Allgemeine Sprachwissenschaft: Band 3 Methoden sprachwissenschaftlicher Forschung [Reprint 2022 ed.] 9783112612200, 9783112612194


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German Pages 306 [305] Year 1977

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Allgemeine Sprachwissenschaft: Band 3 Methoden sprachwissenschaftlicher Forschung [Reprint 2022 ed.]
 9783112612200, 9783112612194

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Allgemeine Sprachwissenschaft H I

Allgemeine Sprachwissenschaft Band III Methoden sprachwissenschaftlicher Forschung

Von einem Autorenkollektiv unter der Leitung von

B. A. Serebrennikow Ins Deutsche übertragen und herausgegeben von

Hans Zikmund und Günter Feudel

AKADEMIE-VERLAG • B E R L I N 1976

Titel der Originalausgabe: O ß m e e H3UK03HaHHe. MeTO^H jraHrBHcnmecKHx nccjie^OBaHHfl. O t b 6 t c t b 6 h h h ä pe«aKTOp: H n e n - K o p p . A H CCCP B . A . Cepe6peHHHKOB HsflaTeJitcTBO « H a y n a » MocKBa 1973

Erschienen im Akademie-Verlag, 108 Berlin, Leipziger Str. 8—4 © Akademie-Verlag 1976 Lizenz-Nr. 202 . 100/204/76 Schutzumschlag und Einband: Helga Klein Gesamtherstellung: IV/2/14VEB Druckerei »Gottfried Wilhelm Leibniz,, 445 Gräfenhainichen/DDR . 4676 Bestellnummer: 762 703 7 (6959/3) • L8V 0805 Printed in GDR EVP 22,-

Inhalt

Vorwort

1

KAPITEL I

Die Methoden der genetischen Sprachforschung

Das Verfahren der genetischen Sprachforschung (Einführung) Die Technik genetisch-vergleichender Untersuchung Die objektive Grundlage der historisch-vergleichenden Methode Die Hauptverfahren historisch-vergleichender Forschung Die syntaktischen Rekonstruktionen Die Rekonstruktion alter Wortbedeutungen Das Ursprachenproblem Die Methoden der inneren Rekonstruktion Die quantitativen Methoden Die Verwendung typologischer Sprachbesonderheiten und sprachlicher Universalien Die Einbeziehung weiterer Sprachen Die Verwendung von Methoden der Sprachgeographie Die Auswertung der Ortsnamenforschung KAPITEL

2

Die Abgrenzung zwischen Synchronie und D i a c h r o n i e . . .

KAPITEL

s

Sprachgeographische Forschungsmethoden

„Sprachgeographie" und „areale Linguistik" Aus der Geschichte der Sprachgeographie Die linguistischen Grundlagen der sprachgeographischen Methoden Die synchronischen Aspekte der Sprachgeographie Die Methoden der Dialektermittlung Die Ermittlung der Toponym- und Hydronymareale Die diachronischen Aspekte der Sprachgeographie Die Bestimmung der Innovationen und Archaismen Die Bestimmung der Ausbreitungszentren sprachlicher Erscheinungen Die Untersuchung der Erscheinungen sprachlicher Attraktion Die Bestimmung der Sprachbundareale Die Ermittlung von Einflüssen einer Substratsprache Probleme der historischen Dialektologie Die Bestimmung der Verbreitungsareale der Dialekte einer Ursprache Die Ermittlung der alten dialektalen Gliederung einer konkreten Sprache

. . .

5 25 25 29 37 44 50 64 66 71 74 77 78 82

93 94 104 107 107 109 110 110 115 117 119 119 122 122 131 V

ZAPITBL 4

Die grundlegenden Prinzipien und Methoden struktureller Analyse

Die strukturelle Sprachauffassung Die relevanten Merkmale der Laut- und Bedeutungssubstanz und die Arten ihres Ausdrucks Die Bestimmung der Grenzen zwischen den Struktureinheiten der Sprache . . . . Die funktionale Klassifizierung der Einheiten einer Sprache Die hierarchischen Beziehungen und die Methoden ihrer Bestimmung Die Wahl der Ausgangsform bei der Ableitung der morphologischen Einheiten der Sprache

KAPITEL 5

135 145 153 158 170

Die Methoden der Typologie

Die sprachlichen Gleichartigkeiten und die Methoden ihrer Erforschung Der Vergleich als universelles linguistisches Verfahren Die Prinzipien der typologischen Analyse

KAPITEL 6

132

178 182 187

Der Zusammenhang zwischen der allgemeinen Methodologie der linguistischen Wissenschaft und den besonderen Methoden der linguistischen Forschung

Der Begriff der allgemeinen Methodologie der Wissenschaft 204 Die konkreten Forschungsmethoden und ihre Struktur 204 Die Theorie der Methode 207 Die linguistischen Grundlagen der Methode 207 Das System der •wissenschaftlichen Verfahren 208 Die technischen Verfahren und Prozeduren 211 Die Rolle des Gesichtspunkts in den linguistischen Untersuchungen 212 Der Einfluß der Ansichten des Forschers auf die wissenschaftlichen Untersuchungsmethoden 214 Zum Problem des Zusammenhangs zwischen marxistisch-dialektischer Methode und Einzelmethoden 215 Typische Mängel bei der Anwendung linguistischer Methoden 231 Unvollkommene theoretische Ausgangsthesen 231 Ungereimtheiten und Widersprüche in den Hypothesen 233 Verallgemeinerung eines Teils des Ganzen 236 Kybernetisierung linguistischer Methoden 239 Nicht gerechtfertigte Annahme einer Analogie 241 Konventionalistisches Konzipieren der Realität sprachlicher Einheiten 243 Das Verknüpfen von Fakten der Sprachgeschichte mit der Geschichte des Volkes, wenn wissenschaftlich begründete Methoden für eine solche Verknüpfung faktisch fehlen 248 Falsche Wahl der Methode 249 Ansetzen von Besonderheiten, die der Natur des Untersuchungsobjekts nicht eigentümlich sind 250 VI

Literaturverzeichnis Zu Kapitel 1 Zu Kapitel 2 Zu Kapitel 3 Zu Kapitel 4 Zu Kapitel 5 Zu Kapitel 6

253 253 259 260 262 266 269

Personenregister Register der in den Bänden I bis I I I erwähnten Sprachen Sachregister zu den Bänden I bis HE Druckfehlerberichtigung zu Band I I

273 277 284 296

Das Kapitel 1 ist von Günter Feudel, das Vorwort und die Kapitel 2 bis 6 sind von Hans Zikmund übersetzt worden. Hans Zikmund hat auch das Literaturverzeichnis und die Register dieses Bandes zusammengestellt.

Vorwort

Ein Kernproblem der allgemeinen Sprachwissenschaft ist das ihrer Methoden. Das Vorherrschen der einen oder anderen Methode in einer bestimmten Periode bestimmt manchmal sogar den Gesamtcharakter der betreffenden sprachwissenschaftlichen Entwicklung. Die Junggrammatiker förderten stark die Entwicklung der historisch-vergleichenden Methode, während für die gegenwärtige Entwicklungsetappe der Sprachwissenschaft strukturelle und typologische Methoden typisch sind. Die konkreten Methoden der Sprachforschung sind recht mannigfaltig. Sie unterscheiden sich erheblich je nach dem Charakter des Untersuchungsobjekts, dem Forschungszweck und dem gewählten Untersuchungsaspekt, so gibt es z. B. besondere Methoden für die Entzifferung der in unbekannten Sprachen verfaßten Texte, für die Untersuchung der Lautmerkmale einer Sprache, für die Feldaufnahmen von Sprachmaterial, besondere sprachsoziologische Methoden, Methoden zur Erforschung der Geschichte der Literatursprachen, kurz für fast jeden Sprachbereich. Mit dem vorliegenden Band wird keineswegs versucht, sämtliche Methoden der Sprachwissenschaft zu beschreiben. Das wäre auch gar nicht möglich, zumal es für viele Methoden noch kein exaktes Verfahren gibt und sie theoretisch noch nicht ausreichend begründet sind. Deshalb sollen dem Leser an konkreten Beispielen der Begriff der linguistischen Methode überhaupt sowie die Besonderheiten einiger Methoden und Verfahren vorgeführt werden. Selbstverständlich waren vor allem diejenigen Methoden zu berücksichtigen, die sich bereits bewährt haben und über ein mehr oder weniger entwickeltes Verfahren verfügen. Es ist daher kein Zufall, daß die sogenannten genetischen Forschungsmethoden, zu denen die historisch-vergleichende Methode gehört, bei uns ganz vorn rangieren. Ausführlich gehen wir auf die Methode der Sprachgeographie ein, auch auf die strukturellen Methoden, deren Anwendung eine ganze Epoche in der Entwicklung der Sprachwissenschaft ausmacht. Die Hauptschwierigkeit für die Verfasser der Kapitel über die moderneren Methoden bestand darin, daß viele solche Methoden (z. B. diejenige der Typologieforschung) noch im Experimentierstadium stecken, weswegen sie, wie bereits gesagt, weder über eine hinreichend stabile Methodik noch über eine in sich geschlossene und konsequente Theorie verfügen. Nicht beschrieben werden deshalb die mathematischen Methoden, diejenigen der deskriptiven Linguistik, die Modellierungsmethode, die statistischen Methoden, die Methode der Trans1

formationsgrammatik usw. Versuche, sie in entsprechenden Kapiteln zu beschreiben, scheiterten jedenfalls, was davon zeugen dürfte, daß die Theorie einiger neuer Methoden der Sprachwissenschaft noch nicht reif genug ist. So kommt es, daß der Inhalt des vorliegendes Bandes natürlich unvollständig ist; diesen zugegebenermaßen erheblichen Mangel zu beheben war uns aber aus begreiflichen Gründen nicht möglich. Keinerlei Niederschlag fanden auch Probleme des Verfahrens zur Präparierung einer Sprache für kybernetische Zwecke, d. h. für eine automatische "Übersetzung, denn der Gedanke einer solchen Übersetzung konnte bekanntlich nicht realisiert werden; seine Zweckmäßigkeit wird heutzutage sogar von einigen seiner Initiatoren bestritten1. Jedes Kapitel über die betreffende Methode will vor allem illustrieren. Es soll dem Leser das Wesen der jeweiligen Methode verdeutlichen. Am ausführlichsten behandeln wir die Methoden der genetischen und der sprachgeographischen Forschung, der strukturellen Linguistik und der Typologieforschung. Ein Kapitel mit der Überschrift „Die Abgrenzung zwischen Synchronie und Diachronie" wurde aufgenommen, weil über die Differenzierung zwischen Synchronie und Diachronie speziell in der Geschichte der sowjetischen Sprachwissenschaft lange von verschiedenen Richtungen aus diskutiert wurde. In diesem Kapitel konnte nachgewiesen werden, daß die Versuche, einige Dichotomien mit der Dichotomie „Sprache — Rede" zu verknüpfen, fehl am Platze sind und eine rein synchronische Untersuchung der sprachlichen Erscheinungen nicht klar und begründet genug bleibt. Auf die Kapitel über konkrete Methoden der Sprachwissenschaft folgt das Kapitel „Der Zusammenhang zwischen der allgemeinen Methodologie der linguistischen Wissenschaft und den besonderen Methoden der linguistischen Forschung". Bekanntlich wird dieses außerordentliche komplizierte Problem in den Vorlesungen über allgemeine Sprachwissenschaft bisher kaum berücksichtigt. Das Kapitel zerlegt die jeweilige konkrete Methode in ihre Bestandteile, von denen eine wichtige Komponente die allgemeine Erkenntnistheorie ist. Danach wird gezeigt, wie sich diese zu den anderen Komponenten der betreffenden Methode und zu sämtlichen linguistischen Einzelmethoden überhaupt verhält. Besondere Beachtung findet die kritische Analyse einiger typischer Fehler, die bei der Anwendung linguistischer Methoden begangen werden. Die strukturellen Methoden werden in diesem Kapitel unter dem Gesichtspunkt der allgemeinen Erkenntnistheorie gewertet. Deshalb darf es den Leser nicht verwundern, daß die Verfasser dieses Kapitels nicht die gleiche Ansicht vertreten wie die Autoren des Spezialkapitels „Die grundlegenden Prinzipien und Methoden struktureller Analyse". Die vorliegende Monographie entstand im Bereich für allgemeine Sprachwissenschaft des Instituts für Sprachwissenschaft der Akademie der Wissenschaften der UdSSR. Herausgeber ist der Leiter dieses Bereichs, das korrespondierende Mitglied der Akademie der Wissenschaften der UdSSR B. A. Sere1

2

Y. Bar-Hillel. The present State of research on MT. — American Documentation. 1951. Vol. 2, p. 205.

brennikow. Mitgewirkt hat auch I. P. Sussow, Dozent am Institut für deutsche Sprache der Pädagogischen Hochschule „L. N. Tolstoi" in Tula. Die Verfasser der einzelnen Teile der Monographie sind: von Kapitel 1 „Die Methoden der genetischen Sprachforschung" G. A. Klimow (der Abschnitt „Das Verfahren der genetischen Sprachforschung (Einführung)") und B. A. Serebrennikow (die übrigen Abschnitte), von Kapitel 2 „Die Abgrenzung zwischen Synchronie und Diachronie" G. A. Klimow, von Kapitel 3 „Sprachgeographische Forschungsmethoden" B. A. Serebrennikow, von Kapitel 4 „Die grundlegenden Prinzipien und Methoden struktureller Analyse" N. D. Arutjunowa und T. W. Bulygina 2 , von Kapitel 5 „Die Methoden der Typologie" W. A. Winogradow und von Kapitel 6 „Der Zusammenhang zwischen der allgemeinen Methodologie der linguistischen Wissenschaft und den besonderen Methoden der linguistischen Forschung" I. P. Sussow (der Abschnitt „Konventionalistisches Konzipieren der Realität sprachlicher Einheiten") und B. A. Serebrennikow (die übrigen Abschnitte). Der Apparat des Bandes enthält die Literaturverzeichnisse zu den einzelnen Kapiteln. Die Verweisungen auf die benutzten Quellen erscheinen im Text in Gestalt von Zahlenangaben, die sich auf die jeweilige Nummer im Literaturverzeichnis beziehen: In eckigen Klammern bezeichnet die erste Nummer den Titel, die zweite (nach einem Komma) die Seite; bei Verweisungen auf mehrere Titel sind deren Nummern durch ein Semikolon getrennt. Das Verfasserkollektiv dankt herzlich den Gutachtern Prof. N. A. Sljussarewa und Prof. J. S. Stepanow, die die Drucklegung des Werkes durch wertvolle Ratschläge und Bemerkungen gefördert haben. Die Drucklegung besorgte die Redaktionsgruppe des Instituts für Sprachwissenschaft der Akademie der Wissenschaften der UdSSR mit A. A. Kowschowa (Leiterin), J. A. Archangelskaja, S. G. Issajewa und N. D. Orlowa. 2

N. D. Arutjunowa schrieb die Seiten 132-145 und 158-169, T. W. Bulygina die Seiten 145—157 und 170—173; beide zusammen verfaßten die Seiten 173—177.

KAPITEL 1

Die Methoden der genetischen Sprachforschung

Das Verfahren der genetischen (Einführung)

Sprachforschung

D a s Verfahren der genetischen Sprachforschung, das bisweilen ohne hinreichenden Grund mit der historisch-vergleichenden Methode identifiziert wird, u m f a ß t heutzutage zahlreiche konkrete Verfahren zur Erforschung der Geschichte sowohl einzelner Sprachen als auch ganzer Sprachgruppen. Sie sind eine konkrete F o r m der diachronischen Sprachbetrachtung u n d dienen der Gewinnung von Erkenntnissen über die historische Entwicklung der Sprachen; die gewonnenen Erkenntnisse finden letztlich ihren Niederschlag in den historischen u n d historisch-vergleichenden Grammatiken. Die betreffenden Einzelverfahren, auf Grund deren die genetische Sprachwissenschaft mitunter zu den exaktesten Bereichen der Gesellschaftswissenschaften gerechnet wird, sind vor allem die genetische Identifizierung der F a k t e n , die R e k o n s t r u k t i o n der entsprechenden Archetypen („Urformen"), die Chronologisierung u n d die Lokalisierung der Erscheinungen u n d ihrer Systemzusammenhänge. Diese Verfahren gehören gleichermaßen zur historischen Erforschung einer Einzelsprache wie zur vergleichenden Untersuchung einer Gruppe verwandter Sprachen, zur historisch-vergleichenden Methode. D a s Verfahren zur Erforschung der Geschichte einer Sprache oder mehrerer Sprachfamilien unterscheidet sich wie die genetische Forschungsproblematik ü b e r h a u p t deutlich von dem Verfahren u n d von der Problematik der typologischen (speziell der geschichtstypologischen) u n d arealen Forschung. W ä h r e n d die genetische Forschung die Sprachverwandtschaft untersucht, beschäftigt sich die typologische Forschung mit dem Isomorphismus u n d die areale F o r schung mit der Gleichartigkeit der Sprachen (vgl. Kapitel 5 u n d 3 des vorliegenden Bandes). Auch wenn wir die m i t u n t e r geäußerte Auffassung, die historisch-vergleichende Forschung sei ein Grenzfall der typologischen F o r schung, nicht teilen u n d deutliche Unterschiede zwischen dem genetischen, d e m typologischen u n d dem arealen Forschungsbereich erkennen, m u ß m a n doch auch die enge Wechselwirkung aller drei Verfahren in der neueren Sprachwissenschaft hervorheben. So werden vor allem Ergebnisse typologischer Untersuchungen immer stärker f ü r die genetische Forschung genutzt, k ö n n e n doch typologische Untersuchungen, besonders in ihrer charakterologischen Variante, der genetisch-vergleichenden Forschung eine bestimmte Orientierung geben (man denke zum Beispiel an die Rolle, die die von Sapir u n d Greenberg vorgenommenen Klassifizierungen der Sprachen Nordamerikas bzw. Afrikas gespielt haben), sie eignen sich nicht n u r zur Verifizierung bereits d u r c h g e f ü h r t e r 5

Rekonstruktionen, sondern können bis zu einem gewissen Grade auch, zu Bestandteilen solcher Rekonstruktionen werden. Die Ergebnisse genetischer Untersuchungen wiederum werden sowohl innerhalb als auch außerhalb der typologischen und der arealen Sprachwissenschaft verwertet. Bereits die Begründer des Prager Linguistenkreises hatten erkannt, daß es zum Beispiel mit Hilfe der vergleichenden Methode möglich ist, „die Gesetze der Struktur und der Evolution der linguistischen Systeme aufzuhellen" [158, 8] (vgl. das Problem der Ermittlung diachronischer Uni Versalien). Unter bestimmten Bedingungen führen sie auch zu wichtigen extralinguistischen Schlußfolgerungen. Der Interessenbereich der genetischen Sprachwissenschaft unterscheidet sich auch von der Problematik der Glottogenese. Die Begründer der historischen Sprachwissenschaft vertraten einst die Meinung, die vergleichenden Grammatiken einzelner Sprachgruppen erlaubten es, einen Blick in die „organische" Periode zu werfen, in der die Sprache entstand und Gestalt annahm. Die weitere Entwicklung jedoch enttäuschte diese Erwartungen, sie veranlaßte sogar Meillet zu der Äußerung, daß kein Sprachforscher den Glauben hegen könne, „die vergleichende Grammatik der indogermanischen Sprachen werfe auch nur das geringste Licht auf die Anfänge der Sprache" [119, 21]. Obwohl bestimmte Ergebnisse genetischer Untersuchungen eine Erörterung der glottogenetischen Problematik zweifellos fördern können, unterscheiden sich beide Forschungsrichtungen sowohl in ihrer Aufgabenstellung als auch im Hinblick auf die angewandten Methoden grundsätzlich. Die Erarbeitung eines angemessenen Verfahrens genetischer Forschung wurde in der Sprachwissenschaft erst möglich, nachdem im 16. und 17. Jahrhundert G. Postellus, J. Scaliger und F. Sassetti auf Grund empirischen Sprachvergleichs bei Sammelarbeiten für Wörterbücher den Begriff der Sprachverwandtschaft geprägt hatten (seine Weiterentwicklung wurde übrigens noch zu Beginn des 18. Jahrhunderts durch die verbreitete Auffassung gehemmt, der Ursprung sämtlicher in das Blickfeld der Linguisten gerückten Sprachen liege im Althebräischen). Eine weitere wichtige Voraussetzung für die Entstehung dieses Verfahrens war die Tatsache, daß sich im 18. Jahrhundert unter dem unmittelbaren Einfluß der Ideen von Giambattista Vico und Johann Gottfried Herder der Evolutionsstandpunkt durchsetzte (bereits Mitte des 16. Jahrhunderts hatte der Italiener Claudio Tolomei an Hand des Lautwandels 1 die gesetzmäßige Lautentwicklung vom Lateinischen zum Italienischen nachgewiesen). An der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert waren die allgemeinsten Grundsätze der vergleichenden Sprachwissenschaft schon so klar formuliert, daß sie von mehreren Sprachwissenschaftlern fast gleichzeitig angewandt wurden. Das galt bereits für die Arbeiten der Ungarn J. Sajnovics („Demonstratio, idioma ungarum et lapporum idem esse", Tyrnavia 1770), S. Gyarmathi („Affinitas linguae hungaricae cum linguis fennicae originis grammaticae demonstrata", Goettingen, 1799) und einiger anderer Kenner des Finnischen und Lappischen. Die Herausbildung der vergleichenden Sprachwissenschaft wurde vor allem durch die Bekanntschaft der Linguisten mit dem Sanskrit beschleunigt, das wie kaum eine andere Sprache einen genetischen Vergleich der indoeuropäischen Sprachen Europas erlaubt.

6

Als Begründer des historisch-vergleichenden Untersuchungsverfahrens, die L. Bloomfield als eine großartige wissenschaftliche Leistung des 19. Jahrhunderts bezeichnete, gelten im allgemeinen Franz Bopp, der in seinem Werk „Über das Konjugationssystem der Sanskritsprache in Vergleichung mit jenem der griechischen, lateinischen, persischen und germanischen Sprache" (Frankfurt 1816) das System der formalen Entsprechungen zwischen den indoeuropäischen Sprachen nachwies, Rasmus Kristian Rask, der in seiner Untersuchung über den Ursprung der alten nordischen oder isländischen Sprache (Kopenhagen 1818) die Rolle der gesetzmäßigen Entsprechungen in der Grammatik verwandter Sprachen hervorhob, und A. Ch. Wostokow, der in seiner „Erörterung über die slawische Sprache" (Moskau 1820) das Vergleichsverfahren umfassend an slawischem Sprachmaterial vorführte. Als erste historische Grammatik gilt Jacob Grimms vierbändige „Deutsche Grammatik" (Göttingen 1819—1837) mit einem geschichtlichen Vergleich der deutschen Sprache mit den anderen germanischen Sprachen. (Von den Anfängen der genetischen Sprachwissenschaft handeln Benfey [59], Delbrück [78] und Thomsen [161]). Während einer ziemlich langen Entwicklung der Komparativistik (während des größten Teiles des 19. Jahrhunderts) blieb die genetische Forschung ganz, zu Unrecht eingeengt, weil man sich vorwiegend der Rekonstruktion ursprachlicher Zustände zuwandte, die als das eigentliche Forschungsziel galt, und die ganze weitere Entwicklung der Gruppen verwandter Sprachen nur ungenügend erforschte. Allmählich setzte sich jedoch eine breitere Auffassung von den Zielen und Aufgaben genetischer Untersuchungen durch; sie sollen in der neueren Sprachwissenschaft vor allem die historische Entwicklung der verwandten Sprachen (oder einer Einzelsprache) aufhellen, wobei die Rekonstruktion von Archetypen wie übrigens die Modellierung überhaupt nur eine untergeordnete Rolle spielt. So wird ein so wichtiger Bestandteil der genetischen Forschung wie die historisch-vergleichende Methode als das System der Untersuchungsverfahren definiert, das man bei der Erforschung verwandter Sprachen anwendet, um die historische Vergangenheit dieser Sprachen zu rekonstruieren und die Gesetzmäßigkeiten ihrer Entwicklung von der Grundsprache an aufzuhellen [10, 58]. Diskutiert wird gegenwärtig noch die Frage, ob Neubildungen der Einzelsprachen in den Kompetenzbereich der historisch-vergleichenden Methode fallen. Trotz langwieriger Diskussionen, die im wesentlichen darauf zurückzuführen sind, daß manche Komparativisten die Termini „Vergleich" und „Sprachgeschichte" zu eng fassen, braucht wohl kaum besonders bewiesen zu werden, daß sämtlichen konkreten Methoden linguistischer Forschung der Vergleich zugrunde liegt (übrigens meint die „vergleichende Sprachwissenschaft" zum Unterschied von der „vergleichenden Literaturwissenschaft", „vergleichenden Mythologie" usw. ausschließlich die genetische Problematik). Es ist ein Axiom der diachronischen Sprachwissenschaft, daß sich die verschiedenen Glieder einer einheitlichen Sprachstruktur und die einzelnen Vertreter einer Sprachfamilie nur ungleichmäßig entwickeln, daß sie Archaismen und Neuerungen enthalten. Durch den Vergleich unterschiedlicher Fakten und von Faktensummen innerhalb einer Sprache und in einer Sprachgruppe hat man so ständig die Mög7

lichkeit einer linguistischen Extrapolation in die Vergangenheit. Offenbar muß man Meillets bekannter Formulierung beipflichten, daß der Vergleich im Grunde das einzige wirksame Mittel zur Rekonstruktion einer Sprachgeschichte ist [121, 11]. Das wird noch deutlicher, wenn man die Rolle betrachtet, die der Vergleich in der Linguistik überhaupt spielt (vgl. Vendryes [168] und Knobloch [106]). Die Ergebnisse genetischer Untersuchungen sind die historischen Grammatiken einzelner Sprachen und die historisch-vergleichenden Grammatiken ganzer Sprachfamilien. Jede solche Disziplin enthält Erkenntnisse über die historische Entwicklung einer Einzelsprache oder Sprachgruppe. Diese Erkenntnisse nehmen zu mit der Einbeziehung neuen Sprachmaterials und der Vervollkommnung der genetischen Untersuchungsverfahren. Unter sonst gleichen Bedingungen hängen die Aussichten genetischer Untersuchungen von Charakter und Umfang des zur Verfügung stehenden Materials ab. In einer besonders günstigen Lage befindet sich die Romanistik, denn sie kennt sowohl die romanischen Gegenwartssprachen als auch deren Grundsprache, das Lateinische (unter Umständen auch die Zwischenglieder), so daß man hier sehr gut die Möglichkeiten und Grenzen der Untersuchungsverfahren prüfen kann. In den allermeisten sonstigen Fällen basieren die historisch-vergleichenden Grammatiken ausschließlich auf Sprachmaterial neueren Datums. Nicht selten haben die betreffenden Disziplinen nur den Charakter von mehr oder weniger wahrscheinlichen Hypothesen. Historische Grammatiken für genetisch so isolierte Sprachen wie das Baskische lassen sich besonders schwer schreiben. Die objektive Grundlage für die genetische Identifizierung sprachlicher Erscheinungen ist die genetische Vergleichbarkeit der Fakten und Faktensummen einer Einzelsprache wie einer ganzen Gruppe verwandter Sprachen. In einer Einzelsprache bzw. bei mehreren Vertretern einer Sprachfamilie gibt es immer bestimmte genetisch identische Einheiten, Werte, die auf denselben Nenner eines früheren Sprachstadiums zurückgehen, aber gewisse Veränderungen erfahren haben. Da genetisch identische Einheiten bei Sprachkontakten auch in nichtverwandte Sprachen entlehnt werden, läßt sich die genetische Identifizierung von Einheiten auch auf solche Sprachen anwenden (deswegen halten es A. I. Smirnizki, G. D. Sanshejew, L. Michelena und manch andere für möglich, das historisch-vergleichende Untersuchungsverfahren auch auf nichtverwandte Sprachen anzuwenden [42, 15—16]). Da sich sämtliche Sprachen strukturell mehr oder weniger gleichen (eine entsprechend festgelegte Schwelle wahrscheinlicher Verwandtschaft müßte willkürlich bleiben) und ein und dieselbe Struktur in unterschiedlicher Substanz verkörpert sein kann, läßt sich die genetische Verwandtschaft von Sprachen nicht durch eine Analyse ihrer strukturellen Merkmale, also nicht typologisch (oder auch nur geschichtstypologisch) nachweisen. Das ist natürlich auch dadurch nicht möglich, daß man einfach die Wurzeln und Affixe der betreffenden Sprachen auf ihre substantielle Ähnlichkeit hin untersucht, denn entsprechende Übereinstimmungen könnten sich auch durch sprachliche Konvergenz oder durch das begrenzte Phoneminventar sämtlicher Sprachen erklären (ganz ab8

gesehen von der unvermeidlich subjektiven Bestimmung der Ähnlichkeit; wie Zählungen ergeben haben, ist nämlich die Wahrscheinlichkeit zufälliger lautlicher Übereinstimmung des Vergleichsmaterials um so größer, je weniger zwei Sprachen miteinander verwandt sind [83]). Unergiebig sind in dieser Hinsicht auch Varianten quantitativer Untersuchungsverfahren (die glottochronologische Methode von M. Swadesh, der Gruppenvergleich von J. Greenberg [156, 41-42; 157; 87, 270; 75 usw.]), mit deren Hilfe man im Prinzip nur eine relative Wahrscheinlichkeit genetischer Sprachverwandtschaft bestimmen kann. Auch wenn man Greenberg beipflichten kann, daß bei 20prozentiger Ähnlichkeit der verglichenen Sprachen deren historischer Zusammenhang feststeht, ist eine Entscheidung über Entlehnung oder Verwandtschaft erst nach weiteren Untersuchungen der Qualität möglich. Geht man andererseits davon aus, daß das Phoneminventar nichtverwandter Sprachen durchschnittlich nur vier Prozent Ähnlichkeiten aufweist, so kann auch eine Verwandtschaft so entfernt sein, daß sie nicht einmal diesen niedrigen Wert erreicht. So stellte Collinder bei dem Versuch, die ural-altaische Hypothese rein statistisch zu verifizieren, fest, daß Berechnungen keine Handhabe für die Entscheidung bieten, ob genetische Verwandtschaft oder aber typologische Ähnlichkeit (affinité) bzw. Entlehnung vorliegt [74, 24]. Ein relevantes Kriterium genetisch-vergleichender Untersuchung (dieser Terminus stammt offenbar von I. M. Tronski) kann nur — als logische Folge aus dem Systemcharakter der Sprache und den systemhaften Tendenzen ihres Wandels — die systemhafte oder, wie es mitunter in der Komparativistik heißt, die „reguläre" Korrelation der sprachlichen Substanz in den für verwandte Sprachen charakteristischen Divergenzen sein. Der entsprechende Beweis läßt sich also erst dann erbringen, „wenn ein System von Regeln (Algorithmen) zur Überführung des einen Systems in das andere aufgestellt werden kann" [22, 66]. Ein solches Kriterium ist zum Beispiel das System regelmäßiger Lautentsprechungen in den Wurzel- und Affixmorphemen der verglichenen Sprachen. Natürlich sind verwandte Sprachen auch durch gesetzmäßige morphologische und lexikalische Entsprechungen gekennzeichnet. Da sich diese aber erst auf Grund der festgestellten Lautentsprechungen ermitteln lassen [13, 82], ist die entscheidende Stufe für den Nachweis sprachlicher Verwandtschaft eben die Ansetzung der Lautentsprechungen. Da die Anwendung dieses Kriteriums durch semantische Erwägungen bestimmt wird (Lautentsprechungen werden ausschließlich zwischen semantisch in Verbindung zu bringenden Elementen angesetzt), operiert es zugleich mit der phonetischen wie mit der semantischen Substanz der Sprachen. Daraus ergibt sich auch die bekannte von Hjelmslev formulierte operationeile Definition der genetischen Verwandtschaft ; ihr zufolge ist Sprachverwandtschaft eine (natürlich auf Hjelmslevsche Art aufgefaßte) „Funktion, die Sprachen verbindet: Sie besteht darin, daß jedes Element des Ausdrucks einer Sprache über eine Funktion mit einem Element des Ausdrucks einer anderen Sprache zusammenhängt" [95, 52—53]. Somit gehören die Gesetzmäßigkeiten in der Korrelation zwischen phonetischer und semantischer Substanz verwandter Sprachen zu den diachronischen Universalien allgemeinster Art, die sich durch die Formel ( ï ) ï Ç î ausdrücken lassen, nämlich: 2 Serebrennikow III

9

„Für sämtliche x ist, wenn x eine Sprache bezeichnet, eine gesetzmäßige Beziehung zur verwandten Sprache charakteristisch." Eine konkrete Voraussetzung für die Ermittlung von Lautentsprechungen etwa zwischen den „differenzierten" Lauten bh ~ b und den „identischen" Lauten 6 ~ b besteht darin, daß es in den verwandten Sprachen genetisch identische Einheiten gibt, die historisch einen gemeinsamen Nenner haben, z. B. altind. bhr&tar, altslaw. öpaTt, griech. tpQdrrjQ ,Mitglied einer (pgargia', tochar. pracar 'Bruder' oder abchas.-abasin. 3039/593, ubych. dwdd"a, adyg. dddd 'Ahle'. E s ist nicht schwer zu erkennen, daß solche systemhaften Reihen von Lautentsprechungen wie altind. bh clh gh

baltoslaw. ~ ~ ~

6 d g

griech. ~ ~ ~

ph th kh

tochar. ~ r^j ~

p t k

oder abchas.-abasin. 3 c c

~

ubych. d" i® tw

adyg. rw ~

d f, t

kaum durch unabhängige Konvergenz der verglichenen Sprachen entstanden sind (und sei es nur auf Grund des bekannten Postulats, daß das sprachliche Zeichen im Hinblick auf das Bezeichnete unmotiviert ist); sie sind eher unterschiedliche Reflexe von drei für jede Beispielgruppe verschiedenen Phonemen der Grundsprache. Dabei ist der Grad der anthrophonischen Ähnlichkeit der Sprachkorrelate völlig belanglos (vgl. Meillets bekanntes Beispiel von der gesetzmäßigen Korrelation zwischen griech. dw und armen, erk, die sich in einer ganzen Reihe von Stämmen beobachten läßt), obwohl eine genetischvergleichende Untersuchung natürlicherweise mit den einfachsten Lautentsprechungen beginnt (z. B. mit den Entsprechungen der „Identität"). E s ist natürlich nicht zu bestreiten, daß, wie bereits N. S. Trubetzkoy feststellen konnte, Lautentsprechungen durch gleichgeartete Phonemsubstitution auch in Entlehnungen zustande kommen (vgl. engl. 6 in [csens] 'Chance', [cant] 'Gesang' und [cag] 'Ladung' mit franz. s in [säs], [Sä] und [sarz]), sie bilden aber praktisch kein umfassenderes System, ganz abgesehen davon, daß die betreffenden Wörter (in bezug auf genetische Untersuchungen) zu peripheren Wortschatzgruppen gehören (es handelt sich um Wörter des Kulturaustauschs, um Internationalismen usw.). Es wäre außerdem extrem und weitgehend (zum Beispiel in bezug auf Sprachen ohne entwickeltes Affixsystem) dem genetischen Beweis selbst abträglich, wenn man nicht davon ausginge, daß die Einheiten des Grundwortschatzes einer Sprache recht stabil sind, und die Lautentsprechungen ausschließlich in den grammatischen Morphemen suchte.

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Übrigens beschränkt sich die Regelmäßigkeit der Lautentsprechungen zwischen verwandten Sprachen und die Möglichkeit, die phonologische Entwicklung bis zu einem gewissen Grade vorauszusehen, keineswegs auf einen bestimmten Sprachtyp oder bestimmte Sprachfamilien. Die Regelmäßigkeit ist, wie bereits erwähnt, Ausdruck der systemhaften Tendenz der Sprachentwicklung überhaupt. Es gibt also keinen Grund f ü r die Vorstellung, daß „exotische" oder „primitive" Sprachen andere Vergleichskriterien erfordern als die indoeuropäischen oder semitischen [60,116; 144, 74; 95,43-44]. Wie Bloomfield bei seiner bekannten Rekonstruktion der zentralen Protoalgonkinsprache Nordamerikas zeigen konnte, hängt die Effektivität dieser Vergleichsprinzipien auch nicht davon ab, ob es sich u m Sprachen mit oder ohne Schrifttum handelt, obwohl Schriftdenkmäler eine Sprachgeschichte natürlich zusätzlich stützen. I n der T a t werden die zunächst in der Indoeuropäistik, Uralistik und Semitistik entstandenen genetisch-vergleichenden Untersuchungsverfahren schon lange und erfolgreich auf die verschiedensten Sprachfamilien angewendet, so auch auf die einstmals exotischen Sprachen der Ureinwohner Amerikas u n d Australiens. Mitunter ist die Anwendung dieses Kriteriums jedoch mit gewissen Schwierigkeiten verbunden; die Verwandtschaft der Sprachen kann nämlich so entfernt sein, daß das Ausgangsmaterial f ü r die Feststellung einer bestimmten Systemhaftigkeit in den Reflexen der Ausgangswerte zu bruchstückhaft ist. Außerdem muß man berücksichtigen, daß es zwar mehr oder weniger eindeutige Lautentsprechungen zwischen der Grundsprache u n d den aus ihr hervorgegangenen Einzelsprachen gibt, daß aber die Lautentsprechungen zwischen nur synchron bezeugten Sprachen auf Grund von Entwicklungsbesonderheiten oft nicht so eindeutig sind. I n so komplizierten Fällen ist mitunter der „Kettenbeweis" anwendbar, nämlich die Heranziehung einer Sprache, die eine genetische Zwischenstellung einnimmt und klarere Beziehungen zu den betreffenden zwei Sprachen zeigt. I m allgemeinen lassen sich die entsprechenden Erscheinungen leichter auf der Ebene rekonstruierter Ursprachen vergleichen, die eine Zwischenstellung einnehmen und einander chronologisch näher stehen. Die größten Schwierigkeiten bieten in dieser Hinsicht die „isolierenden" Sprachen, deren Wörter im allgemeinen einsilbig sind und aus konsonantenarmen Wurzeln bestehen, wodurch die Wahrscheinlichkeit etymologischer Korrektheit der Vergleiche erheblich sinkt (vgl. die unklaren genetischen Beziehungen verschiedener Sprachgruppen Südostasiens). Angesichts verschiedener Fälle, in denen ein Nachweis schwierig ist, wurde neben der Postulierung eigentlicher genetischer Sprachbeziehungen neuerdings vorgeschlagen, auch sogenannte allogenetische Beziehungen partieller Verwandtschaft anzusetzen (wenn nämlich Sprachen in dem einen Bereich gesetzmäßig Korrelationen aufweisen, in einem anderen aber so weit auseinandergehen, daß die Wahrscheinlichkeit ihrer gemeinsamen Herkunft nur noch gering ist [49, 12—17]). Eine solche Hypothese wurde zum Beispiel f ü r die Wechselbeziehungen zwischen den karthwelischen und abchasisch-adygeischen Sprachen Kaukasiens aufgestellt. Beachtung verdienen auch die bereits von Meillet festgestellten positiven Möglichkeiten des Verfahrens zur Ermittlung sprachlicher Verwandtschaft; 2*

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bei großer sprachlicher Divergenz ist nämlich die Nichtanwendbarkeit des Verfahrens noch kein Beweis dafür, daß die verglichenen Sprachen genetisch nicht verwandt sind [120, 3; 97, 189]. Daraus erklären sich insbesondere viele Hypothesen wie die nostratische (wonach mehrere große Sprachfamilien der Alten Welt miteinander verwandt seien), die altaische, die „iberisch-kaukasische" und die amerindische bis hin zu der von A. Trombetti entwickelten und noch kürzlich von A. L. Kröber, M. Swadesh und einigen anderen unterstützten Konzeption von der Monogenese sämtlicher Sprachen. Zu den kompliziertesten Aufgaben genetisch-vergleichender Forschung zählen die Ermittlung des Verwandtschaftsgrades einzelner Vertreter verwandter Sprachgruppen und die entsprechende historisch-genetische Klassifizierung. Das ist nur möglich nach einer speziellen qualitativen und insbesondere einer sprachgeographischen Untersuchung. Die neuerdings angestellten statistischen Berechnungen illustrieren bestenfalls verschiedene Aspekte einer solchen Verwandtschaft (in diesem Sinne macht sogar das glottochronologische Verfahren in der Variante von S. Gudshinskaja zur Ermittlung des Grades „lexikalischer Verwandtschaft" der Sprachen keine Ausnahme). Auch nicht jede inhaltbezogene Sprachencharakteristik kann als genügend relevant gelten. In der Geschichte der Komparativistik haben sich Versuche, die innere Gliederung einer Sprachgruppe auf Grund einzelner Lautkriterien vorzunehmen, oft als unergiebig erwiesen, man denke z. B. an die bekannte Einteilung der indoeuropäischen Sprachen in eine westliche Kentum-Gruppe (mit dem Italischen, Keltischen, Germanischen, Griechischen und Albanischen) und eine östliche Satem-Gruppe (mit dem Baltischen, Slawischen, Indoiranischen und Armenischen), eine Einteilung, die eindeutig widerlegt wurde durch die spätere Entdeckung des Tocharischen und Anatolischen, insbesondere durch die Feststellung, daß das Hethitische zur Kentum-Gruppe und das mit ihm nah verwandte Luwische zur Satem-Gruppe gehört. Ein ähnliches Schicksal hatte auch die traditionelle phonetische Einteilung der khartwelischen Sprachen Transkaukasiens in einen „Sibilantenzweig" (das Georgische) und einen „Zischlautzweig" (das Mingrelische, Tschanische und Swanische), die hinfällig wurde, als man die eindeutig isolierte Stellung des Swanischen entdeckte. Ein zuverlässigeres Kriterium für eine solche Gliederung überhaupt ist offenbar der Grad der lexikalischen Nähe der verwandten Sprachen [50, 36—37,48ff.]. Wie die Praxis der verschiedensten Zweige der Komparativistik zeigt, ist ein komplexes Kriterium, das verschiedene Seiten der Sprachstruktur umfaßt, im Prinzip am zuverlässigsten. Sieht man von dem intuitiv zu ermittelnden und von Sprache zu Sprache variierenden Merkmalkomplex ab, mit dessen Hilfe man nur die offensichtlichsten sprachlichen Gruppierungen voneinander abgrenzen kann (zum Beispiel die germanische, italische, slawische, keltische), so gilt als solcher seit Brugmanns und Delbrücks Arbeiten gewöhnlich die Summe der gemeinsamen, insbesondere lexikalischen und morphologischen Neuerungen, die von einer langen gemeinsamen Entwicklung der zu vergleichenden Sprachen oder Sprachgruppen zeugen (demgegenüber ist die Bewahrung gleicher Archaismen nicht beweiskräftig, denn sie ist für alle Peripherien des Areals verwandter Sprachen überhaupt typisch). Schwierig dürfte es übrigens 12

sein, solche Neuerungen von gleichgearteten zu unterscheiden, die in den betreffenden Sprachen parallel entstanden sein konnten (vgl. Delbrück [78,138], Brugmann [68, 252-253], Greenberg [86, 46-55] und die Erörterung der betreffenden Kriterien auf einer Konferenz über die indoeuropäischen Dialekte [55]). Viel komplizierter ist das von der soeben behandelten Frage zu unterscheidende Problem der ursprachlichen Dialekte. Die neuere Dialekttheorie weist im Bestand und in der Stellung der Dialekte im Laufe der Geschichte einer Sprache wesentliche Veränderungen nach. Je weiter wir die Geschichte zurückverfolgen, desto undeutlicher werden die Dialektverhältnisse einer Sprache. Und während z. B. die germanische Dialektologie noch eine durchaus reale sprachgeschichtliche Disziplin darstellt [16], tragen alle Erörterungen über die dialektale Gliederung der indoeuropäischen Grundsprache höchst hypothetischen Charakter. Sämtliche historisch-genetischen Klassifikationen der einzelnen Gruppen verwandter Sprachen führen zu einer in sich geschlossenen (und im Unterschied zu möglichen typologischen Klassifikationen einzig angemessenen) genetischen oder „genealogischen" Klassifizierung der Sprachen der Welt. Diese hat natürlich nichts mit der anthropologischen Klassifikation zu tun und bietet entgegen früherer Kritik einzelner Linguisten auch keine Handhabe, sie als „rassisch" hinzustellen: Die neuere Komparativistik betont, daß Begriffe wie „indoeuropäisch", „uralisch", „Bantu", „khartwelisch" u. a. rein linguistischer Natur sind und sich nicht mit dem Begriff einer Rasse decken (vgl. z. B. Meillets bekannte Feststellung: Es gibt indoeuropäische Sprachen, aber keine indoeuropäischen Völker [119, 38; 17, 31-33]). Andererseits führt die genetische Klassifizierung der Sprachen auch nicht zu dem Postulat einer „Ursprache" im biblischen Sinne. Sie soll vielmehr die historischen Wechselbeziehungen der Sprachen feststellen. Berücksichtigt man übrigens die Tatsache, daß sich verwandte Sprachen beliebig weit auseinanderentwickeln können und sehr viel Sprachgeschichte linguistisch nicht mehr erforschbar ist, so entdeckt man mühelos „die Grenzen unserer augenblicklichen Klassifikationen und auch unserer Klassifikationsfähigkeit" [60, 120]. Eine Hauptkomponente der genetischen Forschung, sofern sie mit der Extrapolation sprachlicher Fakten in die Vergangenheit zu tun hat, ist die linguistische Rekonstruktion. Die Geschichte der Sprachen offenbart sich eigentlich erst durch sukzessives „Reproduzieren" des jeweiligen Sprachzustands auf den verschiedenen chronologischen Ebenen. Dabei geht es nicht um eine Rekonstruktion realer Erscheinungen der sprachlichen Vergangenheit, was kaum erforderlich ist, sondern um die Gewinnung linguistischer Erkenntnisse über sie. Die große Bedeutung der Modellierung für die heutige genetische Sprachforschung liegt auf der Hand. Obgleich sie in der komparativistischen Praxis schon seit ihrer Entstehung angewandt wird, schenkt man ihrer Weiterentwicklung erst in letzter Zeit gebührende Aufmerksamkeit [103] (übrigens beachtete die historische Sprachwissenschaft kaum das Wesen ihrer eigenen Forschungsverfahren, so daß zahlreiche methodische Fragen auch heute noch Diskussionsgegenstand sind). 13

Der Modellcharakter verschiedener Begriffe der genetischen Sprachwissenschaft zeigt sich schon in ihrer metaphorischen Ausdrucksweise, so z. B. in Bezeichnungen wie „Sprachverwandtschaft", „Sprachfamilie", „Ursprache", „Tochtersprachen". Solche Bezeichnungen besagen natürlich nicht, daß die realen Sprachverhältnisse biologischen gleichen, wie es seinerzeit August Schleicher offenbar wirklich meinte, sondern nur, daß manche linguistische Modelle (vor allem der „Stammbaum") biologischen Modellen ähneln. Offensichtlich sind diejenigen rekonstruierten Urformen, deren Verifizierung an weiterem Material schwierig ist, nur Modelle für sprachliche Fakten, die in der Vergangenheit angesetzt werden. So bleiben die miteinander konkurrierenden Vorstellungen über Anzahl und Qualität der Laryngale im frühen Indoeuropäischen auch heute noch nur Modelle (Näheres über die verschiedenen Aspekte der Rekonstruktion siehe hier Seite 18—22). Zu den wichtigsten Streitpunkten zählt bekanntlich die Modellierung konkreter genetischer Sprachbeziehungen an Hand der indoeuropäischen Sprachen, woraus zwei grundverschiedene Schemata hervorgingen. Einerseits schuf August Schleicher 1860 zur Differenzierung der indoeuropäischen Sprachen sein als „Stammbaum" bekannt gewordenes Modell [148, 4f.]. Das Gegenstück dazu bildete das von Johannes Schmidt 1872 aufgestellte Modell, das als „Wellentheorie" bekannt wurde und besagt, daß von Sprachgruppe zu Sprachgruppe allmähliche Übergänge bestehen und ihre Wechselbeziehungen vielseitig sind. Obwohl beide Modelle in der Komparativistik gewöhnlich als miteinander konkurrierend galten und von ihren Begründern sogar als einzig angemessene Abbildung der historischen Realität überhaupt angesehen wurden, entdeckte man sehr bald, daß sie die realen sprachlichen Wechselbeziehungen vereinfachen (das Stammbaumschema stellt die Aufspaltung der Ursprache als einmaligen Akt hin und berücksichtigt nicht die weiterhin bestehenden Wechselbeziehungen der einzelnen Gruppen, während die Wellentheorie nichts über die Differenzierung der Sprachgruppen aussagt). Man fand vor allem, daß die Modelle einander weniger widersprechen, sich vielmehr ergänzen. Die ersten Versuche, sie zu einer einheitlichen genetischen Konzeption zusammenzufassen, führten zu der Erkenntnis, daß sie im Grunde zwei chronologisch verschiedene Etappen sprachlicher Filiation widerspiegeln [115, 44]. In Wirklichkeit unterscheiden sie sich nicht durch ihre unterschiedliche Chronologie und nicht durch die ihnen zugrunde liegenden Verfahren, sondern durch ihren ganz verschiedenen Zweck. Der Stammbaum ist ein dynamisches Modell zur schematischen Darstellung sprachlicher Auseinanderentwicklung und die Wellentheorie ein statisches Modell zur Veranschaulichung der synchronen g enetischen Wechselbeziehungen von Sprachen auf einer bestimmten Stufe der Vergangenheit. Daher ist es kein Zufall, daß Modelle beider Arten in der neueren historischvergleichenden Sprachwissenschaft weitgehend angewandt werden. Und da sie heterogene Beziehungen zwischen verwandten Sprachen darstellen, bietet auch der Versuch, die schematischen Entsprechungen beider Modelle zu einem synthetisierenden Diagramm zusammenzufassen, der Forschung nichts Neues. 14

Ein zentraler methodischer Begriff bei der Modellierung der Wechselbeziehungen genetisch verwandter Sprachen bleibt in der Komparativistik die Ursprache oder Grundsprache. Dieser Begriff schälte sich erst im Laufe der Zeit aus der ursprünglich synkretischen Vorstellung der ersten Komparativisten von dem realen Vorläufer einer Gruppe verwandter Sprachen und von der Gesamtheit der rekonstruierten Teilstücke heraus. Baudouin de Courtenay erfaßte deutlich, daß „die Ursprachen oder Grundsprachen so, wie sie von der Wissenschaft rekonstruiert werden, nicht Komplexe tatsächlicher Erscheinungen, sondern nur Komplexe deduktiv gewonnener Fakten der Wissenschaft darstellen" [7, 70]. Heute spielt der methodische Begriff der Ursprache verschiedener Stufen als gewisser Summen von auf bestimmte chronologische Ebenen bezogenen Teilkonstruktionen in der Wissenschaft die Rolle eines notwendigen B.egulativkonzepts, das viel zu erklären vermag und im Grunde die gesamte genetische Erforschung einer Gruppe verwandter Sprachen lenkt [144; 110; 106]. Seine große Bedeutung für die Rekonstruktion der Geschichte von Sprachfamilien wird vorbehaltlos nicht nur von den Linguisten anerkannt, die den Adäquatheitsgrad ursprachlicher Rekonstruktionen in bezug auf den realen Zustand der Vergangenheit gering veranschlagen, sondern auch die ontologische Realität von Ursprachen überhaupt leugnen möchten (Vertreter der italienischen Neolinguistik mit V. Pisani und einigen anderen). Zu ihnen gehörte schon Johannes Schmidt, der der Ursprache den Status eines Geschichts„individuums" absprach und sie für eine Fiktion hielt, auch wenn sie die Forschung erheblich erleichtere [149, 28f.; 38, 8]. Offensichtlich sind die Aussichten, stets die realen ursprachlichen Verhältnisse zu erkennen, nur mehr oder weniger relativ, sie hängen bei sonst gleichem Vorgehen von der Informationsmenge ab, die die historisch belegten Glieder der betreffenden Sprachfamilie anbieten. Ein besonderes Problem der genetischen Sprachwissenschaft ist die Frage, in welchem Maße die angesetzten Ursprachen homogen sind. Alles, was wir heutzutage von den Existenzformen einer Sprache wissen, ist, daß sie sich in territoriale Dialekte gliedert und sozial differenziert ist. Bloomfield bemerkte richtig, daß die homogene Ursprache, wie sie von der genetischen Forschung in der Regel angesetzt wird, ganz und gar durch den Algorithmus der linguistischen Rekonstruktion bedingt ist und gewöhnlich nicht den realen Parametern der Grundsprache entspricht. Außerdem gibt es keine Garantie dafür, daß sich alle für die Ursprache einer bestimmten Stufe rekonstruierten Formen vereinbaren lassen. Dennoch sei die auch heute noch von J. Marchand, R. Kent, W. Twaddell und einigen anderen geteilte Auffassung der frühen Junggrammatiker erwähnt, daß wir letztlich das System eines konkreten und recht homogenen Dialekts der rekonstruierten Grundsprache erhalten [117]. Die sich auf parallele Rekonstruktionen stützende Annahme gleichzeitiger Urformen kann durchaus reale Merkmale der Grundsprache (besonders auf ihrer leichter kontrollierbaren späten Etappe) widerspiegeln, die daher in manchen Arbeiten der letzten Jahre bisweilen unter dem Begriff Diasystem zusammengefaßt wird: So unterscheidet man in der Komparativistik mitunter morphologische Dubletten, Elemente des normalen und des sakralen Wortschatzes und zuweilen sogar 15

eine Literatursprache im Gegensatz zu den territorialen Dialekten [128, 360361; 140; 54]. Nach unseren bisherigen Ausführungen wird deutlich, wie unhaltbar zwei einst stark verbreitete extreme Standpunkte über das Wesen der linguistischen Rekonstruktion sind. Wir meinen einerseits die naive Vorstellung, die Rekonstruktionen seien bestimmte echte sprachliche Gegebenheiten der Vergangenheit. Diese Vorstellung, die noch auf die Begründer der genetischen Sprachwissenschaft zurückgeht und recht lange herrschte, war insbesondere in der russischen Komparativistik weit verbreitet (vgl. entsprechende Äußerungen von W. Porshesinski, F. F. Fortunatow u. a.) und ist sogar heute noch ab und zu in einzelnen konkreten Zweigen der historischen Sprachwissenschaft anzutreffen (übrigens dürften bei A. I. Smirnizki begegnende Formulierungen wie „Wiederherstellung der Fakten", „Wiederherstellung einstiger Sprachfakten" einer ungenauen Ausdrucksweise geschuldet sein). Andererseits besteht auch keine Veranlassung, in einer linguistischen Rekonstruktion nur Symbole des Sprachvergleichs zu sehen. Delbrück vertrat 1880 die im Grunde agnostizistische Auffassung, daß die rekonstruierten Urformen mit ihrer in der Wissenschaftsgeschichte variierenden Gestalt nichts anderes als Formelausdrücke dafür seien, daß sich die Anschauungen über Umfang und Charakter des von den Einzelsprachen aus der Ursprache ererbten Materials ändern; dementsprechend behauptete er, daß sie unserem Wissen keinen neuen Stoff liefern, sondern nur die Ergebnisse der Analyse des einzelsprachlichen Materials enthalten [78, 52—53]. Einen ähnlichen Standpunkt vertrat eine Zeitlang Meillet, der die Entsprechungen für die einzigen Tatsachen hielt und in den „Rekonstruktionen" nur Formeln sah, mit denen man abgekürzt die Entsprechungen ausdrückt [119, 18]; nach einer semantischen Rekonstruktion meinte er, bleibe „nur noch eine Abstraktion übrig, mittels deren die Vergleichung geprüft wird, aber darum noch nicht die ursprüngliche Bedeutung des Wortes" [119, 234] (später änderte Meillet seine Ansicht; vgl. auch Pisani [133]). Im Gegensatz zu der in der historischen Sprachwissenschaft fast überwundenen ersten Auffassung ist der zweite Standpunkt, der früher für viele Vertreter der junggrammatischen und der „soziologischen" Schule in der Linguistik charakteristisch war, auch heute noch recht weit verbreitet; er wird in dieser oder jener Form von positivistisch eingestellten Komparativisten vertreten (so von einigen Vertretern der sogenannten algebraischen Richtung der indoeuropäischen Laryngalistik [139, 422-423]). Sieht man von ganz bestimmten philosophischen Interpretationen ab, auf die sich die Vertreter beider Standpunkte stützten, so verdanken sie ihre Entstehung einer ziemlich ungegliederten Vorstellung vom eigentlichen Verfahren der linguistischen Rekonstruktion und dem dabei verwendeten Apparat. Indes muß man in Anschluß an E. Hermann prinzipiell zwischen der Rekonstruktionsformel, d. h. der „Form mit Sternchen", und der eigentlichen Rekonstruktion unterscheiden. Während die „Form mit Sternchen" zusammen mit den Formeln der Lautentsprechungen zum Symbolapparat der genetischen Sprachforschung gehört und folglich nichts anderes als eine verallgemeinerte Kurzdarstellung der Entsprechungen zwischen den Erscheinungen der zu vergleichenden Sprachen 16

sein kann (dabei wird sie zum Attribut einer Konstruktion, die L. Zawadowski als „a comparative grammar of attested relations" bezeichnet), ist die Rekonstruktion stets eine mehr oder weniger adäquate Widerspiegelung der hinter dieser Formel stehenden sprachlichen Realität der Vergangenheit (als eine Konjektur, die zu dem gehört, was Zawadowski „a comparative grammar of relational reconstruction" und „a comparative grammar of substance reconstruction" nennt [92, 62; 78, 161-162; 46, 17-20; 33, 148-149; 170, 7-15]). Der operationeile Aspekt und der Interpretationsaspekt der Rekonstruktion bilden im Grunde Parallelen und sind zwei unabdingbare Seiten des Verfahrens. Während der operationelle Aspekt zur Differenzierung aller spezifischen Korrelationen im Vergleichsmaterial und zu ihrer Fixierung in Gestalt entsprechender Rekonstruktionsformeln führt, führt der Interpretationsaspekt zur Ausfüllung dieser Formeln mit einem konkreten substantiellen Inhalt. Wie die Forschungspraxis zeigt, bereiten wir schon mit der Feststellung besonderer Reihen von Entsprechungen zwischen den zu vergleichenden Spracherscheinungen auch ihre inhaltliche Interpretation vor. Beide Rekonstruktionsaspekte gelten auch in den schwierigen Fällen, in denen sich die gewonnene Formel bei dem betreffenden Entwicklungsstand der Wissenschaft nicht eindeutig interpretieren läßt. Daher erscheint uns E. Hermanns Vorschlag, eine besondere Bezeichnung für Formeln einzuführen, die angeblich nicht beanspruchen können, reale Lautmerkmale der Ursprache abzubilden, als überflüssig [92, 62] (davon unterscheidet sich grundsätzlich die von W. P. Lehmann verwendete symbolische Differenzierung zweier Rekonstruktionstypen je nach dem Grad ihrer Zuverlässigkeit [114, 103-104, 255]). Eine besondere Situation entsteht offenbar nur bei frühzeitiger schriftlicher Fixierung von Sprachen, wo es sich weniger um operationelle bzw. Interpretationsaspekte als vielmehr um entsprechende Untersuchungsetappen handelt. Der Zuverlässigkeitsgrad einer linguistischen Rekonstruktion hängt objektiv von der zur Verfügung stehenden Informationsmenge und subjektiv davon ab, ob das Wesen des Untersuchungsverfahrens erkannt wird (was vor allem dadurch bedingt ist, daß zwischen dem ontologischen und dem methodischen Aspekt und damit zwischen der objektiven Realität des einstigen sprachlichen Objekts und dessen linguistischer Erkenntnis unterschieden wird). Je umfassender die verarbeitete sprachliche Information, desto zuverlässiger ist die Rekonstruktion. Natürlich sind die rekonstruierten Formen je nach den konkreten Umständen das einemal mehr und das anderemal weniger zuverlässig. Bei hinreichend günstigen Bedingungen jedoch (Vollständigkeit des Vergleichsmaterials, begrenzte zeitliche Tiefe der Untersuchung, Möglichkeit einer typologischen Verifizierung der Urform u. a. m.) kann es kaum einen Zweifel darüber geben, daß zwischen der Rekonstruktion und den Sprachfakten der Vergangenheit ein hohes Maß an Adäquatheit erreicht wird. Die Zuverlässigkeit linguistischer Rekonstruktionen mußte schon von de Saussure verteidigt werden, der zu Recht darauf aufmerksam machte, daß in der damaligen Komparativistik die Tendenz zur Unterschätzung dieses Tatbestandes herrschte [146, 265; 90]. In der Romanistik zum Beispiel zeigte sich eine solche Tendenz in der 17

Bezeichnung „Phantasielatein", worunter skeptische Forscher die ersten Ergebnisse einer Rekonstruktion des spätlateinischen Zustands verstanden, die man durch Vergleich von Formen der historisch belegten romanischen Sprachen gewonnen hatte. Sie wird auch von G. Bonfante in einem f ü r die italienische Neolinguistik programmatischen Artikel hervorgehoben [65, 359]. Indes berechtigen heute die zahlreichen von E. Schwyzer, P. Hall und vielen anderen vorgenommenen Kontrollen zu der Zuversicht, daß die konkreten Rekonstruktionen im allgemeinen adäquat sind. So gelangen Romanisten zum Beispiel durch eine Gegenüberstellung von ital. koda, ladin. kua, franz. ke, span. kola und rumän. koadd zu einer Urform *köda 'Schwanz', die durch lat. cauda (mit der Aussprachevariante *coda) bestätigt wird. Formen, die der angesetzten germanischen Urform sehr nahe kommen, wurden nicht nur in den frühesten Runeninschriften, sondern auch im Finnischen als alte Germanismen entdeckt (vgl. *hringaz 'Ring', *kuningaz 'König' mit finn. rengas, kuningas). Mehr noch: I. M. Tronski zufolge war die Entzifferung der kretisch-mykenischen Schrift B durch M. Ventris und J . Chadwick „ein glänzender Beweis für die Produktivität der von der historischen Sprachwissenschaft entwickelten Methoden. Die griechische Sprache des 15. bis 13. Jahrhunderts vor unserer Zeitrechnung, die also 700 bis 500 Jahre vor den ältesten uns bislang bekannten Schriftdenkmälern existiert hatte, erwies sich in allen Grundzügen als so beschaffen, wie man angenommen hatte" [45, 66]. Wie zuverlässig die rekonstruierten Sprachformen sind, erhellt auch aus dem normalen Umstand, daß bei Einbeziehung neuen Sprachmaterials frühere Rekonstruktionen in der Regel nicht nur nicht widerlegt, sondern im Gegenteil durch mancherlei Präzisierungen im Grunde bestätigt werden. Das zeigt zum Beispiel die allmähliche Wandlung der Rekonstruktionsformel für die gemeinindoeuropäische Bezeichnung des Pferdes. Die Geschichte dieser Urform widerspiegelt einige der größten Entdeckungen der historisch-vergleichenden Phonetik der indoeuropäischen Sprachen: *akvas, *aklvas, *ekivos, ^ek^wos und bei Berücksichtigung der Laryngalhypothese *H eh ¡vos. J e nach der Spezifik des zu vergleichenden Materials reduziert sich die ganze Vielfalt der Rekonstruktionsverfahren (einzelne Sprachwissenschaftler nennen mindestens zehn [64, 144]) auf drei Hauptverfahren — die äußere oder „vergleichende" Rekonstruktion, die innere Rekonstruktion und die „philologische Methode". Wie schon diese Bezeichnungen erkennen lassen, geht die äußere Rekonstruktion über das Sprachsystem hinaus, bleibt die zweite innerhalb des Systems, während die „philologische Methode", die es mit zeitlich unterschiedlichen Schriftdenkmälern zu tun hat, sich beide Arten zunutze macht. Die Geschichte der Sprachwissenschaft zeigt, daß Versuche, die Sprachgeschichte ausschließlich mit einem dieser Verfahren zu rekonstruieren, scheitern (vgl. die Rolle, die die innere Rekonstruktion in den Arbeiten der Marr-Schüler spielte). Natürlich hat jedes Verfahren seine bevorzugten Anwendungsbereiche. Bei der Rekonstruktion der Geschichte nur einer Sprache (insbesondere einer Sprache ohne Verwandtschaftsbeziehungen oder, wie bereits de Saussure glänzend dargestellt hat, ohne Ursprache) ist die innere Rekonstruktion und bei vorhandener Schrifttradition die „philologische Methode" ausschlaggebend, während beim 18

Aufbau der vergleichenden Grammatik einer Sprachgruppe die äußere Rekonstruktion den Vorrang hat und die anderen Verfahren nur eine untergeordnete Rolle spielen. I m allgemeinen erhält man die zuverlässigste Vorstellung von der Geschichte einer Sprache oder Sprachgruppe bei organischer wechselseitiger Durchdringung aller drei Rekonstruktionsverfahren. Läßt man die „philologische Methode" prinzipiell als Variante der inneren Rekonstruktion gelten, so wird klar, wie zutreffend sich Friedrich Engels ausdrückte, wenn er schrieb, daß man eine Sprache nicht erkennen kann „ohne Berücksichtigung erstens ihrer eignen abgestorbenen Formen und zweitens der verwandten lebenden und toten Sprachen" [82, 298]. Man sollte aber zweckmäßigerweise hervorheben, daß es eine Reihe gemeinsamer Momente f ü r die äußere und die innere Rekonstruktion gibt. Streng genommen sind beide als vergleichend zu charakterisieren. Entgegen einer mitunter geäußerten anderslautenden Auffassung sind beide auf alle Ebenen der Sprachstruktur anwendbar. Der für beide Verfahren verwendete Algorithmus ist im Prinzip gleich [70, 478— 481; 124, 39—41]. J e nach dem Umfang des Untersuchungsmaterials (Beschränkung bzw. Nichtbeschränkung auf das Sprachsystem) ist auch der Anteil der konkreten Systembezüge bei beiden Rekonstruktionsarten verschieden. Während der Rückgriff auf das System bei der äußeren Rekonstruktion eine geringere Rolle spielt, ist bei der inneren Rekonstruktion im Grunde die Berücksichtigung des Systemcharakters von entscheidender Bedeutung. Die äußere Rekonstruktion, die in der Geschichte der Sprachwissenschaft am meisten angewendet wurde, besteht darin, daß m a n gleichartiges Material verwandter Sprachen vergleicht, um auf der Grundlage postulierter Entwicklungsgesetzmäßigkeiten eine Urform anzusetzen [100, 119—143; 114, 63—103]. Als besondere Variante der äußeren Rekonstruktion gilt zuweilen die „umgekehrte Rekonstruktion" (inverted reconstruction). Dabei berücksichtigt man einen viel früheren Zustand der Grundsprache. So rekonstruiert man zum Beispiel den gemeingermanischen Zustand nicht nur auf der Grundlage der historisch bezeugten germanischen Sprachen, sondern auch mit Hilfe der überhaupt bekannten Vorstellung von der spätesten Periode der gemeinindoeuropäischen -Grundsprache [96, 512-514]. Bei der inneren Rekonstruktion geht man davon aus, daß in einem synchron bezeugten Sprachsystem (z. B. innerhalb eines Flexionsparadigmas, in verschiedenen Dialekten usw.) Erscheinungen koexistieren, die verschiedene Etappen der Sprachgeschichte widerspiegeln. Man verfährt dabei gewöhnlich so, d a ß man unter den genetisch zu vergleichenden Sprachelementen relative Archaismen ermittelt und als Archetypen ansetzt oder mit Rücksicht auf den Systemcharakter der Sprachstruktur Urformen postuliert. Als wichtig erweist sich dabei oft die Untersuchung der morphonologischen Gesetzmäßigkeiten in verwandten Morphen, weswegen Smirnizki diese Methode als „phonomorphologische Analyse" kennzeichnete. Die zuverlässigsten Ergebnisse zeitigt die innere Rekonstruktion bei einer real bezeugten Sprache, deren System keine Lücken aufweist. Viel weniger zuverlässig ist ihre Anwendung auf ein Sprachsystem, das selbst schon rekonstruiert ist [99 ; 66; 116; 127; 70; 111]. Am wenigsten anwendbar ist die „philologische Methode", die darin besteht, 19

daß man alte Schrifttexte einer Sprache analysiert, um die „Prototypen" späterer Sprachformen festzustellen (vgl. Meillet [121, 7—11]). F ü r weitaus die meisten Sprachen der Welt ist sie nicht anwendbar. Wo ihre Anwendung aber möglich ist, erweist sie sich (besonders bei zeitlich unterschiedlichen und dabei auch noch sehr alten Schriftdenkmälern) wegen ihrer genauen Chronologisierung und Lokalisierung der Erscheinungen als sehr nützlich. Wären zum Beispiel die Denkmäler der lateinischen Sprache aus unterschiedlichen Zeiten unbekannt geblieben, so wäre die Romanistik niemals in der Lage gewesen, die romanische Grundsprache erschöpfend zu rekonstruieren (wie Meillet zeigt, führt ein Vergleich der ausschließlich historisch bezeugten romanischen Sprachen nur zur Rekonstruktion eines sehr späten Zustands des Lateinischen, eines Zustands, der den ursprünglichen Reichtum des lateinischen morphologischen Systems bereits weitgehend verloren hat). Analysiert man die georgischen Schriftdenkmäler, von denen die ältesten auf das 5. Jahrhundert unserer Zeitrechnung zurückgehen, so kann man die Geschichte der georgischen Sprache Schritt für Schritt und recht genau verfolgen (so vermag man z. B . nicht nur das Phonem q, das heute nur noch in einzelnen georgischen Bergdialekten vertreten ist, zu rekonstruieren, sondern auch zu zeigen, wie es spätestens seit dem 18. Jahrhundert allmählich von Westen nach Osten verdrängt wurde). Dabei ist zu berücksichtigen, daß wir es bei den bisherigen Schriftsystemen keineswegs immer mit phonetischen Aufzeichnungen zu tun haben, die die Anwendung dieser Methode begünstigen, sondern den Text in der Regel erst linguistisch interpretieren (und manchmal vorher sogar noch entziffern) müssen. Aus der Forschungspraxis weiß man sehr wohl, wieviele orthographische Streitfälle die frühen Sprachdenkmäler enthalten, die man nur lösen kann, wenn man die Besonderheiten des der betreffenden Schreibweise zugrunde liegenden Schriftsystems erfaßt hat. Übrigens gibt es verschiedene Sprachen (besonders im alten Orient), von denen nur Schriftdenkmäler überliefert sind und deren Geschichte fast nur mit Hilfe der „philologischen Methode" erforschbar ist. Wie Meillet zu Recht bemerkte, ergeben diese Denkmäler „bei kritischer Interpretation viel, so daß man ein genaues Bild von bestimmten alten Sprachzuständen erhält. Aber durch eine solche Untersuchung kann man nur den Sprachzustand zu einem bestimmten Zeitpunkt und unter bestimmten Bedingungen feststellen. Die Prüfung von Texten ist nur ein Ersatz für die unmittelbare Beobachtung, wenn diese nicht möglich ist" [121, 7]. Da die „philologische Methode" in ihrer Anwendung selten über eine durchgehende Sprachtradition hinausgeht (das tut sie im Grunde auch nicht bei einem Vergleich des modernen Französischen mit dem Lateinischen, die genetisch identisch sind), kann man sie mit gutem Grund als Variante der inneren R e konstruktion ansehen. Wie bereits Baudouin de Courtenay hervorhebt, muß man dabei nur berücksichtigen, daß die Schriftdenkmäler an sich noch kein Korpus von Äußerungen in der betreffenden Sprache, sondern eine in einem bestimmten Alphabet kodierte Symbolisierung solcher Äußerungen darstellen, nämlich eine Folge von Formeln, die einer weiteren linguistischen Interpretation bedürfen (wie schwierig diese selbst unter optimalen Bedingungen ist, beweisen zahlreiche Streitfragen über die Schreibung in den alten Schriftdenkmälern).

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Eine komplizierte Frage, die bei Anwendung der „philologischen Methode" nicht selten auftritt, ist die Textentzifferung, durch die eine in einem bestimmten Schriftsystem kodierte Äußerung rekonstruiert werden soll. Am schwierigsten ist die Entzifferung eines Textes in einer unbekannten Sprache mit unbekanntem Schriftsystem (meistens muß man übrigens die unbekannte Sprache eines Textes mit Hilfe indirekter Daten rekonstruieren). Bei der Erschließung der Ausdrucksebene eines Textes spielen verschiedenartige formale Verfahren eine große Rolle, während es bei der Untersuchung seiner Inhaltsebene vor allem darauf ankommt, auf bestimmte semantische Universalien sowie Begriffe, die für die betreffende Gesellschaft spezifisch sind, zurückzugreifen [24, 4—13]. Die Möglichkeit der Rekonstruktion einzelner Elemente einer bestimmten Sprachebene ist die Voraussetzung für die Rekonstruktion ganzer Systeme: des phonologischen, grammatischen und lexikalischen. Sieht man von der für alle drei Systeme gemeinsamen Tatsache ab, daß sich der paradigmatische Aspekt in ihnen viel leichter rekonstruieren läßt als der syntagmatische, so variieren die Rekonstruktionsaussichten von Ebene zu Ebene. Wie die Forschungspraxis zeigt, sind sie am größten in der Phonologie und Morphologie, denn diese haben nur begrenzte Mengen von Struktureinheiten. Über die phonologische Rekonstruktion kommt man zum phonematischen Schema einer Urform. Mehr noch, man darf Bloomfields Auffassung, daß die Methode im Prinzip nichts über die akustische Seite der rekonstruierten Formen aussagt, sondern nur die Identität ihrer Phoneme als Identität von sich wiederholenden Einheiten feststellt [62, 309], für übertrieben halten. Schon die lautphysiologischen Charakteristika des zum Vergleich herangezogenen Materials enthalten bestimmte Hinweise auf die phonetischen Charakteristika der entsprechenden Phoneme. Darum hat R. Jakobson wohl recht, wenn er feststellt: „Wir sind vom naiven Empirismus, der von einer phonographischen Fixierung der indoeuropäischen Laute träumte, ebenso weit entfernt wie von seinem Gegenteil, dem agnostizistischen Verzicht auf die Erforschung des Systems der indoeuropäischen Phoneme und dem zaghaften Versuch, dieses System auf einen einfachen Ziffernkatalog zu reduzieren" [101, 529]. Die phonologische Rekonstruktion wird möglich, wenn man die objektiven . Prozesse, die in der Lautsubstanz der Sprache vor sich gegangen sind, festgestellt hat. Die Orientierung auf die Ermittlung der Lautgesetze des untersuchten Sprachmaterials (natürlich wenn das angemessen geschieht und nicht so mechanisch unvermittelt, wie es viele Junggrammatiker taten) gehört unbedingt zur Rekonstruktion; das beherzigen selbst die Vertreter der italienischen Neolinguistik in ihren Arbeiten (M. Bertoni, M. Bartoli, G. Bonfante). Daher stellte W. I. Abajew zu Recht fest: „Eine Untersuchung, die sich auf dem sklavischen Glauben an die Unfehlbarkeit der Lautgesetze gründet, ist nur halb so wertvoll; eine Untersuchung aber, die diese Gesetze ignoriert, ist völlig wertlos" [1, 8]. Übrigens kann die Bezeichnung „Lautgesetz", die ursprünglich offenbar mit der Vorstellung von der Sprache als einem Organismus (und daher mit dem Begriff von Naturgesetzen) verknüpft war, kaum als gelungen gelten, denn sie meint in der Sprachwissenschaft nur die Fixierung eines Lautwandels, der sich unter 21

bestimmten Bedingungen in der Vergangenheit vollzogen hat. Das ist wohl auch der Grund f ü r ihre Ersetzung durch die Bezeichnung „Verschiebung" (shift) [ 9 8 , 5 9 - 6 1 ; 138]. Das Zusammenfallen verschiedener Phoneme in einem läßt sich leichter feststellen als die Aufspaltung eines einheitlichen Phonems; spontane Verschiebungen sind leichter definierbar als stellungsbedingte. Die Rekonstruktion eines morphologischen Systems ist wegen zahlreicher, allgemein als „grammatische Analogie" bekannter Faktoren schwieriger. Der f ü r eine Rekonstruktion eines grammatischen Systems komplizierteste Bereich ist die Syntax, auf die nicht nur verschiedenartige innere Faktoren, sondern auch äußere Einflüsse einwirken [89; 8] (man vergleiche nur die unbefriedigende historisch-vergleichende Erforschung der Syntax der indoeuropäischen Sprachen). Uberhaupt ist die Rekonstruktion der syntagmatischen Beziehungen auf jeder Untersuchungsebene mit viel größeren Schwierigkeiten verbunden als die Rekonstruktion der paradigmatischen Beziehungen. Die größten Schwierigkeiten bereitet die lexikalische Rekonstruktion, vor allem im Zusammenhang mit ihrer unerläßlichen semantischen Komponente. So stellte bereits Meillet fest: „Beim Durchblättern eines etymologischen Wörterbuchs erhält man den Eindruck, daß im Indogermanischen die Wörter und Wurzeln sehr abstrakte, allgemeine Bedeutungswerte besessen hätten, während man sich doch im Gegenteil zu vergegenwärtigen hat, daß jede indogermanische Sprache im Aussehen einem heutigen litauischen Dialekt gleichkam, nämlich arm an allgemeinen Begriffen und desto reicher an solchen, die ganz besondere Handlungen und die Einzelheiten des Hauswesens ausdrücken" [119, 234—235; 160, 594-596]. Die Rekonstruktion einer sprachlichen Vergangenheit muß sowohl den paradigmatischen als auch den syntagmatischen Systemaspekt erfassen. Obwohl das Verfahren dabei prinzipiell das gleiche ist, weist die Erforschung der Syntagmatik doch einige Besonderheiten auf. Insgesamt gesehen ist die syntagmatische Rekonstruktion viel komplizierter als die paradigmatische, denn zu den Schwierigkeiten, die objektiv mit der paradigmatischen Rekonstruktion zusammenhängen, kommt hier noch hinzu, daß der Text im Laufe der Sprachentwicklung „verschleißt" [23, 88]. So kam es, daß die syntagmatische Rekonstruktion bis in die jüngste Zeit hinein von der historischen Forschung nicht nur nicht vorgesehen, sondern zuweilen — besonders in bezug auf einen lexikalischen Text — sogar angezweifelt wurde. Relativ einfacher ist die Rekonstruktion des syntagmatischen Aspekts auf der Phonem- und Morphemebene (als kleinste Texte können schon Morphe gelten, die aus mehreren Phonemen bestehen). Die großen Schwierigkeiten, auf die die Rekonstruktion in der historischen Syntax stößt, sind bekannt. Heute bildet die Rekonstruktion eines Textes auf lexikalischer Ebene faktisch eine neue Forschungsrichtung, die von den früheren Versuchen, einen ursprachlichen Text zusammenzustellen, unterschieden werden muß (vgl. z. B. die von August Schleicher verfaßte urindoeuropäische Form der Fabel „Das Schaf und die Rosse"), denn diese Versuche beruhen auf einer falschen Auffassung vom Wesen der linguistischen Rekonstruktion. Eine Seite dieser Forschungsrichtung berührt die eigentliche philologische Problematik [23]. 22

Die lexikalischen und teilweise auch die grammatischen Rekonstruktionen führen auf Grund ihrer semantischen Komponente zu gewissen interessanten außerlinguistischen Schlußfolgerungen (so z. B. über die Urheimat der betreffenden Gesellschaft, ihre soziale und ökonomische Struktur, ihre materielle und geistige Kultur usw.). Diese paläontologische Forschung, die ein wichtiger Bestandteil der Indoeuropäistik war, bedient sich des unter der Bezeichnung „Wörter und Sachen" bekannten Verfahrens, mit dessen Hilfe man von der Rekonstruktion eines bestimmten Lexeminventars zur Ansetzung des damit implizierten kulturellen und historischen Hintergrundes übergehen kann [151; 152; 134]. Wenn zum Beispiel der etymologische Wortschatz der abchasischadygeischen Sprachen alte Lexeme mit der Bedeutung 'Meer', 'Strand' (mit Geröll, '(großer See-)Fisch', 'Berg'/'Hochwald'/'Dornengebüsch' usw. enthält, dann darf man das Areal für die Träger der Grundsprache etwa im heutigen Siedlungsgebiet der Abchasen und Adygen lokalisieren. Andererseits bieten die von je her gemeinsame Terminologie der Viehwirtschaft im Swanischen und in den anderen khartwelischen Sprachen und das Fehlen einer gemeinsamen Landwirtschaftsterminologie wichtige Anhaltspunkte f ü r die Lebensweise der Khartwelen in bestimmten Etappen ihrer Geschichte. Allerdings ist bei der Anwendung dieses Verfahrens große Vorsicht geboten: Eine entsprechende optimale Situation muß durch außerlinguistische Faktoren bestätigt werden. Schon Bloomfield hatte in diesem Zusammenhang festgestellt, daß man z. B. f ü r das Protoalgonkische Formen wie paaékesikani 'Gewehr' und eSkoteewaapoowi 'Whiskey' rekonstruieren kann, die aber nicht mit den lokalen Realien aus der Zeit vor Kolumbus übereinstimmen, da sie spätere Komposita darstellen. Nicht von ungefähr wurde die linguistische Paläontologie bereits zu Beginn des 19. Jahrhunderts durch nachträglich widerlegte kulturgeschichtliche Konstruktionen der Linguisten für lange Zeit in Verruf gebracht. Eine wesentliche Aufgabe der genetischen Sprachforschung ist die B e a n t wortung der Frage nach dem räumlichen und zeitlichen Bezug einstiger Spracherscheinungen. Da die Sprachen in Zeit und R a u m existieren, ist die gebührende Beachtung dieser Frage die unerläßliche Voraussetzung f ü r den Historismus der genetischen Sprachforschung. Dabei ist zu betonen, daß f ü r die Linguistik die relative und nicht die absolute Chronologisierung und Lokalisierung der Erscheinungen den Vorrang haben. Beide Probleme hängen ständig miteinander zusammen, so daß die Lösung des einen oft die Lösung des anderen Problems impliziert. Mehr noch, wie Sapir und seine Schüler sowie Vertreter der italienischen Neolinguistik nachweisen konnten, lassen sich aus räumlichen Charakteristika der Sprachen zeitliche Schlußfolgerungen ziehen [145; 58]. Die absolute Chronologisierung und Lokalisierung der Erscheinungen hat vor allem außerlinguistischen Wert. Die Bedeutung exakter Verfahren für die Chronologisierung sprachlicher Erscheinungen wurde erkannt, als man Erscheinungen unterschiedlicher Sprachepochen auf der gleichen zeithchen Ebene entdeckte, wie es für die Anfangsetappe der historisch-vergleichenden Sprachwissenschaft charakteristisch war und zu Antihistorismus in der Forschung führte (so stellte man sich früher den Zerfall einer Grundsprache als einen einmaligen Akt vor). Relativ einfacher 2a

lassen sich konkrete Fragen der Chronologie mit Hilfe der „philologischen Methode" lösen, wenn schon die Bezogenheit der schriftlichen Texte auf eine bestimmte Epoche entsprechende Hinweise bietet; vgl. das Prinzip der „Textchronologie" bei M. Bartoli. Dabei muß man berücksichtigen, daß Schriftdenkmäler oft einen neueren Sprachzustand widerspiegeln, als wir ihn in den heute überlieferten Sprachen vorfinden. In allen anderen Fällen aber ist die Lösung mit größeren Schwierigkeiten verbunden, sie hängt letztlich von einer richtigen Bestimmung der Archaismen und Innovationen ab. Bei der Chronologisierung sind zwei Hauptgruppen von Verfahren zu unterscheiden: die Ermittlung der zeitlichen Abfolge der Erscheinungen und deren zeitliches Nebeneinander. Ein schwieriges Problem der linguistischen Chronologisierung, das in der Regel breite Diskussionen auslöst, ist die sprachgeschichtliche Periodisierung. Dieses Problem ist nicht nur für die nichtüberlieferte Periode der Sprachgeschichte aktuell (vgl. die Kontroverse um die Periodisierung der urslawischen Epoche in der Slawistik oder um die Periodisierung der Geschichte der indoeuropäischen Ursprache), sondern auch für Sprachen mit einer langen literatursprachlichen Tradition (man denke an die Periodisierung der georgischen Literatursprache). Wie die Forschungspraxis in den fortgeschrittensten Zweigen der Komparativistik gezeigt hat, setzt man zweckmäßigerweise, je nach Kontrollierbarkeit, wenigstens zwei Zeitpunkte an — einen möglichst späten („kurz vor dem Zerfall" der Ursprache) und einen möglichst frühen, durch Rekonstruktion überhaupt erreichbaren. Die linguistische Chronologisierung läßt sich im Hinblick auf das zu untersuchende Sprachsystem in innere und äußere Verfahren einteilen. An erster Stelle stehen gewöhnlich die innerlinguistischen Kriterien. Sie beruhen meist auf der Ermittlung entsprechender Kausalbeziehungen: Klärt man die Ursachen für einen Wandel, so bestimmt man dadurch auch die zeitliche Abfolge der durch diese Beziehungen zusammenhängenden Erscheinungen. Analoge Schlußfolgerungen kann man ziehen, wenn man weiß, daß die eine Erscheinung die unerläßliche Voraussetzung für die Entstehung einer anderen ist (vgl. die Beziehungen zwischen Wurzelwort und Ableitung, von zwei Synonymen: eins ist unmotiviert, das andere eine Umschreibung). Das populärste Kriterium war in dieser Hinsicht stets das Verhalten der Entlehnungen. So kann man zum Beispiel, wenn man die Geschichte der altgermanisch-finnischen Kontakte kennt, auf Grund des Verhaltens der Germanismen im Finnischen manche phonetischen Prozesse lokalisieren. Man verwendet auch noch viele andere konkrete Chronologisierungsgrundsätze. Die Herausbildung automatischer morphonologischer Alternationen liegt bekanntlich zeitlich immer näher beieinander als die Entstehung nichtautomatischer. So unternahmen vor allem Vertreter der italienischen Neolinguistik Versuche, sprachliche Erscheinungen durch die Erforschung ihrer räumlichen Verteilung zu chronologisieren. Bartoli formulierte z. B. einige Thesen, die seiner Meinung nach sogar entsprechende innersprachliche Kriterien ablösen können (die populärste unter ihnen war stets die These von den Konservierungsphasen an Peripherien der Sprachareale). Solche Versuche bedürfen der ständigen Weiterentwick24

lung wegen der stets drohenden mechanischen Übertragung der beobachteten allgemeinen Gesetzmäßigkeiten auf das konkrete Sprachgebiet in dessen ganzer Kompliziertheit. F ü r die historische Sprachwissenschaft noch komplizierter ist zweifellos die Lokalisierung einstiger Spracherscheinungen. Die Linguistik interessiert auch dabei natürlich vornehmlich die relative und nicht die absolute Lokalisierung der Erscheinungen (Johannes Schmidts „Wellen" veranschaulichen zum Beispiel die räumliche Anordnung der indoeuropäischen Sprachen). U n d trotzdem zeugen von den in der Forschung auftretenden Schwierigkeiten sehr anschaulich die in der Indoeuropäistik geführte Diskussion über die Lokalisierung alter Merkmale, die Verbreitung morphologischer Erscheinungen, die Anordnung einzelner lexikalischer Isoglossen usw. Ziemlich kompliziert sind diese Fragen auch dann, wenn die chronologische Abfolge geringere Zeiträume umfaßt (vgl. die Diskussion um die Stellung des Awesta unter den iranischen Sprachen). Solche Schwierigkeiten drängten viele Komparativisten zu der Auffassung, daß die historisch bezeugte Verteilung der Sprachen keine stichhaltigen Hinweise auf die Rekonstruktion der dialektalen Gliederung einer Grundsprache bietet. Sie waren auch wohl eine der Ursachen dafür, daß die Frage nach den Urheimaten in einigen Zweigen der Komparativistik faktisch von der Tagesordnung abgesetzt wurde. I n der Tat haben bisher weder mögliche innerlinguistische Implikationen (vgl. zum Beispiel das unter der Bezeichnung „Wörter und Sachen" bekannte Verfahren) noch außerlinguistische Erörterungen (vgl. zum Beispiel die von Sapir vorgebrachte Methode zur geographischen Ermittlung der „Anziehungszentren" verwandter Sprachen [145, 452— 458]) einigermaßen zuverlässige Ergebnisse gezeitigt [159; 160, 596—597]. Offenbar bedarf die ganze Fragestellung einer gründlichen Überprüfung (so wird zum Beispiel nicht genügend berücksichtigt, daß der Begriff der sprachlichen Urheimat historisch veränderlich ist und speziell vom chronologischen Rahmen der Untersuchung abhängt).

Die Technik genetisch-vergleichender

Untersuchungen

Unter den verschiedenen Methoden genetisch-vergleichender Untersuchungen steht die historisch-vergleichende an führender Stelle. Deswegen müssen wir vor allem die Technik dieser Methode untersuchen.

Die objektive Grundlage der historisch-vergleichenden Methode Keine Erscheinung in Natur und Gesellschaft kann bekanntlich auf den drei chronologisch verschiedenen Ebenen der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft gleichzeitig existieren und funktionieren. Das ist immer nur auf einer Ebene, in der Gegenwart, möglich und gilt auch f ü r die Sprache. Die Geschichte einer Sprache wäre überhaupt nicht erforschbar, wenn bestimmte Besonderheiten 3

Serebrennikow III

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der historischen Entwicklung der Sprachen und deren spezifische Eigenschaften nicht die Bewahrung von Relikten der Vergangenheit förderten, auf deren Erforschung eben die Geschichte jeder Sprache beruht. Einer der wichtigsten Faktoren, die die Relikte eines vergangenen Sprachzustandes bewahren helfen, ist die ungleichmäßige Veränderung der einzelnen Komponenten einer Sprache und die weiter gefaßten ungleichmäßigen Veränderungen der Sprachen überhaupt. Eine Sprache verändert sich nicht in allen ihren Bestandteilen gleichzeitig, denn es wirkt die Tendenz, die Sprache als Kommunikationsmittel zu erhalten, ebenso wirkt ihre recht komplizierte Struktur, die ja Komponenten verschiedener Ebenen mit jeweils spezifischen Gesetzmäßigkeiten der Veränderung u m f a ß t . Außerdem sind die Ursachen und Anlässe sprachlicher Veränderungen an sich sehr mannigfaltig. Dadurch ist es völlig ausgeschlossen, daß sich sämtliche Veränderungen gleichzeitig vollziehen. Man darf auch nicht verschiedene hemmende F a k t o r e n und sonstige Bedingungen unterschätzen, die die Ungleichmäßigkeit sprachlicher Veränderungen in dieser oder jener Weise begünstigen. Daher muß man die Existenz einer Sprache vor allem im Hinblick auf die Punktion ihrer Elemente untersuchen. T u t man das unter dem Gesichtspunkt des Erhaltungsgrades ihrer Bestandteile, so erscheint jede Sprache als ein bizarres Mosaik, das verschiedene Grade der Veränderung neben F a k t e n der Erhaltung eines früheren Zustandes aufweist. D a s russische W o r t ejja 'Essen' enthält altes js,, das im Infinitiv ecTb 'essen' zu c geworden ist; das W o r t K p i i K 'Schrei' hat altes K im An- und Auslaut bewahrt, im Infinitiv KPHIATI. 'schreien' aber sein zweites K verändert. Fast jedes W o r t oder jede Wortform enthält Neues u n d Altes. Die Wurzel HOB- des russischen A d j e k t i v s HOBHH 'neu' enthält die Konsonanten H und B aus grauer Vorzeit, während sich hinter dem V o k a l o älteres e versteckt; im griechischen Zahlwort enxd 'sieben' ist nur der Wortteil ept alt, stammen dagegen An- und Auslaut (h und a) erst aus einer späteren Zeit. V o n dem jakutischen W o r t Ttia 'Taiga', das etymologisch mit altturksprachlichem tay 'Berg' zusammenhängt, ist faktisch nur t erhalten geblieben. In den verschiedensten Sprachen finden sich Wörter und Formen, die von ihren früheren Zuständen überhaupt nichts bewahrt haben, vgl. nenz. xaßH 'Tanne' neben finn. kuusi 'Tanne', homerisches fja 'ich war' aus *e-es-m oder russ. B 'in' aus *n. Die Ungleichmäßigkeit der Veränderungen wird noch deutlicher, wenn man Wörter aus Dialekten und verwandten Sprachen zum Vergleich heranzieht. Vergleicht man z. B . tatar. jul mit kirgis. 30I 'Weg, Straße', so stellt man fest, daß das tatarische W o r t altes j und l, das kirgisische altes Wurzel-o und Auslaut-Z, an Stelle des anlautenden j aber die A f f r i k a t e 5 enthält und das tatarische Wurzel-o zu u verengt hat. Berücksichtigt man diesen ungleichmäßigen Wandel, so kann man für tatar. jul. und kirgis. 30I die ältere F o r m *jol ansetzen. Der Vergleich von ersja-mordw. TeB 'Werk' mit finn. työ 'Werk, Arbeit' ergibt, daß die ersja-mordwinische Wortform älter ist und anzusetzendem *teve eher gleicht. Die Ungleichmäßigkeit der Veränderungen und ihres Intensitätsgrades bewirkt, daß in einem System verwandter Sprachen die einen Elemente älter sein und sich daher f ü r die Rekonstruktion früherer Wörter und Formen besser eignen

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können, während die anderen Elemente recht starke Veränderungen erfahren haben konnten. Als bester Ansatz für die Urform einer Wortreihe wie griech. veoq, lat. novus, tadshik. Haß, engl, new [nju], armen, nor und russ. hobhü erweisen sich griech. veog und lat. novus (aus nevos), denn diese Formen führen zu der Urform *nevos. Demgegenüber eignen sich armen, nor und engl, new dafür fast überhaupt nicht. Beim Vergleichen von Wörtern und Wortformen verwandter Sprachen bevorzugt man fast immer Sprachen einer älteren Formation mit mehr Archaismen. Eine andere Grundlage der historisch-vergleichenden Methode ist die Tatsache, daß sich Lautveränderungen in den Sprachen nicht chaotisch, sondern mehr oder weniger gesetzmäßig vollziehen. Verändert sich irgendein Laut in einer bestimmten Stellung des einen Wortes, so erfährt er unter den gleichen Bedingungen die gleiche Veränderung auch in anderen Wörtern, sofern diese Gesetzmäßigkeiten nicht durch irgendwelche Faktoren gestört wird, die die Veränderung in der betreffenden Richtung behindern. So verwandelte sich zum Beispiel altgriech. s im absoluten Anlaut vor einem Vokal gesetzmäßig in h, vgl. lat. Septem, 'sieben' mit griech. inrd (hepta), lat. salio ,ich springe' mit griech. &Xko[iai usw. Im Tatarischen wurde altes e gesetzmäßig zu i, vgl. türk. be§ 'fünf' mit tatar. bis, türk. yer [jer] 'Erde' mit tatar. usw. Die Gesetzmäßigkeit der Veränderungen bietet eine gewisse Gewähr dafür, daß eine Veränderung tatsächlich stattgefunden hat. Ein Wesenszug gesetzmäßiger Lautveränderungen, der ihre Realität bezeugt, ist die Bestimmtheit und Massenhaftigkeit ihres Vorkommens. So wird zum Beispiel die Verwandlung des alten Nasals ö (aus on) zu u in der Geschichte des Russischen durch eine ganze Reihe von Wörtern bestätigt; pyita 'Hand', jiyr 'Wiese', ayß 'Zahn', K p y r o ö 'steil', npyr 'Kreis', nyTB 'Weg' usw. Demgegenüber beruhen Einzelfälle wie etwa die Verwandlung von cnacH 6or in cnacuGo 'danke' mit nichtphonetischem Abfall des auslautenden r nicht auf einem Lautgesetz. Auf Grund dieser Besonderheit kann man in einer Sprache oft spätere Entlehnungen ermitteln, denn diese folgen nicht den Regeln normaler Lautentwicklung. So ist z. B . das Wort THHec 'Meer' im Tschuwaschischen eine Entlehnung aus dem Tatarischen. Hätte sich dieses mit türk. deniz 'Meer' verwandte Wort nach den tschuwaschischen Lautgesetzen entwickelt, so hätte es die Form T a H e p erhalten, denn im Tschuwaschischen verwandelte sich ä in a, y in n und i in reduziertes e. Dem z der anderen Turksprachen entspricht im Tschuwaschischen gesetzmäßig r. Eine gewisse Analogie zu der angesetzten Form bildet ungarisches tenger 'Meer', das die Ungarn einst aus dem mit dem heutigen Tschuwaschischen verwandten Kama-Bulgarischen entlehnten. Lateinisches lupus 'Wolf' ließ sich mühelos als Entlehnung aus dem Oskischen oder Umbrischen bestimmen, denn indoeuropäisches q ergab im Lateinischen unter bestimmten Bedingungen qu [ku] und nicht p, vgl. lat. coquo 'ich backe' mit *pe-qw6 oder sequor 'ich folge' mit griech. enofiai 'ich folge'. Aus altem *luqwos 'Wolf' wäre sonst im Lateinischen luquus und nicht lupus zu erwarten gewesen. Eine wesentliche Grundlage der historisch-vergleichenden Methode ist das Fehlen eines natürlichen Zusammenhangs zwischen Laut und Bedeutung. Darauf machten viele Forscher aufmerksam. 3«

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Die Vorstellung „Schwester", bemerkte F. de Saussure, ist durch keinerlei innere Beziehung mit der Lautfolge Schwester verbunden, die ihr als Bezeichnung dient; sie könnte ebensowohl dargestellt sein durch irgendeine andere Lautfolge; das beweisen die Verschiedenheiten unter den Sprachen und schon das Vorhandensein verschiedener Sprachen: das Bezeichnete „Ochs" hat auf dieser Seite der Grenze als Bezeichnung o-ks, auf jener b-ö-f (boeuf) [146, 79]. Gegner dieser Auffassung verweisen häufig darauf, daß das Auftauchen eines Wortes oder einer Wortform im System einer konkreten Sprache bis zu einem gewissen Grade motiviert ist, so hängt z. B. das deutsche Wort Waage mit dem Verb wiegen zusammen, hatte die lateinische Präposition in einst die Bedeutung ,Inneres' usw. Dabei handelt es sich aber um eine ganz andere Motivierung, nämlich um die Motivierung neuer Elemente des Sprachsystems. Die These vom fehlenden Zusammenhang zwischen der N a t u r einer Erscheinung und ihrem sprachlichen Ausdruck bleibt voll gültig, denn sonst gäbe es keinerlei Unterschiede zwischen den Sprachen. Man darf also davon ausgehen, daß eine Reihe lautlich verwandter Wörter und Morpheme mit einer gewissen einheitlichen Bedeutung stets einen gemeinsamen Ursprung haben. Wird der Begriff , Straße' in den verschiedenen Turksprachen durch ähnlich klingende Wörter bezeichnet, z. B. türk. yöl, tatar. H)JI, kasach. JKOJI, tschuwasch. gyji usw., so müssen sie alle die gleiche Quelle haben. Sonst wäre diese Ähnlichkeit schwer zu erklären. Lautlich verwandte Wörter kommen auch in nichtverwandten Sprachen vor, so lautet die Bezeichnung f ü r 'Tasche' im Türkischen cep, im Neugriechischen raeTtrj im Mordwinischen aene, im Komi-Syrjänischen 3en und im Nenzischen cene; 'Seife' heißt im Lateinischen sapo (mit dem Genitiv saponis), im Arabischen sabun, im Rumänischen säbun, im Tatarischen caßuH, im Mordwinischen canoHi. usw. Diese Wortreihen haben jeweils die gleiche Quelle. Für die erste Wortreihe ist sie arabisches ¿aib 'Tasche' und für die zweite lateinisches sapo 'Seife'. Diese Regel gilt auch für Flexionsformative. Es gibt z. B. keinen vernünftigen Grund dafür, daß der Subjektkasus ausgerechnet durch die Endung -s bezeichnet wird. Kommt diese Endung in verschiedenen Sprachen vor (vgl. griech. Xvxog lat. lupus, lit. vilkas, got. wulfs 'Wolf' usw.), so kann sie nur die gleiche Quelle haben. Stoßen wir in einer Reihe von Sprachen auf sehr viele lautlich verwandte Wörter und Wortformen, so dürfen wir davon ausgehen, daß diese Sprachen von einer gemeinsamen Sprache abstammen, denn äußere Verwandtschaft von Sprachen entsteht nicht rein zufällig. F ü r die historisch-vergleichende Methode ist Sprachzerfall möglich, so daß eine Gruppe verwandter Sprachen einen gemeinsamen Vorfahren haben kann. Aus verschiedenen historischen Ursachen können sich Sprachen oder, richtiger gesagt, die betreffenden Völker aufspalten. Sprachen können auseinanderfallen. es können sich aber auch Dialekte oder nah verwandte Sprachen aufeinanderzuentwickeln oder sich sogar vermischen, wodurch man gewöhnlich verschiedene Abweichungen von einer möglichen Sprachentwicklung erklärt. I n der Geschichte der Sprachen finden Ergebnisse eines Sprachzerfalls eher eine Erklärung als Ergebnisse von Sprachkontakten. Die historisch-vergleichende Methode rechnet auch mit dem Typischen ver28

schiedener Sprachentwicklungsprozesse. Trotz ihrer unendlichen Vielfalt lassen sich alle konkreten Ergebnisse historischer Veränderungen in den verschiedenen Sprachen auf bestimmte, im Grunde gleichartige Typen zurückführen, vgl. z. B. den Formenausgleich durch Analogie, die Morphemgrenzenverlagerung, die Reduktion unbetonter Vokale, die Überwindung verschiedener Ausspracheschwierigkeiten, die Beseitigung von Pleonasmus, den Formensynkretismus, den Druck des Sprachsystems. Die historisch-vergleichende Methode hat also eine objektive Grundlage in der Sprache selbst, sonst wäre sie keine linguistische Forschungsmethode.

Die H a u p t v e r f a h r e n historisch-vergleichender Forschung Es dürfte schwer sein, sämtliche vorhandenen historisch-vergleichenden Untersnc'hungsverfahren zu charakterisieren, denn der Sprachhistoriker und Komparativist muß in seiner Forschungspraxis sehr viele Faktoren berücksichtigen, die Sprach Veränderungen auslösen und auf die Wörter und Wortformen in bestimmter Weise einwirken. Die Anwendung der historisch-vergleichenden Methode ist ein durchaus schöpferischer Akt zur Lösung der unterschiedlichsten Aufgaben und zur Meisterung der mannigfaltigsten Schwierigkeiten. Alles läßt sich nicht in starre Regeln fassen. Außerdem besteht die historisch-vergleichen de Methode aus einem ganzen Komplex verschiedenartiger Verfahren. Trotz aUedem kann man diejenigen wichtigsten und grundlegenden Verfahren unterscheiden, ohne die keine historisch-vergleichende Sprachforschung möglich wäre.

1. Die Wahl des

Vergleichsmaterials

Die historisch-vergleichende Methode beruht bekanntlich auf dem Vergleich von Sprachen, und zwar in erster Linie von verwandten Sprachen. Daraus folgt aber nicht, daß sich in den Sprachen absolut alles vergleichen ließe. Die Sprachen enthalten nämlich auch Bereiche, die sich für einen Vergleich wenig oder überhaupt nicht eignen. Nicht verglichen werden können zum Beispiel die lautnachahmenden Wörter, denn unter ihnen findet m a n ähnlich klingende Wörter in Sprachen, die miteinander überhaupt nicht verwandt sind, vgl. z. B. ersjamordwin. BaTpaKm 'Frosch' mit gleichbedeutendem altgriechischem ßaxQayot;, tatar. xaxHJißapra 'laut lachen' mit altgriech. xa%äCw und russ. xoxoTaTb, pers. weng 'Flennen' mit komi-syrjän. BeHBruHH 'flennen' usw. Nicht vergleichbar sind auch Interjektionen, manche Bezeichnungen des Kulturaustausches und Sondertermini, die leicht von Sprache zu Sprache entlehnt werden; so veimitteln die Metallbezeichnungen der finnisch-ugrischen Sprachen keine klare Vorstellung von den Verwandtschaftsbeziehungen dieser Sprachen, denn sie sind weitgehend aus dem Altiranischen entlehnt. Nicht vergleichbar sind die Lehnwörter, denn sie zeigen nicht, wie sich Lautveränderungen abgewickelt haben. Eine Ausnahme bilden Wörter, die schon £9

früh entlehnt wurden und eine ältere Form derjenigen Sprache widerspiegeln, aus der sie stammen. Vergleichbar sind gewöhnlich Elemente, die zu den stabilsten Sprachbereichen gehören, so die Wörter des sogenannten Grundwortschatzes, also Bezeichnungen für elementare Handlungen, Erscheinungen der den Menschen umgebenden Natur, die Pronomina, Numeralia, Präpositionen, Postpositionen und andere stabile lexikalische Kategorien; in der Morphologie ist es vor allem das System der Flexionsformative, die in der Regel überhaupt nicht, sowie Wortbildungsmittel, die nur in geringerem Umfang entlehnt werden.

2. Die Ermittlung und Identifizierung

der vergleichbaren

Einheiten

Die Geschichte eines Wortes oder einer Wortform läßt sich nur feststellen, wenn wir sie mit irgend etwas vergleichen. Man muß vor allem eine Reihe genetisch identischer Einheiten feststellen, die zum Vergleich herangezogen werden könnten. Nehmen wir an, wir wollen die Geschichte des tadshikischen Adjektivs rapM ,warm' aufhellen. Innerhalb einer Sprache findet man natürlich leicht eine Reihe genetisch identischer Einheiten, so gibt es z. B . neben lateinischem genus ,Geschlecht' seinen Genitiv generis oder neben russischem BpeMH ,Zeit' seinen Genitiv BpeMeHH usw., damit kommt man aber im allgemeinen nicht weiter. Oft kann man eine Reihe genetisch identischer Einheiten überhaupt nicht aufstellen. Deswegen greift man gewöhnlich auf Dialekte oder verwandte Sprachen zurück. Zu tadshikischem rapM 'warm' findet man folgende Entsprechungen: armen. Jerm, altind. gharmah, griech. dsQ/iog, lat. formus, dt. warm. Diese Wörter sind nur bei genetischer Identität all ihrer Bestandteile vergleichbar. Das einzige Kriterium zur Ermittlung dieser Identität sind gesetzmäßige Lautentsprechungen. Wir müssen eben wissen, daß z. B . anlautendes tadshikisches r gesetzmäßig armenischem 5, altindischem gh, griechischem lateinischem / und deutschem w entspricht. Sämtliche Vokale und Konsonanten des Wortes müssen das Ergebnis der Erhaltung oder gesetzmäßigen Veränderung der ihnen zugrunde liegenden Urform sein. Außerdem gilt ein Vergleich von Wörtern und Wortformen verwandter Sprachen erst dann, wenn wir bereits über ein rekonstruiertes System des Vokalismus und Konsonantismus der Grundsprache verfügen. Bei der Ermittlung gesetzmäßiger Lautentsprechungen muß man unbedingt berücksichtigen, daß sich die Laute einer Sprache in den verschiedenen Positionen eines Wortes verschieden verändern können; so verwandelte sich ursprüngliches s im Griechischen im Anlaut vor einem Vokal in h, während es im intervokalischen Inlaut ausfiel und nur im absoluten Auslaut erhalten blieb. Außerdem können ähnlich klingende Laute einer Sprache zyklisch verschwinden und wiederkehren. Daher kann ein und derselbe Laut einer Sprache verschiedene Quellen haben, so z. B . das s in den finnischen Wörtern siltä 'Brücke', setä 'Onkel' und silmä 'Auge'. In silta geht es auf t zurück, das vor i zu s wird, vgl. lit. tiltas 'Brücke' mit finn. silta 'Brücke'; in setä geht es auf die alturalische palatalisierte Affrikate 6 zurück, vgl. komi-syrjän. I Ö J K sowie in der Sprache der 30

Mari vorhandenes n y i ö 'Onkel mütterlicherseits'; insilmä spiegelt es altes palatalisiertes s wider. Die erste und unerläßliche Voraussetzung f ü r Vergleiche ist also die Kenntnis der Lautentwicklung der verwandten Sprachen. I n der Geschichte der Sprachwissenschaft wurden oft Wörter verschiedener Sprachen wegen ihres äußerlichen Gleichklangs identifiziert. Das war methodisch ganz falsch, denn ähnlich klingende Wörter brauchen genetisch nicht identisch zu sein, so z. B. lat. satis 'genügend' und ersja-mordwin. caTH ,genügend' oder griech. rjkiog 'Sonne' und tschuwasch. xeBeJi 'Sonne'. Diese Wörter sind deswegen nicht identisch, weil Lautentsprechungen wie lateinisches s = mordwinisches s bzw. griechisches h = tschuwaschisches x fehlen. Lateinisches satis 'genügend' hängt etymologisch mit dem lateinischen Verb satiare 'sättigen' zusammen und mordwinisches caTH 'genügend' mit dem finnischen Verb saada 'bekommen, erreichen'. Was nun tschuwasch. xeBeJi ,Sonne' und griech. rjhog 'Sonne' betrifft, so hat sich tschuwaschisches x aus dem gemeinturksprachlichen