Wohl" (152). Dieses Streben verwirklicht sich in der Erfüllung der uns von der Natur auferlegten Pflichten, die immer Pflichten gegen das Ganze sind, also Pflichten gegen uns selbst, gegen unsere Mitgeschöpfe und gegen Gott. Das sind die Elemente, die Reinhard bleibend von Leibniz und Wolff übernommen hat. Dabei muß man sehen, daß diese Aussagen hier in den Vorlesungen als philosophische Aussagen von vornherein mit einem deutlichen Blick auf die Offenbarung gemacht sind. Gelegentlich ist das ja auch schon angeklungen. Die Philosophie ist „die beste Vorbereitung zu der höheren und außerordentlichen Belehrung von Gott, welche die christliche Religion ertheilt, die mit den Grundsätzen der Philosophie, die hier vorgetragen werden, nicht streiten darf" (§ 118). Das ist auch schon Wolffs Ansicht. Bei Reinhard hat sie zu der immer festgehaltenen Meinung geführt, daß Vernunft und Offenbarung sich, recht verstanden, nicht ausschließen. Später hat sich Reinhard von der starken Bindung an die Leibniz-Wolffsche Philosophie wieder gelöst und sich nach einer eklektischen Phase zum Skeptizismus hin entwickelt. Damit ist gemeint, daß er sich weder zum Crusianismus noch zum Wolffianismus, noch gar zum Kantianismus bekennen mochte, sondern seine Freiheit allen Systemen gegenüber zu wahren suchte. Dabei ist er aber von keiner Philosophie so stark geprägt und hat sich soviel von ihr bleibend zu eigen gemacht wie gerade von 73
der von Leibniz und Wolff. Dem entspricht es, daß ihm dort, wo er später vom richtigen und sinnvollen Gebrauch der Vernunft spricht, zuletzt diese Philosophie vorschwebt. Sie ist ihm im Grunde immer als die beste Form des Philosophierens erschienen.
b)
Homiletisch
Im Jahre 1784 wurde Reinhard unter Beibehaltung seiner ordentlichen theologischen und außerordentlichen philosophischen Professur vom Oberkonsistorium in Dresden zum Propst an der Schloß- und Universitätskirche und zum Assessor im Konsistorium in Wittenberg ernannt. Er trat damit die Nachfolge von Karl Christian Tittmann ( 1 7 4 4 - 1 8 2 0 ) an, der seit 1775 Propst und Professor in Wittenberg gewesen war und nun zum Generalsuperintendenten des Kurkreises und, was damit verbunden war, zum Pastor an der Stadtkirche berufen worden war. Reinhard übernahm damit die Verpflichtung, an jedem Sonn- und Festtag vormittags zu predigen. Praktische Erfahrungen hatte er im Predigen kaum. Abgesehen von einer Predigt zu Anfang seines Studiums, die er aber nur zur Erprobung seiner Stimmkraft in Dietrichsdorf vor den Toren Wittenbergs gehalten hatte 5 3 , hatte er 1776 eine Predigt gehalten und veröffentlicht, „Vom Einflüsse der Weissagungen des Alten Bundes, welche von Christo und seinem Reiche handeln, auf die Bildung des Herzens zur Gottseligkeit. Predigt am Feste Mariae Heimsuchung", die heute verschollen ist. In den Jahren der Krise hatte er sich vom Predigen nach Möglichkeit ferngehalten 5 4 . Eine Berührung mit der Predigt hatte er aber insofern, als er für Studenten ein wöchentliches Predigerkollegium ins Leben gerufen hatte, in dem Predigtentwürfe vorgelegt und besprochen wurden 5 S . Wenn man sich nun die Wittenberger Predigten, vor allem die frühen aus den Jahren 1784—1786, die mit den philosophischen Vorlesungen gleichzeitig sind, ansieht, dann erkennt man, wie Reinhard seine Aufgabe angepackt und seine Position aufgebaut hat. Er stand ja nun vor der Notwendigkeit, biblische Texte, genauer die Evangelien, auszulegen. Darum hat er sich auch weiter mit historisch-exegetischen Fragen be-
53 „Geständnisse" S. 39ff. » Ebd. S. 67. 55 Ebd. S. 86f.
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schäftigt, wie zwei kleine Programme aus dieser Zeit zeigen 56 . Und er hat auch seine Schüler fleißig in der Exegese arbeiten lassen 57 .
5 6 Dabei handelt es sich einmal um eine Explanatio loci J e s . X I 1—5 von 1 7 8 3 , in der es um den Nachweis geht, daß diese Stelle als Weissagung auf Christus verstanden werden muß; zum anderen um das Programm De Christo, suam dum viveret resurrectionem praedicente von Ostern 1 7 8 4 , in dem Reinhard die historische Echtheit von J e s u Leidens- und Auferstehungsankündigungen nachzuweisen sucht. 5 7 a) Carl Friedrich Stein: De moribus hominum ante diluvium. Ad locum Genes. VI, 1—4, 1 7 8 3 . Diese Disputation will eine Lücke in Adelungs 1781 erschienenem „Versuch einer Geschichte der Cultur des menschlichen Geschlechts" schließen. Adelung war auf den Verfall von Religion und Kultur vor der Sintflut, von dem Mose berichtet, nicht eingegangen. Stein sucht demgegenüber diesen Verfall zu beschreiben, um dann (S. 23—31) zu zeigen, daß die damalige Gottlosigkeit, Grausamkeit und Laszivität ein Zeichen dafür ist, daß, wie bei primitiven Völkern der Gegenwart, das Sinnliche die Oberhand gewonnen hatte.
b) J o h . Friedrich Volbeding: Utrum Christus matrem genusque suum dissimilaverit et despexerit, 1784. Diese Disputation will eine Antwort auf das Buch eines Anonymus „Natürliche Religion nach Ursprung, Beschaffenheit und Schicksalen", Berlin 1 7 8 4 , sein, in dem behauptet worden war, Jesus habe es bewußt vermieden, sich zu seiner Mutter und zu seiner ärmlichen Herkunft zu bekennen. Volbeding sucht das vom NT her zu widerlegen und zeigt, daß sich Jesus seiner Mutter und seinen Verwandten gegenüber stets so verhalten hat, „daß kein Vorwurf auf ihn fällt" (S. 7). c) J o h . Gottfried Jehnichen: De petenda rerum, quas libri NT continent, libris V T apocryphis illustratione, 1787. Diese Dissertation möchte dazu beitragen, das NT von den Apokryphen her besser zu verstehen. Im 1. Teil (S. 8—18) werden die jüdischen Meinungen beschrieben, von denen es keine Brücke zum NT gibt: Die Vorstellung von der Ewigkeit und Unabänderlichkeit des Gesetzes; die nationale Messiashoffnung, die auch das Kreuz ausschließt; die Bedeutung, die dem Kult beigelegt wird. Fremd mußte den J u d e n die Aufforderung J e s u sein, alles zu verlassen und ihm nachzufolgen, seine Stellung zu den Samaritern; die Auferstehungshoffnung für alle; seine Geburt in Bethlehem u.a. im 2. Teil (18—22) wird gezeigt, in welchen Punkten das Verständnis das NT gewinnt, wenn man es vom Spätjudentum her liest. Dazu gehören der jüdische Festkalender, die Vorstellung von Gott als Vater, das Gebet, das soziale Gewissen, die Achtung vor der Speise, die Hochschätzung der Ehe, die Bestattungsgebräuche, die Sehnsucht nach Befreiung von den Römern, Fasten, Sabbat und vieles andere. d) J o h . Philipp Leisner: De notione Dei, quae in prioribus X I Geneseos capitibus tribuitur hominibus primis. 1 7 9 2 . Gegenüber Hume und Voltaire, aber auch gewissen Ansichten von Cicero, Horaz und Rousseau sucht der Verfasser nachzuweisen, daß die ersten 11 Kapitel der Genesis historische Anerkennung verdienen. Die dort beschriebene Gotteserkenntnis der frühen Menschheit, vor allem seine Einzigkeit und Güte, entspricht der moralisch-vernünftigen Natur des Menschen, selbst wenn diese sich inzwischen weiterentwickelt hat. e) Das Specimen observationum e Theodoreti commentario in Psalmos von 1 7 8 2 , das J o h . Georg Meusel „Das gelehrte Teutschland oder Lexikon der jetzt lebenden
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Der Zugang zum Verständnis der Inhalte der Bibel hat sich ihm aber von seinen philosophischen Einsichten her, den von Leibniz und Wolff bestimmten in Verbindung mit dem, was er von Crusius beibehalten hatte, ergeben. D.h.: Reinhard tritt an die Bibel mit einem philosophischen Vorverständnis heran und entdeckt in ihr das, was sich ihm von daher aufschließt. Das führt zu der für ihn so bezeichnenden philosophischen Theologie, die sich nun deutlich in den Predigten zeigt. Konkret sieht das so aus, daß Gott, der Inbegriff der Vollkommenheit mit dem Vater Jesu Christi, der Urheber der Welt mit dem biblischen Schöpfer, der Kosmos mit der Schöpfung, die göttliche Erziehung mit dem göttlichen Heilswillen, die sittliche Weltordnung mit dem Reich Gottes, die Vervollkommnung mit der Heiligung, die Pflicht mit den Geboten des Alten und Neuen Testamentes, die Unvollkommenheit mit der Sünde, die Unsterblichkeit mit der Auferstehung und anderen Begriffen identisch wird. Dadurch erhalten die biblischen Begriffe ihre so eigentümlich vernünftig-philosophische Farbe und stimmen dann natürlich auch harmonisch mit Vernunft und Philosophie zusammen. Dabei ist Reinhard immer des Glaubens, wirklich die Bibel zu predigen, die j a nicht wider die Vernunft ist und nicht sein will. Er will seinem Grundanliegen, bibelbestimmter Theologe zu sein, gerecht werden. Es genügt hier, sich diesen Ausgangspunkt bei der Entwicklung der homiletischen Position klarzumachen. Er ist der Grund dafür, daß Reinhard sehr schnell seinen Stil gefunden hat, und zwar material wie formal; einen Stil, den er immer beibehalten hat. Um Wiederholungen zu vermeiden, soll hier nicht schon davon gesprochen werden, welcher Art seine Predigten waren. Es wird an Hand der Dresdener Predigten geschehen. Auf einen anderen Punkt neben dem starken Einfluß der Philosophie muß allerdings hier hingewiesen werden, die Psychologie. Sie tritt jetzt deshalb hervor, weil Reinhard von Anfang an danach gestrebt hat, die Hörer zu fördern. Er wollte Hindernisse, die der Vervollkommnung im Wege standen, kenntlich machen, Vorurteile und Irrtümer des Verstandes wie Fehlhaltungen des Herzens aufdecken und praktische Möglichkeiten ihrer geistig-religiös-moralischen Entwicklung aufzeigen. Das alles führt zu einer starken Psychologisierung, die eigentlich Seelsorge ist. In dieser Form ist sie von Reinhard selbst entwickelt und dann zu einem bezeichnenden Merkmal seiner Predigten geworden. Teutschen Schriftsteller" 5. Ausg. 6. Bd. Lemgo 1798 S. 283 erwähnt, bei dem es sich wohl auch um eine Schülerarbeit handelt, ist heute nicht mehr greifbar.
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c) Ethisch Als das eigentliche Interessengebiet Reinhards schält sich in diesen Jahren des Aufbaus seiner eigenen Position aber die Moral heraus. Das gilt für die Philosophie wie für die Theologie. Denn nicht nur die Philosophie drängt in der Aufstellung der Pflichtenlehre zur Praxis, auch die Bibel zielt nach seinem Verständnis zuletzt auf Praxis, auf Versittlichung und Vervollkommnung des Menschen. Diese Einsicht in die Intention der Bibel hatte ihn bereits beim Ausbau seiner Position in homiletischer Hinsicht bestimmt und sie schlägt sich nun weiterhin in einigen Veröffentlichungen zum Thema Moral nieder. Dabei handelt es sich einmal um das Buch De vi, qua res parvae afficiunt animum, in doctrina de moribus diligentius explicanda. Es ist 1789 komplett erschienen, geht aber auf 4 Programme aus den Jahren 1785— 1787 zurück. Es ist dann 1793 in einer Übersetzung von Joh. Christian Friedrich Eck unter dem Titel „Vom Wert der Kleinigkeiten in der Moral" in erster Auflage erschienen. Der Sinn dieses Buches läßt sich verhältnismäßig kurz wiedergeben: Es möchte eine seelsorgerliche Hilfe bei der Vervollkommnung sein. Solche Hilfestellung wird nach Reinhards Meinung viel zu wenig gegeben. Viele Lehrer der Moral, Philosophen wie Theologen, selbst Pfarrer, stellen meist nur allgemeine Grundsätze auf, vergessen aber dabei zu zeigen, wie sie im praktischen Leben verwirklicht werden sollen. Sie vergessen so über dem Großen und Allgemeinen gerade die res parvae und lassen darum den Menschen beim Prozeß der Vervollkommnung weitgehend allein. Darum will er sich gerade den res parvae in der Moral zuwenden. Er zeigt dann im ersten Teil, warum die Kleinigkeiten häufig übersehen werden, im zweiten Teil, daß die Bibel, die antiken Philosophen (vor allem die Sokratiker) und Historiker und die guten neuzeitlichen Philosophen und Dichter an diesen Kleinigkeiten durchaus interessiert sind, um dann im dritten Teil die Anwendung zu machen. Danach sind sie es normalerweise, die einen Menschen allmählich und auf Dauer demoralisieren, wie es umgekehrt die Treue im Kleinen ist, die einen Charakter bildet und ihn in einem langen Prozeß in der dignitas und honestas zu festigen vermag. Für die Bewahrung einer unverletzten Tugend und die Ruhe der Seele ist schließlich das dauernde Achten auf die Kleinigkeiten lebenswichtig. Der Begriff der Vervollkommnung, nun aber angesichts des Leides, spielt auch in dem Buch „Geist des Christenthums in Hinsicht auf Beruhigung im Leiden" von 1792 eine bedeutende Rolle. Dieses Buch geht zurück auf vier Programme De praestantia religionis christianae in consolandis 77
miseris, zum Teil von Schülern vorgelegt S8 , aus den Jahren 1789—1791, die dann von J o h . Samuel Fest übersetzt worden sind. Es zeigt zunächst, welche Möglichkeiten der Seelsorger hat, um im aktuellen Leid zu helfen, wobei die wichtigste ist, es als Mittel zur Vervollkommnung begreiflich zu machen. Im zweiten Teil wird dann gezeigt, daß das Christentum jedoch nicht nur aktuelles Leid bestehen helfen will, sondern überhaupt eine Lebenshaltung „als eine sorgfältigere Cultur und Veredlung unserer natürlichen Anlagen und Kräfte" gewinnen helfen möchte 5 9 , die in der Lage ist, das Leid ins Leben einzubeziehen, um sich dann in ihm auch zu bewähren. In der Gewinnung einer solchen Lebenshaltung und in dem Trost, den es im Leiden von seinen theologischen Grundlagen wie dem Glauben an die Vergebung der Sünden, den Beistand Gottes, die Auferstehung zu geben vermag, verbunden mit den ihm eigenen Trostmitteln wie Gebet, Gottesdienst und Abendmahl ist das Christentum allen anderen Religionen und Philosophien überlegen. Diese beiden Bücher reichen in ihrer Bedeutung aber nicht an das wissenschaftliche Hauptwerk Reinhards heran, an „Das System der christlichen Moral", dessen erster Band 1788 und dessen zweiter Band 1789 vorgelegt werden. Ursprünglich war das Ganze überhaupt nur auf 2 Teile angelegt. Die moralische Sicht des Christentums ist Reinhard aber so wichtig geworden, daß er dieses Werk immer weiter ausgebaut hat. Von jetzt an arbeitet er neben seinen übrigen Verpflichtungen ständig an diesem „System" weiter, so daß es schließlich 5 starke Bände wurden und der Abschluß bis zu seinem Tode noch nicht erreicht war. Die Veröffentlichung der letzten drei Bände fällt in die Dresdener Zeit und auf sie soll, weil sie in Parallele zu den dort gehaltenen Predigten zu lesen sind, dann auch im IV. Kapitel eingegangen werden. Band 1 und 2 sind aber für das Verständnis seiner moralischen Auffassung des Christentums so wichtig, daß darüber hier ausführlicher berichtet werden soll. In der Vorrede zur ersten Ausgabe hat Reinhard seinen Standpunkt deutlich ausgesprochen: „Die Sittenlehre, welche die christliche Religion enthält, ist nämlich, nach ihrer wahren Beschaffenheit, das große Gesetz und Mittel zur Veredelung unserer Natur; oder mit anderen Worten, sie ist die von Gott selbst bekanntgemachte Anweisung, nach welcher und 5 8 In den opuscula academica Bd. 2 sind genannt: Veithusen, Rupert, Kuenöl. Es handelt sich hier um die Programme, die bei J . G. Meusel a.a.O. S. 284 unter dem Titel Programma, quo religionem Christianam esse optimum adversorum solatium demonstratur ex ipsa consolationis natura angegeben werden. 5 9 „Geist des Christenthums" S. 276f.
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durch welche die menschliche Natur in allen ihren Fähigkeiten gebildet, zur schönsten Reife und zum vollsten Genuß einer wahren Wohlfahrt auf Erden geführet und hiermit absichtsvoll und glücklich zum künftigen Übergang in eine bessere Welt vorbereitet werden soll. Sehr zahlreich und mannigfaltig sind zwar zu allen Zeiten die Einrichtungen und Mittel gewesen, deren sich Gott bedient hat, das menschliche Geschlecht zu verbessern und es nach und nach auf höhere Stufen sittlicher Vollkommenheit zu erheben. Aber das vollkommenste Mittel unter allen, durch welches die menschliche Natur alles werden soll, was sie auf Erden werden kann, ist die Sittenlehre des Christenthums". In diesem Sinne ist „die Moral des Christenthums . . . das vornehmste Mittel der Erziehung für unser Geschlecht" 6 0 . In der Einleitung geht Reinhard davon aus, daß es die Bestimmung eines jeden Geschöpfes ist, das höchste Maß an Vollkommenheit zu erreichen. So auch der Mensch. Da dieser aber auch von dem größtmöglichen Maß, das er j e erreichen kann, nie voll befriedigt ist, sondern immer weiter, j a über sich hinausstrebt, ist das letzte Maß schließlich Gott selbst. Gott ähnlich zu werden, vollkommen wie er — hier erfolgt ständig die Berufung auf Jesu Wort Matth. 5,48 „Ihr sollt vollkommen sein, gleichwie euer Vater im Himmel vollkommen ist" —, das ist das höchste Ziel des Menschen und der göttlichen Erziehung. Die theologische Moral hat nun zu zeigen, wie diese Entwicklung und Bildung zur Vollkommenheit nach der Lehre Jesu vor sich gehen muß. Sie muß dabei die folgenden Fragen ins Auge fassen, die hier zugleich das Gesamtprogramm des „System der christlichen Moral" darstellen: 1. Was ist der Mensch? 2. Was soll er werden? 3. Wodurch muß er es werden? 4. Auf welche Art kann er es werden? Der erste Problemkreis hat dabei den Menschen so zu betrachten, wie er ist in seiner erfahrbaren Vorfindlichkeit. Hier wird deshalb zunächst „von den natürlichen Anlagen des Menschen zur Vollkommenheit" gehandelt, nach dem, „was Bewußtsein, Erfahrung und Schrift davon lehren" 6 1 . Ausgangspunkt ist dabei die Annahme, daß der Mensch aus Leib und Seele zusammengesetzt ist. Die Art der Verbindung beider ist ein „unerklärliches Geheimnis" 6 2 . Die Seele aber ist das Eigentliche am Menschen, sie ist unsterblich, und auf ihre Bildung beziehen sich vor allem
Vorrede zur ersten Ausgabe S. XLIVf. Bei der Zitierung gelten hier die Seitenzahlen der 4. Auflage. 6 1 System der christlichen Moral Bd. 1 S. 108 und 109. « Ebd. S. 115. 60
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die Bemühungen der Sittenlehre. Grundsätzlich bekennt sich Reinhard zu einem „empirischen Dualismus" von Leib und Seele 63 . Die Seele hat drei Grundvermögen oder -fähigkeiten: Das Vorstellungsbzw. Erkenntnisvermögen, das Gefühlsvermögen und das Begehrungsvermögen oder den Willen. Sehr detailiert werden nun diese Vermögen durchgegangen und beschrieben: Das Vorstellungsvermögen, zu dem Gedächtnis, Erinnerung, Phantasie, Verstand, Urteilskraft, Ahnung, Unterscheidungsfähigkeit und mehr gehören, ist im ganzen auch als Vernunft zu begreifen. Sie ist das hervorstechendste Kennzeichen des Menschen, das, weis ihn aus der ganzen Schöpfung heraushebt. Daraus folgt, daß der Mensch, „wenn er werden will, was er werden soll, vorzüglich darauf bedacht seyn müsse, die Vernunft zu bilden und ihr bey sich den Einfluß und die Oberherrschaft zu geben, die ihr gebührt. Denn da sie der wahre Charakter der menschlichen Natur ist, so handelt man in eben dem Grad als Mensch, in welchem man Vernunft äußert und ihr folgt" 64 . Allerdings ist der Mensch nicht nur Vernunft, sondern hat auch eine Menge anderer Fähigkeiten, Triebe und Neigungen. Seine Aufgabe ist es deshalb nach der größtmöglichen Harmonie aller dieser Kräfte unter der Vorherrschaft der Vernunft zu streben. Zum Gefühlsvermögen werden die Empfindungen von Lust und Unlust, tierische, ästhetische, intellektuelle, moralische und andere Empfindungen gerechnet. Das Begehrungsvermögen schließlich wird besonders ausführlich abgehandelt. Es ist in seiner natürlichen Beschaffenheit als Wille, Hang, Neigung, Bestreben, Begierde, als eigennütziger und uneigennütziger Trieb zu beschreiben. Alle Triebe und Neigungen können grundsätzlich veredelt werden. An diese Beschreibung der drei seelischen Grundvermögen schließt sich ein Kapitel über den Körper des Menschen an. Hier wird über seine Erhaltung, Zeugung, Krankheit und Tod gehandelt. Nach dieser Bestandsaufnahme wird der Versuch unternommen, den „allgemeinsten Wirkungsgesetzen der menschlichen Natur" nachzuspüren. Denn „auch die menschliche Natur befolgt bey Äußerung ihrer bisher beschriebenen Kräfte gewisse allgemeine Gesetze der Thätigkeit, die ihr unter allen Himmelsstrichen und zu allen Zeiten eigen sind, und nach denen jede Vorschrift abgemessen seyn muß, welche zu ihrer Bildung etwas beytragen und von ihr soll erfüllt werden können. Da nun das Christenthum die Kräfte der menschlichen Natur in jeder Rücksicht ver«3 Ebd. S. 113.