Das Zensuswahlrecht: Erscheinungsformen, Begründung und Überwindung am Beispiel Frankreichs und Deutschlands [1 ed.] 9783428554072, 9783428154074

Auch wenn Demokratie heute untrennbar mit dem Postulat des allgemeinen und gleichen Wahlrechts verknüpft ist, darf dies

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German Pages 465 Year 2018

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Das Zensuswahlrecht: Erscheinungsformen, Begründung und Überwindung am Beispiel Frankreichs und Deutschlands [1 ed.]
 9783428554072, 9783428154074

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Schriften zur Verfassungsgeschichte Band 85

Das Zensuswahlrecht Erscheinungsformen, Begründung und Überwindung am Beispiel Frankreichs und Deutschlands

Von

Anna-Lena Strelitz-Risse

Duncker & Humblot · Berlin

ANNA-LENA STRELITZ-RISSE

Das Zensuswahlrecht

Schriften zur Verfassungsgeschichte Band 85

Das Zensuswahlrecht Erscheinungsformen, Begründung und Überwindung am Beispiel Frankreichs und Deutschlands

Von

Anna-Lena Strelitz-Risse

Duncker & Humblot · Berlin

Die Juristische Fakultät der Universität Würzburg hat diese Arbeit im Wintersemester 2017/2018 als Dissertation angenommen.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte vorbehalten

© 2018 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Satz: Klaus-Dieter Voigt, Berlin Druck: CPI buchbücher.de gmbh, Birkach Printed in Germany ISSN 0582-0553 ISBN 978-3-428-15407-4 (Print) ISBN 978-3-428-55407-2 (E-Book) ISBN 978-3-428-85407-3 (Print & E-Book)

Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706

Internet: http://www.duncker-humblot.de

Vorwort Diese Arbeit entstand im Wesentlichen während meiner Tätigkeit als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Rechtsphilosophie, Staats- und Verwaltungsrecht von Herrn Prof. Dr. Horst Dreier an der Julius-Maximilians-Universität zu Würzburg und wurde im Wintersemester 2017/18 von der Juristischen Fakultät der Julius-Maximilians-Universität zu Würzburg als Dissertation angenommen. Mein ganz herzlicher Dank gebührt zunächst Herrn Prof. Dr. Horst Dreier, meinem Doktorvater, der durch seine Vorlesungen und Seminare mein Interesse für rechtsphilosophische Fragestellungen weckte und mir die Möglichkeit gab, an seinem Lehrstuhl als wissenschaftliche Mitarbeiterin arbeiten und promovieren zu dürfen. Er hat die Entstehung der Arbeit nicht nur stetig gefördert und begleitet, ohne die wertvollen Erfahrungen, die ich als Lehrstuhlmitarbeiterin bei ihm sammeln dufte, würde es die Arbeit in ihrer jetzigen Form wohl nicht geben. Vielen herzlichen Dank für die lehrreichen wie schönen Jahre. Herrn Prof. Dr. Dr. h.c. Dietmar Willoweit danke ich für die Erstellung des Zweitgutachtens und seine konstruktiven Anregungen für die Veröffentlichung. Großer Dank gilt zudem meinen Eltern und meinem Bruder. Für ihre liebevolle Begleitung und Unterstützung auf meinem bisherigen Lebensweg und insbesondere auch bei Erstellung dieser Arbeit. Sie haben den Fortgang der Arbeit stets mit Interesse verfolgt und mir unverzichtbaren Rückhalt und Zuspruch gegeben. Herzlich bedanken möchte ich mich bei meinen Eltern auch für die finanzielle Unterstützung bei den Druckkosten. Ganz besonders danken möchte ich schließlich meinem Ehemann, Herrn Dr. Markus Risse. Nicht nur für seinen unermüdlichen Einsatz bei der Erstellung dieser Arbeit, sei es durch mehrfaches Korrekturlesen, konstruktive Anmerkungen und Kritik oder technische Unterstützung, sondern vor allem für seine Ermutigung, seine bedingungslose Unterstützung und Liebe. Dafür, daß er nicht nur bei der Erstellung dieser Arbeit, sondern immer an meiner Seite ist. Fulda, im Mai 2018

Anna-Lena Strelitz-Risse

Inhaltsübersicht Teil 1 Grundlagen und Begriffsklärung

23

Kapitel 1 Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

23

Kapitel 2 Begriffsklärung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

34

Teil 2 Erscheinungsformen, Begründung und Überwindung des Zensuswahlrechts in Frankreich

39

Kapitel 1 Paradigmenwechsel von der ständisch gegliederten Feudalgesellschaft zum privilegienfreien Verfassungsstaat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

39

Kapitel 2 Das Zensuswahlrecht in zentralen Dokumenten der Revolutionszeit als Ausdruck einer Kontrafaktizität des Gleichheitspostulats . . . . . . . . . . . . .

47

Kapitel 3 Radikalisierung der Gleichheitsforderung und Durchsetzung des allgemeinen und gleichen (Männer-)Wahlrechts auf dem Papier in der zweiten Phase der Revolution . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

99

Kapitel 4 Siegeszug der Demokratieskeptiker und Rückkehr des Zensus . . . . . . . . . 109 Kapitel 5 Renaissance des Zensusgedankens mit ungeahnten Dimensionen nach der Revolutionszeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 116 Kapitel 6 Konservierung einer politischen Hegemonialstellung der elitären Bourgeoisie durch das Zensuswahlrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127 Kapitel 7 Endgültige Überwindung des Zensusprinzips durch Einführung des allgemeinen und gleichen (Männer-)Wahlrechts 1848 . . . . . . . . . . . . . . . . . . 142

Teil 3 Erscheinungsformen, Begründung und Überwindung des Zensuswahlrechts in Deutschland

156

Kapitel 1 Das Zensuswahlrecht als Bestandteil der Steinschen Städteordnung von 1808 und der Verfassungen von Westfalen und Bayern 1807/08 . . . . . . . 156 Kapitel 2 Etablierung des Zensus als konstante Größe des Verfassungslebens im Vormärz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 202

8

Inhaltsübersicht

Kapitel 3 Einführung des allgemeinen und gleichen (Männer-)Wahlrechts auf dem Papier durch die Frankfurter Reichsverfassung vom 12. April 1849 236 Kapitel 4 Deutschland in der Zeit von der Reichsgründung bis zur Weimarer Republik (1871–1918): Die Einführung des allgemeinen und gleichen (Männer-)Wahlrechts auf Reichsebene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 249 Kapitel 5 Das Preußische Dreiklassenwahlrecht (1849–1918) als ungleiches Wahlrecht par excellence . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 278

Teil 4 Schlußbetrachtung

397

Teil 5 Ergebnisse der Arbeit in Thesen

401

Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 409 Sachverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 456

Inhaltsverzeichnis Teil 1 Grundlagen und Begriffsklärung

23

Kapitel 1 Grundlagen

23

A. Themenstellung und Horizont der Arbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

23

B. Gang der Betrachtung: Zielsetzung, Leistungsfähigkeit und Methodik . . . . . . . .

32

Kapitel 2 Begriffsklärung

34

A. Differenzierung nach unterschiedlichen Bezugspunkten des Zensus . . . . . . . . . .

34

B. Differenzierung nach unterschiedlichen Ausgestaltungen des Zensus . . . . . . . . .

36

Teil 2 Erscheinungsformen, Begründung und Überwindung des Zensuswahlrechts in Frankreich

39

Kapitel 1 Paradigmenwechsel von der ständisch gegliederten Feudalgesellschaft zum privilegienfreien Verfassungsstaat A. Vorgeschichte: Das Aufbrechen feudaler Strukturen durch die Krise des Ancien régime . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . B. Das Reglement zur Wahl der Generalstände von 1789 als frühe Annäherung an ein allgemeines und gleiches (Männer-)Wahlrecht? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Normative Vorgaben: Der (partielle) Fortschrittsgeist des Gesetzes über die Wahl der Generalstände vom 24. Januar 1789 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Realpolitische Umsetzung und Kritik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . C. (Rechts-)Philosophische/politische Begründung des Zensus: Die Diskussion um das Wahlrecht im Dritten Stand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

39

39 43 43 44 45

10

Inhaltsverzeichnis Kapitel 2 Das Zensuswahlrecht in zentralen Dokumenten der Revolutionszeit als Ausdruck einer Kontrafaktizität des Gleichheitspostulats

47

A. Verdrängung einer Geburtsaristokratie durch eine Geldaristokratie . . . . . . . . . . . . 47 I. Normative Vorgaben: Teilung der Französischen Nation in Aktiv- und Passivbürger durch die Verfassung vom 3. September 1791 . . . . . . . . . . . . . . . . . 47 II. Realpolitische Umsetzung und Kritik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 49 B. (Rechts-)Philosophische/politische Begründung des Zensus . . . . . . . . . . . . . . . . . . 51 I. Der innerparlamentarische Diskurs zur Rechtfertigung des Zensuswahlrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 51 1. Die Sieyessche „Aktientheorie“ als richtungsweisender Leitfaden der Meinungsbildung in der Nationalversammlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 51 2. Die Debatten in der Nationalversammlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 56 a) Rechtfertigungsversuche der Etablierung des Zensuswahlrechts . . . . . 56 b) Rechtfertigungsversuche der Etablierung eines allgemeinen und gleichen (Männer-)Wahlrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 58 aa) Kritik am Bestechlichkeitsargument unter Rekurs auf die Angewiesenheit der Armen auf „gute“ Gesetze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 58 bb) Kritik am Zensus als eklatantem Verstoß gegen das Gleichheitsprinzip der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte . . . . . . . . 60 cc) Exkurs: Der Zensus der Verfassung von 1791 im Widerspruch zur Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte von 1789? . . . . . 61 (1) Normative Vorgabe: Die absolute Gleichstellung der Bürger durch die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte als Credo einer neuen Zeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61 (2) (Rechts-)Philosophische/politische Begründung des Zensus in der Debatte um die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 62 (a) Rechtfertigungsversuche der Etablierung des Zensuswahlrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 63 (b) (Vermeintliche) Rechtfertigungsversuche der Etablierung des allgemeinen und gleichen (Männer-)Wahlrechts . . . . . 64 (3) Verstoß des Zensus der Verfassung von 1791 gegen zentrale Garantien der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte . . 68 II. Der außerparlamentarische Diskurs zur Rechtfertigung des Zensuswahlrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 76 1. Justus Mösers „Aktientheorie“ und die Begründung der privilegierten Stellung der Landeigentümer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 76 a) Biographie Justus Mösers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 76 b) Genese und Inhalt der Möserschen „Aktientheorie“ . . . . . . . . . . . . . . . . 78

Inhaltsverzeichnis

11

c) Rezeption, Kritik und Weiterentwicklung der „Aktientheorie“ durch Öffnung des Systems zugunsten des Kapitaleigentums . . . . . . . . . . . . .

87

aa) Rezeption durch Ludwig Timotheus Freiherr von Spittler . . . . . .

88

bb) Rezeption durch Franz Hermann Hegewisch . . . . . . . . . . . . . . . . .

90

cc) Rezeption durch Karl von Rotteck . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

91

2. Die Herleitung eines Primats des Landeigentums durch die französischen Physiokraten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

93

a) Die Physiokraten und ihr theoretischer Ansatz einer Sakralisierung des Eigentums . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

93

b) Die Sonderstellung der Grundeigentümer in der auf dem Grundeigentum aufbauenden Klassengesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

96

Kapitel 3 Radikalisierung der Gleichheitsforderung und Durchsetzung des allgemeinen und gleichen (Männer-)Wahlrechts auf dem Papier in der zweiten Phase der Revolution A. Vorgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

99 99

B. Paradoxes Nebeneinander von radikaler politischer Gleichheit in der Theorie bei absoluter Entpolitisierung des Volkes in der Praxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 102 I. Normative Vorgaben: Die Verfassung des Jahres I (1793) als zeitgenössisch einzigartige Verkörperung von Demokratie in ihrer Reinform . . . . . . . . . . . . 102 II. Realpolitische Umsetzung und Kritik: Politische Entwöhnung des Volkes trotz radikal-demokratischem Verfassungswerk? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 106 C. (Rechts-)Philosophische/politische Begründung des Zensus: Die Diskussion um die Ausgestaltung des Wahlrechts im verfassunggebenden Konvent . . . . . . . 107

Kapitel 4 Siegeszug der Demokratieskeptiker und Rückkehr des Zensus

109

A. Vorgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109 B. Rückbesinnung auf bürgerlich-konservierende Zielsetzungen durch die Verfassung des Jahres III (1795) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 110 I. Normative Vorgaben: Rehabilitierung des Zensus durch die Verfassung vom 23. September 1795 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 110 II. Realpolitische Umsetzung und Kritik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 112 C. (Rechts-)Philosophische/politische Begründung des Zensus: Die Diskussion um die Ausgestaltung des Wahlrechts im verfassunggebenden Konvent . . . . . . . 114

12

Inhaltsverzeichnis Kapitel 5 Renaissance des Zensusgedankens mit ungeahnten Dimensionen nach der Revolutionszeit

116

A. Vorgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 116 B. Verschärfung des Zensus zur endgültigen Disziplinierung der Revolutionäre . . . 121 I. Normative Vorgaben: Die Charte Constitutionnelle von 1814 und ihre Zwitterstellung zwischen Revolution und Ancien régime . . . . . . . . . . . . . . . . . 121 II. Realpolitische Umsetzung und Kritik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 122 C. (Rechts-)Philosophische/politische Begründung des Zensus: Die Diskussion um die Ausgestaltung des Wahlrechts im verfassunggebenden Konvent . . . . . . . 124

Kapitel 6 Konservierung einer politischen Hegemonialstellung der elitären Bourgeoisie durch das Zensuswahlrecht

127

A. Vorgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127 B. Das Zensuswahlrecht auf seinem historischen Höhepunkt unter dem „Bürgerkönig“ Louis Philipp . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 129 I. Normative Vorgaben: Fortführung einer politischen Protegierung der wohlhabenden Landeselite durch die Charte Constitutionnelle von 1830 . . . . . . . . 129 II. Realpolitische Umsetzung und Kritik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 129 C. (Rechts-)Philosophische/politische Begründung des Zensus: Sakralisierung der Bourgeoisie als alleiniger Trägerin der Gesellschaftsvernunft . . . . . . . . . . . . . . . . I. François Guizot, die Gruppe der Doktrinäre und ihr theoretischer Ansatz einer „majorité des capables“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Die Sonderstellung des Besitzbürgertums in der auf politischer Einsichtsfähigkeit aufbauenden Klassengesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Elitäres Klassendenken als Rechtfertigung für die faktische politische Privilegierung der Bourgeoisie durch den Zensus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

132 132 138 140

Kapitel 7 Endgültige Überwindung des Zensusprinzips durch Einführung des allgemeinen und gleichen (Männer-)Wahlrechts 1848

142

A. Vorgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 142 B. Beginn einer neuen Ära durch die Überwindung des Zensuswahlrechts . . . . . . . . 146 I. Normative Vorgaben: Die Revolutionsverfassung von 1848 und ihr mutiges Bekenntnis zum allgemeinen und gleichen (Männer-)Wahlrecht . . . . . . . . . . . 146 II. Realpolitische Umsetzung und Kritik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 146

Inhaltsverzeichnis C. Exkurs: Errichtung einer autoritären Diktatur mit demokratischer Legitimation I. Der im Wege von allgemeinen und gleichen Wahlen legitimierte Staatsstreich von 1851 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Bestärkung der Gegner eines allgemeinen und gleichen (Männer-)Wahlrechts durch den Bonapartismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Alexis de Tocqueville und die Bedrohung durch die Demokratie . . . . . . . 2. Walter Bagehot und die Gefahren einer Herrschaft der ungebildeten Masse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. John Stuart Mill und die Forderung nach einem Parlament der Eliten . . . III. Resümee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

13 147 147 151 152 153 154 154

Teil 3 Erscheinungsformen, Begründung und Überwindung des Zensuswahlrechts in Deutschland

156

Kapitel 1 Das Zensuswahlrecht als Bestandteil der Steinschen Städteordnung von 1808 und der Verfassungen von Westfalen und Bayern 1807/08 A. Vorgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Deutschlands Befreiung aus dem ständisch-feudalen Korsett durch Einflüsse der Französischen Revolution . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Territoriale Auswirkungen der Französischen Revolution auf das Deutsche Reich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Strukturelle Auswirkungen der Französischen Revolution auf das Deutsche Reich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Resümee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Napoleons Expansionspolitik als Gnadenstoß für das Deutsche Reich . . . . . B. Der Zensus als fester Bestandteil der Steinschen Städteordnung sowie der Verfassungen Westfalens und Bayerns . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Das Einkommen als Kennzeichen politisch mündiger Bürger in der Steinschen Städteordnung vom 19. November 1808 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Normative Vorgaben: Der Einkommenszensus als Ausdruck des Mißtrauens gegenüber den Geringverdienern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Realpolitische Umsetzung und Kritik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Die Verfassungsentwicklung in Napoleons „Modellstaat“ Westfalen und im Königreich Bayern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Normative Vorgabe: Privilegierung der Grundbesitzer und Höchstbesteuerten durch die Verfassungen der Königreiche Westfalen und Bayern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Realpolitische Umsetzung und Kritik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

156 156 156 157 160 161 161 165 165 165 167 169

171 173

14

Inhaltsverzeichnis

C. (Rechts-)Philosophische/politische Begründung des Zensus: vom und zum Steins und von Montgelas’ Ode an Grundeigentümer und Höchstbesteuerte . . . . I. Vom und zum Stein und seine Prämisse der Begründung einer politischen Hegemonialstellung der Grundeigentümer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Biographie des Freiherrn Heinrich Friedrich Karl vom und zum Stein und dessen theoretischer Ansatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Das Grundeigentum als einzig tauglicher Maßstab einer „richtigen“ Zuteilung politischer Partizipationsrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Die Steinsche Theorie einer von (Grund-)Eigentümern dominierten Gesellschaft als unveränderte Fortsetzung der physiokratischen Tradition? . . II. Von Montgelas und sein Urvertrauen in die politische Eignung der Höchstbesteuerten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Biographie des Grafen Maximilian von Montgelas . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Theoretischer Ansatz des Reformers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Die Frage der Zuteilung politischer Partizipationsrechte im öffentlichen Diskurs des 18. und 19. Jahrhunderts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Eigentum als Garant von Selbständigkeit im öffentlichen Diskurs des ausgehenden 18. und frühen 19. Jahrhunderts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Immanuel Kant als Urvater der Idee eines Rückschlusses vom Eigentum auf persönliche Selbständigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Renaissance des Kantischen Ansatzes einer Verknüpfung des Stimmrechts mit Selbständigkeitskriterien durch Buhle, Heydenreich und Hugo . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Das Aufweichen des starren Grundeigentumserfordernisses durch die deutsche Gefolgschaft der französischen Physiokraten . . . . . . . . . . . . . . . .

174 175 175 178 181 184 184 185 186 188 191

193 195

Kapitel 2 Etablierung des Zensus als konstante Größe des Verfassungslebens im Vormärz

202

A. Vorgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 202 B. Die zentrale Rolle des Zensus in den deutschen Verfassungen des Vormärz . . . . I. Normative Vorgabe: Systematisierung der normativen Vorgaben nach unterschiedlichen Bezugspunkten des Zensuswahlrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Grundbesitz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Waldeck . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Schaumburg-Lippe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Lippe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Vermögen/Einkommen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Hannover . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Schwarzburg-Sondershausen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Steuerleistung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

204 204 204 204 205 205 205 205 206 206

Inhaltsverzeichnis

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a) Württemberg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Großherzogtum Hessen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Sachsen-Meiningen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Mischform Grundbesitz/Vermögen (Sachsen-Weimar) . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Mischform Grundbesitz/Steuerleistung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Sachsen-Altenburg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Schleswig-Holstein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Braunschweig . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Nassau . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Mischform Vermögen/Steuerleistung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Bayern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Baden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Kurhessen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Sachsen-Coburg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . e) Hohenzollern-Sigmaringen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7. Alternativität zwischen Grundbesitz/Vermögen/Steuerleistung (Sachsen) 8. Resümee der Systematisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Realpolitische Umsetzung und Kritik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

206 207 207 208 208 208 209 209 210 210 210 210 211 212 212 213 213 214

C. (Rechts-)Philosophische/politische Begründung des Zensus . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Der unerschütterliche Glaube an den Zensus im Rahmen der innerparlamentarischen Debatten um die Bayerische Verfassung von 1818 . . . . . . . . . . II. Die Suche nach dem „richtigen“ Verteilungsmaßstab politischer Partizipationsrechte in außerparlamentarischen Debatten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die Korrespondenztheorie zur Rechtfertigung des Grundeigentums als einzig tauglichem Kriterium der Zuteilung politischer Partizipationsrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Aufweichen des strengen Grundbesitzerfordernisses durch Aufwertung des Kapitals in der Industrialisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Die Korrespondenztheorie zur Rechtfertigung der Steuerleistung als einzig tauglichem Kriterium der Zuteilung politischer Partizipationsrechte . III. Resümee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

215 215 219

224 225 229 234

Kapitel 3 Einführung des allgemeinen und gleichen (Männer-)Wahlrechts auf dem Papier durch die Frankfurter Reichsverfassung vom 12. April 1849

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A. Vorgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 236 B. Normative Erscheinungsformen des Zensus und ihre realpolitische Umsetzung 239 I. Normative Vorgabe: Überwindung des Zensus durch das allgemeine und gleiche (Männer-)Wahlrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 239

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Inhaltsverzeichnis II. Realpolitische Umsetzung und Kritik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 240

C. (Rechts-)Philosophische/politische Begründung der Verteidigung/Ablehnung des Zensus: Innerparlamentarische Debatte um ein beschränktes Wahlrecht . . . . 240 I. Forderung einer Beschränkung des Wahlrechts durch das Selbständigkeitskriterium aus Angst vor den ungebildeten Massen an der Urne . . . . . . . . . . . 243 II. Forderung eines unbeschränkten Wahlrechts durch Revision des Selbständigkeitskriteriums . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 245

Kapitel 4 Deutschland in der Zeit von der Reichsgründung bis zur Weimarer Republik (1871–1918): Die Einführung des allgemeinen und gleichen (Männer-)Wahlrechts auf Reichsebene

249

A. Vorgeschichte: Nach Scheitern in Preußen Etablierung des allgemeinen und gleichen (Männer-)Wahlrechts auf Reichsebene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 249 I. Bismarck und Lassalle: Ein politisch ungleiches Paar vereint im Kampf um die Einführung des allgemeinen und gleichen (Männer-)Wahlrechts in Preußen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 250 II. Gründe für das Scheitern einer Oktroyierung des allgemeinen und gleichen (Männer-)Wahlrechts in Preußen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 252 B. Normative Erscheinungsformen des Zensus und ihre realpolitische Umsetzung . 256 I. Normative Erscheinungsformen: Überwindung des Zensus auf Reichsebene durch die Verfassung des Deutschen Reiches vom 16. April 1871 . . . . . . . . . 256 II. Realpolitische Umsetzung und Kritik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 259 C. (Rechts-)Politische Begründung des allgemeinen und gleichen (Männer-)Wahlrechts: Das Reichswahlgesetz als Produkt Bismarckscher Interessenpolitik? . . . . I. Bismarcks unstete Haltung in der Wahlrechtsfrage als Reaktion auf wechselhafte politische Gegebenheiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Gründe für Bismarcks (ursprüngliche) Aversion gegenüber einem allgemeinen und gleichen (Männer-)Wahlrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Gründe für Bismarcks radikalen Kurswechsel hin zur (zeitweiligen) Ablehnung eines Dreiklassenwahlrechts nach preußischem Zuschnitt . . . . . . . . . . . 1. Einführung des allgemeinen und gleichen (Männer-)Wahlrechts zur Mobilisierung konservativer Kräfte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Einführung des allgemeinen und gleichen (Männer-)Wahlrechts zur Eliminierung des Nebenbuhlers Österreich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Einführung des allgemeinen und gleichen (Männer-)Wahlrechts zur Stärkung der Hegemonialstellung Preußens im Reich . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Gründe für die Verwerfung der Bismarckschen Pläne zur Etablierung des allgemeinen und gleichen (Männer-)Wahlrechts in Preußen . . . . . . . . . . . . . . 1. Furcht vor einer Totalrevision der preußischen Verfassung . . . . . . . . . . . . . 2. Stärkung der Nationalliberalen als wichtigstem Bündnispartner Bismarcks .

261 261 263 265 267 268 269 270 271 271

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3. Gefährdung des Fortbestandes des preußischen Herrenhauses als Bismarcks Ort politischen Rückhalts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 272 V. Diskussion der Bismarckschen Pläne eines Staatsstreichs zur (Wieder-)Abschaffung des allgemeinen und gleichen (Männer-)Wahlrechts auf Reichsebene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 276 Kapitel 5 Das Preußische Dreiklassenwahlrecht (1849–1918) als ungleiches Wahlrecht par excellence A. Vorgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Der doppelte Staatsstreich: Die Oktroyierung der Verfassung vom 5. Dezember 1848 als Grundlage des Dreiklassenwahlrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Provisorium egalitär-demokratischer Zugeständnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Der erste Staatsstreich: Versuch einer verfassungsrechtlichen Rechtfertigung des Oktrois durch den Notverordnungsartikel . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Der zweite Staatsstreich: Die Oktroyierung des Dreiklassenwahlrechts unter Rückgriff auf die oktroyierte Verfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Die Vorarbeiten zur Verordnung vom 30. Mai 1849 als Ausdruck der Abwendung von egalitär-demokratischen Prinzipien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die Vorlagen von Bülow-Cummerows und Dietericis . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die geistigen Urväter des Konzepts einer Dreiteilung der Wählerschaft nach Steuerleistung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . B. Normative Erscheinungsformen des Zensus und ihre realpolitische Umsetzung I. Normative Vorgaben: Einteilung der Wähler in drei Abteilungen nach Steuerleistung durch die Wahlrechtsverordnung vom 30. Mai 1849 . . . . . . . II. Realpolitische Umsetzung und Kritik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Systemimmanente Ungerechtigkeit: Unterschiedliches Stimmgewicht durch unverhältnismäßige Verteilung der Wähler auf die drei Klassen (Beispiel Krupp) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Außerhalb des Systems liegende Ungerechtigkeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Taktierende Wahlkreisgeometrie der Regierung zur Absicherung ihrer Mehrheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Provokation von Wahlboykotten von Seiten der Opposition durch Wahlmißbräuche und -manipulationen der Regierung . . . . . . . . . . . . . c) Geringe Wahlbeteiligung der unteren Schichten als Protest gegen das System . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

278 278 280 280 283 285 286 286 288 290 290 292

292 296 296 298 301

C. (Rechts-)Philosophische/politische Begründung des Zensus: Rechtfertigungsversuche einer Etablierung des Dreiklassenwahlrechts durch das Staatsministerium und die Kammern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 304 I. Verteidigung des Dreiklassenwahlrechts als politische Notwendigkeit . . . . . 304 II. Überlagerung der Auseinandersetzung mit dem normativen Regelungsgehalt des Dreiklassenwahlrechts durch Kompetenzfragen . . . . . . . . . . . . . . . . . 307

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Inhaltsverzeichnis III. Einführung des Dreiklassenwahlrechts als verfassungsrechtlich nicht zu rechtfertigende politische Notwendigkeit? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 310

D. Phänomen einer jahrzehntelangen Verteidigung des Preußischen Dreiklassenwahlrechts als anachronistischem Relikt im Deutschen Reich . . . . . . . . . . . . . . . . 311 I. Konfliktträchtiges Nebeneinander der diametral verlaufenden Wahlsysteme in Preußen und im Deutschen Reich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 311 1. Forderung der Substitution des Dreiklassenwahlrechts durch ein allgemeines und gleiches (Männer-)Wahlrecht aus der Politik . . . . . . . . . . . . . . 312 2. Forderung der Substitution des Dreiklassenwahlrechts durch ein allgemeines und gleiches (Männer-)Wahlrecht aus der Wissenschaft . . . . . . . . 313 II. Ursachen des fast 70-jährigen Fortbestandes des Preußischen Dreiklassenwahlrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 317 1. Die vier identitätsstiftenden Pfeiler des preußischen Elitebewußtseins . . . 317 a) Preußisches Selbstbewußtsein als größter Teilstaat des Deutschen Reiches . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 317 b) Preußisches Selbstbewußtsein als historisch gewachsenes Phänomen . 318 c) Preußisches Selbstbewußtsein als Militärstaat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 320 d) Preußisches Selbstbewußtsein als Beamtenstaat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 323 2. Das Dreiklassenwahlrecht als Stütze überkommener gesellschaftlicher Herrschaftsstrukturen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 324 a) Preußische Elite als Hort des Konservatismus und Bollwerk gegen Reformen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 324 b) Instrumentalisierung des Dreiklassenwahlrechts zur Verteidigung der Hegemonialstellung der Landeselite . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 331 3. Das preußische Herrenhaus als institutioneller Unterbau der herrschenden Landeselite . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 334 a) Das Herrenhaus und seine institutionellen Alleinstellungsmerkmale . . . 335 aa) Historie und verfassungsrechtliche Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . 335 bb) Übermacht des Landadels und Kompetenzen des Herrenhauses . . 338 b) Das Herrenhaus als Konservator des Dreiklassenwahlrechts . . . . . . . . 340 c) Resümee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 343 III. Das ewige Spannungsverhältnis zwischen preußischer Hegemonie und Dualismus im Reich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 344 1. Unmittelbare Einwirkungsmöglichkeiten Preußens auf das Deutsche Reich durch Preußens verfassungsrechtlich garantierte Sonderstellung . . 347 a) Personalunion von preußischem König und deutschem Kaiser als verfassungsrechtlicher Aufhänger preußischer Hegemonie . . . . . . . . . . 347 b) Das deutsche Militär unter preußischem Kommando . . . . . . . . . . . . . . . 349 c) Exkurs: Das preußische Heer als Reichsheer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 350 d) Preußen als primus inter pares im Bundesrat? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 351 e) Das Reichsverwaltungswesen unter preußischem Kommando . . . . . . . 354

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aa) Rückgriff des Reiches auf den preußischen Verwaltungsapparat . 354 bb) Schwächung der Stellung Preußens innerhalb der Reichsverwaltung durch Emanzipationstendenzen der Reichsregierung . . . . . . 357 f) Resümee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 358 IV. Das Dreiklassenwahlrecht als letzte Waffe Preußens im Kampf gegen ein Aufgehen im Reich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 358 1. Preußen und das Deutsche Reich im Spannungsverhältnis wechselseitiger Interdependenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 359 a) Verdrängung Preußens in die Opposition durch Emanzipationsstreben des Reiches . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 360 b) „Hände weg vom alten Preußen“ als Antwort auf das Unabhängigkeitsstreben des Reiches . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 362 c) Das Dreiklassenwahlrecht als letztes Bollwerk des aristokratischen Obrigkeitsstaates . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 366 2. Das unerbittliche Festhalten am anachronistischen Relikt Dreiklassenwahlrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 367 V. Der lange Weg zur Überwindung des Preußischen Dreiklassenwahlrechts . . 369 1. Reformerische Ansätze auf Initiative der Opposition und der Regierung in Preußen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 370 a) Ausbleibende Reformbemühungen von Seiten der Opposition bis 1891 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 370 b) Unaufschiebbarkeit einer Reform aufgrund der Forcierung des plutokratischen Charakters des Dreiklassenwahlrechts durch die Steuerreform 1891 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 371 c) Scheitern der Wahlgesetznovelle von 1893 am Reformboykott des Herrenhauses . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 373 d) Ende der Stagnation der Reformfrage durch Vorstoß der preußischen Regierung 1910 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 375 e) Resümee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 377 2. Reformerische Ansätze auf Initiative des Reiches . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 378 VI. Die endgültige Überwindung des Dreiklassenwahlrechts . . . . . . . . . . . . . . . . 380 1. Vorgeschichte: Die bloße Wahlrechtsfrage wird in Kriegszeiten zur echten Lebensfrage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 380 2. (Rechts-)Philosophische/politische Argumente für und gegen ein Festhalten am Dreiklassenwahlrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 383 a) Die Diskussion im preußischen Staatsministerium und im Kronrat . . 383 aa) Argumente der Befürworter einer Beibehaltung des Preußischen Dreiklassenwahlrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 383 (1) Angst vor einer Machtverschiebung zugunsten der Sozialdemokratie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 383 (2) Mär vom Scheitern der politischen Intention des Reichstagswahlrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 384

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Inhaltsverzeichnis (3) Verbot einer Befürwortung der Einführung des allgemeinen und gleichen (Männer-)Wahlrechts aufgrund der sozialen Zusammensetzung der preußischen Führungselite . . . . . . . . . . bb) Argumente der Befürworter der Einführung des allgemeinen und gleichen (Männer-)Wahlrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Verbot einer Ungleichbehandlung der Bürger aufgrund der Verrichtung des allgemeinen Kriegsdienstes . . . . . . . . . . . . . . . (2) Behinderung einer erfolgreichen gesamtdeutschen Politik durch ein Nebeneinander unterschiedlicher Wahlsysteme . . . cc) Die Abstimmung über die Wahlrechtsfrage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Die Diskussion im Abgeordnetenhaus und das Scheitern einer Einigung in der Wahlrechtsfrage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Beginn der Debatten im Abgeordnetenhaus und erste Lesung der Reformvorlage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Ablehnung des gleichen Wahlrechts durch die Kommission und zweite Ablehnung im Ausschuß . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Ausweglosigkeit aus der (Wahlrechts-)Krise durch erneute Ablehnung des allgemeinen und gleichen (Männer-)Wahlrechts in der zweiten Plenarsitzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . dd) Endgültiges Scheitern einer Einigung in der Wahlrechtsfrage in der dritten Plenarsitzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ee) Versöhnliches Ende der Wahlrechtstragödie durch Annahme des allgemeinen und gleichen (Männer-)Wahlrechts durch das Herrenhaus? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Verschleppung der Wahlrechtsfrage im Herrenhaus trotz Verschärfung der Kriegslage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Überholung des (zu) späten Reformwillens durch die sich überschlagenden Ereignisse der Revolution . . . . . . . . . . . . . . . c) Revolutionäre Überwindung des Preußischen Dreiklassenwahlrechts durch Einführung des allgemeinen und gleichen (Männer-)Wahlrechts 3. Resümee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

385 385 385 386 387 388 388 390

391 392

393 393 394 395 395

Teil 4 Schlußbetrachtung

397

Teil 5 Ergebnisse der Arbeit in Thesen

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Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 409 I. Frankreich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 409 1. Primärquellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 409

Inhaltsverzeichnis

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2. Literatur bis 1848 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 410 3. (Sekundär-)Literatur seit 1848 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 411 II. Deutschland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Primärquellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Literatur bis 1918 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. (Sekundär-)Literatur seit 1918 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Sachverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 456

Teil 1

Grundlagen und Begriffsklärung Kapitel 1

Grundlagen A. Themenstellung und Horizont der Arbeit „Seitdem es ein konstitutionelles Leben in Deutschland gibt und namentlich seit der deutschen Revolution ist die Verteilung des parlamentarischen Wahlrechts eine der umstrittensten Fragen unserer Verfassungspolitik geworden. Allgemeines Stimmrecht und Dreiklassenwahl, Zensus und Interessenvertretung sind seitdem Gegenstand des leidenschaftlichsten politischen Streits (. . .)“, so lautet rückblickend der analytische Befund des Staatsrechtlers Rudolf Smend.1 Vor der Projektionsfläche unseres heutigen egalitär-modernen Selbstverständnisses von Demokratie stellt die Gleichheit des Wahlrechts ein in Bedeutung und Tragweite kaum zu überschätzendes, aus dem politischen Leben nicht wegzudenkendes Prinzip dar, „denn das Individuum“, so der inhaltlich übereinstimmende Kanon, „kann sich außerhalb seiner staatsfreien Sphäre in der staatlichen Zwangsgemeinschaft, der es nicht zu entrinnen vermag, allein in der Weise ein Stück Freiheit und ein Stück Selbstbestimmung wahren, daß es selber an der Bildung des Staatswillens beteiligt wird“ 2. Als „Instrument zur Verwirklichung der Volkssouveränität“ 3 hat der Grundsatz der gleichen Wahl seinen Niederschlag in Art. 38 Abs. 1 S. 1 GG gefunden und dient der Gewährleistung der Partizipationsmöglichkeit des gesamten Volkes an der politischen Willensbildung ohne Rücksicht auf etwaige gesamtgesellschaftliche Ungleichheiten.4 Aber auch wenn 1 R. Smend, Maßstäbe des parlamentarischen Wahlrechts in der deutschen Staatstheorie des 19. Jahrhunderts (1911), in: ders. (Hrsg.), Staatsrechtliche Abhandlungen und andere Aufsätze, 2. Aufl. 1968, S. 19 (19). 2 Z. Giacometti, Die Demokratie als Hüterin der Menschenrechte – Festrede zur 121. Stiftungsfeier der Universität Zürich, in: Jahresbericht der Universität Zürich 1953/1954, 1954, S. 3 (6). 3 M. Morlok, in: H. Dreier (Hrsg.), Kommentar zum Grundgesetz, Bd. II, 3. Aufl. 2015, Art. 38 Rn. 99. 4 So das Bundesverfassungsgericht in ständiger Rechtsprechung, siehe nur BVerfGE 8, 51 (69); 14, 121 (132); 41, 1 (12); 51, 222 (234); 69, 92 (106). Das Gericht fährt in diesem Kontext fort, im Rahmen der freiheitlich-demokratischen Grundordnung des Grundgesetzes sei die Gleichbewertung aller Staatsbürger bei der Ausübung des Wahl-

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Teil 1: Grundlagen und Begriffsklärung

Demokratie heute denknotwendigerweise mit dem Postulat des gleichen Wahlrechts im Sinne von „one man one vote“ 5 verknüpft ist6, darf diese Tatsache nicht darüber hinwegtäuschen, daß das bestehende Wahlsystem nichts von Natur Gegebenes, Unumstößliches ist. Schon die naheliegende Rückbesinnung auf die deutsche Geschichte belehrt uns schnell eines Besseren: Ganz offensichtlich blickt der allgemeine Gleichheitssatz (Art. 3 Abs. 1 GG) hier auf eine wesentlich längere Tradition zurück als der Satz der Wahlgleichheit.7 Während der Ursprung des allgemeinen Gleichheitssatzes schon im Frühkonstitutionalismus zu verorten ist – als Nachweis hierfür kann beispielsweise die oktroyierte Verfassung für das Königreich Bayern vom 26. Mai 18188 bemüht werden, in der Maximilian I. Joseph seinem Volk die Zusage der „Gleichheit der Gesetze und vor dem Gesetze“ macht –, erweist es sich für die Verfassungstradition dieser Epoche als geradezu charakteristisch, eben jenen Gleichheitsanspruch nicht auch konsequent auf das Wahlrecht zu übertragen, was – vor dem Hintergrund unseres heutigen Demokratieverständnisses befremdlich – den liberalen Vorstellungen der damaligen Zeit durchaus nicht widerstrebte9. rechts eine der wesentlichen Grundlagen dieser Staatsordnung und der Grundsatz der Gleichheit der Wahl (Art. 3 Abs. 1, Art. 28 Abs. 1 S. 2 GG) verlange, daß allen Staatsbürgern das aktive und passive Wahlrecht in formal möglichst gleicher Weise gewährt würde (siehe exemplarisch BVerfGE 6, 84 [91]; 11, 351 [360 f.]; 12, 73 [77]; 13, 243 [246]; 16, 130 [138]; 41, 399 [413]; 51, 222 [234]; 69, 92 [106]; 93, 373 [376]; 95, 335 [368]; 95, 408 [417]). Heute soll das Wahlrecht „Bürger und Stimmen nicht gewichten, sondern nur zählen“, siehe E.-W. Böckenförde, HStR3 II, § 24 Rn. 42. 5 Diese heute sehr geläufige und in wissenschaftlichen Abhandlungen zur Demokratie unzählige Male bemühte Formel begegnet uns zum ersten Mal in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts im Rahmen der Forderung des allgemeinen Wahlrechts für alle erwachsenen, männlichen Bewohner Englands und taucht dann allen voran in den englischen Reformbewegungen im 19. Jahrhundert erneut auf; siehe hierzu: D. Hilger, Edmund Burke und seine Kritik an der Französischen Revolution, 1960, S. 136 und weiterführend J. H. Plumb, England in the Eighteenth Century (1714–1815), Harmondsworth 1950. 6 Mahnend schon H. Kelsen, Vom Wesen und Wert der Demokratie, 2. Aufl. 1929, S. 101 im Hinblick auf den gleichen Achtungsanspruch jeder politischen Willensäußerung, unabhängig von deren Inhalt: „Demokratie schätzt den politischen Willen jedermanns g l e i c h ein, wie sie auch jeden politischen Glauben, jede politische Meinung, deren Ausdruck ja nur der politische Wille ist, gleichermaßen achtet“, Hervorhebung i. O., A. S. 7 H. Meyer, Wahlsystem und Verfassungsordnung – Bedeutung und Grenzen wahlsystematischer Gestaltung nach dem Grundgesetz, 1973, S. 83. 8 Verfassungsurkunde für das Königreich Bayern vom 26. Mai 1818, Vor I. Allgemeine Bestimmungen, Bayerisches Gesetzblatt 1818, S. 101, abgedruckt in: E. R. Huber (Hrsg.), Dokumente zur deutschen Verfassungsgeschichte, Bd. 1, 3. Aufl. 1978, Nr. 53 (Nr. 51), S. 155 (156); siehe hierzu auch den knappen Hinweis bei Meyer, Wahlsystem (Fn. 7), S. 83 f. und die ausführliche Darstellung auf S. 215 ff. 9 E. R. Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Bd. I, 2. Aufl. 1967, S. 352; Meyer, Wahlsystem (Fn. 7), S. 84.

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Bei Immanuel Kant (1724–1804)10 beispielsweise wird die Stimmberechtigung nicht bedingungslos allen (männlichen) Einwohnern eines gewissen Alters zuteil, sondern an ein Mindestmaß von Vermögen als Ausdruck nicht nur wirtschaftlicher, sondern – viel wichtiger noch – persönlicher Selbständigkeit und mithin politischer Mündigkeit geknüpft, wenn es in seiner Schrift „Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis“ aus dem Jahre 1793 heißt: „Derjenige nun, welcher das Stimmrecht in dieser Gesetzgebung hat, heißt ein Bürger (citoyen, d. i. Staatsbürger, nicht Stadtbürger, bourgeois). Die dazu erforderliche Qualität ist außer der natürlichen (daß es kein Kind, kein Weib sei) die einzige: daß er sein eigener Herr (sui iuris) sei, mithin irgend ein Eigenthum habe (wozu auch jede Kunst, Handwerk oder schöne Kunst oder Wissenschaft gezählt werden kann), welches ihn ernährt (. . .).“ 11 Nicht anders läßt sich letztlich auch nur ansatzweise erklären, warum beispielsweise das Preußische Dreiklassenwahlrecht12, das 1849 eingeführt worden war, trotz Etablierung des allgemeinen und gleichen (Männer-)Wahlrechts auf 10

Siehe hierzu ausführlich auf S. 191 ff. I. Kant, Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis (1793), Zweiter Abschnitt (zitiert nach der Akademie-Ausgabe, Bd. VIII, 1912, S. 295, Hervorhebungen i. O., A. S.). Zum grundsätzlichen Ausschluß der Besitzlosen, Ungebildeten und Frauen aus der „bürgerlichen Gesellschaft“ siehe exemplarisch H.-U. Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Bd. I, 1987, S. 238. Mit dieser Forderung, den Kreis der Wähler auf diejenigen zu begrenzen, die über ein Mindestmaß an Vermögen als Ausdruck ihrer politischen Mündigkeit verfügen, steht Kant keineswegs allein. Ganz im Gegenteil – eine derartige Argumentation ist geradezu charakteristisch für das politische Denken des liberalen Lagers im 18. und 19. Jahrhundert: So konstatiert beispielsweise auch Wilhelm Traugott Krug (1770–1842), der 1805 Kant auf seine Professur in Königsberg nachfolgte, in seinem 1818 erschienenen „System der praktischen Philosophie“ (siehe W. T. Krug, System der praktischen Philosophie, Bd. I, Wien 1818, S. 275, 245) ganz selbstverständlich: „Wenn von bürgerlicher Gleichheit die Rede ist, so kann darunter vernünftigerweise nichts anderes verstanden werden als die Gleichheit vor dem Gesetze, d.h. der gleiche Anspruch, den alle Glieder der bürgerlichen Gesellschaft auf den Schutz des Gesetzes und der dasselbe mit Gerechtigkeit handhabenden Staatsgewalt haben. (. . .) Wer also den vollen Gebrauch seiner Vernunft und Freiheit hat oder, was ebensoviel heißt, mündig und äußerlich unabhängig ist, der ist Staatsbürger in der engeren Bedeutung, die übrigen Glieder der bürgerlichen Gesellschaft aber sind nur in der weiteren. Man könnte jene auch aktive, diese passive Staatsbürger oder bloße Staatsgenossen nennen.“ Beim Göttinger Historiker Arnold Hermann Ludwig Heeren (1760–1842) heißt es ein Jahr zuvor lapidar: „Ist aber der Begriff des Eigentümers von dem des Staatsbürgers unzertrennlich, so fällt auch der Grundsatz der politischen Gleichheit über den Haufen; denn es versteht sich alsdann von selbst, daß der größere Eigentümer auch eines größeren Anteils an der Gesetzgebung genießen muß als derjenige, der weniger oder nichts hat“, A. H. L. Heeren, Ueber die Entstehung, die Ausbildung und den practischen Einfluß der politischen Ideen in dem neueren Europa, Kleine hist. Schr., Bd. 1, Wien 1817, S. 348 f. Ein Hinweis auf diese und die zuvor zitierte Stelle findet sich u. a. bei M. Riedel, Art. Gesellschaft, bürgerliche, in: O. Brunner/W. Conze/R. Koselleck (Hrsg.), Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Bd. 2, 1975, S. 719 (771 f.). 12 Siehe hierzu ausführlich auf S. 278 ff. 11

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Reichsebene schon im Jahre 1871, seinen Bestand bis 1918, also fast fünfzig weitere Jahre, zu verteidigen vermochte13 und die politischen Protagonisten in Preußen aufgrund des starren Festhaltens an einem Wahlrecht, das sich längst als anachronistisch und unhaltbar entpuppt hatte, sogar das Risiko eines Auseinanderbrechens des Reiches am Nebeneinander der in ihren Grundprämissen derart diametral verlaufenden Wahlsysteme in Preußen und im Reich billigend in Kauf nahmen. Wirft man zusätzlich einen, wenn auch zunächst nur flüchtigen Blick auf die französische Geschichte14, so offenbart sich hier die Kontrafaktizität des Gleichheitspostulats im Hinblick auf die Ausgestaltung des Wahlsystems aufs Schärfste. Wenn man bedenkt, daß Egalité – Gleichheit – zu den zentralen und wohl wesensbestimmendsten Forderungen der Französischen Revolution zählt, sich zur Revolutionszeit „in einer geradezu explosiven Entwicklung als Schlagwort verbreitet“ hatte, gar in Zusammenschau mit der Freiheit zum „zentrale[n] Integrationsbegriff“, „das die Revolution weitertreibende, radikalisierende Prinzip“ 15 geworden war, ist es retrospektiv kaum nachvollziehbar, warum die Konstituante, die das Geschick der gesamten Nation in diesem schicksalsträchtigen Punkt der Geschichte in ihren Händen hielt, im Dezember 1789 unter lautstarken Protesten von Robespierre und anderen Abgeordneten den Beschluß faßte, das Stimmrecht im Widerspruch zu Art. 6 S. 2 der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte vom 26. August 1789 („Alle Bürger haben das Recht, persönlich, oder durch ihren Vertreter an seinem Zustandekommen [dem des Gesetzes, A. S.] mitzuwirken“) und entgegen der omnipräsenten revolutionären Gleichheitsparole vom Nachweis eines bestimmten Besitzes abhängig zu machen16. Man kommt aufgrund dieses Spannungsverhältnisses zwischen der großen theoretisch-abstrakten Forderung nach Gleichheit und damit einhergehender uneingeschränkter Gleichbehandlung des Volkes durch den Staat und der auf den ersten Blick enttäuschenden tatsächlichen Umsetzung dieses Gleichheitsgedankens im Rahmen der Verfassunggebung nicht umhin, sich die Frage zu stellen: „Wie kam es, daß die verfassunggebende Nationalversammlung das eben erst und von ihr selber proklamierte Prinzip der Rechtsgleichheit durch die Einführung eines zensitär beschränkten Wahlrechtes mißachtete?“ 17

13 Statt vieler H. Dreier, in: ders. (Hrsg.), Kommentar zum Grundgesetz, Bd. II, 3. Aufl. 2015, Art. 20 (Demokratie) Rn. 15 und ausführlich auf S. 311 ff. 14 Näheres dazu auf S. 39 ff. 15 Alle drei Zitate aus O. Dann, Gleichheit, in: O. Brunner/W. Conze/R. Koselleck (Hrsg.), Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Bd. 2, 1975, S. 997 (1016 f.). 16 H. Hofmann, Die Grundrechte 1789 – 1949 – 1989, in: NJW 1989, S. 3177 (3182). 17 H. Kläy, Zensuswahlrecht und Gleichheitsprinzip – Eine Untersuchung auf Grund der französischen Verfassung des Jahres 1791, Aarau 1956, S. 14.

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Doch auch, wenn unser modernes Demokratieverständnis ein derartiges Abhängigkeitsverhältnis des Stimmrechts vom Besitz oder der Aufbringung eines bestimmten Mindeststeuersatzes in höchstem Maße mißbilligt, zeigt allein die Fülle an historischen Beispielen für zensitär beschränkte Wahlsysteme18, daß man derartige politische Strukturen nicht einfach als Einzelphänomene abtun und mit wissenschaftlicher Ignorierung strafen darf. Insbesondere lohnt ein unvoreingenommener nüchterner Blick auf die (rechts-)philosophischen und politischen Legitimierungsmuster und die argumentativen Untermauerungen des beschränkten Wahlrechts. Betrachtet man das Wahlrecht zunächst einmal nüchtern als ein Recht, das dem einzelnen Bürger durch den Staat zuteil wird, so kommt man auch hier nicht umhin, die Frage nach dessen denkbaren Verteilungsmechanismen zu stellen und sich mit der vorgelagerten Grundsatzproblematik der Verteilung in komplexen gesellschaftlichen Gefügen, vor allem mit der Begründungsbedürftigkeit des gewählten Verteilungsschlüssels auseinanderzusetzen: „Moderne Gesellschaften sind komplizierte Verteilungsapparate, die ihren Mitgliedern vielerlei Güter auf unterschiedliche Weise zuteilen: Rechte und Pflichten, Ansehen, Macht und Sicherheit, Freiheit, Bildung und Berufschancen, Einkommen, Unterstützung und Selbstachtung. Auch die Natur ist eine Verteilungsagentur, aber sie ist unverantwortlich und nicht belangbar. Die gesellschaftliche Verteilungsagentur hingegen ist menschlichen Ursprungs; die Normen und Verteilungsmuster fallen nicht vom Himmel; sie sind gesellschaftliche Erfindungen, unterliegen der politischen Gestaltungsverantwortung und sind daher begründungsbedürftig.“ 19 Das politische Gestaltungsrecht in Bezug auf die Entscheidung für ein konkretes Wahlsystem obliegt dem Staat, er trifft die weit- und folgenreiche Entscheidung, wer aktiv und passiv wahlberechtigt sein soll20, und gibt im Rahmen der Verfassung oder

18 H. v. Treitschke, Politik. Vorlesungen gehalten an der Universität zu Berlin, herausgegeben von M. Cornicelius (1898), Bd. II, 4. Aufl. 1918, S. 251 geht sogar so weit zu behaupten, „Fast alle Demokratien beginnen mit irgend einer Form des Zensus. Dann wird das allgemeine Stimmrecht eingeführt; schließlich werden die Bürger sogar bezahlt für die Ausübung ihrer politischen Pflichten.“ 19 W. Kersting, Kritik der Gleichheit – Über die Grenzen der Gerechtigkeit und der Moral, 2002, S. 23. 20 Zu dieser staatlichen Grundsatzentscheidung, die in der Vergangenheit naturgemäß nicht immer (nur) auf rational begründbaren Erwägungen, wie dem Wohle der Gesamtnation, sondern nicht selten auf der Einflußnahme der vermögenden Landeselite beruhte, siehe Smend, Maßstäbe (Fn. 1), S. 35: „Der Staat hat prinzipiell die Wahl zwischen zwei Möglichkeiten: einerseits der Freigabe der schrankenlosen Auswirkung der gesellschaftlichen Kräfte im politischen Kampf – durch die Gewährung des allgemeinen gleichen Stimmrechts, womöglich mit Proportionalsystem – und anderseits der Beschränkung dieser Freiheit zugunsten der einen, zuungunsten der anderen gesellschaftlichen Schichten. Zu solcher Beschränkung dienen ihm die verschiedensten Mittel: Zensus und Klassensystem, organisches Wahlrecht und Pluralwahlrecht (. . .).“ An anderer Stelle führt er diesen Gedanken noch etwas anschaulicher aus, indem er klarstellt, daß

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einem einfachgesetzlichen Wahlgesetz die Parameter der Organisation und Durchführung des eigentlichen Wahlaktes vor21. Ihm obliegt mithin auch die Rechtfertigung seiner Entscheidung, eine – eingedenk der Stellung der Wahl als „das bedeutendste Verfahren der Machtverteilung, das die Demokratie kennt“ 22, ja gar das „Lebensgesetz der Demokratie“ 23 – in ihrem hohen Maß an Verantwortung nicht zu unterschätzende Bürde. Führt man sich vor Augen, daß gerade das Wahlrecht als Verfahrensmodus zur Bestimmung der Repräsentanten, denen keine geringere Aufgabe als die Ausübung der Souveränität zuteil wird, das daher gar den „organisatorische[n] Kern

der Staat über eine etwaige Beschränkung des Wahlrechts schon im Vorfeld auf die Zusammensetzung der Vertretungskörperschaft Einfluß zu nehmen vermag: „Weil der Staat von der Anerkennung und Zustimmung der Gesellschaft getragen sein muß, schafft er im Parlament ein Organ dieser Anerkennung und Zustimmung, und das Wahlrecht bestimmt nun, auf welche Schichten der Gesellschaft der Staat sich stützen will und welche Schichten so ihrerseits zur Einflußnahme auf den Staat berufen werden“, siehe ebd., S. 27. Zu dieser folgenreichen Gestaltungsmöglichkeit des Gesetzgebers siehe des Weiteren auch G. Meyer, Das parlamentarische Wahlrecht. Nach des Verfassers Tode herausgegeben von G. Jellinek, 1901, S. 412. 21 Siehe statt vieler H. Meyer, HStR3 III, § 45 Rn. 2, der hier auch auf das erhebliche Mißbrauchspotential, das in dieser Oragnisationsbefugnis steckt, hinweist („Weil die Organisation der Wahl ganz in den Händen des Staates liegt, besagt die Tatsache einer Wahl durch das Volk als solche noch nichts über den demokratischen Charakter des Systems. Von den vielen undemokratischen Staaten der Erde glauben nämlich nur wenige, meist Militärdiktaturen, ohne Parlament und Parlamentswahl auskommen zu können“); Rn. 17 (mit Augenmerk auf den damit verbundenen riesigen organisatorischen Aufwand der Wahl als „[. . .] das größte Massenverfahren, welches das Recht kennt“); K. Graßhof, § 62: Wahlen, in: H. Kube/R. Mellinghoff/G. Morgenthaler (Hrsg.), Leitgedanken des Rechts. Paul Kirchhof zum 70. Geburtstag, Bd. I, 2013, Rn. 6. 22 Meyer, § 45 (Fn. 21), Rn. 22, der außerdem betont, „die Frage nach dem Maß der Gestaltungsfreiheit des Wahlgesetzgebers“ träfe aufgrund eben jener Bedeutungsschwere „den Nerv des politischen Systems Demokratie“. Auch das Bundesverfassungsgericht hat schon in einer seiner ganz frühen Entscheidungen die Wahl als „ursprünglichste und wichtigste Äußerungsform der repräsentativen Demokratie überhaupt“ benannt (siehe BVerfGE 3, 19 [26]) und Bezugnahme u. a. bei M. Morlok, Demokratie und Wahlen, in: P. Badura/H. Dreier (Hrsg.), Festschrift 50 Jahre Bundesverfassungsgericht, Bd. II, 2001, S. 559 (559). Dabei ist nicht selten schon die konkrete Ausgestaltung des Wahlsystems Ursache erheblicher sozialer Ungleichheiten innerhalb der Gesellschaft: „1. Macht und Herrschaft, Einfluß- und Durchsetzungschancen sind in jeder Gesellschaft ständig ungleich verteilt. Die Probleme des Kampfes um die Absicherung oder Gewinnung solcher Machtchancen können im Kontext der Herrschaftsverhältnisse am besten berücksichtigt werden“, Wehler, Gesellschaftsgeschichte I (Fn. 11), S. 125. 23 P. Badura, Verfassung, Staat und Gesellschaft in der Sicht des Bundesverfassungsgerichts, in: ders./H. Dreier (Hrsg.), Festschrift 50 Jahre Bundesverfassungsgericht, Bd. II, 2001, S. 897 (907); dem Wahlrecht werde, neben weiteren Elementen wie den Parteien, „eine Schlüsselstellung zur Gewährleistung der für den demokratischen politischen Prozess konstitutiven parlamentarischen Repräsentation (. . .) zuteil“, so ders., § 58: Die politische Willensbildung des Volkes in der parlamentarischen Demokratie, in: H. Kube/R. Mellinghoff/G. Morgenthaler (Hrsg.), Leitgedanken des Rechts. Paul Kirchhof zum 70. Geburtstag, Bd. I, 2013, Rn. 4.

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jeder Verfassung“ 24 ausmacht, wie andere institutionelle Ordnungen im Übrigen auch, keine reine Verfahrensregel ist, sondern immer auch als Realisierung kultureller Werte verstanden werden kann25, so stellt sich zum einen die Frage, welche Überzeugungen unserem heutigen Wahlsystem zugrunde liegen, aber zum anderen eben auch die Frage danach, welche Auffassungen in der Vergangenheit zur Etablierung anders gearteter Wahlmodi führten. Dabei darf man auch hier nicht der zu kurz greifenden, da vorschnellen Folgerung erliegen, solche Wahlsysteme, denen andere Verteilungsprinzipien zugrunde liegen, unter dem Deckmantel der Gerechtigkeitsforderung per se als undemokratisch oder unterentwickelt zu stigmatisieren26: „Dem allgemeinen und gleichen Wahlrecht unterliegt der Glaube an bestimmte, als gerechtfertigt angesehene, kulturelle Werte. Ob alle Bürger das gleiche Wahlrecht haben sollen, ist eine normative Entscheidung, der Argumente und Deutungen zugrunde liegen, die die Richtigkeit dieses Werts begründen. Auch die umgekehrte Option eines ungleichen Wahlrechts ist mit Ideen der Legitimation dieses Standpunktes verbunden.“ 27 Daß die Entscheidung für ein allgemeines und gleiches Wahlrecht des heutigen Zuschnitts und die damit automatisch einhergehende Absage an jegliche Form eines zensitär ausgestalteten Wahlsystems dabei keineswegs auf der Hand liegt, belegen jahrhundertelanges

24 U. Thiele, Souveränität und Revolution. Legitimationsmodelle des Staatsformwechsels, in: S. Salzborn/R. Voigt (Hrsg.), Souveränität. Theoretische und ideengeschichtliche Reflexionen, 2010, S. 104. Niemand geringerer als John Locke (1632– 1704) arbeitete schon akribisch die Bedeutung und Tragweite des Wahlrechts als eine Art tragende Säule des Verfassungsgebildes heraus, wenn er betont „the first and fundamental positive law of all commonwealths is the establishing of the legislative power (. . .)“, J. Locke, Second Treatise of Government (1690), Edited, with an Introduction, by C. B. McPherson, Indianapolis/Cambridge 1980, Chap. XI., Sec. 134. 25 T. Parsons, The social system (1951), New York u. a. ND 1968, S. 34 ff.; ein Verweis hierauf findet sich bei J. Gerhards/J. Rössel, Interessen und Ideen im Konflikt um das Wahlrecht – Eine kultursoziologische Analyse der parlamentarischen Debatten über das Dreiklassenwahlrecht in Preußen, 1999, S. 17. 26 Auch das Urteil über den demokratischen Gehalt von Wahlsystemen unterliegt dem dynamischen Prozeß und ein Wahlsystem, das aus heutiger Sicht legitimierende Wirkung entfaltet, kann morgen schon als anachronistisch und reformbedürftig gelten, so der Befund von G. Leibholz, Die Wahlrechtsreform und ihre Grundlagen, VVDStRL 7 (1932), S. 159 (162): „An sich ist also unter Umständen ein nach der politischen Gewichtigkeit der Staatsbürger abgestuftes, dynamisches oder aristokratisches oder plutokratisches Wahlsystem ebenso in der Lage, die repräsentativen Qualitäten einer parlamentarischen Körperschaft sicherzustellen, wie das der modernen Staatspraxis geläufige, allgemeine und gleiche Wahlrecht. Diese Einsicht schließt nicht aus, daß gewisse Wahlrechtssysteme, die früher einmal tatsächlich legitimierend und damit repräsentationsbegründend gewirkt haben, in der Gegenwart diese politische Kraft nicht mehr besitzen.“ 27 Gerhards/Rössel, Interessen (Fn. 25), S. 17. In eine ähnliche Richtung auch Leibholz, Wahlrechtsreform (Fn. 26), der klarstellt, ein bestes Wahlsystem gebe es nicht und könne es nicht geben, „weil jedes Wahlrecht zugleich strukturell aufs engste mit den politisch-soziologischen Grundlagen einer Verfassung zusammenhängt, für die es seiner Funktion nach eine ganz bestimmte integrierende Bedeutung hat“, ebd., S. 159.

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politisches Ringen um eine Einigung in der Wahlrechtsfrage28 in zähen parlamentarischen Debatten29 und unzählige Seiten an Literatur zur Frage der Ausgestaltung eines gerechten Wahlsystems30. Die politisch Verantwortlichen fanden sich oft im schier unauflöslichen Spannungsverhältnis zwischen einem aus Rücksichtnahme auf das staatliche Wohl und zur Generierung politisch vernünftiger Entscheidungen auf die gebildeten Bürger beschränkten und der Etablierung eines allgemeinen und gleichen Wahlrechts wieder, für das allen voran das Argument der Identifikation breiter Bevölkerungsschichten mit staatlichen Entscheidungen und eine gesteigerte Akzeptanz eben jener stritt.31 28 So gelangt beispielsweise J. Habermas, Strukturwandel der Öffentlichkeit. Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft (1962), 13. Aufl. 1982, S. 162 zu der Conclusio, „Wahlrechtsreform ist das Thema des 19. Jahrhunderts (. . .)“. Und auch mit der endgültigen Einführung des allgemeinen und gleichen Wahlrechts durch die Weimarer Reichsverfassung war und ist die Frage der optimalen Ausgestaltung des Wahlrechts keineswegs von der politischen Agenda verschwunden, siehe dazu nur H. Pohl, Die Reform des Wahlrechtes, VVDStRL 7 (1932), S. 131 (132: „Seitdem die Weimarer Verfassung mit den Worten „Die Staatsgewalt geht vom Volke aus“ den Fundamentalsatz aller Demokratie, das Prinzip der Volkssouveränität, als geltendes Recht verkündet hat, ist die Gestaltung des Wahlrechts eines der wichtigsten und aktuellsten Probleme unseres politischen Lebens geblieben“). 29 K. Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. I, 2. Aufl. 1984, § 10 I 2 (S. 290) liefert hierzu beispielsweise den Hinweis, welch große politische Bedeutung der Wahlrechtsfrage zugemessen worden sei, zeige die intensive Beschäftigung mit ihr im Parlamentarischen Rat. Der Wahlrechtsausschuß habe allein 25 Sitzungen abgehalten. 30 G. Jellinek, Verfassungsänderung und Verfassungswandlung. Eine staatsrechtlichpolitische Abhandlung, herausgegeben und eingeleitet von W. Pauly (1906), ND 1996, S. 63 kommt nach ausführlicher Auseinandersetzung mit dieser Fragestellung gar zu dem resignierenden Ergebnis: „Das Problem des richtigen, gerechten Wahlsystems ist eben ein absolut unlösbares.“ Das Angebot an möglichen Gestaltungsformen sei so gut wie unüberschaubar und auch ein Blick in andere Länderer würde nur zusätzliche Unsicherheit und Verwirrung hervorrufen, so sein nüchternes Fazit in ders., Das Pluralwahlrecht und seine Wirkungen. Vortrag gehalten in der Gehe-Stiftung zu Dresden am 18. März 1905, 1905, S. 4: „Namentlich die Geschichte des Wahlrechts zeigt uns die verschiedenartigsten Versuche, das Problem des richtigen, passenden, befriedigenden Wahlrechts zu lösen, ohne daß es irgend einer dieser Lösungen gelungen wäre, sich allgemeine Anerkennung zu verschaffen. Selbst wenn ein bestimmtes Wahlrechtssystem als das normale anerkannt wird, so wird es wiederum in jedem Staate, der es einführt, besonders ausgestaltet.“ 31 Siehe zu diesem Spannungsverhältnis u. a. L. v. Savigny, Das parlamentarische Wahlrecht im Reiche und in Preußen und seine Reform, 1907, S. 21: „Wenn wir diese, aus den Zwecken der Volksvertretung hergeleiteten Anforderungen an das Wahlrecht in ihrer Gesamtheit betrachten, so zeigt sich, daß sie miteinander in einem gewissen Ausschließungsverhältnis stehen: Das Höchstmaß der staatlichsozialen Einsicht und patriotischer Staatsgesinnung, (. . .), wird sich stets nur bei einer Auslese finden, während die gewünschte Befriedigung der Regierten nur bei weit ausgedehnter Vollständigkeit der Teilnahme zu erwarten ist; (. . .).“ Zum identitäts- und akzeptanzstiftenden Charakter des allgemeinen und gleichen Wahlrechts im Rahmen seiner vernichtenden Kritik am Preußischen Dreiklassenwahlrecht, siehe G. Anschütz, Die preußische Wahlreform, in: Annalen für soziale Politik und Gesetzgebung 5 (1917), S. 273 (275, Hervorhebung i. O., A. S.) = ders., Die preußische Wahlreform, 1917: „Soll das Erziehungswerk weiter

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Hinter der konkreten Ausgestaltung des heutigen Wahlrechts blitzt letztlich die tiefergehende Überzeugung vom allgemeinen und gleichen Wahlrecht als einer der absolut unverzichtbaren, da tragenden Säulen unseres Staatskonstrukts auf.32 Der oft bemühte spanische Philosoph und Soziologe José Ortega y Gasset hat zur Relevanz der Organisation des Wahlrechts für eine funktionierende Demokratie eingängig ausgeführt: „Das Heil der Demokratien, von welchem Typus und Rang sie immer seien, hängt von einer geringfügigen technischen Einzelheit ab: vom Wahlrecht. Alles andere ist sekundär.“ 33 Vor nicht einmal hundert Jahren hingegen versetzte die Vorstellung der Einführung eines allgemeinen und gleichen Wahlrechts einige preußische Politiker noch in blanke Panik. Man zeichnete Horrorszenarien einer Herrschaft des ungebildeten Pöbels und prophezeite gar den Untergang des Abendlandes.34 fortschreiten, so müssen die dauernd wirksamen Ursachen der Staatsfeindlichkeit aus dem Wege geräumt, es muß in den Massen das Gefühl erhalten und vertieft werden, daß der Staat nicht eine ihnen fremde, sondern ihre Angelegenheit ist; (. . .)“; zu diesem Aspekt siehe aus jüngerer Zeit beispielsweise U. Di Fabio, Demokratie im System des Grundgesetzes, in: M. Brenner/P. M. Huber/M. Möstl (Hrsg.), Der Staat des Grundgesetzes – Kontinuität und Wandel. Festschrift für Peter Badura zum siebzigsten Geburtstag, 2004, S. 77 (77: „Der freie Mensch lässt sich nur beherrschen, wenn er selbst wirkender und gleicher Teil der Herrschaftsgewalt ist“). Dabei darf man nicht außer Acht lassen, daß allgemeine und gleiche Wahlen nicht nur als Chance der Bürger, auf politische Entscheidungsprozesse Einfluß nehmen zu können, zu sehen sind, sondern deren Zusage auch immer als Vertrauensvorschuß zu vestehen ist, der den Bürgern etwas „zumutet“ und auf bestimmte Voraussetzungen, wie etwa ein Mindestmaß an Bildung und politischem Interesse, angewiesen ist, dazu J. P. Müller, Demokratische Gerechtigkeit. Eine Studie zur Legitimität politischer und rechtlicher Ordnung, 1993, S. 205. 32 D. Sternberger, Die große Wahlreform. Zeugnisse einer Bemühung, 1964, S. 68 rückt den unverzichtbaren Beitrag einer möglichst umfassenden Beteiligung der Bevölkerung an politischen Entscheidungsfindungsprozessen zur Gewährleistung eines funktionierenden staatlichen Miteinanders in den Fokus: „Je mehr Macht (und Verantwortung) wir den Wählern geben (bei der Bestellung ihrer Vertretungsorgane), desto fester sichern wir auch zugleich den Bestand und die Dauerhaftigkeit des demokratischen Gemeinwesens.“ 33 J. Ortega y Gasset, Der Aufstand der Massen, autorisierte Übersetzung von H. Weyl, 1931, S. 173. 34 Im Kampf um die Beibehaltung des Preußischen Dreiklassenwahlrechts hielt beispielsweise der damalige preußische Finanzminister noch 1917 ein flammendes Plädoyer, im Rahmen dessen er schlicht behauptete, die Einführung des allgemeinen und gleichen (Männer-)Wahlrechts habe schon auf Reichsebene nicht wie erhofft dazu geführt, daß die einsichtigsten oder bedeutendsten Männer in den Reichstag eingezogen seien, sondern sich ganz im Gegenteil „die Macht der Masse“ behauptet habe. Das allgemeine und gleiche Wahlrecht „werde dem Vaterlande zum Verderben gereichen (. . .)“, zitiert nach der Dokumentation der Sitzung des Kronrats vom 9. Juli 1917, Abschrift Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz, I. HA. Rep. 92 Otto Braun A 19 a A 3, in: O. Hauser (Hrsg.), Zur Problematik „Preußen und das Reich“, 1984, S. 144 f. Dabei ging es den Parlamentariern in der Tat meistens nicht (nur) um den Ausschluß bestimmter Bevölkerungsschichten vom Wahlrecht; man war von der Leistungsfähigkeit dieses Wahlsystems tatsächlich überzeugt. Der Jurist und Mitglied der Nationalliberalen Partei Rudolf von Gneist z. B. verteidigte das System mit dem Lastentragungsprinzip: „Ent-

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Teil 1: Grundlagen und Begriffsklärung

Die Hinterfragung, Erforschung und Ausleuchtung der Ursachen eines derartigen Paradigmenwechsels macht sich diese Abhandlung letztlich zur Aufgabe, wenn sie nach den normativen Erscheinungsformen, der (rechts-)philosophischen oder politischen Begründung und schließlich der Überwindung des Zensuswahlrechts am Beispiel Frankreichs und Deutschlands fragt.

B. Gang der Betrachtung: Zielsetzung, Leistungsfähigkeit und Methodik Es scheint für das Grundverständnis dieser Arbeit unverzichtbar, sich in einem ersten Schritt35 mit dem von ihr zugrundegelegten Begriff des Zensuswahlrechts vertraut zu machen, d.h. dessen Parameter abzustecken und einerseits die unterschiedlichen Anknüpfungsmöglichkeiten des Zensus – vom Besitz- über den Einkommens- oder Steuerzensus bis hin zu einem ebenfalls denkbaren Bildungszensus – wie andererseits den Kreis der dadurch vom aktiven oder passiven Wahlrecht ausgeschlossenen Bevölkerungsschichten zu beleuchten. Diesen abstrakt-generellen Überlegungen zur Begrifflichkeit des Zensuswahlrechts und dessen Haltbarkeit gemessen am Prüfstein unserer heutigen Demokratievorstellungen, schließen sich zwei Kapitel an36, in denen die Abhandlung nach konkreten normativen Erscheinungsformen des Zensus und ihrer realpolitischen Umsetzung, (rechts-)philosophischer und politischer Begründung des Zensuswahlrechts sowie letztlich dessen Überwindung anhand der Beispiele Frankreichs und Deutschlands fragt. Zwar gab es neben Frankreich und Deutschland in zahlreichen weiteren Ländern wie beispielsweise den USA, der Schweiz und Österreich ebenfalls Wahlsysteme mit zensitären Ausprägungen. Gerade Frankreich und Deutschland versprechen aber als exemplarische Referenzländer einerseits ausreichend Gemeinsamkeiten, andererseits aber eben auch hinreichend gewichtige Unterscheidungsmerkmale, um allgemeinere Aussagen über normative Erscheinungsformen und theoretische Begründungsansätze des Zensuswahlrechts treffen zu können: In Abgrenzung zum Common law bzw. anglo-amerikanischen Rechtskreis, in dem die rechtwissenschaftliche Lehre weitgehend von konkreten Fällen ausgehend entwickelt wird und teilweise, wie z. B. im Vereinigten Königreich, gar keine weder man billigt das Dreiklassenwahlsystem, man hält es für gerecht, für das Gerechteste, was überhaupt in Deutschland entstanden ist; denn es schließt niemanden aus und verteilt die Rechte nach den Lasten – das ist die deutsche Maxime, und wenn Sie Jahrhunderte zurückgehen, haben wir nie eine andere Verfassung gehabt, als diese, nach dem Werte der Lasten und Leistungen geregelt, die einzige Weise, die sich dauernd erhalten hat“, zitiert nach H. v. Gerlach, Die Geschichte des preußischen Wahlrechts, 1908, S. 110, Hervorhebungen i. O., A. S. 35 Siehe hierzu S. 34 ff. 36 Siehe ausführlich S. 39 ff. und S. 156 ff.

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kodifizierte Verfassung existiert, stehen Frankreich und Deutschland – beide Angehörige des römisch-germanischen Rechtskreises – sich in ihrer Rechtstradition deutlich näher und bieten daher eine breitere Vergleichsfläche. Auf der anderen Seite gilt Frankreich als das Land der Revolutionen par excellence, die französische Revolution von 1789 als spektakuläre Zäsur mit Ausstrahlungswirkung auf nahezu die ganze Welt scheint das Paradebeispiel für eine Revolution schlechthin. Deutschland hingegen hat eher den Ruf eines Landes des behutsamen politischen Wandels reformierender Hand von oben. Es scheint besonders spannend, den Weg dieser beiden Länder vom beschränkten zensitären Wahlsystem hin zu dessen Überwindung durch Einführung des allgemeinen und gleichen (Männer-) Wahlrechts nachzuzeichnen, Unterschiede wie Parallelen in der Entwicklung ausfindig zu machen, um abschließend zu einem – zumindest in Bezug auf Kontinentaleuropa – etwas allgemein gültigeren Befund zu gelangen. Dem Aufbau der Arbeit liegt dabei das Schema eines Dreischritts zugrunde, der sich wie ein roter Faden durch die Ausführungen zieht und sich im Wesentlichen auf den Titel des Werkes herunterbrechen läßt: Das Zensuswahlrecht – Erscheinungsformen, Begründung und Überwindung. Während die Abschnitte, die sich mit den normativen Erscheinungsformen des Zensuswahlrechts auseinandersetzen, methodisch primär auf die Analyse normativer Quellen, wie Verfassungsdokumente, Wahlgesetze oder ähnliche Verordnungen, fokussiert sind, und die Abschnitte, die nach der realpolitischen Umsetzung fragen, teilweise auf Statistiken, teilweise auf zeitgenössischer (Kommentar-)Literatur beruhen, erfordern die Kapitel, die sich mit der hinter dem jeweiligen Wahlsystem stehenden (rechts-)philosophischen und politischen Begründung befassen, zum einen eine ausführliche Aufbereitung der Argumente, die in den parlamentarischen Debatten zur Rechtfertigung des Zensus vorgetragen wurden, wie auch des damaligen (rechts-)philosophischen Diskussionsstands – ist doch zu erwarten, daß sich die politischen Protagonisten nicht nur von parteipolitischen Interessen, sondern auch vom wissenschaftlichen Diskurs zu Funktion und Ausgestaltung des Wahlrechts wie auch der Bedeutung des Wahlrechts innerhalb des staatlichen Gefüges im Allgemeinen antreiben ließen. Die in den parlamentarischen Debatten und wissenschaftlichen Erörterungen durchscheinenden, überraschend regelmäßig wiederkehrenden Argumentationsmuster für ein zensitäres Wahlrecht lassen sich im Wesentlichen auf vier herunterbrechen, die im Folgenden – ohne den Ausführungen zu viel vorwegzunehmen – der Aufbereitung der Themenstellung als Folie dienen sollen: (1) Argument der Notwendigkeit einer Gewährleistung unabhängiger politischer Meinungsbildung: finanzielle Unabhängigkeit der Wähler als Schutz vor Bestechlichkeit und Demagogentum; (2) Argument eines Gleichlaufs der Rechte und Pflichten im Staat: die Pflicht, etwas zum Gedeihen des Staates wie beispielsweise über die Steuerleistung bei-

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Teil 1: Grundlagen und Begriffsklärung

zutragen, korrespondiert mit Rechten im Staat, wie dem Wahlrecht (sog. Korrespondenztheorie); (3) Argument der Schollenbindung: Annahme eines proportionalen Anstiegs des Interesses der Bürger am staatlichen Wachstum mit zunehmendem eigenen (Grund-)Besitz (sog. Aktientheorie); (4) Argument der Möglichkeit eines Rückschlusses vom Besitz auf persönliche Anlagen der Bürger: Vermögen oder Steuerleistung als meßbare Kriterien der Vernunft bzw. Selbständigkeit der Menschen. Bei alledem zielt die Arbeit nicht (nur) darauf ab, innerhalb der beiden exemplarisch untersuchten Länder Frankreich und Deutschland wiederkehrende Argumentationsschemata und -mechanismen offen zu legen, sondern erhofft auch eine länderübergreifende Deckungsgleichheit nachweisen zu können. Gerade um hier eine bessere Vergleichbarkeit der Schnittmengen von Argumenten und Diskussionslinien herzustellen, sollen die aufgezeigten vier Begründungsmuster als Leitfaden dienen. Die Bearbeitung endet mit einer Schlußbetrachtung sowie einer Zusammenfassung ihrer Kernaussagen in Thesen.37 Kapitel 2

Begriffsklärung A. Differenzierung nach unterschiedlichen Bezugspunkten des Zensus Bevor es gilt, die Wahlsysteme Frankreichs und Deutschlands nach normativen zensitären Ausgestaltungsformen und deren theoretischen Rechtfertigungsansätzen zu durchleuchten, muss der von der vorliegenden Abhandlung vorausgesetzte Begriff des Zensuswahlrechts geklärt werden. Unter Zensuswahlrecht38 versteht man ein Wahlsystem, das nicht allen Bürgern ausnahmslos, allein aufgrund ihrer Staatszugehörigkeit ein bzw. ein gleiches 37

Siehe hierzu S. 397 ff. Das Wort „zensieren“ (prüfen, beurteilen, bewerten, benoten) wurde im 16. Jahrhundert vom lateinischen Begriff „censere“ (begutachten, schätzen, taxieren, beurteilen) abgeleitet. Das Lehnwort „Zins“ stammt vom lateinischen Begriff „census“ ab und bedeutet Abschätzung, Vermögensschätzung, Vermögensteuer, siehe G. Drosdowski, Duden. Etymologie. Herkunftswörterbuch der deutschen Sprache, Bd. 7, 2. Aufl., Mannheim/Leipzig/Wien/Zürich 1997, S. 828. Vor allem im alten Rom verstand man darunter die Aufstellung einer Liste der Bürger und Vermögensschätzung durch die Zensoren. Wird das aktive oder passive Wahlrecht vom Besitz eines bestimmten Vermögens oder der Bezahlung eines gewissen jährlichen Steuerbetrages abhängig gemacht, spricht man von „Wahlcensus“, siehe dazu statt vieler: F. A. Brockhaus (Hrsg.), Bilder-Conversa38

Kapitel 2: Begriffsklärung

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Stimmrecht zuteil werden läßt, sondern die politische Partizipationsmöglichkeit der Stimmabgabe bei Wahlen an bestimmte Bedingungen knüpft. Denkbar sind beispielsweise die Anknüpfung an einen bestimmten Besitznachweis (Besitzzensus), eine zu erbringende Steuerleistung (Steuerzensus), ein konkretes Jahreseinkommen (Einkommenszensus)39 oder die Vorgabe eines Bildungsnachweises (Bildungszensus), worunter auch das sog. Kapazitätenwahlrecht zu fassen ist, das ausgewählten Personengruppen wegen ihres herausgehobenen Bildungsniveaus oder ihrer besonderen gesellschaftlichen Stellung das Wahlrecht oder zumindest verhältnismäßig mehr Stimmgewicht einräumt40. Dabei wird innerhalb zensitär geprägter Wahlsysteme die Zuteilung des Wahlrechts oft als eine Art Gegenleistung oder Entschädigung des Staates an den Bürger, z. B. für dessen erbrachte Steuerleistung, verstanden.41 Der an die Steuerleistung der Bürger unmittelbar anknüpfende Zensus ist mithin Ausdruck des Lastentragungsgedankens, des Verständnisses einer Korrespondenz der Rechte und Pflichten im Staat und der Idee, die Leistungsträger der Gesellschaft über das Wahlrecht zu belohnen.42

tions-Lexikon für das deutsche Volk. Ein Handbuch zur Verbreitung gemeinnütziger Kenntnisse und zur Unterhaltung, Bd. 4, 1841, S. 638, linke Spalte. Siehe zu Herkunft und Bedeutung des Begriffs zudem die ausführlichen Erläuterungen im seit 1835 herausgegebenen angesehensten Staatslexikon des Vormärz von K. v. Rotteck, Art.: Census, in: ders./C. Welcker (Hrsg.), Staats-Lexikon oder Encyklopädie der Staatswissenschaften in Verbindung mit vielen der angesehensten Publicisten Deutschlands, Bd. 3, 1836, S. 366 ff. Hier wird der (Wahl-)Zensus definiert als „dem öffentlichen Recht und der Politik angehörige Vermögensschätzung zum Behuf der darnach zu bestimmenden Verleihung oder Abstufung (Erweiterung oder Beschränkung) der bürgerlichen oder der politischen Rechte“ (ebd., S. 366). Während der Begriff römischen Ursprungs sei, kenne man das Prinzip einer Verteilung staatsbürgerliche Rechte nach den Vermögensverhältissen der Bürger schon aus dem alten Griechenland. So habe Solon die athenischen Bürger in vier Klassen, nach deren Vermögen abgestuft, eingeteilt. Weitaus bekannter sei aber allerdings das Wahlsystem unter Servius Tullius, dem vorletzten König Roms, der das Volk, wiederum in Abhängigkeit vom Vermögen, in sechs Klassen gegliedert habe, wodurch es ihm im Ergebnis gelang, den wohlhabenderen Bürgern ein größeres Stimmgewicht einzuräumen, siehe ebd., S. 366 ff. 39 Siehe zu diesen drei möglichen Anknüpfungspunkten des Zensus illustriert anhand einiger ausgewählter Vorschriften des deutschen Vormärz S. Aeppli, Das beschränkte Wahlrecht im Übergang von der Stände- zur Staatsbürgergesellschaft – Zielsetzungen des Zensuswahlrechts, Zürich 1988, S. 12 ff. 40 B. Vogel/D. Nohlen/R.-O. Schultze, Wahlen in Deutschland. Theorie – Geschichte – Dokumente 1848–1970, 1971, S. 21. 41 Savigny, Wahlrecht (Fn. 31), S. 8. 42 Siehe dazu nur J. C. v. Aretin/K. v. Rotteck, Staatsrecht der konstitutionellen Monarchie, Bd. 2/2, 1828, S. 173: „Denn im Staat wie in andern Gesellschaften richtet sich naturgemäß das Stimmrecht oder das Gewicht der Stimme nach dem Maß der Beiträge der Mitglieder in die gemeine Kasse. Die Reicheren nun sind nicht nur beim Gedeihen des Staates mehr interessiert, als die Armen, sondern sie tragen auch aus dem Ihrigen ein Mehreres dazu bei. Billig verlangen sie daher – wie etwa die größeren Aktionärs in Privatgesellschaften – ein vorzügliches Recht der Stimmgebung, (. . .)“, Hervorhebung i. O., A. S. – siehe ausführlich zum Lastentragungsgedanken unter anderem auf S. 229 ff.

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B. Differenzierung nach unterschiedlichen Ausgestaltungen des Zensus Je nach konkreter Ausgestaltung des Zensus kann dieser entweder den absoluten Ausschluß bestimmter Bevölkerungsschichten vom Wahlrecht oder eine relative Schlechterstellung dieser durch eine Staffelung der Stimmrechte nach sich ziehen. Vor dem Hintergrund der Projektionsfläche unseres egalitären Demokratieverständnisses43 können zensitäre Ausgestaltungsformen dabei in doppelter Hinsicht gegen Art. 38 Abs. 1 S. 1 GG, der die Ausübung „dieses vornehmsten

43 Das Bundesverfassungsgericht versteht das aktive Wahlrecht in ständiger Rechtsprechung als das „politische Grundrecht“ schlechthin, siehe nur BVerfGE 1, 208 (242) und erläuternd zur Begrifflichkeit staatsbürgerlicher bzw. „politischer“ Grundrechte im Allgemeinen K. Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. III/1, 1988, § 64 III 9 (S. 466 ff.). Dabei verkörpert der Grundsatz der Gleichheit der Wahl unsere heutigen Vorstellungen eines demokratisch organisierten Gemeinwesens wie kein zweiter, ist er doch „fundamental mit dem Gedanken der Demokratie verbunden. Sie steht und fällt mit der Idee, daß es in politicis, also bei den politischen Gestaltungsrechten, zumal beim Grundgestaltungsrecht der Wahl, keine sachliche Rechtfertigung für eine Ungleichbehandlung gibt“ (H. Meyer, HStR3 III, § 46 Rn. 30); auch A. Burghart, in: G. Leibholz u. a. (Hrsg.), Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland. Kommentar Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, Art. 38 (63. EL August 2013), Rn. 23: „Die Gleichheit im Bereich der politischen Willensbildung bei Wahlen ist für die Verwirklichung des Demokratieprinzips elementar“; H. Klein, in: T. Maunz/ G. Dürig (Hrsg.), Grundgesetz. Loseblatt-Kommentar, Art. 38 (60. EL Oktober 2010), Rn. 89: „Er [der Grundsatz der allgemeinen Wahl, A. S.] realisiert die Volkssouveränität“; P. Badura, in: W. Kahl/C. Waldhoff/C. Walter (Hrsg.), Bonner Kommentar zum Grundgesetz, Anh. z. Art. 38: Bundeswahlrecht (161. EL Mai 2013), Rn. 4: „Der mitgliedschaftlich vorgestellten und durch die Staatsangehörigkeit definierten Zugehörigkeit zur „Aktivbürgerschaft“ des Volkes, der „Nation“ im Sinne des Staatsrechts der Französischen Revolution, korrespondiert die rechtlich gesicherte Teilhabe an der politischen Willensbildung des Volkes durch das Wahlrecht“; Morlok (Fn. 3), Art. 38 Rn. 99; Dreier (Fn. 13), Art. 20 (Demokratie) Rn. 61 m.v. w. N.; N. Achterberg/M. Schulte, in: H. v. Mangoldt/F. Klein/C. Starck (Hrsg.), Kommentar zum Grundgesetz, Bd. 2, 6. Aufl. 2010, Art. 38 Abs. 1 Rn. 129 sowie die umfassende Monographie von N. Nahrgang, Der Grundsatz allgemeiner Wahl gem. Art. 38 Abs. 1 S. 1 GG als Prinzip staatsbürgerlicher Egalität, 2004; zur Problematik der Reichweite des Art. 38 GG siehe weiterführend A. Epiney, Der status activus des citoyen, in: Der Staat 34 (1995), S. 557 ff. und jüngst H. Kube, Demokratische Teilhabe als subjektives Recht, in: M. Anderheiden u. a. (Hrsg.), Verfassungsvoraussetzungen. Gedächtnisschrift für Winfried Brugger, 2013; aus jüngerer Zeit zum komplexen Verhältnis von Demokratieprinzip und Mitbestimmung S. Kolbe, Mitbestimmung und Demokratieprinzip, 2013, S. 35 ff. Zum Prozeß der Demokratisierung als egalitärer Nivellierung der politischen Willensbildung R. Thoma, Der Begriff der modernen Demokratie in seinem Verhältnis zum Staatsbegriff. Prolegomena zu einer Analyse des demokratischen Staates der Gegenwart (1923), in: H. Dreier (Hrsg.), Richard Thoma, Rechtsstaat – Demokratie – Grundrechte. Ausgewählte Abhandlungen aus fünf Jahrzehnten, 2008, Nr. 4, S. 91 (96). Leibholz, Wahlrechtsreform (Fn. 26), S. 163 warnt eindringlich davor, dem Irrtum zu erliegen, das allgemeine und gleiche Wahlrecht als eine Erfindung der modernen Demokratie zu begreifen. Es gebe in Wirklichkeit keinen ein für allemal feststehenden apriorischen Begriff des allgemeinen und gleichen Wahlrechts.

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Rechts des Bürgers im demokratischen Staat“ 44 verfassungsrechtlich gewährleistet, verstoßen: Während ein Zensuswahlrecht, das bestimmte Bevölkerungsteile gänzlich von der Wahrnehmung des Wahlrechts ausschließt, gegen den Wahlrechtsgrundsatz der Allgemeinheit der Wahl verstößt45, der ja gerade den Zugang jedes Staatsbürgers46 unabhängig von der Erfüllung politischer, wirtschaftlicher oder sozialer Kriterien47 zur Wahl schützen will, „verstößt“ ein Klassenwahlrecht wie beispielsweise das prominente Preußische Dreiklassenwahlrecht gegen den ebenfalls in Art. 38 Abs. 1 S. 1 GG beheimateten Grundsatz der Gleichheit der Wahl48. In diesem Wahlsystem dürfen zwar ausnahmslos alle Bürger wählen, ihre Stimmen werden aber je nach Klasse, in der der Bürger abstimmt, unterschiedlich gewichtet und haben folglich unterschiedlichen Einfluß auf den Ausgang der Wahl. Nach modernen Vorstellungen verbietet sich in beiden Fällen eine Anknüpfung an Kriterien wie Vermögens- oder Einkommensgrenzen, Klassen-, Berufs- oder Rassenzugehörigkeit sowie ein bestimmtes

44 S. Magiera, in: M. Sachs (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, 6. Aufl. 2011, Art. 38 Rn. 100. Ähnliche Wendung bei G. Kretschmer, in: B. Schmidt-Bleibtreu/F. Klein (Hrsg.), Kommentar zum Grundgesetz, 12. Aufl. 2011, Art. 38 Rn. 6 (Wahlrecht böte „[. . .] die herausragendste Befugnis, an der „Willensbildung des Volkes“ teilzuhaben [. . .]“, Hervorhebungen i. O., A. S.). 45 Siehe nur BVerfGE 36, 139 (141); 58, 202 (205). Statt aller siehe nur Meyer, § 46 (Fn. 43), Rn. 1; Morlok (Fn. 3), Art. 38 Rn. 68; Magiera (Fn. 44), Art. 38 Rn. 79; H.-H. Trute, in: I. v. Münch/P. Kunig (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Bd. 1, 6. Aufl. 2012, Art. 38 Rn. 19; Burghart (Fn. 43), Art. 38 Rn. 56; Kretschmer (Fn. 44), Art. 38 Rn. 12 a; Badura (Fn. 43), Anh. z. Art. 38: Bundeswahlrecht Rn. 9; W. Heun, Das Mehrheitsprinzip in der Demokratie. Grundlagen – Struktur – Begrenzungen, 1983, S. 110 f. 46 Magiera (Fn. 44), Art. 38 Rn. 90; Stern, Staatsrecht I (Fn. 29), § 10 II 3 (S. 303). 47 So BVerfGE 15, 165 (166 f.); 36, 139 (141); 58, 202 (205). 48 K.-L. Strelen, in: W. Schreiber, fortgeführt von Johann Hahlen und Karl-Ludwig Strelen (Hrsg.), Bundeswahlgesetz. Kommentar zum Bundeswahlgesetz unter Einbeziehung des Wahlprüfungsgesetzes, des Wahlstatistikgesetzes, der Bundeswahlordnung, der Bundeswahlgeräteverordnung und sonstiger wahlrechtlicher Nebenvorschriften, 9. Aufl. 2013, Einführung Rn. 52. Dieser Grundsatz verlangt gleiche Bewertung und gleiche Einflußnahmemöglichkeit der abgegebenen Stimmen auf das Wahlergebnis, siehe BVerfGE 1, 208 (246); 7, 63 (70); 16, 130 (138 f.); 34, 81 (99); 79, 161 (166); 95, 335 (353); 121, 266 (296); 124, 1 (18); 131, 316 (336 f.); aus der Literatur statt vieler Magiera (Fn. 44), Art. 38 Rn. 90; Morlok (Fn. 3), Art. 38 Rn. 102; Stern, Staatsrecht I (Fn. 29), § 10 II 3 (S. 305); Burghart (Fn. 43), Art. 38 Rn. 72; Kretschmer (Fn. 44), Art. 38 Rn. 23; Badura (Fn. 43), Anh. z. Art. 38: Bundeswahlrecht Rn. 12; siehe grundsätzlich zum Gleichheitsgrundsatz als konstituierendem, ja gar natürlichem Element der Demokratie, der aufgrund seiner Radikalität zwar in der Vergangenheit lang vor einer konsequenten politischen Umsetzung der Demokratie zurückschrecken ließ, dennoch aber gerade ihre Erstrebenswürdigkeit als Staatsform ausmacht, Treitschke, Politik II (Fn. 18), S. 250: „Wie die Theokratie die dumpfeste, die Monarchie die vielseitigste, die Aristokratie die planvollste unter den Staatsformen ist, so ist die gemeinverständlichste und volksbeliebteste die Demokratie. Der Grundgedanke, auf dem sie beruht, ist die Idee der natürlichen Gleichheit alles dessen, was Menschenantlitz trägt. Diese Idee hat etwas Erhabenes, und es ist sehr begreiflich, daß sie so oft berauschend gewirkt hat.“

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Teil 1: Grundlagen und Begriffsklärung

Bildungsniveau49, mithin jegliches Pluralwahlrecht, das die Stimmen der Bürger nach den soeben aufgezählten Merkmalen unterschiedlich gewichtet50. Dabei spielt es für die Unzulässigkeit des Pluralwahlrechts auch keine Rolle, ob es die Wählerschaft nach Ständen, Berufen oder Steuerklassen in zahlenmäßig variierende Gruppen unterteilt und die Gruppen jeweils eine fixe Zahl von Abgeordneten wählen läßt, oder ob bestimmten Personengruppen, wie Grundeigentümern oder Steuerzahlern, eine oder mehrere Zusatzstimmen zugesprochen werden: Beide Organisationsformen verstoßen gleichermaßen gegen den heute grundrechtlich verbürgten Grundsatz der Gleichheit der Wahl.51 Die Grundsätze der Allgemeinheit und Gleichheit der Wahl sind zwar aufs Engste miteinander verwoben, ergänzen sich in ihrer gemeinsamen Stoßrichtung und Zielsetzung52, dürfen aber dennoch keinesfalls in ihrem Bedeutungsgehalt vermischt oder gar gleichgesetzt werden53. Schon auf der Tagung der Deutschen Staatsrechtslehrer 1931 in Halle bemerkte Gerhard Leibholz zur Notwendigkeit einer trennscharfen Unterscheidung der beiden Prinzipien: „Während das Gebot der Gleichheit der Wahl bekanntlich verbieten soll, das Stimmgewicht der zur Wahl zugelassenen Wählermassen willkürlich etwa nach Bildung, Wohnsitz, Klasse, Vermögen zu differenzieren (. . .), soll die Allgemeinheit der Wahl den unberechtigten Ausschluß der Staatsbürger vom Wahlrecht überhaupt verbieten, also etwa den Ausschluß bestimmter oder doch jedenfalls bestimmbarer Personen ebenso wie den willkürlich allgemeinen Ausschluß etwa bestimmter Berufsstände, Konfessionen, Volksklassen und Bildungsschichten.“ 54

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So schon früh W. Jellinek, Verfassung und Verwaltung des Reichs und der Länder, 3., durchgesehener AD, 1927, S. 49; außerdem u. a. Stern, Staatsrecht I (Fn. 29), § 10 II 3 (S. 304); Trute (Fn. 45), Art. 38 Rn. 50; Burghart (Fn. 43), Art. 38 Rn. 72; K.-L. Strelen, in: W. Schreiber, fortgeführt von Johann Hahlen und Karl-Ludwig Strelen (Hrsg.), Bundeswahlgesetz. Kommentar zum Bundeswahlgesetz unter Einbeziehung des Wahlprüfungsgesetzes, des Wahlstatistikgesetzes, der Bundeswahlordnung, der Bundeswahlgeräteverordnung und sonstiger wahlrechtlicher Nebenvorschriften, 9. Aufl. 2013, § 1 Rn. 9; Kretschmer (Fn. 44), Art. 38 Rn. 23 a; Badura (Fn. 43), Anh. z. Art. 38: Bundeswahlrecht Rn. 8; Vogel/Nohlen/Schultze, Wahlen (Fn. 40), S. 20 ff.; H.-U. Erichsen, Die Wahlrechtsgrundsätze des Grundgesetzes, in: Jura 1983, S. 635 (637). 50 Klein (Fn. 43), Art. 38 Rn. 115. 51 Vogel/Nohlen/Schultze, Wahlen (Fn. 40), S. 22. 52 Strelen (Fn. 49), § 1 Rn. 42. 53 Klein (Fn. 43), Art. 38 Rn. 117. Die Erörterung des Verhältnisses der Wahlrechtsgrundsätze der Allgemeinheit und Gleichheit der Wahl zueinander kann und soll nicht Gegenstand der vorliegenden Abhandlung sein. Die h. M. versteht die Allgemeinheit der Wahl als Unterfall der Gleichheit der Wahl, siehe Morlok (Fn. 3), Art. 38 Rn. 68; B. Pieroth, in: H. D. Jarass/ders. (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, 13. Aufl. 2014, Art. 38 Rn. 4. 54 Leibholz, Wahlrechtsreform (Fn. 26), S. 164.

Teil 2

Erscheinungsformen, Begründung und Überwindung des Zensuswahlrechts in Frankreich Kapitel 1

Paradigmenwechsel von der ständisch gegliederten Feudalgesellschaft zum privilegienfreien Verfassungsstaat A. Vorgeschichte: Das Aufbrechen feudaler Strukturen durch die Krise des Ancien régime Macht man sich bewußt, daß die Ausgestaltung des Wahlrechts als institutionelle Ordnung immer auch, ja sogar vor allem, Kind ihrer Zeit ist, d.h. von tatsächlichen historischen Gegebenheiten in weiten Teilen determiniert und beeinflußt wird, so erweist sich eine Analyse der historischen Verhältnisse in Frankreich vor der Revolution nicht nur als gewinnbringend, sondern als unerläßlich. Aristokratie, Geburtsprivileg und Grundeigentum stellten die gesellschaftlichen Grundpfeiler des Ancien régime dar.55 Im Gegensatz zum fortschrittlichen England56 wies Frankreich noch 1789 eine primär landwirtschaftliche Prägung57 auf, so daß die schweren Hungersnöte 1709 und 1741 das Land, vor allem die Angehörigen des Dritten Standes58, schwer zeichneten59. Die Ursachen für Not und daraus resultierende Unzufriedenheit der ärmeren Bevölkerungsschicht lagen zum einen in der ungerechten Verteilung des französischen Bodens, befanden

55 A. Soboul, Die Große Französische Revolution – Ein Abriß ihrer Geschichte (1789–1799), 5. Aufl. 1988, S. 3. 56 Zur ökonomischen Entwicklung im Vergleich zu England siehe E. Schulin, Die Französische Revolution, 1988, S. 125 ff. 57 M. Vovelle, Die Französische Revolution – soziale Bewegung und Umbruch der Mentalitäten, 1982, S. 10; Soboul, Revolution (Fn. 55), S. 3. 58 Zu den Standeszugehörigkeiten im Einzelnen siehe ausführlich W. Giesselmann, Die brumairianische Elite. Kontinuität und Wandel der französischen Führungsschicht zwischen Ancien Régime und Julimonarchie, 1977, S. 42 ff. 59 Die im Traditionalismus verhafteten Anbaumethoden führten in ertragsarmen Jahren zu einer enormen Bevölkerungsabnahme, siehe F. Furet/D. Richet, Die Französische Revolution, 1968, S. 12.

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Teil 2: Zensuswahlrecht in Frankreich

sich doch etwa 40 % in den Händen von Adel und Klerus.60 Zum anderen in dem Faktum, welches als „wohl wichtigste[s] Erbe des Feudalismus“ 61 auszumachen ist, der Tatsache, daß dem Boden eine anscheinend unübersehbare Fülle von Abgaben anhaftete: „Diese Belastungen sind äußerst vielfältig, weshalb sie in der Juristensprache als ,complexum feudale‘ bezeichnet werden. Zu ihnen gehören Geldleistungen wie der cens, aber auch der als besonders belastend empfundene champart, d. h. ein bestimmter abzuliefernder Ernteanteil.“ 62 Obwohl Klerus und Adel nicht nur von den Früchten ihres eigenen landwirtschaftlichen Besitzes, sondern zusätzlich von einem Anteil der gesamten landwirtschaftlichen Produktion lebten63, galt zu allem Überfluß für ihre Einkünfte aus Grund und Boden das besondere Privileg des Erlasses der direkten Königsteuer, der sog. taille64. Vor dem Hintergrund des faktischen gesellschaftlichen Stellenwertes, den Grund und Boden in Frankreich noch im ausgehenden 18. Jahrhundert einnahmen, verwundert es zudem nicht, daß bestimmte Lehren wie z. B. die der Physiokraten65 und ihres Begründers, Francois Quesnay (1694–1774), den Boden als einzigen Ursprung des nationalen Reichtums propagierten. Es sei ausschließlich der Ackerbau, der den Reichtum zu vermehren vermöge.66 Aus welchen Gründen konnte sich ein derart radikaler Paradigmenwechsel vom feudalen, mit unzähligen geburtsbedingten Privilegien gespickten Ständestaat, der gar als „Ausdruck gottgewollter Ordnung“ 67 verstanden wurde, zum nüchternen Verfassungsstaat vollziehen? Als entscheidender Motor der Entwicklung, an deren Ende konsequenterweise die ausnahmslose Abschaffung aller sich aus der Geburt ergebenden Privilegien stehen mußte, ist wohl der grundlegende Wandel des Menschenbildes zu sehen: Erfüllt von neuem Selbstbewußtsein, waren viele, besonders junge Menschen68 nicht mehr bereit, eine von Gott gegebene

60 Eine sehr feingliedrige Aufschlüsselung der Anteilsverhältnisse findet sich bei A. Wahl, Vorgeschichte der Französischen Revolution, Bd. I, 1905, S. 96 f.; dazu auch Vovelle, Revolution (Fn. 57), S. 10. 61 Vovelle, Revolution (Fn. 57), S. 10. 62 Vovelle, Revolution (Fn. 57), S. 11, Hervorhebungen i. O., A. S.; Furet/Richet, Revolution (Fn. 59), S. 44; die Belastungen der ländlichen Bevölkerung durch Sonderrechte von Adel und Klerus zumindest in der Gesamtdeutung relativierend Schulin, Revolution (Fn. 56), S. 134 ff. 63 Furet/Richet, Revolution (Fn. 59), S. 13. 64 Soboul, Revolution (Fn. 55), S. 11; Furet/Richet, Revolution (Fn. 59), S. 13; Schulin, Revolution (Fn. 56), S. 141. 65 Zu deren Lehre ausführlich auf S. 93 ff. 66 Siehe F. Quesnay, Maximes générales du gouvernement économique d’un royaume agricole (1767), in: Institut national d’études démographiques (Hrsg.), Francois Quesnay et la Physiocratie, Bd. II, 1958, S. 949 f. (hier insbesondere die Maximen I und III); ein Hinweis hierauf findet sich zudem bei D. Schwab, Die geistigen Grundlagen der Selbstverwaltungsidee des Freiherrn vom Stein, 1960, S. 165. 67 Furet/Richet, Revolution (Fn. 59), S. 14, 26.

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Gesellschaftsordnung, in der sich jeder in sein durch die Geburt oktroyiertes Schicksal zu fügen hatte, zu akzeptieren. Die Forderung nach einer Gemeinschaft, in der man durch Leistung zu Wohlstand und vor allem Positionen in der staatlichen Verwaltung oder im Militär gelangen konnte, ohne hineingeboren werden zu müssen69, wurde immer lauter. Gespeist wurde dieses neue Selbstbewußtsein zum einen aus dem mit der Industrialisierung aufkommenden Leistungsprinzip und der damit einhergehenden Erfahrung, sich durch Leistung Vermögen und damit einen respektablen Platz in der Gesellschaft erarbeiten zu können. Ermöglicht durch den, wenn auch nur langsam voranschreitenden, technischen Fortschritt70, gelang es dem Bürgertum in den Städten auf unterschiedliche Weise, sein Geld zu vermehren: „Der beträchtliche Jahresgewinn erlaubt bei der vorsichtig abwägenden und arbeitsamen Lebensführung dieser Neureichen die Bildung stattlicher Vermögen, die ihre Besitzer nicht auf die Konjunktur und schon gar nicht auf ihre bevorzugte Geburt, sondern auf ihr Verdienst zurückführen: allein dieser Gedanke bedeutet schon eine ganze Revolution.“ 71 Zum anderen gesellt sich in ideengeschichtlicher Hinsicht die vom Menschenbild der Aufklärung geprägte Vorstellung vom vernunftbegabten Individuum hinzu.72 Dieses ließ sich unter keinen denkbaren Umständen mit den starren Zügen des absolutistischen Systems in Einklang bringen.73 Auch wenn die in ärmlichen Verhältnissen lebende Landbevölkerung weder am technischen Fortschritt noch an der sich ausbreitenden Industrialisierung partizipierte, wurde sie mit der vermögenden Bourgeoisie in den Städten in der Forderung nach einer Reform der gesellschaftlichen Verhältnisse vereint, sah die Landbevölkerung die Chance zur Verbesserung der Lebensverhältnisse durch Abschaffung des Privilegienwesens auch auf dem Lande gekommen. So kämpften beide Bevölkerungsschichten, wenngleich auch aus unterschiedlichen Gründen, gegen das feudal-absolutistische 68 36 % der Bevölkerung waren unter zwanzig Jahren und nur 24 % über vierzig Jahre alt, siehe Furet/Richet, Revolution (Fn. 59), S. 36. 69 Besonders junge Menschen waren bereit, ihre Position in Gesellschaft und Politik – notfalls auch mit Gewalt – einzufordern, siehe W. Kruse, Die Französische Revolution, 2005, S. 17. 70 Furet/Richet, Revolution (Fn. 59), S. 37; Soboul, Revolution (Fn. 55), S. 3. 71 Furet/Richet, Revolution (Fn. 59), S. 37. Manchen vom Ehrgeiz getriebenen Angehörigen des Bürgertums gelang es sogar, sich bis in den Amtsadel hochzuarbeiten und auch ohne adeligen Hintergrund, allein aufgrund des Einkommens, vom zweiten Stand akzeptiert und anerkannt zu werden, so Schulin, Revolution (Fn. 56), S. 141 f. Tatsächlich kann man im Hinblick auf die französische Geschichte in dieser Entwicklung wohl die Geburtsstunde des modernen Leistungsgedankens erkennen. 72 Auf die Bedeutung des Vernunftprinzips für die Französische Revolution hinweisend W. Grab, Die Französische Revolution – Eine Dokumentation, 1973, S. 10 f., der von der Revolution als „Versuch, das Vernunftideal der Aufklärung in politische Realität zu übertragen“, spricht (siehe ebd., S. 10). 73 F. Ermacora, Menschenrechte in der sich wandelnden Welt, Bd. I, 1974, S. 99 f.

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System.74 Das alte Regime vermochte dieser gebündelten contra-feudalabsolutistischen Kraft nichts entgegenzusetzen. Mit dem Sturm auf die Bastille am 14. Juli 1789 war auch die die Vormachtstellung von Klerus und Adel schützende letzte Bastion standesbedingter Privilegien gefallen: „Am Abend des 14. Juli sah alle Welt, daß der Dritte Stand gesiegt hatte, die privilegierten Stände verschwunden und die Monarchie unterlegen war; von den Verschwörern entmächtigt, hatte sie ihre Oberhoheit bereits eingebüßt.“ 75 Noch deutlicher wird der Paradigmenwechsel am Beschluss der Nationalversammlung zur Abschaffung der Feudalität vom 11. August 1789.76 Dieser markiert das Ende der Bauernaufstände, in denen sich der Ärger der Landbevölkerung über die unzähligen Privilegien des ersten und zweiten Standes auf blutige Weise entlud und den Adel – aus Furcht um das eigene Leben – dazu bewog, den Verzicht auf die ständischen Vorrechte selbst vorzuschlagen.77 Welch radikalen Strich er durch die Abschaffung der Feudalität unter die feudal-absolutistische Ära zog, sollen folgende Auszüge aus dem Dokument illustrieren: „Art. 1. Die Nationalversammlung vernichtet das Feudalwesen völlig. Sie dekretiert, daß von den Feudal- wie Grundzinsrechten und -pflichten sowohl jene, die sich aus unveräußerlichem Besitz an Sachen und Menschen und aus persönlicher Leibeigenschaft herleiten, als auch jene, die an ihre Stelle getreten sind, entschädigungslos aufgehoben werden (. . .). Art. 5. Alle – gleichgültig, unter welchem Rechtstitel festgesetzten und erhobenen, auch durch Vorauszahlung abgegoltenen – Zehnten oder dafür eintretenden Grundzinsabgaben, in deren Genuß weltliche oder geistliche Körperschaften (. . .) kommen, (. . .) werden abgeschafft, mit dem Vorbehalt, daß für die Mittel zur Bestreitung der Kosten für Gottesdienst (. . .) anderweitig gesorgt wird. (. . .) Art. 11. Alle Bürger sollen, ohne Unterschied ihrer Geburt, freien Zugang zu allen kirchlichen, zivilen und militärischen Ämtern und Würden haben; niemand, der einem Erwerbsberuf nachgeht, soll dadurch seines Adelsprädikates verlustigt gehen.“ 78

Der Dritte Stand hatte mit der offiziellen Abschaffung der standes- und daher in der Regel geburtsbedingten Privilegien von Klerus und Adel nunmehr eine wesentliche Etappe im Kampf um Freiheit und Gleichheit erreicht. Auch die für die Feudalität charakteristischen grundherrschaftlichen Abhängigkeitsverhältnisse bestanden nicht mehr. Es liegt auf der Hand, daß die Nation nunmehr zudem vor der schwierigen Aufgabe stand, die politischen und gesellschaftlichen Strukturen komplett neu aufbauen zu müssen. Man sah sich mit einem Vakuum ohne personelles, ideelles oder institutionelles Anknüpfungsmoment konfrontiert: 74

Vovelle, Revolution (Fn. 57), S. 15 f. B. Fay, Die große Revolution in Frankreich 1715–1815, 1960, S. 186. 76 Deutsche Übersetzung beispielsweise abgedruckt bei Grab, Revolution (Fn. 72), S. 33 ff. 77 Soboul, Revolution (Fn. 55), S. 122 f. 78 Übersetzung nach Grab, Revolution (Fn. 72), S. 33 ff. 75

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„Ihr [der Revolution, A. S.] zerstörerischer Beginn und die heroische und konstruktive, wenngleich nicht weniger nivellierende napoleonische Kaiserzeit veränderte die französische Gesellschaft derart und gab ihren Ideen eine so radikale Färbung, daß die Herstellung einer stabilen und vernünftigen Ordnung ein schwieriges Unternehmen war.“ 79 Es schließt sich die Frage an, ob es den Zugehörigen des Dritten Standes gelang, beim Aufbau der neuen Ordnung diese nun de facto hergestellte Gleichheit auf die politische Ebene in Gestalt von gleichen politischen Partizipationsrechten zu übertragen.

B. Das Reglement zur Wahl der Generalstände von 1789 als frühe Annäherung an ein allgemeines und gleiches (Männer-)Wahlrecht? I. Normative Vorgaben: Der (partielle) Fortschrittsgeist des Gesetzes über die Wahl der Generalstände vom 24. Januar 1789 Mit der Zielsetzung, einen Weg aus der finanziellen Krise des französischen Staates zu bahnen, berief der König am 22. Februar 1787 die Notabeln, eine Ratsversammlung bestehend aus Bürgern der sozialen Oberschicht, ein.80 Die Beratungen liefen aber, anders als erwartet, nicht im Sinne des Königs ab, denn das Gremium weigerte sich, den königlichen Steuerplänen seine Zustimmung zu erteilen.81 Da auch die zweite Notabelnversammlung 1788 zu keinem Ergebnis führte, blieb dem König im Anschluß nichts anderes übrig, als am 5. Juli 1788 die Generalstände auf Mai 1789 einzuberufen, womit er eine Institution wiederaufleben ließ, die seit 1614 nicht mehr zusammengekommen war.82 Im Rahmen der Wahl der Generalstände behielt man zwar den ständischen Abstimmungsmodus bei, in den Provinzen (nicht in Paris) galt aber bereits ein allgemeines und gleiches (Männer-)Wahlrecht, was sich eindeutig anhand von Art. 25 des „Règlement fait par le Roi pour l’exécution des lettres de convocation du 24 janvier 1789“ 83 belegen läßt, der übersetzt lautete: 79

L. Díez del Corral, Doktrinärer Liberalismus – Guizot und sein Kreis, 1964, S. 23. Dieses Zusammenkommen der Notabeln markiert nicht zuletzt den Zeitpunkt des „Erwachen[s] eines stärkeren politischen Interesses in Frankreich“, siehe B. Schickhardt, Die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte von 1789–91 in den Debatten der Nationalversammlung, 1931, S. 5. 81 Hintergrund der Weigerung war, daß die Notabeln nicht nur im antifeudalen Lager der Bauernschaft und im aufstrebenden Lager der zu neuem Reichtum gekommenen Industriellen, sondern auch im absolutistischen Staatsgebilde selbst eine Gefahr für ihre Position sahen und daher vehement auf dem Mitspracherecht der Parlamente oder der Einberufung der Generalstände bestanden, siehe hierzu H.-U. Thamer, Die Französische Revolution, 3. Aufl. 2009, S. 23. 82 Furet/Richet, Revolution (Fn. 59), S. 73. 83 E. Walder, Vom Ancien Régime zur Französischen Revolution. Heft 1 der Quellen zur neueren Geschichte, herausgegeben vom Historischen Seminar der Universität Bern, 2. Aufl., Bern 1944, S. 8 ff. 80

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Teil 2: Zensuswahlrecht in Frankreich Jeder Franzose, der ein Mindestalter von fünfundzwanzig Jahren erreicht hat, niedergelassen und in der Steuerliste eingetragen ist, übt in den Gemeindeversammlungen (assemblées des communautés d’habitants) das aktive Wahlrecht aus.84

Wie bereits angedeutet, läßt sich dem Pariser Reglement eine derartige Fortschrittlichkeit nicht attestieren. Ganz im Gegenteil: das aktive und passive Wahlrecht stand hier nur demjenigen zu, der entweder im Jahr sechs livres Kopfsteuer entrichtete, der Beamter oder Inhaber eines akademischen Grades war.85 So wurde ein großer Teil der männlichen erwachsenen Bevölkerung von Paris von politischen Partizipationsmöglichkeiten ausgeschlossen.86 II. Realpolitische Umsetzung und Kritik Trotz Anerkennung aller theoretischen Fortschrittlichkeit dieses allgemeinen und gleichen (Männer-)Wahlrechts in den französischen Provinzen boten sich Mittel und Wege, „die Analphabeten, die aus der Primärversammlung herausgekommen waren“ 87, durch ein indirektes Wahlverfahren mit mehreren Wahlgängen88 am Ende doch auszuschließen. So zog der Wahlmodus de facto keine oder kaum eine Verbesserung der Repräsentation der ärmeren Schicht des Dritten Standes nach sich. Trotz des weitreichenden Wahlrechts war die wohlhabende Oberschicht als eindeutige Gewinnerin der Wahlen auszumachen, was natürlich von der ärmeren Schicht des Dritten Standes nicht einfach kritiklos hingenommen wurde. Eine anonyme Flugschrift klagt: „Parmi les représentants du Tiers État, diesent les Doléances du pauvre peuble adressées aux États Généraux, il n’en est aucun de notre classe, et il semble que tout a été fait en faveur des riches ou propriétaires de biens“ 89. Zudem darf man nicht übersehen, daß das Wahlrecht nicht als individuelles Recht des Einzelnen verstanden wurde und das Wahlverfahren daher korporativ ausgestaltet war, d.h. in den Städten stimmten die Zünfte ab und auf dem Land die Dorfgemeinden.90 Dennoch und bei allen Mißständen innerhalb der Umsetzung des Wahlrechts zu den Generalständen ist zu würdigen, daß die Wahlrechtsfrage zu diesem doch 84 Französische Originalfassung abgedruckt in: Walder, Ancien Régime (Fn. 83), S. 15. 85 Kläy, Zensuswahlrecht (Fn. 17), S. 63. 86 G. Medzeg/D. Nohlen, Art. Frankreich in: D. Sterberger/B. Vogel (Hrsg.), Die Wahl der Parlamente und anderer Staatsorgane, Bd. 1/1, 1969, S. 441 (442). 87 D. Losurdo, Demokratie oder Bonapartismus – Triumph und Niedergang des allgemeinen Wahlrechts, 2008, S. 22. 88 Kläy, Zensuswahlrecht (Fn. 17), S. 63. 89 H. Sée, Les idées politiques en France au XVIIIe siècle, Genf 1980, S. 229. Übersetzt: Unter den Repräsentanten des Dritten Standes, so sagen die Beschwerden der armen Leute adressiert an die Generalstände, ist kein einziger unserer Klasse, und es scheint, daß alles nur zur Begünstigung der Reichen und der Gutshofbesitzer/der Besitzer von Vermögen getan wurde. 90 Kläy, Zensuswahlrecht (Fn. 17), S. 62.

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sehr frühen Zeitpunkt demokratischer behandelt wurde als die verfassunggebende Versammlung von 1791 es getan hat. Zu erklären sind „diese weitherzigen Entscheidungen einer Aristokratenversammlung (. . .), die in ihrer Mehrzahl sich hierin als liberaler, denn die Konstituante, erwies“ wohl rückblickend „mit dem unerfahrenen Idealismus der Zeit, mit ihrem noch durch seine blutigen Revolutionserlebnisse erschütterten, Sinn für Gerechtigkeit (. . .).“ 91

C. (Rechts-)Philosophische/politische Begründung des Zensus: Die Diskussion um das Wahlrecht im Dritten Stand Aus zweierlei Gründen schulden wir der Diskussion um das Wahlrecht im Dritten Stand gesteigerte Aufmerksamkeit. Zum einen war sich der Dritte Stand, der gerade zu neuem Selbstbewußtsein gefunden hatte, schon zum damaligen Zeitpunkt bewußt, daß die Entscheidung über den Wahlmodus der Generalstände zukunftsweisend für den Wahlmodus der Gesamtnation sein könnte. Zum anderen verdanken viele der Abgeordneten der verfassunggebenden Versammlung von 1791 ihren Sitz letztendlich gerade diesem bereits weitgehend demokratischen Wahlrecht.92 Obschon die oben zitierte Fassung des Wahlreglements unter Gesichtspunkten der Allgemeinheit und Gleichheit der Wahl schon sehr weitgehend ausgestaltet war93 und daher einen überraschend großen Schritt in Richtung Liberalisierung des Wahlrechts darstellt, dachte die Mehrheit in manchen Bureaus94 sogar noch fortschrittlicher und wollte – völlig unabhängig von Besitz oder Steuerleistung – jedem volljährigen Franzosen das aktive und passive Wahlrecht zusprechen. Dies belegen die Stellungnahmen der sechs Bureaus, in die die zweite Notabelnversammlung unterteilt war. Nachdem sie am 6. November 1788 eröffnet worden war, arbeiteten die Bureaus Stellungnahmen aus, in denen sie u. a. zur Wahlrechtsfrage Stellung bezogen: Das zweite Bureau vertrat die Ansicht, daß jeder Bürger Interesse an den Generalständen habe, ob er über Grundbesitz verfüge und Steuern zahle oder nicht. Mit einer deutlichen Mehrheit von 23 Stimmen gegen eine stimmte man hier dafür, daß jedes 25jährige Familienoberhaupt, französischer Geburt oder in Frankreich niedergelassen, in den Städten und Dörfern, wo es wohnte oder begütert war, wahlberechtigt sein sollte und daß sogar außerhalb des Bezirks niedergelassene Kandidaten gewählt werden dürfen. Ähnlich befand auch das erste Bureau. Das fünfte Bureau betonte 91

A. Wahl, Vorgeschichte der Französischen Revolution, Bd. II, 1907, S. 340. Kläy, Zensuswahlrecht (Fn. 17), S. 60. 93 Medzeg/Nohlen, Art. Frankreich (Fn. 86), S. 442. 94 Zur sozialen Struktur der Notabelnversammlungen siehe erläuternd W. Demel, Von den Notabeln von 1787/88 zu den Großnotabeln des Bürgerkönigtums. Ein Beitrag zur Frage der Elitentransformation in Frankreich zwischen Ancien Régime und Julimonarchie, in: D. Albrecht/K. O. v. Aretin/W. Schulze (Hrsg.), Europa im Umbruch 1750–1850, 1995, S. 137 (142 ff.). 92

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schlicht, allein die Eigenschaft als Bürger sei für das Wahlrecht ausreichend und Eigentum oder Steuerleistung für die Eignung ohne jegliche Relevanz. Das dritte, vierte und sechste Bureau wollten hingegen nicht auf den Zensus verzichten.95 Letztendlich ließen sich die Notabeln wohl (auch) auf das Zugeständnis eines weitgehend demokratischen Wahlverfahrens ein, da sie sich selbst als Nachfolgerin der altfränkischen Volks- und Heeresversammlungen begriffen und mithin in der Pflicht sahen, denn diese Institutionen waren urdemokratisch organisiert gewesen. Zudem hatte man das Gefühl, im Kampf gegen den Absolutismus auf die Masse des Volkes angwiesen zu sein und diesem daher zumindest in einigen Punkten entgegenkommen zu müssen.96 In diesem Zusammenhang sei noch knapp auf das interessante Modell des Marquis de Mirabeau hingewiesen, im Rahmen dessen er versuchte, ein individuelles allgemeines Wahlrecht mit einer kollektiven Vertretung einzelner Gruppierungen zu verknüpfen. Im Rahmen der kollektiven Vertretung sollte dann sehr wohl eine Abstufung nach ökonomischer, sozialer und politischer Bedeutung der jeweiligen Gruppe vorgenommen werden. Er schlug diese Kombination im Januar 1789 in einer Rede vor der Adelskammer der Ständeversammlung im Zusammenhang mit der Reform der Provinzialstände vor. Er verlangte einerseits ein allgemeines Wahlrecht und kritisierte den Besitzzensus aufs Schärfste, wollte andererseits aber an der überkommenen Dreiteilung der Stände und dem Prinzip der Kollektivvertretung festhalten, so daß sein Modell eine eigenartige Zwischenstellung zwischen überkommenem System und Novum darstellte. Als revolutionärfortschrittlich sind rückblickend jedenfalls die Vorstellung der Individualsouveränität und die Forderung eines unbeschränkten Wahlrechts für den Dritten Stand zu beurteilen.97

95 96 97

Siehe hierzu Wahl, Vorgeschichte II (Fn. 91), S. 327 ff. Dazu Kläy, Zensuswahlrecht (Fn. 17), S. 61 f. Siehe dazu Kläy, Zensuswahlrecht (Fn. 17), S. 64 f.

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Kapitel 2

Das Zensuswahlrecht in zentralen Dokumenten der Revolutionszeit als Ausdruck einer Kontrafaktizität des Gleichheitspostulats A. Verdrängung einer Geburtsaristokratie durch eine Geldaristokratie I. Normative Vorgaben: Teilung der Französischen Nation in Aktiv- und Passivbürger durch die Verfassung vom 3. September 1791 Regelungen zum Wahlrecht finden sich in Titre III, Chapitre premier, Section II Assemblées primaires. Nomination des électeurs der Französischen Verfassung vom 3. September 1791.98 Die Brisanz der Wahlrechtsfrage dürfte allen Beteiligten bei der Beschlußfassung über die Verfassung bewußt gewesen sein, denn die Abstimmung der Konstituante über das Stimmrecht im Rahmen des verfassunggebenden Gesetzes vom 22. Dezember 178999 ging nur mit extrem dünner Mehrheit von 10 Stimmen, nämlich 453 gegen 443 Stimmen durch100. Durch dieses Wahlgesetz, welches fast unverändert Eingang in die Verfassung von 1791 fand101, nahm man im Ergebnis eine Einteilung der Staatsbürger in drei Klassen vor102: (1) Als sog. Passivbürger103 bezeichnet man diejenigen, welche aufgrund mangelndem Eigentum bzw. damit einhergehender ausbleibender Steuerleistung gänzlich der politischen Partizipationsmöglichkeit beraubt sind. Hierzu heißt es in Art. 1 der französischen Originalfassung: „Pour former l’Assemblée nationale législative, les citoyens actifs se réuniront tous les deux ans en assemblées primaires dans les villes et dans les cantons (. . .).“ 104 Von den zur damaligen Zeit 98 Ganz abstrakt zum besonderen Charakter dieser Verfassung R. Redslob, Die Staatstheorien der französischen Nationalversammlung von 1789 – Ihre Grundlagen in der Staatslehre der Aufklärungszeit und in den englischen und amerikanischen Verfassungsgedanken, 1912; die Staatstheorie sei hier in außergewöhnlicher Weise „selbst zur Staatenbildnerin geworden“ und habe dadurch „eine Höhe erstiegen [. . .], die sie sonst nie erstiegen hat“ (ebd., S. 2). 99 Genauer „Loi sur les élections et sur les administrations départementales“, Section première. 100 M. Göhring, Geschichte der großen Revolution, Bd. 2, 1951, S. 53; Schulin, Revolution (Fn. 56), S. 95. 101 Medzeg/Nohlen, Art. Frankreich (Fn. 86), S. 443. 102 Ausführlich zu dieser Klasseneinteilung u. a. Redslob, Staatstheorien (Fn. 98), S. 141 f. 103 Nicht zu verwechseln mit dem passiven Wahlrecht, auch Wählbarkeit genannt, dem Recht zu kandidieren und von den übrigen Wahlberechtigten gewählt werden zu können. 104 Der einschlägige Passus der Französischen Verfassung wird hier erneut zitiert nach Walder, Ancien Régime (Fn. 83), S. 44 ff. Übersetzt: Um die gesetzgebende Na-

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insgesamt etwa 26 Millionen Einwohnern Frankreichs, davon sieben Millionen Männer über 25 Jahren105, wurden so 2,5 bis drei Millionen106 erwachsene männliche Bewohner von der Teilnahme am Wahlakt, der wohl wichtigsten Form von politischer Teilhabe in einer Demokratie, komplett ausgeschlossen. (2) Über die zweite Gruppe der französischen Staatsbürger, die sog. Aktivbürger oder Wähler des ersten Grades heißt es in Art. 2 der Originalfassung: „Pour être citoyen actif, il faut Être né ou devenu Français; Être âgé de vingt-cinq ans accomplis; Être domicilié dans la ville ou dans le canton depuis le temps déterminé par la loi; Payer, dans un lieu quelconque du royaume, une contribution directe au moins égale à la valeur de trois jornées de travail, et en représenter la quittance; N’être pas dans un état de domesticité, c’est-à-dire, de serviteur à gages; Être inscrit dans la municipalité de son domicile, au rôle des gardes nationales; Avoir prêté le serment civique“.107 Sie stellten einen Anteil von etwa vier Millionen der Gesamtbevölkerung.108 Die Aktivbürger wählten die Abgeordneten der Nationalversammlung aber nicht direkt – auch wenn ihre Bezeichnung als Aktivbürger durchaus Anlaß zu einer solchen Vermutung bietet –, sondern fanden sich in jedem Kanton gesondert in Urwählerversammlungen zusammen, um zunächst nur die (3) Wahlmänner, auch Elektoren oder Wähler zweiten Grades genannt, zu bestimmen. Mitglied dieses Wahlmännerkollegs konnte nur werden, wer zunächst die gleichen Kriterien wie die Wähler ersten Grades erfüllte und zudem, je nach Größe der Stadt, Eigentümer oder Nießbraucher eines Gutes war, dessen Ertrag in der Steuerrolle mit 200 Arbeitstagen geschätzt war, oder Mieter eines Hauses, dessen Wert mit 150 Arbeitstagen geschätzt oder in kleineren Städten mit 100 Arbeitstagen angesetzt war. Auf dem Land genügte es, Eigentümer oder Nießbraucher eines Gutes zu sein, das mit 150 Arbeitstagen Ertrag geschätzt war oder ein Gut zur Pacht zu unterhalten, das einem Wert von 400 Arbeitstagen entsprach.109 tionalversammlung zu bilden, werden die aktiven Bürger in Primairversammlungen in den Städten und in den Cantons zusammentreten. 105 M. Erbe, Art. Frankreich, in: H.-D. Loock/H. Schulze (Hrsg.), Parlamentarismus und Demokratie im Europa des 19. Jahrhunderts, 1982, S. 36. 106 Soboul, Revolution (Fn. 55), S. 153; Medzeg/Nohlen, Art. Frankreich (Fn. 86), S. 443. 107 Zitiert nach Walder, Ancien Régime (Fn. 83), S. 44 ff. Übersetzt: Die Aktivbürger mußten Franzosen sein oder geworden sein, mindestens 25. Jahre alt sein, mindestens seit einem Jahr in der Stadt oder dem Kanton, wo die Wahl stattfindet, einen festen Wohnsitz gehabt haben, in der Lage sein, eine Steuerleistung in Höhe von mindestens drei örtlichen Arbeitstagen zu erbringen, durften nicht berufsmäßig Dienste gegen Entgelt leisten und mußten, soweit sie in die Nationalgarde eingetreten waren, den Bürgereid geleistet haben. 108 Furet/Richet, Revolution (Fn. 59), S. 151 weisen zutreffend darauf hin, daß es sich bei diesen immerhin vier Millionen Wahlberechtigten verglichen mit der verschwindend geringen Zahl von 200.000 Wahlberechtigten unter dem Bürgerkönig Louis Philippe nur fünfzig Jahre später durchaus um „eine kühne Zahl“ handelt. 109 Redslob, Staatstheorien (Fn. 98), S. 141 f. Diese Vorgaben finden sich in Art. 7 des Dokuments: „Nul ne pourra être nommé électeur, s’il ne réunit aux conditions né-

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Auf einen Wahlmann kamen hundert Aktivbürger, auf jeden weiteren 50 bis 150110, so daß im gesamten französischen Gebiet nur 50.000 Wahlmänner existierten. Für die Repräsentanten des Volkes, die Abgeordneten, galten nochmals verschärfte zensitäre Bedingungen: Um Abgeordneter sein zu können, mußte zum einen Grundbesitz nachgewiesen werden können und zum anderen eine Steuerleistung von einer Silbermark, also etwa 52 livres, erbracht werden. Absolut umfaßte die Nationalversammlung 745 Mitglieder. 247 davon wurden in den insgesamt 83 Departements gewählt111, von denen jedes drei Abgeordnete entsandte, Paris hingegen nur einen. Weitere 249 Mandate wurden besetzt, indem man die Gesamtzahl der Aktivbürger durch 249 teilte und jedem Departement so viele Sitze zuwies, wie die Anzahl der dort ansässigen Wahlberechtigten diesen Quotienten enthielt. Die noch übrigen 249 Mandate wurden nach dem Kriterium der direkten Steuerleistung vergeben, d.h. die Summe der direkten Steuern wurde durch 249 geteilt und jedes der Departements wurde mit so vielen Abgeordneten bedacht, wie die Summe der in diesem Departement erbrachten direkten Steuern diesen Quotienten enthielt.112 II. Realpolitische Umsetzung und Kritik Im Vergleich zum Wahlreglement der Charte von 1814113 war der von der Verfassung von 1791 vorgesehene Steuerzensus nicht ausnehmend hoch114, trotzdem cessaires por être citoyen actif, savoir: Dans les villes au-dessus de six mille âmes, celle d’être propriétaire ou usufruitier d’un bien évalué sur les rôles de contribution à un revenu égal à la valeur locale de deux cents journées de travail, ou d’être locataire d’une habitation évaluée sur les mêmes rôles, à un revenu égal à la valeur de cent cinquante journées de travail; Dans les villes au-dessous de six mille âmes, celle d’être propriétaire ou usufruitier d’un bien évalué sur les rôles de contribution à un revenu égal à la valeur locale de cent cinquante journées de travail, ou d’être locataire d’une habitation évaluée sur les mêmes rôles à un revenu égal à la valeur de cent journées de travail; Et dans les campagnes, celle d’être propriétaire ou usufruitier d’un bien évalué sur les rôles de contribution à un revenu égal à la valeur locale de cent cinquante journées de travail, ou d’ être fermier ou métayer de biens évalués sur les mêmes rôles à la valeur de quatre cents journées de travail; (. . .)“, siehe auch Walder, Ancien Régime (Fn. 83), S. 44 ff. 110 So ordnet es Art. 6 im französischen Originaltext an: „Il sera nommé un électeur à raison de cent citoyens actifs présents, ou non, à l’Assemblée (. . .)“, Walder, Ancien Régime (Fn. 83), S. 44 ff. 111 Redslob, Staatstheorien (Fn. 98), S. 147. 112 Medzeg/Nohlen, Art. Frankreich (Fn. 86), S. 444 f. 113 Siehe hierzu ausführlich auf S. 121 ff. 114 H. Hofmann/H. Dreier, Repräsentation, Mehrheitsprinzip und Minderheitenschutz, in: H.-P. Schneider/W. Zeh (Hrsg.), Parlamentsrecht und Parlamentspraxis in der Bundesrepublik Deutschland, 1989, § 5 Rn. 30. Erbe, Frankreich (Fn. 105), S. 36 merkt an, ein Blick über die französischen Landesgrenzen hinaus lehre, daß „der Anteil der Wahlberechtigten höher war als in vielen europäischen Zensuswahlrechten, die noch bis ins 20. Jahrhundert hinein Geltung besessen haben“.

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zog er eine Teilung der Franzosen in aktive und passive Bürger, „deren Existenz sich schwerlich mit den abstrakten und von der Verfassung sanktionierten Prinzipien Freiheit, Gleichheit und Volkssouveränität vereinbaren ließ“ 115, nach sich. Hofmann schätzt den Beschluß zur Einführung des Zensuswahlrechtes daher als „charakteristisch für das kommende Jahrhundert der Bürgerlichkeit“ ein.116 Bis zum heutigen Tage ist die Entscheidung für ein Zensuswahlrecht in unzähligen Büchern und Aufsätzen mitunter aufs Schärfste verurteilt worden, u. a. als Grundlage zur Errichtung eines Systems, das „auf den Geburtsadel den Geldadel folgen“ 117 ließ. Insbesondere die Nichteinlösung vom in der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte gegebenen großen Versprechen, alle Bürger am Zustandekommen der Gesetze teilhaben zu lassen118, führt dazu, dem Verfassungswerk einen rückschrittlichen Charakter zuzusprechen, teilweise im Ganzen gar das Scheitern der absoluten Gleichheitsforderung der Revolution zu sehen: „Eine andere wichtige Entscheidung der Nationalversammlung, die viele Kämpfe kostete und konstitutiv für die neue Gesellschaftsordnung sein sollte, war das Wahlrecht. Genauer: das den reichen Bürger bevorzugende Zensuswahlrecht. Das war einer der Punkte, in denen man die Menschenrechte zu hoffnungsvoll gefaßt hatte und nun einschränken mußte. Es kam nicht zur politischen Gleichberechtigung, es kam nicht zum allgemeinen Wahlrecht. Im Wahlrecht trennte man vielmehr aktive von passiven Bürgern nach einem System, das sich nach der Steuerleistung, also nach dem Vermögen ausrichtete. Wir sahen es schon bei den Departementswahlen. Das war ein Rückschritt gegenüber der Wahl zu den Generalständen (. . .).“ 119 Die Zwischenschaltung der Wahlmänner, der sog. Elektoren, lehnen viele Autoren als Mittel, dessen erklärtermaßen alleinige Zielsetzung „die politische Neutralisierung der unteren Klassen und die gesellschaftliche Säuberung der repräsentativen Organe, die Constant dem Monopol der Besitzenden über die politischen Rechte anvertraut“ 120, kategorisch ab121. Göhring bringt Unverständnis und Ablehnung gegenüber der verfassungsrechtlichen Verankerung des Zensusgedankens, einem Gedanken, der zum Prinzip der revolutionären Gleichheitsforderung kaum diametraler verlaufen könnte, in seiner Fragestellung sehr eingängig auf den Punkt: „Wo bleibt da der Allgemeinwille? Er ist, an Rousseau gemessen, zu einer Farce geworden. Die Stimme der guten Bürger macht ihn aus.“ 122

115

Díez del Corral, Liberalismus (Fn. 79), S. 89. Hofmann, Grundrechte (Fn. 16), S. 3182. 117 Soboul, Revolution (Fn. 55), S. 154. 118 Siehe dazu S. 61 ff. 119 Schulin, Revolution (Fn. 56), S. 94. 120 Losurdo, Demokratie (Fn. 87), S. 22, der sich hinsichtlich der Zielsetzung eines solchen zweistufigen Wahlsystems auf keinen geringeren als Alexis de Tocqueville (siehe S. 152 f.) beruft. 121 Aeppli, Wahlrecht (Fn. 39), S. 36; dazu auch Meyer, Wahlrecht (Fn. 20), S. 59 f. 122 Göhring, Geschichte (Fn. 100), S. 52. 116

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B. (Rechts-)Philosophische/politische Begründung des Zensus I. Der innerparlamentarische Diskurs zur Rechtfertigung des Zensuswahlrechts Wenn man davon ausgeht, daß Frankreich „das klassische Land der westlichen Demokratien“ ist, in dem „das Wahlsystem unbedenklich als Instrument in der politischen Auseinandersetzung eingesetzt wurde“ 123, dann muß es doch mehr – bzw. präziser formuliert: tiefergehende – Gründe für die verfassungsrechtliche Etablierung des Zensusprinzips geben, als den oftmals allein stehenden Grund einer „Angst der besitzenden Bürgerschichten vor der Volksleidenschaft, vor dem Despotismus der Straße“ 124. Dabei befand sich die Nationalversammlung im Spannungsverhältnis, dem Volk einerseits aufgrund dessen Einsatzes zur Überwindung des absolutistischen Regimes zum Dank verpflichtet zu sein und sich über politische Zugeständnisse dessen weitere Unterstützung sichern zu wollen, andererseits fürchteten sich die Abgeordneten vor den sich entladenden revolutionären Kräften, und einige Deputierte wurden gar Opfer von Gewalt.125 1. Die Sieyessche „Aktientheorie“ als richtungsweisender Leitfaden der Meinungsbildung in der Nationalversammlung

Schon das erste Gutachten des Verfassungskomitees vom 9. Juli 1789 spiegelt das Verhältnis von Jean-Joseph Mounier, dem Sprecher des Ausschusses, zur demokratischen Regierungsform unmißverständlich wider, wenn er hier die als urdemokratisch einzustufenden Volks- und Heeresversammlungen der alten Franken als „foule immense d’individus“ 126, nichts als eine immense Menschenmenge einzelner Individuen, abwertet. Entgegen vehementer und leidenschaftlicher Proteste des Abgeordneten Maximilien de Robespierre, dem „Anwalt der unteren Schichten“ 127, der den initiierenden, vorantreibenden und motivierenden Charakter des Dritten Standes für die Französische Revolution in den Vordergrund zu rücken versucht und nach Kräften darum bemüht ist, den politischen Standpunkt der Besitzlosen, in seinen Augen die „wahren Kämpfer der Freiheit“ 128, zu stärken, 123

D. Nohlen, Wahlrecht und Parteiensystem, 6. Aufl. 2009, S. 304. Schulin, Revolution (Fn. 56), S. 94; sinngemäß auch Göhring, Geschichte (Fn. 100), S. 51. 125 Kläy, Zensuswahlrecht (Fn. 17), S. 73. 126 Siehe die Sitzung vom 9. Juli 1789, zitiert nach J. Mavidal/É. Laurent/E. Clavel (Hrsg.), Archives parlementaires de 1787 à 1860. Recueil complet des débats législatifs et politiques des Chambres Françaises, 1. Série: 1787 à 1799, Bd. VIII, Paris 1875, S. 215. 127 Kläy, Zensuswahlrecht (Fn. 17), S. 72. 128 Siehe die Sitzung vom 20. bis 23. Juli 1789, abgedruckt in: Réimpression de l’ancien Moniteur. Seule histoire authentique et inaltérée de la révolution francaise depuis la réunion des états-généraux jusqu’au consulat (Mai 1789–Novembre 1799) avec des notes explicatives, Bd. I, Paris 1847, Nr. 21, S. 177 (182). 124

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zeichnet sich im Meinungsbild der Abgeordneten bezüglich der Wahlrechtsfrage relativ rasch eine klare Linie ab. Als richtungsweisend hierfür ist wohl die dem Komitee am 20. und 21. Juli 1789 vorgestellte Denkschrift „Préliminaire de la Constitution. Reconnaissance et exposition raisonnée des Droits de l’Homme & du Citoyen. Lu les 20 & 21 Juillet 1789, au Comité de Constitution“ 129 aus der Feder von Emmanuel Joseph Sieyes (1748–1836)130 zu nennen. Grundlage seiner Überlegungen bildet auch hier das System der Repräsentativverfassung, zu der Sieyes zwar nicht als einziger zum damaligen Zeitpunkt schon einen theoretischen Zugriff hatte, der wohl aber trotzdem „als der einflußreichste Theoretiker der modernen Repräsentativverfassung auf dem Kontinent“ gilt131,

129 Siehe diese als Annex zur Sitzung der Nationalversammlung vom 21. Juli 1789, abgedruckt in: Mavidal/Laurent/Clavel (Hrsg.), Archives parlementaires VIII (Fn. 126), S. 256 ff. Deutsche Übersetzung abgedruckt in E. J. Sieyès, Politische Schriften 1788– 1790, übers. und hrsgg. v. Eb. Schmitt u. R. Reichardt, 2. Aufl., München/Wien 1981, S. 239 ff.; siehe hierzu auch A. Tecklenburg, Die Entwicklung des Wahlrechts in Frankreich seit 1789, 1911, S. 66 f.; A. Aulard, Histoire politique de la revolution française – Origines et Developpement de la Democratie et de la Republique (1789–1804), 6. Aufl., Paris 1926, S. 61 f. Die Stellungnahme ist merklich vom physiokratischen Einfluß durchzogen (siehe Schickhardt, Erklärung [Fn. 80], S. 24), was sich nicht zuletzt darin manifestiert, daß bei ihm das Eigentum eine Vorrangstellung einnimmt. Aus diesem ersten aller Rechte ließen sich alle anderen ableiten (ebd., S. 51). Siehe grundlegend zu den Debatten der Nationalversammlung K. Loewenstein, Volk und Parlament nach der Staatstheorie der französischen Nationalversammlung von 1789. Studien zur Dogmengeschichte der unmittelbaren Volksgesetzgebung, 1922; E. Schmitt, Repräsentation und Revolution. Eine Untersuchung zur Genesis der kontinentalen Theorie und Praxis parlamentarischer Repräsentation aus der Herrschaftspraxis des Ancien régime in Frankreich (1760–1789), 1969. 130 Aus der Fülle an Literatur zu Sieyes besonders herauszuheben E. Zweig, Die Lehre vom Pouvoir Constituant. Ein Beitrag zum Staatsrecht der französischen Revolution, 1909, S. 115 ff., 404 ff.; H. Hofmann, Repräsentation. Studien zur Wort- und Begriffsgeschichte von der Antike bis ins 19. Jahrhundert (1974), 2. Aufl. 1990, S. 406 ff.; M. Forsyth, Reason and Revolution. The Political Thought of the Abbé Sieyes, New York 1987, S. 128 ff. 131 H. Brandt, Landständische Repräsentation im deutschen Vormärz. Politisches Denken im Einflußfeld des monarschischen Prinzips, 1968, S. 24. Sieyes leistete aber nicht nur Pionierarbeit im Bereich der Theorie der modernen Repräsentativverfassung, indem er „den Rousseauschen Ansatz auf die integrale repräsentative Versammlung übertrug und damit für die Nationalversammlung wie auch für die Legislative der Verfassung von 1791 eine neuartige theoretische Grundlage schuf“, so H.-H. Brandt, Neoständische Repräsentationstheorie und das frühkonstitutionelle Wahlrecht, in: W. Brauneder (Hrsg.), Wahlen und Wahlrecht. Tagung der Vereinigung für Verfassungsgeschichte in Hofgeismar vom 10.3.–12.3.1997, Der Staat, Beiheft Nr. 14 (2001), S. 133 (138), sondern ihm „kommt zweifellos das Verdienst zu, das exakte prozedurale Design eines Legitimationsmodells für konstituierende Akte ausdifferenziert zu haben“ (siehe hierzu eingängig Thiele, Souveränität [Fn. 24], S. 109; zum Sieyesschen Repräsentationsmodell als probatem Mittel der „Leistungssteigerung im politischen Betrieb“ Schmitt, Repräsentation [Fn. 129], S. 191).

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als der „Verfassungskonstrukteur“ 132 schlechthin. So war es wohl auch er, der die Französische Verfassung von 1791 maßgeblich mitgeprägt und ihr durch Titel III Art. 2 (Die französische Verfassung ist eine Repräsentativverfassung) seinen Stempel aufdrückte, indem er „ganz auf den Gedanken der Arbeitsteilung und Leistungssteigerung des Gesamtsystems durch Ausdifferenzierung spezieller Repräsentationsorgane abstellte“ 133. Wie bereits Rousseau setzt auch Sieyes beim „intérêt commun“, dem Gemeinwillen an, dieser kann aber – anders als in der Theorie Rousseaus – nicht durch Diskurs aller Einzelwillen herausgeschält werden, sondern nur durch Herrschaftsübertragung an die Repräsentanten „plus capables qu’eux-mêmes de connaître l’intérêt général, et d’interpréter à cet égard leur propre volonté“ 134. Redslob beispielsweise weist allerdings bezüglich des Versuchs der theoretischen Verknüpfung der Rousseauschen Theorie vom Gemeinwillen mit dem Novum des Repräsentativsystems darauf hin, „daß die vermittelnden Versuche von Sieyes und Robespierre, einen in der Lehre vom Gemeinwillen wurzelnden Gedanken auf die repräsentative Verfassung zu übertragen, den Charakter des Gewaltsamen an sich tragen müssen. Es werden hier zwei Gedankenreihen miteinander verbunden, welche niemals in Einklang gebracht werden können. Besonders deutlich muß der Mißklang werden, wenn man wie damals einem System mittelbarer Wahl in zwei Stufen gegenübersteht. Wie soll die Vorstellung, daß die Erklärung des Abgeordneten noch ein ungefähres Bild des Gemeinwillens darstelle, lebendig bleiben, wenn die Abgeordneten nicht mehr von den Bürgern selbst, sondern von einer durch die Bürger bestellten Wahlkörperschaft ins Parlament gesandt werden?“ 135 Das Zeitalter des gerade überwundenen, von vielen unterschiedlich gearteten Privilegien durchzogenen Ständewesens erwies sich für die Sieyessche Vorstellung von der Repräsentativverfassung als besonders fruchtbar, da seine Theorie eine zumindest weitgehend interessenhomogene herrschende Gruppe – hier das 132 H. Dreier, Das Grundgesetz unter Ablösungsvorbehalt? Zu Deutung und Bedeutung des Art. 146 GG, in: ders. (Hrsg.), Macht und Ohnmacht des Grundgesetzes. Sechs Würzburger Vorträge zu 60 Jahren Verfassung, 2009, S. 159 (182); ähnlich schon ders., Grenzen demokratischer Freiheit im Verfassungsstaat, in: JZ 1994, S. 741 (743). 133 Zitat Dreier (Fn. 13), Art. 20 (Demokratie) Rn. 11; siehe auch Morlok (Fn. 3), Art. 38 Rn. 3; Hofmann/Dreier, Repräsentation (Fn. 114), § 5 Rn. 13; T. Hafen, Staat, Gesellschaft und Bürger im Denken von Emmanuel Joseph Sieyes, Bern/Stuttgart/Wien 1994, S. 54 ff.; T. Herbst, Legitimation durch Verfassunggebung. Ein Prinzipienmodell der Legitimität staatlicher und supranationaler Hoheitsgewalt, 2003, S. 66 ff.; Forsyth, Reason (Fn. 130), S. 128 ff. 134 Siehe erneut die Sitzung vom 7. September 1789, zitiert nach Mavidal/Laurent/ Clavel (Hrsg.), Archives parlementaires VIII (Fn. 126), S. 594. Übersetzt: Herrschaftsübertragung an Repräsentanten, die fähig genug sind, das allgemeine Interesse/den Gemeinwillen zu erkennen und vor diesem Hintergrund ihren eigenen Willen zu interpretieren. Siehe hierzu auch Loewenstein, Volk (Fn. 129), S. 18 f., 206 ff.; Brandt, Repräsentation (Fn. 131), S. 25. 135 Redslob, Staatstheorien (Fn. 98), S. 137 f.

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Besitzbürgertum – voraussetzt.136 Bewußt oder unbewußt ebnete Sieyes so den Weg für „die zunehmende Plutokratisierung des aktiven und besonders des passiven Stimmrechts sowie die oligarchische Isolierung der Parlamentsversammlung“ 137. Konkret tat Sieyes dies vor allem durch jene am 20. und 21. Juli 1789 vorgestellte Denkschrift, in der er eine wegweisende Differenzierung der Rechte des Bürgers in „droits naturels et civils“ und „droits politiques“ vornahm und so mithin das Vokabular von Aktiv- und Passivbürgern138 in die Wahlrechtsdebatte einführte: „Der Unterschied dieser beiden Arten von Rechten besteht darin, daß die natürlichen und gesellschaftlichen Rechte diejenigen sind, zu deren Wahrung und Entwicklung die Gesellschaft gegründet worden ist, die politischen Rechte dagegen diejenigen, durch die sich die Gesellschaft bildet. Es ist um der Klarheit des Ausdrucks willen besser, die erste Art passive, die zweite aktive Rechte zu nennen.“ 139 Nach der von ihm entwickelten Theorie sollen alle volljährigen Franzosen gleichermaßen Träger der „natürlichen“ Bürgerechte sein und ihnen folglich dieselbe passive Rechtsstellung gegenüber dem Staat zuteil werden, wohingegen nur die sog. Aktivbürger zusätzlich in den Genuß politischer Rechte kommen: „Alle Einwohner eines Landes müssen in ihm die Rechte passiver Bürger besitzen: alle haben Anspruch auf Schutz ihrer Person, ihres Eigentums, ihrer Freiheit usw.; aber nicht alle haben Anspruch darauf, tätig an der Bildung der öffentlichen Gewalten teilzunehmen: nicht alle sind Aktivbürger.“ 140 Die Konkretisierung der Bedingungen, unter denen sich ein Franzose zum privilegierten Bevölkerungsteil der Aktivbürger zählen darf, läßt Sieyes mit Verweis auf den Gesetzgeber weitgehend offen – gänzlich offen jedoch wiederum nicht –, denn für Sieyes besteht kein Zweifel daran, daß „die Frauen, zumindest im jetzigen Stadium, die Kinder, die Ausländer und auch diejenigen, die nichts zur öffentlichen Gewalt beitragen, (. . .) keinen aktiven Einfluß auf das Gemeinwesen nehmen [dürfen]. Alle können die Vorteile der Gesellschaft genießen, aber allein diejenigen, die zur öffentlichen Gewalt etwas beitragen, sind gleichsam die eigentlichen Aktionäre des großen

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Brandt, Repräsentation (Fn. 131), S. 26. Brandt, Repräsentation (Fn. 131), S. 26. 138 L. v. Stein, Geschichte der sozialen Bewegung in Frankreich von 1789 bis auf unsere Tage (1850), Bd. 1, 1959, S. 240 ff. weist ausdrücklich auf die nunmehr geschaffene, sich noch als folgenreich entpuppende Kluft, die zwischen Aktiv- und Passivbürgern errichtet worden war, hin: „Damit ist eine absolute Scheidung unter den Staatsmitgliedern eingeführt; es gibt Staatsbürger und Staatsuntertanen; und an die Stelle des Standesunterschiedes tritt der des Vermögens. Von da an findet sich mithin aufs neue eine unterworfene Klasse“ (241 f., Hervorhebung i. O., A. S.). 139 Sieyès, Schriften (Fn. 129), S. 251, Hervorhebungen i. O., A. S. 140 Sieyès, Schriften (Fn. 129), S. 251, Hervorhebungen i. O., A. S. Zur Verknüpfung dieser Aktivbürgerschaft mit dem Zensus siehe knapp P. Badura, in: W. Kahl/C. Waldhoff/C. Walter (Hrsg.), Bonner Kommentar zum Grundgesetz, Art. 38 (132. EL Februar 2008), Rn. 4. 137

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gesellschaftlichen Unternehmens. Sie allein sind die wahren Aktivbürger, die wahren Glieder der Gesellschaftsverbindung“ 141. Hofmann/Dreier weisen in diesem Kontext in aller Deutlichkeit darauf hin, „daß der historische Durchbruch des Volkssouveränitätsgedankens in der Französischen Revolution sich im Konzept des ABBÉ SIEYES ursprünglich mit einem elitären Repräsentativprinzip (. . .) verband“ 142. Ganz offensichtlich verfolgte Sieyes hiermit den Plan, zum Wohle der Nation nur die qualifiziertesten Kräfte an der politischen Willensbildung partizipieren zu lassen, „(. . .) befähigt, aufgrund höherer Einsicht das Gemeinwohl zu erkennen und zu realisieren“ 143. Die realen sozialen und gesellschaftlichen Gegebenheiten stets vor dem inneren Auge, sieht Sieyes die Mehrzahl der Einwohner Frankreichs aufgrund ihres geringen Bildungsstandes, der wiederum auf Zeitmangel, sich selbst fortzubilden zurückzuführen ist, als nicht imstande, sich um die Gesetze, die Frankreich regieren, als Ausdruck des Gemeinwillens selbst zu kümmern: „D’abord, la très-grande pluralité de nos concitoyens n’a ni assez d’instruction, ni assez de loisir pour vouloir s’occuper directement des lois qui doivent gouverner la France; leur avis est donc de se nommer des représentants (. . .).“ 144 Neben das Erfordernis der Einsichtsfähigkeit in öffentliche Belange stellt sich bei Sieyes zudem das Argument, das unter der Bezeichnung „Beitragsgedanke“ läuft: Nur denjenigen, die wie die Aktionäre eines Unternehmens ihren Beitrag zum Gedeihen des Staates und zur öffentlichen Gewalt leisten, sollen im Gegenzuge Rechte im Staat wie beispielsweise das Wahlrecht zuteil werden. Wobei man hinter dieser Überlegung wiederum die Idee aufblitzen sieht, daß die Rechte im Staat mit den Pflichten zu korrespondieren haben (Korrespondenztheorie). Sieyes vergleicht in diesem Kontext in einem ersten Schritt den Aufbau von Staat und Gesellschaft mit der Struktur eines Unternehmens und die Bürger, die den Staat durch ihre Steuern mit Kapital versorgen, mit den Aktionären des Unternehmens Gesellschaft145: „Die Steuer zahlenden Bürger müssen also als Aktionäre [actionnaires] des großen Unternehmens Gesellschaft angesehen werden: von den Bürgern erhält es das Betriebskapital, ihnen untersteht es, für sie existiert und arbeitet es, ihnen gehören auch alle seine Erträge.“ 146 In einem zweiten, auf dieser Unternehmens- bzw. Gesellschaftsstruktur basierenden Schritt ent141 Sieyès, Schriften (Fn. 129), S. 251. Siehe hierzu den knappen Hinweis bei Smend, Maßstäbe (Fn. 1), S. 22 m. Fn. 5. 142 Hofmann/Dreier, Repräsentation (Fn. 114), § 5 Rn. 29 (Hervorhebung i. O., A. S.). 143 Hofmann/Dreier, Repräsentation (Fn. 114), § 5 Rn. 29 (S. 179). 144 Siehe die Sitzung vom 7. September 1789, zitiert nach Mavidal/Laurent/Clavel (Hrsg.), Archives parlementaires VIII (Fn. 126), S. 594. 145 Siehe zu den ideengeschichtlichen Wurzeln der sog. Aktientheorie S. 76 ff. 146 E. J. Sieyes, Vues sur les moyens d’exécution dont les Représentants de la France pourront disposer en 1789, 2. Aufl. 1789 (anonym erschienen) = ders., Schriften (Fn. 129), S. 70; Bezugnahme u. a. bei Schmitt, Repräsentation (Fn. 129), S. 193 m. Fn. 114.

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wickelt Sieyes, scheinbar en passant, die Theorie, daß nur die Aktionäre bzw. die „Aktionärskörperschaft“ über Entscheidungs- bzw. Abstimmungskompetenz in Belangen der Gesetzgebung verfügen würde: „Nur wenigen, die imstande sind, über das Gefüge der Gesellschaft nachzudenken, dürfte es unbekannt sein, daß die Gesetzgebung in einer sehr kleinen Gesellschaft von der Aktionärskörperschaft des Gemeinwesens selbst ausgeübt werden muß, in einer großen Nation aber von einer Körperschaft von Bevollmächtigten oder für kurze Zeit frei gewählten Stellvertretern (. . .)“ 147. 2. Die Debatten in der Nationalversammlung

a) Rechtfertigungsversuche der Etablierung des Zensuswahlrechts Die Debatten um die Zuteilung des aktiven Wahlrechts begannen am 20. Oktober 1789.148 Als Grundlage diente das Gutachten des Verfassungskomitees vom 29. September, das an die Zuteilung des aktiven Wahlrechts die Bedingung einer Steuerleistung von drei Tagen knüpfte.149 Bezeichnenderweise hielten es jedoch weder Jacques Guillaume Thouret, der Sprecher des Verfassungskomitees, noch sein Vorgänger Jean-Joseph Mounier in ihren Reden am 4. September für notwendig, die Dreitagesteuer in irgendeiner Form legitimierend zu begründen.150 Schon in seiner Denkschrift „Considérations sur les gouvernements et principalement sur celui qui convient à la France“ spricht Mounier ganz selbstverständlich allen Besitzlosen das aktive Wahlrecht ab.151 Diese Grundsatzentscheidung konkretisiert er in seinem Gutachten über die Organisation der Legislative vom 31. August, indem er statuiert, daß das aktive Wahlrecht an die Erbringung einer direkten Steuer in Höhe von drei Arbeitstagen anzuknüpfen habe.152 Im Verlauf

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Sieyes, Schriften (Fn. 129), S. 71. Siehe J. Mavidal/É. Laurent/E. Clavel (Hrsg.), Archives parlementaires de 1787 à 1860. Recueil complet des débats législatifs et politiques des Chambres Françaises, 1. Série: 1787 à 1799, Bd. IX, Paris 1877, S. 467 ff.; dazu: Aulard, Histoire (Fn. 129), S. 62 ff.; Kläy, Zensuswahlrecht (Fn. 17), S. 81 ff. 149 Siehe den „Rapport du nouveau comité de constitution fait à l’assemlée nationale“, abgedruckt in: Procès-verbal de l’Assemblée Nationale, Bd. V, Paris 1789, Nr. 87, Anhang „Rapport“, S. 13; Kläy, Zensuswahlrecht (Fn. 17), S. 77 f. 150 Zu Mouniers Standpunkt: Procès-verbal de l’Assemblée Nationale, Bd. IV, Paris 1789, Nr. 67, Anhang „Motifs“, S. 1 ff.; Kläy, Zensuswahlrecht (Fn. 17), S. 76 f.; zu Thouret: Procès-verbal V (Fn. 149), Nr. 87, Anhang „Rapport“, S. 12 f.; Kläy, Zensuswahlrecht (Fn. 17), S. 78. 151 Procès-verbal de l’Assemblée Nationale, Bd. III, Paris 1789, Nr. 48, Anhang „Considérations“, S. 22; Kläy, Zensuswahlrecht (Fn. 17), S. 74 f. 152 Siehe die Sitzung vom 31. August 1789, abgedruckt in: Mavidal/Laurent/Clavel (Hrsg.), Archives parlementaires VIII (Fn. 126 ), S. 523 („Art. 11. Pour avoir le droit d’élire, il faudra être domicilié depuis une année dans le lieu où se fait l’élection, et y payer une imposition directe égale au prix de trois journées de travail. On sera censé avoir domicile dans un lieu où l’on a habitation, et où l’on passe une partie de l’année; 148

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der Debatten plädierten zwar einige wenige Abgeordnete für die Abschaffung der Bezeichnungen „citoyen actif“ und „citoyen passif“ 153, was aber nicht zwangsläufig auch mit der Forderung des „suffrage universel“, eines allgemeinen Wahlrechts einherging. Der Abgeordnete François Dominique de Reynaud de Montlosier verband die Kritik an der Differenzierung zwischen Aktiv- und Passivbürgern mit der Forderung nach Einführung des Familienwahlrechts.154 Zudem wurde die zensitäre Ausgestaltung des Wahlrechts oft schlicht als politische Notwendigkeit begriffen155 und daher nicht argumentativ hergeleitet oder untermauert. Einige Befürworter des Zensuswahlrechts bemühten sich dennoch um eine „echte“ argumentative Rechtfertigung des Zensus. Pierre Samuel du Pont de Nemours z. B. lehnte zwar die Klassifizierung in Aktiv- und Passivbürger ebenfalls ab, wollte aber – ganz im Sinne der Physiokraten – das Wahlrecht nur den Grundbesitzern zuteil werden lassen.156 Er rekurriert mithin auf das Argument des proportionalen Anstiegs des Interesses am Gelingen des Staates mit zunehmendem Besitz. Im Übrigen verstanden es viele Abgeordnete, die Dreitagesteuer gar nicht als Einschränkung und Beschneidung der Stellung der Besitzlosen im Staat, sondern als Motivation, als Inaussichtstellen einer Position, die es sich zu erarbeiten galt, darzustellen: „En payant trois journées de travail“, so der Abgeordnete Démeunier, „c’est un motif d’émulation et d’encouragement, et cette incapacité n’est que momentanée: le non-propriétaire le deviendra tôt ou tard.“ 157 Hier funkelt deutlich der Guizotsche Aufruf 158 des „Enrichissez-vous“, bereichert euch, auf 159 und zumindest in Ansätzen das Argument, das Vermögen/Steuerleistung als meßbares Kriterium der Vernunft und Selbständigkeit begreift. Der Zensus – so zumindest dessen Befürworter – solle die Bürger anspornen, die Dreitagesteuer durch Arbeit und Eigeninitiative aufzubringen. So würden sie ihre Leistungsfähigkeit und Intelligenz unter Beweis stellen und sich folglich des Wahlrechts als würdig und geeignet erweisen. et ceux qui auront plusieurs domiciles de ce genre seront tenus d’opter, nul ne pouvant être électeur en deux lieux à la fois“). 153 Kläy, Zensuswahlrecht (Fn. 17), S. 81 f. 154 Aulard, Histoire (Fn. 129), S. 62. 155 Redslob, Staatstheorien (Fn. 98), S. 138 f. 156 Siehe die Sitzung vom 22. Oktober 1789, abgedruckt in: Mavidal/Laurent/Clavel (Hrsg.), Archives parlementaires IX (Fn. 148), S. 479. Für Du Pont de Nemours bildet das Eigentum das Fundament der Gesellschaft: „pénétré de l’idée que la propriété est la base fondamentale de la société“ (Aulard, Histoire [Fn. 129], S. 63). 157 Zitiert nach Aulard, Histoire (Fn. 129), S. 63. Übersetzt: Die Zahlung der Dreitagesteuer ist nichts anderes als ein Motiv des Wetteiferns und der Ermunterung und diese Unfähigkeit zur Zahlung nur eine momentane: der Nicht-Besitzende wird früher oder später dazu werden. 158 Siehe ausführlich zu François Guizot und seiner Partei der Doktrinäre S. 132 ff. 159 Aulard, Histoire (Fn. 129), S. 63.

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b) Rechtfertigungsversuche der Etablierung eines allgemeinen und gleichen (Männer-)Wahlrechts Letztendlich sprach sich nur eine Handvoll Abgeordneter – nicht nur im bildlichen Sinne, sondern es waren in der Tat nur fünf, nämlich Henri Grégoire, Adrien du Port, Jacques Defermon des Chapelieres, Jean-Pierre Noussitou und Maximilien de Robespierre – bedingungslos für ein allgemeines und gleiches Wahlrecht aus.160 Der Abbé Grégoire stellte klar, um Aktivbürger zu sein, reiche es aus, ein guter Staatsbürger zu sein, ein vernünftiges Urteilsvermögen und ein französisches Herz zu haben: „pour être électeur ou éligible dans une assemblée primaire, il suffit d’être bon citoyen, d’avoir un jugement sain et un coeur français“ 161. Defermon argumentierte, er sehe keinerlei Verpflichtung der Besitzlosen, Gesetze zu befolgen, bei deren Entstehung sie nicht über eigens gewählte Repräsentanten beteiligt würden.162 Und auch der eifrige Verfechter des allgemeinen und gleichen Wahlrechts, Robespierre, der Rousseau quasi als „ultima ratio“ ins Gedächtnis der Versammlung rief 163, konnte die Abgeordneten nicht vom Zensusprinzip abbringen. Nach nur zwei Tagen Unterredung über die Ausgestaltung des aktiven Wahlrechts am 22. Oktober 1789 wurde der der Diskussion zugrundeliegende Entwurf und damit die Dreitagesteuer mit großer Mehrheit des Verfassungskomitees angenommen.164 aa) Kritik am Bestechlichkeitsargument unter Rekurs auf die Angewiesenheit der Armen auf „gute“ Gesetze Robespierre hingegen wurde nicht müde, seiner tiefsten Ablehnung gegenüber einem Wahlverfahren, das ein Mindesteinkommen der Bürger zur Voraussetzung erhebt, immer wieder in öffentlichen Reden Ausdruck zu verleihen, seinen Standpunkt gar zu zementieren. In seiner Rede „Über die Mark Silber“ vom 20. April 1791165 lehnte er die Koppelung des Wahlrechts an ein bestimmtes 160 Siehe erneut die Sitzung vom 22. Oktober 1789, abgedruckt bei: Mavidal/Laurent/Clavel (Hrsg.), Archives parlementaires IX (Fn. 148), S. 479; Tecklenburg, Entwicklung (Fn. 129), S. 67; Aulard, Histoire (Fn. 129), S. 64. 161 Mavidal/Laurent/Clavel (Hrsg.), Archives parlementaires IX (Fn. 148), S. 479; Aulard, Histoire (Fn. 129), S. 63. 162 Mavidal/Laurent/Clavel (Hrsg.), Archives parlementaires IX (Fn. 148), S. 479: „Comment d’ailleurs ceux-ci pourraient-ils se soumettre des lois auxquelles ils n’auraient pas concouru?“ Übersetzt: Wie können sie [die Besitzlosen bzw. die, die keine Eigentümer sind, A. S.] sich Gesetzten unterordnen, zu denen sie nichts beigetragen haben? 163 Redslob, Staatstheorien (Fn. 98), S. 135; Tecklenburg, Entwicklung (Fn. 129), S. 144. 164 Procès-verbal de l’Assemblée Nationale, Bd. VI, Paris 1789, Nr. 105, S. 11; Kläy, Zensuswahlrecht (Fn. 17), S. 83. 165 Abgedruckt in: P. Fischer (Hrsg.), Reden der Französischen Revolution, 1974, Nr. 18 (S. 112 ff.); siehe hierzu auch den Hinweis bei M. Llanque, Politische Ideenge-

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Mindesteinkommen mit der Begründung, gerade die Besitzlosen seien in besonders hohem Maße am Inhalt der Gesetze interessiert, da diese ihnen ja unverzichtbaren Schutz vor Unterdrückung und Ungleichbehandlung bieten sollen, kategorisch ab: „Und Sie sagen, daß ich kein Interesse an diesen Gesetzen habe? Sie wollen mich des Anteils berauben, den ich, wie Sie, an der Verwaltung des Staates haben muß, und zwar aus dem Grunde, weil Sie reicher sind, als ich? Ah! Wenn die Waage aufhört gleich zu sein, müßte sie sich nicht zugunsten der weniger begüterten Bürger neigen? Sind die Gesetze, die öffentliche Gewalt nicht gegründet, um die Schwäche gegen die Ungerechtigkeit und Unterdrückung zu schützen? Es heißt also alle gesellschaftlichen Prinzipien verletzen, wenn man diese Gewalt ganz in die Hände der Reichen legen will.“ 166 An anderer Stelle brachte er seinen Unmut über das Argument, den Nicht-Besitzenden Bevölkerungsschichten das Wahlrecht zu versagen, da diese zur Bestechlichkeit neigten, zum Ausdruck. Zum einen sei auch der Wohlhabende vor Bestechlichkeit nicht gefeiht, zum anderen empfand er es ganz grundsätzlich als anmaßend, Menschen darüber befinden zu lassen, welche ihrer Mitmenschen würdig genug seien, politische Partizipationsrechte auszuüben. Als versierter Rhetoriker appelierte Robespierre pathetisch-leidenschaftlich: „Ach hören Sie auf, hören Sie auf, diesen rührenden und heiligen Namen des Volkes herabzuwürdigen dadurch, daß Sie es mit dem Gedanken der Bestechung in Verbindung bringen. Wer ist der, der unter gleichberechtigten Menschen seinesgleichen für unwürdig der Ausübung dieser Rechte zu erklären wagt, um sie derselben zu seinem Vorteil zu berauben! Und gewiß, wenn Sie sich erlauben, eine solche Verdammung auf die Voraussetzungen von Bestechlichkeit zu gründen, welche furchtbare Gewalt maßen Sie sich über die Menschheit an! (. . .) Ja, trotz jedem Vorteil zugunsten der Vorzüge, welche der Reichtum gibt, wage ich es zu glauben, daß Sie deren ebensoviel in der Klasse der weniger begüterten Bürger finden werden, als in der der Reichen. Glauben Sie wirklich, daß ein hartes und arbeitsames Leben mehr Laster erzeugt, als die Weichlichkeit, der Luxus und der Ehrgeiz?“ 167. Insgesamt ging Robespierre hart mit der Dreitagesteuer ins Gericht, indem er die vom verfassunggebenden Konvent beschlossenen Regelungen des aktiven und passiven Wahlrechts sowie des Zugangs zu den öffentlichen Ämtern mit dem Verdikt der Verfassungsbzw. Gesellschaftswidrigkeit belegte: „1. Ist das Gesetz der Ausdruck des allgemeinen Willens, wenn die größte Zahl derer, für welche es gemacht ist, in keiner Weise zu ihrer Bildung mitwirken kann? Nein. Wenn man aber allen denen, die nicht eine Steuer gleich drei Arbeitstagen bezahlen, sogar das Recht nimmt, die Wahlmänner zu wählen, welche die Mitglieder der gesetzgebenden Versammlung ernennen sollen, was heißt das anders, als den größeren Teil der Franzosen vollschichte – Ein Gewebe politischer Diskurse, 2008, S. 232. Zur Rolle Robespierres in den Debatten um die Verfassung von 1793 siehe S. 107 ff. 166 Fischer (Hrsg.), Reden (Fn. 165), S. 117. 167 Siehe Fischer (Hrsg.), Reden (Fn. 165), S. 118 f.

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ständig von der Feststellung der Gesetze fernhalten? Diese Bestimmung ist also wesentlich verfassungs- und gesellschaftswidrig. (. . .) Die Anhänger des Systemes, welches ich angreife, haben selbst diese Wahrheit [eben jene, daß alle in Frankreich geborenen und wohnhaften Menschen als Mitglieder des politischen Gemeinwesens französische Bürger sind, A. S.] empfunden. Da sie die Eigenschaft des Bürgers denen, welche sie zur politischen Enterbung verurteilten, nicht zu bestreiten wagten, so beschränkten sie sich darauf, das Prinzip der Gleichheit, welches diese Eigenschaft notwendig voraussetzt, durch die Unterscheidung in ,aktive‘ und ,nichtaktive‘ Bürger zu umgehen.“ 168 bb) Kritik am Zensus als eklatantem Verstoß gegen das Gleichheitsprinzip der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte Nur sehr wenige Abgeordnete konnten oder vielmehr wollten den Widerspruch, an dem das zensitäre Wahlreglement unter universalen Gleichheitsaspekten krankt, entlarven. Am 17. August 1789 bemerkte der Abgeordnete Gouges in seinem Entwurf für die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte, daß der Steuerzensus das „principe fondamental des Sociétés“, das fundamentale Prinzip der Gesellschaften, verletze169 und auch Duport wies ausdrücklich darauf hin, daß das Zensuswahlrecht offensichtlich im Widerspruch zur Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte stehe170. Ebenso rief Robespierre eindringlich die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte vor das innere Auge der Abgeordneten, die verkünde, daß die Souveränität im ganzen Volke wurzele, in allen Individuen und die voller Stolz die Abschaffung und Zerstörung des Privilegienwesens manifestiere. Jeder müsse an der Gesetzgebung mitwirken können, sonst stimme nicht, daß allen Menschen die gleichen Rechte zuteil würden, daß jeder Mensch auch ein Bürger sei: „Rien n’est plus conforme à votre déclaration des droits, devant laquelle tout privilége, toute distinction, toute exception doivent disparaître. La Constitution établit que la souveraineté réside dans le peuple, dans tous les individus du peuple. Chaque individu a donc droit de concourir à la loi par laquelle il est obligé, et à l’administration de la chose publique, qui est la sienne. Sinon, il n’est pas vrai que tous les hommes sont égaux en droits, que tout homme est citoyen.“ 171 168

Fischer (Hrsg.), Reden (Fn. 165), S. 113 f. Siehe dessen „Projet de déclaration de droits“, abgedruckt in: Procès-verbal III (Fn. 151), Nr. 51, Anhang „Projet“, S. 23 unten. 170 Sitzung vom 22. Oktober 1789, abgedruckt in: Mavidal/Laurent/Clavel (Hrsg.), Archives parlementaires IX (Fn. 148), S. 479; Redslob, Staatstheorien (Fn. 98), S. 137; A. Esmein, Eléments de droit constitutionnel français et comparé, Bd. I, 7. Aufl., Paris 1921, S. 355 m. Fn. 217. 171 Siehe die Diskussion vom 22. Oktober 1789, abgedruckt in: Mavidal/Laurent/ Clavel (Hrsg.), Archives parlementaires IX (Fn. 148), S. 479. Übersetzt: Nichts entspricht mehr Ihrer Rechteerklärung, nach der jedes Privileg, jede Unterscheidung, jede Sonderstellung verschwinden soll. Die Verfassung setzt fest, daß die Souveränität im 169

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cc) Exkurs: Der Zensus der Verfassung von 1791 im Widerspruch zur Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte von 1789? Doch erhebt die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte von 1789 überhaupt konkrete Gleichheitsforderungen, wenn ja, welche und wie verhält sie sich zum Vorhaben der Etablierung eines zensitären Wahlsystems im Rahmen der Verfassung von 1791? (1) Normative Vorgabe: Die absolute Gleichstellung der Bürger durch die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte als Credo einer neuen Zeit Die „Déclaration des droits de l’Homme et du Citoyen“ vom 26. August 1789172, wegen ihrer Bedeutung und Tragweite „lange Zeit allein im Blickpunkt der Rezeption stehend“ 173, betrachtet man zu recht bis zum heutigen Tage „als dogmatische und politische Leitnorm der Menschenrechtsdiskussion“ 174. Zahlreiche Abhandlungen widmen sich ihrer Bedeutung und geizen nicht mit Lob und Volke liegt, bei jedem Individuum des Volkes. Also hat jedes Individuum das Recht, an den Gesetzen mitzuwirken, denen es verpflichtet ist, und an der öffentlichen Verwaltung, die die seinige ist. Wenn nicht, ist es nicht wahr, daß alle Menschen gleich an Rechten sind, daß jeder Mensch ein Bürger ist. Dazu auch Aulard, Histoire (Fn. 129), S. 63. 172 Dokument in französischer Sprache bei Walder, Ancien Régime (Fn. 83), S. 37 ff. und mit Erläuterungen abgedruckt in: S. Rials, La déclaration des droits de l’homme et du citoyen, Paris 1988, S. 21 ff.; in französischer und deutscher Sprachfassung zu finden bei D. Willoweit/U. Seif (Hrsg.), Europäische Verfassungsgeschichte, 2003, S. 250 ff. und deutsche Textversion in: D. Gosewinkel/J. Masing (Hrsg.), Die Verfassungen in Europa 1789–1949. Wissenschaftliche Textedition unter Einschluß sämtlicher Änderungen und Ergänzungen sowie mit Dokumenten aus der englischen und amerikanischen Verfassungsgeschichte, 2006, S. 165 ff. Sehr ausführlich zu Herkunft, Ausarbeitung und den Debatten um die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte aus der schier unerschöpflichen Literatur E. Walch, La déclaration des droits de l’homme et du citoyen et l’assemblée constituante, Paris 1903; Aulard, Histoire (Fn. 129), S. 39 ff.; G. Jellinek, Die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte (1895), 4. Aufl. 1927, abgedruckt in: R. Schnur (Hrsg.), Zur Geschichte der Erklärung der Menschenrechte, 1964, S. 1 ff.; S.-J. Samwer, Die französische Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte von 1789/91, 1970; J. Sandweg, Rationales Naturrecht als revolutionäre Praxis. Untersuchungen zur „Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte“ von 1789, 1972; Hofmann, Grundrechte (Fn. 16), S. 3179 ff.; M. Gauchet, Die Erklärung der Menschenrechte – Die Debatte um die bürgerlichen Freiheiten 1789, 1991; siehe knapp T. Würtenberger, § 2: Von der Aufklärung zum Vormärz, in: D. Merten/H.-J. Papier (Hrsg.), Handbuch der Grundrechte in Deutschland und Europa, Bd. I, 2004, Rn. 7 ff. (der insbes. inhaltliche Gemeinsamkeiten und soziale Unterschiede mit den amerikanischen Erklärungen aufzeigt) sowie aus jüngster Zeit F. V. Lange, Grundrechtsbindung des Gesetzgebers. Eine rechtsvergleichende Studie zu Deutschland, Frankreich und den USA, 2010, S. 22 ff. 173 H. Dreier, in: ders. (Hrsg.), Kommentar zum Grundgesetz, Bd. I, 3. Aufl. 2013, Vorbemerkungen vor Artikel 1 GG Rn. 9. 174 E. Wolgast, Geschichte der Menschen- und Bürgerrechte, 2009, S. 53.

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Anerkennung ob ihres Verdienstes für die Entwicklung der modernen Menschenund Bürgerrechte, dies nicht zuletzt, weil sie sich dadurch in besonderem Maße auszeichnet, der erste vollständige Entwurf einer Menschenrechtserklärung auf dem europäischen Kontinent zu sein175 und unter dem französischen Eindruck und Vorbild vergleichbare Kataloge von Rechten Eingang in fast alle Verfassungen der übrigen Staaten auf dem europäischen Kontinent fanden176. In der Gesamtschau hat das Dokument „die Leuchtkraft einer Vorwegnahme“ 177. Diejenigen Artikel, die für diese Untersuchung von Belang sind, lauten wie folgt: „Art. 1er. Les hommes naissent et demeurent libres et égaux en droits. Les distinctions sociales ne peuvent être fondées que sur l’utilité commune. (. . .) 3. Le principe de toute souveraineté réside essentiellement dans la Nation. Nul corps, nul individu ne peut exercer l’autorité qui n’en émane expressément. (. . .) 17. La propriété étant un droit inviolable et sacré, nul ne peut en être privé, si ce n’est lorsque la nécessité publique, légalement constatée, l’exige évidemment, et sous la condition d’une juste et préalable indemnité.“ 178 Übersetzt: „Art. 1. Die Menschen sind und bleiben von Geburt frei und gleich an Rechten. Die sozialen Unterschiede können nur im gemeinen Nutzen begründet sein. (. . .) 3. Der Ursprung jeder Souveränität liegt im Kern beim Volk. Keine Körperschaft, kein Individuum kann Gewalt ausüben, die nicht ausdrücklich von ihm ausgeht. (. . .) 17. Da das Eigentum ein unverletzliches und geheiligtes Recht ist, kann es niemandem entzogen werden, es sei denn, daß dies die gesetzlich festgelegte, öffentliche Notwendigkeit augenscheinlich erfordert und daß eine gerechte und vorherige Entschädigung geleistet wird.“ 179

(2) (Rechts-)Philosophische/politische Begründung des Zensus in der Debatte um die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte Schon bald nachdem sich der Dritte Stand zur Nationalversammlung erklärt hatte180, wurden Rufe nach einer Rechteerklärung, die der neuen Verfassung vor175 R. Schnur, Vorwort, in: ders. (Hrsg.), Zur Geschichte der Erklärung der Menschenrechte, 1964, S. X. 176 Jellinek, Erklärung (Fn. 172), S. 2; A. Voigt, Geschichte der Grundrechte, 1948, S. 33. 177 Hofmann, Grundrechte (Fn. 16), S. 3183. 178 Walder, Ancien Régime (Fn. 83), S. 37 ff. 179 Übersetzung der Artikel übernommen von Samwer, Erklärung (Fn. 172), S. 222 ff. 180 Als der König der Forderung des Dritten Standes eines Abstimmungsverfahrens nach Köpfen nicht nachkam, erklärte sich der Dritte Stand am 17. Juni 1789 zur Nationalversammlung. Kurz darauf, am 20. Juni 1789, schworen die Angehörigen der Nationalversammlung, nicht eher auseinanderzugehen, bis Frankreich eine neue Verfassung habe (sog. Ballhausschwur). In diesem schlicht anmutenden Schwur entlud sich die ge-

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angestellt sein sollte, laut, so daß der Abgeordnete Marquis de La Fayette am 11. Juli 1789 den Antrag stellte, eine solche Erklärung zu erlassen und zeitgleich einen eigenen Entwurf einbrachte181. Die Diskussion um die endgültige Fassung der französischen Menschrechtserklärung fand vom 19. bis 26. August 1789 statt.182 Diskussionsgrundlage hierfür bildeten zahlreiche Entwürfe183, von denen an dieser Stelle nur diejenigen erwähnt werden, die für die Frage nach der Ausgestaltung des Wahlrechts von Belang sind. Ein allgemeines Wahlrecht wird in der Rechteerklärung nirgends ausdrücklich garantiert.184 Trotzdem diskutierten die Abgeordneten die Wahlrechtsfrage auch im Rahmen der Verhandlungen um die Verabschiedung der Rechteerklärung schon überraschend konkret. Wie üblich spaltete sich das Gremium in zwei Lager, das der Gegner und das der Befürworter eines allgemeinen und gleichen Wahlmodus. (a) Rechtfertigungsversuche der Etablierung des Zensuswahlrechts Der Bischof von Auxerre, Champion de Cicé, positionierte sich ganz grundsätzlich gegen eine politische Gleichstellung der Bürger, indem er auf die maßgeblichen Unterschiede zwischen dem amerikanischen und dem französischen Volk verwies und die fehlende soziale Gleichstellung in Frankreich, die der polisamte Radikalität der Revolution, denn hier trat nicht weniger als eine ganz neue „Denkungsart“ zu Tage; diese „liegt darin, dass als Autor und letzter Ursprung der neuen staatlichen Ordnung das Volk sich selbst einsetzt“, H. Dreier, Der freiheitliche Verfassungsstaat als riskante Ordnung, in: Rechtswissenschaft. Zeitschrift für rechtswissenschaftliche Forschung 1 (2010), S. 11 (14 f.). Es handelt sich mithin um eine Form von „Selbsterhöhung des Individuums“ (Zweig, Lehre [Fn. 130], S. 2). Siehe ähnlich auch Gosewinkel/Masing (Hrsg.), Verfassungen (Fn. 172), S. 13 ff. (13: „Emanzipation des Subjekts“; 14: „Rückführung des Rechts auf das Individuum als freies Subjekt“), man könnte auch von einer „Selbstinthronisation“ (Dreier, Riskante Ordnung [Fn. 180], S. 15) sprechen. Das Volk interpretiert Verfassunggebung ganz neu als „Schöpfungsakt aus eigenem Recht“ (Zitat ders., Art. Verfassung, in: Enzyklopädie Philosophie, herausgegeben von H. J. Sandkühler, Bd. III, 2010, S. 2867 [2868]). Die hochkomplexe Problematik, die diesem Akt innewohnt, der letztlich „das Prinzip der Trennung von pouvoir constituant und pouvoir constitué organisatorisch und personell verletzt“ (Thiele, Souveränität [Fn. 24], S. 117), muß im Rahmen der Betrachtungen dieser Abhandlung ausgeklammert werden. Siehe hierzu weiterführend den gesamten instruktiven Beitrag von Thiele, Souveränität (Fn. 24), S. 103 ff. 181 Siehe die Sitzung vom 11. Juli 1789, abgedruckt in: Mavidal/Laurent/Clavel (Hrsg.), Archives parlementaires VIII (Fn. 126), S. 221. 182 N. Brieskorn, Menschenrechte – Eine historisch-philosophische Grundlegung, 1997, 91. 183 Es waren wohl 21 an der Zahl, die der französischen Nationalversammlung vorgelegt wurden: Mirabeau ging am 17. August von 20 Entwürfen aus, zu denen sich am 21. August zusätzlich noch der von Boislandry gesellte, siehe Mavidal/Laurent/Clavel (Hrsg.), Archives parlementaires VIII (Fn. 126), S. 438, 468 ff. Hierzu Jellinek, Erklärung (Fn. 172), S. 16 (17). Walch geht hingegen von 15 aus, siehe Walch, Déclaration (Fn. 172), S. 95. 184 So der Befund beispielsweise von Kläy, Zensuswahlrecht (Fn. 17), S. 46.

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tischen vorausgehen müsse, unterstrich. Er führte dazu aus, daß Amerika die Heimat der Gleichen sei, das amerikanische Kolonialvolk hauptsächlich aus grundbesitzenden Bauern bestehe und, da sowohl die berufliche als auch die soziale Stellung der Menschen im Wesentlichen übereinstimme, das amerikanische Volk, im Gegensatz zum französischen, für die Gleichheit der Rechte geradezu prädestiniert sei. Weil die Menschen in Frankreich diese Voraussetzungen eben nicht erfüllten, müsse man zunächst Gesetze erlassen, die die sozialen Unterschiede milderten. Für das Prinzip der Gleichheit im Staate sei die Nation noch nicht bereit. Die soziale Gleichstellung müsse der politischen Gleichstellung den Weg ebnen.185 Es existieren im Übrigen viele konkrete Stellungnahmen für die Verknüpfung des Wahlrechts mit dem Zensusgedanken: Einen Beleg hierfür liefert beispielsweise der Abgeordnete François Louis Le Grand de Boislandry in Art. 49 seines Entwurfs vom 21. August 1789: „Tout homme, né Français, ou naturalisé, majeur, domicilié et contribuant aux charges de l’Etat, a droit d’élire et d’être élu, comme représentant de ses concitoyens, aux assemblées nationales, provinciales et municipales.“ 186 Der bereits erwähnte Thouret sprach sich zum einen für eine Nationalvertretung auf der Grundlage der Steuerleistung in den Distrikten, zum anderen für die Erhaltung der Munizipalversammlungen von 1787 aus, die gerade vom Zensus geprägt waren.187 (b) (Vermeintliche) Rechtfertigungsversuche der Etablierung des allgemeinen und gleichen (Männer-)Wahlrechts Erstaunlicherweise offenbaren manche der eingereichten Vorschläge – seien ihren Verfassern die Konsequenzen ihrer Forderungen in umfänglichem Maße bewußt gewesen oder nicht – auch vor dem Hintergrund unseres heutigen Verständnisses geradezu egalitär-demokratisch anmutende Tendenzen. Im Rahmen der Beratungen zur Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte am 11. Juli 1789 widmete sich Lafayette im 4. Artikel den Bürgerrechten und statuierte, daß niemand Gesetzen unterworfen werden könne, die nicht seine oder die Zustimmung seiner Vertreter erhalten hätten, die vorher veröffentlicht und rechtmäßig ange-

185 Siehe die Sitzung vom 1. August 1789, abgedruckt in: Moniteur I (Fn. 128), Nr. 31, S. 257 (262). 186 Siehe die Sitzung vom 21. August 1789, abgedruckt in: Mavidal/Laurent/Clavel (Hrsg.), Archives parlementaires VIII (Fn. 126), S. 469. Übersetzt: Jeder in Frankreich geborene oder niedergelassene Mensch, volljährig, der über einen Wohnsitz in Frankreich verfügt und seinen Beitrag zu den Lasten des Staates leistet, hat das Recht zu wählen oder gewählt zu werden als Repräsentant seiner Mitbürger in den Nationalversammlungen, den Versammlungen der Provinzen und Städten. 187 Procès-verbal de l’Assemblée Nationale, Bd. II, Paris 1789, Nr. 38, Anhang „Analyse“, S. 8 und 27.

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wendet worden seien.188 Ihm scheint es selbstverständlich, die Legitimation und Geltungskraft von Gesetzen von der Zustimmung aller Bürger abhängig zu machen. Dahinter steht eindeutig der Gedanke der Rechtsgleichheit: „La nature a fait les hommes libres et égaux; les distinctions nécessaires à l’ordre social ne sont fondées que sur l’utilité générale.“ 189 Ebenso leitete Crenière das Erfordernis der Beteiligung aller Bürger am Zustandekommen der Gesetze aus der Rousseauschen Tradition des volonté générale ab: „Da der Wille der Mehrheit das Gesetz für alle ist, so hat jeder Bürger das Recht an seiner Bildung mitzuwirken. (. . .) Da diese Rechte natürlich und unveräußerlich sind, sollen sie auch unverletzlich und heilig sein. (. . .) Alle diese Rechte lassen sich zusammenfinden in das Recht der Gleichheit vor dem Gesetz und das Recht, an seiner Bildung mitzuwirken.“ 190 Auf den ersten Blick widersprüchlich im Hinblick auf seine spätere Forderung nach einem gestuften Wahlrecht erkennt Sieyes in seiner Denkschrift „Reconnaissance et exposition raisonnée des droits de l’homme et du citoyen lu les 20 et 21 juillet 1789 au comité de constitution“ 191 neben zivilen oder passiven Rechten der Bürger durchaus auch politische oder aktive Rechte an und ist auch gewillt, diese anscheinend allen Bürgern ohne jegliche Differenzierung zuzusprechen192. Diese Widersprüchlichkeit läßt sich nur dahingehend auflösen, daß das hier geschilderte Prinzip gar nicht als Versuch der Etablierung des allgemeinen Wahlrechts, sondern als Maßnahme der Sicherung des status quo, als eine unmißverständliche Absage an ein zukünftiges Wiedererstarken des überwundenen feudalen Privilegienwesens zu verstehen ist.193 An anderer Stelle seines Vorschlags 188 Siehe die Sitzung vom 11. Juli 1789, abgedruckt in: Mavidal/Laurent/Clavel (Hrsg.), Archives parlementaires VIII (Fn. 126), S. 222; siehe dazu W. Rees, Die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte von 1789. Beiträge zu ihrer Entstehungsgeschichte, 1912, S. 210 ff.; ein Hinweis hierauf findet sich auch bei Gauchet, Erklärung (Fn. 172), S. 149; F. Klövekorn, Die Entstehung der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte, 1911, S. 129 ff. (insbes. S. 132). 189 Erneut zitiert nach Mavidal/Laurent/Clavel (Hrsg.), Archives parlementaires VIII (Fn. 126), S. 222. Übersetzt: Die Natur hat die Menschen frei und gleich erschaffen, notwendige Beschränkungen der Sozialordnung sind nirgends außer in allgemeinen Zweckmäßigkeitserwägungen begründet. 190 Zitiert nach Schickhardt, Erklärung (Fn. 80), S. 31 f. 191 Siehe hierzu bereits S. 51. 192 Schickhardt, Erklärung (Fn. 80), S. 22: „Die Gleichheit der politischen Rechte ist ein fundamentales Prinzip, seine Verletzung würde bald ungerechte Privilegien entstehen lassen.“ 193 Kläy weist in diesem Zusammenhang darauf hin, daß das Gleichheitsprinzip häufig eben gerade nicht dazu bemüht wurde, allen französischen Bürgen die gleichen politischen Rechte im Staate zu verschaffen, sondern es völlig diametral zum Schutz vor Eingriffen des Königs bzw. Staates in die Rechtssphäre des Individuums herangezogen wurde: „Und wie der liberale Adel mit der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte eine Schutzmauer gegen die Despotie des Königtums errichtete, so benützte das gehobene Bürgertum dasselbe Programm zur Sicherung seiner erkämpften sozialen und poli-

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läßt Sieyes nämlich keine Zweifel daran, daß er als Befürworter des Zensusprinzips einzuordnen ist: „La loi ne peut être que l’expression de la volonté générale. Chez un grand peuple, elle doit être l’ouvrage d’un corps de représentants choisis pour un tempscourt, médiatement ou immédiatement par tous les citoyens qui ont à la chose publique intérêt avec capacité.“ 194 Die Endversion von Art. 6 S. 1 und 2 der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte übernimmt schließlich im Wesentlichen den ersten Vorschlag von Lafayette: „Das Gesetz ist der Ausdruck des allgemeinen Willens. Alle Bürger haben das Recht, persönlich, oder durch ihren Vertreter an seinem Zustandekommen mitzuwirken.“ Zumindest theoretisch proklamiert die Rechteerklärung folglich „neben der individuellen auch die politische Freiheit“ 195. Da die deutliche Mehrheit der Konstituante sich nur wenig später klar für die Aufnahme eines Zensus in die Verfassung von 1791 positionierte, überrascht doch sehr, daß man sich in der Phase der Endredaktion auf eine Fassung des Art. 6 einigte, die neben einer allgemeinen Definition des Gesetzesbegriffes auch die durchaus weitreichende Form der Beteiligung des Volkes an dessen Entstehungsprozeß enthält.196 Man darf sich durchaus wundern, daß anscheinend kein einziger Abgeordneter im Zeitpunkt der abschließenden Abstimmung im Hinblick auf die Beteiligung ausnahmslos aller Bürger auch nur die leisesten Bedenken oder Zweifel anmeldete.197 Skepsis blitzte letztlich auch während der tischen Stellung. Im Gleichheitsprinzip fand man die ideologische Waffe gegen das Privilegienunwesen, dessen Rückkehr man befürchtete, und zugleich die naturrechtliche Rechtfertigung des erreichten Zustandes. So erwies sich die „Egalité“ in jenem historischen Augenblick als ein erwünschtes, weil vielseitig brauchbares Mittel“, Kläy, Zensuswahlrecht (Fn. 17), S. 44. 194 Siehe abermals den Annex zur Sitzung der Nationalversammlung vom 21. Juli 1789, abgedruckt in: Mavidal/Laurent/Clavel (Hrsg.), Archives parlementaires VIII (Fn. 126), S. 256 (261). Übersetzt: Das Gesetz kann nur der Ausdruck des Gemeinwillens sein. Bei einem großen Volk muß es das Werk einer Körperschaft von Repräsentanten sein, die für kurze Zeit mittelbar oder unmittelbar von allen am Gemeinwesen interessierten und dazu befähigten Bürgern gewählt werden; Verweis hierauf bei Gauchet, Erklärung (Fn. 172), S. 149. Anhand dieser Fundstelle läßt sich darüber hinaus auch belegen, daß Sieyes als einer von wenigen in der Nationalversammlung zu diesem Zeitpunkt schon imstande war, den Schritt vom Gemeinwillen in die Repräsentation vollziehen und nachzeichnen zu können; zur Bedeutung, die Sieyes, „der große Verfassungskonstrukteur“, für die Verbreitung des Repräsentationsgedankens auf dem europäischen Kontinent spielt, siehe eindringlich Hofmann/Dreier, Repräsentation (Fn. 114), § 5 Rn. 13; außerdem auch u. a. Loewenstein, Volk (Fn. 129), S. 10 ff., 27, 192, 200 f., 205; Gauchet, Erklärung (Fn. 172), S. 149; Brandt, Repräsentation (Fn. 131), S. 24 ff.; Morlok (Fn. 3), Art. 38 Rn. 3; Badura (Fn. 140), Art. 38 Rn. 4; Dreier (Fn. 13), Art. 20 (Demokratie) Rn. 11. 195 Giacometti, Demokratie (Fn. 2), S. 6. 196 Zur Endredaktion des Artikels siehe Schickhardt, Erklärung (Fn. 80), S. 89 ff. 197 Gauchet bringt diese Widersprüchlichkeit eingängig auf den Punkt: „Doch das Bemerkenswerteste der Affäre ist, daß die entscheidende Bestimmung des Artikels inmitten dieser Schlacht des Argwohns ohne den geringsten Widerspruch oder Disput

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Beratungen nur bei wenigen Abgeordneten wie Mirabeau oder Mounier auf. Mirabeau warnte im Rahmen der Beratungen zu Art. 6 eindringlich davor, daß die konkreten Bestimmungen der künftigen Verfassung zu weit von den durch die Rechteerklärung verkündeten, doch überwiegend allgemein und abstrakt gefaßten Prinzipien abdriften könnten. Er schlug daher vor, mit der Endredaktion der Artikel zuzuwarten, bis der Prozeß der Verfassunggebung so weit vorangetrieben sei, daß mit einer Übernahme bzw. zumindest Umsetzung des Gleichheitsprinzips realistischerweise zu rechnen sei.198 Mounier protestierte zwar nicht während der Diskussionen um Art. 6 der Menschenrechtserklärung, sondern um Art. 1, wohl durchaus wissend um „die vom gleichen Artikel anerkannten ,sozialen Unterschiede‘, an die wahrscheinliche Ungleichheit der noch kommenden politischen Rechte (. . .)“ 199. Um einer vermeintlichen Widersprüchlichkeit200 zwischen Art. 6 der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte, der den Grundsatz des Gesetzes als Ausdruck der „volonté générale“ postuliert und (ausnahmslos) allen Bürgern das Recht einräumt, persönlich oder über Repräsentanten am Entstehungsprozeß der Gesetze mitzuwirken, und dem von der Verfassung statuierten zensitären Wahlsystem zu entkommen, flüchteten sich einige findige Abgeordnete in die sog. théorie de l’électorat-fonction, um im gleichen Zug der sog. théorie de l’électorat-droit201 ihre Daseinsberechtigung abzusprechen. Erstere ist nur in Zusammenschau mit der Grundannahme einer Souveränität der Nation, wie sie in Titel III., Art. 1 der Verfassung von 1791 verankert ist, vertretbar, denn diese Theorie geht davon aus, daß die Souveränität als unteilbares Ganzes einzig und allein der Nation gehöre und nicht in gleichem Maße unter allen Mitgliedern der Nation aufgeteilt sei. Sie, die théorie de l’électorat-fonction, eröffnet die Möglichkeit, das Zensuswahlrecht mit dem Hinweis zu rechtfertigen, das Wahlrecht sei eben kein originäres Bürgerrecht, sondern eine Funktion, die einigen prädestinierten Bürgern durch die Nation übertragen würde. Begründet wird diese Theorie damit, durchging. „Das Gesetz ist der Ausdruck des Gemeinwillens. Alle Bürger haben das Recht, persönlich oder durch ihre Vertreter an der Bildung mitzuwirken“: (. . .) diese ziemlich folgenschweren Aussagen stießen auf allgemeine und unmittelbare Zustimmung“, siehe Gauchet, Erklärung (Fn. 172) S. 167. 198 Siehe die Sitzung vom 18. August 1789, abgedruckt in: Moniteur I (Fn. 128), Nr. 42, S. 345 (350). 199 Gauchet, Erklärung (Fn. 172), S. 161. 200 Statt vieler Tecklenburg, Entwicklung (Fn. 129), S. 146; L. Duguit, Etudes de droit public, Bd. II, Paris 1903, S. 92 f. 201 Grundlegende Gegenüberstellung dieser beiden Theorien vom Wahlrecht als Funktion im Gegensatz zum Wahlrecht als originärem Bürgerrecht siehe J. Laferrière, Manuel de droit constitutionnel, 2. Aufl., Paris 1947, S. 67 f.; G. Burdeau/F. Hamon/ M. Troper, Droit constitutionnel, 25. Aufl., Paris 1997, S. 297 f.; Tecklenburg, Entwicklung (Fn. 129), S. 143 ff. (145 f.); knapper Hinweis bei K.-P. Sommermann, Zweihundert Jahre Französische Verfassung von 1793: Die Verfassungstradition des Jahres I, in: Der Staat 32 (1993), S. 611 (617).

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daß die Unterordnung der Minderheit unter den Willen der Mehrheit nur dann nachvollziehbar sei, wenn man davon ausgehe, daß die Souveränität einer Kollektivperson zuteil würde, die von den in dem jeweiligen Staat lebenden Individuen verschieden ist. Das Mehrheitsprinzip sei die einzige Möglichkeit, dem Willen der Kollektivperson Ausdruck zu verleihen.202 Im Ergebnis reduziert die théorie de l’électorat-fonction das Wahlrecht zunächst auf eine aus dem Souveränitätsanspruch der Gesamtnation abgeleitete Funktion, um einigen Bürgern sodann politische Partizipationsrechte zu versagen: „Aus ihm [dem Funktionscharakter des Wahlrechts, A. S.] wird die Freiheit abgeleitet, das Wahlrecht so zu gestalten, wie es für die Staatswohlfahrt am besten ist; mit Rücksicht hierauf bekleidet der Gesetzgeber gewisse Bürger mit jener bestimmten Funktion.“ 203 Im Gegensatz dazu begreift die heute vorherrschende théorie de l’électoratdroit das Wahlrecht in enger Anlehnung an Rousseau204 als ein originäres Bürgerrecht, das jedem Individuum einzig wegen seiner Eigenschaft, Mitglied des politischen Gesamtkörpers zu sein, zustehen muß und, um es nicht ad absurdum zu führen, auf keinen Fall an weitere Bedingung (wie einen Zensus) geknüpft werden darf. Dieses Verständnis geht Hand in Hand mit der Theorie der Volkssouveränität und versteht die Wahl als Akt, in dem die Individuen an der Ausübung der Souveränität partizipieren. Die Souveränität steht nicht unteilbar der Nation zu, sondern ist die Summe der „volontés individuelles“ 205. (3) Verstoß des Zensus der Verfassung von 1791 gegen zentrale Garantien der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte Um den Exkurs abschließen zu können, steht noch die Beantwortung der eingangs aufgeworfenen Frage, ob der von der ersten Revolutionsverfassung eingeführte Zensus nicht mit der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte in Kollision steht bzw. deren Verdienste relativiert, aus. Bei allem vor dem Hintergrund unseres heutigen egalitären Demokratiebegriffes verständlichen Erstaunen darüber, daß die Verfassung von 1791 kein der revolutionären absoluten Gleichheitsforderung entsprechendes, allgemeines und gleiches Wahlrecht proklamierte, sind 202 So vertreten u. a. von Esmein, Eléments I (Fn. 170), S. 308 (309); Duguit, Etudes II (Fn. 200), S. 92 f. 203 Tecklenburg, Entwicklung (Fn. 129), S. 145 f. 204 Im Livre III, Chapitre I. seines „Du Contrat Social ou Principes du droit politique“ macht er unmißverständlich deutlich, daß er Souveränität nicht als unteilbar und einzig der Nation vorbehalten, sondern als Zusammenschau der Einzelwillen der Mitglieder des staatlichen Korpus definiert: „Supposons que l’État soit composé de dix mille citoyens. (. . .) chaque membre de l’État n’a pour sa part que la dix-millième partie de l’autorité souveraine, (. . .)“, J.-J. Rousseau, Du Contrat Social ou Principes du droit politique (1762), Paris 1962, S. 235 (274). Übersetzt: Stellen wir uns vor, der Staat sei aus zehntausend Bürgern zusammengesetzt. Jedes Mitglied des Staats hat für seinen Teil den zehntausend-fachsten Teil der souveränen Autorität. 205 Laferrière, Manuel (Fn. 201), S. 67.

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beide Fragestellungen mit „Nein“ zu beantworten. Diese eindeutige Antwort ist auf drei Gründe zurückzuführen, die sich alle aus dem Charakter der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte ergeben: (1) Erstens versteht sich die französische Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte als eine Prinzipienerklärung, „nicht in erster Linie – wie die amerikanischen Dokumente – als unmittelbar verbindlicher und justitiabler Rechtekatalog“ 206. Primäres Ziel der Erklärung ist daher das Erreichen eines höchstmöglichen Grades an Universalität.207 Typischerweise erhebt eine Prinzipienerklärung für sich selbst den Anspruch, möglichst absolut und allumfassend geltende Forderungen zu erheben, ja gar „des vérités de tous les temps et de tous les pays“ 208, um als Orientierungshilfe und Leitlinie für nachfolgende in- wie ausländische Dokumente, in diesem Fall für die im Anschluß zu kreierende Verfassung, dienen zu können. Duport rief den anderen Abgeordneten zu, sie sollten sich nicht fürchten, solche Wahrheiten zu verkünden, man habe ja gerade eine Erklärung, die allen Menschen und Nationen angemessen und dienlich ist, gewollt: „vous avez voulu enfin une déclaration convenable à tous les hommes, à toutes les nations. Voilà l’engagement que vous avez pris à la face de l’Europe (. . .).“ 209 Diese Intention der Franzosen, nicht nur dem eigenen Land die Richtung des zukünftigen politischen Geschehens vorzugeben, sondern als Vorbild weit über die französischen Landesgrenzen hinaus zu fungieren, arbeitet besonders eingängig der französische Schriftsteller Emile Boutmy (1835–1906) im Rahmen eines Vergleiches der amerikanischen Bill of Rights mit der französischen Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte heraus. In den Augen Boutmys unterscheiden sich die beiden Erklärungen fundamental, allen voran im Zweck, aus dem heraus sie geschaffen worden seien. Während die Amerikaner größten Wert auf die tat206 Dreier (Fn. 173), Vorbemerkungen vor Art. 1 GG Rn. 9, Hervorhebungen i. O., A. S. So auch statt vieler Sandweg, Naturrecht (Fn. 172), S. 296 ff.; S. Breuer, Sozialgeschichte des Naturrechts, 1983, S. 377 f.; H. Hofmann, Zur Herkunft der Menschenrechtserklärungen (1988), in: ders. (Hrsg.), Verfassungsrechtliche Perspektiven. Aufsätze aus den Jahren 1980–1994, 1995, S. 3 (16); M. Troper, Deklaration oder Konstitution von Rechten, in: W. Krawietz/J. Wróblewski (Hrsg.), Sprache, Performanz und Ontologie des Rechts. Festgabe für Kazimierz Opalek zum 75. Geburtstag, 1993, S. 57 (67 f.). 207 Hofmann weist hinsichtlich des Ursprungs eines solchen Universalitätsanspruchs, den die Schöpfer der Erklärung für sich erheben, darauf hin, daß „die Prätention der Universalität hier auf dem Wahrheitsanspruch einer systematischen individualistischen Sozialphilosophie“ basiert, siehe H. Hofmann, Geschichtlichkeit und Universalitätsanspruch des Rechtsstaats, in: Der Staat 34 (1995), S. 1 (18); ähnlich bereits ders., Zur Herkunft der Menschenrechtserklärungen, in: JuS 1988, S. 841 ff. 208 Übersetzt: Wahrheiten für alle Zeiten und für alle Länder. So die Wortwahl des Abgeordneten Duport in der Sitzung vom 18. August 1789, abgedruckt bei: Mavidal/ Laurent/Clavel (Hrsg.), Archives parlementaires IX (Fn. 148), S. 451. 209 Siehe Nachweis bei H. Dreier, Gilt das Grundgesetz ewig? Fünf Kapitel zum modernen Verfassungsstaat, 2009, S. 7.

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sächliche Durchsetzbarkeit der einzelnen garantierten Rechte vor Gericht legten, deren Erklärung sich folglich durch „Angemessenheit, Richtigkeit und Vollständigkeit, um aus den Texten praktische Konsequenzen ziehen zu können“ auszeichnete, „gelten alle Bemühungen der Würde des Ausdrucks und der Majestät der Form“ 210 was das französische Dokument anbelange. Seinen französischen Landsleuten attestiert Boutmy allen voran ein Ringen um Allgemeinheit, Universalität und Erhabenheit des Dokuments, um der ganzen Welt Beispiel und Vorbild sein zu können.211 Dies gilt natürlich und umso mehr, wenn eine Nation an einem derart bezeichnenden Wendepunkt in der Historie steht, wie die französische es damals tat: „Sie [die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte, A. S.] war der natürliche Ausdruck des Bewußtseins eines Volkes, in einem entscheidenden geschichtlichen Augenblick dem eigenen politischen Schicksal eine neue Richtung geben zu können.“ 212 Das deutlich mitschwingende Pathos ist daher zuvörderst der Schicksalsträchtigkeit der Geburtsstunde dieses Dokuments geschuldet: „Die Vergleichung der amerikanischen mit der französischen Erklärung zeigt zunächst, daß die Aufstellung abstrakter und darum vieldeutiger Prinzipien beiden gemeinsam ist, nicht minder das Pathos, mit dem sie vorgetragen werden.“ 213 Die Väter des Dokuments legten es darauf an, „vorerst das Fundament der Prinzipien zu legen, auf dem sodann das neue Staatsgebilde errichtet werden sollte.“ 214 Sie sahen sich selbst mit der ehrwürdigen und gleichermaßen verantwortungsbeladenen Aufgabe betraut, die Gesamtnation auf einen neuen Kurs zu bringen, so daß die Erklärung im Ergebnis „Leitsätze für gesetzgeberische Aktivität eher denn Grenzsteine für die Begrenzung des Gesetzgebers“ 215 errichtet. Sie ist daher besonders eingängig auch als „Über-Verfassungsnorm“ 216 tituliert 210 E. Boutmy, Die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte und Georg Jellinek (1902), in: R. Schnur (Hrsg.), Zur Geschichte der Erklärung der Menschenrechte, 1964, S. 78 (89). Der Beitrag von Boutmy ist erstmals in den Annales de Sciences Politiques XVII (1902), S. 415 ff. erschienen. 211 Boutmy, Erklärung (Fn. 210), S. 88 f.: „Für die Franzosen ist die Deklaration nur ein oratorisches Meisterstück, die Artikel stehen da in abstrakter Reinheit, allein im Glanze ihrer Majestät und der Herrschaft der Wahrheit über die Menschen. (. . .) Zur Belehrung der ganzen Welt schreiben die Franzosen; die amerikanischen Verfassungsgeber dagegen haben die Artikel ihrer Deklaration zum Nutzen und zur Annehmlichkeit ihrer Mitbürger verfaßt: (. . .).“ Siehe hierzu auch Voigt, Geschichte (Fn. 176), S. 30; Dreier, Gilt das Grundgesetz (Fn. 209), S. 10 ff.; ders. (Fn. 173), Vorbemerkungen vor Art. 1 GG Rn. 9. 212 Samwer, Erklärung (Fn. 172), S. 45 f. 213 Jellinek, Erklärung (Fn. 172), S. 30. 214 Kläy, Zensuswahlrecht (Fn. 17), S. 33. Siehe auch Lange, Grundrechtsbindung (Fn. 172), S. 24. 215 G. Stourzh, Wege zur Grundrechtsdemokratie. Studien zur Begriffs- und Institutionengeschichte des liberalen Verfassungsstaates, 1989, S. 173. 216 R. Wahl, Rechtliche Wirkungen und Funktionen der Grundrechte im deutschen Konstitutionalismus des 19. Jahrhunderts, in: Der Staat 18 (1979), S. 321 (327). Bei K. Stern, HStR3 IX, § 184 Rn. 25 ist die Rede von dem „überverfassungsmäßigen Rang“.

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worden. Im fundamentalen Unterschied zu amerikanischen Rechteerklärungen, die tatsächlich gelebte Rechtstraditionen zur Absicherung in positiv-rechtliche Form gießen, „orientiert am konkreten Schicksal derjenigen, die sich durch Freiheit und Selbstbestimmung auf dem amerikanischen Kontinent erfolgreich durchsetzten“ 217, verkündet die Nationalversammlung feierlich die universal geltenden Menschenrechte als unumstößliche Prinzipien, „welche als Vorgabe und Leitbild für die nachfolgenden positivrechtlichen Regelungen der Verfassung dienten (. . .)“ 218. Die Nationalversammlung legte mit der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte mithin das Fundament, auf das die noch zu kreierende Verfassung gestellt werden sollte und überließ notwendige Beschränkungen ganz bewußt dem Verfassunggeber.219 (2) Die zweite Ursache hängt eng mit dem Erliegen der Versuchung zusammen, Intentionen und Handlungen der Mitglieder der Nationalversammlung rückblickend, ausgehend von unserem heutigen Verständnis von Demokratie und Rechtstaatlichkeit, verstehen, einordnen und bewerten zu wollen. Den Menschen der damaligen Zeit, auch den politisch Hochgebildeten, verschließt sich eine mit unserer heutigen Systematisierung von Grundrechten vergleichbare Vorstellung. Dies läßt sich etwa daran festmachen, daß im Rahmen der Beratungen zur Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte fast nie eine stringente Differenzierung zwischen den Rechten, die den Bürger vor staatlichen Übergriffen schützen sollen, und jenen, die der Staat seinen Bürgern erst zuteil werden läßt, wie Möglichkeiten politischer Partizipation, vorgenommen wird: „Der Nationalversammlung 217

Lange, Grundrechtsbindung (Fn. 172), S. 23. Dreier, Gilt das Grundgesetz (Fn. 209), S. 11. Zum grundlegenden Unterschied der amerikanischen und französischen Rechteerklärungen in Bezug auf die Intention der Verfasser, die Rechtsnatur der Dokumente und deren Ausstrahlungswirkung siehe Hofmann, Herkunft (Fn. 206), S. 846 f.; ders., Geschichtlichkeit (Fn. 207), S. 17 ff.; Lange, Grundrechtsbindung (Fn. 172), S. 23 ff.; Stern, § 184 (Fn. 216), Rn. 25 f. Eine schlichte, aber dennoch aussagekräftige Erklärung, warum die Deklaration noch keine verbindlichen einklagbaren positiv-rechtlichen Normen statuiert, liefert Troper, Deklaration (Fn. 206), S. 67: „Wäre die Deklaration selbst ein Korpus von Vorschriften, wäre natürlich der erste Titel [der Verfassung von 1791, A. S.] eine unnütze Wiederholung.“ 219 Gauchet weist darauf hin, daß man konkrete Modifikationen, allen voran Begrenzungen der weitreichenden Garantien der Rechteerklärung, durchaus der späteren Verfassung auftragen wollte: „Universalität anzuvisieren, wie es Duport vertrat, ohne sich (er sagte es schlankweg) um eventuelle Widersprüche zur künftigen Verfassung zu bekümmern, hieß die Grenzlinie zu überschreiten, die die Reform von der Erneuerung trennte. (. . .) die Verfassung sollte dann die Aufgabe übernehmen, diese „zu modifizieren und zu begrenzen“. Die Begrenzung erwies sich später bekanntlich schwieriger vorzunehmen, als man vorausgesehen hatte: als die Durchführung der Verfassung einen Teil der Bürger vom aktiven und den größten Teil vom passiven Wahlrecht ausschloß. Aber im Augenblick war der radikale Universalismus, verbunden mit dem konservativen Wunsch, einen kurzen und allgemeinen Text zu erstellen, der sich später leicht abändern ließ, verlockend genug, um einen Text abzulehnen, der von den einen als zu „ortsgebunden“ und von den anderen als zu einengend beurteilt wurde“ (Gauchet, Erklärung [Fn. 172], S. 148 ff.). 218

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schien das gespannte Verhältnis zwischen den beiden grundsätzlichen Einstellungen zum Staat, die wir in der Sprache des 19. Jahrhunderts kurz als die liberale und die demokratische Tendenz bezeichnen, noch kaum bewußt zu sein.“ 220 Diese fehlende Differenzierung und Kategorisierung nach Rechten gegen den und im Staat ist im Wesentlichen darauf zurückzuführen, daß das Verfassungswerk von 1791 lediglich den Endpunkt der ersten von drei Phasen der Gleichheitsforderung im Laufe der Revolution markiert.221 In dieser ersten Phase sind die revolutionären Kräfte erklärtermaßen primär auf die Herstellung der rechtlichen Gleichheit vor dem Gesetz222 konzentriert, „Gleichheit geht demgemäß nicht über die (formelle) Rechtsgleichheit hinaus“ 223. Den Bürgern war es endlich und teilweise unter Einsatz ihres Lebens gelungen, das unerträglich eng gewordene Korsett des Privilegienwesens abzustreifen und die starren Strukturen des ständisch-feudalen Systems aufzubrechen. Die Abschaffung aller „Privilegien, die man in der rauschhaften Sitzung am 4. August 1789 praktisch in einem Durchgang beseitigte“ 224, stellt ohne Zweifel einen der Meilensteine dieser ersten Revolutionsphase dar. In dieser Anfangsphase lag der Schwerpunkt politischer Forderungen eindeutig auf dem Schutz des Bürgers vor staatlichen Ein- und Übergriffen. Es schien „die Betonung der natürlichen Freiheit des Individuums vom Staat, die freie Selbstbestimmung des Einzelnen innerhalb einer staatsfreien Sphäre, wichtiger zu sein als die Berechtigung des Bürgers zur aktiven Teilnahme am Staatsleben. Man strebte nach freier Entfaltung, nach Befreiung und nicht nach neuer Bindung. Der französische Verfassungsstaat der Jahre 1789 bis 1792 ist von einem individualistisch-liberalen Grundzug geprägt.“ 225 Erst deutlich später kann sich die Erkenntnis der Notwendigkeit einer verfassungsrechtlichen Gewährleistung der Freiheit im Staat neben der Freiheit vom Staat durchsetzen.226

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Kläy, Zensuswahlrecht (Fn. 17), S. 33 f., Hervorhebungen i. O., A. S. Die Einteilung der Entwicklung der Gleichheitsforderung in der Revolutionszeit in drei Phasen erfolgt nach Dann, Gleichheit (Fn. 15), S. 1017 f. Siehe zu den drei Dimensionen der Gleichheit nach Alexis de Tocqueville und der Frage nach ihrem Realisierungsgrad im Rahmen der französischen Revolution M. Ozouf, Gleichheit, in: F. Furet/dies. (Hrsg.), Kritisches Wörterbuch der Französischen Revolution, Bd. II, 1996, S. 1136 (1144 f.); W. Heun, in: H. Dreier (Hrsg.), Kommentar zum Grundgesetz, Bd. I, 3. Aufl. 2013, Art. 3 Rn. 4, der in rechtsvergleichender Perspektive und richtungsweisend bereits das Augenmerk darauf lenkt, daß „(. . .) in Deutschland zum Teil die rechtliche und die soziale Gleichheit vor der politischen Gleichheit postuliert werden“. 222 Dann, Gleichheit (Fn. 15), S. 1017. 223 K.-P. Sommermann, Staatsziele und Staatszielbestimmungen, 1997, S. 63. 224 Zitat Dreier, Riskante Ordnung (Fn. 180), S. 14. Zur Absage an eine Legitimation aus höherem Recht, ganz gleich, ob Gottesgnadentum für Könige oder geburtsbedingte Privilegien, die dem Republikprinzip immanent ist, R. Gröschner, HStR3 II, § 23 Rn. 39. 225 Kläy, Zensuswahlrecht (Fn. 17), S. 35. 226 Siehe zu diesem Gedanken Dreier, Grenzen (Fn. 132), S. 741: „Neben die private, liberale Freiheit vom Staat tritt die demokratische Freiheit zum Staat; zur individuellen 221

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Eben gerade weil sich den mit der Proklamation der Rechteerklärung Betrauten die erforderliche Unterscheidung zwischen liberalen Freiheitsrechten und politischen Teilnahmerechten nicht oder nicht in ausreichendem Maße erschloß, kann man den Verantwortlichen der Konstituante auch kaum den Vorwurf machen, sich bei der Transformation des Gleichheitspostulats in die spätere Verfassung bewußt in Widersprüchlichkeiten verstrickt zu haben. Die Rechteerklärung konzentriert sich deshalb auf den Schutz des Bürgers vor staatlichen Übergriffen, weil ihr Blick im Zeitpunkt der Proklamation nicht der Zukunft, sondern vielmehr der Vergangenheit zugewandt ist. Sie ist gewillt, die blutig erkämpfte Abschaffung des Ancien régime mit all seinen staatlichen Beschränkungen des Bürgers durch schriftliche Fixierung für die Zukunft zu schützen: „On peut la [la Déclaration des droits, A. S.] considérer à un double point de vue, négatif ou positif, comme détruisant le passé ou comme édifiant l’avenir. Aujourd’hui, rétrospectivement, nous la considérons surtout au second point de vue, c’est-à-dire comme le programme politique et social de la France à partir de 1789. Les hommes de la Révolution la considéraient surtout au premier point de vue, comme la notification du décès de l’ancien régime, et, ainsi que le veut le préambule, comme une berrière contre une résurrection possible de cet ancien régime (. . .)“, so der Befund von Aulard.227 Nunmehr „lag das Ungeheuer des ,ancien régime’ gefesselt am Boden“ 228, und das Erfordernis einer Übertragung des Gleichheitsprinzips auf politische Partizipationsrechte wurde vom Bemühen überlagert, alles Notwendige zu tun, daß dies auch so blieb. Für diese These spricht letztlich auch der Vergleich mit der Rechteerklärung der Amerikaner, die im Gegensatz zu den Franzosen eben nicht vor der Aufgabe standen, ein verhaß-

Selbstbestimmung gesellt sich die ,Idee der freien Selbstbestimmung aller Bürger‘ (. . .). Faßbare Gestalt gewinnt diese Freiheit vor allem in den staatsbürgerlichen Rechten (insb. dem Wahlrecht) (. . .)“, Hervorhebungen i. O., A. S. Den bei der Ausarbeitung der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte Federführenden wegen des fehlenden Bewußtseins für die Widersprüchlichkeit der Verknüpfung des Zensusprinzips mit Art. 1 und 6 der Rechteerklärung Vorwürfe zu machen oder ihre Leistung zu degradieren, mutet geradezu vermessen an, wenn man bedenkt, daß es beispielsweise in Deutschland noch im Frühkonstitutionalismus (siehe hierzu S. 202 ff.) durchaus liberalen Vorstellungen entsprach, das Wahlrecht von der Anwendung des Gleichheitsgrundsatzes vollständig auszuklammern (siehe Meyer, Wahlsystem [Fn. 7], S. 84). 227 Aulard, Histoire (Fn. 129), S. 45. Übersetzt konstatiert er, man könne die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte aus einem doppelten Gesichtspunkt heraus betrachten, negativ oder positiv, die Vergangenheit zerstörend oder die Zukunft aufbauend. Heute, rückblickend, betrachten wir sie überwiegend aus dem zweiten Gesichtspunkt heraus, das heißt, als politisches und soziales Programm Frankreichs von 1789 ausgehend. Die Männer der Revolution betrachteten sie hingegen überwiegend aus dem ersten Punkt heraus, als öffentliche Bekanntmachung des Exitus des Ancién régime und folglich, dem Willen der Präambel entsprechend, als eine Barriere gegen die Auferstehung dieses Regimes. 228 Kläy, Zensuswahlrecht (Fn. 17), S. 43.

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tes Regime hinter sich lassen zu müssen, sondern ein völlig neues Staatsgebilde quasi aus dem Nichts erschaffen zu können.229 Wirft man einen Blick in die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte, so läßt Art. 1 keinerlei Zweifel daran, daß die französischen Bürger selbst die Gleichheit vor dem Gesetz als wichtigste Errungenschaft dieser Etappe der Revolution einschätzten, sonst hätten sie das Dokument wohl kaum mit den folgenden Worten beginnen lassen: „Les hommes naissent et demeurent libres et égaux en droits.“ 230 Von nun an sollten alle Bürger ohne Unterschied nach Geburt und Stand gleiche Behandlung durch den Staat und dessen Gesetze erfahren. Erst später, in Art. 6 S. 1 und 2, also an weniger prominenter Stelle, heißt es in der Erklärung zum Zustandekommen der Gesetze: „Das Gesetz ist der Ausdruck des allgemeinen Willens. Alle Bürger haben das Recht, persönlich, oder durch ihren Vertreter an seinem Zustandekommen mitzuwirken.“ In diesem noch frühen Stadium der Revolution wurden alle revolutionären Kräfte mobilisiert und gebündelt, um einem Wiedererstarken der alten Kräfte, das man am meisten fürchtete, präventiv Einhalt zu gebieten, den status quo zu bewahren und den Staat in seine Schranken zu weisen, so daß die Parole „Freiheit vom Staat“ und nicht „Freiheit durch den Staat“ lautete.231 Erst in der zweiten Phase der Revolution gelangte auch die Forderung nach der Realisierung politischer Gleichberechtigung in den politischen Fokus. Sie findet ihren Niederschlag in der Verfassung vom 24. Juni 1793.232 In der dritten und gleichzeitig letzten Etappe der Entwicklung des Gleichheitsdenkens im Rahmen der Revolution besann man sich zudem auf das Problem sozialer Ungleichheiten und dessen Lösung durch die Herstellung möglichst gleichwertiger Lebensverhältnisse. So vollzog sich der Fortgang der Gleichheitsforderung in Frankreich von der (formellen) Rechtsgleichheit über die politische Gleichheit und mündete schließlich in der Forderung der Eigentumsgleichheit: „Beispielhaft an der französischen Entwicklung ist einerseits die Abfolge der Gleichheitsbegriffe im Zusammenhang der revolutionär-emanzipatorischen Entwicklung, von der bürgerlichen Rechtsgleichheit über die Gleichheit der Staatsbürger, die politische Gleichheit 229 F. X. v. Weber, Der Menschenrechtsstaat – Menschenrechte und Rechtsstaat in der globalisierten Welt, Basel 2010, S. 18 f.: „So richtete sich in Frankreich die Revolution gegen die bestehende Ordnung. Die Abkehr von der Vergangenheit zeigt sich auch in den häufigen Negativformulierungen der französischen Erklärung. Zur Erinnerung: In Amerika war die Errichtung eines neuen, selbstverwalteten Staates die Idee. Die Planung der Zukunft war dynamisch, positiv. Die amerikanische Menschenrechtserklärung weist weitgehend positive Formulierungen auf. Die französische Erklärung bezeichnete die Republik als einzige legitime Staatsform (Art. 6). Es sollte ein für allemal das Königtum beseitigt werden.“ 230 Zitiert nach Procès-verbal III (Fn. 151), Nr. 54, S. 4. Übersetzt: Die Menschen werden geboren und bleiben frei und gleich an Rechten. 231 Siehe hierzu bereits in und um Fn. 226. 232 Siehe dazu ausführlich S. 102 ff.

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bis hin zur Eigentumsgleichheit; zum anderen, daß es jeweils bestimmte soziale Schichten des Bürgertums sind, die einen der Gleichheitsbegriffe politisch vertreten (. . .).“ 233 In dieser Euphorie der hart erkämpften Überwindung des Ancien régime und der pathetischen Proklamation der Freiheit und Gleichheit aller Menschen übersah man indes, daß zumindest hinsichtlich des Wahlrechts an die Stelle geburtsbedingter Privilegien das Privileg des Eigentums getreten war. Durch das Kriterium der Dreitagesteuer, auch wenn sie im Vergleich zu späteren Verfassungen in und außerhalb Frankreichs sehr gering war, ließ man doch nicht ausnahmslos alle Bürger an der politischen Willensbildung partizipieren, sondern nahm eine – wie von Sieyes vorgeschlagen – Unterteilung der französischen Bürger in Aktiv- und Passivbürger vor.234 (3) Drittens ist es unzulässig, heutige Überzeugungen, die für ein allgemeines und gleiches Wahlrecht streiten, in die Vorstellungen der Abgeordneten der Konstituante zu projezieren. Die Beteiligung ausnahmslos aller Bürger am Zustandekommen der Gesetze kann nicht nur als Ausdruck der Wertschätzung der Meinung aller Bürger, damit als Erweiterung deren Rechtssphäre, sondern gleichermaßen als Instrument zur legitimen Einforderung von Gehorsam gegenüber den Gesetzen235 und mithin – was ja auch nichts Verwerfliches, sondern ganz im Gegenteil so gewollt ist – als Mittel zur Bindung des Volkes an politische Entscheidungen interpretiert werden. Alle Bürger am Gesetzgebungsprozeß partizipieren zu lassen, eröffnet die Möglichkeit, „jeden mit den getroffenen Entscheidungen 233

Dann, Gleichheit (Fn. 15), S. 1018. Díez del Corral, Liberalismus (Fn. 79), S. 89: „Der dritte Stand ging von der Anerkennung des allgemeinen Rechts auf gleiche Beteiligung an der Bildung des Staatswillens aus; aber weil nicht gleichzeitig alle regieren konnten, mußte es zu einer Auswahl der Besten und Einflußreichsten kommen, die über die zur Selbstvervollkommnung und zur Unterstützung der anderen erforderlichen Mittel verfügten; diese Mittel waren Führungseigenschaften, Intelligenz und Bildung. Um sie zu erwerben, braucht man Eigentum; deshalb wurde das Eigentum zum Unterscheidungsmerkmal zwischen im übrigen gleich qualifizierten Kräften: es füllte den Personbegriff mit Realität an. Auch die Feudalgesellschaft beruhte auf Eigentum, aber sie bestand auf Grund von Privilegien und war nicht durch Leistung zugänglich; dagegen kannte das neue Eigentum kein Privileg und ging von einem für alle gleichen Erwerbsrecht aus; ,Eigentum‘ bekam einen konstruktiven Sinn und war nicht mehr Folge, sondern Grundlage politischer Macht. (. . .) auf die alten Standesunterschiede folgte ein Klassenunterschied, der nicht mehr auf das ganze Leben prägende Eigenschaften wie Zugehörigkeit zu Adel oder Klerus, sondern auf einem rein ökonomischen Faktum beruhte.“ 235 Auch Giacometti, Demokratie (Fn. 2), S. 6 greift den Gedanken auf, daß in einer Demokratie erst über die Möglichkeit der politischen Partizipation die Bereitschaft in der Bevölkerung geschaffen wird, sich den geltenden Rechtsnormen zu beugen und unterzuordnen: „Damit [mit der Beteiligung an der Bildung des Staatswillens, A. S.] ist allerdings der Einzelne in der Demokratie nicht nur sich selber unterworfen, sondern er bleibt auch unter dieser Staatsform der heteronomen Zwangsordnung des Rechts unterstellt; aber das Individuum ist dabei nicht nur Normunterworfener, sondern auch Miterzeuger der staatlichen Normen.“ 234

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zu solidarisieren und die Unterordnung auf das persönliche Engagement zu gründen“ 236. An diesem Punkt schließt sich der Kreis zur zweitgenannten Ursache. Die Väter des Dokuments, einer Art „Kriegserklärung an die alte Staatsordnung“ 237, rangen mit allen Mitteln um Garantie der vollkommenen Überwindung des Ancien régime. Um sicherzustellen, daß kein Souverän in Frankreich zukünftig würde Gesetze oktroyieren können, sollten alle Bürger am Zustandekommen der Gesetze teilhaben. Von nun an war „der Bürger (. . .) zum Gehorsam nur gegenüber solchen Gesetzen verpflichtet, die er in eigener Person oder durch gewählte Vertreter zusammen mit seinen Mitbürgern erlassen hatte. Während es bisher ,ci veut le roi, ci veut la loi‘ geheißen hatte, sollte es fortan umgekehrt heißen: ,ci veut la loi, ci veut le roi‘“ 238. – Das, was das Gesetz will, will der König. Man war geradezu erfüllt von dem Plan, durch die Beteiligung aller Bürger am Gesetzgebungsprozeß einerseits auf legitime Weise Gehorsam von ihnen einfordern zu können und sie an politische Entscheidungen zu binden, und andererseits gleichzeitig der Geltendmachung eines unbegrenzten Machtanspruchs durch einen Herrscher einen Riegel vorschieben zu können. Die Angehörigen der Nationalversammlung zeigten sich fest entschlossen, „den Gleichen den Willen von ihresgleichen aufzuerlegen. Mögen alle befehlen, damit jeder gehorche. Die Universalität der Mitwirkung ist der Vektor der Identität in der Billigung.“ 239 II. Der außerparlamentarische Diskurs zur Rechtfertigung des Zensuswahlrechts 1. Justus Mösers „Aktientheorie“ und die Begründung der privilegierten Stellung der Landeigentümer

a) Biographie Justus Mösers Macht man sich auf die Suche nach den ideengeschichtlichen Wurzeln des Vergleiches der Bürger eines Staates mit den Aktionären eines großen Unternehmens, dessen Sieyes sich in den Beratungen zur verfassunggebenden Nationalversammlung bemüht, so stößt man unweigerlich auf den Osnabrücker Staatsmann, Historiker und Publizisten Justus Möser240 (1720–1794)241. Möser wurde 236

Gauchet, Erklärung (Fn. 172), S. 168. Samwer, Erklärung (Fn. 172), S. 45. 238 Samwer, Erklärung (Fn. 179), S. 35 f. 239 Gauchet, Erklärung (Fn. 172), S. 168 f. 240 P. Göttsching, Justus Mösers Staats- und Geschichtsdenken. Der Nationalgedanke des aufgeklärten Ständetums, in: Der Staat 22 (1983), S. 33 (33). 241 Aus der Fülle an Literatur zu Mösers Leben siehe C. T. Welcker, Art.: Möser (Justus), in: K. v. Rotteck/ders. (Hrsg.), Staats-Lexikon oder Encyklopädie der Staatswissenschaften, Bd. 11, 1841, S. 67 ff.; F. Nicolai, Leben Justus Möser’s, in: B. R. Abeken (Hrsg.), Justus Möser’s sämmtliche Werke, Bd. 10, 1843, S. 1 ff.; E. Hölzle, Justus Möser über Staat und Freiheit, in: Aus Politik und Geschichte (Hrsg.), Gedächtnisschrift 237

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am 14. Dezember 1720 in Osnabrück als Sohn des Direktors der dort ansässigen Land- und Justizkanzlei geboren. Nach dem Studium der Rechtswissenschaften in Jena und Göttingen von etwa 1740 bis 1743, arbeitete er in seiner Heimatstadt Osnabrück als Anwalt und wurde 1755/56 zum Syndikus der Ritterschaft ernannt.242 Bereits seit 1747 fungierte er außerdem zugleich als sog. Advocatus Patriae und führte zusammen mit zwei weiteren Anwälten die Rechtsstreitigkeiten der Regierung.243 Als der Landesherr Clemens August 1761 verstarb und der noch minderjährige Sohn des englischen Königs, des Herzogs von York, dessen Nachfolge antrat, übernahm Möser gemeinsam mit zwei Regierungsräten aus dem Adel vormundschaftlich die Ausübung der Regierungsgeschäfte.244 Da die beiden Regierungsräte sich aber kaum für derartige Belange interessierten, oblag Möser die Lenkung der bischöflichen Landesverwaltung de facto allein.245 1768 gelang ihm der Aufstieg zum Regierungsreferendar und später wurde er Geheimer Referendar und Geheimer Justiziar. Trotz alledem vertrat er gleichzeitig weiterhin die Interessen der ständisch organisierten Ritterschaft.246 Zu seinen liebsten Tätigkeiten zählte jedoch zeitlebens, bei aller Leidenschaft für die Jurisprudenz, das Schreiben u. a. für die „Wöchentlichen Osnabrückischen Anzeigen“.247 für Georg von Below, 1928, S. 167 ff.; U. Brünauer, Justus Möser, 1933, S. 46 ff.; Göttsching, Staats- und Geschichtsdenken (Fn. 240), S. 33 ff.; G. Philipp, Art. Möser, Justus, in: A. Erler/E. Kaufmann (Hrsg.), Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte, 1984, Sp. 705 ff. m.w. N.; H. Maier, Justus Möser, in: Jahres- und Tagungsbericht der Görres-Gesellschaft 1985 (1986), S. 67 ff.; J. Schröder, Justus Möser als Jurist. Zur Staats- und Rechtslehre in den Patriotischen Phantasien und in der Osnabrückischen Geschichte, 1986, S. 4 ff.; ders., Justus Möser, in: M. Stolleis (Hrsg.), Staatsdenker in der frühen Neuzeit, 3. Aufl. 1995, S. 294 ff.; K. H. L. Welker, Rechtsgeschichte als Rechtspolitik. Justus Möser als Jurist und Staatsmann, Bd. 1 und 2, 1996; B. Stollberg-Rilinger, Vormünder des Volkes? Konzepte landständischer Repräsentation in der Spätphase des Alten Reiches, 1999, S. 241 ff.; aus der fremdsprachigen Literatur K. Epstein, The Genesis of German Conservatism, Princeton/New Jersey 1966, S. 297 ff.; W. F. Sheldon, The Intellectual Development of Justus Möser: The Growth of a German Patriot, 1970; detailliert zu Mösers Schul- und Studentenzeit P. Schmidt, Studien über Justus Möser als Historiker. Zur Genesis und Struktur der historischen Methode Justus Mösers, 1975, S. 1 ff.; jeweils nur knapp zur Vita Mösers H. Zimmermann, Staat, Recht und Wirtschaft bei Justus Möser. Eine einführende Darstellung, 1933, S. 3 ff.; F. Meinecke, Die Entstehung des Historismus (1936), hrsgg. und eingel. von Carl Hinrichs, 4. Aufl. 1965, S. 303 ff. 242 Göttsching, Staats- und Geschichtsdenken (Fn. 240), S. 33; Schröder, Möser (Fn. 241), S. 294; E.-W. Böckenförde, Die deutsche verfassungsgeschichtliche Forschung im 19. Jahrhundert. Zeitgebundene Fragestellungen und Leitbilder, 1961, S. 23. 243 L. Bäte, Justus Möser. Advocatus patriae, 1961, S. 40; Brünauer, Möser (Fn. 241), S. 54; Schröder, Möser als Jurist (Fn. 241), S. 5. 244 Göttsching, Staats- und Geschichtsdenken (Fn. 240), S. 33 f. 245 Schröder, Möser (Fn. 241), S. 295; ders., Möser als Jurist (Fn. 241) S. 6. 246 Epstein, Genesis (Fn. 241), S. 299, 301 ff. 247 Die erste Ausgabe erschien am 4. Oktober 1766, siehe hierzu ausführlich Bäte, Advocatus patriae (Fn. 243), S. 117 ff. Die insgesamt beachtliche Zahl von 335 Aufsätze, auf die Schröder, Möser als Jurist (Fn. 241), S. 3 kommt, dürfte zudem Beleg für Mösers Freude am Schreiben sein.

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Möser starb am 8. Januar 1794 in Osnabrück. Ihm war schon zu Lebzeiten große Bewunderung und Wertschätzung entgegengebracht worden.248 Die enge Bindung zu seinem Heimatort Osnabrück249, in dem er die meiste Zeit seines Lebens verbrachte und der zu jener Zeit ständisch geprägt war250, schlägt sich sehr deutlich auch in seinen Überlegungen über den Staat nieder, die es im Folgenden näher zu beleuchten gilt. b) Genese und Inhalt der Möserschen „Aktientheorie“ Obwohl Möser nie die Entwicklung einer allgemeinen, universal und zu allen Zeiten geltenden Staatstheorie anstrebte251, war er doch überzeugt davon, „eine ganz neue recht reizende Theorie erfunden“ zu haben, die „alle bisherigen Systeme(n) der Reichs- und Landesgeschichte völlig umstürze (. . .)“ 252. Ganz der naturrechtlichen Tradition entsprechend setzt die Entstehung des Staates in Mö-

248 Kein Geringerer als Johann Wolfgang von Goethe war einer seiner flammendsten Verehrer, siehe Schröder, Möser als Jurist (Fn. 241), S. 2 m.w. N. 249 Statt vieler siehe J. B. Knudsen, Justus Möser and the German Enlightenment, Cambridge 1986, S. 31 f. Letztlich schöpfte Möser viele seiner gedanklichen Schlüsse aus seiner Umgebung, so daß Osnabrück „ihm zum Mikrokosmos der geschichtlichen Welt und des geschichtlichen Menschen überhaupt“ wurde (Meinecke, Entstehung [Fn. 241], S. 319). Meinecke geht sogar so weit, diese „kleinen Verhältniss(e), deren Luft er ständig einatmete“ (ebd., S. 353) für den „subalternen Einfall“ des Vergleichs des Staates mit einer Aktienkompagnie verantwortlich zu machen; siehe zu Meineckes Kritik zudem in und um Fn. 301. 250 Zur ständischen Prägung Osnabrücks siehe u. a. Knudsen, Möser and the German Enlightenment (Fn. 249), S. 154 ff.; Göttsching, Staats- und Geschichtsdenken (Fn. 240), S. 33; Epstein, Genesis (Fn. 241), S. 300. 251 Brünauer, Möser (Fn. 241), S. 8 („[. . .] sie [die Aktientheorie, A. S.] gilt im Grunde nur für das westfälische Agrarland, von dem sie abgezogen ist. [. . .] Sie [. . .] will im Gegenteil nur als heuristisches Mittel die Erläuterung für den bestehenden Staat, die ständisch gestufte Verfassung und ihre durch die Geschichte bewiesene Gültigkeit abgeben“); in diesem Sinne auch Zimmermann, Staat (Fn. 241), S. 9 ff.: „Justus Möser hat als handelnder und als schreibender Staatsmann keine Theorie vom Staate aufgestellt“ (ebd., S. 9). Insofern erweist sich die Wortwahl Göttschings, der hinsichtlich der Bedeutung Mösers und dessen Staats-, Verfassungs- und Geschichtsdenken von „eigene[r] Theoriebildung“ spricht, zumindest als irreführend (Göttsching, Staats- und Geschichtsdenken [Fn. 240], S. 37). Auch wenn Möser selbst von der Erfindung eigener Theorien berichtet, ergibt sich aus dem Kontext, daß diese im Rahmen der Beobachtung der von ihm tatsächlich vorgefundenen sozialen, politischen und gesellschaftlichen Umstände erwachsen und ebenso zur Anwendung auf diese gemünzt sind, mithin keinen Universalitätsanspruch erheben. Gleichwohl ging es Möser im Rahmen seiner Geschichtsschreibung auch, wenn nicht gar zuvörderst, um „Belehrung“, siehe Schmidt, Studien (Fn. 241), S. 116. 252 Siehe den Brief an Clamor Adolph Theodor von dem Bussche-Hünnefeld aus dem Oktober 1763, abgedruckt in: W. F. Sheldon u. a. (Hrsg.), Justus Möser Briefwechsel, 1992, Nr. 278, S. 298 (299) und abgedruckt in: E. Beins/W. Pleister (Hrsg.), Justus Möser Briefe, 1939, Nr. 285., S. 423 (Zitate S. 424 f.).

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sers Theorie einen Vertragsschluß voraus253, genauer einen doppelten: „Ueberall, in allen Ländern, Städten und Dörfern, ist – nach der Erfahrung, und demjenigen, was wir vor Augen haben, zu urtheilen – ein doppelter Socialcontract entstanden: einer, welchen die ersten Eroberer unter sich geschlossen, und ein anderer, den diese ihren Nachgebornen oder spätern Ankömmlingen zugestanden haben.“ 254 Dies ist ihm mit den Naturrechtlern gemein, ihn unterscheidet aber folgende Differenzierung, die hervorzuheben ist: Bei Möser sind es einzig die Landeigentümer, zwischen denen der (Ur-)Vertrag zustande kommt.255 Basis dieser Übereinkunft bilden Freiheit und Gleichheit der Vertragspartner, die in Mösers Vorstellung nur das Grundeigentum zu vermitteln vermag.256 Das Grundeigentum stellt den „Agglomerationskern, von dem aus Möser die Entwicklung zur Staatsbildung aufrollt“ 257 dar. Was die besondere Betonung der Bedeutung des unbeweglichen Eigentums im Vergleich zum beweglichen anbelangt, erweist sich Möser durchaus als Kind seiner Zeit, einer Zeit, in der primär den Landeigentümern die Fähigkeit vernünftiger politischer Entscheidungsfindung zum Wohle der Gesamtnation attestiert wurde, da für sie selbst – gerade wegen ihres Landbesitzes – mehr auf dem Spiel stand als für Bürger ohne eigenes Land. Treffend bringt dies der Eintrag „Land Stand“ im Großen Universallexikon von 1737 auf

253 Schröder, Möser als Jurist (Fn. 241), S. 12; ders., Möser (Fn. 241), S. 296; H.-J. Böhme, Politische Rechte des einzelnen in der Naturrechtslehre des 18. Jahrhunderts und in der Staatstheorie des Frühkonstitutionalismus, 1993, S. 59. Ob die Ansicht, die Mösers Sozialkontrakt als „realistisch“ einstuft (siehe hierzu exemplarisch K. Brandi, Möser und wir. Rede bei der Feier des 150. Todestages in Osnabrück, 1944, S. 16, der eingängig konstatiert, der Sozialkontrakt sei Mösers „[. . .] immer wieder betretener ganz realer Ausgangspunkt“; ähnlich Meinecke, Entstehung [Fn. 241], S. 343, der beobachten will, die Vertragstheorie habe durch die Mösersche Beschränkung auf die Landeigentümer „[. . .] die abstrakte Blässe der gewöhnlichen Vertragstheorie“ verloren und dies insgesamt als großen Schritt hin zu einem historisch-tatsächlichen Verständnis der Entstehung von Staaten interpretiert: „Damit näherte er sich um einen Schritt weiter der rein historischen Auffassung vom Ursprung der Staaten, die ihn auf unzählige, bewußte oder unbewußte Akte einer Willensvereinigung von Menschen und letzten Endes auf den Trieb zur Gemeinschaft zurückführt“, Zitat ebd.) oder a. A., die den Vertrag als „heuristisches Mittel, Fiktionen des Denkens, zur Erklärung und Verdeutlichung wirklicher Vorgänge“ (Zitat bei Brünauer, Möser [Fn. 241], S. 97) verstehen will, überzeugender scheint, kann vor dem Hintergrund der Fragestellung dieser Abhandlung dahinstehen. Siehe differenzierend Schmidt, Studien (Fn. 241), S. 123 f. 254 Siehe J. Möser, Kleinere, den Patriotischen Phantasien verwandte Stücke nebst Schriften über Religion, Kirche und verwandte Gegenstände, in: B. R. Abeken (Hrsg.), Justus Möser, Sämmtliche Werke, Bd. 5, 1843, S. 178. Hierzu erläuternd Schmidt, Studien (Fn. 241), S. 122 ff.; Brünauer, Möser (Fn. 241), S. 6 ff. 255 „Und von einem solchen Staate sage ich, daß er auf das Landeigenthum gegründet sei (. . .)“, siehe Abeken (Hrsg.), Sämmtliche Werke 5 (Fn. 79), S. 198. Zur herausgehobenen Stellung der Landeigentümer siehe auch Schröder, Möser als Jurist (Fn. 241), S. 12 f.; Böhme, Rechte (Fn. 253), S. 59. 256 So Böckenförde, Forschung (Fn. 242), S. 28. 257 Brünauer, Möser (Fn. 241), S. 6.

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den Punkt, wenn dort zum politischen Stimmrecht der Land-Stände ausgeführt wird: „Land-Stand, ist eine Landeseingesässene einzelne Person oder commun, welche mit unbeweglichen Gütern im Lande angesässen, daneben Stimme und Sietz auf denen Land-Tagen hergebracht hat. (. . .) Auf gleiche Maße, wenn einer von Adel gleich im Lande sich aufhält, welcher aber mit Ritter-Gütern und unmittelbaren Lehen nicht versehen ist, so wird derselbe schwerlich der Qualität eines Land-Standes sich anmassen können. Hingegen wenn einer, so nicht von Adel, ein solches Ritter-Gut sich adquiriret, welches dieses Rechts fähig ist, wird er (. . .) sich dieses Rechts mit anzumassen haben. (. . .) Welches denn auch seine vernünfftige Ursache hat, indem diejenige, so selbst ihre Güter im Lande haben, sonder Zweifel eifriger vor das gemeine Beste sorgen, als welche gar nicht possessionirt sind, und also nichts zu verlieren haben.“ 258 Ein ebenfalls „für das Denken der Zeit symptomatisches Bild“ 259 vermittelt das von von Rotteck und Welcker herausgegebene Staatslexikon. Hier fällt die Selbstverständlichkeit, mit der Welcker die Abhängigkeit des politischen Stimmrechts vom Grundeigentum beschreibt, ins Auge: „Nur mit dem freien Landeigenthum oder Wehrgut (Alodium) war als dem ersten auch sein zweites Vollbürgerrecht verknüpft alles politische Stimmrecht, oder das Recht der Theilnahme an der Volksversammlung und dem Volksgericht (. . .).“ 260 Diese Selbstverständlichkeit ist letztlich Ausfluß der für die Zeit charakteristischen Vorstellung einer Gesellschaft der freien Landeigentümer: „Begründung und Handhabung des gesellschaftlichen Rechtsverhältnisses durch die allgemeinen öffentlichen Genossenschafts- oder Friedens- und Gesammtbürgschafts-Vereine aller freien Landbesitzer, welche in den öffentlichen Versammlungen ihre Hintersassen repräsentirten.“ 261 Möser selbst versteht diese Erkenntnis als Ergebnis der Beobachtung und Analyse tatsächlicher historischer Entwicklungsprozesse262: „Die Europäer (. . .) legten eine Landwahre, oder das 258 Siehe J. H. Zedler (Hrsg.), Grosses vollständiges Universal-Lexicon aller Wissenschafften und Künste, Welche bißhero durch menschlichen Verstand und Witz erfunden und verbessert worden, Bd. 16, 1737, Sp. 559 (559). 259 E.-W. Böckenförde, Die Einheit von nationaler und konstitutioneller politischer Bewegung im deutschen Frühliberalismus, in: ders./R. Wahl (Hrsg.), Moderne deutsche Verfassungsgeschichte (1815–1914), 2. Aufl. 1981, S. 27 (30). 260 C. T. Welcker, Art.: Adel, in: K. v. Rotteck/ders. (Hrsg.), Staats-Lexikon oder Encyklopädie der Staatswissenschaften in Verbindung mit vielen der angesehensten Publicisten Deutschlands, Bd. 1, 1834, S. 257 (281 f.), Hervorhebungen i. O., A. S. 261 Siehe C. T. Welcker, Art.: Deutsche Staatsgeschichte, in: K. v. Rotteck/ders. (Hrsg.), Staats-Lexikon oder Encyklopädie der Staatswissenschaften in Verbindung mit vielen der angesehensten Publicisten Deutschlands, Bd. 4, 1837, S. 281 (293), Hervorhebungen i. O., A. S. Diese Selbstverständlichkeit findet ihre Ursprünge schon bei den alten Germanen: siehe hierzu ders., Art.: Alodium, in: Karl von Rotteck/ders. (Hrsg.), Staats-Lexikon oder Encyklopädie der Staatswissenschaften in Verbindung mit vielen der angesehensten Publicisten Deutschlands, Bd. 1, 1834, S. 468 (474 f.). 262 Diese zunächst und vor allem empirisch-analytische Herangehensweise vermag im Falle Mösers nur schwer zu überraschen, denn viele zählen ihn „nach Shaftesbury, Montesquieu und Hume zu den ,Entdeckern der Bedingtheit der historischen Welt‘“

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Eigenthum eines für jeden Staat bestimmten Ackerhofs, Mansus genannt, zum Grunde ihrer Verbindung. Nur der ächte Eigenthümer eines solchen Mansus war Mitglied der Nation, und theilte Gewinn und Verlust mit seinen Genossen. Alle übrige Menschen, welche ohnehin bei der Naturalvertheidigung in die Brüche fielen, zur Zeit, wo man diese Brüche noch nicht mit Hülfe des Geldes ausgleichen konnte, waren entweder Knechte, oder Leute, die auf Contracte wohnten, und keine Stimme zu den Gesetzen und Schlüssen des Staats zu geben hatten.“ 263 Mithin war der aus dem Vorbehalt des Zusammenschlusses ausschließlich der Landeigentümer denknotwendigerweise resultierende „Vorrang der (adligen?) Landeigentümer in den europäischen Staaten zumindest historisch erwiesen“ 264. Möser beläßt es im Folgenden aber nicht bei der empirisch-historischen Begründung des Primats der Landeigentümer265, sondern legt in seiner bekannten, ja gar „berühmten (oder auch berüchtigten)“ 266 „Aktientheorie“ 267 argumentativ nach, indem neben die historische Begründung eine theoretische Konstruktion der Korrespondenz von staatlichen Rechten und Pflichten268, „der Gedanke

(Göttsching, Staats- und Geschichtsdenken [Fn. 240], S. 61). Möser – fest mit Land und Leuten seiner Osnabrücker Heimatstadt und des westfälischen Raumes verbunden – machte die historischen Gegebenheiten, die er tagtäglich vor Augen hatte, zum Ausgangspunkt seiner Überlegungen über Recht und Staatenbildung, er steht mithin fast schon prototypisch für jene Generation von Denkern, die „den Übergang vom vernunftrechtlichen zum geschichtlichen Denken, der das späte 18. Jh. kennzeichnet“, vollzogen (Böckenförde, Forschung [Fn. 242], S. 30). Böckenförde sieht Möser nahezu als eine Art Pionier der deutschen Rechts- und Verfassungsgeschichte, wenn er lobend herausstellt: „Die Hinwendung zur geschichtlichen Welt und zum geschichtlichen Denken, die wir dem 18. Jh. verdanken und aus der die moderne historische Wissenschaft erwachsen ist, hat für den Bereich von Verfassung und Recht in Deutschland als erster Justus Möser vollzogen“ und Möser an anderer Stelle attestiert, er habe „wie wenige wirklich geschichtlich gedacht, in und mit der Geschichte gelebt und sein Bild von ihr auf Befragung der Quellen gegründet“ (ders., Forschung [Fn. 242], S. 23, 41). Ähnlich ders., Einheit (Fn. 257), S. 28. Siehe zur empirischen Herangehensweise Mösers auch Brünauer, Möser (Fn. 241), S. 4 f. (Geschichte als „Medium“, als „Leitfaden, an dem er selbst lernt und an dem er darstellt“ sowie als „Mittel, zum Verständnis der Wirklichkeit zu gelangen“); ganz knapp dazu auch Wehler, Gesellschaftsgeschichte I (Fn. 11), S. 235. 263 Abeken (Hrsg.), Sämmtliche Werke 5 (Fn. 79), S. 191. Siehe auch Böhme, Rechte (Fn. 253), S. 59 f. 264 Schröder, Möser (Fn. 241), S. 297. 265 Auch Möser mußte wohl erkennen, daß die Geschichte zwar eine Erklärung für die Entstehung der zu seiner Zeit tatsächlich vorzufindenden ständischen Ungleichheiten in der Gesellschaft liefern konnte, sie eine Rechtfertigung, eine Art raison d’être, für diese aber nicht bereitzuhalten vermochte, siehe hierzu Schröder, Möser als Jurist (Fn. 241), S. 13. 266 Schröder, Möser als Jurist (Fn. 241), S. 13. 267 Siehe „Der Bauernhof als eine Actie betrachtet“, abgedruckt in: B. R. Abeken (Hrsg.), Justus Möser, Sämmtliche Werke, Bd. 3, 1858, S. 291 ff. 268 Hölzle, Staat (Fn. 241), S. 172 ff.; Schröder, Möser (Fn. 241), S. 297; StollbergRilinger, Vormünder (Fn. 241), S. 242.

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der Proportionalität von Rechten und Pflichten im Staat“ 269 tritt. Bei Möser selbst heißt es zur proportionalen Zuteilung der Rechte im Staat im Verhältnis zu den vom Bürger zu tragenden Lasten: „so ist ein jeder nach dem Verhältniß seines Mansus zu gemeinem Vortheil und Schaden berechtiget und verpflichtet. Er ist ein ganzer, halber oder Viertel-Actionist, nachdem er viel oder wenig Land besitzt“ 270. Seine Theorie ermöglicht ihm schließlich, die historisch bereits erwiesene Vorrangstellung der Landeigentümer auch theoretisch herleiten zu können. An die Stelle des Landeigentums tritt nunmehr die Aktie. Nur die Inhaber der Aktien haben Rechte im Staat, im Gegenzug werden aber auch ausschließlich ihnen die Pflichten im Staat aufgebürdet.271 Entscheidend ist, daß Möser die Proportionalität als Größe für seine Theorie fruchtbar zu machen weiß, denn mit ihr „kehrt er gewissermaßen das Gleichheitsargument gegen die aufklärerische Menschenliebe: anstelle schematischer Gleichheit verlangt er Gleichbehandlung des Gleichen und Ungleichbehandlung des Ungleichen“ 272. Das Land, die Aktie, erweist sich mithin als eine Art Eintrittskarte, um als vollwertiges Mitglied in die Staatsgesellschaft aufgenommen werden zu können.273 Mösers Theorie stellt sich aber keineswegs als ergebnisorientiert im Sinne einer Intention oder gar des Vorsatzes der Privilegierung der Landeigentümer heraus274, im Gegenteil, es erschließt sich ihm als selbstverständlich, Rechte und Pflichten im Staat an das

269 Schröder, Möser als Jurist (Fn. 241), S. 13, Hervorhebung i. O., A. S.; fast wortgleich auch Böhme, Rechte (Fn. 253), S. 60. 270 Zitiert nach Abeken (Hrsg.), Sämmtliche Werke 3 (Fn. 267), S. 296; hierzu Böhme, Rechte (Fn. 253), S. 60. 271 Möser selbst illustriert die Rechtlosigkeit als zwingende Konsequenz der Aktienlosigkeit anschaulich anhand des Beispiels eines Knechtes: „Nimmt man aber nur erst an, daß der Knecht ein Mensch im Staate ohne Actie sei, so zeigt sich die Knechtschaft in einem ganz neuen Lichte; man sieht gleich, warum der Knecht so wenig die Vortheile als die Lasten eines Bürgers habe; (. . .)“, zitiert nach Abeken (Hrsg.), Sämmtliche Werke 3 (Fn. 267), S. 293, Hervorhebungen i. O., A. S. 272 Schröder, Möser als Jurist (Fn. 241), S. 13; aufgegriffen durch Böhme, Rechte (Fn. 253), S. 60. Siehe hier auch die merkliche Parallele zur bekannten Formulierung Gustav Radbruchs: „Die Gerechtigkeit ist eine formale Idee. Sie gibt auf zwei Fragen keine Antwort, setzt sie vielmehr als beantwortet voraus. Sie bedeutet Gleichbehandlung Gleicher, Ungleichbehandlung Ungleicher nach gleichem Maßstab, (. . .)“: G. Radbruch, Vorschule der Rechtsphilosophie (1948), in: A. Kaufmann (Hrsg.), Gustav Radbruch Gesamtausgabe, Bd. III, 1990, S. 121 (143 f.). 273 Brünauer, Möser (Fn. 241), S. 8 f.; Schröder, Möser (Fn. 241), S. 297; Knudsen, Möser and the German Enlightenment (Fn. 249), S. 159. 274 Schröder, Möser (Fn. 241), S. 297 macht unmißverständlich klar, es handle sich bei Mösers Aktientheorie um „mehr als nur eine ad hoc erfundene Konstruktion zur Rechtfertigung der Landeigentümervorrechte“. Ebensowenig dürfe man ihn mit dem Verdikt ein „Verteidiger der bäuerlichen Unfreiheit“ zu sein, belegen, „er weist dem Bauer nur das für ihn gültige Maß an Recht und Ehre zu, indem er seine bestimmte politisch und historisch notwendige Stellung innerhalb des Ganzen erhellt (. . .) und damit allerdings seine politischen Rechte begrenzt“, siehe Brünauer, Möser (Fn. 241), S. 10.

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Landeigentum zu knüpfen. So war schon „in der frühmittelalterlichen Verfassung der Mansus, die Hufe, also ein Bauernhof von bestimmter Größe, das Maß für die Wehr- und Steuerpflicht“ 275. Da in Mösers Kosmos das gesamte staatliche Leben letztlich um das Land kreiste, „wovon allein gedienet (. . .) wurde“ 276, rückt er in den „Mittelpunkt die „freien Landeigentümer“ als die eigentlich tragende Achse des Geschehens“ 277. Die geschichtliche Entwicklung stets im Fokus, muß Möser aber erkennen, daß im Laufe der Zeit in Gestalt des Kapitals eine zweite Beteiligungsform am Unternehmen Staat hinzutritt. Konsequenterweise läßt er im Folgenden eine Erweiterung des Kreises der Staatsangehörigen zu, sofern der Staat auf dieses Kapital angewiesen ist278: Sofern die Landeigentümer von den Geldeigentümern Mittel erbitten müssen, zweitere sich folglich an den staatlichen Lasten beteiligen, indem sie höheren Steuerleistungen zustimmen, werden konsequenterweise auch den Geldeigentümern politische Rechte zuteil: „Sobald ihr [der „zweiten Klasse“, der Gruppe der Geldeigentümer, A. S.] etwas über ihren Contract aufgebürdet werden will, tritt sie als ein freier Stand auf, der so gut das Recht zu bewilligen und zu verweigern hat, als die erste Klasse. Sobald sie mit thaten soll, sagten die Alten, muß sie auch mit rathen; und dies ist der natürliche Ursprung des tiers état.“ 279 Die grundsätzlich bestehende Möglichkeit, Mittellosen als Ausgleich für den von ihnen für den Staat abgeleisteten Wehrdienst, für das Einbringen der „Leibaktie“, politische Rechte zuzugestehen, hat Möser zwar gesehen, aber im Ergebnis abgelehnt.280 Ebenso will er auch seine Systemdurchlässigkeit, also die Möglichkeit der Geldeigentümer in den Kreis der Mitglieder des Staates aufgenommen werden zu können, nicht so verstanden wissen, daß die Geldaktionäre mit den Landaktionären nunmehr auf einer Stufe stehen würden. Spätestens an dieser Stelle tritt deutlich zutage, daß die Vorstellung eines Gleichlaufs staatlicher Rechte und Pflichten von Möser nicht konsequent durchgehalten wird. Ursächlich für diese vermeintliche Inkonsistenz ist die bereits geschilderte Vorgehensweise Mösers, der sich an den tatsächlichen staatlichen Verhältnissen orientiert und versucht, deren Ent-

275 Schröder, Möser (Fn. 241), S. 297; ders., Möser als Jurist (Fn. 241), S. 13; sehr ähnlich auch bei Böhme, Rechte (Fn. 253), S. 60. 276 Abeken (Hrsg.), Sämmtliche Werke 3 (Fn. 267), S. 294. 277 Böckenförde, Forschung (Fn. 242), S. 34. 278 Schröder, Möser als Jurist (Fn. 241), S. 14; Böhme, Rechte (Fn. 253), S. 60 f. 279 Abeken (Hrsg.), Sämmtliche Werke 5 (Fn. 79), S. 189 und zur Erweiterung des Kreises der Staatsangehörogen auch J. Möser, Wann und wie mag eine Nation ihre Konstitution verändern? (1791), in: K. Brandi (Hrsg.), Justus Möser Gesellschaft und Staat. Eine Auswahl aus seinen Schriften, 1921, S. 237 (239); dazu Böhme, Rechte (Fn. 253), S. 61. 280 Siehe „Der Bauerhof als eine Aktie betrachtet“, abgedruckt in: L. Schirmeyer/ W. Kohlschmidt (Hrsg.): Justus Mösers Sämtliche Werke. Historisch-kritische Ausgabe in 14 Bänden, Bd. 6: Patriotische Phantasien III, 1954, S. 255 (258): nur bei nicht landbesitzenden Völkern „ist der Leib die Aktie“.

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stehung zu hinterfragen. Der Staat, den Möser vorfand, war ständisch geprägt und eben nicht vom Gedanken der Gleichheit aller Bürger, sondern von der Grundannahme standesbedingter Privilegien durchzogen.281 Da der erste Vertrag, der (Ur)-Vertrag, nur zwischen den Landeigentümern besteht, sind die Geldeigentümer an die von den Landeigentümern im (Ur)-Vertrag ausgehandelten Konditionen gebunden, können ihnen niemals originäre, sondern immer nur abgeleitete Rechte zuteil werden282, denn, so Möser selbst, „es würde vielmehr die offenbarste Erschleichung sein, wenn die letztern, oder die Minderberechtigten, ein Menschenrecht aufstellen, durch ihre Mehrheit die bisherige Constitution aufheben, und sich, als gleichen Menschen, mit den erstern gleiche Rechte beilegen wollten“ 283. An anderer Stelle macht Möser unmißverständlich klar, daß den NichtLandaktionären nur mittelbar-abgeleitete Rechte zukommen; ihre Rechtstellung sei letztlich abhängig vom Wohlwollen der Landaktionäre: „Meiner Meinung nach ließen sich die Menschen in jedem Lande in zwei Hauptklassen theilen, wovon die eine das Land zuerst in Besitz genommen, und die andre das ihrige von jener in Zeit- oder Erbpacht erhalten hätte. (. . .) Die letzte Klasse könne und müsse sich mit ihrem Contracte begnügen, welchen sie von der ersten erhalten habe; und die erste habe, kraft des von ihr zuerst ergriffenen Besitzes und des dadurch erlangten Eigenthums des Landes, ein Recht, alle spätern Ankömmlinge davon auszuschließen, oder diesen die Bedingungen vorzuschreiben, worunter sie solches von ihr zu nehmen hätten.“ 284 Möser ist trotz des Zugeständnisses an die Geldeigentümer, zu eigenen Rechten im Staat zu kommen, sehr stark von der Vorstellung der ständischen Gliederung der Gesellschaft, wie er sie in seiner Heimat- und Wirkungsstätte Osnabrück damals vorfand285, geprägt. Der Platz an der Spitze der ständischen Ordnung, die er als gegeben voraussetzt286, ist natürlich den Landeigentümern vorbehalten, alle anderen Bevölkerungsgruppen sind für

281 Schröder bemerkt, daß bei Möser das Prinzip der Interdependenz der Rechte und Pflichten letztlich vor der von ihm erlebten, historisch gewachsenen Staatlichkeit kapitulieren muß: „Der Gedanke der Entsprechung von Rechten und Pflichten im Staat findet seine Grenze an den historisch begründeten besseren Rechten der Landeigentümer. (. . .) Daß die zweite Klasse als ein ,freier Stand‘ auftritt, heißt also nur soviel, daß sie eigene Rechte im Staat, nicht aber, daß sie die gleichen Rechte wie die Landeigentümer hat. (. . .) Insoweit setzt sich bei Möser also doch die historische gegen die rationale Begründung der ständischen Vorrechte durch“, siehe Schröder, Möser (Fn. 241), S. 297 f., Hervorhebung i. O., A. S. 282 Schröder, Möser als Jurist (Fn. 241), S. 16 f.; Knudsen, Möser and the German Enlightenment (Fn. 249), S. 169; Böhme, Rechte (Fn. 253), S. 61. 283 Abeken (Hrsg.), Sämmtliche Werke 5 (Fn. 79), S. 178. 284 Ebda., S. 182. 285 Siehe hierzu die Nachweise in und um Fn. 250. 286 Knudsen, Möser and the German Enlightenment (Fn. 249), S. 155; konsequenterweise plädiert er auch für eine ständische Verfassung, siehe J. Schlumbohm, Freiheit. Die Anfänge der bürgerlichen Emanzipationsbewegung in Deutschland im Spiegel ihres Leitwortes (ca. 1760–ca. 1800), 1975, S. 136.

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Möser von nachrangiger Bedeutung: „Der erste Stand ist der Landeigentümer. Der zweite der Eigentümer bürgerlicher Häuser und Gründe. Der dritte ist der Stand der Erbbauern und der vierte aller Untertanen, die keine Grundeigentümer sind, auch kein Erbrecht an Gründen haben.“ 287 Adel und Landeigentum bedingen sich mithin gegenseitig.288 Er wird nicht müde zu betonen, die „Grundlage jedes ständischen Bewilligungsrechts sei aber nach wie vor, trotz aller „Verwirrung und Verdunkelung“ zuerst durch das Lehnswesen und später durch die Geldwirtschaft, das Recht aus dem Landeigentum (. . .)“ 289 begründet. Der Fluchtpunkt seiner Lehre ist und bleibt das Landeigentum. Dazu in aller Deutlichkeit: „Doch (. . .) Gewerbe und Handlung sind flüchtige Güter, die von einer Nation zur andern ziehen. (. . .) Wie viel dauerhafter ist dagegen ein Staat, dessen Wohl sich auf den Ackerbau gründet, (. . .).“ 290 Deshalb auch seine Forderung, die „Landesrepräsentation“ solle zu einer „jedem ächten Eigenthümer einer Landactie offne Versammlung verwandelt werden (. . .)“ 291. In merklicher Abgrenzung zu den überkommenen Vorstellungen von der ständischen Gliederung der Gesellschaft erteilt Möser aber rein geburtsbedingten Privilegien eine deutliche Absage; konstitutives Merkmal für die Zugehörigkeit zum ersten Stand ist das Landeigentum als meßbarer Indikator für die Leistungsfähigkeit im und gegenüber dem Staat.292 Den Gedanken, die Zuteilung der Rechte im Staat von der Fähigkeit der Bürger abhängig zu machen, ihren Pflichten gegenüber dem Staat nachzukommen, radikal zu Ende gedacht, lehnt Möser die Existenz von vorstaatlichen, unveräußerlichen Menschenrechten kategorisch ab.293 287 Siehe B. Den Patriotischen Phantasien verwandte Handschriften, Sachgruppe: Staat, Nr. 102. Gesetze müssen für Stände gemacht werden, abgedruckt in: L. Schirmeyer/E. Crusius (Hrsg.), Justus Mösers Sämtliche Werke. Historisch-kritische Ausgabe in 14 Bänden, Bd. 9, 1958, S. 344 (344 f.). 288 Böhme, Rechte (Fn. 253), S. 61. 289 Stollberg-Rilinger, Vormünder (Fn. 241), S. 245. 290 J. Möser, „Was muß die erste Sorge zur Bereicherung eines Landes sein?“, abgedruckt in: B. R. Abeken (Hrsg.), Justus Möser, Sämmtliche Werke, Bd. 2, 1842, S. 131 (138 f.). 291 Siehe „Ueber die Adelsprobe in Deutschland“, abgedruckt in: B. R. Abeken (Hrsg.), Justus Möser, Sämmtliche Werke, Bd. 4, 1858, S. 257 (271). 292 Abeken (Hrsg.), Sämmtliche Werke 4 (Fn. 290), S. 271; zur Möserschen Forderung, nicht allen adelig Geborenen politische Rechte zuzusprechen und den von ihm entwickelten Kriterien, siehe „Warum bildet sich der deutsche Adel nicht nach dem englischen?“, abgedruckt in: Abeken (Hrsg.), Sämmtliche Werke 4 (Fn. 290), S. 239 ff. und Schröder, Möser (Fn. 241), S. 298 f. 293 Hierzu erläuternd Brünauer, Möser (Fn. 241), S. 11; Stollberg-Rilinger, Vormünder (Fn. 241), S. 242; G. K. Schmelzeisen, Justus Mösers Aktientheorie als rechtsgedankliches Gefüge, in: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte. Germanistische Abteilung, Band 97 (1980), S. 254 (261 ff.). Auch diese Ansicht Mösers läßt sich in ihrem Kern wieder auf das alte germanische Verständnis der Freiheit als einer Art „Gegenbild zum allgemeinen Menschenrecht“ zurückführen (siehe hierzu Böckenförde, Einheit [Fn. 259], S. 31).

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Dies läßt wiederum nicht den zu kurz greifenden Umkehrschluß zu, daß alle Menschen dem Staat völlig schutzlos ausgeliefert sind, aber „Rechte im „Staat“ kann bei ihm nur derjenige haben, der an einem der Vertragsschlüsse beteiligt ist bzw. in diesem Rahmen eine „Aktie“ erworben hat.294 Als Aktionär schützt er seine Freiheitssphäre durch die genossenschaftliche politische Mitwirkung, also durch die „vollkommenen politischen Rechte am Staat, nicht durch Freiheitsrechte gegen den Staat. Die wahre Freiheit ist die politische Freiheit des Genossen“ 295. Die Negation des Bestehens unveräußerlicher vorstaatlicher Freiheitsrechte stellt nichts anderes als die zwingende Konsequenz seiner Vorstellung von Freiheit dar, denn unter dieser versteht Möser gerade nicht den Zustand vollkommener Pflichtenlosigkeit oder das Freisein von staatlicher Einmischung und Bevormundung, sondern „die vollkommene Rechtsfähigkeit oder Rechtsgenossenschaft“ 296. Wahre Freiheit setzt für Möser die Existenz eines Staates voraus, in den sich der Bürger einzubringen vermag, so daß sich die Frage nach subjektiven Rechten gegen den Staat für ihn gar nicht stellt.297 Dabei geht Möser ganz selbstverständlich davon aus, daß vorstaatliche Rechte, ihr Bestehen einmal ganz grundsätzlich vorausgesetzt, (zumindest teilweise) frei veräußerlich sind: „Es ist unbegreiflich, wie Verschiedene die Richtigkeit der Theorie, daß freie Eigenthümer bei ihrer Verbindung einen gewissen Theil ihrer Freiheit und ihres Eigenthums aufopfern, in Zweifel ziehen können. Eine ausdrückliche Verbindung ist darüber wohl nie gemacht; sie fließt aber allemal aus der Natur der Sache und giebt den sichersten Grundsatz.“ 298 Letztlich läßt sich diese vehemente Ablehnung von Menschenrechten im Kern auf Mösers Menschenbild zurückführen, das gerade nicht von der Vorstellung egalitärer Gleichheit aller Menschen, sondern vom Ehrgedanken innerhalb der ständischen Ordnung durchdrungen ist299: „Aber 294

Möser illustriert die Rechtlosigkeit der Nicht-Aktionäre anhand des Beispieles eines Knechtes; siehe hierzu bereits Fn. 271. 295 Schröder, Möser (Fn. 241), S. 302; sehr ähnlich ders., Möser als Jurist (Fn. 241), S. 27. 296 F. C. v. Savigny, Geschichte des römischen Rechts im Mittelalter, Bd. I, 2. Aufl. 1834, S. 191. Savigny führt zur Definition von Freiheit erläuternd aus: „Das Wesen dieses Standes [des Standes der Freien, A. S.] aber besteht nicht etwa in dem, was wir unter persönlicher Freyheit zu denken gewohnt sind, nämlich Unabhängigkeit im Gegensatz der Sklaverey, als welches ein blos negativer Begriff ist. Vielmehr ist es etwas positives, was jenen Stand begründet, (. . .)“, ebd. 297 Zimmermann, Staat (Fn. 241), S. 61 f. Knapper Hinweis bei Schröder, Möser als Jurist (Fn. 241), S. 27. 298 Siehe „Kurze Geschichte der Bauerhöfe“, zitiert nach: B. R. Abeken (Hrsg.), Justus Möser, Sämmtliche Werke, Bd. 1, 1842, S. 403 (403, Anmerkung **). 299 Siehe „Schreiben eines Ehrenmitgliedes des löblichen Schneideramts über das neulich zu Stande gekommene Reichsgutachten“, abgedruckt in: Abeken (Hrsg.), Sämmtliche Werke 2 (Fn. 290), S. 159 (163). Möser ist zweifelsohne als „anti-egalitär“ einzustufen, mithin „führt der Standesvorrang der Landeigentümer (. . .) nicht zu einer Einebnung der altständischen Ordnung“, siehe Schröder, Möser als Jurist (Fn. 241), S. 11, 16, 20. So auch Böhme, Rechte (Fn. 253), S. 61, 64.

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wenn Könige und Bettler vor dem Throne Gottes einerlei Staub sind (. . .), so gilt doch von demjenigen, was vor dem Throne des allmächtigen Schöpfers vorgeht, kein Schluß auf unser Gildehaus.“ Seine Staatstheorie ist „keinesfalls als Modell einer modernen staatsbürgerlichen Gesellschaft mißzuverstehen“, sondern vielmehr als „eine von Modernisierungsskepsis getragene, in die Vorzeit projizierte Idealisierung des bäuerlichen Hofinhabers und Dorfgenossen seiner westfälischen Umgebung, dessen Bild mit dem klassischen Ideal des politisch vollberechtigten, ökonomisch unabhängigen, persönlich autonomen, wehrfähigen Bürgers verschmolz“ 300. Alles in allem führt er in seiner Theorie, in der das Landeigentum der einzige Bezugspunkt der Verteilung politischer Beteiligungsrechte ist, die Argumente der Aktientheorie, d.h. die Vorstellung vom Grundbesitz als besonderem Band zwischen Bürger und Staat, und die der Korrespondenztheorie, die vom Prinzip des Gleichlaufs der Rechte und Pflichten im Staat ausgeht, zusammen. c) Rezeption, Kritik und Weiterentwicklung der „Aktientheorie“ durch Öffnung des Systems zugunsten des Kapitaleigentums Auch wenn Mösers Aktientheorie des Öfteren auf geradezu vernichtende Kritik gestoßen ist301, so ist Schröder in seinem Befund beizupflichten, die Aktientheorie enthalte den „durchaus diskussionswürdigen Gedanken, daß sich Rechte und Pflichten im Staat entsprechen sollen“ 302. Zudem hat sie sich rückblickend 300 Beide Zitate bei Stollberg-Rilinger, Vormünder (Fn. 241), S. 248 m.w. N. zu ihrer Einschätzung in Fn. 61. 301 Epstein, Genesis (Fn. 241), S. 320 spricht von „unfortunate analogy between the state and a joint-stock company“; an anderer Stelle fällt sein Urteil nicht minder hart aus, denn es gehe Möser mit seiner Aktientheorie, so Epstein, schlicht um die Rechtfertigung des bestehenden hierarchischen Ständestaates („[. . .] a rather crude justification of the existing hierarchic Ständestaat“, ebd., S. 336 f., Hervorhebung i. O., A. S.). Epstein bemängelt, Mösers Theorie gehe es letztlich schlicht darum, die Herrschaft des (Grund-)Eigentums zu etablieren, indem Staatsbürgerschaft auf dem Eigentum begründet und staatsbürgerliche Rechte und Pflichten ins richtige Verhältnis zum vorhandenen Eigentum gebracht würden: „The important point was to keep the unpropertied inhabitants ,in their place‘, and to maintain the two principles that citizenship must be based upon property and that the rights and duties of citizenship should be proportionate to the amount of property owned“, ebd., S. 321; auch Meinecke, Entstehung (Fn. 241), S. 345 f. kritisiert scharf, Möser habe zwar zugeben müssen, „daß die Entwicklung im deutschen Territorialstaate den besitzlosen Menschen an und in den Staat hineinführe“, diese habe er aber nicht akzeptieren können, im Gegenteil er „verhärtete sich im Angesicht der Französischen Revolution erst recht in seiner Theorie, daß nur der solide Land- und Geldaktionär befugt sei, Veränderungen in der Staatskompagnie vorzunehmen“. Alles in allem hält Meinecke Mösers Aktientheorie für einen „subalternen Einfall“ (S. 353); zur Kritik an der Möserschen Aktientheorie auch Schmelzeisen, Aktientheorie (Fn. 293), S. 271 f. Insgesamt zu ihrer sehr umstrittenen Interpretation und Bewertung siehe Schröder, Möser als Jurist (Fn. 241), S. 9 m.v. w. N. 302 Schröder, Möser (Fn. 241), S. 306. Schröder stuft die Aktientheorie zusammen mit der „Idee der ständisch-genossenschaftlichen Autonomie und Demokratie“ als die „originellsten Bestandteile von Mösers Staatsdenken“ ein (S. 305).

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betrachtet als durchaus anschlußfähig erwiesen303, ist des Öfteren reaktiviert worden und erlebte so die ein oder andere Renaissance304. Wie wir bereits gesehen haben, greift Sieyes bereits zu Lebzeiten Mösers in den Debatten der verfassunggebenden Nationalversammlung305 die Aktientheorie auf. Allein die Steuer zahlenden Bürger sind seiner Theorie gemäß Aktionäre des Unternehmens Gesellschaft; allein ihnen sollen als Aktivbürgern politische Rechte im Staat zuteil werden. Die Rezeption beschränkt sich aber keineswegs auf Frankreich, in Deutschland begegnet uns die Aktientheorie bereits 1796 erneut. aa) Rezeption durch Ludwig Timotheus Freiherr von Spittler Ludwig Timotheus Freiherr von Spittler (1752–1810)306, Historiker, nimmt in seinen „Vorlesungen über Politik“ 307 eine Unterscheidung zwischen zwei Typen von Verfassungen vor, den „Societäts-Quoten“ und den „Repräsentativverfassungen“, die sich aus der jeweiligen Beteiligungsform des Volkes an der staatlichen Willensbildung ergibt308: „Entweder nämlich haben alle Mitglieder an der

303 Böckenförde, Forschung (Fn. 242), S. 37 f. warnt vor dem kurzsichtigen Fehlschluß, in der Zuteilung politischer Rechte ausschließlich an Grundeigentümer „eine sachliche Gemeinsamkeit mit dem späteren Zensuswahlrecht und der liberalen Formel „Bildung und Besitz“ zu sehen“. Natürlich ist ihm dahingehend Recht zu geben, daß der Mösersche Ansatz auf der Theorieebene wohl eine Stufe niedriger ansetzt als z. B. die Argumentationsmuster vieler liberaler Zensusbefürworter des deutschen Vormärz. Bei Möser geht es schlicht um die Interdependenz von Rechten und Pflichten im Staat. Als einzige Form der Erbringung eines Beitrags lässt er das Landeigentum gelten, was aber letztlich seiner geschilderten Arbeitsweise der Ableitung staatstheoretischer Ergebnisse aus tatsächlichen Gegebenheiten geschuldet ist. Für viele Anhänger des Zensusgedankens ist das Landeigentum Indikator für die Einsicht in politische Belange; das Landeigentum als konkrete Größe ermöglicht es ihnen, politische Urteilsfähigkeit meßbar zu machen, so daß diese sich wiederum der Möserschen Aktientheorie bedienen konnten, ohne daß Möser selbst Verfechter der zensitären Idee gewesen wäre. Siehe hierzu auch F. Schnabel, Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert, Bd. I, 4. Aufl. 1948, S. 190; Hölzle, Staat (Fn. 241), S. 172. Auch Böckenförde räumt aber ein, daß es einen andere Frage sei, „inwieweit durch die Umprägung der Begriffsinhalte bei Beibehaltung der sprachlichen Formeln, die sich zum 19. Jh. hin vollzieht, eine formale Kontinuität geschaffen worden ist“, ebd., S. 38 mit Fn. 71. 304 Vergleiche insgesamt zur Renaissance der Aktientheorie Schröder, Möser (Fn. 241), S. 306 f. 305 Siehe dazu bereits S. 51 ff. 306 Siehe H. Christern, Deutscher Ständestaat und englischer Parlamentarismus am Ende des 18. Jahrhunderts, 1939, S. 117 ff.; J. Grolle, Landesgeschichte in der Zeit der deutschen Spätaufklärung. Ludwig Timotheus Spittler (1752–1810), 1963; P. H. Reill, Ludwig Timotheus Spittler, in: H.-U. Wehler (Hrsg.), Deutsche Historiker, Bd. IX, 1982, S. 42 ff.; Stollberg-Rilinger, Vormünder (Fn. 241), S. 275 ff. 307 L. T. v. Spittler, Vorlesungen über Politik (1796), in: K. Wächter (Hrsg.), Sämmtliche Werke, Bd. XV, 1837. 308 Siehe hierzu und zum Folgenden Stollberg-Rilinger, Vormünder (Fn. 241), S. 279 f.

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Bestimmung der Art und Weise der Erreichung des Staatszwecks verhältnißmäßigen Antheil, oder sie wählen Andere, denen diese Bestimmung statt ihrer zusteht.“ 309 Zur Ermittlung der Quoten des erstgenannten Verfassungstypus bedient sich von Spittler des Vokabulars der Aktientheorie: „Alle Glieder der Vereinigung schießen ihre geistigen und physischen Kräfte zusammen, um dadurch die Sicherheit ihrer Zwangsrechte (den Staatszweck) gleichsam von dem Schicksal zu erhandeln; jeder hat also eine Aktie in der Gesellschaft. Es fragt sich nun: wie werden die gesellschaftlichen Quoten berechnet?“ 310 Die Demokratie zeichne sich gerade dadurch aus, daß jedem Aktieninhaber der exakt gleiche Anteil am Staat zuteil werde311, wohingegen in der Aristokratie dieser von Qualität und Quantität der Aktie abhängig sei, die sich wiederum aus dem Interesse des jeweiligen Aktieninhabers an Sicherung und Entwicklung des Staates ergeben würden. Dieses Interesse sei in der Regel hauptsächlich bei den Eigentümern größerer Ländereien zu verorten, wodurch die gesetzgebende Gewalt regelmäßig bei eben jenen Corps der großen Grundeigentümer läge.312 Auch in einer Monarchie sei die alleinige Gesetzgebungskompetenz des Monarchen letztlich auf dessen Gesellschaftsaktie rückführbar.313 Einerseits hält von Spittler das Eigentum im Gegensatz zu geistigen Qualitäten für den einzig tauglichen Maßstab der Berechnung anteilsmäßiger Beteiligungsrechte im Staat314, andererseits steht er der Möserschen Aktientheorie und der damit einhergehenden Privilegierung der Landeigentümer aus zwei Gründen auch nicht kritiklos gegenüber: Erstens ermögliche die Theorie bei wachsender Bedeutung des „mobilen Reichtums“ nicht dessen angemessene Berücksichtigung im Verhältnis zum Grundeigentum. Zweitens sieht er die Gefahr einer Monopolisierung der politischen Teilhaberechte durch die größeren Landeigentümer, die sich nicht selten vor den öffentlichen Lasten drückten und so ihrer Verantwortung gegenüber der Gesellschaft nicht gerecht würden.315 Alles in allem „verallgemeinerte und rationalisierte“ von Spittler die Mösersche Aktientheorie, dies aber „nicht, um die herrschaftsständische Vergangenheit als allein rechtmäßige zu zementieren, sondern um deren grundsätzliche Unangemessenheit unter gewandelten wirtschaftlichen und sozialen Umständen bloßzulegen“ 316.

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Spittler, Vorlesungen (Fn. 307), S. 51. Spittler, Vorlesungen (Fn. 307), S. 51. 311 Spittler, Vorlesungen (Fn. 307), S. 51. Siehe hierzu und zum Folgenden StollbergRilinger, Vormünder (Fn. 241), S. 279 f. 312 Spittler, Vorlesungen (Fn. 307), S. 75 ff. 313 Spittler, Vorlesungen (Fn. 307), S. 91. 314 Von Spittler geht von der gänzlichen Untauglichkeit geistiger Qualitäten als Bemessungsgrundlage für die anteilsmäßige Zuteilung politischer Partizipationsrechte aus, siehe ders., Vorlesungen (Fn. 307), S. 79 ff. 315 Spittler, Vorlesungen (Fn. 307), S. 81 ff. 316 Stollberg-Rilinger, Vormünder (Fn. 241), S. 280 f. 310

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bb) Rezeption durch Franz Hermann Hegewisch Franz Hermann Hegewisch (1783–1865)317, eigentlich Mediziner, aber durch Aufenthalte u. a. in Frankreich und England 1806 mit der jeweiligen dortigen Verfassungswirklichkeit vertraut318 und als Mitherausgeber der Kieler Blätter auch grundsätzlich an verfassungs- und staatsrechtlichen Fragen interessiert, greift Mösers Aktientheorie erneut auf. Maßgeblich geprägt durch die englische Verfassungspraxis, liegt Hegewischs staatstheoretischen Überlegungen „die angelsächsischer Tradition entlehnte Vorstellung zugrunde, daß die politische Kommunität sich durch den Zusammenschluß der (Grund)eigentümer konstituiert habe“ 319. Anders als andere Denker seiner Zeit, die die Vorrangstellung der Grundeigentümer im Staat mit der Behauptung, daß „der Reiche eher als der unbemittelte großer und allgemeiner Ideen empfänglich ist“ 320, zu rechtfertigen suchen, argumentiert Hegewisch mit deren finanzieller Unabhängigkeit. Allein die Grundeigentümer seien wegen ihrer daraus resultierenden Unbestechlichkeit in ihren politischen Entscheidungen ausschließlich am Wohle der Gesamtnation orientiert und müßten daher die Repräsentativkörperschaft formen: „Ein Rath von Männern, welche Kenntniß des Landes, Verstand, guten und festen Willen und Unabhängigkeit haben, welche also wahrscheinlicherweise die Wahrheit sagen können, wollen und werden, das ist es, was unter dem Namen Ständischer Verfassung (. . .) alle durch Unglück und Kampf bewegte Völker Europas wünschen (. . .)“, von „Eigenthumslose[n]“ sei hingegen „Sorge fürs Allgemeine weniger zu erwarten, als dringender Eigennutz und leichtfertige Bestechlichkeit“ 321. An anderer Stelle nimmt Hegewisch ganz explizit Bezug auf die Mösersche Aktientheorie, denn hier blitzt der Gedanke des Gleichlaufs von Rechten und Pflichten im Staat erneut auf. Da die Grundeigentümer über die eingebrachte Vermögenseinlage Anteil am Staat erhalten, mit anderen Worten Aktionäre des 317 Zu den wichtigsten Stationen in Hegewischs Leben siehe R. Postel, Hegewisch Franz Hermann (Ps. Franz Baltisch), in: H.-F. Rothert (Hrsg.), Kieler Lebensläufe aus sechs Jahrhunderten, 2006, S. 133 ff.; knapper Rekurs auf Hegewisch bei Smend, Maßstäbe (Fn. 1), S. 21 f. m. Fn. 5, der exemplarisch auf die Verwendung des Begriffes des Staatsaktionärs bei eben jenem und zudem bei von Rotteck verweist, über die Mösersche Aktientheorie jedoch kein Wort verliert. 318 Diese Aufenthalte sollten sich als maßgeblich prägend für seine gesamte politische Grundeinstellung erweisen: „H. lehnte Glanz und Willkür Napoleons ab und fühlte sich zeitlebens zum englischen Konstitutionalismus hingezogen“, siehe Postel, Hegewisch (Fn. 317), S. 133. 319 Brandt, Repräsentation (Fn. 131), S. 183. 320 K. F. A. P. v. Dalwigk, Über Volksrepräsentation und die künftige landständische Verfassung in Deutschland, 1814, S. 22. 321 F. H. Hegewisch, Repräsentation des Bauernstandes, in: Kieler Blätter 1 (1815), S. 99 (106, 109 f., Hervorhebung i. O., A. S.). Siehe hierzu knapp P. M. Ehrle, Volksvertretung im Vormärz. Studien zur Zusammensetzung, Wahl und Funktion der deutschen Landtage im Spannungsfeld zwischen monarchischem Prinzip und ständischer Repräsentation, 1979, S. 704.

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großen Unternehmens werden, dürfen sie im Gegenzug Einfluß auf die politischen Belange nehmen: „Daß die Repräsentation im Verhältnis stehn müsse zum Eigenthum, folgt nothwendig aus der Ansicht, welche wahrscheinlich die richtigste ist und die Mitglieder des Staats je nach ihrem Eigenthum als Actionairs betrachtet.“ 322 cc) Rezeption durch Karl von Rotteck Auch der Staatswissenschaftler Karl von Rotteck (1775–1840)323 nimmt gut zehn Jahre später erneut Rückgriff auf die Aktientheorie. Allerdings präsentiert sich die Theorie hier in einem etwas anderen Gewand. Im Gegensatz zu Hegewisch sieht von Rotteck nicht ausschließlich die Grundeigentümer in der Rolle der Aktionäre, sondern recht allgemein formuliert „die Reicheren“. Während der Beitragsgedanke bleibt, verschwindet das Argument der Unbestechlichkeit der Besitzenden als zentrales Argument für ihre Privilegierung im Staat, dafür wird der schon bei Hegewisch weichenstellende Ansatz, die Eigentümer verfügten über bessere Einsicht in staatliche Belange dahingehend weitergesponnen, die Reicheren wiesen ein größeres Interesse an der staatlichen Prosperität auf: „Denn im Staat wie in andern Gesellschaften richtet sich naturgemäß das Stimmrecht oder das Gewicht der Stimme nach dem Maß der Beiträge der Mitglieder in die gemeine Kasse. Die Reicheren nun sind nicht nur beim Gedeihen des Staates mehr interessiert, als die Armen, sondern sie tragen auch aus dem Ihrigen ein Mehreres dazu bei. Billig verlangen sie daher – wie etwa die größeren Aktionärs in Privatgesellschaften – ein vorzügliches Recht der Stimmgebung (. . .).“ 324 Knapp dreißig Jahre später ist von Rotteck zwar nach wie vor Befürworter des Zensus in Bezug auf das aktive Wahlrecht, „sofern derselbe mäßig und seinen Zweck, nämlich die Selbständigkeit der Wähler zu verbürgen, nicht überschreitend ist“ 325, muß seinen Standpunkt zur Aktientheorie aber revidieren, da er er-

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Hegewisch, Repräsentation (Fn. 321), S. 110, Anm. Siehe zu dessen Vita statt vieler M. Friedrich, Art.: Rotteck, Karl Wenceslaus v. Rodeckher, in: H. G. Hockerts (Hrsg.), Neue deutsche Biographie, Bd. 22, 2005; H. Kopf, Karl von Rotteck – Zwischen Revolution und Restauration, 1980, S. 14 ff. 324 Aretin/Rotteck, Staatsrecht (Fn. 42), S. 173; dazu knapp Smend, Maßstäbe (Fn. 1), S. 22 m. Fn. 5; Böhme, Rechte (Fn. 253), S. 87 f. m. Fn. 92, 94; der Gedanke einer verhältnismäßigen politischen Besserstellung der Bürger, die mehr Steuern an den Staat entrichten, blitzt ebenfalls bei E. G. G. v. Bülow-Cummerow, Die Wahlen nach der octroyirten Verfassung, 1848, S. 19 Anm. sowie bei K. Hagen, Von dem Grundeigenthum in Bezug auf den Staat und die Volksvertretung, in: Neue Jahrbücher der Geschichte und Politik. Begründet von K. H. L. Pölitz und F. Bülau, 1848, 2. Halbband, S. 1 (18: „In jeder Beziehung bestimmt daher der Steuerbetrag jedes Staatsmitgliedes den Grad seiner Theilnahme an der Repräsentation [. . .]“) auf. 325 K. v. Rotteck, Art. Aristokratie, in: C. Welcker (Hrsg.), Das Staats-Lexikon. Encyklopädie der sämmtlichen Staatswissenschaften für alle Stände, Bd. 1, 3. Aufl. 1856, S. 674 (681). 323

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kennt, daß eine Gewichtung der Wählerstimmen im Verhältnis zu deren jeweiligem Reichtum, der in die Gesellschaft eingebracht wird, sich als bei weitem zu einseitig erweist. Die Aktientheorie übersieht gänzlich, daß ein Beitrag ja nicht ausschließlich in Form von Eigentum eingebracht werden kann, sondern daß alle Bürger – unabhängig von ihrem Besitzstand – ja letztlich zumindest in der Lage sind, sich selbst und ihre persönlichen Fähigkeiten in das große Unternehmen Staat einzubringen. Gegen eine durch die Aktientheorie legitimierte „Prärogative für den Reichtum“ spreche vor allem, „daß der Bürger nicht nur mit seinem Besitzthum, sondern auch mit seiner Person und seinen persönlichen Kräften, die da seine juristisch erscheinende Verschiedenheit darbieten, mithin im Allgemeinen als gleich zu betrachten sind, in den Staat eintritt, daß also in dieser Beziehung Jeder eine und dieselbe Actie besitzt (. . .)“ 326. Nicht die Aktientheorie, aber die ihr innewohnende Idee der Interdependenz von Rechten und Pflichten im Staat entflammt erneut 1848/49 im Rahmen der Wahlrechtsdiskussion der Paulskirche. Hier wird die Argumentation allerdings völlig gegensätzlich zur Intention der Aktientheorie nutzbar gemacht, um mit dem Hinweis auf die von ausnahmslos allen Bürgern entrichteten indirekten Steuern, die allgemeine Wehrpflicht oder die von allen Bürgern erbrachte Arbeitsleistung327 die Gleichheit politischer Rechte zu etablieren. Gerade die Interpretationsoffenheit und Vagheit des Begriffs der Aktie ermöglichte einerseits zwar die Inanspruchnahme der Theorie zu den unterschiedlichsten Zeiten und für die noch so konfligierenden politischen Zielsetzungen (zensitäres Wahlrecht auf der einen – Einführung gleicher politischer Positionen auf der anderen Seite), stellt sich andererseits aber auch als ihre kritikwürdigste Schwäche heraus. Schröder arbeitet dieses Manko klar heraus, wenn er bemerkt, „das Fragwürdige an der Aktientheorie ist demnach wohl weniger ihre politische Rückgewandtheit als die Unbestimmtheit des Begriffs „Aktie“, unter den man eben nicht nur Landund Geldeigentum, sondern auch die Arbeitskraft und schließlich sogar die bloße, an den Schicksalen des Gemeinwesens teilhabende, persönliche Existenz subsumieren konnte“ 328.

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Rotteck, Art. Aristokratie (Fn. 325), S. 680. Siehe zur indirekten Steuer beispielsweise die Abgeordneten Löwe (F. Wigard [Hrsg.], Stenographischer Bericht über die Verhandlungen der deutschen constituirenden Nationalversammlung zu Frankfurt am Main, Bd. VII, 1849, S. 5243, rechte Spalte); Mölling (ebd., S. 5288, rechte Spalte); Eisenstuck (ebd., S. 5309, rechte Spalte); Simon (ebd., S. 5313, linke Spalte); zur Arbeit als Beitrag im Staate exemplarisch Löwe (ebd., S. 5244, rechte Spalte) und zum Verweis auf den Kriegsdienst u. a. bei Simon (ebd., S. 5313, linke Spalte); Mittermaier (ebd., S. 5326, rechte Spalte); Ziegert (ebd., S. 5235, linke Spalte, Verteidigung des Vaterlandes gar als wichtigstes Recht und wichtigste Pflicht, mit der man die unteren Schichten anscheinend bedenkenlos betrauen könne). Zur Diskussion um die Ausgestaltung des Wahlrechts in der Paulskirchenversammlung siehe ausführlich S. 240 ff. 328 Schröder, Möser (Fn. 241), S. 306 f. 327

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2. Die Herleitung eines Primats des Landeigentums durch die französischen Physiokraten

a) Die Physiokraten und ihr theoretischer Ansatz einer Sakralisierung des Eigentums Im Zentrum des Interesses der Physiokraten329, einer französischen Bewegung rund um ihren Führer François Quesnay (1694–1774)330, stand ohne Zweifel die Entwicklung einer neuen, in sich geschlossenen Wirtschaftstheorie331, der „Versuch der ökonomischen Transformation Frankreichs“ 332. Noch vor Erscheinen des klassischen Standardwerkes der Nationalökonomie „An inquiry into the nature and causes of the wealth of nations“ 1776 von Adam Smith „übertrugen die französischen Physiokraten naturrechtliche Überlegungen auf die Betrachtung der Wirtschaftsverfassung“ 333, so daß ihr theoretisches Konstrukt im Ergebnis tatsächlich „die erste systematische Fassung der kapitalistischen Produktion“ 334 darstellt. Doch auch wenn diese Gruppe sich schwerpunktmäßig dem Entwurf einer neuen Wirtschaftsordnung widmete, darf man die Physiokraten keineswegs auf dieses eine Projekt reduzieren, denn ihre Überlegungen gehen weit über rein wirtschaftspolitische hinaus.335 So suchten sie unter anderem Antwort auf die 329 Zu den Wurzeln dieser Gruppierung und ihrer Entwicklung siehe statt vieler E. Fox-Genovese, The origins of Physiocracy. Economic Revolution and Social Order in Eighteenth-Century France, Ithaca/London 1976, S. 43 ff.; ausführliche Nachzeichnung der Entwicklung der Physiokraten ab 1764 bei G. Weulersse, Le mouvement physiocratique en France (1756 à 1770), Bd. 1, Paris 1910, S. 91 ff. 330 Samwer, Erklärung (Fn. 172), S. 305; F. K. Mann, Art. Physiokratie, in: E. v. Beckerath (Hrsg.), Handwörterbuch der Sozialwissenschaften, 1964, S. 296 ff. 331 D. Klippel, Der Einfluss der Physiokraten auf die Entwicklung der liberalen politischen Theorie in Deutschland, in: Der Staat (23) 1984, S. 205 (205); Mann, Art. „Physiokratie“ (Fn. 330), S. 296. 332 M. Göhring, Die Feudalität in Frankreich vor und in der großen Revolution, 1934, S. 75. 333 Samwer, Erklärung (Fn. 172), S. 305. 334 K. Marx, Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie. Der Zirkulationsprozeß des Kapitals (1885), herausgegeben von F. Engels, Bd. II/2, 1948, S. 360. 335 B. Güntzberg, Die Gesellschafts- und Staatslehre der Physiokraten, 1907, S. 4 f.; N. J. Ware, The Physiocrats: A Study in Economic Rationalization, in: The American Economic Review 21 (1931), S. 607 (607) spricht von einem „complex system of socio-political thought“; A. Mathiez, Les doctrines politiques des Physiocrates, in: Annales historiques de la Révolution française (12) 1936, S. 193 (193): „La Physiocratie ne se donnait pas seulement pour un système économique. Son ambition était plus vaste. Elle prétendait être une science nouvelle“; in die gleiche Richtung Mann, Art. „Physiokratie“ (Fn. 330), S. 296, der auf den durchaus ambitionierten Plan „ein umfassendes Wissenschaftssystem aufzubauen“ verweist; H. Glagau, Reformversuche und Sturz des Absolutismus in Frankreich (1774–1788), 1908, S. 9 ff. geht in seiner Einschätzung sogar so weit, dem Physiokratismus den maßgeblichen Beitrag an der Zerstörung des Ancien Régime zu attestieren: „In Wirklichkeit hat niemand das morsche Gebäude des alten Regimes tiefer unterwühlt und in seinen Grundfesten ärger erschüttert als die Physiokraten“ (ebd., S. 11); H. Dippel, Liberté und Ancien Régime. Zum

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Teil 2: Zensuswahlrecht in Frankreich

Frage, wie die beste Regierungsform auszusehen hätte336, welche Funktionen und Aufgaben dem Staat zuteil werden sollten und welche Rechte und Pflichten dem Individuum grundsätzlich im Staat zustehen müssten337. Als kennzeichnend und gleichermaßen charakteristisch für die Theorie der Physiokraten stellt sich die These, „daß die Entstehung der bürgerlichen Gesellschaft das Faktum des Eigentums voraussetzt“ 338, heraus. Da diesem im Rahmen der Konzeption der Physiokraten derart essentielle Bedeutung zugeschrieben wird – man spricht teils sogar von „der radikalen Mystifikation des Grundeigentums bei den Physiokraten“ 339 –, besteht die Hauptaufgabe des Staates folglich darin, allen Bürgern den Genuß „des propriétés personnelles, mobilières et foncières“ 340, also des persönlichen, beweglichen und finanziellen Eigentums zu gewähren. Vor allem aufgrund der Sakralisierung des Eigentums durch die Physiokraten fand Art. 17 (Da das Eigentum ein unverletzliches und geheiligtes Recht ist, kann es niemandem entzogen werden, es sei denn, daß die gesetzmäßig festgestellte öffentliche Notwendigkeit es klar erfordert und unter der Bedingung ei-

Freiheitsverständnis der philosophes, in: G. Birtsch (Hrsg.), Grund- und Freiheitsrechte im Wandel von Gesellschaft und Geschichte. Beiträge zur Geschichte der Grund- und Freiheitsrechte vom Ausgang des Mittelalters bis zur Revolution von 1848, 1981, S. 229 (231); A. Oncken, Geschichte der Nationalökonomie (1902), Bd. I, 4. Aufl. 1971, S. 339 f. 336 Güntzberg, Gesellschaftslehre (Fn. 335), S. 4. 337 Samwer, Erklärung (Fn. 172), S. 306 ff. A. A. Schickhardt, Erklärung (Fn. 80), S. 9: „Ein weiterer Unterschied zu dieser besteht aber in dem Inhalt dieser Gesetze des ,ordre naturel‘. Es handelt sich um wirtschaftliche Forderungen, und nicht um die politische Freiheit. Dafür gibt es in der physiokratischen Regierungsform, dem aufgeklärten Absolutismus, keinen Platz. Außerdem ist die positive Gesetzgebung nicht die Erklärung der subjektiv natürlichen Rechte des Menschen, sondern der natürlichen Gesetze des ordre social (. . .).“ 338 Riedel, Gesellschaft (Fn. 11), S. 749. Schon bei J.-J. Rousseau, Discours sur l’origine et les fondemens de l’inégalité parmi les hommes, Amsterdam 1755, 2ème Discours, Seconde partie, S. 95, heißt es: „Le premier qui ayant enclos un terrain, s’avisa de dire, ceci est à moi, & trouva des gens assés simples pour le croire, fut le vrai fondateur de la société civile“, Hervorhebungen i. O., A. S. Übersetzt: Der Erste, der ein Gebiet mit einem Zaun umgeben hat, darf bemerken: das ist meins, und der Leute gefunden hat, einfach genug, um ihm zu glauben, er ist der wahre Begründer der zivilen Gesellschaft. 339 E. Hinrichs, Produit net, propriétaire, cultivateur. Aspekte des sozialen Wandels bei den Physiokraten und Turgot, in: Mitarbeiter des Max-Planck-Instituts für Geschichte (Hrsg.), Festschrift für Hermann Heimpel, 1971, S. 473 (481). 340 Siehe P. S. du Pont de Nemours, De l’origine et des progrès d’une science nouvelle (1768), in: E. Daire (Hrsg.), Physiocrates. Quesnay, Dupont de Nemours, Mercier de La Rivière, L’abbé Baudeau, Le Trosne, avec une introduction sur la doctrine des Physiocrates, des commentaires et des notices historiques, 1846, S. 335 (347); siehe dazu A. Petitat, Production de l’école, production de la société. Analyse socio-historique de quelques moment décisifs de l’évolution scolaire en Occident, 2. Aufl., Genf/ Paris 1999, S. 223.

Kap. 2: Das Zensuswahlrecht in Dokumenten der Revolutionszeit

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ner billigen und vorherigen Entschädigung)341 in seiner endgültigen Form Eingang in die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte von 1789. Eigentum und Freiheit sind im Denken der Physiokraten untrennbar miteinander verknüpft342: „Frei zu sein – oder das Recht auf Freiheit ist aber das persönliche Gut des Menschen, sein persönliches Eigentum. So ergibt sich zu gleicher Zeit mit Notwendigkeit aus dem Rechte auf Freiheit das Eigentumsrecht, zuerst in der allgemeinsten Form des Eigentums an seiner eigenen Person. Daher sind eigentlich Freiheit und Eigentum Wechselbegriffe, und sie können sich gegenseitig als Maß dienen.“ 343 Theoretische Konsequenz ist „die Forderung nach ökonomischer Freiheit des Individuums“ 344. Die wirtschaftliche Freiheit soll dabei absolut gewährleistet werden, darf keinerlei Be- oder Einschränkungen unterliegen.345 Praktisch sind die Konsequenzen dieses theoretischen Ansatzes sehr facettenreich: Zum einen galt es jegliche Hindernisse für Landwirtschaft, Industrie und Handel innerhalb Frankreichs und im Austausch mit dem Ausland zu beseitigen, um so die vollkommene „liberté commerciale“ herzustellen.346 Zum anderen räumen die Physiokraten den Eigentümern auch in rechtlicher Hinsicht eine privilegierte Position ein347; „so haben in rein physiokratischem Sinne nur diejenigen das aktive und passive Wahlrecht, denen „physiquement“ die politische Vollberechtigung gebührt – also nur die Grundbesitzer“ 348. Hinsichtlich der Frage nach Generierungsmöglichkeiten von Eigentum stellt Quesnay sich auf den klaren Standpunkt, daß allein der Ackerbau die Quelle des Wohlstands einer Nation sein könne.349 Hinrichs beispielsweise will für diese Überzeugung rein empirische 341 Übersetzung des Artikels: Willoweit/Seif (Hrsg.), Verfassungsgeschichte (Fn. 172), S. 254. 342 P.-P. Le Mercier de la Rivière, L’ordre naturel et essentiel des sociétés politiques, Bd. I, London 1767, Chapitre V (S. 50 ff.); P. Jolly, Du Pont de Nemours. Soldat de la Liberté, Paris 1956, S. 24 f.; G. Schelle, Du Pont de Nemours et l’école physiocratique, Paris 1888, S. 70. 343 Güntzberg, Gesellschaftslehre (Fn. 335), S. 63 f. 344 Klippel, Einfluss (Fn. 331), S. 208; siehe auch Samwer, Erklärung (Fn. 172), S. 310 der die einspurige Freiheitsvorstellung der Physiokraten scharf kritisiert: „Diese Bewegung zielte auf Gewährung wirtschaftlicher Freiheit ab, vernachlässigte aber stark die übrigen Aspekte der Freiheit im Staat.“ In ähnliche Richtung Wahl, Vorgeschichte I (Fn. 60), S. 147: „Und eben die Forderung der wirtschaftlichen Freiheit, das laute Rufen nach ihr, war es, was von der Lehre der Physiokraten zum sehr wichtigen Bestandteil der öffentlichen Meinung wurde. Um dieses Programmpunkts willen verzieh man ihnen die Ketzerei in Bezug auf die politische Freiheit.“ 345 Siehe Klippel, Einfluss (Fn. 331), S. 210. 346 Samwer, Erklärung (Fn. 172), S. 307. 347 Klippel, Einfluss (Fn. 331), S. 224. 348 Güntzberg, Gesellschaftslehre (Fn. 335), S. 121. 349 Siehe Quesnay, Maximes (Fn. 66), S. 949 f. (hier insbesondere die Maximen I und III). Ebenso Mirabeau ruft eindringlich dazu auf, die Landwirtschaft als Heimstätte, als Schoße und Wurzel eines Staates zu lieben und zu ehren: „aimez, honorez l’Agriculture, c’est le foyer, ce sont les entrailles, & la racine d’un Etat“, siehe V. d. R. Mirabeau, L’ami des hommes, ou traité de la population, nouvelle édition, augmentée

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Teil 2: Zensuswahlrecht in Frankreich

Gründe verantwortlich machen; die Physiokraten hätten sich im Rahmen der Entwicklung ihrer Theorien von zeitgenössischem Anschauungsmaterial, das das Frankreich des 18. Jahrhunderts lieferte, maßgeblich leiten lassen: „Frankreich war im 18. Jahrhundert noch ein Agrarstaat, die Mechanismen des wirtschaftlichen Kreislaufs wurden weitgehend vom Getreide bestimmt, dem einzigen Gut, für das eine wirkliche Massennachfrage bestand. Wenn Quesnay und seine Schule von diesem Tatbestand auf die ausschließliche Produktivität des Bodens schlossen und nur durch die Landwirtschaft, den Bergbau (und den Fischfang) einen echten Mehrwert entstehen sahen, so waren sie dazu durch die besonderen Verhältnisse der französischen Wirtschaft im 18. Jahrhundert und durch die Fehlentwicklungen der merkantilistischen Wirtschaftspolitik berechtigt, auch wenn sich ihre Auffassung später als irrig erweisen sollte.“ 350 b) Die Sonderstellung der Grundeigentümer in der auf dem Grundeigentum aufbauenden Klassengesellschaft Auf der Überzeugung fußend, daß im Ackerboden, mithin im Eigentum an Grund und Boden, der Ursprung aller staatlichen Prosperität liegt, entwickeln die Physiokraten eine konkrete gesellschaftliche Klasseneinteilung.351 An der Spitze der insgesamt drei Klassen stehen die Grundeigentümer; diese „classe de propriétaires“, umfaßt auch die Grundbesitzer, die die Bewirtschaftung von Grund und Boden mittlerweile übertragen haben. Ihre Aufgabe besteht nunmehr „in der indirekten Erhaltung und Vermehrung der Fruchtbarkeit des Bodens, andererseits in der Handhabung der verschiedenen Funktionen der öffentlichen Gewalt“ 352. Die d’une quatriéme Partie & de Sommaires, Bd. 1, Avignon 1758, S. 192. Siehe hierzu sehr ausführlich Weulersse, Mouvement (Fn. 329), S. 243 ff., der die These, daß die Landwirtschaft die einzige Produzentin des Reichtums sei, für die Physiokraten als derart fundamental einschätzt, daß sie letztlich das gesamte physiokratische System zu stützen vermag: „La proposition fondamentale des Physiocrates, celle sur laquelle repose l’édifice entier de leur système, c’est que l’agriculture est seule productrice de richesse“ (ebd., S. 243); siehe zu den praktischen Konsequenzen des physiokratischen Primats der Landwirtschaft, allen voran, „daß landwirtschaftliche Betätigung eine Art Mode wurde“ Göhring, Feudalität (Fn. 332), S. 76; zum Boden als alleinigem Erzeuger von Reichtum auch Oncken, Geschichte I (Fn. 335), S. 382. 350 Hinrichs, Produit net (Fn. 339), S. 475 f. 351 Diese Klasseneinteilung ergibt sich für Quesnay ganz selbstverständlich aus den von ihm definierten drei Arten von Ausgaben und deren Quellen, siehe F. Quesnay, Tableau économique (3. Aufl. 1759), herausgegeben, eingeleitet und übersetzt von M. Kuczynski, 1965, S. 5 ff. (französische Originalversion) und S. 43 ff. (deutsche Übersetzung); hierzu zudem illustrierend Güntzberg, Gesellschaftslehre (Fn. 335), S. 54 f.; Mann, Art. „Physiokratie“ (Fn. 330), S. 297 f. und interpretierend Hinrichs, Produit net (Fn. 339), S. 480 f. mit dem Hinweis, daß im Mittelpunkt der Analyse der Klassenverhältnisse von Quesnay immer das Verhältnis der „produktiven“ Klasse zu der der Grundeigentümer stünde, wobei beide natürliche eine feste Größe in seinem Wirtschaftsmodell ausmachen würden, siehe ebd., S. 480; knapp dazu auch Samwer, Erklärung (Fn. 172), S. 306. 352 Güntzberg, Gesellschaftslehre (Fn. 335), S. 54.

Kap. 2: Das Zensuswahlrecht in Dokumenten der Revolutionszeit

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zweite Klasse, die „classe productive“, bilden die Landbebauer im eigentlichen Sinne, d.h. auf der einen Seite die mächtigen Pächter, die Leiter der Landwirtschaftsunternehmen, auf der anderen Seite die bloßen Arbeiter. Merkwürdigerweise zählten für die Physiokraten nur erstere zur produktiven Klasse.353 Quesnay ist von der Überzeugung erfüllt, daß ausschließlich die reichen Landwirte Macht und Wohlstand der Nation zu vermehren vermögen, denn mit dem Reichtum des Landwirtes würde sich die Produktion der Güter und so letztlich die Macht der Nation vermehren354: „Man braucht Reichtümer, um Reichtümer zu produzieren.“ 355 Zur dritten Klasse zählen nach eben jener Klasseneinteilung der Physiokraten die Bürger, die die Grundlagen zur Nutzbarmachung von Grund und Boden durch Verteilung der Güter erst möglich machen. Auch hier begegnet uns erneut die Differenzierung zwischen Unternehmern und einfachen Arbeitern, wobei wieder nur die Leiter der Unternehmen die produktive Klasse ausmachen.356 Wie bereits angedeutet, belassen es die Physiokraten nicht bei theoretisch-abstrakten Erwägungen zum Aufbau der Gesellschaft, sondern leiten aus ihrer Klasseneinteilung praktische Konsequenzen ab, wobei sich für die Physiokraten „der konservative Gedanke der alleinigen oder doch vorrangigen politischen Bedeutung der Klasse der Grundeigentümer“ 357 nahezu aufdrängt. Diese Klasse, auf deren Schulter das Wohl und Wehe der Gesamtnation lastet, die „die Verantwortung für die staatliche Ordnung“ 358, den Wohlstand und das Gedeihen der französischen Nation trägt und gar als „die Seele der Gesellschaft“ 359 anzusehen ist, soll zumindest als Ausgleich eine besondere Stellung im Staat zuteil werden. So lag es für die Physiokraten auf der Hand, daß nur den Grundeigentümern das aktive wie das passive Wahlrecht zuteil werden sollte360 oder wie der Abgeord353 Quesnay bemißt die Leistung der Mitglieder einer Gesellschaft nicht nach ihrer Produktivität, sondern nach ihrer Nützlichkeit. In seinem Artikel „Hommes“, siehe F. Quesnay, Hommes (1757), in: Institut national d’études démographiques (Hrsg.), François Quesnay et la Physiocratie, Bd. II, 1958, S. 547 ff., unterscheidet er begrifflich zudem zwischen direkt und indirekt produktiven Klassen. 354 Siehe F. Quesnay, Fermiers (1756), in: Institut national d’études démographiques (Hrsg.), François Quesnay et la Physiocratie, Bd. II: Textes annotés, Paris 1958, S. 427 ff.; hierzu auch Göhring, Feudalität (Fn. 332), S. 78. 355 F. Quesnay, Ökonomische Schriften in zwei Bänden, übersetzt, eingeleitet und unter Benutzung von neuen Materialien herausgegeben von M. Kuczynski, Bd. I, 1971, S. 282. 356 Güntzberg, Gesellschaftslehre (Fn. 335), S. 55. 357 Klippel, Einfluss (Fn. 331), S. 224. 358 G.-C. v. Unruh, VII. Kapitel – Die Verwaltung in den einzelnen Staaten (ab 1803 bzw. 1815), § 3 Preußen, A Die Veränderungen der preußischen Staatsverfassung durch Sozial- und Verwaltungsreformen, in: K. G. A. Jeserich/H. Pohl/ders. (Hrsg.), Deutsche Verwaltungsgeschichte, Bd. II, 1983, S. 399 (403). 359 I. Iselin, Versuch über die gesellige Ordnung, Basel 1772, S. 95. 360 Güntzberg, Gesellschaftslehre (Fn. 335), S. 121.

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Teil 2: Zensuswahlrecht in Frankreich

nete Prince de Gallitzin sich als deutlichen Seitenhieb auf Sieyes auszudrücken pflegt: „On a déjà vu que suivant l’Ordre social, les propriétaires fonciers formoient seul le Corps de la Nation. Par conséquent ils sont tout dans la Nation, et le Tiers-état rien. Les premiers sont la classe productive d’un Etat, et les derniers la classe stérile.“ 361 – Ganz der physiokratischen Tradition folgend, würden einzig die Eigentümer von Grund und Boden den Korpus der Nation bilden. Folglich seien sie die gesamte Nation, der Dritte Stand nichts. Die ersten seien die Angehörigen der „classe productive“ eines Staates, die letzten die der „classe stérile“. Zusammenfassend findet sich in der physiokratischen Lehre neben dem Ansatz der Aktientheorie auch erneut die Korrespondenztheorie wieder. Da die Physiokraten einzig den Landeigentümern die Fähigkeit zuschreiben, dem Staat zum wirtschaftlichen Aufschwung zu verhelfen, sollen ausschließlich ihnen im Gegenzug politische Partizipationsrechte zuteil werden. De facto führt die physiokratische Lehre im Hinblick auf die Möglichkeit politischer Partizipation mithin zwingend zu einer Privilegierung der Grundbesitzer. Die Physiokraten vergöttern die Angehörigen dieser Bevölkerungsgruppe geradezu, stilisieren sie gar zu einer Art allerheiligstem und unantastbarem Wesen, einem „être sacro-saint“ 362. Die Frage, ob diese Entwicklung den Absichten der Physiokraten entsprach, ist umstritten363, kann aber im Rahmen dieser Abhandlung offen bleiben, da zumindest die von ihnen intendierte Besserstellung der Eigentümer von Grund und Boden von niemandem bezweifelt wird.

361 D. A. Golicyn, De l’esprit des économistes ou les économistes justifiés d’avoir posé par leurs principes les bases de la Révolution Françoise, Brunsvick 1796, S. 227. 362 G. Lefebvre, La Révolution française et les paysans, in: ders. (Hrsg.), Etudes sur la Révolution française, 2. Aufl. 1963, S. 351. Siehe bestätigend auch E. Labrousse, Histoire économique et sociale de la France, Bd. II, Paris 1970, S. 379. 363 Im Ergebnis wir man eine solche Intention der Physiokraten wohl eher ablehnen müssen. – Aus der Fülle an Literatur siehe nur Hinrichs, Produit net (Fn. 339), S. 477 ff., der mit Verweis auf die allgemeine Agrarkonjunktur konstatiert: „Eine undifferenzierte Parallelisierung der physiokratischen ,Bewegung‘ mit der Agrarkonjunktur des 18. Jahrhunderts, welche die Lehren Quesnays selbst gleichsam zu einer Folgeerscheinung der Hausse und damit lediglich zu einem ideologischen Reflex des grundherrlichen Klasseninteresses werden läßt, erscheint daher unzulässig“ (ebd., S. 479). Auch R. L. Meek, The Economics of Physiocracy. Essays and Translations, London 1962, S. 392 ff., der den Fokus darauf lenkt, daß es den Physiokraten immer um die Steigerung der Produktionsfähigkeit der Gesamtnation, anstatt um das Protegieren einzelner Gruppen der Bevölkerung und der Förderung ihrer Bedürfnisse gegangen sei: „The Physiocrats were, indeed, concerned to break down certain barriers standing in the way of the development of the capitalist zeitgeist, of which the agricultural entrepreneurs appeared to them as the most important personification. But it is essential to remember, first that this concern was motivated by the interests of increasing national output rather than by the selfish interests of any particular social group; (. . .)“ (ebd., S. 394, Hervorhebung i. O., A. S.).

Kap. 3: Gleichheitsforderung und das (Männer-)Wahlrecht

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Kapitel 3

Radikalisierung der Gleichheitsforderung und Durchsetzung des allgemeinen und gleichen (Männer-)Wahlrechts auf dem Papier in der zweiten Phase der Revolution A. Vorgeschichte Bereits vor der Proklamation der Verfassung von 1791 erhoben sich lautstarke Proteste gegen das Zensuswahlrecht364; danach war dessen revolutionäre Gegnerschaft schlicht nicht mehr zu stoppen: Am 10. August 1792 wurde der König abgesetzt und die Verfassung von 1791 suspendiert, so daß Wahlen zu einer neuen Versammlung stattfinden mußten, die nach dem Vorbild des nordamerikanischen Verfassungsrechtssystems als „Nationalkonvent“ bzw. „Convention nationale“ bezeichnet wurden.365 Die enorme Radikalisierung revolutionärer Kräfte, die sich mittlerweile vollzogen hatte, fand einen ersten deutlichen Niederschlag in der Abschaffung der Monarchie am 21./22. September 1792366 und der darauffolgenden Proklamation der Republik am 25. September 1792367 sowie ihren ebenso grausamen wie traurigen Höhepunkt in den Anfang September vorausgegangenen sog. Septembermorden, einer Art Massenhysterie, im Rahmen derer die Pariser Gefängnisse von Revolutionären gestürmt und zunächst alle dort inhaftierten Revolutionsgegner, dann auch die übrigen Häftlinge, umgebracht wurden368. Eine neue Ära und damit eine neue Zeitrechnung hatte nicht nur in den Köpfen der Franzosen begonnen, sondern wurde auch durch die Datierung jeder neuen öffentlichen Urkunde hinaus in die Welt getragen. Wegen eben jenes Beschlusses vom 21./22. September 1792369 wurden nun alle Dekrete der Pariser Stadtverwaltung mit dem Datum „L’an IVe de la Liberté et le Ier de l’Egalité“ 370 versehen 364 Siehe nur Soboul, Revolution (Fn. 55), S. 154 f.; Kläy, Zensuswahlrecht (Fn. 17), S. 69 ff. 365 Sommermann, Verfassung von 1793 (Fn. 201), S. 613. 366 Hier heißt es knapp: „La Convention nationale décrète à l’unanimité que la royauté est abolie en France“, zitiert nach M. Duverger, Constitutions et documents politiques, 14. Aufl., Paris 1996, Nr. 4, S. 43; deutsche Übersetzung bei Grab, Revolution (Fn. 72), S. 125: „Der Nationalkonvent dekretiert einstimmig, daß das Königtum in Frankreich abgeschafft wird.“ 367 „La Convention nationale déclare que la République française est une et indivisible.“ Siehe abermals Duverger, Constitutions (Fn. 366), Nr. 5, S. 43; Grab, Revolution (Fn. 72), S. 126: „Der Nationalkonvent erklärt, daß die Französische Republik eins und unteilbar ist.“ 368 Siehe hierzu weiterführend statt vieler M. Madörin, Die Septembermassaker von 1792 im Urteil der französischen Revolutionshistoriographie 1792–1840, Frankfurt am Main/Bern 1976. 369 Grab, Revolution (Fn. 72), S. 126. 370 Siehe statt aller entsprechenden Dokumente beispielsweise zur Illustration die Gazette nationale ou le Moniteur universel vom 24. August 1792, abgedruckt in: Réimpression de l’ancien Moniteur. Seule histoire authentique et inaltérée de la révolution

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Teil 2: Zensuswahlrecht in Frankreich

und am 06. Oktober 1793 begann rückwirkend die Zeitrechnung nach dem Revolutionskalender371. „Warum soll, nach dem Tod des Königs, nach der Gründung der einen und unteilbaren Republik, nach dem epochalen Einschnitt, den die Revolution bedeutet, noch in Jahren nach Christus gezählt werden?“ 372 – so oder ähnlich mag sich die Frage den vor Selbstbewußtsein und Tatendrang strotzenden Anführern der radikal-revolutionären Bewegung gestellt haben. Am 11. Oktober 1792 wählte der Konvent den Verfassungsausschuß, in dem sich zu den acht Franzosen Barère, Brissot, Condorcet, Danton, Gensonné, Pétion, Sieyes, Vergniaud der Amerikaner Thomas Paine (1737–1809) gesellte. Paine, Amerikaner mit englischen Wurzeln, war bereits 1776 im amerikanischen Unabhängigkeitskampf in Erscheinung getreten und hatte sich für die Arbeit im Ausschuß unter anderem durch seine Schrift „Common Sense“ 373 empfohlen, in der er sich für die Werte der Französichen Revolution stark machte und so vor allem Edmund Burke (1729–1797), dem Vater des Konservatismus374, Paroli bot. francaise depuis la réunion des états-généraux jusqu’au consulat (Mai 1789–Novembre 1799) avec des notes explicatives, Bd. XIII, Paris 1847, Nr. 237, S. 497 ff.; Kläy, Zensuswahlrecht (Fn. 17), S. 105. 371 Siehe hierzu ausführlich: M. Meinzer, Der französische Revolutionskalender und die „Neue Zeit“, in: R. Koselleck/R. Reichardt (Hrsg.), Die Französische Revolution als Bruch des gesellschaftlichen Bewußtseins, 1988, S. 23 ff.; H. Maier, Über revolutionäre Feste und Zeitrechnungen, in: ders./E. Schmitt (Hrsg.), Wie eine Revolution entsteht. Die Französische Revolution als Kommunikationsereignis, 1988, S. 99 (108 ff.). 372 Maier, Feste (Fn. 371), S. 108. Mit welcher Ernsthaftigkeit, man ist fast schon geneigt von Fanatismus zu sprechen, der Konvent ans Werk ging, einen neuen republikanischen Kalender zu schaffen und durch welcher Radikalität der Schnitt zwischen der alten christlichen und neuen republikanischen Zeitrechnung sich auszeichnet, illustriert Maier sehr eingängig und plastisch am Gemälde „Der Tod des Marat“ von JacquesLouis David (1748–1825). David war nicht nur Maler, sondern auch Konventsmitglied. Nach dem Tode Marats, Mitglied des Jakobinerclubs und Herausgeber des namhaften „Ami du Peuple“, einer zu damaliger Zeit sehr populären Zeitschrift, die unbarmherzig und unmenschlich mit den Gegenspielern der Revolution ins Gericht ging, entfachte ein regelrechter Kult um Marat, den man als Märtyrer der Revolution feierte und vergötterte. David wurde 1793 beauftragt, den von der Adeligen Charlotte Corday Erstochenen zu malen. Die Fertigstellung des Gemäldes und die Ablösung der christlichen durch die republikanische Zeitrechnung fallen zeitlich ungefähr zusammen, und so verläuft die Grenze zwischen alter und neuer Zeitrechnung mitten durch das Bild hindurch (J. Traeger, Der Tod des Marat. Revolution des Menschenbildes, 1986, S. 76). Auf der Holzkiste, die der Maler mit der Widmung „A Marat, David“ versehen hat, erkennt man an beiden unteren Ecken jeweils noch die Überreste der Jahreszahl 1793, die jedoch übermalt und durch die neue Zeitrechnung „L’An Deux“ ersetzt worden sind. In der Hand hält Marat einen Brief seiner Mörderin Corday, datiert 1793, weil diese, wie im Übrigen wohl alle Royalisten, für David der alten und verhaßten, nun endlich überwundenen Zeit angehört (siehe Maier, Feste [Fn. 371], S. 112 ff.). 373 Der vollständige Titel des Werkes lautet T. Paine, Common sense; addressed to the inhabitants of America, on the following interesting subjects. I. Of the Origin and Design of Government in general, with concise Remarks on the English Constitution. II. Of Monarchy and Hereditary Succession. III. Thoughts on the present State of American Affairs. IV. Of the present Ability of America, with some miscellaneous Reflections, Philadelphia 1776.

Kap. 3: Gleichheitsforderung und das (Männer-)Wahlrecht

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Von Beginn am 17. April 1793 an wurden die Arbeiten an der neuen Verfassung von den überhand nehmenden Auseinandersetzungen zwischen Montagnards und Girondis überschattet.375 Ihre erste erschütternde Zäsur fand das Machtgerangel in der Verhaftung und späteren Hinrichtung von 29 Abgeordneten der Gironde durch die von Robespierre angeführten Sansculotten.376 Nunmehr wurde eine neue Kommission bestehend aus sechs Mitgliedern mit dem Verfassungsprojekt betraut. Auch wenn die neu eingesetzte Kommission dem Verfassungsentwurf von Condorcet auf sachlich-inhaltlicher Ebene nichts entgegenzusetzen vermochte377, schloß politisches Taktieren die Annahme seiner Vorlage aus. Das vorherige Komitee war mit zwei Dritteln fest in der Hand der Gironde gewesen, auch Condorcet selbst war Mitglied dieser Partei. Da sich die Montagnards mittlerweile aber zur mächtigeren Partei aufgeschwungen hatten, verbot es sich geradezu, den Vorschlag der Opponenten zu übernehmen.378 Die ohnehin schon politisch hitzige Situation in Frankreich erfuhr durch die Aufstände der Departements gegen Paris eine zusätzliche Befeuerung, so daß man sich durch die Proklamation der neuen Verfassung eine Entspannung der allgemeinen Lage erhoffte.379 Schon am 10. Juni 1793 stellte Hérault de Séchelles seinen Entwurf dem Konvent vor, der sich indes als nichts anderes als eine Verkürzung der Condorcetschen Version entpuppte.380 Im Kern orientiert sich diese – wenngleich oft als „Constitution montagnarde“, Montagnard-Verfassung381 tituliert – endgültige Fassung stark am Verfassungsentwurf der Gironde382. Trotz Condorcets öffentli374 So statt vieler z. B. H. Ottmann, Geschichte des politischen Denkens, Bd. 3/3, 2008, Kapitel XX., S. 2. 375 A. Goodwin, Die Französische Revolution 1789–1795, 1964, S. 114 weist darauf hin, daß man die Arbeiten im Nationalkonvent nicht auf die Auseinandersetzung zwischen Girondisten und Montagnards reduzieren darf: „Eine solche Betrachtungsweise lenkt die Aufmerksamkeit zu sehr von dem großen aufbauenden Reformwerk der Versammlung ab, das sie besonders auf dem Feld der Gesetzeskodifikation und der Erziehung leistete.“ 376 Sommermann, Verfassung von 1793 (Fn. 201), S. 615. 377 Aulard, Histoire (Fn. 129), S. 289 ff. 378 Tecklenburg, Entwicklung (Fn. 129), S. 92. 379 Tecklenburg, Entwicklung (Fn. 129), S. 92. 380 A. Esmein, Précis élémentaire de l’histoire du droit français de 1789 à 1814. Révolution, consulat & empire, Paris 1908, S. 45. 381 Statt vieler A. Kley/R. Amstutz, Gironde-Verfassungsentwurf aus der französischen Revolution vom 15./16. Februar 1793. Deutschsprachige Übersetzung mit einer Einleitung und kommentierenden Anmerkungen, Zürich/St. Gallen 2011, S. 34. 382 Zu den Änderungen, vor allem der Verkürzung des Wahlverfahrens von zwei auf nunmehr nur noch einen Wahlgang, siehe erläuternd Tecklenburg, Entwicklung (Fn. 129), S. 93 ff. Tecklenburg kritisiert an der Vorlage Héraults vor allem, daß sie vorgibt, demokratischer zu sein als die von Condorcet, letztlich aber hinsichtlich Konsequenz und Stringenz der demokratischen Forderung um Längen hinter dessen Denkkonstrukt zurückbleibt. Dies schiebt Tecklenburg zuvörderst auf die Eile, in der die neue Verfassung in Anbetracht der eskalierenden innenpolitischen Lage zusammengeschrieben werden mußte: „Bei dem überstürzten Zustandekommen der Verfassung vom

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chem Protest im Rahmen seines Aufrufes „Aux citoyens français sur la nouvelle constitution“ 383, wurde nur kurze Zeit später, am 24. Juni 1793, die neue Verfassung mit deutlicher Mehrheit angenommen384. Im Rahmen eines Referendums über die Verfassung im Juli/August enthielten sich allerdings etwa fünf der insgesamt sieben Millionen Stimmberechtigten. 385 Trotz dieser Tatsache wurde die neue Verfassung überall in Frankreich frenetisch bejubelt.386

B. Paradoxes Nebeneinander von radikaler politischer Gleichheit in der Theorie bei absoluter Entpolitisierung des Volkes in der Praxis I. Normative Vorgaben: Die Verfassung des Jahres I (1793) als zeitgenössisch einzigartige Verkörperung von Demokratie in ihrer Reinform Die Verfassung des Jahres I vom 24. Juni 1793387 sollte als „erste konsequent durchdachte, reinste demokratische Verfassung in der europäischen Geschich24. Juni 1793 läßt sich nicht erwarten, daß man sich in die tiefen Gedanken Condorcets einarbeitete, und ebensowenig kann man sich wundern, wenn man das immerhin nicht oberflächliche Verfahren der Ordonnanz nicht voll würdigte. Man strich nämlich in dem letzteren den zweiten Wahlgang und gelangte so zu dem gedankenlosen und fehlerhaften Verfahren, das außer tausend anderen heutigen Anwendungsfällen als das Stichwahlsystem des Deutschen Reichstagswahlgesetzes besonders bekannt ist“, siehe ders., Entwicklung (Fn. 129), S. 94, Hervorhebung i. O., A. S. 383 Abgedruckt in: A. Condorcet O’Connor/M. F. Arago (Hrsg.), Oeuvres de Condorcet, Bd. XII, Paris 1847, S. 651 ff. 384 Aulard, Histoire (Fn. 129), S. 309. 385 Medzeg/Nohlen, Art. Frankreich (Fn. 86), S. 446; P. C. Hartmann, Französische Verfassungsgeschichte der Neuzeit (1450–2002). Ein Überblick, 2. Aufl. 2003, S. 67; Sommermann, Verfassung von 1793 (Fn. 201), S. 615. Überlegungen anzustellen, warum die Wahlbeteiligung so erschreckend gering ausfiel, erweist sich als müßig, zumal sie alle im Bereich des Spekulativen verbleiben. Nur so viel: Während die einen davon ausgehen, daß die einfache Bevölkerung Demokratie, sprich die Beteiligung an Wahlen, schlicht und ergreifend verlernt hatte („Noch bis vor kurzem unter dem „régime censitaire“ ohne Stimme, mochten viele Minderbegüterte aus Unkenntnis ihres Rechts sowie aus Unerfahrenheit von ihrem Stimmrecht Gebrauch zu machen unterlassen haben“, siehe Tecklenburg, Entwicklung [Fn. 129], S. 96), machen andere den undemokratischen Abstimmungsmodus der öffentlichen Stimmabgabe dafür verantwortlich („Das Votum wurde nämlich nicht etwa geheim und schriftlich, sondern in öffentlicher, mündlicher Abstimmung abgegeben, so daß angesichts der damaligen politischen Situation schon viel Mut dazu gehörte, mit „Nein“ zu stimmen“, siehe Hartmann, Französische Verfassungsgeschichte [Fn. 385], S. 67). 386 Dazu heißt es in Condorcets Biografie, verfaßt von M. F. Arago in M. J. A. N. C. Marquis de Condorcet, Oeuvres, nouvelle impression en facsimilé de l’édition Paris (1847–1849), Bd. I, 1968, S. CXXV: „Le cris d’allégresse des habitants de Paris et le bruit du canon fêtèrent ce grand événement.“ – Übersetzt: Ein Freudenschrei der Einwohner von Paris und der Donner der Kanonen feierten dieses große Ereignis. 387 Da die Verfassung von 1793 schon vor ihrem Inkrafttreten suspendiert wurde, wird sie – im Vergleich zur Verfassung von 1791 oder der Erklärung der Menschen-

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te“ 388 in deren Annalen eingehen389. Der Zensus, den die Verfassung von 1791 etabliert hatte, erweist sich im Vergleich zu anderen Epochen390 als relativ gering. Auch ihre Leistung, wie insbesondere die Durchsetzung des Novums einer (formellen) Rechtsgleichheit, darf in keinem Fall unterschätzt werden, denn „mit diesen hier zum ersten Mal in einem Verfassungsgesetz festgelegten bürgerlichemanzipatorischen Gleichheitsforderungen wurde die Verfassung von 1791 das Vorbild aller späteren in Europa“ 391. Dennoch bleibt sie aufgrund ihrer Bindung des aktiven Wahlrechts an eine Dreitagesteuer im Kern Produkt der Interessen des Besitzbürgertums.392 Bei aller Anerkennung für dieses Verfassungswerk, das das Zeitalter des europäischen Konstitutionalismus einläutete, dürfen Fakten wie die Tatsache, daß durch eben jene Verfassung von 1791 (noch) kein allgemeines und gleiches Wahlrecht angeordnet wurde, nicht rückblickend völlig vom Enthusiasmus überlagert werden. Nicht selten „gerät in Vergessenheit, daß die erste revolutionäre Verfassung, die Verfassung von 1791, noch kein allgemeines Wahlrecht kannte.“ 393 Auf die Verfassung von 1791 folgte jene vom 24. Juni 1793, die – trotz ihres Mankos, nie in Kraft getreten zu sein394 – hinsichtlich der Entwicklung der Gleichheitsforderung sehr aussagekräftig ist. und Bürgerrechte – in der Literatur teilweise sehr stiefmütterlich behandelt und mit Mißachtung gestraft, findet allenfalls en passant eine kurze Erwähnung, ohne daß ihr weitere wissenschaftliche Beachtung zuteil würde. Siehe daher u. a. den materialreichen Beitrag von Sommermann, Verfassung von 1793 (Fn. 201), S. 611 ff. 388 So voll des Lobes und der Huldigung Stein, Geschichte (Fn. 138), S. 287. 389 Da kein zweites Land im 19. Jahrhundert so viele Verfassungen hervorgebracht hat wie Frankreich, nämlich von 1791 bis 1875 stolze dreizehn (siehe Erbe, Frankreich [Fn. 105], S. 33; ders., Ein Nachhall der französischen Revolution? Zur Verfassungsdiskussion in Frankreich zwischen 1814 und 1830, in: G. Gersmann/H. Kohle [Hrsg.], Frankreich 1815–1830. Trauma oder Utopie? Die Gesellschaft der Restauration und das Erbe der Revolution, 1993, S. 61 [61]; er spricht daher vollkommen zutreffend von einer „turbulente[n] Verfassungsentwicklung“) in rascher Folge (dazu Dreier, Riskante Ordnung [Fn. 180], S. 17), muß diese Arbeit eine Beschränkung in deren Abhandlung vornehmen. Im Folgenden werden daher nur diejenigen genauer durchleuchtet, die der Entwicklung des Zensusgedankens eine neue Wendung gaben. Aus der Fülle der dreizehn Verfassungen sind das neben der Verfassung von 1793 die von 1795 aufgrund der Wiedereinführung des Zensus, ebenso die von 1814 und 1830, mit denen eine Renaissance des Zensusprinzips einherging, das Reglement von 1848, durch das am Ende eines langen Weges endlich das allgemeine und gleiche (Männer-)Wahlrecht Einzug in Frankreich hielt und das Zensuswahlrecht endgültig überwunden wurde. 390 Siehe hierzu im Vergleich nur die ganz offensichtliche Rückschrittlichkeit der Charte von 1814 (S. 121 ff.) oder 1830 (S. 129 ff.). 391 Dann, Gleichheit (Fn. 15), S. 1017. 392 Sommermann, Staatsziele (Fn. 223), S. 63. 393 Sommermann, Verfassung von 1793 (Fn. 201), S. 617. 394 Die Verfassung wurde bis zum Frieden suspendiert, 1795 dann aber durch die Verkündung einer neuen Verfassung obsolet: Medzeg/Nohlen, Art. Frankreich (Fn. 86), S. 445; Erbe, Frankreich (Fn. 105), S. 36; Sommermann, Verfassung von 1793 (Fn. 201), S. 613.

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In Art. 7 heißt es schlicht und fast schon unscheinbar, in den Konsequenzen aber nicht minder revolutionär: „Le peuple souverain est l’universalité des citoyens français.“ 395

Während man in der Verfassung von 1791 noch die nationale Souveränität proklamiert hatte396 und unter dem Deckmantel der théorie de l’électorat-fonction das Zensuswahlrecht mit dem Hinweis rechtfertigte, das Wahlrecht sei eben kein originäres Bürgerrecht, sondern eine Funktion, die einigen prädestinierten Bürgern durch die über die Souveränität verfügende Nation übertragen werde397, spricht die Verfassung von 1793 in Abkehr von ihrer Vorgängerin die Souveränität ganz bewußt „dem Volke in der Gesamtheit seiner einzelnen Mitglieder, dem ,peuple entier‘“ 398 zu. Nicht länger sollte die Nation ausgewählte Bürger durch die Ausstattung mit bürgerlichen Rechten bevorzugen dürfen, sondern allen Bürgern sollten von nun an politische Partizipationsrechte zuteil werden. Der Gedanke der Volkssouveränität findet sich in Art. 25 der auch dieser Verfassung vorangestellten Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte, wo es heißt: „La souveraineté réside dans le peuple; elle est une et indivisible, imprescriptible et inaliénable.“ 399

Und weiter in Art. 29 der Erklärung, der allen Bürgern gleichermaßen das Recht der Mitwirkung am Gesetzgebungsprozeß einräumt: „Chaque citoyen a un droit égal de concourir à la formation de la loi (. . .).“ 400

Konkretisierung findet dieser der Verfassung innewohnende revolutionäre Kern in ihrem Art. 4. Hier wird tatsächlich erstmals in der Geschichte des europäischen Kontinents das allgemeine und gleiche (Männer-)Wahlrecht401 postuliert. Die Vorschrift räumt bemerkenswerterweise nicht nur allen männlichen 395 Duverger, Constitutions (Fn. 366), Nr. 7 (S. 81). In diesem Sinne schon in Condorcets Plan de constitution, présenté à la Convention Nationale vom 15./16. Februar 1793, abgedruckt in: Condorcet O’Connor/Arago (Hrsg.), Oeuvres de Condorcet XII (Fn. 383), S. 347. Übersetzt: Das souveräne Volk umfaßt die Gesamtheit der französischen Bürger (Übersetzung u. a. bei K. H. L. Pölitz, Die europäischen Verfassungen seit dem Jahre 1789 bis auf die neueste Zeit, Bd. 2, 2. Aufl. 1833, S. 24; Gosewinkel/Masing [Hrsg.], Verfassungen [Fn. 172)], S. 196). 396 Siehe Titel III, Art. 1: „La Souveraineté est une, indivisible, inaliénable et imprescriptible. Elle appartient à la Nation; aucune section du Peuple, ni aucun individu, ne peut s’en attribuer l’exercice“, zitiert nach Walder, Ancien Régime (Fn. 83), S. 43. 397 Siehe hierzu bereits S. 48 f. 398 Tecklenburg, Entwicklung (Fn. 129), S. 80 f.; erläuternd Aulard, Histoire (Fn. 129), S. 283 sowie Kley/Amstutz, Gironde-Verfassungsentwurf (Fn. 381), S. 25. 399 Übersetzt: Die Souveränität liegt im Volk, sie ist unteilbar, unvergänglich und unveräußerlich. 400 Beide Artikel zitiert nach Duverger, Constitutions (Fn. 366), Nr. 7 (S. 80). Übersetzt: Jeder Bürger hat ein gleiches Recht, an der Gesetzgebung mitzuwirken. 401 Sensibilisiert war man in Frankreich schon seit geraumer Zeit für die Problematik der Gleichstellung; dies vor allem durch die Revolutionärin, Frauenrechtlerin und Schriftstellerin Olympe de Gouges (1748–1793), siehe jüngst zu dieser und ihrer Be-

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Franzosen, geboren und wohnhaft in Frankreich, die das 21. Lebensjahr vollendet haben, sondern zudem auch allen Ausländern über 21 Jahren, seit einem Jahr wohnhaft in Frankreich, die von ihrer Arbeit leben können oder Eigentum erworben haben, eine Französin geheiratet oder ein Kind adoptiert haben, einen Alten ernähren oder sich schließlich nach dem Urteil des Parlaments um die Menschlichkeit verdient gemacht haben, die Ausübung der Rechte des französischen Bürgers ein.402 Bei aller Fortschrittlichkeit und Weitsicht spricht die Verfassung von 1793 den Frauen das Wahlrecht allerdings ab. Das Frauenwahlrecht wurde in den Beratungen zwar angesprochen und diskutiert403, aber selbst der Verfassungsentwurf Condorcets, der sich als Anhänger und Unterstützer des Feminismus für die Rechte der Frauen stark gemacht hatte404, sah kein Frauenwahlrecht vor405. deutung für die Entwicklung moderner Menschenrechte L. Adamovich, Olympe de Gouges und die Menschenrechte, in: C. Jabloner u. a. (Hrsg.), Gedenkschrift Robert Walter, 2013, S. 1 ff. – 1791 hatte sie die „Déclaration des droits de la Femme et de la Citoyenne“, eine Erklärung der Rechte der Frau und Bürgerin, verfaßt und hier die Gleichstellung von Männern und Frauen, allen voran hinsichtlich politischer Mitwirkungsrechte, gefordert. Das Manifest wurde im September 1791 als „Die Rechte der Frau“ veröffentlicht. Ihren mutigen Einsatz für die Bürgerrechte der Frauen sollte Olympe de Gouges mit ihrem Leben bezahlen. Im Sommer 1793 wurde sie verhaftet und vor das Revolutionstribunal gebracht, am 3. November 1793 durch die Guillotine getötet. Es sollte in Frankreich schließlich noch bis 1946 dauern, bis Frauen und Männer im Hinblick auf politische Partizipationsmöglichkeiten gleichgestellt wurden. In Art. 4 der Verfassung des Jahres 1946 heißt es: „Sont électeurs, dans les conditions déterminées par la loi, tous les nationaux et ressortissants français majeurs des deux sexes, jouissant de leurs droits civils et politiques.“ Übersetzt: Wähler sind, unter den Bedingungen, die vom Gesetz vorgegeben sind, alle volks- und staatsangehörigen, volljährigen Franzosen beider Geschlechter, die im Genuß ihrer bürgerlichen und politischen Rechte sind. – Zu dieser Entwicklung des Wahlrechts siehe weiterführend Laferrière, Manuel (Fn. 201), S. 481 ff. In Deutschland war den Frauen immerhin schon am 12. November 1918 durch den Aufruf des Rats der Volksbeauftragten an das deutsche Volk das Wahlrecht verliehen worden, siehe RGBl. 1918, S. 1303 f., abgedruckt in: E. R. Huber (Hrsg.), Dokumente zur deutschen Verfassungsgeschichte, Bd. 4, 3. Aufl. 1992, Nr. 7 (Nr. 7), S. 6 f. und zudem in: H. Boldt, Reich und Länder. Texte zur deutschen Verfassungsgeschichte im 19. und 20. Jahrhundert, 1987, Nr. 31, S. 487 f. Endgültige Bestätigung fand das Frauenwahlrecht in Art. 22 WRV: „Die Abgeordneten werden in allgemeiner, gleicher, unmittelbarer und geheimer Wahl von den über zwanzig Jahre alten Männern und Frauen nach den Grundsätzen der Verhältniswahl gewählt. (. . .)“, zitiert nach G. Anschütz, Die Verfassung des Deutschen Reichs vom 11. August 1919. Ein Kommentar für Wissenschaft und Praxis, 14. Aufl. 1933, Art. 22 (S. 185 f.); zur Frauenbewegung siehe statt vieler H.-U. Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Bd. III, 1995, S. 1090 ff. 402 Originalfassung eben jenes Artikels 4 in französischer Sprache abgedruckt bei Duverger, Constitutions (Fn. 366), Nr. 7 (S. 81). 403 Aulard, Histoire (Fn. 129), S. 288 f.; Kley/Amstutz, Gironde-Verfassungsentwurf (Fn. 381), S. 25. 404 Aulard, Histoire (Fn. 129), S. 94; Sommermann, Verfassung von 1793 (Fn. 201), S. 618. 405 Begründet wurde der Ausschluß der Frauen vom Wahlrecht mit Mängeln und Unzulänglichkeiten im Bildungssystem, aufgrund derer Frauen noch nicht ausreichend ge-

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II. Realpolitische Umsetzung und Kritik: Politische Entwöhnung des Volkes trotz radikal-demokratischem Verfassungswerk? Läßt man das Manko der Exklusion der Frauen vom Wahlrecht außer acht, was geboten scheint, da es in den übrigen europäischen Ländern ebenfalls noch mindestens gut ein Jahrhundert dauern sollte, bis sich das allgemeine und gleiche Frauenwahlrecht würde durchsetzen können406, so präsentiert sich die Verfassung von 1793 mit der Einführung des allgemeinen und gleichen (Männer-)Wahlrechts und der auf das Rousseausche Gedankengut zurückzuführenden Vorstellung der Volkssouveränität äußerst demokratisch. Es fragt sich, was den Verfassunggeber dazu bewogen hatte, solch fundamentale Änderungen im Vergleich zur Verfassung von 1791 vorzunehmen.407 Zum einen sind die bereits erwähnten unterschiedlichen Phasen der Revolution dafür verantwortlich. In der ersten Phase der Revolution dominierte das Primat der Freiheit vom Staat, was sich, wie bereits ausgeführt, im Inhalt der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte von 1789 deutlich widerspiegelte: „Die Déclaration von 1789 war allein auf die Interessen des Bürgertums ausgerichtet: Eigentum und Freiheit waren die Orientierungspunkte dieser Erklärung.“ 408 In der mittleren Phase, in einem „Klima weiterer Radikalisierung“ 409, ist dann der Aspekt der Gleichheit in den Fokus gerückt410. Zum anderen muß man sich fragen, was sich vom „Wille[n], mit der Gleichheit Ernst zu machen“ 411, auch in das reale Staatsleben überführen ließ. Waren die Verfassunggeber selbst überhaupt von der tatsächlichen Umsetzbarkeit ihrer neuen abstrakten Prinzipien überzeugt? Diese Frage wird man wohl entschieden bildet seien, um mit dem Wahlrecht verantwortungsvoll umgehen zu können. Zudem betrachtete man ihre Exklusion nur als vorübergehenden und kurzen Zustand: „Les vices de notre éducation, dit Lanjuinais, rendent cet éloignement encore nécessaire, au moins pour quelques années“, zitiert nach Aulard, Histoire (Fn. 129), S. 289. Übersetzt: Die Mängel unserer Bildung machen diese Trennung noch notwendig, zumindest für einige Jahre. Siehe auch Kley/Amstutz, Gironde-Verfassungsentwurf (Fn. 381), S. 25. 406 Den Anfang machte Finnland, das 1906 das Frauenwahlrecht einführte, gefolgt von Norwegen (1913) und Dänemark (1915). 1918 zogen dann Polen, Österreich und Deutschland nach. 407 Sommermann, Verfassung von 1793 (Fn. 201), S. 615 benennt drei Prinzipien, die ihm in Gegenüberstellung mit der Verfassung von 1791 als besonders bemerkenswert scheinen: das republikanische Prinzip, das allgemeine Männerwahlrecht und das Prinzip direkter Demokratie. 408 Kley/Amstutz, Gironde-Verfassungsentwurf (Fn. 381), S. 17. Auch Sommermann, Verfassung von 1793 (Fn. 201), S. 613 sieht in der Verfassung von 1791 zuvörderst die Interessen des Besitzbürgertums repräsentiert; siehe dazu bereits in und um Fn. 393. 409 Sommermann, Verfassung von 1793 (Fn. 201), S. 613. 410 Kley/Amstutz, Gironde-Verfassungsentwurf (Fn. 381), S. 17; Hartmann, Französische Verfassungsgeschichte (Fn. 385), S. 66. 411 Sommermann, Verfassung von 1793 (Fn. 201), S. 625.

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verneinen müssen. Bei aller theoretischen Fortschrittlichkeit des Verfassungswerkes ist es als „Werk revolutionärer Propaganda, ein politisches Manöver“ 412 einzuordnen. Die politisch Verantwortlichen waren zwar im Unterschied zur Verfassung des Jahres 1791 nun bereit, den Gedanken der Gleichheitsforderung konsequent zu Ende zu denken.413 Vor der praktischen Umsetzung dieser nunmehr schriftlich fixierten politischen Gleichheit schreckte man aber, wohl gerade wegen ihrer Radikalität, nach wie vor zurück. Die Verfassung betrachtete man vielmehr als „etwas Übermenschliches, ein Evangelium“ 414, konzipiert für ruhige und befriedete Tage. Ihre Inkraftsetzung wurde suspendiert und der Konvent blieb bestehen „jusqu’à la paix“ 415, bis zum Frieden: „Noch am Abend, als man das erfolgreiche Referendum feierte, wurde die Verfassungsurkunde im Sitzungssaal der Convention feierlich in eine Arche aus Zedernholz gelegt und ihr Inkrafttreten auf bessere Zeiten vertagt.“ 416 Wahlen waren so auf unbestimmte Zeit ausgeschlossen und Aulard merkt zurecht kritisch an, daß das Volk in einem Maße der Demokratie entwöhnt wurde, die ihm noch nicht einmal mehr den Schein eines Wahlrechtes beließ.417 Die verfassungslose Zeit sollte ganze zwei Jahre andauern.418 So blieb es 1793 bei der – ohne Zweifel sehr fortschrittlichen – Theorie des allgemeinen und gleichen (Männer-)Wahlrechts, die man „vergeblich in die Wirklichkeit einzuführen gesucht hatte“ 419.

C. (Rechts-)Philosophische/politische Begründung des Zensus: Die Diskussion um die Ausgestaltung des Wahlrechts im verfassunggebenden Konvent Die Arbeit im Konvent war maßgeblich geprägt vom unerbittlichen Wettstreit zweier sich gegenüberstehender politischer Fronten: den gemäßigten Girondis, die ihren Namen dem Wahlbezirk ihrer Führer, der Gironde verdankten und den radikalen Linken, den Montagnards, deren Name ihren höher gelegenen Sitzen im Parlament („Montagne“ = Berg) geschuldet ist. Obwohl der Konvent in einem 412

Medzeg/Nohlen, Art. Frankreich (Fn. 86), S. 446. Medzeg/Nohlen, Art. Frankreich (Fn. 86), S. 446: „Das allgemeine Wahlrecht für alle männlichen Einwohner war schließlich die Konsequenz, die die Verfassungsgeber aus ihren Demokratievorstellungen zogen“ (Hervorhebungen i. O., A. S.). 414 Tecklenburg, Entwicklung (Fn. 129), S. 96. 415 Aulard, Histoire (Fn. 129), S. 312 f. 416 Hartmann, Französische Verfassungsgeschichte (Fn. 385), S. 68. 417 Aulard, Histoire (Fn. 129), S. 522. 418 Siehe Hartmann, Französische Verfassungsgeschichte (Fn. 385), S. 68 ff.; Tecklenburg, Entwicklung (Fn. 129), S. 96; Kley/Amstutz, Gironde-Verfassungsentwurf (Fn. 381), S. 35; zur Jakobinerherrschaft als Zeit ohne Verfassung auch A. Kley, Verfassungsgeschichte der Neuzeit. Grossbritannien, die USA, Frankreich, Deutschland und die Schweiz, 2. Aufl., Bern 2008, S. 145. 419 Tecklenburg, Entwicklung (Fn. 129), S. 144. 413

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Dekret weitläufig „alle Freunde der Freiheit und Gleichheit“ dazu aufgerufen hatte, Vorschläge für die neue Verfassung einzureichen, entschied man sich schließlich, den Entwurf Condorcets als Grundlage der sich anschließenden Beratungen heranzuziehen und machte eben jenen zum Berichterstatter des Verfassungsausschusses.420 Besagten Entwurf421 stellte Condorcet am 15. und 16. Februar 1793 im Konvent vor. Er ist maßgeblich von der Lehre Rousseaus und mithin vom Gedanken natürlicher Gleichheit und dem Prinzip der Volkssouveränität durchzogen.422 Eben jener Condorcet, der sich kurz vorher noch, nämlich 1789 im Rahmen der Debatten zur Verfassung von 1791, für die Verknüpfung des Wahlrechts mit der Bedingung eines bestimmten Grundeigentums eingesetzt hatte, hielt jetzt ein leidenschaftliches Plädoyer, die politischen Rechte allen Individuen in gleichem Maße zuteil werden zu lassen.423 Condorcets Verfassungsentwurf enthält konsequenterweise die Regelung, daß alle Bürger ab dem 21. Lebensjahr gleichermaßen wahlberechtigt und ab dem 25. Lebensjahr wählbar sein sollen.424 Er räumt in diesem Zusammenhang auch mit der Theorie vom Wahlrecht als Funktion, die an gewisse Bedingungen zu knüpfen sei425, auf, indem er

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Aulard, Histoire (Fn. 129), S. 282. Dokument abgedruckt bei Duverger, Constitutions (Fn. 366), Nr. 6, S. 43 ff. 422 Insbesondere die Begründung des Verfassungsentwurfs spiegelt eindeutig ihren Schöpfer Condorcet wider, der, geprägt von der Lektüre Rousseaus und den Erfahrungen der Revolutionsjahre, nicht davor zurückschreckte, die absolute Gleichheitsforderung auch in radikal-absoluter Weise auf das neue Verfassungswerk zu übertragen: „Eine so rücksichtslos konsequente Konstruktion einer Verfassung aus der Idee der Volkssouveränität kann nur das Werk eines Geistes sein, wie es Condorcet war, eines Mathematikers nach seiner Grundausbildung, eines Philosophen, der nicht von vornherein, aber nach und nach die Rousseau’schen Ansichten ganz zu seinen eigenen gemacht hatte und der sie darum um so überzeugender und kühner vertrat, eines Politikers der Revolutionszeit, eines Juristen der naturrechtlichen Schule; den begeisterten Schluß der Begründung konnte nur einer schreiben, der ganz eins mit dem Verfassungsentwurf war, und das war Condorcet. Der Verfassungsentwurf vom 16./17. Februar 1793 war sein letztes, großes Werk, – sein Lebenswerk“, so Tecklenburg, Entwicklung (Fn. 129), S. 80, Hervorhebungen i. O., A. S. Siehe auch Aulard, Histoire (Fn. 129), S. 282, der nicht nur anhand des Stiles, sondern vor allem aufgrund der hier präsentierten Ideen Condorcet als Hauptautor dieses Entwurfs ausmacht. 423 Siehe Condorcets „Plan de constitution, présenté à la Convention Nationale“ vom 15./16. Februar 1793, abgedruckt in: Condorcet O’Connor/Arago (Hrsg.), Oeuvres de Condorcet XII (Fn. 383), S. 384 ff. 424 Siehe abermals eben jenen Plan vom 15./16. Februar 1793, abgedruckt in: Condorcet O’Connor/Arago (Hrsg.), Oeuvres de Condorcet XII (Fn. 383), S. 388 f. Erläuterung des von Condorcet konzipierten zwei-stufigen Wahlsystems bei Tecklenburg, Entwicklung (Fn. 129), S. 89 ff. 425 Siehe zur Rivalität zwischen der sog. théorie de l’électorat-fonction, die das Wahlrecht als Funktion verstehen will, die einzelnen besonders prädestinierten Bürgern durch den Staat als Bezugspunkt der Souveränität zuteil wird, und der mit ihr konfligierenden sog. théorie de l’électorat-droit, die das Wahlrecht als notwendige Konsequenz aus der Vorstellung der Volkssouveränität als originäres Bürgerrecht begreift, das ausnahmslos allen Bürgern zustehen muß, S. 67 f. 421

Kap. 4: Siegeszug der Demokratieskeptiker und Rückkehr des Zensus

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dessen Eigenschaft als natürliches Recht unterstreicht und den Ausschluß einzelner Bürger von der Beteiligung am Wahlverfahren kategorisch ablehnt426. Prominenten Beistand erhielt er, wie zu erwarten, von Robespierre. In seiner vor dem Konvent gehaltenen Rede „Über das Eigentum“ vom 24. April 1793427 stellte er erneut die augenfällige Gegenläufigkeit der Einschränkung des Wahlrechts zum Gehalt der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte heraus und ging gar so weit, die Institution Privateigentum als solche als „konterrevolutionär“ zu klassifizieren. Kapitel 4

Siegeszug der Demokratieskeptiker und Rückkehr des Zensus A. Vorgeschichte Nur zwei Jahre später sollte die Verfassung von 1793 durch eine neue Verfassung abgelöst werden, die alle radikal-fortschrittlich demokratischen Regelungen mit einem Schlag revidieren und zur „bürgerlich-konservierenden Zielsetzung“ 428 zurückkehren sollte. Diese Verfassung schaffte das allgemeine und gleiche (Männer-)Wahlrecht wieder ab und führte den Eigentumszensus, der schon in die Verfassung von 1791 Einzug halten konnte429, wieder ein430. Nach dem Sturz Robespierres im Juli 1794 stritten die zwei Parteien, die sich nunmehr herausgebildet hatten, die Thermidorianer zur Linken – Verfechter der Demokratie – und die Thermidorianer zur Rechten – Verfechter der „république bourgeoise“ 431 – um das Inkraftsetzen der Verfassung von 1793432. Während zunächst noch eine Kommission damit beauftragt worden war, das einfachgesetzliche Regelwerk auszuarbeiten, um die Verfassung von 1793 in Kraft treten lassen zu können, wurden die Stimmen gegen die Inkraftsetzung und für die Ausarbeitung einer neuen Verfassung immer lauter. Befeuert wurde der Widerstand gegen die Verfassung von 1793 durch mehrere Aufstände des Volkes, das den Konvent 426 Siehe die Sitzung der Convention nationale vom 18. Februar 1793, abgedruckt in: Réimpression de l’ancien Moniteur. Seule histoire authentique et inaltérée de la révolution francaise depuis la réunion des états-généraux jusqu’au consulat (Mai 1789–Novembre 1799) avec des notes explicatives, Bd. XV, Paris 1847, Nr. 49, S. 465 (466 f.); Hinweis hierauf bei Esmein, Eléments I (Fn. 170), S. 355 m. Fn. 219. 427 Abgedruckt in M. Robespierre, Ausgewählte Texte, Deutsch von M. Unruh, mit einer Einleitung von C. Schmid, 1971, S. 394 ff. 428 Hartmann, Französische Verfassungsgeschichte (Fn. 385), S. 70. 429 Siehe hierzu ausführlich S. 47 ff. 430 Aulard, Histoire (Fn. 129), S. 549; Medzeg/Nohlen, Art. Frankreich (Fn. 86), S. 447; Hartmann, Französische Verfassungsgeschichte (Fn. 385), S. 71. 431 Aulard, Histoire (Fn. 129), S. 523 f. 432 Tecklenburg, Entwicklung (Fn. 129), S. 97; Aulard, Histoire (Fn. 129), S. 544.

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belagerte und so die Inkraftsetzung hoffte erzwingen zu können.433 Den Bestrebungen der anti-demokratisch gesinnten Verfechter einer Verfassung ganz im Sinne der „république bourgeoise“ kamen diese Aufstände und Unruhen mehr als gelegen, denn in ihren Augen hatte „die Demokratie nochmals ihre Schrecken gezeigt“ 434. Von diesem Punkt an arbeitete die Kommission am Entwurf für eine neue Verfassung, die, was von vornherein mehr oder minder als gesetzt betrachtet wurde, das Zensusprinzip wieder etablieren sollte.

B. Rückbesinnung auf bürgerlich-konservierende Zielsetzungen durch die Verfassung des Jahres III (1795) I. Normative Vorgaben: Rehabilitierung des Zensus durch die Verfassung vom 23. September 1795 Die Verfassung des Jahres III wurde am 22. August 1795 vom Nationalkonvent verabschiedet und trat nach Volksabstimmung am 23. September in Kraft. Sie fungierte rückblickend zweifellos als „un instrument de réaction destiné à arrêter la marche de la démocratie“ 435. Fraglich ist zunächst, wie ihre konkreten Regelungen in Bezug auf die Ausgestaltung des Wahlrechts vor dem Hintergrund dieser Intention aussahen.436 Da man auf die Verwendung des Vokabulars Aktivund Passivbürger bewußt verzichtete, wurde eine im Ergebnis gleichwohl identische Unterscheidung zwischen Bürgern und Nichtbürgern vorgenommen.437 Art. 11 gemäß galt: „Französische Bürger allein können in der Urversammlung stimmen, und zu den durch die Verfassung begründeten Aemtern ernannt werden.“

Wer französischer Bürger war, regelte Art. 8: „Jeder in Frankreich gebohrne und sich aufhaltende Mensch, der, wenn er volle 21 Jahre alt ist, sich in das Bürgerregister seines Cantons hat einschreiben lassen, der hierauf ein Jahr lang auf dem Gebiete der Republik gewohnt hat, und eine directe Grund- oder Personalsteuer zahlt, ist französischer Bürger.“ 438 433 A. Aulard, La constitution de l’an III et la république bourgeoise, in: La Révolution française. Revue d’histoire moderne et contemporaine 38 (1900), S. 113 (117). 434 Tecklenburg, Entwicklung (Fn. 129), S. 98. 435 J. Godechot, Les institutions de la France sous la révolution et l’empire, 2. Aufl., Paris 1968, S. 458. Übersetzt: (. . .) ein Instrument der Reaktion, dazu bestimmt, den Gang der Demokratie anzuhalten. 436 Einen genauen Überblick über alle Artikel der Verfassung von 1795 das Wahlrecht betreffend liefert A. Aulard, L’exercice de la souveraineté nationale sous le directoire, in: La Révolution française. Revue d’histoire moderne et contemporaine 40 (1901), S. 5 (6 ff.). 437 Hartmann, Französische Verfassungsgeschichte (Fn. 385), S. 71. 438 Beide zitierten Artikel in deutscher Übersetzung abgedruckt bei Pölitz, Verfassungen (Fn. 395), S. 32; Gosewinkel/Masing (Hrsg.), Verfassungen (Fn. 172), S. 209. Hierzu u. a. Aulard, La constitution de l’an III (Fn. 433), S. 128 f.

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Schon der Begriff „Urversammlung“ läßt den Rückschluß zu, daß die Verfassung von 1795 in Anlehnung an die Verfassung von 1791 ebenfalls ein indirektes Wahlverfahren vorsah, in dem die Macht de facto nicht bei den Urwählerversammlungen (sog. Assemblées primaires), sondern bei den von diesen gewählten Wahlmännern (sog. électeurs) lag.439 Wie zu erwarten nutzten die Verfassunggeber dieses indirekte Wahlverfahren, um „einen beträchtlichen Census und auch für die damalige Zeit wohl im wesentlichen faktisch wenigstens das Grundbesitzerfordernis einzuschmuggeln“ 440. Art. 35 knüpft nämlich die Eigenschaft eines électeurs an folgende restriktive Bedingungen: „Niemand kann zum Wähler ernannt werden, wenn er nicht volle 25 Jahre alt ist, und wenn er nicht mit den zur Ausübung der Rechte eines französischen Bürgers erforderlichen Eigenschaften eine der folgenden Bedingungen vereinigt, nämlich: – in den Gemeinden über 6.000 Einwohnern – daß er Eigenthümer oder Nutznießer eines Guts, das zu einem Ertrag angeschlagen ist, das an Werth 100 Taglohnen gleich kommt, oder eines Feldstückes sey, das 100 Taglohnen gleich kommt; – in den Gemeinden unter 6.000 Einwohnern – daß er Eigenthümer oder Nutznießer eines Gutes sey, welches zu einem Ertrage angeschlagen ist, der so viel ausmacht, als der Localwerth von 150 Tagen Arbeitslohn, oder Pächter einer Wohnung, die auf ein Einkommen angeschlagen ist, das an Werth 100 Taglohnen gleich kommt, oder eines Feldstückes, das 100 Taglohnen gleich kommt; – und auf dem Lande – daß er Eigenthümer oder Nutznießer eines Gutes sey, das zu einem Ertrag angeschlagen ist, der dem Localwerthe von 150 Tagen Arbeitslohn gleich kommt, oder Pächter oder Meier von Gütern sey, die auf ein Einkommen angeschlagen sind, das an Werth 200 Taglohnen gleich kommt (. . .).“ 441

Des Weiteren sah die Verfassung von 1795 erstmals in der Geschichte ein Zweikammersystem vor.442 Die legislative Gewalt setzte sich zusammen aus dem Rat der Fünfhundert (sog. Conseil des Cinq Cents) und dem Rat der Alten (sog. Conseil des Anciens) mit 250 Mitgliedern. Die Regierung bildete ein fünfköpfiges Direktorium, wobei jährlich ein Mitglied ausgewechselt wurde.443

439 Hartmann, Französische Verfassungsgeschichte (Fn. 385), S. 72. Zur Diskussion um die mittelbare oder unmittelbare Ausgestaltung des Wahlverfahrens siehe Aulard, La constitution de l’an III (Fn. 433), S. 133 ff. 440 Tecklenburg, Entwicklung (Fn. 129), S. 101. 441 Pölitz, Verfassungen (Fn. 395), S. 34; Gosewinkel/Masing (Hrsg.), Verfassungen (Fn. 172), S. 211. 442 Hartmann, Französische Verfassungsgeschichte (Fn. 385), S. 72; Tecklenburg, Entwicklung (Fn. 129), S. 102 f. – Grundsätzliches zu den Unterschieden des Zwei- und Einkammersystems beispielsweise bei H.-P. Schneider, § 13: Das parlamentarische System, in: E. Benda/W. Maihofer/H.-J. Vogel (Hrsg.), Handbuch des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 2. Aufl. 1994, S. 537 (542), Rn. 12. 443 Medzeg/Nohlen, Art. Frankreich (Fn. 86), S. 446 ff.

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II. Realpolitische Umsetzung und Kritik Insbesondere das indirekte Wahlsystem, das die électoren-Eigenschaft an einen für viele Bürger undenkbar aufzubringenden Zensus knüpfte, blieb nicht ohne (von den Verfassunggebern natürlich so beabsichtigte) weitreichende Konsequenzen. Die Zahl der Wahlberechtigten schrumpfte von sieben auf fünf Millionen; ungefähr ein Viertel der männlichen Erwachsenen wurde mithin der politischen Partizipationsmöglichkeit beraubt.444 Die Zahl der Wahlmänner halbierte sich im Vergleich zu 1791 von 50.000–60.000 auf 30.000.445 Zweifellos bietet die Verfassung von 1795 eine enorme Angriffsfläche und unzählige Anknüpfungspunkte für Kritik: Sie sieht sich dem – durchaus berechtigten – Vorwurf ausgesetzt, „reaktionär“ 446 zu sein; verfaßt von der Bourgeoisie für die Bourgeoisie447, die aus elitärem Eigeninteresse heraus das Gleichheitspostulat mit Füßen trat448. Trotz oder gerade wegen dieses sich aufdrängenden Eindrucks eines anti-demokratischen Charakters der Verfassung bedarf es einer differenzierteren Betrachtung. Anknüpfungsmöglichkeit bietet Aulard, der sich seinerseits um eine weniger einseitige Betrachtung der Verfassung bemüht. Er gibt zwar zunächst unumwunden zu, daß es sich bei der Verfassung von 1795 ohne Zweifel um ein „oeuvre de réaction“, ein Werk der Reaktion handele, das das Volk aus der politischen Stadt jagen würde, die Bourgeoisie triumphieren ließe, indem es ihr ein Privileg verleihe, fügt aber hinzu, daß es keineswegs dem Ansinnen der Verfassunggeber entsprach, einen solchen „acte de réaction“ zu statuieren. Er stellt des Weiteren klar, 444

Medzeg/Nohlen, Art. Frankreich (Fn. 86), S. 447. Hartmann, Französische Verfassungsgeschichte (Fn. 385), S. 72. 446 Tecklenburg, Entwicklung (Fn. 129), S. 103 („Schon der Rückgriff auf das indirekte Wahlverfahren könnte zu der Frage berechtigen, ob die Reformen nicht als reaktionär zu bezeichnen waren. Sicher aber waren sie es wegen der Einführung des Census“, Hervorhebung i. O., A. S.); Godechot, Institutions (Fn. 435), S. 458 ff. 447 Godechot, Institutions (Fn. 435), S. 458 bemerkt scharfzüngig: „La Constitution n’accorde pas, en effet, la souveraineté ni au peuple français, ni à la nation, mais aux seuls citoyens qu’elle définit.“ – Übersetzt: Die Verfassung gestehe die Souveränität de facto weder dem französischen Volk, noch der Nation zu, einzig und allein den Bürgern, die ihren Inhalt bestimmten. 448 Pointiert bei Tecklenburg, Entwicklung (Fn. 129), S. 101, der den Fokus auf die Funktion des Zensusprinzips innerhalb des Verfassungsgeflechts von 1795 lenkt. Er sieht eben jenes als „technisches Mittel“, dessen sich die Verfassunggeber bedienten, um die Bürger, die in der Lage waren, sich ein fundiertes politisches Urteil zu bilden, herauszufiltern und nur ihnen politische Partizipationsmöglichkeiten einzuräumen: „Hiermit war das Gleichheitsprinzip bei Bestimmung der Person der Wahlberechtigten, sowohl der Bürger als auch der électeurs, durchbrochen. Nicht der Mensch als solcher, sondern nur insofern man von seiner Meinung eine gewisse Bedeutung und Richtigkeit vermuten konnte, war wahlberechtigt. (. . .) Das technische Mittel bei dieser Würdigung des Stimmgewichtes konnte immer nur ein mechanisches sein, da für die Beurteilung des Wertes des Urteils eines Menschen kein Urteiler bestimmt werden kann, der allseitig kompetent erachtet würde.“ 445

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die Mitglieder der verfassunggebenden Nationalversammlung seien keine AntiDemokraten gewesen; sie hätten sich nicht gegen die Demokratie stellen wollen, ganz im Gegenteil, sie hätten sie gar zu verbessern und neu zu organisieren gesucht. Die Verfassunggeber, so Aulard, waren bestrebt, die Regierung in die Hände des wahren Volkes, eines aufgeklärten und freien Volkes zu legen, derjenigen, die nicht in der Dunkelheit der Ignoranz und der Knechtschaft der Armut dahinvegetieren würden. Die Verfassunggeber wären der tiefen und ehrlichen Überzeugung gewesen, daß das unwissende und arme Volk der Feind der Freiheit sei. Im allgemeinen Wahlrecht sahen sie nicht nur ein Instrument agrarischer Revolution, sondern auch ein Instrument der Herrschaft des Klerus, der Könige, der Adligen, einfach aller Reaktionäre. Als Bereiter des Fortschritts kam für sie nur die Bourgeoisie in Betracht. Ihr Ziel bestand in der Abschaffung der Herrschaft des Pöbels, letztlich im Interesse des Volkes selbst, in der Abschaffung des allgemeinen Wahlrechts, das das Volk zurück in das Joch der Könige und des Klerus geführt habe: „Il est exact de dire que cette constitution chasse les prolétaires de la cité politique, fait triompher la bourgeoisie, lui confère un privilège. Il n’est pas injuste de dire qu’à ce point de vue la constitution de l’an III fut une oeuvre de réaction. Mais il faut dire aussi que les rédacteurs de cette constitution ne crurent pas, ne voulurent pas faire acte de réaction. Remarquons d’abord qu’ils ne se prononcèrent pas expressément contre la démocratie: ils prétendirent l’organiser mieux, en remettant le gouvernement aux mains du vrai peuple, du peuple éclairé et libre, (. . .). (. . .) ils étaient convaincus que le peuple ignorant et pauvre serait l’ennemi de la lumière et de la liberté (. . .). Dans le suffrage universel, ils ne voyaient pas seulement un instrument de révolution agraire, mais aussi un instrument de domination pour les prêtres, les rois, les nobles, pour tous les réacteurs.“ 449 Wie den Verantwortlichen 1789 sei auch den Verfassunggebern von 1795 nicht bewußt gewesen, durch den Ausschluß der armen Bevölkerungsschichten vom Wahlrecht die Ausübung der nationalen Souveränität auszuhebeln. Sie waren überzeugt, daß die wahrhaftige Nation, zumindest aus politischer Sicht, nur aus Bürgern bestehen könne, die nicht der Knechtschaft der Armut unterworfen seien: „Mais, en excluant les pauvres du droit de suffrage, les poli449 Aulard, Histoire (Fn. 129), S. 571 f. (so auch schon wortgleich ders., La constitution de l’an III [Fn. 433], S. 158 f.). Übersetzt: Es ist richtig zu sagen, daß diese Verfassung das Proletariat aus der politischen Stadt warf, die Bourgeoisie triumphieren ließ und ihr ein Privileg verlieh. Es ist nicht ungerecht zu sagen, daß die Verfassung des Jahres III von diesem Standpunkt aus betrachtet ein Werk der Reaktion war. Aber man muß auch sagen, daß die Verfasser dieser Verfassung keinen Akt der Reaktion statuieren wollten. Bemerken wir zuerst, daß sie sich nicht ausdrücklich gegen die Demokratie ausdrücken: Sie strebten danach, die Demokratie besser zu organisieren, die Regierung in die Hände des wahren Volkes zu legen, eines Volkes aufgeklärt und frei. Sie waren überzeugt, daß die Nichtwissenden und Armen der Feind des Lichts und der Freiheit seien. Im allgemeinen Wahlrecht sahen sie nicht nur ein Instrument der Agrarrevolution, sondern auch ein Instrument der Herrschaft der Priester, der Könige, der Adeligen, ein Instrument für alle Reaktionäre.

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tiques dirigeants de ce temps-là, tout comme ceux de 1789, ne croyaient pas du tout avoir suspendu l’exercice de la souveraineté nationale. Il leur semblait que la véritable nation, au point de vue politique, ne devait être composée que de citoyens non soumis à la servitude de la pauvreté. Ces citoyens étaient les seuls qui, à leurs yeux, formaient le vrai peuple.“ 450 Nach dem Verständnis der verfassunggebenden Nationalversammlung lag die Souveränität trotz des Ausschlusses breiter Bevölkerungsschichten vom Wahlrecht nach wie vor beim Volk, zum Wohle der Gesamtnation nunmehr aber eben beim wahren Volk. Aulard unterstellt den Abgeordneten der verfassunggebenden Nationalversammlung mithin die Bezugnahme auf das Argument, das Vermögen/Steuerleistung als meßbares Kriterium der Vernunft der Menschen begreift. Man habe die Regierung in die Hand der politisch Einsichtsfähigen und Aufgeklärten legen wollen. Um diese vom übrigen Volk sondieren zu können, bedurfte es eines objektiv-praktikablen Maßstabs, so daß man sich auf den an die Steuerleistung anknüpfenden Zensus rückbesann. Die Überzeugung von der Notwendigkeit einer ungleichen Verteilung der Souveränität ausschließlich auf die Einsichtsfähigen der Gesellschaft, die sog. capables, begegnet bei Guizot und den Doktrinären im Übrigen erneut.451 Ob Aulard mit seiner Vermutung Recht hat oder es den Abgeordneten der verfassunggebenden Nationalversammlung doch schlicht um den Ausschluß der armen Bevölkerungsschichten vom Wahlrecht ging, verbleibt letztlich im Bereich des Spekulativen.

C. (Rechts-)Philosophische/politische Begründung des Zensus: Die Diskussion um die Ausgestaltung des Wahlrechts im verfassunggebenden Konvent Begründet wurde die Wiedereinführung beispielweise vom Kommissionsmitglied du Pont de Nemours mit dem Hinweis auf das natürliche, den Eigentümern von Gott selbst zuteil werdende Recht auf Herrschaft. Es sei unverkennbar, so du Pont, daß die Eigentümer, ohne deren Zustimmung sich niemand im Land niederlassen könne, die vorzüglichen Bürger seien. Sie seien Souverän durch die Gnade Gottes, die Natur und ihre Arbeit: „Il est évident que les propriétaires, sans le consentement desquels personne ne pourrait ni loger ni manger dans le pays, en sont les citoyens par excellence. Ils sont souverains par la grâce de Dieu, de la nature, de leur travail, de leurs avances, des travaux et des avances de leurs 450 Aulard, L’exercice de la souveraineté (Fn. 436), S. 5, Hervorhebung i. O., A. S. Übersetzt: Aber die politischen Protagonisten der damaligen Zeit – ebenso wie jene von 1789 – glaubten nicht, durch den Ausschluß der Armen vom Wahlrecht die Ausübung der Nationalsouveränität suspendiert zu haben. Es schien ihnen, daß die wahrhaftige Nation aus politischer Sicht aus nicht mehr Bürgern zusammengesetzt sei als denen, die nicht der Knechtschaft der Armut unterworfen waren. Diese Bürger seien die einzigen, die das wahre Volk bildeten. 451 Siehe zu deren Lehre ausführlich S. 132 ff.

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ancêtres (. . .).“ 452 Du Pont scheint sich an der Lehre der Physiokraten und ihrer Hervorhebung der Eigentümerstellung innerhalb der Gesellschaft zu orientieren. Im Ansatz klingt auch die Idee des Beitragsgedankes an, denn, so die Prämisse, staatliches Wachstum wäre ohne die Arbeit der Eigentümer und deren Beitrag zum Gemeinwesen nicht möglich. Die Argumentation anderer Abgeordneter fällt deutlich nüchterner aus, ist weniger vom Pathos durchzogen. Boissy d’Anglas beruft sich beispielsweise auf das Grundeigentum als Indikator für Bildung, Interesse und Sachkenntnis in Bezug auf die bestehenden Gesetze. Man müsse, so d’Anglas, von den Besten regiert werden. Die Besten seien die Sachkundigsten und die, die am meisten am Bestand der Gesetze interessiert seien. Von einigen wenigen Ausnahmen abgesehen, finde man solche Menschen nur unter denen, die im Besitz von Grundeigentum mit dem Land verbunden seien, mit den Gesetzen, die dieses Eigentum beschützen, mit der Friedlichkeit, die es erhält, und die diesem Grundeigentum und dem Wohlstand die Erziehung verdanken, die ihnen die Fähigkeit zuteil werden läßt, die Vor- und Nachteile der Gesetze, die das Schicksal des Vaterlandes vorgeben, mit Scharfsinnigkeit und Gerechtigkeit zu diskutieren. Ein Land, regiert durch die Grundeigentümer, sei im „,ordre social‘, das, wo die Nicht-Eigentümer regierten, sei im ,ordre nature‘“ 453. In dieser Argumentation der Privilegierung der Grundeigentümer findet sich wiederum eindeutig der Grundgedanke der Möserschen Aktientheorie wieder, die als Argument eines proportionalen Anstiegs des Interesses am Gelingen des Staates mit zunehmendem Besitz zusammengefaßt worden ist.454 Grundeigentümer, so der Abgeordnete d’Anglas, seien über ihr Land, ihre Scholle mehr als alle anderen Nicht-Grundeigentümer mit dem Land verbunden und folglich von dessen Entwicklung abhängig. Sie sind am Bestand der Gesetze interessiert, denn das Schicksal des Landes ist über ihr Grundeigentum immer auch ihr Schicksal, was sie dazu anhalten wird, im eigenen Interesse alles ihnen Mögliche zum Gedeihen des Staates beizutragen. Auch das Argument, Grundeigentum ermögliche den Erhalt der notwendigen Bildung und Erziehung, um die Gesetze auf ihre Tauglichkeit hin überprüfen und beurteilen zu können, scheint eine – wenngleich untergeordnete – Rolle zu spielen. Paroli bot den Zensusbefürwortern kaum jemand. Lediglich Thomas Paine und die zwei weniger bekannten Abgeordneten François Xavier Lanthenas und Julien Souhait des Vosges brachen eine Lanze für die Einbeziehung des einfachen Volkes ins politische Geschehen.455 Souhait des Vosges tat dies, indem er in einem 452 Nachweis bei Aulard, Histoire (Fn. 129), S. 549 f., Hervorhebungen i. O., A. S.; ders., La constitution de l’an III (Fn. 433), S. 123. 453 Nachweis des Zitats in Originalsprache bei Aulard, Histoire (Fn. 129), S. 550; ders., La constitution de l’an III (Fn. 433), S. 123 f.; in Auszügen bei Godechot, Institutions (Fn. 435), S. 458 f.; Übersetzung bei Tecklenburg, Entwicklung (Fn. 129), S. 99. 454 Siehe hierzu ausführlich S. 76 ff. 455 Aulard, La constitution de l’an III (Fn. 433), S. 124.

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Teil 2: Zensuswahlrecht in Frankreich

leidenschaftlichen Pamphlet die Rolle des Volkes als Motor und treibende Kraft der französischen Revolution ins Gedächtnis rief: „Cette classe d’hommes que l’on appelle prolétaires s’est armée avec enthousiasme pour la liberté commune (. . .). Qui peut douter que la Révolution ait été faite par le peuple?“ 456 Doch diese warnenden Hinweise gingen schlicht unter. Kapitel 5

Renaissance des Zensusgedankens mit ungeahnten Dimensionen nach der Revolutionszeit A. Vorgeschichte Die Zeit um und nach 1814 war keine ausschließliche Phase der Reaktion457, sondern vielmehr maßgeblich geprägt von sich gegenseitig immer wieder ablösenden Abschnitten der Aktion und Reaktion458. Die Charte von 1814 wandert dabei auf einem schmalen Grat zwischen Revolution und Restauration und sieht sich vor die schwierige Aufgabe gestellt, einerseits das Erbe der Revolution, d.h. einige als notwendig und gut erachtete Errungenschaften der Revolutionszeit beizubehalten oder gar erstmalig zu etablieren, und andererseits aber trotzdem an das monarchische Herrschafts- und Regierungssystem vor der Revolution anzuknüpfen459: „Die Auseinandersetzung mit der Revolutionszeit stand dabei – aus456 Godechot, Institutions (Fn. 435), S. 459; fast wortgleich bei Aulard, La constitution de l’an III (Fn. 433), S. 125 f. Übersetzt: Diese Klasse von Menschen, die man Proletarier nennt, habe sich mit Enthusiasmus für die gemeinsame Freiheit bewaffnet. Wer könne bezweifeln, daß die Revolution vom Volk gemacht worden ist? 457 Die in der Zwischenzeit, also zwischen 1795 und 1814 erlassenen Verfassungen (genauer die Verfassung des Jahres VIII von 1799, die Verfassung von 1802 und die Verfassung des Französischen Kaiserreichs vom 18. Mai 1804) bleiben – ebenso wie deren historische Begleitumstände – aus den in Fn. 389 bereits erläuterten Gründen im Rahmen dieser Abhandlung unberücksichtigt. Siehe nur zu den Ursachen und Folgen des Staatsstreichs Napoleon Bonapartes vom 9. November 1799, der ihn zum Ersten Konsul und mithin Alleinherrscher machte, und der Rolle der brumairianischen Elite im Rahmen dessen Giesselmann, Elite (Fn. 58), S. 312 ff. (insbes. S. 343 ff.). 458 Plastisch bei E. Rothacker, Philosophie und Politik im französischen Denken des frühen XIX. Jahrhunderts, 1950, S. 105: „Es sind das die Zuckungen, die durch den Körper Europas und zumal Frankreichs laufen nach der gewaltigen Krise, die er seit 1789 durchgemacht hat.“ 459 M. J. Prutsch, Die Revision der französischen Verfassung im Jahre 1830. Zur Frage der Bewährung des Verfassungssystems der Charte constitutionnelle von 1814, in: Der Staat 47 (2008), S. 85 (87). Daß das Vorhaben, durch die Revolution erstmalig errungene Institutionen im monarchischen Herrschaftssystem etablieren zu wollen, dem König einige List abverlangte, bringt V. Sellin, Die geraubte Revolution. Der Sturz Napoleons und die Restauration in Europa, 2001, S. 268 f., auf den Punkt: „Er [der König, A. S.] war gezwungen, wesentliche Elemente der Senatsverfassung und mit ihnen unverwechselbare Erbstücke der Revolution in die Charte zu übernehmen, weil die dynastische Legitimität allein die Monarchie nicht mehr zu tragen vermochte, aber er konnte

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gesprochen oder unausgesprochen – immer im Hintergrund.“ 460 Zudem läßt sich ab etwa 1814 beobachten, „daß der Grundrechtsenthusiasmus der beginnenden Revolutionszeit nach der Phase der ,terreur‘ sehr rasch in eine tiefe Grundrechtsskepsis umschlug“ 461. Nach der Abdankung Napoleons am 6. April 1814462, galt es das politische System völlig neu zu organisieren und zu strukturieren. Im Zuge dieses Vorhabens erarbeitete der Senat, in eigenen Augen nach wie vor verfassunggebende Gewalt, einen Verfassungsentwurf.463 Diesem Vorhaben von Seiten des Senats wurde aber durch König Ludwig XVIII. ein jähes Ende gesetzt. Schon auf den ersten Blick weist die Charte Constitutionnelle in ihrer äußeren Form im Vergleich zu den ihr vorangegangenen Verfassungsdokumenten frappierende Unterschiede auf. Erstens trägt sie nicht mehr wie seit 1789 üblich die Bezeichnung Constitution, sondern wird nunmehr als Charte tituliert.464 Geschuldet versuchen, die Institutionen, welche die Revolution geschaffen hatte, von ihrem demokratischen Boden zu lösen und auf das Fundament des Gottesgnadentums zu stellen“, Hervorhebung i. O., A. S. Für E. R. Huber, Legitimität, Legalität und juste milieu. Frankreich unter der Restauration und dem Bürgerkönigtum, in: ders. (Hrsg.), Nationalstaat und Verfassungsstaat. Studien zur Geschichte der modernen Staatsidee, 1965, S. 71 (72) macht gerade der „Versuch zur ,Vereinigung des Unvereinbaren‘ (. . .) das Wesen des Konstitutionalismus“ ganz grundsätzlich aus: „die Verbindung der monarchischen Souveränität mit weitgehenden demokratisch-parlamentarischen Bestimmungsrechten, schließlich die Verbindung von Elementen der alten feudalen Gesellschaft mit den Kräften, Ideen und Interessen der modernen bürgerlichen Gesellschaft“. 460 Erbe, Nachhall (Fn. 389), S. 61. 461 Würtenberger, § 2 (Fn. 172), Rn. 15. 462 Bezüglich der historischen Ereignisse im unmittelbaren Vorfeld der Ausarbeitung der Charte Constitutionnelle sei auf M. J. Prutsch, Die Charte constitutionnelle Ludwigs XVIII. in der Krise von 1830. Verfassungsentwicklung und Verfassungsrevision in Frankreich 1814 bis 1830, 2006, S. 13 ff. verwiesen. 463 Prutsch, Revision (Fn. 459), S. 87. 464 R. Rémond, La vie politique en France depuis 1789, Bd. 1, 2. Aufl., Paris 1965, S. 268 f. weist darauf hin, daß die Bezeichnung der Verfassung als „Charte“ in Abkehr zur vorherigen Betitelung als „Constitution“ ganz bewußt gewählt worden sei; man habe sich einer verwaltungsrechtlichen Terminologie des Ancien Régime bedient, einer Bezeichnung, die nichts mit dem Vokabular der Revolution gemein hat: „Le nom même de Charte est intentionnel: on est allé chercher dans la terminologie administrative de l’Ancien Régime une appellation qui ne doive rien au vocabulaire de la Révolution.“ Der Versuch, mit dem Begriff „Constitution“ uno actu die gesamte Revolution beiseite schieben zu wollen, liegt auf der Hand: „Die Bezeichnung Constitution hat in der Sprache der Emigranten keinen Platz mehr, da sie die Errungenschaften jener Revolution repräsentiert, der man sich entledigen will“, siehe S. Otten, Marie-Felix Faulcons Memoiren. Ein Rückblick auf die Entstehung der Charte Constitutionnelle, in: G. Gersmann/H. Kohle (Hrsg.), Frankreich 1815–1830. Trauma oder Utopie? Die Gesellschaft der Restauration und das Erbe der Revolution, 1993, S. 73 (79), Hervorhebung i. O., A. S. Des Weiteren wollen einige Autoren allein aus der Titulierung als „Charte“ den zwingenden Rückschluß ziehen, daß es sich bei der Verfassung um eine oktroyierte handele, so P. Bastid, Les institutions politiques de la monarchie parlementaire française (1814–1848), Paris 1954, S. 63. Siehe zur Terminologie auch H. Gangl, Die Verfassungsentwicklung in Frankreich 1814–1830, in: Historische Zeitschrift 202 (1966), S. 265 (273 f.) sowie Prutsch, Revision (Fn. 459), S. 88; Erbe, Nachhall (Fn. 389),

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ist dies dem Umstand, daß die Charte Constitutionelle, anders als die Revolutionsverfassungen, auf dem monarchischen Prinzip beruht. Das bedeutet, daß sie den Grundsatz der Volkssouveränität negiert, um an seine Stelle den der Souveränität des Monarchen treten zu lassen.465 Die Verfassung stellt konsequenterweise keinen Vertrag zwischen Volk und Regent mehr dar, sondern wird vielmehr in einer Art monarchischem Schöpfungsakt durch den König466 zur „Etablierung einer auf göttlichem Recht ruhenden Herrschaftsordnung“ 467 erlassen. S. 62 und Sellin, Geraubte Revolution (Fn. 459), S. 270 f. Beugnot, einer der drei Kommissare der Kommission, die mit der Ausarbeitung der Verfassung betraut worden waren, seinerseits glühender Anhänger des monarchischen Prinzips, beanspruchte für sich, die Bezeichnung „Charte“ gehe auf seinen Vorschlag zurück: siehe A. Beugnot (Hrsg.), Mémoires de Comte Beugnot. Ancien ministre (1783–1815), Bd. II, Paris 1866, S. 218 f. Zu Beugnots Inanspruchnahme der Durchsetzung der Begrifflichkeit auch Prutsch, Charte constitutionnelle Ludwigs XVIII. (Fn. 462), S. 45 mit Fn. 146. 465 In der Präambel der Charte Constitutionnelle von 1814 wird explizit auf ihren monarchischen Charakter hingewiesen: „Indem Wir den Grundsatz anerkannten, daß eine freie und monarchische Verfassung den Erwartungen des aufgeklärten Europa’s entsprechen müsse, (. . .)“, siehe die deutsche Übersetzung gemäß Pölitz, Verfassungen (Fn. 395), S. 89 oder an anderer Stelle beispielsweise „ob gleich in Frankreich alle öffentliche Gewalt auf der Person des Königs beruht, (. . .)“, ebd., S. 89, Hervorhebungen i. O., A. S. 466 Die Charte Constitutionnelle selbst macht unmißverständlich klar, daß der König als Verfassunggeber dem Volk wohlwollend und gänzlich aus alleiniger Machtposition heraus die Verfassung „zugesteht“: „Aus diesen Gründen haben Wir freiwillig und in freier Ausübung Unserer königlichen Gewalt sowohl für Uns, als für Unsere Nachfolger, auf ewige Zeiten Unsern Unterthanen diese Verfassungsurkunde, so wie sie hier folgt, zugestanden!, übergeben und bewilligt“, Übersetzung gemäß Pölitz, Verfassungen (Fn. 395), S. 90. Medzeg/Nohlen, Art. Frankreich (Fn. 86), S. 453 pointiert zum Abhängigkeitsverhältnis zwischen Volk und Monarch, das das Volk gar in die Position eines Bittstellers drängt: „Die Charte negierte die auch von Napoleon wenigstens äußerlich anerkannte nationale Souveränität und begriff das Königtum als eine Institution, die unabhängig von der Nation existiere (. . .). Auf Grund königlichen Wohlwollens wurden dem Volk bestimmte Freiheiten und Garantien zugestanden.“ Auch Erbe weist in diesem Kontext zutreffend darauf hin, daß die Charte Constitutionnelle dadurch den Charakter eines Zugeständnisses des Regenten, „der wie ein mittelalterlicher Herrscher ,urkundet‘“ an sein Volk erhält: „1814 jedoch erließ der neue Monarch die Verfassung von sich aus, tat wenigstens so, als ob er sie aus freien Stücken gewährte“, siehe Erbe, Nachhall (Fn. 389), beide Zitate S. 62. In sehr ähnliche Richtung auch Prutsch, Revision (Fn. 459), S. 88, der darauf hinweist, der König habe den „ihm zur Verfügung stehenden Handlungsspielraum(es)“ genutzt, um „eine seine persönliche Handschrift tragende Verfassung zu oktroyieren“; beachte zudem Hartmann, Französische Verfassungsgeschichte (Fn. 385), S. 91 und Huber, Legitimität (Fn. 459), S. 71: „Er erließ sie [die Charte Constitutionnelle, A. S.] einseitig aus höchster monarchischer Machtvollkommenheit und schuf damit an Stelle der vereinbarten den Typus der ,oktroyierten Verfassung‘“. Folglich kannte die Charte Constitutionnelle auch kein spezifisches Verfahren der Verfassungsänderung, wie wir es heute aus Art. 79 GG kennen, da der König als alleiniger Verfassunggeber die Verfassung völlig nach seinem Belieben ganz oder in Teilen außer Kraft setzen konnte, dazu Erbe, Nachhall (Fn. 389), S. 62; Prutsch, Revision (Fn. 459), S. 90 m. Fn. 13: „genossen Verfassungsgesetze auch keinen besonderen ,Bestandesschutz‘“. 467 Prutsch, Revision (Fn. 459), S. 88.

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Mit der Intitulatio und der Devotionsformel „Wir Ludwig von Gottes Gnaden König von Frankreich und Navarra (. . .)“ 468 macht der König dem Senat unmißverständlich klar, daß er seinen Herrschaftsanspruch unmittelbar aus Gott und dessen göttlicher Gnade ableitet469. Er sieht sich selbst als „roi par la grâce de Dieu“ 470 und positioniert sich so ganz offensichtlich gegen die Senatsverfassung, die ihrerseits eine Berufung des Königs auf den Thron vorsah471. Dabei verzichtet er ganz bewußt auf den Titel „König der Franzosen“ und wählt stattdessen „König von Frankreich“, da ersterer die demokratische Legitimation impliziert hätte.472 Zudem sieht die Charte Constitutionnelle kein Verfahren zu ihrer eigenen Beschlußfassung vor, was als hinlänglicher Beleg dafür gelten kann, daß der König sich als absoluter und alleiniger Verfassunggeber wahrnimmt.473 Zweitens ist dem Verfassungstext selbst eine Präambel des Königs vorangestellt474, wobei es dem König ein Anliegen war und auch gelang, dem Dokument „seinen eigenen Stempel auf(zu)drücken“ 475. Aus den soeben genannten Grün468 Übersetzung gemäß Pölitz, Verfassungen (Fn. 395), S. 89. Siehe hierzu u. a. Prutsch, Charte constitutionnelle Ludwigs XVIII. (Fn. 462), S. 36. 469 Huber, Legitimität (Fn. 459), S. 71. 470 C. Seignobos, Histoire politique de l’Europe contemporaine. Évolution des partis et des formes politiques 1814–1914, 7. Aufl., Paris 1924, S. 133; Tecklenburg, Entwicklung (Fn. 129), S. 111. 471 Siehe die Constitution française vom 6. April 1814, Art. 2, W. Altmann (Hrsg.), Ausgewählte Urkunden zur ausserdeutschen Verfassungsgeschichte seit 1776. Zum Handgebrauch für Historiker und Juristen, 1897, S. 201. 472 Sellin, Geraubte Revolution (Fn. 459), S. 225. Sellin weist in diesem Kontext ebenfalls darauf hin, daß erst Louis Philippe unter der geänderten Charte Constitutionnelle von 1830 wieder die Bezeichnung „roi des Français“ trug. 1830 wurde das monarchische Prinzip dann wieder von der Volkssouveränität abgelöst, siehe hierzu das folgende Kapitel dieser Arbeit. 473 Sellin, Geraubte Revolution (Fn. 459), S. 241: „Nicht die Verfassung begründete die Königswürde, sondern der König gewährte die Verfassung. Da der König die ausschließliche verfassunggebende Gewalt beanspruchte, war keine Bestätigung durch die französische Nation oder ihre Repräsentanten vorgesehen.“ 474 Erbe, Nachhall (Fn. 389), S. 62. 475 Die Formulierung geht zurück auf eine Ansprache des Kanzlers Dambray, zugleich Vorsitzender der mit der Ausarbeitung der Verfassung beauftragten Kommission, mit der er deren erste Sitzung am 22. Mai 1814 eröffnete, Text abgedruckt in: AN, BB 30/191 dossier 1., zitiert nach Sellin, Geraubte Revolution (Fn. 459), S. 244 m. Fn. 62. Darüber, daß der Inhalt der Charte Constitutionnelle maßgeblich – wenn nicht gar ausschließlich – von den Vorstellungen und dem Willen des Königs geprägt wurde und der Einflußnahmemöglichkeit der Kommission weitgehend entzogen war, herrscht weitgehend Einigkeit, siehe ders., Geraubte Revolution (Fn. 459), S. 240 („Die Charte – oder genauer: die Umgestaltung der Senatsverfassung zur Charte – war wesentlich sein Werk [das des Königs, A. S.]. Die von ihm beauftragten Kommissare verfügten nur über einen sehr begrenzten Handlungsspielraum und arbeiteten in enger und kontinuierlicher Absprache mit dem Monarchen“, Hervorhebungen i. O., A. S.); S. 252 („Ludwig wollte seine eigenen Vorstellungen durchsetzen. Die Charte sollte sein Werk sein. Aber zugleich suchte er den Anschein zu erwecken, als habe er sie im Einvernehmen mit den maßgeblichen politischen Kräften des Landes geschaffen“, Hervorhebung i. O., A. S.)

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den war der König nicht bereit, die vorgelegte Senatsverfassung zu übernehmen, andererseits wollte (und konnte?) er aber auf die Einbeziehung des Senats und des Corps législatif in die Arbeiten an der neuen Verfassung auch nicht vollkommen verzichten.476 Im unmittelbaren Anschluß an die Abdankung Napoleons fanden sich die Mitglieder der provisorischen Regierung und einige Senatsmitglieder zusammen, um in größter Eile einen Verfassungsentwurf auszuarbeiten. Der Senat nahm diesen am 6. April 1814477 an und bereits am Folgetag erteilte auch das Corps Législatif die Zustimmung478. Da der König hingegen mit wesentlichen Bestimmungen der Senatsverfassung nicht einverstanden war, mußte eine neue, seinen Prämissen entsprechende Verfassung ausgearbeitet werden. Zu diesem Zweck setzte er eine Kommission ein, die sich wie folgt zusammensetzte: drei von ihm berufene Kommissare, jeweils neun Mitglieder des Senats und des Corps Législatif, die nicht von den Gremien selbst entsendet, sondern durch die Regierung bestimmt wurden.479 Die Kommission arbeitete auf der Grundlage eines Diktats Ludwigs, in dem er jeden einzelnen Artikel der Senatsverfassung mit Anmerkungen versehen hatte480, nunmehr einen Entwurf aus, der dann erneut dem König zur Durchsicht vorgelegt und erst danach in der Kommission diskutiert wurde. Die

sowie S. 252 ff. zu den „Grenzen der Einwirkungsmöglichkeiten der Kommission“; Prutsch, Charte constitutionnelle Ludwigs XVIII. (Fn. 462), S. 40 f. mit Bezugnahme auf Sellin; zu a. A., die letztlich wegen der engmaschigen Vorgaben des Königs nicht zu überzeugen vermag, siehe M. Kirsch, Monarch und Parlament im 19. Jahrhundert. Der monarchische Konstitutionalismus als europäischer Verfassungstyp – Frankreich im Vergleich, 1999, S. 302 („Der Einfluß des Königs auf die Gestaltung des Verfassungstextes beschränkte sich weitgehend auf die Auswahl seiner Berater, nur die Grundentscheidung, die Charte einseitig zu erlassen, sie zu oktroyieren, ging auf ihn zurück“). 476 In der Erklärung von Saint-Ouen vom 2. Mai 1814 (zitiert nach Bulletin des lois du royaume de France, 5ième série, Bd. I, Paris 1814, Nr. 8, S. 75) proklamiert König Ludwig: „Résolus d’adopter une constitution libérale, nous voulons qu’elle soit sagement combinée; et ne pouvant en accepter une qu’il est indispensable de rectifier, nous convoquons pour le 10 du mois de juin de la présente année le Sénat et le Corps législatif, nous engageant à mettre sous leurs yeux le travail que nous aurons fait avec une commission choisie dans le sein de ces deux corps, (. . .).“ Übersetzt: Entschlossen, eine freiheitliche Verfassung anzunehmen, wollen wir, daß sie umsichtig angeordnet werde; und da wir keine Verfassung akzeptieren können, deren Richtigstellung unerläßlich ist, berufen wir auf den 10. Juni dieses Jahres den Senat und den Corps Législatif ein und verpflichten uns zugleich, ihnen die Arbeit vorzulegen, die wir bis dahin mit einer aus diesen beiden Häusern gewählten Kommission durchgeführt haben werden. 477 Hartmann, Französische Verfassungsgeschichte (Fn. 385), S. 89. 478 Siehe ausführlich zu ihren 29 Artikeln Prutsch, Charte constitutionnelle Ludwigs XVIII. (Fn. 462), S. 25 ff. 479 Sellin, Geraubte Revolution (Fn. 459), S. 230 f.; Prutsch, Charte constitutionnelle Ludwigs XVIII. (Fn. 462), S. 39. Otten, Faulcons Memoiren (Fn. 464), S. 74 f. zählt außerdem den Vorsitzenden Dambray zu den Kommissaren, so daß sie im Ergebnis auf vier Kommissare kommt. 480 Sellin, Geraubte Revolution (Fn. 459), S. 232.

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Beratungen über den Verfassungsentwurf dauerten nur vom 23. bis 28. Mai 1814 an.481

B. Verschärfung des Zensus zur endgültigen Disziplinierung der Revolutionäre I. Normative Vorgaben: Die Charte Constitutionnelle von 1814 und ihre Zwitterstellung zwischen Revolution und Ancien régime Die Charte Constitutionnelle vom 4. Juni 1814 charakterisiert man wohl am treffendsten als einen „Kompromiß“ 482 zwischen Aufarbeitung des revolutionären Vermächtnisses und Wiederbelebung des Ancien régimes. Wenn man bedenkt, daß sie trotz Unterbrechung durch Napoleons Herrschaft der Hundert Tage und zugestandener Änderungen 1830/31 in ihrem Kern Bestand über einen Zeitraum von 34 Jahren haben sollte und so nur von den Verfassungsgesetzen der Dritten Republik 1875, die 65 Jahre Gültigkeit besaßen, übertroffen wurde, dürfte außer Frage stehen, daß allein schon dieser Umstand „die Untersuchung von Geist und Inhalt der Charte zu einer lohnenden Beschäftigung“ 483 macht. Hinzu kommt, daß die zukunftsweisende Wirkkraft der Charte Constitutionnelle sich nicht in Frankreich erschöpfte, sondern sich über die Landesgrenzen hinaus auf dem europäischen Kontinent, allen voran auch in Deutschland484, bemerkbar machte, indem sie den Beginn einer gänzlich neuen Verfassungsepoche einläutet: den Konstitutionalismus485. In Art. 38 heißt es übersetzt zu den Voraussetzungen des passiven Wahlrechts: „Kein Deputirter kann in die Kammer zugelassen werden, wenn er nicht 40 Jahre alt ist, und eine directe486 Steuer von 1000 Fr. bezahlt.“

Und weiter zu denen des aktiven Wahlrechts in Art. 40: „Die Wähler, welche an der Ernennung der Deputirten Theil nehmen, haben kein Stimmrecht, wenn sie nicht eine directe Steuer von 300 Fr. bezahlen, und wenigstens 30 Jahre alt sind.“ 487 481

Sellin, Geraubte Revolution (Fn. 459), S. 253. Erbe, Nachhall (Fn. 389), S. 63; Sellin, Geraubte Revolution (Fn. 459), S. 235 wie auch Prutsch, Revision (Fn. 459), S. 88, der die Charte Constitutionnelle als „einen auf Ausgleich bedachten Kompromiss, mit dem sich die verschiedensten Interessengruppen im Lande wenn nicht identifizieren, so doch abfinden konnten“ einschätzt. 483 Erbe, Nachhall (Fn. 389), S. 61, Hervorhebungen i. O., A. S. 484 Siehe zur Einflußnahme Frankreichs auf die deutsche Entwicklung S. 156 ff. 485 Huber, Legitimität (Fn. 459), S. 72, 74. 486 Die „direkte Steuer“ (contribution directe) umfaßt neben der Grundsteuer (contribution foncière) auch die Personal-, Mobiliar- und Patentsteuer. In den Vorberatungen der Kommission hatte man den Zensus von 300 Franken in Bezug auf das aktive Wahlrecht noch auf die Grundsteuer beschränkt, das Kriterium im Verlauf der Diskussionen dann aber gelockert; siehe hierzu Meyer, Wahlrecht (Fn. 20), S. 86. 482

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II. Realpolitische Umsetzung und Kritik Wie zu vermuten „schrumpfte die Zahl der aktiv Wahlberechtigten drastisch“ 488 durch das „rigide Zensuswahlrecht“ 489. Die zensitären Beschränkungen des Wahlrechts sollten alle vorher da gewesenen in den Schatten stellen und sie fast schon im Vergleich als eher harmlose Vorläufer anmuten lassen. Die Zahl der Wahlberechtigten sank in dieser Zeit in einschneidender Weise auf etwa 90– 100.000 Wahlberechtigte und die der Wählbaren auf etwa 16–25.000490 bei einer Einwohnerzahl von etwa 30 Millionen Menschen491. Der Zensus wurde ganz bewußt hoch angesetzt, denn die politischen Entscheidungsträger machten hauptsächlich die Erweiterung des Stimmrechts für die revolutionäre Entwicklung verantwortlich und erhofften sich von einer Beschränkung desselben zukünftig gefestigte gesellschaftliche Verhältnisse.492 487 Übersetzung der beiden Artikel nach Pölitz, Verfassungen (Fn. 395), S. 91; siehe auch Gosewinkel/Masing (Hrsg.), Verfassungen (Fn. 172), S. 284 f. 488 Hofmann/Dreier, Repräsentation (Fn. 114), § 5 Rn. 30. 489 Erbe, Nachhall (Fn. 389), S. 63. Huber, Legitimität (Fn. 459), S. 73 weist explizit darauf hin, daß durch die Etablierung des Zensusprinzips der in der Gesellschaft faktisch existierende Gegensatz zwischen nichtbesitzender und besitzender Klasse bewußt auf die normative Ebene der Verfassung gehoben wurde: „Nur die Angehörigen der besitzenden Klasse waren ,Bürger‘; die Angehörigen der nichtbesitzenden Klasse waren bloße ,Untertanen‘“. Auch Tecklenburg, Entwicklung (Fn. 129), S. 113 kritisiert die Beseitigung der „égalité“ scharf; an die Stelle dieses „naturrechtlich-individualistischen Prinzips“ habe man ein weiteres Mal „das geschichtliche Prinzip des Besitzes“ treten lassen und das Wahlrecht darauf aufgebaut. In die gleiche Richtung Seignobos, Histoire politique (Fn. 470), S. 131: „le cens très élevé fixé par la Charte donnait à tout le régime un caractère ploutocratique; il divisait la nation en deux classes: la grande majorité privée de tout droit politique, la petite minorité privilégiée des électeurs (. . .)“, Hervorhebungen i. O., A. S. Übersetzt: Der durch die Charte Constitutionnelle sehr hoch angesetzte Zensus gab dem ganzen System einen plutokratischen Charakter; er teilte die Nation in zwei Klassen: die große Mehrheit der von allen politischen Rechten Ausgeschlossenen und die kleine Minderheit der privilegierten Wähler. 490 Llanque, Ideengeschichte (Fn. 165), S. 341 geht von 90.000 Wahlberechtigten und 25.000 Wählbaren aus, wohingegen Medzeg/Nohlen, Art. Frankreich (Fn. 86), S. 455 die Zahl der Wahlberechtigten mit 100.000 etwas optimistischer, die der wählbaren Männer mit 20.000 hingegen wiederum etwas pessimistischer einschätzen. Das schwärzeste Bild hinsichtlich des aktiven Wahlrechts zeichnet Erbe, Nachhall (Fn. 389), S. 63 nach, der von nur circa 80.000 Wahlberechtigten ausgeht, wonach nur etwa jeder Hundertste zur damaligen Zeit wahlberechtigt war. Siehe hinsichtlich des passiven Wahlrechts zudem J.-J. Chevallier, Histoire des institutions et des régimes politiques de la France de 1789 à nos jours, 4. Aufl., Paris 1972, S. 164; Hartmann, Französische Verfassungsgeschichte (Fn. 385), S. 93; M. Hecker, Napoleonischer Konstitutionalismus in Deutschland, 2005, S. 143 (lediglich 16.000 Männer hätten die Kriterien, um sich zur Wahl für die Deputiertenkammer aufstellen lassen zu können, erfüllt). 491 Chevallier, Histoire (Fn. 490), S. 164; Hecker, Konstitutionalismus (Fn. 490), S. 142. 492 Meyer, Wahlrecht (Fn. 20), S. 84 f.; wortgleich bei Tecklenburg, Entwicklung (Fn. 129), S. 115; in eine ähnliche Richtung auch Seignobos, Histoire politique (Fn. 470), S. 131, das Wahlrecht schien „un pouvoir si dangereux“, eine zu gefährliche

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Nachdem Napoleon am 1. März 1815 zurückgekehrt war493, fanden im Dezember 1816/Januar 1817 Debatten über die Ausführungsgesetze zum Wahlrecht statt. Der breite Konsens bestand darin, Art. 38 und 40 der Charte Constitutionnelle streng anzuwenden, insbesondere auch und vor allem deshalb, so beispielsweise das Argument eines Abgeordneten namens Marquis de Raigecourt, weil die vorangegangenen Wahlen mit weniger striktem Zensus schlecht für das Land gewesen seien.494 Nachdem die Liberalen, Befürworter eines strengen Zensus, aber direkten Wahlverfahrens, Oberhand über ihre Widersacher, die Royalisten, Verfechter eines Wahlverfahrens, das möglichst vielen Bürgern die politische Partizipation, aber nur innerhalb eines indirekten Wahlverfahrens, ermöglichen sollte, erlangt hatten, wurde 1817 ein neues Wahlgesetz verabschiedet.495 Mit diesem wurde eine Renaissance des Zensusprinzips in Frankreich eingeläutet. Des Weiteren löste die Ermordung des Herzogs von Berry im Februar 1820 eine erneute Debatte um das Wahlrecht aus, an deren Ende die Etablierung des sog. Doppelstimmrechts stand.496 Dieses auch als sog. loi du double vote bekannte Verfahren sah vor, daß die Höchstbesteuerten jedes Departements, nachdem alle Wahlberechtigten über 60 % der Abgeordneten abgestimmt hatten, nur unter sich über die noch übrigen 40 % abstimmen durften.497 Im Rahmen einer auf Frankreich beschränkten Beurteilung ist die Charte Constitutionnelle von 1814, insbesondere im Vergleich zu den Wahlrechtsvorgaben der Verfassung von 1791498 mit ihrem verhältnismäßig niedrigen Zensus, eindeutig als „Rückschritt“ zu werten499. Sie stellte alle bisher da gewesenen zensitären Gestaltungsformen in den Schatten und überführte die Zahl der vom Wahlrecht Ausgeschlossenen in völlig neue Dimensionen. In Relation zu anderen europäischen Verfassungen der Zeit vor und um 1830 ist sie – wie ihre Vorgängerinnen Kraft und Macht, wenn man sie nicht einer nur geringen Zahl von verläßlichen Menschen anvertraute. Der hohe Zensus wurde „offensichtlich als Garant für eine konservative Werthaltung“ betrachtet (so Prutsch, Charte constitutionnelle Ludwigs XVIII. [Fn. 462], S. 53); dazu auch T. Würtenberger, Zur Geschichte des allgemeinen Wahlrechts in vergleichender Perspektive, in: F. Hufen (Hrsg.), Verfassungen – Zwischen Recht und Politik. Festschrift zum 70. Geburtstag für Hans-Peter Schneider, 2008, S. 537 (540). 493 Tecklenburg, Entwicklung (Fn. 129), S. 116. 494 Sitzung vom 23. Januar 1817, abgedruckt in: J. Mavidal/É. Laurent (Hrsg.), Archives Parlementaires de 1787 à 1860. Recueil complet des débats des chambres françaises, 2. Série: 1800–1860, Bd. XVIII, Paris 1874, S. 225 f. 495 Medzeg/Nohlen, Art. Frankreich (Fn. 86), S. 453 ff. 496 Erbe, Nachhall (Fn. 389), S. 68. 497 Tecklenburg, Entwicklung (Fn. 129), S. 119; Prutsch, Revision (Fn. 459), S. 90; Erbe, Frankreich (Fn. 105), S. 40; Huber, Legitimität (Fn. 459), S. 77 m. Fn. 7. 498 Die radikal-egalitäre Verfassung von 1793 fließt an dieser Stelle nicht in die Beurteilung ein, da sie nur auf dem Papier bestand, siehe dazu in und um Fn. 107. 499 Stern, Staatsrecht I (Fn. 29), § 10 I 2 (S. 291).

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von 1791 und 1795 – dennoch als liberal einzuordnen.500 Zudem wurden essentielle Errungenschaften der Revolutionszeit wie die Volksvertretung durch ein Zweikammersystem, die Presse-, Religions- und Eigentumsfreiheit durch die Charte Constitutionnelle von 1814 etabliert501 und mithin in ihrem Bestand für die Zukunft gesichert.

C. (Rechts-)Philosophische/politische Begründung des Zensus: Die Diskussion um die Ausgestaltung des Wahlrechts im verfassunggebenden Konvent Hinsichtlich des aktiven und passiven Wahlrechts sah der Verfassungsentwurf folgende Regelungen vor: Man hatte sich gegen ein Auswahlrecht des Königs für Deputierte entschieden und stattdessen Steuerleistung und Alter als eine Art Filter vorgesehen. Das passive Wahlrecht wurde an eine Steuerleistung von 1.200 Francs und ein Mindestalter von 40 Jahren, das aktive Wahlrecht immerhin an eine Steuerleistung von 300 Francs bei einer Altersgrenze von 30 Jahren geknüpft.502 Nachdem der Gesamtentwurf am 23. Mai 1814 verlesen worden war503, kam die Diskussion am 25. Mai auf die Frage nach der Ausgestaltung des Wahlrechts. Der Abgeordnete Félix Faulcon504 ergriff das Wort505 und sprach sich unter Berufung auf drei Gründe nachdrücklich gegen die für das passive Wahlrecht vorgesehene Steuerleistungsgrenze von 1.200 Francs aus. Erstens, so Faulcon, gäbe es arme Departements, in denen nur so wenige Personen eine so hohe Steuerleistung erbringen könnten, daß den Wählern kaum mehr eine ernsthafte Freiheit der Wahl bliebe. Zweitens hätten sich viele Beamte, die nur über ein mittelmäßiges Einkommen verfügten, in schwierigen Zeiten um den Staat verdient gemacht und ihre Eignung und Fähigkeit als Wähler so bereits hinlänglich unter Beweis gestellt. Diesen würde ungerechterweise eine zukünftige Kandidatur untersagt. Und drittens würde, wenn es bei dem hohen Zensus bleiben sollte, mindestens der Hälfte der Mitglieder des Corps Législatif eine Kandidatur für die Deputiertenkammer verwehrt bleiben, was letztlich deren Widerstand ge500

Erbe, Nachhall (Fn. 389), S. 63. Sellin, Geraubte Revolution (Fn. 459), S. 226. 502 Siehe hierzu Sellin, Geraubte Revolution (Fn. 459), S. 249; Savigny, Wahlrecht (Fn. 31), S. 23 m. Fn. 1. 503 Otten, Faulcons Memoiren (Fn. 464), S. 76. 504 Marie-Felix Faulcon (1758–1843) war ein Jurist aus Poitiers, der von der Generalständeversammlung 1789 bis zur Restauration 1814 als Abgeordneter ununterbrochen den jeweiligen Versammlungen angehört hatte. Informativ zu dessen persönlichen Erfahrungen in Bezug auf die Genesis der Charte Constitutionnelle Otten, Faulcons Memoiren (Fn. 464), S. 73 ff. 505 Faulcon hatte den Moment der Eröffnung der Diskussion über den Wahlzensus offenbar schon lange Zeit herbeigesehnt und „sich seine Argumente gegen den hohen Zensus schon lange zurechtgelegt“, siehe Otten, Faulcons Memoiren (Fn. 464), S. 78. 501

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gen den Verfassungsentwurf schüren könne. Er fuhr fort, daß er gar nicht die Ansicht vieler politischer Schriftsteller, die das Vermögen als Garant für politische Vernunft werten würden, zu entkräften suche. Das Steuerleistungserfordernis von 300 Francs, an das das aktive Wahlrecht gekoppelt sei, genüge diesem Ansatz aber. Er warnte eindringlich vor der Etablierung einer „kleinen Geldaristokratie“ und empfand die „Ausschließung derer, die es seit 1789 nicht gescheut haben, in gefährlichen Zeiten ihrer Überzeugung treu zu bleiben und im Dienste der Nation zu stehen, in einem Augenblick, in dem der so lang ersehnte äußere und innere Frieden naht, (. . .) wie eine große Ungerechtigkeit“ 506. Der Prototyp des politischen Schriftstellers, den Faulcon hier vor dem inneren Auge hatte, war wohl Benjamin Constant, dessen Denken als „typisch für sein Zeitalter“ 507 eingestuft werden kann. Just einen Tag vor der Aussprache über die Wahlrechtsregelung und 10 Tage vor der Verkündung der Charte Constitutionnelle, am 24. Mai 1814, hatte eben jener seine Schrift „Réflexions sur les constitutions et les garanties“ 508 veröffentlicht. Den Ausschluß der Nicht-Besitzenden von jeglicher politischer Partizipationsmöglichkeit begründet Constant hier damit, daß nur die Besitzenden sich für die Prinzipien der Ordnung, Gerechtigkeit und Staatserhaltung stark machen würden. Nur sie verfügten über ausreichend Muße, Interesse und Verständnis für die öffentlichen Angelegenheiten: „Wen wirtschaftlicher Zwang in ewiger Abhängigkeit festhält und zur Tagelöhnerarbeit verurteilt, der ist über die öffentlichen Angelegenheiten nicht besser aufgeklärt als die Kinder, und er ist nicht interessierter als ein Ausländer an der nationalen Wohlfahrt, deren Elemente er nicht kennt und an deren Vorteilen er nur indirekt teilnimmt. (. . .) Man braucht also noch eine Bedingung über die gesetzlichen Vorschriften der Staatsangehörigkeit und des Mindestalters hinaus für das Wahlrecht. Diese Bedingung ist die Freizeit, die unentbehrlich ist, um die Aufklärung und um das rechte Urteil zu gewinnen. Das Eigentum allein verschafft diese Freizeit, das Eigentum allein macht die Menschen fähig, politische Rechte auszuüben. (. . .) Ich verlange also Eigentum als Bedingung, sowohl für das aktive als für das passive Wahlrecht (. . .).“ 509 Constant begreift Eigentum mithin als Aus506

Otten, Faulcons Memoiren (Fn. 464), S. 78. Tecklenburg, Entwicklung (Fn. 129), S. 115. 508 B. Constant, Réflexions sur les constitutions, la distribution des pouvoirs, et les garanties, dans une monarchie constitutionnelle, Paris 1814. Beachte zu Condorcet außerdem S. 107 ff. 509 Zitat Constants abgedruckt bei: O. H. v. d. Gablentz, Die politischen Theorien seit der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung. Politische Theorien Teil III, 3. Aufl. 1967, S. 146. Hierzu Würtenberger, Geschichte (Fn. 492), S. 539; Meyer, Wahlrecht (Fn. 20), S. 85 f.; Tecklenburg, Entwicklung (Fn. 129), S. 114 f.; R. Kühnl, Formen bürgerlicher Herrschaft. Liberalismus – Faschismus, 1971, S. 32; zu Constant auch W. Gagel, Die Wahlrechtsfrage in der Geschichte der deutschen liberalen Parteien 1848–1918, 1958 S. 11 f.; J. S. Schapiro, Liberalism and the Challenge of Fascism. Social Forces in England and France (1815–1870), New York u. a. 1949, S. 154 ff. 507

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druck von Vernunft und politischer Einsichtsfähigkeit der Bürger. Allein das Eigentum gewähre die notwendige Freiheit, sich mit politischen Belangen auseinandersetzen zu können. Letztlich stellte Faulcon den Änderungsantrag, in Bezug auf das passive Wahlrecht auf jegliche Steuerleistungsgrenze zu verzichten oder, wenn man schon von einem solchen Erfordernis nicht gänzlich absehen könne, dann sei es zumindest in keinem Fall höher als 600 Francs anzusetzen.510 Obwohl einige Kommissionsmitglieder Faulcon in seinem Vorhaben Recht gaben und ihn unterstützten, erteilten die vom König eingesetzten Kommissare seinem Antrag eine deutliche Absage. Das Einzige, worauf man sich einigen konnte, war eine Senkung der Steuerleistungsgrenze für das passive Wahlrecht um 200 Francs auf nunmehr 1.000 Francs.511 Am Morgen des 26. Mai 1814 ergriff Faulcon erneut das Wort und nahm auf eines seiner am Vortag bereits vor der Kommission vorgebrachten Argumente gegen den Zensus von 1.000 Francs als Voraussetzung für das passive Wahlrecht Bezug. Da auch bei einem Zensus von 1.000 Francs in den armen Wahlkreisen nur so wenige Personen dieses Kriterium erfüllen könnten, daß die Freiheit der Wahl nicht garantiert werden könne, sei entweder der Passivzensus auf maximal 600 Francs zu senken oder ersatzweise in den ärmeren Departements eine Mindestzahl von 100 Wählbaren dadurch sicherzustellen, daß dort den 100 Höchstbesteuerten – unabhängig von der von ihnen de facto erbrachten Steuerleistung – das passive Wahlrecht zuteil werde.512 Nach längerer Aussprache einigte man sich trotz einigen Unmuts der Kommissare schließlich darauf, daß in den ärmeren Wahlkreisen, in denen nicht mindestens 50 Personen 1.000 Francs oder mehr an Steuerleistung aufbringen konnten, so vielen der nachfolgenden Höchstbesteuerten das passive Wahlrecht zuerkannt werden sollte, bis die Quote von 50 erfüllt war.513 Nachdem die Debatten in der Kommission am 28. Mai 1814 beendet waren und die Verkündung des Verfassungswerks für den 31. Mai anberaumt war, verschob der König sie kurzerhand auf den 4. Juni, wofür sowohl innere als auch äußere Widerstände verantwortlich zu machen sind. Zunächst zu letztgenannten: Widerstand gegen die Verfassung regte sich vor allem innerhalb des Corps Législatif. Zum einen fühlte es sich als Gremium übergangen, weil das Verfassungsdokument ihm nicht zur Beratung und Beschlußfassung vorgelegt werden

510 Siehe Sellin, Geraubte Revolution (Fn. 459), S. 261 m. Fn. 123; Otten, Faulcons Memoiren (Fn. 464), S. 78. 511 Sellin, Geraubte Revolution (Fn. 459), S. 262 m. Fn. 124. 512 Sellin, Geraubte Revolution (Fn. 459), S. 262 m. Fn. 125. 513 Sellin, Geraubte Revolution (Fn. 459), S. 262 m. Fn. 126; siehe Art. 39 der Charte Constitutionnelle vom 4. Juni 1814, abgedruckt in: Altmann (Hrsg.), Urkunden (Fn. 471), S. 207 f. Hierzu Meyer, Wahlrecht (Fn. 20), S. 86 f.; Prutsch, Charte constitutionnelle Ludwigs XVIII. (Fn. 462), S. 53 mit Fn. 178.

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sollte514, zum anderen hatten viele Abgeordnete, die keine Steuerleistung von 1.000 Francs aufbringen konnten, wie von Faulcon prophezeit, mittlerweile begriffen, daß ihnen eine erneute Kandidatur versagt bleiben würde515. Hinzu traten innere Widerstände König Ludwigs, denn kurz vor der Verkündung begann er mit sich zu hadern, ob er tatsächlich an dem von ihm eingeschlagenen Kurs festhalten und die Charte Constitutionnelle vollkommen aus eigener Kraft, als König von Gottes Gnaden, verkünden sollte, sich mit einem Schlag vom Erfordernis demokratischer Legitimation lossagen sollte, anstatt die Verfassung, wie seit der Revolution üblich, einem Referendum zu unterziehen.516 Letztlich blieb der König trotz Unsicherheit, bestärkt durch gutes Zureden seines Kommissars Beugnot, einem eisernen Verfechter des monarchischen Prinzips517, seinem Kurs treu, so daß die Charte Constitutionnelle den Kammern am 4. Juni 1814 verkündet wurde518. Kapitel 6

Konservierung einer politischen Hegemonialstellung der elitären Bourgeoisie durch das Zensuswahlrecht A. Vorgeschichte Erstaunlich lange hatte die Opposition die verfassungsrechtlich garantierten weitreichenden Kompetenzen des Königs geduldet, der beispielsweise im Rahmen der Regierungsbildung fast völlig unabhängig von den Kammern zu agieren 514 Endgültig klar wurde dies, als die Quästoren des Corps Législatifs vom Innenminister eine Kopie der Charte Constitutionnelle vorgelegt bekamen, mit der Anweisung versehen, sie den Abgeordneten ohne Aussprache zu verlesen, siehe Sellin, Geraubte Revolution (Fn. 459), S. 266 m. Fn. 143. Hierzu auch Prutsch, Charte constitutionnelle Ludwigs XVIII. (Fn. 462), S. 43. 515 Sellin, Geraubte Revolution (Fn. 459), S. 266 m. Fn. 145. 516 Sellin, Geraubte Revolution (Fn. 459), S. 269: „Die Konstituierung des Dritten Stands zur Nationalversammlung im Jahre 1789 hatte das monarchische Eigenrecht auf Herrschaft ein für allemal beseitigt. (. . .) Indem er Napoleon absetzte und im Namen der Nation eine neue Verfassung verabschiedete, hatte der Senat im April das Recht der Revolution erneut in Anspruch genommen. Durch diese Akte hatte er den französischen Thron frei gemacht, und auf diesen Thron hatte er Ludwig berufen als einen nicht dynastisch, sondern revolutionär und demokratisch legitimierten Herrscher. Statt diesen Rechtsgrund zu akzeptieren, versuchte Ludwig seit seiner Rückkehr aus dem Exil, dem Senat die Revolution aus der Hand zu nehmen und sie in seine eigene Revolution zu verwandeln. Daß er jetzt, kurz vor der Vollendung dieses Raubes noch einmal zögerte, macht deutlich, welches Wagnis er in Wirklichkeit einging und welche Kaltblütigkeit und welcher Mut dazugehörten, um dem in Frankreich seit einem Vierteljahrhundert unangefochten wirkenden demokratischen Prinzip die monarchische Legitimität entgegenzusetzen.“ 517 Sellin, Geraubte Revolution (Fn. 459), S, 267 ff. 518 Prutsch, Charte constitutionnelle Ludwigs XVIII. (Fn. 462), S. 43 f.; Sellin, Geraubte Revolution (Fn. 459), S. 273.

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vermochte.519 Doch ab 1830 begann sich die Lehre vom Parlamentarismus im französischen Liberalismus langsam durchzusetzen, was dessen Anführer Adolphe Thiers mit dem griffigen Leitsatz „Le roi règne, mais il ne gouverne pas“ – Der König herrscht, aber er regiert nicht – auf den Punkt zu bringen vermochte.520 Um diesem Entwicklungsprozeß der Parlamentarisierung in Frankreich Einhalt zu gebieten, löste der König im Mai 1830 die Zweite Kammer auf. Dies trug aber nicht zur Entspannung der politischen Lage bei, sondern provozierte die Eskalation zwischen den königstreuen Ultra-Konservativen, die den König von verfassungsrechtlichen Beschränkungen zu befreien suchten, und der aus Linken und Liberalen bestehenden Opposition, denen dessen verfassungsrechtliche Bindungen nicht weit genug reichten. Die Neuwahlen brachten der Opposition zum Unwillen des Königs noch weitere Zugewinne.521 Der König sah sich gezwungen, im Wege des Staatsstreichs im Juli 1830 drei Ordonannzen zu erlassen, von denen eine ein neues Wahlgesetz anordnete. Er berief sich auf das ihm gemäß Art. 14 der Charte Constitutionnelle zustehende Notrecht, obwohl es sich hier ganz offensichtlich nicht um eine von dieser Norm vorausgesetzte, dem Schutz der Verfassung dienende Maßnahme handelte, sondern um die Vorbereitung des Verfassungssturzes.522 Von Bonapartisten angeführt, brachen daraufhin am 26. Juli 1830 revolutionäre Unruhen in Paris aus. Auch die Rücknahme der Ordonannzen und die Einberufung eines gemäßigten Kabinetts konnten die Revolutionäre nicht mehr aufhalten.523 Spätestens seit der Regentschaft des Bürgerkönigs Louis Philipp, der sich am 7. August 1830 von den Kammern zum König proklamieren ließ, und dem um den Bankier Lafitte im November 1830 konstituierten dritten Kabinett ließ sich die enge Verknüpfung von Geld und politischer Macht nicht mehr leugnen.524 Fraglich ist, ob und in welcher Form die damals geltende Charte Constitutionnelle von 1830 die Vorrangstellung der besitzenden Oberschicht stärkte. 519 520

Huber, Legitimität (Fn. 459), S. 81. Burdeau/Hamon/Troper, Droit (Fn. 201), S. 322; Huber, Legitimität (Fn. 459),

S. 82. 521

Huber, Legitimität (Fn. 459), S. 83. Huber, Legitimität (Fn. 459), S. 84. Art. 14 der Charte Constitutionnelle vom 4. Juni 1814 lautete: „Der König ist höchstes Oberhaupt des Staates; er befehligt die Land- und Seemacht, erklärt Krieg, schließt Friedens-, Allianz- und Handelstractate, ernennt zu allen Stellen der öffentlichen Verwaltung, und erläßt die zur Vollziehung der Gesetze und zur Sicherheit des Staates nöthigen Verfügungen und Verordnungen“, siehe den Artikel abgedruckt in französischer Sprache bei Altmann (Hrsg.), Urkunden (Fn. 471), S. 206. Während die Ultra-Konservativen gerne und oft mit dem Instrument der „Doctrin der rechtmäßigen Staatsstreiche“ operierten (zitiert nach H. v. Treitschke, Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert, Bd. IV, 1889, S. 11), beriefen die Liberalen sich in konträrer Weise auf das Widerstandsrecht der Nation bei Gesetzesoder Verfassungsbruch durch den Herrscher, mithin auf die „Doktrin der rechtmäßigen Revolution“, siehe Huber, Legitimität (Fn. 459), S. 82. 523 Huber, Legitimität (Fn. 459), S. 84 f. 524 Huber, Legitimität (Fn. 459), S. 86 f. 522

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B. Das Zensuswahlrecht auf seinem historischen Höhepunkt unter dem „Bürgerkönig“ Louis Philipp I. Normative Vorgaben: Fortführung einer politischen Protegierung der wohlhabenden Landeselite durch die Charte Constitutionnelle von 1830 Die Charte Constitutionnelle vom 14. August 1830 wurde im Vergleich zu ihrer Vorgängerin von 1814 zumindest in ihrer äußerlichen Form525 nur unwesentlich geändert526. Es ging vielmehr um „eine Fixierung der Interpretation der Verfassungsurkunde durch diejenigen, die schon immer für eine die sozialen Eliten in das Staatsleben integrierende Auslegung jenes Dokuments eingetreten waren“ 527, so daß die Ausführungen hierzu verhältnismäßig knapp gehalten werden können. Auf Folgendes sei aber dennoch hingewiesen: Der Zensus, wenngleich nicht in der Verfassung selbst verankert528, sondern im Wahlgesetz vom 19. April 1831529, wurde wie zu erwarten beibehalten, erfuhr durch die Herabsetzung für das aktive Wahlrecht von 300 auf 200 Francs und für das passive von 1.000 auf 500 Francs aber eine Lockerung530. II. Realpolitische Umsetzung und Kritik Immerhin führte diese Lockerung des Zensus zu einer Verdoppelung der Zahl der Wahlberechtigten von etwa 100.000 auf etwa 200.000.531 Gemessen an der 525 Burdeau/Hamon/Troper, Droit (Fn. 201), S. 320, die anmerken, daß die beiden Chartes sich in ihrem Charakter dennoch durchaus deutlich voneinander unterschieden: Während die Charte Constitutionnelle von 1814 nämlich auf einem Oktroi beruhte, markierte die von 1830 das Ergebnis der Revolution des Volkes. Die Kammern hatten über sie abgestimmt, der König mußte ihr die Treue schwören, bevor er den königlichen Titel erhielt, so daß sie als eine Art Pakt zwischen dem König und den Repräsentanten der Nation zu werten ist. 526 Siehe hierzu die gekennzeichneten Änderungen bei M. Erbe, Vom Konsulat zum Empire libéral. Ausgewählte Texte zur französischen Verfassungsgeschichte 1799– 1870, 1985, S. 172 ff. Zum Verfassungsdokument von 1830 siehe Gosewinkel/Masing (Hrsg.), Verfassungen (Fn. 172), S. 295 ff. und zudem Hartmann, Französische Verfassungsgeschichte (Fn. 385), S. 99. 527 Erbe, Nachhall (Fn. 389), S. 70 f. 528 In Art. 30 der Verfassung heißt es schlicht: „Die Deputiertenkammer wird aus Abgeordneten zusammengesetzt sein, die durch Wahlkollegien gewählt werden, deren Organisation durch Gesetze festgelegt wird“, siehe Hartmann, Französische Verfassungsgeschichte (Fn. 385), S. 100. 529 Huber, Legitimität (Fn. 459), S. 90; Hartmann, Französische Verfassungsgeschichte (Fn. 385), S. 100. 530 Siehe dazu Burdeau/Hamon/Troper, Droit (Fn. 201), S. 321; Huber, Legitimität (Fn. 459), S. 90; Hartmann, Französische Verfassungsgeschichte (Fn. 385), S. 100; Würtenberger, Geschichte (Fn. 492), S. 540. 531 Tecklenburg, Entwicklung (Fn. 129), S. 123; Hartmann, Französische Verfassungsgeschichte (Fn. 385), S. 100; Erbe, Frankreich (Fn. 105), S. 41; Prutsch, Revision (Fn. 459), S. 100 m. Fn. 47.

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Zahl der Gesamtbevölkerung ist aber auch diese Zahl als gering einzustufen: „Selbst nach den Lockerungen durch den Bürgerkönig LOUIS PHILIPPE (1830– 1848) betrug ihre Zahl [die der Wahlberechtigten, A. S.] nur ca. 200.000 bis 240.000 bei einer Gesamtbevölkerung von 30,5 Millionen.“ 532 Zur Zufriedenheit beim einfachen Volk führten die Änderungen daher nicht.533 Nach wie vor war die überwiegende Mehrheit der republikanisch eingestellten Mittel- und städtischen Unterschicht, die teilweise durch Einsatz ihres Lebens im Rahmen der Revolution überhaupt erst den Anstoß für eine Änderung des Wahlrechts gegeben hatte534, von der Möglichkeit politischer Mitbestimmung ausgeschlossen, während das reiche Bürgertum von den neuen normativen Vorgaben profitierte und so seinen Einfluß gegenüber dem Adel immer erfolgreicher geltend zu machen wußte. Diese Elite, das Großbürgertum als äußerst wohlhabende, gebildete Schicht der Bevölkerung, verstand es bestens, sich im politischen Geschehen in vorderster Reihe zu positionieren535, und so bewahrheitete sich einmal mehr die Feststellung Max Webers, daß es zu allen Zeiten die Erlangung ökonomischer Macht gewesen sei, „welche bei einer Klasse die Vorstellung ihrer Anwartschaft auf die politische Leitung entstehen ließ“ 536. Schon 1814 hatte diese Oberschicht zwar Elemente des Ancién Regime in der Charte Constitutionnelle geduldet, aber nur „solange ihre Vorrangstellung in Gesellschaft und Wirtschaft unangetastet und ihr politischer Einfluß damit gewahrt blieb“ 537. In Zukunft sollte sie ihre Einflußnahmemöglichkeiten auf den politischen Diskurs sogar noch weiter ausbauen können, um so das Geschehen in den politischen Institutionen letztlich ganz zu dominieren: „Unter Louis Philippe, dem neueingesetzten Bürgerkönig, (. . .) wird das vermögende Bürgertum die erste Macht des Staates. Aber schon regt sich unter ihm die sog. ,gefährliche Klasse‘, der 4. Stand mit republikanischen Zielen, gegen welche das Bürgertum der Juli-Monarchie sich energisch wehrt. Zunächst tritt Frankreich in eine hohe materielle Blüte und nicht minder in eine geistige. In das Parlament schickt das Bürgertum seine besten Redner, an deren Deklamationen ganz Europa Anteil

532 Hofmann/Dreier, Repräsentation (Fn. 114), § 5 Rn. 30 (Hervorhebungen i. O., A. S.); Hinweis auf eben jenes, vom Zensusgedanken dominierte Wahlsystem bei Dreier (Fn. 13), Art. 20 (Demokratie) Rn. 13. Insgesamt war der Anteil der wahlberechtigten Bevölkerung an der Gesamtbevölkerung nur 1:137, siehe Llanque, Ideengeschichte (Fn. 165), S. 341. 533 Siehe hierzu statt vieler Tecklenburg, Entwicklung (Fn. 129), S. 124. 534 Erbe, Frankreich (Fn. 105), S. 41. 535 Erbe, Frankreich (Fn. 105), S. 41. 536 M. Weber, Der Nationalstaat und die Volkswirtschaftspolitik (1895), in: J. Winckelmann (Hrsg.), Gesammelte politische Schriften. Mit einem Geleitwort von Theodor Heuss, 2. Aufl. 1958, S. 1 (19). 537 Erbe, Nachhall (Fn. 389), S. 63.

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nimmt. Zeit der politischen Professoren, wie in der Paulskirche.“ 538 Die Charte Constitutionnelle von 1830 als eine Art „Fortsetzung eines Grundübels der Restauration“ 539 bestärkte die Vorherrschaft der Notabeln erheblich und ließ die Unzufriedenheit der von der politischen Partizipation weiterhin ausgeschlossenen unteren Bevölkerungsschichten zusehens wachsen. Ab 1830 war die Angst vor einem erneuten Auflodern der Revolution noch stärker als bereits 1814, hatte man doch während der sog. „drei Glorreichen“ vom 27.–29. Juli „erneut in den notdürftig abgedeckten Abgrund der Revolutionszeit geblickt – und ihn rasch wieder verschlossen“ 540. In der Zeit des Bürgerkönigs bekannte der Staat sich plakativ zu den Grundsätzen des sog. ordre légal und des sog. juste milieu. Ordre légal dient als eine Art Sammelbegriff für Legalität, positive Gesetzmäßigkeit und stabile Ordnung im Gegensatz zum revolutionären Chaos, für ein gesetzlich geordnetes Zusammenleben, das es aus Sicht der Regierung dauerhaft anzustreben galt.541 Um diesen Zustand herbeiführen und dauerhaft sichern zu können, betrachtete man „die Herrschaft der durch das Wahlrecht privilegierten Bourgeoisie, der Notabeln, des pays légal“ 542 als unverzichtbares Zahnrad im staatlichen Gefüge. Mit ihrer Unterstützung wollte man das zweite oberste Staatsziel, die Bewahrung des juste milieu543, mithin den Erhalt des status quo durch Abwehr revolutionärer Umstürze erreichen. Woher nahmen der König und sein Kabinett aber die theoretische Vorstellung vom juste milieu, einem Zustand reaktionärer Konservierung und der Erhaltung des status quo und die darüber hinausgehende Überzeugung, daß die reiche Bourgeoisie über das Wahlrecht zu privilegieren sei? Wessen Theorie einer Führungselite hatten die politischen Machthaber sich dadurch zu eigen gemacht?

538

Rothacker, Philosophie (Fn. 458), S. 105. Erbe, Frankreich (Fn. 105), S. 41. 540 Erbe, Nachhall (Fn. 389), S. 70. 541 Huber, Legitimität (Fn. 459), S. 87. 542 Huber, Legitimität (Fn. 459), S. 87, Hervorhebung i. O., A. S. 543 Trotz Schwierigkeiten um eine sinngemäße und aussagekräftige Übersetzung dieser Begrifflichkeit bemüht Huber, Legitimität (Fn. 459), S. 85 ff., der davon ausgeht, mit „goldenem Mittelmaß“ komme man der Bedeutung der Bezeichnung am nächsten und die Übersetzung „richtige Mitte“ als „ledern und nichtssagend“ verwirft (ebd., S. 88). Im Übrigen bringe die Formel „das Bedürfnis nach Ruhe, nach Ordnung, nach Erhaltung des status quo“ und den Wunsch „keine neuen Erschütterungen, keine umwälzenden Ideen, keine reformsüchtigen Experimente“ zum Ausdruck, ebd., Hervorhebungen i. O., A. S. 539

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C. (Rechts-)Philosophische/politische Begründung des Zensus: Sakralisierung der Bourgeoisie als alleiniger Trägerin der Gesellschaftsvernunft I. François Guizot, die Gruppe der Doktrinäre und ihr theoretischer Ansatz einer „majorité des capables“ Díez del Corral ordnet den Doktrinarismus eher harmlos anmutend als „wichtigste[n] von diesen Versuchen“ 544, den Versuchen im ständig zwischen Parlamentarismus und konstitutioneller Monarchie wandelnden Frankreich einen praktikablen Mittelweg zu finden, ein. Hofmann konstatiert hingegen mahnend, daß „die bürgerliche Vergeistigung des Repräsentationsgedankens im Sinne des sowohl die Fürsten- wie die der individuellen Freiheit gleichfalls gefährliche Volkssouveränität überspielenden nachrevolutionären Postulats einer Herrschaft der Vernunft in den Lehren Constants (. . .) und im juste-milieu-Liberalismus der sog. Doctrinairs“ den „prototypischen Vorgang“ 545 finde. Ganz anders wiederum Würtenberger, der gar lobende Töne anschlägt, wenn er das Verdienst der Doktrinäre als „einen der ehrgeizigsten Versuche des 19. Jahrhunderts, die verschiedenen Gebiete des Denkens zu vereinigen“ 546, hervorhebt. Auch wenn die Bezeichnung „Doktrinäre“ 547 durchaus die Vermutung nährt, diese Partei basiere auf unumstößlichen und absoluten Prinzipien, ist gerade das Gegenteil der Fall548. Diese 1816549 aufkommende Strömung vertrat die Position des sog. juste milieu550. Auf der Suche nach der Mitte zwischen den extrem orientierten Parteien war sie darum bemüht, zwischen Ultra-Konservativen und

544

Díez del Corral, Liberalismus (Fn. 79), S. 24. Hofmann, Repräsentation (Fn. 130), S. 440, Hervorhebung i. O., A. S. 546 T. Würtenberger, Die Legitimität staatlicher Herrschaft. Eine staatsrechtlich-politische Begriffsgeschichte, 1973, S. 155. 547 Hierzu weiterführend statt aller: Díez del Corral, Liberalismus (Fn. 79); Würtenberger, Legitimität (Fn. 546), S. 155 ff.; Hofmann, Repräsentation (Fn. 130), S. 440 ff.; Hofmann/Dreier, Repräsentation (Fn. 114), § 5 Rn. 30. 548 D. Bagge, Les idées politiques en France sous la restauration, Paris 1952, S. 99; Würtenberger, Legitimität (Fn. 546), S. 155; Hofmann, Repräsentation (Fn. 130), S. 441: „undoktrinär bis zum Opportunismus“. 549 Der Name fand zum ersten Mal in einer Zeitung im April 1816 Erwähnung. Siehe E. L. Woodward, Three studies in European conservatism. Metternich: Guizot: The catholic church in the nineteenth century, London 1963, S. 128; P. Duvergier de Hauranne, Histoire du gouvernement parlementaire en France. 1814–1848, Bd. III, Paris 1859, S. 534 m. Fn. 1. 550 Siehe zu einer dezidierteren Begriffsbestimmung von juste milieu bereits in und um Fn. 543; des Weiteren Rothacker, Philosophie (Fn. 458), S. 108; Würtenberger, Legitimität (Fn. 546), S. 156. 545

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Radikalen zu vermitteln.551 Dabei vertrat sie gerade keinen doktrinären Standpunkt, sondern hatte es sich zur Aufgabe gemacht „das Parteienwesen und die doktrinäre Erstarrung der Politik durch eine Haltung zu überwinden, die auf den ersten Blick opportunistisch erscheint“ 552. Der Ursprung des Namens „Doktrinäre“ läßt sich zwar in der Rückschau nicht mehr mit Sicherheit ausmachen553, es spricht aber einiges dafür, daß man der Partei diese Bezeichnung zuteil werden ließ, weil viele der Mitglieder auf die Schulen der Pères de la Doctrine Chrétienne gegangen waren554. Zudem ist der Name wohl auch ihrer Pedanterie555 und dem hohen Abstraktionsniveau ihrer zahlreichen Reden im Parlament geschuldet556. Die forschende Tätigkeit der Doktrinäre beschränkte sich keineswegs nur auf einen Wissenschaftszweig, das Hauptaugenmerk lag aber darauf, „die durch die Revolution zerschlagenen Institutionen in neuem Geist wiederaufzubauen“ 557. Diese Aufgabe verinnerlicht, wurde der Historiker François Guizot (1787– 1874)558 für zwei Jahrzehnte der „repräsentative(r) Minister“ 559 der Doktrinäre. Er war auf der Suche nach der wahren Idee politischer Legititmität560 und wurde so zum Aushängeschild der Doktrinäre und zur „Symbolfigur der Politik des Juste-milieu“ 561 stilisiert. Guizot war jedoch nicht nur Gründer der Partei der Doktrinäre, sondern hatte zudem einen Sitz in der Kammer und bekleidete eine ganze Reihe höchster politischer Ämter: Von Juli bis August 1830 fungierte er als Unterrichtsminister, im Anschluß (von August bis November 1830) war er Innenminister und von 1832 bis 1837 erneut Unterrichtsminister. Von Oktober 1840 bis Februar 1848 hatte er den Posten des Außenministers inne und zuletzt – von September 1847 bis Februar 1848 – bekleidete er sogar das Amt des Ministerpräsidenten. 551 Hofmann, Repräsentation (Fn. 130), S. 441; Würtenberger, Legitimität (Fn. 546), S. 156; Bagge, Idées (Fn. 548), S. 97. 552 Díez del Corral, Liberalismus (Fn. 79), S. 96. 553 M. Prélot, Histoire des idées politiques, 3. Aufl. 1966, S. 450. 554 Díez del Corral, Liberalismus (Fn. 79), S. 96; Hofmann, Repräsentation (Fn. 130), S. 441. 555 Rothacker, Philosophie (Fn. 458), S. 108. 556 Díez del Corral, Liberalismus (Fn. 79), S. 96. 557 Würtenberger, Legitimität (Fn. 546), S. 156; zu diesem Vorhaben ausführend F. Guizot, Des moyens de gouvernement et d’opposition dans l’état actuel de la France, 2. Aufl., Paris 1821, S. 1 ff. 558 Zu seiner Biographie statt vieler: G. de Broglie, Guizot, Paris 1990; Woodward, Studies (Fn. 549), S. 111 ff.; Bagge, Idées (Fn. 548), S. 95 ff.; knapp in Zusammenschau mit anderen bedeutenden Vertretern des Liberalismus bei Huber, Legitimität (Fn. 459), S. 78 in Fn. 18. 559 Rothacker, Philosophie (Fn. 458), S. 108. 560 Siehe hierzu F. Guizot, Du gouvernement de la France depuis la Restauration, et du ministère actuel, 2. Aufl., Paris 1820, S. 201 ff. 561 Brandt, Repräsentation (Fn. 131), S. 28.

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Guizot glaubte weder an eine von Gott gegebene Ordnung noch an die Volkssouveränität.562 Seine Vorstellungen einer legitimen Form von Herrschaft basierten auf ganz grundlegend-abstrakten Begriffen, wie insbesondere dem der Vernunft563, „den Guizot polemisch dem des Willens entgegensetzt“ 564. Die Vernunft ihrerseits stelle wiederum „kein Gesetz mit festem, gesicherten Inhalt, sondern eine Methode genaugenommen eine gesellschaftliche Methode“ 565 dar. In der Vernunft „leben virtuell die großen Leitsätze des Naturrechts fort“ 566. Da es Guizot wie den anderen Doktrinären darum ging, gesellschaftliche Entwicklungen und Phänomene aus der geschichtlichen Warte heraus zu verstehen und zu interpretieren, war er davon überzeugt, man müsse die abstrakten und universal geltenden Grundsätze an die ständig im Fluß befindliche Realität anpassen.567 Für Guizot kann eine Herrschaftsform, die für sich den Anspruch der Legitimität erhebt, einzig und allein auf der Vernunft, der Gerechtigkeit und dem aus der Bündelung beider sich entwickelnden Recht, errichtet sein. Nun war es im Rahmen seiner Theorie für Guizot unerläßlich, den Vernunftbegriff auszubuchstabieren, diese abstrakte, zu unterschiedlichsten Epochen universell eingesetzte Begrifflichkeit mit Leben zu füllen. Ausgangspunkt des Guizotschen Denkkonstrukts ist die sog. Souveränität der Vernunft568, „die Guizot der Frankreichs Politik zerspaltenden Volkssouveränität und monarchischen Souveränität gegenüberstellt“ 569. Von diesem Punkt ausgehend unterscheidet Guizot in seiner Theorie zwischen der Gesellschafts- und der Einzelvernunft, man kann auch vom Gegensatzpaar der öffentlichen bzw. objektiven Vernunft und der privaten bzw. subjektiven Vernunft sprechen. Diese Arten der Vernunft sind konsequent voneinander abzugrenzen, sind aber gleichzeitig auch reziprok, was es im Folgenden zu erläutern gilt. Während für viele der Revolutionäre die Bedeutung der individuellen Vernunft, die „Vernunft als Eigentum des Einzelnen“ 570, deutlich im Vordergrund stand, ist bei Guizot die öffentliche Vernunft in der Hierar562 Guizot, Du gouvernement (Fn. 560), S. 201; Würtenberger, Legitimität (Fn. 546), S. 158. 563 Zum Facettenreichtum des Guizotschen Vernunftbegriffes siehe ausführlich in und um Fn. 571 und zudem erläuternd Woodward, Studies (Fn. 549), S. 135 ff. 564 Díez del Corral, Liberalismus (Fn. 79), S. 135. 565 Díez del Corral, Liberalismus (Fn. 79), S. 136 f. 566 Díez del Corral, Liberalismus (Fn. 79), S. 136. 567 Díez del Corral, Liberalismus (Fn. 79), S. 136; auch Würtenberger, Legitimität (Fn. 546), S. 156 betont den soziologischen Ansatz der Doktrinäre: „Für sie war die Welt nicht in einen idealen und realen Bereich, wie für die Philosophie des 18. Jahrhunderts, aufgespalten; Vernunft und Leben hielten sie für innig verbunden. Durch das ,Verstehen‘ der Gegenwart aus dem Verlauf der Geschichte wollten sie die Grundsätze für die praktische Politik gewinnen.“ 568 Guizot, Du gouvernement (Fn. 560), S. 201; knappe Bezugnahme hierauf bei C. Schmitt, Verfassungslehre (1928), unveränderter ND 1954, S. 8. 569 Díez del Corral, Liberalismus (Fn. 79), S. 129. 570 Díez del Corral, Liberalismus (Fn. 79), S. 130.

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chie unbestritten über der individuellen Vernunft einzuordnen571. Obwohl die öffentliche Vernunft als eine Art objektive Wirklichkeit über der individuellen Vernunft steht und sie begrenzt, ist die objektive Vernunft gleichzeitig auf sie angewiesen, als Ausdrucksmittel, als ihr Medium: „Letzten Endes ist die Gesellschaftsvernunft mit der Einzelvernunft verknüpft; beide bilden das objektive und subjektive Moment eines einzigen Prozesses, und obgleich dieses jenem unterworfen ist, ist es zugleich sein Ausdrucksmittel. Deshalb muß die Ausübung der individuellen Vernunft bestimmten Bedingungen unterliegen; sie muß sich als Teil eines übergeordneten Zusammenhanges empfinden, statt sich abstrakt der gesellschaftlichen Wirklichkeit gegenüberzustellen (. . .) sie muß sich als Sprachrohr einer objektiven gesellschaftlichen Ordnung empfinden, der sie unterliegt und die sie eher interpretiert als setzt (. . .)“ 572. Ganz konkret bedeutet dies für das Individuum, das in den politischen Diskurs eintritt, den eigenen Willen als Ausdruck der individuellen Vernunft immer wieder und sorgfältig an der objektiven Vernunft messen zu müssen und gegebenenfalls Korrekturen vorzunehmen. Hier schwingt ganz deutlich Guizots Menschenbild mit, durchzogen und maßgeblich geprägt von der menschlichen Unzulänglichkeit und der daraus resultierenden Fehlbarkeit des Willens, wenn er klarstellend erläutert: „L’homme étant, de sa nature, imparfait et sujet à l’erreur, (. . .) nul pouvoir infaillible et parfait, partant nul pouvoir investi de la souveraineté de droit“ 573. Hinzu kommt, daß die Vernunft eines Individuums, so Guizots Folgerungen weiter, für sich genommen niemals die Gesellschaftsvernunft vollständig zu repräsentieren vermag. Er drückt diesen Grundsatz folgendermaßen aus: „Nulle raison en effet n’a, par elle même et d’avance, le droit de dire qu’elle est la raison publique“ 574. Erst die Summe, so Guizot weiter, das Zusammenwirken von Individualvernunften, führe zu einer zumindest annähernd vollständigen Wiedergabe der Gesellschaftsvernunft. An diesem Punkt darf man auf keinen Fall dem Irrtum erliegen, alle Einzelvernunften würden jedenfalls und gleichermaßen ihren Anteil an der Bildung der Gesamtvernunft leisten. Nach Guizot darf sich nicht jede Indivi571 Siehe zur Hierarchie zwischen Gesellschafts- und Einzelvernunft erläuternd G. de Ruggiero, Geschichte des Liberalismus in Europa (1930), ND 1964, S. 153. 572 Díez del Corral, Liberalismus (Fn. 79), S. 137. 573 Philosophie politique: de la souveraineté (1826), abgedruckt in: F. Guizot, Histoire de la civilisation en Europe. Depuis la chute de l’Empire romain jusqu’à la Révolution française suivie de Philosophie politique: de la souveraineté. Édition établie, présentée et annotée par P. Rosanvallon, Hachette 1985, S. 319 (325). Übersetzt: Der Mensch ist, seiner Natur entsprechend, unvollkommen und anfällig für Irrtümer, (. . .) keine unfehlbare und perfekte Macht, folglich keine Macht, die mit der Souveränität des Rechts zu betrauen ist. Siehe auch die Bezugnahme darauf bei A. Craiutu, Liberalism under Siege. The Political Thought of the French Doctrinaires, Lanham u. a. 2003, S. 149 in Fn. 16. 574 F. Guizot, Journal des cours publics de jurisprudence, histoire, et belles lettres, Bd. II, Paris 1821–22, S. 135. Übersetzt: Keine Vernunft hat nämlich für sich genommen und zu ihrem Vorteil, das Recht zu sagen, sie sei die öffentliche Vernunft.

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dualvernunft als Bestandteil und Ausdruck der Gesellschaftsvernunft begreifen und danach agieren, da die öffentliche Vernunft zwar auf die Individuen verteilt ist, aber nach einem sehr ungleichen Verteilungsmaßstab, der wiederum von den individuellen natürlichen Fähigkeiten und der sozialen Stellung des Individuums in der Gesellschaft abhängt. Hofmann und Dreier stellen heraus, daß Guizot mit dieser theoretischen Konzeption nichts anderes als die Grundlage der Legitimierung des zensitären Wahlsystems liefert: „weil für Guizot die öffentliche Vernunft der Gesellschaft nicht nur in den einzelnen verstreut, sondern als etwas historisch Konkretes gemäß den unterschiedlichen Bedingungen der individuellen Entwicklung ungleich unter ihnen verteilt ist. Die Fähigkeit zur Teilhabe an der Aktualisierung der öffentlichen Vernunft und Moral wird sonach durch die soziale Stellung des Individuums determiniert. Folglich erscheint Repräsentation nach Maßgabe eines hochzensitären Wahlrechts für Guizot als natürliches Verfahren, um die historisch-konkrete Vernunft der Gesellschaft aus ihr herauszuziehen, da in dieser historischen Situation von den sozialen Bedingungen her eben nur die bürgerliche Oberschicht dazu befähigt, dazu prädestiniert ist, Vernunft, Wahrheit und Gerechtigkeit dieser Gesellschaft zu sich selbst zu bringen.“ 575 Die Untermauerung des Zensuswahlrechts funktioniert im Übrigen nur deshalb, weil Guizot seinen Überlegungen keinen abstrakt-virtuellen, sondern einen konkret-realen, an die tatsächlichen Gesellschaftsverhältnisse eng angekoppelten Vernunftbegriff zugrundelegt. In der realen Gesellschaft seien nicht alle Menschen gleich, sondern in Fähigkeiten, dem sozialen Hintergrund und den persönlichen Umständen verschieden.576 Auch wenn sich die Gesellschaftsvernunft, nach deren Verwirklichung jedes System legitimer Herrschaft strebe, nur im „Prozeß der Kommunikation individueller Vernunft“ 577 herauskristallisieren könne, stehe die Beteiligung an diesem Diskurs eben nicht bedingungslos allen Menschen offen, sondern nur jenem elitären Kreis, welcher sich überhaupt als imstande erweise, einen Zugang zur mosaikartig verstreuten „raison publique“ 578 zu finden. Erklärtes Ziel der Guizotschen Sondierung ist, daß die weit und breit, jedoch in ungleichem Maße zerstreuten Bruchstücke von Vernunft gesammelt und zur Erzeugung von Gesetzen und zur Regierungsbildung zusammengesetzt werden müssen579, um mithin 575 Hofmann/Dreier, Repräsentation (Fn. 114), § 5 Rn. 30 (Hervorhebungen im Original A. S.); siehe auch Hofmann, Repräsentation (Fn. 130), S. 442; Díez del Corral, Liberalismus (Fn. 79), S. 138. 576 Díez del Corral, Liberalismus (Fn. 79), S. 139. 577 Hofmann, Repräsentation (Fn. 130), S. 444. 578 Bezugnahme auf diesen Terminus u. a. bei französischen Autoren wie beispielsweise Craiutu, Liberalism (Fn. 573), S. 270 in Fn. 54, aber auch bei deutschen wie u. a. G. Leibholz, Das Wesen der Repräsentation und der Gestaltwandel der Demokratie im 20. Jahrhundert, 3. Aufl. 1966, S. 70 m. Fn. 3. 579 Im Original heißt es bei F. Guizot, Histoire des origines du gouvernement représentatif en Europe, Bd. II, 1851, S. 150: „Le problème est évidemment de recueillir partout, dans la société, les fragments épars et incomplets de ce pouvoir, de les concentrer et de les constituer en gouvernement.“

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„durch freien Austausch der Argumente in einem exklusiven Kreis von Repräsentanten zu vernünftigen Entscheidungen zu gelangen“ 580. Durchaus stichhaltige Kritik erntet Guizot für diese These von Robert von Mohl. Im Rahmen seiner Kommentierung der Guizotschen Sentenz im Jahre 1860 stellt er sich hinsichtlich der Übertragung der Herrschaft auf in Guizots Sinne geeignete Repräsentanten die naheliegende Frage: „Wo ist irgend eine Sicherheit, dass diese Gewählten gerade die Träger der Vernunftbruchstücke seien?“ 581 Da die Doktrinäre von der sozialen Determinierung der Individuen ausgehen, liegt für sie auf der Hand, „daß die Regierung den Mittelklassen gebührt, die den für die Nation unentbehrlichen Reichtum und die Bildung hierfür besitzen, und welche durch ihr Interesse und ihre Befähigung das Glück des sozialen Körpers verbürgen. (. . .) Die Ideen, die dieser Klasse nützlich waren, erschienen ihm [Guizot, A. S.] geradezu als die evidenten Formen der Vernunft selbst. Die Interessen der Bourgeoisie und die Raison sind dasselbe.“ 582 So liefern Guizot und die Doktrinäre mit ihrer auf der Vernunft aufbauenden Theorie einen theoretisch-argumentativen Unterbau für den Zensus und zudem ein Paradebeispiel für das Argument eines Rückschlusses vom Eigentum auf Vernunft und Einsichtsfähigkeit der Bürger. Repräsentation dient mithin der Herausarbeitung der Gesellschaftsvernunft durch einige wenige, die aufgrund ihres sozialen Standpunkts und individueller Fähigkeiten über die notwendigen Anlagen dazu verfügen: „la représentation (. . .). C’est un procédé naturel pour extraire du sein de la société la raison publique, qui seule a droit de la gouverner.“ 583 Repräsentation wird definiert als natürlicher Prozeß, um das Innerste, die Gesellschaftsvernunft, aus der Gesellschaft zu ziehen, die einzig das Recht habe, sie zu regieren. So soll letztendlich „das Generische der Vernunft zum Vorschein kommen, und die Willensimpulse sind durch Diktate der Vernunft einzuschränken“ 584. Das überkommene, wegen seines typischerweise voluntativen Elementes von den Doktrinären lange und erbittert bekämpfte Repräsentationsprinzip wird von ihnen völlig umgestaltet und teilweise ins Gegenteil verkehrt585, da es „mittels Zensusschraube zur Herrschaftslegitimation einer parlamentarischen Pluto-

580 H. Dreier, Regelungsform und Regelungsinhalt des autonomen Parlamentsrechts, in: JZ 1990, S. 310 (318, Fn. 100). 581 R. v. Mohl, Staatsrecht, Völkerrecht und Politik. Monographien (1860), Bd. I, ND 1962, S. 5. Siehe zur Kritik von Mohls an Guizot weiterführend C. Schmitt, Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus, 2. Aufl. 1926, S. 43 ff.; knapp J. Kimme, Das Repräsentativsystem – unter besonderer Beachtung der historischen Entwicklung der Repräsentation und der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, 1988, S. 81 mit Fn. 19. 582 Rothacker, Philosophie (Fn. 458), S. 109. 583 Guizot, Histoire II (Fn. 579), S. 150, Hervorhebung i. O., A. S. 584 Díez del Corral, Liberalismus (Fn. 79), S. 138. 585 Díez del Corral, Liberalismus (Fn. 79), S. 138.

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kratie verwandt werden konnte“ 586. Repräsentation wird nunmehr von oben nach unten gedacht: „La souveraineté du peuple fait venir le pouvoir d’en bas, le gouvernement représentatif reconnaît que tout pouvoir vient d’en haut, et oblige en même temps quiconque s’en prétend investi à faire admettre la légitimité de sa prétention par les hommes qui sont capables de la sentir.“ 587 Sie zielt nicht auf eine möglichst breite Realisierung der Einzelwillen aller Bürger ab, sondern verfolgt einzig und allein das Ziel, „die historisch-konkrete Vernunft der Gesellschaft aus ihr herauszuziehen“ 588. Mit anderen Worten kann sich ein Herrschaftssystem nicht über schlichten Mehrheitsentscheid legitimieren, sondern allein darüber, sich selbst als Ausdruck der sog. majorité des capables589, einer mehrheitlichen Herrschaft der (politisch) Einsichtsfähigen, zu begreifen. II. Die Sonderstellung des Besitzbürgertums in der auf politischer Einsichtsfähigkeit aufbauenden Klassengesellschaft Ebenso wie Sieyes nimmt Guizot eine Unterteilung in bürgerliche und politische Rechte vor. Die bürgerlichen Rechte, darunter das Recht von der öffentlichen Gewalt vor Ungerechtigkeiten jeglicher Art geschützt zu werden und die Freiheit, sich seine Existenz nach eigenem Willen und persönlichen Interessen einzurichten, versteht er als persönliche, universelle Rechte, die allen Menschen gleichermaßen zuteil werden, wohingegen politische Rechte keine persönlichen Rechte sind, denn derjenige, der sie ausübt, treffe eine Entscheidung, die nicht nur ihn, sondern die Gesellschaft oder zumindest einen Teil der Gesellschaft anbelange. Deshalb könnten die politischen Rechte zwangsläufig nicht allen Menschen in gleichem Maße zukommen. Wer von Gleichheit im Kontext mit politischen Rechten spreche, der verwechsle schlicht die individuelle und die soziale Existenz, die bürgerliche und die politische Ordnung, Freiheit und Regierung.590 Der Beantwortung der Frage, woran man diese sog. capables, eben jene, die dazu imstande waren, die Geschicke zum Wohle der Gesellschaft zu lenken, erkennen könne, nähert Guizot sich, indem er die Gesellschaft in drei Klassen591 586

Brandt, Repräsentation (Fn. 131), S. 28. F. Guizot, Histoire des origines du gouvernement représentatif en Europe, Bd. I, 1851, S. 112 f.; siehe hierzu auch Díez del Corral, Liberalismus (Fn. 79), S. 138; Hofmann, Repräsentation (Fn. 130), S. 443; Brandt, Repräsentation (Fn. 131), S. 28 f. 588 Hofmann, Repräsentation (Fn. 130), S. 443. 589 Guizot, Histoire I (Fn. 587), S. 111; dazu Hofmann, Repräsentation (Fn. 130), S. 443; Díez del Corral, Liberalismus (Fn. 79), S. 137 ff.; Brandt, Repräsentation (Fn. 131), S. 28; Badura (Fn. 140), Art. 38 Rn. 11; zum „citoyen capacitaire“ siehe auch P. Rosanvallon, Le moment Guizot, Paris 1985, S. 95 ff. 590 Woodward, Studies (Fn. 549), S. 152. 591 Die Bezeichnung mag in diesem Kontext zunächst etwas befremdlich und unpassend erscheinen, doch schon sechs Jahre vor Erscheinen des Kommunistischen Manifests, genauer am 15. Februar 1842, spricht Guizot in der Sitzung des Abgeordneten587

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unterteilt592. Seiner Vorstellung entsprechend besteht die erste Klasse aus denjenigen, die für die Aufbringung ihres Lebensunterhaltes nicht selbst arbeiten müssen, sondern vom Ertrag aus ihrem Grundbesitz oder beweglichen Besitz, Boden oder Kapital leben. In der zweiten Gruppe finden sich die, die danach streben, ihren beweglichen Besitz oder Grundbesitz durch die eigene Arbeit zu vermehren und zu vergrößern. Die Angehörigen der dritten und letzten Gruppe verfügen weder über Boden noch über Vermögen und leben allein von ihrer Hände Arbeit. Für Guizot ergibt sich aus dieser Gesellschaftseinteilung ganz selbstverständlich, daß die sog. capacité, eine Art politische (Leistungs-)Fähigkeit nur den ersten beiden Gruppierungen vorbehalten sein kann: der ersten Gruppe, der ihre Freizeit erlaubt, sich fast ausschließlich der Bildung ihrer Intelligenz und ihres Verstandes sowie der Studie von allgemeinen Belangen, Zusammenhängen und Interessen zu widmen. Der zweiten, weil sie ihre Geschäfte dazu zwingen, sich die Kenntnisse anzueignen, die sie gleichermaßen zum Verständnis allgemeiner Zusammenhänge und Interessen erziehen oder zumindest dazu befähigen, eine überragende intellektuelle Entwicklung zu erkennen und zu verstehen, wenn sie ihnen gegenübertritt. Bei der dritten Gruppe lässt schließlich ihre Arbeit nicht zu, daß sie aus dem begrenzten Kreis ihrer individuellen Interessen heraustritt; sie ist engstirnig auf die Befriedigung der Bedürfnisse des täglichen Lebens fokussiert: „A cette classification correspond, dans l’ordre moral, celle-ci: 1 ë Les hommes à qui leur loisir permet de se livrer presque exclusivement à la culture de leur intelligence, à hauses vom Klassenkampf: „La société était divisée en classes diverses, diverses de condition civile, d’intérêts, d’influences, non-seulement diverses, mais opposées, se combattant les unes les autres, (. . .)“, zitiert nach Annales du Parlement français, publiées par une société de publicistes, sous la direction de M. Fleury, avec la souscription collective des deux chambres, Bd. 4, Paris 1843, Droits électoraux – discussion, S. 57. F. Guizot, De la démocratie en France, 1849, S. 34: „Qu’on examine toutes les sociétés humaines (. . .) on trouvera, dans toutes, trois types des situation sociale, (. . .): Des hommes vivant du revenu de leurs propriétés, foncières ou mobilières, terres ou capitaux, sans chercher à les accroître par leur propre travail; Des hommes appliqués à exploiter et à accroître, par leur propre travail, les propriétés, foncières ou mobilières, terres ou capitaux de tout genre qu’ils possèdent; Des hommes vivant de leur travail, sans terres ni capitaux.“ Übersetzt: Wenn man alle menschlichen Gesellschaften untersucht, findet man in jeder drei Typen von sozialen Situationen: Die Menschen, die vom Einkommen ihres Besitzes leben, vom Grundbesitz oder dem beweglichen Vermögen, Boden oder Kapital, ohne zu versuchen, es durch ihre eigene Arbeit zu vermehren; die Menschen, die fleißig sind, um durch ihre Arbeit ihren Besitz, Grundbesitz oder bewegliches Vermögen, Boden oder Kapital jeden Bereichs, zu nutzen und zu vermehren und die Menschen, die von ihrer Arbeit ohne Boden oder Kapital leben. Sechs Jahre später wortwörtlich wiederholt in ders., Nos mécomptes et nos espérances, 1855, S. 18 f.; fast identisch bereits in ders., Élections ou de la formation et des opérations des colléges électoraux (1826), in: Discours académiques suivis des discours prononcés pour la distribution des prix au concours général de l’université et devant diverses sociétés religieuses et de trois essais de philosophie littéraire et politique 1861, S. 379 (389 f.). 592 Siehe hierzu Woodward, Studies (Fn. 549), S. 219 ff.; A. Coutant, Tocqueville et la constitution démocratique. Souveraineté du peuple et libertés. Essai, Paris 2008, S. 96 ff.

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l’étude des objets, des rapports et des intérêts généraux; 2 ë Les hommes que leur industrie oblige à acquérir des connaissances et des idées qui les élèvent également à l’intelligence des rapports et des intérêts généraux, ou qui du moins les rendent capables de reconnaître et de comprendre und développement intellectuel supérieur, quand il se présente à eux; 3 ë Les hommes enfin que leur travail empêche de sortir du cercle étroit de leurs intérêts individuels, bornés à la satisfaction journalière des besoins de la vie.“ 593 III. Elitäres Klassendenken als Rechtfertigung für die faktische politische Privilegierung der Bourgeoisie durch den Zensus Aufgrund seiner Vorstellung, daß die Klassenzugehörigkeit Ausdruck der capacité sei und nur Träger dieser capacité am gesamtgesellschaftlichen Willensbildungsprozeß partizipieren sollen, positionierte Guizot sich bis zuletzt als vehementer Gegner des allgemeinen und gleichen Stimmrechts: „Und Guizot versichert mit seinem prophetischen Dogmatismus, der allen Mittelmäßigen eigen ist – auch den großen Mittelmäßigen – daß der Tag des allgemeinen Stimmrechts niemals kommen werde.“ 594 Wenngleich sich die Doktrinäre die plakativen Leitworte Autorität und Freiheit595 auf die Fahne geschrieben hatten, waren sie nicht bereit, diese Freiheit nach ihrer Erkämpfung bedingungslos allen Bürgern zuteil werden zu lassen, sondern bedachten, um staatlicher Ordnung und stabiler Verhältnisse willen, nur die Besitzenden596. Dies vermag insbesondere deshalb nicht zu überraschen, weil die doktrinäre Gruppe sich in homogener Weise aus gebildeten Angehörigen des Besitzbürgertums zusammensetzte.597 Folglich sollte auch das von ihnen angestrebte Honoratiorenparlament einen homogenen Charakter aufweisen, so daß Meinungs- und nicht Interessenvertretung im Fokus stehen würde.598 593

Guizot, Élections (Fn. 591), S. 390, Hervorhebung i. O., A. S. de Ruggiero, Geschichte (Fn. 571), S. 161. 595 Würtenberger, Legitimität (Fn. 546), S. 158; Rothacker, Philosophie (Fn. 458), S. 108. 596 Rothacker, Philosophie (Fn. 458), S. 108: „Sie geben aber diese Freiheit noch nicht den Massen, sondern nur den besitzenden Ständen, als Garanten der Stabilität. (. . .) Erst entstanden aus dem Ethos der Freiheit, beginnt er [der bürgerliche Liberalismus, A. S.] in dem Augenblick, in dem er aus der Opposition an die Macht gelangt, die Interessen einer Klasse zu verteidigen, die er mit dem Land identifiziert, wie einst die Revolution den 3. Stand mit dem Staate identifiziert hatte und Ludwig XIV. sich selbst mit diesem.“ 597 So zumindest der Einschätzung nach Huber, Legitimität (Fn. 459), S. 76 gemäß. 598 Badura (Fn. 140), Art. 38 Rn. 12; Schmitt, Lage (Fn. 581), S. 43 ff.; G. Leibholz, Die Auflösung der liberalen Demokratie in Deutschland und das autoritäre Staatsbild, 1933, S. 28 m. Fn. 62; ganz grundsätzlich zur heute fehlenden Verwirklichung des „Willen[s] der Verfassung, daß die politischen Entscheidungen fallen als Entscheidungen eines öffentlich geführten Kampfes“, siehe R. Smend, Die Verschiebung der konstitutionellen Ordnung durch die Verhältniswahl, in: Juristische Fakultät der Rheinischen 594

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So liefern die Doktrinäre und allen voran Guizot599 ganz bewußt das theoretische Konstrukt des Zensuswahlrechts, das abstrakt betrachtet in letzter Konsequenz zur „destruction de toute souveraineté“ 600, also zur Zerstörung jeder Art von Souveränität führte. Man kann Guizot rückblickend also durchaus den Vorwurf machen, „die Repräsentativtheorie zu einer Rechtfertigung der politischen Vorherrschaft einer interessenhomogenen bourgeoisen Oberschicht ideologisiert“ 601 zu haben. Dennoch darf man bei aller Kritik nicht vergessen, daß es ihm und den politisch Verantwortlichen zumindest neben der Privilegierung der Oberschicht auch darum ging, die politisch Einsichtsfähigen, eine Art politische Landeselite ins Parlament zu holen und mithin die Qualität politischer Entscheidungen zu gewährleisten: „Das Korrelat der Souveränität des aus unabhängigen Abgeordneten zusammengesetzten Parlaments ist der plutokratische Wahlzensus, der die der Idee der Nationalrepräsentation zugrundeliegende politische Soziologie aufdeckt, und der damit gerechtfertigt wurde, daß der Zensus die Elite ins Parlament führen würde.“ 602 Die Bourgeoisie als neue herrschende Gruppierung ist ganz offensichtlich darum bemüht, sich deutlich von der alten ständisch geprägten Elite abzusetzen, indem sie die Vernunft als Alleinstellungsmerkmal für sich in Anspruch nimmt. Allein die Bourgeoisie vermöge der Gesellschaftsvernunft im Wege der öffentlichen Diskussion, in der die dazu befähigten IndiviFriedrich Wilhelms-Universität zu Bonn (Hrsg.), Festgabe der Bonner Juristischen Fakultät für K. Bergbohm zum 70. Geburtstag, 1919, S. 278 (280). 599 Hofmann, Repräsentation (Fn. 130), S. 443 entreißt das Guizotsche Denkkonstrukt jeglicher Beiläufigkeit im Hinblick auf konkrete gesellschaftspolitische Konsequenzen: „Guizot, der Politiker, der Minister, wußte sehr genau, worüber er mit seiner philosophischen Theorie von der Repräsentation als der Auslese der gesellschaftlichen Elite zur Verwirklichung objektiver Vernunft handelte: Seine Lehren bedeuten die entschiedene Negation des Mandatsgedankens und jeder individualistisch-voluntativen Herrschaftslegitimation (. . .).“ 600 Guizot, Histoire II (Fn. 579), S. 305: „Le principe du système représentatif est la destruction de toute souveraineté de droit permanente, c’est-à-dire, de tout pouvoir absolu sur la terre.“ 601 Brandt, Repräsentation (Fn. 131), S. 29. 602 Badura (Fn. 140), Art. 38 Rn. 11, Hervorhebungen i. O., A. S. Dazu J. C. Bluntschli, Lehre vom modernen Staat (1876), Erster Teil: Allgemeine Staatslehre, 6. Aufl. 1886, S. 551 ff. („Das Princip desselben ist: Die Besten des Volkes sollen in dessen Namen und Auftrag regieren. Die grosse Schwierigkeit aber liegt darin, die Wahl so zu organisieren, dass wirklich die Besten an Gesinnung und Einsicht zu Repräsentanten der Volksherrschaft gewählt werden“, ebd. S. 551 f., Hervorhebungen i. O., A. S.); Smend, Maßstäbe (Fn. 1), S. 4 f. („Sie [die Mitglieder der Volksvertretung, A. S.] sollen daher die Elite des Landes an Charakterfestigkeit und politischer Einsicht sein, und die Aufgabe des Wahlrechts ist es, diese Elite wirklich zu finden. [. . .]. Der Besitz macht unabhängig und ermöglicht die charaktervolle Entwicklung der Persönlichkeit; der Besitz gewährt aber auch allein die Mittel zu höherer Bildung und Einicht. Deshalb wird das aktive Wahlrecht an einen Vermögenszensus geknüpft, der das Vorhandensein dieser Eigenschaften vermuten läßt; und da dieselben Eigenschaften in noch höherem Maße in der Person des zu Wählenden erforderlich sind, so gilt für das passive Wahlrecht, die Wählbarkeit, ein noch höherer Zensus“, ebd., S. 5).

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duen in Kooperation und Zusammenarbeit versuchen, sich der Gesellschaftsvernunft zu nähern, Ausdruck zu verleihen. Der Zensus wird vor dem Hintergrund dieser Theorie nicht als primär ökonomisches Merkmal, sondern als Ausdruck besonderer Prädestinierung begriffen: „Hinter der ökonomischen Fassade verbirgt sich etwas Tieferes: die Bourgeoisie ist der Erbe der europäischen Führungseliten und besitzt in einer gleichsam populären Verfärbung das intellektuelle und moralische Rüstzeug und die schöpferische Kraft zur gesellschaftlichen Führung. (. . .) Wenn ihre Hauptbemühung der wirtschaftlichen Expansion gilt, so übersieht man leicht, daß diese das Zeichen einer höheren Befähigung ist (. . .)“ 603. Dennoch führt der Zensus de facto zu einem Parlament, das als „eine kollektive Interessenvertretung der herrschenden Klasse“ 604, der großbürgerlichen Eigentümergesellschaft, zu klassifizieren ist. Zumal auch die gebildeten Bevölkerungsschichten unter dem zensitären Wahlsystem litten, da das damalige französische Steuersystem keine allgemeine Einkommensteuer, sondern schwerpunktmäßig die direkte Besteuerung von Grundbesitz und Gewerbe kannte, so daß es notwendig zu einer Übervorteilung und Privilegierung der Großgrundbesitzer und Gewerbetreibenden kommen mußte.605 Kapitel 7

Endgültige Überwindung des Zensusprinzips durch Einführung des allgemeinen und gleichen (Männer-)Wahlrechts 1848 A. Vorgeschichte Auch wenn die Julirevolution nach Außen hin keine nennenswerten gesellschaftlichen Veränderungen bewirkt hatte und die Charte Constitutionnelle von 1830 fast als eine Abschrift ihrer Vorgängerin durchgehen kann, berührte die Revolution die Strukturen des französischen Staats- und Verfassungsgefüges weit mehr, als man vordergründig denken mag, „denn mit dem bourbonischen Königtum scheiterte 1830 der letzte ernsthafte Restaurationsversuch in Europa überhaupt“ 606. Das Bürgerkönigtum schaffte es nicht, das selbst gesetzte Ziel einer 603 Díez del Corral, Liberalismus (Fn. 79), S. 90 f.; dazu auch G. Leibholz, Politics and law, 1965, S. 51. 604 K. Loewenstein, Zur Soziologie der parlamentarischen Repräsentation in England vor der ersten Reformbill (1923), in: ders. (Hrsg.), Beiträge zur Staatssoziologie, 1961, S. 34 (45). 605 Meyer, Wahlrecht (Fn. 20), S. 159. 606 Huber, Legitimität (Fn. 459), S. 88. Er fährt zur Bedeutungsschwere der Julirevolution von 1830 fort, sie lege Zeugnis dafür ab, daß die Restaurationspolitik der Kabinette Europas den revolutionären Prozeß, in den Europa 1789 eingetreten sei, nicht aufhalten konnte. 1789 sei der Kontinent vielmehr in einem Zeitalter der Revolutionen

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dauerhaften und konstanten politischen Ordnung zu etablieren, ganz im Gegenteil: zwischen 1830 und 1840 wechselten sich stolze dreizehn Kabinette ab.607 Seit der ersten Stunde hatte das Bürgerkönigtum mit vielen Feinden aus den unterschiedlichsten politischen Lagern wie den Linken und den radikalen Liberalen zu kämpfen. Diese sahen sich trotz Heterogenität ihrer Interessenlagen im gemeinsamen Ziel, dem Sturz der Monarchie und der Überwindung des juste milieu, vereint.608 Eine der wenngleich nicht größten, aber dennoch für das Bürgerkönigtum am gefährlichsten einzustufenden Gruppierungen war die der Bonapartisten. An die Spitze dieser Gruppe, deren Ziel in der Wiederbelebung des napoleonischen Kaisertums unter Zuhilfenahme demokratischer Mittel bestand, hatte sich der Neffe des 1821 auf St. Helena verstorbenen Napoleon I., Louis Napoleon gestellt. Rasch konnte diese Strömung viele Kleinbauern, Kleinbürger und Angehörige der Armee für sich gewinnen, hingen viele Franzosen doch noch den Erinnerungen an das alte glorreiche Kaisertum nach.609 Der weitaus größere Teil der Bevölkerung, Bauern sowie Angehörige des (Bildungs-)Bürgertums, fand sich jedoch im liberal-demokratischen Republikanismus wieder. Dessen gemäßigter Flügel als Beschützer der konstitutionellen Monarchie sah sich vom radikalen linken Flügel, der die unbedingte Volks- bzw. Parlamentsherrschaft forderte, in den Hintergrund gedrängt.610 Dabei ist die Radikalität der Forderung auf die sich wiederholende bittere Erfahrung zurückzuführen, wie schon 1789 auch in der Julirevolution die treibende Kraft der Revolution gewesen zu sein611, das Leben aufs Spiel gesetzt zu haben, um nun doch wieder von der besitzenden Bourgeoisie ins politische Abseits verbannt zu werden: „an der Teilung der Beute aber nahm er [der „Vierte Stand“, A. S.] nicht teil. Alle Macht konzentrierte sich vielmehr in der Hand der besitzenden bürgerlichen Klasse. Frankreich war unter dem Julikönigtum der Modellfall eines bürgerlichen Klassenstaats.“ 612 Vor allem die nicht enden wollende Kontroverse über die Ausweitung des Wahlrechts und die damit verbundene Parlamentsreform begünstigten schließlich den Ausbruch der Februarrevolution 1848.613 Die radikale Linke forderte neben der Abschaffung der Monarchie und einer Reform der Sozialordnung sowie des Armee- und Beamtenapparates die Etablierung eines auf uneingeschränkter Allgemeinheit angekommen, siehe ebd., S. 91 und Frankreich rühme sich gar damit, in Europa dieses Jahrhundert der Revolution eingeläutet zu haben, so ebd., S. 104. 607 Huber, Legitimität (Fn. 459), S. 94; in der Deputiertenkammer entspann sich ein stetes Wechselspiel zwischen der Herrschaft der demokratischen Partei „Mouvement“ und der der konservativen „Résistance“ (Hartmann, Französische Verfassungsgeschichte [Fn. 385], S. 100). 608 Huber, Legitimität (Fn. 459), S. 96, S. 103. 609 Huber, Legitimität (Fn. 459), S. 96. 610 Huber, Legitimität (Fn. 459), S. 98. 611 Meyer, Wahlrecht (Fn. 20), S. 159. 612 Huber, Legitimität (Fn. 459), S. 98, Hervorhebungen i. O., A. S. 613 Erbe, Frankreich (Fn. 105), S. 41; Huber, Legitimität (Fn. 459), S. 104.

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und Gleichheit der Stimmen fußenden Wahlrechts.614 220.000 aktiv Wahlberechtigte bei 35 Millionen Gesamtbevölkerung im Jahre 1845, ein Diätenverbot, das es faktisch nur den Angehörigen der reichen Oberschicht erlaubte, als Abgeordnete kandidieren zu können615, und Abgeordnete, die vielfach zugleich Staatsbeamte waren616, es hätte nicht augenfälliger sein können, „daß eine Minderheit der Nation das Wahlrecht und die Parlamentsvertretung für sich monopolisierte“, und die Opposition wollte diesen Mißstand nicht länger dulden617. Dabei ist der Eintritt in die Revolution als konsequente Vollziehung dieser Haltung zu werten, bot sich auf nicht-revolutionärem, aus verfassungsrechtlicher Sicht legalem Wege für die Opposition keinerlei Chance, ihre politischen Ziele durchzusetzen. Nicht nur retrospektiv, sondern auch schon zur damaligen Zeit war bei Kenntnis der politischen Konfliktlage das Bevorstehen der Revolution durchaus vorauszusehen: So prophezeite selbst der konservative Abgeordnete Tocqueville am 27. Januar 1848 in seiner Rede vor der Kammer der Abgeordneten den Ausbruch der Revolution. Sie sei eine unentrinnbare Folge der moralischen Unwürdigkeit der herrschenden Klasse. An den damaligen Ministerpräsidenten Guizot adressierte er den mahnenden Apell: „changez l’esprit du gouvernement, car, je vous le répète, cet esprit-là vous conduit à l’abime“ 618. Anträge auf eine Wahl- und Parlamentsreform wurden von der Kammermehrheit schlicht abgelehnt. So geschehen unter anderem mit dem Antrag von Duvergier de Hauvanne auf Herabsenkung des Zensus auf 100 Francs, der am 26. April 1847 mit 252 gegen 154 Stimmen abgelehnt wurde, und dem Antrag von de Remusat auf Einführung einer Inkompabilitätsnorm, gerichtet auf die Verhinderung der Ämterüberschneidung bei Staats614 Huber, Legitimität (Fn. 459), S. 100; Meyer, Wahlrecht (Fn. 20), S. 159; zu den Forderungen der Opposition siehe auch K. Hillebrand, Geschichte der europäischen Staaten, herausgegeben von U. H. L. Heeren u. a., Bd. II, 1879, S. 483 ff. 615 Huber, Legitimität (Fn. 459), S. 104. 616 Ministerpräsident Guizot war sehr darum bemüht, die Abgeordneten „zu ködern“, d.h. ihnen Staatsposten anzubieten, um sie dann kontrollieren und im Sinne der Regierung Druck auf sie ausüben zu können, siehe Hartmann, Französische Verfassungsgeschichte (Fn. 385), S. 100 f. 617 Huber, Legitimität (Fn. 459), S. 104. 618 A. de Tocqueville, Études économiques, politiques et littéraires, in: M. Lévy (Hrsg.), Œuvres complètes, Bd. IX, 1866, S. 520 (535). Übersetzt: Ändern Sie den Geist des Regiments, denn dieser Geist, ich wiederhole es, führt Sie in den Abgrund, siehe. An anderer Stelle seiner Rede führt er ebenso unmißverständlich aus: „Ne voyezvous pas qu’il se répand peu à peu dans leur sein des opinions, des idées, qui ne vont point seulement à renverser telles lois, tel ministère, tel gouvernement même, mais la société, à l’ébranler sur les bases sur lesquelles elle repose aujourd’hui? (. . .) Telle est, messieurs, ma conviction profonde; je crois que nous nous endormons à l’heure qu’il est sur un volcan (. . .) (ebd., S. 526). Übersetzt: Sehen Sie nicht, daß sich in ihrer Brust [der Arbeiterklasse, A. S.] allmählich Auffassungen und Ideen ausbreiten, die nicht nur bestimmte Gesetze, bestimmte Minister oder sogar eine bestimmte Regierung, sondern die Grundlagen, auf denen die Gesellschaftsordnung heute fußt, selbst erschüttern und umstürzen werden? (. . .) Dies ist, meine Herren, meine tiefe Überzeugung; ich glaube, daß wir zur Stunde auf einem Vulkan schlafen.

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beamten/Abgeordneten vom 21. April 1847 (abgelehnt mit 219 gegen 170 Stimmen).619 Auch der Bürgerkönig und sein Premier rückten völlig uneinsichtig nicht im geringsten von ihrem Standpunkt, der Beibehaltung des Zensus, ab.620 Daher fand sich die Opposition ab 1847 in sog. Reformbanketten zusammen, die nach Außen hin als harmlose Festessen getarnt waren, um der Auflösung durch die Polizei zu entgehen, tatsächlich aber dem Informationsaustausch zu ihrer angestrebten Wahlreform dienten.621 Die Situation in Paris glich einem „Pulverfaß“, das sich jeden Moment entladen konnte.622 Dessen Detonation folgte alsbald: Als Guizot623, der damalige Ministerpräsident624, ein solches Bankett im Februar 1848 schlicht verbot, eskalierte die Situation und die Revolution brach aus625. Alle Maßnahmen des Königs sie jetzt noch zu stoppen – wie unter anderem die Entlassung Guizots – schlugen fehl, hatte die Opposition die Nationalgarde doch wie schon 1789 an ihrer Seite. Am 24. Februar 1848 proklamierten die Köpfe der Revolution die Republik. Zwei Tage später bestätigte die provisorische Regierung diesen Akt feierlich. Das Königtum und mit ihm seine Leitmotive vom ordre publique und juste milieu waren offiziell gescheitert.626 Anknüpfend an die republikanische Tradition von 1789 und 1792 wurde am 4. März 1848 ein Dekret erlassen627, schon am 23. April eine Nationalversammlung und nicht wie beispielsweise 1795 eine Kommission mit der Ausarbeitung der neuen Verfassung zu betrauen628. Diese Wahlen zur verfassunggebenden Constituante markieren einen Meilenstein in der französischen Wahlrechtsgeschichte, wurden sie erstmalig nach dem System des allgemeinen, gleichen und direkten (Männer-)Wahlrechts vollzogen.629 Auch die Wahlbeteiligung lag mit 7,8 Millionen von 9,4 Millionen Wahlberechtigten insgesamt beeindruckend hoch.630 Die Nationalversammlung fand sich erstmalig am 4. Mai zusammen.631 Da soziale Unruhen in Paris die Arbeit der verfassunggebenden Nationalversammlung störten, wurde erst am 17./18. Mai ein Verfassungskomitee bestimmt,

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Siehe Huber, Legitimität (Fn. 459), S. 104 m. Fn. 54 f. Hartmann, Französische Verfassungsgeschichte (Fn. 385), S. 101. 621 Huber, Legitimität (Fn. 459), S. 104 f.; Meyer, Wahlrecht (Fn. 20), S. 159 f. 622 Hartmann, Französische Verfassungsgeschichte (Fn. 385), S. 101. 623 Siehe zu seiner Person und dem Doktrinarismus bereits ausführlich S. 132 ff. 624 Hartmann, Französische Verfassungsgeschichte (Fn. 385), S. 100. 625 Meyer, Wahlrecht (Fn. 20), S. 160; Hartmann, Französische Verfassungsgeschichte (Fn. 385), S. 101. 626 Huber, Legitimität (Fn. 459), S. 106. 627 Meyer, Wahlrecht (Fn. 20), S. 161. 628 Hartmann, Französische Verfassungsgeschichte (Fn. 385), S. 101. 629 Burdeau/Hamon/Troper, Droit (Fn. 201), S. 323; Hartmann, Französische Verfassungsgeschichte (Fn. 385), S. 101 f.; Meyer, Wahlrecht (Fn. 20), S. 161 f. 630 Erbe, Frankreich (Fn. 105), S. 42; Huber, Legitimität (Fn. 459), S. 105 f. 631 Meyer, Wahlrecht (Fn. 20), S. 162. 620

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dessen Verfassungsentwurf die Versammlung nach erster Lesung vom 2. September bis 23. Oktober in zweiter Lesung am 4. November 1848 annahm.632

B. Beginn einer neuen Ära durch die Überwindung des Zensuswahlrechts I. Normative Vorgaben: Die Revolutionsverfassung von 1848 und ihr mutiges Bekenntnis zum allgemeinen und gleichen (Männer-)Wahlrecht Die Revolutionsverfassung der Französischen Republik vom 4. November 1848 bekennt sich als erste Verfassung in der französischen Geschichte zum allgemeinen und gleichen (Männer-)Wahlrecht633 und lehnt jeglichen Zensus sowohl hinsichtlich des aktiven wie auch des passiven Wahlrechts ab, wenn es in Art. 25 und 26 der Verfassung heißt: „Wähler sind alle Franzosen, welche das ein und zwanzigste Jahr zurückgelegt haben und im Vollgenuss ihrer bürgerlichen und politischen Rechte stehen. Wahlfähig sind alle Wähler nach zurückgelegtem fünf und zwanzigsten Jahre, ohne einschränkende Bedingung des Wohnsitzes.“ 634

II. Realpolitische Umsetzung und Kritik Mit dem Verfassungswerk von 1848 war es gelungen, den Zensus aus Frankreich zu vertreiben, und auch die Einführung des allgemeinen und gleichen (Männer-)Wahlrechts erwies sich in Zukunft als irreversibel: „Da gewinnt 1848 das allgemeine gleiche Stimmrecht in Frankreich den definitiven Sieg, gegenüber Guizots, durch den Zensus engbegrenztem pays légal, und tritt nun seinen Eroberungszug durch die Lande unseres Kulturgebietes an.“ 635 In der Tat gilt es aus der Warte egalitär-demokratischer Wahlrechtsvorstellungen gebührend zu würdigen, daß Frankreich, mit revolutionärem Instrumentarium erkämpft636, bereits 1848 den Meilenstein erreicht hatte, für den man auf Ebene des Deutschen Reiches noch gut zwanzig und im Teilstaat Preußen sogar noch stolze 70 (!) Jahre brauchen sollte637. 632 Hartmann, Französische Verfassungsgeschichte (Fn. 385), S. 102 f.; Meyer, Wahlrecht (Fn. 20), S. 162. 633 Erbe, Frankreich (Fn. 105), S. 42; Hartmann, Französische Verfassungsgeschichte (Fn. 385), S. 103; Llanque, Ideengeschichte (Fn. 165), S. 367; Meyer, Wahlrecht (Fn. 20), S. 162 f. 634 Wiedergegeben nach Gosewinkel/Masing (Hrsg.), Verfassungen (Fn. 172), S. 304. Auf Französisch abgedruckt bei Burdeau/Hamon/Troper, Droit (Fn. 201), S. 324. 635 Savigny, Wahlrecht (Fn. 31), S. 23. 636 Llanque, Ideengeschichte (Fn. 165), S. 367.

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C. Exkurs: Errichtung einer autoritären Diktatur mit demokratischer Legitimation I. Der im Wege von allgemeinen und gleichen Wahlen legitimierte Staatsstreich von 1851 Neu war neben der Einführung des allgemeinen und gleichen (Männer-)Wahlrechts auch die (Wieder-)Einführung des Einkammersystems.638 Dieser Kammer stand der ebenfalls nach allgemeinem, gleichem, direktem und geheimem (Männer-)Wahlrecht bestimmte Präsident der Republik gegenüber.639 Problematischerweise schuf die Verfassung mit der Kammer und dem Präsidenten zwei gleich starke Gewalten, ohne im Konfliktfall eine Lösungsmöglichkeit anzubieten.640 Sie sah weder das Recht des Präsidenten vor, bei unüberwindbarer Uneinigkeit die Assemblée aufzulösen noch ein Recht der Kammer, den Präsidenten seines Amtes zu suspendieren, was im Streitfall nur zur unausweichlichen Lösung des Disputs durch den gewaltsamen Staatsstreich führen konnte.641 Die Realität ließ jedoch vom verfassungsrechtlichen Konzept einer gleich starken Legislative wie Exekutive nicht viel übrig. Völlig überraschend und mit einer eindeutigen Mehrheit von etwa 5,5 Millionen Stimmen bei nur etwa 1,9 Millionen Gegenstimmen wurde Louis Bonaparte im Dezember 1848 zum ersten Präsidenten der Zweiten Republik gewählt.642 Gerade diesem machthungrigen Präsidenten, der der Politik seines Onkels Napoleon nacheiferte, hätte eine starke und selbstbewußte Assemblée als Gegengewicht entgegengesetzt werden müssen. Doch Gegenteiliges war der Fall: Die im Mai 1849 gewählte Nationalversammlung war in kleinste Grup637 Der Paulskirchenverfassung von 1849 ist zwar ein ebenso fortschrittlicher Charakter zu attestieren, allerdings wurde sie nie wirksam, siehe hierzu ausführlich S. 236 ff.; zur Etablierung des allgemeinen und gleichen (Männer-)Wahlrechts auf Reichsebene siehe S. 256 ff. und in Preußen S. 395. 638 Das Einkammersystem stellte zu diesem Zeitpunkt keineswegs ein Novum im französischen Verfassungsgefüge dar, hatte man doch bereits 1791 und 1793 damit Erfahrungen sammeln können. Zu den Gründen für dessen Wiedereinführung siehe Erbe, Frankreich (Fn. 105), S. 43. 639 Siehe Art. 20: „Das Französische Volk überträgt die gesetzgebende Gewalt auf eine einzige Versammlung“ sowie Art. 43: „Das Französische Volk überträgt die vollziehende Gewalt auf einen Bürger, welcher den Titel des Präsidenten der Republik erhält“ und Art. 46 Abs. 3 der Verfassung von 1848: „Der Präsident wird in geheimer Abstimmung und nach absoluter Majorität der Stimmgeber durch directe Abstimmung aller Wähler der Französischen Departements und Algeriens erwählt“, Artikel zitiert nach Gosewinkel/Masing (Hrsg.), Verfassungen (Fn. 172), S. 304, 306. 640 Erbe, Frankreich (Fn. 105), S. 43. 641 Hartmann, Französische Verfassungsgeschichte (Fn. 385), S. 104. 642 Llanque, Ideengeschichte (Fn. 165), S. 368 wirft Bonaparte vor, er habe diesen hohen Wahlsieg nur „(. . .) mit demagogischen Mitteln, die an die demokratische Praxis des alten Athen erinnerten“ erringen können; zu Bonapartes Wahl zum Präsidenten auch Hartmann, Französische Verfassungsgeschichte (Fn. 385), S. 104 f.; Meyer, Wahlrecht (Fn. 20), S. 163 und Erbe, Frankreich (Fn. 105), S. 43.

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pierungen aufgespalten, so daß sich ein wenig interessenhomogenes Bild von Sozialisten über Republikaner und Monarchisten bot, deren Fraktionen „sich gegenseitig zerfleischten“ anstatt dem Präsidenten Paroli zu bieten.643 Bonaparte hatte es indes von Anfang an nicht auf eine produktive Zusammenarbeit mit der Versammlung abgesehen, sondern visierte gezielt den Staatsstreich an. Zunächst entließ er im Alleingang einige Minister, die Angehörige der Nationalversammlung waren, und ersetzte sie durch Externe, wodurch er wie zu Erwarten den Zorn der Angehörigen dieses Gremiums auf sich zog.644 Zum Aufhänger für den bereits erwähnten Staatsstreich wurde aber ein Gesetz vom 31. Mai 1850645, das die nicht Seßhaften646, de facto die armen Bevölkerungsschichten647, erneut vom Wahlrecht ausschloß und so die Anzahl der Wahlberechtigten von bislang etwa 9,6 Millionen um ca. 3 Millionen senkte648. Das Parlament suchte mit dieser Gesetzgebung den Siegeszug Bonapartes zu beenden, der sich selbst „zum Anwalt des demokratischen Wahlrechts stilisierte (. . .)“ 649. Doch die Maßnahme zeigte nicht die erhoffte Wirkung. Ganz im Gegenteil: Weite Teile der Bevölkerung verurteilten die Wahlrechtsänderung, was Bonaparte wiederum geschickt für seine Zwecke, die Massen hinter sich zu bringen, auszunutzen wußte.650 Er ging nun ganz gezielt daran, das alte Kaiserreich wiederzubeleben. Als die Umwandlung seiner auf vier Jahre beschränkten Präsidentschaft651 in eine auf Lebenszeit auf legalem Wege an der erforderlichen Drei-Viertel-Hürde scheiterte652 und die Aufhebung des Gesetzes vom 31. Mai 1850 von der Nationalversammlung abge-

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Hartmann, Französische Verfassungsgeschichte (Fn. 385), S. 104 f. Hartmann, Französische Verfassungsgeschichte (Fn. 385), S. 105. 645 Genauer das „Loi qui modifie la loi électorale, du 15. mars 1849, du 31. mai 1850“. 646 Das Gesetz stellte die Ausübung des aktiven Wahlrechts unter die Bedingung des dreijährigen festen Wohnsitzes in der Gemeinde/dem Kanton, siehe dazu Erbe, Frankreich (Fn. 105), S. 42; Burdeau/Hamon/Troper, Droit (Fn. 201), S. 325; Meyer, Wahlrecht (Fn. 20), S. 164. 647 Daß das Kriterium der Seßhaftigkeit in der Regel den Ausschluß der armen bzw. nicht erwerbstätigen Bevölkerungsteile nach sich zog, lag daran, daß der Nachweis über diese Seßhaftigkeit z. B. über die Eintragung in der Rolle der Personalsteuer oder durch Erklärung des Herrn und Arbeitgebers erbracht werden mußte, so Meyer, Wahlrecht (Fn. 20), S. 164. 648 Llanque, Ideengeschichte (Fn. 165), S. 368; Hartmann, Französische Verfassungsgeschichte (Fn. 385), S. 105; Meyer, Wahlrecht (Fn. 20), S. 164. 649 Llanque, Ideengeschichte (Fn. 165), S. 368. 650 Meyer, Wahlrecht (Fn. 20), S. 165. 651 In Art. 45 Abs. 1 der Verfassung von 1848 heißt es zur Amtszeit des Präsidenten unmißverständlich: „Der Präsident der Republik ist auf vier Jahre erwählt und ist nur nach einem Zwischenraume von vier Jahren wieder wählbar“, zitiert nach Gosewinkel/ Masing (Hrsg.), Verfassungen (Fn. 172), S. 306. 652 Hartmann, Französische Verfassungsgeschichte (Fn. 385), S. 106; Erbe, Frankreich (Fn. 105), S. 44. 644

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lehnt worden war653, ging er in der Nacht zum 2. Dezember 1851 zum Staatsstreich über. Er löste die Nationalversammlung auf und führte das allgemeine Stimmrecht wieder654 ein. Per Dekret rief er das Volk zur Abstimmung auf, um sich den Staatsstreich und die geplanten neuen Verfassungsvorgaben von diesem absegnen zu lassen. Im Plebiszit am 20./21. Dezember 1851 stimmte das Volk mit großer Mehrheit von 7,5 Millionen Stimmen655 für die Aufrechterhaltung der Herrschaft Napoleons und übertrug ihm alle notwendigen Befugnisse zur Etablierung einer neuen Verfassung nach seinen Vorstellungen656. Die überwältigende Mehrheit hatte so der Substitution des parlamentarischen durch ein autoritäres System zugestimmt und „den Sieg der Exekutive über die Legislative (. . .)“ 657 goutiert. Mit der neuen Verfassung vom 14. Januar 1852658 erklärte Bonaparte sich selbst zum sog. Chef de l’Etat, ausgestattet mit eben jener Fülle an Kompetenzen, die dem König der Charte Constitutionnelle von 1814 entsprechend zugestanden hatten659. Ein echtes Gegengewicht zum Chef de l’Etat sah die Verfassung nicht vor. Die erste Kammer, der Senat, bestand aus auf Lebzeit ernannten Mitgliedern, die vom Präsidenten frei ernannt wurden, mithin als „dessen Kreaturen“ 660 von seinem Wohlwollen abhängig waren und die Zweite Kammer, das Corps Législatif, ging zwar nach wie vor aus allgemeinen Wahlen hervor661, hatte jedoch kaum Möglichkeiten, maßgeblich auf den Gesetzgebungsprozeß einzuwirken662. Auch bei der dritten und letzten der legislativen Institutionen, dem Staatsrat, handelte es sich nicht um ein unabhängiges Gremium, da er aufgrund des Leitungs-, Ernennungs- und Absetzungsrechts des Präsidenten offensichtlich dessen vollständiger Kontrolle unterlag.663 Trotz mannigfacher Befugnisse und großer Machtfülle des Präsidenten war das Werk Bonapartes erst mit der Wiedereinführung der Kaiserwürde vollständig vollbracht. Im November 1852 wurde das Präsidentenamt durch den sog. Empereur ersetzt und auch die Wiedereinfüh-

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Meyer, Wahlrecht (Fn. 20), S. 165. Meyer, Wahlrecht (Fn. 20), S. 165. 655 Erbe, Frankreich (Fn. 105), S. 44; Llanque, Ideengeschichte (Fn. 165), S. 368. 656 Hartmann, Französische Verfassungsgeschichte (Fn. 385), S. 107. 657 Hartmann, Französische Verfassungsgeschichte (Fn. 385), S. 107. 658 Meyer, Wahlrecht (Fn. 20), S. 165. 659 Hartmann, Französische Verfassungsgeschichte (Fn. 385), S. 108. 660 Erbe, Frankreich (Fn. 105), S. 45. 661 Erbe, Frankreich (Fn. 105), S. 45. 662 Die Parlamentarier konnten lediglich schon vorgegebenen Gesetzesvorlagen zustimmen oder sie ablehnen, siehe Hartmann, Französische Verfassungsgeschichte (Fn. 385), S. 109; Erbe, Frankreich (Fn. 105), S. 45 spricht vom Corps Législatif daher als „parlamentarische Fassade des Regimes“ und J. de Malafosse, Histoire des institutions et des régimes politiques de la révolution à la IVe république, Paris 1975, S. 116 von „une caricature de parlement“, einer Karikatur eines Parlaments. 663 Hartmann, Französische Verfassungsgeschichte (Fn. 385), S. 109 f.; Erbe, Frankreich (Fn. 105), S. 46. 654

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rung des Kaiseramtes ließ Bonaparte sich wie gewohnt vom Volk durch Plebiszit mit herausragender Mehrheit legitimieren.664 Es bleibt zusammenfassend festzuhalten, daß in dieser plebiszitären Republik665 das allgemeine und gleiche (Männer-)Wahlrecht unangetastet blieb666. Louis Napoleon, späterer Kaiser Napoleon III., hatte es gar nicht nötig, dieses Wahlrecht auszuhebeln, um an sein Ziel der Wiederbelebung des Empires zu gelangen. Ganz im Gegenteil: Er hatte die Massen hinter sich, die ihm jeden seiner Schritte hin zur Diktatur im Wege des Plebiszits bereitwillig legitimierten. Man darf nicht außer Acht lassen, daß die Bürger trotz oder paradoxerweise gar wegen (sie hatten die Diktatur ja selbst im Wege der Abstimmung demokratisch legitimiert) dieses, unseren demokratischen Grundsätzen gerecht werdenden Wahlrechts in einer Diktatur lebten. Diese war wegen Wahlkreismanipulationen667, Überwachung und Unterdrückung der politischen Minderheit oder des Treueeids, den Abgeordnete dem Kaiser leisten mußten668, Lichtjahre von einem demokratisch organisierten Zusammenleben entfernt. Llanque beklagt in diesem Kontext, daß das auf revolutionärem Wege erkämpfte allgemeine Männerwahlrecht von 1848 „einem Hochverräter und Abenteurer zum Sieg“ verholfen und „mit demokratischer Zustimmung zur Alleinherrschaft und zur eigenen Selbstabschaffung“ geführt habe. Er fährt fort: „Die Besorgnisse über den verheerenden Einfluss der Demokratie auf die Politik schienen ihre moderne Bestätigung zu erhalten. Die Demokratie war zum Sprungbrett für eine neue Variante der Regierung geworden: die plebiszitär legitimierte, autoritäre Exekutive.“ 669 Diesem Beklagen muß man wohl entgegenhalten, daß auch eine solche Entwicklung Ausdruck einer der Demokratie immanenten Gefahr ist. Da Demokratie an die Selbstbestimmung der Bürger appeliert, vertraut sie im Rahmen dieser auf vernünftige Entscheidungsfindung, nimmt aber gleichzeitig in Kauf, daß die Wähler der demokratischen Idee ganz offensichtlich zuwiderlaufende Maßnahmen demokratisch zu legitimieren vermögen.670 Der Llanquesche Einwand ändert nichts 664 Llanque, Ideengeschichte (Fn. 165), S. 368; Hartmann, Französische Verfassungsgeschichte (Fn. 385), S. 111. 665 Hartmann, Französische Verfassungsgeschichte (Fn. 385), S. 110. 666 Meyer, Wahlrecht (Fn. 20), S. 167. 667 Erbe, Frankreich (Fn. 105), S. 45. 668 Hartmann, Französische Verfassungsgeschichte (Fn. 385), S. 111 f. 669 Llanque, Ideengeschichte (Fn. 165), S. 367. 670 Wohl am eingängigsten und prominentesten formuliert von H. Kelsen, Verteidigung der Demokratie (1932), in: N. Leser (Hrsg.), Demokratie und Sozialismus. Ausgewählte Aufsätze, 1967, S. 68 (68): „Aber angesichts dieser Situation erhebt sich auch die Frage, ob man es dabei sein Bewenden lassen solle, die Demokratie theoretisch zu verteidigen. Ob die Demokratie sich nicht selbst verteidigen soll, auch gegen das Volk, das sie nicht mehr will, auch gegen eine Majorität, die in nichts anderem einig ist, als in dem Willen, die Demokratie zu zerstören. Diese Frage stellen, heißt schon, sie verneinen. Eine Demokratie, die sich gegen den Willen der Mehrheit zu behaupten, gar mit

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daran671, die verfassungsrechtliche Verankerung des allgemeinen und gleichen (Männer-)Wahlrechts 1848 in Frankreich grundsätzlich – bei gleichzeitiger Verurteilung der Diktatur – anerkennen und begrüßen zu müssen. Insbesondere weil das Wahlrecht schon in Zeiten des Kaiserreichs derart demokratisch ausgestaltet war, daß es auch nach dem Zusammenbruch desselben und in der am 4. September 1870 proklamierten Dritten Republik beibehalten werden konnte.672 Frankreich liefert ein eindrucksvolles Beispiel dafür, daß Demokratie und Parlamentarismus sich zwar nicht automatisch bedingen, demokratisch-plebiszitäre und autoritäre Elemente aber auf Dauer nur schwer miteinander harmonieren.673 Mit der Dritten Republik konnte sich neben dem demokratischen schließlich auch das parlamentarische Element in Frankreich durchsetzen.674 II. Bestärkung der Gegner eines allgemeinen und gleichen (Männer-)Wahlrechts durch den Bonapartismus Wie zu erwarten wurde der Staatsstreich Napoleons und der Bonapartismus im Allgemeinen zum Gegenstand unzähliger Abhandlungen.675 Liberale Autoren676 Gewalt sich zu behaupten versucht, hat aufgehört, Demokratie zu sein. Eine Volksherrschaft kann nicht gegen das Volk bestehen bleiben. Und soll es auch gar nicht versuchen, das heißt, wer für die Demokratie ist, darf sich nicht in den verhängnisvollen Widerspruch verstricken lassen und zur Diktatur greifen, um die Demokratie zu retten“; ders., Staatsform und Weltanschauung, 1933, S. 20 („Daß eine Staatsform mit den ihr ureigensten Methoden der Willensbildung, also legal sich selbst aufheben kann, ist das paradoxe Vorrecht, das die Demokratie gegenüber der Autokratie hat“); dazu erläuternd H. Dreier, Kelsens Demokratietheorie: Grundlegung, Strukturelemente, Probleme, in: R. Walter/C. Jabloner (Hrsg.), Hans Kelsens Wege sozialphilosophischer Forschung. Ergebnisse eines Internationalen Symposions in Wien (14.–15. Oktober 1996), 1997, S. 79 (100 f.). 671 Gleiches gilt im Übrigen für den Hinweis von Meyer, Wahlrecht (Fn. 20), S. 160 f. bei der Einführung des allgemeinen und gleichen (Männer-)Wahlrechts in Frankreich hätten taktische Erwägungen der Zweckmäßigkeit eine nicht zu unterschätzende Rolle gespielt. Beim Wechsel der Verfassungsform 1848 habe man zunächst eine Volksabstimmung über die neue Staatsverfassung geplant, diese aber schließlich aus Sorge vor der nach wie vor einflußreichen monarchischen Anhängerschaft durch die Entscheidung einer aus Wahlen hervorgehenden Nationalversammlung ersetzt, die dann zumindest dem allgemeinen und gleichen Wahlrecht gerecht werden sollten. Sei es schlicht aus Sorge vor den Monarchisten, im Ergebnis wurde das Wahlrecht so auf ausnahmslos alle Bürger Frankreichs ausgedehnt. 672 Meyer, Wahlrecht (Fn. 20), S. 167; zu den Ereignissen ab dem 4. September 1870 siehe ausführlich M. Deslandres, Histoire constitutionnelle de la France, Bd. III, Paris 1937, S. 3 ff. 673 Erbe, Frankreich (Fn. 105), S. 45. 674 Zu den Hintergründen siehe exemplarisch Erbe, Frankreich (Fn. 105), S. 47 ff. 675 Siehe statt vieler A. Romieu, L’ ère des césars, Paris 1850; Oeuvres complètes, Histoire I: Napoléon le Petit, Paris 1882; W. Bagehot, Caesareanism as it now exists (1865), in: N. St. John-Stevas (Hrsg.), The collected works of Walter Bagehot. The Historical Essays (in two volumes) with an introduction by Jacques Barzun, Bd. IV, 1968, S. 111 ff.; ders., The Collapse of Caesarism (1870), in: N. St. John-Stevas (Hrsg.), The

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befanden sich angesichts der Geschehnisse in Frankreich in einer Art Schockstarre, sahen sie sich doch als die wahren Repräsentanten des Volkes und mußten nun mitansehen, wie mit demokratischer Legitimation der Massen das Parlament ausgehebelt wurde und in der Bedeutungslosigkeit verschwand677. Einige Autoren fanden im Regime Napoleon III. die real-historische Bestätigung ihrer abstrakten Thesen zu den Gefahren des allgemeinen und gleichen Wahlrechts. 1. Alexis de Tocqueville und die Bedrohung durch die Demokratie

Ein sehr eingängiges Beispiel hierfür liefert der Jurist Alexis de Tocqueville (1805–1859), der von 1839 bis 1848 der Opposition des Abgeordnetenhauses angehörte. Hier bekämpfte er verstärkt um 1846 die Regierung Guizots, die er dafür verantwortlich machte, die französische Nation in eine unpolitische Aktiengesellschaft zu transformieren.678 Wohlstandsstreben allein, so Tocquevilles Überzeugung, sei nicht das einzige Merkmal eines politisch verständigen und guten Bürgers. In der Abgeordnetenkammer machte er nicht zuletzt deshalb auf sich aufmerksam, weil er Guizot scharfsinnig vor der bevorstehenden Revolution warnte.679 Als bekennender Gegner des Napoleonischen Regimes wurde er während des Staatsstreichs 1851 in Haft genommen, nach seiner Freilassung und dem Rückzug ins Privatleben verfaßte er 1856 sein bekanntes Werk „Ancien regime“ 680, collected works of Walter Bagehot. The Historical Essays (in two volumes) with an introduction by J. Barzun, Bd. IV, 1968, S. 155 ff.; C. Frantz, Louis Napoleon. Masse oder Volk. Herausgegeben und mit Materialien versehen von G. Maschke, Wien/Leipzig 1990, S. 14 ff. 676 Schock und Bestürzung über den Staatsstreich und die sich anschließende Diktatur Louis Bonapartes machten indes auch vor Autoren anderer politischer Richtungen keinen Halt. Eindrucksvollen Beleg hierfür liefert Karl Marx (1818–1883), der das unreflektierte Aufrechterhalten der Forderung nach einem demokratischen Wahlrecht als „normativen Fetisch“ scharf kritisierte, da es am Ende ohnehin nur den reaktionären Interessen zu Gute komme. Er verurteilte das „Lumpenproletariat“, das zusammen mit den Parzellenbauern für Bonaparte votiert habe, siehe K. Marx, Der 18te Brumaire des Louis Napoleon, 1852, S. 123 ff., S. 131 ff.; zur Marxschen Einschätzung der französischen Entwicklung Llanque, Ideengeschichte (Fn. 165), S. 381. Des Weiteren F. Engels, Einleitung (1895), in: K. Marx (Hrsg.), Die Klassenkämpfe in Frankreich 1848–1850. Mit einer Einleitung von F. Engels und einem Vorwort von A. Bebel (1895), 1920, S. 8 (16): „Das allgemeine Stimmrecht hatte schon lange in Frankreich bestanden, war aber in Verruf gekommen durch den Mißbrauch, den die bonapartistische Regierung damit getrieben.“ 677 Llanque, Ideengeschichte (Fn. 165), S. 368. 678 Coutant, Tocqueville (Fn. 592), S. 373 ff. (siehe insbesondere S. 380 zu Tocquevilles Hoffnung, durch Erweiterung des Stimmvolkes das Interesse für parlamentarische Diskussionen zu wecken und dem politischen Prozeß durch eine Reform des Wahlsystems neuen Elan zu geben). 679 Siehe zu dieser Rede und seinem eindringlichen Appell des Umdenkens an Guizot bereits in Fn. 618. 680 Der Titel des Werkes lautet ausführlich A. de Tocqueville, L’Ancien Régime et la Révolution, Paris 1856; dazu Llanque, Ideengeschichte (Fn. 165), S. 368.

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in dem er an seine theoretischen Ausführungen zu den Gefahren der Demokratie in der demokratisch legitimierten Diktatur anknüpft, diese mit den Geschehnissen in Frankreich in Bezug setzt und seine abstrakten Thesen letztlich durch die historische Entwicklung bestätigt sieht. Schon im zweiten Band seiner 1840 erschienenen „Démocratie en Amérique“ hatte er vor einem Umschwung der Demokratie in die Despotie gewarnt.681 Wie John Stuart Mill, mit dem er im regen gedanklichen Austausch stand, sah er als Gegner eines unbeschränkten Wahlrechts seine Wertschätzung, ja gar Verehrung des Preußischen Dreiklassenwahlrechts auf einer Reise durch das preußische Rheinland 1854 bestätigt.682 Er betrachtete das System als idealen Zuschnitt der politischen Ordnung auf den politischen Entwicklungsstand Preußens und war voll des Lobes ob des Konzeptes der Einteilung der Bevölkerung in drei Einkommensklassen und der korrespondierenden Staffelung des Stimmgewichts.683 2. Walter Bagehot und die Gefahren einer Herrschaft der ungebildeten Masse

Auch der Brite Walter Bagehot (1826–1877), der sich als Verfassungstheoretiker an den politischen Entwicklungen in Frankreich sehr interessiert zeigte, unterfütterte mit seiner Theorie vom Funktionieren des Systems Cäsarismus, das das Vertrauen der am wenigsten Gebildeten dazu mißbrauche, die politisch klugen Argumente und Forderungen der gebildeten Bevölkerungsschichten auszuhebeln684, den Standpunkt derer, die das Wahlrecht und mithin die politische Entscheidungsbefugnis ganz im Sinne Guizots und der Doktrinäre ausschließlich in den Händen der intelektuellen Elite sehen wollten: „Die arbeitenden Klassen tragen fast nichts zu unserer korporativen öffentlichen Meinung bei, und deswegen beeinträchtigt die Tatsache, daß sie keinen Einfluß im Parlament besitzen, die Übereinstimmung des Parlaments mit der öffentlichen Meinung nicht.“ 685 681 A. de Tocqueville, Über die Demokratie in Amerika (1840), eingeleitet und herausgegeben von J. P. Mayer, Vorwort von Carl J. Burckhardt, Bd. II, 1956, Teil 4, Kapitel 6 = abgedruckt unter Nr. 30, S. 204 (204: „Während meines Aufenthaltes in den Vereinigten Staaten hatte ich bemerkt, daß eine demokratische Gesellschaftsordnung wie die der Amerikaner für die Errichtung des Despotismus einzigartige Möglichkeiten bieten könnte; und bei meiner Rückkehr nach Europa hatte ich gesehen, wie sehr die meisten unserer Fürsten sich der Vorstellungen, Gefühle und Bedürfnisse, die diese Gesellschaftsordnung entstehen ließ, bereits bedient hatten, um ihren Machtbereich zu erweitern“). 682 Llanque, Ideengeschichte (Fn. 165), S. 371 f. 683 Siehe dazu A. S. Kahan, Aristocratic liberalism. The social and political thought of Jacob Burckhardt, John Stuart Mill, and Alexis de Tocqueville, New York/Oxford 1992, S. 72 f. 684 Siehe Bagehot, Caesareanism (Fn. 675), S. 113 und ders., Collapse (Fn. 675), S. 156; Llanque, Ideengeschichte (Fn. 165), S. 369. 685 W. Bagehot, Die englische Verfassung (1867), herausgegeben und eingeleitet von K. Streifthau, 1971, S. 147 (161); siehe dazu knapp bei M. Wild, Die Gleichheit der Wahl. Dogmengeschichtliche und systematische Darstellung, 2003, S. 27.

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Teil 2: Zensuswahlrecht in Frankreich 3. John Stuart Mill und die Forderung nach einem Parlament der Eliten

Sein Landsmann, der Philosoph und Ökonom John Stuart Mill (1806–1873), sah sich angesichts des Siegeszugs des Bonapartismus in Frankreich wie Tocqueville in seiner Einschätzung der Wahlrechtsfrage bestärkt. Trotz seines leidenschaftlichen Engagements für die politischen Rechte der Frau lehnte er ein universales Wahlrecht (für Großbritannien) kategorisch ab686 und attestierte dem Preußischen Dreiklassenwahlrecht Vorbildcharakter687. Hintergrund dieser Ansicht ist die Vorstellung, daß Zweck des Wahlrechts nicht die Verwirklichung eines abstrakten Gleichheitsgrundsatzes durch Gewährung gleicher Partizipationsmöglichkeiten, sondern einzig die Errichtung der bestmöglichen Regierung sei. Die Empfänger von Armenhilfe sollten wegen der Gefahr der Bestechlichkeit ebenso vom Wahlrecht ausgeschlossen sein wie die Bürger, die aufgrund mangelnder Bildung keine eigenständige politische Meinung entwickeln könnten.688 Zudem erschien es ihm geradezu paradox, jemandem das Recht einzuräumen, ein Parlament zu wählen, das über Steuern zu befinden hätte, der selbst aber keinerlei Steuern an den Staat entrichtete.689 Die Meinung der Gruppierung, deren Berücksichtigung ihm im politischen Diskurs am meisten am Herzen lag, war – wie so oft – die der Gebildeten. Die Elite solle im Parlament vorherrschen. Um den Effekt einer Dominanz der Gebildeten noch zusätzlich zu forcieren, wollte er ihnen ein Pluralwahlrecht einräumen, d.h. sie sollten bei Wahlen über mehrere Stimmen verfügen können.690 III. Resümee Da die Einführung des allgemeinen und gleichen (Männer-)Wahlrechts in Frankreich vom in den demokratisch legitimierten Staatsstreich mündenden Bo686

Llanque, Ideengeschichte (Fn. 165), S. 371. Siehe die Ausführungen Mills in seinem Brief an William Rathbone Jr. vom November 1863, abgedruckt in: F. E. Mineka/D. N. Lindley (Hrsg.), Collected Works of John Stuart Mill, Bd. XV, Toronto/Buffalo 1972, Nr. 662, S. 904 (905); dazu auch Kahan, Aristocratic liberalism (Fn. 683), S. 73. 688 J. S. Mill, Considerations on representative government, London 1861, Chapter VIII: Of the extension of the suffrage, S. 155 (160): „I regard it as wholly inadmissible that any person should participate in the suffrage, without being able to read, write, and, I will add, perform the common operations of arithmetic“; siehe dazu Llanque, Ideengeschichte (Fn. 165), S. 372. 689 Mill, Considerations (Fn. 688), Chapter VIII: Of the extension of the suffrage, S. 155 (162). 690 Mill, Considerations (Fn. 688), Chapter VII: Of true and false democracy; representation of all, and representation of the majority only, S. 131 (150 ff. zur Elite im Parlament) sowie erneut Chapter VIII: Of the extension of the suffrage, S. 155 (170 ff. zum Pluralwahlrecht); zu den Argumenten, die der Millschen Auffassung gemäß für ein Pluralwahlrecht streiten, siehe N. Urbinati, Mill on democracy. From the athenian polis to representative government, Chicago/London 2002, S. 93 ff. 687

Kap. 7: Endgültige Überwindung des Zensusprinzips

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napartismus und der autoritären Diktatur Napoleon III. überschattet wurde, fühlten sich viele der liberalen Autoren durch die Ereignisse in ihrer skeptischen oder gar ablehnenden Haltung gegenüber dem universalen Wahlrecht bestärkt. Parlamentarismus – so das Credo – konnte oder besser mußte auch ohne Demokratie realisierbar sein und die Risiken der Demokratie, die dieses Regime einmal mehr in aller Härte zu Tage befördert hatte, galt es im Wege der Privilegierung der Elite zu minimieren.691

691

Llanque, Ideengeschichte (Fn. 165), S. 374.

Teil 3

Erscheinungsformen, Begründung und Überwindung des Zensuswahlrechts in Deutschland Kapitel 1

Das Zensuswahlrecht als Bestandteil der Steinschen Städteordnung von 1808 und der Verfassungen von Westfalen und Bayern 1807/08 A. Vorgeschichte I. Deutschlands Befreiung aus dem ständisch-feudalen Korsett durch Einflüsse der Französischen Revolution Das Heilige Römische Reich Deutscher Nation war noch ständisch gegliedert692, ein „feudalrechtlicher Lehnsstaat“ 693. Auch der Reichstag als damalige Vertretungskörperschaft war ständisch geprägt.694 Aus diesem Korsett mußte sich das Deutsche Reich zunächst befreien. Wenn man sich vor Augen führt, daß „in allen europäischen Völkern die alte Gesellschafts- und Staatsordnung als ein Bollwerk entgegen[stand], das entweder durch gewaltsamen Umsturz gebrochen oder durch einsichtig-planvollen Umbau abgetragen werden mußte“ 695, so fragt sich, ob in Deutschland diese überkommene ständisch-feudale Gesellschaftsordnung behutsam umgestaltet oder radikal umgestürzt wurde und welche Faktoren hier die Entwicklung zu einem modernen Staat bedingten. Vor dem Hintergrund dieser Fragestellung darf man den Einfluß der französischen Revolution als „kein bloß regionales, sondern ein gesamteuropäisches Ereignis“ 696 nicht unterschät692 Statt vieler: Huber, Verfassungsgeschichte I (Fn. 9), S. 4; M. Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, Bd. 2, 1992, S. 45 f.; Stern, Staatsrecht I (Fn. 29), § 10 I 2 (S. 290 f.). 693 Dazu Wehler, Gesellschaftsgeschichte I (Fn. 11), S. 43; eine knappe, schlagwortartige Gegenüberstellung charakteristischer Merkmale der ständischen Gesellschaft sowie des neuen Systems findet sich ebd., S. 340 f. 694 E. Liebmann, Das Alte Reich und der napoleonische Rheinbund, in: P. Brandt (Hrsg.), Handbuch der europäischen Verfassungsgeschichte im 19. Jahrhundert. Institutionen und Rechtspraxis im gesellschaftlichen Wandel, Bd. I, 2006, S. 640 (656). 695 Huber, Verfassungsgeschichte I (Fn. 9), S. 5. 696 Huber, Verfassungsgeschichte I (Fn. 9), S. 13.

Kap. 1: Steinsche Städteordnung/Verfassungen von Westfalen und Bayern

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zen, deren omnipräsente und ohne Unterlaß proklamierte Trias von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit auch in Deutschland „außerordentlichen Widerhall“ 697 fand. Die Einflußnahme der französischen Revolution auf die deutsche Entwicklung698 läßt sich dabei nicht auf eine intellektuelle Ebene beschränken699, denn es blieb nicht (nur) dabei, daß sich die Ideen der Revolution in den Köpfen einiger Deutscher festsetzten700. Die Revolution machte sich auch auf realer Ebene in Deutschland bemerkbar und es so den Gegnern dieses revolutionären Gedankenguts schier unmöglich, die revolutionären Umstürze zu ignorieren. 1. Territoriale Auswirkungen der Französischen Revolution auf das Deutsche Reich

Erste faktische Auswirkungen machten sich bereits 1789 bemerkbar, als die französische Nationalversammlung alle feudalen Vorrechte und Privilegien abschaffte, was insbesondere „das komplizierte Geflecht deutscher und französischer Rechte in Elsaß und Lothringen traf“ 701. Die französische Nationalversammlung verstieß mit der Abschaffung der feudalen Privilegien bezüglich des Elsaßes gegen völkerrechtliche Abkommen und verletzte so letztlich auch Rechte des Reiches.702 Während Preußen, das am 7. Februar 1792 ein Bündnis 697 Huber, Verfassungsgeschichte I (Fn. 9), S. 13. Man denke nur beispielsweise an Georg Wilhelm Friedrich Hegels berühmte Huldigung der Französischen Revolution und ihrer Errungenschaften: „Solange die Sonne am Firmamente steht und die Planeten um sie herumkreisen, war das nicht gesehen worden, daß der Mensch sich auf den Kopf, d.i. auf den Gedanken stellt und die Wirklichkeit nach diesem erbaut. (. . .) Es war dieses somit ein herrlicher Sonnenaufgang. Alle denkenden Wesen haben diese Epoche mitgefeiert“ (G. W. F. Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte [1837], Frankfurter Theorie-Werkausgabe, Bd. 12, 1970, S. 529). 698 Siehe hierzu ausführlich Wehler, Gesellschaftsgeschichte I (Fn. 11), S. 345 ff. 699 Siehe exemplarisch für die im ausgehenden 18. Jahrhundert durch die Französische Revolution angestoßene und befeuerte Diskussion um die „natürliche“ und „politische Freiheit“ in Deutschland: D. Klippel, Politische Freiheit und Freiheitsrechte im deutschen Naturrecht des 18. Jahrhunderts, 1976, S. 170 ff. 700 Aus welchen Gründen es in Deutschland dennoch nicht zum Ausbruch einer Revolution kam, erläutert Wehler, Gesellschaftsgeschichte I (Fn. 11), S. 353 ff. Insbesondere habe es in Deutschland an einem mit Frankreich vergleichbaren Elitenkonflikt (ebd., S. 355) und einer Paris entsprechenden Hauptstadt als revolutionärem Siedepunkt gefehlt (ebd., S. 359). 701 D. Willoweit, Deutsche Verfassungsgeschichte. Vom Frankenreich bis zur Wiedervereinigung Deutschlands, 7. Aufl. 2013, § 27 Rn. 2 (S. 219). 702 Huber, Verfassungsgeschichte I (Fn. 9), S. 20 f. Diese Maßnahme sollte im Hinblick auf das Elsaß in einen handfesten Konflikt zwischen dem Deutschen Reich und Frankreich münden. Das Elsaß gehörte zwar staatsrechtlich betrachtet zu Frankreich, es gab dort jedoch einige deutsche Reichsstände, die über Lehnsrechte, Gerichtsherrschaften und weitere feudale Privilegien verfügten. Die Anordnungen des französischen Gesetzes vom 4. August 1789 verliefen nun aber diametral zu den Regelungen des Westfälischen Friedens von 1648, die den Reichsständen den Fortbestand der Privilegien im Elsaß zusicherten und auch nicht durch später geschlossene Friedensverträge außer Kraft gesetzt worden waren.

158

Teil 3: Zensuswahlrecht in Deutschland

mit Österreich eingegangen war703, nach Ausbruch des Krieges von Österreich noch im selben Jahr den Österreichern als Verbündeter zur Seite stand, trat das Reich nicht in den Krieg ein. Trotzdem sah es sich bald mit den territorialen Auswirkungen dieses Krieges konfrontiert. Nachdem Speyer, Mainz und Worms erobert waren, formierte sich in Mainz der sog. Mainzer Klub704, der den Anschluß der Rheinlande an die Französische Republik forderte. Am 18. März 1793 wurde durch den rheinischen Konvent zunächst aus dem linksrheinischen Gebiet der rheinische Freistaat, der kurz darauf die Angliederung an Frankreich beschloß. Ein französisches Dekret vom 15. Dezember 1792 befahl, in allen eroberten Gebieten die revolutionären Prinzipien zu etablieren.705 Das Reich, das sich in einer politisch äußerst prekären Lage befand und reagieren mußte, schloß sich einer europäischen Koalition gegen Frankreich an und erklärte den Reichskrieg.706 Um die Frage der Überlassung der linksrheinischen Gebiete zu klären, über die letztlich nur das Reich entscheiden konnte, fand man sich im November 1797 zum Reichsfriedenskongreß in Rastatt707 zusammen. Trotz langer Verhandlungen brachte der Kongreß keine Ergebnisse708, und im September 1799 wurde der Reichskrieg wiederaufgenommen.

703

Huber, Verfassungsgeschichte I (Fn. 9), S. 24. K. O. Freiherr von Aretin, Vom Deutschen Reich zum Deutschen Bund, 1980, S. 65 f. 705 Huber, Verfassungsgeschichte I (Fn. 9), S. 27 f. 706 Im Folgenden überschlugen sich die Ereignisse geradezu: Am 5. April 1795 wurde der Sonderfrieden von Basel zwischen Preußen und Frankreich geschlossen; der Text ist auszugsweise abgedruckt in: U. Hufeld (Hrsg.), Der Reichsdeputationshauptschluß von 1803. Eine Dokumentation zum Untergang des Alten Reiches, 2003, Nr. 2 (S. 37 ff.). – Siehe hierzu K. D. Hömig, Der Reichsdeputationshauptschluß vom 25. Februar 1803 und seine Bedeutung für Staat und Kirche, 1969, S. 23 f.; I. Knecht, Der Reichsdeputationshauptschluß vom 25. Februar 1803. Rechtmäßigkeit, Rechtswirksamkeit und verfassungsgeschichtliche Bedeutung, 2007, S. 39 f.; Freiherr von Aretin, Vom Deutschen Reich zum Deutschen Bund (Fn. 704), S. 76 ff. Tiefergehend H. Haussherr, Hardenberg und der Friede von Basel, in: Historische Zeitschrift 184 (1957), S. 292 ff. Preußen verpflichtete sich zur Abtretung der linksrheinischen Reichsgebiete und beging so Hochverrat am Reich. Im Frieden von Campo Formio – in Auszügen bei Hufeld (Hrsg.), Reichsdeputationshauptschluß (Fn. 706), Nr. 6 (S. 54 ff.); siehe Knecht, Reichsdeputationshauptschluß (Fn. 706), S. 41; K.-P. Schroeder, Des Alten Reiches langer Schatten – 200 Jahre Reichsdeputationshauptschluss, in: NJW 2003, S. 630 (630); Wehler, Gesellschaftsgeschichte I (Fn. 11), S. 354 – vom 17. Oktober 1797 zwischen Österreich und Frankreich, sicherte Österreich in einem geheimen Zusatzabkommen zu, auf dem geplanten Reichsfriedenskongreß für die Abtretung der Gebiete des linken Rheinufers an Frankreich zu stimmen (siehe K.-P. Schroeder, Das Alte Reich und seine Städte. Untergang und Neubeginn: Die Mediatisierung der oberdeutschen Reichsstädte im Gefolge des Reichsdeputationshauptschlusses 1802/03, 1991, S. 45). 707 Siehe Schroeder, Reich (Fn. 706), S. 45 ff., der ein ganzes Kapitel ausschließlich dem Rastatter Kongreß widmet. 708 Was darauf zurückzuführen ist, daß die Würfel zu diesem Zeitpunkt durch die vorgreifenden Geheimabsprachen zwischen Preußen und Frankreich sowie Österreich und Frankreich bereits gefallen waren. 704

Kap. 1: Steinsche Städteordnung/Verfassungen von Westfalen und Bayern

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Dem Reich wie auch Österreich blieb am Ende des zweiten Koalitionskrieges nur die Kapitulation vor den französischen Truppen.709 Dem Frieden von Lunéville am 9. Februar 1801, der zwischen dem österreichischen und französischen Bevollmächtigten geschlossen wurde, trat auch der König im Namen des ganzen Reiches bei.710 Das Reich trat nunmehr das gesamte linke Rheinufer an Frankreich ab und war gemäß Art. 7 des Vertrages711 dazu verpflichtet, die dortigen Fürsten durch die Zuteilung rechtsrheinischer Territorien zu entschädigen712. In territorialer Hinsicht war den Franzosen daran gelegen, den gebietsmäßigen Flickenteppich713 dadurch in Teilen zu bereinigen, daß kleinere Gebiete zu mittelgroßen Staaten zusammengelegt werden sollten714. 709 Nachdem sich im Verlaufe dieses zweiten Koalitionskrieges die Koalitionsarmeen in Holland, der Schweiz und Italien geschlagen geben mußten, gelang es den Franzosen durch Süddeutschland und von dort nach Österreich zu ziehen. Preußen hatte sich in dieser zweiten Phase des Krieges von Anfang an neutral verhalten und auch die einzelnen Reichsstände zogen sich nun vermehrt aus dem Krieg zurück, siehe zu alledem Huber, Verfassungsgeschichte I (Fn. 9), S. 28 ff. 710 Die erforderliche Genehmigung dieser Maßnahme durch den Reichstag erfolgte allerdings erst im Nachgang, siehe Willoweit, Deutsche Verfassungsgeschichte (Fn. 701), § 27 Rn. 8 (S. 221). Da mit dem Friedensschluß für das Reich zahlreiche einschneidende Umwälzungen, nicht nur territorialer Art einhergingen, scheint es nicht überzeichnet, ihn als „Akt des Umsturzes“ zu titulieren, „man ist versucht, ihn eine ,legale Revolution‘ zu nennen“ (siehe Huber, Verfassungsgeschichte I [Fn. 9], S. 40; dazu auch Knecht, Reichsdeputationshauptschluß [Fn. 706], S. 221; Schroeder, 200 Jahre Reichsdeputationshauptschluss [Fn. 706], S. 632). 711 Text des Lunéviller Friedensvertrages abgedruckt in: P. A. G. v. Meyer (Hrsg.), Corpus Juris Confoederationis Germanicae oder Staatsacten für Geschichte und öffentliches Recht des Deutschen Bundes, 3. Aufl. 1858, S. 1 (2). 712 Willoweit, Deutsche Verfassungsgeschichte (Fn. 701), § 27 Rn. 8 (S. 221); Huber, Verfassungsgeschichte I (Fn. 9), S. 40. 713 Auch wenn es sich hier um eine Formulierung, ein nahezu geflügeltes Wort handelt, ist die zugrundeliegende Einschätzung in der historischen Wissenschaft längst nicht mehr unumstritten, siehe hierzu statt vieler Liebmann, Reich (Fn. 694), S. 643 m. Fn. 17 m.v. w. N. und die Aussprache zu G. Schmidt, Der Westfälische Frieden – eine neue Ordnung für das Alte Reich?, in: R. Mußgnug (Hrsg.), Wendemarken in der deutschen Verfassungsgeschichte. Tagung der Vereinigung für Verfassungsgeschichte in Hofgeismar vom 11.3.–13.3.1991, Der Staat, Beiheft Nr. 10 (1993), S. 73 ff. Golo Mann verglich die territoriale Situation des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation mit ihren 300 Einzelstaaten eingängig mit einer „Milchstraße von Reichsritterschaften und Reichsstädten, Abteien und Bistümern, Mark-, Land- und Rauhgrafschaften“, vgl. G. Mann, Deutsche Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts, 1966, S. 53; Huber weist zudem darauf hin, daß diese territoriale Aufsplitterung des Reiches in teilweise kleinste Mikrokosmen den Franzosen absurd, gar grotesk vorgekommen sein muß: „dem rationalen Geist der französischen Revolution war diese deutsche Wirrnis von Reichsbistümern und Reichsabteien, von Reichsgrafschaften und Reichsherrschaften, von Reichsstädten und Reichsdörfern anstößig und verdächtig“ (siehe Huber, Verfassungsgeschichte I [Fn. 9], S. 41). 714 Dieser Plan vermag zunächst zu überraschen, ist aber im Kern wohl vernünftig durchdacht. Die Staaten sollten nicht mehr so klein sein, daß sie in ihrer Bestandssicherung voll und ganz vom Reich abhängig waren, aber auch nicht so groß, als autonomer Einzelstaat im europäischen Gefüge ernsthafte Bedeutung erlangen zu können. Zu stark

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Teil 3: Zensuswahlrecht in Deutschland 2. Strukturelle Auswirkungen der Französischen Revolution auf das Deutsche Reich

Neben einer grundlegenden territorialen Neuordnung wurden auch strukturell tiefgreifende Änderungen vorgenommen. Die entscheidenden Stichworte, die an diesem Punkt fallen müssen, sind die der Säkularisierung und Mediatisierung.715 Säkularisierung716 bedeutet, daß die geistlichen Reichsfürsten ihre landesherrschaftlichen Rechte verloren und an weltliche Fürsten abtreten mußten717. Der Begriff der Mediatisierung umschreibt den Vorgang der Unterstellung der reichsunmittelbaren Territorien, deren Landesherren als Autorität nur den Kaiser über sich hatten, unter ein weltliches Reichsfürstentum, so daß die Beziehung zum Reich zu einer mittelbaren abgeschwächt wurde.718 differierende Partikularinteressen der Einzelstaaten sollten zumal verhindern, daß eben jene durch Zusammenschlüsse eine respektable autonome Größe erreichten (Huber, Verfassungsgeschichte I [Fn. 9], S. 41 f.). 715 Willoweit, Deutsche Verfassungsgeschichte (Fn. 701), § 27 Rn. 13 f. (S. 223 f.); Wehler, Gesellschaftsgeschichte I (Fn. 11), S. 363 ff.; Huber, Verfassungsgeschichte I (Fn. 9), S. 43 f.; überblicksartig auch bei W. Frotscher/B. Pieroth, Verfassungsgeschichte, 13. Aufl. 2014, Rn. 175 ff. 716 Strikt abzugrenzen vom Terminus und Vorgang der „Säkularisation“ im engeren Sinne, also der Einziehung der Kirchengüter von Seiten der staatlichen Hoheitsgewalt. Zur Abgrenzung siehe statt vieler H. Dreier, Säkularisierung des Staates am Beispiel der Religionsfreiheit, in: Rechtsgeschichte 19 (2011), S. 72 (73 f.); Knecht, Reichsdeputationshauptschluß (Fn. 706), S. 51 mit Fn. 195: „Säkularisierung bezeichnet die gesamte Entwicklung der Ablösung gesellschaftlicher und ethischer Verhaltensnormen sowie Mentalitäten von einem religiös-sakralen Hintergrund. Es handelt sich also um einen sehr weiten Oberbegriff, aus dessen Bedeutungsfeld „Säkularisation“ nur einen kleinen Teilbereich beschreibt (. . .)“; sowie Liebmann, Reich (Fn. 694), S. 645 m. Fn. 23. Innerhalb des Prozesses der Säkularisation ist indes noch zwischen „Herrschaftssäkularisation“ und „Vermögenssäkularisation“ zu unterscheiden, siehe beispielsweise S. Muckel, Der Heilige Stuhl und die Säkularisation in Deutschland, in: ders. (Hrsg.), Kirche und Religion im sozialen Rechtsstaat. Festschrift für Wolfgang Rüfner zum 70. Geburtstag, 2003, S. 579 (579). Zur Begrifflichkeit weiterführend statt vieler schon früh H. Zabel, Art. Säkularisation, Säkularisierung, in: O. Brunner/W. Conze/ R. Koselleck (Hrsg.), Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politischsozialen Sprache in Deutschland, Bd. 5, 1984, S. 789 ff.; H. Lübbe, Säkularisierung. Geschichte eines ideenpolitischen Begriffs (1965), 3. Aufl. mit einem neuen Nachwort, S. 789 ff.; W. Heun, Art. Säkularisierung, in: ders. (Hrsg.), Evangelisches Staatslexikon, Neuausgabe, 2006, Sp. 2073 ff.; H. Dreier, Säkularisierung und Sakralität. Zum Selbstverständnis des modernen Verfassungsstaates mit Kommentaren von Ch. Hillgruber und U. Volkmann, 2013, S. 12 f. m. Fn. 33, 34. Zur Begriffsgeschichte der Säkularisation statt vieler U. Ruh, Der Begriff Säkularisation und seine Geschichte, in: R. Decot (Hrsg.), Säkularisation der Reichskirche 1803. Aspekte kirchlichen Umbruchs, 2002, S. 1 ff. 717 Die Säkularisation im engeren Sinne, also die Einverleibung des kirchlichen Vermögens durch den Staat, wurde hingegen in § 35 RDH angeordnet (siehe die abgedruckte Vorschrift in E. Walder, Das Ende des Alten Reiches. Der Reichsdeputationshauptschluß von 1803 und die Rheinbundakte von 1806 nebst zugehörigen Aktenstükken, 2. Aufl. 1962, S. 15 [44]). Zur Problematik des § 35 RDH siehe sehr ausführlich Knecht, Reichsdeputationshauptschluß (Fn. 706), S. 57 ff. 718 Siehe zur Mediatisierung ausführlich Schroeder, Reich (Fn. 706). Des Weiteren Knecht, Reichsdeputationshauptschluß (Fn. 706), S. 78 ff.; Schroeder, 200 Jahre Reichs-

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3. Resümee

Die illustrierten Entwicklungen liefern Zeugnis dafür, daß die französische Revolution die Entwicklung des Reiches gerade auch auf faktischer Ebene maßgeblich beeinflußt hat: „Die Französische Revolution hat auf die Umgestaltung der deutschen Verhältnisse zum einen durch Ideen, aber auch durch Maßnahmen gewirkt. (. . .) Doch wirkte die Französische Revolution nicht direkt, durch unmittelbare revolutionäre Impulse, sondern durch die von ihr hervorgerufenen Kriege und vor allem durch die imperiale Politik Napoleons, deren Herausforderungen der Reform in Deutschland den Weg bahnten. Man kann sagen, daß die Aufklärung und die Französische Revolution (. . .) die Ideen für die Reform bereitstellten, daß es aber der durch Napoleon ausgeübte Druck gewesen ist, der durchgreifenden Reformen Verwirklichungschancen gab und zugleich zu ihrer Realisierung zwang.“ 719 II. Napoleons Expansionspolitik als Gnadenstoß für das Deutsche Reich Vollzogen wurden die oben geschilderten Neuerungen erst auf Grundlage des Reichsdeputationshauptschlusses720, „der das Ende des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation besiegelte“ 721, denn der Friedensvertrag von Lunéville sah Entschädigungsleistungen vor, die wiederum zu ihrem Vollzug eines Reichsgesetzes bedurften722. Daraufhin wurde eine außerordentliche Reichsdeputation deputationshauptschluss (Fn. 706), S. 631; ders., Der Reichsdeputationshauptschluß vom 25.2.1803 – Letztes Grundgesetz des Alten Reiches, in: JuS 1989, S. 351 (354); G. Krings, Das Alte Reich am Ende – der Reichsdeputationshauptschluss 1803, in: JZ 2003, S. 173 (177). 719 H. Boldt, Deutsche Verfassungsgeschichte. Politische Strukturen und ihr Wandel, Bd. II, 1990, S. 56 f. 720 Hauptschluß der außerordentlichen Reichsdeputation vom 25. Februar 1803, abgedruckt bei: Huber (Hrsg.), Dokumente 1 (Fn. 8), Nr. 1 (Nr. 1), S. 1 ff. Aus der Fülle an Literatur siehe Hömig, Reichsdeputationshauptschluß (Fn. 706); Knecht, Reichsdeputationshauptschluß (Fn. 706), S. 91 ff., insbes. zu dessen Rechtmäßigkeit und Rechtswirksamkeit; Schroeder, 200 Jahre Reichsdeputationshauptschluss (Fn. 706), S. 632; H. de Wall, Die Fortwirkung der Säkularisation im heutigen Staatskirchenrecht, in: H. Marré/D. Schümmelfeder/B. Kämper (Hrsg.), Essener Gespräche zum Thema Staat und Kirche, begründet von J. Krautscheidt und H. Marré, 38 (2004), S. 53 (53); Krings, Reich (Fn. 718), S. 178 f.; M. Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, Bd. 1, 1988, S. 330 f.; knapp Wehler, Gesellschaftsgeschichte I (Fn. 11), S. 363 f. 721 Dreier, Säkularisierung des Staates (Fn. 716), S. 74. 722 In einem ersten Gutachten vom 30. April 1801 forderte der Reichstag den Kaiser auf, die Durchsetzung des Friedensvertrages in Absprache mit den Franzosen zu übernehmen. Da der Kaiser sich jedoch weigerte, empfahl der Reichstag in einem zweiten Gutachten vom 2. Oktober 1801 einer Reichsdeputation die Aufgabe zuteil werden zu lassen, einen solchen konkreten Entschädigungsplan zu erarbeiten, siehe Schroeder, Reich (Fn. 706), S. 68.

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vom Kaiser für den 2. August 1802 nach Regensburg einberufen, die ihre Arbeit am 24. August 1802 aufnahm. Sie schloß sich im Wesentlichen den Vorgaben Frankreichs und Rußlands723 an, so daß die außerordentliche Reichsdeputation den Reichsdeputationshauptschluß schon am 25. Februar 1803 annahm. Nachdem der Reichstag und der Kaiser per Dekret die notwendige Zustimmung erteilt hatten, trat der Reichsdeputationshauptschluß formell in Kraft.724 Man könnte vermuten, daß mit dem Reichsdeputationshauptschluß Ruhe eingekehrt sei, aber noch vor Umsetzung aller Anordnungen standen die Vorzeichen erneut auf Krieg. Im Verlauf des englisch-französischen Krieges wurde Hannover auf preußischem und damit neutralem Gebiet von französischen Truppen besetzt. Obwohl sowohl Preußen wie dem Reich die Kraft fehlte, dieser groben Verletzung des Reichsfriedens etwas entgegenzusetzen, schürte die Besetzung den Zorn des Reiches und der übrigen europäischen Mächte gegen Frankreich. Die dritte Koalition formierte sich aus einem Bündnis Englands und Rußlands, dem Österreich schnell beitrat. Preußen blieb seinem Neutralitätsprinzip treu. Als schicksalhaft erwies sich jedoch, daß es Frankreich gelang, sich über Bündnisverträge mit Bayern, Baden und Württemberg 1805 deren Unterstützung zuzusichern. Diese waren bereit, einen Krieg gegen den eigenen Kaiser zu führen, was dem Reich den Todesstoß versetzte. Es vermochte der endgültigen Zerstörung seiner Integrität nichts entgegenzuhalten. Die Franzosen besiegten die russisch-österreichischen Armeen am 2. Dezember 1805 bei Austerlitz, was auch Österreich zur Kapitulation zwang. Der Frieden von Preßburg am 26. Dezember 1805 markiert das Ende des dritten Koalitionskrieges. Die Regelungen trafen das Reich am härtesten, denn durch die Erklärung Bayerns und Württembergs zu souveränen Königreichen war der unabwendbare Auseinanderfall des Reiches eingeleitet. Die Bezeichnung „Deutsches Reich“ mußte dem Titel „Deutscher Bund“ weichen. Da keinerlei Chancen bestanden, die drei „Ausreißer“ Bayern, Baden und Württemberg in das Reich wiedereinzugliedern, wurde durch die Unterzeichnung der Rheinbundakte durch Frankreich, Italien, die Schweiz und eben jene drei Staaten am 12. Juli 1806 das Ende des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation besiegelt. In Art. 1 der Rheinbundakte725 erklärten die Fürsten ihre Trennung vom Gebiet des Heiligen Römischen Reichs. Kurz darauf, am 1. August 1806, fand dies Nachahmer: die 16 Rheinbundstaaten teilten dem Reichstag ebenfalls ihre Trennung 723 Seit dem Westfälischen Frieden von 1648 waren Frankreich und Schweden Garantiemächte der Reichsverfassung. Mit dem Frieden von Teschen 1779 übernahm Rußland nunmehr die Position Schwedens, siehe hierzu z. B. den Hinweis bei E. Weis, Bayern und Frankreich in der Zeit des Konsulats und des Ersten Empire (1799–1815), in: Historische Zeitschrift 237 (1983), S. 559 (572 m. Fn. 22). Frankreich und Rußland waren die Mächte, die zuvörderst über die territoriale Neuordnung zu befinden hatten. 724 Zum Verlauf en detail: Hömig, Reichsdeputationshauptschluß (Fn. 706), S. 27 ff.; Knecht, Reichsdeputationshauptschluß (Fn. 706), S. 48 ff.; Schroeder, 200 Jahre Reichsdeputationshauptschluss (Fn. 706), S. 631. 725 Siehe Huber (Hrsg.), Dokumente 1 (Fn. 8), Nr. 2 (Nr. 2), S. 28 (29).

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vom Reich mit.726 Die Franzosen stellten Franz II. das Ultimatum, bis zum 10. August 1806 die Reichskrone niederzulegen. Bereits am 6. August 1806 kam er dieser Forderung nach. Auch wenn diese Niederlegung der Krone nicht die Auflösung des Heiligen Römischen Reiches herbeizuführen vermochte727, zog sie eine ganze Kette von Konsequenzen nach sich, die letztlich in die totale Handlungsunfähigkeit des Reiches durch Aufhebung aller Reichsorgane mündeten. Es waren aber nicht allein die Loslösung der süddeutschen Staaten oder kurz darauf der Rheinbundstaaten vom Reich und die Niederlegung der Krone, die das Reich dem Untergang preisgaben, sondern man kann geradezu beobachten wie „das Leben, der Wille und der Glaube aus dem zersprengten Staatskörper entschwinden. (. . .) dieses Erlöschen des Willens der Nation zum Reich hat staatsrechtlich zum Reichsuntergang geführt“ 728. Zeitgenossen wie Georg Wilhelm Friedrich Hegel gehen hart mit dem dem Untergang geweihten Deutschen Reich ins Gericht. Hegel war es gar, der „dem Reich den Totenschein ausstellte, bevor der Exitus wirklich eingetreten war“ 729. Alle Interpreten anerkennen zwar einerseits die Radikalität der Vorgaben des Reichsdeputationshauptschlusses730; es besteht andererseits aber auch Konsens in der Einschätzung, daß die Auflösung des Reiches nicht nur unabwendbar, sondern gar überfällig war731. Zum einen „besaß dieses wunderliche Gebilde vor dem Hintergrund der revolutionären Wirklichkeit 726 Meyer (Hrsg.), Corpus Juris Confoederationis (Fn. 711), S. 68 ff.; Huber (Hrsg.), Dokumente 1 (Fn. 8), Nr. 4 (Nr. 4), S. 36 f. Zur moralischen und rechtlichen Fragwürdigkeit dieser Erklärung der Rheinbundstaaten siehe Huber, Verfassungsgeschichte I (Fn. 9), S. 69 f. 727 Siehe hierzu ausführlich Huber, Verfassungsgeschichte I (Fn. 9), S. 71 f.; knapp dazu auch Willoweit, Deutsche Verfassungsgeschichte (Fn. 701), § 27 Rn. 18 (S. 226), der die Maßnahme des Königs als „Schlußstein einer ganzen Reihe reichsrechtlich problematischer Aktivitäten seit dem Beginn der 90er Jahre“ wertet, „die in ihrer Summe einen Prozeß dynamischen Verfassungswandels erkennen lassen“. 728 Huber, Verfassungsgeschichte I (Fn. 9), S. 73. 729 Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts II (Fn. 692), S. 41. Hegel resümiert: „Es ist kein Streit mehr darüber, unter welchen Begriff die deutsche Verfassung falle. Was nicht mehr begriffen werden kann, ist nicht mehr. Sollte Deutschland ein Staat sein, so könnte man diesen Zustand der Auflösung des Staats nicht anders als mit einem auswärtigen Staatsrechtsgelehrten Anarchie nennen, wenn nicht die Teile sich wieder zu Staaten konstituiert hätten, denen weniger ein noch bestehendes, als vielmehr die Erinnerung eines ehemaligen Bandes noch einen Schein von Vereinigung läßt, so wie die herabgefallenen Früchte noch ihrem Baume angehört zu haben daran erkannt werden, daß (sie) unter seiner Krone liegen; aber (weder) die Stelle unter ihm noch sein Schatten, der sie berührt, retten sie vor Fäulnis und der Macht der Elemente, denen sie jetzt gehören“: G. W. F. Hegel, Die Verfassung Deutschlands. Mit einer Einführung und Anmerkungen von H. Heller (1802), 1919, S. 11 f. = Hufeld (Hrsg.), Reichsdeputationshauptschluß (Fn. 706 ), S. 65. 730 H. v. Treitschke, Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert, Bd. I, 1879, S. 186: „Wenige unter den großen Staatsumwälzungen der neuen Geschichte erscheinen so häßlich, so gemein und niedrig wie diese Fürstenrevolution von 1803.“ 731 Sehr differenziert zu zeitgenössischen Stimmen zum Untergang des Reiches und m.v. w. N. Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts II (Fn. 692), S. 58.

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im Bewusstsein der meisten politisch denkenden Deutschen keinerlei Existenzberechtigung mehr“ 732, zum anderen vermochte das Reich immer weniger seiner „verbindende[n] Klammerfunktion“ 733 nachzukommen, so daß Heinrich von Treitschke zu dem Fazit gelangt, daß es sich beim Reichsdeputationshauptschluß zwar um einen „ungeheuren Rechtsbruch“ gehandelt habe, gleichzeitig aber auch und vor allem um eine „große Nothwendigkeit“, welche nur begraben habe „was todt war, er zerstörte nur was die Geschichte dreier Jahrhunderte gerichtet hatte“ 734. Ohne die Auswirkungen der französischen Revolution und insbesondere die aggressive Expansionspolitik Napoleons735, die das Deutsche Reich letztlich zum Tätigwerden zwang, wäre das Deutsche Reich jedenfalls nicht in der Lage gewesen, sich aus dem ständisch-feudalen Concon zu befreien736. Es befand sich „im Zustand der Agonie; unfähig, sich zu einem modernen Flächenstaat auszubilden“ 737. Dabei hinterließ der Reichsdeputationshauptschluß nicht bloß ver732

Schroeder, 200 Jahre Reichsdeputationshauptschluss (Fn. 706), S. 630. Schroeder, 200 Jahre Reichsdeputationshauptschluss (Fn. 706 ), S. 630. In die gleiche Richtung auch ders., Reich (Fn. 706), S. 455: „Denn das Reich bezog seine Legitimation, seine Daseinsberechtigung insbesondere aus der Wahrung der Rechte seiner – auch der schwächsten – Glieder, die es nicht mehr zu gewährleisten vermochte. Für alle sichtbar hatte es die Rolle als schützende und erhaltende Macht, von der Privilegien und Herrschaft, Frieden, Ordnung wie auch Konfliktlösung abhingen, ausgespielt. Die Gebote der Machträson hatten das feudal-ständische System seiner Legitimation beraubt.“ 734 Treitschke, Geschichte I (Fn. 730), S. 186. 735 Schroeder, Reichsdeputationshauptschluß (Fn. 706), S. 351. Auch wenn die Französische Revolution und die Napoleonische Herrschaft dieser innerdeutschen Entwicklung zweifellos einen wichtigen Anstoß gaben, darf man nicht vergessen, daß in letzter Konsequenz dennoch entscheidend war, daß „der monarchische Absolutismus, (. . .) die Kraft besaß, den Abbau seiner selbst und den Übergang in konstitutionelle Formen von sich aus ins Werk zu setzen“, siehe E.-W. Böckenförde, Der Verfassungstyp der deutschen konstitutionellen Monarchie im 19. Jahrhundert, in: ders./Rainer Wahl (Hrsg.), Moderne deutsche Verfassungsgeschichte (1815–1914), 2. Aufl., 1981, S. 146 (149). 736 Im Gegensatz zu Frankreich mußte das Deutsche Reich nicht weniger als die „Identität des politischen Gesamtkörpers“ für den Übergang zum modernen Nationalstaat opfern: „Denn Frankreich hatte sich seit Jahrhunderten zum nationalgeeinten souveränen Staatskörper geformt; bei einem Sieg der liberalen und demokratischen Kräfte über Königtum, Feudalherrschaft und Klerikalismus konnte das Staatswesen hier ohne Verlust seiner Identität und Kontinuität in einen Nationalstaat moderner Prägung umgewandelt werden. In Deutschland aber bedurfte es des Bruchs mit der übernationalen Reichstradition, mit der gefestigten Eigenstaatlichkeit der größeren Territorien und mit der eingewurzelten Eigenständigkeit der unübersehbaren Vielzahl der kleineren geistlichen und weltlichen Herrschaften, wenn ein moderner Nationalstaat entstehen sollte. (. . .) Selbst wenn es gelang, den deutschen Nationalstaat nicht im Wege des gewaltsamen Umsturzes „von unten“, sondern durch die legale Reform „von oben“ zu schaffen, mußte der Gestaltwandel, der sich damit vollzog, zur Aufhebung der Identität des politischen Gesamtkörpers und zur Diskontinuität der Verfassungsentwicklung führen“, so Huber, Verfassungsgeschichte I (Fn. 9), S. 5 f. 737 Schroeder, Reich (Fn. 706), S. 455. 733

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brannte Erde, „sondern gab bereits die Richtung der Weiterentwicklung vor“ 738. In den Gliedstaaten wurden Reformen des Staats- und Verwaltungsapparates739 möglich, aber auch nötig, denn mit dem alten, von ständischen Privilegien dominierten System, war der stützende Pfeiler auch des Verwaltungswesens weggebrochen740. Während die Zerstörung der feudalen Gesellschaftsordnung grundsätzlich betrachtet mit einer Stärkung des Postulats der Freiheit und Gleichheit einherging741, trat, ähnlich wie in Frankreich bereits beobachtet, an die Stelle geburtsbedingter Privilegien allmählich das Kriterium des Besitzes, teilweise auch der Bildung, um dieses Vakuum, das sich nunmehr gebildet hatte, zu füllen: „Bildungsstand und Wirtschaftserfolg sollten die Exklusivität von hoher Geburt und ständischem Vorrecht verdrängen, (. . .)“ 742. Dem vermögenden Bürgertum – von den Fesseln der ständischen Ordnung befreit – gelang es wie selbstverständlich, über unterschiedliche Wahlmodi bevorzugt zu werden, wofür die nun folgenden Abschnitte den Beleg liefern sollen.

B. Der Zensus als fester Bestandteil der Steinschen Städteordnung sowie der Verfassungen Westfalens und Bayerns I. Das Einkommen als Kennzeichen politisch mündiger Bürger in der Steinschen Städteordnung vom 19. November 1808 1. Normative Vorgaben: Der Einkommenszensus als Ausdruck des Mißtrauens gegenüber den Geringverdienern

Physiokratisch geprägte Vorstellungen743 vom politisch mündigen Bürger fanden ihren deutlichen Niederschlag bereits in der Städteordnung für die Preußischen Staaten vom 19. November 1808744. In der Tat ist in den hier etablierten 738

Knecht, Reichsdeputationshauptschluß (Fn. 706), S. 238. Boldt, Deutsche Verfassungsgeschichte II (Fn. 719), S. 53 f. 740 Zu den mannigfachen Folgeproblemen siehe nur exemplarisch und überblicksartig Frotscher/Pieroth, Verfassungsgeschichte (Fn. 715), Rn. 181 f. 741 Statt vieler: Knecht, Reichsdeputationshauptschluß (Fn. 706), S. 261. 742 Wehler, Gesellschaftsgeschichte I (Fn. 11), S. 326. 743 Wehler, Gesellschaftsgeschichte I (Fn. 11), S. 404, attestiert den Reformbeamten in Preußen hingegen einen „sozialökonomisch orientierten Frühliberalismus“, der primär auf die Einflußnahme des Nationalökonomen Adam Smith zurückzuführen sei. 744 Der offizielle Titel lautet „Ordnung für sämmtliche Städte der Preußischen Monarchie mit dazu gehöriger Instruktion, Behuf der Geschäftsführung der Stadtverordneten bei ihren ordnungsmäßigen Versammlungen“ abgedruckt u. a. in: C. Engeli/W. Haus, Quellen zum modernen Gemeindeverfassungsrecht in Deutschland, 1975, S. 104 ff. m.v. w. N.; weiterführend zur Städteordnung Unruh, § 3 Preußen (Fn. 358), S. 416 ff.; W. Hubatsch, Die Stein-Hardenbergschen Reformen, 1977, S. 148 ff.; Huber, Verfassungsgeschichte I (Fn. 9), S. 174 ff.; knapp: E. Fehrenbach, Vom Ancien Régime zum Wiener Kongreß, 5. Aufl. 2008, S. 112 f.; Willoweit, Deutsche Verfassungsgeschichte (Fn. 701), § 28 Rn. 10 (S. 232); Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts II (Fn. 692), 739

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Gemeindevertretungen „in dem zur Nation wachsenden Deutschland zum erstenmal die öffentliche Verantwortung des Mitbürgers geübt und erprobt worden“ 745. Das Stimmrecht wurde jedoch an gewisse Bedingungen geknüpft. In § 69 der Städteordnung heißt es zunächst zur Notwendigkeit einer angemessenen Repräsentation der Bürgerschaft: „Die Vertretung der Stadtgemeinde oder Bürgerschaft durch Stadtverordnete ist nothwendig, weil jene aus zu vielen Mitgliedern besteht, als daß ihre Stimmen über öffentliche Angelegenheiten, jedesmal einzeln vernommen werden könnten. Deshalb soll in jeder Stadt, nach deren Größe, der Wichtigkeit der Gewerbe und dem Umfange der Angelegenheiten des Gemeinwesens, eine angemessene Repräsentation der Bürgerschaft bestellt werden und künftig bestehen.“ 746

Das Stimmrecht zur Wahl der Stadtverordneten wurde gemäß § 74 dann an folgende Voraussetzungen geknüpft: „Das Stimmrecht zur Wahl der Stadtverordneten und Stellvertreter, steht zwar in der Regel jedem Bürger zu; jedoch sind als Ausnahmen, folgende davon ausgeschlossen: a) Diejenigen, welche nach den §§. 20. und 22. im IIIten Titel unfähig seyn würden, das Bürgerrecht zu erlangen, wenn sie solches nicht schon besäßen, (. . .) d) Unangesessene Bürger – in großen Städten, deren reines Einkommen noch nicht 200 Rthlr. – und in mittlern und kleinen Städten, deren reines Einkommen noch nicht 150 Rthlr. jährlich beträgt, und (. . .).“ 747 S. 61; B. Vogel/R.-O. Schultze, Art. Deutschland, in: D. Sterberger/ders. (Hrsg.), Die Wahl der Parlamente und anderer Staatsorgane. Ein Handbuch, Bd. I/1, 1969, S. 190; J. H. Knoll, Führungsauslese in Liberalismus und Demokratie. Zur politischen Geistesgeschichte der letzten hundert Jahre, 1957, S. 34; Wehler, Gesellschaftsgeschichte I (Fn. 11), S. 459. Ob die Selbstverwaltungsidee des Freiherrn vom Stein und die darin enthaltene Idee einer Verknüpfung von Eigentum und politischer Repräsentation maßgeblich vom Möserschen (so E. Botzenhart, Die Staats- und Reformideen des Freiherrn vom Stein. Ihre geistigen Grundlagen und ihre praktischen Vorbilder, 1927, S. 176; zurückhaltender G. Ritter, Stein. Eine politische Biographie, 3. Aufl. 1958, S. 112 ff., 117 ff.; Schröder, Möser als Jurist [Fn. 241], S. 46 m. Fn. 164 u. v. w.N.; Schwab, Grundlagen [Fn. 66], S. 178 hält diese Ansicht hingegen für „sehr unwahrscheinlich“) oder vom Kantischen Vorbild geprägt wurde (so z. B. H. Preuß, Ein Jahrhundert städtischer Verfassungsentwicklung [1908], in: ders. [Hrsg.], Staat, Recht und Freiheit. Aus 40 Jahren deutscher Politik und Geschichte mit einem Geleitwort von Theodor Heuss [ND d. Aufl. 1926], 1964, S. 25 [27 ff.]), ist umstritten, kann im Rahmen dieser Abhandlung aber dahinstehen. 745 T. Heuss, Formkräfte einer politischen Stilbildung (1952), in: Vom rechten Gebrauch der Freiheit. Ein zeitgeschichtliches Lesebuch in Dokumenten 1964 bis 1974, hrsgg. v. d. Stiftung Theodor-Heuss-Preis e. V., 1974, S. 27 (32). 746 Einschlägige Vorschrift zitiert nach Engeli/Haus, Quellen (Fn. 744), S. 112. 747 § 74 abermals wiedergegeben nach Engeli/Haus, Quellen (Fn. 744), S. 112; dazu Huber, Verfassungsgeschichte I (Fn. 9), S. 175; Vogel/Schultze, Art. Deutschland (Fn. 744), S. 190; W. Hofmann, Preußische Stadtverordnetenversammlungen als Repräsentativ-Organe, in: J. Reulecke (Hrsg.), Die deutsche Stadt im Industriezeitalter. Beiträge zur modernen deutschen Stadtgeschichte, 1978, S. 39.

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2. Realpolitische Umsetzung und Kritik

Es ist zwar sicherlich anzuerkennen, daß mit der Preußischen Städteordnung „zum ersten Mal in Deutschland ein fast allgemeines, gleiches, direktes und geheimes Männerwahlrecht“ 748 eingeführt wurde, aber eben nur mit Betonung auf dem Wörtchen „fast“. Auch wenn der hier vorgesehene Zensus als vergleichsweise gering einzustufen ist749, wollte oder konnte die Preußische Städteordnung nicht ganz auf die Verknüpfung von (Grund-)Eigentum und Bürgerrecht verzichten. Dafür lagen diese „Interdependenzen von persönlichem Eigentum und Freiheit für das Kriterium eines Staatsbürgers“ 750 für die politisch Verantwortlichen zu sehr auf der Hand, zumal es ja gerade galt, „eine angemessene Repräsentation der Bürgerschaft“ 751 zu bilden und mithin wurde für die Reformer „die Frage nach dem Volk eine Frage nach dem politisch mündigen Volk“ 752. So wurde durch die Aufhebung der Schollenbindung753 zwar ein charakteristisches Element der ständischen Ordnung aufgegeben und dadurch ein großer Schritt in Richtung Nivellierung der Stellung der Staatsbürger vollzogen; hinsichtlich des Zugeständnisses politischer Beteiligungsrechte räumte man der „sozioökonomische[n] Elite der Eigentümer“ 754 aber nach wie vor eine privilegierte Position 748 Vogel/Schultze, Art. Deutschland (Fn. 744), S. 190. Auch Strelen (Fn. 48), Einführung Rn. 50 stuft das Wahlrecht der Preußischen Städteordnung als „begrenzt“ allgemeines, gleiches, unmittelbares und geheimes Wahlrecht ein. 749 Fehrenbach, Ancien Régime (Fn. 744), S. 112; Vogel/Schultze, Art. Deutschland (Fn. 744), S. 190; Wehler, Gesellschaftsgeschichte I (Fn. 11), S. 459; Huber, Verfassungsgeschichte I (Fn. 9), S. 175, der den Aspekt betont, daß die Preußische Städteordnung nicht nur den Grundbesitzern das Wahlrecht einräumte, sondern ein vergleichsweise geringes Einkommen als eine Art Eignungsnachweis bereits ausreichen ließ. Dies führte letztlich zu einer Einbindung breiter Teile der Bevölkerung: „Er [der geringe Zensus, A. S.] räumte der Masse der kleinen Handwerker und Händler in der Stadt das Wahlrecht ein, auch wenn sie kein Grundeigentum hatten. Andererseits kamen auch Unselbständige (Tagelöhner, Arbeiter usw.) in den Genuß des Wahlrechts, wenn sie das Bürgerrecht erwarben und dazu, was häufig der Fall war, kleinen Haus- oder Grundbesitz in der Stadt innehatten. Auch den niederen Schichten war somit weiterhin der Zugang zum Wahlrecht eröffnet“ (ebd.). 750 G.-C. v. Unruh, Die „Schule der Rechts-Staats-Lehrer“ und ihre Vorläufer in vorkonstitutioneller Zeit. Anfang und Entwicklung von rechtsstaatlichen Grundsätzen im deutschen Schrifttum, in: N. Achterberg/W. Krawietz/D. Wyduckel (Hrsg.), Recht und Staat im sozialen Wandel. Festschrift für Hans Ulrich Scupin, 1983, S. 266 in Fn. 34. 751 So sah es § 69 der Städteordnung von 1808 vor, siehe Engeli/Haus, Quellen (Fn. 744), S. 112. 752 Hofmann, Stadtverordnetenversammlungen (Fn. 747), S. 31 (38). 753 Siehe § 2 des Edikts über die Bauernbefreiung vom 9. Oktober 1807, Preußische Gesetz-Sammlung 1806–10, S. 170 ff., abgedruckt in: Huber (Hrsg.), Dokumente 1 (Fn. 8), Nr. 7, S. 41 ff., in dem es dazu heißt: „jeder Bürger oder Bauer ist berechtigt, aus dem Bauer- in den Bürger- und aus dem Bürger- in den Bauernstand zu treten“ (ebd., S. 42). 754 P. Burg, Steins „Nassauer Denkschrift“ und die preußische Kommunalverfassung, in: H. Duchhardt/K. Teppe (Hrsg.), Karl vom und zum Stein: Der Akteur, der Autor, seine Wirkungs- und Rezeptionsgeschichte, 2003, S. 125 (126).

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ein755, was als deutliche Absage an demokratisch-egalitäre Beteiligungslehren zu verstehen ist756: „Der moderne Gedanke der „politischen Selbstbestimmung gleichberechtigter Staatsbürger“ blieb seinem Denken fremd.“ 757 Diese Einstellung ist nicht zuletzt dem großen Mißtrauen, mit dem die politischen Protagonisten den gering verdienenden Bevölkerungsschichten begegneten, geschuldet, wenn sie folgende Warnung berücksichtigten: „setzt man den Tagelöhner dem Grundeigenthümer gleich, drängt man den Landstreicher den Gemeinden als Mitglied auf, so entsteht statt Gemeingeist Abneigung gegen alle Theilnahme an Gemeinde Angelegenheiten (. . .)“ 758. Die strengen Kriterien, denen ein als politisch verantwortlich einzustufender Bürger gerecht werden mußte, lassen sich des Weiteren auch an vom Steins Anregungen für die Abfassung einer Bundesverfassung nachzeichnen.759 Im Ergebnis hatten unter der Preußischen Städteordnung von 1808 bzw. unter der revidierten Fassung von 1831 beispielsweise in Berlin 1830 nur 5,4 % der Bevölkerung das Bürgerrecht und in Bielefeld waren 1834 gar nur 3,8 % der Einwohner wahlberechtigt.760 755 Frotscher/Pieroth, Verfassungsgeschichte (Fn. 715), Rn. 240 f.; Willoweit, Deutsche Verfassungsgeschichte (Fn. 701), § 28 Rn. 10 (S. 232). 756 R. Hendler, Selbstverwaltung als Ordnungsprinzip. Zur politischen Willensbildung und Entscheidung im demokratischen Verfassungsstaat der Industriegesellschaft, 1984, S. 9; deutlich auch H. Duchhardt, „Gemeingeist“ versus „Dienst-Mechanismus“, in: DÖV 2007, S. 853 (858): „Was Stein nicht war, war ein Verfechter des egalitären demokratischen Prinzips. Bei allen seinen Überlegungen ging es Stein immer nur um die Schicht der Freien, die über Besitz verfügten und damit die Möglichkeit besaßen, dem Staat ihre Steuerkraft und sich selbst zur Verfügung zu stellen. Deswegen die sog. Bauernbefreiung, deswegen auch die Unterteilung der Stadtbevölkerung in die besitzenden Schichten und die Gruppe der sog. Schutzverwandten, die ohne bürgerliche Rechte blieben – für das Unterschichtenproblem der damaligen Großstädte, aber auch des flachen Landes hat Stein nie einen Sensus entwickelt. Für ihn verstand es sich zudem von selbst, dass dem Adel in dieser neuen Gesellschaft unverändert eine Sonderrolle zukommen müsse: als derjenigen Gruppe in der Gesamtbevölkerung, die aufgrund ihres Besitzes, ihrer höheren Einsicht, ihres besonderen Ethos vor allen anderen Gruppen berufen sei, maßgeblich auf die Geschicke des Staates einzuwirken – durch ihre Stellung in den ständischen Gremien der verschiedenen Stufen, durch ihre Fähigkeit, Schlüsselpositionen in der Staatsverwaltung einzunehmen.“ 757 Wehler, Gesellschaftsgeschichte I (Fn. 11), S. 447. Diese Hinweise zielen indes keineswegs darauf ab, vom Stein als „rückschrittlich“ zu degradieren. In Anbetracht der Zeit, in der er lebte und vor allem vor dem Hintergrund seiner adeligen Herkunft mußte es sich für ihn geradezu aufdrängen, politische Partizipationsrechte den Grund- und Geldeigentümern zuzusprechen. 758 Denkschrift vom Steins „Ueber die Theilnahme der Provinzial Stände an der allgemeinen und Provincial Gesetzgebung und an der Provinzial Verwaltung“ vom 13. Februar 1818, abgedruckt in: E. Botzenhart, Freiherr vom Stein. Briefwechsel, Denkschriften und Aufzeichnungen im Auftrag der Reichsregierung der preußischen Staatsregierung und des deutschen und preußischen Städtetages, Bd. V, 1933, S. 448 (750). 759 Siehe die Bemerkungen vom Steins zu von Hardenbergs Entwurf der Grundlagen einer deutschen Bundesverfassung vom September 1814, abgedruckt in: Botzenhart, Briefwechsel V (Fn. 758), S. 48 ff.; Unruh, § 3 Preußen (Fn. 358), S. 399 ff.

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II. Die Verfassungsentwicklung in Napoleons „Modellstaat“ Westfalen und im Königreich Bayern Der Entwicklungsprozeß der Rheinbundstaaten verlief ab etwa 1803 diametral zu dem Preußens und Österreichs, denn diese „wahrten in den Jahren der größten Machtentfaltung Napoleons ihre Identität“ 761. In der Rheinbundakte vom 12. Juli 1806762 proklamierten 16 der deutschen Staaten in Art. 1 ihren Austritt aus dem Reichsverband und stellten sich unter das Protektorat und die Herrschaft Napoleons, der für sich das neu kreierte Amt des Bundesprotektors beanspruchte763. Ebenso wie in Preußen erwiesen sich auch in den Rheinbundstaaten durchgreifende Gesellschaftsreformen als unumgänglich764, die jedoch weitgehend dem Diktat der Franzosen unterlagen765. Trotz der über Art. 4 der Rheinbundakte ga-

760 P. Clauswitz, Die Städteordnung von 1808 und die Stadt Berlin. Festschrift zur hundertjährigen Gedenkfeier der Einführung der Städteordnung, 1908, S. 197; W. Hofmann, Die Bielefelder Stadtverordneten. Ein Beitrag zu bürgerlicher Selbstverwaltung und sozialem Wandel 1850 bis 1914, 1964, Anhang Nr. 60, S. 166. Die Frage, wie viele der Bürger, die die Kriterien der Städteordnung theoretisch erfüllten, ihr Bürgerrecht auch praktisch nutzen konnten, steht auf einem ganz anderen Papier: Da die Städteordnung in § 85 vorsah, daß zwei Drittel der Stadtverordneten im Besitz eines Hauses in der Stadt sein mußten, die Größe dieses Hausbesitzes aber keine Rolle spielte, erfüllten theoretisch auch viele Tagelöhner mit kleinen Häuschen dieses Erfordernis. Da sie aber weder des Lesens noch des Schreibens mächtig waren, konnten sie von ihren politischen Rechten allein schon aus praktischen Gründen keinen Gebrauch machen, siehe ders., Stadtverordnetenversammlungen (Fn. 747), S. 40. 761 Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts II (Fn. 692), S. 62 (Hervorhebung i. O., A. S.). 762 Text in französischer Sprache abgedruckt bei Huber (Hrsg.), Dokumente 1 (Fn. 8), Nr. 2 (Nr. 2), S. 28 ff. sowie bei K. Zeumer (Hrsg.), Quellensammlung zur Geschichte der Deutschen Reichsverfassung in Mittelalter und Neuzeit, 2. Aufl. 1913, Nr. 214 (S. 532 ff.); in französischer und deutscher Sprache u. a. in H. H. Hofmann (Hrsg.), Quellen zum Verfassungsorganismus des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation 1495–1815, 1976, Nr. 69 (S. 374 ff.); ausschließlich in deutscher Sprache bei Willoweit/Seif (Hrsg.), Verfassungsgeschichte (Fn. 172), S. 413 ff.; in Auszügen auch bei Hufeld (Hrsg.), Reichsdeputationshauptschluß (Fn. 706), Nr. 14 (S. 134 ff.). 763 In Art. 12 der Rheinbundakte heißt es zur Stellung Napoleons: „Seine Majestät der Kaiser der Franzosen wird zum Protektor des Bundes reklamirt, und ernennt in dieser Eigenschaft beim Absterben eines Fürsten Primas dessen Nachfolger“, Übersetzung gemäß Willoweit/Seif (Hrsg.), Verfassungsgeschichte (Fn. 172), S. 415. Hierzu Hecker, Konstitutionalismus (Fn. 490), S. 28; Huber, Verfassungsgeschichte I (Fn. 9), S. 80 ff.; Boldt, Deutsche Verfassungsgeschichte II (Fn. 719), S. 125; Knecht, Reichsdeputationshauptschluß (Fn. 706), S. 270; Krings, Reich (Fn. 718), S. 178. 764 Siehe zu den Verwaltungsreformen in den Rheinbundstaaten F.-L. Knemeyer, VII. Kapitel – Die Verwaltung in den einzelnen Staaten (ab 1803 bzw. 1815), § 1 Die Rheinbundstaaten bis 1814, in: K. G. A. Jeserich/H. Pohl/G.-C. v. Unruh (Hrsg.), Deutsche Verwaltungsgeschichte, Bd. II, 1983, S. 333 ff. und zu den Reformen im Allgemeinen Wehler, Gesellschaftsgeschichte I (Fn. 11), S. 368 ff. 765 Willoweit, Deutsche Verfassungsgeschichte (Fn. 701), § 28 Rn. 1 (S. 228). Trotz dieser enormen Unterschiede seien die preußischen und die rheinbündischen Reformen „als Kinder desselben Geistes zu erkennen“.

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rantierten uneingeschränkten Souveränität der Einzelstaaten766, gelang es Napoleon insbesondere in und durch seine „Modell-“ 767 oder „Kunststaaten“ 768 (Königreich Westfalen, Großherzogtum Berg und Großherzogtum Frankfurt), seine Einflußnahmemöglichkeiten zu festigen und auszubauen769. Das Königreich Westfalen rückt in diesem Kontext in besonderer Weise in den Vordergrund, denn Napoleon hatte es als Modellstaat nicht nur für die übrigen Rheinbundstaaten, sondern als Vorbild für das zukünftig von ihm beherrschte Gesamteuropa auserkoren.770 Daher „sollte der Modellstaat geradezu überfallartig mit den Ergebnissen der Französischen Revolution beglückt werden“ 771. So ist es auch nicht verwunderlich, daß das Königreich Westfalen im Rahmen der napoleonischen Modellstaatspolitik, die als zentrales Element vorsah, „die neu-geschöpften Kunststaaten gleich von Anfang an mit Verfassungen auszustatten“ 772, als erstes bedacht wurde. Es handelt sich bei dieser Verfassung gar um die „erste geschrie766 In Art. 4 der Rheinbundakte heißt es übersetzt: „Seine kurfürstliche Gnaden der Erzkanzler nimmt den Titel eines Fürsten Primas und Altesse Eminentissime an. Der Titel: Fürst Primas ist aber mit keinem Vorzuge verbunden, welcher der vollen Souveränität, welche jeder der Konföderirten zu genießen hat, entgegen wäre“, Übersetzung gemäß Willoweit/Seif (Hrsg.), Verfassungsgeschichte (Fn. 172), S. 414. 767 Siehe statt vieler R. Ham/M. Kandil, Die napoleonischen Modellstaaten, in: W. Daum u. a. (Hrsg.), Handbuch der europäischen Verfassungsgeschichte im 19. Jahrhundert. Institutionen und Rechtspraxis im gesellschaftlichen Wandel, Bd. I, 2006, S. 684 ff.; Fehrenbach, Ancien Régime (Fn. 744), S. 82. 768 Hecker, Konstitutionalismus (Fn. 490), S. 29. 769 Diese Staaten erfüllten aus Sicht Napoleons einen nicht zu unterschätzenden Dienst, „lag ihrer Errichtung in besonderem Maße die Zweckbestimmung zugrunde, im Wege einer „Revolution von oben“ modellhaft für die übrigen Rheinbundstaaten die (domestizierten) Errungenschaften der Revolution, die Auflösung der ständisch-feudalen Ordnung und ihre Ersetzung durch eine staatsbürgerlich-egalitäre Gesellschaftsform französischer Provenienz auf der Grundlage französischer Verfassungs- und Verwaltungsordnung zu demonstrieren“ (siehe Hecker, Konstitutionalismus [Fn. 490], S. 29, Hervorhebungen i. O., A. S., der auf S. 28 ff. die napoleonische Modellstaatspolitik sehr präzise und fundiert nachzeichnet). Kritisch H. Dippel, Der Verfassungsdiskurs im ausgehenden 18. Jahrhundert und die Grundlegung einer liberaldemokratischen Verfassungstradition in Deutschland, in: ders. (Hrsg.), Die Anfänge des Konstitutionalismus in Deutschland. Texte deutscher Verfassungsentwürfe am Ende des 18. Jahrhunderts, 1991, S. 7 ff., der anmerkt, die napoleonischen Verfassungen würden „gemeinhin betrachtet werden, wenn von dem französischen Einfluß auf die deutsche Verfassungsentwicklung dieser Epoche die Rede ist“, siehe ebd., S. 8. 770 In einem Brief an seinen Bruder Jérôme, den er im Königreich Westfalen als Regenten eingesetzt hatte, erläutert Napoleon am 15. November 1807 den Modellcharakter des Königreichs Westfalen nicht nur für den Rheinbund, sondern für das gesamte von ihm zu beherrschende europäische Gebiet, siehe dazu H. Berding, Napoleonische Herrschafts- und Gesellschaftspolitik im Königreich Westfalen 1807–1813, 1973, S. 21; Knecht, Reichsdeputationshauptschluß (Fn. 706), S. 271. 771 Knecht, Reichsdeputationshauptschluß (Fn. 706), S. 272; zur Rezeption des Code Napoléon in Westfalen siehe E. Fehrenbach, Der Kampf um die Einführung des Code Napoléon in den Rheinbundstaaten, 1973, S. 16. 772 Hecker, Konstitutionalismus (Fn. 490), S. 48; dazu ebenso Wehler, Gesellschaftsgeschichte I (Fn. 11), S. 381.

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bene Konstitution auf deutschem Boden“ 773. Lange Zeit hat die Forschung den Rheinbundstaaten und ihren Konstitutionen wenig bis gar keine Beachtung geschenkt774, was nicht zuletzt an dem ihnen anhaftenden, maßgeblich auf Huber zurückzuführenden Diktum des „Schein-Konstitutionalismus der napoleonischen Vasallenstaaten“ 775 liegen mag. 1. Normative Vorgabe: Privilegierung der Grundbesitzer und Höchstbesteuerten durch die Verfassungen der Königreiche Westfalen und Bayern

Die Verfassung des Königreichs Westfalen enthielt in Art. 23–25, 29–33 und 39–44 Aussagen über die Wahl, Zusammensetzung, Arbeitsweise und Aufgaben der Repräsentativvertretung, den „Ständen des Königreichs“.776 Diese Vertretung setzte sich aus 100 Mitgliedern zusammen, von denen gemäß Art. 29 der Verfassung 70 Grundeigentümer, 15 Kaufleute und Fabrikanten sowie ebenfalls 15 Gelehrte oder andere Bürger, die sich, wie es im Art. 29 heißt, „um den Staat verdient gemacht haben“, sein mußten.777 Das passive Wahlrecht war nunmehr nicht mehr von ständischen Zugehörigkeiten abhängig. An deren Stelle traten „Besitzund Bildungskriterien“ 778, so daß auch über Umwege keine Privilegierung adeli773 Knecht, Reichsdeputationshauptschluß (Fn. 706), S. 272. So auch beispielsweise Freiherr von Aretin, Vom Deutschen Reich zum Deutschen Bund (Fn. 704), S. 119; C. Hattenhauer, Das Königreich Westphalen (1807–1813), in: Bernhard Großfeld u. a. (Hrsg.), Westfälische Jurisprudenz. Beiträge zur deutschen und europäischen Rechtskultur. Festschrift aus Anlaß des 50jährigen Bestehens der Juristischen Studiengesellschaft Münster, 2000, S. 67 (69); K. Rob, Das Königreich Westphalen und die politisch-gesellschaftliche Modernisierung im rheinbündischen Deutschland, in: H. Klueting (Hrsg.), 200 Jahre Reichsdeputationshauptschluss. Säkularisation, Mediatisierung und Modernisierung zwischen Altem Reich und neuer Staatlichkeit. Tagung der Historischen Kommission für Westfalen vom 3.–5. April 2003 in Corvey, 2005, S. 239 (240). 774 Dippel, Verfassungsdiskurs (Fn. 769), S. 9 konstatiert noch grundsätzlicher „mangelnde Kenntnis über die Anfänge des Konstitutionalismus in Deutschland im ausgehenden 18. Jahrhundert“ im Allgemeinen. 775 Huber, Verfassungsgeschichte I (Fn. 9), S. 88. Eine ausführliche Auseinandersetzung mit einzelnen Positionen und Argumentationen innerhalb der Debatte um den „Schein-Konstitutionalismus“ der Rheinbundstaaten würde den Umfang dieser Abhandlung über die Maßen beanspruchen. Nur so viel sei vorsichtig gesagt: die Hubersche These vom „Schein-Konstitutionalismus“ ist nach einigen Jahren der intensiveren Auseinandersetzung mit den Rheinbundstaaten in der Forschung wohl zumindest zu relativieren, was sich z. B. in jüngerer Zeit die Arbeit von Hecker, Konstitutionalismus (Fn. 490) erklärtermaßen zur Aufgabe macht (siehe ebd., S. 19). 776 Siehe die Verfassung für das Königreich Westphalen vom 7. Dezember 1807, abgedruckt in: H. Dippel (Hrsg.), Verfassungen der Welt vom späten 18. Jahrhundert bis Mitte des 19. Jahrhunderts. Quellen zur Herausbildung des modernen Konstitutionalismus, Bd. 3/VI, 2008, S. 239 (244 f., 245 f., 247 f.). 777 Siehe Art. 29 der Verfassung für das Königreich Westphalen vom 7. Dezember 1807, abgedruckt ebd., S. 245; dazu Huber, Verfassungsgeschichte I (Fn. 9), S. 89; Hecker, Konstitutionalismus (Fn. 490), S. 139; Fehrenbach, Ancien Régime (Fn. 744), S. 88; E. Weis, Montgelas, Bd. II, 2005, S. 378 f. 778 Hecker, Konstitutionalismus (Fn. 490), S. 139.

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ger Grundbesitzer mehr möglich war. Als aus heutiger Sicht besonders undemokratisch779 erwies sich aber die Bestellung der Aktivbürger. Gewählt wurden die Mitglieder der Repräsentativvertretung nämlich von einem Wahlmännerkollegium, das seinerseits nicht etwa wiederum zur Wahl stand, sondern vom König ernannt wurde, „wobei das zensitäre Moment die Ernennungsfähigkeit stark dominierte“ 780. Die Zusammensetzung orientierte sich proportional an der der Repräsentativvertretung, so daß das Kollegium sich zu vier Sechsteln aus den sechshundert Höchstbesteuerten des Departements, zu einem Sechstel aus den reichsten Kaufleuten und Fabrikanten und zu einem Sechstel aus den ausgezeichnetsten Gelehrten und Künstlern einschließlich den Bürgern, die sich am meisten um den Staat verdient gemacht haben, zusammensetzte.781 Die konstatierte Entwicklung läßt sich gleichlaufend für den Rheinbundstaat Bayern nachzeichnen. Die Verfassung des Königreiches Bayern wurde am 1. Mai 1808 erlassen und am 25. Mai 1808 publiziert.782 In eben jener heißt es im Vierten Titel, der die National-Repräsentation behandelt, zur Zusammensetzung der Reichsversammlung: „§ I. In einem jedem Kreise werden aus denjenigen zwei hundert Land-Eigenthümern, Kaufleuten oder Fabrikanten, welche die höchste Grundsteuer bezahlen, von den Wahlmännern sieben Mitglieder gewählt, welche zusammen die Reichs-Versammlung bilden.“ 783

779 Hecker gibt den Hinweis, daß zeitgenössische deutsche Stimmen sich an dem Umstand, daß dem König ein alleiniges Ernennungsrecht für das Wahlmännerkollegium, das die Mitglieder der Repräsentativversammlung wählte, nicht nenneswert gestoßen hätten. Er schiebt dies darauf, daß das deutsche politische Denken aufgrund der Ereignisse in Frankreich zwischen 1793 und 1795 demokratischen Tendenzen eher mit skeptischer Zurückhaltung begegnete (Hecker, Konstitutionalismus [Fn. 490], S. 141 m. Fn. 446). 780 Hecker, Konstitutionalismus (Fn. 490), S. 140. 781 Siehe Art. 41 der Verfassung für das Königreich Westphalen vom 7. Dezember 1807; dazu Ham/Kandil, Napoleonische Modellstaaten (Fn. 767), S. 695. 782 Siehe RegBl., S. 985, abgedruckt bei: A. Wenzel, Bayerische Verfassungsurkunden. Dokumentation zur bayerischen Verfassungsgeschichte, 1990, S. 9 ff. Der Zeitpunkt ihrer Proklamation nur etwa ein halbes Jahr nach der westfälischen Verfassung vom 15. November 1807 ist keineswegs zufällig gewählt – ganz im Gegenteil – man erließ sie „in der Sorge, Napoleon werde diese [die Verfassung des Königreichs Westfalen, A. S.] zur Einheitsverfassung der Rheinbundstaaten erklären“ (siehe Freiherr von Aretin, Vom Deutschen Reich zum Deutschen Bund [Fn. 704], S. 119; ähnlich Weis, Montgelas II [Fn. 777], S. 376). Inwieweit sich die westfälische und die bayerische Verfassung inhaltlich unterschieden, kann, abgesehen von der Frage nach zensitären Regelungen, im Rahmen dieser Abhandlung dahinstehen. Betonenswert erscheint allerdings der gravierende Unterschied, daß Napoleon, der Kaiser der Franzosen, die Verfassung des Königreichs Westfalens oktroyierte, während der bayerische König als Souverän seinem Volk die Verfassung ohne bemerkenswerte Einflußnahme der Franzosen gab, siehe Weis, Montgelas II (Fn. 777), S. 377 ff. 783 Artikel zitiert nach Wenzel, Verfassungsurkunden (Fn. 782), S. 16.

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2. Realpolitische Umsetzung und Kritik

Die zensitären Regelungen erscheinen ad hoc und isoliert betrachtet zunächst undemokratisch, weisen aber bei genauerer Begutachtung und insbesondere im Vergleich mit anderen Verfassungen dieser Zeit durchaus fortschrittliche Tendenzen auf.784 Etwa zur gleichen Zeit führte beispielsweise in Frankreich unter der Charte Constitutionnelle von 1814785 ein viel strengerer Zensus dazu, daß von 30 Millionen Einwohnern nur etwa 100.000 wahlberechtigt waren786. In zahlreichen Verfassungen des deutschen Frühkonstitutionalismus787 dominierten gar noch ständische Elemente. Zudem wird angeführt, die moderne Vorstellung einer „demokratischen Rückkopplung“ sei durch das Ernennungsrecht des Königs für das Wahlmännerkollegium „nur stark vermindert und nicht vollständig eliminiert“. Die Verfassung gäbe dem König zwar vor, Gruppen zu benennen, die die Bevölkerung repräsentieren sollten, wer dann letztlich tatsächlich Repräsentant werde, bestimmten aber die Wahlmännerkollegien in freien, geheimen und unmittelbaren Wahlen.788 Doch bei aller relativen Fortschrittlichkeit und einer zum Teil attestierten „Aufweichung des Kriteriums Grundbesitz“ 789, führt dies nur wiederum umso deutlicher vor Augen, daß es das Kriterium Grundbesitz in diesen Verfassungen gab und daß ihm eine nicht zu unterschätzende Funktion zuteil wurde. Interessanterweise vollzieht sich im Modellstaat Westfalen die gleiche Entwicklung, die bereits 1791 in Frankreich zu beobachten war.790 In dem Moment, in dem die ständischen Privilegien abgeschafft sind, tritt an ihre Stelle das Eigentum bzw. der Grundbesitz als Kriterium der Zuteilung politischer Partizipationsrechte mit entwicklungshemmender Wirkung: „Mit der Bindung des Wahlrechts an die Grundsteuer und der Schaffung einer Volksvertretung, in der die Grundeigentümer, gleich, ob sie adlig oder bürgerlich waren, dominierten, war die Konstitution auf jene Eigentümergesellschaft zugeschnitten, die zugleich durch die Sozialreform gefördert werden sollte.“ 791

784

Siehe Hecker, Konstitutionalismus (Fn. 490), S. 142 ff. Siehe hierzu ausführlich S. 121 ff. In Deutschland fand sich zu dieser Zeit „nirgends ein sehr einschneidender“ Zensus, so Savigny, Wahlrecht (Fn. 31), S. 41. 786 Siehe hierzu S. 122 ff. 787 Weiterführend hierzu S. 204 ff. 788 Hecker, Konstitutionalismus (Fn. 490), S. 143. Heckers Argumentation mündet in dem Punkt des in der westfälischen Verfassung fehlenden Passivzensus, der unter der französischen Charte Constitutionnelle von 1814 in ganz radikaler Weise, aber auch in allen frühen deutschen Verfassungen (siehe Bayern und Württemberg) wie selbstverständlich seinen Platz behauptet hätte. 789 Hecker, Konstitutionalismus (Fn. 490), S. 143. 790 Siehe hierzu bereits S. 169 ff. 791 Fehrenbach, Ancien Régime (Fn. 744), S. 89. 785

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Wesentliche Inhalte der bayerischen Verfassung tragen die Handschrift des Reformers Maximilian Graf von Montgelas (1759–1838)792, den man vielleicht als eine Art bayerisches Pendant zu vom Stein und von Hardenberg einstufen kann.

C. (Rechts-)Philosophische/politische Begründung des Zensus: vom und zum Steins und von Montgelas’ Ode an Grundeigentümer und Höchstbesteuerte Da sich Preußen793 seit dem Frieden von Basel sehr stark an Frankreich orientiert hatte, war die Sorge, sich zu einem „Trabant Frankreichs“ 794 degradieren zu lassen, stets präsent. Das Verhältnis zwischen Preußen und Frankreich erkaltete zusehens; der schon seit längerem lodernde Konflikt wurde indes durch einige Zwischenfälle795 angefeuert796. Am 9. Oktober 1806 begann der Krieg zwischen Frankreich und Preußen, der in der Niederlage Preußens am 14. Oktober bei Jena und Auerstedt mündete. Der Frieden von Tilsit vom 9. Juli 1807797 und das vorangegangene militärische Desaster Preußens gaben „den Anstoß für eine neue Grundlegung von Staat und Gesellschaft“ 798. In der Tat hatte es preußische Reformbestrebungen bereits vor dem Kollabieren des preußischen Staates durch die militärische Niederlage in Jena und Auerstedt gegeben. Bereits 1797 mit Beginn der Regentschaft Friedrich Wilhelms III. (1797–1840) stand eine Reform auf der Tagesordnung, und schon zu diesem frühen Zeitpunkt erschienen Karl August von Hardenberg und Heinrich Friedrich Karl vom und zum Stein auf der politischen Bildfläche.799 792 Siehe zu dessen Leben und Werk statt vieler E. Weis, Montgelas 1759–1799. Zwischen Revolution und Reform, 1971; ders., Montgelas II (Fn. 777) und zum „System Montgelas“ H.-U. Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Bd. II, 1987, S. 298 f. 793 Preußen fand sich indes in einer ganz anderen politisch-gesellschaftlichen Lage wieder als die süddeutschen Rheinbundstaaten, siehe Wehler, Gesellschaftsgeschichte I (Fn. 11), S. 401 ff. 794 Huber, Verfassungsgeschichte I (Fn. 9), S. 111. 795 In Preußen verstärkte sich durch die französischen Maßnahmen mehr und mehr der Eindruck, es werde von den Franzosen nicht als souveräner Staat respektiert; zu den Maßnahmen im Einzelnen siehe Huber, Verfassungsgeschichte I (Fn. 9), S. 111. 796 Das Faß zum Überlaufen brachten vermutlich letztlich geheime Verhandlungen zwischen Frankreich und England, in denen Frankreich die Abtretung Hannovers versprach, welches jedoch mit dem Vertrag von Schönbrunn preußisches Territorium geworden war. Als Preußen hiervon erfuhr, erfolgte am 9. August 1806 postwendend die Mobilmachung der preußischen Truppen. Napoleons Forderung der Demobilisierung wurde ignoriert, Preußen ging, ganz im Gegenteil, noch einen Schritt weiter und setzte Frankreich am 1. Oktober 1806 ein Ultimatum. Dies sah u. a. vor, daß Frankreich sämtliche Truppen, die noch in Süddeutschland stationiert waren, abziehen sollte. Diese Forderungen wurden jedoch von französischer Seite ignoriert und leiteten so die gewaltsame Austragung des Konfliktes im Krieg Frankreichs gegen Preußen ein. 797 Huber, Verfassungsgeschichte I (Fn. 9), S. 112 ff. 798 Freiherr von Aretin, Vom Deutschen Reich zum Deutschen Bund (Fn. 704), S. 110. 799 Huber, Verfassungsgeschichte I (Fn. 9), S. 100.

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Mit den Namen von Hardenberg und vom Stein sind die preußischen Staatsreformen800 zweifellos am engsten verbunden801. Unter allen reformerischen Bemühungen vom Steins sollte die Städteordnung für die Preußischen Staaten zweifellos die „nachhaltigste Wirkung“ 802 entfalten. Gerade nach der militärischen Katastrophe, die sich für Preußen auch in territorialer Hinsicht als verheerend erwies803, denn es „blieb von der europäischen Großmachtstellung Preußens nur mehr die Kümmerexistenz eines ostdeutschen Kleinstaats übrig“ 804, schienen die Reformer wie gerufen. Sie waren es, die „die Reformmaßnahmen zur Umgestaltung des niedergebrochenen friderizianischen Preußen, die dem Staat an inneren Kräften das wiedergewinnen sollten, was er an äußeren verloren hatte“ 805, liefern sollten. Mit behutsamen und staatlich kontrollierten Maßnahmen der „Reform von oben“ suchte man in Deutschland eine gefürchtete „Revolution von unten“ wie in Frankreich mit allen Mitteln zu verhindern.806 I. Vom und zum Stein und seine Prämisse der Begründung einer politischen Hegemonialstellung der Grundeigentümer 1. Biographie des Freiherrn Heinrich Friedrich Karl vom und zum Stein und dessen theoretischer Ansatz

Heinrich Friedrich Karl vom und zum Stein807 wurde am 26. Oktober 1757 in Nassau geboren und stammte aus reichsritterlichem Geschlecht. Schon 1780 trat 800 Aus der schier unerschöpflichen Fülle an Literatur siehe exemplarisch Hubatsch, Reformen (Fn. 744); Wehler, Gesellschaftsgeschichte I (Fn. 11), S. 397 ff. (S. 445 ff. insbesondere zu den Verwaltungsreformen) und T. Nipperdey, Deutsche Geschichte, Bd. I, 1983, S. 33 ff.; überblicksartig bei Freiherr von Aretin, Vom Deutschen Reich zum Deutschen Bund (Fn. 704), S. 135 ff.; zu den preußischen Vorreformen siehe ausführlich Huber, Verfassungsgeschichte I (Fn. 9), S. 102 ff., 118 ff. m.v. w. N. 801 Huber, Verfassungsgeschichte I (Fn. 9), S. 122. Wehler, Gesellschaftsgeschichte I (Fn. 11), S. 399 hält die Bedeutung vom Steins in diesem Kontext hingegen für „maßlos überschätzt“. 802 Unruh, § 3 Preußen (Fn. 358), S. 416. 803 Preußen war nach dem Frieden von Tilsit auf ein Drittel seiner vorherigen Größe geschrumpft (siehe Freiherr von Aretin, Vom Deutschen Reich zum Deutschen Bund [Fn. 704], S. 110) und – was wohl noch schwerer zu ertragen gewesen sein dürfte – keine ernstzunehmende selbständige europäische Macht mehr (Huber, Verfassungsgeschichte I [Fn. 9], S. 113). 804 Wehler, Gesellschaftsgeschichte I (Fn. 11), S. 398. 805 G. Ritter, Der Freiherr vom Stein und die politischen Reformprogramme des Ancien Régime in Frankreich: Georg von Below zum Gedächtnis (Schluss), in: Historische Zeitschrift 138 (1928), S. 24 (37); erneut aufgegriffen von G. Schmölders, Stein und Adam Smith. Ein Beitrag zur Ideengeschichte der preußischen Reformzeit, in: K. E. Born (Hrsg.), Historische Forschungen und Probleme. Peter Rassow zum 70. Geburtstage dargebracht von Kollegen, Freunden und Schülern, 1961, S. 235 (235). 806 Wehler, Gesellschaftsgeschichte I (Fn. 11), S. 345. 807 Siehe zu dessen in der Literatur mehr als ausführlich behandelten Biographie exemplarisch Ritter, Stein (Fn. 744); Hubatsch, Reformen (Fn. 744), S. 73 ff.; Unruh,

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er in den preußischen Staatsdienst ein. Seit 1788 war er Kammerdirektor in Westfalen und 1804 wurde er zum Minister für das Zoll-, Fabrik- und Handelswesen im Generaldirektorium ernannt, womit er sich in die oberste Riege der preußischen Verwaltung aufgeschwungen hatte. Zusammen mit von Hardenberg führte er die Reformpartei an. 1806 forderte vom Stein derart vehement, den Krieg gegen Napoleon mit aller Kraft weiterzuführen, daß er schließlich von König Friedrich Wilhelm III. im Januar 1807 entlassen wurde. In dieser Zeit entstand seine wohl nahmhafteste Schrift, die Nassauer Denkschrift808, die zur Grundlage des späteren Reformprogrammes werden sollte. Doch diese Zwangspause sollte nur von kurzer Dauer sein, denn im Juli 1807 wurde vom Stein ins Staatsministerium zurückgerufen, wo er tätig war, bis ihn bereits 1808 seine antinapoleonische Einstellung ins Exil nach Prag verschlug, wo er nunmehr als Berater des russischen Zaren Alexander fungierte. Nach dem Wiener Kongreß verfaßte er die Monumenta Germaniae Historica, eine Quellensammlung zur deutschen Geschichte des Mittelalters. Am 29. Juni 1831 verstarb er in Cappenberg in Westfalen. Obwohl seine reine Amtszeit kurz ausfiel, ist vom Stein uns wie kaum ein zweiter Reformer bis in die heutige Zeit hinein ein Begriff. Zusammen mit von Hardenberg verleiht er den preußischen Reformen ein Gesicht. Von besonderer Relevanz ist im Rahmen dieser Abhandlung indes die Verbindung dieses ohne Zweifel berühmten Reformers des preußischen Verwaltungsapparates mit dem Zensuswahlrecht. Vom Stein war zeitlebens von der prinzipiellen Grundannahme der „natürlichen menschlichen Ungleichheiten“ 809 überzeugt, so daß insbesondere nur Eigentümern das politische Recht der Repräsentation zuteil werden sollte und nach Steinschen Vorstellungen ausschließlich eben jene an der Staatsverwaltung partizipieren durften810. Eigentum ist für ihn notwendige Voraussetzung eines freien § 3 Preußen (Fn. 358), S. 400 ff.; jeweils m.v. w. N.; überblicksartig bei Huber, Verfassungsgeschichte I (Fn. 9), S. 100 m. Fn. 4, S. 123 f.; Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts II (Fn. 692), S. 60 f. m. Fn. 135 und aus jüngster Zeit knapp H. Stellhorn, Wer war eigentlich . . .? Freiherr vom Stein, in: Ad Legendum 1 (2014), S. 56 ff.; zu dessen geistes- und ideengeschichtlichen Grundlagen siehe beispielsweise Botzenhart, Staats- und Reformideen (Fn. 744); Schwab, Grundlagen (Fn. 66); zu den Einflüssen der Französischen Revolution auf politische Anschauungen des Freiherrn vom Stein: Ritter, Reformprogramme (Fn. 805), S. 46. 808 Der vollständige Titel lautet: Denkschrift Steins „Über die zweckmäßige Bildung der obersten und der Provinzial-, Finanz- und Polizei-Behörden in der preußischen Monarchie“, abgedruckt in: W. Hubatsch (Hrsg.), Freiherr vom Stein. Briefe und amtliche Schriften, bearbeitet von E. Botzenhart, neu bearbeitet von P. G. Thielen, Bd. II/1, 1959, S. 380 ff. 809 Knoll, Führungsauslese (Fn. 744), S. 35. 810 Schwab, Grundlagen (Fn. 66), S. 156; Hofmann, Stadtverordnetenversammlungen (Fn. 747), S. 38; Huber, Verfassungsgeschichte I (Fn. 9), S. 292 f.; knapper Hinweis auch bei Böckenförde, Einheit (Fn. 259), S. 32 m. Fn. 51.

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Bürgers, der sich in den Dienst des Staates stellt.811 Bei genauerem Hinsehen offenbaren sich frappierende „Interdependenzen von persönlichem Eigentum und Freiheit“ 812. So formuliert vom Stein unmißverständlich, daß „das Corpus der großen Landeigenthümer, die der Natur der Sache nach Einfluß haben und durch unauflösliche Bande an das Interesse des Landes gekettet sind“ 813, in die Vertretungskörperschaften zu berufen seien. Ursprünglich soll folglich nicht eine irgendgeartete Eigentumsform den Zugang zu politischen Partizipationsmöglichkeiten eröffnen, sondern nur die besondere Form des Grundeigentums. An anderer Stelle schwärmt vom Stein geradezu von der alten Deutschen Verfassung: „Ich hoffe immer, man wird die alte Deutsche Verfassung, die auf Grundeigenthum gebaut war und die sich in Westphalen erhalten, nicht umstürzen und an ihre Stelle eine bloße Bureaucratie, deren Unvollkommenheiten wir kennen, setzen.“ 814 Auch in seiner bereits erwähnten Nassauer Denkschrift aus dem Jahre 1807 bleibt vom Stein dieser Grundprämisse treu, erweitert jedoch den Kreis der Partizipationsberechtigten um die Geldeigentümer.815 Diese „Öffnung“, genauer die Gleichstellung von Grund- und Geldeigentümern hinsichtlich politischer Beteiligungsrechte, sollte jedoch wiederum nicht von Dauer sein. Ähnlich wie die Physiokraten816 räumt vom Stein schon kurze Zeit darauf wieder nur den „größern Grundeigentümer[n]“ eine besondere Stellung im staatlichen Gefüge ein. Im Immediatbericht vom Steins vom 23. November 1807 heißt es zur Rechtfertigung seiner, auf dem Leistungsgedanken fußenden und vom Bildungsstand abhängigen, geplanten Privilegierung der Großgrundbesitzer in Bezug auf deren Mitbestimmungsrechte in staatlichen Angelegenheiten: „Vorzüglich die größern Grundeigentümer, welche vermöge ihrer Lage und Erziehung einen tätigen Anteil an dem öffentlichen Wohl nehmen könnten, erschlaffen nach und nach und bekommen eine falsche Richtung. (. . .) Diesem Übel künftig vorzubeugen, ist bei dem ganzen Administrations- Organisationsplan darauf gerechnet, der Nation

811 Vom Steins Forderung der Berücksichtigung von Besitz und Bildung auch in: Über den Entwurf einer Repräsentation. Königsberg, 7. November 1808, abgedruckt in: H. Thimme (Hrsg.), Freiherr vom Stein. Staatsschriften und politische Briefe, 1921, S. 52 ff. 812 Unruh, „Schule der Rechts-Staats-Lehrer“ (Fn. 750), S. 266 m. Fn. 34. 813 Brief an Sack vom 2. Oktober 1802, abgedruckt in: W. Hubatsch (Hrsg.), Freiherr vom Stein. Briefe und amtliche Schriften, bearbeitet von E. Botzenhart, Bd. I, 1957, S. 569 (570). 814 Siehe den Brief vom Steins an Sack vom 19. August 1802, abgedruckt in: Hubatsch (Hrsg.), Briefe I (Fn. 813), S. 558; siehe hierzu Schwab, Grundlagen (Fn. 66), S. 181. 815 Hierzu führt vom Stein wörtlich aus: „Es ist wirklich ungereimt zu sehen, daß der Besitzer eines Grundeigentums oder anderen Eigentums von mehreren Tonnen Goldes eines Einflusses auf die Angelegenheiten seiner Provinz beraubt ist, den ein fremder, des Landes unkundiger, durch nichts mit ihm in Verbindung stehender Beamter ohnbenutzt besitzt“, zitiert nach Hubatsch (Hrsg.), Briefe II/1 (Fn. 808), S. 390. 816 Siehe hierzu ausführlich S. 93 ff.

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ihrem Zustande und dem Verhältnis angemessene Stände zu geben und deren Repräsentanten eine zweckmäßige Teilnahme und Einwirkung auf die Administration zu geben.“ 817 Er will ihnen in besonderem Maße politische Mitwirkungsrechte zugestehen. Dies ist vor allem auf den Umstand zurückzuführen, daß die Mehrzahl der Kriterien, von denen er die Zuteilung politischer Beteiligungsrechte abhängig machen will818 und die es im Folgenden näher zu erläutern gilt, eben nur auf Grundeigentümer zutreffen. 2. Das Grundeigentum als einzig tauglicher Maßstab einer „richtigen“ Zuteilung politischer Partizipationsrechte

(1) Erstens attestiert vom Stein den Grundeigentümern eine besondere Verbindung, gar ein „unauflösliche[s] Bande“ 819 zum Vaterland. Die Grundeigentümer seien „durch Eigenthum und Anhänglichkeit an das Vaterland fest an das Interesse eines Landes gekettet“ 820. Der (Fort-)Bestand ihres Besitzes sei in erster Linie abhängig vom Wohlergehen und der Sicherheit des Landes, weshalb ihnen ein natürliches, ein ureigenstes Interesse an der positiven Entwicklung des Staates zu unterstellen sei. Sein Plädoyer „man nehme daher alle große Gütherbesitzer auf die Landtage auf“ 821 vermag so nicht sonderlich zu überraschen. Zudem seien es letztlich die Grundeigentümer, die „der Natur der Sache nach Einfluß haben“ 822. Auch vom Steins Conclusio, der „Reichtum vereinigt das eigene Wohl des Grundbesitzers mit dem allgemeinen (. . .)“ 823 unterstreicht seine These, daß gerade die Grundeigentümer für das Gemeinwohl einstehen, und untermauert so gleichzeitig seine Forderung, sie in besonderem Maße in die staatlichen Belange einzubinden. Er beruft sich mit diesem Argument auf den Gedankengang eines proportionalen Anstiegs des Interesses am Gelingen des Staates mit zunehmendem Besitz (siehe A. II. 3.). Eine derartige Proportionalität von Rechten und Pflichten im Staat findet sich, wie bereits aufgezeigt, schon früher bei seinem Landsmann Justus Möser.824 Es drängt sich daher die Frage auf, ob die berühmte Mösersche Aktientheorie nicht 817 Abgedruckt in: W. Hubatsch (Hrsg.), Freiherr vom Stein. Briefe und amtliche Schriften, bearbeitet von E. Botzenhart, neu bearbeitet von P. G. Thielen, Bd. II/2, 1960, S. 500 (505). 818 Siehe zum Folgenden auch Schwab, Grundlagen (Fn. 66), S. 157 ff. 819 Siehe vom Stein in einem Brief an Sack vom 2. Oktober 1802, in: Hubatsch (Hrsg.), Briefe I (Fn. 813), S. 570. 820 So vom Stein in seinem Bericht vom 30. Oktober 1804, siehe Hubatsch (Hrsg.), Briefe I (Fn. 813), S. 764. 821 Siehe vom Stein in einem Brief an Sack vom 2. Oktober 1802, in: Hubatsch (Hrsg.), Briefe I (Fn. 813), S. 570. 822 Hubatsch (Hrsg.), Briefe I (Fn. 813), S. 570. 823 „Beurteilung des Rehdiger’schen Entwurfs über Reichsstände“ vom 8. September 1808, abgedruckt in: Hubatsch (Hrsg.), Briefe II/2 (Fn. 817), S. 853. 824 Siehe hierzu S. 76 f.

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für vom Steins Lehre Pate gestanden haben könnte. Das Herzstück der Möserschen Theorie liegt allerdings im Vergleich des Staates mit einer Aktiengesellschaft.825 Die Grundeigentümer erwerben, indem sie z. B. durch Steuerzahlung einen Beitrag zur staatlichen Prosperität leisten, eine Aktie, einen Anteil am Staat, und dürfen im Gegenzug an politischen Entscheidungen teilhaben. Gerade dieser für Möser derart charakteristische Gedanke eines Staates als Aktiengesellschaft findet sich bei vom Stein aber nirgends wieder, denn dieser Vergleich vermochte „dem preußischen Reformer, der im Staat eine sittliche Anstalt, eine lebendige Nationalgemeinschaft sah, nichts besagen“ 826. Belege dafür, daß vom Stein Mösers Werke vor oder während der Reformen gelesen hat und sich von ihrer Lektüre inspirieren ließ, gibt es nicht827, insbesondere die „Patriotischen Phantasien“ Mösers besaß vom Stein nicht selbst; er lieh sie – und das erst im Jahre seines Todes – von einem Bekannten aus828. Eine unmittelbare Einflußnahme Mösers auf die Steinsche Theorie der Verknüpfung von Grundeigentum und politischen Partizipationsrechten scheint damit zumindest unwahrscheinlich.829 (2) Zweitens begreift er Grundeigentum nicht lediglich als Indiz für besonderes geschäftliches Geschick, sondern viel tiefgehender als Ausdruck von Vernunft und Sittlichkeit.830 Wie im Rahmen dieser Abhandlung schon oft zu beobachten, wird als Kriterium der Zuteilung politischer Mitwirkungsrechte das der politischen Mündigkeit, eines gewissen Mindestmaßes an Bildung, ins Felde geführt. Auch vom Stein greift das Bild vom gebildeten Staatsbürger auf und fordert ein, die „gebildeten Klassen“ 831 an der Verwaltung des Staates teilhaben zu lassen. Über das geforderte notwendige Maß an Bildung und Einsicht in die politischen Zusammenhänge verfüge, so vom Stein, nur der Kreis der Grundeigentümer 825

Siehe hierzu S. 78 ff. Schwab, Grundlagen (Fn. 66), S. 177. Die Ansätze eines Abhängigkeitsverhältnisses von Eigentum und politischen Rechten seien zwar bei Möser schon vorhanden, so Schwab, trotzdem lägen zwischen den beiden gedanklichen Konstrukten Welten: „In der Stein’schen Staatsidee weht ein anderer Wind als in den hausbackenen Gedanken Mösers zur politischen Repräsentation der Eigentümer, die sich nie zu einem geschlossenen Plan einer Staatsreform verdichtet haben. Die Idee städtischer Eigenverwaltung, ständischer Repräsentation der Eigentümer ist gewiß bei Möser vorhanden, aber nur ansatzweise, zusammenhanglos, essayistisch (. . .)“ (ebd., S. 177). 827 Schwab, Grundlagen (Fn. 66), S. 178. 828 Dies geht aus einem Brief vom Steins an Schorlemer vom 7. April 1831, abgedruckt in: W. Hubatsch (Hrsg.), Freiherr vom Stein. Briefe und amtliche Schriften, bearbeitet von E. Botzenhart, neu bearbeitet von A. Hartlieb von Wallthor, Bd. VII, 1969, S. 1116 (1117). 829 Schwab, Grundlagen (Fn. 66), S. 178. Anders Botzenhart, Staats- und Reformideen (Fn. 744), S. 176; zwar zurückhaltender, aber im Ergebnis in die gleiche Richtung wie Botzenhart Ritter, Stein (Fn. 744), S. 112 ff. 830 Schwab, Grundlagen (Fn. 66), S. 158. 831 Siehe die Nassauer Denkschrift, abgedruckt in: Hubatsch (Hrsg.), Briefe II/1 (Fn. 808), S. 391. 826

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„welche vermöge ihrer Lage und Erziehung einen tätigen Anteil an dem öffentlichen Wohl nehmen könnten (. . .)“ 832. Die geforderten Attribute der Sittlichkeit, Bildung, Einsichtsfähigkeit und des Interesses an staatlichen Belangen spricht er hingegen ausdrücklich dem Großteil der öffentlichen Beamten ab: „Der größeren Anzahl der öffentlichen Beamten, z. B. den unteren Hebungsbeamten, den unteren Militärpersonen, fehlt es an Bildung, Selbständigkeit, Bekanntschaft mit den Bedürfnissen der bürgerlichen Gesellschaft, Interesse an ihrer Erhaltung, Sittlichkeit, und sie werden die verständigen Handwerker, die mittlere Klasse der Grundeigentümer in keiner Hinsicht ersetzen. Sie werden bei ihrer Abhängigkeit von der Regierung ein blindes, leicht zu behandelndes Werkzeug in ihren Händen sein, und welche Achtung, welches Zutrauen wird eine Nationalrepräsentation genießen, die von einer Majorität, so aus Subalternen, Unteroffizieren und Dorfschulzen besteht, gewählt worden ist.“ 833 (3) Drittens stellt vom Stein die Immunität der Grundeigentümer gegenüber Manipulationsversuchen heraus, indem er klarstellt, daß deren finanzieller Rückhalt ihnen überhaupt erst die unabhängige politische Willens- und Meinungsbildung ermögliche: „Die Masse der Eigentümer der Nation besitzt eine Unabhängigkeit, die den in Vorschlag gebrachten Notabeln fehlt; sie nehmen an dem ganzen Vorrat der Ideen und Gefühle, die einer Nation gehören, einen überwiegenden Anteil; alle Einrichtungen des Staates wirken unmittelbar auf ihren eigenen Zustand, und die Erhaltung desselben bindet sie an Ruhe, Ordnung und Gesetzlichkeit.“ 834 Zusammen mit diesem dritten und letzten Gesichtspunkt, dem Argument der Unabhängigkeit der Grundeigentümer zum Schutz vor Bestechlichkeit, bedient vom Stein fast die ganze Palette der eingangs aufgezeigten, immer wiederkehrenden Argumentationsmuster für ein zensitär ausgestaltetes Wahlrecht. In einem Punkt erweist sich vom Stein mit seiner Forderung der Stärkung der Rolle der Grundeigentümer im politischen Geschehen für seine Zeit als fortschrittlich, nämlich in dem der kompletten Entkoppelung des Zugangs zu politischen Partizipationsrechten von der Bedingung adeliger Abstammung: „In einigen Provinzen erscheinen auf den Kreis- und Landtagen sämtliche Grundeigentümer, der Edelmann und der Deputierte der Bauern (. . .); in anderen ist der Bauernstand, der die Kreistage besucht, von Landtagen ausgeschlossen (. . .); in anderen erscheinen auf den Landtagen nur die Besitzer adliger Güter oder die adligen Besitzer adliger Güter, endlich gar nur die altadligen Besitzer adliger Güter, und so entsteht z. B. im Clevischen die Absurdität, daß das Corpus des Adels nur aus 832 Immediatbericht vom Steins vom 23. November 1807, abgedruckt in: Hubatsch (Hrsg.), Briefe II/2 (Fn. 817), S. 505. 833 Siehe vom Steins „Beurteilung des Rehdiger’schen Entwurfs über Reichsstände“ vom 8. September 1808, abgedruckt in: Hubatsch (Hrsg.), Briefe II/2 (Fn. 817), S. 854. 834 „Beurteilung des Rehdiger’schen Entwurfs über Reichsstände“ vom 8. September 1808, abgedruckt in: Hubatsch (Hrsg.), Briefe II/2 (Fn. 817), S. 854.

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einem einzigen Individuo besteht, das dirigiert, votiert, konkludiert und nomine collectivo korrespondiert. An die Stelle der Bureaukratie muß nicht eine auf kümmerlichen und schwachen Fundamenten beruhende Herrschaft weniger Gutsbesitzer errichtet werden, sondern es kommt die Teilnahme an der Verwaltung der Provinzial-Angelegenheiten sämtlichen Besitzern eines bedeutenden Eigentums jeder Art zu, damit sie alle mit gleichen Verpflichtungen und Befugnissen an den Staat gebunden sind.“ 835 Interessanterweise weicht vom Stein hier ganz offensichtlich und ausdrücklich von der Ansicht Montesquieus ab und stellt heraus, daß im englischen Unterhaus gerade nicht alle Bevölkerungsgruppen vertreten seien, sondern nur die Eigentümer, da nur diese überhaupt durch ihre finanzielle Unabhängigkeit die Möglichkeit hätten, nicht entlohnte öffentliche Ämter zu bekleiden.836 Vom Stein zeigt sich mithin bereit, auch den grundbesitzenden Bauern politische Partizipationsrechte zuzugestehen, hält aber daran fest, daß diese Rechte untrennbar an das Grundeigentum geknüpft sein müssen. Allein Grundeigentum ist für ihn Indikator für ein besonderes Band zum Vaterland, dessen Gedeihen und Entwicklung es nach Kräften zu fördern gilt, eines gewissen Maßes an Bildung, die erst die Einsicht in politische Belange erlaubt und der Unbestechlichkeit und Sittlichkeit, die die nötige Unabhängigkeit und Selbständigkeit gewährleisten, sich eine fundierte Meinung in öffentlichen Belangen bilden zu können. Diese Quintessenz bringt Schwab wie folgt auf den Punkt, wenn er unmißverständlich die Unverzichtbarkeit der Eigentümer für die Gesellschaft und deren darauf beruhende Sonderstellung im Staat herausarbeitet: „Die Voraussetzungen der moralischen Verbesserung der Nation, ihrer politischen Mündigkeit, ihrer Freiheit also ist, daß es genügend Eigentümer gibt, die bereit sind, für das gemeine Beste zu wirken. Das Eigentum ist und bleibt aber die Bedingung, unter der der Mensch ein Bürger werden kann; denn nur so hat er die natürliche Liebe zum Vaterland, einen auch in seinem Interesse liegenden Eifer für das Beste und die nötige Selbständigkeit, um die politische Verantwortung tragen zu können: nur dann ist er mündig und frei.“ 837 3. Die Steinsche Theorie einer von (Grund-)Eigentümern dominierten Gesellschaft als unveränderte Fortsetzung der physiokratischen Tradition?

Auch wenn sich „ebensowenig unmittelbare Einflüsse der physiokratischen Staatslehre auf Stein nachweisen wie ein bestimmtes politisches ,Modell‘, dem er 835 Auszug aus der Nassauer Denkschrift, abgedruckt in: Hubatsch (Hrsg.), Briefe II/ 1 (Fn. 808), S. 392 f. 836 Siehe hierzu auch den Hinweis bei Unruh, § 3 Preußen (Fn. 358), S. 403 m. Fn. 7. 837 Schwab, Grundlagen (Fn. 66), S. 159. In ähnliche Richtung auch Vogel/Schultze, Art. Deutschland (Fn. 744), S. 190: „Auf lokaler Ebene sollten die besitzenden und gebildeten bürgerlichen Schichten durch Selbstverwaltung an den politischen Entscheidungen beteiligt werden.“

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zu folgen suchte“ 838, eindeutig aufzeigen lassen, treten bei näherer Betrachtung doch überraschende Parallelen zwischen der Lehre der Physiokraten und vom Steins Grundannahmen zu Tage839. Sowohl die Physiokraten als auch vom Stein sehen im Grundbesitzer die größte Stütze des Staates, denn der Grundbesitzer sei es, der über sein Eigentum an Grund und Boden auf ganz natürliche Weise mit dem Vaterland und dessen Wohlergehen verbunden sei. Der Grundeigentümer werde sich, und sei es um den Bestand des eigenen Grundeigentums zu schützen, für das Gemeinwohl nach Kräften einsetzen. Sein Grundbesitz eröffne ihm zudem die notwendige Unabhängigkeit, sich eine fundierte politische Meinung zu bilden. Aus der Gesamtschau all dieser Gründe ergibt sich für die Physiokraten ebenso wie für vom Stein, daß ausschließlich den Grundeigentümern politische Rechte zuteil werden sollten. Ein weiteres Indiz dafür, daß die Verbindungslinien, die sich zwischen den Physiokraten und vom Stein nachzeichnen lassen, kein purer Zufall sind, sondern vom Stein sich von ihren Lehren im Rahmen der eigenen reformerischen Tätigkeiten befruchten ließ, ist, daß vom Stein und Turgot, der Kopf der physiokratischen Schule840, in wesentlichen Punkten wie der Gewerbefreiheit, dem besonderen Stellenwert der Landwirtschaft und der Gruppe der Landeigentümer im staatlichen Gefüge korrespondierten841. Auch die Tatsache, daß die französischen Physiokraten, ebenso wie vom Stein, den reformerischen und nicht den revolutionären Wandel anstrebten842, dürfte ihr Übriges getan haben. Seine Städteordnung sieht einen Zensus vor, was darauf zurückzuführen ist, daß er genau wie die französischen Physiokraten „den politisch verantwortlichen Bürger gemeinhin mit dem „Eigentümer“, d.h. mit dem Grundeigentum besitzenden oder dem gewerbetreibenden selbständigen Staatsangehörigen

838

Unruh, § 3 Preußen (Fn. 358), S. 403. Siehe hierzu G.-C. v. Unruh, Der Kreis im 19. Jahrhundert zwischen Staat und Gesellschaft, in: H. Croon/W. Hofmann/ders. (Hrsg.), Kommunale Selbstverwaltung im Zeitalter der Industrialisierung, 1971, S. 91 (93 f.). 840 Siehe zu Turgot und dessen physiokratischer Lehre S. 93 ff. 841 Zur Bedeutung der Landeigentümer aufgrund ihres „Hängen[s] an Besitz und Scholle“ siehe H. Hintze, Staatseinheit und Föderalismus im alten Frankreich und in der Revolution, 1928, S. 93; Unruh, Kreis (Fn. 836), S. 93 („Turgots Unterscheidung zwischen Bürgern im Vollbesitz der politischen Rechte, den Grundbesitzern, und den übrigen Bewohnern eines Staates, denen lediglich die Menschenrechte garantiert blieben, gewann sowohl in der Städteordnung als auch in anderen frühen Gemeindeverfassungen Gestalt. Das Mißtrauen gegen die „Ungebildeten“ als Urheber von Störungen des Entwicklungsprozesses findet sich sowohl bei Turgot als auch beim Freiherrn vom Stein wie bei den süddeutschen Liberalen“), S. 94 („Die in der physiokratischen Lehre hervorgehobene Bedeutung des Ackerbaus mit ihren politischen Konsequenzen hat ganz offenbar nachhaltig die Vorstellungen der reformwilligen Kräfte in Deutschland einschließlich des höheren Beamtentums so lange und so stark beeinflußt, daß der industrielle Prozeß mit seinen Folgen keine ausreichende Beachtung fand, [. . .]“). Zu vom Steins Meinung über Turgot und dessen Reformpläne siehe auch F. Herre, Freiherr vom Stein. Sein Leben – seine Zeit, 1973, S. 57. 842 Güntzberg, Gesellschaftslehre (Fn. 335), S. 143 f. 839

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identifizierte“ 843. Während die Einflußnahme Mösers auf die Steinschen Prämissen als eher untergeordnet einzustufen ist, erweisen sich die Parallelen zwischen ihm und der Lehre der französischen Physiokraten als geradezu augenfällig. Wenn also vom Stein politische Partizipationsrechte ebenso wie seine prominenten Vorgänger, die französischen Physiokraten, untrennbar mit dem Kriterium des (Grund-)Eigentums verknüpft, fragt sich abschließend, ob hier dann überhaupt ein Fortschritt, eine irgendgeartete Form von Weiterentwicklung zu verzeichnen ist, oder ob vom Stein deren Theorie nur einer marginalen Änderung unterzieht. Auf den ersten Blick unterscheiden sich die Lehren kaum, doch bei näherer Betrachtung offenbart sich die Fortschrittlichkeit der Steinschen Prämissen. Auch wenn vom Stein eine uneingeschränkte Gleichstellung der Bürger in seinem Mißtrauen gegenüber den unvermögenden Bevölkerungsschichten ablehnt, liegt sein Fernziel erklärtermaßen nicht im Ausschluß einzelner gesellschaftlicher Gruppen vom politischen Leben, sondern auf lange Sicht in der politischen Beteiligung der gesamten Bevölkerung. Der entscheidende Unterschied seiner Lehre und der der Physiokraten besteht mithin darin, daß es ihm nicht um die Rechte einzelner Gesellschaftsklassen geht bzw. wie man Partizipationsberechtigung oder -ausschluß dieser begründen kann, sondern um die Frage „wie und unter welchen Voraussetzungen man die Nation an der Regierung des Gemeinwesens teilhaben lassen könne. (. . .) Wenn daher ein gewisses Eigentum Voraussetzung für die politische Mitwirkung im Staate ist, so wünscht Stein andererseits, daß es möglichst viele Eigentümer im Staate geben solle, ja man wird ohne weiteres annehmen können, daß er eine Nation von Eigentümern gewünscht hätte, wäre dies nicht ein utopischer Wunsch gewesen.“ 844 Insbesondere durch die Abschaffung der Schollenbindung hat vom Stein einen nicht zu unterschätzenden Beitrag zur Lösung der starren Strukturen der ständisch geprägten Gesellschft hin zu ihrer Egalisierung vollzogen.845 Vor dem geistigen Auge zeichnet er das

843

Unruh, Kreis (Fn. 836), S. 92. Schwab, Grundlagen (Fn. 66), S. 184 f., Hervorhebung i. O., A. S. 845 Eine gewisse Sonderstellung des Adels konnte und wollte er indes – wohl auch vor dem Hintergrund seiner eigenen adeligen Abstammung – nicht ganz aufgeben, diese sucht er aber mit der Begründung, der Adel habe sich originär aus dem Grundeigentum gebildet, zu legitimieren, siehe die Denkschrift Steins über die Bildung von Provinzial-Ständen in Westfalen vom 31. März 1817, abgedruckt in: Botzenhart, Briefwechsel V (Fn. 758), S. 378: „Die adliche Standschaft war verbunden mit der Herkunft von altem Geschlecht und dem Gutsbesitz von einem gewissen Werth – in der Grafschaft Mark war er 6000 Th. Man kann von der ersten Eigenschaft abstrahiren, da ohnehin die Zahl der alt adlichen Geschlechter sehr abnimmt, (. . .).“ Grundsätzlich wurde bis weit ins 19. Jahrhundert hinein die Privilegierung der Adeligen primär aus deren Fülle an Herrschaftsrechten abgeleitet. Landeigentum „war ursprünglich eine Folge, nicht aber die Ursache ihrer Machtposition“, so Wehler, Gesellschaftsgeschichte I (Fn. 11), S. 134. 844

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Bild einer idealen Gesellschaft, die mehrheitlich aus Eigentümern besteht. Er ist dabei aber durchaus bestrebt, auch den Bürgern, die (noch) über kein Eigentum verfügen, ein Umfeld zu bereiten, das ihnen den Erwerb von Eigentum ermöglicht, um ihnen sodann den Zugang zu politischen Partizipationsrechten zu eröffnen: „Soll die Nation veredelt werden, so muß man dem unterdrückten Teil derselben Freiheit, Selbständigkeit und Eigentum geben (. . .). Dem Bauernstand muß das Gesetz persönliche Freiheit erteilen und bestimmen, daß ihm der unterhabende Hof nebst Inventarium gehöre (. . .). So würde die Zahl der freien Menschen vermehrt, die gegenwärtig nur aus dem Adel, den Bürgern und den Hauländereien und Kolonien auf dem platten Lande besteht.“ 846 Erklärtes Endziel liegt mithin nicht in der Exklusion der nicht-besitzenden Bevölkerungsschichten, sondern darin, eben jenen zu Freiheit und Eigentum zu verhelfen, damit man sie in die Gesellschaft der politisch Partizipierenden aufnehmen kann. II. Von Montgelas und sein Urvertrauen in die politische Eignung der Höchstbesteuerten 1. Biographie des Grafen Maximilian von Montgelas

Maximilian Graf von Montgelas wurde am 12. September 1759 in München geboren.847 Von 1770 bis 1776 studierte er an der Universität Straßburg, der damals führenden Hochschule Frankreichs, Jurisprudenz und hörte zudem Geschichtsvorlesungen bei Christoph Wilhelm Koch (1737–1813).848 1777 wurde er Hofrat unter dem bayerischen Kurfürsten Max III. Joseph in München und behielt diese Stellung auch unter dessen Nachfolger Karl Theodor bis 1786. 1785 wurde er zum Mitglied der bayerischen Akademie der Wissenschaften ernannt.849 Auf Empfehlung des französischen Gesandten in München, Graf Montezan, gegenüber dem außenpolitischen Berater des Herzogs Karl II. von Zweibrücken, trat er 1787 in dessen Dienst ein und übernahm nunmehr weitgehend die außenpolitische Führung Zweibrückens.850 Schon vor und in den ersten Jahren der Französischen Revolution machte von Montgelas sich Gedanken über eine tiefgehende Reformierung Bayerns.851 Vor allem deshalb wurde er im September 1796 zum leitenden Berater des Herzogs Max Josephs ernannt.852 Im Jahre 1799 übernahm Herzog Max Joseph, der 1806 erster König Bayerns wurde, das bayerische Territorium und betraute seinen Berater von Montgelas mit der 846 Zitiert aus der Nassauer Denkschrift vom Juni 1807, abgedruckt in: Hubatsch (Hrsg.), Briefe II/1 (Fn. 808), S. 397. 847 Siehe Weis, Montgelas I (Fn. 792), S. 1. 848 Weis, Montgelas I (Fn. 792), S. 8. 849 Weis, Montgelas I (Fn. 792), S. 16 ff. 850 Weis, Montgelas I (Fn. 792), S. 47 ff. 851 Weis, Montgelas I (Fn. 792), S. 192. 852 Weis, Montgelas I (Fn. 792), S. 262 ff.

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Reform des Staates.853 In seine Amtszeit fielen durchgreifende strukturelle Veränderungen in Bayern wie die Säkularisation der bayerischen Klöster 1802/03854 oder weitgehende Reformen von Regierung und Verwaltung855. 1817 wurde von Montgelas entlassen856, und am 14. Juni 1838 verstarb er im Stadthaus der Familie am Karolinenplatz in München857. 2. Theoretischer Ansatz des Reformers

Im Ansbacher Memoire vom 30. September 1796858, in dem er seine Ergebnisse zur Staatsreform zusammengetragen hat859, heißt es in § 1 des vierten Titels (Von der Nationalrepräsentation) bezüglich des Wahlrechts: „In einem jeden Kreise werden aus denjenigen 200 Landeigenthümern, Kaufleuten oder Fabrikanten, welche die höchste Grundsteuer bezahlen, von den Wahlmännern sieben Mitglieder gewählt, welche zusammen die Reichsversammlung bilden.“ 860

Die politischen Partizipationsmöglichkeiten wurden mithin auch im Königreich Bayern auf den sehr eng umgrenzten Kreis der Höchstbesteuerten beschränkt.861 Wie im Königreich Westfalen schaffte man ganz konsequent alle ständisch bedingten Privilegien, insbesondere die Steuerprivilegien, radikal ab862, trotzdem konnte (oder wollte) man sich nicht dazu durchringen, das Wahlrecht uneingeschränkt allen Einwohnern einzuräumen, die „Begrenzung ergab sich, da Montgelas nicht bereit war, den eingeleiteten Wandel einer Eigendynamik zu überlassen. (. . .) Der Grad der Partizipation der Bürger sollte zunächst an einen hohen Vermögenszensus gebunden werden – da Montgelas sichtlich glaubte, daß Eigentümer in weit ausgeprägterem Maße am Gemeinwohl und insbesondere an 853 Dazu Knemeyer, § 1 Reformbestrebungen vor 1803, S. 122 (127) und Wehler, Gesellschaftsgeschichte I (Fn. 11), S. 371. 854 Weis, Montgelas II (Fn. 777), S. 149 ff. 855 Weis, Montgelas II (Fn. 777), S. 507 ff. 856 Siehe zu den Hintergründen der Entlassung ausführlich Weis, Montgelas II (Fn. 777), S. 790 ff. 857 Weis, Montgelas II (Fn. 777), S. 830. 858 Zum Memoire und darin enthaltenen konkreten Reformvorschlägen tiefergehend Weis, Montgelas I (Fn. 792), S. 266 ff. 859 Dieses wird teilweise in Bedeutung und Tragweite für den Verfasser mit der berühmten Nassauer Denkschrift für das Gesamtwerk vom Steins (siehe zu vom Steins reformerischen Ansätzen, die er in eben jener Nassauer Denkschrift enfaltet, ausführlich S. 165 ff.) auf eine Stufe gestellt, siehe E. Weis, Maximilian Joseph Graf von Montgelas 1759–1838, in: E. Lauterbach (Hrsg.), Männer der deutschen Verwaltung, 1963, S. 59 (61). 860 Siehe Weis, Montgelas II (Fn. 777), S. 379. 861 Freiherr von Aretin, Vom Deutschen Reich zum Deutschen Bund (Fn. 704), S. 120; Fehrenbach, Ancien Régime (Fn. 744), S. 88; Wehler, Gesellschaftsgeschichte I (Fn. 11), S. 383. 862 Weis, Montgelas II (Fn. 777), S. 373 f.

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der Aufrechterhaltung der staatlichen Ordnung interessiert seien als andere Mitglieder der Gesellschaft863 –, schließlich an die Fortschritte der Erziehung der Bürger zu politischen Reife.“ 864 III. Die Frage der Zuteilung politischer Partizipationsrechte im öffentlichen Diskurs des 18. und 19. Jahrhunderts Wie gezeigt, schien es für die bedeutenden Reformer vom Stein und von Montgelas ganz selbstverständlich, nicht allen Einwohnern uneingeschränkt politische Partizipationsrechte zuzusprechen. Sie räumten den Grundeigentümern hier, den Höchstbesteuerten dort, in politischer Hinsicht eine Sonderstellung ein. Doch woher stammt dieses Urvertrauen in diesen – zur damaligen Zeit doch sehr begrenzten – Personenkreis? Den meisten Vertretern des im 18. Jahrhundert dominierenden Naturrechts865 ist die Vorstellung von Menschen- oder Bürgerrechten oder, um es etwas grundsätzlicher zu formulieren, die Vorstellung von Rechten im und gegenüber dem Staat per se fremd, so daß politische Partizipationsrechte im Allgemeinen, das Wahlrecht im Besonderen, gar nicht zum Gegenstand der Betrachtung gemacht werden. In der Lehre Christian Wolffs (1679–1754) beispielsweise, einem der Hauptvertreter der naturrechtlichen Staatstheorie, sind die Menschen zwar von Natur aus frei866, können sich dieser Freiheit vertraglich aber komplett entäußern867. Dies eröffnet wiederum dem Herrscher die Möglichkeit, „alles dasjenige fest zu setzen, was ihm zur Erhaltung der öffentlichen Wohlfahrt etwas beyzutragen scheinet“ 868. Der Bürger im Staat verfügt also letztlich weder über Menschen- oder Bürgerrechte noch über einen Anspruch auf politische Partizipation.869 Da niemand einen Anspruch auf politische Mitwirkung gegenüber dem Staat hat, sucht man eine Privilegierung der Grundbesitzer oder Höchstbesteuerten bei Wolff vergeblich, wobei Privilegierungen einzelner Personen oder Bevöl863 So statuiert er in Zusammenhang mit dem personellen Aufbau der bayerischen Nationalrepräsentation von 1808: „Les propriétaires sont les plus intéressés au maintien de l’ordre; (. . .)“, zitiert nach G. v. Laubmann/M. Doeberl (Hrsg.), Denkwürdigkeiten des Grafen Maximilian Joseph v. Montgelas über die innere Staatsverwaltung Bayerns (1799–1817), nebst einer Einleitung über die Entstehung des modernen Staates in Bayern von Michael Doeberl, 1908, S. 75. 864 K. Möckl, Die bayerische Konstitution von 1808, in: E. Weis (Hrsg.), Reformen im rheinbündischen Deutschland, 1984, S. 151 (161). 865 Siehe instruktiv zu den politischen Rechten des einzelnen in der Naturrechtslehre des 18. Jahrhunderts Böhme, Rechte (Fn. 253), S. 13 ff. 866 Siehe C. Wolff, Grundsätze des Natur- und Völckerrechts, worinn alle Verbindlichkeiten und alle Rechte aus der Natur des Menschen in einem beständigen Zusammenhange hergeleitet werden, 1754, § 77 (S. 48). 867 Ebda., § 948 (S. 684 f.). 868 Ebda., §1042 (S. 754). 869 So Schröder, Möser als Jurist (Fn. 241), S. 35 f.

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kerungsschichten durch Erteilung bestimmter Rechte damit zwar nicht vollständig ausgeschlossen, aber nur durch „Freyheitbegnadigung“ möglich sind.870 Sofern die Existenz und Erscheinungsform politischer Rechte ausnahmsweise überhaupt problematisiert werden, geschieht dies in der Regel im Umfeld des staatenbegründenden Gesellschaftsvertrages.871 Natürlich sucht man auch im Rahmen der Auseinandersetzung mit dem Naturrecht nach einem homogenen, eindimensionalen und in sich geschlossenen Denkkonstrukt vergeblich; vielmehr stößt man auf einen erheblichen Facettenreichtum, wenngleich dieser Eindruck nicht darüber hinwegtäuschen darf, daß sich einige Prämissen des Naturrechts durchaus bei der Mehrzahl der Autoren wiederfinden. Für die Mehrheit der Naturrechtler ist wohl zu konstatieren, daß keine Unterscheidung zwischen politisch Mitwirkungsberechtigten und Nicht-Mitwirkungsberechtigten vorgenommen wird. Grundsätzlich soll kein Bürger seiner politischen Beteiligungsrechte beraubt werden, sondern die Gesamtheit des Volkes die Staatsgewalt ausüben.872 Wolff weist aber zudem auf die Möglichkeit hin, eine Aristokratie zu etablieren, in der das Recht zu regieren an bestimmte Bedingungen, wie beispielsweise an das Erfordernis des Besitzes gewisser Landgüter, geknüpft sein kann.873 Insbesondere sind politische Rechte nicht wie bei den Physiokraten an Landbesitz gekoppelt.874 Ein kleinerer Kreis der naturrechtlichen Autorenschaft ist indes nicht bereit, Beteiligungsrechte im Staat bedingungslos allen Bürgern zuzugestehen, wobei die Kriterien, nach denen die Differenzierung zwischen Stimmberechtigten und Nicht-Stimmberechtigten vorzunehmen sein soll, nicht immer konkret ausbuchstabiert werden: Heinrich Gottfried Scheidemantel (1739–1788) beispielsweise bleibt doch sehr im Vagen, wenn er u. a. „unfähige Bürger“ 875 nicht in der Versammlung sehen will. Über seine Vorstellungen vom fähigen Bürger verliert er 870

Wolff, Grundsätze (Fn. 866), § 1047 (S. 757). Böhme, Rechte (Fn. 253), S. 40 (siehe auch ebd., S. 19 f. zu den unterschiedlichen Vertragsmodi); zur Möserschen Vorstellung Schröder, Möser als Jurist (Fn. 241), S. 25 f. 872 Wolff, Grundsätze (Fn. 866), §§ 999, 1000 (S. 714 f.); J. A. Schlettwein, Die Rechte der Menschheit oder der einzige wahre Grund aller Gesetze, Ordnungen und Verfassungen, 1784, § 293, S. 496; in aller Grundsätzlichkeit J. C. Claproth, D. Joh. Christian Claproths Weil. Königl. Großbrit. Raths und ordentl. Prof. der Rechte auf der Georg Augustus Universität Grundriß des Rechts der Natur, 1749, S. 206 („Wenn alle Bürger das Regiment führen, heisset der Staat eine Democratie“, Hervorhebung i. O., A. S.); H. F. Kahrel, Das Recht der Natur, Worin nicht allein Die Gründe zur SittenLehre und Staats-Kunst gelegt, Sondern auch Die Quellen aller Bürgerlichen Rechte zum Nutzen des menschlichen Lebens geöffnet werden, 1746, S. 706; siehe hierzu Böhme, Rechte (Fn. 253), S. 41 f. 873 Siehe Wolff, Grundsätze (Fn. 866), § 1001 (S. 717). 874 Böhme, Rechte (Fn. 253), S. 47. 875 H. G. Scheidemantel, Das allgemeine Staatsrecht überhaupt und nach der Regierungsform, 1775, S. 292; knapper Hinweis bei Böhme, Rechte (Fn. 253), S. 42. 871

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jedoch nicht ein einziges Wort. Der Naturrechtler Gottfried Achenwall (1719– 1772) will das Stimmrecht jedenfalls im Rahmen der „beschränkten Demokratie“ 876 gerade ausdrücklich mit dem Kriterium des Vermögens oder des Grundeigentums verquicken: „Das Stimmrecht auf den Democratischen Landtägen ist übrigens natürlicher Weise ein beständiges oder lebenswähriges und erbliches Recht, und zwar letzteres in dem Verstande, daß es auf gewissen Familien, oder auf dem Besitz eines gewissen Vermögens, hauptsächlich in Grundstücken, oder auf beyden zugleich haftet.“ 877 Fraglich bleibt allerdings, ob Achenwall eine Beschränkung des Wahlrechts tatsächlich präferiert.878 1. Eigentum als Garant von Selbständigkeit im öffentlichen Diskurs des ausgehenden 18. und frühen 19. Jahrhunderts

Während die Mehrheit der Naturrechtler im 18. Jahrhundert eine Beschränkung der politischen Beteiligungsrechte auf bestimmte Bevölkerungsgruppen kategorisch ablehnte, stand für das Gros der Autorenschaft insbesondere im ausgehenden 18. und frühen 19. Jahrhundert879 fest, „daß Deutschland für eine revolutionäre Ablösung der ständischen, an die überkommene Verteilung von Eigentum gebundene durch eine demokratische Repräsentation noch nicht reif war“ 880. Die radikale Forderung nach einem allgemeinen Wahlrecht heutiger Prägung wurde nur sehr selten erhoben881, laut Smend erstmalig von W. J. Behr im Jahre 1804: „Die richtige Folge von allem dem ist, daß die Unterscheidung der Staatsglieder in activ- und passiv-Bürger, in dem Sinne, wie sie von Kant (. . .) aufgestellt worden ist, schlechthin grundlos, und sonach unanwendbar sey (. . .).“ 882 Sie sei dann erst wieder im Reichsverfassungsentwurf von August Follen 1817/18 876 Zur Differenzierung zwischen „unumschränkter“ und „beschränkter“ Demokratie bei Achenwall siehe Böhme, Rechte (Fn. 253), S. 42. 877 G. Achenwall, Die Staatsklugheit nach ihren ersten Grundsätzen entworfen, 1761, I. Th. I. B. Grundverfassung des Staats, § 10 (S. 46). 878 Böhme, Rechte (Fn. 253), S. 42 hält dies zumindest für „zweifelhaft“. 879 Diese Art von Gesinnungswandel, der zumindest bei einigen naturrechtlichen Autoren zu verzeichnen ist, erwuchs nicht aus dem Innern des deutschen Naturrechts selbst, sondern wurde zum einen durch die Französische Revolution und die Auseinandersetzung mit ihren theoretischen Inhalten in Deutschland (dazu statt vieler Klippel, Politische Freiheit [Fn. 699], S. 180 und Böhme, Rechte [Fn. 253], S. 50) und zum anderen durch das Werk Kants, worauf im Folgenden noch ausführlich einzugehen ist, angestoßen. 880 Würtenberger, § 2 (Fn. 172), Rn. 44. Ähnlich Schlumbohm, Freiheit (Fn. 286), S. 165: „Besonders deutlich manifestiert sich die „Zuschauergesinnung“, das Auseinanderfallen von Theorie und Praxis, bei der großen Zahl von Stimmen, die eine Sympathieerklärung für die Revolution in Frankreich mit der Versicherung verbanden, für Deutschland sei eine derartige Entwicklung keineswegs zu wünschen.“ 881 Smend, Maßstäbe (Fn. 1), S. 20. 882 W. J. Behr, System der allgemeinen Staatslehre zum Gebrauche für seine Vorlesungen, Bd. I, welcher die allgemeine Einleitung, und den ersten Theil der Staatslehre,

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aufgegriffen worden. Erstaunlicherweise geht Smend weder auf Friedrich Schlegel (1772–1829) noch auf Johann Adam Bergk (1769–1834) ein. Schlegel sprach sich – wenngleich noch vorsichtig – für ein allgemeines und gleiches Wahlrecht aus: „Armut und vermutliche Bestechbarkeit, Weiblichkeit und vermutliche Schwäche sind wohl keine rechtmäßigen Gründe, um vom Stimmrecht ganz auszuschließen.“ 883 Ähnlich gesinnt scheint der Schriftsteller Bergk. Zum einen hielt er die demokratische Republik für die einzig vernünftige Regierungsform, sie hätte „allein die rechtliche Form, die die Vernunft von allem was Menschen zu ihrer Sicherheit und zu ihrer Erhaltung thun, fordert: jede andere Regierungsform entehrt Erblichkeit der Aemter, die ein Produkt der Unwissenheit, Menschenverachtung und der Bosheit ist“. Die nordamerikanischen Staaten seien „keine vollkommenen Demokratien, weil man dem Grund- und Geldeigenthümer Vorzüge vor andern Einwohnern zugestanden hat (. . .)“ 884. Zum anderen wollte er „politische Freyheit“ nicht begriffen wissen als ein „bloßes Recht, das der Mensch aufopfern darf, sondern eine Pflicht, die nur Wahnsinn und Gewissenlosigkeit Andern überlassen“. Er erkannte, daß „Einsicht und Tugend zur jedesmaligen wirklichen Theilnahme an der politischen Freyheit gehören (. . .)“, zog daraus aber nicht die Folgerung, die Einsichts- und Tugendlosen der politischen Freiheit zu berauben, sondern regte an und forderte, es „soll sich jeder durch Fleiß und Uebung vorbereiten, ein Staatsamt verwalten zu können“ 885. Welche Indizien konkret auf vorhandene politische Mündigkeit schließen lassen, ließ er weitgehend offen – gänzlich offen indes nicht – ein bestimmtes Alter sei Voraussetzung, wobei er keine genaue Grenze bestimmen wollte.886 Als nicht so eindeutig stellt sich der Befund in Bezug auf Johann Heinrich Gottlob von Justi887

nämlich die reine Staatslehre, oder die Staats-Wissenschaft enthält, 1804, S. 321; siehe zu Behrs Vita knapp Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts II (Fn. 692), S. 164 f. 883 F. Schlegel, Versuch über den Begriff des Republikanismus veranlaßt durch die Kantische Schrift zum ewigen Frieden. (1796), in: E. Behler (Hrsg.), Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe, Bd. 7, 1966, S. 11 (17, Hervorhebungen i. O., A. S.). 884 Siehe J. A. Bergk, Untersuchungen aus dem Natur-, Staats- und Völkerrechte mit einer Kritik der neuesten Konstitution der französischen Republik (1796), ND 1975, S. 94, S. 100. 885 Ebda., S. 48 f. 886 Ebda., S. 82; hierzu Klippel, Politische Freiheit (Fn. 699), S. 152; Böhme, Rechte (Fn. 253), S. 57 f. mit dem wichtigen Hinweis, daß Schlegel und Bergk die Verknüpfung von (Grund-)Eigentum oder Besitz mit politischen Beteiligungsrechten zwar kategorisch ablehnen, trotzdem aber ein Kriterium, nämlich das der erforderlichen Mündigkeit, für sich beanspruchen. 887 Zu dessen Leben siehe exemplarisch: F. Frensdorff, Über das Leben und die Schriften des Nationalökonomen J. H. G. von Justi, in: Nachrichten von der Königlichen Gesellschaft der Wissenschaften zu Göttingen, Heft 4 (1903), S. 355 (503); U. Wilhelm, Der deutsche Frühliberalismus. Von den Anfängen bis 1789, 1995, S. 119 ff.; H. Dreitzel, Justis Beitrag zur Politisierung der deutschen Aufklärung, in: H. E. Bödeker/ U. Herrmann (Hrsg.), Aufklärung als Politisierung – Politisierung der Aufklärung, 1987, S. 158 ff.

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(1717–1771) und die Frage dar, ob dieser sich nicht noch früher, nämlich bereits 1795, für ein allgemeines Stimmrecht stark gemacht hatte. Justi, ein Mann, der sich ausgiebig mit Rechtswissenschaft und Staatsökonomie beschäftigte, ihre Grundlagen selbst an junge angehende Juristen in seinen Vorlesungen in Göttingen und Wien weitergegeben hatte, forderte schon 1759 die „freye Wahl“ in Städten und Bezirken: „Da ein jeder vernünftiger Mensch, der Freyheit und Erkenntniß hat, sich selbst regieren soll; so muß auch ein freyes und gesittetes Volk sich selbst regieren, in so weit es darzu fähig ist. (. . .) Allein, weil in einem großen und mittelmäßigen Staate das gesammte Volk ohne Unordnung und Versäumniß sich nicht selbst versammlen kann, auch die geringste Klasse des Volks nicht die, zur wahren Wohlfahrt des Staats nöthige Erkenntniß und Einsicht hat; so ist es natürlich, daß es die gesetzgebende Macht durch seine Representanten ausübet. Diese Representanten muß eine jede Stadt und Bezirk des platten Landes durch eine freye Wahl ernennen; und hierzu ist das Volk gar wohl fähig; denn auch die geringste Sorte des Volks ist vermögend, die Geschicklichkeit und Verdienste einzusehen.“ 888 Dennoch kann man von Justi nur mit großen Einschränkungen als Fürsprecher des allgemeinen und gleichen Aktivwahlrechts bemühen, denn nur zwölf Jahre später schlägt er ganz andere Töne an, wenn es bei ihm nunmehr heißt: „Der übrige arme und geringe Theil des Volkes muß alsdenn erachtet werden, als wenn er weder Verstand noch Willen hätte, an denen Angelegenheiten der Nation Theil zu nehmen; und in der That hat er auch weder eines noch das andere a). Denn ob er zwar wirklich einen Willen darzu haben kann; so ist das kein Wille, der auf das Beste der Republik, sondern der nur auf seinen Vortheil gehet; weil er nur deshalb eine Stimme zu haben wünschet, um sie zu verkaufen, nicht aber, um der Republik zu rathen, deren Interesse, da er kein Vermögen hat, mit dem seinigen wenig Zusammenhang hat.“ 889 Zumindest beim „späteren“ von Justi ist von der Forderung des allgemeinen und gleichen aktiven Wahlrechts nichts mehr übrig – ganz im Gegenteil: er schließt sich dem Gros der Befürworter eines Zensus wegen des angeblich mangelnden politischen Erkenntnisvermögens der nicht-vermögenden Bevölkerungsschichten an. Immerhin wurden kritische Rufe nach Legitimierung der bestehenden ständischen Ordnung immer lauter, so daß einige Staatsdenker in „gedanklicher Vorwegnahme des Zensuswahlsystems des 19. Jahrhunderts“ 890 schon jetzt Vorschläge unterbreiteten, politische Partizipationsrechte nicht länger von der Stan888 J. H. G. v. Justi, Der Grundriß einer Guten Regierung: in Fünf Büchern verfasset, 1759, § 141 (S. 159). Siehe hierzu Stollberg-Rilinger, Vormünder (Fn. 241), S. 207 ff.; Unruh, „Schule der Rechts-Staats-Lehrer“ (Fn. 750), S. 257 und knapp Würtenberger, § 2 (Fn. 172), Rn. 44 m. Fn. 126. 889 Siehe J. H. G. v. Justi, Des Herrn von Justi Natur und Wesen der Staaten als die Quelle aller Regierungswissenschaften und Gesezze mit Anmerkungen herausgegeben von H. G. Scheidemantel, 1771, § 81 (S. 185 f.); dazu Stollberg-Rilinger, Vormünder (Fn. 241), S. 208 m. Fn. 81. 890 Würtenberger, § 2 (Fn. 172), Rn. 44.

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deszugehörigkeit, sondern ausschließlich von Eigentum oder Besitz abhängig zu machen891. Sie waren in Sorge vor der Ausbreitung eines allgemeinen und gleichen Wahlrechtes. a) Immanuel Kant als Urvater der Idee eines Rückschlusses vom Eigentum auf persönliche Selbständigkeit Auffällig viele der Autoren greifen in diesem Kontext auf den Argumentationsstrang Immanuel Kants (1724–1804) zurück892, der ja, wie eingangs bereits knapp erwähnt893, zur Voraussetzung für das Recht der Stimmgebung „außer der natürlichen (daß es kein Kind, kein Weib sei) die einzige: daß er sein eigener Herr (sui iuris) sei, mithin irgend ein Eigenthum habe (. . .), welches ihn ernährt (. . .)“ 894 erhebt, denn die „bürgerliche Selbständigkeit qualifiziert den einzelnen vom passiven zum aktiven Staatsbürger“ 895. Bürgerliche Selbständigkeit ist bei Kant nicht nur „Ausdruck wirtschaftlicher Selbständigkeit“, sondern – noch tiefgehender – „Ausdruck persönlicher Freiheit und Unabhängigkeit vom Willen anderer“ 896. Er wird daher nicht müde zu betonen, daß erst die Dispositionsbe891 Doch schon sehr konkrete Züge in diese Richtung weist z. B. folgender Verfassungsentwurf auf: C. Sommer, Konstitution für die Stadt Köln. Den stadtkölnischen Bürgern zur Prüfung vorgelegt, 1797 (auf S. 1, Art. 1 wird die Eigenschaft des Bürgers und mithin das Wahlrecht neben anderen Voraussetzungen wie einem polizeilichen Führungszeugnis von der Zahlung von sechs Reichstalern in die Bürgerkasse der Gemeinde abhängig gemacht). Siehe hierzu Dippel, Verfassungsdiskurs (Fn. 769), S. 22 f. 892 J. H. Tieftrunk, Johann Heinrich Tieftrunks Professors zu Halle Philosophische Untersuchungen über das Privat- und öffentliche Recht zur Erläuterung und Beurtheilung der metaphysischen Anfangsgründe der Rechtslehre vom Herrn Prof. Imm. Kant, Bd. II, 1798, S. 237 ff.; L. Wittmayer, Unser Reichsrathswahlrecht und die Taaffe’sche Wahlvorlage. Eine politische Abhandlung, 1901, S. 18 Anm. 2; Smend, Maßstäbe (Fn. 1), S. 20; Böhme, Rechte (Fn. 253), S. 52 ff.; Klippel, Politische Freiheit (Fn. 699), S. 152; Würtenberger, Geschichte (Fn. 492), S. 544 f. 893 Siehe in und um Fn. 11. 894 I. Kant, Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis (1793), Zweiter Abschnitt (zitiert nach der Akademie-Ausgabe VIII [Fn. 11], S. 295, Hervorhebungen i. O., A. S.); Bezugnahme darauf beispielsweise bei I. Fetscher, Immanuel Kants bürgerlicher Reformismus, in: K. v. Beyme (Hrsg.), Theory and politics. Theorie und Politik. Festschrift zum 70. Geburtstag für Carl Joachim Friedrich, 1971, S. 70 (79). 895 Böhme, Rechte (Fn. 253), S. 52; siehe auch Schlumbohm, Freiheit (Fn. 286), S. 143, 149; O. Bauer, Der deutsche Staatsgedanke, 1926, S. 10. Die Gesamtheit des liberalen Bürgertums dieser Zeit sprach den Unselbständigen indes die unabhängige politische Urteilsfähigkeit ab, dazu z. B. der Befund von G. Ritter, Wahlgeschichtliches Arbeitsbuch. Materialien zur Statistik des Kaiserreichs 1871–1918, unter Mitarbeit von M. Niehuss, 1980, S. 11. Eine Anerkennung des Wahlrechts der Unselbständigen erfolgte dann erst 1849 und ist letztlich Ausdruck des „dynamischen Charakter[s]“ der Forderung der Allgemeinheit der Wahl, siehe knapp Meyer, § 46 (Fn. 43), Rn. 2 mit Fn. 4. 896 Böhme, Rechte (Fn. 253), S. 53. Ähnlich wie Kant W. T. Krug, Grundlinien zu einer allgemeinen deutschen Republik, Altona/Wien 1797, der allerdings dafür sensibilisiert, Eigentum garantiere nicht zwangsläufig die erforderliche Freiheit und Selbstän-

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fugnis über das eigene Eigentum den Menschen zum Staatsbürger mache und begreift Eigentum als Indikator für Selbständigkeit und eigenverantwortliches Handeln, mithin als Ausdruck auch der politischen Mündigkeit, wenn er folgert: „Jeder wird als moglicher Staatsbürger Gebohren; nur, damit er es werde, muß er ein Vermögen haben, es sey in Verdiensten oder in Sachen.“ 897 Da Kant sich der weitgehenden Konturenlosigkeit des Begriffs der Selbständigkeit bewußt ist und um die Schwierigkeit mit ihm zu operieren weiß, liefert er eine ganze Reihe von alltäglichen Beispielen, die bei der Abgrenzung des Selbständigen vom Unselbständigen bzw. des Stimmberechtigten vom Nicht-Stimmberechtigten Orientierung bieten sollen: „Nur die Fähigkeit der Stimmgebung macht die Qualification zum Staatsbürger aus; jene aber setzt die Selbstständigkeit dessen im Volk voraus (. . .). Folgende Beispiele können dazu dienen, diese Schwierigkeit [die der Unterscheidung zwischen aktiven und passiven Bürgern, A. S.] zu heben: Der Geselle bei einem Kaufmann oder bei einem Handwerker; der Dienstbote (nicht der im Dienste des Staats steht); der Unmündige (. . .); alles Frauenzimmer und überhaupt jedermann, der nicht nach eigenem Betrieb, sondern nach der Verfügung Anderer (außer der des Staats) genöthigt ist, seine Existenz (Nahrung und Schutz) zu erhalten, entbehrt der bürgerlichen Persönlichkeit (. . .). – Der Holzhacker (. . .), der Schmied in Indien (. . .); der Hauslehrer in Vergleichung mit dem Schulmann, der Zinsbauer in Vergleichung mit dem Pächter u. dergl. sind blos Handlanger des gemeinen Wesens, weil sie von anderen Individuen befehligt oder beschützt werden müssen, mithin keine bürgerliche Selbst-

digkeit: „Bürger ist jeder, der irgend ein Interesse an der Wahl haben kann. Dieses erfordert eine nähere Bestimmung, wozu hier der Ort nicht seyn kann. Man hat nur darauf zu sehen, daß nicht bloß ein gewisses Eigenthum die Freiheit der Wahl begründe. Denn Talent und Tugend mit Armuth vereinigt, darf davon nicht ausgeschlossen werden. Der Pöbel aber muß davon entfernt bleiben“ (ebd., S. 31 *). Der Kerngedanke der persönlichen Freiheit als Voraussetzung für politische Rechte findet sich ansatzweise in der Tat schon bei den frühen Naturrechtlern, wird aber in Bezug auf das Wahlrecht nicht konkret ausbuchstabiert, sondern eher zu einer abstrakten Forderung erhoben, siehe beispielsweise Wolff, Grundsätze (Fn. 866), § 977 (S. 699): „Da alle, welche sich in einen Staat zusammen begeben, frey sind (. . .)“. Schon bei ihnen wie auch bei Kant gilt: „Freiheit als Voraussetzung politischer Teilhabemöglichkeit ist mehr als ein schematischer Begriff von persönlicher Freiheit im Sinne einer Willensfreiheit, sie ist zugleich Ausdruck sozialer und wirtschaftlicher Herrschaft“ (siehe Böhme, Rechte [Fn. 253], S. 47). Anders als die frühen Naturrechtler verharrt Kant nicht bei der abstrakten Möglichkeit politischer Mitbestimmungsrechte, sondern wagt den Schritt in Richtung tatsächlich-konkreter politischer Beteiligung (siehe Schröder, Möser [Fn. 241], S. 26). 897 I. Kant, Reflexionen zur Anthropologie (1798) Nr. 1235 (zitiert nach der Akademie-Ausgabe, Bd. XV, 1913, S. 544); siehe zur Abhängigkeit politischer Partizipationsrechte von wirtschaftlicher Selbständigkeit und persönlicher Freiheit bei Kant Böhme, Rechte (Fn. 253), S. 52 ff.; knapp auch Würtenberger, § 2 (Fn. 172), Rn. 43 (S. 49 ff.); Schröder, Möser als Jurist (Fn. 241), S. 32; Kühnl, Formen (Fn. 509), S. 32; Unruh, „Schule der Rechts-Staats-Lehrer“ (Fn. 750), S. 265 f.; Böckenförde, Einheit (Fn. 259), S. 32 m. Fn. 51; C. Ritter, Immanuel Kant, in: M. Stolleis (Hrsg.), Staatsdenker im 17. und 18. Jahrhundert. Reichspublizistik, Politik, Naturrecht, 2. Aufl. 1987, S. 332 (340).

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ständigkeit besitzen.“ 898 Dabei nimmt Kant eine äußerst präzise Differenzierung nach unselbständigen und selbständigen Berufsgruppen vor. Wer als selbständiger Handwerker für einen anderen eine Ware herstellt, bleibt im Gegensatz zum abhängig Beschäftigten (dem „Hausbedienten“ oder „Ladendiener“) sein „eigener Herr“ und mithin Staatsbürger, denn er „verkehrt (. . .) sein Eigenthum mit dem Anderen (opus), der erstere [der abhängige Beschäftigte, A. S.] den Gebrauch seiner Kräfte den er einem Anderen bewilligt (operam)“ 899. Gleichheit in Bezug auf politische Partizipationsrechte ist Kant fremd, denn während alle Menschen gleichermaßen als passive Teile des Staates zu betrachten seien, könne hieraus keinesfalls „das Recht, auch als active Glieder den Staat selbst zu behandeln, zu organisiren oder zu Einführung gewisser Gesetze mitzuwirken“ abgeleitet werden, sondern lediglich der Anspruch „daß, welcherlei Art die positiven Gesetze, wozu sie stimmen, auch sein möchten, sie doch den natürlichen der Freiheit und der dieser angemessenen Gleichheit Aller im Volk, sich nämlich aus diesem passiven Zustande zu dem activen empor arbeiten zu können, nicht zuwider sein müssen“ 900. b) Renaissance des Kantischen Ansatzes einer Verknüpfung des Stimmrechts mit Selbständigkeitskriterien durch Buhle, Heydenreich und Hugo In Anlehnung an Kant finden wir sowohl bei Johann Gottlieb Buhle (1763– 1821) als auch bei Karl Heinrich Heydenreich (1764–1801)901 eine Art Beitragsgedanken als Ausdruck der Selbständigkeit des Bürgers. Bei Buhle – für den es auf der Hand liegt, daß der Staat Bedingungen für politische Teilhaberechte aufstellen darf902 – heißt es, Aktivbürger (vertragschließender Staatsbürger) sei nur derjenige, der persönlich frei, selbstständig, der Abkömmling eines anderen Staatsbürgers sei und zudem die „Möglichkeit zum Staatszwecke aus eigenen Kräften und Gütern beyzutragen; (. . .)“ 903 habe. Konkret bedeutet dies, daß „Kinder, die unter der väterlichen Gewalt stehen, Knechte, Arme, die auf öffentliche Kosten erhalten werden müssen, Fremde, nicht für Staatsbürger gelten“ 904. 898 I. Kant, Die Metaphysik der Sitten (1797), Zweiter Theil, Erster Abschnitt, § 46 (zitiert nach der Akademie-Ausgabe, Bd. VI, 1907, S. 314 f.). 899 I. Kant, Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis (1793), Zweiter Abschnitt (zitiert nach der Akademie-Ausgabe VIII [Fn. 11], Anmerkung *, S. 295, Hervorhebungen i. O., A. S.). 900 I. Kant, Die Metaphysik der Sitten (1797), Zweiter Theil, Erster Abschnitt, § 46 (zitiert nach der Akademie-Ausgabe VI [Fn. 898], S. 315, Hervorhebung i. O., A. S.). 901 Zu den Parallelen zwischen Kant, Buhle und Heydenreich siehe Böhme, Rechte (Fn. 253), S. 54 ff. 902 J. G. Buhle, Lehrbuch des Naturrechts, 1798, § 353 (S. 229 f.). 903 Buhle, Lehrbuch (Fn. 902), § 353 (S. 228); knapper Hinweis zu Buhle bei Würtenberger, § 2 (Fn. 172), Rn. 43 m. Fn. 122; Böhme, Rechte (Fn. 253), S. 55. 904 Buhle, Lehrbuch (Fn. 902), § 353 (S. 228 f.).

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Um staatsbürgerliche Rechte ausüben zu dürfen, muß man zwar nicht notwendigerweise Grundeigentümer sein905, das Grundeigentum – man beachte die Parallele zu Justus Mösers Aktientheorie und der Lehre der Physiokraten – soll aber in jedem Fall in den Status eines Aktivbürgers erheben: „Ein Staat kann freylich nicht ohne Grundeigenthümer bestehn. Das Eigenthum am Boden giebt daher allemal ein Recht auf active Theilnahme am Staatsvertrage. Auch sind die Grundeigenthümer ganz vorzüglich durch ihr Interesse an die Existenz des Staats gebunden.“ 906 Bewegliches Vermögen vermag in Buhles Augen keine nur annähernd so enge Bindung zum Staat und dessen Wohlstand herzustellen.907 Bei Heydenreich zählen zu den Staatsbürgern nur solche „welche in ihren Gütern oder Kräften Mittel für den Zweck des Staates besitzen (. . .)“ 908. Als entscheidendes Kriterium begegnet hier der „Nutzen des einzelnen für den Staat“ 909. Der Beitragsgedanke wird in aller Deutlichkeit herausgearbeitet, wenn es heißt, daß „derienige, welcher auch nicht einmal verhältnißmäßige Kräfte darbiethen kann“, zu „dieser Theilnahme [der am Vereinigungsvertrag und mithin am staatlichen Willensbildungsprozess, A. S.] unfähig“ 910 sei. Er weist des Weiteren explizit darauf hin, daß das Grundeigentum keinerlei Vorrechte einräume.911 Dem Beitragsgedanken folgend, hält er ständische Unterschiede dann für geboten, wenn diese „auf der Verschiedenheit der Vermögen der Bürger für den Staat zu leisten“ 912 beruhen. In beiden Fällen werden Eigentum, Vermögen oder Grundbesitz freilich weder um ihrer selbst Willen zum Kriterium politischer Partizipationsmöglichkeiten erhoben noch als Ausdruck von Intelligenz und geistiger Reife interpretiert; es geht vielmehr ausschließlich darum, daß sie ihre Inhaber in die Position versetzen, etwas für den Staat leisten zu können.913 905

Ebda., § 353 (S. 229). Ebda., § 353 (S. 229). 907 Böhme, Rechte (Fn. 253), S. 55. 908 K. H. Heydenreich, System des Naturrechts nach kritischen Principien, Zweyter Theil, 1795, S. 219. 909 Böhme, Rechte (Fn. 253), S. 56. 910 Heydenreich, System (Fn. 908), S. 219; siehe hierzu Böhme, Rechte (Fn. 253), S. 56. 911 Heydenreich, System (Fn. 908), S. 220: „Wenn unter diesen Theilnehmern Eigenthümer von Grund und Boden sind, so haben sie, als solche, von den übrigen Mitgliedern, die es nicht sind, keine Vorrechte, (. . .)“. 912 Heydenreich, System (Fn. 908), S. 223. 913 Aus eben diesem Grunde ist die Lehre Johann Gottlieb Fichtes (1762–1814) auch mit den beiden aufgezeigten Ansichten nicht vergleichbar und kann im Rahmen dieser Abhandlung unberücksichtigt bleiben. Vordergründig könnte man zwar Ähnlichkeiten vermuten, da Fichte den Staatsbürgervertrag an das Eigentumskriterium knüpft (siehe J. G. Fichte, Grundlage des Naturrechts nach Principien der Wissenschaftslehre, 1796, S. 201); er stellt jedoch keinerlei Konnexität zwischen Eigentum und politischen Partizipationsrechten her, d.h. Eigentum wird weder als Indiz für politische Mündigkeit noch als Garant staatlicher Prosperität begriffen, sondern ausschließlich als individuelle Rechtsposition, siehe hierzu klarstellend z. B. Böhme, Rechte (Fn. 253), S. 56 f. 906

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Beim Juristen Gustav Hugo (1764–1844) zeichnet sich aus Gründen wirtschaftlicher Unabhängigkeit und Unbestechlichkeit eine deutliche Tendenz zur Privilegierung des Adels, insbesondere hinsichtlich des passiven Wahlrechts, ab: „Wer reich ist, kann von Auswärtigen und Einheimischen nicht so leicht bestochen werden, und er kann es eher wagen, seine Stelle zu verlieren, wenn er auch ohne sie zu leben hat (. . .). Auch erspart man an Besoldungen, wenn man Solche nimmt, die schon Vermögen haben. Weil aber Die, welche erst reich geworden sind, wenigstens in vielen Ständen, sich dadurch eben kein besonderes Zutrauen erwerben, weil es ferner auch gut ist, daß keine ganz armen Verwandten da sind, so kommt man, wo ein Mahl PrivatEigenthum Statt findet, sehr natürlich auf den Vorzug des Adels, auch wohl des alten Adels zurück.“ 914 2. Das Aufweichen des starren Grundeigentumserfordernisses durch die deutsche Gefolgschaft der französischen Physiokraten

Als für die vorliegende Abhandlung von gesteigertem Interesse erweisen sich neben Justus Möser, der wegen seiner über die Aktientheorie vermittelten Nähe zu Sieyes bereits im Kapitel zu Frankreich behandelt worden ist915, aber zeitgeschichtlich zweifellos ebenfalls hier einzureihen wäre, Johann August Schlettwein (1731–1802)916, Theodor von Schmalz (1760–1831)917, Johann Friedrich von Pfeiffer (1718–1787), Johann Friedrich von Ungern-Sternberg (1763–1825)918, Johann Georg Schlosser (1739–1799), August Ludwig von Schlözer (1735– 1809)919 und August Wilhelm Rehberg (1757–1836)920. Schlettwein und von 914 G. Hugo, Lehrbuch des Naturrechts (1819), eingeleitet von Th. Viehweg, 1971, Anhang, Öffentliches Recht, I. StaatsRecht, § 387 15) (S. 528 f.). 915 Siehe hierzu ausführlich S. 76 ff. 916 Zu dessen Leben und Wirken siehe weiterführend R. Zuckerkandl, Art. Schlettwein, in: Allgemeine deutsche Biographie, Bd. 31, 1890, S. 467 ff.; A. H. Specht, Das Leben und die volkswirtschaftlichen Theorien Johann August Schlettweins, Diss. phil. 1929, S. 7 ff.; K. Braunreuther, Die Bedeutung der physiokratischen Bewegung in Deutschland in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Ein geschichtlich-politökonomischer Beitrag zur „Sturm-und-Drang“-Zeit, 1954, S. 70 ff.; F. Valjavec, Die Entstehung der politischen Strömungen in Deutschland 1770–1815, 1951, S. 60 ff. 917 Dazu E. Landsberg, Art. Schmalz, in: Allgemeine deutsche Biographie, Bd. 31, 1890, S. 624; B. Gerecke, Theodor Schmalz und seine Stellung in der Geschichte der Nationalökonomie. Ein Beitrag zur Geschichte der Physiokratie in Deutschland, Diss. phil. Bern 1906; knapp bei Böhme, Rechte (Fn. 253), S. 62 f. 918 Zu von Pfeiffer und von Ungern-Sternberg siehe Würtenberger, Geschichte (Fn. 492), S. 543. 919 Siehe zu dessen Biographie beispielsweise B. Warlich, August Ludwig von Schlözer 1735–1809 zwischen Reform und Revolution. Ein Beitrag zur Pathogenese frühliberalen Staatsdenkens im späten 18. Jahrhundert, 1972; zu dessen gesellschaftspolitischen Vorstellungen Schlumbohm, Freiheit (Fn. 286), S. 137 ff. 920 Stollberg-Rilinger, Vormünder (Fn. 241), S. 281 ff. m.w. N. i. Fn. 186; Schwab, Grundlagen (Fn. 66), S. 178 ff.; knapper Hinweis auf Rehberg bei Böhme, Rechte (Fn. 253), S. 63. Die Genannten stellen als deutsche Anhänger der physiokratischen Lehre aber keineswegs Einzelfälle dar: Auch Friedrich Karl von Fulda (1774–1847)

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Schmalz, die auf den ersten Blick nichts als das Studium der Rechts- und Kameralwissenschaften gemein zu haben scheinen, verbindet doch mehr: die Physiokratie, deren Thesen die französisch-deutsche Grenze passierten und in der Folgezeit in Deutschland rasch die Runde machten.921 Schlettwein gilt als der „Deutsche Hauptphysiokrat“ 922 schlechthin und auch von Schmalz ordnet sich selbst ausdrücklich dieser Strömung zu923. Die in der physiokratischen Tradition Denkenden sahen in den Grundeigentümern überwiegend924 die „Seele der Gez. B. war bekennender Verfechter der physiokratischen Grundanschauungen über Staat, Wirtschaft und Gesellschaft: siehe F. C. Fulda, Grundsätze der ökonomisch-politischen oder Kameralwissenschaften, 1816, S. 98 ff. 921 Als Nachweis hierfür sei nur auf die Geschichtsbetrachtungen vom Steins 1809/ 12, in denen er die Reformen Turgots thematisiert (siehe Ritter, Reformprogramme [Fn. 805], S. 29 f.) oder den Briefwechsel zwischen Du Pont de Nemours, einem der Hauptvertreter der französischen Physiokratie, und dem Markgrafen Karl Friedrich von Baden aus dem Jahre 1773 (siehe K. Obser, Nachträge zu dem Briefwechsel des Markgrafen Karl Friedrich von Baden mit Mirabeau und Du Pont, in: Zeitschrift für die Geschichte des Oberrheins herausgegeben von der Badischen Historischen Kommission, N.F., 24 [1909], S. 126 [138 ff.]; Schlumbohm, Freiheit [Fn. 286], S. 124 m. Fn. 212 u. v. w.N.) verwiesen. Siehe zur Korrespondenz zwischen dem Markgraf und Schlettwein auf der einen, Mirabeau und Du Pont auf der anderen Seite Braunreuther, Bedeutung (Fn. 916), S. 97. Zu den Bedingungen, die die physiokratische Strömung zur damaligen Zeit in Deutschland vorfand, siehe ebd., S. 42 ff. 922 Siehe hierzu nur die gleichnamige Dissertation von A. Krebs, J. A. Schlettwein, der ,Deutsche Hauptphysiokrat‘. Ein Beitrag zur Geschichte der Physiokratie in Deutschland, Diss. phil. 1909; Zuckerkandl, Art. Schlettwein (Fn. 916), S. 470; Klippel, Einfluss (Fn. 331), S. 210; Braunreuther, Bedeutung (Fn. 916), S. 74; zur Bezeichnung schon früh G. A. Will, Versuch über die Physiokratie, deren Geschichte, Literatur, Inhalt und Werth: Nebst dem berühmten abrégé des principes de l’economie politique des Marggrafen von Baden, 1782, S. 51. Es war primär Schlettweins Verdienst, die Deutschen mit den physiokratischen Ideen vertraut zu machen (siehe Schlumbohm, Freiheit [Fn. 286], S. 124). 923 Bei T. v. Schmalz, Encyclopädie der Cameralwissenschaften, 2. Aufl. 1819, S. IV heißt es explizit: „Nur fürchte ich, werden weit die Meisten derer, welche Staatswirthschaft interessirt, mich tadeln, daß ich noch immer hartnäckig dem System der Physiocraten anhänge, welches doch sogar und gänzlich widerlegt seyn soll. Noch heftiger würden Tadel und Spott mich treffen, wenn man meinen festen Glauben kennte, daß nach nicht vielen Jahren mehr, gleichwohl dieses System die allgemeine Meinung gewonnen haben wird.“ Hierzu auch beispielsweise Landsberg, Art. Schmalz (Fn. 917), S. 626; Gerecke, Schmalz (Fn. 917), S. 15 f.; J. Schön, Neue Untersuchung der Nationalökonomie und der natürlichen Volkswirthschaftsordnung, 1835, S. 19 f., der von Schmalz zu den besten Schülern Quesnays, dem Haupt der physiokratischen Schule, zählt. Nw. bei Klippel, Einfluss (Fn. 331), S. 224. 924 Auch wenn die meisten Anhänger der physiokratischen Strömung versuchten, den Grundeigentümern durch Privilegierungen im Bereich des Wahlrechts zu der ihnen aus ihrer Warte gebührenden Sonderstellung im Staate zu verhelfen, kann man hieraus wiederum keine für ausnahmslos alle Physiokraten geltende Regel ableiten. Unter ihnen gab es auch solche wie den Staatsrechtler und Ökonomen Jakob Mauvillon (1743– 1794), der das Wahlrecht „nicht mehr an das sozial-exklusive Krtiterium des Eigentums, sondern an den biologisch-universellen Wert des Lebens“ (so Wilhelm, Frühliberalismus [Fn. 887], S. 190) gebunden wissen wollten: „denn auch der ärmste Mann hat ein ihm theures Eigenthum, das ist seine und seiner Frau und Kinder Person. Soll er

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sellschaft“ 925 und wiesen ihnen daher eine Sonderrolle im Staat zu926. So schließen bei von Schmalz ebenso wie bei Möser927 ausschließlich die Grundeigentümer den staatlichen Vereinigungsvertrag928, und staatsbürgerliche Rechte werden konsequenterweise nur den Grundeigentümern zuteil. Lobende Worte findet von Schmalz für die Landstände der preußischen Provinzen, denn diese seien „nicht nach dem Wahne eingerichtet, daß Distrikte nach Kopfzahl repräsentirt werden müßten, und daß tausend Proletarien bestimmen dürften, was auf dem Grunde und Boden von zehn Grundeignern geschehen und eingerichtet werden sollte“ 929. Ähnlich wie Möser rechtfertigt auch von Schmalz die Privilegierung der Grundeigentümer mit dem Prinzip des Gleichlaufs der Rechte und Pflichten im Staat: Auf der Prämisse, daß „die Natur-Producte allein der Reichthum des Staats sind, (. . .)“ aufbauend, stehen alle Nicht-Grundeigentümer im Abhängigkeitsverhältnis zu den Grundeigentümern, da sie „ihren Lohn nur von und durch den Grundeigenthümer empfangen (. . .)“ 930. Dabei geht von Schmalz von einem sehr strengen Begriff des Grundeigentümers aus, der insbesondere die Hauseigentümer nicht erfaßt: „Denn, da die Bürger den Platz ihres Hauses durchaus nicht willkührlich z. B. zu Acker, Teichen u. s. w. brauchen dürfen, (. . .) sondern allein zum Hausbau gebrauchen müssen: ist dann nicht die Gemeinde der Stadt der wahre Grundherr, und der Eigenthümer des Hauses in Absicht des Platzes ein blosser Superficiarius?“ 931 Dies ist letztlich als Ausdruck seiner Grundüberzeugung, daß politische Rechte nicht an Individuen und deren Eigentumsposition, sondern an das Grundeigentum als Sache anknüpfen, zu werten.932 keinen Menschen bey der gesetzgebenden Gewalt haben, der seine Rechte besorgt?“ (J. Mauvillon, J. Mauvillon’s Professors der Kriegsbaukunst am Carolino zu Cassel Sammlung von Aufsätzen über Gegenstände aus der Staatskunst, Staatswirthschaft und neuesten Staaten Geschichte, Erster Theil, 1776, S. 209). 925 Iselin, Versuch (Fn. 359), S. 95 (bei eben jenem allerdings in Bezug auf den Stand der Eigentümer im Allgemeinen). 926 Klippel, Einfluss (Fn. 331), S. 224. Zur Lehre der französischen Physiokraten und der von ihnen geforderten Sonderstellung der Grundeigentümer siehe tiefergehend S. 93 ff. 927 Siehe hierzu S. 76 ff. Wichtig auch der Hinweis bei Böhme, Rechte (Fn. 253), S. 62 in Fn. 27, daß von Schmalz und Möser zwar die Vorstellung einer privilegierten Stellung der Landeigentümer im Staate eine, von Schmalz selbst sich aber in die Tradition der französischen Physiokraten stelle, so daß deren Lehren ihn wohl im Wesentlichen beeinflußten. 928 Siehe T. v. Schmalz, Das natürliche Staatsrecht, 2. Aufl. 1804, § 57 (S. 38); Schröder, Möser als Jurist (Fn. 241), S. 33; Böhme, Rechte (Fn. 253), S. 62. 929 T. v. Schmalz, Ansicht der Ständischen Verfassung der Preußischen Monarchie, 1823, S. 46 f. Siehe in diesem Zusammenhang auch Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts II (Fn. 692), S. 54. 930 Schmalz, Staatsrecht (Fn. 928), § 57 (S. 39); dazu Böhme, Rechte (Fn. 253), S. 62. 931 Schmalz, Staatsrecht (Fn. 928), § 58 (S. 40 f.). 932 Böhme, Rechte (Fn. 253), S. 63. Diese Grundprämisse gilt überdies auch für die Mösersche Theorie, siehe H. U. Scupin, Justus Möser als Westfale und Staatsmann, in: Westfälische Zeitschrift. Zeitschrift für vaterländische Geschichte und Altertumskunde,

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Auch bei Schlettwein, von Pfeiffer, von Ungern-Sternberg und Schlosser müssen die Grundeigentümer zwingend eine privilegierte Stellung im staatlichen Gefüge einnehmen, denn „einzige Quelle der physischen Bedürfnisse für den animalischen Menschen sind die Grundstücke des Erdbodens“ 933. Dabei nutzt Schlettwein – anders als viele seiner Zeitgenossen – die physiokratische Lehre nicht, um eine von Anfang an als gesetzt betrachtete Vorrangstellung der (adeligen) Großgrundbesitzer im Nachhinein zu rechtfertigen, sondern ist gar von der Bildungsfähigkeit der bäuerlichen Unterschicht überzeugt. Von Pfeiffer, wie Schlettwein und von Schmalz ebenfalls Kameralist, besteht darauf, daß eine Repräsentativkörperschaft ausschließlich von Bürgern, die im Besitz von Gütern, allen voran Grundbesitz sind, zu wählen sei.934 Des Weiteren stellen auch von Ungern-Sternberg und Schlosser ausschließlich auf das Erfordernis des Grundeigentums ab935: „Wer hat mehr Recht an der Gesezgebung und Anlegung der Imposten Theil zu nehmen, als der Bauer? Er ist allein ans Land gefesselt, macht allein die Nation!“ 936 August Ludwig von Schlözer, eine Art Universalgelehrter, der u. a. Staatswissenschaften studiert hatte und in seinen Philosophievorlesungen an der Universität Göttingen namhafte Schüler wie vom Stein937 und von Hardenberg durch sein rhetorisches Geschick und seinen politischen Scharfsinn beeindruckte, setzte sich mit der Frage der Zuteilung politischer Partizipationsrechte auseinander. Auch wenn von Schlözer das englische Verfassungssystem mit dem Prädikat des „unerträglichen Aristokratizismus“ 938 versieht, weil es Frauen und Einwohnern, deren Steuerleistung weniger als den Arbeitslohn von drei Tagen betrug, die Teilnahme an Wahlen verweigerte, tritt er selbst bedingungslos für das Zensuswahlrecht ein939. Er will Frauen und Knechten zwar nicht per se wegen eben dieser herausgegeben von dem Verein für Geschichte und Altertumskunde Westfalens durch K. Zuhorn und K. Honselmann, 107 (1957), S. 135 (143 f.). 933 Schlettwein, Rechte (Fn. 872), § 268 (S. 459 f., Hervorhebungen i. O., A. S.); dazu Krebs, Hauptphysiokrat (Fn. 922), S. 69. Daraus ergibt sich in Schlettweins Theorie wiederum die Abhängigkeit der Bevölkerung von den Grundeigentümern, siehe Specht, Leben (Fn. 916), S. 34 ff. 934 J. F. v. Pfeiffer, Grundsätze der Universal-Cameral-Wissenschaft oder deren vier wichtigsten Säulen nämlich der Staats-Regierungskunst, der Policey-Wissenschaft, der allgemeinen Staats-Oekonomie, und der Finanz-Wissenschaft, zu akademischen Vorlesungen und zum Unterricht angehender Staatsbedienten gewidmet, Bd. I, 1783, S. 68 f. 935 J. F. v. Ungern-Sternberg, Blick auf die moralische und politische Welt; Was sie war was sie ist, was sie seyn wird, 1785, S. 209. 936 J. G. Schlosser, Kleine Schriften, Zweyter Theil, Basel 1780, S. 239. Siehe außerdem noch exemplarisch in diesem Sinne I. Iselin, Träume eines Menschenfreundes, Zweyter Theil, 1784, S. 314: „Landeigenthümer ist der eigentliche Bürger des Staates.“ 937 Siehe zu vom Stein ausführlich S. 165 ff. 938 A. L. Schlözer, Allgemeines StatsRecht und StatsVerfassungslere, 1793, S. 158. 939 Warlich, Schlözer (Fn. 919), S. 341. Aus welchem Grunde Böhme, Rechte (Fn. 253), S. 58 von Schlözer nahtlos in die Reihe der Autoren einreiht, die die „vielfach angewandten Kriterien zur Beschränkung des Kreises der politisch Berechtigten“

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Eigenschaften politische Rechte absprechen940, Beteiligungsrechte sollen aber ausschließlich dem gebildeten Besitzbürgertum941 vorbehalten sein. Allein die Vorstellung, daß die unteren Schichten wie die Handwerker sich mit dem „Geist

abgelehnt haben, ist nicht ersichtlich. Ihm einen gar „fortschrittlichere[n] Ansatz gegenüber dem älteren Naturrecht“ attestieren, die „deutliche Absage an den ansonsten feststellbaren Drang zur Beschränkung des Kreises der politisch Berechtigten“ unterschieben zu wollen, stellt sich als gänzlich verfehlt heraus. Nur an entlegener Stelle, versteckt in einer der Fußnoten, erwähnt Böhme indirekt und eher en passant, daß ein Grund für die versuchte Beschränkung des Keises der politisch Berechtigten durch den Ausschluß der ärmeren Bevölkerungsschichten, „wohl die Furcht vor einer durch diesen Personenkreis bewirkten gesellschaftlichen Veränderung“ gewesen sei (siehe ebd., S. 58 m. Fn. 54). Auch, wenn nicht klar wird, welche pauschal als „gesellschaftliche Veränderungen“ umrissene Entwicklungen Böhme konkret vor dem inneren Auge hatte, dürfte sich aus diesem unscheinbaren Hinweis wohl ergeben, daß von Schlözer im Hinblick auf die Zuteilung politischer Partizipationsmöglichkeiten doch bei weitem nicht als so fortschrittlich und liberal einzuordnen ist, wie Böhme es dem Leser versucht glaubhaft zu machen. 940 Böhme, Rechte (Fn. 253), S. 58. Böhme übersieht aber von Schlözers Grundannahme, daß nur gebildete Beitzbürger in den Kreis der politisch Mitwirkungsbefugten aufzunehmen seien. Gebildete und besitzende Frauen dürften in der damaligen Zeit wohl eher die Ausnahme gewesen sein, während wohlhabende Knechte sich jeglicher Vorstellungskraft entziehen. 941 Die in der Literatur diskutierte Frage, ob von Schlözer ein gewisses Bildungsniveau, also eine ideelle Komponente (wie z. B. von Stollberg-Rilinger, Vormünder [Fn. 241], S. 218 vertreten) oder die materielle Komponente des Besitzes für unerläßlich hielt, um von einem politisch mündigen Bürger ausgehen zu können und ihm mithin politische Partizipationsrechte einzuräumen, scheint m. E. wenig zielführend, da es erstens Zitate von Schlözers gibt, die die eine These bestärken und wiederum solche, die eher die andere bestätigen. So heißt es in A. L. Schlözer (Hrsg.), Stats-Anzeigen 16 (1791), S. 76: „Soll ein Volk, zu seinem waren Glücke, bei seiner StatsVerwaltung mitwirken können: so muß es schon auf einem gewissen Grade der Cultur stehen (. . .)“, was eher das Bildungserfordernis und daher die erste These zu untermauern scheint. An anderer Stelle unterstreicht von Schlözer aber wiederum, als Repräsentanten kämen nur Einwohner in Betracht, die den Staat finanziell unterstützten: „Nur noch eine den jetzigen Zeiten angemessenere Repräsentation derjenigen Classen von StatsBürgern, welche sowohl zum Schutz als der Unterhaltung des Stats das meiste beitragen! und alles wird Ein Herz und Eine Seele seyn“, siehe A. L. Schlözer (Hrsg.), Stats-Anzeigen 18 (1793), S. 257. Es scheint zweitens vielmehr so zu sein, daß von Schlözer nicht zwischen der Bevölkerungsgruppe der Gebildeten und der der Vermögenden trennscharf unterscheidet, sondern die beiden Attribute vielmehr für ihn Hand in Hand zu gehen scheinen, was sich wohl letztlich u. a. auch daran festmachen läßt, daß die Zweite Kammer des von ihm vorgesehenen Zweikammersystems sich aus gebildeten und besitzenden Bürgern gleichermaßen zusammensetzt, siehe Warlich, Schlözer (Fn. 919), S. 337. Zum Verhältnis von Bildungs- und Besitzgesellschaft im Allgemeinen siehe auch H. Ehmke, „Staat“ und „Gesellschaft“ als verfassungstheoretisches Problem, in: K. Hesse/ S. Reicke/U. Scheuner (Hrsg.), Staatsverfassung und Kirchenordnung. Festgabe für Rudolf Smend zum 80. Geburtstag am 15. Januar 1962, 1962, S. 23 (39) sowie H. Schroth, Welt- und Staatsideen des deutschen Liberalismus in der Zeit der Einheits- und Freiheitskämpfe 1859–1866. Ein Beitrag zur Soziologie des deutschen politischen Denkens, 1931, S. 13: „So bildeten die ,Gebildeten‘ in ihrer Zeit eine ,Gesellschaft‘ eigener Art, die nicht durch reine Standesherkunft oder nur wirtschaftliche und politische Interessen bestimmt wurde (. . .)“.

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der Gesetze“ befassen, ja womöglich manipuliert von Demagogen über wesentliche staatliche Weichenstellungen mitentscheiden sollen, lässt ihn erschaudern. Dazu heißt es bei ihm: Wer Freiheit und Demokratie gleichsetzt, geht davon aus, daß „die sämtlichen oder doch die meisten Glieder der Demokratie, erleuchtete und patriotische Wesen, sind“. „Sich ein ganzes Volk, d. i. Millionen Menschen, als ein Aggregat von praktischen Philosophen denken, ist wider alle Psychologie und Weltgeschichte.“ 942 Das zensitäre Moment soll daher sicherstellen, daß nur materiell unabhängige, mithin freie Bürger, an politischen Entscheidungsfindungsprozessen partizipieren, so daß im damaligen Konkurrieren von Freiheitsund Gleichheitsforderung die Durchsetzung der Freiheitsforderung für von Schlözer ganz eindeutig im Fokus liegt.943 Die Sorge, die Wähler könnten trotz des beschränkten Wahlmodus wegen ihres niedrigen Bildungsstandes nicht in der Lage sein, sich ein fundiertes Meinungsbild zu verschaffen, treibt ihn schier um, zumal er die Mehrheit der Bevölkerung für eigennützig und einfältig hält: „Immer ist der größere Teil des Volkes unaufgeklärt und eigennützig: und ist dann ein einfältiger oder boshafter Mensch eines vernünftigen Wälens fähig?“ 944 Er bezieht sich im Rahmen seiner Argumentation für das Zensuswahlrecht folglich sowohl auf das Argument der Bestechlichkeit der ärmeren Bevölkerungsschichten als auch schwerpunktmäßig auf die Ansicht, die das bewegliche oder unbewegliche Eigentum als meßbares Kriterium von Vernunft, Bildung und Einsichtsfähigkeit der Bürger interpretiert. Alles in allem reiht sich von Schlözer nahtlos in die Reihe derer ein, die zur Abschaffung ständisch bedingter Privilegien945und zur Durchsetzung der formellen Gleichheit, also der Gleichheit vor dem Gesetz, durchaus bereit sind, sich der Beteiligung aller an der politischen Willensbildung und der Äußerung dieses Willens im Rahmen von Wahlen jedoch verschließen946. Er erweist sich „als typischer Vertreter jenes ,frühliberalen‘ Bürgertums, das politische Einsicht auf das Vorhandensein von Besitz und Bildung stützte“ und begreift politische Partizipation als „Angelegenheit einer Elite“ 947. Von Schlözer hatte sich indes vom strengen Kriterium des Grundbesitzes als Erfordernis für die Stimmberechtigung verabschiedet. Anders als die Physiokraten, bei denen Grundbesitz Verbundenheit mit dem Wohl und Wehe des Staates und ein942 Siehe Brief aus Boston 1757: A. L. Schlözer, August Ludwig Schlözer’s Briefwechsel meist historischen und politischen Inhalts, Bd. II, 1778, S. 203. 943 Warlich, Schlözer (Fn. 919), S. 341. 944 Schlözer, StatsRecht (Fn. 938), S. 128. 945 Ganz verzichten konnte und wollte von Schlözer indes auf den Adelsstand nicht, dieser sollte jedoch nicht um seiner selbst, sondern um das Wohl des Staates willen existieren: „Alle Privilegien, die der GeburtsAdel genießt, setzen (wie bei Mönchen) Dienste voraus, die derselbe der Gesellschaft leistet, oder leisten sollte: ohne das, läßt sich vernünftiger Weise seine Existenz nicht denken“, siehe Schlözer (Hrsg.), Stats-Anzeigen 18 (Fn. 941), S. 354. 946 Warlich, Schlözer (Fn. 919), S. 340 f. 947 Beide Zitate bei Warlich, Schlözer (Fn. 919), S. 342 f.

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zige Quelle staatlicher Prosperität impliziert, lenkt er das Augenmerk auf die politische Mündigkeit948 und Einsichtsfähigkeit der Menschen und stellt daher auf jegliche Form des Eigentums, ganz gleich ob Grundeigentum oder Vermögen, sowie auf den Nachweis von Bildung ab. Konsequenterweise ist er im Ergebnis theoretisch zwar bereit, auch den Bauern und Kleinbürgern das Wahlrecht einzuräumen, aber nur dann, wenn sie die von ihm geforderten Kriterien hinsichtlich Bildung und Vermögen erfüllen.949 Genau wie Möser will Rehberg zwar an der überkommenen Ständeordnung festhalten950, dem Adel soll die besondere Stellung im Staate aber – auch dem Möserschen Vorbild folgend – nicht um seiner selbst Willen zuteil werden, sondern aufgrund seiner Zugehörigkeit zur Gruppe der Grundeigentümer951. Rehberg zieht den Kreis der politisch Teilnahmeberechtigten jedoch weiter als die Physiokraten und zumindest der frühe Möser: Nicht nur Eigentum (in besonderem Maße nach wie vor Grundeigentum)952, sondern auch Einkommen soll politische Partizipationsmöglichkeiten eröffnen953, denn „Einkommen oder Vermögen ist Indiz für ,Selbständigkeit‘ und diese damit Gradmesser politischer Beteiligung“ 954. Was die Höhe des Einkommens bzw. Vermögens anbelangt, ist er aber wohl als eher streng einzustufen. Den Wahlzensus der französischen Verfassung von 1791 schätzt Rehberg jedenfalls als viel zu niedrig ein.955

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Böhme, Rechte (Fn. 253), S. 57 m. Fn. 46. In dieser Tatsache jedoch wie A. Berney, August Ludwig von Schlözers Staatsauffassung, in: Historische Zeitschrift 132 (1925), S. 43 (60) den „revolutionäre[n] Bestandteil der Schlözerschen Forderungen“ erkennen zu wollen, scheint verfehlt, da seine zensitäre Beschränkung des Wahlrechts ja gerade nicht auf die Privilegierung einzelner (geburtsbedingter) Stände, sondern auf die Aussonderung der des Wählens fähigen Bürger gerichtet ist, siehe die zutreffende Kritik an Berney bei Warlich, Schlözer (Fn. 919), S. 343 in Fn. 202 m.w. N., der des Weiteren darauf hinweist, daß zudem wohl nur ein sehr geringer Teil des Bauernstandes diese Kriterien erfüllte. Zum Erfordernis eines Mindestmaßes an Bildung in Bezug auf das passive Wahlrecht der Bauern siehe R. Saage, Vertragsdenken und Utopie. Studien zur politischen Theorie und zur Sozialphilosophie der frühen Neuzeit, 1989, S. 179 ff.; Smend, Maßstäbe (Fn. 1), S. 20 ff. 950 Schlumbohm, Freiheit (Fn. 286), S. 137; Stollberg-Rilinger, Vormünder (Fn. 241), S. 282. 951 A. W. Rehberg, Untersuchungen über die Französische Revolution nebst kritischen Nachrichten von den merkwürdigsten Schriften welche darüber in Frankreich erschienen sind, Erster Theil, 1793, S. 226 f. 952 Rehberg, Untersuchungen I (Fn. 951), S. 234; siehe auch Böhme, Rechte (Fn. 253), S. 63. 953 Rehberg führt zu den Kriterien, an die die Stimmberechtigung geknüpft sein soll, aus: „Sehr selten findet sich in den geringern Ständen einmal einer, der fähig ist eine ausgezeichnete politische Stelle einzunehmen“; ein wohldenkender Gutsbesitzer könne für das Wohl des geringen Mannes eher votieren als dieser selbst (siehe Rehberg, Untersuchungen I [Fn. 951], S. 236). 954 Böhme, Rechte (Fn. 253), S. 63. 955 Rehberg, Untersuchungen I (Fn. 951) S. 135. 949

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Teil 3: Zensuswahlrecht in Deutschland

Wenngleich vordergründig lediglich der Bezugspunkt politischer Rechte vom Grundeigentum auf jegliche Form von beweglichem oder unbeweglichem Eigentum und Einkommen wechselt, vollzieht sich hintergründig eine durchgreifende Wandlung der Argumentationsstruktur, ja gar eine Art Paradigmenwechsel. Während es Möser und den Physiokraten auf die Verbundenheit mit dem Land ankam und sie die Vorrangstellung der Landeigentümer mit deren Beitrag für den Staat zu begründen suchten, tritt bei den zuletzt exemplarisch vorgestellten Denkern von Schlözer und Rehberg an die Stelle des Beitragsgedankens das Erfordernis von Vernunft und politischer Mündigkeit. Zu derem meßbaren Nachweis erklären sie nicht nur Grundeigentum, sondern ebenso jede andere Eigentumsposition wie das Einkommen. Das Einkommen wird zum „Indiz für ,Selbständigkeit‘ und diese damit Gradmesser politischer Beteiligung“ 956; „das Eigentum ist nun zur Fähigkeit in Beziehung gesetzt und somit das entscheidende Problem der Staatsreform getroffen, welches in der Frage besteht, wie man die Bildung einer aus wirklich geeigneten Deputierten zusammengesetzten Volksvertretung sichern kann“ 957. Gemein ist den Vorstellungen – trotz erheblicher Unterschiede innerhalb der Argumentationsmuster –, daß auf ihrer rechtfertigenden Grundlage erhebliche Teile der Bevölkerung vom Wahlrecht ausgeschlossen wurden. Die Stimmen derer, die wie Schlegel, Bergk, Behr und Follen für eine Öffnung des Zugangs zu politischen Partizipationsrechten zugunsten der weniger gebildeten Schichten jenseits der Grundbesitzer oder des Besitzbürgertums plädierten, gingen neben den Befürwortern eines beschränkten Wahlsystems schlicht unter. Kapitel 2

Etablierung des Zensus als konstante Größe des Verfassungslebens im Vormärz A. Vorgeschichte Die als Frühkonstitutionalismus bezeichnete deutsche Verfassungsepoche von 1815 bis 1848 ist oft als eine Art „Übergangsphänomen“ klassifiziert worden, was primär dem Umstand geschuldet ist, daß „der im ,monarchischen Konstitutionalismus‘ unvermeidbar gewordene Dualismus oder gar Antagonismus von Monarch und Parlament zur Auflösung“ 958 drängte. Da allein in der Zeit bis 956

Böhme, Rechte (Fn. 253), S. 63. Schwab, Grundlagen (Fn. 66), S. 180, Hervorhebungen i. O., A. S. 958 Beide Zitate bei J. Weitzel, „. . . nicht hindernd das Fortschreiten zum Bessern nach geprüften Erfahrungen“. Spielräume und Wege der Verfassungsentwicklung im Königreich Bayern 1818–1848, in: J. Eisfeld u. a. (Hrsg.), Naturrecht und Staat in der Neuzeit. Diethelm Klippel zum 70. Geburtstag, 2013, S. 449 (449). Der Begriff des Konstitutionalismus greift verfassungsgeschichtlich deutlich weiter und erfaßt den Zeit957

Kap. 2: Zensus im Vormärz

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1849 etwa zweihundert Verfassungen mit entsprechenden Änderungen zu verzeichnen sind959, die in drei Verfassungswellen erlassen wurden960, ist es unmöglich, alle Verfassungen im Rahmen dieser Abhandlung en detail zu beleuchten. Grundsätzlich knüpften die ab 1815 in den deutschen Staaten erlassenen Verfassungen einerseits an das überkommene landständische System an961, sahen sich andererseits aber auch gezwungen, französische Entwicklungen, insbesondere die Vorgaben der französischen Charte Constitutionnelle von 1814, zumindest ansatzweise aufzugreifen, was sich letztlich in der „Ambivalenz des vormärzlichen Repräsentationsgedankens“ wiederspiegelt: „Die Monarchen standen vor dem Dilemma, einerseits nach dem französischen Vorbild Repräsentativkörperschaften einzurichten, andererseits aber ihren Souveränitäts- und Herrschaftsanspruch nicht aufzugeben.“ 962 Die Verfassungen kamen in der Regel nicht um-

raum zwischen 1815 und 1918 oder anschaulicher „die verfassungsgeschichtliche Epoche nach dem Absolutismus und vor der Einführung eines demokratisch-parlamentarischen Regierungssystems in Deutschland“, siehe zum deutschen Konstitutionalismus instruktiv W. Heun, Die Struktur des deutschen Konstitutionalismus des 19. Jh. im verfassungsgeschichtlichen Vergleich, in: Der Staat 45 (2006), S. 365 (365). Zum Verfassungstypus der konstitutionellen Monarchie auch Dreier (Fn. 13), Art. 20 (Demokratie) Rn. 15. Da auch die Verfassung des Deutschen Reiches von 1871 das System des Konstitutionalismus vorsieht, begegnet die Grundsatzdiskussion um dessen Eigenständigkeit hier erneut, siehe E. R. Huber, HStR3 I, § 4 Rn. 52 ff. 959 Heun, Struktur (Fn. 958), S. 369; siehe zudem weiterführend die Quellensammlung H. Dippel (Hrsg.), Verfassungen der Welt vom späten 18. Jahrhundert bis Mitte des 19. Jahrhunderts. Quellen zur Herausbildung des modernen Konstitutionalismus, Bd. 3/I, 2006; H. Dippel (Hrsg.), Verfassungen der Welt vom späten 18. Jahrhundert bis Mitte des 19. Jahrhunderts. Quellen zur Herausbildung des modernen Konstitutionalismus, Bd. 3/II, 2007; H. Dippel (Hrsg.), Verfassungen der Welt vom späten 18. Jahrhundert bis Mitte des 19. Jahrhunderts. Quellen zur Herausbildung des modernen Konstitutionalismus, Bd. 3/III, 2007; H. Dippel (Hrsg.), Verfassungen der Welt vom späten 18. Jahrhundert bis Mitte des 19. Jahrhunderts. Quellen zur Herausbildung des modernen Konstitutionalismus, Bd. 3/IV, 2007; H. Dippel (Hrsg.), Verfassungen der Welt vom späten 18. Jahrhundert bis Mitte des 19. Jahrhunderts. Quellen zur Herausbildung des modernen Konstitutionalismus, Bd. 3/V, 2008; Dippel (Hrsg.), Verfassungen der Welt VI (Fn. 776) und überblicksartig zur Entwicklung in den Länder W. van Calker, § 5: Die Verfassungsentwicklung in den deutschen Einzelstaaten, in: G. Anschütz/ R. Thoma (Hrsg.), Handbuch des Deutschen Staatsrechts, Bd. I, 1930, S. 49 ff. 960 Dippel, Verfassungsdiskurs (Fn. 769), S. 31; D. Grimm, Deutsche Verfassunsgeschichte 1776–1866. Vom Beginn des modernen Verfassungsstaats bis zur Auflösung des Deutschen Bundes, 1988, S. 71 ff., 161 ff., 184 ff.; Heun, Struktur (Fn. 958), S. 369. 961 Meyer, Wahlrecht (Fn. 20), S. 106, 113. Auch begrifflich schlägt sich dieses Anknüpfen deutlich nieder, siehe Art. 13 der Deutschen Bundesakte vom 8. Juni 1815, in dem es heißt „In allen Bundesstaaten wird eine landständische Verfassung stattfinden.“ Hierzu Vogel/Schultze, Art. Deutschland (Fn. 744), S. 191; Heun, Struktur (Fn. 958), S. 375 m. Fn. 72; knapp K. Braunias, Das parlamentarische Wahlrecht. Ein Handbuch über die Bildung der gesetzgebenden Körperschaften in Europa, Bd. I, 1932, S. 109; P. Gilg, Die Erneuerung des demokratischen Denkens im wilhelminischen Deutschland. Eine ideengeschichtliche Studie zur Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert, 1965, S. 9. 962 Beide Zitate bei Heun, Struktur (Fn. 958), S. 375.

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Teil 3: Zensuswahlrecht in Deutschland

hin, konstitutionelle Elemente wie das Zwei-Kammer-System963 und ein indirektes Wahlverfahren nach französischem Vorbild964 aufzunehmen. Der einzige Staat, der ein direktes Wahlverfahren vorsah, war Schleswig-Holstein.965 Während die Erste Kammer fest in der Hand der privilegierten Stände blieb966, wurden die Mitglieder der Zweiten Kammer durch Wahlen ermittelt967. Wegen des Facettenreichtums der Zensusbestimmungen in den Einzelstaaten 968 wird im Folgenden eine Systematisierung der normativen Vorgaben nach Anknüpfung an den Grundbesitz (1), das Vermögen (2) oder die Steuerleistung (3) vorgenommen.

B. Die zentrale Rolle des Zensus in den deutschen Verfassungen des Vormärz I. Normative Vorgabe: Systematisierung der normativen Vorgaben nach unterschiedlichen Bezugspunkten des Zensuswahlrechts 1. Grundbesitz

a) Waldeck Als aktiv Wahlberechtigte kamen nur Angehörige des Bauernstandes in Betracht, die volljährig, unbescholten, als guter Wirth bekannt waren und ein Akkergut besaßen969; die gleichen Bedingungen galten darüberhinaus für die Wahlmänner des Bauernstandes970. Um als Abgeordneter kandidieren zu dürfen, mußte man in den Städten nebst anderen Erfordernissen unverschuldeten Besitz 963 Vogel/Schultze, Art. Deutschland (Fn. 744), S. 191; Heun, Struktur (Fn. 958), S. 376; Brandt, Repräsentationstheorie (Fn. 131), S. 150; Ritter, Arbeitsbuch (Fn. 895), S. 11. 964 Meyer, Wahlrecht (Fn. 20), S. 113; Vogel/Schultze, Art. Deutschland (Fn. 744), S. 195. 965 Siehe § 34 der Verordnung vom 15. Mai 1834 wegen näherer Regulirung der ständischen Verhältnisse in dem Herzogthum Schleswig: „Für jeden Abgeordneten, welcher der District zur ständischen Versammlung zu entsenden hat, nennt jeder Wähler diejenigen zwei wählbaren Personen (§ 5), welche er zu wählen beabsichtigt und macht sie bei der Abstimmung, welche auf die ganze Zahl der Abgeordneten zu richten ist, möglichst genau kenntlich (. . .)“; Hinweis hierauf bei Meyer, Wahlrecht (Fn. 20), S. 115. Wegen des hohen Zensus blieben dort aber wiederum weite Teile der Bevölkerung vom Wahlrecht ausgeschlossen (so Vogel/Schultze, Art. Deutschland [Fn. 744], S. 195). 966 Heun, Struktur (Fn. 958), S. 376; Vogel/Schultze, Art. Deutschland (Fn. 744), S. 191. 967 Siehe statt vieler Heun, Struktur (Fn. 958), S. 376. 968 Siehe hierzu vertiefend die ausführlichen, jeden Staat einzeln beleuchtenden Übersichten bei Meyer, Wahlrecht (Fn. 20), S. 121 ff.; tabellarisch bei Vogel/Schultze, Art. Deutschland (Fn. 744), S. 192 f. 969 Siehe § 15 der Verfassung von Waldeck vom 19. April 1816, abgedruckt in: Dippel (Hrsg.), Verfassungen der Welt VI (Fn. 776), S. 209. 970 Siehe ebd.

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von liegenden Gütern im Wert von mindestens 500 Reichstalern aufweisen können971 und auf dem Land ein ebenfalls unverschuldetes, im Amts-Distrikt angesiedeltes Gut, welches wenigstens 30 Morgen groß sein mußte, wobei der Landbau nicht zwingend selbst zu betreiben war972. b) Schaumburg-Lippe Die Grundvoraussetzung sowohl für das aktive wie auch das passive Wahlrecht bestand zunächst in der Zugehörigkeit zum Bauernstand. Um aktiv wahlberechtigt zu sein, mußte man zudem Grundeigentum aufweisen; die passive Wahlberechtigung war an das Erfordernis eines Bauerngutes geknüpft.973 c) Lippe Auch hier gehörte dem Kreis der aktiv Wahlberechtigten ausschließlich der Bauernstand an, der Eigentümer eines nicht dem ersten Stande beigerechneten Gutes, einer Stätte oder eines Wohnhauses sein mußte.974 Passiv wahlberechtigt war im Zweiten und Dritten Stande, wer mindestens 30 Jahre alt war, seine Gedanken schriftlich ausdrücken konnte und im Besitz eines Grundeigentums im Wert von 3.000 Reichstalern war, wobei eine Ausnahme von den letzten beiden Bedingungen für Bürgermeister und Syndici in den Städten bestand.975 2. Vermögen/Einkommen

a) Hannover Für die Wählbarkeit als Abgeordneter in den Städten war ein Einkommen von 300 Reichstalern aus städtischem oder ländlichem Grundbesitz oder aus im Lande „radicirten Captalien“ – wenn nicht Erbschaft – im Zeitraum von wenigstens einem Jahr vor der Wahl oder durch ein jährliches Diensteinkommen von 800 Reichstalern, bei Gemeinde-Beamten von 400 Reichstalern oder ein Jahreseinkommen von 1.000 Reichstalern aus Wissenschaft, Kunst und Gewerbe im Zeitraum von drei Jahren vor der Wahl erforderlich. Sonstige Vertreter der Landbezirke mußten Grundbesitzer in der Provinz sein, aus welcher sie gewählt wurden, und aus ihrem ererbten oder wenigstens ein Jahr vor der Wahl erworbenen

971

Siehe § 13 II a), ebd., S. 209. Siehe § 13 II b), ebd., S. 209. 973 Siehe die §§ 7, 10 der Verfassung von Schaumburg-Lippe vom 15. Januar 1816, abgedruckt in: Dippel (Hrsg.), Verfassungen der Welt VI (Fn. 776), S. 114. 974 Siehe § 14 II der Verfassung von Lippe vom 6. Juli 1836, abgedruckt in: Dippel (Hrsg.), Verfassungen der Welt IV (Fn. 959), S. 140. 975 Siehe §18, ebd. 972

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und im Königreich gelegenen Grundvermögen ein jährliches Einkommen von 300 Reichstalern erzielt haben.976 b) Schwarzburg-Sondershausen Das aktive Wahlrecht ebenso wie die Wählbarkeit als Wahlmann waren unter anderem an den Besitz des Bürger- oder Nachbarrechtes und in der Klasse der Ritter- und Freigüter des Weiteren an den Besitz eines grundsteuerfreien Ritteroder Freigutes, das mindestens vier Hufe groß sein mußte, geknüpft.977 Die Wählbarkeit als Abgeordneter setzte hingegen in der Klasse der Ritter- und Freigutsbesitzer voraus, daß diese sich wenigstens vier Monate im Inland aufhielten, ein Jahreseinkommen von 300 Reichstalern in den Städten, auf dem Land ein Vermögen von 2.000 Reichstalern, das in Haus- oder Ackerform bestehen mußte; in der Klasse der Gelehrten ein jährliches Einkommen von 300 Reichstalern und in der Klasse des Handelsstandes von 600 Reichstalern voraus.978 3. Steuerleistung

a) Württemberg In Bezug auf das aktive Wahlrecht bestand das Erfordernis des Bürgerrechts in der Gemeinde und der Erbringung einer Steuerleistung.979 Es galten zwar keine besonderen Zensusbestimmungen bezüglich der Wählbarkeit, die Einflußnahmemöglichkeit der vermögenden Bevölkerungsschichten war aber dadurch gewährleistet, daß zwei Drittel der Wahlmänner einer Gemeinde aus den Höchstbesteuer-

976 Siehe die §§ 89, 90 der Verfassung von Hannover vom 6. August 1840, abgedruckt in: Dippel (Hrsg.), Verfassungen der Welt III (Fn. 959), S. 170 f. 977 Siehe die § 112, 119 der Verfassung von Schwarzburg-Sondershausen vom 24. September 1841, abgedruckt in: Dippel (Hrsg.), Verfassungen der Welt VI (Fn. 776), S. 159 f. 978 Siehe §114, ebd., S. 159 f. 979 Siehe die Verfassungsurkunde für das Königreich Württemberg vom 25. September 1819, Staats- und Regierungs-Blatt 1819, S. 634 ff., abgedruckt bei: Huber (Hrsg.), Dokumente 1 (Fn. 8), Nr. 55 (54/55), S. 204: § 137. Die Abgeordneten von den Städten, die eigenes Landstandschaftsrecht haben, und von den Oberamts-Bezirken werden durch die besteuerten Bürger jeder einzelnen Gemeinde gewählt“; Meyer, Wahlsystem (Fn. 7), S. 84 f. Siehe zum dortigen Wahlsystem knapp auch Brandt, Repräsentationstheorie (Fn. 131), S. 151. An dieser Stelle sollte noch darauf hingewiesen werden, daß dieser Verfassung der Gedanke der Gleichheit staatsbürgerlicher Rechte interessanterweise keineswegs per se fremd ist, sondern schon zu diesem frühen Zeitpunkt und sogar in der Verfassung – wenngleich natürlich unter dem Vorbehalt der Einschränkbarkeit – garantiert wird („§ 21 Alle Württemberger haben gleiche staatsbürgerliche Rechte, und eben so sind sie zu gleichen staatsbürgerlichen Pflichten und gleicher Theilnahme an den Staats-Lasten verbunden, so weit nicht die Verfassung eine ausdrückliche Ausnahme enthält; auch haben sie gleichen verfassungsmäßigen Gehorsam zu leisten“).

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ten bestanden und nur ein Drittel der Wahlmänner von den übrigen Steuerzahlern im Wahlakt ermittelt wurde.980 b) Großherzogtum Hessen Das aktive Wahlrecht stand all jenen Staatsbürgern zu, welche in der jeweiligen Gemeinde ansässig waren.981 Die Zweite Kammer setzte sich aus sechs Abgeordneten des Adels, die über ausreichendes Grundeigentum verfügten, zehn Abgeordneten, welche aufgrund ihrer Handelstätigkeit über ein besonderes Wahlrecht verfügten, und weiteren 34 Abgeordneten, die von den übrigen nicht privilegierten Bürgern gewählt wurden, zusammen.982 Die Wahl der Abgeordneten erfolgte in einem dreistufigen Verfahren: Im ersten Durchgang wurden nur die Bevollmächtigten bestimmt, im zweiten die Wahlmänner, die dann im letzten die eigentlichen Abgeordneten wählten. Als Wahlmänner kamen wiederum nur die 60 Höchstbesteuerten im Mindestalter von 30 Jahren des jeweiligen Bezirks in Betracht.983 Wählbar als Abgeordneter war nur, wer jährlich 100 fl.984 direkte Steuern entrichtete oder als Staatsdiener über ein Jahreseinkommen von mindestens 1.000 fl. verfügte. Sollten in einem Bezirk keine 25 Wählbaren zusammenkommen, welche eine Steuer in Höhe von 100 fl. entrichteten, so sollten die nächsthöher Besteuerten des gesamten Landes nachrücken. Adelige Grundeigentümer mußten, um wählbar zu sein, 300 fl. direkte Steuern zahlen.985 c) Sachsen-Meiningen Für das aktive Wahlrecht mußte man als selbständiger Hausvater christlicher Religion direkte Steuern zahlen und sich zudem im vollen Genuß des Staatsbürgerrechts befinden986, während für die Wählbarkeit als Wahlmann keinerlei Steuerleistung, sondern nur das Bürger- oder Nachbarrecht, das Staatsbürgerrecht, die Angehörigkeit zur christlichen Religion, Vollendung des 30. Lebensjahres und Ortsansässigkeit gefordert wurden987. Um Abgeordneter werden zu 980

Siehe ebd., §§ 139, 140. Siehe Art. 6 der „Verordnung, wie die Wahlen zur Kammer der Abgeordneten erfolgen sollen“ vom 22. März 1820, abgedruckt in: Dippel (Hrsg.), Verfassungen der Welt III (Fn. 959), S. 263. 982 Siehe Art. 53 der Verfassungsurkunde für das Großherzogtum Hessen vom 17. Dezember 1820, Hessisches Regierungsblatt, 1820, S. 535 ff., abgedruckt bei: Huber (Hrsg.), Dokumente 1 (Fn. 8), Nr. 56, S. 227. 983 Siehe ebd., Art. 57 (S. 228). 984 Dies ist wohl die Abkürzung für Gulden, eine Goldmünze im Mittelalter, die teilweise auch Florin genannt wurde. 985 Siehe ebd., Art. 55 (S. 227 f.). 986 Siehe Art. 68 der Verfassung von Sachsen-Meiningen vom 23. August 1829, abgedruckt in: Dippel (Hrsg.), Verfassungen der Welt VI (Fn. 776), S. 33. 987 Siehe Art. 70, ebd., S. 33. 981

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können, mußte man mindestens 25 Jahre alt, im Genuß des Staatsbürgerrechts und Angehöriger der christlichen Religion sein sowie im Stande der Rittergutsbesitzer den Besitz oder Mitbesitz eines landtagsfähigen Ritterguts, in den Städten und auf dem Lande zudem eine Steuerleistung von wenigstens 15 fl. jährlicher direkter Steuer von Grundstücken oder Geweben erbringen.988 4. Mischform Grundbesitz/Vermögen (Sachsen-Weimar)

In Sachsen-Weimar war das Erfordernis für das aktive Wahlrecht das Bürgeroder Nachbarrecht oder ein eigenes Wohnhaus in der jeweiligen Gemeinde.989 Gleiches galt auch für die Wählbarkeit als Wahlmann, der zudem volljährig sein mußte.990 Als Abgeordnete standen nur die Bürger zur Wahl, die in den Städten, außer dem Besitze eines in der Stadt oder Vorstadt liegenden Wohnhauses, über ein unabhängiges Jahreseinkommen (Dienstbezüge und Pensionen nicht eingeschlossen) von wenigstens 500 Reichstalern (in Weimar und Eisenach) oder 300 Reichstalern (in den übrigen Städten) oder in den Landbezirken an Haus und Feldgütern entweder eigentümlich, oder als gesetzlicher Nutznießer des Vermögens seiner Ehefrau über einen Wert von wenigstens 2.000 Reichstalern verfügten.991 5. Mischform Grundbesitz/Steuerleistung

a) Sachsen-Altenburg Das aktive Wahlrecht zur Bestellung der Wahlmänner war in Sachsen-Altenburg, neben allgemeinen Erfordernissen, vom stetigen Wohnrecht in der Stadt oder Vorstadt, in der man einen eigenen Hausstand besaß, in der Stadt von der Entrichtung von städtischen Abgaben oder in der Vorstadt der Zahlung von direkten Steuern abhängig. Auf dem Land war das Eigentum eines bäuerlichen, mit Wohnsitz bebauten Grundstücks oder wenigstens der Besitz eines Wohnhauses erforderlich.992 Als Abgeordneter kandidieren durfte nur, wer in den Städten pro Jahr 3,5 bis 13 Reichstaler an Land-, Handels-, Vieh- oder Grundsteuer, auf dem Land 6,25 bis 25 Reichstaler pro Jahr an Land- und Viehsteuer entrichtete; in den Städten außerdem die Vorsitzenden und Mitglieder der Stadträte sowie die Stadtverordneten.993

988

Siehe Art. 71, ebd., S. 33. Siehe § 19 der Verfassung von Sachsen-Weimar-Eisenach vom 5. Mai 1816, abgedruckt in: Dippel (Hrsg.), Verfassungen der Welt VI (Fn. 776), S. 97. 990 Siehe § 21, ebd., S. 97. 991 Siehe die §§ 26, 27, ebd., S. 97 f. 992 Siehe §§ 190, 191 der Verfassung von Sachsen-Altenburg vom 29. April 1831, abgedruckt in: Dippel (Hrsg.), Verfassungen der Welt V (Fn. 959), S. 221 f. 993 Siehe die §§ 196, 197, ebd., S. 222 f. 989

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b) Schleswig-Holstein Für das aktive Wahlrecht war in Schleswig-Holstein bezüglich der Klöster und größeren Grundeigentümer der Besitz von Gütern, die einem Steuerwert von 50.000 Reichstalern entsprachen, für alle anderen Landbesitzer Grundeigentum im Steuerwert von mindestens 3.200 Reichstalern, für die Grundeigentümer in den Städten der Besitz von Häusern im Brandkassenwert von 1.600 Reichstalern erforderlich. Die Wählbarkeit setzte bei den größeren Gutsbesitzern den Besitz eines den Anforderungen des aktiven Wahlrechts entsprechenden Gutes, bei den kleineren Landbesitzern ein Grundeigentum im Steuerwert von 6.400 Reichstalern und bei den Grundeigentümern in den Städten den Hausbesitz im Brandkassenwert von 3.200 Reichstalern voraus.994 c) Braunschweig Um aktiv wahlberechtigt zu sein, mußte man in Braunschweig landeszugehörig sein und entweder eine direkte Steuerleistung erbringen oder eine Kommunallast mittragen. In den Städten war bei der Wahl der Wahlmänner stimmberechtigt, wer das Bürgerrecht besaß und auf dem Land diejenigen Bürger, die Inhaber oder Nutznießer einer Reihestelle in Flecken und Dörfern oder eines Freisassengutes waren, welches nicht schon der Vertretung eines städtischen Abgeordneten unterlag.995 Als Wahlmänner kamen in den Städten nur die Höchstbesteuerten in Betracht, wobei die direkten Steuern und die Kommunallasten zusammenzurechnen waren; auf dem Lande die Inhaber von Freisassengütern und Reihestellen, welche dem Kontributionskataster gemäß zu den Höchstbesteuerten ihrer Gemeinde gehörten.996 Die Kandidatur als Abgeordneter war in der Ritterschaft den Eigentümern und lebenslänglichen Nutznießern eines landtagsfähigen, in die Rittermatrikel eingetragenen Gutes, in den Städten den stimmführenden Mitgliedern des Magistrats und den höchstbesteuerten Bürgern der Städte, die Handel, Gewerbe oder Ackerbau betrieben, Grundeigentum im Bezirke der Stadt besaßen und dort auch ihren wirklichen Wohnsitz hatten, vorbehalten. Auf dem Land waren nur die höchstbesteuerten Eigentümer oder lebenslänglichen Nutznießer eines Freisassenhofes oder einer Reihestelle wählbar, welche dort ansässig waren und Landwirtschaft als Erwerbszweig betrieben.997

994 Siehe die §§ 13–15 der Verordnung vom 15. Mai 1834 wegen näherer Regulirung der ständischen Verhältnisse in dem Herzogthum Schleswig. 995 Siehe §§ 14, 17 Neue Landschaftsordnung nebst dem Wahlgesetz für das Herzogthum Braunschweig vom 12ten October 1832, 1832, S. 54 f. 996 Siehe §§ 16, 19, ebd., S. 55. 997 Siehe § 76 a, 77 b, 78 c der Verfassung von Braunschweig vom 12. Oktober 1832, abgedruckt in: Dippel (Hrsg.), Verfassungen der Welt II (Fn. 959), S. 254.

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Teil 3: Zensuswahlrecht in Deutschland

d) Nassau Das aktive Wahlrecht stand in Nassau nur den Landeigentümern zu, welche zu jedem Grundsteuer-Simplum einen Beitrag von mindestens 7 Gulden leisteten; die Wählbarkeit bei Land- oder Gutseigentümerstellung, Entrichtung von wenigstens 21 Gulden zu jedem Grundsteuer-Simplum und Vollendung des 25. Lebensjahres.998 6. Mischform Vermögen/Steuerleistung

a) Bayern In Bayern existierten keine Regelungen bezüglich des aktiven Wahlrechts in der Verfassung selbst, da die Urwahlen von Gemeindeorganen übernommen wurden.999 Wählbarkeitsvoraussetzung für Abgeordnete war in den Städten u. a. ein eigenes Grundvermögen oder ein bürgerliches Gewerbe über mindestens drei Jahre und Zahlung einer Häuser- und Rustical-Steuer von 10 Gulden oder Gewerbe-Steuer in Höhe von dreißig bis vierzig Gulden; auf dem Land Eigentum seit drei Jahren und ein Steuersimplum von wenigstens 10 Gulden davon.1000 Die Erfordernisse für Abgeordnete galten auch für die Wahlmänner, die nur aus den Grundbesitzern des Landgerichtes gewählt wurden1001, wobei von den Bevollmächtigten der Landgemeinden nur die Ansässigkeit in der Gemeinde, die Vollendung des 25. Lebensjahres und der Besitz eines Grundvermögens, das im Steuersimplum die Summe von drei Gulden erreichte, gefordert wurde1002. b) Baden Für das aktive Wahlrecht war neben einem Mindestalter von 25 Jahren entweder die Ansässigkeit als Bürger im Wahldistrikt oder die Bekleidung eines öffentlichen Amtes erforderlich.1003 Um passiv wahlberechtigt zu sein, mußte man ein 998 Siehe § 6 des Verfassungsedikts von Nassau vom 1./2. September 1814, abgedruckt in: Dippel (Hrsg.), Verfassungen der Welt V (Fn. 959), S. 12. 999 Die Verfassungsurkunde für das Königreich Bayern vom 26. Mai 1818, Bayerisches Gesetzblatt 1818, S. 101, ist abgedruckt bei: Huber (Hrsg.), Dokumente 1 (Fn. 8), Nr. 53 (Nr. 51), S. 155 ff.; sie verweist in Abschnitt VI. § 10 auf das Edict über die Ständeversammlung vom 26. Mai 1818, Beilage X der Verfassungsurkunde, GBl. 1818, 349 (ebd., S. 165 m. Fn. 28); grundsätzlich auf das Wahlrecht der grundbesitzenden Bürger, die eine direkte Steuerleistung erbrachten, hinweisend Meyer, Wahlsystem (Fn. 7), S. 84 f. Zur Ausgestaltung des bayerischen Wahlrechts gemäß der Verfassung von 1818 siehe auch Brandt, Repräsentationstheorie (Fn. 131), S. 151 f. 1000 Siehe § 8 d) und e) des Edictes über die Stände-Versammlung von 1818, abgedruckt in: Dippel (Hrsg.), Verfassungen der Welt II (Fn. 959), S. 101. 1001 Siehe die §§ 25, 33 des Edictes, ebd., S. 104 f. 1002 Siehe § 29 des Edictes, ebd., S. 105. 1003 Siehe hierzu § 36 der Verfassungsurkunde für das Großherzogtum Baden vom 22. August 1818, Staats- und Regierungsblatt 1818, S. 101 ff., abgedruckt bei: Huber

Kap. 2: Zensus im Vormärz

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Mindestalter von 30 Jahren, Eintragung in das Grund-, Häuser- und Gewerbssteuer-Kataster mit einem Kapital von wenigstens 10.000 Gulden oder jährliche Bezüge aus lebenslänglicher Rente aus einem Stamm- oder Lehnsguts-Besitz oder eine ständige Besoldung in Höhe von 1.500 Gulden und die Zahlung irgendeiner direkten Steuer aus Eigentum vorweisen können.1004 c) Kurhessen Hinsichtlich der Ausübung des aktiven Wahlrechts durch die Wahlmänner bestand zwar für männliche Stadtbewohner lediglich das Erfordernis des Besitzes des Staats- und Orts-Bürgerrechtes und das Kriterium, nicht zur Klasse der Gesellen und Tagelöhner zu gehören, auch nicht in Kost und Lohn eines anderen zu stehen1005, dafür war hingegen in Bezug auf das passive Wahlrecht eine deutliche Schwerpunktsetzung auf der Steuerleistung erkennbar: Die Wahlmänner durften das Staatsbürgerrecht nicht verloren haben und waren aus den höchstbesteuerten Grundbesitzern (einschließlich der Hausbesitzer) des jeweiligen Bezirks zu nehmen.1006 Die Abgeordnetengruppe der Städte mußte zur Hälfte (8 von 16 Abgeordneten) aus Magistratsmitgliedern, Einwohnern, die zum zweiten Mal als Mitglieder der Bürger-Ausschüsse gewählt waren oder Personen, welche ein Vermögen von mindestens 6.000 Reichstalern besaßen oder ein sicheres Jahreseinkommen von 400 Thalern hatten oder pro Monat 1 Thaler 12 Gutegroschen an öffentlichen ständigen Abgaben entrichteten, bestehen. Von der Gruppe der Abgeordneten auf dem Land mußte die Hälfte entweder so viel Grundeigentum besitzen, daß es ihnen wenigstens 2 Reichstaler Grundsteuer im Monat ertrug oder mindestens 5.000 Reichstaler Vermögen haben und zudem die Landwirtschaft als Haupt-Erwerbsquelle aufweisen können. Die andere Hälfte durfte bei beiden

(Hrsg.), Dokumente 1 (Fn. 8), Nr. 54 (52/53), S. 177; zu diesem Erfordernis knapp Meyer, Wahlsystem (Fn. 7), S. 85. Zum Wahlsystem Badens überblicksartig auch Brandt, Repräsentationstheorie (Fn. 131), S. 151 m.w. N. in Fn. 30. Die Badische Verfassung sieht, ebenso wie die des Königreichs Württemberg (siehe hierzu schon in und um Fn. 979) die explizite Gewährleistung gleicher politischer Rechte vor, dies allerdings natürlich mit relativierenden Einschränkungen („§ 7 Die staatsbürgerlichen Rechte der Badener sind gleich in jeder Hinsicht, wo die Verfassung nicht namentlich und ausdrücklich eine Ausnahme begründet“). 1004 Siehe § 37 der Verfassungsurkunde für das Großherzogtum Baden vom 22. August 1818, Staats- und Regierungsblatt 1818, S. 101 ff., abgedruckt bei: Huber (Hrsg.), Dokumente 1 (Fn. 8), Nr. 54 (52/53), S. 177. 1005 Auch die Verfassungsurkunde für das Kurfürstentum Hessen vom 5. Januar 1831, Gesetz- und Verordnungs-Sammlung 1831, S. 1 ff., abgedruckt bei Huber (Hrsg.), Dokumente 1 (Fn. 8), Nr. 58 (Nr. 56), S. 238 ff., verweist in § 72 (ebd., S. 251 m. Fn. 14) hinsichtlich der konkreten Anforderungen an die Ausübung der Wahlrechte an ein Wahlgesetz, genauer das vom 16. Februar 1831, abgedruckt in: Dippel (Hrsg.), Verfassungen der Welt IV (Fn. 959), S. 53 ff. Siehe zu oben genannten normativen Vorgaben § 11 des Wahlgesetzes, ebd., S. 54. 1006 Siehe die §§ 14, 50, 51, 52 eben jenes Wahlgesetzes, ebd., S. 55, 61 f.

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Teil 3: Zensuswahlrecht in Deutschland

Klassen aus allen Personen zusammengesetzt sein, welche die allgemeinen Anforderungen an die Wählbarkeit erfüllten und im Wahlbezirk ansässig waren.1007 d) Sachsen-Coburg Das aktive Wahlrecht war neben den allgemeinen Erfordernissen, wie Innehabung des Staatsbürgerrechts und Vollendung des 25. Lebensjahres, vom Heimatrecht, einer Wohnung und der Enrichtung von direkten Steuern an die Staatskasse oder Anteilnahme an städtischen Gemeindelasten abhängig.1008 Um als Wahlmann oder Abgeordneter tauglich zu sein, mußte man entweder den Besitz eines im Lande gelegenen, schuldfreien Vermögens von 5.000 fl. Rhn.1009 oder ein reines Jahreseinkommen von 400 fl. Rhn. nachweisen oder eidlich versichern können1010. e) Hohenzollern-Sigmaringen Die aktive Wahlberechtigung zur Bestimmung der Wahlmänner war an keine besonderen Qualifikationen, außer die Vollendung des 25. Lebensjahres und die Ansässigkeit als Bürger in der Gemeinde, geknüpft. Stimmfähig (nicht wählbar) waren sogar Witwen und Waisen. Nicht stimmfähig waren insbesondere die schon durch den Steuerbetrag zu Wahlmännern Berufenen, bloße Hintersassen, d.h. Leute auf dem Land, die keine geschlossenen Güter besaßen, sondern nur mit einem Haus, Garten oder einzelnen Feldern dort ansässig waren, und diejenigen, welchen die freie Vermögensverwaltung wegen Verschuldens nicht zustand oder welche wegen Verschuldens dauerhaft oder für die Zeit der Wahl von der Wahl ausgeschlossen waren.1011 Dies galt ebenso für die Wählbarkeit als Wahlmann, wobei nur die Hälfte dieser Gruppe gewählt wurde, die andere Hälfte bestand aus den Höchstbesteuerten.1012 Um das Amt des Abgeordneten bekleiden zu dürfen, mußte man Staatsbürger sein, das 26. Lebensjahr erreicht und sich zur christlichen Religion bekannt haben, mußte sich des Weiteren im freien Besitz seiner Vermögensverwaltung befinden und inländisch den Nachweis entweder eines besteuerten Vermögens oder eines ständigen Diensteinkommens erbringen; 1007 Siehe die §§ 64–66 der Verfassungsurkunde für das Kurfürstentum Hessen vom 5. Januar 1831, Gesetz- und Verordnungs-Sammlung 1831, S. 1 ff., abgedruckt bei Huber (Hrsg.), Dokumente 1 (Fn. 8), Nr. 58 (Nr. 56), S. 247 f. 1008 Siehe die §§ 3, 4 des Gesetzes, die Wahl der Landtagsabgeordneten für das Herzogthum Coburg betreffend, vom 8. Dezember 1846, abgedruckt in: Dippel (Hrsg.), Verfassungen der Welt V (Fn. 959), S. 302 f. 1009 Hier handelt es sich wohl um die Abkürzung für den Rheinischen Gulden. Dieser war im Mittelalter die regionale Goldwährung im Geltungsbereich des Rheinischen Münzvereins. 1010 Siehe § 9 eben jenes Gesetzes von 1846, ebd., S. 303. 1011 Siehe § 89 der Verfassung von Hohenzollern-Sigmaringen vom 11. Juli 1833, abgedruckt in: Dippel (Hrsg.), Verfassungen der Welt IV (Fn. 959), S. 86 f. 1012 Siehe die §§ 86, 89, ebd., S. 86 f.

Kap. 2: Zensus im Vormärz

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man durfte nicht in strafrechtliche Untersuchung verwickelt oder zum Zuchthaus verurteilt sein.1013 7. Alternativität zwischen Grundbesitz/Vermögen/Steuerleistung (Sachsen)

In Sachsen bestanden in den Städten keine besonderen Voraussetzungen in Bezug auf das aktive Wahlrecht; auf dem Land nur das des Eigentums eines mit einem Wohnsitz versehenen, nicht zur Klasse der Rittergüter gehörenden Grundstücks.1014 Für die Wählbarkeit als Wahlmann galt in den Städten das Erfordernis der Ansässigkeit mit Haus und Zahlung von wenigstens 10 Reichstalern Grundsteuer jährlich; auf dem Land das des Besitzes eines Grundstücks und Zahlung von 10 Reichstalern auf diesem lastenden Steuern jährlich.1015 Bezüglich der Wählbarkeit als Abgeordneter in den Städten war die Ansässigkeit seit drei Jahren mit Haus und die jährliche Zahlung von Grundsteuern von 10 Reichstalern oder ein Vermögen von 6.000 Reichstalern oder ein Jahreseinkommen von 400 Reichstalern oder die Entrichtung von Real- oder Personalabgaben in Höhe von 10 bis 30 Reichstalern, abhängig von der Größe der jeweiligen Stadt1016, zur Bedingung erhoben worden; auf dem Land die Zahlung von 30 Reichstalern Grundsteuer pro Jahr und das Betreiben von Landwirtschaft oder einer Fabrik als Hauptgewerbe1017. 8. Resümee der Systematisierung

Die Systematisierung nach verschiedenen zensitären Anknüpfungsmöglichkeiten belegt, daß tatsächlich alle denkbaren Zensusmodelle mal in nur einem, mal in mehreren der deutschen Einzelstaaten des Frühkonstitutionalismus vertreten waren. Die Bandbreite reicht hier von Staaten, die nur Grundbesitz, Vermögen/ Einkommen oder die Steuerleistung zur Voraussetzung des aktiven und passiven Wahlrechts erheben, über Mischformen wie die Kombination der Erfordernisse Grundbesitz/Vermögen, Grundbesitz/Steuerleistung oder Vermögen/Steuerleistung bis zu einer gänzlichen Alternativität von Grundbesitz, Vermögen und Steuerleistung. Während alle Gestaltungsformen grundsätzlich vorkamen, schienen sie dennoch unterschiedlich geschätzt: Eine Alternativität der drei denkbaren Anknüpfungspunkte ließ nur Sachsen zu, und auch die Mischform von Grundbesitz/ Vermögen sah nur das Grundgesetz von Sachsen-Weimar vor. Das Modell, das das Wahlrecht vom Vermögens-/Einkommenserfordernis abhängig macht, konnte 1013

Siehe § 95, ebd., S. 87 f. Siehe § 76 des Sächsischen Wahlgesetzes vom 24. September 1831, abgedruckt bei J. F. Brückner (Hrsg.), Das Königlich Sächsische Wahlgesetz vom 24. September 1831, und die Verordnung, die Ausführung desselben betreffend vom 30. Mai 1836, mit Noten und Zusätzen, 1837, S. 49. 1015 Siehe die §§ 55, 83 des Sächsischen Wahlgesetzes, ebd., S. 39, 54. 1016 Siehe § 56 des Sächsischen Wahlgesetzes, ebd., S. 39 f. 1017 Siehe § 95 des Sächsischen Wahlgesetzes, ebd., S. 61. 1014

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sich immerhin in Hannover und in Schwarzburg-Sondershausen durchsetzen. Interessanterweise erhoben ähnlich viele der deutschen Einzelstaaten den Grundbesitz oder die Steuerleistung oder eine Mischform der beiden zum Maßstab für die Zuteilung des aktiven und passiven Wahlrechts: Waldeck, Schaumburg-Lippe und Lippe ließen einzig den Grundbesitz als taugliches Kriterium für einen Zugang zum Wahlrecht zu; die Steuerleistung war hingegen das ausschlaggebende Kriterium in Württemberg, im Großherzogtum Hessen sowie in Sachsen-Meiningen und eine Mischform der Erfordernisse Grundbesitz/Steuerleistung kannten die Verfassungen von Sachsen-Altenburg, Schleswig-Holstein, Braunschweig und Nassau. Als eine Art zensitäres Favoritenmodell erwies sich indes eine Kombination des Vermögens- und Steuererfordernisses, wie es in gleich fünf der deutschen Einzelstaaten zu finden war, nämlich in Bayern, Baden, Kurhessen, Sachsen-Coburg und Hohenzollern-Sigmaringen. Zusammenfassend ist Folgendes zu konstatieren: Keine der hier exemplarisch begutachteten Verfassungen der deutschen Staaten des Frühkonstitutionalismus verzichtete gänzlich auf das zensitäre Moment, wobei alle aufgezeigten denkbaren Konstellationen vertreten waren. II. Realpolitische Umsetzung und Kritik Die aufgezeigten Wahlrechtsmodelle hatten in den meisten Staaten in der Praxis deutliche Auswirkungen auf das aktive und passive Wahlrecht1018: Wegen der Wahlgesetze für die preußischen Provinzialstände vom 5. Juni 1823 und 2. Juni 1824 durften beispielsweise in den Städten des Kreises Solingen bei der Wahl 1830 von den 7.934 Einwohnern nur 511 (6,4 %), in den Landgemeinden von 42.784 Einwohnern nur 1.542 (3,6 %) wählen, und im Kreis Düsseldorf waren es von 31.596 gar nur 246 (0,7 %).1019 Hinsichtlich des passiven Wahlrechts, für das wegen der ungleich größeren Verantwortung der Abgeordneten regelmäßig noch strengere Anforderungen galten, zeigt sich ein noch augenfälligeres Bild: In den elf Städten des Kreises Solingen waren von den oben bereits erwähnten 7.934 Einwohnern nur 139 Personen (1,75 %) wählbar, und in den Dörfern standen von 42.784 Einwohnern 86 (0,2 %) zur Wahl. In Hessen-Darmstadt z. B. durften 1820 von den 65.000 Einwohnern nur 985 (0,15 %) kandidieren, wobei die Zahl der passiv Wahlberechtigten bis etwa 1848 auf 0,25 % der Bevölkerung anstieg. Als Spitzenreiter in negativer Hinsicht erwies sich Nassau. Wegen des dortigen besonders rigiden Zensus1020 durften 1818 von 301.000 Menschen nur 1018 Abgesehen von den folgenden besonders krassen Beispielen, führten die zensitären Regelungen – so unterschiedlich sie in den Einzelstaaten auch ausfallen mochten – in der Gesamtschau dazu, daß sich in den meisten Staaten weniger als 1 % der Bevölkerung zur Wahl stellen durfte, siehe Ehrle, Volksvertretung (Fn. 321), S. 692. 1019 Vogel/Schultze, Art. Deutschland (Fn. 744), S. 196. 1020 Der für diesen besonders strengen Zensus in Nassau maßgeblich verantwortliche Minister Marschall von Bieberstein hatte dessen Etablierung primär mit dem Lastentragungsgedanken zu rechtfertigen versucht: Die Hauptaufgabe der „Repräsentation des

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105 als Abgeordnete kandidieren (0,035 %), und sogar das aktive Wahlrecht durften nur 1.450 der Einwohner (0,5 %) ausüben1021.

C. (Rechts-)Philosophische/politische Begründung des Zensus Die meisten Verfassunggeber jener Tage schienen den Kriterien Grundbesitz und Steuerleistung hinsichtlich der Auswahl einer tauglichen Wählerschaft mehr zuzutrauen als dem Vermögen oder Einkommen als Maßstab, so daß die erstgenannten Anknüpfungspunkte sich deutlich häufiger in den einschlägigen Verfassungsdokumenten wiederfinden. Dies könnte eventuell ein Indiz dafür sein, daß der Verfassung- bzw. Gesetzgeber dieser Zeit auf die französischen Physiokraten und Möser rekurriert, die den Grundbesitz mit Begründung der Verbundenheit der Grundeigentümer mit dem Land zum alleinigen Kriterium für die Zuteilung des Wahlrechts erheben. Die anderen greifen erneut den Beitragsgedanken auf. Diejenigen, die im Rahmen ihrer Steuerleistung einen größeren Beitrag zum gesamtstaatlichen Wohlstand leisten als andere, sollen auch in gesteigertem Maße an politischen Entscheidungsfindungsprozessen partizipieren dürfen. I. Der unerschütterliche Glaube an den Zensus im Rahmen der innerparlamentarischen Debatten um die Bayerische Verfassung von 1818 Ebenso wie die anderen süddeutschen Staaten und im Gegensatz zu den norddeutschen, in denen die vornapoleonischen Verfassungen entweder beibehalten oder nur marginalen Modifikationen unterzogen wurden1022, erließ Bayern nach dem Wiener Kongreß 1815 am 26. Mai 1818 eine neue Verfassung1023. Die ArLandes“ bestehe in der Steuerbewilligung und Ausgabenkontrolle, so daß daher diejenigen zur Vertretung des Staates herangezogen werden sollten, „denen die Tragung der Staatslasten vorzüglich (. . .)“ oblag, zitiert nach W. Sauer, Nassau unter dem Minister von Marschall, in: Annalen des Vereins für Nassauische Altertumskunde und Geschichtsforschung 22 (1890), S. 79 (84). 1021 Angaben allesamt nach Ehrle, Volksvertretung (Fn. 321), S. 689 ff. 1022 Vogel/Schultze, Art. Deutschland (Fn. 744), S. 191. Erst die zweite Verfassungswelle nach 1830 brachte wesentliche Änderungen für die Staaten nördlich des Mains mit sich, siehe hierzu Brandt, Repräsentationstheorie (Fn. 131), S. 153. 1023 Siehe hierzu E. Weis, Zur Entstehungsgeschichte der bayerischen Verfassung von 1818. Die Debatten in der Verfassungskommission von 1814/15, in: Zeitschrift für Bayerische Landesgeschichte 39 (1976), S. 413 ff. (siehe vor allem zu den Gründen, warum der Erlaß einer neuen Verfassung keinerlei zeitlichen Aufschub duldete, ebd., S. 414 f.); Weitzel, Fortschreiten (Fn. 958); knapp Würtenberger, § 2 (Fn. 172), Rn. 19 f.; Morlok (Fn. 3), Art. 38 Rn. 7; Boldt, Deutsche Verfassungsgeschichte II (Fn. 719), S. 79 f.; zur Verfassung von 1808, die durch diese Ablösung fand und insgesamt zu den Verhältnissen vor Erlaß der Verfassung von 1818 siehe Möckl, Konstitution (Fn. 864), S. 165 f. (hier insbesondere zu den Unterschieden zwischen den Verfassungen von 1808 und 1818).

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beiten der 15-köpfigen Verfassungskommission basierten im Wesentlichen auf einem Reskript des Königs vom 17. September 1814, welches wiederum originär auf einen Bericht seines leitenden Ministers, den Grafen von Montgelas1024 vom 14. September zurückzuführen ist1025. Die programmatischen Vorgaben des Grafen griffen jedoch insbesondere den liberalen Zeitgenossen nicht weit genug, sahen sie doch den Ausschluß der Grundholden1026, der Mehrheit der bayerischen Einwohnerschaft zur damaligen Zeit, vom passiven Wahlrecht mit der Begründung vor, diese würden über ihre Grundherren in ausreichendem Maße repräsentiert1027. Es ist nicht verwunderlich, daß gerade diese Maßgaben in den folgenden Sitzungen der verfassunggebenden Kommission besonders kontrovers diskutiert werden sollten. Unter anderem in der Sitzung vom 5. Dezember 1814 stand das wohl „umstrittenste und brisanteste Thema in den Verhandlungen dieser Verfassungskommission“ 1028 unter dem Oberpunkt „Zusammensetzung der Zweiten Kammer“ auf der Tagesordnung. Der Referentenentwurf des Abgeordneten von Sutner1029 hatte – in Abweichung vom Reskript von Montgelas’ – zunächst vorgesehen, das passive Wahlrecht zumindest den Grundholden zuzuerkennen, denen ein gesetzliches Nutzeigentum an den von ihnen bestellten Gütern zustand1030. Er begründete dieses Entgegenkommen damit, daß das Argument, die Grundholden würden über ihre Grundherren ausreichend repräsentiert, nicht überzeuge.1031 Im Entwurf, den er der Kommission letztlich vorlegte, ruderte er dann jedoch ein großes Stück zurück und schloß das passive Wahlrecht der Grundholden grundsätzlich aus. Geknüpft wurde dieser Ausschluß im Gegenzug an die Forderung, daß eben jenen dann zumindest das aktive Wahlrecht zuteil werden müsse und in der Verfassung die Möglichkeit der Grundholden, ihr Grundstück vom Grundherren abzulösen und so zum Grundherren aufsteigen zu können, zu verankern sei.1032 Zu Beginn der Beratungen schien die Kommission 1024 Siehe zu dessen Person und seiner Einflußnahme auf die bayerische Verfassung von 1808 bereits in und um Fn. 792. 1025 Weis, Entstehungsgeschichte (Fn. 1023), S. 415. 1026 Als sog. Grundholde bezeichnete man in Bayern und dem gesamten süddeutschen Raum all jene Bauern, die ein Gut oder Grundstück zwar eigenverantwortlich bewirtschafteten, jedes Jahr aber eine Abgabe in Form von Geld oder Naturalien an ihren Grundherren zu leisten hatten. Während der Bauer nur Miteigentümer am Grundstück war, stand dem jeweiligen Grundherren das Obereigentum an dem Grundstück zu. Siehe die Erläuterung bei Weis, Entstehungsgeschichte (Fn. 1023), S. 417 in Fn. 13. 1027 Weis, Entstehungsgeschichte (Fn. 1023), S. 417 f. Von Montgelas Planungen sahen vor, nach damaligen Schätzungen bis zu 80 % der Bevölkerung das passive Wahlrecht abzuerkennen, siehe ders., Montgelas. Eine Biographie 1759–1838, 2008, S. 780 m. Fn. 43. 1028 Weis, Entstehungsgeschichte (Fn. 1023), S. 428. 1029 Zu dessen Personalia siehe knapp Weis, Entstehungsgeschichte (Fn. 1023), S. 419 m. Fn. 28. 1030 Weis, Entstehungsgeschichte (Fn. 1023), S. 428. 1031 Weis, Entstehungsgeschichte (Fn. 1023), S. 428 f. 1032 Weis, Entstehungsgeschichte (Fn. 1023), S. 429.

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fast geschlossen hinter von Sutners Referentenentwurf zu stehen; nachdem die Kommissionsmitglieder Effner und Lerchenfeld allerdings engagiert für das passive Wahlrecht der Grundholden eingetreten waren, schien das Meinungsbild sich peu à peu zu wandeln und zum Ende hin alles andere als homogen. Dies mag an der Fülle von Argumenten gelegen haben, den die beiden Mitglieder der Kommission präsentiert hatten: Erstens wiesen beide auf die grundsätzlich verschiedenen Interessenlagen von Grundherren und Grundholden hin, was die Behauptung, die Grundholden würden über die Grundherren ausreichend vertreten, zu einer Farce mache. Auch die von Sutners Vorschlag entsprechend in der Verfassung zu garantierende Ablösungsmöglichkeit sei nichts weiter als ein „kaum in dunkler Ferne schimmernder Stern“ 1033. Zweitens arbeiteten beide das geradezu eklatante Mißverhältnis zwischen freien Grundherren und Grundholden heraus, das bei etwa 1:80 lag. In einigen Provinzen lebten sogar ausschließlich Grundholde, so daß eine Repräsentation durch Grundherren schlicht ausgeschlossen war.1034 Der von der Gegenseite vorgebrachten Abhängigkeit der Grundholden setzte Lerchenfeld drittens das Argument einer einheitlichen Klasse der Grundeigentümer mit besonderer politischer Eignung entgegen. Innerhalb dieser sei nicht zu differenzieren, denn die Abgeordneten seien vielmehr nach persönlichen Eigenschaften auszuwählen, d.h. sie sollten „das Vertrauen der Nation besitzen, daß sie dasselbe verdienen, somit verständige, aufgeklärte, von Vaterlandsliebe beseelte Männer seien“ 1035. Die Abhängigkeit der Grundholden ließ er als Grund für die Verweigerung des Zugangs zum passiven Wahlrecht nicht gelten. Als Begründung der Ablehnung führte er an, der Grundholde habe wegen seines in der Regel vorhandenen, im Vergleich zu freiem Eigentum gar größeren Grundvermögens „wohl dasselbe warme und lebendige Intereße an der Wohlfahrt des Staates, als der Besitzer freien Grundeigenthums“ 1036. Als viertes Argument kam erstmals der Beitragsgedanke ins Spiel. Die Grundholden leisteten mit Abstand die meisten Abgaben und hätten in der Vergangenheit ihre Bereitschaft, den Staat auch im Krieg und gegebenenfalls unter Einsatz des eigenen Lebens zu verteidigen, mehr als einmal unter Beweis gestellt. Warum sollte man gerade dieser Gruppe, die einen derart gewichtigen finanziellen und körperlichen Einsatz für den Staat gezeigt habe, die Kandidatur als Abgeordneter verweigern?1037

1033 Siehe „Zum Vortrag des Herrn Oberfinanzraths von Sutner: Aus welchen Individuen soll die Deputirtenkammer bestehen?, abgedruckt in: M. v. Lerchenfeld (Hrsg.), Aus den Papieren des K. b. Staatsministers Maximilian Freiherrn von Lerchenfeld, 1887, S. 239 ff. 1034 Weis, Entstehungsgeschichte (Fn. 1023), S. 429. 1035 Siehe Lerchenfeld (Hrsg.), Aus den Papieren (Fn. 1033), S. 239 f. 1036 Siehe Lerchenfeld (Hrsg.), Aus den Papieren (Fn. 1033), S. 242. Hier begegnet mithin erneut die Aktientheorie, siehe Argument A. II. 3. 1037 Weis, Entstehungsgeschichte (Fn. 1023), S. 430.

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Lerchenfeld beantragte im Anschluß, auch den Grundholden das passive Wahlrecht einzuräumen. Im Falle einer Ablehnung forderte er die Ausarbeitung einer Liste, aus der sich das Verhältnis der passiv wahlberechtigten Grundherren zu den von der Kandidatur ausgeschlossenen Grundholden ergäbe.1038 Auch wenn die Befürworter des Ausschlusses der Grundholden vom passiven Wahlrecht zum Ende der Beratungen von der Repräsentationsthese Abstand genommen hatten, ließen sie sich nicht von der Überzeugung abbringen, den Grundholden mangele es an der notwendigen staatsbürgerlichen Bildung, so daß die Schlußabstimmung mit 8:6 Stimmen für den Ausschluß der Grundholden von der passiven Wahlberechtigung ausging.1039 Am folgenden Tag, dem 6. Dezember 1814, diskutierte man die aktive Wahlberechtigung. Während hier durchweg Einigkeit darin bestand, den Grundholden diese einzuräumen, bestand Uneinigkeit in der Frage der Beteiligung anderer Bevölkerungsgruppen. Als Eignungskriterium hatte man sich ohne weitere Diskussionen oder tiefergehende Begründungen auf das Grundeigentum festgelegt. Der Referent von Sutner sprach sich für die Zulassung aller, die Grundbesitz in irgendeiner Form besaßen, sei es als Grundherr oder -untertan, aus und wollte nur die Einwohner der Gemeinden und die Zeitpächter ausgeschlossen wissen.1040 Der Vorschlag des Kommissionsmitglieds Lang, auch den „Kapitalisten“ und Künstlern mit der Begründung, diese seien im Vergleich zu dem, der „nur eine Scholle oder eine leere Scheuer besitzt“ 1041, intellektuell auf einer höheren Ebene anzusiedeln, ging den meisten Abgeordneten jedoch zu weit. Der Referent von Sutner hatte sich in seiner Kommissionsvorlage dafür ausgesprochen, alle persönlich Abhängigen, wie beispielsweise Gesellen und Bedienstete, von der aktiven Wahlberechtigung auszunehmen und begründete dies erstens mit deren Manipulierbarkeit (in England gipfelte laut von Sutner ihre Zulassung zur Wahl in unzähligen Bestechungen bei der Wahl der Deputierten), zweitens mit einem zu niedrigen Bildungsniveau und drittens mit ihrer Übermacht in manchen Regionen.1042 Gerade der in der Diskussion um die passive Wahlberechtigung als besonders liberal hervorgestochene Abgeordnete Lerchenfeld wollte alle Vermögenslosen ganz radikal von der aktiven Wahlberechtigung ausgeschlossen sehen. Die Vermögenslosen seien allerorts verantwortlich für Unruhen und revolutionäre Umstürze, welche Grundbesitzern und Gewerbetreibenden gänzlich fremd seien und daher von der aktiven Wahlberechtigung auszunehmen.1043 1038 Lerchenfeld (Hrsg.), Aus den Papieren (Fn. 1033), S. 242 f.; Weis, Entstehungsgeschichte (Fn. 1023), S. 430. 1039 Weis, Entstehungsgeschichte (Fn. 1023), S. 431. 1040 Siehe Weis, Entstehungsgeschichte (Fn. 1023), S. 432. 1041 Zitiert nach Weis, Entstehungsgeschichte (Fn. 1023), S. 432. 1042 Weis, Entstehungsgeschichte (Fn. 1023), S. 432. 1043 Siehe Weis, Entstehungsgeschichte (Fn. 1023), S. 432 f.; Ehrle, Volksvertretung (Fn. 321), S. 698.

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Am 14. Februar 1815 legte der Vorsitzende der verfassunggebenden Kommission dem König den Abschlußbericht vor, in dem er sich – abweichend von der Mehrheit der Kommissionsmitglieder – für die passive Wahlberechtigung der Grundholden aussprach, zumindest derjenigen, die über ein erbliches Nutzeigentum verfügten und pro Jahr 4 Gulden und 30 Kreuzer Steuerleistung erbringen würden.1044 Der König signalisierte, dieser Anregung nachkommen zu wollen, insbesondere da der Kronprinz Ludwig sich auf die liberal gesinnte Seite geschlagen hatte. Es wurde eine neue Verfassungskommission mit dem Auftrag einberufen, Änderungswünsche des Königs einzuarbeiten. Die Kommission mußte ihre Arbeit jedoch bereits nach wenigen Sitzungen unterbrechen. Für die jähe Unterbrechung der Debatten war eine ganze Reihe von Gründen wie u. a. die Rückkehr Napoleons verantwortlich.1045 Erst nach dem Sturz von Montgelas’ am 2. Februar 1817 wurden die Beratungen am 16. Februar 1817 wiederaufgenommen und im Mai 1818 abgeschlossen. Sie beruhten im Wesentlichen auf den Ergebnissen der Diskussionen der Kommission von 1814/15, jedoch mit der wesentlichen Änderung, daß alle Grundholden, die einen bestimmten Zensus erbringen konnten, passiv wahlberechtigt sein sollten. Mit von Montgelas als leitendem Minister wäre dieser Weg indes nicht gangbar gewesen, denn dieser hatte noch Ende Januar 1817 sein tiefes Mißtrauen gegenüber der politischen Einsichtsfähigkeit der unteren Bevölkerungsschichten in die rhetorische Frage gekleidet: „Denn alle Welt bedarf der bürgerlichen Freiheit, aber wie wenig Menschen gibt es in einem Staate, welche die Rechte der politischen Freiheit genießen, ja selbst nur verstehen können?“ 1046 Es bleibt zusammenfassend festzuhalten, daß der Grundkonsens unter allen Mitgliedern der verfassunggebenden Kommission über alle Sitzungen hinweg darin bestand, das Wahlrecht von einem Zensus abhängig machen zu müssen, d.h. diejenigen Bevölkerungsschichten von der Wahl auszuschließen, die nicht in der Lage waren, eine Mindeststeuerleistung aus Grundbesitz oder Gewerbebetrieb zu erbringen. Abhängige wie Gesellen oder Bedienstete sollten jedenfalls wegen ihrer Manipulierbarkeit einerseits, dem mangelnden Bildungsniveau andererseits, vom aktiven wie passiven Wahlrecht ausgeschlossen sein. II. Die Suche nach dem „richtigen“ Verteilungsmaßstab politischer Partizipationsrechte in außerparlamentarischen Debatten Unabhängig von Diskussionen um das Wahlrecht im Rahmen konkreter Verfassunggebungsvorhaben in den deutschen Einzelstaaten war die Frage eines praktikablen Maßstabs der Zuteilung politischer Partizipationsrechte auch zum 1044 1045 1046

S. 33.

Weis, Entstehungsgeschichte (Fn. 1023), S. 438. Siehe Weis, Entstehungsgeschichte (Fn. 1023), S. 439. Zitiert nach M. Doeberl, Ein Jahrhundert bayerischen Verfassungslebens, 1918,

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Gegenstand des theoretischen staatsrechtlichen Diskurses im Vormärz geworden, denn aktives wie passives Wahlrecht waren mittlerweile „in der konstitutionellen Staatslehre der ersten Hälfte des 19. Jahrh. als zentrale politische Rechte anerkannt“ 1047. Schon damals nahm man mithin eine klare Differenzierung zwischen aktivem und passivem Wahlrecht vor1048, wobei das passive im Vergleich zum aktiven meistens an strengere Kriterien geknüpft wurde. Gerechtfertigt wurde der rigidere Maßstab für die Zulassung zur Kandidatur als Deputierter in der Regel mit der größeren Verantwortung und der ungleich schwierigeren und zugleich folgenreicheren Aufgabe des Abgeordneten.1049 Das Wahlrecht wurde dabei – anders als heute – nicht als individuell-persönliches Recht der Kundgabe des politischen Willens des Bürgers und zur Sicherung seiner Rechtsposition gegen den Staat, sondern als eine Art Akt im „Dienst des Staates“ 1050 begriffen. Vielfach wurde die Ansicht vertreten, es gäbe schlicht „überhaupt gar keine politische[n] Urrechte des Einzelnen, sondern jeder empfängt von dem Ganzen nach dessen Bedürfnis und maßgebenden Verhältnissen seine politischen Rechte“ 1051. Grundsätzlich machte sich zu diesem Zeitpunkt nur ein sehr exklusiver Kreis besonders radikaler Demokraten für die tatsächliche und unbedingte Umsetzung 1047 Böhme, Rechte (Fn. 253), S. 69; siehe z. B. aus der zeitgenössischen Literatur S. Jordan, Versuche über allgemeines Staatsrecht in systematischer Ordnung und mit Bezugnahme auf Politik vorgetragen, 1828, S. 468 f.: „Das Recht, zur Volksvertretung wählbar und in den Versammlungen, welche die Repräsentantenwahl zum Gegenstande haben, stimmfähig zu sein, ist unstreitig das wichtigste politische Recht, auf welchem vorzugsweise die politische Freiheit des Volkes (. . .) beruht (. . .).“ 1048 Siehe zur Unterscheidung exemplarisch Aretin/Rotteck, Staatsrecht (Fn. 42), S. 161: „Hier kommen zwei Hauptfragen in Betrachtung: A. Wer ist wahlfähig? und B. Wer hat das Wahlrecht, d.h. eine zählende Wahlstimme? letzteres wird gewöhnlich das aktive, ersteres das passive Wahlrecht genannt“, Hervorhebungen i. O., A. S. 1049 So heißt es hierzu bei F. Bülau, Wahlrecht und Wahlverfahren, 1849, S. 130: „wenn wir schon bei den Wählern gewisse äußere Bedingungen festsetzen zu müssen glauben, so ist es ganz consequent, diese Bedingungen bei den Gewählten noch zu steigern; je wichtiger das Recht, desto größere Bürgschaften müssen gefordert werden.“ 1050 Böhme, Rechte (Fn. 253), S. 75 in Fn. 33. Diese Ansicht übersieht wohl das schwer zu ignorierende Faktum, daß selbst der um das Gesamtinteresse der Nation ernsthaft bemühte Wähler auch und vor allem seine Interessen und die seiner „Nächsten“, d.h. der Zugehörigen seiner eigenen gesellschaftlichen Gruppe vertritt (siehe hierzu beispielsweise A. Schäffle, Deutsche Kern- und Zeitfragen, 1894, S. 125). Diese Vertretung eigener Interessen ist indes mitnichten als verwerflich einzustufen, sondern gerade im Sinn und Zweck des (unseren heutigen Vorstellungen entsprechenden) Wahlaktes angelegt. Zur Legitimität der Vertretung eigener Interessen durch die Ausübung des Wahlrechts schon früh R. v. Jhering, Der Zweck im Recht, Bd. I, 1877, S. 548: „Was heisst politische Bildung eines Volks? Dass der gemeine Mann kannegiessern kann? Dass Schuster, Schneider und Handschuhmacher dem gewiegten Staatsmann das Exercitium corrigiren? In meinen Augen heisst politische Bildung des Volks nichts anders als das richtige Verständniss der eigenen Interessen.“ 1051 So z. B. H. A. Zachariä, Deutsches Staats- und Bundesrecht. Allgemeine Lehren und Verfassungsrecht der Bundesstaaten (1841), 3. Aufl. 1865, 1. Teil, S. 95, Hervorhebungen i. O., A. S.

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des allgemeinen und gleichen Wahlrechts stark.1052 Auch wenn es auf den ersten Blick überraschen mag, setzten sich vereinzelt sogar Anhänger des Absolutismus für ein allgemeines Wahlrecht ein, „weil sie auf die politische Unmündigkeit der Mehrzahl des Volks in den untern Classen zählen und deren Stimmen durch List, Bethörung oder Bestechung nach ihren Interessen lenken zu können hoffen“ 1053. Bei einem Großteil der Autorenschaft behielt entweder die Angst vor der tatsächlichen Umsetzung Überhand1054 oder eine ungleiche Behandlung der Bürger in Wahlrechtsfragen wurde erst gar nicht als demokratieunverträglich eingestuft, sondern mit deren unterschiedlicher Eignung gerechtfertigt1055. Eine „schichtenund klassenspezifische Differenzierung“ fand so im Ergebnis argumentative Untermauerung: „Die Betonung wirtschaftlicher Stärke als notwendige Voraussetzung des Wahlrechts gibt den Kreis der Wahlberechtigten vor, der unter Anwendung des Begriffes der Selbständigkeit dann weiter festgelegt wird. Denn abhängig sind in der Regel die Armen.“ 1056 Dennoch erkannten viele bereits zu diesem Zeitpunkt die Gefahr, daß sich die Vermögenslosen nicht dauerhaft mit ihrer politischen Randstellung zufrieden geben würden, sondern ihre politischen Partizipationsrechte über kurz oder lang – gegebenenfalls auch mittels gewaltsamer Umstürze – einfordern würden. Hierzu bemerkt beispielsweise Pfizer: „So wünschenswerth es nämlich ist, daß an der Ausübung politischer Rechte nur die dazu Befähigten Antheil nehmen, so fehlt es doch in vielen Fällen an einem unzweideutigen äußeren Merkmal der Befähigung überhaupt, (. . .) der Besitz von Vermögen, wird allmälig unzureichend und sogar gehässig. Wohlstand ist zwar ein Mittel zu höherer Bildung und Selbstständigkeit, aber in unsern Zeiten ist doch mancher Arme gebildeter als mancher Reiche (. . .). Seine Hauptrechtferti-

1052 So z. B. Gustav von Struve und Julius Fröbel, siehe J. Philippson, Ueber den Ursprung und die Einführung des allgemeinen gleichen Wahlrechtes in Deutschland mit besonderer Berücksichtigung der Wahlen zum Frankfurter Parlament im Grossherzogtum Baden, 1913, S. 23 ff. 1053 So zumindest die Einschätzung von K. v. Rotteck, Art.: Abgeordnete, in: ders./ C. Welcker (Hrsg.), Staats-Lexikon oder Encyklopädie der Staatswissenschaften in Verbindung mit vielen der angesehensten Publicisten Deutschlands, Bd. 1, 1834, S. 102 (104). 1054 Hierzu exemplarisch nur K. v. Rotteck, Art.: Freiheit, in: ders./C. Welcker (Hrsg.), Staats-Lexikon oder Encyklopädie der Staatswissenschaften in Verbindung mit vielen der angesehensten Publicisten Deutschlands, Bd. 6, 1838, S. 60 (71: „Die unbeschränkten Demokratieen gehen meist in wilden Despotismus über“, Hervorhebungen i. O., A. S.). 1055 Bei W. Schulz, Art.: Demokratie, in: K. v. Rotteck/C. Welcker (Hrsg.), Staats-Lexikon oder Encyklopädie der Staatswissenschaften in Verbindung mit vielen der angesehensten Publicisten Deutschlands, Bd. 4, 1837, S. 241 (242) heißt es: „Da es nun aber im gleichen Interesse Aller liegt, daß die verschiedenen Functionen des öffentlichen Lebens den Fähigsten übertragen werden, so liegen solche constitutionelle Bestimmungen, wonach die natürliche Ungleichheit in der Vertheilung der Fähigkeiten unberücksichtigt bleibt, keineswegs im Wesen der Demokratie“, Hervorhebungen i. O., A. S. 1056 Böhme, Rechte (Fn. 253), S. 99.

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gung muß daher jedes nicht dem Grundsatz des allgemeinen Stimmrechts huldigende Wahlsystem in der freiwilligen Verzichtleistung der Ausgeschlossenen suchen, und wenn nach der Erfahrung ganze Klassen von Staatsbürgern bisher die Theilnahme an den politischen Rechten nicht verlangten, so ist dieß in der Gegenwart doch immer weniger der Fall, besonders aber werden nach der herrschenden Strömung der Zeit die Armen und Besitzlosen bloß darum, weil sie arm sind, nicht ewig auf die politischen Rechte verzichten wollen, sondern die Zulassung zu solchen früher oder später fordern, und diese Forderung um so gewisser durchsetzen, je weniger sie in der Vertretung der wahlberechtigten Staatsbürgerklassen sich mitvertreten fühlen (. . .).“ 1057 Von Rotteck warnte eindringlich vor der Gefahr der Errichtung einer Geldaristokratie: „Die Wählbarkeit auf die reichsten Bürger beschränken, heißt – je nach der Strenge des Gesezes – neun Zehntheile oder neun und neunzig Hunderttheile der Talente und Bürgertugenden von dem edelsten Kreis der Wirksamkeit ausschließen, und zugleich das – ohnehin natürlich vorhandene, und in der Sphäre der aktiven Wahl selbst rechtsbegründete – Uibergewicht des Reichthums bis zur gehässigsten und verderblichsten Geld-Aristokratie gesezlich erhöhen.“ 1058 In seinem Artikel „Census“ 1059 rechnete er schonungslos mit diesem seiner Auffassung nach „bloßen Trugbild“, gar einer „Verhöhnung der so laut ausgerufenen Volkssouveränität“ ab: „Wie ! eine Nation, in deren Geschichtbüchern die Juliustage von 1789 und von 1830 verzeichnet stehen, eine der politischen Mündigkeit und selbst der errungenen „Volkssouverainetät“ sich rühmende Nation gibt, 30 Millionen Seelen zählend, das Recht, ihre (angeblichen) Stimmführer zu wählen, an 180,000 fast ausschließend durch die Höhe des Steuercapitals dazu berufene Wähler hin und beschränkt ihre, nach dem vernünftigen Recht durchaus freie; Auswahl auf die fast lächerlich kleine Zahl von etwa 20,000 Höchstbesteuerten!! Was ist hiernach die angebliche National-Repräsentation? Die Repräsentation kaum des fünfzigsten Theiles der activen Bürger, mithin ein bloßes Trugbild, ja eine Verhöhnung der so laut ausgerufenen Volkssouverainetät. (. . .) Die Nation sieht sich und ihre heiligsten Güter und Rechte preisgegeben einem angeblich das Volk repräsentirenden gesetzgebenden Körper, der aber in der That und Wahrheit dasselbe weder vorstellt noch vertritt, sondern höchstens die vorherrschenden Gesinnungen seiner Wähler, d. h. der zweimalhunderttausend Reichern in dem aus 30 Millionen Seelen bestehenden Volke, ausspricht, eine oligarchische Personification der die Nation beherrschenden Geld-Aristokratie: – So unheilvoll sind die Früchte des hohen Census! –.“ Schließlich gab er aber dennoch zu, man komme trotz aller Gefahren der Geld-Aristokratie und Aushöhlung der Volkssouveränität nicht gänzlich ohne den Zensus aus, da „(. . .) nach Umständen das Uebergewicht der ärmern Classen nicht nur die Interessen der Wohlhabendern, sondern auch die 1057 1058 1059

P. A. Pfizer, Gedanken über Recht, Staat und Kirche, Bd. 1, 1842, S. 449 f. K. v. Rotteck, Ideen über Landstände, 1819, S. 90, Hervorhebungen i. O., A. S. Siehe Art.: Census (Fn. 38), S. 383 f., Hervorhebungen i. O., A. S.

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ganze Ordnung des Staates bedrohen kann“ 1060. Ähnlich wie von Rotteck erkannte auch beispielsweise Dahlmann, daß es sich beim Zensus nicht um ein politisches Allheilmittel handelt: „Weil aber jeder Census, wie man ihn auch stelle, ungenügende Bürgschaft giebt und tausend Wege der Umgehung offen stehen, so thut man wohl an seiner Statt, aber neben den übrigen allgemeinen Erfordernissen, eine lebendige Gränze für den Kreis der Wähler zu suchen.“ 1061 Er suchte daher nach Alternativen, die politisch einsichtsfähigen Bürger ohne derart unflexible Mechanismen herauszufiltern, so daß er unter anderem vorschlug, „Alles was ein öffentliches Zeugniß seiner Thätigkeit im Gemeinwesen für sich hat, – ohne Rücksicht auf den Census, mit Wählerrecht“ zu versehen.1062 Trotzdem konnte er sich Situationen denken, in denen ein starrer Zensus unumgänglich zum Wohle des Staates scheint, nämlich dann, „wenn die Diäten Schuld daran würden, daß die Landstandschaft zu einem Nahrungszweige ausartete, oder gar zum Armengelde; (. . .) so müßte auch hier eine künstliche Schranke eintreten, nur ja keine, welche den Schlüssel zur Kammer allein in die Hände des Reichthums giebt“ 1063. Auf der vorherrschenden Überzeugenung fußend, dass die Nation für ein allgemeines und gleiches Wahlrecht trotz aller Gefahren des Zensus noch nicht bereit war, wurde die Suche nach dem gleichermaßen gerechten wie umsetzbaren Maßstab einer praktikablen „Abgrenzung der als politikfähig erachteten Aktivbürger“ 1064 zum Herzstück außerparlamentarischer Diskussionen: Während die einen ausschließlich das Grundeigentum als Eignungsgaranten gelten lassen wollten (siehe nachfolgend unter II. 1.), ließen andere neben dem Grundeigentum auch das Mobiliareigentum zu (II. 2.) und wiederum andere stellten auf die Steuerleistung als taugliches Kriterium ab (II. 3.). 1060 Siehe ebd., S. 383. Ähnliche scharfe Formulierungen begegnen erneut in Rotteck, Art.: Abgeordnete (Fn. 1053), S. 104, wo die „Beschränkung der Wahlfähigkeit auf die kleine Schaar der Allerreichsten“ als „ein schwerer Raub, begangen an den heiligsten Nationalrechten, eine Verwandlung des in der Idee demokratischen Repräsentativsystems in eine häßliche Geldaristokratie und eine unsinnige Verzichtleistung auf die edelste Wirksamkeit aller in den Classen der Minderbegüterten zu findenden politischen Talente und Tugenden“ verworfen wird. Auch Karl Salomo Zachariä fürchtet die Gefahr einer zu weiten Entfernung des bestehenden Rechts von der tatsächlich vorgefundenen gesellschaftlichen Wirklichkeit durch einen zu strengen Zensus, siehe hierzu in und um Fn. 1095. 1061 F. C. Dahlmann, Die Politik, auf den Grund und das Maß der gegebenen Zustände zurückgeführt (1835), Bd. 1, 3. Aufl. 1847, S. 142. 1062 Siehe ebd., S. 143. 1063 Siehe ebd., S. 145. Auch bei J. C. Bluntschli heißt es zur Ablehnung des Besitzzensus klar, es sei „eine falsche und für den Staat überaus gefährliche Vorstellung, die Bewohner lediglich mathematisch nach dem Vermögen in Besitzende und Nichtbesitzende zu trennen und die letzteren gar als Proletariat zusammen zu fassen und den ersteren feindlich entgegen zu stellen“, siehe J. C. Bluntschli, Allgemeines Staatsrecht, Bd. 1, 2. Aufl. 1857, S. 140, Hervorhebungen i. O., A. S. 1064 Zitat Brandt, Repräsentationstheorie (Fn. 131), S. 139.

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1. Die Korrespondenztheorie zur Rechtfertigung des Grundeigentums als einzig tauglichem Kriterium der Zuteilung politischer Partizipationsrechte

Anknüpfend an Möser und vom Stein1065 dominierte unter den Vertretern der Ansicht, die das Wahlrecht vom Alleinstellungsmerkmal des Grundbesitzes abhängig machen will, die Vorstellung einer besonderen Verbundenheit der Grundeigentümer mit ihrem Vaterland, die zum Wohle der Nation genutzt werden soll: „Ist der Eigentümer von aller Teilnahme an der Provinzial-Verwaltung ausgeschlossen, so bleibt das Band, das ihn an sein Vaterland bindet, unbenutzt (. . .)“ 1066. Der Kern des Argumentationsstranges dieser Autoren besteht in der Verknüpfung des gesteigerten Interesses der Grundeigentümer am staatlichen Gedeihen mit der Zuteilung politischer Partizipationsmöglichkeiten.1067 Den Inhabern von Mobiliareigentum warfen sie indes Flatterhaftigkeit und Eigennutz vor; ihnen fehle es an der notwendigen Einsatzbereitschaft für staatliche Belange, die die Grundeigentümer geradezu als Wähler und Abgeordnete prädestiniere: „Nur das Grundeigenthum berechtigt zur Landstandschaft (. . .). Personallisten müssen davon ausgeschlossen seyn. Das Interesse, das sie am Wohl des Staates nehmen, ist transitorisch; dem reichen Kapitalisten gefällt es heute hier, morgen dort, er ist nicht an die Erdscholle gefesselt. Eben so wenig sind Gelehrte zu Volksrepräsentanten geeignet, sie kennen meistens nur ihre Bücher, nicht das Land und das große Buch – die Welt.“ 1068 Interessanterweise sollten Gelehrte von der Repräsentantenfunktion grundsätzlich ausgeschlossen sein. Auf das Kriterium von Bildung als Eignungsvoraussetzung wollten auch diese Autoren allerdings nicht verzichten. Bildung sei aber Ausfluß von Reichtum und Reichtum wiederum von Landeigentum.1069 Bei einigen, die sich für die politischen Rechte ausschließlich der Grundeigentümer stark machten, schwang zudem ein nationales Moment mit, 1065

Siehe zu Möser ausführlich S. 76 ff. und des Weiteren zu vom Stein S. 165 ff. Siehe erneut die Denkschrift vom Steins „Über die zweckmäßige Bildung der obersten und der Provinzial-, Finanz- und Polizei-Behörden in der preußischen Monarchie“ (Nassauer Denkschrift) vom Juni 1807, abgedruckt in: Hubatsch (Hrsg.), Briefe II/1 (Fn. 808), S. 389 f. Eine ähnliche Formulierung, die die außergewöhnlich innige Verbundenheit des Grundeigentümers mit dem Vaterland ausdrücken soll, findet sich ebenfalls z. B. bei J. C. v. Aretin, Abhandlungen über wichtige Gegenstände der Staatsverfassung und Staatsverwaltung, mit besonderer Rücksicht auf Bayern, 1816, S. 74 f. („[. . .] an den Grundbesitz und die bürgerliche Stetigkeit knüpft sich vornemlich das Interesse für das Vaterland“; „[. . .] auch werden hierdurch [durch die Bindung des passiven Wahlrechts an freies Eigentum oder einen eigenen Gewerbebetrieb, A. S.] Advokaten, Schriftsteller u.s.w., die oft um so mehr Uneinigkeiten und Verwirrungen anrichten, je weniger sie durch Grundbesitz an das Land gebunden sind, von der Volks-Repräsentation [. . .] von selbst ausgeschlossen“). 1067 Böhme, Rechte (Fn. 253), S. 75. 1068 Dalwigk, Volksrepräsentation (Fn. 320), S. 21. Auch Friedrich Julius Stahl will die bloßen Mobiliareigentümer nicht an der Volksvertretung partizipieren lassen, ihr Interesse sei im Gegensatz zu den Grundeigentümern „nicht an das Land gebunden, ihre Person identificirt sich deshalb nicht mit den Sachen, die vertreten werden sollen“ (siehe F. J. Stahl, Die Philosophie des Rechts, Bd. II/2, 2. Aufl. 1846, S. 266). 1066

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denn, so beispielsweise die Parole Johann Friedrich Benzenbergs: „Die Stärke Deutschlands beruhet auf dem Ackerbauer“ 1070. Grundeigentum wird zum Symbol nationalen Selbstbewußtseins.1071 Die Autoren brachten ihre Argumente zur Betonung der Rolle der Grundeigentümer im gesamtgesellschaftlichen Kontext indes in der Regel nicht nur zum Schein vor, um eine als natürlich (gar von Gott gegeben) erachtete Vorrangstellung ihrer favorisierten Bevölkerungsgruppe zu rechtfertigen und andere, weniger geschätzte Gruppen auszugrenzen, sondern zielten langfristig auf die Errichtung einer Gesellschaft von Grundeigentümern ab.1072 Das Vertrauen in Eignung und Leistungsfähigkeit der Grundeigentümer kannte aber auch Grenzen, so daß einige dieses Kriterium nur für die aktive Wahlberechtigung ausreichen ließen, für den Zugang zum passiven Wahlrecht aber auf einen Steuerzensus zurückgriffen.1073 2. Aufweichen des strengen Grundbesitzerfordernisses durch Aufwertung des Kapitals in der Industrialisierung

Mit der einsetzenden Industrialisierung verlor der Grundbesitz als Kriterium der politischen Einsichts- und mithin der Wahlfähigkeit erheblich an Durch1069 Bei Dalwigk, Volksrepräsentation (Fn. 320), S. 22 heißt es zum Erfordernis der Bildung für den Zugang zum Wahlrecht: „Die bemittelsten Grundeigenthümer im Staate sind zu Landständen die geeigentsten, weil Reichthum Ansehen – in der Regel auch höhere Bildung verschafft, und weil der Reiche eher als der unbemittelte großer und allgemeiner Ideen empfänglich ist.“ 1070 J. F. Benzenberg, Ueber Verfassung, 1816, S. 102. Benzenberg ist bekennender Verehrer Mösers (siehe Böhme, Rechte [Fn. 253], S. 78). Zum Niederschlag der Möserschen Lehre in den Theorien von Rottecks und von Schmalz’ siehe bereits S. 91 f. und S. 195 ff. 1071 Böhme, Rechte (Fn. 253), S. 77. 1072 Benzenberg, Verfassung (Fn. 1070), S. 102 f. führt hierzu aus: „Nichts schirmt die innere Freyheit, nichts die äußere mehr, als eine kleine Vertheilung des Ackers und eine große Menge freyer Grundeigenthümer. (. . .) Je mehr Grundeigenthümer, desto stärker der Heerbann an Zahl und an Zucht.“ 1073 Diese Ansicht vertrat beispielsweise Dalwigk, Volksrepräsentation (Fn. 320), S. 22, der statuiert: „Die Grundsteuer, (. . .) bleibt aber dennoch der Maßstab, um den für bemittelt, mithin für landtagsfähig zu halten, der das größte Quantum daran bezahlt“; siehe auch Benzenberg, Verfassung (Fn. 1070), S. 219. Insgesamt kritisch gegenüber Grundbesitz und Vermögen als tauglichen Eignungskriterien für den Zugang zum aktiven Wahlrecht G. W. F. Hegel, Verhandlungen in der Versammlung der Landstände des Königreichs Württemberg im Jahre 1815 und 1816 (1817), in: Sämtliche Werke, herausgegeben von G. Lasson, Bd. VII, 1913, S. 176: Der Volksvorstellung entsprechend, würde man erst dann von einem Mann behaupten, er sei Etwas, wenn er ein Amt bekleide oder auf andere Art und Weise Zugang zu bürgerlichen Kreisen erlangt habe, „von einem hingegen, der nur fünfundzwanzig Jahre alt und Besitzer einer Liegenschaft [ist], (. . .), sagt man, er ist Nichts. Wenn eine Verfassung ihn doch zu Etwas macht, zu einem Wähler, so räumt sie ihm ein hohes politisches Recht, (. . .), ein, und führt für eine der wichtigsten Angelegenheiten einen Zustand herbei, der mehr mit dem demokratischen, ja selbst anarchischen Prinzip der Vereinzelung zusammenhängt, als mit dem Prinzip einer organischen Ordnung“, Hervorhebungen i. O., A. S.

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schlagkraft. Als Gründe hierfür sind vor allem die „steigende Beweglichkeit alles Besitzes“ 1074 und das Erscheinen eines neuen Besitztypus, des Aktionärs, auf der Bildfläche verantwortlich zu machen, „dessen praktische soziale Verantwortlichkeit eine verschwindende ist“ 1075. Der Mösersche Argumentationsstrang des Grundbesitzers, der in besonderem Maße an staatlichen Belangen zu beteiligen ist, da er über seinen Grundbesitz unausweichlich mit dem Wohl und Wehe des Staates verbunden sei, wurde als überholt und nicht mehr zeitgemäß empfunden: „Der Besitz ist also heute keineswegs in seiner Masse derart mit dem eigenen Staate unlöslich verbunden, daß notwendig aus ihm jenes zwingende Interesse an der Staatserhaltung und Fortbildung erwachsen müßte (. . .).“ 1076 Mit der Zeit trat bei vielen Autoren als Folge dieser wirtschaftlichen Entwicklungen neben das Kriterium des Grundbesitzes das des beweglichen Vermögens, denn „der Wandel vom Agrarstaat zum durch Kapitaleinsatz geprägten Industriestaat legte eine solche Entwicklung durchaus nahe“ 1077. Reichtum ist aber nicht Selbstzweck, sondern weiterhin Garant für hinreichende Bildung der Bürger1078, denn, so die Vertreter dieser Auffassung, nur bei den Vermögenden „allein kann man in der Regel den Grad der gesellschaftlichen Bildung und der Unabhängigkeit annehmen, der zur Prüfung der Gesetzvorschläge erfordert wird“ 1079. Auch von Rotteck betrachtete allein Vermögen und Grundbesitz als „Bürgschaft für die Theilname am gemeinen Wohl“ 1080. Über das praktikable Vermögenskriterium will diese Ansicht 1074

Savigny, Wahlrecht (Fn. 31), S. 45. Savigny, Wahlrecht (Fn. 31), S. 45. 1076 Savigny, Wahlrecht (Fn. 31), S. 45. Alles in allem habe „die an den Besitz geknüpfte Vermutung erhöhter Staatsgesinnung und Einsicht, schwere Erschütterung erfahren (. . .)“ und die Erfahrung habe gelehrt, daß in Sachen Staatsvertretung „die Höchstbesitzenden keineswegs immer die wahrhaft Berufenen sind“ (beide Zitate ders., Wahlrecht [Fn. 31], S. 46). Allerdings sei „ein gewisses Minimum des Besitzes, das dem Staatsbürger gestattet, über die Notdurft des täglichen Lebens hinaus auf Unpersönliches das Auge zu richten, gewiß eine Voraussetzung für das Interesse an der Erhaltung des gegebenen Staates, wie für jede lebhaftere Anteilnahme am öffentlichen Leben überhaupt“ (ebd., S. 47). Ähnlich bereits Gageur, Reform des Wahlrechts im Reich und in Baden, 1893, S. 19, der vor einer Verwechslung des Interesses an Erhaltung und Förderung des eigenen Besitzes und Einsatz und Sorge für das allgemeine Wohl warnt. 1077 Böhme, Rechte (Fn. 253), S. 80. Mit dieser wirtschaftlichen Entwicklung ging auf ideeller Ebene die schon oft angesprochene „zunehmende Bedeutung von Besitz und Bildung gegenüber den Geburtsvorrechten im Verfassungsbereich“ einher (so Meyer, Wahlsystem [Fn. 7], S. 90) und es stellte sich – wie in Zeiten des Umbruchs üblich – die Frage nach der staatstragenden Elite aufs Neue (siehe hierzu Knoll, Führungsauslese [Fn. 744], S. 13 f.). 1078 Bildung und Besitz galten „als Nachweis und Maßstab für höhere Amtseignung“ (Knoll, Führungsauslese [Fn. 744], S. 33). 1079 J. P. F. Ancillon, Ueber die Staatswissenschaft, 1820, S. 90 f. 1080 Rotteck, Ideen (Fn. 1058), S. 53. Einsicht allein reiche nicht aus, die Wähler müßten, so von Rotteck, zudem auch über eine redliche Gesinnung verfügen. Die Bürgschaft für eben jene liefere ausschließlich Vermögen und in erster Linie der Grundbesitz. Siehe hierzu auch Ehrle, Volksvertretung (Fn. 321), S. 701; zu von Rottecks Vorstellungen vom Wahlrecht siehe außerdem Philippson, Ursprung (Fn. 1052), S. 8 ff. 1075

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letztlich die gebildeten, redlichen und zur Einsicht in das politische Wohle aller fähigen Bürger aus der Masse herausfiltern. Hinzu trat das nicht zu unterschätzende Argument eigener Besitzstandswahrung: Unabhängig davon, ob man über Mobiliar- oder Grundeigentum verfüge, die Sorge um den Erhalt des eigenen Eigentums, die den Nicht-Eigentümern naturgemäß fremd sei, veranlasse die Eigentümer zu vernünftiger politischer Entscheidungsfindung zum Wohle der Gesamtnation.1081 Trotz der innovativen Bereitschaft, auch Inhabern von Mobiliareigentum den Zugang zum Wahlrecht zu ermöglichen, blieb die Eignung des beweglichen Vermögens als Indikator für Wahltauglichkeit für die Mehrheit dieser Autorenschaft deutlich hinter der des Grundeigentumes zurück.1082 Einig ist man sich jedenfalls darin, in Fragen des Wahlrechts nicht ohne ein „Anforderungsprofil“, „das wirtschaftliche und vermögensbezogene Faktoren zum Erfordernis wirtschaftlicher Selbständigkeit vereinigt“ 1083, auszukommen. Kritische Stimmen bezüglich dieser Kriterien waren zu der Zeit eher selten.1084 Exemplarisch sei auf Hoffmann und Jordan verwiesen. Hoffmann erhebt mahnend die Stimme, es sei „Eins der größten, gefährlichsten und gemeinsten Vorurtheile (. . .), den Werth des MenKritisch, aber auch zeitlich später als von Rotteck dagegen J. C. Bluntschli, Lehre vom modernen Staat (1876), Bd. 3, ND 1965, S. 424: „Die Rückkehr zu dem Census würde nicht allein die Classen beleidigen und erbittern, welche dadurch ihrer statsbürgerlichen Rechte wieder beraubt würden. Sie würde überdem die Wahrheit miszachten, dasz die Bürgertugend nicht durch Geld zu bemessen und nicht vom Gelde abhängig ist.“ 1081 Besonders klar formuliert diesen Gedankengang F. v. Gentz, Ausgewählte Schriften, herausgegeben von W. Weick, Bd. 1, 1836, S. 99, wenn er klarstellt, der Eigentümer „hat alle die Zwecke dessen, der nichts besizt, gemeinschaftlich mit ihm, und nun noch einen eigenthümlichen Zweck, eine besondre Rücksicht, in der Sorge für die Erhaltung seines Eigenthums. Das Interresse der Eigenthümer ist in seinen Händen gesichert, weil es sein eignes ist, und er wird auch nicht leicht in einen Beschluß einstimmen, der die Classe der Nichtbesitzer wesentlich angreift, weil ein jeder solcher Beschluß, nur allzu leicht seine Classe empfindlich mit trifft.“ Zu einem genau gegenläufigen Befund hinsichtlich der Eignung der Eigentümer gelangt Hegel, Werke VII (Fn. 1073), S. 169 f. (eben jene suchten ausschließlich „[. . .] soviel als möglich dem Staate abzudingen“ und „für das Allgemeine sowenig als möglich zu geben und zu tun“, Hervorhebungen i. O., A. S.). 1082 Klare Hierarchie bei Rotteck, Ideen (Fn. 1058), S. 51 („Unter den Privatrechten nun ist im Staat der Grund-Besiz das wichtigste, und zugleich jenes, das schon nach dem natürlichen Staatsrecht die Hauptbedingung, oder den triftigsten Anspruch auf Theilnahme an politischer Selbstständigkeit, den geeigneten Maaßstab der Stimmberechtigung enthält und giebt“, Hervorhebungen i. O., A. S.) ebenso bei J. P. F. Ancillon, Ueber den Geist der Staatsverfassungen und dessen Einfluß auf die Gesetzgebung, 1825 (S. 130: „Das Landeigenthum muß bei den Wahl-Bedingungen immer ein bestimmtes Uebergewicht über das bewegliche Eigenthum haben. Diejenigen, die ihre Existenz und ihr Vermögen mit dem Boden verwebt und verzweigt haben, bilden das Hauptelement, das Bleibende der Nation“). 1083 Böhme, Rechte (Fn. 253), S. 83. 1084 K. H. L. Pölitz, Die Staatswissenschaften im Lichte unsrer Zeit, Bd. I, 2. Aufl. 1827 kritisiert, nicht auf das Eigentum, sondern auf die „Cultur der Staatsbürger“ (ebd., S. 398) sei zur Förderung staatlichen Wohlstandes abzustellen.

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schen blos nach seinem Vermögen und besonders nach dem Grundbesitze zu berechnen und zu beurtheilen.“ 1085 Jordan hält die Gleichsetzung von Reichtum und Eifer für staatliche Belange für eine Farce: „Denn es ist völlig grundlos, daß die Reicheren schon darum, weil sie die Reicheren sind, auch wirklich einen größern Eifer für die öffentlichen Angelegenheiten des Staates und eine größere persönliche Fähigkeit zu deren Beurtheilung haben.“ Er schließt die überspitztprovokative Frage an: „Würde er [der Schluß vom Reichtum auf Eifer und persönliche Fähigkeit, A. S.] nicht in seiner Consequenz dahin führen, daß die Reichsten für die besten und geistvollsten Menschen, die Armen hingegen – schon von Natur für Schurken und Dummköpfe zu halten seien; daß es deshalb gar keiner Wahl bedürfe, sondern man nur in der Verfassung festzusezen brauche, die Reichsten seien die natürlichen Vertreter des Volkes?“ 1086 Trotzdem tritt Jordan nicht für die Wahlberechtigung der Vermögenslosen ein, sondern plädiert für ein nach Steuerleistungsfähigkeit der Bürger gestuftes Wahlrecht. Vom aktiven wie passiven Wahlrecht gänzlich ausgeschlossen sein sollten – ohne daß es hierüber Diskussionen gab – die Armen. Zum einen, weil ihre Vermögenslosigkeit im Kantischen Sinne als Beleg für Unselbständigkeit gewertet wurde.1087 Zum anderen, weil sie der ständigen Gefahr der Manipulierbarkeit unterlägen, um an Geld zu kommen.1088 Oft suchte man aber auch den Beitragsgedanken fruchtbar zu machen. Die Armen, die nicht einmal für ihren eigenen Lebensunterhalt sorgen könnten und daher auch nichts zum staatlichen Wohlergehen beitragen würden, hätten im Umkehrschluß eben keinen Anspruch, politisch mitentscheiden zu dürfen.1089 Es sei „Forderung des Rechts, daß ein Jeder, der in Folge eigener Verflichtung zu den Staatslasten einen Beitrag liefert, auch ein Recht zu der Repräsentation habe, welche das Willigungsrecht zu den Staatslasten ausübt und die Größe der Beiträge bestimmt“ 1090. In der Regel wird im Rahmen dieser Argumentation gänzlich übersehen, daß die Vermögenden natur-

1085 L. Hoffmann, Die staatsbürgerlichen Garantieen, oder über die wirksamsten Mittel, Throne gegen Empörungen und die Bürger in ihren Rechten zu sichern, Bd. 2, 2. Aufl. 1831, S. 323 f. 1086 Jordan, Versuche (Fn. 1047), S. 470 f. 1087 Aretin/Rotteck, Staatsrecht (Fn. 42), S. 169, die „Vermögen, (. . .) als Bürgschaft der Selbstständigkeit“ begreifen. 1088 Rotteck, Art.: Census (Fn. 38), S. 372 f. Siehe hierzu auch Huber, Verfassungsgeschichte I (Fn. 9), S. 345 und zu von Rotteck Würtenberger, Geschichte (Fn. 492), S. 546. 1089 Sehr eingängig bei Aretin/Rotteck, Staatsrecht (Fn. 42), S. 173: „Denn im Staat wie in andern Gesellschaften richtet sich naturgemäß das Stimmrecht oder das Gewicht der Stimme nach dem Maß der Beiträge der Mitglieder in die gemeine Kasse. Die Reicheren nun sind nicht nur beim Gedeihen des Staates mehr interessiert, als die Armen, sondern sie tragen auch aus dem Ihrigen ein Mehreres dazu bei. Billig verlangen sie daher – wie etwa die größeren Aktionärs in Privatgesellschaften – ein vorzügliches Recht der Stimmgebung, (. . .)“, Hervorhebung i. O., A. S. 1090 Jordan, Versuche (Fn. 1047), S. 470.

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gemäß in einem viel größeren Umfang an staatlichen Einrichtungen partizipieren und von ihnen profitieren als arme Bevölkerungsschichten und man die Bereitstellung und den Ausbau dieser Einrichtungen an sich schon als eine Art Gegenleistung zu deren Beitrag am Staate werten kann.1091 3. Die Korrespondenztheorie zur Rechtfertigung der Steuerleistung als einzig tauglichem Kriterium der Zuteilung politischer Partizipationsrechte

Neben den Autoren, die ausschließlich das Grundeigentum als Indikator der Wahlrechtseignung zulassen wollten, und jenen, die den Kreis der Wahlberechtigten um die Mobiliareigentümer erweiterten, wählte die dritte, wahrscheinlich sogar numerisch größte Autorengruppe, die Steuerleistung als Bezugspunkt1092, nicht zuletzt, weil sie „leicht anwendbar und praktikabel, als Äquivalent eines Vermögens bestimmter Größe“ 1093 sei. Hinsichtlich der Rechtfertigung des Steuerleistungsmaßstabs dominierte der bereits mehrfach erwähnte Beitragsgedanke. Die Bürger, die über ihre Steuerleistung mehr zum staatlichen Wohle beitragen würden, sollten im Gegenzug mehr an staatlichen Belangen beteiligt werden als die, die gar keine oder nur geringe Steuern zahlen.1094 Zachariä beispielsweise warnt gleichzeitig aber auch vor einem zu hohen Zensus, der die Machtverhältnisse im Staat ungleich zugunsten der wohlhabenden Bürger verschieben würde: „Je höher übrigens jener Beytrag angesetzt ist, desto mehr entfernt sich das bestehende Recht von dem wirklichen. Vielleicht, daß es auch desto weniger dem Votheile der Regierung entspricht. Denn werden sich nicht die Wahlen, wenn sie in den Händen der Reichern sind, nur für die Reichsten, also für die Mächtigsten, entscheiden? Der Reichthum schützt den Reichthum, oft ausschließlich.“ 1095 Argumentativ mündet dieser Ansatz letztlich im Lastentragungsgedanken1096 bzw. der Idee, die Steuerzahler über die Zuteilung politischer Partizipationsrechte für die Lastentragung zu entschädigen. Es verwundert nicht, daß uns hier Möser und sein plastisches Vokabular der Aktiengesellschaft wiederbegegnen, das gar Ein1091

Gageur, Reform (Fn. 1076), S. 20. Siehe statt aller Bülau, Wahlrecht (Fn. 1049), S. 119 („Ueberhaupt irgendeine Steuerzahlung zu verlangen, erscheint an sich nicht als unbillig“, Hervorhebungen i. O., A. S.); Dahlmann, Politik (Fn. 1061), S. 142 („Den Maßstab der Einkünfte für den Wähler giebt ein gewisser, ein anständiges bürgerliches Auskommen bedingender Steuersatz; es giebt ihn auch eine gewisse Jahreseinnahme vom Vermögen, vom Nahrungsstande, oder festen Gehalt“); Aretin/Rotteck, Staatsrecht (Fn. 42), S. 169. 1093 Böhme, Rechte (Fn. 253), S. 87. 1094 Aretin/Rotteck, Staatsrecht (Fn. 42), S. 173; K. S. Zachariä, Vierzig Bücher vom Staate, Bd. 2, 1820, S. 304 („Ein jeder Staatsbürger, welcher einen gewissen [durch das Gesetz zu bestimmenden] jährlichen Beytrag zu den unmittelbaren [den direkten] öffentlichen Abgaben entrichtet, ist stimmfähig [. . .]“); Hagen, Grundeigenthum (Fn. 324) S. 18. 1095 Zachariä, Bücher (Fn. 1094), S. 305. 1096 Böhme, Rechte (Fn. 253), S. 87 f. 1092

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gang in die Diskussionen der Frankfurter Nationalversammlung 1849 finden sollte.1097 Dabei bringt das Abstellen auf die Steuerleistung gleich mehrere Vorteile mit sich: Zum einen biete es die Möglichkeit, sich nicht ganz vom altbewährten und überkommenen Kriterium des Grundbesitzes trennen zu müssen, denn die Grundsteuer knüpft an den Grundbesitz an, so daß dieser zumindest indirekt Berücksichtigung findet.1098 Zum anderen – und hier liegt der wohl noch entscheidendere Vorteil einer Verknüpfung des Wahlrechts mit der Steuerleistung – eröffne sich die Möglichkeit einer Abstufung des Wahlrechts.1099 Diese Abstufung wurde jedoch erst später, im Rahmen des Preußischen Dreiklassenwahlrechts beispielsweise, konsequent umgesetzt.1100 In den Wahlrechtsdebatten des Frühkonstitutionalismus konzentrierte man sich primär auf die Frage, ob jemandem das aktive und passive Wahlrecht überhaupt zuteil werden sollte, und nicht auf die einer möglichen Abstufung der Stimmrechte1101, so daß die abgestuften Wahlrechtsregelungen der württembergischen Verfassung von 18191102 als eine Art Vorwegnahme zu charakterisieren sind. Der Lastentragungsgedanke als solcher läßt indes zunächst offen, auf welche Lasten, die der Bürger zum Wohle des Staates trägt, konkret Bezug genommen werden soll. Denkbar wäre neben eines Lastenverständnisses, das ausschließlich direkte Steuern gelten läßt, auch ein weiteres Verständnis, das auch indirekte Steuern, den Wehrdienst oder die Arbeit als Lasten anerkennt.1103 Doch für eine Öffnung des Wahlrechts zugunsten der Vermögenslosen, die ein solch weites Verständnis wohl zur Konsequenz gehabt hätte, war man zu diesem frühen Zeitpunkt noch nicht bereit.1104 Ganz gleich, ob man den Ansatz vertritt, der allein auf das Grundeigentum abstellt, den, der das Mobiliareigentum zusätzlich als Eignungskriterium anerkennt oder gar den, der die Steuerleistung in den Fokus rückt, alle diese Ansätze eint der Versuch, einen objektiv meßbaren und daher besonders praktikablen Indikator der Wahlrechtseignung der Bürger zu finden: „So sehr beispielsweise die Berufung auf den Lastentragungsgedanken verschieden ist von der Forderung nach Grundbesitz, Ausübung eines Gewerbes oder von der Forderung, der Wahlberechtigte dürfe nicht von Almosen abhängig sein, so wohnt dem allen doch stets eine einheitliche Grundidee inne. Es sind alles Krite1097

Siehe hierzu en detail S. 240 ff. Eine Anknüpfung an die Grundsteuer findet sich beispielsweise bei Dalwigk, Volksrepräsentation (Fn. 320), S. 22 und Benzenberg, Verfassung (Fn. 1070), S. 277. 1099 Böhme, Rechte (Fn. 253), S. 88. 1100 Siehe hierzu ausführlich S. 278 ff. 1101 Böhme, Rechte (Fn. 253), S. 110. 1102 Siehe die §§ 138 ff. der Verfassungsurkunde für das Königreich Württemberg vom 25. September 1819, Staats- und Regierungs-Blatt 1819, S. 634 ff., abgedruckt bei: Huber (Hrsg.), Dokumente 1 (Fn. 8), Nr. 55 (54/55), S. 204. 1103 Für derlei Erwägungen zeigte man sich erst in den Debatten der Frankfurter Nationalversammlung offen, siehe hierzu S. 245 ff. 1104 Böhme, Rechte (Fn. 253), S. 88. 1098

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rien, die eine wirtschaftliche Leistungsfähigkeit ausdrücken und das Vermögen des einzelnen im Hinblick auf seine Berechtigung zum Wahlrecht bewerten.“ 1105 Auffällig oft kreisten Auseinandersetzungen über das Wahlrecht schon im Frühkonstitutionalismus und auch später in der Frakfurter Nationalversammlung um den Begriff der Selbständigkeit. Grund hierfür ist der im 19. Jahrhundert und auch darüber hinausgehend weit verbreitete Konsens, daß die „politische Freiheit eines realen Substrats, einer institutionellen Grundlage als Verbürgung für Unabhängigkeit und Selbstverantwortung“ bedarf.1106 Auch dieser Begrifflichkeit liegt indes keine einheitliche Vorstellung ihrer Verwender zugrunde: Während die einen mit dem Begriff das Erfordernis der wirtschaftlichen Selbständigkeit und finanziellen Unabhängigkeit einzufangen suchten1107, betonten andere kein wirtschaftliches, sondern ein persönliches Moment der Fähigkeit zur freien Entscheidungsfindung1108 und zielten mithin auf die Herausfilterung der gebildeten und einsichtsfähigen Bürger ab. Vom Wahlrecht ausgeschlossen sein sollten jedenfalls Frauen und Dienstboten wegen ihres Abhängigkeitsverhältnisses vom Hausvater1109 sowie Lohnarbeiter, „überhaupt diejenigen, deren Vermögen zum selbstständigen Lebensunterhalt nicht hinreicht (. . .)“ 1110. Die Gruppe der Frauen, Unmündigen und Armen war indes schon nach der Naturrechtslehre des 18. Jahrhunderts vom aktiven wie passiven Wahlrecht ausgeschlossen.1111 Nach der wohl 1105

Böhme, Rechte (Fn. 253), S. 89. Böckenförde, Einheit (Fn. 259), S. 32. Zum Selbständigkeitserfordernis in der liberalen Theorie siehe auch Hofmann, Stadtverordnetenversammlungen (Fn. 747), S. 42 und knapp Gagel, Wahlrechtsfrage (Fn. 509), S. 11. 1107 Siehe z. B. besonders deutlich bei J. F. Fries, Von Deutschem Bund und Deutscher Staatsverfassung. Allgemeine staatsrechtliche Ansichten, 1816, S. 156: „wir fordern eine gewisse Wohlhabenheit und bürgerliche Selbstständigkeit, damit wir die Stimme solcher Männer hören, die neben gehöriger Geistesbildung durch einiges Privatinteresse unserm Staate verbunden sind.“ Und Aretin/Rotteck, Staatsrecht (Fn. 42), S. 169: „Vermögen, (. . .) als Bürgschaft der Selbstständigkeit, (. . .)“ sowie Rotteck, Art.: Abgeordnete (Fn. 1053), S. 104: „Das Maß des Vermögens, welches als zur Selbstständigkeit hinreichend zu betrachten ist (. . .)“. 1108 So konstatiert beispielsweise Rotteck, Ideen (Fn. 1080), S. 41 zur Frage eines Ausschlusses vom Wahlrecht: „So ist wer den Gebrauch seines Verstandes nicht hat, wer durch Urtheil und Recht seine bürgerliche Ehre verloren, wer nicht selbstständig, d.h. eine freye Stimme zu geben nicht geeignet ist, also wer unter der väterlichen oder herrischen Gewalt steht, oder der Regierung, als ihr Diener oder Agent, unbedingt verpflichtet ist, zur Führung weder einer eigenen noch einer repräsentativen Stimme rechtlich fähig“, Hervorhebungen i. O., A. S. 1109 C. T. Welcker, Art.: Grundvertrag, in: K. v. Rotteck/ders. (Hrsg.), Staats-Lexikon oder Encyklopädie der Staatswissenschaften in Verbindung mit vielen der angesehensten Publicisten Deutschlands, Bd. 7, 1839, S. 235 (255); auch Jordan, Versuche (Fn. 1047), S. 474 will u. a. Frauen und Dienstboten die Fähigkeit zur Repräsentation absprechen. 1110 Rotteck, Art.: Abgeordnete (Fn. 1053), S. 104, Hervorhebungen i. O., A. S. 1111 Siehe zum Vergleich der theoretischen Untermauerung dieser Exklusion in der Naturrechtslehre und im Frühkonstitutionalismus überblicksartig Böhme, Rechte 1106

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Teil 3: Zensuswahlrecht in Deutschland

herrschenden Ansicht sollte Beamten hingegen das Wahlrecht zuteil werden, was sich – wenn man sich dem Vorwurf der Inkonsequenz nicht aussetzen wollte – nur bei Verbindung des Selbständigkeitsbegriffes mit der Vorstellung von persönlicher Einsichtsfähigkeit und eigenständiger Entscheidungsfindung und nicht mit dem Nicht-Vorliegen eines erwerbsmäßigen Abhängigkeitsverhältnisses vertreten ließ.1112 Viele dieser Autoren machten sich gerade wegen der behaupteten individuellen Eignung der Beamten aufgrund von besonderer Einsicht in politische Abläufe für deren passives Wahlrecht stark: „Außerdem bringen die Staatsbeamten eine Masse von Kenntnissen, Erfahrungen und Gesichtspunkten mit, die der Volksvertretung nur nützlich sein können und die meist mehr Eindruck machen, wenn sie von den Bänken der Deputirten aus, als wenn sie von den Sitzen der Regierungscommissarien vorgetragen werden.“ 1113 Am Ende ging das vermögende Bildungsbürgertum als klarer Gewinner aus den Wahlrechtsdiskussionen hervor, was kein Zufall war.1114 Die Vertreter des aufkommenden Liberalismus1115 hatten sich zu dessen Fürsprecher erklärt und durch diese „Identifikation des Liberalismus, als entscheidenden Vertreter der konstitutionellen Bewegung, mit einer bestimmten sozialen Gruppe, ist damit der wesentlichste Anhalt für eine sozial beeinflußte Wahlrechtsauffassung vorgegeben“ 1116. Allen voran die Liberalen verstanden das Wahlrecht nicht als individuelles Willensäußerungsrecht des Bürgers, sondern als ein ausschließlich auf die Förderung des staatlichen Gemeinwohles ausgerichtetes Gestaltungsinstrument: „Denn das Wahlrecht war für diese Liberalen kein Naturrecht und kein individuelles Recht, sondern ein staatliches Recht und mußte daher nach staat(Fn. 253), S. 122 ff. und zur sog. Hausväter-Literatur Wehler, Gesellschaftsgeschichte I (Fn. 11), S. 81 ff. 1112 Für das Wahlrecht der Beamten trotz Tätigkeit für den Staat plädiert beispielsweise Zachariä, Bücher (Fn. 1094), S. 305 („Man fürchtet die Wahlen von der Krone abhängig zu machen. Aber man macht zugleich die Beamten von der Krone unabhängiger, wenn man ihnen die volle Ausübung des Staatsbürgerrechtes läßt“). – Explizit gegen das passive Wahlrecht der Staatsdiener wegen deren aus der Amtsfunktion resultierenden Unabkömmlichkeit hingegen Hegel, Werke VII (Fn. 1073), S. 167. 1113 Bülau, Wahlrecht (Fn. 1049), S. 135; in diesem Sinne auch K. H. L. Pölitz, Das constitutionelle Leben, nach seinen Formen und Bedingungen, 1831, S. 103 f. 1114 Siehe zu den Interdependenzen zwischen gesellschaftlichen Kräfteverhältnissen und der Ausgestaltung des parlamentarischen Wahlsystems auch die treffende Bemerkung von Smend, Maßstäbe (Fn. 1), S. 27, man könne „an der Bemessung des Wahlrechts (. . .) geradezu ablesen, welche gesellschaftlichen Klassen die herrschenden im Staate sind“. Zudem war sich das liberale Bürgertum seiner selbst und der besonderen Stellung im politischen Gefüge besonders bewußt und forderte politische Partizipationsrechte „im Selbstbewußtsein seiner Bildung und seiner Leistung für das Ganze: also auf Grund der eigenen Wertigkeit“ ein (Knoll, Führungsauslese [Fn. 744], S. 32 f.). 1115 Zum deutschen Liberalismus und dessen Hauptkomponenten siehe statt vieler Wehler, Gesellschaftsgeschichte II (Fn. 792), S. 413 ff. und Nipperdey, Geschichte I (Fn. 800), S. 298 ff. 1116 Böhme, Rechte (Fn. 253), S. 112.

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lichen Gesichtspunkten vergeben werden.“ 1117 Das Monopol geistiger und wirtschaftlicher Selbständigkeit lag in den Augen der Liberalen beim bürgerlichen Mittelstand.1118 Schon Bülau hatte in diesem Kontext klar analysiert, daß der „nächste Zweck der Wahlbeschränkungen“ darin bestand, „die Herrschaft der gebildeten Mittelclassen zu sichern“ 1119. Der Grund der intendierten Stärkung der politischen Einflußnahmemöglichkeiten des wohlhabenden Bildungsbürgertums bei gleichzeitiger politischer Entrechtung der Vermögenslosen lag nicht nur im bereits angesprochenen Vorwurf der Manipulierbarkeit und fehlenden Einsicht der Vermögenslosen in staatliche Belange, sondern auch und vor allem in „der Abscheu vor den Exzessen der französischen Revolution“ 1120. Man hatte schlicht Angst vor dem „bildungs- und vermögenslosen Pöbel“ 1121. Der liberalen Definition gemäß zählten nur die vermögenden Bildungsbürger zum „eigentlichen Volk“, einer Art politischen Elite1122, der im Gegensatz zum „Pöbel“ politische Partizipationsrechte anvertraut werden konnten1123. Vielen Autoren war – letztlich wohl auch wegen der Vorstellung einer notwendigen Separierung des „eigentlichen Volkes“ vom übrigen – der Gedanke der Ungleichbehandlung der

1117 Gagel, Wahlrechtsfrage (Fn. 509), S. 10 f. Siehe zu dieser Auffassung der Liberalen auch Hofmann, Stadtverordnetenversammlungen (Fn. 747), S. 41 f. 1118 Siehe hierzu ebd., S. 42. 1119 Bülau, Wahlrecht (Fn. 1049), S. 117. In die gleiche Richtung auch R. v. Mohl, Das Staatsrecht des Königreiches Württemberg, Bd. 1, 3. Aufl. 1829, S. 534 („Die repräsentative Monarchie ist die Staatsform der Mittelstände [. . .]“); beipflichtend hinsichtlich der Einschätzung einer dienenden Funktion der Vertreter des Liberalismus in frühkonstitutionellen Wahlrechtsdebatten hinsichtlich einer Etablierung der Herrschaft des Mittelstandes Smend, Maßstäbe (Fn. 1), S. 28 (Zensusforderung als [vorgeschobener] Nachweis für Patriotismus und Bildung sei schlicht „eine irreführende theoretische Begründung der Forderung, daß das liberale Bürgertum als solches den Staat beherrschen will; [. . .] lediglich eine Rationalisierung der Herrschaft der Bourgeoisie“); Böhme, Rechte (Fn. 253), S. 113; der Zensus erweise sich daher für den vormärzlichen Liberalismus als kennzeichnend, so F. Schnabel, Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert, Bd. II, 2. Aufl. 1949, S. 143. 1120 Böhme, Rechte (Fn. 253 ), S. 112. 1121 E. R. Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Bd. II, 3. Aufl. 1988, S. 389. Diese Angst schlug sich in großer Skepsis gegenüber dem unbeschränkten Wahlrecht nieder, die für die Mehrheit der Vertreter des Liberalismus bis zur Reichsgründung 1871 unüberwindbar blieb, siehe Knoll, Führungsauslese (Fn. 744), S. 65. 1122 Die Frage nach der Bedeutung von Elite, Elitebildung und -zugehörigkeit hat im Liberalismus seit jeher eine herausragende Stellung eingenommen, siehe hierzu weiterführend Knoll, Führungsauslese (Fn. 744), S. 11 ff. Beispielsweise Knoll versucht sich an einer Definition von Elite nach liberalem Verständnis. Er umschreibt sie als eine „Gruppe von Menschen, die über Bildung oder Besitz verfügt und aus festgegründeter sozialer und freiheitlicher Weltanschauung ihr Leben gestaltet, mit hervorragenden fachlichen Qualitäten ihrer Lebensgemeinschaft dient und mit einer Souveränität im Bereich des Geistigen begabt ist“ (ebd., S. 13). 1123 J. J. Sheehan, Der deutsche Liberalismus. Von den Anfängen im 18. Jahrhundert bis zum Ersten Weltkrieg 1770–1914. Aus dem Englischen übersetzt von K. H. Siber, 1983, S. 35 f.

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Bürger fremd: „Oberhalb dieser Zensusgrenzen besteht politische Gleichheit der Bürgerschaft (nicht identisch mit deren sozialer Gleichheit), wie darin auch die politische Gleichheit der Mandatsträger und die Homogenität der repräsentativen Versammlung begründet liegt.“ 1124 Eine Privilegierung der Gebildeten war indes ein nicht ausschließlich deutsches Phänomen der damaligen Zeit. Das italienische Wahlgesetz vom 24. September 1882 beispielsweise machte das Wahlrecht – wohlgemerkt in einem Land, in dem 1881 etwa 68 % Analphabeten lebten – unter anderem von der Bedingung abhängig, des Lesens und Schreibens mächtig zu sein.1125 Während die Armen so völlig in der stimmrechtslosen Masse unterzugehen drohten, fanden Grundeigentümer und Bauern1126 ihre – wenn auch im Vergleich zu den Liberalen schwächere – Lobby im konservativen Lager, das zum einen mit der Stärkung der Stellung der Grundeigentümer den Erhalt der alten feudalstaatlichen Ordnung zu sichern suchte1127 und sich zum anderen der drohenden Übermacht des von den liberalen Widersachern protegierten Bildungsbürgertums entgegensetzte1128. III. Resümee Alles in allem läßt sich nicht von der Hand weisen, daß die meisten Autoren – mögen ihre vorgebrachten Argumente vom Erfordernis wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit über den Nachweis von Bildung bis zur grundsätzlichen Forderung der Fähigkeit individuell-eigenständiger Entscheidungsfindung und ihre Vorstellungen der Bedeutung des Begriffs Selbständigkeit auch noch so unter1124 Brandt, Repräsentationstheorie (Fn. 131), S. 139; ähnliche Formulierung ebd., S. 151: „Der Wahlzensus schuf ein Kriterium zur Ausgrenzung von nicht als politikfähig angesehenen Schichten, konstituierte die politische Nation jedoch prinzipiell auf egalitärer Basis.“ 1125 Dazu E. Brusa, Marquardsen Handbuch des öffentlichen Rechts, Bd. IV, 1892 § 16 (S. 123). Auch die spanische Verfassung nahm z. B. Bevorzugungen der Gebildeten vor (siehe Gageur, Reform [Fn. 1076], S. 23, der das Bildungskriterium selbst für gänzlich ungeeignet hält, da ihm keine abstrakte Begrifflichkeit einfällt, die „weniger bestimmbar und wandelbarer wäre“ und auch die an Ämter, Stellungen und Titel anknüpfende Bildungsvermutung scheint ihm wenig befriedigend [ebd., S. 23 f., Zitat S. 23]). 1126 Vorstellung von der Bauernschaft gar als „ehrenwerthesten Klasse“ bei Dalwigk, Volksrepräsentation (Fn. 320), S. 37. 1127 Böhme, Rechte (Fn. 253), S. 116. 1128 Besonders deutlich sticht die Opposition zu den Liberalen bei den Autoren hervor, die ausdrücklich die Gelehrten vom Wahlrecht ausgeschlossen wissen wollten, siehe beispielsweise Dalwigk, Volksrepräsentation (Fn. 320), S. 21 oder Rotteck, Ideen (Fn. 1058), S. 52 f., der bemerkt, „es wäre sogar ungerecht, wenn ohne den Titel des Grundbesizes (oder im Allgemeinen des Vermögens) der Lehrstand von der Regierung zur Volksrepräsentation berufen würde; und es wäre unklug vom Volk, wenn es Selbst seine Repräsentanten aus diesem Stand vorzugsweis wählte“, Hervorhebungen i. O., A. S.

Kap. 2: Zensus im Vormärz

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schiedlich ausfallen – doch in der Regel ergebnisorientiert agierten und so auf vermögensbezogene Komponenten nicht verzichten konnten und wollten. Dieser Befund zieht sich im Übrigen durch das gesamte politische Spektrum der damaligen Zeit.1129 Auch wenn die Verfechter solcher vermögensbezogenen Kriterien nicht müde wurden zu versichern, es gehe nicht um den Vermögensnachweis als solchen, sondern um das Vermögen als Indikator von dahinterstehender Bildung und Einsichtsfähigkeit, stellte eine Regelung wie § 79 der Neuen Landschaftsordnung des Herzogtums Braunschweigs vom 12. Oktober 1832 einen absoluten Ausnahmefall dar, da dieser allein auf die „Geistesbildung“ als Kriterium des passiven Wahlrechts abstellt („§ 79. Die übrigen 16 Abgeordneten werden, ohne Rücksicht auf Standesklassen, jedoch nach den Bestimmungen des Wahlgesetzes, unter den Männern von höherer Geistesbildung gewählt, welche überhaupt wählbar sind [. . .]“). Anders als im Ausland konnte sich die Forderung der Errichtung eines „système capacitaire, d.h. der Ersatz des normalen Vermögenszensus durch einen Bildungsnachweis“ 1130, in Deutschland nicht durchsetzen. Bei aller Kritikwürdigkeit der aufgezeigten zensitären Regelungen der Verfassungen der deutschen Einzelstaaten des Frühkonstitutionalismus vom heutigen Standpunkt aus, darf man abschließend deren „Übergangscharakter“ nicht unberücksichtigt lassen. Denn die Tatsache, „daß dabei die Existenz sozialständischer Differenzierung in einer entsprechenden Stimmgewichtsdifferenzierung seine Entsprechung findet, ist in dieser Fortschrittsperspektive die natürliche Bedingung dafür, daß diese Zusammenführung [der bestellten Repräsentanten in einer Repräsentation des Volkes und nicht mehr wie vorher in Kurien, A. S.] in einen Repräsentativkörper überhaupt stattfinden kann“ 1131. Dies kann ohne jede Form der Hochstilisierung wohl schon als ein bedeutsamer Schritt auf dem Weg zum demokratischen Parlamentarismus gewertet werden.

1129 „Daß das Wahlrecht auf einem bestimmten Besitz oder einer bestimmten Steuerleistung beruhen müsse, war im deutschen Vormärz eine weit verbreitete Anschauung. Nicht nur Verfassungsgeber oder konservative Publizisten bekannten sich dazu, sondern das Zensuswahlrecht wurde auch von dem überwiegenden Teil der vormärzlichen Liberalen nicht in Frage gestellt“ (siehe Ehrle, Volksvertretung [Fn. 321], S. 693). 1130 Smend, Maßstäbe (Fn. 1), S. 23 mit Fn. 6. 1131 Brandt, Repräsentationstheorie (Fn. 131), S. 154. Schon allein die Etablierung einer Repräsentativkörperschaft, die zumindest teilweise mit freigewählten Abgeordneten besetzt wurde, stellt im verfassungsgeschichtlichen Kontext ein enormes Novum dar: „Dadurch, daß in die neuen Mitbestimmungskörper, abgesehen von den ersten Kammern, den Oberhäusern, grundsätzlich nur noch freigewählte Abgeordnete einzogen – (. . .) –, erhielt das Wahlrecht für die politische Willensbildung eine ausschlaggebende Bedeutung“ (Boldt, Deutsche Verfassungsgeschichte II [Fn. 719], S. 38 f.).

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Teil 3: Zensuswahlrecht in Deutschland

Kapitel 3

Einführung des allgemeinen und gleichen (Männer-)Wahlrechts auf dem Papier durch die Frankfurter Reichsverfassung vom 12. April 1849 A. Vorgeschichte Anders als in anderen Ländern gewann die Wahlrechtsfrage in Deutschland erst mit der Revolution von 1848/491132 an hervorgehobener Bedeutung, was darauf zurückzuführen ist, daß in den gerade mit Verfassungen ausgestatteten Teilstaaten ein Verfassungsleben überhaupt aufgebaut werden mußte1133. Verantwortlich für den Ausbruch der deutschen Revolution von 1848 waren (wieder einmal) die Geschehnisse in Frankreich. Sie entzündete sich am Februar-Aufstand in Paris1134, der alle deutschen Staaten gleichermaßen mitriß und die bürgerliche Freiheit schnell zu einer der Hauptforderungen der Revolution werden ließ1135. Um größere Ausschreitungen zu vermeiden, waren die Regierungen indes sehr darum bemüht, die revolutionären Forderungen möglichst rasch in die Tat umzusetzen.1136 Konsequenz war die Einführung des allgemeinen und teilweise sogar schon des direkten Wahlrechts in den Einzelstaaten.1137 Die Frage einer möglichen erneuten Beschränkung des aktiven Wahlrechts hatte im vom 31. März bis 4. April 1848 in Frankfurt zur Vorbereitung der Frankfurter Nationalversammlung tagenden Vorparlament1138 noch eine untergeord-

1132 Siehe zu deren Handlungsebenen, Hauptphasen und Höhepunkten statt vieler Wehler, Gesellschaftsgeschichte II (Fn. 792), S. 703 ff. und Nipperdey, Geschichte I (Fn. 800), S. 595 ff. 1133 Gagel, Wahlrechtsfrage (Fn. 509), S. 7. Zur Entwicklung des Wahlrechts in Kontinentaleuropa unter der 1848er Bewegung siehe überblicksartig Meyer, Wahlrecht (Fn. 20), S. 156 ff. 1134 Gilg, Erneuerung (Fn. 961), S. 10; Meyer, Wahlrecht (Fn. 20), S. 174 f.; Nipperdey, Geschichte I (Fn. 800), S. 595 ff. 1135 Boldt, Deutsche Verfassungsgeschichte II (Fn. 719), S. 92 f.; Meyer, Wahlsystem (Fn. 7), S. 85; zu den Anfängen der Revolution in Deutschland siehe auch W. Mommsen, Größe und Versagen des deutschen Bürgertums. Ein Beitrag zur politischen Bewegung des 19. Jahrhunderts, insbesondere zur Revolution 1848/49, 2. Aufl. 1964, S. 52 ff. und H. Schulze, Der Weg zum Nationalstaat. Die deutsche Nationalbewegung vom 18. Jahrhundert bis zur Reichsgründung, 5. Aufl. 1997, S. 11 ff. 1136 Boldt, Deutsche Verfassungsgeschichte II (Fn. 719), S. 93. 1137 Boldt, Deutsche Verfassungsgeschichte II (Fn. 719), S. 92 f.; Braunias, Wahlrecht (Fn. 961), S. 109; F. Frensdorff, Die Aufnahme des allgemeinen Wahlrechts in das öffentliche Recht Deutschlands, in: Göttinger Juristen-Fakultät (Hrsg.), Festgabe der Göttinger Juristen-Fakultät für Rudolf v. Jhering zum fünfzigjährigen Doktor-Jubiläum am VI. August MDCCCXCII (1892), ND 1970, S. 135 (155). 1138 Meyer, Wahlrecht (Fn. 20), S. 176; Mommsen, Größe (Fn. 1135), S. 55 f.

Kap. 3: Frankfurter Reichsverfassung vom 12. April 1849

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nete Rolle gespielt1139. Das Vorparlament bestand aus 574 Mitgliedern, die aufgrund ihrer Zugehörigkeit zu den Landtagen der einzelnen Bundesstaaten berufen wurden. Die Debatten waren von dem Bemühen bestimmt, die Richtlinien zur Einberufung der Nationalversammlung so rasch wie möglich vorlegen zu können.1140 Man verständigte sich – wohl vor allem, weil während der Debatten die Auswirkungen des allgemeinen Wahlrechts im Besonderen und des Wahlsystems im Allgemeinen noch recht unbekannt waren1141 – auf ein sehr weitgehendes allgemeines Wahlrecht, das weder durch Zensus noch durch Religionsoder Standeszugehörigkeit, sondern nur durch das Kriterium der Selbständigkeit begrenzt wurde1142. Die Bundesversammlung als oberstes Organ des Deutschen Bundes und einziges Gremium, das seit dem Wiener Kongreß von 1815 bis 1848 und von 1850 bis 1866 für das gesamte Deutschland zuständig war, übernahm diese Vorgaben des Vorparlamentes im Rahmen des Beschlusses vom 7. April 1848. Er ordnete an, daß die Wahlen zur zukünftigen Nationalversammlung allgemein, insbesondere ohne Zensus abgehalten werden sollten. Die konkrete Ausgestaltung des Wahlaktes oblag der Regelung durch die Einzelstaaten.1143 Viele Staaten erließen auf dieser Rechtsgrundlage sogar ein allgemeines und gleiches Stimmrecht, das vollständig ohne das Selbständigkeitskriterium auskam. Sofern es Anwendung fand, wurde es in den Einzelstaaten allerdings auf unterschiedlichste Art und Weise ausgelegt. Die revolutionären Geschehnisse 1848/49 brachten mithin den „Durchbruch“ des demokratischen Wahlrechts in Deutschland1144, wenngleich dieser Erfolg nicht von Dauer sein sollte. Dem Reichswahlgesetz vom 12. April 1849 waren kontroverse Debatten über die „richtige“ Ausgestaltung des Wahlrechts1145 in der Deutschen Nationalversammlung vorausgegangen, die sich am 18. Mai 1848 in der Frankfurter Pauls1139 Meyer, Wahlsystem (Fn. 7), S. 85. Siehe zu den Beschlüssen des Vorparlaments, Verhandlungen des deutschen Parlaments, Bd. I, 1848, S. 172 ff., abgedruckt bei Huber (Hrsg.), Dokumente 1 (Fn. 8), Nr. 81 (78), S. 334 ff. 1140 Vogel/Schultze, Art. Deutschland (Fn. 744), S. 197 f. 1141 Vogel/Schultze, Art. Deutschland (Fn. 744), S. 200. 1142 Meyer, Wahlrecht (Fn. 20), S. 176 f. 1143 Willoweit, Deutsche Verfassungsgeschichte (Fn. 701), § 31 Rn. 4 f. (S. 256 f.); Würtenberger, Geschichte (Fn. 492), S. 547 f.; Braunias, Wahlrecht (Fn. 961), S. 81; Klein (Fn. 43), Art. 38 Rn. 17; erläuternd auch der Abgeordnete der Frankfurter Nationalversammlung Waitz, zitiert nach Wigard (Hrsg.), Stenographischer Bericht 1849 VII (Fn. 327), S. 5220, rechte Spalte. 1144 Strelen (Fn. 48), Einführung Rn. 51; Willoweit, Deutsche Verfassungsgeschichte (Fn. 701), § 31 Rn. 6 (S. 257: herausragende demokratische Legitimität im Vergleich mit anderen europäischen Staaten); hier finden sich nach Meyer, Wahlrecht (Fn. 20), S. 174 „die Wurzeln des Wahlrechtes“. 1145 Gilg, Erneuerung (Fn. 961), S. 11; Boldt, Deutsche Verfassungsgeschichte II (Fn. 719), S. 150 f.; J. Droz, Liberale Anschauungen zur Wahlrechtsfrage und das preußische Dreiklassenwahlrecht, in: E.-W. Böckenförde/R. Wahl (Hrsg.), Moderne deutsche Verfassungsgeschichte (1815–1914), 2. Aufl. 1981, S. 232 (239 ff.).

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Teil 3: Zensuswahlrecht in Deutschland

kirche1146 zusammengefunden hatte1147. Anders als im Vorparlament war den Abgeordneten der Frankfurter Nationalversammlung die Brisanz und das Konfliktpotential der Wahlrechtsfrage von Anfang an bewußt gewesen.1148 Die wichtigsten Vorarbeiten erledigte zunächst der Verfassungsausschuß.1149 Von Beginn der Debatten an schien die Kluft zwischen gemäßigten Liberalen und Linken in der Frankfurter Nationalversammlung unüberwindbar. Nicht aufgrund diametral verlaufender Grundüberzeugungen, denn teilweise lagen die beiden politischen Gruppierungen in ihren Intentionen gar nicht weit voneinander entfernt. Sie trennten vielmehr soziale Gründe. Die Liberalen fungierten nach wie vor als Anwalt und Sprachrohr des vermögenden Bildungsbürgertums, das sie als „Kern der Nation“ begriffen und dem sie die Vorherrschaft im Staat sichern wollten.1150 Dieses Ziel suchten sie durch Ausschluß der unteren Bevölkerungsschichten vom aktiven Wahlrecht oder wenigstens durch eine Schlechterstellung dieser Schichten im Vergleich zur Mittelklasse zu erreichen. Ein Zusammenkommen oder eine Art Kompromiß mit der Linken, der Verfechterin der politischen Rechte der unteren Schichten, schien vor diesem Hintergrund undenkbar. Fraglich ist, wie es trotz dieser unvereinbaren Standpunkte dennoch zur Verabschiedung eines allgemeinen und gleichen Wahlrechts im Rahmen des Reichswahlgesetzes kommen konnte. Letztlich war die Annahme dieses Wahlrechts das Nebenprodukt eines Handels der Parteien, d.h. Gegenstand eines politischen Kompromisses: Einer der umstrittensten Punkte in der Frankfurter Nationalversammlung war die sog. deutsche Frage gewesen. Zwei Lösungsmodelle standen sich hier gegenüber: Während unter der Bezeichnung der sog. großdeutschen Lösung ein Plan diskutiert wurde, der einen Österreich inkludierenden deutschen Nationalstaat unter Vorherrschaft des österreichischen Kaisers vorsah, zog das Gegenmodell, die sog. kleindeutsche Lösung, einen Zusammenschluß aller Mitglieder des Deutschen Bundes ohne Österreich und unter preußischer Führung vor.1151 Die Frage drohte die Nationalversammlung zu spalten, denn die Befürworter der großdeutschen Lösung, bestehend aus Rechten und Linken, und die

1146 Siehe hierzu statt vieler aus der Fülle an Literatur J.-D. Kühne, Die Reichsverfassung der Paulskirche. Vorbild und Verwirklichung im späteren deutschen Rechtsleben, 2. Aufl. 1998. 1147 Exemplarisch Huber, Verfassungsgeschichte II (Fn. 1121), S. 619 ff.; Boldt, Deutsche Verfassungsgeschichte II (Fn. 719), S. 145; Strelen (Fn. 48), Einführung Rn. 51. 1148 Gagel, Wahlrechtsfrage (Fn. 509), S. 7 f. 1149 Boldt, Deutsche Verfassungsgeschichte II (Fn. 719), S. 148; zum Entwurf des Verfassungsausschusses siehe auch M. Botzenhart, Deutscher Parlamentarismus in der Revolutionszeit 1848–1850, 1977, S. 663 ff. 1150 Gagel, Wahlrechtsfrage (Fn. 509), S. 15 f. 1151 Statt vieler Boldt, Deutsche Verfassungsgeschichte II (Fn. 719), S. 149 f.

Kap. 3: Frankfurter Reichsverfassung vom 12. April 1849

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das kleindeutsche Modell favorisierende Mitte waren in etwa gleich stark. Erst als die Regierung Österreichs im Mai 1849 im Wege des Verfassungsoktrois die staatliche Einheit der Habsburgmonarchie proklamierte und Zutritt zum Deutschen Staatenbund forderte, löste sich die Gruppe der Verfechter einer großdeutschen Lösung angesichts dieser unhaltbaren Forderung auf. Im Folgenden handelte die Linke mit der rechten Mitte einen Kompromiß aus, der u. a. der Forderung der rechten Mitte eines preußischen Erbkaisertums im Rahmen der kleindeutschen Lösung nachkam und den Linken die Etablierung des allgemeinen und gleichen Wahlrechts zugestand. Alle Anträge, die Beschränkungen des Wahlrechts vorsahen, wurden daraufhin in der Nationalversammlung abgelehnt.1152 Die ausgearbeitete Reichsverfassung wurde am 27. März 1849 – wenngleich nur mit knapper Mehrheit – angenommen und am nächsten Tag verkündet.1153 Die größeren Staaten wie Bayern oder Württemberg weigerten sich aber, die Reichsverfassung anzunehmen, und der preußische König lehnte die ihm von der Nationalversammlung angetragene Kaiserkrone ab1154, weshalb die Frankfurter Reichsverfassung niemals Wirksamkeit entfalten konnte.

B. Normative Erscheinungsformen des Zensus und ihre realpolitische Umsetzung I. Normative Vorgabe: Überwindung des Zensus durch das allgemeine und gleiche (Männer-)Wahlrecht Die Verfassung selbst traf keine Aussage über einen konkreten Wahlmodus, doch durch das Reichswahlgesetz vom 12. April 18491155 sollte das allgemeine, gleiche, unmittelbare und geheime Wahlrecht Einzug in Deutschland halten, wenn der dortige § 1 schlicht, aber in seinem Gehalt durchaus revolutionär proklamiert: „Wähler ist jeder unbescholtene Deutsche, welcher das fünfundzwanzigste Lebensjahr zurückgelegt hat.“ 1156

1152 Siehe Wigard (Hrsg.), Stenographischer Bericht 1849 VII (Fn. 327), S. 5346 ff.; Meyer, Wahlrecht (Fn. 20), S. 184 f. 1153 Boldt, Deutsche Verfassungsgeschichte II (Fn. 719), S. 150. 1154 Boldt, Deutsche Verfassungsgeschichte II (Fn. 719), S. 156. 1155 Siehe das Reichsgesetz über die Wahlen der Abgeordneten zum Volkshause vom 12. April 1849, Reichsgesetzblatt 1849, S. 79, abgedruckt bei: Huber (Hrsg.), Dokumente 1 (Fn. 8), Nr. 108 a (Nr. 103), S. 396 ff.; dazu Boldt, Deutsche Verfassungsgeschichte II (Fn. 719), S. 154; Meyer, Wahlsystem (Fn. 7), S. 86; Klein (Fn. 43), Art. 38 Rn. 17; Strelen (Fn. 48), Einführung Rn. 51; Meyer, Wahlrecht (Fn. 20), S. 180 f. 1156 Siehe das Reichsgesetz über die Wahlen der Abgeordneten zum Volkshause vom 12. April 1849, Reichsgesetzblatt 1849, S. 79, abgedruckt bei: Huber (Hrsg.), Dokumente 1 (Fn. 8), Nr. 108 a (Nr. 103), S. 396.

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Teil 3: Zensuswahlrecht in Deutschland

II. Realpolitische Umsetzung und Kritik Die größeren deutschen Staaten weigerten sich, das Verfassungswerk anzuerkennen, und auch „das Reichswahlgesetz blieb auf dem Papier“ 1157. Wahrscheinlich hatte es der Frankfurter Reichsverfassung aufgrund ihrer enormen Fortschrittlichkeit an geistiger und politischer Reife gemangelt.1158 Dennoch darf man ihre Bedeutung und Tragweite keinesfalls unterschätzen, denn sie war die erste gesamtdeutsche und demokratische Verfassung und übte mannigfach Einfluß auf nachfolgende Verfassungsdokumente aus. Sie erteilte zensitären Vorgaben erstmals für Gesamtdeutschland eine klare Absage, und schon wenige Jahre später feierte das Wahlgesetz bei der Gründung des Norddeutschen Bundes 1867 eine „Renaissance“.1159

C. (Rechts-)Philosophische/politische Begründung der Verteidigung/Ablehnung des Zensus: Innerparlamentarische Debatte um ein beschränktes Wahlrecht Interessanterweise wurde auch im Rahmen der Verhandlungen der Deutschen Nationalversammlung die bereits von Möser, Sieyes oder von Rotteck und Welcker als Argumentationsgrundlage herangezogene Aktientheorie bemüht, wobei sie in diesem Kontext eher als eine Art Randerscheinung zu werten ist. Der Abgeordnete Plathner plädierte für ein allgemeines, aber ungleiches Wahlrecht, das der Verschiedenheit der Bürger über ein quantitativ unterschiedliches Stimmrecht Rechnung tragen sollte, und zog zur Illustration und argumentativen Untermauerung seines Vorschlags die Aktientheorie heran: „In jeder Actiengesellschaft stimmt auch Jeder mit, aber wie stimmt Jeder mit? Jeder stimmt nach dem Capital mit, das er eingelegt hat; wer viel eingelegt hat, stimmt viel; wer wenig eingelegt hat, stimmt wenig; – nun ist allerdings der Staat keine Actiengesellschaft, sondern ein viel entwickelteres Verhältniß, das ist ganz richtig, darum stimmt im Staat auch Derjenige mit, der nichts an Geld eingelegt hat, sondern Jeder, der überhaupt dem Staate Pflichten leistet, und Das ist Jeder; denn es ist der Staat die absolute Macht über das Individuum, es ist zuletzt Jeder verpflichtet, sein Alles dem Staate hinzugeben.“ 1160 Während dieser auf dem Vergleich der bürgerlichen Gesellschaft mit einer Aktiengesellschaft aufbauende Vorschlag einer 1157 Braunias, Wahlrecht (Fn. 961), S. 81; sehr ähnlich anmutende Formulierung bei Savigny, Wahlrecht (Fn. 31), S. 24 („[. . .] Wahlgesetz, das am 12. April 1849 in der Paulskirche papierenes Leben erhielt [. . .]“); knapp zur Nichtanwendung des Gesetzes auch Klein (Fn. 43), Art. 38 Rn. 18. 1158 So mutmaßt jedenfalls beispielsweise Gilg, Erneuerung (Fn. 961), S. 10. 1159 Meyer, Wahlsystem (Fn. 7), S. 87; zum Vorbildcharakter des Reichswahlgesetzes von 1849 für den Norddeutschen Bund auch Strelen (Fn. 48), Einführung Rn. 51. 1160 Zitiert nach Wigard (Hrsg.), Stenographischer Bericht 1849 VII (Fn. 327), S. 5312, linke Spalte.

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Staffelung der Stimmen im Wege eines Klassenwahlrechts zwar angesprochen, aber im Verlauf nicht ernsthaft in Erwägung gezogen wurde, kreisten die Debatten primär um die Frage des „ob“, d.h. ob überhaupt ausnahmslos alle Bürger aktiv wahlberechtigt sein sollten. Als Kriterium, von dem die Wahlrechtsfähigkeit abhängig gemacht werden sollte, hatte sich rasch die Selbständigkeit1161 herausgeschält, das auch schon vom Wahlgesetzentwurf der Verfassungskommission1162 und vom Vorparlament1163 vorgegeben worden war. Der Abgeordnete Waitz als Berichterstatter des Verfassungsausschusses zu dem Entwurf des Reichsgesetzes über die Wahlen der Abgeordneten zum Volkshause führte zur Begründung dieses Kriteriums zunächst grundsätzlich klarstellend aus, das Wahlrecht als politisches Recht sei „mit nichten als ein solches zu betrachten, welches der Person unmittelbar und eigenthümlich anhaftet; es ist nicht die individuelle Freiheit, welche in demselben Befriedigung und Schutz erhalten soll; sondern das Beste der Gesammtheit muß bestimmen, wer geeignet ist als der Träger dieses Rechts zu erscheinen und es zum Frommen der Gesammtheit zur Ausübung zu bringen. (. . .) Keine Staatsordnung (. . .) wird bestehen oder doch zu irgend welcher Stätigkeit gelangen können, wenn die Entscheidung aller politischen Fragen in die Hände der großen Masse (. . .) gelegt wird“ 1164. Da ein Wahlrecht nach Ständen aus Sicht des Verfassungsausschusses ebensowenig in Betracht kam wie ein an die Steuerleistung anknüpfendes Zensuswahlrecht, das nicht zuletzt an den unterschiedlichen Steuersystemen der Länder, aber auch und vor allem an der Sorge vor der Etablierung einer Geldaristokratie scheitere, hatte man sich – obwohl man sich der Schwierigkeiten der Bestimmbarkeit des Kriteriums und dessen unterschiedlicher Auslegung in den Ländern bewußt war – für die Verknüpfung des aktiven Wahlrechts mit dem Erfordernis der Selbständigkeit entschieden.1165 Mit dem Selbständigkeitskriterium knüpfte der Verfassungsausschuß an die herrschende Lehre der vormärzlichen Literatur an.1166 Der Maßstab 1161 Siehe die 126./127. Sitzung vom 2./3. Januar 1849, abgedruckt in: R. Hübner (Hrsg.), Aktenstücke und Aufzeichnungen zur Geschichte der Frankfurter Nationalversammlung aus dem Nachlaß von J. G. Droysen (1924), ND 1967, S. 370 f.; siehe Böhme, Rechte (Fn. 253), S. 92 ff. (zur Abgrenzung zwischen „wirtschaftlicher“ und „persönlicher Selbständigkeit“). 1162 Siehe Art. I, §§ 1 und 2, abgedruckt bei Wigard (Hrsg.), Stenographischer Bericht 1849 VII (Fn. 327), S. 5218. Dazu knapp Braunias, Wahlrecht (Fn. 961), S. 81. 1163 Meyer, Wahlrecht (Fn. 20), S. 177, 182. 1164 So die Ausführungen des Berichterstatters Waitz, zitiert nach Wigard (Hrsg.), Stenographischer Bericht 1849 VII (Fn. 327), S. 5222, rechte Spalte; dazu Gagel, Wahlrechtsfrage (Fn. 509), S. 10 f.; Meyer, Wahlrecht (Fn. 20), S. 181. Hintergrund der entschiedenen Negation des Wahlrechts als Ausdruck individueller Freiheit des Einzelnen ist das den Liberalen wie den Konservativen gleichermaßen anhaftende Verständnis einer Höherbewertung der Ordnung im Vergleich zur Freiheit, siehe knapp Boldt, Deutsche Verfassungsgeschichte II (Fn. 719), S. 97. 1165 Ebenso Waitz, erneut zitiert nach Wigard (Hrsg.), Stenographischer Bericht 1849 VII (Fn. 327), S. 5223, beide Spalten. 1166 Siehe hierzu bereits ausführlich S. 215 ff.

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der Selbständigkeit war am Ende auch deshalb übrig geblieben, weil sich ein Steuerzensus als argumentativ unhaltbar erwiesen hatte.1167 Befürworter des allgemeinen und gleichen Wahlrechts hatten ihm im Verlaufe der Debatten eine ganze Reihe von Möglichkeiten entgegengehalten, im Wege derer der Bürger auch auf anderem Wege seinen Beitrag im Staat erbringen konnte1168: sei es durch indirekte Steuern1169, Arbeit1170 oder durch die Wehrpflicht1171. Alles in allem, so faßte der Abgeordnete Pfeiffer die Argumentation zusammen, sei es doch so, „daß gerade die niedrigste Steuerquote den höchsten Ertrag zur Staatseinnahme bringt, und wenn Sie dabei auf die Arbeit, auf die Theilnahme an der Volkswehr sehen, so meine ich, daß gerade diese Stände mehr mit thaten, als manche Privilegirten“ 1172. Zudem sei der Steuerzensus, so Pfeiffer weiter, in den Gesetzen der Einzelstaaten schon in der Zeit vor 1848 kaum vorgekommen und habe in Frankreich gar eine ganze Verfassung zu Fall gebracht.1173 Ganz grundsätzlich standen sich in der Frankfurter Nationalversammlung zwei politische Lager gegenüber: Die gemäßigten Liberalen, die eine Beschränkung des Wahlrechts forderten1174, und die Linke, die jegliche Beschränkung kategorisch ablehnte und bekämpfte1175.

1167 Nur eine Minderheit der liberalen Abgeordneten, darunter z. B. Tellkampf, Wigard (Hrsg.), Stenographischer Bericht 1849 VII (Fn. 327), S. 5304 f., und von Gagern (ebd., S. 5303, rechte Spalte), hatte sich, um nicht ganzen Klassen der Bevölkerung die politische Partizipationsmöglichkeit zu nehmen, für einen mäßigen Zensus stark gemacht. 1168 Vergleiche hierzu Böhme, Rechte (Fn. 253), S. 88, 109. 1169 Siehe zur indirekten Steuer beispielsweise die Abgeordneten Löwe (Wigard [Hrsg.], Stenographischer Bericht 1849 VII [Fn. 327], S. 5243, rechte Spalte); Mölling (ebd., S. 5288, rechte Spalte); Eisenstuck (ebd., S. 5309, rechte Spalte); Simon (ebd., S. 5313, linke Spalte). 1170 Siehe zur Arbeit als Beitrag im Staate exemplarisch Löwe (ebd., S. 5244, rechte Spalte). 1171 Verweis auf den Kriegsdienst u. a. bei Simon (ebd., S. 5313, linke Spalte); Mittermaier (ebd., S. 5326, rechte Spalte); Ziegert (ebd., S. 5235, linke Spalte, Verteidigung des Vaterlandes gar als wichtigstes Recht und wichtigste Pflicht, mit der man die unteren Schichten anscheinend bedenkenlos betrauen könne). 1172 Wigard (Hrsg.), Stenographischer Bericht 1849 VII (Fn. 327), S. 5249, rechte Spalte. Gleiche Stoßrichtung beim Abgeordneten Eisenstuck (ebd., S. 5309, rechte Spalte): „Wer also, meine Herren, trägt in Summa am Meisten bei zu den Mitteln für die Staatsbedürfnisse? Wahrhaftig Niemand mehr, als diejenigen Klassen, welche Sie ausschließen wollen.“ 1173 Zu diesen Ursachen für die ablehnende Haltung der Frankfurter Nationalversammlung gegenüber zensitären Ausgestaltungsformen, siehe Meyer, Wahlrecht (Fn. 20), S. 185 f. 1174 Gagel, Wahlrechtsfrage (Fn. 509), S. 9. 1175 Meyer, Wahlrecht (Fn. 20), S. 183 f.

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I. Forderung einer Beschränkung des Wahlrechts durch das Selbständigkeitskriterium aus Angst vor den ungebildeten Massen an der Urne Ein erstes Argument, das für ein beschränktes Wahlrecht vorgebracht wurde, war die angebliche Manipulier- und Beeinflußbarkeit der unteren Bevölkerungsschichten.1176 Diese beruhe auf der mangelden politischen Einsichtsfähigkeit und Unreife vieler Bürger, die sie zur leichten Beute für Demagogen jeder Art werden ließen.1177 Ganz im Sinne Guizots und der physiokratischen Lehre1178 vertraten die Liberalen die Ansicht, daß nur die vernünftige politische Meinung als „dem wahren Bewußtsein des Volkes (. . .)“ 1179 entsprechend und nicht die Anschauung ausnahmslos aller Bürger allein aufgrund ihrer Staatsangehörigkeit Willen repräsentiert werden sollte. Nur brauchte man eben ein meßbares Kriterium dieser Vernunft. Neben diese geistige Armut trete zweitens die soziale und wirtschaftliche Abhängigkeit, die es ärmeren Menschen oft verbiete, bei der Stimmabgabe ihrer eigenen politischen Überzeugung zu folgen, sondern vielmehr die Adaption der Überzeugung des Arbeitgebers, Dienstherren, Verpächters etc. erzwinge. Der Abgeordnete von Raumer bemüht als Beleg für die Abhängigkeit bei der Stimmabgabe die englische Reformbill, mit der den kleineren Pächtern das Wahlrecht zugestanden wurde. Nach Einschätzung von von Raumer war dies nicht unbedingt ausschließlich zu deren Vorteil: „nach der neuen Parlamentswahl hatte sich herausgestellt, daß vielen dieser mit dem Wahlrechte beglückten Personen die Pacht wäre gekündigt worden, wenn sie nicht eingewilligt, mit ihren Verpachtern zu stimmen (. . .)“ 1180. Das Selbständigkeitskriterium ist schließlich nichts anderes als der Versuch, die persönlich bzw. wirtschaftlich Eigenständigen von den Nicht-Eigenständigen zu separieren, um eine politisch zwanglose Entscheidungsfindung zu gewährleisten. Drittens zeichnete man Schreckensbilder der Diktatur 1176 Siehe erneut den Berichterstatter Waitz: „Keine Staatsordnung (. . .) wird bestehen oder doch zu irgend welcher Stätigkeit gelangen können, wenn die Entscheidung aller politischen Fragen in die Hände der großen Masse, die sich nur zu oft willenlos leiten läßt und launenhaft Tag um Tag dem einen oder andern Führer folgt, gelegt wird“, zitiert nach Wigard (Hrsg.), Stenographischer Bericht 1849 VII (Fn. 327), S. 5222, rechte Spalte. 1177 Berichterstatter Waitz in der 127. Sitzung vom 3. Januar 1849 zum in den unteren Bevölkerungsschichten angeblich weit verbreiteten Mißstand politischer Unreife: „Denn die (. . .) Aufgeführten sind nicht politisch selbständig und reif, (. . .). Diese Art Leute sind allen Einflüssen preisgegeben, (. . .)“, zitiert nach Hübner (Hrsg.), Aktenstücke (Fn. 1161), S. 372. 1178 Siehe hierzu bereits erläuternd S. 93 ff. und S. 132 ff. 1179 Die Formulierung wurde geprägt durch den Berichterstatter Waitz, siehe Wigard (Hrsg.), Stenographischer Bericht 1849 VII (Fn. 327), S. 5220, linke Spalte. 1180 Zitiert nach Wigard (Hrsg.), Stenographischer Bericht 1849 VII (Fn. 327), S. 5285, linke Spalte.

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Napoleon Bonapartes nach, für die man das allgemeine und gleiche Stimmrecht verantwortlich machte.1181 Ein viertes Argument gegen ein unbeschränktes Wahlrecht schien für die Liberalen aber noch viel tiefgehender als alle zuvor genannten. Die Sorge vor dem Untergang der politischen Freiheit der Gesamtheit in der individuellen politischen Freiheit des Einzelnen oder anders formuliert die Angst vor der Übermacht der ungebildeten und wirtschaftlich wie persönlich abhängigen Bevölkerungsschichten über die gebildete und vermögende Mittelklasse allein wegen ihrer zahlenmäßigen Überlegenheit.1182 Die Armen würden dann für politische Vorhaben votieren, für die die politische Minderheit der wohlhabenden Mittelklasse zu zahlen hätte, wodurch ein „indirekter Kommunismus“ 1183 entstünde. Da nicht nur die Beschränkung des Wahlrechts als solche, sondern auch der Maßstab der Selbständigkeit allen voran wegen seiner wenig greifbaren Konturen und vielfältigen Interpretationsmöglichkeiten in der Versammlung erwartungsgemäß auf Widerstand stieß, brachten die Liberalen eine Vielzahl unterschiedlicher Aspekte vor, an denen sie die Selbständigkeit objektiv nachweis- und meßbar zu machen suchten, um die Gegner doch noch von der Tauglichkeit und vor allem Praktikabilität dieses Erfordernisses zu überzeugen. Vom Intelligenzerfordernis bis zum schlichten Nachweis von Geld wurde nahezu alles vertreten.1184 Man suchte nach einer überprüfbaren „Bürgschaft der Selbständigkeit“ 1185. Die Wähler sollten sozial unabhängig sein, um eigene und keine fremden Entscheidungen zu treffen. Der Berichterstatter Waitz warnte zum Wohle des Staates eindringlich vor der Gleichstellung unabhängiger und abhängiger Bürger: „Das vor allem scheint dem deutschen Sinne auch in der Zeit der ersten unruhigen Bewegung widerstrebt zu haben, daß der abhängige, in allen seinen Lebensverhältnissen auf eine andere Persönlichkeit hingewiesene dem selbstständigen, für sich stehenden

1181 Zu diesem Kausalzusammenhang der Abgeordnete Bassermann: „Aber, wer hat denn Napoleon den Absolutismus in die Hand gegeben, wer hat ihn zum unumschränkten erblichen Kaiser gemacht? Das allgemeine Stimmrecht war es, die Millionen Franzosen haben in ihren Gemeinden Mann für Mann abgestimmt, und darauf konnte er sich berufen und hat sich berufen“, siehe ebd., S. 5253, linke Spalte. 1182 Siehe die 129. Sitzung vom 6. Januar 1849, zitiert nach Hübner (Hrsg.), Aktenstücke (Fn. 1161), S. 383 f. Reh: „Die Zahl der Proletarier überflügelt schon die der Besitzenden, und so würde für Europa der Zensus gerechtfertigt sein (. . .)“ und der Abgeordnete Beseler: „die Masse hier ist es, die hier in Überlast steht und nicht selbständig ist. (. . .) aber ebenso sei er jetzt dagegen, die Masse hereindringen zu lassen.“ Diese Sorge kann wohl mit Fug und Recht als Urangst der Liberalen bezeichnet werden, siehe dazu knapp Knoll, Führungsauslese (Fn. 744), S. 77 f. 1183 So die plastische Formulierung des Abgeordneten Tellkampf in der 129. Sitzung vom 6. Januar 1849, abgedruckt in Hübner (Hrsg.), Aktenstücke (Fn. 1161), S. 381. 1184 So die Abgeordneten Scheller (Intelligenz); Ahrens (Interesse an einer ruhigen Entwicklung) und erneut Scheller (Geld) in der 128. Sitzung vom 5. Januar 1849, abgedruckt bei Hübner (Hrsg.), Aktenstücke (Fn. 1161), S. 377. 1185 Siehe Aretin/Rotteck, Staatsrecht (Fn. 42), S. 169.

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und für sich thätigen Mann, gleichgestellt werde.“ 1186 Auch Kant wurde von einigen Liberalen bemüht, um ihre Argumentationslinie zu stärken.1187 Um dem vagen und unterschiedlich zu deutenden Kriterium noch mehr Kontur zu verleihen, übernahmen sie die vom Vorausschuß entwickelten Kategorien von Bürgern1188, denen sie die Selbständigkeit und somit die aktive Wahlberechtigung absprechen wollten: ausgeschlossen sein sollten jedenfalls Dienstboten1189, je nach Grad des Abhängigkeitsverhältnisses auch Arbeiter, Handwerksgehilfen, Gewerbegehilfen oder Tagelöhner1190. Es wurde in der Nationalversammlung aber auch die andere Ansicht vertreten, so z. B. durch den Abgeordneten Mölling, der darauf abstellte, daß sowohl Dienstboten als auch Handwerksgehilfen ebenfalls „durch ein materielles Band mit der Staatsgesellschaft“ verbunden seien, sei es über das Armengeld, die Classensteuer oder einen evtl. vorhandenen Grundbesitz.1191 II. Forderung eines unbeschränkten Wahlrechts durch Revision des Selbständigkeitskriteriums Das Hauptargument der Linken gegen eine Beschränkung des Wahlrechts bestand im nachdrücklichen Verweis darauf, daß die ärmeren Bevölkerungsschichten die steuerliche Hauptlast des Staates zu tragen hätten und zudem auf mannig1186 Zitiert nach Wigard (Hrsg.), Stenographischer Bericht 1849 VII (Fn. 327), S. 5223, rechte Spalte. 1187 Auf Kant, der den Genuß politischer Rechte unter die Bedingung der Selbstständigkeit gestellt habe, verwies u. a. der Abgeordnete Edlauer und bekräftigte, auch die neuere Philosophie habe sich dieser Grundannahme angeschlossen, siehe Wigard (Hrsg.), Stenographischer Bericht 1849 VII (Fn. 327), S. 5237, linke Spalte. 1188 Zur Begründung, warum die Berufsgruppen der Dienstboten, Handwerksgehilfen, Fabrikarbeiter und Tagelöhner nach Dafürhalten des Verfassungsausschusses nicht selbständig und mithin nicht aktiv wahlberechtigt sein sollen, siehe die Ausführungen des Berichterstatters Waitz, Wigard (Hrsg.), Stenographischer Bericht 1849 VII (Fn. 327), S. 5223 f. 1189 Für diese Ansicht siehe stellvertretend die Abgeordneten Scheller in der 127. Sitzung vom 3. Januar 1849, abgedruckt in: Hübner (Hrsg.), Aktenstücke (Fn. 1161), S. 372; Beseler in der 128. Sitzung vom 5. Januar 1849, abgedruckt ebd., S. 375 sowie Mittermaier, ebenfalls in der 128. Sitzung vom 5. Januar 1849, ebd., S. 378. Auch mit diesem Verständnis von Selbständigkeit zeigten sich die gemäßigten Liberalen der Frankfurter Nationalversammlung auf ganzer Linie mit der herrschenden Meinung der zeitgenössischen Literatur, siehe hierzu nur Aretin/Rotteck, Staatsrecht (Fn. 42), S. 164; Welcker, Art.: Grundvertrag (Fn. 1109), S. 255; Bülau, Wahlrecht (Fn. 1049), S. 106. 1190 Dazu beispielsweise der Abgeordnete Ahrens in der 128. Sitzung vom 5. Januar 1849, abgedruckt in: Hübner (Hrsg.), Aktenstücke (Fn. 1161), S. 373. Als problematisch erweist sich hier erneut die Frage der Abgrenzbarkeit, denn auch Arbeiter können selbständig tätig sein, siehe hierzu den berechtigten Einwand des Abgeordneten Beseler in eben jener Sitzung, ebd., S. 375. 1191 Siehe Wigard (Hrsg.), Stenographischer Bericht 1849 VII (Fn. 327), S. 5288, rechte Spalte; ebenso der Abgeordnete Wigard in der 127. Sitzung vom 3. Januar 1849, abgedruckt bei Hübner (Hrsg.), Aktenstücke (Fn. 1161), S. 372.

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fache Weise, wie durch indirekte Steuern, ihre Arbeit und vor allem die Ableistung des Kriegsdienstes zum Wohle und Gelingen des Staates beitrügen.1192 Auch sie versuchten folglich den Beitragsgedanken einer Korrespondenz von Rechten und Pflichten im Staat für sich nutzbar zu machen, indem sie die Felder unterstrichen, auf denen auch die ärmeren Bevölkerungsschichten ihren Beitrag zu leisten vermochten. Nur sehr selten wurde die Forderung des allgemeinen und gleichen Wahlrechts indes abstrakt auf naturrechtliche Vorstellungen zurückgeführt. Der Abgeordnete Ziegert rekurrierte ausnahmsweise auf die „sittliche Berechtigung“ des Menschen, nicht auf die Leistung des Bürgers für den Staat: „der Mensch gilt in seiner abstracten sittlichen Berechtigung ohne Rücksicht auf seine Qualität, auf Bei- und Zuthat (. . .)“ 1193. Stattdessen warnte man vor der konkreten Gefahr einer Radikalisierung der unteren Schichten und der Erschaffung eines Proletariats, sollte man den Vierten Stand durch Ausschluß vom Wahlrecht an den Rande der Gesellschaft drängen.1194 Es wurde befürchtet, daß eine Beschränkung des Wahlrechts den Vierten Stand aufwiegeln und revolutionäre Bewegungen wiederbeleben würde. Der Abgeordnete Wigard prophezeite beispielsweise in der 128. Sitzung vom 5. Januar 1849, eine Beschränkung des Wahlrechts würde „diesen großen Stand von neuem aufreizen und die Bewegung erneuern, die dann alles zerstören wird“ 1195. Ganz bewußt entwarf die Linke das Horrorszenario des Klassenkampfes und warnte davor, die Ausgeschlossenen gleichermaßen zu Feinden der vermögenden Klassen und des Staates selbst zu machen.1196 Das allgemeine Wahlrecht allein könne die soziale Frage zwar nicht lösen, ohne dieses sei wiederum eine friedliche Lösung derselben aber jedenfalls gänzlich ausgeschlossen.1197 1192 Hierzu der Abgeordnete Simon: „Sie wissen ja, daß in Preußen die unterste Stufe der Klassensteuer mehr aufbringt als die beiden höchsten zusammen; Sie wissen ja, daß zu den auf den unentbehrlichsten Lebensmitteln haftenden indirecten Steuern die Armen am Meisten beitragen (. . .)“, zitiert nach Wigard (Hrsg.), Stenographischer Bericht 1849 VII (Fn. 327), S. 5315, linke Spalte. 1193 Zitiert nach Wigard (Hrsg.), Stenographischer Bericht 1849 VII (Fn. 327), S. 5234, rechte Spalte. 1194 Siehe Mittermaier in der 128. Sitzung vom 5. Januar 1849, zitiert ein weiteres Mal nach Hübner (Hrsg.), Aktenstücke (Fn. 1161), S. 373: „Man muß keinen Pöbel schaffen, damit er nicht gefährlich werde“; diese Gefahr sprach sogar der Berichterstatter des Verfassungsausschusses Waitz an, siehe Wigard (Hrsg.), Stenographischer Bericht 1849 VII (Fn. 327), S. 5224, rechte Spalte. 1195 Zitiert nach Hübner (Hrsg.), Aktenstücke (Fn. 1161), S. 374. 1196 So der Abgeordneten Löwe: „(. . .) in dem Augenblick, wo wir sie [die unteren Bevölkerungsschichten, A. S.] ausschließen, schaffen wir uns ebenso viele Feinde“, zitiert nach Wigard (Hrsg.), Stenographischer Bericht 1849 VII (Fn. 327), S. 5243, linke Spalte und Venedey: „Jeder Ausschluß vom Wahlrecht stellt die Bürger, die Einen den Andern gegenüber, und Sie mögen ein Princip suchen, welches Sie wollen, Sie werden immer berechtigte und unberechtigte Bürger schaffen“, ebd., S. 5289, rechte Spalte. 1197 So jedenfalls die Einschätzung zur Lösung der sozialen Frage des Abgeordneten Ziegert, siehe Wigard (Hrsg.), Stenographischer Bericht 1849 VII (Fn. 327), S. 5235, beide Spalten.

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Ein leidenschaftliches Plädoyer für die Einführung des allgemeinen und gleichen Wahlrechts hielt in diesem Zusammenhang auch der Abgeordnete Ziegert, der die Nationalversammlung einschwor, sie habe erst vor kurzem stolz und voller Pathos die Abschaffung aller Standesvorrechte und die Gleichheit aller Deutschen vor dem Gesetze proklamiert. Man solle jetzt nicht den Fehler machen und die bürgerliche Freiheit durch Ausschluß der unteren Bevölkerungsschichten wieder beschneiden: „Und in derselben Paulskirche sollen wir jetzt diese Grundsätze verleugnen, und mehr als die Hälfte der Deutschen aus der Gemeinschaft der Berechtigten hinausstoßen? (. . .) Meine Herren, ich will Ihnen darthun, daß Sie, wenn Sie die Bestimmungen des vorliegenden Gesetzentwurfs [des Verfassungsausschusses, A. S.] adoptiren (. . .), daß Sie dadurch eine große Ungerechtigkeit begehen, daß Sie ferner einen großen Theil der Nation unter die Vormundschaft einer Aristokratie stellen, und daß Sie endlich auch einen verderblichen politischen Fehlgriff thun.“ Man würde nicht nur einen willkürlichen und ungerechten Akt verüben, sondern vielmehr einen „Angriff auf die kaum errungene bürgerliche Freiheit“. Akzeptanz politischer Entscheidungen, politische Bildung und Einsichtsfähigkeit könnten nicht anders als über die Partizipation ausnahmslos aller Bürger an staatlichen Belangen erreicht werden: „Denn Sie wissen nur zu gut, daß man nur die Gesetze liebt, ehrt und achtet, die man sich selbst gegeben hat, daß nur durch Betheiligung an politischen Angelegenheiten wahres Selbstbewußtsein geweckt und politische Bildung gefördert wird, und daß der gestörte Friede in der Gesellschaft nicht durch Hervorrufung eines neuen Kampfes mit bevorrechteten Classen angebahnt wird.“ 1198 Auch einige wenige liberale Abgeordnete erkannten die Gefahr einer Radikalisierung der vom aktiven Wahlrecht ausgeschlossenen Bevölkerungsteile. Zum Beispiel hielt es der Abgeordnete Tellkampf für ungerecht und unpolitisch, ganze Klassen von der Vertretung auszuklammern. Er zog daraus aber keineswegs wie die Abgeordneten der Linken die Folgerung, ausnahmslos allen Bürgern gleichermaßen das Wahlrecht zuzusprechen, sondern plädierte für einen mäßigen Zensus; ein Wahlsystem ohne jeglichen Zensus „würde die Wohlhabendern eben so sehr zu Feinden des Staates und der Verfassung machen, als die gänzliche Ausschließung der arbeitenden Klassen diese zu Feinden des Staates machen würde“ 1199. Die Linke setzte alles daran, das Selbständigkeitskriterium zu kippen, indem sie die eigentliche Intention der Liberalen, den Ausschluß der vermögenslosen Bevölkerungsschichten und dadurch die Bewahrung der Alleinherrschaft der Mittelklasse, zu entlarven suchte.1200 Der Abgeordnete von Gagern unternahm erst

1198 Redepassagen des Abgeordneten Ziegert zitiert nach Wigard (Hrsg.), Stenographischer Bericht 1849 VII (Fn. 327), S. 5233 f. 1199 Zitiert nach Wigard (Hrsg.), Stenographischer Bericht 1849 VII (Fn. 327), S. 5304 f. 1200 Gagel, Wahlrechtsfrage (Fn. 509), S. 13.

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gar nicht den Versuch, diese Intention der Liberalen zu verschleiern, sondern sprach unverholen aus: „Den Mittelclassen den überwiegenden Einfluß im Staat zu sichern, ist die Richtung unserer Zeit.“ 1201 Die Unselbständigkeit, so die Verfechter des allgemeinen und gleichen Wahlrechts, sei nur „die Maske der Besitzlosigkeit“ 1202 und als eine Art „Selbstständigkeit der Gesinnung“ nicht an äußeren Lebensumständen festzumachen1203. Dabei waren viele der Abgeordneten nicht per se gegen eine Berücksichtigung von Bildung oder Besitz, lehnten eben jene aber als Ausschlußkriterien für das Wahlrecht entschieden ab.1204 Ursache hierfür ist wohl die Gewißheit aller Beteiligten darüber, daß es den gemäßigten Liberalen bei aller Besorgnis um das Staatswohl, auch, wenn nicht gar zuvörderst, um den Ausschluß des Vierten Standes1205 ging. Vermögen, so die Linke, sei aber kein Garant für politische Bildung. Allein den Vermögenden das aktive Wahlrecht zuteil werden zu lassen, sei, so der Abgeordnete Wigard, eine „unabsichtliche Anmaßung der Gebildeten gegen die sogenannten Ungebildeten“, denn „unter der sogenannten Bourgeoisie sei ebensoviel und mehr politische Unbildung, als unter den kleinsten Leuten“ 1206. Abhängigkeiten existierten überall, auch innerhalb der vermögenden Schichten. Der Abgeordnete Vogt fragte in diesem Kontext provokativ: „Glauben Sie wirklich, die Beamten in den Staaten, glauben Sie, die hier vielfach gerühmten Professoren seien freier als die Arbeiter?“ 1207 Im Übrigen sei die Suche nach einem geeigneten Vermögensindikator zum Scheitern verurteilt. Zu dieser Unmöglichkeit, ein taugliches Abgrenzungskriterium zu finden, führte der Abgeordnete Mittermaier aus: „es ist freilich eine Reihe von Leuten da, denen ich kein Wahlrecht geben würde, hommes sans aveu, die sich um gar nichts bekümmern, die wie die Bettler durch das brennende Dorf laufen und sich freuen, wenn es brennt; es sind aber doch nur Einige; 1201 Zitiert nach Wigard (Hrsg.), Stenographischer Bericht 1849 VII (Fn. 327), S. 5303, rechte Spalte. 1202 Plastische Wendung des Abgeordneten Simon, zitiert nach ebd., S. 5314, linke Spalte. 1203 Feststellend der Abgeordnete Pfeiffer (ebd., S. 5248, rechte Spalte). 1204 Zur natürlichen Einflußnahme von Bildung und Besitz auf das staatliche Geschehen siehe die Ausführungen des Abgeordneten Simon: „Bildung und Besitz geben Einfluß und Uebergewicht. Dieser Einfluß, dieses Uebergewicht kommen aber auch in der Concurrenz des allgemeinen Stimmrechtes von selbst auf dem natürlichsten Wege zur Geltung“, zitiert nach Wigard (Hrsg.), Stenographischer Bericht 1849 VII (Fn. 327), S. 5315, rechte Spalte, Hervorhebungen i. O., A. S. 1205 Siehe zu dieser bewußten, ja gar beabsichtigten Ausschließung der Angehörigen des Vierten Standes die Vorwürfe der Abgeordneten Wigard und Ahrens in der 128. Sitzung vom 5. Januar 1849, abgedruckt in: Hübner (Hrsg.), Aktenstücke (Fn. 1161), S. 374 und 377. 1206 128. Sitzung vom 5. Januar 1849, abgedruckt in: Hübner (Hrsg.), Aktenstücke (Fn. 1161), S. 374. 1207 Zitiert nach Wigard (Hrsg.), Stenographischer Bericht 1849 VII (Fn. 327), S. 5256, linke Spalte.

Kap. 4: Von der Reichsgründung bis zur Weimarer Republik (1871–1918)

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das schlimmste aber ist, daß, wenn Sie einen Ausdruck wählten, der Viele umfaßt, Sie dann eine Reihe von Tüchtigen mitumfassen müssen“ 1208. In der vormärzlichen Literatur fanden die Linken für ihre ablehnende Haltung gegenüber der Verquickung von aktivem Wahlrecht und Vermögen allerdings nur wenig Rückhalt.1209 Dennoch boten die Liberalen ihnen eine Menge Angriffsfläche, wollten sie doch beispielsweise aus nicht rational ersichtlichen Gründen und trotz offensichtlich bestehendem Abhängigkeitsverhältnis Hauslehrer1210 und Staatsbeamte1211 unter die Selbständigen fassen, um ihnen das Wahlrecht zusprechen zu können. Bei diesen Berufsgruppen wurden Bildung und Einsichtsfähigkeit in politische Belange völlig ergebnisorientiert schlicht unterstellt.1212 Kapitel 4

Deutschland in der Zeit von der Reichsgründung bis zur Weimarer Republik (1871–1918): Die Einführung des allgemeinen und gleichen (Männer-)Wahlrechts auf Reichsebene A. Vorgeschichte: Nach Scheitern in Preußen Etablierung des allgemeinen und gleichen (Männer-)Wahlrechts auf Reichsebene Eine Person ist mit der Entstehungsgeschichte der Verfassung des Deutschen Reiches vom 16. April 1871 im Besonderen und dem Deutschen Reich im Allgemeinen verwoben wie kaum eine zweite: Otto Eduard Leopold von BismarckSchönhausen (1815–1898)1213, der durch die Geschichtsschreibung mit dem Titel 1208 Erneut zitiert nach Wigard (Hrsg.), Stenographischer Bericht 1849 VII (Fn. 327), S. 5327, rechte Spalte, Hervorhebungen i. O., A. S. 1209 W. J. Behr, Neuer Abriss der Staatswissenschaftslehre zum Gebrauche für Vorlesungen nebst einem Versuche des Grundrisses einer Constitution für Monarchien, 1816, S. 357. 1210 Dazu der Abgeordnete Beseler in der 128. Sitzung vom 5. Januar 1849, abermals zitiert nach Hübner (Hrsg.), Aktenstücke (Fn. 1161), S. 375. 1211 Für die Zulassung der Staatsbediensteten zur aktiven Wahl positionierte sich beispielsweise der Abgeordnete Eisenstuck, siehe Wigard (Hrsg.), Stenographischer Bericht 1849 VII (Fn. 327), S. 5308, rechte Spalte; zur Kritik an dieser Ansicht referrierend Berichterstatter Waitz: „(. . .) der Besitzende sei von seinem Besitz, der Beamte von seinem Amte nicht weniger abhängig, als der Arbeiter von seiner Arbeit“, zitiert nach Wigard (Hrsg.), Stenographischer Bericht 1849 VII (Fn. 327), S. 5225, linke Spalte. 1212 Automatischer Rückschluß beim Abgeordneten Beseler in der 128. Sitzung vom 5. Januar 1849, abermals zitiert nach Hübner (Hrsg.), Aktenstücke (Fn. 1161), S. 375. 1213 Aus der überbordenden Fülle an Literatur zu dessen Leben statt vieler nur E. Marcks, Bismarcks Jugend 1815–1848, 6. Aufl. 1909; E. Eyck, Bismarck. Leben und Werk, Bd. 1–3, Zürich 1941–44; L. Gall, Bismarck – der weisse Revolutionär, 2. Aufl.

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des „Eisernen Kanzlers“ 1214 versehen wurde. Er gilt, wie Anschütz es formuliert, als „Schöpfer des neuen Deutschlands“, mithin als „Schöpfer von Kaiser und Reich, die Reichsverfassung ist sein persönlichstes Werk“ 1215. Als erster Reichskanzler des neu gegründeten Deutschen Reiches, gleichzeitig Vorsitzender des Bundesrates, preußischer Ministerpräsident und Außenminister lenkte hauptsächlich er die Geschicke des noch jungen Reiches. I. Bismarck und Lassalle: Ein politisch ungleiches Paar vereint im Kampf um die Einführung des allgemeinen und gleichen (Männer-)Wahlrechts in Preußen Für Bismarck war spätestens auf dem Höhepunkt des Verfassungskonfliktes1216 klar, daß die Zukunft der konservativen Regierung nicht im zensitären Wahlsystem, sondern im allgemeinen und gleichen Wahlrecht zu suchen war, so daß seine auf die Aufhebung des Preußischen Dreiklassenwahlrechts abzielenden Bestrebungen rasch an Fahrt aufnahmen und er im Jahre 1864 gar bereit war, das allgemeine und gleiche Wahlrecht in Preußen zu oktroyieren1217.

2002; zum allgemeinen politischen und staatsrechtlichen Grundverständnis Bismarcks siehe H. Rosin, Grundzüge einer Allgemeinen Staatslehre nach den politischen Reden und Schriftstücken des Fürsten Bismarck, Separat-Abdruck aus den „Annalen des Deutschen Reichs“, 1898; E. R. Huber, Bismarck und der Verfassungsstaat, in: ders. (Hrsg.), Nationalstaat und Verfassungsstaat. Studien zur Geschichte der modernen Staatsidee, 1965, S. 188 ff.; zu dessen Rolle im und für das Deutsche Reich und dessen Aufbau statt aller G. Anschütz, Bismarck und die Reichsverfassung. Ein Vortrag, 1899; H.-O. Binder, Reich und Einzelstaaten während der Kanzlerschaft Bismarcks 1871–1890. Eine Untersuchung zum Problem der bundesstaatlichen Organisation, 1971; R. Morsey, Die oberste Reichsverwaltung unter Bismarck 1867–1890, 1957; H.-U. Wehler, Bismarck und der Imperialismus, 1969 und zum Aufstieg Bismarcks ders., Deutsche Gesellschaftsgeschichte III (Fn. 401), S. 264 ff.; zum Bismarckmythos, ebd., S. 373 ff. sowie zur Bismarckära ebd., S. 849. 1214 Diese Titulierung findet sich z. B. bei Gilg, Erneuerung (Fn. 961), S. 22. 1215 Beide Zitate bei Anschütz, Reichsverfassung (Fn. 1213), S. 1 f. 1216 Siehe P. Laband, Das Budgetrecht nach den Bestimmungen der Preußischen Verfassungs-Urkunde unter Berücksichtigung der Verfassung des Norddeutschen Bundes, in: Zeitschrift für Gesetzgebung und Rechtspflege in Preußen 4 (1870), S. 625 (625); zum damaligen Stand der Literatur über das Budgetrecht ders., Das Staatsrecht des Deutschen Reiches, Bd. IV, 5. Aufl. 1914, § 131, Anhang, S. 577 ff. und weiterführend zu dieser Thematik H. Dreier, Der Kampf um das Budgetrecht als Kampf um die staatliche Steuerungsherrschaft – Zur Entwicklung des modernen Haushaltsrechts, in: W. Hoffmann-Riem/E. Schmidt-Aßmann (Hrsg.), Effizienz als Herausforderung an das Verwaltungsrecht, 1998, S. 59 ff. 1217 Über diese Oktroyierungspläne sprach er u. a. mit Ludwig von Gerlach, siehe J. v. Gerlach (Hrsg.), Ernst Ludwig von Gerlach. Aufzeichnungen aus seinem Leben und Wirken 1795–1877, Bd. II, 1903, S. 273; zu Bismarcks Oktroyierungsplänen siehe auch E. R. Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Bd. III, 3. Aufl. 1988, S. 321 ff.

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Forciert wurden seine Pläne dabei maßgeblich durch die ab etwa 1863 regelmäßig stattfindenden Zusammenkünfte mit dem Gründer des deutschen Arbeitervereins Ferdinand Lassalle (1825–1864)1218: „Der Junker und der Sozialist fanden zu einer gemeinsamen Plattform in ihrem Glauben an die integrierende und zentralisierende Wirkung der Einführung eines allgemeinen Wahlrechts für Männer.“ 1219 Vereint sahen sich beide im Kampf gegen das Preußische Dreiklassenwahlrecht und gegen die Fortschrittspartei1220, und Lassalle war von der Überzeugung erfüllt, daß es Bismarck tatsächlich ernst war und gelingen würde, das allgemeine und gleiche Wahlrecht zu erkämpfen1221. Auch wenn – anders als bei Lassalle – das eigentliche Motiv des Bismarckschen Kampfes um die Einführung des allgemeinen und gleichen (Männer-)Wahlrechts nicht (zumindest nicht primär) in der Ausdehnung politischer Partizipationsmöglichkeiten auf die Arbeiterschaft, sondern in der Bündelung der hier brach liegenden politischen Kräfte im Sinne der Regierung lag, standen sie in regem gedanklichen Austausch. Beleg hierfür liefert nicht zuletzt sein zeitweilig verfolgter Plan, ein Wahlsystem zu entwerfen, das Stimmenthaltungen als für die Regierungskandidaten abgegebene Stimmen werten sollte.1222 In der Tat verdichteten sich, abgesehen von Lassalles

1218 Zu dessen Biographie aus der Fülle an Literatur H. Oncken, Lassalle. Eine politische Biographie, 4. Aufl. 1923; zum regelmäßigen Gedankenaustausch zwischen Bismarck und Lassalle siehe zudem R. Augst, Bismarcks Stellung zum parlamentarischen Wahlrecht, 1917, S. 45 ff.; G. Mayer, Bismarck und Lassalle. Ihr Briefwechsel und ihre Gespräche, 1928 und H. Dietzel, Die preußischen Wahlrechtsreformbestrebungen von der Oktroyierung des Dreiklassenwahlrechts bis zum Beginn des Weltkrieges, Diss. phil. 1934, S. 8 f. Natürlich war es nicht ausschließlich Lassalle, dessen Gedankengänge Bismarck befruchteten, sondern z. B. auch die Ansichten des Chefredakteurs der Neuen Preußischen Zeitung, Hermann Wagener, für die auch Bismarck einige Artikel verfaßt hatte, der das Preußische Dreiklassenwahlrecht als „die allerschlechteste Repräsentation, die jemals ein Mensch ausdenken kann“, verwarf und die Forderung der Einführung des allgemeinen und direkten, nach Ständen kategorisierten Wahlrechts in Preußen erhob, siehe G. Ritter, Die preußischen Konservativen und Bismarcks deutsche Politik 1858 bis 1876, 1913, S. 141 ff. (Zitat S. 143). 1219 S. Rokkan, Wahlrecht und Wählerentscheidung, in: O. Büsch/M. Wölk/W. Wölk (Hrsg.), Wählerbewegung in der deutschen Geschichte. Analysen und Berichte zu den Reichstagswahlen 1871–1933, 1978, S. 85 (89). 1220 Lassalle sah eine wahre Vertretung des Volkes durch das Dreiklassenwahlrecht gänzlich ausgeschlossen und rief die Arbeiter eindringlich auf, sich zum Kampf für die Einführung des allgemeinen und direkten Wahlrechts in einem allgemeinen deutschen Arbeiterverein zu organisieren, siehe E. Bernstein (Hrsg.), Ferd. Lassalle’s Reden und Schriften. Neue Gesammt-Ausgabe. Mit einer biographischen Einleitung, Bd. I, 1892, S. 120 ff. 1221 Diese Überzeugung tat er auch – höchst öffentlichkeitswirksam im Rahmen des Prozesses wegen Hochverrates gegen ihn im Jahre 1864 – lautstark kund, indem er vielsagend prophezeite: „(. . .) es wird vielleicht kein Jahr mehr vergehen – und Herr von Bismarck hat die Rolle Robert Peels gespielt und das allgemeine und direkte Wahlrecht ist oktroyiert!“ (siehe E. Blum, Ferdinand Lassalle’s politische Reden und Schriften, Bd. II, 1899, S. 280). 1222 Mayer, Briefwechsel (Fn. 1218), S. 36; Rokkan, Wahlrecht (Fn. 1219), S. 89.

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(Wunsch-)Denken, ab 1865 die Indizien einer bevorstehenden Oktroyierung des allgemeinen und gleichen Wahlrechts in Preußen1223, die schließlich dennoch scheitern sollte. II. Gründe für das Scheitern einer Oktroyierung des allgemeinen und gleichen (Männer-)Wahlrechts in Preußen Bismarcks Pläne einer Oktroyierung des allgemeinen und gleichen (Männer-) Wahlrechts in Preußen scheiterten zum einen am Widerstand König Wilhelms, der jeglichen offenen Verfassungsbruch – und einen solchen hätte die Oktroyierung dieses Wahlrechts in Preußen bedeutet – nach Kräften zu verhindern suchte.1224 Zum anderen wollte Bismarck Mißtrauen und Unsicherheiten im Volk gerade in Zeiten des dänisch-deutschen Krieges nicht durch einen derartigen Staatsstreich zusätzlich schüren. Er entgegnete auf Lassalles stetes Drängen nach der Oktroyierung des allgemeinen und gleichen Wahlrechts in Preußen, daß diese Frage, ebenso wie die schleswig-holsteinische, nur auf dem Wege der Bundesreform lösbar sei.1225 Doch auch wenn er von den Oktroyierungsplänen in Preußen aus taktischen Gründen Abstand nahm, hieß dies nicht, daß er seine grundlegenden Bestrebungen gänzlich begrub, dem allgemeinen und gleichen Wahlrecht zum Durchbruch zu verhelfen, denn dieses Wahlsystem schien ihm nach wie vor in vielerlei Hinsicht für seine politischen Vorhaben nutzbar.1226 Fest stand jedoch 1223 Augst, Bismarcks Stellung (Fn. 1218), S. 55 mit dem Hinweis auf einen Bericht Benedettis aus dem Jahre 1866, Bismarck habe ihm gegenüber die ernsthafte Absicht bekundet, das Dreiklassenwahlrecht in Preußen durch das suffrage universel zu substituieren. 1224 Aus den Aufzeichnungen König Wilhelms vom 20. Juni 1860 geht dessen unbedingter Wille, bestehende Verfassungen zu erhalten und nicht gewaltsam zu brechen oder inhaltlich zu modifizieren eindeutig hervor: „Aber wo sie [die Konstitutionen, A. S.] existiren, soll man sie halten und nicht durch gezwungene Interpretationen verfälschen. (. . .) Die konstitutionelle Idee, daß die Regierungsmaßregeln an die Oeffentlichkeit gezogen und das Volk gesetzlich zur Theilnahme an der Gesetzgebung berechtigt wird, ist in das Volksbewußtsein eingedrungen. Diesem entgegenzutreten ist sehr gefährlich, da es Mißtrauen des Herrschers gegen das Volk bekundet. Nicht durch Restriktionen der Verfassung, die eben ein solches Mißtrauen zeigen, sondern durch weises Nachlassen und Anziehen der Zügel ist die Regierung zu befestigen“, siehe den Nachweis bei: H. v. Poschinger (Hrsg.), Unter Friedrich Wilhelm IV. Denkwürdigkeiten des Ministerpräsidenten Otto Freiherrn v. Manteuffel, Bd. III, 1901, S. 220 f. Bismarck war indes bewußt, daß der König sich auf seinen geplanten Verfassungsbruch nicht einlassen würde, siehe A. v. Wurzbach, Zeitgenossen. Biographische Skizzen von Alfred von Wurzbach: Ferdinand Lassalle, 1871, S. 71. Augst, Bismarcks Stellung (Fn. 1218), S. 61 schätzt es als „staatsmännische Klugheit“ Bismarcks, die Oktroyierungspläne in der für das Volk ohnehin schon sehr aufwühlenden und belastenden Zeit des Krieges gegen Dänemark ruhen gelassen zu haben. 1225 Siehe Wurzbach, Lassalle (Fn. 1224), S. 71. 1226 So schien es ihm u. a. auch zur Lösung der schleswig-holsteinischen Zugehörigkeits- und Thronfolgefrage in seinem Interesse ein probates Mittel: Bismarck schlug vor, die Hälfte der 100 Abgeordneten Schleswig-Holsteins nach allgemeinem Wahlrecht

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gleichermaßen, daß er seinem Vorhaben einen neuen Kurs geben mußte. So keimte in Bismarck, der die Zeichen der Zeit stets zu deuten wußte, die Idee, das allgemeine und gleiche Wahlrecht nicht mehr, wie ursprünglich geplant, in Preußen, sondern gleich auf Reichsebene einzuführen. Dies bot sich insbesondere vor dem Hintergrund der seit 1861 ohnehin immer lauter werdenderen Forderungen nach einer nationalen Volksvertretung1227 an und erwies sich als ein weiterer cleverer Schachzug Bismarcks. Respekt oder gar Furcht vor den Konsequenzen des allgemeinen und gleichen Wahlsystems waren ihm im Übrigen aufgrund seines generellen Vorhabens, den zukünftigen Reichstag möglichst machtlos und unbedeutend zu stellen, gänzlich fremd.1228 Österreich hatte dieses neue Bestreben Bismarcks indes mit größter Sorge zur Kenntnis genommen und lehnte mit Note vom 3. August 1863 eine aus unmittelbaren Volkswahlen hervorgehende Bundesvertretung kategorisch ab1229, woraufhin Bismarck, dem es mittlerweile bereits gelungen war, den König in der Wahlrechtsfrage auf seine Seite zu ziehen1230, mit ministeriellen Anschriften bereits zehn Tage später reagierte und unmißverständlich klar machte, Preußen könne „eine Ausdehnung der Bundesgewalt nur dann genehmigen [. . .], wenn zu deren Beschlüssen die Zustimmung eines aus Volkswahlen hervorgegangenen Parlaments erforderlich sei“ 1231. Ein Zerwürfnis mit den Österreichern über die Wahlrechtsfrage, ja gar der Krieg, wurde dabei von Bismarck nicht nur billigend in Kauf genommen, sondern sogar begrüßt, brachte ihn dies doch seinem Ziel des Ausschlusses des Widersachers ein großes Stück näher. Der Conseils-Präsident hatte am 8. April 1866, einen Tag bevor Preußen den Antrag auf Bundesreform und Errichtung eines deutschen Parlaments auf der Basis des allgemeinen Wahlrechts beim Bundestag stellen sollte, gegenüber einem italienischen Unterhändler

wählen zu lassen, wobei es ihm dabei nicht um die Verwirklichung einer romantischen Idee des demokratischen Prinzips, sondern vielmehr um die Mobilisierung der breiten Masse ging, von der er sich ein Votum in seinem Sinne erhoffte: „Ich wünsche nicht, daß Advokaten, sondern daß loyale Bauern gewählt werden. Ihnen werde ich dann die Frage vorlegen, ob sie lieber für 70 Millionen einen Herzog haben wollen, (. . .), oder ob sie die 70 Millionen verdienen und preußisch werden wollen. Durch das von mir ausgedachte Wahlgesetz, welches auf die Massen berechnet ist, will ich nicht der Demokratie Vorschub leisten. Wenn ich z. B. hier in Preußen von meinem Gute 100 Arbeiter zur Wahlurne schicken könnte, so würden die jede andere Meinung im Dorfe tot stimmen; dies hoffe ich mit Hilfe der Gutsbesitzer in den Herzogtümern zu erreichen“ (zitiert nach W. v. Hassell, Geschichte des Königreichs Hannover. Unter Benutzung bisher unbekannter Aktenstücke, Bd. II/2, 1901, S. 247). 1227 Augst, Bismarcks Stellung (Fn. 1218), S. 68 f. 1228 Augst, Bismarcks Stellung (Fn. 1218), S. 99. 1229 L. Hahn (Hrsg.), Fürst Bismarck. Sein politisches Leben und Wirken, Bd. I, 1878, S. 143 f. 1230 Augst, Bismarcks Stellung (Fn. 1218), S. 73. 1231 Nachweis bei H. v. Sybel, Die Begründung des Deutschen Reiches durch Wilhelm I. Vornehmlich nach den preußischen Staatsacten, Bd. II, 1889, S. 527.

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angekündigt, daß er von eben jenem Vorschlag „die größte Verwirrung in Deutschland und dann den Krieg“ erwarte.1232 Knapp drei Jahre später, am 9. April 1866, beantragte der preußische Gesandte von Savigny beim Bundestag des Deutschen Bundes in Frankfurt am Main die Bundesreform und die Schaffung eines deutschen Parlaments mit allgemeinem Wahlrecht, das nach den Vorschriften des Reichswahlgesetzes von 1849 gewählt werden sollte.1233 Während die Linken Bismarcks Plan vom deutschen Parlament die Dauer- und Ernsthaftigkeit absprachen, lehnte die breite Öffentlichkeit das Vorhaben entweder schlichtweg ab oder begegnete ihm zumindest mit Mißtrauen.1234 Bismarck ging daraufhin in die Offensive und warb, in der Hoffnung, die Mehrheit der Bevölkerung hinter sich bringen zu können, in verschiedenen Zeitungen, wie z. B. der Kreuzzeitung, am 18. April 1866 ohne Unterlaß für die Etablierung des allgemeinen und gleichen Wahlrechts, das „ein wirklicher Fortschritt; Korrelat der allgemeinen Militärpflicht, der ,Blutsteuer‘“ sei.1235 Und so wendete sich das Blatt tatsächlich: Im Mai 1866 tagte der Ministerrat, der die „Einführung einer periodisch einzuberufenden Nationalvertretung in den Bundesorganismus“ nach allgemeinem und unmittelbarem Wahlrecht beschloß, eine Entscheidung, die erstaunlicherweise nun auch in der Öffentlichkeit begrüßt wurde.1236 Auch wenn es ihm aus staatsrechtlichen Gesichtspunkten nicht oblag1237, legte Bismarck das Wahlgesetz für den Reichstag des Norddeutschen 1232 Siehe den Nachweis bei A. Ferrero della Marmora, Etwas mehr Licht. Enthüllungen über die politischen und militärischen Ereignisse des Jahres 1866, 2. Aufl. 1873, S. 142. Augst, Bismarcks Stellung (Fn. 1218), S. 75. 1233 Siehe eben jenen Antrag des preußischen Gesandten auf Reform der Bundesverfassung, eingebracht in der 12. Sitzung der Deutschen Bundesversammlung am 9. April 1866, § 90, abgedruckt in: Protokolle der Deutschen Bundesversammlung vom Jahre 1866, Bd. 50, 1866, S. 99 ff. 1234 Augst, Bismarcks Stellung (Fn. 1218), S. 76. 1235 Siehe den Tagebucheintrag Ernst Ludwig von Gerlachs vom selbigen Tag: Gerlach (Hrsg.), Aufzeichnungen II (Fn. 1217), S. 283. Des Verweises auf die allgemeine Militär- und Wehrpflicht bediente Bismarck sich zur argumentativen Untermauerung des Anspruchs der Nation auf ein allgemeines und gleiches Wahlrecht im Übrigen des Öfteren, siehe H. Villard, Bismarcks Boykottierung, verschiedene amerikanische Fragen, das allgemeine, direkte Stimmrecht, die Sozialdemokratie, Reminiszenzen, in: H. v. Poschinger (Hrsg.), Also sprach Bismarck, Bd. III, 1911, S. 83; Augst, Bismarcks Stellung (Fn. 1218), S. 95. Siehe zu diesem Argument auch Gageur, Reform (Fn. 1076), S. 20. 1236 Augst, Bismarcks Stellung (Fn. 1218), S. 78. Anerkennung und Lob fand dieser Beschluß teilweise auch im Ausland: Napoleon reagierte angetan, „daß fortan die beiden Länder demselben politischen Systeme huldigen würden; (. . .)“, siehe den Nachweis bei H. v. Sybel, Die Begründung des Deutschen Reiches durch Wilhelm I. Vornehmlich nach den preußischen Staatsacten, Bd. IV, 1889, S. 327; zum revolutionären Charakter der Bismarckschen Forderung siehe knapp auch E. Schanbacher, Parlamentarische Wahlen und Wahlsystem in der Weimarer Republik. Wahlgesetzgebung und Wahlreform im Reich und in den Ländern, 1982, S. 23 f. 1237 Gerlach, Geschichte (Fn. 34), S. 91.

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Bundes dem preußischen Landtage zur Begutachtung vor. Die große Mehrheit der Abgeordneten begrüßte – trotz Dreiklassenwahlrecht im eigenen Staat – das Vorhaben der Einführung des allgemeinen und gleichen Wahlrechts auf Reichsebene1238, und überraschenderweise stimmte auch das durch und durch reaktionär gestimmte preußische Herrenhaus1239 trotz schwerwiegender Bedenken für die Vorlage. Das Gros der Mitglieder lehnte das allgemeine und direkte Wahlrecht zwar einerseits kategorisch ab, konnte aber andererseits auch das eigene Preußische Dreiklassenwahlsystem wohl nicht weiterempfehlen. So hielt etwa der Abgeordnete von Brünneck-Jacobau das allgemeine Wahlrecht „für ein mit der menschlichen Natur und mit den menschlichen Verhältnissen im Widerspruch stehendes und deshalb für ein absolut falsches Prinzip“. Es wäre dennoch seiner Ansicht nach eine „starke Zumutung“ für die eigene Staatsregierung, von ihr zu verlangen, das preußische Wahlgesetz anderen Regierungen in besonderem Maße zu empfehlen.1240 Gestärkt von diesem neuen Rückhalt, unterbreitete Bismarck den Regierungen den Vorschlag für die anstehende Bundesreform, der in Artikel IV den Passus enthielt: „Die National-Vertretung geht aus directen Wahlen hervor, welche nach den Bestimmungen des Reichswahlgesetzes vom 12. April 1849 vorzunehmen sind“ 1241. Diese Vorlage Preußens erwies sich als ein weiteres Glanzstück politischen Taktierens Bismarcks, denn mit der Forderung eines nach allgemeinen, gleichen und unmittelbaren Grundsätzen gewählten Parlaments „drängte Bismarck die Donaumonarchie aus dem preußischen Interessenkreise hinaus, bot den Liberalen ein sicheres Mittel zur nationalen Einigung und befriedigte das Bedürfnis der breiten Masse nach dem obersten politischen Recht“ 1242. Nun war der Weg für die Durchsetzung des allgemeinen und gleichen Wahlrechts auf Reichsebene endgültig geebnet. Als eine Art Vorstufe wurde im August 1866 zunächst der Bündnisvertrag mit den norddeutschen Staaten abgeschlossen, der vorsah, daß die Verfassung für diesen Bund von einem Parlament auszuarbeiten war,

1238 Eindeutig das direkte Wahlverfahren dem Dreiklassenwahlrecht vorziehend der Abgeordnete von Blanckenburg (Konservative) in seiner Rede am 12. September 1866 („Ich bekenne mich also offen zu der Ansicht, daß das direkte Wahlrecht mir in vieler Beziehung besser erscheint, als unser Dreiklassensystem“, zitiert nach Gerlach, Geschichte [Fn. 34], S. 92, Hervorhebungen i. O., A. S.) und der Abgeordnete Wagener (Fortschrittler) bekräftigt, er halte das Zensussystem für „eine Verfälschung der Lehre von der Volkssouveränität“, siehe ebd., S. 93, Hervorhebungen i. O., A. S. Der Abgeordnete Twesten (Liberale) war einer der wenigen, der die Etablierung des allgemeinen und direkten Wahlrechtes ablehnte, denn er fürchtete, es könnte einen Beitrag zur Ruinierung des Parlamentarismus leisten, siehe dazu abermals ders., Geschichte (Fn. 34), S. 95. 1239 Gerlach, Geschichte (Fn. 34), S. 96. 1240 Zitiert nach Gerlach, Geschichte (Fn. 34), S. 97 f., Hervorhebungen i. O., A. S. 1241 Siehe Hahn (Hrsg.), Fürst Bismarck I (Fn. 1229), S. 448. 1242 Augst, Bismarcks Stellung (Fn. 1218), S. 79.

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das nach dem Reichswahlgesetz von 1849 gewählt werden sollte.1243 Im Februar des darauffolgenden Jahres wurde der verfassunggebende Reichstag dann gewählt1244 und im April die Verfassung des Norddeutschen Bundes angenommen. Im März 1869 legte Bismarck den Vorschlag für das Wahlgesetz des Reichstages vor, das Ende Mai beschlossen und verkündet wurde1245. Zumindest hinsichtlich der Etablierung des allgemeinen und gleichen (Männer-)Wahlrechts auf Reichsebene war Bismarck mithin nunmehr am Ziel angelangt.

B. Normative Erscheinungsformen des Zensus und ihre realpolitische Umsetzung I. Normative Erscheinungsformen: Überwindung des Zensus auf Reichsebene durch die Verfassung des Deutschen Reiches vom 16. April 1871 Durch die am 16. April 1871 verkündete Verfassung des Deutschen Reichs1246, der „wesensgleichen Nachfolgerin“ 1247 der Verfassung des Norddeutschen Bun1243 Augst, Bismarcks Stellung (Fn. 1218), S. 80. Die Wahlen zu diesem verfassunggebenden Reichstag gingen dann auch tatsächlich im Sinne Bismarcks aus, siehe ders., Bismarcks Stellung (Fn. 1218), S. 94. 1244 In der 21. Sitzung des Reichstages des Norddeutschen Bundes am 28. März 1867 bekräftigte Bismarck ein weiteres Mal seine Überzeugung vom allgemeinen und gleichen Wahlrecht als vergleichsweise bestem Wahlmodus und seine Ablehnung gegenüber einem ungleichen Zensuswahlrecht im Allgemeinen, vgl.: H. Kohl (Hrsg.), Die Reden des Ministerpräsidenten und Bundeskanzlers Grafen von Bismarck im Preußischen Landtage und Reichstage des Norddeutschen Bundes. 1866–1868. Kritische Ausgabe, Bd. III, 1893, S. 246 (248) = Stenographische Berichte über die Verhandlungen des Reichstages des Norddeutschen Bundes im Jahre 1867, Bd. I, 1867, S. 409, linke Spalte (Zitat S. 429, linke und rechte Spalte). 1245 Siehe das Wahlgesetz für den Reichstag des Norddeutschen Bundes vom 31. Mai 1869, Bundesgesetzblatt des Norddeutschen Bundes 1869, S. 145, abgedruckt bei: E. R. Huber (Hrsg.), Dokumente zur deutschen Verfassungsgeschichte, Bd. 2, 3. Aufl. 1986, Nr. 209 (Nr. 190), S. 307 ff.; dazu Augst, Bismarcks Stellung (Fn. 1218), S. 83. 1246 Siehe die Verfassungsurkunde für das Deutsche Reich vom 16. April 1871 = Bundesgesetzblatt des Deutschen Bundes, S. 70 ff. und das Gesetz betreffend die Verfassung des Deutschen Reiches vom 16. April 1871, Reichsgesetzblatt 1871, S. 63; der Verfassungstext mit zahlreichen Anmerkungen ist u. a. abgedruckt bei: Huber (Hrsg.), Dokumente 2 (Fn. 1245), Nr. 261 (Nr. 218), S. 384 ff.; zum Reichsverfassungsrecht siehe beispielsweise R. v. Mohl, Das deutsche Reichsstaatsrecht. Rechtliche und politische Erörterungen, 1873; L. v. Rönne, Das Staats-Recht des deutschen Reiches, Bd. 1 und 2, 2. Aufl. 1876–77; A. Haenel, Deutsches Staatsrecht, Bd. I, 1892, S. 52 ff.; P. Laband, Das Staatsrecht des Deutschen Reiches, Bd. I, 5. Aufl. 1911, Bde. 1–4, 1911–14; G. Meyer, Lehrbuch des deutschen Staatsrechts. Nach dem Tode des Verfassers in siebenter Auflage bearbeitet von G. Anschütz. Mit einer Einleitung von E.-W. Böckenförde, 8., unveränderter ND der 7. Aufl. 1919, 2005, Zweiter Teil. Das heutige deutsche Staatsrecht, § 71 ff. (S. 224 ff.); zur Entwicklung des Deutschen Reiches Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte III (Fn. 401), S. 487 ff.; zum Reichstagswahlrecht siehe exemplarisch H. Riekes, Ein Wahlverfahren mit wirklicher Wahlrechtsgleichheit, 1917.

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des, erfuhr das Wahlrecht der Frankfurter Nationalversammlung von 18491248 über Art. 20 I RV („Der Reichstag geht aus allgemeinen und direkten Wahlen mit geheimer Abstimmung hervor“)1249 eine Art Renaissance. Nach dem Reichswahlgesetz, welches das Wahlrecht des Norddeutschen Bundes übernommen hatte, waren aktiv wahlberechtigt – exklusive der Frauen und einiger, kaum nennenswerter weiterer Ausnahmen1250 – alle männlichen Reichsangehörigen ab 25 Jahren, in dem Bundesstaate, in dem sie ihren Wohnsitz hatten. Als passiv wahlberechtigt galten alle Personen, die die aktive Wahlberechtigung innehatten, d.h. nicht aus einem der oben genannten Gründe vom Wahlrecht ausgeschlossen waren und seit mindestens einem Jahr ihren Wohnsitz in einem der Staaten hatten1251, so daß der Reichstag durchaus bereits als „Institution der modernen Massendemokratie“ 1252 einzustufen ist. Wie zu erwarten stand das Wahlgesetz für 1247

Zitat findet sich bei Anschütz, Reichsverfassung (Fn. 1213), S. 2 f. Siehe hierzu bereits ausführlich S. 236 ff. 1249 Siehe statt vieler exemplarisch Meyer, Wahlsystem (Fn. 7), S. 88. Art. 20 I RV spricht indes nur von einem allgemeinen und direkten Wahlrecht, so daß dem Hinweis von Knoll, Führungsauslese (Fn. 744), S. 66, zumindest ausschließlich dem strengen Wortlaut folgend, beizupflichten ist, daß ein abgestuftes Wahlrecht mit dem Regelungsgehalt dieser Vorschrift zumindest theoretisch wohl vereinbar, aufgrund der zugrundeliegenden Lesart de facto aber nicht realisierbar gewesen wäre, siehe Meyer, Wahlsystem (Fn. 7), S. 102 („Auch wenn man das Wahlrecht allen Männern zugestanden hätte, wäre ein Dreiklassenwahlrecht im Reich unter Beibehaltung des Art. 20 der Reichsverfassung undenkbar gewesen“), ebd. auch S. 118. Die damalige h. M. verstand aufgrund der Grundsätzlichkeit des Entschlusses einer Übernahme des Reichswahlgesetzes von 1849 die Gleichheit des Wahlrechts als inkludiert und ebenfalls über Art. 20 I RV garantiert: G. Marxen, Das Deutsche Wahlsystem vom Standpunkte der Verfassung, 1882, S. 7 („[. . .] zur Begründung eines in Wahrheit allgemeinen und gleichen Wahlrechts, also zur konsequenteren Durchführung des Artikels 20 der Verfassung [. . .]“); Frensdorff, Aufnahme (Fn. 1137), S. 186 ff.; J. Hatschek, Kommentar zum Wahlgesetz und zur Wahlordnung im deutschen Kaiserreich, 1920, zu § 1. (S. 8); aus der Kommentarliteratur der Zeit der Weimarer Republik siehe exemplarisch Anschütz, Verfassung (Fn. 401), Anm. 1 zu Art. 22 (S. 186); aus neuerer Zeit statt vieler Huber, Verfassungsgeschichte III (Fn. 1217), S. 861 („Wie der norddeutsche Reichstag ging auch der Reichstag des Kaiserreichs aus Wahlen hervor, für die das allgemeine, gleiche, direkte und geheime Wahlrecht mit absoluter Mehrheitswahl in Einmannwahlkreisen nach dem Vorbild des Wahlgesetzes von 1849 galt“, Hervorhebungen i. O., A. S.). 1250 Von der aktiven Wahlberechtigung ausgenommen waren Personen des Soldatenstandes, solange sie sich bei der Fahne befanden (§ 2 Reichswahlgesetz), des Weiteren, wer unter Vormundschaft stand, die Empfänger von Armenunterstützung aus öffentlichen Mitteln, diejenigen, über deren Vermögen ein Verfahren wegen Konkurses oder Zahlungsunfähigkeit eröffnet war, sowie diejenigen, denen durch ein rechtskräftiges Urteil ihre staatsbürgerlichen Rechte offiziell aberkannt worden waren (§ 3 Reichswahlgesetz). Den erstgenannten Angehörigen des Soldatenstandes wurde aber immerhin das passive Wahlrecht zuteil, siehe Huber, Verfassungsgeschichte III (Fn. 1217), S. 862. 1251 Siehe § 1 und 4 des Reichswahlgesetzes; dazu Huber, Verfassungsgeschichte III (Fn. 1217), S. 862 f. 1252 K. E. Born, III. Von der Reichsgründung bis zum I. Weltkrieg, § 37 Die Verfassung und die politischen Parteien des Kaiserreichs, in: H. Grundmann (Hrsg.), Handbuch der deutschen Geschichte, Bd. 3, 9. Aufl. 1979, S. 221 (228). 1248

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den Reichstag von Beginn an ununterbrochen im Fokus der öffentlichen Kritik.1253 In seiner ablehnenden Haltung gegenüber dem gleichen Wahlrecht war Gageur beispielsweise gänzlich rigoros: „So nothwendig die Allgemeinheit des Stimmrechts ist, so unbedingt zu verwerfen ist dessen Gleichheit.“ 1254 Er argumentiert dahingehend, man müsse mit der Akzeptanz einer Altersgrenze „auch die weitere Folgerung anerkennen, daß es innerhalb des so abgegrenzten Kreises der Wahlberechtigten eine Abstufung gibt in der Fähigkeit zur Ausübung des Wahlrechtes“ 1255. Man betrachtete ein allgemeines und gleiches Wahlrecht als gefährlich und fürchtete sich vor dessen politischen Folgen, vor allem, daß „in dem Meere dieser Stimmen der großen Masse (. . .) die dünne Oberschicht gereifterer, staatlicher und sozialer Einsicht“ völlig untergehe: „die Stimme des Handarbeiters, der in seinem unveränderlichen Tagewerk tagaus tagein sich abmüht, dessen Erfahrung nicht über den allerengsten Kreis hinausgeht (. . .), wiegt so schwer, wie die des Mannes, der das Staats- und Gesellschaftsleben mit weiter Bildung und Erfahrung zu überschauen gelernt hat (. . .)“ 1256. Der Wahlkörper verkomme in Zeiten des Massenwahlrechts zur „Beute plumpster Demagogie“, denn er gleiche einem „Fastnachtsschauspiel, wo plumper Stimmenfang, Verhetzung, Lüge und Beschimpfung die Bühne beherrschen“ 1257. Andererseits können viele Kritiker des allgemeinen und gleichen Wahlrechts eine gewisse Berechtigung dieses Wahlsystems nicht gänzlich von der Hand weisen.1258 Der auf den Postulaten der Allgemeinheit und Gleichheit fußende Art. 20 I RV stellt indes kein Novum in der deutschen Geschichte dar, sondern setzte die Tradition des Norddeutschen Bundes fort, der durch Bündnisvertrag der norddeutschen Staaten vom 18. August 18661259 die Übernahme des Wahlgesetzes der 1253 Siehe hierzu beispielsweise G. Pfizer, Das Reichstagswahlgesetz, in: Archiv für öffentliches Recht 7 (1892), S. 509 ff., der im Wesentlichen die Kritik seiner Kollegen referriert, sich selbst schützend vor das allgemeine und gleiche Wahlrecht stellt (S. 521), dennoch zugeben muß, „ob man sich heute noch zur Einführung des allgemeinen Stimmrechts entschliessen würde, das mag zweifelhaft sein: (. . .)“ (S. 520, Hervorhebung i. O., A. S.). 1254 Gageur, Reform (Fn. 1076), S. 17, Hervorhebungen i. O., A. S. 1255 Siehe ebd., Hervorhebung i. O., A. S. 1256 Savigny, Wahlrecht (Fn. 31), S. 27 f. 1257 Siehe ebd., S. 29, 31. 1258 Siehe ebd., S. 34 f., in aller Grundsätzlichkeit das nivellierende Moment der Demokratie kritisierend, Treitschke, Politik II (Fn. 18), S. 251 („Sucht man alle Bürger, ungleich wie sie sind, vollkommen gleich zu machen, so wird auf irgendeine Weise der Widerspruch hervortreten [. . .].“). Dem Volk als Souverän fehlten bestimmte politische Eigenschaften, wie die Fähigkeit der Voraussicht im Besonderen (ebd., S. 259), überdies mangele es in Europa an einem wichtigen Bestandteil des Fundamentes der Demokratie, der Gleichheit im sozialen Leben (ebd., S. 281). 1259 Siehe Art. 5 des Bündnisvertrages Preußens mit den Norddeutschen Staaten vom 18. August 1866, Preußische Gesetzessammlung 1866, S. 626 ff., abgedruckt bei: Huber (Hrsg.), Dokumente 2 (Fn. 1245), Nr. 196 (Nr. 185), S. 268 ff.: „Die verbündeten Regierungen werden gleichzeitig mit Preußen die auf Grund des Reichswahlgesetzes

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Frankfurter Nationalversammlung als Wahlgesetz für das erste norddeutsche Bundesparlament vereinbart hatte. Der Norddeutsche Reichstag verfuhr – wenngleich nicht protestlos1260 – ebenso1261. II. Realpolitische Umsetzung und Kritik Fundamentale Bedeutung erlangte das Verfassungswerk des Deutschen Reiches in seiner Gesamtheit nicht zuletzt deshalb, weil es „die nationalstaatliche Einheit nicht nur vorbereitete (wie der gescheiterte Verfassungsversuch von 1848/49), nicht nur bewahrte und fortbildete (wie später das Verfassungswerk von 1919)“, sondern „die nationalstaatliche Einheit begründete und zusammenhielt“ 1262. Es markiert den bedeutsamen Übergang zum Nationalstaat durch die Ablösung des zeitlich vorausgegangenen Deutschen Bundes, der als „Bollwerk des europäischen Konservativismus gegenüber der Verfassungsidee des nationalstaatlichen Fortschritts“ 1263 dieser Entwicklung vorher im Wege gestanden hatte. Aufgrund des föderativen Charakters des Reiches beruht die Verfassung auf einer Art „Doppelvereinbarung“ 1264: dem Verfassungsvertrag zwischen den Regierungen mit Zustimmung der jeweiligen Landtage auf der einen und dem zwischen der Gesamtheit eben jener verbündeten Regierungen und dem Reichstag als Repräsentationsorgan der Nation auf der anderen Seite1265, wobei auch die Einwirkungsmöglichkeiten des Volkes selbst durch ihre nach gleichem und freiem Wahlrecht gewählten Repräsentanten auf diesen Akt der Verfassungschöpfung nicht zu unterschätzen sind1266. Mit der Rückbesinnung auf das von der Paulskirchenverfassung vorgesehene allgemeine und gleiche Wahlrecht sicherte sich

vom 12. April 1849 vorzunehmenden Wahlen der Abgeordneten zum Parlament anordnen und Letzteres gemeinschaftlich mit Preußen einberufen. (. . .)“, ebd., S. 269; dazu auch Ritter, Arbeitsbuch (Fn. 895), S. 26. 1260 Heftige Kritik kam von Seiten der (National-)Liberalen, so knapp Ritter, Arbeitsbuch (Fn. 895), S. 12. Der Abgeordnete Sybel beispielsweise warnte im Norddeutschen Reichstage auf ganz dramatische Weise vor dem Wahlgesetz als „Vorstufe der demokratischen Diktatur“ (Zitat abgedruckt bei Huber, Verfassungsgeschichte III [Fn. 1217], S. 661); hierzu des Weiteren Frensdorff, Aufnahme (Fn. 1137), S. 188; flüchtiger Hinweis bei Meyer, Wahlsystem (Fn. 7), S. 87 m. Fn. 22. 1261 Siehe hierzu das Wahlgesetz für den Reichstag des Norddeutschen Bundes vom 31. Mai 1869, Bundesgesetzblatt 1869, S. 145, abgedruckt bei: Huber (Hrsg.), Dokumente 2 (Fn. 1245), Nr. 209 (Nr. 190), S. 307 ff. Knapper Verweis hierauf bei Braunias, Wahlrecht (Fn. 961), S. 82; Savigny, Wahlrecht (Fn. 31), S. 24. 1262 Huber, § 4 (Fn. 958), Rn. 3. Auch der Mehrheit der damaligen Bevölkerung erschien die neu kreierte Verfassung ein „außerordentlicher Fortschritt“ (ebd., Rn. 5). 1263 Beide Zitate Huber, § 4 (Fn. 958), Rn. 8. 1264 Huber, Verfassungsstaat (Fn. 1213), S. 202. 1265 Huber, § 4 (Fn. 958), Rn. 7, 17. An anderer Stelle spricht Huber plastisch vom „Dualismus des Entstehungsakts der Reichsverfassung“ (ebd., Rn. 19). 1266 Huber, § 4 (Fn. 958), Rn. 14.

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das Deutsche Reich das „Primat in der europäischen Wahlrechtsentwicklung“ 1267, denn andere Großmächte wie England, Frankreich oder Rußland waren zu dem Zeitpunkt in ihrer Entwicklung hin zum modernen demokratischen Staat nicht annähernd so weit fortgeschritten1268. Die Einführung des allgemeinen und gleichen Wahlrechts, die „sich auf den ersten Blick wie eine vereinzelte Neuerung innerhalb des konstitutionellen Institutionengefüges ausnimmt, war doch mehr als nur ein taktisches Mittel. (. . .) Hierin, und nicht in einem möglicherweise als liberalisiert (oder gar demokratisiert) zu bewertenden Konstitutionalismus, liegt denn auch das grundsätzlich Neue des Bismarckschen Systems.“ 1269 Bei aller Fortschrittlichkeit, die dem Deutschen Reich in Bezug auf das Wahlrecht und insbesondere im Kanon mit anderen – aus heutiger egalitär-demokratischer Sicht deutlich weniger modernen – europäischen Großmächten zu attestieren ist, drängen sich drei Fragestellungen geradezu auf: Erstens die Frage, warum sich ausgerechnet im Deutschen Reich 1871 und damit vergleichsweise früh das allgemeine und gleiche (Männer-)Wahlrecht durchzusetzen vermochte bzw. etwas provokativer formuliert, ob es sich bei der Einführung des allgemeinen und gleichen Wahlrechts eventuell zuvörderst um eine Maßnahme politischen Kalküls Bismarcks handelte. Zweitens, warum Bismarck keinen weiteren Versuch unternahm, das Preußische Dreiklassenwahlrecht durch ein allgemeines und gleiches (Männer-)Wahlrecht zu ersetzen und drittens die weitaus abstraktere Fragestellung, warum das Dreiklassenwahlrecht in Preußen seinen Bestand trotz Einführung des allgemeinen und gleichen (Männer-)Wahlrechts auf Reichsebene 1871 und gegen alle Widerstände bis 1918 zu verteidigen wußte.

1267 Huber, § 4 (Fn. 958), Rn. 31. Ähnlich Gilg, Erneuerung (Fn. 961), S. 17 f., allerdings mit der doch sehr erheblichen Relativierung, das Deutsche Reich habe „aufs Ganze gesehen der Demokratie entschieden ferner als die damaligen Staaten des westlichen, nördlichen und selbst des südlichen Europa (. . .)“ gestanden (ebd., S. 25). 1268 Huber, § 4 (Fn. 958), Rn. 31 f. Ähnlich auch Ritter, Arbeitsbuch (Fn. 895), S. 12, 25, der aber unter Verweis auf das damals akute Problem der Wahlmanipulation relativierend zu bedenken gibt, daß auch das im europäischen Vergleich demokratische Reichstagswahlrecht noch keine Garantie für die tatsächliche Ausbildung demokratischer Herrschaftsstrukturen im heutigen Sinne gab (ebd., S. 12 f.). Einer solchen standen in erster Linie die mangelnde Gewährleistung der Geheimheit der Wahl wegen der geringen Anzahl von Wählern in einigen Stimmkreisen (ebd., S. 27) sowie die ungerechte, weil von 1871 bis 1918 unveränderte Einteilung der Wahlkreise im Wege (ebd., S. 28). 1269 H. Boldt, Deutscher Konstitutionalismus und Bismarckreich, in: M. Stürmer (Hrsg.), Das kaiserliche Deutschland. Politik und Gesellschaft 1870–1918, 1970, S. 119 (131).

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C. (Rechts-)Politische Begründung des allgemeinen und gleichen (Männer-)Wahlrechts: Das Reichswahlgesetz als Produkt Bismarckscher Interessenpolitik? I. Bismarcks unstete Haltung in der Wahlrechtsfrage als Reaktion auf wechselhafte politische Gegebenheiten In Bezug auf den maßgeblich auf Bismarck zurückzuführenden Entschluß, im Rahmen der Reichsgründung das Reichswahlgesetz von 1849 zu übernehmen und mithin ein allgemeines und gleiches (Männer-)Wahlrecht zu statuieren, findet man in der Literatur oft den doch eher pauschalen Hinweis auf die „machtpolitischen, taktischen Erwägungen“ 1270 Bismarcks. Die Übernahme des Reichswahlgesetzes von 1849 sei „kein Akt der verfassungspolitischen Überzeugung, sondern ein Akt des verfassungstaktischen Kalküls gewesen“ 1271. In Bezug auf Bismarcks wahre persönliche Einstellung zum allgemeinen und gleichen Wahlrecht wird in der Literatur des öfteren eindimensional argumentiert, denn während die einen ein Übergewicht auf sein Zitat aus dem Jahre 1866 legen, er habe keine Bedenken, „die damals stärkste der freiheitlichen Künste, das allgemeine Wahlrecht, (. . .) mit in die Pfanne zu werfen, um das monarchische Ausland abzuschrecken von Versuchen, die Finger in unsre nationale omelette zu stekken“ 1272, blenden wieder andere derartige Aussagen offenbar aus und weisen mit 1270 Knoll, Führungsauslese (Fn. 744), S. 65. Knoll führt in diesem Kontext aus, Bismarck habe „die Einführung des allgemeinen und gleichen Wahlrechts für den Norddeutschen und später für den Deutschen Reichstag ja keineswegs aus prinzipiellem Bekenntnis zum demokratischen Wahlprinzip bewirkt (. . .)“, ebd. In die gleiche Kerbe stößt auch Gilg, Erneuerung (Fn. 961), S. 16 mit der Behauptung, Bismarcks demokratische Zugeständnisse trügen „taktischen Charakter und einigermaßen bonapartistische Züge“. Ähnlich auch G. A. Rein, Die Revolution in der Politik Bismarcks, 1957, der sich die Frage stellt, ob Bismarck Bonapartist war (ebd., S. 81 ff.), diese Frage zwar im Ergebnis verneint, dennoch aber der Bismarckschen Politik unterstellt, daß sie u. a. nicht auf Volkssouveränität oder Demokratie gefußt habe und Bismarck sich zumindest partiell „bonapartistischer Mittel und Methoden“ bedient habe (ebd., S. 131). 1271 Huber, § 4 (Fn. 958), Rn. 32, der diese verbreitete Behauptung jedoch selbst in Fn. 50 als „unzutreffend“ entlarvt und seine Gegenthese zudem mit Nachweisen versieht. 1272 Zitat abgedruckt in: O. v. Bismarck, Gedanken und Erinnerungen, Bd. II, 1898, S. 58, Hervorhebung i. O., A. S. Siehe auch die Bezugnahme bei Boldt, Konstitutionalismus (Fn. 1269), S. 131; Anschütz, Reichsverfassung (Fn. 1213), S. 27; Augst, Bismarcks Stellung (Fn. 1218), S. 85 und Meyer, Wahlsystem (Fn. 7), S. 88 in Fn. 23, wobei Anschütz, Augst und Meyer indes freilich nicht der Vorwurf der Schwarz-WeißMalerei gemacht werden kann. Sehr differenzierte Einschätzung auch bei Huber, Verfassungsstaat (Fn. 1213), S. 206, der beipflichtet, daß von Seiten Bismarcks durchaus „auch kluge Berechnung im Spiel“ gewesen sei und er die Chance habe nutzen wollen, dem nationalliberalen Flügel „durch das Wahlgesetz das Tor zum Eintritt in das Reich weit zu öffnen“. Dennoch habe er der Nation mit dem demokratischen Wahlrecht „unwiderruflich ein solches Maß an Mitbestimmungsmacht im Staat eingeräumt, daß von einer antiverfassungsstaatlichen reservatio mentalis nicht die Rede sein konnte“, Hervorhebungen i. O., A. S. Gerlach, Geschichte (Fn. 34), S. 87 geht zumindest davon aus,

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Fleiß darauf hin, Bismarck selbst habe die Etablierung des allgemeinen und gleichen Wahlrechts rückblickend als „größten Fehler seines Lebens“ 1273 bezeichnet und bitter bereut. Wie so oft liegt die Wahrheit wohl in der Mitte. Da die Einführung des allgemeinen und gleichen (Männer-)Wahlrechts auf Reichsebene nicht schlicht das Produkt der blinden Übernahme des Erbes der Frankfurter Nationalversammlung1274 oder des Norddeutschen Bundes war, erweist sich eine genaue Betrachtung Bismarcks – und so viel sei an dieser Stelle bereits vorausgeschickt – über die Jahre hinweg nicht gerade stringenten Haltung in der Wahlrechtsfrage jedenfalls als notwendig1275. Denn eben jener „Mann, der daß der Verriß des Preußischen Dreiklassenwahlrechts im Rahmen Bismarcks berühmter Rede vor dem Reichstag im Jahre 1867 „der Ausdruck seiner inneren wohlbegründeten Ueberzeugung“ gewesen sei. 1273 Diese, das allgemeine und gleiche Wahlrecht in seiner Tauglichkeit geradezu vernichtenden Worte soll Bismarck in einem Gespräch unter vier Augen mit dem Führer der Konservativen von Helldorf im Jahre 1878 gewählt haben. Delbrück liefert an zahlreichen Stellen Zeugnis dieser Unterredung zwischen Bismarck und von Helldorff und propagiert die späte Reue Bismarcks, siehe beispielsweise H. Delbrück, Buchbesprechung zu Geschichte der neuesten Zeit vom Frankfurter Frieden bis zur Gegenwart von Gottlob Egelhaaf, in: Preußische Jahrbücher 133 (1908), S. 361 (366): „Es ist eine Stelle aus einem Briefe (vom 9. Februar 1907), den ich im Anschluß an die damals geführte Kontroverse von Herrn v. Helldorff-Bedra erhielt. Sie lautet: „Etwas erstaunt bin ich gewesen über Rottenburgs Behauptung, daß Fürst Bismarck niemals habe das allgemeine Wahlrecht beseitigen wollen. – (. . .). Nicht aus gelegentlichen Gesprächen oder dergl., sondern aus ernsten unter vier Augen zwischen mir und dem Fürsten geführten Diskussionen weiß ich dies – (. . .). – Er hat damals in hoher Erregung und höchstem Ernst mir einmal gesagt, „ich will die letzten Jahre meines Lebens daran setzen, den schwersten Fehler wieder gut zu machen, den ich begangen“, und das war eben die Einführung des allgemeinen Wahlrechts –“. Des Weiteren erneut ders., Regierung und Volkswille. Eine akademische Vorlesung, 1914, S. 61 f. („Ich selbst bin im Besitze eines Briefes des damaligen Führers der Konservativen im Reichstag, v. Helldorff, der Fürst habe ihm im höchsten Ernst gesagt, er wolle die letzten Jahre seines Lebens daransetzen, den größten Fehler seines Lebens, die Schaffung des allgemeinen gleichen Wahlrechtes, wieder gutzumachen“). Knapper Hinweis auf diese Ausführungen Delbrücks bei Knoll, Führungsauslese (Fn. 744), S. 65 f. Außerdem habe Bismarck inständig darauf gehofft, „daß das deutsche Volk, sobald es einsieht, daß das bestehende Wahlrecht eine schädliche Institution sei, stark und klug genug sein werde, sich davon frei zu machen“ (Bismarck, Gedanken und Erinnerungen II [Fn. 1272] S. 58). 1274 Auch wenn Bismarck selbst diesen Eindruck teils zu vermitteln bestrebt war: „Das allgemeine Wahlrecht ist uns gewissermaßen als ein Erbtheil der Entwicklung der Deutschen Einheitsbestrebungen überkommen; wir haben es in der Reichsverfassung gehabt, wie sie in Frankfurt entworfen wurde; wir haben es im Jahre 1863 den damaligen Bestrebungen Oesterreichs in Frankfurt entgegengesetzt, und ich kann nur sagen: ich kenne wenigstens kein besseres Wahlgesetz“, siehe Bismarcks Rede im Rahmen der 21. Sitzung des Reichstages des Norddeutschen Bundes am 28. März 1867, abgedruckt in: Stenographische Berichte Reichstag Norddeutscher Bund 1867 I (Fn. 1244), S. 429, linke Spalte, Hervorhebungen i. O., A. S. Verweis auf das Zitat bei Frensdorff, Aufnahme (Fn. 1137), S. 195; Savigny, Wahlrecht (Fn. 31), S. 35 m. Fn. 1; Gerlach, Geschichte (Fn. 34), S. 84; G. Meyer, Ueber die Entstehung und Ausbildung des allgemeinen Stimmrechts. Akademische Rede zur Feier des Geburtsfestes des höchstseligen Grossherzogs Karl Friedrich am 22. November 1897, 1897, S. 20.

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1848 bei seinem Auftreten auf dem Plane der Politik mit scharfer Axt die Wurzeln der jungen volkssouveränen Triebe zu durchhauen versuchte, BismarckSchönhausen war es, der das Stimmrecht der Demokratie in das deutsche öffentliche Recht einführte, während er zu gleicher Zeit im eigenen Vaterlande allen Rechten der Volksvertretung Hohn sprach und jede parlamentarische Regung bekämpfte“ 1276. II. Gründe für Bismarcks (ursprüngliche) Aversion gegenüber einem allgemeinen und gleichen (Männer-)Wahlrecht Von Hause aus, und dies kommt wohl der tiefen Überzeugung, die Bismarck bezüglich der Wahlrechtsfrage zeitlebens in sich trug, am nächsten, war er Vertreter landjunkerlicher Interessen1277 und hing der Sehnsucht nach, zum ständisch-aristokratischen (Wahl-)Recht1278 und einer ständisch organisierten Volksvertretung zurückzukehren, die er nicht zuletzt auch als besonders günstig zur Sicherung der Vorrangstellung seines Vaterlandes Preußen erachtete1279. Bis etwa 1851 lehnte Bismarck daher jegliche Form des parlamentarischen Stimmrechts kategorisch ab1280 und hielt mit seiner Meinung auch keineswegs hinter dem Berg, ganz im Gegenteil: Der „märkische Heißsporn“ 1281 wurde nicht müde und ließ keine Gelegenheit aus, sowohl das preußische Abgeordnetenhaus als 1275 Als besonders hilfreiche Grundlage dieses Unterfangens erwies sich die sehr dichte und mit vielen Nachweisen versehene Monographie von Augst, Bismarcks Stellung (Fn. 1218). Flatterhaftigkeit läßt sich Bismarck im Übrigen auch hinsichtlich seiner Bündnispolitik attestieren, siehe hierzu überblicksartig nur Gilg, Erneuerung (Fn. 961), S. 21 f. 1276 Zitat Augst, Bismarcks Stellung (Fn. 1218), S. 2. 1277 Siehe hierzu exemplarisch den ersten Zeitungsaufsatz Bismarcks aus dem Februar 1843, abgedruckt in: Marcks, Jugend (Fn. 1213), S. 466 ff. (Anhang II, Beilagen). Für Gilg, Erneuerung (Fn. 961), S. 33 ist das Junkertum ganz grundsätzlich als „Hauptgegner einer deutschen Demokratie“ zu klassifizieren. Siehe ebd. auch zur Genealogie des Begriffs Junkertum und zur Semantik H. Rosenberg, Die Ausprägung der Junkerherrschaft in Brandenburg-Preußen 1410–1618, in: ders. (Hrsg.), Machteliten und Wirtschaftskonjunkturen. Studien zur neueren deutschen Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, 1978, S. 24 ff. Zu alledem des Weiteren auch H. Schissler, Die Junker. Zur Sozialgeschichte und historischen Bedeutung der agrarischen Elite in Preußen, in: H.-J. Puhle/H.-U. Wehler (Hrsg.), Preußen im Rückblick, 1980, S. 89 ff., die anmerkt, die Junker seien gleichermaßen für den Aufstieg Preußen-Deutschlands wie für den Niedergang des Deutschen Reiches in die Pflicht genommen worden, ebd., S. 91 ff. zu den Ursachen des Erfolgs der Junker als ländliche Elite Preußens; ähnlich bei Weber, Nationalstaat (Fn. 536), S. 19 f. 1278 Augst, Bismarcks Stellung (Fn. 1218), S. 5, 8. 1279 Zum etwaigen Vorhaben der Regierung, die Stände widerzugewinnen, siehe Bismarcks Brief vom 22. Juni 1851, abgedruckt in: H. Kohl (Hrsg.), Bismarcks Briefe an den General Leopold v. Gerlach, 1896, Nr. 1, S. 1 (8 f.). 1280 Augst, Bismarcks Stellung (Fn. 1218), S. 13. Dieses Verhalten ist mehr als verständlich, bedenkt man, daß Bismarck „nicht Unitarier und noch weniger Demokrat“ war (siehe Anschütz, Reichsverfassung [Fn. 1213], S. 27). 1281 Zitat Augst, Bismarcks Stellung (Fn. 1218), S. 10.

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auch die Frankfurter Nationalversammlung mit höhnischen und spöttischen Bemerkungen geradezu zu attackieren. Hier versah er die Abgeordneten der Frankfurter Nationalversammlung mit dem Attribut „unverbesserliche Kohlköpfe“ 1282 und dort mit der Umschreibung „Blüte deutscher Nation“ 1283. Aus Anlaß der bevorstehenden Juliwahlen 1849 schrieb er geradezu respektlos vom „große[n] Familientopf [die Wahlurne, A. S.], den man jetzt zum dritten Mal an das Feuer setzt, um den Kinderbrei des neuen Völkerglücks mundrecht zu machen“ 1284. Er hielt einerseits ein ungleiches Wahlsystem wie das Preußische Klassenwahlrecht für untauglich1285, verwarf andererseits aber ebenfalls das allgemeine und gleiche Wahlrecht als „großes Unglück“ 1286. Die Antwort auf die Frage, warum Bismarck bis etwa zur Mitte des 19. Jahrhunderts derartige Ressentiments gegen jegliche Spielart des parlamentarischen Wahlrechts hegte, gab er höchstselbst unter anderem im Rahmen seiner Stellungnahme zum Frankfurter Wahlgesetz in der preußischen Kammer am 12. April 1849, wo er kundgab, in einem aus Volkswahlen hervorgehenden Parlament eine Gefahr für Krone und Vaterland zu sehen. Das konstitutionelle Wahlsystem liefere keine ausreichende Bürgschaft, im Interesse der Beständigkeit des Staates zu jeder Zeit eine urteilsfähige oder wenigstens vom guten Willen getragene Parlamentsmehrheit hervorzubringen.1287 1282 Das Zitat entstammt aus einem Brief Bismarcks vom 11. September 1849, siehe H. Bismarck (Hrsg.), Fürst Bismarcks Briefe an seine Braut und Gattin, 1900, S. 153. 1283 B. Studt, Bismarck als Mitarbeiter der „Kreuzzeitung“ in den Jahren 1848 und 1849, 1903, S. 22. 1284 Studt, Bismarck als Mitarbeiter (Fn. 1283), S. 51. 1285 Siehe hierzu nur seine Haßtirade gegen das Preußische Dreiklassenwahlrecht in der konstituierenden Sitzung des Norddeutschen Reichstags am 28. März 1867; in Auszügen wiedergegeben in Fn. 1295. 1286 So der Bismarcksche Befund am 21. April 1849 in der preußischen Kammer zur Endfassung des Frankfurter Wahlgesetzes, siehe H. Kohl (Hrsg.), Die Reden des Abgeordneten von Bismarck-Schönhausen im Vereinigten Landtage, im Deutschen Parlament zu Erfurt und in der Zweiten Kammer des Preußischen Landtags. 1847–1852. Kritische Ausgabe, Bd. I, 1892, S. 89. Vom Frankfurter Wahlgesetz, präziser dem Reichswahlgesetz vom 12. April 1849, hielt Bismarck im Übrigen insgesamt nichts, siehe hierzu nur seinen vernichtenden Aufsatz in der Neuen Preußischen Zeitung aus dem Jahr 1845, in dem er mit diesem erbarmungslos ins Gericht zieht: „Unser Wahlgesetz ist schlecht, sehr schlecht, aber das Projekt der Herren in der Paulskirche ist doch noch schlechter. Ist das Prinzip der Urwahlen überhaupt ein vernünftiges, so ist nichts unvernünftiger, als grade die Leute davon auszuschließen, ohne welche die Urwahlen eine große Lüge bleiben. Was heißt selbständig und was unselbständig? Niemand ist eins von beiden ganz, und die hohe Versammlung hat in ihrem eigenen Schoße viele Glieder, die viel sprechen und von nichts anderem als von Diäten leben“, zitiert nach Studt, Bismarck als Mitarbeiter (Fn. 1283), S. 22. 1287 Ähnlich auch seine Ausführungen am 24. September 1849, im Rahmen derer er die Wahlen im Hinblick auf den politischen Zustand des Vaterlandes mit einer Lotterie verglich. Im Übrigen, so Bismarck, könne er „keine Bürgschaften sehen, die mich berechtigen, die uneingeschränkte Disposition über Land und Leute in Preußen in die Hände derjenigen Versammlungen zu legen, welche aus diesem Hazardspiele hervorgehen mögen“, siehe Bismarck am 24. September 1849 in der Zweiten Kammer des preußischen Landtags, siehe Kohl (Hrsg.), Reden I (Fn. 1286), S. 127.

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Insbesondere schreckte er davor zurück, ungeschulte Volksvertreter mit essentiellen staatspolitischen Entscheidungen zu betrauen, während für die Besetzung jedes anderen Amtes ein besonderer Bildungsnachweis geführt werden mußte.1288 Konsequenterweise suchte er sicherzustellen, daß nur die Gebildeten und politisch Einsichtsfähigen gewählt werden konnten.1289 Dieses Ziel schien ihm auf der Grundlage eines Systems der Wahl nach Kopfzahlen unerreichbar.1290 Die Bismarcksche Sorge vor der „gleichmachenden Heckenschere aus Frankfurt“ 1291 war keine bloße Propaganda zum Schüren unbegründeter Ängste, nicht Ursprung politischen Kalküls, sondern eine wirklich empfundene. Zudem hatte Bismarck die Hoffnung, doch noch zur ständischen Staatsordnung zurückkehren zu können, in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts noch nicht ganz begraben.1292 Wenn Bismarck aber in Sorge um das Fortbestehen des Vaterlandes und des preußischen Staates zunächst jegliche Form des parlamentarischen Wahlrechts kategorisch ablehnte, wie konnte es dann dazu kommen, daß er zwanzig Jahre später seinen eigenen politischen Kurs in der Wahlrechtsfrage anscheinend um 180 Grad korrigierte? III. Gründe für Bismarcks radikalen Kurswechsel hin zur (zeitweiligen) Ablehnung eines Dreiklassenwahlrechts nach preußischem Zuschnitt Bismarcks Umdenken läßt sich zunächst nur an der Verwerfung seiner Pläne zur Abschaffung der Kammern und der Umwälzung der bestehenden Verfassung im Ganzen festmachen.1293 Während er sich jedenfalls spätestens 1857 mit dem 1288

Kohl (Hrsg.), Reden I (Fn. 1286), S. 127. Allen voran Bauern und Kleinstädtern sprach Bismarck die erforderliche politische Einsichtsfähigkeit ab – siehe nur seinen Brief vom 11. September 1849, abgedruckt in: Bismarck (Hrsg.), Briefe an Braut und Gattin (Fn. 1282), S. 154 – und der preußischen Verfassung machte er den Vorwurf, daß sie „die Gesetzgeber eines Staates (. . .) in denjenigen Schichten der Gesellschaft sucht, welchen selbst die ersten Anfänge, nicht nur der politischen, sondern jeglicher Bildung fehlen“, zitiert nach dem Stimmungsbericht Bismarcks aus Hinterpommern vom Juni 1848, abgedruckt in: H. Kohl (Hrsg.), Bismarck-Jahrbuch, Bd. I, 1894, Nr. 3, S. 478 (479). 1290 Wichtige politische Entscheidungen würden so in die Hände von Menschen fallen, „die aus den Zufällen der Wahlen hervorgegangen sind (. . .)“, siehe Bismarcks Ausführungen am 15. November 1849, abgedruckt bei: Kohl (Hrsg.), Reden I (Fn. 1286), S. 161. 1291 Zitiert nach R. v. Keudell, Fürst und Fürstin Bismarck. Erinnerungen aus den Jahren 1846 bis 1872, 3. Aufl. 1902, S. 32. 1292 Dies geht u. a. aus einem Brief Bismarcks an von Gerlach vom 22. Juni 1851 hervor, siehe Kohl (Hrsg.), Briefe v. Gerlach (Fn. 1279), Nr. 1, S. 8 f. 1293 Bismarck betont unmißverständlich, insbesondere mit Verweis auf die gegebenen Umstände – „einen Gewaltschritt zur Beseitigung der Verfassung, einen formellen Bruch derselben, nicht einmal wünschenswerth, geschweige denn nothwendig (. . .)“ zu erachten (siehe Eigenhändiger Bericht, betr. die Besorgnisse vor einer revolutionären Krisis im Jahre 1852. Unmöglichkeit einer conservativen Opposition in Preußen. Aus 1289

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Parlament bzw. dem Kammersystem ganz und gar abgefunden hatte1294, distanzierte er sich auch vom zensitären Wahlsystem zusehends, wobei diese Skepsis sich bis zur blanken Abscheu steigerte und am 28. März 1867 im Rahmen der Wahlrechtsberatungen im verfassunggebenden Reichstag in folgender Hasstirade gegen das Preußische Dreiklassenwahlrecht gipfelte: „ein widersinnigeres, elenderes Wahlgesetz [als das Preußische Dreiklassenwahlrecht, A. S.] ist nicht in irgend einem Staate ausgedacht worden, ein Wahlgesetz, welches alles Zusammengehörige auseinanderreißt und Leute zusammenwürfelt, die Nichts mit einander zu thun haben, in jeder Commune mit anderem Maße mißt, Leute, die in irgend einer Gemeinde weit über die erste Classe hinausreichen, diese allein ausfüllen würden, in einer benachbarten Commune in die dritte Classe wirft (. . .). Eine ähnliche Willkürlichkeit und zugleich eine Härte liegt in jedem Census, eine Härte, die da am fühlbarsten wird, wo dieser Census abreißt, wo die Ausschließung anfängt; wir können es dem Ausgeschlossenen gegenüber doch wirklich schwer motiviren, daß er deshalb, weil er nicht dieselbe Steuerquote wie sein Nachbar zahlt – und er würde sie gern bezahlen, denn sie bedingt ein größeres Vermögen, das hat er aber nicht – er gerade Helot und politisch todt in diesem Staatswesen sein solle (. . .)“ 1295. Dieser Gesinnungswandel Bismarcks in Bezug auf die Ausgestaltung des Wahlrechts1296 läßt sich im Wesentlichen auf drei Faktoren zurückführen.

der Bundestagssitzung. 29. September 1851, abgedruckt in: H. v. Poschinger [Hrsg.], Preußen im Bundestag 1851 bis 1859. Documente der K. Preuß. Bundestags-Gesandtschaft 1884, Nr. 12, S. 38 [39]). Die Revolution von 1848/49 hatte auch Bismarck auf radikale Art und Weise vor Augen geführt, daß die Entwicklung hin zur Gesamtvertretung des Volkes nicht mehr rückgängig zu machen bzw. aufzuhalten war. Zudem wohnte der Abschaffung der Kammern bzw. der Verfassung im Ganzen die nicht zu unterschätzende Gefahr eines erneuten staatlichen Umsturzes inne, den es natürlich nach Kräften zu verhindern galt, siehe Augst, Bismarcks Stellung (Fn. 1218), S. 18. 1294 Augst, Bismarcks Stellung (Fn. 1218), S. 18. 1295 Siehe die 21. Sitzung des Reichstags des Norddeutschen Bundes am 28. März 1867, abgedruckt bei: Kohl (Hrsg.), Reden III (Fn. 1244), S. 248 = Stenographische Berichte Reichstag Norddeutscher Bund 1867 I (Fn. 1244), S. 429, linke und rechte Spalte. Knapper Verweis auf das Zitat beispielsweise bei Gageur, Reform (Fn. 1076), S. 22 f.; Gerlach, Geschichte (Fn. 34), S. 85; P. Voigt, Geschichte der Entwicklung des Wahlrechts zum preußischen Abgeordnetenhause, Diss. jur. 1910, S. 35; Klein (Fn. 43), Art. 38 Rn. 20. 1296 Als Belege für das Andauern dieses Umdenkens zugunsten des allgemeinen und gleichen Wahlrechts und zulasten des Preußischen Dreiklassenwahlrechts sollen seine Rede im Preußischen Abgeordnetehause am 28. Januar 1869 („[. . .] ungeachtet der Abneigung, die ich gegen das Dreiklassenwahlgesetz bekannt habe und noch hege, [. . .]“) und seine Ausführungen im Kontext der Beratungen des Sozialistengesetzes im Reichstag am 17. September 1878 („[. . .] aber ich verkehre lieber hier inmitten der Ergebnisse des allgemeinen Stimmrechts, trotz der Auswüchse, die wir ihm verdanken“, beide Zitate nach Gerlach, Geschichte [Fn. 34], S. 88, 90, Hervorhebungen i. O., A. S.), hier ausreichen.

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1. Einführung des allgemeinen und gleichen (Männer-)Wahlrechts zur Mobilisierung konservativer Kräfte

Bismarcks Überzeugung von der konservativen, regierungsfreundlichen und königstreuen politischen Einstellung der ärmeren Bevölkerungsschichten war ungebrochen1297, weshalb er fest entschlossen war, diese brach liegenden Kräfte mit Hilfe des allgemeinen und gleichen Wahlsystems freizusetzen und für seine Konservativen nutzbar zu machen1298. Zensitäre Bestimmungen wären diesem Vorhaben ganz offensichtlich zuwidergelaufen, und so machte er 1854 seine Position zum Zensuswahlrecht und dem damit einhergehenden Ausschluß der unteren Bevölkerungskreise vom Wahlrecht unumwunden klar: „Man schreibt mir von der Absicht, einen höhern Wahl-Census für die Kammern im Wege der GemeindeOrdnung einzuführen; das wäre kein Glück, denn die durch solchen Census ausgeschlossenen Schichten sind bessere Royalisten, als die übrig bleibende Bourgeoisie und höhern Stände, ganz abgesehn von der rohen Willkühr jeder Censusordnung und dem Schaden endloser Verfassungsmacherei.“ 1299 Bestätigt fühlte Bismarck sich in seiner Haltung durch die negativen Erfahrungen mit dem Preußischen Dreiklassenwahlrecht1300, denn die für die Konservativen äußerst günstigen Wahlergebnisse der Reaktionszeit hatten sich so als „grobe Täuschungen“, gar als „Scheinwirkungen“ 1301 entpuppt. Während in den fünfziger Jahren des 19. Jahrhunderts nicht nur die Grundeigentümer, sondern auch die Inhaber von Geldkapital reaktionär gewählt hatten, änderte sich dies mit den Wahlen in den Jahre 1858 und 1861–63, die die politische Macht nunmehr „in die Hand der von Haus aus liberalen kapitalkräftigen Bourgeoisie“ 1302 spielten und dadurch insbesondere die Position der Nationalliberalen Partei, der „Hauptrepräsentantin des besitzenden und gebildeten Bürgertums“ 1303, stärkte. Wider Erwarten hatte sich gerade das Dreiklassenwahlrecht, eine Art Allzweckwaffe der Konservativen, mittels welcher sie sich die Sicherung konstanter Mehrheiten versprochen hatten, in eine „unentbehrliche Stütze der Fortschrittler und Liberalen“ 1304 verkehrt. Bismarck, der sich im Klaren darüber war, daß das Preußische 1297 Ritter, Arbeitsbuch (Fn. 895), S. 26; Augst, Bismarcks Stellung (Fn. 1218), S. 27, 56, 91, 172 f. 1298 Boldt, Konstitutionalismus (Fn. 1269), S. 131; Gilg, Erneuerung (Fn. 961), S. 16. 1299 Siehe Bismarcks Brief an von Gerlach vom 20. Februar 1854, abgedruckt bei: Kohl (Hrsg.), Briefe v. Gerlach (Fn. 1279), Nr. 44, S. 130. 1300 Ritter, Arbeitsbuch (Fn. 895), S. 26. 1301 Zitate bei Augst, Bismarcks Stellung (Fn. 1218), S. 37. 1302 Augst, Bismarcks Stellung (Fn. 1218), S. 37. Die „materialistisch-selbstsüchtigen Bestrebungen des Geldbürgertums wollte Graf Bismarck mit dem Reichstagswahlrecht unterbinden“ (Zitat ebd., S. 91). 1303 Gilg, Erneuerung (Fn. 961), S. 20. 1304 Augst, Bismarcks Stellung (Fn. 1218), S. 38. Augst weist hier zudem darauf hin, daß die für die Liberalen mehr als günstigen Wahlergebnisse sich aus Sicht der konservativen Regierung gerade deshalb als besonders ärgerlich erwiesen, weil sie nicht als

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Dreiklassenwahlrecht auf Dauer nur eine Stärkung des Einflußes der liberal-kapitalistischen Bourgeoisie und gleichermaßen die Schwächung seines konservativen Lagers nach sich ziehen würde, wurde folglich nicht müde, immer wieder seinen Unmut über das Preußische Dreiklassenwahlrecht kundzutun.1305 Vor diesem Hintergrund darf die Bismarcksche Forderung der Etablierung des allgemeinen und gleichen Wahlrechts auf Reichsebene aber „nicht einfach als Kapitulation vor einem demokratischen Zeitgeist, oder als Mittel der Integration des ganzen deutschen Volkes gegen äußere Feinde (. . .) verstanden werden, sondern ist, aus der konstitutionellen Perspektive gesehen, einer seiner Schachzüge gewesen, um die liberale Vorherrschaft im Parlament zu brechen“ 1306. 2. Einführung des allgemeinen und gleichen (Männer-)Wahlrechts zur Eliminierung des Nebenbuhlers Österreich

Bismarck hatte schon früh erkannt, daß insbesondere für den für Preußen lästig gewordenen Kontrahenten Österreich ein geeintes deutsches Parlament besondere Gefahren barg, und strebte an, dies als Druckmittel zur Lösung außenpolitischer Probleme zu nutzen: Sein effektivster Coup im Kampf gegen Österreich sollte daher die Etablierung einer nach allgemeinen, gleichen und unmittelbaren Grundsätzen gewählten Gesamtvertretung des deutschen Volkes sein1307, denn in diesem Falle mußte Österreich wohl gänzlich aus dem Nationalstaate ausgeschlossen werden1308. Sein Vorhaben würde den österreichischen Bundesreformplan und dessen aus den einzelnen Landtagen zu bildenden Volksvertretung am Bund zerschlagen.1309 Er setzte daher alles daran, die Bundesreform nach seinen Vorstellungen möglichst intensiv voranzutreiben.1310 Als willkommene Nebenfolge

Ausdruck der Unzufriedenheit der Mehrheit der Bevölkerung mit der Regierung zu werten sind, sondern gerade gegenteilig einem Wahlsystem geschuldet waren, das die unteren regierungstreuen Schichten vom Wahlrecht ausschloß und deren Stimmen so unter den Tisch fallen ließ. 1305 Siehe hierzu nur seine niederschmetternde Rede gegen das Preußische Dreiklassenwahlrecht in der konstituierenden Sitzung des Norddeutschen Reichstages am 28. März 1867, dazu bereits in und um Fn. 1295. 1306 Boldt, Konstitutionalismus (Fn. 1269), S. 131. 1307 Savigny, Wahlrecht (Fn. 31), S. 24; Ritter, Arbeitsbuch (Fn. 895), S. 26; Augst, Bismarcks Stellung (Fn. 1218), S. 172. In seinen „Gedanken und Erinnerungen“ hält Bismarck hierzu rückblickend fest: „Die Annahme des allgemeinen Wahlrechts war eine Waffe im Kampfe gegen Oestreich und weitres Ausland (. . .)“ (siehe Bismarck, Gedanken und Erinnerungen II [Fn. 1272], S. 58). 1308 So fragte Bismarck im April 1860 den ihm vorgesetzten Minister, ob der österreichische Kollege „mit ,Volksvertretung am Bunde‘ geängstigt werden soll“ (siehe den Brief Bismarcks vom 9. April 1860, abgedruckt in: Bismarcks Briefwechsel mit dem Minister Freiherrn von Schleinitz 1858–1861, 1905, S. 63). Hierzu auch Augst, Bismarcks Stellung (Fn. 1218), S. 24. 1309 Siehe hierzu H. Preuß, Der deutsche Nationalstaat, 1924, S. 52. 1310 Augst, Bismarcks Stellung (Fn. 1218), S. 69.

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konnte er das Wahlrecht zudem als „Schreckmittel gegen das Ausland, dem er auf diese Weise Angst vor der Entfesselung deutsch-nationaler Massenkräfte und Furcht vor staatlichen Umwälzungen einzuflößen beabsichtigte“ 1311, instrumentalisieren. 3. Einführung des allgemeinen und gleichen (Männer-)Wahlrechts zur Stärkung der Hegemonialstellung Preußens im Reich

Hintergrund Bismarcks politischer Maßnahmen zur Stärkung des Konstitutionalismus und Beibehaltung des Kammersystems war wie so oft sein „preußischer Staatsegoismus“ 1312. Es ging ihm nicht nur darum, Österreich als den Erzfeind Preußens aus dem Reich zu drängen, sondern gleichzeitig um die Sicherung und den Ausbau der preußischen Hegemonie innerhalb Deutschlands.1313 Der Konstitutionalismus schien ihm in diesem Vorhaben ein unverzichtbares Werkzeug1314, und von der bereits erwähnten Gründung eines deutschen Nationalparlamentes erhoffte er einen zusätzlichen Machtgewinn Preußens1315, das in diesem den Vorsitz übernehmen sollte. Zu diesen drei Hauptzielen, die Bismarck durch die Einführung des allgemeinen und gleichen (Männer-)Wahlrechts zu realisieren suchte, gesellt sich die

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Augst, Bismarcks Stellung (Fn. 1218), S. 86. Augst, Bismarcks Stellung (Fn. 1218), S. 22; zur geschickten Verschleierung eben jenes Egoismus siehe auch ebd., S. 88. 1313 Augst, Bismarcks Stellung (Fn. 1218), S. 22 f. Noch kurz vor der Gründung des Norddeutschen Bundes hatte Bismarck einen Plan des Zusammenschlusses der Mittelund Kleinstaaten unter preußischer Vorherrschaft ernsthaft in Erwägung gezogen, siehe Anschütz, Reichsverfassung (Fn. 1213), S. 35. Ob er, wie Anschütz es ebd. vetrtritt, schon 1870 von der Vorstellung des Reiches als das „verlängerte Preußen“ (Zitat geht wohl auf Kaiser Wilhelm I. zurück, siehe H. v. Treitschke, Politik. Vorlesungen gehalten an der Universität zu Berlin, herausgegeben von M. Cornicelius, Bd. I, 1897, S. 40 und ders., Politik II [Fn. 18], S. 345) schon „weit abgekommen ist“, scheint mehr als fraglich; beizupflichten ist ihm allerdings jedenfalls dahingehend, daß die Einstellung und damit auch die Politik Bismarcks mit den Jahren immer deutscher und damit automatisch weniger preußisch wurde, siehe hierzu auch E. Marcks, Rede, gehalten bei der Gedächtnisfeier der Universität Leipzig in der Aula am Totensonntag, 20. November 1898, in: G. Schmoller/M. Lenz/ders. (Hrsg.), Zu Bismarcks Gedächtnis, 1. und 2. Aufl. 1899, S. 156 (siehe insbes. S. 167, 172). 1314 Von Gerlach schreibt dazu in seinem Tagebuch am 19. April 1858, Bismarck halte den Preußischen Landtag für den Haupthalt Preußens in Deutschland, siehe U. A. von Gerlach (Hrsg.), Denkwürdigkeiten aus dem Leben Leopold von Gerlachs. Generals der Infanterie und General-Adjutanten König Friedrich Wilhelms IV., Bd. II, 1892, S. 594. 1315 Welch große Hoffnung Bismarck in die Unterstützung Preußens durch die deutsche Gesamtvertretung setzte, ergibt sich beispielsweise aus seinem Gespräch mit Unruh im Jahre 1859, in dessen Verlauf er das deutsche Volk als einzigen „Alliirten Preußens“ bezeichnete, siehe H. v. Poschinger (Hrsg.), Erinnerungen aus dem Leben von Hans Viktor von Unruh, 1895, S. 209. 1312

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höchst willkommene einende (Neben-)Wirkung des Systems.1316 Es sollte „als eine Art Kitt zum Aufbau des Kaiserreichs, sowie als ein Mittel zur Ueberwindung der ererbten Zentrifugaltendenzen“ 1317 der kleineren Staaten dienen. IV. Gründe für die Verwerfung der Bismarckschen Pläne zur Etablierung des allgemeinen und gleichen (Männer-)Wahlrechts in Preußen Es stellt sich zudem die oben bereits aufgeworfene Frage, warum Bismarck seinen immensen politischen Einfluß nicht zur Angleichung der Wahlsysteme Preußens und des Deutschen Reiches nutzte, wodurch er „zum Urheber eines der größten Gegensätze, den die moderne Parlamentsgeschichte aufzuweisen hat, des Gegensatzes zwischen dem deutschen Bundesstimmrecht auf breitester demokratischer Grundlage und des preußischen Dreiklassensystems mit seiner einseitigen Bevorzugung der besitzenden Klassen und dem versteckten Grundsatz künstlicher Wahlmache“ 1318 wurde. Noch zu Zeiten der Bildung des Norddeutschen Bundes war Bismarck fest entschlossen gewesen, das Wahlsystem in Preußen zumindest langfristig zu reformieren und nach der gewonnenen Schlacht von Königgrätz „wäre es Bismarck ein leichtes gewesen, die preußische Verfassung im Sinne der Regierung umzugestalten oder ganz außer Kraft zu setzen (. . .)“ 1319. Bismarck hatte in der Zwischenzeit ganz offensichtlich trotz tatsächlicher Realisierungsmöglichkeit von seinem Vorhaben der Angleichung der Wahlsysteme in Preußen und auf Reichsebene Abstand genommen. Befeuert wurde die Diskussion um die Änderung des Wahlrechts in Preußen durch einen Regierungsentwurf aus dem Jahre 1869, der eigentlich Fragen der Wahlkreiseinteilung behandelte. Im Zuge dieser Verhandlungen bekundeten Nationalliberale wie Fortschrittler ihr Unverständnis für die nach wie vor ausstehende Angleichung der Wahlsysteme Preußens und des Reiches. Die sich häufenden öffentlichen Stellungnahmen Bismarcks, im Rahmen derer er auf der einen Seite das Preußische Dreiklassenwahlrecht aufs Schärfste verurteilte und auf der anderen Seite seine Passivität, den status quo zu ändern, riefen bei diesen Abgeordneten große Irritationen und Unverständnis hervor: In der Sitzung vom 28. Januar 1869 beantragte der Abgeordnete von Kardorff daher beispielsweise die Einführung des allgemeinen, gleichen, unmittelbaren und geheimen Wahlrechts in Preußen und ein Abge1316 Bismarck wollte sich als „Vorreiter der deutschen Einheit“ profilieren (Ritter, Arbeitsbuch [Fn. 895], S. 26). Äußerst kritisch gegenüber dem Bismarckschen Argument der Integrationsfunktion des allgemeinen und gleichen Wahlrechts Boldt, Konstitutionalismus (Fn. 1269), S. 131. 1317 Das Zitat stammt aus einer Unterredung Bismarcks mit Hilgard Villard, die im Sommer 1890 in Friedrichsruh stattfand, siehe Villard, Also sprach Bismarck III (Fn. 1235), S. 83; Augst, Bismarcks Stellung (Fn. 1218), S. 90; Ritter, Arbeitsbuch (Fn. 895), S. 26. 1318 Augst, Bismarcks Stellung (Fn. 1218), S. 101. 1319 Augst, Bismarcks Stellung (Fn. 1218), S. 102.

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ordneter der nationalkonservativen Partei forderte in aller Klarheit, „die Zusammensetzung des Preußischen Abgeordnetenhauses in Bezug auf Abgrenzung der Wahlbezirke, Wahlmodus und Zahl der Abgeordneten mit der des Reichstages in Einklang zu bringen und damit eine nähere organische Verbindung der beiden Körperschaften anzubahnen“ 1320. 1. Furcht vor einer Totalrevision der preußischen Verfassung

Als eine (wenn auch nicht die bedeutendste) Ursache ist die Furcht vor einer Totalrevision der Verfassung Preußens auszumachen. Bismarck war sich im Klaren darüber, daß gravierende Änderungen am Verfassungskorpus Preußens, gar ein Staatsstreich, Unruhen und Ängsten in der Bevölkerung Vorschub leisten würden und Demagogen wie Widersacher des Gesamtsystems auf den Plan rufen würden, denen es im schlimmsten Falle gelingen könnte, das komplette Verfassungswerk aus den Angeln zu heben.1321 Jeder Systemwechsel, so Bismarcks Einschätzung, würde den Staat gefährden und Unsicherheiten und Schwanken des Verfassungslebens begünstigen. Der Staat, so Bismarck weiter, könne „nicht gedeihen, wenn er von einem System zum anderen schwankt“ 1322. Daher habe er nicht tiefer in die Verfassung eingreifen wollen als unbedingt notwendig und von Wahlrechtsänderungen in Preußen Abstand genommen.1323 2. Stärkung der Nationalliberalen als wichtigstem Bündnispartner Bismarcks

Wenn das Preußische Dreiklassenwahlrecht auch nicht mehr in der Lage war, eine beständige Alleinherrschaft der Konservativen zu sichern, so verschaffte es dennoch immerhin den Nationalliberalen, auf die er als Verbündete angewiesen war1324, (zumindest temporär) komfortable Mehrheiten1325. Das Dreiklassen1320 Siehe Stenographische Berichte über die Verhandlungen der durch die Allerhöchste Verordnung vom 15. October 1868 einberufenen beiden Häuser des Landtages. Haus der Abgeordneten, Bd. II, 1869, S. 1267, linke Spalte (1295, rechte Spalte). Dazu knapp Anschütz, Wahlreform (Fn. 31), S. 18 f. und R. Patemann, Der Kampf um die preußische Wahlreform im Ersten Weltkrieg, 1964, S. 13. 1321 Augst, Bismarcks Stellung (Fn. 1218), S. 106. 1322 J. C. Bluntschli, Denkwürdiges aus meinem Leben, Bd. III, 1884, S. 202, der Staat könne „nicht gedeihen, wenn er von einem System zum anderen schwankt“, ebd., S. 202. 1323 Rede Bismarcks im Rahmen der 39. Sitzung des Hauses der Abgeordneten am 28. Januar 1869, abgedruckt in: H. Kohl (Hrsg.), Die Reden des Ministerpräsidenten und Bundeskanzlers Grafen von Bismarck im Preußischen Landtage, im Reichstage des Norddeutschen Bundes und im Deutschen Zollparlament. 1868–1870. Kritische Ausgabe, Bd. IV, 1893, S. 93 (94). 1324 Siehe statt vieler Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte III (Fn. 401), S. 866 ff. 1325 Augst, Bismarcks Stellung (Fn. 1218), S. 106.

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wahlrecht entpuppte sich mithin zu einem für ihn unverzichtbaren Instrument der Herrschaftssicherung und der Landtag Preußens als „eine scharfe Waffe gegen die regierungsfeindlichen Parteien im Reichsparlament, (. . .) Bismarck fand im Abgeordnetenhause Rückhalt, wenn die deutsche Volksvertretung seine Pläne durchkreuzte“ 1326. 3. Gefährdung des Fortbestandes des preußischen Herrenhauses als Bismarcks Ort politischen Rückhalts

Als dritter und wohl wichtigster Grund für die Beibehaltung des Dreiklassenwahlrechts in Preußen ist die drohende Abschaffung des Zweikammersystems im Rahmen einer dortigen Wahlrechtsreform auszumachen. Die Nationalliberalen und die Anhänger der Fortschrittspartei hatten Bismarck unmißverständlich signalisiert, dem Vorhaben der Wahlrechtsreform in Preußen nur unter dem Vorbehalt einer umfassenden Reformierung, eventuell gar Abschaffung des preußischen Herrenhauses zuzustimmen bereit zu sein.1327 Diese Verknüpfung der Realisierung der Wahlrechtsreform in Preußen mit der Bedingung einer umfassenden Reformierung des Herrenhauses klang in den Ohren Bismarcks, der „im preußischen Abgeordnetenhause einen konservativen Hort, auf den er sich jederzeit verlassen konnte“ 1328, gefunden hatte, wohl eher wie eine Drohung. Die Frage der Zukunft des Preußischen Dreiklassenwahlrechts spaltete indes die Parteienlandschaft. Während die Mitglieder des Zentrums ihre Chance witterten, den Liberalen mit der Einführung des allgemeinen und gleichen Wahlrechts in Preußen Schaden zufügen zu können1329, hoffte die ultramontane Partei, mit dessen Hilfe die dritte Klasse für ihre Zwecke zu mobilisieren1330. Die Mehrheit der Liberalen stand 1873 auf wackligen Füßen, und ihren politischen Gegnern war dies durchaus bewußt, sie suchten die Forderung nach einer Angleichung des 1326

Augst, Bismarcks Stellung (Fn. 1218), S. 114. Der Abgeordnete Twesten beispielsweise stellte in eben jener Sitzung vom 28. Januar 1869 die Unmöglichkeit einer isolierten Betrachtung der Frage einer Reformierung des Preußischen Dreiklassenwahlrechts und der des Herrenhauses heraus: „Meine Herren, jenes Haus [das Herrenhaus, A. S.] in Uebereinstimmung zu bringen nicht blos mit den Grundlagen des Reichstages und dieses Hauses, sondern in Uebereinstimmung mit den höchsten Interessen der modernen Gesellschaft, das ist der wesentlichste Gesichtspunkt, welcher bei einer durchgreifenden Aenderung der parlamentarischen Verhältnisse in Deutschland in’s Auge gefaßt werden müßte, und nur, wenn ein Antrag so gestellt ist, daß er nicht auf unser Haus allein, sondern auch auf das zweite Haus mitgerichtet ist, kann ich mich entschließen, für einen Antrag dieser Art [Wahlrechtsänderung in Richtung des Reichsstimmrechts, A. S.] zu stimmen“ (siehe die 39. Sitzung am 28. Januar 1869, abgedruckt in: Stenographische Berichte Abgeordnetenhaus 1869 II [Fn. 1320], S. 1276, linke Spalte). 1328 Augst, Bismarcks Stellung (Fn. 1218), S. 113. Ähnlich Gilg, Erneuerung (Fn. 961), S. 33. 1329 Siehe dazu den knappen Hinweis bei Patemann, Kampf (Fn. 1320), S. 13. 1330 Augst, Bismarcks Stellung (Fn. 1218), S. 109. 1327

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Wahlrechts in Preußen daher zu instrumentalisieren, um die Liberalen zu schwächen, wenn möglich gar in die Opposition zu verbannen.1331 Bismarck und die Liberalen nahmen dieses Ansinnen ihrer politischen Gegnerschaft mit großer Sorge zur Kenntnis, zumal ihnen immer mehr die Argumente für ein Festhalten am Dreiklassenwahlsystem ausgingen. Oft reichte das argumentative Vorbringen gegen die schon lange aufgeschobene preußische Wahlrechtsreform, die endlich das allgemeine und gleiche Wahlrecht bringen sollte, über Allgemeinschauplätze nicht hinaus: Der liberale Politiker Eduard Lasker begründete seine ablehnende Haltung gegenüber der Reform ganz pauschal mit „Gründen der höchsten Politik und dem Wunsche des Landes“ und versuchte, die Notwendigkeit und Dringlichkeit der Reform herunterzuspielen, indem er schlichtweg behauptete: „ich bin überzeugt, (. . .) daß das allgemeine und gleiche Wahlrecht, geheim und direkt ausgeübt, kein wesentlich anderes Resultat geben wird, als das Dreiklassensystem; wir werden dies beim Reichstage erleben“ 1332. 1883 sprach sich die Königliche Regierung dann öffentlich für die Beibehaltung des preußischen Wahlgesetzes aus. So positionierte sie sich durch ihren Vizepräsidenten des Staatsministeriums und Minister des Innern von Puttkamer entschieden gegen den Antrag auf Einführung der geheimen Abstimmung bei den Wahlen zum Abgeordnetenhause1333: „Die Regierung ist der Meinung, daß zwar das Wahlrecht ein sehr kostbares politisches Recht, und daß es eines Kulturstaates durchaus würdig ist, dasselbe so weit auszudehnen, wie das öffentliche Wohl und die politischen Interessen des Landes es irgend wie gestatten; aber je weiter man es ausdehnt, meine Herren, um so mehr muß man nach der Ueberzeugung der Regierung mit dem Gedanken durchdringen, daß dieses Recht gleichzeitig eine sehr schwere Pflicht involvirt. Das Wahlrecht ist nach unserer Auffassung nicht bloß ein individuelles Recht des Einzelnen, seine Parteiansicht zur Geltung zu bringen, sondern es ist ein im öffentlichen Interesse anvertrautes Amt, welches mit schwerer Verantwortlichkeit verbunden ist, und wenn man von diesem Gesichtspunkte aus das Wahlrecht betrachtet, dann bin ich entschieden der Meinung, daß man nur in der öffentlichen Abstimmung den allein würdigen Ausdruck des Wahlrechts erblicken kann.“ 1334 Daher wurde – trotz wachsenden Widerstandes von Seiten des 1331 Siehe dazu den Antrag des Abgeordneten Windthorst, gerichtet auf Änderung des Dreiklassenwahlrechts in der 9. Sitzung vom 26. November 1873, abgedruckt in: Stenographische Berichte über die Verhandlungen der durch die Allerhöchste Verordnung vom 4. November 1873 einberufenen beiden Häuser des Landtages. Haus der Abgeordneten, Bd. I, 1974, S. 93, linke Spalte (94 ff., rechte Spalte). 1332 Zitiert erneut nach der 9. Sitzung vom 26. November 1873, abgedruckt in: Stenographische Berichte 1873/74 I (Fn. 1331), S. 99, rechte Spalte und S. 106 linke Spalte. 1333 Siehe die 9. Sitzung des Hauses der Abgeordneten vom 5. Dezember 1883, abgedruckt in: Stenographische Berichte über die Verhandlungen der durch die Allerhöchste Verordnung vom 7. November 1883 einberufenen beiden Häuser des Landtages. Haus der Abgeordneten, Bd. I, 1884, S. 191 ff. 1334 Ebda., S. 195, rechte Spalte. Er bezeichnete das Dreiklassenwahlrecht als „ein kostbares Gut, das die Regierung aufzugeben nicht gesonnen ist“, siehe Kühnl, Formen

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Zentrums und der ultramontanen Partei und trotz des Fehlens sachlicher Argumente – „unter Bismarcks Führung das Dreiklassenwahlrecht als altes Erbstück aus der Zeit der großen Reaktion getreulich bewahrt“ 1335. Diese Tatsache vermag insbesondere deshalb nicht zu überraschen, hat doch ab 1879 wieder – hauptsächlich aufgrund des Preußischen Dreiklassenwahlrechts – „den Konservativen die Regierungssonne gestrahlt“, so daß gerade dieses ungleiche Wahlsystem für sie zu einer Art „Geschäft“ 1336 wurde. Die Hoffnung, die die Konservativen bereits dreißig Jahre zuvor mit Etablierung des Dreiklassenwahlrechts hegten, die zwischenzeitlich in bittere Enttäuschung aufgrund hoher Stimmverluste zugunsten der Liberalen umgeschwungen war1337, sollte sich nunmehr endlich und dauerhaft erfüllen, denn „jetzt wirkte sich das Dreiklassenwahlrecht im Sinne seiner konservativen Urheber von 1849 aus“ 1338. Die (zumindest über lange Zeiträume andauernde) besondere Privilegierung der Konservativen durch das Dreiklassenwahlrecht ist vor allem auch auf das grundsätzliche Profitieren regional konzentrierter Parteien von diesem Wahlsystem zurückzuführen.1339 Es ist in der Literatur viel darüber spekuliert worden, ob Bismarck, dessen Verhalten in der Wahlrechtsfrage sich zweifellos äußerst ambivalent zeigt, als Vorkämpfer und Verfechter des allgemeinen und gleichen Wahlrechts einzuordnen ist oder ob er doch in seinem tiefsten Innern Sympathisant und daher Konservator des Preußischen Dreiklassenwahlsystems war.1340 Derartige Erwägungen erweisen sich letztlich aber als müßig. Zusammenfassend läßt sich Folgendes festhalten: Bismarck wußte die Zeichen der Zeit zu deuten, und so gelang es ihm (zumindest zunächst) die Ausgestaltung der Wahlsysteme in Preußen und im Reich im Rahmen der Realisierung seiner politischen Vorhaben für seine eigenen (Fn. 509), S. 33; Gerlach, Geschichte (Fn. 34) S. 37; H. Rosenberg, Die Demokratisierung der Rittergutsbesitzerklasse, in: W. Berges/C. Hinrichs (Hrsg.), Zur Geschichte und Problematik der Demokratie. Festgabe für Hans Herzfeld, 1958, S. 459 (478); Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte III (Fn. 401), S. 857. 1335 Augst, Bismarcks Stellung (Fn. 1218), S. 113. 1336 Beide Zitate bei Gerlach, Geschichte (Fn. 34), S. 225, 227. Siehe dazu auch K. Wulff, Die Deutschkonservativen und die preußische Wahlrechtsfrage, Diss. jur. 1921, S. 5 f. 1337 Siehe hierzu bereits in und um Fn. 1300. 1338 Gagel, Wahlrechtsfrage (Fn. 509), S. 119. 1339 Dazu erläuternd Vogel/Nohlen/Schultze, Wahlen (Fn. 40), S. 104. 1340 Gegen Letzteres sprechen zumindest einige späte öffentliche Stellungnahmen Bismarcks, wie die aus dem Januar 1896, in der er gegenüber Vertretern der „Leipziger Neuesten Nachrichten“ kundgab, daß er „an seiner Verurteilung des preußischen Systems festhalte“, siehe H. v. Poschinger (Hrsg.), Fürst Bismarck. Neue Tischgespräche und Interviews, Bd. 2, 1899, S. 277. Andererseits hatte er sich in Zeiten, als es eine Reformierung des Dreiklassenwahlrechts in Preußen wegen seiner schwindenden Mehrheit auf Reichsebene abzuwenden galt, zumindest vordergründig in der Öffentlichkeit des Öfteren für diesen Wahlmodus ausgesprochen.

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Zwecke zu nutzen. Die Etablierung des allgemeinen und gleichen (Männer-) Wahlrechts 1871 auf Reichsebene schien ihm als taugliches „Bindemittel“ 1341 für den neu zu schaffenden Staatskorpus. Zudem brauchte er dieses Wahlrecht vor allem zur Mobilisierung der konservativen Wählerschaft in den unteren Bevölkerungsschichten. Er mußte dann aber die Erfahrung machen, daß sich seine politischen Gegner, die Anhänger der katholischen Zentrumspartei und der Sozialdemokraten, im politischen Kampf gegen ihn zusammenschlossen.1342 Ihren für Bismarck katastrophalen Höhepunkt fand diese Entwicklung mit den Reichstagswahlen 1881, im Rahmen derer die Zentrumspartei erstmalig die am stärksten vertretene politische Gruppierung im Parlament wurde, was Bismarck dazu zwang, sich in Zukunft immer neue Bündnispartner suchen zu müssen.1343 Sein Ärger über den Ausgang der Reichstagswahlen „übertrug sich psychologisch ganz naturgemäß auch auf die Grundlage dieser Einrichtung, nämlich auf das allgemeine, geheime und unmittelbare Wahlrecht“ 1344. In diese Phase größtmöglicher Unzufriedenheit mit dem Deutschen Reichstag und dessen Wahlsystem fällt auch das bereits erwähnte Zitat Bismarcks, er wolle seine letzten Jahre dazu nutzen, „den schwersten Fehler wieder gut zu machen“ 1345, als welchen er die Etablierung des allgemeinen und gleichen Wahlrechts retrospektiv angesehen haben soll. Zweifellos hatte der erfahrene Staatsmann die Folgen der Einführung des allgemeinen und gleichen Wahlrechts, insbesondere den immensen Machtzuwachs auf Seiten der Sozialdemokraten, unterschätzt.1346 Da er sich in den Folgen des Wahlsystems getäuscht hatte und so seine politischen Pläne durchkreuzt wurden, setzte er nun alle Kraft daran, den Bestand des Preußischen Dreiklassenwahlrechts zu schützen. Denn im preußischen Herrenhaus fand er die Mehrheit und den Rückhalt, die ihm auf Reichsebene fehlten, die „Garantie einer konstanten konservativen Vorherrschaft“ 1347. Eine Ersetzung des Preußischen Dreiklassenwahlrechts durch das Reichstagswahlrecht wäre ihm zu verschiedenen Zeit1341

Augst, Bismarcks Stellung (Fn. 1218), S. 115. Augst, Bismarcks Stellung (Fn. 1218), S. 115 f. 1343 Vogel/Schultze, Art. Deutschland (Fn. 744), S. 227. 1344 Augst, Bismarcks Stellung (Fn. 1218), S. 118. 1345 Siehe hierzu bereits den Nachweis in Fn. 1273. 1346 Der SPD gelang es, ihren Stimmanteil von 3,2 % bei den Reichstagswahlen 1871 auf 34, 8 % der Stimmen 1912 zu steigern (siehe Ritter, Arbeitsbuch [Fn. 895], S. 23). Eine ausführliche Analyse der Wahlergebnisse der SPD im Rahmen der Reichstagswahlen von 1912 findet sich überdies bei H. Nöcker, Der preußische Reichstagswähler in Kaiserreich und Republik 1912 und 1924. Analyse – Interpretation – Dokumentation. Ein historisch-statistischer Beitrag zum Kontinuitätsproblem eines epochenübergreifenden Wählerverhaltens. Mit einer Einführung von O. Büsch, 1987, S. 71 ff. Bei den Reichstagswahlen von 1903 beispielsweise fielen über 3 Millionen der Stimmen, d.h. mehr als 30 % der Gesamtstimmen auf die Sozialdemokraten. Mehr als die Hälfte der gewonnenen Stimmen gingen mit Einbußen der Linksliberalen einher, siehe Gilg, Erneuerung (Fn. 961), S. 49 f. 1347 Gagel, Wahlrechtsfrage (Fn. 509), S. 118; dazu auch Vogel/Nohlen/Schultze, Wahlen (Fn. 40), S. 125. 1342

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punkten wohl durchaus möglich gewesen, nur hatte Bismarck mittlerweile aus den genannten Gründen jegliches Interesse daran verloren. Gerade erst ab 1879 entfaltete das Dreiklassenwahlrecht ja die Wirkung, die er sich von Anfang an erhofft hatte, nämlich die Sicherung stabiler Mehrheiten für seine Konservativen. Daher gingen seine Bestrebungen nunmehr wieder dahin, das allgemeine und gleiche (Männer-)Wahlrecht auf Reichsebene in seiner Wirkung abzuschwächen. Seine zeitlebens ambivalente Position hinsichtlich der Wahlrechtsfrage ist letztlich realen politischen Umständen geschuldet und sowohl die Einführung des allgemeinen und gleichen (Männer-)Wahlrechts 1871 auf Reichsebene als auch die Protektion und Konservierung des diesem ganz offensichtlich massiv zuwiderlaufenden Preußischen Dreiklassenwahlrechts sind in weiten Teilen Versuche Bismarcks gewesen, seine eigene politische Machtposition und die Preußens zu bewahren oder besser noch auszubauen. Hinsichtlich seiner rigorosen Einschätzung, „daß im Ganzen jedes Wahlgesetz unter denselben äußeren Umständen und Einflüssen ziemlich gleiche Resultate gibt“ 1348, lehrte ihn die politische Historie jedenfalls teils schmerzlich eines Besseren. V. Diskussion der Bismarckschen Pläne eines Staatsstreichs zur (Wieder-)Abschaffung des allgemeinen und gleichen (Männer-)Wahlrechts auf Reichsebene In den achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts waren in Bismarck Pläne gereift, das Wahlrecht auf Reichsebene zu reformieren.1349 Ob Bismarck allerdings so weit gegangen wäre, die Prinzipien der Allgemeinheit und Gleichheit der Wahl über Bord zu werfen1350, und er bereit war, zu diesem Zwecke gar den Weg des Staatsstreiches zu beschreiten1351, oder es ihm nicht vielmehr primär um den 1348 Siehe die 21. Sitzung des Reichstages des Norddeutschen Bundes am 28. März 1867, abgedruckt bei: Kohl (Hrsg.), Reden III (Fn. 1244), S. 248 f. 1349 Augst, Bismarcks Stellung (Fn. 1218), S. 127. 1350 Dies scheint vor dem Hintergrund, daß Bismarck seine Ansicht, daß „das allgemeine Wahlrecht nicht blos theoretisch, sondern auch praktisch (für) ein berechtigtes Prinzip (. . .)“ sei, beibehielt, mehr als fraglich, siehe hierzu Bismarck, Gedanken und Erinnerungen II (Fn. 1272), S. 58. Knapper Hinweis auf eben jenes Zitat auch bei Meyer, Wahlsystem (Fn. 7), S. 88 in Fn. 23. 1351 Prominent vertreten durch den Historiker Hans Delbrück, der mit Nachdruck die These vetritt, die Änderung des Reichstagswahlrechts habe 1890 ganz oben auf Bismarcks Agenda gestanden und er habe Heeresvorlage und Sozialistengesetz lediglich zur Konfliktschürung genutzt, um den beabsichtigten Staatstreich zu provozieren. Die These vom geplanten Staatsstreich wird ebenso vertreten von Gilg, Erneuerung (Fn. 961), S. 22. A. A. G. Egelhaaf, Bismarcks Sturz. Stand des Problems, 1909, S. 20 ff. (u. a. mit der Begründung, Bismarck habe in seinem Entlassungsgesuch weder die Heeres- noch die Sozialistenfrage noch eine Wahlrechtsänderung unter den ausschlaggebenden Differenzen benannt). Im Übrigen siehe zur kontrovers geführten und umfänglichen Staatsstreich-Diskussion m.v. w. N. Vogel/Nohlen/Schultze, Wahlen (Fn. 40), S. 114 m. Fn. 50.

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Ausschluß der Sozialdemokraten von den Wahlen1352 ging, kann nicht endgültig geklärt werden und im Übrigen auch dahinstehen, denn zur Abschaffung des allgemeinen und gleichen Reichstagswahlrechts sollte es nicht mehr kommen. Bismarck, ebenso wie der Vize-Präsident des Staatsministeriums und Minister des Innern von Puttkamer, schätzten das Wahlrecht als „ein im öffentlichen Interesse anvertrautes Amt, welches mit schwerer Verantwortlichkeit verbunden ist (. . .)“ 1353 ein und dennoch – trotz dieses Wissens um die hohen Anforderungen, die an einen tauglichen Wähler zu stellen sind – verwarf Bismarck normative Beschränkungen des Wahlrechts zumindest in der Theorie als willkürlich und unbillig1354. Was sein politisches Agieren anbelangt, mußte er sich zunächst schweren Herzens von der Möglichkeit der Wiederbelebung des ständischen Wahlrechts verabschieden1355 und nachdem er sich mit dem parlamentarischen System angefreundet hatte, politische Niederlagen sowohl unter dem Preußischen Dreiklassenwahlrecht 1858 und 1861–63 und gleichermaßen unter dem Reichstagswahlrecht 1881 hinnehmen. Ende des 19. Jahrhunderts trat der Eiserne Kanzler schließlich ganz von der politischen Bühne ab: Im Drei-Kaiser-Jahr 1888 verlor Bismarck endgültig den notwendigen Rückhalt in Kontroversen mit dem Reichstag und den Parteien.1356

1352

So Augst, Bismarcks Stellung (Fn. 1218), S. 127, 138 f. Das Zitat entstammt einer Rede von Puttkamers gehalten im Preußischen Abgeordnetenhaus am 5. Dezember 1883, abgedruckt in: Die Reichstagswahlen und die geheime Abstimmung, in: L. Hahn (Hrsg.), Fürst Bismarck. Sein politisches Leben und Wirken urkundlich in Thatsachen und des Fürsten eigenen Kundgebungen, Bd. IV, 1886, S. 519 (520). Zur schon des Öfteren gestriffenen Debatte um den Charakter des Wahlrechts als subjektiv-individuelles Recht des Bürgers oder öffentliche Funktion siehe zudem den Argumentationsstrang bei Savigny, Wahlrecht (Fn. 31), S. 11 ff., der zunächst die alles entscheidende Frage aufwirft „Kann irgendwie das allgemeine gleiche Wahlrecht in die Kategorie dieser „natürlichen Rechte“ eingereiht werden? (ebd., S. 11), um dann auf Grundlage der von Georg Jellinek entwickelten Statuslehre, die eine Kategorisierung der subjektiven öffentlichen Rechte in vier Statustypen vorsieht (siehe dazu grundlegend G. Jellinek, System der subjektiven öffentlichen Rechte, 1892, S. 81 ff.), zu dem Ergebnis zu gelangen, daß nur die Ansprüche auf Freiheit vom Staate und auf Leistung von Seiten des Staates als vom Schutz der „Gerechtigkeit“ erfaßt gelten können; das Wahlrecht hingegen sei als öffentliche Funktion zu charakterisieren und „überall aber kann das Individualinteresse auf Teilnahme am Staat nur insoweit Berücksichtigung beanspruchen, als es in Zweckbeziehung zu dem hier allein entscheidenden Staatsinteresse steht“ (ebd., S. 12). Zusammenfassend zur damaligen Diskussion unter den Staatsrechtslehrern siehe Huber, Verfassungsgeschichte III (Fn. 1217), S. 863 ff. 1354 Siehe die 21. Sitzung des Reichstages des Norddeutschen Bundes am 28. März 1867, abgedruckt bei: Kohl (Hrsg.), Reden III (Fn. 1244), S. 248. 1355 Augst bemerkt in diesem Zusammenhang nahezu poetisch, ständisch-monarchisch sei „(. . .) die Grundsymphonie in der Seelenstimmung Bismarcks, als er 1847 seine politische Laufbahn begann“ gewesen (siehe Augst, Bismarcks Stellung [Fn. 1218], S. 171). 1356 Siehe statt vieler Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte III (Fn. 401), S. 993 ff. 1353

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Seine Entlassung war unumgänglich und ist wohl im Wesentlichen darauf zurückzuführen, daß der Kaiser die Position des Kanzlers zu schwächen suchte.1357 Kapitel 5

Das Preußische Dreiklassenwahlrecht (1849–1918) als ungleiches Wahlrecht par excellence A. Vorgeschichte Trotz Einführung des allgemeinen und gleichen (Männer-)Wahlrechts bereits 1871 auf Reichsebene eröffnet ein Blick auf das Wahlrecht der Einzelstaaten des Deutschen Reiches noch Jahre, teilweise gar Jahrzehnte später „ein buntes Bild“ 1358, und auch der Diskussion um das „richtige“ Wahlsystem – wenngleich das allgemeine und gleiche (Männer-)Wahlrecht breiten Rückhalt in der Bevölkerung fand1359 – wurde dadurch kein Schlußpunkt gesetzt. Insbesondere in den Reihen des liberalen Bildungsbürgertums rissen die Kontroversen nicht ab, wobei sich kein halbwegs in sich homogenes Meinungsbild präsentierte, sondern die Wahlrechtsfrage insbesondere die Liberalen nicht nur umzutreiben, sondern gar zu spalten schien.1360 Noch in den 1902 publizierten Lebenserinnerungen Robert von Mohls heißt es, das allgemeine und direkte Wahlrecht sei „eine unverzeihliche politische Sünde Bismarcks“ 1361. Und auch die Konservativen taten sich mehr als schwer damit, den Zugang zum Wahlrecht für alle Bevölkerungs1357

Vogel/Nohlen/Schultze, Wahlen (Fn. 40), S. 115. Klein (Fn. 43), Art. 38 Rn. 20; dieser Eindruck findet Bestätigung, wirft man einen Blick in Meyer, Lehrbuch (Fn. 1246), § 99 (S. 346 ff.), § 100 (S. 352 f.), § 101 (S. 353 ff.). 1359 Während sich an den Reichstagswahlen 1871 gerade mal 51 % der Bevölkerung beteiligten, lag die Zahl 1912 bei fast 85 %, was auf die breite Akzeptanz und gute Annahme des allgemeinen und gleichen (Männer-)Wahlrechts durch breite Bevölkerungsteile schließen läßt (Zahlen gemäß Ritter, Arbeitsbuch [Fn. 895], S. 24). 1360 Diese Spaltung des Bildungsbürgertums beschränkte sich indes nicht nur auf die Handhabung der Wahlrechtsfrage, sondern bestand auch ganz grundlegend in Bezug auf die Haltung zum neu gegründeten Reich: „Nach 1871 verhielt sich ein kleiner Teil der Akademikerschaft selbst angesichts des Erfolgs weiterhin kritisch gegenüber dem Kaiserreich und hoffte immer noch, daß Deutschland die politischen Institutionen des Westens übernehmen werde“, siehe F. Stern, Die politischen Folgen des unpolitischen Deutschen, in: M. Stürmer (Hrsg.), Das kaiserliche Deutschland. Politik und Gesellschaft 1870–1918, 1970, S. 168 (176). 1361 R. v. Mohl, Lebens-Erinnerungen, Bd. II, 1902, S. 157. Der ebenfalls liberal gesinnte Historiker Rudolf Haym beispielsweise stimmt in den Reigen mit ein, wenn er mahnend darauf hinweist, daß im allgemeinen und gleichen Wahlrecht keine Zukunft für das Reich liege, es sei geradewegs eine Institution, „mit der auf die Dauer kein Staat bestehen kann, und die zu beseitigen früher oder später die Mittel gefunden werden müssen, wenn das deutsche Reich nicht aus den Fugen gehen soll“ (R. Haym, Aus meinem Leben – Erinnerungen aus dem Nachlaß herausgegeben, 1902, S. 303). 1358

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schichten zu öffnen: „Bildung wurde ebenso zum Bollwerk des Konservatismus wie Besitz, und beide trugen zur Refeudalisierung der deutschen Gesellschaft bei.“ 1362 Auch den Skeptikern und Zauderern aus dem liberalen und konservativen Lager ist allerdings zu Gute zu halten, daß es ihnen – bei allem Pflichtgefühl gegenüber dem gebildeten Besitzbürgertum, dessen Interessen zumindest die Liberalen durchzusetzen suchten – allen voran um die Sache ging. Die Mehrheit war tatsächlich nach Kräften um die gerechteste Lösung der Wahlrechtsfrage bemüht.1363 Die Einführung des Dreiklassenwahlrechts1364 in Preußen durch die Oktroyierung der Verordnung vom 30. Mai 18491365 – „ein sichtbarer Ausdruck des allmählichen Umschlages von Revolution zur Reaktion in Preußen“ 1366 – kann man 1362

Stern, Folgen (Fn. 1360), S. 176. Natürlich soll hiermit keineswegs ein Versuch der Leugnung der „Gesellschaftsgebundenheit ihrer Überzeugung“ unternommen werden, denn so waren „jene EliteTendenzen auch Rettungsversuche des sinkenden Einflusses der eigenen Schicht“ (Knoll, Führungsauslese [Fn. 744], S. 67). Der Frage, ob stärkere Elitetendenzen bzw. eine bessere Bündelung und effektivere Durchsetzung eben jener in Preußen dazu beigetragen haben, daß sich das Preußische Dreiklassenwahlrecht – trotz allgemeinem und gleichem Wahlrecht auf Reichsebene ab 1871 – bis 1918 halten konnte, wird noch zu klären sein. Siehe hierzu S. 317 ff. 1364 Siehe aus der schier überbordenden Fülle an Literatur zum Preußischen Dreiklassenwahlrecht statt aller: Aus der zeitgenössischen Literatur R. v. Gneist, Die nationale Rechtsidee von den Ständen und das preußische Dreiklassenwahlsystem. Eine sozialhistorische Studie (1894), 2. Aufl. 1962 (S. 17 ff. zur Entstehung des preußischen Wahlgesetzes; S. 184 ff. zur Ausführung des preußischen Wahlsystems); Gerlach, Geschichte (Fn. 34); aus dem Genre der Dissertationen Voigt, Geschichte (Fn. 1295); W. O. Vollrath, Der parlamentarische Kampf um das preußische Dreiklassenwahlrecht, Diss. phil. 1931; Dietzel, Wahlrechtsreformbestrebungen (Fn. 1218); aus jüngerer Zeit den Aufsatz von G. Grünthal, Das preußische Dreiklassenwahlrecht. Ein Beitrag zur Genesis und Funktion des Wahlrechtsoktrois vom Mai 1849, in: Historische Zeitschrift 226 (1978), S. 17 sowie die umfassende, m.v. w. N. versehene Monographie von T. Kühne, Dreiklassenwahlrecht und Wahlkultur in Preußen 1867–1914. Landtagswahlen zwischen korporativer Tradition und politischem Massenmarkt, 1994 und schließlich zur Reform des Preußischen Dreiklassenwahlrechts Savigny, Wahlrecht (Fn. 31); L. Bergsträßer, Die preußische Wahlrechtsfrage im Kriege und die Entstehung der Osterbotschaft 1917. Nach den Akten der preußischen Ministerien und der Reichskanzlei, 1929 und Patemann, Kampf (Fn. 1320). 1365 Gerlach, Geschichte (Fn. 34), S. 11; diese Verordnung betreffend die Ausführung der Wahl der Abgeordneten zur Zweiten Kammer vom 30. Mai 1849, Preußische Gesetz-Sammlung 1849, S. 205 ff. ist abgedruckt bei Huber (Hrsg.), Dokumente 1 (Fn. 8), Nr. 193 (Nr. 167), S. 497 ff.; Gerlach, Geschichte (Fn. 34), Anhang, S. 228 ff.; siehe hierzu des Weiteren, zusätzlich zu den oben bereits in der Fn. genannten Autoren beispielsweise Meyer, Wahlrecht (Fn. 20), S. 255 ff.; Braunias, Wahlrecht (Fn. 961), S. 81, S. 110; L. v. Rönne, Das Staats-Recht der Preußischen Monarchie, Bd. I, 1856, Vierter Abschnitt, Drittes Stück, § 116 (S. 489 ff.); Stern, Staatsrecht I (Fn. 29), § 10 I 2 (S. 292); M. Wenck, Handbuch für liberale Politik, 1911, S. 44 f.; Klein (Fn. 43), Art. 38 Rn. 18; Gagel, Wahlrechtsfrage (Fn. 509), S. 16 ff.; Würtenberger, Geschichte (Fn. 492), S. 545 f. 1366 Patemann, Kampf (Fn. 1320), S. 9. 1363

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Teil 3: Zensuswahlrecht in Deutschland

wohl mit Fug und Recht als eine Art Paukenschlag in der preußischen und gesamtdeutschen Geschichte, als eine Zäsur bezeichnen. Erstaunlicherweise sollte dieses, wenngleich auch allgemeine 1367, aber eben dennoch ungleiche (Männer-) Wahlrecht seinen Bestand bis zum Ende des Ersten Weltkrieges und trotz der Einführung des allgemeinen und gleichen (Männer-)Wahlrechts auf Reichsebene bereits 1871 verteidigen können1368. Im Vergleich zu dem von der Paulskirchenverfassung vorgesehenen fortschrittlichen Wahlreglement1369 hat man es als „herben Rückschlag“ zu werten, ging damit doch „eine Zurücknahme der in der Revolution von 1848 eingeräumten demokratischen Wahlrechtsgrundsätze (. . .)“ 1370 einher, so daß es auf das Gesamtbild des Reiches einen „tiefdunklen Schatten warf“ 1371. I. Der doppelte Staatsstreich: Die Oktroyierung der Verfassung vom 5. Dezember 1848 als Grundlage des Dreiklassenwahlrechts 1. Provisorium egalitär-demokratischer Zugeständnisse

Die Barrikadenkämpfe vom 18. März 1848 in Berlin im Rahmen der Märzrevolution hatten das Ende der absolutistischen Ära in Preußen eingeleutet. König Friedrich Wilhelm IV. und sein Minister Camphausen sahen sich widerwillig gezwungen1372, einige Zugeständnisse an das Volk zu machen, darunter das bereits am 8. April 1848 verkündete „Wahlgesetz für die zur Vereinbarung der preußischen Staatsverfassung zu berufende Versammlung“ 1373, das zwar ein indirektes Wahlverfahren anordnete1374, dennoch aber im Wesentlichen demokratischen Anforderungen gerecht wurde1375, indem es insbesondere die Grundsätze der 1367

Morlok (Fn. 3), Art. 38 Rn. 8. Statt vieler Dreier (Fn. 13), Art. 20 (Demokratie) Rn. 15; Meyer, Wahlsystem (Fn. 7), S. 89 f.; Braunias, Wahlrecht (Fn. 961), S. 110. 1369 Siehe hierzu ausführlich S. 236 ff. 1370 Heun, Mehrheitsprinzip (Fn. 45), S. 113 in Fn. 55; in diesem Sinne auch statt vieler der Autoren noch Vollrath, Kampf (Fn. 1364), S. 3 f. 1371 Die beiden ersten Zitate finden sich bei Klein (Fn. 43), Art. 38 Rn. 18 und das letzte ebd., Rn. 20. 1372 Patemann, Kampf (Fn. 1320), S. 9; zur Dynamik der durch die Märzrevolution losgetretenen Ereignisse siehe zudem H. v. Petersdorff, König Friedrich Wilhelm der Vierte, 1900, S. 73 ff. 1373 Detaillierter zur Vorgeschichte des Wahlgesetzes vom 8. April 1848 siehe Rönne, Staats-Recht Preußische Monarchie (Fn. 1365), Einleitung, Zweite Abtheilung, III. § 8 (S. 29 ff.); zu diesem Wahlgesetz auch knapp I. Mieck, I. Preußen von 1807 bis 1850. Reformen, Restauration und Revolution, in: O. Büsch (Hrsg.), Handbuch der preußischen Geschichte, Bd. II, 1992, S. 249. 1374 Rönne, Staats-Recht Preußische Monarchie (Fn. 1365), Einleitung, Zweite Abtheilung, III. § 8 (S. 32 f.); Meyer, Wahlrecht (Fn. 20), S. 189. 1375 Hinsichtlich des aktiven Wahlrechts ordnete § 1. des Wahlgesetzes für die zur Vereinbarung der preußischen Staats-Verfassung zu berufende Versammlung an: „Jeder Preuße, welcher das 24te Lebensjahr vollendet und nicht den Vollbesitz der bürgerli1368

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Gleichheit und Geheimheit der Wahl schützte1376. Da die Verfassungsberatungen der auf dieser rechtlichen Grundlage berufenen Nationalversammlung jedoch keine nennenswerten Resultate lieferten, löste der König sie auf und oktroyierte die Verfassung vom 5. Dezember 18481377 und am darauffolgenden Tag ein neues Wahlgesetz1378, welches im Wesentlichen an den weitgehend demokratischen Vorgaben des Wahlgesetzes vom 8. April 1848 festhielt1379. Während die einen den Verfassungsoktroi vom 5. Dezember unter der Prämisse, ihm allein sei es zu verdanken, daß die „schmucke preußische Fregatte“ den Kurs wiedergewonnen habe und nun erneut „auf jener großen Grundströmung dahin“ fahre, „die sie seit den Tagen des Großen Kurfürsten und Friedrichs des Großen“ getragen habe1380, gut heißen, lehnen ihn andere „als ein[en] augenblickliche(r)[n] Nothbehelf“, der „Niemandem Ruhm gebracht, weil ihn Niemand verdient (. . .)“ 1381 habe, ab. Jedenfalls, soviel kann wohl als gesichert gelten, betrachtete man die Verfassung bereits im Zeitpunkt ihres Oktrois als Provisorium1382, sochen Rechte in Folge rechtskräftigen richterlichen Erkenntnisses verloren hat, ist in der Gemeinde, worin er seit sechs Monaten seinen Wohnsitz oder Aufenthalt hat, stimmberechtigter Urwähler, in sofern er nicht aus öffentlichen Mitteln Armen-Unterstützung bezieht“ und in § 5. zu den Voraussetzungen des passiven Wahlrechts: „Jeder Preuße, der das 30te Lebensjahr vollendet und den Vollbesitz der bürgerlichen Rechte nicht verwirkt hat (§ 1.), ist im ganzen Bereiche des Staats zum Abgeordneten wählbar“; siehe hierzu auch G. Grünthal, Parlamentarismus in Preußen 1848/49–1857/58. Preußischer Konstitutionalismus – Parlament und Regierung in der Reaktionsära, 1982, S. 46; dazu des Weiteren Meyer, Wahlrecht (Fn. 20), S. 175; Wulff, Deutschkonservativen (Fn. 1336), S. 1; Voigt, Geschichte (Fn. 1295), S. 7. 1376 Gerlach, Geschichte (Fn. 34), S. 7 ff. mit Wiedergabe der ausschlaggebenden Paragraphen dieses Wahlgesetzes. 1377 Der Text der Verfassungsurkunde für den preußischen Staat vom 5. Dezember 1848, Preußische Gesetz-Sammlung 1848, S. 375 ist abgedruckt bei Huber (Hrsg.), Dokumente 1 (Fn. 8), Nr. 188 (Nr. 163), S. 484 ff. Siehe hierzu instruktiv statt aller Grünthal, Parlamentarismus (Fn. 1375), S. 27 ff.; J. Seitz, Entstehung und Entwicklung der preußischen Verfassungsurkunde im Jahre 1848, Diss. jur. 1909; O. Hintze, Das monarchische Prinzip und die konstitutionelle Verfassung (1911), in: G. Oestreich (Hrsg.), Otto Hintze, Staat und Verfassung. Gesammelte Abhandlungen zur allgemeinen Verfassungsgeschichte mit einer Einleitung von F. Hartung, Bd. I, 3. Aufl. 1970, S. 359 (369 ff.); G. Anschütz, Die Verfassungs-Urkunde für den Preußischen Staat. Vom 31. Januar 1850. Ein Kommentar für Wissenschaft und Praxis, Bd. I, 1912, Einleitung, II. 4., S. 1 (44 ff.). 1378 Dazu knapp Grünthal, Parlamentarismus (Fn. 1375), S. 48 f. 1379 Meyer, Wahlrecht (Fn. 20), S. 189; Patemann, Kampf (Fn. 1320), S. 9 f.; Voigt, Geschichte (Fn. 1295), S. 8. 1380 F. Meinecke, Weltbürgertum und Nationalstaat. Studien zur Genesis des deutschen Nationalstaates, 3. Aufl. 1915, S. 443. 1381 H. Delbrück, General von Gerlach, in: Preußische Jahrbücher 72 (1893), S. 193 (197). 1382 E. Brandenburg, Untersuchungen und Aktenstücke zur Geschichte der Reichsgründung, 1916, S. 145 Fn. 1: Keiner der Verfassungsurheber habe sie „so wie sie war, wirklich ehrlich halten oder zu dauernder Geltung kommen lassen“ wollen. Auch die Verfassung selbst suggerierte, „kein Definitivum zu sein, da ihre Revision vorbehalten

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wohl der Oktroi als solcher, als auch die Verfassung selbst sind als „dilatorischer Kompromiß“ 1383 zu werten, denn es galt, pragmatisch vozugehen, um der Revolution endlich einen Riegel vorzuschieben1384. Bleibt nur der eigentümlich anmutende Umstand, daß man – trotz Unerschrockenheit, sich eines derart radikalen Instrumentes wie des Verfassungsoktrois zu bedienen – an den weitgehend demokratischen Regelungen des Wahlgesetzes vom 8. April 1848 festhielt. Die Gelegenheit wäre günstig gewesen, auch diese in konservativen Kreisen verteufelten Vorgaben1385 mit einem Streich zu beseitigen. Es fragt sich, warum mit dem oktroyierten Wahlgesetz vom 6. Dezember 1848 die im Wesentlichen demokratischen Normierungen des Wahlgesetzes vom April übernommen wurden. Zum einen verfolgte die Regierung den Plan, die Linke nicht über Gebühr zu reizen.1386 Zum anderen wollte sie den unglücklichen Umstand verhindern, daß die Volksvertretung, die über die Revision der oktroyierten Verfassung zu befinden hatte, nach einem anderen Wahlmodus als die zur Vereinbarung der Verfassung zusammentretende gewählt würde.1387 Der Hauptgrund für die Beibehaltung des weitgehend demokratischen Wahlgesetzes lag aber wohl darin, daß der Regierung klar gewesen sein mußte, daß die dem Oktroi vorausgegangene Auflösung der Nationalversammlung durch den König mit rechtlichen Argumenten nicht zu rechtfertigen war.1388 Durch das Entgegenkommen von Seiten des Königs versuchte die Regierung mithin zumindest „den Legalitätsbruch politisch blieb. Sie war ein Definitivum aber überall dort, wo es um die Sicherung der monarchischen Prärogative ging. Sie sparte nicht mit liberalen und demokratischen Verheißungen, die in aller Regel aber, um nicht bloße Verheißungen zu bleiben, die Hürde von Ausführungsgesetzen zu überwinden hatten“ (Zitat Grünthal, Parlamentarismus [Fn. 1375], S. 50). 1383 Grünthal, Parlamentarismus (Fn. 1375), S. 29. 1384 So auch die Begründung des Berichts des preußischen Staatsministeriums vom 5. Dezember 1848, Preußische Gesetz-Sammlung 1848, S. 372, abgedruckt bei: Huber (Hrsg.), Dokumente 1 (Fn. 8), Nr. 187 (Nr. 162 b), S. 481 ff.; Grünthal, Parlamentarismus (Fn. 1375), S. 31 f. 1385 Für von Gerlach beispielsweise ist dieses Wahlrecht nichts anderes als Ausdruck einer „fleischgewordenen Revolution“, siehe Grünthal, Parlamentarismus (Fn. 1375), S. 34. 1386 H. Boberach, Wahlrechtsfragen im Vormärz. Die Wahlrechtsanschauung im Rheinland 1815–1849 und die Entstehung des Dreiklassenwahlrechts, 1959, S. 127. 1387 Denkschrift des Staatsministeriums vom 11. August 1849, abgedruckt bei G. Schilfert, Sieg und Niederlage des demokratischen Wahlrechts in der deutschen Revolution 1848/49, 1952, Anhang I, S. 378 ff. Das Staatsministerium mußte natürlich trotzdem versuchen, die Auflösung verfassungsrechtlich zu rechtfertigen und so auf den Boden der Legalität zurückzuholen. Es verwies auf die Vertagungsbefugnis des Königs und auf deren Mißachtung durch die neugewählte Nationalversammlung, die bereits vor Erlaß der Vertagungs-Verordnung Beschlüsse gefaßt und so mit der Krone gebrochen habe, siehe die Begründung des Berichts des preußischen Staatsministeriums vom 5. Dezember 1848, Preußische Gesetz-Sammlung 1848, S. 372, abgedruckt bei: Huber (Hrsg.), Dokumente 1 (Fn. 8), Nr. 187 (Nr. 162 b), S. 481. 1388 Huber, Verfassungsgeschichte II (Fn. 1121), S. 753, 763 ff.

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akzeptabel zu machen“ 1389 und so die ohnehin schon politisch aufgeladene Stimmung zwischen dem demokratischen und dem konservativen Lager nicht noch weiter anzuheizen, denn „jeder massive Schlag gegen das Urwahlrecht mußte der Regierung in der Tat als ein politisch riskantes Unterfangen erscheinen“ 1390. Unabhängig von jeglicher Wertung des Verfassungsoktrois war es durch eben jenen gelungen, sowohl der drohenden Fortsetzung der demokratischen Revolution als auch der Etablierung einer der demokratischen Bewegung entgegengesetzten reaktionär-militärischen Gewaltherrschaft eine deutliche Absage zu erteilen.1391 2. Der erste Staatsstreich: Versuch einer verfassungsrechtlichen Rechtfertigung des Oktrois durch den Notverordnungsartikel

Die Oktroyierung der Verfassung am 5. Dezember 1848 ist, wie im Übrigen jeder Oktroi naturgemäß, als Ausdruck einer eigenmächtigen Maßnahme der Krone zu werten, die sich so „aus eigener Machtvollkommenheit faktisch in den Besitz aller derjenigen Rechte und Prärogativen gesetzt, welche sie selber für angemessen und den dem Volk gemachten Zusagen entsprechend erachtet“ 1392. Die oktroyierte Verfassung ruht – was vor dem Hintergrund des königlichen Alleingangs nicht zu sehr überrascht – auf der Prämisse, daß „die Vermutung der Zuständigkeit [. . .] im Zweifel“ 1393 beim Fürsten liegt. Eindrucksvoll manifestiert sich diese Grundvorstellung in Art. 105 II der Verfassung1394, der lautet: „Wenn die Kammern nicht versammelt sind, können in dringenden Fällen, unter Verantwortlichkeit des gesammten Staatsministeriums, Verordnungen mit Gesetzeskraft erlassen werden, dieselben sind aber den Kammern bei ihrem nächsten Zusammentritt zur Genehmigung sofort vorzulegen.“

Art. 105 II der oktroyierten Verfassung, der sog. Notverordnungsartikel, ist nicht nur ein Novum in der Verfassungsgeschichte. Daneben ist insbesondere seine Ambivalenz hervorzuheben: Er erlaubt es der Exekutive einerseits in dringenden Fällen ohne Mitwirkung der Kammern Verordnungen mit Gesetzeskraft zu erlassen, fordert andererseits aber deren nachträgliche Genehmigung durch die Repräsentativkörperschaft. Dadurch, daß durch Art. 105 II die Exekutive zwar das Vereinbarungsprinzip aus Machtvollkommenheit einseitig zu durchbre1389

Grünthal, Parlamentarismus (Fn. 1375), S. 35. Grünthal, Parlamentarismus (Fn. 1375), S. 38. 1391 Grünthal, Parlamentarismus (Fn. 1375), S. 51 f. 1392 P. F. Reichensperger, Die Preussische National-Versammlung und die Verfassung vom 5. Dezember. Beleuchtung der Ansprache des Abgeordneten Rodbertus an seine Wähler, 1849, S. 39. 1393 Huber, Verfassungsgeschichte III (Fn. 1217), S. 12. 1394 Der einschlägige Artikel der Verfassungsurkunde für den preußischen Staat vom 5. Dezember 1848, Preußische Gesetz-Sammlung 1848, S. 375 ist abgedruckt in: Huber (Hrsg.), Dokumente 1 (Fn. 8), Nr. 188 (Nr. 163), S. 493. 1390

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chen vermag1395, die erforderliche nachträgliche Genehmigung durch beide Kammern dieses Produkt der Verfassungsdurchbrechung aber wiederum auf verfassungsrechtlichen Boden zurückholt, besitzt die Regelung faszinierenderweise „– potentiell – spezifisch verfassungssprengende gleicherweise wie – tendenziell – allgemein verfassungsgarantierende Qualität“ 1396. Grünthal meint sogar, man habe mit dieser Vorschrift nicht nur ein „Notverordnungsrecht innerhalb der Verfassung“ begründet, sondern es sei „ein der Verfassung zwar integrierter, ihr aber übergeordneter, pseudo-legal abgeschirmter Staatsstreichvorbehalt“ 1397 geschaffen worden. Wirft man einen Blick auf die einzelnen Tatbestandsvoraussetzungen des Verfassungsartikels, so fällt zunächst die doch etwas vage Formulierung „in dringenden Fällen“ ins Auge. Hier handelt es sich um einen unbestimmten Rechtsbegriff, und ein dringender Fall wird immer dann gegeben sein, so Grünthal, wenn die Exekutive sich entschließe, Art. 105 II anzuwenden. Die Verantwortlichkeit des gesamten Staatsministeriums setzt Konsens der Regierung in der Sache voraus, der indes nicht allzu schwer herzustellen sein wird, da der König die Minister ernennt und entläßt1398, und zuletzt setzt Art. 105 II die nicht versammelten Kammern voraus. Auch die Erfüllung dieser Voraussetzung liegt aufgrund des Auflösungsrechts des Königs1399 in der Hand der Exekutive selbst1400. Welche gestalterische Macht Art. 105 II der Exekutive einräumt, wird indes erst

1395

Grünthal, Parlamentarismus (Fn. 1375), S. 57. Ebd., S. 57. 1397 Grünthal, Parlamentarismus (Fn. 1375), S. 54. 1398 Siehe Art. 43 der Verfassung vom 5. Dezember 1848: Dem Könige allein steht die vollziehende Gewalt zu. Er ernennt und entläßt die Minister. Er befiehlt die Verkündigung der Gesetze und erläßt unverzüglich die zu deren Ausführung nöthigen Verordnungen, abgedruckt bei: Huber (Hrsg.), Dokumente 1 (Fn. 8), Nr. 188 (Nr. 163), S. 487. Zwar konnten die Minister bei Verfassungsverletzungen belangt werden (Art. 59 Abs. 1: Die Minister können durch Beschluß einer Kammer wegen des Verbrechens der Verfassungsverletzung, der Bestechung und des Verrathes angeklagt werden. Ueber solche Anklage entscheidet der oberste Gerichtshof der Monarchie in vereinigten Senaten. So lange noch zwei oberste Gerichtshöfe bestehen, treten dieselben zu obigem Zwecke zusammen. Abs. 2: Die näheren Bestimmungen über die Fälle der Verantwortlichkeit, über das Verfahren und das Strafmaaß werden einem besonderen Gesetze vorbehalten, siehe abermals Huber [Hrsg.], Dokumente 1 [Fn. 8], Nr. 188 [Nr. 163], S. 488), es fehlte hierzu aber an einem Gesetz im Sinne des Abs. 2 und, was noch wichtiger erscheint, Art. 59 konnte logischerweise nicht auf einen Artikel Anwendung finden, der eine Verfassungsverletzung nicht positiv ausschließt, so Grünthal, Parlamentarismus (Fn. 1375), S. 54. 1399 Art. 49 lautete: Der König beruft die Kammern und schließt ihre Sitzungen. Er kann sie entweder beide zugleich oder nur eine auflösen. Es müssen aber in einem solchen Falle innerhalb eines Zeitraums von 40 Tagen nach der Auflösung die Wähler und innerhalb eines Zeitraums von 60 Tagen nach der Auflösung die Kammern versammelt werden (der Artikel ist ebenfalls abgedruckt bei: Huber (Hrsg.), Dokumente 1 [Fn. 8], Nr. 188 [Nr. 163], S. 488). 1400 Zur Erläuterung der einzelnen Tatbestandsvoraussetzungen des Abs. 2 siehe insgesamt Grünthal, Parlamentarismus (Fn. 1375), S. 54. 1396

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klar, wenn man sich folgendes Szenario verdeutlicht: Die Regierung kann unter Berufung auf den Notverordnungsartikel neue Wahlrechtsbestimmungen erlassen, die die Wahl neuer Kammern fordern und diese dann von den neu gewählten Kammern nachträglich genehmigen lassen, was ihr letztlich erlaubt, sich jederzeit unliebsam gewordener Kammern zu entledigen.1401 Art. 105 II übersetzt also das, was im Dezember 1848 faktisch geschehen war, in rechtliches Vokabular: Da es der nach den Vorschriften des Wahlgesetzes vom April 1848 gewählten Nationalversammlung nicht gelungen war, eine Verfassung auszuarbeiten, hatte der König im Alleingang die Verfassung vom 5. Dezember okroyiert, diese aber wiederum unter den Revisionsvorbehalt der Kammern gestellt.1402 Der oktroyierten Verfassung selbst ist mithin der Rechtscharakter einer Notverordnung zu attestieren, die bis zur Revision durch die beiden Kammern der Veränderbarkeit durch andere Notverordnungen unterliegt.1403 3. Der zweite Staatsstreich: Die Oktroyierung des Dreiklassenwahlrechts unter Rückgriff auf die oktroyierte Verfassung

Die Regierung berief sich im Rahmen der Oktroyierung des Dreiklassenwahlrechts am 30. Mai 1849 auf die Rechtsgrundlage des Art. 105 der oktroyierten Verfassung vom 5. Dezember 1848.1404 Vor diesem Hintergrund bedarf die Wendung Hubers vom Wahlrechtsoktroi als „eklatanter monarchischer Staatsstreich“ 1405 des Zusatzes, daß es sich bei der Oktroyierung des Dreiklassenwahlrechts genauer um einen zweiten Staatsstreich nach der soeben erläuterten Oktroyierung der Verfassung vom Dezember 1848 als vorausgegangenem ersten handelt, eine Art „Folge der von der Krone oktroyierten verfassungsrechtlichen Basis“ 1406. Das am 6. Dezember 1848 ebenfalls vom König oktroyierte Wahlgesetz mit seinen weitgehend demokratischen Vorgaben konnte seinen Bestand nicht lange verteidigen.1407 Die rasch wiedererstarkenden reaktionären Kräfte lehnten ein 1401

So der Hinweis von Grünthal, Parlamentarismus (Fn. 1375), S. 55. Siehe hierzu erneut den Rechtfertigungsversuch des Staatsministeriums im Rahmen seines Berichts vom 5. Dezember 1848, Preußische Gesetz-Sammlung 1848, S. 372, abgedruckt bei: Huber (Hrsg.), Dokumente 1 (Fn. 8), Nr. 187 (Nr. 162 b), S. 481 ff.; Grünthal, Parlamentarismus (Fn. 1375), S. 57. 1403 Grünthal, Parlamentarismus (Fn. 1375), S. 58. 1404 Dazu Dietzel, Wahlrechtsreformbestrebungen (Fn. 1218), S. 3; Patemann, Kampf (Fn. 1320), S. 10; äußerst kritisch auch Voigt, Geschichte (Fn. 1295), S. 13 ff. 1405 Huber, Verfassungsgeschichte III (Fn. 1217), S. 50. 1406 Grünthal, Parlamentarismus (Fn. 1375), S. 63; Gerlach (Hrsg.), Aufzeichnungen II (Fn. 1217), S. 61: Dreiklassenwahlrecht „als Modifikation der Oktroyierung des 5. Dezember – (. . .) so legal und so illegal, wie die Oktroyierung vom 5. Dezember selbst.“ 1407 Siehe dazu beispielsweise Droz, Anschauungen (Fn. 1145), S. 235 ff. 1402

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nach demokratischen Grundsätzen gewähltes Parlament prinzipiell ab.1408 Sie suchten vielmehr es durch eben jene im Mai 1849 durch den König oktroyierte Verordnung zu einem bloßen „Scheinparlament“ 1409 zu degradieren. Von Gerlach kritisiert aufs Schärfste, daß der König für den Erlaß dieser Verordnung zur Einführung des Dreiklassenwahlrechts keine ausreichende verfassungsrechtliche Grundlage gehabt habe, so daß er zu dem vernichtenden Urteil gelangt, „an der Wiege des Dreiklassenwahlrechts stand der Verfassungsbruch! Das materielle Unrecht, das es all die Jahrzehnte hindurch dem preußischen Volke zugefügt hat, hat zur Grundlage eine formelle Rechtswidrigkeit gröblichster Art. Das Dreiklassenwahlrecht ist nicht nur widersinnig, wie es Bismarck genannt hat, sondern auch widerrechtlich.“ 1410 II. Die Vorarbeiten zur Verordnung vom 30. Mai 1849 als Ausdruck der Abwendung von egalitär-demokratischen Prinzipien 1. Die Vorlagen von Bülow-Cummerows und Dietericis

Bereits im November 1848 begann der König über mögliche Zusammensetzungen der beiden preußischen Kammern nachzudenken. Anfangs drängte sich eine Dreiteilung der Bevölkerung nach Steuerklassen, wie sie letztlich realisiert wurde, keineswegs zwingend auf, sondern ein Wahlgesetz, das eine Unterteilung der Bürger in vier Stände vorsah, wurde vom König favorisiert.1411 Im Wesentlichen konkurrierte das Modell eines allgemeinen, aber berufsständisch gegliederten Wahlrechts mit einem zensitären Modell unter Ausschluß aller nicht selbständigen Einwohner, wobei in Form des Entwurfs des Kultusministers von Ladenberg schon Anfang 1849 ein vermittelnder Vorschlag vorlag, der dem Dreiklassenwahlrecht in seiner letztendlich verwirklichten Form sehr nahe kam.1412 Zur wesentlichen Grundlage der frühen Regierungsdebatten um die Revision des Wahlrechts sollte allerdings die Broschüre Ernst Gottfried Georg von Bülow-

1408 Hinzu kam die immer noch ungelöste Verfassungsfrage sowie Volksbewegungen und Aufstände, die es endgültig niederzuschlagen galt, siehe Meyer, Wahlrecht (Fn. 20), S. 256. 1409 Gerlach, Geschichte (Fn. 34), S. 11. 1410 Gerlach, Geschichte (Fn. 34), S. 11, Hervorhebungen i. O., A. S.; Bezugnahme auf von Gerlach bei Vollrath, Kampf (Fn. 1364), S. 6. Sehr ähnlich Wenck, Handbuch (Fn. 1365), S. 44 f. („[. . .] an der Wiege des preußischen Dreiklassenwahlrechts [. . .] stand eine verfassungswidrige, volksfeindliche Tat“; er spricht außerdem vom „[. . .] reaktionären Willkürakt Friedrich Wilhelms IV.“). 1411 Siehe den Nachweis vom 13. November 1848 bei U. A. von Gerlach (Hrsg.), Denkwürdigkeiten aus dem Leben Leopold von Gerlachs. Generals der Infanterie und General-Adjutanten König Friedrich Wilhelms IV., Bd. I, 1891, S. 241. 1412 Grünthal, Parlamentarismus (Fn. 1375), S. 69.

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Cummerows „Die Wahlen nach der octroyirten Verfassung“ 1413 werden. Seine Ideen waren nicht radikal neu.1414 Er versuchte aber die beiden Aspekte in realisierbarer Weise miteinander in Einklang zu bringen, die der Mehrheit der Regierungsvertreter unerläßlich schienen, nämlich „daß die Volksrepräsentation die breiteste Grundlage haben solle“ 1415 und dennoch „jedem nur in dem Maaße politische Befugnisse eingeräumt werden können, wie er die Befähigung besitzt, sie in seinem und der Gesammtheit Interesse möglicherweise ausüben zu können“ 1416. Per se ausgeschlossen wurden das Kopfwahlsystem1417 und der Zensus, weil er auf reiner Willkür beruhe1418. Gerade in Preußen sei ein Rückgriff auf zensitäre Gestaltungsformen des Wahlrechts des Weiteren unmöglich, weil in den Städten keine direkte Steuer gezahlt würde, so daß „nur das Eigenthum zu substituiren bleibt, dessen Ermittelung mit großen Schwierigkeiten verbunden sein würde“ 1419. Die Lösung, die von Bülow-Cummerow anbot, war eine Gliederung der Wählerschaft in drei Interessengruppen1420, wobei die Steuerleistung als ein, aber nicht der einzig berücksichtigungswürdige Faktor zu werten war1421. Auf der Basis dieser Broschüre erarbeitete Karl Friedrich Wilhelm Dieterici, Direktor des Königlich Preußischen Statistischen Bureaus1422, Anfang 1849 eine kommentierte tabellarische Analyse der sozialen Schichtung der drei Interessengruppen1423, wobei er die Vorgaben von Bülow-Cummerows dahingehend modifizierte, daß er aus sieben Wählergruppen ein an Einkommens- bzw. Standesverhältnissen orientiertes gestaffeltes Dreiklassenwahlrecht konzipierte. Seine Modifikationen führten im Vergleich mit den Bülow-Cummerowschen Ergebnissen nur zu geringfügig abweichenden Urwählerzahlen1424, behoben aber den

1413

Werk publiziert in Berlin 1848. Grünthal, Parlamentarismus (Fn. 1375), S. 73 m. Nw. für dessen Vordenker in Fn. 33. 1415 Bülow-Cummerow, Wahlen (Fn. 324), S. 9. 1416 Bülow-Cummerow, Wahlen (Fn. 324), S. 10. 1417 Bülow-Cummerow, Wahlen (Fn. 324), S. 11 ff. 1418 Bülow-Cummerow, Wahlen (Fn. 324), S. 16. 1419 Bülow-Cummerow, Wahlen (Fn. 324), S. 16, *-Anmerkung. 1420 Bülow-Cummerow, Wahlen (Fn. 324), S. 18. 1421 Bülow-Cummerow, Wahlen (Fn. 324), S. 19. Bülow-Cummerow scheint ernsthaft um die Herstellung von Verhältnismäßigkeit bemüht und verweist auf die unterschiedlichen Verhältnisse in ländlichen und industriellen Gebieten, siehe ebd., S. 20. Zudem war es für ihn als Interessenvertreter des „Vereins zur Wahrung der Interessen des Grundeigentums“ (Grünthal, Parlamentarismus [Fn. 1375], S. 72) undenkbar, sich ausschließlich auf die Steuerleistung als Kriterium der Einräumung des Wahlrechts zu konzentrieren und die Berücksichtigung von Grund und Boden außen vor zu lassen. 1422 Grünthal, Parlamentarismus (Fn. 1375), S. 72. 1423 Siehe hierzu: Grünthal, Dreiklassenwahlrecht (Fn. 1364), S. 29 f.; knapper Hinweis bei Ritter, Arbeitsbuch (Fn. 895), S. 134. 1424 Siehe die vergleichende Übersicht bei Grünthal, Parlamentarismus (Fn. 1375), S. 77 m. Fn. 50. 1414

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Mangel an feingliedriger Unterteilung der einzelnen, teilweise in sich wenig homogenen Klassen1425. In seiner „Pro memoria über die Verteilung der Urwähler und die Zahl ihrer Stimmen mit Berücksichtigung der Zahlung der Steuern“ vom 12. April 1849 faßte Dieterici seine Gedanken erneut zusammen, ergänzt um die weitere Modifikation zum Bülow-Cummerowschen Entwurf, die Anführer der Klassen des unbeweglichen und beweglichen Vermögens als „Wohlhabende“ in Abgrenzung zum „Mittleren Stand“ zusammenzufassen.1426 So einig sich alle in der Theorie waren, daß die Steuerleistung als ein meßbarer Faktor der Leistung des Bürgers an den Staat im Rahmen der Klasseneinteilung besondere Berücksichtigung finden mußte, so schwer erwies es sich in der Praxis, einen operablen Steuerschlüssel zu ermitteln.1427 Nach den Berechnungen Dietericis war jedenfalls prinzipiell eine Einteilung in drei oder vier Klassen möglich.1428 Der Entwurf1429, auf den die Regierungsvertreter sich am 7. Mai einigten, griff im Wesentlichen jedoch die Vorschläge von Bülow-Cummerows auf 1430; man entschied sich für eine Einteilung aller Selbständigen in drei Klassen nach Steuerleistung, wobei nicht nur die Klassensteuer, sondern alle direkten Steuern wie z. B. Grundund Gewerbesteuer Berücksichtigung finden sollten. 2. Die geistigen Urväter des Konzepts einer Dreiteilung der Wählerschaft nach Steuerleistung

Natürlich ist das Dreiklassenwahlrecht „nicht im Statistischen Bureau erfunden worden“ 1431. Auf wessen Einfall die grundsätzliche Unterteilung der Wählerschaft ausgerechnet in drei Steuerklassen aber originär zurückzuführen ist, konnte – obwohl die Frage nicht nur einmal Gegenstand der Diskussion gewesen ist – nie zweifelsfrei geklärt werden.1432 Im Mai 1861 beispielsweise wurde die Frage des Ursprungs des Preußischen Dreiklassenwahlrechts im Abgeordnetenhaus erörtert1433, jedoch ohne abschließenden Befund1434. Hier wurde unter an1425 Zwischen Groß- und Kleingrundbesitzern, Fabrikanten und Handwerkern lagen oft Welten, siehe Grünthal, Parlamentarismus (Fn. 1375), S. 77. 1426 Grünthal, Parlamentarismus (Fn. 1375), S. 78. 1427 Dies lag zum Großteil am per se äußerst komplizierten preußischen Steuersystem und den indirekten Steuern, die die Ermittlung einer genauen Pro-Kopf-Steuer Dieterici unmöglich machten, so daß er stattdessen auf die Klassensteuer abzustellen vorschlug, siehe Grünthal, Parlamentarismus (Fn. 1375), S. 79 f. 1428 Grünthal, Parlamentarismus (Fn. 1375), S. 82. 1429 Siehe den Nachweis bei Boberach, Wahlrechtsfragen (Fn. 1386), S. 143 m. Fn. 2. 1430 Grünthal, Parlamentarismus (Fn. 1375), S. 91. 1431 Grünthal, Parlamentarismus (Fn. 1375), S. 84. 1432 Schilfert, Sieg (Fn. 1387), S. 269. 1433 Siehe die 52. Sitzung des Hauses der Abgeordneten am 16. Mai 1861 (abgedruckt in: Stenographische Berichte über die Verhandlungen der durch die Allerhöchste Verordnung vom 27. Dezember 1860 einberufenen beiden Häuser des Landtages, Bd. III, 1861, S. 1255 ff.); Schilfert, Sieg (Fn. 1387), S. 270 ff.

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derem vorgebracht, die preußische Dreiteilung orientiere sich an den Centuriatkomitien des Servius Tullius.1435 Diese These krankt aber ganz offensichtlich an der Unstimmigkeit, daß die Wähler hier nicht in drei, sondern in fünf Steuerklassen unterteilt wurden. Dies bestärkt wohl wiederum eher die These, man habe sich die Gemeindeordnung für die Rheinprovinz vom 23. Juli 1845 zum Vorbild genommen.1436 Hierfür spricht zum einen, daß sich rheinische Abgeordnete im

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Voigt, Geschichte (Fn. 1295), S. 20. Siehe den Hinweis bei Gneist, Rechtsidee (Fn. 1364), S. 23 f. auf „die von einem angesehenen Juristen und erfahrenen Politiker in den Vordergrund gestellte Erinnerung an die römische Centurienverfassung“; Bezugnahme auf von Gneist bei Stern, Staatsrecht I (Fn. 29), § 10 I 2 (S. 292). Diese Vermutung stammt wohl vom Abgeordneten Waldeck, der sie in der 52. Sitzung des Hauses der Abgeordneten am 16. Mai 1861 (abgedruckt in: Stenographische Berichte 1861 III [Fn. 1433], S. 1255 ff.) äußerte: „Das Dreiklassen-System, nehme ich allerdings auch an, wie ich schon bei meinem vorigen Vortrage gesagt habe, ist allgemein gerichtet; es hat keine rationelle Existenz, es war eine Erfindung, die wir zuerst zu kosten bekommen haben in dem oktroyirten Wahlgesetze von 1849. Man hat damals gesagt, es wäre von einem verstorbenen, sehr gelehrten Juristen, der sich dabei an den Census von Servius Tullius erinnert habe, erfunden. Er hat vielleicht nicht ganz bedacht, daß nach Centurien in Rom der Regel nach nicht abgestimmt wurde, wenn von Wahlen die Rede war“ (Zitat ebd., S. 1257, rechte Spalte). Schilfert, Sieg (Fn. 1387), S. 271 f. stellt die Vermutung in den Raum, daß Waldeck als gelehrten Juristen höchstwahrscheinlich von Savigny vor dem inneren Auge hatte. Waldeck selbst, so Schilferts Mutmaßungen weiter, kannte die Centuriatkomitien des Servius Tullius nicht gut genug und wußte daher nicht um die Einteilung in fünf Klassen; von Savigny hingegen mit Sicherheit schon. Von Savigny war jedenfalls maßgeblich an den im Vorfeld stattfindenden vorbereitenden Beratungen über das Dreiklassenwahlrecht beteiligt und wollte wahrscheinlich auf den Grundgedanken der Klasseneinteilung verweisen, nicht auf die konkrete Anzahl von Klassen, siehe ebd., S. 272. Auch Rönne, Staats-Recht Preußische Monarchie (Fn. 1365), Vierter Abschnitt, Drittes Stück, § 115 (S. 483 m. Fn. 7) verweist auf die Klassen-Einteilung des römischen Volkes nach Servius Tullius als Grundlage des Preußischen Dreiklassenwahlrechts. Zum Stimmrecht nach der Zenturienverfassung Roms im Allgemeinen siehe knapp Savigny, Wahlrecht (Fn. 31), S. 40; T. Mommsen, Römisches Staatsrecht, Bd. III/ 1, 4. Aufl. 1952, S. 240 ff. 1436 So z. B. vertreten von Meyer, Wahlrecht (Fn. 20), S. 257 f. und Boberach, Wahlrechtsfragen (Fn. 1386), S. 138 ff. mit der Begründung, der Entwurf von Manteuffels für die preußische Gemeindeordnung im Frühjahr 1849 habe sich von der Rheinischen Gemeindeordnung inspirieren lassen und dieses Kommunalwahlrecht wiederum eben seinen deutlichen Niederschlag im Preußischen Dreiklassenwahlrecht gefunden; siehe Grünthal, Parlamentarismus (Fn. 1375), S. 84, der zusätzlich anführt, eine Verbindung des neuen Wahlrechts für den Landtag mit dem Wahlsystem der Kommunalordnung habe sich angeboten und aufgrund der statistischen Vorarbeiten Dietericis hätten auch die zur Umsetzung notwendigen Zahlen vorgelegen sowie Gneist, Rechtsidee (Fn. 1364), S. 27 ff. zu den korrespondierenden Motiven des Wahlgesetzes und der neuen Gemeindeordnung. Auch Schilfert, Sieg (Fn. 1387), S. 267 f. und Gerlach (Hrsg.), Aufzeichnungen II (Fn. 1217), S. 61 gehen davon aus, daß die Regierung auf das Vorbild der Rheinischen Kommunalwahlordnung zurückgegriffen hat; eher andeutungsweise in diese Richtung Dietzel, Wahlrechtsreformbestrebungen (Fn. 1218), S. 3. Vermittelnd Savigny, Wahlrecht (Fn. 31), S. 42 m. Fn. 1, der bemerkt, die Gemeindeordnung habe zwar als unmittelbares Vorbild gedient, man habe sich aber zur Rechtfertigung der Klasseneinteilung zusätzlich des Hinweises auf die römischen Zenturien bedient. 1435

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Rahmen der Debatten für eine Unterteilung in drei Klassen stark gemacht hatten.1437 Zum anderen die frappierende Ähnlichkeit des Grundgedankens des rheinischen und des preußischen Wahlsystems: Auch nach den Vorschriften der Rheinischen Gemeindeordnung wurden die Wähler nach der von ihnen erbrachten Steuerleistung in drei Klassen eingeteilt, so daß auch hier auf jede Klasse ein Drittel des Gesamtsteuervolumens fiel.1438 Der größte Unterschied der beiden Ordnungen besteht darin, daß nach der Rheinischen Gemeindeordnung jede Klasse für sich unmittelbar ihre Repräsentanten wählte, während nach dem Preußischen Dreiklassenwahlrecht in den Klassen zunächst nur die Wahlmänner gewählt wurden, die dann wiederum die Abgeordneten wählten. Schlossen sich beispielsweise die Wahlmänner der ersten und zweiten Klasse bei der Abstimmung zusammen, konnten sie die Wahlmänner der dritten Klasse überstimmen. Deren Stimmen hatten so auf das Wahlergebnis keinen Einfluß mehr.1439 Auch wenn die Ähnlichkeit der Konzeption der Gemeindeordnung für die Rheinprovinz und des Preußischen Dreiklassenwahlrechts trotz der aufgezeigten Unterschiede schwerlich zu leugnen ist, gelingt es letztlich nicht, ein bewußtes Aufgreifen ersterer durch die Väter des Preußischen Dreiklassenwahlrechts nachzuweisen.1440 Fest steht, daß der Ansatz einer Dreiteilung der Wählerschaft vorher schon des Öfteren angeregt wurde.1441

B. Normative Erscheinungsformen des Zensus und ihre realpolitische Umsetzung I. Normative Vorgaben: Einteilung der Wähler in drei Abteilungen nach Steuerleistung durch die Wahlrechtsverordnung vom 30. Mai 1849 Durch das Dreiklassenwahlrecht wurde zwar einerseits die überkommene ständisch gegliederte Volksvertretung überwunden, diese aber andererseits nicht durch eine nach gleichem Wahlrecht, sondern durch eine nach Steueraufkommen in drei Klassen gewählte Repräsentationskörperschaft ersetzt1442, durch die die besitzenden Schichten de facto überrepräsentiert wurden1443. 1437 In von Gerlach (Hrsg.), Denkwürdigkeiten I (Fn. 1411), S. 317 heißt es „Hansemann, Aldenhoven, Arnim, Alvensleben sind dabei a consiliis gewesen“, Hervorhebungen i. O., A. S. 1438 Beachte §§ 49, 50 der Gemeindeordnung für die Rheinprovinz vom 23. Juli 1845, abgedruckt bei: Engeli/Haus, Quellen (Fn. 744), S. 294. These einer Abstammung des Preußischen Dreiklassensystems von der Rheinischen Gemeindeordnung von 1845 u. a. vertreten von G. v. Below, Das parlamentarische Wahlrecht in Deutschland, 1909, S. 142 in Fn. 116; knapp dazu auch Wulff, Deutschkonservativen (Fn. 1336), S. 2. 1439 Dazu erneut Meyer, Wahlrecht (Fn. 20), S. 257 f. 1440 Voigt, Geschichte (Fn. 1295), S. 21. 1441 Zu den Hintergründen ausführlicher Voigt, Geschichte (Fn. 1295), S. 21 f. 1442 Boldt, Konstitutionalismus (Fn. 1269), S. 125. 1443 Morlok (Fn. 3), Art. 38 Rn. 5.

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In den entscheidenden, das Wahlrecht betreffenden Art. 70 und 711444 der Preußischen Verfassung vom 31. Januar 18501445 heißt es: „Art. 70 I. Jeder Preuße, welcher das fünf und zwanzigste Lebensjahr vollendet hat und in der Gemeinde, in welcher er seinen Wohnsitz hat, die Befähigung zu den Gemeindewahlen besitzt, ist stimmberechtigter Urwähler. Art. 71. Auf jede Vollzahl von zweihundert und funfzig Seelen der Bevölkerung ist ein Wahlmann zu wählen. Die Urwähler werden nach Maaßgabe der von ihnen zu entrichtenden direkten Staatssteuern in drei Abtheilungen getheilt, und zwar in der Art, daß auf jede Abtheilung ein Drittheil der Gesammtsumme der Steuerbeträge aller Urwähler fällt. Die Gesammtsumme wird berechnet: a) gemeindeweise, falls die Gemeinde einen Urwahlbezirk für sich bildet; b) bezirksweise, falls der Urwahlbezirk aus mehreren Gemeinden zusammengesetzt ist. Die erste Abtheilung besteht aus denjenigen Urwählern, auf welche die höchsten Steuerbeträge bis zum Belaufe eines Drittheils der Gesammtsteuer fallen. Die zweite Abtheilung besteht aus denjenigen Urwählern, auf welche die nächst niedrigeren Steuerbeträge bis zur Gränze des zweiten Drittheils fallen. Die dritte Abtheilung besteht aus den am niedrigsten besteuerten Urwählern, auf welche das dritte Drittheil fällt. Jede Abtheilung wählt besonders und zwar ein Drittheil der zu wählenden Wahlmänner. Die Abtheilungen können in mehrere Wahlverbände eingetheilt werden, deren keiner mehr als fünfhundert Urwähler in sich schließen darf. Die Wahlmänner werden in jeder Abtheilung aus der Zahl der stimmberechtigten Urwähler des Urwahlbezirks ohne Rücksicht auf die Abtheilungen gewählt.“

Art. 72 der Verfassung stellt den Erlaß eines konkretisierenden Wahlgesetzes in Aussicht, welches jedoch nicht zustande kam, so daß die Vorschriften der Verordnung vom 31. Mai 1849 weiterbestanden.1446 1444 Entsprechende Artikel 70 und 71 der Verfassungsurkunde für den Preußischen Staat vom 31. Januar 1850, Preußische Gesetz-Sammlung 1850, S. 17 ff., sind abermals zitiert nach Huber (Hrsg.), Dokumente 1 (Fn. 8), Nr. 194 (Nr. 168), S. 508 f.; siehe zudem Gerlach, Geschichte (Fn. 34), S. 21 f. 1445 Siehe hierzu die Verfassungsurkunde für den Preußischen Staat, Preußische Gesetz-Sammlung 1850, S. 17 ff., abgedruckt u. a. in: Parlamentarisches Handbuch für das Herrenhaus und das Haus der Abgeordneten, 1859, S. 5 ff. und Huber (Hrsg.), Dokumente 1 (Fn. 8), Nr. 194 (Nr. 168), S. 501 ff. Siehe zu den Charakteristika eben jener Verfassung eingängig Anschütz, Verfassungs-Urkunde I (Fn. 1377); H. Boldt, Die preußische Verfassung vom 31. Januar 1850. Probleme ihrer Interpretation, in: H.-J. Puhle/ H.-U. Wehler (Hrsg.), Preußen im Rückblick, 1980, S. 224 ff.; in rechtsvergleichender Perspektive R. Smend, Die Preussische Verfassungsurkunde im Vergleich mit der Belgischen, 1904. 1446 Siehe Huber (Hrsg.), Dokumente 1 (Fn. 8), Nr. 194 (Nr. 168), S. 509 m. Fn. 30; Gerlach, Geschichte (Fn. 34), S. 229.

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Die Urwähler wurden mithin nach der von ihnen gezahlten Staatssteuer in drei Klassen eingeteilt, so daß auf jede der Klassen ein Drittel des Gesamtvolumens an Steuerbeiträgen entfiel. Jede Klasse wählte ein Drittel der Wahlmänner.1447 Ein bereits in dieser auf dem do-ut-des Prinzip von Leistung und Gegenleistung beruhenden Konstruktion1448 naturgemäß angelegtes Folgeproblem liegt auf der Hand: Je höher die Steuerleistung der Urwähler in der ersten Klasse, desto weniger Wähler befinden sich in der ersten Klasse, desto mehr aber wiederum in der dritten Klasse, so daß im Ergebnis durch erhöhte Steuerleistung in der oberen Klasse das Stimmgewicht in der dritten Klasse gemindert wird.1449 II. Realpolitische Umsetzung und Kritik Das Preußische Dreiklassenwahlrecht „enthielt schon in der Konzeption ein solches Maß an politischer Ungleichheit“ 1450; dennoch wurden seine Grundprämissen durch realpolitische Umsetzung und Ausgestaltungsform „die ungünstigen Folgen des Zensus potenziert“, so daß sich das System mehr und mehr „in ein Zerrbild verwandelt“ hat1451. Hinzu kam, daß dieses Wahlsystem ungünstigerweise „nicht einmal in seinen Uranfängen (. . .) dem ,Ideal‘, in der ersten Abteilung die ,wohlhabende und gebildete‘ Bevölkerung und in der 2. den gesamten Mittelstand zu umfassen“ 1452 gerecht werden konnte. Fraglich ist, worin die Hauptschwächen dieses Wahlsystems lagen. 1. Systemimmanente Ungerechtigkeit: Unterschiedliches Stimmgewicht durch unverhältnismäßige Verteilung der Wähler auf die drei Klassen (Beispiel Krupp)

Die am schwersten ins Gewicht fallende, weil mit den drastischsten Ungerechtigkeiten einhergehende systemimmanente Schwachstelle, lag wohl in der unverhältnismäßigen Verteilung der Wähler auf die drei Abteilungen bzw. genauer in der Tatsache, daß man eben jenen drei Abteilungen unabhängig davon, wie viele Wahlberechtigte sie konkret faßte, die Ernennung der gleichen Anzahl von Wahlmännern zusprach.1453 Man stelle sich nur einmal einen fiktiven Wahlkreis mit 1447

Erläuternd zu diesem Grundprinzip des Dreiklassenwahlrechts beispielsweise Meyer, Wahlrecht (Fn. 20), S. 255 f.; Gerlach, Geschichte (Fn. 34), S. 30; Rönne, Staats-Recht Preußische Monarchie (Fn. 1365), Vierter Abschnitt, Drittes Stück, § 115 (S. 483 f.); Savigny, Wahlrecht (Fn. 31), S. 42; Knoll, Führungsauslese (Fn. 744), S. 50; Ritter, Arbeitsbuch (Fn. 895), S. 134; Patemann, Kampf (Fn. 1320), S. 10. 1448 Savigny, Wahlrecht (Fn. 31), S. 42. 1449 Gerlach, Geschichte (Fn. 34), S. 31. 1450 Hofmann, Stadtverordnetenversammlungen (Fn. 747), S. 49. 1451 Beide Zitate bei Savigny, Wahlrecht (Fn. 31), S. 51. 1452 Gerlach, Geschichte (Fn. 34), S. 30. 1453 H. Nöcker, Wählerentscheidung unter demokratischem und Klassenwahlrecht. Eine vergleichende Statistik der Reichstags- und Landtagswahlergebnisse in Preußen

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einem Gesamtsteuervolumen von drei Millionen Mark vor, in dem ein Großindustrieller mit über einer Million Steuerleistung allein die erste Abteilung ausmacht. Die zweite Abteilung umfaßt 30 Steuerzahler, die zusammen die zweite Million der Gesamtsteuerleistung aufbringen, und 40.000 Urwähler gehören der dritten Abteilung an, da sie den restlichen Anteil des Gesamtsteuervolumens bestreiten. Im Vergleich zu den Urwählern in der dritten Klasse wird dem Großindustriellen, der die Wahlmänner allein benennen darf, mithin das 40.000-fache Stimmrecht zuteil.1454 Aber nicht nur der Wert der Stimme der Angehörigen der drei Abteilungen wich frappierend voneinander ab, das System führte sogar dazu, daß selbst der Stimmwert der Angehörigen der gleichen Abteilung von Wahlbezirk zu Wahlbezirk extrem variieren konnte.1455 Die ersten Wahlen nach der oktroyierten Wahlrechtsverordnung vom 30. Mai 1849 führten dazu, daß in der ersten Klasse lediglich 153.000 Urwähler, d.h. nur 4,7 %, in der zweiten Klasse 12,6 %, in der dritten Klasse hingegen stolze 82,7 % der Wählerschaft zusammengefaßt waren. 1850 wanderte ein weiteres Fünftel des vermögenden Bildungsbürgertums in die zweite Klasse und die Hälfte des Mittelstandes mußte fortan in der dritten Klasse wählen.1456 Von 1849–1913 war die Stimme eines der ersten Abteilung zugehörigen Urwählers im Durchschnitt etwa das 16 bis 26-fache, die Stimme eines Urwählers der zweiten Abteilung immerhin noch das 5 bis 8-fache der Stimme eines Urwählers der dritten Abteilung wert.1457 Die in der Regel im Vergleich zu den anderen beiden Abteilungen unverhältnismäßig große dritte Klasse blieb aufgrund des Systems unterrepräsentiert und weitgehend politisch machtlos, konnte sie allein doch keinen Kandidaten durchbringen.1458 Das Preußische Dreiklassen1903 nebst Angaben zur Wirtschafts- u. Sozialstruktur nach Vergleichsgebieten, mit einer Einführung von O. Büsch, 1987, S. 2; Savigny, Wahlrecht (Fn. 31), S. 48. 1454 Fingiertes Beispiel nach Knoll, Führungsauslese (Fn. 744), S. 50. 1455 Wenck, Handbuch (Fn. 1365), S. 47 („Damit ist der ganze Grundgedanke der Klasseneinteilung ad absurdum geführt, denn nicht mehr der einzelne Wähler kommt nach dem Maß seines Besitzes in Betracht, sondern das Steuerkapital und der Zufall entscheidet, wer und wie viele davon profitieren, je nachdem die Gemeinde von vielen oder wenigen Reichen bewohnt wird“). Dazu auch R. Siegfried, Ein Mahnwort zur Statistik der preußischen Landtagswahlen von 1898. Ein Beitrag zur Beleuchtung der preußischen Wahleinrichtungen, 1899, S. 9 ff.; knapp Patemann, Kampf (Fn. 1320), S. 10 f. 1456 Gerlach, Geschichte (Fn. 34), S. 30; identische prozentuale Angaben zu den ersten Wahlen unter dem Preußischen Dreiklassenwahlrecht finden sich bei Vollrath, Kampf (Fn. 1364), S. 13. 1457 Ritter, Arbeitsbuch (Fn. 895), S. 134; Nöcker, Wählerentscheidung (Fn. 1453), S. 2. 1458 Savigny, Wahlrecht (Fn. 31), S. 48 m. Fn. 1: Im Jahr 1903 z. B. faßte die erste Abteilung 3,36 %, die zweite Abteilung 12,07 % und die dritte Abteilung 84,57 % der staatlichen Gesamtwählerschaft; prozentuale Angaben entsprechen denen bei G. Evert, Die preussischen Landtagswahlen des Jahres 1903 und früherer Jahre. Mit drei Tafeln kartographischer Darstellungen, in: Zeitschrift des königlich preussischen statistischen Landesamts. Herausgegeben von dessen Direktor Präsidenten Dr. E. Blenck, Ergänzungsheft XXIII. 1905, S. 7; Nöcker, Wählerentscheidung (Fn. 1453), S. 2.

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wahlrecht war zwar mithin ein allgemeines Wahlrecht, da es allen Männern das Stimmrecht zusprach, der Arbeiterschaft und mithin dem Großteil der Bevölkerung wurde letztlich aber „wegen der Einteilung der Wählerschaft in drei Klassen nur die Illusion einer Chance eingeräumt, die Wahlen faktisch zu beeinflussen“ 1459. Auch Gerhard Anschütz1460 prangerte die Wertlosigkeit des Wahlrechts für die Mehrheit der Bevölkerung unter dem Preußischen Dreiklassenwahlrecht öffentlich und unmißverständlich an. Beim Wahlrecht handele es sich um „ein Recht ohne praktische Bedeutung, denn in den Wahlmännerkollegien werden die Vertreter der dritten Abteilung von denen der ersten und zweiten, also den reichen und wohlhabenden Schichten, erfahrungsgemäß fast stets niedergestimmt, wodurch es den breiten Massen des Volkes nahezu unmöglich gemacht wird, Männer ihrer Klassenzugehörigkeit und ihres Vertrauens in das Parlament zu entsenden. Das preußische Abgeordnetenhaus ist in Wahrheit kein Abbild des preußischen Volkes in seiner Gesamtheit, sondern nur die Vertretung einer dünnen Oberschicht: der besitzenden Klassen“ 1461. Dieses Problem wurde verstärkt durch die enorme Divergenz zwischen Zählwert und Erfolgswert der Stimmen, d.h. der eklatanten Differenz zwischen den für eine Partei abgegebenen Stimmen und dem diesen im Ergebnis zuteil werdenden Anteil von Mandaten.1462 Bei der Wahl von 1913 beispielsweise gewannen die Konservativen mit 16,8 % der Stimmen 45,6 % der Mandate, die SPD mit 28,4 % Stimmanteil nur 2,3 % der Sitze.1463 Abgesehen von den Wahlen von 1877 und 1881 benötigten die Konservativen stets unterdurchschnittlich wenige Stimmen, um ein Reichstagsmandat für sich zu gewinnen.1464 Insgesamt begünstigte das Wahlsystem so den überproportionalen Anteil der Sitze der Konservativen im Reichstag.1465 1459 Rokkan, Wahlrecht (Fn. 1219), S. 90. Siehe auch T. Curti/A. Giesen, Das Wahlrecht. Geschichte und Kritik, 1908, S. 48. 1460 Siehe ausführlich zu dessen Gesamteinschätzung des Preußischen Dreiklassenwahlrechts insbesondere unter Berücksichtigung der staats- und verfassungsrechtlichen Stellung Preußens als Teil des Deutschen Reiches S. 313 ff. 1461 Anschütz, Wahlreform (Fn. 31), S. 3 f. = ders., Wahlreform (Fn. 31), S. 275 f.; fast identische Formulierung Anschütz’ auch in seinem Aufsatz ders., Gedanken über künftige Staatsreformen, in: F. Thimme/C. Legien (Hrsg.), Die Arbeiterschaft im neuen Deutschland, 1915, S. 42 (54). 1462 Eindrucksvolle tabellarische Gegenüberstellung von Urwähler- und Abgeordnetenzahlen bei Wenck, Handbuch (Fn. 1365), S. 49; tabellarische Auflistung, wie viele Stimmen man im Durchschnitt von 1871–1912 benötigte, um ein Reichstagsmandat zu erlangen, und wie viele Stimmen die einzelnen Parteien brauchten, bei Huber, Verfassungsgeschichte III (Fn. 1217), S. 875 f. 1463 Ritter, Arbeitsbuch (Fn. 895), S. 134. 1464 Huber, Verfassungsgeschichte III (Fn. 1217), S. 875. 1465 Vogel/Nohlen/Schultze, Wahlen (Fn. 40), S. 126 f. Zur Problematik auch O. Büsch, Gedanken und Thesen zur Wählerbewegung in Deutschland, in: ders./M. Wölk/W. Wölk

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Zudem führte zwingend jede Potenzierung der Steuerleistung in den oberen Klassen zur Verminderung des Wahlrechts in der unteren.1466 Welche Konsequenzen derartige Verschiebungen von den oberen zu Lasten der unteren Abteilung haben konnten, läßt sich am eindrucksvollsten anhand eines plastischen Beispieles illustrieren, das in den Geschichtsbüchern immer wieder wegen seiner Eingängigkeit bemüht wird: Das Dreiklassenwahlrecht machte es möglich, daß in einer nicht gerade unerheblichen Anzahl von Urwahlbezirken die erste1467, manchmal sogar auch die zweite Abteilung nur aus einem Wähler bestand, so daß das Wahlrecht dadurch zu einem bloßen Ernennungsrecht degradiert wurde1468. Das wohl bemerkenswerteste Beispiel für einen Urwahlbezirk mit nur einem Wähler liefert (wenngleich immer nur temporär) in Bezug auf die Gemeindewahlen Krupp in Essen.1469 In schlechten Zeiten der Firma gehörten der ersten Klasse hier immerhin 47 Urwahlberechtigte an, von 1886–1894 durfte der Firmeninhaber aber ganz allein über ein Drittel der Stadtverordneten befinden.1470 Diese systemimmanenten Ungerechtigkeiten, wie insbesondere das Übergewicht der Stimmen der Urwähler in der ersten Abteilung im Vergleich zum Stimmgewicht derer in der dritten und die Verdrängung unzähliger Wähler von den oberen Abteilungen in die dritte Abteilung, bekamen nicht nur die kleinen Leute wie Bauern, Handwerker oder Tagelöhner zu spüren, sondern auch Angehörige des Bildungsbürgertums. 1898 wählten in Köln beispielsweise der höchste Richter und Staatsbeamte, der Regierungspräsident sowie der Oberlandesge-

(Hrsg.), Wählerbewegung in der deutschen Geschichte. Analysen und Berichte zu den Reichstagswahlen 1871–1933, 1978, S. 125 (128). 1466 Siehe zu dieser im System bereits angelegten Unverhältnismäßigkeit der Repräsentation der drei Klassen M. Schippel, Fort mit dem Dreiklassen-Wahlsystem in Preußen, 2. Aufl. 1890, S. 11 ff.; Gagel, Wahlrechtsfrage (Fn. 509), S. 113 ff.; Gerlach, Geschichte (Fn. 34), S. 31; Savigny, Wahlrecht (Fn. 31), S. 48; Vogel/Nohlen/Schultze, Wahlen (Fn. 40), S. 126; Voigt, Geschichte (Fn. 1295), S. 29; I. Jastrow, Das Dreiklassensystem. Die preußische Wahlreform vom Standpunkte sozialer Politik, 1894, S. 56 ff. 1467 Savigny, Wahlrecht (Fn. 31), S. 48, der die immensen Kapitalbildungen und daher zunehmenden Besitzunterschiede seit Etablierung des Dreiklassenwahlrechts für diesen Effekt verantwortlich macht. 1468 Gerlach, Geschichte (Fn. 34), S. 33 f. führt als statistische Belege an, 1888 habe die erste Abteilung in 10 % der Urwahlbezirke nur aus einem Wähler bestanden, in 8 % nur aus zweien. 1903 gab es 2159 Urwahlbezirke (davon 1686 in ländlichen Gebieten) mit nur einem, 1770 mit zwei Zugehörigen und 79 Urwahlbezirke der zweiten Klasse, in dem einem Wähler das Ernennungsrecht exklusiv zuteil wurde; von den gleichen Zahlen geht auch Wenck, Handbuch (Fn. 1365), S. 48 aus. 1469 Siehe zum Kruppschen Beispiel exemplarisch H. Croon, Die gesellschaftlichen Auswirkungen des Gemeindewahlrechtes in den Gemeinden und Kreisen des Rheinlandes und Westfalens im 19. Jahrhundert, 1960, S. 16, 23, 51. Hofmann, Stadtverordnetenversammlungen (Fn. 747), S. 50; Knoll, Führungsauslese (Fn. 744), S. 55; Ritter, Arbeitsbuch (Fn. 895), S. 135. 1470 Croon, Auswirkungen (Fn. 1469), S. 16, 23.

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richtspräsident zusammen mit Rechtsanwälten, Notaren und Ärzten in der dritten Abteilung1471, die dort schon seit 1879 zahlreich vertreten waren1472. Sogar ranghohe Persönlichkeiten wie Liebermann, Sybel oder von Treitschke gehörten der dritten Abteilung an.1473 Im Jahre 1893 wählte keiner der insgesamt elf preußischen Minister in der ersten Abteilung, lediglich drei wegen ihres umfassenden Privatvermögens in der zweiten Abteilung und der Rest in der dritten Abteilung, darunter sogar der Reichskanzler Caprivi höchstselbst.1474 Bei den Wahlen von 1903 stimmte gar der Reichskanzler Bülow in der dritten Klasse ab.1475 Daß man als wohlhabender Bildungsbürger, gar als Millionär, der eine immense Steuerlast zu tragen hatte, je nach Wahlkreis, in dem man ja doch eher zufällig angesiedelt war, mal in der 1., mal in der letzten Abteilung wählte, löste in der Bevölkerung natürlich immense Unzufriedenheit mit dem System aus.1476 2. Außerhalb des Systems liegende Ungerechtigkeiten

a) Taktierende Wahlkreisgeometrie der Regierung zur Absicherung ihrer Mehrheit Eine weitere, wenngleich keine systemimmanente, sondern durch die konkrete Umsetzung des Preußischen Dreiklassenwahlrechts hervorgerufene Schwäche des Wahlsystems lag in der scheinbar willkürlichen, aus Sicht der Regierung wohl vielmehr doch wohl kalkulierten Einteilung der Wahlkreise1477, einer Art „Wahlkreisgeometrie“ 1478. Aufgrund der scharfen Kritik an § 3 der Wahlrechtsverordnung vom 30. Mai 18491479 („Die Bildung der Wahlbezirke ist nach Maßgabe der durch die letzten allgemeinen Zählungen ermittelten Bevölkerung von 1471

Hofmann, Stadtverordnetenversammlungen (Fn. 747), S. 50. Croon, Auswirkungen (Fn. 1469), S. 17. 1473 Knoll, Führungsauslese (Fn. 744), S. 55; Gerlach, Geschichte (Fn. 34), S. 33. 1474 Ritter, Arbeitsbuch (Fn. 895), S. 136 m. Fn. 5; Gerlach, Geschichte (Fn. 34), S. 32. 1475 Huber, Verfassungsgeschichte III (Fn. 1217), S. 92. 1476 Savigny, Wahlrecht (Fn. 31), S. 49 („So mußten die absoluten Unterschiede in der Bewertung des Besitzes für das Stimmgewicht, die bei dem Vergleich von Gemeinde zu Gemeinde sich in fast komischem Kontrast ergaben, die hier den mit einigen Mark zur Steuer Veranlagten in die erste Klasse erhoben, während anderwärts der Millionär, der Tausende an Steuern zahlt, in die dritte Klasse herabgedrückt wurde, als völlig willkürliche und irrationelle erscheinen und bitter empfunden werden“). Siehe auch die zahlreichen Beispiele hierzu bei Wenck, Handbuch (Fn. 1365), S. 47 ff. 1477 Siehe hierzu ausführlich Gerlach, Geschichte (Fn. 34), S. 23 ff. 1478 Dazu Vollrath, Kampf (Fn. 1364), S. 18 ff. 1479 Auch der Kommisionsbericht vom 13. Oktober 1849 zur Verfassungsrevision erkennt die Gefahr der Wahlmanipulation, sollte die Wahlkreiseinteilung im administrativen Belieben der Regierung verbleiben und merkt daher kritisch an, „es sei nicht angemessen, die Organisation der Wahlbezirke dem einseitigen Ermessen der Regierung zu überlassen, da diese es dann in der Hand habe, vor jeder Wahl eine neue Zusammenlegung der Kreise anzuordnen, wodurch eine wesentliche Einwirkung auf das Ergebnis der Wahl herbeigeführt werde“ (zitiert nach Gerlach, Geschichte [Fn. 34], S. 23 f.). 1472

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den Regierungen dergestalt zu bewirken, daß von jedem Wahlkörper mindestens zwei Abgeordnete zu wählen sind [. . .]“), der die Wahlkreiseinteilung ohne jegliche weitere Vorgaben der Regierung übertrug1480, wurde Art. 69 in die Verfassung vom 31. Mai 18501481 aufgenommen. Dieser gab nunmehr vor: „Die Wahlbezirke werden durch das Gesetz festgestellt (. . .).“ Doch die eindeutige verfassungsrechtliche Vorgabe sollte an der willkürlichen Wahlkreispolitik der Regierung1482 nichts ändern, denn „dieser Satz der Verfassung blieb zehn Jahre hindurch ein toter Buchstabe“ 1483. Regierung und Kammer ignorierten schlicht den ausdrücklichen gesetzgeberischen Auftrag und unterließen es, ein solches Gesetz, das der administrativen Willkür ein Ende hätte bereiten können, zu erlassen.1484 Die Regierung ließ keine (auch nicht die mißbräuchliche) Möglichkeit aus, die Wahlkreiseinteilung für ihre Zwecke zu instrumentalisieren, den Wahlausgang so im Ergebnis in ihrem Sinne zu manipulieren und der Opposition zu schaden. Von Gerlach konstatiert spöttisch: „in den oppositionell gesinnten Bezirken gab man sich die erdenklichste Mühe, den Wahlmännern die Ausübung des Wahlrechtes physisch unmöglich zu machen, indem man zwischen Wähler und Wahlort einen Fluß ohne Brücke brachte, oder den Wahlort in den entlegensten Teil des Kreises verlegte (. . .)“ 1485. Man suchte durch die Festlegung der Wahllokale mithin die Wahlmänner zu schikanieren und sie von der Ausübung ihres Wahlrechtes abzuhalten. Nebenfolge dieser ausschließlich Regierungsinteressen und weniger der Sozialisierung der einzelnen Territorien folgenden Wahlkreiseinteilung war zudem, wie bereits näher ausgeführt, daß die Steuerleistung, die man in den einzelnen Wahlkreisen jeweils aufbringen mußte, um in den oberen beiden Abteilungen wählen zu dürfen, in einem unerträglichen Maße variierte.1486 Hier 1480 Siehe § 3 der Verordnung betreffend die Ausführung der Wahl der Abgeordneten zur Zweiten Kammer vom 30. Mai 1849, Preußische Gesetz-Sammlung 1849, S. 205 ff., abgedruckt bei Huber (Hrsg.), Dokumente 1 (Fn. 8), Nr. 193 (Nr. 167), S. 497; dazu Gerlach, Geschichte (Fn. 34), S. 23. 1481 Einschlägiger Artikel wie üblich zitiert nach Huber (Hrsg.), Dokumente 1 (Fn. 8), Nr. 194 (Nr. 168), S. 508. 1482 Gerlach, Geschichte (Fn. 34), S. 24 mit Beispielen für die aus geographischer Sicht willkürliche, vom Standpunkte der Regierung aus aber wohl durchdachte Wahlkreiseinteilungspolitik. Das katholische und daher grundsätzlich oppositionell gestimmte Ermland beispielsweise wurde in drei Teile geteilt und so geschickt mit evangelischen, traditionell regierungstreu gesinnten Gebieten verquickt, so daß die Regierung auch hier die Mehrheit erlangen konnte. 1483 Gerlach, Geschichte (Fn. 34), S. 24. 1484 Genüge getan wurde dem durch die Verfassung erteilten gesetzgeberischen Auftrag erst durch das Gesetz über die Festsetzung der Wahlbezirke, die Wahlorte und die Zahl der Abgeordneten vom 27. Juni 1860, das wiederum durch Gesetz vom 17. Mai 1867 und die Novelle von 1906 modifiziert wurde. 1485 Gerlach, Geschichte (Fn. 34), S. 25. 1486 Savigny, Wahlrecht (Fn. 31), S. 49; siehe mit tabellarischen Belegen hierfür auch Ritter, Arbeitsbuch (Fn. 895), S. 135 f.: 1898 mußte man z. B. als Bürger in der Stadt im Durchschnitt fast das 4-fache an Steuerleistung, nämlich 1361 anstatt 343 Mark auf

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handelte es sich ganz offensichtlich um eine dem Grundgedanken des Dreiklassenwahlrechts, der „Koppelung von Steuerleistung und Gewicht der Stimmen – widersprechende Anomalie“ 1487. Und die Regierung ging in ihrem Machterhaltungsegoismus noch einen Schritt weiter. Sie schreckte nicht davor zurück, Wahlkreise, in denen die Opposition gesiegt hatte, im Nachhinein und vor der nächsten Wahl zu ändern.1488 Andererseits versagte sie eine komplette, durch das enorme Bevölkerungswachstum insbesondere in den Städten notwendig gewordene Neueinteilung der Wahlkreise1489 und lehnte alle seit 1899 eingebrachten Initiativen zur Neueinteilung der Wahlkreise kategorisch ab1490. Diese Weigerung der Regierung auf die durch Industrialisierung und Urbanisierung bewirkten Veränderungen der Bevölkerungsstruktur durch Neueinteilung der bestehenden Wahlkreise zu reagieren, kam den ländlichen Gebieten zugute und deren Überrepräsentation wiederum der Regierung selbst, da die Bevölkerung dort im Gegensatz zu der in den Städten traditionell konservativ und mithin regierungstreu wählte.1491 Die Passivität ist ganz offensichtlich nicht Ausdruck von Bequemlichkeit oder gar Unfähigkeit der Regierung, ein solches Reformvorhaben der Neueinteilung voranzutreiben, sondern ganz im Gegenteil als politisches Kalkül zu werten, da die Regierung gerade von der Ungerechtigkeit zugunsten der Landbevölkerung profitierte.1492 b) Provokation von Wahlboykotten von Seiten der Opposition durch Wahlmißbräuche und -manipulationen der Regierung Nicht nur durch die geschickte Einteilung der Wahlkreise, auch durch andere – teilweise äußerst skrupellose und daher mehr als fragwürdige – Methoden der dem Land aufbringen, um in der ersten Abteilung wählen zu dürfen. Ein weiteres Beispiel arbeitet die frappierenden Abweichungen von Bezirk zu Bezirk noch eindrucksvoller heraus: In 29 Berliner Urwahlbezirken gehörten Bürger mit mehr als 3000 Mark Steuerleistung pro Jahr der dritten Abteilung an, während in 6 ländlichen Urwahlbezirken regelmäßig schon eine Steuerleistung von unter 30 Mark genügte, um in der ersten Abteilung wählen zu dürfen. 1487 Zitat Ritter, Arbeitsbuch (Fn. 895), S. 136. 1488 Gerlach, Geschichte (Fn. 34), S. 24, der darauf hinweist, daß von den insgesamt 158 Wahlkreisen, die 1852 bestanden, 1855 76 verändert wurden und von diesen 76 hatten, was nunmehr nicht überraschen dürfte, 69 mehrheitlich für die Opposition gestimmt. Fast identische Zahlen liefert in diesem Kontext Grünthal, Parlamentarismus (Fn. 1375), S. 429, der von absolut 155 Wahlkreisen im Jahre 1852 ausgeht und ebenfalls von 76, die einer Änderung unterzogen wurden, wobei in 61 von ihnen die Opposition die Mehrheit erlangt habe. 1489 Gerlach, Geschichte (Fn. 34), S. 26; Ritter, Arbeitsbuch (Fn. 895), S. 137. 1490 Gerlach, Geschichte (Fn. 34), S. 27 ff. 1491 Ritter, Arbeitsbuch (Fn. 895), S. 137; siehe zur verhältnismäßigen Überrepräsentation der Konservativen und Freikonservativen auch die Übersichten bei R. Siegfried, Die schwere Benachteiligung der volkreichsten Landesteile Preußens bei den Landtagswahlen, 1908, S. 14 ff. 1492 Gerlach, Geschichte (Fn. 34), S. 29.

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Wahlmanipulation und des Wahlmißbrauches verstand es die Regierung, den Ausgang der Wahlen in ihrem Sinne zu lenken. Ab 1855 ergingen zur Einstimmung auf den Wahlkampf regelmäßig Erlasse des Innenministers an die Regierungspräsidenten, in denen jene mit Nachdruck und teilweise unter Androhung von Sanktionen dazu angehalten wurden, für die regierungsfreundliche Abstimmung aller Staatsbeamten bei den anstehenden Wahlen persönlich Sorge zu tragen.1493 Nicht zu unterschätzen ist in diesem Kontext die doch beachtliche Größe des Personenkreises, dessen Abstimmungsverhalten in den Fokus der Regierung geriet: Nicht nur politische Beamte wie Landräte1494 und Bürgermeister1495 wurden gezielt unter Druck gesetzt, für die Regierung zu votieren, sondern auch andere Staatsbedienstete wie Schulinspektoren, Kreisbaubeamte oder Forstinspektoren1496. Während die Wahlen in den Jahren 1858 und 1861 trotz zunehmenden Drucks von Seiten der Regierung in den meisten Wahlbezirken dennoch noch frei ablaufen konnten1497, bündelten sich die repressiven Maßnahmen der Regierung in einem regelrechten „Wahlterrorismus des Jahres 1863“ 1498. Die Regierung machte zur Sicherung der eigenen Mehrheiten nicht einmal davor Halt, den Bürgern bei unerwünschtem Wahlverhalten mit dem für

1493 Sehr detailliert und unter Wiedergabe zahlreicher zeitgenössicher Erlasse im Wortlaut Gerlach, Geschichte (Fn. 34), S. 39 ff.; siehe auch Grünthal, Parlamentarismus (Fn. 1375), S. 321 ff. 1494 Die Landräte wurden von der Regierung geschickt instrumentalisiert und so zum hauptausführenden Organ ihrer amtlichen Wahlsteuerung. In einer Rede des Regierungskommissars Hahn vom 7. Februar 1856 heißt es zur Rolle, die die Regierung für die Landräte im Wahlkampf vorgesehen hat: „Die Einwirkung der Landräte ist allerdings das wichtigste Mittel gewesen, welches die Regierung benutzt hat, um den Einfluß in der vorher angedeuteten Weise, nämlich zur Erhaltung der öffentlichen Meinung in ihrer Reinheit, auszuüben. (. . .) Sie [die Regierung, A. S.] hat die Landräte (. . .) aufgefordert, daß sie in ihren Kreisen sowohl bei den Urwahlen, als bei den Abgeordnetenwahlen offen und entschieden sich als Mittelpunkt der konservativen Partei gerieren sollten, daß sie in Gemeinschaft mit den anderweitigen konservativen Autoritäten des Kreises die konservative Partei sammeln und auf ein einiges Ziel hinzuführen suchen sollten.“, zitiert nach Gerlach, Geschichte (Fn. 34), S. 44, Hervorhebungen i. O., A. S. Auch Grünthal, Parlamentarismus (Fn. 1375), S. 428 f. verweist auf die Landräte als die Hauptlasttragenden der Organisation der Wahlen, die sogar Rechenschaft ablegen mußten, blieben die Wahlergebnisse hinter den Erwartungen der Regierung zurück. 1495 In seinem Schreiben vom 12. September 1855 legt beispielsweise der Regierungspräsident von Koblenz den Bürgermeistern nachdrücklich nahe, eine Vorselektion der Wahlmänner zur Sicherung regierungsfreundlicher Wahlergebnisse vorzunehmen und schiebt folgende subtile Drohung nach: „So streng wir irgend welche Lässigkeit ahnden würden, so gern werden wir bereit sein, die von den Herren Bürgermeistern bewiesene eifrige Tätigkeit in jeder Weise anzuerkennen“, zitiert nach Gerlach, Geschichte (Fn. 34), S. 43, Hervorhebungen i. O., A. S. 1496 Gerlach, Geschichte (Fn. 34), S. 42. 1497 Gerlach, Geschichte (Fn. 34), S. 55. 1498 Gerlach, Geschichte (Fn. 34), S. 76.

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die meisten schlimmsten, dem Verlust des Arbeitsplatzes und mithin dem Entzug jeglicher Existenz und Lebensgrundlage zu drohen.1499 Ebenso wie bei der ungerechten Einteilung der Wahlkreise durch die Regierung, die die Ungleichheit des Stimmgewichts förderte, handelt es sich bei den Wahlmanipulationen und -mißbräuchen ganz offensichtlich nicht um in diesem System bereits angelegte Schwachpunkte, sondern um solche, die im Rahmen der Durchführung und Organisation der Wahl, mithin durch die konkrete Umsetzung der Vorgaben des Wahlsystems hervorgerufen wurden. Die vom Preußischen Dreiklassenwahlrecht vorgesehene und in der preußischen Geschichte noch nie da gewesene1500 Öffentlichkeit und Mündlichkeit der Wahl1501 begünstigten indes derartige Wahlmanipulationen: „Sie [eben jene Öffentlichkeit der Wahl, A. S.] machte es nicht nur möglich, sondern forderte nachgerade dazu auf, das Wahlverhalten der in ihrem Stimmengewicht ohnehin nachdrücklich reduzierten Dritten Urwählerklasse zu manipulieren, mit anderen Worten: unter Ausnutzung der sozialen Abhängigkeit aller im weitesten Sinne, nicht nur wirtschaftlich Unselbständigen das Übergewicht der ersten beiden Wählerklassen noch zu steigern“. Es mußte allein schon wegen der Allgemein1499 Die Landräte hatten keine Skrupel und zögerten nicht, bei der Wahl der Regierung abtrünnig gewordene Staatsbedienstete aus ihrem Amt zu entheben. So z. B. der Landrat von Puttkamer in seinem Schreiben vom 20. Oktober 1863 an einen Schulzen, der für die oppositionelle Partei gestimmt hatte: „Sie haben, ungeachtet meiner an Sie unterm 22. d. M. gerichteten eindringlichen Warnung, gestern als Wahlmann für die dem König und Seiner Regierung feindliche Partei gestimmt. Durch dieses Ihr Verhalten als Wahlmann haben Sie sich der Achtung und des Vertrauens, die Ihr Beruf erfordert, unwürdig gezeigt (. . .). Ich fordere Sie desahlb auf, sich (. . .) über die Niederlegung Ihrer Stelle als Schulze zu erklären, widrigenfalls ich die Einleitung des Disziplinarverfahrens auf Dienstentlassung bei der Kgl. Regierung beantragen werde“, zitiert nach Gerlach, Geschichte (Fn. 34), S. 63, Hervorhebungen i. O., A. S. 1500 Gerlach, Geschichte (Fn. 34), S. 34. 1501 Siehe hierzu §§ 21 und 30 der Wahlrechtsverordnung vom 30. Mai 1849, abgedruckt bei Gerlach, Geschichte (Fn. 34), S. 231 f.: § 21. Die Wahlen erfolgen abteilungsweise durch Stimmgebung zu Protokoll, nach absoluter Mehrheit und nach den Vorschriften des Reglements (§ 32); § 30. Die Wahlen der Abgeordneten erfolgen durch Stimmgebung zu Protokoll. (. . .) – Zur Öffentlichkeit der Wahl und der mit ihr einhergehenden politischen Disziplinierung siehe Anschütz, Wahlreform (Fn. 31), S. 7 (die öffentliche und mündliche Abstimmung sei geradezu darauf ausgelegt „[. . .], den sozial und wirtschaftlich abhängigen Wähler durch Bekanntgabe seiner Abstimmung dem politischen Terrorismus seiner Machthaber auszuliefern [. . .]“); ders., Gedanken (Fn. 1461), S. 54; Vollrath, Kampf (Fn. 1364), S. 16 f.; Wenck, Handbuch (Fn. 1365), S. 38, 45; knapp bei B. Mann, Zwischen Hegemonie und Partikularismus. Bemerkungen zum Verhältnis von Regierung, Bürokratie und Parlament in Preußen 1867–1918, in: G. A. Ritter (Hrsg.), Regierung, Bürokratie und Parlament in Preußen und Deutschland von 1848 bis zur Gegenwart, 1983, S. 76 (82); E. Bock, Wahlstatistik. Ein Beitrag zur politischen Statistik, 1919, S. 49; Patemann, Kampf (Fn. 1320), S. 11; Vogel/Nohlen/Schultze, Wahlen (Fn. 40), S. 126. A. A. bei Wulff, Deutschkonservativen (Fn. 1336), S. 3 (die öffentliche Abstimmung habe dem Druck von Seiten der Behörden zwar Vorschub geleistet, aber niemals entscheidenden Einfluß auf die Wahlergebnisse gehabt).

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heit der Wahl „in Preußen – rebus sic stantibus – zu einem Mittel konservativer Systemstabilisierung werden“ 1502. Daher verwundert es nicht, daß das Öffentlichkeitsprinzip, das den „Wahlakt für die Ueberzahl der Wähler zu einem Akte der Vergewaltigung“ 1503 mutieren ließ, in der Gesamtschau noch öfter angegriffen worden ist als die Klasseneinteilung selbst. Gerade im straff hierarchischbürokratisch organisierten Preußen1504 schien die öffentliche Abstimmung „das denkbar beste Werkzeug, um in gleichem Maße den Interessen des Rückschritts und der Regierung zu dienen“ 1505. Im Übrigen weisen Länder, die vom Großgrundbesitz geprägt sind, regelmäßig die Tendenz auf, am öffentlichen Abstimmungsmodus festzuhalten.1506 Erstaunlich ist aber, daß sich in Preußen zusammen mit dem Dreiklassenwahlrecht auch das Öffentlichkeitsprinzip über zwei Generationen halten konnte. Allein in Dänemark und Ungarn konnte die öffentliche Abstimmung nach Etablierung des allgemeinen Männerwahlrechts noch eine gewisse Zeit standhalten, in der Regel wurde uno acto mit dem allgemeinen Wahlrecht aber auch die geheime Wahl eingeführt.1507 Der Grund für die Beibehaltung der Öffentlichkeit der Wahl war in Preußen so simpel wie einleuchtend: Die öffentliche Abstimmung erfüllte die Erwartungen, indem sie den Gutsbezirken sehr zufriedenstellende Wahlergebnisse bescherte.1508 Sie erwies sich für die Regierung als unerläßliches Instrument der Kontrolle und Manipulation des Wahlverhaltens der unteren Schichten durch ihre staatlichen Beamten.1509 c) Geringe Wahlbeteiligung der unteren Schichten als Protest gegen das System Unbeantwortet ist nunmehr noch die Frage, wie die soeben aufgezeigten Fehler und Schwächen des Preußischen Dreiklassenwahlrechts – ganz unabhängig davon, ob dem Wahlsystem bereits immanent oder auf die konkrete Organisation des Wahlaktes zurückzuführen – sich auf das Wahlverhalten der Bürger Preußens 1502 Beide Zitate bei Grünthal, Parlamentarismus (Fn. 1375), S. 89. So auch die Einschätzung bei K. E. Born, I. Preußen im deutschen Kaiserreich 1871–1918. Führungsmacht des Reiches und Aufgehen im Reich, in: W. Neugebauer (Hrsg.), Handbuch der preußischen Geschichte, Bd. III, 2001, S. 73. Auch die Grundsätze der Öffentlichkeit und Mündlichkeit der Wahl sind im Übrigen als Ausfluß der Vorstellung vom Wahlrecht als einer Art Amt, das es zum Wohle der Allgemeinheit vernünftig auszuüben gilt und gerade entgegen einer Betrachtung des Wahlrechts als subjektiv-individuelles Recht, das die politische Entscheidung ins Belieben des Einzelnen stellt, zu sehen, siehe hierzu Huber, Verfassungsgeschichte II (Fn. 1121), S. 789. 1503 Gerlach, Geschichte (Fn. 34), S. 34. 1504 Hierzu und insgesamt zum besonderen sozio-strukturellen Charakter Preußens als Garant für das lange Bestehen des Dreiklassenwahlrechts ausführlich S. 317 ff. 1505 Gerlach, Geschichte (Fn. 34), S. 35. 1506 Rokkan, Wahlrecht (Fn. 1219), S. 86. 1507 Rokkan, Wahlrecht (Fn. 1219), S. 90. 1508 Rosenberg, Demokratisierung (Fn. 1334), S. 478 f. 1509 Rokkan, Wahlrecht (Fn. 1219), S. 90.

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ausgewirkt haben.1510 Alles in allem erweisen sich die vier Wahlen während der Reaktionszeit leider als vergleichsweise schlecht erschlossen und dokumentiert1511, und von denen zwischen 1866 und 1893 fehlt sogar jegliche veröffentlichte amtliche Statistik1512. Die Beteiligung an den ersten Wahlen auf Grundlage der Wahlrechtsverordnung vom 30. Mai 1849 fiel im Vergleich zu den Wahlen zur Nationalversammlung von 1848 und Januar 1849 zwar schon geringer aus1513, insgesamt ist von 1848 bis 1855 aber nochmals eine konstante Abnahme der Wahlbeteiligung zu verzeichnen: Während sich an den Wahlen im Juli 1849 im gesamten preußischen Staat immerhin noch 31,9 % der Wahlberechtigten beteiligten, waren es 1852 nur noch 21,6 %, also 10,3 % weniger als im Juli 18491514, und 1855 lag die Gesamtwahlbeteiligung sogar nur noch bei 16,1 %, d.h. hier ist im Vergleich zu 1852 eine Abnahme von 5,5 % und zu 1849 sogar um 15,9 % festzustellen1515. Bei den Wahlen 1893 und 1898 lag die Wahlbeteiligung jeweils nur knapp über 18 %, und erst 1908 und 1913 wurde die 30 %Marke wieder überstiegen.1516 Am verhältnismäßig geringsten beteiligte sich die dritte Klasse an den Wahlen.1517 Für diese vermeintliche Gleichgültigkeit und Weigerung der Angehörigen der dritten Klasse, von ihrem Wahlrecht aktiv Gebrauch zu machen, ausschließlich die weitgehend flächendeckende Boykottierung der preußischen Landtagswahlen durch die SPD bis 1898 (hier blieb sie jedoch ohne Mandate) bzw. 19031518 verantwortlich machen zu wollen, würde zu kurz greifen, denn als die SPD bei den Wahlen 1903 erstmalig Kandidaten für 1510 Ausführlich zur Wahlbeteiligung in den einzelnen Wahlkreisen, aufgeschlüsselt nach den drei Abteilungen Curti/Giesen, Wahlrecht (Fn. 1459), S. 63 ff. 1511 Grünthal, Parlamentarismus (Fn. 1375), S. 317 f. 1512 Gerlach, Geschichte (Fn. 34), S. 222, der dies als bewußte und wohlkalkulierte Vertuschungsmaßnahme der Regierung wertet. Eben jene suchte „ein Schamtuch über die partie honteuse der preußischen Gesetzgebung zu breiten. Sie wußte: das preußische Wahlrecht kann sich nur erhalten, wenn sich das Volk so wenig wie möglich darum kümmert“, Hervorhebungen i. O., A. S. Siehe auch Bock, Wahlstatistik (Fn. 1501), S. 37 f. Das Problem gänzlich ausbleibender oder nicht erschöpfender Dokumentation ist indes auch bezüglich des Reichstagswahlrechts zu beklagen, siehe nur R. Siegfried, Ein Mahnwort betreffs Herstellung einer vollständigeren Statistik der kommenden Reichstagswahlen. Separat-Abdruck aus den „Annalen des Deutschen Reichs“, 1898, S. 3 ff. 1513 Grünthal, Parlamentarismus (Fn. 1375), S. 317; Botzenhart, Parlamentarismus (Fn. 1149), S. 748. 1514 Zahlen nach Grünthal, Parlamentarismus (Fn. 1375), S. 333. 1515 Zahlen nach Grünthal, Parlamentarismus (Fn. 1375), S. 436 f. Siehe auch die (lückenhafte) Übersicht zur Wahlbeteiligung im preußischen Gesamtstaat in den Jahren von 1849 bis 1903 bei Gerlach, Geschichte (Fn. 34), S. 222 und ebd. zu den Wahlergebnissen im Ganzen S. 222 ff. 1516 Kühne, Dreiklassenwahlrecht (Fn. 1364), S. 168. 1517 Ritter, Arbeitsbuch (Fn. 895), S. 134; Savigny, Wahlrecht (Fn. 31), S. 51; Grünthal, Parlamentarismus (Fn. 1375), S. 439; Wenck, Handbuch (Fn. 1365), S. 49. 1518 Nöcker, Wählerentscheidung (Fn. 1453), S. 3 m. Fn. 10; F. Schäfer, Sozialdemokratie und Wahlrecht. Der Beitrag der Sozialdemokratie zur Gestaltung des Wahlrechts

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die Landtagswahlen in Preußen aufstellte, stieg die Wahlbeteiligung in der dritten Abteilung zwar um 5 % auf 21,18 % an1519, die Wahlbeteiligung im Gesamtstaat lag aber bei nur 23,62 %1520. Im Reich gingen etwa stolze 75,5 % der wahlberechtigten Einwohner wählen, d.h. von vier Preußen ging gerade einer zur Landtagswahl, aber wenigstens drei zur Reichstagswahl.1521 Die SPD leistete dennoch langfristig gesehen einen erheblichen Beitrag zur Steigerung der Wahlbeteiligung an den preußischen Landtagswahlen.1522 Die wenigen, die ihre Stimme sowohl für den Deutschen Reichstag als auch für das preußische Abgeordnetenhaus abgaben, bekamen die erheblichen Gegensätze der beiden diametral zueinander verlaufenden Wahlsysteme deutlich zu spüren: Für den deutschen Reichstag stimmten sie geheim, gleich und direkt ab, während bei den Landtagswahlen, wie geschildert, die Stimme für einen der Wahlmänner innerhalb der nach Steuerleistung eingeteilten Abteilungen öffentlich zu Protokoll gegeben werden mußte.1523 Die Unterschiede zwischen der Wahlbeteiligung in Preußen und auf Reichsebene1524 sprechen eine eindeutige Sprache. Die relativ hohe Beteiligung an den Reichstagswahlen 1871 war als positive Resonanz der Bevölkerung auf die Einführung des allgemeinen, gleichen und direkten (Männer-)Wahlrechts zu interin Deutschland, in: Verfassung und Verfassungswirklichkeit, Jahrbuch 1967 (Teil 2), S. 157 (170 ff. zu Boykottierung, späteren Teilnahme und den Ergebnissen der SPD); E. R. Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Bd. IV, 2. Aufl. 1969, S. 122; zur Diskussion um die Beteiligung an den Wahlen zum preußischen Abgeordnetenhaus unter den Sozialdemokraten bis zum Mainzer Beschluß 1900 siehe D. Schuster, Das preußische Dreiklassenwahlrecht, der politische Streik und die deutsche Sozialdemokratie bis zum Jahr 1914, Diss. phil. 1958, S. 40 ff. Die Demokraten, die einzig ernstzunehmende Partei in der Opposition, hatten jahrelang propagiert, daß ein „wahrhaft Freisinniger“ nicht wählen dürfe (siehe Grünthal, Parlamentarismus [Fn. 1375], S. 436), und als Ausdruck ihres Protestes gegen die verfassungswidrige Etablierung des Dreiklassenwahlrechts die gesamten 50 Jahre hindurch die Wahlen boykottiert, siehe Gerlach, Geschichte (Fn. 34), S. 39; knapp bei Vollrath, Kampf (Fn. 1364), S. 68 f. Zu den Wahlboykotten der sozialistischen Parteien siehe auch Born, Preußen (Fn. 1502), S. 96. Grundsätzliches zur Entwicklung der SPD im Parteiengefüge bei Vogel/Nohlen/ Schultze, Wahlen (Fn. 40), S. 110 ff. und zum Aufstieg der Sozialdemokratie zur Massenbewegung Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte III (Fn. 401), S. 1045 ff. 1519 Prozentuale Angaben nach Evert, Landtagswahlen (Fn. 1458), S. 18; Savigny, Wahlrecht (Fn. 31), S. 51 m. Fn. 1; Gerlach, Geschichte (Fn. 34), S. 223. 1520 Gerlach, Geschichte (Fn. 34), S. 222. 1521 Gerlach, Geschichte (Fn. 34), S. 222 f.; Savigny, Wahlrecht (Fn. 31), S. 51 m. Fn. 1. 1522 Genauer steigerte sich die Wahlbeteiligung an den preußischen Landtagswahlen um fast 15 % von 18,36 % im Jahre 1898 auf 32,74 % bis 1913, siehe Nöcker, Wählerentscheidung (Fn. 1453), S. 4. 1523 Nöcker, Wählerentscheidung (Fn. 1453), S. 2. 1524 Im Ganzen stagnierte die Wahlbeteiligung bei den preußischen Landtagswahlen bei etwa 18 %, während sich die Beteiligung auf Reichsebene von 1871 bis 1898 von 44,2 % auf 62,4 % stetig steigerte, siehe Nöcker, Wählerentscheidung (Fn. 1453), S. 3. Dazu auch knapp Anschütz, Wahlreform (Fn. 31), S. 7.

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pretieren.1525 In Preußen fehlte es den Angehörigen der dritten Abteilung hingegen nicht (nur) an für sie wählbaren Kandidaten, sondern ihre Weigerung, ihr Wahlrecht auszuüben, ist letztlich als Ausdruck der „Unzufriedenheit und dadurch geminderte[n] Staatsfreudigkeit“ zu werten. Die Bürger suchten so ihre ablehnende Haltung „gegenüber diesem System, das die geforderte Gerechtigkeit und Verhältnismäßigkeit in bedenklichster Weise vermissen läßt“ 1526, zum Ausdruck zu bringen. Die Minderwertigkeit ihres eigenen Wahlrechtes1527 deutlich vor Augen, verzichteten die meisten ganz auf die Möglichkeit politischer Partizipation. So entstand eine Art Teufelskreis, der die Wirkung der im System bereits angelegten Unterrepräsentation der dritten Klasse, die sie ohnehin schon weitgehend zu einer machtlosen Randerscheinung degradierte1528, nur noch verstärkte. Als zusätzliche, ebenfalls nicht zu unterschätzende Ursache für die geringe Wahlbeteiligung tritt die „Ökonomie der Wahlenthaltung“ 1529 hinzu. Sowohl die Reichstagswahlen als auch die Wahlen zum Abgeordnetenhaus wurden an Werktagen abgehalten, wobei der eigentliche Wahlakt bei der Reichstagswahl nur wenige Minuten in Anspruch nahm, während die Stimme für das Abgeordnetenhaus in einer stundenlangen Versammlung abgegeben werden mußte. Berücksichtigt man zusätzlich die weite Anreise vieler Wähler auf dem Lande zu den Wahllokalen, wird deutlich, warum viele Wähler der Wahl zum Abgeordnetenhaus fern blieben. Sie konnten sich den Verlust eines bzw. mehrerer Arbeitstage schlicht aus ökonomischen Gesichtspunkten nicht erlauben.1530

C. (Rechts-)Philosophische/politische Begründung des Zensus: Rechtfertigungsversuche einer Etablierung des Dreiklassenwahlrechts durch das Staatsministerium und die Kammern I. Verteidigung des Dreiklassenwahlrechts als politische Notwendigkeit Über die Beratungen zur Revision des Wahlgesetzes Ende April/Anfang Mai 1849 ist wenig bekannt.1531 Wahrscheinlich fiel der endgültige Entschluß zugun1525 A. Milatz, Die linksliberalen Parteien und Gruppen in den Reichstagswahlen 1871 bis 1912, in: O. Büsch/M. Wölk/W. Wölk (Hrsg.), Wählerbewegung in der deutschen Geschichte. Analysen und Berichte zu den Reichstagswahlen 1871–1933, 1978, S. 325 (325 f.). 1526 Beide Zitate bei Savigny, Wahlrecht (Fn. 31), S. 51. Auch Wenck, Handbuch (Fn. 1365), S. 49 wertet die niedrige Wahlbeteiligung als Zeichen der Ablehnung des Wahlrechts durch das Volk. 1527 Gerlach, Geschichte (Fn. 34), S. 222. 1528 Siehe zu dieser systemimmanenten Hauptschwäche des Preußischen Dreiklassenwahlrechts bereits S. 292 ff. 1529 Kühne, Dreiklassenwahlrecht (Fn. 1364), S. 178 ff. 1530 Kühne, Dreiklassenwahlrecht (Fn. 1364), S. 179 f. 1531 Boberach, Wahlrechtsfragen (Fn. 1386), S. 140 ff.; Schilfert, Sieg (Fn. 1387), S. 272 ff.; Grünthal, Parlamentarismus (Fn. 1375), S. 69.

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sten des Klassenwahlrechts am 30. April 1849.1532 Auch wenn mehrere Politiker maßgeblich Anteil an der konkreten Konzeption des Preußischen Dreiklassenwahlrechts hatten, ist der „Vater des Dreiklassenwahlrechts“ wohl höchstwahrscheinlich von Savigny1533, wobei ebenfalls der Name Graf Alvensleben in diesem Kontext fällt1534. Dieser war ehemaliger Finanzminister und einer der reichsten Großgrundbesitzer im gesamten Land, was die Vermutung durchaus nährt, er habe ein Wahlrecht nach Steuerklassen angeregt. Er hatte aber keine nennenswerten Verbindungen ins Rheinland1535, so daß er wohl kaum mit der Rheinischen Gemeindeordnung näher in Berührung gekommen war. Der Immediatbericht des Staatsministeriums an den König trägt zur Begründung der Etablierung des Dreiklassenwahlrechts einige Argumente vor, die von der Bündelung gleichartiger Wählerinteressen, über den Gedanken der Korrespondenz von Rechten und Pflichten im Staat bis zur Privilegierung der politischen Entscheidungen der Besitzenden und Intelligenten gegenüber der Mehrheitsentscheidung reichen. In dem Bericht heißt es dazu wörtlich, „daß bei Ausübung des Wahlrechts diejenigen zusammentreten sollen, welche gleiche Lebensweise und gleiche Bedürfnisse zu gleicher Anschauung und gleichem Wunsche verbinden, daß die Teilnahme an den Wahlen je nach den gegenüberstehenden Pflichten bemessen werden müsse, daß dieses System der Forderung der verhältnismäßigen Vertretung der einzelnen Elemente des Staatslebens entspreche und verhindere, daß der Fleiß, der Besitz und die Intelligenz dem Uebergewicht der Kopfzahl zum Opfer gebracht werde.“ 1536 In der am 11./12. August 1849 folgenden Denkschrift des Ministeriums adressiert an die Kammer1537 wird eine weitere ausführliche Rechtfertigung des Dreiklassenwahlrechts nachgeschoben, die insbesondere die Verknüpfung des Wahl1532 Im Tagebuch Ernst Ludwig von Gerlachs findet man an eben jenem Tag den diese Vermutung bestätigenden Eintrag: „Beratung über das zu oktroyierende Wahlgesetz unten in Manteuffels Zimmer: Arnim-Boytzenburg, Alvensleben, Hansemann, weshalb Minister Manteuffel erst sehr spät kam. Auf der Straße gegen zwölf Uhr begegnete noch Alvensleben mir und Kleist. Es ist gewiß, daß man ein Wahlgesetz nach Klassen oktoyieren will, praeter, nicht contra die Verfassung, wie man meint. (. . .)“, zitiert nach H. Diwald (Hrsg.), Von der Revolution zum Norddeutschen Bund. Politik und Ideengut der preußischen Hochkonservativen 1848–1866. Aus dem Nachlaß von Ernst Ludwig von Gerlach, Bd. I, 1970, S. 175. 1533 Schilfert, Sieg (Fn. 1387), S. 273; Gerlach (Hrsg.), Aufzeichnungen II (Fn. 1217), S. 61 („[. . .] angeregt von Savigny und befürwortet von Alvensleben“, Hervorhebungen i. O., A. S.). 1534 Vage dazu von Gerlach (Hrsg.), Denkwürdigkeiten I (Fn. 1411), S. 313 (der Zusatz über die Revision der Verfassung sei von der Ersten Kammer, genauer von Alvensleben, ausgegangen). 1535 Schilfert, Sieg (Fn. 1387), S. 273 m. Fn. 2. 1536 Immediatbericht zitiert nach Gerlach, Geschichte (Fn. 34), S. 11 f. 1537 Abgedruckt bei Schilfert, Sieg (Fn. 1387), Anhang I, S. 378 ff.; ausführlich dazu auch Grünthal, Parlamentarismus (Fn. 1375), S. 113 ff.

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rechts mit der Steuerleistung und die auf dem Steuersatz basierende Einteilung der Wähler in drei Klassen zu begründen versucht. Zum Kriterium der Steuerkraft wird hier angeführt, sie gäbe „den allgemeinsten Maßstab der individuellen Leistungen für das Gemeinwesen ab. Es liegt daher auch nahe, nach dem Verhältnis der Besteuerung das Stimmrecht zu regeln, indem man damit der Forderung ,gleiche Pflichten, gleiche Rechte‘ zu genügen strebt (. . .). Dessenungeachtet kann dieser Maßstab an und für sich nur als ein sehr unbefriedigender betrachtet werden. Dennoch ist von der Verteilung des Stimmrechtes nach der Besteuerung ein richtiges Resultat zu erwarten, weil die Verhältnisse im großen und ganzen so gestaltet sind, wie in den ärmeren Mitgliedern der Staatsgesellschaft die größere Summe der physischen, so in den reicheren das höhere Maß der geistigen Kräfte zu liegen pflegt, und somit dasjenige Gewicht, welches man anscheinend dem materiellen Vermögen beilegt, – in der Tat der höheren Intelligenz zu gute kommt. Daß außerdem die Größe des Besitzes mehr oder weniger für das Interesse an dem diesen Besitz schützenden Staats-Organismus maßgebend ist, bedarf einer weiteren Ausführung nicht.“ 1538 Hier finden wir, abgesehen vom Argument der Bestechlichkeit, nunmehr alle wesentlichen Argumente vereint: Zunächst der Beitragsgedanke: die Pflicht, etwas zum Gedeihen des Staates in Form der Steuerleistung beizutragen, korrespondiert mit dem Wahlrecht als Recht im Staat (sog. Korrespondenztheorie). Sodann das Argument, das Vermögen und/oder Steuerleistung als meßbare Kriterien der Vernunft bzw. geistigen Kräfte der Bürger wertet; zuletzt das Argument eines proportionalen Anstiegs des Interesses am Gelingen des Staates mit zunehmendem Besitz (sog. Aktientheorie). Zur argumentativen Untermauerung der Dreiteilung der Wählerschaft wird in der Denkschrift – was wohl einer bloßen Behauptung näher kommt denn einer stichhaltigen Begründung1539 – neben den Argumenten, sie sei „die am wenigsten gehässige Art der Teilung“ und man wolle der Parteibildung nicht im Rahmen einer Zweiteilung Vorschub leisten, primär auf die „Erfahrung, daß sich in der Regel überall drei Hauptschichten der Bevölkerung nach dem Maße des Vermögens unterscheiden lassen“ 1540, verwiesen. Bezeichnenderweise ging weder die Denkschrift noch eine andere Regierungserklärung auch nur mit wenigen Worten auf die Frage der Vereinbarkeit der Oktroyierung des Wahlgesetzes mit der Verfassung ein.1541 Taktierend überließ die Regierung durch dieses Schwei1538 Denkschrift zitiert nach Gerlach, Geschichte (Fn. 34), S. 13, Hervorhebungen i. O., A. S.; hierzu auch Meyer, Wahlrecht (Fn. 20), S. 258. 1539 Kritisch hierzu Gerlach, Geschichte (Fn. 34), S. 16, der moniert, man habe erst gar keinen Versuch unternommen, diese „kuriose Dreiteilung“, die wohl eher einer bloßen „Fiktion“ gleichkomme, logisch zu begründen. 1540 Denkschrift zitiert nach Gerlach, Geschichte (Fn. 34), S. 13, Hervorhebungen i. O., A. S. 1541 Siehe ausführlich zur Problematik der heranzuziehenden Rechtsgrundlage für den Erlaß der Wahlrechtsverordnung (Art. 105 oder ohne Bezug auf das Notverord-

Kap. 5: Das Preußische Dreiklassenwahlrecht (1849–1918)

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gen über die Rechtfertigungsgrundlage des Erlasses der Wahlrechtsverordnung der Ersten Kammer „verfassungsrechtlich die positive Beweislast“ 1542. Sie war sich im Klaren darüber, daß man nicht zur ständischen Zusammensetzung des Landtages zurückkehren konnte, ein Zensus schien, aufgrund der Vorgänge in Frankreich, auch nicht gangbar. Der König schreckte insbesondere davor zurück, den „kleinen“ Leuten die bereits in Aussicht gestellte Teilnahme am politischen Leben wieder zu nehmen, so daß die politisch Verantwortlichen letztlich keine andere Möglichkeit als die Einteilung der Wähler in Steuerklassen sahen.1543 Die Einführung des Dreiklassenwahlrechts war folglich nicht mehr „als ein neuerlicher, allerdings höchst folgenreicher ad-hoc-Kompromiß“ 1544. II. Überlagerung der Auseinandersetzung mit dem normativen Regelungsgehalt des Dreiklassenwahlrechts durch Kompetenzfragen Ab September 1849 berieten die beiden Kammern über die Revision der Verfassung1545, im Rahmen derer auch die nachträgliche Genehmigung der Verordnung vom 30. Mai 1849 anstand. Auffällig ist, daß keiner der Abgeordneten auch nur den vorsichtigen Versuch unternahm, zum allgemeinen und gleichen (Männer-)Wahlrecht des vorangegangenen Wahlgesetzes vom 8. April 1848 zurückzukehren. Zudem sucht man nach einer ernsthaften inhaltlichen Debatte über den normativen Regelungsgehalt der Verordnung in beiden Kammern vergeblich. Die Angehörigen der Ersten Kammer schien die staatsrechtliche Fragestellung, ob die Regierung eine solche Verordnung aus kompetentieller Sicht überhaupt erlassen dürfe, mehr umzutreiben als die nach deren politischen Konsequenzen.1546 In der nur etwa drei Stunden dauernden Debatte haderte die Kammer mit dem Wahlrechtsoktroi, den es „einerseits politisch zu rechtfertigen, andererseits rechtlich zu sanktionieren“ 1547 galt. Man sah sich hier mit diffizilen, da vielschichtigen verfassungsrechtlichen Fragestellungen, wie dem Problem des vorzeitigen Vollzuges der Wahlrechtsverordnung, konfrontiert. Suchte man nungsrecht schlichte Berufung auf die „[. . .] in der gefahrvollen Lage des Staates begründete[n] Notwendigkeit“) Grünthal, Parlamentarismus (Fn. 1375), S. 115 ff. 1542 Grünthal, Parlamentarismus (Fn. 1375), S. 117. 1543 Gneist, Rechtsidee (Fn. 1364), S. 23 ff. 1544 Grünthal, Parlamentarismus (Fn. 1375), S. 71. 1545 Genauer in der 1. Kammer in der 35. Sitzung am 8. September 1849, abgedruckt in: Stenographische Berichte über die Verhandlungen der durch das Allerhöchste Patent vom 5. Dezember 1848 einberufenen Kammern. Erste Kammer, Bd. II, 1849, S. 631 ff. und in der 2. Kammer in der 17. Sitzung am 19. September 1849, abgedruckt in: Stenographische Berichte über die Verhandlungen der durch die Allerhöchste Verordnung vom 30. Mai 1849 einberufenen Zweiten Kammer, Bd. I, 1850, S. 325 ff. 1546 Meyer, Wahlrecht (Fn. 20), S. 258. 1547 Grünthal, Parlamentarismus (Fn. 1375), S. 118.

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Teil 3: Zensuswahlrecht in Deutschland

Art. 105 der revidierten Verfassung als Rechtsgrundlage des Oktrois zu bemühen, so hatten die beiden Kammern nachträglich ihre Genehmigung zu erteilen. In diesem Fall waren die bestehenden Kammern aber bereits aufgelöst worden, und so stimmten nunmehr Kammern über eben jene Genehmigung ab, die nach der vorzeitig in Vollzug gesetzten und ja gerade erst zu genehmigenden (!) Verordnung gewählt worden waren. Nach einer Ansicht war dieser Schaden irreversibel1548, was eine nicht geringe Anzahl von Abgeordneten, um der Abstimmung über die Genehmigung der Verordnung als Akt des Verfassungsbruches zu entgehen, dazu bewog, ihr Mandat niederzulegen1549. Die deutliche Mehrheit der Abgeordneten hatte die politische Notwendigkeit des Wahlrechtsoktrois jedoch verinnerlicht, sich von der Möglichkeit der verfassungsrechtlich sauberen Rechtfertigung des Oktrois aber bereits in Gedanken verabschiedet. Der Abgeordnete Stahl sprach vor diesem Hintergrund von einem „Standpunkt (. . .) einer höheren Gerechtigkeit“, den man nunmehr gegenüber dem „gewöhliche[n] Rechtsboden, der sich blos an das Aeußerliche des geschriebenen Gesetzes hält“, einnehmen müsse.1550 Dies belegt auch der offizielle Kommissionsbericht, in dem zur Rechtfertigung des Oktrois und dessen Genehmigung durch die Kammer allein angeführt wird, daß es „ein doppeltes Recht der Nothwendigkeit“ gäbe, „ein schwächeres, welches auf dem geschriebenen Recht, und ein stärkeres, welches auf dem ungeschriebenen Recht beruht“ 1551. In diesem Fall stehe die Notwendigkeit eben so letztlich über der geschriebenen Verfassung. Im Schlußwort des Berichterstatters Walter ist wie selbstverständlich von einer Art Logik der Notwendigkeit der Wahlrechtsoktroyierung die Rede. Aufgrund eben jener unterstellten Notwendigkeit der Wahlrechtsoktroyierung sei die Aufgabe, eine verfassungsrechtliche Rechtfertigung des Oktrois ausfindig zu machen, eine, die gelöst werden können müsse, eben weil sie gelöst werden müsse.1552 Im Ergebnis lobten die Kammermehrheit und der Kommissionsbericht die Verordnung wegen der Beseitigung erheblicher Mängel und stärkten damit die Regierungsposition hinsichtlich der Einführung des Dreiklassenwahlrechts.1553 1548 Siehe dazu Huber, Verfassungsgeschichte III (Fn. 1217), S. 51 („Da jedoch die Anwendung des Art. 105 im ganzen unzulässig war, entbehrte auch die ausgesprochene Genehmigung der Kammern der verfassungsrechtlichen Grundlage“). 1549 Zu diesen, seinen Kollegen, der Abgeordnete Gierke in der 34. Sitzung der Ersten Kammer am 7. September 1849, abgedruckt in: Stenographische Berichte Erste Kammer 1849 II (Fn. 1545), S. 617 f., rechte und linke Spalte. 1550 Siehe erneut die 34. Sitzung der Ersten Kammer am 7. September 1849, abgedruckt in: Stenographische Berichte Erste Kammer 1849 II (Fn. 1545), S. 622, rechte Spalte. 1551 Siehe abermals die 34. Sitzung der Ersten Kammer am 7. September 1849, abgedruckt in: Stenographische Berichte Erste Kammer 1849 II (Fn. 1545), S. 626, linke Spalte. 1552 Siehe ebd., S. 626, linke Spalte. 1553 Siehe ebd., S. 614 ff., linke Spalte.

Kap. 5: Das Preußische Dreiklassenwahlrecht (1849–1918)

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Der Abgeordnete von Camphausen beispielsweise hob darauf ab, daß das Dreiklassenwahlrecht die Gleichheit der politischen Teilnahmemöglichkeit in weitaus größerem Maße fördere als das allgemeine Wahlrecht, welches sie – ganz im Gegenteil – vollständig beseitige. Die nunmehr überwundene Privilegierung auf Grund von Geburt oder Grundeigentum dürfe nicht durch die unverhältnismäßige politische Bevorzugung einer anderen gesellschaftlichen Schicht ersetzt werden.1554 Schon am 7. September 1849, bevor sich die Abgeordneten der eigentlichen Verfassungsrevision zuwendeten, hatten sie die Verordnung bereits bestätigt.1555 Das Dreiklassenwahlrecht konnte sich mit deutlichen 13 zu 7 Stimmen durchsetzen.1556 Im Kommissionsbericht vom 13. Oktober 1849 wird – ähnlich wie im Immediatbericht des Staatsministeriums zuvor auch schon – auf die Kriterien des Besitzes, der Arbeit und der Intelligenz verwiesen, die deren Inhabern einen Anspruch auf Vertretung einräumen würden. Des Weiteren wird eher auf Allgemeinplätze verwiesen: So entspräche „die Ungleichheit in der Verteilung des Wahlrechts der in der Wirklichkeit vorhandenen Ungleichheit der Verhältnisse (. . .)“. Im Übrigen sei „politische Gleichheit aber der Tod der Freiheit (. . .)“ 1557. Die Angehörigen der Zweiten Kammer trauten sich indes die Beantwortung der Frage der Genehmigungsfähigkeit der Verordnung nur „gleichsam unter der Hand und verschämt als die vom Wahlrechtsoktroi direkt Betroffenen, zu dessen Legitimierung aber nur indirekt Berechtigten“ 1558, anzusprechen. Aufgrund des Umstandes, daß ihre eigene Wahl auf der Rechtsgrundlage der Verordnung vom 30. Mai 1849 beruhte, sahen sie sich als Institution letztlich einerseits außerstande, deren Rechtmäßigkeit ernsthaft in Frage zu stellen1559, andererseits schien die Vorstellung, daß die Zweite Kammer „eine Verordnung nachträglich zu legalisieren vermochte, der sie selbst ihre Existenz verdankte“ 1560, absurd. Ohne jegliche Diskussion stimmte das Gremium daher dem Erlaß der Verordnung schlicht mit der Begründung zu, daß „die Rechtfertigung der Verordnung vom 30. Mai schon in dem gebieterischen Drang der Verhältnisse gefunden werden müsse“ 1561. Beide Kammern behielten sich allerdings ausdrücklich die Möglichkeit einer Revision vor.1562

1554

Siehe ebd., S. 619, linke und rechte Spalte. Siehe ebd., S. 614 ff., linke Spalte. 1556 Siehe exemplarisch den Nachweis bei Gerlach, Geschichte (Fn. 34), S. 17. 1557 Gerlach, Geschichte (Fn. 34), S. 18, Hervorhebungen i. O., A. S. 1558 Grünthal, Parlamentarismus (Fn. 1375), S. 113. 1559 Siehe die 73. Sitzung der Zweiten Kammer vom 13. Dezember 1849, abgedruckt in: Stenographische Berichte über die Verhandlungen der durch die Allerhöchste Verordnung vom 30. Mai 1849 einberufenen Zweiten Kammer, Bd. III, 1850, S. 1690. 1560 Grünthal, Parlamentarismus (Fn. 1375), S. 123. 1561 Siehe abermals die Kammersitzung vom 13. Dezember 1849, Stenographische Berichte Zweite Kammer 1849 III (Fn. 1559), S. 1690, rechte Spalte. 1562 Meyer, Wahlrecht (Fn. 20), S. 259. 1555

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Teil 3: Zensuswahlrecht in Deutschland

III. Einführung des Dreiklassenwahlrechts als verfassungsrechtlich nicht zu rechtfertigende politische Notwendigkeit? Den offiziellen Dokumenten ist in der Gesamtschau gemein, daß sie – zumindest in weiten Teilen – um eine Rechtfertigung der Notwendigkeit der Einführung des Preußischen Dreiklassenwahlrechts ringen. Dennoch lassen insbesondere die zahlreichen, sich jeglicher Nachprüfbarkeit entziehenden Behauptungen, wie die angeblich naturgemäß auszumachenden drei Schichten der Bevölkerung, der pauschale Hinweis auf die tatsächlich ungleichen gesellschaftlichen Verhältnisse, die mit der ungleichen Verteilung des Wahlrechts korrespondieren würden, oder das mutmaßlich ohnehin ohne jegliche Begründung auskommende Argument, der Reichere habe ein größeres Interesse an der Förderung staatlicher Prosperität, darauf schließen, daß allen Beteiligten (König, Staatsministerium, Landtag) klar gewesen sein mußte, daß es sich bei diesem Wahlsystem eben gerade nicht um ein sich naturgemäß aufdrängendes Konstrukt handelte. Seine wesentlichen Bausteine, wie die Verknüpfung des Kriteriums der Steuerleistung mit dem Wahlrecht zum einen und die Einteilung der Wählerschaft in drei Klassen zum anderen, waren eben durchaus kritisier- und angreifbar und gerade deshalb rechtfertigungsbedürftig. Der Berichterstatter Beckerath gibt als einer der wenigen unumwunden zu, daß der Maßstab der Steuerleistung als Ausdruck des Lastentragungsgedankens für die Zuteilung des Wahlrechts ein „nicht ganz richtiger“ sei und bei strenger Betrachtung durchaus als „roher“ bezeichnet werden könne, da der Besitz allein nicht vollständig den Maßstab zum höchsten politischen Recht abgeben könne. Trotzdem habe die Erfahrung gelehrt, daß er eine Garantie für konservative Wahlergebisse gebe, und diese Richtung sei zum Wohle des Staates einzuschlagen.1563 Da die Einschätzung des Wahlrechtsoktrois als unausweichliche politische Notwendigkeit in Regierungskreisen und der Ersten Kammer konsensfähig war, fand man einen Weg, ihn rechtlich zu realisieren, oder kurzum: „Der Oktroi des Dreiklassenwahlrechts war – zieht man die Summe – rechtlich möglich, weil er politisch möglich war.“ 1564 Eine verfassungsrechtlich tragfähige Rechtsgrundlage für dessen Erlaß fand sich indes nicht.1565

1563

Zitiert nach Gerlach, Geschichte (Fn. 34), S. 19 f. Grünthal, Parlamentarismus (Fn. 1375), S. 125. 1565 Zur Frage, welche Bedeutung der Ersten Kammer als institutionelle preußische Ausnahmeerscheinung und ihrer parteipolitischen Soziologie im Kontext der Einführung und Rechtfertigung des Dreiklassenwahlrechts zukam, siehe S. 334 ff. 1564

Kap. 5: Das Preußische Dreiklassenwahlrecht (1849–1918)

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D. Phänomen einer jahrzehntelangen Verteidigung des Preußischen Dreiklassenwahlrechts als anachronistischem Relikt im Deutschen Reich I. Konfliktträchtiges Nebeneinander der diametral verlaufenden Wahlsysteme in Preußen und im Deutschen Reich Es stellt sich nunmehr die interessante Frage, warum das Dreiklassenwahlrecht als in der deutschen Wahlrechtsgeschichte einmaliges Phänomen trotz Einführung des allgemeinen und gleichen (Männer-)Wahlrechts auf Reichsebene bereits 1871, seinen Bestand insgesamt fast 70 Jahre zu verteidigen wußte, zählt es doch „zu den bemerkenswertesten politischen Inhomogenitäten, daß der größte Einzelstaat im Reich eine so verschiedene politische Organisationsform beibehalten hat“ 1566. Wenngleich die Entscheidung für ein abgestuftes Wahlrecht in Preußen bereits deutlich vor Etablierung des allgemeinen und gleichen (Männer-)Wahlrechts auf Reichsebene gefallen war, ist es doch erstaunlich, daß das Dreiklassenwahlrecht bis zum Ende des Ersten Weltkrieges 1918 bestehen blieb.1567 Es fand gerade keine Angleichung des Preußischen Wahlrechtes an das Reichstagswahlrecht statt, so daß unter gemeinsamem bundesstaatlichem Dach fast fünfzig Jahre lang zwei Wahlsysteme ihr Dasein nebeneinander fristeten, die vom Grundgedanken her hätten kaum unterschiedlicher angelegt sein können. Dieser Dualismus der Wahlrechtssysteme war „von einschneidender Wirkung auf das Verhältnis zwischen Reich und Preußen“, mündete schließlich sogar in einem „Auseinanderstreben der beiden Regierungen“ 1568. Insbesondere die Tendenz der übrigen Einzelstaaten des Reiches, ihre Wahlsysteme peu à peu nach den Vorgaben des Reichstagswahlrechtes umzugestalten, nährt die Vermutung, daß dem preußischen Staat besondere Alleinstellungsmerkmale zuteil wurden. Preußens Identität schien ihm das Selbstbewußtsein und die Standfestigkeit gegeben zu haben, das eigene Wahlrecht über Jahrzehnte hinweg und gegen jegliche sich mehrende agressive Kritik und geplante Reformmaßnahmen abzuschirmen und so letztlich zu konservieren. Wir stellen, um mit den Worten Haffners zu sprechen, etwas überspitzt die naheliegende Frage: „Was sollte man davon halten, daß in einer Zeit, in der alle anderen deutschen Staaten zum allgemeinen gleichen Wahlrecht übergingen, Preußen sich hartnäckig an seinem überlebten und verhaßten Dreiklassenwahlrecht aus den 1850er Jahren festbiß?“ 1569

1566

Meyer, Wahlsystem (Fn. 7), S. 101. Siehe exemplarisch die Hinweise bei Dreier (Fn. 13), Art. 20 (Demokratie) Rn. 15; Meyer, Wahlsystem (Fn. 7), S. 89 f.; Braunias, Wahlrecht (Fn. 961), S. 110. 1568 Beide Zitate bei Braunias, Wahlrecht (Fn. 961), S. 111. 1569 S. Haffner, Preußen ohne Legende, 3. Aufl. 1979, S. 343. 1567

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Teil 3: Zensuswahlrecht in Deutschland 1. Forderung der Substitution des Dreiklassenwahlrechts durch ein allgemeines und gleiches (Männer-)Wahlrecht aus der Politik

Über die Jahre wuchs die Erkenntnis, daß das Nebeneinander derart gegensätzlich verlaufender Wahlsysteme wie auf Reichsebene und in Preußen die politische Situation zusehens belastete, da „diese Konstellation der Institutionen höchst dysfunktional war“ 1570. Mit Sorge nahmen die meisten das „sich entwickelnde innenpolitische Spannungsfeld“ 1571 und insbesondere die wegen der unterschiedlichen Wahlsysteme stark voneinander abweichenden Mehrheitsverhältnisse im Reich und in Preußen und die daraus resultierende „Auseinanderentwicklung der beiden Parlamente“ 1572 zur Kenntnis. Auch den damaligen politischen Protagonisten mußte klar gewesen sein, „daß der aus dem allgemeinen Wahlrecht hervorgegangene Reichstag mit seiner immer radikaler werdenden Zusammensetzung die Reichsregierung im entgegengesetzten Sinne beeinflußt, wie das aus den Dreiklassenwahlen hervorgegangene Abgeordnetenhaus mit seiner den östlichen Grundbesitz bevorzugenden Wahlkreiseinteilung die preußische Regierung“ 1573. Unzählige Reden, gehalten im Reichstag oder im preußischen Abgeordnetenhaus, dokumentieren eine tiefe Abneigung gegenüber dem Preußischen Dreiklassenwahlrecht, ja verteufeln gar seine Existenz und sehnen nichts mehr als die Einführung des allgemeinen und gleichen Wahlrechts herbei. Der Abgeordnete Fuhrmann beispielsweise hielt im Dezember 1907 ein leidenschaftliches Plädoyer für die Übernahme des Reichstagswahlrechts in Preußen. Er führte entschlossen und voller Hingabe aus, es sei „das erstrebenswerteste Ziel, auch für den Landtag das allgemeine, gleiche, geheime und direkte Wahlrecht einzuführen. Ich mache aus diesem Wunsche gar kein Hehl. Ein elenderes, ungerechteres, verlotterteres Wahlrecht als das preußische Landtagswahlrecht gibt es nicht. In Preußen regiert heute nur der Geldsack, und den zu beseitigen, finden Sie mich allezeit bereit.“ 1574 Man denke zudem nur an Bismarcks berühmte, schon 1867 im Rahmen der Wahlrechtsberatungen im verfassunggebenden Reichstag gehaltene Haßtirade gegen das Preußische Dreiklassenwahlrecht.1575 Gerade Bismarck, der sich wohl als einer der wenigen damals überhaupt in der Machtposi1570

Rokkan, Wahlrecht (Fn. 1219), S. 92. Nöcker, Wählerentscheidung (Fn. 1453), S. 5. 1572 Born, Preußen (Fn. 1502), S. 35; ähnlich Braunias, Wahlrecht (Fn. 961), S. 111 („Auseinanderstreben der beiden Regierungen“). 1573 Siehe das Schreiben des Staatssekretärs des Innern Staatsminister Delbrück an den Reichskanzler von Bethmann Hollweg vom 18. November 1912, abgedruckt in: H. Goldschmidt, Das Reich und Preußen im Kampf um die Führung. Von Bismarck bis 1918, 1931, Nr. 108, S. 341. 1574 Zitiert nach Gerlach, Geschichte (Fn. 34), S. 208, Hervorhebungen i. O., A. S. 1575 Siehe hierzu bereits das ausführliche Zitat in und um Fn. 1295. 1571

Kap. 5: Das Preußische Dreiklassenwahlrecht (1849–1918)

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tion sah, die Einführung des allgemeinen und gleichen (Männer-)Wahlrechts in Preußen durchzusetzen, ist aufgrund seines politisch motivierten Zögerns zum (Haupt-)Verantwortlichen für den Dualismus der Wahlsysteme geworden. 2. Forderung der Substitution des Dreiklassenwahlrechts durch ein allgemeines und gleiches (Männer-)Wahlrecht aus der Wissenschaft

Auch Wissenschaftler der damaligen Zeit, wie Friedrich Meinecke, Max Weber oder die Staatsrechtslehrer Richard Thoma (1874–1957) und Gerhard Anschütz (1867–1948)1576, haben sich öffentlich und mit deutlichen Worten für eine umfassende Wahlreform in Preußen stark gemacht1577. Wegen des Ausschlusses breiter Bevölkerungsschichten von jeglicher politischer Partizipationsmöglichkeit hatte Anschütz das Wahlrecht unter dem Preußischen Dreiklassenwahlrecht als bloßes „Scheinrecht“ entlarvt und sodann mit Nachdruck die folgende unmißverständliche Forderung erhoben: „Soll das Erziehungswerk weiter fortschreiten, so müssen die dauernd wirksamen Ursachen der Staatsfeindlichkeit aus dem Wege geräumt, es muß in den Massen das Gefühl erhalten und vertieft werden, daß der Staat nicht eine ihnen fremde, sondern ihre Angelegenheit ist; es muß vor allem ein Wahlsystem beseitigt werden, das, indem es die breiten Massen des Volkes von der aktiven Teilnahme am Staate tatsächlich ausschließt, sie dahin brachte, sich innerlich vom Staate überhaupt auszuschließen, – ein Wahlsystem, das für die Angehörigen dieser Schichten noch Schlimmeres bedeutet als ein Unrecht, nämlich ein Scheinrecht.“ 1578 Als „unleugbar gehässigste Wirkung“ dieses Wahlrechts sei auszumachen, daß es „den breiten Massen des Volks, welche das letzte Drittel der direkten Steuern aufbringen, glatt unmöglich gemacht ist, Männer ihrer Klassenzugehörigkeit und ihres Vertrauens ins Parlament zu entsenden.“ 1579 Zudem widerspreche die indirekte und öffentlich-mündliche Wahl „allen Forderungen politischer Ethik. Es ist unge1576 Siehe zu dessen Leben und Wirken statt vieler E. Forsthoff, Gerhard Anschütz, in: Der Staat 6 (1967), S. 139 ff.; H. Dreier, Ein Staatsrechtslehrer in Zeiten des Umbruchs: Gerhard Anschütz (1867–1948), in: ZNR 20 (1998), S. 28 ff.; W. Pauly (Hrsg.), Gerhard Anschütz: Aus meinem Leben, 2. Aufl. 2008, S. 1 ff. 1577 Patemann, Kampf (Fn. 1320), S. 230. 1578 Anschütz, Wahlreform (Fn. 31), S. 275, Hervorhebung i. O., A. S.; Bezugnahme bei H. Dreier, Zerrbild Rechtspositivismus. Kritische Bemerkungen zu zwei verbreiteten Legenden, in: C. Jabloner u. a. (Hrsg.), Vom praktischen Wert der Methode. Festschrift Heinz Mayer zum 65. Geburtstag, 2011, S. 61 (67 f.); H.-R. Lipphardt, Die Gleichheit der politischen Parteien vor der öffentlichen Gewalt. Kritische Studie zur Wahl- und Parteienrechtsjudikatur des Bundesverfassungsgerichts, 1975, S. 105; W. Heun, Gerhard Anschütz (1867–1948). Vom liberalen Konstitutionalismus zur demokratischen Republik, in: S. Grundmann (Hrsg.), Festschrift 200 Jahre Juristische Fakultät der HumboldtUniversität zu Berlin. Geschichte, Gegenwart und Zukunft, 2010, S. 455 (468). 1579 G. Anschütz, Zur Entwicklung des öffentlichen Rechts in Preussen im Jahre 1906, in: Jahrbuch des öffentlichen Rechts der Gegenwart I (1907), S. 194 (201).

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Teil 3: Zensuswahlrecht in Deutschland

rechtes Recht, – kein Ruhmesblatt in der Verfassung eines Staates, der das suum cuique als Wappenspruch führt.“ 1580 Aus primär zwei Gründen1581 hielt Anschütz dessen Substituierung durch das allgemeine und gleiche Wahlrecht für unumgänglich und 1917 für unaufschiebbar: Erstens aus Sorge um die innere Einheit des Reiches. Damit auch die unteren Bevölkerungsschichten mit dem Staat eins sein, den Staat als ihre Institution anerkennen und eigene Angelegenheit begreifen könnten, schätze er die Beteiligung des gesamten Volkes an wesentlichen Entscheidungsfindungsprozessen als unerläßliche Bedingung ein. Zweitens konnte seiner Ansicht nach eine erstrebenswerte Einfügung Preußens in das deutsche Reich nur bei Angleichung der beiden Wahlsysteme gelingen.1582 Vor dem Hintergrund dieser auf die realen politischen Gegebenheiten begründeten Überlegungen erhebt er ein flammendes Plädoyer für die Abschaffung des Dreiklassenwahlrechts und Ersetzung durch das allgemeine und gleiche Reichstagswahlrecht: „Was uns, die wir das preußische Dreiklassensystem umwerfen und Gleichheitlichkeit des parlamentarischen Wahlrechts in Preußen und im Reiche herstellen wollen, in Atem hält und vorwärts treibt im Dienste unseres Programms, das sind nicht verfassungstheoretische Liebhabereien, demokratische Ziele, die um ihrer selbst willen anzustreben wären, das ist vielmehr die Sorge um die innere Einheit und damit um die äußere Macht des Reiches, nicht der Blick auf irgendein ,Naturrecht‘ – wann und wo hätte es das je gegeben? –, sondern auf Staatsnotwendigkeiten von drängendster Wucht.“ 1583 Um die „ethische[n] Minderwertigkeit des Dreiklassensystems“ auch nur annähernd umschreiben zu können, sei im Übrigen „kein Ausdruck scharf genug“ 1584. Dabei ging seine Abscheu gegenüber dem System so weit, daß er sich nicht einmal auf eine Diskussion mit denen einlassen wollte, „welche die Bemessung der staatsbürgerlichen Rechte ausschließlich nach dem Geldsack für gerecht, ja (. . .) für ,geradezu ideal‘ halten, (. . .) nicht weil ich mich für unfähig hielte, sondern weil ich es ablehne, sie eines anderen zu überzeugen“ 1585. Anschütz war klar, daß der dem Reiche zunehmend schadende und dessen Entwicklung hin zu einem eigenständigen und starken Organismus hemmende Dualismus 1580

Anschütz, Gedanken (Fn. 1461), S. 53, Hervorhebungen i. O., A. S. Siehe zu diesen beiden Gründen erläuternd auch K. Groh, Demokratische Staatsrechtslehrer in der Weimarer Republik. Von der konstitutionellen Staatslehre zur Theorie des modernen demokratischen Verfassungsstaats, 2010, S. 289 f. 1582 Anschütz, Wahlreform (Fn. 31), S. 2 f. In aller Deutlichkeit auch ebd., S. 8: „Das Dreiklassensystem muß fallen schon allein deshalb, weil es einen unnatürlichen und unerträglichen Gegensatz zwischen Preußen und dem Reich hervorruft und dauernd aufrecht erhält.“ 1583 Zitat Anschütz, Wahlreform (Fn. 31), S. 2. Siehe auch den Verweis hierauf bei W. Pauly, Zu Leben und Werk von Gerhard Anschütz, in: ders. (Hrsg.), Gerhard Anschütz: Aus meinem Leben, 2. Aufl. 2008, S. XI (XXVIII mit Fn. 87). 1584 Anschütz, Wahlreform (Fn. 31), S. 7. 1585 Anschütz, Wahlreform (Fn. 31), S. 7. 1581

Kap. 5: Das Preußische Dreiklassenwahlrecht (1849–1918)

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von Reich und Preußen nur durch die endgültige Beseitigung des Dreiklassenwahlrechts ein Ende finden würde.1586 Daß sich Preußen als Gliedstaat dem Wahlrechte des Reiches anzupassen hatte, stand für den Staatsrechtler außer Frage.1587 Hinsichtlich seines bereits angedeuteten Zieles, ausnahmslos allen Bürgern das Wahlrecht zuteil werden zu lassen, erweist sich der Anschützsche Ansatz gar als revolutionär für seine Zeit, will er das Wahlrecht doch allein von der Staatsangehörigkeit abhängig machen und gänzlich vom Leistungs- und Verdienstprinzip entkoppeln: „So hört man, und nicht nur von ganz rechts Stehenden, häufig den Tadel, daß das Reichstagswahlrecht kein ,Wahlrecht nach Leistung‘ sei. Dem liegt (. . .) die Anschauung zugrunde, als sei im modernen Volksstaat das Recht, zur Volksvertretung zu wählen und gewählt zu werden, ein Entgelt für besondere Verdienste, die sich der Berechtigte um den Staat erworben hat. Diese Anschauung, die lediglich beweist, wie stark das politische Denken unserer höheren Klassen noch immer von absolutistischen Vorstellungen durchsetzt ist, ist völlig verkehrt. Das Wahlrecht ist nicht eine Belohnung von Leistungen für den Staat, sondern einfach ein Ausdruck der Mitgliedschaft am Staat.“ 1588 Zudem ergebe sich in Zusammenhang mit der Leistungstheorie immer das seiner Einschätzung nach nicht in befriedigender Weise zu lösende Folgeproblem, einen gerechten Verteilungsschlüssel finden zu müssen. Zur Illustration dieser Problematik wirft er folgende Fragen auf, denen sich das Dreiklassenwahlrecht stellen muß: „Wieso leistet der Ärmere, der doch auch seine Steuerlast trägt, dem Gemeinwesen in einem anderen als einem roh quantitativen Sinne weniger als der Reiche, der in der glücklichen Lage ist, höhere Steuern zahlen zu können? Wie will man es einleuchtend machen, daß die für das Stimmgewicht entscheidende Leistung des Arbeiters geringer ist als die des Unternehmers, die des Bauern kleiner als die des Großgrundbesitzers?“ 1589 Als grundsätzlich unzulässig stuft Anschütz daher Wahlsysteme ein, die einer Klasse als solche eine Privilegierung verschafften. Zulässig seien hingegen Bevorzugungen innerhalb des Systems, die an Eigenschaften anknüpfen, die von jedem Bürger erworben werden könnten, wie beispielsweise ein höheres Lebensalter, Verheiratung, eine bestimmte Anzahl von Kindern, abgeleisteter Militärdienst oder ehrenamtliche Tätigkeiten.1590 Den Zauderern hinsichtlich der Einführung des allgemeinen und gleichen Wahlrechts riet er ganz pragmatisch an, „bevor wir uns den Kopf darüber zerbrechen, wie dem vorzubeugen sei, daß der Baum der deutschen Demokratie in den Himmel wächst, wollen wir diesen Baum doch erst pflanzen, wollen 1586 Hierzu heißt es bei ihm bedingungslos: „das Übel muß an der Wurzel gefaßt, die Heterogenität der Parlamente muß beseitigt werden, indem man ihre Ursache, die Verschiedenheit der Wahlrechte, beseitigt“, siehe Anschütz, Wahlreform (Fn. 31), S. 18. 1587 Anschütz, Wahlreform (Fn. 31), S. 18. 1588 Anschütz, Wahlreform (Fn. 31), S. 21. 1589 Siehe ebd., S. 22. 1590 So ebd., S. 33 f.

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Teil 3: Zensuswahlrecht in Deutschland

wir die Demokratie erst einmal haben“ 1591. Die Etablierung des allgemeinen und gleichen Wahlrechts in Preußen sei nicht nur eine Frage der Gerechtigkeit, sondern eine „Notwendigkeit“. Dieses Wahlrecht sei die „Macht, welche werben und wirken soll für die Einheit von Staat und Volk und für den Sieg des Reichsgedankens über den mächtigsten seiner partikularistischen Widerstände“. Nur so sei man in der Lage, „in Preußen eine Parteiherrschaft zu brechen, die einerseits die breiten Massen des Volkes dem Staate entfremdet, ja geradezu verfeindet, andererseits den preußischen Staat in einen dem Geist der Reichsverfassung, dem Wesen des Bundesstaates stracks zuwiderlaufenden Gegensatz zum Reiche bringt (. . .)“ 1592. Auch bei Anschütz’ Kollegen und Freund Richard Thoma (1874–1957)1593 spielte die Frage nach der Ausgestaltung des Wahlrechts eine entscheidende Rolle1594. Unter moderner Demokratie verstand er „die politische Emanzipation der ökonomischen und sozialen Unterschicht“ 1595 und sah daher die Leistung des demokratischen Parteienstaates im 19. und 20. Jahrhundert im Vergleich zu anderen Parteienstaaten gerade darin begründet, „den modernen Staat, der bis dahin eine Domäne der besitzenden Klassen gewesen war, auf die Basis des allgemeinen und gleichen Wahlrechts zu stellen“ 1596. Erst mit Etablierung eines allgemeinen und gleichen Stimmrechts werde aus einem Staat ein demokratischer Staat, der sich von anderen „Privilegienstaaten“ 1597 in diesem einen ausschlaggebenden Punkt unterscheide. Thoma wurde folglich nicht müde, die bedingungslose Notwendigkeit eines allgemeinen und gleichen Wahlrechts als konstituierendes Merkmal der Demokratie herauszuschälen und dessen Realisierung nachdrücklich einzufordern. Demokratisch ist für ihn „ein Staat in dem Maße, als sein Staatsrecht alle Schichten des Volkes zum gleichen Wahl- und eventuell Stimmrecht beruft und alle Herrschaftsgewalt unmittelbar oder mittelbar auf dieser

1591

Anschütz, Wahlreform (Fn. 31), S. 24. Zitate abermals Anschütz, Wahlreform (Fn. 31), S. 26. 1593 Siehe zu dessen Leben und Wirken statt vieler H. Dreier, „Unbeirrt von allen Ideologien und Legenden“ – Notizen zu Leben und Werk von Richard Thoma, in: ders. (Hrsg.), Thoma (Fn. 43), S. XIII ff. 1594 Der Gedanke der Selbstherrschaft des Volkes findet sich bei Thoma hingegen nur andeutungsweise, siehe dazu C. Schönberger, Elitenherrschaft für den sozialen Ausgleich: Richard Thomas „realistische“ Demokratietheorie im Kontext der Weimarer Diskussion, in: C. Gusy (Hrsg.), Demokratisches Denken in der Weimarer Republik, 2000, S. 156 (165 ff.). 1595 R. Thoma, Über Wesen und Erscheinungsformen der modernen Demokratie, 1948, S. 7. 1596 Thoma, Wesen (Fn. 1595), S. 6 f. 1597 Zu deren Charakterisierung führt Thoma klarstellend aus: „Privilegienstaaten sind alle Staaten mit Sklaven- oder Hörigenwirtschaft, und im übrigen alle Staaten, von der absoluten Erbmonarchie bis zur beinahe demokratisierten Republik mit modernem Zensus- oder Klassenwahlrecht“, siehe ders., Begriff (Fn. 43), S. 44. 1592

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Grundlage aufbaut, was Freiheit der Presse, der Versammlungen und der Vereinigungen notwendig in sich schließt“ 1598. Wenn sich spätestens um die Jahrhundertwende die überwältigende Mehrheit der Politiker, Staatsrechtslehrer und des Volkes, das seine Ablehnung des Preußischen Dreiklassenwahlrechts durch flächendeckende Wahlenthaltungen demonstrativ zum Ausdruck gebracht hatte1599, einig darin war, daß das Dreiklassenwahlrecht als überholtes Relikt der Reaktionszeit, als eine Art Anomalie zu klassifizieren und der unsägliche Dualismus der Wahlrechtsordnungen, eine politische Inhomogenität, um größeren Schaden vom Reiche abzuwenden, umgehend abzuschaffen sei, warum sollte es dann noch bis 1918 dauern bis sich auch in Preußen ein allgemeines und gleiches Wahlrecht durchzusetzen vermochte? II. Ursachen des fast 70-jährigen Fortbestandes des Preußischen Dreiklassenwahlrechts 1. Die vier identitätsstiftenden Pfeiler des preußischen Elitebewußtseins

a) Preußisches Selbstbewußtsein als größter Teilstaat des Deutschen Reiches Preußen war mehr als doppelt so groß wie die übrigen Staaten des Reiches zusammengenommen.1600 Im und nach dem Zeitpunkt der Reichsgründung lebten mehr als 60 % der Reichsbevölkerung1601 hier1602. Als des Reiches größter Bundesstaat galt er zugleich als der wichtigste1603, und dies war seinen Einwohnern auch durchaus bewußt. Doch die Größe und Stärke Preußens allein auf dessen territoriale Sonderstellung zurückführen zu wollen, würde viel zu kurz greifen. Preußen war „nicht nur von anderer Größe, sondern von anderer Art“ 1604, wie von Treitschke bemerkt, und so bestand von jeher eine Art „Spannungsverhältnis zwischen dem auf seiner Identität und selbständigen politischen Hand1598 R. Thoma, § 16: Das Reich als Demokratie, in: G. Anschütz/ders. (Hrsg.), Handbuch des Deutschen Staatsrechts, Bd. I, 1930, S. 186 (190). 1599 Siehe hierzu S. 312 ff. 1600 Anschütz, Reichsverfassung (Fn. 1213), S. 25; zum „ziffernmäßigen Uebergewicht“ als eine Art „natürliche Basis“ der Hegemonialstellung Preußens im Reich siehe auch den Aufsatz Militärstaat und Bürgerstaat, in: Frankfurter Zeitung, Sonderdruck 1914, S. 5 (14). 1601 H.-J. Puhle, Preußen: Entwicklung und Fehlentwicklung, in: ders./H.-U. Wehler (Hrsg.), Preußen im Rückblick, 1980, S. 11 (35); Born, Preußen (Fn. 1502), S. 55. Zudem war das Bevölkerungswachstum hier auch noch größer als in den meisten anderen Teilstaaten des Reiches, ebd., S. 55. 1602 Ritter, Arbeitsbuch (Fn. 895), S. 132. 1603 Ritter, Arbeitsbuch (Fn. 895), S. 132. 1604 Treitschke, Politik II (Fn. 18), S. 340.

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lungsfähigkeit beharrenden Preußen und dem neuen Reich“ 1605. Das preußische Volk fühlte sich in ganz besonderer Weise mit dem Vaterland verbunden, und so ging „diese Liebe auch tiefer, gewiß, als sie sonstwo der Bürger dem Staate gegenüber empfand. Sie war gepaart mit berechtigtem Stolz und bei denjenigen Elementen, auf denen sein Aufstieg in erster Linie beruht hatte, mit dem festen Willen, seine Eigenart auch in dem neuen Deutschland aufrecht zu erhalten.“ 1606 Doch woher rührte dieses im Vergleich zu den anderen Bundesstaaten extrem stark ausgeprägte preußische Selbstbewußtsein, der Stolz auf die eigene Identität1607 und die scheinbar selbstverständliche Hingabe und Ehrerbietung der Preußen gegenüber ihrem Heimatstaat? b) Preußisches Selbstbewußtsein als historisch gewachsenes Phänomen Dieses teilweise fast schon an Selbstherrlichkeit grenzende Selbstverständnis liegt zunächst schon in der preußischen Historie begründet. Als nicht neu geschaffener, sondern auf eine lange Tradition1608 und stolze Geschichte1609 zurückblickender „erobernder Staat“ 1610, war man hier seit der Thronbesteigung durch Friedrich den Großen 1740 an die innerdeutsche Großmachtstellung neben Österreich, die auch im Deutschen Bund – wenngleich mit Hauptgewicht auf Österreich – andauern sollte1611, gewöhnt.

1605 L. Gall, Zwischen Preußen und dem Reich. Bismarck als Reichskanzler und preußischer Ministerpräsident. W. Bußmann zum 70. Geburtstag, in: O. Hauser (Hrsg.), Zur Problematik „Preußen und das Reich“, 1984, S. 155 (157). 1606 A. Wahl, Deutsche Geschichte. Von der Reichsgründung bis zum Ausbruch des Weltkriegs (1871–1914), Bd. 1, 1926, S. 117. Im Übrigen attestiert Wahl dem preußischen Staat als einem der wenigen neben dem englischen noch einen „ausgeprägten Charakter (. . .), während fast alle übrigen Länder Europas sich dem Urbrei näherten“ (ebd., S. 5). Theodor Fontane bemerkt 1898 hingegen spöttisch zur Überhöhung Preußens: „In unserer Obersphäre herrscht außerdem eine naive Neigung, alles ,Preußische‘ für eine höhere Kulturform zu halten“ (T. Fontane, Der Stechlin [1899], 1992, Kapitel 29). 1607 Zur ganz grundlegenden Fragestellung nach der Existenz einer einheitlichen preußischen Identität bzw. noch genereller nach einem homogenen preußischen Staat siehe B. Mann, Das Herrenhaus in der Verfassung des preußisch-deutschen Kaiserreichs. Überlegungen zum Problem Parlament, Gesellschaft und Regierung in Preußen 1867–1918, in: G. A. Ritter (Hrsg.), Gesellschaft, Parlament und Regierung. Zur Geschichte des Parlamentarismus in Deutschland, 1974, S. 279 (280 f. m.w. N.). 1608 Die einzelnen territorialen Entwicklungsstufen Preußens nachzeichnend W. Hubatsch, Preußen und das Reich, in: O. Hauser (Hrsg.), Zur Problematik „Preußen und das Reich“, 1984, S. 1 (2 ff.). 1609 Treitschke, Politik II (Fn. 18), S. 340. 1610 Haffner, Preußen ohne Legende (Fn. 1569), S. 341. 1611 Hubatsch, Preußen und das Reich (Fn. 1608), S. 8 f.

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Zudem war die sog. borussische Schule1612 sehr darum bemüht, die Thesen von der europäischen Großmachtstellung1613 und der Errichtung des deutschen Nationalstaates als historischer Aufgabe Preußens zu verbreiten. Ihr Begründer, Johann Gustav Droysen (1808–1884), betonte insbesondere in seiner mehrbändigen „Geschichte der preußischen Politik“, die zwischen 1855 und 1886 erschien, ohne Unterlaß die angeblich seit Jahrhunderten bestehende deutsche Bestimmung Preußens, dessen Herrschern stets bewußt gewesen sei, daß preußische Interessen zugleich deutsche Interessen seien.1614 Zur Gründungsriege der borussischen Schule gehörten des Weiteren u. a. Heinrich von Sybel (1817–1895) und Heinrich von Treitschke (1834–1896), die ebenso wie Droysen die 1857 ins Leben gerufenen Preußischen Jahrbücher nutzten, um ihre Leitgedanken vom deutschen „Beruf Preußens“ 1615 zu verbreiten. Gemein war ihnen dabei in der Regel die grundsätzliche Skepsis gegenüber demokratischen Tendenzen, die Bekämpfung des allgemeinen Wahlrechts und die Überzeugung vom Erfordernis eines mächtigen, von der Einflußnahmemöglichkeit der Bürger möglichst abgekoppelten Staates.1616 Die borussische Schule steigerte so den preußischen Ehrgeiz und das Selbstbewußtsein, das Hegemonialstreben und das Gefühl, der für das Reich unverzichtbare Strippenzieher zu sein, um ein Beträchtliches.1617 Man formte so das Geschichtsbild des „borussisch-neudeutsche[n] Nationalismus, dessen gesinnungsmilitaristische und machtselige Haltung“ 1618 Preußen später im Reaktionismus erstarren und letztlich in der Bedeutungslosigkeit untergehen ließ. Vor allem die These einer preußischen Großmachtstellung scheint indes mehr als fraglich, übersieht sie doch ganz bewußt die besonderen außenpolitischen Bedingungen, die den Bedeutungszuwachs Preußens erst ermöglichten.1619 Selbst Bismarck, der stets bestrebt war, die herausragende Rolle Preußens gegenüber den anderen Teilstaaten zu unterstreichen, urteilte in Bezug auf eine eventuelle preußische Großmachtstellung realistisch-kritisch: „Die Eigenschaft einer Groß-

1612 Siehe hierzu exemplarisch A. Doering-Manteuffel, Die deutsche Frage und das europäische Staatensystem 1815–1871, 3. Aufl. 2010, S. 53 ff.; knapp Wehler, Gesellschaftsgeschichte I (Fn. 11), S. 529. 1613 So auch beispielsweise Wahl, Geschichte (Fn. 1606), S. 117. 1614 Doering-Manteuffel, Frage (Fn. 1612), S. 53. 1615 Siehe dazu W. Hardtwig, Von Preußens Aufgabe in Deutschland zu Deutschlands Aufgabe in der Welt. Liberalismus und borussianisches Geschichtsbild zwischen Revolution und Imperialismus, in: ders. (Hrsg.), Geschichtskultur und Wissenschaft, 1990, S. 103 (103). 1616 Doering-Manteuffel, Frage (Fn. 1612), S. 53. 1617 Gerade die Begeisterung für militärische Erfolge Preußens trieb nahezu „bizarre Blüten“, so Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte III (Fn. 401), S. 297. 1618 H.-O. Sieburg, Die deutsche Geschichtswissenschaft des 19. Jahrhunderts, in: J. Scheschkewitz (Hrsg.), Geschichtsschreibung. Epochen – Methoden – Gestalten, 1968, S. 110 (125 f.). 1619 Born, Preußen (Fn. 1502), S. 40.

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macht konnten wir uns vor 1866 nur cum grano salis beimessen“. Preußen sei nur „nominell eine Großmacht, jedenfalls die fünfte“ 1620. Auch wenn Preußen sich tatsächlich erst kurz vor Einbuße seiner Autarkie mit dem Attribut Großmacht schmücken durfte1621, war es in den Köpfen der meisten vaterlandsergebenen Bewohner schon seit jeher eine gewesen. Worauf man sich zudem verständigen kann, ob tatsächliche oder nominelle Großmacht sei dahingestellt, ist, daß Preußen zumindest den Ehrgeiz einer Großmacht seit Friedrich dem Großen verinnerlicht hatte1622. Dieses Selbstverständnis scheint mindestens genauso wichtig wie die faktische Größe Preußens. c) Preußisches Selbstbewußtsein als Militärstaat Das herausragende preußische Selbstbewußtsein wurzelte zudem im omnipräsenten und straff hierarchisch organisierten Militärwesen1623, dem schon von verfassungswegen her eine exklusive Sonderstellung eingeräumt wurde. Die sog. Kommandogewalt war in Preußen „extrakonstitutionelles“, man könnte auch sagen „vorkonstitutionelles Reservat“ 1624. Gemäß der preußischen Verfassung von 1850 hatte der König zwar den Oberbefehl über das Heer1625, und der innerstaatliche militärische Einsatz war an die Voraussetzungen einer bestimmten Gefahrenlage geknüpft1626, kraft Gewohnheitsrecht betrachtete man alle Maßnahmen unter Oberbefehl aber als von der Gegenzeichnungspflicht entbunden1627 und mithin der Einflußnahmemöglichkeit durch das Parlament entzogen. Des Weiteren wurde das Heer nicht auf die Verfassung vereidigt.1628 Weite Teile des preußischen Militärwesens verblieben folglich auch nach dem Übergang zur konstitutionellen Monarchie bewußt außerhalb des verfassungsrechtlichen Einflußbe1620 Beide Zitate nach Gedanken und Erinnerungen, Bd. I, 1898, S. 276, 290; dazu Born, Preußen (Fn. 1502), S. 36 (Preußen hätte als kleinste und schwächste Macht der Pentarchie europäischer Großmächte angehört). 1621 Born, Preußen (Fn. 1502), S. 40. 1622 Born, Preußen (Fn. 1502), S. 41. 1623 Siehe hierzu ausführlich Wehler, Gesellschaftsgeschichte I (Fn. 11), S. 244 ff. 1624 Beide Formulierungen bei Böckenförde, Verfassungstyp (Fn. 735), S. 153. Dazu auch Puhle, Preußen (Fn. 1601), S. 27. 1625 Siehe Art. 46 der Preußischen Verfassung vom 31. Januar 1850: Der König führt den Oberbefehl über das Heer, zitiert nach Huber (Hrsg.), Dokumente 1 (Fn. 8), Nr. 194 (Nr. 168), S. 505. 1626 Art. 36: Die bewaffnete Macht kann zur Unterdrückung innerer Unruhen und zur Ausführung der Gesetze nur in den vom Gesetze bestimmten Fällen und Formen und auf Requisition der Civilbehörden verwendet werden. In letzterer Beziehung hat das Gesetz die Ausnahmen zu bestimmen (abgedruckt ebd., S. 504). 1627 E. R. Huber, Heer und Staat in der deutschen Geschichte, 2. Aufl. 1943, S. 198; ders., Verfassungsgeschichte III (Fn. 1217), S. 76 f. 1628 Art. 108 Abs. 2 lautet schlicht: „Eine Vereidigung des Heeres auf die Verfassung findet nicht statt“, zitiert nach Huber (Hrsg.), Dokumente 1 (Fn. 8), Nr. 194 (Nr. 168), S. 514.

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reichs, und „der ,preußische Soldatenstaat‘ hatte so neben dem „bürgerlichen Verfassungsstaat“ in der Tat seine Realität“ 1629. Der gut funktionierende Militärapparat hatte es Preußen erlaubt, sich als Verteidiger und Beschützer des ganzen Reiches zu gerieren.1630 Die Anhänger der borussischen Schule suchten natürlich auch dieses Selbstbild Preußens als Beschützer des verletzlichen Reiches in die Köpfe der Menschen einzubrennen.1631 Die Preußen blickten traditionell voller Stolz auf ihr Offizierskorps, huldigten es als „ein Heldengeschlecht von ausgesprochenem Stil, das sich ebenbürtig oder überlegen neben jedes andere in der Weltgeschichte stellen konnte“ 1632. Die Verklärung geschichtlicher Ereignisse, gepaart mit der Überzeichnung der Macht des preußischen Heeres, mündeten schließlich in „die gewaltige Überschätzung der Bedeutung des Militärs und der Kampfkraft der preußisch-deutschen Armee in der Führungsschicht und im Bildungsbürgertum des Wilhelminischen Deutschlands“ 1633, die sich natürlich auf Soldaten und das gesamte preußische Offizierskorps übertrug. Selbst Bismarck sah sich von der auswuchernden „Hybris des Generalstabs“ 1634 alamiert und schrieb besorgt in einem Brief an seine Frau: „ihm [dem Generalstab, A. S.] ist der Erfolg kaiserwahnsinnig in die Krone ge-

1629 Böckenförde, Verfassungstyp (Fn. 735), S. 153. Dazu auch Teil I. Preußischer Soldatenstaat und bürgerlicher Konstitutionalismus der Monographie von C. Schmitt, Staatsgefüge und Zusammenbruch des zweiten Reiches. Der Sieg des Bürgers über den Soldaten (1934). Herausgegeben, mit einem Vorwort und mit Anmerkungen versehen von G. Maschke, 2011, S. 5 ff. (siehe hier insbes. S. 9: „Das Heer blieb der Kern des preußischen Staates; es war nicht nur, wie man oft gesagt hat, ein „Staat im Staate“; es war der Staat im Staate“, Hervorhebung i. O., A. S.). 1630 So heißt es beispielsweise in den Briefen Friedrichs des Großen an seine Schwester Wilhelmine 1756/57: „man soll nicht sagen, es fehle in Deutschland an Verteidigern, solange noch ein Preuße lebt“, zitiert nach W. Elze, Friedrich der Große. Geistige Welt – Schicksal – Taten, 3. Aufl. 1942, S. 108. 1631 Siehe exemplarisch Johann Gustav Droysen, der nicht müde wurde, die Mission Preußens für das Reich geschichtlich zu begründen und daraus weiterzuentwickeln, hierzu Hardtwig, Aufgabe (Fn. 1615), S. 106 ff. oder Ludwig Häusser, der 1862 die These vertrat, das Reich sei ab 1648 außerstande gewesen, sich selbst zu verteidigen, was daraufhin die Landesfürsten übernommen hätten und keine hätten diese Aufgabe so erfolgreich und zuverlässig bewältigen können wie die Hohenzollern, dazu Born, Preußen (Fn. 1502), S. 39. 1632 Wahl, Geschichte (Fn. 1606), S. 5. Er prangert an, daß diese besondere Tapferkeit und Diszipliniertheit des preußischen Offizierskorps oft verkannt und zu sehr unterschätzt worden sei: „Es hatte schon die ganze ästhetische Erbärmlichkeit des vorangegangenen Zeitalters dazu gehört, die Stilreinheit, den wunderbar ausgesprochenen Charakter dieser preußischen junkerlichen oder der junkerlichen Art angeglichenen Offiziere nicht zu sehen, und wie alles, was zugleich bedeutend und eigenartig ist, mit sympathischem Interesse zu betrachten.“ 1633 Born, Preußen (Fn. 1502), S. 41. 1634 Born, Preußen (Fn. 1502), S. 41; zu eben jenem militärischen Übermut siehe zudem Militärstaat (Fn. 1600), S. 7 und zu dessen Ursachen Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte III (Fn. 401), S. 883.

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fahren, und ich ängstige mich oft, daß diese anmaßende Selbstüberschätzung an uns noch gestraft werden wird (. . .)“ 1635. Das Militärwesen machte indes auch vor der zivilen Gesellschaft keinen Halt, denn es „lebte und bestand in der Idee, daß der Staat sozusagen ihm gehöre. Der Staat mitsamt seinen Bürgern erschien ihm wie eine Sache, die erst durch seine Waffentaten geworden war (. . .). Die Urzelle dieses Staates war nicht der Bürger, sondern der Soldat.“ 1636 Allen voran das Bildungsbürgertum zollte dem Offizierskorps höchsten Respekt, adaptierte voller Bewunderung den militärischen Wertekodex und Habitus1637, so daß mit Recht von einer „Militarisierung des Zivillebens“ 1638 gesprochen werden kann, die der konservativen politischen Herrschaftselite mehr als gelegen kam: „Für die herrschenden Klassen übernahm der Sozialmilitarismus eine hochwillkommene Disziplinierungsfunktion. Für die Konservativen hielt die gepanzerte Faust des Staates jenen Schutzschild, der die überkommene Gesellschaftsordnung abschirmte.“ 1639 Man führte in Preußen so de facto ein „Leben in permanenter Kriegsanalogie“ 1640. Die zwei Jahre dauernde allgemeine Wehrpflicht tat ihr Übriges, wurde der „,preußische Soldatenstaat‘ praktisch zur Erziehungsschule der Nation. Er bildete Geist und Gesinnung der Menschen, bevor sie als Bürger in die Gesellschaft ein- bzw. zurücktraten“ 1641. Nicht selten ist Preußen daher pauschal als „Träger des Militarismus und der Reaktion in Deutschland“ 1642 aufs Schärfste angegangen worden, dies nicht zuletzt, weil man der Dominanz des Militärs in Preußen in einigen Kreisen eine große Mitschuld am Aufkommen des Nationalsozialismus einräumt. In keinem anderen Teilstaat des Deutschen Reiches1643 wurde dem Militärwesen innerhalb

1635 Siehe Bismarck an seine Gattin vom 22. November 1870, abgedruckt in: H. Rothfels (Hrsg.), Bismarck-Briefe, 2. Aufl. 1955, Nr. 230, S. 365 (366). 1636 Zitat aus Militärstaat (Fn. 1600), S. 6. 1637 Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte III (Fn. 401), S. 881 ff.; Born, Preußen (Fn. 1502), S. 69. 1638 H. Möller, Wie aufgeklärt war Preußen?, in: H.-J. Puhle/H.-U. Wehler (Hrsg.), Preußen im Rückblick, 1980, S. 176 (190); siehe dazu auch Wehler, Gesellschaftsgeschichte I (Fn. 11), S. 253; zudem den Aufsatz von K. Schwieger, Militär und Bürgertum. Zur gesellschaftlichen Prägkraft des preußischen Militärsystems im 18. Jahrhundert, in: D. Blasius (Hrsg.), Preußen in der deutschen Geschichte, 1980 und Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte III (Fn. 401), S. 483. 1639 Zitat Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte III (Fn. 401), S. 882. 1640 Puhle, Preußen (Fn. 1601), S. 18. 1641 Böckenförde, Verfassungstyp (Fn. 735), S. 153. 1642 Die Formulierung ist dem Gesetz Nr. 46 des Alliierten Kontrollrates in Deutschland über die Auflösung des Staates Preußen vom 25. Februar 1947 entnommen; Bezugnahme auf diese Wendung bei M. Görtemaker, Das Ende Preußens 1933–1947, in: J. H. Schoeps (Hrsg.), Preußen. Geschichte eines Mythos, 2. Aufl. 2001, S. 198 (198). 1643 Auch im Reich selbst wurde dem Militärwesen eine Sonderrolle zuteil, siehe Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte III (Fn. 401), S. 854 ff., wobei das deutsche

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der Gesellschaft eine nur annähernd identitätsstiftende und exklusive Bedeutung zuteil, eine Gewalt, die sich aufs Grauenhafteste entlud: „Ein einzigartiges Beispiel dafür, wie das Militär seit dem frühen 18. Jahrhundert eine extreme Bedeutungssteigerung erfuhr, bildet Preußen, das sich in dieser Hinsicht von allen andern deutschen Staaten scharf unterschied und bis zur Hitlerschen Kriegsrüstung seit 1933 bzw. zur sowjetischen Rüstungspolitik nach 1945 die folgenreichste Weichenstellung in Europa vorgenommen hat.“ 1644 d) Preußisches Selbstbewußtsein als Beamtenstaat Neben die Pfeiler der rein faktischen territorialen Größe, der besonderen Historie und dem Selbstbewußtsein als vorbildlich funktionierender Militärstaat, tritt als vierter Pfeiler die das gesamte Gesellschaftsbild prägende Bürokratisierung Preußens hinzu.1645 Ebenso wie das Militärwesen kann auch die dortige Bürokratie auf eine lange Tradition zurückblicken. Anders als beispielsweise in den angelsächsischen Ländern entwickelte sich in Preußen bereits lange vor der Industrialisierung1646, die sich etwa in den 1830er Jahren herausbildete, eine einflußreiche und mit Bedacht organisierte Bürokratie1647, die sich – „von der dynastischen Spitze her geschaffen und diszipliniert“ – schnell zum „Motor des Staates“ 1648 aufschwang und diesen in eine Art „bürokratisierte[n] Anstaltsstaat“ 1649 verwandelte. Wie im Militär bündelte sich in Preußen in der Beamtenschaft die Elite des Landes1650, denn seit der Regentschaft Friedrich Wilhelms I. hatten intelligente, begabte und besonders ehrgeizige Bürgerliche im Rahmen der büroHeer ohnehin fast dem preußischen identisch zu sein schien. Das Offizierskorps genoß das Ansehen des Ersten Stands im Staat, ebd., S. 881. 1644 Wehler, Gesellschaftsgeschichte I (Fn. 11), S. 246. 1645 Zur „Schlüsselstellung“ der Bürokratie siehe instruktiv Wehler, Gesellschaftsgeschichte I (Fn. 11), S. 254 ff. 1646 Diese sollte wegen der primär agrarischen Prägung Preußens lange Zeit hinter dem Industrialisierungsgrad der meisten anderen Teilstaaten liegen und so den Übergang zur Industriegesellschaft verzögern, siehe hierzu Born, Preußen (Fn. 1502), S. 56. Faktoren wie Bürokratisierung, Disziplinierung und Intervention des Staates konnten die in Preußen nicht existenten Vorbedingungen der Industrialisierung zunächst wett machen, dazu Puhle, Preußen (Fn. 1601), S. 19. Zum Durchbruch der deutschen Industriellen Revolution siehe statt vieler Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte III (Fn. 401), S. 66 ff. 1647 J. Kocka, Vorindustrielle Faktoren in der deutschen Industrialisierung. Industriebürokratie und „neuer Mittelstand“, in: M. Stürmer (Hrsg.), Das kaiserliche Deutschland. Politik und Gesellschaft 1870–1918, 1970, S. 265 (266); zur Bürokratie als Machtträgerin auf Reichsebene siehe Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte III (Fn. 401), S. 857 ff. 1648 Beide Zitate bei Puhle, Preußen (Fn. 1601), S. 18. 1649 Wehler, Gesellschaftsgeschichte I (Fn. 11), S. 335. 1650 Zu dieser Elite jüngerer Beamter im preußischen Staatsdienst siehe Huber, Verfassungsgeschichte I (Fn. 9), S. 101; Ritter, Arbeitsbuch (Fn. 895), S. 25.

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kratischen Laufbahn Karriere gemacht1651. Dies war bei weitem keine zufällige Entwicklung, sondern Ergebnis gezielter Sondierungspolitik, ausschließlich die fähigsten Preußen in den Beamtenstatus zu erheben.1652 Die Bürokratisierung Preußens setzte sich in den politischen Gremien fort. So erreichte die seit 1849 stetig expandierende Bürokratisierung des preußischen Parlaments mit den Wahlen von 1855 ihren Zenit, nach denen 35 % der Abgeordnetensitze an politische Beamte fielen.1653 2. Das Dreiklassenwahlrecht als Stütze überkommener gesellschaftlicher Herrschaftsstrukturen

a) Preußische Elite als Hort des Konservatismus und Bollwerk gegen Reformen Daß das Militärwesen ebenso wie die Bürokratie mit ihren besonderen Treueverhältnissen, straffen Hierarchien und dem das Elitebewußtsein bestärkenden Vaterlandspathos Horte des Konservatismus waren1654 und mithin den Prozeß der Parlamentarisierung tendenziell hemmten1655, dürfte auf der Hand liegen. Doch ist damit die Frage, warum gerade das Preußische Dreiklassenwahlrecht seinen Bestand fast 70 Jahre lang verteidigen konnte, nicht zufriedenstellend beantwor1651 J. C. G. Röhl, Beamtenpolitik im Wilhelminischen Deutschland, in: M. Stürmer (Hrsg.), Das kaiserliche Deutschland. Politik und Gesellschaft 1870–1918, 1970, S. 287 (287). Dies ging wiederum mit einer Ausweitung und Stärkung der Rolle des Bildungsbürgertums einher, siehe dazu Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte III (Fn. 401), S. 125 ff. 1652 Man beachte nur die unzähligen Regularien, die die Eignung der Beamten und so die Sondierung der begabten Elite zu gewährleisten suchten. Im Preußischen Allgemeinen Landrecht heißt es z. B. im Zehnten Titel. Von den Rechten und Pflichten der Diener des Staats, II. Civilbeamte, § 70: Es soll Niemandem ein Amt aufgetragen werden, der sich dazu nicht hinlänglich qualificirt, und Proben seiner Geschicklichkeit abgelegt hat (zitiert nach Allgemeines Landrecht für die Preußischen Staaten [1794]. Im Auftrage des Justiz-Ministers mit Anmerkungen und einem ergänzenden Nachtrage herausgegeben von Schering, Bd. IV, 2. Aufl. 1869, S. 23); in Titel II. Von den Rechten der Preußen, Art. 4 der Preußischen Verfassung von 1850: „Die öffentlichen Aemter sind, unter Einhaltung der von den Gesetzen festgestellten Bedingungen, für alle dazu Befähigten gleich zugänglich“ (zitiert nach Huber [Hrsg.], Dokumente 1 [Fn. 8], Nr. 194 [Nr. 168], S. 501) oder in einer Instruktion der Regierung vom 23. Oktober 1817, die die Behörden in Preußen aufforderte, „bei den Anstellungen stets mit strenger Prüfung und Unparteilichkeit (zu) verfahren und mehr auf Treue, Fleiß und Geschicklichkeit, als auf Dienstalter (zu) sehen“, zitiert nach Röhl, Beamtenpolitik (Fn. 1651), S. 287. 1653 Grünthal, Parlamentarismus (Fn. 1375), S. 446. 1654 F. Meinecke, Die Reform des preußischen Wahlrechts, in: Annalen für soziale Politik und Gesetzgebung 5 (1917), S. 1 (14: „ist der konservative Einfluß im preußischen Beamtenstaate nun einmal notorisch sehr mächtig“); Boldt, Konstitutionalismus (Fn. 1269), S. 127. 1655 Röhl, Beamtenpolitik (Fn. 1651), S. 288; Boldt, Konstitutionalismus (Fn. 1269), S. 127.

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tet. Es reicht nicht, ein möglichst konservatives und reaktionäres Bild vom preußischen Staat zu entwerfen, um dann einen Automatismus zwischen diesem Entwurf und dem Fortdauern des Dreiklassenwahlrechts zu konstruieren. Auch wenn die Politik Bismarcks stets darauf ausgerichtet war, Preußen genau in diese Rolle zu drängen, ein „Bild von Preußen als dem Bollwerk der Reaktion, dem Junkerstaat, dem Hort des Militarismus und der antidemokratischen Kräfte“ 1656 nachzuzeichnen, zu viele Beispiele anderer Teilstaaten des Reiches, ebenfalls von konservativer Couleur, in denen sich ein Dreiklassenwahlrecht nicht so lange zu halten vermochte1657, widerlegen die These vom Automatismus zwischen konservativem Staat und Dreiklassenwahlrecht. Um diese Zusammenhänge besser verstehen zu können, ist nach den Interdependenzen zwischen Militärwesen und Beamtentum auf der einen und (Verfassungs-)Entwicklung Preußens auf der anderen Seite zu fragen.1658 Insbesondere der Bürokratie wächst in diesem komplizierten Geflecht von Tendenzen der Modernisierung wie der Reaktion eine paradoxe Rolle zu: Nachdem der ständisch gegliederte Feudalstaat zerbrochen war, wurde sie „zum Initiator und Leiter eines grundlegenden Wandels der Staatsverfassung, des Sozialgefüges und des Wirtschaftssystems“ 1659. Während die bürokratischen Reformmaßnahmen so den Grundstein für den Wiederaufbau des preußischen Staates legten, die Herausbildung einer bürgerlichen Gesellschaft erst möglich machten und deren Entwicklung auch weiterhin kontrollierten1660, versuchte eben jene bürgerli1656 Gall, Zwischen Preußen und dem Reich (Fn. 1605), S. 164. Eine derartig einspurige Beschränkung des preußischen Staates auf nur wenige spezifische Charakterzüge erweist sich indes als viel zu kurzgreifend, führt man sich die Komplexität dieses Staatsgebildes vor Augen; siehe zu diesem Befund statt vieler O. Büsch, Aspekte des Preußenbildes und ihre Rezeption, in: ders. (Hrsg.), Das Preußenbild in der Geschichte. Protokoll eines Symposions, 1981, S. 3 ff. 1657 Auch in den konservativen und machtbewußten Staaten wie beispielsweise Württemberg, Baden und Bayern wurde 1904 bzw. 1906 das allgemeine und gleiche Wahlrecht eingeführt, siehe H.-J. Puhle, Parlament, Parteien und Interessenverbände 1890– 1914, in: M. Stürmer (Hrsg.), Das kaiserliche Deutschland. Politik und Gesellschaft 1870–1918, 1970, S. 340 (350 m.w. N.). 1658 Aus der Fülle an Literatur zu diesem Themenkomplex statt aller H.-J. Puhle, Agrarische Interessenpolitik und preußischer Konservatismus im wilhelminischen Reich (1893–1914). Ein Beitrag zur Analyse des Nationalismus in Deutschland am Beispiel des Bundes der Landwirte und der Deutsch-Konservativen Partei, 1966; R. Koselleck, Preußen zwischen Reform und Revolution. Allgemeines Landrecht, Verwaltung und soziale Bewegung von 1791 bis 1848, 1967; Rosenberg, Demokratisierung (Fn. 273), S. 459 ff.; knapp E. Fraenkel, Historische Vorbelastungen des deutschen Parlamentarismus (1960), in: ders. (Hrsg.), Deutschland und die westlichen Demokratien, 3. Aufl. 1964, S. 13 (24 ff.). 1659 Kocka, Vorindustrielle Faktoren (Fn. 1647), S. 266. 1660 Koselleck, Preußen (Fn. 1658), S. 153 ff.; das Verdienst der preußischen Reformen um die Errichtung eines leistungsfähigen Staates kurz anreißend H.-U. Wehler, Theorieprobleme der modernen deutschen Wirtschaftsgeschichte (1800–1945). Prolegomena zu einer kritischen Bestandsaufnahme der Forschung und Diskussion seit 1945,

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che Gesellschaft zusehens, sich aus der Übermacht der Bürokratie zu lösen1661. Den Unmut der bürgerlichen Gesellschaft schürten vor allem die Bevormundung der Bürokraten durch den großgrundbesitzenden Adel und die rücksichtslose Durchsetzung von Herrschaftsinteressen durch die Elite der Beamtenschaft selbst.1662 Viele hatten das Gefühl, sich mühsam und langwierig aus den Fesseln des absolutistischen Regimes befreit zu haben, um diese nun gegen die nicht minder einschränkende Unterdrückung der übermächtigen Bürokraten eingetauscht zu haben: „So trat an die Stelle des Aufgeklärten Absolutismus der sehr viel konsequentere bürokratische Absolutismus einer Schicht aufgeklärter Beamter“ 1663. In Preußen bestätigte sich nunmehr die These Max Webers, daß in einem modernen Staat die wirkliche Herrschaft notwendig und unvermeidlich in den Händen des militärischen wie zivilen Beamtentums liege.1664 Nicht nur diesem subjektiven Empfinden entsprechend, sondern auch de facto infiltrierte die Bürokratie das gesamte preußische Wirtschafts- und Gesellschaftsleben1665, sicherten sich Verwaltungsbehörden schon „um 1800 einen festen Platz im Verbund der Machteliten“ 1666. Bürokratie und Industrie vermischten sich, denn viele Beamte waren gleichzeitig unternehmerisch tätig.1667 Und so entwickelte sich Preußen hin zu einer Gesellschaft, „in der das Bild des Beamten aus Macht, Bildung, Pflichtethos und sozialer Sicherheit für viele erstrebenswert schien, in der das ausgeprägte Selbstbewußtsein des Beamten seine Parallele in weitverbreiteter Anerkennung fand und in der bürokratische Organisations- und Verhaltensmuster offenbar hoch an-

in: G. A. Ritter (Hrsg.), Entstehung und Wandel der modernen Gesellschaft. Festschrift für Hans Rosenberg zum 65. Geburtstag, 1970, S. 66 (85). 1661 Kocka, Vorindustrielle Faktoren (Fn. 1647), S. 266. 1662 Siehe ebd., S. 266. 1663 Freiherr von Aretin, Vom Deutschen Reich zum Deutschen Bund (Fn. 704), S. 121; zu diesem „Beamtenabsolutismus“ auch Wehler, Gesellschaftsgeschichte I (Fn. 11), S. 234, 257. Bei aller Kritik hieran dürfe man aber die deutliche Verbesserung im Vergleich zum ständischen Absolutismus nicht unter den Tisch fallen lassen, siehe ders., Deutsche Gesellschaftsgeschichte III (Fn. 401), S. 471. 1664 Siehe M. Weber, Parlament und Regierung im neugeordneten Deutschland. Zur politischen Kritik des Beamtentums und Parteiwesens (1918), in: J. Winckelmann (Hrsg.), Gesammelte politische Schriften. Mit einem Geleitwort von Theodor Heuss, 2. Aufl. 1958, S. 294 (308). 1665 Dazu T. Parsons, Democracy and Social Structure in Pre-Nazi Germany (1942), in: ders. (Hrsg.), Essays in sociological theory, 1954, S. 104 (110 f.); über die Beamtenschaft als „Rückgrat des deutschen Systems sozialer Schichtung“ R. Dahrendorf, Gesellschaft und Demokratie in Deutschland, 1965, S. 89 f. 1666 Wehler, Gesellschaftsgeschichte I (Fn. 11), S. 265. 1667 Kocka, Vorindustrielle Faktoren (Fn. 1647), S. 268. Preußischen Beamten ist beispielsweise die Einführung der modernen Eisenindustrie und der Dampfmaschine in Deutschland zu verdanken, siehe F. Redlich, Der Unternehmer. Wirtschafts- und sozialgeschichtliche Studien, 1964, S. 251.

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gesehen waren“ 1668. (Aus-)Bildung wurde so mehr und mehr zu einer Art „Ritterschlag der Neuzeit“ 1669. Ebenso wie das Militärwesen ermöglichte auch die Bürokratie die Konservierung einiger ständischer Relikte. Beamte wie Soldaten und Offiziere waren zur „standesgemäßen Lebensführung“ 1670 angehalten und erhielten keinen Lohn, sondern eine Vergütung, die der Staat als einer standesgemäßen Lebensführung entsprechend erachtete. Zudem beanspruchte das Militär in Preußen für sich nach wie vor eine besondere Form der Gerichtsbarkeit, die sog. Militärgerichtsbarkeit.1671 Trotz ihrer beachtlichen Verdienste um die Reorganisation Preußens und ihrer daraus zunächst erwachsenden Machtstellung mußte auch die Bürokratie Krisenzeiten meistern, sich insbesondere gegen Revolutionsversuche zur Wehr setzen. Es galt Verbündete zu finden, und hier bot sich zum einen zunächst das besitzende Bürgertum an, das in Sorge vor einem Erstarken des durch die Industrialisierung entstandenen Proletariats eine Liaison mit der Obrigkeit einzugehen bereit war.1672 Zum anderen rückten feudale Gruppierungen als potentielle Verbündete in den Fokus. Dies galt verstärkt ab 1875, mit Beginn der zweiten Phase der Industrialisierung, in der die Regierung vermehrt Lenkungspolitik betrieb und sich in das wirtschaftliche Geschehen einmischte, so daß das liberale Bürgertum als Verbündeter wegfiel1673. Für Bündnisse offen zeigten sich insbesondere aristokratische Großgrundbesitzer1674, Junker, die nach wie vor einen eigenen Stand bildeten und sich durch ein besonderes Standesbewußtsein miteinander verbunden fühlten1675. Die Allianz mit den adeligen Großgrundbesitzern war wohl die unverzichtbarste, weil stabilste, denn der alte Adel vermochte in Preu1668 Kocka, Vorindustrielle Faktoren (Fn. 1647), S. 269; Wehler, Gesellschaftsgeschichte I (Fn. 11), S. 330. 1669 Wehler, Gesellschaftsgeschichte I (Fn. 11), S. 213. 1670 Siehe Born, Preußen (Fn. 1502), S. 60. 1671 Born, Preußen (Fn. 1502), S. 60; Wehler, Gesellschaftsgeschichte I (Fn. 11), S. 249. 1672 Kocka, Vorindustrielle Faktoren (Fn. 1647), S. 267; siehe zu den Interessenverschränkungen von preußischen Großgrundbesitzern, Beamtenschaft, Militärstab und Industriellen auch W. Zorn, Wirtschafts- und sozialgeschichtliche Zusammenhänge der deutschen Reichsgründungszeit (1850–1879), in: H.-U. Wehler (Hrsg.), Moderne deutsche Sozialgeschichte, 1966, S. 254 (258 ff.). Zur Liaison der Schwerindustriellen mit dem bürokratischen Obrigkeitsstaat siehe auch Weber, Parlament (Fn. 1664), S. 337. 1673 Vogel/Nohlen/Schultze, Wahlen (Fn. 40), S. 109. Zum endgültigen Bruch zwischen Bismarck und den Nationalliberalen kam es dann im Herbst 1878, siehe ebd., S. 113; sowie zur protektionistischen Agitation des Reiches Wehler, Imperialismus (Fn. 1213), S. 102 ff. 1674 Zur besonderen Verbundenheit des preußischen Adels mit Grund und Boden als Grundlage ihrer politischen Vormachtstellung siehe auch Wehler, Gesellschaftsgeschichte I (Fn. 11), S. 142. 1675 Born, Preußen (Fn. 1502), S. 62.

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ßen den mit Abstand größten politischen Einfluß auszuüben1676 und dominierte daher auch das Militär und die Verwaltung1677. Im Agrarstaat Preußen1678 stimmte die sozial und wirtschaftlich von der Klasse der Rittergutsbesitzer abhängige Wählerschaft notgedrungen im Sinne ihrer Dienstherren ab1679. Es formierte sich „– ähnlich wie in Großbritannien – eine Führungsschicht, deren Kern der alte Adel war, die sich aber ständig durch die begabtesten Sprossen aus den Kreisen des Bürgertums ergänzte. Die oberste Leitung von Diplomatie, Verwaltung und Heer blieben mit wenigen Ausnahmen dem alten Adel vorbehalten. Je höher der Rang, desto stärker der Anteil der Aristokratie“ 1680. Den Landadeligen, die politische Rechte einbüßen mußten und die fortan im Militär oder Beamtenstab ihren Dienst verrichteten, wurde die Sicherstellung der Berücksichtigung ihrer wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Interessen sowie die Beibehaltung der autarken Herrschaft über ihre Gutsbezirke zugesagt.1681 Krone, Verwaltung und Militär, nicht das Parlament, wirkten zugunsten der Konservativen1682 auf die preußische Wählerschaft ein1683. Zudem versah „für die konservative Partei in Preußen seit dem Ministerium PUTTKAMER der Landrats- und Amtsvorste1676 Der alte Adel machte im Abgeordnetenhaus in den letzten 66 Jahren des Königreichs konstant ein Viertel oder ein Fünftel der Gesamtzahl von Abgeordneten aus, siehe N. v. Preradovich, Die Führungsschichten in Österreich und Preußen (1804– 1918). Mit einem Ausblick bis zum Jahre 1945, 1955, S. 158. Dies ist besonders bemerkenswert, wenn man bedenkt, daß diese Abgeordneten im Gegensatz zu den Angehörigen des Herrenhauses gewählt und nicht ernannt wurden und das Herrenhaus ja als die eigentliche Machtzentrale der Aristokratie galt. Zum altpreußischen Landadel, dessen Problemen und wie er dennoch aufgrund seiner immensen wirtschaftlichen, sozialen und politischen Machtfülle seine Vorrangstellung auch unter dem allgemeinen Wahlrecht zu bewahren vermochte, siehe P. Molt, Der Reichstag vor der improvisierten Revolution, 1963, S. 82 ff.; Gilg, Erneuerung (Fn. 961), S. 34. Im Übrigen war es den Adeligen in Preußen überdurchschnittlich gut gelungen, ihre Existenz sicherzustellen, so daß von den etwa 20.000 adeligen Familien im gesamten Reich etwa 13.000 dort angesiedelt waren, siehe H. Henning, Die unentschiedene Konkurrenz. Beobachtungen zum sozialen Verhalten des norddeutschen Adels in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, 1994, S. 29 ff. 1677 Gilg, Erneuerung (Fn. 961), S. 14, 34. 1678 Siehe zur Entwicklung des Agrarkapitalismus in Preußen Wehler, Gesellschaftsgeschichte I (Fn. 11), S. 83 ff. 1679 Büsch, Gedanken (Fn. 1465), S. 128. 1680 Preradovich, Führungsschichten (Fn. 1676), S. 162. Ähnlich auch Born, Preußen (Fn. 1502), S. 63; Nipperdey, Geschichte I (Fn. 800), S. 334. Zur monarchisch-adeligbürokratischen Allianz schon ab 1815, siehe Wehler, Gesellschaftsgeschichte II (Fn. 792), S. 297 ff. 1681 Puhle, Preußen (Fn. 1601), S. 18; Wehler, Gesellschaftsgeschichte I (Fn. 11), S. 228. 1682 Der Konservatismus war „die politische Richtung, die in Preußen zu Hause war, weil sie dem Sozialmilieu der Träger seines Herrschaftskartells entsprach, (. . .)“, so Puhle, Preußen (Fn. 1601), S. 32; in diesem Sinne auch H. Rosenberg, Große Depression und Bismarckzeit. Wirtschaftsablauf, Gesellschaft und Politik in Mitteleuropa, 1967, S. 153. 1683 Büsch, Gedanken (Fn. 1465), S. 134.

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herapparat des Staates, einerlei ob offen oder verhüllt, die Dienste der Parteibürokratie“ 1684. Nun darf aber keinesfalls der Eindruck dreier separater und voneinander abgeschirmter nebeneinanderstehender Blöcke aus Militär, Verwaltung und Adel entstehen, denn Gegenteiliges war der Fall: das eine bedingte in der Regel das andere.1685 Adelige absolvierten gewöhnlich eine militärische Laufbahn und bekleideten die höchsten militärischen Posten, genauso wie hohe Beamte oft einen adeligen Hintergrund1686 und damit einhergehende besondere Bildung aufweisen konnten: „Grundbesitz mit verwaltungsrechtlichen Privilegien, ein fast ausschließlicher gesellschaftlicher Kontakt mit dem Monarchen, eine bis zum Monopol gehende Bevorzugung bei der Besetzung höherer und höchster Stellen in Regierung, Verwaltung und Armee, eine von weiten Schichten des Volkes faktisch anerkannte traditionelle Autorität (. . .): das waren die Machtgrundlagen der preußischen Aristokratie“ 1687. Zwischen 1888 und 1914 waren durchschnittlich 27 % aller Landräte, 34 % aller Regierungs- und sogar 38 % der Oberpräsidenten von adeliger Abstammung. 1860 befanden sich 65 % des Offizierskorps fest in adeliger Hand, 1913 stellte der Adel immerhin noch ein Drittel der preußischen Offiziere1688, und ausnahmslos alle Ministerpräsidenten seit der Reichsgründung bis zum Ersten Weltkrieg waren Adelige1689. Die Gruppen vermischten sich1690, es 1684 Weber, Parlament (Fn. 1664), S. 316, Hervorhebung i. O., A. S. Zum Ämtermonopol der konservativen Parteien in Preußen siehe ebd., S. 329. 1685 Pointiert bei Puhle, Preußen (Fn. 1601), S. 20: „Die Offiziere bekamen Prestige, weil sie von Adel waren, der Adel behielt sein Ansehen, weil er dem König diente und von ihm ausgezeichnet und belohnt wurde, primär in der Armee, aber eng daran angelehnt auch in der zivilen Verwaltung, vor allem im Landratsamt und in den Provinzialverwaltungen. Das preußische Herrschaftskartell war fertig.“ 1686 Hohe Beamte waren oft Angehörige der Gutsbesitzerklasse, siehe Schissler, Junker (Fn. 1277), S. 103. 1687 Gilg, Erneuerung (Fn. 961), S. 37; dazu auch Puhle, Preußen (Fn. 1601), S. 28. 1688 Zahlen nach Preradovich, Führungsschichten (Fn. 1676), S. 112, 131. Siehe auch die ausführlichen tabellarischen Übersichten zur Herkunft der Ober- und Regierungspräsidenten sowie der Landräte ebd., S. 111 ff. und zur preußischen Generalität ab 1806 ebd., S. 135 ff. Zu den Zahlen das Militär betreffend auch Born, Preußen (Fn. 1502), S. 63; K. Demeter, Das deutsche Offizierkorps in Gesellschaft und Staat 1650–1945, 4. Aufl. 1965, S. 29 ff. und zur Dominanz des Adels in den hohen militärischen Positionen schon unter Friedrich Wilhelm I. Wehler, Gesellschaftsgeschichte I (Fn. 11), S. 250; eine noch stärkere Ausprägung fand die Dominanz des Adels nur in der Auswahl für den diplomatischen Dienst, siehe dazu W. Conze, Sozialgeschichte 1850–1918, in: H. Aubin/W. Zorn (Hrsg.), Handbuch der deutschen Wirtschafts- und Sozialgeschichte, Bd. II, 1976, S. 602 (645). 1689 Born, Preußen (Fn. 1502), S. 64. 1690 Schon zu Zeiten des Absolutismus „hatte das Junkertum sich aufgespalten in einen ständig sich erneuernden Guts-, Offiziers-, Beamtenadel (. . .)“ und „Geburtsaristokratie, Rangaristokratie, Geldaristokratie und Geistesaristokratie zusammen bildeten nunmehr die herrschende Klasse, die Elite der Nation (. . .)“, siehe Rosenberg, Demokratisierung (Fn. 273), S. 460; zur Vermischung der Gruppen auch Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte III (Fn. 401), S. 717.

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bestand ein reger Austausch untereinander1691, und gewöhnlich deckten sich politische und ökonomische Interessen. Teilweise bestand diese Interessenkongruenz sogar hinsichtlich der Anliegen von Adeligen und Bürgerlichen1692, aber nur sofern die Bürgerlichen zum Gutsbesitzer aufgestiegen und damit gleichsam „feudalisiert“ 1693 worden waren. Erst diese „Feudalisierung“ 1694 des Großbürgertums ermöglichte die Gründung einer Interessengemeinschaft aus Adeligen und Großbürgern, geeint im Kampf gegen den gemeinsamen Feind, die Anhänger der Arbeiterbewegung. Zudem steigerte diese Feudalisierung das preußische Elitebewußtsein um ein Beträchtliches, denn das „Eindringen in die alten Herrscherschichten befriedigte den Geltungsdrang, das Prestigebedürfnis und die Eitelkeit der bürgerlichen Karrieremacher, deren Frühvertreter oft noch stolz darauf gewesen waren, daß sie es auch als Nichthochwohlgeborene ,geschafft‘ hatten“ 1695. Gemeinsames Ziel der aus Adeligen wie Nicht-Adeligen bestehenden Führungsschicht bestand in der Verteidigung des gesellschaftlichen und politischen, auf ihre Bedürfnisse zugeschnittenen status quo1696, so daß diese Allianz aus Militär, Bürokratie und Adel „sozialkonservatives und antidemokratisches Denken auf verhängnisvolle Weise genährt“ 1697 hat. Auch deshalb verharrte Preußen jahrzehntelang in Reform-, ja gar Modernisierungsunfähigkeit, denn diese Konservierung politischer und gesellschaftlicher Strukturen mündete in „eine reaktionäre Verhärtung nicht nur der gesellschaftlichen Führungsschichten, sondern auch und vor allem der preußischen Bürokratie und ihrer ministeriellen Spit-

1691 Zur Interaktion und Vernetzung der Gruppen untereinander siehe zudem bereits in und um Fn. 1685. 1692 Schissler, Junker (Fn. 1277), S. 102. 1693 Born, Preußen (Fn. 1502), S. 65; diese Feudalisierung ergriff indes natürlich nicht alle wohlhabenden Unternehmer, siehe Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte III (Fn. 401), S. 720 f. 1694 Der Terminus findet sich u. a. bei K. E. Born, Wirtschafts- und Sozialgeschichte des Deutschen Kaiserreichs (1867/71–1914), 1985, S. 82; zum Drang „nach oben“ eben jener Bevölkerungsgruppen siehe F. Zunkel, Der Rheinisch-Westfälische Unternehmer 1834–1879. Ein Beitrag zur Geschichte des deutschen Bürgertums im 19. Jahrhundert, 1962, S. 99 (107 f.); zum Aufstieg Bürgerlicher zu (Groß-)Grundbesitzern siehe auch Wehler, Gesellschaftsgeschichte I (Fn. 11), S. 151 und zum Zorn des alten Adels, des Junkertums über deren Aufstieg, siehe ders., Gesellschaftsgeschichte II (Fn. 792), S. 153. 1695 Rosenberg, Demokratisierung (Fn. 273), S. 471; zum Eindringen Bürgerlicher in Verwaltung, Gerichtswesen und (vereinzelt) in das Offizierskorps Wehler, Gesellschaftsgeschichte I (Fn. 11 ), S. 151. 1696 Born, Preußen (Fn. 1502), S. 66; zu diesem „Herrschaftskompromiß“ zwischen Adel, Monarch und Bürokratie auch Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte III (Fn. 401), S. 167. 1697 G. Birtsch, Zur sozialen und politischen Rolle des deutschen, vornehmlich preußischen Adels am Ende des 18. Jahrhunderts, in: R. Vierhaus (Hrsg.), Der Adel vor der Revolution. Zur sozialen und politischen Funktion des Adels im vorrevolutionären Europa, 1971, S. 77 (90).

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zen“ 1698. Durch die attraktive, weil lukrative Möglichkeit intelligenter Bürgerlicher, in Militär oder gehobener Verwaltung Karriere machen zu können, wurden den demokratischen wie liberalen politischen Strömungen außerdem potentielle Anhänger, ja sogar etwaiges Führungspersonal entzogen, was deren Durchsetzungsmöglichkeiten natürlich zusätzlich schwächte und den Demokratisierungsprozeß merklich hemmte.1699 b) Instrumentalisierung des Dreiklassenwahlrechts zur Verteidigung der Hegemonialstellung der Landeselite Wie bereits ausgeführt „blieben die traditionellen Herrschergruppen des Hohenzollernstaates, die Großgrundbesitzerklasse, das Offizierkorps und die höhere Zivilbürokratie, die Spitzen der Gesellschaft und die eigentlichen politischen Machthaber“ 1700. Gerade in Preußen hätte die offensichtliche Diskrepanz, „der säkulare Gegensatz zwischen einer durch die Industrielle Revolution in Richtung auf die numerische Dominanz sozial und wirtschaftlich abhängiger industrieller Unterschichten verwandelten Gesellschaftsstruktur und einer größtenteils noch von vorindustriell-ständischen Eliten getragenen Herschaftsstruktur“ 1701 wohl kaum deutlicher zu Tage treten können. Das Dreiklassenwahlrecht wiederum privilegierte eben jene herrschende Schicht1702 und bildete daher ebenfalls einen unverzichtbaren Teil ihrer Herrschaftsgrundlage. Nicht ohne Grund hatten sich neben dem König die Großgrundbesitzer für die Einführung des Dreiklassenwahlrechts stark gemacht1703. Jetzt galt es, dieses System, das sich für ihre Zwecke als äußerst nützlich erwiesen hatte, auch gegen die Forderung der Übernahme des allgemeinen und gleichen Reichstagswahlrechts nach Kräften zu schützen.1704 Neben das Motiv einer Verteidigung des Dreiklassenwahlrechts zur Absicherung der eigenen Machtposition gegen die Arbeiterschaft tritt das bereits ange1698 Mann, Herrenhaus (Fn. 1607), S. 294; zur Bedeutung des preußischen Reaktionismus auch Wehler, Gesellschaftsgeschichte I (Fn. 11), S. 243. 1699 Rosenberg, Demokratisierung (Fn. 273), S. 472. 1700 Rosenberg, Demokratisierung (Fn. 273), S. 459 f.; Knoll, Führungsauslese (Fn. 744), S. 46: Beamtenstand und Militär als „staatstragende Schicht“. Diese schier übermächtige preußische Oberschicht machte erstaunlicherweise nicht mal 2 % der Bevölkerung aus. Im Jahre 1896 beispielsweise zählten gerade mal 1,7 % und 1912 1,87 % der Einwohner dazu, siehe K. Helfferich, Deutschlands Volkswohlstand 1888–1913, 7. Aufl. 1917, S. 129. Gerlach, Geschichte (Fn. 34), S. 29. 1701 Büsch, Gedanken (Fn. 1465), S. 125. Hier auch eingängige und ausführliche Auseinandersetzung mit den Ursachen für die Anomalie zwischen dem stetigen Wachstum der Arbeiterschaft als potentieller Stammwählerschaft der SPD bei gleichzeitig gleichbleibend komfortabler Mehrheit der Konservativen. 1702 Gilg, Erneuerung (Fn. 961), S. 37. 1703 Gerlach, Geschichte (Fn. 34), S. 29. 1704 E. v. Vietsch, Bethmann Hollweg. Staatsmann zwischen Macht und Ethos, 1969, S. 62 ff.; Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte III (Fn. 401), S. 857.

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sprochene herausragende preußische Elitebewußtsein. Dieses wirkt sich in Preußen, einem Staat, in dem das gesamte politische wie zivile gesellschaftliche Leben an den Parametern Verwaltung, Militär und Aristokratie ausgerichtet war, die so nicht weniger als den Dreh- und Angelpunkt des staatlichen Geschehens ausmachten, natürlich viel merklicher aus als in anderen Teilstaaten. Auch das einfache Volk akzeptierte die hier gebündelte Autorität.1705 Tugenden wie Disziplin, Bildung, Pflichtethos, die die Menschen insbesondere in Beamten oder Soldaten verkörpert sahen, galten als erstrebenswert.1706 In einem hierarchisch-autoritär organisierten (Tugend-)Staat wie Preußen fand das Dreiklassenwahlrecht den besten Nährboden. Abgesehen von jenen, die dieses Wahlrecht nur deshalb begrüßten, weil es das Proletariat weitgehend politisch machtlos stellte, waren nicht wenige tatsächlich von der dem Wahlsystem zugrundeliegenden Prämisse überzeugt. Auch hinter dem an die Steuerleistung gekoppelten Dreiklassenwahlrecht steht das Beitragsprinzip1707: Diejenigen, die einen größeren Beitrag zum staatlichen Gelingen leisten, sollen in erhöhtem Maße an politischen Entscheidungsfindungsprozessen beteiligt werden. Der Bürger, der seine Treue und Verbundenheit zum Vaterland durch besonderen Einsatz wie die Entrichtung höchstmöglicher Steuern zum Ausdruck bringt, dem wird, ganz dem Grundsatz do-ut-des entsprechend, die politische Partizipationsmöglichkeit zuteil. Daher war es zum Grundsatz preußischer Politik geworden, in allen wichtigen politischen Entscheidungen das Einverständnis der „besitzenden Klassen“ sicherzustellen1708, allen voran in finanziellen Angelegenheiten1709. Der dahinterstehende Gedanke war: Keinem Bürger könnten die Vorstellung von einem besonderen Treueverhältnis, das Erfordernis der Leistung für und an das Vaterland, das Verdienstprinzip oder ein besonderes Verständnis von Ehre1710 vertrauter sein als Beamten und Soldaten, und niemand fühlt sich stärker mit dem Wohl und Wehe des Vaterlandes verbunden als adelige Großgrundbesitzer1711. Gerade Aristokraten, Beamte und Soldaten haben diese Attribute zutiefst 1705

Gilg, Erneuerung (Fn. 961), S. 37. Kocka, Vorindustrielle Faktoren (Fn. 1647), S. 269. 1707 Siehe hierzu die bereits erläuterte offizielle Begründung zur Einführung des Dreiklassenwahlrechts auf S. 1530 ff. 1708 Puhle, Preußen (Fn. 1601), S. 26. 1709 Boldt, Verfassung (Fn. 1445), S. 232. 1710 Man denke z. B. nur an die besondere, von der zivilistischen streng zu unterscheidende militärische Standesehre. Hierzu u. a. Born, Preußen (Fn. 1502), S. 61 f. 1711 Die außergewöhnliche Machtfülle des preußischen Adels und ein beträchtlicher Teil seiner Identität beruhte ursprünglich ja gerade auf Gutsbesitz und -herrschaft, siehe Born, Preußen (Fn. 1502), S. 64 f. Zumal auch die adeligen Großgrundbesitzer mit dem Leistungsgedanken vertraut waren, denn seitdem auch Nicht-Adeligen der Erwerb von Boden rechtlich gesattet war „ konsolidierte sich die Verknüpfung der Güterzirkulation mit dem Leistungsprinzip“, siehe Rosenberg, Demokratisierung (Fn. 273), S. 464; in eine ähnliche Richtung auch Wehler, Gesellschaftsgeschichte I (Fn. 11), S. 135 („Mit dem Aufkommen neuzeitlich-kapitalistischer Marktbeziehungen, vor allem mit der Ent1706

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verinnerlicht und dürften es sogar eher für selbstverständlich halten, daß nur die Disziplinierten, die staatlichen Leistungsträger, die besonders Begabten und Intelligenten, ja eben die Elite des Landes, von diesem ungleichen Wahlsystem profitierte. Zumal das Bildungs- und Leistungsprinzip die Kriterien von Geburt und Herkunft auch im traditionalistischen Preußen zumindest teilweise verdrängt hatte.1712 Allein der vermögenslose Bürger, der nichts für seinen Staat und dessen Prosperität tat, sollte in politischen Belangen kein Mitspracherecht haben. Zum Motiv der Machtverteidigung durch die herrschende Schicht und dem ideellen einer Korrespondenz der Prämissen des Dreiklassenwahlrechts mit dem Wertekanon der Landeselite gesellt sich ein drittes Motiv, das ebenfalls im Innersten auf das Selbstverständnis dieser Elite zurückzuführen ist. Aufgrund der entgegengebrachten Anerkennung und ihrer herausragenden Leistungen, sei es auf dem Schlachtfeld oder im Rahmen erfolgreicher Verwaltungsreformen, war sie sich ihrer Sonderstellung nicht nur als preußische, sondern auch als Reichselite bewußt, zumal dieses Selbstverständnis durch die Übernahme der preußischen Verwaltungstradition auf Reichsebene zusätzlich forciert wurde.1713 Dies erklärt wiederum ein stückweit die mangelnde Bereitschaft, das Reichstagswahlrecht widerstandslos zu adaptieren. Es geht im Kern um viel mehr als die Verteidigung eines Wahlsystems, nämlich um den Machtkampf zwischen Preußen und Reich.1714 Das Dreiklassenwahlrecht steht als kleiner Ausschnitt stellvertretend für die preußische Identität, ein Alleinstellungsmerkmal, das die Abgrenzung vom Reich erlaubte und das es deshalb zu konservieren galt. Der Kampf um das Preußische Dreiklassenwahlrecht ist nichts anderes als Ausdruck des Kampfes um die Erhaltung der preußischen Identität und die von der selbstbewußten preußischen Elite beanspruchte Hegemonialstellung Preußens im Reich. Die Annahme des Reichstagswahlrechts wäre aus preußischer Sicht der Unterordnung unter das Reich, ja gar der Kapitulation vor dem Reich, gleichgekommen und nichts war größer als die Furcht Preußens, im Reich aufzugehen.1715 In der 1. Sitzung des Herrenhauses am 8. Januar 19141716 wurde folgender Antrag gestellt: „Das Herrenhaus wolle beschließen: die Königliche Staatsregierung zu ersuchen, im Reiche dahin zu wirken, daß der Stellung Preußens, auf die es seiner Geschichte und seinem Schwergewicht nach Anspruch hat, nicht dadurch Abfaltung kapitalistischer Märkte für Waren und Boden, Geld und Arbeit bildeten sich auch in Deutschland marktbedingte Klassen heraus, seit dem 19. Jahrhundert vor allem der Typ der industriekapitalistischen Klassen, die unübersehbar auf der ungleichen Verwertung von Gütern und Leistungsqualifikationen auf Märkten beruhen“). 1712 Rosenberg, Demokratisierung (Fn. 273), S. 465. 1713 Röhl, Beamtenpolitik (Fn. 1651), S. 287. 1714 Siehe hierzu ausführlich S. 344 ff. 1715 Born, Preußen (Fn. 1502), S. 36. 1716 Abgedruckt in: Stenographische Berichte über die Verhandlungen des Preußischen Herrenhauses in der Session 1913 und in der Session 1914/15, 8. Januar 1914 bis 24. Juni 1915, 1915, Sp. 5 ff.

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bruch geschieht, daß eine Verschiebung der staatsrechtlichen Verhältnisse zu Ungunsten der Einzelstaaten Platz greift.“ 1717 Bereits 1849 hatte ein Abgeordneter der Linken in der Paulskirchenversammlung prophezeit, der preußische Staat könne neben demokratischen Grundrechten und allgemeinem und gleichen Wahlrecht nicht weiterbestehen und sei dem Untergang geweiht1718: „Sie können den preußischen Staat nicht so erhalten, wie er jetzt ist, das hat uns selbst die Partei gesagt, die uns immer von der Liebe zu dem angestammten Fürstenhause spricht.“ 1719 Von den zu erwartenden bitteren Verlusten der herrschenden Schicht bei den Landtagswahlen ganz zu schweigen. Wenngleich die preußische konservative Oberschicht ihre politischen Einflußnahmemöglichkeiten auch außerhalb des Parlaments mannigfach zu nutzen wußte, so war ihr doch die Relevanz einer dauerhaft starken Stellung im Haus der Abgeordneten im Dienst der eigenen Machterhaltung bewußt: „Von hier aus bestimmen sie im Dienste der von ihnen vertretenen sozialen und wirtschaftlichen Interessen die Richtung der preußischen Gesetzgebung und die Haltung der preußischen Verwaltung, von hier aus drücken sie auf die Staatsregierung, durch diese auf Reichsleitung und Bundesrat und damit schließlich auf das ganze Reich. Und die Grundlage von alledem ist das Dreiklassenwahlrecht. Dieses System hat den konservativen Interessen die wertvollsten Dienste geleistet und berechtigt auch weiterhin zu nicht minder schönen Hoffnungen.“ 1720 So wurde das Dreiklassenwahlrecht schließlich zum „Bollwerk des aristokratischen Obrigkeitsstaates in Preußen“ 1721. 3. Das preußische Herrenhaus als institutioneller Unterbau der herrschenden Landeselite

Doch auch die mächtige herrschende Schicht aus Aristokratie, Verwaltung, Militär und vermögendem Großbürgertum in Preußen mußte ihre politischen Einflußnahmemöglichkeiten kanalisieren, um das Dreiklassenwahlrecht über 70 Jahre lang erfolgreich gegen zunehmend agressiver werdende Proteste der Arbeiter1717 Siehe ebd., Sp. 10 und zur Schlußberatung über den Antrag in der 3. Sitzung am 10. Januar 1914, Sp. 21 ff. 1718 Siehe die 207. Sitzung der deutschen konstituierenden Nationalversammlung zu Frankfurt am Main vom 26. April 1849, abgedruckt in: F. Wigard (Hrsg.), Stenographischer Bericht über die Verhandlungen der deutschen constituirenden Nationalversammlung zu Frankfurt am Main, Bd. VIII, 1849, S. 6311 ff. 1719 Ebda., S. 6321, linke Spalte. 1720 Anschütz, Wahlreform (Fn. 31), S. 20. 1721 Rosenberg, Demokratisierung (Fn. 273), S. 478; ähnlich Born, Preußen (Fn. 1502), S. 36 („Bollwerk der Regierungsmacht“). Meinecke, Reform (Fn. 1654), S. 15 will gleich drei „Bollwerke der Macht“ ausfindig machen: Neben dem Dreiklassenwahlrecht zählt er die eigenständige Position preußischer Ressortminister gegebüber dem Ministerpräsidenten/Kanzler und den „Geist des preußischen Verwaltungsbeamtentums“ hinzu.

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schaft und Sozialdemokratie abzuschirmen. Hier kommt eine weitere identitätsstiftende preußische Besonderheit ins Spiel, das preußische Herrenhaus. Fraglich ist, inwieweit diese Institution zum Erhalt des Dreiklassenwahlrechts beitragen konnte. a) Das Herrenhaus und seine institutionellen Alleinstellungsmerkmale aa) Historie und verfassungsrechtliche Grundlagen Gemäß der oktroyierten Verfassung vom 5. Dezember 1848 lag die legislative Gewalt in den Händen vom König und von zwei Kammern1722, die Erste aus 180, die Zweite aus 350 Abgeordneten bestehend1723, wobei beiden gemein war, daß ihre Mitglieder allesamt gewählt wurden1724. Durch die revidierte Verfassung vom 31. Januar 1850 änderte sich hinsichtlich Größe und Wahlmodus der Zweiten Kammer zwar nichts, die Erste Kammer hingegen erfuhr durch die Vorgaben des Art. 65 eine erhebliche Wandlung von einer reinen Wahlkammer hin zu einer Mischform aus Wahl- und Ernennungskammer1725, wenn es dort heißt: „Die erste Kammer besteht: a) aus den großjährigen Königlichen Prinzen; b) aus den Häuptern der ehemals unmittelbaren reichsständischen Häuser in Preußen – und aus den Häuptern derjenigen Familien, welchen durch Königliche Verordnung das nach der Erstgeburt und Linealfolge zu vererbende Recht auf Sitz und Stimme in der ersten Kammer beigelegt wird. In dieser Verordnung werden zugleich die Bedingungen festgesetzt, durch welche dieses Recht an einen bestimmten Grundbesitz geknüpft ist (. . .); c) aus solchen Mitgliedern, welche der König auf Lebenszeit ernennt. Ihre Zahl

1722 Siehe Art. 60 I der Verfassungsurkunde für den preußischen Staat vom 5. Dezember 1848, Preußische Gesetz-Sammlung 1848, S. 375, abgedruckt bei Huber (Hrsg.), Dokumente 1 (Fn. 8), Nr. 188 (Nr. 163), S. 489: „Die gesetzgebende Gewalt wird gemeinschaftlich durch den König und durch zwei Kammern ausgeübt.“ 1723 Art. 62 und 66 der Verfassung vom 5. Dezember 1848, abgedruckt in: Huber (Hrsg.), Dokumente 1 (Fn. 8), Nr. 188 (Nr. 163), S. 489. Hierzu Rönne, Staats-Recht Preußische Monarchie (Fn. 1365), Vierter Abschnitt, Zweites Stück, § 112 (S. 472). 1724 Siehe zum Wahlmodus der Ersten Kammer Art. 63: „Die Mitglieder der ersten Kammer werden durch die Provinzial-, Bezirks- und Kreisvertreter erwählt (Artikel 104). Die Provinzial-, Bezirks- und Kreisvertreter bilden, nach näherer Bestimmung des Wahlgesetzes, die Wahlkörper und wählen die nach der Bevölkerung auf die Wahlbezirke fallende Zahl der Abgeordneten.“ Hinsichtlich des Wahlvorganges zur Zweiten Kammer beachte Art. 67: „Jeder selbstständige Preuße, welcher das 24. Lebensjahr vollendet, nicht den Vollbesitz der bürgerlichen Rechte in Folge rechtskräftigen richterlichen Erkenntnisses verloren hat, ist in der Gemeinde, worin er seit sechs Monaten seinen Wohnsitz oder Aufenthalt hat, stimmberechtigter Urwähler, in sofern er nicht aus öffentlichen Mitteln Armenunterstützung erhält“; Art. 68: „Die Urwähler einer jeden Gemeinde wählen auf jede Vollzahl von 250 Seelen ihrer Bevölkerung einen Wahlmann“ und Art. 69: „Die Abgeordneten werden durch die Wahlmänner erwählt. Die Wahlbezirke sollen so organisirt werden, daß mindestens zwei Abgeordnete von einem Wahlkörper gewählt werden“, zitiert nach Huber (Hrsg.), Dokumente 1 (Fn. 8), Nr. 188 (Nr. 163), S. 489. Dazu knapp Meyer, Wahlrecht (Fn. 20), S. 248 f. 1725 Meyer, Wahlrecht (Fn. 20), S. 249.

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darf den zehnten Theil der zu a und b genannten Mitglieder nicht übersteigen; d) aus neunzig Mitgliedern, welche in Wahlbezirken, die das Gesetz feststellt, durch die dreißigfache Zahl derjenigen Urwähler (Art. 70), welche die höchsten direkten Staatssteuern bezahlen, durch direkte Wahl nach Maaßgabe des Gesetzes gewählt werden; e) aus dreißig, nach Maaßgabe des Gesetzes von den Gemeinderäthen gewählten Mitgliedern aus den größeren Städten des Landes. Die Gesammtzahl der unter a bis c genannten Mitglieder darf die Zahl der unter d und e bezeichneten nicht übersteigen (. . .).“

In Art. 66 heißt es zum Zeitfenster weiter: „Die Bildung der ersten Kammer in der Art. 65 bestimmten Weise tritt am 7. August des Jahres 1852 ein (. . .).“ 1726

Provisorisch umgesetzt wurde die Regelung des Art. 65 durch Verordnung vom 4. August 1852.1727 Bei dieser Mischform aus Wahl- und Ernennungskammer sollte es jedoch nicht bleiben: Die Regierung trug sich schon längere Zeit mit dem Plan einer partiellen Verfassungsreform, insbesondere einer Reformierung des Oberhauses, sah sich aber mit dem Protest der rechten Parteien konfrontiert. Diese würden einer Reform der Ersten Kammer erst dann zustimmen, wenn die über die Höchstbesteuerung gesicherte Machtposition der Großgrundbesitzer durch ein neues Gesetz, das eben jenen die ausreichende Vertretung ihrer Interessen in der Zweiten Kammer zusichern könnte, gewährleistet würde.1728 Nachdem eine solche Gesetzesvorlage zur Sicherung des politischen Primats der Großgrundbesitzer über die Zusammensetzung der Zweiten Kammer aber schon in der Ersten Kammer selbst scheiterte1729, war der Widerstand gebrochen und der Regierungsvorlage vom 7. Dezember 1852, die dem König das Recht zur Berufung der Abgeordneten der Ersten Kammer einräumte, der Weg geebnet1730. 1726 Zitiert nach Huber (Hrsg.), Dokumente 1 (Fn. 8), Nr. 194 (Nr. 168), S. 507 f. Siehe hierzu Rönne, Staats-Recht Preußische Monarchie (Fn. 1365), Vierter Abschnitt, Zweites Stück, § 112 (S. 472). 1727 Siehe zur Verfassungswidrigkeit der Verordnung Grünthal, Parlamentarismus (Fn. 1375), S. 297 f. 1728 Grünthal, Parlamentarismus (Fn. 1375), S. 299, 303 u. ö. 1729 Diesem Antrag Stahls entsprechend sollte sich die Zweite Kammer aus 120 Abgeordneten (90 Großgrundbesitzern und 30 Höchstbesteuerten) und 175 aus der Gesamtbevölkerung zu Wählenden zusammensetzen, siehe zur Beratung eben jenes Antrags die 20. Sitzung der Ersten Kammer vom 7. Februar 1853, abgedruckt bei: Stenographische Berichte über die Verhandlungen der durch die Allerhöchste Verordnung vom 13. November 1852 einberufenen Kammern. Erste Kammer, Bd. I, 1853, S. 245 ff. Der Vorschlag sah vor, „daß die auf dem Wahlelemente beruhenden Kategorieen d und e des Artikels 65 der Verfassungs-Urkunde, die bis jetzt in der ersten Kammer vertreten waren, in die zweite Kammer übertragen werden“ (ebd., S. 246, rechte Spalte). 1730 Siehe zu den Beratungen des Entwurfs, der am 7. Dezember 1852 in die Erste Kammer eingebracht wurde, die Beratungen eben jener im Rahmen der 18., 20. und 28. Sitzung am 31. Januar, 7. Februar und 1. März 1853 (abgedruckt in: Stenographische Berichte 1853 I [Fn. 1729], S. 219 ff., S. 245 ff., 437 ff.).

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Mit Gesetz vom 7. Mai 1853 hatte die Regierung das endgültige Ziel, die Entkoppelung der Ersten Kammer von jeglichen demokratischen Einwirkungselementen durch Umformung in eine reine Ernennungskammer, erreicht.1731 Art. 65 wurde aufgehoben und durch folgenden Art. 1 ersetzt: „Die Erste Kammer wird durch Königliche Anordnung gebildet, welche nur durch ein mit Zustimmung der Kammern zu erlassendes Gesetz abgeändert werden kann. Die Erste Kammer wird zusammengesetzt aus Mitgliedern, welche der König mit erblicher Berechtigung oder auf Lebenszeit beruft.“ 1732

Einen Sitz konnte man nur noch durch Geburt oder königliche Ernennung (auf Lebenszeit oder mit erblicher Berechtigung) erlangen.1733 Da nichts mehr an die alte Erste Kammer erinnern sollte, führte man durch § 1 des Gesetzes vom 30. Mai 18551734 die Bezeichnung „Herrenhaus“ ein1735, die Zweite Kammer, nach wie vor reine Wahlkammer1736, hieß von nun an „Haus der Abgeordneten“. Wie zu erwarten, wurde „mit der Formation des Herrenhauses das Reservoir politischer Potenzen des Konservatismus aus der Zweiten Kammer abgezogen“ 1737. Die Großgrundbesitzer sahen sich im Herrenhaus mehr als zufriedenstellend re1731 Der König hatte kämpferisch-entschlossen und unnachgiebig das Ernennungsrecht für die Erste Kammer nach seinem unbeschränkten Ermessen gefordert, siehe E. Jordan, Friedrich Wilhelm IV. und der preussische Adel bei der Umwandlung der ersten Kammer in das Herrenhaus. 1850 bis 1854, 1909, S. 164 ff. (insbes. S. 165). Zu den schwerwiegenden Folgen dieser Umwandlung der Wahl- in eine reine Ernennungskammer siehe auch Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte III (Fn. 401), S. 204. 1732 Siehe Art. 1 des Gesetzes, betreffend die Bildung der Ersten Kammer. Vom 7. Mai 1853, Gesetz-Sammlung für die Königlichen Preußischen Staaten, 1853, S. 181, abgedruckt bei M. Kotulla, Das konstitutionelle Verfassungswerk Preußens (1848– 1918). Eine Quellensammlung mit historischer Einführung, 2003, XXIV./4. Änderungsgesetz, S. 248. Dazu Meyer, Wahlrecht (Fn. 20), S. 249. 1733 Rönne, Staats-Recht Preußische Monarchie (Fn. 1365), Vierter Abschnitt, Erstes Stück, § 111 (S. 471). 1734 Siehe § 1 des Gesetzes, betreffend die Abänderung der Verfassungs-Urkunde vom 31. Januar 1850. in Ansehung der Benennung der Kammern und der Beschlußfähigkeit der Ersten Kammer. Vom 30. Mai 1855, Gesetz-Sammlung für die Königlichen Preußischen Staaten, 1855, S. 316, abgedruckt bei Kotulla, Verfassungswerk (Fn. 1732), XXIV./7. Änderungsgesetz, S. 250: „Die Erste Kammer wird fortan das Herrenhaus, die Zweite Kammer das Haus der Abgeordneten genannt.“ Dazu knapp Rönne, Staats-Recht Preußische Monarchie (Fn. 1365), Vierter Abschnitt, Erstes Stück, § 111 (S. 467); Meyer, Wahlrecht (Fn. 20), S. 249. Ganz grundsätzliche Gedanken zur Frage des historischen und gesetzlichen Ursprungs des Herrenhauses machte sich E. Lasker, Das Herrenhaus (1863), in: ders. (Hrsg.), Zur Verfassungsgeschichte Preußens, 1874, S. 213 (222 ff.). 1735 Siehe zu den Debatten um die Namensgebung Rönne, Staats-Recht Preußische Monarchie (Fn. 1365), Vierter Abschnitt, Erstes Stück, § 111 (S. 468 in Fn. 1); Grünthal, Parlamentarismus (Fn. 1375), S. 312 mit Fn. 82. 1736 Rönne, Staats-Recht Preußische Monarchie (Fn. 1365), Vierter Abschnitt, Drittes Stück, § 114 (S. 479); zur Zusammensetzung des Hauses der Abgeordneten siehe Preradovich, Führungsschichten (Fn. 1676), S. 154 ff. 1737 Grünthal, Parlamentarismus (Fn. 1375), S. 313.

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präsentiert und distanzierten sich von ihrer Forderung einer Reformierung des Wahlgesetzes für die Zweite Kammer.1738 Als sich ab 1879 „der Antagonismus der beiden Häuser des Landtags“ auflöste, da die Konservativen von nun an nicht nur über die Mehrheit der Sitze im Herrenhaus, sondern auch im Abgeordnetenhaus verfügen konnten, hatten sich sämtliche Gedanken an eine Änderung des Wahlrechts, gar eine Abschaffung des Dreiklassenwahlrechts, bei den Konservativen ohnehin endgültig verflüchtigt.1739 bb) Übermacht des Landadels und Kompetenzen des Herrenhauses Während das Abgeordnetenhaus zunächst das von industriellem Wachstum und daher liberal-fortschrittlich gestimmte westliche Preußen repräsentierte, da dieses eine Zeitlang vom Dreiklassenwahlrecht und der geringen Wahlbeteiligung auf dem Lande profitieren konnte, stand das Herrenhaus durch seine „einseitig aristokratische, vielmehr junkerlich feudale Zusammensetzung“ 1740 symbolisch und repräsentativ für den agrarisch-reaktionär, von altadeligen Großgrundbesitzern1741 gelenkten Osten des Staates. Es stand daher traditionell im Bündnis mit der konservativen Regierung. Von den beispielsweise 1866/67 insgesamt 247 Mitgliedern des Herrenhauses vertraten 187 der Abgeordneten auf Lebzeit die politischen Interessen des Junkertums.1742 Noch um 1900 fielen von den insgesamt 367 Sitzen 211 an den Adel.1743 Dem sich tatsächlich vollziehenden und stetig an Dynamik zulegenden Strukturwandel Preußens vom Agrarzum Industriestaat wurde die Zusammensetzung des Herrenhauses indes ganz offensichtlich nicht mehr gerecht.1744 Trotzdem galt es aus Sicht des alten preußischen Landadels alles daran zu setzten, diese Institution, durch deren Schöpfung die preußische Regierung ihm nach Abschaffung des überkommenen Privilegienwesens und des Vordringens einer neuen Oberschicht aus wohlhabenden Industriellen ein neues Zuhause gegeben hatte und die ihm so den Fortbestand seiner politischen Vormachtstellung im preußischen Staat garantierte, mit allen Mitteln zu schützen. Wenngleich immer wieder Forderungen nach einer Reform, 1738

Grünthal, Parlamentarismus (Fn. 1375), S. 313. Mann, Herrenhaus (Fn. 1607), S. 294, Zitat ebd. 1740 Anschütz, Wahlreform (Fn. 31), S. 19. 1741 Zum preußischen Grundadel als „Kern des Herrenhauses“ siehe instruktiv H. Spenkuch, Das Preußische Herrenhaus. Adel und Bürgertum in der Ersten Kammer des Landtages 1854–1918, 1998, S. 153 ff.; zudem Rosenberg, Demokratisierung (Fn. 273), S. 465; zur Zusammensetzung des Herrenhauses nach der Verordnung vom 12. Oktober 1854 siehe auch C. Bornhak, Preußisches Staatsrecht, Bd. I, 1888, § 61 (S. 372 ff.). 1742 Mann, Herrenhaus (Fn. 1607), S. 285. 1743 C. Lürig, Studien zum preußischen Herrenhaus 1890–1918, Diss. phil. 1956, S. 12. 1744 Lürig, Studien (Fn. 1743), S. 10. 1739

Kap. 5: Das Preußische Dreiklassenwahlrecht (1849–1918)

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ja gar Abschaffung des Gremiums im Raum standen, konnte diese „Zitadelle des Rückschritts“ 1745 ihren Bestand, ebenso wie den des Dreiklassenwahlrechts, bis 1918 verteidigen. Die wohl wichtigste Kompetenz des Herrenhauses bestand darin, gemeinsam mit dem König und der Zweiten Kammer das Gesetzgebungsrecht auszuüben.1746 Zur Realisierung eines Gesetzgebungsvorhabens war neben der Zustimmung des Königs und der Zweiten Kammer die des Herrenhauses erforderlich.1747 Dies galt insbesondere auch für verfassungsändernde Gesetze.1748 Gerade hinsichtlich der politisch besonders bedeutungsschweren, da folgenreichen Finanzgesetz-Entwürfe und des Staatshaushalts-Etats schien die Einflußnahmemöglichkeit der Zweiten Kammer im Vergleich zum Herrenhaus aber deutlich gestärkt, mußten derartige Entwürfe zum einen zuerst der Zweiten Kammer vorgelegt werden und räumte man dem Herrenhaus hinsichtlich des StaatshaushaltsEtats zum anderen ausschließlich das Recht ein, diesen im Ganzen anzunehmen oder abzulehnen.1749 So blieb hier zwar kein gestalterischer Freiraum des Herrenhauses, wohl aber ein nicht zu unterschätzendes Veto-Recht. Die weiteren verfassungsrechtlich garantierten Aufgaben der beiden Kammern bestanden im Gesetzesinitiativrecht1750, im Recht, Adressen an den König zu richten1751 sowie im Recht zur Prüfung der Rechtsgültigkeit königlicher Verordnungen1752. In einigen Fällen war der König zudem auf die Einwilligung der Kammern angewiesen1753, der wichtigste bestand in der Etats-Überschreitung, zu deren Gültigkeit die nachträgliche Genehmigung der Kammern erforderlich war1754.

1745 F. Naumann, Der preußische Wahlrechtskampf, in: Die Hilfe. Wochenschrift für Politik, Literatur und Kunst 32 (1907), S. 502 (502, rechte Spalte); Bezugnahme auf dieses plakative Zitat bei Dietzel, Wahlrechtsreformbestrebungen (Fn. 1218), S. 51. 1746 Siehe Art. 62 Abs. 1 der Preußischen Verfassung vom 31. Januar 1850, abermals zitiert nach Huber (Hrsg.), Dokumente 1 (Fn. 8), Nr. 194 (Nr. 168), S. 507. 1747 Siehe Art. 62 Abs. 2, ebd., S. 507. 1748 Dabei reichte die gewöhnliche absolute Stimmenmehrheit bei zwei Abstimmungen aus, siehe Art. 107, ebd., S. 513. 1749 So angeordnet durch Art. 62 Abs. 3, siehe ebd., S. 507. 1750 Siehe Art. 64 Abs. 1, ebd. S. 507. 1751 Siehe Art. 81 Abs. 1, ebd., S. 510. 1752 So Art. 106 Abs. 2, ebd., S. 513. 1753 Zu den weniger wichtigen Fällen, in denen der König auf die Zustimmung der Kammern angewiesen war, zählen die Errichtung wirksamer Verträge mit fremden Regierungen, sofern es um Handelsverträge ging, oder wenn dadurch dem Staate Lasten oder einzelnen Staatsbürgern Verpflichtungen auferlegt wurden (siehe Art. 48, ebd., S. 506) und die gleichzeitige Herrschaft über fremde Reiche (Art. 55, ebd., S. 506). 1754 So sieht es Art. 104 Abs. 1 der Verfassung vor, siehe ebd., S. 512. Zudem wurde die Rechnung über den Staatshaushalt jährlich, einschließlich einer Übersicht der Staatsschulden, mit den Bemerkungen der Ober-Rechnungskammer zur Entlastung der Staatsregierung den Kammern vorlegt (siehe Art. 104 Abs. 2 S. 2, ebd., S. 512).

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Teil 3: Zensuswahlrecht in Deutschland

Was die Bewertung dieser nüchternen Fakten im Hinblick auf einen grundsätzlichen Statusbefund des Herrenhauses in Preußen und im Reich anbelangt, herrscht keine Einigkeit: Während die einen dem Herrenhaus zwar eine bedeutende, im Vergleich zur Krone aber deutlich schwächere Stellung attestieren1755, geht beispielsweise Wehler einen Schritt weiter, indem er dem Herrenhaus gar „eine Vetomacht – nicht etwa nur in Preußen, sondern auch und gerade in der Reichspolitik“ 1756 bescheinigen will. So oder so brauchte man, um das Wahlrecht auf dem Gesetzgebungsgwege in Preußen ändern zu können, jedenfalls die Zustimmung des Herrenhauses. Dieses konnte daher jede Reformvorlage zu Fall bringen.1757 Daß es – schon allein aufgrund seiner sozialen Zusammensetzung und der politischen Interessenlage seiner Angehörigen – von der Möglichkeit, Versuche einer Änderung des Dreiklassenwahlrechts zu torpedieren, auch tatsächlich Gebrauch machen würde, liegt auf der Hand. b) Das Herrenhaus als Konservator des Dreiklassenwahlrechts Die Einführung des Preußischen Dreiklassenwahlrechts ging maßgeblich auf das „Votum der in der Ersten Kammer versammelten Elite des Liberalismus“ 1758 zurück, die ihre politischen Interessen durch die Genehmigung des Oktrois durchzusetzen wußte. Die Regierung legte im Dezember 1892 eine Vorlage zur partiellen Reformierung des Dreiklassenwahlrechts vor, um zumindest dessen krasseste plutokratische Auswüchse zu bekämpfen.1759 Die Vorlage sah unter anderem eine Reformierung der bestehenden Klasseneinteilung dahingehend vor, daß nunmehr 5/12 auf die erste, 4/12 auf die zweite und 3/12 des Gesamtsteuervolumens auf die dritte Klasse fallen sollten.1760 Die Realisierung derartiger Reformmaßnahmen hätte der sich verschärfenden Entwicklung einer unverhältnismäßigen Privilegierung der Höchstbesteuerten durch das Dreiklassenwahlrecht entgegengewirkt, doch das Herrenhaus wußte erfolgreich zu intervenieren: Es lehnte die Gesetzes1755 Mann, Herrenhaus (Fn. 1607), S. 294 ff. (insbes. S. 297 f.) arbeitet beispielsweise die Abhängigkeit des Herrenhauses von der Regierung heraus. 1756 Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte III (Fn. 401), S. 857; beipflichtend Boldt, Deutsche Verfassungsgeschichte II (Fn. 719), S. 109; W. J. Mommsen, Das Ringen um den nationalen Staat. Die Gründung und der innere Ausbau des Deutschen Reiches unter Otto von Bismarck 1850 bis 1890, in: D. Groh (Hrsg.), Propyläen Geschichte Deutschlands, Bd. 7/1, 1993, S. 84. 1757 Siehe hierzu bereits auf S. 338. 1758 Grünthal, Parlamentarismus (Fn. 1375), S. 125. 1759 Siehe dazu die Begründung der Regierungsvorlage vom 24. Dezember 1892, abgedruckt in: Anlagen zu den Stenographischen Berichten über die Verhandlungen des Hauses der Abgeordneten während der 5. Session der 17. Legislatur-Periode. 1892/93, Bd. III, 1893, Nr. 19, S. 1600 ff., linke Spalte. 1760 Hierzu Meyer, Wahlrecht (Fn. 20), S. 261.

Kap. 5: Das Preußische Dreiklassenwahlrecht (1849–1918)

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vorlage in ihren entscheidenden Punkten, insbesondere die geschilderte Zwölftelung, ab1761, leitete sie in geänderter Form an das Haus der Abgeordneten zurück, das sich widerstandslos den Vorgaben des Herrenhauses fügte1762. Durch die Intervention des Herrenhauses war das (und mithin eines der wenigen überhaupt erfolgversprechenden) Reformvorhaben rasch wieder vom Tisch. Dieses Beispiel der absoluten Reformunwilligkeit des Herrenhauses liefert zudem einen Beleg für die grundsätzliche Überzeugung dieses Gremiums, daß unter Wahlrechtsfrage nicht die Reformierung des bestehenden Preußischen Dreiklassenwahlrechts, sondern ganz im Gegenteil die Modifizierung des Reichstagswahlrechts zu verstehen sei. Es war der Ansicht, das Dreiklassenwahlrecht habe schlicht durch sein sechzigjähriges Bestehen seine Eignung für den preußischen Staat unter Beweis gestellt.1763 Durch die Bündelung konservativ-reaktionärer Kräfte im Herrenhaus leistete dieses letztlich einen unverzichtbaren Beitrag zur Konservierung des Preußischen Dreiklassenwahlrechts. Durch die „Pseudokonstitutionalisierung der Rittergutsbesitzerklasse“ 1764 gelang es Großgrundbesitzern und altem Adel wiederum ihre politisch-gesellschaftliche Vormachtstellung in Preußen sicherzustellen, die im wesentlichen vom bestehenden Wahlmodus abhing. Diese Entwicklung ist dennoch bei Weitem nicht als Selbstverständlichkeit einzustufen, befand sich der Staat doch in einem ständigen Konflikt zwischen agrarisch-konservativ geprägtem, da von aristokratischen Großgrundbesitzern dominiertem Osten und dem wegen des dortigen enormen industriellen Wachstums fortschrittlich-liberal eingestellten Westen, einem Kampf zwischen Junkertum und Modernität.1765 Liberale Modernisierungsansätze scheiterten in Preußen letztlich, weil sie „mit der Realität eines Staatsverbandes konfrontiert blieben, der in seiner überlieferten gesellschaftlichen Sozialstruktur die Revolution nicht nur im wesentlichen unberührt überdauert hatte, sondern der in seinen traditionellen Machteliten sich desjenigen Mittels zu bemächtigen verstanden hatte, das seinerseits die Reform und die Reintegration von Staat und Gesellschaft hatte möglich machen sollen“ 1766. Die Ursachen, warum die Mitglieder des Herrenhauses und unter ihnen im Be-

1761 Siehe dazu das Aktenstück Nr. 252, abgedruckt in: Anlagen zu den Stenographischen Berichten über die Verhandlungen des Hauses der Abgeordneten während der 5. Session der 17. Legislatur-Periode. 1892/93, Bd. VI, 1893, S. 3192 f., linke Spalte. 1762 Siehe Meyer, Wahlrecht (Fn. 20), S. 262. 1763 Lürig, Studien (Fn. 1743), S. 148, 151. 1764 Siehe in diesem Kontext exemplarisch den Aufsatz von Rosenberg, Demokratisierung (Fn. 273), S. 459 ff. 1765 Siehe hierzu in aller Deutlich- und Ausführlichkeit H. Preuß, West-östliches Preußen (1899), in: ders. (Hrsg.), Staat, Recht und Freiheit. Aus 40 Jahren deutscher Politik und Geschichte mit einem Geleitwort von Theodor Heuss, 1964 (ND d. Aufl. 1926), S. 200 ff. 1766 Grünthal, Parlamentarismus (Fn. 1375), S. 315.

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sonderen das Junkertum als „das Rückgrat aristokratisch-autoritärer Herrschergruppen ,ostelbischen‘ Gepräges“ 1767 sich als derart retardierendes Moment in der preußischen Staats- und Verfassungsentwicklung herausgestellt hat, können im Rahmen dieser Abhandlung nur umrissen werden. Dem preußischen Landjunkertum ist „die Überwindung der Antinomie zwischen Fortschrittsgeist und reaktionärer Verkrampfung und Militanz“ letztlich nicht geglückt, weil die alten Adeligen sich „verbissen und fossilienhaft an ihren spezifischen Klassenprivilegien und Machtpositionen“ 1768 klammerten. Im Kern ist ihre gänzlich ablehnende Haltung gegenüber jeglichen Demokratisierungstendenzen1769 wohl auf ureigenste Existenzängste zurückzuführen: Zum einen fiel es dem Herrenhaus, nachdem sich die preußische Bevölkerungsverteilung West-Ost von ca. 30:70 auf 43:57 verschoben hatte, zunehmend schwerer, das für sich beanspruchte Prinzip der Gesamtrepräsentation zu rechtfertigen. Zum anderen fürchtete man Reformmaßnahmen zur Aufstockung der Mitgliederzahl des Hauses der Abgeordneten und Bismarcks wechselhafte Bündnispolitik, die sich von Zeit zu Zeit gerne von den Konservativen ab- und den Nationalliberalen als stärkster Kraft im Abgeordnetenhaus zuwandte.1770 Hinzu kam noch die Angewiesenheit der Junker „auf den Staat als Dienstherrn, Arbeitgeber und Garanten ihrer Stellung“, war das preußische Junkertum doch bei Weitem nicht so stark und staatlich autark wie beispielsweise in England.1771 Auch den „Niedergang der Exklusivität des Landjunkertums, seine Auflösung als kastenmäßig abgeschlossener adliger Erbstand, seine Verwandlung in eine offene Berufs-, Besitz- und Erwerbsklasse“ 1772 empfand man als besorgniserregend. Aus dieser Öffnung des Landjunkerstandes war er zwar nominell gestärkt, identitätsmäßig aber deutlich geschwächt herausgegangen. An die „Umwandlung der Bodenaristokratie in eine moderne Unternehmerklasse von landwirtschaftlichen Geschäftsleuten“ mochte man sich nicht gewöhnen und hing stattdessen immer noch den Erinnerungen einer ständisch

1767

Rosenberg, Demokratisierung (Fn. 273), S. 459. Rosenberg, Demokratisierung (Fn. 273), S. 480. 1769 Rosenberg, Demokratisierung (Fn. 273), S. 460 wendet ein, das preußische ostelbische Junkertum habe Reformvorhaben nicht nur blockiert, sondern sich zuweilen auch kompromißbereit gezeigt, sonst hätte es seine politisch-gesellschaftliche Vormachtstellung nicht bis ins 20. Jahrhundert hinein beibehalten können. Dem ist zwar zuzustimmen, trotzdem handelte es sich hier wohl in der Regel um unvermeidbare und minimale demokratische Zugeständnisse, war der eigentliche Kurs doch anti-demokratisch und reaktionär. Rosenberg räumt selbst ein, daß trotz unumgänglicher Zugeständnisse der innere Widerstand der Eliten gegen zunehmende politische Einflußnahmemöglichkeiten der unteren Schichten wuchs, siehe ders., Demokratisierung (Fn. 273), S. 473. Siehe zur nur zögerlichen Annahme demokratischer Prinzipien durch die Deutsch-Konservativen auch Vogel/Nohlen/Schultze, Wahlen (Fn. 40), S. 107. 1770 Siehe zu alledem Mann, Herrenhaus (Fn. 1607), S. 286 ff. 1771 Zitat ebd., S. 288. 1772 Rosenberg, Demokratisierung (Fn. 273), S. 462. 1768

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gegliederte Gesellschaft nach.1773 Zu echter Akzeptanz der Demokratie fand der vom alten Adel durchdrungene Konservativismus daher nie.1774 Die in Preußen ganz besonders stark ausgeprägte Rücksichtnahme auf Interessen und Bedürfnisse der alten Landaristokratie hemmte im Ergebnis nicht nur die Reformierung des Dreiklassenwahlrechts, sondern wesentliche Modernisierungstendenzen im Allgemeinen, insbesondere den Prozeß der Industrialisierung. Wehler urteilt: „Es spricht in der Tat sehr viel dafür, daß gerade auch in Deutschland nach 1866/71 wichtige ökonomische, gesellschaftliche und politische Entscheidungen im Interesse der agrargesellschaftlichen Führungseliten gefällt worden sind, die dann aufs Nachhaltigste die Entfaltung der reichsdeutschen Industriegesellschaft mitbestimmt haben.“ 1775 c) Resümee Zusammenfassend hätten die traditionellen Machteliten Preußens wohl kein geeigneteres Instrument zur Kanalisierung ihrer Interessen finden können als das preußische Herrenhaus, das „bis 1918 die Rolle des Hüters der preußischen Verfassung spielen sollte“ 1776. Für alle preußischen Belange hatte das Herrenhaus sich das Leitmotiv „Quieta non movere“ 1777 zu eigen gemacht. Auch wenn die preußischen Eliten Demokratisierung und Parlamentarismus der Sache nach strikt ablehnten1778, wußten sie sich der durch sie bereitgestellten Institutionen geschickt zu bedienen1779. Die Sicherung der eigenen politischen Vormachtstellung verlangte nämlich nicht nur „starres Festhalten am Dreiklassenwahlrecht, das sich (. . .) als Bollwerk des aristokratischen Obrigkeitsstaates in Preußen bewährte“ 1780, sondern ebenso an der Institution Herrenhaus, das daher ebenso jahrzehntelang seinen Widersachern zu trotzen vermochte. Naumann beklagte noch 1910 leidvoll: „Was könnte unser ganzes tüchtiges, arbeitsames, leistungsfrohes Volk, was könnte es in der Welt sein vor allen Völkern und für sie alle, 1773 Rosenberg, Demokratisierung (Fn. 273), S. 469, 465; zu dieser neuen Klasse bürgerlich-kapitalistischer Unternehmer siehe Wehler, Gesellschaftsgeschichte I (Fn. 11), S. 206, 336. 1774 Rosenberg, Demokratisierung (Fn. 273), S. 476. 1775 H.-U. Wehler, Das Deutsche Kaiserreich 1871–1918, 7. Aufl. 1994, S. 15. 1776 E. Pikart, Die Rolle der Parteien im deutschen konstitutionellen System vor 1914, in: E.-W. Böckenförde/R. Wahl (Hrsg.), Moderne deutsche Verfassungsgeschichte (1815–1914), 2. Aufl. 1981, S. 295 (297). 1777 Lürig, Studien (Fn. 1743), S. 21. 1778 Puhle, Parlament (Fn. 1657), S. 340 ff. attestiert der „hochkonservativen Notabelnkammer des Herrenhauses“ hinsichtlich des Parlamentarisierungsprozesses in Preußen eine „Bremsfunktion“ (ebd., S. 351); Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte III (Fn. 401), S. 771. 1779 Rosenberg, Demokratisierung (Fn. 273), S. 478; Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte III (Fn. 401), S. 825. 1780 Rosenberg, Demokratisierung (Fn. 273), S. 478; in diesem Sinne auch Lürig, Studien (Fn. 1743), S. 151.

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wenn es die Bürgerverachtung, die in den Begriffen Dreiklassenhaus und Herrenhaus liegt, von sich abwerfen könnte! Das würde erst die volle Reichsgründung sein, damit erst würde der Gedanke der deutschen Nation sich vollenden.“ 1781 III. Das ewige Spannungsverhältnis zwischen preußischer Hegemonie und Dualismus im Reich Der Kern aller Wahlrechtsproblematik, so konstatiert Meinecke, sei „das Verhältnis des preußischen Staates zum Deutschen Reiche“ 1782. Die Antwort auf die Frage, warum Preußen so lange und gegen alle Proteste des Reiches den Bestand des Preußischen Dreiklassenwahlrechts gegen die Einführung des allgemeinen und gleichen (Männer-)Wahlrechts verteidigen konnte, könnte vor dem Hintergrund dieser Aussage simpel ausfallen: Verteidigung des Wahlrechts als Verteidigung der eigenen Identität, als letztes Auflehnen gegen das Aufgehen des preußischen Staates im Reich. Einen Beleg hierfür liefern zum Beispiel die patriotischen Ausführungen des Abgeordneten Hillebrandt zum Erfordernis der Verteidigung der preußischen Geschichte und Eigentümlichkeiten in der 6. Sitzung des Herrenhauses vom 15. April 1910: „Dem Reiche geben wir, was des Reiches ist; dem Reiche gebührt das schwarz-weiß-rote Banner, wir lassen ihm seinen roten Streifen. Aber Preußen, was Preußens ist. Wir in Preußen führen das schwarz-weiße Panier; wir sind stolz darauf und wollen es auch in Zukunft mit Ehren tragen. (. . .) Wir sind gewillt, in ernste Erwägungen über den vorliegenden Wahlrechtsentwurf einzutreten, aber einen Sprung ins Dunkle machen wir nicht mit. Wir wollen nicht abgehen von dem, was nach unseren Anschauungen der Geschichte und den Eigentümlichkeiten Preußens entspricht.“ 1783 Es stellt sich im Folgenden die Frage, wie das Geflecht rechtlich-politischer Beziehungen zwischen dem Reich und Preußen1784 als seinem größten Teilstaat konkret aussah. 1781 F. Naumann, Das preußische Herrenhaus, in: Die neue Rundschau 21 (1910), Bd. 2, S. 729 (741). 1900 hatte Naumann noch deutlich optimistischere Töne in Bezug auf den alten Adel und dessen Stellung im staatlichen und politischen Geschehen angeschlagen: „Die alte Herrenschicht von etwa 24000 Köpfen ist in Verteidigungszustand geraten und benutzt nun alle möglichen Mittel, um sich in einem demokratisch werdenden Zeitalter über Wasser zu halten. In dem Bestreben, sich Hilfskräfte heranzuziehen, wird sie bauernfreundlich und handwerkerfreundlich, ja zu Zeiten sogar arbeiterfreundlich. Aus demselben Grunde macht sie Bündnisse mit dem industriellen Kapitalismus und mit dem Zentrum. (. . .) Eine agitierende Aristokratie! Schon dieses ist ein Erfolg der demokratischen Gesamtströmung“ (ders., Demokratie und Kaisertum. Ein Handbuch für innere Politik, 3. Aufl. 1904, S. 91 f.). 1782 Siehe die beipflichtende Bezugnahme auf Meinecke bei Anschütz, Wahlreform (Fn. 31), S. 8. 1783 Abgedruckt in: Stenographische Berichte über die Verhandlungen des Preußischen Herrenhauses in der Session 1910. 11. Januar bis 16. Juni 1910, 1910, S. 81, linke Spalte. 1784 Siehe zu diesem Themenkomplex, der die Literatur nachhaltig beschäftigt hat, exemplarisch Goldschmidt, Reich (Fn. 1573); H. Triepel, Die Hegemonie. Ein Buch

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Bemerkenswerterweise betrachtete Anschütz noch 1917, fast fünfzig Jahre nach der Reichsgründung, das Problem einer oft mangelnden Unterordnung Preußens unter das Reich und das nicht immer praktizierte Zurücktretenlassen preußischer hinter den Reichsinteressen als „eines der schwerwiegendsten, vielleicht das gewichtigste im ganzen Bereich der deutschen Verfassungspolitik, daß es noch nicht gelöst wurde, und daß unter den Hindernissen, die, wenn man es lösen will, zu überwinden sind, die auf dem Dreiklassensystem beruhende Zusammensetzung des preußischen Abgeordnetenhauses mit an erster Stelle steht“ 1785. Diese Sichtweise betrifft nunmehr das globale Umfeld der widerstreitenden Thesen vom Aufgehen des alten Preußens im deutschen Reich1786 gegen die vom „Reich als verlängertem Preußen“ 1787, als „Großpreußen“ 1788. von führenden Staaten (1938), ND herausgegeben und eingeleitet von G. Leibholz, 1961, S. 541 ff.; H.-H. Pioch, Die Auffassung Bismarcks von der Stellung Preußens in Deutschland, Diss. jur. 1935; Binder, Reich (Fn. 1213); M. Rauh, Föderalismus und Parlamentarismus im Wilhelminischen Reich, 1973, S. 65 ff.; Huber, Verfassungsgeschichte III (Fn. 1217), S. 798 ff.; Meinecke, Weltbürgertum (Fn. 1380), S. 325 ff.; ders., Preußen und Deutschland im 19. Jahrhundert, in: ders. (Hrsg.), Preußen und Deutschland im 19. und 20. Jahrhundert. Historische und politische Aufsätze, 1918, S. 3 ff.; K. Rosenau, Hegemonie und Dualismus. Preußens staatsrechtliche Stellung im Deutschen Reich, 1986 und zuletzt die Aufsätze unter Kapitel I. in: D. Blasius (Hrsg.), Preußen in der deutschen Geschichte, 1980. 1785 Anschütz, Wahlreform (Fn. 31), S. 4. 1786 Goldschmidt, Reich (Fn. 1573), S. 6 ff.; Anschütz, Wahlreform (Fn. 31), S. 10; Haffner, Preußen ohne Legende (Fn. 1569), S. 336 ff.: Preußen sei „der Verschmelzung mit Deutschland, allem machtpolitischen Anschein und allen Bismarckschen Verfassungskunststücken und Vorsichtsmaßnahmen zum Trotz, existentiell nicht gewachsen (. . .)“ gewesen. Ursache hierfür liege darin, daß Preußen nach deutschem Allgemeinbewußtsein „mit der Gründung des Deutschen Reichs seine historische Aufgabe, seine ,deutsche Mission‘ erfüllt“ hatte. „Dafür mußte man ihm dankbar sein, aber damit war es auch überflüssig geworden. Es hatte keinen Daseinszweck mehr, es war als eigenständiger Staat überholt, zu einem bloßen Erinnerungsverein, einem ruhmreichen Teilstück deutscher Geschichte geworden, das man fortan betrachtete wie ein Museumsstück oder einen Ehrenpokal, der in die Vitrine gestellt ist“ (beide Zitate ebd., S. 336 f.). Siehe auch ebd., S. 340, 344. Heftiger Widerspruch bei Treitschke, Politik II (Fn. 18), S. 340: Die These, Preußen sei genau wie die übrigen Einzelstaaten im Reich aufgegangen, sei „so grandios lächerlich, daß sie in keinem anderen Lande der Welt möglich wäre als bei uns, die wir so oft ertrinken in der Flut der Theorie“. Preußen habe gegen den Willen Deutschlands „mit seinem guten Schwert“ eine Verfassung geschaffen, „welche natürlich nichts anderes sein konnte als eine wenn auch in milden und freundlichen Formen vollzogene Unterordnung der kleineren Staaten, der Besiegten unter den Sieger“, ebd., S. 339. 1787 Die These vertritt u. a. Treitschke, Politik II (Fn. 18), S. 346 ff. Die plastische Formulierung des Reiches als „verlängertes Preußen“ gebrauchte wohl Kaiser Wilhelm I. in einer Unterredung mit Bismarck, siehe ders., Politik I (Fn. 1313), S. 40; ders., Politik II (Fn. 18), S. 346; Anschütz, Reichsverfassung (Fn. 1213), S. 35. H. v. Treitschke, Das constitutionelle Königthum in Deutschland (Heidelberg 1869–71), in: ders. (Hrsg.), Historische und politische Aufsätze, Bd. III, 7. Aufl. 1915, S. 427 (556: „[. . .] das Reich ist eben der erweiterte preußische Staat“). In aller Entschiedenheit gegen diese These beispielsweise Huber, Verfassungsstaat (Fn. 1213), S. 192 („Das Reich war von Anfang an keine bloße Erweiterung Preußens auf den Gesamtbestand

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der Nation; es war kein „verlängertes Preußen“; es war gegenüber Preußen ein neuer und eigener Staat“). Auch einige Äußerungen Bismarcks deuten auf eine derartige Einschätzung des Verhältnisses zwischen Preußen und Reich hin: 1892 äußerte sich Bismarck gegenüber dem Kaiser, mit dem Deutschen Reich sei es „soso, lala. Suchen Sie nur Preußen stark zu machen. Es ist egal, was aus den anderen wird“ (zitiert nach J. Haller, Aus dem Leben des Fürsten Philipp zu Eulenburg-Hertefeld, 1924, S. 69, Hervorhebung i. O., A. S.; Bezugnahme bei Haffner, Preußen ohne Legende [Fn. 1569], S. 338). Ein enger Vertrauter des Kaisers namens Eulenburg faßte Bismarcks Haltung folgendermaßen zusammen: „Für die Stärke des Reiches ist ein übermächtiges Preußen ein notwendiges Erfordernis, ein starkes Preußen, selbst auf Kosten der Bundesstaaten“ (siehe Haller, Leben, ebd., S. 69, Hervorhebungen i. O., A. S.) und an anderen Stellen wird Bismarck wiederholt mit den Worten zitiert, Preußen sei der „beste(n) Pfeiler deutscher Macht“ (aus einer Rede Bismarcks in der Zweiten Kammer des Preußischen Landtags vom 6. September 1849, abgedruckt bei Kohl [Hrsg.], Reden I [Fn. 1286], S. 112). Andererseits erweist sich diese Darstellung bei genauerem Hinsehen wohl doch als etwas einseitig und verkürzt, lehnte Bismarck im Wissen um die Notwendigkeit der Eingliederung der Einzelstaaten in das Reich doch jeglichen Partikularismus ab. In einer Rede im Reichstag 1873 unterstrich er, die Länder hätten sich an den Gedanken zu „gewöhnen, daß das Reich kein Anbau an das Gebäude der Einzelstaaten, sondern daß es die umfassende Wölbung ist, unter der die einzelnen Staaten in ihrer Gesammtheit wohnen, und die zu pflegen die Aufgabe aller ist“, siehe H. Kohl (Hrsg.), Die Reden des Ministerpräsidenten und Reichskanzlers Fürsten von Bismarck im Preußischen Landtage und im Deutschen Reichstage. 1873–1876. Kritische Ausgabe, Bd. VI, 1893, S. 85. Ein anderes Mal erklärte Bismarck, es unterliege seiner Pflicht als Reichskanzler, „die Entwickelung eines Großpreußenthums zum Nachtheil der Reichsautorität zu bekämpfen (. . .)“, zitiert nach Kohl (Hrsg.), Reden VI (Fn. 1787), S. 392. Anschütz, Reichsverfassung (Fn. 1213), S. 35 geht sicher davon aus, Bismarck sei über die Jahre „in dieser Kardinalfrage, in der Frage der Stellung Preußens zum Reich und im Reich deutscher geworden (. . .)“, Hervorhebung i. O., A. S.; ebenso Marcks, Rede (Fn. 1313), S. 167, 172. A. A. Haffner, Preußen ohne Legende (Fn. 1569), S. 338, 340. Des Weiteren wußte er den Konkurrenzkampf zwischen Preußen und Reich auch politisch zu nutzen, siehe Gall, Zwischen Preußen und dem Reich (Fn. 1605), S. 157. Insgesamt ausführlich zur Positionierung Bismarcks als Reichskanzler in diesem Spannungsfeld zwischen Preußen und Reich ders., Zwischen Preußen und dem Reich (Fn. 1605), S. 155 ff. 1788 Diese Begrifflichkeit wurde maßgeblich von August Bebel (mit)geprägt, dem die Übermacht Preußens im Vergleich zu den anderen Staaten schon zu Zeiten des Norddeutschen Bundes mißfiel und der daher z. B. in seiner Rede in der 32. Sitzung des Reichstages des Norddeutschen Bundes am 10. April 1867 beklagte: „Meine Herren, wenn Sie diesen Bund [den Norddeutschen Bund, A. S.] näher betrachten, so werden Sie mir zugeben müssen, daß dieses Verhältniß der Kleinstaaten zu Preußen ein ganz abnormes ist, daß dieser Bund nur Groß-Preußen ist, umgeben von einer Anzahl VasallenStaaten, deren Regierungen nichts weiter als Generalgouverneure der Krone Preußen sind“, zitiert nach Stenographische Berichte Reichstag Norddeutscher Bund 1867 I (Fn. 1244), S. 678, linke Spalte; ähnlich in Bezug auf das spätere Verhältnis zwischen dem Deutschen Reich und Preußen Puhle, Preußen (Fn. 1601), S. 35 (zwar ideologisches und propagandistisches Aufgehen Preußens im Reich, dennoch aber zuvörderst Deutschland, das „verpreußt“ wurde). Differenzierend Born, Preußen (Fn. 1502), S. 28, der die Titulierung einer „Verpreußung des Reichs“ nur für das Kaiserreich der frühen 1870er Jahre gelten lassen will.

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1. Unmittelbare Einwirkungsmöglichkeiten Preußens auf das Deutsche Reich durch Preußens verfassungsrechtlich garantierte Sonderstellung

a) Personalunion von preußischem König und deutschem Kaiser als verfassungsrechtlicher Aufhänger preußischer Hegemonie In der Verfassung des Deutschen Kaiserreichs vom 16. April 18711789 ist in Art. 11 Abs. 1 das Grundprinzip der Personalunion von preußischem König und deutschem Kaiser niedergelegt: „Das Präsidium des Bundes steht dem Könige von Preußen zu, welcher den Namen Deutscher Kaiser führt. Der Kaiser hat das Reich völkerrechtlich zu vertreten, im Namen des Reichs Krieg zu erklären und Frieden zu schließen, Bündnisse und andere Verträge mit fremden Staaten einzugehen, Gesandte zu beglaubigen und zu empfangen.“ 1790

Der Grund für diese Personalunion wurzelt in der Bismarckschen Überzeugung, über die Verknüpfung des Amtes des preußischen Königs mit dem des deutschen Kaisers den festen inneren Zusammenhalt des Reiches gewährleisten zu können; „nicht Trennung und Fremdheit, sondern feste organische Verbindung zwischen der Regierung des Reiches und den maßgebenden staatsrechtlichen Faktoren der Einzelstaaten“ 1791 galt es so herbeizuführen. Der Kaisertitel wurde dabei für den preußischen König bewußt gewählt, um den Vorwurf, die Verfassung begünstige die preußische Hegemonialstellung und würde eine Erstreckung der preußischen Staatsgewalt auf das gesamte Deutsche Reich ermöglichen, im Keim zu ersticken.1792 So trat Bismarck an König Wilhelm mit der Bitte heran, den Kaisertitel zu empfangen.1793 Soweit zu den konzeptionell-theoretischen Hintergrundüberlegungen, die das ernsthafte Bemühen widerspiegeln, die tatsächliche Hegemonialstellung Preußens nicht allzu offensichtlich in den Vordergrund treten zu lassen.1794 De facto führte vor allem die Regelung des Art. 11 RV zur Hegemonialstellung Preußens im deutschen Kaiserreich1795, da der preußi-

1789

Siehe hierzu bereits die umfänglichen Literaturnachweise in Fn. 1246. Vorschrift zitiert nach Huber (Hrsg.), Dokumente 2 (Fn. 1245), Nr. 261 (Nr. 218), S. 389. 1791 Anschütz, Reichsverfassung (Fn. 1213), S. 37, Hervorhebungen i. O., A. S. 1792 Anschütz, Reichsverfassung (Fn. 1213), S. 34 f., 36. Es galt öffentlich zu bekunden, „daß dies Amt ein Reichsamt sei, nicht aber ein Herrschaftsrecht der Krone Preußen über das außerpreußische Deutschland. Das deutsche Kaisertum ist nicht die preußische Hegemonie über Deutschland, vielmehr die lebendige Negation dieser Hegemonie“, ebd., S. 34 f. 1793 Siehe Bismarck, Gedanken und Erinnerungen I (Fn. 1620), S. 353 f.; Bismarck, Gedanken und Erinnerungen II (Fn. 1272), S. 117 f. 1794 Boldt, Konstitutionalismus (Fn. 1269), S. 125. 1795 Born, Preußen (Fn. 1502), S. 25; Treitschke, Politik II (Fn. 18), S. 345; Ritter, Arbeitsbuch (Fn. 895), S. 132; Vogel/Nohlen/Schultze, Wahlen (Fn. 40), S. 96; etwas vorsichtiger bei Haffner, Preußen ohne Legende (Fn. 1569), S. 337, der von der „Be1790

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sche „Anteil an der Bildung des Reichswillens tatsächlich und rechtlich größer ist als der jedes anderen Einzelstaates“ 1796. Zumal die – wenngleich verfassungsrechtlich nicht explizit vorgeschriebe – de facto aber praktizierte Personalunion von Reichskanzler und preußischem Ministerpräsidenten die Vormachtstellung Preußens zusätzlich untermauerte.1797 Daß eine Ämtertrennung nicht zielführend war, mußte Bismarck am eigenen Leibe erfahren1798 und belegen die lediglich drei kurzzeitigen Unterbrechungen dieser Verbindung der beiden Ämter1799. Nur ein Mal wurde der preußische Ministerpräsident 1867 zum Bundeskanzler und 1871 zum Reichskanzler ernannt, danach verfuhr man umgekehrt, d.h. der Reichskanzler wurde gleichzeitig zum preußischen Ministerpräsidenten ernannt. Mit dem Verlust des Reichskanzleramtes ging mithin automatisch auch das Amt des preußischen Ministerpräsidenten verlustig.1800 Über seinen König, gleichzeitig Kaiser des deutschen Reiches, konnte Preußen folglich die politischen Geschicke lenken. Dies setzt aber wiederum voraus, daß dieser überhaupt über nennenswerte verfassungsrechtlich verankerte Kompetenzen verfügte.

günstigung“ Preußens spricht oder Militärstaat (Fn. 1600), S. 14, wo von verfassungsrechtlichem „Vorzugsrang“ die Rede ist. Vietsch, Bethmann Hollweg (Fn. 1704), S. 63 weist zusätzlich auf die kittende Funktion des preußischen Königtums als „bindende Kraft“ hin. 1796 Anschütz, Wahlreform (Fn. 31), S. 8. Diese Vormachtstellung Preußens im Reich verpflichte es, so Anschütz – mehr noch als jeden anderen Gliedstaat – das Reichsinteresse immer vor das preußische zu stellen und Partikularinteressen in den Hintergrund treten zu lassen, siehe ebd., S. 9. 1797 Zur Notwendigkeit der Verbindung der beiden Ämter siehe auch Bismarcks Ansprache aus Anlaß einer Huldigung der Thüringer vom 20. August 1893, abgedruckt bei: H. v. Poschinger (Hrsg.), Die Ansprachen des Fürsten Bismarck 1848–1894, 2. Aufl. 1895, S. 295 (298 f.); Anschütz, Reichsverfassung (Fn. 1213), S. 37; Born, Preußen (Fn. 1502), S. 25; Ritter, Arbeitsbuch (Fn. 895), S. 133. 1798 Vom 1. Januar bis 8. November 1873 übernahm Albrecht von Roon, während Bismarck als Reichskanzler fungierte, die Leitung des preußischen Ministerpräsidiums. Rückblickend mußte Bismarck über diese Zeit eingestehen: „Ich habe versucht, ich habe eine Zeit lang aufgehört, preußischer Ministerpräsident zu sein, und habe mir gedacht, daß ich als Reichskanzler stark genug sei. Ich habe mich darin vollständig geirrt; nach einem Jahre bin ich reuevoll wiedergekommen und habe gesagt: Entweder will ich ganz abgehen, oder ich will im preußischen Ministerium das Präsidium wieder haben. (. . .) Aber schneiden Sie mir die preußische Wurzel ab, und machen Sie mich allein zum Reichsminister, so, glaube ich, bin ich so einflußlos, wie ein Anderer“, Zitat bei H. Kohl (Hrsg.), Die Reden des Ministerpräsidenten und Reichskanzlers Fürsten von Bismarck im Preußischen Landtage und im Deutschen Reichstage. 1877–1879. Kritische Ausgabe, Bd. VII, 1893, S. 34. 1799 Born, Preußen (Fn. 1502), S. 25 f. 1800 Born, Preußen (Fn. 1502), S. 29.

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b) Das deutsche Militär unter preußischem Kommando Laut Art. 11 Abs. 1 S. 2 RV1801 stand es dem Kaiser zu, im Namen des Reiches Krieg zu erklären und Frieden zu schließen. Mit anderen Worten: er war Oberbefehlshaber des Militärs.1802 Konkretisierende Vorschriften finden sich unter Abschnitt IX. (Marine und Schiffahrt) und unter Abschnitt XI. (Reichskriegswesen).1803 Nach Art. 53 Abs. 1 S. 1 RV stand die Kriegsmarine des Reiches als ausschließlich unitarische Institution unter dem Oberbefehl des Kaisers, ebenso wie die gesamte Landmacht des Reiches gemäß Art. 63 Abs. 1 S. 1 RV.1804 Während die Organisation und Zusammensetzung der Kriegsmarine als Reichsinstitution sowie das Ernennungsrecht der Offiziere ebenfalls ganz in den Händen des Kaisers lag (Art. 53 Abs. 1 S. 2 RV), setzte sich die Landmacht aus den Kontingenten der Länder zusammen, so daß dem Kaiser kompetentiell hier nur die Überwachung der Einheitlichkeit der Organisation verblieb (Art. 63 Abs. 3 RV). Weiter verfügte der Kaiser gemäß Art. 68 Abs. 1 S. 1 RV über die Kompetenz, bei Gefahr für die öffentliche Sicherheit für jedes Gebiet des Reiches den Kriegszustand verhängen zu können.1805 In einem derartigen Fall ging die vollziehende Gewalt auf den Kaiser als obersten Militärbefehlshaber über; die Landesgewalt sah sich der Reichsgewalt unterstellt. Zudem verfügte der Kaiser im Bereich des Militärwesens unbestritten über die Kompetenz zum Erlaß von Rechtsverordnungen.1806 Umstritten war jedoch die Frage der Erstreckung der Gegenzeichnungspflicht des Kanzlers1807 auf Anordnungen und Verfügungen des Kaisers im Militärwesen. Interessanterweise tritt im Rahmen dieser Fragestellung nun erstmalig eine direkte Einflußnahme des preußischen Militärwesens auf das Reichsmilitärwesen deutlich hervor: Die zunächst herrschende Meinung nahm sich die in Preußen entwickelte und als Verfassungsgewohnheitsrecht anerkannte1808 Trennung von Militärverwaltung und Kommandogewalt zum Vorbild1809. Die Gegenzeichnungs1801 Diese, wie auch die folgenden Artikel der Reichsverfassung sind wie üblich übernommen von Huber (Hrsg.), Dokumente 2 (Fn. 1245), Nr. 261 (Nr. 218), S. 389. 1802 Rosenau, Hegemonie (Fn. 1784), S. 13, 108. 1803 Ausführliche Erläuterung der einzelnen Regelungen in Bedeutung und Konsequenz bei Rosenau, Hegemonie (Fn. 1784), S. 13 ff. 1804 Siehe Huber (Hrsg.), Dokumente 2 (Fn. 1245), Nr. 261 (Nr. 218), S. 396: Art. 53; S. 399: Art. 63. 1805 Siehe Huber (Hrsg.), Dokumente 2 (Fn. 1245), Nr. 261 (Nr. 218), S. 396: Art. 53; S. 399: Art. 63; S. 400: Art. 68. 1806 Huber, Verfassungsgeschichte III (Fn. 1217), S. 927 f. 1807 Siehe hierzu Art. 17 Abs. 1 S. 2 RV: „Die Anordnungen und Verfügungen des Kaisers werden im Namen des Reichs erlassen und bedürfen zu ihrer Gültigkeit der Gegenzeichnung des Reichskanzlers, welcher dadurch die Verantwortlichkeit übernimmt“, siehe Huber (Hrsg.), Dokumente 2 (Fn. 1245), Nr. 261 (Nr. 218), S. 389 f. 1808 Huber, Verfassungsgeschichte III (Fn. 1217), S. 76 f. 1809 Rosenau, Hegemonie (Fn. 1784), S. 14 f.

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pflicht sollte sich dieser Ansicht folgend nur auf die erstere, nicht aber auf den Kommandobereich erstrecken1810, was das Militär von Einflußnahmemöglichkeiten des Parlaments entkoppelte. Auch wenn sich das Meinungsbild in der Literatur ab 1911 wandelte und auch Akte der Kommandogewalt der Gegenzeichnungspflicht unterstellt sein sollten1811, wurde die Entbindung von der Gegenzeichnungspflicht bis 1918 faktisch beibehalten1812. c) Exkurs: Das preußische Heer als Reichsheer Die augenfällige Privilegierung Preußens durch die Reichsverfassung – insbesondere im Bereich des Militärwesens – überrascht nicht besonders, wenn man bedenkt, daß das Reichsverfassungswerk in diesem Regelungsbereich die deutliche Handschrift Preußens trägt: Art. 63 Abs. 5 RV ordnet an, daß zur „Erhaltung der unentbehrlichen Einheit in der Administration, Verpflegung, Bewaffnung und Ausrüstung aller Truppentheile des Deutschen Heeres [. . .] die bezüglichen künftig ergehenden Anordnungen für die Preußische Armee den Kommandeuren der übrigen Kontingente, durch den Artikel 8 Nr. 1. bezeichneten Ausschuß für das Landheer und die Festungen zur Nachahmung in geeigneter Weise mitzutheilen“ 1813 sind. Das einheitliche Regelwerk zur militärischen Verordnungs- und Gesetzgebung im deutschen Reich baut folglich auf der Organisation des preußischen Militärwesens auf 1814 und ließ sich vom Vorbild des preußischen Militärapparates nicht nur inspirieren, sondern adaptierte das Reglement unverändert. Von Grundsatzentscheidungen der Organisation und Formation der Truppen, über die Ausbildung (Art. 59 Abs. 1 RV) sowie das Militärstrafrecht und die Militärgerichtsbarkeit (Art. 61 Abs. 1 RV) bis zu scheinbaren Nichtigkeiten wie der Bekleidung der Soldaten (Art. 63 Abs. 2 S. 2 RV)1815 wurden die preußischen Vorgaben akribisch übernommen1816. Die übrigen Teilstaaten des deutschen Reiches wurden einer umfassenden Reformierung nach preußischem Zuschnitt unterzogen und Deutsche, die ihre Wehrpflicht ableisteten, gingen dem Volksmund gemäß zu den Preußen und nicht zu den Deutschen oder zur Reichs1810

Laband, Staatsrecht I (Fn. 1246), § 24, S. 214. Siehe z. B. Laband, Staatsrecht IV (Fn. 1216), § 97, S. 35 ff.; Meyer, Lehrbuch (Fn. 1246), § 84, S. 277 Anm. f; kritisch bzw. differenzierend dieser Ansicht gegenüber hingegen H. Triepel, Die Reichsaufsicht. Untersuchungen zum Staatsrecht des Deutschen Reiches (1917), ND 1964, S. 565 ff. 1812 Rosenau, Hegemonie (Fn. 1784), S. 15. 1813 Einschlägiger Artikel zitiert nach Huber (Hrsg.), Dokumente 2 (Fn. 1245), Nr. 261 (Nr. 218), S. 399. 1814 Rosenau, Hegemonie (Fn. 1784), S. 106. 1815 Artikel der RV übernommen von Huber (Hrsg.), Dokumente 2 (Fn. 1245), Nr. 261 (Nr. 218), S. 397: Art. 59; S. 398: Art. 61; S. 399: Art. 63. 1816 Siehe zu alledem R. v. Thadden, Fragen an Preußen. Zur Geschichte eines aufgehobenen Staates, 1981, S. 90 f. 1811

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armee.1817 So war die Reichsarmee in weiten Teilen „das Werk Preußens und des ,preußischen Militarismus‘“ 1818. Zudem übertrugen, abgesehen von den drei größten Staaten neben Preußen (die Königreiche Bayern, Sachsen und Württemberg), die anderen Teilstaaten die ihnen verbliebenen militärischen Hoheitsrechte über Militärkonventionen von 1867 bis 1886 an Preußen und legten ihre Landeskontingente mit den preußischen Truppen zusammen.1819 Dieses „Aufgehen der Kontingente von 21 Staaten im preußischen Kontingent verdeutlicht die Vorrangstellung Preußens auch und gerade im militärischen Bereich“ 1820. Über die genannten Militärkonventionen gelang es Preußen, seine Hegemonialstellung im Reich durch Übernahme des militärischen Oberbefehls über fast alle Landeskontingente auszubauen, so daß es seinen Machtbereich rasch weit über die eigenen Landesgrenzen hinaus erweitert hatte.1821 Auch die späte Reue des Verlustes der eigenen militärischen Souveränität der Teilstaaten1822 änderte nichts mehr an dieser Machtverschiebung zugunsten Preußens. d) Preußen als primus inter pares im Bundesrat? Im Bundesrat als höchstem Staatsorgan und Träger der Souveränität des Deutschen Reiches1823 fanden sich gemäß Art. 6 Abs. 1 RV1824 58 Vertreter der Mitglieder des Bundes, also der 25 Bundesstaaten zusammen. Bei diesem Gremium handelte es sich somit um die Vertretung der Einzelstaaten auf Bundesebene. Von den insgesamt 58 Bundesratsstimmen fielen 17 Stimmen Preußen zu, wobei dieses knappe Drittel wenig erscheint, wenn man bedenkt, daß in Preußen zwei Drittel der Gesamtbevölkerung des Reiches beheimatet waren.1825 Da zur ordentlichen Beschlußfassung im Bundesrat in der Regel die einfache Mehrheit, d.h. die Mehrheit der abgegebenen Stimmen erforderlich war (siehe Art. 7 Abs. 3 S. 1 1817 1818 1819

Haffner, Preußen ohne Legende (Fn. 1569), S. 337. Haffner, Preußen ohne Legende (Fn. 1569), S. 341. Laband, Staatsrecht IV (Fn. 1216), § 95, S. 8 f.; Rosenau, Hegemonie (Fn. 1784),

S. 107. 1820 Zitat Rosenau, Hegemonie (Fn. 1784), S. 107; diese Einschätzung teilt im Übrigen beispielsweise auch P. Laband, Die geschichtliche Entwicklung der Reichsverfassung seit der Reichsgründung, in: Jahrbuch des öffentlichen Rechts der Gegenwart 1 (1907), S. 1 (6 f.). Zur militärischen Vormacht Preußens im Deutschen Reich siehe auch Born, Preußen (Fn. 1502), S. 26. 1821 Dazu Triepel, Hegemonie (Fn. 1784), S. 548 f.; Treitschke, Politik II (Fn. 18), S. 346 kommt gar zu dem Ergebnis, das deutsche Reichsheer sei nichts anderes als das preußische Heer, ausgedehnt auf das gesamte Reich. 1822 Viele Staaten beklagten ein „blankes Vasallentum“, siehe dazu Triepel, Hegemonie (Fn. 1784), S. 549. 1823 Vogel/Nohlen/Schultze, Wahlen (Fn. 40), S. 95. 1824 Siehe Huber (Hrsg.), Dokumente 2 (Fn. 1245), Nr. 261 (Nr. 218), S. 387. 1825 Rosenau, Hegemonie (Fn. 1784), S. 62; Born, Preußen (Fn. 1502), S. 29.

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RV1826), Stimmenthaltungen folglich nicht mitgezählt wurden, erreichte man eine Mehrheit bei Abgabe aller Stimmen mit 30 Ja-Stimmen1827. Preußen allein konnte ganz offensichtlich mit seinen 17 Stimmen keinen Mehrheitsbeschluß im Bundesrat herbeiführen, von anderen Staaten, die ihre Stimmen bündelten, aber überstimmt werden.1828 Um Beschlüsse durchzusetzen oder zu torpedieren, war es auf die Unterstützung anderer Bundesstaaten angewiesen. Warum sprechen trotzdem so viele Autoren von der starken Stellung Preußens im Bundesrat1829, von der dortigen preußischen Dominanz1830 oder gar einem preußischen VetoRecht1831? Diese Autoren haben durchaus Recht, man muß allerdings etwas genauer differenzieren: Über ein generelles Veto-Recht verfügte Preußen nicht1832, wohl aber über eines „in gewissen Fällen“ 1833. Laut Art. 78 Abs. 1 S. 1 RV haben Veränderungen der Verfassung im Wege der Gesetzgebung zu erfolgen.1834 Sie gelten als abgelehnt, wenn sie im Bundesrat 14 Stimmen gegen sich haben. Folglich hatte Preußen als einziger Staat1835 mit seinen 17 Bundesratsstimmen die Macht, jede geplante Verfassungsänderung im Alleingang zu verhindern1836. Die Möglichkeit, mit 14 Stimmen jeglichen Verfassungsänderungsplan zu Fall bringen zu können, hatte aber aus preußischer Sicht auch eine Schattenseite: Wollte Preußen eine Verfassungsänderung unbedingt durchsetzen, mußte es sicherstellen, daß sich keine 14 Stimmen gegen dieses Vorhaben zusammenfanden, d.h. es mußte zu den eigenen 17 Bundesratsstimmen nicht nur 13 Stimmen anderer Länder, die für eine einfache Mehrheit ausreichend waren, sondern, bei Abgabe aller 58 Stimmen, sogar 28 Stimmen zu den eigenen hinzubekommen.1837 Preußen wurden im Bundesrat noch weitere Privilegien eingeräumt. Gemäß Art. 11 Abs. 1 RV stand das Präsidium des Bundes dem König von Preußen zu. Über dieses Präsidium gewann die Stimme Preußens zusätzlich an Gewicht. In Art. 5 Abs. 2 RV heißt es:

1826

Siehe Huber (Hrsg.), Dokumente 2 (Fn. 1245), Nr. 261 (Nr. 218), S. 388. Rosenau, Hegemonie (Fn. 1784), S. 46 f. 1828 Die Fälle, in denen Preußen tatsächlich im Bundesrat überstimmt worden ist, sind allerdings sehr rar, siehe Born, Preußen (Fn. 1502), S. 29. 1829 Huber, Verfassungsstaat (Fn. 1213), S. 192. 1830 Gilg, Erneuerung (Fn. 961), S. 17; Haffner, Preußen ohne Legende (Fn. 1569), S. 337 („Preußen beherrschte den Bundesrat“). 1831 Huber, Verfassungsstaat (Fn. 1213), S. 204. 1832 Rosenau, Hegemonie (Fn. 1784), S. 47. 1833 Gilg, Erneuerung (Fn. 961), S. 17. 1834 Siehe Huber (Hrsg.), Dokumente 2 (Fn. 1245), Nr. 261 (Nr. 218), S. 402. 1835 Rosenau, Hegemonie (Fn. 1784), S. 62. 1836 Treitschke, Politik II (Fn. 18), S. 345; Ritter, Arbeitsbuch (Fn. 895), S. 132; Rosenau, Hegemonie (Fn. 1784), S. 47. 1837 Rosenau, Hegemonie (Fn. 1784), S. 47. 1827

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„Bei Gesetzesvorschlägen über das Militairwesen, die Kriegsmarine und die im Artikel 35 bezeichneten Abgaben giebt, wenn im Bundesrathe eine Meinungsverschiedenheit stattfindet, die Stimme des Präsidiums den Ausschlag, wenn sie sich für die Aufrechterhaltung der bestehenden Einrichtungen ausspricht.“

Zusätzlich ordnet Art. 37 RV an: „Bei der Beschlußnahme über die zur Ausführung der gemeinschaftlichen Gesetzgebung (Art. 35) dienenden Verwaltungsvorschriften und Einrichtungen giebt die Stimme des Präsidiums alsdann den Ausschlag, wenn sie sich für Aufrechterhaltung der bestehenden Vorschrift oder Einrichtung ausspricht.“

Art. 35 RV trifft Regelungen zur Gesetzgebung im Bereich des gesamten Zollwesens sowie u. a. der Salz-, Tabak-, Branntwein- und Zuckersteuer.1838 Die Stimme Preußens war also ausschlaggebend bei Uneinigkeit des Bundesrates in wichtigen Fragen des Militärwesens, der Kriegsmarine und des Zoll- und Steuerwesens.1839 In diesen Bereichen verfügte Preußen über ein Veto-Recht und konnte auch die Gesetzes- oder Verordnungsänderungen blockieren, die von den übrigen Regierungen und dem gesamten Reichstag einmütig begrüßt wurden.1840 Zudem gab im Falle der Stimmengleichheit im Bundesrat grundsätzlich das Votum des Präsidiums, also Preußens, den Ausschlag.1841 Auch über den Vorsitz in den Ausschüssen sowie über den Gesamtvorsitz im Bundesrat dominierte Preußen: Gemäß Art. 8 Abs. 2 S. 1 RV1842 stand dem Präsidium in jedem der sieben ständigen Ausschüsse ein Sitz zu, so daß Preußen über das Präsidium als einzigem Staat im Reich schon von verfassungswegen ein Sitz in allen diesen Ausschüssen zuteil wurde1843. Während die übrigen Ausschußmitglieder in der Regel vom Bundesrat gewählt wurden, verfügte der Kaiser – wegen der Personalunion mit dem preußischen König und damit Preußen – sogar über ein Ernennungsrecht für einige der Ausschüsse.1844 Zudem leitete man im Rahmen einer Analogie aus 1838 Siehe Huber (Hrsg.), Dokumente 2 (Fn. 1245), Nr. 261 (Nr. 218), S. 387: Art. 5; S. 392: Art. 37; ebd.: Art. 35. 1839 Huber, Verfassungsgeschichte III (Fn. 1217), S. 859; Rosenau, Hegemonie (Fn. 1784), S. 48; Born, Preußen (Fn. 1502), S. 29. 1840 Rosenau, Hegemonie (Fn. 1784), S. 48. 1841 Siehe Art. 7 Abs. 3 S. 3 RV: „Bei Stimmengleichheit giebt die Präsidialstimme den Ausschlag“, zitiert nach Huber (Hrsg.), Dokumente 2 (Fn. 1245), Nr. 261 (Nr. 218), S. 388. 1842 In der Verfassung heißt es: „In jedem dieser Ausschüsse werden außer dem Präsidium mindestens vier Bundesstaaten vertreten sein, und führt innerhalb derselben jeder Staat nur Eine Stimme“, zitiert nach Huber (Hrsg.), Dokumente 2 (Fn. 1245), Nr. 261 (Nr. 218), S. 388. 1843 Rosenau, Hegemonie (Fn. 1784), S. 48. 1844 Dazu Art. 8 Abs. 2 S. 2 RV: „In dem Ausschuß für das Landheer und die Festungen hat Bayern einen ständigen Sitz, die übrigen Mitglieder desselben, sowie die Mitglieder des Ausschusses für das Seewesen werden vom Kaiser ernannt; die Mitglieder der anderen Ausschüsse werden von dem Bundesrathe gewählt“, siehe Huber (Hrsg.), Dokumente 2 (Fn. 1245), Nr. 261 (Nr. 218), S. 388.

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Art. 15 Abs. 1 und Art. 8 Abs. 3 RV1845 den Vorsitz Preußens in den sieben ständigen Ausschüssen her. Der Vorsitzende des Bundesrates war gemäß Art. 15 Abs. 1 RV der Reichskanzler, der wiederum vom Kaiser bzw. preußischem König ernannt wurde. Auch das Recht der Einberufung, Eröffnung und Schließung des Bundesrates lag beim Kaiser.1846 Ob Preußen zur Durchsetzung der eigenen Machtposition im Bundesrat kleinere Staaten, die über Militärkonventionen in Abhängigkeit zu Preußen standen, unter Druck gesetzt hat und diese Stimmen zu eigenen Zwecken ausnutzte, ist eingängig diskutiert worden1847, kann letztlich aber dahinstehen, da schon anhand der obigen Beispiele nachgewiesen werden konnte, daß die Verfassung selbst die Vorrangstellung Preußens im Bundesrat bedingte. Der Bundesrat hat sich aufgrund der soeben erläuterten verfassungsrechtlichen Vorgaben zumindest in Zeiten des noch jungen Deutschen Reiches als „Hort der preußischen Hegemonie“ 1848 und „teils als ein Instrument der preußischen Vormacht“ 1849 entpuppt. e) Das Reichsverwaltungswesen unter preußischem Kommando aa) Rückgriff des Reiches auf den preußischen Verwaltungsapparat Als Oberhaupt der Reichsexekutive unterlagen dem deutschen Kaiser die Organisations-, Dienst- und Leitungsgewalt der Reichsverwaltung.1850 Gemäß Art. 18 Abs. 1 S. 1 RV1851 verfügte er über die Personalhoheit, d.h. er ernannte die Reichsbeamten, ließ dieselben für das Reich vereidigen und ordnete deren Entlassung an. Seine Verwaltungshoheit erstreckte sich des Weiteren auf die sog. Reichseigenverwaltung, originär auf Post und Telegrafie1852 und die Erhebung 1845 Art. 15 Abs. 1 RV legt fest: „Der Vorsitz im Bundesrathe und die Leitung der Geschäfte steht dem Reichskanzler zu, welcher vom Kaiser zu ernennen ist.“ Und Art. 8 Abs. 3 RV: „Außerdem wird im Bundesrathe aus den Bevollmächtigten der Königreiche Bayern, Sachsen und Württemberg und zwei, vom Bundesrathe alljährlich zu wählenden Bevollmächtigten anderer Bundesstaaten ein Ausschuß für die auswärtigen Angelegenheiten gebildet, in welchem Bayern den Vorsitz führt“, zitiert nach Huber (Hrsg.), Dokumente 2 (Fn. 1245), Nr. 261 (Nr. 218), S. 389: Art. 15 und S. 388: Art. 8. 1846 Dazu Rosenau, Hegemonie (Fn. 1784), S. 50 f. 1847 Siehe zur Diskussion ausführlicher und m.v. w. N. Rosenau, Hegemonie (Fn. 1784), S. 51 ff. 1848 V. Hentschel, Preußens streitbare Geschichte 1594–1945, 1980, S. 276, Hervorhebungen i. O., A. S. 1849 H. Triepel, Art. Bundesrat, in: F. Stier-Somlo/A. Elster (Hrsg.), Handwörterbuch der Rechtswissenschaft, Bd. I, 1926, S. 829 (829, rechte Spalte). 1850 Huber, Verfassungsgeschichte III (Fn. 1217), S. 963 f. 1851 Siehe Huber (Hrsg.), Dokumente 2 (Fn. 1245), Nr. 261 (Nr. 218), S. 390. 1852 Art. 50 Abs. 1 S. 1 RV: „Dem Kaiser gehört die obere Leitung der Post- und Telegraphenverwaltung an“, siehe Huber (Hrsg.), Dokumente 2 (Fn. 1245), Nr. 261 (Nr. 218), S. 394. Dazu Rosenau, Hegemonie (Fn. 1784), S. 84 f.

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von Zöllen und Verbrauchsteuern1853. Zu Beginn zählten zum Bereich der Reichseigenverwaltung nur sehr wenige1854, was dem Grundsatz der Länderexekutive geschuldet war. Die Länder führten nicht nur ihre eigenen Gesetze, sondern in der Regel auch die Reichsgesetze in Eigenverwaltung aus; dem Reich verblieben nur die Gesetzgebung und Beaufsichtigung der Ausführung durch die Länder.1855 Neue, von der Verfassung noch nicht vorgesehene, Verwaltungszuständigkeiten des Reiches konnten nur auf dem Wege des Gesetzgebungsverfahrens etabliert werden.1856 Dieses bedurfte der erforderlichen Mehrheit im Bundesrat und Reichstag1857, so daß die Länder solche Vorhaben letztlich torpedieren konnten1858. Der Schwerpunkt der Verwaltung verblieb also auch nach der Reichsgründung bei den Ländern.1859 Vor diesem Hintergrund verwundert es auch nicht, daß bei Reichsgründung nur zwei oberste Reichsbehörden existierten: das Reichskanzleramt und das Auswärtige Amt.1860 An diesem Punkt trat Preußen mit seinem straff organisierten und vorbildlich funktionierenden Verwaltungsapparat auf den Plan. Anstatt neue reichseigene Behörden zu schaffen, übertrug man die Reichsaufgaben auf die zuständigen preußischen Behörden.1861 Das preußische Handelsministerium erledigte beispielsweise die Wirtschaftsangelegenheiten des Reiches und das preußische Ju-

1853 Art. 36 Abs. 2 RV: „Der Kaiser überwacht die Einhaltung des gesetzlichen Verfahrens durch Reichsbeamte, welche er den Zoll- oder Steuerämtern und den Direktivbehörden der einzelnen Staaten, nach Vernehmung des Ausschusses des Bundesrathes für Zoll- und Steuerwesen, beiordnet“, siehe Huber (Hrsg.), Dokumente 2 (Fn. 1245), Nr. 261 (Nr. 218), S. 392. 1854 Laband, Staatsrecht I (Fn. 1246), § 41, S. 387. 1855 Art. 4 Abs. 1 S. 1 RV: „Der Beaufsichtigung Seitens des Reichs und der Gesetzgebung desselben unterliegen die nachstehenden Angelegenheiten: (. . .)“, zitiert nach Huber (Hrsg.), Dokumente 2 (Fn. 1245), Nr. 261 (Nr. 218), S. 386. 1856 Huber, Verfassungsgeschichte III (Fn. 1217), S. 796, 961. 1857 W. Frotscher, IV. Kapitel – Organisation der Reichsverwaltung und der Länderverwaltungen einschließlich Vorschläge zur Reichsreform, in: K. G. A. Jeserich/H. Pohl/ G.-C. v. Unruh (Hrsg.), Deutsche Verwaltungsgeschichte, Bd. IV, 1985, S. 111 (114). 1858 R. Mußgnug, VII. Kapitel – Die Ausführung der Reichsgesetze durch die Länder und die Reichsaufsicht, in: K. G. A. Jeserich/H. Pohl/G.-C. v. Unruh (Hrsg.), Deutsche Verwaltungsgeschichte, Bd. IV, 1985, S. 330 (331). 1859 Siehe G. Anschütz, Der deutsche Föderalismus in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, VVDStRL 1 (1924), S. 11 (16). 1860 Rosenau, Hegemonie (Fn. 1784), S. 86. 1861 M. Fleischmann, Verfassungserbgut von Reich zu Reich, in: Recht und Staat in Geschichte und Gegenwart 55 (1928), S. 3 (28 f.); Born, Preußen (Fn. 1502), S. 26 ff. Im Falle der Preußischen Bank war es hingegen so, daß sie von einer preußischen Institution in eine reichseigene umgewandelt wurde, siehe ebd., S. 27 f. und ausführlich den Beitrag ders., Der Ausbau der Reichsinstitutionen und das Notenbankproblem: Die Herstellung einer Währungseinheit und die Entstehung der Reichsbank, in: J. Kunisch (Hrsg.), Forschungen zur brandenburgischen und preußischen Geschichte n. F., Beiheft 1: Bismarck und seine Zeit, 1992, S. 257 ff.

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stizministerium die der Reichsjustiz. Die preußische Oberrechnungskammer fungierte zugleich als Rechnungshof des Deutschen Reichs.1862 Des Weiteren nahm – entgegen jeder Erwartung – nicht ein Reichsamt die Belange des Reichsheeres wahr, sondern preußische Amtsträger. Offiziell unterstand das Militär als einheitliche unitarische Gewalt dem Oberbefehl des Königs, tatsächlich gestaltete sich die Lage aber anders: Die Gewalt teilte sich auf die Militärverwaltung, die mit preußischem Kriegsminister, Generalstab und Militärkabinett fest in preußischen Händen lag, und das Reichsmarineamt mit Admiralstab und Marinekabinett1863 auf. Das preußische Kriegsministerium war hier in seinen Einflußnahmemöglichkeiten nicht zu unterschätzen, wurden dem preußischen Kriegsminister doch Kompetenzen auf Reichsebene zuteil, ohne daß er dabei dem Reichskanzler unterstellt war.1864 Man könnte argumentieren, daß sich den übrigen Einzelstaaten des Reiches über ihre Einflußnahmemöglichkeiten auf Bundesratsebene ausreichend Möglichkeiten geboten hätten, daß preußische Übergewicht in der deutschen Militärverwaltung auszugleichen. Dieses Argument erweist sich aber bei genauerer Betrachtung als nur bedingt zutreffend. Korrekt ist, daß die Staaten über den Bundesrat zusammen mit dem Reichstag auf die militärische Reichsgesetzgebung und das Budgetrecht einwirken konnten, da der Militärhaushalt Teil des Reichshaushaltes war.1865 Die laut Art. 8 I 1) und 2) RV1866 einzurichtenden Ausschüsse für das Landheer und die Festungen und das Seewesen boten den Staaten aber keinerlei zusätzliche Plattform, sich in militärische Belange des Reiches einzubringen1867; sie waren ausschließlich als Organe der Informationsvermittlung und nicht zur Beratung oder gar Beschlußfassung konzipiert. Sie sollten den Bundesrat schlicht über laufende Angelegenheiten und Dienstbeziehungen der preußischen Militärverwaltung und den wenigen Staaten, die nach wie vor über eine selbständige Militärverwaltung verfügten, informieren.1868 1862

Meyer, Lehrbuch (Fn. 1246), § 137 (S. 538). Rosenau, Hegemonie (Fn. 1784), S. 108. 1864 Bismarck höchstselbst ging davon aus, der preußische Kriegsminister sei kein Geringerer „als factischer Inhaber der Reichsmilitärverwaltung“, siehe den Brief an Delbrück vom 12. September 1874, abgedruckt in: W. Windelband/W. Frauendienst (Hrsg.), Bismarck, Die gesammelten Werke, Briefe, Bd. 14, 2. Aufl. 1933, Nr. 1526, S. 864 (864); Bezugnahme bei Morsey, Reichsverwaltung (Fn. 1213), S. 233; zur preußischen Militärverwaltung als Reichsmilitärverwaltung W. Hubatsch, § 5: Die Verwaltung des Militärwesens 1867–1918, in: K. G. A. Jeserich/H. Pohl/G.-C. v. Unruh (Hrsg.), Deutsche Verwaltungsgeschichte, Bd. III, 1984, S. 310 (316 ff.) und zum Gewicht des preußischen Kriegsministeriums siehe auch Haenel, Staatsrecht (Fn. 1246), S. 521 f. 1865 Rosenau, Hegemonie (Fn. 1784), S. 108. 1866 Siehe Huber (Hrsg.), Dokumente 2 (Fn. 1245), Nr. 261 (Nr. 218), S. 388. 1867 Rosenau, Hegemonie (Fn. 1784), S. 108. 1868 Siehe abermals Art. 63 Abs. 5 RV: „Behufs Erhaltung der unentbehrlichen Einheit in der Administration, Verpflegung, Bewaffnung und Ausrüstung aller Truppen1863

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bb) Schwächung der Stellung Preußens innerhalb der Reichsverwaltung durch Emanzipationstendenzen der Reichsregierung Preußen gelang es zunächst, die eigenen Institutionen auf das Reich zu übertragen.1869 Faktisch wurde das Reich in den Anfangsjahren von Preußen verwaltet und geführt.1870 Wäre diese Entwicklung ungestört so vorangeschritten, hätte dies sicherlich den Ausbau preußischer Hegemonialstellung im Reich begünstigt.1871 Doch es kam anders1872: Ab 1875/76 wurden preußische Behörden in der Erledigung der Reichsverwaltungsaufgaben von Abteilungen des Reichskanzleramtes abgelöst1873 und zahlreiche neue Reichsverwaltungsbehörden geschaffen, so daß Preußen seine Hegemonialstellung innerhalb der Reichsverwaltung einbüßen mußte. Die Kreation dieser neuen reichseigenen Verwaltungseinrichtungen nahmen die Länder mit Besorgnis zur Kenntnis, da sie regelmäßig eine Einbuße der eigenen Kompetenzen bedeutete.1874 Preußen, das voller Stolz nicht nur auf sein streng hierarchisch organisiertes Militärwesen, sondern eben auch und gerade auf seinen im Reich mit Abstand am besten funktionierenden Verwaltungsapparat blickte1875 und sich darüber in großem Maße definierte, sah theile des Deutschen Heeres sind die bezüglichen künftig ergehenden Anordnungen für die Preußische Armee den Kommandeuren der übrigen Kontingente, durch den Artikel 8 Nr. 1 bezeichneten Ausschuß für das Landheer und die Festungen zur Nachahmung in geeigneter Weise mitzutheilen“, zitiert nach Huber (Hrsg.), Dokumente 2 (Fn. 1245), Nr. 261 (Nr. 218), S. 399. Dazu Laband, Staatsrecht I (Fn. 1246), § 31, S. 290. 1869 Treitschke, Politik II (Fn. 18), S. 346. 1870 Born, Preußen (Fn. 1502), S. 28; siehe abermals das Schreiben des Staatssekretärs des Innern Staatsminister Delbrück an den Reichskanzler von Bethmann Hollweg vom 18. November 1912, abgedruckt in: Goldschmidt, Reich (Fn. 1573), Nr. 108, S. 339. 1871 Rosenau, Hegemonie (Fn. 1784), S. 89. 1872 Wobei einige Abhandlungen diese Wende anscheinend nicht zur Kenntnis nehmen und eher allgemein auf bürokratisch-militärische Einflüsse Preußens auf Deutschland verweisen, siehe Kocka, Vorindustrielle Faktoren (Fn. 1647), S. 266 m.w. N. 1873 Siehe dazu die detaillierte Listung bei Rosenau, Hegemonie (Fn. 1784), S. 86 f. Was Boldt, Konstitutionalismus (Fn. 1269), S. 126 mit der vagen Bemerkung, daß auch diese originären, neu gegründeten Reichsministerien vom preußischen „Unterbau“ abhängig geblieben seien, genau meint, bleibt offen. 1874 Huber, Verfassungsgeschichte III (Fn. 1217), S. 962; Rosenau, Hegemonie (Fn. 1784), S. 88 f. 1875 Bestärkt fühlte sich Preußen in dieser Selbsteinschätzung durch die Übernahme der preußischen Organisationsstrukturen von Verwaltung, wie der Behörden, Gemeinden oder der Verwaltungsgerichtsbarkeit, durch viele andere Teilstaaten des Reiches. Teilweise war die Übernahme preußischer Vorgaben sogar verfassungsrechtlich angeordnet (siehe Art. 61 RV zur Adaption der preußischen Militärgesetzgebung oder Art. 63 Abs. 2 RV zur Bekleidung aller Reichssoldaten nach preußischem Vorbild). Manche Länder wiederum übetrugen aus freien Stücken über Konventionen eigene Hoheitsrechte an Preußen und lagerten so ganze Bereiche der Verwaltung komplett aus oder schlossen sich Verwaltungsgemeinschaften unter preußischer Führung an, siehe zu alledem Rosenau, Hegemonie (Fn. 1784), S. 90. Triepel, Hegemonie (Fn. 1784), S. 563 spricht in diesem Kontext vom „paradigmatische[n] Charakter der preußischen Hegemonie“.

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sich von den Emanzipationstendenzen des Reiches alamiert und versuchte mit allen Mitteln, diese aufzuhalten: „Diese beiden ,Großregierungen‘ mußten in Konkurrenz zueinander treten: das bisher mit Reichsaufgaben bedachte, jetzt mehr und mehr auf nur-preußische Anliegen beschränkte Preußen begann aus eigenem Machtstreben auf die Reichsleitung einzuwirken, (. . .).“ 1876 Diese Entkoppelung des Reiches vom preußischen Verwaltungsapparat erweist sich als eine der Ursachen für die Herausbildung des preußisch-deutschen Dualismus.1877 f) Resümee Alles in allem läßt sich die Hegemonialstellung Preußens im Reich schließlich zwar keinesfalls allein, aber wohl im Wesentlichen auf die Vorgaben der Verfassung von 1871 zurückführen.1878 Diese verfassungsrechtlich begründete Sonderstellung Preußens erwies sich als äußerst standfest, da sie auf mehreren Pfeilern ruhte. Insbesondere die Personalunion von preußischem König und deutschem Kaiser, Preußens Sperrminorität im Bundesrat sowie die zahlreichen Privilegien im Bereich des Militär- und Beamtenwesens erlaubten es Preußen, in allen wesentlichen Bereichen des Staatslebens den mit Abstand größten Einfluß auf das Reich und mithin auch auf die anderen Teilstaaten nehmen zu können. Dennoch darf nicht der Eindruck entstehen, daß Preußen dem Reich seine militärischen Reglements und gut ausgebildeten Beamten gegen dessen Willen aufgedrängt habe. Gegenteiliges war der Fall: Das noch junge Deutsche Reich richtete bereitwillig den Aufbau seines Militärapparates am preußischen Vorbild aus und bediente sich in den Anfangsjahren dankbar der gut organisierten preußischen Verwaltungsinfrastruktur zur Erfüllung von originären Reichsverwaltungsaufgaben. IV. Das Dreiklassenwahlrecht als letzte Waffe Preußens im Kampf gegen ein Aufgehen im Reich Preußen wußte wesentliche Bestandteile seiner Identität in das neu gegründete Deutsche Reich zu überführen, um seine (Vor-)Machtstellung im Reich abzusichern und möglichst noch weiter auszubauen. Es genoß in vielerei Hinsicht eine 1876 E. Widder, Reich und Preußen vom Regierungsantritt Brünings bis zum Reichsstatthaltergesetz Hitlers. Beiträge zum Reich-Länder-Problem der Weimarer Republik, Diss. phil. 1959, S. 7. Dazu knapp Puhle, Parlament (Fn. 1657), S. 351. 1877 W. Apelt, Geschichte der Weimarer Verfassung, 1946, S. 17 f. Siehe hierzu ausführlich auf S. 344 ff. 1878 So G.-C. v. Unruh, Die verfassungsrechtliche Stellung Preußens im Norddeutschen Bund und im Deutschen Reich nach den Verfassungen von 1867/1871 und 1919, in: O. Hauser (Hrsg.), Preußen, Europa und das Reich, 1987, S. 261 (264 ff.). Auch Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte III (Fn. 401), S. 356 weist darauf hin, die Hegemonialstellung Preußens sei durch Bismarcks Einsatz für Preußen mehrfach abgesichert gewesen, über die Reichsverfassung sowie die gängige Praxis.

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verfassungsrechtlich bedingte Hegemonialstellung im Reich. Dies sind alles objektiv-nachweisbare Fakten. Es ist jedoch noch ungeklärt, wie sich diese Fakten auf das Verhältnis zwischen Preußen und Reich auswirkten und ob sich dieses eher als Konkurrenz- oder Kooperationsverhältnis beschreiben läßt. 1. Preußen und das Deutsche Reich im Spannungsverhältnis wechselseitiger Interdependenzen

Die Reichsverfassung von 1871 beendete die Existenz Preußens als souveräner Staat.1879 Von der Geburtsstunde des Deutschen Reiches an gestaltete sich das Verhältnis zwischen dem Reich und seinem größten Teilstaat Preußen dennoch als gleichermaßen eng wie problematisch. Triepel bemerkte hierzu in seiner Monographie „Unitarismus und Föderalismus im Deutschen Reiche“ aus dem Jahre 1907: „Denn das besondere Verhältnis Preußens zum Reiche, das in keinem Bundesstaate der Gegenwart seines Gleichen findet, ist das rechtlich wie politisch wichtigste Stück, aber freilich auch die heikelste Seite unserer Verfassung. (. . .) Die ständige Verstärkung des Kaisertums und die Ausbildung einer ,Reichsregierung‘ richtete sich gegen die preußische Staatsgewalt fast noch mehr als gegen die anderen. (. . .) Die kaiserliche Regierung kann gar nicht ohne die engste Fühlung mit der preußischen geführt werden.“ 1880 Anschütz bediente sich in diesem Kontext der geflügelten Wendung vom „gordischen Knoten des preußisch-deutschen Dualismus“ 1881, den es zu zerschlagen galt. In der Tat prägten die bereits dargestellten zahlreichen personellen wie institutionellen Interdependenzen1882, der „Dualismus der Institutionen zwischen Preu1879 Statt vieler Anschütz, Wahlreform (Fn. 31), S. 10; Hubatsch, Preußen und das Reich (Fn. 1608), S. 11. Preußen war auch nicht länger selbständiges Völkerrechtssubjekt, siehe Haffner, Preußen ohne Legende (Fn. 1569), S. 341; Born, Preußen (Fn. 1502), S. 36. Unklar die Behauptung bei Treitschke, Politik II (Fn. 18), S. 344 f., Preußen habe als einziger der führenden Staaten seine Souveränität über die Reichsgründung hinaus retten können. 1880 H. Triepel, Unitarismus und Föderalismus im Deutschen Reiche. Eine staatsrechtliche und politische Studie, 1907, S. 105 ff. 1881 Anschütz, Wahlreform (Fn. 31), S. 35; Bezugnahme u. a. bei Patemann, Kampf (Fn. 1320), S. 232. Daß die Problematik dieses diffizilen Verhältnisses ihn nachhaltig, ja sogar noch nach der Gründung der Weimarer Republik beschäftigte und umtrieb, belegt unter anderem G. Anschütz, Das preußisch-deutsche Problem. Skizze zu einem Vortrage, 1922. Gleich zu Anfang bringt er die Grundproblematik auf den Punkt, wenn er sich selbst vornimmt, in seiner Abhandlung Folgendes zu hinterfragen: „Ist ein Bundesstaat denkbar, in dem ein Gliedstaat allein doppelt so groß und volkreich ist als die andern Gliedstaaten alle zusammen? Kann ein solcher Bundesstaat jemals etwas anderes sein als die Herrschaft des stärksten Gliedes über die andern Glieder?“ (ebd., S. 1). Im Verlauf seiner Ausführungen gelangt er dann zu dem ernüchternden, ja fast schon resignierenden Befund, man sei „von einer richtigen, d.h. den nationalen Gesamtinteressen entsprechenden Einfügung Preußens in das Reichsganze heute, und gerade heute, weiter entfernt als je“ (ebd., S. 5). 1882 Huber, Verfassungsstaat (Fn. 1213), S. 192.

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ßen und dem Reich“ 1883, die Koexistenz der beiden. Daß es zu Konflikten zwischen Preußen und Reich kommen mußte, nahm Bismarck billigend in Kauf. Er „stellte den preußischen Staat, so wie er war, als Zitadelle in das Staatsleben des Reiches hinein“, nicht zuletzt, weil „gerade der Dualismus von Abgeordnetenhaus und Reichstag ein für ihn unschätzbares Herrschaftsmitttel“ und das dem preußischen Abgeordnetenhaus zugrundeliegende, vom Reichstagswahlrecht fundamental abweichende „preußische Dreiklassenwahlrecht als ein unentbehrliches Korrektiv des Reichstagswahlrechtes“ zu dienen vermochte.1884 Die Krux des langen Bestandes des Dreiklassenwahlrechts liegt mithin auch darin begründet, daß der Dualismus der Wahlsysteme in Preußen und auf Reichsebene in den Anfangsjahren des neu gegründeten Reiches nicht nur geduldet, sondern gar erwünscht war. Das noch junge und unerfahrene Reich hatte sich Preußen zunächst der Einfachheit halber gerne zum Vorbild genommen und Anleihen im Militärund Verwaltungswesen, ja ganz allgemein in rechtlicher Organisation des Staatswesens dort genommen. Es wurde weitgehend von Preußen gelenkt und verwaltet.1885 Zudem sah man, was dem inneren Frieden im Reich zugute kam, nicht zuletzt aufgrund des bestehenden Dreiklassenwahlrechts, das konstante konservative Mehrheiten in Preußen sicherte, davon ab, das Reichstagswahlrecht in Frage zu stellen.1886 a) Verdrängung Preußens in die Opposition durch Emanzipationsstreben des Reiches Preußen fürchtete nach den Anfangsjahren und der Überwindung der Probleme kurz nach der Reichsgründung im immer selbstbewußter und eigenständiger agierenden, nach Emanzipation drängenden Reich, in dem mittlerweile „selbst ein mächtiger Organismus von Zentralbehörden erwachsen“ war1887, unter- bzw. aufzugehen. Vorboten gab es aus preußischer Sicht dafür viele:

1883 Puhle, Parlament (Fn. 1657), S. 347 und abermals fast identische Formulierung bei ders., Preußen (Fn. 1657), S. 35. Siehe zur Problematik der Herstellung eines Ausgleichs von preußischem Willen und dem des Reiches und zum zu weitreichenden Folgeproblemen führenden schwierigen Verhältnis zwischen dem Kanzler und den preußischen Ressortministern Meinecke, Reform (Fn. 1654), S. 12 f. Das letztgenannte Problem sieht auch Anschütz, Wahlreform (Fn. 31), S. 13 ff., der fordert, die Ressortminister dem Ministerpräsidenten offiziell dienstlich unterzuordnen (S. 14), um diesem so institutionell die Machtposition zu garantieren, die Bismarck – allein aufgrund seiner Persönlichkeit und seines Gebarens – anheimfiel (S. 15). Zu diesem Spannungsfeld siehe des Weiteren auch die Sitzung des Hauses der Abgeordneten vom 25. Januar 1873, abgedruckt in: H. Kohl (Hrsg.), Die Reden des Ministerpräsidenten und Reichskanzlers Fürsten von Bismarck im Preußischen Landtage und im Deutschen Reichstage. 1871–1873. Kritische Ausgabe, Bd. V, 1893, S. 360 ff. 1884 Alle Zitate bei Meinecke, Reform (Fn. 1654), S. 11, 9, 10. 1885 Siehe beispielsweise Born, Preußen (Fn. 1502), S. 28 und bereits auf S. 354 ff. 1886 Vogel/Nohlen/Schultze, Wahlen (Fn. 40), S. 125. 1887 Meinecke, Reform (Fn. 1654), S. 11.

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Erstens die zunehmende Ausbildung eigener Reichsämter, -ministerien und -behörden im Verwaltungswesen, die den preußischen entgegengesetzt wurden, und Preußen mehr und mehr aus der Reichsverwaltung herausdrängten.1888 Zweitens die Entkoppelung der Reichsgesetzgebung von Preußen und die Herausbildung einer selbständigen Reichsregierung, die doch bisher fest in preußischer Hand gelegen hatte. Es war z. B. gängige Praxis gewesen, daß Vorlagen für Reichsgesetze auf Forderung des Reichskanzleramtes im zuständigen Ministerium Preußens ausgearbeitet und dann an den jeweiligen preußischen Ressortminister weitergeleitet wurden, der den Entwurf im Reichstag vorstellte.1889 Mit anderen Worten: Preußen machte im Reich die Gesetze.1890 1879 setzte Bismarck sich auf der Konferenz der Chefs der obersten Reichsbehörden dafür ein, „daß diejenigen Gesetzesvorlagen, welche lediglich aus dem Bedürfnis des Reichs hervorgingen, also auch der Etat, im Bundesrate als Präsidialvorlagen eingebracht und den preußischen Ressortministern nur zur Kenntnisnahme mitgeteilt würden“ 1891. Dieser Vorschlag, der sich aufgrund der Befürwortung der Staatssekretäre der Reichsämter auch durchsetzen konnte, sollte das Verhältnis Preußens zum Reich durchgreifend verändern. Die Verfassung kannte keine Präsidialvorlagen, d.h. Gesetzesvorlagen, die von der Reichsleitung in den Bundesrat eingebracht wurden.1892 Die damalige Staatsrechtslehre behandelte Präsidialvorlagen daher als Vorlagen Preußens1893, was sie de facto nicht waren. Die Aufgabe der Ausarbeitung von Präsidialvorlagen wurde der preußischen Regierung entzogen und an die Reichsämter übertragen1894, mithin das Initiativrecht des Reiches dem preußischen Einflußbereich entzogen, so daß sich nunmehr „der Sache nach eine selbständige Reichsregierung“ 1895 herausbilden konnte. Dittens sorgte Preußen sich ob des sich immer mehr verselbständigenden Prozesses der sog. Staatssekretarisierung, d.h. der schon seit dem Norddeutschen 1888

Siehe hierzu bereits S. 357 ff. Born, Preußen (Fn. 1502), S. 28; Schreiben des Staatssekretärs des Innern Staatsminister Delbrück an den Reichskanzler von Bethmann Hollweg vom 18. November 1912, abgedruckt in: Goldschmidt, Reich (Fn. 1573), Nr. 108, S. 339 f. 1890 Puhle, Preußen (Fn. 1601), S. 36. 1891 Siehe das Protokoll der Konferenz der Chefs der obersten Reichsämter vom 9. April 1879, abgedruckt in: Goldschmidt, Reich (Fn. 1573), Nr. 64, S. 253. 1892 Art. 7 Abs. 2 RV spricht das Recht, Gesetzesvorlagen in den Bundesrat einzubringen, nur den Ländern zu: „Jedes Bundesglied ist befugt, Vorschläge zu machen und in Vortrag zu bringen, und das Präsidium ist verpflichtet, dieselben der Berathung zu übergeben.“ 1893 Kritisch gegenüber dieser herrschenden Lehre Huber, Verfassungsgeschichte III (Fn. 1217), S. 857 f. 1894 Born, Preußen (Fn. 1502), S. 32. 1895 Siehe abermals das Schreiben des Staatssekretärs des Innern Staatsminister Delbrück an den Reichskanzler von Bethmann Hollweg vom 18. November 1912, abgedruckt in: Goldschmidt, Reich (Fn. 1573), Nr. 108, S. 339. 1889

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Bund gängigen Praxis, Staatssekretäre des Reiches gleichzeitig zu preußischen Staatsministern zu ernennen.1896 Während einige der anderen Länder die Entwicklung mit Sorge vor einer damit einhergehenden Stärkung der Position Preußens im föderativen Gefüge zur Kenntnis nahmen1897, trat Gegenteiliges ein. Die „Staatssekretarisierung Preußens, von ihren Kritikern als ,Mediatisierung Preußens‘ beklagt, führte dazu, daß das Reich erheblichen Einfluß auf die preußische Politik gewann“ 1898. In der sog. Ära Posadowsky, die etwa 1896 begann, ernannte man die Staatssekretäre des Reiches zu preußischen Bundesratsbevollmächtigten und in den Bundesratsausschüssen für Finanzen, Handel, Verkehr und Justizwesen wurde der Vorsitz, der den preußischen Ressortministern zugestanden hatte, auf die Staatssekretäre der Reichsämter übertragen. Ziel war es, das Agieren Preußens im Sinne der Reichsleitung sicherzustellen, was über die preußischen Bundesratsbevollmächtigten, die zwar offiziell die Interessen der Regierung Preußens, tatsächlich aber wegen ihrer Weisungsgebundenheit an den Reichskanzler die des deutschen Reiches vertraten, auch sehr gut gelang.1899 Das Reich begnügte sich nicht damit, sich über die Etablierung eigener Verwaltungsbehörden und einer selbständigen Regierung von Preußen zu emanzipieren, sondern ging noch einen Schritt weiter und suchte sich in die politischen Belange Preußens aktiv einzumischen. Das Verhältnis zwischen Preußen und Reich hatte sich so im Vergleich zu den Anfangsjahren ins Gegenteil verkehrt: Nicht mehr das Reich war von Preußen und dessen Institutionen abhängig, sondern Preußen trat zunehmend in ein Abhängigkeits- und Kontrollverhältnis zum Reich.1900 b) „Hände weg vom alten Preußen“ als Antwort auf das Unabhängigkeitsstreben des Reiches Diese massiven Einwirkungen des Reiches über die Reichsstaatssekretäre auf die preußischen Ministerien wurden wiederum, wie zu erwarten, in Preußen nicht protestlos geduldet. Nachdem Preußen beispielsweise in einem seiner eigenen Ministerien eine Überstimmung durch das Reich erfahren hatte1901, beklagten 1917 einige Mitglieder des preußischen Abgeordnetenhauses wegen der 1896 K. E. Born, Preußen und Deutschland im Kaiserreich. Festvortrag, gehalten bei der feierlichen Immatrikulation an der Universität Tübingen am 23. Mai 1967, 1967, S. 9 f.; ausführlich zur Staatssekretarisierung Preußens auch Rosenau, Hegemonie (Fn. 1784), S. 32 ff.; Born, Preußen (Fn. 1502), S. 34 ff.; knapp dazu Puhle, Parlament (Fn. 1657), S. 351. 1897 H. Croon, Die Anfänge der Parlamentarisierung im Reich und die Auswirkungen auf Preußen, in: O. Hauser (Hrsg.), Zur Problematik „Preußen und das Reich“, 1984, S. 105 (107). 1898 Rosenau, Hegemonie (Fn. 1784), S. 37. 1899 Born, Preußen (Fn. 1502), S. 33 f. 1900 Born, Preußen (Fn. 1502), S. 34. 1901 Rosenau, Hegemonie (Fn. 1784), S. 37.

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Bindung preußischer Staatssekretäre an die Anweisungen des Reichskanzlers existiere gar kein selbständiges preußisches Staatsministerium mehr1902. Die zunehmende Reichsgesetzgebungstätigkeit, besonders in den Bereichen der Wirtschafts-, Finanz- und Sozialpolitik1903, beunruhigte natürlich gründsätzlich alle Länder des Reiches1904. Diese fürchteten im Übrigen eine „Verpreußung“ des Reiches bei weitem weniger als eine Schwächung Preußens gegenüber dem Reich.1905 Preußen galt als „Hüter der föderativen Verfassung des Reiches“ 1906, mithin als Hüter der Eigenständigkeit der Länder im Reichsverbund. Preußen sorgte sich vor einer Verdrängung durch das Reich aber ungleich mehr, was zum einen erneut auf das dort besonders stark ausgeprägte Nationalgefühl, das Elitebewußtsein, zum anderen auf die außerordentliche und im Vergleich zu den anderen Teilstaaten ungleich größere Machtfülle Preußens im Reich zurückzuführen ist. Für Preußen stand mehr auf dem Spiel, als für Kleinstaaten, die kaum über nennenswerte verfassungsrechtliche Kompetenzen auf Reichsebene verfügten oder diese gar freiwillig über Konventionen bereits an Preußen abgetreten hatten. Vielleicht war der preußische Überlebensinstinkt auch deshalb stärker ausgeprägt als bei anderen Teilstaaten, weil es – anders als beispielsweise die Rheinbundstaaten – in der Vergangenheit um sein Fortbestehen nach der katastrophalen militärischen Niederlage gegen Frankreich hatte kämpfen müssen: „Ganz anders als in den Rheinbundstaaten stellte sich die Ausgangslage für Preußen dar. Hier ging es um die Behauptung als Staat, ums Überleben schlechthin, um Regeneration auf kurze und längere Sicht anstatt um das Zusammenschweißen von Staaten, die sich äußerst erfolgreich vergrößert hatten.“ 1907 Zudem empfand Preußen das Unabhängigkeitsstreben des Reiches, das Lossagen von Preußen unter Beschneidung dessen Kompetenzen im Reich als Zeichen des Undanks, ja es war vielleicht sogar ernsthaft gekränkt. Insbesondere die sog. borussische Schule1908 hatte ein Rollenbild Preußens propagiert, das ihm die wichtige und ehrenhafte Aufgabe zuwies, das Deutsche Reich nach dem Untergang des Alten Reiches aufzubauen, ihm zu einer neuen und dauerhaften Ordnung zu verhelfen. Preußen war dieser Mission mit Eifer nachgekommen, nicht 1902

Siehe: Der preußische Landtag gegen „Staatssekretarisierung“ Preußens, abgedruckt in: Goldschmidt, Reich (Fn. 1573), Nr. 62, S. 124. 1903 Puhle, Parlament (Fn. 1657), S. 342. 1904 Huber, Verfassungsstaat (Fn. 1213), S. 192 f. (die Länder seien angesichts der raschen Entwicklung des Reiches zu einer eigenständigen politischen Größe um ihrer „Eigenstaatlichkeit“ in Sorge gewesen). 1905 Siehe: Der preußische Gesandte Graf von Schwerin an den preußischen Minister der auswärtigen Angelegenheiten Dr. von Bethmann Hollweg vom 11. Juli 1914, abgedruckt in: Goldschmidt, Reich (Fn. 1573), Nr. 113, S. 349 f. 1906 Born, Preußen (Fn. 1502), S. 34. 1907 Wehler, Gesellschaftsgeschichte I (Fn. 11), S. 537. 1908 Siehe hierzu bereits in und um Fn. 1612.

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zuletzt, weil es sich vom Vorwurf des eigenen machtpolitischen Strebens mit Verweis auf diesen Auftrag rehabilitieren konnte.1909 Nicht selten war gar vom deutschen „Beruf Preußens“ 1910 die Rede. Man erhob nach wie vor „Anspruch auf eine Führungsstellung in ganz Deutschland“ 1911. Was nun, da das Deutsche Reich zu einer stabilen Ordnung und Einheit gefunden hatte und diese Mission scheinbar beendet war? Die Angst Preußens, die eigene Identität im Reich einbüßen zu müssen, insbesondere die des preußischen Landadels, in der Bedeutungslosigkeit unterzugehen1912, wuchs stetig und schien schließlich auch im politischen Diskurs dauerhaft angekommen zu sein. So forderte der Abgeordnete Graf Yorck von Wartenburg im Januar 1914 im preußischen Herrenhaus die Staatsregierung nachdrücklich auf, „im Reiche dahin zu wirken, daß der Stellung Preußens, auf die es seiner Geschichte und seinem Schwergewicht nach Anspruch hat, nicht dadurch Abbruch geschieht, daß eine Verschiebung der staatsrechtlichen Verhältnisse zu Ungunsten der Einzelstaaten Platz greift“ 1913. Drei Jahre später erhob er in einer Rede im Herrenhaus erneut das Wort und kritisierte das Reich aufs Schärfste, da es vermehrt und auf Kosten Preußens über seine Ausschüsse die eigenen Recht zu erweitern suche, um „sich unmittelbar in die Exekutive zu mischen“ 1914. Ein hoher preußischer Beamter brachte die Angst, die Preußen umtrieb, noch viel früher kurz und prägnant auf den Punkt: „Der Bismarck ruiniert uns noch den ganzen preußischen Staat!“ 1915 Insbesondere die preußischen Konservativen kämpften seit jeher für den Erhalt des geschichtlich gewordenen Preußens. Im Parteiprogramm des 1861 von Altkonservativen gegründeten „Preußischen Volksvereins“ heißt es hierzu beispielsweise entschlossen: „Keine Verleugnung unseres Preussischen Vaterlandes und seiner ruhmreichen Geschichte; kein Untergehen in dem Schmutz einer deutschen

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Born, Preußen (Fn. 1502), S. 39. Siehe dazu Hardtwig, Aufgabe (Fn. 1615), S. 103 (103). 1911 Wehler, Gesellschaftsgeschichte I (Fn. 11), S. 528. 1912 Dazu Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte III (Fn. 401), S. 1276 f. 1913 Siehe die 1. Sitzung des Herrenhauses vom 8. Januar 1914, abgedruckt in: Stenographische Berichte Herrenhaus Session 1914/15 (Fn. 1716), Sp. 5 (10) sowie die erläuternden Ausführungen des Grafen im Rahmen der Schlußberatung seines Antrags in der 3. Sitzung vom 10. Januar 1914, abgedruckt in: Stenographische Berichte Herrenhaus Session 1914/15 (Fn. 1716), Sp. 21 ff. 1914 Zitiert nach der 16. Sitzung des Herrenhauses vom 9. März 1917, abgedruckt in: Stenographische Berichte über die Verhandlungen des Preußischen Herrenhauses in der Session 1916/18 nebst Inhaltsverzeichnis sowie alphabetischem Sachregister und Sprechregister am Schlusse des Bandes, 1918, Sp. 341 (350); zur entsprechenden Debatte im Herrenhaus siehe auch Patemann, Kampf (Fn. 1320), S. 50 ff. 1915 Siehe „Der sächsische Gesandte Frh. von Koenneritz an den Geheimen Rat im sächsischen Ministerium für die auswärtigen Angelegenheiten von Bose, Dresden vom 25. September 1867“, abgedruckt in: Goldschmidt, Reich (Fn. 1573), Nr. 3, S. 139. 1910

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Republik; kein Kronenraub und Nationalitäten-Schwindel.“ 1916 Sogar Wilhelm I. hatte sich zunächst mit der Begründung, die Kaiserproklamation läute das Ende des alten Preußens ein1917, geweigert, den Titel des deutschen Kaisers anzunehmen. Er tat es letztlich auch und nur unter großem Protest1918. Die in Preußen dominierenden konservativen Kräfte hatten den Kampf gegen die Gefahr eines Aufgehens Preußens im Reich verinnerlicht und waren nicht bereit, den immer deutlicher zu Tage tretenden Gegensatz zwischen Preußen und Reich durch Zugeständnisse Preußens zu überbrücken.1919 Man steigerte sich im Kampf um die Erhaltung der eigenen Identität gar in eine Art fanatischen preußischen Nationalismus1920: „Je mühseliger der Weg in die Modernität, je schmerzhafter die Modernisierungskrisen, das ist die Erklärungshypothese, desto leidenschaftlicher und radikaler die kompensatorischen Versprechungen des Nationalismus.“ 1921 Für die Konservativen war Preußen mit all seinen Eigenarten ein „Gefühlswert“ 1922, was es ihnen unmöglich machte, sich wie beispielsweise Anschütz nüchtern einzugestehen, daß Preußen sich die Hegemonie im Reich mit der Aufgabe (zumindest eines Großteils) der eigenen Identität erkauft hatte: „Macht verpflichtet. Wer darin einen Verlust sieht, muß sich damit abfinden: die Führerschaft in Deutschland hat Preußen bezahlen müssen und bezahlt mit erheblichen Stücken seiner geschichtlichen Eigenart. Die Führerschaft in Deutschland bedeutet und bedingt ein ,Aufgehen in Deutschland‘, nicht zwar im Sinne eines Verlustes der Eigenschaft als Staat, aber im Sinne des Verlustes der Souveränetät, 1916 Programm wiedergegeben bei F. Salomon, Die deutschen Parteiprogramme, 1907, Nr. 25, S. 50 (50, Hervorhebungen i. O., A. S.). 1917 Siehe den Brief Wilhelms vom 18. Januar 1871, abgedruckt in: E. Brandenburg, Briefe Kaiser Wilhelms des Ersten. Nebst Denkschriften und anderen Aufzeichnungen in Auswahl, 1911, Nr. 162, S. 254 ff. 1918 Born, Preußen (Fn. 1502), S. 110. 1919 Aus diesem Grunde geriet Preußen zusehens „in die Rolle eines Gegengewichts, ja oft Hemmnisses des Reichs“, so W. Frauendienst, Demokratisierung des deutschen Konstitutionalismus in der Zeit Wilhelms II. Joseph Lortz in Verehrung zum 70. Geburtstag, in: Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft 113 (1957), S. 721 (742). Im Übrigen zeigte Preußen von Anfang an nicht die geringste Bereitschaft, hinter dem Reich zurückzustehen. Als der deutsche Nationalfeiertag – um nur ein Beispiel für die preußische Unnachgiebigkeit aufzuzeigen – im Gedenken an den Jahrestag der Kaiserproklamation auf den 18. Januar gelegt werden sollte, stellte sich Preußen quer, weil es sich bei diesem Tag ebenso um den der ersten preußischen Königskrönung handelte und dieser nicht über einen gesamtdeutschen Nationalfeiertag in Vergessenheit geraten sollte, siehe Born, Preußen (Fn. 1502), S. 36 f.; zu den Maßnahmen der Konservativen im Rahmen des grundsätzlichen Kampfes gegen das parlamentarische Regierungssystem siehe K. Graf Westarp, Konservative Politik im letzten Jahrzehnt des Kaiserreiches, Bd. 1, 1935, S. 205 ff. 1920 Grundsätzlich zu den Anfängen des modernen deutschen Nationalismus Wehler, Gesellschaftsgeschichte I (Fn. 11), S. 506 ff. und zum Nationalismus als „identitätsstiftende Bewegung“, ebd., S. 510. 1921 Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte III (Fn. 401), S. 956. 1922 Anschütz, Wahlreform (Fn. 31), S. 11.

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und einer Beschränkung des Selbstbestimmungsrechtes, die (. . .) nicht weniger weit, sondern weiter reicht, als es bei den anderen Staaten des Reiches der Fall ist (. . .).“ 1923 c) Das Dreiklassenwahlrecht als letztes Bollwerk des aristokratischen Obrigkeitsstaates Die konservative preußische Führungselite verhielt sich gegensätzlich: Es galt dem aus ihrer Perspektive gefährlichen Machtstreben des Deutschen Reiches, das Kompetenzen wie Institutionen auf dessen Kosten an sich zog, etwas entgegenzusetzen, etwas identitätsstiftendes, das Preußen ganz deutlich vom Reich unterschied. Es galt „die überlieferte Eigenart (oder was man dafür hält) des Partikularstaates um jeden Preis zu wahren“ 1924. Und hier läßt sich der Bogen zum Dreiklassenwahlrecht erneut spannen. Gewiß suchten die Konservativen das Dreiklassenwahlrecht jedenfalls auch zur Sicherung der eigenen Machtposition zu schützen.1925 Die Bewahrung des Wahlsystems bedeutete für die in Preußen herrschende Schicht aber so viel mehr: Institutionell standen sich „in Preußen das Dreiklassenwahlrecht und ein kollegial organisiertes Staatsministerium als Relikt absolutistischer Zeiten, im Reich das allgemeine, gleiche Wahlrecht für den Reichstag und der Primat des Reichskanzlers und der preußischen Staatsregierung im Bundesrat“ 1926 gegenüber. Das Dreiklassenwahlrecht machte in Abgrenzung zum allgemeinen und gleichen (Männer-)Wahlrecht auf Reichsebene einen nicht zu unterschätzenden Teil der preußischen staatsrechtlichen Identität aus, ist wohl „eines der auffälligsten Symptome preußischer Sonderart“ 1927. Es entsprach seit jeher dem preußischen Verfassungsverständnis, daß Verfassung und Volksvertretung „eine Waffe im Kampfe um die nationale Existenz (. . .) sein“ sollten.1928 Und wenn man in Preußen schon nicht stark genug war, dem Reich seinen Willen aufzuzwingen, so mußte man zumindest unerwünschte Entwicklungen in Preußen mit aller Kraft zu verhindern suchen1929, so die Devise. Die Einführung des Reichstagswahlrechts in Preußen erschien der konservativen Führungselite alles andere als wünschenswert: Neben einer Machtverschiebung zu ihren Lasten1930 fürchtete man zudem beispielsweise, daß nach Einführung des allgemei1923

Anschütz, Wahlreform (Fn. 31), S. 10. Anschütz, Wahlreform (Fn. 31), S. 11. 1925 Siehe hierzu bereits ausführlich S. 331 ff. 1926 Puhle, Parlament (Fn. 1657), S. 347. 1927 Patemann, Kampf (Fn. 1320), S. 233. 1928 Meinecke, Reform (Fn. 1654), S. 3. 1929 F. Hartung, Preußen und das Deutsche Reich seit 1871. Rede gehalten bei der Reichsgründungsfeier der Friedrich-Wilhelms-Universität Berlin am 18. Januar 1932, 1932, S. 19 ff. 1930 Anschütz, Wahlreform (Fn. 31), S. 20. 1924

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nen und gleichen (Männer-)Wahlrechts der Kaiser die Minister nicht mehr nach freiem Ermessen ernennen könnte, sondern die Parlamente Mitspracherecht fordern würden1931. Am meisten fürchtete man aber, daß die Aufgabe des Dreiklassenwahlrechts als Kapitulation im Machtkampf mit dem Reich und „in der öffentlichen Meinung allgemein als ein weiteres Zurückweichen in der Richtung der Demokratisierung“ 1932 gewertet würde. Justizminister Beseler hatte in der Sitzung des Staatsministeriums am 5. April 1917 zugegeben, der Schritt des Kaisers in Richtung des gleichen Wahlrechts könne „vielleicht als Schwäche gedeutet werde(n), sei er aber tatsächlich eine politische Notwendigkeit“ 1933. Deshalb konnte und wollte Preußen nicht gemeinsam mit anderen Ländern, wie Württemberg, Baden und Bayern 1904 bzw. 1906, das allgemeine und gleiche (Männer-) Wahlrecht einführen.1934 Das Dreiklassenwahlrecht wurde als identitätsstiftendes Abgrenzungsmerkmal zum Reich schließlich zum „Bollwerk des aristokratischen Obrigkeitsstaates in Preußen“ 1935. Das krampfhafte Festhalten an einem derart ungerechten und – so wußte auch die Staatsregierung in Preußen – überholt-anachronistischen Wahlsystem, dessen Abschaffung nur noch eine Frage der Zeit war, kann nur als ein letztes Aufbäumen gegen die in Preußen gefürchtete, ebenfalls nicht mehr aufzuhaltende Entwicklung hin zu einem eigen- und selbständigen starken Deutschen Reich gewertet werden, in dem Preußen ein Land unter vielen sein würde. 2. Das unerbittliche Festhalten am anachronistischen Relikt Dreiklassenwahlrecht

Die Krux an der Sache ist, daß die vehemente Weigerung Preußens, das Reichstagswahlrecht zu adaptieren, um die eigene Hegemonialstellung im Reich zu verteidigen, sich letztlich als wesentliche Ursache für die Notwendigkeit des Reiches, sich von Preußen zu lösen, entpuppte. Während die unterschiedlichen Wahlmodi in den ersten Jahren zu kaum nennenswerten Unterschieden der Mehrheitsverhätnisse im preußischen und deutschen Parlament führten, sicherte das Dreiklassenwahlrecht ab 1881 den Konservativen, Freikonservativen und Nationalliberalen weiterhin eine kommode Mehrheit von mehr als 60 %. Im Reichstag erreichten die Parteien unter dem allgemeinen und gleichen (Männer-)Wahlrecht 1893 nur noch 39 % und 1912 25 % der Mandate im deutschen Reichstag. Die Reichspolitik mußte auf ganz andere Mehrheiten gestützt werden als die preußische, und Preußen war so letztlich gar nicht mehr in der Lage, das Reich zu len1931

Dokumentation der Sitzung des Kronrats (Fn. 34), S. 145. Zitiert nach der Dokumentation der Sitzung des Kronrats (Fn. 34), S. 148. 1933 Zitiert erneut nach der Dokumentation der Sitzung des Kronrats (Fn. 34), S. 146 mit Fn. 16. 1934 Dazu Puhle, Parlament (Fn. 1657), S. 350 m.w. N. 1935 Rosenberg, Demokratisierung (Fn. 273), S. 478; ähnlich Born, Preußen (Fn. 1502), S. 36 („Bollwerk der Regierungsmacht“). 1932

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ken und zu verwalten.1936 Im Übrigen hätte die nicht zur konservativen Führungselite aus adeligen Großgrundbesitzern und Angehörigen des gehobenen Beamten- und Militärwesens gehörende Mehrheit der Preußen der Abschaffung des Dreiklassenwahlsystems wohl nicht ablehnend gegenübergestanden, sondern sie gar begrüßt.1937 Darüber zu mutmaßen, ob die normative wie faktische Hegemonialstellung Preußens im Reich zwangsläufig zu diesem diffizilen Verhältnis zum Reich führen mußte, ist müßig und wenig zielführend, verbleiben doch alle Überlegungen im Bereich des Spekulativen. Fest steht, daß die preußische Hegemonialstellung keinen Selbstzweck verfolgte und schon gar nicht den Zweck, Preußen auch nach der Reichsgründung autark und mächtig und das Reich im Vergleich dazu klein zu halten. Ganz im Gegenteil: Sinn der Hegemonie war ja gerade „nicht die Herrschaft Preußens im Reich, sondern die Indienstnahme der preußischen Kräfte und Einrichtungen für das Reich“ 1938. Schließlich stand der preußische Hochmut der Annahme einer rein dienenden Funktion im und für das Reich und der vollständigen Unterordnung der preußischen Interessen unter die des Reiches im Wege. Während das Deutsche Reich sich von Preußen emanzipierte, zu einer Einheit zusammenwuchs und auch wirtschaftlich aufblühte, sah man in Preußen einem unaufhaltsamen Prozeß des Bedeutungs- und Identitätsverlustes ins Auge: „Die deutsche Geschichte wird unter Wilhelm II. bekanntlich sehr aufregend, eine hochdramatische Geschichte von Glanz und Elend, Höhenflug und Absturz, aber es ist nicht die deutsche Geschichte, die wir hier zu betrachten haben, sondern die preußische, und da finden wir uns, wenn das wilhelminische Zeitalter erreicht ist, in Verlegenheit: Denn plötzlich gibt es keine rechte preußische Geschichte mehr; was einmal preußische Geschichte gewesen war und selbst im Reich Bismarcks noch einen gewissen Kontrapunkt zur deutschen Geschichte dargestellt hatte, wird in der Zeit zwischen 1890 und 1914 zur belanglosen Provinzialgeschichte. (. . .) Und wenn es in diesem Zeitalter über Preußen noch Nennenswertes zu berichten gibt, dann ist es ein merkwürdiger Prozeß einer heimlichen Rückbildung und inneren Aufspaltung.“ 1939 Dabei fühlte man sich

1936 Born, Preußen (Fn. 1502), S. 35 f.; zur unterschiedlichen parteipolitischen Zusammensetzung der Gremien Anschütz, Wahlreform (Fn. 31), S. 16; zudem erneut das Schreiben des Staatssekretärs des Innern Staatsminister Delbrück an den Reichskanzler von Bethmann Hollweg vom 18. November 1912, abgedruckt in: Goldschmidt, Reich (Fn. 1573), Nr. 108, S. 341; Vogel/Nohlen/Schultze, Wahlen (Fn. 40), S. 116; F. Hartung, Deutsche Verfassungsgeschichte. Vom 15. Jahrhundert bis zur Gegenwart, 9. Aufl. 1950, S. 295 ff. 1937 So die Einschätzung von Anschütz, Wahlreform (Fn. 31), S. 12: „Man würde das befreiende Gefühl haben, nicht daß der preußische Staat aufgelöst, sondern daß eine von wenigen für wenige gehandhabte Parteiherrschaft zerstört, daß, um mit Friedrich Wilhelm I. zu sprechen, ,der Junkers ihre Autorität ruinieret‘ wurde.“ 1938 Huber, Verfassungsstaat (Fn. 1213), S. 192. 1939 Haffner, Preußen ohne Legende (Fn. 1569), S. 342.

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vom Deutschen Reich, das Preußen – zumindest aus der dortigen Perspektive – die Existenz zu verdanken hatte, ausgenutzt und an den Rand der Bedeutungslosigkeit gedrängt.1940 Die gewählte Taktik der Führungsschicht Preußens, die nicht nur am Dreiklassenwahlrecht, sondern ganz grundsätzlich „am ,System Preußen‘ festhielt, das ganz wesentlich auf einer spezifischen Form des arbeitsteiligen Herrschaftskompromisses zwischen Krone und Adel, Militär und Bürokratie und der entsprechenden institutionalisierten wechselseitigen Interessenwahrung beruhte“ 1941, konnte und sollte nicht aufgehen. „Überspitzt gesagt: Das preußische System war vor allem aufgrund der Rigidität und Konsequenz seiner Bauprinzipien und Lebensgesetze langfristig auf Untergang programmiert (. . .).“ 1942 So führte Preußen – unfähig, sich unzweckmäßiger Relikte, wie des übersteigerten Militarismus oder des um die alte Herrschaftsschicht des Landadels rankenden Privilegienwesens zu entledigen1943 – sich mit wehenden Fahnen in den „selbstverschuldeten Untergang“ 1944. Die Konservativen vermochten diesem aufgrund ihrer Unnachgiebigkeit in letzter Konsequenz nichts mehr entgegenzusetzen: „Der Charakter der konservativen Wahlrechtspolitik als eines virtuos gespielten, aber engstirnig-egoistischen, auf eine einzige Karte gesetzten Vabanquespiels ohne Rücksicht auf die Folgen für das Gesamtwohl zeigte sich mit erbarmungsloser Deutlichkeit an den hilflosen Reaktionen, als diese Karte nicht stach, und an der völligen Kapitulation, als es zu spät war.“ 1945 So sollte sich schlußendlich Thimmes Prophezeiung von 1916 erfüllen, als er die preußischen Konservativen eindringlich davor warnte, wenn sie als einzige sich einer Entplutokratisierung des preußischen Wahlrechts widersetzten, „die rettungslose Isolierung ihr wenig beneidenswertes Los“ 1946 sei. V. Der lange Weg zur Überwindung des Preußischen Dreiklassenwahlrechts Nachdem die Motive für die unnachgiebige Verteidigung des Preußischen Dreiklassenwahlrechts gegen die Einführung des allgemeinen und gleichen 1940 So folgert Haffner, Preußen ohne Legende (Fn. 1569), S. 343 hierzu treffend: „Die preußischen Junkeroffiziere und Bauernsoldaten hatten wirklich einmal einen bemerkenswerten Staat auf die Beine gestellt, und ohne diesen Staat hätte es das Deutsche Reich, das ihn jetzt so hochmütig hinter sich ließ, nicht gegeben.“ 1941 Puhle, Preußen (Fn. 1601), S. 14 f. 1942 Zitat Puhle, Preußen (Fn. 1601), S. 14 f. Hinzu kommt die konstante und merkliche Abnahme des „Preußenbewußtseins“, siehe ebd., S. 39. 1943 Puhle, Preußen (Fn. 1601), S. 17. 1944 H. Rosenberg, Die Pseudodemokratisierung der Rittergutsbesitzerklasse, in: ders. (Hrsg.), Machteliten und Wirtschaftskonjunkturen. Studien zur neueren deutschen Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, 1978, S. 83 (84). 1945 Patemann, Kampf (Fn. 1320), S. 253. 1946 F. Thimme, Konservativismus und innerer Frieden, in: Die Grenzboten 75 (1916), S. 225 (236).

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Reichstagswahlrechts vorstehend beleuchtet worden sind, bleibt einzig die Frage offen, wann und vor allem warum dennoch auch in Preußen schließlich das Reichstagswahlrecht eingeführt wurde. In diesem Kontext scheint zudem zunächst die Fragestellung interessant, wie die Gegner des Dreiklassenwahlrechts sich in Anbetracht der augenfälligen konzeptionellen wie realpolitischen Ungerechtigkeiten1947 der jahrzehntelang in ihren Grundzügen unangetastet gebliebenen Wahlrechtsverordnung vom 30. Mai 18491948 verhielten. Natürlich ist es im Kern zutreffend, daß dieses Wahlrecht „schon in der Konzeption ein solches Maß an politischer Ungleichheit“ enthielt, „daß auch spätere Reformen (. . .) im Prinzip nichts daran änderten“ 1949. Und doch macht es für das Gesamtverständnis der Umstände von Verteidigung und Überwindung des Dreiklassenwahlrechts einen ganz erheblichen Unterschied, ob die Opposition angesichts eines Wahlrechts, das für weite Teile der Bevölkerung nicht mehr als ein Scheinrecht darstellte, die Hände in den Schoß legte und sich, mit Verweis auf die Aussichtslosigkeit eines Vorhabens seiner Beseitigung, in Untätigkeit flüchtete, oder ob sie aktiv wurde und Maßnahmen ergriff, Reformprozesse zumindest anzustoßen. 1. Reformerische Ansätze auf Initiative der Opposition und der Regierung in Preußen

a) Ausbleibende Reformbemühungen von Seiten der Opposition bis 1891 Die SPD lehnte als einzige Partei das Dreiklassenwahlrecht konsequent ab.1950 Bereits 1863 rief Lassalle1951 das erste große Bündnis für die Einführung des allgemeinen, direkten und geheimen Wahlrechts ins Leben1952. Und doch sollte dieser Einsatz erst Jahrzehnte später Auswirkungen auf den Bestand dieses Wahl1947

Siehe hierzu bereits ausführlich S. 292 ff. Gerlach, Geschichte (Fn. 34), S. 107. 1949 Hofmann, Stadtverordnetenversammlungen (Fn. 747), S. 49. Zu einem solchen Negativbefund hinsichtlich der Reformierbarkeit des Dreiklassenwahlrechts war bereits Savigny, Wahlrecht (Fn. 31), S. 48 f. gelangt, der hierfür „eigentümliche Mängel, die dem doktrinären Grundgedanken entspringen, und durch das Flickwerk, mit dem man 1893 die schlimmsten plutokratischen Härten zu mildern bestrebt war, bedenklichste Verstärkung erfahren haben“, verantwortlich machen will. Zur Minderwertigkeit der Reformen im Vergleich zur Wahlrechtsverordnung von 1849 siehe zudem auch Vollrath, Kampf (Fn. 1364), S. 25. 1950 Gerlach, Geschichte (Fn. 34), S. 217. 1951 Zu seiner Person, Wahlrechtsanschauung und dessen regem Gedankenaustausch mit Bismarck in Wahlrechtsbelangen siehe bereits S. 250 f. 1952 Die SPD hatte erkannt, daß einer Annäherung an die Lösung der sozialen Frage die Einführung des allgemeinen, gleichen und direkten Wahlrechts als notwendige Voraussetzung vorgelagert war, siehe G. Ritter, Die politische Arbeiterbewegung Deutschlands 1863–1914, in: Bundeszentrale für politische Bildung (Hrsg.), Hundert Jahre deutsche Arbeiterbewegung, 1963, S. 3 (4). 1948

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systems zeigen, da die SPD ihr Ringen um Allgemeinheit und Gleichheit des Wahlrechts mit der Einführung dieser Grundsätze im Rahmen des Reichstagswahlrechts 1871 als erledigt betrachtete und der Organisation des Wahlrechts in den Einzelstaaten keine weitere Aufmerksamkeit mehr schenkte. Die preußischen Wahlen boykottierte sie und handelte nach dem von Karl Liebknecht auf den Punkt gebrachten Leitsatz: „Um den preußischen Landtag kümmern wir uns nicht, den lassen wir verfaulen.“ 1953 So ließ der erste ins Abgeordnetenhaus eingebrachte Initiativantrag, gerichtet auf Einführung des Reichstagswahlrechts in Preußen, mehr als zwanzig Jahre (!) seit Erlaß der Wahlrechtsverordnung auf sich warten. Er geht auf das Zentrum zurück.1954 Zu einer Entscheidung über diesen Antrag kam es allerdings nie, sie wurde schlicht vertagt.1955 Läßt man Petitionen außen vor, schaffte es die Wahlrechtsfrage erst weitere zehn Jahre später, genauer im Dezember 1883, erneut auf die Tagesordnung, wobei hier die Forderung der Geheimheit der Wahl im Zentrum der Verhandlungen stand, weshalb Details im Rahmen dieser Abhandlung dahin stehen können.1956 b) Unaufschiebbarkeit einer Reform aufgrund der Forcierung des plutokratischen Charakters des Dreiklassenwahlrechts durch die Steuerreform 1891 Etwas mehr Fahrt nahmen Vorhaben zur Modifizierung des Wahlsystems erst 1891 mit der Reform des Einkommensteuergesetzes durch den preußischen Finanzminister Johannes Franz Miquel auf.1957 Diese brachte, neben der revolutionären Etablierung eines gemäßigten progressiven Steuersatzes auf Basis der Selbsteinschätzung der Steuerzahler, unter anderem die Steigerung des Höchststeuersatzes von 3 auf 4 % für Jahreseinkommen von 100.000 Mark oder mehr und die Beibehaltung der seit 1883 bestehenden Anhebung der Besteuerungsgrenze von 500 Mark auf 900 Mark mit sich.1958 Auch wenn steuerrechtliche 1953 Zitat wiedergegeben bei Gerlach, Geschichte (Fn. 34), S. 218. Zum Agieren der SPD siehe ebd., S. 218 ff. 1954 Gerlach, Geschichte (Fn. 34), S. 147; Wulff, Deutschkonservativen (Fn. 1336), S. 15 f. 1955 Zur Begründung des Antrags siehe Gerlach, Geschichte (Fn. 34), S. 192 ff. und zum Beschluß der sechsmonatigen Vertagung, ebd., S. 199. 1956 Siehe ausführlich und unter wortwörtlicher Wiedergabe einiger Beiträge der Abgeordneten Gerlach, Geschichte (Fn. 34), S. 147 ff.; zudem Wulff, Deutschkonservativen (Fn. 1336), S. 16 ff. 1957 Dazu W. J. Mommsen, Bürgerstolz und Weltmachtstreben. Deutschland unter Wilhelm II. 1890 bis 1918, in: D. Groh (Hrsg.), Propyläen Geschichte Deutschlands, Bd. 7/2, 1995, S. 143 ff.; Born, Preußen (Fn. 1502), S. 117 f.; Lürig, Studien (Fn. 1743), S. 143 ff.; Vogel/Nohlen/Schultze, Wahlen (Fn. 40), S. 125 f.; Gagel, Wahlrechtsfrage (Fn. 509), S. 119 ff.; Huber, Verfassungsgeschichte IV (Fn. 1518), S. 371 f.; knapp R. Friedberg, Wahlrecht und Zukunft der nationalliberalen Partei, 1918, S. 7. 1958 Mommsen, Bürgerstolz (Fn. 1957), S. 143, 146; Gerlach, Geschichte (Fn. 34), S. 108; Born, Preußen (Fn. 1502), S. 117.

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Details hier nicht interessieren dürften, liegt auf der Hand, daß jede nicht unbedeutende Änderung des Steuersystems sich wegen der dem Preußischen Dreiklassenwahlrecht immanenten unmittelbaren Verquickung von Steuerleistung und Wahlrecht automatisch im Ausgang der Wahl und somit in der Parteienlandschaft niederschlagen mußte.1959 In diesem Falle erwiesen sich die Auswirkungen der Steuerreform, die selbst in der Herstellung eines höheren Maßes an sozialer Gerechtigkeit im Steuersystem ein heheres Ziel verfolgte1960, für das Wahlrecht als fatal, bewirkten sie innerhalb des Wahlsystems genau Gegenteiliges, nämlich die Potenzierung dessen „plutokratischen Charakter[s]“ 1961. Da die Klasseneinteilung sich nicht an der individuellen Steuerleistung der Bürger, sondern ihrem relativen Anteil an der Gesamteinkommenssteuerleistung ihrer jeweiligen Gemeinde orientierte, drohte eine Abwanderung von Wählern aus der ersten in die zweite und vor allem die dritte Abteilung1962, wenn man alle Bürger, die unter die Besteuerungsgrenze von 900 Mark fielen, aus dem Schema ließe1963. Wollte man das System Dreiklassenwahlrecht nicht gänzlich zur Disposition stellen, mußte notgedrungen ein reformerischer Ansatz her.1964 Die Regierungsvorlage der Wahlgesetznovelle zur Reform des Dreiklassenwahlrechts sah im Wesentlichen zwei Neuerungen, zum einen die Annahme eines fiktiven Steuersatzes von 3 Mark für Bürger, die unter die Besteuerungsgrenze fielen, und zum anderen die Drittelung nicht länger der Gemeinden, sondern, sollten diese in mehrere Urwahlbezirke untergliedert sein, nunmehr der Urwahlbezirke, vor.1965 Das Reformvorhaben wurde im Parlament zum Aufhänger für eine generelle Wahlrechtsdebatte. Die Mehrheit der Abgeordneten positionierte sich erwartungsgemäß ganz deutlich für die Beibehaltung des Dreiklassenwahlrechts und unterstrich, man unterstütze die reformerischen Änderungen nur unter der Prämisse der Rettung und auch zukünftigen Bewahrung des bestehenden Wahlsystems. Der Abgeordnete Hoeppner von der konservativen Partei bestritt „Parteirück1959

Mommsen, Bürgerstolz (Fn. 1957), S. 144 f.; Ritter, Arbeitsbuch (Fn. 895),

S. 135. 1960

Born, Preußen (Fn. 1502), S. 118. Born, Preußen (Fn. 1502), S. 118; Mommsen, Bürgerstolz (Fn. 1957), S. 148; Gerlach, Geschichte (Fn. 34), S. 108; Ritter, Arbeitsbuch (Fn. 895), S. 135; Lürig, Studien (Fn. 1743), S. 143; Patemann, Kampf (Fn. 1320), S. 11; Wulff, Deutschkonservativen (Fn. 1336), S. 13 sowie Friedberg, Wahlrecht (Fn. 1957), S. 8 („plutokratische Verschiebung“). 1962 Born, Preußen (Fn. 1502), S. 118. Mommsen, Bürgerstolz (Fn. 1957), S. 148 weiß dies auch anhand von genauen Zahlen zu belegen: 1867 durften immerhin noch 4,2 % in der ersten Abteilung abstimmen, während die Zahl 1893 nur noch bei 3,5 % lag. Dafür fanden sich im Vergleich von 1867 zu 1893 mehr Wähler in der dritten Klasse wieder; die Abteilung wuchs von 83,5 % auf 84,4 %. 1963 Meyer, Wahlrecht (Fn. 20), S. 260. 1964 Gerlach, Geschichte (Fn. 34), S. 108; Meyer, Wahlrecht (Fn. 20), S. 246. Zum Reformvorhaben von 1891 ausführlich Wulff, Deutschkonservativen (Fn. 1336), S. 24 ff. 1965 Meyer, Wahlrecht (Fn. 20), S. 260; Born, Preußen (Fn. 1502), S. 118; Gerlach, Geschichte (Fn. 34), S. 108. 1961

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sichten“ als Ursache für die Verteidigung des Dreiklassenwahlrechts. Man werde „heute und in Zukunft allen, gegen die Grundprinzipien dieses Wahlsystems sich erhebenden Bestrebungen unbedingt entgegentreten“, weil man der Überzeugung sei, daß das Dreiklassenwahlrecht eine „ruhige und geordnete Entwickelung“ des Staatslebens mitbedinge.1966 Andere Parlamentarier, wie der dem rechteren Spektrum zuzuordnende Freiherr von der Recke, lobten das Dreiklassenwahlrecht, weil es „dem Besitz und der Intelligenz eine größere Einwirkung auf die Staatsangelegenheiten gibt“. Der Jurist und Mitglied der Nationalliberalen Partei von Gneist stellte sehr anschaulich das Argument eines Lastentragungs- und Leistungsprinzips, einer Korrespondenz von Rechten und Pflichten im Staat, zur Verteidigung des Dreiklassenwahlrechts heraus: „Entweder man billigt das Dreiklassenwahlsystem, man hält es für gerecht, für das Gerechteste, was überhaupt in Deutschland entstanden ist; denn es schließt niemanden aus und verteilt die Rechte nach den Lasten – das ist die deutsche Maxime, und wenn Sie Jahrhunderte zurückgehen, haben wir nie eine andere Verfassung gehabt, als diese, nach dem Werte der Lasten und Leistungen geregelt, die einzige Weise, die sich dauernd erhalten hat. (. . .) Wir haben das allgemeine Stimmrecht im Reich; das steht und wird bleiben. Aber es steht und wird bleiben nur aus dem Grund, weil es korrigiert ist durch das grundlegende, verfassungsmäßig gegliederte Stimmrecht aller Einzelstaaten.“ 1967 Obwohl die Reformvorlage nur „geringfügige Aenderungen“ 1968 zum dringend notwendig gewordenen Ausgleich der krassesten Auswirkungen der Steuerreform auf das Wahlrecht enthielt1969, reagierte die Mehrzahl der Abgeordneten skeptisch und betont reserviert. Nur wenigen Parlamentariern gingen die geplanten Neuerungen im Gegenteil nicht weit genug, so daß sie die bereits losgetretene Diskussion um Wahlrechtsmodifikationen nutzten, um die weitgehende Forderung der Einführung des Reichstagswahlrechts zu erheben. Der Abgeordnete Rickert erwies sich beispielsweise als leidenschaftlicher Vorkämpfer einer Etablierung des Reichstagswahlrechts in Preußen, fand für seine Pläne aber kaum, wenn dann nur wie durch das Zentrum äußerst gedämpfte Unterstützung.1970 c) Scheitern der Wahlgesetznovelle von 1893 am Reformboykott des Herrenhauses Wenngleich die Bemühungen um die Abschaffung des Dreiklassenwahlrechts und gleichzeitige Ersetzung durch das allgemeine und gleiche Reichstagswahl1966

Zitiert nach Gerlach, Geschichte (Fn. 34), S. 109. Beide Zitate ebenfalls nach Gerlach, Geschichte (Fn. 34), S. 110 f., Hervorhebungen i. O., A. S. 1968 Meyer, Wahlrecht (Fn. 20), S. 246. Gerlach, Geschichte (Fn. 34), S. 114 spricht in diesem Kontext schlicht von einem von Anfang an als solchem geplantem „Provisorium“. 1969 Meyer, Wahlrecht (Fn. 20), S. 260. 1970 Siehe dazu Gerlach, Geschichte (Fn. 34), S. 108 ff. 1967

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recht weitgehend stagnierten, wagte der Abgeordnete Richter (Deutsche Freisinnige Partei) 1892 mit dem Antrag, das Abgeordnetenhaus möge bei der Staatsregierung Auskunft darüber ersuchen, ob diese ein Gesetz zur Reform des Landtagswahlrechts aus Anlaß der neuen Steuergesetze plane, einen vorsichtigen Vorstoß.1971 Weitergehende Änderungen versprach zwar die Wahlgesetznovelle, die die Regierung dem Landtag ein Jahr später vorlegte und die im Kern die Ablösung der Drittelung der Wahlabteilungen von einer Zwölftelung und die Einbeziehung der Kommunalsteuern in die Berechnung der Gesamtsteuersumme bei Beibehaltung der kleineren Modifikationen von 1891 vorsah.1972 Zukünftig sollten auf die erste Abteilung 5/12, auf die zweite Abteilung 4/12 und auf die dritte Abteilung 3/12 des Gesamtsteuerbetrages entfallen1973, um einer Verlagerung des Systems zu Gunsten der Höchstbesteuerten entgegenzuwirken1974. Im Herrenhaus ließ man erwartungsgemäß von den Regelungen zum Ausgleich sozialer Ungerechtigkeiten des Wahlrechts jedoch nichts übrig, insbesondere die von der Regierungsvorlage vorgesehene Zwölftelung der Abteilungen wurde revidiert1975, so daß mancher resignierend zu dem Resümee gelangt: „So schmachvoll das Dreiklassenwahlrecht an sich schon ist, fast noch schmachvoller ist die ,Reform‘ vom 29. Juni 1893.“ 1976 Da das Abgeordnetenhaus die Änderungen der Regierungsvorlage durch das Herrenhaus, die deren Intention vollständig negierten, anstandslos anerkannte1977, war das durchgreifende Regierungsvorhaben zur Reformierung des Preußischen Dreiklassenwahlrechts, das eine merkliche Entspannung der Situation der Wähler in der dritten Klasse bewirkt hätte, zum Scheitern verurteilt1978. Trotz sich mittlerweile häufender Negativerfahrungen im Rahmen der praktischen Umsetzung des Systems1979 und der „Jämmerlichkeit“ 1980 der Reform von 1893 machte keine Partei ernsthafte Anstalten, die Wahlrechtsfrage neu aufzurollen.

1971

Gerlach, Geschichte (Fn. 34), S. 158 f. Zum Reformvorhaben von 1893 siehe detailreich Wulff, Deutschkonservativen (Fn. 1336), S. 36 ff.; Gerlach, Geschichte (Fn. 34), S. 114 ff. 1973 Born, Preußen (Fn. 1502), S. 118; Meyer, Wahlrecht (Fn. 20), S. 261; Voigt, Geschichte (Fn. 1295), S. 31; Vollrath, Kampf (Fn. 1364), S. 53. 1974 Siehe hierzu die offizielle Begründung der Regierungsvorlage vom 24. Dezember 1892, abgedruckt in: Anlagen Stenographische Berichte Abgeordnetenhaus 1892/93 III (Fn. 1759), Nr. 19, S. 1600 ff., linke Spalte. 1975 Gerlach, Geschichte (Fn. 34), S. 124, 130; Lürig, Studien (Fn. 1743), S. 145. 1976 Gerlach, Geschichte (Fn. 34), S. 130. 1977 Dazu Meyer, Wahlrecht (Fn. 20), S. 262. 1978 Born, Preußen (Fn. 1502), S. 118; Patemann, Kampf (Fn. 1320), S. 15. 1979 Siehe hierzu bereits die ausführlichen Erläuterungen auf S. 296 ff. 1980 Gerlach, Geschichte (Fn. 34), S. 160. 1972

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d) Ende der Stagnation der Reformfrage durch Vorstoß der preußischen Regierung 1910 Erst 19001981, also mehr als fünfzig Jahre nach Erlaß des Wahlgesetzes zur Einführung des Dreiklassenwahlrechts in Preußen, kam die Diskussion der Wahlrechtsfrage durch einige Anträge, u. a. zur Neueinteilung der Wahlkreise des Abgeordneten Barth von der Freisinnigen Vereinigung, wieder in Gang1982. Unter dem wachsenden Druck der zunehmend erstarkenden Sozialdemokratie sah sich die Regierung 1906 erneut gezwungen, reformerisch aktiv zu werden, wobei sie erstaunlicherweise erst gar nicht zu suggerieren suchte, Ungerechtigkeiten des Wahlsystems beheben zu wollen. Sie betonte vielmehr, es gehe ausschließlich darum, „das Wahlrecht marschfähig zu erhalten“, und man gab unumwunden zu, „die Frage, ob solche Ungerechtigkeiten vorhanden sind oder nicht, ist für die Vorlage absolut nicht maßgebend gewesen“ 1983. Insbesondere Bethmann Hollweg, der seit 1905 preußischer Innenminister war, machte ohne jegliches Lavieren, aber auch ohne irgendeine weitergehende Begründung nachzureichen, klar, daß „die Adoption des Reichstagswahlrechts für uns [die Staatsregierung, A. S.] unannehmbar ist“ 1984. Bethmann Hollweg wußte indes selbst, daß das Dreiklassenwahlrecht längst unhaltbar geworden war.1985 Die Mehrheit der Parteien stand jedoch (noch) geschlossen hinter dem Kurs der behutsamen, bloß nicht zu weitgehenden Reformen der Regierung, galt es doch das Dreiklassenwahlrecht mit aller Macht zu erhalten: Man halte es für eine Pflicht, das „preußische(s) Wahlrecht aufrecht erhalten [zu] müssen, um es demnächst mal in die Schanze schlagen zu können, und um durchzusetzen, daß dem Reich ein anderes Wahlrecht gegeben wird“. Zudem stehe das Preußische Dreiklassenwahlrecht „turmhoch über dem Reichstagswahlrecht. Und zwar deshalb, weil es grundsätzlich von dem Standpunkt ausgeht, daß die Stimmen nicht bloß gezählt, sondern auch gewogen werden müssen, weil es nicht, wie das Reichstagswahlrecht, von der äußersten Ungerechtigkeit ist und auch nicht so kultur-

1981 Siehe überblicksartig zur Diskussion der Wahlrechtsreform ab 1900 im preußischen Abgeordnetenhaus S. Heimann, Der Preußische Landtag 1899–1947. Eine politische Geschichte, 2011, S. 76 ff. 1982 Siehe detaillierter zu dessen Anträgen und den Reaktionen der anderen Parteien hierauf Gerlach, Geschichte (Fn. 34), S. 160 ff.; außerdem Wulff, Deutschkonservativen (Fn. 1336), S. 66 ff.; Dietzel, Wahlrechtsreformbestrebungen (Fn. 1218), S. 32 f. 1983 So der Anführer der Freikonservativen Partei Freiherr von Zedlitz in der Debatte im Haus der Abgeordneten am 23. März 1906, zitiert nach Gerlach, Geschichte (Fn. 34), S. 133, Hervorhebungen i. O., A. S. Zu dieser Zielvorgabe auch Wulff, Deutschkonservativen (Fn. 1336), S. 73; zum „flickwerkartigen“ Charakter der Reform von 1906 siehe exemplarisch Anschütz, Entwicklung (Fn. 1579), S. 199. 1984 Erneut zitiert nach Gerlach, Geschichte (Fn. 34), S. 134. 1985 Vietsch, Bethmann Hollweg (Fn. 1704), S. 68 ff. (insbes. S. 72).

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widrig wie das Reichstagswahlrecht.“ 1986 Man sah sich in Preußen im Vergleich zum Reich nicht als anachronistisch, sondern gar als fortschrittlich1987 an, mithin zur Missionierung des Reichstagswahlrechts berufen. So blieb das Dreiklassenwahlrecht auch 1906 im Kern unangetastet1988, man beschränkte sich auf die notwendig gewordene Teilung einiger zu groß gewordener Wahlbezirke1989 und weitere kleinere Modifikationen. Ernsten Anlaß zur Hoffnung auf eine Verbesserung des Wahlsystems lieferte in der Tat erst der Wahlgesetzentwurf Bethmann Hollwegs, den er dem Abgeordnetenhaus im Februar 1910 vorstellte.1990 Auch wenn die Vorlage an der Einteilung in drei Abteilungen und dem Grundsatz der Öffentlichkeit der Wahl nicht rütteln wollte1991, sah sie eine Reihe von Verbesserungen zugunsten der Wähler der unteren beiden Abteilungen vor. Zum einen sollte sich zum Anknüpfungskriterium der Steuerleistung eine Art Bildungskriterium gesellen, d.h. „Kulturträgern“, wie Akademikern, Inhabern von Reifezeugnissen höherer Schulen, Offizieren oder Angehörigen der Gemeindevertretung, sollte die Möglichkeit eingeräumt werden, in die jeweils höhere Abteilung aufzusteigen.1992 Zum anderen sollte die Steuerleistung der Bürger nur noch bis maximal 5000 Mark Berücksichtigung finden, um zukünftig zu verhindern, daß in einem Urwahlbezirk nur ein Wähler in der ersten Abteilung abstimmen durfte. Der Anteil der Wähler in 1986 So Freiherr von Zedlitz, wiedergegeben bei Gerlach, Geschichte (Fn. 34), S. 136, Hervorhebungen i. O., A. S. 1987 Von Bethmann Hollweg selbst tat das gleiche Wahlrecht unverständlicherweise als „eine Forderung, überkommen aus einer Zeit, die weit hinter uns liegt“, ab (siehe Gerlach, Geschichte [Fn. 34], S. 140). 1988 Man hatte sich 1906 mit äußerlichen Änderungen des Wahlsystems begnügt, siehe Wulff, Deutschkonservativen (Fn. 1336), S. 82. Dies war vor allem dem erbitterten Kampf der Deutschkonservativen Partei für den Erhalt des Dreiklassenwahlrechts geschuldet (dazu H. Booms, Die Deutschkonservative Partei. Preußischer Charakter, Reichsauffassung, Nationalbegriff, 1954, S. 34 ff.). 1989 Born, Preußen (Fn. 1502), S. 133. 1990 Siehe Dietzel, Wahlrechtsreformbestrebungen (Fn. 1218), S. 66 f.; Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte III (Fn. 401), S. 1012; zu den Hintergründen G. Schmoller, Die preußische Wahlrechtsreform von 1910 auf dem Hintergrunde des Kampfes zwischen Königtum und Feudalität, in: Schmollers Jahrbuch für Gesetzgebung, Verwaltung und Volkswirtschaft im Deutschen Reich 34 (1910), S. 1261 ff. Wenngleich die Diskussion von Anträgen, gerichtet auf die Substituierung des Preußischen Dreiklassenwahlrechts durch ein allgemeines, gleiches, geheimes und direktes Wahlrecht nach Zuschnitt des Reiches seit 1900 immer wieder auf der politischen Agenda des preußischen Abgeordnetenhauses stand, siehe hierzu beispielsweise die 8. Sitzung vom 10. Januar 1908, abgedruckt in: Die Wahlrechtsreform im Dreiklassenparlament. Die Verhandlungen des preußischen Abgeordnetenhauses vom 10. Januar 1908, 1908, S. 18 ff. 1991 Einige wenige Parteien, wie beispielsweise die Nationalliberale Partei, verweigerten die Zustimmung zur Regierungsvorlage, weil ihnen die Reformmaßnahmen nicht weit genug gingen, siehe Friedberg, Wahlrecht (Fn. 1957), S. 8. 1992 Kühne, Dreiklassenwahlrecht (Fn. 1364), S. 532; Patemann, Kampf (Fn. 1320), S. 16; Vogel/Nohlen/Schultze, Wahlen (Fn. 40), S. 128.

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der ersten Klasse wäre so von 3,8 % auf 7 % und in der zweiten immerhin noch von 13,8 % auf 17 % angestiegen.1993 Die Abgeordneten sollten zudem von nun an nicht länger in indirekter, sondern in direkter Wahl ermittelt werden.1994 Im Abgeordneten- und Herrenhaus ließ man von den innovativen Ansätzen der Bethmann Hollwegschen Gesetzesvorlage allerdings nur wenig übrig bzw. verkehrte deren Intention durch weitere Forcierung der ohnehin schon plutokratischen Auswüchse des Dreiklassenwahlrechts ins Gegenteil. Die Mehrheit aus Zentrum und Konservativen im Abgeordnetenhaus setzte den maximal zu berücksichtigenden Steuerbetrag auf das doppelte, also 10.000 Mark hoch, machte die Änderung in eine direkte Wahl rückgängig und wollte nur das Reifezeugnis frühestens 12 Jahre nach dem Abitur und dann auch nur zum Aufstieg in die erste Abteilung anerkennen. Das Herrenhaus begrüßte diese Modifikationen des Abgeordnetenhauses und fügte zudem eine Bestimmung hinzu, die eine Vergrößerung der Wahlbezirke bewirken sollte, was die Schieflage des Systems zulasten der Wähler in der dritten Klasse nur noch verstärkt hätte.1995 Das Abgeordnetenhaus lehnte den Entwurf in dieser veränderten Version allerdings schließlich im Mai 1910 ab, woraufhin Bethmann Hollweg seine Vorlage vollständig zurückzog1996 und einen weiteren Vorschlag seinerseits beleidigt mit der Bemerkung, daß die Regierung „auf die Weiterberatung des Gesetzes keinen Wert mehr legt“ 1997, ablehnte. e) Resümee Der Befund zu den Ansätzen einer Reformierung des Preußischen Dreiklassenwahlrechts fällt bis hierhin äußerst ernüchternd aus: Den Reformen von 1891/93 – ob diese der Begrifflichkeit überhaupt nur annähernd gerecht werden können, sei dahingestellt – gelang es, gerade die am schwersten wiegenden, durch die Miquelsche Steuerreform hervorgerufenen Ungerechtigkeiten des Systems auszugleichen. Im Rahmen der Reform von 1906 verkündete die Staatsregierung als deren Initiator selbst schon einleitend plakativ, daß die Bekämpfung der mittlerweile nicht mehr zu leugnenden Mangelhaftigkeit des Dreiklassenwahlrechts gar nicht erst zur Debatte stehe. Der durchaus ambitionierte und vielversprechende Reformversuch Bethmann Hollwegs aus dem Jahre 1910, der zu einer größeren Durchlässigkeit und einer weitergehenden Öffnung des Systems geführt hätte, weil er eben nicht ausschließlich an die Steuerleistung, sondern auch an Bildungskriterien anknüpfen sollte, scheiterte am Widerstand der mehrheitsbildenden Parteien des Zentrums und der Konservativen im Abgeordnetenhaus. Daß 1993

Die Zahlen beruhen auf den Angaben bei Born, Preußen (Fn. 1502), S. 133. Huber, Verfassungsgeschichte IV (Fn. 1518), S. 379 f. 1995 Born, Preußen (Fn. 1502), S. 134; Dietzel, Wahlrechtsreformbestrebungen (Fn. 1218), S. 72. 1996 Dietzel, Wahlrechtsreformbestrebungen (Fn. 1218), S. 72. 1997 Zitiert nach Kühne, Dreiklassenwahlrecht (Fn. 1364), S. 567 m. Fn. 43. 1994

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und warum die Konservativen in Preußen keinerlei Interesse an jeglicher Reform des Dreiklassenwahlrechts haben konnten, ist schon umfassend thematisiert worden.1998 Erstaunlicherweise hielten sich aber auch die anderen Parteien in der Wahlrechtsfrage betont bedeckt. Abgesehen von dem vorsichtigen Vorstoß 1892, bei dem es lediglich darum ging, Auskunft über die Regierungspläne einzuholen, und einem anerkennenswerten Antrag der Freisinnigen und des Zentrums 1907/08 auf Adaption des Reichstagswahlrechts in Preußen, der jedoch unerledigt blieb1999, ändert sich nichts an diesem Negativbefund. 2. Reformerische Ansätze auf Initiative des Reiches

Gemäß Art. 78 RV 2000 verfügte das Reich über die sog. Kompetenz-Kompetenz, d.h. es konnte auf dem Gesetzgebungswege nahezu beliebig seinen Kompetenzbereich ausdehnen2001. Wenngleich die Reichsverfassung keine konkrete Regelung zur Ausgestaltung des Wahlrechts in den Einzelstaaten enthielt, war die grundsätzlich bestehende Kompetenz des Reiches, deren Wahlrecht festzulegen, aufgrund dieser weitgehenden Berechtigung zur Ausdehnung der eigenen Zuständigkeit in der staatsrechtlichen Literatur unbestritten.2002 1998 Siehe hierzu unter anderem bereits auf S. 331 ff. Wenn überhaupt waren die Konservativen einzig 1861 unter der Führung des Bismarck-Freundes Wagener zu einer Substituierung des Dreiklassenwahlrechts durch das Reichstagswahlrecht bereit, siehe Gerlach, Geschichte (Fn. 34), S. 182. 1999 Born, Preußen (Fn. 1502), S. 133; Gerlach, Geschichte (Fn. 34), S. 171. 2000 Art. 78 RV lautet: „Veränderungen der Verfassung erfolgen im Wege der Gesetzgebung. Sie gelten als abgelehnt, wenn sie im Bundesrathe 14 Stimmen gegen sich haben. Diejenigen Vorschriften der Reichsverfassung, durch welche bestimmte Rechte einzelner Bundesstaaten in deren Verhältniß zur Gesammtheit festgestellt sind, können nur mit Zustimmung des berechtigten Bundesstaates abgeändert werden“, abgedruckt bei Huber (Hrsg.), Dokumente 2 (Fn. 1245), Nr. 261 (Nr. 218), S. 402. 2001 Siehe hierzu aus der Fülle der staatsrechtlichen Literatur: L. Auerbach, Das neue Deutsche Reich und seine Verfassung, 1871, S. 92; Mohl, Reichsstaatsrecht (Fn. 1246), S. 61; zur Auslegung des Art. 78 RV siehe auch ebd., S. 141 ff.; Rönne, Staats-Recht II (Fn. 1246), Dritte Abtheilung, Erster Abschnitt, Erstes Kapitel, Zweiter Titel, Zweites Stück, § 65, S. 18 ff. (S. 20); Triepel, Unitarismus (Fn. 1880), S. 37; R. Thoma, § 7: Das Staatsrecht des Reiches, in: G. Anschütz/ders. (Hrsg.), Handbuch des Deutschen Staatsrechts, Bd. I, 1930, S. 69 (71). 2002 Wenngleich die Ausgestaltung des Wahlrechts der Gliedstaaten in den Bereich ihrer ausschließlichen Gesetzgebungskompetenz fiel, konnte das Reich auch diesen Regelungsbereich wegen seiner Kompetenz-Kompetenz jederzeit und einseitig durch abänderndes Gesetz an sich ziehen. Siehe hierzu statt vieler: Laband, Staatsrecht I (Fn. 1246), § 11, S. 105: Das Reich könne die „Grenze zwischen seiner Machtsphäre und der Machtsphäre der Einzelstaaten in der Form der Verfassungsänderung einseitig, d.h. ohne Zustimmung der einzelnen Gliedstaaten, verändern; es kann also den Gliedstaaten die ihnen verbliebenen Hoheitsrechte entziehen“ (Hervorhebung i. O., A. S.). In seiner Reichstagsansprache im Februar 1895 unterstrich beispielsweise von Buchka ausdrücklich: „Das Reich hat die Befugnis – und das steht staatsrechtlich vollkommen fest – seine Kompetenz in dieser Weise auszudehnen“, siehe Gerlach, Geschichte (Fn. 34), S. 172.

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Zunächst sah die SPD, die dem politischen Geschehen in Preußen ja bis 1903 vollständig den Rücken gekehrt hatte2003, auf Reichsebene die Chance, das allgemeine, gleiche und direkte Wahlrecht ausnahmslos in allen Staaten des Reiches einzuführen. Der darauf gerichtete Antrag vom 7. Januar 1875 ebenso wie der auf Übernahme des Reichstagswahlrechts in allen Staaten lautende aus dem Jahre 1895 wurde ohne weiterführende Debatten abgelehnt.2004 Bezeichnenderweise stand trotz Kompetenz-Kompetenz des Reiches nur ein einziges Mal, im Jahre 1906, eine Reform des Wahlrechts in den Einzelstaaten, allen voran in Preußen, auf der Tagesordnung des Reichstages. Auslöser hierfür war die SPD, die ihren Antrag auf Einführung des Reichstagswahlrechts in allen Einzelstaaten aus dem Jahre 1895 erneut in unveränderter Fassung in den Reichstag eingebracht hatte.2005 Wenngleich keiner der Redner umhin kam, gravierende Mängel des Dreiklassenwahlrechtes einzugestehen, die schweren Nachteile, die mit den diametral verlaufenden Wahlsystemen im Reich und seinem größten Einzelstaat einhergingen, nicht von der Hand zu weisen waren und offensichtlich kein objektiv nachvollziehbares Argument überhaupt für die Beibehaltung des Dreiklassenwahlrechts sprach, wurde der Antrag der SPD mit deutlicher Mehrheit abgelehnt. Der für die Regierung das Wort erhebende Staatssekretär Graf Posadowsky-Wehner sprach von „schweren Mängel[n]“ und mußte eine „gewisse Dissonanz“ zwischen Preußen und Reich aufgrund der unterschiedlichen Wahlmodi anerkennen. Zudem bedauere er es, „daß die Arbeiter nicht auch in genügender Zahl im preußischen Parlament vertreten sind (. . .)“. Trotzdem weigere er sich, „unter den jetzigen Verhältnissen auch in Preußen das allgemeine Wahlrecht sans phrase einzuführen“ 2006. Der Freikonservative von Kardorff bekundete, er sehe schlicht keinen Grund dafür, warum man das geheime, direkte und allgemeine Wahlrecht, nur weil es im Reich bestehe, auch auf die Einzelstaaten ausdehnen solle. Der Zentrumsabgeordnete Graf Hompesch behauptete schließlich, die Ausgestaltung des Wahlrechts falle in den Zuständigkeitsbereich der Einzelstaaten und sei dem Einwirkungsfeld des Reiches mithin entzogen, was nicht der verfassungsrechtlichen Wahrheit ensprach.2007 Letztlich stimmten nur die SPD, die drei linksliberalen Fraktionen und die Polen für die Übernahme des Reichstagswahlrechts durch die Einzelstaaten. Die SPD ließ nun aber nicht mehr locker und legte eben jenen Antrag von 1906 wortgleich erneut 1908 dem Reichstag vor.2008 Er wurde mit der (nicht zutreffenden) 2003

Siehe hierzu bereits auf S. 370. Gerlach, Geschichte (Fn. 34), S. 173 f. 2005 Gerlach, Geschichte (Fn. 34), S. 174. 2006 Siehe dazu Gerlach, Geschichte (Fn. 34), S. 174 f., Hervorhebungen i. O., A. S. 2007 Gerlach, Geschichte (Fn. 34), S. 175, 178. 2008 Born, Preußen (Fn. 1502), S. 133; Gerlach, Geschichte (Fn. 34), S. 180; 1913 brachte die SPD ihn ein drittes Mal ein, siehe Wulff, Deutschkonservativen (Fn. 1336), S. 83. 2004

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Bemerkung, die Bestimmungen des preußischen Wahlrechts unterlägen nicht dem Kompetenzbereich des Deutschen Reiches, ebenfalls abgelehnt.2009 VI. Die endgültige Überwindung des Dreiklassenwahlrechts 1. Vorgeschichte: Die bloße Wahlrechtsfrage wird in Kriegszeiten zur echten Lebensfrage

Die Reform des Preußischen Dreiklassenwahlrechts war in den letzten fünf Friedensjahren vor dem Ersten Weltkrieg2010 bzw. in den letzten 15 Jahren des Kaiserreiches2011 wahrscheinlich die am meisten diskutierte Frage preußischer Innenpolitik, die sich in Zeiten des Krieges gar „zu einer Lebensfrage“ 2012 aufschwang. Anschütz spricht in Zusammenhang mit der preußischen Wahlreform gar von „einer der gewaltigsten Aufgaben deutscher Staatskunst“ 2013. Einig war man sich in weiten Kreisen von Politik, Wissenschaft und Gesellschaft schon seit Anfang des 20. Jahrhunderts, daß das Dreiklassenwahlrecht mittlerweile untragbar geworden war.2014 Uneinigkeit bestand hingegen hinsichtlich der Art und des Tempos der zu ergreifenden Abhilfemaßnahmen. Man zögerte, und „durch die gefährliche Hypothek dieser schweren ungelösten inneren Spannung belastet, trat Deutschland in den Weltkrieg ein“ 2015. Mit Kriegsbeginn 1914 traten anstehende notwendige Verfassungsänderungen im Reich und Preußen zwar zunächst (zumindest vermeintlich) in den Hintergrund, denn aufgrund der Erwartung eines raschen Kriegsendes sollten innenpolitische Kontroversen vermieden werden.2016 Schon im Spätsommer 19142017 war den politisch Hauptverantwortlichen Bethmann Hollweg, der mittlerweile seit 1909 das Amt des Reichskanzlers inne hatte, und seinem Stellvertreter Delbrück aber klar gewesen, daß mit andauerndem 2009

Born, Preußen (Fn. 1502), S. 133. Born, Preußen (Fn. 1502), S. 133. 2011 Ritter, Arbeitsbuch (Fn. 895), S. 133. 2012 Braunias, Wahlrecht (Fn. 961), S. 111. 2013 Anschütz, Wahlreform (Fn. 31), S. 2. 2014 Friedberg, Wahlrecht (Fn. 1957), S. 16. Die Gesamtheit des preußischen Volkes ist ohnehin wohl nie mit dem Dreiklassenwahlrecht zufrieden gewesen, siehe den nüchternen Befund von Dietzel, Wahlrechtsreformbestrebungen (Fn. 1218), S. 6. 2015 Patemann, Kampf (Fn. 1320), S. 17. 2016 Born, Preußen (Fn. 1502), S. 135. Kritisch zu dieser Verschleppungstaktik der Konservativen, die mit Hinweis auf den zu schützenden sog. Burgfrieden die Wahlreform immer wieder gekonnt hinauszuzögern wußten, Anschütz, Wahlreform (Fn. 31), S. 1 f.; zum Burgfrieden-Argument ebenso Patemann, Kampf (Fn. 1320), S. 37. Auch von Bethmann Hollweg, der die Wahlrechtsreform schließlich initiierte, ging im Übrigen zunächst von der Aufschiebbarkeit der Wahlrechtsfrage bis nach Kriegsende aus, siehe ders., Kampf (Fn. 1320), S. 33 f. 2017 Zur Verschärfung der Forderung nach Abschaffung des Preußischen Dreiklassenwahlrechts ab 1914 siehe auch H.-U. Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Bd. IV, 2003, S. 170 ff. 2010

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Krieg durchgreifende Veränderungen in Preußen unausweichlich geworden waren. Ursprünglich für die Zeit nach dem Krieg angepeilte Verfassungsänderungen und Reformen duldeten, je länger der Kriegszustand anhielt, keinen Aufschub mehr.2018 Die Kriegssituation im Allgemeinen, der Kohlrübenwinter im Besonderen und die zunehmende Radikalisierung der Arbeiterbewegung bewogen sie letztlich zum Tätigwerden.2019 Schon Ende 1914 hatte es vertrauliche Pläne gegeben, zumindest ein geheimes, direktes und abgeschwächtes Klassenwahlrecht einzuführen.2020 Aber auch öffentlich trat Bethmann Hollweg von nun an – so beispielsweise in einer Sitzung des Abgeordnetenhauses am 14. März 1917 – klar für eine Reform des preußischen Wahlrechts ein2021, obwohl ihm bewußt sein mußte, hiermit den Zorn des Herrenhauses, dessen Parole auch 1917 noch lautete „Hände weg von dem alten Preußen“ 2022, auf sich zu ziehen. Dafür lag sein geplanter Reformkurs für Preußen aber auf ganzer Linie mit der Haltung der Reichstagsmehrheit, die die preußische Wahlrechtsfrage als deutsche und nicht als innerpreußische Frage behandelt und diskutiert wissen wollte.2023 2018 Born, Preußen (Fn. 1502), S. 136; ausführlich zum Krieg als Punkt innenpolitischer Wende auch Patemann, Kampf (Fn. 1320), S. 18 ff. 2019 Croon, Anfänge (Fn. 1897), S. 116 f.; Patemann, Kampf (Fn. 1320), S. 235. 2020 Zu den Vorarbeiten der Wahlreform im preußischen Innenministerium detailreich Patemann, Kampf (Fn. 1320), S. 22 ff.; siehe auch Born, Preußen (Fn. 1502), S. 136. 2021 Siehe eben jene 81. Sitzung des Hauses der Abgeordneten vom 14. März 1917, abgedruckt in: Stenographische Berichte über die Verhandlungen des Preußischen Hauses der Abgeordneten, 22. Legislaturperiode, III. Session 1916/17, Bd. V, 1917, Sp. 5205 (5254 ff.); Bergsträßer, Wahlrechtsfrage (Fn. 1364), S. 117 ff. (insbes. S. 119); Patemann, Kampf (Fn. 1320), S. 51 f. 2022 So der General von Kleist im Rahmen der 18. Sitzung des Herrenhauses vom 28. März 1917, abgedruckt in: Stenographische Berichte Herrenhaus 1916/18 (Fn. 1914), Sp. 414; Born, Preußen (Fn. 1502), S. 136; Patemann, Kampf (Fn. 1320), S. 55. Zudem stellte er klar, er „stehe nun auf dem Standpunkt, daß die großen umstürzenden Fragen der Neuorientierung (. . .) eine besondere Dringlichkeit (. . .) nicht haben“ (ebd., Sp. 413). Unmißverständlich gegen eine Reform des preußischen Wahlrechts in eben jener Sitzung auch der Graf von Roon, der sich alamiert zeigte, „daß der Kern des ganzen Deutschen Reiches, das ist das preußische Vaterland, ruiniert wird durch ein liberales und demokratisches Wahlrecht“, ebd., Sp. 418. 2023 Als klare Reaktion auf General von Kleists Forderung, das Reich solle sich aus den preußischen Angelegenheiten, vor allem aus der Wahlrechtsfrage heraushalten, der Abgeordnete Stresemann in der 95. Sitzung des Reichstages vom 29. März 1917, abgedruckt in: Verhandlungen des Reichstags. XIII. Legislaturperiode. II. Session, Bd. 309, 1917, S. 2823, linke Spalte (2853 ff., linke Spalte, insbes. 2854 ff. linke Spalte). Zustimmend Anschütz, Wahlreform (Fn. 31), S. 2 („Die preußische Wahlreform ist keine preußische, sondern eine deutsche Frage, ein Problem der nationalen Einheitspflege“); Patemann, Kampf (Fn. 1320), S. 55 f. Siehe auch die Denkschrift eines Mitarbeiters des Innenministers, von Berger, in der es zu Bedeutung und Tragweite der preußischen Wahlrechtsfrage für das gesamte Reich heißt: „Ob sie mit Recht oder Unrecht ihre große Bedeutung hat, steht gar nicht in Frage gegenüber der Tatsache, daß die Durchführung der Wahlreform die Voraussetzung ist für eine allmähliche Gesundung unserer innerpolitischen Verhältnisse, ja Voraussetzung für eine brauchbare künftige Politik in Preußen und Deutschland überhaupt“, zitiert nach Bergsträßer, Wahlrechtsfrage (Fn. 1364), S. 19.

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Teil 3: Zensuswahlrecht in Deutschland

Auch eine Stellungnahme des Königs in der Wahlrechtsfrage schien unentbehrlich, denn unter dem wachsenden Druck des Krieges reichte das pauschale Inaussichtstellen einer irgendgearteten Wahlreform durch die Thronrede aus dem Januar 1916 nicht mehr aus, so daß Bethmann Hollweg den König zur Verkündung der Osterbotschaft vom 7. April 1917 drängte.2024 Diese versprach zwar immerhin die Etablierung der Grundsätze der unmittelbaren und geheimen Wahl, konnte sich in der alles entscheidenden Frage nach der Einführung des allgemeinen und gleichen Wahlrechts aber nur zur wenig konturenreichen Feststellung, daß „für ein Klassenwahlrecht in Preußen kein Raum mehr“ sei, durchringen.2025 Auf die Aufnahme des Versprechens eines allgemeinen und gleichen Wahlrechts, das Bethmann Hollwegs Ursprungsentwurf für die kaiserliche Botschaft enthielt, hatte er bewußt verzichtet, da die Befürworter im Staatsministerium nur eine sehr knappe Mehrheit bildeten. Viele wichtige Minister, inklusive der Obersten Heeresleitung, waren nach wie vor dagegen.2026 Wie gespalten die Lager in der preußischen Wahlrechtsfrage tatsächlich waren, sollte sich im Sommer 1917 herausstellen, als Bethmann Hollweg keine andere Möglichkeit mehr sah, als eine endgültige und klare Entscheidung in der Frage der Einführung des gleichen Stimmrechts herbeizuführen.2027 Im Kronrat führte er zur Unaufschiebbarkeit der Wahlrechtsfrage erläuternd aus, er sei sich bewußt, „daß die Ankündigung des gleichen Wahlrechts niemanden satt mache und die bestehenden Ernährungsschwierigkeiten dadurch nicht behoben würden; wenn aber im Herbste infolge der Länge des Krieges die Lasten immer größer würden, so dürfe man eine solch wichtige politische Frage nicht unentschieden lassen bis die Erregung noch immer weiter wüchse und immer weitergehende Forderungen enstehen ließe“ 2028. Am 8. Juli 1917 tagte das preußische Staatsministerium und am darauf folgenden Tag der Kronrat, dem erstmalig alle Staatssekretäre des Reiches beiwohnten.2029

2024 Text der sog. Osterbotschaft, genauer Erlaß Kaiser Wilhelms II. an den Reichskanzler von Bethmann Hollweg vom 7. April 1917, wiedergegeben bei E. R. Huber (Hrsg.), Dokumente zur deutschen Verfassungsgeschichte, Bd. 3, 3. Aufl. 1990, Nr. 101 (Nr. 331), S. 153 ff. Dazu Braunias, Wahlrecht (Fn. 961), S. 111; Vollrath, Kampf (Fn. 1364), S. 57 ff.; Croon, Anfänge (Fn. 1897), S. 117; Born, Preußen (Fn. 1502), S. 137; Anschütz, Wahlreform (Fn. 31), S. 26 ff.; G. Ritter, Staatskunst und Kriegshandwerk. Das Problem des „Militarismus“ in Deutschland, Bd. 3, 1964, S. 536 ff. und ausführlich zur Entstehung der Osterbotschaft Patemann, Kampf (Fn. 1320), S. 58 ff. sowie Bergsträßer, Wahlrechtsfrage (Fn. 1364), S. 133 ff. 2025 Anschütz, Wahlreform (Fn. 31), S. 31 f.; Patemann, Kampf (Fn. 1320), S. 63 f. 2026 Patemann, Kampf (Fn. 1320), S. 62, S. 66 ff.; Bergsträßer, Wahlrechtsfrage (Fn. 1364), S. 149 ff.; Born, Preußen (Fn. 1502), S. 137. 2027 Patemann, Kampf (Fn. 1320), S. 89 ff. 2028 Siehe die Dokumentation der Sitzung des Kronrats (Fn. 34), S. 130. 2029 Siehe hierzu die vollständige Dokumentation der Sitzung des Kronrats (Fn. 34), S. 126 ff. und Croon, Anfänge (Fn. 1897), S. 119 sowie Patemann, Kampf (Fn. 1320), S. 90 ff.

Kap. 5: Das Preußische Dreiklassenwahlrecht (1849–1918)

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2. (Rechts-)Philosophische/politische Argumente für und gegen ein Festhalten am Dreiklassenwahlrecht

a) Die Diskussion im preußischen Staatsministerium und im Kronrat aa) Argumente der Befürworter einer Beibehaltung des Preußischen Dreiklassenwahlrechts (1) Angst vor einer Machtverschiebung zugunsten der Sozialdemokratie Die Gegner des allgemeinen und gleichen Stimmrechts hatten keine objektiv nachvollziehbaren Argumente vorzuweisen, die für sie stritten, sie wurden, und das gaben sie auch ganz unumwunden zu, primär getrieben von der Angst vor der aufstrebenden Sozialdemokratie. Allen voran der Innenminister von Loebell warnte davor, daß mit der Einführung des gleichen Wahlrechts eine „radikale Änderung“ der politischen Verhältnisse des Abgeordnetenhauses einhergehen würde. Seine Befürchtung war indes nicht unbegründet oder gar aus der Luft gegriffen. Sie fußte auf Berechnungen des preußischen Innenministeriums, nach denen sich, unter gleichem Wahlrecht und entsprechender Neueinteilung der Wahlbezirke, die Zahl der konservativen Abgeordneten mehr als halbieren würde, nämlich von 143 auf 67. Die der sozialdemokratischen Abgeordneten würde sich demnach im Gegenzug mehr als verdreizehnfachen und von 10 auf 134 steigen.2030 Um der gefürchteten Etablierung des gleichen Wahlrechts vorzugreifen, hatte er gar in Kooperation mit den mehrheitsbildenden Fraktionen im Reichstag einen Entwurf für ein Mehrstimmenwahlrecht ausgearbeitet, das Zusatzstimmen an bestimmte Kriterien wie Alter, Familienstand, Vermögen, Einkommen, selbständige Tätigkeiten oder einen bestimmten Grad an Schulbildung knüpfte.2031 Seine Parole „Freie Bahn dem Tüchtigen“ erinnerte dabei ein wenig an das Guizotsche „Enrichissez-vous!“ 2032. Am liebsten, so brachte der Handelsminister es schlicht auf den Punkt, sei es ihm, „das gleiche Wahlrecht auf die Dauer zu vermeiden“, denn es „entbehre der Gerechtigkeit“ 2033.

2030 Zahlen übernommen von Patemann, Kampf (Fn. 1320), S. 106; zur Sorge des Verlustes der Vorherrschaft im Abgeordnetenhause auch ebd., S. 250. Dazu auch Dokumentation der Sitzung des Kronrats (Fn. 34), S. 133 und zu von Loebells Haltung in der preußischen Wahlrechtsfrage Born, Preußen (Fn. 1502), S. 136. 2031 Zur Erläuterung des Entwurfs der Denkschrift des Staatsministers von Loebell über die preußische Wahlreform vom 18. Juni 1917 mit Gesetzentwurf siehe Dokumentation der Sitzung des Kronrats (Fn. 34), S. 132 f.; ausführlich Patemann, Kampf (Fn. 1320), S. 79 ff. und Born, Preußen (Fn. 1502), S. 137. 2032 Siehe zu Guizot und der Lehre der Physiokraten bereits ausführlich S. 93 ff. und S. 132 ff. 2033 Zitiert nach der Dokumentation der Sitzung des Kronrats (Fn. 34), S. 141.

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(2) Mär vom Scheitern der politischen Intention des Reichstagswahlrechts Ebenso allgemein wie begründungsleer wies beispielsweise der Finanzminister darauf hin, die Einführung des allgemeinen und gleichen (Männer-)Wahlrechts habe schon auf Reichsebene nicht wie erhofft dazu geführt, daß die einsichtigsten oder bedeutendsten Männer in den Reichstag eingezogen seien, sondern sich „die Macht der Masse“ behauptet habe. Es „werde dem Vaterlande zum Verderben gereichen“ 2034. Das Argument der Konservativen, auch das Reichstagswahlrecht habe nicht die Zufriedenstellung der Massen herbeiführen können, hält Meinecke schlicht als eines „für den kurzsichtigen und egoistischen Durchschnittsmenschen, der seine Behaglichkeit nicht opfern will“ 2035. Auch von Bethmann Hollwegs Resümee der Reichstagsarbeit in den Kriegsjahren fällt voll des Lobes aus, wenn er öffentlich bekundet, „daß der deutsche Reichstag in den jetzt bald drei Jahren dieses Krieges dem Vaterlande, seinem Volke Dienste geleistet hat wie kein anderes Parlament der Welt“ 2036. Wenn sich die Einführung des gleichen Wahlrechts im schlimmsten Falle gar nicht mehr aufhalten ließe, sollte dessen demokratisierende Wirkung daher jedenfalls in einer geeigneten Form begrenzt werden2037, so der Kanon. Das Dreiklassenwahlrecht hingegen habe sich über viele Jahrzehnte in Preußen bewährt.2038 Die Übernahme des gleichen Wahlrechts komme für Preußen auch deshalb nicht in Frage, weil die Etablierung westlich demokratischer Verfassungsinstitutionen, so die des Öfteren bemühte These der konservativen Führungselite, der preußischen „Eigenart“ gänzlich zuwiderlaufen würde und die Erfüllung besonderer preußischer Aufgaben im kulturellen, wirtschaftlichen oder finanziellen Bereich unter ihr zu leiden hätte.2039 Außerhalb des Kreises der Konservativen zog man hingegen positive Bilanz der Einführung des allgemeinen und gleichen (Männer-)Wahlrechts auf Reichsebene.2040 Das Argument der Konservativen, auch das Reichstagswahlrecht habe nicht die Zufriedenstellung der Massen herbeiführen können, hält z. B. Meinecke 2034 Ebenfalls zitiert nach Dokumentation der Sitzung des Kronrats (Fn. 34), S. 144 f. 2035 Siehe ebd., S. 7. 2036 Zitiert nach der 81. Sitzung des Hauses der Abgeordneten vom 14. März 1917, abgedruckt in: Stenographische Berichte Abgeordnetenhaus 1917 V (Fn. 2021), Sp. 5255. 2037 Dokumentation der Sitzung des Kronrats (Fn. 34), S. 137. 2038 Siehe dazu Patemann, Kampf (Fn. 1320), S. 230 f. 2039 Patemann, Kampf (Fn. 1320), S. 231 f. 2040 Siehe z. B. Meinecke, Reform (Fn. 1654), S. 5 ff., der sich über den Verbleib des Reiches Gedanken macht, wäre anstatt des bestehenden Reichstagswahlrechts das Preußische Dreiklassenwahlrecht eingeführt worden und den eindeutigen Schluß zieht: „Wir beantworten also die alte Streitfrage, ob Bismarck recht getan hat mit der Verleihung des allgemeinen Reichstagswahlrechts, mit einem runden Ja. (. . .) Aber jede Beschränkung würde bei den Ausgeschlossenen die bittere Empfindung erregt haben, vom Reiche überhaupt ausgeschlossen zu sein, Staatsbürger zweiter Klasse, lediglich Objekt eines Herrschaftsstaates zu sein“ (S. 6).

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schlicht als eines „für den kurzsichtigen und egoistischen Durchschnittsmenschen, der seine Behaglichkeit nicht opfern will“ 2041. (3) Verbot einer Befürwortung der Einführung des allgemeinen und gleichen (Männer-)Wahlrechts aufgrund der sozialen Zusammensetzung der preußischen Führungselite Im Übrigen lag bei der Mehrzahl der Gegner die ablehnende Haltung nicht in tiefgründigen Argumenten, sondern schon in ihrer adeligen Herkunft und der Sozialisierung im gehobenen preußischen Verwaltungsapparat begründet.2042 Die Unterstützung der Pläne zur Ersetzung des Dreiklassenwahlrechts durch einen allgemeinen und gleichen Wahlmodus verbot sich für diese Kreise von selbst. Die Sorge vor dem Untergang des alten Preußens, der Parlamentarisierung, den politischen (Fehl-)Entscheidungen der unteren Klassen2043 oder um die Zukunft von Kulturfragen unter Einmischung der Sozialdemokraten schwangen in der Regel bei den Gegnern des allgemeinen und gleichen Wahlrechts mit, wurden aber in diesem Stadium der Debatten nicht öffentlich vorgetragen. bb) Argumente der Befürworter der Einführung des allgemeinen und gleichen (Männer-)Wahlrechts Die Befürworter des gleichen Wahlrechts konnten hingegen zwei „echte“ Argumente für ihre Position ins Feld führen: (1) Verbot einer Ungleichbehandlung der Bürger aufgrund der Verrichtung des allgemeinen Kriegsdienstes Erstens tauchten im Rahmen der Debatten im Kronrat einmal mehr der Leistungsgedanke und das Prinzip do-ut-des auf, allerdings auf die aktuelle Kriegslage zugeschnitten. Alle Bürger würden im Kriege gleichermaßen ihr Leben für ihr Vaterland aufs Spiel setzen und das dem Lande zur Verfügung stellen, was sie hätten, so daß eine unterschiedliche Bewertung der Stimmen der Bürger im Rahmen des Wahlrechts nicht mehr aufrecht zu halten sei.2044 Es würde, so Bethmann Hollweg prophezeiend, als schreiende Ungerechtigkeit von der Bevölke2041

Meinecke, Reform (Fn. 1654), S. 7. Croon, Anfänge (Fn. 1897), S. 120. 2043 Zur Entkräftung der Bedenken der Konservativen siehe Friedberg, Wahlrecht (Fn. 1957), S. 11 ff. Verständnislos hinsichtlich der Argumente des Verbleibs der Kulturaufgaben und der unterstellten politischen Unreife breiter Bevölkerungsschichten auch Anschütz, Wahlreform (Fn. 31), S. 22 f. 2044 Dokumentation der Sitzung des Kronrats (Fn. 34), S. 128 ff.; zu diesem Argument auch Friedberg, Wahlrecht (Fn. 1957), S. 9; Meinecke, Reform (Fn. 1654), S. 24 f.: „Unsere Massen haben in und durch diesen Krieg den Sinn und Wert staatlicher Macht und damit auch staatlicher Autorität verstehen gelernt“; Anschütz, Wahl2042

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rung empfunden werden, „(. . .) wenn diejenigen, die vielleicht mit zerschossenen Gliedmaßen oder von Seiner Majestät durch das Eiserne Kreuz I. Klasse ausgezeichnet heimkehrten, ein geringeres Wahlrecht erhielten, als diejenigen, die im Kriege nichts geleistet, sich dabei aber vielleicht großen Kriegsgewinn zu verschaffen verstanden hätten“ 2045. Zudem erlaube „das starke und frohe Vertrauen auf die Gesundheit unserer Staats- und Volksgemeinschaft“, die Ersetzung des Dreiklassenwahlrechts, welches sich hinlänglich als „Schranke (. . .) zwischen der Monarchie und den arbeitenden Massen des Volkes“, als „Hemmung“ der gesamtdeutschen Entwicklung herausgestellt habe.2046 (2) Behinderung einer erfolgreichen gesamtdeutschen Politik durch ein Nebeneinander unterschiedlicher Wahlsysteme Zweitens, und dieses Argument ist sehr eng mit dem erstgenannten verknüpft, führe die aktuelle Kriegssituation die Notwendigkeit einer einheitlichen gesamtdeutschen Politik mehr als deutlich vor Augen. Es handelt sich mithin um „das verfassungspolitische Pendant zu der oben skizzierten Notwendigkeit sozialer Integration. Ging es dort um die Integration der Arbeiterschaft in den bestehenden Staat durch eine Wahlreform, so geht es hier um die Integration Preußens in das Reich durch die gleiche Maßnahme.“ 2047 Diese beiden Facetten der Wahlreform, soziale Integration der Arbeiterschaft auf der einen und verfassungspolitischinstitutionelle Integration Preußens in das Reich auf der anderen, hat beispielsweise Anschütz sehr eingängig ausbuchstabiert. Auch für ihn schien die Wahlreform gerade deshalb unumgänglich, weil das Nebeneinander des preußischen und deutschen Parlaments, die auf diametral verlaufenden Wahlsystemen beruhten und daher völlig unterschiedliche politische Stärkeverhältnisse und Zusamreform (Fn. 31), S. 3: Krieg als „der große Erzieher zur Staatsgesinnung (. . .)“ und Patemann, Kampf (Fn. 1320), S. 229. 2045 Zitiert nach der Dokumentation der Sitzung des Kronrats (Fn. 34), S. 130. 2046 So das flammende Plädoyer zur Abschaffung des Dreiklassenwahlrechts bei Meinecke, Reform (Fn. 1654), S. 17, 21. Er bedauert jedoch wiederum, daß unter einem allgemeinen und gleichen Wahlrecht die Gebildeten und Besitzenden als „Träger (. . .) unserer Kulturtraditionen“ im Vergleich zu schlecht wegkommen würden (S. 23). Die beste Lösung sei daher die Einführung des allgemeinen, gleichen, direkten und geheimen Wahlrechtes für das Abgeordnetenhaus bei gleichzeitiger Stärkung der Rechte des Herrenhauses (S. 26). Auch Thimme, Konservativismus (Fn. 1946), S. 225 ff. argumentiert in eine ähnliche Richtung und macht sich für eine gewisse Berücksichtigung von Leistung und Bewährung des Bürgers im Rahmen der Ausgestaltung des Wahlrechts stark: „Dem konservativen Prinzip könnte es jedenfalls nicht entgegen sein, wenn man in Verbindung mit einem geheimen und direkten Wahlrecht eine Abstufung nach der gesamten staatlichen und sozialen Leistung und Bewährung, anstatt lediglich nach der Steuerleistung zugrunde legte“ (ebd., S. 237). Er schlägt vor, eine bis fünf zusätzliche Stimmen an Kriterien, wie die Verrichtung von Wehrdienst, eine Mindestanzahl von Kindern, ehrenamtliche Tätigkeit oder die Sozialversicherungspflicht eines Arbeitgebers für eine größere Zahl von Arbeitnehmern zu knüpfen. 2047 Patemann, Kampf (Fn. 1320), S. 232.

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mensetzungen aufwiesen, ein für das gesamte Reich vorteilhaftes politisches Agieren im Krieg wesentlich erschwerte.2048 cc) Die Abstimmung über die Wahlrechtsfrage Für das gleiche Wahlrecht machte sich bei der Abstimmung im Kronrat neben Bethmann Hollweg vor allem der Vizekanzler und preußische Staatsminister Helfferich stark, so daß – trotz oft weitgehender Ressentiments – die Mehrzahl der Minister und Staatssekretäre sich schließlich für die Einführung aussprach. Am 11. Juli 1917 erließ der Kaiser daraufhin eine das gleiche Wahlrecht für Preußen in Aussicht stellende Ergänzung zur Osterbotschaft2049, die man durchaus als „einen ganz erheblichen Fortschritt und eine unverkennbare Zäsur“ zu werten hat. Durch sie beendete die Regierung „die Epoche der Unklarheiten, des Verschleierns, Hinhaltens und Taktierens in der Wahlrechtspolitik der Regierung und zeichnete ihren künftigen Kurs in den Grundzügen unmißverständlich vor“ 2050. Trotz dieses Fortschritts war das gleiche Wahlrecht aber in Bezug auf Preußen noch lange nicht in der Welt. Zunächst stand ein Wechsel in der Reichsregierung an. Bethmann Hollweg sah sich am 12. Juli, nur einen Tag nach Verkündung der Julibotschaft, gezwungen, den Kaiser um seine Entlassung zu ersuchen2051 und war ersetzt worden durch Michaelis2052. Dieser vermochte aufgrund des ungebrochenen Mißtrauens der Links- und Mittelparteien gegenüber seinem politischen Reformkurs2053 wenig in Sachen Wahlrechtsreform auszurichten. Einzig nennenswert scheint eine Denkschrift den neuen Innenministers Drews vom August 1916, in der er die Alternativlosigkeit und Dringlichkeit der Einführung des gleichen Wahlrechts untermauerte: „Das (. . .) angekündigte gleiche Wahlrecht kann in seinem wesentlichen Kerne nur das Reichstagswahlrecht sein. Jeder Gedanke, dem Reichstagswahlrecht durch Zusätze oder Umbildungen ein der Sache nach anderes Wahlrecht unterzuschieben – so z. B. die Auslegung, daß mit dem gleichen Wahlrecht auch die Gewährung gewisser Zusatzstimmen vereinbar 2048

Siehe hierzu bereits in und um Fn. 1586. Der „Reformerlaß“ König Wilhelms II. an den Präsidenten des Preußischen Staatsministeriums von Bethmann Hollweg vom 11. Juli 1917 ist abgedruckt bei Huber (Hrsg.), Dokumente 3 (Fn. 2024), Nr. 103 (Nr. 332), S. 155. Siehe dazu Braunias, Wahlrecht (Fn. 961), S. 111 f.; Croon, Anfänge (Fn. 1897), S. 120; Born, Preußen (Fn. 1502), S. 137; Friedberg, Wahlrecht (Fn. 1957), S. 9; Patemann, Kampf (Fn. 1320), S. 93. 2050 Patemann, Kampf (Fn. 1320), S. 238. 2051 T. v. Bethmann Hollweg, Betrachtungen zum Weltkriege, 1. Teil: Vor dem Kriege, 1919, S. 235 f.; Patemann, Kampf (Fn. 1320), S. 96 konstatiert, das „zu wenig und zu spät“ hätte von Bethmann Hollweg und dessen Wahlrechtspolitik letztlich zu Fall gebracht: „Er wollte diese Kräfte [die, die durch den Krieg freigesetzt worden waren, A. S.] zugleich nutzen und zurückhalten. An diesem Widerspruch ist er gescheitert und mit ihm seine Wahlrechtspolitik.“ 2052 Patemann, Kampf (Fn. 1320), S. 96. 2053 Patemann, Kampf (Fn. 1320), S. 97 ff. 2049

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sei, soweit deren Erlangung nur einem jeden offenstehe –, muß von vornherein zurückgewiesen werden.“ 2054 Die Reichskanzlerschaft Michaelis’ sollte nicht lange andauern2055, und bereits kurz darauf folgte der bayerische Ministerpräsident Graf von Hertling ihm im Amt2056. Bevor die bereits Ende Oktober 1917 ausgearbeiteten Vorlagen zur Wahlrechtsreform im Abgeordnetenhaus eingebracht werden konnten, galt es aber, dem Kaiser, der trotz ganz offensichtlichem Widerspruch zu seiner eigenen Ankündigung im Julierlaß immer noch der Idee einer berufsständischen Volksvertretung nachhing, diese endgültig auszureden.2057 b) Die Diskussion im Abgeordnetenhaus und das Scheitern einer Einigung in der Wahlrechtsfrage aa) Beginn der Debatten im Abgeordnetenhaus und erste Lesung der Reformvorlage Am 5. Dezember 1917 brachte Reichskanzler Graf von Hertling die Reformvorlagen, bestehend aus drei Gesetzentwürfen2058, im Abgeordnetenhaus ein2059. Entscheidend für die vorliegende Abhandlung ist § 3 der Entwürfe, durch den das gleiche Wahlrecht eingeführt werden sollte. Einleitend versuchte von Hertling mahnend auf die Abgeordneten einzuwirken, indem er sie bat, sich dem Reformvorhaben zu öffnen, um „im Interesse der gedeihlichen, friedlichen Entwicklung des Staates, möglicherweise sogar der Verhütung schwerer Erschütterungen“ 2060 entsprechend zu handeln. Als Hauptargument für die Unumgänglichkeit der Abschaffung des Dreiklassenwahlrechts brachte er die aktuelle Kriegssituation vor, in der jeder Bürger gleichermaßen sein Leben für den Staat aufs Spiel setzte und mithin Anspruch auf gleiche Einbindung in staatliche Entscheidungsfindungsprozesse habe2061: „Der Inhalt dieser Lösung [der Lösung der Wahlrechtsfrage, A. S.] ist vorgezeichnet durch die Tatsache, daß draußen auf der 2054

Zitiert nach Patemann, Kampf (Fn. 1320), S. 103. Patemann, Kampf (Fn. 1320), S. 112 ff. 2056 Zu den Hintergründen dessen Regierungsbildung siehe Patemann, Kampf (Fn. 1320), S. 115 ff. 2057 Patemann, Kampf (Fn. 1320), S. 123 f. 2058 Siehe die Drucksache Nr. 698, abgedruckt in: Sammlung der Drucksachen des Preußischen Hauses der Abgeordneten (Anlagen zu den Stenographischen Berichten), 22. Legislaturperiode, III. Session 1916/18, Bd. VII, 1918, S. 4382 ff., linke Spalte; Patemann, Kampf (Fn. 1320), S. 127. 2059 Siehe die 101. Sitzung des Hauses der Abgeordneten vom 5. Dezember 1917, abgedruckt in: Wörtliche Berichte über die Verhandlungen des Preußischen Abgeordnetenhauses, 22. Legislaturperiode, III. Tagung 1916/18, Bd. VI, 1918, Sp. 6561 ff. 2060 Ebda., Sp. 6564. 2061 Zu dieser Argumentation der Befürworter eines allgemeinen und gleichen Wahlrechts in Preußen bereits in und um Fn. 2044. 2055

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Walstatt alle Männer unseres preußischen Volkes den gleichen Kampf kämpfen, (. . .) in gleicher Gefahr ihr Leben in die Schanze schlagen, mit gleichem Heldenmut in den Tod gehen. (. . .) Wie draußen im Felde so helfen hier in der Heimat Preußens Söhne unter Einschränkungen und Entbehrungen für sich und ihre Familien jeder an seinem Platze, alle gleichmäßig dazu, daß unser Volk den Kampf um Leben und Existenz siegreich bestehen möge. Die gleiche Pflichterfüllung aller preußischen Männer ihrem Vaterlande gegenüber, die Mühen und Entbehrungen im Kampf und in Arbeit, in Not und im Tod, die sich so herrlich in diesen Tagen bewährt haben, führen dazu, daß die Lösung der Wahlrechtsfrage nur darin gefunden werden kann, daß jedem Preußen bei der ihm eingeräumten Mitwirkung der Gestaltung der Geschicke unseres Staates, bei der Wahl zum Abgeordnetenhause, grundsätzlich auch das gleiche Recht einzuräumen ist.“ 2062 Die Konservativen empfanden die Reformvorlage des Ministeriums von Hertling als ein Fiasko in zweifacher Hinsicht: Ein Nicht-Preuße forderte die Abschaffung des lange wie ein kostbarer Schatz gehüteten Preußischen Dreiklassenwahlrechts. Die konservative Bestürzung darüber vermochte von Heydebrand und der Lase, der Führer der Deutschkonservativen Partei, mit aller Leidenschaft für sein preußisches Heimatland auf den Punkt zu bringen: „Aber wohin sind wir weiter in Preußen gekommen. Ich erwähne den Herrn Ministerpräsidenten in diesem Zusammenhange nicht gern, aber tatsächlich ist es doch so: wir haben einen Nichtpreußen als Ministerpräsidenten, und ich wüßte ganz genau, wie man die Sache in Bayern auffassen würde. (. . .) und, was noch schlimmer ist, die preußischen Gesetze werden nicht hier gemacht, die werden im Reichstage gemacht (. . .). (. . .) wir wollen und werden unsere Stimmen dagegen erheben, daß unser preußisches Volk, was so viel geleistet hat, auch für das Deutsche Reich, in eine Klasse minderer Ordnung herabgedrückt wird. (. . .) Wir wollen kein Vorrecht vor den andern deutschen Bundesstaaten, aber wir wollen nicht schlechter behandelt werden als sie, und das ist der Fall gewesen.“ 2063 Der Widerstand der alten Führungselite war noch lange nicht gebrochen. Während die Freikonservativen mit den üblichen Leitsätzen2064, wie der Behauptung, das gleiche Wahlrecht sei schlicht ungerecht, versuchten Stimmung gegen dessen Einführung zu machen2065, forderte der Vorsitzende der Nationalliberalen Lohmann die Einsetzung einer Kommission, die weitreichende Änderungen der Vorlagen erarbeiten sollte,

2062 Zur Begründung der Wahlreformvorlage prägnant im Abgeordnetenhaus vorgetragen vom Innenminister Drews ebenfalls in der 101. Sitzung des Hauses der Abgeordneten vom 5. Dezember 1917, abgedruckt in: Wörtliche Berichte Abgeordnetenhaus 1917 VI (Fn. 2059), Zitat Sp. 6565 f. 2063 Siehe erneut die 101. Sitzung des Hauses der Abgeordneten vom 5. Dezember 1917, abgedruckt in: Wörtliche Berichte Abgeordnetenhaus 1917 VI (Fn. 2059), Zitat Sp. 6594, Hervorhebungen i. O., A. S. 2064 Hierzu bereits in und um Fn. 2034. 2065 Patemann, Kampf (Fn. 1320), S. 131 f.

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um sicherzustellen, daß die gebildeten Klassen im Rahmen eines neuen Wahlrechtes nicht von der Masse unterdrückt werden könne2066. Nach erwartungsgemäßer Niederlage der Regierungsvorlage wurde eine solche eingerichtet. bb) Ablehnung des gleichen Wahlrechts durch die Kommission und zweite Ablehnung im Ausschuß Mit der Begründung, aufgrund der Ankündigung in der Julibotschaft bei ausbleibender Wahlrechtsreform die eigene Glaubwürdigkeit und das Vertrauen der Bevölkerung aufs Spiel zu setzen, hielt die Regierung unverändert an ihrer Vorlage fest. Innenminister Drews erläutert hierzu in seiner Denkschrift über die innerpolitische Gesamtlage vom Februar 1918: „Mit dem Wahlrechtserlaß vom 11. Juli hat die Forderung des gleichen Wahlrechts ihren Rechtstitel erhalten, auf dem jeder Mann im Volke seitdem fußt. Würde die Wahlreform scheitern oder Wege gehen, die dem Inhalt des Wahlrechtserlasses zuwiderlaufen, so würde man in den Massen nicht das Bewußtsein haben, eine politische Forderung nicht haben durchsetzen zu können, sondern (. . .) das Bewußtsein gebrochenen Rechtes (. . .).“ 2067 In der Kommission wurde § 3 allerdings mit drei Gegenanträgen konfrontiert, von denen der eine eine Kombination von Pluralsystem und berufsständischem Wahlrecht, ein zweiter lediglich die Änderung der Dreiteilung des Dreiklassenwahlrechts in eine Zehntelung vorsah.2068 Übrig blieb von alledem nur ein Kompromißentwurf vom Juni 1917. Die Regierung konnte und wollte sich auf diesen Vorschlag, der im Wesentlichen auf einem Mehrstimmensystem beruhte, das Zusatzstimmen an ein bestimmtes Alter, Familienstand, Bildung und Selbständigkeit knüpfte, nicht einlassen.2069 Auch wenn Gustav Stresemann seine Nationalliberalen mit dem Verweis auf die „Staatsnotwendigkeit“ der Einführung des gleichen Wahlrechts in Preußen versuchte auf Regierungskurs zu bringen2070, wurde deren Vorlage durch den Ausschuß ein zweites Mal am 11. April 1918

2066 102. Sitzung vom 6. Dezember 1917, abgedruckt in: Wörtliche Berichte Abgeordnetenhaus 1917 VI (Fn. 2059), Sp. 6630 ff.; Patemann, Kampf (Fn. 1320), S. 130. 2067 Siehe der preußische Minister des Innern an Wilhelm II., Berlin, Anfang Februar 1918, abgedruckt in: L. Stern (Hrsg.), Die Auswirkungen der großen sozialistischen Oktoberrevolution auf Deutschland, Quellenmaterial bearbeitet von G. Schrader und H. Weber, Bd. 4/III, 1959, Nr. 396, S. 1048 (1062). 2068 Patemann, Kampf (Fn. 1320), S. 143 f. 2069 Patemann, Kampf (Fn. 1320), S. 144 ff. 2070 Patemann, Kampf (Fn. 1320), S. 152; zur unbedingten Notwendigkeit der Wahlrechtsreform in Preußen äußerte sich der Abgeordnete Stresemann u. a. in der 135. Sitzung des Reichstages vom 27. Februar 1918, abgedruckt in: Verhandlungen des Reichstags. XIII. Legislaturperiode. II. Session, Bd. 311, 1918, S. 4181, linke Spalte (4195, rechte Spalte: „Unstimmigkeiten mit kleineren Bundesstaaten sind erträglich und rühren nicht an den Lebensnerv des Deutschen Reichs und des deutschen Volks; aber ein klaffender Widerspruch zwischen Reichspolitik und preußischer Politik ist auf die Dauer nicht zu tragen“).

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abgelehnt2071. Die Lage schien verfahren. Die nach wie vor in der preußischen Wahlrechtsfrage gespaltenen Lager belasteten nicht nur die Regierungsarbeit, sondern auch die Parteien selbst, insbesondere die Nationalliberalen, deren Votum, ebenso wie das des Zentrums, zum Zünglein an der Waage werden sollte.2072 Die Gefahr einer Spaltung der Partei vor dem inneren Auge2073, fanden sich die Nationalliberalen im April zum Preußentag zusammen, um eine öffentliche Grundsatzentscheidung in der Wahlrechtsfrage herbeizuführen. Auch wenn von der Partei – nicht zuletzt aufgrund der unermüdlichen Werbung Stresemanns und Friedbergs für das gleiche Wahlrecht – mit deutlicher Mehrheit eine inhaltlich deren Linie entsprechende Resolution verabschiedet wurde2074, fiel die Probeabstimmung mit einer Mehrheit von lediglich zwei Stimmen zugunsten der Einführung des gleichen Wahlrechts denkbar knapp aus2075. Zudem handelte es sich nur um ein parteiinternes Votum, das letztlich nichts über das Abstimmungsverhalten der nationalliberalen Parlamentarier im Abgeordnetenhaus auszusagen vermochte. Da neben den Nationalliberalen auch das Zentrum unmittelbar vor der zweiten Plenarlesung noch erfolglos um Einigkeit rang2076, stand immer wieder die radikale Maßnahme einer Auflösung des Abgeordnetenhauses im Raum2077. cc) Ausweglosigkeit aus der (Wahlrechts-)Krise durch erneute Ablehnung des allgemeinen und gleichen (Männer-)Wahlrechts in der zweiten Plenarsitzung Auch die zweite Plenarsitzung brachte keine Annäherung in der Wahlrechtsfrage: Während die Sozialdemokraten2078 und das linke Spektrum der Nationalliberalen weiterhin die Wiederherstellung der Regierungsvorlage forderten2079, modifizierte der Wortführer des rechten Flügels der Nationalliberalen, Lohmann, 2071

Patemann, Kampf (Fn. 1320), S. 155 ff. Patemann, Kampf (Fn. 1320), S. 166. 2073 Patemann, Kampf (Fn. 1320), S. 156 ff. 2074 Die entsprechende Resolution wurde mit Mehrheit von 419 zu 129 Stimmen angenommen, siehe Patemann, Kampf (Fn. 1320), S. 160. 2075 Patemann, Kampf (Fn. 1320), S. 160 f. 2076 Patemann, Kampf (Fn. 1320), S. 171. 2077 Diskutiert u. a. am 25. April 1918 in einer Ministerbesprechung und am 27. April in einer Staatsministerialsitzung, siehe Patemann, Kampf (Fn. 1320), S. 163. Man einigte sich auf eine Erklärung, die vorsah, das Abgeordnetenhaus solle „nötigenfalls auch während des Krieges“ aufgelöst werden, sollte auch das Herrenhaus die Erwartungen der Regierung in Bezug auf die Wahlrechtsvorlage nicht erfüllen, siehe ders., Kampf (Fn. 1320), S. 165. 2078 Manche Sozialdemokraten setzten gar all ihre Hoffnungen in die Einführung des gleichen Wahlrechtes in Preußen; sie betrachteten sie als eine Art Allheilmittel und maßen ihr die Bedeutung „eines Schlüssels, der mit einem Schlage alle Türen aufschloß, alle Hindernisse beseitigte“ bei, siehe Patemann, Kampf (Fn. 1320), S. 245. 2079 Anträge Nr. 925 (Braun und Genossen) und Nr. 929 (Grund und Genossen), abgedruckt in: Sammlung der Drucksachen des Preußischen Abgeordnetenhauses (Anla2072

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seinen Antrag erneut, hielt aber am Mehrstimmenprinzip fest2080. Erwartungsgemäß wurde die Wiederherstellung der Regierungsvorlage aber abgelehnt. Ebenso erging es dem Antrag Lohmanns. dd) Endgültiges Scheitern einer Einigung in der Wahlrechtsfrage in der dritten Plenarsitzung Auch die dritte Plenardebatte, die am 13. Mai 1918 stattfand, konnte keine Einigung herbeiführen, sondern sollte die ganze Situation ganz im Gegenteil noch aussichtsloser erscheinen lassen. Der Antrag auf Wiederherstellung der Regierungsvorlage, der die Einführung des gleichen Wahlrechts vorsah, wurde erwartungsgemäß abermals abgelehnt.2081 Ebenfalls der Antrag Lohmanns mit seinem Mehrstimmenkonzept, dessen „Kompromißwert“ er lobend in den Vordergrund rückte2082, obgleich er einige wesentliche Modifikationen vorgenommen hatte, wie die Ergänzung der Qualifikationszusatzstimme um eine Altersstimme und die Ersetzung der Regelung der Mehrstimme bei sechsjähriger Bestriebszugehörigkeit durch zehnjährige Gemeindeangehörigkeit2083. Das Hauptproblem lag aber darin begründet, daß sich mittlerweile auch keine Mehrheit mehr für die in der zweiten Lesung beschlossene Version des § 3 fand2084, so daß an dieser gen zu den Wörtlichen Berichten), 22. Legislaturperiode, III. Tagung 1916/18, Bd. X, 1918, S. 6016 linke Spalte und S. 6017, rechte Spalte. 2080 Siehe den Antrag Nr. 951 (Lohmann, Flathmann, Fuhrmann, Häuser), abgedruckt in: Sammlung der Drucksachen des Preußischen Abgeordnetenhauses (Anlagen zu den Wörtlichen Berichten), 22. Legislaturperiode, III. Tagung 1916/18, Bd. XI, 1919, S. 6031, linke Spalte. En detail sah der Antrag Folgendes vor: Eine statt bisher fünf Mehrstimmen für diejenigen, die in Land- oder Forstwirtschaft, Fischerei, Industrie, Gewerbe, Handel oder im freien Berufe selbständig oder als leitender Beamter oder sonstiger Geschäftsleiter seit mindestens einem Jahr vom 25. Lebensjahr an tätig sind, sowie die, die mehr als 10 Jahre vom 25. Lebensjahr an im Reichs-, Staats-, Kommunal-, Kirchen- oder Schuldienst hauptamtlich tätig sind oder gewesen sind und nicht aus strafrechtlichen oder disziplinarrechtlichen Gründen aus dem Amt entlassen wurden. Diejenigen, die mehr als 10 Jahre vom 25. Lebensjahr an als Mitglied einer deutschen Körperschaft des öffentlichen Rechts oder in deren Verwaltung beruflich oder eherenamtlich tätig sind oder gewesen sind und nicht aus strafrechtlichen oder disziplinarrechtlichen Gründen aus dem Amt entlassen wurden, und schließlich diejenigen Bürger, die als Angestellte oder Arbeiter seit mehr als 6 Jahren vom 25. Lebensjahr an in demselben Betrieb tätig sind; dazu Patemann, Kampf (Fn. 1320), S. 172 f. 2081 Detaillierte Abstimmungsliste abgedruckt in: Wörtliche Berichte über die Verhandlungen des Preußischen Abgeordnetenhauses, 22. Legislaturperiode, III. Tagung 1916/18, Bd. IX, 1918, Sp. 10093 ff. 2082 Siehe Lohmanns Ausführungen in der 148. Sitzung vom 13. Mai 1918, abgedruckt in: Wörtliche Berichte Abgeordnetenhaus 1918 IX (Fn. 2081), Sp. 9994 ff. 2083 Zu dieser Ablehnung des Antrags siehe die 149. Sitzung vom 14. Mai 1918, Wörtliche Berichte Abgeordnetenhaus 1918 IX (Fn. 2081), Sp. 10099 ff. 2084 Der Antrag zu § 3 des Gesetzentwurfes wurde ebenfalls in der 149. Sitzung vom 14. Mai 1918 abgelehnt, siehe Wörtliche Berichte Abgeordnetenhaus 1918 IX (Fn. 2081), Sp. 10107 ff.

Kap. 5: Das Preußische Dreiklassenwahlrecht (1849–1918)

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alles entscheidenden Stelle eine Lücke im Wahlgesetz klaffte2085. Man befand sich in der ambivalenten Situation, weder ein klares Votum für noch gegen die Einführung des gleichen Wahlrechts in Preußen herbeigeführt zu haben. Das Abgeordnetenhaus hatte es fertiggebracht, die Annahme des gleichen Wahlrechts in drei Lesungen abzulehnen2086 und das, ohne sich auf eine alternative Regelung geeinigt zu haben. Im Rahmen einer vierten Plenarlesung am 11. Juni 1918 wurde dann der Kompromißvorschlag Lohmanns in abermals etwas modifizierter Fassung schließlich angenommen.2087 Auch wenn mit dieser Entscheidung die Querelen der Nationalliberalen und des Zentrums kein Ende fanden2088, lag hierin eine „nicht unbeträchtliche Zäsur: Denn nach einer unter Ausnützung aller nur möglichen Mittel sieben Monate lang hingezogenen Beratung war somit das gleiche Wahlrecht vom Abgeordnetenhaus endgültig abgelehnt. An seine Stelle war ein Pluralsystem gesetzt worden, das zwar von den ursprünglichen Vorstellungen der Konservativen ein ganzes Stück entfernt war und gegenüber dem Dreiklassenwahlrecht sehr demokratisch wirkte, enthielt es doch keine direkten Steuer-, Vermögens- oder Besitzstimmen mehr, wies nur noch zwei Zusatzstimmen auf, von denen die eine, die Alters- und Familienstandsstimme, theoretisch allen zugänglich war, auch den gehobenen Schichten: da diese aber zudem noch die zweite, die Selbständigkeitsstimme erhielten, war bei der zahlenmäßigen Stärke der durch die alternativen Merkmale erfaßten Mittelstandskategorien die Gefahr einer radikalen Linksmehrheit nicht sehr groß (. . .).“ 2089 ee) Versöhnliches Ende der Wahlrechtstragödie durch Annahme des allgemeinen und gleichen (Männer-)Wahlrechts durch das Herrenhaus? (1) Verschleppung der Wahlrechtsfrage im Herrenhaus trotz Verschärfung der Kriegslage Der vom Abgeordnetenhaus verabschiedete, auf dem Pluralwahlrecht beruhende Kompromißvorschlag wurde im Sommer 1918 dem Herrenhaus zur Beratung und Beschlußfassung weitergeleitet.2090 Wer jetzt mutmaßt, angesichts der vorausgegangenen zähen und unbefriedigenden Beratungen des Abgeordnetenhauses, habe man sich im Herrenhaus um ein rasches Vorantreiben der Wahlrechtsfrage bemüht, der täuscht sich: Am 11. Juli 1918 übetrug es die Vorlage an 2085

Patemann, Kampf (Fn. 1320), S. 185. Born, Preußen (Fn. 1502), S. 139. 2087 Siehe dazu die namentliche Abstimmung in der 156. Sitzung des Abgeordnetenhauses vom 11. Juni 1918, abgedruckt bei Wörtliche Berichte Abgeordnetenhaus 1918 IX (Fn. 2081), Sp. 10635 ff. 2088 Patemann, Kampf (Fn. 1320), S. 192 ff. 2089 Zitat Patemann, Kampf (Fn. 1320), S. 201 f. 2090 Born, Preußen (Fn. 1502), S. 139; zum weiteren Vorgehen des Herrenhauses siehe ausführlich Lürig, Studien (Fn. 1743), S. 177 ff. 2086

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Teil 3: Zensuswahlrecht in Deutschland

eine Kommission, die es nicht eilig hatte, sich überhaupt zusammenzufinden.2091 Auch die Verschlechterung der Kriegslage, die sogar die konservativ gesinnte Oberste Heeresleitung dazu bewog, die Regierung in ihrem Vorhaben der Einführung des gleichen Wahlrechts öffentlich zu unterstützen, konnte das Herrenhaus, dem primär die Realisierung eines Berufs- oder Gruppenwahlrechtes vorschwebte, nicht zu einer Beschleunigung der Debatten anhalten. Nachdem der Ausschuß mit der Eröffnungssitzung am 4. September 1918 endlich seine Arbeit aufgenommen hatte, wurde die sich anschließende dreitägige Generaldebatte direkt von einer fünftägigen Erholungspause abgelöst, so daß sich das Gremium erst vom 11. bis 17. September wieder mit dem Wahlgesetz befaßen konnte.2092 Die Mehrheitsparteien zeigten sich gereizt angesichts dieses „Schindluderspiels“ des Herrenhauses und drängten zur schnellen Lösung der Wahlrechtsfrage2093, aber erst eine Art Überrumpelungstaktik der Regierung Ende September, die einige Mitglieder des Ausschusses vertraulich wissen ließ, die Oberste Heeresleitung verlange die unverzügliche Annahme des gleichen Wahlrechts, führte zu dessen Beschluß am 1. Oktober 1918 mit 17 zu 11 Stimmen und unter Einschluß einer Zusatzstimme für Wähler über 40 Jahren2094. (2) Überholung des (zu) späten Reformwillens durch die sich überschlagenden Ereignisse der Revolution Noch vor der Debatte der Ausschußbeschlüsse im Herrenhaus hatten sich Nationalliberale und Zentrum bereits intern auf die Erteilung ihrer Zustimmung geeinigt, allein einige Konservative traten in diesem Stadium noch gegen die Einführung des gleichen Wahlrechts ein.2095 Als man sich zur endgültigen Beschlußfassung im Herrenhaus zusammenfand, war die Kriegslage bereits so erdrückend2096, daß es dem Beschluß der Kommission folgte und schließlich am 24. Oktober 1918 in erster Lesung ein allgemeines, gleiches und unmittelbares Wahlrecht verabschiedete2097. Da es bis zur zweiten Lesung eine 21-Tages-Frist einzuhalten galt, konnte die preußische Wahlreform jedoch nicht mehr vollendet werden.2098 Obwohl man mit dem 15. No2091 Zum Beschluß, die Sache an die Kommission zu überweisen, siehe die 36. Sitzung des Herrenhauses vom 11. Juli 1918, abgedruckt in: Stenographische Berichte Herrenhaus 1916/18 (Fn. 1914), Sp. 1231 f.; Patemann, Kampf (Fn. 1320), S. 203. 2092 Patemann, Kampf (Fn. 1320), S. 206 ff. 2093 Patemann, Kampf (Fn. 1320), S. 212 f. 2094 Patemann, Kampf (Fn. 1320), S. 221. 2095 Patemann, Kampf (Fn. 1320), S. 224 f. 2096 Patemann, Kampf (Fn. 1320), S. 217. 2097 Siehe dazu die Abstimmung in der 39. Sitzung des Herrenhauses vom 24. Oktober 1918, abgedruckt in: Stenographische Berichte Herrenhaus 1916/18 (Fn. 1914), Sp. 1265; Croon, Anfänge (Fn. 1897), S. 125; Born, Preußen (Fn. 1502), S. 140. 2098 Born, Preußen (Fn. 1502), S. 140.

Kap. 5: Das Preußische Dreiklassenwahlrecht (1849–1918)

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vember den frühstmöglichen Termin für die zweite Lesung gewählt hatte2099 und dem Reichstag bereits am 9. November ein Antrag des Herrenhauses zugeleitet wurde, der das noch weiter reichende demokratische Zugeständnis vorsah, daß jeder Bundesstaat bis 1. Oktober 1919 die Bestimmungen des Reichsgesetzes über das Frauenwahlrecht und die Verhältniswahl umsetzen sollte2100, wurde der Abschluß der Reform schlicht von den sich überschlagenden revolutionären Ereignissen überholt2101. c) Revolutionäre Überwindung des Preußischen Dreiklassenwahlrechts durch Einführung des allgemeinen und gleichen (Männer-)Wahlrechts Am 13. November stellte die preußische Revolutionsregierung die Wahl der verfassunggebenden Versammlung in Aussicht, die nach gleichem Wahlrecht für alle Männer und Frauen nach den Grundsätzen der Verhältniswahl vollzogen werden sollte.2102 Und so kam es dann auch: Gemäß der Verordnung vom 30. November 19182103 wurden die Abgeordneten der verfassunggebenden deutschen Nationalversammlung in allgemeinen, unmittelbaren und geheimen Wahlen nach den Grundsätzen der Verhältniswahl gewählt2104. Der für die zweite Lesung vorgesehene 15. November sollte nunmehr nicht mehr das Ende der Wahlrechtsdebatte im Herrenhaus, sondern vielmehr dessen eigenes Ende markieren, denn just an diesem Tag wurde dessen Abschaffung proklamiert und das Abgeordnetenhaus aufgelöst.2105 3. Resümee

So fällt auch die Bilanz der letzten preußischen Wahlrechtsreform in vielerlei Hinsicht mehr als ernüchternd aus: Zum einen schienen viele der politisch Ver2099 Siehe zur Terminierung: 42. Sitzung des Herrenhauses vom 31. Oktober 1918, abgedruckt in: Stenographische Berichte Herrenhaus 1916/18 (Fn. 1914), Sp. 1277. 2100 Patemann, Kampf (Fn. 1320), S. 227 f. 2101 Patemann, Kampf (Fn. 1320), S. 228. 2102 Dazu beispielsweise Patemann, Kampf (Fn. 1320), S. 228. 2103 Siehe den Auszug aus der Verordnung über die Wahlen zur verfassunggebenden deutschen Nationalversammlung (Reichswahlgesetz) vom 30. November 1918, Reichsgesetzblatt 1918, S. 1345, abgedruckt bei Huber (Hrsg.), Dokumente 4 (Fn. 401), Nr. 43 (Nr. 42), S. 37. 2104 Siehe § 1 Abs. 1 der entsprechenden Verordnung, abgedruckt bei: Huber (Hrsg.), Dokumente 4 (Fn. 401), Nr. 43 (Nr. 42), S. 37 und ebd., § 2: „Wahlberechtigt sind alle deutschen Männer und Frauen, die am Wahltag das 20. Lebensjahr vollendet haben.“ 2105 Das preußische Haus der Abgeordneten und das Herrenhaus wurden durch die vom Revolutionskabinett, bestehend aus SPD und USPD, verabschiedete Verordnung, betreffend Auflösung des Abgeordnetenhauses und Beseitigung des Herrenhauses vom 15. November 1918 aufgelöst, abgedruckt in: Preußische Gesetzsammlung 1918. Enthält die Gesetze, Verordnungen usw. vom 9. Januar bis 28. Dezember 1918 nebst einigen Allerhöchsten Erlassen usw. aus den Jahren 1916 und 1917, 1918, Nr. 11710 (S. 191).

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Teil 3: Zensuswahlrecht in Deutschland

antwortlichen nicht von der Verbesserung des Wahlsystems durch Einführung des gleichen Wahlrechts überzeugt, sondern sahen dessen Etablierung vielmehr als eine Art Opfer, das es – wenngleich widerwillig und im Rahmen zäher und langwieriger Debatten – im Krieg für die kämpfenden Massen zu bringen galt: „Nicht aus eigener Kraft und freier eigener Entschließung fand der perußische Landtag den Weg zur überfälligen Reform des Klassenwahlrechts. Die im Oktober 1918 zu spät einsetzende Reformbereitschaft wurde durch die sich abzeichnende militärische Niederlage erzwungen.“ 2106 Dabei wäre es auch ohne den Krieg und die damit einhergehende Radikalisierung der Arbeiterschaft über kurz oder lang wohl zur Einführung des gleichen Wahlrechts in Preußen gekommen. Der Krieg allerdings ließ die systemimmanenten Schwächen des Dreiklassenwahlrechts in aller Erbarmungslosigkeit und unverhüllt zu Tage treten, und die Leistung der Soldaten für ihr Vaterland stärkte deren Selbstbewußtsein und Forderungshaltung hinsichtlich der Einräumung politischer Beteiligungsrechte. Doch ansatt sich dem Zeitgeist anzupassen und die Wahlrechtsreform im Rahmen ihrer Möglichkeiten zu unterstützen, zeigten sich die Konservativen kompromißlos und standen mit ihrem Verharren einer Erneuerung des Systems, das sie eigentlich zu schützen suchten, letztendlich im Wege. De facto ist es so, daß „die Behandlung der Wahlrechtsfrage in den Kriegsjahren, bei der die Gegensätze mit besonderer Schärfe hervortraten und die Inkonsequenz, Unsicherheit, ja Schwäche und Ohnmacht der Träger des bisherigen Regierungssystems eklatant in die Augen sprang, volkspsychologisch ihr gut Teil dazu beigetragen hat, dieses System, unter dem eine solche Behandlung möglich war, zu diskreditieren, den Widerstandswillen vieler seiner Anhänger zu lähmen, das politische Denken der Linken und die Stimmung der Massen zu radikalisieren. Ganz ohne Zweifel haben somit die Gegner der Reform durch ihr Verhalten in der Wahlrechtsfrage diesem System, von dem sie selbst am meisten profitierten, schweren Schaden zugefügt und den schließlichen Umsturz auch hierdurch mit vorbereitet.“ 2107 Zum anderen markiert nicht ein neues, verfassungsrechtlichen Vorgaben gerecht werdendes Wahlgesetz das Ende der preußischen Debatten um die Einführung des gleichen Wahlrechts, sondern „erst die Revolution setzte den Schlußstrich unter den Wahlrechtsstreit, sie setzte ihn radikal und endgültig“, und hatte dabei „innerhalb eines Monats von den Wahlrechtsgegnern mehr erreicht als über vier Jahre Wahlrechtsagitation“ 2108. So wartet man auf den versöhnenden Schlußakkord in der preußischen Wahlrechtsfrage vergeblich.

2106 2107 2108

Born, Preußen (Fn. 1502), S. 139. Patemann, Kampf (Fn. 1320), S. 261. Beide Zitate Patemann, Kampf (Fn. 1320), S. 228.

Teil 4

Schlußbetrachtung Sowohl die erste Revolutionsverfassung Frankreichs von 17912109 als auch die ersten Länderverfassungen in Deutschland, wie die Verfassung des Königreichs Westfalen von 18072110 oder die des Königreichs Bayern von 18082111, etablierten ein Zensuswahlrecht. Trotz schier omnipräsenter Gleichheitsforderung der Revolution kamen auch die nachfolgenden Verfassungen in Frankreich nicht ohne die Verknüpfung des Wahlrechts mit Grundbesitz, Steuerleistung oder Vermögen aus, ja das Zensuswahlrecht erlebte gar unter dem Bürgerkönig Louis Philippe (1830–1848) eine Art Renaissance und ließ so die vermögende Bourgeoisie, die Landeselite, zur ersten Macht im Staate werden.2112 Die Überwindung des Zensuswahlrechts durch Einführung des allgemeinen und gleichen (Männer-)Wahlrechts wurde schließlich durch die Februarrevolution 1848 zusammen mit der Proklamation der Republik erzwungen.2113 In Deutschland sah zwar bereits die Paulskirchenverfassung von 18492114 ein allgemeines und gleiches (Männer-)Wahlrecht vor – was im europäischen Vergleich als extrem fortschrittlich zu werten war –, ihre Vorgaben bestanden allerdings nur auf dem Papier, so daß es de facto noch knappe zwanzig Jahre dauern sollte, bis es sich zunächst im Wahlgesetz des Norddeutschen Bundes von 18672115 und dann als Bestandteil der Verfassung des Deutschen Reiches von 18712116 durchsetzen konnte. Interessanterweise führte dies nicht zu einer unmittelbar nachfolgenden Adaption des Reichstagswahlrechts auf Länderebene. Ganz im Gegenteil: im flächenmäßig mit Abstand größten Teilstaat Preußen, der auch ansonsten eine Sonderstellung im Reich genoß2117, konnte das Dreiklassenwahlrecht, ein ungleiches Wahlrecht par excellence, seinen Bestand trotz wachsender innerer Widerstände und Proteste des Reiches bis 1918, also fast 50 weitere Jahre verteidigen2118. 2109 2110 2111 2112 2113 2114 2115 2116 2117 2118

Siehe hierzu S. Siehe hierzu S. Siehe hierzu S. Siehe hierzu S. Siehe hierzu S. Siehe hierzu S. Siehe hierzu S. Siehe hierzu S. Siehe hierzu S. Siehe hierzu S.

47 ff. 169 ff. 169 ff. 129 ff. 142 ff. 236 ff. 252 ff. 256 ff. 317 ff.; 347 ff. 311 ff.

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Teil 4: Schlußbetrachtung

Frankreich als Paradebeispiel eines Landes des revolutionären Umsturzes und Deutschland, wo meist das politische Credo der behutsamen Reform von oben befolgt wurde, standen trotz dieser unterschiedlichen Entwicklungen hinsichtlich der Frage der Ausgestaltung des Wahlrechts vor dem gleichen Problem: Mit Aufbrechen der ständisch-feudalen Strukturen und dem Wegfall geburtsbedingter Privilegien war ein Vakuum entstanden, das es zu schließen galt.2119 In der Theorie galten nunmehr alle Menschen als grundsätzlich gleich und dennoch sahen die politisch Verantwortlichen sich außerstande, ausnahmslos allen Bürgern politische Partizipationsrechte einzuräumen. In Frankreich wie in Deutschland suchte man nach einem meßbaren Kriterium als operablem Maßstab der Zuteilung dieser politischen Teilnahmerechte, so daß in beiden Ländern an die Stelle des geburtsbedingten Standes das des Besitzes trat. Dabei tauchen in den parlamentarischen Debatten und im öffentlichen politischen und wissenschaftlichen Diskurs in den Referenzländern im Wesentlichen vier sich deckende, länderübergreifende Argumentationsmuster auf: (1) die Aktien- sowie (2) die Korrespondenztheorie, (3) ein Ansatz, der Vermögen oder Steuerleistung als meßbares Kriterium von politischer Mündigkeit begreift und (4) das Argument vom Zensuswahlrecht als Schutz vor Demagogentum. Zunächst bediente man sich in beiden Ländern zur Begründung der Verknüpfung des Wahlrechts mit dem Besitz der sog. Aktientheorie. Diese beruht auf einem Vergleich des Staates mit einem Unternehmen. Durch den (Grund-)Besitz erwirbt man eine Aktie am Unternehmen und ist erst dann befugt, sich in dessen Belange einzubringen. Da Frankreich und Deutschland ursprünglich agrarisch geprägt waren, erwies sich die Bedingung des Grundeigentums als naheliegend. Allein der Grundeigentümer, so die Theorie, ist über Grund und Boden als besonderem Band mit dem Wohl und Wehe des Staates verbunden und wird aus eigenem Interesse alles zur Förderung staatlicher Prosperität tun. In Frankreich führte der Abgeordnete der Nationalversammlung Emmanuel Joseph Sieyes diese Theorie in die parlamentarische Debatte um die Verfassung von 1791 ein.2120 Bereits vorher hatte der Osnabrücker Staatsmann Justus Möser aber bereits ihren Grundstein gelegt.2121 Unter anderem Karl von Rotteck2122 griff sie in der Folgezeit auf, modifiziert um eine Öffnung zugunsten der Kapitaleigentümer. Bei den Physiokraten2123 gesellt sich zum argumentativen Ansatz der Aktientheorie das Prinzip eines Gleichlaufs der Rechte und Pflichten im Staat, die sog. Korrespondenztheorie. Da allein im Ackerboden die Quelle staatlichen Wohlstands liege, sehen sie einzig die Landeigentümer als staatliche Leistungsträger, 2119 2120 2121 2122 2123

Siehe hierzu S. Siehe hierzu S. Siehe hierzu S. Siehe hierzu S. Siehe hierzu S.

39 51 76 91 93

ff. (Frankreich) und S. 156 ff. (Deutschland). ff. ff. f. ff.

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denen im Ausgleich für ihre Leistungen für den Staat politische Beteiligungsrechte eingeräumt werden sollen. Auch dieser Begründungsansatz wird länderübergreifend vertreten, stellen sich doch einige Deutsche, wie beispielsweise Johann August Schlettwein2124 und Theodor von Schmalz2125, in die Tradition der französischen Physiokraten. Als Vertreter des Arguments eines Rückschlusses vom Eigentum nicht nur auf die politische Selbständigkeit, sondern vielmehr auch auf die politische Mündigkeit der Bürger, erwies sich in Deutschland Immanuel Kant2126, der unzälige Male rezipiert wurde. Ähnliches leisteten in Frankreich, insbesondere zur argumentativen Untermauerung des extrem hohen Zensus unter dem Bürgerkönig Louis Philippe, François Guizot und die von ihm gegründete Partei der Doktrinäre.2127 Politisch partizipieren sollten nach Guizot nur die „capables“, die (politisch) Leistungsfähigen, nur sie hätten Anteil an der Gesellschaftsvernunft, die über die Individuen mosaikartig, aber ungleich verstreut sei. Wer hierzu zähle, sei sozial determiniert, im Ergebnis nur die vermögende Oberschicht von Grundeigentümern, der ihr Vermögen den Freiraum eröffne, sich mit politischen Belangen zu beschäftigen. In Frankreich wie Deutschland spielt das Argument einer Etablierung des Zensuswahlrechts als Schutz vor Demagogentum und Manipulation der Wähler eine eher untergeordnete Rolle, scheint oft nur vordergründig bemüht, den Ausschluß der armen Bevölkerungsschichten, des Proletariats, auf irgendeine Art argumentativ zu untermauern. Die normative Ausgestaltung des Wahlrechts bedeutet viel mehr als eine bloße Verfahrensregelung. Sie fungiert vielmehr als unverzichtbares Instrument zur Herrschaftssicherung der politischen Eliten. So gelang es den ökonomischen Machthabern über die Jahrhunderte hinweg immer wieder, ihre Anwartschaft auf die politische Leitung geltend zu machen, und das Zensuswahlrecht erlaubte es den Regierungen, nach dem Wegfall der geburtsbedingten Privilegien der Oberschicht ihre politische Vormachtstellung weiterhin zu garantieren. Besonders eindrucksvoll wird dieses Phänomen durch das Preußische Dreiklassenwahlrecht belegt.2128 Dieses ungleiche Wahlrecht, das die Wähler nach Steuerleistung gestaffelt in drei Klassen die Wahlmänner wählen ließ, war nicht nur unverzichtbares Instrument der Herrschaftssicherung der politischen Elite in Preußen, einem Kartell aus Militär, Bürokratie und altem Landadel2129, sondern 2124 2125 2126 2127 2128 2129

Siehe hierzu S. Siehe hierzu S. Siehe hierzu S. Siehe hierzu S. Siehe hierzu S. Siehe hierzu S.

195 195 191 132 278 331

ff. ff. ff. ff. ff. ff.

400

Teil 4: Schlußbetrachtung

auch identitätsstiftendes Abgrenzungsmerkmal Preußens im Kampf um die Führung im Reich. Preußen, das aufgrund seiner territorialen Größe, seiner Geschichte als Verteidiger des Reiches und seines vorbildlich funktionierenden Militär- und Beamtenstabes ein besonderer Hochmut umgab, und das Reich befanden sich seit der Reichsgründung im Spannungsverhältnis des preußisch-deutschen Dualismus.2130 Preußen war – nicht nur von verfassungswegen – an seine Hegemonialstellung im Reich gewöhnt und reagierte auf das Emanzipationsgebaren des Reiches mit großer Sorge, unter Aufgabe der preußischen Identität im Reich aufzugehen.2131 Das Dreiklassenwahlrecht wurde zur letzten Bastion im Kampf um die Hegemonialstellung im Reich stilisiert, dessen Bestand es mit aller Kraft zu verteidigen galt.2132 Seine Überwindung 19182133 war daher auch nicht Folge von Einsicht in dessen Ungerechtigkeit, sondern schlicht Ergebnis revolutionären Zwangs.

2130 2131 2132 2133

Siehe hierzu S. Siehe hierzu S. Siehe hierzu S. Siehe hierzu S.

344 ff. 358 ff. 366 ff. 395.

Teil 5

Ergebnisse der Arbeit in Thesen Grundlagen und Begriffsklärung 1. Als „Instrument zur Verwirklichung der Volkssouveränität“ (Morlok) hat der Grundsatz der gleichen Wahl seinen Niederschlag in Art. 38 Abs. 1 S. 1 GG gefunden und dient der Gewährleistung der Partizipationsmöglichkeit des gesamten Volkes an der politischen Willensbildung ohne Rücksicht auf etwaige gesamtgesellschaftliche Ungleichheiten. 2. Betrachtet man das Wahlrecht als ein Recht, das dem Bürger durch den Staat zuteil wird, so stellt sich die Frage nach denkbaren Verteilungsmechanismen und ihrer Rechtfertigungsfähigkeit. Da das politische Gestaltungsrecht hinsichtlich der Auswahl eines konkreten Wahlsystems dem Staat obliegt, er also die folgenreiche Entscheidung trifft, wer aktiv und passiv wahlberechtigt sein soll, und im Rahmen der Verfassung oder einem einfachgesetzlichen Wahlgesetz die Parameter der Organisation des Wahlaktes vorgibt, obliegt ihm mithin auch die Rechtfertigung seiner Entscheidung, eine – eingedenk der Wahl als „Lebensgesetz der Demokratie“ (Badura) – in ihrem hohen Maß an Verantwortung nicht zu unterschätzende Bürde. 3. Auch wenn Demokratie heute denknotwendigerweise mit dem Postulat des gleichen Wahlrechts im Sinne von „one man one vote“ verknüpft ist, darf diese Tatsache nicht darüber hinwegtäuschen, daß das bestehende Wahlsystem nichts von Natur Gegebenes, Unumstößliches ist. Daß die Entscheidung für ein allgemeines und gleiches Wahlrecht des heutigen Zuschnitts und die damit automatisch einhergehende Absage an jegliche Form eines zensitär ausgestalteten Wahlsystems keineswegs auf der Hand liegt, belegen jahrhundertelanges politisches Ringen um eine Einigung in der Wahlrechtsfrage. 4. Das Zensuswahlrecht als spezielle Form eines beschränkten Wahlrechts läßt nicht ausnahmslos allen Bürgern allein aufgrund ihrer Staatszugehörigkeit das bzw. das gleiche Stimmrecht zuteil werden, sondern knüpft die politische Partizipationsmöglichkeit an bestimmte Bedingungen. Denkbar sind, neben der Anknüpfung an eine zu erbringende Steuerleistung (Steuerzensus), das Erfordernis des Besitzes (Besitzzensus), eines Jahreseinkommens (Einkommenszensus) oder eines gewissen Bildungsniveaus (Bildungszensus). 5. Je nach konkreter Ausgestaltung des Zensus kann dieser entweder den absoluten Ausschluß bestimmter Bevölkerungsschichten vom Wahlrecht oder eine re-

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Teil 5: Ergebnisse der Arbeit in Thesen

lative Schlechterstellung dieser durch eine Staffelung der Stimmrechte nach sich ziehen. Vor dem Hintergrund der Projektionsfläche unseres heutigen egalitären Demokratieverständnisses erweisen sich beide Alternativen als unhaltbar. Sie verstoßen gleichermaßen gegen Art. 38 Abs. 1 S. 1 GG, erstere gegen den dort niedergelegten Wahlrechtsgrundsatz der Allgemeinheit der Wahl und letztere gegen den ebenfalls hier beheimateten Grundsatz der Wahlgleichheit. 6. Die zur Rechtfertigung des zensitären Wahlrechts in Frankreich und Deutschland länderübergreifend herangezogenen Argumentationsmuster lassen sich im Wesentlichen auf vier herunterbrechen: (a) Argument der Notwendigkeit einer Gewährleistung unabhängiger politischer Meinungsbildung: finanzielle Unabhängigkeit der Wähler als Schutz vor Bestechlichkeit und Demagogentum; (b) Argument eines Gleichlaufs der Rechte und Pflichten im Staat: die Pflicht, etwas zum Gedeihen des Staates wie beispielsweise über die Steuerleistung beizutragen, korrespondiert mit Rechten im Staat, wie dem Wahlrecht (sog. Korrespondenztheorie); (c) Argument der Schollenbindung: Annahme eines proportionalen Anstiegs des Interesses der Bürger am staatlichen Wachstum mit zunehmendem eigenen (Grund-)Besitz (sog. Aktientheorie); (d) Argument der Möglichkeit eines Rückschlusses vom Besitz auf persönliche Anlagen der Bürger: Vermögen oder Steuerleistung als meßbare Kriterien der Vernunft bzw. Selbständigkeit der Menschen. Das Zensuswahlrecht in Frankreich – Erscheinungsformen, Begründung und Überwindung 7. Trotz des Aufbrechens feudaler Strukturen des Ancien régimes durch die Französische Revolution von 1789 und entgegen der vielversprechenden Verheißung der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte vom 26. August 1789 etablierte die erste Revolutionsverfassung vom 3. September 1791 neben einem indirekten Wahlverfahren einen Steuerzensus, der die französische Nation in Aktiv- und Passivbürger spaltete. 8. Die (rechts-)philosophische Untermauerung dieser normativen Konzeption lieferte der Abgeordnete Emmanuel Joseph Sieyes (1748–1836) mit seiner Aktientheorie. Dieser liegt die Grundannahme einer Korrespondenz von Rechten und Pflichten im Staat zugrunde. Während alle volljährigen Franzosen gleichermaßen Träger der natürlichen Bürgerrechte sein sollten, kamen nur die sog. Aktivbürger zusätzlich in den Genuß politischer Rechte. Wer sich zu den Aktionären des großen Unternehmens namens Staat zählen wollte, mußte einen Beitrag zur staatlichen Prosperität leisten. 9. Der theoretische Begründungsansatz einer solchen Aktientheorie erweist sich nicht als gänzliches Novum, sondern begegnet bereits beim Osnabrücker

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Staatsmann Justus Möser (1720–1794), hier jedoch – anders als bei Sieyes – in eine ausschließliche Privilegierung der Landeigentümer mündend. Ganz in naturrechtlicher Tradition verhaftet, setzt die Entstehung des Staates in Mösers Theorie einen Vertragsschluß voraus: Der (Ur-)Vertrag kommt dabei ausschließlich zwischen Landeigentümern zustande. Die besondere Privilegierung der Landeigentümer im staatlichen Gefüge wird über die Schollenbindung gerechtfertigt. 10. Die Rezeptionsgeschichte belegt, daß man nicht nur in Frankreich, sondern auch in Deutschland das Potential der Möserschen Aktientheorie erkannte. Historiker wie beispielsweise Ludwig Timotheus Freiherr von Spittler (1752–1810) griffen den Gedanken erneut auf. Ebenso der Staatswissenschaftler Karl von Rotteck (1775–1840), bei dem sich jedoch bereits eine Öffnung des Systems, weg von einer ausschließlichen Privilegierung der Landeigentümer hin zur Zusage politischer Beteiligungsrechte an die Besitzenden im Allgemeinen vollzieht. 11. Forciert wurde die politische Privilegierung der Landeigentümer in Frankreich durch die Physiokraten, eine französische Bewegung rund um ihren Führer François Quesnay (1694–1774). Auf einer Sakralisierung des Eigentums und der Überzeugung fußend, daß im Ackerboden die einzige Quelle aller staatlichen Prosperität liegt, entwickelten die Physiokraten eine konkrete gesellschaftliche Klasseneinteilung, an deren Spitze von insgesamt drei Klassen die Grundeigentümer standen. Da auf ihren Schultern allein die Verantwortung der Generierung staatlichen Wohlstands lastet, sollen ihnen als eine Art Ausgleich aktives und passives Wahlrecht zuteil werden. 12. Die Verfassung des Jahres I vom 24. Juni 1793 ist zwar, auch im europäischen Ländervergleich, aufgrund ihres Postulats des allgemeinen und gleichen (Männer-)Wahlrechts als extrem fortschrittlich einzustufen, trat aber nie in Kraft. Abgelöst wurde sie durch die Verfassung des Jahres III vom 23. September 1795, die mit einer Radikalisierung zensitärer Vorgaben einherging. 13. Unter der Charte Constitutionnelle vom 4. Juni 1814 und der Charte vom 14. August 1830 erlebte das Zensuswahlrecht in Frankreich eine Renaissance mit ungeahnten Dimensionen. Spätestens unter dem Bürgerkönig Louis Philippe (1830–1848) wurde die vermögende Bourgeoisie, die Landeselite, so zur ersten Macht im Staate. Die Wahlberechtigung sank auf ihren Tiefpunkt von etwa 200.000 Wählern bei einer Gesamtbevölkerung von 30,5 Millionen. 14. Den (rechts-)philosophischen Begründungsansatz für die derart eklatante politische Vorherrschaft des vermögenden Bildungsbürgertums unter Louis Philippe lieferten François Guizot (1787–1874) und die von ihm gegründete Partei der Doktrinäre. 15. Vom Begriff der Vernunft ausgehend differenziert Guizot zwischen der Gesellschafts- und der Einzelvernunft, wobei sich die Gesellschaftsvernunft mosaikartig aus der Einzelvernunft zusammensetzt. Nicht jede Individualvernunft darf

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sich jedoch als deren Ausdruck begreifen. Die öffentliche Vernunft ist zwar auf die Individuen verteilt, aber nach einem ungleichen Verteilungsmaßstab, der wiederum durch die individuellen Fähigkeiten und die soziale Stellung des Individuums in der Gesellschaft determiniert ist. Repräsentation im Rahmen eines hochzensitären Wahlsystems dient nach Guizot folglich der Herausdestillierung der Gesellschaftsvernunft durch einige wenige, die über die notwendigen Anlagen dazu verfügen. Diese „capables“, die (politisch) Leistungsfähigen, denen politische Beteiligungsrechte zuteil werden sollen, sieht Guizot nur unter den ersten beiden Klassen der Gesellschaft. 16. Die Regentschaft Louis Philippes stand von Anbeginn auf wackeligen Füßen; der König hatte mit Widersachern aus dem radikalen linken Spektrum, wie den Bonapartisten, zu kämpfen. Mit Ausbruch der Februarrevolution 1848, die sich unter anderem an der unerfüllten Forderung der Erweiterung des Wahlrechts entzündete, war das Drängen der Linken auf Einführung eines allgemeinen und gleichen Wahlrechts in ihrer Radikalität nicht mehr aufzuhalten. 17. Im Februar 1848 folgte die Proklamation der Republik. Die sich anschließenden Wahlen zur verfassunggebenden Constituante markierten einen Meilenstein in der französischen Wahlrechtsgeschichte. Sie wurden erstmalig nach dem System des allgemeinen, gleichen und direkten (Männer-)Wahlrechts vollzogen, das auch die Verfassung vom 4. November 1848 übernahm und seitdem fester Bestandteil des französischen Verfassungslebens geblieben ist. Das Zensuswahlrecht in Deutschland – Erscheinungsformen, Begründung und Überwindung 18. Erst 1806 mit Ende des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation, das ebenso wie der Reichstag ständisch gegliedert war, und bedingt durch die von der Französischen Revolution angestoßenen Ereignisse der Flurbereinigung, Mediatisierung und Säkularisierung, gelang es dem Deutschen Reich, sich aus seinem ständisch-feudalen Korsett zu befreien. In den Gliedstaaten wurden Reformen des Staats- und Verwaltungsapparates nötig, denn auch dessen Struktur hatte auf dem alten, von standesbedingten Privilegien dominierten System beruht. 19. Anscheinend physiokratisch geprägte Vorstellungen vom politisch mündigen Bürger fanden ihren deutlichen Niederschlag bereits in der Steinschen Städteordnung für die Preußischen Staaten vom 19. November 1808. Hier war die Wahlberechtigung zuvörderst unter die Bedingung des Grundeigentums gestellt. 20. Die hinter der Städteordnung stehende (rechts-)philosophische Begründung geht auf ihren Schöpfer Karl Reichsfreiherr vom und zum Stein (1757–1831) zurück, welcher den Grundeigentümern eine besondere Verbindung, ein unauflös-

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liches Band zum Vaterland attestiert. Einzig die Grundeigentümer, so seine Vorstellung, sind fest an das Interesse eines Landes gekettet und tun daher alles zur staatlichen Wohlstandsförderung. Zudem versteht er Grundeigentum als Ausdruck von Sittlichkeit, Bildung und politischer Einsicht; der finanzielle Rückhalt der Grundeigentümer ermögliche erst eine unabhängige politische Meinungsbildung und Immunität gegenüber Bestechungsversuchen. 21. Während die Mehrheit der Naturrechtler im 18. Jahrhundert eine Beschränkung der politischen Beteiligungsrechte auf bestimmte Bevölkerungsgruppen kategorisch ablehnte, stand für das Gros der Autorenschaft insbesondere im ausgehenden 18. und 19. Jahrhundert fest, daß Deutschland für eine Ablösung der ständischen, an die Verteilung von Eigentum gebundene Repräsentation durch eine demokratisch-egalitäre noch nicht reif war. 22. Als geistiger Urvater der Idee eines Rückschlusses vom Eigentum auf wirtschaftliche oder persönliche Selbständigkeit der Bürger gilt Immanuel Kant (1724–1804). Grundprämisse seiner Theorie ist die Voraussetzung eines Mindestmaßes an Eigentum, welches den Menschen ausreichend Freiraum zur unabhängigen Willensbildung einräumt und ihre Eignung als stimmberechtigter Bürger gewährleistet. 23. Vor dem Hintergrund der fortschreitenden Industrialisierung fand sich in Deutschland eine nicht zu unterschätzende Anhängerschaft der französischen Physiokraten, die sich im Hinblick auf die Entwicklung vom Agrar- zum Industriestaat allmählich vom strengen Kriterium des Grundbesitzes als Erfordernis für die Stimmberechtigung verabschiedete und Mobiliar- wie Immobiliareigentum gleichermaßen akzeptierte. 24. Gerechtfertigt wurde eine Beschränkung des Wahlrechts zudem mit der Theorie, die das Wahlrecht als individuell-persönliches Recht der Kundgabe des politischen Willens des Bürgers und zur Sicherung seiner Rechtsposition gegen den Staat ablehnt und stattdessen als eine Art Akt im Dienst des Staates versteht, der nur von politisch mündigen Bürgern getätigt werden soll. 25. Diese theoretischen Ansätze fanden ihren faktischen Niederschlag in den Verfassungen der Länder des Frühkonstitutionalismus. Ihnen allen ist eine Verknüpfung des Wahlrechts mit einem (sei es Grundeigentums-, Eigentums- oder Steuer-)Zensus gemein. 26. Ob die politischen Protagonisten dabei tatsächlich von diesen Argumenten überzeugt waren oder es ihnen primär um die Verteidigung der politischen Hegemonialstellung einer bestimmten Bevölkerungsschicht durch Ausschluß der nicht-besitzenden Schichten ging – diese Vermutung liegt insbesondere für die Vertreter des aufkommenden Liberalismus nahe, der sich schnell zum Fürsprecher des vermögenden Bildungsbürgertums, einer Art Landeselite, erklärt hatte – verbleibt dabei im Bereich des Spekulativen.

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27. In der Frankfurter Nationalversammlung war die Wahlrechtsfrage erwartungsgemäß umstritten: Die Gegner eines allgemeinen und gleichen Wahlrechts aus dem liberalen Lager hatten sich zwar rasch gegen einen Zensus, stattdessen aber für das Selbständigkeitskriterium ausgesprochen. Gerechtfertigt wurde der Ausschluß nicht-selbständiger Bevölkerungsschichten über deren Manipulierund Beeinflußbarkeit und ganz im Sinne Guizots über die Prämisse, daß nur die vernünftige politische Meinung repräsentiert werden sollte. Die Selbständigkeit wurde zum meßbaren Kriterium dieser Vernunft erklärt. 28. Das Hauptargument der Linken gegen eine Beschränkung des Wahlrechts bestand im nachdrücklichen Verweis darauf, daß die ärmeren Bevölkerungsschichten die steuerliche Hauptlast des Staates zu tragen hätten und zudem auf mannigfache Weise, wie durch indirekte Steuern, ihre Arbeit und vor allem die Ableistung des Kriegsdienstes zum Wohle des Staates beitrügen. Auch sie versuchten den Beitragsgedanken für sich nutzbar zu machen, indem sie die Felder herausstellten, auf denen auch die ärmeren Bevölkerungsschichten ihren Beitrag zu leisten vermochten. 29. Die revolutionären Geschehnisse von 1848/49 brachten über das Reichswahlgesetz vom 12. April 1849 – letztlich Produkt politischen Kalküls der Liberalen –, das erstmalig in der deutschen Geschichte ein allgemeines, gleiches, unmittelbares und geheimes Wahlrecht etablierte, den Durchbruch des demokratischen Wahlrechts in Deutschland. Es handelte sich jedoch lediglich um einen Durchbruch auf dem Papier, denn aufgrund der Weigerung einer Annahme der Frankfurter Reichsverfassung und der Ablehnung der Kaiserkrone durch den preußischen König konnten weder die Frankfurter Reichsverfassung noch das Reichswahlgesetz de facto Wirksamkeit entfalten. 30. Durch die am 16. April 1871 verkündete Verfassung des Deutschen Reiches als Nachfolgerin der Verfassung des Norddeutschen Bundes erfuhr das Wahlrecht der Frankfurter Nationalversammlung von 1849 über Art. 20 I RV („Der Reichstag geht aus allgemeinen und direkten Wahlen mit geheimer Abstimmung hervor“) eine Renaissance. Wahlberechtigt waren, bis auf wenige Ausnahmen, nunmehr alle männlichen Reichsangehörigen ab 25 Jahren, so daß der Reichstag durchaus bereits als Einrichtung der modernen Massendemokratie einzustufen ist. Zumindest auf Reichsebene war das Zensuswahlrecht folglich ab 1871 endgültig überwunden. 31. Die Verfassung trägt die deutliche Handschrift ihres Schöpfers, gleichermaßen „Schöpfer des neuen Deutschlands“ (Anschütz), Otto von Bismarck (1815–1898). Als dessen politische Motive für die Einführung eines allgemeinen und gleichen (Männer-)Wahlrechts auf Reichsebene sind neben seiner realpolitischen Enttäuschung vom Preußischen Dreiklassenwahlrecht eine beabsichtigte Mobilisierung konservativer Kräfte durch politische Beteiligung der ärmeren

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Landbevölkerung sowie die Stärkung der Hegemonialstellung Preußens in einem geeinten deutschen Nationalparlament auszumachen. 32. Die Einführung des allgemeinen und gleichen (Männer-)Wahlrechts auf Reichsebene ging für die Länder keineswegs mit einer unmittelbar nachfolgenden Adaption dieses Wahlrechts einher, ganz im Gegenteil: Im größten und bedeutendsten Teilstaat Preußen war bereits durch Verordnung vom 30. Mai 1849 ein ungleiches Wahlrecht oktroyiert worden, das berühmte Preußische Dreiklassenwahlrecht. Die Urwähler wurden nach der von ihnen gezahlten Staatssteuer in drei Abteilungen eingeteilt. Jede Abteilung wählte ein Drittel der Wahlmänner. 33. Das Preußische Dreiklassenwahlrecht sah sich nicht grundlos von seiner Oktroyierung an scharfer Kritik ausgesetzt, enthielt es doch schon in seiner Grundkonzeption ein hohes Maß an politischer Ungleichheit. Die systemimmanente Hauptschwäche ist dabei in der unverhältnismäßigen Verteilung der Wähler auf die drei Abteilungen zu sehen. Da die erste Abteilung nicht selten nur aus einem Wahlberechtigten bestand (siehe z. B. Krupp in Essen), hatte die Stimme dieses Wählers deutlich mehr Gewicht als die der Abstimmenden in der dritten Klasse, die dadurch im Verhältnis unterrepräsentiert blieben. Die realpolitische Umsetzung des Systems forcierte den plutokratischen Charakter des Dreiklassenwahlrechts durch Wahlkreisgeometrie sowie Wahlmißbräuche, -manipulationen und -boykotte zusätzlich. 34. Politisch gerechtfertigt wurde die Verteilung des Stimmrechtes nach der Besteuerung von Seiten der Regierung mit einer Kombination aus Korrespondenztheorie, Aktientheorie und der Annahme der Notwendigkeit einer Privilegierung politischer Entscheidungen der Bürger, die sich durch Fleiß und Intelligenz auszeichnen, gegenüber schlichten Mehrheitsentscheidungen, wobei die Steuerleistung als meßbares Kriterium der Vernunft der Bürger gewertet wurde. 35. Der Fortbestand des Preußischen Dreiklassenwahlrechts über die Einführung des allgemeinen und gleichen (Männer-)Wahlrechts auf Reichsebene im Jahre 1871 hinaus führte zu dem einzigartigen wie merkwürdigen Phänomen eines Nebeneinanders zweier, in ihren Grundprämissen diametral verlaufender Wahlsysteme. 36. Für dieses Phänomen ist primär das herausragende preußische Elitebewußtsein verantwortlich. Nicht nur seine rein flächenmäßige Größe und eine besondere, vom Großmacht-Ehrgeiz geprägte Historie, sondern auch und vor allem sein straff hierarchisch organisierter und vorbildlich funktionierender Militärund Beamtenapparat führten zu einer besonders ausgeprägten Eitelkeit Preußens. Der Militär- und Beamtenstand wurde zur Wiege der preußischen Landeselite, einer Allianz aus adeligem Großgrundbesitz, Militär und Bürokratie, die sich als Hort des Konservatismus und Bollwerk gegen Reformen formierte. Ihr vor allem über das Herrenhaus, das der Bündelung und Kanalisierung ihrer Interessen

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diente, geführter Kampf galt in erster Linie der Konservierung des Dreiklassenwahlrechts, sicherte es doch ihre politische Hegemonialstellung in Preußen. 37. Das Verhältnis zwischen Deutschem Reich und Preußen erwies sich als dauerhaft problematisch, zerrissen zwischen der preußischen Sorge vor einem Aufgehen im Reich und der Angst des Reichs, als verlängerter Arm Preußens seine Eigenständigkeit einzubüßen. Die Verfassung des Deutschen Reiches war an dieser mißlichen Lage nicht unschuldig, bedingte sie doch z. B. über die Personalunion von preußischem König und deutschem Kaiser, Preußens Sonderrolle im Bundesrat und den Rückgriff auf militärische wie bürokratische Institutionen Preußens eine augenfällige Privilegierung Preußens im Vergleich zu den anderen Ländern. 38. Die Schwächung der Stellung Preußens innerhalb der Reichsverwaltung durch zunehmende Emanzipationstendenzen der Reichsregierung führte in Preußen zu einer Radikalisierung nationalistisch-konservativer Kräfte, die das Dreiklassenwahlrecht als identitätsstiftendes Alleinstellungsmerkmal Preußens und letzte Bastion im Kampf um die Vormachtstellung im Reich mit aller Macht zu konservieren suchten. Nicht Einsicht in die politische Ungerechtigkeit des Dreiklassenwahlrechts und Reformen, sondern erst die unaufhaltsamen Folgen des Ersten Weltkrieges führten in Preußen Ende 1918 zur Überwindung des Dreiklassenwahlrechts durch Einführung eines allgemeinen, gleichen, unmittelbaren und geheimen Wahlrechts. 39. So bleibt insgesamt festzuhalten, daß in den Referenzländern Frankreich und Deutschland die Entwicklung des Wahlrechts mit Hinblick auf zensitäre Gestaltungsformen bis 1848 gleichförmig verlief: Abgesehen von der nicht in Kraft getretenen französischen Verfassung von 1793 knüpften alle Verfassungen Frankreichs und Deutschlands bis 1848 an einen Zensus an. In Frankreich konnte dieser bereits 1848 im Rahmen der Revolution überwunden werden, wohingegen die Einführung des allgemeinen und gleichen Wahlrechts durch die Frankfurter Nationalversammlung 1849 nur auf dem Papier existent war, so daß es noch bis zur Bismarckschen Reichsverfassung 1871 dauern sollte, bis sich auch hier das allgemeine und gleiche (Männer-)Wahlrecht zumindest auf Reichsebene durchzusetzen vermochte. 40. Ursache dieses Entwicklungsgleichlaufs sind identische (rechts-)philosophische und politische Argumentationsmuster in beiden Ländern. Wenngleich das Zensuswahlrecht von unterschiedlicher Intensität und Gestalt (Steuer-, Einkommens- oder Grundbesitzzensus) gewesen ist, so beschränkt sich dessen Rechtfertigung weitgehend auf die vier umrissenen Begründungsansätze.

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Sachverzeichnis Abbé Grégoire 58 Abgaben 40, 42, 208, 211, 213, 217, 229, 353 Achenwall, Gottfried 188 Ackerbau 40, 85, 95, 182, 209 Ackerboden 96, 398, 403 Agrargesellschaft 343 Aktie 82, 86, 89, 92, 179, 398 Aktiengesellschaft 152, 179, 229, 240 Aktientheorie 34, 51, 76 ff., 81 f., 87 ff., 115, 178, 194 f., 240, 306, 398, 402 f., 407 Aktivbürger(schaft) 36, 48 f., 54 f., 58, 88, 172, 193 f., 223, 402 Alodium 80 Alter 25, 44, 124, 189, 207, 210 f., 258, 315, 383, 390 Altersstimme 392 f. Ami du Peuple 100 Ancien régime 39, 73 ff., 93, 117, 121, 130, 152, 402 Anschütz, Gerhard 294, 313 ff., 345, 359 f., 365, 380, 386 Arbeiterverein 251 Aristokratie, siehe auch Geburtsaristokratie, Geldaristokratie 39, 89, 187, 247, 328 f., 332, 334 Baden 162, 210 ff., 325, 367 Bagehot, Walter 153 Barrikadenkämpfe 280 Bauern(stand), Bauernschaft 64, 143, 180 f., 184, 201, 204 f., 234, 295, 315 Bayern 24, 156 ff., 165 ff., 184 ff., 210, 214 f., 224, 367, 389, 397 Beamtenapparat 143, 407 Beamtenstaat 323 f.

Beamter, Beamte 44, 124, 144 f., 180, 205, 232, 248 f., 299 ff., 323 ff., 332, 358, 368, 400 Behr, W. J. 188, 202 Beitragsgedanke, -prinzip 55, 91, 115, 193 f., 202, 215 ff., 228 f., 246, 306, 332, 406 Bergk, Johann Adam 189, 202 Berufsstand, berufsständisch 38, 286, 390 berufsständische Volksvertretung 388 Beschluß zur Abschaffung der Feudalität (1789) 42 Besitzzensus 35, 46, 223, 401, 408 Bestechlichkeit 33, 58 f., 90 f., 154, 180 f., 200, 306, 402 Bethmann Hollweg, Theobald von 375 ff., 380, 382, 384, 387 Bildungskriterium 234, 376 Bildungsnachweis 35, 235, 265 Bildungszensus 32, 35, 401 Bismarck-Schönhausen, Otto Eduard Leopold von 249 ff., 261 ff., 312, 321, 325, 342, 347, 360 f., 406 ff. Boden 39 f., 96 ff., 139, 182, 194, 197 f., 342, 398, 403 Bonapartismus, Bonapartisten 128, 143, 151 ff., 404 Borussische Schule 319. 363 Bourgeoisie 41, 112 f., 127 ff., 140 ff., 233, 248, 267 f., 397, 403 Boutmy, Emile 69 f. Braunschweig 209, 214, 235 Brède de Montesquieu, Charles-Louis de Secondat de la 80, 181 Buhle, Johann Gottlieb 193 f. Bülow, Bernhard Heinrich Martin Karl von 296

Sachverzeichnis Bülow-Cummerow, Ernst Gottfried Georg von 286 ff. Bundesrat 250, 334, 351 ff., 366, 378, 408 Bundesreform 252 ff., 268 Bundesversammlung 237 Bündnisvertrag der norddeutschen Staaten (1866) 258 Bürgerkönig 48, 128, 129 ff., 142 ff., 397 ff., 403 Bürgerrechte, siehe auch Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte 62, 105, 186, 211, 232, 402 Capables 114, 132, 138, 399, 404 Capacité 139 f. Cens 40, 122 Centuriatkomitien 289 Charte Constitutionelle (1814) 49, 103, 116 ff., 121 ff., 149, 173, 203, 403 Charte Constitutionelle (1830) 129 ff., 142, 403 Citoyen 25, 47 ff., 57 f., 60 f., 64 ff., 102 ff., 112 ff., 138 Common law 32 Common Sense 100 Condorcet, Marie Jean Antoine Nicolas Caritat de 100 ff., 125 Conseil des Anciens 111 Conseil des Cinq Cents 111 Constant, Benjamin 125, 132 Dahlmann, Friedrich Christoph 223 Dänemark 106, 252, 301 David, Jacques-Louis 100 Demagogentum 33, 398 f., 402 Demokratie 23 ff., 36, 89, 102, 109 ff., 150 ff., 188 f., 200, 257, 315 f., 343, 401 f., 406 Demokratisierung 36, 331, 342 f., 367 Deutsche Frage 238, 381 Dieterici, Karl Friedrich Wilhelm 286 ff. Doktrinäre 114, 132 ff., 140 f., 153, 370, 399, 403

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Do-ut-des Prinzip 292, 332, 385 Drei-Kaiser-Jahr 277 Dreiklassenwahlrecht 153 f., 250 ff., 265 ff., 278 ff., 285 ff., 296 ff., 304 ff., 324 ff., 331 ff., 358 ff., 373 ff., 397 ff., 406 ff. Dreitagesteuer 56 ff., 75, 103 Dritter Stand 42 ff., 62, 75, 98 Dualismus 202, 311 ff., 344 f., 358 ff., 400 Egalité 26, 66, 99, 122 Eigentum, siehe auch Grund-, Land-, Kapitaleigentum 46 ff., 62, 74 f., 85, 93 ff., 105 ff., 114 f., 125 f., 167, 173 ff., 188 ff., 224 ff., 399 ff. Eigenverwaltung der Länder 355 Einkammersystem 111, 147 Einkommen 27, 32 ff., 58 f., 111, 124, 153, 165 ff., 201 f., 205 ff., 215, 287, 371 f., 383, 401, 408 Einkommensteuer 142, 371 Einkommenszensus 35, 165, 401 Einzelvernunft 134 f., 403 Elite 129 ff., 141 f., 153 ff., 167, 200, 233, 317, 322 ff., 330 ff., 340 ff., 363 ff., 384 ff., 397 ff. Emanzipation 63, 84, 316, 357 f., 360, 400, 408 England 24, 39, 90, 162, 174, 218, 260, 342 Entpolitisierung 102 Erfolgswert 294 Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte (1789) 26, 50, 60 ff., 95, 104 ff., 402 Erklärung von Saint-Ouen (1814) 120 Ernennungskammer 335 ff. Erster Weltkrieg 280, 311, 329, 380, 408 Familienstand 383, 390, 393 Familienwahlrecht 57 Faulcon, Félix 124 ff. Februarrevolution 143, 397, 404

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Sachverzeichnis

Feudalismus 40 Follen, August 188, 202 Fortschrittspartei 251, 272 Frankfurter Nationalversammlung 230, 236 ff., 257 ff., 262 ff., 406 ff. Frankfurter Reichsverfassung 236 ff., 406 Französische Republik 99, 158 Französische Revolution 33, 51, 157, 161, 164, 188, 402 Frauen 25, 54, 104 ff., 192, 198 f., 231, 257, 395 Frauenwahlrecht 105 f., 395 Freiheit, freiheitlich 23 ff., 50 ff., 66 ff., 86, 95, 106 ff., 165 ff., 181 ff., 200, 219, 241 ff., 247, 309 Frieden von Lunéville (1801) 159 Frühkonstitutionalismus, siehe auch Konstitutionalismus 24, 73, 173, 202, 213 f., 230 f., 235, 405 Geburt, geburtsbedingt 39 ff., 50, 62, 74 f., 85, 165, 309, 333, 335 ff., 359, 398 f. Geburtsaristokratie 47, 329 Geburtsprivileg 39 Gegenzeichnungspflicht 320, 349 f. Geldaktionär 83, 87 Geldaristokratie 47, 125, 222 f., 241, 329 Gemeindeordnung für die Rheinprovinz (1845) 289 f. Gemeinwohl 55, 178, 182, 185, 232 Generalstände 43 ff. Gerechtigkeit 29, 45, 82, 115, 125, 134 ff., 277, 304 ff., 316, 372, 383 Gesellschaftsvernunft 132, 135 ff., 399, 403 f. Gewerbesteuer 288 Girondis 101, 107 Gleichheit 23 ff., 37, 42 ff., 50, 60 ff., 72 ff., 82 ff., 99 ff., 193, 200, 234, 258, 309 ff. Gleichlauf 33, 83, 87, 90, 197, 398, 402, 408 Gneist, Rudolf von 31, 289, 373

Gott, göttlich 40, 87, 114, 118 f., 127, 134, 225 Gottesgnadentum 72, 117 Gottgewollte Ordnung 40 Gouges, Olympe de 104 f. Großdeutsche Lösung 238 f. Großgrundbesitzer 142, 177, 198, 305, 315, 327, 331 f., 336 ff., 341, 368 Großherzogtum Hessen 207, 214 Grundbesitz(er) 49, 57, 139, 171 ff., 181 f., 200 ff., 215 ff., 224 ff., 326 f., 329 ff., 368, 397, 405 ff. Grundeigentum, Grundeigentümer 38 f., 79 f., 88 ff., 115, 173 ff., 186 ff., 194 ff., 201 ff., 223 ff., 267, 309, 398 f., 403 ff. Grundholder, Grundholde 216 ff. Grundsteuer 121, 172 f., 185, 206 ff., 225, 230 Guizot, François 57, 114, 132 ff., 145 f., 153, 243, 383, 399, 403 ff. Hannover 162, 174, 205 f., 214 Hardenberg, Karl August von 168, 174 ff., 198 Haus der Abgeordneten 334, 337, 341 Hausvater 207, 231 f. Hegemonialstellung 127 ff., 269, 317, 331 ff., 347, 351, 357 ff., 367 f., 400, 405, 407 f. Hegemonie 269, 344, 347, 354, 357, 365, 368 Hegewisch, Franz Hermann 90 f. Heiliges Römisches Reich Deutscher Nation 156, 159, 161 ff., 404 Herrenhaus 255, 272, 275, 333, 334 ff., 343 f., 364, 373 f., 377, 381, 393 ff., 407 Herrschaft der Hundert Tage 121 Heydenreich, Karl Heinrich 193 f. Hoffmann, Ludwig 227 Hohenzollern-Sigmaringen 212, 214 Honoratiorenparlament 140 Hugo, Gustav 193, 195

Sachverzeichnis Industrialisierung 41, 225, 298, 323, 327, 343, 405 Industriegesellschaft 323, 343 Intelligenz 57, 75, 139, 194, 244, 305 f., 309, 373, 407 Jellinek, Georg 277 Jordan, Sylvester 227 f. Julierlaß 388 Julirevolution 142 f. Junkertum 263, 329 f., 338, 341 f. Juste milieu 131 ff., 143, 145 Justi, Johann Heinrich Gottlob von 189 f. Kammer(n) 121, 124, 127 ff., 144 ff., 204 ff., 216, 264 ff., 283 ff., 304 f., 307 ff., 335 ff., 343, 356 Kant, Immanuel 25, 166, 188 f., 191 ff., 228, 245, 399, 405 Kapazitätenwahlrecht 35 Kapital, Kapitalist(en), kapitalistisch 55, 83, 87, 93, 139, 211, 218, 224 ff., 267 f., 398 Kinder 54, 125, 169, 193, 196, 264, 315, 386 Klassengesellschaft 96, 138 Klassenkampf 139, 246 Klassenwahlrecht, siehe auch Dreiklassenwahlrecht 37, 241 Kleindeutsche Lösung 238 Klerus 40, 42, 75, 113 Komission 101, 109 f., 114, 118 ff., 126, 145, 216 ff., 241, 308 f., 389 ff. Kompetenz-Kompetenz 378 f. König Friedrich Wilhelm I. 323, 368 König Friedrich Wilhelm III. 174, 176 König Friedrich Wilhelm IV. 280, 286 Königlich Preußisch Statistisches Bureau 287 Konservatismus 100, 279, 324, 328, 337, 407 Konservative, konservativ 128, 132, 250 f., 267 f., 271 ff., 294, 322 ff.,

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330 ff., 364 ff., 377 f., 383 ff., 393 ff., 406 ff. Konstitutionalismus, siehe auch Frühkonstitutionalismus 90, 103, 117, 120 f., 171, 173, 202 f., 260, 269 Kopfsteuer 44 Korrespondenztheorie 34, 55, 87, 98, 224, 229, 306, 398, 402, 407 Kriegsdienst 92, 242, 246, 385, 406 Kronrat 382 f., 385, 387 Krupp 292, 295, 407 Kurhessen 211, 214 Lafayette, Marie-Joseph Motier de 64, 66 Landaktionär 83 f. Landbevölkerung 41 f., 298, 407 Landeigentum, Landeigentümer 76, 79 ff., 82 ff., 87 f., 93, 98, 182 f., 197, 202, 210, 224, 398, 403 Landtag, landtagsfähig 180, 208 f., 237, 255, 259, 268, 272, 307 ff., 338, 396 Landtagswahlen, Landtagswahlrecht 292, 302 ff., 312, 334, 374 Landwirtschaft, landwirtschaftlich 39 f., 95 ff., 182, 209, 211, 213, 342 Lasker, Eduard 273 Lassalle, Ferdinand 250 ff., 370 Lastentragungsgedanke 35, 214, 229 f., 310 Leibaktie 83 Leistungsprinzip 41, 332 f., 373 Leistungsträger 35, 333, 398 Lerchenfeld, Max von 217 f. Liberalismus 128, 132, 140, 165, 232 f., 340, 405 Liebknecht, Karl 371 Linke 107, 109, 128, 143, 238 f., 242, 245 ff., 254, 282, 334, 396, 404 ff. Lippe 205 Loi du double vote 123 Louis Bonaparte 147, 152 Louis Philippe 48, 119, 130, 397, 399, 403 f. Ludwig XVIII. 117

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Sachverzeichnis

Machtkampf 333, 344 ff., 367 Majorité des capables 132 ff. Mansus 81 ff. Märzrevolution 280 Maximilian I. Joseph 24 Mediatisierung 160, 362, 404 Meinecke, Friedrich 78, 87, 313, 344, 384 Menschenrecht(e) 50, 61 f., 71, 84 ff., 105, 182 Militär, militärisch 41 f., 174 f., 254, 283, 315, 320 ff., 349 ff., 358, 368 f., 396, 399 f., 407 f. Militärstaat 320, 323 Mill, John Stuart 153 f. Ministerpräsident 133, 144 f., 250, 329, 334, 348, 360, 388 f. Miquel, Johannes Franz 371, 377 Mittelklasse 137, 238, 244, 247 Mittelstand 233, 292 f., 323, 393 Mobiliareigentum 223 f., 227, 229 f., 405 Modellstaat(en) 169 f., 173 Mohl, Robert von 137, 278 Montagnards 101, 107 Montgelas, Maximilian von 174, 184 ff., 216, 219 Möser, Justus 76 ff., 87 ff., 178 f., 183, 194 f., 197, 201 f., 224 ff., 229, 240, 398, 403 Mounier, Jean-Joseph 51, 56, 67 Mündigkeit 25, 179, 181, 189, 192, 194, 201 f., 222, 398 f. Mündlichkeit der Wahl 300 f. Munizipalversammlung 64 Napoleon Bonaparte 116, 244 Nassau 175, 210, 214 Nassauer Denkschrift (1807) 176 f., 179, 181, 184 f., 224 Nationalliberale Partei 31, 267, 373, 376 Nationalliberale, nationalliberal 261, 270 ff., 327, 342, 367, 389 ff. Nationalversammlung, siehe auch Frankfurter Nationalversammlung 26, 42,

48 ff., 56 ff., 62 ff., 71, 76, 88, 113 f., 145, 147 ff., 157, 398 Naturrecht(ler), Naturrechtslehre, naturrechtlich 78 f., 93, 134, 186 ff., 192, 231 f., 246, 314, 403, 405 Naumann, Friedrich 343 f. Nemours, Pierre Samuel du Pont de 57, 114, 196 Norddeutscher Bund 240, 254, 256 ff., 269 f., 346, 361, 397, 406 Notabeln, -versammlung 43, 45 f., 131, 180 Notrecht 128 Notverordnung 284 f. Notverordnungsartikel 283, 285 Öffentlichkeit der Wahl 300 f., 376 Oktroi 129, 239, 281 ff., 307 ff., 340 Oktroyierung 250, 252, 279 f., 283, 285, 306, 308, 407 One man one vote 24, 401 Ordre légal 131 Ordre publique 145 Osterbotschaft (1917) 382, 387 Österreich 32, 106, 158 f., 162, 169, 238 f., 253, 268 f., 318 Paine, Thomas 100, 115 Parlamentarismus 128, 132, 151, 155, 235, 255, 343 Parteiherrschaft 316, 368 Partikularinteressen 160, 348 Passivbürger 47, 54, 57, 75, 110, 402 Paulskirche 92, 131, 240, 247, 264 Paulskirchenverfassung 147, 259, 280, 397 Paulskirchenversammlung 92, 240 ff., 334 Personalhoheit 354 Personalunion 347 f., 353, 358, 408 Pfeiffer, Johann Friedrich von 195, 198 Physiokraten 40, 57, 93 ff., 115, 177, 182 f., 187, 194 ff., 200 ff., 215, 398 f., 403 ff.

Sachverzeichnis Physiokratie 196 Pluralwahlrecht 27, 38, 154, 393 Plutokratisierung, plutokratisch 29, 54, 122, 137, 141, 340, 369 ff., 377, 407 Präambel 73, 118 f. Präsidialvorlagen 361 Pressefreiheit 317 Preußische Staatsreformen 175, 179 Preußische Verfassungsurkunde (1850) 291, 320, 335, 337, 339 Preußisches Dreiklassenwahlrecht, siehe Dreiklassenwahlrecht Preußisches Selbstbewußtsein 317 ff., 320 ff., 323 ff., 396 primus inter pares 351 Privileg(ien), privilegiert 40 ff., 53 f., 72 ff., 84 f., 131, 157, 165 ff., 200 ff., 316, 329 ff., 338, 398 f., 404 privilegienfrei 39 Privilegierung 82, 89 ff., 140 ff., 171, 177, 195 ff., 234, 274, 305, 315, 340, 403, 407 f. Proklamation der Republik (1792) 99 Proklamation der Republik (1848) 145, 404 Pro-Kopf-Steuer 288 Proportionalität 82, 178 Puttkamer, Robert Viktor von 273, 277, 300 Quesnay, François 40, 93 ff., 196, 403 Quote 88 f., 126, 242, 266 Reaktion, reaktionär 112 f., 116, 131, 255, 267, 274, 285, 302, 317 ff., 325, 330, 338, 341 f. Rechte, (staats)bürgerliche 35, 73, 104, 138, 146, 168, 194, 197, 314 Rechte, politische 83, 85, 88, 125, 138, 182, 187, 192, 197, 199, 220, 328 Rechteerklärung, siehe auch Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte 71, 73 Referendum 102, 107, 127

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Reformbill 243 Rehberg, August Wilhelm 195, 201 f. Reichsdeputationshauptschluß 162, 164 Reichseigenverwaltung 354 f. Reichsgründung 249 ff., 317, 329, 344 f., 355, 359 f., 368, 400 Reichsheer 350 f., 356 Reichskanzler 250, 296, 346, 348 f., 354, 356 f., 362 f., 366, 380, 388 Reichskanzleramt 348, 355, 357, 361 Reichstag 156, 162, 253 f., 256 ff., 271 ff., 294, 303, 312, 353 ff., 366 f., 379, 383 ff., 404 ff. Reichstagswahlen, Reichstagswahlrecht, Reichstagswahlgesetz 102, 258, 275 ff., 303 f., 311 ff., 331, 333, 341, 360, 366 f., 370 ff., 384, 387, 397 Reichsverwaltung(swesen) 354, 357 f., 361, 408 Reichswahlgesetz (1849) 237 ff., 254 ff., 261, 264, 406 Religion 207 f., 212, 237 Religionsfreiheit 124 Repräsentation 44, 53, 91, 132, 136 ff., 166 f., 176, 188, 203, 217 f., 235, 259, 404 f. Repräsentativverfassung(en) 52 f., 88 Restauration 116, 131, 142 Revisionsvorbehalt 285 Revolution, Deutschland (1848/49) 236, 266, 406 Revolution, Frankreich (1848) 143 ff., 404 Revolutionskalender 100 Revolutionsverfassung, Frankreich (1848) 146 Rheinbundakte (1806) 162, 169 f. Rheinbundstaaten 162 f., 169 ff., 363 Richter, richterlich 281, 295, 335 Rittergut(sbesitzer) 208, 213, 328, 341 Robespierre, Maximilien de 26, 51, 53, 58 ff., 101, 109 Rotteck, Karl von 80, 90 f., 222 f., 225 ff., 398, 403

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Sachverzeichnis

Rousseau, Jean-Jacques 50, 52 f., 58, 65, 68, 106, 108 Rußland 162, 260 Sachsen 213, 351, 354 Sachsen-Altenburg 208, 214 Sachsen-Coburg 212, 214 Sachsen-Meiningen 207, 214 Sachsen-Weimar 208, 213 Säkularisation 160 f., 185 Säkularisierung 160, 404 Sansculotten 101 Savigny, Karl Friedrich von 254, 289, 305 Schaumburg-Lippe 205, 214 Scheidemantel, Heinrich Gottfried 187 Schlacht von Königgrätz (1866) 270 Schlegel, Friedrich 189, 202 Schleswig-Holstein 204, 209, 214, 252 Schlettwein, Johann August 195 f., 198, 399 Schlosser, Johann Georg 195, 198 Schmalz, Theodor von 195 ff., 225, 399 Scholle, -nbindung 34, 115, 167, 182 f., 218, 224, 402 f. Schwarzburg-Sondershausen 206, 214 Selbständigkeit 34, 57, 91, 180 f., 188 ff., 201 f., 231 f., 237, 241 f., 243 ff., 390, 393, 402 ff. Selbständigkeit, bürgerliche 191 Selbständigkeit, persönliche 25, 191, 241, 405 Selbständigkeit, politische 399 Selbständigkeit, wirtschaftliche 191 f., 227, 231, 233 Septembermorde 99 Servius Tullius 35, 289 Sieyes, Emmanuel Joseph 51 ff., 65 f., 75 f., 88, 98, 100, 138, 195, 240, 398, 402 f. Sonderstellung 317, 320, 333, 347, 358, 397 Sozialdemokratie 303, 335, 375, 383 soziale Frage 246 Sperrminorität 358

Spittler, Ludwig Timotheus Freiherr von 88 f., 403 Staatshaushalt 339 Staatsministerium 176, 273, 283 f., 304 f., 363, 366, 382 f. Staatssekretarisierung 361 f. Staatsstreich, Deutschland (1848) 280, 283 f., 285 Staatsstreich, Deutschland allgemein 252, 271, 276 Staatsstreich, Frankreich (1799) 116 Staatsstreich, Frankreich (1830) 128 Staatsstreich, Frankreich (1851) 147 ff. Stahl, Friedrich Julius 224 Stand, Stände, ständisch, siehe auch Dritter Stand, Generalstände, Vierter Stand 39 ff., 51 ff., 72 ff., 165 ff., 180 ff., 194 ff., 204 ff., 235 ff., 241 ff., 263 ff., 325 ff., 388 ff., 404 f. Standesvorrechte, standesbedingte Privilegien 42, 84, 247, 404 Stein, Heinrich Friedrich Karl vom und zum 174 f., 404 Steinsche Städteordnung (1808) 156 ff. Steuerklasse(n) 38, 286, 288 f., 305, 307 Steuerleistung 33 ff., 45 ff., 56 f., 114, 124 ff., 206 ff., 215 ff., 229 f., 287 ff., 310, 376 f., 397 ff., 401 ff. Steuerreform (1891) 371 ff., 377 Steuersatz 27, 229, 306, 371 f. Steuerzenus 32, 35, 49, 60, 225, 242, 401 f. Stimmenstaffelung 36, 153, 241, 402 Stresemann, Gustav 381, 390 f. Sybel, Heinrich von 296, 319 Système capacitaire 235 Taille 40 Théorie de l’électorat-droit 67 f., 108 Théorie de l’électorat-fonction 67 f., 104, 108 Thoma, Richard 313, 316 f. Thouret, Jacques Guillaume 56, 64 Thronrede (1916) 382

Sachverzeichnis Tocqueville, Alexis de 50, 72, 144, 152 ff. Totalrevision 271 Treitschke, Heinrich von 164, 296, 317, 319 Ultramontane Partei 272 Ungarn 301 Ungern-Sternberg, Johann Friedrich von 195, 198 Ungleichbehandlung 36, 59, 82, 233, 385 Unternehmer, unternehmerisch 97, 315, 326, 330, 342 f. Urversammlung 110 f. Urwahl, Urwähler 210, 283, 287 f., 291 ff., 336, 372, 376, 407 Urwählerversammlung 48, 111 Verdienstprinzip 315, 332 Vereinigungsfreiheit 317 Verfassung, Bayern (1808) 156, 169, 172, 215 f., 397 Verfassung, Bayern (1818) 24, 210, 215 Verfassung, Deutsches Reich (1871) 256 ff., 347, 358 f., 397, 406, 408 Verfassung, Deutschland (1848) 280 ff., 335 Verfassung, Frankreich (1791) 47, 402 Verfassung, Frankreich (1793) 74, 102 ff., 124, 147, 403, 408 Verfassung, Frankreich (1795) 103, 110 ff., 124, 145, 403 Verfassung, Frankreich (1848) 146, 404 Verfassung, Norddeutscher Bund (1867) 256 ff., 406 Verfassung, Westfalen (1807) 156, 171, 397 Verfassunggebend 26, 47, 88, 107, 113 f., 117, 124, 145, 219, 266, 312, 395, 404 Verfassungsänderung 118, 352, 378, 380 f. Verfassungsbruch 128, 252, 286, 308 Verfassungskonflikt 250

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Verfassungsrevision 296, 309 Verhältniswahl 105, 395 Vermögen, vermögend 37 ff., 90, 125, 165, 183 ff., 190 ff., 204 ff., 215 ff., 226 ff., 235, 244 ff., 333 f., 397 ff. Vernunft, individuelle 134 ff., 403 Vernunft, öffentliche 134 ff., 404 Vernunft, siehe auch Einzelvernunft, Gesellschaftsvernunft 34, 41, 57, 114, 125 f., 132, 134 ff., 179, 189, 200 ff., 243, 306, 402 ff. Verordnung, Deutschland (30. Mai 1849) 279, 286, 290, 293, 296, 300, 302, 307, 309, 370, 407 Verordnung, Deutschland (30. November 1918) 395 Verpreußung 346, 363 Versammlungsfreiheit 317 Veto-Recht 339, 352 f. Vierter Stand 130, 143, 246, 248 Volkssouveränität 23, 50 ff., 68, 104 ff., 118, 132 ff., 222, 401 Vormärz, vormärzlich 35, 88, 202 ff., 204 ff., 241, 249 Vorparlament 236 ff., 241 Wahl, direkte 48, 123, 145 ff., 167, 204, 236, 255 ff., 273 ff., 303, 312, 336, 370, 377 ff., 404 ff. Wahl, indirekte 44, 111 f., 123, 204, 280, 313, 377, 402 Wahlbeteiligung 102, 145, 301 ff., 338 Wahlboykott 298, 303 Wahlgesetz, Deutschland (8. April 1848) 280 ff., 307 Wahlgesetz, Deutschland (6. Dezember 1848) 282, 285 Wahlgesetznovelle (1893) 372 ff. Wahlgleichheit, Gleichheit der Wahl 24, 36 ff., 45, 276, 402 Wahlkammer(n) 335, 337 Wahlkreis(e) 126, 257, 260, 292, 296 ff., 375 Wahlkreiseinteilung 270, 296 f., 312

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Sachverzeichnis

Wahlkreisgeometrie 296, 407 Wahlkreismanipulation 150 Wahlmanipulation 260, 296, 299 f. Wahlmann, Wahlmänner 48 ff., 111 f., 172 f., 185, 204 ff., 290 ff., 399, 407 Wahlmißbrauch, Wahlmißbräuche 298 f., 407 Wahlmodus 44 f., 63, 200, 239, 256, 271, 274, 282, 335, 341, 385 Wahlrechtsreform 30, 272, 375, 380, 387 f., 390, 395 f. Wahlrechtsverordnung vom 30. Mai 1849, siehe Verordnung vom 30. Mai 1849 Wahlsystem 24 ff., 34 ff., 67, 142, 222, 250 ff., 266 f., 270 ff., 290 ff., 310 ff., 332 f., 366 ff., 401 ff. Wahlsystem, indirekt 112 Waldeck 204, 214

Weber, Max 130, 313, 326 Wehrdienst 83, 230, 386 Wehrpflicht 92, 242, 254, 322, 350 Weimarer Republik 249 ff., 359 Welcker, Carl 80, 240 Wiener Kongreß (1814–1815) 176, 215, 237 Wilhelm I. 252, 269, 345, 347, 365 Wolff, Christian 186 f. Württemberg 162, 206, 214, 230, 239, 325, 351, 367 Zachariä, Karl Salomo 223, 229 Zählwert 294 Zentrum 272, 274 f., 344, 371, 373, 377 ff., 391 ff. Zenturienverfassung Roms 289 Zweikammersystem 111, 124, 199, 272