Allgemeine Sprachwissenschaft: Band 2 Die innere Struktur der Sprache [Reprint 2022 ed.] 9783112612224, 9783112612217


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German Pages 538 [552] Year 1976

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Allgemeine Sprachwissenschaft: Band 2 Die innere Struktur der Sprache [Reprint 2022 ed.]
 9783112612224, 9783112612217

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Allgemeine Sprachwissenschaft I I

Allgemeine Sprachwissenschaft Band II Die innere der

Struktur

Sprache

Von einem Autorenkollektiv unter der Leitung von

B. A. Serebrennikow Ins Deutsche übertragen und herausgegeben von

Hans Zikmund und Günter Feudel

AKADEMIE-VERLAG • B E R L I N 1975

Titel der Originalausgabe: 0 6 m e e H3tiK03aaHHe. ÜHyTpeHHHH c T p y r c r y p a n a t i K a . OTBeTCTBeHHHtt p e s a K T o p : H n e H - K o p p . AH CCCP B .

A.

CepeßpeHHHKOB

Ha^aTeJibCTBO «Hayna» MocKBa 1972

Erschienen im Akademie-Verlag, 108 Berlin, Leipziger Straße 3—4 © Akademie-Verlag • Berlin, 1975 Lizenznummer: 202 • 100/157/75 Schutzumschlag und Einband: Helga Klein Gesamtherstellung: IV/2/14 VEB Druckerei-Gottfried Wilhelm Leibniz«, 445 Gräfenhainichen/DDR • 4412 Bestellnummer: 752 702 9 (5959/2) • LSV 0805 Frinted in GDR

EVP 3 8 , -

Inhaltsverzeichnis

Vorbemerkung zur deutschen Ausgabe Vorwort KAPITEL L

IX X

Über die Begriffe Sprachsystexn und Sprachstruktur

Einführende Bemerkungen Die Verwendung der Begriffe „ System" und „ Struktur" in der modernen Wissenschaft Theoretische und methodologische Voraussetzungen des vorliegenden Kapitels und Definition der Grundbegriffe Aus der Geschichte der Erforschung der System- und Struktureigenschaften der Sprache Die Beschreibung des Sprachsystems und seiner wichtigsten Merkmale in der neueren Linguistik a) Die Frage nach der Zusammensetzung des linguistischen Systems und die inventarisierend-taxonomische Richtung seiner Erforschung b) Die funktionalen Besonderheiten des Sprachsystems und ihre Untersuchung unter teleologischem Gesichtspunkt c) Die eigentlich strukturelle Beschreibung des Sprachsystems und die Charakteristik der Sprachstruktur d) Die Differenzierung der Begriffe Sprachstruktur und Sprachsystem und die Definition des Begriffs Sprachsystem in der modernen Linguistik e) Die hierarchische Schichtung des Sprachsystems und die Stratifikationskonzeption von seiner Organisation f) Das Sprachsystem und seine Metrik KAPITEL 2

Die Ebenen der Sprachstruktur

KAPITEL 3

Die Phonologie

Gegenstand und Aufgaben der Phonologie Die Voraussetzungen einer phonologischen Beschreibung (Analyse) und einige Annahmen über ihre Durchführung Das phonologische Merkmal Das Phonem Die Segmentierung Die Identifizierung Die Klassifizierung Das Phonem und seine Realisierung Die Positionsarten

1 6 15 22 33 35 40 44 49 56 60 71

94 107 111 117 123 126 128 130 134

V

Die Beziehungen Die „Hyperphonemsituation" und ihre Beschreibung in den verschiedenen phonologischen Schulen KAPITEL 4

KAPITEL 5

Die Wortbildung

KAPITEL 6

Der Wortschatz

Die strukturelle Organisation des Wortschatzes und seiner Einheiten Zur Bestimmung des Wortschatzes und der Arten seiner Modellierung Die Besonderheiten des Wortes als einer Einheit der Sprache Die Ebene der Wortanalyse Das lexikalisch-semantische System der Sprache Die Struktur des Vokabulars

160 168 168 189 209 209 220 226 236 238 245 249 251 255 261 263 265 267 274 279 281 294

321 321 329 333 343 368

Die Phraseologie

Die Phraseologismen der Sprache. Der Gegenstand der Phraseologie Die Herausbildung der Phraseologie als einer eigenständigen linguistischen Disziplin Der Begriff der Phraseologizität und die Prinzipien für eine Beschreibung des Phraseologiebestandes einer Sprache . Der Phraseologiebestand der Sprache unter dem Aspekt seiner Stratifikationsmodellierung

VI

146

Die Grammatik

Über den Gegenstand der Grammatik Die Morphologie Die Ausdrucksarten der grammatischen Bedeutungen Die Grundeinheit der morphologischen Analyse Die Syntax Der Gegenstand der Syntax Logische Analyse der syntagmatischen Beziehungen Die syntagmatischen Bedeutungen und die Arten ihres Ausdrucks Die formale Funktion der syntagmatischen Indikatoren Die semantische Funktion der syntagmatischen Indikatoren. Der nominative Aspekt des Satzes Die propositive Nomination und die Struktur des Denotats Die zwei Funktionen der syntagmatischen Organisation des Satzes: Nennung des Ereignisses und Ausdruck der kommunikativen Aufgabe Die Wechselwirkung zwischen nominativem und kommunikativem Aspekt des Satzes Die Spezifik der propositiven Nomination Die Wechselwirkung zwischen lexikalischen und propositiven Bedeutungen . . . Der nominative Aspekt des Satzes und die syntaktischen Beziehungen Die Nomination des Ereignisses und die Aktualisierung der Äußerung Satz und Äußerung Die Beziehungen zwischen den Gliedern der Kernstruktur des Satzes Die grammatischen Kategorien und die Formen des Satzes Die paradigmatischen Beziehungen in der Syntax

KAPITEL 7

136

374 379 382 395

Die mit der Spezifik der Bezeichnenden der Wörter gekoppelte unfreie Verknüpfbarkeit Die durch die Gebundenheit der Bezeichneten der Wörter bedingte unfreie Verknüpf barkeit Die unfreien Redeeinheiten KAPITEL 8

405 411 426

Die Sprachtypologie

Der Begriff des Sprachtyps Die Geschichte der Typologieforschung Einige Richtungen der gegenwärtigen Typologieforschung

430 438 444

KAPITEL 9

452

D a s P r o b l e m d e r sprachlichen Universalien

Literaturverzeichnis Zu Kap. 1: Zu Kap. 2 : Zu Kap. 3 :

467 467 476 480

Zu Kap. 4,1:

485

Personenregister

517

Zu Zu Zu Zu Zu Zu Zu

Kap. Kap. Kap. Kap. Kap. Kap. Kap.

4,2: 4,3: 5: 6: 7: 8: 9:

486 489 494 502 507 509 515

Die Kapitel 1, 2 und 9 sind von Günter Feudel und die Kapitel 3 bis 8 von Hans Zikmund übersetzt worden. Hans Zikmund hat auch das Personenregister zusammengestellt.

Vtl

Vorbemerkung zur deutschen Ausgabe

Von den drei Bänden des Werkes „Allgemeine Sprachwissenschaft", die vom 1970 bis 1973 in Moskau erschienen sind, wird nunmehr auch der zweite Band in deutscher Fassung vorgelegt. Die deutsche Ausgabe entspricht bis auf wenige, von den Autoren inzwischen selbst vorgenommene Änderungen dem russischen Original. Die Autoren des Buches danken den deutschen Herausgebern HansZikmund und Günter Feudel, die nicht nur die Übertragung des schwierigen, an linguistischen Fachtermini reichen Textes erfolgreich bewältigt, sondern auch die Bibliographien auf die jeweiligen Originaltitel bzw. ihre deutschen Übersetzungen umgestellt haben. Der zweite Band behandelt die aktuellsten sprachlichen Probleme, die mit den Begriffen „Sprachsystem" und „Sprachstruktur" zusammenhängen, sowie die wichtigsten Probleme der Phonologie, Morphologie, Syntax, Lexik, Phraseologie und Sprachtypologie. Die Autoren hoffen, daß die vorliegende Übersetzung weiteren Leserkreisen die Möglichkeit bietet, tiefer in die Besonderheiten der Sprachstruktur einzudringen, die zu den wichtigsten Wesensmerkmalen der Sprache gehört. Inzwischen wurde auch die deutsche Fassung des dritten, abschließenden Bandes, der den Methoden linguistischer Forschung gewidmet ist, dem Verlag der Akademie der Wissenschaften der DDR zum Druck übergeben. Moskau, den 24. Juni 1975

B. A. Serebrennikow Korrespondierendes Mitglied. der AdW der U d S S R

IX

Vorwort

Der vorliegende Band ist die organische Fortsetzung des im Original 1970 mit dem Untertitel „Existenzformen, Funktionen und Geschichte der Sprache"' herausgegebenen ersten Bandes. Er umfaßt im Grunde ein einziges großes Thema, nämlich die mit der inneren Beschaffenheit der Sprache zusammenhängenden Probleme. Kapitel 1 („Über die Begriffe Sprachsystem und Sprachstruktur") behandelt eingehend alle Gesichtspunkte, die mit der Bestimmung dieser zwei Hauptbegriffe der gegenwärtigen Sprachwissenschaft zusammenhängen. Die Verfasser erheben nicht den Anspruch, das schwierige Problem der Differenzierung zwischen System und Struktur in der Sprache gelöst zu haben, aber ihr Lösungsvorschlag, nämlich die natürlichen Etappen der Objekterkenntnis — von der Feststellung der Elemente und ihrer Zusammenhänge bis zur Betrachtung des Objekts als einer ganzheitlichen Systemorganisation — einzuhalten, verdient zweifellos Beachtung. Nicht minder wichtig ist das Problem der Sprachebenen. Seiner Klärung ist Kapitel 2 („Die Ebenen der Sprachstruktur") gewidmet, dessen Verfasser eine weitgehend originelle Konzeption vorlegen, wobei sie vor allem auf die Möglichkeit Wert legen, die Einheiten jeder Ebene exakt zu bestimmen und die auf der jeweiligen Ebene spezifischen Eigenschaften und Besonderheiten dieser Einheiten festzustellen. Die Kapitel 3—7 beschreiben die verschiedenen Bereiche der Sprache (Phonologie, Grammatik, Wortbildung, Wortschatz und Phraseologie). Die Morphologie und die Syntax bilden den Gegenstand von Kapitel 4 („Die Grammatik"). I n diesen Kapiteln suchen die Autoren zu klären, inwieweit das von ihnen gewählte Gebiet auf den Begriff der sprachlichen Ebene zutrifft und worin die Spezifik ihres Gebiets besteht. Diese Kapitel behandeln auch verschiedene andere Probleme der Phonologie, der Morphologie, der Wortbildung, der Syntax, des Wortschatzes und der Phraseologie. Allerdings werden hier nicht sämtliche Probleme jedes der genannten Bereiche erschöpfend behandelt. Wegen des begrenzten Umfangs des Bandes durften die Autoren selber die wichtigsten Probleme auswählen. So rückten sie oft gerade diejenigen Probleme in den Mittelpunkt, die für die Sprachwissenschaft heute am interessantesten sind. Das zeigt sich am deutlichsten in Kapitel 2 („Die Ebenen der Sprachstruktur") und Kapitel 4 in den Abschnitten „Die Morphologie" und „Die Syntax", etwas auch in Kapitel 3 („Die Phonologie"). Aus der Vielzahl der morpholo-

X

gisehen Probleme werden im Grunde nur zwei behandelt, nämlich die Arten des Ausdrucks der morphologischen Bedeutungen und die kleinste Einheit der morphologischen Analyse. Der Abschnitt „Die Syntax" behandelt am ausführlichsten die Probleme der strukturellen und der semantischen Syntax, während das Kapitel „Die Phonologie" insbesondere die verschiedenen Möglichkeiten zur Beschreibung des phonologischen Systems einer Sprache charakterisiert. Sehr viele verschiedene Probleme sind in den Kapiteln über den Wortschatz, die Phraseologie und die Wortbildung erörtert. Kapitel 8 („Die Sprachtypologie") erläutert die Begriffe Mikrotyp oder Typ in der Sprache und Typ der Sprache als die vom Forscher gewählte Summe von Mikrotypen. Die Bestimmung des Begriffs Typ ist besonders wichtig, denn trotz intensiver Entfaltung der Typologieforschung in der neueren Sprachwissenschaft bleibt der Begriff des Sprachtyps nach wie vor äußerst verschwommen und unklar. Der nicht exakt bestimmte Begriff des Sprachtyps ist die Ursache für die chaotische Vielfalt der typologischen Untersuchungen und für die uneinheitliche Auffassung des Wesens und der Ziele der Typologieforschung. Der Verfasser von Kapitel 9 („Das Problem der sprachlichen Universalien") ist bemüht, den in der neueren Sprachwissenschaft ebenfalls nicht besonders exakten Begriff der sprachlichen Universalien genauer zu bestimmen. Die Verfasser aller Kapitel wissen sehr wohl, wie kompliziert die hier erörterten Probleme sind. Es ist ihnen gewiß nicht gelungen, alles befriedigend zu behandeln und zu lösen, sie halten aber ihre Aufgabe für erfüllt, wenn die hier vorgetragenen Thesen dazu beitragen, das Wesen der aufgeworfenen Probleme schärfer ins Auge zu fassen oder ihre weitere Erforschung rationeller zu betreiben. I n den Kapiteln werden also nicht sämtliche Probleme des jeweiligen Themas, sondern jeweils nur die wichtigsten behandelt, die die erörterten Erscheinungen in allgemeinen Zügen erklärbar machen. Auch die (kapitelweise angeordneten) Literaturverzeichnisse sind daher keineswegs vollständig und für das jeweilige Problem erschöpfend; sie enthalten nur Literaturangaben, die mit dem vom Verfasser in dem betreffenden Kapitel erörterten Problem unmittelbar zusammenhängen. Der vorliegende Band wurde von Mitarbeitern des Bereichs Allgemeine Sprachwissenschaft des Instituts für Sprachwissenschaft der Akademie der Wissenschaften der UdSSR verfaßt. Die Gesamtleitung lag in den Händen des Leiters dieses Bereichs, des Korrespondierenden Mitglieds der Akademie der Wissenschaften der UdSSR B. A. Serebrennikow. Von außerhalb wirkte G. P. Melnikow, Mitarbeiter der Moskauer staatlichen Lomonossow-Universität, mit. Die Verfasser der einzelnen Kapitel der Monographie sind: von Kapitel 1 („Über die Begriffe des Sprachsystems und der Sprachstruktur") J . S. K u b r j a kowa und G. P. Melnikow, von Kapitel 2 („Die Ebenen der Sprachstruktur") T. W. Bulygina und G. A. Klimow, von Kapitel 3 („Die Phonologie") W. I. Postowalowa, vom Abschnitt „Der Gegenstand der Grammatik" in Kapitel 4 („Die Grammatik") T. W. Bulygina, vom Abschnitt „Die Morphologie" (desselben Kapitels) T. W. Bulygina, die den Teil „Die Ausdrucksarten der grammatischen Bedeutungen", und N. D. Arutjunowa, die den Teil „Die Grundein-

XI

heit der morphologischen Analyse" verfaßte, vom Abschnitt „Die Syntax" (desselben Kapitels) N. D. Arutjunowa, von Kapitel 5 („Die Wortbildung") J . S. Kubrjakowa, von Kapitel 6 („Der Wortschatz") A. A. Ufimzewa, von Kapitel 7 („Die Phraseologie") W. N. Telija, von Kapitel 8 („Die Sprachtypologie") M. A. Shurinskaja und von Kapitel 9 („Das Problem der sprachlichen Universalien") G. W. Kolschanski. Der wissenschaftliche Apparat des Bandes enthält bibliographische Verzeichnisse zu jedem Kapitel einschließlich der Angaben über die benutzte Literatur. Die Verweisungen auf die benutzten Quellen erscheinen im Text als Zahlenangaben, die sich auf die Zahlen in den bibliographischen Verzeichnissen beziehen; in eckigen Klammern bezeichnet die erste Zahl den jeweiligen Titel, die zweite nach einem Komma die Seite; bei Verweisungen auf mehrere Titel sind deren Zahlen durch ein Semikolon getrennt. Die Verfasser danken aufrichtig den Gutachtern Prof. N. A. Sljussarewa und Prof. J . S. Stepanow, die die Drucklegung des Bandes durch ihre Ratschläge und konkreten Hinweise sehr förderten.

KAPITEL 1

Über die Begriffe Sprachsystem und Sprachstruktur*

Einführende

Bemerkungen

Es gibt wohl gegenwärtig kaum einen Wissenschaftszweig, dessen fortschreitende Entwicklung nicht in der einen oder anderen Weise mit der Verwendung der Begriffe System und Struktur verbunden wäre. Die Erforschung der System- und Struktureigenschaften ihres Gegenstandes ist zu einer zentralen Aufgabe der meisten theoretischen Disziplinen geworden, die — nach Maßgabe ihrer Entwicklung — von der einfachen Beschreibung unmittelbar beobachtbarer Fakten zu deren Klassifizierung übergehen und — bei weiterer Präzisierung ihres Untersuchungsfeldes — nach Erkenntnis nicht unmittelbar sichtbarer Eigenschaften ihres Gegenstandes und seiner Organisationsprinzipien streben. Zahlreiche Fachleute haben hervorgehoben, daß „System- und Strukturforschungen eine spezifische Wissenschaftstendenz der Mitte des 20. J a h r h u n derts bilden" [101, 41/2] und daß „jedes moderne wissenschaftliche Wissen in letzter Instanz nichts anderes ist als Wissen von Strukturen und Systemen" [82, 28]. Zur Bestätigung dieser Feststellungen lassen sich zahlreiche unbestreitbare Tatsachen anführen. I n der theoretischen Physik wird die Struktur der Elementarteilchen erforscht; in der Kybernetik werden Steuerungssysteme analysiert; in der Biologie steht jetzt die Struktur des genetischen Kodes im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit; die Mediziner erforschen alle Systeme, die eine normale Funktionsweise des lebendigen Organismus gewährleisten — das Kreislaufsystem, das Nervensystem usw.; die Soziologen untersuchen die Gesellschaftsstruktur, die Psychologen — die Struktur der menschlichen Tätigkeit. Die Liste der Wissenschaften und Wissenschaftsgebiete, die verschiedene Gegenstände vom Standpunkt der Struktur bzw. als bestimmte Systeme erforschen, ließe sich noch weiterführen. Auch die strukturellen Methoden selbst werden Gegenstand spezieller Forschungen : Seit Mitte des 20. Jahrhunderts werden sie auf verschiedenartigen wissenschaftlichen Konferenzen und Symposien erörtert [78; 79; 91; 218; 229]; über ihre theoretischen Grundlagen diskutieren Physiker [10; 24; 179; 170; 208; 209], Mathematiker [12; 20; 159; 223; 47], Biologen [5; 98; * Die Abschnitte I, III und IV dieses Kapitels wurden von J. S. Kubrjakowa gemeinsam mit G. P. Melnikow verfaßt, mit dem auch die Gesamtanlage des Kapitels diskutiert und seine Grundrichtung festgelegt wurde. Verfasser der Abschnitte II und V ist J. S. Kubrjakowa. Den Schluß von Abschnitt V (S. 66-70) hat G. P. Melnikow verfaßt.

1

127; 154; 146], Soziologen [8; 244; 229; 180; 83], Linguisten [207; 228; 229; 46; 96; 116], Philosophen [6; 13; 39; 91; 102; 123; 200; 104; 191] u . a . Mitte der 50er J a h r e wurde in den USA sogar eine Gesellschaft zur Ausarbeitung einer allgemeinen Systemtheorie gegründet, die ein eigenes periodisches Organ herausgibt (Näheres über ihre Tätigkeit vgl. [115, 49—52; 59; 176]). Etwa zur gleichen Zeit bildeten sich besondere Zweige der Mathematik, der Technik und einiger anderer Wissenschaften heraus, die bestimmte Arten von Systemen bzw. Strukturen zu ihrem alleinigen Forschungsgegenstand erklärten (vgl. die Strukturtheorie in der Algebra, die Systemtechnik in der Industrie, die strukturelle Linguistik in der Sprachwissenschaft usf.). Die strukturelle Modellierung entwickelte sich zu einer besonderen Methode der Erkenntnis der Eigenschaften eines Gegenstandes (vgl. [9; 85, 83—95; 134; 93]). All das bedeutet jedoch nicht so sehr, daß die Erforschung verschiedenartiger Strukturen und Systeme sich noch in der Anfangsetappe befindet, sondern vielmehr, daß die Ergebnisse einer vielseitigen und fruchtbaren Tätigkeit auf verschiedenen Wissenschaftsgebieten nunmehr verallgemeinert werden können. Dem ging eine langwährende Periode der Vorbereitungsarbeit voraus, in der die Voraussetzungen für die neue Methode der Analyse von Objekten der Wirklichkeit geschaffen und entwickelt wurden. Man kann zwar sagen, daß die Mitte der 50er J a h r e des 20. Jahrhunderts einen Wendepunkt in der Geschichte der Struktur- und Systemforschung darstellt, denn seit dieser Zeit werden diese Begriffe auf einen immer breiteren Kreis von Erscheinungen angewandt, ferner wird seitdem auch die m e t h o d o l o g i s c h e S e i t e der entsprechenden Forschungen aktiv herausgearbeitet. Indes entstanden die theoretischen Grundlagen der neuen Methode faktisch viel früher. Es sei in diesem Zusammenhang nur an die grundlegenden Ideen der Gestaltpsychologie [108; 102,229ff], des Organizismus und Holismus in der Biologie [98, 83ff; 102, 106ff.] sowie des Strukturalismus in der Linguistik erinnert. Dabei ist interessant, daß die weitgehende wechselseitige Abhängigkeit dieser drei Richtungen und die unbestreitbare Gemeinsamkeit ihrer theoretischen Positionen auch den Anhängern der neuen Methoden nicht verborgen blieben. Bereits zu Beginn der 30er J a h r e hob N. S. Trubetzkoy die gleichartige Entwicklungsrichtung der Physik, Chemie, Biologie und anderer Wissenschaften hervor, als er von der Tendenz sprach, „den Atomismus durch den Strukturalismus und den Individualismus durch den Universalismus zu ersetzen" [237, 245]; V. Brondal nannte unter den Quellen des Strukturalismus die klassischen Arbeiten auf dem Gebiet der Gestaltpsychologie zu Beginn der 20er J a h r e [160, 41]. Ähnlich äußerten sich R. Jakobson [196] und E. Cassirer [165] (vgl. auch [30, 28/9]. Die Vorzüge der neuen Methode sahen ihre Begründer und Anhänger darin, daß es mit Hilfe der Begriffe System und Struktur möglich werde, die allgemeine Gleichartigkeit im Aufbau des Weltalls, die einheitlichen Prinzipien seiner Beschaffenheit und die verborgenen Eigenschaften der verschiedenen Objekte aufzudecken und die Ursachen für ihre Entstehung zu erklären. Zugleich wurde hervorgehoben, daß die neue Methode ihrem Wesen nach der einseitigen, 2

ausschließlich stofflichen Qualifizierung und Klassifizierung der Erscheinungen entgegengesetzt ist und — was das Wichtigste ist — daß sie den Übergang von der fragmentarischen und zersplitterten Vorstellung von der uns umgebenden Wirklichkeit zum Verständnis ihrer Einheit und Ganzheit ermöglicht. Indes wurde bei der Entwicklung dieser Methode die Rolle der marxistischen Theorie außerhalb der Sowjetunion unterschätzt. Nur einzelne Wissenschaftler beachteten, daß zwischen den von ihnen ausgearbeiteten Methoden und den von den Klassikern des Marxismus begründeten Methoden eine gewisse Parallelität besteht [182, 297; 147]. I n Wirklichkeit wurden jedoch, wie neueste Untersuchungen überzeugend bewiesen haben [75,19—21; 200; 204; 191], „die Prinzipien der System- und Strukturforschung durch die gesamte vorangegangene, sich auf die Dialektik stützende fortschrittliche Philosophie, insbesondere durch die Philosophie Hegels, begründet, und nicht nur begründet, sondern auch bereits Mitte des vorigen Jahrhunderts in der wissenschaftlichen Forschung praktisch angewandt. Hervorragendes Beispiel für die Ausarbeitung der Methodologie der System- und Strukturforschung sind vor allem das 'Kapital' von Marx und die anderen Werke der Klassiker des Marxismus" [82, 28]. Die Natur, schrieb F. Engels in der „Dialektik der Natur", „bildet ein System, einen Gesamtzusammenhang von Körpern" [172, 355]. Aber nicht nur in der „Dialektik der Natur" wurde auf die Erkenntnis der Erscheinungen in ihrer Wechselwirkung, in ihrer Ganzheit, in ihrem engen Zusammenhang mit der ganzen Umgebung orientiert; noch klarer und umfassender geschah das bei der Analyse sozialer und ökonomischer Probleme. So schrieb K . Marx in seinem Werk „Zur Kritik der politischen Ökonomie": „In der gesellschaftlichen Produktion ihres Lebens gehen die Menschen bestimmte, notwendige, von ihrem Willen unabhängige Verhältnisse ein, Produktionsverhältnisse, die einer bestimmten Entwicklungsstufe ihrer materiellen Produktivkräfte entsprechen. Die Gesamtheit dieser Produktionsverhältnisse bildet die ökonomische Struktur der Gesellschaft" [215, 8]. I n diesem wie in anderen Werken wird das ökonomische System der Gesellschaft mit Hilfe von Kategorien wie V e r h ä l t n i s und S t r u k t u r beschrieben; besonders gründlich werden hier auch Begriffe wie Form und Ganzes entwickelt. I m „Kapital" analysiert K . Marx tiefschürfend die kapitalistische Gesellschaft als ein „ganzheitliches System mit eigener innerer Organisation, mit Struktur" [82, 29]. Somit liegen die Quellen der Lehre von der entscheidenden Rolle des Systems als eines Ganzen in bezug auf seine Teile, vom System als der Einheit seiner Struktur und Funktion, von der Struktur als einer bestimmten Gesamtheit von Beziehungen usw. ebenso wie die Quellen der methodologischen Prinzipien der System- und Strukturforschungen vor allem in den erwähnten fundamentalen Werken, in denen die konkrete Anwendung der neuen Methode auf die komplizierten Objekte der Wirklichkeit erstmals erprobt wurde. Wir stellen uns in diesem Kapitel nicht das Ziel, die Entwicklungsgeschichte der Begriffe „System" und „Struktur" darzustellen. Es bedarf sicher auch noch einer ganzen Reihe analoger Arbeiten, bis sich der Anteil eindeutig be3

•stimmen läßt, den die Linguistik an der Ausbildung der neuen Methode und der entsprechenden Begriffe gehabt hat. Vorgreifend soll jedoch die Aufmerksamkeit darauf gelenkt werden, daß die Sprachwissenschaft bei der Entwicklung der strukturellen Methode eine besondere Rolle gespielt hat. Jedenfalls wurde sie hier bereits angewendet, bevor noch ihre Grundlagen in der Erkenntnistheorie und Philosophie im einzelnen geklärt worden waren. Die Sprachwissenschaft entwickelte als eine der ersten Wissenschaften hinreichend allgemeine u n d handhabbare Definitionen von Ausgangsbegriff er, besonders des Strukturbegriffs (s. unten), und wies auf die Notwendigkeit hin, diesen Begriff streng von anderen, benachbarten Begriffen abzugrenzen. Die Geschichte der Verwendung dieser Begriffe, die in anderen Wissenschaften in der Regel nur bis in die jüngste Vergangenheit zurückreicht, umfaßt in der Linguistik einen längeren und sehr wichtigen Zeitraum, der noch spezielle Untersuchungen erfordert. Der Prozeß der Ausbildung der Begriffe „System" u n d „Struktur" ist in der Linguistik noch nicht abgeschlossen. Das erklärt sich wohl aus der Spezifik des Gegenstandes der Linguistik. Einerseits ist die Sprache als kompliziertes Objekt nicht unmittelbar in der direkten Erfahrung gegeben, •sondern sie manifestiert sich in mannigfaltigen, komplizierten „Erscheinungsformen". Andererseits weist sie so vielseitige Abhängigkeiten und Beziehungen auf, daß Methoden, die nur auf einfacher unmittelbarer Beobachtung ihrer „Erscheinungsformen" beruhen, sich sehr bald selbst überleben. Nur soweit sie in Denkmälern oder anderweitig fixiert ist, wird die Sprache überschaubar und der Analyse und Bearbeitung zugänglich. Schließlich weist sie Besonderheiten auf, die, wenn auch intuitiv, als unbedingte Attribute ihres Systemcharakters wahrgenommen werden. Das von der Linguistik angehäufte reiche empirische Material bedarf mehr als in anderen Wissenschaftszweigen der Verallgemeinerung und der Klassifizierung von verschiedenen Gesichtspunkten aus. I n der Linguistik besteht eine andere Lage als in vielen exakten Wissenschaften. Während dort die Anwendung von Systemmethoden und Methoden der Strukturanalyse faktisch auf einem sehr hohen Niveau steht, kann das Niveau der philosophischen Durchdringung dieser Methodik keineswegs befriedigen. I n der Linguistik ist es eher umgekehrt: Hier herrscht in jeder Weise das Bestreben, die Zweckmäßigkeit und innere Logik der angewandten Forschungsmethoden und der bei der Beschreibung der Erscheinungen verwandten Termini zu begründen. Die wissenschaftlichen Grundlagen der neuen Methode sind daher in der Linguistik viel klarer als in vielen anderen Wissenschaften, ja sie könnten für diese sogar von Nutzen sein. Die Möglichkeit, die sprachliche Substanz verhältnismäßig leicht von den Verhältnissen abzugrenzen, die die sprachlichen Elemente eingehen, die langen Traditionen bei der Beschreibung sprachlicher Fakten und schließlich die bereits vorliegenden Erfahrungen rein struktureller (relationeller) Analyse — all das gestattet es gegenwärtig, die Grundprinzipien für die Erforschung der Sprache als eines spezifischen Systems mit einmaliger Struktur präziser zu formulieren. Das ermöglicht es der Linguistik auch, die Ausgangsbegriffe nicht «infach von anderen Wissenschaftsgebieten zu entlehnen und fertig zu übernehmen, sondern sie entsprechend ihren eigenen Vorstellungen von der Eigenart 4

des Gegenstandes Sprache kritisch zu interpretieren und eigene spezielle Methoden der Struktur- und Systemforschung zu entwickeln. Seit der Zeit, da in der Linguistik mit der Erforschung der Sprache als eines Systems begonnen wurde, haben sich wichtige Veränderungen vollzogen. Die Beziehungen zu anderen Wissenschaften haben sich erweitert und vermehrt, neue Forschungsgebiete sind entstanden, die Technik der linguistischen Analyse wurde vervollkommnet und unser Wissen von der Sprache wurde durch wichtige Erkenntnisse über die Besonderheiten der sprachlichen Einheiten und der Beziehungen zwischen ihnen vertieft. Die verschiedenen Aspekte der kommunikativen Tätigkeit und der Funktionsweise der Sprache wurden von neuen Positionen aus untersucht. Das führte dazu, daß die Begriffe „System" und „Struktur" zu theoretischen Grundbegriffen der Disziplinen insgesamt wurden. Indes wird die These vom Systemcharakter der Sprache und von der Bedeutung der Erforschung ihrer Struktur, die heute von den Linguisten verschiedener Schulen und Richtungen fast uneingeschränkt anerkannt wird, bei der konkreten Forschungsarbeit keineswegs einheitlich interpretiert, ist der reale Inhalt, der diesen Termini beigelegt wird, keineswegs identisch (Näheres s. unten). Diese Situation führt nicht nur zu einem terminologischen Wirrwarr, sondern erschwert auch die Ausarbeitung von Regeln zur Sprachbeschreibung und von Prinzipiell für ihren Vergleich. Es bleibt auch weitgehend unklar, wie die konkrete Beschreibung des Sprachsystems aussehen und auf welche Fragen sie Antwort geben soll, wenn anerkannt wird, daß die einzelnen Teile des Sprachsystems sich alle wechselseitig bedingen. Unklar ist bei einer solchen Beschreibung auch die Rolle der rein strukturellen Charakteristik der Sprache usw. Die ganze linguistische Richtung, die die Erforschung der Sprache a l s S y s t e m in den Mittelpunkt gestellt hat, sich selbst aber dessenungeachtet als s t r u k t u r e l l bezeichnet, hat keineswegs eine endgültige Antwort auf die Frage gegeben, worin der grundsätzliche Unterschied zwischen Sprachsystem u n d Sprachstruktur besteht und ob er für die Theorie und Praxis linguistischer Forschungen überhaupt wesentlich ist. Die Vertreter der Sprachwissenschaft, die die verschiedenartigsten Erscheinungen als strukturell qualifizieren und den Systemcharakter der Sprache bald in dem einen F a k t , bald wiederum in ganz anderen Fakten nachzuweisen suchen, definieren nicht nur die Kategorien System und Struktur völlig verschieden, sondern stellen selbst die Möglichkeit, die Sprache als einheitliches, globales System, als ein over-all system, zu beschreiben, in Frage. Doch weder die Erfolge der modernen Sprachwissenschaft noch ihre teilweisen Mißerfolge auf diesem Gebiet waren ein Zufall. Die Linguistik teilte u n d teilt die Schwierigkeiten bei der Ausbildung ihrer neuen Methode mit den anderen Wissenschaften; diese Schwierigkeiten sind ganz natürlich, denn es gilt, die neuen Kenntnisse mit den alten in Einklang zu bringen und beide organisch miteinander zu verbinden. Ebenso wie für die anderen Wissenschaften ist es auch für die Linguistik höchst unbefriedigend, daß die Grundlagen der Methodologie für eine allgemeine Systemtheorie bzw. eine allgemeine Strukturtheorie noch nicht ausgearbeitet sind. 2 Serebrennikow II

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Und dennoch kann man der Auffassung schwerlich beipflichten, daß es „zur Zeit überhaupt keine befriedigenden, weitgehend anerkannten Systeinund Strukturbegriffe gibt" [135, 20]. Es sind zahlreiche sowohl „weitgehend anerkannte" als auch durchaus „befriedigende" Begriffe gebildet worden. Etwas anderes ist es, wenn der Gebrauch dieser Begriffe in den verschiedenen Disziplinen nicht immer übereinstimmt und wenn die Termini „Struktur" und „System" häufig synonym gebraucht oder nur intuitiv, bei der Anwendung auf verschiedene Objekte oder in bestimmten Zusammenhängen unterschieden werden. Es wäre daher genauer, weniger vom Fehlen adäquater B e g r i f f e als vielmehr vom Fehlen allgemein anerkannter und genügend aussagekräftiger D e f i n i t i o n e n zu reden, die es erlauben würden, den inhaltlichen Umfang der einen Kategorie von dem der anderen abzugrenzen. Aber auch diese Situation widerspricht zweifellos den progressiven Tendenzen der modernen Wissenschaft nach Vereinheitlichung der Terminologie, nach Synthese der Wissenschaften, nach Verallgemeinerung der Erfahrungen der einzelnen Wissenschaftszweige in einheitlichen Termini und — im weiteren Sinne — nach Entwicklung allgemein methodologischer Voraussetzungen für die wissenschaftliche Forschung. Während bis vor kurzem noch viele Forscher ganz auf den Versuch verzichteten, ihren Analysen eine Ausgangsdefinition für die Termini „System" bzw. „Struktur" vorauszuschicken (vgl. [29, 7]), wird heute in der Fachliteratur immer nachdrücklicher die Forderung erhoben, jeder konkreten Untersuchung die methodologischen Prinzipien voranzustellen, auf denen sie basiert [100, 169]. Bevor wir das in unserer Arbeit tun (vgl. S. 15—22), halten wir einen kurzen Überblick für angebracht, wie diese Begriffe in der modernen Wissenschaft aufgefaßt und definiert werden. Wir meinen, daß dieser Überblick nicht nur ein Minimum an Kenntnissen zu vermitteln vermag, ohne die Forschungen zu Begriffen wie „System" und „Struktur" überhaupt nicht auskommen können. Noch wichtiger dürfte dieser Überblick aber f ü r die Klärung der allgemeinen Prinzipien einer einheitlichen System- und Strukturtheorie sein, die bereits herausgearbeitet werden und auf denen jede Teiltheorie aufbauen muß. Darüber hinaus werden wir bei der Behandlung der verschiedenen Standpunkte und Auffassungen zu diesen Kategorien bemüht sein, das auszuwählen und hervorzuheben, was später in der Theorie und Praxis der sprachwissenschaftlichen Arbeit verwertet werden kann.

Die Verwendung in der modernen

der Begriffe „System," und Wissenschaft

„Struktur"

Die getrennte Entwicklung einer Reihe von Wissenschaften führt nicht selten dazu, daß ähnliche Ideen in verschiedenen Wissensgebieten einen unterschiedlichen Ausdruck finden, oder umgekehrt, daß unterschiedliche theoretische Ausgangspositionen durch eine ähnliche Terminologie verschleiert werden. Beide Vorgänge vermag die Geschichte der Termini „System" und „Struktur" zu veranschaulichen. Empirisch in verschiedenen Wissenschaftszweigen ver6

Und dennoch kann man der Auffassung schwerlich beipflichten, daß es „zur Zeit überhaupt keine befriedigenden, weitgehend anerkannten Systeinund Strukturbegriffe gibt" [135, 20]. Es sind zahlreiche sowohl „weitgehend anerkannte" als auch durchaus „befriedigende" Begriffe gebildet worden. Etwas anderes ist es, wenn der Gebrauch dieser Begriffe in den verschiedenen Disziplinen nicht immer übereinstimmt und wenn die Termini „Struktur" und „System" häufig synonym gebraucht oder nur intuitiv, bei der Anwendung auf verschiedene Objekte oder in bestimmten Zusammenhängen unterschieden werden. Es wäre daher genauer, weniger vom Fehlen adäquater B e g r i f f e als vielmehr vom Fehlen allgemein anerkannter und genügend aussagekräftiger D e f i n i t i o n e n zu reden, die es erlauben würden, den inhaltlichen Umfang der einen Kategorie von dem der anderen abzugrenzen. Aber auch diese Situation widerspricht zweifellos den progressiven Tendenzen der modernen Wissenschaft nach Vereinheitlichung der Terminologie, nach Synthese der Wissenschaften, nach Verallgemeinerung der Erfahrungen der einzelnen Wissenschaftszweige in einheitlichen Termini und — im weiteren Sinne — nach Entwicklung allgemein methodologischer Voraussetzungen für die wissenschaftliche Forschung. Während bis vor kurzem noch viele Forscher ganz auf den Versuch verzichteten, ihren Analysen eine Ausgangsdefinition für die Termini „System" bzw. „Struktur" vorauszuschicken (vgl. [29, 7]), wird heute in der Fachliteratur immer nachdrücklicher die Forderung erhoben, jeder konkreten Untersuchung die methodologischen Prinzipien voranzustellen, auf denen sie basiert [100, 169]. Bevor wir das in unserer Arbeit tun (vgl. S. 15—22), halten wir einen kurzen Überblick für angebracht, wie diese Begriffe in der modernen Wissenschaft aufgefaßt und definiert werden. Wir meinen, daß dieser Überblick nicht nur ein Minimum an Kenntnissen zu vermitteln vermag, ohne die Forschungen zu Begriffen wie „System" und „Struktur" überhaupt nicht auskommen können. Noch wichtiger dürfte dieser Überblick aber f ü r die Klärung der allgemeinen Prinzipien einer einheitlichen System- und Strukturtheorie sein, die bereits herausgearbeitet werden und auf denen jede Teiltheorie aufbauen muß. Darüber hinaus werden wir bei der Behandlung der verschiedenen Standpunkte und Auffassungen zu diesen Kategorien bemüht sein, das auszuwählen und hervorzuheben, was später in der Theorie und Praxis der sprachwissenschaftlichen Arbeit verwertet werden kann.

Die Verwendung in der modernen

der Begriffe „System," und Wissenschaft

„Struktur"

Die getrennte Entwicklung einer Reihe von Wissenschaften führt nicht selten dazu, daß ähnliche Ideen in verschiedenen Wissensgebieten einen unterschiedlichen Ausdruck finden, oder umgekehrt, daß unterschiedliche theoretische Ausgangspositionen durch eine ähnliche Terminologie verschleiert werden. Beide Vorgänge vermag die Geschichte der Termini „System" und „Struktur" zu veranschaulichen. Empirisch in verschiedenen Wissenschaftszweigen ver6

wendet, haben diese zwei Begriffe, wie bereits betont, immer noch keine allgemein anerkannten Definitionen gefunden. Einerseits liegt das zweifellos an der Kompliziertheit dieser Begriffe selbst, die sich auf allgemeinste und wichtigste Attribute der uns umgebenden Wirklichkeit beziehen, sowie an der realen Möglichkeit, sie immer gründlicher zu erkennen. Andererseits liegt das aber auch daran, daß diese Begriffe für unterschiedliche Objekte einschließlich verschiedener Arten der Materie und vielfältigster Aspekte der menschlichen Tätigkeit verwendet wurden und werden. Daher besteht stets die Gefahr, daß Merkmale, die für einen bestimmten Typ des Systems oder der Struktur charakteristisch sind, dem Begriff des Systems oder der Struktur überhaupt zugeschrieben werden. Schließlich darf nicht übersehen werden, daß die Verwendung dieser Termini auf immer kompliziertere Objekte ausgedehnt wird. Wenn diese Kategorien zum Beispiel noch vor kurzem vorwiegend auf Objekte angewandt wurden, deren Elemente die Größenordnung von 104 bis 106 nicht überschritten (dazu gehörten insbesondere die ersten Maschinen, die Objekte der klassischen Physik, die Klassifizierungsobjekte im Tierreich usw.), so werden gegenwärtig Objekte mit 106 bis 1010 Elementen der System- bzw. Strukturforschung unterzogen. Die zunehmende Kompliziertheit der Objekte, die in das Blickfeld des Forschers rücken, ist auch dadurch bedingt, daß ihre Elemente nicht mehr statisch, sondern dynamisch sind, bzw. dadurch, daß sie im Verlauf des Funktionierens des Objekts nicht, wie das bei Aggregaten der Fall ist, unveränderlich bleiben, sondern sich umbilden. Solche komplizierten Objekte, deren Elemente nicht allein statisch, nicht durch einfache Aufzählung beschrieben werden können, sind eben die lebendigen Organismen, die Gesellschaft, das Weltall (vgl. [89; 85, 83 u. 85; 123,47]). Das Fehlen exakter Definitionen für System und Struktur läßt sich schließlich auch daraus erklären, daß in einzelnen Wissenschaften die Auffassung vertreten wird, daß eine von beiden Kategorien ausreiche. Da die Linguistik offensichtlich beide Kategorien benötigt, sind hier Auffassungen, die sich auf die Autorität dieser Wissenschaften berufen, entsprechend zu korrigieren. Nicht selten wird bei der Verwendung dieser oder jener Struktur- bzw. Systemdefinition in der Linguistik aber auch nicht genügend berücksichtigt, daß es sich in der Wissenschaft, deren Methoden übernommen werden, nicht um gegensätzliche Begriffe handelt. Indes ist für eine Reihe führender Theorien auf diesem Gebiet charakteristisch, daß die zwei Begriffe nicht unterschieden werden. Es läßt sich zum Beispiel nicht leugnen, daß die allgemeine Systemtheorie (general system theory) einen gewissen Einfluß auf die Linguistik ausübt (vgl. [142; 158; 176; 152-153; 47]). Als Ausgangsbegriff dieser Theorie, mit deren Ausarbeitung eine Gruppe angesehener Wissenschaftler mit L. Bertalanffy an der Spitze befaßt ist, dient der Systembegriff, der keineswegs dem Strukturbegriff entgegengestellt wird. In einer Reihe von Arbeiten Bertalanffys wurde das System als Komplex von Elementen, die sich in Wechselwirkung befinden, definiert [154, 199; 152; 153]. A. Hall und R. Fagen haben dagegen eingewandt, daß diese Definition die Objekttypen, auf die sie sich anwenden läßt, etwas einengt, und halten es daher für angebracht, jeden Komplex oder jede Menge von Elementen mit ihren w e c h s e l s e i t i g e n B e z i e h u n g e n bzw. ihren 2*

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Attributen als System zu betrachten [181,18], Mit anderen Worten, sie betonen, daß das System in Wirklichkeit nicht so sehr durch die direkte Wechselwirkung seiner Elemente charakterisiert wird als vielmehr durch das Vorhandensein von Beziehungen (relationships), unter denen das zu verstehen ist, was „das System zusammenhält" [181, 18]. Diese richtige, aber unvollständige Definition, die als primäres und grundlegendes Merkmal des Systems die gegenseitige B e z o g e n h e i t einführt, steht der rein mathematischen Systemdefinition sehr nahe. I n der Metamathematik zum Beispiel gilt als System S von Objekten eine „(nichtleere) Menge oder Klasse oder ein Bereich D (oder möglicherweise mehrere solcher Mengen) von Objekten, zwischen denen bestimmte Verhältnisse bestehen" [51, 29]. Ähnliche Systemdefinitionen finden sich in einer Reihe anderer Arbeiten - bei St. Bir [11, 22], bei I. A. Meltschuk [76, 148] und anderen. Obgleich die Vertreter der allgemeinen Systemtheorie auch den Terminus Struktur fortwährend verwenden und von struktureller Konformität der Welt, vom Isomorphismus der Strukturen usf. sprechen, definieren sie diesen Begriff nicht speziell, sondern meinen zumeist, daß er mit dem Systembegriff identisch und praktisch von diesem nicht unterschieden sei [142; 158, 14/5; 223]. Die Gleichsetzung der Begriffe „System" „Struktur" —> „Menge von Elementen mit Beziehungen" führt dazu, daß sowohl das System als auch die Struktur des Objekts in gleicher Weise durch den Begriff der Beziehungen definiert werden. Eben diese Bedeutung hat der Terminus „Struktur" in einer ganzen Reihe mathematischer Disziplinen, so zum Beispiel in dem noch jungen Zweig der Mathematik, der die Bezeichnung Strukturtheorie (lattice theory) erhalten hat. Von der Struktur eines Objekts wird hier dann gesprochen, wenn zwischen seinen Elementen bestimmte Beziehungen — „Schnittpunkte" oder „Vereinigungen" — bestehen (vgl. [12, 36/7]). Interessant ist, daß diese Begriffe auch von J . Cantineau und besonders von L. Prieto [3] zur Feststellung bestimmter linguistischer Strukturen benutzt wurden. Als bestimmte Menge von Beziehungen wird die Struktur auch in der theoretischen Physik zum Beispiel von A. March definiert [208, 124; 209,3]. Aus diesen exakten Wissenschaften verbreitet sich diese Strukturauffassung auch in andere Wissenschaftsgebiete. „Die Struktur eines Objekts aufzudecken", schreibt zum Beispiel B. Russell, „heißt, seine Teile und die Art und Weise festzustellen, durch die sie in wechselseitige Beziehungen treten" [226, 267]. Wenn, wie aus diesen Formulierungen hervorgeht, sowohl die Kategorie System als auch die Kategorie Struktur in gleicher Weise durch die Kategorie der Beziehung gekennzeichnet wird, dann hängt ihr Wesen von dem realen Inhalt ab, den die Forscher eben dem Terminus Beziehung beilegen. I n vielen modernen Theorien der Physik, Mathematik, Chemie u. a. werden daher nicht mehr die Begriffe System und Struktur als solche definiert, als vielmehr deren einzelne Varianten, deren Beziehungstypen in einer Formel oder Gleichung dargestellt werden können. Daher stammt offenbar die Auffassung, daß die Struktur das G e s e t z d e s Z u s a m m e n h a n g s d e r E l e m e n t e e i n e s G a n z e n sei [103, 252, 18, 206; 1 3 , 5 ; 85, 97 u. 102], Daraus folgt, daß jeder Forscher, der heutzutage Probleme des Systems und 8

der Struktur untersuchen will, vor die Notwendigkeit gestellt ist, seine Auffassung von der Kategorie B e z i e h u n g bzw. Z u s a m m e n h a n g zu formulieren; denn diese Kategorie ist ein u n a b d i n g b a r e r B e s t a n d t e i l d e r B e g r i f f e S y s t e m u n d S t r u k t u r . Wenn nun diese beiden Begriffe letzten Endes auf dem gleichen Merkmal, dem Vorhandensein eines Zusammenhangs, beruhen, dann ergibt sich naturgemäß die Frage, o b n i c h t d i e s e e i n e K a t e g o r i e z u r C h a r a k t e r i s t i k d e r b e i d e n B e g r i f f e g e n ü g t und in welchem Maße sie deren Inhalt auszuschöpfen vermag. Die Antwort auf diese Frage gaben weniger die Vertreter der exakten Wissenschaften als vielmehr die Vertreter der Naturwissenschaften, die betonen, daß ein obligatorisches Merkmal jeder Erscheinung, die als „System" oder „Struktur" bezeichnet wird, ihre G a n z h e i t ist, das heißt die Tatsache, daß sich ihre allgemeinen Eigenschaften nicht aus den Eigenschaften der einzelnen Elemente, aus denen sie sich zusammensetzt, ableiten lassen [101, 43/4; 102, 106ff.; 232; 6; 13; 22]. Systeme sind demnach Objekte, die sich durch eine bestimmte Ganzheit auszeichnen [123, 48/9; 98; 179], und die Struktur eines Objektes kann nur in bezug auf ein ganzheitliches Gebilde ermittelt werden [5, 197]. Wenn also diese beiden Begriffe ursprünglich nicht genügend voneinander abgegrenzt, sondern miteinander vermengt wurden, so erklärt sich das teilweise daraus, daß beide die A r t u n d Weise der V e r e i n i g u n g b e s t i m m t e r E l e m e n t e zu e i n e r g a n z h e i t l i c h e n u n l ö s b a r e n E i n h e i t widerspiegeln sollten und daß sie gleichermaßen der Beschreibung nicht nur ganzheitlicher, sondern auch komplizierter Objekte dienten. Mit beiden Begriffen sollten die Eigenschaften von Objekten ermittelt und charakterisiert werden, die zugleich als ganzheitliche Objekte, deren Eigenschaften sich nicht auf die Summe der Eigenschaften ihrer Elemente zurückführen lassen, aufgefaßt werden wie auch als komplizierte Objekte, als g e g l i e d e r t e G e b i l d e , die sich selbst in einzelne Bestandteile gliedern lassen. Eben als solche ganzheitlichen, aber gegliederten, ihrer allgemeinen Bestimmung nach einheitlichen, aber aus zahlreichen Elementen bestehenden Gebilde begann man den lebendigen Organismus und etwas später auch die menschliche Sprache, die menschliche Gesellschaft und ihre K u l t u r aufzufassen. E n t sprechend wurden die Begriffe System und Struktur mit all den Merkmalen verbunden, die wir bereits erwähnt haben — mit dem Merkmal, daß das Objekt als eine kompliziert organisierte Ganzheit aufgebaut ist; mit den Prinzipien der Beschaffenheit und des Funktionierens des Objektes und mit seiner Bestimmung; schließlich mit den Gesetzmäßigkeiten, nach denen bestimmte Beziehungen in einer bestimmten Substanz verkörpert sind. Parallel zur E n t wicklung dieser Auffassungen wurde die Frage nach den U r s a c h e n f ü r d i e G a n z h e i t l i c h k e i t d e r S y s t e m e aufgeworfen, die manche Wissenschaftler durch die Strukturiertheit des Objektes, durch das Vorhandensein eines Netzes bestimmter Beziehungen zu erklären begannen; der Struktur des Objektes wurde nunmehr die Ursache für die Stabilität des Systems zugeschrieben [247, 34]. Die Struktur des Objektes wurde dementsprechend als invariantes Ensemble von Beziehungen [247, 19] oder „als invarianter Aspekt des Systems" interpretiert [247, 18]. I n diesen Auffassungen kamen zum Teil schon neue 9

Tendenzen zum Ausdruck: die Auffassung von der Struktur des Objekts als Aspekt seines Systems und folglich die Herstellung einer Korrelation zwischen den Ausgangsbegriffen und die Feststellung ihrer hierarchischen Beziehungen. I n der methodologischen Literatur machte sich das Bestreben bemerkbar, die Begriffe System und Struktur nicht einfach als korrelative Begriffe zu behandeln, sondern als Begriffe, die v e r s c h i e d e n e Charakteristika der Erscheinungen und Prozesse widerspiegeln. Obgleich die Prinzipien für die Abgrenzung zwischen dem System eines Objektes und seiner Struktur bis heute noch nicht völlig geklärt sind, erfolgt diese Abgrenzung gewöhnlich in einer der folgenden drei Formen: I. Eines dieser Attribute wird als o n t o l o g i s c h e E i g e n s c h a f t des Objektes, das andere als damit verbundene gnoseologische Kategorie aufgefaßt; so wird die Strukturiertheit (das Vorhandensein eines Schemas von Beziehungen zwischen den Teilen eines Ganzen) dem Objekt selbst zugeschrieben, während das System als die Art und Weise, in der das Wissen von diesen Beziehungen fixiert ist, aufgefaßt wird. I. B. Nowik erklärt zum Beispiel die Universalität des Begriffes System durch seine „Eignung . . . zur Beschreibung der S t r u k t u r k o m p l i z i e r t e r O b j e k t e und ihres Verhaltens" [85, 86]; I. S. Alexejew hält es für erforderlich, „ein System von Kenntnissen über die Struktur des zu erforschenden Objektes" aufzubauen [7, 29] usw. Diese Formulierungen sind verfehlt, denn sie vermitteln keine klare Vorstellung von dem ontologischen Verhältnis der zu erforschenden Begriffe und lassen den falschen Gedanken aufkommen, daß das Objekt ontologisch durch eine bestimmte Struktur charakterisiert werde, die im Erkenntnisprozeß als System abzubilden sei. Wenn jedoch einem Objekt von Natur aus die Eigenschaft der Struktur zukommt, das heißt nach unserer Auffassung, wenn es durch ein bestimmtes Netz von Beziehungen verbunden ist, dann ist es auch zweckmäßig, dieses Objekt in strukturellen Termini zu beschreiben. Und wenn einem Objekt Systemeigenschaften zukommen (das sind für uns Eigenschaften, die eine Folge seiner Organisiertheit zu einem ganzheitlichen Ensemble von Elementen und Beziehungen sind), so ist ebenso die Information darüber dem Objekt nur dann adäquat, wenn sie in Systemtermini erfolgt. Das schließt keineswegs aus, daß der Mensch beliebige Struktur- und Systemmerkmale des Objekts als wirkliche, wenn auch nicht immer unmittelbar offensichtliche und ableitbare Eigenschaften in Form von konzeptionellen Systemen, von Systemen von Kenntnissen (Theorien, Hypothesen usw.) darstellt, die bereits ihre eigene Struktur besitzen. Diese konzeptionellen Systeme müssen natürlich von stofflichen, von materiellen Systemen unterschieden werden, denn ein objektiv existierendes System mit seiner Struktur ist grundsätzlich nicht mit den Systemen identisch, die diese Eigenschaften und ihre Struktur widerspiegeln, auch wenn der Grad ihrer Nähe zum Original ein Prüfstein für ihre Adäquatheit ist. Dem Wesen nach ist dieses Problem Teil des allgemeineren Problems, das das Verhältnis zwischen dem Modell eines Objekts und dem Objekt selbst (dem Original) betrifft. Das Bestreben, alle Merkmale der Strukturiertheit nicht zur Materie und ihren Formen zu rechnen, sondern zur Erkenntnislogik, ist besonders für den Neopositivismus charakteristisch, der Struktur und System ausdrücklich 10

als ausschließlich wissenschaftliche Abstraktionen hinstellt, die geeignet seien, Informationen über das Objekt zu formulieren und es zu beschreiben. Wenn jedoch irgendein konzeptionelles System geeignet ist, empirisch beobachtete Fakten zu erklären, so heißt das faktisch, daß es die Information enthält, die dem Objekt adäquat ist und das widerspiegelt, was in der Struktur dieses Objektes und in dem von ihr organisierten System real vorhanden ist (vgl. 20. Seminar „Internationale Synthese der Wissenschaften" [218; 78]). Die Feststellung, daß das System gleich „Objekt mit Struktur" ist [85, 60], ist zwar richtig, aber nicht ausreichend: I n jedem System sind neben der Struktur, durch die es organisiert wird, die Substanz, in der es verkörpert ist, und die Ziele, denen es dient und für deren Realisierung es existiert, wichtig. A. Martinet hat festgestellt, daß die meisten modernen Linguisten sich über die Zweckmäßigkeit, den Strukturbegriff auf die Sprache anzuwenden, einig sind; zugleich hat er aber auch darauf verwiesen, daß diese Übereinstimmung endet, sobald sich die Frage erhebt, wo diese Struktur zu suchen ist: Manche Wissenschaftler verstehen unter Struktur das von ihnen geschaffene M o d e l l z u r B e s c h r e i b u n g d e r B e z i e h u n g e n in der Sprache, andere meinen, die Struktur unmittelbar in der Sprache selbst suchen zu müssen [213, 454/5]. In dieser Charakteristik linguistischer Meinungsverschiedenheiten läßt sich unschwer eine direkte Parallele zu den erwähnten Diskussionen erkennen, die in anderen Wissenschaften geführt werden und mit Differenzen gnoseologischer Art zusammenhängen. Die Frage, ob die Sprachstruktur eine Definition des Objektes oder ein Konstrukt ist, das Informationen über das Objekt vermittelt, wurde auch von anderen Linguisten aufgeworfen, so von Ch. Hockett [189, 269-271], Z. Harris [183, 36], R . Wells [245, 654] u. a. (Näheres siehe [30, 30; 147, 15]). A. Martinet selbst antwortete in einer seiner jüngsten Arbeiten auf die von ihm zuvor gestellte Frage in dem Sinne, daß es „in der Sprache selbst etwas wie eine 'Struktur' nicht gibt . . .; das, was so bezeichnet wird, ist nichts anderes als ein Schema (a frame) zur Beschreibung, ausgedacht vom Linguisten, um die Klassifizierung des Materials zu erleichtern" [214, 4]. Ein analoger Standpunkt wird offenbar auch von einigen sowjetischen Sprachwissenschaftlern vertreten. Demzufolge sei die Struktur ein Konstrukt oder eine hypothetische Konstruktion des Obj ekts. Die Vorstellung von einem relationellen Gerüst des Objekts hat aber doch wohl nur dann Sinn, wenn sie dem entspricht was in der Wirklichkeit besteht. Von diesem Standpunkt aus dient der Strukturbegriff in erster Linie nicht einfach als heuristische Beschreibungsmethode, sondern er soll die Aufdeckung der ontologischen Eigenschaft des Objekts (des Zusammenhangs seiner Elemente) fördern und seinen wirklichen Status widerspiegeln. Die Sprachstruktur ist eine objektiv existierende Kategorie, das heißt eine Kategorie, die vor uns und unabhängig von unserem Bewußtsein besteht, ein Attribut, das der Sprache als solcher zukommt. Etwas anderes ist, daß diese objektive Eigenschaft, deren Vorhandensein empirisch, experimentell überprüft werden k a n n (zum Beispiel am Modell des Originals), uns nicht unmittelbar, nicht durch direkte Beobachtung zugänglich ist. Über ihre Existenz können wir nur auf Grund indirekter Angaben urteilen, die aus solchen direkten Angaben zu erschließen sind, wie sie f ü r den Linguisten der Text, der Redestrom usw. darstellen. I n dieser „er11

schlossenen", das heißt vermittelten Form kann die Struktur, die ein bestimmtes Netz von Beziehungen darstellt, — sekundär — als theoretische Konstruktion, als Strukturmodell, als Mittel zur Widerspiegelung von Eigenschaften, die außerhalb von uns und unabhängig von unserem Willen existieren usw., aufgefaßt werden. R. Wells schrieb: „Da der Stoff tatsächlich eine natürliche (natural) Struktur besitzt, kann die Wissenschaft sie früher oder später entdecken und beschreiben" [245, 654]. Ganz analog ist offenbar auch über den Begriff S y s t e m zu entscheiden, um den ähnliche Diskussionen geführt werden. So behaupten die einen, das System komme dem Objekt selbst zu; daher sei es die Aufgabe der Linguistik, es zu ermitteln; andere meinen, das System lasse sich nicht im Material entdecken und feststellen, sondern man müsse es sich denken, es erfinden usw. So entstand die Vorstellung, daß das Sprachsystem ein konzeptionelles Ergebnis der Forschung sei (das gilt für die Arbeiten von W. Allen, H. Galton, C. Borgström [144; 175; 157]). Die Unklarheit darüber, wie das Sprachsystem im konkreten Material gegeben ist, f ü h r t nicht selten dazu, daß die Definition des Sprachsystems auf die Definition eines Beschreibungsmodells reduziert wird. Die Auffassung, daß das Sprachsystem, ein Konstrukt sei, bedeutet soviel, wie es als eine Menge abstrakter Elemente darzustellen, die untereinander durch reine Beziehungen verbunden sind. Aber das Sprachsystem als reale Existenzform der Sprache und ein System zur Gewinnung von Kenntnissen von der Sprache sind doch keineswegs dasselbe. Ontologische Systeme und Begriffssysteme sind Systeme verschiedener Klassen; ein Begriffssystem zu definieren heißt daher noch nicht, die Frage nach seinem ontologischen Wesen zu beantworten. Man darf die Augen nicht davor verschließen, daß alle Elemente des Sprachsystems gewöhnlich durch bestimmte materielle und ganz konkrete Größen verkörpert werden. Sie sind es, die der Linguist beobachtet. Mit anderen Worten, der Linguist hat es nicht mit dem System als solchem, sondern mit seinen Erscheinungen (vgl. [233, 15]), nicht mit dem System, sondern mit dem, „was systemhaft ist" (vgl. [19, 52ff.]) zu tun. Die Objektivität der Existenz der Sprache ebenso wie die Objektivität der Existenz des Sprachsystems wird dadurch jedoch nicht beseitigt 1 (vgl. [109]). Was die „reinen Beziehungen" zwischen den Elementen betrifft, so wurde diese Frage von A. A. Reformatski treffend beantwortet: „Ist es logisch, die Sprache für ein System reiner Be1

Ähnliche Auffassungen über den ontologischen Status des Sprachsystems und der Sprachstruktur hat auch A. S. Melnitschuk entwickelt, dessen Artikel uns erst nach Abschluß der vorliegenden Arbeit zur Kenntnis gelangt ist. In diesem Artikel schreibt er: „. . . Struktur und System der Sprache, die bei der Beobachtung der realen Redeakte nicht unmittelbar als bestimmte Größen wahrgenommen werden können, existieren objektiv in der sprachlichen Wirklichkeit, sie kommen in den sich endlos wiederholenden Komponenten der Sprache und in den relativ stabilen Gesetzmäßigkeiten der Wechselwirkung ihrer formalen und semantischen Eigenschaften bei der Bildung der Redeakte zum Ausdruck"; „Struktur und System der Sprache, die objektiv existieren, treten somit in der unendlichen Wiederholung ihrer verschiedenen Seiten und Elemente, die jedesmal andere konkrete Erscheinungsformen annehmen, zutage" [75, 30/31],

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Ziehungen zu halten?", fragt er und antwortet: „Ja und nein. J a , weil das Glied eines Systems nicht außerhalb von Beziehungen existiert; nein, weil die Linguistik nicht nur Beziehungen zu untersuchen hat, sondern auch das, w a s s i c h a u f e i n a n d e r b e z i e h t " . . . [97, 107] (von uns hervorgehoben). 2 Somit erbringt die an und für sich sehr wichtige Gegenüberstellung der Ontologie des Objektes und der gnoseologischen Kategorien seiner Beschreibung (vgl. zum Beispiel [86, 11/2]) nichts Wesentliches für die Unterscheidung der Begriffe „System" und „Struktur" des Objekts, und schon gar nichts f ü r die Differenzierung dieser Begriffe im Hinblick auf die Sprache. I I . Ein anderer Versuch, die Begriffe System und Struktur voneinander abzugrenzen, hängt damit zusammen, daß an dem zu untersuchenden Objekt v e r s c h i e d e n e T y p e n v o n B e z i e h u n g e n unterschieden und einander gegenübergestellt werden. Dabei werden die einen Beziehungen dem System, die anderen der Struktur zugeschrieben. So schlägt G. P. Schtschedrowizki vor, alle Systeme in „Organisationen" und „Strukturen" einzuteilen; dieser Einteilung will er das Vorhandensein bzw. Pehlen von Zusammenhängen zugrunde legen. Systeme, deren Bestandteile zwar in bestimmten B e z i e h u n g e n zueinander stehen, ohne daß es jedoch Zusammenhänge (gegenseitige Abhängigkeiten) zwischen ihnen gibt, seien Organisationen; Strukturen hingegen seien S y s t e m e v o n Z u s a m m e n h ä n g e n [135, 21/2]. Abgesehen davon, daß schon der Grundbegriff „ System" unbestimmt ist, ist diese Konzeption auch für die praktische Abgrenzung von Systemen und Strukturen wenig ergiebig; denn einer Differenzierung zwischen ihnen, die auf dem Unterschied zwischen Beziehungen und Zusammenhängen beruht, fehlt es an Eihdeutigkeit (worauf G. P. Schtschedrowizki durch verschiedene Vorbehalte selbst hinweist [135, 32]); zum anderen ist auch die Gegenüberstellung von „Organisationen" und „Strukturen" nicht klar. Außerdem kann wohl überhaupt kaum von strukturlosen Systemen gesprochen werden. Die „umgekehrte" Variante einer ähnlichen Theorie vertritt G. S. Schtschur, der vorschlägt, zwischen dem System als einer Gesamtheit von Z u s a m m e n h ä n g e n und der Struktur als einer Gesamtheit von B e z i e h u n g e n zu differenzieren ; er stellt die These auf, daß „Zusammenhänge ein Attribut des Systems, Beziehungen aber ein Attribut der Struktur" seien [137, 16 u. 26]. Angesichts der Unklarheit der Definition der Beziehungen und Zusammenhänge (vgl. [40; 41; 84; 124]) erscheint die Verwendung dieses Kriteriums nicht möglich. Außerdem lassen sich offenbar in jedem ganzheitlichen und genügend komplizierten System verschiedene Typen von Beziehungen, darunter unbedingt auch bestimmte Zusammenhänge (sowohl in der Paradigmatik als auch in der Syntagmatik), beobachten. Da wir sowohl in unseren vorangegangenen als auch in den folgenden Ausführungen den Terminus „Beziehungen" häufig verwenden, wollen wir kurz auf eine mögliche Erklärung eingehen. Der Begriff „Beziehung" gehört zu den umfassendsten und allgemeinsten Kategorien, so daß eine einfache und er2

In seiner Polemik gegen L. Hjelmslevs Auffassung, daß die Beziehungen vor den „Gegenständen" existierten, weist C. Borgström zu Recht darauf hin, daß „Beziehungen und Gegenstände korrelativ eins durch das andere zu definieren sind", wobei die Gegenstände eher die Ausgangsgrößen darstellen [157, 11].

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•schöpfende Interpretation sehr schwer ist. Nach den Auffassungen, die eine •Gruppe sowjetischer Forscher entwickelt hat (vor allem A. A. Sinowjew, N. F . Owtschinnikow, I. B. Nowik, A. I. Ujomow u. a.), entsteht die Kategorie Beziehung beim Übergang von einem Gegenstand des Gedankens zum anderen und bei deren Gegenüberstellung. Der Unterschied zwischen Beziehungen und Zusammenhängen kommt dann in dem Unterschied der Klasse der logischen Folgen bei diesem Übergang zum Ausdruck. Wenn wir aus den Eigenschaften eines Objektes auf die Eigenschaften eines anderen Objektes schließen, folgern wir, daß B e z i e h u n g e n vorhanden sind. Wenn wir nämlich aus dem Vorhandensein bzw. Fehlen von Eigenschaften bei einem Objekt auf das Vorhandensein bzw. Fehlen von Eigenschaften bei einem anderen Objekt schließen können, so drückt dieser Schluß eine B e z i e h u n g aus; wenn wir aber von der Veränderung von Eigenschaften sprechen und wenn die Veränderung der Eigenschaften eines Objektes sich auf die Veränderung der Eigenschaften eines anderen Objektes auswirkt, haben wir es mit einem besonderen Typ der Beziehung, nämlich mit einem Z u s a m m e n h a n g , zu tun. Demnach sind Abhängigkeiten von Eigenschaften, die erhalten bleiben, Beziehungen, Abhängigkeiten von Eigenschaften, die sich verändern, dagegen — Zusammenhänge. Das, was auf der einen Ebene der Materie Beziehung ist, kann sich auf einer anderen, tiefer liegenden als Zusammenhang erweisen [86, 27—29]. Es gibt auch andere Auffassungen über den Unterschied zwischen Zusammenhängen und Beziehungen. So wird unter Zusammenhang von Elementen im System nicht selten ihr buchstäbliches Zusammhängen, ihre Verkettung verstanden (z. B. mechanische Zusammenhänge, Zusammenhänge, die auf Anziehungskräften beruhen, usw.). Demgegenüber werden in allen anderen Arten der Abhängigkeit Beziehungen gesehen (zum Beispiel Beziehungen der Ähnlichkeit, der Gleichheit, der Folge usw.). Diese Auffassung von Zusammenhängen und Beziehungen ist in der Linguistik ziemlich weit verbreitet, wenn es zum Beispiel heißt, daß Fusionsprozesse an den Morphemgrenzen des Wortes •einen besonderen Zusammenhang zwischen seinen Komponenten bewirken oder daß die Anordnung der Laute in der zusammenhängenden Rede zu verschiedenartigen Prozessen wechselseitiger Beeinflussung führt. Andererseits werden Erscheinungen wie Kongruenz, Rektion oder Parataxe als verschiedene Typen syntaktischer Beziehungen bezeichnet. Wenn also die Unterscheidung von Beziehungen und Zusammenhängen in einer Reihe von Fällen nicht nur praktisch möglich, sondern auch zweckmäßig ist, so ist andererseits völlig klar, daß bei der Beschreibung der Struktur eines Objektes sowohl die einen als auch die anderen berücksichtig werden müssen. Daher vertreten wir, selbst wenn wir zugeben, daß es möglich ist, Zusammenhänge und Beziehungen zu unterscheiden, die Auffassung, daß diese Abgrenzung wohl kaum der Unterscheidung von System und Struktur zugrunde gelegt werden kann. Unserer Auffassung nach sind sowohl Systeme als auch Strukturen stets Gesamtheiten sowohl von Beziehungen als auch von Zusammenhängen, Gesamtheiten beliebiger Abhängigkeiten. Der Unterschied zwischen ihnen besteht darin, daß die Struktur ausschließlich ein Netz von Beziehungen und Zusammenhängen darstellt, daß sie nichts anderes ist als ein Schema von Beziehungen. Ein System dagegen ist die 14

Gesamtheit sowohl von Zusammenhängen als auch von Elementen, zwischen denen solche Zusammenhänge bzw. Beziehungen bestehen. Jedes beliebige Objekt mit einer Struktur ist ein System, jedes System ist ein Objekt mit einer Struktur. Aber neben dem Merkmal der „Struktur" enthält das System noch andere, nicht minder wichtige Wesenszüge bzw. setzt sie voraus: Ganzheitlichkeit sowie ferner Elemente, in denen es sich manifestiert und die sich von den Zusammenhängen bzw. Beziehungen unterscheiden. Deshalb gelangen gerade diejenigen Forscher zu einer strengeren Unterscheidung der Begriffe System und Struktur, die Gesamtheiten von Zusammenhängen und Gesamtheiten von in bestimmter Weise zusammenhängenden Elementen konsequent unterscheiden. I I I . Eine dritte Art, die Begriffe Struktur und System zu differenzieren, ist der Versuch, ihr Verhältnis als Verhältnis zwischen dem Ganzen und seinen Teilen zu betrachten. Mit anderen Worten, einer dieser Begriffe — in manchen Konzeptionen das System, in anderen die Struktur — wird als der umfassendere interpretiert, als derjenige, der sich auf d i e g l o b a l e O r g a n i s a t i o n s w e i s e d e s O b j e k t e s a l s e i n e r G a n z h e i t bezieht; der andere hingegen wird als Teilglied in dieser Organisation betrachtet, und zwar als Glied, das durch ein N e t z v o n B e z i e h u n g e n zwischen den Elementen des zu untersuchenden Systems gebildet wird. Im Anschluß an die in der Linguistik vorherrschende Tradition bezeichnen wir den ersten dieser Begriffe als System und verwenden den Terminus „Struktur" für das Relationsgerüst des Objekts. Aber auch die umgekehrte Verwendung der Begriffe ist möglich (vgl. [75, 22—24]). Offenbar setzen sich aber die Konzeptionen durch, denen zufolge das System der übergeordnete und die Struktur der untergeordnete Begriff ist. Zu dieser Auffassung (mit Unterschieden im Detail) neigt gegenwärtig eine ganze Gruppe sowjetischer Philosophen (I. W. Blauberg, E. G. Judin, W. I. Swiderski, W. N. Sadowski, N. F. Owtschinnikow, W. S. Tjuchtin, W. A. Lektorski u. a. [47, 15, Eußn. 2])Wir folgen im wesentlichen dieser Auffassung von Struktur und System, für die wir noch einige zusätzliche Argumente anführen werden. Wir wollen uns nunmehr den methodologischen und theoretischen Voraussetzungen zuwenden, die wir unserer Arbeit zugrunde legen werden und von denen wir ausgehen, wenn wir die Geschichte der wichtigsten Etappen bei der Herausbildung der Begriffe „Sprachstruktur" und „Sprachsystem" behandeln und die wichtigsten Merkmale dieser Begriffe beschreiben. 3

Theoretische und methodologische des vorliegenden Kapitels und Definition der Grundbegriffe

Voraussetzungen

Eben in der Linguistik ist die paradoxe Lage eingetreten, daß das ganzheitliche Forschungsobjekt — das Sprachsystem — durch die Analyse nur eines seiner Aspekte — der Struktur — ersetzt werden soll und daß dementsprechend zur 3

Wie I. A. Meltschuk zu Becht betont [76, 151], ist dieser Terminus dem Terminus .System der Sprache' vorzuziehen.

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Gesamtheit sowohl von Zusammenhängen als auch von Elementen, zwischen denen solche Zusammenhänge bzw. Beziehungen bestehen. Jedes beliebige Objekt mit einer Struktur ist ein System, jedes System ist ein Objekt mit einer Struktur. Aber neben dem Merkmal der „Struktur" enthält das System noch andere, nicht minder wichtige Wesenszüge bzw. setzt sie voraus: Ganzheitlichkeit sowie ferner Elemente, in denen es sich manifestiert und die sich von den Zusammenhängen bzw. Beziehungen unterscheiden. Deshalb gelangen gerade diejenigen Forscher zu einer strengeren Unterscheidung der Begriffe System und Struktur, die Gesamtheiten von Zusammenhängen und Gesamtheiten von in bestimmter Weise zusammenhängenden Elementen konsequent unterscheiden. I I I . Eine dritte Art, die Begriffe Struktur und System zu differenzieren, ist der Versuch, ihr Verhältnis als Verhältnis zwischen dem Ganzen und seinen Teilen zu betrachten. Mit anderen Worten, einer dieser Begriffe — in manchen Konzeptionen das System, in anderen die Struktur — wird als der umfassendere interpretiert, als derjenige, der sich auf d i e g l o b a l e O r g a n i s a t i o n s w e i s e d e s O b j e k t e s a l s e i n e r G a n z h e i t bezieht; der andere hingegen wird als Teilglied in dieser Organisation betrachtet, und zwar als Glied, das durch ein N e t z v o n B e z i e h u n g e n zwischen den Elementen des zu untersuchenden Systems gebildet wird. Im Anschluß an die in der Linguistik vorherrschende Tradition bezeichnen wir den ersten dieser Begriffe als System und verwenden den Terminus „Struktur" für das Relationsgerüst des Objekts. Aber auch die umgekehrte Verwendung der Begriffe ist möglich (vgl. [75, 22—24]). Offenbar setzen sich aber die Konzeptionen durch, denen zufolge das System der übergeordnete und die Struktur der untergeordnete Begriff ist. Zu dieser Auffassung (mit Unterschieden im Detail) neigt gegenwärtig eine ganze Gruppe sowjetischer Philosophen (I. W. Blauberg, E. G. Judin, W. I. Swiderski, W. N. Sadowski, N. F. Owtschinnikow, W. S. Tjuchtin, W. A. Lektorski u. a. [47, 15, Eußn. 2])Wir folgen im wesentlichen dieser Auffassung von Struktur und System, für die wir noch einige zusätzliche Argumente anführen werden. Wir wollen uns nunmehr den methodologischen und theoretischen Voraussetzungen zuwenden, die wir unserer Arbeit zugrunde legen werden und von denen wir ausgehen, wenn wir die Geschichte der wichtigsten Etappen bei der Herausbildung der Begriffe „Sprachstruktur" und „Sprachsystem" behandeln und die wichtigsten Merkmale dieser Begriffe beschreiben. 3

Theoretische und methodologische des vorliegenden Kapitels und Definition der Grundbegriffe

Voraussetzungen

Eben in der Linguistik ist die paradoxe Lage eingetreten, daß das ganzheitliche Forschungsobjekt — das Sprachsystem — durch die Analyse nur eines seiner Aspekte — der Struktur — ersetzt werden soll und daß dementsprechend zur 3

Wie I. A. Meltschuk zu Becht betont [76, 151], ist dieser Terminus dem Terminus .System der Sprache' vorzuziehen.

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Erforschung der Spracherscheinungen die Ausarbeitung von ausschließlich strukturellen Methoden empfohlen wird. Das genügt aber offensichtlich nicht, um die Sprache vollständig und adäquat charakterisieren zu können; daher muß geklärt werden, welche Seiten des Objekts zu analysieren sind. Dazu lassen sieh folgende vorläufige Überlegungen anstellen: Offenbar läßt sich jedes natürliche Objekt wie auch jeder komplizierte Ausschnitt der Natur wenigstens in dreierlei Hinsicht untersuchen: a) als bestimmte Gesamtheit von E l e m e n t e n ; b) als bestimmte Gesamtheit von B e z i e h u n g e n zwischen diesen Elementen; c) als z u s a m m e n h ä n g e n d e s G a n z e s , das heißt als bestimmte Gesamtheit von E l e m e n t e n u n d B e z i e h u n g e n , eine Gesamtheit, die dadurch existiert, daß die Elemente in einer bestimmten S u b s t a n z verkörpert sind. Diese drei Aspekte entsprechen im allgemeinen den drei verschiedenen Seiten der Existenz eines Objekts — auf der Ebene der Elemente, auf der Ebene der Beziehungen und auf der Ebene des Ganzen. Diese drei Aspekte können und müssen daher auch terminologisch differenziert werden. So sprechen wir unter Verwendung der Begriffe Struktur und System in der am weitesten verbreiteten Auffassung (mit gewissen Korrekturen und Präzisierungen) von dem e l e m e n t bedingten, dem s t r u k t u r b e d i n g t e n und dem s y s t e m b e d i n g t e n Aspekt. Der Mensch steht zunächst auf Grund praktischer Bedürfnisse vor der Notwendigkeit, aus der unendlichen Welt einen endlichen und begrenzten Teil, einen einzelnen Ausschnitt der Wirklichkeit auszugliedern. Solch ein Ausschnitt aus der Wirklichkeit erscheint uns zunächst einfach als etwas Autonomes und qualitativ Besonderes. Wir versuchen dann, dieses Objekt auf der Ebene seines stofflichen Substrats zu definieren und die Gesamtheit seiner individuellen Besonderheiten zu ermitteln; dabei stellen wir vor allem diejenigen unter ihnen fest, die der Beobachtung unmittelbar zugänglich sind. Bis zu einem bestimmten Zeitpunkt werden alle festgestellten Eigenschaften dem Objekt unmittelbar selbst zugeschrieben, und es wird als besonderes Substanzgebilde aufgefaßt (zum Beispiel die Sprache — als Lautmaterial). Mit der Entdeckung einer immer größeren Anzahl verschiedener Eigenschaften beginnen einige von ihnen, sich mit den Bestandteilen des betreffenden Gebildes zu assoziieren. Daher ist die nächste Erkenntnisstufe die Aussonderung von Teilen des Objekts: Das Objekt, das als etwas Einheitliches existierte, wird nunmehr als ein kompliziertes, aus Elementen zusammengesetztes Gebilde aufgefaßt. Wenn wir, nachdem wir mit der Feststellung der integralen qualitativen Eigenschaften des Objektes begonnen haben, nun zur qualitativen Charakteristik seiner einzelnen Elemente übergehen, so verbleiben wir auf der Ebene der Substanzanalyse. Das Wesen dieses stofflich-substantiellen oder e l e m e n t b e d i n g t e n A s p e k t s (vgl. [85]) besteht in der Erkenntnis, daß die einzelnen Elemente des Objekts „Stücke" einer Substanz sind, in der Bestimmung ihrer positiven und stofflichen (physikalischen, chemischen, räumlichen usw.) Eigenschaften. Die Gliederung des Objekts als solche zeugt noch nicht von einer Änderung der Untersuchungsprinzipien. Zugleich weist die Tatsache, daß die bereits festgestellte Einheit Elemente einschließt, auf den Zusammenhang zwischen diesen Elementen, auf das Vorhandensein eines bestimmten Netzes von Beziehungen zwischen ihnen 16

hin. Mit der Erkenntnis dieses Umstandes beginnt die Erforschung der Teile des Ganzen in ihrer Wechselwirkung und die Analyse der Typen dieser Wechselwirkung (der Beziehungen, Zusammenhänge, Korrelationen, Abhängigkeiten usw.). Wenn man d a s S c h e m a d e r B e z i e h u n g e n z w i s c h e n d e n E l e m e n t e n e i n e s G a n z e n als S t r u k t u r und die Forschungsmethoden, die auf ihre Ermittlung gerichtet sind, als strukturell bezeichnet, so kann m a n sagen, daß die Verlagerung des Schwerpunktes von den Elementen auf ihre Beziehungen eben ein neues, ein s t r u k t u r e l l e s H e r a n g e h e n a n d a s O b j e k t bedeutet. Somit werden in dieser Erkenntnisetappe die Beziehungen und das Netz der Beziehungen zwischen den Elementen zum selbständigen Forschungsgegenstand. Die Besonderheiten des Objekts, die in Termini seiner Struktureigenart formuliert werden, heißen seine s t r u k t u r e l l e n (relationellen) E i g e n s c h a f t e n . Nach R. Carnaps Worten, die L. Hjelmslev in seiner Arbeit „Die Methode der Strukturanalyse in der Linguistik" zustimmend zitiert, muß beim strukturellen Herangehen „jede wissenschaftliche Aussage eine Aussage über Korrelationen sein, die nicht die Kenntnis oder die Beschreibung der korrelierenden Elemente voraussetzt" [46, 54]. Es wird davon ausgegangen, daß kein Element eines Ganzen aus sich selbst heraus, auf Grund seiner physikalischen Eigenschaften definiert werden kann, sondern daß seine Erklärung die Kenntnis aller ihm entgegengesetzten Elemente voraussetzt [121, 78]. Als Struktureigenschaften des Objekts können dabei Zusammenhänge zweierlei Art betrachtet werden: Zusammenhänge zwischen den Elementen eines Ganzen (eines Systems) und Zusammenhänge des Systems als einer Ganzheit mit anderen Systemen. Dementsprechend lassen sich die Struktureigenschaften eines Objekts in innere und äußere einteilen. Letztere können folglich nur festgestellt werden, wenn bei der Charakteristik eines Systems das übergeordnete System, dem es angehört, berücksichtigt wird. Die Einteilung in innere und äußere Strukturbeziehungen hängt somit vom „Standpunkt" oder, mit anderen Worten, von der Untersuchungsebene und ihrer Tiefe ab. Offensichtlich besitzt jedes Element im Rahmen des Ganzen ebenfalls sowohl äußere Struktureigenschaften, die durch seine Stellung in dem Ganzen bestimmt werden, als auch eigene innere Strukturmerkmale, die durch die Beziehungen zwischen seinen Bestandteilen bestimmt werden. Die Strukturmethode erfordert die Feststellung sowohl der einen als auch der anderen Beziehungen, und sie ist unvollständig, wenn die Analyse allein auf die immanenten inneren Eigenschaften des Objekts beschränkt wird. Dadurch, daß die Strukturalisten, die die Sprache zum System erklärt haben, darauf verzichten, ihre äußeren Struktureigenschaften zu erforschen, haben sie ihre eigene These, daß jedes Element als Bündel sich schneidender Beziehungen untersucht werden muß, unterhöhlt. Die Strukturmethode bedeutet demnach die Analyse des Objekts auf der Ebene der an ihm zu beobachtenden Beziehungen. Bei aller Verschiedenartigkeit der Beziehungstypen, die in einem Objekt vorhanden sein und einzeln erforscht werden können (zum Beispiel die paradigmatischen Beziehungen in der Sprache getrennt von den syntagmatischen Beziehungen), stehen nicht die stoffliche N a t u r der Elemente und ihre physikalischen Eigenschaften, sondern das all17

gemeine Gerüst ihrer Beziehungen im Vordergrund. Das Element wird dabei durch die Erforschung seines Platzes in einem bestimmten Beziehungsschema (Struktur), durch seine Beziehungen zu anderen Elementen und zum Ganzen, das heißt durch die Feststellung seines Stellenwertes im System charakterisiert. Das strukturelle und das auf den Stoff, auf die Substanz gerichtete Verfahren können weitgehend unabhängig voneinander verfolgt werden. Prinzipiell kann sich der Forscher jedoch nicht damit begnügen, nur die Substanzeigenschaften bzw. nur die Struktureigenschaften eines Objektes aufzuzählen, sondern er ist beim Übergang zu einer neuen Erkenntnisstufe bestrebt, die Gesetzmäßigkeiten der Existenz und Entwicklung des Objektes als eines zusammenhängenden Ganzen, als einer materiell bestimmten Gesamtheit von Elementen und Beziehungen zu erkennen. Er bemüht sich, die Eigenschaften des Objekts als einer unlösbaren Einheit zu erfassen und zu erklären. Er will wissen, welche der von ihm entdeckten Eigenschaften des Ganzen aus dessen besonderer Substanz und welche daraus entspringen, daß es durch eine bestimmte Struktur gekennzeichnet ist. Er möchte weiterhin wissen, in welchem Maße diese Eigenschaften autonom und voneinander unabhängig sind und inwieweit sie sich gegenseitig bedingen. Ein solches Herangehen stellt offensichtlich einen neuen Forschungsaspekt dar, der sich weder auf die eigentliche Substanzanalyse noch auf die Strukturanalyse reduzieren läßt. Diese dritte Art des Herangehens an die Erforschung komplizierter Objekte mit ihren konkreten Analyseverfahren und ihrer eigenen Methodik nennen wir s y s t e m b e d i n g t , denn wir meinen, daß sie auf die Erkenntnis des Objekts als eines bestimmten Systems gerichtet ist. Eine der wichtigsten Eigenschaften einer solchen ganzheitlichen Organisation, für die wir das System halten, besteht offenbar darin, daß das System, das aus einzelnen Teilen besteht und von deren individuellen Eigenschaften abhängt, seinerseits auf diese Teile einwirkt und deren ursprüngliche Eigenschaften und Funktionen verändert. Diese Besonderheit des Ganzen wird nicht selten daraus erklärt, daß es eine bestimmte Struktur besitzt [232,103], aber das ist umstritten. Eher läßt sich behaupten, daß in einem ganzheitlichen Gebilde eine zweiseitige Abhängigkeit und zweiseitige Bedingtheit der Eigenschaften des Ganzen und seiner Elemente zu beobachten ist: Die Struktur des Ganzen wirkt auf die Elemente ein, die Elemente wiederum bestimmen die sich herausbildende bzw. existierende Struktur. Einerseits ist eine Reihe von Eigenschaften nur durch den Platz der Elemente in dem betreffenden Objekt bedingt, andererseits zweifellos dadurch, daß das Ganze gerade aus den gegebenen Elementen mit ihren ganz konkreten Substanzeigenschaften und ihrer konkreten stofflichen Natur besteht. Das Verhältnis von Struktur und Substanz kann daher in verschiedenen Objekten verschiedene Formen annehmen. Als Beispiel für die Abhängigkeit der Eigenschaften des Objekts von seiner Struktur können diejenigen chemischen Verbindungen dienen, die aus denselben Elementen gebildet sind. Die verschiedenen physikalischen Eigenschaften dieser Verbindungen (spezifisches Gewicht, Siedepunkt, Gefrierpunkt usw.) sind dadurch bestimmt, daß ihre gleichartigen Bestandteile verschiedenartige Typen von Beziehungen eingehen. Das Beispiel für die umgekehrte Abhängigkeit liefern diejenigen chemischen Verbindungen, die ihrer Struktur nach (in bezug 18

auf das Schema der Beziehung ihrer Elemente) identisch sind, sieh aber infolgeunterschiedlicher Ausgangssubstanz in ihren physikalischen Eigenschaften unterscheiden. So entspricht jeder organischen Verbindung auf der Grundlagevon Kohlenstoff eine der S t r u k t u r nach damit gleichartige Verbindung auf der Grundlage von Silizium, die sich jedoch von der entsprechenden Kohlenstoffverbindung deutlich unterscheidet. Erscheinungen dieser Art finden sich auch häufig in der Sprache. So entstehen aus den gleichen Komponenten verschiedene Einheiten, wenn die Strukt u r der Beziehungen zwischen diesen Komponenten verschieden ist: engl. flowergarden bedeutet 'Blumenbeet', gardenflower dagegen 'Gartenblume'; grammar school bezeichnet einen besonderen Schultyp, schoöl grammar dagegen bedeutet 'Schulgrammatik'; der Satz the hunter Icilled the bear bedeutet 'Der J ä g e r tötete den Bären', während der einen anderen Beziehungstyp zwischen den Komponenten aufweisende Satz the bear Icilled the hunter 'der Bär t ö t e t e den J ä g e r ' bedeutet. W e n n andererseits gleiche S t r u k t u r e n mit verschiedenen Substanzeinheiten besetzt werden, so f ü h r t das zur Veränderung der allgemeinen Charakteristik des Ganzen, zum Beispiel bei der Besetzung identischer morphologischer Strukturen mit verschiedenen Morphemen oder gleicher syntaktischer Strukturen mit verschiedenen lexikalischen Einheiten. Eine Einwirkung der S t r u k t u r des Systems auf dessen Substanz ist auch darin zu sehen, daß ein Element in einem sich umbildenden System, wenn es lange genug i n einem bestimmten Beziehungsbündel verbleibt, d. h. einen bestimmten Stellenwert in dem System hat, letzten Endes seine individuellen Eigenschaften verändern kann. Viele altslawischen Wörter zum Beispiel, die mit den russischen Wörtern der gleichen Wurzel etymologisch völlig identisch waren, haben auf russischem Boden, wenn sie in speziellen K o n t e x t e n u n d in ein und denselben syntaktischen Konstruktionen vorkamen, letztlich eine erhebliche Verengung, ihrer althergebrachten Bedeutung erfahren. Altslawisch npeflaTH, das ursprünglich das gleiche bedeutete wie russisch nepe^aTb, n a h m die speziellere Bedeutung, von 'verraten' an [123]. Nicht weniger offensichtlich ist auch die umgekehrte Abhängigkeit der Strukt u r von der Substanz. W e n n wir eine beliebige Gruppe konkreter Wörter nehmen, können wir sofort sehen, in welche syntaktischen Konstruktionen sie eingesetzt werden können u n d in welche nicht. Die Gesamtbedeutung einer K o n struktion als F o r m mit gleicher S t r u k t u r ist immer von der Bedeutung derkonkreten Wörter abhängig. Bei gegebenen Substanzeigenschaften der Elemente eines Systems k a n n die Zahl der möglichen Beziehungen zwischen ihnen zwar ziemlich groß sein, a b e r sie bleibt dennoch begrenzt. Ebenso k a n n bei gegebener S t r u k t u r die Zahl der Typen von Elementen, durch die sie realisiert werden kann, ziemlich groß sein, aber auch sie bleibt begrenzt. I n realen Systemen u n d erst recht in stabilen Systemen stimmt die S t r u k t u r des Objekts stets mit seiner Substanz überein. I n den adaptiven Systemen, zu denen die lebendigen Organismen u n d die Sprache gehören, werden S t r u k t u r und Substanz ständig miteinander in Übereinstimmung, gebracht, gewissermaßen einander angepaßt. Die allgemeine Richtung diesesProzesses k a n n als W a h l der optimalen Variante f ü r das Verhältnis von S t r u k t u r 19.

und Substanz charakterisiert werden. Unter diesem Gesichtspunkt sind viele Veränderungen in der Sprache als Folge einer Umbildung der Substanz entsprechend den Anforderungen der Struktur und umgekehrt als Folge der Wahl der optimalen Struktur für die gegebene — lautliche oder artikulatorische — Substanz zu verstehen. Die sich wechselseitig bedingenden Umbildungen von Struktur und Substanz erfolgen auf Grund der Zielgerichtetheit des Systems, das heißt, sie hängen mit den Zwecken, denen das System dient, und mit den Aufgaben, die es zu erfüllen hat, zusammen. Mit anderen Worten, die Wahl der Strukturvarianten und die Entwicklung der individuellen Eigenschaften der Elemente des Systems sind durch die Besonderheiten seiner Funktion bedingt. Jedes funktionierende und sich entwickelnde System existiert nur auf Grund der Übereinstimmung seiner drei wichtigsten Attribute — der S t r u k t u r , d e r S u b s t a n z und der F u n k t i o n — , nur auf Grund ihrer dialektischen Einheit. Die Systemmethode, die die Besonderheiten dieser drei Attribute und ihres gegenseitigen Verhältnisses berücksichtigt, ist eine i n t e g r a l e M e t h o d e , die auf die Erkenntnis des Objekts in seiner Ganzheit gerichtet ist. I n verschiedenartigen Systemen kann der Grad der Übereinstimmung zwischen Struktur und Substanz im Hinblick auf ihre Adäquatheit an die auszuübende Funktion verschieden sein. Die realen Objekte können natürlich in unterschiedlichem Grade systemhaft sein. Eine minimale Systemhaftigkeit, die Null gleichkommt, hat zum Beispiel ein Steinhaufen oder eine zufällige Menschenmenge. Die höchste Systemhaftigkeit beobachten wir in den lebendigen Organismen, in denen Funktion, Struktur und Substanz durch lange natürliche Auswahl aufeinander abgestimmt wurden. Die Sprache gehört ebenfalls zur Klasse der natürlichen Objekte mit hoher Systemhaftigkeit, denn im Prinzip ist ihr Mechanismus den von ihr zu erfüllenden Funktionen adäquat. Die Systemmethode besteht also darin, daß die Eigenschaften eines Systems durch Ermittlung des konkreten Wechselverhältnisses zwischen Struktur, Substanz und Funktion des Systems erklärt werden. Die getrennte Erforschung eines jeden dieser Attribute, die in Einzeluntersuchungen durchaus gerechtfertigt ist, bereitet die Informationen über das System vor, die für die systemhafte Beschreibung des Objekts als einer bestimmten funktionalen, integralen Organisation von Interesse sind. Wie aus unseren Ausführungen hervorgeht, sind System und Struktur für uns zwei ganz verschiedene, wenn auch wechselseitig bedingte Begriffe. Jeder von ihnen hat einen ganz konkreten Inhalt. Der Begriff S t r u k t u r bezieht sich unserer Auffassung nach ausschließlich auf das S c h e m a v o n B e z i e h u n g e n (innerhalb und außerhalb des zu erforschenden Objekts). E r charakterisiert folglich nur einen und noch dazu begrenzten Aspekt des Mechanismus des Systems, nämlich das Relationsgerüst. Der Terminus „strukturell" bedeutet unserer Auffassung nach: „die Struktur als ein Beziehungsschema betreffend" oder „die gegenseitigen Beziehungen zwischen den Elementen einer Einheit oder mehrerer Einheiten charakterisierend". Der umfassendere und zugleich kompliziertere Begriff S y s t e m hingegen entspricht unserer Auffassung nach der Vorstellung von den allgemeinsten Prinzipien der Organisation und Beschaffenheit eines Objekts als eines i n s i c h ge20

s c h l o s s e n e n u n d g e o r d n e t e n G e b i l d e s , das auf Grund der besonderen Art der hierarchischen Übereinstimmung einer bestimmten Substanz mit einer bestimmten Struktur zur Erfüllung einer b e s t i m m t e n F u n k t i o n existiert. Wenn wir die Gründe f ü r die gesonderte Existenz, die qualitative Eigenart u n d die Ganzheitlichkeit jedes gegebenen Ausschnittes aus der Wirklichkeit gerade in seiner Systemhaftigkeit suchen, das heißt in der spezifischen Art, wie die betreffende Struktur in einer bestimmten Substanz verkörpert wird, so betonen wir damit, daß jedes System nur in der Vereinigung und organischen Verbindung von Struktur und Substanz existiert und funktioniert. Dank der spezifischen Logik unserer Erkenntnis können wir diese Attribute zwar einzeln untersuchen und beschreiben, real existieren sie jedoch nur in ihrer dialektischen Einheit u n d folglich in ihrem dialektischen Widerspruch. Die Kategorie System dient daher der Beschreibung einer solchen Erscheinung innerhalb eines einzelnen begrenzten Ausschnittes der Wirklichkeit, sie dient der globalen und integralen Beschreibung seiner Substanz- und Struktureigenschaften (der inneren und der äußeren) und vor allem der Erklärung des Aufbaus des Objekts als einer besonderen funktionalen Ganzheit, deren Existenz sowohl durch die Art der Verbindung ihrer Elemente als auch durch die spezifischen Substanzeigenschaften dieser Elemente bestimmt wird. Wir definieren das S y s t e m daher als ein in bestimmter Weise organisiertes (d. h. geordnetes) hierarchisches Ganzes, das eine Struktur hat und diese Struktur zur Realisierung bestimmter Ziele in einer bestimmten Substanz verkörpert. Das System, das durch Elemente einer bestimmten Art ein bestimmtes Schema von Beziehungen realisiert, stellt ein funktionales Gebilde dar, dessen Ganzheitlichkeit durch die konkrete Art der Übereinstimmung der Struktur mit der Substanz gesichert wird. Die Erkenntnis dieser konkreten Art der Übereinstimmung als eines neuen Typs von Beziehungen, der sowohl bei der Substanzanalyse als auch bei der Analyse der reinen Beziehungen unbemerkt bleibt, bildet die Hauptbesonderheit der Systemmethode. Dementsprechend gehen wir davon aus, daß der Terminus „systembedingt" bedeutet: „sich auf die Prinzipien der Organisation des Objekts als eines integralen funktionalen Gebildes beziehend" (dessen allgemeine Eigenschaften sich nicht nur auf die Eigenschaften seiner einzelnen Elemente oder nur auf die Besonderheiten des Netzes ihrer Beziehungen reduzieren lassen). So verstanden, ermöglicht die Systemanalyse unserer Auffassung nach, die Beschränktheit sowohl der eng substantiellen als auch der eng strukturellen Methode zu überwinden, von denen jede dem Forscher wichtige, aber nur einseitige Teilerkenntnisse über die Beschaffenheit des Objekts liefert und daher nicht die Erkenntnis seiner qualitativen Eigenart insgesamt in ihrer dialektischen Einheit und Widersprüchlichkeit gewährleistet. Diese wird offensichtlich nur durch die Systemanalyse ermöglicht. Die von uns entwickelte Konzeption ist nichts absolut Neues. Einerseits stützt sie sich auf den Strukturbegriff, der, ursprünglich in den exakten Wissenschaften formuliert, in dieser Form auch in andere Wissenschaftsgebiete, insbesondere auch in die Linguistik eindrang (Näheres s. S. 44 ff.). Immer breitere Anerkennung finden in der modernen Wissenschaft auch die Auffassungen von dem unlöslichen Zusammenhang zwischen dem System und seiner Funktion, von dem Zusammenhang zwischen 3 Serebrennlkow II

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der Struktur und der Substanz, in der ihre Elemente verkörpert sind, und schließlich von den Abhängigkeiten zwischen der Struktur und der Ganzheitlichkeit des Systems. 4 Wenngleich unsere Systemdefinition mit keiner der uns bekannten Definitionen voll übereinstimmt, widerspricht sie doch vielen von ihnen nicht; das gilt zum Beispiel für solche, die diesem Begriff eine ungenügende Zahl relevanter Merkmale zuschreiben (daß das System einen Komplex oder eine Menge von Elementen enthält, die aufeinander einwirken oder hierarchisch miteinander verbunden sind, daß es geordnet ist usw.), bzw. für solche, die die unserer Meinung nach wichtigste Eigenschaft eines jeden Systems nicht berücksichtigen, nämlich seine Ganzheitlichkeit, die dialektische Einheit seiner Struktur und Substanz, die Unterordnung seiner allgemeinen Eigenschaften unter das Ziel, dessen Realisierung es dient (d. h. die Erfüllung seiner Funktion in einem System höheren Rangs). I n unseren folgenden Ausführungen, in denen wir uns das Ziel stellen, das Sprachsystem und seine Wesensmerkmale zu beschreiben, wollen wir zugleich darzustellen versuchen, welchen Verlauf die allmähliche Erkenntnis der Struktur- und Systemeigenschaften der Sprache in der Linguistik nahm und welche Auffassungen es gegenwärtig dazu gibt. Wenn wir betonen, daß die Systemmethode der Charakteristik der Substanz und der Struktur die gleiche Bedeutung beimißt und daß sie die Kenntnisse sowohl von der einen als auch von der anderen organisch miteinander verbinden muß, so hoffen wir zugleich, daß im Rahmen der Systemanalyse (in der Form, wie wir sie hier und teilweise auch in anderen Arbeiten dargelegt haben [55—57; 70—74]) die Forderungen nach komplexem und allseitigem Vorgehen bei der Erforschung der Wirklichkeit erfüllt werden können, auf denen W. I. Lenin bestand, als er schrieb: „Um einen Gegenstand wirklich zu kennen, muß man alle seine Seiten, alle Zusammenhänge und 'Vermittelungen' erfassen und erforschen. Wir werden das niemals vollständig erreichen, die Forderung der Allseitigkeit wird uns aber vor Fehlern und vor Erstarrung bewahren" [205, 85].

Aus der Geschickte der Erforschung der System- und Struktureigenschaften

der Sprache

Der rein empirische Begriff vom Systemcharakter der Sprache, der auf die Anerkennung hinausläuft, daß die einzelnen Teile einer Sprache wie in einem „harmonischen Ganzen" irgendwie miteinander verbunden sind, war auch der vorstrukturellen Sprachwissenschaft nicht fremd [164, 18]. Ohne hier auf die 4

Vgl. zum Beispiel: „. . . das System hängt in Wirklichkeit nicht nur von der Wechselwirkung seiner Elemente, d. h. von der Struktur ab; in viel größerem Maße wird es durch die Wechselwirkung des Systems als eines Ganzen mit seinem Milieu determiniert. Die Funktion des Systems ist vor allem die Funktion des Ganzen" [82, 32]; der Wert eines Elements wird nicht nur durch seinen Platz im System bestimmt, sondern auch durch „die Eigenschaften dieses Elements und seine Fähigkeit, bestimmte Funktionen zu erfüllen" [138, 134/5],

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der Struktur und der Substanz, in der ihre Elemente verkörpert sind, und schließlich von den Abhängigkeiten zwischen der Struktur und der Ganzheitlichkeit des Systems. 4 Wenngleich unsere Systemdefinition mit keiner der uns bekannten Definitionen voll übereinstimmt, widerspricht sie doch vielen von ihnen nicht; das gilt zum Beispiel für solche, die diesem Begriff eine ungenügende Zahl relevanter Merkmale zuschreiben (daß das System einen Komplex oder eine Menge von Elementen enthält, die aufeinander einwirken oder hierarchisch miteinander verbunden sind, daß es geordnet ist usw.), bzw. für solche, die die unserer Meinung nach wichtigste Eigenschaft eines jeden Systems nicht berücksichtigen, nämlich seine Ganzheitlichkeit, die dialektische Einheit seiner Struktur und Substanz, die Unterordnung seiner allgemeinen Eigenschaften unter das Ziel, dessen Realisierung es dient (d. h. die Erfüllung seiner Funktion in einem System höheren Rangs). I n unseren folgenden Ausführungen, in denen wir uns das Ziel stellen, das Sprachsystem und seine Wesensmerkmale zu beschreiben, wollen wir zugleich darzustellen versuchen, welchen Verlauf die allmähliche Erkenntnis der Struktur- und Systemeigenschaften der Sprache in der Linguistik nahm und welche Auffassungen es gegenwärtig dazu gibt. Wenn wir betonen, daß die Systemmethode der Charakteristik der Substanz und der Struktur die gleiche Bedeutung beimißt und daß sie die Kenntnisse sowohl von der einen als auch von der anderen organisch miteinander verbinden muß, so hoffen wir zugleich, daß im Rahmen der Systemanalyse (in der Form, wie wir sie hier und teilweise auch in anderen Arbeiten dargelegt haben [55—57; 70—74]) die Forderungen nach komplexem und allseitigem Vorgehen bei der Erforschung der Wirklichkeit erfüllt werden können, auf denen W. I. Lenin bestand, als er schrieb: „Um einen Gegenstand wirklich zu kennen, muß man alle seine Seiten, alle Zusammenhänge und 'Vermittelungen' erfassen und erforschen. Wir werden das niemals vollständig erreichen, die Forderung der Allseitigkeit wird uns aber vor Fehlern und vor Erstarrung bewahren" [205, 85].

Aus der Geschickte der Erforschung der System- und Struktureigenschaften

der Sprache

Der rein empirische Begriff vom Systemcharakter der Sprache, der auf die Anerkennung hinausläuft, daß die einzelnen Teile einer Sprache wie in einem „harmonischen Ganzen" irgendwie miteinander verbunden sind, war auch der vorstrukturellen Sprachwissenschaft nicht fremd [164, 18]. Ohne hier auf die 4

Vgl. zum Beispiel: „. . . das System hängt in Wirklichkeit nicht nur von der Wechselwirkung seiner Elemente, d. h. von der Struktur ab; in viel größerem Maße wird es durch die Wechselwirkung des Systems als eines Ganzen mit seinem Milieu determiniert. Die Funktion des Systems ist vor allem die Funktion des Ganzen" [82, 32]; der Wert eines Elements wird nicht nur durch seinen Platz im System bestimmt, sondern auch durch „die Eigenschaften dieses Elements und seine Fähigkeit, bestimmte Funktionen zu erfüllen" [138, 134/5],

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berühmten Grammatiken im alten Indien einzugehen, die einige Ideen der strukturellen Sprachbeschreibung vorweggenommen haben [119, 16, 24, 561/2], läßt sich doch offenbar sagen, • daß es alle Verfasser von Grammatiken verstanden haben, ihren Forschungsgegenstand abzugrenzen, und daß sie sich alle die Sprache — wenn auch mitunter verschwommen und intuitiv — als etwas für sich Existierendes und etwas Geordnetes vorstellten. Die bereits von den antiken Philosophen vorgenommene Unterscheidung von Redeteilen und ihren Kategorien, besonders aber die Anordnung des Sprachmaterials in bestimmten Gruppen (Paradigmen) zeugen nicht nur von dem Bemühen, die wichtigsten Teile des Sprachbaus herauszufinden, sondern auch davon, daß die Sprache als eine spezifische Einheit aufgefaßt wurde, die auf jeden Fall organisierte Teilmengen enthält. Die Ursprünge der Systemmethode liegen jedoch nicht nur in diesen oft noch unvollkommenen Versuchen, den Aufbau der Teile der Sprache als solcher zu erkennen und zu einer einfachen Klassifizierung dieser Teile zu gelangen. Parallel zu den Auffassungen von der Sprache als einer E i n h e i t bestimmter T e i l e (als System mit inneren Struktureigenschaften) entstanden auch Auffassungen, die die Sprache als T e i l einer E i n h e i t (als System mit äußeren Strukturbeziehungen) betrachteten. Diese zwei Linien in der Geschichte der Sprachwissenschaft, von denen die eine später die Sprache als S y s t e m , die andere aber als G l i e d e i n e s S y s t e m s anderer Ordnung erforschte, entwickelten sich lange Zeit getrennt voneinander. Läßt man die Perioden in der Geschichte der Sprachwissenschaft außer acht, in denen die Erarbeitung konkreter Forschungsmethoden das Interesse f ü r allgemeine Probleme in den Hintergrund drängte und in denen die praktische Materialsammlung, die Beschreibung und Klassifizierung der Spracherscheinungen von der Untersuchung der theoretischen Grundlagen der Linguistik wegführte, so herrschte bei der Ausbildung der späteren Systemmethode einmal die eine, einmal die andere dieser zwei Linien vor. Diese beiden Linien liefen erstmals in W. v. Humboldts Werken zusammen; Humboldt entwickelte eine Theorie, in der der innere Mechanismus der Sprache mit ihrer Rolle in der menschlichen Gesellschaft und mit der seiner Auffassung nach wichtigsten Aufgabe der Sprache, die intellektuelle Tätigkeit des Menschen für die Sinne wahrnehmbar zu machen, verknüpft wurde [193, 53]. Mit seiner Forderung, die Sprache nicht nur als Produkt der Tätigkeit, sondern auch als Tätigkeit selbst zu beschreiben, formulierte er als erster eine dynamische Sprachkonzeption [92; 162, 48]. Humboldts Arbeiten enthalten tiefschürfende Ideen, die eine neue, ganzheitliche Sprachauffassung vorbereiteten; das unterscheidet seine Lehre von vielen späteren Konzeptionen, angefangen von den Junggrammatikern mit ihrem berüchtigten Atomismus bis hin zu einigen modernen Richtungen, die die fragmentarischen Vorstellungen von der Sprache nicht zu überwinden vermögen (vgl. die späten mechanistischen Schemata, die sich die Sprache als Gestell mit separaten Fächern vorstellen). Das Leben der Sprache, schreibt W. v. Humboldt, besteht in der wechselseitigen Durchdringung zweier Elemente, in der „Verbindung der Lautform mit den inneren Sprachgesetzen", „wo die Synthesis etwas schafft, das in keinem a*

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der verbundenen Teile für sich liegt" [193, 94]. Seine Gedanken über die allgemeine Organisation der Sprache drückte Humboldt in der Lehre von der Sprachform aus. „Die charakteristische Form der Sprachen hängt an jedem einzelnen ihrer kleinsten Elemente; jedes wird durch sie, wie unmerklich es im einzelnen sei, auf irgend eine Weise bestimmt" [193, 48]. Die in diesem Satz hervorgehobene zweiseitige Abhängigkeit — der Sprachelemente von dem Gesamtmechanismus der Sprache einerseits und die Abhängigkeit der konkreten Sprache von dem Stoff, in dem sie verkörpert ist, andererseits — f ü h r t seiner Auffassung nach dazu, daß zum vollen Verständnis der Sprache eine Analyse ihres physikalischen Aspekts erforderlich ist. „Es versteht sich daher von selbst, daß die reelle Beschaffenheit der Laute, um eine Vorstellung von der Form einer Sprache zu erhalten, ganz vorzugsweise beachtet werden m u ß " [193, 49/50]. Humboldt stellte die Sprachform dem Sprachstoff gegenüber und charakterisierte die dialektischen Beziehungen zwischen ihnen mit der These: „. . . um aber den Stoff der Sprachform zu finden, muß man über die Grenzen der Sprache hinausgehen", denn „innerhalb derselben läßt sich etwas nur beziehungsweise gegen etwas anderes als Stoff betrachten, z. B. die Grundwörter in Beziehung auf die Deklination" [193, 49]. Die wechselseitige Bedingtheit dieser zwei Seiten sah W. v. Humboldt in der Relativität ihrer Abgrenzung und Gegenüberstellung: „In andren Beziehungen aber wird, was hier Stoff ist, wieder als Form erkannt" [193, 49]. Die dialektische Natur des Sprachsystems wird hier eindeutig und kategorisch unterstrichen. I n der Sprache ist „das Positive das Negative, der Teil das Ganze, die Einheit die Vielheit, die Wirkung die Ursache, die Wirklichkeit die Möglichkeit und Notwendigkeit, das Bedingte das Unbedingte" [192, 4]. Das wurde in den Jahren gesagt, als Hegel seine „Wissenschaft der Logik" schuf, aus der W. I. Lenin analoge Formulierungen in den „Philosophischen Heften" zitierte [206, 90, 94, 174], Es ist seit langem allgemein anerkannt, daß W. v. Humboldts Auffassungen sich unter dem starken Einfluß der damals herrschenden philosophischen Konzeptionen Hegels entwickelten ; allgemein bekannt ist auch, daß beide enge persönliche Beziehungen zueinander unterhielten. Nicht ausgeschlossen ist aber auch, daß Hegel infolge des engen wissenschaftlichen Kontakts mit Humboldt zahlreiche Grundsätze seiner Theorie kannte, die dieser bei der Erforschung eines so komplizierten dialektischen Objektes, wie es die Sprache ist, entwickelt hatte [74, 31—33]. Wenn man die Besonderheiten analysiert, die W. v. Humboldt der Sprachf o r m zuschrieb, so kann m a n mit vollem Recht sagen, daß viele von ihnen später als Merkmale, die die S p r a c h s t r u k t u r charakterisieren, gewissermaßen neu entdeckt und umgedeutet wurden (vgl. [30, 13]). W. v. Humboldt, der alle Errungenschaften der Sprachwissenschaft bis zu seiner Zeit verallgemeinerte, erfaßte, wenn auch noch in allgemeinen Zügen und nicht im einzelnen, die wesentlichsten Merkmale der Sprache; seiner Auffassung nach bildet die Sprache ein bewegliches System, in dem die innere wechselseitige Bedingtheit der Bestandteile nicht ohne Bestimmung der Funktion und folglich der Stellung der Sprache in einem übergeordneten System verstanden werden kann, das den Menschen, das menschliche Bewußtsein und die Entwicklungsgeschichte der Gesellschaft, in der die Sprache funktioniert, einschließt. 24

Humboldts Ideen haben nach übereinstimmender Meinung seiner Zeitgenossen und der Wissenschaftler der folgenden Generationen einen tiefen Einfluß auf die weitere Entwicklung der Linguistik ausgeübt: Auf seine Theorie griffen und greifen auch die Vertreter der strukturellen Sprachwissenschaft von neuen Positionen aus zurück (vgl. [167, 119]). Indes war die Linguistik der unmittelbar auf Humboldt folgenden Periode noch nicht so weit, Humboldts fundamentalste Gedanken aufzugreifen; sie zerfiel in mehrere nur lose miteinander verbundene Disziplinen, und aus dem, was bei Humboldt zu einem Ganzen vereinigt war, entwickelten sich verschiedene Linien der Sprachforschung. Einerseits entwickelte sich die rein empirische, beschreibende Sprachwissenschaft weiter, in der das Interesse für die kodifizierten, normierten Besonderheiten der Sprache, vor allem der Literatursprache, überwog und in der Einzelkenntnisse über den Sprachbestand zusammengetragen wurden usw. Andererseits wurden weiterhin Denkmäler der Vergangenheit gesammelt und untersucht. Mit der Erweiterung der geographischen Verbindungen und der Bekanntschaft mit neuen Sprachen wurde ein immer vielseitigeres Faktenmaterial in die Forschungen einbezogen, das Verallgemeinerungen und die Ausarbeitung von Regeln zur Sprachbeschreibung erforderte. Die Komparativisten erfaßten einzelne Sprachen als diskrete, aber auch gleichgeartete, durch ihre Herkunft aus derselben Quelle miteinander verbundene Einheiten und entwickelten dementsprechend den Gedanken, daß die konkreten Sprachen Teile einer Einheit höherer Ordnung sind. Eine andere Form der gleichen Auffassung, daß die Sprache Element eines übergeordneten Systems sei, stellen die verschiedenen psychologischen Theorien dar, die das Verhältnis von Sprache und Denken ermitteln. Schließlich führte der Einfluß naturphilosophischer Konzeptionen zum Vergleich der Sprache mit einem lebenden Organismus, was dann den Boden f ü r die Annäherung des Sprachsystems an andere natürliche Systeme und f ü r die Übertragung der Konzeptionen des Organizismus und Holismus und dann auch der Kybernetik auf die Sprachanalyse bereitete. Von allen erwähnten Richtungen leistete jedoch die historisch-vergleichende Sprachwissenschaft den größten Beitrag zur Erkenntnis der Systemeigenschaften der Sprache. Die Analyse der Sprache und ihre Aufgliederung in einzelne Elemente dienten damals als Beweis für Sprachverwandtschaft und zur Bestimmung des Platzes der betreffenden Sprache in einer bestimmten genetischen Gruppierung. Gleichzeitig bewirkte die Systemnatur der Sprache, daß die Ergebnisse der konkreten Untersuchungen, ganz gleich, mit welchem Endziel sie unternommen wurden, als solche schon an den Gedanken von der engen Wechselbeziehung der Spracherscheinungen und ihrer gegenseitigen Abhängigkeit heranführten. Die Notwendigkeit, Kriterien f ü r die Sprachverwandtschaft zu finden, erforderte den Vergleich der Sprachen im Hinblick auf bestimmte Ausschnitte, das aber führte zu ihrer sorgfältigen Beschreibung u n d damit zu einer eingehenden Untersuchung bestimmter begrenzter Gebiete der inneren Beschaffenheit der Sprache. Solch ein Gebiet waren für die Komparativsten die Lautentsprechungen. Bei der Feststellung phonetischer Entsprechungen und bei ihrer Registrierung kamen die Linguisten in der Vergangenheit schon ziemlich 25

dicht an die Ermittlung von Systemeigensehaften der Sprache heran, wenn auch auf einem relativ begrenzten Gebiet von Spracherscheinungen. Von der Feststellung regulärer Entsprechungen und den "Versuchen, deren Herkunft sowie den Grund für Abweichungen von den zu erwartenden gesetzmäßigen Formen zu erklären, war nur noch ein Schritt bis zur Anerkennung der Wichtigkeit eines allgemeinen Beziehungsschemas zwischen den Elementen des untersuchten Subsystems, das heißt bis zur Anerkennung struktureller Besonderheiten der Sprache. 1879 erschien das „Memoire sur le système primitif des voyelles dans les langues indo-européennes". Seit dieser Zeit kommt, wie E. Buyssens betont, der Terminus „System" in Gebrauch [164, 21]. Die Kritik an der Komparativistik wegen der „Nebelhaftigkeit" und dem hypothetischen Charakter ihrer Konstruktionen sowie wegen der geringen Glaubwürdigkeit ihrer Rekonstruktionen trug wesentlich zur Neuorientierung auf ein neues Sprachmaterial bei. Unter den Sprachwissenschaftlern gewann der Gedanke Verbreitung, daß eine beweiskräftige Sprachforschung vor allem auf unmittelbar beobachtbaren sprachlichen Gegebenheiten basieren müsse. Auch in der Aufgabenstellung der Linguistik vollzog sich ein wesentlicher Umschwung : An die Stelle der Überzeugung, daß in den Erscheinungen der lebendigen Sprache und ihrer Dialekte „der Bezug auf die Vergangenheit oder auf Spuren und Anzeichen der Vergangenheit" [26, 9] das Wichtigste sei, traten Überlegungen, welche Bedeutung diese Erscheinungen für das Verständnis der inneren Beschaffenheit der Sprache haben. Einer der ersten Wissenschaftler, der die Bedeutung hervorhob, die die Erforschung der kommunikativen Tätigkeit und des synchronen Sprachzustands für die Feststellung der fundamentalen Besonderheiten des Sprachbaus hat, war I. A. Baudouin de Courtenay. Durch die Veröffentlichung neuer Dokumente und durch neue Forschungen zu seinem Werk [14; 15; 9; 26; 60] ist auch die bedeutsame Rolle klarer geworden, die seine Tätigkeit bei der Vorbereitung und Herausbildung der führenden progressiven Richtungen der modernen Linguistik, darunter auch der strukturellen Richtung, gespielt hat [26,12; 30, 14]. Das findet seine Bestätigung darin, daß Baudouins und de Saussures Lehren vom Systemcharakter der Sprache unbestreitbar eine Reihe von Grundsätzen miteinander gemein haben. Da aber jeder von ihnen eine Reihe von Ausgangspositionen unterschiedlich interpretiert, kann man zugleich auch von zwei verschiedenen Traditionen in der Entwicklung der Linguistik sprechen, von denen eine auf Baudouin und eine zweite auf de Saussure zurückgeht ; dabei ist festzustellen, daß die erste breiter ist (vgl. [108, 7 8 - 8 2 ; 30, 14ff.; 9,121]). Eine wichtige Seite in Baudouins Theorie zur Beschreibung des inneren Sprachmechanismus ist, daß diese Beschreibung sich auf universelle funktionale sprachliche Einheiten stützt: Auf Baudouin gehen die Begriffe Phonem, Morphem, Graphem, Syntagma und Lexem zurück [60, 3], ohne die ein Bild vom Sprachsystem ganz und gar undenkbar wäre. Wichtig ist auch, daran zu erinnern, daß Baudouin de Courtenay diese Einheiten objektiv definiert, indem er ihren Platz im Beziehungsnetz der Sprachelemente, das heißt ihre Position in der Sprachstruktur, angibt. So schreibt er bereits zu Beginn seiner Kasaner Zeit, 26

daß „physiologisch identische Laute verschiedener Sprachen e n t s p r e c h e n d dem g e s a m t e n L a u t s y s t e m , e n t s p r e c h e n d d e n V e r h ä l t n i s s e n zu a n d e r e n L a u t e n eine verschiedene Bedeutung haben" (von uns hervorgehoben — J . K. ; G. M.) [15,1, 90]. I n dieser These erkennt man ohne Mühe eine direkte, ja sogar wörtliche Parallele zu späteren, analogen Aussagen solch hervorragender Phonologen wie N. S. Trubetzkoy, R. Jakobson, J . D. Poliwanow u. a. Eine tiefgreifende wechselseitige Abhängigkeit der sprachlichen Einheiten sah Baudouin nicht nur in der Synchronie, sondern auch in der Diachronie. E r betonte wiederholt, daß die phonetische Entwicklung der Sprache durch den allgemeinen Charakter des betreffenden Lautsystems bedingt ist [15,1, 90 u. 195]. Schließlich ist auch seine Auffassung wesentlich, daß die Eigenschaften der Einheiten im Sprachsystem durch die Verbindung des Substantiellen und des Relationellen bestimmt werden; dabei hängen die Gruppierungen „nach Gegenüberstellungen und Unterschieden" seiner Meinung nach von den qualitativen Eigenschaften der Elemente ab, aus denen sie sich zusammensetzen (vgl. zum Beispiel [15, II, 173/4]); das System wird „nicht als rein relationelles Schema, sondern als System wechselseitiger Abhängigkeiten substantiell ausgliederbarer Einheiten aufgefaßt, wobei die Abhängigkeiten selbst als von den qualitativen Eigenschaften dieser Einheiten abgeleitet angesehen werden" [30, 18/9]. Das unterscheidet Baudouins Auffassung vom Sprachsystem grundlegend von derjenigen de Saussures [9, 121]. Die Ideen Baudouins eröffneten, wie W. W. Winogradow zu Recht feststellte, „weite Möglichkeiten, die Sprache als kompliziertes vielstufiges, aber ganzheitliches System zu erforschen" [26, 12/3], und zwar nicht nur im Zustand der synchronen Unbeweglichkeit, sondern auch in der synchronen „Kinematik", d. h. als nichthomogene und dialektisch widerspruchsvolle Einheit mit Schichten der Vergangenheit und Keimen der Zukunft (vgl. [136, 319]). Analoge Vorstellungen vom Sprachsystem entwickelte auch N. W. Kruschewski (vgl. [130]). I n Baudouins Arbeiten finden wir auch die wichtige Abgrenzung zwischen äußerer und innerer Sprachgeschichte, wobei das Problem des Verhältnisses zwischen Sprache und außersprachlicher Wirklichkeit als solches nicht aus der Sprachwissenschaft ausgeschlossen wird. I n diesem Sinne führt er die Humboldtsche Entwicklungslinie der Linguistik fort und bereitet die Auffassung vom Sprachsystem als einem Gebilde vor, das nicht nur innere, sondern auch äußere Beziehungen hat, d. h. ein System ist, das sich nur im Prozeß fortwährender Wechselwirkung mit der Gesellschaft vervollkommnet und dessen Entwicklung daher von einem ganzen Komplex verschiedenartiger innerer und extralinguistischer Faktoren bedingt ist (vgl. [15, I, 69]). Daher bleibt nur zu bedauern, daß Baudouins Gedanken aus vielen objektiven Gründen nicht sofort die Verbreitung und Entwicklung erfuhren, die sie zweifellos verdient hätten; und man kann nur zustimmen, daß „Baudouins Arbeiten heute eine unvergleichlich größere Bedeutung haben, als das seinen Zeitgenossen erschien" [118, 28]. Unter viel günstigeren Verhältnissen entwickelte sich die Theorie F. de Saussures, deren Hauptbestandteil die Lehre vom Sprachsystem ist. De Saussures 27

Auffassungen, die sieh in ihrem kritischen Teil gegen die Junggrammatiker richteten, in ihrem positiven aber viele ihrer Mängel überwanden, wurden von den meisten Sprachwissenschaftlern Westeuropas und etwas später auch der ganzen übrigen Welt zustimmend aufgenommen. De Saussures Auffassung vom Systemcharakter der Sprache war zweifellos formaler und enger als Humboldts oder Baudouins. Aber vielleicht hat gerade diese Besonderheit seiner Theorie, die davon ausging, daß die Sprache, an und für sich betrachtet, der einzige Gegenstand der Linguistik ist, ihre weite Anerkennung und Verbreitung gefördert. Denn einerseits war damit der Problemkreis, mit dem es die Linguistik zu t u n hat, ganz klar umrissen, wurde das Forschungsgebiet eindeutig abgegrenzt und überschaubar: Aufgabe der Linguistik war demnach die Erforschung der Sprache als System. Andererseits gab de Saussure auch die Anfangsetappen bei der Analyse des Systemobjektes ganz klar a n : seine Erforschung in der Statik, die Erforschung seiner relationeilen Eigenschaften. Schließlich beschrieb de Saussure auch ziemlich eingehend den Aufbau des Sprachsystems selbst. I n den „Grundfragen der allgemeinen Sprachwissenschaft" wird das Sprachsystem als Z e i c h e n s y s t e m definiert; zugleich werden die wesentlichen Prinzipien seiner Organisation angegeben, die darauf beruhen, daß das Sprachsystem als eine bestimmte Ganzheit aufgefaßt wird [150, 107/8]. Nach de Saussures Auffassung bildet jede einzelne Sprache ein geschlossenes System [227, 118], dessen Teile in ihrer synchronischen Wechselbeziehung [227, 103] als nebeneinander existierende Elemente in statischer Beziehung [227, 118] zu betrachten sind. Das Sprachsystem besteht aus Gleichheiten und Verschiedenheiten [227, 129], deren Gesamtheit die Grundlage für den Begriff des Wertes bildet [227, 131]. Die Sprache ist nichts anderes als ein System von bloßen Werten [227, 95 u. 132ff.], das heißt, sie ist ein Mechanismus, ein System, „dessen Glieder sich alle gegenseitig bedingen und in dem Geltung und Wert des einen nur aus dem gleichzeitigen Vorhandensein des anderen sich ergeben" [227, 136/7]. Berücksichtigt man, daß die Kategorie Wert letzten Endes rein distinktiv, „durch ihre Beziehungen zu den anderen Gliedern des Systems" definiert wird [227, 139] und daß nach de Saussures Auffassung die Elemente des Sprachsystems außerhalb des Ganzen dem Wesen nach keine individuellen positiven Eigenschaften haben, so kann man sich leicht davon überzeugen, daß auch der konkrete Inhalt des Begriffes Sprachsystem von de Saussure nur durch die relationeilen Eigenschaften seiner Komponenten bestimmt wird. Mit anderen Worten, die Auffassung von der Sprache als einem Zeichensystem läuft darauf hinaus, daß dieses als b e s t i m m t e r K o m p l e x b e s t i m m t e r B e z i e h u n g e n definiert wird oder, was das gleiche ist, daß der Begriff S p r a c h s y s t e m durch den Begriff S p r a c h s t r u k t u r ersetzt wird. Das geht klar aus Formulierungen hervor wie: „. . . der ganze Mechanismus der Sprache . . . beruht auf Gegenüberstellungen" von Zeichen [227, 145] und: „So beruht denn bei einem Sprachzustand alles auf Beziehungen" [227, 147]. De Saussure hatte zwar durchaus recht, wenn er behauptete, daß das Sprachsystem mit einem Netz beobachtbarer Beziehungen (und zwar verschiedenartiger Beziehungen sowohl auf der paradigmatischen als auch auf der syntag28

matischen Achse) zusammenhängt und daß diese Beziehungen untersucht werden können, indem man bis zu einem gewissen Grad von dem materiellen. Substrat der Elemente, die sie realisieren, abstrahiert; er irrte jedoch, wenn er annahm, daß die von ihm als „Sprachsystem" qualifizierte Erscheinung ausschließlich in Termini von Beziehungen und insbesondere von Gegenüberstellungen, also als Netz von Oppositionen, verstanden und dementsprechend beschrieben werden könne. In Wirklichkeit entstehen, wie wir bereits betont haben, Beziehungen nur zwischen irgendwelchen Elementen, wird das Wesen dieser Beziehungen sowohl durch das Ganze bestimmt, innerhalb dessen sie sich herausbilden, als auch — was ebenso klar ist — durch die natürlichen, materiellen Eigenschaften dieser Elemente. Man kann übrigens nicht behaupten, daß de Saussure die tief liegenden Verbindungen zwischen Form und Substanz in der Sprache völlig verkannt hätte. Obwohl er die Sprache zum System bloßer Werte, als Form und nicht als Substanz erklärte, bemerkte er: „in Wirklichkeit bringen nur die materiellen Einheiten, die in einer gewissen Ordnung aufgereiht sind, diesen Wert hervor" [227, 165]. An anderer Stelle wiederholt er: „Keine grammatische Abstraktion ist möglich ohne eine Reihe von materiellen Elementen, die ihr als Grundlage dienen" [227, 164]. Interessant ist, daß auch R . Godel de Saussure den Satz zuschreibt, daß zum Sprachsystem „die Einheiten und die Modelle ihrer möglichen Kombinationen nicht in der abstrakten Form von Kategorien und Schemata, sondern in der konkreten Form von Beispielen und Assoziationsreihen" gehören [178, 179]. Allgemeingut breiter Kreise von Linguisten wurden jedoch nicht diese Gedanken de Saussures, sondern die bereits angeführten Äußerungen über das Sprachsystem als ein System bloßer Beziehungen, als ein Netz von Oppositionen usw. Was für die Anfangsetappe der Strukturanalyse berechtigt war, wurde von. de Saussures Nachfolgern verabsolutiert und geriet später in Widerspruch zu den Ausgangsprinzipien der strukturellen Methode selbst (vgl. [74, 13ff.]). Was ursprünglich methodisch zweckmäßig war, nämlich die Herauslösung des zu untersuchenden Systems aus dem Netz seiner äußeren Beziehungen, wurde nun nicht mehr als zeitweilige Maßnahme, nicht als eine in einer bestimmten Etappe notwendige Abstraktion bewertet, sondern zum allgemeinen Prinzip der Systemforschung erhoben. Zur Rolle, die die Beziehungen des Sprachsystems zu anderen Systemen spielen, erklärte de Saussure: „Aber es ist falsch, zu behaupten, daß man ohne sie den inneren Organismus einer Sprache nicht kennen könne" [227, 26]. Aber dieser „Organismus" funktioniert und entwickelt sich doch nur in vielfältiger Wechselwirkung mit dem ihn umgebenden Milieu, und der grundsätzliche Verzicht auf die Erforschung dieser Beziehungen käme dem Verzicht auf eine Analyse des Ganzen bei der Interpretation seiner Teile gleich. Das gilt auch für die Einschränkungen, die den inneren Mechanismus des' Systems betreffen. Als de Saussure die große Bedeutung hervorhob, die der Analyse des Netzes der Beziehungen zwischen den Systemelementen, das heißt der Struktur (oder „Form" in seiner Terminologie), zukommt, verstieg er sich zu der Behauptung, daß es „in der Sprache nur Verschiedenheiten gibt" [227, 143] und daß „in der Sprachwissenschaft natürliche Gegebenheiten nicht vor29.

ihanden sind" [227, 95]. Da hier die Begriffe Struktur und System miteinander identifiziert werden, haben de Saussures Nachfolger recht, wenn sie sich als •Strukturalisten bezeichnen, denn sie erforschen nur einen Aspekt des Sprachmechanismus, die Sprachstruktur. Auch aus der Tatsache, daß es — infolge ungenügender Erfahrungen mit den damaligen Strukturanalysen — bequemer und wirksamer war, die Struktur aus einem s t a t i s c h e n Objekt zu ermitteln, wurde ein Prinzip gemacht. Statik wurde zum unveräußerlichen Wesenszug des Systems als solchen erklärt und jede Dynamik als Ausdruck der Systemlosigkeit aufgefaßt. Daraus ergaben sich die Verabsolutierung der Rolle synchroner Untersuchungen und die Identifizierung des Begriffes System mit Statik und Synchronie (vgl. de Saussures These, daß das System „an sich selbst . . . unveränderlich" ist [227, 100] oder •daß- „die Sprache ein System" ist, „dessen Teile in ihrer synchronischen Wechselbeziehung betrachtet werden können und müssen" [227, 103]). Diese zum Prinzip erhobenen Thesen von der Abgeschlossenheit des Sprach-systems, von seiner Statik, Körperlosigkeit und Substanzlosigkeit wurden von einem Teil der Linguisten kritisch aufgenommen (von den funktionalen Schulen -und Richtungen), von anderen, den Vertretern der glossematischen Richtung (vgl. S. 44), hingegen aufgegriffen und logisch zu Ende geführt. Das Neueste i und Fruchtbarste in Saussures Lehre hervorhebend, schrieb L. Hjelmslev sogar, sein Hauptverdienst sei „die Auffassung der Sprache als reiner Struktur von Beziehungen, als Schema, als etwas, was der zufälligen (phonetischen, semantischen usw.) Realisierung, in der dieses Schema zutage tritt, entgegengesetzt ist" [46, 52]. Aber niemand unter den Linguisten der verschiedenen Schulen, •ob sie nun bestimmte Auffassungen de Saussures annahmen oder ablehnten, niemand zog die Ausgangsthese seiner Lehre in Zweifel, daß die Sprache ein System ist, daß sie ein ganzheitliches Gebilde darstellt, in dem alles miteinander zusammenhängt und sich gegenseitig bedingt. Die Orientierung auf diesen Begriff in Theorie und Praxis der gesamten linguistischen Arbeit wurde zu einer spezifischen Besonderheit des frühen Strukturalismus. Wie W. Brendal ausführte, trat ein Begriff in das Blickfeld vieler Wissenschaften, der es erlaubt, „die rationalen Beziehungen innerhalb des zu erforschenden Objekts genauer zu erfassen. Fast überall kommt man zu der Überzeugung, daß das Reale in seinem Ganzen eine enge Verbindung, eine besondere Struktur besitzen muß" [161, 5/6]. Dabei zitiert Brondal Lalande, der den Terminus „Struktur" zur „Bezeichnung des Ganzen benutzt, das im Gegensatz zur einfachen Verbindung von Elementen aus wechselseitig bedingten Erscheinungen besteht, von denen eine jede von den anderen abhängt und nur in Verbindung mit ihnen als solche bestehen kann". Mit der gleichen Wertschätzung zitiert er die Definition des Strukturalismus, die M. Claparede gibt: „Diese Konzeption besteht darin, die Erscheinungen nicht als eine Summe von Elementen zu betrachten, die vor allem isoliert, analysiert und zergliedert werden müssen, sondern als Z u s a m m e n h ä n g e von autonomen Einheiten, die wechselseitig bedingt sind und ihre eigenen Gesetze haben. Daraus folgt, daß die Existenzform eines jeden Elements von der Struktur des Ganzen und von den 30

Gesetzen, die es steuern, abhängt." [161, 6]. Infolgedessen kam es zu einer erstaunlichen Veränderung der Verfahren der linguistischen Analyse. S t a t t von der detaillierten Erforschung der einzelnen Sprachelemente auszugehen und ein Bild von ihrer Gesamtheit zu schaffen, wurde nunmehr eine prinzipiell andere Prozedur vorgeschlagen: die Rolle eines jeden Elements auf Grund seiner Position im Ganzen zu bestimmen und jedes isolierte F a k t nur im Hinblick auf die Organisation dieses Ganzen zu erforschen. I n den Thesen des Prager Linguistenkreises wird der programmatische Satz aufgestellt: „Keine Erscheinung der Sprache ist ohne Berücksichtigung des Systems, dem sie angehört, zu verstehen" [233, 7]. Der Ausgangsbegriff jedoch, auf Grund dessen erst eine solche Einschätzung vorgenommen werden kann, blieb noch lange verschwommen und unbestimmt; die Notwendigkeit, vom System auszugehen, wurde eher deklariert als in der Praxis verwirklicht, da der Systembegriff noch nicht explizit entwickelt worden war. Meist wurde damit ein bestimmtes einzelnes Gebiet von Erscheinungen bezeichnet, die durch ein gemeinsames regulierendes Prinzip vereinigt sind, mitunter diente er auch zur Bezeichnung der regulierenden und ordnenden Erscheinung des Prinzips selbst. Aus Mangel an Faktenmaterial war es jedoch noch nicht möglich, diese allgemeinen Prinzipien der Organisierung der Sprache insgesamt auf einmal zu bestimmen. Die Suche nach dem Systemcharakter der Sprache begann naturgemäß mit der A n a l y s e d e r o r g a n i s i e r e n d e n G r u n d l a g e i n n e r h a l b d e r e i n z e l n e n S u b s y s t e m e d e r S p r a c h e . Als Ausgangsgröße, mit der man einzelne Formen zu charakterisieren versuchte, diente in Wirklichkeit nicht so sehr das Sprachsystem en globe, als vielmehr seine einzelnen Subsysteme, seine wichtigsten Glieder. Dementsprechend wurden in den konkreten Forschungen nicht Beziehungstypen innerhalb der Gesamtsprache, sondern Beziehungstypen innerhalb einzelner begrenzter Systemabschnitte untersucht. Noch 1958 stellte R. Wells auf dem 8. Internationalen Linguistenkongreß mit vollem Recht fest, daß „der Strukturalismus sich bis in die jüngste Zeit mit der Erforschung verschiedener Teile der Sprache beschäftigt hat, daß aber noch niemand eine Sprache als Ganzes (a whole language) vom strukturellen Standpunkt aus untersucht h a t " [245, 664]. Der erste Einzelbereich eines Systems, innerhalb dessen allgemeine Prinzipien seiner Beschaffenheit festgestellt und die Grundtypen sprachlicher Beziehungen ermittelt wurden, war der phonologische Bau der Sprache. Daraus ergab sich die besondere Rolle der Phonologie bei der Entwicklung des Strukturalismus und, umgekehrt, die besondere Bedeutung der allgemeinen strukturalistischen Ideen für die Entwicklung der Phonologie [97, 105]. Eben am Beispiel der Phonologie trat die Effektivität struktureller Untersuchungen des Faktenmaterials und die Fruchtbarkeit struktureller Forschungsmethoden klar zutage. Die Prinzipien für die Beschreibung phonologischer Systeme, und zwar in der Synchronie wie in der Diachronie, fanden dann auch in andere Gebiete der Sprachwissenschaft Eingang und erfaßten schließlich auch die Erforschung der allgemeinsten Gesetzmäßigkeiten, die die Funktionsweise der Sprache insgesamt bestimmen. Nach V. Mathesius liegen der neuen Linguistik (d. h. dem frühen Strukturalismus) drei Hauptgedanken zugrunde: 31

1. „die Forderung nach synchronischer Analyse der Sprache"; 2. „die Idee vom Sprachsystem, von der Sprachstruktur"; 3. die „Idee von der Sprachfunktion, die Baudouin schon vor de Saussure entwickelt hatte" [217, 25], d. h. die Idee der Analyse sprachlicher Einheiten durch Aufdeckung ihrer (äußeren) Beziehungen und Verbindungen. F ü r alle Richtungen des Strukturalismus wurde gerade die Idee vom Systemcharakter der Sprache ausschlaggebend, und ihre Verbreitung und Weiterentwicklung hatte trotz der relativ einseitigen Auslegung in der ersten Zeit weitreichende Folgen. Denn selbst bei einer engen Auffassung vom Sprachsystem führte allein schon die These von ihrem Systemcharakter in der Praxis zu der Erkenntnis noch nicht bekannter sprachlicher Fakten, zu einer Neubewertung offenkundiger Eigenschaften, zu der Möglichkeit, viele bekannte, aber bislang noch nicht verstandene Erscheinungen zu erklären. Solche Fakten, Eigenschaften, Erscheinungen waren in erster Linie die Abhängigkeiten des Ganzen von seinen Bestandteilen und umgekehrt die Abhängigkeiten der Teile vom Ganzen. Das heißt, die Systemnatur der Sprache wurde vor allem in den Kategorien der wechselseitigen B e d i n g t h e i t u n d des Z u s a m m e n h a n g s der E i n z e l e r s c h e i n u n g e n erforscht. Der Grundsatz von der wechselseitigen Abhängigkeit der Teile des Ganzen bei dominierender Rolle des Ganzen erlangte unter den frühen Strukturalisten allgemeine Anerkennung. So behaupteten die Glossematiker, wenn man das Ganze kennt, könne man selbst auf die Elemente schließen, die noch nicht festgestellt worden sind, könne man deren Eigenschaften voraussagen sowie die Veränderungen voraussehen, die in den bereits erkannten Elementen auf Grund der allgemeinen Organisation des Ganzen vor sich gehen können (Näheres s. [81, 138ff.]). Auch die englischen Strukturalisten weisen darauf hin, daß jede linguistische Kategorie von der Einheit, in der sie beobachtet wird, abhängig ist: So unterscheidet sich der Nominativ in einem 4-Kasus- System grundsätzlich von dem gleichen Fall in einem 2-Kasusbzw. 14-Kasus-System [174,227] (vgl. auch [227, 139]). I n diesen Auffassungen ist unschwer eine direkte Parallele zu den Feststellungen der ersten Phonologen zu erkennen, daß die phonologischen Eigenschaften phonetisch identischer Laute in verschiedenen Sprachen eben deshalb nicht identisch sind, weil sie in verschiedenen Oppositionssystemen funktionieren (233, 10; 238, 40; 19,56ff.]. Der Gedanke von der wechselseitigen Bedingtheit der Spracherscheinungen, der ursprünglich am Material begrenzterer Bereiche des Sprachsystems nachgewiesen wurde, drang allmählich auch in die Theorie von der Evolution der Sprache ein und erfaßte, durch neue Beweise bestätigt, auch die Lehre vom Mechanismus der ganzen Sprache. Somit bereitete die Anhäufung von Kenntnissen von den Struktur- und Systemeigenschaften einzelner linguistischer Subsysteme allmählich die Möglichkeit vor, das Sprachsystem nicht mehr nur ausschnittsweise, sondern in seiner Gesamtheit adäquater zu beschreiben. An die Stelle der Aufgabe, in der Sprache alles festzustellen, was s y s t e m h a f t , regelmäßig, geordnet, zusammenhängend usw. ist, t r a t allmählich die Aufgabe, diese Erkenntnisse zu verallgemeinern. Die damals vorgebrachte Auffassung von der Sprache als einem System von Systemen war indes noch nicht frei von der fragmentarischen Betrachtungsweise der Junggrammatiker, denn die Sprache 32

wurde nach wie vor, wenn auch auf einem höheren Niveau der Abstraktion, als ein Gebilde betrachtet, das in einzelne Teile zerfällt, deren gegenseitige Beziehungen weitgehend unklar waren. Daher ist es ganz natürlich, daß sich die Entwicklung der strukturellen Anschauungen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts auf neue Probleme konzentrierte. Neue Lösungen wurden auch für den konkreten Inhalt des Begriffes Sprachsystem vorgeschlagen. Bevor wir uns ihrer Behandlung zuwenden, sei noch einmal festgestellt: Solange die Forscher keine überzeugenden Beweise für den Systemcharakter begrenzter und leicht überschaubarer Teile der Sprache und, was das Wichtigste ist, keine konkreten Zeugnisse für ihre wechselseitige Bedingtheit hatten, konnten sie kein vollständiges Bild von der Ganzheitlichkeit der Sprache darbieten, von der sie in ihren intuitiven Vorstellungen letzten Endes ausgingen (und sie können das zum Teil auch heute noch nicht). Die wissenschaftliche Erforschung des Sprachsystems hat daher auch gegenwärtig eine besondere Form, sie läuft auf die Untersuchung der verschiedenen Aspekte des Mechanismus der Sprache und ihrer Funktionsweise, in erster Linie ihrer Zusammensetzung S t r u k t u r und B e s t i m m u n g hinaus. Die damit zusammenhängenden Systemmerkmale können wohl als die am besten erforschten gelten.

Die Beschreibung des Sprachsystems und seiner wichtigsten Merkmale in der neueren

Linguistik

Während wir im vorangegangenen Abschnitt die Ursprünge der Struktur- und Systemmethode und die Anfangsperioden bei der Erforschung der Eigenschaften, auf Grund deren von der Sprache als einem besonderen System mit eigener Struktur gesprochen werden kann, behandelt haben, wollen wir in diesem Abschnitt zu zeigen versuchen, welch realer Inhalt in der neueren Linguistik in die Begriffe Sprachsystem und Sprachstruktur gelegt wird, das heißt, seit wann diese Begriffe Gegenstand spezieller Forschung und Beschreibung sind. Diese Aufgabe wird dadurch erschwert, daß die Beschreibung des Sprachsystems ganz verschiedene Formen annimmt, je nachdem, wie m a n die N a t u r der Sprache und ihre Wesenszüge auffaßt und unter welchen Gesichtspunkten und mit welchem Ziel man die Sprache untersucht. Allgemein bekannt ist ferner, daß die Begriffe System und Struktur nicht nur verschieden erklärt und nicht eindeutig definiert werden, sondern daß sie häufig überhaupt nicht unterschieden, sondern miteinander vermengt werden. Dabei nimmt die Zahl derjenigen Linguisten ständig ab, die die Zweckmäßigkeit der Verwendung dieser Begriffe in der linguistischen Praxis bestreiten oder ihnen geringe Aussagekraft zuschreiben (vgl. [113, 52]), dagegen halten es immer mehr Linguisten f ü r notwendig und wünschenswert, sie explizit zu erklären und sie zu präzisieren. „Der Begriff des Sprachsystems", schreibt zum Beispiel R . A. Budagow, „ist trotz all seiner Bedeutung ungenügend artikuliert . . er muß präzisiert und im Hinblick auf verschiedene Sprachen und verschiedene Seiten der Sprache differenziert werden" [16, 43]. Auf den zweiten Teil dieser Frage wollen wir in diesem Abschnitt eine Antwort zu geben versuchen. 33

wurde nach wie vor, wenn auch auf einem höheren Niveau der Abstraktion, als ein Gebilde betrachtet, das in einzelne Teile zerfällt, deren gegenseitige Beziehungen weitgehend unklar waren. Daher ist es ganz natürlich, daß sich die Entwicklung der strukturellen Anschauungen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts auf neue Probleme konzentrierte. Neue Lösungen wurden auch für den konkreten Inhalt des Begriffes Sprachsystem vorgeschlagen. Bevor wir uns ihrer Behandlung zuwenden, sei noch einmal festgestellt: Solange die Forscher keine überzeugenden Beweise für den Systemcharakter begrenzter und leicht überschaubarer Teile der Sprache und, was das Wichtigste ist, keine konkreten Zeugnisse für ihre wechselseitige Bedingtheit hatten, konnten sie kein vollständiges Bild von der Ganzheitlichkeit der Sprache darbieten, von der sie in ihren intuitiven Vorstellungen letzten Endes ausgingen (und sie können das zum Teil auch heute noch nicht). Die wissenschaftliche Erforschung des Sprachsystems hat daher auch gegenwärtig eine besondere Form, sie läuft auf die Untersuchung der verschiedenen Aspekte des Mechanismus der Sprache und ihrer Funktionsweise, in erster Linie ihrer Zusammensetzung S t r u k t u r und B e s t i m m u n g hinaus. Die damit zusammenhängenden Systemmerkmale können wohl als die am besten erforschten gelten.

Die Beschreibung des Sprachsystems und seiner wichtigsten Merkmale in der neueren

Linguistik

Während wir im vorangegangenen Abschnitt die Ursprünge der Struktur- und Systemmethode und die Anfangsperioden bei der Erforschung der Eigenschaften, auf Grund deren von der Sprache als einem besonderen System mit eigener Struktur gesprochen werden kann, behandelt haben, wollen wir in diesem Abschnitt zu zeigen versuchen, welch realer Inhalt in der neueren Linguistik in die Begriffe Sprachsystem und Sprachstruktur gelegt wird, das heißt, seit wann diese Begriffe Gegenstand spezieller Forschung und Beschreibung sind. Diese Aufgabe wird dadurch erschwert, daß die Beschreibung des Sprachsystems ganz verschiedene Formen annimmt, je nachdem, wie m a n die N a t u r der Sprache und ihre Wesenszüge auffaßt und unter welchen Gesichtspunkten und mit welchem Ziel man die Sprache untersucht. Allgemein bekannt ist ferner, daß die Begriffe System und Struktur nicht nur verschieden erklärt und nicht eindeutig definiert werden, sondern daß sie häufig überhaupt nicht unterschieden, sondern miteinander vermengt werden. Dabei nimmt die Zahl derjenigen Linguisten ständig ab, die die Zweckmäßigkeit der Verwendung dieser Begriffe in der linguistischen Praxis bestreiten oder ihnen geringe Aussagekraft zuschreiben (vgl. [113, 52]), dagegen halten es immer mehr Linguisten f ü r notwendig und wünschenswert, sie explizit zu erklären und sie zu präzisieren. „Der Begriff des Sprachsystems", schreibt zum Beispiel R . A. Budagow, „ist trotz all seiner Bedeutung ungenügend artikuliert . . er muß präzisiert und im Hinblick auf verschiedene Sprachen und verschiedene Seiten der Sprache differenziert werden" [16, 43]. Auf den zweiten Teil dieser Frage wollen wir in diesem Abschnitt eine Antwort zu geben versuchen. 33

Wenn wir die vorhandenen Auffassungen vom Sprachsystem und von seiner Struktur zusammenfassen, halten wir es für zweckmäßig, statt einer einfachen Aufzählung verschiedener Standpunkte einige Hauptlinien bei der Behandlung des Sprachsystems und seiner Komponenten aufzuzeigen und die Konzeptionen kritisch zu analysieren, die wirklich zur Klärung des Wesens dieses Begriffs in dieser oder jener Hinsicht beigetragen haben. Unseres Erachtens sind wenigstens fünf Grundrichtungen bei der Erforschung des Sprachsystems zu nennen: 1. die inventarisierend-taxonomische; 2. die funktionale; 3. die eigentlich strukturelle; 4. die stratifikationelle; 5. die topologische. Als besondere Varianten der Systemkonzeption der Sprache kann auch die semiologische oder z e i c h e n h a f t e I n t e r p r e t a t i o n des Sprachsystems gelten, die das Sprachsystem als Zeichensystem untersucht. Nach dieser Auffassung ist die Sprache ein Kode zur Gestaltung, Vermittlung und Speicherung von Mitteilungen, das heißt, sie ist ein Gebilde, das der Kodierung von Zeichen dient, die höheren Systemen angehören. Diese Konzeption erlaubt, solche Eigenschaften linguistischer Systeme zu präzisieren wie die, daß das Sprachsystem aus Zeichen besonderer Natur besteht, die durch Bilateralität, Beliebigkeit, Linearität und Asymmetrie zwischen Bezeichnendem und Bezeichnetem usw. charakterisiert werden. Da dieser Aspekt des Sprachsystems aber bereits eingehend behandelt worden ist (vgl. Band I, Kap. 2), kommen wir hier auf Einzelheiten dieser Auffassung nicht mehr zurück. Das gleiche gilt für die Analyse der Sprache als d y n a m i s c h e s S y s t e m , die die Aufdeckung der Eigenschaften des Sprachsystems ermöglicht, die sich aus dessen Definition als eines besonderen adaptiven, sich selbst organisierenden Mechanismus ergeben (Näheres vgl. ebd, S. 177ff.). Wir gehen also nur auf die Aspekte im Aufbau des Sprachsystems ein, die im vorliegenden Werk noch nicht speziell untersucht worden sind und die unmittelbar die allgemeine Charakteristik dieses Systems betreffen, das heißt, wir wollen nunmehr einige der wichtigsten Modelle des Sprachsystems beschreiben: das i n v e n t a r i s i e r e n d - t a x o n o m i s c h e , das eine Vorstellung von seiner Zusammensetzung vermittelt (Punkt a); das f u n k t i o n a l e , durch das Kenntnisse über die Bestimmung des Systems gewonnen werden (Punkt b); das eigentlich s t r u k t u r e l l e , das im Sprachsystem das Netz von Beziehungen und Zusammenhängen aufdeckt, das es zusammenhält (Punkt c und d); das Stratifikationsmodell, das die Schichtung des Systems und die Hierarchie seiner Teile beschreibt (Punkt e), und schließlich das t o p o l o g i s c h e , das die Metrik des Systems widerspiegelt (Punkt f). Diese hier aufgezählten Modelle, die im allgemeinen verschiedene Aspekte linguistischer Systeme charakterisieren, enthalten allerdings auch Vorschläge für die Beschreibung ihrer Mechanismen, die sieh in Einzelheiten nicht gegenseitig ausschließen; ja man kann sogar sagen, daß sich diese Modelle bis zu einem gewissen Grade gegenseitig ergänzen bzw. präzisieren, weil jedes von ihnen in der Regel auf Grund der 34

Systemhaftigkeit der Sprache nicht nur ein bestimmtes Merkmal, sondern auch die damit zusammenhängenden Eigenschaften behandelt. Die Erforschung des: Sprachsystems als Ganzes erfolgt daher durch Beschreibung seiner einzelnen grundlegenden Eigenschaften auf Grund einer Analyse derjenigen Strömungen, die diese Eigenschaften erstmalig am umfassendsten und angemessensten a u f gehellt haben.

a) Die Frage n a c h der Zusammensetzung des linguistischen Systems u n d die inventarisierend-taxonomische R i c h t u n g seiner Erforschung Die Frage, woraus das Sprachsystem besteht, aus welchen Elementen es sieb zusammensetzt, wird offenbar niemals an Bedeutung verlieren. I n dem Maße, wie sich die Analyse vertieft, wie sich unsere Methoden zur Ermittlung und Beschreibung sprachlicher Erscheinungen vervollkommnen, verändern sich auch unsere Vorstellungen von den Bestandteilen der Sprache. Andererseits wäre esmüßig, all das aufzuzählen, was uns bisher bereits über die Elemente bzw. Einheiten, die das Sprachsystem bilden, bekannt ist. Es gibt eigentlich keine linguistische Richtung, die inventarisierend-taxonomischen Problemen keine Beachtung schenken würde. Die moderne Sprachwissenschaft hat seit Baudouin de Courtenay und de Saussure auch in dieser Hinsicht viel Wichtiges, und Wertvolles geleistet. Die früheren Linguistengenerationen hatten vor allem die aktuell beobachtbaren und aktuell unterscheidbaren Redeteile als reale Teile des zusammenhängenden Redestroms oder des zusammenhängenden Textes registriert, das heißt, sie hatten empirisches Material gesammelt und klassifiziert, indem sie die unmittelbaren Gegebenheiten, die „Erscheinungsformen" der Sprache analysierten. F ü r die moderne Linguistik hingegen steht die Ermittlung abstrakter Gegebenheiten, die für die Feststellung der Sprachteile als Glieder eines Systems wichtig sind, im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit. Ein für diese ganze Richtung zentrales Problem ist daher die Ausgliederung und Beschreibung der Spracheinheiten und Beschreibungseinheiten. Durch die Bemühungen von Sprachwissenschaftlern verschiedener Richtungen (darunter auch des eigentlichen Deskriptivismus) wurde die Lehre von den Elementareinheiten des Sprachbaus, die besondere Bereiche seiner Organisation konstituieren, die Lehre von ihren Typen und Modellen, ihrer Kombinatorik und Anordnung usw. begründet . Seitdem wurden nicht mehr die realen Ausschnitte, die die Sprache manifestieren, als Bestandteile des Sprachsystems betrachtet, sondern die dahinter stehenden invarianten Einheiten. „Die Linguistik", schreibt G. Kluckhohn, „hat als einziger Zweig der Anthropologie elementare Einheiten (Phoneme, Morpheme usw.) entdeckt, die universell, objektiv und theoretisch gültig sind" [199, 507]. Wie indes zahlreiche Forschungen zur Präzisierung des Status dieser Einheiten in der Sprache (Näheres dazu siehe in den entsprechenden Kapiteln des vorliegenden Bandes) nachgewiesen haben, erweisen sich Einheiten, die für die Beschreibung einzelner sprachlicher Subsysteme genügen, als inadäquat, wenn es darum geht, die ganze Kompliziertheit des Sprachsystems insgesamt widerzuspiegeln. Das haben die Mißerfolge der Deskriptivisten besonders deutlich 35

gezeigt. Die Beschreibung in morphematischen Termini zum Beispiel, die auf der eigentlichen Ebene der Morphologie notwendig ist, kann keineswegs eine erschöpfende Vorstellung vom Sprachsystem vermitteln, und es liegt auf der Hand, daß diese Einheit für den Übergang zu anderen Sprachebenen allein nicht ausreicht. Die englischen Wissenschaftler hatten zweifellos recht, wenn sie den amerikanischen Linguisten vorwarfen, daß sie nur die einfachsten Systemelemente beachteten, aus denen ebensowenig wie aus Würfeln größere und umfassendere Einheiten entstehen können. Parallel zu den ihren allgemeinen Zielsetzungen nach analogen Forschungen in anderen Wissenschaften (vgl. die Erforschung der Elementarteile in der theoretischen Physik, die Erforschung der Moleküle in der Chemie, der Gene in der Biologie usw.), in denen es um die Feststellung der kleinsten Elemente der Objekte der betreffenden Wissenschaft geht, wurden in der Linguistik Forschungen durchgeführt, die den besonderen ständigen Verbindungen dieser Einheiten, ihren regelmäßigen Anordnungen bzw. Gruppierungen usw. gewidmet sind. Die Linguisten erkannten die Notwendigkeit, bei der Beschreibung des Sprachsystems mit umfassenderen Kategorien zu operieren und dabei die Erkenntnisse zu nutzen, die bereits auf den vorangegangenen Entwicklungsetappen der Sprachwissenschaft erzielt worden waren. Von neuen Positionen aus wurde die Frage nach den Bestandteilen der Sprache wieder aufgegriffen, den grammatischen Kategorien, den Redeteilen, den Formklassen, den paradigmatischen Reihen usw. Die Lehre von den Einzelgebieten der Sprachwissenschaft wurde zur Lehre vom Vorhandensein mehrerer Subsysteme bzw. mehrerer Ebenen in Beziehung gesetzt. Der Begriff der Bestandteile des Systems machte jedoch nicht nur deshalb wesentliche Veränderungen durch, weil die zu untersuchenden Einheiten und der Grad der Abstraktion von den Substanzfolgen, in denen sie sich verkörpern, immer größer wurden. Wie in anderen Wissenschaftsgebieten wurde nunmehr auch in der Linguistik damit begonnen, verschiedene Typen von Beziehungen und Verhältnissen als besondere Glieder des Systems zu erforschen. Obgleich die frühen Strulsturalisten, also im wesentlichen die ersten Phonologen, bereits die Verschiedenartigkeit der in der Sprache zu beobachtenden Abhängigkeitstypen festgestellt hatten, behaupteten dennoch zahlreiche Wissenschaftler im Anschluß an de Saussure nach wie vor, daß das Sprachsystem allein auf Gegenüberstellungen bzw. Oppositionen beruhe. Damit wurden die Gegenüberstellungen der Elemente des Sprachsystems, die in Wirklichkeit nur e i n e Form sprachlicher Beziehungen, nur e i n e Form ihrer Anordnung darstellen, hypostasiert. Diese Auffassung, die in verschiedenen Varianten weite Verbreitung fand, hat einerseits dazu geführt, daß der Begriff des Netzes der Beziehungen und Verhältnisse in der Sprache unberechtigterweise auf den Begriff des Netzes von Oppositionen reduziert (Näheres vgl. [140, 10—12]) und so der Begriff der Sprachstruktur eingeengt wurde. Andererseits aber wurde der gleiche Gedanke in einer anderen, fruchtbareren Richtung entwickelt :• Ausgehend von diesen Gedanken, wurden die distinktiven Merkmale gesucht, die die Oppositionen als bestimmten Beziehungstyp konstituieren und es gestatten, diesen von allen anderen zu unterscheiden. Dadurch erschloß man neue Ebenen im Aufbau des Sprachsystems, und Elemente, die auf einer Ebene nicht weiter zerlegbar waren 36

(wie zum Beispiel das Phonem), erwiesen sich auf einer tieferen Ebene als zerlegbar. Die Unterscheidung solcher distinktiven Merkmale sowohl auf der Ausdrucks- als auch auf der Inhaltsebene trug dazu bei, daß sich die Vorstellungen vom Sprachsystem differenzierten und vertieften. Die Möglichkeiten, diese Vorstellungen weiter zu entwickeln, sind bei weitem noch nicht erschöpft, und es gibt keinen Zweifel, daß z. B. die Komponentenanalyse f ü r die Semantik noch sehr viel Wertvolles erbringen wird (vgl. die Arbeiten von I. A. Meltschuk, A. K . Sholkowski, J . D. Apresjan u. a.). Wenn die Vertreter der strukturellen Linguistik ihre Aufmerksamkeit auf die Beschreibung von Oppositionen konzentrierten, dann waren sie nicht deshalb im Unrecht, weil sie diesem Beziehungstyp außerordentlich große Bedeutung beimaßen; denn schon allein der Gedanke von einer Gegenüberstellung und Korrelation der Spracheinheiten innerhalb eines Systems ist überaus wichtig [17, 175]. Einen Fehler begingen sie vielmehr dadurch, daß sie diesen Beziehungstyp als den einzigen, die Funktionsweise des Sprachmechanismus bestimmenden Typ ausgaben und es daher nicht vermochten, „die reale Vielfalt der Beziehungen in der Sprache aufzudecken, in der alles nicht in gleichem Maße 'se tient' und deren System feiner organisiert ist, als man vermutet, wenn man de Saussures These (von der gegenseitigen Bedingtheit, gegenseitigen Ausschließung und Gegenüberstellung der Sprachelemente) allzu wörtlich n i m m t " [17, 176/7]. Die Taxonomik linguistischer Abhängigkeiten weist oft nur begrenzte Formen auf. Die Deskriptivisten erforschten vorwiegend nur einen Typ von Beziehungen, nämlich die distributiven, wobei sie Abhängigkeiten eher in syntagmatischen als in paradigmatischen Reihen feststellten. So wurde auch hier das Inventar der Beziehungen nur verkürzt und unvollständig dargestellt. Dazu kommt, daß die beobachteten Beziehungen in der ersten Zeit mehr registriert und aufgezählt, als daß ihre Hierarchie und ihre wechselseitige Abhängigkeit aufgedeckt wurden. Eben deshalb erwies sich die deskriptive Sprachwissenschaft, die viel für die Vervollkommnung der Technik der linguistischen Analyse und die Präzisierung der Verfahren zur Unterscheidung und Identifizierung der Einheiten getan hat, außerstande, eine klare Definition für das Netz der festgestellten Beziehungen (d. h. für die Struktur der Sprache) zu geben oder gar das Sprachsystem insgesamt zu beschreiben. Mit der Registrierung der Prinzipien f ü r die Verteilung der sprachlichen Grundeinheiten innerhalb der syntagmatischen Ketten haben die Wissenschaftler dieses Lagers jedoch den Boden für die Ausarbeitung von Regeln zur Überführung der einen Einheiten in andere bereitet und damit die Verallgemeinerung dieser Fakten im Rahmen eines zukünftigen Transformations- und Statifikationsmodells ermöglicht. Insgesamt hat also die taxonomische Forschungsrichtung, die einen immer ausgeprägteren strukturellen Charakter annahm (sie orientierte sich im wesentlichen auf die Feststellung der Beziehungen und Zusammenhänge innerhalb bestimmter Systemabschnitte und führte zur Auffassung der Spracheinheiten als Bündel von Schnittpunkten dieser Beziehungen), zweifellos zur Erweiterung unserer Vorstellungen von den Bestandteilen des Sprachsystems beigetragen und logisch an die Frage herangeführt, wie und auf welche Art und Weise sich diese Elemente zu einem Ganzen zusammenfügen. Ohne die in den Modellen 4

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dieses Typs ermittelten grandlegenden Systemelemente - von den kleinsten distinktiven Merkmalen bis hin zu den umfangreichsten Elementen, den Subsystemen oder Ebenen - wäre es unmöglich, den Spraehmechanismus insgesamt zu beschreiben. Indes darf nicht außer acht gelassen werden, daß das Sprachsystem, auch wenn es durch eine begrenzte Zahl phonologischer, morphologischer usw. Einheiten und ihrer Modelle charakterisiert wird (vgl. [141, 40]), nicht einfach auf deren Summe reduziert werden kann. Das heißt aber, daß Definitionen des Sprachsystems in Termini seiner Komponenten (seien das nun Termini für eine Menge von Beziehungen [88], von Elementen [183, 40] oder sogar von Elementen und Beziehungen [114, 6]) ohne entsprechenden Hinweis auf die durch deren Verbindung bewirkte funktionale Ganzheit und Einheit offenkundig unzureichend sind. „Das Wichtigste für uns", schreibt A. E . Lossew, ist die Lehre von der Sprache als einem S y s t e m , als einer G a n z h e i t , als einem in sich gegliederten einheitlichen System" [73, 25]. Die Tatsache, daß der Zusammenhang zwischen den Sprachelementen verschiedenartig ist und daß die einzelnen Teilsysteme der Sprache nicht gleichermaßen geordnet sind, veranlaßt manche Linguisten anzunehmen, daß der Kategorie der Ganzheit der Sprache zu große Bedeutung beigemessen wurde und daß sich diese Kategorie in der Sprachforschung überhaupt nicht anwenden lasse [138, 133-135]. Auch wenn die Abhängigkeiten zwischen den Elementen des Sprachsystems zweifellos unterschiedlich sind, könnte letzteres nicht als summatives oder additives System existieren, und die Auffassung, daß das System keine Ganzheit, sondern eine einfache oder selbst eine organisierte S u m m e darstelle, wird unseres Erachtens dem Gegenstand nicht gerecht. Neue Beweise hierfür wurden im Rahmen der Transformations- und Applikationsgrammatik erbracht. Die von ihnen aufgestellten Regeln für die Umformung der einen Einheiten in andere zeigen eindeutig nicht nur, wie eine unendliche Menge von Zeichen aus einer begrenzten Menge von Figuren wirklich gebildet wird - was allein schon von ihrer wechselseitigen Bedingtheit und Wirkung zeugt - , sondern auch, wie bei den Einheiten jeder neuen Ebene neue, integrale Eigenschaften entstehen. Besonders wichtig ist daher, daß in Grammatiken dieser Art nicht nur das Netz von Übergängen zwischen Einheiten gleicher Ordnung dargestellt wird, sondern auch zwischen Einheiten verschiedener Ebenen, an deren Grenze neue Eigenschaften entstehen, die sich nicht aus der Summe der Eigenschaften der der betreffenden Einheit angehörenden Elemente ableiten lassen. Mit dem Aufkommen von T r a n s f o r m a t i o n s g r a m m a t i k e n kam es auch zu wichtigen Veränderungen in der taxonomischen Auffassung vom Sprachsystem. Bei der Beschreibung der Beziehungen, die die Sprachstruktur konstituieren, wurde ihr prozessualer, dynamischer Aspekt hervorgehoben. Die Beziehungen zwischen den Einheiten wurden als eine Reihe von Regeln für die Bildung k o m p l i z i e r t e r e r Einheiten aus einer nicht sehr großen Zahl von Ausgangsobjekten oder Kernobjekten dargestellt. Parallel zu diesen Ausgangsobjekten wurden die Operationen zur Erzeugung (Konstruktion) möglicher Objekte beschrieben und die Begrenzungen festgelegt, die die Durchführung dieser oder jener Operation verhindern. Statt einer Beschreibung und Klassifizierung der resultativen E m 38

heiten wurde die Beschreibung und Klassifizierung der möglichen Umformungen von Ausgangseinheiten vorgeschlagen. I n dem von sowjetischen Linguisten ausgearbeiteten applikativen generativen Sprachmodell werden solche Transformationen als invariante Beziehungen zwischen verschiedenen Sprachstrukturen (z. B. syntaktischen Strukturen) definiert, die durch die Operation der Applikation erzeugt werden. Die Zahl der Transformationen in einer konkreten Sprache bedeutet die Zahl der möglichen Beziehungen zwischen den Spracheinheiten; so erreicht die Taxonomik eine neue Abstraktionsstufe. 5 Die Veränderung, die der Begriff von den Komponenten der Sprache durch die Ergebnisse der strukturellen Linguistik erfahren hat, hat auch wesentliche Auswirkungen für die Konstruktion eines universellen Sprachsystems in typologischen Untersuchungen, d. h. für die Beschreibung einer Etaionsprache. Die Klassifizierung der Sprachelemente berücksichtigt nicht nur die obligatorischen Bestandteile des Sprachsystems, sondern auch die Beziehungen zwischen ihnen. Sie beruht nicht selten auf einem Verzeichnis von Implikationen folgenden Typs : „Wenn in einem System A festzustellen ist, dann ist auch B festzustellen" oder „Bei entsprechenden Bedingungen geht A in B über" usw. Solche Aussagen von universellen Abhängigkeiten bilden ebenfalls einen wichtigen Zug der linguistischen Taxonomik auf ihrer neuen Entwicklungsetappe. Im ganzen fördert also die taxonomische Auffassung vom Sprachsystem die Erkenntnis des sprachlichen Mechanismus u n d wirft Probleme auf, die die Hierarchie der Sprachelemente, ihre Anordnung, ihre Verteilung usw. betreffen. Es kann keinen Zweifel darüber geben, daß die Beschreibung der Organisation der Sprache auch dann nicht adäquat sein kann, wenn wir nicht zugleich die Objekte beschreiben, deren Beziehungsnetz wir bei der Ermittlung der Sprachstruktur feststellen wollen. V. N. Jarzewa schreibt: „Auch wenn sich die Gegenüberstellungen auf einige Typen reduzieren lassen, hängt ihre Häufigkeit, ihr gegenseitiges Verhältnis und ihre Variabilität unmittelbar mit dem Charakter der einander gegenübergestellten Sprachelemente selbst zusammen" [140, 11]. Die Feststellung solcher Korrelationen zwischen Form und Substanz als Abhängigkeiten höherer Ebene beginnt erst, und diese Lücke in der Systemanalyse der Spracherscheinungen kann unserer Meinung nach erst geschlossen werden, wenn sich alle verschiedenartigen Gegebenheiten der sprachlichen Organisation zu einem Ganzen zusammenfügen lassen. Um das zu erreichen, muß vor allem eine so wichtige und entscheidende Eigenschaft des Sprachsystems wie seine F u n k t i o n untersucht werden. Diese Eigenschaft wird am eingehendsten von den Vertretern der funktionalen Linguistik beschrieben. 5

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Die Einschätzung dieser Seite der Transformationsgrammatik betrifft die von ihr aufgestellten Hegeln der Sprachbeschreibung und der Konstruktion linguistischer Einheiten, sie betrifft nicht deren Auffassung von der Synthese der Rede.

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b) Die funktionalen Besonderheiten des Sprachsystems und ihre Untersuchung unter teleologischem Gesichtspunkt In der funktionalen Auffassung vom Sprachsystem wird vor allem die B e s t i m m u n g des Sprachsystems betont. Nach J . Vacheks Worten bemüht sich die funktionale Forschungsrichtung um eine konsequente Ausarbeitung „des Begriffs vom Sprachsystem als einem Instrument des Denkens und der Kommunikation" [242,7]. Diese Interpretation des Sprachsystems, die durch das Interesse für den Platz der Sprache unter den anderen eine normale Tätigkeit der menschlichen Gesellschaft gewährleistenden Erscheinungen bedingt ist, wurde von den Vertretern des Prager Linguistenkreises, von sowjetischen Wissenschaftlern und teilweise auch von englischen Strukturalisten sowie von Strukturalisten, die der französischen Schule nahestehen, erarbeitet. Diese Interpretation beruht im allgemeinen auf der Erkenntnis, daß jedes Teilsystem, das eine komplizierte Einheit seiner Elemente bildet, zugleich wiederum als Element einer Einheit höherer Ordnung angehört und von diesem Standpunkt aus Teil eines übergeordneten Systems ist. In der Struktur eines solchen übergeordneten Systems, d. h. im Netze seiner Beziehungen und Verbindungen, nimmt das untersuchte Ausgangssystem eine besondere Stellung ein, die nicht mehr nur von seiner eigenen Zusammensetzung und seinen konkreten Substanzeigenschaften usw. abhängt, sondern auch von den realen Beziehungen, die zwischen ihm bzw. seinen Teilen und den anderen Elementen des übergeordneten Systems entstehen. Im Verband des übergeordneten Systems erlangt das System neue Struktureigenschaften, die die Ganzheit und Wirksamkeit des übergeordneten Systems gewährleisten und einen neuen Typ von Verbindungen ausdrücken. Diese Struktureigenschaften bilden die Punktionen des Systems. Diese Auffassung von der Funktion widerspricht nicht der allgemeineren mathematischen Auffassung dieser Kategorie, wonach die Funktion als eindeutige Zuordnung der Elemente einer Menge zu Elementen einer anderen Menge definiert wird (Näheres siehe auch S. 44). Bei der Untersuchung der Verbindungen zwischen den verschiedenen Teilen oder Elementen eines Systems kann es infolgedessen entweder um die Funktionen innerhalb des Systems oder um Funktionen zwischen den Systemen gehen, also um die Rolle und den Wert eines bestimmten Elements in bezug auf ein bestimmtes Subsystem oder in bezug auf das übergeordnete System insgesamt. Diese Definition geht davon aus, daß die strukturell-funktionale Charakteristik des Sprachsystems durch dessen vielseitige Beziehungen zu der uns umgebenden Wirklichkeit, die einzelne Strukturen bilden, bedingt ist. Man kann also sagen, daß die funktionale Auffassung vom Sprachsystem schon allein deshalb sehr viel Wertvolles enthält, weil sie, ohne die Selbständigkeit und Autonomie des Gegenstandes zu leugnen, sich gegen die Isolierung der Sprache von der außersprachlichen Wirklichkeit wendet [242, 13; 87, 50/1] und dafür vorschlägt, bei der Beschreibung der Sprache und der Gesetzmäßigkeiten ihrer Existenz und Entwicklung all das zu berücksichtigen, womit ihr System zusammenwirkt und wovon seine Existenz abhängt. Die Sprache wird hier als „System von Ausdrucksmitteln, die einem bestimmten Ziel dienen", definiert [233, 7]. Dieses

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Ziel besteht vor allem in der Gewährleistung der Kommunikation. Die funktionale Betrachtung des Sprachsystems ergibt sich folglich aus seiner Anerkennung als Mittel zur Weitergabe von Informationen, aus der Auffassung von der Sprache als einem Verständigungsmittel [139, 374]. „Als zentrale Funktion des Werkzeugs Sprache bleibt schließlich doch die Kommunikation, d. h. die gegenseitige Verständigung festzuhalten", betont A. Martinet. Die Sprache ist daher als eine menschliche Institution unter die anderen menschlichen Institutionen einzureihen [210, 16—18]. Analoge Auffassungen entwickelt auch E . Coseriu: Die Sprache gehört zu den Erscheinungen, die durch ihre Funktion bestimmt werden. „Die Sprache funktioniert nicht, weil sie ein System ist, sondern sie ist umgekehrt ein System, damit sie eine Funktion erfüllen und einem bestimmten Ziel entsprechen kann" [167, 17]; die Sprache existiert konkret als „Form oder Schema einer Tätigkeit" und „diese T ä t i g k e i t i s t s y s t e m h a f t " [167, 27 u. 28] und zielgerichtet [167, 110, 112-118, 123-130]. Als Hauptmerkmale des Sprachsystems gelten nach dieser Konzeption diejenigen, die die Erfüllung der kommunikativen Aufgaben gewährleisten. Die Eigenschaften der einzelnen Elemente werden nach ihrer funktionellen Beanspruchung bewertet, wichtigstes Kriterium für die Einteilung der Einheiten des Systems ist ihre Funktion, ist die Identität in der Rolle, die sie spielen. Alle Unterschiede, die nichts an der grundlegenden Bestimmung bzw. Funktion einer Einheit ändern, sind für ihre Identifizierung und Beschreibung belanglos. Der Funktionsbegriff durchdringt alle Gebiete der vielseitigen Tätigkeit der Prager Linguisten [19, 54ff. u. 98ff.] und wird von ihnen der Beschreibung der sprachlichen Subsysteme, der Grammatik und der Phonologie, zugrunde gelegt. E r wird auch zum zentralen Begriff für die Charakteristik des Sprachsystems insgesamt. Im Sprachsystem werden vor allem Beziehungen vom Typ „Mittel — Zweck" untersucht. Das Modell dieses Systems kann daher als z i e l g e r i c h t e t oder t e l e o l o g i s c h bezeichnet werden [139; 169, 28], Die grundlegende Besonderheit dieses Modells ist die strenge Unterscheidung von funktional relevanten und funktional nicht relevanten Erscheinungen und die Berücksichtigung allein der ersten. Das führt zur Differenzierung von bedeutungstragenden und nicht mit Bedeutung versehenen Elementen und damit zur besonderenBeachtung der Bedeutung der sprachlichen Einheiten. Alle Spracherscheinungen werden sowohl im Hinblick auf die Form als auch im Hinblick auf den Inhalt interpretiert; dabei wird die Auffassung vertreten, daß die Vernachlässigung der Bedeutungsseite für die linguistische Forschung ebenso schädlich ist wie die Vernachlässigung der Form [169, 24]. Positiv bei dieser Behandlung der Systemeinheiten ist auch die ständige Berücksichtigung ihrer konkreten Substanzeigenschaften, wobei die prinzipiellen Unterschiede zwischen den Struktur- und den Substanzmerkmalen der Einheiten und zugleich ihre tiefe wechselseitige Abhängigkeit betont werden (vgl. [220, 79]). Durch all das unterscheidet sich diese Auffassung vom Sprachsystem von derjenigen, die die amerikanischen Deskriptivisten einerseits und die Glossematiker andererseits vertreten [19, 124-126]. Von weiteren wichtigen Eigenschaften des Sprachsystems, die von Vertretern der funktionalen Linguistik festgestellt wurden, seien genannt: 41

Das Sprachsystem wird als ein nichtgeschlossenes System betrachtet, das in ständiger Wechselwirkung mit dem es umgebenden Milieu steht, sich den Bedingungen seiner Existenz anpaßt und daher beweglich ist; insgesamt wird es als o f f e n e s d y n a m i s c h e s S y s t e m definiert [169, 24—26; 241, 23]. V. M. Schirmunski formuliert als eine der Grundthesen der sowjetischen Linguistik: „. . . der Auffassung von der 'Synchronie' als 'statischer Linguistik', die für de Saussure und seine Schule charakteristisch ist, setzen wir die Auffassung von der Sprache als einem System entgegen, das sich — sowohl als Ganzes als auch in allen seinen Teilen — in Bewegung und Entwicklung befindet, so daß das wechselseitige Verhältnis zwischen den Teilen des Systems nicht durch statische Gegenüberstellungen auf horizontaler Ebene, sondern durch die Gesetze der Bewegung des Systems und seiner Elemente bestimmt wird" [35, 47]. Diese Auffassung vom Sprachsystem, die die Dynamik zu einem seiner unveräußerlichen Wesenszüge erklärt (vgl. Band I, S. 169 [57, 117ff.]), führte schließlich zur Entstehung einer besonderen Richtung, die das Sprachsystem ausschließlich als einen funktionierenden Mechanismus betrachtet (vgl. das Transformationsmodell und das Applikationsmodell). I n Zusammenhang mit der erwähnten Definition des Sprachsystems als eines beweglichen, seinem Wesen nach nichtstatischen Systems fanden in der sowjetischen und tschechoslowakischen Sprachwissenschaft Arbeiten weite Verbreitung, die die Tendenzen der inneren Sprachentwicklung, ihre inneren Entwicklungsgesetzmäßigkeiten erforschen und die damit schließlich die allgemeinen Vorstellungen von der Organisation der Sprache als eines Systemobjekts besonderer Art weiter bereichern. Innerhalb des Sprachsystems entstehen stets neue Elemente und sterben alte ab, die einen Elemente werden durch andere ersetzt, fortwährend erfolgt eine Umgruppierung und Umdeutung der vorhandenen Elemente entsprechend den für den gegebenen Systemzustand allgemeinsten Prinzipien seiner Organisation. Darauf beruht der Unterschied zwischen Neubildungen und Archaismen, zwischen produktiven und unproduktiven Erscheinungen, zwischen Elementen, die vollständig in das System integriert sind, und Elementen, die außerhalb des Systems bleiben bzw. nur teilweise einbezogen sind (vgl. den Begriff der verschiedenen Grade der Einbeziehung in das System bei A. Martinet und den Begriff des Systemkerns im Gegensatz zur Peripherie bei den tschechischen Linguisten [221; 243, 27ff.]). Das S p r a c h s y s t e m ist niemals völlig „regelmäßig" : Es s t r e b t nur n a c h G l e i c h g e w i c h t , o h n e e s im G r u n d e j e m a l s z u e r r e i c h e n . Die einzelnen Glieder des Systems hängen miteinander zusammen und sind voneinander abhängig, aber sie sind nicht streng ausgewogen; schwache Stellen im System, bestimmte Defekte und Unvollkommenheiten können ebenfalls zu seiner teilweisen Umbildung führen [169,25/6], i n s g e s a m t i s t f ü r S p r a c h s y s t e m e e i n l a b i l e s o d e r n u r r e l a t i v e s G l e i c h g e w i c h t c h a r a k t e r i s t i s c h [210, 186/7; 167,68—75]. Nach einem Gedanken von R . J a k o b s o n kann ein Teil der Veränderungen als therapeutische Umgestaltungen erklärt werden, die auf die „Verbesserung" des Systems und die Beseitigung schroffer Widersprüche gerichtet sind (Näheres s. [243, 20ff.]). Als „Verbesserung" des Systems gilt 42

all das, was seiner Vervollkommnung als adäquates Verständigungsmittel dient. Die funktionale Auffassung vom Sprachsystem führt in diesem Sinne auch zu neuen Fragestellungen bei diachronischen Problemen: Sprachliche Veränderungen werden „vom teleologischen Standpunkt in bezug auf das Sprachsystem insgesamt" erforscht [139, 376; 167, 101]. Die Veränderungen selbst werden als dynamische Komponenten des Systems betrachtet [197, 24]. Diese Komponenten sind durch Beziehungen dynamischer wechselseitiger Abhängigkeit verbunden, die ihrerseits als „Solidarität zwischen den Elementen eines jeden Teilsystems" und — im weiteren Sinne — „als Solidarität des ganzen Sprachsystems" aufgefaßt wird [167, 75 u. 76]. Diese von R . Jakobson, N . S. Trubetzkoy, A. Martinet u. a. formulierte und von vielen Vertretern der französischen soziologischen Schule (besonders von A. Meillet, M. Grammont u. a.) vertretene These wird von E. Coseriu dahingehend erklärt, daß „es in der Sprache keine autonomen und nicht miteinander in Verbindung stehenden Gebiete" gibt und daß in erster Linie „eine innere Solidarität zwischen Phonetik, Grammatik und Lexik besteht" [167, 76; vgl. 19, 87]. I m Gegensatz zu de Saussures Auffassung, daß das System „an sich sich . . . unveränderlich" sei [227, 100], ist in der funktionalen Linguistik die These verbreitet, daß die Evolution der Sprache eine Evolution ihres Systems ist und daß diachronische Fakten ebenso systemhaft sind wie synchrone. Ja noch mehr. Wie die sowjetischen Linguisten nachgewiesen haben (vgl. die Arbeiten von B. A. Serebrennikow, V. M. Schirmunski, V . N . Jarzewa, E. A. Makajew, M. M. Guchmanu. a.), zeigt sich gerade bei der historischen Untersuchung der Erscheinungen deutlich „nicht nur die Koexistenz, sondern auch die Wechselwirkung der lexikalischen, grammatischen und phonetischen Seite der Sprache" [141, 48]. Mit anderen Worten, diachronisches Material veranschaulicht nicht nur nicht weniger, sondern wohl noch deutlicher und überzeugender, daß wechselseitige Abhängigkeit und Korrelation aller Elemente der Sprache das Sprachsystem auf jeder beliebigen Etappe seiner Entwicklung charakterisiert [68, 145]. Ja auch rein a priori wäre es ungerechtfertigt anzunehmen, daß jede Spracherscheinung „nur mit den Fakten zusammenhängt, die das Sprachsystem eines gegebenen historischen Zeitraums im Unterschied zum Sprachsystem des vorhergehenden Zeitraums konstituieren, und sich vorzustellen, daß diese Tatsache keine Verbindungen zu dem vorangegangenen System habe . . . " [28, 11].

Die Gebiete, in denen sich die synchrone gegenseitige Bedingtheit der Erscheinungen am stärksten bemerkbar macht und die Verbindungen zwischen den einzelnen Elementen am engsten sind, werden nunmehr als besondere Mikrosysteme bzw. als Subsysteme des einheitlichen Sprachsystems betrachtet. Der These der amerikanischen Deskriptivisten, daß diese Subsysteme streng autonom und undurchlässig seien und daß die Ebenen der Analyse daher nicht vermengt werden dürfen, wird die These von ihrer tiefen wechselseitigen inneren Verbundenheit entgegengesetzt: Jede Ebene der Sprache ist autonom und zugleich von den anderen Ebenen abhängig. Der Grad dieser Abhängigkeiten ist für die verschiedenen Ebenen verschieden; am engsten sind die Kontakte zwischen angrenzenden oder benachbarten Ebenen: Dadurch, daß eine

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Ebene die folgende (in einer bestimmten Ordnung) unterstützt und ergänzt, bildet sieh eben das Spraehsystem. Die Verbindungen zwischen den Ebenen charakterisieren daher das Sprachsystem als Ganzes, dessen Teile in komplizierten hierarchischen und vielseitigen Beziehungen zueinander stehen, sie charakterisieren es als ein bestimmtes System von Systemen [235, 37; 240; 220, 77]. Der Sinn dieser Definition erschließt sich aber nicht durch eine vereinfachte Vorstellung vom Inventar (durch eine Aufzählung) der sprachlichen Subsysteme — diese Erkenntnisstufe kann wohl als überholt gelten — sondern, wie A. A. Reformatski es ausdrückte, durch die „strukturelle Aufgliederung in Ränge und Ebenen und durch eine Analyse des Systemzusammenhangs innerhalb einer jeden von ihnen" [97, 107]. Diese Methode wurde erstmals bei der Analyse des allgemeinen Beziehungsschemas in der Sprache, das heißt bei der Beschreibung des Relationsgerüsts des Sprachsystems realisiert. Für die tschechoslowakischen Linguisten sind die hier dargelegten Auffassungen strukturell und funktional zugleich [216,158; 1 6 9 , 2 4 ; 2 3 0 , 1 4 2 ; 90, 7]. Wenn die Prager Sprachwissenschaftler dabei betonen, daß die Definition „funktional" das Wesen dieser Konzeption genauer widerspiegelt, so wollen sie damit hervorheben, daß die Erforschung des Sprachsystems ihrer Meinung nach nur dann den Fakten gerecht werden kann, wenn die Analyse dieser Fakten auf ihre kommunikative Funktion orientiert ist [ 1 6 9 , 2 4 ; 243,6/7]. Diesen allgemeinen Thesen der Vertreter des Prager Linguistenkreises kann man nur beipflichten. Die Untersuchung des Sprachsystems unter diesem Gesichtspunkt gestattet es, die Einseitigkeiten des eng strukturellen Herangehens zu vermeiden, denn zur Erklärung der Natur des Sprachsystems und vor allem der Ursachen seiner Veränderung ziehen die „Funktionalisten" die Angaben über die Substanzeigenschaften der wechselseitig wirkenden Einheiten einerseits und über extralinguistische, die Sprache beeinflussende Faktoren andererseits heran. Bei eng struktureller Auffassung des Sprachsystems treten all diese Angaben in den Hintergrund oder werden überhaupt nicht berücksichtigt, da dabei ausschließlich eine einzige Komponente der Sprache, ihre Struktur, im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit steht.

c) Die eigentlich strukturelle Beschreibung des Sprachsystems und die Charakteristik der Sprach struktur Sowohl unter dem Einfluß der exakten Wissenschaften als auch aus innerlinguistischen Gründen ist der Begriff Sprachstruktur besser geklärt und eindeutiger definiert als der Begriff Sprachsystem. Als klassische Definition, die auf die Begründer der strukturellen Linguistik und deren konsequenteste Anhänger zurückgeht, ist die Formulierung zu betrachten, daß unter Struktur ein N e t z v o n B e z i e h u n g e n im Objekt zu verstehen ist (so in den Prager Thesen [233, 10J, bei V. Brondal [161, 6], K . Bühler [163, 8 - 9 ] , L. Hjelmslev [46, 52], E. Benveniste [150, 109], W. N. Toporow [121, 78] u. a.) oder mitunter auch im engeren Sinne ein N e t z von A b h ä n g i g k e i t e n (bei L. Hjelmslev [184 ; 64]) oder von O p p o s i t i o n e n (bei V. Brondal [160, 42], E . Coseriu[168, 276] u. a.). 44

So definiert Hjelmslev den Terminus „Struktur" (im Sinne der SaussureschenAuffassung von der Form) als eine autonome Wesenheit mit inneren A b hängigkeiten. Manchmal versucht man die Struktur der Sprache als ein Netz, von linguistischen Beziehungen zu bezeichnen, die die Dynamik der Synchronie betreffen. I n ähnlicher Bedeutung wird der Begriff Struktur auch von N. S. Trubezkoy verwendet, der feststellte: „Jedes Phonem besitzt nur deshalb einen definierbaren phonologischen Gehalt, weil das System der phonologischen Oppositionen eine bestimmte Ordnung oder Struktur aufweist. Um diese Struktur zu verstehen, müssen die verschiedenen Arten der phonologischen Oppositionen untersucht werden" [236, 60; ferner 64, 66 u. a.]; ähnlich verbindet auch R. Jakobson den Begriff der Struktur mit den Gesetzen (Beziehungen) innerhalb des Systems [197, 18] bzw. dem Beziehungsschema in der Sprache. Auch wenn A. Martinet zu Recht feststellte, daß die „Untersuchung der Sprache als einer Struktur . . . die direkte Folge der Klassifikation sprachlicher Fakten auf Grund ihrer F u n k t i o n e n ist" [212, 20], unterscheidet sich die eigentlich strukturelle Auffassung vom Sprachsystem doch wesentlich von der funktionalen. Dieser Unterschied, den wir bereits hervorgehoben haben, hängt auch mit der unterschiedlichen Auslegung der Zeichenfunktion der Sprache insgesamt und vor allem mit der unterschiedlichen Interpretation des Ausgangsbegriffs Funktion zusammen. Während dieser Terminus in den Konzeptionen der Prager Linguisten in erster Linie im Hinblick auf die Bedeutung gebraucht wird [230,139] — woraus folgt, daß die Abhängigkeiten auf einem ganz bestimmten Gebiet, nämlich zur Bedeutungsunterscheidung, untersucht werden — steht für L. Hjelmslev und seine Schule der Funktionsbegriff dem mathematischen nahe; so wird er bei H. J . Uldall „zur Bezeichnung jeder Abhängigkeit, ohne Rücksicht auf die besondere Natur dieser Abhängigkeit oder der Objekte, zwischen denen die Abhängigkeit festgestellt wird", verwandt [239,8; 81, 146ff]. Uldall vertritt die Auffassung, daß in den exakten Wissenschaften der Funktionsbegriff den Begriff Stoff und seine Eigenschaften ablöst, und behauptet: „Vom wissenschaftlichen Standpunkt besteht die Welt nicht aus Gegenständen oder gar 'Materie', sondern nur aus Funktionen zwischen den Gegenständen; die Gegenstände selbst sind nur als Schnittpunkte der F u n k tionen zu betrachten" [239,8; vgl. auch 186,23]. Demzufolge besteht jedes Ganze nicht aus Dingen, sondern aus Beziehungen, und jedes Ding besitzt seine I n d i vidualität ausschließlich „dank seiner besonderen Struktur, dank dem Gefüge der sich überschneidenden Funktionen" [239, 9]. Ganz analog wird auch die Sprache behandelt, die dank ihrer besonderen Struktur, dank ihrem „Gefüge sich überschneidender Funktionen" eine Ganzheit bildet. Daraus ergibt sich folgerichtig, daß das ganze komplizierte System der Sprache auf seine Struktur reduziert wird und mit Hilfe des Begriffs Relationsgerüst erforscht werden soll. Aus diesem grundlegenden Postulat der strukturellen Linguistik werden weitgehende theoretische Schlußfolgerungen gezogen. L. Hjelmslev definiert alsstrukturell eine Methode, die es ermöglicht, „die Beziehungen zwischen den Bestandteilen eines Objekts festzustellen" [184, 642], wobei dieser Grundsatz, wie bereits vermerkt, in der linguistischen Praxis ziemlich eng gehandhabt 45.

wird. Vom relationeilen Standpunkt aus wird ausschließlich untersucht, was sich i n n e r h a l b des Sprachsystems befindet. Dementsprechend wird die Erforschung des Platzes der Sprache in dem sie umgebenden Milieu aus der Linguistik verwiesen. Die Hauptfunktion der Sprache hängt aber gerade mit ihrer Rolle in der menschlichen Gesellschaft, d. h. mit ihrer Stellung in dem übergeordneten System und den Beziehungen in diesem übergeordneten System -zusammen. Wenn all das, was die Strukturbeziehungen des Objekts insgesamt betrifft, aus der linguistischen Analyse ausgeschlossen wird, geht auch das Kriterium zur Bestimmung der Teilfunktionen auf der Grundlage der Hauptfunktion verloren; nicht selten werden daher die Teilfunktionen der Sprache rein logisch angegeben. Der künstliche Ausschluß des Sprachsystems aus dem übergeordneten • System, dessen Glied es ist, bedeutet nicht nur, daß die Sprache nach einem a priori vorgegebenen Schema untersucht wird, sondern auch, daß sie in Termini „reiner" Beziehungen, außerhalb ihrer Substanz erforscht wird. Das Credo der Glossematiker hat in L. Hjelmslevs bekannten Worten seinen Ausdruck gefunden, daß „das Wesen nicht in den Lauten oder Zeichen und Bedeutungen als solchen liegt, sondern in ihren wechselseitigen Verhältnissen in der Redekette und in den Paradigmen der Grammatik. Eben diese Verhältnisse bilden das Sprachsystem, und eben dieses innere System unterscheidet eine Sprache von der anderen" [46, 57]. Die dänischen Strukturalisten, die also Struktur und System der Sprache identifizieren, beschreiben die Sprachstruktur selbst folgendermaßen: Jeder Sprachstruktur liegt ihrer Meinung nach „der Unterschied zwischen Ausdruck und Inhalt und ihrer Wechselwirkung in der Zeichenfunktion" zugrunde [186, 58], Diese beiden Ebenen werden getrennt untersucht, denn jede von beiden besteht aus einer „begrenzten Zahl von Einheiten, von denen man nicht unbedingt weiß, ob sie eineindeutig mit den Einheiten der entgegengesetzten Ebene korrelieren" [186, 46]. Jede dieser Ebenen besitzt eine eigene Form und Substanz, beide sind gleichwertig und voneinander abhängig, d. h. keine existiert ohne die andere (die Funktion der Interdependenz). Innerhalb der einzelnen Ebene bildet sich ein neuer Typ von Beziehungen der Unterordnung zwischen ihrer Form und Substanz (die Funktion der Determination). Im letzten Fall ist die Form die bestimmende und beständige Größe und die Substanz die abhängige und veränderliche. Eben deshalb soll die Form — sowohl auf der Ausdrucks- als auch auf der Inhaltsebene — den Hauptgegenstand der Analyse bilden. Dagegen habe es die linguistische Analyse weder auf der Ausdrucksnoch auf der Inhaltsebene direkt mit der Substanz zu tun [81, 137]. Die Sprachstruktur ist folglich letzten Endes eine Größe, die durch die Gesamtheit der formalen Beziehungen zwischen den Strata einerseits und die Gesamtheit der formalen Beziehungen innerhalb der Ebenen, innerhalb der Strata, andererseits bestimmt wird, stets aber durch eine Gesamtheit f o r m a l e r B e z i e h u n g e n , die angeblich nicht von der Natur der Elemente abhängen, zwischen denen sie bestehen. Hier ist eine direkte Parallele zu der ähnlich begrenzten Auffassung von der Struktur eines Objekts in der Mathematik zu erkennen, in der diese Auslegung jedoch durch die Spezifik der dort untersuchten Objekte voll be46

rechtigt ist. So haben N. Bourbaki zufolge die verschiedenen Begriffe, die mit dem Terminus „Struktur" bezeichnet werden, den Wesenszug miteinander gemein, daß sie „sich auf eine Vielzahl von Elementen mit unbestimmter Natur beziehen; um die Struktur zu bestimmen, wird eine oder werden mehrere Beziehungen zwischen diesen Elementen vorgegeben, dann werden bestimmte Bedingungen postuliert, denen diese Beziehungen genügen müssen (sie werden aufgezählt) und die als Axiome für die zu untersuchende Struktur dienen. Eine axiomatische Theorie der betreffenden Struktur aufstellen heißt, aus den Axiomen der Struktur logisch zu schließen und dabei keine Hypothesen über die untersuchten Elemente anzustellen (insbesondere über deren eigentliche 'Natur')" [159, 40/1]. Die Glossematiker waren die ersten Linguisten, die die Möglichkeit, eine solche axiomatische Theorie für die Sprache zu schaffen, aufgezeigt haben. Aber eben der axiomatische Charakter ihrer Theorie und ihr durch und durch abstraktes Wesen führten diese Theorie im Grunde genommen aus der Linguistik hinaus und verwandelten dieses Forschungsgebiet in etwas wie einen besonderen Abschnitt der Semiotik oder gar der Mathematik. Die Glossematiker selbst haben jedoch die Grenzen für die Anwendung ihrer Theorie und für die Gebiete, jenseits deren sie ihre Geltung überhaupt verliert, nicht objektiv genug abgesteckt. Im Gegenteil, da die Anwendung von Methoden der Strukturmodellierung und der rein strukturellen Repräsentation des gesamten Sprachsystems für die Lösung vieler wichtiger linguistischer Aufgaben (die automatische Übersetzung, die mathematische Modellierung usw.) zweckmäßig ist, zogen die Strukturalisten nicht selten unbegründete Schlußfolgerungen über die universelle Gültigkeit ihrer Methode. Indes gibt es keinen Zweifel, daß die Sprachtheorie eine Vielzahl von Problemen umfaßt, für deren Lösung es offensichtlich nicht genügt, die Sprache allein unter dem Aspekt der Eigenart ihrer inneren Struktur zu untersuchen (vgl. [198, 13]). Die theoretischen Beschränkungen, die sich die Strukturalisten in bezug auf den Inhalt der Sprachanalyse auferlegen, kehren sich daher gegen diese Methode selbst, die als die einzige und universelle, ausschließlich auf die Erforschung der bloßen Beziehungen innerhalb der Sprachsysteme gerichtete Methode hingestellt wird (vgl. [87, 50/1]). Die Verabsolutierung der These, daß die Sprache eine eigene spezifische zweigliedrige Struktur besitzt, die Gegenstand spezieller Untersuchungen sein sollte, hinderte die Sprachwissenschaftler dieser Richtung daran, viele Besonderheiten der Sprache zu erklären; denn „jedes einigermaßen komplizierte semiotische System ist eine Arena der Wechselwirkung zwischen natürlichen 'substantiellen' und künstlich-formalen Mechanismen" [69, 37]. Der Verzicht auf die Erforschung der Substanz, der bei der Untersuchung einiger Struktureigenschaften der Sprache gerechtfertigt ist (zum Beispiel der Isomorphie und ihrer verschiedenen Ebenen), ist nicht bei ihrer Charakterisierung als System berechtigt, sondern führt zu einer außerordentlich einseitigen Vorstellung von der Sprache. Von der Einengung der Aufgaben der Sprachtheorie infolge einseitiger Auffassung von der Natur des Sprachsystems zeugt noch ein weiterer Umstand. Eigentlich fühlt sich die glossematische Theorie berufen, de Saussures These von 47

der Sprache als einem Zeichensystem weiterzuentwickeln. Faktisch bleiben jedoch zahlreiche semiotische Besonderheiten dieses Systems bei den Glossematikern außerhalb der sprachlichen Analyse [28, 18; 81]. Nach L. Hjelmslev besteht der wesentlichste Zug in der Struktur jeder Sprache darin, daß aus einer Handvoll Figuren durch Neuanordnung Legionen von Zeichen gebildet werden können [186, 46]. Dabei sind die Sprachen nur im Hinblick auf das „Ziel, das ihnen gewöhnlich zugeschrieben wird", Zeichensysteme, während sie „im Hinblick auf ihre innere Struktur vor allem etwas anderes sind, nämlich Figurensysteme, die für den Aufbau von Zeichen benutzt werden können" [186, 47]. Wenn aber die innere Struktur der Sprache aus Figuren besteht und die Figuren keine Zeichenfunktion haben, dann hat die Struktur der Sprache überhaupt keine Verbindung mit der Bedeutung, und in der Linguistik ist für die Erforschung der Kategorie der Bedeutung kein Platz (vgl. [37, 229]). Nach Hjelmslevs Behauptung bestehen alle Beziehungen in der Sprache nicht zwischen den Zeichen, sondern zwischen den Figuren [187, 65/6] ; dann bleibt unverständlich, wie die Sprache ihre Hauptfunktion, die semiologische Funktion, erfüllen kann und wieso an der Ausübung dieser Funktion nicht ihre innere Struktur beteiligt ist. Es ist kaum etwas dagegen einzuwenden, daß einzelne Subsysteme der Sprache aus Figuren aufgebaut sind. Offenbar kann sowohl die Ausdrucks- als auch die Inhaltsebene als Figurensystem beschrieben werden, vorausgesetzt, daß man innerhalb dieser Ebenen bleibt. Folgt aber daraus, daß „die Unterschiede im Aufbau der Ebenen die Modellierung des Sprachsystems in Termini globaler Zeichen unmöglich machen" [1]?G Wenn man de Saussures Definition der Sprache als eines Zeichensystems für dem Gegenstand angemessen hält, dann ist es doch wohl logisch, auch anzuerkennen, daß die Beschreibung dieses Systems die Feststellung der Beziehungen nicht nur zwischen den Figuren, sondern auch zwischen den Figuren und den Zeichen sowie zwischen den Zeichen voraussetzt. Logisch ist es auch, anzunehmen, daß sich der letztgenannte Beziehungstyp auf die Sprachstruktur, d. h. auf die allgemeine Konfiguration der sprachlichen Beziehungen und Verhältnisse auswirken muß. Einen klareren Standpunkt dazu dürften diejenigen Linguisten beziehen, die darauf hingewiesen haben, daß nicht alles im Sprachsystem ein Zeichen ist. Es sollte nicht bloß vom Zeichensystem der Sprache, sondern vom Sprachsystem gesprochen werden, das aus zwei Subsystemen besteht: dem Subsystem der Zeichen und dem Subsystem der diakritischen Elemente, d. h. dem phonologisehen Subsystem. Beide Subsysteme lassen sich zu dem Begriff semiotisches System zusammenfassen. Dann muß auch der Begriff Sprachstruktur präzisiert werden: Wenn d a r u n t e r das Netz sprachlicher Beziehungen zu verstehen ist und diese sowohl zwischen den diakritischen Elementen als auch zwischen den Zeichen als auch zwischen den diakritischen Elementen und den Zeichen bestehen, so muß das Gesamtschema der sprachlichen Beziehungen diese Verschiedenartigkeit als Hierarchie von Beziehungen und deren Anordnung wider6

Zitiert nach dem Buch: „Résumés de communications du X. Congrès International des linguistes", Bucarest 1967, p. 17.

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spiegeln. Diese Strukturauffassung liegt dem eigentlichen Stratifikationsmodell des Spraehsystems zugrunde, in dem der Terminus „Sprachstruktur" umfassender interpretiert wird (Näheres vgl. S. 56-60). I n der Lehre der Glossematiker hat der Begriff Sprachstruktur erstmals die präzise Definition erhalten, die auch in der Folgezeit von den meisten Forschern, die sich zum strukturellen Lager zählen, akzeptiert wurde. Es muß auch hervorgehoben werden, daß erst durch die Ausgliederung der Sprachstruktur als eines selbständigen Forschungsobjekts andere, tiefere Auffassungen dieses Begriffes möglich wurden und daß erst durch die Erkenntnis seiner Spezifik die Entwicklung des ganzen weiten Gebietes der Strukturmodellierung ermöglicht wurde. Die Überschaubarkeit und relative Einfachheit der Strukturmodelle (im Vergleich zum Original) gestatten nicht nur, das Vorhandensein bzw. Fehlen einer Reihe von Eigenschaften des Objekts experimentell zu überprüfen, sondern auch das Vorhandensein bzw. Fehlen einer Reihe von Eigenschaften im Modell festzustellen. J a noch mehr. Da es für die Beschreibung und Feststellung der Eigenschaften von Strukturmodellen gut ausgearbeitete mathematische Methoden gibt, hat der Strukturalismus den Weg für ihre Einführung in die Linguistik und für die Ausnutzung der Mathematik zu linguistischen Zwecken überhaupt eröffnet. Somit hat die Einzelbeschreibung der Sprachstruktur letzten Endes die Entwicklung mathematischer Modelle des Sprachsystems ermöglicht. Die präzise Definition der Sprachstruktur hatte schließlich noch eine wichtige Folge: Sie gestattete es, die zwei intuitiv immer wieder verwechselten Begriffe für die allgemeinsten Merkmale der sprachlichen Organisation — die Struktur und das System — voneinander abzugrenzen und diese Termini zu differenzieren, was sich schon seit der Entstehung struktureller Konzeptionen als notwendig erwiesen hatte (vgl. den folgenden Abschnitt). Ohne diese Begriffsabgrenzung wäre es nicht möglich gewesen, zu einer umfassenden Definition des Begriffs Sprachsystem zu gelangen. Somit hat die Auffassung von der Sprachstruktur als einer besonderen Komponente im Aufbau des betreffenden Objekts es ermöglicht, den Begriffsumfang des Terminus „Sprachsystem" genauer zu fassen.

d) Die Differenzierung der Begriffe S p r a c h s t r u k t u r u n d Sprachsystem u n d die Definition des Begriffs Sprachsystem in der modernen Linguistik Die Auffassung, daß die Erscheinungen, die als Sprachsystem einerseits und als Sprachstruktur andererseits bezeichnet werden, zwar miteinander verbunden, grundsätzlich aber nicht identisch sind, ist als Tendenz bereits in den Thesen des Prager Linguistenkreises angelegt. Der Terminus „Sprachsystem" ist hier zweifellos der umfassendere von beiden, er wird auf die Gesamtheit aller sprachlichen Fakten in ihrer Einheit bezogen. Auch die einzelnen Subsysteme (das phonologische, grammatische, lexikalische usw.) werden als ganzheitliche, geordnete Einheiten aufgefaßt. Der Terminus „Struktur" hingegen wird stets mit den Begriffen Beziehungen, Verhältnisse und Schema ihrer Anordnung in 49

Verbindung gebracht (vgl. [150, 109; 80, 46]). Besonders klar kommt diese Auffassung in der These zum Ausdruck, daß „der materielle Gehalt. . . der phonologischen Elemente weniger wesentlich ist als ihr wechselseitiger Zusammenhang innerhalb des Systems ( s t r u k t u r e l l e s P r i n z i p d e s p h o n o l o g i s c h e n S y s t e m s ) " [233, 10]. Ganz in dem gleichen Sinne wird hier auch von den „Strukturgesetzen der linguistischen Systeme" gesprochen [233, 8] bzw. davon, daß „die Bestimmung des Platzes eines Wortes im lexikalischen System erst nach Erforschung der S t r u k t u r d e s b e t r e f f e n d e n S y s t e m s möglich" ist [233, 26]. Somit wird die Struktur hier als besonderer T e i l des Systems aufgefaßt, der die innere Ordnung der Spracheinheiten auf Grund ihrer Anordnung in entgegengesetzten Reihen bestimmt. Die Ausdrücke „Strukturgesetze der phonologischen Systeme" und „Struktur des Systems", die bei N. S. Trubetzkoy ständig wiederkehren (vgl. [236, 8, 57, 60, 6 1 - 6 5 ; 237, 233ff.]), zeugen nicht nur von einer bestimmten Hierarchie dieser Begriffe, sondern auch von der klaren Erkenntnis, daß sie nicht identisch sind: „Die Struktur eines Phonemsystems", schreibt N. S. Trubetzkoy, „hängt von der Verteilung der eindimensionalen, mehrdimensionalen, proportionalen und isolierten Oppositionen a b " [236, 66]. Der Gebrauch des Terminus „Sprachsystem" im weiteren, von der spezialisierten Bedeutung des Terminus „Struktur" unterschiedenen Sinne ist auch für eine ganze Reihe von Arbeiten anderer Vertreter des Prager Linguistenkreises charakteristisch, für B. Trnka [122, 107/8; 235, 38/9], J . Vachek [242, 10/11; 240,94], Fr. Danes [27], J . Popela [220] u. a. Leider hat sich jedoch die Tradition der konsequenten Abgrenzung von Struktur und System hier nicht allgemein durchgesetzt; nicht selten werden beide Termini auch in nichtspezieller Bedeutung verwendet und miteinander vermengt. Zugleich ist aber auch folgendes festzustellen: Während der Begriff S p r a c h s t r u k t u r bei den Vertretern der glossematischenRichtung anKonkretheit gewinnt, bildet sich beim Prager Linguistenkreis eine immer umfassendere und klarere Vorstellung vom S p r a c h s y s t e m aus [240; 241; 220; 87]. Die erwähnten Forschungsarbeiten gestatten jetzt ein Urteil darüber, wie es zur Unterscheidung dieser Begriffe u n d zur Differenzierung ihres realen Inhalts kam. Die Idee von der Möglichkeit und Notwendigkeit, diese Begriffe voneinander zu scheiden, wird seit den 50er Jahren in der sowjetischen Sprachwissenschaft klar zum Ausdruck gebracht; hier wurde, besonders in den Arbeiten A. A. Reformatskis, nicht nur die Notwendigkeit betont, den synonymen Gebrauch dieser Termini zu vermeiden, sondern es wurden auch die theoretischen Voraussetzungen für ein differenziertes Herangehen an die Erforschung der Struktur und des Systems der Sprache geschaffen. A. A. Reformatski ging von einer — in dieser Form erstmals von V. Skalicka 1935 hervorgehobenen [231, 36—37] Besonderheit aus, daß nämlich die Gegenüberstellung sprachlicher Fakten auf der Vertikalen (Morphem — Wort — Satz) und auf der Horizontalen (beim Vergleich von Morphemen, Wörtern usw. untereinander) unterschiedliche Ergebnisse zeitigt; darauf aufbauend stellte er die These auf, daß „das System die Beziehungen und den wechselseitigen Zusammenhang auf der Horizontalen, die Struktur hingegen die Beziehungen und den wechselseitigen Zusammenhang auf 50

der Vertikalen darstellt" [95,30; 96,28/9]. Damit werden die zwei Begriffe^ durch die Kategorie der Beziehungen charakterisiert, allerdings durch Beziehungen verschiedenen Typs, verschiedener Ordnung. Der Gedanke, daßEinheiten mit paradigmatischen Beziehungen untereinander die Struktur, Einheiten aber, die syntagmatische Beziehungen eingehen, das System bilden (oder umgekehrt), wird dann in verschiedenen Varianten auch von anderen Forschern wiederholt. So werden nach der Auffassung der englischen Strukturali sten, besonders von Robins und Halliday, Systeme durch die Erforschung der paradigmatischen Beziehungen, Strukturen hingegen durch Abstraktion von den Fakten der Syntagmatik ermittelt [225, 49]. Ein analoger Standpunkt wurde später auch außerhalb des englischen Strukturalismus vertreten (vgl. zum Beispiel das Material des Erfurter Symposiums [246, Bd. I I , 90, P u n k t 6.3. 67ff.]). Die Auffassungen dieser englischen Forscher sowie von Carnochan, Ellis, Allen u. a. sind bis zu einem gewissen Grade denjenigen, die A. A. Reformatski vertritt, entgegengesetzt. I m Anschluß an ihren Lehrer J . Firth nehmen sie an, daß die Struktur „horizontal", das System aber „vertikal "sei (vgl. [173; 55, 131-167]). Nach W. Allen können die einzelnen Teilsysteme der Sprache an besonderen Knotenpunkten ihrer allgemeinen Struktur ermittelt werden, und nur die Kenntnis dieses Strukturschemas gewährleistet eine adäquate Beschreibung der Subsysteme, die in diesem Schema eine ganz bestimmte Stellung einnehmen [143, 131-167], Neben den allgemeinen Überlegungen über die Möglichkeit der Abgrenzung; der Kategorien System und Struktur, die wir bereits auf S. 6 angestellt haben und die auf die Gegenüberstellung verschiedener Beziehungstypen hinauslaufen (S. 13), ist hier noch folgendes zu bemerken. Schon allein die Orientierung auf verschiedene Beziehungstypen in der Sprache (ihre Ermittlung und Analyse) ist überaus effektiv. So unterscheiden sich bereits die von de Saussure beschriebenen syntagmatischen Beziehungen (Beziehungen in präsentia, das heißt zwischen Elementen in der aktuellen Folge) grundsätzlich von den paradigmatischen Beziehungen (die assoziativen Charakter haben und zwischen den Elementen in absentia bestehen). Dessenungeachtet berechtigt der tiefe hierarchische Zusammenhang zwischen diesen beiden Typen von Beziehungen (der in den Arbeiten von I. I. Rewsin [93, 16], H . Birnbaum [155, 307ff.], M. I. Steblin-Kamenski [112] und anderen Linguisten untersucht wurde) zu der Annahme, daß beide Beziehungstypen in Termini von A b h ä n g i g k e i t s k l a s s e n , das allgemeine Schema ihrer Anordnung aber in Termini der Struktur beschrieben werden können. Andererseits setzt die Beschreibung der Sprache insgesamt (das heißt, nach unserer Auffassung, der Sprache als System) die Beschreibung sowohl der Syntagmatik als auch der Paradigmatik in ihrer wechselseitigen Abhängigkeit voraus (vgl. [112, 7 2 - 7 4 ; 17, 179; 138, 140ff.]). Diese Auffassung findet gegenwärtig immer größere Anerkennung und Verbreitung: Davon zeugt zum Beispiel die allgemeine Definition des Sprachsystems, über die auf dem Erfurter Symposium Einigkeit erzielt wurde; danach ist das System „die stoffimmanente (innere) Gliederung der (wechselseitig bedingten) Elemente oder Sprachmittel, die entweder durch paradigmatische oder durch 5L

syntagmatisehe Analyse oder durch, beide formal nachgewiesen werden können" [246, II, 90]. Noch eindeutiger wird der gleiche Gedanke in der Definition des Sprachsystems bei B. A. Uspenski ausgedrückt : „Unter System verstehen wir . . . eine (endliche oder unendliche) Menge von Objekten, deren wechselseitige Beziehungen auf zwei Achsen, der syntagmatischen und der paradigmatischen, beschrieben werden (ein r e i n s y n t a g m a t i s c h e s o d e r r e i n p a r a d i g m a t i s c h e s M o d e l l i s t l i n g u i s t i s c h i n h a l t s l o s ) " [128, 172] (von mir hervorgehoben - J . K . ; vgl. auch [235, 38/9]). Ein anderes wichtiges Moment in A. A. Reformatskis Konzeption ist die These, daß „unter Struktur die Einheit h e t e r o g e n e r Elemente im Rahmen eines Ganzen" und unter System „die Einheit h o m o g e n e r wechselseitig bedingter Elemente zu verstehen ist" [94, 25 und 31]. Von diesem Standpunkt aus ist jedoch die Definition des Sprachsystems als einer Einheit, die „phonetische, morphologische, lexikalische und syntaktische Systeme auf den einzelnen Ebenen der Sprachstruktur" vereinigt [95, 30], inkonsequent, denn die aufgezählten Systeme können wohl kaum als homogene Einheiten aufgefaßt werden (vgl. [38, 60]). Strukturelle (relationeile) Beziehungen lassen sich sowohl auf der Horizontalen als auch auf der Vertikalen (zum Beispiel Beziehungen innerhalb und zwischen den Strata, innerhalb und zwischen den Ebenen), sowohl zwischen homogenen als auch zwischen heterogenen Einheiten feststellen. Folglich sind Systeme als ganzheitliche funktionale Gebilde, in denen solche Beziehungen bestehen, entweder Systeme homogener Einheiten (zum Beispiel das System der Vokale, der Konsonanten usw.) oder aber Systeme heterogener Einheiten (zum Beispiel das phonologische System insgesamt). Eben solch ein System heterogener Einheiten ist auch die Sprache. Das Sprachsystem und die Sprachstruktur lassen sich nur sehr bedingt nach diesem Merkmal abgrenzen. Bei der Charakteristik der Sprache insgesamt ist eine solche bedingte Abgrenzung kaum zweckmäßig: Wenn wir den Systembegriff auf die Verbindung homogener Elemente beschränken, sind wir nicht berechtigt, die Sprache selbst als System zu bezeichnen oder von der Sprache als einem System von Systemen zu sprechen (vgl. [54, 11]), was (bei entsprechender Präzisierung) ihr spezifisches Wesen als besonders kompliziertes Objekt offenbar doch am adäquatesten widerspiegelt. Zugleich muß hervorgehoben werden, daß Reformatskis Grundidee von der Gegenüberstellung einerseits dessen, was „die verschiedenen Ebenen des Ganzen zu einer Einheit verbindet", und andererseits dessen, was die verschiedenen (Teil-)Systeme „innerhalb einer jeden Ebene der Sprachstruktur" vereinigt [95, 30], nicht nur zur rechten Zeit vorgebracht wurde, sondern daß sie auch klar gemacht hat, daß ein vielseitiges, mehrere Ebenen erfassendes und, was das Wichtigste ist, ein differenziertes Herangehen an die Organisation der Sprache und ihrer Beziehungen erforderlich ist. Diese Ideen liegen, wenngleich in abgewandelter Formulierung, im wesentlichen den meisten heutigen Vorstellungen vom Mechanismus der Sprache zugrunde; nach diesen Vorstellungen ist die Sprache ein Objekt, das die einzelnen wechselseitig wirkenden Ebenen vereinigt, wobei das Beziehungsschema innerhalb dieser Ebenen und zwischen ihnen die Besonderheiten der Sprachstruktur bedingen. Im Zusammenhang mit den Bemühungen, die Bedeutung der Termini 52

„Sprachsystem" und „Sprachstruktur" zu präzisieren, mehren sich in letzter Zeit die Versuche, nicht nur das wechselseitige Verhältnis dieser beiden Kategorien zu definieren, sondern sie auch mit Begriffen wie Funktion (G. S. Schtschur), Substanz und Ganzheit (G. P. Melnikow, I. S. Kubrjakowa), Norm (N. N. Korotkow) u. a. in Beziehung zu setzen. N. N. Korotkow teilt Reformatskis Meinung, daß „die Begriffe System und Struktur nach dem Merkmal gegenüberzustellen sind, ob es sich bei ihren Elementen um Elemente gleicher oder verschiedener Ordnung handelt" [54, 13]; zugleich schlägt er vor, diese Begriffe durch eine Klassifizierung der Spracherscheinungen nach dem Grad ihrer Abstraktion zu ergänzen und sie in die Triade „Norm — System — Struktur" einzubeziehen. Die ersten zwei Begriffe werden nach dem Merkmal Fehlen bzw. Vorhandensein einer bedeutungsunterscheidenden Funktion ihrer Elemente differenziert (vgl. den Normbegriff bei Coseriu [167, 31]). N. N. Korotkow betrachtet Norm, System und Struktur als aufeinander folgende Etappen der Analyse und Beschreibung des Sprachbaus, so daß die Sprachstruktur seiner Auffassung nach „die höchste Stufe der Formalisierung bildet, auf der die allgemeinsten Merkmale der Sprache, die sie an andere Sprachen des gleichen Typs annähern, zutage treten" [54, 14]. Dabei bleibt aber unklar, in welchen Bereichen der Sprache sich solche allgemeinen Merkmale ermitteln lassen, und insbesondere, ob sie ausschließlich auf relationelle Merkmale zu reduzieren sind. Diese Definition entfernt sich auch insofern von den üblicheren Definitionen, als das Wesen der Strukturanalyse als einer Analyse, die auf die Erkenntnis der Beziehungen gerichtet ist, hier etwas verschleiert wird. Wertvoll ist indes der Hinweis, daß „Systeme nicht außerhalb der dazu gehörigen Varianten existieren" [116, 4] und daß ohne Erforschung der Kategorie der Variabilität eine Erkenntnis des Sprachsystems nicht möglich ist; erst wenn alle bei der Realisierung einer Erscheinung möglichen Varianten berücksichtigt werden, lassen sich Schlüsse über die Invarianz ziehen, die hinter diesen Realisationen steht. Wie E. Coseriu zu Recht betont, „umfaßt das System die idealen Formen der Realisierung einer Sprache, das heißt die Technik und die Muster für die entsprechende sprachliche Tätigkeit; die Norm hingegen enthält Modelle, die mit Hilfe dieser Technik und nach diesen Mustern bereits historisch realisiert worden sind" [167, 31]. In G. S. Schtschurs Konzeption, die interessante Gedanken enthält, entspricht das Prinzip der Gegenüberstellung von Struktur und System unseren vorangegangenen Ausführungen. Das Netz der Beziehungen in einem Objekt wird der Gesamtheit der Elemente und Beziehungen gegenübergestellt. Aber die entsprechenden Termini werden gerade umgekehrt verwendet, denn „das hierarchische Netz von Beziehungen zwischen den Elementen bzw. Elementengruppen eines Objekts" bildet seiner Auffassung nach das S y s t e m , die „Gesamtheit der hierarchischen Gruppen von Elementen und Beziehungen zwischen ihnen" in einem ganzheitlichen Objekt hingegen bildet die S t r u k t u r [138, 139]. Eine analoge Auffassung dieser Termini vertritt im großen und ganzen auch N. D . Arutjunowa, die meint, daß „der Terminus 'Struktur' vor allem den materiellen Bau, den Bestand" bedeutet, der Terminus 'System' hingegen das „Netz von Beziehungen zwischen den einzelnen Elementen" [1, 104]. 5

Serebrennikow II

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All diese Autoren bestehen jedoch, unabhängig von der verwendeten Terminologie, auf der Scheidung der zwei Begriffe und halten es für möglich, zwischen einem umfassenderen Begriff (allgemeiner Aufbau, Elemente und Beziehungen) und einem engeren (Netz der Beziehungen) zu unterscheiden. Bei manchen Autoren hat die Gegenüberstellung dieser Begriffe jedoch andere Grundlagen. A. A. Leontjew definiert zum Beispiel das System als reale Form der Wechselwirkung der Elemente der Redetätigkeit, die mit Hilfe verschiedener Modelle interpretiert werden kann [61, 3 5 - 3 7 ] ; den Terminus „Struktur" hingegen benutzt er nur für die Charakteristik des sprachlichen Zeichens [61, 27ff]. Ein anderes Kriterium für die Abgrenzung von System und Struktur wird von W. A. Sweginzew vorgeschlagen; seiner Auffassung nach besteht „die Gefahr der Vermengung der Begriffe System und Struktur im Hinblick auf die Sprache darin, daß dynamische Eigenschaften der Sprache mit Formeln charakterisiert werden, die nur statische Zustände auszudrücken vermögen" [38, 72]. Dementsprechend empfiehlt er, den einen dieser Termini (System) zur Bezeichnung der Statik der Elemente zu benutzen, den anderen (Struktur) zur Bezeichnung der dynamischen wechselseitigen Verbundenheit der Elementein einer ganzheitlichen Einheit [38, 69]. Die oben bereits erwähnte Auffassung, daß das Sprachsystem zur Klasse der offenen dynamischen Systeme gehört, schließt aber offenbar die Möglichkeit einer Begriffsvermengung, gegen die sich W. A. Sweginzew zu Recht wendet, aus. Eine sehr wichtige Seite seiner Konzeption ist auch die konsequent vertretene Idee, daß wir es in der Sprache nicht mit „reinen Beziehungen" zu tun haben, sondern „mit Beziehungen realer Sprachelemente, von denen ein jedes, je nach seiner Beschaffenheit, ganz reale Eigenschaften besitzt". Und eben diese Eigenschaften bilden Sweginzew zufolge „die Grundlage der Beziehungen", sie stellen „ e i n e n w e c h s e l s e i t i g a b h ä n g i g e n K o m p l e x v o n F o r m u n d S u b s t a n z " dar [38, 41] (von mir hervorgehoben - J . K.). Somit werden auch hier, wenngleich wiederum in anderen Termini, die allgemeinen Grundsätze formuliert, auf denen unserer Meinung nach eine allgemeine Systemtheorie aufbauen kann und muß. Daß diese Theorie in der modernen Linguistik immer deutlichere Formen annimmt, davon zeugen Definitionen des Systems als „Gesamtheit von Mikrosystemen mit spezifischer Strukturiertheit" (vgl. B . A. Serebrennikow [105, 363]) und der Struktur als Schema von Beziehungen und Verbindungen, davon zeugt schließlich auch, daß das Sprachsystem und die Sprachstruktur als v e r s c h i e d e n e Erscheinungen beschrieben werden. Im Zusammenhang mit der Herausbildung dieser zwei wichtigen Kategorien, die offenbar die fundamentalsten Eigenschaften des Objektes widerspiegeln, erhebt sich natürlich die Frage, ob die Besonderheiten der Sprache mit ihrer Hilfe vollständig und umfassend beschrieben werden können. Wie aus den bisherigen Ausführungen hervorgeht, haben die Kategorien System und Struktur bei der Erkenntnis des Mechanismus der Sprache und der Gesetze ihrer Funktionsweise eine bedeutende Rolle gespielt. Dabei gibt es keinen Zweifel, daß „eine marxistische Auffassung von der Sprache als System keineswegs bedeutet, daß die Erforschung der Sprache auf die Konstruktion abstrakter Vorstellungen von ihrer Struktur reduziert werden darf. . . " . Die Unerschöpflichkeit sprachlicher Merkmale zwingt uns, wie A. S. Melnitschuk zu Recht unterstrich, anzu-

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erkennen, daß „es bei allen Fortschritten in der Entwicklung der strukturellen Methoden und trotz zunehmender Effektivität niemals gelingen wird, eine solche abstrakte und mathematisch geschlossene Sprachstruktur zu konstruieren, die alle objektiven Eigenschaften der Sprache vollständig widerspiegelt" [75, 32]. Aber was hier über Strukturmethoden und Strukturmodelle gesagt wurde, gilt dem Wesen nach für alle Methoden der Erkenntnis der Wirklichkeit und f ü r alle Sprachmodelle. Die prinzipielle Unmöglichkeit, ein Objekt erschöpfend zu erkennen, bedeutet jedoch nicht, daß es unmöglich sei, diese oder jene Eigenschaften des Objekts mit Hilfe dieser oder jener Kategorien adäquat widerzuspiegeln. Interessant ist in diesem Zusammenhang noch ein weiterer Umstand. Wenn die Struktur als Netz von Beziehungen und Zusammenhängen definiert wird, so ergibt sich die Frage, welche von den konkret festgestellten Beziehungen in das allgemeine Beziehungsschema der Sprache aufzunehmen sind; ferner ist wohl auch die Frage zu beantworten, welche Beziehungen zwischen den Einheiten für die Beschreibung der Sprachstruktur relevant sind. Die Vertreter der verschiedenen strukturellen Richtungen haben diese Frage verschieden beantwortet. Mit der Verbreitung deskriptivistischer Sprachauffassungen und inventarisierend-taxonomischer Methoden bei der Erforschung des Sprachsystems wurde solchen Einheiten wie dem Phonem und Morphem eine übertriebene Bedeutung beigemessen und dementsprechend die Rolle der Beziehungen zwischen diesen Einheiten hypertrophiert. „Eine Zeitlang wurde sogar der Standpunkt vertreten, daß eben das Phonem und das Morphem das Minimum verschiedener Einheiten bilden, die für die Beschreibung der Sprachstruktur erforderlich sind" [50, 3]. Alles lief darauf hinaus, daß „das linguistische System eine Menge von Regeln ist, denen die Morpheme und Phoneme in ihrem Gebrauch untergeordnet sind" [246, Bd. I, 142]. Einen anderen extremen Standpunkt vertraten die Glossematiker, die die Sprachstruktur in dem Netz der Beziehungen zwischen solchen Komponenten der Sprache wie Ausdrucksebene und Inhaltsebene suchten. Beide Standpunkte haben jedoch ihre Mängel: Der erste spiegelt nicht die ontologische Kompliziertheit des Objekts, die Vielfalt und Unterschiedlichkeit der ihm eigenen Beziehungen wider; der zweite ist zu allgemein und nicht detailliert genug. Das Vorhandensein unterschiedlicher Auffassungen über die Sprachstruktur läßt sich aus folgendem Umstand erklären: Wenn in der Sprache tatsächlich Einheiten verschiedener Kompliziertheit und verschiedenen Umfangs vertreten sind, dann wird dieser Begriff deshalb verschieden interpretiert, weil Beziehungen zwischen verschiedenen Spracheinheiten beschrieben werden. Mit anderen Worten, die Heterogenität des Sprachsystems läßt die Möglichkeit zu, daß die Entscheidungen über seine Struktur, die die Anordnung der verschiedenen Komponenten im System widerspiegelt, nicht eindeutig sind. Daraus läßt sich folgender Schluß ziehen: J e relevanter die Komponenten, deren wechselseitige Beziehungen in Strukturtermini beschrieben werden, f ü r die Organisation eines Systems sind, um so adäquater ist auch die Darstellung der Sprachstruktur. Müßten im Idealfalle in dem Begriff der Sprachstruktur 6*

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a l l e darin zu beobachtenden Beziehungen und Zusammenhänge widergespiegelt werden, so ergibt sich in der konkreten Untersuchung die Aufgabe, nicht die wesentlichsten Beziehungen, nämlich diejenigen, durch die letzten Endes alle übrigen bestimmt werden, außer acht zu lassen (vgl. die Suche nach einem Sprachsmuster bei E. Sapir, nach Haupttendenzen bei vielen sowjetischen Forschern, nach der sprachlichen Determinante bei G. P. Melnikow). Eben von diesem Standpunkt aus erscheinen uns Konzeptionen beachtenswert, die sich bei der Untersuchung dieser Begriffe auf eine solche Sprachkomponente stützen wie die Sprachebene. Mit der Einführung dieses Begriffs im Rahmen der Stratifikationslinguistik einerseits und der strukturell-typologischen Linguistik andererseits bilden sich allmählich die Vorstellungen von der Sprachstruktur und vom Sprachsystem heraus, die auf der gegenwärtigen Erkenntnisstufe als die dem Objekt adäquatesten gelten können.

e) Die hierarchische Schichtung des Sprachsystems u n d die Stratifikationskonzeption von seiner Organisation Das, was jetzt als „Stratifikationsmodell der Sprache" bezeichnet wird, bezieht sich eigentlich nur auf ein Teilmodell des Sprachsystems, das von den amerikanischen Linguisten S. Lamb und H. Gleason vorgeschlagen wurde (einen ausführlichen Überblick über die Literatur zu diesem Problem und eine kritische Betrachtung dieses Modells findet sich bei N. D. Arutjunowa [2]). Dem Wesen nach hat die Stratifikationskonzeption jedoch eine lange Vorgeschichte und beruht auf den Forschungsergebnissen mehrerer Linguistengenerationen. Der Gedanke, ein Bild von der Sprache zu vermitteln, in dem die Lage und die Anordnung ihrer wichtigsten Komponenten dargestellt, das Sprachsystem in bestimmte Subsysteme geschichtet und deren vielstufige Hierarchie angegeben wird usw., wird in der Fachliteratur zumindest seit der Mitte der 50er Jahre erörtert. 1954 erschien eine Arbeit von L. Hjelmslev mit dem Titel „La stratification du language", die nach seinen eigenen Worten der Stratifikation der Sprache als eines semiotischen Systems gewidmet ist [187, 45]. In Weiterentwicklung seiner Auffassung Von den zwei Sprachebenen, von denen eine jede eine eigene Form und eine eigene Substanz besitzt, führte L. Hjelmslev einen neuen Terminus zur Bezeichnung der dieser Einteilung entsprechenden vier Strukturschichten oder S t r a t a ein und beschrieb die besonderen Beziehungen zwischen diesen Strata. Zum Unterschiedjvon den Verhältnissen der Manifestation bzw. der Denotation innerhalb des Stratums definierte er die Beziehungen zwischen den Strata als „Projektion bestimmter Einheiten eines Stratums auf diejenigen des anderen Stratums und umgekehrt" [187, 45]. Parallel zu dieser Konzeption, in der das Prinzip der zweifachen Gliederung der Sprache weiterentwickelt wurde, bildeten sich in der deskriptiven Linguistik andere Verfahren der Gliederung der Sprache heraus, bei denen der Begriff der E b e n e des Sprachsystems in den Vordergrund gerückt wurde (vgl. Kapitel 2). Uns interessieren hier aber nicht Fragen der Beschreibungsprinzipien für die sprachlichen Subsysteme, die die Bezeichnung Ebene oder Stratum er56

halten haben. Für uns ist nur wichtig, wie diese Begriffe für die Charakteristik des Sprachsystems benutzt werden und wie mit ihrer Hilfe der Gesamtaufbau der Sprache und ihre Struktur beschrieben werden können. Unter diesem Gesichtspunkt sind zwei Problemkomplexe der Theorie der Ebenen von Interesse: die Ermittlung der großen Blöcke bzw. Komponenten, in die sich das Sprachsystem gliedert, und die Klärung ihrer Korrelation innerhalb dieses Systems. Nach S. D. Kaznelson ist die Ebenentheorie „eine besondere Theorie vom Sprachbau, nach der die Teilbereiche des Sprachsystems in strenger Ordnung übereinander angebracht sind" [49, 32]. I n der Stratifikationslinguistik steht gerade der zweite Fragenkomplex, die Anordnung der einzelnen Subsysteme innerhalb des einheitlichen Systems, im Mittelpunkt, in der strukturell-typologischen Linguistik hingegen — im Zusammenhang mit dem Problem der Sprachmodellierung — eher der erste K o m plex, nämlich die Ermittlung der universellen Teile, aus denen die Sprache besteht. Die Entstehung dieser zwei Richtungen zeigt nicht nur, daß in der modernen Linguistik die Notwendigkeit herangereift ist, die Ergebnisse zahlreicher Einzeluntersuchungen über den Sprachbau zusammenzufassen 7 , sondern auch, daß die Sprachwissenschaft einen Entwicklungsstand erreicht hat, der die Lösung dieser Aufgabe ermöglicht. Die Stärke beider Richtungen liegt vor allem darin, daß sie die wesentlichsten Ergebnisse der strukturellen Linguistik der vorangegangenen Periode verallgemeinern. So beruht die Stratifikationsauffassung vom Sprachsystem auf einer ganzen Reihe allgemeiner Gedanken, die schon früher von der eng strukturellen, der taxonomischen und der Transformationslinguistik entwickelt worden sind. Die Begründer des Stratifikationsmodells übernahmen von den Glossematikern das Bemühen, die Organisation der Sprache mit Hilfe der Kategorie ihrer Struktur zu beschreiben, und von den Deskriptivisten die Idee, daß sich die Sprache in Ebenen gliedert u n d daß jede einzelne Ebene über eigene elementare -em-Einheiten verfügt; bei der Konstruktion ihres Modells benutzten sie aber auch eine der Leitideen der Transformationsgrammatik, nämlich die Idee der Informationsübermittlung durch ständige Überführung (transduction) einer Informationsform in eine andere und damit die Idee der Umkodierungsregeln zur Überführung einer Spracheinheit in eine andere. I m Gegensatz zu den Glossematikern wird die Sprachstruktur hier aber nicht mehr als zweigliedriges Gebilde aufgefaßt, das zwei Ebenen vereint, sondern als vielgliedrige Einheit, die wenigstens fünf, sechs einzelne Glieder, oder wie S. Lamb und H . Gleason sich ausdrücken, Schichten bzw. Strata umfaßt. Der Sprachmechanismus dient ihrer Meinung nach tatsächlich dazu, Laute und Bedeutungen aufeinander zu beziehen, aber die Substanz des Ausdrucks und die Substanz des Inhalts werden keineswegs unmittelbar, keineswegs geradlinig aufeinander bezogen, sondern stufenförmig, über mehrere Zwischenglieder, mit Hilfe mehrerer verhältnismäßig autonomer Strata. Die Sprachstruktur wird durch deren wechselseitige Anordnung be7

Vgl. die zu Beginn der 60er Jahre von W. N. Toporow und seinen Kollegen formulierte Aufgabe „das Gesamtmodell einer konkreten Sprache zu konstruieren, das a l l e E b e n e n des Sprachsystems und die Ü b e r g ä n g e z w i s c h e n i h n e n berücksichtigt" [21, 7] (von mir hervorgehoben — J. K.).

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stimmt, sie beruht auf ihrer Hierarchie, ihrer S t r a t i f i k a t i o n [177, 84]. Bereits die Glossematiker hatten betont, daß die Beziehungen zwischen der Ausdrucksebene und der Inhaltsebene von eineindeutigen Korrelationen weit entfernt sind und daher ein kompliziertes Netz von Entsprechungen bilden. S. L a m b und H . Gleason haben eine detailliertere Beschreibung versucht. Darin sieht auch das Schema der Ebenen zweifellos ganz anders aus, als es Ch. Hockett 1955 und G. Trager und H . Smith 1957 vorgeschlagen hatten [190; 188, 137ff.]. I n diesem Schema erscheinen die einzelnen Schichten der Organisation der Sprache noch deutlich als Ebenen, das heißt, als wenn die hierher gehörenden Erscheinungen auf einer Fläche lägen (vgl. den später entstandenen Begriff der sog. size-levels, mit dem eine gewisse Enge der ursprünglichen Varianten des Ebenenbegriffs überwunden werden sollte). I n dem StratifikationsmodeJl tritt an die Stelle dieser dem frühen Deskriptivismus eigenen Auffassungen die Erkenntnis der Kompliziertheit der Übergänge von einer Schicht zur anderen und dementsprechend der Beschreibung der Strukturbeziehungen zwischen den Strata. Noch vor kurzem war, wie S. Lamb feststellte, die Behauptung umstritten, daß sich die Sprachstruktur in Strata gliedern lasse, heute dagegen geht der Streit vor allem darum, in wie vielen Strata und in welchen sich die Sprachstruktur konkret realisiert, durch welche Systemtypen jedes Glied dieser Struktur vertreten ist und durch welchen Beziehungstyp der Übergang von einem Strat u m zum anderen gekennzeichnet ist (vgl. [202, 38/9; 203]). Nach dieser Auffassung bildet die Sprachstruktur eine bestimmte Hierarchie von Subsystemen, die durch Koordination und eine bestimmte Ordnung von Beziehungen gekennzeichnet ist; das globale Sprachsystem hingegen existiert dank seiner spezifischen Struktur als ein integrales Ganzes [202, 3]. Aus diesen Sätzen läßt sich leicht erkennen, daß die Entwicklung struktureller Ideen eine neue Etappe erreicht hat. S. Lamb und H . Gleason operieren zwar ebenso wie ihre Vorgänger mit Kategorien wie Elemente und Beziehungen zwischen ihnen, gelangen aber dank ihrer Orientierung sowohl auf neue Elemententypen wie auf neue Beziehungstypen zu einer erweiterten Vorstellung vom Sprachsystem. Als relativ neues Element ist hier ein so kompliziertes Gebilde wie das Stratum zu betrachten. Das Stratum, das zweifellos dem Begriff der Ebene verwandt ist (wovon schon die Gleichheit der Bezeichnungen für die einzelnen Ebenen und Strata zeugt), entspricht jedoch nicht einer vorher ausgewählten Ebene der linguistischen Analyse, sondern einer räumlichen Schicht im linguistischen System selbst, das heißt, es ist nicht ein Teil des Modells oder der Beschreibung des Objekts, sondern ein Teil des Objekts selbst [203, 58]. Die Ermittlung der Strata und die Aufgliederung des Sprachsystems in Strata ist daher nicht so sehr ein methodisches Verfahren zur vereinfachten Sprachbeschreibung, sondern entspricht vielmehr in bestimmten Grenzen der ontologischen Charakteristik des Objekts (vgl. [126, 45]). Im Unterschied zur Ebene, die gewöhnlich durch eine bestimmte Einheit konstituiert wird (Phonem, Morphem, Wort usw.), wird das Stratum sowohl durch das Vorhandensein einer Einheit als auch durch deren Kombinierbarkeit konstituiert: Es umfaßt sowohl die Repräsentation als auch die An58

Ordnung der Einheit. Jedes Stratum wird infolgedessen durch einen Komplex einfacher (Basis-)Einheiten und -em-Einheiten sowie durch einen Komplex taktischer Regeln charakterisiert, die die Verbindung dieser Einheiten zu komplexen und komplizierteren zusammengesetzten Einheiten erklären. I n der Struktur der Sprache sind drei bzw. vier eigentlich linguistische Strata zu unterscheiden — die Phonologie, die Morphologie, die Lexikologie plus — minus die Morphonologie, ferner zwei Grenzstrata, die die „obere" u n d „untere" Grenze der Sprachstruktur bestimmen: die Semantik und die Phonetik. Die Grenzstrata verbinden die Sprache unmittelbar mit der außerlinguistischen Realität, und die Kriterien, auf Grund deren sie ausgegliedert werden, sind zugleich die Kriterien, die die Grenzen der Sprachstruktur angeben (vgl. [203, 17, 32ff.]). Das Aufsteigen von der niedrigeren Ebene zu nächsthöheren, angrenzenden und weiter — über alle Zwischenstufen hinweg — zur höchsten Ebene erfolgt mittels eines Beziehungstyps, der als R e p r ä s e n t a t i o n bezeichnet werden kann. Dieser fundamentale Beziehungstyp hat sieben Unterarten: die Diversifikation, die Neutralisation, die Nullrealisation, die leere Realisation, die Portmanteaurealisation und die komplexe Realisation sowie die Anataxis. Jede dieser Beziehungsarten kann für sich mit Hilfe von Linien und Knoten graphisch abgebildet werden, so daß das gesamte Netz struktureller Beziehungen zwischen jeder der zwei aneinander grenzenden Ebenen anschaulich und vergleichbar dargestellt werden kann [202, 9]. Neben Repräsentationsbeziehungen, die vor allem für die Beziehungen zwischen den Einheiten benachbarter Strata typisch sind, gibt es noch einen anderen Beziehungstyp, der die Beziehungen der Elemente innerhalb einer Ebene charakterisiert: Beziehungen der M a n i f e s t a t i o n oder A k t u a l i s i e r u n g . Bei der Gegenüberstellung all dieser Beziehungstypen wird der Unterscheidung zwischen -em- und -on-Einheiten große Bedeutung beigemessen (Näheres [2,1, 85ff.]). Da in dieser Konzeption nicht nur die verschiedenen Abhängigkeitstypen (Repräsentation) und das allgemeine Schema ihrer Anordnung berücksichtigt werden, sondern auch die Typen der Aktualisierung der Spracheinheiten (Exponierung), wird die Frage der tatsächlich vorhandenen Unterschiede bei der Realisierung dieser verschiedenen Beziehungstypen und damit die Frage der Substanzbesonderheiten der Einheiten natürlich in die Untersuchung einbezogen. Das bedeutet, daß die -on- und die -em-Einheiten einerseits proportionale und bis zu einem gewissen Grade gleichgeartete Beziehungen miteinander eingehen: Das Phonon verhält sich zum Phonem wie das Morphon zum Morphem oder das Lexon zum Lexem. Andererseits erfolgt die Integration der Phonone zu einem Phonem nicht in der gleichen Weise wie die Vereinigung der Morphone eines Morphems und auf anderen Grundlagen als die Identifizierung der Lexone eines Lexems. Bei der Bestimmung und Formulierung der Prinzipien zur Identifizierung dieser elementaren Einheiten ist noch der Einfluß der deskriptivistischen Traditionen zu spüren, ebenso wie er auch darin zum Ausdruck kommt, daß der Morphologie größere Beachtung geschenkt wird als der Syntax. Gleichzeitig wirkt bei der Ausarbeitung der Regeln für die Umschreibung einer Einheit in die 59

andere noch der Einfluß der Verfahren der Transformationsgrammatik. So werden verschiedene Interpretationen des Sprachsystems gewissermaßen in einer Theorie verallgemeinert, und es besteht kein Zweifel, daß diese Theorie weiter ausgearbeitet und präzisiert zu werden verdient. Abschließend sei festgestellt, daß dies offenbar dadurch erheblich erleichtert wird, daß die wichtigsten Prinzipien bei der Erforschung der Stratifikation der Sprachelemente innerhalb eines einheitlichen Ganzen auch außerhalb der eigentlichen Stratifikationslinguistik weiterentwickelt wurden. Selbst der Terminus „Stratifikation" und der ihm nahestehende Terminus „Strukturierung" wurden — unabhängig von S. Lamb und H . Gleason — in der gleichen oder in ähnlicher Bedeutung von den Prager Linguisten [87], von E. Coseriu [168, 275], R . J a kobson [197, 19], W. N. Toporow [120, 31], A. A. Reformatski [97, 109/10], E. A. Makajew [65, 37 ff.] und anderen verwendet, ganz abgesehen von L. Hjelmslev. Viele Ideen der Stratifikationsanalyse und der Stratifikationsvorstellung von der Sprachstruktur stimmen zudem im allgemeinen mit der Auffassung vom Sprachsystem als einem spezifischen Merkmalraum mit eigener Metrik überein. Diese Auffassung vom Sprachsystem zeichnet sich gegenwärtig immer deutlicher in den strukturell-typologischen Forschungen ab.

f) D a s Sprachsystem u n d seine Metrik Beim gegenwärtigen Entwicklungsstand der Linguistik wird es zum Ziel typologischer Forschungen, Sprachsysteme und einzelne Ausschnitte aus ihnen als Teile eines Ganzen zu vergleichen [197, 19; 21, 7; 32; 36; 128, 10; 43, 38; 48, 75]. An die Stelle der isolierten Untersuchung separater Stücke der Sprache tritt in den strukturell-typologischen Forschungen die Beschreibung des Ganzen; das zeigt sich W. W. Iwanow zufolge in der Strukturanalyse des Sprachsystems, in umfassenden Gegenüberstellungen ganzheitlicher Systeme, in der Ermittlung der allgemeinen Gesetze, die die Wechselbeziehungen der verschiedenen Elemente des Sprachsystems bestimmen, usw. [44, 34/5]. Solche Arbeiten können natürlich nur durchgeführt werden, weil der Ausgangsbegriff,, auf dem sie basieren, nämlich der Begriff des Sprachsystems, nicht mehr verschwommen und intuitiv ist, sondern im Gegenteil einen immer exakteren und konkreteren Inhalt gewinnt. Ob wir einzelne Sprachen nach einer bestimmten einheitlichen Charakteristik einfach vergleichen; ob wir die Systeme konkreter Sprachen als partielle Abweichungen von einem universellen Modell bzw. als Ergebnis seiner Entwicklung oder Reduktion betrachten; ob wir schließlich dieses universelle Modell durch eine Reihe von Transformationen bzw. Ubergängen mit anderen realen Systemen vergleichen — in jedem Fall setzen die Verfahren typologischer Forschung ein bestimmtes Modell voraus, das als Ausgangspunkt dient und den Vergleich ermöglicht. Es versteht sich, daß dieses Modell nicht einfach eine Anhäufung unverbundener Kategorien bzw. Einheiten sein kann. Die Strukturtypologie, die nach B. A. Uspenski „definitionsgemäß vom Systemvergleich (das heißt vom Vergleich der Systeme) ausgehen m u ß " 60

[128, 36], kann sich nur auf ein Modell stützen, das nicht selbst ein System darstellt. Natürlich ist die Entwicklung solch eines Modells eher Ideal als Praxis; der typologischen Forschung. Nichtsdestoweniger kann schon heute ein analytisches Modell des Sprachsystems beschrieben werden, das die fundamentalsten Züge des Sprachmechanismus widerspiegelt, wenn auch noch nicht in allen Einzelheiten und in vollem Umfang. Dieses Modell läßt sich als r ä u m l i c h e s , oder .topologisches Modell bezeichnen. Es besteht zweifellos ein Zusammenhang zwischen dem räumlichen Sprachsystem und der oben behandelten Stratifikationskonzeption vom Sprachmechanismus. Schon der Ausgangsbegriff der Stratifikationstheorie — d e r Begriff der hierarchischen Gliederung des Systems, der Begriff der Stratifikation der Elemente in der Sprachstruktur — steht dem Begriff der Metrik eines bestimmten Raums und dessen Topos sehr nahe. H . Gleason als einer der Begründer der Stratifikationstheorie erklärt das Fehlen von eineindeutigen Relationen zwischen der phonologischen und der Semem-Organisation einerÄußerung (und infolgedessen den Umstand, daß es nicht genügt, die Beziehungen zwischen ihnen in Form einer zweigliedrigen Struktur darzustellen) dadurch, daß die erste als eindimensionale (lineare, zeitliche) Größe existiert, die zweite dagegen als mehrdimensionale (nicht lineare, in die Tiefe gehende usw.). Mit anderen Worten, auch er gelangt zu der Auffassung, daß es in der Topologie der Ebenen wesentliche Unterschiede gibt (vgl. 177, 84) und daß f ü r die Vereinigung von Ebenen mit einer so verschiedenen Topologie zu einem Ganzen Zwischenebenen oder Verbindungsebenen notwendig sind (die Morphem- und die Lexemebene). Während aber die Stratifikationslinguistik den Hauptakzent auf die Bestimmung der Sprachstruktur und die Feststellung des Beziehungsnetzes zwischen den Strata legt, wird bei der topologischen Analyse des Sprachsystems eine umfassendere Aufgabe gestellt, nämlich die Bestimmung seiner universellen Merkmale und seiner globalen Metrik, die Feststellung des Sprach„raums", den dieses System „einnimmt" und den all seine einzelnen Ebenen „einnehmen". Als Leitprinzip für den Aufbau des Sprachsystems gilt auch hier, daß es aus: hierarchisch einander untergeordneten Subsystemen besteht; da das Sprachsystem sich nach dieser Auffassung aus Subsystemen zusammensetzt, von denen ein jedes seinerseits eine mehrdimensionale Größe ist, wird die Metrik desGesamtsystems vor allem durch die Anzahl der Ebenen und ihre korrelative Stratifikation sowie durch die besondere Stratifikation jeder einzelnen Ebene bestimmt. Wenn die Anhänger der Stratifikationslinguistik dabei noch zum Teil die Meinung vertreten, daß jedes dieser Strata ziemlich separat und isoliert ist und die Strata durch Zwischenstrata miteinander verbunden sind, so wird beim topologischen Herangehen entschieden weniger die Autonomie u n d Unabhängigkeit jeder Ebene (compartmentalising innerhalb des Systems) betont als vielmehr ihre Überlappung, Überlagerung und gegenseitige Durchdringung (interpénétration). Das Sprachsystem ist nach dieser Interpretation nicht nur nicht homogen, sondern bildet auch eine Einheit einander überlagernder Subsysteme (vgl. C. Bazell [148], 0 . Leska [62], K . Pike [219, 37/8] u. a.). Das Postulat, daß die Architektonik des Ganzen durch die Anzahl und die 61

¿Spezifik seiner einzelnen Subsysteme sowie durch die Spezifik ihrer WechselTvirkung bestimmt wird, führt logisch dazu, daß die zwei Aspekte des Sprachsystems in gleicher Weise untersucht werden: einerseits die einzelnen Subs y s t e m e mit den sie konstituierenden Merkmalen und andererseits die Beziehungen zwischen den Ebenen; mit anderen Worten, die zwei fundamentalen Summanden des Systems, die Elemente und die (bzw. das Netz der) Beziehungen werden in gleichem Maße berücksichtigt. Jedes Element des Systems, sei es eine einzelne Ebene oder eine linguistische Einheit, besitzt nach dieser Auffassung bestimmte allgemeine Merkmale, die den Merkmalen anderer Einheiten bzw. Ebenen isomorph sind, daneben besitzt es aber auch seine eigenen • (natürlichen) Wesensmerkmale. Ersteres gestattet es, vom Isomorphismus der Sprachebenen [201; 64; 33; 18; 93, 75] und vor allem von einem tiefen strukturellen Parallelismus der Laut- und Inhaltsebene [201, 21; 17, 207ff.], von einer gewissen Gleichartigkeit und Konformität in den allgemeinen Organisationsprinzipien der einzelnen Glieder des Systems zu sprechen; der zweite F a k t zeugt von der Spezifik und relativen Autonomie eines jeden Elements des Systems und von der Heterogenität des Systems insgesamt. Eine Widerspiegelung des zweiten Fakts ist auch die Beschreibung eines jeden Sprachelements in Termini seiner eigenen distinktiven Merkmale (Näheres über das Wesen der letzteren siehe z. B. bei T. W. Bulygina [17, 188ff.]). Somit gestattet es eben die Heterogenität des Sprachsystems, dieses als S y s t e m v o n S y s t e m e n zu beschreiben, von denen ein jedes auf Grund der unterschiedlichen Beschaffenheit seiner Einheiten durch verschiedene Merkmale charakterisiert wird (vgl. [31,26; 140; 149; 197]), und von da aus als — h i e r a r c h i s c h o r g a n i s i e r t e •Gesamtheit von miteinander verbundenen Ebenen. Das Sprachsystem, das also eine organisierte Gesamtheit darstellt, ist nur relativ geordnet, und in dieser Hinsicht ist die Frage „Ist das System immer -systemhaft?" [25] durchaus angebracht. Genauer ist es jedoch, die Frage zu formulieren, inwieweit das linguistische System systemhaft ist, das heißt, in welchem Maße es geordnet ist und worin denn diese Ordnung zum Ausdruck kommt. Zur Zeit werden diese Fragen recht unbestimmt beantwortet. So sehr manche Linguisten dazu neigen, dem Sprachsystem eine strenge Reglementierung, eine feste Ordnung, eine Ausrichtung in einem regelrechten Netz von Oppositionen usw. zuzuschreiben, so sehr betonen andere seinen chaotischen, einmaligen, fließenden Charakter, das Fehlen klarer Grenzen usw. Offenbar haben weder die einen noch die anderen recht. Jedes konkrete linguistische System besitzt sein eigenes Maß an Ordnung, in jeder formalen Klasse und in jeder paradigmatischen und anderen Vereinigung gibt es neben regelmäßigen Bildungen auch „Ausnahmen" oder abweichende Formen, und jedes System verfügt über eine bestimmte Variationsbreite seiner Größen. Auch besitzt der Kern des Systems ein anderes Maß an Systemhaftigkeit als die Peripherie. Zugleich ist anzunehmen, daß das durchschnittliche Maß der allgemeinen Ordnung des Sprachsystems auf Grund der Identität der allgemeinen kommunikativen Funktion der Sprache und der Identität der objektiven Realität, die von den Sprachen widergespiegelt wird, sich einer Konstanten nähert. Es lassen sich auch ziemlich gewichtige Beweisgründe dafür anführen, daß auch die Art 62

der Ordnung innerhalb der linguistischen Systeme ziemlich gleich ist. Die einzelnen Subsysteme der Sprache oder Ebenen sind in einer bestimmten Weise •angeordnet; die einzelnen Glieder — wenigstens zwei — in der Sprachstruktur haben eine feste Anordnung; durch eine bestimmte Ordnung und durch Abhängigkeiten werden auch die einzelnen Subsysteme charakterisiert. Die Hierarchie der Elemente und Beziehungen, der Klassen- oder Reihencharakter der linguistischen Einheiten, die bestimmte zahlenmäßige Begrenztheit der Modelle dieser Einheiten usw. — all das zeugt davon, daß ebenso wie andere Systeme auch das Sprachsystem eine „in bestimmter Weise geordnete Menge von miteinander verbundenen Elementen ist" [100, 169]. Und wenn es in diesem System auch keine absolut strenge Ordnung gibt (das sprachliche Zeichen hat in der Regel asymmetrischen Charakter, asymmetrisch sind auch die Beziehungen zwischen der Ausdrucks- und der Inhaltsebene, das Maß der Redundanz ist auf den verschiedenen Ebenen nicht konstant), so trifft andererseits auch das Gegenteil nicht zu, und man kann ohne Mühe sprachliche Fakten anführen, die Symmetrie, Proportionalität und Regularität sowohl innerhalb einzelner Subsysteme als auch im Aufbau des Ganzen erkennen lassen. Dasselbe gilt offenbar auch für eine solche Eigenschaft des Sprachsystems wie seine G a n z h e i t l i c h k e i t . Einerseits ist dieses System ein Gebilde, dessen allgemeine Eigenschaften sich nicht auf eine einfache Summe der Eigenschaften seiner Bestandteile zurückführen lassen (vgl. [25, 254]). Es steht aber auch außer Zweifel, daß der Grad der Ganzheitlichkeit auf den verschiedenen Abschnitten des Systems nicht gleich groß ist (vgl. die unterschiedliche Durchlässigkeit der verschiedenen Ebenen gegenüber äußeren Einwirkungen; ferner die unterschiedlichen Folgen von Veränderungen, die in verschiedenen Bereichen des Sprachbaus eintreten usw.). Zweifellos weist die wechselseitige Bedingtheit der Erscheinungen hier Unterschiede auf, und beim Aufsteigen von den unteren Ebenen zu den höheren tritt an die Stelle des unmittelbaren gegenseitigen Einflusses der Einheiten ein mittelbarer Einfluß, der häufig ganz schwindet. Schließlich ist bekannt, daß manche Spracherscheinungen (wenigstens nach unserer gegenwärtigen Erkenntnisstufe) nicht korrelieren, nicht zusammenhängen und nicht voneinander abhängen. All das bedeutet, daß die Ganzheitlichkeit ebenso wie die feste Ordnung keine absolute, sondern eine relative Eigenschaft der Sprachsysteme ist, die in der Organisation der Sprache und in der Organisation ihrer einzelnen Komponenten nicht in gleicher Form und in gleichem Maße zum Ausdruck kommt. Offenbar treten diese Eigenschaften aber am klarsten in der Hierarchie der Ebenen und in ihrer Integration zu einer unlösbaren funktionalen Einheit zutage. Daher stammt die Vorstellung, daß das Sprachsystem eine Implikation universeller Kategorien, in erster Linie eine Implikation bestimmter Ebenen (oder Strata) in einer bestimmten Ordnung und mit bestimmten Beziehungen zueinander ist. Obgleich nicht ganz geleugnet werden kann, daß manche Abhängigkeiten oft verschieden gerichtet sind (vgl. [116, 7]), wächst das Netz der Abhängigkeiten gewöhnlich, sozusagen von unten nach oben. Beim Übergang von der niedrigeren Ebene zu den höheren werden nicht nur die einen Einheiten allmählich in andere umkodiert (der Lautkomplex übernimmt gewissermaßen immer neue

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Rollen), entstehen nicht nur kompliziertere Einheiten aus einfachen Einheiten wie aus Würfeln und wächst nicht nur der Umfang und die Kompliziertheit der Einheiten. I n der Richtung von den niedrigeren zu den höheren Ebenen werden auch die möglichen Verbindungen der Einheiten komplizierter, wächst die Zahl und die Kompliziertheit ihrer Beziehungen zur außersprachlichen Wirklichkeit. Die allgemeine architektonische Kompliziertheit der einzelnen Subsysteme nimmt zu; an die Stelle direkter und unmittelbar zu beobachtender Beziehungen treten in der Tiefe verborgene „vermittelte" Beziehungen (vgl. [66, 49/50; 27]). Das aus solchen Komponenten verschiedener und wachsender Kompliziertheit bestehende Sprachsystem ist also kein Gestell und auch keine Leiter von Ebenen, sondern ein aus mehreren Ebenen bestehendes, mehrdimensionales verzweigtes Gebilde, dessen Metrik aus sich überschneidenden Merkmalräumen in ihrer bestimmten Anordnung und Koordination besteht. Jeder einzelne Merkmalraum (Subsystem) ist eine bestimmte abstrakte Größe, die durch ein Gebiet gebildet wird, das sich zwischen den Schnittpunkten bestimmter Koordinaten befindet [21; 56]. Die Koordinaten bilden die distinktiven Merkmale der Einheiten. Die Ermittlung dieser Merkmale beruht darauf, daß die Einheiten im Sprachsystem einander entgegengesetzt sind und sich nicht vermischen (vgl. [166; 210]). Jede Koordinate spiegelt nicht nur die Relevanz eines Merkmals und sein einfaches Vorhandensein wider, sondern ist darüber hinaus eine Art Skala, auf der der Grad des Hervortretens einer Eigenschaft oder eines Merkmals abgesteckt ist (vgl. zum Beispiel die Wahl der Achse, auf die die Zungenlage für die Vokale bei der Beschreibung des Vokalsystems aufgetragen wird). Das Verhältnis zwischen den Merkmalen und ihren Bedeutungen kann weiter in einer Matrix oder in Form eines Modells eines w-dimensionalen Raums dargestellt werden, wo n gleich der Menge der ausgewählten Wesensmerkmale ist [42]. Jede Erscheinung kann demnach im Hinblick auf ihren Platz in dem Koordinatensystem als Schnittpunkt bestimmter Merkmale oder Merkmalbündel betrachtet werden [127, 224ff.]; vgl. ferner [222, 78; 56; 45; 58; 70; 73]. Die Metrik eines jeden Subsystems wird somit durch die Anzahl und das wechselseitige Verhältnis der distinktiven Merkmale als Parameter des Modells bestimmt; die Metrik des gesamten Sprachraums wiederum besteht aus der Gesamtheit dieser Subsysteme, das heißt, sie wird durch das gegenseitige Verhältnis der Subsysteme bestimmt [127, 224]. Sehr wichtig ist, daß bei dieser Vereinigung der verschiedenen Merkmalräume ersichtlich wird, welche distinktiven Merkmale auch außerhalb „ihres" Subsystems relevant bleiben und welche „ausscheiden" (vgl. [2]). In diesem allgemeinen Merkmalraum erscheinen die einzelnen Zonen als Zonen von Schnittpunktmengen; diese Verdichtungen (die Schnittpunkte der Beziehungen) spiegeln offensichtlich das Sprachgerippe wider, bilden das Grundgerüst der Sprache, ihre Struktur. Die Überschneidung und Überlagerung der Subsysteme wiederum läßt sich dadurch erklären, daß beim Übergang von einem Subsystem zum anderen die Unterschiede, die innerhalb der Ausgangsebene wirken, nur allmählich und teilweise aufgehoben werden und daß n u r allmählich neue Unterschiede entstehen. Den gleichen Gedanken formulierte eigentlich E. Benveniste, wenn er betont, daß der Übergang von 64

einer Ebene zur folgenden „eigentümliche und unbemerkte Eigenschaften" zutage fördere — die i n t e g r a t i v e n Eigenschaften der Elemente [149, 142], u n d daß durch die Vereinigung bestimmter Eigenschaften bzw. Merkmale neue Qualitäten entstehen (vgl. die Entstehung der Zeicheneinheiten aus Figuren). Solche integrativen Verbindungen, die die Ganzheitlichkeit des Gesamtsystems gewährleisten, vereinigen die Sprachelemente nicht mehr nur auf einer Fläche und nicht nur innerhalb einer Ebene, sondern auf verschiedenen Ebenen. Sie ziehen sich durch das gesamte System hindurch und charakterisieren die Sprache nicht nur horizontal, sondern auch durch verschiedene „schräge" und vertikale Schnitte und berühren mitunter mehrere Ebenen zugleich. So nehmen die phonologischen Mittel eigentlich in jeder übergeordneten Ebene eine neue Qualität an. Im Sprachraum gibt es so viel Dimensionen, wie distinktive Merkmale gewählt worden sind [36, 141]. J e nachdem, wie tief das Sprachsystem erforscht wird, je nach den konkreten Forschungszielen usw. kann die Zahl der Merkmale natürlich wechseln. Ihre allgemeine Konfiguration bleibt jedoch — sofern die wesentlichen Systemmerkmale richtig ausgewählt wurden — gleich, so daß jedes konkrete neue (reichere) System als das Ergebnis einer Entfaltung der universellen Metrik oder umgekehrt als das Ergebnis ihrer Reduktion dargestellt werden kann (vgl. [36,141]). Man kann offenbar behaupten, daß diese universelle Metrik (universell oder optimal jedenfalls f ü r jeden linguistischen Typ der Sprachen) die grundlegenden Strukturbeziehungen der Sprache, d. h. das Relationsgerüst ihres Systems widerspiegelt. Infolgedessen kann die Struktur •der Sprache in einer Reihe von Fällen als Netz invarianter konstanter Sprachbeziehungen betrachtet werden, als etwas, was die Stabilität des Sprachtyps u n d seine Identität mit sich selbst mitunter über Jahrtausende hinweg gewährleistet. J e größer die Anzahl der relevanten Merkmale ist, die das Gebiet des zu modellierenden linguistischen Raums bestimmen 8 , um so genauer entspricht das offensichtlich der Kompliziertheit des Objekts, um so detaillierter wird die Charakteristik des betreffenden linguistischen Systems, und um so wertvoller wird dieses Modell für zukünftige typologische Vergleiche. De Saussure hat auf die Notwendigkeit hingewiesen, das Sprachsystem und seine Einheiten wenigstens auf zwei Achsen, der syntagmatischen und der paradigmatischen, sowie in zwei Projektionen — synchronisch u n d diachronisch — zu erforschen. Sapir hat andere Koordinaten für die Klassifizierung der Sprachen eingeführt, indem er sie nach der Technik der Gestaltung der Wortstruktur, das heißt nach mehreren Merkmalen zugleich, charakterisierte. Damit hat er bereits auf die größere Kompliziertheit möglicher Dimensionssysteme bei der Erforschung der Sprache hingewiesen. J . Greenberg und seine Mitarbeiter haben schließlich die Basis für den Sprachvergleich noch mehr erweitert und die Zahl der Merkmale weiter vergrößert. Die Ermittlung analoger Merkmale, die Bestimmung ihres statistischen Werts und vor allem die Feststellung ihrer Korrelationen 8

Zu den typologischen Parametern, die mit den Vorstellungen von den Grundelementen der Sprache zusammenhängen, und zu der Bedeutung der Wahl eines optimalen Merkmalsystems siehe zum Beispiel W. W. Iwanow und J. K. Lekomzevv [45, 24—27]; vgl. ferner die Arbeiten B. A. Uspenskis [127; 126],

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bleibt allem Anschein nach eine wesentliche Aufgabe nicht nur für die eigentliche Typologie. Die Lösung dieser Aufgaben ist auch für die Beschreibung der Gesetze des Aufbaus einzelner linguistischer Systeme wichtig. Die von uns untersuchten Beschreibungen von Sprachsystemen können in zwei Gruppen eingeteilt werden: in Beschreibungen „von außen" und in Beschreibungen „von innen" [25, 257]. I m ersten Fall wird das Sprachsystem als ein globales ganzheitliches Gebilde aufgefaßt, das zusammen mit anderen Systemen, die zu einem übergeordneten System höherer Ordnung vereinigt sind, funktioniert. Das ist das funktionale oder teleologische Modell des Sprachsystems, das zahlreiche wesentliche Prinzipien des Mechanismus des Sprachsystems durch Ermittlung seiner Hauptfunktion und der Art ihrer Realisierung aufdeckt. Im zweiten Fall, beim Herangehen „von innen", wird das Sprachsystem nicht mehr als offenes System untersucht, sondern wird im Gegenteil so erforscht, als wenn es ein geschlossenes System wäre. Eine solche Abstraktion ist infolge der Besonderheiten der Sprache durchaus möglich und gestattet es, aus den zahlreichen und verschiedenartigen „Erscheinungsformen" der Sprache bestimmte konstante Merkmale und Eigenschaften zu ermitteln. Dabei kann der Forscher offenbar zwei Wege beschreiten: „von den Bestandteilen des Objekts und von seiner Ganzheit aus", „von den Bestandteilen zur Ganzheit" und „von der Ganzheit des Objektes zu seinen Teilen und zur Beschaffenheit ihrer Wechselbeziehungen" [75, 25/6]. Entsprechend herrscht bei der Beschreibung des Sprachsystems entweder die integrale, die Systemmethode oder die analytische, die Strukturmethode vor. Im ersten Fall werden die Eigenschaften des Systems als geordnete Vereinigung von Elementen und Beziehungen zu einem ganzheitlichen Gebilde erforscht, im zweiten Fall hingegen — ein Aspekt dieser Ganzheit, nämlich die Gliederung des Systems nach den charakteristischen Beziehungen und Verhältnissen. System und Struktur stellen somit zwei v e r s c h i e d e n e Eigenschaften der Sprache, zwei objektive Merkmale, die ihre Organisation charakterisieren, dar. Die Auffassung vom Sprachsystem als einer Vereinigung von Komponenten in ihrer inneren Gegenüberstellung hängt eng mit der Erkenntnis der Gesetze dieser inneren Gegenüberstellung und folglich mit der Bildung eines speziellen Begriffs für die Charakteristik der Gesetze zusammen, die sich auf das Schema der Verbindungen und Beziehungen innerhalb des Objekts beziehen, das heißt, mit dem Strukturbegriff. Auch das Gegenteil trifft zu: Die Auffassung von der Sprachstruktur als einem Netz von Beziehungen ist erst möglich, wenn die Ganzheit des Objekts erkannt wird, wenn es als kompliziertes und gliederbares Gebilde mit inneren Abhängigkeiten bestimmt wird, das heißt, wenn die Sprache als ein bestimmtes System aufgefaßt wird. Daher hängen die Strukturmethode und die eigentliche Systemmethode eng zusammen, sie ermöglichen die Erkenntnis wechselseitig bedingter, ähnlicher, wenn auch nicht identischer Eigenschaften der Sprache. I n strukturellen Sprachbeschreibungen wird das Hauptaugenmerk auf die reinen Beziehungen gerichtet und von den Elementen abstrahiert, zwischen denen diese Beziehungen bestehen. I n den taxonomischen, den stratifikationellen und den strukturelltypologischen Sprachmodellen kann der Umfang, in dem das Sprachsystem untersucht wird, verschieden sein; dementsprechend werden in den ver66

schiedenen Modellen dieser Richtungen verschiedene Seiten des Systems, je nacht den konkreten Forschungszielen, beschrieben. All diesen Beschreibungen läßt sich — bereits auf anderer Grundlage — die d y n a m i s c h e Vorstellung vom Sprachsystem gegenüberstellen, die das Sprachsystem als einen Erzeugungsmechanismus beschreibt. Zur Zeit sind mehrere dynamische Modelle generativer Grammatiken bekannt: das Modell mit einer endlichen Zahl von Zuständen, das Phrasen-Struktur-Modell, verschiedene Transformationsmodelle und schließlich das applikative Modell der generativen Grammatik. Die Beschreibung der Sprachsysteme gilt in diesen Richtungen nicht „fertigen" Einheiten, sondern dem Prozeß ihrer Konstruktion durch einen logischen Mechanismus [77, 333]. Den Generativisten zufolge sei die generative Grammatik ein System von Regeln zur Bildung sprachlicher Einheiten, die als Ableitungsregeln aufgefaßt werden; sprachliche Einheiten erzeugen bedeutet, die linguistischen Einheiten aus einer kleinen Anzahl von Ausgangseinheiten abzuleiten. Daraus ergibt sich: Welche Begriffe bei der Beschreibung des Sprachsystemsals eines Erzeugungsmechanismus auch immer gebraucht werden, um die Dynamik dieses Systems zu betonen, welche Begriffe zur Beschreibung der prozessualen Seite der Spracherscheinungen auch immer eingeführt werden, auch hier wird, vor allem mit einem bestimmten Komplex von Ausgangseinheiten operiert, das heißt, auch hier werden Angaben zugrunde gelegt, die bei den taxonomischen, strukturellen und anderen „statischen" Modellen des Sprachsystems gewonnen wurden. Die Adäquatheit der Darstellung des Sprachsystems mit Hilfe von Regeln für die Konstruktion seiner Komponenten hängt daher zweifellos weitgehend davon ab, inwieweit dabei Kenntnisse aus vorangegangenen Systembeschreibungen verwertet, insbesondere, welche Einheiten als Ausgangseinheiten angesetzt werden. Ohne Kenntnis der Beschaffenheit des Sprachsystems und der konkreten Besonderheiten seiner Struktur, ohne Kenntnis des Grades der Abhängigkeit der Struktur von der Substanz usw. läßt sich kein synthetisierender Mechanismus konstruieren, der die linguistischen Einheiten erzeugen könnte. Darin besteht der bleibende Wert der oben behandelten „statischen" Modelle, die es erstmalig ermöglicht haben, die System- und. Struktureigenschaften der Sprache festzustellen und zu beschreiben und die Sprache schließlich als besonderes System mit spezifischer Struktur zu behandeln. Ob die Eigenschaften sprachlicher Einheiten nur auf der syntagmatischen. Achse analysiert werden oder ob die Aufmerksamkeit des Forschers der paradigmatischen Gegenüberstellung dieser Einheiten gilt, ob die Struktur der B e ziehungen nur auf synchroner Ebene als relevant angesehen wird oder ob dieDynamik des Sprachsystems in der Diachronie erforscht wird, ob die Substanzeigenschaften der Spracheinheiten berücksichtigt werden oder ob jedes Element als Bündel reiner Beziehungen aufgefaßt wird, ob die deduktive Forschungsmethode zur einzig wissenschaftlichen Methode erklärt wird oder ob alles auf induktiven Verallgemeinerungen aufgebaut wird — unabhängig davon, welche von diesen gegensätzlichen Konzeptionen dieser oder jener linguistischen Schule zugrunde liegt, jede dieser Schulen leistet ihren Beitrag zur Erkenntnis desWesens der Sprache. Das erklärt sich keineswegs aus der pragmatischen E r 67"

wägung, daß zur Beschreibung ein und desselben Gegenstandes verschiedene Methoden möglich sind. Die Anhänger des Prinzips der „Vielzahl der Be-schreibungen" begründen die Gleichberechtigung verschiedener Methoden der Erkenntnis eines Objekts mit der Unmöglichkeit, ein objektives Kriterium dafür -anzugeben, welche dieser Methoden Existenzberechtigung hat und welche nicht. Die verschiedenartigen Methoden der Erforschung und Beschreibung eines •Objekts durch Systemanalyse sind aber ganz anders zu erklären. Wenn dieses •Objekt ein adaptives organisches System ist (und die Sprache ist, wie bereits festgestellt, dazuzurechnen), so sind Syntagmatik und Paradigmatik, Statik und Dynamik, Struktur und Substanz, Element und Ganzes, Induktion und Deduktion keine voneinander unabhängigen Seiten, sondern sie sind aufeinander abgestimmt und ergänzen einander; daher erhält auch der Forscher, der seine Aufmerksamkeit nur auf eine dieser Seiten, auf einen Parameter oder auf eine Komponente des Systems richtet, zwangsläufig, wenn auch nicht in allen Einzelheiten, Kenntnis von vielen anderen Seiten, Parametern bzw. Komponenten dieses Systems. Das aber heißt, daß die Vertreter der verschiedenen linguistischen Richtungen, die das ganzheitliche Sprachsystem von verschiedenen Standpunkten aus erforschen, Resultate über die Sprache als ontologische Gegebenheit erzielen, die sich gegenseitig ergänzen und miteinander übereinstimmen (wenn auch nicht immer in expliziter Form). Wenn aber all das zutrifft, dann muß auch eine Methode der Erforschung der Sprache möglich sein, die sich das Ziel setzt, den Mechanismus des Zusammenhangs der zahlreichen „einander ausschließenden" Seiten des Sprachsystems in ihrem unaufhörlichen, im Verlauf der Entwicklung und Adaption dieses Systems zum dynamischen •Gleichgewicht führenden Widerstreit explizit darzustellen. Die sogenannte Determinantenforschung in der Linguistik, die auf die Ermittlung der ausschlaggebenden, bestimmenden, determinierenden grammatischen Tendenzen des Sprachbaus gerichtet ist, entwickelt eine dieser integralen Systemmethoden. Die Feststellung einer minimalen Anzahl von Determinanten (und nach Möglichkeit — der einzigen Determinante) der Sprache gestattet es, die systemhafte wechselseitige Bedingtheit aller Ebenen und Komponenten der Sprache in ihrem synchronen Zustand durch Rekonstruktion der Dynamik ihrer Anpassung aufzudecken. Die Untersuchung eines Systems von der Position der Determinantenmethode aus erfolgt in zwei Hauptetappen. Die erste ist induktiv, sie besteht in der Analyse des Systems mit dem Ziel der Ermittlung der Determinante. Die zweite ist deduktiv, sie besteht in der Synthese des Systems und in der Explikation der systemhaften wechselseitigen Bedingtheit all seiner Komponenten und Ebenen in Synchronie und Diachronie, in der theoretischen Ermittlung aller Charakteristika des Systems, die in der ersten Etappe noch nicht aufgedeckt werden konnten. Betrachten wir zunächst die wichtigsten Momente der induktiven Etappe. Der Wunsch, das uns interessierende Objekt „an sich und für sich" zu erforschen, ist ganz natürlich. Aber eben deswegen sind von Anfang an genügend vollständige, wenn auch nicht unbedingt detaillierte Kenntnisse von dem Objekt u n t e r dem Gesichtspunkt, was es „außer sich und für andere" darstellt, nötig. Mit anderen Worten, es muß festgestellt werden, mit welchen Objekten der ^68

gleichen Ebene es in Wechselwirkung steht, von welchem übergeordneten System es ein Element ist und was folglich seine Funktion im übergeordneten System ist. Welche Funktion erfüllt die Sprache zum Beispiel in bezug auf das Denken, das Bewußtsein, die Gesellschaft, die Gesellschaftsgeschichte? Erst nach Bestimmung der Funktion des Systems als einer Ganzheit können wir mit der Erforschung seines inneren Aufbaus beginnen, denn nur vom funktionellen Standpunkt können wir den Bestand an Komponenten des Systems, das Verzeichnis der Ebenen, die Struktur der Wechselwirkungen usw. ermitteln (es sei nur daran erinnert, daß die Erkenntnis der Wichtigkeit des funktionalen Kriteriums in der Sprachwissenschaft zur Entstehung der Phonologie geführt hat). Die Orientierung auf die Funktion des Systems als einer Ganzheit, d. h. auf die H a u p t f u n k t i o n des Systems, ermöglicht die Feststellung der T e i l f u n k t i o n e n jeder seiner Komponenten und Ebenen. Die Kenntnis einer jeden Teilfunktion macht die Liste der potentiellen Möglichkeiten der Realisierung dieser Funktion überschaubar, so daß sich die Aufmerksamkeit nunmehr unwillkürlich auf die Frage richtet: Warum hat sich von den zahlreichen möglichen Realisierungsvarianten dieser Teilfunktion in dem System vor allem eine bestimmte Realisierung Ii i durchgesetzt, warum werden die Realisierungen R 2 und i? 3 mitunter als Varianten benutzt, während R s und R 6 niemals realisiert werden? Warum wird im Arabischen zur Bezeichnung neuer Begriffe die innere Flexion benutzt, warum sind Wortgruppen möglich, während Wortzusammensetzungen ausgeschlossen sind? Die Feststellung dieser „Warum", die Klarheit darüber, welches „Maß an Freiheit gestattet" und was bei der Realisierung von Teilfunktionen des Systems mit Restriktionen belegt ist, ermöglicht es letzten Endes zu klären, „was erlaubt ist" und „was dem System als ganzheitlichem Objekt bei der Ausübung seiner Hauptfunktion nicht erlaubt ist". Wie B. A. Serebrennikow gezeigt hat, kann zum Beispiel die Eigenart des Sprachbaus der agglutinierenden uralaltaischen Sprachen durch zwei Restriktionen formuliert werden, unter deren Einfluß sich die Grammatik dieser Sprachen entwickelt h a t : das Verbot zur Verwendung von Klassenindizes und zur Postposition der Attribute. 9 Die Tendenz zur Einhaltung dieser Verbote ist der ausschlaggebende, determinierende Zug der Organisation der Sprache. Nachdem die Determinante einer Sprache induktiv festgestellt worden ist, setzt die deduktive Etappe ein — die Synthese des Baus dieser Sprache. Da wir die Teilfunktionen der Komponenten des Sprachsystems, das Feld der potentiellen Variation der Struktur und der Substanz der Komponenten und das Feld der faktischen Realisierung dieser Möglichkeiten kennen, müssen wir, ausgehend von der Kenntnis der Determinante, die die grundlegenden Beschränkungen und die grundlegende „Erlaubnis" zur Realisierung der Teilfunktionen des Systems gibt, für alle beobachteten Erscheinungen eine Systemerklärung finden. I n bezug auf die Determinanten läßt sich leicht die Hierarchie der 9

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Gegenwärtig wird versucht, die Spezifik des agglutinierenden Sprachbaus aus einer einzigen Determinante zu erklären (vgl. G. P. Melnikow, Der syntaktische Bau der Turksprachen vom Standpunkt der Systemlinguistik aus [71]). Serebrennikow I I

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Teilfunktionen in ihrer Bedeutung für die Hauptfunktion bestimmen. Wenn wir die Umgebung, in der das System funktioniert, die mögliche Substanz, in der sich diese oder jene Systemkomponente realisiert, und die grundlegenden Gesetze der Adaption kennen, können wir das Bild der aufeinander folgenden Etappen der Herausbildung des Systems gewissermaßen wie eine embryonale Phase seiner Entwicklung rekonstruieren, auf Grund deren sich das real beobachtete System herausgebildet hat, das in einem gegebenen synchronen Schnitt funktioniert. So leitet B. A. Serebrennikow in einem Artikel [107] aus der Formulierung der determinierenden Tendenzen praktisch alle wichtigen Züge der agglutinierenden Sprachen ab, vom Lautbestand bis hin zur Eigenart des zusammengesetzten Satzes. Dabei wird klar, welche Glieder des Systems sich bereits voll herausgebildet haben und welches die schwachen Glieder sind, die eine K e t t e späterer Veränderungen des Systems auslösen können. Da dabei das Bild der kausalen Beziehungen sowohl in der Evolution des Systems als auch in seinem gegebenen Zustand klar wird, gelingt es, Eigenschaften und Charakteristika des Systems deduktiv zu ermitteln, die bei der ersten, induktiven Untersuchungsphase nicht bemerkt wurden. Und da der synchrone Zustand hierbei durch die Gesetzmäßigkeiten der Adaption und der Evolution des Systems erklärt wird, löst sich der Widerspruch zwischen Synchronie und Diachronie, zwischen Statik und Dynamik, zwischen Struktur und Substanz des Systems. Zum Schluß sei bemerkt, daß die Determinanten-Synthese, obgleich sie deduktiv ist, nichts mit der formal-logischen Deduktion zu tun hat, bei der jede Konstruktion bereits durch die „Figuren" und Postulate, die dem Formalismus zugrunde gelegt wurden, vorbestimmt ist. Die Determinanten-Synthese wird durch die Gesetze der dialektischen Deduktion bestimmt: Die Determinante des Systems ist eine Abstraktion, in der die ganze Fülle des Konkreten enthalten ist und aus der sie entspringt. Die Determinanten-Synthese ist die praktische Realisierung der Ideen der Klassiker des dialektischen Materialismus, die Realisierung der Prinzipien des „Aufsteigens vom Abstrakten zum Konkreten". Wir meinen, daß sie sich auch für die Ermittlung der bestimmenden Züge der Sprachsysteme eignet.

KAPITEL 2

Die Ebenen der Sprachstruktur

Der Terminus „Ebene" wird in der modernen Sprachwissenschaft so breit verwendet, daß sein spezifischer Inhalt mitunter verlorengeht (es werden einander gegenübergestellt die Ebenen der Sprache und der Rede, des Systems und der Norm, der Struktur und der Substanz, der Zeichensysteme und der Nicht-Zeichensysteme, der verschiedenen Zeichenstrukturen innerhalb eines Zeichensystems, zum Beispiel die Ebene der unmittelbaren Konstituenten, die Transformationsebene u. a.). 1 Dem Inhalt des Terminus „Ebene", mit dem wir uns im vorliegenden Kapitel beschäftigen, liegt die Vorstellung von der Sprache als einem hierarchisch organisierten System einzelner Subsysteme zugrunde, die untereinander in bestimmten gesetzmäßigen Beziehungen stehen. Gewisse logische Voraussetzungen für die Entstehung einer Theorie der Sprachstratifikation enthielt bereits die in der traditionellen Sprachwissenschaft übliche Dreiteilung des Sprachbaus in Phonetik, Grammatik und Lexik (vgl. die besonders verbreitete Auffassung von der „Ausnutzung" der Phonetik durch die Grammatik). Bis in die Mitte der 40er Jahre hinein war für die Linguistik jedoch charakteristisch, daß die verschiedenen Einheiten und Beziehungen der Sprache ihrem Wesen nach auf einer Fläche angeordnet wurden. Eine einigermaßen folgerichtige Konzeption für die Sprachstratifikation wurde erst möglich, nachdem sich in der Sprachwissenschaft die These durchgesetzt hatte, daß die Sprache nicht als ein Konglomerat heterogener Erscheinungen, sondern als eine ganzheitliche Struktur zu behandeln ist. Den nächsten Anstoß für die Entwicklung dieser Konzeption gaben offenbar die Auffassung, daß die Sprache zwei Ebenen besitzt, die Inhaltsebene und die Ausdrucksebene, und die Feststellung eines ganzen Komplexes von Beziehungsreihen zwischen den Elementen beider Ebenen. Das Sprachsystem stellte sich damit dem Forscher als eine Reihe von Einzelsystemen dar, zwischen denen eine Wechselwirkung besteht, die den Sprachmechanismus in Bewegung setzt. Bei der Propagierung der Ideen von den Sprachebenen haben die Arbeiten von L. Hjelmslev (siehe besonders [63]) sowie einer Reihe von Vertretern der amerikanischen deskriptiven Linguistik (G. Trager, K. Pike, Ch. Hockett, Z. Harris u. a.) eine wichtige Rolle gespielt. Die meisten Konzeptionen von den Sprachebenen 2 haben die Vorstellung 1 2



Zur Diskussion des Problems der Sprachebenen siehe [37], Die Definitionen des Begriffs „Ebene" sind häufig zu allgemein (vgl. z. B. bei P. Garvin: „Die Ebene kann am besten als Komplex struktureller Beziehungen definiert werden, die einen spezifisch qualitativen Aspekt der Sprache charakterisieren" [56, 13]. Gewöhn-

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von der Sprache als einer Summe relativ autonomer (aber wechselseitig aufeinander einwirkender) Systeme (genauer, einem System von Subsystemen) miteinander gemein, die über einen begrenzten Komplex (ein „Inventar", „Lexikon", „Alphabet") von Elementen verfügen, die vom Standpunkt des betreffenden Systems nicht weiter zerlegbar sind, sowie ferner über Regeln, nach denen die Elemente durch wechselseitige Verbindung regulär aufgebaute Texte bilden. Wir wollen jetzt die Eigenschaften, die entsprechend dieser Vorstellung für die Unterscheidung verschiedener Ebenen notwendig und hinreichend sind, näher untersuchen. Die A u t o n o m i e der einzelnen Systeme besteht darin, daß jedes von ihnen nach eigenen Gesetzen organisiert (strukturiert) ist. Das hängt in erster Linie damit zusammen, daß die lautliche (bzw. graphische) Seite und die Bedeutungsseite der Sprache (und die Sprache bezieht ja von Natur aus Laute oder Figuren auf Bedeutungen) verschiedenen Gesetzmäßigkeiten unterliegen. Das Lautsystem muß den artikulatorischen und akustischen Möglichkeiten des Menschen entsprechen 3 , das Bedeutungssystem wiederum darf der Struktur des menschlichen Denkens und Gedächtnisses sowie der Struktur der außersprachlichen Wirklichkeit, die so oder so in den sprachlichen Äußerungen widergespiegelt wird, nicht widersprechen. Das Fehlen einer direkten Entsprechung zwischen dem Aufbau der Ausdrucksseite und dem der Inhaltsseite erklärt sich auch daraus, daß diese Seiten in verschiedenem Maße von historischen Veränderungen betroffen sind, die häufig die (übrigens prinzipiell bestehende) Asymmetrie zwischen den beiden Sprachebenen vertiefen/ 1 F ü r natürliche Sprachen gilt, daß die Grenzen der Lauteinheiten nicht mit den Grenzen der semantischen Einheiten übereinstimmen. Dabei gibt es zwei Arten von Nichtübereinstimmung.

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lieh wird jedoch überhaupt keine klare Definition für „Ebene" gegeben, sondern statt dessen werden Erörterungen angestellt wie: „Die Sprache ist eine so komplizierte Erscheinung, daß es unmöglich ist, all ihre Eigenschaften mit einer einzigen Methode, im Rahmen eines einzigen Kategorienschemas zu beschreiben. Daher das Prinzip der Einteilung der beschreibenden Grammatik in ,Ebenen' (z. B. ,Rechtschreibung', Aussprache', ,Morphologie', .Syntax', .Wortschatz'). Von welcher Einteilung man auch immer ausgehen mag, die Feststellungen, die in einem jeden dieser Bereiche getroffen werden, unterscheiden sich von N a t u r aus. Grundlage für diese Einteilung ist nicht, daß einfach zu viel ausgesagt werden muß, um es in einem Bereich unterzubringen, sondern daß die Dinge, die gesagt werden müssen, sich ihrem Typ nach unterscheiden. Die Art der Abstraktionen, die durch die entsprechenden Feststellungen vorausgesetzt werden, unterscheidet sich von einer Ebene zur anderen" [60, 17J. Die Entsprechung zwischen der graphischen Seite und der Bedeutungsseite der geschriebenen Sprachform ist im allgemeinen nicht größer als die Entsprechung zwischen der lautlichen Seite und der Bedeutungsseite der gesprochenen Form (da das graphische System dem phonologischen System gewöhnlich mehr oder weniger isomorph ist). Im übrigen unterscheidet Bich das Verhältnis zwischen Ausdruck und Inhalt zum Beispiel in ideographischen Schriftsystemen offenbar von dem gleichen Verhältnis in einem auf dem phonematischen Prinzip aufgebauten Schriftsystem. Näheres dazu in Band I, S. 155—159, ferner [78].

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Erstens können konkrete Einheiten, die auf einer Ebene identisch sind, sich auf einer anderen E b e n e u n t erscheiden. Die russischen Morpheme pyK- u n d p y i zum Beispiel, die von den F o r m e n pyita u n d py^ma abgeteilt werden k ö n n e n , unterscheiden sich v o m S t a n d p u n k t ihres P h o n e m b e s t a n d e s voneinander. Dagegen können diese Einheiten im Hinblick auf die F u n k t i o n , die sie im R a h m e n komplizierterer Einheiten ausüben, als identisch b e t r a c h t e t werden. D enn pyita u n d pynna unterscheiden sich in erster Linie durch das D e m i n u t i v suffix. Darin k o m m t der entsprechende semantische Unterschied z u m Ausdruck, der in anderen Fällen durch das betreffende Suffix allein, ohne V e r ä n d e r u n g des Stammes ausgedrückt wird (jiana — Jiaima, BaTa — BaTKa usw.). Daher werden die Segmente pyK- und pyq- im allgemeinen als Varianten oder Allom o r p h e zu einem Morphem zusammengefaßt. E i n Spiegelbild dieses Verhältnisses, bei dem verschiedene Segmente der Ausdrucksebene auf ein u n d dieselbe abstrakte Einheit der I n h a l t s e b e n e bezogen werden, ist das Verhältnis, bei dem ein u n d dasselbe Segment d e r Ausdrucksebene auf verschiedene Komplexe semantischer Elemente bezogen wird. So k a n n zum Beispiel die Bedeutung der russischen Lautfolge CHH- (die i n Wortgruppen wie MOH CHHOBBH usw. begegnet) als Komplex aus folgenden semantischen K o m p o n e n t e n dargestellt werden: „Etwas, was sich auf eine Person männlichen Geschlechts bezieht, direkter Verwandter ersten Grades in absteigender Linie". I n der Wortgruppe C H H H O T e n e c T B a , in der die gleiche Folge von Ausdruckseinheiten begegnet, entspricht CHH- auf der Inhaltsebene ein anderer Komplex semantischer Einheiten. D a die zwei „ E x e m p l a r e " ci.1% u n d CHH 2 gewöhnlich als ein Morphem (bzw. ein Lexem) identifiziert werden, k ö n n e n ihre B e d e u t u n g e n als Allovarianten ein und derselben Einheit der Inhaltsebene (als „Alloseme" eines „Semems" nach der amerikanischen Terminologie [50, 162] oder „lexikalisch-semantische Varianten eines W o r t e s " [38; 39]) b e t r a c h t e t werden. Diese Verhältnisse werden in den verschiedenen K o n z e p t i o n e n v o n den Sprachebenen verschieden beschrieben. U m unterschiedliche L a u t f o l g e n als ein Morphem zu identifizieren, wird im allgemeinen nicht n u r ihre f u n k t i o n a l e I d e n t i t ä t vorausgesetzt, sondern auch ein solcher G r a d formaler Ähnlichkeit, der es — auf einer bestimmten Abstraktionsstufe — erlaubt, diese Folgen als ihrem B e s t a n d nach identisch darzustellen. 5 Verschiedene K o m p o n e n t e n der zu identifizierenden Segmente werden d a n n als ein u n d dieselbe f u n k t i o n a l e Einheit a n e r k a n n t , wenn sie die Komplexe, zu denen sie gehören, n i c h t u n t e r scheiden. So gelten zum Beispiel K u n d H als „ein u n d dasselbe" E n d e l e m e n t 5

Vergleiche zum Beispiel die folgende Überlegung von J. S. Stepanow: „. . . auf der Strukturebene . . . stellen wir . . . die Morpheme als beständige Phonemkombinationen dar. In Wirklichkeit können die Morpheme aber auch wechselnde Phoneme haben: pyK-a — pyn-Hofl; das Wurzelmorphem dieser Wörter, das auf Grund der Bedeutung bestimmt wird, ist zweifellos das gleiche, es hat aber zwei Formen; das Morphem selbst jedoch ist weder das eine noch das andere, sondern es ist das G e m e i n s a m e , was sowohl hinter dem einen als auch hinter dem anderen steht: p y | — , Somit ist das Morphem, das auf der Strukturebene beschrieben wird, eine ebenso abstrakte Einheit wie das Phonem" [36,39],

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des Morphems py i-. Bisweilen werden diese Elemente als abstrakteste phonologische Einheiten bezeichnet (vgl. die „Phoneme dritten Grades" in der phonologischen Konzeption S. I. Bernsteins [8]), bisweilen auch als Einheiten einer besonderen morphonologischen Ebene 6 , als Morphoneme, oder — nach einer anderen Terminologie — als elementare Einheiten des Morphemstratums, als „Morphone" [78; 73—76]. Andererseits unterscheiden manche Forscher eine besondere „lexikalisch-semantische Ebene", die durch „lexikalisch-semantische Varianten des Wortes" als ihre Grundeinheiten konstituiert wird und der „lexikalischen Ebene" gegenübersteht [38] (vgl. ferner [17], wo die lexikalischsemantischen Wortvarianten als „Grund- und Grenzeinheiten der semasiologischen Sprachebene" bezeichnet werden). Die Grundlage für diese Gegenüberstellung entspricht unseres Erachtens der Grundlage für die Gegenüberstellung der phonologischen Ebene und der morphonologischen Ebene bzw. der „Morphem "ebene (in einem Fall handelt es sich um den Zusammenhang verschiedener Varianten des Bezeichneten mit einem unveränderlichen Bezeichnenden, im anderen um den Zusammenhang verschiedener Varianten des Bezeichnenden mit einem unveränderlichen Bezeichneten). Daß die beiden Sprachebenen voneinander unabhängig sind, kommt auch darin zum Ausdruck, daß bestimmte, in Termini der entsprechenden Ebene eindeutig charakterisierte Einheiten des Ausdrucks bzw. des Inhalts auf verschiedene T e i l e oder umgekehrt auf verschiedene V e r b i n d u n g e n von Einheiten der entgegengesetzten Ebene bezogen werden können. Mit anderen Worten, Segmente, die innerhalb ihrer Ebene eine gleichartige Struktur besitzen und in diesem Sinne Einheiten dieser Ebene sind, können verschiedenartigen Segmenten der anderen Ebene entsprechen, die nicht die gleiche Struktur haben. Selbst in den Fällen, in denen eine bestimmte Einheit des Inhalts einem bestimmten Segment des Ausdrucks entspricht (zum Beispiel, wenn es sich um das kleinste Zeichen — das Morphem — handelt), können sich die Regeln der Verbindung dieser Segmente mit anderen ähnlichen Elementenfolgen des Ausdrucks von den Regeln unterscheiden, nach denen sich Ausdruckseinheiten verbinden, die keine Morpheme bezeichnen. So besteht im Russischen eine phonologische Regel, die eine Verbindung der palatalisierten labialen Konsonanten mit dem Phonem /y/ verbietet; diese Regel gilt bisweilen nicht, wenn nämlich dieses /y/ ein selbständiges Bezeichnendes eines Zeichens ist (mit anderen Worten, wenn zwischen den palatalisierten Labialen und dem /y/ eine Morphemgrenze verläuft) — vgl. HepBio, rojiyöio /^icpB'y/, /rojiy6 : y/'. Dagegen gibt es derartige Verbindungen innerhalb eines Morphems nicht (Lehnwörter vom Typ B 0 J i a n i 0 K , ß i O B a p , niope werden gewöhnlich anderen 6

So spricht z. B. 0. S. Achmanowa von der Morphonologie als einer besonderen Sprachebene [6,4], zugleich aber vertritt sie die Auffassung, daß die „Unterscheidung der Morphonologie als besonderer linguistischer Disziplin keineswegs die Unterscheidung des Morphophonems als einer besonderen Spracheinheit voraussetzt" [6, 53]. Dieser letzten Bemerkung möchten wir voll und ganz zustimmen, zugleich aber betonen, daß die Unterscheidung der Morphonologie als besonderer Sprachebene die Anerkennung des Morphonems als besonderer Spracheinheit voraussetzt.

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Subsystemen zugerechnet). Diese Regel kann nicht in Termini rein phonomatischer Kategorien (d. h. im Rahmen der sogenannten autonomen Phonologie) beschrieben werden, selbst wenn man das Grenzsignal als besondere phonologische Einheit anerkennt. Hier kann nur von Regeln zur Verbindung von Einheiten einer anderen Ebene — Morphonem (genauer — Morphen) —, von Regeln der „Morphotaktik" oder sogar von speziellen Morphemklassen (von Nominalstämmen und Flexionsmorphemen des Kasus und Numerus) gesprochen werden, da diese distributive Beschränkung in anderen Fällen auch bei Vorhandensein einer Morphemgrenze (eines Grenzsignals) gilt — zum Beispiel bei der Verbindung von Verbstämmen, die auf palatalisierte Labiale enden, mit der Vokalendung der ersten Person des Singulars im Präsens: {naÖaB'} + {y} -+ /H3ÖaBJi'y/; {rojiyß'} + {y} -> /rojiyöji'y/. 7 Ebensowenig kann das Phonem /a/ nach den Regeln der englischen Phonemsyntax auf das Phonem /r)/ folgen, ausgenommen die Fälle, wo /a/ ein selbständiges Morphem ist, das ein spezielles Bezeichnetes bezeichnet („nomina agentis") — vgl. singer /siqa/ und finger /fiqger/ (im zweiten Fall ist das /a/ kein Bezeichnendes eines Morphems). Der Hinweis auf die Morphemgrenze in /siip/ genügt nicht, da diese in /loqga/ (longer) ebenfalls vorhanden ist (vgl. [84, 54]). Unter N i c h t z e r l e g b a r k e i t des Elements eines bestimmten Systems ist zu verstehen, daß sich dieses Element nicht in kleinere Einheiten d e r g l e i c h e n A r t gliedern läßt (d. h. in Einheiten, die die für die betreffende Ebene spezifische Qualität haben), was nicht ausschließt, daß dem gleichen Element auf einer anderen Ebene eine Folge (oder eine nichtlineare Menge) von Elementen aus dem Inventar eines anderen Systems entsprechen kann. So läßt sich zum Beispiel das Wort (oder in der Terminologie mancher Linguisten — das Lexem) als „Benennungseinheit" (z. B. pyKa) nicht in kleinere Einheiten mit selbständiger Benennungsfunktion zerlegen, obgleich die konkreten Wortformen, durch die es im Satz vertreten wird (pyna, p y K H , p y K O i i usw.), auch als Verbindung kleinerer bedeutungstragender Elemente (pyK-a, p y K - H , pyK-oft usw.) aufgefaßt werden können. Andererseits sind Lautsegmente (bzw. graphische Segmente) auf der Ausdrucksebene wie pyK-, -a, -oft usw., die minimale Zeicheneinheiten (in der Terminologie mancher Forscher — Morpheme) darstellen, in der Regel nicht elementar, sondern in kleinere Segmente (Phoneme bzw. Grapheme) zerlegbar. Diese Besonderheit wird im allgemeinen (etwas vereinfacht) durch Feststellungen ausgedrückt wie: „Jede Spracheinheit besteht aus Einheiten einer niedrigeren Ebene und (oder) gehört Einheiten einer höheren Ebene an" [70] oder: „Jede Einheit eines Kodes Ln kann als eine Mitteilung dargestellt werden, die aus Einheiten des Kodes L n _ t besteht" [19, 30].8 Eben in dieser Be7

8

Der generativen Phonologie zufolge lassen sich diese Formen natürlich anders interpretieren. Vgl. ferner: „Als Sprachebenen oder Sprachränge, die die Struktur der Sprache bilden, werden Systeme linearer Einheiten zunehmender Kompliziertheit bezeichnet, in denen jede Einheit der höheren Ebene aus Einheiten der vorhergehenden Ebene besteht. Mit anderen Worten, Ebenen sind Systeme von Einheiten verschiedener Kompliziertheit, die hierarchisch miteinander verbunden sind. Diese Hierarchie ermöglicht es, Einheiten eines Systems durch Integration von Einheiten eines anderen Systems zu gewinnen" [45, 430],

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Sonderheit sehen manche Anhänger der Konzeption von den Sprachebenen den Z u s a m m e n h a n g zwischen den einzelnen Ebenen, der darauf schließen läßt, daß die Sprache ein e i n h e i t l i c h e s h i e r a r c h i s c h o r g a n i s i e r t e s S y s t e m v o n E b e n e n darstellt. Nach dieser Konzeption (die im Unterschied zur „Repräsentations"auffassung (s. S. 78 f.) als „Kompositions"konzeption bezeichnet wird) stellt die Sprache eine i n e i n e r R i c h t u n g v e r l a u f e n d e H i e r a r c h i e dar (es wird davon ausgegangen, daß in der Reihe der Einheiten wie distinktives Merkmal, Phonem, Morphem, Wort, Wortgruppe, Satz, Text die Glieder eines jeden Paares von Nachbareinheiten miteinander durch gleichartige Beziehungen, Konstituentenbeziehungen, verbunden sind). Diese Konzeption, die durch ihre Einfachheit und ihren hinreichend allgemeinen Charakter besticht, ist zugleich in mehreren P u n k t e n anfechtbar. Wie S. D. Kaznelson zu Recht feststellte (ohne diese These übrigens ausführlich zu begründen) „verhält sich das Wort zum Morphem keineswegs so wie das Morphem zum Phonem", und „das Wort besteht keineswegs in der gleichen Weise aus Morphemen, wie der Satz aus Wörtern 'besteht'" [20, 39]. I n der Tat, in den meisten linguistischen Konzeptionen wird das Morphem als minimales Zeichen definiert, das heißt als elementare zweiseitige Einheit, die das Bezeichnete und das Bezeichnende verbindet. Die Behauptung, daß eine zweiseitige Einheit aus einseitigen Einheiten „besteht", ist logisch paradox. „Möglicherweise", bemerkt in diesem Zusammenhang J . Mulder, „kommen die Wissenschaftler einmal zu der Auffassung, daß das Tier oder der Mensch vollständig aus unbelebter Materie (of dead entities) besteht oder daß die lebende Substanz eine Kombination von toten Wesen (of dead entities) ist bzw. daraus besteht. Das könnte man sich vorstellen, wenn man annimmt, daß einige dieser toten Wesen Eigenschaften besitzen, die wir noch nicht kennen. Wir kennen aber alle Eigenschaften der phonologischen Gegebenheiten, denn wir haben sie als Konzepte unserer Theorie selbst geschaffen. Unter diesen Eigenschaften — wie wir sie festgestellt haben — gibt es keine, die durch die eine oder die andere Kombination zur Entstehung bedeutungstragender Formen führen könnte. Die Tatsache, daß die Folge /her/ für eine bedeutungstragende Form 'hair' stehen (stand for) kann, hat mit den Elementen und ihrer Kombination nichts zu tun. Diese Folge kann auch der bedeutungstragenden Form 'hare' entsprechen, aber auch dem nichtbedeutungstragenden Segment /her/, das heißt, sie kann auch nichts weiter sein als eine reine Kombination phonologischer Elemente" [84, 36], Interessant ist, daß bereits Baudoin de Courtenay ähnliche Gedanken äußerte; in einer Reihe seiner Arbeiten bemühte er sich, „die landläufige Meinung, daß die Wörter aus Lauten oder Buchstaben bestehen, zu widerlegen" [10, 241], und bezeichnete das als eine „unsinnige These" [9, 248]. Die Interpretation des Verhältnisses von Phonem und Morphem als eines Konstituentenverhältnisses ist aber nicht nur wegen der offensichtlichen Unsinnigkeit der Behauptung unbefriedigend, daß bedeutungstragende Elemente vollständig aus bedeutungslosen bestehen könnten. Die These „Morpheme bestehen aus Phonemen" ist auch dann falsch, wenn man unter „Morphemen" Einheiten versteht, die kleinsten Zeichen auf der Ausdrucksebene entsprechen, 76

nämlich die Bezeichnenden der Morpheme in der europäischen Linguistik o d e r die kleinsten „Formen" der Bloomfieldschen Konzeption. 9 E s sei auf solche (ziemlich verbreiteten) F a k t e n hingewiesen, wo der E x p o n e n t des Morphems eine phonologische Größe ist, die der „Ausdehnung" nach kleiner ist als ein P h o n e m : z. B. dt. Vater — Väter usw., russ. O T K P H T — O T K P U T B , B H M B I T — 10 B H M H T B oder H O B — H O B B , roji — rojit , engl, advise — advice, excuse (Verb mit auslautendem stimmhaftem Phonem) — excuse (Substantiv m i t stimmlosem Auslaut) usw. (eine Analyse weiterer ähnlicher Fälle findet sich z u m Beispiel. i n [ 6 9 ; 11; 4]); vgl. andererseits die Fälle, in denen ein P h o n e m zwei Morphemen entspricht (z. B. franz. /o/ „à le"). Man könnte auch v o n diesen Fällen absehen, denn im allgemeinen kann m a n mit gutem Grund sagen, d a ß phonologische Einheiten, die den elementaren Zeichen entsprechen, d. h. den Morphemen, wie sie die meisten Linguisten bezeichnen, in der Regel nicht elementar sind, sondern sich in kleinere p h o n o logische Einheiten zerlegen lassen (das ist eine natürliche Folge der Tatsache, daß es in jeder Sprache sehr viel mehr Morpheme als P h o n e m e gibt 1 1 ). D a sich 9

Für Bloomfield war das Morphem bekanntlich nicht das kleinste Zeichen im Saussureschen Sinne. Zusammen mit den anderen „mentalistischen" Begriffen der europäischen. Linguistik verwarf Bloomfield auch das Saussuresche „Zeichen" (unité psychique à deux faces) und ersetzte es durch den Begriff „Form". Der „Form" entsprechen die Merkmale des Stimulus und der Reaktion, die als Bedeutungen bezeichnet werden [49, 154; 50,141]. In der Bloomfieldschen Linguistik sind daher die „Formen" (und folglich auch dasMorphem, das als „kleinste Form" definiert wird) keine bilateralen Einheiten, die das „Bezeichnende" mit dem „Bezeichneten" vereinigen, obgleich sie auch „mit Bedeutung versehen" sind [49, 154]. Berücksichtigt man, daß die in der amerikanischen Linguistik der 40er Jahre besonders populäre These „das Morphem besteht aus Phonemen" mit der Definition des Begriffs „Morphem" zusammenhing (die sich von den Definitionen der europäischen Linguistik unterschied), so erscheint diese These auf den ersten Blick als berechtigt. 10 A. A. Reformatski hält den Umlaut in den germanischen Sprachen für ein „vollwertiges grammatisches Mittel der inneren Flexion" [33, 106] (dort werden auch Fälle vom Typ HOB : HOBB zur inneren Flexion gerechnet). — Eine andere morphematische Auffassungvom Umlaut vertritt J . Kurylowicz (z. B. [72]). Wenn der Umlaut als Submorph beim Nullmorphem des Plurals aufgefaßt werden kann (wobei das Nullmorphem allerdings ebenfalls nicht aus Phonemen „besteht"), so lassen sich Fälle wie HOB — H O B b , roJi — ronb als Unterschied zwischen HOB- und HOBL, roJi- und ronb interpretieren; dabei ist H O B - , ro;I- ein Morphem (das zum Beispiel aus H O B H H , rojibrii herausgelöst wird), während H O B b , ronb mindestens zwei Morpheme sind (ersteres + das Morphem „Substantivität"). Die natürlichste Art der Analyse besteht in diesem Fall darin, das distinktive Merkmal der Palatalisierung als das Bezeichnende des letzten Morphems zu betrachten (vgl. auch andere ähnliche Bildungen). 11 Zugleich muß man der auf den ersten Blick paradox erscheinenden Bemerkung N. D. Arutjunowas zustimmen, daß „der Mechanismus des sprachlichen Zeichens . . . eine Korrelation zuläßt oder sogar voraussetzt, bei dem das Morphem ein Teil des Phonem» ist" [2, 87], d. h. eine Korrelation, wo mehreren Einheiten der Inhaltsebene eine phonologische Einheit der Ausdrucksebene entspricht. Diese These läßt sich durch die phonologische Struktur grammalischer Morpheme veranschaulichen, d. h. von Morphemen, die einem streng begrenzten z a h l e n m ä ß i g kleinen Inventar angehören: In der Regel 77

•dabei die Morpheme auf der Ausdrucksebene n u r teilweise und nicht global, •d. h. nicht vollständig, unterscheiden, teilweise aber auch eine bestimmte Ähnlichkeit aufweisen (eben das bildet ja die Grundlage f ü r die Gliederung der Bezeichnenden in diskrete distinktive Einheiten), k a n n m a n sagen, d a ß die Morpheme phonologische „Teile" haben, die als „Teile" anderer Morpheme wiederkehren. Aber selbst wenn wir die Gültigkeit der Behauptung „das Morphem besteht aus P h o n e m e n " auf solche Morpheme einschränken, deren „Ausdehnung" die „Ausdehnung" des Phonems überschreitet (oder ihr gleich ist), muß m a n zugeben, daß sie f ü r eine Reihe von Fällen unangemessen ist. Sie erfordert insbesondere, daß Segmente wie pyK- und py l i- (oder /naif/ aus engl. knife u n d /naiv/ aus Jcnives oder /z/ in boys und /iz/ in roses) zwei verschiedene Morpheme vertreten, obgleich sie dieselbe Bedeutung haben u n d einander niemals direkt entgegengesetzt sind (nicht in der gleichen Umgebung vorkommen). Um den Widerspruch zwischen der Bloomfieldschen Definition („das Morphem besteht vollständig aus Phonemen") u n d der Auffassung, daß Einheiten wie /naif/ u n d /naiv/ zu einem Morphem zu rechnen sind, zu beseitigen, wurde E n d e der 40er J a h r e von den amerikanischen Anhängern Bloomfields eine neue Terminologie vorgeschlagen. Die konkreten phonomatischen Segmente wurden jetzt Morphemälternanten (später — Morphe) genannt, und in allen Fällen, wo zwei oder mehr solcher Einheiten die gleiche Bedeutung haben und nicht kontrastieren, wurden diese als ein u n d dieselbe Morphemeinheit (später — einfach Morphem im neuen Sinne) aufgefaßt. 1 2 Die Beziehungen zwischen den Elementen dieser drei Typen — den Morphemen (im neuen Sinne), den Morphen und den Phonemen — wurden später so auf.gefaßt: Das Morph, das dem Bloomfieldschen Morphem entspricht, besteht aus Phonemmaterial; das Morphem ist eine unteilbare Einheit, die nicht direkt beobachtbar ist u n d durch ein bestimmtes Morph repräsentiert bzw. realisiert wird. Diese neue Auffassung spiegelt das von Ch. Hockett vorgeschlagene Schema wider [67]: Morpheme

12

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C

Morphoneme

ist das Bezeichnende dieser Morpheme durch ein oder zwei Phoneme vertreten, und bei elementaren grammatischen Bedeutungen wie „erste Person", „Gegenwart", „Einzahl", „Genitiv" usw. („Morphemen" in der Terminologie der Glossematiker) entspricht (in flektierenden Sprachen) ein Phonem gewöhnlich einer ganzen Reihe solcher Einheiten der Inhaltsebene. Vgl. ferner die überaus einfache phonologische Struktur der Pronomina in verschiedenen Sprachen, die gewöhnlich zu den grammatischen Morphemen (oder „Monemen") gerechnet werden, da sie ein begrenztes Inventar bilden. Die beiden ersten Termini (morpheme alternant und morpheme unit) wurden von Z. Harris [62] vorgeschlagen, die beiden anderen (morph und morpheme) von Ch. Hockett [66].

Das Symbol C bedeutet das Verhältnis „besteht aus", das Symbol R — das Verhältnis der Repräsentation oder Realisation, und das Symbol P — „wird zu . . . programmiert". Es ist jedoch zu beachten, daß die Morphe, die ihrer Definition gemäß phonologische Segmente sind (die den Morphemen, d. h. also nichtphonologischen Einheiten entsprechen), nicht in dem Sinne als Einheiten der Ausdrucksebene angesehen werden können, wie es solche phonologischen Syntagmen wie z. B. die Silbe sind. Es ist nämlich zweckmäßig, als spezifische Einheiten dieses oder jenes Systems nur gleichartige Einheiten anzusetzen, die eine bestimmte f ü r alle Einheiten dieser Kategorie gemeinsame strukturelle Charakteristik aufweisen. Indes ist die phonologische Struktur der Morpheme in einer Reihe von Sprachen sehr verschiedenartig und kann nicht speziell in Termini der Ausdrucksebene charakterisiert werden. So können im Russischen einem Morphem auf der Ausdrucksebene eine oder mehrere Silben entsprechen (z. B. Boa-, öapaH-, coßaK-, Kp0K0flHJi-, napTH3aH-, KopoB-, ßapaH-) oder ein Konsonant (B-, -K, -T, -m) oder eine Konsonantengruppe (TK-); ebenso variabel kann in vielen anderen Sprachen die innere Struktur der Morpheme sein (vgl. z. B. die Bemerkungen von E. Fischer-Jorgensen [54, 304]). Ch. Hockett, der die Kompositions- und die Repräsentationsverhältnisse eindeutig voneinander abgegrenzt hat (und der auch den Terminus „Morph" geprägt hat), mußte zugeben, daß das Morph in der hierarchischen Folge der Einheiten, von denen jede einer Einheit höheren Kompliziertheitsgrades angehört und bzw. oder aus Einheiten eines niedrigeren Kompliziertheitsgrades besteht, keinen Platz findet [67, 36/7]. So gelangte Ch. Hockett zu der Auffassung, daß zwei verschiedene Strata unterschieden werden müssen, das phonologische und das grammatische Stratum; dabei verbinden sich innerhalb eines jeden Stratums die Grundeinheiten (Phonem und Morphem) nach speziellen Regeln (der Phonotaktik oder der Morphotaktik) miteinander und bilden Einheiten verschiedener „size levels". Diese Konzeption, die Ch. Hockett später [69] „Zwei-StrataModell" nannte 1 3 (zum Unterschied von dem „Ein-Stratum-Modell" der Anhänger der nur in einer Richtung verlaufenden Hierarchie) entspricht mehr oder weniger allen Konzeptionen von den Sprachebenen, in denen mehr als eine Reihe von Ebenen unterschieden wird; dabei haben die Beziehungen zwischen diesen Reihen einen grundsätzlich anderen Charakter als die Beziehungen, die die Einheiten verschiedener Ebenen innerhalb einer Reihe verbinden (vgl. die Konzeption von A. Martinet, der einen Bereich „erster Gliederung" mit dem Monem als Grundeinheit und einen Bereich „zweiter Gliederung" mit dem Phonem als Grundeinheit unterscheidet [83; 82], oder den „Trimodalismus" der Schule von Pike [79; 86,5]; die zwei „Strukturierungsebenen", die zwei „Organisationsebenen" und mehreren „Integrationsebenen" in dem 13

Die Unabhängigkeit der hierarchischen Organisation des phonologischen und des grammatischen Stratums rechnet Ch. Hockett zu den universellen Merkmalen der Sprache [68, 20],

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„sprachlichen Determinationsmodell" P. Garvins [56]; die Unterscheidung der Ausdrucksebene und der Inhaltsebene in der Glossematik) 14 . Geht man davon aus, daß für die Ansetzung dieser oder jener Ebene eine bestimmte gemeinsame spezifische Eigenschaft der zu der betreffenden Ebene gehörenden Einheiten notwendig ist (die auf dieser Ebene nicht weiter zerlegbar sind in dem Sinne, daß sie sich nicht in kleinere Einheiten gliedern lassen, ohne die für die betreffende Ebene spezifische Eigenschaft zu verlieren) und geht man weiterhin davon aus, daß die Sprache in einer für jede Ebene spezifischen Weise organisiert (strukturiert) ist, dann kann die Unterscheidung von zwei Strukturierungsebenen, nämlich einer Ebene, die Zeichencharakter hat, und einer anderen Ebene ohne Zeichencharakter, als terminologisch angemessen gelten. Dabei scheint es angebracht, die Anwendung des Terminus „Ebene ohne Zeichencharakter" nicht nur auf das System einseitiger Einheiten zu beschränken, die Elemente des Bezeichnenden des Zeichens sind (d. h. auf Einheiten der Ausdrucksebene in der glossematischen Terminologie), sondern auch das System einseitiger Einheiten, die Elemente des Bezeichneten des Zeichens (d. h. Einheiten der Inhaltsebene) sind, als eine zweite „Ebene ohne Zeichencharakter" zu betrachten. Als die allgemeinste Ebenen-Stratifikation der Sprache betrachten wir also die Unterscheidung von Ausdrucksebene und Inhaltsebene, zwischen deren Einheiten es keine notwendigen Entsprechungen gibt, sowie die Gegenüberstellung einer jeden dieser Seiten als Ebene ohne Zeichencharakter und Ebene 14

Von großem Interesse ist ein offenbar vergessener Grundsatz von Baudouin de Courtenay (der erstaunlich an die Konzeption der „zweifachen Gliederung" A. Martinets und — da A. Martinets „zweite Gliederung" immerhin die Fortsetzung der „ersten Gliederung" ist — vielleicht noch mehr an den Gedanken L. Hjelmslevs von der gegenseitigen Unabhängigkeit der Gliederung der Ausdrucks- und der Inhaltsseite erinnert); nach Baudouin setzt die „Gliederung der artikulorisch-akustischen Sprache" zwei unabhängige Einteilungen voraus: „I. D i e f o r t s c h r e i t e n d e E i n t e i l u n g v o m p h o n e t i s c h e n , a r t i k u l a t o r i s c h - a k u s t i s c h e n S t a n d p u n k t , d. h . : 1. R e i h e n zu a r t i k u l i e r e n d e r W ö r t e r (der eindeutigste Beweis für eine solche Gliederung sind die Verse). 2. Zu a r t i k u l i e r e n d e W ö r t e r , die dadurch miteinander verbunden sind, daß alles, was ausgesprochen wird, der Akzentsilbe, der betonten Silbe als der in dieser Hinsicht herrschenden Silbe untergeordnet ist. 3. S i l b e n , die durch gesonderte Exspirationen, durch die Ausatmung der Luft aus dem Brustkorb unter Beteiligung der Stimmbänder des Kehlkopfes bedingt sind. 4. P h o n e m e , die durch die Gleichzeitigkeit mehrerer Artikulationen in der Einheit eines allgemeinen akustischen Eindrucks zusammengefaßt sind. 5. E i n z e l n e P h o n e m e i g e n s c h a f t e n : von der artikulatorischen Seite — Darstellungen einzelner Tätigkeiten der Sprech Werkzeuge; vom akustischen Standpunkt — einzelne Schattierungen eines allgemeinen Eindrucks, die eben durch diese einzelnen Tätigkeiten der Sprechwerkzeugebedingtsind.il. P o r t s c h r e i t e n d e E i n t e i l u n g v o m s e m a s i o l o g i s c h - m o r p h o l o g i s c h e n S t a n d p u n k t . 1. S ä t z e , s y n t a k t i s c h e G e b i l d e u n d i h r e P ü g u n g e n . 2. S y n t a g m e n , autosemantische Wörter, Wörter mit Bedeutung und morphologischer Zerlegbarkeit, syntaktisch nicht zerlegbare Einheiten: a) stehende Wendungen, unveränderliche Pügungen aus mehreren Wörtern, b) Wörter. 3. M o r p h e m e . 4. Psychische (morphologisch-semasiologische) B e s t a n d t e i l e d e r M o r p h e m e . Damit hängt die Morphologisierung und Semasiologisierung einzelner, nicht weiter teilbarer artikulatorischer und akustischer Vorstellungen zusammen" [9, 255—256].

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mit Zeichencharakter, wobei die Einheiten der Ebene mit Zeichencharakter als P r o j e k t i o n d e r e i n e n S e i t e a u f d i e a n d e r e dargestellt werden können. Die Frage nach dem unterschiedlichen Kompliziertheitsgrad der Einheiten, von denen jede einer Einheit eines höheren Kompliziertheitsgrades angehört, kann nur innerhalb einer jeden dieser Ebenen sowie (mit bestimmten Vorbehalten) innerhalb der Zeichenebene — d. h. in bezug auf homogene Einheiten — gestellt werden. Aber auch hier hat es nur dann einen Sinn, verschiedene Einheiten — und dementsprechend verschiedene „size-levels" — anzusetzen, wenn diese Einheiten sich nicht nur durch ihre „Ausdehnung" unterscheiden, sondern auch eine bestimmte spezifische Eigenschaft haben, die sich nicht aus der Summe der Eigenschaften der ihr angehörenden Elemente ableiten läßt. Mit anderen Worten, es ist sinnvoll, eine komplizierte Einheit (d. h. eine einem bestimmten hierarchischen Schema entsprechende Kombination von Einheiten geringeren Kompliziertheitsgrades plus einer zusätzlichen „suprasegmentalen" Eigenschaft) von einer einfachen Verbindung von Einheiten klar zu unterscheiden (Näheres siehe [12]). Die spezifischen Eigenschaften dieser komplizierten Einheiten würden dazu berechtigen, innerhalb einer jeden „Strukturierungsebene" {sowohl der Inhalts- als auch der Ausdrucksebene) mehrere „Integrationsebenen" zu unterscheiden (dieser Terminus erscheint aus den oben angeführten Erwägungen angemessener als der englische Terminus „size level"). 15 Mit anderen Worten, es erscheint zweckmäßig, im Anschluß an L. Prieto den Terminus „Einheit" in einem engeren Sinne zu gebrauchen, als das bisweilen geschieht 16 , und die Existenz von komplizierten Einheiten, die aus einfacheren Elementen bestehen, nur dann zu postulieren, wenn diese Elemente in einer Sprache solche Gruppen bilden, die vom funktionalen Standpunkt als Ganzes zu betrachten sind, d. h. dann, wenn diese Elemente nicht außerhalb der betreffenden Gruppen real existieren [87, 47]. Kombinationen aufeinanderfolgender Phoneme als Einheit einer besonderen Integrationsebene innerhalb der Ausdrucksebene zu betrachten, hat nur dann Sinn, wenn diese Kombinationen in einer Phrase (Phoneme existieren nicht außerhalb der Phrase 17 ) eine spezifische Rolle spielen, so daß m a n zwar nicht sagen kann, daß die Phrase aus einem oder mehreren Phonemen besteht, wohl aber, daß sie aus einer oder mehreren solcher Kombinationen besteht. 15

Dabei muß hervorgehoben werden, daß in der Ebenenkonzeption von P. Garvin der Terminus „Integrationsebenen", nach den dort angeführten Beispielen zu urteilen, einen etwas anderen Sinn hat. 10 So bezeichnet z. B. N. S. Trubetzkoy jedes Glied einer phonologischen Opposition als „phonologische Einheit", darunter auch die Segmente -ausend und -ischler, durch die sich im Deutschen das Paar tausend und Tischler unterscheidet [91, 33]. Der Unterschied zwischen „größeren Einheiten" (wie ausend und ischler) und „kleineren phonologischen Einheiten" (wie den Phonemen) ist somit (auf der Ebene der Feststellung des Status der phonologischen „Einheiten") weniger wesentlich als der Unterschied zwischen den Phonemen und den distinktiven Merkmalen — letztere sind „akustische Atome" und können Trubetzkoy zufolge nicht „als phonologische Einheiten" gelten [91, 33]. 17 „Phrase" meint hier „das, was real ausgesprochen werden kann".

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Eine weitere notwendige Voraussetzung, um mehrere Folgen von Einheiten als eine nichtzerlegbare Einheit, d. h. als eine Einheit einer anderen Integrationsebene, zu betrachten ist, wie bereits festgestellt, die Möglichkeit, diese Folge durch Termini der entsprechenden Ebene (oder „Strukturierungsebene") zu charakterisieren. I m Unterschied zu Verbindungen von Einheiten müssen sich komplizierte Einheiten einer Ebene allgemein strukturell (in bezug auf die Elemente, aus denen sie bestehen, d. h. auf Einheiten der niedrigeren Ebene) und funktionell (in bezug auf die Einheiten der höheren Ebene, der sie angehören) charakterisieren lassen. Stellt man bestimmte Modelle für komplizierte Einheiten auf, so ist dabei zu berücksichtigen, daß sich in den verschiedenen Kombinationen nicht nur die gleichen Elemente wiederholen, sondern auch die Beziehungen, die sie verbinden. 18 Selbst in den Sprachen, in denen das Bezeichnende des Morphems immer eine kontinuierliche Phonemfolge darstellt, könnte diese Folge nur dann als eine besondere Einheit der Ausdrucksebene aufgefaßt werden, wenn alle diese Folgen nach einem bestimmten Schema aufgebaut wären (wie z. B. im Chinesischen, wo Silbe und Morphem einander nahezu völlig entsprechen). Besondere Einheiten verschiedener Integrationsebenen innerhalb der phonologischen Ebene, die den erwähnten Forderungen entsprechen, sind — zumindest für manche Sprachen, insbesondere für Sprachen vom Typ des Russischen — das distinktive Merkmal, das Phonem, die Silbe, die Akzentgruppe (die gewöhnlich „phonologisches Wort" genannt wird) und die phonologische Phrase. Dagegen sind solche (den Regeln der Phonotaktik entsprechenden) Phonemverbindungen wie z. B. Konsonantengruppen vom Typ TK, nji, 6p, B C T p , M3A, Mrji, cnp usw. offensichtlich als Phonemfolgen und nicht als komplizierte Einheiten einer besonderen Ebene zu betrachten. Wir können nämlich nur solchen Segmenten der phonologischen Phrase den Status einer besonderen phonologischen Einheit zusprechen, die eine und n u r eine Betonung haben (d. h. also phonologischen Wörtern), und zwar auf Grund ihrer spezifischen funktionellen Rolle, daß sie unmittelbare Konstituenten der Phrase sind; denn die strukturelle Charakteristik phonologischer Phrasen besteht (neben dem spezifischen suprasegmentalen Merkmal, dem besonderen Intonationsmuster) darin, daß jede von ihnen aus einem oder mehreren solcher strukturell gleichartigen Segmente besteht. Die Behauptung hingegen, daß die phonologische Phrase aus irgendeinem oder mehreren (beliebigen) Phonemen bestehe, wäre falsch. Der phonologische Status der Silbe wird dadurch bestimmt, daß die Silben unmittelbare Konstituenten des phonojogischen Wortes sind, so daß zu jedem Wort mehrere unbetonte Silben und bzw. oder eine (und nur eine) betonte Silbe gehören. Die funktionelle Rolle des Phonems besteht darin, daß jede Silbe aus mehreren Konsonanten und bzw. oder einem (und nur einem) Vokalphonem besteht. Die strukturelle Charakteristik des Phonems (als Bündel von 18

Vgl. die Definition von W. Chafe: „Merkmal für eine Reihe von Erscheinungen, die man als organisiert (patterned) bezeichnen möchte, ist die Wiederholbarkeit der Beziehungen, (recurrence of relationships)" [52, 335J.

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zeitlich nicht weiter zerlegbaren distinktiven Merkmalen) ist zugleich die f u n k tionelle Charakteristik der elementaren phonologischen Einheit, des distinktiven Merkmals. Die Beziehungen der phonologischen Einheiten verschiedener Integrationsebenen, die gewöhnlich durch Termini der Simultanität bzw. Sukzessivität definiert werden, können durch Termini logischer Abhängigkeiten so reinterpretiert werden, daß sie mit Beziehungen vergleichbar werden, die Einheiten verschiedener Integrationsebenen innerhalb der Inhaltsebene miteinander verbinden. Die simultanen Beziehungen, die die distinktiven Merkmale innerhalb einesPhonems miteinander verbinden, lassen sich als Notwendigkeit der g l e i c h z e i t i g e n W a h l einer Reihe von Merkmalen aus einer streng definierten Anzahl von Paaren direkt entgegengesetzter Elemente interpretieren. So können wir im Russischen nicht das Merkmal Konsonanz „wählen", ohne zugleich einen der beiden Werte des Merkmals der Stimmbeteiligung, einen der beiden Werte Verschluß bzw. Enge, einen der beiden Werte nichtpalatalisiert bzw.. palatalisiert usw. zu wählen. Somit sind die entsprechenden Merkmalkategorien w e c h s e l s e i t i g a b h ä n g i g , und das Phonem — als Menge einander unbedingt voraussetzender Merkmale — ist die kleinste Einheit der Paradigmatik auf der Ausdrucksebene. Die Einheit der auf das Phonem folgenden Ebene, die Silbe, ist die kleinste Einheit der Syntagmatik, zwischen deren Elementen die Beziehung e i n s e i t i g e r A b h ä n g i g k e i t besteht; konstitutives, obligatorisches Element der Silbe ist das Vokalphonem, fakultatives dagegen — das Konsonantenphonem (bzw. die Konsonantengruppe). Die gleiche hierarchische Abhängigkeit charakterisiert die syntagmatische Einheit des nächsthöheren Ranges — das phonologische Wort, dessen eine Komponente — die betonte Silbe — das zentrale (obligatorische) Element darstellt, während eine oder mehrere unbetonte Silben das marginale Element bilden. Auf der Inhaltsebene lassen sich Einheiten verschiedener Integrationsebenen feststellen, die durch analoge Beziehungen verbunden sind. Die kleinsten Elemente der Inhaltsebene (wie „Substantivität", „Kasus", „Numerus"; „Verbalität", „Aspekt", „Tempus", „Person") sind — ähnlich den distinktiven Merkmalen des Phonems — durch die Beziehung der w e c h s e l s e i t i g e n A b h ä n g i g k e i t verbunden („Substantivität" setzt eine der Bedeutungen des Kasus, eine der Bedeutungen des Numerus voraus; „Verbalität" — eine der Bedeutungen des Aspekts, eine der Bedeutungen des Tempus, eine derBedeutungen der Person usw.). Einheiten der folgenden Integrationsebene sind solche Mengen elementarer Bedeutungen, denen man das Merkmal „Simult a n i t ä t " zuschreiben kann, womit die Notwendigkeit der gleichzeitigen Wahl einer Reihe von Werten aus einer streng definierten Anzahl von Paaren entgegengesetzter Elemente gemeint ist. Eine solche Gesamtheit elementarergrammatischer Bedeutungen ist die allgemeine grammatische Bedeutung der betreffenden F o r m ; die (wenn auch nicht völlig) analoge Gesamtheit elementarer lexikalischer Bedeutungen wiederum stellt die allgemeine lexikalische Bedeutung der Form dar (in manchen Arbeiten [11; 13; 40] werden diese Einheiten als „Grammeme" und „Lexeme" bezeichnet; sie könnten unter dem Terminus Semem zusammengefaßt werden). Die Einheiten dieser semematischen. 83-

Integrationsebene sind somit die kleinsten E i n h e i t e n der Paradigmatik auf der Inhaltsebene. D i e Integration der lexikalischen u n d der grammatischen B e d e u t u n g (des „ L e x e m s " u n d des „Grammems") ergibt eine Einheit der folgenden, der „onomatologischen" E b e n e (die „Onomatem" genannt werden könnte). Diese Einheit ist die kleinste Benennungseinheit, die gewöhnlich mit d e m B e z e i c h n e t e n d e s Wortes oder genauer mit dem Bezeichneten des „kleinsten a u t o n o m e n S y n t a g m a s " A. Martinets [83] zusammenfällt ; sie läßt sich m i t der Verbindung v o n Vokal u n d K o n s o n a n t in dem kleinsten S y n t a g m a der Ausdrucksebene, der Silbe, vergleichen. 1 9 D i e Silbe ist eine besondere Einheit der Ausdrucksebene u n d nicht einfach eine Verbindung v o n P h o n e m e n , denn sie wird durch eine spezifische hierarchische i9

I n den meisten Fällen existiert allerdings in den Benennungseinheiten die grammatische Bedeutung nicht ohne die lexikalische (und die lexikalische nie ohne die grammatische), so daß man annehmen könnte, daß die Komponenten des „Onomatems" durch voneinander abhängige Beziehungen verbunden sind und daß das „Onomatem" in diesem Sinne die kleinste Einheit der Paradigmatik ist (so faßt L. Prieto das „Noem" als Einheit auf, die praktisch, aber nicht der Definition nach mit dem „Onomatem" zusammenfällt [88]). Es gibt aber Benennungseinheiten (nämlich die Pronomina), deren Inhalt nur ein Bündel grammatischer Bedeutungen darstellt. Das zeigt, daß zwischen der lexikalischen und der grammatischen Bedeutung der Onomateme das Verhältnis einseitiger Abhängigkeit besteht, wobei die grammatische Bedeutung das zentrale Element des Onomatems ist (d. h., eine dem Vokal in der Silbe analoge funktionelle Rolle spielt), die lexikalische Bedeutung aber — das marginale Element des Onomatems (d. h. sie nimmt eine „Position" ein, die der Position der Konsonanten in der Silbe funktionell entspricht). Die Analogie zwischen „Onomatem" und „Silbe" stimmt überein mit Hjelmslevs Interpretation der entsprechenden Inhaltseinheit (le nom) als des kleinsten Syntagmas, das aus einer durch den Stamm ausgedrückten „semantematischen Basis" (une base sémantématique) und der „morphematischen Charakteristik" (une caractéristique morphématique), die „häufig durch die Endung ausgedrückt wird", besteht [64, 127]; der Vergleich der grammatischen Bedeutung des Wortes mit dem vokalischen Element der Silbe und der lexikalischen Bedeutung mit dem konsonantischen Element der Silbe widerspricht dagegen Hjelmslevs Auffassung, daß die „Charakteristik" die „Basis" determiniert (in Hjelmslevs Terminologie heißt das, daß das Vorhandensein der „Charakteristik" keine notwendige Bedingung für das Vorhandensein der „Basis" ist). Wenn es sich aber um Einheiten des I n h a l t s handelt, die häufig durch den Stamm und die .Endung entsprechend a u s g e d r ü c k t werden, und nicht um den Stamm und die Endung als Bezeichnenden (der Stamm ist in Sprachen wie dem Englischen nach der Terminologie -der Deskriptivisten ein „freies Morphem" und die Endung — ein „gebundenes", so daß das Verhältnis zwischen ihnen in glossematischen Termini wirklich als Determination des Stammes durch die Endung reinterpretiert werden kann), so muß die Richtung der .Abhängigkeit umgekehrt definiert werden. Die Auffassung von der grammatischen Bedeutung als dem zentralen Element des Onomatems und der lexikalischen Bedeutung als dem marginalen Element scheint uns Hjelmslevs allgemeinen Gedanken mehr zu entsprechen als seine eigene Auffassung von dieser Abhängigkeit, besonders im Hinblick auf seine Konzeption von den Pronomina als „Wörtern . . . , die keinerlei semantischen Inhalt im traditionellen Sinne dieses Wortes besitzen", sondern nur „einen rein morphematischen Inhalt" [65, 193].

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Struktur und dureh ein spezielles Merkmal, nämlich die Fähigkeit, die Betonung zu tragen, charakterisiert; das macht die Silbe zu einem potentiellen Minimum der folgenden Einheit der Ausdrucksebene, des phonologischen Worts. Das Onomatem ist die Einheit einer besonderen Ebene, weil es ebenfalls eine spezifische hierarchische Struktur besitzt und durch eine besondere Eigenschaft charakterisiert wird, nämlich die Fähigkeit, das Merkmal der Prädikativität anzunehmen; das macht diese Einheit zum potentiellen Minimum der semantischen Einheit der folgenden, der kommunikativen Ebene (es handelt sich hier um das Bezeichnete des Satzes). Das allgemeine syntaktische Schema des Satzes ist mit dem Akzentschema des phonologischen Wortes zu vergleichen, nicht nur wegen des offensichtlich suprasegmentalen Charakters der beiden, sondern auch wegen der Ähnlichkeit, die die syntaktischen und prosodischen Merkmale in bezug auf ihre Rolle in den entsprechenden grammatischen und phonologischen Oppositionen aufweisen. 20 Das konstituierende Element des Satzinhaltes, die Prädikativität (die gewöhnlich an das Verb gebunden ist), entspricht funktionell dem zentralen Element des phonologischen Wortes, der betonten Silbe. Der Parallelismus in den Beziehungen zwischen den Einheiten verschiedener Integrationsebenen auf der Ausdrucksebene und den Einheiten verschiedener Integrationsebenen auf der Inhaltsebene gestattet es, von der isomorphen Organisation beider Ebenen in bezug auf die abstrakten Einheiten, d. h. die Typen oder K l a s s e n von Einheiten, zu sprechen (die Phonemklasse entspricht der Sememklasse; die Klasse der Silben — der Klasse der Onomateme usw.), aber natürlich nicht in bezug auf die Glieder der entsprechenden Klassen (die konkreten Phoneme und die konkreten Sememe usw.). Im letzten Fall kann natürlich von Isomorphismus keine Rede sein, schon allein deswegen, weil die Zahl der konkreten Einheiten der Inhaltsform viel größer ist als die Zahl der konkreten Einheiten der Ausdrucksform. Damit hängt auch das unterschiedliche Verhältnis der semantischen und der phonologischen Einheiten zum Zeichen zusammen. Während die Basiseinheit der Ausdrucksebene, das Phonem, nur selten als Bezeichnendes des Zeichens fungiert, ist die Basiseinheit der Inhaltsebene, das Semem, in der Regel (wenn auch nicht immer 21 ) ein selbständiges Bezeichnetes. Eine seltene Ausnahme ist es, wenn ein phonologisches distinktives Merkmal unmittelbar mit einem bestimmten „Ausschnitt" des Bezeichneten verbunden ist; die grammatischen (nicht aber die lexikalischen) Merkmale hingegen zeigen (wenn auch nur teilweise und nicht konsequent) die Tendenz zur unmittelbaren phonologischen Symbolisierung, besonders in agglutinierenden Sprachen. 22 20

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Näheres hierzu siehe [11; 13], Eine ähnliche Analogie zwischen den syntagmatischen Merkmalen („die den Satz oder die Konstruktion insgesamt markieren") und den phonologischen prosodischen Merkmalen hat von einem anderen Standpunkt aus J. T. BendorSamuel auf dem X. Internationalen Linguistenkongreß vorgeschlagen [47]. Die grammatischen Sememe („G-rammeme") können durch „Null-Morpheme" ausgedrückt werden, die nichts weiter als eine konventionelle Beschreibung darstellen. Grundlage für einen Vergleich der elementaren grammatischen Bedeutungen mit den phonologischen distinktiven Merkmalen und der allgemeinen grammatischen Bedeutung Serebrennikow II

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Nur in einigen Sprachen ist die Silbe in der Regel das Bezeichnende eines Minimalzeichens; im Prinzip ist sie eine einseitige Einheit der Ausdrucksebene, die kleiner oder größer ist als das Bezeichnende eines Morphems (im Sonderfall auch gleich groß ist), während das der Silbe analoge Syntagma der Inhaltsebene (das Onomatem) unbedingt ein eigenes Bezeichnendes hat (das häufig, aber nicht immer mit dem phonologischen Wort zusammenfällt). Und erst solche syntagmatischen Einheiten wie das phonologische Wort (auf der Ausdrucksebene) und der Satz (auf der Inhaltsebene) werden durch ein gleichartiges Verhältnis zum Zeichen charakterisiert: beide sind Bezeichnendes bzw. Bezeichnetes des Zeichens. Auf der Zeichenebene lassen sich ebenfalls Einheiten verschiedenen Kompliziertheitsgrades ermitteln, und dementsprechend können verschiedene Integrationsebenen unterschieden werden. Eine f ü r alle Sprachen einheitliche Hierarchie der Zeicheneinheiten gibt es nicht, es läßt sich aber sagen, daß die Gegenüberstellung von mindestens zwei Ebenen von Zeicheneinheiten — von nominativen Zeichen und von Mitteilungszeichen, denen die Verbindung von nominativen Zeichen zugrunde liegt — eine notwendige Bedingung f ü r die Strukturierung natürlicher Sprachen ist (vgl. z. B. [24, 20], ferner Band I, S. 128). Häufig weisen die nominativen Zeichen ihrerseits eine Struktur auf, die aus einfacheren Zeichen gebildet ist. Wie in Band I, S. 129, festgestellt wurde, setzt in vielen Sprachen die Autonomie des nominativen Zeichens, d. h. seine Fähigkeit, als Komponente einer Mitteilung zu fungieren (und im Grenzfall ihr Äquivalent zu sein) voraus, daß dieses Zeichen nicht elementar ist. So lassen sich zum Beispiel im Russischen als besondere Zeicheneinheiten, die durch Konstituentenbeziehungen verbunden sind, das Morphem, das Wort und der Satz unterscheiden. 23 Diese Einheiten unterscheiden sich nicht nur durch ihre „Ausdehnung", sondern auch durch ihre spezifische Funktion, die sich nicht aus der Summe der Eigenschaften ihrer Komponenten ableiten läßt. Das Morphem ist eine elementare, nicht weiter zerlegbare Bedeutungseinheit. Die Einheit der folgenden Ebene, das Wort, bildet nicht eine beliebige (durch Regeln der Morphotaktik zulässige) Verbindung von Morphemen, sondern nur eine solche, die auf einem bestimmten Schema beruht („lexikalisches Stammmorphem + grammatisches Morphem"), so daß eine Bildung entsteht, die am besten geeignet ist, als Mittel der Benennung zu dienen (d. h. ein Bezeichnendes des „Onomatems" zu sein). Der Satz wird nicht durch beliebige (durch die synmit dem Phonem ist folglich nicht, daß die elementaren grammatischen Bedeutungen in den Sprachen indoeuropäischen Typs gewöhnlich kleiner sind als das Bezeichnete des .Phonems und die „Grammeme" in der Regel mit dem Bezeichneten des Morphems zusammenfallen, sondern die analoge Struktur der entsprechenden Einheiten auf der Ebene der Beziehungen der logischen Abhängigkeit. Das muß betont werden, da die „semantischen Komponenten" häufig in Abhängigkeit von ihrem Verhältnis zum Morphem ermittelt werden. 23 Wir sehen vorerst davon ab, daß diese Behauptung ungenau sein kann, je nach dem spezifischen Sinn, der den Termini „Morphem", „Wort" und „Satz" beigelegt wird (eine eindeutige Unterscheidung der verschiedenen Bedeutungen des Wortes „Wort" schlägt Salisnjak [16] vor).

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taktischen Regeln zulässige) Verbindungen von Wörtern gebildet, sondern n u r durch solche, die einem bestimmten Strukturmodell entsprechen und mit der spezifischen kommunikativen Funktion der betreffenden Einheit übereinstimmen. Den funktionellen Unterschieden der Einheiten entsprechen bestimmte formale Unterschiede. I n Fällen vom Typ des lateinischen i ,geh', in denen nach Auffassung mancher Forscher „die Formen von Einheiten verschiedener Ebenen zusammenfallen", so daß eine jede Ebene,, nicht so sehr durch die Unterschiede in der Form ihrer Einheiten, als vielmehr durch die Dimension ihrer Bedeutungen konstituiert wird" [41, 160], lassen sich bei einer konsequenten Analyse v e r s c h i e d e n e f o r m a l e S t r u k t u r e n feststellen. Als Satz steht i einem Satzteil wie z. B. i mecurn „geh mit mir" insofern gegenüber, als im ersten Fall i mit der für einen Satz spezifischen Intonation verbunden wird, im zweiten Fall jedoch nur mit einem bestimmten Intonations„ausschnitt"; als Wort weist i eine komplizierte morphologische Struktur auf: i - f - 0 (in Opposition zu i-te geht) und unterscheidet sich dadurch von dem Morphem i-, das eine elementare Struktur hat. Bisweilen wird auch von einer Ebene der Wortbildung und einer Ebene der Wortgruppe gesprochen. Nimmt man jedoch als notwendige Bedingung f ü r die Unterscheidung von Einheiten verschiedener Integrationsebenen, daß, wie B. Trnka formuliert, „die Einheiten jeder Ebene nicht nur lineare Folgen bilden, sondern als Zeichen (Realisationen, Verkörperungen) von Einheiten höherer Ordnung in diese integriert werden und Eigenschaften annehmen, die die Merkmale einer bloßen Summe dieser Einheiten übertreffen" [90, 39], so ist zu bezweifeln, ob es zweckmäßig ist, eine besondere „Wortbildungsebene" und eine „Wortgruppenebene" anzusetzen. Man kann wohl der Auffassung beipflichten, daß der zweifellos vorhandene Unterschied zwischen der Wortbildung und der Morphologie dennoch „keinen, wenn man sich so ausdrücken darf, Ebenencharakter h a t " ; denn „um die Scheidung von Wortbildung und Morphologie in zwei Ebenen zu begründen, m ü ß t e bewiesen werden, daß für sie verschiedenartige Einheiten charakteristisch sind und nicht eine gemeinsame, nämlich das Morphem" [18, 280]. Richtiger wäre übrigens, zu sagen, daß der prinzipielle Unterschied zwischen nichtabgeleiteten Stämmen und Flexionsendungen (die sich unter der Bezeichnung „Morphem" zusammenfassen lassen) einerseits und den abgeleiteten Stämmen (die den Bereich der Wortbildung ausmachen) andererseits bewiesen werden müßte. Nur, wenn es sich herausstellte, daß der abgeleitete Stamm sich nicht nur durch größere Kompliziertheit von dem nichtabgeleiteten Stamm unterscheidet, könnte m a n davon sprechen, daß der abgeleitete Stamm nicht als V e r b i n d u n g von Morphemen beschrieben werden kann, sondern daß er als Einheit einer besonderen Ebene, die durch eine spezifische E i g e n s c h a f t charakterisiert wird, beschrieben werden muß. Manche Anhänger der Gegenüberstellung von Morphologie und Wortbildung als besonderen „Ebenen" halten f ü r Einheiten der morphologischen (Wortbeugungs-) „Ebene" die „Morpheme" (sowie andere formale Mittel), die die Wortform eines Lexems bilden und eine grammatische (morphologische) Be7'

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deutung ausdrücken, für Einheiten der „Wortbildungsebene" aber — „Morpheme (sowie andere formale Mittel), die einzelne Wörter bilden und eine Wortbildungsbedeutung ausdrücken" [26, 121]. Eine solche Auffassung von der „Ebene" und den „Einheiten" widerspricht der allgemein anerkannten (wenn auch nicht immer explizit ausgedrückten) Vorstellung, daß „die Ebene durch die diskreten Einheiten bestimmt wird, aus denen sich die Mitteilung unserer Auffassung nach zusammensetzt" [7, 116] und daß jeder Text infolgedessen als eine richtig konstruierte Folge von Einheiten eines entsprechenden Inventars dargestellt werden kann (vgl. die Forderung nach der sogenannten „restlosen Zerlegbarkeit einer Äußerung" [31, 29; 22, 31]). Kein Text besteht allein aus Wortbeugungs- oder Wortbildungsmorphemen; es gibt folglich kein selbständiges System, das nur aus einem Komplex von Wortbeugungs- (oder Ableitungs-)morphemen (und anderen „formalen Mitteln") und Regeln ihrer Verbindung besteht. Aus dem gleichen Grunde gibt es auch keine phraseologische Ebene usw. 2 4 Etwas anderes ist die Verbindung lexikalischer und grammatischer Morpheme (bzw. Stämme und Endungen). Hier handelt es sich um eine besondere Einheit — das Wort, das Lexem usw. —, die eine spezifische Benennungsfunktion besitzt (und sich nicht in kleinere Einheiten mit derselben Funktion unterteilen läßt). Sie kann unmittelbare Konstituente eines Satzes sein (der Satz gliedert sich eben in Wörter, es gibt keine Sätze, die nur aus Stämmen oder nur aus Endungen bestünden), im Grenzfall kann sie ihm auch äquivalent sein. Aus den gleichen Erwägungen sind nichtprädikative Wortgruppen eben als V e r b i n d u n g v o n E i n h e i t e n der entsprechenden Ebene aufzufassen, und erst der Satz kann als Einheit einer besonderen Ebene gelten. 25 All das heißt natürlich nicht, daß die Erforschung der Wortbildung, der Phraseologie oder der Regeln zur Bildung nichtprädikativer Wortgruppen irgendwo an der Peripherie der Linguistik stünde. Vielmehr spiegelt sich darin nur wider, daß die innere Struktur der Einheiten und ihre äußere Funktionsweise sich nicht unbedingt genau entsprechen. Die Beziehungen zwischen den verschiedenen Einheiten sind auf der Zeichenebene viel komplizierter als die Beziehungen zwischen den unilateralen Einheiten verschiedener Integrationsebenen. Die von den Forschern unterschiedenen Zeicheneinheiten (Morpheme, Moneme, Stämme, Flexionsendungen, Wortformen, Typenformen, Syntagmen, Lexeme, Sätze und viele andere) unterscheiden sich durch verschiedenartigste Merkmale voneinander, von denen die „Ausdehnung" oder der Grad der Kom24

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Vgl. folgende Äußerung von W. Haas auf dem Phonologenkongreß 1966 in Wien: „Um rein terminologische Mißverständnisse zu vermeiden, möchte ich betonen, daß ich den Terminus ,Ebene' im traditionellen Sinne gebrauche; danach kann man sagen, daß eine Äußerung nur dann auf zwei verschiedenen Ebenen (d. h. auf der phonologischen und auf der grammatischen) beschrieben werden kann, wenn sie sich auf jeder Ebene erschöpfend (d. h. ohne Rest) zerlegen läßt" [58, 237], In syntaktischen Untersuchungen (z. B. [43]) wird festgestellt, daß bestimmte Arten von Wortgruppen nur innerhalb eines Satzes entstehen. Das beweist, daß sie Gegenstand der syntaktischen Untersuchung sind, widerspricht aber keineswegs der Auffassung von ihrem prinzipiellen Unterschied von den Sätzen als solchen.

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pliziertheit keineswegs der einzige Parameter ist. So unterscheiden sich das Morphem und das Monem, die gleicherweise definiert werden (als kleinste Zeicheneinheit), vor allem im Hinblick auf den Ausdruck (Morphem) oder auf den Inhalt (Monem) 26 ; infolgedessen unterscheiden sich die entsprechenden „kleinsten Zeichen" in bezug auf ihre „Ausdehnung" beträchtlich (so sind nach A. Martinet /a/, /d/ und /§/ in /la gräd mötaji blas/ ,1a grande montagne blanche' nicht Bezeichnende — oder Teile von Bezeichnenden — verschiedener Moneme, sondern Teile des Bezeichnenden des Zeichens „Berg", das eine unterbrochene phonologische Form /. . . a . . . d . . . mötaji . . . s/ hat, während sie f ü r die meisten amerikanischen Deskriptivisten — und selbst f ü r die Neobloomfieldianer — eher vier Morpheme sind [83, 94]; vgl. ferner [84, 45]). Dennoch ist die Auffassung offenbar berechtigt, daß die „Gegenüberstellung Monem Morphem nur eine Differenzierung innerhalb einer Sprachebene ist" [24, 21]. Der Unterschied zwischen dem Morphem Und dem Wort (dem „Lexem", wie manche Linguisten sagen), insbesondere in flektierenden Sprachen wie dem Russischen, besteht nicht nur und nicht so sehr in dem verschiedenen Grad ihrer Kompliziertheit und in der Tatsache, daß diese Einheiten verschiedenen Integrationsebenen der Zeichenebene angehören, was die verbreitete Unterscheidung einer Morphemebene, einer Lexemebene und einer Satzebene sowie die Auffassung der Beziehungen zwischen ihren Einheiten als Konstituentenbeziehungen voraussetzt. Wenn man unter Lexem, wie das gewöhnlich getan wird, eine Klasse von Wortformen versteht, die die gleiche lexikalische Bedeutung haben, dann ist der Satz „Das Lexem besteht aus Morphemen" allerdings falsch. Denn von den drei Aussagen: 1. C T O J i a , C T O J i y , CTOJIOM U S W . sind ein und dasselbe Lexem, 2. -a, -y, -OM usw. sind verschiedene Morpheme, 3. das Lexem besteht aus Morphemen, negieren jeweils zwei die dritte. Offenbar gelten bei der ersten und zweiten Aussage verschiedene Kriterien für die Identifizierung der Einheiten. Einerseits lassen sich -a, -y, -OM usw. als verschiedene Einheiten auffassen, andererseits können sie aber auch als verschiedene Vertreter derselben Einheit betrachtet werden, die eine Komponente eines bestimmten Lexems (z. B. „CTOJI") ist. Diese abstrakte Einheit könnte als „Lexomorphem" (analog zum Morphonem) bezeichnet werden. 27 26

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Zu Paaren von Einheiten, von denen eine „auf der Grundlage des Bezeichnenden, die andere auf der Grundlage ihrer Punktion definiert wird", vgl. die Arbeiten von N. D. Arutjunowa [2; 4]. Vgl. den Begriff „Lexon" in der Stratifikationstheorie von S. Lamb (Näheres über dessen Konzeption findet man in [5]; dort ist auch ein Verzeichnis der wichtigsten Arbeiten von S. Lamb enthalten; vergleiche noch [55]); unter „Lexon" wird eine Einheit des „Lexemstratums" verstanden, die ihrer Ausdehnung nach mit der Basiseinheit des „Morphemstratums", dem Morphem, das das Lexon repräsentiert, zusammenfällt. Die Notwendigkeit, zwei Strata, das Lexemstratum und das Morphemstratum, zwischen der Ausdrucksebene und der Inhaltsebene (zwischen „Phonemstratum" und „Sememstratum") zu unterscheiden, begründet S. Lamb mit dem Vorhandensein von Suppletivbildungen vom Typ engl, good — better: good- und bett-. Sie sind verschiedene Einheiten

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Andererseits können auf der grammatischen Ebene Instrumentalformen wie z. B. CTOJIOM, pyKoß, MHixibio, P Y K A M H , CTOJIAMH usw. auch als verschiedene Muster ein und derselben Einheit aufgefaßt werden: als „Substantiv im Instrumental" (als „Syntagma" nach der Terminologie von Baudouin de Courtenay [9]). Der Unterschied zwischen „Lexemen" und „Syntagmen" besteht offenbar nicht in ihrer verschiedenen Ausdehnung und nicht einmal in einem verschiedenen Abstraktionsgrad, s o n d e r n i n e i n e m q u a l i t a t i v verschiedenen Typ der Abstraktion. Die Komponenten des „Syntagmas" sind ein abstraktes lexikalisches Morphem, das durch verschiedene nominale oder verschiedene verbale usw. Stämme vertreten wird, und ein abstraktes grammatisches Morphem, das durch verschiedene, die gleiche syntaktische Bedeutung ausdrückende Flexionsmorpheme der entsprechend verschiedenen Paradigmen vertreten ist (solch ein abstraktes „Makromorphem" könnte „Syntagmomorphem" genannt werden 28 ). Wenn man also versucht, auf der Zeichenebene der Strukturierung Reihen von Einheiten mit unterschiedlicher „Ausdehnung" zu ermitteln, so muß man von m e h r e r e n R e i h e n von Integrationsebenen sprechen, innerhalb deren überhaupt nur von eigentlichen Konstituentenbeziehungen gesprochen werden kann. So lassen sich Morpheme, Wortformen und Sätze als konkrete Texteinheiten mit unterschiedlichem Kompliziertheitsgrad unterscheiden. Konstituenten des Satzes sind die konkreten Wortformen (sowie eine be-

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des Morphemstratums (verschiedene Morpheme), repräsentieren aber die gleiche Einheit des Lexemstratums: better wird als eine Lexonkette (good + er) aufgefaßt. Uns scheint keine Notwendigkeit gegeben, das Morphem allein auf Grund dieser Tatsachen in ein „Morphem" und ein „Lexon" aufzuspalten (und dementsprechend ein Morphem- und ein Lexemstratum zu unterscheiden). Im Unterschied zu S. Lamb glauben wir, daß solch ein Lexon dem Morphonem (das in Lambs Konzeption „Morphon" genannt wird) nicht ganz entspricht: Die Bildung des Begriffs „Morphonem" war mit dem Bestreben verknüpft, regelmäßige morphologische Alternationen so ökonomisch wie möglich zu beschreiben. Vgl. die klare Abgrenzung von „lebendigen" und „toten" Typen von lautlichen Alternationen bei N. S. Trubetzkoy, der zum Beispiel für die Morphoneme h/6 bzw. x/s in den slawischen Gegenwartssprachen feststellte, daß sie nur Endelement von Morphemen sein können (wie im Russischen pyna — pymoii, yxo — yiimoii), während sie in nur historisch zusammenhängenden Morphemen wie X0H-HTB — meA-uiHÜ nicht begegnen [92, 85, 86]. Nach dieser Auffassung besitzt das Morphonem eine bestimmte psychologische Realität (vgl. etwa Bildungen vom Typ Jiora (Augmentativ von jio>KKa) in der Kindersprache oder die Umbildung von dt. Flasche über (JuiHJKKa in (|>Jifira). Den gleichen allgemeinen (oder noch allgemeineren) Charakter hat die Repräsentation des „Lexomorphems" durch eine ganze Reihe von Flexionsmorphemen. Was die Zusammenfassung von. Morphemen vom Typ good- und bett- zu einem Lexon betrifft, so scheint die Zweckmäßigkeit, solche „Regeln" ad hoc aufzustellen, nicht zwingend. Vgl. die Bemerkungen G. 0 . Winokurs über die „syntaktische Identität" des Morphems -OM in den Wörtern CTOJIOM, napoM und des Morphems -bio in den Wörtern KHCTMO, CTenbio, „die den eigentlichen Forschungsgegenstand in der Syntax ausmacht, obgleich diese Morpheme für die Morphologie verschieden und nur funktionell zusammengefaßt sind" [14, 416]. Diese „syntaktische Identität verschiedener Morpheme" vergleicht Winokur mit der „morphologischen Identität verschiedener Laute" (ebda.).

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stimmte Intonation, d a eine Folge gleicher Wortformen wie: 9 T O MOH K H H r a und 9 T O MOH K H H r a ? verschiedene Sätze sind). Die Wortformen bestehen ihrerseits aus Morphemen, die die Endelemente der Analyse eines konkreten Textes auf der Zeichenebene darstellen. Eine andere Reihe von Einheiten verschiedenen Kompliziertheitsgrades bilden der Satz als abstrakte syntaktische Struktur, das Syntagma als Element dieser Struktur und schließlich das „Syntagmomorphem", d. h. die abstrakte Komponente des Syntagmas. Eine Komponente des Syntagmas ist eine abstrakte Einheit wie „Verbalstamm", „Nominalstamm" usw., eine andere — eine abstrakte Einheit wie „Endung des Genitivs", „Endung der ersten Person", „Infinitivendung" usw. Eine dritte Reihe von Einheiten, die durch Konstituentenbeziehungen zusammenhängen, bilden das Lexem als Grundeinheit dieser Reihe, das real durch Wortformen mit gleicher nominativer Bedeutung vertreten ist (vgl. [16]), u n d die „Lexomorpheme", d. h. die Komponenten des Lexems, von denen das eine (der „Stamm") gewöhnlich durch ein konkretes Morphem oder eine bestimmte Morphemfolge vertreten ist, das andere aber — durch ein Morphem aus einer Reihe von Morphemen, die verschiedene grammatische Bedeutungen ausdrücken und durch die allgemeine Bedeutung „Substantivität", „Verbalität" usw. verbunden sind. Abstrakte Einheiten wie „Syntagmomorphem", „Lexomorphem" sind im Grunde Pseudoeinheiten, die die Asymmetrie zwischen der semantischen Struktur des Wortes und seinem morphologischen Bau ausgleichen sollen; sie hängen damit zusammen, daß es nicht möglich ist, solche Ausdruckssegmente zu finden, die den ihrem Kompliziertheitsgrad nach verschiedenartigen Einheiten der Inhaltsebene genau entsprechen. I n Sprachen unterschiedlichen Typs ist die Asymmetrie verschieden groß. I n engl, a man, the ivork zum Beispiel entspricht die Struktur der Onomateme, die eine Einheit von lexikalischer u n d grammatischer Bedeutung bildet, im allgemeinen der formalen Gliederung der entsprechenden Wörter: Beide bestehen aus zwei Morphemen, von denen das eine ( man, work) die lexikalische Bedeutung ausdrückt (eben das, was von ihnen in Verbindungen mit Morphemen anderer Klassen ausgedrückt wird, z. B. to man, works), das andere aber (a, the) — die grammatische Bedeutung „Substantivität". Diese lexikalischen Einheiten bestehen also aus Morphemen in einem buchstäblichen Sinne. I n anderen Sprachen dagegen, zum Beispiel im Russischen oder im Lateinischen, läßt sich keine reale Zeicheneinheit finden, die dem Onomatem entspräche, d. h. ein Zeichen, in dem nur die nominative Bedeutung (die „lexikalische + diejenige einer allgemeinen grammatischen Kategorie") ohne syntaktische Bedeutung ausgedrückt würde. Die Gliederung pyK-a, CTOJI-OM entspricht nur teilweise der semantischen Struktur des Wortes als Benennungseinheit, da -a, -OM USW. nicht nur Bezeichnende der Bedeutung „Substantivität" sind, sondern zugleich die Funktion der entsprechenden Wortformen in der Satzstruktur angeben. Diese syntaktischen Bedeutungen sind nicht eine Komponente des Wortinhalts, des Lexems, sondern ein Element der Satzbedeutung. Die Morpheme verknüpfen sich nach bestimmten Regeln der Morphotaktik und bilden so Lexeme und gleichzeitig Syntagmen als 91

Komponenten des Satzes. In Sprachen wie dem Russischen ist das Lexem als nominative Zeicheneinheit folglich im Text real nicht durch bestimmte Morphemkombinationen vertreten. Der Nominativ des Substantivs, der Infinitiv des Verbs usw. sind nur konventionell dem Lexem äquivalent. 29 Die Beziehungen zwischen den verschiedenen Zeicheneinheiten lassen sich also mit Hilfe des Begriffs der Konstituente nur annähernd beschreiben. Damit hängt zusammen, daß die verschiedenen Bereiche der Sprachwissenschaft, die es mit Einheiten verschiedener Typen zu tun haben, der Gliederung der Sprache „in Ebenen", die auf Grund des verschiedenen Kompliziertheitsgrades der Zeicheneinheiten ermittelt werden, nicht genau entsprechen, obwohl sich in der traditionellen Abgrenzung der Lexikologie, Morphologie und Syntax eine bestimmte Vorstellung von der hierarchischen Struktur der entsprechenden Einheiten widerspiegelt: Die Lexikologie hat es mit Wörtern zu tun, die Morphologie — mit kleineren Einheiten als den Wörtern, die Syntax — mit größeren Einheiten als den Wörtern (vgl. [23]). Der Unterschied zwischen Lexikologie, Morphologie und Syntax beruht jedoch nicht so sehr auf der verschiedenen Ausdehnung der entsprechenden Einheiten als vielmehr auf der unterschiedlichen Grundorientierung dieser Bereiche auf die Inhaltsebene (Lexikologie, Syntax) bzw. auf die Ausdrucksebene (Morphologie) (vgl. [7, 37]). So ist das Onomatem eigentlich die Grundeinheit der Lexikologie — unabhängig davon, ob ihm auf der Ausdrucksebene ein Wort oder eine feste Wortgruppe entspricht.. Die Syntax hat es mit syntaktischen Bedeutungen zu t u n unabhängig davon, welchen „Ausschnitten des Ausdrucks" bzw. welchen Zeicheneinheiten diese Bedeutungen entsprechen (syntaktische Bedeutungen verschiedener Typen werden zum Beispiel durch die Intonation ausgedrückt, ferner durch die Wortstellung in Sprachen wie dem Englischen oder dem Französischein, durch einzelne „Wörter" wie z. B. die subordinierenden oder koordinierenden Konjunktionen, durch spezielle Morpheme, z. B. durch die Morpheme des Genus — Numerus — Kasus der Adjektive im Russischen usw.). Wenn die syntaktischen Bedeutungen allgemein auch in Termini der Ausdehnung der Einheiten, mit denen sie assoziiert werden, charakterisiert werden können, dann nur in dem . Sinne, daß die syntaktischen Bedeutungen, durch welche Mittel sie auch immer ausgedrückt werden, stets einen suprasegmentalen Charakter haben, das heißt, das Wort in seinem Verhältnis zu den anderen Wörtern im Satz bestimmen; in diesem Sinne entsprechen die syntaktischen Bedeutungen den prosodischen Merkmalen der phonologischen Einheiten. 3 0 Zu den Aufgaben der Lexikologie gehört auch die paradigmatische und die syntagmatische Charakteristik der Benennungseinheiten (vgl. [39]). Die paradigmatische Charakteristik hängt mit der Ermittlung der elementaren nominativen 29

Im übrigen gibt es für solch eine Wahl bestimmte Gründe, da offenbar gerade diese Formen in höchstem Grade geeignet sind, mit dem Onomatem assoziiert zu werden. Vgl. Sätze wie IIo3BOHHTb-TO H n03B0HHJi; MocKBa! Kau MHoro B 3TOM 3Byne . . . ; Kmira MOH — TH

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In seinem Referat auf dem X. Linguistenkongreß bezeichnete J. T. Bendor-Samuel die syntagmatischen Merkmale als „grammatische Prosodien"; [47, 908],

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Bedeutungen, der semantischen distinktiven Merkmale, zusammen; dabeitreten jedoch nur einige der korrelierenden Einheiten der gleichen „Ebene" — der elementaren grammatischen Bedeutungen (wie „Gegenständlichkeit", „Prozessualität") — in den Gesichtskreis des Lexikologen. Die syntagmatische Charakteristik des Wortes als Benennungseinheit hängt mit der Feststellung, der Möglichkeiten seiner Verbindung mit den anderen Benennungseinheiten zusammen; daher hat es die Lexikologie nicht nur mit Wörtern und mit Phraseologismen als spezifischen Benennungseinheiten zu tun, sondern auch mit den Kombinationen der Wörter. Der Unterschied zwischen dem lexikalischen und dem syntaktischen Standpunkt ist nicht nur durch die verschiedene Ausdehnung der Einheiten, die durch Anwendung der lexikalischen und syntaktischen Regeln entstehen, bedingt, sondern auch dadurch, daß sich in der Syntax die Regeln der Kombination der Wortformeri auf das Strukturschema des Satzes beziehen, so daß alle Gesetzmäßigkeiten der Verbindung der Wortformen im Hinblick auf diese größte syntaktische Einheit ermittelt werden; in der Lexikologie hingegen ist die grammatische Beschaffenheit der nach den Regeln der Lexemotaktik zulässigen Verbindungen gewöhnlich nicht relevant. Die Regeln für dje Verbindung der Lexeme eben als Einheiten, die eine bestimmte nominative Bedeutung haben, können offensichtlich nicht auf eine begrenzte Zahl von Modellen reduziert werden, wie das bei den Regeln für dieVerbindung der Morpheme und „Syntagmamorpheme" (bei denen bestimmte Strukturschemas der Verbindung zur Bildung von Einheiten höherer Ordnung, von Wortformen und Syntagmen, führen) oder von Wortformen und „Syntagmen" der Fall ist (hier erfolgt die Bildung entsprechender Einheiten höherer Ordnung ebenfalls nach streng festgelegten Modellen). Die Bindung einer Zeicheneinheit an eine bestimmte Ausdehnung ist wohl vor allem für die Morphologie (einschließlich der Wortbildung) charakteristisch, die es mit dem A u s druck verschiedenartiger Bedeutungen (syntaktischer oder nominativer — grammatischer und nichtgrammatischer) innerhalb eines Worts zu t u n hat 31 -; diese Bedeutungen werden häufig — aber nicht immer — durch Morpheme (alseine kontinuierliche Reihe von Phonemen) ausgedrückt. Wie bereits festgestellt, betrachtet die Konzeption von den Sprachebenen die Sprache als eine Gesamtheit von Systemen vom Kodetyp, d. h. von Systemen, von denen jedes aus einem bestimmten Kompléx elementarer Symbole u n d Regeln für die Bildung von „Kode-Kombinationen" besteht (als Kode-Kombination wird ein Komplex von Symbolen bezeichnet, der unmittelbar mit einem Symbol oder einer Symbolkombination eines anderen Kodes verglichen werden kann). Aber die Aufgaben der Sprachforschung beschränken sich nicht auf die Beschreibung der Kode-Eigenschaften der Sprache. Die Sprache kann von verschiedenen Gesichtspunkten aus untersucht werden; daher lassen sich verschiedene Bereiche der Sprachwissenschaft unterscheiden, von denen nicht alle unbedingt der Gliederung der Sprache in Ebenen direkt entsprechen müssen. 31

Vgl. die Definition des Unterschiedes zwischen Morphologie und Syntax in Termini der Ausdehnung der entsprechenden Grenz- bzw. Maximaleinheiten (Wort und Satz) beiM. M. Guchman [15, 122].

93.

KAPITEL 3

Die Phonologie

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Die semantische F u n k t i o n der syntagmatischen I n d i k a t o r e n . Der n o m i n a t i v e Aspekt des Satzes Die syntaktischen Elemente zeigen nicht nur an, „was womit zusammenhängt". Die Sätze er gab dem, Sohn den Vater wieder und er gab dem Vater den Sohn wieder enthalten dieselben Wörter mit denselben Bedeutungen und dem gleichen „Baum der Abhängigkeiten". Sie unterscheiden sich nur durch die syntaktischen Positionen der Substantive Vater und Sohn. I m ersten Satz hat das Substantiv Vater die Funktion des das Handlungsobjekt bezeichnenden direkten Objekts und steht das Substantiv Sohn in der Position des den Handlungsempfänger bezeichnenden indirekten Objekts. I m zweiten Satz hingegen ist das Handlungsobjekt der Sohn und der Handlungsempfänger der Vater. Die verschiedene Verteilung der Wörter auf die Positionen reicht also aus, um den Inhalt der Äußerung zu verändern. Die Verteilung der Wörter auf die syntaktischen Positionen hängt unmittelbar von den Eigenschaften der zu bezeichnenden Situation ab. Damit der Sinn des Satzes seinem Denotat entspricht, muß man nicht nur die Fragmente der Situation, sondern auch die sie verknüpfenden Beziehungen richtig benennen. Mehr noch, ein Wort kann aus dem Paradigma erst dann extrahiert werden, wenn die mit den Eigenschaften des zu bezeichnenden Ereignisses kompatible Konstruktion bestimmt ist. Die Wahl der Struktur der Äußerung geht der Wahl der Wörter voraus. Eine solche Auffassung von der Reihenfolge der Wahl 1 3 entspricht dem Gedanken von Kurylowicz, daß die 13

Im realen Prozeß der Hervorbringung sprachlicher Äußerungen bedingen sich beide Wahlen: Die Wahl des Wortes ist unmöglich ohne Bezug auf die Konstruktion, die seine syntaktischen Charakteristika (Zugehörigkeit zu dieser oder jener Wortart) vorgibt, aber auch die Wahl der Konstruktion ist ohne vorherige Festlegung der lexikalischen Elemente, speziell des Verbs, das die Konfiguration der Aktanten determiniert, nicht realisierbar (vgl.: fl FLAN eiuy KHiiry 'ich gab ihm das Buch' mit O H BBHJI y MEHH KHiirv 'er hat das

238

syntaktische Bedeutung gegenüber der lexikalischen (semantischen) primär ist, weswegen man von den lexikalischen Bedeutungen der Elemente des Satzes nur dann sprechen kann, wenn ihre syntaktische Funktion identisch ist. Bei der Analyse der präpositionalen Wendungen in den Sätzen OH n p t i r a e T H a CTOJie 'er springt auf dem Tisch herum' und OH npuraeT Ha CTOJI 'er springt auf den Tisch' weist Kurylowicz darauf hin, daß zwischen ihnen kein direkter semantischer Gegensatz besteht, denn sie haben im Satz unterschiedliche syntaktische Positionen: Der Akkusativ der Richtung ( H a CTOJI) steht an zentralerer Stelle als der Lokativ ( H a C T O J i e ) [101, 134]. Da man beim Sprechen sowohl die syntaktische Konstruktion als auch die ihr entsprechenden Wörter wählt, hängen beide Akte mit der Nomination zusammen. Mathesius hatte nicht ganz recht, wenn er zwischen dem Selektionsakt, den er zur Benennungsfunktion der Sprache in Beziehung setzte, und dem mit der syntagmatischen Tätigkeit korrelierenden Kombinationsakt einen Gegensatz sah [115, 160]. Es fällt auf, daß die zweite Korrelation tautologisch ist, denn der „Kombinationsakt" und die „syntagmatische Tätigkeit" sind nichts anderes als verschiedene Bezeichnungen für ein und denselben Prozeß; Mathesius stellt also den Kombinationsakt (die syntagmatische Tätigkeit) nicht zur Redefunktion überhaupt in Beziehung. Wesentlicher ist jedoch, daß Mathesius die den Satz organisierenden syntagmatischen Konstruktionen nicht als Selektionsobjekt betrachtet, was sie außerhalb der nominativen Tätigkeit stellt. I n Wirklichkeit entsprechen beide Arten der Redetätigkeit — die Selektion und die Kombination (die Wahl der Konstruktion) — der Benennungsfunktion, stehen sie zusammen der aktualisierenden Tätigkeit gegenüber, die der kommunikativen Funktion der Sprache entspricht (s. hier S. 214—215). „Das Wort und die syntaktische Konstruktion lösen beim Aufbau einer Äußerung verschieden und in unterschiedlichem Maße sowohl eine benennende als auch eine organisierende Aufgabe" (vgl. Gak [15, 78; 18, 53-60; 14]). Man kann also nicht nur das Wort, sondern auch das Satzmodell unter seinem nominativen Aspekt betrachten. Nach der Theorie der Wortgruppen ist die Struktur des Satzes fleBOHKa B H S i e H H J i a y MajitHHKa rpyiny H a rmpojKiioe 'das Mädchen tauschte mit dem Jungen eine Birne gegen ein Stück Kuchen' eine Vereinigung mehrerer nominativer Einheiten, Wörter und Wortgruppen: fleBOHKa 'das Mädchen', BHMeHHJia rpyrny 'tauschte eine Birne", BHMeHHJia y MajibiHKa 'tauschte mit dem Jungen', BLineiiHJia Ha niipowmoe 'tauschte gegen ein Stück Kuchen'. I n der semantischen Syntax gilt der ganze Satz als Bezeichnung eines Ereignisses, dessen Mitspieler (Gegenstandsbegriffe, Aktanten) in die Handlung einbezogen sind. Der Handlungsname — das Verb — gibt eine bestimmte Verteilung der Aktanten vor. Ein und dasselbe Ereignis kann durch verschiedene Verben bezeichnet werden, die Buch von mir'). Vermutlich wird die Situation selbst so gegliedert, daß ihr die syntaktische Konstruktion „auferlegt" wird, wodurch die Benennung jedes Fragments der Wirklichkeit nicht nur seine lexikalische Bezeichnung, sondern auch die Bezeichnung seiner Funktion voraussetzt. Die Funktion kann entweder in der lexikalischen Bedeutung des Wortes bereits enthalten oder durch ein besonderes Element repräsentiert sein.

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eine unterschiedliche Konfiguration ihrer Partner regieren. So ist z. B. in dem Satz MajibiHK OTflaJi neBOHKe rpyrny 3a nupO/KHoe 'der Junge gab dem Mädchen eine Birne für ein Stück Kuchen' dieselbe Handlung in bezug auf den anderen Situationspartner, den Jungen, benannt, der als ihr Agens erscheint 14 . Somit sind nicht nur die syntagmatischen Beziehungen selbst, sondern auch der lexikalische Inhalt des Verbs an der syntaktischen Organisation der Äußerung beteiligt. Man könnte sagen, daß die syntaktischen Zusammenhänge im Satz ebenso semantisch sind, wie die lexikalische Bedeutung des Verbs syntaktisch ist. Es ist daher keineswegs verwunderlich, daß man das Verb auf der Grundlage seiner syntaktischen Beziehungen semantisch zu untersuchen begann [6] und die syntaktische Analyse, vor allem im letzten Jahrzehnt, allgemein auf eine Semantisierung ausgerichtet wurde. Die Erforschung des semantischen Inhalts der syntaktischen Beziehungen durch strukturelle Methoden wurde lange durch die Erscheinungen der Asymmetrie und der funktionalen Verschiebungen im Bereich der Syntax behindert. Die Nichteindeutigkeit in der Korrelation von Form und Funktion, die übrigens auch alle anderen Aspekte der Sprache kennzeichnet, war einer der Anlässe für die Begründung des Gedankens, daß die Struktur des Satzes asemantisch, von der Struktur des zu bezeichnenden Ereignisses unabhängig sei. Andererseits war die Asymmetrie zwischen Form und Bedeutung in der Syntax der Anlaß, das Problem der Homonymie der syntaktischen Indikatoren aufzuwerfen [71, 36] sowie die These von der Hierarchie ihrer Funktionen zu formulieren. So machte schon Mitte der 30er J a h r e Jakobson bei der Betrachtung der Funktionen der Kasusformen den Versuch, für jede von ihnen eine Gesamtbedeutung und mehrere spezielle Bedeutungen, von denen eine als die wichtigste galt, zu definieren [94, 252]. Jakobsons Konzeption bewahrte die semantische Einheit des syntaktischen Zeichens und bot gewissermaßen eine strukturelle Interpretation für die traditionelle These von den direkten oder „eigentlichen" und den übertragenen, sekundären Bedeutungen der sprachlichen Einheiten. I n denselben Jahren entwickelte Kurylowicz die Idee von den primären und sekundären Funktionen der syntaktischen Formen [101, 136; 99, 42; 32, 73]. Auch er kennzeichnete die Gesamtheit der Funktionen der syntaktischen Indikatoren als hierarchische Struktur, aber ohne den Begriff der Gesamtbedeutung, wie er noch in Jakobsons Theorie vorhanden war. Damit h a t t e die semantische Struktur des Zeichens keine einheitliche Grundlage mehr, stand im Mittelpunkt seine Asymmetrie. Außerdem ergänzte Kurylowicz die Idee der primären und sekundären Funktionen des Zeichens durch den Begriff der primären und sekundären A u s d r u c k s f o r m e n derselben Funktion [32, 80], wodurch es möglich wurde, ein sprachliches, speziell ein syntaktisches System bei allgemeiner Asymmetrie seiner Elemente aufzubauen. Um die Systembeziehungen, deren Glieder asymmetrische Zeichen sind, bestimmen zu können, muß man Kurylowicz zufolge vor allem „die P u n k t e des Zusammentreffens der primären semantischen Funktionen mit den primären Formen" markieren [32, 81]. 14

Verben, die sich nur durch die Handlungsrichtung unterscheiden (wie rtocjiaTB — nonyHHTb 'schicken — erhalten'), bezeichnet man gewöhnlich als K o n v e r s i v e .

240

Auf der gleichen Gesamtgrundlage entwickelten sich die Ideen auch einiger anderen Syntaktiker. So betonte der holländische Romanist de Boer bei der Aufzählung der für eine Systembeschreibung der Syntax erforderlichen Bedingungen vor allem die Unterscheidung zwischen grundlegenden und zweitrangigen Funktionen der syntaktischen Indikatoren [71, 1]. Die primäre Funktion des syntaktischen Zeichens sei nicht durch den Kontext bedingt, •die sekundäre seine Funktion, die durch den betreffenden syntaktischen Indikator zusammen mit anderen (linguistischen und extralinguistischen) Elementen ausgedrückt wird. Die Gesamtheit aller Funktionen schaffe de Boer zufolge „die Perspektive funktionaler Schichten der syntaktischen Zeichen" [71, 34]. Die primären und die sekundären syntaktischen Funktionen de Boers entsprechen den Gesamtbedeutungen und speziellen Bedeutungen Jakobsons. Mit den syntaktischen Zeichen meinten beide Linguisten vor allem die konkreten Indikatoren der Lexemfunktion — die Kasusform ohne bzw. mit Präposition, die Präposition und die Konjunktion. Die Asymmetrie kennzeichnet aber nicht nur die funktionalen Indikatoren, sondern auch die syntaktischen Positionen, die losgelöst von der konkreten Ausdrucksform der syntaktischen Bedeutung festgestellt werden. Während es "sich im ersten Falle etwa um verschiedene Bedeutungen des Instrumentals in Verbindungen wie HßTH ripHMLiM NYTÖM 'einen direkten Weg gehen', KOMAHFLOBATB B3BO,O;OM 'eine Abteilung befehligen', paßoTaTb HHHteHepoM 'als Ingenieur arbeiten', 3aBepmaTB CTpoHTejiB-CTBOM 'die Bauarbeiten an etwas abschließen', niicaTB KapaH^amoM 'mit dem Bleistift schreiben' usw., wird im zweiten Falle das Problem der Polyfunktionalität solcher syntaktischen Positionen (Satzglieder) erörtert wie z. B. die Position des Subjekts, die nicht nur durch das Handlungssubjekt, sondern auch durch das Handlungsobjekt und die anderen Aktanten besetzt wird. Auch bei der Untersuchung der Bedeutungen der syntaktischen Positionen •wurde der Begriff der primären und sekundären Funktionen oder, wie m a n neuerdings sagt, der Tiefenstrukturen (die den primären Funktionen entsprechen) und der Oberflächenstrukturen (die den sekundären Funktionen entsprechen) eingeführt. Daß jede Position eine primäre syntaktische Funktion hat, wird gleichsam durch die Ergebnisse verschiedenartiger linguistischer Tests bestätigt, so durch die Versuche, Sätze aus vorgegebenen Wörtern zu bilden, •durch die Analyse der spontanen Rede, die Interpretation von Sätzen durch Träger der betreffenden Sprache usw. [14, 71 f.]. Wie die quantitativen Beurteilungen der Testergebnisse zeigen, kann man trotz Polyfunktionalität aller syntaktischen Positionen und Polymorphie jeder Funktion eine gewisse Übereinstimmung zwischen der Struktur des Satzes und der Struktur des durch ihn bezeichneten Ereignisses erkennen, wobei diese Entsprechung f ü r die verschiedenen Satzglieder verschieden ist. Die zentralen Positionen, die von der Rektion des Verbs abhängen, sind semantisch unbestimmter und in diesem Sinne grammatisch, während die peripheren Positionen semantisch bestimmter •und in diesem Sinne konkret, lexikalisch sind [18; 14; 3, 88]. Insgesamt kann man sagen, daß die syntaktischen Untersuchungen der letzten Jahre durch ein allgemeines Interesse f ü r die syntaktische Semantik 241

gekennzeichnet sind. Diese Richtung der Linguistik erhielt die Bezeichnung „Tiefensyntax". Die Evolution der syntaktischen Ideen fand einen unmittelbaren Niederschlag in den Arten der formalen Darstellung der Satzstruktur. Während die Deskriptivisten das Satzmodell als sukzessive Aufgliederung in die unmittelbaren Bestandteile (immediate constituents) des Satzes darstellten, die in die Klammern verschiedener Konfigurationen (bracketing) eingeschlossen wurden, kam später der syntaktische Baum mit Pfeilen auf, die die Richtung der Abhängigkeit angeben (unlabelled phrase-marker). Die Modelle berücksichtigten vorzugsweise die organisierende Funktion der syntagmatischen Zeichen: Im ersten Falle wurde angegeben, „was womit zusammenhängt" und in welcher Abfolge der Zusammenhang realisiert ist, im zweiten Falle — „was wovon abhängt". Später ging man dazu über, jeder Abhängigkeit eine bestimmte inhaltliche Charakteristik zuzuschreiben (labelled phrase-marker). Der nächste Schritt war die semantische Aufzeichnung des Satzes, bei der die syntagmatischen und lexikalischen Bedeutungen durch homogene Termini bezeichnet werden. Weinreich schrieb: „In der Tiefenstruktur einer Sprache gibt es keine Signale: die Einheiten sind ganz Bedeutung" [132, 472]. Bezeichnenderweise stand ursprünglich in der Theorie der generativen Grammatiken die syntaktische Komponente schroff der semantischen Komponente gegenüber; später wurde gerade das einer Kritik unterzogen. Weinreich protestierte gegen den Gedanken, daß „die Semantik dort beginnt, wo die Syntax aufhört", verwies auf „die tiefgreifende wechselseitige Durchdringung von Syntax und Semantik" und schrieb: „In der Logik gelten die Beziehungen zwischen den Symbolen innerhalb einer 'Objektsprache' als syntaktisch, während die Beziehungen der Symbole zu den Einheiten außerhalb der 'Objektsprache' den Bereich der Semantik bilden. Für die künstlichen Systeme ist die Dichotomie motiviert und brauchbar; aber in den natürlichen Sprachen sind auch die Beziehungen zwischen den Symbolen semantischer Natur . . ., obwohl die generative Grammatik eine Abgrenzung zwischen Syntax und Semantik forderte, scheiterte sie immer wieder bei dem Versuch, zwischen ihnen eine Grenze zu ziehen" [132, 468-469]. Nach und nach entstanden gerade innerhalb der Theorie generativer Grammatiken extreme Ideen über den semantischen Wert der syntaktischen Kategorien. Schon die Anwendung der Transformationsmethode erforderte eine aufmerksamere Analyse des Sinns der syntaktischen Beziehungen, die Entdeckung der semantischen Invariante in ihnen. Zur Semantisierung hin entwickelten sich auch die an die Theorie der generativen Grammatik angelehnten Untersuchungen zur automatischen Übersetzung und Textanalyse, deren Verfasser vor der Notwendigkeit standen, die syntaktischen Beziehungen inhaltlich zu interpretieren [20, 9]. In der semantischen Syntax änderte sich deutlich die Auffassung von der „Tiefenstruktur" des Satzes. Während man die Tiefenstruktur zunächst in der dem betreffenden Sinn angemessensten sprachlichen (d. h. der „Oberflächen-") Form sah (so galt z. B. er singt als die Tiefenstruktur der transponierten Konstruktion sein Singen) und die Transformationsgrammatik von dem Begriff der 242

Kernkonstruktionen und ihrer Derivationsentwicklung ausging, begann man später als Tiefenstrukturen manche abstrakte Formeln zu bezeichnen, die durch Sinnelemente gebildet werden, die dann, durch ein Abarbeiten von Transformationsregeln, in die „Oberflächen"-Äußerungen oder den Text verwandelt werden. Während also zunächst die grammatischen Regeln den Übergang von der Kernkonstruktion zu ihren stellungsbedingten Varianten konstatierten, wurden die Regeln der Syntax später so formuliert, daß der Übergang von der Sinnstruktur des Satzes zu ihren konkreten Repräsentanten möglich wird. Die Transformationssyntax entwickelte sich in dieser Hinsicht ganz genauso wie die strukturelle (vor allem die deskriptive) Morphologie. Die strukturelle Morphologie stellte das Morphem zunächst als wichtigste formale Variante dar, die die betreffende Bedeutung ausdrückt (z. B. S für das Morphem des englischen Plurals), während grammatische Regeln die Bedingungen seiner Verwandlung in andere — distributionell begrenzte — Alternanten fixierten. Später zog die deskriptive Morphologie den Morphembegriff völlig auf die semantische Ebene, indem sie ihn nicht mehr über die Hauptform, sondern über die Hauptfunktion (z. B. als das Morphem „Plural") bezeichnete. Die morphologischen Regeln wurden nun so formuliert, daß die Wahl der der betreffenden Funktion angemessenen Form gewährleistet ist (Näheres im Abschnitt „Die Grundeinheit der morphologischen Analyse", S. 189-209). Wie die vorgeführte Parallele zeigt, muß die linguistische Theorie (die Grammatik), welche unmittelbaren Ziele auch immer sie verfolgt, wie auch immer ihr „Geist" beschaffen ist, stets das semiologische Kardinalproblem — die Korrelation von Form und Bedeutung (Funktion) in der Sprache — lösen, bei deren Feststellung die einen grammatischen Schulen sich auf die Form und die anderen auf die Funktion stützen. So bevorzugte die strukturelle Linguistik die Analyse der Sprache in der Richtung von der Form zur Bedeutung, was zur Ausweitung der Grenzen der Morphologie führte, die fast die ganze Grammatik annektierte und zu der zwischen Morphemik und "Phonologie liegenden Morphonologie hinüberwuchs (vgl. das deskriptive Grammatikmodell). Mit der Entwicklung der Theorie generativer Grammatiken wuchs aber das Interesse für die Beschreibung der Sprache in der Richtung vom Inhalt zur Form. Die Grammatik wird dadurch allmähich von der Syntax usurpiert, die die Morphologie von den zentralen Positionen verdrängt und in den Bereich der Lexik eindringt (vgl. das transformationelle Grammatikmodell). Während die Erforschung der Sprache von ihrer Form her zu einer Annäherung zwischen Grammatik und Phonologie beitrug, was besonders in der Untersuchungsmethode und im System der verwendeten Einheiten und Begriffe sichtbar wurde, führte die Umkehrung des grundlegenden Analyseprinzips dazu, daß sich die Grammatik einige Begriffe und Methoden der Lexikologie aneignete. Die Änderung der Gesamtrichtung bei der Aufstellung einer Grammatik, zu deren Hauptkomponente die Semantik wird, zerstört das System der Ebenen der linguistischen Analyse: Die Phonetik steht nun an höchster Stelle der an die „Oberfläche" reichenden Schicht, während die Semantik in die Tiefe versenkt ist. Die Theorie der Tiefenstrukturen wurde zu einer Art Cañón, zur umgedrehten Pyramidensilhouette der Strukturebenen der Sprache. 243

Die Theorie der Tiefenstrukturen, die in den Mittelpunkt der Grammatikrforschung die Semantik rückte, umriß den Kreis der syntaktischen Probleme und Begriffe neu. Sie zeigt ein Interesse f ü r alles Verdeckte (covert), für alles was in der „Oberflächen"-Realisation der Sprache nicht gegeben ist, für die implizite, zugrunde liegende Struktur der sprachlichen Einheiten, sie erstrebt ein universelles Modell, das auf die Beschreibung der Sätze jeder Sprache anwendbar wäre, verweist die sprachlichen Universalien in den Bereich der Semantik und rechnet den Begriff des Sprachtyps zu den „Oberflächen"Manifestationen des allumfassenden Tiefenmodells, zeigt geringeres Interesse für die heuristische Technik, beachtet die empirisch zu entdeckenden und intuitiv zu erfassenden Tatbestände, faßt unter dem Begriff der syntaktischen Relevanz alles, was eine Beziehung zur semantischen Interpretation des Satzes hat, untersucht im Detail die logisch-semantischen Charakteristika der Sätze sowie die logisch-semantischen Beziehungen zwischen den Sätzen, modelliert die Mechanismen zur Erzeugung der lexikalisch-syntaktischen Strukturen der Sprache und hebt im Zusammenhang damit den schroffen Gegensatz zwischen Syntax und Lexik auf, führt den Begriff der Operatoren (Quantoren, Prädikatoren, complementizers 15 usw.) ein, systematisiert die Regeln zur semantischen Interpretation der Sätze (vgl. die Regeln der Projektion, die Regeln der Voraussetzung, die Regeln der logischen Folge usw.), zeigt Interesse für die Typen und Arten der Referenz (Bezugnahme auf den Referenten, das Denotat) der Nomina und Sätze, stellt die semantische Subkategorisierung der Wortklassen und Restriktionen f ü r ihre Verknüpfbarkeit fest, erforscht die Erscheinungen der Rede und der Redesituation (speziell der situativen Voraussetzungen der Äußerungen 16 ), hellt die Prinzipien f ü r den Aufbau eines zusammenhängenden Textes, insbesondere der anaphorischen Vertauschungen 15

Prädikatoren meinen Elemente, mit deren Hilfe man in die Position des Prädikats lexikalische Einheiten setzen kann, die diese Funktion semantisch haben, aber nicht unmittelbar den Platz des Prädikats in der Obelflächenstruktur des Satzes einnehmen können. Zu den Prädikatoren kann man die englischen Verben to have, to do, to make und to give zählen. Der complementizer ist ein Element, das den Satz in die Position des direkten Objekts transponiert (vgl. engl, that, for — to, 's — ing). V P + NP), gliedert Fillmore die Äußerung zunächst in den Modus und die Proposition (S -> M + P). Zusammenfassend kann man sagen, daß zur allgemeinen Theorie der Nomination (Onomatologie) außer der Lexikologie, die die Benennungen der einzelnen Elemente der äußeren und inneren Erfahrung des Menschen behandelt, die Syntax gehört, die die Arten der Bezeichnung ganzer Ereignisse untersucht. Dieser Teil der Onomatologie erörtert den nominativen Aspekt des Satzes und seiner Transforme. Der einfacheren Darstellung halber verwenden wir für den nominativen Aspekt des Satzes und seiner Derivate im weiteren die Bezeichnung „proposifcive Nomination". Die wichtigste Aufgabe dieser Forschungsrichtung ist der Aufbau eines semantischen Satzmodells. Erörtern wir einige Arbeiten, die im Geiste der semantischen Syntax angelegt sind und die Entwicklung der Ideen dieser Richtung darlegen. Gak nahm eine vergleichende Analyse russischer und französischer Sätze, die mit derselben Situation korrelieren, vor und stellte syntaktische Strukturen auf, die der Struktur des Ereignisses isomorph sind. I n ihnen sind Gak zufolge die primären syntaktischen Funktionen der Satzglieder realisiert: Das Subjekt bezeichnet das Handlungssubjekt, das direkte Objekt das Handlungsobjekt, das indirekte Objekt entspricht dem Handlungsempfänger, das Instrumental246

objekt dem Handlungsinstrument. I n solchen Sätzen sind die syntagmatischen Zusammenhänge semantisch, d. h. sie geben die reale Disposition der an der Situation beteiligten Personen und Gegenstände wieder. Gak nennt diese Strukturen Tiefenstrukturen. I n ihnen wird die Situation direkt benannt. Jede Sprache verfügt über ein System von Mitteln zur Umwandlung einer direkten Nomination in eine indirekte und dementsprechend einer Tiefenstruktur in eine Oberflächenstruktur. Gak nennt drei Hauptarten solcher Umwandlungen : 1. die Veränderung der Konfiguration der Aktanten, d. h. die Umwandlung des Schemas der Beziehungen zwischen den Prädikatsgegenständen (,U,iKOHy nocjiajiM i m c b M O 'man schickte J o h n einen Brief -> ^ s k o h nojiy^HJi xihcbmo 'John bekam einen Brief'), 2. die Entfaltung des Prädikats (,H,?koh ryjineT 'John spaziert . . . ' - > fl}KOH coBepinaeT nporyjmy 'John macht einen Spaziergang') und 3. die Einführung eines an der Situation zusätzlich beteiligten Aktanten (b n e w e ryjjejio 'im Ofen pfiff es' -> BeTep ry^eji b n e i K e 'der Wind pfiff im Ofen'). Bei indirekter Nomination wird die Übereinstimmung zwischen den realen und den syntaktischen Aktanten gestört. Das Subjekt bezeichnet z. B. das Handlungsobjekt (bei Passivtransformationen), den Handlungsempfänger (vgl. franz. il reçut une •pierre dans la poitrine, wörtlich: 'er erhielt einen Stein in die Brust') usw. Somit beobachtet man in der Syntax sowie in der Lexik Prozesse der Schaffung übertragener, metaphorischer Bedeutungen und der allmählichen Abschwächung einer ursprünglichen Metapher [15, 82f.]. Da Gaks Untersuchungen auf einem Vergleich russischer und französischer Texte beruhten, sind die von ihm benutzten Transformationen nicht auf die Gestaltung paradigmatischer Reihen von Sätzen nur einer Sprache gerichtet. Diese Aufgabe stellte sich Lomtew. Das von ihm festgestellte syntaktische Paradigma beruht auf dem Merkmal der Umkehrbarkeit der Beziehungen zwischen den Prädikatsgegenständen. Zu einer gemeinsamen Reihe werden Konstruktionen zusammengefaßt, die ein und dieselbe Information über das Denotat enthalten und sich nur durch deren Organisation unterscheiden. Sätze mit verschiedenstelligen Prädikaten haben Paradigmen, die verschieden viele Glieder haben. So können z. B. Sätze mit dreistelligen Prädikaten vier- und achtgliedrige Paradigmen haben. Vgl. die folgende viergliedrige Serie: 1. K O M a H flHp Bpyiiiji ßofiijy o p n e H 'der Kommandeur überreichte dem Kämpfer einen Orden', 2. K O M a u ß H p HarpaflHJi 6oftu;a o p n e H O M 'der Kommandeur zeichnete den Kämpfer mit einem Orden aus', 3. KoaiaH^HpoM o p n e H B p y n ë H öofiny 'durch den Kommandeur wurde der Orden dem Kämpfer überreicht', 4. KOMaHßiipoM Goeu, narpaHîRëii opjjeHOM 'vom Kommandeur wurde der Kämpfer mit einem Orden ausgezeichnet' [34, 113]. Die Operation, die Gak als Veränderung der Konfiguration der Aktanten bezeichnete, erhielt bei Lomtew die Bezeichnung Konversion der Beziehungen zwischen den Prädikatsgegenständen und wurde auf die grammatischen Umwandlungen im Verb begrenzt (wie übrigens das angeführte Paradigma zeigt, darf sporadisch das eine Verb durch ein anderes ersetzt werden). Schließlich bezeichnete Cholodowitsch, der die Sätze mit unterschiedlicher Verteilung der Aktanten, aber gleichem semantischem Inhalt untersuchte, diese Erscheinung mit „Diathese". Es handelt sich um das Schema der Entsprechungen 17'

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zwischen den Einheiten der syntaktischen Ebene (den Positionen) und den Einheiten der semantischen Ebene. Das Modell der semantischen Ebene hat Cholodowitsch allerdings nicht vollständig expliziert. Das Genus verbi im engeren Sinne definiert er als die grammatisch merkmalhaltige Diathese, bei der die Übereinstimmung zwischen den syntaktischen und den semantischen Einheiten regelmäßig im Verb bezeichnet wird [57, 13]. Cholodowitschs Diathese entsteht genauso wie Lomtews Paradigma durch eine Veränderung der Beziehungen zwischen den Nominalgliedern des Satzes. Von nichtsowjetischen Autoren wurde das gängigste Modell der Proposition von Fillmore unter der Bezeichnung „Kasusgrammatik" vorgeschlagen (seine Veröffentlichungen erscheinen seit der Mitte der 60er Jahre). Während Gak die „Tiefenstruktur" noch als die natürlichste und direkte sprachliche Art, ein Ereignis zu bezeichnen, verstand, rechnet Fillmore die Kategorien der Tiefensyntax bereits völlig eindeutig zur Semantik. Die Proposition besteht Fillmore zufolge aus einem Verbalkern und gleichberechtigten Nominalpartnern oder Argumenten, die nach ihrer semantischen Rolle gegenüber dem Prädikat, oder, wie er sich ausdrückt, nach dem Tiefenkasus gekennzeichnet sind. Die „Kasus" sind semantisch elementar und unterliegen keiner weiteren Analyse. Jeder Kasus kann im Prinzip nur einmal zur Struktur einer Äußerung gehören. I m Nominalrahmen der Verben kann man obligatorische und fakultative Kasus unterscheiden. Die Bedeutung des Verbs hängt unmittelbar davon ab, zu welchen Kasusumgebungen es gehören kann. Fillmore variierte die Menge von Emplois, mit deren Hilfe er die Proposition beschreibt, mehrfach. Sein ausführlichster Artikel „The case for case" verzeichnet die folgenden Rollen: Agentiv (A) — das beseelte Agens der Handlung, Dativ (D) — die Person, die durch den Zustand bzw. die Handlung berührt wird, Instrumental (I) — die unbeseelte K r a f t bzw. der in die Handlung einbezogene Gegenstand, Faktitiv (F) - der Gegenstand bzw. das Wesen als Handlungsergebnis, Lokativ (L) — der Ort der Handlung bzw. ihre lokale Orientierung, Objektiv (0) — der durch die Handlung erfaßte Gegenstand (in der ersten Variante hieß dieses Emploi Ergativ). Das' Objektiv ist der semantisch unbestimmteste Kasus, seine Funktion hängt direkt von der Semantik des Verbs ab. Bei der Analyse konkreter Sätze verwendet Fillmore sporadisch auch andere Kasus [79, 24-25]. Fillmores Modell ist nicht frei von Schwächen. I n dem Bestreben, die semantisch elementaren Funktionen der Argumente aufzuhellen und auf der Grundlage der Struktur des bezeichneten Ereignisses untersucht Fillmore den Kern des s y n t a k t i s c h , aber n i c h t s e m a n t i s c h einfachen Satzes mit Prädikaten, die sowohl ein Ereignis als auch zwei Ereignisse bezeichnen. Andererseits grenzt- Fillmore nicht in der erforderlichen Weise die semantisch einfachen (gegenständlichen) Argumente von den Argumenten ab, die ein Ereignis bezeichnen und die Nominalisierung eines Satzes darstellen. Eine weitere Lücke in Fillmores Theorie ist das Fehlen von Prinzipien f ü r die Unterscheidung und Identifizierung der syntaktischen Emplois. Fillmore schlägt keinerlei linguistische Prozeduren zur Identifizierung der Kasus vor, er verweist lediglieh auf die durch den Satz bezeichnete Situation. Während 248

jedoch die denotative F u n k t i o n des Arguments leicht identifizierbar ist, wenn n u r die Aktantenkonfiguration u n d die Form des P r ä d i k a t s (vgl. die Passivkonstruktionen), aber nicht seine lexikalische Bedeutung geändert werden, ist diese Aufgabe komplizierter, wenn die Rolle des einen oder anderen Arguments in den lexikalischen I n h a l t des Verbs „hineinwächst" (vgl. die lexikalischen Kausativa, die Konversive usw.). Schon die Verben mit sich verändernder Kasuszahl (etwa engl, to open, to break) bereiten Schwierigkeiten. Der zweite Teil der Kasusgrammatik beschreibt die Mechanismen zur Wahl der „offenen" oder Oberflächenkasus f ü r den Ausdruck semantischer Funktionen. Hierzu gehören die Regeln f ü r die Topikalisierung (Bestimmung u n d entsprechende Gestaltung des Mitteilungsthemas), die Subjektivierung (Wahl des „Kasus" f ü r die Rolle des Subjekts), die Objektivierung (Wahl des „Kasus" f ü r die Ausfüllung der Stelle des direkten Objekts), die Regeln f ü r die Wahl einer Präposition oder einer präpositionalen Kasusform, die Regelung der linearen Anordnung und einige andere Umwandlungen. Zum Abschluß der allgemeinen Charakteristik der Kasusgrammatik Filimores sei ein kleines F r a g m e n t aus ihr angeführt. Die S y n t a x des englischen Verbs to open ist folgendermaßen beschreibbar: Dieses Verb erfordert einen Objektiv, läßt die Anwesenheit eines Instrumentals und bzw. oder eines Agentivs zu. Seine Tiefenstruktur h a t die Formel: V[0(I, A]). Wird in der Äußerung n u r der Objektiv realisiert, so n i m m t er automatisch die Position des Subjekts ein (the door opens). Ist außerdem noch ein Instrumental vorhanden, so k a n n die Position des Subjekts von dem einen oder dem anderen eingenommen werden (the door will open with this key — this key will open tlie door). Liegt ein Agentiv vor, so wird der I n s t r u m e n t a l in die Position des Präpositionalobjekts versetzt (the janitor will open the door with the key). Der Objektiv k a n n die Stelle des Subjekts auch dann einnehmen, wenn Instrumental u n d Agentiv vorhanden sind, das erfordert aber die Versetzung des Verbs ins Passiv: the door was opened by the janitor with the key.

Die zwei F u n k t i o n e n der s y n t a g m a t i sehen O r g a n i s a t i o n des S a t z e s : N e n n u n g des Ereignisses u n d A u s d r u c k der k o m m u n i k a t i v e n A u f g a b e Der nominative Aspekt des Satzes, der im Mittelpunkt der dargelegten S y n t a x systeme stand, verdrängte in ihnen nicht nur den ganzen Komplex von E r scheinungen, die mit der Aktualisierung der Äußerung zusammenhängen, sondern auch die kommunikative Orientierung des Satzes in den Hintergrund. Indessen darf m a n beim Studium der Satzstruktur nicht vergessen, d a ß der A u f b a u der syntagmatischen K e t t e mindestens zwei inhaltlichen F u n k t i o n e n der Sprache untergeordnet ist 1 7 — der Benennungsfunktion zur Bezeichnung der Situation u n d der kommunikativen F u n k t i o n zur Markierung des K e r n s 17

Wenn man natürlich den Bezug der Äußerung zum Sprecher unberücksichtigt läßt; der Bezug wird durch die Beteiligung der Kategorie der Person an der Kongruenz von Subjekt undTrädikat erreicht.

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und des Gegenstandes, des Themas der Mitteilung in der Äußerung. Mit dem Mitteilungsthema ist das gemeint, „was in der betreffenden Situation bekannt ist oder in ihr zumindest leicht verstanden werden kann und wovon der Sprecher ausgeht" [116, 234], mit dem kommunikativen Kern das, „was der Sprecher über den Ausgangspunkt der Äußerung . . . mitteilt" [116, 234; 29], Die erste Funktion der syntagmatischen Organisation hängt vorwiegend mit den Beziehungen zwischen den sogenannten zweitrangigen Satzgliedern zusammen, die zweite bestimmt stärker die Ausfüllung der Positionen durch die Hauptglieder des Satzes. Deshalb verknüpft man gewöhnlich die Benennungsfunktion in der Syntax mit der Kategorie der Wortgruppen und die kommunikative Funktion mit der Kategorie des durch die prädikativen Beziehungen gestalteten Satzes. Da die Positionen der Hauptglieder des Satzes kommunikativ signifikativ sind, widerspiegelt ihre Ausfüllung bei weitem nicht immer die Struktur der Situation. Selbst eine ganz allgemeine Kenntnis des Sprachmaterials zeigt, wie breit und unbestimmt der denotative Inhalt des Subjekts ist (Näheres bei Alissowa [3, 86—88]). Subjekt kann die Benennung jedes Aktanten, aber auch jede beliebige Komponente sein, die bei der Gliederung des Sinns einer Mitteilung sichtbar wird. Wie bereits vermerkt, erklärt sich durch die kommunikative Rolle des Subjekts teilweise die Entwicklung besonderer grammatischer Arten der Verlagerung des Handlungsobjekts in seine Position (die Passiv- und die Reflexiv-Passiv-Konstruktionen) sowie das Vorhandensein von Verben, die ein und dieselbe Handlung nach ihrer Beziehung zu den verschiedenen Aktanten benennen. Auch die Position des Prädikats wird häufig nach den kommunikativen Zielen der Mitteilung ausgefüllt und ist bei weitem nicht auf den Namen derjenigen Handlung beschränkt, die die zu bezeichnende Situation organisiert. So kommt es, daß es in vielen Sprachen (vor allem in den Sprachen mit fester Wortstellung) die sogenannten emphatischen Konstruktionen gibt, die dazu dienen, die Benennungen der Aktanten in die Position des Prädikats zu versetzen und so zum kommunikativen Kern der Mitteilung zu machen. Vgl. franz. c'est vous que j'aime 'Sie liebe ich', ital. son io che ho mandato a chiamarvi 'ich war's, der Sie rufen ließ', span. COM quien ella deseaba ajustar cuentas era con el tio Lucas 'mit Onkel Lukas wollte sie abrechnen', engl, it is John who has come 'John war (ist) gekommen'. Aber obwohl Subjekt und Prädikat semantisch unbestimmt sind und von den Zielen der Kommunikation abhängen, sind ihre Positionen nicht völlig entsemantisiert, gegenüber der Struktur des zu bezeichnenden Ereignisses nicht indifferent. Häufig verwendet der Sprecher die einfachsten und bequemsten Arten, das Ereignis zu benennen, indem er durch ein Verb die Handlung und durch das Subjekt den Handelnden wiedergibt. Die nominative Funktion des Satzes wird f ü r seine grammatische Struktur ausschlaggebend, während die kommunikative Aufgabe (wenn sie nicht der grammatischen Struktur des Satzes entspricht) durch syntaktische Hilfsmittel wiedergegeben wird — durch die Wortstellung, die Intonation, die Verteilung der Akzente, die Ellipse. Statt zu fragen „wer ist derjenige, der gekommen ist?" (vgl. franz. qui est ce qui est arrive?), fragt man einfach „wer ist gekommen?" und betont dabei das 250

Fragepronomen, und statt bei der Antwort eine komplizierte grammatische Struktur zu verwenden wie „derjenige, der gekommen ist, ist Iwan", sagt man einfach „Iwan" oder „Iwan ist gekommen". Die grammatische Syntax (die Syntax im engeren Sinne) wird also von der sogenannten aktuellen (exakter, der kommunikativen) Syntax überlagert. Der Mechanismus der Situationsbenennung wird vom Mechanismus, der der kommunikativen Aufgabe dient, abgegrenzt. Die vorhin als kommunikativ gekennzeichneten Paradigmaglieder mindern ihre wechselseitige Opposition nach dem kommunikativen Merkmal und treten als verschiedene syntaktische Benennungen desselben Ereignisses auf. Die Wahl des Satzes mit der einen oder anderen Struktur aus der paradigmatischen Reihe wird dabei nicht so sehr durch die Heraushebung des Kerns und des Themas der Mitteilung als vielmehr durch andere Faktoren, die ebenfalls zum kommunikativen Bereich gehören, bestimmt. So kann z. B. die Entfernung des Handelnden aus der Benennung der Anlaß dazu sein, eine Passivkonstruktion zu wählen (über die Ursachen für die Wahl von Passivformen schreibt Jespersen [96, 167—168]). Wie wichtig f ü r die kommunikativen Ziele die Funktionen der zwei Bestandteile des Satzes auch sind, fehlt den syntaktischen Positionen des Subjekts und des Prädikats also nicht die Orientierung auf die Struktur der Situation. Die nominative Funktion ist nicht auf den Bereich der Wortgruppe und die kommunikative Funktion nicht auf die Beziehungen zwischen den Hauptgliedern des Satzes beschränkt. Vor allem darf man nicht die funktionale Dualität von Subjekt und Prädikat aus dem Auge verlieren, deren Positionen bald nach der kommunikativen Aufgabe, bald im Einklang mit der Struktur des Denotats besetzt werden.

Die Wechselwirkung zwischen n o m i n a t i v e m u n d k o m m u n i k a t i v e m Aspekt des Satzes Beim Konstruieren einer Äußerung besteht eine ständige und komplizierte Wechselwirkung zwischen ihrem onomatologischen (Benennungs-) Aspekt und dem Mechanismus, der die kommunikative Aufgabe realisiert. I n den Vordergrund rückt bald die eine, bald die andere Funktion der syntagmatischen Organisation des Satzes. Sieht man von einigen zusätzlichen Faktoren ab, so könnte man sagen, daß in dem eigentlich verbalen (nicht nur eine Kopula enthaltenden) Satz häufiger der nominative Aspekt dominiert. Die kommunikative Aufgabe wird möglicherweise in der Wahl eines Verbs sichtbar, das die eine oder die andere Richtung der Handlung ausdrückt, d. h. in die Benennung selbst eindringt; vgl. der Vater gab dem Jungen die Erlaubnis (bei der Alternative der Junge bekam die Erlaubnis vom Vater). I n den Sprachen mit freier Wortfolge ist die Wahl der Struktur des Satzes mit einer Verbform stärker durch die Eigenschaften des Denotats — des zu bezeichnenden Fragments der Wirklichkeit — bedingt. Die kommunikativen Funktionen des Subjekts (des Themas, der Grundlage der Mitteilung) und des Prädikats (dessen, was mitgeteilt wird) sind abgeschwächt, in den Hintergrund 251

gedrängt. Der grammatische Aufbau ist automatisiert. Die kommunikative Aufgabe wird, wie bereits gesagt, häufig durch eine elastischere kommunikative Syntax wiedergegeben, die auf der formalen Syntax aufgebaut und, wie manche Autoren meinen, eine besondere logisch-grammatische Ebene des Satzes bildet [42, 162f.]. Die Nennung des Ereignisses u n d die kommunikative Gliederung der Äußerung (nach Mathesius die Aktualisierung) isolieren sich, werden loser. I m Russischen äußert sich das z. B. so, daß die Kategorie der Affirmation bzw. Negation von den im verbalen Prädikat ausgedrückten Kategorien des Modus u n d T e m p u s unabhängig ist. Gerade diejenige Kategorie, die ihrer N a t u r nach von der Prädikation (vom Bezug des Merkmals zur Realität) unlösbar ist, wird also autonom, indem sie die Verbindung zum P r ä d i k a t abbricht u n d sich mit jedem beliebigen Satzglied vereinigt, das auf der Ebene der kommunikativen Syntax das R h e m a ist [31]. Die dominierende Rolle des nominativen Aspekts in den russischen Sätzen mit einer Verbform zeigt sich auch im Vorhandensein einer großen Zahl zweigliedriger, aber kommunikativ ungegliederter Sätze, die sich ein „dynamisches Gleichgewicht" halten [26, 16]. Auf die Ungegliedertheit vieler Verbsätze machte bereits Schtscherba aufmerksam, er schrieb nämlich: „Ferner beobachten wir Äußerungen, mit denen ausgedrückt wird, wie wir die Wirklichkeit zum Zeitpunkt der Rede apperzipieren, d. h. einen Ausschnitt der Wirklichkeit erkennen u n d ihn unter die in der jeweiligen Sprache vorhandenen allgemeinen Begriffe subsumieren: CBeTaeT 'es dämmert", n o w a p 'Feuer', ropiwi 'wir brennen', C O J I H H I H K O npwrpeBaeT 'die liebe Sonne wärmt schön', BopoÖLiniKn HiipiiKaiOT 'die Spatzen zwitschern', Ha nporajiHHKe TpaBKa 3 E J I E H E E T 'auf der Lichtung grünt Gras', Kor^a TOCTH n o ß t e x a j i n K KpHJibijy, Bce BtiCLinaJin HX BCTpenaTb 'als die Gäste a n d e r E i n f a h r t a n g e k o m -

men waren, strömten alle hinaus, sie zu begrüßen';

N O R I . E 3 J K A H K K P H J I M Y , MBI

eine H3RajiH 3aMeTnjin Ha höm noflHtHaaiomHx Hac xosneB ' a l s w i r u n s d e m T o r

näherten, sahen wir schon von weitem die uns dort erwartenden Wirtsleute'; M H BOIUJIH B KOMHaTy, R^e iKUJia ijejiaH centH 'wir betraten das Zimmer, in dem eine ganze Familie wohnte"" [62, 10]. Was Schtscherba als die „Subsumierung unter einen allgemeinen Begriff" bezeichnet, entspricht der Benennung eines Fragments der Wirklichkeit. Das Zurücktreten der kommunikativen Rolle des Subjekts u n d des Prädikats des Satzes, die Automatisierung des grammatischen Aufbaus erfordert zusätzliche Mittel bei der Wiedergabe der kommunikativen Aufgabe, selbst wenn sie sich mit der grammatischen Struktur des Satzes deckt. I n der T a t wird dabei die Gegliedertheit in Subjekt u n d Prädikat durch eine Pause, durch eine unterbrochene Intonation hervorgehoben. Manche Autoren, die einen besonderen Sinn f ü r das gesprochene Wort haben, deuten diese Intonation in der Schrift, allerdings im Widerspruch zu den Regeln der russischen Zeichensetzung, durch einen Gedankenstrich an, z. B. MOH J U O Ö H M H E yHeHHKH — coöpaJincb cero^HH y MeHH Ha KBapTHpe 'meine lieben Schüler — haben sich heute in meiner Wohnung versammelt' [60, 10]. Einen Gedankenstrich vor einem persönlichen Verb findet man manchmal auch bei Schriftstellern, die von ihrem Leser ein „Hörkunststück" verlangen. Dieser Methode bedient sich regelmäßig z. B. Bely, u m dem Leser, wie er sich selbst ausdrückt, seine Stimme durch den Klang der Wörter und 252

die Verteilung der Satzteile zu suggerieren 18 ; so z. B. M u — n03HaK0MHJiiici>. H noceTHJi ero ' W i r — machten uns bekannt. I c h besuchte ihn'. M H — B3flporHyji: OHa nonajia B T o i n y Moeft T o r n a i i i H e i i 6 o j i e 3 H i i 'Und ich — fuhr zusammen; sie hatte meine damalige Krankheit erraten'. H — CflepjKajiCH 'Ich — tat es nicht'. B O T npn.NET r o c n o f l H H o t f i i m e p : OH — p a c c y ^ H T 'Gleich kommt der Herr Offizier: er wird — die Entscheidung treffen'. II BOT OH — r r p u u i e j i 'Und dann — kam er' 1 9 . Das Abrücken der kommunikativen Struktur des Satzes von seiner Formgebung ist viel weniger bei Sätzen mit einer Kopula sichtbar, in denen also das Denotat keine Handlung ist. I n solchen Sätzen beobachtet man seltener Verschiebungen zwischen ihrem formalen und ihrem kommunikativen Mechanismus, deckt sich das Prädikat meistens mit dem, was mitgeteilt wird. Die Unterscheidung zwischen nominativem und kommunikativem Aspekt des Satzes ist relevant bei der Lösung verschiedener strittiger Fragen der Syntax. So hängt z. B. die Bestimmung der Kernstruktur (Minimalstruktur), der „ F o r m e l " des Satzes unmittelbar davon ab, welcher Aspekt — der nominative oder der kommunikative — Modellierungsobjekt ist. Handelt es sich um die kommunikative Seite des Satzes, so erlaubt es das Gliederungsprinzip nicht, in ihm mehr als zwei Bestandteile zu unterscheiden — dasjenige, was mitgeteilt wird, und dasjenige, wovon eine Mitteilung gemacht wird (wie es in der Schulgrammatik heißt). Jedes dieser Glieder kann in reduzierter oder syntagmatisch entfalteter Form repräsentiert sein. Die nominative Auffassung des Satzes verlagert das Problem seiner Zusammensetzung, seiner Strukturformel auf die semantische Ebene. Wird die Situation vom Sprecher nicht gegliedert, so kann die Nomination eingliedrig sein (^ojKflb 'Regen', 'es regnet'; CßeTaeT 'Es dämmert'). Das Russische begnügt sich mit der nominativischen Vollständigkeit eines Satzes, während in verschiedenen anderen Sprachen (im Englischen, Französischen usw.) das dominierende Prinzip der Organisation des Satzes seine strukturelle Vollständigkeit ist 20 . Wird die Situation gegliedert bezeichnet, so enthält der Satz außer dem Prädikat Ergänzungen, die dem Verb gegenüber je nach dem Grad der semantischen Notwendigkeit unterschiedliche Stellungen einnehmen: vom Subjekt und direkten Objekt bis zu den Adverbialbestimmungen des Zweckes, der Ursache, der Bedingung und der Einräumung. Die Unterscheidung zwischen Objekten und Adverbialbestimmungen beruht gewöhnlich auf semantischen

18 19

A. Bentiii. MacKii. Mocraa 1932, CTp. 10. Die Beispielsätze stammen aus: A . BeJiuii. Metftsy auyx peBOjnomiii; A. Benwü. Hanano Bena.

20

Stepanow nennt diese Eigenschaft „strukturelle Geschlossenheit" des Satzes. Nach diesem Merkmal kann man den französischen Satz dem „strukturell offenen" russischen Satz gegenüberstellen. Bei Reduktion gestattet der russische Satz ein Abbrechen praktisch nach jedem seiner Wörter, während man im Französischen den Satz nur selten „schließen" kann, wenn man in ihn kein Zeichen der strukturellen Geschlossenheit (Vollständigkeit) aufnimmt. Der von Stepanow angeführte aus elf Wörtern bestehende französische Satz hat nur drei, seine russische Entsprechung aber acht Stellen, an denen man einen Punkt setzen kann und dabei eine grammatisch zulässige Äußerung erhält [55, 35-36],

253

Kriterien: Diejenigen Elemente, die von der Semantik des Verbs gefordert werden, gelten als Objekte, und die Glieder, deren Anwesenheit für die semantische Sättigung des Verbs nicht obligatorisch sind, gelten als Adverbialbestimmungen. So enthalten Wortgruppen wie noexaTb B Kues ('ßOMOii, ciojja) 'nach Kiew (nach Hause, hierher) fahren', 3aHHMaTBCH c ßeTbMH 'sich mit (den) Kindern beschäftigen', jiioßoBaTbCH BeiepoM 'den Abend genießen' Objekte, weil die Semantik der regierenden Verben „gebieterisch ein Objekt fordert" [61, 99]. Von der Nomination her kann also das Satzminimum als Grenze der semantischen Autonomie, der Tauglichkeit zur Erfüllung der Benennungsfunktion gelten. Die Objekte müssen dementsprechend zu den Hauptgliedern (den notwendigen Gliedern) des Satzes gerechnet werden. Indessen darf man die nominativische Auffassung des Satzes nicht darauf beschränken festzustellen, wie eng (obligatorisch) die semantischen Beziehungen sind. Es ist auch nützlich zu klären, wie sich in der Struktur der syntaktischen Nomination die Struktur der durch den Satz bezeichneten Situation wider-spiegelt. Unter diesem Gesichtspunkt ist der denotative Sinn der Beziehungen, der z. B. in den Wortgruppen npiiexaTb B KiieB 'in Kiew ankommen' und iHTaTb Kimry 'ein Buch lesen' realisiert wird, verschieden; in der ersten Wortgruppe bezeichnet das Objekt den Endpunkt einer zielgerichteten Bewegung, in der zweiten das Objekt einer Handlung. Die Frage nach der syntaktischen Funktion der adverbialen Glieder im Satz hat also zwei Seiten — die Bestimmung, inwiefern sie für das Verb semantisch notwendig sind, so daß die Nomination in ihre unmittelbaren Bestandteile gegliedert werden kann, und die Bestimmung des denotativen Inhalts der syntagmatischen Zusammenhänge, ihrer Beteiligung an der Bildung der Bedeutung einer komplizierten Benennungseinheit. Der Begriff des Objekts vom Standpunkt der semantischen Nähe zum Verb deckt sich nicht immer mit dem Begriff des Handlungsobjekts, der mit Rücksicht auf den denotativen Satzinhalt bestimmt wird. Linguisten streiten schon lange darüber, ob man das Subjekt den Objekten •schroff gegenüberstellen darf. Sieht man im Satz die zusammengesetzte Nomination eines Ereignisses, so kann man denjenigen Linguisten beipflichten, die einer solchen Gegenüberstellung keine allzu große Bedeutung beimessen möchten. Wendet man sich dagegen der kommunikativen Seite des Satzes zu, so wird diese Gegenüberstellung ausschlaggebend, denn im Subjekt ist im allgemeinen die Funktion des Mitteilungsthemas grammatisch verankert, während die Objekte zum Verband des Prädikats (des Mitzuteilenden) gehören und in der kommunikativen Struktur des Satzes, die durch Binarität gekennzeichnet ist, keine selbständige Rolle spielen. Dominiert natürlich in der Struktur des Satzes •sein nominativer Aspekt, so wird diese Opposition geschwächt, ist sie aber rein grammatisch sehr wesentlich. Daß manche strittigen Probleme der syntagmatischen Organisation des Satzes Alternativlösungen haben, hängt mit ihrer Kompliziertheit zusammen, im vorliegenden Falle mit der Wechselwirkung zwischen nominativem und kommunikativem Aspekt des Satzes. Die Bevorzugung der einen oder anderen Alternativlösung hängt davon ab, welchen Aspekt des Satzes man als seine Dominante ansetzt. .254

Die Spezifik der propositiven N o m i n a t i o n Nachdem wir die nominative Funktion des Satzes in bezug auf das Ereignis oder die Situation behandelt haben, wollen wir uns nun dem Wesen der „propositiven" Nomination, ihren Spezifika zuwenden. Den Unterschied zwischen der Bedeutung des Wortes und der Bedeutung des Satzes sieht man zuweilen darin, daß das Wort (bzw. die Wortgruppe) bei der Bildung einer Äußerung und in Korrelation mit der realen Situation mehrere situativ bedingte, zusätzliche „Sinngehalte" erhält, die die kommunikative Absicht des Sprechers wiedergeben und vom Angesprochenen adäquat wahrgenommen werden. Während so das Wort Regen an sich nur eine bestimmte Naturerscheinung bezeichnet, kann die Äußerung Regen! auch verschiedene zusätzliche Sinngehalte haben. Sie kann z. B. heißen: „Schau, Mary, es regnet. Wir werden auf den Spaziergang verzichten und zu Hause bleiben müssen" [82, 80]. Daß es Unterschiede zwischen den sprachbedingten und den redebedingten (den kommunikativen) Bedeutungen gibt, steht außer Zweifel. Die Aufgabe, sie zu untersuchen, macht es aber nicht gegenstandslos, die semantische Spezifik der verschiedenen Struktureinheiten der Sprache aufzuhellen. Manchmal wird der Standpunkt vertreten, die Spezifik der Benennungsfunktion des Satzes sei dadurch bedingt, daß sich der Satz als aktualisiertes sprachliches Zeichen unmittelbar auf das Denotat, auf die reale Situation außerhalb der Sprache beziehe. Daher sei das Bezeichnete des Wortes das Designat (Signifikat), d. h. ein gewisser verallgemeinerter Begriff, und das Bezeichnete des Satzes das Denotat (der Referent), d. h. ein Einzelereignis. Der Satz sei also monosem, er drücke keinen Begriff aus, der an der Gliederung der Wirklichkeit durch die betreffenden Sprachträger beteiligt wäre. Der Sinn des Satzes sei nicht im Sprachkode verankert. Diese an sich richtige Beobachtung gilt aber für jegliche syntaktische Nomination. Auch die ad hoc gebildete freie Wortgruppe ist semantisch nicht stabil und drückt keinen kodifizierten Begriff aus. Sie ist gewöhnlich eindeutig wie der Satz, denn die Aufhebung der Polysemie ergibt sich aus dem Eingebettetsein des Wortes in den Kontext und erfordert nicht unbedingt, daß sich die Einheiten der Nomination auf das Denotat beziehen. Außerdem hängt die nominative Zusammensetzung des Satzes nicht obligatorisch mit dem Mechanismus der Aktualisierung zusammen, der die Nomination zum realen Ereignis in Beziehung setzt. Der Satz kann seine Eigenschaften, eine autonome kommunikative Einheit zu sein, einbüßen, während seine Benennungsfunktion erhalten bleibt. Hinreichend evident wird diese Erscheinung bei der Transposition eines Satzes in eine abhängige syntaktische Konstruktion; vgl. Hpyakfi BCTPETHJIHCB nocjie B O H H H 'die Freunde trafen sich nach dem Kriege - > n o c j i e B o e H H a f l B C T p e i a Apyseii ömia p a ß o C T H o i i 'das Treffen der Freunde nach dem Kriege war freudvoll'; ICJIOBEK flojiro 6 H J I H a CeBepe 'der Mann war lange im Norden' ->• ß o j i r o e n p e ß H B a m i e n e j i O B e K a Ha CeBepe c K a 3 a j i o c b Ha ero xapaKTepe 'der lange Aufenthalt des Mannes im Norden prägte seinen Charakter' oder B 6 H T H O C T B CBOIO Ha CeBepe NEJIOBEK MHOTO N O B H ^ A J I 'während seines Aufenthalts im Norden hatte der Mann vieles zu sehen bekommen'. Der letzte 255

Satz zeigt besonders deutlich, daß das Verbalsubstantiv eine transpositive Funktion hat: Das Substantiv Ö H T H O C T B 'Aufenthalt' gibt es im Russischen eigentlich nicht. Die in eine nominale Position transponierten Sätze sind kommunikativ nicht mehr autonom, in ihnen lassen sich Thema und Rhema nicht mehr voneinander abgrenzen, ist aber ihr nominativer Inhalt der gleiche geblieben. Was wir als „propositive" Nomination bezeichneten, ist also nicht nur eine Eigenschaft des Satzes, sondern auch mancher Wortgruppen. Die Spezifik der propositiven Nomination ist offenbar das Allgemeine, das man in der semantischen Struktur des Satzes und der transponierten Konstruktionen findet. Man vergleiche die folgenden Sätze mit ihren Transformen: MaJihHHK HHTaeT KHHry 'der Junge liest ein Buch' -> HTemie MaJibiHKOM K H I I H I 'das Lesen eines Buches durch den Jungen' (aber nicht: iHTaromnii K H H r y MajibiHK 'der ein Buch lesende Junge'); eé rjia3a Jiy l ie3apHH 'ihre A u g e n s t r a h l e n ' -> jiyiesapHOCTb eé rjiaa 'das S t r a h l e n ihrer A u g e n '

(aber n i c h t :

eé j i y i e 3 a p H b i e

rjia3a 'ihre strahlenden

Augen');

IleTp ejjeT ÖHCTpo ' P e t e r f ä h r t schnell' —> ÖHCTpan ea^a IleTpa ' P e t e r s schnelle F a h r t ' (aber n i c h t : ÖHCTpo e^ymi-iii IléTp 'der schnell f a h r e n d e P e t e r ' ) ; ero ÖHCTpan e3,a,a onacHa 'seine schnelle F a h r t ist g e f ä h r l i c h ' -> onacHoeTb e r o

ÖHCTpofi e3jji.i 'das Gefährliche seiner schnellen Fahrt' (aber nicht: ero onacHaa ÖHCTpan eap;a 'seine gefährliche schnelle F a h r t ' ) .

Das Strukturmerkmal, das die zu vergleichenden Konstruktionen semantisch vergleichbar macht, besteht darin, daß sie ein gemeinsames Kernelement haben. Durch die Transposition verwandelt sich das zentrale Element des Satzes als der kommunikativen Einheit — sein Prädikat — in den K e r n einer nominativen Einheit. (Vgl. die Beispiele bei Kurylowicz [100, 183].) Mit dem nominativen K e r n einer Wortgruppe meint man das Wort, das die semantische Klasse bezeichnet, zu der die Bedeutung der ganzen Wortgruppe gehört. Der nominative Kern braucht nicht das syntaktische Hauptglied der Konstruktion zu sein. I n der Wortgruppe Kimra 6paTa 'das Buch des Bruders' ist das W o r t KHnra 'das Buch' zugleich das strukturelle und das nominative Zentrum. Anders verhält es sich mit einer Wortgruppe wie KHJIO xjieöa 'ein K i l o Brot', ÖOKaji BHHa 'ein Glas Wein' usw. Das syntaktisch zentrale Element — KHJIO, ÖOKAJI — deckt sich nicht mit dem nominativen Kern der Wortgruppe, denn die Bedeutung der Konstruktion gehört zu derjenigen semantischen Klasse, zu der die Bedeutung der syntagmatisch subordinierten Substantive — xjieö, B H H O — gehört. Vgl. Sätze wie Btmuji GonaJi BHHa 'er trank ein Glas Wein' (d. h. Btmuji B H H O 'er trank Wein', nicht SOKAJI 'ein Glas'), c i e j i KHJIO xjieGa 'er aß ein K i l o Brot' (d. h. ci>eji xjieö 'er aß Brot', nicht KHJIO 'ein Kilo'), pa3JiHJi Goita.n BHHa 'er vergoß ein Glas Wein' (d. h. p a 3 J i H J i B H H O 'er vergoß Wein', nicht SoKaji 'ein Glas'). Übrigens kann sich bei anderem Gebrauch dieser W o r t gruppen das syntaktische Zentrum mit dem Zentrum der Nomination decken; vgl. onpoKHHyji SoKaji BHHa, ocymiwi ÖOKÜJI BHHa 'er stieß das Glas Wein um, er leerte das Glas Wein [Weinglas]'. Die kommunikative Zusammensetzung des Satzes ist für das Wesen der propositiven Nomination nicht belanglos. Man kann offenbar sagen, daß die kommunikative Struktur des Satzes — die Markiertheit des Rhemas in ihm —

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seine nominative Struktur so beeinflußt, daß das kommunikative Zentrum zugleich zum Kern der Nomination wird. Da das Prädikat des Satzes das auf den Gegenstand bezogene Merkmal (die Qualität, Eigenschaft oder die Handlung) bezeichnet, benennt auch die substantivierte Konstruktion, die mit dem ganzen Satz und nicht mit seinem prädikativen Teil korreliert, die Eigenschaft oder Handlung. Das Bezeichnete der Konstruktion gehört zu derselben semantischen Klasse wie das Bezeichnete des in seinem nominativen Aspekt aufgefaßten ganzen Satzes. Das Denotat des Satzes kann also zum Unterschied vom Denotat des Wortes (eines Substantivs) grundsätzlich kein „Ding", kein konkreter Gegenstand sein. I n diesem Sinne bildet die N o m i n a t i o n d e s E r e i g n i s s e s eine Opposition zur N o m i n a t i o n d e s G e g e n s t a n d e s . Versteht man unter dem Denotat nur einen konkreten Gegenstand (wie es im System der logischen Semantik geschieht), so hat der onomatologisch betrachtete Satz überhaupt keinen denotativen Bezug 21 , hat er so wie die Abstrakta einen „Null-Anwendungsbereich" [100, 183]. Die Prädikation der nominativen Einheiten (der Wörter), ihr Bezug zur Realität verleiht ihnen nicht nur einen kommunikativen Wert, sondern hat auch eine radikale Wandlung ihrer nominativen Natur zur Folge. Das beruht speziell darauf, daß die Rückverwandlung der Benennungssätze in einen „nichtprädikativen Zustand" nicht zu einer Rückkehr zum ursprünglichen „nominativen Material" führt. Der Benennungssatz Fayneu;! 'Dummkopf!', an den Gesprächspartner gerichtet, entspricht semantisch der Wortgruppe T O , I T O TBL rjiyneij 'daß du ein Dummkopf bist', T B O H r.nynocT£> 'deine Dummheit' und nicht dem Substantiv rjiyneu; 'Dummkopf', r j i y n e q ! -> To, HTO TU rayn, [ T B O H rjiynocTb] BceM H3BecTH0 [-a] 'Dummkopf!' -> 'Daß du d u m m bist (deine Dummheit), ist allen bekannt". Vgl. engl, fool — Fool! -» Your being a fool (your foolishness) is known everywhere. Somit verliert der nominative Satz bei unmittelbarer Nennung des Gegenstandes seine konkrete gegenständliche Bedeutung.' I n einen Satz verwandelt, wird das Substantiv von einem Namen des Gegenstandes zu einem Namen seiner Eigenschaften. Bei direktem Bezug zum Denotat verliert es seine Gegenständlichkeit, ist es kein Zeichenvertreter eines „Dings" mehr. Der abstrakte (nichtgegenständliche) Charakter der Bedeutung des P r ä dikatwortes wird bekanntlich in den auf ein logisches Satzmodell ausgerichteten Grammatiken vermerkt. I n ihnen bildet die Gegenständlichkeit (Substantivität) des Subjekts eine Opposition zur Abstraktion (Attributivität) des Prädikats, das eine Qualität, Eigenschaft oder Handlung ausdrückt. Das Merkmal der semantischen Abstraktheit (Nichtgegenständlichkeit) wird hier einem Teil, wenn auch dem wichtigsten, des Satzes und nicht seiner allgemeinen nominativen Bedeutung zugeschrieben. Denselben Standpunkt vertreten auch Linguisten, die sich von einer rein logischen Interpretation der syntaktischen Kategorien abgewandt haben und 21

Die zwei Typen nominativer Bedeutung haben eine Beziehung zu den zwei Typen sprachlicher Zeichen — zu den Benennungszeichen, die „Wesenheiten" bezeichnen, und zu den Äußerungszeichen, die „Fakten" bezeichnen [9, 7J.

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sie stärker kommunikativ auffassen. So bestimmt z. B. Gardiner den Inhalt der Elemente, die als aktuelles Prädikat oder Rhema der Mitteilung fungieren, mit Hilfe abstrakter Formeln. Die Bedeutung des englischen Wortes tree 'Baum' definiert er als the treeness oder the being tree 'die Eigenschaft, Baum zu sein' [80, 258], die Bedeutung der prädikativ gebrauchten Wörter gold 'Gold', there 'dort' und feil to the ground 'fiel zu Boden' als a case of being gold 'die Eigenschaft, Gold zu sein', a case of being there 'das Dortsein' bzw. a case of having fallen to the ground 'das Zubodenfallen' [82, 264]. Im Gegensatz zu den abstrakten Bedeutungen der prädikativen Wörter definiert Gardiner das Subjekt als den Namen des Gegenstandes. Damit diese Funktion in der Sprache auch erfüllt werden kann, sei eben das Substantiv entwickelt worden [82, 276]. Die Zweigegliedertheit auf der logischen oder kommunikativen Grundlage wurde auch bei der Untersuchung des nominativen Aspekts des Satzes bewahrt. Deshalb beschränkte sich die semantische Charakteristik des Satzes gewöhnlich auf die semantische Charakteristik seiner Bestandteile und wurde nicht auf seine nominative Bedeutung ausgedehnt. Der Schluß, daß die Satzbestandteile unterschiedliche semantische Eigenschaften haben, ist an sich natürlich richtig. Seine Erwähnung f ü h r t uns zu dem Problem der Abhängigkeit des Wortes von seiner kommunikativen Holle in der Äußerung zurück. Man kann offenbar sagen, daß diejenigen Elemente des Satzes, die in ihm eine identifizierende Funktion haben, eine denotative Bedeutung haben, denn sie spielen die Rolle des Zeichenrepräsentanten des Gegenstandes oder Begriffs. Deshalb werden sie dort, wo es die Sprachnorm zuläßt, leicht weggelassen oder durch einen direkten Hinweis auf den Gegenstand ersetzt. Die redebedingte Bedeutung der identifizierenden Wörter ist mit der Bedeutung der Eigennamen vergleichbar, deren Anwendungsbereich auf einen Einzelgegenstand begrenzt ist. Demgegenüber bleiben die Wörter, die im Satz die Rolle des Prädikats (vielmehr des Prädikatskerns) spielen, auf der signifikativen Ebene. Ist das Prädikat durch ein Substantiv ausgedrückt, so ist dieses kein Zeichenersatz des Gegenstandes. Die im Prädikat enthaltene Information ist der sprachlichen Bedeutung des entsprechenden Wortes (dem Signifikat) adäquat, während die identifizierenden Wörter konkrete Informationen über das Denotat enthalten, d. h. einen reicheren semantischen Inhalt haben. I n der Ausdrucksweise der neueren Linguistik könnte man sagen, daß der Satz semantisch durch eine Verknüpfung der denotativen (peripheren) und der signifikativen (zentralen) Bedeutung gebildet wird. Der Begriff der propositiven Nomination ist nicht nur für die Untersuchung der syntaktischen Strukturen, sondern auch für ein Begreifen der semantischen Organisation der Sprache wesentlich. Die Transposition von Sätzen stimulierte in der Sprache die Bildung von Handlungs- und Qualitätsnomina, die die semantischen Hauptkategorien der abstrakten Substantive bilden. Kuryiowicz schrieb über die Typen der syntaktischen Derivation, d. h. der die lexikalische Bedeutung des Wortes nicht beeinträchtigenden Derivation, daß das Qualitätsnomen B H C O T a 'Höhe' (die Eigenschaft, hoch zu sein) das Ergebnis der auf einem Prädikat beruhenden 258

syntaktischen Derivation ist: 6 H T B B H C O K H M —> B H C O T A 'hoch sein -» H ö h e ' Die 'Höhe' (die vertikale Dimension) entsteht durch lexikalische Derivation, durch den Übergang dieses Substantivs von der ersten Bedeutung („Eigenschaft, hoch zu sein") zur zweiten Bedeutung („vertikale Abmessung"). Die syntaktische Derivation, deren Ausgangspunkt der prädikative Gebrauch des Wortesist, bildet Kurylowicz zufolge, die erste Bildungsetappe der von einem Verb oder Adjektiv abgeleiteten Substantive. Kurylowicz legte Gedanken von Porzig aus dem J a h r e 1930 dar u n d schrieb, daß „die A b s t r a k t a einen ganzen Satz, auf der Grundlage seines P r ä d i k a t s gleichsam zusammenfassen. D a s heißt, d a ß sie auf der syntaktischen Substantivierung des P r ä d i k a t s beruhen, das ein Verb oder ein Adjektiv sein k a n n " [99, 46]. Die primäre F u n k t i o n der Abstrakta. besteht Porzig u n d Kurylowicz zufolge darin, Sätze auf W o r t g r u p p e n zu reduzieren [100,183]. Somit gibt es außer der Wortableitung, die auf dem W o r t basiert, die Derivation, die auf die Transposition von Sätzen zurückgeht 2 2 , neben dem Typ der lexikalischen nominativen Bedeutung den T y p der propositiven Bedeutung, der dem Satz u n d seinen Transformen eigentümlich ist. Die Sprachen verfügen über recht unterschiedliche Mittel zur Transposition von Sätzen, bei der nicht n u r die syntagmatischen Beziehungen verändert, sondern auch die Merkmale des Satzes als der k o m m u n i k a t i v e n Einheit allmählich aufgehoben werden. Beispiele aus dem Englischen mögen das veranschaulichen. I m Englischen gibt es folgende Stufen beim Übergang vom Satz, zum Wort, von der propositiven Nomination zur lexikalischen N o m i n a t i o n : 1. Aufhebung der intonatorischen Abgeschlossenheit des Satzes, die seinekommunikative Autonomie ausdrückt: He told me that he was tired 'er sagte mir, daß er müde sei'. 2. Aufhebung der grammatischen Merkmale der kommunikativen Autonomie : John being tired we were obliged to return 'da J o h n müde war (wörtlich: J o h n seiend müde), mußten wir umkehren'. 3. Aufhebung der kommunikativen Gegliedertheit: His being tired made tis return 'die Tatsache, daß er müde war, (seine Müdigkeit) zwang uns zur U m k e h r ; his Coming home was sudden 'seine Heimkehr war u n e r w a r t e t ' . 4. Konstituierung der mit dem Verb zusammenhängenden Elemente zu einer nominalen W o r t g r u p p e : the shooting of the lions 'die J a g d auf Löwen'. 5. Völlige Substantivierung des Handlungsnamens, der die Pluralkategorie erhält: feelings 'Gefühle', sayings 'Äußerungen', proceedings 'Verlauf', writings 'Schriften'. Die aufgezählten Konstruktionen sind gleichsam E t a p p e n der allmählichen Verwandlung des Satzes, der außer der nominativen Bedeutung auch noch kommunikative Merkmale — den Bezug zum D e n o t a t und die k o m m u n i k a t i v e 22

Diesen Prozeß veranschaulicht der folgende Übergang: OH npiiexan B MocKBy -> ero npiiC3A B MocKBy (6HJI KCTaTH) —> npnes^ 'er kam in Moskau an seine Ankunft in Moskau (kam gelegen) Ankunft'. Vgl. engl, he says it to me Ms saying it to me his saying a saying. Der eigentliche Übergang zum Wort (zum Handlungsnomen oder Qualitätsnomen) hängt mit dem Abfall der Aktanten vom nominativen Zentrum zusammen, die keine obligatorischen „Anhängsel" der Semantik des Hauptgliedes der Wortgruppe mehr sind. 259»

Gegliedertheit h a t — in seine entgegengesetzte n i c h t k o m m u n i k a t i v e Einheit — das W o r t . A u f der letzten S t u f e dieses Prozesses schlägt die propositive B e d e u t u n g endgültig in eine andersartige B e d e u t u n g u m , die wir als lexikalisch bezeichnet haben. D u r c h die A u f n a h m e in die K l a s s e der S u b s t a n t i v e , deren primäre semantische F u n k t i o n die B e z e i c h n u n g v o n Gegenstandsbegriffen ist, erfahren die N a m e n der Qualität u n d der H a n d l u n g eine natürliche und starke T e n d e n z zur V e r gegenständlichung ihrer B e d e u t u n g . D i e Handlungsnamen erhalten leicht die B e d e u t u n g des Handlungsergebnisses, während die Qualitätsnamen die T e n d e n z haben, ihre S e m a n t i k in bestimmter Weise zu konkretisieren, wobei sie manchmal sogar die B e d e u t u n g des Merkmalträgers erhalten (Beispiele sind bekannt). D a h e r entstehen in vielen Sprachen spezielle V e r f a h r e n zur U n t e r b i n d u n g der semantischen E v o l u t i o n der a b s t r a k t e n D e r i v a t e , so d a ß eine fließende und leicht a u f h e b b a r e Grenze zwischen der propositiven und der lexikalischen Nomination erhalten bleibt. So verhindert z. B . die Wechselwirkung der erwähnten englischen Handlungsnamen auf -ing mit der verbalen F o r m b i l d u n g u n d die B e w a h r u n g der O b j e k t v a l e n z des V e r b s eine Vergegenständlichung ihrer B e d e u t u n g . B e k a n n t l i c h dulden die A b l e i t u n g e n mit diesem S u f f i x viel seltener eine lexikalische U m w a n d l u n g als die Handlungsnomina mit dem S u f f i x -tion. Dasselbe k a n n man v o m spanischen I n f i n i t i v sagen, der nicht nur die Objekt-, sondern auch die S u b j e k t v a l e n z e n des Verbs bewahrt (z. B . : el decirmelo tü 'daß d u mir das sagst'). D e r spanische I n f i n i t i v erhält z u m Unterschied von den suffixalen Handlungsnamen fast niemals eine konkrete Gegenstandsbedeutung. A u ß e r d e m gibt es im Spanischen eine besondere F o r m für die Substantivierung der A d j e k t i v e mit dem Artikel lo (z. B . : lo agradable 'das Gefällige'). Solche Gebilde können z u m Unterschied v o n den zahlreichen suffixalen Qualitätsnamen keinerlei gegenständliche B e d e u t u n g erhalten, weil der Artikel lo nicht mit den Bezeichnungen eines Gegenstandes korreliert (vgl. lo hello 'das Schöne' mit la beldad 'die Schönheit', las bellezas 'die Schönheiten'). Die propositive Nomination ist also f ü r die Sprachen nicht nur als Stimulus zur B i l d u n g abstrakter D e r i v a t e , sondern auch a n sich, als bestimmter T y p der sprachlichen B e d e u t u n g relevant, der die Wörter, W o r t g r u p p e n und S ä t z e kennzeichnet und einen gemeinsamen semantischen Bereich für diese voneinander so verschiedenen Einheiten der Sprache s c h a f f t . W e g e n ihrer semantischen Gemeinsamkeit sind verschiedene funktionale Verschiebungen möglich. D a ß die Sprache V e r f a h r e n zur Transposition v o n S ä t z e n entwickelt, was zur B i l d u n g abstrakter Nomina führt, beruht nicht so sehr a u f der G e s t a l t u n g eines Arsenals abstrakter B e g r i f f e als vielmehr auf den u n m i t t e l b a r e n Erfordernissen der Gestaltung der zusammenhängenden R e d e , denn eins der Prinzipien dieser G e s t a l t u n g ist der Ü b e r g a n g des R h e m a s der vorhergehenden Ä u ß e r u n g in das T h e m a des nachfolgenden Satzes. V g l . z. B . die S ä t z e : Bnepa H BCTpeTHJi Moero cTaporo n p y r a . noHanajiy 3Ta BCTpena MeHH nopaaoBajia. PaßocTB MOH, 0flHaK0, BCKope Hcneajia 'Gestern begegnete ich einem alten Freund. Z u n ä c h s t freute mich diese Begegnung. B a l d schwand aber meine Freude'. I m Transpositionsprozeß verschiebt sich die nominative B e d e u t u n g des Satzes, bereichert u m die Merkmale des Ereignisses, a u f das sie sich bezieht, v o n der signifikativen

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Ebene auf die denotative. Das Transform des Satzes wird dadurch zum Zeichen für das Faktum. Die propositive Nomination verschmilzt mit der identifizierenden Funktion.

Die Wechselwirkung zwischen lexikalischen u n d propositiven Bedeutungen Nachdem im vorigen Abschnitt der Prozeß der Umwandlung der propositiven Nomination in eine Nomination lexikalischen Typs gezeigt worden ist, soll nun der umgekehrte Prozeß, die Verwandlung lexikalischer Bedeutungen in propositive Bedeutungen, behandelt werden. Besonders interessant ist unter diesem Gesichtspunkt das sprachliche Verhalten der Substantive, d. h. der Wörter, die ihrem grammatischen Status nach vom Verb, das den Kern der propositiven Nomination darstellt, am weitesten entfernt sind. Die Korrelation der zwei Typen der Nomination — der Nomination des Gegenstandes und der Nomination des Ereignisses — zeigt sich bei der Bildung von Nominalsätzen, d. h. beim unmittelbaren Übergang vom Wort zum Satz. Betrachten wir, wie sich dieser Übergang im Russischen vollzieht. Bekanntlich neigen die verschiedenen semantischen Typen der Substantive verschieden leicht dazu, direkt in einen Satz verwandelt zu werden [21]. In Sätze vom Seinstyp verwandeln sich am natürlichsten diejenigen Substantive, deren Bedeutung mit dem Begriff der Zeit zusammenhängt. Vgl. YTpo 'Morgen'; ^ßa yaca nonojiyHHH 'Zwei Uhr am Nachmittag'; BpeMH oßefla 'Mittagszeit'; KoHen; Beita 'Ende des Jahrhunderts'; Ilopa C03peBaHHH njioaoB 'Zeit der Fruchtreife'. Manche Wörter mit dieser Semantik haben nur noch eine prädikative Funktion (vgl.: BpeMH 'es ist Zeit, . . .', Ilopa 'es ist soweit'). Die angeführten Sätze haben das System der mit Hilfe des Verbs öeitb 'sein' gebildeten Modus- und Tempusformen. Vgl. Bhji Maii 'es war Mai'; Ehjio 6 h yTpo 'wenn es doch Morgen wäre' (vom Paradigma solcher Sätze handelt Schwedowa [60, 48—49]). Das Hilfsverb ist hier entlexikalisiert und drückt nur die grammatische Kategorie des Tempus und Modus aus, es fügt der nominativen Bedeutung des Satzes nichts hinzu. In der Äußerung 6biji Mopo3 'es war Frost' spielt das Verb dieselbe Rolle wie in dem Satz 6hjio M 0 p 0 3 H 0 'es war frostig'. In beiden Fällen gleicht seine Funktion der Funktion des Präteritummorphems in dem Satz Mopo3H.no 'es fror'. Die Einfügung von Determinanten in die Verbformen des Satzes ist nicht obligatorisch, aber möglich. Sätze mit dieser Semantik nehmen natürlich leicht temporale Adverbien auf, vgl. z. B. Tor,n;a ÖHJia 3HMa 'es war* gerade Winter'. Sätze bilden fast ebenso leicht die russischen Substantive für Ereignisse oder Erscheinungen, die in zeitlicher Ausdehnung gedacht werden können. Vgl.: noatap 'Feuer'; RO?KRb 'Regen'; BeTep 'Wind'; 6ypa 'Sturm'; CHeronafl 'Schneefall'; KaHHKyjiH 'Ferien'; cyMaToxa 'Durcheinander'; B H C T p e J i t i 'Schüsse'; jiob pHÖti 'Fischfang'. Zu dieser Kategorie der Nomina gehören auch die Wörter, die Lauteffekte bezeichnen, z. B. cbhctok nap0B03a 'ein Lokomotivpfiff'; TpeTHü 3bohok 'drittes Klingelzeichen'; u i e n o T 'Geflüster'; xoxot 'Gelächter'; 18

Serebrennikow II

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rcwioca 'Stimmen'; rnopox 'Rascheln'; neHne 'Gesang'; raM 'Lärm'; rßaJiT 'Heidenlärm'; 3ByKH roiTapu 'Gitarrenklänge'; pa3roBop 'Gesprächsfetzen'; 3 B Y K H BAJIBCA 'Walzerklänge'; Tpejra COJIOBI>H 'Nachtigallenschlagen'. Vgl. auch den prädikativen Gebrauch lautnachahmender Interjektionen: iiiapK 'scharr', 6yx 'knall', 6aij 'bums', rpax 'krach', «3HHb 'kling' usw. Werden Modus- und Tempusformen gebraucht, so erfordern die angeführten Sätze zwingender die Einfügung von Determinanten oder eines l e x i k a l i s c h nicht vollwertigen Verbs. Vgl.: Pa3flajiHCb rojioca 'Stimmen ertönten'; Iüeji JIOB P H 6 H 'Der Fischfang war im Gange'; B aoiie ÖHJia cyMaToxa 'Im Hause ging es drunter und drüber' usw., aber E H J I AOJKFLB 'Es regnete'; E H J I Ö 6ypa 'Es stürmte'; E H J I B E T E P 'Es war windig' usw. Die Handlungsnomina (speziell die suffigierten) erhalten bei der Bildung von Sätzen gewöhnlich ihren Verbzustand wieder. Wird der Satz aber syntagmatisch abhängig, so können sie ihn ersetzen, erlauben sie auch einen propositiven Gebrauch. Vgl. E C J I H n ono3aaio, (B cjiyiae Moero ONO3HAIIHH) . . . 'Wenn ich mich verspäte, (Im Falle meiner Verspätung) . . .'; HecMOTpn Ha T O , HTO H ono3Haji, (HecMOTpn Ha iioe ono3naHne) . . . 'Obwohl ich mich verspätete, (Trotz meiner Verspätung) . . .'; To, I T O H ono3j;aji, (Moe ONO3HAHNE) B 0 3 M Y T H J I 0 Bcex 'Daß ich mich verspätete, (Meine Verspätung) empörte alle'. Man könnte meinen, daß die Nomina actionis das nominative Äquivalent der Nebensätze (exakter: der subordinierten Sätze) bilden. Die suffixlosen Handlungsnomina können auch in absoluter Position stehen (d. h. als unabhängige Sätze), besonders in einem bestimmten literarischen Stil, vgl. folgende Beispiele (von A. Bely): P H H O M — 6 p H K , KOJIOBOPOT, nepenpnni 'Nebenan ein Ausschlagen, Gedrehe, Umherspringen'; OupK, aepr, BCKHJJ pyKH; BHOBI, 3A?KHM HA KOJIEHHX H X c HEFLOYAIEHHEM, 3 H A N A M N M : «Can H HE 3HAIO)> 'Schnalzen, Zerren, Hochreißen einer Hand; neues Zusammendrücken der Hände auf den Knien mit einem Befremden, das soviel heißt wie: „Ich weiß es selbst nicht"'. Unter den Substantiven mit konkret-gegenständlicher Bedeutung bildet nur die Klasse der räumlichen Nominationen Seinssätze als Hintergrund. Vgl. JleflHHan nyCTHHH 'Eiswüste'; I I O J I K H jiyra 'Felder und Wiesen'; IIpocTop 'Freier Raum'; Eojitiuoe cejio 'Ein großes Dorf'. Ändert sich die Modus- und Tempusbedeutung dieser Sätze, so werden das Verb 6HTB in der Bedeutung 'vorhanden sein', 'sich befinden', und eine lokale Determinante eingefügt. Vgl. Tarn 6tuia Jiennuan nycTHHH 'Dort war eine Eiswüste'; E H J I H 6 H B^GCB nojiH H Jiyra 'Wenn es doch hier Felder und Wiesen gäbe'. Möglich ist auch die Einfügung eines Demonstrativpronomens, das die Seinssätze in Kopulasätze verwandelt. Vgl.: 9TO OHJia jie^HHaH nycTHHfi 'Es war eine Eiswüste'. Die übrigen Substantive konkreter Gegenstände bilden entweder Nennsätze, die mit zweigliedrigen Kopulasätzen korrelieren (vgl.: M O J I O T O K 'Hammer'; B T O MOJIOTOK 'Das ist ein Hammer'; BTO 6HJI MOJIOTOK 'Das war ein Hammer'), oder Seinssätze mit der Bedeutung des Vorhandenseins des betreffenden Gegenstandes. Im letzteren Falle erfordert eine veränderte Modus- oder Tempusbedeutung eine lexikalische Ergänzung des Satzes durch ein Verb und eine lokale Determinante. Vgl.: 3fleci» 6 H J I (jiesKaji, Haxoniuica) MOJIOTOK 'Hier war (lag, befand sich) ein Hammer' [45]. 262

Wörter für Begriffe, die vorwiegend in Verbindung mit dem R a u m gedacht werden, erfordern beim Übergang in den propositiven Zustand gewöhnlich ein verbales „Anhängsel" mit der Bedeutung des Ortes. Das wird deutlich, wenn sie Modus- und Tempusformen bilden. Demgegenüber werden Substantive für Begriffe, die eher in temporaler denn in lokaler Dimension gedacht werden, ganz natürlich und unmittelbar in Sätze verwandelt, wobei sie nur geringe Veränderungen im Nominationstyp erfahren und nicht durch lexikalisch signifikative Verben ergänzt werden müssen. Semantisch stehen solche Substantive der propositiven Nomination nahe. Man sagt gewöhnlich, daß der Satz und seine nominativen Äquivalente Ereignisse und die Substantive Gegenstände bezeichnen. Diese Opposition wird teilweise durch die Opposition zwischen dem, was in der Zeit vor sich geht, und dem, was im Raum existiert, offenbar. In diesem Sinne ist die Semantik des Satzes dynamisch und die Semantik der lexikalischen Nominationen statisch.

Der nominative A s p e k t des Satzes und die syntaktischen B e z i e h u n g e n Der Satz drückt also einen bestimmten T y p der Nomination aus. Dieses Merkmal stellt ihn den Wörtern und Wortgruppen mit konkreter Gegenstandsbedeutung gegenüber, verbindet ihn aber mit den Wortgruppen, die Transforme eines Satzes darstellen. Der Satz He6o — cimee 'Der Himmel ist blau' bildet nach dem T y p der nominativen Bedeutung eine Opposition zu der Wortgruppe CHHee neoo 'blauer Himmel', ist aber mit der Wortgruppe CHHGB£I HeSa 'die Bläue des Himmels' vergleichbar. Der Satz D u m a jieTiiT 'Der Vogel fliegt' unterscheidet sich in nominativer Hinsicht von der Wortgruppe jieTHinan rmma 'der fliegende Vogel', gleicht aber der Wortgruppe noaeT rmiqbi 'der Flug des Vogels'. Das nominative Merkmal an sieh reicht also nicht aus für eine Gegenüberstellung der größten Klassen syntaktischer Konstruktionen — der Wortgruppen und Sätze —, ist aber syntaktisch relevant. So reicht dieses Merkmal völlig aus, um Sätze und auf ihrer Grundlage gebildete Partizipialkonstruktionen auseinanderzuhalten. Die Wortgruppen xiiiTaiom,ini Kiinry jia.nb^iiK 'der ein Buch lesende Junge' (bzw. MajibiHK, iHTaiomim KHiiry 'der Junge, der ein Buch liest') oder HiiTaeiwaH MajitiHKOM KHHra 'das von einem Jungen gelesene Buch' (bzw. KHHra, iHTaeMaa MajiBiHKOM 'das Buch, das von einem Jungen gelesen wird') gehören zu einer ganz anderen Klasse nominativer Einheiten als der Satz Ma.ni.MiiK MHTaeT KHHry 'Der Junge liest ein Buch' und sein nominatives Äquivalent HTemie KHnrn MaJibHHKOM 'das Lesen des Buches durch einen Jungen'. Wie man beobachten kann, und das ist für eine Untersuchung der Struktur eines Satzgefüges besonders wichtig, lassen sich Beziehungen (bzw. syntaktische Positionen), die gegenüber dem nominativen T y p der durch sie zusammengefaßten Einheiten mehr oder weniger indifferent sind, und Beziehungen, die Einheiten nur eines bestimmten nominativen T y p s zusammenfassen, in der Syntax unterscheiden. Zu den Beziehungen, die den Nominationstyp selektiv 18»

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behandeln, gehören die Bedingung, die Einräumung, die Ursache, die Folge, die Zeit (möglicherweise auch einige andere). Diese Beziehungen bilden vorwiegend hypotaktische Satzgefüge: Aber die entsprechenden Nebensätze lassen sich leicht durch Wörter und Wortgruppen ersetzen, die mit dem Satz nach dem Charakter der Nomination korrelieren. Die entscheidende Rolle spielt dabei die semantische Natur des Gliedes der Beziehungen und nicht seine Form; es kann formal entweder der Struktur des Satzes bzw. der Wortgruppe entsprechen oder durch ein Einzelwort repräsentiert sein. Vgl.: E C J I H H ono3^aio, (B CJiynae Moero ono3RaHHH) ca^HTecb yjKHHaTb 6e3 MeHH ' W e n n i c h m i c h

verspäte,

(Im Falle meines Verspätens) eßt Abendbrot ohne mich'; Kor^a OH npmneji, (K ero npnxosy) Bce coSpajincb 'Als er kam, (Bei seiner Ankunft) waren bereits alle v e r s a m m e l t ' ; HecMOTpn na TO, ITO MH ycTami, (HecMOTpa HA ycTanocTt) MBI T O T O B H 6 H J I H np0fl0ji5KaTB nyTb 'Obwohl wir müde waren, (Trotz unserer

Müdigkeit) waren wir bereit weiterzugehen'. In bezug auf solche Beziehungen sollte man sagen, daß sie nicht innerhalb der Nomination nur eines Ereignisses existieren, denn sie bezeichnen die Grenze zwischen verschiedenen propositiven Nominationen, selbst wenn sie eine einzige Äußerung bilden. Daß man in manchen syntaktischen Positionen (nämlich in der Funktion von Adverbialbestimmungswörtern oder Circonstanten, wie Tesniere sagt) keine „klassischen gegenständlichen Substantive" verwenden kann, zeigte Apresjan. Er unterscheidet semantisch zwischen den Aktanten (Subjekt, Objekt, Empfänger, Instrument, Anfangs- und Endpunkt einer Bewegung, Handlungsort usw.) einerseits und den Circonstanten (Ursache, Ergebnis, Zeitpunkt, Folge, Begleitumstände) andererseits und schreibt: „Die Wörter der zweiten Klasse bezeichnen nicht Gegenstände (Aktanten), d. h. nicht die an der Handlung Beteiligten, sondern Eigenschaften der Handlung und Beziehungen zwischen ihnen" [5, 304] und weiter: „Die Wörter der zweiten Klasse sind reduzierte Sätze, jedes hat sein eigenes Prädikatswort" [5, 305]. Der von Apresjan festgestellte semantische Unterschied erscheint als wesentlich, obwohl er nicht ganz der Einteilung der syntaktischen Positionen (Satzglieder) in zentrale und periphere entspricht. Derjenige semantische (wir sagen nominative) Worttyp, der für die Circonstanten kennzeichnend ist, belegt ebensooft Positionen, die den semantischen Erfordernissen des Verbs genügen. Vgl.: fl Haöjiioflaji 3a Majit^niKOM (3a 3aHHTHHMH MajibHHKa, 3a paßoToft MajibiHKa, 3a TeM, Kau MajibHHK paöoTaeT)

'Ich beobachtete den Jungen (die Beschäftigung des Jungen, die Arbeit des Jungen, wie der Junge arbeitet)'; fleTH noHpaBHJincb MHe 'Die Kinder gefielen mir'; To, ITO ^eTH pa6oTaroT, noHpaBHJiocb MHe 'Daß die Kinder arbeiten, gefiel mir'. Somit erkennt man unter den Beziehungen, die einen Satz organisieren, einen semantischen Typ, der die propositiven Nominationen miteinander verbindet, d. h. die Benennungen der Ereignisse mit einer zeitlichen Ausdehnung. Das semantische Substrat solcher Beziehungen ist die Bedeutung des Zusammenhangs der Ereignisse in der Zeit: Die Beziehungen der Ursache und Folge, der Bedingung und der Einräumung setzen einen bestimmten temporalen Zusammenhang der Ereignisse voraus, der dann in logische Beziehungen um264

gedeutet wird. Diese logischen Beziehungen widerspiegeln die Beziehungen zwischen den Merkmalen der Gegenstände (zwischen ihren Eigenschaften oder Handlungen), aber nicht zwischen den Gegenständen selbst. Es sind also Beziehungen zwischen Begriffen, die in der Zeit gedacht werden, im Gegensatz zu den Beziehungen zwischen Begriffen, die im R a u m gedacht werden. Die Satzteile, die durch die Beziehungen der ersten Art zusammenhängen, brauchen nicht die anderen Merkmale des Satzes — seine Modus- u n d Tempuskategorie und seine kommunikative Gegliedertheit — zu behalten, sie korrelieren aber mit dem Satz nach der Art ihrer nominativen Bedeutung. Traditionellerweise hält man die Nebensätze für das Ergebnis der Expandierung von Gliedern eines einfachen Satzes, mit denen sie nach der syntaktischen Position korrelieren. Nicht minder wesentlich ist es jedoch, daß verschiedene syntaktische Positionen des sogenannten einfachen Satzes in ihm nur deshalb „offen" sind, weil Nebensätze nominalisiert worden sind (vgl. die Positionen der „logischen" Adverbialbestimmungen). Somit ist nicht nur die Struktur des Satzgefüges das Ergebnis von Wandlungen innerhalb des einfachen Satzes unter Beibehaltung ihrer positionellen Identität, sondern auch die Strukt u r des einfachen Satzes bis zu einem gewissen Grade das Ergebnis von Wandlungen innerhalb des Satzgefüges (vgl. die zitierte Äußerung von Apresjan).

Die Nomination des Ereignisses u n d die Aktualisierung der Ä u ß e r u n g Wie bereits aus den Ausführungen im vorigen Abschnitt hervorgeht, setzt die nominative Auffassung des Satzes keineswegs voraus, daß zur Nomination des Ereignisses sämtliche Elemente der Äußerung gehören. Zur Benennung eines Ereignisses gehören keineswegs diejenigen Satzglieder, die seinen aktualisierenden Aspekt ausmachen (die Modalwörter, das Ansprechen des Gesprächspartners, die explizite Modalität usw.). Vgl. Il0-BH,HHM0My, yjKe n 0 3 R H 0 'Offenbar ist es schon spät'; JJyMaio, H T 0 n o f t . n e T flOJKflb 'Ich glaube, es wird regnen'. Aber auch wenn man aus der Äußerung diejenigen Elemente herausstreicht, die sie mit der konkreten Sprechsituation verbinden, gehört nicht der ganze Rest zur propositiven Nomination. Der Rahmen der Benennung ist noch enger. Die Nomination beschränkt sich nach Ansicht mancher Linguisten auf die einfache Konstruktion, die durch den obligatorischen Zusammenhalt der Teile gekennzeichnet ist [4, 95]. Außerhalb der einfachen Konstruktion bleiben die peripheren Positionen des Satzes. Zu ihnen gehören vor allem die Adverbialbestimmungen der Zeit und des Ortes, die semantisch nicht mit dem P r ä d i k a t zusammenhängen und den ganzen Satz, d. h. seinen nominativen Bestand, bestimmen (über die determinierenden Adverbialbestimmungen handelt Schwedowa [59]). Diese Adverbialbestimmungen bilden gleichsam den Hintergrund, vor dem das Ereignis stattfindet, und sie sind an der Aktualisierung des Satzes, an seinem Bezug zur realen Situation beteiligt. Zur Nomination eines Ereignisses gehören auch nicht die logischen Adverbialbestimmungen, die eine Ursache, Einräumung, Bedingung, Folge usw. bezeichnen. Alle diese Elemente sind entweder das Ergebnis der Kondensation anderer Prädikate (siehe S. 264—265) 265

oder die Attribute, die zum Unterschied von den Aktanten oder den „Mitwirkenden" die Situation von außen kennzeichnen 2 3 . Die Reduktion der propositiven Nomination endet nicht mit dem Wegstreichen der marginalen Positionen. Lomtew unterscheidet im Satz soviele Nominationen (er sagt nicht ganz exakt „Strukturformeln des Satzes"), wieviele Satztypen es zwischen den Prädikatsgegenständen gibt. Der Satz OHa 3Hajia ero MaJit^niKOM 'Sie kannte ihn als Jungen' drückt zwei Ereignisse aus, deren A k t a n t e n miteinander durch ein unterschiedliches „ S u j e t " zusammenhängen: 1. sie kannte ihn und 2. er war ein J u n g e [45, 57], Somit gibt es Sätze, in denen zu einer einzigen syntagmatischen Reihe zwei (oder noch mehr) propositive Nominationen verschmolzen sind, die durch den gemeinsamen Mechanismus der Aktualisierung (durch das Verb in der Personalform) funktionieren. Die Grenzen der Nomination des Ereignisses decken sich also nicht mit den Grenzen der einzelnen Aktualisierungen. Die propositive Nomination setzt nicht notwendigerweise das Wirken des Aktualisierungsmechanismus voraus. Sie stützt sich bei weitem nicht immer auf das Verb in der Personalform. I m Russischen setzt die vollständige Nennung der Situation die Beteiligung des Verbs in der Personalform voraus. Die Verwandlung des Verbs in den Infinitiv oder ein Adverbialpartizip beseitigt die Subjektvalenzen des Verbs; vgl.: fl q i i T a i o n u c b M O 'Ich lese den Brief" mit H H T a T b i r a c b M O oder HIRRAH IIHCLMO 'den Brief lesen" oder 'den Brief lesend". I m Russischen ist aber das Verb mit Hilfe von Wortbildungs- (d. h. unregelmäßigen) Mitteln substantivierbar. Vgl.: Ory^EHT qiiTaCT CTHXH Ha Be'iepe HTemie CTYFLEHTOM CTHXOB HA H E S E P E 'Der Student rezitiert Gedichte in einer Abendveranstaltung' -»• 'das Rezitieren von Gedichten durch den Studenten in einer Abendveranstaltung'. Die Substantivierung des Verbs erfordert eine andere Form sowohl für das Subjekt als auch für das Objekt der Handlung. I m Englischen kann man eine Situation auch losgelöst vom konkreten Referenten benennen. Vgl.: He sees it 'Er sieht es' mit his seeing it (wörtlich: 'sein es Sehen'). Die Gerundivierung des Verbs hat nur die Ersetzung seiner Subjektvalenz (des direkten Kasus durch die Possessivform) zur Folge. Übrigens kann bei kommunikativer Gliederung der Konstruktion auch der direkte Kasus erhalten bleiben. Vgl. engl. He being ill his sister stayed with him 'Da er krank war, blieb seine Schwester bei ihm'. Durch die Versetzung des Verbs in den Infinitiv wird seine Subjektvalenz im Englischen wie im Russischen gedeckt. I m Spanischen kann man eine Situation sowohl mit einem persönlichen Verb als auch mit dem Infinitiv oder Gerundium vollständig benennen. Die Form des Verbs beeinträchtigt nicht seine syntagmatischen Beziehungen. Seine Begleiter behalten in sämtlichen Konstruktionen die gleiche Form. Vgl. span. El me lo dice 'er sagt mir das', decirmelo el wörtlich 'sagen mir das er", diciendomelo el wörtlich 'sagend mir das er". Solche nominative Formeln finden ausgiebig Anwendung in der lexikographischen Praxis. 23

Alissowa bestimmt die peripheren Positionen mit Hilfe zweier semantischen Merkmale — der Semantizität und der Möglichkeit, durch einen Nebensatz veitreten zu werden

[4, 95], 266

I n den verschiedenen Sprachen haben also die funktionalen Mechanismen der Syntax, im vorliegenden Falle der Mechanismus der Aktualisierung u n d der Ereignisbenennung, einen unterschiedlichen Grad der Autonomie, der Unabhängigkeit voneinander.

Satz und Äußerung Über das Merkmal der kommunikativen Autonomie, d. h. der Fähigkeit, in der Rede als Einzelmitteilung zu fungieren, verfügen außer dem Satz, einer Einheit, die durch eine bestimmte grammatische Struktur gekennzeichnet ist, viele nichtkodifizierte Äußerungen. Jenseits der „klassischen" Sätze erstreckt sich das offene und uferlose Meer der Phrasen, die die in formaler Hinsicht am wenigsten geregelten Einheiten der Rede bilden. Sie sind zwar durch intonatorische Einheit gekennzeichnet, aber in bezug auf den Grad der Grammatizität sehr verschieden. Auf dem Gegenpol des „idealen" Satzes liegen die grammatisch amorphen Phrasen. Zu ihnen gehören die Dialogrepliken, die eine emotionale, auffordernde oder andere Reaktion auf eine Mitteilung ausdrücken (vgl.: «JlaRHO 1 'Nun gut!', IIoÄyMaeiiib! 'Na und?', XßaTiiT! 'Jetzt reicht es aber!', IToAyMaTi> TOJibKo! 'Was?!', Xoporn! 'Denkste!', BOT H rjiaBHoe! 'Das ist es ja!', Eme 6H! 'Das wollt' ich meinen!', BOT Tan Tan! 'So, so!'), sowie Äußerungen aus dem Bereich der Höflichkeit und der sozialen Etikette (Gruß- und Abschiedsformeln, Wünsche, Danksagungen, Entschuldigungen). Von den grammatisch organisierten Konstruktionen recht weit entfernt sind die Interjektionsäußerungen. Die Interjektionen drücken eigentlich etwas aus und repräsentieren nicht [99, 47]. Die Interjektionsäußerungen haben daher keine nominative Funktion. Daß die Interjektionen nichts benennen und nur die Funktion haben, etwas auszudrücken, was auch Bühler vermerkte, wird dadurch bestätigt, daß sie dem Phoneminventar der Sprache nicht zu entsprechen brauchen. Um Interjektionen zu verstehen, braucht man sie nicht phonematisch zu identifizieren. Sie gehören daher nicht zur Kategorie der Wörter. Mit Hilfe ihrer Lautsubstanz soll sich vor allem die Intonation entfalten können, die Intonation gibt eben den redebedingten Gehalt der Interjektionen wieder, der sich auf die expressive Reaktion des Sprechers, auf eine Art „Lautgeste" reduzieren läßt. Nicht zufällig sah Hockett im Lautbestand einer Interjektion ein „leeres Morph" [93, 333]. Gardiner schrieb über die Mannigfaltigkeit der Formen, die die Äußerungen in der Rede zeigen: „Der zivilisierte Mensch, ausgestattet mit einer nie versagenden Zielbewußtheit und der Schärfe seines durch ständige Praxis geschärften Verstandes hat eine nahezu unglaubliche Meisterschaft des Wortes erreicht. Aber neben den vollendeten Werken der Redekunst gibt es noch Äußerungen, die geradezu auf der gleichen Stufe wie die Schreie des Affen stehen. Aus der lebendigen Rede von heute läßt sich die Bestätigung f ü r jedes Entwicklungsstadium der Sprache ziehen" [82, 324-325]. Trotz mannigfaltigen Aussehens haben alle Äußerungen, sowohl die grammatisch strukturierten als auch die grammatisch nicht strukturierten, etwas funktional gemeinsam: Sie alle repräsentieren auf die Wirklichkeit bezogene 267

Mitteilungen, die eine bestimmte Reaktion auf einen Reiz ausdrücken u n d selbst wiederum zum Sprechen reizen können. Diese Eigenschaft sämtlicher Äußerungen gehört zur Rede, weswegen viele Linguisten meinen, sie zu den Redeeinheiten zählen zu dürfen. Gardiner benutzte zur Bezeichnung der gesprochenen Mitteilung den Terminus „Satz" und schrieb: „ E s gibt so etwas wie eine 'Satz-Form', u n d so wie alle anderen sprachlichen Formen ist sie eine Tatsache der Sprache u n d nicht der Rede. . . Aber nicht die F o r m , sondern die F u n k t i o n macht eine Wortgruppe zu einem Satz" [82, 184]. So könne dieselbe sprachliche S t r u k t u r unterschiedliche Funktionen haben, könne man den Satz he is well 'er ist gesund' in die entfaltete Äußerung I hope he is well 'ich hoffe, d a ß er gesund ist' einbetten, worin er zum direkten Objekt des Verbs to hope wird u n d kein Satz mehr ist [82, 185]. „Somit", folgert Gardiner, „liegt der Unterscheidung zwischen Satz u n d Nebensatz die Unterscheidung zwischen Sprache u n d Rede oder, was dasselbe ist, zwischen ' F o r m ' u n d ' F u n k t i o n ' zugrunde" [82, 185]. Dem S t a n d p u n k t Gardiners stehen die syntaktischen Ansichten Jespersens nahe, der den Satz f ü r eine rein begriffliche, d. h. von der grammatischen F o r m unabhängige Kategorie hielt, deren notwendiges Merkmal n u r die autonome Position sei [96, 307-308], Vgl. auch Bloomfield [70, 170]. Ist die S t r u k t u r des Satzes nicht immer von einer kommunikativen F u n k t i o n begleitet, so erfordert auch die kommunikative F u n k t i o n f ü r ihren Ausdruck keine strenge grammatische F o r m . Sie bedarf auch keiner semantischen Expliziertheit (vgl. die unvollständigen Sätze, die Erscheing der Ellipse). Der Begriff der Äußerung gehört also nicht zu den Einheiten, deren Strukturregeln durch die G r a m m a t i k formuliert werden, obwohl es Konstruktionen gibt, die von vornherein dazu bestimmt sind, Muster f ü r einzelne Mitteilungen zu sein, also grammatisch „autonom" sind [44,172]. Die Qualität einer kommunikativen Einheit, auf die Realität bezogen zu sein, läßt sich allein mit Mitteln der I n t o n a t i o n wiedergeben. Die H a u p t f u n k t i o n der Satzintonation besteht gerade darin, die Wörter als nominative Einheiten in kommunikative Einheiten zu verwandeln [75, 43]. Mit Gardiner könnte m a n sagen, d a ß der Satz zwei F o r m e n h a t : die locutional form (die sprachliche Form, die von den Wörtern abhängt) u n d die elocutional form (die prosodische, suprasegmentale Form, die durch den Ton, den R h y t h m u s , die Betonung, die Intonation entsteht) [82, 201]. Auf diesen Gedanken Gardiners bezieht sich das „Gesetz der zwei S t r a t a des Satzes" von de Groot, wonach m a n im Satz eine objektive, durch Wörter ausgedrückte Schicht (a Stratum of reference) u n d eine subjektive, durch die Intonation manifestierte Schicht (a Stratum of expression) unterscheiden könne [86, 3]. Der grundsätzliche Unterschied zwischen den genannten Formen wird durch ihre mögliche Divergenz innerhalb derselben Äußerung bestätigt. Stimmen grammatische S t r u k t u r u n d prosodische Begleitung nicht überein, so bewahrt die Intonation die funktionale Rolle. Das ist offenbar eine universelle, d. h. nicht zu den typologischen Merkmalen zählende Eigenschaft der Sprachen. Die I n t o nationsform ist stets funktional (Gardiner sagt: kongruent), sie drückt immer die kommunikative Absicht des Sprechers aus, dominiert über die grammatische S t r u k t u r [82, 205]. Danes schrieb in seinem Artikel über die Satzinton a t i o n : „Die Intonation spielt in der hierarchischen S t r u k t u r der Äußerungen 268

die ausschlaggebende Rolle, denn sie kann in gewisser Hinsicht die semantischeund bzw. oder grammatische Struktur der Äußerungen modifizieren oder sogarneutralisieren" [75, 54]. Die Übereinstimmung zwischen Intonation und echtem Ziel und Sinn einer Mitteilung wurde von de Groot als allgemeines syntaktisches Gesetz formuliert [86, 4]. Betrachtet man diese Eigenschaft der Intonation semiologisch, so könnte man sagen, daß das durch die Intonation geformte Zeichen der Rede zum Unterschied von den sprachlichen Zeichen die Eigenschaft hat, in der Korrelation von Form und Funktion symmetrisch zu sein. Die Möglichkeit einer Dissonanz zwischen grammatischer Organisation der Äußerung und ihrer Intonation sowie viele andere Fälle funktionaler Verschiebung spielen eine große Rolle in der realen Rede, die dadurch expressiv wird. So verwenden die Sprecher z. B. beim Austausch von Dialogrepliken oft ihrer Struktur nach interrogative Sätze, wenn sie affirmativ oder negierend antworten; vgl. A R^E IleTH? — A H 3Haio! (A KTO ero 3HAET! A H NOHÖM 3Haio! IIo^EM MHE 3HATI>! OTKYNA MHG 3 H A T B ! ) 'Und wo ist Petja? — Weiß ich's! (Werweiß! Wie soll ich's wissen! Wie komme ich dazu, es zu wissen! Woher soll ich das wissen!)'. Verschiedenartiges Zitieren, Wiederholen und Wieder aufgreifen, Scherzen und ähnliche Erscheinungen der Rede haben in der Regel eine veränderte Intonation, umverteilte Akzente, was an sich schon den Inhalt einer Äußerung in sein Gegenteil verwandeln kann, vgl.: I l o n o B a . Il03B0JibTe, Tau KTO 5Ke, no-BameMy, BepeH H nocTOHHeH B JIK>6BH?'

He MyjKiHHa jih? C a m p H O B . ß a - c , MYIKHHHA! I l o n o B a . MYAT^HHA! (3JIOH CMex) MY?KHHHA BepeH H NOCTOHHEH B jnoßBH!1 CIIAJKHTE, KAKAN HOBOCTB !

' P o p o w a . Erlauben Sie, wer ist also Ihrer Meinung nach in der Liebe treu und' beständig? Der Mann etwa? S m i r n o w . J a , der Mann! P o p o w a . Der Mann! (Hämisches Lachen.) Der Mann ist in der Liebe treu und?. beständig! Was Sie nicht sagen!' [Tschechow]; . . noToaiy HTO B H . . . MHE HPABHTECB. I l o n o B a . H einy HpaBJiiocb! OH ciieeT roBopnT, HTO H eMy HpaBJiiocb! C M H P H O B . NOTOMY HTO .

' S m i r n o w . W e i l . . . weil Sie . . . mir gefallen. P o p o w a . Ich gefalle ihm! E r wagt es zu sagen, daß ich ihm gefalle!' [Tschechow]. Peschkowski schrieb: „Die Mittel der Intonation haben einen beweglichen, freien Charakter. Sie überlagern als komplizierte, launische Muster die Laute, ohne mit ihnen zu bestimmten Typen des Zusammenhangs zu verschmelzen, im Gegenteil sie divergieren mit ihnen auf Schritt und T r i t t ; sie vagabundieren sozusagen auf der grammatischen Oberfläche der Sprache" [43, 191]. Daß Intonation und Grammatik nicht zu kongruieren brauchen, kommt nicht nur darin zum Ausdruck, daß sie beim Ausdruck der kommunikativen Absicht des Sprechers innerhalb einer Äußerung dissonieren, sondern auch darin, daß sie den Text (den Redestrom) verschieden segmentieren können. Die k o m m u n i kativ autonome Mitteilung kann entweder länger oder kürzer als eine S t r u k t u r einheit sein. Die konjunktionslosen Satzgefüge enthalten mehrere Sätze mit 269'

einer gemeinsamen Intonation. Die Erscheinung der Segmentierung oder Parzellierung von Sätzen, das Vorhandensein sogenannter Anknüpfungskonstruktionen hat zur Folge, daß eine einheitliche grammatische Struktur in verschiedene selbständige Mitteilungen zerlegt wird, so daß der denotative Inhalt jeder Mitteilung als ein Einzelfragment der Wirklichkeit erscheint, vgl.: BHXOHHT B E J I H K H Ü roHiijHK. Be3 manKii. II emë nanne-TO JIIOAH C HHM. Tome pHHiiie ' E s erscheint ein großer Treiber. Ohne Mütze. Und noch irgendwelche Männer mit ihm. Ebenfalls rothaarig 7 [ J . Olescha]; HeT TOI"I KBapTiipLi. Ton nocTejiii. Tex K H i i r ii CTaTeii 'Man findet nicht wieder die Wohnung. Das B e t t . Die Bücher und Artikel' [W. Schklowski]; Ho HejiB3H H«e TaK. Bcjiyx. KpimoM. IIpw Bcex. T O H H O Ha 3ina '[es] wird gebaut'. Das Prädikat bildet daher das Minimum des Satzes, sein zentrales, konstituierendes Glied. Daß das Prädikat im Satz eine außerordentliche Rolle spielt, ist keineswegs neu. Sieht man von der Antike ab (speziell von den Äußerungen Quintilians, der die ganze K r a f t der Rede im Verb sah: in verbis enim sermonis vis est), so kann man daran erinnern, daß Ende des vorigen Jahrhunderts Dmitrijewski zu dem Schluß kam, daß das Subjekt, da es dem Prädikat als eins seiner Ergänzungen untergeordnet ist, nicht zu den Hauptgliedern des Satzes gehört. Dmitrijewski schrieb: „Das Prädikat ist der uneingeschränkte Herrscher, der Zar des Satzes; enthält der Satz außer ihm noch andere Glieder, so sind sie ihm streng untergeordnet und erhalten sie nur von ihm Sinn und Bedeutung; fehlen sie, fehlt sogar das Subjekt, so drückt das Prädikat allein hinreichend einen Gedanken aus und bildet es einen ganzen Satz. Anders ausgedrückt: Auch der Satz selbst ist nichts anderes als das Prädikat entweder allein oder zusammen mit den ihm beigegebenen anderen Gliedern." 26 Einen analogen Standpunkt formulierte später Tesniere, er kennzeichnete nämlich das Subjekt als eine Ergänzung des Verbs [129, 109]. Ähnliche Gedanken äußern gegenwärtig viele Linguisten. Martinet z. B. meint, daß das Prädikat das Subjekt nicht determiniere; das Subjekt sei lediglich ein ständiger Begleiter. Das eben unterscheidet es von den übrigen Begleitern, die nur fakultativen Charakter haben [112, 31], Die Unmöglichkeit, das syntagmatisch abhängige Element zu beseitigen, ohne die Funktion des Hauptgliedes der Kombination zu beeinträchtigen, unterscheidet die prädikativen Beziehungen von den subordinativen (Rektion und Kongruenz). Eine prädikative Verbindung ist auch nicht koordinativ, denn ihre Glieder sind zum Unterschied von einem parataktischen Syntagma gegen26

A. A. JjMHTpneBCKHii. IIpaKTHHecKHe 3aMeTMi o pyccKOM ciiHTaKCHce. J^Ba jiii rnaBHHx NPEANOSKEHH ? — FLDUNOJIORIIHECKHE 3amiCKii. BopoHe». 1877. BtinycK IY, CTp. 22-23.

MJIEHA B

275

-einander nicht austauschbar [111, 379]. Solche Erwägungen veranlaßten viele ^Forscher, die prädikativen Beziehungen als eine besondere syntaktische Verbindung neben der Subordination und der Koordination anzusehen [131]. Daß diese drei Arten syntaktischer Beziehungen korrelieren, wurde jedoch von verschiedenen Syntaktikern angezweifelt. I n der russischen linguistischen Tradition äußerte sich die Anerkennung ihrer prinzipiellen Heterogenität so, daß man die parataktischen und die hypotaktischen Beziehungen im Zusammenhang mit der Struktur der Wortgruppen behandelte und die prädikativen Beziehungen in die Syntax des Satzes verwies. Eine solche Auffassung von den •syntaktischen Beziehungen wurde von Winogradow und seinen Schülern begründet und fand ihren Niederschlag im Abschnitt „Syntax" der von der Akademie der Wissenschaften der UdSSR 1952 herausgegebenen „Grammatik der russischen Sprache". I n der übrigen europäischen Linguistik wurde die Heterogenität der prädikativen Beziehungen gegenüber den anderen Typen des syntaktischen Zusammenhangs (Subordination und Koordination) von de Groot gezeigt, der in dieser Frage mit Trubetzkoy [131] polemisierte und darauf aufmerksam machte, daß in der Syntax die Opposition Koordination/Subordination auf einem anderen, niedrigeren Stukturniveau steht als die Opposition .Nominativität/Modalität (reference : judgement). Das wird speziell dadurch bestätigt, daß beide Typen der eigentlich syntagmatischen Beziehungen — die Koordination und die Subordination — sowohl prädikativ (dogs bark 'die Hunde bellen', summus jus — summa injuria 'höchstes Gesetz — höchste Ungerechtigkeit', tel maitre — tel valet 'wie der Herr, so auch der Diener') als auch nichtprädikativ sein können (barking dogs 'bellende Hunde', children, men and women 'Kinder, Männer und Frauen') [86, 6 - 7 ] . Der Zusammenhang zwischen dem Subjekt und dem Prädikat des Satzes hat :somit eine Beziehung zu zwei Ebenen der Sprachstruktur 2 7 . Er läßt sich also verschieden interpretieren. Seine Doppelnatur ist dadurch bedingt, daß das persönliche Verb auch „Details" unterschiedlicher Mechanismen der Sprache •enthält — syntagmatische Morpheme, die den Kontakt zum Subjekt herstellen, und aktualisierende Morpheme des Modus und Tempus, die die ganze Mitteilung zur Wirklichkeit in Beziehung setzen, ihre Modalität ausdrücken. Daß das Prädikat dem Subjekt syntagmatisch untergeordnet ist, ist eine Eigenschaft der Beziehungen zwischen den jeweiligen Gliedern des Satzes und entspricht im allgemeinen denjenigen Abhängigkeiten, die zwischen seinen anderen Elementen, speziell zwischen dem Determinans und dem Determinandum festgestellt wer27

Den Gedanken, daß die Beziehungen zwischen dem Subjekt und dem Prädikat heterogen sind, enthält die folgende Bemerkung Pospelows: „Meines Erachtens kreuzen sich in der zweigliedrigen Struktur des einfachen Satzes dissymmetrisch zwei Richtungen der syntaktischen Beziehungen auf zwei verschiedenen Ebenen. Einerseits (auf der niedrigeren Ebene) zeigt sich im Satz der syntaktische Zusammenhang der Kongruenz zwischen dem Prädikat und dem Subjekt, der in der Richtung vom Subjekt zum Prädikat verläuft (S ->- P). Andererseits (auf der höheren Ebene) wird in der Struktur des Satzes ein tieferer Zusammenhang sichtbar, der in umgekehrter Richtung verläuft — vom Prädikat zum Subjekt (P -* S), die K o p p l u n g des Subjekts mit dem Prädikat, die das Subjekt in eine prädikative Korrelation mit dem Prädikat einbezieht" [46, 299].

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den. Die zentrale Stellung des Prädikats kennzeichnet dieses nicht in bezug auf irgendein Glied des Satzes, sondern in bezug auf die ganze Äußerung, in der man wie auch in den anderen Struktureinheiten der Sprache einen zentralen und einen marginalen Teil unterscheiden kann. Bazell schrieb: „Es darf angenommen werden, daß sich das 'Subjekt' in ein und derselben Sprache logisch nicht sowohl als untergeordnet als auch als determiniert deuten läßt. Denn zu sagen, daß die eine Einheit die andere determiniert, heißt soviel wie zu sagen, daß die erste Einheit die Anwesenheit der zweiten in demselben Svntagma voraussetzt . . . Wenn A B determiniert, kann die Funktion von A nicht gleich der Funktion des Syntagmas AB sein. Die Bestimmung kann in diesem Sinne keine zentrale Position belegen. Sie kann aber Merkmale der zentralen Position haben, die mit ihrem Status kompatibel sind. So wird das verbale Prädikat mit all den Endungen kombiniert, die sich auf den ganzen Satz beziehen, einschließlich des Subjekts, wobei diese Tendenz fast universell ist" [67, 9]. I n dieser Äußerung Bazells heißt es richtig, daß die Dualität der Beziehungen zwischen dem Subjekt und dem Prädikat damit zusammenhängt, daß das Prädikat funktional verschiedene grammatische Kategorien enthält 2 8 . Diese Beobachtungen bestätigt eine Analyse der Ausdrucksform der prädikativen Beziehungen. Das Morphem der syntagmatischen Abhängigkeit ist in den indoeuropäischen Sprachen im subordinierten Element repräsentiert und koordiniert untereinander nur zwei Formen, im vorliegenden Fall das Subjekt und das Prädikat. Das Morphem des Tempus und Modus steckt im zentralen Element. Ohne das Prädikat mit irgendeinem anderen konkreten Element zu verknüpfen (wenn man natürlich von seinen Sinnbeziehungen zu den Adverbialbestimmungen der Zeit und den Modalwörtern absieht), hebt es das Prädikat von allen anderen Satzgliedern ab. Der syntagmatische Aspekt des Satzes ist nach dem „Eigentumsprinzip"' organisiert. Das Zeichen der Zugehörigkeit steckt, wenn es einen morphologischen Status hat, in der Form des untergeordneten Wortes. E s trägt den „Stempel des Eigentümers", so daß es nicht einem anderen Besitzer zugewiesen werden kann. Die „Eigentumsbeziehungen" entfalten sich im Satz hierarchisch: Jedes Glied kann sowohl Eigentümer als auch Eigentum sein. Nur der Haupteigentümer — das Subjekt ist nicht markiert, was ihn von den anderen Aktanten abhebt. 28

Ähnlich wird das Problem der Beziehungen zwischen Subjekt und Prädikat im Rahmen des applikativen Modells gelöst, dessen Autoren eine applikative und eine konstitutive Domination unterscheiden. Die applikative Domination meint die Beziehungen der syntagmatischen Abhängigkeit , die konstitutive Domination die Beziehung des zentralen Gliedes einer Wortgruppe (d. h. des Gliedes mit den Eigenschaften des Ganzen) zu den marginalen Elementen. Da das Subjekt manche formalen Eigenschaften des Prädikats vorhersagt, realisiert es über das Prädikat eine applikative Domination. Das Prädikat seinerseits realisiert am Subjekt die konstitutive Domination, denn gerade auf das Prädikat läßt sich die Kernstruktur des Satzes reduzieren. Die applikative Domination ist Sobolewa und anderen zufolge der formale Ausdruck der nominativen Zentralstellung des Subjekts (des Substantivs), während der konstitutiven Domination des Prädikats (des Verbs) in semantischer Hinsicht seine kommunikative Domination entspricht [52, 17-18].

19 Serebrennikow II

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Der Aspekt der Aktualisierung des Satzes sieht anders aus. Hier herrscht d a s Prinzip der „Macht". Das Merkmal der Zentral Stellung (die Kategorie des Modus und Tempus) steckt im Kern selbst — im Prädikat. Das ist seine „Machtinsignie". Seine Wirkung erfaßt die ganze Äußerung. I m ersten Falle ist das untergeordnete Element, im zweiten Falle das Hauptelement formal markiert. Somit gibt es im Satz sowohl einen „Chef" (den „Zaren des Satzes", wie Dmitrijewski sich ausdrückte) als auch einen „Regenten". Die syntagmatische Überlegenheit des Subjekts ist dadurch ausgedrückt, daß in ihm das Zeichen der Abhängigkeit fehlt, die Zentralstellung des Prädikats dagegen dadurch, daß in ihm Aktualisatoren vorhanden sind. Dadurch, daß der Satz ein absolut unabhängiges Element und ein funktional zentrales Glied enthält, ist seine Kernstruktur zweigliedrig, belegt das syntagmatisch abhängige Element die Zentralstellung. Peschkowski schrieb über diese Besonderheit des Satzes: „Das f ü r den Ausdruck des Denkprozesses w i c h t i g s t e Wort erweist sich als einem anderen Wort untergeordnet, weil es ein Merkmal und nicht einen Gegenstand bezeichnet! Hierin liegt die bekannte A n t i n o m i e , die bekannte Kollision der Grundlagen der Sprache" [44, 187—188]. Kurylowicz sah in dieser Eigenschaft des Satzes einen Zug, der ihn von der Wortgruppe unterscheidet. Das konstituierende Glied im Satz sei die Determination und in der Wortgruppe das Deberminandum [102, 40]. Dadurch, daß das Subjekt durch das zentrale Glied des Satzes determiniert ist, erhebt es sich auf die Ebene des Satzes als der kommunikativen Einheit, in deren Rahmen es eine bestimmte kommunikative Funktion erhält. Das syntagmatisch unabhängige und das strukturell zentrale Element formieren die Zwei-Positionen-Struktur des „klassischen" Satzes, deti Birhemas nach Sechehaye [126] und Bally [65, 54], worin das erste Glied dem Thema der Mitteilung und das zweite dem Rhema entspricht. Das erste Element — das Subjekt — realisiert vor allem die Funktion der Identifizierung und das zweite — das Prädikat — die Existentialfunktion, indem es in einem konkreten Gegenstand die Existenz einer allgemeinen Eigenschaft angibt. „Beide Beziehungen — die Identifizierung und die Existenz — sind grundlegend für jeden Satz", schrieb Pauliny [118, 62]. Die Relevanz gerade des Prädikats für die Kommunikation wird speziell dadurch bekräftigt, daß sich die Semantik des Subjekts, selbst wenn es im Satzi formal bezeichnet ist, auf Null reduzieren läßt (vgl. franz. il pleut 'es regnet'), was in bezug auf das Prädikat unvorstellbar ist [111, 379]. Daß der Satz zwei Positionen hat, ist folglich von kommunikativem Wert, denn so läßt er sich in das Thema und das Rhema gliedern. Dieses Gegliedertsein interpretiert man gewöhnlich in den logischen Kategorien des Subjekts und des Prädikats des Urteils. Ohne den logischen Sinn dieser Erscheinung auch nur im geringsten zu leugnen, beachten wir jedoch vor allem ihre kommunikative Relevanz. Die Behandlung der Zweigliedrigkeit des Satzes unter kommunikativem Aspekt hat für den Sprachforscher verschiedene Vorzüge. Sie gestattet es z. B., die Frage der logischen Natur der Frage-, Ausrufe- und Befehlssätze unerörtert zu lassen. Sie erlaubt es außerdem, die Gleichartigkeit der Hauptkategorien des Satzes und der Kategorien der kommunikativen Syntax — des Themas und des Rhemas — hervorzuheben. Pflichtet man der Ansicht bei, daß dies Erschei278

nungen der gleichen Ordnung sind (einen anderen Standpunkt hierzu vertritt Kruschelnizkaja [30]), so erscheint es unbegründet, den ersten Kreis von Erscheinungen im Hinblick auf die logische Struktur des Denkens und den zweiten unter dem Aspekt der Verteilung der kommunikativen Funktionen im Satz zu deuten. Eine Analyse des Kerns des Satzes läßt also erkennen, wie sehr es für ein Verständnis seiner Strukturorganisation darauf ankommt, zwischen dem E f f e k t des syntagmatischen und des aktualisierenden Mechanismus der Sprache zu unterscheiden und wie sehr beide im Satz, der eine Resultante der in verschiedenen Richtungen wirkenden K r ä f t e ist, aufeinander einwirken.

Die grammatischen Kategorien u n d die F o r m e n des Satzes Die bisherigen Abschnitte zeigten Wirkung und Wechselwirkung der an der Gestaltung der Äußerungen beteiligten verschiedenen Mechanismen der Sprache: Der eine Mechanismus sorgt für die Bildung der redebedingten (syntaktischen) Nominationen, der andere bestimmt in der Nomination den kommunikativen Kern — das, was mitgeteilt wird, der dritte setzt die Nomination zur Redesituation in Beziehung, der vierte macht den Zweck des Sprechakts sichtbar. Alle diese Mechanismen haben ihre ganz bestimmte Zielrichtung, ihr Wirken in der Sprache ist aber häufig nicht nur synchronisiert, sondern auch gekoppelt. Das Zusammenwirken der genannten Mechanismen erzeugt Konstruktionen, die der Beteiligung an der Kommunikation als Einzelmitteilungen angepaßt sind. Während der Hervorbringungsprozeß nach einem „vorgegebenen" Programm abläuft, haben die zu schaffenden Äußerungen eine standardisierte (grammatische) Struktur, können sie durch Sätze der jeweiligen Sprache benannt werden. Der Satz fleBOHKa coönpajia 3eMJUiHHKy 'Das Mädchen sammelte Walderdbeeren' ist eine redebedingte Ereignisnomination, in deren Mittelpunkt das Verb (der Name eines Merkmals oder einer Handlung) steht. Er kann eine Einzelmitteilung sein, die mit einer abgeschlossenen Intonation ausgesprochen wird. Er besteht aus dem Mitteilungsthema, dem in einer syntagmatisch unabhängigen Form stehenden Subjekt (fleBoiKa 'das Mädchen'), und aus dem kommunikativen Kern, dem die Position des Prädikats einnehmenden Rhema (coöwpajia 3eMjmH H K y 'sammelte Walderdbeeren'). E r korreliert mit dem Zeitpunkt der Rede dadurch, daß das Prädikat die Kategorie des Tempus ausdrückt, und mit den Kommunikationspartnern dadurch, daß es die Kategorie der Person hat. E r drückt die Beziehung zur Wirklichkeit (zum bezeichneten Ereignis) aus, weil an seiner Bildung die Kategorie des Modus beteiligt ist. E r gibt schließlich auch die kommunikative Einstellung des Sprechers wieder, da es sich um eine Mitteilung (und nicht um eine Frage oder einen Befehl) handelt. Der Satz ist also eine vielseitige Einheit der Sprache (daß er mehrere Aspekte hat, zeigt Admoni [2, 41-44]). 19*

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J e d e im Satz ausgedrückte allgemeine Kategorie besteht aus verschiedenen partiellen, einander gegenübergestellten Bedeutungen. Diesen Bedeutungen entsprechen gewöhnlich besondere Satzformen. Diejenigen von ihnen, die zur gleichen grammatischen Kategorie gehören und in derselben Position verwendet werden, bilden zusammen das Satzparadigma. Die Zahl der paradigmatischen Reihen eines Satzes entspricht der Zahl der ihm eigentümlichen grammatischen Kategorien und k a n n von Sprachtyp zu S p r a c h t y p variieren. Die zusammen realisierten grammatischen Kategorien (z. B. die Kategorien des Tempus und des Modus) bilden ein gemeinsames Paradigma. Am ausgeprägtesten und f ü r die meisten entwickelten Sprachen a m relevantesten ist das Modus-Tempus-Paradigma des Satzes, das F o r m e n zusammenf a ß t , die den I n h a l t der Äußerung auf verschiedene Weise zur Realität in Beziehung setzen u n d ihn mit dem Zeitpunkt der Rede koordinieren (Näheres über diese Paradigmen f ü h r t Schwedowa aus [60]). Das Modus-Tempus-Paradigma k a n n aus Teilparadigmen bestehen je nach der Korrelation der dazugehörigeil F o r m e n mit der absoluten oder nichtabsoluten Position. Eine andere Reihe von Formen trägt dazu bei, daß die Äußerung zu den K o m munikationspartnern in Beziehung gesetzt wird, sie entsteht auf der Grundlage der Kategorie der Person einschließlich der unbestimmtpersönlichen Subjektformen [49, 96]. Die Satzformen, die nach den Bedeutungen des Tempus, des Modus und der Person variieren, gehören zum aktualisierenden Aspekt der Syntax. Mit der kommunikativen Seite des Satzes (d. h. dem Ausdruck der kommunikativen Aufgabe in ihm) hängen offenbar die F o r m e n des Genus verbi in dem Maße zusammen, wie sie die kommunikative Absicht des Sprechers realisieren. Dazu können auch die sogenannten emphatischen Konstruktionen gerechnet werden, wenn sie in der Sprache regelmäßig und nicht sporadisch verwendet werden. Vgl. engl. John said this news to me ' J o h n teilte mir diese Neuigkeit mit' mit It was John who said this news to me ' E s war J o h n , der mir diese Neuigkeit mitteilte' oder 'Diese Neuigkeit teilte mir J o h n mit', It was this news that John said to me ' E b e n diese Neuigkeit teilte mir J o h n mit' oder It was to me that John said this news 'Mir teilte J o h n diese Neuigkeit mit'. I n den Genus-verbi- und den emphatischen F o r m e n bleiben kommunikativer K e r n des Satzes u n d Z e n t r u m der Aktualisierung zusammengefaßt: Das P r ä d i k a t repräsentiert das kommunikative Zentrum und setzt zugleich die ganze Mitteilung zur Realität in Beziehung. Auch die ihrer F u n k t i o n nach analogen Paradigmen werden von der k o m m u nikativen S y n t a x geschaffen, die die konstruktive S y n t a x überlagert [49, 99; 26]. Die Glieder solcher Paradigmen unterscheiden sich voneinander durch die Anordnung der Wörter und die Verteilung der Satzakzente und in bezug auf die Bedeutung durch die Realisierung verschiedener kommunikativer Aufgaben. Vgl. AHflpeii n p H i n e j i 'Andrej ist gekommen' mit ripiimeji An^peii ' E s ist Andrej gekommen'. I n solchen Formen ist das kommunikative Zentrum des Satzes gegenüber dem Aktualisierungszentrum verlagert. I n dem »Satz r[pninert ÄH^peii liegt der kommunikative K e r n in dem W o r t ÄH,npeü, während die Kategorien des Tempus u n d Modus, die die Äußerung aktualisieren, im verbalen 280

Prädikat npimieji ausgedrückt sind. Zu den Formen der kommunikativen Syntax gehören im Russischen auch die verneinten Sätze, denn die Stelle der Negation hängt in ihnen unmittelbar von der kommunikativen Gliederung des Satzes ab. Der Satz 9TO c^ejian He H 'Das habe nicht ich getan' setzt voraus, daß das kommunikative Prädikat (das Rhema) das Subjekt ist. Ein Satz kann soviele Negationsformen haben, wieviele kommunikative Gliederungen seine Struktur zuläßt. Jede negative Form korreliert mit der Realisierung der Strukturformel des Satzes in der kommunikativen Syntax [31]. Mit dem kommunikativen Aspekt des Satzes hängen auch die Formen zusammen, die das Ziel des Sprechakts erkennen lassen. Nach dem Charakter des Stimulus lassen sich Paradigmen unterscheiden, die affirmative, interrogative und Imperativische Sätze umfassen [49, 98]. Die Zahl der speziellen Fragen, die mit ein und demselben Satz korrelieren, entspricht der Zahl der für ihn möglichen Gliederungen in der kommunikativen Syntax, denn der Charakter der Frage hängt davon ab, welches Glied des Satzes sein Kern, das Rhema, ist. Die Frage KTO npnmeji? 'Wer ist gekommen?' setzt voraus, daß das Subjekt erkennbar ist, während in der Frage Kyaa TLI npiimeji? 'Wohin bist du gekommen?' das Rhema eine Adverbialbestimmung des Ortes ist. Die Formen der Fragen (sowie die Negationsformen) erzeugen sekundäre Reihen gegenüber den Formen der Äußerung in der kommunikativen Syntax. Es handelt sich um eine Art grammatischer Überlagerung der kommunikativen Syntax. Die einen Formen korrelieren also mit dem in seiner Konstruktion gesehenen Satz und reagieren nicht auf seine Realisierung. Die anderen Formen beruhen unmittelbar auf den kommunikativen Modifikationen des Satzes. Der Bereich dieser Modifikationen gehört zur „Linguistik der Rede", von deren Notwendigkeit Ende der 40er Jahre Skalicka schrieb [128, 36]. Wie also das Substantiv, das eine Reihe obligatorischer (grammatischer) Bedeutungen hat, mehrere Systeme von Formen schafft, so bildet der Satz, der durch eine Reihe grammatischer Kategorien gekennzeichnet wird, mehrere Mengen von Formen, von denen jede unbedingt eine der zu jeder grammatischen Kategorie gehörenden Bedeutungen hat. Die speziellen Bedeutungen, die jeweils eine grammatische Kategorie des Satzes bilden, stellen untereinander Oppositionen dar.

Die paradigmatischen Beziehungen in der Syntax Das Problem der syntaktischen Paradigmatik, von dem im vorigen Abschnitt die Rede war, wurde zum Unterschied von dem für die Grammatik traditionellen Problem der morphologischen Paradigmen des Satze3 (die gewöhnlich Flexion des Verbs heißen- 9 ) als Gegengewicht und Ergänzung zur distributioneilen 29

Hjelmslev dürfte nachgewiesen haben, daß die sogenannten Verbmorpheme zum ganzen Satz gehören und nicht zum Verb, d. h. die Ebene des Satzes und nicht des Wortes kennzeichnen. Daher -widerspiegeln die in der traditionellen Grammatik üblichen Formulierungen, die Tempus und Modus der Phrase zuschreiben, den Sachverhalt sehr gut [92, 186J (vgl. auch Sedelnikow [50, 70]).

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Syntax aufgestellt, die sich auf die Untersuchung der syntagmatischen Beziehungen im Text beschränkt. Die Herausbildung der paradigmatischen Konzeption des Satzes wurde unmittelbar durch die Methode der Transformationsanalyse stimuliert, die Mitte der 50er J a h r e durch Chomsky im Rahmen der von ihm entwickelten Theorie generativer Grammatiken angewandt wurde [74]. Die Aufnahme einer besonderen Art von Beziehungen zwischen den Konstruktionen in die Syntax wurde von vielen Linguisten als Ergänzung der Syntax durch eine Komponente aufgefaßt, deren Fehlen den Aufbau des syntaktischen Systems der Sprache behindert hatte. Worth meinte, daß in den meisten im Sinne der traditionellen Syntax angelegten Arbeiten der Begriff des Systems fehlt, und äußerte die Hoffnung, daß die Transformationsmethode helfen würde, diesen Mangel zu beheben [134, 62], Trotz der großen Mannigfaltigkeit der Prozeduren, die unter dem Gesamtbegriff Transformationen zusammengefaßt werden, sind sämtliche Untersuchungen zur Transformationssyntax dadurch gekennzeichnet, daß die syntaktische Komponente in ihnen als ein in sich geschlossenes System repräsentiert ist, das aus einem kleinen Inventar von Ausgangseinheiten und einer Liste von Regeln besteht, deren Anwendung zur E r zeugung einer unendlichen Zahl real vorkommender Äußerungen der betreffenden Sprache führt. Die Modellierung der Transformationsreihen von Sätzen machte eine gewisse Parallele in der Organisierung syntaktischer und morphologischer Strukturen, speziell die Existenz von Flexions- und Derivationsformen auf beiden Ebenen, sichtbar und führte zum Begriff des syntaktischen Paradigmas [1, 78—79], das bald weiter (ähnlich dem Begriff der Transformationsreihe), bald enger (ähnlich dem Begriff des morphologischen Paradigmas) gedeutet wird (vgl. den Überblick über die Arbeiten zur syntaktischen Paradigmatik bei Kostinski [27]). Das Satzparadigma im weiteren Sinne steht z. B. in der Konzeption von Adamec [1, 79]. Der tschechische Syntaktiker versteht unter dem Paradigma ein hierarchisch organisiertes System, zu dem der Kernsatz, seine sämtlichen Transforme, die die Veränderungen im syntagmatischen Mechanismus bei stabiler inhaltlicher Seite voraussetzen, alle seine Modifikationen, die eine Veränderung der Modal- oder Phasisbedeutung voraussetzen, und alle seine Varianten, die Veränderungen seiner morphologischen Kategorien (Aspekt, Tempus, Modus, Numerus) voraussetzen. Das von Adamec formulierte Prinzip bezweckt den Aufbau eines allgemeinen Syntaxsystems der Sprache, das als Gesamtheit der mehrgliedrigen und hierarchisch organisierten Paradigmen einer begnenzten Zahl von Kernmodellen darzustellen sei. Solche hierarchischen Paradigmen, die um die Ausgangsstruktur herum ihre grammatischen u n d semantischen Modifikationen sowie Synonymreihen zusammenfassen, benannten manche Linguisten später als syntaktisches Feld des Satzes (vgl. Solotowa [23, 192]). I n anderen Konzeptionen erscheint das Paradigma des Satzes als das Ergebnis einer Beschränkung der Transformationsserie auf Umwandlungen innerhalb des Modells. Die Umwandlungen werden gewöhnlich innerhalb der dem Satz eigentümlichen grammatischen Kategorien — Tempus, Modus, Person, Numerus, Genus und Aspekt der Mitteilung nach ihrem kommunikativen Ziel — realisiert [50, 70]. Noch enger und dadurch exakter ist das Paradigma des Satzes in 282

Schwedowas Konzeption umrissen. Danach gehören zum Paradigma des Satzes, der als eine abstrakte syntaktische Struktur aufgefaßt wird, die Formen, die sich in bezug auf die Merkmale des syntaktischen Tempus und der objektiven Modalität (wie Schwedowa sagt) unterscheiden, die zusammen die den Satz konstituierende Kategorie der Prädikativität ausmachen [60, 7f.]. Solchen Paradigmen liegen dieselben grammatischen Kategorien zugrunde, die auch die morphologischen Formen des Satzes organisieren. Aber obwohl das Paradigma •des Satzes mehr dem morphologischen Paradigma gleicht als die Variativreihen, die die Verbindung zur Transformationsmethode noch nicht verloren haben, wird es in dieser Konzeption als ein syntaktisches Paradigma gekennzeichnet: Seine Glieder sind syntaktische (und nicht morphologische) Satzformen, in denen die Unterschiede nach den Merkmalen des Tempus und der Modalität nicht nur durch Veränderungen im Verb, sondern auch durch Unterschiede in der Struktur des Satzes ausgedrückt werden. Vgl. den Konjunktiv in Y I E H H K nucaji 6H 'der Schüler würde schreiben', den Konditional in nimm 6 H Y I E M I K 'schriebe der Schüler', den Debitiv in yqemiK IIHIIIH, a . . . 'der Schüler muß schreiben, aber . . .', den Optativ in ecjin 6ti yieiiHK nucaji 'wenn der Schüler doch schriebe', den Imperativ in nycTb yiemiK numeT 'der Schüler soll schreiben' {60, 8]. Erweitert man den Formbegriff auch um syntaktische Merkmale, so werden diejenigen Bedeutungen, die die Kategorie der Prädikativität integrieren, feiner differenziert als im morphologischen Paradigma. Außerdem wird das syntaktische Paradigma für alle mögliehen Satzmodelle aufgebaut, während das morphologische Paradigma nur für die „klassischen" Verbsätze gilt. I m übrigen können die Glieder der Paradigmen des zu analysierenden Typs mit unterschiedlichen syntaktischen Positionen korrelieren, sie stehen also untereinander nicht immer in eigentlich paradigmatischen Beziehungen. Schließlich gibt es in der Entwicklung der paradigmatischen Auffassung des Satzes den dritten Weg, der die Richtung der logischen Semantik in der Syntax kennzeichnet. Dieser Konzeption zufolge müssen zu einer Reihe Sätze zusammengefaßt werden, die sich mit ein und demselben Denotat vertragen und untereinander in paradigmatischen Beziehungen stehen, die die Wahl der Konstruktion für die Bezeichnung eines Ereignisses voraussetzen. Eine solche Deutung des Paradigmas der Sätze (dabei handelt es sich nicht mehr um Formen desselben Satzes) orientiert die Forscher auf den onomatologischen Aspekt des Satzes, speziell auf die Erscheinung der syntaktischen Synonymie. Die im Schöße der Transformationssyntax entstandene paradigmatische Satzkonzeption fand also nicht nur in der Theorie generativer Grammatiken Anwendung, in der sie den unmittelbaren Zweck hat, die Systemorganisation der syntaktischen Ebene der Sprache zu modellieren, sondern faßte auch in den anderen linguistischen Theorien Fuß, speziell in der von Schwedowa entwickelten formal-syntaktischen Richtung und in der Schule, die sich auf die Ideen der logischen Semantik stützt, die sich vor allem für die Wandlungen in der nominativen Struktur des Satzes interessiert. Den Begriff der paradigmatischen Satzformen verwenden sowohl die konstruktive als auch die kommunikative Syntax. 283

KAPITEL 5

Die Wortbildung

Wie bereits erwähnt worden ist, unterscheidet man in der Sprachwissenschaft zweckmäßigerweise auch Bereiche, denen in der Sprache keine Ebenen unmittelbar entsprechen. Ein solcher wichtiger Bereich der Linguistik, die ein besonderes Subsystem der Sprache untersucht, das innerhalb des sprachlichen Globalsystems existiert, aber keine besondere Ebene in der Sprachstruktur darstellt, ist die Wortbildung. Die Wortbildung, die traditionell als die Lehre von der Bildung neuer Wörter und den dabei verwendeten Mitteln gilt, ist erst relativ spät zu einer systematischen Disziplin geworden. Obwohl praktische Angaben über die Besonderheiten der Wortzusammensetzung und der Wortableitung schon lange zu den allgemeinen Sprachbeschreibungen gehören und dabei oft selbständige Kapitel bilden (vgl. Winogradow [12], Lopatin und Uluchanow [68], Krutikow [48] und Kubrjakowa [49; 54,4]), charakterisiert man die Wortbildung erst in den letzten Jahrzehnten bewußt als besonderen Bereich der sprachlichen Modellierung. Vordem wurde die Wortbildung meist faktographisch und inventarisierend beschrieben, fragte man in der Regel nicht nach Hierarchie und Wechselwirkung der Wortbildungsmittel. Sogar für gut erforschte Sprachen fehlten erschöpfende oder auch nur hinreichend ausführliche Beschreibungen sämtlicher Wortbildungserscheinungen. Die Wortbildung galt nicht als eine selbständige theoretische Disziplin, und viele Grundbegriffe wurden nicht genügend geklärt. Manche Begriffe sind auch heute noch nicht herauskristallisiert, manche noch nicht exakt genug von den in Nachbardisziplinen verwendeten Begriffen abgegrenzt. All dies erklärt sich natürlich nicht nur dadurch, daß viele Erscheinungen der Wortbildung noch nicht eigens untersucht sind, sondern auch dadurch, daß dies nicht von einer einheitlichen Warte aus geschieht. Den Grundstein f ü r eine Wortbildungstheorie zu legen wurde und wird erschwert durch Unklarheiten über den Platz der Wortbildung im Sprachsystem, durch große Meinungsverschiedenheiten über ihre Stellung, die unterschiedliche Behandlung ihrer Beziehungen zu den anderen Disziplinen, die einseitige Beschreibung nur der formalen oder umgekehrt nur der semantischen Besonderheiten der Derivation und Wortzusammensetzung. Ungenügend beachtet werden diese Probleme auch in der allgemeinen Sprachwissenschaft. So haben die vielfach erwähnten Lücken der Wortbildungslehre [140, 238-239; 172,3; 175,8; 118,139] verschiedene objektive Ursachen. Die wichtigste dieser Ursachen dürfte aber doch die Kompliziertheit des Beschreibungsobjekts selbst sein. 284

Schwieriger als in anderen Bereichen der Sprachwissenschaft lassen sich hier das synchronische und das diachronische Beschreibungsprinzip voneinander exakt abheben, und es ist kein Zufall, daß die klassische Wortbildungslehre diachronisch ausgerichtet war. Auch wenn manche Wortbildungsmodelle unproduktiv werden, bleiben sie doch lange in den nach ihrem Muster gebildeten Wörtern erhalten. Viele abgeleitete Wörter einer Sprache sind daher nicht nur Wortbildungsarchaismen, sondern auch Einheiten, die nicht immer wieder neu gebildet, sondern schon fertig verwendet und reproduziert werden. Schwieriger als in anderen Bereichen der Sprachwissenschaft lassen sich hier die Sprechakte von den Erscheinungen des Sprachsystems, die Normen des Wortgebrauchs und der Tradition von den Systemfaktoren, die Bildung neuer Einheiten durch Sprachschöpfung von der einfachen Wiederholung des bereits Fertigen unterscheiden. Schließlich zerfließen gerade hier die Grenzen zwischen Richtigem u n d „Falschem", Regulärem und Irregulärem, zwischen dem Kern des Systems u n d seiner Peripherie. Alles das erschwert zusätzlich nicht nur die Beschreibung der konkreten Wortbildungssysteme u n d die Auswahl des Materials, das zu analysieren, zu registrieren und zu klassifizieren ist, sondern auch die Bildung der Begriffe für eine widerspruchsfreie, in sich geschlossene und möglichst vollständige Kennzeichnung solcher Systeme. Ein Fortschritt bei der Lösung dieser Probleme ist der Versuch verschiedener Forscher, die Wortbildungslehre zu einer selbständigen theoretischen Disziplin mit eigenen Begriffen und "Untersuchungsmethoden zu machen. Solche Bemühungen sind durchaus erfolgversprechend, und der Gedanke, daß die Wortbildung autonom ist und sich die Wortbildungssysteme der konkreten Sprachen in einheitlichen Termini effektiv beschreiben lassen, findet jetzt immer mehr Anhänger [ 5 , 3 - 4 ; 54,12-13;, 68,51; 163; 115; 97; 144,14; 147,24-28; 101]. Es trifft durchaus zu, wenn man sagt, daß die Verwandlung der alten beschreibenden Wortbildungslehre mit ihren rein empirischen Grundsätzen in eine neue theoretische Disziplin auch den Hauptentwicklungstendenzen der Linguistik überhaupt entspricht, denn nur so entsteht die erforderliche Grundlage für eine adäquate Sprachbeschreibung im Bereich der Wortbildung. Viele Sprachwissenschaftler halten die Wortbildungslehre vor allem aus ganz praktischen Gründen f ü r eine selbständige Disziplin. Da die Wortbildung vielseitige und recht enge Beziehungen zu so verschiedenen Bereichen der Sprachstruktur wie Grammatik, Lexik und Morphologie hat, wirkt sich ihre Aufnahme in eine dieser Disziplinen unvermeidlich auf die Behandlung der eigentlichen Wortbildungserscheinungen aus. So dürfte die Eingliederung der Wortbildung in die Grammatik den lexikalisch-semantischen Aspekt und in die Lexik den formalen oder strukturellen Aspekt beeinträchtigen. Das muß man offenbar berücksichtigen, denn das Spezifische der Wortbildung besteht gerade darin, daß sie mehrschichtig ist, daß ihre Beziehungen verschiedene Seiten haben und deshalb jede einseitige Behandlung der Wortbildungsprozesse nicht mehr den wirklichen Sachverhalt widerspiegelt und die eigentliche Problematik der Wortbildung stark einengt. Andere Sprachwissenschaftler vertreten im großen und ganzen den gleichen 285

Standpunkt, halten aber die Wortbildung deshalb für eine selbständige Disziplin, weil ihr Untersuchungsgegenstand einem besonderen Gebiet der Systematisierung der Fakten, d. h. einem eigenen S u b s y s t e m der Sprache entspricht, das sich von den anderen Teilen des Sprachsystems durch besondere Mittel, eigene Einheiten und, was die Hauptsache ist, durch spezifische Typen der Beziehung zwischen diesen Einheiten, d. h. durch die Struktur dieses Subsystems, unterscheidet [4; 16; 47; 52; 103; 104; 19; 50; 92]. Schließlich vertreten manche Forscher in letzter Zeit die These, daß die Wortbildung deshalb einen selbständigen Teil der Linguistik bilde, weil ihr in der Sprachstruktur eine selbständige E b e n e entspreche [144, 14-15; 66, 119-122; 94; 101]. Ob eine solche Auffassung zu Recht besteht, hängt allerdings davon ab, was man unter der linguistischen Ebene versteht. Versteht m a n unter ihr jegliche Entsprechung für ein einzelnes Glied in der Sprachstruktur oder gar jede konkrete Basis für die Betrachtung bestimmter Erscheinungen, so besteht der Ausdruck „Wortbildungsebene" durchaus zu Recht. Dann ist aber der Ausdruck „Ebene" kein Terminus mehr. H a t er aber einen festumrissenen Inhalt und interpretiert man ihn (wie im vorliegenden Werk) als einen besonderen Teil des Sprachsystems in Übereinstimmung mit vorher festgelegten Kriterien, so erscheint uns die Auffassung der Wortbildung als einer selbständigen Ebene als unzutreffend. Wir halten nämlich für das Hauptkriterium einer Ebene das Vorhandensein einer spezifischen kleinsten Einheit in dem betreffenden Subsystem der Sprache, einer Einheit mit Eigenschaften, die sich nicht aus den Eigenschaften der Subsystemeinheiten ableiten lassen (Näheres in Kapitel 2 des vorliegenden Bandes). Das durch besondere Einheiten gekennzeichnete Wortbildungssystem verfügt nicht über Einheiten mit solchen Eigenschaften, denn seine Einheiten sind sekundär und motiviert. Die richtige Feststellung, daß sich die Wortbildungslehre mit eigenen Einheiten befaßt und diese Einheiten vor allem D e r i v a t e im weiten Sinne sind [54, 2 3 - 2 4 ; 55, 135-136], kann die Wortbildung gerade deshalb nicht zu einer selbständigen Ebene machen, weil die Wortbildungseinheiten per definitionem Morpheme (sowie andere Formen) sind, „die die einzelnen Wörter bilden und eine Wortbildungsbedeutung ausdrücken" [66, 121], d. h. letztlich deshalb, weil die neue spezifische Eigenschaft einer Wortbildungseinheit — die Wortbildungsbedeutung — in der Regel durch die Vereinigung ganz bestimmter Elemente und damit als direkte (ableitbare) Folge einer Verknüpfung dieser Ausgangseinheiten zu einem strukturellen Ganzen entsteht. In den klassischen Wortbildungsfällen ist ein Derivat eine m o t i v i e r t e Kombination unmittelbarer Komponenten bestimmter Klassen, weshalb es sich durch diese auch beschreiben läßt. Definiert man also die Ebene mit Hilfe einer Einheit, deren Eigenschaften nicht aus der Summe der Eigenschaften ihrer Komponenten resultieren, so hat die Wortbildung nicht den Status einer Ebene. Eine spezifische Besonderheit der Derivate als der Wortbildungseinheiten (sowohl der Wörter als auch der Stämme) ist vor allem ihr deutlich ausgeprägter sekundärer Charakter; sie werden als abhängige Einheiten aufgefaßt, die mit ihren Ausgangseinheiten korrelieren, oft aber auch manche Ausgangseinheiten enthalten. Lopatin und Uluchanow postulieren eine selbständige Wortbildungsebene :286

u n d motivieren das damit, daß es zweckmäßig sei, „verschiedene Ebenen der Sprache nicht n u r auf der Grundlage der Segmente, sondern auch auf der •Grundlage der Verschiedenheiten ihrer F u n k t i o n e n u n d Organisationsarten (sowohl in syntagmatischer als auch in paradigmatischer Hinsicht) zu unterscheiden" [66, 120]. Theoretisch d ü r f t e eine so weitgehende Auffassung von der Ebene k a u m f r u c h t b a r sein [113,278; 37, 279]. Zudem gleichen sich bekanntlich stark die Arten, wie in vielen Sprachen die Morphemfolgen zu W ö r t e r n zusammengefügt werden, unabhängig davon, wie diese Folgen später identifiziert werden — als Wortformen oder als Derivate. So k a n n die Verbindung eines Kern- oder Wurzelmorphems mit einem Hilfsmorphem (einem Affix) sowohl eine Ableitung, ein Derivat, als auch eine Wortform kennzeichnen u n d dasselbe Affix in einer Morphemfolge ein Merkmal der Formbildung u n d der Wortbildung zugleich sein (vgl. die Rolle der Präfixe bei der Bildung der russischen Verben mit der Bedeutung des perfektiven Aspekts und zugleich mit einer neuen lexikalischen Bedeutung). Das Material, aus dem die verschiedenen Morphemfolgen — Wortformen wie Derivate — gebildet werden, läßt sich oft nicht eindeutig interpretieren, und, wie Semskaja richtig schreibt, ist „die Verschiedenheit zwischen den Derivations- u n d den Relationsmorphemen nicht so offensichtlich wie ihre Gemeinsamkeit" [37, 280]. D a s gleiche gilt auch unmittelbar f ü r die Organisationsarten der sekundären Einheiten in der Sprache; Affigierung u n d Wortzusammensetzung, Reduplikation u n d Alternation funktionieren bei der Formbildung wie bei der Wortbildung gleichermaßen gut. U n d obwohl in der jeweiligen konkreten Sprache die Ableitungen meist anders als die Wortformen gebildet werden, sind diese Unterschiede doch nicht so charakteristisch, daß sich Formbildung u n d Wortbildung voneinander exakt abgrenzen ließen. Andererseits gibt es keinen Grund zu sagen, die abgeleiteten Wörter h ä t t e n andere Funktionen als die nichtabgeleiteten, denn sowohl vom S t a n d p u n k t des Nominationssystems als auch vom S t a n d p u n k t der S y n t a x haben Derivate und Nichtderivate vor allem als E i n z e l w ö r t e r ihre Spezifik, weswegen sie äquivalente u n d gleichberechtigte Einheiten sein können. Wörter wie mwia 'Feile', Tonop 'Beil', ceajLKa 'Sämaschine', MOJiOTHjiKa 'Dreschmaschine', CMecHTejib 'Mischer' bezeichnen „Instrumente", diese Bedeutung ist aber in den beiden ersten Wörtern nicht selbständig, sondern im Wurzelmorphem selbst, in den anderen drei Wörtern aber durch ein besonderes Derivationsmorphem ausgedrückt (vgl. Wolozkaja [16, 57]). Das Wortbildungspräfix 3a- in Ableitungen wie 3aroBopiiTb 'zu sprechen anfangen', sapaöoTaTt 'zu arbeiten anfangen' (z. B. MexaHH3M 3apa6oTaji 'der Mechanismus funktionierte nun') h a t dieselbe Bedeutung wie das Verb HaiHHaTb, HanaTB 'anfangen" (vgl. Karoljak [44, 259]); das englische P r ä f i x extra- in extra-pay, extra-money, extra-copie h a t dieselbe Bedeutung wie die •entsprechenden Wörter f ü r 'zusätzlich', das schwedische Suffix -ful dieselbe Bedeutung wie die entsprechenden Wörter f ü r 'voll' usw. Man kann sagen, daß die abgeleiteten und die nichtabgeleiteten Wörter auch i m Satz funktional gleichberechtigt sind: eni(-OHOK) 6 h j i (npe)-MHJi-(eHi>K)-irii ••Der Igel (das Igelchen) war (zu) s ü ß ' ; vgl. auch he was a writer 'er war ein 287

Schriftsteller' mit he was a hero-writer 'er war ein Schriftsteller des Heldengenres' und he was a hero 'er war ein Held'. Deshalb schreibt auch Greenberg, daß durch die Anfügung eines Ableitungsaffixes in der Regel eine Konstruktion entsteht, die gegen eine bestimmte affixlose Morphemklasse austauschbar ist, ohne daß sich ihre syntaktische Bedeutung ändern würde [149, 191]. Eine weitere, von Sobolewa und ihren Anhängern entwickelte Konzeption f a ß t die Ebene als eine Organisation auf, die durch die H i e r a r c h i e der sie ausmachenden E i n h e i t e n gekennzeichnet ist [101,58; 48,85—86]. Daß die Wortbildungseinheiten eine strenge Hierarchie bilden und eine gewisse Subordination haben (Näheres soll noch ausgeführt werden), dürfte feststehen. Unseres Erachtens aber kennzeichnet die Hierarchie oder Rangordnung der Einheiten, die als „eine Beziehung zwischen zwei Mengen von Elementen, bei der sämtliche Elemente der ersten Menge auch Elemente der zweiten Menge sind, aber nicht umgekehrt" [40, 67] entschlüsselt wird, jedes beliebige komplizierte systemhaft organisierte Objekt. Mit anderen Worten: Dieses Merkmal, das eine der Arten zur Regelung der Beziehungen zwischen den einzelnen Elementen des Objekts widerspiegelt, kennzeichnet die Organisation des Objekts als ein besonderes S y s t e m . Wir setzen aber kein Gleichheitszeichen zwischen dem linguistischen (Sub-)System und der Ebene, weil wir meinen, daß, wie bereits hervorgehoben, als linguistische Ebene nur ein (Sub-)System bezeichnet werden kann, das einer zusätzlichen Anforderung genügt, nämlich der, daß es eine qualitativ spezifische Einheit enthält. Unter diesem Gesichtspunkt beweisen die hierarchischen Beziehungen zwischen den verschiedenen Einheiten im Bereich der Wortbildung unwiderlegbar, daß dieser Bereich systemhaft ist, nicht aber, daß er einen Ebenenstatus hat. Es muß trotzdem noch einmal hervorgehoben werden, daß die eine oder die andere Lösung in bezug auf den Ebenenstatus der Wortbildung vor allem von der Deutung des Ebenenbegriffs abhängt. Höchstwahrscheinlich hat Bach recht, wenn er hervorhebt, daß dem Begriff der Ebene nur ein System von Symbolen, Regeln usw. entspricht, das sich dazu eignet, Äußerungen zu repräsentieren [138, 57]. Demzufolge kann das Kriterium, daß eine Einheit einer selbständigen Ebene zugrunde liegt, nur die Möglichkeit sein, den betreffenden Text in ganz bestimmte diskrete Einheiten — und nur in diese — erschöpfend zu segmentieren. Man kann jeden beliebigen Text (und zwar vollständig) als Phonemketten, als Morphemketten oder als Folgen bestimmter Satzstrukturen darstellen. Eine andere Darstellung (außer der natürlichen Fixierung in Wörtern) ist eben nicht möglich. Auf keinen Fall ist ein Text ausschließlich durch Symbole und Regeln für die Bildung von Derivaten darstellbar, denn diese bilden nur einen begrenzten Teil des Textes. I m großen und ganzen lassen sich die Derivate zwar in bezug auf die Morpheme allgemein strukturell charakterisieren, aber diese Charakteristik kann irrelevant oder unzureichend sein, entweder weil sie die Wortbildungsstruktur des Derivats nicht widerspiegelt (wenn sie mit seiner Morphemzusammensetzung nicht übereinstimmt) oder dieselbe Morphemfolge zugleich ein neues Wort und eine bestimmte Form dieses Wortes darstellt (vgl. dt. lesen mit das Lesen, des Abends und abends, isländ. minnst 'am wenigsten' als Superlativ von midur 288

weniger', das Adverb hart [von hctröur], das mit der Nominativform des Singulars des Neutrums identisch ist). Wie wir noch zeigen wollen, stimmt die strukturelle (im vorliegenden Falle die morphematische) Charakteristik eines Derivats nur selten mit seiner Wortbildungsstruktur überein (obwohl es auch solche Fälle gibt, z. B . engl, form — formal — formalize — formalization, formal — formality, russ. p o s o B i a ß 'rosa', p 0 3 0 BaTHii 'rosaartig'), wodurch sich ja die Notwendigkeit erklärt, Zusammensetzung und Struktur eines Derivats-nicht mit Hilfe von Morphemen, sondern durch die eigentlichen Derivationseinheiten — Derivationsaffixe, Derivationsformative, motivierende Einheiten und speziell Stämme — zu beschreiben. E s wäre wiederum ein Irrtum, wollte man meinen, daß die Wortbi)dungsebene deshalb postuliert werden könne, weil es eine Einheit wie den Derivationsstamm gibt. Dazu müßte man, wie Bulygina richtig feststellt, nachweisen, daß sich nicht nur nichtabgeleitete S t ä m m e und Flexionsendungen, sondern auch abgeleiteteiund nichtabgeleitete S t ä m m e grundsätzlich unterscheiden, d. h. man müßte zeigen, daß die nichtabgeleiteten S t ä m m e funktionale Divergenzen auf den höherliegenden Ebenen der Sprachstruktur aufweisen (vgl. Kapitel 2 des vorliegenden Bandes). F ü r eine gesonderte Behandlung der Wortbildung spricht wohl am überzeugendsten die Tatsache, daß es die W o r t b i l d u n g s m o d e l l i e r u n g als eine bestimmte systemhaft organisierte Gesamtheit von Methoden und Mitteln gibt, die mit dem Aufbau so komplizierter Komplexeinheiten, wie sie die Derivate darstellen, zusammenhängen (vgl. Stepanowa [112, K a p . I I I ] ) . Demzufolge soll die Wortbildung vor allem die Gesetzmäßigkeiten und Besonderheiten der Wortbildungsmodellierung (der Konstruktion der Sekundärbildungen mit Wortbildungsbedeutung) unter sämtlichen ihrer Aspekte untersuchen — dem formalen und inhaltlichen einerseits und dem genetischen, prozessualen sowie resultativen, stationären und strukturell-funktionalen andererseits [142, 191 — 192; 1 4 5 , 2 0 5 - 2 0 6 ; 101]. Wenn wir dafür eintreten, daß die Wortbildving eine gewisse Selbständigkeit haben soll, verschließen wir keineswegs die Augen vor ihren engen Beziehungen zu den anderen Bereichen der Sprachstruktur, erstreben wir keineswegs eine künstliche Isolierung der Wortbildung oder ihre Lostrennung von den Bereichen, mit denen sie korreliert. E s steht außer Zweifel, daß sich zwischen Wortbildung und Grammatik überaus systemhafte und gesetzmäßige Beziehungen herausbilden. Deshalb sahen sich eigentlich auch viele Linguisten veranlaßt, die Wortbildung innerhalb der Grammatik zu erörtern und die Wortbildungsarten und -mittel bei der B e schreibung der grammatischen Struktur der jeweiligen Sprache zu beschreiben. So die Verfasser vieler vergleichender Grammatiken der indoeuropäischen Sprachen (vgl. z. B . Hirt [153] und Malkiel [107]), die Verfasser der Akademiegrammatik der russischen Sprache [26] und andere. Diesen Standpunkt verfechten gegenwärtig auch die Vertreter der neohumboldtianischen R i c h t u n g — in der inhaltbezogenen Grammatik ist die Wortbildung gleichberechtigt mit der Morphologie und der S y n t a x [174, 44]. Oft rechnet man die Wortbildung — nach dem Prinzip engerer Beziehungen — auch unmittelbar zur Morphologie [133; 1 7 0 , 1 8 6 ; 1 2 , 1 1 5 ; 5 6 ; 4 9 ; 108].

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Der unbestreitbare Zusammenhang der genannten Disziplinen äußert sich, in zahlreichen Fakten und vor allem in der bereits erwähnten häufigen Identität der Mittel und Arten der Wortbildung und der Wortabwandlung (Näheres bei Winogradow [12] und Kubrjakowa [49,43—45]). Eine Widerspiegelung der gleichen Situation ist auch die Existenz synkretischer Morpheme [129, 60] oder von Morphemen, die eine Doppelfunktion haben und Derivations- und grammatische Bedeutungen miteinander koppeln. So hat das Infinitivmerkmal oder ein anderes formbildendes Morphem in vielen indoeuropäischen Sprachen, an den Stamm eines Substantivs angefügt, auch eine Wortbildungsfunktion: vgl. russ. 3aBTpaK 'Frühstück' — 3aBTpaKaTb 'frühstücken', o6ea 'Mittagessen' — oSeflaTb 'Mittag essen', KPOBT 'Blut' — KPOBHTB 'bluten', schwed./e&er 'Fieber' — febra 'fiebern', segel 'Segel' —segla 'segeln', luft 'Luft' — lufla 'lüften', dt. Fisch — fischen, Öl — ölen, franz. vagabond 'Vagabund' — vagabonder 'vagabundieren' usw. Organische Beziehungen zur Grammatik hat die Wortbildung auch in anderer Hinsicht, nämlich in der Verteilung der Wörter auf die Wortarten. Die einfachen nichtabgeleiteten Wörter sind häufig merkmallos in bezug auf die Kategorie, demgegenüber lassen Wörter mit Wortbildungsmerkmalen oft erkennen, daß sienicht nur zu einer bestimmten lexikalischen, sondern auch zu einer grammatischen Klasse gehören, ja sie informieren auch über den Deklinations- oder Konjugationstyp, das Genus, den Aspekt usw. Solche Fakten sind allgemein bekannt. Eine Wechselwirkung von paradigmatischen und Derivationsfaktoren sehen manche Forscher auch in den unterschiedlichen Derivationsmöglichkeiten verschiedener Wortarten einerseits und in dem unterschiedlichen grammatischen Verhalten der abgeleiteten und nichtabgeleiteten Wörter innerhalb einer Wortart andererseits [172, 11—12]. So hat z. B. das System der Komposita im Englischen einen deutlich ausgeprägten nominalen Charakter; die Präfigierung kennzeichnet gewöhnlich eher die verbale als die substantivische Wortableitung; in der deutschen Gegenwartssprache sind die Substantiv- und die Adjektivsuffixe voneinander streng geschieden, und sie werden in der Regel nicht verwechselt, so daß sie die Wortarten erkennen lassen. Wie Stankiewicz beobachtet hat, lassen die expressiven Nomina in den slawischen Sprachen ein weniger verzweigtes Netz grammatischer Oppositionen als die entsprechenden einfachen Nomina erkennen: Solche Derivate werden anders als die nichtabgeleiteten Wörter dekliniert [172, 171]. Die differenzierte Verteilung der Derivationsaffixe auf die verschiedenen Wortarten fördert die Polarisierung der verschiedenen formalen Wortklassen; sie macht das Derivationsaffix zu einem besonderen K l a s s i f i k a t i o n s m e r k m a l der einen oder anderen Wortart oder innerhalb einer Wortart zum Merkmal einer Gruppe von Wörtern mit spezifischen Formbildungsbesonderheiten. Die sogenannten schwachen Verben in den alten germanischen Sprachen, die fast ausschließlich deutliche Sekundärbildungen darstellten, wurden anders konjugiert und hatten andere paradigmatische Reihen als die primären (die starken) Verben. Dadurch, daß sie das Präteritum mit Hilfe eines Dentalsuffixes bildeten, bewahrten sie lange auch die Einteilung in vier Konjugationsuntertypen je nach dem im Verbstamm repräsentierten konkreten Wortbildungs290

suffix. An Hand analoger Beispiele kann man sagen, daß die Wortbildung ihren. Beitrag zur Aufteilung der Wörter auf die grammatischen Kategorien auf Grund der einzelnen formalen Klassen leistet und ihre objektive Abgrenzung fördert. Mit dieser Erscheinung hängt auch eng die sytematisierende Rolle der Wortbildung gegenüber dem Wortschatz einer Sprache zusammen. Es unterliegt jedoch keinem Zweifel, daß Wortbildung und Morphologie Subsysteme sind, die zwar aufeinander einwirken und daher in allem, was die Struktur des Wortes betrifft, einander überschneiden, und trotzdem nicht identisch sind. Auch wenn beide Subsysteme voneinander abhängen, so daß jedes von ihnen ohne Berücksichtigung der Daten des anderen nicht vollständig beschreibbar ist, muß man zwischen Morphologie und Wortbildung konsequent unterscheiden und sie für prinzipiell autonom halten [142, 193; 172, 11—12]. Da sich die Wortbildung mit der Struktur des abgeleiteten Wortes befaßt, stellt sie so wie die Morphologie die allgemeinen Prinzipien des Aufbaus der Wörter und ihrer formalen Klassifizierung fest. Dementsprechend gibt es innerhalbbeider Disziplinen Bereiche, die gemeinsam erörtert werden:

Aber ebenso wie in der Morphologie manche Untersuchungsbereiche nicht unmittelbar mit der Wortbildung zusammenhängen (so z. B. der ganz'e Bereich der Paradigmatik), haben auch manche Abschnitte der Wortbildung keine direkten Beziehungen zur Morphologie, so z. B. der Bereich der „nichtmorphologischen Wortbildung" (Winogradow [11, 2] bezeichnet sie als syntaktische, lexikalisch-semantische und lexikalisch-syntaktische Wortbildung) oder die Bereiche, die zur inhaltlichen Interpretation der Derivationsbeziehungen und Derivationseinheiten, zur funktionalen und stilistischen Charakteristik der Derivate, zur Beschreibung der Wechselwirkung zwischen den verschiedenen Arten der Wortableitung und Wortzusammensetzung, zur Technik des Aufbauseines Wortbildungsmodells, einer Wortbildungsreihe und eines Wortbildungsnests usw. gehören. Die ausschließliche Ausrichtung der Wortbildung auf die Untersuchung der Struktur der Derivate als der Ergebniseinheiten der Wortbildungsmodellierung und auf die Untersuchung der Beziehungen der Wortbildungsderivation ist also die theoretische Basis, auf der man die Wortbildungsanalyse von der morphologischen Analyse abheben und die in ihren Aufgaben und Methoden unterschiedlichen Untersuchungsarten realisieren kann. Die Voraussetzung für eine mögliche Abgrenzung von Morphologie und Wortbildung ist auch eine gewisse Nichtübereinstimmung zwischen den E r g e b nissen der Gestaltung der Morphemkomplexe mit der gleichen Kerneinheit zu. 291

Formen eines Wortes und zu neuen Wörtern. Das Problem der Differenzierung zwischen Morphologie und Wortbildung reduziert sich somit auf das Problem, wie man die verschiedenen Formen eines Wortes von den verschiedenen Wörtern mit gemeinsamer Wurzel abheben kann: Die Morphologie behält dann den Bereich zur Untersuchung der Eigenschaften und Beziehungen der F o r m e n e i n e s W o r t e s und die Wortbildung den Bereich zur Untersuchung der Eigenschaften und Beziehungen v e r s c h i e d e n e r W ö r t e r [16, 52]. Zur Wortbildung gehört also die ganze Problematik, die mit der „Morphologie der Benennung" oder mit der „lexikalischen Morphologie"' und nicht mit der Flexionsmorphologie zusammenhängt [142, 192; 173, 30]. Ein anderer Aspekt der Beziehungen zwischen Grammatik und Wortbildung sind die Beziehungen zwischen Wortbildung und Syntax, die vor allem bei den Komposita sichtbar werden. Ausgangspunkt vieler Derivate sind die syntaktischen Einheiten oder Wortgruppen. Die Syntax beeinflußt die Prinzipien des Aufbaus neuer Komposita offenbar viel stärker, als bisher angenommen wurde [22,203; 166, 132-133]. Nach Ansicht verschiedener Linguisten sind die Prozesse der Wortzusammensetzung die spezifische Reduzierung einer Wortgruppe zu einem einzigen Wort, d. h. die U n i v e r b i e r u n g e i n e r W o r t g r u p p e ; vgl. dt. Gespräch am runden Tisch mit Rundtischgespräch, Sammlung loser Blätter mit Loseblättersammlung (vgl. auch Fleischer [147, 15]). Auf Grund des beständigen Charakters des Zusammenhangs zwischen der ursprünglichen Wortgruppe und dem entsprechenden Modell des Kompositums kann man die Gesetzmäßigkeit des Modells an Hand der Gesetzmäßigkeit seiner Korrelation mit der Wortgruppe prüfen. Während also in den Wortbildungsmodellen (den Affixmodellen) alles auf der „richtigen" Opposition der Wortreihen beruht, basiert in manchen Modellen der Komposita alles auf der Harmonie der Korrelation der betreffenden Komposita mit den ursprünglichen Wortgruppen [62; 111; 148; 166; 168]. Solche Korrelationen ließen manche Sprachwissenschaftler zu der Ansicht kommen, daß das Hauptmerkmal eines Kompositums seine Korrelation mit der Wortgruppe im System der Gegenwartssprache sei [79; 28; 29; 30; 35,24]. Offenbar sind aber keineswegs alle Modelle der Komposita durch dieses Merkmal gekennzeichnet (vgl. russ. BiiHTOKpw.:; 'Zwitter aus Flugzeug und Hubschrauber', wörtlich etwa: 'Schraubenflügler'). Ebensowenig bedeutet die Möglichkeit, ein Kompositum zu umschreiben und durch eine Wortgruppe zu erklären, daß es in der betreffenden Sprache gerade durch die Reduzierung dieser Wortgruppe und nicht durch die Modellierung nach dem Muster eines fertigen Kompositums entstanden ist (Näheres bei Lopatin und Uluchanow [67,192—195]). Die Beziehungen zwischen den Kompositamodellen und den Wortgruppenmodellen haben in der Regel Systemcharakter. Sie sind als eine spezifische strukturell-semantische Korrelation beschreibbar, deren Vorhandensein aber nicht bedeutet, daß zwischen der konkreten Wortgruppe und einem bestimmten Kompositum Identität oder direkte Analogie besteht. „Die Korrelation beider Systeme beseitigt nicht, sondern unterstreicht eher die strukturelle und semantische Spezifik des Kompositums gegenüber der Wortgruppe" [127, 253]. I n einem Kompositum sind alle Hilfselemente gleichsam „absorbiert", ist die Anordnung der Komponenten streng fixiert, ändert 292

«ine Umstellung den Sinn der wiederzugebenden Nachricht 1 , sind die strukturellen und semantischen Beziehungen zwischen den Komponenten des Kompositums •explizit nicht ausgedrückt, haben sie gegenüber den Beziehungen zwischen den Komponenten der Wortgruppen einen höheren Grad von Verschmolzenheit, semantischer Kompression und Verallgemeinerung. Die Formgeschlossenheit eines Kompositums ist oft auch graphisch und phonologisch ausgedrückt .(Zusammenschreibung, besonderes Betonungsmuster usw.). So wie die Abgrenzung der Wortbildung von der Morphologie letztlich auf der Opposition und der Möglichkeit, Derivate und Formen des Wortes zu differenzieren, basiert auch die Abgrenzung der Wortbildung von der Syntax auf der Möglichkeit, Komposita und Wortgruppen voneinander abzugrenzen. Smirnizki zufolge kennzeichnet die Komposita formale Geschlossenheit und die Wortgruppen formale Gegliedertheit [99; 98; 35.31-32; 100]. Bei eingehenderer Untersuchung der konkreten Kompositatypen kann m a n «ich leicht davon überzeugen, daß es eine ganze Serie unterschiedlicher Merkmale gibt, die zusammengenommen ausreichen, um zwischen den Komposita und den entsprechenden Wortgruppen zu differenzieren (von den zahlreichen Arbeiten hierüber kann man z. B. auf die Untersuchungen von Schirmunski [34; 35], Lewkowskaja [58; 60; 61], Achmanowa [1; 2; 100], Pawlow [83; 84], Iwanowa [41; 42], Marchand [162; 163; 166; 168] und anderen hinweisen, ganz abgesehen von den bereits erwähnten Spezialuntersuchungen von Stepanowa, Grigorjew, Ginsburg und verschiedenen anderen). Somit untersuchen Syntax und Wortbildung die Zusammenfügung von Einheiten, die größer bzw. kleiner sind als ein Wort. Manche Forscher sehen einen engen Zusammenhang zwischen Syntax und Wortbildung nicht nur in der Wortzusammensetzung, sondern erklären die ganze Wortbildung für einen natürlichen Bestandteil der Lehre von der Satzstruktur [169, 32]. Analysiert man die Satzstruktur konsequent bis zur Ebene des Wortes, meint Mötsch, so müssen wir weiter die Wörter als Sequenzen von Morphemen bestimmter Klassen darstellen. Die Zugehörigkeit der Morpheme zu einer bestimmten Klasse ermittelt man auf Grund ihrer syntaktischen Funktionen. Von da an bestehe die Analyse der Wörter in der Identifizierung •der Morphemklassen der Wortkomponenten: Worteinheit

morphem(e)

1

Marchand, verwendet Beispiele wie engl, school-grammar 'Schulgrammatik' und grammarschool 'Grammatikschule', bird-cage 'Vogelbauer' und cage-bird 'Bauervogel' [168, 380].

20 Serebrennikow IX

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Dabei ist der S t a m m eine Sequenz von Morphemen, die den Flexionsmorphemen gegenübersteht u n d eine geschlossene Konstruktion in Verbindung mit dem Flexionsmorphem (den Flexionsmorphemen) bildet. Die Wörter sind also entweder S t ä m m e oder Konstruktionen, die aus einem S t a m m und aus Flexionsmorphemen bestehen. S t ä m m e fallen mit Wurzeln zusammen oder lassen weitere Ableitungen zu. Mit der Untersuchung dieser S t ä m m e befaßt sich eben die Wortbildung. Zur Wortbildung gehören demnach alle Ableitungen der Satzstrukturebene, die von S t ä m m e n ausgehen [169, 36]. Die Ansicht, daß das Wesen der Wortbildung gerade in der Stammbildung bestehe, äußerten schon vor Mötsch auch andere Sprachwissenschaftler, so speziell Jarzewa [137,36]. Diese These d ü r f t e aber nicht auf diejenigen Sprachen zutreffen, wo ein Teil der Wortbildungsprozesse ausgesprochen morphologischen Charakter h a t , d. h. in keinerlei Beziehung zur Wortbildung steht (so sind vom S t a n d p u n k t der Wortbildung solche russischen S t ä m m e wie fleji-, xejia- und flejiaii- identisch, ist ihre S t r u k t u r vor allem f ü r die Organisation der paradigmatischen Reihen wichtig; vgl. entsprechend schwed. hall- und holla- usw.). D a ß die These von der Gleichheit zwischen Wortbildung u n d Stammbildung nicht universell ist, k o m m t auch darin zum Ausdruck, daß bei einer so verbreiteten Wortbildungsart wie der Konversion die Bildung des neuen Stammes durch das E n t s t e h e n eines neuen Wortes vermittelt ist; der S t a m m wird dabei materiell nicht verändert. Die „syntaktische" Auffassung der Wortbildung so, wie wir sie bei Mötsch finden, engt die Problematik dieser Disziplin ungereehtfertigterweise ein [112, 25—26] und löst sie in der Untersuchung linearer Analoga der S t ä m m e auf. Unseres Erachtens besteht das Wesen der Wortbildungsprozesse in der Bildung neuer Benennungen, neuer sekundärer Bezeichnungseinheiten, u n d da solche Benennungen Wörter sind, wird der Terminus „Wortbildung" seiner wörtlichen Bezeichnung gerecht, d. h. er bezeichnet vor allem den Prozeß der Bildung von Wörtern (vgl. L i c h t m a n [63, 53 und 57]). Einen analogen S t a n d p u n k t v e r t r i t t , wenn auch von anderen Positionen aus, auch Sobolewa. Aus dieser allgemeinen Bestimmung folgt logisch, daß die Wortbildung unmittelbar mit der Lexikologie zusammenhängt, denn im Grunde gehört jedes Wort zum Wortschatz der betreffenden Sprache und ist als solches Gegenstand einer lexikologischen Analyse [144, 14]. W ä h r e n d der m a r k a n t e s t e u n d ausschlaggebende F a k t o r in der Entwicklung des Wortschatzes seine ständige Ergänzung durch neue Einheiten ist, k a n n die Wortbildung als „ein ganz spezifisches Mittel zur Bildung neuer Benennungen u n d die wichtigste Art zur Weiterentwicklung u n d Bereicherung des Wortschatzes" [142, 194] auch als eine onomasiologische Disziplin gelten, sie stellt daher einen wichtigen Teil der Lehre vom W o r t dar. Die wichtigsten lexikalisch-semantischen Wortklassen, werden in der Regel nach bestimmten Wortbildungsmodellen gebildet u n d das stets mit ihrer unbedingten Beteiligung. Die Wortbildungsformantien bilden innerhalb einer Derivationseinheit nicht n u r verschiedene Typen der W o r t s t r u k t u r , sondern auch Wörter, die nach der Art der von ihnen übermittelten I n f o r m a t i o n verschieden sind. Natürlich k o m m t dadurch keine Wortschatzbeschreibung ohne die Beschreibung der Derivate als besonderer lexikalischer Einheiten aus, denn sie drücken eine Wortbildungsbedeutung aus. 294

Nicht alle Linguisten erkennen diesen Bedeutungstyp [77, 280; 44, 258] an und sind der Ansicht, daß man neben dem grammatischen (verallgemeinerten, abstrahierten) und lexikalischen (individuellen) Bedeutungstyp eine einheitliche, eine Derivations- oder Wortbildungsbedeutung ansetzen müsse. I n Spezialarbeiten zur Wortbildung gewinnt dieser Terminus jedoch in letzter Zeit immer mehr an Verbreitung [25; 134; 16; 17; 6 8 , 6 0 - 6 5 ; 33; 101]. Dokulil verweist darauf, daß die Wortbildungsbedeutung ihrem Charakter nach näher der Lexikologie als der Grammatik steht, und unterstreicht zugleich ihre prinzipielle Nichtidentität [144,13; 142,193; 3 3 , 7 ] : Jeder dieser Bedeutungstypen hat einen anderen Grad und eine andere Qualität der Abstraktion. Die grammatischen Bedeutungen haben die spezifische Eigenschaft, obligatorisch zu sein. Die Wortbildungsbedeutungen haben diese Eigenschaft nicht, d. h. sie können innerhalb ihrer Wortart ausgedrückt werden, brauchen es aber nicht. Wie Meltschuk schreibt, sind die Wortbildungsbedeutungen „vom Standpunkt des Sprachsystems aus fakultativ: Ihr Gebrauch wird durch außersprachliche Faktoren (den Inhalt) bestimmt, und ihr Fehlen gilt nicht als Nullindex" [73, 35]. Sie sind zwar „lexikalisch" in dem Sinne, daß sie zur extralinguistischen Welt in Beziehung gesetzt werden können, unterscheiden sich aber von den lexikalischen individuellen Bedeutungen durch den Grad ihrer Verallgemeinerung, sie „ordnen" sich den grammatischen Bedeutungen „unter", weil sie a) den Charakter einer verallgemeinerten Kategorie haben, b) die Umfangskiassen der Wörter durchziehen und, wie bereits gesagt, die Polarisierung der verschiedenen Formklassen der Wörter fördern und c) morphologisch sind, d. h. innerhalb des Wortes ausgedrückt werden. Jede Wortbildungsbedeutung wird in der Sprache durch einen speziellen Index (mehrere spezielle Indizes), ein eigenes Derivationsformativ, ausgedrückt. Die Wortbildungsbedeutungen bilden damit eine Gruppe formal ausgedrückter Bedeutungen. Wir bezeichnen als Wortbildungsbedeutungen die verallgemeinerten (einheitlichen) kategorialen Bedeutungen, die speziell ausgedrückt werden, aber nicht obligatorisch sind. So wie die grammatischen Bedeutungen lassen sie sich für jede analysierte Sprache in einer speziellen Liste zusammenfassen [17; 96; 101; 72; 154]. Sobolewa zufolge [101, 29f.] ist die Wortbildungsbedeutung eines Derivats das Ergebnis einer Einwirkung der kategorialen Bedeutung des Derivationsformans auf die kategoriale lind lexikalische Bedeutung des Derivats, wobei bei der Bildung der Wortbildungsbedeutungen die kategorialen Bedeutungen führend sind. I n den Wortbildungsakten konkretisiert die lexikalische Bedeutung des Derivats lediglich das Allgemeine, das durch das Derivationsformans beigesteuert wird. Wenn man z. B. die allgemeine Wortbildungsbedeutung der russischen Ableitungen auf -HHK als „Substanz, die eine Beziehung zu einer anderen Substanz h a t " formulieren kann, wird sie unter dem Einfluß der lexikalischen Bedeutung der motivierenden Einheit konkretisiert, wobei sie, wie Janko-Trinizkaja vorgeführt hat, spezielle Wortbildungsbedeutungen erhält, so 1. 'Person mit einer Beziehung zu dem, was durch das Primärwort bezeichnet ist', z. B. 'Spezialist auf einem bestimmten Gebiet' ( n e i H H K 20'

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Ofensetzer', c a n o j K H H K 'Schuhmacher', CLTOMIIJIIK 'Kernphysiker'), oder 'Besucher' (UIKOJILHHK 'Schüler') usw., 2. 'Standort dessen, was durch das motivierende Wort bezeichnet wird', z. B. 'jemandes Wohnort' (cKBopeHHHK 'Starkasten', K o p o B H H K 'Kuhstall'), 'Behältnis für etwas' (CJIOBHHK 'Wortliste', 3ANAHHHK 'Aufgabensammlung'), 'Behälter für etwas' (TOÍÍHUK 'Teekanne', Ko^eüHHK 'Kaffeekanne', MOJIOIHHK 'Milchkännchen') usw., 3. 'Gesamtheit dessen, was durch das motivierende Wort bezeichnet wird', z. B. ejiBHHK 'Tannenwald', o p e n i H H K 'Nußwald' usw. [101, 31; 134,85]. Oft wird die allgemeine Wortbildungsbedeutung weniger durch die lexikalische Bedeutung der motivierenden Einheit als durch die Situation konkretisiert. Die Wortbildungsbedeutung läßt sich daher häufig nur schwer bestimmen. Das Problem besteht darin, wie man auf der Grundlage der vielen Derivate, die in der Rede fixiert sind und daher in ihren Bedeutungen eng mit dem Kontext zusammenhängen, die vom Kontext und vom konkreten Wortgebrauch unabhängigen allgemeinen Derivationsbedeutungen bestimmt [16, 58]. Aber schon die grundsätzliche Möglichkeit, eine Wortbildungsbedeutung von einer grammatischen und einer lexikalischen Bedeutung abzuheben, erlaubt es, die eigentliche Lexikologie und die Wortbildung auch an Hand eines so objektiven Merkmals wie der Gestaltung eines n e u e n B e d e u t u n g s t y p s zu bestimmen. Betrachtet man die Beziehungen der Wortbildung zur Morphologie, zur Syntax und zum Wort, so stellt man fest, daß die Wortbildung eine spezifische Zwischenstellung einnimmt und mit diesen Disziplinen gemeinsame (sich überlappende) Untersuchungsbereiche hat. Es ist aber auch unbestritten, daß die Wortbildung in dem Maße, wie sie sich entwickelt hat und funktioniert, zu einem selbständigen Strukturbereich der Sprache geworden ist und Einheitenmodelle bilden kann, die keine direkten Entsprechungen in den anderen Gliedern des Sprachsystems haben. Ohne die genetischen und synchronen Beziehungen zu den anderen Subsystemen zu verlieren, existiert die Wortbildung also als ein autonomes Gebiet mit eigenen Einheiten und eigenem Schema der Beziehungen zwischen ihnen und zugleich als Bereich mit engen und verschiedenartigen Beziehungen zu den erwähnten Disziplinen. Die Korrelation zwischen der Wortbildung und den anderen Subsystemen kann in den verschiedenen Sprachen eine verschiedene Form haben je nach der Spezifik der Wortbildungsprozesse und ihrer ßealisierungsmittel und im engen Zusammenhang mit der Spezifik jeder der genannten Disziplinen. Entsprechend verschieden kann auch die Bestimmung der Grenzbereiche der Untersuchung sein. Letztlich jedoch muß die Wortbildung unabhängig davon, wie sehr sie die anderen Strukturbereiche der Sprache durchdringt und von ihnen beeinflußt wird, als selbständige Einzeldisziplin gelten. Die Argumente hierfür liegen vor allem im Systemcharakter der Wortbildung. Bildet aber dieser Strukturbereich ein besonderes System, so müssen wir, wenn wir es kennzeichnen, vor allem 1. diejenigen E i n h e i t e n , aus denen es besteht, 2. den T y p d e r B e z i e h u n g e n , der innerhalb des Systems festgestellt wird, 3. die Arten der Organisation der Systemkomponenten und die Prinzipien ihrer Anordnung, d. h. vor allem die H i e r a r c h i e d e r E i n h e i t e n u n d B e z i e h u n g e n , nennen. Kommen wir zu den Grundeinheiten eines Wortbildungssystems. 296

Wir sagten bereits, daß die wichtigsten Beobachtungsobjekte in der Wortbildung die Derivate sind, sie aber auf Grund ihres Wesens sekundäre Gebilde sind, die im System der betreffenden Sprache mit den primären oder, genauer gesagt, den Ausgangseinheiten korrelieren. Allein daraufhin mußten wir annehmen, daß das Derivat keine kleinste Einheit ist, sondern in andere Elementarbestandteile, gewisse unmittelbare Komponenten des Derivats, zerlegbar ist. Wir erwähnten auch kurz, daß man diese unmittelbaren Komponenten nicht mit Hilfe des Morphems definieren kann und man deshalb in der Wortbildung besser mit eigenen Einheiten operiert. Kehren wir zu dieser These unter neuen Gesichtspunkten zurück, so können wir jetzt hervorheben, daß sie nur dann bewiesen wird, wenn es uns gelingt, die prinzipielle Nichtübereinstimmung zwischen der Morphemzusammensetzung des Wortes und seiner Wortbildungsstruktur zu demonstrieren. Diese These dürfte nur f ü r die fusionierenden Sprachen gelten, und je mehr die Technik der Wortbildung die einfache „Aneinanderreihung" der Elemente (Agglutination) ist, desto mehr entsprechen sich auch die Morphem- und Wortbildungsstrukturen in der Sprache. Die Differenzierung dieser Strukturen ist daher nicht so sehr durch ihre unterschiedliche Zusammensetzung (was nicht obligatorisch ist [56, 118; 110, 104—105]) als vielmehr durch die unterschiedlichen Ziele und Aufgaben der Analyse gerechtfertigt. Bei der Erforschung der Morphem struktur des Wortes bestimmen wir alle seine Endkomponenten und organisieren sie: Die Morphemstruktur eines Wortes zu definieren heißt ja, sämtliche unterscheidbaren Morpheme aufzuzählen, zu identifizieren und ihre Korrelation zu bestimmen. Daraus folgt auch die „Relevanz aller unterscheidbaren Morpheme" für die Beschreibung deT Morphemstruktur eines Wortes (vgl. Kubrjakowa [54, 29—35] und SoboleWa [103, 159]). I m Gegensatz dazu fragen wir bei der Untersuchung einer Wortbildungsstruktur : „Was ist wovon gebildet ?" und versuchen wir mit der zu analysierenden Einheit diejenige in Einklang zu bringen, als deren Modifizierung sie gebildet worden ist. Dabei interessiert uns in der überwiegenden Mehrzahl der Fälle offenbar nicht die Derivationsgeschichte des ganzen Wortes überhaupt, sondern nur der letzte Wortbildungsakt, durch den die betreffende Einheit entstanden ist. Gewiß können wir beim Analysieren des Wortes H3flaTCJibCKini 'verlegerisch' sämtliche Akte seiner Bildung rekonstruieren und sie in bestimmter Abfolge beschreiben (vgl. Barchudarow [8]): H3fl,aTejibCKHit von na^aTejib, H3,naTejib von H3flaBaTB, H3AaBaTi> von *,naBaTb usw. I n Wirklichkeit jedoch brauchen wir, um die Wortbildungsstiuktur dieses Wortes zu erkennen, nur seinen Zusammenhang mit dem Wort n3flaTejib 'Verleger' herzustellen und ihn mit dem Zusammenhang zu vergleichen, den wir in den Reihen iHTaTejib — HHTaTejibCKiiü 'Leser — Leser-', nncaTejib — nucaTejibCKHÖ 'Schriftsteller — schriftstellerisch', CBHReTejib — CBiifleTejibCKHÜ 'Zeuge — Zeugen-', cyH0np0H3B0HHTejib — cyflonp0H3B0flHTeJibCKHö 'Prozeßführer — Prozeßführungs-' erkennen, d. h. den Zusammenhang, der nicht von der Derivationsgeschichte der vor dem Formativ stehenden Einheit abhängt (iHTaTejit. 'Leser' von wraTb 'lesen', nucaTejib 'Schreiber' von nncaTb 'schreiben', aber CBH/jeTejib 'Zeuge' von CBHfleTejibCTBOBaTb 'zeugen' oder CBii/jeTeJitCTBO 'Zeugnis' und cyA0np0H3B0flHTeJib 'Prozeßführer' von BecTH cyfl0np0H3B0flCTB0 'den Prozeß führen' usw.). 297

Bei der Feststellung einer Wortbildungsstruktur kommt es daher auf die Identifizierung des Endakts der Wortbildung an, denn nur so ist der Charakter der Korrelation „Derivat — motivierende F o r m " feststellbar und folglich sowohl das Vorhandensein von Beziehungen der Wortbildungsableitung als auch das Modell bestimmbar, das dem betreffenden Derivat zugrunde liegt 2 . In diesem Sinne können wir nicht Sobolewas Ansicht beipflichten, daß für die Charakteristik der Wortbildungsstruktur „sämtliche synchronisch-signifikativen Derivationsschritte" [103, 159] gleich wichtig seien. Die Bestimmung der Wortbildungsstruktur des Derivats und damit auch die Erkennung des Wortbildungstvps, nach dem das Derivat gebildet ist, ist die Identifizierung des letzten Derivationsschrittes. A n a l y s i e r e n wir e n g l , to Spotlight,

to sidetrack,

to liandcvff

u s w . , so m ü s s e n w i r

sie zu den anderen konvertierten Bildungen stellen, d. h. als Ableitungen von d e n S u b s t a n t i v e n Spotlight, sidetrack, handcuffs a u f f a s s e n u n d n i c h t a l s K o m p o s i t a a u s to light u n d Spot, to track u n d side, *to cuff u n d liand [148, 193], vgl. a u c h

Bloomfield [140, 209]. Die Morphemanalyse der genannten Bildungen könnte feststellen, daß die Stämme Komposita sind, und sie als aus Morphemen zusammengesetzt bzw. in Wurzeln zerlegbar identifizieren; daraus würde aber keineswegs folgen, daß die Verben to Spotlight, to sidetrack usw. von der Wortbildung her zusammengesetzte Verben sind; es handelt sich vielmehr um konvertierte denominale Verben mit zusammengesetztem Stamm. Der Aufbau eines linearen Morphemanalogons gäbe hier also nichts her für eine Bestimmung und Beschreibung der Wortbildungsstruktur des Derivats. Gleiche Situationen sind normal in sämtlichen Fällen der Wortbildung mit formal nicht ausgedrückter Derivation (Konversion, Apokope, Rückbildung oder Reversion). Man kann daher diese Beobachtungen verallgemeinern und sagen, daß der Aufbau eines Morphemanalogons oder die Aufzählung aller bestimmbaren (bestimmten) Morpheme für eine Kennzeichnung der Wortbildungsstruktur nicht obligatorisch oder nicht streng obligatorisch ist, wenn eins oder mehrere von ihnen am letzten Wortbildungsakt nicht beteiligt waren. Sobolevva definiert z. B. das Wort ariiTiipoBaTL, 'agitieren' als „segmentierbar unabgeleitet" [103, 159]: Dem muß man aber entgegenhalten, daß die Gliederung des Wortes in die Morpheme ariiT-iipoB-a-Tb für eine Charakteristik der Wortbildungsstruktur dieses Wortes absolut irrelevant ist, weil sie nicht vorhanden ist :i . Irrelevant ist die Gliederung

2

3

Arutjunowa definiert die Wortbildungsanalyse als Feststellung der Beziehung des betreffenden Wortes zum Wortbildungsmodell [5, 14], Ein solches Verfahren setzt die Ermittlung der Wortbildungsstruktur als einer Form voraus, die den Typ des Zusammenhangs des Derivats mit derjenigen Ausgangseinheit real widerspiegelt, die vom Derivat nur durch eine einzige Operation entfernt ist. Die Wortbildungsstruktur des Wortes läßt die lebendigen Korrelationen zwischen ihm oder seinen Teilen und den anderen Einheiten der Sprache sowie den Charakter seiner formalen und semantischen Abhängigkeit von diesen Ausgangseinheiten erkennen. Das Wort ariiTiipoBaTb läßt sich aber offenbar auch anders interpretieren, nämlich als Derivat mit einem gebundenen Stamm und einer Struktur, die den vielen Derivaten auf -npoBaTb entspricht. Daß es den Stamm aniT- gibt, dürften Bildungen wie aniTÖpiiraßa

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des Wortes in Morpheme auch in Fällen wie npuxofl ' A n k u n f t ' (von npnxoflHTi» 'ankommen'), got. aflet 'Vergebung' (von af-let-an 'vergeben'), dt. das Lesen (von lesen) und in vielen anderen von A r u t j u n o w a [3, 125—127], Stepanowa [110, 105—109], Sobolewa [49, 53—54] u n d anderen beschriebenen Fällen. Einerseits erweisen sich manche Morpheme bei der Kennzeichnung der W o r t bildungsstruktur als „überflüssig" (schließt m a n die Fälle der gegliederten unabgeleiteten Bildungen aus, so sind es die Fälle, in denen die unmittelbaren Komponenten und die Endkomponenten einer F o r m ungleich sind, andererseits können bei der Kennzeichnung der Wortbildungsstruktur manche Morpheme f e h l e n : russ. niwiOTaat 'Flugzeugführung" ist vom Verb nnjicmipoBaTb 'ein Flugzeug führen" und nicht vom Substantiv M U I O T 'Pilot' abgeleitet, aber diese Tatsache schlägt sich in der Morphemstruktur des Derivats nicht nieder; vgl. auch ajieKTpii(|)HKamm 'Elektrifizierung' von O .N e KT pRI({)NQNpOBATT 'elektrifizieren', isländ. bandariskur 'amerikanisch' von Band-a-rik-i 'Amerika, U S A ' oder reykviskur von Reyk-vik (aus *reyk-vik-isk-ur). Drittens braucht die Morphemstruktur den sekundären oder abgeleiteten Charakter eines Wortes überhaupt nicht widerzuspiegeln: Sobolewa rechnet dazu die n i c h t g l i e d e r b a r e n D e r i v a t e wie XOA 'Gang' oder cniib 'Bläue'. Diese Gruppe k a n n m a n jedoch erweitern und zu ihr auch die g l i e d e r b a r e n D e r i v a t e rechnen, deren herauslösbares Affix aber nicht wortbildend ist; vgl. die russischen Adverbien KpyroM 'rund herum', 6eroM 'im Laufschritt' (Zweimorphemgebilde, die keine affixalen Derivate sind); vgl. dementsprechend dt. abends, morgens, das Aufbrechen vom Verb aufbrechen, das Ver-mög-en von vermögen, das Aus-ein-ander-fall-en von auseinanderfallen usw. Da also zwischen der Morphemzusammensetzung u n d der Wortbildungsstruktur eines Wortes keine direkten Beziehungen bestehen, k a n n m a n die Wortbildungsstruktur nicht mit Hilfe von Morphemen beschreiben (oder diese Termini verwenden, wenn beide Strukturen identisch sind, was in den flektierenden Sprachen in der Regel recht selten vorkommt 4 ). Die Wahl der kleinsten (elementaren) Einheiten f ü r die Beschreibung eines Wortbildungssystems versteht sich nicht von selbst u n d hängt weitgehend d a v o n ab, unter welchen Gesichtspunkten m a n das System betrachtet. So verwendet m a n rationellerweise beim Modellieren der Wortbildung als eines besonderen Generierungsmechanismus, des Generators der Derivate, d. h. f ü r die Beschreib u n g des Wortbildungssystems als der H e r v o r b r i n g u n g r i c h t i g a u f g e b a u t e r D e r i v a t e die einen Einheiten und bei der Feststellung der P r o z e ß e r g e b n i s s e die anderen Einheiten.

4

'Agitationsbrigade', aniTKOJiiieKTHB 'Agitationskollektiv', a r n T - K - a 'rein agitatorisches Werk' usw. beweisen. Eine Widerspiegelung dieser Nichtübereinstimmung sehen wir darin, daß sich die Daten der morphologischen Klassifizierung der Wörter und der Derivationsklassifizierung nicht decken; nach der morphologischen Klassifizierung sind die Wörter nichtsegmentierbar, affixal-segmentierbar oder in Wurzeln segmentierbar, nach der Derivationsklassifizierung nichtabgeleitet oder abgeleitet und die abgeleiteten: präfixal-, suffixal-, komposital-abgeleitet, konvertiert, abgekürzt usw. [14, 33—34]. Statistische Untersuchungen auf Grund dieser Klassifizierungsarten führen zu ganz verschiedenen Ergebnissen.

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Die oft zitierten Worte Schtscherbas über den bekannten Unterschied zwischen dem „wie man neue Wörter machen kann" und dem „wie die fertigen Wörter gemacht sind" [134, 17] sind nicht als Abgrenzung zwischen Wortbildung und Lexikographie, sondern als zwei verschiedene Auffassungen ein und derselben „unmittelbaren Gegebenheit" interpretierbar — als die kinematische, generative, auf die Registrierung der Bildungsregeln der Wörter ausgerichtete Auffassung und als die statische, auf die Feststellung der vorhandenen Modelle ausgerichtete Auffassung. Freilich sind die Grenzen zwischen beiden Auffassungen fließend, orientiert man sich einmal stärker auf die prozessuale,, das anderemal stärker auf die resultativ-stationäre Seite ein und derselben Erscheinung. Schanski schreibt: „Hängen doch die Regeln der Wortbildung, das heißt, die Regeln, wie die Wörter gemacht werden, im Grunde . . . unmittelbar mit den zu diesem Zeitpunkt existierenden Strukturtypen und Variationen der Wörter zusammen, das heißt damit, wie die fertigen Wörter 'gemacht sind' (sich gliedern)" [128, 25]. Bei der ersten Methode gilt die Hauptaufmerksamkeit der Frage, welche Operationen zur Erzeugung der Objekte geführt haben (führen), wie das Objekt konstruiert ist, aus welcher Einheit es transformiert ist usw. Natürlich geht man dabei zweckmäßigerweise von solchen Einheiten wie dem G e n e r i e r u n g s t a k t oder D e r i v a t i o n s s c h r i t t aus [107; 101; 102; 77; 24]. Bei der zweiten Methode stehen eher die realen Komponenten der Derivate im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit, die bei ihrer Aufstellung verwendeten Mittel und Methoden, das Endschema ihrer Organisation usw. Dabei operiert man gewöhnlich mit den elementaren Struktureinheiten, die als unmittelbare Komponenten der Ableitung erscheinen. Solche Einheiten sind die S t ä m m e und die A f f i x e oder die S t ä m m e und die F o r m a t i v e . Da man die Ergebnisse der Erzeugung der Einheiten als Affixe und Stämme bezeichnen kann, werden diese Begriffe nicht nur von den Vertretern der traditionelleren Richtungen in der Wortbildung, sondern auch von den Anhängern der generativen oder Transformationsmethode angewandt (vgl. Wolozkaja [16], Lejnieks [157] und Mötsch [169]). Im Rahmen des applikativen generativen Modells widerspiegelt der Derivationsschritt eine dynamische Interpretation der Wortbildungsbeziehungen, entspricht er im allgemeinen der Anwendung einer Einzeloperation der Applikation oder, was dasselbe in der Wortbildung ist, der Anfügung des Formans an das motivierende Wort [101, 60]. Die Wortbildungsstruktur eines Wortes ist somit die Endmenge der Derivationsschritte, die erforderlich sind, um es zu konstruieren [101, 39]. Bei solcher Auffassung ist die Struktur das gleiche wie die Derivationsgeschichte [23, 47], umfaßt ihre formale Niederschrift sämtliche Takte der Worterzeugung. Die Derivationsschritte sind entweder identifizierend oder transponierend — je nachdem, ob die betreffende Operation das Ausgangswort in eine andere Funktionalklasse überführt oder nicht 5 . In einer Sprache mit vier Funktionalklassen — 5

Kurylowicz spricht von lexikalischer und syntaktischer Derivation [155], Marchand von. Derivation und Transposition [164J.

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dem Verb, dem Substantiv, dem Adjektiv und dem Adverb — sind 16 Typen von Derivationsschritten möglich: 12 transponierende (vom Verb zum Substantiv, Adjektiv oder Adverb; vom Substantiv zum Verb, Adjektiv oder Adverb usw.) und 4 identifizierende (von einem Substantiv zu einem anderen, von einem Adjektiv zu einem anderen usw.). Jedem Derivationsschritt entspricht eine bestimmte Wortbildungsbedeutung (der Derivationsschritt beim Transponieren eines Adjektivs in ein Verb entspricht z. B. der Wortbildungsbedeutung 'haben oder handeln in Übereinstimmung mit den Eigenschaften, die durch das zugrunde liegende Adjektiv bezeichnet sind', vgl. CHHeTb 'blau werden', My^puTb 'klügeln', nofljiHHaTb 'gemein handeln', oder der Bedeutung 'die durch das zugrunde liegende Adjektiv bezeichneten Eigenschaften jemandem oder etwas beilegen oder selbst erhalten', vgl. CHHHTI> 'bläuen', öoraTeTB 'reich werden', ycKopHTb 'beschleunigen' usw.) [101, 70]. Während in der generativen Grammatik die Grundeinheit der Wortbildung: der Begriff der Operation (der Anfügung eines Formans) ist, verwendet man in den synchronisch-statischen Beschreibungen nach wie vor die traditionellen „statischen" Begriffe Stamm und Affixe. Als Stamm bezeichnet man denjenigen Teil des Wortes, der übrigbleibt, wenn man sämtliche grammatischen Elemente, d. h. normalerweise die Endung, abtrennt. Der Teil, der am Stamm bleibt, nachdem man aus ihm das Wurzelmorphem herausgelöst hat, ist der Derivationsteil des Stammes. Der Stamm, der nur das Wurzelmorphem enthält, heißt unabgeleitet; demgegenüber heißt ein Stamm mit Derivationsteil abgeleitet. An der Menge an Formantien im Derivationsteil des Stammes kann man den Ableitungsgrad des Stammes ablesen und am Charakter des Derivationsteils erkennen, ob er ein Kompositum oder eine affixale Ableitung ist (vgl. Wolozkaja [16, 53]). Außer Zweifel steht jedoch, daß der Begriff des Stammes vom Standpunkt der Wortbildung verschiedene große Mängel aufweist, die wiederum mit den Widersprüchen der Morphem- und Derivationsstrukturen zusammenhängen [70]. Also: Ein Stamm, der nur aus dem Wurzelmorphem besteht, kann trotzdem abgeleitet sein (vgl. die Stämme in CHHHII 'blau' und CHHB 'Bläue' oder beliebige ungegliederte konvertierte Stämme im Englischen). Andererseits kann auch die Bestimmung der Ableitungsstufen nach der Zahl der Derivationsmorpheme im Derivationsteil des Stammes recht unexakt sein. I m großen und ganzen kann man sagen, daß der Begriff des Stammes immer dann nicht ausreicht, wenn dieBeziehungen der Wortbildungsderivation innerhalb des Stammes nicht ausgedrückt sind. Zu solchen Fällen zählt auch der ganze Bereich der Wortbildung, der mit der Formbildung einhergeht (vgl. Lichtman [63] und Lopatin [65]): Sind die Endungen oder das ganze Paradigma an der Wortbildung beteiligt, so darf man diese grammatischen Elemente nicht abtrennen, wenn man die Derivationsgeschichte des Wortes erkennen will. Somit ist das Operieren mit dem Begriff des Stammes theoretisch nur dann gerechtfertigt und praktisch zweckmäßig, wenn die Wortbildungsakte in einer Veränderung des Stammes bestehen und im Stamm ihren materiellen Ausdruck finden und wenn sie deutlich von den Akten der WortabWandlung und der Formbildung abgegrenzt sind. Sonst ist dieser Terminus kaum zweckmäßig, 301

führt seine Verwendung zu Ungenauigkeiten in der Beschreibung (Näheres bei Kubrjakowa [54, Abschnitt 5] wo auch die wichtigste Literatur angegeben ist). Nida verweist mit vollem Recht auf die strukturellen Unterschiede der Morphemfolgen, die darauf beruhen, daß die als Ausgangsgrößen verwendeten Elementareinheiten nicht übereinstimmen. Er hebt insbesondere hervor, daß die Ausgangsform (the underlying form) für die Wortbildung eine so gebundene Form wie der Stamm (z. B. im Griechischen) oder umgekehrt eine so freie Form wie das W o r t (z. B. im Englischen) sein kann [170, 85, 243-244]. I n solchen Sprachen ist es überhaupt zweckmäßiger, mit dem Begriff des m o t i v i e r e n d e n W o r t e s zu operieren. Eingeführt wurde diese Bezeichnung durch Bogorodizki. I n seiner „Allgemeinen Vorlesung über russische Grammatik" (zitiert nach Moissejew [76, 84]) schreibt er: „Das Wort, von dem unmittelbar ein anderes abgeleitet wird, heißt in bezug auf das letztere sein motivierendes Wort." Der Begriff des motivierenden Wortes ( N P 0 H 3 B 0 F L N M E E CJIOBO) paßt auch besser bei der Beschreibung der Derivationsbeziehungen, die das Wesen der besonderen Beziehungen gerade zwischen den Wörtern ausdrücken. Die Bezeichnung „Ableitungsstamm" kann dann als Bezeichnung für das vermittelte Ergebnis der Analyse der Beziehungen zwischen der motivierenden und den motivierten Einheiten gelten ( K p o B b 'Blut' KpoBaBBiß 'blutig', KpoBHHOii 'Blut-', woher die Ableitungsstämme K p o B a B - und K p o B H H - und weitere mögliche Ableitungen wie o-KpoßaB-HTb 'mit Blut beflecken', K P O B H H - I I C T - H H 'blutenthaltend' usw. stammen). Der motivierende Stamm, der bei einem Vergleich des Ausgangsund des abgeleiteten Wortes zu erkennen ist, kann seinerseits als der „gemeinsame Teil einer Wortbildungsopposition" gelten (in der Opposition KpoBt — KpoBaBHii i s t es KpoB-, in KpoBaBtiii — oKpoBaBHTb ist es KpoBaB- u s w . ) ;

vgl.

Stepanow [109, 10,6] und Telegin [116], Die den autosemantischen Komponenten des Derivats gegenüberstehenden Einheiten sind die A f f i x e . Sie sind die gebundenen kleinsten Hilfs- und Bauelemente des Wortes, d. h. die synsemantischen Morpheme. Sie sind dann Derivationselemente, wenn sie in der Sprache Wortbildungsbedeutungen haben oder ausdrücken. Durch eine ganze Summe funktionaler und distributionaler Merkmale gekennzeichnet, bilden sie gewöhnlich eine Gruppe von Elementen, die auch den Wortabwandlungsaffixen oder Flexionsendungen gegenüberstehen. F ü r jede konkrete Sprache sind sowohl die Wortabwandlungs- als auch die Wortbildungsaffixe in einer Liste erfaßbar, und, obwohl sich manche Affixe nur schwer eindeutig interpretieren lassen, ist im Prinzip jede der beiden Affixgruppen beschreibbar. I n verschiedenen neueren Beschreibungen wird der Affixbegriff durch den komplizierteren Begriff des Formativs oder F o r m a n s in den Hintergrund gedrängt [142, 202-204; 128,39; 68]. Als Formans bezeichnet m a n ein Struktur S c h e m a , das sämtlichen Bildungen des gleichen Typs gemeinsam ist und eine Wortbildungsbedeutung h a t ; es kann aus einem oder aus mehreren Wortbildungsmitteln bestehen [66, 122-123]. I m Wortbildungssystem der russischen Gegenwartssprache gibt es außer den Präfixen und Suffixen solche Forman302

tien wie das Postfix -ch (-Cb), die Verbindung eines Suffixes mit dem Paradigma eines motivierten Wortes, die Verknüpfung eines Präfixes mit einem Postfix, eines Suffixes mit einem Postfix usw. [66, 123—126]: in den zuletzt genannten Fällen ist das Formans gleich der Summe der Formantien, die den komponierenden Wortbildungsarten eigentümlich sind. Sobolewa präzisiert den von Lopatin und Uluchanow geprägten Formansbegriff als Schema der Beziehungen, das zwischen dem motivierenden und dem abgeleiteten Wort innerhalb des betreffenden Wortbildungstyps festgestellt wird, und hält es f ü r erforderlich, in diesem Schema sowohl die Ähnlichkeiten als auch die Verschiedenheiten der verglichenen Wörter hervorzuheben [105, 281—282]. So hält sie es bei der Beschreibung der Suffigierung für unzureichend, nur auf das angefügte Suffix hinzuweisen, ohne das herausfallende Paradigma des motivierenden Wortes zu beschreiben: Um das Derivat mit dem Suffix - T e j i b vom Verb B b i K J i i o H a T b , iibiH.nio^aio 'ausschalten, ich schalte aus' zu bilden, müsse man 1. die Endungen des Verbs abtrennen, 2. das stammbildende Suffix -a-/-aii- abtrennen, 3. das nichtzusammengesetzte stammbildende Suffix -aanfügen, 4 . das Suffix - T e j i b anfügen und 5. die entsprechenden Nominalendungen anfügen. Eine solche Behandlung des Formans läßt zweifellos das Bestreben nach einer dynamischen Beschreibung des Wortbildungsprozesses erkennen, das sämtliche in der Struktur des Wortes „nichtausgedrückten" Zwischenakte seiner Bildung rekonstruiert und die Beschreibung ersetzt, die nur die Endergebnisse des Prozesses registriert. Die „operationeile" Beschreibung der Wortbildung soll also absolut alle Glieder der Bildung eines Wortes wiedergeben (auch die Glieder, die eigentlich zur grammatischen Gestaltung des Wortes gehören). Sie soll explizit sämtliche Stufen des Bildungsprozesses des Wortes verzeichnen. Wie man aber feststellen muß, beachtete die traditionelle Wortbildungslehre stärker die Nichtidentität des Wertes der einzelnen Derivationsschritte bei Aufbau und Gestaltung eines neuen Wortes, die Ungleichheit der verschiedenen Stufen eines Wortbildungsaktes, die Verschiedenheit der Rollen der Haupt- und Hilfsmomente im Wortbildungsakt. Daher war die Hervorhebung der Funktion des Präfixes bei der Präfigierung, des Suffixes bei der Suffigierung usw. unseres Erachtens keineswegs trivial, denn sie bekräftigte deren führende Rolle in den entsprechenden Prozessen. Auch bei der Darstellung eines Wortbildungsaktes über Zwischenstufen oder bei seiner Reduzierung auf eine Serie von Operationen droht „Hyperkorrektion": Was rekonstruiert wird, läßt sich wohl kaum in seinen Einzelheiten mit den Prozessen vergleichen, die in Wirklichkeit, d. h. beim Sprechen, vor sich gehen. Man kann einerseits nur schwer die Nachbildung fertiger Einheiten von ihrer Neuschöpfung unterscheiden 0 und andererseits die realen Grenzen darstellen, wann ein echtes Konstruieren von Einheiten nicht mehr eine Wiederholung nach einem Zeichenvorbild oder einer Schablone, nicht mehr eine Analogiebildung ist. Die minutiöse Aufgliederung eines einheitlichen Prozesses in Einzeletappen ist 0

Vgl. die Prozesse der Produktion und Reproduktion der Wörter bei Kruschewski [128, 160],

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somit eine Hypothese, die eher der idealen Rekonstruktion als der Modellierung; eines realen Prozesses gleicht. Ohne spezielles Eindringen in das Denken und Fühlen des Menschen kann man auch nur schwer sagen, mit welcher Ausgangseinheit er operiert, und speziell, ob er in seinem Gehirn etwas wie ein allgemeines Bild des Wortes als Grundlage hat. Kann man diese Frage bejahen, so kann der Aufbau eines Wortes wie BHK.inoHaTe.jifc 'Schalter' durchaus das Ergebnis einer einfachen Vereinigung der Folge BHKJiio^ia- mit dem Suffix -Tejib sein, nicht aber eine Serie komplizierter Operationen zur Abtrennung und Anfügung verschiedener Elemente, wie wir sie bereits beschrieben haben. Die regelgemäßaffixale Wortbildung und die Komposition dürften in erster Linie gerade eine einfache Zusammensetzung von Ausgangseinheiten sein, die ihrem Wesen nach der linearen Entfaltung der Rede gleicht und daher ihre eigene „Syntax" hat. Daß man im Wortbildungsakt die führende Rolle einer (nämlich der letzten)Operation zuerkennt, zeigt sich in der Wortbildungstheorie auch bei der Klassifizierung der Derivate. Die Grundeinheit der Klassifizierung der Derivate ist der W o r t b i l d u n g s t y p , eine bilaterale Einheit, die auf der Inhaltsebene durch eine gemeinsame für sämtliche Wörter des betreffenden Typs einheitliche Wortbildungsbedeutung und auf der Ausdrucksebene durch eine gemeinsame Struktur gekennzeichnet ist. Eine solche Auffassung vom Wortbildungstyp haben tschechoslowakische und sowjetische Linguisten entwickelt [142; 82, 279; 38, 10f.; 36; 86; 97; 66; 68], und sie erscheint als durchaus fruchtbar [101, 71]. Manchmal heißt der gleiche oder ein ähnlicher Begriff Wortbildungsmodell oder -muster. So werden diese Begriffe z. B. von Janko-Trinizkaja Stepanowa, Kubrjakowa und Lopatin folgendermaßen definiert: „Das Modell ist das Strukturschema der abgeleiteten Wörter mit Angabe der Affixe und der kategorialen Charakteristik des Ableitungsstammes . . . Das Muster ist das Strukturschema der abgeleiteten Wörter mit Angabe der Affixe sowie der Semantik des motivierenden Stammes" [134, 85-86]; „Das Wortbildungsmodell ist die stabile Struktur, die eine verallgemeinerte lexikalisch-kategoriale (designative) Bedeutung hat und unterschiedliches lexikalisches Material aufnehmen kann" [112, 149]; „Als Modell des Derivats kann man ein für die Wortbildungsreihe einheitliches Schema seiner Organisation bezeichnen, das sowohl den Charakter der Komponenten des Derivats als auch ihre Anordnung berücksichtigt, d. h. das Modell des Derivats ist die allgemeinste Formel gleichartiger Bildungen, ihr strukturell-semantisches Analogon" [54,35]; „Unter einem Wortbildungstyp versteht man das formal-semantische Schema des Aufbaus der Wörter, abstrahiert von den konkreten lexikalischen Einheiten, die gekennzeichnet sind durch die Gemeinsamkeit a) des strukturellen Merkmals, das die motivierten (abgeleiteten) Wörter von den sie motivierenden unterscheidet, b) der Wortart der motivierenden Wörter und c) der semantischen Beziehung des motivierten Wortes zum motivierenden Wort (die Wortbildungsbedeutung)" [64, 8]; vgl. auch Chanpira [125, 160-162], Sacharny [93], Gabinskaja, Malejewa [20], Skorochodko [96], Sobolewa [101] und andere. In den angeführten Definitionen muß die spezielle Hervorhebung der Zweischichtigkeit des Wortbildungsmodells, sein verallgemeinerter Charakter und seine Abhängigkeit von denjenigen Mitteln auffallen, mit deren Hilfe es aufgebaut wird 304

•(von den der Formantien, Affixen, Komponenten der Derivate in bestimmter Reihenfolge, dem Strukturmerkmal usw.). Gerade nach der Beschaffenheit des Formans sind die Derivationsmodelle präfixal, suffixal usw. Noch exakter wäre es zu sagen, daß die Klassifizierung der Wortbildungsmodelle sowohl die Natur ihrer Komponenten (die Opposition zwischen einer Zusammensetzung aus autosemantischen Elementen und einer Zusammensetzung aus autosemantischen und synsemantischen Elementen, •d. h. der Affigierung; die Opposition zwischen den Affigierungsarten nach dem Affixtyp) als auch den Charakter des letzten Wortbildungsaktes berücksichtigt. Da ein solcher Akt entweder in der „Erweiterung" der Ausgangseinheit durch -andere Einheiten oder in einer anderen Verwandlung der Ausgangseinheit (speziell innerhalb eines Morphems) bestehen kann, teilen wir sämtliche Modelle der Ableitungen in l i n e a r e und n i c h t l i n e a r e ein. Den linearen Modellen entspricht die Strukturformel A = B + C + D . . ., den nichtlinearen die Formel A -> B. Die linearen Modelle entsprechen den Modellen mit ausgedrückter Derivation; das sind die affixalen Modelle und die Modelle der Komposita. Die nichtlinearen Modelle entsprechen der Klasse der Wortbildungstypen mit ni chtausgedrückter Derivation; zu ihnen gehören sämtliche Fälle der Konversion, •der Apokope und der Alternation von Wörtern sowie die Rückbildung oder Reversión [147, 59]. Bei der Identifizierung der Derivate in den linearen Modellen entscheiden die unmittelbaren Komponenten: Ein Derivat mit einem Präfix, das seiner unmittelbaren Komponente entspricht, ist präfixal; ein Derivat, dessen unmittelbare Komponente mehr als eine autosemantische Einheit ist, stellt ein Kompositum dar usw. Es sei noch einmal hervorgehoben, daß nicht jedes in einer .Morphemfolge materiell enthaltene Affix eine unmittelbare Komponente von ihr ist. Die Bestimmung des Status jedes Elements als einer unmittelbaren Komponente ist Ergebnis und nicht Voraussetzung der Wortbildungsanalyse. Die Klassifizierung der Modelle der Derivate mit Hilfe der unmittelbaren Komponenten bezieht sich also eigentlich nur auf die Klassifizierung der linearen Derivate mit materiell ausgedrückten Derivationsbeziehungen. Die Identifizierung derartiger Modelle hängt eng mit der Identifizierung solcher elementaren Baueinheiten des Wortbildungssystems wie P r ä f i x und S u f f i x zusammen. Präfixe sind für uns alle präpositiven Partikeln, die Träger von Wortbildungsbedeutungen sind und gebundene Morpheme darstellen. E n t sprechend sind die Suffixe die nach der Wurzel stehenden Partikeln, die eine Wortbildungsbedeutung ausdrücken und gebundene Morpheme darstellen. I n Sprachen wie den germanischen oder slawischen rechnet man zur Kategorie der Präfixe und Suffixe zweckmäßigerweise nicht nur die gebundenen, sondern auch die nur relativ gebundenen Derivationsmorpheme, d. h. die Morpheme, die funktional mit den reinen Affixen identisch sind, aber selbständige Korrelate in Gestalt synsemantischer oder aber autosemantischer Wörter haben, die aber von den synsemantischen Wörtern morphologisch und semantisch isoliert sind. Solche Derivationsmorpheme heißen oft Halbpräfixe oder Halbsuffixe (in der •sowjetischen Sprachwissenschaft prägte diesen Begriff Stepanowa [115; 112, J.03-106]) oder aber relative Präfixe bzw. relative Suffixe [51; 50; 54]. 305

Obwohl solche Partikeln mehrfach Diskussionsgegenstand waren [112, 103, Anm. 32; 27: 69], ist die Zuordnung des einen oder anderen Elements zur Kategorie der relativen Affixe in den einzelnen Sprachen recht umstritten. Fest steht jedoch, daß die Derivate mit solchen Elementen eine besondere Zwischenstellung im Sprachsystem einnehmen, denn sie bilden Wortbildungsreihen mit Merkmalen, die diese Reihen bald mit den reinen Komposita, bald mit den affixalen Derivaten gemeinsam haben. Allein schon auf Grund dieses Umstandes ist es besser, wenn man sie zu selbständigen Klassen von Derivaten zusammenstellt und entweder als besondere Unterarten der präfixalen und suffixalen Modelle oder als besondere Unterarten der Komposita beschreibt. Die erste Lösung dürfte richtiger sein, denn alle solche Partikeln heben sich von den gewöhnlichen autosemantischen Stämmen auf Grund ihrer funktionalen Äquivalenz mit den reinen Affixen ab. Berücksichtigt man, daß nicht nur die reinen Suffixe (s) und Präfixe (p), sondern auch die relativen Suffixe (s,) und Präfixe (pA) sowie die Modelle mit einer Umgestaltung der Ausgangseinheit R durch Alternation, Konversion oder Apokope (wenn R -> R') am Aufbau von Wortbildungsmodellen beteiligt sein können, so kann man sagen, daß die Wortbildungssysteme der slawischen oder germanischen Sprachen als Systeme der Wechselwirkung folgender H a u p t modelle der Derivate aufgebaut werden: I R-*R'

I — R —» R' II — Pi -f- R' III — p -f- R' IV — R' -f- s V — R' + s i VI — R 4 -f- R 2

(Transformationen innerhalb von Morphemen oder Konversion) (relative Präfigierung) (reine Präfigierung) (reine Suffigierung) (relative Suffigierung) (Komposition)

Dabei entspricht I sämtlichen Modellen mit unausgedrückter Derivation, I I sämtlichen präfixalen Modellen, I I I den Modellen mit relativen Präfixen, IV sämtlichen suffixalen Modellen, V den Modellen mit relativen Suffixen und VI den Kompositamodellen. Die linke Hälfte des Diagramms veranschaulicht die möglichen ersten Komponenten der Derivate (vom reinen Präfix zum autosemantischen Stamm über die Stufe der relativen Präfixe) und die rechte Hälfte 306

die zweiten Komponenten der Derivate (vom reinen Suffix zum autosemantischen Stamm über die Stufe der relativen Suffixe). Die unterbrochenen Linien markieren seltene Modelle. Werden mehrere Affixe kombiniert, so entstehen gemischte Ableitungsmodelle (wie dt. Ge-brüd-er von Bruder, russ. 3 e M J i e T p n ceHHe 'Erdbeben', no-xopoiu-eny 'auf gute Art, gütlich', nepe-Jiec-OK 'Waldparzelle' usw.). Natürlich läßt sich jede Wortbildungskonstruktion dem einen oder anderen Modell nur nach einer speziellen Worbbildungsanalyse zuordnen, deren unmittelbares Zieles ist, 1. nachzuweisen, daß die Konstruktion abgeleitet ist, und 2. sie zu identifizieren. Das eine wie das andere wird in dem Maße erreicht, wie die Beziehungen der Wortbildungsderivation zwischen bestimmten Einheiten festgestellt u n d Richtung und Charakter dieser Beziehungen bestimmt werden. Man kann daher sagen, daß das Schlüsselproblem der Wortbildung das Problem der Derivation ist. Derivationsbeziehungen entstehen zwischen zwei u n d mehr synchron koexistierenden und aus der gleichen Wurzel bestehenden Einheiten, von denen eine als primär, motivierend u n d die anderen als sekundär u n d motiviert wahrgenommen werden. Die Derivationsbeziehungen drücken eine reguläre, modellierbare wechselseitige Abhängigkeit der Einheiten, eine besondere Hierarchie aus; es sind Primär-Sekundär-Beziehungen. Beziehungen synchroner Derivation beobachtet man bei Wörtern mit gemeinsamer Wurzel dort u n d dann, wo u n d wann man ein Wort (einen Stamm) als auf einem anderen beruhend, als durch dieses andere Wort bedingt ansehen kann, wenn von zwei zusammenhängenden Einheiten mit der gleichen Wurzel die eine die Determinante u n d die andere determiniert, die eine der A u s g a n g s p u n k t d e r G e n e r i e r u n g u n d die andere ihr E r g e b n i s ist. Man muß jedoch hervorheben, daß der Begriff der Derivation viel weiter ist als der Begriff der Wortbildungsderivation [52; 43; 3 5 , 1 8 - 1 9 ] , u n d zwar allein schon deswegen, weil sich die formale Derivation nicht n u r auf der Ebene der Wortbildung, sondern auch auf der Ebene der Formbildung u n d Wortabwandlung verfolgen läßt. Das erfordert die E i n f ü h r u n g spezieller Kriterien zur Unterscheidung zwischen der Derivation an sich u n d der eigentlichen Wortbildungsderivation. Vergleicht man die Beziehungen zwischen den Formen C T O J i a , C T O J i e , C T O J i y , CTOJIHK, a a c T O J i b e 'des Tisches, [auf dem] Tische, dem Tisch, Tischchen, Festtafel' usw., so kann man sagen, daß sie in gleicher Weise als von CTOJI abgeleitet wahrgenommen werden. Das heißt, daß sie alle unmittelbar mit der F o r m CTOJIassozüert werden und sich unmittelbar über diese F o r m erklären lassen. Indessen deckt sich der Abhängigkeitstyp, wie er sich z. B. in dem P a a r CTOJI — C T O J i y zeigt, eindeutig nicht mit dem Abhängigkeitstyp CTOJI — CTOJIHK; er ist mit ihm nur darin identisch, daß er eine bestimmte Subordination der Einheiten mit derselben Wurzel und sogar ihre Richtung (vom Primären zum Sekundären) widerspiegelt und objektiv ausgedrückt ist, nicht aber in bezug auf den eigentlichen Charakter der Abhängigkeit. I n Fällen wie CTOJI — C T O J i a — C T O J i y usw. haben wir es mit dem Variieren grammatischer Charakteristika einer Einheit zu t u n , deren lexikalische Be307

deutung unverändert bleibt. Für die Serie solcher Bildungen kann man sagen, daß sie zusammengehören n a c h d e m P r i n z i p , d a ß d i e g r a m m a t i s c h e n U n t e r s c h i e d e zwischen ihnen voll p r ä d i k t a b e l sind, und u n t e r d e r B e d i n g u n g , d a ß d i e a b s o l u t e l e x i k a l i s c h e I d e n t i t ä t d e r Ausg a n g s f o r m e n e r h a l t e n b l e i b t . Solche Serien heißen p a r a d i g m a t i s c h e R e i h e n und entsprechend die in ihnen zwischen der Ausgangsform und den übrigen Formen der Reihe beobachtbaren Beziehungen p a r a d i g m a t i s c h e Beziehungen. Zwischen CTOJI 'Tisch', CTOJIHK 'Tischchen' und OACTOJILE 'Festtafel' herrschen andere Beziehungen: Während der Stamm auf der Ebene der Paradigmatik reproduziert wird, wird er hier umgewandelt und umgedeutet. Für den neuen Typ der Derivationsbeziehungen — die Wortbildungsderivation — ist in erster Linie diese semantische oder semantisch-kategoriale Verschiebung in den Bedeutungen der Ergebniseinheit gegenüber der Bedeutung der Ausgangseinheit typisch. Beziehungen der Wortbildungsderivation liegen vor, wenn man vor allem eine semantische Derivation, d. h. eine Derivation dem Sinne nach, feststellen kann. Winokur schrieb über dieses Merkmal: „Die Bedeutung der Wörter mit einem Derivationsstamm ist immer durch den Hinweis auf die Bedeutung des entsprechenden primären Stammes bestimmbar" [13, 421], und Panow hob mit vollem Recht hervor, daß „dieses Kriterium keineswegs logisch, sondern rein sprachlich und morphologisch ist" [86, 47, Anm. 26]. Die motivierten Wörter haben also zu den zu bezeichnenden Gegenständen des Denkens andere Beziehungen als die nichtmotivierten Wörter: Die nichtmotivierten Wörter bezeichnen den Gegenstand unmittelbar, durch ein besonderes Einzelzeichen, die motivierten über die Feststellung der Beziehung dieses Gegenstandes zu einem anderen, d. h. vermittelt, indirekt [150; 15, 231]. Da es Beziehungen der semantischen Derivation oder Motiviertheit auch zwischen formal nicht korrelativen Wörtern gibt (vgl. jieHHTb 'heilen' — Bpaq 'Arzt', CTHpaTt 'waschen' — npanna 'Wäscherin', rnnTb 'nähen' — nopTHoft 'Schneider' usw.), reichen diese Assoziationen zur Feststellung von Beziehungen der Wortbildungsderivation allein nicht aus. Auf die Möglichkeit, ein Wort durch ein anderes zu deuten, lassen sich nur Bildungen m i t g l e i c h e r W u r z e l testen. Um also Beziehungen der Wortbildungsderivation feststellen zu können, muß man sich davon überzeugen, daß ein direkter semantischer Zusammenhang zwischen den Einheiten mit der gleichen Wurzel besteht, wobei man auch prüfen muß, ob er in anderen Wortpaaren vorkommt. Die nächste formale Beschränkung betrifft den Vergleich der Einheiten, zwischen denen nur eine einzige formale Operation liegt. Liegt eine semantische Motivation nicht vor, so darf man Paare formal korrelativer Wörter, die semantisch miteinander nicht zusammenhängen, aus der Betrachtung ausschließen (vgl. n p e f l J i a r a T t — n p e n J i O H t H T t 'vorschlagen' mit dem damit nicht zusammenhängenden grammatischen Terminus npeßJiOHieHHe 'Satz'): Wo eine semantische Korrelation fehlt, liegen auch keine Beziehungen der Wortbildungsderivation vor [165; 167; 161]. Verwendet man verschiedene Typen der möglichen semantischen Beziehungen zwischen den Zeichen, so kann man teilweise auch verschiedene Derivations308

formen unterscheiden. So sind für die Korrelation zwischen den motivierenden und den motivierten Einheiten in der Wortbildung entweder Sinnüberschneidungen oder Sinnbeilegungen typisch. Umgekehrt ist für die Wortformen derselben paradigmatischen Reihe typisch, daß ihre lexikalischen Bedeutungen übereinstimmen. Für die Einheiten, die durch Beziehungen der Wortbildungsderivation auf der Grundlage der Konversion zusammenhängen, ist in semantischer Hinsicht typisch, daß die lexikalischen Bedeutungen gleich, die kategorialen Bedeutungen aber verschieden sind usw. Haben die Beziehungen der Wortbildungsderivation einen ausgeprägten semantischen Charakter, so sind sie nicht nur semantischer Natur, sondern unterscheiden sich von den anderen semantischen Beziehungen dadurch, daß sie in jedem konkreten Sprachsystem ihren speziellen Ausdruck finden. Durch objektive Merkmale bestimmt, sind diese Beziehungen eine Variante der formalen oder formalisierten Beziehungen. Mehr noch, in der Regel innerhalb des (natürlich als ein System von Wortformen verstandenen) Wortes ausgedrückt, sind diese Beziehungen per definitionem morphologische Beziehungen. Ganz allgemein kann man nun sagen, daß die Beziehungen der Wortbildungsderivation dort entstehen, wo s i c h d i e B e z i e h u n g e n d e r f o r m a l e n u n d d e r s e m a n t i s c h e n D e r i v a t i o n ü b e r s c h n e i d e n . Die Derivationsbeziehungen sind die gleichzeitige Verknüpfung von Formderivation und Motiviertheit. Dadurch unterscheiden sie sich eigentlich auch von den rein formalen Beziehungen, die man in der Paradigmatik beobachtet. Die Wortbildung existiert also „als ein besonderer Typ der Form-Sinn-Korrelationen'' [71, 354] (vgl. Arutjunowa [6; 5,30]). Die Beziehungen der Wortbildungsderivation bestehen als Ausdruck doppelter Abhängigkeit der Bildungen mit gleicher Wurzel, als Ausdruck doppelter Bedingtheit der einen Bildung durch eine andere — sowohl in struktureller als auch in semantischer Hinsicht. Fehlt daher die eine oder andere Art der Abhängigkeit, so ist die betreffende Bildung kein Derivat. Dabei braucht die konkrete Richtung der strukturellen und der semantischen Abhängigkeit nicht die gleiche zu sein: Das englische Verb to televise 'durch Fernsehen übertragen' ist inhaltlich durch das Wort television 'Fernsehen' motiviert, es ist aber seiner Zusammensetzung nach einfacher als dieses Ausgangswort und wird synchron in einer Reihe mit to revise '(erneut) prüfen' — revision 'Revision' aufgefaßt. Demgegenüber ist das russische Verb Ka.T3.TF>CH 'Schlittschuh laufen" seiner Zusammensetzung nach komplizierter als das Verb KaTaTb 'rollen', aber von diesem seiner Form nach einfacheren Verb eindeutig semantisch abhängig. Da sich die Derivation der Form nach nicht immer mit der Derivation dem Sinne nach deckt, erscheint es zweckmäßig, diese zwei Arten von „Derivation" auch terminologisch streng zu differenzieren (vgl. Meltschuk [71, 356]). Wie aus unserer ganzen Darstellung erhellt, bezeichnen wir als „Derivation" ( n p 0 H 3 B 0 ^ H 0 C T i > ) allgemein die formale Abhängigkeit zwischen den Bildungen mit gleicher Wurzel und als „Motivation" oder „Motiviertheit" 7 die semantische Derivation. Deshalb 7

Janko-Trinizkaja unterscheidet zwischen morphologischer und semantischer Ableitbarkeit (BHBOAHMOCTB) [136, 533].

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Serebrennikow I I

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pflichten wir nicht denjenigen Wortbildungstheoretikern bei, die so wie Dokulil unter Motiviertheit einer Bildung nach wie vor das Bedingtsein von Form und Bedeutung einer Benennung durch F o r m u n d B e d e u t u n g e i n e r a n d e r e n verstehen [142, 208-210; 68, 55-59]. Unseres Erachtens muß man beim Analysieren von Wortbildungsbeziehungen unbedingt a) die stärkere bzw. geringere formale Kompliziertheit, d. h. die Tatsache der formalen Derivation, und b) die stärkere bzw. geringere semantische Kompliziertheit, d. h. die Motivationsrichtung, feststellen. Dabei ist, wie Meltschuk mit Recht schreibt, „die stärkere bzw. geringere semantische Kompliziertheit der semantisch zusammenhängenden Wörter ihre objektive Eigenschaft, die in bestimmter Weise in den möglichen Verwendungen der Wörter usw. zum Ausdruck kommt. Das von zwei Wörtern semantisch einfachere Wort z e i g t s i c h im L a u f e der U n t e r s u c h u n g und wird nicht vom Forscher nach eigenem Ermessen ausgesucht" [71, 135] (von uns hervorgehoben). Somit ist die Feststellung der Motivation als einer objektiv bestimmbaren und objektiv überprüfbaren Eigenschaft ein unabdingbarer Bestandteil der Wortbildungsanalyse in demjenigen wichtigen Teil von ihr, der mit der Ermittlung der Wortbildungsbeziehungen zusammenhängt. Ohne sämtliche Fälle einer möglichen Divergenz zwischen der eigentlichen Derivation und der Motivation oder ihrer Nichtübereinstimmung aufzuzählen (vgl. die Beschreibung dieser Fälle durch Meltschuk und verschiedene andere Forscher [71—74; 177; 36]), sei nur noch einmal auf den obligatorischen Charakter einer bestimmten Korrelation dieser Merkmale für die Feststellung der Beziehungen der Wortbildungsderivation hingewiesen (die Typen dieser Korrelationen wurden von Meltschuk aufgestellt [73]). Somit lassen sich die Beziehungen der Wortbildungsderivation entweder als Beziehungen der formalen Derivation, deren Feststellung mit einer obligatorischen semantischen oder kategorial-semantischen Verschiebung in der Bedeutung der einen Einheit gegenüber der anderen einhergeht, oder als Beziehungen der semantischen Derivation definieren, die im jeweiligen System ihren formalen und regulären Ausdruck finden und durch besondere Merkmale zwischen den Bildungen mit gleicher Wurzel, die sich nur durch eine einzige formale Operation unterscheiden, in Erscheinung treten. Daher auch die ganze Dualität der Wortbildung, einerseits ein besonderer Forschungsgegenstand zu sein, denn durch die Wortbildungsakte entstehen neue lexikalische Einheiten und ein neuer Typ f o r m a l - s e m a n t i s c h e r Beziehungen, und andererseits ein besonderes Kapitel der Morphologie zu sein, denn durch dieselben Akte werden neue Morphemfolgen und neue Typen formal-semantischer Beziehungen gestaltet. Was wir beschrieben haben, sind allerdings nur die theoretischen Grundsätze der Worfcbildungsanalyse. Die eigentliche Methodik zur Feststellung der Beziehungen der Wortbildungsderivation für die verschiedenen Wortbildungstypen kann verschieden sein. In den klassischen Fällen der Wortbildung ist der Derivationsstamm sowohl der Form als auch dem Sinne nach komplizierter als der ursprüngliche oder der Ausgangsstamm [71, 352], so daß die Feststellung der Derivationsbeziehungen gewöhnlich keine besonderen Schwierigkeiten berei310

tet, weil die sekundären Einheiten eindeutig strukturiert und klar motiviert sind. Demgegenüber lassen sich in den Modellen mit nichtausgedr.ückter Derivation oder bei einer Divergenz zwischen formaler und semantischer Derivation sowohl die Ableitungsbeziehungen als auch ihre Richtung nur nach einer Serie von Tests, d. h. nach einer zielgerichteten Wortbildungsanalyse, feststellen und bestimmen. Mit der Feststellung von Beziehungen der Wortbildungsderivation zwischen den Bildungen mit gleicher Wurzel und der Identifizierung der Wortbildungsmodelle, die den real belegten Derivaten zugrunde liegen, gehen die Untersuchungen im Bereich der Wortbildung in die nächste Etappe über, in die Beschreibung der komplizierteren Einheiten des Wortbildungssystems. Einerseits bilden die Derivate, die die Identität des verwendeten Wortbildungsmittels und die reguläre Korrelation mit den Ausgangseinheiten demonstrieren, eine W o r t b i l d u n g s r e i h e , andererseits lassen sich die Derivate, die dieselbe Wurzel haben und von ihrer Wurzel regulär um gleich viel formale Operationen (Schritte, Takte) entfernt sind, zu W o r t b i l d u n g s n e s t e r n zusammenfassen. Während die traditionelle Wortbildung oft nur die ersten dieser Komplexeinheiten untersuchte und auf eine Inventarisierung der Wortbildungsreihen hinauslief, orientiert sich die Wortbildungslehre heute weit stärker auf eine gleichmäßige Analyse der Organisation der Wortbildungsreihen und der Struktur der Wortbildungsnester [95; 75; 107; 157; 32; 142, 12-14; 158] (vgl. auch die in Fußnote 8 verzeichnete Literatur). Obwohl die Untersuchungen im Bereich der Modellierung der Wortbildungsnester erst am Anfang stehen 8 , lassen die bereits vorliegenden Arbeiten deutlich erkennen, daß solche Forschungen aussichtsreich und ihre Ergebnisse durchaus multivalent sind — für eine allseitige Erfassung und Erforschung der semantischen Veränderungen eines Wortes, die mit seinen Modifikationen zusammenhängen [121; 122; 130 usw.]; — für die Erforschung der Organisation des Wortschatzes und der Arten seiner Verteilung auf die verschiedenen Klassen zwecks Feststellung des Systemcharakters des Wortschatzes (diese Richtung deuteten in ihren Arbeiten Winogradow, Smirnizki u. a. an, ohne sie aber schon zu praktizieren); — für die Entdeckung neuer und die Bestätigung umstrittener und unklarer Etymologien, da es beim Aufbau gleichartiger Wortbildungsnester Erscheinungen des „DerivationsparaJlelismus" gibt [150—160; 10]; — für die Rekonstruktion der einzelnen Wörter als der Glieder von Wortbildungsnestern und für die Wiederherstellung des Ausgangspunktes der Generierung an Hand von deren Ergebnissen auf der Grundlage strenger Gesetzmäßigkeiten der Organisation der Derivationsbäume als der Basis eines Wortbildungsnestes [53]; 8

Soweit wir wissen, bildet eine erschöpfende Besehreibung der Wortbildungsnester den speziellen Forschungsgegenstand einer Gruppe von Wissenschaftlern (vgl. auch Patlati [87] und Belokrinizkaja [9]; teilweise sind die Arbeiten bereits mit Erfolg abgeschlossen; das Russische behandeln Sobolewa, Ginsburg u. a. [101; 102; 103; 21; 22; 131; 9], das Ukrainische Perebejnos [88], Alexejenko [81] u. a. [19], für andere Sprachen sind die Arbeiten aufgenommen worden [45; 106; 87; 19].

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— für eine vergleichende Analyse der Sprachen und die Veranschaulichung der Ähnlichkeiten und Verschiedenheiten in den speziellen Subsystemen verwandter Sprachen [32]; — für die Feststellung der Richtung der Beziehungen der Wortbildungsderivation bei Konversion und anderen unklaren Fällen der Wortbildung auf der Grundlage der gesetzmäßigen strukturell-semantischen Beziehungen zwischen den Gliedern der nach bestimmten Formeln und Modellen aufgebauten Wortbildungsnester ; — für die Beschreibung der Wortbildung als eines Systems (vgl. die in Anmerkung 8 aufgezählten Arbeiten sowie Semerikowa [95], Mirsojew [75] und Lejnieks [157]). Eine wichtige Besonderheit sämtlicher erwähnten Richtungen ist nicht nur das bewußte Zurückgreifen auf die „maximalen" (und nicht auf die kleinsten) Einheiten der Wortbildungssysteme, sondern auch das Hervorheben der Zweischichtigkeit dieser komplizierten komplexen Einheiten. So erzielt man auch ein gewisses Gleichgewicht zwischen der Erforschung von Form und Inhalt in der Wortbildung, denn bei der beschriebenen Methode definiert man jede Wortbildungseinheit vor allem als ein gewisses strukturell-semantisches Ganzes. Eine ähnliche Auffassung wird auch von der inhaltbezogenen Grammatik entwickelt. Die zentralen Begriffe der inhaltbezogenen Wortbildung sind die „Wortstände" und „Nischen" (diese von Baldinger und Weisgerber geprägten Begriffe untersucht eingehend Stepanowa [139; 114; 112, 180—189]). Unter einer Nische werden semantische Unterabschnitte innerhalb ein und desselben Wortbildungstyps verstanden, d. h. die semantischen Varianten innerhalb ein und derselben Wortbildungsreihe. So unterscheidet Weisgerber z. B. innerhalb des deutschen Wortbildungsmodells mit dem Affix -ling die „Kleinkind-Nische" [174, 216-217]. Ein Wortstand meint die Gesamtheit der semantisch gleichartigen Nischen, die in unterschiedlichen Wortbildungstypen erkennbar sind. So umfaßt z. B. in der deutschen Gegenwartssprache der Wortstand der Ortsnamen Nischen auf -er {Berliner), -it (Abderit), -ier (Kaukasier), -at (Hanseat) und -ot (Zypriot) (vgl. auch Murjassow [78, 33f.]). Weisgerber zufolge entspricht der Begriff des Wortstands in der Wortbildungstheorie dem Begriff des semantischen Feldes in der Lehre vom Wort [112, 181]. Bei deutlich ausgeprägter Orientierung auf die Erforschung der semantischen Seite der Wortbildungserscheinungen [139; 154; 152] verbleibt die Konzeption der Wortstände und Nischen doch auf beiden Ebenen, denn das Ausgangsmaterial der Wortbildungsanalyse sind letztlich solche bilateralen Einheiten wie die Wortbildungstypen. Mit anderen Worten: Die Anhänger dieser Richtung geben zu, daß trotz des „reizvollen Widerspiels von formalen und inhaltlichen Bezügen" Ausschließlichkeit nach der einen wie nach der anderen Seite der gemeinsamen Sache nur schaden könnte, denn „die Sprachinhaltforschung steht auf den Schultern der Formalgrammatik" [152, 23]. Die These, daß die Wortbildungseinheiten bilateral sind und man die strukturellen und semantischen Aspekte der Modellierung in diesem Bereich unbedingt gleichermaßen beachten muß, kann daher mit vollem Recht als die fundamentale Ausgangsthese der Wortbildungstheorie von heute gelten. Nicht minder 312

wichtig ist, wie bereits hervorgehoben, die These, daß die Wortbildung Systemcharakter hat. Im Zusammenhang damit erscheint es zweckmäßig, einige weitere Begriffe zu erläutern, die bei der Beschreibung der Wortbildung als eines bestimmten Systems verwendet werden. Die Wortbildungsbeziehungen, als die Beziehungen des abgeleiteten Wortes zum motivierenden Wort sind eine Variante der Beziehungen z w i s c h e n den W ö r t e r n . Parallel zu ihnen und zusammen mit ihnen entstehen in der Sprache auch besondere Beziehungen innerhalb der Wortbildungskonstruktion selbst. Man kann daher sagen, daß die Identität einer Wortbildungsreihe nicht nur auf der gleichen Entfernung ihrer Glieder von den Ausgangseinheiten und nicht nur auf der Identität des Formans, sondern auch darauf beruht, daß die Beziehungen der Komponenten bei jedem Glied der Reihe von der gleichen Art sind. Die Analyse der Wortbildungsreihen setzt daher voraus, daß man die Verknüpfbarkeit der Affixe mit den Stämmen und die Kombinatorik der Stämme untersucht [7; 46; 75; 120; 123; 178]; eine andere Seite dieses Problems ist die Ermittlung des Typs des Zusammenhangs zwischen den Stämmen und den Affixen bzw. zwischen den verschiedenen Klassen von Stämmen. Viele Forscher halten diese Strukturbeziehungen für eine Wiederholung bestimmter syntaktischer Beziehungen: Marchand zufolge ist jede Wortbildungskonstruktion ein morphologisches Syntagma, das eine reduzierte Form eines expliziten Syntagmas, des Satzes, darstellt [116, 133]. Schon vor Marchand wurde der Gedanke, daß die Beziehungen innerhalb eines Derivats die Beziehungen eines einfachen Satzes wiederholen, von Bally und Doroszewski [146] ausgesprochen. Der Klassifizierung der Derivate und vor allem ihrer strukturell-semantischen Analyse muß man daher ihre Übereinstimmung mit dem einen oder anderen Typ des Zusammenhangs innerhalb des Satzes zugrunde legen. Lees versuchte das an Hand der englischen Komposita: Unter dem Nominalisierungsprozeß verstand er die Transformation bestimmter Typen von Kernsätzen, die zur Bildung eines zusammengesetzten Substantivs f ü h r t [156]. E r reduzierte sämtliche Arten von Komposita auf verschiedene Typen von Kernsätzen; so stellte er z. B. das Kompositum housekeeper 'Hausbesitzer' zu dem Satz he keeps a house 'er besitzt ein Haus', ein Wort wie girl friend 'Freundin' zu dem Satz the friend is a girl 'der Freund ist ein Mädchen', crybaby 'Heulsuse' zu the baby cries 'das Baby heult' usw. Wie aber Marchand bemerkte, setzen Lees' Nominalisierungen die zwei verschiedenen Einheiten Kompositum und Satz lediglich zueinander in Beziehung, d. h. sie stellen ihren möglichen Parallelismus her, zeigen aber nicht ihre Ursachen [162, 59—61]; Lees erklärt nicht, weshalb ein Satz wie we eat apples 'wir essen Äpfel' zur Bildung so verschiedener Komposita wie eating apple 'Eßapfel', apple eater 'Apfelesser' u n d apple-eating 'das Apfelessen' führt [162, 61]. Das Derivat, sagt Marchand, ist ein Syntagma mit Beziehungen des Determinans (determinant) und des Bestimmten (determinatum), und das Wesen der Analyse der Beziehungen zwischen den Komponenten des Derivats besteht darin festzustellen, welcher Teil des Satzes — Subjekt, Objekt, Prädikat oder Adverbialbestimmung — zum Determinatum des K o m positums wird und welcher Teil des Satzes dementsprechend als das Determinans gedeutet wird [162, 62]. Nur so lassen sich die Typen der Komposita und der 313

affixalen Bildungen nach ihren inneren Beziehungen feststellen. Kennt man die Gesetzmäßigkeiten einer solchen Motivation, so kann man leichter die Beziehungen der Wortbildungsderivation feststellen, ihre Richtung bestimmen und die Semantik der Wortbildungskonstruktionen präzisieren. So kann man auch unter strukturell gleichartigen Konstruktionen semantisch verschiedene Modelle erkennen und sie jedes für sich beschreiben. Die Wortbildungsanalyse beginnt also mit der Feststellung der Derivationsbeziehungen und endet mit der Bestimmung der formal-semantischen Besonderheiten des Derivates, d. h. seiner Identifizierung und der Bestimmung seines Platzes in der vorliegenden strukturellsemantischen Klassifizierung der Derivate. Damit ist aber die Wortbildungsanalyse noch nicht abgeschlossen. Die Charakteristik einer Wortbildungskonstruktion ist nicht damit erschöpft, daß man sie einem bestimmten Wortbildungstyp zuordnet; nach der Prozedur der Identifizierung der Derivate beginnen neue Analyseetappen, die zur Betrachtung der Derivate auf dem Hintergrund ihrer Wortbildungsmodelle und zu ihrer f u n k t i o n a l e n Charakteristik gehören. Innerhalb des Globalsystems der Sprache gibt es keine unveränderlichen Bereiche. Jegliche Sprachelemente sind ihrer Natur nach nichtstatisch. Aber sogar auf diesem Hintergrund erscheint die Wortbildung als ein besonders dynamisches und bewegliches System, das durch unbegrenzte Möglichkeiten ständiger Erweiterung und Bereicherung gekennzeichnet ist. Allein das unterscheidet die Wortbildung von den anderen formalisierten Systemen mit ihrer stabileren Konfiguration und dem Überwiegen geschlossener Reihen gegenüber offenen. Das determiniert auch die Schwierigkeiten bei der Feststellung der Grenzen des Systems und bei der Bestimmung derjenigen Erscheinungen, die zum System gehören oder nicht gehören. I n gewissem Sinne gleicht die Wortbildung der Syntax, und der Aufbau eines Wortbildungsmodells ähnelt dem Aufbau eines syntaktischen Modells: Auf der Grundlage bereits fixierter Muster muß man ein Modell schaffen, das sich nicht nur auf die Muster, sondern auch auf potentielle Objekte anwenden läßt und mit einer zählbaren und endlichen Menge von Symbolen eine unbegrenzte und unendlich große Menge realer und potentieller Objekte widerspiegelt (vgl. Wolozkaja [16, 52]). Die Schwierigkeiten, die miteinander eng zusammenhängenden Erscheinungen der Statik und Dynamik als das Ergebnis des generativen Prozesses und als Prozeß der Generierung selbst zu differenzieren, wovon wir bereits sprachen, werden auch durch die große Beweglichkeit des Wortbildungssystems in der Zeit größer. So zeigen jüngste Untersuchungen der russischen Sprache, welch radikale Veränderungen (Bereicherung und Komplizierung) ein Wortbildungssystem in nur einhundert Jahren oder auch nur in einem halben Jahrhundert erfahren kann [82; 97]. So bleibt die Wortbildung nach wie vor ein aktuelles Problem der Unterscheidung zwischen Synchronie und Diachronie und der Abhebung des synchronen Wortbildungssystems vom diachronischen System. Diesen Problemen galt Ende der 50er und Anfang der 60er J a h r e eine Diskussion polnischer und sowjetischer Wissenschaftler in der polnischen Zeitschrift „Poradnik J^zykowy" (einen Überblick darüber bietet Wolozkaja [15, 231]). 314

I n der Diskussion wurde die Meinung geäußert, daß man in der Wortbildung zwischen Synchronie und Diachronie im Saussureschen Sinne nicht differenzieren könne, denn das Wortbildungssystem gleiche überhaupt nicht dem System der Phonetik und dem der Morphologie: Elemente dieser Systeme können in jedem beliebigen Augenblick unabhängig von ihrer vorangegangenen Geschichte existieren, in der Wortbildung aber nicht. Das synchrone System der Wortbildung müsse man deshalb nicht durch eine strenge Abgrenzung der Methoden der synchronen Analyse von den genetischen Methoden, sondern durch eine Beschränkung des Umfangs des zu untersuchenden Materials ansetzen [15, 233]. Indessen werden die Grenzen des synchronen Wortbildungssystems gleichermaßen sowohl durch die Forschungszwecke als auch durch die objektive Möglichkeit bestimmt, die Komponenten dieses Systems festzustellen. So entsteht das synchrone Wortbildungssystem zum Unterschied vom diachronen System durch eine verallgemeinerte Vorstellung von sämtlichen lebendigen Wortbildungskonstruktionen, die von ihren Trägern mit Bezug auf die Ausgangseinheiten, im Abgeleitetsein von einer anderen Einheit und in ihrer Motiviertheit, in ihrer Ableitbarkeit von einer anderen Einheit usw. wahrgenommen werden. Die Formel „A ist ein Derivat von B " läßt sich auch rein synchron, wenn auch prozessual entschlüsseln: Sie bedeutet nichts anderes als einen bestimmten T y p klarer, leicht erkennbarer Beziehungen zwischen A und B, die keineswegs obligatorisch den genetischen Beziehungen entsprechen [54, 14-17; 145, 206-207 15; 232; 147, 24], Der Bereich der synchronen Wortbildung kann daher durchaus objektiv als Bereich der Existenz und Modellierung von Derivaten definiert werden, „die von den Trägern der Sprache als lebendige (erklärbare und motivierte) Konstruktion im Rahmen der einen oder anderen semantischen Klasse wahrgenommen werden" [5, 40-41, Anm. 29]. Oft gelten als solche lebendige Konstruktionen in der Wortbildung die nach dem Muster regulärer oder aber produktiver Modelle geschaffenen Derivate. Der Bereich der synchronen Wortbildung wird also entweder durch die Auswahl ausschließlich regulärer oder aber produktiver Modelle bestimmt. Eine solche Begrenzung des Bereichs der synchronen Wortbildung erscheint uns nicht gerechtfertigt. Zwecks Begründung eines anderen Standpunkts seien die Begriffe Regularität und Produktivität von Wortbildungsmodellen erörtert. Die Forderung, in das synchrone System der Wortbildung ausschließlich reguläre Konstruktionen aufzunehmen, stammt von Boguslawski [141]. Unter regulären Konstruktionen versteht er solche, deren Bedeutungen sich eindeutig und standardmäßig aus den Bedeutungen ihrer Komponenten ableiten lassen. Dabei bleiben aber außerhalb des synchronen Wortbildungssystems sämtliche Derivate, deren Bedeutungen Phraseologismen oder zum Teil Idiomatismen sind. Fest steht indessen, daß solche Derivate recht stark verbreitet sind und die Prozesse der lebendigen Wortbildung durchaus die partielle Phraseologisierung eines Derivats zulassen (vgl. Janko-Trinizkaja [135], Marchand [166] u n d Tichonow [117]). Selbst wenn man nicht den extremen Standpunkt eines Panow oder Zawadowski teilt, daß das Wort von Natur aus stets idiomatisch sei und sich nicht auf die Summe der Bedeutungen seiner Komponenten reduzieren lasse 315

[85] oder daß „die meisten nominalen Derivate . . . unregelmäßige Konstruktionen" sind [176, 262], und annimmt, daß der Grad der Idiomatisierung bei der Wortbildung recht stark variieren kann [68, 63—65], können wir nicht die Augen vor der Tatsache verschließen, daß es idiomatische Derivate gibt und man sie in der Sprache beschreiben muß. Während man also „die Idiomatizit ä t der Stämme keineswegs als Nicht abgeleitet sein deuten darf" [60, 45] und die synchrone Wortbildung die verschiedenen Typen der Derivate erklären soll, darf man das System der Wortbildung nicht völlig losgelöst von den irregulären idiomatischen Derivaten untersuchen 9 . Gerade deswegen sind wir nicht der Ansicht, daß unter den Derivaten „nur solche Wörter verstanden werden, deren Bedeutung sich eindeutig und standardmäßig aus den Bedeutungen der diese Wörter ausmachenden Morpheme ableiten lassen" [18, 100]. Nicht einmal innerhalb der in bezug auf die Form regulär und nach dem gleichen Typ aufgebauten Wortbildungsreihen wiederholen sich die Bedeutungen der Derivate, so daß sich die Gesamtbedeutung des Derivats oft von der Summe der Bedeutungen ihrer Komponenten unterscheidet (vgl. CBiiacTejib 'Zeuge', pyKOBOjpiTejib 'Leiter', *niTaTe,jib 'Leser' mit micaTejiL 'Schriftsteller', BOjiiiTejib 'Fahrer'; öojieTB 'krank sein', KpacueTi. 'rot werden', ceacTb 'grau werden' mit aypneTb 'häßlich werden', xopomeTb 'hübscher werden'; dt. Bücherschrank und Küchenschrank mit Eisschrank und Geldschrank [166, 143]). Eine strenge Abgrenzung zwischen regulären und irregulären Bildungen wird auch durch die Polysemie der Derivate behindert, wodurch manche Bedeutungen einer sekundären Einheit als regulär und andere als irregulär beschrieben werden können. Vgl. engl, lion hunter, das in der Bedeutung von 'Löwenjäger' motiviert und nichtidiomatisch und damit regulär ist, aber in der Bedeutung 'Jäger von Berühmtheiten' motiviert (denn das Wort lion hat die übertragene Bedeutung 'Held des Tages', 'Berühmtheit'), aber idiomatisch und irregulär ist (beim Wort elephant hunter 'Elefantenjäger' oder tiger hunter 'Tigerjäger' wiederholen sich solche semantischen Beziehungen nicht). Somit ist die Skala der Opposition „regulär ~ irregulär" oder „nichtidiomatisch ~ idiomatisch" eine Skala feiner gradueller Verschiedenheiten. Aus diesem Grunde kann das Vorhandensein bzw. Fehlen dieses Merkmals keine zu verlässige Basisfür eine Unterscheidung zwischen Derivaten undNichtderivaten sein; hinreichend bestimmt sind nur die extremen Fälle von Idiomatisierung. Aus demselben Grunde kann das Merkmal der s e m a n t i s c h e n R e g u l a r i t ä t nicht als Kriterium für die synchronische Relevanz einer Bildung gelten, d. h. dazu dienen, ihre Zugehörigkeit zum synchronen Wortbildungssystem zu bestimmen (vgl. Dokulil [145, 204] sowie Lopatin und Uluchanow [68, 63, Anm. 27]). Diese Erwägung betrifft weniger den Begriff der f o r m a l e n R e g u l a r i t ä t , so daß das Ausgangsmaterial für den Aufbau eines synchronen Wortbildungs9

Wir halten es für erforderlich, zwischen der M o t i v i e r t h e i t einer Einheit (der Möglichkeit, sie durch eine andere Ausgangseinheit zu erklären) und der I d i o m a t i z i t ä t (Nichtableitbarkeit der Gesamtbedeutung der Einheit aus den Bedeutungen ihrer Komponenten) zu differenzieren; so kann ein und dieselbe Einheit motiviert und nichtidiomatisch oder motiviert und idiomatisch sein (vgl. CBHReTejib 'Zeuge' mit BO^irrejib 'Fahrer'; vgl. auch die weiteren Ausführungen).

316

systems gewöhnlich eben die Wortbildungsreihen sind, die vom Standpunkt ihrer Formstruktur regulär sind, d. h. die das gleiche Modell und vor allem ein gemeinsames Formans oder Organisationsschema haben und einen Gegensatz zu den gleichartigen Ausgangseinheiten bilden. Recht häufig wird der Begriff der Regularität bzw. Irregularität der Wortbildungsmodelle mit dem Begriff ihrer Produktivität bzw. Nichtproduktivität verwechselt [128, 60]. Aber schon Winokur hob hervor, daß diese Kategorien zwar korrelieren, aber nicht auf der gleichen Ebene liegen. „Man kann sagen, daß ein Wortbildungstyp nichtproduktiv, aber trotzdem regulär ist in bezug auf die Korrelationen X O ^ I I T B — X O ß B Ö A 'gehen — Gang', K O C H T E — KOCböa 'mähen — Mahd', 6opoTbCH — 6opb6a 'kämpfen — K a m p f usw.", schrieb er schon 1847 in seinen „Bemerkungen zur russischen Wortbildung" [13, 426], Und in der T a t widerspiegelt der Begriff der Regularität die Vorstellung vom s y n c h r o n i s c h e n Systemwert der Erscheinung, ihrer synchronischen Wiederholung in gleichartigen Oppositionen. Regulär ist eine Standardbildung, die einer bestimmten stereotypen semantischen oder strukturellen Formel entspricht. I m Gegensatz dazu ist der Begriff der Produktivität eher ein d i a c h r o n i s c h e r Begriff, der der Vorstellung entspricht, daß ein Modell einen Spielraum für sein Wirken hat und für eine bestimmte Menge von Einheiten in einem bestimmten Zeitraum gilt. Allein schon deswegen ist es wohl kaum sinnvoll, einfach zu sagen, daß das Kriterium für die Zugehörigkeit eines Elements zum synchronen System seine Produktivität sei [5, 42; 14,232], Genauer gesagt: Es steht außer Zweifel, daß die produktiven (stark verbreiteten) Modelle in der synchronischen Wortbildung untersucht werden müssen; das ist aber keine Antwort auf die Frage nach den unproduktiven Modellen, die in kleinen Wortbildungsreihen realisiert werden (vgl. Dokulil [145, 204]), und nach ihrer Bedeutung für den Aufbau eines synchronen Wortbildungssystems. Panow wollte das Kriterium des Realisierungsgrades eines Modells von seiner völlig diachronischen Orientierung befreien und schlug vor, zwischen diachronischer und synchronischer Produktivität zu unterscheiden. Die diachronische Produktivität eines Modells zeige sich so, daß bestimmte Modelle im Laufe der Zeit durch immer mehr Derivate repräsentiert sind; im Gegensatz dazu ist ein Modell synchronisch nur dann produktiv, wenn „es eine beträchtliche Gruppe morphologischer Einheiten gibt, die nach einem bestimmten Modell gebildet ist, und sämtliche Einheiten in gleicher Weise mit den anderen Einheiten mit einfacherer Morphemstruktur zusammenhängen". Dabei handelt es sich um eine „beträchtliche" Wortgruppe, wenn die anderen auf Grund synonymer Modelle gebildeten Wortgruppen geringer an Zahl sind [86, 35—36]. Selbst wenn m a n über die Ungenauigkeit dieser Definition hinwegsieht, die aus der nicht berücksichtigten Möglichkeit resultiert, daß mehrere synonyme Modelle gleich produktiv sind, was das Kriterium der korrelativen „Beträchtlichkeit" (der Zahl) zweier Gruppen in Zweifel zieht, ist die angeführte Definition auch deshalb nicht handhabbar, weil sie im Grunde ein Gleichheitszeichen zwischen der synchronen Produktivität und der Regularität setzt (vgl. Schanski [128, 61]). Außerdem lassen sich vom Standpunkt der angeführten Definitionen die Begriffe synchronische und diachronische Produktivität faktisch nicht abgrenzen: Ist ein Modell 317

-diachronisch produktiv, so widerspiegelt es sich unbedingt in der Gegenwartssprache in Gestalt „einer beträchtlichen Gruppe morphologischer Einheiten", und umgekehrt: Finden wir bei einem synchronischen Schnitt durch die Sprache eine „beträchtliche Gruppe" von Derivaten, so kann diese Gruppe auch als diachronisch produktiv gelten. Schließlich läßt die vorgeschlagene Unterscheidung zwischen synchronischer und diachronischer Produktivität wiederum die Frage unbeantwortet, ob man in das synchronische Wortbildungssystem Modelle aufnehmen darf, die durch irreguläre oder wenig umfangreiche Reihen repräsentiert sind, und wann eine solche Aufnahme gerechtfertigt ist. Ein solches Kriterium kann offenbar die E i g n u n g d e s M o d e l l s z u N e u b i l d u n g e n sein. Manchmal bezeichnet man gerade diese Eigenschaft des Modells als seine Produktivität [61, 21; 80, 124; 5, 51; 68, 65-66] Zur Vermeidung terminologischer Verwechslungen schlagen wir vor, drei verschiedene Qualitäten des Wortbildungsmodells zu unterscheiden: 1. seine P r o d u k t i v i t ä t , d. h. seine quantitative Kennzeichnung (produktiv sind Modelle, nach deren Vorbild längere Wortbildungsreihen gebildet werden; da man den Umfang einer Reihe rein statistisch bestimmen kann, kann man in der konkreten Forschung auch die statistische Schwelle angeben, die der Maßstab der Produktivität ist und Aussagen über -den Produktivitätsgrad jeder Reihe möglich macht); 2. seine A k t i v i t ä t , d. h. die erwähnte Fähigkeit zu Neubildungen, die Fähigkeit des Modells, seine Wortbildungsreihe durch neue Glieder zu erweitern; diese Fähigkeit ist rein synchron bestimmbar, weil der ins Auge gefaßte Zeitabschnitt genau begrenzt ist; 3. seine G e b r ä u c h l i c h k e i t , d. h. seine Häufigkeit im Text, die statistischen Gesetzmäßigkeiten seiner Realisierung nicht im Wörterbuch, sondern in der Rede [54, 21; 90]. Bei einer solchen Auffassung informiert die Kategorie der Produktivität über den U m f a n g der Wortbildungsreihe, die Kategorie der Aktivität darüber, ob sie g e s c h l o s s e n oder o f f e n ist (vgl. Arutjunowa [5, 51 f.] und Dokulil [145, 204]), und die Kategorie der Gebräuchlichkeit über die F r e q u e n z des Modells im Text. Übrigens wird die Differenzierung dieser drei Eigenschaften der Modelle überzeugend durch die Statistik untermauert [46; 89; 90; 7; 151]. Mit der Einführung dieser drei miteinander zusammenhängenden, aber voneinander verschiedenen Kategorien erzielt m a n : a) eine konsequentere Differenzierung zwischen Synchronie und Diachronie, denn die Produktivität des Modells in den verschiedenen Etappen seiner Existenz ist ein Maßstab für die diachronischen Divergenzen in den verschiedenen Entwicklungsperioden der Sprache, und das Sichtbarwerden der Produktivität beruht auf der erfaßten Markierung dieser Perioden (von einer zunehmenden bzw. abnehmenden Produktivität kann man nur sprechen, wenn man die Zahl der Wörter in dem betreffenden Sprachsystem mit dem verglichen hat, was in der Sprache in ihren vorangegangenen Entwicklungsepochen zu beobachten war); 10

Chalilowa definiert die synchronische Produktivität als einen bestimmten Grad der generativen Kraft eines Wortbildungsmodells [122, 64].

318

b) eine größere Exaktheit der synchronischen Analyse, denn die Untersuchung der Aktivität des Modells führt zu einer gründlicheren Untersuchung der Kombinierbarkeit seiner Komponenten [7; 46; 120; 123; 151] und die Erforschung der Gebräuchlichkeit zur Feststellung der Ursachen für die Aktivität und Produktivität des Modells [119; 124; 142, 79f.; 31; 39; 5, 60f.]; c) eine strengere Auswahl des synchronisch zu untersuchenden Materials und seine objektive Klassifizierung, denn der vorgeschlagenen Differenzierung •der Begriffe zufolge werden in das synchrone System der Wortbildung ganz bestimmte Gruppen von Derivaten aufgenommen. Solche Gruppen sind: 1. sämtliche produktiven Modelle (einschließlich der aktiven und passiven, nach dem Merkmal ihrer Umfänglichkeit); 2. sämtliche aktiven Modelle (einschließlich der produktiven und unproduktiven, nach dem Merkmal ihrer Aktivität als der Fähigkeit, als Muster für die Konstruktion neuer Einheiten zu dienen); 3. sämtliche gebräuchlichen Modelle (einschließlich wiederum der passiven und unproduktiven, aber häufigen und folglich „lebendigen" Modelle). Außerhalb des synchronen Wortbildungssystems stehen die unproduktiven, sich nicht auffüllenden Gruppen der (passiven) Modelle, die im Text selten realisiert werden. Im Bedarfsfalle sind sie in einer Liste erfaßbar. Freilich kann, wie aus den bisherigen Ausführungen ersichtlich ist, die Beschreibung des synchronen Wortbildungssystems einer konkreten Sprache — je nach den unmittelbaren Zielen der Forschung — verschiedene Formen annehmen und unterschiedlich tief sein und ins Detail gehen. Evident ist auch ein direkter Zusammenhang zwischen dem zu konstruierenden System und dem Material, auf dessen Grundlage es beruht, sowie die Möglichkeit, im System einen Kern (durch eine Beschreibung der regulären und produktiven Modelle der Derivate) und seine Peripherie zu unterscheiden. Außer Zweifel steht auch, daß im Idealfalle auch das System auf möglichst vielen Reihen und Modellen beruhen muß, denn es umfaßt sämtliche Konstruktionen, die Wortbildungsbedeutungen ausdrücken und Beziehungen der Wortbildungsderivation mit Ausgangseinheiten bilden. Das Wissen um das System muß folglich zum Wissen um die Regeln der Bildung eines beliebigen abgeleiteten Wortes der jeweiligen Sprache und zur Bestimmung seines Systemstatus werden. Eine wichtige Seite der Wortbildungsanalyse bildet jedoch nicht nur die Erforschung der empirischen Regeln für die Kombination der Elemente im System, sondern auch die Analyse der R e s t r i k t i o n e n für diese Regeln. Solche Beschränkungen in der Wortbildung sind bekanntlich recht kompliziert und wenig erforscht. Indessen kann nur die Erkenntnis der die Wirkungsbreite eines Modells einschränkenden Faktoren dazu führen, daß die Wortbildungslehre von einer registrierenden und inventarisierenden Wissenschaft zu einer erklärenden und prospektiven Wissenschaft wird, die also die zukünftige Entwicklung ihrer Objekte richtig prognostiziert. In Spezialfällen kann man sich die Lösung dieser Aufgabe als die Ermittlung des Grades der Prädiktabilität der einen oder anderen Wortbildungskonstruktionen in der betreffenden Sprache je nach ihren konkreten (feststellbaren) formal-semantischen Eigenschaften oder aber als Be319

Schreibung der Verbote und Beschränkungen, die in der betreffenden Sprache zur Realisierung des Mustersystems existieren, oder schließlich als Beschreibung des Prozesses der Degenerierung und der Einengung eines Teils der ideal möglichen Strukturen unter der Einwirkung bestimmter (feststellbarer) Faktoren vorstellen [107; 116; 22; 102; 156; 123; 79]. Solche Untersuchungen drücken die direkte Abhängigkeit der Worbbildungsmöglichkeiten einer Sprache von der Ermittlung der Universalien im Bereich der Wortbildung und vom Konstruieren eines besonderen Mustersystems aus, d. h. sie hängen mit der Behandlung der Wortbildungsprobleme unter typologischem Aspekt zusammen. Daraus folgt offenbar auch, daß die Wortbildungstheorie auf den Forschungsergebnissen in den unterschiedlichsten Bereichen der Linguistik aufbauen muß. Der vorstehende Abschnitt dürfte wohl der erste Versuch sein, die Wortbildungsproblematik als ein besonderes Kapitel der allgemeinen Sprachwissenschaft darzulegen. Natürlich mußten wir bei der Lösung dieser Aufgabe darauf verzichten, einige Fragen zu erörtern, die für die Praxis der Beschreibung von Wortbildungssystemen wesentlich, aber vom Standpunkt der allgemeinen Sprachwissenschaft weniger interessant oder unter dem Gesichtswinkel des Forschungsgegenstandes im Bereich der Wortbildung oder aber der Charakteristik ihres gegenwärtigen Zustandes weniger belangvoll sind. Durch den Umfang des Werkes begrenzt, konnten wir zum Beispiel nicht die einzelnen Arten der Wortbildung (Konversion, umgekehrte Derivation usw.), einzelne Erscheinungen der Derivationstechnik (Interfigierung u. a.) umfassend beschreiben, nicht einige Aspekte des Funktionierens der WortbildungsmodelJe (z. B. den stilistischen und statistischen) und ihre Wechselwirkung (vgl. die Beziehungen der Komposition und der Affigierung, die Entstehung synonymischer Modelle usw.) berücksichtigen. Wir bezweckten auch nicht eine Behandlung der vielfältigen Probleme, die mit einer Erforschung der Wortbildung unter rein diachronischem Aspekt (die Probleme der Genesis der verschiedenen Wortbildungsarten, der Entstehung der Derivationsmittel, der Veränderungen in der Distribution der Wortbildungsmodelle usw.) oder in typologischer Hinsicht zusammenhängen. Wovon hier die Rede war, betrifft vor allem die Probleme der synchronen Wortbildung und der Wortbildungsmodellierung als eines bestimmten Systems. Erst zehn J a h r e sind vergangen, seit Toporow mit vollem Recht schrieb, daß man „im Bereich der Wortbildung noch kaum von einem System sprechen k a n n " [118, 139]. Seitdem hat sich manches geändert. Wie wir im vorliegenden Kapitel zu zeigen versuchten, ist viel getan worden, um den Zusammenhang der Wortbildungssysteme mit den anderen Bereichen der Sprachstruktur zu kennzeichnen, aber auch um die Einheiten dieses Systems zu ermitteln und die Beziehungen zwischen ihnen zu beschreiben. Die Wortbildung formiert sich unseres Erachtens zu einer selbständigen theoretischen Disziplin und findet besondere Untersuchungsmethoden, sie dürfte kurz vor der Lösung ihrer Hauptaufgabe stehen, nämlich vor der erschöpfenden Beschreibung der Organisation und des Funktionierens des Wortbildungssystems als eines wichtigen Teils des sprachlichen Gesamtmechanismus. 320

KAPITEL 6

Der Wortschatz Die strukturelle Organisation und seiner Einheiten

des

Wortschatzes

Z u r B e s t i m m u n g des W o r t s c h a t z e s u n d der A r t e n seiner Modellierung Die Bestimmung des Begriffs „Wortschatz" geht auf die klassische traditionelle Sprachwissenschaft zurück und beruht darauf, daß m a n die drei verschiedenen Aspekte der Sprache — Lautbestand, lexikalische und grammatische Mittel — differenziert und einander exakt gegenüberstellt. Die lexikalischen Mittel, die vor allem in den Wörterbüchern systematisiert sind u n d Wortschatz heißen, bilden zusammen mit den lautlichen u n d den grammatischen Mitteln die Grundlage jeder Sprache u n d können in diesem Sinne zu ihren universellen Merkmalen gerechnet werden. Demgegenüber bilden die Verschiedenheiten im Repertoire der lexikalischen Einheiten u n d im Charakter ihrer semantischen S t r u k t u r , die spezifische Segnientierbarkeit des „semantischen K o n t i n u u m s " mit Hilfe des Wortschatzes in einzelne Begriffsfelder und semantische Kategorien die grundlegenden Unterscheidungsmerkmale jeder Sprache. Das traditionelle Sprachmodell widerspiegelt trotz seiner scheinbaren Einfachheit und Objektinadäquatheit die f u n d a m e n t a l s t e n Unterschiede der die Sprache ausmachenden Elemente. Die Differenzierung der sprachlichen Mittel nach den drei Aspekten b e r u h t logisch konsequent auf zwei Prinzipien: das erste kennzeichnet die Zusammensetzung der sprachlichen Einheiten und das zweite den T y p des semantischen Gehalts der Sprachelemente. Das erste Prinzip grenzt die lexikalischen u n d die grammatischen Mittel (die eine F o r m u n d einen I n h a l t haben) als selbständige sprachliche Einheiten von dem ab, was ihnen als F o r m dient, d. h. von den L a u t e n , die keine selbständige Bedeutung h a b e n ; das zweite Prinzip differenziert zwischen der lexikalischen u n d der grammatischen Bedeutung der Sprachelemente. Die traditionelle Differenzierung der sprachlichen Mittel hob also nicht n u r den Wortschatz als einen selbständigen Bereich der Sprache ab, sondern ermöglichte auch die Segmentierung des Wortes — der lexikalischen Grundeinheit — in kleinere Elemente des I n h a l t s u n d der F o r m . Seiner Zusammensetzung nach definiert m a n das Wort traditionellerweise als „Einheit von L a u t u n g u n d Bedeutung", u n d der Unterschied im Charakter seiner inhaltlichen Komponenten f a n d seinen Ausdruck in den Oppositionen zwischen „wahrer und formaler B e d e u t u n g " (Fortunatow), „formalem u n d semantischem W e r t " (Karcevskij), „grammatischer und lexikalischer B e d e u t u n g " (Winogradow). Das traditionelle, seinem Charakter nach analytische Sprachmodell b e r u h t 321

darauf, daß die Beziehungen zwischen den zwei Seiten des Wortes — der Form (der Lautung) und dem Inhalt (der Bedeutung) — Zeichencharakter haben. Die traditionelle, scheinbar ausschließlich nach äußeren Merkmalen — nach der substantiellen Natur der Sprachelemente — vorgenommene Gliederung der Sprache hat nicht nur gezeigt, daß die lexikalischen Einheiten bilateral sind (was auch auf die grammatischen Mittel zutrifft), sie spiegelt vielmehr auch die Doppelnatur der Determiniertheit ihres Inhalts wieder — das Äußere (die gegenständliche Reihe) und das Innere (die Sprachstruktur). Auf Grund seines semantischen Doppelwerts ist das Wort in der Sprache erstens die Benennungseinheit, ein Element des Vokabulars mit einer bestimmten lexikalischen Bedeutung und zweitens die jeweilige Strukturzelle mit einer bestimmten morphologischen Gestalt und damit auch einem bestimmten grammatischen Wert in der Sprache. Das Erfassen der doppelten Determiniertheit der inhaltlichen Seite des Wortes, was insbesondere für die russische Linguistik zutrifft, bestimmte für viele Jahre Programm und Hauptrichtung der Wortschatzforschung. Die Unterscheidung zwischen lexikalischer und grammatischer Bedeutung im Wort [75; 78; 79; 105] ließ in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine besondere Disziplin über die lexikalische Bedeutung des Wortes entstehen — die Semasiologie, die ein halbes Jahrhundert lang als eine umfangreiche philologische Wissenschaft existierte und bald an die Rhetorik, bald an die Poetik grenzte und bald der Stilistik, bald der Etymologie nahestand. Die semasiologische Grundkategorie — die lexikalische Bedeutung des Wortes — als eine von den Formen und Bedingungen ihrer sprachlichen Manifestation „emanzipierte" unilaterale ideelle Gegebenheit wurde sehr weit gefaßt und psychologisch 1 (als Assoziation, Vorstellung, Begriff usw.) ausschließlich nach dem Referenten des Wortes definiert, sei dies nun ein Gegenstand oder sein Begriff. Reduziert man die lexikalische Bedeutung des Wortes auf die extralinguistische Gegebenheit, auf den mit dem Wort korrelierenden Begriff oder auf die mit dem Wort korrelierende Vorstellung, und interpretiert man sie, ohne die realen Formen des sprachlichen Ausdrucks und die konkreten Bedingungen seiner „semantischen Verbreitung" im System der Sprache zu berücksichtigen, so ist sie faktisch, auf Grund ihrer eigenen Definition keine linguistische Kategorie mehr. Auf der Grundlage einer solchen Auffassung von der lexikalischen Bedeutung des Wortes bewegte sich die Erforschung des Wortschatzes im Rahmen der traditionellen Sprachwissenschaft jahrzehntelang in drei Hauptrichtungen: a) Die theoretische Untersuchung beschränkt sich darauf, die (sozialen, logischen, psychologischen u. a.) Ursachen der semantischen Veränderungen (Verschiebungen), die Assoziationen und Übergänge (der Bedeutungen) der 1

Vgl. z. B. die junggrammatische Definition für die lexikalische Bedeutung des Wortes. So schrieb Hermann Paul: „Wir verstehen . . . unter usueller Bedeutung den gesamten Vorstellungsinhalt, der sich für den Angehörigen einer Sprachgenossenschaft mit einem. Worte verbindet" [100, 75].

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Wörter festzustellen und zu klassifizieren [100; 62; 68; 107; 109; 124;: 126]. b) I n der Praxis kommt es zu einer intensiven Beschreibung, Inventarisierung der lexikalischen Mittel in Wörterbüchern unterschiedlicher Art. c) Eine starke Verbreitung erfährt das historische und etymologische Studium des Wortschatzes als einer Quelle für die Erkenntnis der durch die Wörter bezeichneten Gegenstände Begriffe, Realien [69 ; 83 ; 93]. Innerhalb des traditionellen Sprachmodells gab es auch andere Versuche, die mehrdimensionale Struktur des Wortes zu gliedern. I m Wort als einer komplexen sprachlichen Zelle überschneiden sich drei Strukturen, die zusammenhängen, aber in bezug auf Organisation oder Gliederung in die kleinsten Elemente miteinander keineswegs zusammenfallen: die phonologische, die morphologische und die semantische Struktur. Diese drei Aspekte „gliedern" das Wort in ein „phonologisch.es", ein „morphologisches" und ein „semantisches Wort" (den Begriff), die jedes für sich zum Untersuchungsgegenstand einer linguistischen Einzeldisziplin (der Phonologie, der Morphologie und der Semasiologie) wurden. Dadurch wurde aber die Erforschung der inneren Organisation des Wortschatzes und seines besonderen Platzes in der Struktur der Sprache nicht erleichtet, sondern eher erschwert. Mehr noch, das rein anatomische Präparieren des Wortes nach seinen drei Aspekten führte sogar zu der Ansicht, daß es das Wort als eine objektive reale Einheit der Sprache überhaupt nicht gebe 3 . Die Auffassung, daß die semantische Struktur (das semantische Wort) ein Netz von Assoziationen der ausschließlich durch extralinguistische Faktoren zu bestimmenden unilateralen Gegebenheit der Inhaltsebene sei, war in vielen Wissenschaftsrichtungen der (nicht unbegründete) Anlaß dafür, den Wortschatz als eine „prälinguistische", „nichtstrukturelle" und daher für die Untersuchung des Gesamtsystems der Sprache irrelevante Ebene 4 anzusehen. Die klassische traditionelle Sprachwissenschaft untersuchte Ende des 19., Anfang des 20. Jahrhunderts vor allem die verschiedenen Seiten des Wortes, indem sie den ersten und keineswegs mißlungenen Versuch unternahm, diesen schwierigen Komplex in kleinere signifikative und formale Elemente zu zerlegen. Aber wegen der atomistischen Untersuchung der lexikalischen F a k t e n , nicht erkannter Aufgaben und Methoden einer systematischen Sprachforschung, konnte sie das Problem der inneren Organisation des Wortschatzes als einer besonderen Ebene der Sprachstruktur weder lösen noch auch richtig stellen. Mit dem Begriff der strukturellen Gliederung der menschlichen Sprache, den zum erstenmal Wilhelm von Humboldt formulierte, erfuhr der Wortschatz eine 2

Vgl. die häufige Untersuchung des Wortschatzes unter dem Gesichtspunkt „Wörter und Sachen". 3 Solche Zweifel äußerte wohl am ausführlichsten schon Boas [61, 24—30], 4 Nëmec schreibt: „Die strukturelle Analyse beschränkt sich im wesentlichen auf die grammatische Struktur der Sprache, während die Lexik nur ein Verzeichnis der in der Sprache vorhandenen Unregelmäßigkeiten, ein Anhängsel (Appendix) der Grammatik ist" [96, 143], 323:

ganz andere Interpretation. Humboldt räumte dem Wort als einer bilateralen Einheit einen zentralen Platz in der Sprache ein, denn er hielt für den Hauptvorzug dieses sprachliehen Elements die Fähigkeit , einen Begriff verallgemeinert darzustellen (zu repräsentieren). Gerade im Wort sah er die Grundeinheit, in der die Sprache ihr fertiges Produkt realisiert und bis zu der sich die Selbsttätigkeit der „Gestaltungskraft der Sprache" erstreckt. Davon gehen auch die heutigen Nachfolger Humboldts aus, denn sie meinen, die Sprachinhaltsforschung sei notwendig auch „Erforschung der Art und Weise, in der jeweils in einer gegebenen Sprache und Sprachstufe dieser Inhalt sich gliedert bis zu den Worten herab" [113, 175], das Wort aber sei das Endelement der Sprache, der Bereich der funktionalen Artikulation der Laut- und Bedeutungssubstanz [21; 38: 49; 60]. Humboldts Ideen von der inneren und äußeren Sprachform, von den zwei Seiten der Sprache, den potentiellen Modellen, den Musterformen und Musterelementen in der Sprachstruktur und von deren Verwendung in der Rede sowie vieles andere bildeten ein ganzes Programm zur Erforschung der Sprache als gegenseitig zugeordneter und wechselseitig bedingter Elemente einschließlich der Wörter. Leider haben die Neohumboldtianer den Gedanken von der äußeren Seite der sprachlichen Gliederung, wonach die Sprache als eine „Zwischenweit" mit der uns umgebenden Wirklichkeit zusammenhänge, übernommen und verabsolutiert. Daher wird die Sprache ausschließlich als Form zur „Wortung" der realen Welt untersucht, werden die Strukturunterschiede nur als Beweis für die nationale Spezifik der Sprache und ihrer Träger gedeutet. Da die Sprache so als die Verkörperungsart und Ausdrucksform der „Spezifik des nationalen Denkens" gilt, erfahren viele mit der strukturellen Organisation der Sprache zusammenhängende linguistische Probleme — die Strukturiertheit der Einheiten der verschiedenen Ebenen und ihre Korrelation in der Sprache überhaupt, die Spezifik der Wortzeichen, der Begriff des Potentiellen und des Aktuellen in der Sprache und im Wort, die sprachlichen Mittel und Manifestationsformen des Inhalts der polysemen Wörter usw. — überhaupt keine Behandlung oder eine recht sonderbare Deutung. Der Begriff der lexikalischen Segmentierbarkeit als der Zerlegbarkeit des begrifflichen Inhalts der Sprache meint nicht die Wörter, sondern die sprachlichen Zeichen überhaupt, nicht die Bedeutungen der lexikalischen Einheiten, sondern die logischen Begriffskategorien und erfordert die Untersuchung des Begriffsschatzes und nicht des Wortschatzes der Sprache, der Begriffsfelder und nicht der paradigmatischen und syntagmatischen Beziehungen der Wörter 5 . Die Begriffsorschung0, die die Zerlegbarkeit des begrifflichen Inhalts einer 6

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Eine glückliche Ausnahme bilden die Arbeiten von Porzig, dessen „elementare semantische Felder" auf den syntagmatischen Beziehungen der Wörter hinsichtlich ihrer lexischen Semantik beruhen [102]. Im Gegensatz zu ihr geht die Bedeutungsforschung, durch Arbeiten von Nachfolgern Humboldts (G. Ipsen, W. Porzig, A. Jolles u. a.) vertreten, von den Wörtern und ihren Bedeutungen aus [49, 20—55].

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Sprache untersuchte, um die Besonderheiten und Formen des sprachlichen Denkens ihrer Träger festzustellen, ist wohl der erste, allerdings mißlungene Versuch einer strukturellen Analyse der „Inhaltsebene" ohne Analyse der strukturellen Organisation der lexikalischen Einheiten und des gesamten Wortschatzes einer Sprache. Man erkennt nicht das Wesen des Wortes, erfaßt nicht Mechanismus und Mittel, die die Asymmetrie dieser komplizierten Einheit in jeder konkreten Sprache aufheben, wenn man die Systemorganisation der lexikalischen Ebene in der Sprachstruktur insgesamt nicht beachtet (wie es die Junggrammatiker getan haben), aber man kann auch das System des Wortschatzes nicht untersuchen, wenn man das Wort als die Grundeinheit der Sprache ignoriert (wie es Trier und seine Nachfolger getan haben). Eine ganz andere Interpretation erfährt der Wortschatz, wenn man die Sprache funktional als ein „System von Ausdrucksmitteln, das einem bestimmten Zweck dient" [111, 7] auffaßt. Den funktional-strukturellen Standpunkt in bezug auf die Sprache (bei deren Analyse die kommunikativen Bedürfnisse des Sprechers den Ausgangspunkt bilden) brachte klassisch der Prager Linguistenkreis zum Ausdruck [13; 111; 112]. Entsprechend den beiden Hauptarten der Sprachtätigkeit — der nominativischen und der syntagmatischen — bilden die sprachlichen Mittel den Gegenstand zweier Disziplinen — der Theorie der Nomination (der funktionalen Onomatologie) und der Theorie der syntagmatischen Verfahren (der funktionalen Syntax). Die Vertreter des Prager Linguistenkreises untersuchen die Wörter und stabilen Wortgruppen als die grundlegenden Benennungseinheiten der Sprache, die die Tatsachen und Erscheinungen der Wirklichkeit zu benennen haben, in zweierlei Hinsicht: Sie bestimmen erstens die Formen und Hauptverfahren der Benennungen (in der lexikalischen Morphologie) und analysieren zweitens den Wortschatz unter dem Gesichtspunkt des Bedeutungsumfangs seiner Einheiten und von deren Aufteilung auf Begriffsfelder usw. (in der lexikalischen Semantik) 7 . Die Hauptaufmerksamkeit bei strukturell-funktionaler Untersuchung des Wortes gilt der Erforschung seiner Morphologie (Wortbildung, Wortabwandlung, Wortzusammensetzung, Zusammenfassung zu morphologischen Kategorien u n d Wortarten usw.) und nicht der Erforschung des Wortschatzes als einer besonderen Strukturebene der Sprache. Bei aller Beachtung der Wörter und Wortgruppen wird der Wortschatz in der Grammatik gleichsam aufgelöst und als mit dem grammatischen System gekoppelt zu einem Teil der Grammatik erklärt. „Wortschatz und grammatisches System bilden sich im Laufe der abstrahierenden Arbeit des Denkens heraus. Beide Bestandteile hängen eng zusammen: Die Wörter verteilen sich auf bestimmte Kategorien und werden in bestimmter Weise zu Syntagmen zusammengefaßt je nach ihrer Bedeutung und den Beziehungen, die zwischen den m i t Hilfe dieser Wörter bezeichneten Objekten existieren können" [101, 24]. 7

Ähnlich differenziert Ullmann bei funktionaler Auffassung der Wortbedeutung zwischen Elementen und Bereichen der Sprache (und dementsprechend auch zwischen den sie untersuchenden linguistischen Disziplinen) [119, 56].

22 Serebrennikow II

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Manchmal heißt es, der Wortschatz bilde im System der Sprache keine unabhängige Ebene. „Da es ein lexikalisches System gibt, hängt dieses eng mit dem grammatischen System zusammen, dessen Teil es ist. Unseres Erachtens gibt es keine auch nur relativ unabhängigen lexikalischen Systeme und bildet der Wortschatz im Sprachsystem keine unabhängige Ebene" [101, 27]. Zugleich wird eine selbständige, die sogenannte lexikalisch-semantische Ebene der Wortbedeutungen angesetzt. „Am wenigsten hat man bisher den Struktur Charakter der lexikalisch-semantischen Ebene, d. h. der Ebene der Wortbedeutungen, erforscht. Jedenfalls werfen gerade hier die verschiedenen Wechselbeziehungen der sprachlichen Zeichen, ihre Hierarchie sowie die funktionale Stratifikation viele interessante Probleme für strukturelle Untersuchungen auf" [77, 455]. Heute schließt die Prager Schule den Wortschatz in ein strukturelles Gesamtmodell der Sprache ein, dessen Ebenen miteinander konsequent als Mittel und Funktionen korrelieren, aber sie baut das ganze System mit Rücksicht auf die Form oder die formalen Bedeutungen der Elemente auf: die phonetische Ebene (die Phoneme), die morphologische Ebene (die Morpheme), die Ebene der Wortformen und nicht der Wörter, die Ebene der Wortstämme, die Ebene der Sätze usw. [22; 32]. Dort, wo man das Strukturmodell mit Rücksicht auf die inhaltliche Seite des Wortschatzes aufbaut [71] und neben der lexikalischen Ebene die Ebene der lexikalischen Semantik ansetzt, sagt man nicht, welches die Grundeinheiten der einen und der anderen Ebene sind, nach welchen Merkmalen die einen u n d die anderen Einheiten identifiziert werden, wie die Ebenen und ihre Einheiten miteinander und mit den übrigen Ebenen korrelieren usw. Obwohl die Prager das Wort als die grundlegende Benennungseinheit ansehen und es sowohl in der Paradigmatik als auch in der Syntagmatik untersuchen,-hat die systematische Erforschung des Wortschatzes und insbesondere der Ebene der Wortbedeutungen und der Struktur des Vokabulars insgesamt seit den programmatischen Forderungen der „Thesen" nur geringe Fortschritte gemacht. Das hat unseres Erachtens folgende Ursachen: 1. Bei funktional-struktureller Auffassung der Sprache gilt die Hauptaufmerksamkeit natürlich den formalen Aspekten des Wortes und der Bedeutung der Wortklassen, d. h. dem kategorialen, vor allem dem grammatischen Aspekt, bleibt die lexikalische Bedeutung außerhalb des Gesichtsfeldes. 2. Die Sprachmodellierung vom Standpunkt der Struktur der Äußerung (wenn das Ausgangskriterium die kommunikativen Bedürfnisse des Sprechers sind) basiert vor allem auf den Ausdrucksmitteln, auf ihrer formalen Seite, weshalb die Ausdrucksebene den Vorrang hat. 3. Die Kombination der Einheiten niedrigerer Ordnung zu Einheiten höherer Ordnung beruht hauptsächlich auf der Zusammenfügung der Einheiten (den morphologischen Alternationen, den Regeln für die Auswahl der Allomorphe, den Regeln für die Funktion der morphologischen invarianten Kategorien usw.) [32, 24] und nicht auf der semantischen Kompatibilität oder den lexikalischen Funktionen der Einheiten [23; 24], so vor allem auf der Ebene der Wortformen und Wortgruppen. 4. Die Bestimmung des Begriffs der sprachlichen Bedeutung im allgemeinen 326

und der lexikalischen Bedeutung im besonderen nur als der kommunikativen Funktion des Elements (des Morphems, des Wortes), wie sie dieser wissenschaftlichen Richtung eigentümlich ist, reicht keineswegs aus für die Bestimmung der Hauptkategorien und -einheiten der lexikalischen und der lexikalisch-semantischen Ebene als strukturell organisierter Subsysteme der Sprache (vgl. [28, 258]). Interpretiert man die lexikalische Bedeutung der Wörter mit Rücksicht auf ihre primären oder sekundären Funktionen [31, 73], so erkennt man nicht das inhaltliche Kriterium der semantischen Korrelationen der Wörter in der Paradigmatik, ihre lexikalisch-semantischen Beziehungen in der Syntagmatik, die Ebene des sprachlichen Ausdrucks der „semantischen Entfaltung" der virtuellen Wortzeichen und vieles andere, ohne das man die strukturelle Organisation des Wortschatzes nicht ernsthaft untersuchen kann. I m Gegensatz zu den Pragern, die einen bestimmten Beitrag zur Erforschung der innerstrukturellen Organisation der Sprache im allgemeinen und der Benennungszeichen — der Wörter und Wortgruppen — im besonderen geleistet haben [70; 71; 72], beachteten die Vertreter der amerikanischen Ethnolinguistik, vor allem der älteren Generation (Boas, Sapir u. a.) mehr die äußere Seite der sprachlichen Gliederung, indem sie die Beziehungen der sprachlichen Einheiten zur Außenwelt, zur Erfahrung der Sprachträger untersuchten. Die Ethnolinguisten halten die Sprache nur für eine F o r m des menschlichen Verhaltens, die sich in der Redetätigkeit, in den konkreten Akten und Situationen der sprachlichen Kommunikation äußert, und sehen die linguistisch zu untersuchenden Grundeinheiten in den Sätzen. Das Wort ist keine objektive Gegebenheit: F ü r die einen ist es eine Einheit der linguistischen Analyse [61; 106], für die anderen, z. B. für die Deskriptivisten, ist es weder eine Einheit der Sprache noch eine Einheit der linguistischen Beschreibung [74]. Mit der weiteren systematischen Untersuchung der menschlichen Sprache, mit der Erforschung ihrer Strukturbesonderheiten tritt an die Stelle der Dreiteilung der Sprache auf Grund ihrer substantiellen Aspekte eine strukturelle Zweiteilung: in der funktional-strukturellen Sprachtheorie die erste und die zweite Gliederung der Sprache (Martinet), in der semiotischen Sprachauffassung das Bezeichnete und das Bezeichnende (de Saussure, Weisgerber), in der Glossematik die Ausdrucks- und die Inhaltsebene (Hjelmslev), in der deskriptiven Linguistik 8 die plerematische und die kenematische S t r u k t u r (Hockett) usw. Das heißt, daß die sprachlichen Elemente weniger nach der Substanz als vielmehr nach der Form der Beziehung und nach dem Charakter der Funktionen innerhalb der Gesamtstruktur oder in einem einzelnen Subsystem voneinander unterschieden und einander gegenübergestellt werden. Die lexikalischen Elemente und ihre Bedeutung werden nicht exakt den grammatischen gegenübergestellt, wodurch die Erforschung der Spezifik der strukturellen Organisation des Wortschatzes in den Hintergrund tritt. Mit der Entwicklung struktureller 8

Die Vertreter der deskriptiven Linguistik verwenden die lange vor ih nen in die sprachwissenschaftliche Literatur eingeführten Bezeichnungen „Kenematik" und „Plerematik" konsequenter.

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und formalisierter Methoden der Sprachbeschreibung in den 40er und 50er Jahren wurde die ganze lexikologische und semasiologische Problematik, die im wesentlichen die bilateralen Einheiten der Sprache, die Wörter, umfaßt, zwecks „größerer Objektivität" und „methodischer Strenge" aus dem Programm vieler Forschungsrichtungen bewußt ausgeklammert. Es ist kein Zufall, daß man bis auf den heutigen Tag als die wichtigsten sprachlichen Ebenen (Subsysteme) die phonematische und die morphologische ansieht, während die lexikalische und die semantische, wie immer man sie interpretieren mag, als die peripheren Subsysteme der Sprache gelten [82, 137] oder bei der Analyse der Sprachstruktur als die „nichtstrukturierten Ränge" der Sprache hingestellt werden [64]. Nicht ohne Grund sieht Weinreich die Hauptursache für das Zurückbleiben der amerikanischen Lexikologie in der „Lahmlegung des Interesses für die Semantik" in der amerikanischen Linguistik zur Zeit Bloomfields und danach [121, 60]. Viele amerikanische Linguisten verzichteten Weinreich zufolge auf eine Erforschung der semantischen Seite der Sprache, und die mechanistischbehavioristische Auffassung ihres Wesens determinierte für lange Zeit die „antimentalistische" Ausrichtung ihrer Untersuchungen. Das hypertrophierte Interesse für die universellen, logischen Grundlagen der Sprache und die Vernachlässigung der Spezifik der semantischen Seite der konkreten Sprachen und die Idee, daß die verschiedenen Sprachebenen isomorph seien, schlugen sich in der Forschungspraxis vieler linguistischer Schulen nieder und führten zu einer unzureichenden Differenzierung der verschiedenen Arten sprachlichen Inhalts. Die weite und daher am wenigsten aussagekräftige Bezeichnung „Semantik" meint heute in der Sprachwissenschaft 9 sowohl die kategorialen (am stärksten verallgemeinerten und formal ausgedrückten) Bedeutungen der Elemente und Modelle des Sprachsystems als auch den Inhalt der Funktionaleinheiten, z. B. der Äußerungen (utterances), sowohl die Außenwelt der Dinge und Erscheinungen (vgl. den „semantischen Raum", das „semantische Kontinuum") als auch die Verhaltensreaktion des Hörers in der Redesituation. Es gibt keine exakten Kriterien zur Differenzierung zwischen logischer und linguistischer Semantik, lexikalischer und grammatischer Bedeutung, linguistischer und allgemeiner Semiotik. Bei der Untersuchung der lexikalischen Semantik bleibt die wichtigste Opposition unberücksichtigt, nämlich zwischen Bedeutung und Wert des Wortes als eines virtuellen Zeichens im System der Sprache, zwischen Bedeutung und Sinn des realisierten, aktuellen Zeichens in der syntagmatischen Reihe. Im letzten Jahrzehnt wächst in der Entwicklung der Sprachwissenschaft das Interesse für die Erforschung der semantischen Seite konkreter Sprachen im allgemeinen und für die lexikalische Semantik im besonderen. Es werden zahlreiche Versuche unternommen, die Lexik als eine strukturell organisierte Ebene zu untersuchen, ihren Platz im Stratifikationsmodell (Ebenenmodell) der Sprache zu bestimmen, Begriffe und Methoden für die Strukturierung der lexikalischen Einheiten zu entwickeln, die einzelnen Mikrostrukturen und Paradigmen der Wörter zu beschreiben, die Haupttypen ihrer lexikalischen und lexi9

Vgl. auch die Bezeichnungen „logische Semantik" und „allgemeine Semantik".

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kalisch-semantischen Zusammenhänge und Beziehungen in der Sprache zu ermitteln. Es ist nicht möglich und nicht erforderlich, auf jede Richtung und jede Art der Problematik dieser zahlreichen Arbeiten näher einzugehen. Erwähnt seien nur die wichtigsten: Aufbau verschiedener Sprachmodelle mit Einschluß des Wortschatzes als einer besonderen Sprachebene [22; 32; 90; 89], Bestimmung der Begriffe „lexikalische Struktur" [67; 65; 91; 116], „lexikalischsemantische Ebene" [50; 70; 114], „semasiologische Ebene" [205, 806] usw., Entwicklung von Methoden und Prinzipien zur Erforschung der lexikalischen Semantik [11; 54; 58; 92; 119; 117; 127], Bestimmung der Einheiten der lexikalischen und lexikalisch-semantischen Ebene und der Methoden ihrer Strukturierung [80; 47; 50; 72; 96], Entwicklung der Grundbegriffe und Hauptarten zur Beschreibung der semantischen Sprachelemente für theoretische und angewandte Zwecke [23; 85; 86; 97; 125], Untersuchung der semantischen Universalien und der Typologie [122,; 19; 118; 115; 120], vergleichende Erforschung der Semantik der lexikalischen Einheiten im Hinblick auf die Theorie der Benennungen [17; 18] oder zwecks adäquater "Übersetzung und für die Entwicklung von Prinzipien zur Abfassung von Wörterbüchern [9; 5; 7; 6] einschließlich von Wörterbüchern der semantischen Synthese [24] usw. Und obwohl die Erforschung des Wortschatzes im allgemeinen und der lexikalischen Semantik im besonderen im letzten Jahrzehnt große Fortschritte gemacht hat, gibt es auf diesem Gebiet der Sprachwissenschaft nach wie vor noch viele „weiße Flecken", unerforschte Erscheinungen und ungelöste Probleme 10 , die die Begründung einer angemessenen Theorie des Wortes und die Entwicklung von Methoden zur Beschreibung der verschiedenen Aspekte dieser mehrdimensionalen und überaus asymmetrischen Einheit der Sprache behindern. Die Besonderheiten des Wortes als einer Einheit der Sprache 1 1 Heute bestreitet fast niemand mehr, daß das Wort die grundlegende Einheit der Sprache ist, in der Struktur einer Sprache Schlüsselpositionen einnimmt. Die Forscher verhalten sich zum Wort nur insofern verschieden, als die einen es als Schlüsselelement der Sprache offen anerkennen und eingehend untersuchen und die anderen die übrigen Ebenen der Sprachstruktur analysieren und den Begriff „Wort" implizit verwenden, wenn sie die zu untersuchenden Einheiten, die Phoneme, Morpheme und Wortgruppen, ansetzen und identifizieren. Auf Grund welcher Eigenschaften spielt das Wort im Mechanismus der Sprache die zentrale Rolle? 1. Unter den bilateralen Einheiten nimmt das Wort einen besonderen Platz ein, es ist in bezug auf seine Funktionen in der Sprache universell und in bezug 10

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Näheres über den Stand der lexikologischen und semasiologischen Forschung bieten Überblickeartikel von Weinreich [121] und Ufimzewa [48]. Näheres über die semiologischen, teilweise strukturellen Eigenschaften des Wortes in Band I, Kapitel 2 („Die Zeichennatur der Sprache").

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auf den Umfang dieser Funktionen unikal, denn nur das Wortzeichen kann zugleich sämtliche sprachlichen Funktionen haben: die nominative, die signifikative, die kommunikative und die pragmatische. J e nach dem Charakter seiner Semantik (als Appellativum, Eigenname, deiktisches Wort, kopulatives Wort usw.) hat das Wort unterschiedliche innerstrukturelle Funktionen. Der Funktionsbereich des Wortes ist sehr groß, er reicht vom Morphem (bei der Wortzusammensetzung und Wortbildung) bis zu der rein kommunikativen Einheit, der Äußerung. Aus einem reinen Benennungszeichen kann das Wort zu einem funktionalen Strukturelement, zu einem Morphem werden oder im völligen Gegensatz dazu ein prädikatives Zeichen sein; vgl. engl, fire 'Feuer' mit fire-place 'Kamin', a big fire 'ein großes Feuer' mit Fire! 'Feuer!'. Wegen dieser Polyfunktionalität (leichte Verwandelbarkeit bald in ein Morphem, bald in den Teil einer Wortgruppe und sogar in einem Satz) nimmt das Wort in der Struktur der Sprache eine so zentrale Stellung ein. Auf Grund dieser Besonderheit des Wortes, am Schnittpunkt der paradigmatischen (onomatischen) und der syntagmatischen (funktionalen) Koordinate der strukturellen Organisation der Sprache zu stehen, kann man sagen, daß zwischen dem Wort und den angrenzenden bilateralen Einheiten der Sprache „offene Grenzen" bestehen 1 2 . Seinen rein semiologischen Funktionen nach identifiziert und verallgemeinert das Wort nicht nur, sondern ist auch „bedeutungsdifferenzierend" in der syntagmatischen Reihe, zeigt es die eine oder andere Bedeutung der polysemen Lexeme; vgl. engl, a thick book 'ein dickes Buch' mit a thick forest 'ein dichter Wald', to keep a word 'Wort halten' mit to keep a family 'eine Familie unterhalten' und to keep a feast (birthday) 'ein Fest (einen Geburtstag) feiern' usw. Das Wort muß, da sich in ihm mehrerere Funktionen zugleich wechselseitig bedingen, das universellste und zugleich ein spezifisch organisiertes sprachliches Zeichen sein. 2. I m Gegensatz zu den anderen bilateralen Einheiten der Sprache (den Morphemen, Sätzen, Wortgruppen, die ihren semantischen Wert nicht je nach dem nominativen bzw. syntagmatischen Bereich der Sprachtätigkeit verändern) existiert das Wort in seinen zwei Modifikationen — als virtuelles polysemes Zeichen im System der Benennungen, im Vokabular, und als gegliedertes, aktuelles Zeichen im Sprachgebrauch. Zum Unterschied von den Wortabwandlungsmorphemen, die ebenfalls mehrere Bezeichnete in sich vereinigen (so bezeichnet z. B. das i-Morphem im Russischen den Nominativ des Plurals der Maskulina und der Feminina) und in der Paradigmatik und Syntagmatik gleichermaßen „polysem" sind, sind die Wörter nur im Vokabular, in der Paradigmatik polysem, schwindet die Mehrdeutigkeit eines Wortzeichens in der linearen Reihe, durch den syntagmatischen Zusammenhang 1 3 . Die Bezeichnungen „virtuell" und „aktuell" verweisen auf die verschiedenen 12

Wie Sehmeljow in bezug auf diese Eigenschaft des Wortes feststellte, wird „diese Tatsache von vielen Forsehern sowohl anerkannt als auch gegen die einen oder anderen zu kritisierenden Wortdefinitionen ins Feld geführt" [54, 6]. 13 Achmanowa definiert das virtuelle Zeichen vor allem als Systemelement, als in gewissem Sinne nichtrealisiertes potentielles Zeichen im Gegensatz zum aktuellen Zeichen, dem Element der Rede [12, 79],

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Modifikationen des Wortes und differenzieren es in bezug auf die Bereiche der Sprachtätigkeit: Das virtuelle Zeichen gehört zur nominativen Tätigkeit, das aktuelle zur syntagmatischen. Das Wortzeichen hat zwei verschiedene semantische Werte: Es kann erstens Gegenstände, Erscheinungen, Ereignisse usw. benennen, bezeichnen und h a t damit eine nominative Funktion (einen nominativen Wert), und es kann zweitens auf Grund seiner Semantik lexikalische Beziehungen in der Syntagmatik eingehen und hat damit eine syntagmatische Valenz. Dadurch, daß das Wortzeichen den Erfordernissen des nominativen und des syntagmatischen Bereichs der Sprachtätigkeit gerecht wird, „akkommodiert" es sich spezifisch, hat es sowohl absolute als auch relative Merkmale. Bei den paradigmatischen Beziehungen der Wortzeichen im System liegt ein semantischer Rest in Gestalt des distinktiven Merkmals oder des allgemeinen semantischen Faktors vor — der sogenannte Wert innerhalb des Systems (valeur); die syntagmatischen lexikalischen Beziehungen der Wörter sind das grundlegende suprasegmentale Mittel zur Aktualisierung der virtuellen Zeichen, die Form der innerverbalen semantischen Differenzierung der mehrdeutigen Wörter. In der Syntagmatik entstehen oft neue semantische Werte, die in bezug auf die Bedeutungen im System als „semantisches Augment", als ein neuer Sinn erscheinen. Der semantische Inhalt der Wortzeichen im System einer Sprache besteht also aus der eigentlichen Zeichenbedeutung (einer absoluten Größe), dem Wert, der in der Paradigmatik sichtbar wird, und einem in der Syntagmatik entstehenden Sinn 1 4 (einer relativen Größe). Die zwei Arten von Größen im Inhalt des Wortzeichens, spezifische Transpositionen seiner systembedingten Bedeutung auf die Achse der Selektion und die Achse der Kombination, verwandeln das Wort in ein spezfisches sprachliches Zeichen im Schnittpunkt der beiden Hauptkoordinaten der strukturellen Organisation der Sprache, der paradigmatischen und der syntagmatischen Koordinate. 3. Das Wort ist die überaus asymmetrische funktional-strukturelle Grundeinheit der Sprache mit einer semantischen und einer morphologischen Struktur sowie einer komplizierten Semantik. Der Inhalt der vollwertigen Wortzeichen umfaßt vom Standpunkt des Verallgemeinerungsgrades und -Charakters unterschiedliche semantische Werte: 1. die für eine ganze Wortklasse gemeinsamen, mit der „gegenständlichen Reihe" nicht korrelierenden sogenannten grammatischen Bedeutungen, 2. das kategorial verallgemeinerte Merkmal, das das Wortzeichen in der einen oder anderen semantischen Gruppierung erhält, 3. die dem konkreten Wortzeichen eigentümliche lexikalische Bedeutung, die mit der „gegenständlichen Reihe" korreliert und die Gegenstände und ihre Beziehungen in der objektiven Realität widerspiegelt. In der Semantik eines Wortes ist dasjenige kategorial verallgemeinerte Merkmal am allgemeinsten, das das Wortzeichen in der einen oder anderen semantischen Gruppierung erhält. 14

Was zuweilen die in einem Wortverband entstehende „BedeutungBnuance" heißt, ist eben der neu entstehende semantische Wert.

331

J e nachdem z. B., ob das Bezeichnete ein „Gegenstand", eine „Handlung" oder ein „Merkmal" ist, gehört das Sema der betreffenden semantischen Wortklasse zur Semantik des Einzelwortes. I n vielen Sprachen wird das Sema solcher Klassen vollwertiger Wörter formal dadurch ausgedrückt, daß es der einen oder anderen Wortart, der einen oder anderen lexikalisch-grammatischen Klasse zugeordnet ist. Innerhalb der einen oder anderen semantischen Klasse rückt das Wort in eine zweite Reihe von Abhängigkeiten, in die paradigmatischen Beziehungen der entsprechenden Wortkategorien (beseelt bzw. unbeseelt, zählbar bzw. nichtzählbar usw.). Schließlich rückt das Einzelwort je nach dem Charakter seiner konkreten lexikalischen Bedeutung im System der Sprache in synonymische Reihen, lexikalisch-semantische Gruppen und semantische Felder. Durch diese drei nach dem Verallgemeinerungsgrad unterschiedlichen Reihen von Abhängigkeiten, die den semantischen Inhalt des Wortes nichtdiskret, global machen, bleibt das Wort semantisch und formal mit sich identisch. Außerdem hat die so organisierte inhaltliche Seite des Wortes zur Folge, daß es in jeder Sprache nicht nur Gruppen abstrakter und konkreter Lexik, sondern auch verschiedene Typen lexikalischer Bedeutungen innerhalb ein und desselben Wortes gibt, so daß in jeder Geschichtsperiode eine mehr oder minder komplizierte semantische Struktur entsteht. Sowohl die synchrone als auch die historische semantische Identität ist der reale Existenzmodus des Wortes im Sprachsystem und die unabdingbare Voraussetzung für sein Funktionieren in der Rede. Die semantische Identität des Wortes wiederum setzt seine formale und semantische Ganzheitlichkeit voraus, was seine leichte Herauslösbarkeit und Reproduktion als einer fertigen Spracheinheit determiniert. Die Asymmetrie in der Korrelation der zwei Seiten des Zeichens und das Vorhandensein virtueller Wortzeichen fördern die Bildung potentieller Wörter und Bedeutungen in der Sprache einerseits und machen jedes Wort zu einem potentiellen Synonym oder Homonym andererseits. 4. Der differentielle Charakter der Elemente des Bezeichneten des Wortzeichens verleiht der lexikalischen Abstraktion einen inklusiven, stufenartigen Charakter und den Grundprinzipien der strukturellen Organisation des Wortschatzes hyponymische Beziehungen in der Paradigmatik und semantische Kompatibilität in der Syntagmatik. Dadurch, daß sowohl der Inhalt als auch die Form des Wortes absolute und relative Parameter haben, läßt es sich stark variieren: a) nach der lexikalischen Bedeutung (lexikalisch-semantische Varianten), b) nach dem Bezeichnenden des Wortzeichens (phonetische, phonomorphologische Varianten), c) nach der grammatischen Bedeutung (morphologische Varianten, die sogenannten Wortformen), d) nach dem Anwendungsbereich (stilistische, dialektale und soziale Varianten), e) nach der Herkunft (etymologische Varianten, die sogenannten Dubletten) usw. 332

Die E b e n e n der Wortanalyse Der Unterscheidung der verschiedenen Ebenen der Sprache insgesamt oder der Einheiten ihrer einzelnen Subsysteme können verschiedene Kriterien zugrunde gelegt werden 1 5 : die Spezifik der Einheiten des Objekts bzw. der Einheiten seiner Analyse 16 , die Opposition der Einheiten nach ihrer Konstituenzkorrelation, der Gegensatz von Inhalt und Form 1 7 , der Gegensatz zwischen der Funktion (Bestimmung) und ihren Ausdrucksmitteln, der Abstraktionsgrad der sprachlichen Erscheinungen (z. B. System, Norm, Rede) 1 8 usw. F a ß t man das Wort als die nominative mehrdimensionale strukturelle Grundeinheit der Sprache auf, als eine Einheit, die eine in sich geschlossene Form hat und die idiomatisch ist [35; 40; 41; 43; 45], so erkennt man in diesem komplexen Objekt bestimmte Aspekte. Differenziert man im Wort als einer komplexen asymmetrischen Strukturinhaltliche und formale Aspekte einerseits und eine lexikalische (individuelle) und eine grammatische (kategoriale) Bedeutung andererseits, so hat das Wort deutlich vier Aspekte (vgl. die graphische Darstellung auf S. 334): I. einen phonomatischen Aspekt (die Phonemzusammensetzung), I I . einen morphematischen Aspekt (die Morphemzusammensetzung), I I I . einen lexematischen Aspekt 1 9 (das Wort als bilaterale Benennungseinheit des Vokabulars, als Strukturelement der betreffenden Sprache) und IV. einen lexikalisch-semantischen Aspekt (die Ebene der lexikalisch-semantischen Varianten des Wortes, die seine lexikalische Bedeutung im Sprachsystem repräsentieren, die Ebene der einzelnen Bedeutungen der Wörter). Auf den Ebenen I und I I analysiert man die „Ausdrucksebene", d. h. die formalen Aspekte des Wortes — seine Phonem- und Morphemzusammensetzung, während die inhaltliche Seite des Wortes im großen und ganzen nur der Identifizierung der festgestellten Einheiten — der Phoneme jkompn'hsndz] und d e r Morpheme com-pre-hend-s — dient. Umgekehrt wird auf den Ebenen I I I und 15

Näheres in Kapitel 2 des vorliegenden Bandes. Vgl. die in bezug auf den Ebenenbegriff korrelativen Bezeichnungspaare: phonematisch phonologisch, morphematisch — morphologisch, lexikalisch — lexikologisch, semantisch — semasiologisch [25, 806], )7 Bulygina verweist auf den in der Literatur zuweilen anzutreffenden nicht korrekten Gebrauch der Bezeichnung „Ausdrucksebene" und „Inhaltsebene" (vgl. Kapitel 2 desvorliegenden Bandes). 18 Vgl. die Korrelation der Einheiten der drei Abstraktionsebenen: abstrakte Struktureinheiten, manifestierende Einheiten und Einheiten der funktionalen Realisierung. 19 Da die Bezeichnung „lexikalisch", streng genommen, der Bezeichnung „grammatisch" gegenübersteht, ist es bei einer Gegenüberstellung von lexikalischen Mitteln (Wortschatz insgesamt) und grammatischen Mitteln logischer, wenn man den Ausdruck „lexikalisch" verwendet; vergleicht man dagegen die Ebene der ungegliederten Wortzeichen, der Lexeme samt ihren Bedeutungen und Wortabwandlungsformen (wie Winogradow sie definiert) mit der Ebene der lexikalisch-semantischen Varianten des Wortes (der Einzelbedeutungen), so ist unseres Erachtens die Bezeichnung „lexematisch" logischer. Diese wird manchmal für „autosemantische Wörter" im Gegensatz zu den deiktischen, kopulativen und anderen Wortklassen gebraucht. 16

333-

I.LSV

334

IV das Wort inhaltlich analysiert, während die Differenzierung der globalen, ungegliederten lexikalischen Einheiten, der Lexeme (III), und die Identifizierung der kleinsten lexikalischen Einheiten (der lexikalisch-semantischen Varianten des Wortes) (IV) nach der Wortform, nach der Phonemzusammensetzung erfolgen. Auf den ersten Blick könnte man die Ebenen I und I I zur formalen Seite des Wortes zählen und sie als „Ausdrucksebene" ansehen im Gegensatz zu den beiden anderen Ebenen (III und IV), die man als „inhaltliche" Ebenen des Wortes bezeichnen könnte. Eine solche Strukturierung im Rahmen des traditionellen Sprachmodells differenziert formal nicht zwischen den Ebenen I I I und IV, und, was die Hauptsache ist, sie zeigt nicht die Mittel, die die Asymmetrie des Wortzeichens aufheben, sondern verdeutlicht nur stärker die unterschiedliche Gliederung der vier Aspekte des Wortes. Die völlige Nichtübereinstimmung zwischen der formalen und der inhaltlichen Seite des Wortes beginnt bei Ebene I I I ; bis zur lexematischen Ebene haben die formalen Aspekte des Wortes (die Phonem- und Morphemzusammensetzving) eine differenzierende Funktion, denn sie differenzieren den grammatischen Inhalt der einen Wortform von demjenigen einer anderen (vgl. to comprehend mit comprehends, comprehending und comprehended) oder den lexikalischen Inhalt des einen Lexems von demjenigen eines anderen (vgl. to comprehend mit comprehensive, comprehension, uncomprehensible, to comprehend, to understand usw.). Die formalen Aspekte des Wortes haben eine differenzierende Funktion nur bis einschließlich Ebene I I I , auf Ebene IV spielen sie eine ganz andere Rolle, denn sie identifizieren die einzelnen Bedeutungen (die verschiedenen lexikalisch-

semantischen Varianten) innerhalb des Wortes der Form nach, indem sie nicht zuletzt die synchrone und historische Identität des Wortes gewährleisten. Die kleinsten Einheiten der lexikalischen Bedeutung hingegen werden mit Hilfe der suprasegmentalen Mittel der Sprache differenziert — durch die paradigmatische Opposition der Wörter (der Einheiten der Ebene I I I ) und ihre syntagmatische Verkniipfbarkeit oder durch beides zusammen. So wird z. B. die erste lexikalisch-semantische Variante des Verbs to comprehend mit der direkten nominativen Bedeutung 'verstehen', der 2. Variante 'einschließen' und der 3. Variante 'umfassen' durch den paradigmatischen Gegensatz zu den Verben to widerstand, to include bzw. to imply20 und andere suprasegmentale Mittel, z. B. durch die lexikalische Verkniipfbarkeit, realisiert. Die russischen Verblexeme KOB&TB 'schmieden' und nonaTb 'graben' unterscheiden sich minimal ihrer Phonemzusammensetzung nach und überhaupt nicht in bezug auf den Typ ihrer Morphemstruktur. Die Phonemzusammensetzung des Wortes KOBaTb grenzt den lexikalischen Inhalt 'durch Hammerschläge Eisen formen' von KonaTb, das 'Schüttgut (z. B. Erdreich, Sand usw.) zerkleinern, auflockern' bedeutet, ab. Die Morphemzusammensetzung, die auf einen bestimmten innerstrukturellen Wert dieser Wörter hinweist, ordnet sie der Klasse der Verblexeme mit einer Objektlokalisierung der durch sie ausgedrückten Handlung ohne Bezug auf Person, Zahl und Zeit ihrer Vollziehung zu. Die morphologische Gestalt des Verbs KOB-aTb stellt es jedem anderen Verblexem gegenüber: 3 a - K O - B a T b , n0jj;-K0-BaTb u s w .

Folglich gilt die bedeutungsdifferenzierende Funktion des Phonems nur bis zur lexematischen Ebene des Wortes, differenziert sie die Lexeme nur i n t e r v e r b a l semantisch. Die Lexeme KOBSTB und KonaTb stehen sich als nominative Einheiten vor allem in bezug auf ihre direkte nominativische Bedeutung gegenüber, die am besten Umfang und Inhalt des durch das betreffende Wortzeichen bezeichneten Begriffs umfaßt. Am wichtigsten, am leichtesten bestimmbar, grammatisch und phraseologisch unbegrenzt, unmittelbar durch die „gegenständliche Reihe" bedingt ist diejenige lexikalisch-semantische Variante, die der direkten nominativischen Bedeutung des Lexems KOBaTb entspricht: KOBaTb Hie.neao 'Eisen schmieden', KOBaTb qT0-Jin60 na H«ejie3a 'etwas aus Eisen schmieden' usw. Die zweite lexikalisch-semantische Variante hat die Bedeutung 'aktiv schaffen, erstreben': KOBaTb ciacTbe 'das Glück schmieden", KOBaTb no6e«y 'den Sieg schmieden'. Diese lexikalisch-semantische Variante entsteht durch die Verknüpfung des Verbs KOBaTb mit Substantiven, die abstrakte Begriffe wie 'Glück' oder 'Sieg' ausdrücken. Obligatorische suprasegmentale distinktive Mittel sind: a) das Modell der Objektbeziehungen des Verbs, b) das Agens — eine Einzelperson oder mehrere Personen, c) die Substantive, die sich mit dem Verb in dieser Bedeutung verknüpfen lassen, was denn auch den semantischen Kontext (die notwendigen 20

Vgl. die Bezeichnung „alternative Substitutes with shared features" bei Nida [98].

335

sprachlichen Mittel) ausmacht, der diese lexikalisch-semantische Variante von KOBaTb begrenzt. Die dritte lexikalisch-semantische Variante hat die Bedeutung '(Pferde) beschlagen' und manifestiert sich in der Verknüpfung des Verbs KOBÜTB mit einigen wenigen Nomina zur Bezeichnung von Tieren, z. B . KOBELTB KOHH 'ein Pferd beschlagen'. Jeder der vier verschiedenen Aspekte des Wortes hat seine Einheiten und ein System ihrer Beziehungen: IV. Die lexikalisch-semantische Variante des Wortes als die Grundeinheit des lexikalisch-semantischen Systems der Sprache. III. Das Lexem als die bilaterale Einheit des lexikalischen Systems (des Vokabulars) und das Strukturelement der betreffenden Sprache. II. Das morphologische System der Sprache mit dem Morphem als konstitutiver Einheit. I. Das phonologische System der Sprache mit dem Phonem als seiner Grundeinheit. Obwohl jede Ebene ihr Einheitenrepertoire und ihre strukturelle Organisation hat, bilden diese Einheiten nicht nur Oppositionen, sondern sind sie auch miteinander verbunden, kann jede Ebene für sich als Ausdrucksmittel gegenüber der höheren und als inhaltlicher Aspekt gegenüber der niedrigeren gelten. Im Wort sind diese Ebenen integriert, deshalb gelingt es nicht, die spezifischen lexikalischen Einheiten für jede Ebene (III und IV) nur mit Hilfe der Wortform (Phonem- bzw. Morphemzusammensetzung) voneinander abzugrenzen, denn jede Formeinheit (jedes Phonem bzw. Morphem) ist in allen vier Aspekten des Wortes vorhanden; demgegenüber korrelieren die Einheiten der inhaltlichen Ebenen, der lexematischen und der lexikalisch-semantischen Ebene, stehen sie zueinander in Konstituenzbeziehungen, ohne durch die Ausgangsform des Zeichens differenziert zu sein. Daher sind das Hauptmittel zur Differenzierung der Einheiten der lexikalischsemantischen Ebene die Einheiten der lexematischen Ebene (Wort: Wort — in der Paradigmatik, Wort — Wort — in der Syntagmatik). Wird also die lexikalische Semantik eines Wortes mit Hilfe seiner Form (seiner Phonem- und Morphemzusammensetzung) differenziert, z. B. bei der Wortbildung, Lexikalisierung und Grammatikalisierung von Wörtern oder einzelnen Wortformen, der Wortzusammensetzung sowie beim phonologischen, phonomorphologischen, sozialen und geographischen Variieren, so handelt es sich stets um Erscheinungen der lexematischen Ebene des Wortes, um lexikologische Probleme (um Mittel für die betreffende Funktion). In allen anderen Fällen, in denen die Form des Wortzeichens (die Phonemund Morphemzusammensetzung des Wortes) den Inhalt der lexikalischen Einheiten, den Grad ihrer semantischen Konvergenz und Divergenz nicht zu bestimmen hilft (z. B. beim innerverbalen Differenzieren der polysemen Einheiten, bei Synonymie und Homonymie), haben wir es mit der lexikalisch-semantischen Ebene zu tun, deren Grundeinheit man nur mit anderen Mitteln als der Phonemzusammensetzung der entsprechenden Wörter identifizieren kann. Die Phonemzusammensetzung der Wörter braucht man, sie reicht aber nicht aus, um die 336

•elementaren lexikalischen Einheiten, die lexikalisch-semantischen Varianten •des Wortes, voneinander abzuheben. Das Hauptmittel der inner verbalen semantischen Differenzierung jedes polysemen Lexems sind die s e m a n t i s c h e n B e z i e h u n g e n der Wörter in der Paradigmatik und die l e x i k a l i s c h e n R e l a t i o n e n 2 1 der Wörter in der Syntagmatik. Daher werden die lexikalische und lexikalisch-grammatische Homonymie, •die innerverbale Differenzierung der lexikalischen Einheiten (Polysemie), die Antonymie, die Bedingungen und Grenzen des lexikalisch-semantischen Variierens und die phraseologisch gebundenen Realisationen der Wortbedeutungen auf der Ebene der lexikalisch-semantischen Variante des Wortes analysiert, bilden sie den Gegenstand der Semasiologie. I m Gesamtsystem der Sprache steht der lexikalische Aspekt des Wortes in bezug auf den Charakter des Inhalts seiner signifikativen Seite vor allem dem •grammatischen Aspekt gegenüber (in der traditionellen Sprachwissenschaft die lexikalische und die grammatische Bedeutung, in der amerikanischen Linguistik •die lexikalischen und die grammatischen Zeichen). Betrachtet man den Wortschatz an sich, so erkennt man in ihm deutlich zwei •einander gegenüberstehende Ebenen — die lexematische (III) und die lexikalisch•semantische (IV), die zueinander in Konstituenzbeziehungen stehen und die zueinander die Stellung des inhaltlichen (IV) und des formalen (III) Aspekts •einnehmen. I n der asymmetrischen Struktur der Sprache sind die phonematische (I) und morphematische (II) Ebene das notwendige und ausreichende Mittel für den Ausdruck der lexikalischen Bedeutung der Wörter nur bei ihrer interverbalen •semantischen Differenzierung, indem sie den lexikalischen Inhalt des einen Lexems von demjenigen des anderen abheben, z. B. C T y j i 'Stuhl' von CTOJI 'Tisch', K O B a T B 'schmieden' von K o n a T b 'graben' usw. Die innerverbale semantische Differenzierung der semantisch ungegliederten Lexeme in lexikalisch kleinere signifikative Einheiten — die lexikalisch-semantischen Varianten (Einzelbedeutungen) des Wortes — geschieht mit Hilfe der Einheiten der lexematischen Ebene, d. h. mit Hilfe des paradigmatischen Gegensatzes oder der lexikalischen Verknüpf barkeit der Wörter 2 2 in der linearen Reihe. Zwei Aspekte des Wortes und dementsprechend auch zwei Subsysteme •der Sprache — das lexikalisch-semantische und das lexematische — unterscheiden sich sowohl durch die für jede Ebene spezifischen Einheiten selbst als auch -21 Es scheint notwendig zu sein, zwischen den „semantischen Beziehungen der Wörter" und den „lexikalischen Relationen der Wörter" zu differenzieren, denn sie haben sowohl einen verschiedenen Sinn als auch eine verschiedene Form (syntaktische Semantik und syntaktische Morphologie): jene existieren im System, in der Paradigmatik, diese realisieren sich oder entstehen neu beim Funktionieren in der Syntagmatik. Vgl. die Differenzierung der Begriffe „Beziehungen" ( o T H o m e H H H ) und „Relationen" (CBH3H) bei Schtschur [56]. 22 Mit der lexikalischen Verknüpf barkeit der Wörter (Verknüpfbarkeit in bezug auf die lexikalische Semantik) ist zum Unterschied von der syntaktischen Verknüpfbarkeit (der syntaktischen Morphologie) die Kompatibilität der Wörter nach ihrer lexikalischen Bedeutung gemeint, die wiederum semantisch oder usuell sein kann.

337

durch die Manifestationsform des Inhalts der Einheiten der entsprechenden Ebene. Die (spezifische) Grundeinheit der lexematischen Ebene der Sprache ist das Wort als einheitliches Ganzes, in der Gesamtheit seiner grammatischen Formen und Bedeutungen, als das Lexem 2 3 . Die kleinste Grundeinheit der lexikalisch-semantischen Ebene ist die lexikalisch-semantische Variante des Wortes, die ihrem Inhalt nach der Einzelbedeutung des Wortes gleicht 24 . Die zwei „inhaltlichen" Ebenen des Wortes bilden zueinander einen deutlichen Gegensatz, und die Konstituenzbeziehungen zwischen den Einheiten dieser Ebenen sind auch dann erkennbar, wenn man beim Wort den Abstraktionsgrad der sprachlichen Erscheinungen berücksichtigt. Das Lexem als Einheit der lexematischen Ebene, das in seinem Inhalt komplexe Element des Vokabulars, ist eine unter syntagmatischem Aspekt virtuelle und (in bezug auf die nominative Tätigkeit der Sprache) konkrete Einheit 2 5 , die durch eine bestimmte Phonemfolge (bzw. Graphemfolge) differenziert wird. Vom System der nominativen Mittel der Sprache her widerspiegelt das Lexem vor allem in seiner direkten nominativen Bedeutung am umfassendsten Umfang und Inhalt des mit ihm verbundenen Begriffs. Die direkte nominative Bedeutung des Lexems, die unmittelbar mit der „gegenständlichen Reihe" korreliert, leicht bestimmbar ist, häufig reproduziert wird und grammatisch und phraseologisch frei ist, gehört zum obligatorischen Wissensminimum des jeweiligen Sprechers und ist zugleich derjenige notwendige und ausreichende Inhalt, nach dem das eine Lexem dem anderen gegenübersteht 2 6 . Wie das Molekül aus Atomen besteht, ist auch das Lexem (das komplexe Wort, das Lemmawort) in jeder Geschichtsperiode eine komplizierte asymmetrische Struktur, eine durch die Derivationsbeziehung exakt geordnete Sequenz lexikalisch-semantischer Varianten des Wortes. Sieht man die lexikalisch-semantischen Varianten des Wortes nur unter dem Gesichtspunkt ihres Inhalts, so erscheinen sie als unilaterale Einheiten der Ausdrucksebene, die den einzelnen Bedeutungen der polysemen Wörter gleichen; sie müssen zu den nichtsignifikativen Elementen der Sprache gerechnet werden. Zugleich aber ist die lexikalisch-semantische V a r i a n t e d e s W o r t e s eine bilaterale, eine Zeicheneinheit, ein aktuelles Zeichen im Gegensatz zum virtuellen Zeichen 27 , verfügt sie über eine ihr allein eigentümliche (Zeichen-)Bedeutung 23

25

25

26 27

Für den Lexembegriff gibt es recht viele Definitionen. So bezeichnet z. B. Pottier [103, 112] als Lexem nur „das gegenständliche, das Wurzelmorphem" im Gegensatz zum Abwandlungsmorphem (chantons ist ein Monem, ckant- ein Lexem und -ons ein Morphem). Coseriu [67] versteht unter einem Lexem nur den lexikalischen Inhalt („signification lexicale"). Andere definieren das Lexem als Einheit der Ausdrucksebene [89]. Vgl. die Bezeichnungen „lexische Einheiten" und „lexisch-semantische Einheiten" bei Pilipec [72]. Vgl. den Begriff „Onomatema" (im Kapitel „Die Ebenen der Sprachstruktur" im vorliegenden Band [S. 84]). Vgl. den Begriff der „basic lexemes" bei Lamb [89]. Näheres im Kapitel „Die Zeichennatur der Sprache" in Band I (S. 79—164).

338

und Zeichenform, die durch die suprasegmentalen Mittel der Manifestation des betreffenden semantischen Wertes ergänzt wird. Die lexikalisch-semantische Variante des Wortes ist die kleinste bilaterale Grundeinheit des lexikalischsemantischen Systems, die real in der Rede funktioniert, während das komplexe Wort (das Lexem) vom Standpunkt der syntagmatischen Tätigkeit der Sprache, ihrer kommunikativen Funktion eine überaus abstrakte Einheit der Vokabularstruktur, eine Verallgemeinerung der in der betreffenden Periode der Sprache vorhandenen Realisationen, Verwendungen des Wortes ist 2 8 . Peschkowski bezeichnete die Beziehungen, die den Beziehungen zwischen den zwei Wortmodifikationen auf den verschiedenen Stufen der sprachlichen Abstraktion gleichen, durch den Gegensatz von Wort und Typ sowie Wort und Glied [36; 37], Coseriu durch den Gegensatz zwischen „Lexematik der Sprache" und „Lexematik der Rede" [67]. Es wäre jedoch nicht nur eine Simplifizierung, sondern auch ein Fehler, zwischen den komplexen Wörtern und den lexikalisch-semantischen Varianten als Systemwerten nur Beziehungen zu sehen, wie sie zwischen dem System der Elemente und der Ebene ihrer Realisationen existieren. Die Strukturierung des Wortes von Seiten seines lexikalischen Inhalts ist in der Sprache durch drei verschiedene Ordnungen repräsentiert, deren Einheiten zueinander komplizierte Beziehungen haben (siehe Tabelle S. 340—341). Jede Abstraktionsebene hat ihre Einheiten: das Lexem (1), die lexikalischsemantische Variante des Wortes (2), die Wort Verwendung (3), die zueinander in komplizierten Beziehungen stehen. Das Lexem (das Wort erster Ordnung) und die zu seiner Struktur gehörenden lexikalisch-semantischen Varianten (das Wort zweiter Ordnung) stehen in hyponymischen Beziehungen: die lexikalisch-semantische Variante gehört zur Struktur des komplexen Wortes, bildet den kleinsten Bestandteil eines größeren Ganzen. Daraus folgt zweierlei: Die lexikalisch-semantischen Varianten des Wortes sind erstens bilaterale Einheiten und zweitens ähnlich dem Lexem virtuell, d. h. überindividuelle Verallgemeinerungen, Systemwerte, die im lexikalisch-semantischen System der Sprache durch ganz bestimmte Mittel manifestiert werden — durch eine Serie von Wörtern, die zu bestimmten semantischen Kategorien gehören (die konkrete, die abstrakte Lexik) und sich (logisch oder usuell) nach den Typenmodellen ihrer semantischen Relationen verknüpfen lassen. Somit erscheint die lexikalisch-semantische Variante des Wortes in der Strukt u r der Sprache in doppeltem Gewand — als aktuelles, semantisch gegliedertes Zeichen gegenüber dem komplexen Wort und als virtuelles Zeichen gegenüber den Realisationen des Wortes im Text. Die Beziehungen zwischen den verschiedenen Abstraktionsebenen (Ordnungen) des Wortes (1, 2, 3) können als Beziehungen der Repräsentation gelten, 28

Peschkowski schrieb [36, 93]: Die Verallgemeinerung „ist nicht das Produkt unserer wissenschaftlichen Überlegungen, sondern eine lebendige psychologische Tatsache, und sie kann sogar im Gegensatz zu den tatsächlichen als das Wesentliche erscheinen, während die konkreten Gestalten der Wörter und Wortgruppen Modifikationen dieses Wesentlichen sind".

339

Ebenen (Ordnungen) der semantischen Gegliedertheit des Wortes 1. Ebene der semantisch ungegliederten Wortzeichenlexeme, der Wörterbucheinheiten (erste Ordnung)

2. Ebene der semantisch gegliederten Wortzeichen, der lexikalischsemantischen Varianten (Einzelbedeutungen), der Einheiten des lexikalisch-semantischen Systems (zweite Ordnung)

3. Ebene der aktualisierten Wortzeichen, der funktionalen Wortverwendungseinheiten (dritte Ordnung)

Lexikalisch-semantische Varianten

Mögliche Wortverknüpfungen

Inhalt 'Fleck' als Lexem, 1. 'nach Farbe, Tönung usw. Wörterbucheinheit, auffällige Stelle Komplexes Wort auf einer Oberfläche' JIHTHO

Manifestationsmittel sämtliche Formen des Lexems in Verbindung mit lexikalisch kompatiblen Wörtern nach dem Modell V - N (NOCAAHTB IIHTHO

'einen Fleck machen')

A-

nocaflHTb n. 'einen Fleck machen' CHHTI» n. 'einen Fleck wegmachen' BHBecTH n. 'einen Fleck entfernen' 3äMeTHTb n. 'einen Fleck bemerken'

N

( r p H 3 H 0 e IIHTHO

'Schmutzfleck')

Htupiioe n. 'Fettfleck' coeraoe n. 'heller Fleck' ßojihiiioe n. 'großer Fleck'

N — Präpos. — N (IIHTHO H a CTOJie

'Fleck auf dem Tisch')

nHTHO Ha CKaTepTH 'Fleck auf der Tischdecke, HHTHO H a jiime 'Fleck auf dem Gesicht', nHTHO Ha KOJKe 'Fleck auf der Haut' usw.

N - V (HHTHO CMBIBa-

'der Fleck läßt sich abwaschen') Wortformen im Singular nach den Modellen N - N eTCH

2. 'was den Ruf eines Menschen befleckt'

340

nHTHO BHfleJiHeTCH 'der Fleck sticht ab', nHTHO ßjiecTHT 'der Fleck glänzt' usw.

1. Ebene der semantisch ungegliederten Wortzeichenlexeme, der Wörterbucheinheiten (erste Ordnung)

2. Ebene der semantisch gegliederten Wortzeichen, der lexikalischsemantischen Varianten (Einzelbedeutungen), der Einheiten des lexikalisch-semantischen Systems (zweite Ordnung)

3. Ebene der aktualisierten Wortzeichen der funktionalen Wortver we ndungse inhe it en (dritte Ordnung)

Lexikalisch-semantische Varianten

Mögliche Wortverknüpfungen

Inhalt

Manifestationsmittel (abstrakte Substantive) V - ST

IMTHO

no3opa 'Schand-

fleck' IIHTHO H a p e n y T a m i i t

'befleckter Ruf' 'einen Makel tilgen'

CMHTB IIHTHO

bei denen sich die Ebenen 2 und 1 sowie 3 und 2 zueinander wie die Erscheinung zu ihrem abstrakten Wesen verhalten. Den größten Kontrast bilden diese Beziehungen in der Korrelation zwischen den beiden äußeren Ebenen (zwischen 1 und 3). Der inhaltliche und der formale Aspekt des Wortes im R a h m e n jeder Ebene der sprachlichen Struktur haben diametral entgegengesetzte Funktionen. Invariant, unverändert und daher identifizierend ist die F o r m des Wortzeichens, während die lexikalische, d. h. die individuelle Bedeutung des Wortes (die Zeichenbedeutung) sich partiell verändert, variiert bei unveränderlicher grammatischer, kategorialer Bedeutung (der Strukturbedeutung). I n der Sprachwissenschaft wird das Variieren des Wortes in bezug auf seine formalen Aspekte (vgl. die morphologischen Varianten — die Wortformen —, die phonologischen und die phonomorphologischen Varianten) allgemein anerkannt, während das Variieren der lexikalischen Bedeutung des Wortes immer noch debattiert und oft nicht anerkannt wird. Die lexikalisch-semantischen Varianten 2 9 verhalten sich zueinander innerhalb des Wortes wie konsekutiv-derivative Varianten. I n einem polysemen (komplexen) Wort stellt man unabhängig vom Charakter seiner semantischen Struktur keine Gesamtbedeutung fest (weil sie nicht existiert). Daher muß man das im lexikalischen Inhalt Invariante so interpretieren, daß es „mehr stabil und weniger mobil" ist, der semantischen Derivation zugrunde liegt. Absolut unveränderlich im Einzelgehalt des Wortes ist die historisch entstandene und gesellschaftlich anerkannte direkte nominative Bedeutung, die in gewissem Sinne invariant ist und die mehr -als alle anderen lexikalisch-semantischen Varianten die semantische Identität des Wortes bewahrt. Bei dem konsequent inklusiven Charakter der Abstraktion u n d dem29

23

Achmanowa verwendet die Bezeichnung „semantische Varianten des Wortes" und bestimmt sie als „die in den jeweiligen Kontexten des Gebrauchs realisierten unterschiedlichen Bedeutungen des Wortes" [12, 71]. Serebrennikow II

341

entsprechend der semantischen Derivation 30 ist die lexikalisch-semantische Variante nicht die Modifikation eines verallgemeinerten, invarianten Werts (wie im Falle der grammatischen Bedeutung), sondern die Opposition der einen Variante zu einer anderen Variante nach irgendeinem Merkmal. So enthält in unserem Beispiel die begriffliche Grundlage der direkten nominativen Bedeutung des Lexems iijitho 'Fleck' das Merkmal 'verschmutzte (rauhe) Stelle auf einer sauberen (glatten) Oberfläche', das seiner übertragenen Bedeutung 'etwas, was einen Menschen, seinen Ruf befleckt' zugrunde liegt; vgl. die erste lexikalisch-semantische Variante nHTHO Ha CKaTepTii 'Fleck auf der Tischdecke' iihtho rpH3H 'Schmutzfleck' BHBecTH nHTHO 'einen Fleck entfernen' mit der zweiten lexikalisch-semantischen Variante nHTHO nogopa 'Schandfleck' nHTHO Ha penyTaijHH 'befleckter Ruf' CMHTb nHTHO 'einen Makel tilgen' Die beiden Seiten der lexikalisch-semantischen Varianten des Wortes verhalten sich, ähnlich den grammatischen Morphemen, zueinander wie das Wesen zu den Mitteln, die es manifestieren. Gleichzeitig korrelieren die lexikalisch semantischen Varianten (bilateralen Einheiten) mit den zahlreichen Verwendungen, die ein und denselben semantischen Systemwert reproduzieren, wie die systemhaften Grundelemente mit ihrer Realisation in der Rede korrelieren. Sehen wir also die Strukturierung des Wortes unter dem Gesichtswinkel des Abstraktionsgrades der sprachlichen Erscheinungen oder analysieren wir dieses komplexe Objekt nach den verschiedenen Aspekten, so zeichnen sich darin drei Ebenen exakt ab: 1. die lexematische, 2. die lexikalisch-semantische und 3. die Ebene der Realisation in der Rede, die Ebene der funktionalen Verwendung. Zwischen dem Wortlexem, der lexikalisch-semantischen Variante des Wortes und dem verwendeten Wort bestehen dieselben Beziehungen wie zwischen den anderen abstrakten und konkreten Einheiten der Sprache — Beziehungen der Repräsentation, des sekundären Derivationsvariierens, der Manifestation und Realisation. Die Untersuchung des Wortes beginnt entweder bei der Ebene 1, der lexematischen Ebene, wenn als Grundlage nur die direkte nominative Bedeutung angenommen wird, wonach das Wort zum System der Benennungen und zur Struktur des Vokabulars gehört, oder bei der Ebene 3, der Ebene seines Funktionierens, seines Gebrauchs. Sowohl das eine als auch das andere Vorgehen (das erste ist perspektivisch, das zweite retrospektivisch) überspringt die in bezug auf die strukturelle Organisation wichtigste Ebene der lexikalisch-semantischen Varianten, eine Ebene, die nicht nur den Mechanismus zur Aufhebung der Asymmetrie des Wortzeichens, sondern auch den Charakter der paradigmatischen Gruppierungen und der syntagmatischen Relationen der Wörter im System der Sprache insgesamt sichtbar macht. 30

Schmeljow nennt diese Beziehungen „epidigmatisch oder derivationell (im weiten Sinne)"

[54]. 342

Das lexikalisch-semantische System der Sprache Das komplexe und asymmetrische sprachliche Zeichen Wort eignet sich nicht zur Beschreibung der strukturellen Organisation des Wortschatzes. Die Unterscheidung zwischen dem Wortkomplex, seiner lexikalisch-semantischen Variante und dem Wortgebrauch ist daher ein spezifischer heuristischer Kunstgriff, der Versuch herauszufinden, wie eigentlich die Asymmetrie des Wortes als eines Elements der Sprachstruktur bei seiner Realisierung in der Rede aufgehoben wird. Es wäre aber falsch zu meinen, daß das lexikalisch-semantische Variieren des Wortes, die Regeln seiner semantischen Entfaltung (der innerverbalen semantischen Differenzierung) das einzige Objekt der Erforschung eines lexikalisch-semantischen Systems seien. Zum lexikalisch-semantischen System gehören der ganze Bereich der semantischen Beziehungen der lexikalischen Einheiten, der Spezifik der Typen ihrer Gruppierungen, und der Charakter ihrer wechselseitigen Beeinflussung (die lexikalische Paradigmatik) sowie der Wechselwirkung mit den Elementen der anderen Subsysteme der Sprache, die Bedingungen und Formen des sprachlichen Ausdrucks der Ergebnisse des semantischen Variierens der Wortzeichen (die lexikalische Syntagmatik) usw. Schon die Benennung „lexikalisch-semantisch" verdeutlicht die bilaterale Natur des Systems; einerseits grenzt man innerhalb der semantischen Ebene der Sprache die lexikalische Semantik von der grammatischen ab, und andererseits gliedert man mit Hilfe dieses Systems die Semantik des Wortes als eines Elements des Wortschatzes weiter in die kleinsten bilateralen Einheiten, die lexikalisch-semantischen Varianten des Wortes. Zum Unterschied vom Wortschatz als der Gesamtheit der nominativen Mittel, die nach den Gesetzmäßigkeiten der Phonologie, Morphologie und Wortbildung organisiert sind und das lexematische System der Sprache, die Struktur des Vokabulars bilden, ist das lexikalisch-semantische System eine Synthese, das Ergebnis einer komplizierten Wechselwirkung der Wörter mit ihren Einzelbedeutungen in zwei Bereichen der Sprache — dem nominativisch-klassifizierenden (der Paradigmatik) und demjenigen der lexikalischen Verknüpfbarkeit (der Syntagmatik). Die konstitutive Grundeinheit des lexikalisch-semantischen Systems der Sprache ist das Wort. In seinem Inhalt differenziert man exakt zwischen der konkreten lexikalischen Bedeutung des Wortzeichens, der allgemeinen Bedeutung der semantischen Kategorien der Wörter und der für die grammatischen Wortklassen charakteristischen grammatischen Bedeutung. Die kleinste, die spezifische Einheit des lexikalisch-semantischen Systems ist die lexikalisch-semantische Variante des Wortes, die im Gegensatz zu den unilateralen Merkmalen (den Semen) bilateral ist. Da die Lautform des Wortes bei der innerverbalen semantischen Differenzierung irrelevant ist, bilden die „Ausdrucksebene" des lexikalisch-semantischen Systems andere Aspekte der Sprache in verschiedener Form und verschiedenem Grad ihrer Wechsel23*

343

Wirkung: der lexematische Aspekt, der morphologische und der s y n t a k t i s c h e . D a s H a u p t o b j e k t zur Untersuchung des lexikalisch-semantischen S y s t e m s ist daher das W o r t in seinen semantischen Beziehungen und lexikalischen Zusammenhängen a u f der E b e n e seiner Einzelbedeutungen, seiner lexikalischsemantischen V a r i a n t e n . D a s W o r t bleibt jedoch in seiner Einzelbedeutung die konstitutive Grundeinheit, denn alle anderen E i n h e i t e n und K l a s s e n im lexikalisch-semantischen S y s t e m (die lexikalisch-semantischen V a r i a n t e n des W o r tes, die W o r t k o m b i n a t i o n , die lexikalisch-semantischen Paradigmen, die Mikrosysteme der W ö r t e r usw.) werden a u f der Grundlage des W o r t e s identifiziert und differenziert. D a s erste spezifische Merkmal des lexikalisch-semantischen S y s t e m s der S p r a c h e ist die s e m a n t i s c h e S t r u k t u r d e s W o r t e s . D a in den lexikalischen E i n h e i t e n I n h a l t und F o r m keine regulären Oppositionen bilden, reduziert man die B e s t i m m u n g der semantischen S t r u k t u r des W o r t e s 3 1 oft a u f logische (konzeptuale) B e s t i m m u n g e n , ohne die Mittel des sprachlichen Ausdrucks festzustellen, die die einzelnen Bedeutungen (die lexikalisch-semantischen V a r i a n t e n ) der polysemen L e x e m e manifestieren. D i e Analyse des gegenstandslogischen I n h a l t s des Wortzeichens n i m m t die Erforschung seiner S t r u k t u r nur vorweg; sie soll letztlich feststellen, durch die Mittel welcher Sprachebenen der im W o r t gesellschaftlich fixierte semantische I n h a l t s y s t e m h a f t differenziert wird 3 2 . Die semantische E n t f a l t u n g eines polysemen W o r t e s (Zeichenkomplexes), die k o n k r e t e Manifestation der für alle T r ä g e r der Sprache gemeinsamen semantischen W e r t e , die mit der betreffenden L a u t f o r m zusammenhängen, vollzieht sich im lexikalisch-semantischen S y s t e m der Sprache. Die semantische Realisierung, Reproduzierbarkeit der W ö r t e r vollzieht sich als deren freie oder phraseologisch gebundene K o m b i n a t i o n . S o ist z. B . die R e a l i sierung von cold water 'kaltes W a s s e r ' und a bright day 'ein heller T a g ' usw. im lexikalisch-semantischen S y s t e m der englischen S p r a c h e dadurch determiniert, daß es erstens die betreffenden W o r t l e x e m e gibt, die a u f Grund eines ganz beständigen nominativen W e r t s gerade die betreffenden Begriffe und Gegenstände bezeichnen, es zweitens ein Modell allgemeiner semantischer Zusammenhänge der W ö r t e r , im vorliegenden F a l l das Modell „Eigenschaft des Gegenstandes", gibt, n a c h dem sich die freien lexikalischen Beziehungen der W ö r t e r realisieren, das Sprachsystem drittens ein Modell der syntaktischen V e r k n ü p f b a r k e i t „Determination/Determinandum"' 1 bereithält, und viertens durch die erforderliche Menge von mit dem I n h a l t der betreffenden L e x e m e semantisch k o m p a tiblen W ö r t e r n . B e s t i m m t m a n die lexikalische B e d e u t u n g des Wortes, indem m a n seine 31

32

Interessanterweise verwenden amerikanische Gelehrte, z. B. Nida, nicht mehr den in der Theorie der semantischen Satzinterpretation verwendeten Begriff des „semantic tree" [86], sondern wieder die traditionelle Bezeichnung „semantische Struktur der lexikalischen Einheit" [99]. In der Morphologie heißt das soviel wie zu wissen, daß es z. B. im Englischen die Kategorie des Plurals gibt, aber nicht die Formen zu kennen, die diese Kategorie manifestieren (-s, -es, -en, Ablaut usw.).

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semantische Struktur als ein System bilateraler kleinster lexikalischer Einheiten, der lexikalisch-semantischen Varianten des Wortes, enthüllt, so erfaßt man die gewöhnlich unerkannt bleibenden Faktoren, die die lexikalische Bedeutung bestimmen, so erstens die der Gesellschaft bewußt gewordenen und abgelagerten (systemhaften) Kontexte des Wortgebrauchs, zweitens die Zugehörigkeit des betreffenden Wortes zu einer bestimmten semantischen oder lexikalischgrammatischen Klasse, drittens die konkreten lexikalischen Zusammenhänge mit anderen Wörtern auf Grund der der betreffenden Sprache eigentümlichen Modelle der semantischen Verknüpfbarkeit der Wortzeichen und viertens die semantischen Korrelationen der Wörter mit den Synonymen und anderen synonymischen Wörtern im Sprachsystem überhaupt. Mit der Bestimmung der semantischen Struktur des Wortes hängt unmittelbar das Problem seiner synchronen und historischen Identität zusammen, dessen Erforschung die Linguistik ganz der russischen Semasiologie verdankt (M. M. Pokrowski, A. M. Peschkowski, L. W. Schtscherba, W. W. Winogradow, A. I. Smirnizki, 0 . S. Achmanowa u. a.). Die objektive Schwierigkeit bei der Behandlung des Problems der semantischen Identität eines Wortes besteht darin, daß den semantischen Kontext, der sowohl durch das Sprachsystem als auch durch den Text bedingt sein kann und die eine oder andere Bedeutung eines polysemen Wortes realisiert, nicht nur lexikalische, sondern auch grammatische (morphologische und syntaktische) Mittel der Sprache bilden können. Somit hängt die Bestimmung der semantischen Struktur eines Wortes damit zusammen, daß man die objektiven, formal ausgedrückten Kriterien der innerverbalen Differenzierung der polysemen Wortzeichen ermittelt. Die zweite Schwierigkeit beim Ermitteln der Grenzen des lexikalisch-semantischen Variierens der Wörter besteht in dem objektiv-subjektiven Charakter der Sprache (die Sprache wird von der Gesellschaft geschaffen, damit sie gesellschaftliche Funktionen bei individueller Verwendung erfüllt), in der Differenzierung zwischen Allgemeinem und Individuellem, Systemhaftem und Redebedingtem. Coseriu33 [66] sieht das Wesen der Differenzierung zwischen Sprache und Rede in der Verschiedenheit zwischen Abstraktem und Konkretem, Systemhaftem und Normativem, zwischen Potenz und Akt. Differenziert man nicht zwischen den Fakten des Systems und den Fakten der Norm, die das System in der Rede mehr oder weniger vollständig realisiert, so vermengt man die Einheiten und Zusammenhänge der einen Reihe mit den Einheiten und Formen ihrer Manifestation in der anderen Reihe. „Ewige" Probleme sind dadurch die Differenzierung der Wortbedeutungen (der lexikalisch-semantischen Varianten) und der Wortverwendungen, die Antinomie zwischen dem Wort als der nominativen Einheit des Vokabulars und dem in der Rede reproduzierten Wort, die Ersetzung des semantischen Systemkontextes durch den in der Rede entstehenden Situationskontext,'die Nichtunterscheidung zwischen den durch 33

Coseriu definiert das Sprachsystem als die Technik und die Summe der Gesetzmäßigkeiten der Rede. Der Sprecher verwendet nicht eine besondere Technik, sondern nutzt das System, das ihm das Kollektiv vorschlägt, und, mehr noch, diejenige Realisierung dieses Systems, die der überlieferten Norm entspricht [66, 174—175].

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das System fixierten übertragenen Bedeutungen und den bildhaften Verwendungen (den Metaphern) des Wortes in der Rede usw. Reduziert man die Bedeutung des Wortes auf seinen Gebrauch in der syntagmatischen Kette und bestimmt man es nur über die als Summe seiner Umgebungen verstandene Distribution, so fragt man nicht einmal nach der Bestimmung der semantischen Struktur des Wortes; diese semasiologische Grundkategorie läßt sich auch nicht gut mit Hilfe der sogenannten konzeptualen Bestimmung der lexikalischen Bedeutung des Wortes entwickeln. Die Bestimmung der lexikalischen Bedeutung nach dem Referenten wird oft auf die Bestimmung des logischen Gehalts des Wortes, auf seinen Begriffs- oder Gegenstandsbezug reduziert. Die Bestimmung der Bedeutung des Wortes mit Hilfe logischer Definitionen ohne Klärung, in welchen Wortformen, in welchen Wortgruppen oder paradigmatischen Oppositionen dieser Begriff (dieses semantische Merkmal) ausgedrückt wird, ist ebenso unfruchtbar wie die Aufzählung der Skala der formalen Positionen und Distributionen des Wortzeichens ohne Beachtung seines gegenstandslogischen Inhalts. Deshalb erkennt man die Spezifik der lexikalischen Bedeutung eines Wortes nicht, wenn man „strukturelle" und „referentielle" Bedeutung als einander ausschließend gegenüberstellt, sondern nur dann, wenn man sie zusammen betrachtet. Die fruchtbarste Methode der semantischen Wortanalyse dürfte die Bestimmung der lexikalischen Bedeutung des Wortes mit Hilfe des Begriffs „semantische Struktur" des Wortes, die Ermittlung der stabilen Unterschiede und der systembedingten Mittel ihrer Manifestation in der Semantik des Wortes sein, denn dabei werden sämtliche möglichen Zusammenhänge in bezug auf die Wörter berücksichtigt — die extralinguistischen wie die eigentlich sprachlichen, die paradigmatischen wie die syntagmatischen. Die semantische Struktur des Wortes 34 in synchronischer wie in historischer Hinsicht ist ein hierarchisches System: darin hängen der Selbständigkeitsgrad und der Bereich der Allgemeingebräuchlichkeit der Bedeutungen vom Charakter des Zusammenhangs des Wortes mit dem von ihm bezeichneten „Gegenstand" (direkte, übertragene Bedeutungen) und damit auch mit den Wörtern, die seinen semantischen Systemkontext bilden (freie, gebundene Bedeutungen), von der Rolle und dem Platz dieser sehr heterogenen semantischen Elemente im System der Sprache ab. Der Begriff der Polysemie, der noch vor der Semasiologie entstanden ist, wurde ausschließlich in bezug auf die Substantive entwickelt. Der Charakter des semantischen Umfangs und die Beweglichkeit der semantischen Grenzen des Verbs sind nach wie vor am wenigsten erforscht. Die allgemeinste, allerdings sehr wertvolle Erkenntnis, daß der semantische Umfang des Verbs weiter ist als derjenige des Nomens und die Grenzen des semantischen Variierens des Verbs fließender sind, gehen auf Pokrowski in der russischen und M. Breal in der nichtrussischen Semasiologie zurück. 34

Den Begriff der semantischen Struktur des Wortes, die Definition der lexikalischen Grundbedeutungen des Wortes beschrieb zum erstenmal systematisch Winogradow [14; 16].

346

Die lexikalische Bedeutung der Substantive und Adjektive, denen ein solcher gegenstandslogischer Inhalt wie der „Begriff eines Gegenstandes, einer Erscheinung bzw. eines Einzelmerkmals, einer Einzeleigenschaft" zugrunde liegt, läßt sich leichter als eine Gegebenheit 35 definieren und als Definition dieses Begriffs bzw. Merkmals ausdrücken 3 6 . Die objektive Schwierigkeit bei der Untersuchung der Semantik der Verblexeme besteht vor allem im Charakter ihres gegenstandslogischen Inhalts. Zum Unterschied vom Nomen ist die begriffliche Grundlage des Verbs gewöhnlich so weit, daß das Verb oft an der Grenze zur völligen Entsemantisierung und zum Übergang aus dem „Symbolfeld" in das „Zeigfeld" der sprachlichen Zeichen steht. So ist z. B. die begriffliche Grundlage des englischen Verbs to take 'nehmen' : „in den Bereich des eigenen physikalischen, psychischen oder juristischen Zustandes einschließen vermittels Einwirkung oder Herauslösung aus der Umgebung" [3, 63]. Diese weite begriffliche Grundlage des Verbs to take, die Dutzende lexikalischsemantischer Varianten dieses höchst polysemen Verbs identisch macht, läßt sich nur konkretisieren 1. durch die konkrete Bedeutung des sich mit ihm verbindenden Wortes, 2. durch den Strukturtyp der Ergänzung (einfach, zusammengesetzt) und 3. durch den Charakter der Semantik des Subjekts und des Objekts der Verbhandlung (die Kategorie der beseelten bzw. unbeseelten Gegenstände, der Personen, Dinge, Tiere, des konkreten bzw. abstrakten Wortschatzes usw.). Die konkrete lexikalische Bedeutung, die eine oder andere lexikalisch-semantische Variante des Verbs hängt von der Struktur, der syntaktischen Position und dem lexikalischen Inhalt der sie erweiternden Wörter, vom semantischen Systemkontext, der die Einzelbedeutungen des Verbs manifestiert, a b : to take one's gloves 'jemandes Handschuhe nehmen', to take a thief 'einen Dieb stellen', to take a tram 'Straßenbahn fahren', to take a wife 'heiraten', to take a photo 'sich photographieren lassen', to take place 'stattfinden', to take prisoner 'gefangennehmen' usw. Während die begriffliche Basis des Verbs so breit ist und der Gegenstandsbezug der Verbhandlung durch Modelle der semantischen Beziehungen der Handlung zu ihrem Subjekt und Objekt manifestiert wird, ist die semantische Struktur des Verbs syntaktisch determiniert (der Strukturtyp der Ergänzung, der T y p des Modells usw.). Daher erfordert die Untersuchung der semantischen Struktur des Verbs die Erforschung der sogenannten syntaktischen Semantik. Die semantische Struktur der Wörter innerhalb einer Sprache oder in verschiedenen Sprachen ist ein spezifisches Merkmal des lexikalisch-semantischen Systems und variiert je nach der Zugehörigkeit des Wortes zu der einen oder anderen Wortart und je nach der Zugehörigkeit der Wortart zu dem einen oder anderen Sprachtyp; den Unterschied in der semantischen Struktur des Substantivs und des Verbs, des Adjektivs und des Adverbs zu ermitteln heißt, den 35

30

Bally meint, daß das Bewußtsein die Substantive leichter und vollständiger wahrnimmt als die anderen Wortarten [59, 226]. Es ist kein Zufall, sondern eine Gesetzmäßigkeit, daß man die Bedeutungen der Substantive in den Wörterbüchern definiert, die Semantik der Verblexeme aber mit Hilfe synonymer Verben erläutert.

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Grad und den Typ der Abhängigkeit der lexikalischen Bedeutung der verschiedenen Wortarten in der betreffenden Sprache vom Kontext festzustellen. Die semantische Struktur des Wortes zu bestimmen heißt Vor allem, die Anordnung der inneren Verkettung und Subordination der heterogenen Sinnelemente innerhalb des Wortes zu ermitteln, dasjenige Unterscheidungsmerkmal zu bestimmen, nach dem die eine lexikalisch-semantische Variante der anderen gegenübersteht, festzustellen, durch welche sprachlichen Mittel die Semantik des Wortes innerverbal differenziert ist, d. h. den Typ des semantischen Kontextes und den Platz jeder lexikalisch-semantischen Variante gegenüber den anderen Einheiten des Sprachsystems überhaupt zu bestimmen. Analysieren wir eingehender die semantische Struktur der Verblexeme 37 . Der Begriff der Beziehung, der der lexikalischen Bedeutung der Verblexeme als nominativen Einheiten zugrunde liegt, wird durch ihre syntagmatischen Zusammenhänge und vor allem nach der Subjekt-Objekt-Lokalisierung der Handlung bestimmt. Daraus ergeben sich zwei Schlußfolgerungen: 1. Die semantische Struktur des Verbs setzt die Untersuchung und exakte Gegenüberstellung zweier Typen von Sinnzusammenhängen (bzw. Modellen) der Wörter voraus — der lexikalischen und der syntaktischen. 2. I n der Semantik der Verblexeme sind ihre Subjekt- bzw. Objektzusammenhänge oder beide zugleich fixiert; deshalb kann man die Verben auch (auf der Grundlage der Lokalisierung ihrer semantischen Zusammenhänge) als Subjektverben, Objektverben und Subjekt-Objekt-Verben bzw. Objekt-Subjekt-Verben bezeichnen [50,174]. Die Subjektverben können ihrerseits Ein-Subjekt-Verben sein, d. h. mit dem betreffenden Verb ist nur eine semantische Nomenkategorie in ihrer Semantik kompatibel. Bellen z. B. kann nur ein Hund, wiehern nur ein Pferd, denken, überlegen usw. nur ein Mensch als homo sapiens. Das semantische Subjekt (das Agens) z. B. des russischen Verbs HJ;TH 'gehen' können Menschen, Tiere, Transportmittel (Lokomotive, Kraftwagen usw.), Naturerscheinungen (Regen, Schnee, Hagel usw.), abstrakte Begriffe (Zeit, Leben usw.) sein, während im Englischen die semantischen Wortkategorien bei der Verbhandlung to go anders aussehen: russisch englisch TpaMBafi ii.neT 'die Straßenbahn a tram runs (wörtlich: 'läuft') kommt' iacM He nayT 'die Uhr steht' the clock does not work ('arbeitet nicht") BpeMH n^eT 'die Zeit läuft' the time passes by ('geht vorüber') Den betreffenden englischen Wortgruppen entsprechen im Russischen: to go on foot HRTII (neniKOii) '(zu Fuß) gehen' to go by train exaTt (noe3flOM) '(mit der Bahn) fahren' to go by sea njiHTb (no Mopio) '(zur See) fahren' to go by air jieTaTL (caiMOJieTOM) 'fliegen' 37

Näheres über die semantische Struktur der nominalen Lexeme bei Schmeljow [52; 53; 55], Ufimzewa [49; 50] und Arnold [10].

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Die Semantik anderer Verblexeme ist auf den Handlungsgegenstand gerichtet, z. B . to feil '(Bäume) fällen', ßuHTOBaTb '(eine Wunde oder eine beschädigte Stelle) verbinden', to exile '(einen Menschen) verbannen', to tow '(ein Boot oder ein Netz) mit Tauen durch das Wasser ziehen'. In der Semantik der meisten Verblexeme werden natürlich doppelte Zusammenhänge fixiert — die Subjekt- und die Objektlokalisierung der Handlung. Da solche Verblexeme mehrere Typen semantischer Subjekte und Objekte haben können, die zu verschiedenen Wortkategorien gehören (z. B . beseelte bzw. unbeseelte Gegenstände, Personen bzw. Nichtpersonen, Zählbares bzw. Nichtzählbares, Konkretes bzw. Abstraktes, Einzelgegenstände oder Sammelbegriffe usw.), ist ihre semantische Struktur kompliziert, ihr semantischer Umfang sehr weit 38 . Nehmen wir zum Beispiel die semantische Struktur des englischen Verbs to break (Tabelle S. 350—353). (Vgl. die Analyse der semantischen Struktur des Verbs, die Inosemzewa vorgenommen hat [27]). Wie aus der Tabelle zu ersehen ist, unterscheiden sich die lexikalisch-semantischen Varianten des Verbs to break voneinander vor allem in bezug auf ihren semantischen Inhalt; dabei hat jede Variante das allgemeine semantische Merkmal (die begriffliche Basis) 'die Form, den Zustand, die Eigenschaft des Handlungsobjekts oder -subjekts verletzen, verändern'. Jede lexikalisch-semantische Variante von to break hat spezifische Seme, die verschiedene Begriffe, die die Verbhandlung begleiten, widerspiegeln: den Typ des Agens und des Handlungsobjekts, die Zeit und Art des Handlungsverlaufs, negative oder neutrale Einwirkung auf das Handlungsobjekt oder -Subjekt usw. Diese semantischen Werte im lexikalisch-semantischen System sind durch unterschiedliche sprachliche Mittel gekennzeichnet: Die einen sind durch das Modell der Subjekt-Objekt-Lokalisierung der Handlung differenziert, für andere reichen diese Modelle nicht aus, gibt die Zugehörigkeit des Agens oder Handlungsobjekts zu einer bestimmten semantischen Kategorie 3 9 den Ausschlag, für die dritten reicht auch das nicht aus, manifestieren sie sich in einem größeren Kontext, im sogenannten Kontext zweiten Grades, z. B . to break somebody {from) something (habit etc.) 'jemandem etwas abgewöhnen'. Ganz anders sind die Bedingungen des semantischen Variierens der Adjektive, die Eigenschaften und Merkmale der Gegenstände und Erscheinungen ausdrücken. Zum Unterschied von den Verblexemen gehen die Adjektive nur einseitige semantische Beziehungen zu dem zu bestimmenden Gegenstand ein, daher ist das Grundmodell der semantischen Zusammenhänge das „Merkmal des Gegenstandes" und das elementare syntaktische Modell dasjenige von „Determination und Determinandum". Nehmen wir z. B . das englische Adjektiv weak 'schwach' mit der weiten Begriffsbasis 'physisch oder ökonomisch schwach; logisch, geistig oder sittlich unzureichend; seinen (physiologischen, politischen usw.) Funktionen nicht gerecht werdend'. 38 39

Manchmal heißen solche Lexeme „Wörter mit weiter Bedeutung" [3]. Diese Eigenschaft der semantischen Kompatibilität der sich lexikalisch verknüpfenden Wörter wird manchmal als Prinzip der „semantischen Selektivität" bezeichnet [1, 7].

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Die semantische Struktur Typ I. Objektgebundene lexikalischI h r Charakter und Inhalt Bedeutung

Allgemeines semantisches Merkmal

Spezielles semantisches Merkmal

Physikalische Verletzung des Objekts

Verletzung der Ganzheit des Gegenstandes durch Zerstückelung

1

'brechen'

•2

'auseinanderreißen'

3

'verletzen', 'nicht erfüllen', 'übertreten'

Juristische oder ethische Verlet7ung des Objekts

Verletzung von Festlegungen, Absprachen

•4

'unterbrechen'

Verletzung des Handlungsablaufs des Objekts

Zeitweilige Unterbrechung der Handlung des Objekts

5

'zerbrechen', 'untergraben'

Verletzung des geistigen oder physischen Zustandes des Objekts

Negative Veränderung (Verletzung) des physischen oder geistigen Zustandes eines Menschen

•6

'dressieren', 'bereiten'

'7

'erziehen', 'jemandem etwas abgewöhnen'

Änderung unerwünschter Züge oder Gewohnheiten des Objekts Änderung unerwünschter Züge oder Gewohnheiten des Objekts

Veränderung (Störung) unerwünschter Züge, Gewohnheiten von Tieren Veränderung (Störung) unerwünschter Züge, Handlungen, Gewohnheiten von Menschen

350

Verletzung der Oberfläche des Gegenstandes oder des ganzen Gegenstandes

les Verbs to break emantisclie Varianten hre Manifestationsbedingungen (semantischer Kontext) Modelle der SubjektObjekt-Beziehungen auf der Ebene der Satzglieder und Wortarten

Modelle der SubjektObjekt-Beziehungen auf der Ebene der semantischen Wortkategorien

Syntagmatische Zusammenhänge

Paradigmatische Oppositionen im System

S-V-0

Person -f- break + zählbarer Gegenstand

to break a cup 'eine Tasse zerbrechen', to break a stick 'einen Stock zerbrechen' to break water 'das Wasser (mit dem Ruder) zerschneiden', to break lace '(geklöppelte) Spitzen zerreißen' to break the law 'das Gesetz verletzen', to break rules 'Regeln verletzen' to break silence 'die Stille stören', to break monotony 'die Monotonität unterbrechen' to break health 'die Gesundheit untergraben', to break one's spirits 'jemandes Mut brechen' to break beast (horse) 'ein Tier dressieren (ein Pferd bereiten)' to break children (kids) of their disobedience 'den Kindern Gehorsam beibringen'

to crack

S - V - 0

Person oder Gegenstand + break + nichtzählbare (stoffliche) Gegenstände

S - V - 0

Person + break + abstrakter Begriff

V-0

break -f- abstraktes Substantiv, das einen Zustand oder einen Prozeßverlauf bezeichnet

V-0

break -f- abstraktes Substantiv, das den geistigen oder physischen Zustand eines Menschen bezeichnet Person + break + Tier

S - V - 0

S - V - 0

Person + break + Person + abstraktes Substantiv

to smash to tear

to violate to infringe to violate

to ruin

to tarne

to bring up

351

Typ II: Subjektgebundene lexikalis Ihr Charakter und Inhalt Bedeutung

Spezielles semantisches Merkmal

1

'beginnen'

Beginn einer Phasenhandlung

2

'untergraben werden', 'gebrochen werden'

Negative Beeinflussung des Subjektzustands

3

'hervorbrechen' 'herausquellen'

Rasche, abrupte Handlung des Subjekts

4

'mit jemandem brechen'

5

'eindringen'

Abbruch (Störung) der freundschaftlichen, verwandtschaftlichen oder sonstigen Beziehungen zwischen Objekt und Subjekt Eine auf das Innere von etwas gerichtete Handlung mit Gewaltanwendung des Subjekts

6

'losgehen'

Plötzliche Initialhandlung des Subjekts

Die distinktiven Merkmale, die die eine lexikalisch-semantische Variante von der anderen unterscheiden, stellt man ausschließlich an Hand der semantischen Kategorie und des konkreten lexikalischen Gehalts der zu bestimmenden Substantive fest; vgl. a weak child 'ein schwaches Kind', a weak rope 'eine dünne Schnur', a weak point 'eine schwache Stelle', weak eyes 'schwache Augen', a weak government 'eine schwache Regierung', a weak constitution 'eine schwache Konstitution', a weak argument 'ein schwaches Argument' usw. Bei der Differenzierung der lexikalisch-semantischen Varianten in der semantischen Struktur des Wortes spielen also die sie manifestierenden sprachlichen Mittel keine geringere (wenn nicht gar eine größere) Rolle als das eine oder 352

lemantische Varianten Ihre Manifestationsbedingungen (semantischer Kontext) Modelle der SubjektObjekt-Beziehungen auf der Ebene der Satzglieder und Wortarten

Modelle der SubjektObjekt-Beziehungen auf der Ebene der semantischen Wortkategorien

Syntagmatisclie Zusammenhänge

Paradigmatische Oppositionen im System

S-V

Bezeichnung der Erscheinung oder des Zeitabschnitts + break

the dawn breaks 'es dämmert', the day breaks 'der Morgen graut' my heart broke 'mein Herz ist gebrochen', his health will break 'seine Gesundheit wird untergraben werden' tears broke from her eyes 'Tränen stürzten aus ihren Augen', a cry of joy broke from her 'sie gab einen Freudenschrei von sich he broke with the girl 'er brach mit dem Mädchen' to break into the room, house 'in ein Zimmer, ein Haus eindringen' she broke into laughter 'sie brach in Lachen aus'

to begin

s-v

Organ, Zustand oder Eigenschaft des Menschen 4- break

S — V — Präpositionalobjekt

Stoffliches Substantiv + break -f- from something or somebody-

S - V - Präpositionalobjekt

Person — break -f- with somebody

S — V — Präpositionalobjekt

Person + break -{- into something (Bezeich nung eines Raumes)

S — V — Präpositionalobjekt

Person + break -finto something (Zustand, Lage des Subjekts)

to dawn to be ruined

to brust

to part, to drop

to enter by force

to start, to begin all at once

andere ihm zugrunde liegende semantische Merkmal (valeur)40. Daher darf man wohl kaum annehmen, daß die Einzelbedeutungen eines polysemen Wortes ausschließlich durch die logische Definition des distinktiven Merkmals determiniert werden41. Von ausschlaggebender Bedeutung sind in dieser Hinsicht die sprachlichen Mittel seines Ausdrucks. Man darf keineswegs meinen, daß die sprachlichen Manifestationsmittel der einzelnen Bedeutungen eines polysemen Wortes /l0

41

Vgl. die völlig richtigen Ausführungen Schwedowas über die Bestimmung der lexikalischen Bedeutung des Wortes [51J. Vgl. die Arbeiten von Apresjan [5; 6; 7; 8].

353

ebenso gleichartig, allgemein und beständig seien, wie dies in bezug auf die eigentliche Zeichenform des Wortes zu beobachten ist. Trotzdem gibt es in jeder Sprache einheitliche Mittel zur Manifestation der lexikalisch-semantischen Varianten der Wörter, die zu verschiedenen lexikalisch-grammatischen Klassen und semantischen Kategorien gehören, gibt es Hauptarten des sogenannten semantischen Kontextes. Das zweite spezifische Merkmal des lexikalisch-semantischen Systems der Sprache ist der s e m a n t i s c h e K o n t e x t . Ullmann hält für einen beachtlichen Zug der Semasiologie der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts das Bestreben, die Arten und Formen des materiellen Ausdrucks der lexikalischen Bedeutung der Wörter zu finden, die zahlreichen Versuche zur „Formalisierung der Semantik" 4 2 . Jetzt untersuchen die wissenschaftlichen Schulen und Richtungen unabhängig von ihren methodologischen Grundlagen und Aufgaben, von dem Gegenstand und den Methoden ihrer Forschung das Wort (die lexikalischen Morpheme) in der sprachlichen Umgebung, im Kontext. Heute drückt man mit Hilfe des weitgefaßten und recht unbestimmten Terminus Kontext ihrer Natur nach unterschiedliche sprachliche Erscheinungen und extralinguistische Faktoren aus: die lexikalische Verknüpf barkeit der Wörter, die auf der Tatsache der logischen Kompatibilität der zu verknüpfenden Wörter beruht, die syntaktische Verknüpfbarkeit, die vor allem das Modell der syntaktischen Abhängigkeiten und Positionen der zu verknüpfenden Wörter im Satz determinieren, die phraseologische Verknüpfbarkeit, die in jeder Sprache durch stabile Wortverbände repräsentiert ist, den Hinweis auf die Semantik der Wortgruppen und Phrasen, der von den Koordinaten der konkreten Sprechakte ausgeht (Ort, Zeit, Sprecher, Hörer), die konkrete außersprachliche Situation des betreffenden Sprechaktes und die übrigen nichtlinguistischen psychophysischen und kulturgeschichtlichen Faktoren, die in bestimmtem Maße die Wahrnehmung begleiten und die Bedeutung des Wortes oder Wortverbandes in der Rede bestimmen. Diejenigen Richtungen, die die Sprache nur als Tätigkeit auffassen, definieren den Kontextbegriff durch die binäre Opposition linguistisch/extralinguistisch. Die anderen Schulen führen diese Dichotomie auf diejenige zwischen Form- und Situationskontext zurück, in den ethnolinguistischen Studien gibt es einen linguistischen und einen ethnolinguistischen Kontext. In denjenigen Richtungen, die zwischen der Sprache als „System von Mitteln" und der Sprache als „Norm (realisiertes System)" und „Rede" differenzieren, ist der Kontextbegriff durch die dreigliedrige Opposition sprachlicher Kontext, Systemkontext und verbaler 43 und Situationskontext formuliert. Im letzteren Falle verfolgt die Untersuchung der syntagmatischen Zusammenhänge der lexikalischen Einheiten das Ziel, die Manifestationsbedingungen der Systemeinheiten der Lexeme zu ermitteln, die Wege und Möglichkeiten für die 42

43

Vgl. die Materialien der in Moskau 1964 [46] und in Nowosibirsk 1969 durchgeführten Konferenzen [2], In der sowjetischen Lexikologie vertreten diese Kontextauffassung Winogradow, Smirnizki, Amossowa, Kolschanski und Schmeljow.

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Schaffung neuer semantischer Werte zu definieren, die konkreten „Schwellen" des semantischen Variierens der Wörter festzustellen. Die Hauptfragen der kontextbedingten Mittel der innerverbalen semantischen Differenzierung der polysemen Wörter wurden in der sowjetischen Sprachwissenschaft durch W. W. Winogradow und A. I. Smirnizki aufgeworfen. Die Auffassung, daß die Entfaltung der Semantik der polysemen Wörter ihr lexikalisch-phraseologisches oder lexikalisch-semantisches Variieren ist, bestimmte die Behandlung zweier Hauptprobleme, nämlich erstens die U n t e r suchung der semantischen Identität des Wortes nicht nur als Korrelation zwischen verschiedenen Begriffen an sich, ohne Rücksicht auf ihren sprachlichen Ausdruck, und zweitens das Auffinden der sprachlichen Bedingungen und Mittel zur Differenzierung und Manifestation der lexikalisch-semantischen Varianten im System der Sprache. Die Hauptbedingungen des lexikalisch-semantischen Variierens der Wörter im Englischen wurden prinzipiell von Smirnizki [41; 42] formuliert und später, vor allem in bezug auf den stabilen Kontext, von Amossowa [3; 4] beschrieben. Der semantische Kontext (d. h. die Existenz- und Reproduktionsbedingungen der semantischen Systemwerte — der lexikalisch-semantischen Varianten) ist systembedingt, wenn der semantische Hinweis von den paradigmatischen Charakteristika des Wortes und den Gesetzen seiner syntagmatischen Verknüpfbarkeit, die das Wort im Sprachsystem hat, ausgeht; der Kontext ist redebedingt, wenn der semantische Hinweis auf das zu realisierende Wort von den Einheiten der Rede — den Phrasen und Sätzen, den deiktischen Elementen, den Redekoordinaten der konkreten Äußerung mit der ihr eigentümlichen Implikation des Ortes, der Zeit, der Person — des Subjekts oder Objekts des Sprechaktes — ausgeht. Der systembedingte semantische Manifestationskontext der lexikalischsemantischen Varianten des Wortes kann als strukturell bezeichnet werden, denn die semantischen Hinweise auf die zu realisierende (zu manifestierende) Bedeutung des Wortes gehen nicht nur von der Menge der sich mit ihm lexikalisch verknüpfenden Wörter, sondern gleichermaßen sowohl von ihrer Z u gehörigkeit zu bestimmten semantischen Kategorien als auch von den Modellen ihrer lexikalischen und syntaktischen Verknüpfbarkeit aus. Es ist derjenige beständige und obligatorische Teil des semantischen Kontextes des Wortes, der die strukturelle Grundlage und die unabdingbaren sprachlichen Bedingungen. der Differenzierung auch der lexikalisch-semantischen Varianten ausmacht. Der systembedingte semantische Kontext ist heterogen und hat die folgenden Komponenten: 1. das semantisch gliederbare (realisierbare) Wort, 2. das lexikalisch verknüpfbare, das sogenannte Schlüsselwort, 3. das Modell der semantischen (in der Tiefe liegenden lexikalischen) Verknüpfbarkeit und 4. das Modell der syntaktischen Verknüpfbarkeit. Bei der Differenzierung (ebenso bei der Reproduktion) der einen oder anderen lexikalisch-semantischen Variante sind relevant: die Zugehörigkeit des zu realisierenden und des Schlüsselwortes zu einer bestimmten semantischen Kategorie, zu der einen oder anderen lexikalisch-grammatischen Klasse (zu einer bestimmten Wortart), das Vorhandensein bestimmter semantischer Beziehungen der 355

lexikalischen Einheiten in der Paradigmatik, der Charakter der nominativen Bedeutung, was die syntagmatischen Zusammenhänge spezifisch determiniert. Einen systembedingten semantischen Kontext bildet die kleinste zweigliedrige Wortkombination; das eine Glied eines solchen Syntagmas ist das semantisch realisierte Wort, das andere Glied ist das Schlüsselwort, von dem der semantische Hinweis ausgeht. Der lexikalische freie Verband ist ein zweigliedriges Syntagma, dessen Glieder zueinander in unterschiedlicher syntaktischer Abhängigkeit stehen können. Die den Wörtern als Satzgliedern eigentümliche grammatische Abhängigkeit beeinflußt nicht das semantische Ergebnis der verknüpften Wörter als Glieder der semantischen Wortklassen und -kategorien, die die Ergebnisse der nominativisch-klassifizierenden Tätigkeit der Sprache widerspiegeln: Das semantisch „expandierbare" (gliederbare) Wort kann sowohl führendes als auch syntaktisch abhängiges Glied des lexikalischen Syntagmas sein (vgl. pocT qejiOBeKa 'die G r ö ß e des M e n s c h e n ' m i t qe.ioBeK cpe^Hero pocTa

'ein Mann mittlerer Größe' usw.). „Der semantische Kontext, dessen hinweisendes Minimum durch ein einziges Schlüsselwort repräsentiert ist (sei es das führende oder ein abhängiges Glied der Wortgruppe, zu der das betreffende semantisch realisierte Wort gehört, das Prädikat dazu oder ein gleichartiges Glied), kann als Kontext ersten Grades gelten" [3, 37]. Diese Definition des semantischen Kontextes und der Beziehungen zwischen den Gliedern des kleinsten lexikalischen Syntagmas verwendet die Bezeichnungen kommunikativer Einheiten (vgl. Subjekt und Prädikat), während sich das semantisch realisierte Wort und das Schlüsselwort im Rahmen des semantischen Kontextes ersten Grades zueinander als Glieder der semantischen Wortklassen und -kategorien verhalten: das Agens und seine Handlung, die Handlung und ihr Objekt, das Agens und sein Zustand, der Gegenstand und sein Merkmal, das Merkmal (die Umstandsbestimmungen) der Handlung, das Merkmal des Merkmals usw. So ist jedes Glied einer Wortgruppe das Schlüsselglied des anderen Gliedes, vgl. z. B. pocT pacTeHiia ' d a s W a c h s t u m d e r P f l a n z e ' m i t mSeJib pacTeHHH ' d e r T o d

der Pflanze', pocT np0MtiinjieHH0CTH 'das Wachstum der Industrie' mit cnafl npoMHiimeHHOCTii 'der Rückgang der Industrie", pocT ijeH 'Preisanstieg' mit CHHJKeHiie u;eH 'Preisrückgang', pocT BJIIIHHHH 'die Zunahme des Einflusses' mit yMeHbiueHHe B J I H H H I I H 'die Abnahme des Einflusses', pocT qejiOBeKa 'die Größe (der Wuchs) des Menschen' mit Bec ^ejicmeKa 'das Gewicht des Menschen' usw. Das Wesen des Wortes sowohl im System als auch bei seinem Funktionieren in der Rede besteht darin, daß jedes vollwertige Wort auf Grund seiner allgemeinen (identifizierenden) und unterscheidenden (differenzierenden) Merkmale zugleich mit anderen Wörtern identisch und unbedingt von ihnen durch irgend etwas verschieden sein kann. Bei jeder Verknüpfung von Wörtern in der Syntagmatik wird das Neue als „eine neue Art der alten Gattung" aufgenommen. Die Zusammenhänge beider Glieder nach der lexikalischen Bedeutung (das syntaktische Modell ist in allen angeführten Beispielen gleich) sind im kleinsten Syntagma auf Grund ihrer semantischen (logischen oder usuellen) Kompatibilität so fest und regelmäßig, daß in der Rede, auf der zweiten semiotischen Ebene der Sprache, das semantisch zu realisierende und das Schlüssel356

worb in sämtlichen syntaktischen Beziehungen vorkommen können, wobei sie zueinander oft Distanzstellung haben. So sind die englischen synonymen Wortgruppen to have a fair reputation und to while fair in reputation 'einen guten Ruf haben' auf der Ebene der realisierten systembedingten Bedeutungen absolut gleich, obwohl sie ihrer syntaktischen Struktur nach verschieden sind. I n Sätzen wie i f s a fair act 'das ist eine faire Handlung' und it is fair to act so 'es ist fair, so zu handeln', deren Sinn verschieden ist, differenzieren das semantisch zu realisierende und das Schlüsselwort dieselbe Bedeutung des Lexems 'fair' 'gerecht'. I m Englischen ist hierbei die Zugehörigkeit des Schlüsselwortes zu verschiedenen lexikalisch-grammatischen Klassen belanglos (im ersten Falle handelt es sich um ein nominales Lexem, im zweiten um ein Verblexem). Beim semantischen Kontext der ersten Stufe ist die semantische Autonomie der kombinierten Wörter maximal. Belanglos ist auch, ob die lexikalisch kombinierten Glieder des Syntagmas in Kontakt- oder in Distanzstellung stehen. Daher kann man solche kleinsten Syntagmen bis zu ganzen Sätzen und sogar Perioden erweitern, ohne das semantische Ergebnis f ü r jedes Glied zu verändern; vgl. fair to act 'fair zu handeln' mit fair of hirn to act so 'es ist von ihm fair, so zu handeln', it is not fair of the people living with him to act so 'es ist nicht fair von den Leuten, die mit ihm leben, so zu handeln'. Immer, wenn die Polysemie der Wörter mit Hilfe des lexikalischen Inhalts der kombinierten Wörter differenziert wird, verursachen weder Syntax noch Morphologie irgendwelche Beschränkungen und ist der semantische Kontext l e x i k a l i s c h . Bei lexikalischem Kontext brauchen die semantischen Hinweise nicht nur von der konkreten lexikalischen Bedeutung der Schlüsselwörter auszugehen, sondern können sie auch davon ausgehen, zu welcher semantischen Kategorie oder semantischen Klasse die Schlüsselwörter gehören. Die lexikalisch-semantischen Varianten des englischen Verblexems to walk z. B. (to walk a street 'eine Straße entlang spazieren' und to walk a baby 'ein Kind spazieren fahren') werden durch die Zugehörigkeit der Schlüsselwörter zu verschiedenen semantischen Kategorien differenziert; das erste gehört zu den unbeseelten Gegenständen, das zweite zu den beseelten. Die Mittel zur Differenzierung beziehungsweise Reproduktion der lexikalischsemantischen Varianten im System der Sprache können heterogen sein: Der semantische Hinweis braucht nicht nur vom lexikalischen Inhalt der kombinierten Wörter auszugehen, sondern kann auch von der morphologischen Form des Wortes ausgehen. So werden die verschiedenen Bedeutungen des russischen nominalen Lexems jiee nicht nur durch die Semantik des Schlüsselwortes, sondern auch durch die morphologische Form des Wortes differenziert: CTpoHTejiBHuft Jiec 'Bauholz', aber CTponTejiBHLie Jieca 'Baugerüst'; die Bedeutung 'Bauholz' wird in den Wortformen des Singulars und die Bedeutung 'Baugerüst' nur in den Wortformen des Plurals realisiert. Einen solchen semantischen Kontext kann man als l e x i k a l i s c h - m o r p h o l o g i s c h bezeichnen. Rein m o r p h o l o g i s c h ist ein Kontext, wenn die innerverbale semantische Differenzierung nur durch die Form des Wortes erfolgt, d. h. dann, wenn für den Ausdruck einer der Bedeutungen des polysemen Wortes in der Sprache nur 24 Serebrennikow II

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eine beständige Wortform entsteht. Als Wortform, die die Tendenz zur Differenzierung verschiedener Bedeutungen eines polysemen Wortes hat, tritt die Wortform des Plurals auf. Die Verwendung von Pluralformen bei Substantiven je nach der konkreten Bedeutung des Wortes ist eine verbreitete Erscheinung in vielen Sprachen und hängt eng mit der allgemeinen Stellung der Numerusformen des Substantivs zusammen, für die die leichte Lexikalisierung kennzeichnend ist; vgl. z. B. russ. KanjiH 'ein Tropfen' mit engl, a drop, russ. Kanjra 'Tropfen' (Medikament) mit engl, drops. I m Englischen wie im Russischen interpretiert man solche Fälle gewöhnlich als einen Wortbildungsfaktor, als die Bildung eines neuen Lexems und nicht als eine besondere lexikalisch-semantische Variante des Lexems. Bei der innerverbalen semantischen Differenzierung spielt nicht die letzte Rolle die S y n t a x , deren Aufgabe in den Sprachen unterschiedlicher Struktur verschieden ist. Von besonderer Bedeutung für das lexikalisch-semantische System der englischen Sprache (die ihrem Charakter nach stark analytisch ist) ist der sogenannte g e m i s c h t e Kontext, wo die Manifestationsmittel der innerverbalen semantischen Differenzierung nicht nur die l e x i k a l i s c h e n , sondern meistens auch die s y n t a k t i s c h e n F u n k t i o n e n des zu realisierenden und des Schlüsselwortes, ihre Anordnung und die Kombinationsmodelle sind. So wird z. B. die lexikalische Mehrdeutigkeit der sogenannten zweigipfligen Verben im Englischen durch den l e x i k a l i s c h - s y n t a k t i s c h e n Kontext, das Vorhandensein oder Fehlen eines Handlungssubjekts und -objekts, durch das Modell der Subjekt-Objekt-Beziehungen der Verbhandlung aufgehoben; vgl. to burn 'verbrennen' und 'brennen': to burn something 'etwas verbrennen' mit something bums 'etwas brennt'; to read 'lesen' und 'lauten': to read a letter 'einen Brief lesen' mit the letter reads 'der Brief lautet'; to seil 'verkaufen' und 'verkauft werden': to seil a book 'ein Buch verkaufen' mit the book sells well 'das Buch verkauft sich gut'. Oft werden zwei lexikalisch-semantische Varianten von Verblexemen n u r durch grammatische — morphologische und syntaktische — Mittel differenziert. So unterscheiden sich die beiden Bedeutungen der englischen Verblexeme to get und to want nicht nur nach dem Vorhandensein eines Objekts, sondern auch nach dem Charakter der morphologischen Struktur dieses Objekts: 'etwas erhalten' to get something 'etwas tun müssen' to get to do something 'etwas entbehren' to want something 'etwas zu t u n wünschen 1 to want to do something I n diesen Beispielen wird bei einfachem Objekt die nominativische Grundbedeutung des Verbs sichtbar, bei zusammengesetztem Objekt eine modal gefärbte Bedeutung. Ein solcher semantischer Kontext kann als s y n t a k t i s c h m o r p h o l o g i s c h bezeichnet werden. Ein Beispiel des rein syntaktischen Kontextes ist im Russischen der Gebrauch des zu realisierenden Wortes mit der jeweiligen Bedeutung in nur einer einzigen syntaktischen Funktion; vgl. 9x, TH, mjiHna! Das Wort nuiana (wörtlich: 'Hut') realisiert hier die Bedeutung 'Tolpatsch'. 358

Somit kann der systembedingte semantische Kontext (die systembedingten Manifestationsmittel der Einzelbedeutungen) je nachdem, was bei der innerverbalen semantischen Differenzierung den Ausschlag gibt: der lexikalische Inhalt der kombinierten Wörter (die konkrete und die kategoriale Semantik), ihre morphologische Form, die syntaktische Funktion des zu realisierenden und des Schlüsselwortes oder alles zusammen, homogen (lexikalisch, morphologisch, syntaktisch) und gemischt (lexikalisch-syntaktisch, lexikalisch-morphologisch, syntaktisch-morphologisch) sein. In den Bedeutungen der Wörter ist eine bestimmte kulturgeschichtliche und allgemeinmenschliche Erfahrung objektiviert und fixiert, während die sprachlichen Mittel zur Manifestierung der Bedeutungen durch das System der jeweiligen Sprache vorgeschlagen werden; in den Lexemen der einen Sprache werden die einen Begriffe und die Aspekte von deren Beziehungen fixiert und mit einem gemeinsprachlichen Wert versehen, in einer anderen Sprache andere. Allgemeine, sämtlichen Sprachen eigentümliche rein semantische Zusammenhänge der Wörter sind die Metaphern und Metonyme. Der Unterschied besteht darin, welche Assoziationen gewählt und den Benennungen der einen oder anderen Lexeme, ihrer Kombinierbarkeit zugrunde liegen. Die zweite Art semantischen Kontextes könnte man als redebedingt bezeichzeichnen, denn die sprachlichen Realisierungsmittel der einzelnen lexikalischsemantischen Varianten der Wörter sind durch Faktoren repräsentiert, die der Organisation der kommunikativen Einheiten der Sprache, der Phrasen, Sätze, Äußerungen eigentümlich sind. Die Rede ist derjenige Bereich der Sprache, diejenige real funktionierende Sprache, wo außer den systembedingten Werten der Wortzeichen für die Kommunikation unendlich viele neue Sinne entstehen (der Sinn des Wortes, der Sinn der Phrase, der Sinn der Wortgruppe, der Sinn des Satzes). In den realen Redeakten werden weitgehend solche sprachlichen Zeichen wie die deiktischen (dieser, jener, hier, dort, hierher, dorthin usw.), die Pronominalwörter (dies, wer, sie, manche usw.) verwendet, die keine konkrete lexikalische Bedeutung haben und dadurch einen neutralen Kontext schaffen können, d. h. die Bedingungen erzeugen, die nicht differenzieren, sondern systembedingte Gegensätze aufheben. Die Realisierung der Wörter in der Rede kennt aber auch die entgegengesetzte Tendenz. Die Systembedingungen zur Differenzierung der lexikalisch-semantischen Varianten der Wörter erscheinen als Hinweise auf die korrekte Kombination der Wörter, der Redekontext kann die Doppeldeutigkeit durch Ausdehnung des Hinweisminimums auf drei und mehr Kombinationsglieder aufheben; vgl. to drop 'fallen lassen' to drop somebody 'verlassen', to drop somebody at a place 'jemanden bis zu einem bestimmten Punkt fahren, bringen'. Wie Amossowa schreibt, gibt es zwischen den Kontexten ersten und zweiten Grades außer den Quantitätsunterschieden Qualitätsunterschiede: Die Glieder des Hinweisminimums im Kontext zweiten Grades haben keine direkten syntaktischen Beziehungen zueinander [3, 40]. Das Funktionieren der Wörter in der Rede, ihr reiches und mannigfaltiges Leben in den konkreten, oft nicht reproduzierbaren Kombinationen innerhalb der Sprechakte bildet einen anderen Forschungsgegenstand (die Lexematik der Rede). Besonders zu beachten ist die umfangreiche Problematik, die mit dem 24*

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beständigen semantischen Kontext, mit den phraseologischen Wortverbänden zusammenhängt 4 4 . Das dritte spezifische Merkmal des lexikalisch-semantischen Systems der Sprache sind die p a r a d i g m a t i s c h e n B e z i e h u n g e n d e r W ö r t e r , die Spezifik der Formen ihrer Manifestation in der Sprache. Die Gegenüberstellung der lexikalischen Einheiten auf Grund ihrer formalen Merkmale zeigt sich bei der Erforschung der sogenannten morphologischen Paradigmatik, worunter man gewöhnlich die Summe der Wortabwandlungsformen der lexikalischen Einheiten versteht. Die semantische Struktur des Wortes, die die Spezifik jeder Sprache ausmacht, ist deshalb so schwer bestimmbar, weil es bei weitem nicht immer zu klären gelingt, wie abstrakt, verallgemeinert die eine oder andere Eigenschaft, das eine oder andere Merkmal konkreter Gegenstände und Handlungen ist, ob dieser verallgemeinerte Inhalt in der betreffenden Sprache lexikalisch (auf der Ebene des einzelnen Wortes), grammatisch (auf der Ebene einer Wortklasse) oder durch lexikalisch-semantische und lexikalisch-grammatische Kategorien (auf der Ebene der semantischen Gruppen und Kategorien der Wörter) ausgedrückt bleibt. Was eine kategoriale Bedeutung erhält und eine grammatische Form hat, ist leichter bestimmbar als das, was in der Sprache keinen formalen Ausdruck findet und durch nichts gekennzeichnet ist. I m Gegensatz zur morphologischen Paradigmatik der Wörter versteht man unter der lexikalischen Paradigmatik den Bereich der semantischen Beziehungen der lexikalischen Einheiten, die je nach ihrer gegenständlichen Bedeutung innerhalb dieser oder jener semantischen Wortklassen im System der Sprache divergieren. Da die formalen Werte allgemeiner sind, ist die Opposition der Wörter nach ihren „formalen Merkmalen" beständiger und offener ausgedrückt als die Opposition der lexikalischen Einheiten nach ihrem semantischen Inhalt. Ähnlich wie die nominativisch-klassifikatorische Tätigkeit der Sprache (das System) ihrer syntagmatischen Tätigkeit (der Rede) gegenübersteht, steht auch die Paradigmatik, der Bereich der semantischen Beziehungen der Wörter nach ihrem eigenen Inhalb (das Netz der Werte innerhalb des Systems), der Syntagmatik, den Wortzusammenhängen gegenüber, die neue semantische Inhalte beim Funktionieren der Wörter in der linearen Reihe entstehen lassen. Zu den Haupttypen der paradigmatischen Beziehungen der Wörter gehören diejenigen, die auf den drei verschiedenen Ebenen mit verschieden großem Umfang und Verallgemeinerungsgrad der Wortgruppen vorhanden sind. Die großen semantischen Wortklassen, die die Gegenständlichkeit, eine Handlung, ein Merkmal, das Merkmal eines Merkmals ausdrücken, decken oder überschneiden sich mehr oder weniger stark mit der Verteilung der Lexeme auf die Wortarten: Die lexikalisch-grammatischen Klassen: 1. Die semantischen Zusammenhänge der Wörter bei der Konversion 2. Die semantischen Zusammenhänge der Morpheme bei der Wortbildung 3. Die semantischen Zusammenhänge der Wörter bei der Lexikalisierung 44

Vgl. das Kapitel „Die Phraseologie" im vorliegenden Band.

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Die semantischen Kategorien: Namen der konkreten Gegenstände bzw. abstrakten Begriffe Namen der beseelten bzw. unbeseelten Gegenstände Namen der zählbaren bzw. nichtzählbaren Gegenstände Namen der Personen bzw. Nichtpersonen usw. Die lexikalisch-semantischen Paradigmen: 1. Die Synonyme 2. Die Antonyme 3. Die lexikalisch-semantischen Gruppen 4. Die Begriffsfelder usw. Eine Untersuchung der paradigmatischen Beziehungen der Wörter nach ihrem lexikalischen Inhalt macht vor allem den Grundcharakter der strukturellen Organisation des lexikalisch-semantischen Systems sichtbar — das Verhältnis der Einnistung der (auf einer niedrigeren Stufe der semantischen Verallgemeinerung stehenden) Einheiten in der Kategorie der Wörter mit einer weiteren und stärker verallgemeinerten Semantik. Die umfassendste semantische Gruppierung der Wörter ist die Klassifizierung nach den Wortarten auf der Grundlage zweier Hauptmerkmale — des kategorialsemantischen und des funktionalen. Diese nach dem Charakter ihrer Semantik gemischten Wortklassen machen oft das Spezifische aus, das die eine Sprache von der anderen unterscheidet. So findet z. B. die Tatsache, daß im Englischen und in verschiedenen anderen germanischen Sprachen bestimmte Wortgruppen der Form und dem Sinne nach nicht differenziert werden, seinen Ausdruck darin, daß die Lexeme stark in bezug auf die „Konversion" korrelieren können. Diese freie paradigmatische Korrelation der zu verschiedenen Wortarten gehörenden Wörter verleiht der englischen Sprache etwas sehr Markantes, bestimmt in spezifischer Weise ihren „semantischen Zuschnitt". Der Wortschatz der englischen Gegenwartsspracheumfaßt z.B. 7000 gebräuchliche Homonyme verschiedener Wortarten ; sie lassen sich im System nach der folgenden Merkmalskala vergleichen: 1. Die Wörter sind gleich in bezug auf die Form des Zeichens. 2. Die Wörter sind verschieden in bezug auf ihre kategorial-semantische Bedeutung. 3. Die Wörter sind verschieden in bezug auf das morphologische Paradigma und die syntaktische Funktion. 4. Die Wörter haben etwas Gemeinsames in der konkreten lexikalischen Bedeutung. Zu diesen Merkmalen muß man noch zahlreiche Modelle ihrer semantischen Korrelationen auf zwei Ebenen hinzufügen: a) auf der Ebene der kategorialen Semantik (Gegenständlichkeit, Handlung, Merkmal des Gegenstandes, Merkmal der Handlung usw.); vgl.: V — A disconnect 'trennen', 'getrennt' N — V t effect 'Effekt', 'einen Effekt hervorrufen'; b) auf der Ebene der konkreten lexikalischen Bedeutung, wo die Modelle der oppositiven Korrelation auf einen Aspekt der rein logischen Zusammenhänge der Lexeme, auf den Aspekt des Zusammenhangs der Begriffe des Gegenstandes und der gleichnamigen Verbhandlung hinweisen usw. 1. 2. 3. 4.

Die Die Die Die

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Nehmen wir z. B. eines der 140 Modelle der semantischen Korrelation der homonymen englischen Lexeme Nomen — Verb. Das Modell N — Vt auf der Ebene der kategorialen Semantik gibt an, daß das nominale Lexem mit der Bedeutung der Gegenständlichkeit und das eine 'aktive Handlung' bezeichnende Verblexem semantische Beziehungen zueinander haben. Auf der Ebene des konkreten lexikalischen Inhalts entsprechen ihm die folgenden Modelle: 1. 'N zeigen', N — respect 'Achtung', Vt — to respect 'achten' 2. 'N anwenden', N — water 'Wasser', Vt — to water 'mit Wasser begießen' 3. 'wie N tun', N — sheperd 'Hirt', Vt — to shepherd 'Hirt sein' 4. 'N als Instrument benutzen', N — razor 'Rasierklinge', Vt — to razor 'sich rasieren' 5. 'es bis zu N bringen', N — section 'Abschnitt', Vt — to section 'in Abschnitte zerlegen' 6. 'N machen', N — mistake 'Fehler', Vt — to mistake 'einen Fehler machen' 7. 'N zusammenstellen', N — plan 'Plan', Vt — to plan 'einen Plan machen' Die lexikalischen Zusammenhänge und semantischen Beziehungen hängen also von den grammatischen insofern ab, als sie in den Formeln dieser breiteren Zusammenhänge (Klassen) der Wörter sichtbar werden; umgekehrt beschränken sich die grammatischen Klassen und Positionen der Wörter häufig auf den lexikalischen Inhalt der Wörter. Die Bestimmung der paradigmatischen Beziehungen der homonymen Lexeme auf der Ebene verschiedener Wortarten ist ihre spezifische Bestimmung durch inhaltliche und nicht formale Operationen, die sich an den Gliedern der Korrelationen auf Grund ihres nominativen und syntagmatischen Wertes vornehmen lassen. Solche semantischen Beziehungen sind im Russischen auf die Ebene der grammatischen und lexikalischen Worfcbildungsbeziehungen (des Genus verbi, des Aspekts und Tempus) übertragen; vgl. HepHHTb 'schwarz machen" mit nepHeTb(cH) 'schwarz werden", npHTaTB 'verstecken' mit npjrraTbCH 'sich verstecken', während ihnen im Englischen transitive und intransitive Bedeutungen der jeweils gleichen Lexeme entsprechen : to blacken, to shelter. Die semantischen Modelle der Korrelationen der lexikalischen Einheiten sind folglich durch drei Grundfaktoren bedingt: 1. durch die realen Beziehungen der Gegenstände und Erscheinungen der materiellen Welt (durch unmittelbare Zusammenhänge), 2. durch die kulturelle und sozialgeschichtliche Erfahrung, die Ergebnisse der Vergegenständlichung der materiellen Welt durch die betreffende Sprachgemeinschaft und 3. durch die rein sprachlichen (durch Zusammenhänge vermittelten) und korrelativen Modelle der lexikalischen Einheiten. Der letzte Faktor ist am wichtigsten, ausschlaggebend, denn er steht oft als „unlogisch" den beiden anderen gegenüber und wird sichtbar, wenn man die strukturelle Organisation des lexikalischen-semantischen Aspekts der Sprache untersucht. Die lexikalische Paradigmatik ist in jeder Sprache durch die semantische Opposition der Lexeme in bezug auf die Wortbildung repräsentiert. Sowohl bei 362

der Korrelation der Wörter in bezug auf die Konversion als auch bei der Wortbildung beruhen die Modelle der semantischen Beziehungen auf dem nominativen Wert der lexikalischen Einheiten, der durch den Rahmen ihrer kategorialen Semantik (Gegenständlichkeit, Handlung, Merkmal) mit Rücksicht auf den syntagmatisehen Wert bestimmt wird. Der syntagmatische Wert zeigt sich bei den Substantiven darin, daß sie ein Handlungssubjekt (Agens) oder -objekt sein können, bei den deverbalen Adjektiven darin, daß sie ein aktives oder inaktives Merkmal ausdrücken (der Handlung unterziehend oder der Handlung unterzogen); der syntagmatische Wert der Verben, der ihre syntaktische Valenz bedingt, ist auf den Rahmen der Subjekt-Objekt-Lokalisierung (die Richtung oder den Standort) der Handlung, des Zustandes, die durch das Verblexem bezeichnet werden, beschränkt. Die semantischen Oppositionen der Lexeme in bezug auf die Wortbildungsmodelle repräsentieren die Entfaltung und Konkretisierung der allgemeinen semantischen Modelle (der Tiefenlexik) der Wörter auf der Ebene der verschiedenen Wortarten oder semantischen Kategorien. Typische Modelle der deverbalen Substantive sind also „einzelner Handlungsakt — Prozeßverlauf": look 'Blick', looking 'Prozeß des Schauens', walk 'Spaziergang', Walking 'Prozeß des Spaziergehens'; „Handlungsprozeß — Handlungsergebnis": surveying 'Prozeß des Überblickens' — survey 'Ergebnis des Uberblickens' ; „Handlungsprozeß — Art oder Mittel der Handlung": supporling 'Prozeß der Unterstützung', support 'Unterstützungsmittel' usw. Da die Verbhandlung mit dem Gegenstand verschieden korrelieren kann, werden die zwei Verblexeme der „aktiven Einwirkung" und der „passiven Wahrnehmung" der Handlung einander exakt gegenübergestellt und in Wortbildungsmodellen und Suffixen ausgedrückt. So drücken die von transitiven Bedeutungen der Verben gebildeten Adjektive die Eigenschaft des semantischen Objekts und die von intransitiven Bedeutungen gebildeten Adjektive die Qualität des Subj e k t s a u s : to read — readable, reading, to educate — educative, prehend — comprehensive, comprehensible.

educated,

to com-

Das Wesen der paradigmatischen Oppositionen der Lexeme in bezug auf ihr Wortbildungsmerkmal besteht ja gerade darin, daß diese Oppositionen begrenzte Lexemgruppen erfassen, wobei die Begrenzung nicht so sehr von den logischen und realen Zusammenhängen der Gegenstände und der Begriffe von ihnen, als vielmehr von dem rein sprachlichen Faktor des normativen Gebrauchs und den entstandenen Systemzusammenhängen der lexikalischen Einheiten im System der Sprache insgesamt ausgeht 45 . Eine besondere Gruppe von Lexemen, die in bezug auf die Wortbildung korrelieren, bilden die Fälle der Lexikalisierung morphologischer F o r m e n : a) Die regulärste Bildung und folglich auch Korrelation ist die Opposition „Adjektiv — Substantiv (vergegenständlichtes Adjektiv)": russisch englisch paßoiHH 'Arbeiter', thered 6OJH>HOH 'Patient' usw. Näheres im Kapitel „Wortbildung" im vorliegenden Band.

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b) Die Lexikalisierung der Pluralformen mancher Substantive, z. B. jjolüic — politics 'Politik' linguistic — linguistics 'Linguistik' second — seconds 'zweitrangige Erzeugnisse' small — smalls 'Kurzwaren' look — looks 'Äußeres' ground — grounds 'Untergrund' Dieses Modell der semantischen Korrelation ist in vielen Sprachen, auch im Englischen, recht produktiv und eine Quelle potentieller Wörter. Die paradigmatischen Beziehungen der Wörter auf der Ebene der s e m a n t i s c h e n K a t e g o r i e n und Klassen der Wörter, d. h. die Teilung der zu ein und derselben Wortart (Nomina, Verben) gehörenden Lexeme in kleinere semantische Gruppen, sind von erstrangiger Bedeutung für das lexikalisch-semantische System jeder Sprache. Solche semantischen Merkmale wie die Zugehörigkeit des bezeichneten nominalen Lexems zur Klasse der beseelten bzw. unbeseelten Gegenstände, zu den zählbaren bzw. nichtzählbaren Gegenständen, zur Kategorie der Personen bzw. Nichtpersonen ist z. B. im Wortschatz der englischen Sprache sehr wichtig. Mehr noch, eine solche Opposition der Lexeme ist in der Sprache auf der Ebene der lexikalischen Paradigmatik durch bestimmte, stabile Oppositionen der Wortzeichen verankert. Der Wortschatz der englischen Sprache z. B. hat ein paradigmatisches System mit vier Gliedern, die Oppositionen nach zwei Merkmalen bilden: 1. nach der konkreten lexikalischen Bedeutung im Falle von much — many 'viel', im Falle von little — few 'wenig', 2. nach der semantischen Bedeutung einer allgemeinen Kategorie, nach einer Bedeutung, die mit der konkreten lexikalischen Bedeutung, dem Merkmal der Unteilbarkeit (Nichtzählbarkeit) in der Reihe much — little und mit dem Merkmal der Teilbarkeit (Zählbarkeit) in der Proportion many — few einhergeht. Das Russische kennt eine so strenge Opposition der Substantive nicht, 'viel bzw. wenig' ist die einzige Opposition der Gegenstände nach ihrem quantitativen Merkmal: Majio K H H T 'wenig Bücher', Majio B P E R I E H H 'wenig Zeit', Majio xjießa 'wenig Brot', MHOTO H A P O ^ Y 'viel Volks', MHoro rnyMy 'viel Lärm' usw. Das zweite Paradigma auf der Ebene der semantischen Kategorien ist im Englischen durch Pronominalwörter repräsentiert: somebody, anybody, everybody, nobody some one, any one, every one, no on (none) something, anything, everything, nothing I n der ersten Reihe sind die Ableitungen mit body nach dem abstrakt-allgemeinen Merkmal der Beseeltheit zusammengefaßt, in der dritten Reihe hingegen nach dem ebenso allgemeinen Merkmal der Unbeseeltheit der Gegenstände, das durch das Element thing ausgedrückt wird. Beiden Reihen liegt die kategoriale Bedeutung der Gegenständlichkeit zugrunde, sind die Oppositionsglieder nicht austauschbar, bilden sie eine einander ausschließende Opposition nach dem Merkmal beseelt bzw. unbeseelt. Die semantische Kategorie der Beseeltheit bzw. Unbeseeltheit findet im System der englischen Sprache keine grammatische, formal allgemeine Bedeutung wie z. B. im Russischen, sondern nur einen 364

lexikalischen Ausdruck. Unter den Gliedern, die beseelte Gegenstände ausdrücken, gibt es wiederum eine Opposition nach dem Merkmal Person bzw. Nichtperöon. Die zweite Reihe der Oppositionen — some one . . . no one (none) — ist eine spezifische synonymische Reihe zur ersten und dritten Reihe und ein Mittel der Neutralisation, das die Opposition der Glieder der ersten und zweiten Reihe in der Syntagmatik aufhebt. Jedes nominale Lexem im System der englischen Sprache ist durch mehrere semantische Merkmale (Seme) unterschiedlichen Verallgemeinerungsgrades gekennzeichnet: 1. das kategoriale Merkmal — Gegenständlichkeit; 2. das semantische Merkmal einer einzelnen Wortkategorie — Beseeltheit bzw. Unbeseeltheit; 3. das semantische Merkmal einer Subkategorie — Person bzw. Nichtperson, zählbar bzw. nichtzählbar; 4. die semantischen Merkmale auf der Ebene der ihrem Charakter nach unterschiedlichen lexikalischen'Mikrosysteme (lexikalisch-semantische Paradigmen, spezifische terminologische Gruppen, Gegenstandsgruppen, semantische Felder); 5. das semantische Merkmal auf d e r Ebene des Einzellexems, das die konkrete Bedeutung des einen Lexems von derjenigen des anderen (das kleinste distinktive Merkmal) in synonymen und antonymen Paaren unterscheidet. I m Zusammenhang mit der abgestuften oder inklusiven Eigenschaft d e r lexikalischen Abstraktion hat das semantische Merkmal jeder Ebene wie auch das Wort selbst eine doppelte semiologische Abhängigkeit: Das Merkmal ist distinktiv (differenzierend) auf der jeweiligen Stufe der Gruppierung der lexikalischen Einheiten und zusammenfassend (identifizierend) auf der nächstniedrigeren Abstraktionsebene. Das englische nominale Lexem pain 'Schmerz' z. B. ist gegenständlich, unbeseelt, nichtzählbar, zum semantischen Feld 'Gefühl' gehörig. Aber außer diesen vier Ebenen semantischer Merkmale hat dieses nominale Lexem 'physischer und seelischer (moralischer) Schmerz' seine besonderen (individuellen) Merkmale gegenüber den Lexemen pine 'Kummer',. suffering 'jegliches Leiden durch Schmerz, Hunger, Durst, Armut, Krankheit und jegliches Elend'. Wie man leicht bemerkt, können gerade die semantischen Einzelmerkmale dem paradigmatischen Wert des Wortes im System der Sprache,, d. h. dem Wert des Wortzeichens, der der Gruppierung der Lexeme in synonymen Reihen zugrunde liegt, gleichgestellt sein: nach dem 4. Merkmal zeigen sich bei den nominalen Lexemen synonymische Reihen und lexikalisch-semantische Paradigmen, nach dem 5. Merkmal werden sie differenziert. Somit haben nicht alle Merkmale im lexikalisch-semantischen System d e r Sprache den gleichen W e r t ; die verallgemeinerten Merkmale der 1., 2. und 3. Ebene sind universeller als die empirischen Merkmale der 5. Ebene; die ersten widerspiegeln mehr die logische Gruppierung (nach den objektiven Gegenständen und ihren Eigenschaften), die zweiten, die empirischen, zeugen von den Arten und Formen der Segmentierung der gesellschaftlichen und historischen Erfahrung durch die Lexeme der betreffenden Sprache, sie sind daher stärker spezifisch und „linguistisch" und weniger objektiv als die ersten. Die Verblexeme haben eine andere Skala der semantischen Merkmale. F ü r die englische Sprache kann man sie ebenfalls auf fünf Verallgemeinerungsebenen zurückführen: 1. „Handlung" zum Unterschied von der „Gegenständlichkeit",. 36&

2. „aktive/inaktive Handlung", 3. Verben a) der Objektgebundenheit, b) der Objekt-Subjekt-Gebundenheit c) der Subjektgebundenheit und d) der SubjektObjekt-Gebundenheit der Handlung, 4. Verben, die nach der Handlungsart gekennzeichnet sind (die auf ein Objekt gerichtete bzw. nicht gerichtete Handlung, der Prozeß der Objekt Versetzung, das Ergebnis der Erfassung des Objekts durch die Handlung; die Eigenschaften der Beziehung des Handlungssubjekts, des Zustands des Handlungssubjekts; Veränderung des Zustands, der Lage usw.); 5. besondere Merkmale der Verblexeme, die die Arten des Handlungsverlaufs kennzeichnen (nach dem Milieu, dem Ort, der Zeit, dem Ergebnis sowie nach dem Typ des Handlungssubjekts und -objekts). Die unterste Ebene der Gruppierung der Verblexeme sind die Gruppierungen nach ihrem individuellen Inhalt — die verschiedenen lexikalisch-semantischen Paradigmen (Verben der Bewegung, des Verharrens, des Sprechens, geistiger Handlungen, der physikalischen Ortsveränderung usw.) auf Grund einer ganzen Begriffssphäre und die nach einem linguistischen Merkmal — dem Inhalt des ganzen Lexems oder einer seiner Bedeutungen — aufgestellten synonymischen Reihen, Gruppen. Die distinktiven Merkmale der Einheiten in solchen Mikrosystemen und synonymischen Reihen sind einerseits die Kennzeichnung nach dem syntagmatischen und nominativen Wert (das Modell der semantischen Zusammenhänge der Lexeme, die Typen ihrer semantischen Kategorien, die semantische Beziehungen eingehen) und andererseits empirische Merkmale, die die betreffenden Lexeme differenzieren. Die synonymischen und antonymischen Beziehungen der Wörter sind ein Grundtyp der paradigmatischen Opposition der lexikalischen Einheiten. F a ß t man die Ergebnisse der Eröterung der paradigmatischen Zusammenhänge der Wörter zusammen, so muß man folgendes festhalten. Die lexikalische Abstraktion hat zwei Hauptbesonderheiten: Das Wortzeichen mit seinen beiden semiologischen Funktionen, der Identifizierung und der Differenzierung, verleiht dem lexikalisch-semantischen System und dem Wortschatz insgesamt eine „unterordnend-untergeordnete" Geregeltheit der Lexeme nach ihrem semantischen Inhalt, d. h. die strukturelle Organisation des Gesamtvokabulars oder einzelner lexikalisch-semantischer Paradigmen und lexikalischen Mikrosysteme hat den Charakter einer sukzessiven Einnistung der Wörter der niedrigeren Abstraktionsebene in die höhere, was es nicht bei der grammatischen Abstraktion gibt. Jedes Wortzeichen hat eine Summe semantischer Merkmale, die seine lexikalische Bedeutung kennzeichnen. Deshalb heißt es zumindest die konkreten Fakten der Sprache zu ignorieren, wenn man sagt, daß das Wort im System der Sprache keinen sozial und strukturell in der Sprache fixierten bestimmten Inhalt habe oder daß die lexikalische Bedeutung ihrer Natur nach nicht „substantiell", sondern „relativ" sei. Die Charakteristik des Wortes in bezug auf seinen nominativisch-klassifikatori sehen Wert wird durch eine Menge von Merkmalen (Semen) verschiedenen Abstraktionsgrades bestimmt; der syntagmatische Wert des Wortes, d. h. seine lexikalische Valenz, wird durch die Modelle der semantischen Zusammenhänge der Wörter vorgeschrieben. Die Modelle, die die semantischen Beziehungen eines Gegenstandes und seines Merkmals realisieren, sind z. B. „aus dem Gegenstand hergestellt", „dem Gegenstand 366

gehörig", „dem Gegenstand von Natur aus eigentümlich", „dem Gegenstand äußerlich ähnlich" usw. J e nach der Korrelation der Merkmale, die den nominativen und syntagmatischen Wert der Wortzeichen kennzeichnen, gliedern sie sich in zwei gegensätzliche kategoriale Wortklassen: 1. diejenige, die die „Gegenständlichkeit" ausdrückt, und 2. diejenige, die die „Handlung" (eine Beziehung) ausdrückt; in der ersten Klasse von Wörtern überwiegt der nominative Wert über den syntagmatischen, in der zweiten der syntagmatische über den nominativen. Vergleicht man die Einheiten nach ihrer eigenen Bedeutung, die den Wörtern als nominativen Einheiten eigentümlich ist, so heben sich vor allem kleinste Paare (wie in der Syntagmatik) ab, die synonymen, antonymen, konversiven, hyponymen usw., die ja das obligatorische Minimum bei der Untersuchung der verschiedenen semantischen Gruppen ausmachen, so umfangreich sie auch sein mögen. Gerade in den kleinsten Paaren zeigt sich der semantische Unterschied, das distinktive Merkmal, der Wert, der die semantische Hauptkategorie in der lexikalischen Paradigmatik ist. Unter dem Aspekt der strukturellen Organisation laufen die paradigmatischen Beziehungen der Wörter in logischer Hinsicht auf verschiedenartige Oppositionen hinaus; der vorherrschende Typ sind die inklusiven Beziehungen des schwachen (merkmallosen), wenig markierten Gliedes und des starken (merkmaltragenden) Gliedes, die offene und geschlossene Reihen und Systeme bilden. Freilich lassen die zahlreichen lexikalischen Einheiten, ihre möglichen semantischen Korrelationen und der fehlende formale Ausdruck dieser Oppositionen das lexikalisch-semantische System „schwächer strukturiert" erscheinen. Das l e x i k a l i s c h - s e m a n t i s c h e S y s t e m unterscheidet sich stark von den anderen Subsystemen der Sprache. Die erste markante Besonderheit des lexikalisch-semantischen Systems ist der heterogene Charakter der Systemelemente, und zwar 1. der semantischen Werte: des bedeutungsdifferenzierenden Werts der Phoneme, der nur die Einheiten der lexematischen Ebene — die Wörter — und nicht die Bedeutungen der polysemen Wörter auf der lexikalisch-semantischen Ebene des Wortes differenziert; der kategorialen Semantik der zu verschiedenen lexikalisch-grammatischen und semantischen Wortgruppen gehörenden Wörter; der konkreten lexikalischen Bedeutung, die bei der Gegenüberstellung in den paradigmatischen Reihen die Form eines Wertes (valeur) innerhalb des Systems annehmen kann; der verallgemeinerten Bedeutung der Modelle sowohl bei den syntagmatischen als auch bei den paradigmatischen semantischen Beziehungen der Wörter; 2. der semantischen Zusammenhänge: der inner verbalen, der interverbalen, der paradigmatischen und der syntagmatischen. Die zweite Besonderheit des lexikalisch-semantischen Systems besteht darin, daß die Einheit des Systems bei seiner mehrdimensionalen strukturellen Gliederung und dem Vorhandensein gleichsam nichthomogener Elemente gewährleistet wird durch die Integration der Einheiten der äußersten Gliederung — der lexikalisch-semantischen Varianten des Wortes in kompliziertere Komplexe auf der Grundlage der Beziehungen der Repräsentation, der Manifestation und 367

der Realisation, die die Identität der konstituierenden Grundeinheit, des Wortes, gewährleisten. Die dritte Besonderheit des lexikalisch-semantischen Systems besteht darin, daß dieses System im Gegensatz zum phonologisehen System, das oft als die distinktive Ebene der Sprache bezeichnet wird, eine Synthese der semantischen Grundeinheiten ihrer Zusammenhänge ist und als synthetisierende, integrierende Ebene bezeichnet werden kann. Das lexikalisch-semantische System ist gegenüber dem phonologischen und morphologischen System weniger geschlossen, es hat den Charakter eines offenen, allgemeineren Systems, denn in ihm wirken andere Subsysteme der Sprache aufeinander ein. Es ist der Bereich der Wechselwirkung zwischen Lexikalischem und Grammatischem und könnte bedingt als die semantische Struktur der Sprache bezeichnet werden.

Die S t r u k t u r des Vokabulars Bisher handelten wir von den Wörtern als Elementen des lexikalisch-semantischen Systems, d. h. davon, daß die Wörter durch sprachliche Mittel in die kleinsten lexikalischen Einheiten, die lexikalisch-semantischen Varianten des Wortes, gegliedert sind, davon, daß sie sich im System manifestieren und in der gesellschaftlichen Norm der funktionierenden Sprache reproduziert werden. Sprechen wir von der Struktur des Vokabulars, so haben wir es mit Wörtern erster Ordnung, mit ungegliederten Zeichenkomplexen, Onomatemen zu tun, die zwei Arten von Werten haben: die lexikalische (individuelle) Bedeutung und die grammatische Bedeutung einer Wortklasse. Obwohl uns bei der Struktur des Vokabulars vor allem die lexikalische Bedeutung des Wortes interessiert, die sein Funktionieren als einer nominativen Einheit der Sprache gewährleistet, hängen das Lexikalische und das Grammatische im Wort so sehr zusammen, daß man sowohl die grammatische Form als auch den innerstrukturellen Wert des Wortes (die Gegenstand der Morphologie und der Wortbildung sind) beachten muß. Die Spezifik der lexikalischen Mittel besteht zum Unterschied von den anderen Aspekten der Sprache (theoretisch und faktisch) vor allem darin, daß diese Einheiten nicht zählbar sind. Erstens erzeugen die extralinguistische Determiniertheit der Wortzeichen, die neu entstehenden Begriffe, Gegenstände und Erscheinungen unablässig neue Benennungen. Der unmittelbare Zusammenhang der Lexik mit der kulturgeschichtlichen Erfahrung der Sprachträger verleiht dem Wortschatz als einem summativen System von Benennungen eine größere Beweglichkeit und damit auch eine größere Veränderlichkeit in der Geschichte. Zweitens wird die Befriedigung der ständig wachsenden Bedürfnisse nach Bezeichnung der neuen Begriffe und Gegenstände durch den Mechanismus der Sprache selbst ermöglicht - durch die Asymmetrie der Wortzeichen, durch die virtuellen, verallgemeinerten Wortkomplexe und zahlreichen Modelle für die Bildung und Kombination der Wörter in der Sprache. So entsteht ein großes 368

Potential für neue lexikalische Einheiten, wird das lexikalische System zu einem offenen Inventar. Die Kriterien, die das so aufgefaßte lexikalische System systematisieren, können sowohl extralinguistisch (die Gegenstände und Kategorien der materiellen Welt, der Bezeichnungsbereich, die Herkunft der Wörter, die soziale, zeitliche oder geographische Gemeinsamkeit der Realien und folglich auch der Vokabeln [140]) als auch rein sprachlich sein (die Klassifizierung der Lexeme nach den Wortarten, die Morphemgestaltung, Bereich und Produktivität des Funktionierens usw.). Die Erforschung des lexikalischen Systems als eines Inventars setzt die allseitige Untersuchung der Zusammensetzung des Wortschatzes, die Analyse der Problematik der „semantischen Kartierung" der realen Welt mit Hilfe von Wörtern voraus: die Verteilung des Wortschatzes auf die verschiedenen begrifflichen (semantischen) Felder, Gegenstandsgruppen und terminologischen Mikrosysteme, die Probleme der Differenzierung der lexikalischen Einheiten nach ihrem semantischen Wert und nach ihren innerstrukturellen Funktionen usw. Die Differenzierung der Wörter nach ihrem, semantischen Wert und dementsprechend nach dem sprachlichen Bereich, in dem sie funktionieren, widerspiegelt sich (von Aristoteles an) in der Klassifizierung der Wortschatzeinheiten in zwei große Klassen, die verschieden benannt wurden: „autosemantische und synsemantische Wörter" [37], „SymbolWörter" und „Zeigwörter" [63], „universelle Zeichen" und „charakterisierende Zeichen" [95], „reelle Wörter" („respactable words") und „Pseudowörter" [58]. Die Klassifizierungskriterien sind in allen angeführten Fällen verschieden, sie reduzieren sich aber auf zwei Hauptkriterien: 1. auf den Charakter des semantischen Inhalts der Wörter und 2. auf den Bereich ihres Funktionierens, auf ihre Funktion in der Struktur. Nach dem semantischen Inhalt und der Funktion in der Sprache verteilen sich die lexikalischen Einheiten des Vokabulars jeder Sprache auf vier H a u p t klassen (siehe Tabelle S. 370). 1. Die l e x i k a l i s c h a u t o s e m a n t i s c h e n W ö r t e r mit vollständiger semantischer Struktur (gegenständliche Bedeutung). Sie erfüllen im Sprachsystem zwei Hauptfunktionen zugleich — die signifikative und die nominative (es handelt sich um die sogenannten Appellativa). Der Zeichenreferent ist eine Klasse von Gegenständen, ein Begriff. 2. die l e x i k a l i s c h s y n s e m a n t i s c h e n W ö r t e r ohne jegliche semantische Struktur. Sie haben in der Sprache nur die Funktion der Benennung und des Wiedererkennens; es sind die sogenannten Eigennamen mit einem einzigen Referenten (sie benennen eine Person, eine Stadt, ein Land usw.). 3. Die W o r t z e i c h e n o h n e e i g e n e n , der lexikalischen Bedeutung zugrunde liegenden g e g e n s t a n d s l o g i s c h e n l n h a l t . E s sind die Stellvertreterzeichen mit der Implikation der Person, des Gegenstandes, des Ortes, der Vollzugsrichtung des Sprechaktes in der Syntagmatik der Sprache, die sogenannten deiktischen Wortzeichen (ich, du, er, dort, hier, heute, gestern usw.). 4. Die W o r t z e i c h e n , d i e i h r e n I n h a l t ausschließlich beim Funktionieren in der linearen Reihe je nach den sich mit ihnen verknüpfenden Einheiten e r 369

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h a l t e n . Es sind die sogenannten kopulativen Wörter, die keinen Referenten haben (z. B. die Präpositionen, die es in allen Sprachen gibt). Vgl. russ. c C H H O M 'mit dem Sohn', c Benepa 'seit dem Abend', co CTOJia 'vom Tisch herab', c H H T e pecoM 'mit Interesse' usw., wo die Bedeutung der Präposition c durch das mit ihr verbundene Wort determiniert ist. Klasse 1 mit den a u t o s e m a n t i s c h e n W ö r t e r n behandelten wir bereits am Anfang dieses Abschnitts, deshalb wollen wir kurz auf die anderen Wortklassen eingehen. Die E i g e n n a m e n in Klasse 2 gehören zwar zu den lexikalisch bedeutungstragenden Wörtern, aber, streng genommen, müßte m a n sie nach ihrer Rolle in der Sprachstruktur und nach dem Charakter ihres semantischen Inhalts zur Kategorie der „lexikalisch synsemantischen" Wortzeichen rechnen. Ihre H a u p t funktion in der Sprache ist rein nominativ, sie fördern die Differenzierung, das Wiedererkennen von Personen, Gegenständen, Orten, ohne sie qualitativ zu kennzeichnen. Diese semantische Klasse von Nomina mit benennend-identifizierender Funktion gilt zu Recht als „defekt". Die Eigennamen haben den Hauptmangel, daß sie keinen verallgemeinerten Begriff ausdrücken können, ihre Rolle ist rein „benennend", deshalb heißen sie oft „Erkennungszeichen". Das spezifische Merkmal der Eigennamen ist der sogenannte denotative Charakter ihrer Bedeutungen; die Form des Zeichens, die Lautung korreliert unmittelbar, nicht über den Begriff, mit der bezeichneten Person bzw. dem bezeichneten Gegenstand. Die Form ist die einfache Benennung der Person, des Gegenstandes ohne jeglichen Hinweise auf ihre bzw. seine Eigenschaften. Daher ist in den Eigennamen die potentielle Bedeutung des Wortzeichens der aktuellen gleich. Das semantische Potential der Eigennamen ist gering. Bei den Personennamen z. B. reduziert es sich auf solche Konzeptualmerkmale des Denotats wie das natürliche Geschlecht, die patronymischen Beziehungen usw. Daher beschränken sich diese Wortzeichen ohne semantische Struktur auf den nominativen Nomenklaturbereich, sind sie in der Rede nur unerheblich „semantisch verbreitet". Die Eigennamen stehen den Appellativen nicht nur in bezug auf den Charakter ihres semantischen Inhalts und des Funktionsbereichs, sondern auch in bezug auf den Grad des Wertes, den die Form des Zeichens selbst hat, gegenüber. I n den Nomina der Klasse 2, die, weil sie semantisch nicht vollwertig sind, keine semantische Struktur (und nur eine geringe Zahl assoziativer und struktureller Zusammenhänge in bezug auf den Inhalt) haben, erhält die materielle Seite des Wortzeichens (sei sie nun stofflich oder ideell) einen größeren Wert als bei den Appellativa. Gerade die formale Seite eines Wortzeichens der Klasse 2 ist das einzige Kriterium für die Unterscheidung des einen Wortzeichens vom anderen. Es ist kein Zufall, daß seinerzeit als ein Kriterium der Eigennamen dasjenige des distinktiven Lautes aufgestellt wurde [73]. Die d e i k t i s c h e n W ö r t e r der Klasse 3 bilden in jeder Sprache einen recht starken Bereich. Sie haben mit ihrer stellvertretend-hinweisenden Funktion einen Doppelcharakter: 1. die Bedeutung der Klasse im System und 2. die in371

dividuelle Bedeutung in der syntagmatischen Reihe. Den Kern dieser Klasse von Wortzeichen (zu ihnen gehören vor allem die Pronomina und einige Adverbien •der Zeit und des Ortes) bilden Zeigwörter, deren semiotischer Funktionsbereich durch die drei Achsen des Sprechaktes begrenzt ist [63]: durch die Implikation der Person („person-deixis"): ich — du — er, durch die Implikation der Stellung in bezug auf den Sprecher („place-deixis"): hier — dort und durch die Implikation der Zeit des Sprechaktvollzugs („time-deixis"): jetzt, dann usw. •Der Inhalt der deiktischen Wörter, die den Sprechakt organisieren und ordnen, ist im Gegensatz zu den Eigennamen mit deren hypertrophierter nominativer Funktion durch die Syntagmatik der Sprache bedingt. Deshalb stehen sich die Klasse 2 und 3 in bezug auf zwei Merkmale gegenüber: Sie haben keine signifikative Funktion und damit keine konkrete lexikalische Bedeutung, was sie identifiziert, und sie haben in jeder Klasse von Wortzeichen unterschiedliche innerstrukturelle, sprachliche Funktionen, was sie differenziert. Außer den eigentlichen Deiktika, die den Kern der Klasse 3 ausmachen, muß man noch eine Untergruppe von Wörtern nennen, die bei der Untersuchung der inhaltlichen Seite der Sprache nur wenig beachtet wird, nämlich die Stellvertreterwörter mit sehr abstrakter Bedeutung (die indefiniten, verallgemeinernden, hervorhebenden, possessivischen und anderen Kategorien der Pronomina). Die Wortzeichen der Klasse 4, die nach ihrer Hauptfunktion oft Kopulawörter heißen, bieten beim Erforschen der Strukturprinzipien des Wortschatzes nur wenig, denn sie sind durchaus grammatisch, ihr Existenzbereich beschränkt sich ausschließlich auf die Syntagmatik. Diese Klasse von Wortzeichen ist aber sehr wichtig bei der Untersuchung der Bedingungen und Formen der E n t semantisierung der autosemantischen Wörter und der Wege ihres Übergangs in die Klasse der kopulativen Wörter, so entstehen in verschiedenen Sprachen z. B. zusammengesetzte Präpositionen aus lexikalisch autosemantischen Wörtern. Die Korrelation der ihrer Semantik und innerstrukturellen Funktionen nach verschiedenen Wortklassen determiniert die Struktur des Vokabulars und macht ein spezifisches Merkmal jeder Sprache aus. Ein zweites spezifisches Merkmal der Struktur des Vokabulars einer Sprache sind Charakter und Arten seiner lexikalischen Gliederung, die Verteilung des Wortschatzes auf die verschiedenen semantischen Kategorien und Mikrosysteme (auf die Bedeutungs- und Begriffsfelder, auf die gegenständlichen, terminologischen und sonstigen Gruppen). I m Laufe der Wissenschaftsgeschichte ist umfangreiches Material zur Beschreibung und Systematisierung der lexikalischen Einheiten der verschiedenen Sprachen zusammengetragen worden; beschrieben ist eine große Anzahl semantischer und gegenständlicher Gruppen von Wörtern, für viele Sprachen gibt es bereits terminologische und Sachwörterbücher. Bei der Untersuchung des Vokabulars einer Sprache ist es natürlich nicht uninteressant festzustellen, in welchen Sprachen (oder in welcher Entwicklungsperiode einer Sprache) ein und derselbe Begriff durch ein Wortzeichen, eine Wortverbindung oder durch eine ganze Gruppe von Wörtern bezeichnet wird, 372

aber nicht das macht die konstituierenden Merkmale der Struktur eines Vokabulars aus; die Spezifik der lexikalischen Gliederung ist eine wichtige, aber nicht die einzige Tatsache, die die Spezifik des Wortschatzes einer Sprache ausmacht. Unseres Erachtens wichtiger ist die Analyse des Wortschatzes einer oder mehrerer Sprachen in bezug auf die Korrelation der verschiedenen Wortschatzschichten (der entlehnten und der genuinen, der abstrakten und der konkreten, der motivierten und der nichtmotivierten), die Feststellung der Proportion zwischen der inventarisierenden und der idiomatischen Lexik, des Grades der Terminologisierung und der Verteilung der Wörter auf die Funktionsbereiche. Analyseobjekt des Wortschatzes einer Sprache ist die Verteilung der Wörter auf die lexikalisch-grammatischen Klassen, auf die Wortarten, die Feststellung der Morphemzusammensetzung der Wörter im Zusammenhang mit der Verteilung des semantischen Inhalts auf die Elemente der Wortableitung und der Wortzusammensetzung usw. Daher klassifiziert man die nominativen lexikalischen Einheiten in bezug auf die Wortarten nach zwei Hauptmerkmalen — nach der Zugehörigkeit zu einer semantischen Kategorie und nach der paradigmatischen Formgebung im Sprachsystem. Durch diese ihrer Natur nach gemischten sprachlichen Erscheinungen unterscheidet sich oft die eine Sprache von der anderen. So ist z. B. die Struktur der Wortarten im Englischen und Deutschen gleich, sind aber die inneren semantischen Beziehungen zwischen den einzelnen Einheiten oder ganzen Wortklassen in diesen Sprachen verschieden. Die formale und semantische Nichtdifferenzierung in sehr vielen Wortschatzeinheiten (Substantiven, Adjektiven, Verben, Adverbien usw.) im Englischen findet ihren Ausdruck in einer starken Fähigkeit der Wörter, in bezug auf die Konversion zu korrelieren, d. h. die eine lexikalisch-grammatische Klasse durch eine andere „auszutauschen". Ein spezifischer Zug des Wortschatzes z. B. der englischen Sprache ist die Komplizierung der lexikalischen Polysemie durch die grammatische Homonymie. Die Untersuchung des Charakters der Wechselwirkung zwischen Lexikalischem und Grammatischem in den Wortschatzeinheiten als Benennungseinheiten bietet viel für die Bestimmung der Struktur des Vokabulars einer Sprache. Aber eine solche Betrachtung der Wortschatzeinheiten führt an die Erforschung des Vokabulars in bezug auf die Wortbildung, die Wortzusammensetzung und die Bestimmung des lexikalisch-semantischen Systems einer Sprache heran.

25 Serebrennikow II

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KAPITEL 7

Die Phraseologie

Die Phraseologismen der Sprache. Der Gegenstand der Phraseologie Das Strukturgerippe der Sprache bilden Einheiten bestimmter Integrationsebenen sowie Regeln für ihre Kombination, im Einklang mit welchen aus einer begrenzten Anzahl von Einheiten im Prinzip unendlich viele Kombinationen, sprachliche Strukturen unterschiedlichen Kompliziertheitsgrades, gebildet werden. Wie bereits im Kapitel „Die Ebenen der Sprachstruktur" (im vorliegenden Band) erwähnt, ist diese Eigenschaft der Sprache universell. D e r freien Wahl und Kombinierbarkeit auf der Grundlage bestimmter Koderegeln steht in den natürlichen Sprachen die ebenso universelle Eigenschaft gegenüber, daß Einheiten in ihrer Kombination nicht frei gewählt werden können. Unfreie Einheitenkombinationen kennzeichnen verschiedene Integrationsebenen. I n b e z u g a u f d a s W o r t sind es die unfreien Morphemkombinationen: sie repräsentieren Einheiten, die auf der Inhaltsebene verschmolzen und auf der Ausdrucksebene formal (an Morphemfugen) zerlegbar sind, — die entetymologisierten Wörter (vgl. russ. noflymna 'Kopfkissen', engl, forehead 'Stirn', dt. Niederschläge; vgl. im Gegensatz dazu die Verschmelzung der Ausdrucksebene bei segmentierbarer Inhaltsebene im Falle von russ. -aM z. B . in der Form jKeHaM 'den Frauen' oder lat. -orurn in der Form malorum)', manche unfreien Kombinationen sind dadurch determiniert, daß das Bezeichnende eines der Morpheme begrenzt kombinierbar ist (etwa russ. ne Tyx 'Hahn' oder d t . Bräuti-gam). I n b e z u g a u f d i e W o r t f o r m e n (nichtprädikativen oder prädikativen Charakters) sind es die unfreien Kombinationen, die entweder durch die Nichtsegmentierbarkeit ihrer Bezeichneten (wie in russ. TOIHTB JIHCLI 'schwatzen', dt. über jemanden den Stab brechen, engl, märe's nest 'Schwindel'), durch die unikale semantische Realisierung eines der Bezeichneten (wie russ. 30Ji0TaH M0Ji0flesKB, engl, gilded youth 'goldene Jugend /iron./',) oder durch die Bedingung determiniert sind, daß eins der Bezeichneten durch eine bestimmte begrenzte Liste von Wörtern realisiert wird (russ. 3Jio, C T p a x , yssac usw. öeper 'Wut, Angst, Schrecken packt einen', engl, to pay a visit, call, homage usw. 'jemandem einen Besuch abstatten, jemandem huldigen'), ferner unfreie Kombinationen von Wortformen, die durch eine begrenzte Yerknüpfbarkeit des Bezeichnenden einer der Komponenten bedingt sind (russ. nena rjiaaiiMoe BneiaTJieHiie 'unauslöschlicher Eindruck'), sowie unfreie Kombinationen, deren syntaktische Bedeutung sich nicht mit den formal ausgedrückten „Syntagmaformen" decken (russ. fleBOHKa JieT nHTH 'ein etwa fünfjähriges Mädchen', vgl. auch die analoge Erscheinung in der Satzstruktur: TeMHa BOfla BO o6jian;ex 374

'dunkel ist der Rede Sinn', ITO npaB.ua, TO npaB^a 'wahr bleibt wahr' usw.). Die unfreien Kombinationen durchziehen also das Strukturgerippe der Sprache als gebrauchsfertige Formeln, d. h. als Gebilde, die, wie Jespersen schreibt, etwas Einheitliches sind, „das weiter nicht so analysiert oder zerlegt werden kann, wie es mit einer freien Kombination möglich ist" [56, 24']. Die „Formeln" der unterschiedlichen Strukturierungsebenen zeigen einen bestimmten Isomorphismus in bezug auf die Unregelmäßigkeitstypen. So gibt es z. B. die folgenden Äquivalenzbeziehungen nach dem Merkmal der E n t e t y m o logisierung: n o ^ Y N I K A : nofl + ym + K + a = TepTHii Kajian: TEPTHÜ + Ka.naq ('Kopfkissen', 'durchtriebener Kerl'), nayinHii^aTB : Ha + yin + Huna + TI. = HaneBaTb B yniH: HaneBaTB + B + yiiiH ('Ohrenbläserei treiben', 'Gerüchte verbreiten') usw.; nach dem Merkmal des unikalen semantischen Ergebnisses einer K o m p o n e n t e : BKyc : B + Kyc = 30Ji0Taa MOJionejKt: 30Ji0Taa + MOJioneJKb ('Geschmack', 'goldene J u g e n d ' ) ; nach dem Merkmal der begrenzten Verknüpfbarkeit der Bezeichnenden: ne + Tyx: neKJieBaHHLifi + xjieö = CJIIOH + THM : 3 A K A A H H H H Ü + npyr ( ' H a h n ' : 'Graubrot' = 'Geifermaul': 'Busenfreund') usw. Die Spezifik der strukturellen Organisation der „Formeln" ist aber n u r auf dem Hintergrund ihrer regulären Entsprechungen bestimmbar. Die „Formeln" auf der Ebene der W o r t s t r u k t u r untersucht die Morphologie (unter dem Aspekt der Abweichungen von den Wortbildungsregeln) u n d die „Satzformeln" u n d „Wortgruppenformeln" als abstrakte syntaktische Strukturen, deren Einheiten mit einer Genauigkeit bis zur T y p f o r m bestimmt werden, die Syntax. Die dritte Art „Formeln" — die unfreien Kombinationen mit feststehender lexikalischer Zusammensetzung — gehören in einen besonderen Abschnitt der Linguistik, in die P h r a s e o l o g i e . Vor der Bestimmung des Gegenstandes der Phraseologie sei kurz auf den Unterschied zwischen freien u n d unfreien Wortkombinationen eingegangen. Die f r e i e n W o r t k o m b i n a t i o n e n o d e r W o r t v e r b ä n d e entstehen im konkreten Sprechakt f ü r die Mitteilung eines bestimmten I n h a l t s (im Satz). Der Zusammenhang der Wörter in ihnen beruht auf der Vereinbarkeit der gegenständlich-begrifflichen (lexikalischen) u n d der grammatischen B e d e u t u n g der Wörter im Einklang mit den Normen des Wortgebrauchs in den gültigen syntaktischen Modellen, denen gegenüber die Glieder der Kombination als variable Wortformen erscheinen, z. B. mit dem Lehrer/dem Freund sprechenl sich unterhalten, einen Brief /Artikel schreiben/lesen usw. Die „Vereinbarkeit der Bedeutungen" setzt voraus, daß die Wörter semantisch kongruieren, d. h. in ihren Bedeutungen die f ü r die Glieder der Kombination gemeinsame lexikalische oder lexikalisch-grammatische K o m p o n e n t e realisieren können (vgl. die Unvereinbarkeit lexikalischer Bedeutungen wie quadratische Kugel, harter Flaum oder lexikalisch-grammatischer Bedeutungen wie ich werde gestern schicken). Die freien Wortkombinationen sind dadurch gekennzeichnet, d a ß sie in bezug auf die Wahl der Komponenten nur durch die semantische u n d bzw. oder grammatische Unvereinbarkeit der Bedeutungen sowie durch die N o r m beschränkt sind. Der Fächer der freien Kombinierbarkeit reicht von den „üblichen" Kombinationen bis zu den die Norm des Wortgebrauchs überschreitenden Gelegenheitsbildungen.

Die freien Wortkombinationen, die die stabilen Beziehungen der außersprachlichen Realität — die „natürlichen" Kontaktbeziehungen der Gegenstände und Zustände — widerspiegeln, werden auch in der Sprache stereotyp zusammengesetzt gebildet. So sagt m a n gewöhnlich ein Glas Wasser, aber eine Tasse Tee (obwohl auch die Kombinationen ein Glas Tee u n d eine Tasse Wasser durchaus möglich sind), Wasser, Wein, Milch trinken, aber Suppe, Brei essen usw. Solche freien Kombinationen sind gewissermaßen stabile kulturell-sprachliche Klischees [13,142], sie fungieren aber unter dem Aspekt der lexikalisch-syntaktischen Organisation der Sprache als freie Kombinationen, deren Verknüpf barkeit durch keinerlei innersprachliche Beschränkungen überlagert wird, in ihnen wird vielmehr eine allgemeine Bedeutungskomponente sui generis realisiert (vgl. 'Teeportion' — Glas oder Tasse, 'trinken' k a n n man nur Flüssigkeiten — Wasser, Milch usw.). Auch die sogenannten wesenhaften Bedeutungsbeziehungen [59] sind freie Kombinationen, die stabile Beziehungen der außersprachlichen Realität widerspiegeln : Beine — gehen, Hand — greifen, Kopf — denken usw. Wohlgemerkt: die quantitativ begrenzte Kombinierbarkeit eines Wortes, die sich aus seinem spezifizierten semantischen I n h a l t ergibt (vgl. mypiiTb rjia3a 'zwinkern'), beeinträchtigt nicht die Kombinierbarkeit in ihrem qualitativen Aspekt, denn sie ist dabei durch die lexikalische Bedeutung des Wortes begrenzt (und erschöpft sich darin) (Näheres auf den Seiten 405-411). Frei kombinierbar sind auch die Gelegenheitsbildungen, wenn in einem bestimmten K o n t e x t n u r ad hoc mögliche semantische Kompatibilität entsteht (vgl. das folgende Beispiel aus A. Wosnessenskis Gedicht „Oceiraee BCTynjieHiie"' / O p e j i a B CTeHe. Moskau 1970, S. 62/: „H o^eT noBepx KypTKii /B KBapTiipy c KopHflopaMii-pyKaBaiiii, /r^e 113 noHTOBoro HiHHKa, /naii njiaTOK 113 KapMaHa, /ra3eTa T o p w r , /cBepxy floii, /KaK öoHpcitan: niy5a /KaivieHHLiMii Mexaiviii" 'Ich bin mit einer J a c k e wie mit einer Wohnung bekleidet, deren Korridore wie Ärmel sind, der Briefkasten gleich einer Tasche, aus der wie ein Taschentuch die Zeitung ragt, und über der Jacke ein Haus, das einem Bojarenpelz aus Steinwänden gleicht"). Die okkasionelle Verknüpfbarkeit verletzt im Grunde die system- u n d normbedingten Realisierungsregeln der Wortbedeutungen, denn ihre Wahl ist ganz individuell bedingt. Die stereotypen und die okkasionellen freien Kombinationen bilden gleichsam die Extreme, zwischen denen die übrigen Varianten der freien Kombinationen liegen. Kombinationen, in denen die Norm stärker wirkt als die Semantik (vgl. ßO/Kßb HfleT 'es regnet' mit poca na^aeT 'der Tau fällt' oder ManraHa/TpaMBaft HfleT/eneT 'das Auto/die Straßenbahn f ä h r t ' , aber MOTOijHKJi/BejiocHnefl ejjeT 'das Motorrad/Fahrrad fährt'), tendieren zu den stereotypen Kombinationen. Kombinationen, die semantische Wortvarianten realisieren (vgl. die Zeit kriecht, der Vater der Luftschiffahrt usw.), gleichen stärker den Gelegenheitsbildungen. Die klassischen freien Kombinationen, die mannigfaltige dynamische außersprachliche Beziehungen widerspiegeln, entstehen durch die freie Wahl u n d Kombination der Wörter in ihren direkten u n d abgeleiteten Bedeutungen (vgl. das Rotieren der Erde/des Planeten mit die Erde/den Boden düngen; NIICBMEIIHIINI/ooeiieHHMii CTOJI 'Schreib-/Mittagstisch' mit BKYCHHII/oÖHjibHHÖ CTOJI 'schmackhaftes/reichliches Mahl'). Die freien Wortverbände sind also 376

Zusammenstellungen von Wörtern nach Sinn und Form im Einklang mit der Norm oder den okkasionellen Realisierungsbedingungen i . Die u n f r e i e n W o r t k o m b i n a t i o n e n oder Wortverbände sind vor allem dadurch gekennzeichnet, daß sie einen bestimmten lexikalischen Bestand wiedergeben, der fixiert oder teilweise variabel, aber in der Auswahl immer durch irgend etwas gegenüber der realisierten Bedeutung der Wörter oder gegenüber der Bedeutung der Konstruktion Äußerliches begrenzt ist. I n den unfreien Wortverbänden kann die Auswahl der variablen Komponenten entweder in der Verknüpfbarkeit der Bezeichnenden oder der Bezeichneten der Wörter oder beider zusammen begrenzt sein; die Beschränkungen können auch die grammatische Konstruktion betreffen. Die Arten der unfreien Wortverbände sind überaus vielfältig, sie reichen von den Kombinationen, in denen die lexikalischen Komponenten Bauelemente von Wortbildungsmodellen sind (aaTt oßH3aTejibCTBO, ooemamie 'eine Verpflichtung, ein Versprechen abgeben', H H T a T b j i e K i j H i o , ¡uopajit 'eine Vorlesung, eine Moralpredigt halten', qepHHii xjieS 'Schwarzbrot', öejmii x j i e ö 'Weißbrot' usw.), bis zur Realisierung „gebundener" Bedeutungen (wie russ. r j i y Ö O K a n ocem» 'Sp'ätherbst' und rjiySonaH CTapocTt 'hohes Alter' oder dt. blinder Haß, blinder Zorn, blinde Wut) einschließlich der Realisationen unikaler Wortbedeutungen (wie B O J I H H H a n n e T H T 'Wolfshunger'). Ein Grenzfall der semantisch begrenzten Verknüpfbarkeit der Wörter sind die Idiome ( K O T e j i O K B a p i i T [etwa] 'auf Draht sein', 0Tpe3aHHHö JIOMOTB 'auf eigenen Füßen stehend'usw.). Außerdem gehören zu den unfreien Kombinationen die Klischees, Sprichwörter, Redensarten und geflügelten Worte (auf der Tagesordnung, eile mit Weile, am Nimmerleinstag; auch du, mein Sohn Brutus!). Die unfreien Wortverbände können eine synthetische oder eine analytische Bedeutung haben und Wörtern, auch synsemantischen, entsprechen (nepeMHBaTb K O C T O H K I I 'über jemanden klatschen', B B i i f l y T o r o , ITO 'angesichts dessen, daß'; ropoRHTb lyuib 'Unsinn reden', 3eJieHHfl M a x i 'grüner Tee', cji;ep?KaTb T

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Wir betrachten hier nicht die Merkmale, nach denen sich die freien Wortverbände von den unfreien unter dem nominativen Aspekt unterscheiden. Vermerkt sei nur, daß die nominative Geschlossenheit der freien Verbände durch Wahl und Verknüpfung entsteht, die den Kontext auf der Basis der gemeinsamen denotativen Korrelation der Wortbedeutungen im Kommunikationsakt erzeugen. Jeder nichtprädikative Verband kann im Satz eine „supraverbale" nominative Funktion erhalten, bleibt dabei aber ein Verband nominativer Einheiten, der Wörter (vgl. Kuchar [57] sowie den Begriff „syntaktische Nomination" im Abschnitt „Die Syntax" im vorliegenden Band). Hier muß man auch zwischen den „dynamischen" nominativen Komplexen (wie K a M C i m t i f i HOM 'Steinhaus', BHR H8 O K H a 'Blick aus dem Fenster', KpHK MaJibMHKa 'der Schrei des Jungen' usw.) und den „statischen" nominativen Komplexen (wie KycoK xjieöa 'ein Stück Brot', CTaKaii BOFLU 'ein Glas Wasser'), die das „Hintergrundwissen" der Kommunikationspartner (Bar-Hillels „background-knowledge") widerspiegeln, d. h. den Wortverbänden als „Mitteln der gesellschaftlichen Nomination" (Winogradow [10, 211]), unterscheiden, in denen die syntaktischen Beziehungen jedoch ebenfalls im Satz aktualisiert werden [30, 132]. Die nominative Geschlossenheit der freien Wortverbände ist nicht mit der Spezifizierung irgendwelcher semantischen und bzw. oder grammatischen Merkmale der Verbandsglieder gekoppelt.

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'Wort halten' usw.). Unfreie Wortverbände können auch eine prädikative Struktur haben u n d Satzäquivalente sein (der Würfel ist gefallen, M e J i n , Eniejur, — TBOH HEFLEJIH 'damit lockt man keinen H u n d vom Ofen' C J i O H a - T O H H H e npnMeTHji 'den Elefanten, den habe ich nicht bemerkt') oder nur formal einem Satz gleichen ( K Y P H He KJIIOIOT 'jede Menge (von etwas) haben', BII^AJI BHABI 'allerhand gesehen haben'). Die Phraseologismen widerspiegeln stärker als der Wortschatz schlechthin die Spezifik jeder Sprache. Die P h r a s e o l o g i e als linguistische Disziplin untersucht die Gesetzmäßigkeiten, die die gebundene Yerknüpfbarkeit der Wörter u n d ihrer Bedeutungen bedingen, u n d beschreibt auf dieser Grundlage die Typen der unfreien Wortverbände in ihrem jetzigen Zustand oder in ihrer historischen Entwicklung 2 . Die Phraseologie hat die Besonderheit, daß ihre Objekte, die unfreien Wortverbände, nach Funktion u n d Struktur heterogen sind 3 . Dabei sind die Gesetzmäßigkeiten der unfreien Verknüpfbarkeit (außer derjenigen innerhalb der klassischen Idiome sowie in Wendungen mit Folklore- oder Zitatcharakter) weitgehend durch Faktoren determiniert, die im lexikalisch-semantischen System der Sprache oder in seinen Grenzbereichen wirken — an der Grenze zwischen Wortschatz u n d Morphologie (vgl. die Realisierung der Wörter in der Strukturfunktion), zwischen Wortschatz u n d Syntax (wenn die Wörter Bauelemente sind), dort, wo die lexikalisch-syntaktischen Verknüpfbarkeitsregeln „schwächer" sind als die usuell fixierten Realisationen oder wo die semantischen Legierungen stärker sind als die lexikalische Isoliertheit der Wörter usw. Die Phraseologie ermittelt u n d beschreibt eben diese verschiedenen Restriktionsmechanismen, die von bestimmten syntagmatischen Realisationsbedingungen abhängen. Sie m u ß daher unbedingt die Faktoren für die eingeschränkte Verknüpfbarkeit der Wörter untersuchen. Sie ist in dieser Hinsicht ein die Lexikologie u n d Semasiologie ergänzender Abschnitt der Linguistik, der das W o r t u n t e r dem Aspekt seiner unfreien s y n t a g m a t i s c h e n R e l a t i o n e n untersucht. Die „Minimumeinheit" (wie Poliwanow schrieb [32, 60—61]) ist dabei das Wort unter den spezifischen Bedingungen seiner Realisation und die „Maximumeinheit" die unfreie Kombination der Wörter. Die Phraseologie hat ferner die unfreien Wort verbände als g a n z h e i t l i c h e O b j e k t e , als die p h r a s e o l o g i s c h e n E i n h e i t e n d e r S p r a c h e zu beschreiben u n d zu klassifizieren. Die Erforschung der unfreien Wortverbände soll deren strukturelle Ganzheitlichkeit, ihre Eigenschaft, fertig reproduziert zu werden, erkennbar machen. Diese Eigenschaft bildet ja die Grundlage für die CJIOBO

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„Phraseologie" meint wörtlich die Lehre von den Redewendungen (grieeh. &QaaiQ 'Ausdrucksweise'). Sie bezeichnet heute auch noch die Ausdrucksarten, die eine literarische Richtung, eine soziale Gruppe oder eine bestimmte Person kennzeichnen (vgl. die Unterscheidung zwischen Idiomatik und Phraseologie bei Reformatski [35,121—128]). Außerdem bezeichnet man mit i})pa3C0Ji0riiH im Russischen manchmal auch abgegriffene, inhaltslose Phrasen. Wir verwenden die Bezeichnungen „unfreie Wortverbände" und „Phraseologismen" als Synonyme.

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Bestimmung der unfreien Wortverbände als Einheiten der Sprache. I m Zusammenhang damit muß man die Merkmale der Phraseologizität homogen bestimmen, auch wenn die unfreien Worbverbände heterogen sind; deshalb ist für die traditionelle Phraseologie die Bestimmung ihres Umfangs besonders •aktuell.

Die Herausbildung der Phraseologie •als einer eigenständigen linguistischen

Disziplin

Die Ermittlung des Korpus der fertig reproduzierbaren Wortverbände war notwendig geworden, weil man zwischen den usuell fixierten Kombinationen mit •dem Charakter erstarrter Formeln und denjenigen Kombinationen differenzieren mußte, die gesetzmäßig und regulär im Sprechakt entstehen. Gerade so sahen Potebnja, Schachmatow, Fortunatow und Abakumow die syntaktisch und bzw. oder semantisch nichtsegmentierbaren Kombinationen. Auch Ferdinand de Saussure bestimmte die reproduzierbaren Wortverbände als Einheiten -der Sprache zum Unterschied von den in der Rede reproduzierbaren Wortverbänden : So „findet man . . . eine große Anzahl von Ausdrücken vor, die der Sprache angehören. Das sind die fertigen Redensarten, bei denen der Brauch keine Änderung zuläßt, auch dann nicht, wenn man beim Nachdenken bedeutungsvolle Teile in ihnen unterscheiden kann . . . Ebenso, z. T. vielleicht in geringerem Grad, ist es mit Redensarten . . . und Fügungen . . bei denen es sich aus den Besonderheiten ihrer Bedeutung, Form oder Zusammenfügung •ergibt, daß es sich um feststehende Gebrauchsweisen handelt. Solche Wendungen kann man nicht improvisieren, sie sind durch die Tradition dargeboten" [61, 149]. Das ausschlaggebende Kriterium dafür, daß die „fertigen Redensarten" •zu den Einheiten der Sprache gehören, ist für de Saussure ihr Charakter, feststehende Gebrauchsweisen zu sein. Die Notwendigkeit besonderer Methoden zur Erforschung der „in der Sprache fest verankerten Verbindungen" wurde zum erstenmal von Bally begründet [51], Er differenzierte auch zwischen den Reproduzierbarkeitsmerkmalen der „phraseologischen Einheiten", deren sprachstrukturbedingter Bildungsmechanismus, „bildlich gesprochen, eingerostet ist" (vgl. franz. tout de suite 'sofort' -oder ä peu pres 'etwa'), und den Merkmalen der Reproduzierbarkeit der Ebene des für die „phraseologischen Gruppen" kennzeichnenden Sprechusus (vgl. franz. remporter une victoire 'einen Sieg erringen', manière d'agir 'die Art zu handeln'). Damit waren Umfang und Aufgaben der Phraseologie als eines eigenständigen Bereichs der Sprachwissenschaft umrissen. Die Herauslösung der Phraseologie zu einer selbständigen linguistischen Disziplin hängt mit den bekannten Arbeiten von Akademiemitglied Winogradow zusammen, der in sie sämtliche „fertig" reproduzierbaren Wortverbände, die „phraseologischen Einheiten", aufnahm [7; 8]. Hier soll nicht der Inhalt dieser bekannten Arbeiten referiert, sondern nur erwähnt werden, daß Winogradow die von Generation zu Generation fertig weitergereichten, durch 379

die festgelegte Verknüpf barkeit der Wörter oder Wortbedeutungen entstandenen W o r t k o m p l e x e m i t d e n W ö r t e r n a u f G r u n d d e r R e p r o d u z i e r b a r k e i t verglich und in die Bezeichnung „phraseologische Einheit" keine bestimmte Stratifikationscharakteristik hineinlegte. Eine solche Charakteristik gab er vielmehr gerade den in strukturell-semantischer Hinsicht unterschiedlichen Typen der phraseologischen Einheiten, die er auf der Grundlage der K o r r e l a t i o n ihrer K o m p o n e n t e n mit dem W o r t als E i n h e i t der S p r a c h e definierte. Daher stehen die „phraseologischen Kombinationen" als Äquivalente von Wortverbänden deutlich den „phraseologischen Zusammenbildungen" und „phraseologischen Einheiten" als Äquivalenten von Wörtern gegenüber. Die Phraseologie als eine besondere linguistische Disziplin hat Winogradow zufolge die allgemeine Aufgabe, den „Mechanismus der Phraseologiebildung" in der Sprache zu untersuchen, die „Struktur der verschiedenen Arten von Wortbedeutungen zu erforschen, um die Kategorien zu ermitteln, die den verschiedenen Prozessen der Phraseologiebildung zugrunde liegen" [8, 48]. Das zeigte auch seine Arbeit über die Haupttypen der Wortbedeutungen [9]. Die weitere Erforschung der Phraseologismen verlief jedoch im wesentlichen so, daß die T y p e n der reproduzierbaren Wortverbände und nicht die sprachstrukturbedingten Faktoren der Phraseologiebildung, nicht diejenigen Gesetzmäßigkeiten untersucht wurden, die die unfreie Verknüpfbarkeit der Wörter bedingen. Daß die Forschung diese Richtung einschlug, dürfte dadurch zu erklären sein, daß man die Problematik vernachlässigte, die mit dem Wort als der Einheit des lexikalisch-semantischen Systems der Sprache zusammenhängt, und man das usuelle Kriterium der „fertigen Reproduzierbarkeit" als Hauptmerkmal der phraseologischen Einheiten ansah. Wegen dieses Kriteriums faßte man den Umfang der Phraseologie nicht nur in der Sowjetunion, sondern auch im Westen so breit (vgl. z. B. Man [58]). Aber bereits Ende der 50er Jahre regten Larin [23], Smirnizki [39] und Oshegow [29] eine Revision des Umfangs der Phraseologie auf der Grundlage einer Analyse des u n t e r s c h i e d l i c h e n C h a r a k t e r s d e r R e p r o d u z i e r b a r k e i t der unfreien Wortverbände an, und sie postulierten eine Phraseologie „im engeren Sinne"; die Aufgaben dieser Phraseologie seien durch das Studium der Kombinationen bestimmt, die durch ganzheitliche Nomination gekennzeichnet sind und Einheiten der Sprache darstellen, die dem Wort entsprechen. Die weitere Entwicklung der Phraseologie führte zur Herausbildung mehrerer Standpunkte je nach der Auffassung ihres Umfangs 4 . Dem verbreitetsten Standpunkt zufolge zählen zum Umfang der Phraseologie sämtliche fertig reproduzierbaren Wortverbände. Man übernimmt entweder Winogradows Klassifikation [3; 45] (mit einigen Präzisierungen) oder unterscheidet zwei Arten reproduzierbarer Kombinationen: 1. die „individuellen phraseologischen Bildungen" (Idiome, Sprichwörter, Redensarten, geflügelte 4

Wir legen hier nicht die Ausgangsposition der Autoren und die Methoden der Materialbeschreibung, aber auch nicht die Unterschiede innerhalb jeder Methode dar (Näheres unter historiographischem Aspekt an anderer Stelle [41]).

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Worte usw. sowie einige Gruppen phraseologischer Kombinationen) und 2. die „typologischen phraseologisierten Bildungen" (Kombinationen, in denen manche Glieder konstant und andere variabel sind) [21; 37; 44]. Das Korpus der reproduzierbaren Wortverbände wird als b e s o n d e r e s p h r a s e o l o g i s c h e s S y s t e m bezeichnet [3; 21; 44; 45], das verschiedene Autoren als die p h r a s e o l o g i s c h e E b e n e d e r S p r a c h e interpretieren [3; 21]. F a ß t man den Umfang der Phraseologie enger, wie es auch Amossowa t u t [1], so gehören zu ihr nur die „nichtmodellierten" Kombinationen mit absolut fixierter lexikalischer Zusammensetzung, die wenigstens eine Komponente mit unikalem semantischem Ergebnis enthält (vgl. engl, to smell a rat 'Schreckliches ahnen' red herring 'Räucherhering', mare's nest 'Schwindel', russ. 30Ji0Tan MüJioaesKB 'goldene Jugend' /iron./, pa3AejiaTt Koro-Jinßo noa opex 'sich jemanden ordentlich vornehmen'). Sämtliche Typen der ihrer Zusammensetzung nach variablen Wortverbände, deren Komponenten eine usuell gebundene Bedeutung haben, unterliegen unter diesem Gesichtswinkel der kontextologischen Analyse, d. h. man muß sie im Hinblick auf die lexikalisch-semantische Verknüpfbarkeit der Wörter untersuchen. Der semantische Inhalt der Sprichwörter und Redensarten wird aus der linguistischen Forschung überhaupt ausgeschlossen, denn sie gehören Amossowa zufolge nicht zum System der Sprache [1, 145] (analog wird der Umfang der Phraseologie in dem von Molotkow herausgegebenen „Phraseologischen Wörterbuch der russischen Sprache" bestimmt [28, 16]). Schließlich wäre noch der Standpunkt zu erwähnen [25; 26; 27] (vgl. auch Kopylenko [19]), dem zufolge zum Umfang der Phraseologie außer den idiomatischen und bzw. oder den stabilen Wort verbänden 5 (wie im siebenten Himmel, russ. 3 A K J I H T H H Bpar 'Erzfeind', T O H I I T I . JIHCLI 'schwatzen, klatschen') sämtliche Kombinationen gehören, die durch eine unfreie lexikalische Verknüpfbarkeit (von Einzelwörtern und Wortgruppen) gekennzeichnet sind 0 . Es ist zu ergänzen, daß man den Isomorphismus der lexikalischen und morphologischen Idiomatizität und Prädiktabilität erst bestimmen kann, wenn man auch die „morphologischen Phraseologismen" im Rahmen dieser Auffassung homogen beschreibt [27]. Damit werden die Umrisse der Phraseologie als der Wissenschaft von den 5

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Hier und im weiteren steht die Bezeichnung „idiomatisch" im Einklang mit der Definition von Meltschuk, der die traditionelle Auffassung dieser Eigenschaft formalisiert hat: „Ein Wortverband ist idiomatisch, wenn und nur wenn ihm wenigstens ein Wort angehört, dem hei einer Übersetzung des ganzen Verbandes ein Übersetzungsäquivalent zugeordnet werden müßte, das für das betreffende Wort nur möglich ist, wenn dieses Wort zugleich mit allen übrigen Elementen des Verbandes (in bestimmter Anordnung) vorkommt, wobei das betreffende Wort auch ohne die übrigen Elemente vorkommen kann und dann eine andere Übersetzung hat" [25, 75]. Zur Vermeidung von Mißverständnissen sei hervorgehoben, daß der Begriff „übersetzungsäquivalent" bei der Beschreibung innersprachlicher Idiomatizität gleichbedeutend ist mit dem Begriff „Synonymäquivalent", wie aus der zitierten Arbeit hervorgeht. Den Terminus „Stabilität" verwendet Meltschuk übrigens für die Prädiktabilität des einen Elements gegenüber dem anderen. Achmanowa definiert die Phraseologie als „Abschnitt der Sprachwissenschaft, der die lexikalisch-semantische Verknüpfbarkeit der Wörter einer Sprache untersucht" [5, 504],

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-unfreien Kombinationen der signifikativen Einheiten der Sprache erkennbar •{ähnlich definiert auch Janko-Trinizkaja den Umfang der Phraseologie [50])"'. Die Prinzipien für die Festlegung des Umfangs der Phraseologie und damit ihrer Aufgaben und Probleme bilden also gegenwärtig kein einigermaßen allgemeines und konsequentes System von Ansichten. Diese Verschiedenheit determinierte den Diskussionscharakter der Entwicklung und der traditionellen Problematik der Phraseologie, die im wesentlichen mit den Versuchen zusammenhängt, die unfreien Wortverbände als Einheiten der Sprache zu beschreiben, die das universelle Merkmal der Phraseologizität haben. Gleichsam im Mittelpunkt der Diskussion steht gerade die Erörterung der Hauptmerkmale der Phraseologizität (Näheres bei Iwannikowa [18]). Schmeljow schreibt: „Am sonderbarsten ist, daß die 'Phraseologie' von manchen Forschern als etwas aufgefaßt wird, das in der Sprache von selbst in seinen exakten Grenzen gegeben sei" [48, 215]. „Es wird also deutlich, daß wenn für die Bestimmung und Ansetzung •derselben Menge von Wortverbänden ganz verschiedene Merkmale gelten, die miteinander nur wenig korrelieren und die die Grenzen dieser Menge auf verschiedene Weise und in unterschiedlicher Richtung bald einengen, bald erweitern, diese M e r k m a l e entweder n i c h t g a n z e x a k t b e s c h r i e b e n w e r d e n oder der Begriff der ' P h r a s e o l o g i z i t ä t ' , wie er heute vorliegt, in s i c h w i d e r s p r ü c h l i c h i s t " [49, 441] (von uns hervorgehoben).

Der Begriff der Phraseologizität und die Prinzipien für eine Beschreibung •des Phraseologiebestandes einer Sprache Die bekannte Antinomie zwischen Sprecher und Hörer widerspiegelt sich in der unterschiedlichen Beschreibung der sprachlichen Fakten als Synthese oder Analyse. Bei der Untersuchung der unfreien Wortverbände kann man entweder von der realisierten Struktur oder von den Arten ihrer „Erzeugung" ausgehen. •Gehen wir zunächst auf die Prinzipien für eine Erforschung und Beschreibung der „traditionellen" Phraseologie ein, in deren Mittelpunkt die nach Form und Inhalt ganzheitlichen realisierten Strukturen stehen. Wir definieren hier den Begriff der Phraseologizität (oder Stabilität) ganz allgemein (wenn man von der konkreten Interpretation der Phraseologizitätseigenschaften absieht) auf der Grundlage der Stabilitätsmerkmale der lexikalisch-grammatischen Zusammensetzung der Wortverbände (innerhalb der usuell festgelegten Variabilität) und der feststehenden Zahl ihrer syntaktischen Transformationen. Die vorhin erwähnte innere Widersprüchlichkeit des Phraseologizitätsbegriffs hängt mit seiner für mehrere Arbeiten charakteristischen Interpretation als einer u n i v e r s e l l e n u n d h o m o g e n e n Eigenschaft aller unfreien 7

Vgl. Jespersens Ansicht: „Die Unterscheidung . . . zwischen den Formeln und den freien Kombinationen . . . umfaßt den ganzen Bereich der linguistischen Aktivität. Eine Formel kann ein ganzer Satz oder eine Gruppe von Wörtern, ein einziges Wort oder ein Wortteil sein, darauf kommt es nicht an" [56, 24],

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-unfreien Kombinationen der signifikativen Einheiten der Sprache erkennbar •{ähnlich definiert auch Janko-Trinizkaja den Umfang der Phraseologie [50])"'. Die Prinzipien für die Festlegung des Umfangs der Phraseologie und damit ihrer Aufgaben und Probleme bilden also gegenwärtig kein einigermaßen allgemeines und konsequentes System von Ansichten. Diese Verschiedenheit determinierte den Diskussionscharakter der Entwicklung und der traditionellen Problematik der Phraseologie, die im wesentlichen mit den Versuchen zusammenhängt, die unfreien Wortverbände als Einheiten der Sprache zu beschreiben, die das universelle Merkmal der Phraseologizität haben. Gleichsam im Mittelpunkt der Diskussion steht gerade die Erörterung der Hauptmerkmale der Phraseologizität (Näheres bei Iwannikowa [18]). Schmeljow schreibt: „Am sonderbarsten ist, daß die 'Phraseologie' von manchen Forschern als etwas aufgefaßt wird, das in der Sprache von selbst in seinen exakten Grenzen gegeben sei" [48, 215]. „Es wird also deutlich, daß wenn für die Bestimmung und Ansetzung •derselben Menge von Wortverbänden ganz verschiedene Merkmale gelten, die miteinander nur wenig korrelieren und die die Grenzen dieser Menge auf verschiedene Weise und in unterschiedlicher Richtung bald einengen, bald erweitern, diese M e r k m a l e entweder n i c h t g a n z e x a k t b e s c h r i e b e n w e r d e n oder der Begriff der ' P h r a s e o l o g i z i t ä t ' , wie er heute vorliegt, in s i c h w i d e r s p r ü c h l i c h i s t " [49, 441] (von uns hervorgehoben).

Der Begriff der Phraseologizität und die Prinzipien für eine Beschreibung •des Phraseologiebestandes einer Sprache Die bekannte Antinomie zwischen Sprecher und Hörer widerspiegelt sich in der unterschiedlichen Beschreibung der sprachlichen Fakten als Synthese oder Analyse. Bei der Untersuchung der unfreien Wortverbände kann man entweder von der realisierten Struktur oder von den Arten ihrer „Erzeugung" ausgehen. •Gehen wir zunächst auf die Prinzipien für eine Erforschung und Beschreibung der „traditionellen" Phraseologie ein, in deren Mittelpunkt die nach Form und Inhalt ganzheitlichen realisierten Strukturen stehen. Wir definieren hier den Begriff der Phraseologizität (oder Stabilität) ganz allgemein (wenn man von der konkreten Interpretation der Phraseologizitätseigenschaften absieht) auf der Grundlage der Stabilitätsmerkmale der lexikalisch-grammatischen Zusammensetzung der Wortverbände (innerhalb der usuell festgelegten Variabilität) und der feststehenden Zahl ihrer syntaktischen Transformationen. Die vorhin erwähnte innere Widersprüchlichkeit des Phraseologizitätsbegriffs hängt mit seiner für mehrere Arbeiten charakteristischen Interpretation als einer u n i v e r s e l l e n u n d h o m o g e n e n Eigenschaft aller unfreien 7

Vgl. Jespersens Ansicht: „Die Unterscheidung . . . zwischen den Formeln und den freien Kombinationen . . . umfaßt den ganzen Bereich der linguistischen Aktivität. Eine Formel kann ein ganzer Satz oder eine Gruppe von Wörtern, ein einziges Wort oder ein Wortteil sein, darauf kommt es nicht an" [56, 24],

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Wortverbände zusammen, einer Eigenschaft, die diese Wortverbände zu einem spezifischen phraseologischen System, wenn nicht gar zu einer Ebene zusammenfaßt. Die Explizierung des Phraseologizitätsbegriffs im Rahmen des Sprachsystems hängt vor allem mit der Bestimmung der reproduzierbaren Wortverbände als Einheiten der Sprache zusammen. Dieser Bestimmung liegt gewöhnlich folgende Beweisführung zugrunde: Die Einheiten der Sprache werden in der Rede nicht produziert, sondern fertig reproduziert; auch die unfreien Wortverbände werden fertig reproduziert — in der den Sprachträgern bekannten Bedeutung und lexikalisch-grammatischen Zusammensetzung, die zusammen eine autonome Struktur bilden; die unfreien Wortverbände sind also Einheiten der •Sprache, die als ein bestimmtes System auf der Grundlage der universellen Eigenschaft der Phraseologizität organisiert sind und sich von den anderen Einheiten der Sprache unterscheiden [3; 21; 44; 45]. Gehen wir näher auf die Prinzipien zur Bestimmung des „phraseologischen Systems" ein und vergleichen wir sie mit denjenigen Prinzipien, die sich aus der Bestimmung des Systems als der strukturellen Geregeltheit funktional homogener Einheiten ergeben, einer Geregeltheit, wie sie in den Oppositionsbeziehungen der Bezeichneten dieser Einheiten sowie in der Verknüpfbarkeit der Einheiten nach bestimmten Regeln sichtbar wird (vgl. Kapitel 1 des vorliegenden Bandes). Wie bereits erwähnt, bestimmt man die Einheiten eines phraseologischen Systems ohne Berücksichtigung der funktionalen Kriterien für die Bestimmung •der signifikativen Einheiten der Sprache, der Kriterien, die für die Zusammenfassung dieser Einheiten zu einem bestimmten System den Ausschlag geben: „Jede Einheit der Sprache ist vor allem durch ihre Hauptfunktion bestimmt. Die Funktion des Wortes ist in der Reihe Phonem (bedeutungsdifferenzierende Funktion), Wort (nominative Funktion), Satz (kommunikative Funktion) . . . definiert" [49, 111]. Das Merkmal, daß die Systemeinheiten strukturell ganzheitlich sind, zeigt sich so, daß die Elemente einer zusammengesetzten Einheit nicht dieselbe Funktion haben können wie die ganze Einheit. Die Phraseologieeinheiten einer Sprache sind weder funktional gleichartige Komplexe (vgl. BBepx T o p M a m K a M H 'kopfüber', K p o M e u n i a f i T M i a 'stockfinster' als funktional nominativ mit eile mit Weile, sein oder nicht sein? als funktional kommunikativ) noch in bezug auf die funktional-strukturelle Ganzheitlichkeit unzerlegbare Komplexe (vgl. die nominative Ganzheitlichkeit solcher Wortverbände wie BO BCIO MBaHOBCKyro 'wie auf dem Spieß', i i a ö i i T b pyKy 'im Griff haben' mit der selbständigen oder negativ bestimmten nominativen Einzelfunktion in den Komponenten solcher Verbände wie r j i y ß o K a n o c e H b 'Spätherbst', K p o M e u i H a a T b M a 'stockfinster', HanyTb r y ö t i 'schmollen').

Phraseologismen verknüpfen sich mit anderen Wörtern oder ebenfalls Phraseologismen nicht nach besonderen Koderegeln. Manche Typen von Phraseologismen gehen syntaktische Beziehungen „dem Sinne nach" ein, so daß die •grammatische Valenz der einzelnen Komponenten irrelevant wird und die realisierte Konstruktion, die ja formal richtig (markiert) ist, sich von dem betreffenden syntaktischen Modell isoliert (was sich in der eingeschränkten Trans383

formierbarkeit der Konstruktion äußert; vgl. russ. 3 A T K H Y T B 3a noac I T O - J I H G O 'etwas in den Busen stecken' und H T O J I I I O O aa noHeoM 'etwas im Busen' mit 3aTKHyTb 3a nonc Koro-Jiiiöo 'jemanden in die Tasche stecken' und nicht möglichem * K T O - J I H O O 3a IIOHCOJI *'jemand in der Tasche' usw.). Stützt man sich bei der Bestimmung der reproduzierbaren Wortverbände als Einheiten der Sprache auf die Stabilität ihrer lexikalisch-grammatischen Zusammensetzung, so gelangt man zu einer spezifischen Auffassung von der Korrelation zwischen den sprachsystembedingten Merkmalen der Einheiten und ihrer Realisierung in der Rede. Die virtuellen („invarianten") Einheiten eines phraseologischen Systems sind die „nach Form und Inhalt" g a n z h e i t l i c h e n b i l a t e r a l e n G e b i l d e , wie sie z. B. im Lemma eines Wörterbuchartikelserscheinen; eine aktuelle, redebedingte Einheit ist ein im Text realisierter Phraseologismus [3; 44]. Invariant sind dabei die Bedeutung und die stabilen Elemente der Form, während eine Tatsache der redebedingten Realisierung nur die variablen, variierenden Elemente der Form sind (nperpafluTt nyTt/flopory 'den Weg versperren', corayTb/cKpyTHTb B oapaimii por 'windelweich machen' usw.). So aufgefaßt, deckt sich der Begriff „virtuelle Einheit" oder „Invariante" [3; 21] natürlich mit dem sprachnormbedingten Muster der Einheit, wie es durch sämtliche von der Norm sanktionierten Realisationen der lexikalisch-grammatischen Zusammensetzung repräsentiert ist (vgl. das „Wort als Typ" und das „Wort als Glied" bei Peschkowski [31], siehe auch Gawrin [11] und Shukow [17]). Eine solche Berücksichtigung der normativen Merkmale bei der Bestimmung der Invarianz in bezug auf die Phraseologismen ist kein Zufall, denn „die stabilisierte phraseologische Einheit unterliegt stärker dem Druck der Norm als dem Druck des Sprachsystems" [46, 160], was man unbedingt beachten muß, aber kein Grund dafür sein kann, die Objekte nicht mehr durch das System, sondern durch die Norm zu interpretieren (den Unterschied zwischen beiden Auffassungen erläutert Semenjuk in Band I des vorliegenden Werkes auf den Seiten 463—464). Bestimmt man die Einheit eines phraseologischen Systems als eine ganzheitliche bilaterale Struktur in der Einheit von Form und Inhalt, so sind für die Feststellung der Systemeigenschaften der reproduzierbaren Wortverbände die allgemeinen und stabilen Merkmale ihrer Form und ihres Inhalts zugleich belangvoll. Die Folge davon ist, daß sich die globale bilaterale Einheit in ihrer stabilen Zusammensetzung zum Bezeichnenden der Einheit in deren variabler Zusammensetzung so verhält, wie die Invariante zur Variante und die Sprache zur Rede. Die Versuche, das Korpus der unfreien Wortverbände als besonderes phraseologisches System zu beschreiben, sind also mit erheblichen Abweichungen von den Hauptprinzipien der Systemmodellierung gekoppelt, von denen das wichtigste das Prinzip der funktionalen Homogenität der Einheiten ist, ein Prinzip, das seinerseits zur Voraussetzung hat, daß man die eigentlichen oppositiven, funktionalen Merkmale, wie sie der Inhaltsebene der sprachlichen Einheiten eigentümlich sind, von den nichtfunktionalen Merkmalen, den distinktiven Mitteln ihrer Ausdrucksebene abhebt (die Notwendigkeit dieser Differenzierung erläutert Arutjunowa in Band I des vorliegenden Werkes auf den Seiten 151 — 152). 384

Die Tendenz, das Korpus der unfreien Wortverbände zu einem besonderen System zusammenzustellen und dementsprechend die Phraseologizität als die differentia specifiea der Einheiten dieses System zu bestimmen, beruht unseres Erachtens darauf, daß man offenkundig oder verschleiert den A s p e k t d e r U n t e r s u c h u n g der sprachlichen Fakten mit ihrer O r g a n i s a t i o n a l s S y s t e m e b e n e , also den Begriff der linguistischen Disziplin und ihrer Einheiten mit dem Begriff eines bestimmten Sprachsystems und seiner Einheiten verwechselt. Der Phraseologiebestand einer Sprache ist zweifellos in bestimmter Weise nach den Merkmalen der Gleichheit und Verschiedenheit gegenüber den Strukturen, die auf der Grundlage der Einheiten des lexikalisch-semantischen Systems der Sprache gebildet sind, gegenüber den Wortverbänden und Sätzen, gestaltet. Die Phraseologismen füllen gleichsam den „ R a u m " zwischen dem Wort als einer nominativen Einheit und dem Satz als einer kommunikativen Einheit aus; auf der einen Seite stehen die Wörter, Idiome, unfreien Wortverbände mit synthetischer Bedeutung (wie russ. öenbiß xjieS 'Weißbrot', HaBecTii cnpaBKii 'Erkundigungen einholen') sowie die unfreien Wortverbände mit analytischer Bedeutung (wie copBaTb 3Jio 'seine Wut auslassen', ÖVKBEL 3aK0Ha 'der. Buchstabe des Gesetzes') und auf der anderen Seite die unfreien Wortverbände mit prädikativer Struktur (wie K0Tea0K BapiiT 'ist auf Draht') sowie Satzgefüge (ivo gehobelt wird, fallen Späne). Dabei deckt sich für die Phraseologismen die „Grenze" in bezug auf die Funktion nicht unbedingt mit der „Grenze" in bezug auf die syntaktische Struktur (vgl. die der Funktion nach nominativen Wortverbände Kypti He KJIIOIOT 'jede Menge", B I I ^ A N BIIFLHI 'allerhand gesehen haben' usw.). Die Phraseologismen verteilen sich also auf die einzelnen Glieder des lexikalisch-semantischen Systems, bilden aber kein besonderes System in der Sprache. Mit der Bestimmung der unfreien Wortverbände als Einheiten des phraseologischen Systems hängen auch eng die Versuche zusammen, diese Einheiten zu einer besonderen „phraseologischen Ebene" der Sprache zu erheben. Die Grundlage für die Ebenenmodellierung der Phraseologismen bildete die Bestimmung ihrer Struktur als einer hierarchisch angeordneten Gesamtheit von Elementen verschiedener Ebenen. Archangelski zufolge entstehe „jede Einheit der phrasologischen E b e n e . . . auf der Grundlage von Einheiten der nächstgelegenen hierarchischen Ebenen, die zum Wort gehören und mit seiner Erscheinungsform zusammenhängen . . . Der Platz der phraseologischen Ebene in der Ebenenhierarchie des . . . Sprachsystems ist dadurch bestimmt, daß die Glieder einer phraseologischen Einheit Einheiten von vier miteinander verbundenen Ebenen sind — der lexikalischen, der morphologischen (formbildenden), der syntaktischen und der semantischen Ebene" [3,99] (analog behandelt das Problem der Ebenenmodellierung der Phraseologismen auch Kunin [21]). Eine besondere phraseologische Ebene kennzeichnen außer den erwähnten Merkmalen Restriktionen in der Wahl der variablen Strukturelemente des Phraseologismus. Diese Restriktionen ermittelt man, wenn m a n die Beziehungen zwischen den Elementen ein und desselben hierarchischen Zustands oder benachbarter Zustände in der Struktur eines Phraseologismus mit den Bezie385

hungen in der S t r u k t u r seines „theoretisch möglichen freien Äquivalents" vergleicht. Durch einen solchen Vergleich stellt m a n besondere, an H a n d k o n k r e t e r Elemente bestimmbare Abhängigkeitstypen f e s t : die wechselseitige D e t e r mination, wenn ein Glied ein anderes „voraussetzt" und u m g e k e h r t ; die einseitige Determination, wenn ein Glied ein anderes „voraussetzt" u n d nicht umgek e h r t ; die Indertermination, wenn kein Glied ein anderes „voraussetzt" (vgl. die diesen Definitionen zugrunde liegenden, von Hjelmslev eingeführten Begriffe der wechselseitigen Abhängigkeit, der Determination und der Konstellation [53]). So fungiert z. B. in der Wortgruppe unauslöschlicher Eindruck die K o m ponente unauslöschlich auf der lexikalischen S t r u k t u r " e b e n e " als stabiles Glied der Abhängigkeit, denn sie setzt die K o m p o n e n t e Eindruck voraus, nicht a b e r umgekehrt, weswegen die letzte K o m p o n e n t e als variabel gilt; in der russischen Wortgruppe CKpenH cepjme 'sich ein Herz nehmend' ist das stabile Glied auf der syntaktischen Struktur„ebene" die Wortform cnpenn, die die Realisierung der W o r t f o r m cepfliie voraussetzt usw. Die stabilen Elemente, die zu Abhängigkeitsgliedern in den verschiedenen hierarchischen Strukturzuständen der Phraseologismen „zusammengezogen" sind, gelten als Invarianten der phraseologischen Ebene u n d die Eigenschaft der Restriktionen in der Wahl der variablen S t r u k t u r elemente als distinktives Merkmal der Einheiten dieser Ebene. Die phraseologische Ebene wird also auf Grund der besonderen Merkmale d e r Integration der Elemente zu einer komplizierteren Einheit angesetzt. Aber d a s f ü r die Ebenenmodelle der Sprache fundamentale Kriterium der funktionalen Umkodierung der Einheiten einer niedrigeren Ebene in Elemente der Einheit einer höheren Ebene (vgl. Kapitel 2 des vorliegenden Bandes, S. 82) wurde der Postulierung einer phraseologischen E b e n e nicht zugrunde gelegt. Die komplizierten Einheiten bilden n u r d a n n eine besondere Ebene, wenn die Elemente, wie Prieto schreibt, „in der betreffenden Sprache Gruppen bilden, u n d zwar solche, daß m a n sie ais ein Ganzes vom f u n k t i o n a l e n S t a n d p u n k t aus betrachten muß, von der Art, d a ß sie außerhalb dieser Gruppen keine reale Existenz h a b e n " [60, 47]. Erläutern wir das an H a n d konkreter Beispiele. Die lexikalischen K o m ponenten der meisten unfreien Verbände, die der phraseologischen Ebene zugeordnet werden, haben eine nominative F u n k t i o n , wie sie auch den W ö r t e r n als Einheiten der „tiefer liegenden" Ebene eigentümlich ist (obwohl f ü r b e s t i m m t e Typen von Praseologismen kennzeichnend ist, d a ß der einzelne nominative Wert der K o m p o n e n t e n „gebunden" realisiert wird). I s t aber ein Verband der Elemente nicht durch eine besondere, qualitativ verschiedene F u n k t i o n gegenüber derjenigen gekennzeichnet, die diese Elemente haben, so h a t m a n auch keinen Grund, einen solchen Verband f ü r die Einheit einer besonderen Ebene zu halten: E r m u ß als Verband von Einheiten derjenigen Ebene gelten, der seine Komponenten angehören. So h a t z. B. in Phraseologismen wie russ. 3JIO ö e p e T 'es p a c k t einen die W u t ' oder 6 e 3 t i c x o n H o e O T i a H H i i e 'ausweglose Verzweiflung' jede Komponente eine nominative Funktion, manifestiert aber die Wortform ßepeT die lexikalisch gebundene Bedeutung 'ergreift' (nur bei den W ö r t e r n 3JIO ' W u t ' , C T p a x 'Angst', y?Kac 'Grauen', C M e x 'Lachen' u n d einigen anderen), während die Phraseologizität der Komponente 6e3LicxoHHoe nur durch ihre begrenzte Verknüpf barkeit (mit den Wörtern T O C K a 'Schwermut', nenaai» 386

'Trauer', rope 'Schmerz' usw.) bedingt ist. Noch weniger begründet dürfte essein, wenn man die Sprichwörter und geflügelten Worte mit Hilfe der Ebenenmodellierung interpretiert, denn die spezifische Bedeutung ihrer Komponenten, nämlich ihr übertragen-verallgemeinerter Sinn, ist durch den traditionellmetaphorischen Inhalt dieser erstarrten Wendungen determiniert, der a u ß e r h a l b der innersprachlichen semantischen Kategorien entsteht. Und da schließlich die Idiome in bezug auf die nominative Funktion Wortäquivalente sind, beruht ihre Zusammenfassung zu einer besonderen phraseologischen Ebene auf rein formalem Vorgehen auf Grund der Gegliedertheit und begrenzten Wahl, der variablen Elemente), so daß die strukturelle Spezifik der Idiome verblaßt. I n den Idiomen entspricht die Korrelation zwischen der „konstitutiven" und der „integrativen" Funktion der Elemente der Korrelation zwischen den Teilen und dem Ganzen in den ententymologisierten Wörtern (vgl. russ. 3axBaT 'Ergreifung' mit yxBaT 'Topfgabel' oder BLina^ 'Ausfall' mit aanaa 'Westen'): Die einen und die anderen sind nicht nach den Regeln der Ebenenintegration, sondern im Widerspruch zu ihnen gebildet, wodurch ja erst die Idiomatizität entsteht (Näheres auf den Seiten 417—420). Setzt man eine phraseologische Ebene an, so berücksichtigt man auch ein anderes Kriterium der Ebenenmodellierung nicht, daß nämlich die Einheiten einen Text bilden können, der sich qualitativ von dem Text unterscheidet, d e r aus Einheiten einer anderen, selbst der nächsten Ebene besteht. Obwohl fast sämtliche Phraseologismen als stilistisch expressiv gekennzeichnet sind, haben sie nicht so spezifische funktionale Eigenschaften und Verknüpfbarkeitsregeln, daß sie einen Text bilden könnten, der in bezug auf die Inhaltsebene anders wäre als ein Text, der aus Wörtern als Einheiten des lexikalisch-semantischen Systems der Sprache besteht. Die besondere „phraseologische Ebene" beruht also auf der Stabilität der Elemente und der Beschränkung in der Wahl der variablen Elemente im Wortschatz und in der grammatischen Struktur der reproduzierbaren Wortverbände, d. h. im Grunde auf den Ausnahmen aus den allgemeinen Regeln der lexikalischsyntaktischen Verknüpfbarkeit der Wörter. Damit beruht auch das Prinzip, das einer phraseologischen Ebene zugrunde gelegt wird, auf Ausnahmen aus diesen allgemeinen Regeln. Die Methode zur Analyse der reproduzierbaren Wortverbände in bezug auf ihren Unterschied von den freien Verbänden entspricht zweifellos der „Exklusivität" der reproduzierbaren Verbände, denn eine Zwischenerscheinung wird gewöhnlich als Verletzung irgendwelcher system- und ebenenbedingten (lexikalischen und bzw. oder grammatischen) „Koordinaten" eines sprachlichen Gebildes und speziell davon bestimmt, daß „in der Sprache konkrete Wörter verankert sind, aber nicht konkrete Verbände, sondern nur Formeln für diese" [49, 398]. Zweifellos sind die Ausnahmen von den allgemeinen Regeln in diesem oder jenem Maße durch spezielle Gesetzmäßigkeiten bedingt, doch lassen sich diese kaum in den Rang einer Ebene erheben. Die Beschreibung des Korpus der unfreien Wortverbände als einer besonderen Ebene widerspricht der Eigenschaft, daß sie der Ebenenorganisation der Sprache gegenüber peripher sind (siehe Kapitel 2 des vorliegenden Bandes, S. 88). Die Methoden zur Erforschung der System- und Ebeneneigenschaften d e r 38T

Phraseologismen in den angeführten Konzeptionen beruhen vor allem auf der Ermittlung und Beschreibung der Phraseologizitätsmerkmale in der „Oberflächenstruktur" der unfreien Wortverbände, d. h. in der realisierten Konstruktion. Außerdem beruht die Untersuchung der Probleme der lexikalisch-semantischen Organisation der unfreien Wortverbände hier auf der Auffassung, daß diese Verbände autonome Einheiten sind, sowie auf der Methode der Analyse ihrer semantisch isolierten Strukturen. Deshalb ist in diesen Konzeptionen die Feststellung, daß die Phraseologismen anderen Verknüpfbarkeitsgesetzmäßigkeiten unterliegen als die Einheiten des lexikalisch-semantischen Systems der Sprache, das führende und erschöpfende Prinzip für die Beschreibung der unfreien Wortverbände. Die Ermittlung des Zusammenhangs zwischen dem „phraseologischen System" und dem lexikalisch-semantischen System läuft gewöhnlich darauf hinaus, daß man die Äquivalenz zwischen den Wörtern und den Phraseologismen an Hand der Merkmale der grammatischen Kategorien (in bezug auf die Wortarten) feststellt und die lexikalisch-semantische Synonymie und „phraseologische Derivation", d. h. die Erweiterung des Wortschatzes der Sprache durch Wortbildung auf der Grundlage von Phraseologismen oder durch die Entstehung von Homonymen auf dieser Basis, beschreibt [44; 116— 185; 45, 1 7 8 - 1 9 2 ] . Festzustellen aber, daß die gebundene Verknüpfbarkeit durch die Systemorganisation des Wortschatzes selbst bedingt sei, ist keine Aufgabe der Phraseologie mehr. Auch die Trennung der Problematik der traditionellen Phraseologie von der Problematik des Wortes als der Einheit des lexikalisch-semantischen Systems der Sprache bestimmt weitgehend die bereits erwähnten XJngenauigkeiten der Beschreibung. Das betrifft auch die Interpretation der Bedeutungen der Idiomkomponenten nicht nach ihrer Geltung innerhalb der Einheit, sondern in bezug auf die historische Identität des Wortes (vgl. Definitionen wie „abgeschwächte Bedeutung", „metaphorische oder bildhafte Bedeutung", Bedeutung „mit nur schwach angedeuteter Motiviertheit", „dunkler und unbestimmter Sinngehalt" usw. [1; 7 ; 17; 44]). Die unpräzise Systembestimmung der Idiomkomponenten beeinträchtigt insbesondere die Identifizierung der Idiomvarianten (vgl. die als „Struktursynonyme" aufgefaßten Varianten wie engl. to putjto set/to turn the clock back 'das R a d der Geschichte zurückdrehen' [ 2 2 , 1 2 5 1 ] oder die Bestimmung solcher Varianten wie ycrajiaTt. ijBeTaMii/ycHnaTb po3aMH Heft-jinSo nyTb 'jemandem den Weg ebnen' als „synonymische Variant e n " [11] und die Beschreibung der Varianten wie cecTb B Kaaoray/ß Jiytfiy 'in der Patsche sitzen' als Synonyme [38], was Auswirkungen auf das Idiominventar hat). Außerdem spricht die Bestimmung der Bedeutungen der Komponenten mit Hilfe des Bildhaftigkeitsbegriffs mit dafür, die Sprichwörter und geflügelten Worte als Einheiten der Sprache aufzufassen, denn dann läßt sich die Stabilität solcher Gebilde durch die „semantische Umgestaltung der Komponentenwörter" erklären, obwohl in solchen Verbänden der Gebrauch des Wortes im metaphorischen K o n t e x t und nicht die eigentliche metaphorische Bedeutung des Wortes feststehen dürfte (vgl. z. B . russ. cyxan jioJKKa poT flepfrr 'man muß / m i t Trinkgeldern/schmieren' oder JIMOBJI Bce B03pacTH NOKOPHH 'für die Liebe 388

ist man nie zu alt', wo keine einzige Komponente an sich irgendeine bildhafte Bedeutung hat). Die Trennung von der lexikalisch-semantischen Problematik zeigt sich aber am krassesten bei der Beschreibung der „phraseologisch gebundenen" (so Winogradow) Bedeutungen losgelöst vom System der Bedeutungen des polysemen Wortes, ohne Orientierung auf die Erforschung der Gesetzmäßigkeiten der Entwicklung und des Funktionierens der Wortbedeutungen unter den Bedingungen ihrer durch den Kontext oder die Konstruktion fixierten Realisationen (vgl. in diesem Zusammenhang Winogradows Bemerkung: „Um ein polysemes Wort herum gruppieren sich mehrere phraseologische Serien. Die meisten Bedeutungen der Wörter sind phraseologisch gebunden" [9, 17]). Die Folge von allem ist eine atomistische Beschreibung der „gebundenen" Bedeutungen einerseits und ihre sehwache Differenzierung andererseits. So gelten als Wörter mit phraseologisch gebundenen Bedeutungen sowohl CKajiHTb 3y0H '(die Zähne) fletschen' als auch pe3aTb CJiyx, yxo, rjia3 '(in den Ohren) gellen, (in die Augen) stechen', xJieÖHyTb ropa '(Leid) erfahren', HaBecTii KpuTHKy, nopHftOK '(Kritik) üben, (Ordnung) schaffen' [14]. Beschreibt man aber die gebundenen Bedeutungen der Wörter unter dem Gesichtspunkt ihrer Systemkoordinaten, so stellt man im Charakter dieser Bedeutungen einen prinzipiellen Unterschied fest (s. S. 405-411, 420-423). Die Merkmale der Phraseologizität werden also in den meisten Phraseologiekonzeptionen unter dem Aspekt einer Analyse der unfreien Wortverbände, d. h. von Seiten ihrer Bezeichnenden her bestimmt. Gerade die Gesetzmäßigkeiten der Verknüpfung der Wörter auf der Ebene der Lexeme, d. h. der Bezeichnenden der Wörter, wurden, wie Gak schreibt, „zum Gegenstand eingehender Untersuchungen in der sowjetischen Linguistik und ließen eine ganze Disziplin der Sprachwissenschaft, die Phraseologie, entstehen" [13, 136—137]. Der entgegengesetzte Aspekt in bezug auf das Phraseologizitätsproblem — die Erforschung der Gesetzmäßigkeiten der Verknüpfbarkeit der Wörter „auf der Ebene" der B e z e i c h n e t e n — deutet sich innerhalb der sprachlichen Synthesemodelle an, die die Entstehung einer Äußerung erhellen sollen (Näheres über diese Modelle bei Gak [12]). J e nachdem, von welchen Daten man bei der Synthesemodellierung der sprachlichen Fakten ausgeht, gibt es drei verschiedene Lösungen des Problems der unfreien Verknüpfbarkeit. Weinreich [63], dessen Phraseologiekonzentration den Ideen der generativen Grammatik Chomskys ähnelt, geht von der sprachlichen Form aus. Er untersucht die unfreien Wortverbände als ein Ergebnis des Übergangs der einen Form in die andere (Text -> Text), indem er die Merkmale der Kontextstruktur ermittelt, die die semantische Umwandlung der Bezeichneten widerspiegeln. Die „Erkennungsmerkmale" der unfreien Verbände gleichen denen, die auf der Grundlage einer kontextologischen Analyse und der Methode der Restriktion in der Auswahl der variablen Glieder bestimmt werden [1; 3, 243f.], worauf Weinreich selbst hinweist [63, 45]. Diese Kontinuität beruht darauf, daß die Ausgangsdaten bei allen drei Methoden konkrete Wortverbände sind. Weinreich konzentriert sich aber auf die Erforschung der Gesetzmäßigkeit der „Erzeugung" der unfreien Verbände, daher untersucht er die semantische Determiniertheit 26

Serebrennikow I I

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der sprachlichen Form, indem er die Gesetzmäßigkeiten aufspürt, die beim Transponieren des einen semantischen Inhalts in einen anderen wirken. Weinreich untersucht die unfreien Verbände in mehreren Operationen. Ganz allgemein gesagt, vergleicht er die realisierten Wortverbände mit ihrer Transformationsentsprechung von der Form zur Funktion und wieder zurück zur Form. E r schreibt zunächst den unfreien Verband in Terminalketten nieder (d. h. in den Symbolen der konkreten Wortformen) und bestimmt, aus welchen semantischen Komponenten die Bezeichneten in ihren resultierenden „Nebensinngehalten" (subsenses) bestehen, d. h. in den Bedeutungen, die sich durch die kontextbedingte semantische Spezialisierung des Wortes ergeben. Dann stellt er die Beziehung der Derivation bzw. Nichtderivation der im unfreien Wortverband realisierten Nebensinngehalte gegenüber dem Gebrauch der „absoluten" Sinngehalte, d. h. der im Lexikon fixierten Bedeutungen, als Polysemie fest. Ein Verband ist unfrei, wenn die ganze Konstruktion eine andere „Funktion" (Bedeutung) erhält als diejenige, die man nach den Regeln der „Zusammenfügung der Nebensinngehalte" erhält, wie sie durch Wörterbuch und Grammatik sanktioniert sind (vgl. Bar-Hillells bekannte Bestimmung der Relativität der Idiomatizität [52, 192]). Unfreie Verbände sind Weinreich zufolge dann idiomatisch, wenn man drei Faktoren registriert, die die Wahl der „Nebensinngehalte" beschränken: wenn sich die Nebensinngehalte des im unfreien Verband realisierten Wortes und der Sinn des Wortes in seinem freien Gebrauch komplementär verteilen, die Wahl durch ein unikales Kontextmorphem determiniert ist und die Kontextwahl zwei Richtungen hat [63, 4 0 - 4 2 ] . Ein Beispiel für die „maximale Dreiheit" ist engl, red herring in der Bedeutung 'phony issue' (Ablenkungsmanöver). Ordnet man den Nebensinn 'phony' (wörtlich 'falsch, gemacht') dem Adjektiv red und die Bedeutung 'issue' (wörtlich 'Ende, Ergebnis') dem Substantiv herring zu, so hat die Wahl der Nebensinngehalte, wie Weinreich schreibt, zwei Richtungen, stehen sie in komplementärer Distribution, sind beide Bezeichnende für die Realisierung dieser Nebensinngehalte kontextbedingt unikal [63, 42J (Amossowa definiert solche Verbände als Idiome, Schmeljow als derivationsgebundene Verbände und Archangelski als Verbände mit wechselseitiger Abhängigkeit auf der semantischen Ebene bei einem Nebeneinander auf der lexikalischen Ebene). Ein Beispiel für die „minimale Dreiheit" ist der unfreie Verband red herring 'Räucherhering', wo die resultierende Nebenbedeutung „smoked and cured with Salpeter' mit white (herring) kontrastiert; die Wahl des Bezeichnenden 'red' mit diesem Nebensinn ist durch das für die Realisierung dieser Bedeutung kontextbedingt unikale Wort herring determiniert ('red' herring): für keine einzige Benennung von Räucherwaren wird dieser Nebensinn von 'red' realisiert (Amossowa bezeichnet solche Wortverbände als Phraseme, Schmeljow als paradigmatisch gebundene Verbände und Archangelski als Verbände mit einseitiger Determination auf der semantischen Ebene). Weinreich bezeichnet jeden Ausdruck, „in dem mindestens eine Komponente polysem und die Wahl eines Nebensinns durch den verbalen Kontext determiniert ist", als phraseologische Einheit. „Eine phraseologische Einheit mit mindestens zwei polysemen Komponenten und einer reziproken kontext-

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bedingten Selektion der Nebensinngehalte" ist ein Idiom. „Ausdrücke, die keine phraseologischen Einheiten sind, sind freie Konstruktionen." Bei red herring handelt es sich einmal um eine freie Konstruktion ('blutroter Hering') und um zwei phraseologische Einheiten, von denen eine ein Idiom ist ('Ablenkungsmanöver') [63, 42]. Somit gilt in dieser Konzeption der Übergang von der einen Form zur anderen als spezifische Transformation der ersten, so daß man die Transformationen zu zählen versucht, die es beim Ausdrücken eines bestimmten Inhalts, auch eines idiomatischen, geben kann. Im Sprachmodell „Sinn — Text" [16; 26] geht man bei der Beschreibung der unfreien Verknüpfbarkeit vom Sinn aus und untersucht man, wie bestimmte abstrakt-verallgemeinerte Sinngehalte in der betreffenden Sprache ausgedrückt werden. Der semantische Untersuchungsaspekt gestattet die Aufstellung der Liste sämtlicher Arten für den Ausdruck eines verallgemeinerten Sinns, wenn man die Äquivalenz der Ausdrucksmittel innerhalb der Synonyme feststellt; geht man vom Sinngehalt aus, so kann man auch die normative Wahl der Ausdrucksmittel im jeweiligen lexikalischen Kontext fixieren. Die Prinzipien für eine solche Untersuchung der unfreien Verknüpfbarkeit wurden schon von Bally umrissen, der mit Hilfe von „Gruppen mit verstärkendem Attribut" die Äquivalenz der Bezeichneten verschiedener Wörter bestimmte, die bei bestimmten „Grundwörtern" ein und denselben verallgemeinerten Sinn realisieren (vgl. franz. chaleur suffocante, accablante, tropicale, torride, sene'galienne 'eine stickende, erdrückende, tropische, glühend heiße, afrikanische Hitze' usw.). Gerade solche verallgemeinert-abstrakten Sinngehalte, die in der betreffenden Sprache immer oder fast immer phraseologisch gebunden ausgedrückt werden, setzten Sholkowski und Meltschuk an [16; 26]. Zur Illustration einer solchen Behandlung der unfreien Verknüpfbarkeit seien einige Beispiele angeführt. So realisieren die Verbände HaBecTii nopa«OK (TimiHHy usw.) 'Ordnung (Ruhe usw.) schaffen', HaHecTii nopajKeime (oÖHjiy usw.) 'eine Niederlage (Beleidigung usw.) beibringen', npon3Becrii BneiaTjieHne 'Eindruck machen' u. a. den semantischen Inhalt 'so tun, daß das durch die Nominalkomponenten Bezeichnete eintritt', die Verbände CMepTejibHUM, JIIOTHÜ Bpar 'tödlicher, erbitterter Feind'; Sojibiiroft, 3HaiHTejibHbiif, öuecTHmiifl,

orpoMHbift,

HCKJiioHHTejibHHö,

noTpHcaiomiiii, CHorcuiußaTejib-

ycnex 'großer, bedeutsamer, glänzender, riesiger, außerordentlicher, beeindruckender, überwältigender Erfolg'; orposiHtift, noTpncaiomiiH, KOJIOCcajibHHÖ, ywacHHÜ, /KyTKnii npoBaji 'großer, erschütternder, kolossaler, schrecklicher, erbärmlicher Reinfall' usw. die Kombination der Bezeichneten 'Feind + sehr', 'Erfolg + sehr' usw. 8 (vgl. cjiaßasj HafleiKjja 'schwache Hoffnung', }KH«Kiie anJiOflHCMeHTH 'mäßiger Beifall', JKaimoe onpaBflamie 'klägliche Rechtfertigung', CKyjjHan nniqa 'karge Nahrung' usw., wo die HHII

8

„Die Ausdrücke des betreffenden Parameters bei dem betreffenden Wort brauchen keineswegs absolut äquivalent und gegeneinander austauschbar zu sein. Sie können nach dem Stil, dem Grad (orpoMHHfi 'riesig' > ÖOJILIHOH 'groß' bei NPHBET 'Gruß'), nach der inneren Form usw. verschieden sein, zulässig sind auch manche semantischen Verschiedenheiten" [26, 59, Fußnote 1].

391

Attribute das Gegenteil von 'sehr' bezeichnen). Diese lexikalisch freien (Meltschuk sagt: nichtidiomatischen und labilen) Wortverbände haben das Besondere, daß in ihnen „'gebunden' (nichtprädiktabel) mit Hilfe 'unerwarteter' Wörter . . . Kombinationen von Sinngehalten entstehen, von denen jeder außerhalb der Kombination seine durchaus bestimmten Formen (Bezeichnende) hat" [26, 56]. Die durch solche gebundene Bezeichnende repräsentierten Bezeichneten sollten s e m a n t i s c h e P a r a m e t e r heißen: „Das Bezeichnete als Parameter kann man sich als Funktion im mathematischen Sinne vorstellen: Das Schlüsselwort ist ihr Argument, und das Bezeichnende (oder die Bezeichnenden), das (bzw. die) dem betreffenden Argument entspricht (entsprechen), sind ihre Bedeutungen (values). Solche Bedeutungen können Wörter, morphologische Mittel (Affixe) und ganze Wortverbände sein" [26, 58] 9 . Sämtliche angeführten Beispiele sind parametrische Verbände. Sie enthalten auch „normale" phraseologische Verbände neben Verbänden (wie /Knnitne anjiOflHCMeHTH 'schwacher Beifall' oder SOJIBIIIOH ycnex 'großer Erfolg'), die gewöhnlich als frei gelten (vgl. jedoch unmögliches *rycTHe anjiofliiCMeiiTLi *'dicker Beifall' oder *6ojibinoii, orpoMHHii npoBaji *'starker, riesiger Reinfall'). Die dargelegte Behandlung des Phraseologizitätsproblems hat die wesentliche Besonderheit, daß sich die „implizit unfreien Verbände" ermitteln und beschreiben lassen [26, 59]. Die Begriffe „semantischer Parameter", „Idiomatizität" und „Stabilität" (Prädiktabilität) widerspiegeln die im Prinzip unabhängigen Merkmale der unfreien Wortverbände, die sich jedoch überschneiden können. So gibt es unter den parametrischen Verbänden solche mit lexikalischer Prädiktabilität wie Magn (TBMa) = KpoMeniHaH ('ägyptische Finsternis"); Magn (cnan.) = 6ecnpo6yßHO ('fest schlafen'); Caus (flOBepne) = oßjie^B ('Vertrauen entgegenbringen'), Verbände mit idiomatischen Gliedern wie Son (KpHK) = iia^aTf, ('einen Schrei von sich geben'), Magn (cnaTb) = 6e3 3aflHnx Hör ('ganz fest schlafen'), Magn (BOopynteHHHß) = 30 3y6oB ('bis an die Zähne bewaffnet'), Magn (ßypaK) = KpyrjiHö, HaÖHTbiü ('ausgemachter Dummkopf') u. a. Übrigens kann man Verbänden wie 30Ji0TaH MOJionejKb oder engl, old sali 'alter Seebär' nur individuelle Parameter zuschreiben, weil die Komponenten 30Ji0TaH und salt in diesen Wortgruppen stark idiomatisch sind. Die parametrischen Verbände machen also „die meisten Phraseologismen einer Sprache aus und decken im wesentlichen den Bereich ab, der den unklaren Status der 'lexikalischen Verknüpfbarkeit' hat" [26, 61]. Führt man die semantischen Parameter ein, so kann man die Gesetze der lexikalisohen Verknüpfbarkeit auf neue Weise studieren. Die Verwendung der semantischen Parameter als eines spezifischen lexikographischen Fragebogens für ^ das Schlüsselwort bietet die Möglichkeit, den Praseologiebestand einer Sprache sowohl bei seinem Kennen- und Beherrschenlernen als auch beim richtigen Gebrauch der Sprache zwecks Wiedergabe eines bestimmten Sinns 9

Bisher sind mehr als 50 Parameter bestimmt. Sie und ihre Kombinationen werden mit lateinischen Abkürzungen bezeichnet, z. B. Magn 'sehr', Caus 'so tun, daß wird', Son 'typischer vom Subjekt der Situation hervorgebrachter Laut', Anti Magn 'unbedeutend' usw.

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in den Wörterbüchern ziemlich vollständig zu erfassen. Daher hat die Phraseologie neben der weiteren Bearbeitung ihrer traditionellen Problematik auch die aktuelle Aufgabe, „solche Sinngehalte (Bezeichnete), f ü r deren sprachliche Gestaltung die begrenzte lexikalische Verknüpfbarkeit am charakteristischsten ist, d. h. deren Bezeichnende gewöhnlich phraseologisch gebunden sind, also die semantischen Parameter zu ermitteln und zu untersuchen" [26, 63—65]. Zu dieser Aufgabe gehört auch die Präzisierung und Systematisierung der semantischen Verschiedenheiten innerhalb desselben Parameters [26, 64], die typische semantische Oppositionen innerhalb recht allgemeiner parametrischer Sinngehalte ausmachen können. Vgl. z. B. vom Wort O Ö H C K 'Durchsuchung' Magn 0 = TmaTejibHHH 'sorgfältig", npoflOJiJKHTejibHHfi 'lang', MHoronacoBoft 'mehrstündig', wo die Handlung selbst gekennzeichnet wird; Magn x = MaccoBiie 'Massen-', noBajibHhie 'allgemein', wo das Handlungsobjekt, nämlich: 'viel Durchsuchte' charakterisiert wird; Magn 2 = ycepjjHHÜ 'eifrig', wo der Handlungsausführende gekennzeichnet wird usw. [26, 63—65] (vgl. auch Ubin [42]). Dieser Untersuchungsaspekt läßt aber viele spezifische Eigenschaften der Bezeichneten der Wörter, die semantische Parameter ausdrücken, unberücksichtigt. So wird bei der Beschreibung der unfreien Wortverbände als parametrisch das Schwergewicht auf die Ermittlung der abstrakten Sinngehalte und der Arten ihres Ausdrucks durch die Bezeichnenden der Wörter gelegt ohne Rücksicht auf die Unterschiede, die die individuellen Bedeutungen der Wörter der konkreten Bedeutung der einen oder anderen parametrischen Verbände beilegen, worauf die Autoren selbst hinweisen (vgl. Fußnote 8 auf S. 391). Für eine vollständige Beschreibung der unfreien Verbände, die die Feststellung ihrer strukturell-semantischen Typologie zur Voraussetzung hat, dürfte auch die Einbeziehung der Daten über den lexikalisch-semantischen Wert der zu parametrischen Verbänden gehörenden Wörter erforderlich sein. I n dem Modell „Situation — Text" geht man von der Situation aus, die als eine Invariante synonymischer Äußerungen innerhalb eines allgemeinen Inhalts gilt, als eine Invariante, die die denotative Hauptfunktion des Inhalts in bestimmten sprachlichen Formen widerspiegelt. Die Forschung soll die Arten untersuchen, wie die Benennungen der Situationen und ihrer Elemente in den konkreten Sprechakten gestaltet werden (vgl. Gak [12, 20]). Dieses Modell soll nicht nur Sämtliche Arten, dieselbe Bedeutung auszudrücken, ermitteln und die Korrelation zwischen diesen Ausdrücken feststellen, sondern auch „die Gesetzmäßigkeiten der Auswahl der konkreten sprachlichen Mittel aus der Zahl derjenigen feststellen, die das System und die Norm der Sprache im jeweiligen Kontext und in der jeweiligen Situation zulassen" [12, 16]. Die Erforschung der unfreien lexikalischen Verknüpfbarkeit unter dem Aspekt der Theorie der Nomination erhellt eine weitere Perspektive für die Untersuchung der unfreien Verknüpfbarkeit bei einem Vergleich der außersprachlichen Ordnung der Gegenstände, Erscheinungen usw. mit ihrer innersprachlichen Organisation und damit auch mit der Organisation der Wörter zu bestimmten lexikalisch-semantischen Gruppen [13, 488]. So schreibt Gak über die analytischen Verbstrukturen: „Mit ein und demselben Substantiv lassen sich Verben 393

unterschiedlicher Sinnfelder verknüpfen, wobei sich die allgemeine kategoriale Bedeutung der analytischen Struktur ändert. So entsteht ein p h r a s e o l o g i s c h e s P a r a d i g m a , das bis zu einem gewissen Grade mit dem morphologischen Paradigma vergleichbar ist. Vom morphologischen Paradigma aber unterscheidet sich das phraseologische durch eine größere Vielfalt der für den Ausdruck einer analogen Bedeutung verwendeten Mittel und vor allem durch U n v o l l s t ä n d i g k e i t , weil bei weitem nicht alle möglichen Verbände realisiert werden'' [13, 493]. Als Beispiel für ein phraseologisches Paradigma, das eine Vorstellung „von der ganz allgemeinen Orientierung in der elementaren Sprachgewalt" gibt, kann der folgende Ausschnitt aus einer Tabelle mit einem Vergleich der französischen und russischen analytischen Verbstrukturen der „aktiven Handlung" dienen (Gak hat auch andere Typen analytischer Strukturen beschrieben): Schlüsselwörter

embarras 'schwierige Lage' pauvreté 'Armut, Elend' prison 'Gefängnis'

Annäherung, Anfang

Standort. Zustand

Entfernung. Ende

mettre dans V 'versetzen in' reduire ä le 'stoßen in'

tenir dans V 'halten in'

jeter en 'werfen in'

tenir en 'halten in'

tirer d 'herausführen aus' tirer de la 'herausführen aus' faire sortir de 'herauslassen aus'

tenir dans la 'halten in'

Wie man sieht, gleichen die Bedeutungen der Glieder eines phraseologischen Paradigmas weitgehend den semantischen Parametern. Gak beachtet aber in seiner Konzeption weitgehend die Bezeichneten selbst, die das phraseologische Paradigma bilden. So kann er die p h r a s e o l o g i e b i l d e n d e n 1 0 Funktionen der Glieder des phraseologischen Paradigmas im Rahmen der allgemeinen Theorie der Nomination erforschen und den Mechanismus der Transposition der Wörter als der Glieder des lexikalisch-semantischen Systems der Sprache in Elemente der lexikalisierten Verbände erklären, die sich verschieden stark vom Wort auf der Linie nominative Funktion des Wortes Strukturfunktion des Wortes und in der Richtung Polysemie -> Kontextvariante der Bedeutung -> Kontexthomonymie vollständige Homonymie entfernen (so weit, daß das Element eines unfreien Verbandes seine selbständige Zeichenfunktion einbüßt). Wie die bisherigen Ausführungen zeigen, bleibt das Problem des W o r t e s im u n f r e i e n V e r b a n d , das zunächst Bally und dann Winogradow aufgeworfen hat, der Eckstein der Phraseologie. Dieser Eckstein ist aber auch der Stein des Anstoßes, betrachtet man das Wort als die Komponente des Wortverbandes nicht in seiner Kommensurabilität mit den Einheiten des lexikalisch-seman10

verwenden so wie Winogradow die Bezeichnung „phraseologiebildend" in Ermangelung eines besseren Terminus, um diejenigen Faktoren zu bezeichnen, die die unfreie Verknüpfbarkeit der Wörter bedingen.

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tischen Systems der Sprache, denn außerhalb einer solchen Bestimmung des Wortes als der Komponente des Wortverbandes hat die Phraseologie keine erklärende K r a f t ; weder die Reproduzierbarkeit der Wortverbände noch auch die Beschreibung dessen, wie ein vorgegebener Sinn ausgedrückt wird, zeigt, wie der Mechanismus der sprachlichen Mittel funktioniert, mit deren Hilfe die unfreien Verbände gebildet werden und in der Sprache funktionieren. So läßt sich z. B. ohne Erforschung des spezifischen Wertes der Wörter als der Komponenten der Verbände nicht das Problem der Identität und Verschiedenheit der unfreien Verbände lösen; man kann die Frage nach der Synonymie der Wörter, die parametrische Verbände bilden, nicht beantworten, aber auch die semantische Bedingtheit der Valenz der „gebundenen" Bezeichneten in den unfreien Wortverbänden nicht untersuchen, wenn man ihre Bedeutung unberücksichtigt läßt. Die Lösung all dieser Probleme erfordert einen weiteren Aspekt bei der Untersuchung der unfreien Wortverbände, nämlich das Studium ihrer strukturellsemantischen Spezifik unter dem Gesichtspunkt der Ebenenorganisation des lexikalisch-semantischen Stratums der Sprache. Die Untersuchung des Korpus der unfreien Verbände ist unter diesem Aspekt ein notwendiges Glied beim Studium der Prozesse der Phraseologiebildung in synchronischer Sicht. Ohne Erforschung des Systemwerts der gebundenen Bedeutungen der Wörter erhält man wiederum keine einigermaßen vollständige Vorstellung von der lexikalischsemantischen Ordnung in der betreffenden Sprache — von den Gesetzmäßigkeiten ihrer semantischen Organisation, von der Typologie ihrer lexikalischen Bedeutungen. Nicht zufällig wenden sich in letzter Zeit viele Semasiologen dem Problem der gebundenen Bedeutungen zu (siehe z. B. Ufimzewa [43], Schmeljow [48] und Weinreich [63]).

Der Phraseologiebestand der Sprache unter dem seiner Stratifikationsmodellierung

Aspekt

I n seinem Programm für die Erforschung der Strukturarten der Wortbedeutungen bezeichnete Winogradow als eine Aufgabe der Phraseologie die „Ermittlung derjenigen Kategorien von Wortbedeutungen, die den verschiedenen Prozessen der Phraseologiebildung zugrunde liegen"' [8, 46]. Die Lösung dieser Aufgabe im Rahmen der Phraseologie sollte offenbar die Beschreibung eines spezifischen Fragments des lexikalisch-semantischen Systems der russischen Sprache sein und war vom Autor als eine Vorstufe zur Erforschung der ganzen Vielfalt des Wortgebrauchs und der Wortverknüpfbarkeit im Russischen ged a c h t : „Es ist allgemein bekannt, daß sich das Wort auf die Wirklichkeit bezieht, sie widerspiegelt und seine Bedeutungen nicht isoliert, nicht losgelöst vom lexikalisch-semantischen System der konkreten Sprache, sondern in untrennbarem Zusammenhang mit diesem System, als dessen Bestandteil ausdrückt" [9, 12]. Wie bereits vermerkt, hat die Phraseologie recht viel Material zur Beschrei395

tischen Systems der Sprache, denn außerhalb einer solchen Bestimmung des Wortes als der Komponente des Wortverbandes hat die Phraseologie keine erklärende K r a f t ; weder die Reproduzierbarkeit der Wortverbände noch auch die Beschreibung dessen, wie ein vorgegebener Sinn ausgedrückt wird, zeigt, wie der Mechanismus der sprachlichen Mittel funktioniert, mit deren Hilfe die unfreien Verbände gebildet werden und in der Sprache funktionieren. So läßt sich z. B. ohne Erforschung des spezifischen Wertes der Wörter als der Komponenten der Verbände nicht das Problem der Identität und Verschiedenheit der unfreien Verbände lösen; man kann die Frage nach der Synonymie der Wörter, die parametrische Verbände bilden, nicht beantworten, aber auch die semantische Bedingtheit der Valenz der „gebundenen" Bezeichneten in den unfreien Wortverbänden nicht untersuchen, wenn man ihre Bedeutung unberücksichtigt läßt. Die Lösung all dieser Probleme erfordert einen weiteren Aspekt bei der Untersuchung der unfreien Wortverbände, nämlich das Studium ihrer strukturellsemantischen Spezifik unter dem Gesichtspunkt der Ebenenorganisation des lexikalisch-semantischen Stratums der Sprache. Die Untersuchung des Korpus der unfreien Verbände ist unter diesem Aspekt ein notwendiges Glied beim Studium der Prozesse der Phraseologiebildung in synchronischer Sicht. Ohne Erforschung des Systemwerts der gebundenen Bedeutungen der Wörter erhält man wiederum keine einigermaßen vollständige Vorstellung von der lexikalischsemantischen Ordnung in der betreffenden Sprache — von den Gesetzmäßigkeiten ihrer semantischen Organisation, von der Typologie ihrer lexikalischen Bedeutungen. Nicht zufällig wenden sich in letzter Zeit viele Semasiologen dem Problem der gebundenen Bedeutungen zu (siehe z. B. Ufimzewa [43], Schmeljow [48] und Weinreich [63]).

Der Phraseologiebestand der Sprache unter dem seiner Stratifikationsmodellierung

Aspekt

I n seinem Programm für die Erforschung der Strukturarten der Wortbedeutungen bezeichnete Winogradow als eine Aufgabe der Phraseologie die „Ermittlung derjenigen Kategorien von Wortbedeutungen, die den verschiedenen Prozessen der Phraseologiebildung zugrunde liegen"' [8, 46]. Die Lösung dieser Aufgabe im Rahmen der Phraseologie sollte offenbar die Beschreibung eines spezifischen Fragments des lexikalisch-semantischen Systems der russischen Sprache sein und war vom Autor als eine Vorstufe zur Erforschung der ganzen Vielfalt des Wortgebrauchs und der Wortverknüpfbarkeit im Russischen ged a c h t : „Es ist allgemein bekannt, daß sich das Wort auf die Wirklichkeit bezieht, sie widerspiegelt und seine Bedeutungen nicht isoliert, nicht losgelöst vom lexikalisch-semantischen System der konkreten Sprache, sondern in untrennbarem Zusammenhang mit diesem System, als dessen Bestandteil ausdrückt" [9, 12]. Wie bereits vermerkt, hat die Phraseologie recht viel Material zur Beschrei395

bung derjenigen spezifischen (in bezug auf die Regeln der Auswahl und der Verknüpfbarkeit negativen) Merkmale der Phraseologizität der Wörter zusammengetragen, die mit der Bestimmung der Wörter als der Strukturkomponenten der fertig reproduzierbaren autonomen Gebilde zusammenhängen. Bei solcher Untersuchung der lexikalischen Zusammensetzung der Phraseologismen werden die Merkmale der unfreien Verknüpfbarkeit durch Analyse ermittelt, d. h. vom Ausdruck (von der lexikalischen Dimension der Phraseologismen) zum Inhalt (zur Bedeutung der Komponenten). Die Relevanz dieser Merkmale bestimmt man danach, ob die Eigenschaften des Wortes als der Komponente eines Phraseologismus von seinen Eigenschaften im sonstigen Gebrauch (außerhalb des Phraseologismus) isoliert sind. So betont man die Irregularität der Eigenschaften der Phraseologismuskomponente. Dadurch, daß man die Phraseologizität als das Merkmal eines besonderen phraseologischen Systems interpretierte, kam man bekanntlich dazu, auch eine besondere „phraseologische Ebene" in der Sprache anzusetzen [3, 98; 20]. Da aber die Wörter innerhalb eines Phraseologismus einige Merkmale der Identität und der Verschiedenheit, die den Einheiten des lexikalisch-semantischen Systems der Sprache eigentümlich sind, verlieren und in bestimmtem Grade von den normalen Regeln der Verknüpfbarkeit abweichen und trotzdem ihre getrennte Benennungsfunktion (die Schmeljow zufolge [49, 111] das Kriterium für die Ermittlung der Einheiten des lexikalisch-semantischen Systems der Sprache ist) bewahren, gibt es keinen Grund, sie als konstitutive Elemente einer besonderen Ebene zu interpretieren und ihre Verbände als Einheiten dieser Ebene anzusehen. Ebenso bedeutet es, wenn die Komponenten eines Wortverbandes das Merkmal der nominativen Isoliertheit entbehren, dieses Merkmal aber dem Verband insgesamt eigentümlich ist, daß in der Struktur des Verbandes eine Entetymologisierung vorliegt und der Verband in bezug auf die Benennungsfunktion den Einheiten des lexikalisch-semantischen Systems der Sprache gleicht, nicht aber, daß diese Einheit einen vom Wort verschiedenen hierarchischen Wert hat. Folglich muß man, um eine adäquate Beschreibung des Phraseologiebestandes einer Sprache zu erhalten, vor allem die Komponenten der Phraseologismen durch das „Prisma" der lexikalisch-semantischen Organisation der Sprache studieren. Indessen wurde die Problematik, die mit der Beschreibung der Merkmale der Phraseologizität der Wörter und der Wortbedeutungen als der „Bestandteile" des lexikalisch-semantischen Systems zusammenhängt (von wenigen Ausnahmen abgesehen), in der Phraseologie nicht in Angriff genommen, denn die Untersuchung des Materials der Phraseologie im Rahmen der E r forschung der Wörter in ihrer unfreien Verknüpfbarkeit gilt gewöhnlich als lexikologisch. Die Beschreibung der Systemeigenschaften der phraseologischen Strukturen erfordert aber ihre Untersuchung auch in dieser Hinsicht. Stellt man das Problem des „Wortes in unfreier Verknüpfung", so dürfte man imstande sein, den lexikalisch-semantischen Mechanismus der Gebundenheit der Wörter auf der Grundlage der geltenden Strukturgesetzmäßigkeiten der Phraseologiebildung (d. h. ausgehend von den Arten der Bildung der reproduzierbaren Verbände unter ihrem synchronischen Aspekt) zu beschreiben und auf dieser 396

Grundlage die strukturell-semantischen Typen der unfreien Verbände in der betreffenden Sprache zu bestimmen, was wiederum die Voraussetzung einer typologischen Beschreibung der unfreien Verknüpfbarkeit ist. Die von Winogradow gestellte Aufgabe bleibt somit auch heute aktuell. Grundlegend für die Lösung dieser Aufgabe ist der Begriff der „phraseologisch gebundenen" Realisierung der Wörter und bzw. oder der Wortbedeutungen. Bestimmen wir kurz diese Gebundenheit in bezug auf die drei „Dimensionen" der Lexik — die paradigmatische, die syntagmatische und die epidigmatische (derivationelle) [49, 51]. Der Bestimmung des Begriffs der phraseologischen Gebundenheit auf der Basis dieser drei Dimensionen liegen folgende Ausgangsthesen zugrunde: „Der Gebrauch der Wörter in der Rede ist . . . durch die Möglichkeit der Wortwahl, d. h. durch die semantischen Beziehungen zu den anderen Wörtern, auf die der bekannte 'Sinnbereich' aufgeteilt ist, und durch die Möglichkeit der Verbindung, mit anderen Wörtern bedingt. Diese beiden Dimensionen bestimmen den eigentlichen semantischen Wert jedes Einzelwortes" [49,271]. Außerdem aber bestimmt „die Art der Repräsentation der Bedeutung in jeder Einheit ihre innere Form und damit die dritte Art der Beziehungen dieser Einheit zu den anderen Einheiten" — die Derivationsbeziehung [49, 442]. Schmeljow meint, die Gebundenheit der Verbände entstehe durch eine „Verletzung der allgemeinen Regeln" der Auswahl und bzw. oder der Verknüpfbarkeit der Wörter im Einklang mit diesen drei Dimensionen, und er unterscheidet die folgenden Haupttypen der Gebundenheit der Wortverbände [47]: 1. Die p a r a d i g m a t i s c h e G e b u n d e n h e i t ( P ) — die gemeinsame Wahl der Wörter in ihrem Verband, da die Verbände insgesamt zum lexikalischen Paradigma gehören: sie füllen bestimmte Zellen der lexikalischen „Matrix" aus und bleiben deshalb auf der Ebene der lexikalischen Beziehungen (rpHÖ 'Pilz' — öejibiii rpnö 'Steinpilz', BHHO 'Wein' — öejioe BHHO 'Weißwein' — KpacHoe BHHO 'Rotwein', 3aMeTHTB 'bemerken' — cflejiaTt 3aMerianne 'eine Bemerkung machen' usw.). 2. Die s y n t a g m a t i s c h e G e b u n d e n h e i t (S) — der Zusammenhang zwischen den Komponenten des Verbandes ist determiniert: Eine Komponente des Verbandes ist nicht möglich außerhalb einer bestimmten lexikalischen Umgebung, das „phraseologisch fixierte W o r t " signalisiert einen bestimmten Wortverband (3aKjiHTHii Bpar 'Erzfeind', 3aKasHHHHii Hpyr 'Busenfreund', HacynHTb GpoBii 'finster dreinschauen' usw.). 3. Die D e r i v a t i o n s g e b u n d e n h e i t (D) — die lexikalische Abhängigkeit zwischen den Komponenten ist semantisch durch die „unvollständige" Motivierung des Verbandes bedingt, wenn „jeder Verband seine eigene, individuelle innere Form hat", weil die Bedeutung des Wortverbandes nicht unmittelbar (nicht durch seine Zusammensetzung), sondern vermittelt, durch die Beziehung zur Ausgangsbedeutung motiviert ist (rjiySoKirä CTapHK 'Greis', coöa^iiii xojiotf 'Hundekälte', xpamiTt MOjmamie 'Schweigen bewahren' usw.). Diese „reinen" Arten der Gebundenheit kommen in den Verbänden auch kombiniert vor, z. B. 4. (P + S): noflaopHaa TpySa 'Fernrohr', 0Ka3aTb noMomi. 'Hilfe leisten'; 5. (P + D ) : 5Kejie3HaH flopora 'Eisenbahn', rojioBHofi yßop 'Kopfschmuck', THHyTb jiHMKy 'an einem schweren Karren ziehen'; 6. (S + D ) : 6ecnpo6y,n;Hoe ntHHCTBO 'völlige Betrunkenheit', no3ape3 397

HyjKHO 'dringend nötig'; 7. (P + S + D ) : KpaeyrojibHtrii naMem. 'Eckstein', 6 H T B öaKJiymn 'faulenzen', 3aMOJiBHTi> cjiOBeqKO 'ein gutes Wort einlegen' usw. Alle drei Typen der Gebundenheit erscheinen somit als unabhängige Eigenschaften des Verbandes, auch wenn die Eigenschaften kombinierbar sind. Wie man feststellen muß, bleibt in dieser Klassifizierung, die auf den fundamentalen Koordinaten beruht, die den Wortschatz einer Sprache organisieren, im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit dennoch der Wortverband insgesamt in seiner „resultativen Bedeutung", zeigt die Klassifizierung gleichsam die Hauptorientierungspunkte für die Beschreibung der Typen der Gebundenheit der Wörter, ist aber das Problem der konkreten Phraseologiebildungseigenschaften der Wörter innerhalb der beschriebenen Gebundenheitstypen noch offen. Die Bestimmung dieser Merkmale, ihre Differenzierung in bezug darauf, welche Ebene des Wortzeichens die Phraseologiebildungseigenschaften des Wortes determiniert, dürfte das notwendige Glied sowohl für die Beschreibung der lexikalisch-semantischen Struktur der Sprache als auch für die Präzisierung der eigentlichen Typen der Gebundenheit der Wortverbände sein. Einige Beispiele mögen diese Notwendigkeit bekräftigen. Als „syntagmatisch gebunden" bezeichnet Schmeljow [47, 27] die Verbände 3aKaHHHHHfi Apyr 'Busenfreund' und npojiiiBHOii flOJK^b 'Platzregen". Während jedoch im ersten Falle die Ver knüpf bar keit des Wortes aaKa^biiHLin usuell beschränkt und in synchronischer Hinsicht semantisch nicht bedingt ist, ist sie im zweiten Falle semantisch bedingt: Das Wort npojiHBHoii hat eine eng spezifizierte Bedeutung, die nur durch ein Wort, nämlich ßOJKHb, realisiert wird. Strukturell-semantisch differenziert werden muß auch das recht weitgefaßte Merkmal der „Derivationsgebundenheit". Definiert man dieses Merkmal mit dem Begriff der inneren Form, die ohne Bezug zur synchronen Korrelation der Bedeutungen der Komponenten sowie zu ihrem strukturellen Wert analysiert wird, so erhält man erstens eine Definition der Verbände, deren Komponenten in homonymen Bedeutungen (wie co6a*fflii xojiofl 'Hundekälte', MeflBejKbH ycjiyra 'Bärendienst') als derivationsgebunden neben denjenigen Verbänden erscheinen, deren Gebundenheit durch die Beziehung der Polysemie interpretierbar ist (wie in r j i y o o K i i ü C T a p i i K 'Greis'), und zweitens eine Definition der Idiomkomponenten als der Wörter mit derivationsgebundenen Bedeutungen, was dem sprachlichen Status der Idiome widerspricht, können doch die Idiome als nominative Einheiten und in diesem Sinne als Wortäquivalente nicht aus Elementen bestehen, die von der gleichen Ordnung sind wie das Ganze (vgl. in diesem Zusammenhang die Differenzierung der Begriffe Spracheinheit und Einheitenkombination auf S. 74 sowie Zgustas Bemerkung, daß ein wirklich wichtiger Aspekt bei der Untersuchung der unfreien Verbände die Erforschung aller Typen von Morphem- und Wortkombinationen, „die die onomasiologische Funktion repräsentieren, und im Einklang damit die Feststellung der lexikalischen Einheiten der betreffenden Sprache ist" [6/4, 587]). Wie bereits erwähnt, betrachtete Winogradow die „phraseologisch gebundene Bedeutung" der Wörter als einen Typ der lexikalischen Bedeutung. I n diesem Zusammenhang muß man auch auf den Versuch eingehen, das Problem der unfreien Verknüpfbarkeit unter dem Aspekt der Beschreibung der phraseo398

logischen Verbände (der Verbände von Lexemen als der „materiellen Exponenten der informierenden Zeichen") durch die E r m i t t l u n g der Typen der „Sememe" (Bedeutungen), „die im Lexem enthalten sein können" [20, 82], zu lösen. Die von Winogradow [9] unterschiedenen Bedeutungen — die nominative, nominativderivationelle und phraseologisch gebundene — werden einerseits vom Standp u n k t ihrer Übereinstimmung mit dem „denotativen" oder „konnotativen" Semem betrachtet und in dieser Hinsicht differenziert u n d andererseits verschiedene Arten dieser Sememe unterschieden und auf dieser Grundlage die Phraseologismen klassifiziert. Der Differenzierung des denotativen und des konnotativen Sememtyps liegt das Postulat zugrunde, die Sememe danach zu differenzieren, ob sie „an sich" eine extralinguistische Einheit widerspiegeln können. Zum Unterschied vom denotativen Semem D l , das der „direkten nominativen B e d e u t u n g " bei Winogradow entspricht, widerspiegelt das denotative Semem D2, das der „nominativderivationellen" und teilweise der „phraseologisch gebundenen" Bedeutung entspricht, eine extralinguistische Einheit vermittelt, über ein anderes Semem (HOC KopaßjiH 'der Bug des Schiffes', Kypuuaa naMHTb 'Gedächtnis wie ein H u h n ' ) ; das Semem D2 „entsteht im Bewußtsein nur dann, wenn ein bestimmter K o n t e x t oder eine bestimmte Situation vorliegt" [20, 82], Das konnotative Semem K „an sich widerspiegelt keine extralinguistische Einheit. E s wird in dem betreffenden Lexem nur durch Vermittlung anderer Lexeme realisiert, die sich mit ihm verbinden. Dabei unterscheidet man das motivierte konnotative Semem, das die logische Verbindung mit dem denotativen Semem desselben Lexems bewahrt ( K l — MpaK HeBeatecTBa 'die Finsternis der Unwissenheit', MimncTp 6e3 nopmfiejisi 'Minister ohne Portefeuille"), das nichtmotivierte konnotative Semem, das keine logische Verbindung zum denotativen Semem desselben Lexems h a t (K2 — 3aMopiiTi» nepesmua 'einen H a p p e n zu sich nehmen', no ntHnoji jiaeoHKe 'in betrunkenem Zustand') und das nichtmotivierte konnotative Semem, das mit keinem denotativen Semem korreliert (K3 — c Ö H T b c nanmajibiKy 'aus dem Konzept bringen", jie3Tb Ha JJOOICÜH 'wider den Stachel lecken')" [20, 83]. I n den phraseologischen Kombinationen sind die angeführten Sememvarianten D u n d K verschieden kombiniert (von solchen aus jeweils zwei Lexemen bestehenden Phraseologismen führen Kopylenko und Popowa 15 Typen an). Diese Kombinationen sind „freie Verbände", wenn n u r denotative Sememe (Dl und bzw. oder D2) realisiert werden, und „unfreie Verbände", wenn eine Kombination mit einem konnotativen Semem realisiert wird, z. B. D l K l — cdejiamb Kaptepy 'Karriere machen', D2 K2 — cepjwe ynano 'Angst haben', D l K 2 — flpyr cumifeebiü 'lieber Freund' usw. oder K l K l — B H X O Ä H T B 113 ce6n 'aus der H a u t fahren', K l K2 — J K H B H M FLYXOM 'flink", K l K 3 — « A T B C T P E K A N A 'sich aus dem Staube machen', K 3 K 3 — 6aaniM MaTOM 'wie auf dem Spieß' usw. [20, 85—88]. Kopylenko u n d Popowa schreiben: „Wenn es einen Sinn hat, eine Schwelle anzusetzen, über der ein phraseologischer Verband zu einem eigentlichen Phraseologismus wird, so m u ß als eine solche Schwelle . . . die E n t s t e h u n g der K o n n o t a t i v i t ä t gelten" [20, 89], Ohne auf die von Kopylenko und Popowa dargelegte Klassifikation ein399

zugehen, wollen wir auf eins aufmerksam machen: Wenn beide Arten dieBegriffe denotatives und konnotatives Semem unter dem Aspekt „vom Sinn zum Text" einführen (vgl. die theoretischen Grundlagen hierfür bei Sholkowski und Meltschuk [16; 26]) und die verschiedenen Kombinationen dieser Sememe in den phraseologischen Verbänden verfolgen, vergleichen sie nicht die in ihnen realisierten lexikalischen Strukturen mit den Einheiten des lexikalisch-semantischen Systems der Sprache, den Wörtern. Damit behandeln sie die gestellte Aufgabe, nämlich die Typologie des semantischen Inhalts der Lexeme zu präziseren, losgelöst von den Fakten der Systemorganisation des Wortschatzes, von Fakten, die durch den semantischen Inhalt der lexikalischen Bedeutung und die Valenz durch Identität und Verschiedenheit, Polysemie, Homonymie, Synonymie und andere solche Kategorien ausgedrückt werden (vgl. in diesem Zusammenhang die auf S. 395 angeführte Äußerung Winogradows). Das widerspiegelt sich auch in der Bestimmung der Grundbegriffe und in der konkreten Interpretation des sprachlichen Materials. So ist die Differenzierung der denotativen und der konnotativen Sememe nicht präzise genug und bar objektiver sprachlicher Kriterien. D2 widerspiegelt eine extralinguistische Einheit d u r c h e i n a n d e r e s S e m e m u n d K v e r m i t t e l s a n d e r e r L e x e m e . Folglich ist das Kriterium dieser Differenzierung (da Kopylenko und Popowa die semantischen Mittel zur Wiedergabe der Denotate nicht beschreiben) praktisch nur die lexikalische oder semantische Determiniertheit durch die Umgebung. Dieses Kriterium differenziert aber kaum z. B. Sememe wie D2: eeunemcKUÜ Tpys 'schwere Arbeit', cmpejinmb rjia3aMH 'äugeln', BHTHHyTtCH e Humny 'stramme Haltung annehmen' einerseits und K l : Mpan HeBemecTBa 'die Finstern i s d e r U n w i s s e n h e i t ' , ocunamb noijejiyHMH ' m i t K ü s s e n b e d e c k e n ' , B00py?KeHHHft

,HO 3y6oe 'bis an die Zähne bewaffnet' andererseits, denn die einen wie die anderen Sememe werden nur bei den gegebenen Schlüsselwörtern „in der Einheit ihrer Form und ihres Inhalts" realisiert. Die Bedeutungen von Lexemen wie3aKaAHiHHH 'Busen-' (in 'Busenfreund') werden zu den konnotativen Sememen gerechnet neben den in Verbänden wie 3aMopHTi> nepBHiKa 'einen Happen zu sich nehmen', no I I B H H O H JIABOHKE 'in betrunkenem Zustand' realisierten Sememen, obwohl die ersten eine reguläre lexikalische Bedeutung für sich haben, die die denotative Funktion auch außerhalb des Verbandes behält, und die zweiten nur zusammen realisiert werden und außerhalb des Verbandes keine isolierte denotative Funktion (in ihrer gegebenen semantischen Realisation)' haben. Offenbar sollte als konnotativ besser nur diejenige Bedeutung gelten, die bei gemeinsamem Vorkommen von Lexemen realisiert wird, die entweder eine idiomatische Bedeutung manifestieren oder im betreffenden Wortschatz kein Bezeichnetes haben (d. h. bei gemeinsamem Vorkommen von „Nekrotismen", wie Amossowa schreibt [1, 73—76]). Differenzierter muß auch die Typologie der Wortbedeutungen beschrieben werden. Für die Beschreibung der Verknüpfbarkeit der Wörter prinzipiell wichtig ist die Differenzierung der Bedeutungen nach ihrem semantischen Inhalt — ihrer Derivation bzw. Nichtderivation — sowie nach dem Charakter der Realisierung dieses Inhalts in Verbindung mit dem Schlüsselwort (oder mit anderen sprachlichen Mitteln mit derselben Funktion). Kopylenko400

u n d Popowa unterscheiden n u r zwei Typen von D : „die direkte nominative Bedeutung" entspricht, wie bereits erwähnt, D l , während D2 der „nominativderivationellen" u n d teilweise der „phraseologisch gebundenen" Bedeutung entspricht. Nach dem gebotenen Material zu urteilen, werden zu diesem T y p solche im Grunde verschiedenen Arten von Bedeutungen gerechnet wie 1. Bedeutungen, die zwar im K o n t e x t s i c h t b a r w e r d e n , aber frei kombinierbar sind, d. h. die Wörter gehen in dieser Bedeutung syntaktische Beziehungen mit allen Wörtern ein, die semantisch mit ihnen innerhalb der Norm kompatibel sind (z. B. caxapHBiö necoK 'Streuzucker'), 2. Bedeutungen, die im K o n t e x t „von innen heraus" s i c h t b a r w e r d e n u n d daher mit ihm zusammenhängen (z. B. BO.ni.HLiii nepeBOfl 'freie Übersetzung', paaöiiTi, CKBep 'eine Grünfläche anlegen') u n d 3. Bedeutungen, die im Wort nur in Verbindung mit bestimmten Wörtern s i c h t b a r w e r d e n und daher ebenfalls gebunden sind (z. B. B O J I M H I I anneTHT 'Wolfshunger', rojiosa TpemnT '[mir] b r u m m t der Schädel'). Präzisiert werden m u ß auch die Bestimmung der K o n n o t a t i v i t ä t selbst, vor allem der Typ K3, denn Lexeme wie J I H C L I 'Unsinn', H A K Y J N R A K A X 'jotwede ( = ganz weit draußen)' usw. wird dieselbe Art von Bedeutung zugeschrieben wie den Lexemen saKafltiiHbii'i 'Busen-', TpecKyiHft 'klirrender', 06eT0BaimaH 'gelobtes' usw. Diesen Lexemarten ist nur die Eigenschaft gemeinsam, die anderen Glieder des Verbandes vorherzusagen (apyr '-freund', Mopo3 'Frost', 3 C M . T I H : 'Land'). I m ersten Fall allerdings haben diese Eigenschaft nur die Lexeme u n d im zweiten Fall auch der semantische I n h a l t der Lexeme, was an sich schon ein hinreichender Grund dafür ist, sie zu differenzieren. Somit zeigt die Beschreibung der phraseologischen Wortverbände unter dem Aspekt, wie die verschiedenen T y p e n von „Sememen" mit ihnen korrelieren, die Möglichkeiten einer s e m a n t i s c h e n Untersuchung der unfreien Verknüpf barIteit, aber dieser Aspekt erschöpft die Problematik, die mit der Erforschung der unfreien Verknüpf barkeit der Wörter zusammenhängt, schon deshalb nicht, weil der Vergleich mit dem Wort als demjenigen „Element des lexikalischsemantischen Systems der Sprache" fehlt, das seinen strukturell-semantischen Wert variieren k a n n u n d dabei spezifische phraseologiebildende Eigenschaften erhält je nach der F u n k t i o n , die das Wort in seinem usuell fixierten Verband h a t . Eine mögliche Lösung der gestellten Aufgabe ist die Erforschung der unfreien Wortverbände vor allem unter dem onomasiologischen Aspekt ihrer Modellierung, bei dem das Wort ein „technisches" Ausdrucksmittel „supraverbaler Nominationen" ist [57, 125]. Ohne Berücksichtigung dieses Aspekts ist der semantische Mechanismus der Phraseologiebildung n u r negativ oder formal, ohne funktionale Charakteristik bestimmbar. Natürlich setzt das eine Untersuchung der F a k t o r e n der Phreaseologiebildung (bzw. der Merkmale der Phreaseologizität) im Hinblick auf die Erzeugung sprachlicher Äußerungen voraus: vom I n h a l t (der denotativen Information) über die Arten seiner semantischen Repräsentation bis zu den Ausdrucksmitteln mit der entsprechenden Stratifikation dieser Arten u n d Mittel auf Grund ihres Vergleichs mit den Strukturen der lexikalisch-semantischen Ebene (ähnlich wird das Problem von Gak gestellt [13]). Der bekannte russische Schriftsteller A. Bely sagte einmal: „In dem U n 401

vermögen, mit der Wirklichkeit in ihrer ganzen Fülle fertig zu werden, liegt der Grund für die Schematisierung der Wirklichkeit." Wir teilen diese Meinung ganz, wollen aber dennoch versuchen, die unfreien Wortverbände auf der Grundlage struktureller und semantischer Merkmale unter dem Aspekt der Stratifikationsmodellierung des Wortschatzes zu beschreiben, wobei wir die onomasiologischen Merkmale der unfreien Yerknüpfbarkeit heranziehen. Die Spezifik des Phraseologiebestandes in jeder konkreten Sprache macht es erforderlich, sich dem Material einer bestimmten Sprache, in unserem Falle der russischen, zuzuwenden; Tatsachen anderer Sprachen sollen nur herangezogen werden, wenn sie völlig parallel sind. E s muß betont werden, daß der nachfolgende Versuch, die phraseologiebildenden Eigenschaften von Wörtern zu beschreiben, den Charakter einer Erkundungsforschung hat und auf keinen Fall den Anspruch erhebt, das Material der Phraseologie vollständig zu erfassen oder gar zu klassifizieren. Zum besseren Verständnis seien einige Grundbegriffe angeführt, die mit der Bestimmung des Wortes als einer Einheit der lexikalisch-semantischen Ebene der Sprache zusammenhängen (Näheres im Kapitel „Der Wortschatz" im vorliegenden Band): Das Wort in seiner Stratifikationsinterpretation ist eine Struktureinheit der Sprache, d. h. eine Einheit der Inhaltsebene des lexikalischsemantischen Systems (das Bezeichnete in seinen Varianten), die durch die Morphemstratumeinheiten, die die Funktion der Ausdrucksebene des Wortes haben (das Bezeichnende in seinen Varianten), repräsentiert ist 1 1 . Der Grund, weswegen man das Wort als eine Struktureinheit der Sprache ansetzt, ist seine nominative Funktion, der Grund für seine Identifizierung — die Identität der Bezeichneten, denen gegenüber die Bezeichnenden eine repräsentativ-differenzierende Funktion haben; die Aufspaltung des Wortzeichens in Einheiten der Inhaltsebene, die als signifikativ bestimmt werden, und Einheiten der Ausdrucksebene, die als repräsentativ-differenzierend bestimmt werden, ist eine heuristische Methode, die trotzdem der Definition der Sprache, ein Kommunikationsmittel zu sein, entspricht; die Einheiten des lexikalisch-semantischen Systems der Sprache sind nicht nur gegenüber den außerlinguistischen Korrelaten (den Gegenständen, Erscheinungen und ähnlichen außersprachlichen Gegebenheiten), sondern auch als Fakten des Sprachsystems geordnet — nach paradigmatischen, syntagmatischen und derivationellen 12 — Beziehungen. 11 Wir verwenden hier die Termini der Transformationsgrammatik so, wie sie Lamb definiert hat (vgl.: S. Lamb. Outline of stratificational grammar. Washington 1966; S. Lamb. Kinship terminology and linguistic structure. — American anthropogist. Vol. 67. Nr. 5, part 2), haben uns aber nicht vorgenommen, das Verfahren zur Analyse der unfreien Verbände mittels dieser Termini zu beschreiben. Auf Grund einer soeben erschienenen Monographie (A. Makkai. Idiom structure in English. The Hague, Paris 1972) ließen sich die Idiome stratifibationell umfassender beschreiben, wodurch sich aber am Inhalt des vorliegenden Abschnitts kaum etwas ändern würde. 12

Unter derivationellen Beziehungen im lexikalisch-semantischen System der Sprache verstehen wir die Polysemie unter ihrem „Ableitungsaspekt", d. h. als Bedeutungsdifferenzierung in bezug auf die direkte nominative (primäre) Bedeutung in synchronischer Hinsicht (vgl. die bereits auf S. 397 angeführte Definition der derivationellen oder epidigmatischen Dimension im Wortschatz bei Schmeljow).

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Der Begriff „phraseologische Gebundenheit" läßt sich ganz allgemein auf der Grundlage des Merkmals der unfreien Verknüpfbarkeit der Wörter definieren. Versteht man unter der freien Verknüpfbarkeit eines Wortes, d a ß es sich f ü r den Ausdruck eines bestimmten Inhalts syntaktisch mit anderen Wörtern auf der Grundlage der semantischen Kompatibilität u n d im Einklang mit den normativen Realisierungsregeln verbinden läßt, so m u ß m a n unter der unfreien Verknüpfbarkeit von Wörtern verstehen, daß sie sich syntaktisch n u r mit einer durch den Usus begrenzten Liste von Wörtern 1 3 unabhängig von ihrer semantischen Kompatibilität verbinden lassen. Das Merkmal der unfreien Verknüpfbarkeit ist jedoch allzu allgemein und nichtspezifiziert, denn die unfreie Verknüpfbarkeit beruht auf der Wechselwirkung verschiedener F a k t o r e n , zu denen vor allem Merkmale unterschiedlicher Ebenen gehören, so die F u n k t i o n des Gliedes des Verbandes gegenüber dem außersprachlichen I n h a l t , der durch den betreffenden Verband verkörpert ist, die Art des Ausdrucks u n d der Fixierung dieser Funktion durch bestimmte Strukturmittel, der Charakter der Kommensurabilität dieser Mittel mit den Strukturen des lexikalisch-semantischen Systems der Sprache. Erläutern wir das etwas näher. Neben der direkten, regulären nominativen F u n k t i o n , die dadurch gekennzeichnet ist, daß der denotative Bezug des Wortes in seiner direkten oder nominativ-derivationellen Bedeutung nur im K o n t e x t aktualisiert wird, der den gegenständlich-begrifflichen Inhalt des Wortes sichtbar macht (wie in pe^HOH necoK 'Flußsand' oder caxapHtiii necoK 'Streuzucker'), unterscheidet man zweckmäßigerweise die folgenden mit dem vermittelten Bezug des Wortes zur außersprachlichen Wirklichkeit verbundenen Funktionen des Wortes: die F u n k t i o n d e r m i t t e l b a r e n N o m i n a t i o n , wenn der denotative Bezug des Wortes durch die Aktualisierung seines semantischen Inhalts über die Bedeutung eines anderen Wortes vermittelt ist (vgl. Gak [13])' wie in r j i y o o K i r ä C T a pHK 'Greis'; die F u n k t i o n d e r k o n t e x t - u n d l e x i k a l i s c h b e d i n g t e n N o m i n a t i o n , wenn das Wort einen bestimmten denotativen Bezug „von außen" und nur bei gemeinsamer Realisierung mit einem anderen W o r t erhält, z. B. coSa^HH xojioß 'Hundekälte'; die F u n k t i o n d e r g e m e i n s a m e n N o m i n a t i o n , wenn den denotativen Bezug ein Bezeichnendes erhält, das keine eigene lexikalische Bedeutung h a t u n d nur zusammen mit einem anderen W o r t realisiert wird, z. B. HE BHAHO H H 3RII 'es ist stockfinster'; die S t r u k t u r 13 w i r verwenden hier die Begriffe „System — Norm — Usus" in derselben Korrelation wie Hjelmslev: „Das System wird als abstrakte virtuelle Realität definiert. Es äußert sich unmittelbar in der Norm, die mit ihren Regeln die mögliche Breite der Variabilität bei ihrer Verkörperung in der Rede fixiert. Der Usus . . . ist die angeeignete Art, die Gesamtheit der vorzuziehenden Ausdrucksmanieren . . . Die Norm erfordert nur die Einhaltung der notwendigen Unterschiede, um die Systemeinheiten exakt zu verteilen. Der Usus erfordert von den Individuen die bestimmte vorzugsweise Verwendung einer Systemeinheit" [54, 88]. Im Einklang damit halten wir für usuell die Realisierung einer Systemeinheit, deren Wahl als unfrei gegenüber der regulären Realisierung der Systemeinheit, signifikativ zum Unterschied von der nichtsignifikativen Wahl bei normativer Realisierung und nichtindividuell zum Unterschied vom okkasionellen Gebrauch gekennzeichnet werden kann (vgl. Gak [13, 20-27]).

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f u n k t i o n , wenn das Wort eine den Wortbildungsmorphemen analoge Rolle spielt, z. B. npHHHTb flym 'sich duschen', niaraioiqHÖ aKcuaBaTop 'Schreitbagger'; die r e p r ä s e n t a t i v - d i f f e r e n z i e r e n d e F u n k t i o n (wenn nicht das einzelne Wort, sondern nur der ganze Verband den Gegenstandsbezug hat, z. B. co6any cteji '[er] ist ein Meister [in seinem Fach])'; die d i f f e r e n z i e r e n d e F u n k t i o n , wenn die Bezeichnenden nicht ihre lexikalische Bedeutung und folglich keine denotative Funktion sui generis haben, sondern die Rolle von Einheiten der Ausdrucksebene spielen, z. B. K O K a c M O K O H '(exotisches) Labsal'. So hat z. B. das Adjektiv ßejiBiö 'weiß' in dem Verband SeJiLiii xjieö 'Weißbrot' •die Strukturfunktion, weil es an der Bildung einer analytischen lexikalischen Einheit beteiligt ist; in dem Verband öejian BopoHa 'weißer Rabe' hat es die repräsentativ-differenzierende Funktion, weil es die Rolle einer Einheit der Ausdrucksebene für ein zusammengezogenes Bezeichnetes spielt; in dem Verband ß E J I H Ü ,O;OM 'Weißes Haus' hat es die Funktion der kontext- und lexikalisch bedingten Nomination, weil es den betreffenden denotativen Bezug ('dem Präsidenten der USA gehörend') nur bei dem Wort HOM 'Haus' erhält usw. Übrigens hängen alle diese in erster Annäherung umrissenen Funktionen mit den verschiedenen strukturellen Erscheinungsformen des Wortes zusammen: mit dem Wort als einer ganzheitlichen bilateralen Struktur, mit der Inhaltsebene als dem Bezeichneten des Wortes, mit der Ausdrucksebene als dem Bezeichnenden des Wortes. Mittel, die diese Funktionen des Wortes spezifizieren, können in seinem Bezeichneten semantische Variationen (die mit dem Ersatz, •der Ergänzung oder dem Schwund bestimmter Bedeutungskomponenten, der Seme, gekoppelt sind), die Transposition der lexikalischen Bedeutung in eine grammatische sowie die Diversifikation (Kodierungswechsel in der Ebene) eines bestimmten Teils der distinktiven Merkmale des Wortes sein (Näheres folgt). Ausdrucksmittel dieser Spezifik im Bezeichnenden ist gewöhnlich, daß -die Wortform fixiert und bzw. oder „exotisch" ist. Diese Arten und Mittel zur Widerspiegelung der einen oder anderen Funktion äußern sich auch darin, daß sich die formal ausgedrückten syntaktischen Beziehungen zwischen den Komponenten nicht mit ihren realen syntaktischen Bedeutungen zu decken brauchen, wodurch sich auch der Wortverband mehr oder weniger stark von den regulären syntaktischen Transformationen isolieren kann. Die spezifischen Eigenschaften der Komponenten der unfreien Wortverbände heben nicht ihre Kommensurabilität mit den Einheiten des lexikalisch-semantischen Systems der Sprache nach deren Stratifikationsmerkmalen auf. Die Bezeichneten können ihre Bedeutungen über die Polysemie entfalten, wenn ein Derivationszusammenhang der Bedeutungen vorliegt, und sie können sich in das System der Bedeutungen des polysemen Wortes einschalten und dabei neue Identitäten und Verschiedenheiten bilden; die Bezeichneten können ihre Bedeutungen aber auch über die Homonymie entfalten und dann den Zusammenhang mit dem Wort mit demselben Bezeichnenden verlieren; sie können bestimmte Bedeutungen aus „ehemaligen Verwendungen" beisteuern und durch Einschluß in synonymische Reihen und antonymische Oppositionen als gesonderte lexikalische Einheiten mit engem Umfang der monosemen Bedeutung erscheinen; die Bezeichneten können schließlich entetymologisiert werden und 404

dabei die Eigenschaften von Einheiten des lexikalisch-semantischen Systems der Sprache verlieren, aber das Merkmal von Einheiten der Ausdrucksebene gewinnen usw. Es ist völlig natürlich, daß alle diese Faktoren gleichzeitig wirken, sich aber verschieden kombinieren lassen. So ist die Polysemie ein Mittel, u m die Funktion der mittelbaren Nomination und die Strukturfunktion auszudrücken, im zweiten Falle schaltet sich aber auch die Diversifikation eines Teils der Wortmerkmale ein. I n gleicher Weise ist die differenzierende Funktion sowohl für die Komponenten der Idiome als auch für die Komponenten der Wortverbände wie K O K a c MOKOft '(exotisches) Labsal' kennzeichnend, aber innerhalb der ersten Komponenten ist das Benennungsmittel die Diversifikation der semantischen Merkmale des Wortes, während der nominative Wert der zweiten Komponenten nicht mit der inneren Form des Komponentenbestandes gekoppelt ist. Außerdem braucht die durch diese oder jene Faktoren bedingte unfreie Verknüpf barkeit nicht als unilateral zu erscheinen; sie kann bilateral sein, während die gebundene Realisierung über nicht ganzheitliche Strukturen, sondern über eine der Zeichenebenen — die Bezeichneten, die Bezeichnenden oder „gekreuzt" — bedingt sein kann. Gehen wir zunächst auf die „reinen" phraseologiebildenden Faktoren ein, die die unfreie Verknüpfbarkeit bedingen. Dabei bieten wir das Material zwecks größerer Anschaulichkeit strukturell angeordnet: zunächst die mit der Spezifik des Bezeichnenden und dann mit derjenigen des Bezeichneten des Wortes gekoppelte Gebundenheit.

Die m i t der Spezifik der Bezeichnenden der W ö r t e r gekoppelte unfreie V e r k n ü p f b a r k e i t Diese Gebundenheit zeigt sich äußerlich in der Prädiktabilität der anderen Glieder des Wortverbandes durch das Bezeichnende des Wortes selbst u n d ist im Russischen durch mindestens vier Typen vertreten: 1. durch die Bezeichnenden autosemantischer monosemer Wörter, 2. durch die Bezeichnenden, die durch veraltete Wortformen repräsentiert sind, 3. durch die Bezeichnenden, die keine getrennte im Wörterbuch fixierte lexikalische Bedeutung haben, aber bestimmte Bedeutungen zusammen mit anderen autosemantischen Wörtern realisieren, und 4. durch die Bezeichnenden, die die erwähnte Eigenschaft haben, aber nur differenzierend wirken. Der erste Typ ist funktional dadurch gekennzeichnet, daß die Wörter eine getrennte nominative Funktion haben, was durch die Aktualisierung des eindeutigen gegenständlich-begrifflichen Inhalts der Wörter in der Rede bewiesen wird. Unter semantischem Aspekt erscheinen diese Wörter als monoseme Einheiten mit eng spezifizierter Bedeutung. Diese Bedeutung wird durch das im Wörterbuch fixierte Bezeichnende exponiert, das andere, aber nicht sämtliche mit der Bedeutung des betreffenden Wortes semantisch kompatiblen Glieder des Wortverbandes, nur eine bestimmte „Liste" von ihnen (oder nur ein Wort) „vorhersagt". Die Gebundenheit solcher Bezeichnenden ist also nicht mit der funktionalen Spezifik des Wortes gekoppelt und gehört zu den F a k t e n 27

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dabei die Eigenschaften von Einheiten des lexikalisch-semantischen Systems der Sprache verlieren, aber das Merkmal von Einheiten der Ausdrucksebene gewinnen usw. Es ist völlig natürlich, daß alle diese Faktoren gleichzeitig wirken, sich aber verschieden kombinieren lassen. So ist die Polysemie ein Mittel, u m die Funktion der mittelbaren Nomination und die Strukturfunktion auszudrücken, im zweiten Falle schaltet sich aber auch die Diversifikation eines Teils der Wortmerkmale ein. I n gleicher Weise ist die differenzierende Funktion sowohl für die Komponenten der Idiome als auch für die Komponenten der Wortverbände wie K O K a c MOKOft '(exotisches) Labsal' kennzeichnend, aber innerhalb der ersten Komponenten ist das Benennungsmittel die Diversifikation der semantischen Merkmale des Wortes, während der nominative Wert der zweiten Komponenten nicht mit der inneren Form des Komponentenbestandes gekoppelt ist. Außerdem braucht die durch diese oder jene Faktoren bedingte unfreie Verknüpf barkeit nicht als unilateral zu erscheinen; sie kann bilateral sein, während die gebundene Realisierung über nicht ganzheitliche Strukturen, sondern über eine der Zeichenebenen — die Bezeichneten, die Bezeichnenden oder „gekreuzt" — bedingt sein kann. Gehen wir zunächst auf die „reinen" phraseologiebildenden Faktoren ein, die die unfreie Verknüpfbarkeit bedingen. Dabei bieten wir das Material zwecks größerer Anschaulichkeit strukturell angeordnet: zunächst die mit der Spezifik des Bezeichnenden und dann mit derjenigen des Bezeichneten des Wortes gekoppelte Gebundenheit.

Die m i t der Spezifik der Bezeichnenden der W ö r t e r gekoppelte unfreie V e r k n ü p f b a r k e i t Diese Gebundenheit zeigt sich äußerlich in der Prädiktabilität der anderen Glieder des Wortverbandes durch das Bezeichnende des Wortes selbst u n d ist im Russischen durch mindestens vier Typen vertreten: 1. durch die Bezeichnenden autosemantischer monosemer Wörter, 2. durch die Bezeichnenden, die durch veraltete Wortformen repräsentiert sind, 3. durch die Bezeichnenden, die keine getrennte im Wörterbuch fixierte lexikalische Bedeutung haben, aber bestimmte Bedeutungen zusammen mit anderen autosemantischen Wörtern realisieren, und 4. durch die Bezeichnenden, die die erwähnte Eigenschaft haben, aber nur differenzierend wirken. Der erste Typ ist funktional dadurch gekennzeichnet, daß die Wörter eine getrennte nominative Funktion haben, was durch die Aktualisierung des eindeutigen gegenständlich-begrifflichen Inhalts der Wörter in der Rede bewiesen wird. Unter semantischem Aspekt erscheinen diese Wörter als monoseme Einheiten mit eng spezifizierter Bedeutung. Diese Bedeutung wird durch das im Wörterbuch fixierte Bezeichnende exponiert, das andere, aber nicht sämtliche mit der Bedeutung des betreffenden Wortes semantisch kompatiblen Glieder des Wortverbandes, nur eine bestimmte „Liste" von ihnen (oder nur ein Wort) „vorhersagt". Die Gebundenheit solcher Bezeichnenden ist also nicht mit der funktionalen Spezifik des Wortes gekoppelt und gehört zu den F a k t e n 27

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rein usueller Ordnung, wenn ein außersprachlicher Inhalt nichtindividuell, signifikativ und zugleich unfrei ausgedrückt wird. Dieser T y p der Gebundenheit eines Wortes gleicht äußerlich der Gebundenheit des Wortes vom T y p mypHTB (rjia3a) '(die Augen) zusammenkneifen', BnajiHß (JKHBOT) 'eingefallener Bauch', 3AHÄJIHÜ (OXOTHHK, PHÖOJIOB, CNOPTCMEH) 'passionierter (Jäger, Angler, Sportler)' nach dem Merkmal der Prädiktabilität bestimmter Glieder des Wortverbandes. Gerade deshalb faßt man sie häufig zusammen, hält man sie gleichermaßen für phraseologisch. Gehen wir auf die unterschiedliche Verknüpfbarkeit dieser Wörter etwas näher ein. I n jeder Sprache erkennt man recht gut monoseme Wörter, die sich nur mit einem oder wenigen Wörtern verknüpfen lassen, was mit gewisser Wahrscheinlichkeit ihr gemeinsames Vorkommen in einer syntagmatischen K e t t e vorhersagt. Solche Wortverbände bezeichnet Meltschuk als stabil: „ D i e Stabilität der Wortverbände in bezug auf das betreffende Element mißt man mit der Wahrscheinlichkeit, mit der das Element das gemeinsame Vorkommen der übrigen Elemente des Verbandes (in bestimmter Ordnung in bezug auf das vorherzusagende Element) vorhersagt" [25, 73]. Solche Wortverbände hält Meltschuk für eine Variation der unfreien Verbände [25, 75]. Eine ähnliche Klasse unfreier Wortverbände unterscheiden auch andere Autoren (vgl. z. B. die Verbände mit der Determination auf der lexikalischen Ebene bei Archangelski [3, 112]). Die Prädiktabilität an sich kann jedoch nicht als Merkmal der unfreien Verknüpfbarkeit gelten, wenn man davon ausgeht, daß die unfreie Verknüpfbarkeit unbedingt mit einer Abweichung von den allgemeinen Regeln der Auswahl und Verknüpfbarkeit der „nach Sinn und F o r m " zusammenzufügenden W ö r t e r einhergeht. So kann man sagen, daß Verbände wie mypHTB rjia3a 'die Augen zusammenkneifen', MopocHT ROJKRB 'es nieselt', yoopiiCTBiit nonepK, mpii(|)T 'feine Handschrift, Schrift' stabile freie Verbände mit unilateralem Zusammenhang sind, denn allein schon die monosemen Wörter mypiiTb, MopocHTB, yßopHCTHÖ sagen die Wörter vorher, die mit ihnen einen Sinnzusammenhang eingehen können. Das W o r t mypHTB ist z. B. semantisch monovalent auf Grund seiner ganz spezifizierten Bedeutung 'die Augenlider zusammendrückend, etwas bedecken', die das Terminalsem 'Augenlider' umfaßt, das auch für die Bedeutung: des Wortes rjia3 'Sehorgan' relevant ist. Dieses transitive Verb fordert unbedingt die Sättigung der semantischen Valenz durch bestimmte grammatische und bzw. oder lexikalische Mittel (vgl. die Sättigung der Valenz durch die reflexive Form und den Verlust der Transitivität bei den Verben mypiiTBCH 'zwinkern', jKMypHTBCH 'blinzeln', TapamiiTBCH 'glotzen', jipwraTBCH 'mit den Füßen baumeln' u. a.). Ähnlich bedeutet das W o r t noTynnTB nicht nur 'senken', sondern es informiert auch über einen bestimmten Zustand, eine bestimmte Emotion (Nachdenklichkeit, Scham, Verwirrung; vgl. noTynHTBCH 'den Blick senken'), was auch die Verknüpfbarkeit des Wortes noTyrrnTB nur mit den Wörtern B3rjiHH, B3op, 'den Blick', rna3a 'die Augen' (seltener ronoBy 'den K o p f ) bedingt und die Realisierung dieses Wortes zur Bezeichnung einer konkreten physischen Handlung ausschließt (etwa *noTynHTB cnHHy *'den Rücken senken') [2]. Übrigens meinte Oshegow, daß „ein Merkmal dafür, daß ein Wortverband 406

phraseologisch ist, darin bestellt, daß er zerstörbar wird, wenn die semantischen Nuancen des ganzen Verbandes im Verb konzentriert werden, manchmal wenn das Verb die reflexive Form erhält" [29, 43], und er führte als Beispiel gerade Verben wie mypiiTt an. Bei der Bestimmung dieser Erscheinung berücksichtigte er aber nicht die Spezifik der lexikalisch-grammatischen Bedeutung dieser Verben und die Tatsache, daß der nominale Teil, der die Valenz des Verbs sättigt, seiner Bedeutung keinerlei semantische „Nuancen" hinzufügt (vgl. auch die Prädiktabilität der Bedeutungen solcher Wörter wie Hajmß 'grau [mit anderen Farben vermischt]', KaypBiü 'goldfarben', öyjiaHHii 'falb' usw. und ihre typische Substantivierung gerade auf Grund dieser Prädiktabilität). Wörter wie M S J I B H H KOBBIM 'Jungen-', OTT>HBJIEHHHII 'durchtrieben' determinieren die Wörter naJibTO 'Mantel", öpiOKii 'Hosen' usw. (eine gegenständlich-thematische Gruppe von Wörtern mit der Benennung von Kleidungsstücken) bzw. MomeHHHK 'Betrüger', njiyT 'Gauner', npoxBOCT 'Halunke' usw. (Wörter, die sich auf Grund eines bestimmten negativen Merkmals von Personen zusammenfassen lassen). Im „CjiOBapb coBpeMeHHoro pyccKoro jiHTepaTypHoro H3HKa" (Band 4, Moskau 1955, Spalte 1128) werden die Bedeutung des Wortes saHflJiHfi als „ C H J I B H O N P U C T P A C T H B I I I H H C H K HCMY-jiHoo, pbHHHH (pa3r.) und als Beispiel für die freie Realisierung der Bedeutung die Wortgruppe 3aH3JiLiii OXOTHMK 'passionierter Jäger' und als Phraseologismen 3aHAJiHÖ nbHHima, nrpoK 'passionierter Säufer, Spieler' angeführt. Wie das Material jedoch erkennen läßt, verknüpft sich das Wort 3aHAJiLiii mit allen Wörtern für Bezeichnungen von Personen nach ihrer Beteiligung an etwas, was nicht ihr Beruf ist, was sie aber Feuer fangen läßt, sie ergreift, d. h. mit Personenbezeichnungen, die zu einem bestimmten semantischen Bereich gehören: 3aHAJibiH P H Ö O J I O B , KOJiJierapioHep, TeaTpaJi 'passionierter Angler, Sammler, Theaterbesucher'. Daraus folgt, daß die Wahl des Wortes 3aHaJiHii frei ist, denn Restriktionen wie *3aHfljiHü pa6o*raii, HCCJiejjOBaTejib *'passionierter Arbeiter, Forscher' beruhen auf der Nichtverknüpfbarkeit allein schon der Bedeutung des Wortes 3aHAJiHii. Der Verknüpfbarkeitsbereich dieser Wörter ist durch ihren semantischen Inhalt determiniert, während die Polysemie der lexikalischen Bedeutungen und die Übereinstimmung zwischen den syntagmatischen Beziehungen und dem semantischen Inhalt der Wörter besagen, daß sie frei verknüpfbar sind. Somit sind keineswegs sämtliche Verbände mit monosemen Wörtern, die das Merkmal der Prädiktabilität haben, unfrei, sondern nur diejenigen von ihnen, in denen bei semantisch möglicher Verknüpf barkeit des Wortes eine syntagmatische Restriktion vorliegt, die nicht durch die eigene Bedeutung des Wortes bedingt ist, was das gemeinsame Vorkommen nicht aller Wörter, die mit dem betreffenden Wort eine semantische Verbindung eingehen können, sondern nur des durch den Gebrauch fixierten Teiles von ihnen voraussetzt; z. B. HeocjiaÖHHfi HHTepec, -Hoe B H H M & H H 6 , -HBIII Haj(3op ( * - H a n 3a6oTa, - H H H npHCMOTp) 'unentwegtesInteresse, -e Aufmerksamkeit, Beaufsichtigung (*Sorge, Aufsicht)', 6e3BHX0ii;H0e nojiosKeHiie (*-Hoe cocroHHue) 'ausweglose Lage (*-er Zustand)', meKOTJiHBHH Bonpoc, -Boe nopyqeHiie, nojiojKemie (*aejio, sa^amie, cocroHHue) 'kitzlige Frage, -er Auftrag, -e Lage (*Sache, Aufgabe, -er Zustand)'. In all diesen Beispielen wird jeweils ein autosemantisches Wort realisiert, dessen Be27.

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zeichnendes jedoch eine begrenzte Wahl von Wörtern aus der Zahl derer vorhersagt, die mit dem betreffenden Wort semantisch v e r k n ü p f b a r sind. Manchmal heißt es, die Wörter mit begrenzter Verknüpfbarkeit (auch Wörter wie mypHTt) seien synsemantische Einheiten ohne nominative Funktion [9, 12]. Diese Ansieht beruht darauf, d a ß solche Wörter in der Sprache n u r in bestimmten Verbänden realisiert werden. Die Tatsache aber, daß Wörter wie ßecnpocHriHoe ( n b H H C T B o ) 'völlige (Betrunkenheit)", m e K O T J i i i B H ß (ßonpoc) 'kitzlige (Frage)' Systembeziehungen zu semantisch autosemantischen Einheiten eingehen (vgl. ßecnpocHiraoe, ßecnpoöyflHoe, n 0 C T 0 H H H 0 e III>HHCTBO 'unaufhörliche, ewige, ständige Betrunkenheit'; 3aKaflHHHHß, 3aflymeBHHH, 6JIH3KHH flpyr 'Busenfreund, echter, guter Freund'), zeugt auch von ihrer semantischen Gleichberechtigung, obwohl der Systemwert dieser Wörter (die Möglichkeit, sie durch Synonyme zu ersetzen, Antonyme zu bilden, Wörter abzuleiten usw.) durch die sich mit ihnen verknüpfenden Wörter vermittelt ist. E i n Beweis dafür, d a ß diese Wörter nominativ selbständig sind, ist, daß sie sich in derselben Umgebung in Prädikatssubstantive verwandeln lassen: 6e3BHX0flHOCTB nojioiKeHHH 'die Ausweglosigkeit der Lage', HeoeJiaÖHoeTb Haßaopa 'die Unentwegtheit der Aufsicht' usw. (vgl. die Bestimmung der propositiven Nomination auf den Seiten 255—261). Die Restriktionen der Verknüpfbarkeit der Wörter des analysierten Typs durch den Usus sind wenigstens teilweise dadurch erklärbar, daß ihre durch die Morphemzusammensetzung repräsentierte innere F o r m nicht n u r die Spuren früherer Gebrauchsweisen des Wortes erhalten hilft, wie Winogradow [9] erkannte, sondern auch die Verknüpfbarkeit der Wörter vorschreibt. Man beachte, daß sich diese Wörter morphologisch exakt segmentieren lassen u n d d a m i t die formale Derivation und manchmal auch die semantische Motiviertheit bewahren (vgl. ursprüngliches 6e3Bbixo^ni>ni «OMOcefl 'Stubenhocker' u n d 6e3BLixoflnoe nojioHieHHe, oßcTOHTejibCTBO 'ausweglose Lage, -er U m s t a n d ' mit unmöglichem *6e3BHxo«HAIR oöcTaHOBKa *'ausweglose Einrichtung' bei BHXOJI; H3 KaKoro-jin6o noJioHteHiiH, oßcTOHTejitCTBa 'Ausweg aus irgendeiner Lage, irgendeinem U m s t a n d ' ; vgl. aber die Erklärung der übertragenen Bedeutung von meKOTJiHBHii 'kitzlig' in Dals „ T O J I K O B H H cjiOBapt JKHBOTO BeJiHKopyccKoro H3HKA" (Band IV, S. 653): „O6HAIHBLIH, c KEIN HA^o 3HATBCH H BEFLATBCH ocTopojKHo, iToöti He oropiHTb ero HexoTH" [leicht beleidigt, mit wem m a n vorsichtig umgehen u n d verkehren muß, u m ihn nicht versehentlich zu verdrießen] mit den Verknüpfungen dieses Wortes in der russischen Gegenwartssprache). E s ist durchaus wahrscheinlich, d a ß die usuelle Nicht verknüpf barkeit dieser Wörter auf der „abschirmenden" K r a f t der inneren Form, darauf beruht, d a ß die Wurzelmorpheme der betreffenden Wörter auf Grund ihrer Assoziation mit den Wörtern der gleichen Wurzel die semantische u n d bzw. oder stilistischexpressive Selektivität des Schlüsselwortes beeinträchtigt. So v e r k n ü p f t sich das W o r t no^pyra 'Freundin', wie es die Wörterbücher ausweisen, nicht, mit dem Wort 3aKa,HHiHHH; 'Busen-'. Die Restriktion f ü r diese Verknüpfbarkeit d ü r f t e dadurch determiniert sein, daß die innere F o r m des Wortes dieses nach dem Merkmal des maskulinen Genus motiviert (nämlich durch das lexikalische Morphem KaRbiK/q- 'Adamsapfel'), was wahrscheinlich eben die Nichtverknüpf408

barkeit dieses Wortes mit einem semantisch nahen Wort femininen Genus bedingt. Vgl. auch Wörter mit so prägnanter innerer Form wie SecnpocHimoe (nbHHCTBo) 'völlige (Betrunkenheit)', HenarjiafliiMoe (BneiaTJieime), 'unauslöschlicher (Eindruck)', 3aKJiHTHÜ (ßpar) 'geschworener (Feind)' usw. Die konservative K r a f t des Usus hält auch diejenigen sprachlichen Fakten in ihrem Banne, bei denen die Merkmale, die ihre Nichtverknüpfbarkeit diachronisch bedingten, schon verwischt sind (vgl. semantisch entetymologisierte Worte wie meKOTJiHBHö 'kitzlig' und yTJiHH 'zerbrechlich', die trotzdem begrenzt verknüpfbar sind). Der völlige Schwund der Motiviertheit kann jedoch zur Erweiterung der Verknüpfbarkeit und zur Aufhebung usueller Restriktionen beitragen (vgl. die Verknüpfbarkeit der Wörter 3aHHjmö 'eingefleischt' oder BnajiHü 'eingefallen'). Die Gebundenheit solcher Wörter wird also durch die usuelle Restriktion in der Verknüpfbarkeit der Bezeichnenden (bei regulärer Verknüpfbarkeit der Bezeichneten) charakterisiert. I n der Analyse „sagt" das monoseme Wort ein Wort (oder mehrere Wörter) mit bestimmtem Bezeichnendem „vorher", während in der Synthese die Wahl des Bezeichnenden f ü r den Ausdruck eines „vorgegebenen" Sinns das semantische Schlüsselwort bedingt. Übrigens wurde die unfreie Verknüpfbarkeit praktisch nicht unter dem Aspekt der Selektivität der Schlüsselwörter studiert. Die Wortverbände mit „verdeckter Unfreiheit" (wie HHocTpaHHiie, 3apyöeiKH£ie

TypiicTH

'Auslandstouristen'

bei

iiHOCTpauHbiii,

*3apy6e!KHHH nocoji 'Botschafter eines anderen Landes', *'Auslandsbotschafter') wurden als solche unseres Wissens zum ersten Male von Meltschuk gekennzeichnet [26, 58—59]. Dieser Aspekt der Gebundenheit war wohl deshalb unbemerkt geblieben, weil die Gebundenheit der Komponenten vom Typ 3apy6e?KHHFT, HHOCTpaHHHii usw. implizit, durch die Restriktionen in der Verknüpfbarkeit der semantischen Schlüsselwörter determiniert ist. Die Erforschung der unfreien Wortverbände unter gleichzeitiger Berücksichtigung dieser beiden Aspekte dürfte besser den bislang noch nicht völlig klaren Mechanismus der usuellen Restriktionen in der Verknüpfbarkeit erhellen, die mit der kulturell-sprachlichen „Weltsicht" zusammenhängen. Der zweite Typ unfreier Wortverbände, die über die Bezeichnenden zusammenhängen, sind Verbände mit veralteten Wortformen wie HHHTOHte cyMHHiuecH, eyMHHeH 'mir nichts, dir nichts' (bilaterale Prädiktabilität), He noMimaTB, B c n o M H H a T b JIHXOM 'nicht schlecht (von jemandem) denken', ruiecTii, pasBOAHTi, cjiOBeca ' s c h w a f e l n ' , CTopimeio B03jjaTb, OTnjiaTHTb ' h u n d e r t f ä l t i g

vergelten'

(unilaterale Prädiktabilität) u. a. I n allen solchen Verbänden beruht die unfreie Verknüpfbarkeit darauf, daß das Wort in seiner fixierten Form veraltet ist (und sich seine Bedeutung nicht irgendwie geändert hat). (Zahlreiche Beispiele hierfür samt Beschreibung bietet Popow [33].) Zum dritten Typ unfreier Verknüpfbarkeit kann man all die Fälle zählen, in denen die „vorhersagende" Komponente tatsächlich keine im lexikalischsemantischen System der Sprache selbständig existierende getrennte lexikalische Bedeutung hat, was darin zum Ausdruck kommt, daß zwischen dieser Komponente und anderen Wörtern keine paradigmatischen semantischen Beziehungen bestehen; z. B. He BHAHO HH ORN 'es ist stockfinster', S A ^ A T T CTPEKANA 'sich aus dem Staube machen', 6e3 3a3peHHH coBecTH 'ohne Gewissensbisse' oder coßecTb 409

3a3pHjia 'Gewissensbisse haben", engl, spick and spart 'geschniegelt', runcible spoon 'Art Messerlöffelgabel' (vgl. jedoch die Synonymenreihe yrpH3eHiie/ MyKH/yKOJiH coßecTii 'Gewissensbisse, -quälen, -stiche' mit der Möglichkeit, das Wort yrpH3eHHH isoliert zu gebrauchen: „OH . . . BTHniBaji Bceii rpyjitio MeflOBHH BJiaHiHHH B03ßVX H He HyBCTBOBaJI HH yrpH3eHHH, HH paCKaHHHii"

'Er . . . sog mit ganzer Brust die honigduftende feuchte L u f t ein und spürte weder [Gewissens]Bisse noch Reue' [A. Tolstoi, Der Leidensweg; wir entnehmen das Beispiel Schmeljow]). Gerade diese Eigenschaft der Komponenten erscheint als p h r a s e o l o g i e b i l d e n d e r F a k t o r . Solche Wortverbände sind aber in der Sprache gewöhnlich selten. Sie bilden eine besondere Wortschatzschicht, denn die phraseologiebildende Komponente ist eine Art „Einsprengsel" im lexikalischen System der Sprache. Amossowa bezeichnet solche Komponenten als Nekrotismen. Daß diese Komponenten gebunden sind und wie sie andere Glieder des Verbandes „vorhersagen", unterscheidet sich erheblich von der erwähnten Gebundenheit der Wörter, die nichts anderes ist als ein hoher Grad an usueller Restriktion in der Wahl einer monosemen Wortschatzeinheit mit selbständiger nominativer Funktion. Bezeichnende wie jiaTaTH (in JiaTaTH sa^aTi. 'sich aus dem Staube machen") (vgl. auch engl, to dree one's weird 'sich dem Schicksal ergeben", wo dree aus altengl. dreögan stammt, das heute in variablen Verbänden nicht mehr verwendet wird) haben die Funktion der gemeinsamen Nomination: Sie gewinnen einen gegenständlich-begrifflichen Bezug (und damit die Qualitäten eines Wortes) n u r zusammen mit einem anderen Wort, ohne das sie nicht gebraucht werden. Da auch die Idiomatizität eine „strenge Restriktion der Wahl des Nebensinns einer polysemen Wortschatzeinheit" ist [63, 44—45], lassen sich die lexikalischen Nekrotismen als Komponenten ohne selbständige lexikalische Bedeutung nicht auch als idiomatische Komponenten qualifizieren. Solche lexikalischen Strukturen sind eher „phraseologisch gebundene Wörter" [47; 48; 49]. Der vierte Typ unfreier Verknüpf barkeit sind die gegenseitig vorhersagbaren Nekrotismen, deren Bezeichnende keine selbständige lexikalische Bedeutung haben. Beide Komponenten haben eine repräsentative Funktion und erscheinen als Einheiten der Ausdrucksebene: ceMO II OBaMO 'hierher und dorthin', KOKa c M O K O Ö '(exotisches) Labsal", engl, tit for tat 'Auge für Auge", spick and span 'geschniegelt'. Auch solche Verbände sind selten. Weinreich hält sie für „Pseudoidiome" [63, 30] (vgl. Amossowas ähnlichen Standpunkt [1, 87]). Die funktional-semantischen und die strukturellen Verschiedenheiten der Wörter, deren Gebundenheit mit der Spezifik ihrer Bezeichnenden zusammenhängt, bedingen also auch die Verschiedenheit der Typen der Wortverbände. Vom Standpunkt der Ebenenstratifikation aus sind die beiden ersten Typen Wortverbände. Auch der dritte Typ, der dadurch gekennzeichnet ist, daß er „phraseologisch gebundene Wörter" realisiert, ist unter resultierendem Aspekt ein Wortverband. Der vierte T y p allerdings ist kein Wortverband mehr, sondern eine Einheit des lexikalisch-semantischen Sprachsystems, die durch ein gesondert gestaltetes Bezeichnendes ausgedrückt ist. Der erste und der zweite Typ werden in der Rede als usuelle Arten des „Vorzugsweisen Gebrauchs" sprachlicher Einheiten reproduziert. Die Reproduzierbarkeit des dritten und vierten 410

T y p s ist durch die f ü r jeden von ihnen spezifischen F u n k t i o n e n ihres K o m p o nentenbestandes bedingt, die die Tatsache determinieren, daß in der R e d e die K o m b i n a t i o n dieser in der syntagmatischen K e t t e gemeinsam realisierten K o m p o n e n t e n g e w ä h l t wird. Einen analogen Reproduzierbarkeitscharakter h a b e n auch die im folgenden zu beschreibenden Wortverbände. D i e d u r c h die G e b u n d e n h e i t d e r Bezeichneten d e r W ö r t e r bedingte unfreie Verknüpfbarkeit Vor einer Analyse der phraseologiebildenden F a k t o r e n , die mit der Spezifik der Bezeichneten der Wörter zusammenhängen, sei bemerkt, d a ß die gemeinsame Eigenschaft sämtlicher Arten von Wortverbänden, deren Unfreiheit durch die Gebundenheit der Bezeichneten determiniert ist, die Reproduzierbarkeit der K o m b i n a t i o n der Wörter, ihre Wahl f ü r die Realisierung in der syntagmatischen K e t t e und nicht die Wahl u n d Kombination der getrennten Wörter als gegliederter Akt sind 1 4 . Diese Eigenschaft widerspiegelt die sprachliche Tatsache, d a ß außer der nominativen Aktivität, die sich in der „ersten Gliederung der Sprache" niederschlägt und ein Resultat der direkten Nomination fixiert, unabhängig von ihrer Basis, der direkten oder abgeleiteten Benennung (Winogradow differenziert zwischen direkten u n d abgeleiteten nominativen Bedeutungen, Kurylowicz zwischen primären u n d sekundären Bedeutungen), der Benennungsprozeß auch d u r c h i n d i r e k t e N o m i n a t i o n vor sich geht. Dies äußert sich so, d a ß das W o r t eine neue Bedeutung, einen neuen gegenständlich-begrifflichen I n h a l t erhält oder ein einzelnes oder mehrere bestimmte Seme d e s Wortes aktualisiert w e r d e n bei gleichzeitiger semantischer Neusegmentierung, Ergänzung, Ersetzung u n d Beseitigung von Semen, in bestimmter fixierter U m g e b u n g (Näheres ü b e r diese Prozesse bei Gak [13]). Das W o r t erhält dabei einen neuen denotativen Bezug, der durch seinen gegenständlich-begrifflichen I n h a l t determiniert ist, der wiederu m bei gemeinsamem Vorkommen mit einem anderen W o r t , einer Art „Marker" des nominativen W e r t s des realisierten Wortes, realisiert wird. Die Benennungsarten, die f ü r die Bildung der nominativ-derivationellen Bedeutungen der W ö r t e r kennzeichnend sind, entwickeln eine abgeleitete Bed e u t u n g gleichsam aus dem Wort heraus. Bei indirekter Nomination entwickelt sich die neue Bedeutung „von außen", durch den assimilierenden Einfluß eines anderen Wortes, das den einen oder anderen I n h a l t u n d d a m i t die semantische Gebundenheit des realisierten Wortes determiniert. So ist z. B. in dem V e r b a n d rjiyociKan THUiHHa 'Grabesstille' die Gebundenheit der Bedeutung des Wortes 14

Definiert man den Nominationsakt nur als Wahl und stellt man ihm die Kombination als Verknüpfbarkeit gegenüber, wie es für die Prager Linguistenschule charakteristisch ist, so verwechselt man inhaltlieh verschiedene Oppositionen: Die nominative Funktion des Zeichens liegt der Unterscheidung der lexikalischen Einheiten zugrunde, daher steht der Nominationsakt nicht der Verknüpfbarkeit, sondern dem Kommunikationsakt gegenüber; die Verknüpfbarkeit als Ebene des syntagmatischen Wertes des Wortes (oder seiner Äquivalente) steht seinem paradigmatischen Wert gegenüber, durch deren „Kreuzung" der Systemstatus der Nominationseinheiten bestimmt wird — ihre Bedeutung und ihr Wert.

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T y p s ist durch die f ü r jeden von ihnen spezifischen F u n k t i o n e n ihres K o m p o nentenbestandes bedingt, die die Tatsache determinieren, daß in der R e d e die K o m b i n a t i o n dieser in der syntagmatischen K e t t e gemeinsam realisierten K o m p o n e n t e n g e w ä h l t wird. Einen analogen Reproduzierbarkeitscharakter h a b e n auch die im folgenden zu beschreibenden Wortverbände. D i e d u r c h die G e b u n d e n h e i t d e r Bezeichneten d e r W ö r t e r bedingte unfreie Verknüpfbarkeit Vor einer Analyse der phraseologiebildenden F a k t o r e n , die mit der Spezifik der Bezeichneten der Wörter zusammenhängen, sei bemerkt, d a ß die gemeinsame Eigenschaft sämtlicher Arten von Wortverbänden, deren Unfreiheit durch die Gebundenheit der Bezeichneten determiniert ist, die Reproduzierbarkeit der K o m b i n a t i o n der Wörter, ihre Wahl f ü r die Realisierung in der syntagmatischen K e t t e und nicht die Wahl u n d Kombination der getrennten Wörter als gegliederter Akt sind 1 4 . Diese Eigenschaft widerspiegelt die sprachliche Tatsache, d a ß außer der nominativen Aktivität, die sich in der „ersten Gliederung der Sprache" niederschlägt und ein Resultat der direkten Nomination fixiert, unabhängig von ihrer Basis, der direkten oder abgeleiteten Benennung (Winogradow differenziert zwischen direkten u n d abgeleiteten nominativen Bedeutungen, Kurylowicz zwischen primären u n d sekundären Bedeutungen), der Benennungsprozeß auch d u r c h i n d i r e k t e N o m i n a t i o n vor sich geht. Dies äußert sich so, d a ß das W o r t eine neue Bedeutung, einen neuen gegenständlich-begrifflichen I n h a l t erhält oder ein einzelnes oder mehrere bestimmte Seme d e s Wortes aktualisiert w e r d e n bei gleichzeitiger semantischer Neusegmentierung, Ergänzung, Ersetzung u n d Beseitigung von Semen, in bestimmter fixierter U m g e b u n g (Näheres ü b e r diese Prozesse bei Gak [13]). Das W o r t erhält dabei einen neuen denotativen Bezug, der durch seinen gegenständlich-begrifflichen I n h a l t determiniert ist, der wiederu m bei gemeinsamem Vorkommen mit einem anderen W o r t , einer Art „Marker" des nominativen W e r t s des realisierten Wortes, realisiert wird. Die Benennungsarten, die f ü r die Bildung der nominativ-derivationellen Bedeutungen der W ö r t e r kennzeichnend sind, entwickeln eine abgeleitete Bed e u t u n g gleichsam aus dem Wort heraus. Bei indirekter Nomination entwickelt sich die neue Bedeutung „von außen", durch den assimilierenden Einfluß eines anderen Wortes, das den einen oder anderen I n h a l t u n d d a m i t die semantische Gebundenheit des realisierten Wortes determiniert. So ist z. B. in dem V e r b a n d rjiyociKan THUiHHa 'Grabesstille' die Gebundenheit der Bedeutung des Wortes 14

Definiert man den Nominationsakt nur als Wahl und stellt man ihm die Kombination als Verknüpfbarkeit gegenüber, wie es für die Prager Linguistenschule charakteristisch ist, so verwechselt man inhaltlieh verschiedene Oppositionen: Die nominative Funktion des Zeichens liegt der Unterscheidung der lexikalischen Einheiten zugrunde, daher steht der Nominationsakt nicht der Verknüpfbarkeit, sondern dem Kommunikationsakt gegenüber; die Verknüpfbarkeit als Ebene des syntagmatischen Wertes des Wortes (oder seiner Äquivalente) steht seinem paradigmatischen Wert gegenüber, durch deren „Kreuzung" der Systemstatus der Nominationseinheiten bestimmt wird — ihre Bedeutung und ihr Wert.

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rjiy6oKan (die von der Bedeutung 'einen größeren vertikalen Abstand von der Oberfläche habend, als es die Norm vorsieht' ausgeht) dadurch determiniert, daß sie sich durch die Beseitigung der Seme 'Oberfläche' und 'Vertikalität' entwickelt h a t ; das Sema 'Abstand' verwandelte sich, nachdem es das Merkmal ' R a u m ' verloren hatte, in das Sema 'Maß'; das Sema 'mehr, als es die Norm vorsieht' ergibt, auf die Bedeutung 'Fehlen von Geräusch' (bei dem Wort TimiHHa 'Stille') abgestimmt, schließlich die Bedeutung 'absolut', die sich nur mit den Wörtern THimiHa 'Stille' und MOJinamie 'Schweigen' realisiert (vgl. rjxyöoKan CHMnaTHH 'große Sympathie' und rjiyßoKaa oceHb 'Spätherbst', wo andere Bedeutungen realisiert werden). Bei indirekter Nomination erfolgt also eine Benennung durch verbal-syntagmatische Vermittlung des semantischen Inhalts des Wortes, wodurch auch der paradigmatische Wert solcher Bedeutungen nur zusammen mit ihren „Markern" bestimmt wird. All das erzeugt eben die Gebundenheit, die für die als geschlossener nominativer Komplex reproduzierten Verbindungen kennzeichnend ist, sowie den bekannten Widerspruch zwischen der gemeinsamen Reproduktion der Verbandsglieder bei der Benennung und ihren Bezug zu den einzelnen Denotaten im Satz: den Widerspruch zwischen der semantischen Gebundenheit der Bedeutung und ihrer nominativen Isoliertheit, die darin zum Ausdruck kommt, daß die Wörter mit indirekter nominativer Funktion oppositive Beziehungen als gesonderte, wenn auch durch die Realisationsbedingungen gebundene Einheiten des lexikalischsemantischen Systems der Sprache eingehen. Diese Widersprüche widerspiegeln aber nur den Unterschied zwischen der direkten und indirekten Nominationsart, zwischen dem Wirken von System und Ususfaktoren, die das lebendige Gewebe der Sprache ausmachen. Die mit der Spezifik der Bezeichneten zusammenhängenden Typen der Gebundenheit der Wörter lassen sich nach folgenden Merkmalen differenzieren: nach der Funktion, nach den für ihre Manifestation verwendeten Mitteln, nach dem Charakter des determinierenden Kontextes und nach der Kommensurabilität mit den Einheiten des lexikalisch-semantischen Systems. Da es uns schwerfällt, jeden Typ zu benennen, werden wir sie an H a n d ihres ausschlaggebenden Merkmals beschreiben. • Die G e b u n d e n h e i t von W ö r t e r n auf G r u n d der F u n k t i o n der m i t t e l b a r e n N o m i n a t i o n , die d a s W o r t in e i n e r b e s t i m m t e n , d u r c h die „ L i s t e " v o r g e g e b e n e n l e x i k a l i s c h e n U m g e b u n g h a t u n d die d u r c h Mittel der d e r i v a t i o n e l l e n A b w a n d l u n g des b e z e i c h n e t e n W o r t e s m a n i f e s t i e r t w i r d . Dieser Typ bildet die meisten „parametrischen Verbände". Wie bereits erwähnt, reicht es für die Beschreibung der lexikalischen Verknüpfbarkeit mit Hilfe semantischer Parameter aus, sämtliche „unerwarteten" Gestaltungen des parametrischen Sinns bei bestimmten Schlüsselwörtern aufzuzählen, während die Bedeutung des Parameters und damit auch die Bedeutung der Wörter, die ihn ausdrücken, mit einer Genauigkeit bis zur vollständigen Synonymie, d. h. ohne Berücksichtigung der Ähnlichkeiten und Verschiedenheiten der Mittel für den Ausdruck des Parameters in ihrer lexikalisch-semantischen Dimension, bestimmt wird [26, 55]. F ü r die Erforschung der lexikalisch-semantischen Verknüpfbarkeit der 412

Wörter sowie für die Untersuchung des Mechanismus, der komplizierte nominative Strukturen „generiert", ist es jedoch gleichgültig, auf Grund welcher semantischen Faktoren die „Unerwartetheit" des Ausdrucks bestimmter Sinngehalte zustande kommt. In der russischen phraseologischen Terminologie heißen diejenigen Wortbedeutungen, die nur in bestimmten lexikalischen Umgebungen realisiert werden, gewöhnlich „phraseologisch gebunden". In dieser recht umfangreichen Klasse von Wortbedeutungen heben sich vor allem die gebundenen B e deutungen der p o l y s e m e n W ö r t e r ab. Winogradow schrieb, daß sich die Eigenschaft der Polysemie von Wörtern auch in ihrer Zugehörigkeit zu phraseologischen Serien äußert: „Die meisten Bedeutungen der Wörter sind phraseologisch gebunden" [9,17]. Gerade diese Bedeutungen der Wörter bezeichnen wir als l e x i k a l i s c h gebundene D e r i v a t i o n s b e d e u t u n g e n der W ö r t e r . Dieser Bedeutungstyp steht damit der Polysemie des Wortes (den lexikalischsemantischen Varianten Smirnizki zufolge) und den verschiedenen Fällen von Kontextvarianten der Wörter (wie H^eT 'herausfallen in Gestalt atmosphärischer Niederschläge') einschließlich der nicht durch den Usus verankerten Fälle kontextgebundenen Wortgebrauchs einerseits und denjenigen Wortbedeutungen andererseits gegenüber, die nicht als derivationell bestimmt werden können, sondern ganz durch den Gebrauch in einer fixierten lexikalischen Einzelumgebung bedingt sind (z. B. 30Ji0Taa M0Ji0,i;e}Kb 'goldene Jugend' [iron.]). Die erste Opposition enthüllt das Merkmal einer nicht semantisch bedingten lexikalisch begrenzten Verknüpfbarkeit -der Wörter (es handelt sich um eine lexikalische Gebundenheit der Bedeutung), und die zweite enthüllt das Merkmal der Abgeleitetheit (den Derivationscharakter) ihrer Bedeutung. Erläutern wir die erste Opposition. Der reguläre syntagmatische Wert eines Wortes hängt mit seinem paradigmatischen Wert zusammen, die beide seine individuelle lexikalische Bedeutung widerspiegeln. Zwei durch ein und dasselbe Bezeichnende repräsentierte Bedeutungen sind polysem, wenn sie unter Bewahrung des Ableitungsverhältnisses in komplementärer Distribution in bezug auf die gegenständlich-begrifflichen Merkmale stehen, was in der komplementären Distribution ihrer lexikalischen und bzw. oder semantischen Umgebungen zum Ausdruck kommt (Näheres bei Schmeljow [48]; vgl. auch das Kapitel „Der Wortschatz" im vorliegenden Band). Die Verknüpfbarkeit der einzelnen Bedeutungen der polysemen Wörter ist somit durch den semantischen Inhalt des Wortes selbst determiniert und begrenzt. Dort, wo die Verknüpfbarkeit des Wortes nicht seinem regulären semantischen Inhalt entspricht, überwiegt der syntagmatische Wert und wird die (verankerte oder okkasionelle) „kontextbedingte Bedeutung" realisiert. So kann die Kombination 3eJieHtie iißen 6erneHO CITHT (wörtlich: 'grüne Ideen schlafen toll') von einem Träger der russischen Sprache als 'unreife Ideen' und 'schlafen unruhig' aufgefaßt werden (wenn die Bildhaftigkeit des Kontextes vorgegeben ist). Die zweite Bedeutung ist die ganz durch den Kontext bedingte (metaphorische) Verwendung des Wortes SeiueHO (der Verband ßeineHO C I I H T kann auch anders aufgefaßt werden); die erste Bedeutung wird als kontextbedingte Verwendung der Derivationsbedeutung 'unreif', die mit Personenbezeichnungen realisiert wird (vgl. 3ejieHaH 413

MOJioflejKB 'grüne Jugend'), aufgefaßt. Aber außer einer solchen durch den K o n t e x t gebundenen Realisierung von Bedeutungen können die Wörter auch gebundene Bedeutungen haben, deren Realisierung nicht durch den Kontext, sondern lexikalisch bedingt ist ,— sie werden regulär in ein und derselben Umgebung reproduziert, aber nur mit der begrenzten „Liste" der Wörter, die mit ihnen semantisch ( u n d syntaktisch) verknüpfbar s i n d . D a s Wort rjiyooKiiii

'tief' realisiert nach Auskunft der Wörterbücher die lexikalisch gebundene Bedeutung 'ein hohes Maß erreicht habend' in Verbindung mit einer begrenzten Zahl von Wörtern, nämlich: oceHb 'Herbst', 3HMa 'Winter', Hoib 'Nacht' eTapoeTb 'das (hohe) Alter', CTapHK 'der Alte". Die Bedeutungen dieser Wörter lassen sich nach dem Merkmal 'derjenige Abschnitt (des Tages, der Jahreszeit, des Lebens), der diejenige Phase vom Bezugspunkt an darstellt, die schon mehr als die Hälfte umfaßt' (vgl. unmögliches *rjiy6oKoe yTpo *'tiefer Morgen', *rjiyooKoe jieTO *'tiefer Sommer', *rjiy6oKaH 3pe.noCTb *'tiefe Reife' usw.). Die gebundene Bedeutung des Wortes r j i y o o K i i i i wird nur mit Wörtern realisiert, in deren Inhalt man das erwähnte Merkmal feststellt, aber nicht mit allen, sondern nur mit ganz bestimmten Wörtern mit diesem Merkmal (vgl. unmögliches *rjiy6oKHfi Benep *'tiefer Abend', *rJiy6oKan CTapyxa *'tiefe Greisin'). Vgl. auch cropaTB OT JIHJÖBH, crafla, 3aBncTn, HeTepneHMH, jnoöonuTCTBa 'vor Liebe, Scham, Neid, Ungeduld, Neugier vergehen' bei nicht, möglichem *cropaTb OT HeHäBHCTH, SjiaHteHCTBa * ' v o r H a ß , G l ü c k s e l i g k e i t v e r g e h e n " ; xjieÖHyTb rop«,

CTpaxy 'Leid, Angst erfahren' bei nicht möglichem *xjieÖHyTb yjKaca, HecnacTbH *'Entsetzen, Unglück erfahren' usw. Übrigens endet die Polysemie eines Wortes in reiner Gestalt dort, wo (unter sonst gleichbleibenden Bedingungen) die Verknüpfbarkeit nichtsemantisch lexikalisch begrenzt ist, denn die Einzelbedeutung eines polysemen Wortes (die „lexikalisch-semantische Variante") ist per definitionem eine selbständige nominative Einheit, deren Bedeutung in der Umgebung in E r s c h e i n u n g t r i t t , mit ihr aber lexikalisch nicht zusammenhängt; vgl. z. B. die Realisierung der Einzelbedeutung des polysemen Wortes rjiyöoKiiii 'tief als Antonym zu 'oberflächlich': rjiyöoKiiii yM 'großer Verstand", rjryöoKiie 3HaHHH 'umfangreiches W i s s e n ' , rjiyöoKaH jiioßoBb ' g r o ß e L i e b e ' , rjiyöoKan CHMnaTHH ' g r o ß e S y m p a t h i e ' ,

rjiyÖOKne HaßjiiofleHiin 'feine Beobachtungen' usw. mit der angeführten lexikalisch gebundenen Deiivationsbedeutung dieses Wortes als 'ein Höchstmaß erreicht habend'. In diesem Zusammenhang sei gesagt, daß die „Grenze" zwischen den freien Bedeutungen eines polysemen Wortes und seinen lexikalisch gebundenen Bedeutungen nicht immer deutlich erkennbar ist, weil jede „abgeleitete" nominative Bedeutung nur durch die Umgebung (oder den Kontext) sichtbar wird. So erscheint die Bedeutung 'Essen' des Wortes CTOJI als selbständige nominative Einheit, denn seine Verknüpfbarkeit mit anderen Wörtern ist nicht durch eine Liste „geschlossen", auch wenn sie durch die Norm begrenzt ist (vgl. H N E T H I E C K H H , B K Y C H H Ö , aimeTHTHHii, cKyflHHft CTOJI 'Diätessen, schmackhaftes, appetitliches, kärgliches Mahl'; CHHTb KOMHaTy co CTOJIOM 'ein Zimmer mit Vollverpflegung mieten'; CTOJiOBaTbCH 'in Vollverpflegung sein' bei nicht möglichem *«oporoii, xopomnii CTOJI *'teurer, guter Tisch'), während die Bedeutung 'Abteilung in einer Behörde zur Erledigung bestimmter 414

Angelegenheiten' nur zusammen mit einer begrenzten (wenn auch im Prinzip nicht geschlossenen) Anzahl von Wörtern, die die „bestimmten Angelegenheiten" konkretisieren, realisiert wird und deshalb eine unfreie, lexikalisch gebundene B e d e u t u n g in zusammengesetzten Benennungen ist. Die Wörter mit lexikalisch gebundener Derivationsbedeutung können eine recht umfangreiche Verknüpfbarkeit haben, wenn sie die sogenannten phraseologischen Serien bilden, u n d eine begrenzte Verknüpfbarkeit haben, deren „Liste" nur ein einziges Wort enthält. So verknüpft sich das Wort nojiéT 'Flug' in seiner usuell gebundenen Derivationsbedeutung mit einer bestimmten semantischen Gruppe von Wörtern, nämlich: MHCJIB, yja, MeHTa, Boo6pa;KeHne, n a p M a y b i M > napMaaM

442

(napiiäM).

kennzeichnet, d. h. durch die nichtstellungsbedingten phonetischen Veränderungen innerhalb des Morphems mit Wortbildungs- und Wortabwandlungsfunktionen, ferner dadurch, daß zwischen den synsemantischen Elementen n n d ihrer grammatischen Bedeutung eine eindeutige Entsprechung fehlen kann, durch eine enge Verschmelzung der Morpheme. Die flektierenden Sprachen "werden in die Subklasse der Sprachen mit innerer und in diejenigen mit äußerer Flexion (Fusion) eingeteilt; wie polytypologisch eine Sprache und damit wie unzulänglich diese Klassifizierung ist, zeigen folgende Beispiele aus dem Deutschen: Äußere Flexion: Tisch — Tische Innere Flexion: Mutter — Mütter Agglutination: teilnehmen Polysynthese: Vergißmeinnicht Isolierung: auf gut Glück8 Anfang des 20. Jahrhunderts wurde mehr über die Sprachen der Welt bekannt und zugleich auch die Sprachtheorie weiterentwickelt. So schlug der amerikanische Linguist Sapir, ein guter Kenner der Indianersprachen und einer •der Begründer der deskriptiven Linguistik, 1921 eine Klassifizierung nach neuen Prinzipien vor. E r kennzeichnete alle bisherigen Klassifizierungen als „rein technisch" [134, 118] und legte seiner Klassifizierung vier Arten von Kriterien zugrunde [134, 59-137]: 1. I n der betreffenden Sprache werden verschiedene Typen von Begriffen ausgedrückt — Wurzel-, Derivations-, gemischte Beziehungsbegriffe (die Bedeutung des Wortes enthält außer der lexikalischen auch die Bedeutung von Beziehungen) und reine Beziehungsbegriffe (die Beziehungen werden nicht im Wort selbst, sondern durch die Wortfolge, durch synsemantische Wörter, durch •die Intonation ausgedrückt). Bei Sapir war grundsätzlich neu, daß er alle diese Eigenschaften in der Sprache als gleichzeitig vorhanden anerkannte, deswegen spricht er vom G r a d der Derivation usw., wodurch sich eine Sprache exakter •als vorher charakterisieren läßt. 2. Der Grad der Verschmelzung oder der Techniken der Zusammenfügung der Morpheme in der Wortform. 3. Der Grad der „Symbolisierung", d. h. der Veränderung der Bedeutung durch phonologische Variation. 4. Der Synthesegrad (Analytismus, Synthetismus, Polysynthetismus). Sapir vermerkte in seiner Klassifikationstabelle [134,133] auch die „schwache Entfaltung" verschiedener Prozesse. Die Tabelle gleicht einer gleitenden Skala; Sapir selbst schwankte bei der Bestimmung des Typs der französischen Sprache, und er merkte an, daß sie sowohl als eine Sprache mit einfach gemischten als auch mit kombiniert gemischten Beziehungen gelten können [134, 133]. Nach -einer Analyse von 21 Sprachen erhielt Sapir 21 Klassen. E r hielt seine Klassifizierung nicht für abgeschlossen, legte aber besonderen Wert auf ihre Elastizität und darauf, daß die Kriterien mehrere Aspekte berücksichtigen. I n der T a t kann Sapirs Klassifikation schon deswegen nicht als abgeschlossen und 8

Beim Konstruieren solcher Beispiele muß man einige geringfügige Ungenauigkeiten (z. B. in der Auffassung der Isolierung) in Kauf nehmen.

443

vollkommen gelten, weil er nicht über ausreichend vollständige und widerspruchsfreie Sprachbeschreibungen verfügte. Auch die von ihm gewählten Kriterien können nicht als vollkommen gelten [121; 42,50-51]. Das schmälert aber den Wert seiner Arbeit unseres Erachtens nicht sehr, denn er machte implizit die ersten Schritte zur Schaffung einer Typologie, die auf der Korrelation von Bezeichnetem und Bezeichnendem beruht, und er forderte als erster Typologe, daß man das sprachliche Material nicht als eine Ansammlung von Elementen, sondern als ein System zu betrachten habe. Außerdem schob Sapir die Grenzen der Typologieforschung hinaus, indem er eingehend die Sprachen der Indianer Amerikas studierte; in seiner Klassifizierung büßten die indoeuropäischen Sprachen auf ganz natürliche Weise ihre führende Position ein. Durch die Berücksichtigung mehrerer Kriterien konnte Sapir viele spezielle Typen ermitteln und ein System derjenigen speziellen Typen aufstellen, die einen allgemeinen Sprachtyp determinieren. Sapirs Arbeit krönte eine einhundertjährige Entwicklung der Klassifikationstypologie und leitete zugleich eine neue, die gegenwärtige Etappe der Typologieforschung ein.

Einige Richtungen

der gegenwärtigen

Typologieforschung

Eine Neuorientierung der typologischen Untersuchung der Sprachen wurde durch die Mängel angeregt, die den Anfang des 20. Jahrhunderts geschaffenen Klassifikationen anhafteten; keine einzige von ihnen kann jede Sprache vollständig und widerspruchsfrei charakterisieren, ihre Spezifik widergeben und sämtliche spezifischen Eigenschaften aller Sprache überhaupt zusammenfassen. Die Schwäche der traditionellen Klassifizierung Wurde besonders augenfällig im Zusammenhang mit der Veröffentlichung von Beschreibungen seltener, früher unzugänglicher und somit für die Linguistik „neuer" Sprachen sowie in Verbindung mit der Entwicklung der linguistischen Theorie des Strukturalismus [15; 142; 115]. Die neue Etappe der Typologieforschung kennzeichnen: 1. Das verstärkte Interesse für die Theorie der Sprachstruktur und ihrer Hierarchie [11; 20; 42; 47; 53, 6 - 1 9 ; 131; 55; 59; 62; 63; 73; 83; 84; 94; 98; 120; 132; 154] (vgl. auch das Kapitel „Die Ebenen der Sprachstruktur" im vorliegenden Band), wodurch man zahlreiche spezielle Typen auf sämtlichen Ebenen ermitteln und ihren Zusammenhang studieren konnte. 2. Die Erkenntnis, daß es angesichts unseres gegenwärtigen Wissens von der Sprache unzweckmäßig ist, eine allgemeine Klassifikationstypologie aufzustellen [59, 29], die Hinwendung zur Typologie der genetischen Klassen der Sprachen [19; 38; 83; 68; 80], sprachlicher Subsysteme [21; 96; 157; 91; 114; 106; 86; 104; 154] und einzelner Kategorien [12; 26; 33; 37; 49; 106; 66]. 3. Die Schaffung einer Typologie der Universalien zwecks Ermittlung der allgemeinsten Merkmale der Sprachstruktur [155; 101; 103; 44; 152; 87; 100; 113; 151; 70; 71; 73; 79; 115; 99]. 444

vollkommen gelten, weil er nicht über ausreichend vollständige und widerspruchsfreie Sprachbeschreibungen verfügte. Auch die von ihm gewählten Kriterien können nicht als vollkommen gelten [121; 42,50-51]. Das schmälert aber den Wert seiner Arbeit unseres Erachtens nicht sehr, denn er machte implizit die ersten Schritte zur Schaffung einer Typologie, die auf der Korrelation von Bezeichnetem und Bezeichnendem beruht, und er forderte als erster Typologe, daß man das sprachliche Material nicht als eine Ansammlung von Elementen, sondern als ein System zu betrachten habe. Außerdem schob Sapir die Grenzen der Typologieforschung hinaus, indem er eingehend die Sprachen der Indianer Amerikas studierte; in seiner Klassifizierung büßten die indoeuropäischen Sprachen auf ganz natürliche Weise ihre führende Position ein. Durch die Berücksichtigung mehrerer Kriterien konnte Sapir viele spezielle Typen ermitteln und ein System derjenigen speziellen Typen aufstellen, die einen allgemeinen Sprachtyp determinieren. Sapirs Arbeit krönte eine einhundertjährige Entwicklung der Klassifikationstypologie und leitete zugleich eine neue, die gegenwärtige Etappe der Typologieforschung ein.

Einige Richtungen

der gegenwärtigen

Typologieforschung

Eine Neuorientierung der typologischen Untersuchung der Sprachen wurde durch die Mängel angeregt, die den Anfang des 20. Jahrhunderts geschaffenen Klassifikationen anhafteten; keine einzige von ihnen kann jede Sprache vollständig und widerspruchsfrei charakterisieren, ihre Spezifik widergeben und sämtliche spezifischen Eigenschaften aller Sprache überhaupt zusammenfassen. Die Schwäche der traditionellen Klassifizierung Wurde besonders augenfällig im Zusammenhang mit der Veröffentlichung von Beschreibungen seltener, früher unzugänglicher und somit für die Linguistik „neuer" Sprachen sowie in Verbindung mit der Entwicklung der linguistischen Theorie des Strukturalismus [15; 142; 115]. Die neue Etappe der Typologieforschung kennzeichnen: 1. Das verstärkte Interesse für die Theorie der Sprachstruktur und ihrer Hierarchie [11; 20; 42; 47; 53, 6 - 1 9 ; 131; 55; 59; 62; 63; 73; 83; 84; 94; 98; 120; 132; 154] (vgl. auch das Kapitel „Die Ebenen der Sprachstruktur" im vorliegenden Band), wodurch man zahlreiche spezielle Typen auf sämtlichen Ebenen ermitteln und ihren Zusammenhang studieren konnte. 2. Die Erkenntnis, daß es angesichts unseres gegenwärtigen Wissens von der Sprache unzweckmäßig ist, eine allgemeine Klassifikationstypologie aufzustellen [59, 29], die Hinwendung zur Typologie der genetischen Klassen der Sprachen [19; 38; 83; 68; 80], sprachlicher Subsysteme [21; 96; 157; 91; 114; 106; 86; 104; 154] und einzelner Kategorien [12; 26; 33; 37; 49; 106; 66]. 3. Die Schaffung einer Typologie der Universalien zwecks Ermittlung der allgemeinsten Merkmale der Sprachstruktur [155; 101; 103; 44; 152; 87; 100; 113; 151; 70; 71; 73; 79; 115; 99]. 444

4. Die Einbeziehung von Quantitätskriterien und die Ermittlung ihrer Anwendungsbereiche [97; 13; 27; 28; 33; 49; 59; 102; 117; 126]. Die Prinzipien der Sapirschen Typolqgie verwendete Greenberg [100; 98; 102], der die sich aus dem polytypologischen Charakter jeder natürlichen Sprache aufdrängenden Schlußfolgerungen zog und die Bestimmung des Sprachtyps quantitativ vornahm, indem er den Grad des Vorhandenseins der jeweiligen Eigenschaft berechnete [97]. Greenberg ging von Sapirs Kriterien aus, transformierte sie und erhielt letztlich fünf typologische Hauptparameter mit zehn Indizes. Die sich in der Sprache realisierenden Beziehungen interpretierte er als dynamische Tendenzen der Sprache und nicht als Inhalt der Klassifikationsgruppen. Greenberg untersuchte weniger das Sprachsystem (die Paradigmatik) als vielmehr Texte (die Syntagmatik / vgl. Iwanow und Toporow [18]/), indem er die Frequenz der Elemente im Text berücksichtigte. Er umriß die Verknüpfungsgesetzmäßigkeiten der speziellen Typen, auf Grund deren der allgemeine Typ zustande kommt (die harmonische Sequenz der Elemente). Die Hauptkritik an Greenberg betrifft seine Kriterien, den geringen Umfang der analysierten Texte (100 Wörter) sowie die ungenügende Charakteristik in bezug auf die willkürlich aufgestellte Liste der Kriterien [31, 268]. Ein gegenüber Sapir und Greenberg ganz anderes typologisches Prinzip schlägt Martinet vor [120; 121]. Seine Typologie beruht auf einer Charakteristik der jeweiligen Sprache in bezug auf eine von ihm eingeführte „allgemeine" (mittlere) Norm unter Berücksichtigung des Funktionierens der Einheiten und ihres Ausdrucks. Die Klasse der lexikalischen und die Klasse der grammatischen Einheiten werden in vier Typen eingeteilt: 1. lexikalischer Typ ohne Bezeichnung der Funktion, 2. grammatischer Typ ohne Bezeichnung der Funktion, 3. lexikalischer Typ mit Bezeichnung der Funktion und 4. grammatischer Typ mit Bezeichnung der Funktion. Martinets Typologiekonzeption ist dadurch interessant, daß sie sich der Termini der Zeichentheorie der Sprache bedient und von der Funktion der Elemente und nicht nur von der Form ausgeht. Sie läßt sich mit den typologischen Ansichten Coserius vergleichen, der auch vorschlug, die funktionale Struktur der Sprache in bezug auf die Norm zu bewerten [94]. Wie bereits erwähnt, veranlaßte das Operieren mit dem Begriff der Sprachstruktur die Typologen, nicht die Strukturvielfalt der Sprachen, das Spezielle, sondern das Allgemeine, d. h. die allgemeinsten Eigenschaften der Sprache, die Universalien, zu suchen [115]. Dabei beachteten sie die Sprachhierarchie, um typologische Merkmale nicht nur in der Morphologie, sondern auch auf allen anderen Ebenen der Sprache festzustellen unter Verwendung der isomorphen Eigenschaften der Sprachstruktur. Pionier auf dem Gebiet der typologischen Universalien war Greenberg [73, 11-17; 71 99]. Durch die Feststellung von Universalientypen [103] und die Ableitung von Einzeluniversalien soll ein System entstehen, das als „allgemeinster" Typ der Sprachstruktur bezeichnet werden kann. Man darf allerdings nicht meinen, die typologische Analyse des Speziellen in der Sprache sei abgeschlossen; wie irrig eine solche Ansicht ist, lassen unseres Erachtens recht gut die redaktionellen Anmerkungen zur russischen Übersetzung von Greenbergs Artikel „Some 445

universals of grammar with particular reference to the order of meanigful -elements" erkennen [72]. Sechs der von Greenberg angeführten 45 Universalien haben sich als nicht universell erwiesen. Selbstverständlich schmälert das weder den Wert von Greenbergs Artikel noch die Bedeutung der Universalientheorie für die Linguistik der Gegenwart, außerdem wurden Existenz und Wichtigkeit der „Fast-Universalien" sowohl von Greenberg als auch von Jakobson hervorgehoben [115]. Schon die Existenz solcher Ausnahmen muß für die Typologie interessant sein, denn auch sie dürften ein inhärentes Charakteristikum der Sprache sein [140]. Auf der allgemeinen Theorie von der Sprachstruktur und der Universalientheorie baut Uspenski seine originelle Typologie auf [73]. Seine Ausgangspunkte sind erstens das in der Sprachwissenschaft entstandene Beg'iffssystem, das er so interpretiert, daß der Begriff der Sprachstruktur expliziert •erscheint und die gewonnenen Definitionen auf die typologische Analyse anwendbar sind, und zweitens die traditionelle morphologische Klassifizierung (vgl. Anmerkung 2 auf S. 439). Sämtliche konkreten Sprachen werden mit Bezug •auf eine Etaionsprache beschrieben, die typologische Charakteristik einer Sprache wird durch Transformationen definiert, die für den Übergang von der Etaionsprache zu der betreffenden Sprache erforderlich sind. Der Typ der Sprache wird als Spezifik ihrer Struktur definiert. Uspenski selbst äußert Skepsis gegenüber einer Quantifizierung der Typologie [73, 49—50], obwohl Skalicka meint, daß man Uspenskis Typologie in bezug auf den „Exaktheitsgrad" als quantitativ ansehen könne [59, 25—26]. Innerhalb der Prager Linguistenschule betrachtet eine charakterologische Richtung der Typologie [56; 142] den Sprachtyp als ein „Bündel von aufeinander abgestimmten Erscheinungen" [140, 157]. Die Charakterologie untersucht die innere typologische Spezifik einer konkreten Sprache [146] sowie Sprachgruppen auf der Grundlage genetischer Verwandtschaft oder als Sprachbünde nach der Auffassung von Trubetzkoy [68]. Dabei entstehen Gesamtheiten typologischer Merkmale, deren Verknüpfung in der Sprache erstens möglich ist und zweitens die Stabilität des betreffenden allgemeinen Sprachtyps gewährleistet [59]. Man beschreibt (manchmal mit Hilfe von Universalientermini) die zwischen •den speziellen Typen in den konkreten Sprachen vorhandenen Beziehungen, wodurch ein allgemeiner Sprachtyp als ein System spezieller Typen bestimmt und aufgebaut werden kann. Skalicka zufolge [59, 10] vermag eine charakterologische Analyse nicht nur die Strukturbesonderheiten einer konkreten Sprache zu veranschaulichen, sondern auch die Spezifik einer natürlichen Sprache als eines Phänomens zu zeigen und ihren Platz unter analogen semiotischen Systemen zu bestimmen. Ausgehend von den allgemeinen Prämissen der Charakterologie, schlägt .Melnikow eine typologische Sprächbeschreibung auf der Grundlage der Hauptbesonderheit des Baus und des Funktionierens der jeweiligen Sprache, der Determinante, vor, die sich auf den verschiedenen Ebenen zeigt, das Vorhandensein oder Fehlen anderer, ihr gegenüber abhängiger Strukturbesonderheiten bedingt und so den Typ der Sprache determiniert [39; 40; 41]. Serebrennirkow untersucht die Ursachen für die Stabilität des agglutinierenden Baus und •446

stellt zwei grundlegende Merkmale fest, die alle anderen Merkmale der Agglutination determinieren, nämlich das Fehlen der grammatischen Substantivklassen und die Wortfolge „Determination + Determinandum" [58, 55]. Eine •etwas andere Auffassung von den grundlegenden strukturtypologischen Charakteristika der Sprache (man könnte sie als psycholinguistisch bezeichnen) finden wir bei Capell, der ausgiebig austronesisches Sprachmaterial heranzieht [92]. Skalicka hält eine vollständige und systematische Klassifizierung der Sprachen für gegenwärtig noch nicht möglich [59, 29], weil wir noch zu wenig von der Sprachstruktur wissen. Die Meinungsverschiedenheiten der Linguisten in bezug auf die unterschiedlichsten Probleme, die die Sprachstruktur und die Methoden ihrer Analyse betreffen, erlaubten zwar Bazell, eine Typologie der Grammatik •zu schaffen, die davon ausgeht, daß sich die einen oder anderen Begriffe für die Linguistik der Gegenwart relativ „einfach" bzw. „kompliziert" definieren lassen [83], erschweren aber erheblich eine „trivialere" Klassifizierung. Das •erklärt teilweise auch das Interesse der Typologen für allgemeintheoretische Probleme, für die Mikrotypologie [59, 23] (Skalicka spricht von der Typologie •der Sprachfamilien [18; 19; 29; 105] und Sprachbünde) und für die Typologie der Ebenen [96; 73, 40f.]. Die typologische Untersuchung der Struktur verwandter Sprachen hat durchaus eine Perspektive, denn bei größeren Identitäten kann man leichter den Grad der Spezifik jeder Einzelsprache, die unterschiedlichen Funktionen genetisch identischer Elemente usw. verfolgen [38; 80,55—56; 77; 81; 17; 35; 68; 94; 105]. An verwandten Sprachen kann man die „Typen der Veränderungen" untersuchen [10; 1 5 , 1 2 - 1 3 ; 124; 67; 109; 148], d. h. eine diachronische Typologie aufstellen. Mikrotypologisch werden mit Erfolg germanische [29; 64], slawische [18; 19; 20; 36; 64; 65; 147], romanische [61] 9 , Bantu- [144], karthwelische Sprachen [22] sowie die indoeuropäische Sprachfamilie [16; 105] untersucht, wobei man fast immer von charakterologischen Prinzipien ausgeht i 0 . Die meisten typologischen Untersuchungen der Gegenwart sind Typologien von Subsystemen, einzelnen Ebenen oder Kategorien. Pottier schlägt ein ausführliches Schema der typologischen Analyse nach den Ebenen vor, das die Untersuchung des Systems (des „Inventars") der Elemente und die Untersuchung des Textes unter funktionalem Aspekt umfaßt. Sein Schema setzt sowohl eine quantitative als auch eine qualitative Behandlung des Sprachmaterials voraus [132, 300-310]. Milewski baut sein typologisches Analysesystem auf der Grundlage der Funktion der Elemente des Systems und des Textes auf [49]. E r forscht paradigmatisch und syntagmatisch und sagt, daß die typologisch identischen Elemente im Text und im System die gleiche Funktion haben [49, 3] (vgl. aber Uspenski 9

Es handelt sich um drei Bände über die gallisch-romanische Untergruppe (M. S. Guratschewa und N. A. Katagosehtschina), die iberisch-romanische Untergruppe (N. A. Katagoschtschina und J . M. Wolf) und das Rumänische (L. I. Lucht). tü Ein interessanter Versuch auf dem Gebiet der diachronischen Typologie ist eine Monog.aphie von Serebrennikow [57], die Sprachen verschiedener Typen und Familien heranzieht.

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[73, 35—36]). Der Vergleich erfolgt auf der phonologischen, semantischen, lexikalischen und syntaktischen Ebene. Die bilateralen Einheiten (die Morpheme) werden im Hinblick auf ihre distinktive und signifikative Funktion untersucht. Milewski verwendet oft den Begriff des Isomorphismus, wenn er die Elemente verschiedener Ebenen und die Elemente einer Ebene, aber unterschiedlichen Kompliziertheitsgrades beschreibt [49, 26]. E r quantifiziert die typologischen Parameter mit Hilfe eines statistischen Apparats zur Abhebung des Individuellen und zur Summierung des Typischen. Das von Milewski empfohlene Verfahren ergibt eine vielseitige typologische Charakteristik der jeweiligen Sprache, hat aber den Mangel, daß es fragmentarisch ist, denn all die verstreuten wertvollen Beobachtungen sind nicht systematisiert [59, 26], Hier werden also, wie in vielen anderen Arbeiten, die speziellen Typen aufgezählt, aber nicht zu einem allgemeinen Typ zusammengefaßt. Die phonologische Typologieforschung wurde von Trubetzkoy begründet, dessen „Grundzüge der Phonologie" [149] als Muster einer allgemeintypologischen Analyse der phonologischen Ebene einer Sprache gelten kann. Unter den Arbeiten zur phonologischen Typologie überwiegen diejenigen, die Erscheinungen genetisch verwandter oder areal nahestehender Sprachen untersuchen, manch andere vergleichen aber Sprachen, die keineswegs als ähnlich gelten können, z. B . das Russische mit dem Japanischen [130]. Eine Gruppe von Autoren, die im Bereich der Typologie der slawischen Sprachen forschen, zeigen die Vorteile einer typologischen Konfrontation der phonologischen Systeme genetisch oder areal nahestehender Sprachen [35; 5]. Horn [110,4] hält für die nach den „Grundzügen der Phonologie" mustergültigsten typologischen Untersuchungen auf diesem Gebiet die Arbeiten von Hockett [108] und Voegelin [153]. Das Interesse der Typologen für die Phonologie ist kein Zufall, denn die Phonologie zählt zu den am besten erforschten Bereichen der Linguistik. Ohne einen vollständigen Überblick bieten zu können, verweisen wir auf die Arbeiten von Lekomzewa [34], Jelisarenkowa [13], Melnikow [40] und Milewski [127] im Bereich der Typologie der phonologischen Systeme, von Menzerath [125] und Skalicka [141] im Bereich der syntagmatischen Typologie, von Gamkrelidse und Matschawariani [10] als Beispiel für die diachronische Typologie (hier sind für den Typologen vor allem die Rekonstruktion des gemeinkarthwelischen Systems der Sonanten und dessen Vergleich mit dem indoeuropäischen System interessant). Ausgehend von Trubetzkoys Sprachbundidee, untersucht Skalicka den phonologischen Status einiger Sprachen Europas [145], Martinet [120, 84—86] bietet ein Muster suprasegmentaler Typologie, eine Klassifizierung nach Tonhöhe und Betonung (vgl. Pottier [132, 303-304]). Ebenso intensiv untersucht man auch die Morphologie typologisch (vgl. z. B . zwei Sammelbände [50; 51]). Auf morphologischem Material bauten ihre typologischen Konzeptionen Greenberg [97; 101] und Uspenski [69; 73] auf. Die großen Möglichkeiten der morphologischen Typologie zeigt Pottier [132, 305—309]. Ein Bereich der typologischen Analyse kann das morphologische System insgesamt [18], können aber auch einzelne seiner Teile sein [12; 54; 33; 37; 66]. Große Aufmerksamkeit bei typologischen Untersuchungen widmete man der 448

Typologie des Wortes als einer Einheit [28; 29; 55; 60; 77, 210-220]. I n der Tat eignet sich das Wort sehr gut als Einheit typologischer Beschreibung, denn sein phonologischer [125], lexikalisch-grammatischer [37] und syntaktischsemantischer Aspekt lassen deutlich die typologische Spezifik einer Sprache erkennen. Gerade auf der Grundlage des Phänomens Wort konnte Meschtschaninow eine typologische Klassifizierung vorschlagen, die auf den Kategorien der Wortarten und Satzglieder basiert und so den syntagmatischen und den paradigmatischen Aspekt umfaßt [48; 45, 16—20]. Außerdem verdeutlicht gerade das Wort die Beziehungen zwischen Phonologie, Morphologie, Lexikologie, Syntax und Semantik 1 1 . Schließlich bietet die Wortbildung (die Komposition und die Derivation) dankbaren Stoff für typologische Untersuchungen [27; 28; 29; 6; 7] und für eine Weiterentwicklung der typologischen Theorie [133], vgl. Greenbergs „Wortbildungsindizes" [97]. Was die lexikalische Typologie betrifft, so kann man trotz einer gewissen Skepsis ihr gegenüber (so hält Horn für die einzigen Kriterien der lexikalischen Typologie den Umfang des Wortschatzes und die Arten seiner Erweiterung [110, 7]) sagen, daß die typologische Analyse auch in diesem Bereich für die linguistische Theorie wichtige Ergebnisse zeitigt [49, 20—25; 75]. Die Typologie des Wortschatzes läßt sich mit der Methode der Universalien erforschen [155]. Besonders produktiv sind die mikrotypologischen Untersuchungen des Wortschatzes als eines Systems [75: 151] unter paradigmatischem und syntagmatischem Aspekt [75]. Von besonderem Interesse sind die typologischen Untersuchungen im Bereich der Syntax und der Semantik [89; 93; 121]. Die Notwendigkeit einer syntaktischen Analyse für die Ermittlung der Sprachstruktur und damit ihrer typologischen Eigenschaften wurde von Meschtschaninow hervorgehoben, der Prinzipien für eine syntaktische Typologie entwickelte [45; 46: 48]. Brondal betont den „internationalen", d. h. nahezu universellen Charakter der syntaktischen Struktur im Gegensatz zum „nationalen" Charakter der morphologischen Struktur [90]. Die Abhängigkeit der typologischen Hauptmerkmale einer Sprache von den Typen der in ihr repräsentierten syntaktischen Beziehungen führt Bazell gut vor [84], vgl. auch Melnikow [40]. Eine syntaktische Klassifizierung beschreibt Roshdestwenski [55, 198—240], die Aspekte einer syntaktisch-typologischen Analyse Milewski [49, 27—28]12. Das Modell einer universellen Syntax präsentiert Meltschuk [44]. Zahlreiche Arbeiten sind einem der Grundprobleme der syntaktischen Typologie gewidmet, dem Problem der Typologie der Kernsätze und den System- und Funktionalvarianten der ergativen Konstruktion [23; 32; 47; 9; 48; 78]. Die dominierende Bedeutung der Agglutination in der Entwicklung der Syntax der Turksprachen hebt Gadshijewa hervor [9]. Die Probleme der Korrelation zwischen dem typologischen Aspekt bei der 11

12

Den Zusammenhang von Phonologie und Morphologie behandelt Menzerath [125], den Zusammenhang von Morphologie und Syntax Meschtschaninow [48], Milewski rechnet zum Bereich der Syntax den ganzen syntagmatischen Aspekt der Sprachstruktur, wenn er von der Syntax der Phoneme usw. spricht, er hält auch das Wort für ein Syntagma [49, 26],

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Erforschung einer Sprache und der allgemeintheoretischen sprachwissenschaftlichen Problematik in ihrer heutigen Gestalt (Ermittlung der Spezifik und der Korrelationen von Sprache und Rede, der Zusammenhang zwischen Sprache und Denken, zwischen dem Sinn einer Äußerung und der Form der Sprache)analysiert Kaznelson [116]. Die semantische Typologie basiert auf einer Erforschung der überhaupt noch nicht umfassend und gründlich genug untersuchten Struktur der Inhaltsebene[11, 130—141]. Gorodezki bezeichnet die semantische Typologie als eine „linguistische Disziplin, die es noch nicht gibt, die aber im Entstehen begriffen ist" [11,230]. Fest steht jedoch, daß erstens keine typologische Beschreibung aisvollständig gelten kann, wenn sie den semantischen Aspekt eliminiert, zweitens esohne Berücksichtigung der semantischen Struktur einer Sprache unmöglich sein dürfte, das Wesen eines Sprachtyps zu erkennen, und schließlich daß die Typologie ohne eine Analyse der Semantik ihre Hauptaufgabe nicht erfüllen kann, nämlich einen Beitrag zur Beantwortung der Frage nach den grundlegenden Eigenschaften der menschlichen Sprache zu leisten [59, 22, 30]. Arbeiten zur semantischen Typologie sind die Untersuchungen über semantische Universalien von Weinreich [155] und Ullmann [151], eine Analyse der Semantik slawischer Sprachen von Tolstoi [67], sowie ein Artikel von Skaliöka über dasProblem der Tiefensemantik [60]. Die Bearbeitung des Problems der Tiefenund Oberflächenstrukturen verspricht wertvolles Material für die Typologieder semantischen Universalien der Sprachen zu erbringen ; vgl. z. B. den entsprechenden Sammelband13. Erwähnt seien auch Untersuchungen über die Verbreitung des einen oder anderen speziellen Typs, z. B. des Analytismus [1]> oder der Inkorporation [14], in den verschiedenen Sprachen. In der Typologie der Gegenwart ist recht stark der Begriff der Etaionspracheverbreitet. Als ein gewisser Ausgangspunkt begleitet eine Etaionsprache von Anfang an (implizit) nicht nur die typologischen Untersuchungen, sondern auch jeden Vergleich zweier Sprachsysteme [55, 36—38; 73, 61, 160]. Für jemanden, der eine fremde Sprache erlernt, ist die Etaionsprache seine Muttersprache(für den Forscher in der Regel ebenfalls). Die typologischen Klassifikationen des 19. Jahrhunderts gingen von den flektierenden Sprachen aus, und man hielt den flektierenden T y p für den „normalen" Sprachzustand, während dieIsolierung, Agglutination und Inkorporation als Abweichungen von der Norm galten, also die alten indoeuropäischen Sprachen der Etalon waren. Auch die Norm bei Martinet [120] und Coseriu [94] kann als Etaionsprache angesehen werden. Für die mikrotypologischen Untersuchungen ist es die rekonstruierte Grundsprache [74,52; 80]. Einen etwas anderen Charakter hat die Etaionsprache, die für eine allgemeine typologische Beschreibung [55, 40; 73; 74; 8, 515] als ein System von Symbolen angesetzt wird, die die Eigenschaften einer beliebigen Sprache oder der Sprache einer bestimmten Gruppe widerspiegeln sollen [8]. Eine solche Etaionsprache heißt auch, auf Grund einer terminologischen Entlehnung aus der Logik, Metasprache [55,40; 73,58]. Sie13

Te3HCH HayqHoit KOH^epeHipin „rJiyßHHHtie H noBepxHocTHtie CTpyKTypu B H3Hite". MocKBa 1972.

450

m u ß den Ausgangspunkt bei der typologischen Beschreibung einer Sprache^ bilden (die Sprache wird durch die Zahl der Transformationen charakterisiert,, die erforderlich sind, damit man sie von der Etaionsprache her erreicht). Wie Roshdestwenski meint, begünstigt der Begriff der Etaionsprache eine Weiterentwicklung der Typologietheorie [55, 39—40J. Uspenski verleiht der Etalonsprache eine amorphe Struktur [74, 60]. Wolozkaja und andere heben hervor,, daß die Etaionsprache z. B. bei der Beschreibung der slawischen Sprachen ein ideales Modell mit eindeutiger Entsprechung zwischen den Elementen unterschiedlicher Ebenen sein müsse [8, 515]. Über die verschiedenen Möglichkeiten, eine Etaionsprache zu konstruieren, handelt Melnikow [40]. I n der Tat d ü r f t e eine hinreichend korrekt angesetzte Etaionsprache ein Kriterium für die Beurteilung der einen oder anderen Sprache unter dem Aspekt ihrer typologischen Spezifik sein, auch wenn der Gedanke einer Etaionsprache bei all seiner praktischen Nützlichkeit noch nicht ausreichend theoretisch begründet worden ist und noch nicht allgemein anerkannt wird 14 . 14

Die Ansicht der Verfasserin dieses Kapitels wird nicht allgemein geteilt; vgl. das Kapitel' „Der Zusammenhang zwischen der allgemeinen Methodologie der linguistischen Wissenschaft und den besonderen Methoden der linguistischen Forschung" in Band III des vorliegenden Werkes.

KAPITEL 9

Das Problem der sprachlichen Uni Versalien

I m letzten J a h r z e h n t wird in der Linguistik die Notwendigkeit diskutiert, Merkmale zu analysieren, die f ü r eine Reihe von Sprachen oder iür die Sprachen der Welt überhaupt gelten. Diese Frage ist an und f ü r sich nicht neu f ü r die Sprachwissenschaft. Sie wurde von Vertretern verschiedener Schulen und Richtungen behandelt und spiegelte sich, wenn auch nicht immer als Problem sprachlicher Universalien formuliert, praktisch zum Teil in den verschiedenen Prinzipien der Klassifizierung der Sprachen wider. Die Erörterung dieses Problems läßt sich durch die ganze Geschichte der Sprachwissenschaft hindurch verfolgen. Sie erstreckt sich von der Antike über die Grammatik von Port Royal, über H u m b o l d t bis in die Gegenwart hinein (vgl. [22; 20; 5]), wo dieses Problem im Zusammenhang mit der Entwicklung einer bestimmten Richtung in der Sprachwissenschaft, der Erforschung der Typologie der Sprachen, erneut aufgeworfen wird. I m letzten J a h r z e h n t wurden zu dieser Problematik mehrere große wissenschaftliche Konferenzen durchgeführt, deren Arbeiten anschließend veröffentlicht wurden [29; 28; 14; 7]. Beobachtungen an Sprachen der Welt, die in letzter Zeit in das Blickfeld der Linguistik getreten sind (Sprachen Nord- und Südamerikas, Südostasiens, des Hohen Nordens usw.), veranlassen den Linguisten so oder so, bei Sprachen verschiedenartiger Typen Ähnlichkeiten u n d Unterschiede festzustellen. Schon die entsprechende Erforschung einzelner Bereiche der Sprachsysteme (Beschreibung der Verben, Pronomen, Genuskategorien usw.) an H a n d konkreter Sprachen verschiedenen T y p s schafft Voraussetzungen f ü r allgemeine Schlußfolgerungen über Ähnlichkeiten bzw. Unterschiede bestimmter sprachlicher Kategorien und über die Möglichkeiten überhaupt, bestimmte Sprachen nach allgemeinen globalen Merkmalen zu gruppieren. W ä h r e n d sich die Linguistik in ihren frühesten Entwicklungsperioden auf die H e r k u n f t u n d Verwandtschaft der Sprachen konzentrierte u n d den Charakter und den T y p der Sprache durch deren Zurückführung auf einen bestimmten Urzustand zu bestimmen suchte, ist die Erforschung der sprachlichen Gemeinsamkeiten in den späteren Perioden und besonders gegenwärtig darauf gerichtet, Ähnlichkeiten von Sprachen festzustellen, die über ausgedehnte oder begrenzte Territorien verbreitet sind und einzelne Merkmale oder Merkmalgruppen aus der unendlichen Vielfalt ihrer Merkmale miteinander gemein haben. Die Feststellung bestimmter ähnlicher Züge gestattet es der modernen 452

Sprachtypologie, die Sprache entweder nach dem Prinzip ihrer räumlichen Lage, ihrer territorialen K o n t a k t e zu gruppieren — das bildet den Gegenstand der sogenannten arealen Linguistik —, oder nach dem Prinzip ihrer inneren Gleichartigkeit, nach dem eigentlich typologischen Merkmal, was den Gegenstand der typologischen Linguistik bildet. Die Einbeziehung allgemeiner, für größere Sprachgruppen charakteristischer Merkmale in das Untersuchungsfeld hat die Voraussetzungen für eine zweite Stufe der Verallgemeinerung dieser Merkmale geschaffen, das heißt für die Feststellung allgemeiner Merkmale, die für die Sprachen eines größeren Areals oder für alle Sprachen des Erdballs charakteristisch sind. Aus diesem Grunde wird das Universalienproblem gegenwärtig zugleich mit dem Problem der Sprachtypologie in Verbindung gebracht. So eng das Universalienproblem aber auch immer mit dem Problem der Sprachtypologie verflochten sein mag, so ist doch eine Abgrenzung dieser Gebiete der linguistischen Analyse erforderlich [12; 2]. Die Ermittlung von Zügen sprachlicher Ähnlichkeit, seien das nun Ähnlichkeiten genetischer, arealer oder eigentlich typologischer Art, die die Sprachen aus diesen oder jenen, vielleicht gegenwärtig nicht einmal bekannten Gründen aufweisen, ist nichts anderes als die Feststellung, wie nahe sich diese Sprachen auf Grund konkreter, die Voraussetzung für ihre entsprechende Klassifizierung bildender Merkmale stehen. Die genetische, die areale und die typologische Klassifizierung der Sprachen sind in diesem Sinne notwendige Elemente der linguistischen Forschung, die es gestatten, das Wesen einer konkreten Sprache gründlicher aufzudecken, und die zur Klärung der Geschichte der Sprachen und der Völker, die diese Sprachen sprechen, beitragen [12]. Die Feststellung gemeinsamer Züge in den verschiedenen Ebenen und Subsystemen der Sprachen, in welcher Form sie auch immer erfolgt, ist jedoch nur eine empirische Konstatierung eines bestimmten Sprachzustandes, einer bestimmten Merkmalsumme. Dabei sind die Verallgemeinerung sprachlicher F a k t e n und die Feststellung universeller Merkmale der Sprache deutlich voneinander zu unterscheiden. Feststellungen wie „Linguistische Universalien sind eine Verallgemeinerung der beobachteten Fakten der Sprache" [8] umgehen im Grunde genommen die Frage nach der Natur der Universalien, da sie sich darauf beschränken, die Merkmale einer Gruppe von Sprachen mit bestimmter gemeinsamer Grundlage möglichst vollständig zu erfassen. Die Erforschung von Sprachmerkmalen, die nicht auf die Beobachtung bestimmter gemeinsamer empirischer F a k t e n und nicht auf die Ursachen, die die Ähnlichkeiten bewirken, gerichtet ist, stellt dagegen ein völlig anderes Gebiet dar, das nicht auf die Untersuchung konkreter Sprachmerkmale hinausläuft, sondern auf die Ermittlung der Merkmale der Sprache als eines spezifischen Attributs menschlicher Tätigkeit überhaupt. Die Universalienlinguistik und die Sprachtypologie haben in diesem Sinne völlig verschiedene Forschungsgegenstände und verschiedene Ziele. Wenn die sprachlichen Universalien als das empirische Material definiert werden, auf dem die typologische Theorie (die Klassifikation) a u f b a u t [2, 30], dann wird das ganze Problem auf die Abgrenzung von Untersuchungsetappen reduziert — 30

Serebrennikow I I

453

einer ersten, empirischen Etappe, bei der die Universalien in der Sprache ermittelt werden, und einer zweiten Etappe, bei der die Merkmale verallgemeinert und die Sprachen typologisch eingeteilt werden. I n letzter Zeit werden immer mehr Argumente für die Auffassung vorgebracht, daß die Universalien zu den wesentlichen Charakteristika der Sprache gehören. So wurde auf dem internationalen Symposium der Universität Texas 1967 die Überzeugung geäußert, daß die allgemeine Sprachtheorie dem Wesen nach eine Theorie der Universalien sein müsse, da sie „das Wesentliche in der Sprache suchen" und universelle Begriffe liefern muß, mit deren Hilfe die Sprache beschrieben werden kann — wie E. Bach und R. Harms im Vorwort zum Sammelband der Arbeiten der Konferenz ausführten [29, 6]. Die Universalienlinguistik stellt sich das Ziel, diejenigen Sprachmerkmale zu ermitteln, die jede Sprache charakterisieren und die jede konkrete Sprache der menschlichen Sprache überhaupt zuordnen. Mit anderen Worten, die Feststellung der sprachlichen Universalien hängt unmittelbar und direkt mit der Erforschung des Wesens der Sprache zusammen. Infolge der verschiedenen Interpretation des Terminus „sprachliche Universalien" dürfte es auch in Zukunft zwei Auffassungen von sprachlichen Universalien in der linguistischen Fachliteratur geben. Eine Auffassung von den Universalien hat unmittelbar die Erforschung der Typen der Sprachen zum Ziel und wird sich daher auf ein Korpus von Beschreibungen der allgemeinen Merkmale einer Sprachgruppe beschränken. Solch eine enge Auffassung der sprachlichen Universalien ist für typologische Untersuchungen angängig, wenngleich sie begrenzt ist, da sie nicht die Natur der Sprache überhaupt erfaßt. Operationen mit einem solchen Universalienbegriff können in der Sprachtypologie bei dem oben angegebenen Inhalt dieses Terminus durchaus f r u c h t b a r sein. Eine andere Auffassung von den sprachlichen Universalien dringt zu wesentlichen Charakteristika der Sprache vor, es handelt sich dabei um einen globalen und auf jede Sprache unabhängig von ihrem Typ anwendbaren Begriff. Zu den verschiedenen Auffassungen von den sprachlichen Universalien schrieb V. Skaliöka: „In dem Sammelband der amerikanischen Linguisten 1 wurde der Versuch unternommen, Universalien folgender Arten aufzuzeigen: 1. Erscheinungen, die allen Sprachen gemeinsam sind (d. h. Universalien in unserer Auffassung); 2. Erscheinungen, die vielen Sprachen gemeinsam sind; 3. Erscheinungen, die allen Sprachen unter bestimmten Bedingungen gemeinsam sind; 4. Erscheinungen, die vielen Sprachen unter bestimmten Bedingungen gemeinsam sind" [9, 22]. Wie man sieht, neigt V. Skaliöka dazu, nur allgemeine Merkmale der Sprache als wirkliche Universalien anzuerkennen, während er andere Eigenschaften als partielle Charakteristika der Sprache betrachtet. Setzt man den Akzent auf die Allgemeinheit der Merkmale und rechnet diese zu den wesentlichen Charakteristika der Sprache, so sind diese Eigenschaften als globale Eigenschaften, d. h. als sprachliche Universalien, aufzufassen. Die anderen Bedeutungen von Universalien gehören in das Gebiet der Sprach1

Gemeint ist das Buch „Universals of Language". Cambridge (Mass.) 1966 [27].

454

typologie. Für die Sprachtheorie ist nur die globale Auffassung der sprachlichen Universalien relevant, da die Sprachtheorie es mit wesentlichen Charakteristika zu tun hat. Wir müssen noch auf eine grundsätzlich andere Auffassung von den linguistischen Universalien eingehen. Manche Forscher beziehen den Begriff der sprachlichen Universalien nicht auf die Kategorie der Sprache als solcher, sondern auf das Gebiet der wissenschaftlichen Definition, die auf verschiedene Sprachen im Zusammenhang mit deren universeller Natur anwendbar ist. Es muß jedoch deutlich unterschieden werden zwischen Universalien als Merkmalen eines Objektes und dem universellen Charakter einer Definition als logischer Form wissenschaftlicher Kenntnisse, die eine große oder sogar eine universelle Klasse von Erscheinungen umfaßt. So unterscheidet J . W. Roshdestwenski „linguistische Universalien" und „universelle Definitionen" und darüber hinaus noch „Universalien der Sprache" (letztere auf dem Gebiet der Semiotik). Linguistische Universalien werden seiner Meinung nach empirisch ermittelt, sie sind wahr, „beziehen sich auf eine bestimmte Liste von Sprachen" und können als reale Eigenschaften der Sprache aufgefaßt werden (vgl. [8, 4—9]).' Wenn man hingegen die Auffassung vertritt, daß „Universalität vor allem ein besonderes 'Bündel' von Anwendungen einer bestimmten linguistischen These sind" [13, 86], dann sind die Universalien offenbar auf die Kategorien, auf die Methode der wissenschaftlichen Erkenntnis, und nicht auf das Objekt, die Sprache, zu beziehen. Die Fra'ge nach dem Verhältnis einer wissenschaftlichen Definition und der durch diese Definition erfaßten Objekte, die im Lichte der Widerspiegelungstheorie zu lösen ist, setzt voraus, daß in der wissenschaftlichen Definition Eigenschaften und Merkmale der zu definierenden Objekte abgebildet und fixiert werden. Von diesem Standpunkt aus korrelieren die abstraktesten Definitionen mit den Objekten, die definiert werden. Diese Korrelation stellt eine adäquate Entsprechung der durch die Denktätigkeit widergespiegelten und fixierten realen Merkmale des Objekts und bestimmter logischer Strukturen, insbesondere wissenschaftlicher Definitionen, dar. Die Widerspiegelungstätigkeit des Menschen, seine Denktätigkeit, die bestimmte Züge, Merkmale, Besonderheiten der Objekte der Erkenntnis fixiert, klassifiziert sowohl die Objekte insgesamt als auch, einzelne ihrer Merkmale im Hinblick auf ihre Identität und Unterschiede. Diese klassifizierende Widerspiegelungstätigkeit beruht auf real existierenden Merkmalen und insbesondere auf den identischen Merkmalen verschiedener Objekte. Die in den wissenschaftlichen Definitionen fixierten Merkmale als solche bilden hingegen einen bestimmten Begriffsbereich für die real existierenden 2

Im weiteren bezieht der Verfasser die Universalien allerdings auf „Äußerungen über festgestellte konkrete Korrelationen zwischen systematologischen Eigenschaften der Rede überhaupt und ihrer materiellen Realisierung", d. h. dem Wesen nach auf das Gebiet der Definitionen.

30*

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Elemente, die Eigenschaften der Sprache. Folglich korreliert auch der Begriff der Universalien als Form der wissenschaftlichen Definition oder als Methode der wissenschaftlichen Erkenntnis (in dem angegebenen Sinne) mit der realen Existenz der Universalien, die das Objekt der entsprechenden wissenschaftlichen Definitionen bilden. I n dieser Hinsicht stellen die linguistischen Universalien zugleich das Produkt des abstrahierenden logischen Denkens in Form wissenschaftlicher Definitionen wie auch eine Realität bestimmter Ordnung dar, die der Sprache als unikaler menschlicher Erscheinung eigen ist und in den verschiedenen nationalen Sprachen zum Ausdruck kommt. Zu den universellen Eigenschaften des Objektes und der universellen Definition, die auf dieses Objekt angewandt werden kann, ist zu sagen, daß es eine klare Trennungslinie zwischen dem logischen Charakter einer Definition, zwischen der Gnoseologie, und dem Charakter des Objekts, d. h. der Ontologie, gibt. Der universelle Charakter einer Definition beruht auf ihrer Anwendbarkeit auf eine unbegrenzte Klasse von Gegenständen und ist dem Wesen nach eine Eigenschaft der Definitionen, die eher quantitativ zu charakterisieren ist, während die universellen Eigenschaften des Objekts die inneren Gesetzmäßigkeiten des Gegenstandes ausdrücken und folglich die qualitative Charakteristik des Objektes bilden. Deshalb gibt es allen Grund, von den linguistischen Universalien nicht als von Definitionen, sondern als von wesentlichen, durch eine bestimmte Methode aufzudeckenden Merkmalen des Systems und der Struktur der Sprache zu sprechen. Das Uni versalienproblem kann auch nicht als Problem partieller Uni Versalien oder als Problem von Wahrscheinlichkeitsuniversalien gelöst werden. Seine Lösung muß in diesem Sinne der Bezeichnung Universalien voll entsprechen. Davon ausgehend, gibt es offenbar keinen Grund, von sogenannten „partiellen Universalien" zu sprechen, da der Universalienbegriff als Begriff von den ganz allgemeinen Kategorien der Sprache jede Unvcllständigkeit oder jeden Teilcharakter ausschließt. Wenn diese oder jene Merkmale nur teilweise oder unvollständig übereinstimmen, so kann von Universalien keine Rede sein. Es handelt sich dann um eine andere Frage, ein anderes Problem, um das Problem der Feststellung und des Vergleichs verschiedener sprachlicher Fakten (auf dem Feld empirischer Forschungen) im Hinblick auf ihre Identitäten und Unterschiede. Ebenso liegen auch die sogenannten „Universalien der Wahrscheinlichkeitsstatistik" auf einer anderen Ebene, da sie nicht das Wesen der untersuchten Kategorie berühren. Die Methode der Wahrscheinlichkeifcsstatistik stellt bei der Ermittlung identischer Züge in verschiedenen Sprachen dem Wesen nach das quantitative Auftreten dieser Züge fest. Das universelle Wesen allgemeiner Kategorien wird aber nicht durch die quantitative Charakteristik einzelner identischer Züge verschiedener Sprachen bestimmt. Der Begriff der statistischen Universalien (vgl. [27, XX]) ist in diesem Sinne nur auf den Bereich der Verteilung der typologischen Sprachmerkmale anwendbar, wo die Zusammenfassung mehrerer Sprachen zu Gruppen insbesondere auch auf der Wahrscheinlichkeit des Vorkommens mehrerer Sprach456

merkmale beruhen kann. Wie es in dem „Memorandum über sprachliche Universalien" heißt, sind zu diesen Universalien Aussagen zu rechnen wie: F ü r jede Sprache ist eine bestimmte Eigenschaft wahrscheinlicher als eine andere (so ist zum Beispiel die Wahrscheinlichkeit, daß es in einer Sprache wenigstens einen Nasal gibt, größer als die Wahrscheinlichkeit, daß es keine Nasale gibt). Universalien müssen die Sprache ganz allgemein charakterisieren, d. h. sie müssen ein Merkmal bezeichnen, das der Sprache überhaupt und jeder Sprache insbesondere eigen ist. Folglich berührt sich das Universalienproblem mit dem Problem der Feststellung des Wesens der Sprache. Was den Begriff der Sprache überhaupt betrifft, so muß betont werden, daß es sich hier nicht um eine leere Abstraktion handelt, sondern um die Einheit einzelner und allgemeiner Züge, die jeder konkreten nationalen Sprache eigen sind. Man kann sagen, daß die allgemeine Eigenschaft der Sprache eine Gattungseigenschaft darstellt, die allen Arten, d. h. den konkreten nationalen Sprachen eigen ist, die zu dem Gattungsbegriff „menschliche Sprache" gehören. Wenn man unter einem Universale das Verhältnis einer Kategorie zur Sprache als Abstraktion versteht, dann berührt sich dieser Standpunkt mit dem Begriff des Universals als eines methodologischen Mittels zur Bildung einer Definition, das heißt, das Universale wird als universelle Definition aufgefaßt. Es gibt genügend Gründe für die Auffassung, daß die sprachlichen Universalien nicht einfach eine abstrakte Konstruktion der Linguistik, ein bloßes Konstrukt, d. h. eine mit einer reinen Abstraktion der Sprache vergleichbare Kategorie sind, sondern eine der Sprache selbst eigene Kategorie, die sich in jeder konkreten nationalen Sprache zeigt. Es handelt sich hier also nicht um eine reine Abstraktion, um die Schaffung eines idealen Objekts, wie diese Frage mitunter aufgefaßt wird. G. P. Schtschedrowizki schreibt dazu: „Das Wichtigste ist die Unterscheidung der empirischen Objekte, der verschiedenen konkreten Sprachen, und des idealen Objekts, der Sprache überhaupt . . . Ohne das ist das Wesen des Universalienproblems gar nicht zu verstehen" [13, 91]. Indes ist nicht ein ideales Sprachmodell Objekt der Universalien, sondern dieses Objekt sind die wesentlichen und darum die allgemeinen Eigenschaften der Sprachen, die in jeder Sprache real existieren. Eben sie bilden die universelle Charakteristik der Sprache. Jede Sprache ist daher wie jede andere Erscheinung zugleich als Sprache überhaupt u n d als bestimmte konkrete Sprache zu beschreiben. Die Sprachwissenschaft hat es bisher vermieden, das Problem der Sprache an sich aufzuwerfen, vielmehr hat sie dieses Problem dem Bereich der Metaphysik überlassen. Dennoch war dieses Problem implizit in der Sprachwissenschaft stets gegenwärtig, da die Charakterisierung einer beliebigen Sprache trotz aller Vielfalt der konkreten Sprachen sich zugleich auch auf jede menschliche Sprache überhaupt bezog und das betreffende Kommunikationsmittel in den Bereich der natürlichen menschlichen Sprache einschloß. Gäbe es keine universellen, ausnahmslos für jede konkrete Sprache charakteristischen Merkmale, dann würde die Familie der menschlichen Sprachen auseinanderfallen. Wenn man also unter Universalien ständige und allgemeine Eigenschaften der Sprache versteht, so können diese mit den wesentlichen Charakteristika in 457

Beziehung gesetzt werden und den Begriff der Natur der Sprache überhaupt betreffen. Eben diese Aufgabe soll sich nach den Vorstellungen der Verfasser des „Memorandums über die sprachlichen Universalien" die Linguistik stellen. 3 Wenn nicht, wie oben ausgeführt, die quantitative Seite der Universalien gemeint ist, kann man den Gedanken mancher Verfasser zustimmen. So schreibt Ch. Hockett: „Ein sprachliches Universale ist ein Merkmal bzw. eine Eigenschaft, die allen Sprachen oder der Sprache insgesamt eigen ist" [17, 1]. I. F . Wardul definiert die Universalien als „linguistisch relevante Eigenschaften der Sprachen oder Beziehungen zwischen sprachlichen Eigenschaften, die in allen Sprachen festzustellen siiid" [1, 108]. Da die Universalien als wesentliche Merkmale der Sprache sich auf die Sprache, d. h. auf ein Kommunikationsmittel, das als „natürliche menschliche Sprache" definiert wird, beziehen müssen, kann es die Frage nach dem induktiven oder deduktiven Charakter der Universalien im Prinzip nicht geben. E s kann nur von induktiven und deduktiven Methoden der Feststellung und Ermittlung dieser Universalien die Rede sein. Das gleiche gilt für die statistischen Universalien, für deren Zuordnung zu den Uni versahen es schon gar keine Gründe gibt, da sie sich nur auf einige mehr oder weniger verbreitete Sprachzüge beziehen können, d. h. auf Sprachzüge, die nur einer mehr oder weniger großen Sprachgruppe eigen sind. Was die linguistischen Universalien betrifft, so gibt es keine Veranlassung, von ihrem induktiven oder deduktiven Charakter zu sprechen. Die Universalien als Eigenschaft der Sprache gehören zur Ontologie des Objekts, während Induktion bzw. Deduktion in das Gebiet der Gnoseologie, d. h. der Erkenntnismethoden, gehören. Was die universellen Eigenschaften der Sprache angeht, so bestimmt die Erkenntnismethode nicht die Eigenschaft der Sprache, sondern die Methode wird umgekehrt durch die Erkenntnismöglichkeiten in einer bestimmten Entwicklungsperiode der Menschheit bestimmt und ist, wie in jeder anderen Wissenschaft auch, kombiniert, das heißt, sie beruht sowohl auf der Beobachtung von Fakten als auch auf deduktiven Schlüssen über die Eigenschaften des Objekts. Die sprachlichen Universalien können daher nicht in bezug auf Induktion oder Deduktion charakterisiert werden, sondern nur im Hinblick darauf, ob sie wesentliche Charakteristika der Sprache und folglich universelle Eigenschaften der Sprache sind oder nicht. Die Methode ihrer Feststellung und Erkenntnis ist sekundär, ist abgeleitet und bestimmt nicht das Objekt selbst. Das Verhältnis zwischen induktiver empirischer Erkenntnisform und dem Grad der Extrapolation von Fakten zu allgemeinen Gesetzen, zu apriori gegebenen, aber begründeten deduktiven Schlüssen wird jeweils sowohl durch die Eigenschaft des Objektes, durch den Charakter des sprachlichen Universals (zum Beispiel, ob es phonetischer, lexikalischer, grammatischer usw. Art ist), als auch durch die Erkenntniskraft der Methode selbst bestimmt. Schon allein der Begriff des sprachlichen Universals schließt die Möglichkeit 3

„Die sprachlichen Universalien sind ihrer ganzen Natur nach verallgemeinerte Aussagen über die Eigenschaften und Tendenzen, die jeder Sprache eigen sind . . .", vgl. [7, X V ] .

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aus, von irgendeinem anderen Charakter dieser Universalien zu sprechen als« von einem wesentlichen Merkmal, das die Natur der Sprache betrifft. Ihr Gebiet ist sehr abstrakt, und die universellen Kategorien können infolgedessen nur die Eigenschaft abstrakter sprachlicher Kategorien besitzen. Diese Merkmale finden sich in solchen Gebieten der Sprache wie dem System der sprachlichen Einheiten, der grammatischen Struktur, dem wechselseitigen Zusammenhang der Elemente der grammatischen Struktur usw. Bei der Erforschung universeller Spracheigenschaften kommt es darauf an, zwei Arten von Universalien bei der Beschreibung der Natur der Sprache zu unterscheiden. Einerseits sind universelle Merkmale für die Sprache als natürliches Kommunikationsmittel des Menschen charakteristisch und bestimmen die wesentlichen Züge der Sprache unter den möglichen kommunikativen und semiotischen Systemen. In diesem Fall werden die Universalien auf den Mechanismus der Sprache als eines kommunikativen Systems bezogen. Die Merkmale dieses Systems werden im Hinblick auf andere, nichtsprachliche Systeme unterschieden. Zur Kategorie dieser Sprachzüge sind allgemeine Merkmale wie Linearität, Diskretheit, Lautcharakter, Bilateralität des Zeichens usw. zu rechnen. Universalien anderer Art sind sprachliche Eigenschaften, die die innere Struktur der Sprache und bestimmte für die Sprachelemente typische universelle Eigenschaften charakterisieren. Dazu sind kategoriale Merkmale aus der Phonetik, der Lexik und der Grammatik zu rechnen, z. B. die Kategorie der Wortklassen, des Tempus, der Modalität, des Numerus usw. Die Sprachtheorie hat sich im Grunde genommen solch universeller Charakteristika der Sprache durchaus bedient, wobei die Auffassungen von diesen Sprachzügen bei den verschiedenen Autoren die eine oder die andere Modifizierung erfahren haben. 4 Der abstrakte Charakter der Universalien enthält auf den ersten Blick zu wenig Information über die Sprache. Doch ist die Meinung, daß sich Allgemeinheit mit geringem Informationswert decke, in den Natur- und Gesellschaftswissenschaften hinlänglich widerlegt (wir erinnern an die allgemeinen Gesetze der historischen Entwicklung, an den allgemeinen Charakter der physikalischen Gesetze usw.). Daher kann der scheinbar geringe Informationswert universeller Kategorien in der Sprachwissenschaft leicht überprüft werden, indem man solche Merkmale untersucht wie das Merkmal der Satzstruktur {z. B. der Zweigliedrigkeit), das Merkmal, daß es in jeder Sprache eine Einheit wie das relativ selbständige Lexem gibt usw. Die Diskussion über eingliedrige Sätze bzw. über die Inkorporierung komplexer Strukturen, in denen sich angeblich keine einzelnen Wörter unterscheiden lassen usw., kann dadurch befruchtet werden, daß diese allgemeinen universellen' Kategorien für die Analyse herangezogen werden, die dann für die Lösung dieser Fragen absoluten Informationswert gewinnen. 4

Ein anschauliches Beispiel dafür bieten die Arbeiten P. Hartmanns, in denen sowohl allgemeine Eigenschaften der Sprache im Lichte der Lehre W. von Humboldts, L. Weisgerbers (die „innere Kraft" der Sprache, das System der Sprachformen, die grammatische Form der Sprache usw.) untersucht werden als auch kategoiielle Eigenschaften der Sprache (Numerus, Kasus, Tempus, Modalität usw.) [18; 19].

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Die Universalien müssen von Natur aus allgemein sein. Diese Allgemeinheit deckt aber, wie bereits ausgeführt, das Wesen der betreffenden Erscheinung auf. Eines dieser allgemeinen universellen Merkmale, die die Sprachstruktur b e stimmen, ist zum Beispiel das Universale, daß der Satz zweigliedrig ist. 5 Obgleich manche Linguisten den allgemeinen Charakter der Zweigliedrigkeit des Satzes als einer Erscheinung, die zwar für konkrete Sprachen, nicht aber für alle möglichen Sprachen zutrifft, bestreiten (mit dem Hinweis auf sogenannte eingliedrige Sätze, auf bestimmte Merkmale der Inkorporation von Konstruktionen usw.), bestätigen dennoch konkrete linguistische Untersuchungen, daß es in einer abgeschlossenen kommunikativen Äußerung zwei Mitteilungszentren gibt, die allerdings die vielfältigsten sprachlichen Formen aufweisen. Eine Äußerung, die in der grammatischen Struktur der Sprache als abgeschlossene syntaktische Konstruktion, d. h. als Satz, wiedergegeben wird, muß ihrem Wesen nach zwei formal ausgedrückte Glieder als sprachliche Stützpunkte einer logischen Äußerung von etwas über etwas haben. Ihrer Dialektik nach ist die Abgeschlossenheit der Äußerung eine in sich geschlossene Erscheinung, die durch das sich wechselseitig durchdringende Verhältnis zweier Objekte gekennzeichnet wird. Solche Objekte sind in der grammatischen Struktur des Satzes das grammatische Subjekt und das grammatische Prädikat. Trotz aller Verschiedenarfcügkeit der formalen Gestaltung .dieser Satzzentren — morphologische Merkmale, verbunden mit einem bestimmten Redeteil, z. B . der Nominativ der Nomina, die Wortstellung für analytische Sprachen, die sogenannte logische Betonung, spezielle grammatische Kennzeichen wie die Affixe in den Turksprachen usw. — sind die sprachlichen Zentren der Äußerung Struktureinheiten des Satzes, auf die sich die inhaltliche Aussage entsprechend der universellen logischen Denkstruktur (logisches Subjekt, logisches Prädikat) stützt. Es ist anzunehmen, daß dieses Universale vor allem deduktiver Natur ist, da sich die zwei Satzglieder nicht immer direkt beobachten lassen, zumal wenn die Sprache eine spezifische Struktur hat (vgl. zum Beispiel die sogenannten eingliedrigen Sätze in den paläoasiatischen Sprachen). Da aber das Universale ein wesentliches Merkmal bildet und sich folglich deduktiv beweisen läßt, kann auch in diesem Fall das als Universale zu betrachtende Charakteristikum der Zweigliedrigkeit des Satzes allein von der logischen Struktur der Äußerung her bewiesen werden und ist folglich als determinierender Faktor bei der Analyse aller möglichen Satzstrukturen in jeder beliebigen Sprache aufzufassen. 0 Damit wächst der Informationswert dieses Universale erheblich, denn es befruchtet die Analyse schwieriger sprachlicher Erscheinungen in bekannten und noch nicht bekannten Sprachen. 5

6

Ch. Hockett schlägt eine andere Formulierung für dieses Universale vor: „Jede menschliche Sprache hat einen Satztyp mit zweigliedriger Struktur, deren Konstituenten vernünftigerweise als 'Thema' und 'Rhema' zu bezeichnen wären" [21, 23J. Hierzu schrieb I. Meschtschaninow: „Die logischen und die grammatischen Kategorien bilden in ihrem wechselseitigen Zusammenhang das Gerüst eines jeden Satzes, dasin allen Sprachen vorhanden ist und damit ein allgemeinsprachliches Substrat ausdrückt" [5].

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Von großem Interesse ist die Frage einer möglichen Liste von Universalien,., die sich auf diesem oder jenem Wege ermitteln lassen (Ch. Hockett, B. A. Uspenski). Die Aufstellung einer solchen Liste ist n u r in dem Maße möglich, wie die Probleme erforscht werden. Dazu ist noch eine weitere Einschränkung zu machen, nämlich, d a ß diese Universalienliste n u r Beschreibungen von wesentlichen Sprachmerkmalen enthalten darf. Alle wenig informativen Sprachmerkmale, deren Universalität in allgemeinsemiotischer Hinsicht zwar unbestritten, aber nicht f ü r natürliche Sprachen charakteristisch ist, müssen dabei zurücktreten. Ch. Hockett rechnet folgende Eigenschaften der Sprache zu den Universalien: „Jede menschliche Gemeinschaft besitzt eine Sprache; jede menschliche Sprache^ h a t Tradition; jede menschliche Sprache h a t E i g e n n a m e n " usw. [21, 18—21]. Der englische Grammatiker Lyons betrachtet in seiner „ G r a m m a t i k " (1966). Nomen, Prädikator u n d Satz als Universalien. J . Greenberg schlägt eine Liste von insgesamt 45 grammatischen Universalien vor (zum Beispiel Universale I : „In Aussagesätzen mit nominalem Subjekt u n d Objekt herrscht fast immer eine Wortstellung, bei der das Subjekt dem. Objekt vorausgeht" [17, 77]. E s lassen sich noch weitere konkrete Beispiele f ü r die E r m i t t l u n g von U n i versalien anführen. So hebt J . Fillmore in seiner Untersuchung hervor, daß die Einteilung in Subjekt u n d P r ä d i k a t als Basisform aller Sätze in allen Sprachen gilt [16, 17]. E r geht von dem Begriff der Oberflächen- u n d der T i e f e n s t r u k t u r aus (vgl. auch [10]). Die Universalien liegen in der grammatischen Tiefenstruktur, sie bilden die Proposition des Satzes u n d bestehen in allen Sprachen aus P u n d einer oder mehreren Kasuskategorien, wobei jede Gruppe eine besondere Kasusbeziehung, zu P h a t , zum Beispiel: ^HIOH

pa3ÖHJI

OKHO MOJIOTKOM.

MOJIOTOK P A 3 6 H J I OKHO. ^ J K O H pa3ÖHJI Oder im Englischen:

OKHO.

J o h n was pinched on t h e nose b y Mary. Mary pinched J o h n on t h e nose. J . Fillmore analysiert verschiedene prädikative S t r u k t u r e n eingehend u n d . ermittelt Basis-Formen, die durch einen Subjekt-Prädikat-Verband charakterisiert werden. Die Beispiele der Varianten lassen sich schematisch darstellen:

46i:

K"

NF

no ' se bv Mory Alle Varianten der Tiefenstruktur des Satzes — die Transformationen —. die zwar in den einzelnen Sprachen verschieden sind, gehen auf eine allgemeine Satzstruktur vom Typ P [V° (D + N)] zurück. Das ist nach Filimores Auffassung ein Universale. Die allgemeine Regel für die Feststellung einer universellen Struktur formuliert er folgendermaßen: a) man fülle D aus; b) man wähle D als Subjekt; c) man trage das Adjektiv in den Grundteil NP ein; d) man trage have in das nichtausgefüllte V ein; dabei ist V — Verb,

D — indirektes Objekt, N — Nominalteil des indirekten Objekts.

E . Bach [15] setzt sich das Ziel zu zeigen, daß die „Tiefenstrukturen von Sätzen in verschiedenen Sprachen identisch sind". „Ich unterschreibe die Idee von einem universellen Satz von Basisregeln". E r sucht zu beweisen, daß die Nominal-(Substantiv-)Phrasen mit den Verbal- und Adjektivphrasen identisch sind. Zum Beispiel: 1. I saw someone who was an Eskimo 2. I saw an Eskimo Durch Transformation ermittelt er zwei Arten von Sätzen aus einer allgemeinen Kategorie. Zum Beispiel: 1. The man is working 2. The one who is working is a man 1. The man is large 2. The one who is large is a man. Jedes Substantiv stammt von der Klasse eines prädikativen Nominalteils. Die Redeteile sind nach Bachs Auffassung das Ergebnis transformationeller Entwicklungen. (Das Substantiv zum Beispiel ist die Variable für „Allgemeines Prädikat"). 7 Interessant sind die Fakten, die I . F . Wardul in einer Untersuchung anführt. So schlägt er zum Beispiel vor, solche Universalien zu unterscheiden wie „Silben mit der Struktur K/V" ( = Konsonant/Vokal), „das Vorhandensein einer kleinsten prosodischen Einheit, der Silbe", „das Vorhandensein einer kleinsten prosodischen Einheit, der More" oder „das Vorhandensein von Silben mit der Struktur K K K V " und von „Silben mit der Struktur K K V " [2, 22]. Von Interesse sind auch die von B . A. Uspenski vorgeschlagene Liste von Universalien [11] sowie die Formulierungen von Universalien in der neueren 7

Näheres dazu [24].

462

linguistischen Literatur [14], zum Beispiel: „Ein Genitiv beim Nomen ist die Bedingung für einen direkten und einen indirekten Kasus beim Nomen"* „Ein Dativ und/oder Lokativ beim Nomen ist die Bedingung für einen Akkusativ und/oder einen Ausgangskasus beim Nomen"; „Die Konstruktion mit postpositionaler Attributivgruppe setzt possessive Deklination oder pronominale Enklitika (Proklitika) mit der Bedeutung der Possessivität voraus"; „Die Rektion (des Verbs) mit einem indirekten Objekt ist die Bedingung für die Rektion des Verbs mit einem direkten Objekt. Die Rektion des Verbs mit einem Objekt setzt auch die Rektion eines Verbs mit Subjekt voraus" [14, 333-340]. Wie dieser kurze Überblick zeigt, sucht die Linguistik in ihren konkreten Forschungsarbeiten intensiv nach erfolgversprechenden Wegen, um wesentliche Charakteristika der grammatischen und lexikalischen Struktur der Sprache ausfindig zu machen. Das komplizierteste Gebiet der Erforschung sprachlicher Universalien ist die Semantik. Als einzige Richtschnur kann gegenwärtig gelten, daß die allgemeine semantische Charakteristik der Sprache letzten Endes mit dem gedanklichen Inhalt der Sprache zusammenfällt und daß die Struktur ihrer Beschreibung in universellen Kategorien sehr viel mit der Beschreibung der logischen Struktur des Denkens zu tun haben dürfte. Gegenwärtig sind sich die Forscher auf dem Gebiet der Semantik, wie U. Weinreich festgestellt hat, darin einig, daß dieses Gebiet der Sprache am wenigsten erforscht ist, so daß wir „nicht über viel Ausgangsmaterial" verfügen [30, 142]. Dieser Feststellung kann man nur beipflichten; denn die Literatur zu diesem Aspekt der Sprache ist sehr dürftig, und erst in letzter Zeit, besonders nach den Arbeiten von J . K a t z und J . Fodor, ist es in der Linguistik erneut zu einer lebhaften und vertieften Diskussion über Probleme der Semantik gekommen (einen Überblick über die Arbeiten zur Semantik gibt U. Weinreich in dem erwähnten Artikel). ' I n der Sprachwissenschaft hatte der Gedanke von der Unikalität, von der unwiederholbaren Eigenart des semantischen Bilds einer jeden Sprache weite Verbreitung gefunden. I m Lichte dieser Konzeptionen erscheint die Suche nach universellen Merkmalen vielen Forschern als unbegründet (vgl. zum Beispiel die Hypothese von Sapir und Whorf). Welche Auffassungen zum semantischen „Bild" der Sprache auch immer vertreten werden mögen, so sind sich die Forscher doch darüber im klaren, daß es allgemeinmenschliche Denkkategorien gibt, die in allen Sprachen zum Ausdruck kommen. Die Aufgabe besteht nur darin, den Zugang zur Semantik in Verbindung mit der Erforschung des logisch-psychologischen Denkmechanismus des Menschen zu finden. Selbst U. Weinreich, der den willkürlichen Charakter der „semantischen Gliederung der Wirklichkeit" hervorhob, war überzeugt, daß es darauf ankommt, ausgehend von seiner Auffassung von der Struktur der Designata der Sprachzeichen, parallele Züge in der Semantik der Sprache herauszufinden [30, 145]. „Ich nehme an", schrieb er, „daß es nur etwas flexiblerer Kalküle bedarf, um alle in natürlichen Sprachen begegnenden Arten 463

semantischer Strukturen beschreiben zu können" [30,149]. Wie man konkret, an die Lösung dieser Aufgabe herangehen kann, zeigt U. Weinreich am Beispiel von Fragen, die spezielle Charakteristika der Sprache betreffen: 1. Welches ist der Komplex semantischer Komponenten in der betreffenden Sprache? Welches sind universelle semantische Komponenten (zum Beispiel: „Generation", „natürliches Geschlecht", „hell/dunkel", „trocken/naß", „jung/ alt", „lebendig/tot", „Beginnen/stabiler Zustand")? 2. Welche semantischen Komponenten treten gewöhnlich oder immer kombiniert auf? Mit anderen Worten, welches sind die „Dinge", die in den meisten oder sogar in allen Sprachen Namen haben? Ist es nicht so, daß semantische Komponenten wie etwa „natürliches Geschlecht" und „Alter" oder „kausatives Wahrnehmen" und „Art und Weise des Wahrnehmens" im allgemeinen zusammen auftreten (Junge : Mann = Mädchen : Frau; sehen : hören = zeigen : erzählen)? [30, 188] Eine andere Variante des Herangehens findet sich bei S. Ullmann, der von anderen Positionen ausgeht. Er schreibt: 1. Einige von ihnen können sich als„absolute Universalien" oder aber auch, wie es im „Memorandum" heißt, als „Universalimplikationen" erweisen. Aber auch sie sind nur in dem Sinne „absolut", daß sie in sehr vielen Sprachen vorkommen. Wir können niemals sicher nachweisen, daß sich diese Erscheinungen überall finden oder daß sie, wie de Saussure sagen würde, „panchronisch" sind, das heißt, daß sie in jeder Sprache in jedem Stadium ihrer Entwicklung existieren. 2. Die meisten semantischen Universalien sind wohl s t a t i s t i s c h e r Natur: Sie müssen nicht unbedingt in jeder gegebenen Sprache vertreten sein, doch kann man die Wahrscheinlichkeit ihres Vorkommens bis zu einem gewissen Grad voraussagen. Außerdem sind bestimmte semantische Erscheinungen noch nicht präzise genug beschrieben worden, um streng statistisch analysiert werden zu können, so daß sich für sie nicht mehr als eine grobe Wahrscheinlichkeitsaussage machen läßt [26, 220]. * S. Ullmann unterscheidet dabei synchrone und diachrone Universalien und versucht, in allgemeinen Zügen universelle Erscheinungen in der Semantik zu beschreiben. So gehören zum synchronen Schnitt nach seiner Interpretation des statistischen Charakters der Universalien die Erscheinungen der Motiviertheit der Bedeutung, die Synonymie, die Polysemie, zum diachronen Schnitt hingegen — die Metapher, die Bedeutungsverengung und die Bedeutungserweiterung. Am Beispiel des semantischen Feldes der Verwandtschaft [26,251—253], veranschaulicht Ullmann die Möglichkeit, die Semantik mehrerer Sprachen zu vergleichen und allgemeine Züge zu ermitteln. Die Forschungen, die in den letzten Jahren auf dem Gebiet der semantischen Sprachstruktur durchgeführt wurden, zeigen (im Gegensatz zu den vorangegangenen Versuchen, die den Schwerpunkt auf die sogenannte nationale Spezifik des Sprachbildes der Welt legten), die deutliche Tendenz, in der Semantik der Sprache sogenannte semantische Oberflächenbeziehungen und semantische Tiefenbeziehungen zu unterscheiden (vgl. [4]). Die Fruchtbarkeit dieses Gedankens besteht darin, daß alle möglichen lexikalisch-grammatischen 464

Beziehungen einer jeden konkreten Sprache in ihrer ganzen Spezifik jedesmal nur das Mikrosystem, das Mikrofeld einer Erscheinung erkennen lassen, die im Denken des Menschen widergespiegelt und mit den Mitteln der betreffenden Sprache ausgedrückt wird. Man hat allen Grund zu der Annahme, daß jedes •semantische Mikrosystem im Rahmen eines Satzes, einer Satzgruppe in Wirklichkeit noch durch fundamentale semantische Beziehungen globalen Charakters •gestützt wird, d. h. durch Beziehungen, die dem — der logischen Struktur nach — einheitlichen erkennenden Denken des Menschen eigen sind. Diese Tiefencharakteristika der semantischen Beziehungen haben universelle Eigenschaften, sie sind auf das semantische System jeder beliebigen Sprache — aufgefaßt nicht als Summe isolierter semantischer Zellen, sondern als Makrosystem — anwendbar. Solche semantischen Kategorien wie die Begriffe Zeit, Raum, Bewegung, Farbe usw. können in bezug auf ihre Tiefeneigenschaften als universelle semantische Merkmale der Sprache beschrieben werden. Die Erforschung der semantischen Tiefenbeziehungen und ihres Verhältnisses zu den Oberflächenbeziehungen verspricht, die Theorie der sprachlichen Uni Versalien in der Semantik erheblich zu fördern. Wenn die Frage nach dem Wesen der Semantik und ihrem Verhältnis zum System der Ausdrucksmittel der Sprache prinzipiell gelöst wird, ist zweifellos •eine geschlossene Beschreibung der semantischen Kategorien als universeller Merkmale des in der Lautsprache materialisierten Denkmechanismus des Menschen zu erwarten. Universelle Merkmale muß es auf Grund ihrer Abstraktheit in jeder Sprache auf jeder Etappe ihrer historischen Entwicklung geben, sie sind im Prinzip dem panchronischen Bereich zuzurechnen. Alle Merkmale hingegen, die die Dynamik •der Sprachentwicklung betreffen, sind diesen allgemeinen Merkmalen als deren Konkretisierung im Bereich der Entwicklungsgesetzmäßigkeiten der Sprache untergeordnet. Aus den universellen Sprachmerkmalen panchronischen Charakters lassen sich Unterarten universeller Merkmale ausgliedern wie die allgemeinen Gesetzmäßigkeiten der Sprachentwicklung (eine allgemeine Entwicklungsgesetzmäßigkeit jeder Sprache ist zum Beispiel die Erweiterung und die Bereicherung des Wortschatzes, das Komplizierterwerden der grammatischen Struktur usw.). Mit der Erforschung der sprachlichen Universalien berührt sich methodisch •eine Richtung in der modernen Sprachwissenschaft, die diese Universalien dem Wesen nach ebenfalls als Merkmale der Sprache überhaupt betrachtet, sie jedoch durch den biologischen Charakter des Redemechanismus erklärt, das heißt, durch die einheitliche biologische Charakteristik des Menschen und vor allem seines Gehirns. Hier ist auf das bekannte Buch von E. Lenneberg und die Arbeiten von Mc Nile zu verweisen [25].8 So bestechend der Gedanke von dem universellen Charakter der Sprachmerkmale in Verbindung mit der biologischen Gleichartigkeit des Redemechanis8

Vgl. den Überblick über die diesbezüglichen Arbeiten in dem Artikel J. Wereschtschagins [3],

465

mus auch immer sein mag, so muß man doch die wirkliche Universalienlinguistik, d. h. das Wissenschaftsgebiet, das sich nicht mit der Biologie und der Psychologie, sondern mit der Gnoseologie berührt, davon abgrenzen. Die biologische Grundlage der Einheit des Redemechanismus des Menschen kann nur als physische Voraussetzung für die einheitliche Organisation des menschlichen Denkens und seines Verhältnisses zur stofflichen Sprachform betrachtet werden. Für das Verständnis der Universalien als Eigenschaften der Sprachstruktur und des Sprachsystems kann die Ebene der biologischen Organisation jedoch keine direkte Erklärungskraft haben. Eben das gnoseologische Prinzip der Einheit der menschlichen Erkenntnis, der einheitliche, letztlich auf der Einheit der Materie beruhende Widerspiegelungscharakter im Erkenntnisprozeß des Menschen schafft die realen Voraussetzungen für die Erforschung der sprachlichen Universalien. Das Problem der sprachlichen Universalien hat nicht nur größte theoretische Bedeutung für die Sprachwissenschaft als Wissenschaftsgebiet, das bestimmte a priori gegebene Eigenschaften der Kommunikation erforscht, sondern es spiegelt sich auch in der Erforschung konkreter Sprachen auf der Grundlage allgemeiner, der menschlichen Sprache eigener Kategorien direkt praktisch wider. Die Theorie der sprachlichen Universalien macht wesentliche Charakteristika bereits erforschter und noch nicht bekannter Sprachen in der Phonetik, im lexikalischen System und in der grammatischen Struktur erkennbar.

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1963,

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Serebrennikow I I

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ZdU Kapitel

5

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aHrjmftCKoro

3HaHHH A H CCCP. Tom I Y . Mocraa 1954, erp. 50-73 [2] — OiepKH no o6meü h pyccuoü jieKCHKOJiorini. Mocraa 1957. [3] H . fl. ApynoHOBa. HeKOTopue Bonpocu o6pa30BamiH

h

Moponornn

ochob

cjioBa. —

HaynHHe floraiaflH BLiciueii h i k o j i h . OHJionornnecKHe HayKH. 1958. JV° 1, cTp. 125—137.

494

[4] H .

A p y T K H O B a . O n o H H T H H cHCTeMH cji0B006pa30BaHnn. H a MaTepiiane i i c n a n c K o r o

n s t i K a . — H a y i H L i e aoit-na^Li BHcmeít HIKOUH. O i i J i o j i o n i M e c K i i e HayKH. 1960. J\° 2, cTp. 24-31. [ 5 ] — O i e p K H n o cjioBoo6pa30BaHHio B coBpeMeHHoM HcnaHCKOM H3tiKe. M o c r a a 1961. [ 6 ] — CTaTBH T. M a p i a H n a n o T e o p m i CHHxpoHHoro cji0B006pa30BaHiiH. — B o n p o c u H3HK03HaHHH. 1959, JV? 2, CTp. 1 2 7 - 1 3 1 . [7] M . BanaßaH.

HeKOToptie

CTpyKTypHO-CTaTHCTHiecKHe

xapaKTepHCTHKH

aiirraiftCKiix

cjiOBOo6pa30BaTejii>IIBRX MOAeJieit H HX n p i i i u i a f l u o e 3HaqeHHe. — B o n p o c u repMaHCKOfi nji0ji0raii. Y ^ ë H t i e 3anncKH I

poMaHo-

M I T I H H F L . TOM 26. M o c K B a 1961, CTp.

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BBenemie. —

IIIKOJII>HBIÍÍ

3 . A . IIoTHxa.

cjioBoo6pa30BaTCJibHtift

c n o B a p t . M o c K B a 1964, CTp. 3—14. [ 9 ] C. C. B e j i O K p n i i i m K a H . 0 6 OCHOBHBIX T H n a x OTBIMSIIHLIX cn0B006pa30BaTenbHux rHë3ji, B pyccKOM H3HKe. — B e J i a p y c K a n j i e K c i n a n o r i H i DTHMajiorin. MHHCK 1968, CTp. 13—14. [ 1 0 ] >IÎ. JK. B a p ö o T . O cnoBoo6pa30BaTejibHoit C T p y K T y p e 3THM0Ji0rjmecKHX rHë3fl. — B o n pOCbl H3BIK03HaHHH. 1967.

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H JieKciiKouornii. — B o n p o c H

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OCOÔGHHOCTH

CHHOHHMHH

B

pa3HBix

qacTHX peHH. — YMOHHO s a m i c K H I M r i I H H f l . TOM 37. M o c K B a 1967, CTp. 27—42. [ 1 5 ] 3 . M . B o n o n n a n . K n p o ô n e M e CHHxpoHHoro cji0B006pa30Bamifl. — JInHrBHCTiweCKiie HCCJieflOBaHHH n o o 6 m e ñ H cjiaBHHCKOft T H n o j i o r n u . M o c K B a 1966, CTp. 231—236. [ 1 6 ] — 0 6 OJJHOM n o « x o ; n e K onucaHHio cJioBooôpasoBaTenBHoiî CHCTGMH. — JIirarBiiCTiniecKiie HCCJienoBaHHH n o oGineíl H ejiaBHHCKoíi T i i n o n o r m i . M o c K B a 1966, CTp. 51—62. [17] — OntiT omicaiiHH

CHCTOMH cji0B006pa30BaTejn>HHx SHaneHnit ( n o MaTepiiaJiaM p y c -

CKOro H rtoJibCKoro H3LIKOB). KaHAHaaTCKan HiiccepTau,IIH. M o c K B a 1968. [ 1 8 ] — yCTaHOBJieHHe OTHOHieHHH np0H3B0flH0CTH Mefflfly CJIOBaMH. ( O n H T

npHMeHeHHH

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Y q ë H t i e 3anncKH K y p c K o r o m H .

K

npoSneMe

CJionooGpasoBaTeJibiioii

MOfleoiH. —

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Tunojioran

pyccKHX

npiicTaBOMiibix

raaro-

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33«

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( O CHCTCMaTH3auHH H M G T o a a x

iiccjie^oBainiH

(|ipa3eojiorimecKHX M a T e p n a j i o n ) . — Y i o H t i e 3 a n n c K H JleHHHrpaACKOro

rocyflapcTBGH-

H o r o yHHBGpcHTGTa. JVs 1 9 8 . C e p H H $ H j i o J i o r K i e c K H x H a y n . B t i n y c K 2 4 .

JleHimrpaA

1 9 5 6 , CTp. 2 0 0 - 2 2 4 . [24] J l e K C H K a

coBpeMeHHoro

p y c c K o r o j i H T e p a T y p H o r o H 3 H K a . M o c K B a 1968.

H

[ 2 5 ] H . A . M e J i M y K . O TcpMHHax „ycTOiiniiBOCTb" 3HaHHH. 1 9 6 0 . JYe 4 , CTp. [26] — 0 6

„HUHOMaraqHOCTb". — B o n p o c b i

H3MKO-

73-80.

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noHHTHH $ p a 3 e o n o r H 3 M a

H

üpoßjieMbi (JipaaeojioniH

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3 E m a i H e ë H3yneHHH

B

BHCineii

H

,,$pa3eoJiorii3Mti").

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Bojiorna

1967, CTp. 1 3 - 1 4 . [28] A . M .

MOJIOTKOB.

O p a s e o n o r a s M M p y c c K o r o H3bina

Koro onncaHHH. —

H

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pa3eojiorimecKHii cJiOBapb p y c c K o r o H3biKa. M o c K B a

1967, CTp.

7-28. [ 2 9 ] C. M. O w e r o B . O C T p y r a y p e $ p a 3 e o J i o r i i n . — JleKCHKOrpa^nqecKiiii cGopmiK.

BbinycK

I I . M o c K B a 1 9 5 7 , CTp. 3 1 - 5 3 . [30] B . M . I l a B J I O B . IIOHHTHG „CIIHTaKCHHeCKOrO O T H O I H G H H H " H B o n p o c 0 CJIOBOCOMGTaHHH K a K CHHTaKCHHGCKOli GflHHHIje. — l Ï H B a p H a H T H b i e CHHTaKCHMGCKHG 3HaH6HHH II C T p y K T y p a n p e « J i o > K 6 H H H . M o c K B a 1969, CTp. 1 2 6 — 1 3 7 . [ 3 1 ] A . M . IIGHIKOBCKHH. A. M.

B

ÜGUIKOBCKHÜ.

[32] B . FL. r i o J I H B a H O B .

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H 3 6 p a H H H G T p y j i b i . M o c r a a 1 9 5 9 , CTp. 7 4 — 1 0 0 .

BBGHeHHe B H3bIK03HaHH6

AJ1H BOCTOKOB6RHHX B y 3 0 B .

JlGHHHrpafl

1928.

[33] P. H. IIonoB. H3bIKa

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H3AaTejibCTB0 [34] A . A .

í>pa36onornHGCKHe

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1967.

IIOTGÔHH.

IÍ3

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CJIOBGCIIOCTH.

Eaciifi. IIoaioBima.

IIoroBopKa.

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BBC«GHHC B HSHKOBGHGHUG.

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OMOHHMHH B

ccfiepe ( f i p a s e o n o n m .



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H3HKG). — Tpyati

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yHHBepcuTeTa.

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M.

CiiAopeHKO.

ITPHIMIMM

cocTaBjieHHH

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$pa3eoJioriwecKiix

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COBpGMGHHOrO pyCCKOrO JIHTGpaTypHOrO H 3 H K a . A B T O p 6 $ 6 p a T KaHRHRaTCKOÍt AHCCepTAIIHH. J I G H H H R P A H 1964. [39] A . H . C M il p H i m K H fi. JlGKCOKOJioriiH a H r j i i i i i c K o r o H 3 H K a . M o c K B a 1957. [40] — OÖteKTHBHOCTb CymGCTBOBaHHH H 3 H K a . M o c K B a 1954. [41] B . H . T e j i H H . O p a a e o j i o r H H .

— TeopeTimecKiie

npo6jiGMH coBGTCKoro

H3HK03HaHHH.

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nepeBOß

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