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German Pages 829 [836] Year 2000
Theologische Realenzyklopädie Band X X X I
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Theologische Realenzyldopädie In Gemeinschaft mit Horst Balz • James K. Cameron Stuart G. Hall • Brian L. Hebblethwaite Karl Hoheisel • W o l f g a n g Janke Kurt N o w a k • Knut Schäferdiek Henning Schröer • Gottfried Seebaß Hermann Spieckermann • Günter Stemberger Konrad Stock herausgegeben v o n Gerhard Müller
Band XXXI Seelenwanderung - Sprache/Sprachwissenschaft/ Sprachphilosophie
Walter de Gruyter • Berlin • New York 2000
Redaktion: Dr. Claus-Jürgen T h o r n t o n Lieferung 1 / 2 Lieferung 3 / 4 Lieferung 5
Seelenwanderung - Sitte/Sittlichkeit Dezember 1 9 9 9 Sitte/Sittlichkeit - Spee von Langenfeld, Friedrich Juni 2 0 0 0 Spee von Langenfeld, Friedrich - Sprache/Sprachwissenschaft/ Sprachphilosophie Juli 2 0 0 0
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Die Deutsche
Bibliothek
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CIP-Einheitsaufnahme
Theologische Realenzyklopädie / in Gemeinschaft mit Horst Balz ... hrsg. von Gerhard Müller. - Berlin ; New York : de Gruyter. Tlw. hrsg. von Gerhard Krause und Gerhard Müller. Literaturangaben Nebent.: T R E ISBN 3-11-002218-4 Bd. 31. Seelenwanderung - Sprache/Sprachwissenschaft/Sprachphilosophie. - (2000) Abschlußaufnahme von Bd. 31 ISBN 3-11-016657-7
© Copyright 2000 by Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, D-10785 Berlin. Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Satz und Druck: Tutte Druckerei GmbH, Salzweg-Passau Buchbinderische Verarbeitung: Lüderitz & Bauer, Berlin
Joachim Mehlhausen 3. Juni 1935 - 3 . April 2 0 0 0 und
Carl Heinz Ratschow 22. Juli 1911 - 10. November 1999
Seit die Theologische Realenzyklopädie im O k t o b e r 1976 zu erscheinen begann, hat es im Herausgeberkreis etliche Veränderungen gegeben. Aber keine k a m so plötzlich wie die schwere Erkrankung J o a c h i m Mehlhausens am 28. September 1998. Von diesem Zeitpunkt an war er arbeitsunfähig. Die L ü c k e war um so empfindlicher, als er seit 1983 das große Fachgebiet der Neueren Kirchengeschichte betreute, das 19. und 20. Jahrhundert. Von 1978 an hatte er sich zunächst der Zeit von 1577 bis 1800 gewidmet. Aber er wechselte gern in die Epoche der Neuzeit, weil hier mehr und mehr seine eigenen Forschungsschwerpunkte lagen. Dies verstärkte sich noch, als er 1987 den Lehrstuhl für Kirchenordnung an der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Universität T ü b i n gen übernahm. Einundzwanzig Artikel steuerte er selbst zu unserem gemeinsamen Werk bei, von denen nur „Nationalsozialismus und K i r c h e " sowie „Neuzeit I " eigens erwähnt seien. Wichtig waren uns für die Gesamtarbeit auch sein kompetenter R a t und seine fachlich vorzügliche Begleitung der von ihm gewonnenen Autoren. Seine wissenschaftlichen Qualitäten führten zu einer Vielzahl weiterer Berufungen und damit Beanspruchungen. Seit 1990 war er einer der Herausgeber der „Arbeiten zur Kirchengeschichte", auch hier die T h e m e n aus der Neuzeit betreuend. Aus unserer Zusammenarbeit weiß ich, wieviel Zeit und Engagement er für diese Tätigkeit aufgebracht hat. Auch als einer der Herausgeber der „Evangelischen T h e o l o g i e " hat er gearbeitet, wo ebenfalls noch während seiner Krankheit die Ernte dessen eingebracht wurde, was er gesät hatte. Von seinen weiteren Aufgaben seien nur noch zwei genannt: Von 1988 bis zu seinem T o d leitete er die „Evangelische Arbeitsgemeinschaft für kirchliche Zeitgeschichte". Er meinte einmal, unsere Generation habe lange warten müssen, bis sie solch eine Verantwortung übernehmen konnte. Jetzt dagegen drängten jüngere Forscherinnen und Forscher nach - aber ihn zu ersetzen, ist alles andere als leicht! Schließlich war er von 1 9 9 0 bis 1996 Vorsitzender der Wissenschaftlichen Gesellschaft für T h e o l o g i e , auch hier gediegene Arbeit auf Kongressen und bei Publikationen leistend. Es müssen aber unbedingt auch seine „Aufsätze zur Geschichte der evangelischen T h e o l o g i e " genannt werden, die er unter dem bezeichnenden Titel „Vestigia V e r b i " zusammenfaßte. Alle seine hier publizierten Arbeiten zum 16. Jahrhundert und zur Neuzeit hat er überarbeitet: er prüfte, was er vor J a h r e n und Jahrzehnten geäußert hatte, auf seine Verläßlichkeit und Stichhaltigkeit hin. An den Anfang stellte er eine Analyse über „die reformatorische Wende in Luthers T h e o l o g i e " . Den Schluß bildete ein N a c h r u f auf seinen Lehrer Ernst Bizer. Ich weiß, wieviel M ü h e ihn dieser umfangreiche Band gekostet hat - und wieviel Freude ihm dies zugleich bereitete. Er bildet als Band 7 2 ein Glanzstück der. von Karl Holl und H a n s Lietzmann begründeten „Arbeiten zur Kirchengeschichte". Als das Buch erschien, hat J o a c h i m Mehlhausen dies wohl nicht mehr wahrnehmen können. Aber seine hier publizierten Aufsätze wie auch seine anderen Arbeiten werden als seine „ S p u r e n " für T h e o l o g i e und Kirche unverzichtbar sein und bleiben.
VI Carl Heinz R a t s c h o w hat die Theologische Realenzyklopädie begründet. Dies geschah zunächst durch seine Anregung, durch die er den damaligen Leiter des Fachbereichs Geisteswissenschaften vom Verlag Walter de Gruyter gewann, Professor Dr. Heinz Wenzel. Im Wien der sechziger J a h r e überzeugte Carl Heinz R a t s c h o w den Verleger, daß ein enzyklopädisches Werk erforderlich und lohnend sei. Denn die „Realencyklopädie für protestantische Theologie und K i r c h e " war 1908 abgeschlossen worden. An die Tradition dieses Werkes sollte modifizierend angeknüpft werden. Der Vorschlag erwies sich als nur schwer realisierbar. In seinem Vorwort zum ersten Band unseres Werkes aus dem J a h r 1977 hat Carl Heinz R a t s c h o w dies angedeutet. Während andere sich von dem Plan zurückzogen, hielt er an seinem Vorschlag fest und begründete die Arbeit eines neuen Herausgeberkreises, in dem allein er die Diskussionen von Anfang an mitgemacht hatte. Worum es gehen sollte? Um eine Enzyklopädie, nicht um ein Lexikon, bei dem, „die S t i c h w o r t a u s w a h l . . . lexikalischen Automatismen f o l g t " . Den Autorinnen und Autoren sollte die Möglichkeit eingeräumt werden, auf angemessenem R a u m „Beiträge zur Fors c h u n g " zu leisten. Aber damit sollte nichts autoritär festgeschrieben werden. M i t Carl Heinz R a t s c h o w s Worten: „Auch die Theologische Realenzyklopädie ist ja kein Endpunkt, sondern versteht sich als ein Anfang neuer A r b e i t . " An die Stelle des „Protestantischen" trat für den neuen Herausgeberkreis die Theologie. Dies wurde als eine Öffnung zur Ö k u m e n e wie als Überwindung des Nationalen verstanden. Carl Heinz R a t s c h o w setzte sich für wenige und umfangreiche Artikel ein, für die die besten Forscherinnen und Forscher ohne Ansehen ihrer Nationalität oder Konfession gewonnen werden sollten. Es lag ihm aber auch an den „ R e a l i a " . Er gestand zu, daß in der T h e o logischen Realenzyklopädie das Schwergewicht auf dem Historischen liegen müsse, „mit den einzelnen Gestalten, Ereignissen und Begriffen b e f a ß t " . Aber er betonte zugleich mit Nachdruck, daß an den Realia „das Ganze als sein ... Grund wie sein Ziel - was man heute auch wirkungsgeschichtlich nennt - zur Aussage" k o m m e n müsse. Es waren spannende Diskussionen, durch die wir die Auswahl der Stichwörter begründeten, ihre Planung gestalteten und ihre Durchführung begleiteten. W i e schwierig die Verwirklichung des Gewollten sein mußte, deutete Carl Heinz R a t s c h o w an mit den Worten: „Kein Kundiger wird bei der Vielgestaltigkeit der in der Theologischen Realenzyklopädie behandelten Gegenstände und bei der Eigenprägung der zahlreichen Autoren in allen Artikeln eine gleichmäßige Lösung der theologisch-enzyklopädischen Aufgabe erwart e n . " An sechzehn Bänden hat Carl Heinz R a t s c h o w als Herausgeber für Dogmatik mitgearbeitet. Als er 7 5 J a h r e alt geworden war, beendete er diese zeitraubende und für ihn auch sehr entsagungsvolle Tätigkeit. Dreizehn Artikel bzw. Teilartikel hat er als Autor beigesteuert, zuletzt über die Heilige Schrift. Diese Ausführungen sind im J a h r seines Todes erschienen. Es ist hier nicht der O r t , auf das reiche Werk dieses großen Gelehrten einzugehen. Viele neuen Ideen erfüllten ihn. Sie kamen seinen eigenen Arbeiten, aber auch den von ihm begleiteten oder begründeten Unternehmungen zugute - nicht nur der Theologischen Realenzyklopädie, sondern etwa auch der „Neuen Zeitschrift für systematische T h e o l o g i e " oder dem „ H a n d b u c h systematischer T h e o l o g i e " . D a ß Carl Heinz R a t s c h o w auch ein überaus geschätzter Lehrer und ein begnadeter Prediger war, wissen alle, die ihn bei diesen Aufgaben erlebt haben: Das von ihm Vorgetragene war so sein eigen, daß er es mit Leichtigkeit und-ohne schriftliche Vorlage äußerte, Identität von Person und Sache dadurch zum Ausdruck bringend. Verlag und Herausgeber erinnern sich dankbar an diese geachteten Kollegen, an unermüdliche Gelehrte und Forscher. Requiescant in pace!
Erlangen, 16. M a i 2 0 0 0
Gerhard Müller
1
Seelenwanderung I Seelenwanderung I. Religionsgeschichte II. Judentum
S. 4
I. Religionsgeschichte 1. Definition, Abgrenzungen (Literatur S. 3)
1. Definition,
2. Seelenwanderung in ausgewählten Kontexten und Bereichen
Abgrenzungen
1.1. Die Idee der Seelen Wanderung (Reinkarnation, Metempsychose, englisch transmigration ofsouls) setzt die Epiphanie einer Reinkarnationsseele (—»Seele I) voraus und basiert auf der Annahme, bei der Zeugung entstehe keine neue Seele (Kreatianismus)•, noch werde elterliche Seele übertragen (Traduzianismus)-, sondern die Zeugung sei der äußere Anlaß, daß eine bereits existierende (präexistente, unsterbliche) Seele sich einzukörpern vermöge (Präexistenzianismus). Von „Seelenwanderung" spricht man dann, wenn geglaubt wird, eine präexistente Seele werde nicht nur einmal, sondern sukzessive mehrmals neu eingekörpert. Die Seelenwanderungslehre ist dann eigentlich ein Spezialfall des Präexistenzianismus, und beides ist nicht immer leicht zu scheiden (s.u. 2.4.). Auch die Übergänge zwischen Traduzianismus und Seelenwanderungsvorstellung fließen (vgl. Schnurbein 20/21); im übrigen können im selben religiösen System verschiedene Modelle koexistieren (zum Ganzen Hasenfratz 75f.). 1.2. Gleichfalls nicht immer leicht zu scheiden sind die Vorstellungen von Wanderung und Gestaltwandel der Seele (-»Seele I), wenn etwa in gewissen afrikanischen traditionellen Gesellschaften die Seelen von Verstorbenen die Gestalt ihrer Totemtiere annehmen oder in ihre Totemtiere übergehen und von da (nach deren Ableben) in neugeborene menschliche Mitglieder der Totemgemeinschaft hinüberwechseln (Ankermann 143.145; Arbman 102f.; —> Totem). 1.3. Von Seelenwanderung zu unterscheiden ist das Phänomen seelischer Besessenheit (Psycholepsie): hier ergreift eine fremde Seele (zeitweise) von einem lebenden (also schon beseelten) Menschen Besitz und übernimmt dessen psychophysische Steuerung (vgl. Keller 35). Seelenwanderungsglaube und Besessenheitsphänomene spielen in der chassidischen Tradition (vgl. An-Ski) und in der jüdischen Sagenliteratur (z. B. Der Born Judas I, 611 f. und II, 149ff.) eine nicht unbedeutende Rolle. 2. Seelenwanderung
in ausgewählten
Kontexten
und
Bereichen
2.1. Die Seelenwanderungsvorstellung ist durch ethnographisches und folkloristisches Material weltweit bezeugt. Die Ethnographie liefert hierzu diverse Muster: Ahnenseelen gehen von bestimmten Plätzen (etwa heilige Steine, heilige Bäume) in die Leiber von (schwangeren) Frauen (und damit deren Leibesfrucht) ein. Stirbt ein Mensch, wird ein Tier der Totemgattung geboren; stirbt das Tier der Totemgattung, wird ein Mensch geboren (s.o. 1.2.). In jeder Enkelgeneration (Enkel = „kleiner Ahn" [-» Seele I]) wird die Großelterngeneration wiedergeboren („alternierende Generationen"); so ist z. B. die Enkelin eine Reinkarnation ihrer Großmutter und darf theoretisch von ihrem eigenen Großvater (als Reinkarnation von dessen Frau) geheiratet werden (Thiel 96). Selbst wo in einer Kultur Reinkarnation religiös nicht verankert ist, kann sie in ihrer Folklore als Motiv präsent sein. So im alten Ägypten: das wohl älteste vollständig erhaltene Märchen der Weltliteratur, das „Brüdermärchen", führt als zentrales Motiv das des verfolgten Märchenhelden, der nach seinem Tod in verschiedenen Gestalten immer wieder neu entsteht und so überlebt (die Reinkarnationskette läuft hier folgendermaßen: Held - Schirmpinie/Frucht - Stier/Blut - Perseabaum/Holzsplitter - Frau/Held; Brunner-Traut 60ff.289ff.).
2
Seelenwanderung I 2 . 2 . A l s k l a s s i s c h e s L a n d d e r S e e l e n w a n d e r u n g gilt — > I n d i e n . W i r f ü h r e n die Seelen-
w a n d e r u n g s l e h r e h i e r v o r , w i e sie in d e n h i n d u i s t i s c h e n Dharma-Sästräni
paränetisch
a u s g e b r e i t e t u n d in d e n v e r s c h i e d e n e n p h i l o s o p h i s c h e n S c h u l e n s y s t e m a t i s i e r t ist, und f ü g e n e i n e n A u s b l i c k a u f d e n B u d d h i s m u s a n . Sie p r ä s e n t i e r t s i c h s o : M e n s c h e n , deren C h a r a k t e r - aufgrund ihres karma (Summe der moralisch bewertbaren Akte) - Klarheit, G ü t e (sattva) ist, werden als G ö t t e r wiedergeboren; deren C h a r a k t e r (immer aufgrund ihres karma) Erregbarkeit, Leidenschaft ( r a j a s ) ist, als M e n s c h e n ; deren C h a r a k t e r Unempfindlichkeit, Trägheit (tamas) ist, als T i e r e . Besonders schlechte Menschen gelangen zuerst in eine der unterirdischen Höllen, w o sie Pein erleiden müssen, bevor sie wiedergeboren werden. Für G u t e kann die jenseitige „Welt der V ä t e r " eine Zwischenstation vor neuer E i n k ö r p e r u n g sein. Für die meisten erfolgt die Wiedergeburt unmittelbar nach dem T o d ohne vorherigen jenseitigen Zwischenaufenthalt. B e s t i m m t e Taten bedingen nicht nur die nächste Wiedergeburt, sondern eine ganze Kette genau bestimmter nächster G e b u r t e n . Denn jede moralisch bewertbare Handlung eines Wesens legt (nach dem Gesetz strenger Vergeltungskausalität) den Keim [bija) zu ihrer Frucht (pbala): zu der ihr adäquaten Vergeltung. Die Reifungszeit ( v i p ä k a ) kann dabei sehr kurz sein: die Vergeltung tritt noch zu seinen Lebzeiten ein. O d e r auch lang: dann wirkt sie erst in einer folgenden Existenz. O d e r beides zugleich: die Vergeltung erfolgt „hier und d o r t " . Jedes Wesen kann im Kreislauf der Wiedergeburten ( s a m s ä r a ) bei entsprechendem karma zu jedem Wesen werden (vom verworfensten Unterweltsdämon bis zum höchsten G o t t ) ; und sind Verdienst und Strafe in einer entsprechenden Wesensform abgegolten, geht die Seelenwanderung weiter. Nur definitive Erlösung stoppt sie. Von der einen zur andern Existenzweise wird die Seele (ätmä, purusa, jlva) von ihrem feinstofflichen Körper (liiigasartra) geleitet: Träger von karma und Bewußtsein, ein Ich- und Vitalseelenkomplex (—•Seele I), der Leben und R e i n k a r n a t i o n steuert. Erlösung besteht im endgültigen Ausschalten des feinstofflichen Körpers und damit der W i r k s a m k e i t des karma. Die Seele wird von ihrer feinstofflichen Hülle befreit und kann nun in der kosmischen göttlichen U r k r a f t ( b r a h m a ) aufgehen oder in ewiger Abgelöstheit und Eigentlichkeit ( k a i v a l y a ) verharren. Im Buddhismus, der gar keine Seele (ätmä) a n n i m m t , bewirkt die Ausschaltung (der individualisierenden und karmischen Faktoren) des feinstofflichen Körpers (hier vijnätta geheißen), daß „die Ursachenkette des E n t s t e h e n s " unterbrochen und „ E r l ö s c h e n " ( n i r v ä n a ) erreicht wird. I n d i s c h e S e e l e n w a n d e r u n g s l e h r e d ü r f t e a u f S e e l e n w a n d e r u n g s v o r s t e l l u n g e n in g n o s t i s c h e n S y s t e m e n ( z ä d m u r d im — > M a n i c h ä i s m u s ) u n d im - » I s l a m (tanäsufo
in s c h i i t i -
schen Sekten) eingewirkt h a b e n ( H a s e n f r a t z , W e g 144ff.; Friedli 3 7 f . ) . D a n e b e n m ö g e n bei b e i d e n a u c h g r i e c h i s c h e E i n f l ü s s e i m S p i e l e sein. 2 . 3 . In
Griechenland
h a t d i e S e e l e n w a n d e r u n g s v o r s t e l l u n g nie d i e d o m i n i e r e n d e
R o l l e g e s p i e l t w i e in I n d i e n ; sie w a r e i n e ( w e n n a u c h n i c h t u n b e d e u t e n d e ) S t i m m e im C h o r religiöser M e i n u n g e n und p h i l o s o p h i s c h e r D o k t r i n e n . Als ihre frühesten Vertreter gelten die O r p h i k e r , P y t h a g o r a s , E m p e d o k l e s . Ihre künstlerisch vollendetste Gestalt h a t sie i m P l a t o n i s c h e n S e e l e n m y t h o s ( P h d r . 2 4 5 c - 2 4 9 d ; - » P l a t o / P l a t o n i s m u s 1 . 4 . 3 . ; - > S e e l e V . l . 1 . 2 . ) e r h a l t e n ( H a s e n f r a t z , Seele 6 2 f f . , a u c h 26ff.). D a n a c h ist die Seele (i¡/ux>i) einem Wagenlenker (Vernunft: voüf oder XoyiaxiKÖv) mit einem Zweigespann (Wille: 9uß0£iöe T r i d e n t i n u m ) b e s c h l o s s e n e R e f o r m p r o g r a m m , i n d e m es d i e A u s b i l -
Seelsorge I
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dung der Pfarrer neu ordnete und mit der (schon auf dem 1. Konzil von ->Nicäa [325] festgeschriebenen, aber stets lax gehandhabten) Residenzpflicht der Geistlichen Ernst machte (Sess. 23, c. 1 de ref.), quum praecepto divino mandatum sit omnibus, quibus animarum cura commissa est, oves suas agnoscere (da es durch göttliches Gebot allen, denen die Seelsorge anvertraut ist, befohlen ist, ihre Schafe zu kennen). Seelsorge vollzieht sich zuerst - in klarer Abgrenzung von der reformatorischen Kritik am Meßopfer - im priesterlichen sacrificium offerre (ebd.) sowie in Predigt, Spendung der Sakramente, ethischer Vorbildlichkeit und in der diakonisch-väterlichen Sorge (pauperum aliarumque miserabilium personarum cura paterna [ebd.]). Diese Definition avancierte zur eisernen Ration der nachtridentinischen Pastoraltheologie (vgl. z.B. Johannes Molanus [1533-1585] 348). Zudem wurde durch die Trienter Beschlüsse die Einteilung der Diözesen in überschaubare und klar voneinander abgegrenzte Parochien gefördert (Sess. 24, c. 13), bzw. es wurden neue eingerichtet, die Bestallung zusätzlicher Hilfspriester ermöglicht und den Diözesanbischöfen eine weniger eingeschränkte Regierungsgewalt zugebilligt, die es ihnen u.a. ermöglichen sollte, direkt auf die Praxis der Seelsorge organisatorisch Einfluß zu nehmen (Sess. 24, c. 4ff.).
4.6.2. Ein Beispiel für die Lebendigkeit der insbesondere bernhardinisch-mystisch geprägten Frömmigkeit und Seelsorge zur Zeit der Neuorientierung des Katholizismus im Reformationszeitalter bietet das Werk des spanischen Dominikaners Luis de Granada (1504-1588), der, eine Fülle von altkirchlichen und mittelalterlichen Traditionen revitalisierend, die Überwindung des antor sui als Ziel der Seelsorge betrachtete (necesse est evacuare cor nostrum amoris proprii amaritudine, si amoris divini dulcedinem velimus infundere [es ist nötig, unser Herz von der Bitterkeit der Eigenliebe zu entleeren, wenn wir die Süße der göttlichen Liebe eingießen wollen; Memoriale II, 44]). Luis geriet jedoch vor allem bei den Jesuiten in Mißkredit wegen des Verdachts, eine lutheranisierende Richtung eingeschlagen zu haben. 4.6.3. -»Ignatius von Loyola hat, verschiedenste Traditionen der Gebetspraxis bündelnd, eine typisch jesuitische Methodik der meditativ-kontemplativen Seelsorge geschaffen, die sich in den „großen Exerzitien" konkretisierte und, an den Themata Sündhaftigkeit des Menschen sowie Leben, Passion, Auferstehung und Himmelfahrt Christi u.a. entlanggehend, einen Weg der beschauenden Verinnerlichung der Glaubensinhalte suchte, der flankiert wurde durch charakteristische Bußübungen, Gebetsriten und Akte der Selbstprüfung (-»Exerzitien I). Zentrale „seelentherapeutische Bedeutung" (H. Rahner 82) hat dabei die eine kontemplative Annäherung an Gott nach sich ziehende applicatio sensuum (Anwendung der Sinne) auf den jeweiligen Gegenstand der Meditation. Zudem ist das wichtigste Anliegen des Jesuitenordens, in Reaktion auf die Reformation dem wahren Glauben zu neuer Ausbreitung zu verhelfen, mitsamt allen dazu eingesetzten katechetischen und diakonischen Praktiken nach jesuitischem Selbstverständnis (im deutschen Raum etwa bei Petrus ->Canisius) seelsorglich motiviert. 5. Das 17. und frühe 18. 5.1. Lutherische
Jahrhundert
Orthodoxie
5.1.1. Seelsorge und Einübung der Frömmigkeit gehören zu den wichtigsten Handlungsfeldern lutherisch-orthodoxer Theologen. Wie revisionsbedürftig die seit W. Zeller gängige und vielfältig variierte These von der nach Abschluß der ->Konkordienformel eingetretenen „Frömmigkeitskrise" des Luthertums ist, wird deutlich aus der Menge der poimenisch relevanten (weitenteils unerforschten) Schriften dieser Zeit (z. B. von Stephan Prätorius [1536-1603] — von J. Arndt 1622 erneut herausgegeben - , Simon Musäus [1521/1529?-1576/1582?] und Johannes Mathesius [1504-1565], Wilhelm Sarcerius und vielen anderen). Der jüngst formulierten These vom meditationsvergessenen Luthertum der letzten Jahrzehnte des 16. und der Wiederentdeckung derselben zu Beginn des 17. Jh. (Sträter, Meditation 68 u.ö.) steht die Tatsache entgegen, daß es an meditativer Literatur in der vermeintlichen Krisenzeit in keiner Weise gefehlt hat (aus der Masse
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der Quellen seien nur g e n a n n t : E r a s m u s Sarcerius [ 1 5 0 1 - 1 5 5 9 ] ; J . M a t h e s i u s ; J o a c h i m Mynsinger [ 1 5 1 4 - 1 5 8 8 ] ) . 5.1.2. Einen M e i l e n s t e i n lutherischer Seelsorge stellt das neben Bibel, G e s a n g b u c h und K a t e c h i s m u s meistgelesene literarische Werk des lutherischen Protestantismus (Wallm a n n , Arndt 53) d a r - d i e Vier Bücher vom Wahren Christentum (1605/1610) J . - > Arndts. Durch die Aufnahme von Elementen der spätmittelalterlichen Frömmigkeit (z. B. Thomas von Kempens, J. Taulers, -»Bernhards von Clairvaux) wie auch von Motiven der jüngeren spiritualistischen Tradition (V. —»Weigel) und der frühneuzeitlichen, neuplatonisch gefärbten Naturspekulation (—»Paracelsus; vgl. E. Weber; Schneider) initiierte Arndt einen neuen Frömmigkeitstypus, der zu innerlutherischen Kontroversen führte (z. B. mit Lucas Osiander II. [1571 - 1 6 3 8 ] ) , sich aber — von seinen „heterodoxen" Seiten bereinigt - durchsetzte. Ziel der Seelsorge Arndts ist es vor allem, dem Glauben die notwendige Verinnerlichung angedeihen zu lassen, so „daß Christi Lehre ins Leben verwandelt würde" (Arndt 762), der sanctificatio also zu ihrem Recht zu verhelfen, was zuweilen zu legalistischen Tendenzen führt. 5.1.3. Als das erfolgreichste E r b a u u n g s b u c h des 17. J h . gehören J . - » G e r h a r d s Meditationes Sacrae, die, 1 6 0 3 / 0 4 als Selbsttrost in s c h w e r e r K r a n k h e i t a b g e f a ß t , 1606 im D r u c k erschienen und bis ins 2 0 . J h . i m m e r wieder aufgelegt und in fast alle e u r o p ä i s c h e S p r a c h e n übersetzt wurden (ca. 2 2 0 D r u c k e ) , zur p o i m e n i s c h e n Weltliteratur. Dieses Werk veranschaulicht, wie sich die lutherisch-orthodoxe Seelsorge der Barockzeit verstärkt um die Rezeption und reformationstheologische Transformation der Mystik (Ps.-)Augustins und (Ps.-)Bernhards sowie der im katholischen Kontext zuweilen angegriffenen, teilweise indizierten Meditationsliteratur (Luis de Granada; Henricus Harphius [Heinrich Herp(f)] u.a.) bemüht hat. Gerhard, der Luthers Theologiebegriff aufnehmend und weiterentwickelnd als Dogmatiker (zur poimenischen Ausrichtung seiner Loci vgl. z. B. loc. 23, § 289) stets Seelsorger und umgekehrt war, definierte die Theologie und die spiritualis animarum cura (Gerhard, Aphorismi a3 r ) analog zur Medizin als vornehmlich praktische Wissenschaft, der es darum zu tun ist, sich mit der Heilung der Seele von der Krankheit der Sünde zu befassen (Gerhard, Meditationes [?] 2'ff.). Dieser altkirchlich orientierte - vor Gerhard im Luthertum allerdings nicht unbekannte (vgl. M. Orneus, Seelartzneibuch, 1571) - Ansatz wurde z. B. von Gerhards Schüler Arnold Mengering (1596-1647) übernommen. Gerhard hat nicht nur eine große Anzahl von Seelsorge-Schriften verfaßt, sondern war u.a. auch als Brief-Seelsorger tätig (vgl. J.A. Steiger, Gerhard 229ff.277ff.) und hat aufgrund seiner medizinischen Kenntnisse als Superintendent in Heldburg bisweilen ärztlichen Rat erteilt. Sein Testament (1603; Edition: ebd. 159—227) legt Zeugnis ab von selbstseelsorglicher Vergewisserung im Glauben sowie von der Überzeugung, daß ein Sterbender nicht lediglich (passiv) Objekt der Beseelsorgung, sondern zuvörderst (aktiv) Tröster der Hinterbleibenden ist, während Gerhards Encbiridion consolatorium (1611) - unmittelbar nach dem Tod seines erstgeborenen Sohnes und kurz vor demjenigen seiner ersten Frau abgefaßt - ein Meilenstein lutherischer Sterbeseelsorge ist (vgl. Richter). 5.1.4. Eine enge Interdependenz von Dogmatik und Seelsorge und eine stark empirische Ausrichtung an den vielfältigen Not- und Krisensituatiorien verrät die'dominikanische'und jesuitische Vorbilder (B. Fumo [gest. 1545], L. López [gest. ca. 1595], T. Sánchez [1550-1610]) aufnehmende casus-conscientiae-Literatur des Luthertums (F. Balduin [1575-1627] 1635; Georg König [ 1 5 9 0 1654] 1654), die sich u.a. in umfassenden Seelsorge-Handbüchern für Pfarrer und Laien niederschlug (z.B. J. Olearius [1611-1684], Gymnasium Patientiaey 1661, Gymnasium EóOavaaíat;, 1669) und in variierter Form bis in die sog. vernünftige Orthodoxie hinein (z. B. S.J. Baumgarten [1706-1757], Casuistische Pastoraltheologie, 1752) fortwirkte. 5.1.5. Wie eng die lutherisch-orthodoxe Seelsorge mit dem zeitgenössischen medizinischen Wissensstand samt dessen antikem Hintergrund verbunden und diätetisch-therapeutische Ratschläge zu geben in der Lage war, zeigt nicht nur die breite antimelancholische Literatur (z. B. J. Muehlmann [1573-1613]; S. Schererz [1584-1639]; B. Albrecht [1569-1636]; A. Pfeiffer [1640-1698]), die zur Zeit des -»Dreißigjährigen Krieges zur wahren Blüte kam, sondern z. B. auch die Bemühungen, das Sirach-Buch als häuslichen Ratgeber auszulegen (J. Mathesius; Valerius Herberger [1562—1627] u.a. [vgl. Koch; J.A. Steiger, Melancholie]). Einen bislang kaum beachteten Spezialfall frühneuzeitlicher Poimenik stellt die in Trostschriften für Soldaten sich manifestierende -»Militärseelsorge (z. B. Schererz; Abraham Lehmann [1603-1637]; Johannes Cörber [1587 - nach 1639]) im Kontext des Dreißigjährigen Krieges dar. Sie veranschaulicht, daß es - entgegen der landläufigen Meinung - schon vor der Einrichtung stehender Heere unter dem Großen Kurfürsten (Friedrich Wilhelm) Militärseelsorge gegeben hat (gegen Huber 230 und Mutius 947; zur Entwicklung seit diesem Datum
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vgl. Schübel). Von der Prämisse Luthers ausgehend, daß nur ein Verteidigungskrieg ein bellum iustum sein könne, versuchten Theologen schon im Dreißigjährigen Krieg, die Frömmigkeit Jer Soldaten zu fördern und mit dem eschatologischen Ausblick auf die Zeit, in der die Schwerter zu Pflugscharen umgeschmiedet werden sollen (Jes 2,4), angesichts von Notsituationen wie Verwüstung, Plünderung, Seuchen und Hunger Trost zu spenden. Aber auch auf anderen Gebieten gelang es der orthodoxen Poimenik, sich auf die Trostbedürfnisse verschiedenster Adressatenkreise, etwa der Reisenden (z.B. S. Prätorius, Seefarer Trost), einzulassen. 5.2.6. Die kaum überschaubare Masse der einschlägigen Quellen ist bislang weder angemessen bibliographiert, geschweige denn aufgearbeitet, während Seelsorger wie Philipp Nicolai (15561608) (Freudenspiegel des ewigen Lebens), Christian Scriver (1629-1693) (Seelenschatz) und Heinrich Müller (1631-1675) eher noch im historischen Bewußtsein präsent sind. Daß nicht zuletzt das -»Kirchenlied ein unüberschätzbarer Ort der Konkretion lutherischer Seelsorge bis hin zum Sterbelager darstellt, belegen die Menge der Trostlieder und die Berichte über deren poimenischen Gebrauch z. B. in vielen -»Leichenpredigten. Wie programmatisch diese Epoche die Seelsorge in das Zentrum jeglicher theologischer Tätigkeit stellte, veranschaulichen zudem die Predigten (-»Predigt VIII), in denen der usus consolatorius meist einen wichtigen Skopos darstellt, wie auch die ganz auf die Vergewisserung der Glaubenden ausgerichtete katechetische Literatur (-»Katechismus). Inwiefern selbst die polemische Theologie, vor allem auch deren Einübung innerhalb der universitären Disputationspraxis, als integraler Bestandteil der seelsorglichen Ausbildung der späteren Pfarrer zu gelten hat, insofern, als es zum Hirtenamt hinzugehört, die Schafe vor den Wölfen zu schützen (vgl. FC SD: BSLK 8 3 9 , 1 7 - 2 2 ; Gerhard, Aphorismi a2 v ), bedarf der näheren Untersuchung, während die sich innerhalb einer „Musiksprache des Glaubens" (Walter) artikulierende poimenische Bedeutung des Kantatenwerks J.S. -»Bachs bereits näher untersucht wurde (vgl. R. Steiger [Hg.]). Wegweisend für die weitere Entwicklung ist die insbesondere innerhalb des Pietismus vielfältig rezipierte Anregung des Pietismuskritikers V.E. —»Löscher gewesen, Pastoralkonferenzen einzurichten, auf denen Seelsorger aneinander Seelsorge üben und sich über ihre Tätigkeit austauschen sollten (vgl. Hardeland II, 428). 5 . 2 . Calvinistiscbe
Orthodoxie
5.2.1. Innerhalb der calvinistisch-orthodoxen Seelsorge ergab sich infolge der Entwicklung der Lehre von der doppelten -»Prädestination (V) und v o m decretum Dei borribile (Calvin) seu absolutum (erstmals: G i r o l a m o —»Zanchi; vgl. T R E 2 7 , 1 2 6 , 1 3 f . ) die Notwendigkeit, auf die Frage von Angefochtenen nach der Erkennbarkeit der Erwählung eine seelsorglich stichhaltige und die Ungewißheit überwindende A n t w o r t zu geben ( M . Weber 102ff.). Innerhalb der Lehre vom syllogismus practicus wurden das Tun guter Werke sowie beruflich-wirtschaftlicher Erfolg als Zeichen der Erwählung deutbar (vgl. schon HeidKat Frage 86), so daß T h . - » B e z a auf die Frage sed in illa periculosissima particularis electionis tentatione, quo tandem confugiam? (aber w o soll ich hinfliehen in jener gefährlichsten Anfechtung der teilweisen Erwählung?) die A n t w o r t gab: Ad effecta ex quibus spiritualis vita certo dignoscitur (zu den Wirkungen, aus denen das geistliche Leben sicher erkannt wird; Beza 124). 5 . 2 . 2 . Prägend für die r e f o r m i e r t - o r t h o d o x e Seelsorge blieb deren durch Bucer und Calvin vorgegebene Einbettung in die Kirchenzucht, was sich z. B. in der Confessio belgica (1561) (Art. 2 9 : B S R K 2 4 4 ) dergestalt niederschlägt, daß neben pura Evangelii praedicatio und sincera Sacramentorum ... administratio die disciplina Ecclesiastica zu den notae ecclesiae gehört, wobei es letztere u.a. damit zu tun hat, pauperibus ... et afßictis, auxilio et consolatione (den A r m e n und Angefochtenen mit Hilfe und Trost) beizustehen (Art. 30: B S R K 2 4 5 ) . Die Geschichte der calvinistisch-orthodoxen Seelsorge und Erbauungsliteratur harrt größtenteils der Erforschung. Zentrale Bedeutung könnte hier der Wirksamkeit des Gisbert -»Voetius z u k o m m e n (vgl. van den Berg), der, die vielfältigen Anstöße der niederländischen Frömmigkeitsbewegung - u.a. von Willem Teellinck ( 1 5 7 9 - 1 6 2 9 ) und Godefridus U d e m a n s ( 1 5 8 1 / 8 2 [ ? ] - 1 6 4 9 ) - aufnehmend, sich die gegenseitige Durchdringung von D o g m a t i k und bei der mittelalterlichen Mystik vorsichtig Anleihen machenden Frömmigkeit zum Ziel setzte. Voetius versuchte, die von den Arminianern angezweifelte poimenische Verträglichkeit der auf der —»Dordrechter Synode festgeschriebenen Lehre von der doppelten Prädestination zu demonstrieren und
Seelsorge I eine im Sinne der von ihm geforderten „Precisheyt" durch das Streben nach geprägte Lebensführung der Mäßigkeit seelsorglich zu empfehlen. 5.3. Katholische
Seelsorge
der
19 sanctificatio
Barockzeit
Wie intensiv das jesuitische Programm der vollständigen kirchlichen Erneuerung auch im deutschen Kontext eine Blüte der Seelsorge herbeiführte, wird z. B. aus dem Lebenswerk des Aegidius Albertinus (1560-1620) ersichtlich, der sich mit seinen Erbauungsschriften nicht nur an das Volk, sondern auch an die politischen Eliten wandte (z. B. im Hirnschleiffer). Von gegenreformatorischem Eifer, tiefer Spiritualität und Mystik ist die Seelsorge F. de -»Sales' geprägt, der in der Briefseelsorge einen seiner wichtigsten Tätigkeitsbereiche sah, aus der 1608 die Schrift Introduction ä la vie devote entstand, die, in viele europäische Sprachen übersetzt, zu einem Bestseller katholischer Barockfrömmigkeit wurde. Wichtige Impulse für die katholische Seelsorge und Frömmigkeit im 17. Jh. gingen zudem von der meditativ-mystischen Erbauungsliteratur spanischer Provenienz aus. Hier sind u.a. Jerónimo Nadal (1507-1580), Vincenzo Bruno (15321594) und Luca Pinelli (1542-1607) zu nennen. Weite Verbreitung fand die aszetische Literatur des Jesuiten Jeremias Drexel (1581-1639), während der Konvertit Angelus Silesius (J. ->Scheffler) mit seinem erfolgsträchtigen Cherubinischen Wandersmann den Glaubenden einen aphoristisch-mystischen Wegbegleiter an die Hand gab. Der Jesuit F. —»Spee von Langenfeld hat sich einerseits als scharfer Kritiker der Verfolgungen von —»Hexen und als deren geistlicher Berater im Kerker betätigt, andererseits - z. B. im Güldenen Tugend-Buch - im Anschluß an die Meditationspraktiken des Ignatius von Loyola „die mystagogische Hinführung zum Lob Gottes" (Sievernich 211) sowie die Nachfolge Christi eingeübt und zudem als Poet durch geistliche Lyrik Seelsorge praktiziert (Trutz-Nachtigall). In ihr hat z.B. die Biblisierung der Schäferdichtung vermittels des Motivs vom guten Hirten (Joh 10,11) eine besondere Bedeutung (Eicheldinger 2.87ff.). Zu den prominentesten Seelsorgern der zweiten Hälfte des 17. Jh. zählen der -»Kapuziner Martin von Cochem (1634-1712) und Abraham a Santa Clara ( 1 6 4 4 1709), der die Seelsorger ermahnte, sie seien „Schaafhirten ... vnd keine Schlaffhirten" (Abraham a Santa Clara 33). In Abrahams Wirken - nicht zuletzt zur Zeit der Pest in Wien (1697) und der Türkenbedrohung (1683) - verbanden sich Bußpredigt, Popularität, Humor, Glaubensstärkung, narrative Kunstfertigkeit und literarische Erbauung in einmaliger Weise miteinander. Eine Besonderheit innerhalb der katholischen Poimenik des 17. Jh. stellt die aufgrund von Priestermangel zur Zeit der Türkenherrschaft in Ungarn vorgenommene Stärkung der Laienseelsorge durch die Schaffung der ,Lizentiaten-In$titptipn dar (Juhász). 5.4.
Pietismus
5.4.1. Der Begründer des Pietismus im engeren Sinne, Ph.J. —»Spener, hegte zeit seines Lebens eine „geradezu panische Aversion" (Wallmann, Spener 263) gegen die spezielle Seelsorge seiner Zeit, die dringend der Reform bedürftig sei, da sie für seinen Geschmack von der lutherischen Orthodoxie zu stark auf Beichtstuhl, Glaubensverhör und Kirchenzucht fokussiert worden war. Speners Pia Desideria (1675) - adressiert an die „Hirten ... in Christo JEsu unserm Ertzhirten" (Spener 2 , 3 - 5 ) - haben nicht die schon von Theophil Großgebauer (1627-1661) geforderte Reform der Beichtpraxis zum Gegenstand, sondern projektieren u.a. die Einrichtung von collegia pietatis, denen an der zwar außergottesdienstlichen, aber auf das Gemeindeleben eng bezogenen Erbauung des einzelnen (aedificatio mutua [vgl. Spener 59,22-30]) gelegen war und der Seelsorge im umfänglichen Sinne zu einem neuen und nachhaltig wirkenden Sitz im Leben verhalfen (vgl. Haizmann). Spener erschien es die geeignete Vorgehensweise zu sein, die G e m e i n d e G o t t e s von innen heraus, bei den w a h r e n G l a u b e n d e n ansetzend, a u f z u e r b a u e n u n d sozusagen induktiv u n d u n t e r R e z e p t i o n
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Seelsorge I
z. B. J. Arndts, aber auch von Impulsen puritanischer Frömmigkeit (L. -»Bayly; Joseph Hall [1574— 1656] u.a., vgl. Sträter, Sonthom), das Christentum zu überwinden, dessen Frömmigkeit erloschen und dessen Glauben nicht genügend in der Liebe tätig war. Diese Idee wurde in radikalisierter Spielart und im Verein mit einem konsequenten Spiritualismus bald zum Fundament des separatistischen Pietismus (J.W. und J.E. -»Petersen bis hin zu F. -»Breckling, Johann Georg Gichtel [1638—1710] u.a.). Seelsorge hat es nach Spener weniger mit dem Schlüsselamt und der Zusage der Sündenvergebung allein aus Glauben zu tun, sondern vielmehr mit der Begleitung und Beratung der Christen im Wachstumsprozeß des in der sanctificatio tätigen Glaubens. Spener war nicht zuletzt als - häufig überlasteter - Brief-Seelsorger tätig. Eine Fülle von höchst heterogenen casus conscientiae traktiert Spener in seinen Theologischen Bedencken und anderen Brieflichen Antworten. Eine den Spenerschen Geist atmende systematisch-praktische Darstellung der verschiedenen Wirkungsbereiche der Poimenik hat Johann Ludwig Hartmann (1640-1684) unter dem Titel HandBuch für Seelsorger veröffentlicht. 5.4.2. Das Idealbild des wiedergeborenen und vom Geist innerlich erleuchteten Seelsorgers bei dem Radikalpietisten und scharfen Kirchenkritiker G. -»Arnold ist bestimmt durch „Weißheit und Langmuth" (G. Arnold 467) im Umgang mit denjenigen, die in Sünde gefallen sind. Ziel der Seelsorge (von der Arnold mit -»Nilus von Ancyra sagt: „ M a n weiß / wie nichts schwerer sey / als die Seelensorge" [ebd. 72]) ist es, nicht „flugs" den Bann zu verhängen, sondern „auf eine besserende Weyse" zu züchtigen (ebd. 469), wobei Arnold in seiner Rede von der „Herwiederbringung alles verlornen" (ebd. 468) die Lehre von der änoKaxäozaoit; jzävztov poimenisch interpretiert. 5.4.3. Im Kontext des Pietismus Hallescher Prägung, vor allem bei A.H. —»Francke, der von sich als Seelsorger sagt, er sei „dazu geordnet / daß ich euch auffhelffen / und zu recht weisen soll" (Francke II, 39,33f.), wurde Seelsorge verstärkt als Leitung zur Bekehrung und Begleitung in der Phase des Bußkampfes verstanden und praktiziert. Hierbei war man der Auffassung, existentielle Krisensituationen seien besonders erfolgversprechende Voraussetzungen für die Initiierung des Bekehrungsprozesses und die intensiven Bemühungen um die Gewissenserforschung conditiones sine qua non der rechten Buße und der Erlangung wahren Trostes (Francke I, 368). Daß sich dort, wo die Bekehrung als historisch einmaliger, auch autobiographisch reflektierbarer Prozeß in den Vordergrund und die Luthersche Dialektik des simul iustus et peccator — poimenisch konkretisiert: simul consolatus et tentatus - in den Hintergrund tritt, das Seelsorge-Verständnis propädeutisch verschiebt und die Definition der Theologie als durch und durch seelsorglich bestimmte nicht vollständig übernommen werden kann, liegt auf der Hand. 5.4.4. Mit dem Ziel, die wahren Gläubigen zu sammeln und der gegenseitigen Seelsorge einen institutionellen, ekklesiologisch gesehen innovativen, u.a. liturgischen Rahmen zu verleihen, hat N.L. Graf von —»Zinzendorf die Herrnhuter —»Brüderunität gegründet, sie in Seelsorge-Gruppen (Chöre und Banden) aufgeteilt und ihr eine unverwechselbare poimenisch-„arbeitsteilige" Ämterverfassung verliehen (Lehrer, Aufseher, Ermahner, Bandenhalter). Diese Ämter bekleideten Männer wie Frauen gleichermaßen. Seelsorge hat es nach Zinzendorf vornehmlich damit zu tun, daß sich die einzelnen Glaubenden gegenseitig dazu erwecken, sich in kindlichem Glauben dem Schmerzensmann und Bruder Lämmlein Christus als erstem Seelsorger theokratisch zu ergeben (vgl. Meyer 304f.), wodurch dem innerlichen Menschen die göttliche Gnade erfahrbar wird. Aber auch Aspekte der Physiognomie und Temperamentenlehre sowie die Warnung vor bigottem Verzicht auf medizinische Hilfe prägen die Seel- und Leibsorge des Herrnhuters (vgl. Hahn/Reichel 259-275). 5.4.5. Zusammenkunft in Gruppen, gemeinsames Gebet und Sündenbekenntnis stehen auch im Vordergrund der Seelsorge des Begründers des Methodismus (->Methodistische Kirchen) John -•Wesley, derzufolge sich - unter Vorwegnahme von heute in „Selbsterfahrungsgruppen" üblichen Praktiken - diejenigen, in deren Leben sich Gott durch ein grundstürzendes Ereignis in Erfahrung gebracht hat, gegenseitig stützen und u.a. über ihre wachsende ethische Perfektion im Tun von Liebeswerken bzw. über diesbezügliche Rückschläge berichten. 5.4.6. Unter Rezeption von Impulsen der quietistischen Mystik (-»Quietismus) wirkte im reformiert-pietistischen Kontext Gerhard -»Tersteegen als Seelsorger, u.a. durch einen weit ausgedehnten Briefwechsel, innerhalb von Konventikeln, die der Herbeiführung von Bekehrungen dienlich sein wollten, und durch Betreuung von Kranken, denen er u.a. medikamentös zu helfen bemüht war. 5.4.7. Johann Philipp Fresenius (1705-1761) verschaffte der Seelsorge durch die von ihm herausgegebenen Pastoral-Sammlungen ein periodisches Publikationsmedium, das eine Menge von Imitationen zeitigte (z. B. Theologia pastoralis practica). Fresenius sah in der rechten Anwendung von Gesetz und Evangelium die Hauptaufgabe der Poimenik, die ohne methodischen Zwang „frei,
Seelsorge I
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ungezwungen, ungeformt und gelegenheitlich" (zit. nach Hardeland II, 438) arbeiten solle, d.h.: „nicht blos gesetzlich" - wie einige Pietisten - „und doch nicht ohne Gesetz" (Fresenius, PastoralSammlungen 3,330). Fresenius wußte um die seelsorgliche Notwendigkeit des Gespräches über Dinge des alltäglichen Lebens und stand Berichterstattungen über Bekehrungserlebnisse in Erbauungsstunden höchst skeptisch gegenüber, da sie manche dazu verleiten könnten, „Heuchler" zu werden und Dinge zu erzählen, „die sie niemals erfahren haben" (ebd. 17,343). Gleichwohl widmete Fresenius Gottes „Seelen-Führungen" (ebd. 1, )(4r) - auch in einem autobiographischen Bericht (Beichtbuch, )(6 r ff.) - besonderes Augenmerk. 5.4.8. Im Kontext des -»Puritanismus ist das von R. -»Baxter in seiner Schrift The Reformed Pastor (1656) entworfene Programm von fundamentaler Bedeutung, das dem Mißstand des u.a. aufgrund von Personalmangel (Baxter 127) darniederliegenden Seelsorgewesens durch „true reformation of the Church" (ebd. 126) begegnen wollte und zunächst in der Pfarrerschaft von Worcester eine Seelsorgebewegung auslöste, um dann bis ins 19. Jh. — in Übersetzung u.a. auch im deutschsprachigen Raum - nachzuwirken. Zu den „duties" des Seelsorgers gehört nach Baxter „very great care of the whole and every part" (ebd. 72) seiner Gemeinde, weswegen neben der Wortverkündigung, der Sakramentsverwaltung, der priesterlichen Fürbitte und der Kirchenzucht verstärkt „special care and oversight of each member of the flock" (ebd. 82) praktiziert werden solle. Den Seelsorger nennt Baxter u.a. „overseer" (ebd. 117) der Gemeindeglieder, „counsellor for their souls" (ebd. 83) sowie „co-worker with Christ" (ebd. 124) und sieht es als dessen Pflicht an, sich eine intensive Kenntnis der ihm anvertrauten Menschen anzueignen und deren seelsorgliche Instruktion in „most piain, familiar words" (ebd. 83, vgl. 136) vorzunehmen. Baxter, der die Familien seiner Gemeinde zu sich einlud und an die Katechismusunterweisung die „personal instruction" (ebd. 131) in Form von tröstlicher Besprechung der „cases of conscience" (ebd. 83) anschloß, sieht das Hirtenamt u.a. in Act 20,28 biblisch begründet. 6. Von der Aufklärung 6.1.
bis zum 20.
Jahrhundert
Aufklärung
6.1.1. Im Z u g e der - » A u f k l ä r u n g erhält die Poimenik einen stärker moralisch-pädagogischen Akzent, und zum Teil wird in der „Sittenlehre der reinen Vernunft" (Spalding, Nutzbarkeit 67) ihr hauptsächliches T h e m a gesehen. Seelsorge hat es nun p r o g r a m m a tisch damit zu tun, die Menschen zum selbständigen Gebrauch ihrer Vernunft anzuleiten (—»Kant) und sie in den Stand zu versetzen, den Aber- und Wunderglauben sowie die als irrational disqualifizierten dogmatischen Inhalte zu überwinden und den Weg des verdienstvoll-tugendhaften Lebens zu beschreiten (vgl. z. B. Spalding, Religion 9 0 ; R o c h o w 67). So verlangt H . S . —»Reimarus, die Bibel entkanonisierend, von den ,,wahre[n] Seelsorger[n]", „allen und jeden Z u h ö r e r n die gesunde Vernunft und ihren Gebrauch, als eine untriegliche Richtschnur der göttlichen Erkenntnis und eines f r o m m e n Wandels zu empfehlen" (bei Lessing 3 4 2 ) . Unter Ablehnung des ,,Seelsorger[s], der für mich Gewissen h a t " (Kant VIII,35,14), tritt das Ideal des Geistlichen als Beraters und Förderers der Selbsttätigkeit des Pastoranden in den Vordergrund. Nicht selten bildet eine popularisierte Theodizee-Lehre (-»Leibniz) das Fundament für das weitverbreitete poimenische Grundaxiom, daß -»Leiden, -»Krankheit und andere Krisensituationen lediglich die in pädagogischer Hinsicht in bezug auf die „moralische Veredelung" wertvolle Negativfolie für das Epiphanwerden der besten aller Welten und eine Tugendschule für den Menschen darstellen (so z.B. Fest 56f.; Oemler 906f.). Narrativ, ja weltliterarisch wird dieser Sachzusammenhang z.B. in der den bekannten Stoff Daniel Defoes (1660-1731) variierenden Robinsonade J.H. Campes (-»Philanthropismus) behandelt, die als ein bislang zu wenig beachtetes poimenisches Werk zu gelten hat. Anfechtung und Traurigkeit sind wie alle anderen Affekte und „unvernünftigen" Leidenschaften nach Anschauung vieler aufklärerischer Seelsorger durch das Aufbieten der ratio vom Menschen selbsttätig zu überwinden (z.B. Spalding, Bestimmung 28f.). An die Stelle des Begriffes „Trost" tritt derjenige der „Beruhigung" (z. B. Graeffe 4; Schuderoff 4; Nösselt 699), die nicht vom Seelsorger gespendet, sondern vom Beunruhigten selbst gefunden wird, wobei ihm der Seelsorger mäeutischsokratisch behilflich ist. Mit der Destruierung der Hamartiologie und deren Einengung auf den Bereich der Aktualsünde verliert die priesterliche Ausrichtung des Seelsorger-Amtes (Sündenvergebung, Fürbitte) - ähnlich wie die „Laien"-Seelsorge - an Bedeutung. Die im Anschluß an die rationalistische Jesulogie formulierte neue Amtsdefinition richtet sich an den Idealen der tugend-
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Seelsorge I
haften Vorbildlichkeit, der gesellschaftsfähigen Umgänglichkeit und der menschenkennerischen Philanthropie des Seelsorgers aus. Die Bibel tritt als Trostmedium in den Hintergrund und wird oft mit Hilfe der Akkommodationstheorie auf ihren wahren, d.h. nicht historisch bedingten, sondern zuvörderst ethischen Inhalt befragt, von dem dann - nicht selten in der Form des Kantischen kategorischen Imperativs - seelsorglicher Gebrauch zu machen ist. Zu den Stärken der aufklärerischen Seelsorge gehört ihr — zuweilen utilitaristisch überzogenes — empirisches Interesse an der Lebenswirklichkeit, das u.a. Bemühungen aus sich heraussetzte, die sozialen, kulturellen und ökonomischen Verhältnisse der einzelnen Gemeinden sowie den in ihnen herrschenden Aberglauben und die sittlichen Mißstände genau zu vermessen, um ihnen wirkungsvoller entgegentreten zu können (z.B. Graeffe 6f. [§ 4: „Kenntniß der Gemeinde durch Beobachtung"]; Nösselt 697.700 u.ö.). Nicht selten haben Geistliche nach dem Vorbild des volksaufklärerischen Bestsellers, des Noth- und Hülfs-Büchleins (1788) von Rudolf Zacharias Becker ( 1 7 5 2 - 1 8 2 2 ) , lebensnahe Ratschläge den Ackerbau, die Viehzucht, die Popularmedizin u.a. betreffend gegeben (vgl. das von Krünitz 22ff. gezeichnete Idealbild eines Landpfarrers). Nicht nur auf protestantischer, sondern auch auf katholischer Seite wurden vielfältige pastoralmedizinische und -hygienische Entwürfe entwickelt und insbesondere von Geistlichen auf dem Lande im Rahmen ärztlicher Hilfstätigkeit praktiziert (Pompey 74ff.l51 ff. u.ö.). Eng mit dieser Entwicklung verknüpft ist der Umstand, daß innerhalb der Seelsorge-Theorie die Psychologie an Bedeutung gewann, was sich z.B. durch Heinrich Philipp Sextros ( 1 7 4 6 - 1 8 3 8 ) Gründung des Königlichen Pastoralinstituts an der Universitätsklinik Göttingen (1781) auch auf die praktische Ausbildung von Seelsorgern auswirkte. Zudem wurde der Ruf nach einer Professionalisierung der Seelsorge-Tätigkeit durch Intensivierung der praktischen (außeruniversitären) Ausbildung lauter (z.B. Nösselt 704f.; -»Predigerseminar). An die Stelle der klassischen eschatologisch motivierten Trostgründe, die von der Hoffnung auf die Beendigung alles Leidens und aller Widerwärtigkeiten umgetrieben war, und der Tradition der —»Ars moriendi trat innerhalb der aufgeklärten Seelsorge zunehmend das entsprechende Säkularisat - der häufig Rousseauisch (-»Rousseau) geprägte Optimismus der Erziehbarkeit und Perfektibilität des Menschen. Daher nahm auch die in Orthodoxie und Pietismus der Sterbe-Seelsorge, dem Krankenbesuch durch den Pfarrer und der Kommunion am Sterbelager gezollte hohe Wertschätzung ab. Dagegen konzentrierte man sich auf die in den Philosophumena der Unsterblichkeit der Seele und der sog. ewigen Fortdauer implizierte Beruhigung, an deren Defizienz schon J.L. von -»Mosheim (Von der Macht der Lehre Jesu), sich vor allem mit dem englischen Deismus auseinandersetzend, scharfe Kritik geübt hatte und allein in der in Christus geschehenen Offenbarung der Auferstehung des Fleisches den unumstößlichen Grund wahrer Glaubensgewißheit verbürgt sah. 6.1.2. Einen wichtigen Einschnitt in der neuzeitlichen E n t w i c k l u n g der Poimenik innerhalb des r ö m i s c h - k a t h o l i s c h e n Bereichs m a r k i e r t die von M a r i a T h e r e s i a an der Universität W i e n betriebene Studienreform, die 1 7 7 7 die E i n r i c h t u n g der - » P a s t o r a l t h e o l o g i e als selbständiges L e h r f a c h g e m ä ß d e m E n t w u r f F r a n z Stephan R a u t e n s t r a u c h s ( 1 7 3 4 1 7 8 5 ) zeitigte. W i e n w u r d e in der Folgezeit Pflegestätte eines katholisch-aufklärerischen, rationalistischen Verständnisses von Seelsorge, das u.a. v o n F r a n z Giftschütz ( 1 7 4 8 1 7 8 8 ) entwickelt und von J o s e p h L a u b e r ( 1 7 4 4 - 1 8 1 0 ) , C a r l Schwarzel ( 1 7 4 6 - 1 8 0 9 ) und M a t t h ä u s Fingerlos ( 1 7 4 8 — 1 8 1 7 ) — einem der schärfsten Gegner J . M . -»Sailers (s.u. 6 . 1 . 4 . ) — ü b e r n o m m e n und weiterentwickelt w u r d e . Im Anschluß vor allem an protestantische Aufklärungstheologen wie z.B. J . J . -»Spalding und Johann Peter Miller ( 1 7 2 5 - 1 7 8 9 ) entwarf Giftschütz im Sinne einer „Pastoralanweisung" (Giftschütz 9) ein Programm poimenischen ,,Privatunterricht[s]" (ebd. 157; so auch Schwarzel I, 411), das sich in erster Linie die Behebung ethisch-sittlicher Mißstände in kasuistischer Weise zum Ziel setzte, während existentiellen Krisensituationen mit der Präsentation tröstlicher Vernunftgründe begegnet werden sollte. 6.1.3.
Z u r seelsorgegeschichtlichen Dialektik der A u f k l ä r u n g g e h ö r t der bislang zu
wenig erforschte U m s t a n d , d a ß es gegen E n d e des 18. J h . zur Ausbildung einer die Vernunftkritik metakritisch weiterdenkenden, z u m Teil konfessionsübergreifenden
Strö-
m u n g k a m , die verstärkt auf p o i m e n i s c h e und bibelhermeneutische E l e m e n t e r e f o r m a torischer Provenienz zurückgriff und die Unzulänglichkeit rein philosophisch-rationaler T r o s t g r ü n d e d a r t a t . Weit entfernt d a v o n , einer platten G e g e n a u f k l ä r u n g das W o r t zu reden, vielmehr das empirische, insbesondere volksaufklärerische, aber auch zum Teil
Seelsorge I
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psychologische und medizinische Interesse beerbend, haben Seelsorger wie J.K. ->Lavater, Johann Jakob Heß (1741-1828), J.H. —»Jung-Stilling, Johann Ludwig Ewald (1748-1822), die sich sämtlich von ihrer Anhängerschaft an das neologische, „philosophische" Christentum lossagten, biblisch orientierte Seelsorge betrieben, die sich sowohl klassisch erbauungsliterarisch und innerhalb von breitest angelegten Korrespondenzen artikulierte, aber auch das moderne Medium der Zeitschrift (Ewald) und des Kalenders (so z.B. unübertroffen Johann Peter Hebel [1760-1826; vgl. Steiger, Hebel] und Matthias Claudius [1740-1815]) entdeckte. Die Christologie, die Versöhnungslehre und die Eschatologie g e w a n n e n hier f ü r die Seelsorge neue Bedeutung. Im V o r d e r g r u n d dieser Bewegung s t e h t nicht zuletzt d a s g e m e i n s a m e Interesse, die d u r c h die Bibel- u n d D o g m e n k r i t i k der zeitgenössischen T h e o l o g i e verwirrten G l ä u b i g e n ihres G l a u b e n s zu vergewissern und somit nach M ö g l i c h k e i t e n von G l a u b e n s g e w i ß h e i t im Koordinatensystem der neuzeitlichen U m b r ü c h e zu fragen (vgl. E w a l d , V o l k s a u f k l ä r u n g 22f.). Z u den auch für die Seelsorge relevanten Besonderheiten Lavaters gehören seine p h y s i o g n o m i s c h e n Arbeiten, aber auch seine H o f f n u n g auf S p o n t a n h e i l u n g e n mit H i l f e des animalischen M a g n e t i s m u s A n t o n M e s m e r s (1733—1815), zu denjenigen Jung-Stillings die T ä t i g k e i t als Augenarzt und zu denen Ewalds sein politisches E n g a g e m e n t für die D u r c h s e t z u n g a u f g e k l ä r t - m e n s c h e n r e c h t l i c h e r Ideale im Reich der Welt einerseits und sein seelsorgliches Eintreten für das nach d e m W i e n e r Kongreß angefeindete und in den H e p - H e p - P o g r o m e n (1819) verfolgte J u d e n t u m andererseits (vgl. J.A. Steiger, Ewald 315ff.).
6.1.4. Auf römisch-katholischer Seite kommt eine besondere Bedeutung der Poimenik J.M. —»Sailers zu, der der soeben skizzierten Bewegung nahestand. Sailer setzte sich einerseits mit d e m a u f g e k l ä r t e n R a t i o n a l i s m u s und der im theologischen Kontext zu i m m e r s t ä r k e r e r V o r h e r r s c h a f t gelangenden Kantischen M o r a l p h i l o s o p h i e kritisch auseinander, w u r d e andererseits aber als N e u e r e r in den eigenen Reihen b e a r g w ö h n t und der Freimaurerei verdächtigt, was 1794 zu seiner Entlassung aus d e m H o c h s c h u l d i e n s t in -»Dillingen f ü h r t e . Sailer h a t es jedoch trotz aller W i d e r s t ä n d e v e r m o c h t , der nach der Auflösung des J e s u i t e n o r d e n s (1773) in eine schwere Krise geratenen r ö m i s c h - k a t h o i i s c h e n Seelsorge eine neue, zeitgemäße, aber zugleich zeit- und r o m k r i t i s c h e sowie (z. B. bei seinen A n h ä n g e r n M a u r u s Schenkl [ 1 7 4 9 - 1 8 1 6 ] , D o m i n i k u s G o l l o w i t z [ 1 7 6 1 - 1 8 0 9 ] u n d Agidius Jais [ 1 7 5 0 - 1 8 2 2 ] ) nachhaltig w i r k s a m e N e u o r i e n t i e r u n g zu verleihen. A u s g e h e n d von seiner sich gegen die zeitgenössischen L e h r v e r k ü r z u n g e n u.a. i n n e r h a l b des zweiten G l a u b e n s a r t i k e l s w e n d e n d e n katechetischen K u r z f o r m e l „ G o t t in Christus, das Heil der sündigen W e l t " (Sailer, SW XVII, 4), richtete Sailer seine Seelsorge, die er auch (lange vor Nitzsch [s.u.]) „Seelenpflege" (Sailer, Vorlesungen II, 359) n a n n t e , christozentrisch insofern aus, als er in C h r i s t u s die einzige Instanz sah, die die M e n s c h e n zur Vereinigung mit G o t t f ü h r e n k a n n (ebd.). Unter K o m b i n a t i o n des D o p p e l g e b o t e s der (Selbst- und Gottes-)Liebe (Mt 19,19) mit G a l 6,10 definierte Sailer, indem er das klassische römische A m t s v e r s t ä n d n i s in eine beim Protestantismus Anleihen m a c h e n d e R i c h t u n g verschob, die W i r k b e r e i c h e der Seelsorge f o l g e n d e r m a ß e n : „Jeder sey sein Selbst-Seelensorger! ... Jeder sey des a n d e r n Seelsorger! ... Jeder Geistliche sey Seelsorger in seinem Kreise!" (Sailer, Vorlesungen I, 20). Diese Seelsorge-Praxis zu s t ä r k e n w a r nicht zuletzt Absicht des Sailerschen Lese- und Betbuches. Der w a h r e Seelsorger ist nach Sailer u.a. „ein F r e u n d des G e b e t e s " , der „ E i n s a m k e i t " u n d der „ M e d i t a t i o n " (ebd. 29f.), und „die heilige Schrift ist sein H a n d b u c h " (ebd. 32).
6.2. Schleiermacher
und das 19. Jahrhundert
6.2.1. Einen wichtigen Neuansatz, der die weitere Entwicklung im 19. Jh. nachhaltig geprägt hat, stellt die seelsorgliche Tätigkeit F.D.E. -»Schleiermachers dar. Schon sein Versuch, die Gebildeten unter den Verächtern des Christentums für dasselbe zurückzugewinnen (Reden über die Religion [1799]), und erst recht die Tatsache, daß Schleiermacher nicht nur Universitätslehrer, sondern stets auch Pfarrer gewesen ist, dem u.a. die Armenfürsorge am Herzen lag (Reich 264-290), illustrieren die strikte Ausrichtung seiner Theologie an der Seelsorge (->Seelsorgelehre 2.3.). 6.2.2. Das 19. Jh. insgesamt ist geprägt von einer Vielzahl von höchst unterschiedlichen, zum Teil miteinander konkurrierenden Ansätzen von Seelsorge. In klarer A b g r e n z u n g von im Erbe der A u f k l ä r u n g s t h e o l o g i e stehenden u n d n e u p r o t e s t a n t i s c h e n S t r ö m u n g e n hat d a s neokonfessionalistische L u t h e r t u m (etwa C. - » H a r m s ) unter Rückgriff u.a.
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Seelsorge I
auf Luther die Diskussion um die Seelsorge bereichert, zum Teil aber auch epigonenhafte Verengungen gezeitigt. W. —»Löhe hat „eine Reihe von seelsorgerischen Traktaten ins Leben ... [ge]rufen" (Löhe 149f.) und lutherische Erbauungsschriften des 17. Jh. (Scriver [s.o. 5.1.6.]; Gottfried Olearius [1672-1715] u.a.; vgl. Blaufuß) neu drucken lassen, um die zeitgenössische „Seelsorge im eigentlichsten Sinne zu unterstützen" (Löhe 137). J.H. -»Wiehern dagegen entwarf, theologische Impulse vor allem Schleiermachers aufnehmend, ein Programm praktischer Seelsorge, das sich, von den sozialen Nöten des industriellen Zeitalters herausgefordert, der diakonischen Liebestätigkeit widmete, während -»Kierkegaard unter erneuter Berücksichtigung Arndts und Scrivers kirchenkritisch als unverwechselbarer literarischer Lehrer der Selbst-Seelsorge wirkte (vgl. L. Steiger). Ein von urchristlichen Idealen beseeltes Vertrauen auf die in Wunderheilungen (z. B. der Gottliebin Dittus [1815-1872]) und Exorzismen sich konkretisierende Macht des Heiligen Geistes und nicht zuletzt Nachwirkungen der Frömmigkeit des württembergischen Pietismus gepaart mit Elementen chiliastischer Naherwartung finden sich bei J. Ch. -• Blumhardt. Im Vordergrund seiner Seelsorge stehen präpsychotherapeutische Intuition und das (Beicht-)Gespräch, vor allem und als Konstituens von Seelsorge überhaupt aber das auf die göttliche Verheißung seelischen und leiblichen Heils pochende Gebet in der Form der priesterlichen Fürbitte (vgl. Scharfenberg, Blumhardt; Ising). 6.2.3. Die empirisch-medizinische Ausrichtung der Poimenik im österreichischen Katholizismus wollte Matthias Macher (1793-1876) durch seine Pastoral-Heilkunde für Seelsorger fördern (Pompey 1 9 6 - 2 0 1 ) . Die römisch-katholische Seelsorgelehre wurde in der zweiten Hälfte des 19. Jh. vor allem durch den stark mystisch geprägten pastoraltheologischen Entwurf Joseph Ambergers ( 1 8 1 6 1889) bestimmt, der in dem „Gleichniß von dem Weinstocke und den Reben" (Joh 15,5) „die Idee der wahren Seelsorge tiefsinnig und lieblich dargestellt" (Amberger I, 233) sah und zur nachaufklärerischen Erneuerung des Katholizismus wesentlich beitrug. Aber auch Anton Graf (1811 - 1 8 6 7 ) (vgl. F.X. Arnold 1 7 8 - 1 9 4 ) , Michael Benger (1822-1870) und Giuseppe Frassinetti (1804-1868) verdienen in diesem Zusammenhang genannt zu werden. 6.2.4. Zu den wichtigsten Charakteristiken von Seelsorge nach C.I. -»Nitzsch gehört die Orthotomie (II Tim 2,15) des Wortes Gottes - der evangelischen „Trostlehre" (Nitzsch 181) - , die den soziopsychischen Kontext, in den tröstlich hineingesprochen werden soll, in besonderer Weise berücksichtigt und sich „eine Individualisierung der Rede Gottes, welche der Individualisierung des menschlichen, zeitlichen, örtlichen Bedürfens, Empfangens und Verlangens entspricht" (ebd. 169), zum Ziel der „Seelenpflege" setzt. Nitzsch versuchte, Wicherns Modell der „inneren Mission" für eine Seelsorgetheorie und -praxis fruchtbar zu machen, die der seit der Aufklärung und der Industrialisierung zunehmenden Entkirchlichung Rechnung trägt. C.A.G. von -»Zezschwitz unterscheidet zwischen prophylaktischer, progressiver und disziplinar-rekonziliatorischer Seelsorge, wobei erstere das kirchliche „Cultusleben" (Zezschwitz 500) - vor allem Sakramente, Gottesdienst, Beichte - umfaßt, während das zweite Genus „die andersartigen Lebensgebiete" (das ist vor allem das Haus und die Familie) „segnend und weihend begleite[t]" (ebd. 525) und das dritte es hauptsächlich mit Kirchenzucht und innerer Mission zu tun hat. Ch. -» Palmers Ansatz hat seinen Ausgangspunkt in Beichte und Absolution und nimmt sodann vor allem die Armenfürsorge sowie die Seelsorge an Kranken, Trauernden, Geisteskranken, Inhaftierten und Soldaten in den Blick. 6.2.5. Eine verstärkte Zuwendung zu empirisch-psychologischen Kontexten um einer tiefergehenden Berücksichtigung der Lebenswirklichkeit des „modernen Menschen" willen ist im Bereich des Kulturprotestantismus z. B. bei F. -»Niebergall zu beobachten, der innerhalb der „Volkskunde" den Ansatzpunkt der Seelsorge sieht und insbesondere das „Erleben", „Verhalten" und „Glauben" der einzelnen Menschen ins Auge fassen will (F. Niebergall II, 379). Im Anschluß an Niebergall hat Oskar Pfister (1873-1956) insbesondere die Psychologie S. -»Freuds innerhalb einer psychoanalytischen, auf Heilung ausgerichteten Seelsorge rezipiert, die - wie die therapeutische Tätigkeit Jesu - bei der Lösung des „religiös-sittlichen Konflikt[es]" (Pfister 20) ansetzt.
6.3. Dialektische
Theologie
und die jüngste
Zeit
6.3.1. Innerhalb der -»Dialektischen Theologie haben von lutherischer Seite H. —»Asmussen (1934) und von reformierter E. -»Thurneysen (1946) Entwürfe von Seelsorge in Form von Lehrbüchern vorgelegt, die in erklärter Abkehr von der kulturprotestantisch-liberalen Theologie die Seelsorge als ein vom Theologumenon der Rechtfertigung des Sünders ausgehendes Verkündigungsgeschehen an den einzelnen definierten und u.a. der Beichte und dem Zuspruch der Sündenvergebung zu neuer Geltung verhalfen, ohne sich dabei der Psychologie zu verschließen (->Seelsorgelehre 4.1.).
Seelsorge I
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6.3.2. Im Z u g e der mittlerweile selbst zur G e s c h i c h t e der Seelsorge gewordenen sog. empirischen W e n d e seit dem Ende der 6 0 e r J a h r e wurden u.a. aufgrund von über die N i e d e r l a n d e (W. Z i j l s t r a ) nach D e u t s c h l a n d gelangten Impulsen der amerikanischen S e e l s o r g e - B e w e g u n g (Anton T. Boisen [ 1 8 7 6 - 1 9 6 5 ] ; S e w a r d H i l t n e r [ 1 9 0 9 - 1 9 8 4 ] ; W a y n e E d w a r d O a t e s [geb. 1917]; H o w a r d J o h n Clinebell [geb. 1922] u.a.) verstärkt psychologische und p s y c h o t h e r a p e u t i s c h e Aspekte vielfältiger H e r k u n f t ( G r u p p e n p s y c h o t h e rapie [ R a o u l Schindler (geb. 1923)], G e s p r ä c h s t h e r a p i e [Carl R a n s o m R o g e r s ( 1 9 0 2 1987)], —>Gruppendynamik [Joseph W. K n o w l e s ] , themenzentrierte I n t e r a k t i o n [Ruth C . C o h n (geb. 1 9 1 2 ) ] ) innerhalb der Seelsorge f r u c h t b a r g e m a c h t (Faber/van der S c h o o t ; Stollberg; S c h a r f e n b e r g ; R i c h a r d Riess [geb. 1 9 3 7 ] ; T h i l o ; K r o e g e r u.a.) und das -*Cli-
nical Pastoral
Training bzw. Education
(CPT oder CPE) als Klinische
Seelsorge-Aus-
bildung (KSA) rezipiert, w a s sich in der G r ü n d u n g der Deutschen Gesellschaft für Pastoralpsychologie (1972) auch institutionell zum Ausdruck b r a c h t e (s.u. II. 4 . 3 . ) . Bibliographie Eine Vollständigkeit anstrebende Bibliographie zur Gesch. der Seelsorge fehlt. Vgl. aber: Martin Jochheim, Bibliogr. zur ev. Seelsorgelehre u. Pastoralpsychologie, Bochum 1997, 4 7 - 4 9 . 1 6 6 - 1 8 3 . Quellen
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Seelsorge I
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Auch ihre Wertschätzung in der Öffentlichkeit schwankt zwischen extremer Hochbewertung (Seelsorge als einzige - noch — gesellschaftlich allgemein relevante Aufgabe von Kirche) und extremer Marginalisierung (Seelsorge als unmodern-manipulative Beeinflussung; vgl. Winkler 1; Fremde Heimat Kirche 390f.). Die komplexe Geschichte diverser Begriffe zur Bezeichnung von Seelsorge (s.o. I.) belegt die Diffusität des Phänomens ebenso wie die in den europäischen Sprachen unterschiedliche Kombination und Auswahl der Motive „ S e e l e " , „ p a s t o r a l " , „Pflege/Sorge" (z. B. englisch pastoral care\ französisch charge d'ämes).
Während der -»Dialektischen Theologie „gesichert die Seelsorge als Tatsache innerhalb der Kirche gegeben" galt (Thurneysen, Lehre 9), erfuhr die gleichzeitig dabei vorgenommene Eingrenzung des Phänomens schon bald Kritik: „Seelsorge ist nämlich wesenhaft nicht nur in der Kirche da, und man verzichtet auf ihre Weite und Tiefe, wenn
32
Seelsorge I I
man zu rasch sie als eigentlich kirchliches Anliegen und nur als in der Kirche eigentlich möglich stempeln will" (Haendler 372). Das Phänomen Seelsorge selbst ist nur als bereits gedeutete, interpretierte Wirklichkeit da. In diesem Sinne gilt: Nicht nur wird - wie neuerdings in der Seelsorgetheorie hervorgehoben (Ammermann; Karle; Grözinger) - von den Beteiligten Seelsorge mittels Konstruktionen vollzogen, „Seelsorge" selbst ist (deutlicher noch als „Predigt" und „Religionsunterricht") ein Interpretationsbegriff, eine Konstruktion (vgl. Heimbrock, Heilung 258): Da ist etwas, und das wird von Teilnehmenden - besonders im Rückblick — oder von den (theoretisierenden) Beobachtenden als Seelsorge bezeichnet. Von ihnen dabei jeweils zugrunde gelegte Plausibilitäten, die sich geschichtlich wandeln, gehen so in die Phänomenerfassung selbst ein. Drei Interpretationstypen sind hervorzuheben: (a) Auch die Seelsorge ist ein Kulturphänomen, eine ,,gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit" (Berger/Luckmann; Th. Bonhoeffer: „nachchristliche" Seelsorge), (b) Die Benennung des Phänomens als Seelsorge ist einem bestimmten Kulturraum zuzuordnen, insoweit als sie in ihm entstanden ist - dem Christentum: Seelsorge ist „Resultat der Christentumsgeschichte" (Rössler, Grundriß 2 175), ist eine Christentumskonstruktion. (c) Seelsorge wird pointiert dadurch, daß sie zunächst und zumeist - nicht nur von der Theologie, sondern nach allgemeiner Auffassung - in den Zusammenhang der Institution Kirche bzw. deren institutioneller Vertreter („Seelsorger" als Synonym für „Pfarrer") gerückt wird: Seelsorge ist eine
kirchliche
Konstruktion.
Die Beschreibung des Phänomens Seelsorge muß diesen durchaus komplexen Zusammenhang von Seelsorge als gesellschaftlicher, christlicher und kirchlicher Konstruktion in Korrelation mit individueller Praxis mit zu erfassen suchen. Dieser Sachverhalt läßt es als sachgemäß erscheinen, bei der praktisch-theologischen Annäherung an das Phänomen gerade nicht von einer inhaltlich festumrissenen Definition auszugehen. Eine statt dessen möglichst weit gehaltene, anderes noch nicht deutlich genug ausgrenzende vorläufige Arbeitsdefinition könnte lauten: Seelsorge ist „Hilfe zur Lebensgewißheit" (vgl. Rössler, Grundriß 2 210) oder „Freisetzung" von Verhalten „zur Lebensbewältigung" (vgl. Winkler 3). Bei einer Präzisierung wird man nicht absehen können von der soziokulturellen Formatierung der Seelsorge heute durch ihre Verortung in der alltäglichen Konversationskultur der neuzeitlichen bürgerlichen Gesellschaft und zugleich in dem Bedarf professionalisierter Beratung, den eine global gewordene Enttraditionalisierung und Deinstitutionalisierung produziert.
2. Seelsorge
als
Gespräch
Auf seine seelsorgerliche Dimension kann jedes kirchliche Handeln (HbSS 213ff.) wie Unterricht (Büttner), Gottesdienst (Spiegel; Thilo, Funktion) und Predigt (van der Geest, Wort; Möller; Denecke; Hajduk) befragt werden (Stollberg, Art. Seelsorge 175, spricht von „funktionaler Seelsorge" im Gegensatz zur eigens ausgestalteten „intentionalen Seelsorge"). Es spielte in der Seelsorge schon immer und spielt auch heute der Horizont ganzheitlicher (Rössler, Mensch; Eibach) —»Heilung (Allwohn; Baumgartner, Pastoralpsychologie; Heimbrock, Heilung; -»Heilkunde/Medizin) eine Rolle. Das Schwergewicht des Phänomens Seelsorge liegt heute jedoch auf derjenigen seelsorgerlichen Kommunikation (HbSS 95ff.), die in der Form des -»Gesprächs geschieht. (Hierin findet sich denn auch das am ehesten faßbare Unterscheidungsmerkmal gegenüber der Fürsorge oder -»Diakonie, bei der die auch vorkommenden Gespräche vor allem das Ziel des helfenden Handelns vorbereiten.) Diese Entwicklung zur Gesprächsseelsorge, die die Seelsorge unserer Zeit deutlich von der Seelsorge vorneuzeitlicher Epochen unterscheidet, ist Resultat des Zusammenwirkens vieler Faktoren (vgl. Hauschildt, Alltagsseelsorge 2 1 - 4 5 ) : der reformatorischen Betonung von im Zusammenhang individuellen Verstehens entstehender Glaubensgewißheit, der bürgerlichurbanen Konversationskultur, der pietistischen Einzel- und Gruppenintrospektion, der Anwendung des Gesprächs als Therapeutikum seit S. —»Freud, der Hinwendung zu Dialog und Sprache
S e e l s o r g e II
33
in der neueren Philosophie, der Individualisierung von Biographie und der Diskursivierung der Ethik. D i e S e e l s o r g e l e h r e des 2 0 . J h . v e r s c h i e d e n s t e r S c h u l e n - a u c h k a t h o l i s c h e r ( b e s o n d e r s a u s g e p r ä g t : B ä r e n z ; W i n d i s c h ; W. M ü l l e r , E r k e n n e n ) — h a t diesen W a n d e l je a u f ihre W e i s e rezipiert. D a s G e s p r ä c h wird als „ W e s e n " der S e e l s o r g e v e r s t a n d e n
(Asmussen
19; T h u r n e y s e n , L e h r e 8 8 ; R i e c k e r 4 8 ; H a e n d l e r 3 0 9 ; k r i t i s c h dazu: T r i l l h a a s 9 6 ) ; Seels o r g e wird von e i n e m G e g e n s a t z z w i s c h e n G e s p r ä c h und V e r k ü n d i g u n g her profiliert ( S c h a r f e n b e r g , S e e l s o r g e ) , als „ E v a n g e l i u m im G e s p r ä c h " v e r o r t e t ( T a c k e 8 9 f f . ) o d e r als B e i t r a g „ z u e i n e r K u l t u r des G e s p r ä c h s " p o s i t i o n i e r t ( N i c o l , G e s p r ä c h ) . Keinen K o n sens hingegen in T h e o r i e w i e P r a x i s g i b t es in der F r a g e , w e l c h e s G e w i c h t im V e r h ä l t n i s zur S e e l s o r g e als G e s p r ä c h die a u c h v o r k o m m e n d e n , freilich g e g e n ü b e r früher in d e r S e e l s o r g e seltener g e w o r d e n e n E l e m e n t e l i t u r g i s c h e r S p r a c h e h a b e n , n ä m l i c h - » G e b e t , - • B e i c h t e und —»Bibel ( T R E 6 , 1 0 1 f.; vgl. die e n t k r a m p f t e P r ü f u n g der V i e l f a l t der M ö g lichkeiten zum E i n b r i n g e n der B i b e l bei B u k o w s k i ; N i c o l , L e b e n ; M e y e r - B l a n c k ) . Der Großteil pastoraler helfender Gespräche wird theologisch nicht unter „Seelsorge" verbucht. In einer Umfrage von 1980 gaben Seelsorger an, „wegen ernster Probleme" (Besier 234) „im Durchschnitt drei bis höchstens fünf Seelsorgegespräche pro Woche" zu führen. Und „in der Regel kommt es zu nicht mehr als drei Gesprächen pro Klient". „Alte Menschen und Hausfrauen ... machen zwei Drittel der Klientel" aus (ebd. 202). Nach der jüngsten Umfrage verwenden Pfarrerinnen und Pfarrer lediglich 4 , 5 % ihrer Arbeitszeit in der Gemeinde für „Seelsorgegespräche" (bei Oetzmann 188).
2.1. Rahmenbedingungen
des Gesprächs.
M i t G e s p r ä c h sei ein n a t ü r l i c h e r W o r t w e c h -
sel ü b e r ein T h e m a b e z e i c h n e t , d . h . m i n d e s t e n s zwei Beteiligte k o m m u n i z i e r e n s p r a c h l i c h bei m i n d e s t e n s e i n e m S p r e c h e r w e c h s e l , und es b e s t e h t m i n d e s t e n s a k u s t i s c h e o d e r o p tische I d e n t i t ä t des Z e i t r a u m s ; es g i b t eine t h e m a t i s i e r t e S z e n e , die sich a b h e b t von H a n d l u n g e n , die das S p r e c h e n begleiten (vgl. D i t t m a n n 5 ) . S o z i a l i t ä t (eine g e m e i n s a m e S p r a c h e ) und S u b j e k t e sind einerseits V o r a u s s e t z u n g von G e s p r ä c h und w e r d e n a n d e rerseits g e r a d e d u r c h G e s p r ä c h e realisiert. Die These von der im „eigentlichen" Gespräch (Müller-Schwefe; Rensch 11 ff., und auch wieder Nicol, Gespräch 13.162: echtes Seelsorgegespräch ist existentiales/existentielles Reden) sich entbergenden, ihm vorausliegenden Sache (Gadamer360) ist in der Theologie bisweilen zur Behauptung des prinzipiell religiösen Charakters von Gespräch überhaupt fortgeführt worden (Pannenberg 365). Beobachten läßt sich allerdings eher: Unterschiede in der Erfahrung bilden die Ausgangslage, die ein Gespräch hervorruft; die Gemeinsamkeit wird im Verlauf und in Rückbetrachtung auf das gelungene Gespräch von einzelnen Gesprächsteilnehmern erlebt und gegebenenfalls auch noch thematisiert. Eine unter den dabei auftretenden Interpretationen vom Mehrwert des Gesprächs ist seine Kennzeichnung als ein Seelsorgege'sprach. Dabei dürften im jeweiligen Fall und von den einzelnen Beteiligten oder Beobachtenden durchaus unterschiedliche Einschätzungen darüber vorliegen, zu welchem Grad (christliche) Religion als Hilfe zur Lebensgewißheit vorliegt. Im G e s p r ä c h findet ein Aushandlungsprozeß
ü b e r T h e m e n , G e s p r ä c h s w e i s e und G e -
s p r ä c h s d a u e r s t a t t . D i e s e r k a n n sich b e i m S e e l s o r g e g e s p r ä c h w i e in e i n e m Alltagsges p r ä c h implizit v o l l z i e h e n (Steck) o d e r w i e in der T h e r a p i e w e i t g e h e n d e x p l i z i t . Die impliziten Vereinbarungen sind einerseits fragil, erweisen sich andererseits als der Diffusität von Situationen besonders angemessen, in denen statt der Gesprächsseelsorge oder neben ihr womöglich Information, praktische Hilfe, Diskussion gefordert ist. Explizite Vereinbarungen definieren die Situation und Beziehung - etwa als therapeutische. Sie grenzen damit ein, grenzen anderes aus. Sie kanalisieren die Seelsorgebeziehung, indem sie einerseits beide Seiten auf eine bestimmte Perspektive festlegen, andererseits so auch Schutz vor gegenseitigen Übergriffen bieten. Für die psychotherapeutische Beziehung gehören nach S. Freud (Einleitung) zum therapeutischen Gespräch Vereinbarungen über die Dauer und Bezahlung (!) des Gesprächs („Prinzip des Vermietens einer bestimmten Stunde"; ebd. 186) im ärztlichen Behandlungszimmer und die Verpflichtung auf die „psychoanalytische Grundregel" der „freien Assoziation", d.h. unzensierten Mitteilung aller Empfindungen (ebd. 194). Die klassische -»Psychoanalyse verlangt vier bis sechs Gespräche wöchentlich bei einer Dauer von drei bis fünf Jahren, eine Psychotherapie umfaßt idealerweise zwei
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Seelsorge II
G e s p r ä c h e wöchentlich bei ein bis zwei J a h r e n B e h a n d l u n g s d a u e r , die tiefenpsychologisch orientierte F o k a l t h e r a p i e , w e n n sie an die G e n e h m i g u n g s b e d i n g u n g e n der K r a n k e n k a s s e n a n g e p a ß t ist, besteht aus 25 Stunden in w ö c h e n t l i c h e m o d e r vierzehntägigem R h y t h m u s ; begründete Wiedera n t r ä g e sind möglich.
N i c h t nur die alltagsnahen Seelsorgegespräche sind demgegenüber anders, auch der Kontrakt bei Seelsorgegesprächen therapeutischen Zuschnitts unterscheidet sich doch charakteristisch vom Freudschen Vorbild. Pastorale Seelsorgegespräche, selbst w e n n im Z u s a m m e n h a n g einer pastoralen Sprechstunde z u s t a n d e g e k o m m e n , w e r d e n o h n e eigene Bezahlung i n n e r h a l b der allgemein alimentierten unabgegrenzten Arbeitszeit des Seelsorgers g e f ü h r t (sind also auch für den Klienten nicht Geld wert, und sein Nichterscheinen kostet ihn nichts); m a n sitzt sich mit S i c h t k o n t a k t gegenüber (selbst der Freudschüler u n d P f a r r e r O . Pfister hielt die b e r ü h m t e Freudsche C o u c h [Freud, Einleitung 193] nicht f ü r a n g e b r a c h t [Pfister 377]); d a s Erstgespräch ist häufig u n a n g e m e l d e t ; die D a u e r des Gesprächs wird meist nicht d u r c h n a c h f o l g e n d e G e s p r ä c h e mit a n d e r e n Klienten begrenzt; das Arbeitsziel „ L e b e n s g e w i ß h e i t " ist u n k l a r e r als die S y m p t o m b e s e i t i g u n g , der die T h e r a p i e dient; die Seelsorge-Ausübenden sind auch beruflich für a n d e r e H a n d l u n g e n neben dem therapeutischen Sprechen zuständig, nämlich explizit religiöse Akte, besonders auch in der F o r m von Ritualen (Beichte, Gebet); sie h a b e n neben der therapeutischen auch institutionell eine a n d e r e Beziehung zu den Klienten als G e m e i n d e p f a r r e r i n n e n u n d - p f a r r e r ; nicht selten ist ihnen das G e s p r ä c h s g e g e n ü b e r aus d e m G e m e i n d e l e b e n (Predigthörer, Kasualfall, Mitarbeiterin) persönlich b e k a n n t .
Die kirchliche Selbstverpflichtung zur Verschwiegenheit über die Seelsorgeinhalte (,Seelsorgegeheimnis; -»Amtsgeheimnis), festgeschrieben in O r d i n a t i o n s f o r m e l n und Pfarrergesetzen, wird vom Staat respektiert: Es gibt ein Recht zur Auskunftsverweigerung vor Gericht über Seelsorgeinhalte (Deutsche Z i v i l p r o z e ß o r d n u n g § 383, Strafproz e ß o r d n u n g § 53), das f ü r pastorale A m t s i n h a b e r gilt, in Deutschland sogar auch f ü r Seelsorgehelfer, aber erst seit 1999 auch f ü r Psychologen (Stein, Kirchenrecht 6 9 - 7 4 ) . Auch von der Erlaubnis f ü r die Strafverfolgungsbehörden zum A b h ö r e n sind pastorale Seelsorgegespräche a u s g e n o m m e n . D a s Gesprächsgegenüber kann nach kirchlicher Rechtsauffassung diejenige Person, die Seelsorge ausübte, von der Schweigepflicht entbinden, sofern es sich nicht u m ein Beichtgespräch (Beichtgeheimnis) handelte (Stein, Schweigepflicht [1972]). Die E i n s c h r ä n k u n g der Schweigepflicht durch die in der Ausund Fortbildung übliche Analyse von verschriftlicht mitgebrachten G e s p r ä c h s p r o t o k o l len verpflichtet zu großer Gewissenhaftigkeit (aus kirchenrechtlicher Sicht: Stein, Überlegungen). 2.2. Regeln
und Formen
des
Gesprächs
2.2.1. Professionalisierte Methodik. Seelsorge vertraut auf ein Ethos des Helfens und erwartet dessen Vorhandensein bei denen, die berufliche Seelsorge ausüben. Früher begnügte m a n sich d a m i t , vom Seelsorger allgemeine ethische Tugenden wie discretio (Maß; schulbildend: —»Gregor der Große) und T a k t (Schian 287) im Gespräch zu verlangen, und noch bis in die M i t t e des 20. Jh. konkretisierten sich Seelsorgebeschreibungen vor allem in der rechten Z u o r d n u n g der Konfliktfälle (schulbildend C.I. —»Nitzsch 1 168ff.: „ O r t h o t o m i e " ; —»Seelsorgelehre 2.4.). Im Professionalisierungsschub f ü r die Seelsorge seit den 60er Jahren erst w u r d e m a n sich auf breiter Front der bei der Seelsorge verwendeten Gesprächsregeln b e w u ß t und begann, die G e s p r ä c h s f ü h r u n g s p r a x i s kontrolliert zu reflektieren. A m wirkungsvollsten und weitgehend in die Seelsorgeausbildung ü b e r n o m m e n w u r d e n die Gesprächsregeln aus der G e s p r ä c h s p s y c h o t h e r a p i e . Sie gehen zurück auf C . R . Rogers (Beratung; ders., G e s p r ä c h s p s y c h o t h e r a p i e ; ders., Psychotherapie; in D e u t s c h l a n d b e k a n n t g e m a c h t d u r c h T a u s c h / Tausch; in der Klinischen Seelsorgeausbildung bes. F a b e r / v a n der S c h o o t ; Stollberg, Seelsorge p r a k tisch 13ff.; Kroeger 30—93; L e m k e ; von Kriegstein; katholisch: Schmid; die spätere E n t w i c k l u n g Rogers' w u r d e weniger rezipiert, vgl. dazu J o c h h e i m ; Rogers, Psychotherapie). R o g e r s ' T h e o r i e f o r d e r t keine k o m p l e x e n D e u t u n g s a k t e , s o n d e r n lediglich die B e a c h t u n g dreier therapeutischer G r u n d e i n s t e l l u n g e n : 1. Echtheit o d e r Konvergenz, 2. vollständiges u n d freies Akzeptieren des G e g e n ü b e r s , 3. sensibles u n d e i n f ü h l s a m e s Verstehen o d e r E m p a t h i e . Diese helfen
Seelsorge I I
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K l i e n t e n zur V e r b a l i s i e r u n g e m o t i o n a l e r E r l e b n i s i n h a l t e , w o b e i die t h e r a p i e r e n d e P e r s o n speziell die e m o t i o n a l e n G e h a l t e „ s p i e g e l t " (der B e g r i f f b e g e g n e t s c h o n bei F r e u d , W e r k a u s g a b e 4 9 8 ) , a l s o d e m G e g e n ü b e r s i g n a l i s i e r t , d a ß u n d w a s a n e m o t i o n a l e n A u s s a g e g e h a l t e n a n g e k o m m e n ist, u n d s o d i e s e d u r c h d i e n o c h m a l i g e V e r b a l i s i e r u n g als w e r t g e s c h ä t z t r a t i f i z i e r t . S t r e n g zu v e r m e i d e n h i n g e g e n sind s o l c h e A u s s a g e n , die d a s G e g e n ü b e r v o n s e i n e r e m o t i o n a l e n B e f i n d l i c h k e i t w e g f ü h r e n , nämlich: bagatellisieren, generalisieren, moralisieren, dogmatisieren, diagnostizieren, Ratschläge g e b e n , a u s f r a g e n , v o n sich selbst r e d e n . T h e r a p e u t i s c h e s G e s p r ä c h s v e r h a l t e n soll die V o r a u s s e t z u n g d a f ü r s c h a f f e n , d a ß K l i e n t e n in a n g s t r e d u z i e r t e r A t m o s p h ä r e i h r e n K o n f l i k t s e l b e r a u s s p r e c h e n k ö n n e n , die h e i l e n d - l ö s e n d e P o t e n z d a m i t f r e i g e s e t z t ist u n d s o die S e l b s t h e i l u n g s k r ä f t e in d e n K l i e n t e n g e f ö r d e r t w e r d e n . D e s h a l b b e z e i c h n e t sich d i e s e t h e r a p e u t i s c h e G e s p r ä c h s f ü h r u n g als nicht-direktiv und klienten- oder auch personenzentriert.
Im Vergleich zum psychoanalytischen Deutungsrepertoire und den Standards der Lehranalyse ist das „Spiegeln" scheinbar leicht erlernbar. Das dürfte ihm in der Seelsorge den Durchbruch verschafft haben. Daran konnte der Protest, mit der Seelsorgebewegung sei humanistische statt theologische Anthropologie in das Handeln der Kirche eingeschleust (Tacke 37ff.: „Divinisierung des H u m a n u n i " ; Hofmann: „Psychonautik S t o p " ) , nichts ändern. Der Anwendungsbereich der Gesprächsregeln ist unklar. Während betont wird, die Methodik sei überall dort einsetzbar, wo es auch auf die Qualität der Beziehung ankommt (Rogers, Psychotherapie 397; Tausch/Tausch 20), entstehen durch eine (einseitige) Festlegung einer Situation als therapeutische dann in der Praxis Probleme, wenn das vom Gegenüber als Ignorieren kognitiver Gehalte oder als Nichtreagieren erlebt wird (ein Beispiel gibt Hammers 101). In a n d e r e n T h e r a p i e r i c h t u n g e n ( e i n e n Ü b e r b l i c k b i e t e n B l a t t n e r u . a . ) s i n d h i n g e g e n d e u t l i c h e r als bei R o g e r s d u r c h a u s d i r e k t i v e S t ö r u n g e n , K o n f r o n t a t i o n e n e t c . ein m ö g l i c h e s M i t t e l d e r W a h l (in d e r S e e l s o r g e : S w i t z e r : „ K r i s e n i n t e r v e n t i o n " ; C l i n e b e l l , M o d e l l e : s t ü t z e n d e B e r a t u n g u n d k o n f r o n t i e r e n d e S e e l s o r g e ; S t o l l b e r g , S e e l s o r g e [ 1 9 9 8 ] 1 9 8 : „ E c h t h e i t ... b e d e u t e t ... g g f . a u c h a u t h e n tische K o n f r o n t a t i o n " ) . Andere Ansätze betonen die therapeutische W i r k u n g sinntragender Vorstellungen. W ä h r e n d f r ü h e r die D a s e i n s - u n d e x i s t e n z a n a l y t i s c h e n Z u g ä n g e e t w a v o n L u d w i g B i n s w a n g e r ( 1 8 8 1 - 1 9 6 6 ) , V i c t o r - E m i l v o n G e b s a t t e l ( 1 8 8 3 - 1 9 7 6 ) a u c h in d e r S e e l s o r g e B e a c h t u n g f a n d e n (dazu S t o l l b e r g , G o t t 7 0 f f . ; R ö s s l e r , M e n s c h 7 2 f f . ) , ist in j ü n g e r e r Z e i t ö f t e r a u f V . E . F r a n k l s L o g o t h e r a p i e v e r w i e s e n w o r d e n ( K u r z ; R ö h l i n ; H e y e n ; E s c h m a n n ) , d i e d i e s e r a u c h als „ ä r z t l i c h e S e e l s o r g e " v e r s t e h t ( E . L u k a s n e n n t die L o g o t h e r a p i e „ P s y c h o l o g i s c h e S e e l s o r g e " ) . In d e r „ p a r a d o x e n I n t e n t i o n " w ü n s c h t sich d e r P a t i e n t g e n a u d a s h e r b e i , v o r d e m die A n g s t ( n e u r o s e ) b e s t e h t , die „ D e r e f l e x i o n " d i e n t d e m I g n o r i e r e n d e r S y m p t o m e ; A n l e i t u n g e n z u r I m a g i n a t i o n u n d R e i m a g i n a t i o n v o n —»Sinn s e t z e n n e u e W i r k l i c h k e i t e n . N a c h C . G . - » J u n g v e r m i t t e l n sich a u s d e m k o l l e k t i v e n U n b e w u ß t e n g e s p e i s t e A r c h c t y p e n in - » S y m b o l e n , d i e S i n n - B i l d e r d e r V e r k n ü p f u n g v o n U n b e w u ß t e m u n d B e w u ß t e m sind ( G W V I , 5 1 5 f f . ) .
2.2.2. Alltagsmechanismen. Zur alltäglichen Sprache, mittels derer neben Beziehungen auch Informationen, Diskussionen, Smalltalk etc. gestaltet werden, gehören auch gesprächstherapeutisch verpönte Reaktionen wie das Ratgeben, das Wechseln von T h e men, das Werten und das Von-sich-Erzählen. In der nicht auf Therapie festgelegten pastoralen Seelsorge wird denn auch gesprächstherapeutische Methodik häufig nicht konsequent angewendet. Die statt dessen verwendeten alltäglichen Gesprächsmechanismen (vgl. die bei Hauschildt, Alltagsseelsorge 216ff., aufgeführten „Darstellungsinduzierer", ,,-reduzierer" und ,,-qualifizierer") bewirken ebenfalls - wenn auch weniger intensiv - , daß sich das Gegenüber in kleinen Gesprächs-„Episoden" mit seinen Themen und Emotionen entfalten kann und Ambivalenzen zur Darstellung bringt. Hier findet dann so etwas wie seelsorgerliche „Alltagstherapie" statt, selbst wenn die streng therapeutische Sprache nicht erreicht wird. 2.2.3. Gruppenkommunikation. Zeitgleich zur Rezeption der Einzelgesprächspsychotherapie wurde auch die Gruppenseelsorge methodenbewußt (Knowles; Stollberg, Gruppenseelsorge; ders., Seelsorge [1971]; Schütz) und veränderte die Sicht auf kirchliche Gruppen entscheidend. Nicht mehr die tendenziell nivellierende Integration in ein größeres Ganzes (Gemeinde, Kirche) ist das Ziel der Gruppenarbeit, sondern die Gemen-
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Seelsorge II
gelage der einzelnen mit ihren Interessen und Fähigkeiten wird als Katalysator von Gruppenprozessen genutzt, die für die Entwicklungen bei den einzelnen förderlich sind. So war es in den späten 60er und 70er Jahren ganz besonders die Einbringung der ->Gruppendynamik (HPTh[G] 2,325ff.; nach Clinebell, Modelle 191, ist sie das „verheißungsvollste Hilfsmittel ..., wenn es darum geht, größere schöpferische Fortschritte in der Seelsorge zu erzitlen"), die heftigen Protest der Bekennenden Gemeinschaften gegen die Seelsorgebewegung auslöste Beck; Reller/Sperl). Stollberg (Art. Seelsorge 180f.) resümiert allerdings 1996: „Diese neuen Konzepte (etwa als ,S. durch die Gruppe') haben jedoch keineswegs in der Praxis Schule gemacht:' Am stärksten bewährt hat sich die zum helfenden Gespräch in thematischen Gruppen geeignete Themenzentrierte Interaktion nach R. Cohn (Cohn; Stollberg, Lernen). Sie zielt auf eine Balance von Ich, Wir und Sache in Gesprächsgruppen und leitet dazu mit griffigen Regeln an: „Sei dein egener Chairman"; „Störungen haben Vorrang"; „Sprich nicht per man und wir, sondern per ici." In den letzten Jahren hat die Einbeziehung der körperlichen Dimension durch die psychodramaische Aufführung von Bibeltexten, das Bibliodrama (Martin; Warns/Fallner; Panitz; Keßler), in derGruppenarbeit stark zugenommen. Den Focus auf das in Kleingruppen vorliegende Beziehungsgeflecht legt die immer noch - nicht zuletzt aufgrund ihrer leichten Verständlichkeit - beliebte Transaktionsanalyse (Berne; Harris; James/Savary; Clinebell, Modelle 123ff.; ders., Wachsen II, 143ff.; Lefeber; kritisch: Oden; H. Fischer). In der Partner- und Familientherapie wie überhaupt als eigener therapeutischer Ansatz dürfte die systemische Therapie auch in der Seelsorge immer mehr an Bedeutung gewinnen (Clinebell, Modelle 112ff.; ders., Wachsen II, 210ff.; Ludewig; Schlippe/Schweitzer; Böse/Schiepek; Graham; Olsen; Held; die erste, auch theologisch durchreflektierte deutschsprachige Gesamtdarstellung bietet Morgenthaler, Seelsorge). Es gilt: „Ein Problem erzeugt ein System, nicht umgekehrt" (Schlippe/Sciweitzer 101). Nach der Bildung von Hypothesen erhellen zirkuläre Fragen die „Wirklichkeits'- und „Möglichkeitskonstruktionen" (ebd. 116ff.). Was wird nach Ansicht eines Mitglieds des Sjstems ein anderes gegenüber einem Dritten empfinden oder wie sich verhalten? Zu Mitteln der Sichtbarmachung der Systemlogik treten Interventionen, die den alten Systemzirkel aufbrechen Kommentierungen, Umdeutungen = „Reframing", bewußt beide Seiten einer Ambivalenz aufneimendes „Splitting"). 2.2.4. Körperintegrierende Kommunikation. In den letzten Jahrzehnten werden zunehmend Kommunikationsweisen therapeutisch genutzt, die nonverbale und körperbezogene Aktivitäten hoch schätzen (Petzold, Körpertherapien). Sie erweisen sich auch für die Seelsorge als relevant. Dazu zählen neben dem P s y c h o d r a m a die Ansät2e der Spieltherapie (Goetze; Jernberg), Maltherapie (Ecker; Riedel; Steinbauer/Taucher; zu religiösen Erfahrungen: Stricker), Musiktherapie ( H a r r e r ; H ö r m a n n ; Strobel/Huppmann; Bunt; Decker-Voigt; Lexikon Musiktherapie), Tanztherapien (Klein; Willke/Hölter/Petzold; Rick), Bewegungstherapien (Feidenkrais; Becker; Petzold, Bewegungs- und Leibtherapie) und Gestalttherapie (Perls; R a h m u.a.; Ginger/Ginger; Oaklander; Kiessmann, Gestalttherapie; Petzold, Gestalttherapie; H a m i l t o n ) . Das jeweilige nonverbale Verhalten ist dabei einerseits als personaler Selbstausdruck zu lesen, der Hinweise über vorhandene Zustände und Konflikte gibt, und kann andererseits als Micel der therapeutischen Intervention genutzt werden, um den Selbstausdruck zu strukturieren und über das Erleben veränderter nonverbaler Kommunikation auf Lösungen zuzusteuern. Der „Körper als Ort der Sprache" wird zum „Körper als Ort des Verstehens" (Eidam 29.33). 2.3.
Gesprächsdynamiken
Jedes Gespräch hat einen Gespräch sbogen-, Beim Gesprächseinstieg werden nach den Begrüßungsformeln die Vereinbarungen (s.o. 2.1.) getroffen, sei es explizit, gegebenenfalls sogar durch ein über eine Seelsorgegesprächsreihe entscheidendes Explorationsgespräch, das den zu bearbeitenden Gegenstand feststellt, sei es implizit durch ausgedehnteren Smalltalk, von dem aus man in Gesprächsthemen „ h i n e i n r u t s c h t " . Die Gespmchsmitte enthält die thematischen Gesprächseinheiten. Gesprächsabbrüche können erneuten Einstieg nötig machen oder zum Gesprächsausstieg führen. Der Gesprächsausstieg beginnt oft mit einer Vorankündigung des Endes, dann folgen inhaltliche Zusammenfassungen, die das Ergebnis sichern, es schließen sich Verabredungen über die Fortführung des Gesprächs oder des Kontaktes an, und man geht unter Abschiedsformeln aasein-
Seelsorge II
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ander. Jedes Gespräch entwickelt innerhalb des Zeitraums, über den es sich erstreckt, interakriv eine spezifische Dynamik. Zu ihr gehören eine Reihe von Charakteristika, auf deren innerpsychische Anteile die verschiedenen therapeutischen Schulen, oft bereits Freud selbst, zuerst aufmerksam gemacht haben. 1) Erinnern, Wiederholen, Durcharbeiten (vgl. Freud, Erinnern 205—215): Themen von Seelsorgegesprächen sind vor allem erzählte Szenen aus der Biographie. „Seelsorge als E r i n n e r u n g s a r b e i t " (Patton) m a c h t d a s Vergangene p r ä s e n t u n d f ä r b t in seiner W i e d e r h o l u n g die G e g e n w a r t ein — beide Zeiten w e r d e n in der Reflexion m i t e i n a n d e r v e r k n ü p f t , und so gelangt d a s Gespräch über ein bloßes Repetieren, das sich auf d a s Vergangene fixiert, h i n a u s u n d eröffnet neu e r w o r b e n e Lebensgewißheit.
2) Übertragung, Gegenübertragung und die Abstinenzregel (vgl. Freud, Dynamik; ders., Bemerkungen; Scharfenberg, Seelsorge 6 5 - 9 1 ; Thilo, Seelsorge 4 5 - 4 9 ) : Die Seelsorge suchende Person überträgt Gefühle und Rollenzuschreibungen aus der erzählten Szene auf den Seelsorger/die Seelsorgerin; auch auf der professionellen Seite läuft entsprechendes ab. Ü b e r t r a g u n g ist nach Freud unausweichlich, u n d ihre Bearbeitung bringt den B e h a n d l u n g s p r o zeß v o r a n . D a s G e s p r ä c h mit d e m kirchlichen Vertreter lädt besonders zur „religiösen Ü b e r t r a g u n g " (Scharfenberg, E i n f ü h r u n g 114) der G e f ü h l e gegenüber der Legitimationsinstanz G o t t auf seinen irdischen „ V e r t r e t e r " ein. Für die dabei v e r w e n d e t e religiöse Symbolik vermittelt T h e o l o g i e besondere Kenntnisse. D e u t u n g s a n g e b o t e d u r c h Seelsorger/-innen, die in religiöser Symbolik geboten w e r d e n , sind sehr offen ( „ , w e i c h ' f o k u s s i e r t " ) und lassen d e m G e g e n ü b e r Spielraum, u m e t w a s bei ihm auszulösen (ebd. 1 1 7 - 1 2 0 ; als d e m psychoanalytischen Ziel der B e w u ß t w e r d u n g widersprechend von Wahl kritisiert). D a m i t beide Seiten sich d u r c h Ü b e r t r a g u n g u n d G e g e n ü b e r t r a g u n g nicht in Beziehungsmuster so verstricken, d a ß es bei der reinen W i e d e r h o l u n g des U r s p r u n g s k o n fliktes (auf beiden Seiten), n u r mit n e u e m G e g e n ü b e r , k o m m t , bedarf es des professionellen D u r c h schauens der Ü b e r t r a g u n g e n u n d der Kontrolle der G e g e n ü b e r t r a g u n g e n . Z u r Kontrollierbarkeit der Ü b e r t r a g u n g dient die von Freud vertretene „ A b s t i n e n z r e g e l " , die aus ethischen wie t h e r a p e u tischen G r ü n d e n d a s Ausagieren der Ü b e r t r a g u n g s l i e b e u n t e r l ä ß t , indem die Beziehung streng auf den verbal d e u t e n d e n u n d den rein professionellen K o n t a k t begrenzt wird (Freud, Bemerkungen). (Die R e c h t s p r e c h u n g wertet deren D u r c h b r e c h u n g d u r c h eine sexuelle Beziehung in der T h e r a p i e d e n n auch als U n z u c h t mit A b h ä n g i g e n ; zur pastoraltheologischen D e b a t t e d a r ü b e r vgl. F o r t u n e ; H o u x ; W. M ü l l e r , Lieben.) In der Seelsorge mit d e m G e m e i n d e p f a r r e r o d e r der priesterlichen Liturgin ( H a n d a u f l e g u n g ) läßt sich aber die Abstinenzregel in Freudscher Reinheit nicht d u r c h f ü h r e n . In der i n n e r p s y c h o a n a l y t i s c h e n D e b a t t e wird inzwischen die Abstinenzregel relativiert u n d präzisiert: „ A b s t i n e n z e r f o r d e r t eine radikale V e r a n t w o r t u n g s ü b e r n a h m e des T h e r a p e u t e n f ü r die eigenen Impulse, G e f ü h l e und G e d a n k e n " ( H a f k e 164). D a n n „ m u ß ... auch über Fug u n d U n f u g der Beachtung d e r analytischen Abstinenzregel in der Seelsorge neu n a c h g e d a c h t w e r d e n " (Stollberg, Seelsorge [1998] 198).
3) Im Gespräch tun sich Differenzen zwischen den Gesprächsinteressen beider Seiten auf und müssen gegenseitig ins Kalkül gezogen werden. Bei Freud (z.B. Erinnern 2 1 0 215) bezeichnet Widerstand eine Kraft beim Gesprächsgegenüber, die sich gegen Veränderungen durch die Therapie wehrt und sich den aus dem alten Zustand bezogenen Gewinn beibehalten will (ausführlich zu den Abwehrmechanismen: Thilo, Seelsorge 4 9 - 6 1 ; in sog. „hoffnungslosen Fällen": Senn). Widerstand wird durch Konstatieren, daß Widerstand vorliegt, nicht beseitigt; er kann sich nur in mühevollen, kleinen Schritten über längere Zeiträume langsam lösen. Das Etikett „Widerstand" kann aber auch zum Abwehrinstrument in der Hand des Therapeuten werden. 4) Die Gesprächsdynamik der Verstärkung beginnt schon beim „hm", der annehmenden Zuwendung, der Wiederholung von Aussagen durch die Seelsorge ausübende Person. Damit werden bereits in sublimer Form Lob und Tadel übermittelt. Zum professionellen Instrument ausgearbeitet wurde die Einsicht in diese Dynamik durch die Verhaltenstherapie. Verstärkung wird besonders bei der Behandlung von Suchten und Phobien eingesetzt, bei Personen mit herabgesetzten Ichfähigkeiten. Nach streng k o n d i t i o n i e r e n d - m a n i p u l i e r e n d k o n z e p t i o n i e r t e n A n f ä n g e n m a c h t e die Verhaltenstherapie eine „ k o g n i t i v e W e n d e " d u r c h . Auf diesem Stand ist e t w a die „ R a t i o n a l - e m o t i v e - T h e r a p i e "
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Seelsorge II
von A. Ellis. Nach ihr wird die Erfahrung nichtgelingender Lebensbewältigung ausgelöst durch dysfunktionale Kognitionen, also irrationale Bewertungen der eigenen Person und der anderen, dazu zählen auch das Katastrophieren (es gibt keine Besserung) und das übertreibende Fordern (gegenüber M e n s c h e n und Personen). Dementsprechend werden im verhaltenstherapeutischen Gespräch rationalere Bewertungen eingeführt und verstärkt. Dazu wird zunächst im Gespräch die vorliegende S y m p t o m a t i k erhoben (hier wird auch nicht-direktive Gesprächsführung angewendet, um zu klären, was tatsächlich erlebt und gedacht wird); auf dieser Grundlage kann analysiert werden, was im vorliegenden Fall w i r k s a m e Verstärker sind. Die Gesprächsintervention erarbeitet nicht nur kognitiv die Deutung der S y m p t o m k o n s t e l l a t i o n , sondern projektiert vor allem alternatives Verhalten. Angemessene Kognitionen werden in der Gesprächssituation durch das therapierende Gegenüber verstärkt, damit der Klient in den projektierten Lebenssituationen mittels vorbesprochener Handlungspläne selbst Verstärkungen durchführen kann; beim nächsten Gespräch werden positive Resultate weiterverstärkt. Entsprechend werden negative Kognitionen abtrainiert (Gedanken stoppen, aversive Reize, Desensibilisierung). In der Seelsorge arbeiten einige evangelikale T h e r a p i e a n s ä t z e mit direkten Verhaltensanweisungen (in deutscher Sprache: A d a m s , Seelsorge; ders., H a n d b u c h ) , bleiben aber auf einem Stand vor der kognitiven Wende (so auch noch das Plädoyer für die Verhaltenstherapie bei Besier; Winkler 7 2 f . A n m . 1 7 8 . 1 8 0 weist an A d a m s ' praktischen Beispielen Fälle von Ideologiebildung und Verstärkung der Depression durch Konditionierung nach; für Kognitive T h e r a p i e plädiert Pfeifer). Die Seelsorgebewegung lehnte Verhaltenstherapie aufgrund von mit der T h e o l o g i e für unvereinbar gehaltener Anthropologie ab (Stollberg, W a h r n e h m e n 49ff.; Scharfenberg, Seelsorge 1 1 2 - 1 1 4 ) . Bewußt eklektische M e t h o d e n k o m b i n a t i o n unter evangelikalen Vorzeichen bietet die Biblisch-Therapeutische Seelsorge ( M . Dieterich). Ernst zu nehmen sind jüngere US-amerikanische Ansätze (Taylor; M a c M i n n ; Capps, R e f r a m i n g ; vgl. außerdem auch schon Clinebell, Wachsen II, 118ff.). Es scheint neuerdings eine terminologische H i n w e n d u n g zum Begriff des Verhaltens auch bei Vertretern der Seelsorgebewegung zu geben (Winkler 5 f . ) . Das G e s p r ä c h zwischen tiefenpsychologischem und verhaltenstherapeutischem Lager k o m m t aber gerade erst in G a n g (Potthoff). So bedarf etwa das Verhältnis zwischen dem Ausagieren von Ü b e r t r a g u n g / G e g e n ü b e r t r a g u n g und verhaltenstherapeutischen Interventionen weiterer Klärung (G. Fischer/Klein).
Alle aufgeführten Gesprächsdynamiken sind für die Seelsorge relevant: Die schon alltägliche Unerläßlichkeit von Einstieg und Warmwerden im Gespräch gilt noch mehr für religiöse Themen; Übertragung und Gegenübertragung werden noch überdimensionaler, wenn die Gottesfigur mit ins Spiel kommt; mit —>Sünde bezeichnet die Theologie einen „Widerstand" gegen Gott und seine gute Schöpfung; Verstärkung durch spezifisches religiöses Verhalten ist in bestimmten Konstellationen sehr erfolgreich. Reduktionen seelsorgerlichen Handelns etwa nur auf Verhaltenstraining oder auf die strenge Beachtung der Abstinenzregel sind der Komplexität der religiösen Dimension nicht angemessen.
2.4. Gesprächsebenen
und
Gesprächstypen
2.4.1. Innerhalb des Seelsorgegesprächs lassen sich in verschiedener Weise Gesprächsebenen voneinander unterscheiden: 1. Inhalts- und Beziehungsebene (vgl. Watzlawick u.a. 5 3 - 5 6 ) : Gesprächsbeiträge enthalten beide Ebenen, machen eine Aussage über einen Sachverhalt und vollziehen Beziehung zum Gesprächspartner. Unterschiedlich ist, was überwiegt; die Beziehungsebene wird meistens nicht explizit angesprochen, obwohl sie die Kommunikation fundamental bestimmt, sie läuft mit und bedarf in der Seelsorge gegebenenfalls der expliziten Thematisierung. 2. Kognitiv - emotional pragmatisch: Seelsorgegespräche transportieren Bewußtseinsinhalte (z. B. mittels theologischer Lehre) und Gefühle (z.B. mittels religiöser Symbolik), aber in ihnen wird auch gehandelt — rituell (Beichte, Gebet) und in verbalem Vorwegnehmen späterer Handlungspläne (Probehandeln). 3. Bewußt - unbewußt (Gestrich): Vorstellungen, die originär von den Körperbedürfnissen stammen oder die zu verdrängten Bedürfnissen gehören (Triebe), sind nach Freud im Gespräch präsent als das Unbewußte (Freud, Ich; ders., Unbewußte) hinter solchen Vorgängen, die im Gespräch nur mit großer Anstrengung (eben professionell therapeutischem Gespräch) bewußt gemacht werden können. Bewußtmachung des Unbewußten heilt, weil es die Kontrollmöglichkeiten im Ich selbst erhöht, anstatt dieses dem Es und Uber-Ich ausgeliefert zu lassen. Noch mehr als Beziehungsebene und
S e e l s o r g e II
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e m o t i o n a l e u n d p r a g m a t i s c h e D i m e n s i o n liegt d a s U n b e w u ß t e h i n t e r d e n g e s p r o c h e n e n W o r t e n . D a s e i g e n t l i c h G e m e i n t e k a n n e t w a s g a n z a n d e r e s als d a s G e s a g t e s e i n . H i n t e r d e r W e l t des G e s a g t e n tut sich e i n e g a n z a n d e r e W e l t als e i g e n t l i c h e W e l t a u f (die I c h Struktur). Ein wichtiger Grund für die Rezeption tiefenpsychologischer Therapeutik liegt in der Analogie zum theologischen Verfahren, im Gespräch hinter dem Gesagten eine „tiefere" Realität als das Eigentliche zu erdeuten. Das unbewußt Verdrängte nicht im psychischen, sondern im theologischen Sinn ist die Sünde; und das Bewußtmachen, das die Symptome löst, heißt im theologischen Horizont: das Einbringen der —>Vergebung, die von Sünde befreit. Inhaltlich bietet die Theologie damit ein ganz anderes Konzept, sie ist als Weltanschauung alternativ (Winkler 10.268), aber hermeneutisch liegt ein ähnlicher Fall von Deutung in und durch und mit dem Gespräch vor. Das bringt die je mit unterschiedlichem Wirklichkeitsverständnis arbeitende Theologie und Psychoanalyse in ein spannungsvolles Miteinander (z. B. Tillich; Eisele; Rössler, Tiefenpsychologie; Psychotherapie und Seelsorge-, Plieth; Steinmeier); die Theologie steht dabei nicht zuletzt vor der Aufgabe, denjenigen Begriff überhaupt erst konzeptionell wiederzugewinnen, den das Wort Seelsorge mit sich führt: - S e e l e (V). Die religiöse T h e m a t i s i e r u n g von Lebensgewißheit, das Seelsorgerliche, geht quer d u r c h die g e n a n n t e n E b e n e n . In d e r S e e l s o r g e z e i g t s i c h , d a ß die R e d u k t i o n a u f e i n z e l n e E b e n e n o d e r E b e n e n t y p e n ( n u r k o g n i t i v , n u r e m o t i o n a l , n u r als D e u t u n g d e r h i n t e r den W o r t e n liegenden Welt) der K o m p l e x i t ä t religiöser V o r g ä n g e nicht entspricht. 2.4.2. Gesprächsebenen, Gesprächsregeln und Gesprächssetting formen Gesprächstypen
gemeinsam
aus:
1) D e r a l l t ä g l i c h e Smalltalk
(vgl. H a u s c h i l d t , A l l t a g s s e e l s o r g e 1 5 7 f f . ) h a t die F u n k -
t i o n u n d d a s Z i e l , ein t h e m a t i s c h e s G e s p r ä c h a n z u b a h n e n , d i e M ö g l i c h k e i t d a z u o f fenzuhalten, indem man überhaupt spricht, und demonstriert deswegen
Gemeinsam-
keiten. Dazu dienen diverse, gemessen an anderen Gesprächstypen „übertriebene" Signale positiver Wertschätzung und trivial standardisierte T h e m e n , in denen sich garantiert Gemeinsamkeit zelebrieren läßt (besonders beliebt: das Wetter), aber auch T h e m e n zur Erläuterung dessen, daß jemand mit positiven Absichten ein Gespräch sucht oder akzeptiert, und T h e m e n , die einen Einstieg in den thematischen oder therapeutischen Gesprächstyp ermöglichen, ohne ihn zu erzwingen (z. B. „Wie geht es?", „Was macht die Familie?"). Das Mitbringsel (auch der religiöse Traktat) oder die Bewirtung dienen im Zusammenhang der Gesprächsseelsorge als Gesprächserleichterung im Sinne des Smalltalk. Selbst die religiöse Segensformel etwa bei Geburtstagsbesuchen wird in der Regel in diesen Gesprächstyp plaziert und entsprechend rezipiert. 2) D a s thematische
Gespräch
k a n n drei F o r m e n
annehmen.
(.1) Bericht: Einer erzählt, die andere hört aktiv zu. Seelsorge ereignet sich über weite Strecken als „heilsames Erzählen" (Streib). Religion begegnet hier als berichtetes Erlebnis: Es wird vor allem von Kasualien erzählt, von Begegnungen mit Pfarrerinnen und Pfarrern, von der Religion anderer, (b) Diskussion: Beide wollen reden und schließen jeweils auf die Vorrede mit einer „ J a aber"-Fortführung an. Religion wird hier als Weltanschauung besprochen, Argumente etwa für und gegen den Gottesglauben werden ausgetauscht, c) Austausch: Beide hören aufeinander. Der Anschluß auf die Vorrede geschieht im Sinne einer „Ja-genau"-Fortführung. Religion begegnet hier als Deuteperspektive. Nach dem Muster „das ist so wie . . . " können auch religiöse Symbole und Bilder eingebracht werden. Hier wird die subjektivierte Religion zum Ausdruck gebracht (vgl. das „persönlichkeitsspezifische C r e d o " , Winkler 2 6 7 - 2 6 9 ) . Diese Gesprächsweise wird unter gebildeten Bürgern besonders gepflegt. D i e t r a d i t i o n e l l e ( „ v o r - " o d e r „ u n p s y c h o l o g i s c h e " ) k i r c h l i c h e S e e l s o r g e g e h ö r t in d e n G e s p r ä c h s t y p des t h e m a t i s c h e n G e s p r ä c h s : B e r i c h t , D i s k u s s i o n u n d A u s t a u s c h m i t e i n e m o d e r e i n e r , die als r e l i g i ö s e F i g u r S e e l s o r g e r , S e e l s o r g e r i n ist. 3) B e i m therapeutischen
Gespräch
h a n d e l t es s i c h u m e i n t h e m a t i s c h e s
Gespräch,
in d e m z u s ä t z l i c h die t h e r a p e u t i s c h e n G e s p r ä c h s r e g e l n ( s . o . ) p r o f e s s i o n e l l e i n g e h a l t e n werden. Smalltalk und Diskussion werden ausgegrenzt, Bericht und Austausch strenger A n w e n d u n g der G e s p r ä c h s r e g e l n
gefördert.
unter
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Seelsorge II
Religion kommt hier in zwei Perspektiven vor: (a) Das zu therapierende Problem hat religiösen Charakter (kranke Religion), und es wird mittels Gesprächstherapie bearbeitet: Die Seelsorge ausübende Person arbeitet als Therapeutin für religiöse Sonderfälle, für religiöse Neurosen (Hark), (b) Religiöse „Gegenstände" (Bilder, Symbole, Rituale) werden zu therapeutischem Zweck eingesetzt: Religiöse Symbole heben psychische Grundambivalenzen auf, wie sie bei allen Menschen bestehen, drücken psychische Grundstrukturen aus, wie sie von Mensch zu Mensch verschieden sind, und bearbeiten Grundkonflikte innerpsychischer Art und Grundkonflikte mit der Außenwelt (vgl. Scharfenberg/Kämpfer 170ff.; aus der Perspektive von Erik Homburger Erikson [1902-1994]: Kiessmann, Identität; zur Bedeutung der Poesie: Capps, Gift). Vergleichbares gilt von den sich in symbolischen Handlungen darstellenden religiösen Ritualen (Thilo, Funktion; Engelke 82ff.l50ff.; Ramshaw; Schäfer-Breitschuh/Lenzen). Alle drei Gesprächstypen können eine Seelsorge-Dimension beinhalten. Meist geschieht Seelsorge in k o m p l e x verlaufenden Gesprächen. Es bleibt nicht beim Smalltalk, sondern k o m m t zum thematischen Gespräch. Die hohe T h e r a p i e ist de facto in der Seelsorge selten, aber das heißt nicht, daß die Gespräche nicht auch alltagstherapeutische Elemente enthielten. In der häufigen, mit alltäglichen Mitteln arbeitenden „Alltagsseels o r g e " liegen so die verschiedenen Weisen von Seelsorge ineinander, die sonst gerne als Alternative von T h e r a p i e und Verkündigung gegeneinander ausdifferenziert werden (-»Seelsorgelehre). 2 . 5 . Inhalte
des
Seelsorgegesprächs
Unter vielfältigen möglichen Gesprächsthemen interessiert sich das Seelsorgegespräch für das innere, gedeutete Leben der Seelsorgesuchenden, und zwar in persönlicher Involviertheit, als „ L e b e n s s t i m m u n g " . Diese wird - sei es in indirekter spielerischer oder in direkter Thematisierung (Gesprächsarbeit) - verbessert; Lebensgewißheit wird gestärkt, Lebensbewältigung erfolgt. Unterscheidbar ist (in Fortführung des Konzepts des Umgangs mit Lebenskonflikten durch Erlebensdifferenzierung bei Winkler 2 8 9 - 3 5 7 ) der U m g a n g mit vier Arten von Lebensstimmungen. 1. Hinsichtlich des Sich-Vorfindens zwischen Angst und Glück bietet ein differenzierendes Sichzum-Ausdruck-Bringen durch Gespräch die Möglichkeit zum Bannen der Angst und zur Vertiefung des Glücks. 2. Hinsichtlich des Gefordertseins zwischen Anspruch und Verzicht bietet ein Moratorium für das Handeln durch Gespräch die Möglichkeit, Ansprüche und Verzicht kritisch zu prüfen. 3. Hinsichtlich des Selbstwertes zwischen Schuld und Annahme bietet das Gespräch die Möglichkeit zu klären, im Verhältnis zu welcher Instanz Schuld bzw. Annahme vorliegt und wie zwischen Abbau von Schuldgefühlen und Akzeptanz von Schuld zu unterscheiden ist. 4. Hinsichtlich des persönlichkeitsspezifischen Credos zwischen Glaubenslosigkeit und Glaube können im Gespräch die Fragen nach dem absoluten Anfang und absoluten Ende gestellt werden; dabei dürfen bei ihrer Beantwortung sowohl glaubenslose Antworten der Ignoranz von Transzendenz und der Reduktion auf Immanenz wie das Offenhalten dieser Fragen durch Mythen, Symbole, Rituale, Begriffe des Glaubens individuell erprobt werden. Besondere Chancen bietet das Seelsorgegespräch dann, wenn es - im Unterschied zur Tendenz alltäglicher oder anderer professionell helfender Gespräche - die religiöse Dimension nicht ausgrenzt, sondern dezidiert miteinschließt und also anbietet, den transzendenten Grund von Angst und Glück, von Gefordertsein und von Selbstwert mit Gewicht zu bearbeiten ( 1 . - 3 . ) . Seelsorge als gesellschaftliche Konstruktion findet ihr Besonderes nicht in den Gesprächsthemen, sondern darin, daß deren Bearbeitung gerade auch die religiöse Dimension miteinschließt. Das Ergreifen religiöser Optionen (4.) geschieht immer als Ergreifen von Optionen im Zusammenhang von Traditionsbeständen konkreter Religionen. Seelsorge als Christentums- und als kirchliche Konstruktion bringt in das G e s p r ä c h über die generelle Option zum R a u m für Transzendenz hinaus christliche Gehalte a u f drei Dimensionen ein, die sich folgendermaßen skizzieren lassen: (a) Kognition/Lehrtradition-. Schöpfung und Inkarnation (Alles, das Ich und das Nichts, wird von der Transzendenz umfaßt; Körperlichkeit und Leiden sind kein Defizienzmodus von Leben), Vergebung (Schuldigwerden ist unausweichlich; Schuld ist aufhebbar nicht durch Leistung, sondern durch Gottes Z u w e n d u n g ) , -»-Geist (Differenzen dürfen sein als gute Geistesgaben Gottes); (b) Ritual/Verhaltenstradition ( - » R i t u s ) : z. B. Gebet, Gottesdienst,
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Seelsorge II
Weihnachten, D i a k o n i e , auch: Seelsorge; (c) Norm/Etbik: Selbstverantwortlichkeit (-»Gewissen; vgl. Winkler 2 7 4 - 2 8 8 ) und religiöse Begrenztheit des H a n d e l n s (es dient nicht zum Seelenheil). In welchem A u s m a ß ein Gespräch sich als Seelsorge, als christliche Seelsorge erweist und wie dieses Einbringen christlicher Gehalte sich gestaltet, ist in der Praxis nicht festgelegt, s o n d e r n hängt von dem situativen Kontext und den Interessen und Fähigkeiten der Beteiligten ab (vgl. f ü r die „persönlichkeitsspezifischen F o r m e n von Trost und V e r t r ö s t u n g " S c h n e i d e r - H a r p p r e c h t 222ff.). 3. Orte, Institutionen,
Zielgruppen
und Medien
der
Seelsorge
Seelsorge unter den Bedingungen der M o d e r n e ist am Modell des Gesprächs orientiert. Doch sie ist nicht n u r und immer Gespräch. D a s legen die Seelsorgegeschichte (s.o. I.; Seelsorge d u r c h Ritual und Weisung, cura animarum generalis), der ökumenische Vergleich mit der katholischen Rede von Seelsorge als der universalen „ P a s t o r a l " der Kirche (vgl. z.B. P T h l 1 4 / 1 - 2 [1994]) u n d der C h a r a k t e r der evangelischen Spezialseelsorgegebiete (z. B. -»Militärseelsorge) nahe. Seelsorge steht in institutionellen Z u s a m m e n h ä n g e n , R e c h t s r ä u m e n und institutionell geprägten K o m m u n i k a t i o n s f o r m e n . Z u m Seelsorgegespräch gehört sein Umfeld dazu, und dieses ist Teil der Seelsorge, wirkt auf ihren C h a r a k t e r ein. 3.1. Orte der
Seelsorge
- Hilfe bei Gelegenheit. An jedem öffentlichen O r t (z. B. „zwi3.1.1. Zufallsseelsorge schen T ü r und A n g e l " , über den G a r t e n z a u n , an der Bushaltestelle, im S u p e r m a r k t etc.) kann Seelsorge entstehen, die meist den C h a r a k t e r von Alltagsseelsorge hat. Ihre C h a n c e liegt in der niedrigen Schwelle, der alltagsseelsorgerlich noch nicht ausdifferenzierten Vorgehensweise u n d ihrem k o n f l i k t p r ä v e n t i v e n C h a r a k t e r . Die p a s t o r a l e Seelsorge steht hier auf einer Stufe mit der T ä t i g k e i t in a n d e r e n B e r u f e n ; in d e n e n es häufig zu G e s p r ä c h e n k o m m t : im Taxi, in der Kneipe, im Frisiersalon ( N e s t m a n n ) , im Bordell. Bei den Angehörigen jener Berufe gibt es keine professionelle G e s p r ä c h s s c h u l u n g , aber o f t viel p r a k t i s c h e G e s p r ä c h s e r f a h r u n g im Z u h ö r e n , Weisheit d a r ü b e r , w a n n R a t s c h l ä g e a n g e b r a c h t sind u n d w a n n nicht. An diesem M a ß wird auch gemessen, w e n n es heißt: M i t dieser Seelsorgerin, diesem Seelsorger k a n n m a n reden - oder eben nicht reden.
3.1.2. Hausseelsorge - über das eigene Leben sprechen. D a s neuzeitliche - » H a u s , H o r t der bürgerlichen Privatheit, ist der typische Platz f ü r helfende Gespräche als Selbstreflexion o d e r gegenseitig unter Familienmitgliedern oder Freunden untereinander. Die f ü r diese gegenseitige Seelsorge der G e s p r ä c h e mit den Freunden charakteristische T h e matik der R e k o n s t r u k t i o n der Biographie wird auch da f o r t g e f ü h r t , w o die (professionelle) kirchliche Seelsorge ins H a u s k o m m t (Piper, H a u s b e s u c h ) , vor allem anläßlich von -»Kasualien (Kasualbesuch), ist doch an solchen Lebenswenden eine N e u d e u t u n g der Biographie nötig. Gleichzeitig dient das Kasualgespräch (Thilo, Seelsorge) aber auch der Vorbereitung des Gottesdienstes. Soll zudem noch die L e b e n s f ü h r u n g oder die Aufrichtigkeit des Kasualienwunsches im Sinne einer F o r t f ü h r u n g von Kirchenzucht überp r ü f t und sanktioniert w e r d e n , so wird der C h a r a k t e r der Seelsorge als Gespräch schwer beeinträchtigt. Es gibt auch andere biographische Anlässe, zu denen Seelsorger oder Seelsorgerin ins H a u s k o m m e n : Im Krankenbesuch (-»Krankenhausseelsorge), der ältesten Hausseelsorgetradition, gestützt auf M t 25,36, f r ü h e r vor allem als Vorbereitung z u m Sterben, heute häufiger als Begleitung in chronischer Krankheit, bietet sich - mit der Tradition (Jak 5,14) - der Wechsel vom Gespräch in den Vollzug eines religiösen Rituals an, heute als „ K r a n k e n s e g n u n g " mit optativer - » K r a n k e n s a l b u n g wiederbelebt (vgl. EG, Ausg. Bayern N r . 873; Reiner). H i e r wird die Perspektive der Segensübermittlung durch den A m t s t r ä g e r explizit. Die nonverbalen K o n t a k t e und rituellen F o r m e n erweisen sich d a n n als besonders wichtig, w e n n der v e r b a l - b e w u ß t e Kanal beeinträchtigt ist, bei Behinderung, Krankheit, Sterben (Engelke). Im pastoralen bzw. durch einen Besuchsdienstkreis d u r c h g e f ü h r t e n Geburtstagsbesuch, eine in den 20er J a h r e n entstan-
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Seelsorge II
dene Praxis (früher Beleg: Eierbach; kritisch zur Praxis: Albrecht), wird eine privatreligiöse neuzeitlich-bürgerliche Feierkonvention zum Anlaß für den kirchlichen Besuch g e n o m m e n (Hauschildt, Alltagsseelsorge 107ff.). Geschieht der Besuch in der großen Runde, so gewinnt der Aspekt der Ehrung durch die Präsenz des Pfarrers das Hauptgewicht. Neuzugezogenenbesuche bezwecken häufig missionarische Werbung, Gewinnung für die Gemeindearbeit oder betreuende Präsenz. Im Hausbesuch kommt es häufig zu Gesprächen mit Ehepaaren oder mehreren Familienmitgliedern (-»Familie), im Verlauf dessen nicht selten die Partnerschaftsbeziehung (Schneider, Gespräche) oder innerfamiliäre Dynamik (Schall; Morgenthaler, Trauer) Gegenstand des Gesprächs und zugleich neu ausagiert wird. Zu deren Analyse und konstruktiver Bearbeitung im Gespräch bieten sich die Methoden der Kommunikation in kleinen Gruppen (s.o. 2.2.1.) an. Familientherapie kann eher tiefenpsychologisch-analytisch (Massing/Reich/Sperling) oder soziologisch-strukturalistisch-systemisch (Minuchin) ausgerichtet sein. Spezifisch praktisch-theologische Literatur zur Familienseelsorge in deutscher Sprache ist noch selten (Patton/Childs). 3.1.3. Seelsorge im Pfarrbaus - kirchliche Akutseelsorge. Die vorher angemeldeten Gespräche sind im - » P f a r r h a u s selten. In diesen Fällen wird oft die Seelsorge übende Person aufgrund ihrer Berufskompetenz für Glauben (Theologie) und/oder Leben (Therapie) gezielt in Anspruch g e n o m m e n . Eine theologische Fachfrage kann den Ausgangspunkt bilden, so daß zunächst ein Gespräch mit hohen Anteilen an Information und Diskussion zustande k o m m t , in dem Lebensgewißheit als allgemeines T h e m a erscheint. Meist, aber nicht immer erweist sich allerdings die anfangs nicht bewußte psychische Dynamik hinter dem T h e m a als das eigentlich Gesuchte, falls nicht schon von vornherein ein individueller Lebenskonflikt sogleich zur Aussprache gebracht wurde. Der häufigere Fall ist der unangemeldete Besuch im Pfarrhaus mit der Bitte um Akutseelsorge, vor allem zu den Zeiten, wenn - und deshalb weil - andere Beratungs- und Hilfeagenturen nicht greifbar sind (nachts, Wochenende, hohe Festtage). Zwar dient zum Eintritt ins Pfarrhaus oft die explizite Bitte um ein seelsorgerliches Gespräch, in Anspruch genommen wird dabei aber weniger spezifisch die seelsorgerliche Gesprächskompetenz, sondern allgemein die kirchliche Hilfe in akuten Notlagen, unter diesen besonders: finanzielle Not, akute Beziehungskonflikte, Suchtzustände, Straftaten. Das Gespräch dient hier dann vor allem der Vorbereitung von diakonischem Handeln: der Überbrückung, bis Hilfe eintrifft (finanziell, psychisch, gegebenenfalls sogar, was den Aufenthalt für die Nacht oder das Wochenende betrifft), der Vermittlung von Hilfe (Information über Hilfeinstitutionen und Rat, welche Hilfe jetzt am nötigsten ist), des Wirkens als pastoraler Mittler in Konflikten (innerhalb der Familie, gegenüber der Polizei und anderen Behörden). Die für solcherart Seelsorge in Anspruch Genommenen erleben dies nicht selten als belastende Ausnutzung. Die Störung der Freizeit kann — angesichts der Überbrückung örtlicher Distanzen durch das Telefon — durch pastorale Bereitschaftsdienste entschärft werden; der Überforderung durch die Schwere der Notlage angesichts von Lösungsphantasien läßt sich mit klarer Beschränkung auf Überbrückung begegnen; die Instrumentalisierung etwa als („dummer") Geldgeber sollte entweder bewußt bejaht oder ins Gespräch selber offen als Konflikt eingebracht werden. Für die Vermittlung und Selbstbegrenzung der kirchlichen Seelsorge sind nicht nur Kenntnisse über andere Hilfeinstitutionen notwendig, sondern auch über die Krankheitsbilder psychischer Krankheiten (Wrage/Petersen; Rebell). 3.1.4. Seelsorge in Beratungsstellen. In enger Z u s a m m e n a r b e i t mit k o m m u n a l e n T r ä gern stehend und durch sie finanziell weitgehend getragen sind die seit 1 9 4 7 aufgebauten kirchlichen Beratungstellen ( - » B e r a t u n g ; J o r d a h l ) . Sie bieten vor allem an: Partnerschafts-, Erziehungs-, Kinder- und Jugend-, Sucht- und Schuldnerberatung. 3.1.5. Seelsorge an Freizeitorten. Das kirchliche Angebot zur Seelsorge an Freizeitorten (HbSS 389ff.; Bleistein) wendet sich zum einen an Menschen an den Orten, an denen sie sich für Stunden aufhalten (seit 1897 Bahnhofsmission [Reusch]; seit 1 9 7 2 in Frankfurt am M a i n und 1 9 9 4 in M ü n c h e n Flughafenseelsorge-, CitySeelsorge in Touristenkirchen; Citycafes; Seelsorge im Erlebniseinkaufzentrum wie seit 1996 im „ C e n t r O . " in Oberhausen). Sie besteht dann in der Möglichkeit, neben Informationen, individueller und organisierter A n d a c h t auch das persönliche Gespräch führen zu k ö n nen. An den Orten längerfristigeren Aufenthalts bieten die Tourismusoder Urlauber-
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seelsorge und Campingseelsorge (Ganzert, Urlauberseelsorge; Vogler) sowie die Kurseelsorge (Ganzert, Dienst; Kur und Kurseelsorge), in Kombination mit oder neben der Ortsgemeinde, auch mit Anstellung von Pfarrern während deren zum Teil angerechneter Urlaubszeit, neben Gottesdiensten und Sprechstunde besonders Gruppenaktivitäten an, bei denen man ins Gespräch kommen kann (Wanderung, thematische Abende, Gesprächsgruppen). Die Freizeit erweist sich als ein Ort, in dem Muße zum helfenden Gespräch und Interesse an ihm besteht. Die Motorradseelsorge hat sich seit Beginn der 60er Jahre durch Laien und Pfarrer entwickelt, die selber dieser Szene angehören. Die Spannung zwischen der erhöhten Bedrohung durch Unfalltod einerseits und der Intensivierung des Lebens (Geschwindigkeit, Natur, Technik) andererseits markiert den gemeinsamen Erlebnishorizont, der nach religiöser Thematisierung ruft. 3.1.6. Notfallseelsorge heißt die seelsorgerliche Begleitung beim Einsatz von Rettungsdiensten, besonders bei (Verkehrs-)Unfällen. Sofern bestimmte Alarmisierungskriterien gegeben sind, werden in Rufbereitschaft stehende (ehrenamtliche) Seelsorger/-innen durch die Einsatzzentrale direkt informiert. Das Gesprächsangebot gilt den primär Geschädigten (den Opfern) und den sekundär Geschädigten (Augenzeugen, Angehörigen), aber auch den professionellen Helfern in Feuerwehr und Rettungsdiensten. Die Strukturen dieser Arbeitsform, erst ab Ende der 80er Jahre an einzelnen Orten unter großem Medieninteresse entstanden, sind noch im Aufbau (Fertig/von Wietersheim; Notfallseelsorge). 3.2. Seelsorge als Handeln in
Institutionen
Die Bedeutung der Seelsorge für den öffentlichen Raum wird als so hoch eingeschätzt, daß Seelsorge im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland erwähnt und vorgesehen ist (Art. 140 Grundgesetz mit Verweis auf Art. 141 der Weimarer Reichsverfassung). Dementsprechend erklärt sich in den kirchlichen Staatsverträgen mit den Bundesländern (—>Staatskirchenverträge) die Gesellschaft bereit zur Ermöglichung von Seelsorge in solchen institutionellen Einrichtungen, in denen Menschen der Zugang zur Kirchengemeinde unmöglich oder erschwert ist (Gefängnis, Militär, Krankenhaus, Heime). Bei Religionsgemeinschaften, die als Körperschaften öffentlichen Rechts anerkannt sind (-»Religionsgesellschaften), wird die Seelsorge in den einen Aufenthalt aus staatlichem Interesse erzwingenden Institutionen Militär und Gefängnis sogar vom Staat finanziert bei voller Respektierung der inhaltlichen Freiheit der Religionsgemeinschaften in der Durchführung der Seelsorge. Die hierbei verwendete institutionelle Definition von Seelsorge umfaßt alles, was die Kirche an ihren Mitgliedern tut außerhalb des Gottesdienstes, ja kirchliches Handeln an Individuen überhaupt, somit cura animarum generalis. Außer allgemein der Anstaltsseelsorge/-diakonie sowie den spezialisierten Bereichen der Gefängnisseelsorge (-»Gefangenenfürsorge/Gefangenenseelsorge), -*• Militärseelsorge und -»Krankenhausseelsorge sind noch als weitere Bereiche zu nennen: 3.2.1. Polizeiseelsorge w u r d e als Beitrag z u m A u f b a u einer d e m o k r a t i s c h gesinnten Staatsgewalt mit Ü b e r n a h m e des U n t e r r i c h t s f a c h e s „ B e r u f s e t h i k " institutionell v e r a n k e r t und als Kirche a m O r t für die kasernierte Bereitschaftspolizei verstanden (Schwark). Sie wird i m m e r m e h r z u m Angebot der Reflexion in Einzel- u n d G r u p p e n g e s p r ä c h v o n berufstypischen Konfliktlagen (Buchter; Beese). Vergleichbares gilt f ü r die Grenzschutzseelsorge (Der Dienst der Ev. Seelsorge im Bundesgrenzschutz 1954-1978; Berufsethik - Glaube Seelsorge). 3.2.2. Aus der Perspektive der h e r k ö m m l i c h e n T e r m i n o l o g i e „Seelsorge an S c h ü l e r n " (Riess) wird neuerdings - nicht o h n e E i n w i r k u n g e n katholischer Schulpastoral u n d der Tendenz, Schule als ganzheitlichen L e b e n s r a u m zu sehen - Schulseelsorge entwickelt. Seit E n d e der 80er J a h r e gibt es, vor allem in der Evangelischen Kirche von H e s s e n - N a s s a u , erste Bereitstellung von Stundend e p u t a t e n bei S c h u l p f a r r e r i n n e n und - p f a r r e r n d a f ü r . Rolle u n d Institution gehen in die Seelsorge mit ein. Z u m Seelsorgegespräch w ä h l e n die Unterrichteten solche M e n s c h e n , denen sie als Lehrpersonen vertrauen k ö n n e n ; gesucht sind M o d e r a t o r e n in Disziplinkonflikten. Seelsorge wird hier als sich lebensweltlich v e r m i t t e l n d e r Bildungsvorgang zu konzipieren sein ( H e i m b r o c k , Schulseelsorge [1996 u n d 1998]).
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Seelsorge II
3.3. Zielgruppenorientierte
Seelsorge
J e d e s L e b e n s a l t e r und sonstige d e n k b a r e L e b e n s u m s t ä n d e wie etwa das Singledasein haben typische Konfliktlagen, die sich für die Seelsorge thematisieren lassen (HbSS 2 5 3 f f . ) . In b e s t i m m t e n Fällen überwiegt der G e s i c h t s p u n k t , d a ß b e s t i m m t e M e n s c h e n eine ganz b e s t i m m t e M o d i f i k a t i o n der allgemeinen H i l f e zur Lebensgewißheit benötigen. D i a k o n i e (zum Teil auch - » P ä d a g o g i k ) und Seelsorge gehen dabei ineinander über. 3.3.1. Seelsorge mit Kindern. M i t der Intensivierung der K r a n k e n h a u s s e e l s o r g e gibt es seit den 7 0 e r J a h r e n auch verstärkt B e m ü h u n g e n um Seelsorge an k r a n k e n Kindern ( W z M - T h e m a h e f t 1 9 7 9 ; B o b z i n ; Stange; S t ä d t l e r - M a c h , Seelsorge). G e h t man über den Bereich des K r a n k e n h a u s e s h i n a u s , meint Kinderseelsorge ganz allgemein Begleitung im P r o z e ß des W a c h s e n s ( H b S S 2 4 1 ff.; Riess/Fiedler; M a y m a n n / Z e r f a ß ; aus evangelikaler Sicht: M . D i e t e r i c h , P r a x i s b u c h ) und fällt mit religionspädagogischen H a n d l u n g e n zusammen (-»Kind). Bei Kindern bedarf es offensichtlich neben dem - auch möglichen (vgl. den extremen Fall des therapeutischen Redens mit Säuglingen bei Eliacheff)! - Gespräch ganz besonders anderer Mittel seelsorgerlicher Kommunikation; neben dem Erzählen und den Ritualen (Städtler-Mach, Spiritualität) sind hier vor allem die Mittel körperintegrierender Kommunikation (s.o. 2.2.4.; Axline) zu beachten. Für Jugendseelsorge gelten zum Teil noch die kommunikativen Sonderbedingungen der Kinderseelsorge, zum Teil aber auch schon die der Seelsorge bei Erwachsenen (ausführlich die Seelsorge allgemein mitbehandelnd: Jentsch, Handbuch). 3.3.2. Seelsorge mit Behinderten. Z u r allgemeinen K r a n k e n s e e l s o r g e g e h ö r e n selbstverständlich auch die Konflikte von c h r o n i s c h e m K r a n k s e i n und Behinderung ( C o l s t o n ) . E i n e eigene Ausprägung b e k o m m t d e m g e g e n ü b e r die Behindertenseelsorge ( H b S S 4 3 7 f f . ) als Seelsorge mit Geistig Behinderten ( S e v e r i n o / L i e w ; Klieme; H e i m b r o c k , Seelsorge), weil - nicht unähnlich zur Kinderseelsorge - auch hier die spezifische „leibliche und mündliche Kultur, in der M e n s c h e n mit geistiger Behinderung l e b e n " (Postzich 2 5 5 ) , die F o r m e n seelsorgerlicher K o m m u n i k a t i o n bereitstellen m u ß . H i n z u k o m m t die g r o ß e Bedeutung der Beziehung zu und A b h ä n g i g k e i t von den E l t e r n / F a m i l i e n (s.o. 3 . 1 . 2 . zur F a m i l i e n therapie). D i e Verständnismodelle der in Einrichtungen T ä t i g e n bleiben dahinter zurück. Trotz Aktivitäten des Verbandes evangelischer Einrichtungen für geistig und seelisch Behinderte e.V. seit Ende der 80er Jahre gilt auch noch 1997: „Indikatoren dafür, daß es inzwischen einen überzeugenden umfassenden Ansatz und Ausarbeitung für Seelsorge mit Menschen mit geistiger Behinderung gibt, lassen sich ... nicht finden. Publikationen zu dem Thema sind rar" (Postzich 255). Eigene Ausprägungen bekommt auch die Seelsorge an Menschen mit solchen körperlichen Behinderungen, die besondere Kommunikationswege (Blindenschrift, Gehörlosensprache) erforderlich machen: Blindenseelsorge (Rupp) und Gehörlosenseelsorge (Gewalt; zur Seelsorge bei Aphasikern: Enders). Oft auf die Initiative von betroffenen Laien hin entstanden ab Beginn des 20. Jh. organisierte Bemühungen um kirchliche Arbeit in freien Vereinen, ab den 20er und besonders 50er Jahren durch landeskirchlich beauftragte Pfarrer betreut bei teilweise auch angebotenen Ausbildungsmöglichkeiten für diese Spezialseelsorge. Überregionale Zusammenschlüsse mündeten in Fachverbänden im Diakonischen Werk und internationalen Zusammenschlüssen. 3.3.3. Seelsorge mit Menschen in „mobilen" Berufen. In der je nach G r u p p e s c h w a n kenden T e r m i n o l o g i e von M i s s i o n , Hilfe und Seelsorge schlägt sich die H e r k u n f t dieser A r b e i t s f o r m aus den Aktivitäten der - » I n n e r e n M i s s i o n und die d i a k o n i s c h e E i n b e t t u n g des A n g e b o t s zum seelsorgerlichen G e s p r ä c h nieder. N e b e n der Seemannsmission (Freese; M ü n c h m e y e r ) sind auch die Circus- und Schaustellerseelsorge (Gemeinde unterwegs;
Gemeinde
auf der Reise; 20 Jahre Circus- und Schaustellerseelsorge;
schifferseelsorge
und Gastgewerbeseelsorge
Panitz), Binnen-
zu nennen.
3.3.4. Weitere Zielgruppendifferenzierungen. D i e quer zu allen bislang g e n a n n t e n G r u p p e n liegende Differenz von M ä n n e r n und Frauen d o k u m e n t i e r t sich traditionell vor allem in der Ausbildung von kirchlichen G r u p p e n für M ä d c h e n und Frauen u n d J u n g e n und M ä n n e r . D i e neue Sensibilität für geschlechtsspezifische Besonderheiten i m Z u s a m m e n h a n g von Seelsorge in der kirchlichen M ä n n e r a r b e i t ( M e i n e r s / R o s o w s k i ;
Seelsorge II
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N e u g e r / P o l i n g ) und F r a u e n a r b e i t ist der feministischen Perspektive zu verdanken. Sie hat für die Seelsorge an Frauen aufgedeckt: Seelsorge in der H a n d der M ä n n e r tendiert dazu, die geschlechtsspezifischen Anliegen der F r a u e n zu negieren ( B o n s - S t o r m ; RiedelP f ä f f l i n / S t r e c k e r ) . Bei b e s t i m m t e n Personengruppen überwiegt die d i a k o n i s c h e Perspektivierung der Aktivitäten; so k o m m t es zu der Bezeichnung der Arbeit mit Ausländern als Ausländerseelsorge ( R i c h t e r ) , ganz dem k a t h o l i s c h e n , weiteren Begriff von Seelsorge als P a s t o r a l entsprechend.
3.4. Medien der
Seelsorge
Seelsorge geschieht nicht nur im direkten G e s p r ä c h , sondern e b e n s o unter Verwendung von textualen und elektronischen M e d i e n , die den C h a r a k t e r dieser Seelsorgeformen m i t b e s t i m m e n . 3.4.1. Seelsorgerliche Literatur. D i e älteste mediale F o r m der Seelsorge sind Briefe, so s c h o n bei den K a p p a d o z i e r n , besonders ausgeprägt auch in der R e f o r m a t i o n s z e i t (zu —>Luther s. M e n n e c k e - H a u s t e i n ; Ebeling) und im Pietismus (bei A . H . —»Francke eine seelsorgerliche K o r r e s p o n d e n z von 4 0 . 0 0 0 Briefen). D e r Brief versucht, als N o t b e h e l f das nicht m ö g l i c h e G e s p r ä c h durch zeitlich verzögerte K o m m u n i k a t i o n zu ersetzen, hat dadurch auch eine stärkere T e n d e n z zum einseitigen R a t g e b e n oder T r ö s t e n , hält andererseits den G e s p r ä c h s b e i t r a g des G e g e n ü b e r s leichter zur vertiefenden R e f l e x i o n präsent. D i e Seelsorge durch B ü c h e r ( - » E r b a u u n g s l i t e r a t u r ) , vor allem seit Beginn des B u c h d r u c k s , hat hingegen kein k o n k r e t e s G e g e n ü b e r m e h r ; die Rezipienten suchen sich aus, o b , w a n n , wieviel und welche Seelsorge sie h a b e n wollen. Weitgehend an die Stelle der früheren E r b a u u n g s r a t g e b e r ist inzwischen der Typus der D o - i t - y o u r s e l f - , Beratungsund Selbsthilfeliteratur getreten. P o p u l ä r e Psychologiedarstellungen bieten an, wie m a n sich in einer bestimmten Lebenslage selbst helfen/kurieren k a n n . Evangelikalere W e r k e p r o k l a m i e r e n G l a u b e n s h i l f e als Lebenshilfe nach dem M u s t e r : Werde ein C h r i s t / G l a u bender, dann geht das L e b e n besser. E r f a h r u n g s b e r i c h t e liefern Vorbilder: Ich h a b e es selbst erlebt - so k a n n m a n es m a c h e n . Schließlich enthält auch die allgemeine Belletristik M a t e r i a l zur L e b e n s b e w ä l t i g u n g , das sich Lesende aneignen k ö n n e n . Die modernen Einrichtungen von kirchlich verwalteter Briefseelsorge (Jentsch, Schreiben; HbSS 203 ff.; Hennig) bieten neben der persönlichen Beantwortung von Briefen zugleich entweder abonnierbare christliche (zum Teil missionarische) Lebensberatungsschriften oder veröffentlichen den erfolgten Rat in kirchlichen Zeitschriften, ab den 50er Jahren geschah dies auch im Radio und mit Gründung des Zweiten Deutschen Fernsehens im Fernsehen bis Ende der 70er Jahre bei der äußerst populären Sendung des ersten „Fernsehpfarrers" A. Sommerauer.
3.4.2.
-*Telefonseels.orge.
3.4.3. Radiound Fernsehseelsorge. W ä h r e n d üblicherweise das Seelsorgegespräch im privaten R a u m geschützt wird, werden hier die Suche nach L e b e n s g e w i ß h e i t und die Hilfe dabei öffentlich gezeigt. Die nach dem Vorbild säkularer R a d i o b e r a t u n g e t w a in den 8 0 e r J a h r e n im B a y r i s c h e n R u n d f u n k eingerichtete R a d i o s e e l s o r g e w a r n o c h p ä d a g o g i s c h motiviert als e x e m p l a r i s c h e Seelsorge, die vorführt, wie bei dem jeweiligen P r o b l e m t y p geholfen werden k a n n . Sie blieb z u n ä c h s t eine Spezialsendung im P r o g r a m m an wenigen ausgewählten T a g e n und h a t t e ihr G e w i c h t a u f der Vermittlung von B e r a tung. Weniger reflektiert w u r d e , aus welchen M o t i v e n die meist n i c h t direkt Betroffenen zuhören. H e u t e hingegen ist die Situation d o m i n i e r t durch das Fernsehen: Vor der Fernsehöffentlichkeit von den eigenen privaten Konflikten zu reden und mit anderen d a r ü b e r zu reden ist ein täglich vielfach gesendeter P r o g r a m m t y p unter dem O b e r b e g r i f f „ T a l k s h o w " , geleitet von S h o w m a s t e r n und E n t e r t a i n e r n , darunter seit 1 9 9 4 auch durch Pfarrer Jürgen Fliege (eine Flieges P r o g r a m m mit den anderen gängigen „ A f f e k t - T a l k s " des Fernsehens vergleichende Analyse bieten B e n t e / F r o m m ) . D i e M e d i e n m e c h a n i s m e n der Skandalisierung, des Voyeurismus, des G e w i n n s für das E g o durch Erscheinen im Fernsehen sind w i r k s a m , aber die positive B e w e r t u n g durch die Z u s c h a u e r hängt vor allem
46
Seelsorge II
vom „Gelingen einer spannenden Informationsvermittlung ab und keineswegs von der effekthaschenden Präsentation peinlicher Intimitäten" (Bente/Fromm 329). Die Pluralisierung der Werte ist Voraussetzung dieser Sendeform, wird durch sie thematisiert und vorangetrieben - und doch dominiert unter den Zusehern „eine am familiären Kontext orientierte Lebenshaltung" (ebd. 324). Pfarrer Fliege selbst nimmt für sich in Anspruch, Seelsorge zu betreiben, wird von säkularen Kritikern auch an hohen moralischen Verhaltensstandards gemessen und betreibt neuerdings eine Fortbildungsinstitution, die sich Institut für Praktische Theologie. Seelsorge und Kommunikation nennt. Auch da, w o m a n innertheologisch die Q u a l i f i k a t i o n als Seelsorge nicht a m deutlich kirchlicheren C h a r a k t e r bei T h e m e n und a m V o r k o m m e n von Bibelsprüchen a n m a h n t , ist d a s Urteil gespalten. Flieges Sendung w i r d als „Seelsorge" im Sinne von „Religion als Lebensweisheit in u n t e r h a l t s a m e r F o r m " (Schröer 299) interpretiert o d e r die religiöse M e t a p h o r i k als Verschleierung des säkularen D i s k u r s r i t u a l s kritisiert (Schieder). Die Uneindeutigkeit des Religionsbegriffs in der D e b a t t e (Schieder) zeigt noch einmal den C h a r a k t e r von Seelsorge als K o n s t r u k t i o n .
3.4.4. Internetseelsorge nutzt die Möglichkeiten der weltweiten Computernetzwerke (zur Zeit vor allem e-mail, World Wide Web und Chat-Foren) zur helfenden Kommunikation und erreicht besonders berufstätige Männer und Jugendliche als typische Internetnutzer. A n d e r s als beim Telefon m u ß m a n bei diesem M e d i u m auch nicht die S t i m m e preisgeben und k a n n sich bei der F o r m u l i e r u n g Zeit lassen. E n t f e r n u n g e n und Staatsgrenzen spielen keine Rolle m e h r , n u r noch S p r a c h g r e n z e n . Eine A n t w o r t ist nicht sofort, spätestens aber in 24 Stunden zu e r w a r t e n . O b ein möglichst a n o n y m e r Seelsorger o d e r ein solcher mit N a m e und Bild besser ang e n o m m e n wird, ist zur Zeit noch nicht entschieden. Die Arbeit geschieht in interkonfessionellen T e a m s ; die d a h i n t e r s t e h e n d e n O r g a n i s a t i o n e n müssen klar e r k e n n b a r sein. Im deutschsprachigen R a u m w u r d e eine E i n r i c h t u n g zur Internetseelsorge 1995 auf private Initiative, aber mit Z u s t i m m u n g der Kirchen gegründet (Vetsch-Thalmann) u n d ist unter www.seelsorge.net erreichbar; einzelne Landeskirchen h a b e n eigene „ O n l i n e - P f a r r e r / - i n n e n " b e a u f t r a g t (z.B. w w w . e p v . d e / leben.htm). Ein F o r u m f ü r die l ä n d e r ü b e r g r e i f e n d e D e b a t t e bietet die European Christian Internet Conference (www.ecic.org). Auch die Telefonseelsorge bietet Beratung via e-mail, O n l i n e - B e r a t u n g u n d O n l i n e - G r u p p e n g e s p r ä c h e an ( w w w . p s y c h o l B e r a t . x n c c o m / p s y c h o l B e r a t ) .
4. Ausbildung
und Fortbildung
in Seelsorge
4.1. Vorbildlernen/Meisterlehre. Die älteste Form des Lernens von Seelsorgegesprächsführung und des Ansichtigwerdens von Seelsorgepraxis überhaupt war es, auf große Vorbilder erfahrener Seelsorger zu hören. Diese berichteten von ihren Erfahrungen, von einzelnen besonderen Begebenheiten, die in Erinnerung bleiben: Bruchstücke davon, was in dieser und jener Situation gesagt und geantwortet worden sei (vgl. z.B. Hans; Jacobi; Thurneysen, Seelsorge). Dies ist keine methodische Ausbildung; die Erfahrungen sind nicht kontrollierbar, und der Übe- und Lerneffekt bleibt sehr begrenzt. Ch. Möller hingegen sieht einen möglichen Vorteil in einem „bewußten Verzicht auf eine humanwissenschaftliche Spezialausbildung" (Möller, Predigen 121) und erhofft sich dafür von den Seelsorgeporträts aus der Geschichte viel (ders., Geschichte I, 8). 4.2. Theorielernen. Die Seelsorgelehre stellt generelle Sätze über die Gestalt der Seelsorge auf, die im Theologiestudium vermittelt werden. Wissen über Seelsorge - wie etwa dieser Lexikonartikel - verhilft dazu, Phänomene der Praxis gedanklich zu strukturieren und Regeln seelsorgerlichen Handelns zu identifizieren. Die Differenz zur Praxis wird verringert d u r c h empirisch verifizierte T h e o r i e . So fragen einige neuere U n t e r s u c h u n g e n nicht nach der W i r k l i c h k e i t hinter d e m G e s p r ä c h , s o n d e r n halten sich an den d u r c h elektronische M e d i e n akustisch ( d e n k b a r auch: visuell) festgehaltenen W o r t l a u t u n t e r H e r a n z i e h u n g auch soziolinguistischer M e t h o d e n u n d gehen den interaktiv hergestellten Regeln der G e s p r ä c h s f ü h r u n g u n d d e n faktisch interaktiv realisierten Seelsorgeverständnissen nach (Blies e n e r / H a u s e n d o r f / S c h e y t t ; H a u s e n d o r f ; H a u s c h i l d t , Alltagsseelsorge; zu empirischen Studien ü b e r Differenzen der E r w a r t u n g e n an die Seelsorge zwischen Patienten und Professionellen in der Klinik vgl. G ö t z e l m a n n ) . So stößt m a n auf die Alltagsfähigkeiten z u m helfenden G e s p r ä c h , deren G e w i c h t
S e e l s o r g e II
47
im psychologisch orientierten Erfahrungslernen leicht unterschätzt wird. Auch einen ersten Versuch zur Arbeit mit der Psychologie der persönlichen Konstrukte gibt es ( A m m e r m a n n ) . Seelsorgetheorie bildet eine notwendige, aber nicht hinreichende Voraussetzung für Seelsorgefähigkeit (nicht so T h . Bonhoeffer 4 9 5 : „ Z e n t r u m der Seelsorgeausbildung" ist die „gute klassischtheologische A u s b i l d u n g " ) . 4.3.
E r s t d u r c h Erfahrungslernen
tive A n w e n d u n g
wird Seelsorgefähigkeit e r w o r b e n . D e n n die situa-
von R e g e l n , also die M i x t u r
aus Regeln, institutionellem
Rahmen,
individuellem G e g e n ü b e r und vor allem auch der Beziehung zur eigenen Person, die S e e l s o r g e a u s ü b t , m a c h e n d i e S e e l s o r g e p r a x i s a u s . D a s E r l e r n e n e i n e s H a n d e l n s in d i e s e r K o m p l e x i t ä t b e d a r f des „ l e a r n i n g by d o i n g " - eine E i n s i c h t , der s c h o n 1 7 8 0 für c a . 2 0 J a h r e l a n g in e i n e m H a n n o v e r a n e r P a s t o r a l i n s t i t u t n a c h d e m M o d e l l d e r d a m a l s
re-
formierten M e d i z i n e r a u s b i l d u n g gefolgt wurde (Piper, K o m m u n i z i e r e n ) . Es gab bereits a b E n d e des 19. J h . a u s g e b a u t e g e m e i n s a m e F o r t b i l d u n g s a n s t r e n g u n g e n von interessiert e n S e e l s o r g e r n u n d ( p s y c h i a t r i s c h e n ) Ä r z t e n , s e i t 1 9 2 5 in d e r B e r l i n e r s c h a f t Arzt
und
Seelsorger
meinschaft
Arzt
und
( d a z u W i n k l e r 1 3 3 A n m . 1 8 3 ; 40 Jahre
Seelsorger)
beitsgemeinschaft
Arzt
und
Arbeitsge-
m i t g l e i c h n a m i g e r S c h r i f t e n r e i h e (die 1 9 4 9 g e g r ü n d e t e
S t u t t g a r t e r A r b e i t s g e m e i n s c h a f t Arzt h e i ß t s e i t 1 9 7 4 Internationale
Arbeitsgemein-
Berliner
und
Seelsorger
Gesellschaft Seelsorger,
d e r g r u n d s t e h t ) . E s g a b in d e n
für
i n t e r n a t i o n a l i s i e r t e sich später und
Tiefenpsychologie
e.V.
- Erweiterte
Ar-
w o b e i die J u n g s c h e T h e r a p i e r i c h t u n g im Vor-
1920er J a h r e n für kurze Z e i t
pastoralpsychologische
B e m ü h u n g e n in d e r A u s - u n d F o r t b i l d u n g e i n i g e r L a n d e s k i r c h e n
(Scharfenberg,
Art.
P a s t o r a l p s y c h o l o g i e 1070) und a b den 1950er J a h r e n Anleitungsliteratur zur G e s p r ä c h s f ü h r u n g (E. M ü l l e r ; v o r allern d a n n 1 9 6 3 R e n s c h ) . D o c h erst im Z u g e eines seit den 5 0 e r J a h r e n i m m e r stärker z u n e h m e n d e n U n b e h a g e n s über den Z u s t a n d kirchlicher Seelsorgepraxis
(Wölber;
Wilhelm
Hahn/Hans-Heinrich
Wolf:
A.D.
Müller,
Seelsorge
7 2 = W i n t z e r 1 2 6 : „ T a t s a c h e ist e i n e r a p i d e S c h r u m p f u n g d e r S e e l s o r g e " ) u n d S e e l s o r g e a u s b i l d u n g ( A . D . M ü l l e r , A u s b i l d u n g ; D o e b e r t ) w u r d e a b 1 9 6 7 ein „ l e a r n i n g by d o i n g " d u r c h d i e Klinische
Seelsorgeausbildung
breitenwirksam (->Clinical Pastoral Training;
Becher; Faber, Semester; Fror; eigenwillig:
Zijlstra).
Die so gestaltete E r w e c k u n g der Seelsorge aus dem „ D o r n r ö s c h e n s c h l a f " (Stollberg, Seelsorge praktisch 5) macht das Kernstück der „ S e e l s o r g e b e w e g u n g " (Stollberg, T h e r a p e u t i s c h e Seelsorge; ders., Wie es begonnen hat; J o c h h e i m ; W i n k l e r 62ff.) aus, die als Ausweg aus dem „ E l e n d " (Kos c h o r k c ; Pisarski) der bisherigen Seelsorgeausbildung erlebt wurde. Die aus den USA stammende Ausbildungsmethode kam direkt und über die Niederlande a b ca. 1968 nach West- und etwas später nach Ostdeutschland. Im Z u s a m m e n h a n g von Praktika (idealerweise mindestens dreimonatig, häufig sechswöchig, als Teil des Vikariats auch mancherorts nur zweiwöchig), die meist in Kliniken absolviert werden, werden neben Theorieeinheiten vor allem Einzel- und Gruppengespräche geführt. Sie beziehen sich über weite Strecken auf sog. Verbatims, G e d ä c h t n i s p r o t o k o l l e (Becher, Seelsorgeausbildung [1976] 7 7 f f . ) , in denen aus der Erinnerung wesentliche Passagen des Gesprächs im Wortlaut wiedergegeben werden (veröffentlichte Beispiele bes. bei Piper, Gesprächsanalysen; van der G e e s t , Augen). Von ihnen ausgehend wird an der Fähigkeit der Seelsorgerin/des Seelsorgers zur Selbst- und F r e m d w a h r n e h m u n g sowie ihrer/seiner Ausdrucksfähigkeit gearbeitet. Aus- und Fortbildung wird von der 1972 gegründeten Deutschen Gesellschaft für Pastoralpsychologie (DGfP) gefördert und kontrolliert (Kiessmann, Aus- und Fortbildung 9 9 - 1 0 4 ) , die nicht nur eine Sektion für Klinische Seelsorgeausbildung unterhält, sondern auch die Sektionen T i e f e n psychologie sowie G r u p p e n d y n a m i k ; während die ersten beiden weiterbestehen, gibt es inzwischen außerdem die Sektionen „Personzentrierte Psychotherapie und S e e l s o r g e " , „Gestaltseelsorge und Psychodrama in der P a s t o r a l a r b e i t " sowie neuerdings auch „ G r u p p e - Organisation - S y s t e m " (zum Selbstverständnis vgl. Schneider, G r a b e n ) . 1979 wurde ein Internationales Komitee für Seelsorge und Beratung gegründet. Wichtigstes Diskussionsforum ist die Zeitschrift Wege zum Menschen, seit 1973 zugleich auch „ O r g a n " der DGfP. Gegen Widerstände hatte sich die Seelsorgebewegung als Seelsorgeaus- und -fortbildungsbewegung schnell weitgehend durchgesetzt (Errichtung von Seelsorgeinstituten; Schliep) und k o n n t e auch auf die Integration theologischen Denkens durch neue persönliche Aneignung verweisen (Piper, Perspektiven; R ü c k b l i c k in W z M 4 5 [1993] 4 3 3 f f . ) . Neuerdings leidet das Anliegen der Seelsorgebewegung stark unter landeskirchlichen Sparzwängen (1995: Reduktion des EKD-Seelsorgeinstituts in Bethel). Die evangelikale Biblisch-Therapeutische Seelsor-
48
Seelsorge II
ge(BTS) nimmt die Wissenschaftsreputation der Psychotherapie ebenfalls für sich mit in Anspruch. Seit 1987 besteht die Deutsche Gesellschaft für Biblisch-Therapeutische Seelsorge, deren Forschungsinstitut in Freudenstadt unter der Leitung von M . Dieterich an die staatlich anerkannte Theologische Hochschule der Siebenten-Tags-Adventisten in Friedensau bei Magdeburg angebunden ist. Die praktische (und theoretische) Aus- und Fortbildung von nicht-professionellen ehrenamtlichen Seelsorgerinnen und Seelsorgern (zum Thema „Laienseelsorge": Roscam Abbing; Kim) geschieht vor allem im Zusammenhang mit Besuchsdienstarbeit in der Gemeinde (Ruddat), der Telefon- oder Krankenhausseelsorge.
Die Seelsorgebewegung ist der erste eindeutige Ausdruck einer globalisierten (Hauschildt, Globalisierung), also Länder und Konfessionen (katholische Autoren u.a.: Hammers; Johnson; Godin; Mayer-Scheu; Frielingsdorf/Stöcklin; Schwermer; Troidl; Stenger; Schmid) übergreifenden Entwicklung kirchlicher Praxis und der sie reflektierenden Praktischen Theologie. Inzwischen thematisiert die Gesellschaft für Interkulturelle Seelsorge und Beratung die Veränderung der Seelsorge durch andere kulturelle Kontexte (Interkulturelle Seelsorge und Beratung 1 [1996] ff.). Für eine Ausbildung in Seelsorge sind Vorbilder motivierend, theoretisches Seelsorgewissen und Erfahrungslernen notwendig sowie die theoretische und praktische Beachtung alltäglicher Fähigkeiten hilfreich; dies alles sind Teilmomente dessen, was zu einer für die Seelsorge fähigen theologisch gebildeten Persönlichkeit gehört, in der theologisches Wissen und religiöse Selbsterfahrung sich zur Seelsorgekompetenz (Stenger; Baumgartner, Kompetenz) miteinander verknüpfen. 4.4. Seelsorge an Seelsorge-Ausübenden und Fortbildung. „Burnout in der Seelsorge" (Abel) droht. Schon die alte Praxis des Spirituals/Beichtvaters für Mönche diente der Notwendigkeit, längerfristig Seelsorge-Ausübenden einen Ort zu bieten, an dem sie ihrerseits helfende Gespräche über ihre eigene Seelsorgepraxis führen können. Sie brauchen Entlastung, Horizonterweiterung, Konfliktbearbeitung (Winkler 502ff.). Da Konflikte mit der Institution Kirche und ihren Berufsbedingungen so gut wie immer Anteil an den Seelsorgebeschwernissen haben, kann diese Aufgabe durch - * Visitation und durch Seelsorge mittels kirchlicher Vorgesetzter (-»Superintendent, -»Bischof) nicht oder bestenfalls nur teilweise wahrgenommen werden; dies gilt auch für eine individuelle und institutionelle Anliegen integrierende kirchliche Personalentwicklung (Elsässer). Unersetzlich ist eine eigene Supervision. Eine der Möglichkeiten sind die nach dem Psychoanalytiker Michael Balint (1896-1970) benannten Balintgruppen mit Theologen, die anhand von Fällen aus der Berufspraxis die „unbewußte Thematik einer manifesten Beziehungsstruktur Ratsuchender - Seelsorger" herausarbeiten (Argelander 17; Luban-Plozza/Otten/Petzold; Nedelmann/Ferstl). Daneben gibt es auch landeskirchliche Angebote, meist in der KSA-Tradition. Erschwert wird die Lage durch „eine große Lücke im Fortbildungsangebot für diejenigen ..., die den engen Standards der Fachverbände nicht genügen, aber sehr wohl pastoralpsych. engagiert sind" (Stollberg, Art. Seelsorge 187).
Seelsorge, schwerpunktmäßig gestaltet als Kommunikation durch Gespräch, eingebunden in institutionelle, situative und interaktive Zusammenhänge, ist eine der prominenten Ausdrucksformen kirchlichen Handelns, das sich von dem umfassenden Heilsund Hilfeinteresse des christlichen Gottes getragen und gefordert weiß; Seelsorge ist Ausdruck einer im Christentum genährten Gesprächskultur selbstverantwortlich sich gegenübertretender Individuen; sie nimmt teil an einer plural gewordenen Gesellschaft, deren Antagonismen mehr denn je der aufmerksamen Klärung und Verständigung oder auch Überwindung bedürfen. Literatur Bibliographie: Martin Jochheim, Bibliogr. zur ev. Seelsorgelehre u. Pastoralpsychologie, Bochum 1997. 20 Jahre Circus- u. Schaustellerseelsorge der EKD. Jahresber. 1987/88, Nürnberg o.J. - 40 Jahre Berliner Arbeitsgemeinschaft Arzt u. Seelsorger, 1965 (BHEKS 18). - Peter Abel, Burnout in der Seelsorge, Mainz 1995. - Jay Edward Adams, Competent to counsel, Grand Rapids, Mich.
Seelsorge II
49
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Seelsorgelehre
born 1991 2 1 9 9 2 . — H u b e r t W i n d i s c h , Sprechen heißt lieben. Eine prakt.-theol. T h e o r i e des seelsorgerlichen G e s p r ä c h s , 1 ~ 2 1 9 8 9 ( S T P S 1). - Klaus W i n k l e r , Seelsorge, 1997 ( G L B ) . - Friedrich Wintzer (Hg.), Seelsorge. T e x t e zu ihrem gewandelten Verständnis u. zur Praxis der Seelsorge in der Neuzeit, 1978 3 1 9 8 8 ( T B 6 1 ) . - H a n s - O t t o W ö l b e r , Das Gewissen der Kirche. Abriß einer T h e o l . der Sorge um den M e n s c h e n , Göttingen 1963 2 1 9 6 J . - Karl H o r s t Wrage/Peter Petersen, Seelsorgepraktikum 1, Gütersloh 1971. - H a n s Wulf, Wege zur Seelsorge, Neukirchen 1970. - W y b e Zijlstra, O p zoek naar en nieuwe horizon, N i j k e r k 1989; dt.: H b . zur Seelsorgeausbildung, Gütersloh 1993.
Eberhard Hauschildt
Seelsorgelehre 1. C h a r a k t e r und Aufgaben der Seelsorgelehre und die Pastoralpsychologie 2. M o d e l l e von Seelsorgelehre aus der G e s c h i c h t e 3. Seelsorgelehre im 20. Jahrhundert: Konkurrenz als Herausforderung 4 . D a s homiletische Paradigma: Seelsorge als Verkündigung 5. Das therapeutische Paradigma: Seelsorge als Behandlung 6. D e r gegenwärtige Stand: auf dem Weg zu einem Paradigma interaktiver Seelsorge (Literatur S. 70)
1. Charakter
und Aufgaben
der Seelsorgelehre
und die
Pastoralpsychologie
Seelsorgelehre entsteht, wenn einzelne Vollzüge von —>Seelsorge gedanklich generalisiert und anderen zur Tradierung der Praxis mitgeteilt werden sollen. Seelsorgelehre, rational und pädagogisch akzentuiert, ist ein literarisches Phänomen. Sie stellt Überlegungen darüber an, was Seelsorge als kohärente Praxis ist, mit dem Zweck, andere in die Seelsorge einzuführen. Seelsorgelehre bietet Wissen im Interesse von Praxis, dient ihr als Legitimation und Kritik. Sie entwirft dabei dann auch ein Bild von der Professionalität der Seelsorge. Seelsorgelehre bietet ebenso Wissen im Interesse von Theorie, liefert Deskriptionen und Theoriebegriffe. Sie betreibt ihre Theoriekonstruktion in zumindest impliziter, in der Regel expliziter Auseinandersetzung mit anderen Seelsorgelehren und anderen wissenschaftlichen Disziplinen. Zur Spannung zwischen —>Theorie und Praxis muß sich jede Seelsorgelehre verhalten. Durch Legitimation, Kritik und Deskription vollzieht Seelsorgelehre in kleinerem oder größerem Ausmaß auch Normierung von Begriffen (Definitionen) und von Handlungen (Kirchenpolitik). Der wissenschaftliche Begriff für die Seelsorgelehre, in Analogie zur Homiletik, Liturgik und Katechetik aus dem Griechischen gebildet, ist der der Poimenik (von griechisch noifir/v, „Hirte"; noch nicht bei C.I. -»Nitzsch, aber schon 1854 bei Ebrard). Der Begriff der „Pastoraltheorie" (Schweizer; ->Vinet; Krauss) setzte sich nicht durch. Die Seelsorgelehre hat sich aus der -+Pastoraltheologie herausgebildet, die ihrem Inhalt nach theologisch die gesamte pastorale Tätigkeit beschreibt. Die Pastoralpsychologie hingegen deutet die gesamte pastorale oder auch kirchliche Tätigkeit aus dem Blickwinkel psychischer Phänomene und psychologischer Theorien; sie ist insofern eine „Grunddimension Praktischer Theologie" (Wahl), „ein hermeneutisches Prinzip" (Winkler, Seelsorge 64, über Hiltner) theologischen Denkens überhaupt (vgl. Scharfenberg, Art. Pastoralpsychologie 1072). Auch wenn der Begriff im Sinne einer psychologischen Hilfswissenschaft schon länger verwendet wurde (Demal), ist er erst mit der Seelsorgebewegung spezifisch und wirkkräftig geworden [Perspektiven der Pastoralpsychologie; aber auch schon Pfister, Fall 188 Anm. 1), die sich in Deutschland ab 1972 in der Deutschen Gesellschaft für Pastoralpsychologie organisierte. Definitionen für die Pastoralpsychologie lauten: „Psychologie im Dienst pastoraler Selbsterk e n n t n i s " (Stollberg, Pastoralpsychologie [1968] 215); „Psychologie im Dienst theologischer, ant h r o p o l o g i s c h - k o m m u n i k a t i v e r und selbstkritischer Arbeit aller, die aktiv a m Leben der Kirche partizipieren, besonders der hauptamtlichen M i t a r b e i t e r , also vorwiegend der P f a r r e r " (Winkler, Seelsorge 4 7 ; vgl. ders., F u n k t i o n ) . N e u e r e m o n o g r a p h i s c h e Arbeiten stammen von Scharfenberg (Einführung) und dem Katholiken B a u m g a r t n e r (Pastoralpsychologie; ders. [Hg.], H a n d b u c h ; vgl. auch Blühm u.a. 6 0 - 1 0 4 ) .
Seelsorgelehre 2. Modelle
von Seelsorgelehre
aus-der
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Geschichte
Die wissenschaftlichen Seelsorgelehren entstehen erst in der Neuzeit. Da die Einsicht in die Differenz von Theorie (Seelsorgelehre) und Praxis (Seelsorge) selbst eine neuzeitliche ist, unterscheiden Darstellungen der Geschichte (—»Seelsorge I) oft nicht zwischen beidem. Die historische Erforschung der Seelsorgepraxis sollte prüfen: Inwiefern spiegeln überlieferte Äußerungen über Seelsorge die tatsächliche Seelsorge ihrer Zeit wider? Dazu sind die Gattung der jeweiligen überlieferten Texte, die Informationen zur Seelsorge enthalten, sowie die strukturellen und mentalen Voraussetzungen der Zeit zu behandeln (vorbildlich in der Schärfe des Problembewußtseins ist Haendler, Grundriß 371: „Eine Geschichte der intimen Seelsorge kann nicht geschrieben werden, weil sie ... der wesentlichen Quellen e n t b e h r t " ) . Das historische Interesse der praktischtheologischen Seelsorgelehre liegt demgegenüber darin, die begrifflich-gedanklichen Konstruktionsund Tradierungsmuster zu erheben, wie sie in die wirkungsgeschichtlich relevanten literarischen Seelsorgelehren eingegangen sind.
2.1. Seelsorgelehre als kirchliche Regierungsanleitung. Aus dem 9. J h . wird berichtet, daß Priester bei ihrer Weihe die Hand auf zwei Bücher zu legen hatten (Möller, Geschichte I, 240): das corpus iuris civilis, also die römische Rechtssammlung, und die regula pastoralis, verfaßt von Papst -»Gregor dem Großen zu Beginn seiner Amtszeit (591). Die mittelalterliche Seelsorgepraxis wird damit auf eine bestimmte literarisch fixierbare Reflexionsgestalt hin ausgerichtet. Die regula pastoralis nimmt die biblische Hirtenmetapher auf und verknüpft sie mit der Leitungsperspektive. Seelsorge wird unter dem Begriff des Regierungsamtes (regimen) behandelt; die Bezeichnungen für den Seelsorger sind regens und rector animarum. Dieser hat die zugleich christlichen wie allgemein-sittlichen Gottesgesetze zur Geltung zu bringen ( a d m o n e r e ) und bedarf dazu einerseits persönlicher sittlich-geistlicher Qualifikation (u.a. lautere Gedanken, musterhafter Lebenswandel, Geschick im Reden und Schweigen, tägliche Bibellese), andererseits des Wissens um den Zustand des Gegenübers, um angemessen zu agieren (Unterscheidung von Armen und Reichen, Fröhlichen und Trauernden etc.). M i t dem Typus von Lehre als Einheit von personaler Ethik und Kasuistik orientiert sich die Seelsorgelehre an der durch das Christentum übernommenen antiken Rhetorik. Dies als „contextual pastoral counseling" zu behandeln und zur vorweggenommenen Überbietung der therapeutischen Seelsorge zu stilisieren (Oden 7 6 . 5 7 - 5 9 ; vgl. Möller, Geschichte I, 241 f.) verdeckt die Differenzen zur Moderne, wiewohl Gregor in der Tat so „Probleme der Interventionstechnik" diskutiert und insoweit eine vormoderne Art „differentielle pädagogische Psychologie" entfaltet (Th. Bonhoeffer, Ursprung 145). Das Prinzip des M a ß e s (discretio) zwischen den Extremen bleibt ein wichtiger Gesichtspunkt in der mittelalterlichen Seelsorgereflexion (vgl. Schmidt und Winkler, Seelsorge 107, zu —»Hildegard von Bingen). Eine wissenschaftliche Untersuchung zur Begriffsgeschichte von cura animarum fehlt leider. Deutlich ist, daß im Hochmittelalter mit der Ausbildung des kodifizierten Kirchenrechts der Begriff cura animarum als rechtlich gefaßter terminus technicus erscheint. Damit ist die in der regula pastoralis tradierte Leitungsaufgabe nun zum rechtsverbindlichen, dem einzelnen Priester vom Bischof übertragenen Privileg geworden: curam animarum habens. Seelsorge bezeichnet jetzt einen Rechtstitel, in dem für die Praxis Rechte und Pflichten (zur Pflichtbeichte s. -»Beichte) fixiert sind. Literarisch zu entfalten bleibt nur die demgegenüber untergeordnete Aufgabe, Hinweise für das Verhalten in bestimmten Bereichen der Seelsorgepraxis zusammenzutragen, wie dies in den Beichtspiegeln ( - » B e i c h t e ) und in Büchern zur - » A r s moriendi geschieht.
2.2. Seelsorgelehre als Kirchengemeindeordnung. Die neue Theologie M . —»Luthers impliziert einen veränderten Seelsorgebegriff (Ebeling, Gebrauch; —»Seelsorge 1.4.1.), und die mit der Reformation veränderte Theorie und Praxis kirchlicher Leitung macht eine andere Seelsorgelehre erforderlich. -»Zwingiis Der Hirt (1524) ist eine erweiterte Predigt über das Wächteramt unter Verwendung der Hirtenmetapher. Der Herausforderung, in systematischer und monographischer Weise die Seelsorge mit einer Lehre von der Kirchenleitung neu zu fassen, stellt sich M . -»Bucers Von der waren Seelsorge (1538). Aus dem Leitungsamt ist eine Aufgabe aller Christen geworden, so daß die
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Seelsorgelehre
Seelsorgelehre zur K i r c h e n g e m e i n d e o r d n u n g wird. D a r u m ist eine Grundlegung, die die Prinzipien der L e h r e k l ä r t , v o n n ö t e n ; sie wird geschaffen durch ekklesiologische Vorüberlegungen. Die Legitimierung der L e h r e erfolgt nicht mehr durch den selbstverständlichen R e k u r s auf allgemeine und kirchliche T r a d i t i o n e n , sondern wird methodisch bew u ß t der Bibel e n t n o m m e n . Als Seelsorge gelten hier sämtliche M a ß n a h m e n zur Integration in die G e m e i n d e . 2.3. Seelsorgelehre als Wissenschaft. Seit dem 16. J h . wachsen die Ansprüche an die W i s s e n s c h a f t l i c h k e i t der T h e o l o g i e im F o r u m anderer sich von ihr emanzipierender W i s s e n s c h a f t e n . M i t der Verwissenschaftlichung der T h e o l o g i e eröffnet sich die Differenz von T h e o l o g i e und gelebter R e l i g i o n . In dieser Situation entfaltet sich als Vermittlungsversuch das G e n r e o r t h o d o x e r , a u f k l ä r e r i s c h e r und pietistischer T r o s t b ü c h e r , das die T r a d i t i o n e n aus M i t t e l a l t e r und R e f o r m a t i o n fortsetzt und Anleitungen für b e s t i m m t e Situationen von Seelsorge gibt, kasuistisch oder nach Bibelstellen geordnet (Steiger). D e n G e g e n s t a n d „ S e e l s o r g e p r a x i s " im System der Wissenschaften zu verorten, die Seelsorgetheorie für die P r a x i s zu entfalten und den Z u s a m m e n h a n g von Seelsorgetheorie und -praxis zu reflektieren - dieser A u f g a b e stellt sich erstmals die Seelsorgelehre F.D.E. - • S c h l e i e r m a c h e r s , verschriftlicht in dem enzyklopädischen E n t w u r f von 1 8 1 1 2 1 8 3 0 (Kurze Darstellung [ K D ] ) und den Vorlesungen (Praktische T h e o l o g i e , p o s t u m 1850 veröffentlicht; wichtige Passagen daraus bei W i n t z e r [Hg.], Seelsorge 1 - 1 7 ) . M i t Schleierm a c h e r hat die Seelsorgelehre wissenschaftliche S t a t u r erreicht. Sie wird präsentiert als ein in sich k o h ä r e n t e r , logisch a u f g e b a u t e r A r g u m e n t a t i o n s z u s a m m e n h a n g mit Begriffsdefinition, enzyklopädischer O r t s z u w e i s u n g , B e s t i m m u n g des T h e o r i e - P r a x i s - V e r h ä l t nisses und T h e o r i e der P r o f e s s i o n a l i t ä t von Seelsorge. D e r „ E n t w i c k l u n g der Seelsorge[lehre] von einer umfassenden P f a r r a m t s k u n d e zur speziellen und freien, n ä m l i c h nicht vorgezeichneten Seelsorge[lehre] und d a m i t zu einer praktisch-theologischen Teildiszip l i n " (Wintzer [Hg.], Seelsorge X I V ) ist d a m i t der entscheidende erste Ausdruck gegeben und dem „ M ü n d i g k e i t s p r i n z i p " (ebd. X V I I ) protestantischer Seelsorge der Weg bereitet. „Seelenleitung" (Schleiermacher, KD § 263) meint Seelsorge im allgemein unbestimmten Begriff für kirchliches Handeln überall, „Seelsorge im weiteren Sinn" (ebd. § 291) jedes Handeln, das einzelne in den Gesamtzustand der Gemeinde bringen soll, also auch das erzieherische Handeln: Katechetik. Seelsorge „im engeren Sinne" (ebd. § 299) und in dem Sinne, wie Schleiermacher den Begriff verwendet wissen will, ist dasjenige Handeln, welches sich auf einzelne bezieht, die „aus der Identität mit dem Ganzen herausgefallen sind" (Schleiermacher, Prakt. Theol. 428). Mit dieser Zuspitzung des Begriffs der Seelsorge auf die cura animarum specialis nimmt Schleiermacher die Entwicklung in der protestantischen Seelsorge zur Konzentration auf die Seelsorge als Gespräch (Hauschildt 21 ff.) auf. Seelsorgerliche Professionalität (Schleiermacher: „Besonnenheit") bedarf der Kenntnis von Seelsorgetheorie; diese besteht in der Konstruktion allgemeiner Regeln (Verfahrensweisen), gemäß denen dann erst in der jeweiligen Praxissituation vom einzelnen das konkrete Handeln entworfen werden muß (Schleiermacher, KD § 260). Bezogen auf eine konkrete Kirche, die evangelische, bekommt auch die Seelsorgetheorie konfessionelles Profil (Schleiermacher, Prakt. Theol. 4 2 8 - 4 3 0 ) : Das Gemeindeglied ist weder verpflichtet, Seelsorge in Anspruch zu nehmen (anders die katholische Beichtpflicht), noch ist der Pfarrer berechtigt, Seelsorge an anderen gegen deren Wunsch auszuüben (anders die Priesterpflicht). Seelsorge ist freiwillig und zeitlich begrenzt auf die Behebung eines Mißstandes. Die am Mangelzustand und an gezielt wirksamem Handeln ausgerichtete Positionierung der Seelsorge ergibt sich allerdings so eindeutig nur aus den Erfordernissen des wissenschaftlich-professionellen Zugriffs auf Seelsorge. Neben der katechetischen Begründung kennt Schleiermacher noch eine Ableitung der Seelsorge aus dem freien, geselligen Gespräch, doch bedarf diese Dimension der Seelsorgepraxis, weil sie automatisch erfolgt, nicht der wissenschaftlichen Behandlung (Hauschildt 5 1 - 5 6 ) . D i e aufklärerische katholische Pastoraltheologie (I) der Zeit, durchs österreichische Kaiserhaus universitär etabliert, rubriziert Pflichten des Amtsträgers. Die Seelsorge an einzelnen gehört nach F.S. R a u t e n s t r a u c h (1778) zur „Unterweisungspflicht" und zur „Verwaltungs- und Ausspendungspflicht" (Sakramente), der Seelsorger selbst unterliegt der „Erbauu n g s p f l i c h t " (bei Zottl/Schneider I, 3 0 f . ) ; Seelsorge wird von F.Ch. Pittroff ( 1 7 7 8 - 1 7 7 9 ; bei Zottl/Schneider I, 7 1 ) und F. G i f t s c h ü t z (I 1785, 2 0 7 ; vgl. Pirich 190ff.) als „Privat-
Seelsorgelehre
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U n t e r r i c h t " behandelt. J . M . -»Sailer ( 1 7 8 8 - 1 7 8 9 ) weitet den H o r i z o n t : „ J e d e r sei sein Selbst-Seelsorger! ... Jeder sei des anderen Seelsorger!" (bei Zottl/Schneider I, 120). 2.4. Seelsorgelehre in Lehrbüchern der Praktischen Theologie. Schleiermacher legte das wissenschaftstheoretische F u n d a m e n t der Praktischen Theologie. Auf dieser Grundlage erhält die Seelsorgelehre durch C.I. - » N i t z s c h 1 8 5 7 eine literarische Fassung, die Schule m a c h t (kritisch dazu N e m b a c h ) . 2.4.1. Im R a h m e n von Nitzschs dreibändiger Praktischer Theologie erfolgt eine wissenschaftliche Darstellung des Lehrstoffs der Seelsorge in m o n o g r a p h i s c h e m Ausmaß. Wie die Praktische Theologie insgesamt sich deutlicher als bei Schleiermacher auf das (biblische) Urbild der Kirche bezieht und Kirche als „ a c t u o s e s " Subjekt (d.h. in seiner empirisch-idealen Gestalt) der Praktischen Theologie gedacht ist, so sind auch für die Seelsorgelehre Grundbegriffe und die Geschichte des Gegenstandes selbst herauszuarbeiten. Empirische (Erhebung von Geschichte und Gegenwart), logische (Theoriebegriffsbildung) und technische M e t h o d e (Aufstellen von Verfahrensregeln) sind miteinander zu verknüpfen. Der Titel der Seelsorgelehre lautet: Von der eigenthümlichen Seelenpflege des evangelischen Hirtenamtes mit Rücksicht auf die innere Mission. Teil I entfaltet „Die Idee der Seelenpflege" (Nitzsch 1 1 - 1 9 ) als die allgemeine Erfordernis, in die sittliche Bildung auch das Moment der „Psychagogie" einzubeziehen (ebd. 2), und zwar durchaus - anders als bei Schleiermacher - auf Dauer (ebd. 15). Das Ideal besteht darin, den „Widerspruch von Folgsamkeit und Selbständigkeit, von Autorität und Freilassung" aufzulösen (ebd. 17). Teil II beschreibt „Die Geschichte der christlichen Seelsorge" (ebd. 1 9 - 5 3 ) einschließlich der Aktivitäten der Inneren Mission des 19. Jh. Der das Buch im wesentlichen ausfüllende Teil III behandelt die „Bildung zum Amte" des Seelsorgers (ebd. 5 4 - 3 1 4 ) und bietet nach der Einleitung zu Methodik und Geschichte der Seelsorgelehre eine Seelsorgedefinition, in der vier Charakteristika hervorgehoben sind: „Eigenthümliche Pflege der Seelen oder specielle Seelsorge ist die amtliche Thätigkeit der christlichen Kirche, welche der Erhaltung, Vervollkommnung, Herstellung des geistlichen Lebens wegen auf das einzelne Gemeindeglied gerichtet ist, folglich nach den eigenthümlichsten persönlichen Zuständen und Bedürfnissen bemessen sein und am meisten vom ganzen persönlichen Eindruck des Seelsorgers unterstützt werden muß" (ebd. 70). Obwohl es Laienseelsorge gibt, gilt: „der Begriff dieser unserer Angelegenheit bleibt bei dem festen Satze, die Gemeine hat ihren amtlichen Hirten" (ebd. 75; weiter geht Schweizer: Laienseelsorge und amtliche Seelsorge sind „wesentlich ... gleich" [Schweizer, Pastoraltheorie V], aber auch er behandelt wissenschaftlich dann nur die „pfarramtliche Seelsorge" [ebd. 28]). Zu den breit erörterten „persönlichen Bedingungen gesegneter Seelenpflege" (Nitzsch 1 94-142) gehören neben dem Lebenswandel („guter Name"), der Fähigkeit zur Vermittlung von Wahrheit („Lehrhaftigkeit") und religiöser Sprachfähigkeit („die Gabe des Gebets") ganz besonders eine Kombination aus „Gabe und Bildung"; diese zeigt sich in „diagnostischer Befähigung" und „therapeutischer Tüchtigkeit" (hier nimmt Nitzsch die ärztliche Terminologie auf; schon G.Ph.Ch. Kaisers Entwurf eines Systems der Pastoraltheologie hatte 1816 [78ff.] von „geistlicher Diagnostik" und „geistlicher Therapeutik" gesprochen - mit Verweis auf die aufklärerische Darstellung des „christlichen Religionslehrers" bei F.H.C. Schwarz). Die Hälfte der Seelsorgelehre nimmt der Abschnitt „Von der Orthotomie, oder von der Austheilung und Anwendung des göttlichen Wortes in Bezug auf die Eigenthümlichkeit der Zustände und Anlässe" (Nitzsch 1 1 6 8 - 3 1 4 ) ein. Von dem Ausgangspunkt aus „Das Wort Gottes regiert in der Seelsorge, führt sie, ist sie" (ebd. 168) wird Seelsorgelehre zur Kasushomiletik zwischen Text und Situation. Es geht um eine „Individualisirung der Rede Gottes, welche der Individualisirung des menschlichen, zeitlichen, örtlichen Bedürfens, Empfangens und Verlangens entspricht" (ebd. 169). Auf den leidenden Menschen bezieht sich als der „tröstliche ... Dienst am Worte" (ebd. 266) die „parakletische Seelsorge" (ebd. 178ff.), die die „objektive Entwicklung des göttlichen Trostes" und die „subjektive Entwicklung" in bezug auf äußere Umstände beachtet. Auf den sündigen Menschen bezieht sich als der „vermahnende Dienst am Worte" (ebd. 266) die „pädeutische Seelsorge" (ebd. 219ff.), die mit „actueller Sünde" konfrontiert und auch vorbeugende, „verhütende Seelsorge" treibt. Auf den irrenden Menschen bezieht sich die „didaktische Orthotomie" (ebd. 266ff.), die das „intellektuelle Bedürfniß oder die intellektuelle Sünde" zum Gegenstand hat und sich mit Zweifel, Unglaube, Aberglaube und Atheismus beschäftigt. 2.4.2. M i t Nitzsch ist der Standard der Seelsorgedarstellungen für das 19. Jh. und darüber hinaus bis zum Beginn der -»Dialektischen Theologie gesetzt. In vielem folgt m a n seinen Einteilungen und Problemstellungen (besonders deutlich bei den Lehrbü-
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Seelsorgelehre
ehern von —»Achelis; B a u m g a r t e n , Seelsorge; Schian; Krauss). N u r in der G e w i c h t u n g einzelner Aspekte ergeben sich a n d e r e Akzente. M e h r e r e Tendenzen überschneiden sich: 1) Immer wieder zeigt sich, besonders, aber nicht nur in stärker konfessionell-kirchlich angelegten Entwürfen, eine Tendenz zur verstärkten Einbindung der Seelsorge in andere institutionalisierte kirchliche Vollzüge. Zu nennen sind Gottesdienst (Schweizer, Constructionsweise 30f.: Seelsorge ist ständig nötige Ergänzung des Gottesdienstes; von -»Zezschwitz 483: Seelsorge verhindert, daß „das Verhalten der Gemeindeglieder auf dem Boden ihrer natürlichen Lebensbeziehungen in einen Widerspruch mit den Anforderungen der Communionhöhe" gerät; Cremer 137: in Ergänzung zum Gottesdienst soll Seelsorge „zum tatsächlichen Glaubensverhalten verhelfen"), Predigt (Löhe 2 236: „Teilung des Göttlichen Wortes von Seiten des Pfarrers"; Otto 402: „Seelsorge als Verkündigung des Evangeliums in der hirtenamtlichen Aussprache an einzelne Glieder der Gemeinde außerhalb des Gottesdienstes"; Knoke 155: „persönliche Deutung des göttlichen Wortes auf die individuellen Verhältnisse"; Köstlin 145 [zit. bei Wintzer (Hg.), Seelsorge 26]: „berufsmäßige Versorgung der Gesamtheit und der einzelnen mit dem Heilswort"), kirchliche Unterweisung (Palmer 2 210ff.; Vinet, Pastoral-Theol. 198: „der Seelsorger erzieht"; Knoke 158: „ein wesentlich pädagogisches" Bemühen); auch das kirchliche Amt (Harms; vgl. dazu Schulz 11 ff.), Beichte (Knoke 1 6 4 - 1 6 6 ; Steinmeyer), Bekehrung (Ebrard 357ff.; Marheineke 272ff.). Es wird die „Einzelseelsorge" der cura generalis nach- bzw. untergeordnet, indem ein gemeinsamer Oberbegriff stark gemacht (Palmer 2 210ff.: „Pastoration"), die Seelsorge als Fortsetzung der cura generalis (Steinmeyer 28) durch deren treue „Anwendung auf den Einzelnen" (ebd. 67) bestimmt oder zuerst die „indirekte" Seelsorge der „Gemeindepflege" vor der „direkten" „Seelsorge im engeren Sinn des Wortes", der „Seelenpflege", behandelt wird (Köstlin; ähnlich Vinet), wobei zu letzterer auch die „öffentliche Seelsorge" in Predigt, Unterricht und Beichte zählt. In diesem Zusammenhang wird auch gerne die Tradition der „—>Kirchenzucht" bzw. „Aufsicht" für das Ganze der Seelsorge oder wenigstens doch einen wichtigen Teilbereich (Palmer; Köstlin; Schian; Schweizer) aufgenommen. Schweizers Unterscheidung von gebundener und freierer Seelsorge (Constructionsweise 46) wirkt, obwohl er selbst sie später zugunsten des Moments der Freiheit der Seelsorge relativiert (Schweizer, Pastoraltheorie 28f.). 2) Im Zuge des Historismus bekommt die Geschichte der Seelsorge und Seelsorgelehre ein besonderes Gewicht, vor allem bei E.Ch. Achelis (Lehrbuch), aber auch bei M . Schian und H.A. Köstlin; vgl. außerdem die historischen Monographien von K. Schmerl und A. Hardeland. 3) Ab ca. 1890 (vgl. zu diesem Zeitraum den paradigmatischen Vergleich von Köstlin und Baumgarten bei Stahlberg) werden deutlicher neue Akzente gesetzt durch neue, empirisch ausgerichtete Formen kirchlicher und wissenschaftlicher Praxis. E. Sülze verlangt, Gemeindearbeit in überschaubaren „Seelsorgegemeinden" (Sülze 35) zu organisieren, und zwar mit Hilfe von „Laienseelsorgern" (ebd. 32; vgl. dazu auch Blau 47—57; M . Schians Praktische Theologie wechselt in der 2. Auflage 1928 dann doch wieder von dem Oberbegriff „Gemeindepflege" aus der 1. Auflage von 1922 zum „seelsorgerlichen Handeln"). F. Niebergall verabschiedet den idealistischen Systematisierungszwang (Prakt. Theol. II, 365: „Es hat ... das Leben selbst das entscheidende Wort zu sagen. Aus seinen Antrieben und Notwendigkeiten quillt immer neu der Stoff, den die Lehre zu bewältigen hat. Darum hat es gar keinen Zweck, ihn aus irgendwelchen Grundsätzen abzuleiten") und ordnet die Darstellung der „Seelsorge und Gemeindepflege" betont formal in „Einzelne" (ebd. 3 7 1 - 4 3 5 ) , „Gruppen" (ebd. 4 3 5 - 4 5 8 ) , „Gemeinde" (ebd. 4 5 8 - 4 7 4 ) , „Kirche" (ebd. 474-^94), „Welt" (ebd. 4 9 4 - 5 1 0 ) . Wahrzunehmen sind die sozialen Verhältnisse mit Hilfe der „religiösen Volkskunde" (ebd. I, 3 1 - 2 1 6 ; Schulte; vgl. Baumgarten, Seelsorge 1 7 7 - 1 9 2 ) und die individuellen psychischen Gegebenheiten mit Hilfe einer „psychologischen Seelsorge" (Baumgarten, Grundzüge; ders., Beiträge; auch die frühe —»Psychologie der Zeit mit ihrer Temperamentenlehre wird rezipiert: Riddervoldt; ebenso die -»Religionspsychologie: Niebergall, Bedeutung 4 6 2 - 464). Anders als bei den konfessionellen Entwürfen (s.o. zu 1]) ist das Interesse für die sozialen Zusammenhänge der Seelsorge hier nicht als Rückkehr in die kirchliche Sondergemeinschaft, sondern als ethische Wirkung der Gemeinde in der Welt gedacht (z.B. Baumgarten: Wintzer [Hg.], Seelsorge 46). 4) Während sich bei Nitzsch Lehre, Amt und Person gegenseitig relativieren, fällt das Gewicht seit dem Ende des 19. Jh. zunehmend auf die individuelle Persönlichkeit des Seelsorgers. „Der Seelsorger wirkt vor allem durch seine Persönlichkeit" (Krauss 218); es wird der „Geistliche als christlicher Hausfreund" porträtiert (ebd. 4 0 3 - 4 2 5 ) . In O. Baumgartens Seelsorgelehre (Stahlberg 2 0 6 - 2 8 3 ) mit dem Ziel der „Gewissensschärfung" (Baumgarten, Seelsorge 2) behandelt der ausführlichste Teil „Die persönlichen Erfordernisse des Seelsorgers" (ebd. 6 6 - 1 7 0 ) : Es kann „der protestantische Seelsorger ... kein autoritärer Gewissensrat unmündiger Christen sein wollen" (ebd. 61), vielmehr ist er der Gemeinde bei der religiösen Kommunikation zwischen einzelnen in der Welt behilflich (ebd. 63). Nicht mehr die Predigt weist die Seelsorge an, sondern umgekehrt kommt durch Seelsorge die „Wirklichkeit" in die Predigt (vgl. Baumgarten: Wintzer [Hg.], Seelsorge 41; Heyn). P. Blaus Pfarramt und Seelsorge widmet zwei Drittel der Darstellung der „Bedeutung", „Auswirkung" und
Seelsorgelehre
59
„Befähigung: der Persönlichkeit für die Seelsorge" und dem T h e m a „der Pfarrer und seine Seele". Die Form des Amtes „mit Geist zu füllen", dazu „gehören eben Persönlichkeiten" (Blau 72). .5) Die katholische Seelsorgelehre in ihren wirkungskräftigen Darstellungen der Pastoraltheologie bindet die Seelsorge streng an die kirchlich verliehene Priesterweihe, die der Natur des Seelsorgers die nötige Vollendung gibt. Episode bleiben A. Grafs kritische Musterung der evangelischen und katholischen Entwürfe (Graf 2 9 9 f . ) und sein Verständnis der Seelsorge als „Wissenschaft der Tätigkeiten in bezug auf die einzelnen der G e m e i n d e " , die nach den „ S u b j e k t e n " zu gliedern ist, an denen die Kirche durch die drei „ M i t t e l " „ W o r t " , „ K u l t " und „Disziplin" wirkt (bei Zottl/ Schneider II, 131). Es siegt die Restauration. I. Schüch handelt im ersten Hauptteil „von der Person des Hirten" in der Abfolge von natürlicher, durch Weihe sakramentaler und durch bischöfliche Missi:> kirchlicher Bevollmächtigung. J . Amberger ordnet die „Einzelseelsorge" dem „königlichen A m t " zu (bei Zottl/Schneider II, 146).
2.4.3. Fazit: Die Errungenschaften der Seelsorgelehre im 19. J h . sind folgende: 1. Es wird zum wissenschaftlichen Standard, Seelsorge zu lehren durch die Darstellung von Begriff, Geschichte und Verfahren der Seelsorge wie der Seelsorgelehre. 2. Die Freiwilligkeit der seelsorgerlichen Beziehungsaufnahme wird in Abgrenzung zur katholischen Seelsorge betont. 3. Die cura specialis wird als eigenständige Unterdisziplin der Praktischen Theologie in - verschieden gestalteter - Unterscheidung von religiösem Unterricht und allgemeiner Gemeindeleitung etabliert. 4. Die Seelsorgelehre entwickelt als weitere Unterdisziplin die Diakoniewissenschaft, welche sich zunehmend verselbständigt (->Diakonie III). Darüber hinaus bereitet die Seelsorgelehre des 19. J h . Problemstellungen vor, ohne Lösungen zu finden: 1. durch Konzentration auf die Persönlichkeit des Seelsorgers, 2. durch Einbeziehung der sich gerade etablierenden Wissenschaften von Psychologie und Soziologie ohne tiefergehende Verhältnisbestimmung, 3. durch Verwendung therapeutischer und homiletischer Metaphorik ohne weitere Verhältnisbestimmung, 4. durch Voraussetzung des Allgemeinen Priestertums (—• Priester/Priestertum II) ohne deutliche Konsequenzen für die Theorie. 3. Seelsorgelehre
im 20. Jahrhundert:
Konkurrenz
als
Herausforderung
Seit Beginn des 20. J h . muß die Seelsorgelehre sich neuen Herausforderungen aufgrund der veränderten Situation seelsorgerlicher Praxis stellen. Das helfende Gespräch im Horizont der Kirche bekommt dreifache Konkurrenz: zunächst durch die Entdeckung des Gesprächs als ärztlichen Therapeutikums in der -»Psychoanalyse ab 1900, sodann durch die beratende staatliche —>Sozialarbeit ab den 20er Jahren und zuletzt durch die seit den 50er Jahren zunehmende Veröffentlichung helfender Gespräche in den Massenmedien. Die Konkurrenzsituation zwingt die Seelsorge dazu, sich durch Professionalität zu legitimieren. Die Legitimationsfiguren des 19. J h . treten nun antagonistisch auseinander und werden dominant für die Selbstdarstellung von Seelsorgelehre; die lehrbuchmäßige Wissensvermittlung tritt demgegenüber in den Klassikern der Seelsorgetheorie des 20. J h . in den Hintergrund. Zwei bereits durch das 19. J h . vorbereitete Logiken bestimmen als Kontrastentwürfe das Bild: die „therapeutische" (s.u. 5.) und die „verkündigende Seelsorge" (s.u. 4.), die sich auch in empirischen Umfragen zum Selbstverständnis von Seelsorgern reproduzieren lassen (Besier 197). Sie stehen in keiner eindeutigen chronologischen Abfolge, doch dominierte von ca. 1920 bis 1965 die verkündigende, ab 1^65 die therapeutische Seelsorge, nicht ohne daß es auch jeweils gleichzeitig prominente Gegenstimmen gab. Daneben laufen aber auch andere Traditionen weiter und nehmen die Veränderungen des neuen Jahrhunderts teilweise auf: (a) Neben der pastoraltheologischen Vergewisserung ohne eigentlich wissenschaftliche Reflexion (z. B. Lutz; Schick; Köhler; W. Hoch; Riecker) profiliert sich eine Seelsorgdehre in der Fortführung pietistischer Traditionen (vgl. Plieth 1 6 5 - 1 9 9 ) gegenüber dem Erfolg der therapeutischen Seelsorge zunächst an der Ablehnung von Psychologie (Hofmann), reduziert sie auf das Unwesentliche (Ruthe, Seelsorge) oder setzt biblische Verhaltensanweisungen als Alternative dagegen (Adams). Doch ab den 80er Jahren werden Reputation und Verfahren der Psy-
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Seelsorgelehre
chologie „integriert" (verschiedene Richtungen kommen zu Wort bei Pfeifer [Hg.], Seelsorge): durch Eintragung psychologischer Fachtermini in die „biblische Seelsorge" (Wanner), durch betonte Option für „kognitive Verhaltenstherapie auf christlicher Basis" (Pfeifer, Schwachen 89), in der „Biblisch-Therapeutischen Seelsorge" durch bewußt eklektische Aufnahme therapeutischer Kenntnisse und Verfahren unter der Oberhoheit der Größen „Leitung durch den Heiligen Geist" und „biblische N o r m " (Dieterich, Psychotherapie; ders., Handbuch; vgl. dazu Winkler, Seelsorge 2 4 5 - 2 4 7 ; Plieth 1 8 3 - 1 8 6 ) . Neuerdings reklamiert R . Ruthe für seine Seelsorge-Praxis sogar den Begriff der „therapeutischen Seelsorge" (ebd. 7ff.). (b) In der älteren katholischen Seelsorgelehre (vgl. die kritische Darstellung bei dem Katholiken Offele) dominiert der Aspekt von Seelsorge als Oberbegriff für jegliche kirchliche Heilsvermittlung (Offele 1 7 - 8 0 ) , sei es im Rahmen der Kirchengemeinde (Bopp; Noppel; Pfliegler) oder direkt als „missionarische Seelsorge" in den säkularen Milieus der Gesellschaft (Schurr), aber es gibt auch Ansätze zu etwas stärkerer Betonung der Würde und Freiheit des einzelnen Christen (-»Arnold; Goldbrunner). (c) Der Einfluß des Nationalsozialismus auf die Seelsorgetheorie (und -praxis) ist ein noch weitgehend unerforschtes Thema (erste wichtige Beobachtungen dazu bei Jochheim, Seelsorge[lehre]). 4. Das
homiletische
Paradigma:
Seelsorge
als
Verkündigung
Die Vorstellung v o n „ S e e l s o r g e " h a t sich historisch, wie sich an den Klassikern der Seelsorgelehre ablesen läßt, ausdifferenziert aus der „ E r m a h n u n g " als christlicher Einw i r k u n g auf einzelne und a u f die G e s a m t h e i t , und diese Einwirkung w a r von der - • P r e digt nicht abgegrenzt. Die R e f o r m a t i o n h a t als die fundamentale Dimension christlichen W i r k e n s das W o r t g e s c h e h e n herausgearbeitet und d a m i t die Predigt z u m Musterfall p r o t e s t a n t i s c h e r religiöser K o m m u n i k a t i o n erklärt. Die evangelische Seelsorgelehre des 19. J h . zeichnete d e m e n t s p r e c h e n d die Seelsorge auch in die H o m i l e t i k ein, traditionsorientierte Seelsorgelehren besonders. A b e r erst die - » D i a l e k t i s c h e T h e o l o g i e des 2 0 . J h . v e r w e n d e t e die homiletische T e r m i n o l o g i e der Seelsorgelehre als A u s d r u c k theologisch ausgewiesener p o i m e n i s c h e r Professionalität. In den Vordergrund treten hier f u n d a m e n taltheologische Überlegungen, aus denen sich ergibt, d a ß sich die Seelsorge gegenüber einer uneindeutig g e w o r d e n e n P r a x i s und T h e o r i e d u r c h spezifisch t h e o l o g i s c h e Denkfiguren zu legitimieren h a t . 4.1. E . - » T h u r n e y s e n entwickelt seine Seelsorgetheorie bereits in d e m Aufsatz fertigung
und Seelsorge
und vertieft sie in der Lehre
von der Seelsorge.
Recht-
Charakteristisch ist:
1) Seelsorgelehre setzt den theologischen Grundsatz um, daß „der Zusammenhang zwischen Rechtfertigungslehre und Predigt ein fragloser ist" (Rechtfertigung 73). Unter Abgrenzung von einem „Wichtignehmen und Großmachen des Menschlichen" (ebd. 75), pietistischer Heiligung und platonisch-unbiblischer Abspaltung des Seelischen (ebd. 7 7 - 8 5 ) wird Seelsorge als „Spezialfall der Predigt" (ebd. 86) bestimmt, als „Ausrichtung des Wortes Gottes an den Einzelnen" (Lehre 9), die „gebunden ... an das Bibelwort" ist und „zur Erkenntnis der Sünde" „im Lichte der ergangenen G n a d e " (Rechtfertigung 88) führt; damit vollzieht sie - in reformierter Tradition gedacht - zugleich auch die „Ausrichtung des Gesetzes ... in höchster Konkretheit" (ebd. 90). So zielt sie auf Heiligung aus der Rechtfertigung, auf „evangelische Buße" (Lehre 2 4 2 - 2 5 2 ) und auf Integration in die kirchliche Gemeinde (Rechtfertigung 91). 2) Seelsorge ist wesentlich - » G e s p r ä c h (Rechtfertigung 86; Lehre 88 ff. mit Rückgriff auf die Romantik; ausführlich zu dieser Tradition Nicol 44ff.), das theologisch als ,,Gespräch[steil], das Gott führt" (Thurneysen, Lehre 93), und „Gespräch [, das] vor Gott geschieht" (Rechtfertigung 88), zu präzisieren ist. Das Einbringen dieser theologischen Dimension bedeutet einen „Bruch im seelsorgerlichen Gespräch" (Lehre § 7), doch ist dieser gedacht als Bruchlinie, die quer zum gesamten Gespräch verläuft (ebd. 118), ist also als hermeneutische Einsicht zu interpretieren (Kurz; Grözinger, Differenz-Erfahrung; Grab; vgl. auch Thurneysens eigene Warnung vor einem durch ein „doktrinäreis] Vorhaben" konterkarierten „Scheingespräch" [Lehre 120]). Das „Sehen des Menschen als einen, auf den Gott seine Hand gelegt hat, das ist der primäre Akt aller wirklichen Seelsorge" (Rechtfertigung 85). Deshalb gilt: „Seelsorge ist Beten" (ebd. 94), sie kommt erst im liturgischen Sprechen mit Gott, in Gebet (ebd.; ders., Lehre 166) und Beichte (Lehre 259), zum Ziel. Beiden Phänomenen „widmet Thurneysen ... viel differenzierende und geradezu liebevolle Aufmerksamkeit" (Winkler, Seelsorge 39). 3) Seelsorgelehre bestimmt eindeutige Grenzen zur Psychoanalyse. Zunächst tritt sie selbst als eine bessere (Thurneysen, Rechtfertigung 87), eine „neue Psychologie" (ebd. 93; von Bohren, Prophetie 2 2 2 - 226, als der bessere Ansatz gegenüber Thurneysens späterer angepaßter Poimenik ge-
61
Seelsorgelehre
lobt) an die Stelle der Psychoanalyse, später wird letztere der Seelsorge als „Hilfswissenschaft" (Thurneysen, Lehre 174; der Begriff zuerst entfaltet bei Pfennigsdorf 217) zum ,,christliche[n] Gebrauch" (Thurneysen, Lehre 182) ohne Übernahme ,,wesensfremde[r], weltanschauliche^] Voraussetzungen" (ebd. 174) untergeordnet. In Seelsorge im Vollzug ( 9 7 - 2 2 0 ) wendet Thurneysen de facto auch psychologische Einsichten praktisch an. 4) Seelsorgelehre sucht den Anschluß an (reformatorische) vorneuzeitliche Tradition (Lehre 2 6 - 4 4 : „Seelsorge als Kirchenzucht"; 2 8 0 - 2 9 7 : „Seelsorge als Exorzismus"), freilich ohne die vorneuzeitlich geschlossen christlich regierte Gesellschaft oder die dämonologische Mythologie wirklich repristinieren zu können oder zu wollen. 4.2.
An T h u r n e y s e n s S e e l s o r g e l e h r e a r b e i t e n sich s ä m t l i c h e s p ä t e r e n E n t w ü r f e des
2 0 . J h . a b (zuletzt W i n k l e r , S e e l s o r g e ; J o c h h e i m , Seelsorge). I m P a r a d i g m a der t h e r a p e u t i s c h e n S e e l s o r g e geschieht das a b E n d e der 6 0 e r J a h r e ä u ß e r s t k r i t i s c h ( S c h a r f e n b e r g , S e e l s o r g e 14ff.: „ M i ß b r a u c h des G e s p r ä c h s " ; S t o l l b e r g , W a h r n e h m e n 5 1 - 5 5 , als Lut h e r a n e r gegen den R e f o r m i e r t e n ; R i e s s 1 5 4 — 1 8 6 ) , in den späten 8 0 e r J a h r e n d a n n a b e r b e d e u t e n d differenzierter (vgl. das Pastoraltheologie-Themaheh
zum 100. Geburtstag
T h u r n e y s e n s im J a h r 1 9 8 8 , 4 2 5 f f . ) . W. G r ä b schließlich liest T h u r n e y s e n in n e u p r o t e s t a n t i s c h e r P e r s p e k t i v e , die religiöse Begriffe f u n k t i o n a l i n t e r p r e t i e r t . D e m n a c h b e t r e i b t Thurneysen
„theologische
Interpretation
und
Reformulierung
psychoanalytischer
G r u n d e i n s i c h t e n " ( G r ä b 3 3 2 ) „ i m k a t e g o r i a l e n R a h m e n der R e c h t f e r t i g u n g s l e h r e " und vertritt i n s o w e i t selbst eine „ t h e r a p e u t i s c h e S e e l s o r g e " (ebd. 3 3 9 ) . V i e l e S e e l s o r g e e n t w ü r f e der Z e i t T h u r n e y s e n s teilen seine P r ä m i s s e n - mit je eigenen Akzentuierungen. H. -»Asmussen - Verfasser der ersten Seelsorgelehre im Umkreis der Wort-Gottes-Theologie - versucht, wegen der „hoffnungslosen Trennung der Gottes- und Dingfragen" (Asmussen 59) in der Seelsorgepraxis, zwischen „Seelenführung" als der „bewußt und unbewußt geschehende[n] Erziehung der Gemeinde" (ebd. 43) und der eigentlichen Seelsorge zu unterscheiden nach dem lutherischen Modell von —»Gesetz und Evangelium. — D. —»Bonhoefiers Finkenwalder Seelsorgevorlesung von 1935/36 (DBW 1 4 , 5 5 4 - 5 9 1 ) macht die Differenz von diakonischer (oder beratender) und kerygmatischer Seelsorge auf, ordnet erstere (ähnlich wie Asmussen, trotz bewußter Abgrenzung von ihm) als „Vorstufe" der letzteren zu, betont mit Thurneysen die Einheit der Seelsorge im theologischen Rahmen der Verkündigung und in der Praxis von Beichte und Gebet (BobertStützel, Bonhoeffer 2 5 0 - 3 5 1 ; zu Bonhoeffers Briefseelsorge: Ruegger; katholische Rezeption für die Krankenhausseelsorge: Zimmermann-Wolf). — L. Fendts Praktische Theologie behandelt die Seelsorge als „kirchliche Seelsorge", die eine „Reichsgottestätigkeit" im Nachgang zur Seelsorge Gottes und Christi darstellt (Fendt 2 6). - W. Trillhaas' Seelsorgelehre, als „Pastoraltheologie" (so der Untertitel) verstanden, bestimmt auf der Basis einer Amtstheologie Seelsorge als „Erbauung des Leibes Christi" (Trillhaas 86), als „Besorgung des Leibes Christi in seinen Gliedern" (ebd. 87), und kämpft so gegen „Spiritualisierung", „Individualisierung" und „Mechanisierung" der Seelsorge (ebd. 87f.). Es „ist die Dorfgemeinde der Prototyp der christlichen Gemeinde" (ebd. 89). - Auch der Arzt Th. Bovet folgt Thurneysens Bestimmung der Psychologie als Hilfswissenschaft. - W. Uhsadel versteht Seelsorge als „Lebenshilfe für den einzelnen" (Uhsadel 4 7 - 9 8 ) und referiert auch ausführlich vor allem über die der Theologie näherstehenden Psychoanalytiker C.G. ->Jung und Fritz Künkel ( 1 8 8 9 - 1 9 5 6 ) (ebd. 6 5 - 9 8 ) . Der andere Auftrag der Seelsorge ist „der Aufbau der Gemeinde" (ebd. 9 8 - 1 6 0 ; vgl. auch Jochheim, Seelsorge). - Von einer „Homiletisierung" der Seelsorge grenzt sich A.D. Müller (281) in seiner Praktischen Theologie schon 1950 ausdrücklich ab, ohne an der Ausrichtung auf die Kirche Grundlegendes zu ändern. - Der Arzt und Theologe R . Affemann will das „allgemeine Gespräch" in die Seelsorge integrieren, allerdings nur, solange die Intention der Hilfe von Gottes Wort her beibehalten wird (Affemann 4 5 - 5 0 ) . N a c h d e m E r f o l g des t h e r a p e u t i s c h e n P a r a d i g m a s a b E n d e d e r 6 0 e r J a h r e (s.u. 5.) u n t e r n e h m e n es einzelne E n t w ü r f e , u n t e r f u n d a m e n t a l t h e o l o g i s c h e r K r i t i k an d i e s e m P a r a d i g m a die R e l e v a n z einer - leicht modifizierten - F o r t f ü h r u n g der S e e l s o r g e l e h r e T h u r n e y s e n s zu e r w e i s e n . Für H. Tacke ist „die Krise der Seelsorge weniger eine Methodenkrise als vielmehr eine Glaubenskrise" (Tacke, Glaubenshilfe 34). Herkunft, Orientierung, Ziel und Spezifikum der Seelsorge ist der Glaube (ebd. 35). Deshalb ist sie Glaubenshilfe und nur als solche zugleich Lebenshilfe. Seelsorge vollzieht sich als Gespräch, aber es geht um das „Evangelium im Gespräch" (ebd. 89ff.).
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Seelsorgelehre
„ D a s Evangelium will , T h e m a ' des G e s p r ä c h s s e i n " (ebd. 102). Bei den gesprächsgerechten T h e matisierungsweisen des Evangeliums sind die biblischen Gesprächsformen des napaKa)xiv (Trösten und E r m a h n e n ) und des Erzählens besonders geeignet. So gegründete Glaubenshilfe wird dann auch zur „ L e b e n s h i l f e " für die Fülle menschlicher L e b e n s p r o b l e m e (ebd. 245). - R . Bohren sieht in Scharfenbergs Pastoralpsychologie „ein G r u n d m u s t e r für das Elend unserer K i r c h e " (Bohren, Psychologie 58) und betont dagegen die pneumatologische (Bohren, Geist 1 4 3 - 1 4 9 ) und ekklesiologische Dimension der Seelsorge: „ G e m e i n d e ist S e e l s o r g e " durch Fürbitte und Abendmahl (ebd. 1 2 9 - 1 4 2 ) , und „Seelsorge als K i r c h e n l e i t u n g " mündet in L o b und D a n k an G o t t (ebd. 1 5 0 - 1 5 7 ) . Auch einige andere neuere Seelsorgelehren bleiben auf der Linie der Dialektischen T h e o l o g i e : W. Schütz referiert, bei Bevorzugung eines kirchengeschichtlich weit gefaßten Begriffs von Seelsorge als ,,jegliche[r] Form der G l a u b e n s - und Lebenshilfe der Kirche für den e i n z e l n e n " (Schütz 2 4 7 ) , einerseits ausführlich psychologische Erkenntnisse, setzt aber - o h n e eine theoretisch-begriffliche Klärung - sogleich bei der „ G e s c h i c h t e der Seelsorge seit der Zeit der R e f o r m a t i o n " (ebd. 9ff.) ein, um aus ihr „Folgerungen für das Verständnis der S e e l s o r g e " (ebd. 61 ff.) zu gewinnen, und schließt die allgemeine Seelsorgedarstellung mit einem Plädoyer für das „Erneuern und Praktizieren einer freiwilligen Beichte in allen ihren F o r m e n und S p i e l a r t e n " (ebd. 189) ab. W. J e n t s c h geht von „Biblischen O r i e n t i e r u n g e n " aus und gewinnt so die Schlüsselbegriffe „ B e r a t e n " , „ B e z e u g e n " und „ B e f r e i e n " , zu denen danach I n f o r m a t i o n e n über zehn therapeutische Schulen treten. - H . E b e r h a r d t m ö c h t e eine ganzheitliche „biblische P s y c h o l o g i e " mit einer neuen Anschauung von Seele erheben.
4.3. Fazit: Das homiletische Paradigma verkündigender Seelsorge läßt sich in folgenden Sätzen zusammenfassen: 1. Seelsorge ist Hilfe zum Glauben. 2. Theologie und Psychotherapie sind nur dann kompatibel, wenn die Theologie die Führung übernimmt. 3. An der theologischen Bestimmung des Propriums von Seelsorge zeigt sich die Professionalität der Seelsorge. 4. Charakteristikum christlicher Seelsorgetheorie ist die Herausarbeitung der spezifischen christlichen Sprache der Seelsorge. 5. Das therapeutische
Paradigma:
Seelsorge
als
Behandlung
5.1. Der Seitenblick auf die ärztliche Profession und die Analogie von Seelsorge und (ärztlicher) Leibsorge begleitet die Seelsorge von ihren Anfängen an (—»Seelsorge I). Die entscheidenden Grundlagen für die Plausibilität des therapeutischen Paradigmas in der Gegenwart werden freilich erst im Laufe des 19. Jh. (vgl. ausführlich Schmidt-Rost, Seelsorge; ders., Arzt) mit der Individualisierung der Seelsorgebeziehung und der Durchsetzung des naturwissenschaftlichen Denkens gelegt. Weil im Laufe jenes Jahrhunderts Kirche als Gesamtheit zunehmend weniger erfahrbar wird, bekommt die cura specialis am einzelnen mit seinen individuellen Bedürfnissen das Übergewicht gegenüber der cura generalis. Entsprechend tritt auch im Gegenüber, dem Seelsorger, das speziell zugeschriebene Amt hinter die individuell im Seelsorgeverfahren sich zeigende Persönlichkeit zurück. Individualisierte Notlage und persönlich-professionelles Handeln beziehen sich aufeinander. Im Verfahren der Seelsorge macht die Unterscheidung in die Vorgänge Diagnose und Therapie Schule, mithin eine therapeutische Strukturierung des Seelsorgeablaufs. (Bereits Schleiermacher wird von Rössler, Rekonstruktion 393ff., und Gräb 3 2 6 - 3 2 9 als Vater der therapeutischen Seelsorge angesehen.) Der medizinische Beruf, der sich in der ersten Hälfte des 19. Jh. immer deutlicher von der moralischen Seelsorge der Pfarrer abgrenzt (Belege bei Plieth 20f.), erringt in diesem Jahrhundert der medizinischen Entdeckungen die höchste soziale Anerkennung. In der Nitzschschen —• Vermittlungstheologie ist die Wissenschaftlichkeit praktisch-theologischer Theorie zunächst im Gleichgewicht von Empirie und Urbild/Ideal verankert. Das Gegenüber von traditionsorientierter und fortschrittsorientierter Poimenik macht daraus die alternative Orientierung entweder an der wissenschaftsskeptisch beanspruchten, dogmatisch gefaßten Tradition oder an der Gegenwarts- und Situationsanalyse als Standards empirischer Wissenschaft. Immer deutlicher tritt hervor, daß auch psychische Phänomene (die Geisteskrankheiten) nach dem ärztlichen Modell zu deuten sind. Seelsorge sollte also dem einzelnen in seinen Bedürfnissen helfen, auf wissenschaftliche Weise, d.h. auf empirischer Basis durch Diagnose und Therapie analog zum ärztlichen Handeln. Darum ist das Interesse an den Entwicklungen in der Psychologie und Psychiatrie groß. Das therapeutische Paradigma bietet
Seelsorgelehre
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e i n e O r i e n t i e r u n g d e r S e e l s o r g e an p s y c h o l o g i s c h e n - in d e r R e g e l p s y c h o t h e r a p e u t i s c h e n - W i s s e n s c h a f t s - u n d P r o f e s s i o n a l i t ä t s s t a n d a r d s . D a r a u s e r g i b t sich s o g l e i c h die F r a g e n a c h d e r B e d e u t u n g d e r T h e o l o g i e u n t e r d i e s e r P r ä m i s s e . T h e r a p e u t i s c h e S e e l s o r g e ist ein A u s b i l d u n g s p r o g r a m m ( k e n n z e i c h n e n d e r w e i s e v o r g e t r a g e n v o n T h e o l o g e n , die zugleich eine volle therapeutische Ausbildung s a m t T h e r a p i e p r a x i s vorweisen
können).
M i t dem Entstehen der Psychoanalyse Freuds findet sogleich auch deren erste Rezeption für die Seelsorge statt durch dessen Schüler und Gesprächspartner, den Zürcher Pfarrer O . Pfister (Freud/Pfister). Dieser empfiehlt seit 1909 (Pfister, Fall), an Fallanalysen zu arbeiten, die Gesprächsteclmik zu reflektieren und die Deutekategorien Freuds zu verwenden (kritisch dazu Foerster; für eine begrenzte „seelsorgerliche Verwertung" optiert Buntzel; vgl. auch Schairer). Pfisters Analytische Seelsorge (25—116) stellt die Methode an praktischen Beispielen dar, geordnet in „sittliche" und „religiöse S c h ä d e n " . Genetisch wird die Seelsorge der Psychoanalyse i/orgeordnet („Damit vertritt Jesus das Grundprinzip der Psychoanalyse" [ebd. 20; vgl. Pfister, Fall 109; detaillierter: ders., Seelsorge (1934)]), methodisch die Psychoanalyse der Seelsorge als Technik foe/geordnet (Pfister, Seelsorge [1927] 24: „Hilfsmittel"), im Ablauf des Seelsorgeprozesses die traditionelle „synthetische Seelsorge" als das Säen der „analytischen Seelsorge" als dem „Pflügen" zeitlich nachgeordnet (ebd. 141; 139: „ D i e Aufgabe der analytischen Seelsorge ist dann erfüllt, wenn der Analysand befähigt ist, die Heilswahrheiten frei vom Hindernis der Triebverklemmungen aufzunehmen"). Professionell wird die Seelsorgeausübung der Psychoanalyse untergeordnet: Der Seelsorger ist „nie ... Nebenbuhler, sondern stets ... Gehilf[e] des Mediziners, zu dem er bei gemeinsamer Behandlung eines Kranken eine ähnliche Stellung einnimmt wie der Badewärter oder M a s s e u r " , und es „bleiben noch immer überaus viele Fälle übrig", bei denen „das Pathologische im medizinischen Sinne von geringem Belang ist" (Pfister, Fall 187f.). Pfister wurde bald fast vollständig vergessen und erst ab 1973 wiederentdeckt (Nase VII f.; 1975 wird die bei ihrer ersten Auflage 1944 weitgehend ignorierte Monographie Das Christentum und die Angst wiederaufgelegt). Das homiletische Paradigma (s.o. 4.) verdrängte zunächst diesen Ansatz. Die Rezeption der Psychologie ging freilich weiter, vor allem im Umkreis der Arbeitsgemeinschaft Arzt und Seelsorger (Vorbrodt; M a r c h ; Neumann). Während bei dem Pfarrer und Arzt H. Fichtner die dargestellte individual- und die sozialpsychologische Theorie (Freud spielt keine Rolle) nur eine „Psychotechnik der Seelenführung" (Fichtner 63ff.) liefert und das „Gespräch in einen mehr weltlichen und einen mehr seelsorglichen Teil zerfallen" läßt (ebd. 64), vollzieht O . Haendler eine Integration: theologische Grundlagen (Biblische Anthropologie) mit ihren vollzogenen Prinzipien Priesterlichkeit, Liebe, Wahrhaftigkeit (Haendler, Grundriß 317—323) und psychologische Grundlagen (psychologische und tiefenpsychologische Kenntnisse) mit ihren personal vollzogenen Prinzipien Sachlichkeit, Geduld, Sorgsamkeit, Gewissenhaftigkeit (ebd. 3 2 3 - 3 3 4 ) drehen sich beide um die „ T i e f e n p e r s o n " (ebd. 334), so daß man auch auf die „psychologische Bedeutung theologischer G e h a l t e " (ebd. 330) aufmerksam wird wie auf die „unmittelbare Einordnung" der „psychologischen Grundlagen und Prinzipien ... in die Struktur der Zeit und die Struktur der gegenwärtigen K i r c h e " (ebd. 334). 5 . 2 . J . S c h a r f e n b e r g s Seelsorge
als Gespräch
— der T i t e l zitiert eine K a p i t e l ü b e r s c h r i f t
a u s T h u r n e y s e n s S e e l s o r g e l e h r e - ist d i e a m h ä u f i g s t e n w i e d e r a u f g e l e g t e S e e l s o r g e d a r stellung des t h e r a p e u t i s c h e n
Paradigmas.
Die kurze Grundlegung (ebd. 1 2 - 4 3 ) setzt sprachphilosophisch ein, ordnet die Verkündigung der objektivierenden, instrumentellen, technischen Sprache zu, die autoritär ist, und stellt ihr die partnerschaftliche, verstehende, symbolische Sprache gegenüber, die freiheitlich ist. Seelsorge und Psychotherapie benutzen eine gemeinsame, letzterem Sprachtyp zugehörende Sprache des Gesprächs. Da „wir in das dialogische Zeitalter eingetreten sind" (ebd. 13), entscheidet sich an der therapeutischen Sprache nicht nur die Wirksamkeit von Seelsorge, sondern die Zukunft der Kirche überhaupt (ebd. 43). Scharfenberg vertritt einen Methodenpluralismus in bezug auf verschiedene gesprächstherapeutische Schulen, wobei die Psychoanalyse als am geeignetsten, die Verhaltenstherapie als am gefährlichsten gewertet werden. An beiläufigen Formulierungen (ebd. 10.111) läßt sich ablesen, daß „Freiheit" zugleich psychologischer wie theologischer Fundamentalbegriff ist. Therapeutische Seelsorge ist der Weg in Freiheit zur Freiheit. S c h a r f e n b e r g hat seinen Ansatz über die Ausarbeitung der S y m b o l t h e o r i e (Scharfenb e r g / K ä m p f e r ) zur „ P a s t o r a l p s y c h o l o g i e " (Scharfenberg, Einführung) fortgebildet, die „ d i e b e i d e n B e s t a n d t e i l e d e s W o r t e s ... s t ä r k e r m i t e i n a n d e r zu v e r b i n d e n , als sie v o n e i n a n d e r zu t r e n n e n " ( e b d . 18) t r a c h t e t . I m H o r i z o n t e i n e r T h e o r i e d e r K o n f l i k t b e a r b e i t u n g d u r c h S y m b o l e w i r d P a s t o r a l p s y c h o l o g i e k o n z i p i e r t als w e s e n t l i c h „ h e r m e n e u -
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tische P s y c h o l o g i e " (ebd. 4 9 ) , die mit einem hermeneutischen Verstehenszirkel arbeitet, welchen Freud zuerst entdeckte. „ P a s t o r a l p s y c h o l o g i s c h e S i t u a t i o n e n " werden an Fallbeispielen vorgeführt (ebd. 1 0 6 - 1 5 6 ) . D a s Erlernen von Pastoralpsychologie vollzieht sich durch Selbsterfahrung und M e t a k o m m u n i k a t i o n darüber; „ p a s t o r a l p s y c h o l o g i s c h e K o m p e t e n z als E n t w i c k l u n g von K u n s t r e g e l n " wird an den psychologisch gefaßten Prob l e m k o n s t e l l a t i o n e n „ V e r s c h m e l z u n g und T r e n n u n g " , „ B e z i e h u n g " , „ O r d n u n g und Z w a n g " , „ A u f b r u c h und I d e n t i t ä t " und „ I n t e g r a t i o n und H o f f n u n g " herausgearbeitet. B e w u ß t präsentiert S c h a r f e n b e r g theologische und psychologische, therapeutische und kirchliche Z u s a m m e n h ä n g e in einer „innigen Verflochtenheit" (ebd. 5 4 ) . Es geht jetzt anders als 1972 u m die E r k e n n b a r k e i t des Pasiora/psychologen (ebd. 1 1 4 - 1 1 7 ) . S c h a r fenberg b e m ü h t sich a u ß e r d e m , die „ P a s t o r a l p s y c h o l o g i e in einem gesellschaftlichen K o n t e x t " (ebd. 1 4 8 - 1 5 6 ) in den Blick zu n e h m e n , und plädiert für „eine ständige H o rizonterweiterung und vielleicht auch H o r i z o n t v e r s c h m e l z u n g mit B e t r a c h t u n g s w e i s e n " anderer W i s s e n s c h a f t e n (ebd. 156), n i m m t das dann selbst aber nur für das Z u s a m m e n k o m m e n von A n t h r o p o l o g i e , Biblischer T h e o l o g i e und R e l i g i o n s p s y c h o l o g i e in der seelsorgerlichen K o m p e t e n z in Angriff (ebd. 2 2 1 - 2 3 2 ) . J . C h . - > B l u m h a r d t und S. Freud sind die beiden Figuren, deren D e u t u n g Scharfenbergs wissenschaftliches O e u v r e von A n f a n g bis E n d e durchzieht ( S c h a r f e n b e r g , B l u m h a r d t ; ders., Freud; ders., Seelsorge 3 6 - 4 3 ; ders., E i n f ü h r u n g 2 9 f f . l 0 9 ) : „ E r s t die T i e f e n p s y c h o l o g i e stellt eine Begrifflichkeit bereit, die uns das P h ä n o m e n Blumhardt verstehen l ä ß t " (Scharfenberg, Seelsorge 3 6 ) . D . Stollberg p r ä g t e 1 9 6 9 mit seinem gleichnamigen Werk über die a m e r i k a n i s c h e Seelsorgebewegung den Begriff „ T h e r a p e u t i s c h e S e e l s o r g e " (der andere, auch häufig in der Literatur verwendete, ist: beratende Seelsorge). In Wahrnehmen und Annehmen. Seelsorge in Theorie und Praxis wird Thurneysens Fragestellung nach dem Zusammenhang von Rechtfertigung und Seelsorge und dem seelsorgerlichen Proprium aufgenommen, aber anders beantwortet: mit der - als lutherisch gedeuteten - These von der Inkarnation der unbedingten Annahme (durch Gott) im therapeutischen Prozeß. Seelsorge wird definiert in der Formel — „ebenso oft zitiert wie mißverstanden" (Winkler, Seelsorge 51) —: „Psychotherapieverfahren im kirchlichen Kontext". Das „generelle Proprium" Psychotherapie meint „zwischenmenschliche Hilfe mit seelischen Mitteln" (Stollberg, Wahrnehmen 23), die methodisch und wissenschaftlich reflektiert ist. Seelsorge geschieht „aus Glauben und auf Glauben hin"; der inhaltliche Glaube verwirklicht sich verbal und nonverbal (durch seelsorgerliche Haltung und Verhalten; Stollberg, Wahrnehmen 32; ebd. 82: Seelsorge hat - so kann Stollberg sogar formulieren - insofern „im spezifischen Proprium" die „Grundfunktion des Verkündigens"). Beide Proprien stehen in Differenz zueinander wie Schöpfung und Erlösung, Gesetz und Evangelium, Moral und Überwindung der Moral (ebd. 34ff.) und bilden eine Einheit wie bei Trinität und Sakrament, wie in der Inkarnation und der Zwei-Naturenlehre der Christologie (ebd. 39ff.). Gott als der Rechtfertigende ist der ,„archimedische Punkt' in der Seelsorge" (ebd. 44), denn: „Seelsorge geschieht im Unterschied zur Psychotherapie jenseits des Leistungsprinzips" (ebd. 51). Nach der theologischen Grundlegung werden die (therapeutischen) Seelsorgeverfahren vorgestellt, funktionale (der indirekt „seelsorgerliche Effekt" kirchlichen Handelns) und intentionale, bewußt herbeigeführte Seelsorge unterschieden (ebd. 78) und verschiedene Arbeitsfelder skizziert. T h e r a p e u t i s c h e K o m p e t e n z g e h ö r t heute unbedingt zur Seelsorge dazu: „ E i n Seelsorger m u ß T h e o l o g e , A n t h r o p o l o g e und M e t h o d i k e r sein, T h e o r i e h a b e n und Praxis beherrschen. M i t ein b i ß c h e n ungeschultem , C h a r i s m a ' ist da nichts g e t a n , und w o einer der drei F a k t o r e n unterbelichtet ist, fehlt Entscheidendes für die seelsorgerliche K o m petenz, die eine Voraussetzung - n i c h t einen Ersatz - für v o l l m ä c h t i g e s ' seelsorgerliches H a n d e l n ( M t 10,1 u.ö.) darstellt. Seelsorge o h n e P a s t o r a l p s y c h o l o g i e ist wie Predigt o h n e Exegese oder wie kirchlicher Unterricht ohne R e l i g i o n s p ä d a g o g i k " (ebd. 7 2 f . ) . Eine ganze Reihe weiterer Autoren haben kennzeichnende Schriften der Seelsorgebewegung vorgelegt. Grundsätzlicher den kulturellen Rahmenbedingungen der Seelsorge (Säkularisierung, Psychotherapie, Identitätskrise, Kommunikation, Hermeneutik) geht R. Riess in seinem Werk Seelsorge (15 — 152) nach, bevor dann „kerygmatische" und „partnerzentrierte Seelsorge" als exemplarische Positionen der Gegenwart entfaltet werden. - H.-J. Thilos Beratende Seelsorge behandelt nach Ausführungen zum „Wesen des Gesprächs" (ebd. 1 5 - 3 9 ) vor allem die psychoanalytische
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„ M e t h o d i k der G e s p r ä c h s f ü h r u n g " (ebd. 4 0 - 1 0 6 ) , b e v o r die Kasualgespräche bei T a u f e , T r a u u n g und Bestattung mit ausführlicher G e s p r ä c h s a n a l y s e thematisiert w e r d e n . - H . - C h . Piper hat vor allem aus der Arbeit der Klinischen Seelsorgeausbildung k o m m e n t i e r t e Analysen von Gesprächsp r o t o k o l l e n vorgelegt (Piper, G e s p r ä c h s a n a l y s e n ; ders., Seelsorge; ders., H a u s b e s u c h ) , aber sich auch i m m e r d u r c h deutliches ausgeprägtes G e s c h i c h t s b e w u ß t s e i n ausgezeichnet (Piper, K o m m u nizieren; ders., Einladung). - H . Lemke h a t in einer R e i h e von Veröffentlichungen die von Carl R a n s o m Rogers ( 1 9 0 2 - 1 9 8 7 ) h e r k o m m e n d e p a r t n e r z e n t r i e r t e Seelsorgetheorie und -praxis vorgestellt. Ergänzt w e r d e n die deutschen Darstellungen d u r c h Übersetzungen wichtiger A u t o r e n der Seelsorgebewegung a n d e r e r Länder (Niederlande: F a b e r / v a n der Schoot; Andriessen; USA: Clinebell, M o d e l l e ; ders. Wachsen; Knowles; H i l t n e r ; O a t e s ) . D i e t h e r a p e u t i s c h e S e e l s o r g e b r i n g t ein U n g e n ü g e n a n der —• B e i c h t e z u m A u s d r u c k u n d b e a r b e i t e t es. V o n w i c h t i g e n A u t o r e n g i b t e s s c h o n V e r ö f f e n t l i c h u n g e n a u s e i n e r Z e i t , in der sie n o c h d e n Z i e l e n d e r v e r k ü n d i g e n d e n S e e l s o r g e a u c h h i n s i c h t l i c h d e r Beichte folgen (Scharfenberg, Übertragung; T h i l o , Mensch). Für Scharfenberg u n d Piper d ü r f t e d a s Scheitern des Rituals der Beichte geradezu ein Schlüsselerlebnis gewesen sein (Scharfenberg, E i n f ü h r u n g 15: „ D a beschloß ich Psychoanalytiker zu werd e n " , vgl. ders., Seelsorge 22.25; Piper, E i n l a d u n g 62), u n d sie wollen eine andere, „ b e s s e r e " Beichte bieten (Scharfenberg, E i n f ü h r u n g 113; Piper, H a u s b e s u c h 77ff.). M i t K. W i n k l e r s Seelsorge
l i e g t jetzt e i n e e r s t e S e e l s o r g e l e h r e d e r S e e l s o r g e b e w e g u n g
v o r , d i e s i c h a n d e r L e h r b u c h t r a d i t i o n d e s 19. Jh. m e s s e n k a n n , w e i l sie n e b e n u n d m i t der eigenen T h e o r i e zugleich u m f a s s e n d den materialen W i s s e n s b e s t a n d darbietet. Eine a u s f ü h r l i c h e D a r s t e l l u n g der G e s c h i c h t e ( W i n k l e r , S e e l s o r g e 7 7 - 1 7 1 ) s o l l n u n d a z u d i e n e n , d i e in der S e e l s o r g e s i t u a t i o n n a c h w i r k e n d e G e s c h i c h t e p r o f e s s i o n e l l i m B l i c k z u h a b e n ; sie v e r z ö g e r t a u c h in e i n e r k o n s t r u k t i v e n W e i s e d i e e i g e n e k o n z e p t i o n e l l e Stell u n g n a h m e per vorschneller Identifikation mit einer (zufällig) z u h a n d e n e n Position (ebd. 171). D e r A n s c h l u ß a n d i e E t h i k w i r d b e w u ß t g e s u c h t ( e b d . 6 . 2 7 4 - 2 8 8 ; vgl. a u c h d a s T h e m a h e f t „Ethik und Seelsorge": P T h 80 [1991] lff.). „Allgemein ist Seelsorge zu verstehen als Freisetzung eines christlichen Verhaltens zur Lebensb e w ä l t i g u n g . Im besonderen ist Seelsorge zu verstehen als die Bearbeitung von Konflikten u n t e r einer spezifischen V o r a u s s e t z u n g " (ebd. 3). Seelsorge ist ein „ G e s p r ä c h mit vorausgesetztem Z i e l " (ebd. 247ff.), das dezidiert strukturiert, d e u t e n d u n d g l a u b e n s b e z o g e n (hier geht es u m d a s im G e p r ä c h selbst erarbeitete „persönlichkeitsspezifische C r e d o " , ebd. 2 6 7 - 2 6 9 ) v e r f ä h r t u n d so lebengestaltendes u n d emanzipatorisches Geschehen wird (ebd. 2 6 9 - 2 7 4 ) . Von Sünde u n d Vergebung ist „ i m m e r (erst) d a n n zu r e d e n " , w e n n deren Beziehung zu Verhalten b z w . Verantwortlichkeit d u r c h g e a r b e i t e t w u r d e (ebd. 269f.). Seelsorge geht es zugleich u m die „persönlichkeitsspezifische G e w i s s e n s s t r u k t u r " (ebd. 288), u m G e w i s s e n s s c h ä r f u n g , w o b e i sie es heute - a n d e r s als in der R e f o r m a t i o n s z e i t mit deren F o k u s s i e r u n g auf d a s „ e r s c h r o c k e n e G e w i s s e n " a u f g r u n d von Schuldgefühlen bei N o r m ü b e r t r e t u n g - m e h r mit d e m im narzißtischen Zeitalter v o r h e r r s c h e n d e n „gek r ä n k t e n G e w i s s e n " zwischen G r ö ß e n w a h n u n d O h n m a c h t s g e f ü h l e n zu t u n h a t (ebd. 2 7 4 - 2 8 8 ) . D a s Buch präsentiert auch die materiale P o i m e n i k der Seelsorgebewegung endlich in einer ihrer Bedeutung und ihrem sachlichen G e w i c h t a n g e m e s s e n e n T h e o r i e f o r m . A u s g e h e n d von der Daseinsb e s t i m m t h e i t d u r c h Konflikte (ebd. 289) thematisiert es die wichtigsten „ E r l e b e n s k o m p o n e n t e n " , Ü b e r d i e s i c h Lebenskonflikte ä u ß e r n : Angst, G l a u b e , A n s p r u c h u n d Schuld (ebd. 2 8 9 - 3 5 7 ) . „ C h r i s t liche Seelsorge als K o n f l i k t b e a r b e i t u n g " zielt auf „ E r l e b e n s d i f f e r e n z i e r u n g " , u n d zu dieser g e h ö r t d a n n eben auch „die E r m ö g l i c h u n g eines persönlichkeitsspezifischen C r e d o s " (ebd. 356). Die Darstellung der „ H a n d l u n g s f e l d e r der Seelsorge" b e h a n d e l t z u n ä c h s t die „Seelsorge in einzelnen Leb e n s p h a s e n " (ebd. 3 6 3 - 4 5 0 ) mit ihren speziellen Konflikten u n d w ä h l t d a n n unter d e n vielen d e n k b a r e n „ L e b e n s l a g e n " repräsentativ K r a n k e n h a u s - , Telefon-, M i l i t ä r - u n d Gefängnisseelsorge aus. Den Abschluß bildet ein - erstaunlich k u r z e s - „ P l ä d o y e r f ü r die Seelsorge an Seelsorgern u n d Seelsorgerinnen" (ebd. 5 0 2 - 5 0 7 ) . W i n k l e r m ö c h t e , d a ß „ U n v e r b i n d l i c h k e i t im G l a u b e n s b e r e i c h vermieden wird u n d d e n n o c h Freiheit im H a n d l u n g s b e r e i c h erhalten b l e i b t " (ebd. 248). 5.3.
Fazit:
D a s P a r a d i g m a t h e r a p e u t i s c h e r S e e l s o r g e l ä ß t s i c h in f o l g e n d e n S ä t z e n
z u s a m m e n f a s s e n . 1. S e e l s o r g e ist H i l f e in p s y c h i s c h e n K o n f l i k t e n (die p s y c h o t h e r a p e u t i s c h e D e u t u n g s p e r s p e k t i v e ist n i c h t n u r für e i n e n T e i l , s o n d e r n f ü r a l l e S e e l s o r g e t h e m e n z u s t ä n d i g ) . 2. T h e o l o g i e u n d P s y c h o t h e r a p i e s i n d - z w a r n i c h t i d e n t i s c h , a b e r -
kom-
p a t i b e l ( W i n k l e r g e h t a l l e r d i n g s d a r ü b e r h i n a u s , w e n n er f ü r „ M u t z u r K o n k u r r e n z "
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[Plieth 2 0 1 ] p l ä d i e r t u n d d a s V e r h ä l t n i s z u r P s y c h o t h e r a p i e als e i n e s d e r „ K o n k u r r e n z zwischen den Vollzügen helfenden H a n d e l n s mit höchst verschiedenen M e n s c h e n b i l d e r n u n d Z i e l v o r s t e l l u n g e n " b e s t i m m t , zu d e r e c h t e r D i a l o g g e h ö r t , d e r g e g e n s e i t i g e K r i t i k einschließt; W i n k l e r , Seelsorge 5 4 . 5 6 f . ) . 3. Seelsorge wird professionell durch ihre ther a p e u t i s c h e M e t h o d i k . 4 . D i e t h e r a p e u t i s c h e P r a x i s ist V o r a u s s e t z u n g u n d Z w e c k v o n S e e l s o r g e t h e o r i e , a r g u m e n t a t i v e u n d e n z y k l o p ä d i s c h e K o n s i s t e n z ( S e e l s o r g e als w i s s e n s c h a f t l i c h e s S y s t e m ) ist s e k u n d ä r .
6. Der gegenwärtige
Stand: auf dem Weg zu einem Paradigma
interaktiver
Seelsorge
D i e S e e l s o r g e t h e o r i e - D e b a t t e d e r l e t z t e n J a h r z e h n t e ist g e p r ä g t v o m G e g e n ü b e r des homiletischen und des therapeutischen
Paradigmas. Die gegenseitige Kritik
dabei spiegelbildlich. V o m homiletischen P a r a d i g m a aus werden a m
verläuft
therapeutischen
P a r a d i g m a D e f i z i t e a n 1. T h e o l o g i e , 2 . L e h r e u n d ( t h e o l o g i s c h e r ) T h e o r i e , 3 . K i r c h l i c h keit und 4. H i n w i r k e n a u f explizite G l a u b e n s ä u ß e r u n g im Seelsorgegespräch
wahrge-
n o m m e n ; u m g e k e h r t findet das therapeutische P a r a d i g m a beim homiletischen Defizite in 1. P s y c h o l o g i e , 2 . E r f a h r u n g u n d ( p s y c h o l o g i s c h e r ) P r a x i s , 3 . Z e i t g e n o s s e n s c h a f t u n d 4 . S i c h - E i n l a s s e n a u f n i c h t - e x p l i z i t a u s g e p r o c h e n e n G l a u b e n im S e e l s o r g e g e s p r ä c h . Daneben gab es aber doch einzelne gewichtige Stimmen der evangelischen Seelsorgelehre, die sich nicht unter eines der beiden Paradigmen subsumieren ließen. W. Bernet hat 1965 texthermeneutische Überlegungen in die Seelsorgelehre eingebracht: „ D e r Text der seelsorgerlichen Auslegungsarbeit ist in direktem Sinne der Mensch, der andere, der mir konkret in seinen konkreten Weltbezügen begegnende M e n s c h " (Bernet, Seelsorge [1965] 210). Seine Weltliche Seelsorge untersucht die Theorie des einzelnen in psychologischer und theologischer Perspektive. - D. Rössler hat bereits 1962 einerseits den Trend zur beratenden Seelsorge dargestellt, andererseits schon damals kritisiert, daß der therapeutische Exklusivitätsanspruch „den Blick für ihre strukturelle Identität mit der allgemeinen Bewegung der Anthropologie verstellt" (Rössler, Mensch 96). In seinem Grundriß der Praktischen Theologie wird die Seelsorge unter dem Oberbegriff „ D i a k o n i e " als kirchliche Christentumspraxis in Perspektive auf den einzelnen behandelt (das Gütersloher Handbuch der Praktischen Theologie gibt eine Differenzierung zwischen Seelsorge und Diakonie auf, beide sind „helfendes Leben und Handeln in Gemeinde und P f a r r a m t " ( H P T h [ G ] 3 [1983] 453). Seelsorge ist „Hilfe zur Lebensgewißheit" (Rössler, Grundriß 2 210) in drei unterscheidbaren, aber nicht zu trennenden (ebd. 215) Hinsichten: der religiösen als Hilfe zur „Gewißheit über den Grund meiner Existenz" (ebd. 211), der pädagogischen als Hilfe zur „Gewißheit im Blick auf die Orientierung im L e b e n " (ebd. 212) und der diakonischen als Hilfe zur „Gewißheit in bezug auf die Gemeinschaft des L e b e n s " (ebd. 214). Rössler optiert für die produktiven „Leistungen der Persönlichkeit", die „durch sekundäre Professionalisierung nicht zu ersetzen" seien (ebd. 216). So wird denn auch die „Praxis der Seelsorge" und der Gesprächsführung in einem „ E x k u r s " zum Schluß absichtlich kurz auf fünf Seiten abgehandelt. — M . Josuttis definiert 1974: „Seelsorge ist die Praxis des Evangeliums in der Form beratender und heilender Lebenshilfe mit dem Ziel der Befreiung des Menschen aus der konkreten Not seiner jeweiligen Lebensverhältnisse" (Josuttis, Ziele 109). Seelsorge zielt auf das spannungsreiche Verhältnis von „ E m a n z i p a t i o n " des Individuums und „Integration" in jeweilige soziale Zusammenhänge einschließlich der Kirche (ebd. 1 0 9 - 1 1 6 ) . Schon 1993 ( S e e l s o r g e und Phänomenologie) sich andeutend, hat er 1998 den Weg Von der psychotherapeutischen zur energetischen Seelsorge beschritten und meint, die Theorie morphogenetischer Felder des Biochemikers Rupert Sheldrake (geb. 1942) auf die Pneumatologie des Geistes in zwischenmenschlichen Beziehungen übertragen zu können. „Seelsorge würde dann darin bestehen, das Kraftfeld des Heiligen Geistes durch gestaltete morphische Resonanz so zu realisieren, daß schädigende M ä c h t e beseitigt werden und heilende Ströme neu Strukturen schaffen" (Josuttis, Seelsorge [1998] 80). In der katholischen Seelsorgetheorie werden zum Teil auch andere Akzente als in der evangelischen gesetzt. H . J . Nouwens Schöpferische Seelsorge zielt auf den Satz „Seelsorge ist Kontemplation" (104). R. Z e r f a ß ' Menschliche Seelsorge propagiert eine aufnahmebereite, raumschaffende, partnerschaftliche und zeitlich befristete (Zerfaß 2 2 - 3 0 ) „Seelsorge, die sich als Gastfreundschaft begreift" (ebd. 24). T. van Knippenberg begreift Seelsorge als an der Dimension des Heiligen Geistes interessierte „geistliche Begleitung". Im Anschluß an Rahner wird von einigen Autoren für eine mystagogische Seelsorge plädiert. Sie kann als ganzheitliche „mystagogisch-heilende Seelsorge" ausgelegt werden (Fürst/Baumgartner 93ff.; Baumgartner, Pastoralpsychologie) oder als „Einzelseelsorge" (Knobloch, Mensch) im „Prozeß der Subjektwerdung" akzentuiert sein (ders., Prakt. Theol. 187ff.), in der „der einzelne Mensch G o t t erfahren kann, und zwar aus seinem eigenen
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Seelsorgelehre
L e b e n s k o n t e x t h e r a u s " (ebd. 197; K n o b l o c h konkretisiert dies an der „Subjektorientierten Seels o r g e " mit R a n d g r u p p e n , im Alter und mit Familien, 2 1 5 - 2 5 9 ) . J . Hochstaffl präsentiert „ D i e Aufgabe der S e e l s o r g e " als einen umfassenden „Plan pastoraler T ä t i g k e i t s f e l d e r " (Untertitel). H . Brantzens „Integrierende Seelsorge" (Untertitel) versucht eine semiotische Beschreibung von „ H e i m a t " , in die Verkündigung, Liturgie und D i a k o n i e eingezeichnet werden, wobei aber von der Seelsorge oder auch Pastoral erstaunlicherweise nicht mehr die R e d e ist. Die (anglo-)amerikanische Seelsorgetheorie der letzten 2 0 J a h r e bietet eine weit ausdifferenzierte Literatur zu verschiedenen Zielgruppen und T h e m a t i k e n therapeutischer Seelsorge („pastoral couns e l i n g " ; repräsentativ: Clinical Handbook of Pastoral Courtseling-, C a m p b e l l , Dictionary; es gibt auch Ansätze zu systemischem D e n k e n : E . M . Pattison; G r a h a m ) . Hinzu k o m m t eine Tendenz, ohne hinter die Errungenschaften der Seelsorgebewegung zurückzufallen, unter der weiter gefaßten R u b r i k „pastoral c a r e " die Beziehung von Seelsorge zur praktischen Ethik (Browning; H o f f m a n ; C o u t u r e / H u n t e r ) und zur empirischen Hermeneutik (Gerkin; Capps) stark zu machen. Seelsorgerliche Hermeneutik wird als permanente, gegenseitig kritische Korrelation psychologischer, theologischer lind anderer Sprachwelten verstanden (Gerkin, H o r i z o n s 61 f.) und an Fallstudien vorgeführt. Als Definition für „pastoral c a r e " hat die Auflistung „ H e a l i n g , Sustaining, Guiding, R e c o n c i l i n g " (Heilen, Unterstützen, Leiten, Versöhnen: C l e b s c h / J a e c k l e 32ff.) weite Verbreitung gefunden. A b E n d e d e r 8 0 e r J a h r e l ä ß t s i c h ein U n b e h a g e n a n d e r g ä n g i g e n
Seelsorgetheorie-
d e b a t t e w a h r n e h m e n ( Z u s a m m e n f a s s u n g bei H e n k e 6 9 f f . ; R e p l i k e n a u s d e r S e e l s o r g e b e w e g u n g auf die P r o v o k a t i o n d u r c h das R e d e n v o m „ E n d e der
Seelsorgebewegung"
bei H ä n l e / J o c h h e i m ; K i e s s m a n n , S e e l s o r g e b e w e g u n g ; H a r t m a n n , E n d e ) . M a n e n t d e c k t und kritisiert G e m e i n s a m k e i t e n von t h e r a p e u t i s c h e m und v e r k ü n d i g e n d e m d i e h i n a u s g e h e n ü b e r die s c h o n ä l t e r e B e o b a c h t u n g d e r , , e r s t a u n l i c h e [ n ]
Paradigma, Übereinstim-
m u n g " b e i d e r P a r a d i g m e n in d e r „ A b w e n d u n g v o n d e r W i s s e n s c h a f t s - u n d P r o b l e m g e s c h i c h t e seit S c h l e i e r m a c h e r " ( W i n t z e r [ H g . ] , S e e l s o r g e X I I I ) : 1) Z w a r b e t o n e n h o m i l e t i s c h e s w i e t h e r a p e u t i s c h e s P a r a d i g m a , d a ß e i g e n t l i c h b e i d e P a r t n e r d e s G e s p r ä c h s g l e i c h sind ( v o r G o t t b z w . in d e r K o m m u n i k a t i o n s f o r m
Ge-
s p r ä c h ) , a b e r in d e r D u r c h f ü h r u n g k o m m t es d a n n d o c h zu e i n e r j e w e i l s c h a r a k t e r i s t i s c h e n p r o f e s s i o n e l l e n A s y m m e t r i e in d e r K o m m u n i k a t i o n z w i s c h e n d e m
Verkündiger
o d e r T h e r a p e u t e n u n d s e i n e m G e g e n ü b e r . B e i d e P a r a d i g m e n leiden a n e i n e m
Gleich-
heitsdefizit. M . Nicols Arbeit, die Scharfenbergs Titel umdreht (Gespräch als Seelsorge), analysiert vor dem Hintergrund der Gesprächskultur des 19. J h . den bei Scharfenberg und T a c k e wie bei T h i l o und Thurneysen in Anspruch g e n o m m e n e n instrumenteilen C h a r a k t e r von Seelsorge. Diese „Austeilungsstruktur" von Seelsorge (Nicol 178 ff.) „[zwingt] in letztlich undialogische Engführungen, seien diese nun kerygmatischer oder therapeutischer A r t " (ebd. 179). Demgegenüber ist eine „ w a h r nehmende S e e l s o r g e " (ebd. 181) gesprächsangemessener und fundamentaler. Ein „existentielles G e s p r ä c h " wie ein Gespräch unter Freunden ist Seelsorge, dann n ä m l i c h , wenn es „ i m Deutehorizont des christlichen G l a u b e n s " geschieht (ebd. 162). M . Foucaults Analyse des M a c h t f a k t o r s in der Hirtenmetapher und seines Eingangs in die christliche Seelsorge bis zu ihren säkularisierten Derivaten hin wird wahrgenommen und diskutiert (Schieder; vgl. W z M 4 7 [1995] 5 3 - 9 3 ) . „ K r i t i k am Defizitmodell des H e l f e n s " äußert H . Luther (224ff.; L ä m m e r m a n n ) . R . S c h m i d t - R o s t ist den historischen Hintergründen der Professionalisierung der Seelsorge im therapeutischen Paradigma nachgegangen ( S c h m i d t - R o s t , Seelsorge; ders., P r o b l e m e ; vgl. grundsätzlich kritisch und mit dem Versuch, „ L i e b e " an die Stelle von Profession zu setzen: C a m p b e l l , Limits). Die Professionalität wird von anderen (Neidhart), inzwischen auch innerhalb der Seelsorgebewegung (Ziemer 151), ambivalenter gesehen. N a c h Winkler ist „Partnerschaft in gleichberechtigter Gegenseitigkeit" keine voraussetzbare Basis des Gesprächs, wohl aber „eine Beziehungsqualität, die es wiederum erst zu erreichen g i l t " und die der Rollenverteilung mit ihrem Gefälle , „ a u f h e b e n d ' begegne[n] ... k a n n " (Winkler, Seelsorge 2 6 4 ) . 2 ) P r o b l e m e in d e r S e e l s o r g e k o m m e n s t r u k t u r e l l in b e i d e n P a r a d i g m e n als individuell z u g e r e c h n e t e ( S ü n d e o d e r p s y c h i s c h e r K o n f l i k t ) u n d a m I n d i v i d u u m zu l ö s e n d e ( V e r g e b u n g o d e r T h e r a p i e ) in d e n B l i c k , s o d a ß a u c h g e s e l l s c h a f t l i c h b e d i n g t e P r o b l e m e d y s f u n k t i o n a l a u f d e r i n d i v i d u a l i s i e r t e n E b e n e b e h a n d e l t w e r d e n . E s b e s t e h t in d e r S e e l s o r g e l e h r e b e i d e r P a r a d i g m e n ein Soziologiedefizit.
Dieses wird noch a m ehe-
sten auch von Vertretern der Seelsorgebewegung eingestanden ( K l e s s m a n n / L i e b a u
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Seelsorgelehre
und Stollberg, Art. Seelsorge 185, plädieren für die Aufarbeitung systemischen Denkens). In einer ganzen Reihe von Arbeiten wird die Seelsorgetheorie von soziologischen Theroriegebäuden her in den Blick genommen (vgl. dazu schon früh die katholischen Arbeiten: Laloux im Sinne des kirchlichen Einwirkens auf Gruppen; Vranckx plädiert für die Beachtung der -•Religionssoziologie und verstärkte Gruppen- und Gemeinschaftsseelsorge; für die USA zusammenfassend: Furniss): I. Karies Seelsorge in der Moderne liefert eine „Kritik der psychoanalytisch orientierten Seelsorgelehre" aus dem Blickwinkel der systemtheoretischen Gesellschaftsanalyse bei Niklas Luhmann (1927-1998) unter Einbeziehung deontologischer feministischer Theorie. Bei Scharfenberg sei es trotz des Interesses an einer Öffnung der Psychologie für die Perspektiven Gesellschaftsanalyse und Theologie dann doch der psychologisch-hermeneutische Schlüssel, in den hinein alles integriert wird (Karle 6 2 - 1 2 6 ) . Demgegenüber interpretiert Karle die Größen „Identität und Geschlecht" als gesellschaftliche Konstruktionen (ebd. 1 2 7 - 2 0 5 ) . Sie plädiert abschließend dafür, daß Seelsorge das Differente des Christlichen als „Störung" einzubringen habe (darin ähnlich wie Grözinger in seinem Essay über „Seelsorge in der multikulturellen Gesellschaft"), der es freilich dann doch wieder nicht ernst genug mit der Pluralität meint. U. Pohl-Patalong setzt bei Veränderungen der letzten Jahre in den Konzeptionen von „Seelsorge zwischen Individuum und Gesellschaft" ein. Die postmoderne Gesellschaftstheorie zeigt: Das klassische Gegenüber von Individuum und Gesellschaft, das bei homiletischem wie therapeutischem Paradigma vorausgesetzt war, löst sich auf. Statt dessen entwickelt sich Transversalität: ein Leben in Übergängen zwischen verschiedenen Rollen, sozialen Netzwerken, subpolitisch und jenseits des klassischen einheitlichen Subjekts. Seelsorge unter diesen Bedingungen kann deshalb Individualisierung so fördern, daß sie gesellschaftlich relevant wird, wie sich am Beispiel feministischer Seelsorge zeigen läßt. Einem feministisch geschulten Blick erweist sich eine individualisierende Perspektive angesichts der typischen sozialen Rollenkonstellationen, in denen Frauen sich vorfinden, besonders defizitär (Karle 27ff. 166ff.; PohlPatalong 210ff.274ff.; monographisch: Riedel-Pfäfflin/Strecker). Während Pohl-Patalong die Pluralisierung, auch die „Pluralisierung der poimenischen Theorieperspektiven" (247), als Chance sieht, hatte R. Schieder mehr die Gefahr der Patchwork-Existenz und des „Alles ist möglich" herausgestellt und demgegenüber Seelsorge als Einübung in die individuelle Selbstverendlichung konzipiert. Der katholische Autor Th. Henke sieht Jürgen Habermas' (geb. 1929) Theorie als besonders geeignet an, weil sie Stärken phänomenologischen Sinnverstehens und —»Kritischer Theorie verbindet und weil sie System und -»Lebenswelt in gegenseitiger kritischer Korrespondenz sieht. „Seelsorge als kommunikatives Handeln in der alltäglichen Lebenswelt" (Henke 420ff.) unterscheidet sich von „strategischem Handeln" darin, daß es offen alle beteiligt. Intendiert ist „eine ,mystagogische Seelsorge' [K. ->Rahner], die Alltagserfahrungen, Alltagspraxis und alltägliche Realitäten auf die Wirklichkeit Gottes hin erschließen und zugleich alltägliche Selbstverständlichkeiten und Plausibilitäten aus dem Glauben an die vorgängige Anwesenheit Gottes neu und kritisch interpretieren will" (ebd. 568). Das bedeutet für die Arbeit von Seelsorgetheorie: „Wissenschaftliche Theologie gibt ihr Interpretationsmonopol auf, sie nimmt vorhandene Glaubenspraxis und -reflexion als theologierelevant wahr und unterstützt auf diese Weise die Entfaltung unterschiedlicher Weisen des Theologietreibens in der alltäglichen Lebenswelt" (ebd. 412). Empirische Seelsorgetheologie, die Henke selbst noch nicht bietet, wird also nötig. 3) Das verkündigende und das therapeutische P a r a d i g m a geraten gerade deshalb in Streit, weil sie je einen einheitlichen und eben anderen Deutungsrahmen für die Seelsorge festschreiben und von den professionell Seelsorge Treibenden auch im Gespräch die Aufrechterhaltung dieses R a h m e n s erwarten. So gibt es im einen Paradigma ein theologisches, im anderen ein therapeutisches Deutemonopol. Beiden gemeinsam ist ein Pluralitätsdefizit. Schon vor der bereits genannten Rezeption soziologischer Theorien zur postmodern-pluralen Gesellschaft stieß die Seelsorgebewegung selbst mit ihrer Internationalisierung auf das Problem interkultureller Differenzen und wurde sich deren auf ihren internationalen Tagungen ab 1979 zunehmend bewußt (Herkenrath-Püschel). In Deutschland trifft Seelsorge in der Krankenhausseelsorge (Grözinger, Seelsorge; Gestrich, Gedanken) und den kirchlichen Beratungsstellen (Kunze) zunehmend auf Menschen anderer Kulturen. Das Zeitalter einer „Seelsorge im Plural" (vgl. den gleichnamigen Band) hat begonnen. Inzwischen liegen erste Seelsorgetheorieansätze aus anderen Kulturen vor (Afrika: Mpolo; Lartey, Perspektiven; Berinyuu; Lateinamerika und Befreiungstheologie: C. Hoch; St. Pattison; Erfahrungsberichte zu asiatischen Kulturen: Solomon; Arles; Lee/You; Weiß; zu Indien: Hein; Seelsorge in Kirchen orthodoxer Konfession: Allen; Stavropoulos; jüdische Seelsorge: Katz; muslimische Seelsorge: Krausen) sowie zur interkulturellen Seelsorge überhaupt
Seelsorgelehre
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(Augsburger mit der Prägung des Begiffs „Interpathie" für eine solche Empathie, die sich auf unterschiedliche Kultursysteme bezieht; mit Fallstudien bei Lartey, Colour 1 2 5 - 1 3 4 ; Zeitschrift Interkulturelle Seelsorge und Beratung-, Parker; Kayales). Narrative und hermeneutische Zugänge (Federschmidt) führen hin zu konstruktivistischen Einsichten (J. Müller; Boydt): Seelsorge bringt kulturelle Konstruktionen in Austausch. 4) Beide Paradigmen gehen von einem hohen Ideal der Seelsorge aus und haben sich von der faktischen und häufigen Seelsorgewirklichkeit entfernt. Bei ihnen besteht ein Alltagsdefizit. Der Alltag wurde in der Seelsorgelehre zum Thema teilweise noch aus der Perspektive des homiletischen Paradigmas (Möller, Predigen 113 f.; ebd. 121: alltägliche Seelsorge macht therapeutische Ausbildung überflüssig) und des therapeutischen Paradigmas (Hartmann, Lebensdeutung 15: Seelsorge als „Beitrag zur Kultivierung des alltäglichen Lebens" weitet den Zuständigkeitsbereich der psychologischen Deutung aus). Alltägliche Seelsorge im Sinn von Elementarisierung in pastoralpsychologischer Perspektive bietet R. Gestrich (Hirten). H. Luther bringt als erster entschieden die humanwissenschaftliche Alltagstheorie ein, um dann doch den konventionellen Alltag aus der kritisch-emanzipatorischen Seelsorge auszugrenzen (H. Luther 231; zu seiner Seelsorgetheorie vgl. Stollberg, Seelsorge [1992]). Auf die prinzipielle Verbindung der Seelsorge zum Alltag hatte schon D. Rössler 1973 nebenbei hingewiesen (Seelsorge ist „Assistenz bei der alltäglichen Rekonstruktion individuellen Lebens"; Rössler, Rekonstruktion 411). Konsequent wird sie erst 1987 bei W. Steck ausgelegt: Aus dem Alltag stammen Themen und Gesprächsform der Seelsorge sowie ihre Institutionalisierung im Kasualgespräch. E. Hauschildts Alltagsseelsorge untersucht dann die alltägliche Seelsorge empirisch am Beispiel der Analyse von Transskripten einiger Gespräche beim pastoralen Geburtstagsbesuch. Der oberflächliche Eindruck der Banalität und Trivialität wird überführt in Einblicke in die Funktion von Smalltalk und die Herausarbeitung von Kennzeichen episodisch eingelagerter Alltagsseelsorge-Phasen. Alltagstherapie (erkennbar an der gehäuften Verwendung bestimmter alltäglicher Sprachmittel) leistet ein gewisses M a ß an Ambivalenzdarstellung; Alltagstheologie (kleine - oft auch häretische - situative Rationalisierungen und pragmatisches Interesse am Kontakt mit der Institution Kirche) stellt ein eigenes, weitgehend noch unbeachtetes und unerforschtes Genus religiöser Kommunikation dar. Die Gcsprächskompetenz für Alltagsseelsorge ist gleichmäßig verteilt; ihr konkreter Verlauf und das Einbringen professioneller Kompetenzen wird darauf aufbauend immer erst gegenseitig ausgehandelt. Für die Seelsorgetheorie legt sich nahe, den hier sich zeigenden pluralen und streng interaktiven Charakter der Alltagsseelsorge als das basale Phänomen von Seelsorge zu verstehen, in dem therapeutische und homiletische Anteile noch ineinanderliegen und aus dem sich historisch und je aktuell die anderen Formen hoher Seelsorge herausdifferenzieren. D a ß Seelsorge Interaktion meint, ist nicht neu: Auf dem Weg zu einem Paradigma interaktiver Seelsorge geht es vielmehr d a r u m , den Einsichten protestantischer Seelsorge in die Bedeutung der Lehre v o m allgemeinen Priestertum, der Fassung der Seelsorge als Gespräch und den Annäherungen der Seelsorgebewegung an die tatsächliche Gesprächsführungspraxis noch konsequenter zu folgen. Das bedeutet zugleich eine verstärkte Wahrnehmung von interpersonal Differentem (Meyer-Blanck: „Von der Identität zur Differenz") wie systemisch-strukturellen Z u s a m m e n h ä n g e n (Morgenthaler): Die Seelsorgelehre hat sich darauf einzustellen, d a ß die Seelsorge schon immer viel alltäglicher war, in der gesellschaftlichen Zuschreibung von Rollen geschieht und zunehmend multikultureller wird. Nicht nur Rückbesinnung auf christliche Seelsorgetraditionen aus der Geschichte, sondern vor allem methodische Öffnung hin auf Alltagsverhalten und systemische Therapie sind angebracht. D e m Phänomen von Seelsorge als zugleich gesellschaftlicher, christlicher und kirchlicher Konstruktion (—• Seelsorge II.l.) wird ein interaktives Paradigma gerechter. Das Theorieproblem der von der verkündigenden Seelsorge geforderten expliziten Theologie im Seelsorgegespräch und von der therapeutischen Seelsorge propagierten impliziten T h e o l o g i e (zuletzt Steinmeier 2 0 2 f . ) löst sich: Im Verlauf des Gesprächs entscheiden beide Partner darüber, o b und vor allem in welchem A u s m a ß „religiöse I n t e r p r e t a t i o n " der Fall ist. Religion, Theologie, Kirche wird im Seelsorgegespräch je neu ausgehandelt. Eine Definition von Seelsorge als Teil einer Seelsorgelehre m u ß so abgefaßt sein, daß sie diese Interaktivität mit einbezieht: „Seelsorge h e u t e " ist Hilfe zur Lebensgewißheit,
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Seelsorgelehre
in der sich beide Partner am Modell des Gesprächs orientieren und interaktive religiöse Interpretationen vornehmen. Interaktive religiöse Interpretationen liegen vor, wenn zumindest episodisch im Vollzug des Gesprächs die beteiligten Partner gemeinsam bewirken, daß bestimmte Äußerungen im Gespräch eine Funktion von Religion erfüllen oder unter Bezug auf Transzendenz etwas rational legitimieren (Theologie) oder eine Beziehung zu einer religiösen Institution darstellen. Der Begriff „Christliche Seelsorge" eignet sich nicht für einseitig vollzogene Abgrenzungsurteile (vollzogen durch eine Person, die Seelsorge ausübt, sie beobachtet oder über Seelsorge reflektiert); er markiert vielmehr eine interaktive und graduelle Offenlegung von Interpretationen. Diese sind insofern christlich, als sie die Beziehung auf Transzendenz, Theologie und Funktion der Religion aus einer zuletzt auf Christus sich beziehenden Perspektive vornehmen bzw. eine dementsprechende Beziehung zur Institution Kirche darstellen. Auch das dezidiert Evangelische christlicher Seelsorge (in welchen konfessionellen Konstellationen auch immer es sich ereignen mag) gibt es immer nur interaktiv und graduell: in dem Maße nämlich, wie bei den in der Seelsorge vollzogenen Interpretationen 1. die Institutionstraditionen von Kirche als nachrangig gegenüber den - seinerseits nur interpretativ handhabbaren - Perspektiven der Bibel erscheinen (sola scriptura), 2. die „Transzendenzakteure" (von Gott über Engel bis Schicksal) in ihrer Bedeutung auf die Christuserzählung hin deutlich werden (solus Christus), 3. die theologische Legitimation den Tun-Ergehen-Zusammenhang durchbricht (sola gratia) und 4. die entscheidende Funktion von Religion in der Annahme des Befreitwerdens von der Selbstfestlegung/der Vergangenheit erfahrbar wird {sola gratia, sola fide). Die Rechtfertigungslehre so in die Seelsorgepraxis eingespielt zu denken entfaltet sie weitreichender, als das ihre Verwendung zum Urteilsmaßstab zwischen Rechtfertigung verkündigender und falscher Seelsorgepraxis (vgl. die Tendenz im homiletischen Paradigma) oder ihre Verwendung zur Legitimation therapeutischer Verfahren (vgl. die Tendenz im therapeutischen Paradigma) tut. Definitionen im Paradigma einer interaktiven Seelsorge normieren das Seelsorgehandeln in der Weise, daß sie vorschlagen, Seelsorge als gesellschaftliche, kirchliche und christliche Konstruktion füreinander durchlässiger zu machen. Das dient dem kirchlichen Interesse; es ist zugleich auf der Höhe der Situation einer pluralen Gesellschaft und des wissenschaftlichen Geistes. Es läßt sich nun auch das Verhältnis von Diakoniewissenschaft und Seelsorgetheorie präziser fassen. Ihre Differenz liegt weniger in einem deutlich abgrenzbaren anderen Gegenstand (so -»Diakonie II), geht es doch beide Male um helfendes Handeln, das sich meist (auch) des Mittels der Sprache bedient, sondern in einer anderen Theorie schon der Beteiligten, die etwas als Seelsorge oder Diakonie deuten - über das Geschehen. In der Diakonie wird helfendes Handeln als Aktion, in der Seelsorge als (interaktive) Interpretation gefaßt. Das Aufgabengebiet der Seelsorgelehre ist die Hermeneutik solcher helfender Interaktion, die durch Interpretation geschieht. Literatur Bibliographie: M a r t i n Jochheim, Bibliogr. zur ev. Seelsorgelehre u. Pastoralpsychologie, Bochum 1997. Ernst Christian Achelis, Lb. der Prakt. Theol., Leipzig 1890 3 1911. - Ders., Prakt. Theol., Freiburg i.Br. 1893 ' 1 9 1 2 ( G T h W 6). - Jay Edward Adams, Competent to counsel, Grand Rapids, M i c h . 1970; dt.: Befreiende Seelsorge, Gießen 1972 "1988. - Ders., T h e Christian Counselor's M a n ual, Grand Rapids, M i c h . 1973; dt.: H b . f. Seelsorge, Gießen 1976 = 3 1 9 8 8 . - Rudolf Affemann, Tiefenpsychologie als Hilfe in Verkündigung u. Seelsorge, Stuttgart 1965. - Joseph J. Allen, T h e Ministry of the Church. T h e Image of Pastoral Care, Crestwood, N.Y. 1986. - Joseph Amberger, Pastoraltheol., 3 Bde., Regensburg 1 8 5 0 - 1 8 5 7 " 1 8 8 3 - 1 8 8 6 . - H e r m a n Andriessen, Leren aan ervaring en supervisie, Nijmegen 1975; dt.: Pastorale Supervision. Praxisberatung in der Kirche, 1978 (GT.P 24). - Ders./Reinhard Miethner, Praxis der Supervision, Eschborn b. Frankfurt a . M . 1985 3 1 9 9 3 . — Nalini Arles, Westliche Beratung im indischen Kontext: Interkulturelle Seelsorge u. Beratung 1 (1996) 2 7 - 2 9 . - F r a n z - X a v e r Arnold, Dienst am Glauben, 1948 (UTS 1). - Ders., Grundsätzliches u. Geschichtliches zur Theol. der Seelsorge, 1949 (UTS 2). - Ders., Seelsorge aus
Seelsorgelehre
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Seelsorgelehre
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Segen/Segen und Fluch I
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Segen/Segen und Fluch I. II. III. IV. V. VI.
Religionsgeschichtlich Altes Testament . . Neues Testament Judentum Dogmatisch . . . . Praktisch-theologisch
S. S. S. S. S.
76 79 84 88 93
I. Religionsgeschichtlich (Literatur s. u.)
In der Vergleichenden Religionswissenschaft versteht man unter dem Begriffspaar Segen und Fluch gemeinhin einen formelhaften Wunsch, der häufig von einer entsprechenden symbolischen Handlung begleitet wird und nach den Vorstellungen dessen, der ihn äußert, entweder aus sich selbst heraus oder durch das Wirken einer Gottheit für einen Dritten zum Guten bzw. zum Schlechten wirksam werden soll. J e nachdem, welche Vorstellungen von der Wirksamkeit dem Wunsch zugrunde liegen, können Segen und Fluch eine Verwandtschaft sowohl zum ->Gebet als auch zum Zauberspruch (vgl. -•Magie) aufweisen. Darüber hinaus besitzt besonders der Fluch bzw. dessen Androhung in traditionellen Kulturen eine besondere Bedeutung als Mittel zum Selbstschutz und zur Selbstverteidigung für gesellschaftlich, rechtlich oder körperlich Schwächergestellte. Eine deutliche Beziehung besteht ferner zum -»Eid, der in vielen Kulturen die Form einer bedingten Selbstverfluchung annimmt. Die gesellschaftliche Beurteilung des Fluchs ist in der Regel von seiner Absicht abhängig. Als Mittel zur Wiederherstellung des gestörten Gleichgewichts zwischen den Menschen oder zwischen einer Gottheit und ihrer Kultgemeinschaft sowie als Mittel der Abschreckung von schwer zu ahndenden Freveln genießt der Fluch zumeist gesellschaftliche Anerkennung. Demgegenüber werden aus egoistischen Gründen durchgeführte Verfluchungen im Rahmen eines Schadenzaubers wegen ihrer gemeinschaftszerstörenden Wirkung oft streng bestraft. Im Kulturkreis der Keilschrift begegnen Verfluchungen als Mittel der Kriegführung, Fluchandrohungen als Gesetzessanktion und bedingte Selbstverfluchungen beim Abschluß von Verträgen (im Rahmen des sog. Eidopfers). Fluchandrohungen zur Sicherung von Gräbern fehlen in Mesopotamien und Kleinasien, begegnen aber häufig in Palästina und Ägypten. Die Vorstellung, daß ein Fluch vererbt werden kann und noch von späteren Generationen zu sühnen ist, bezeugen die Pestgebete des Hethiterkönigs Mursiiis, in denen das Auftreten der Pest u.a. auf den Bruch eines Vertrages zurückgeführt wird, den Mursiiis Vater mit den Ägyptern geschlossen hatte. Im Bereich der griechischen Kultur spielt der Segen kaum eine Rolle. Ein eigener fester Begriff dafür fehlt (neutestamentlich-griechisch evXoyia erhält die Bedeutung „Seg e n " erst infolge seiner Verwendung als Übersetzung des alttestamentlich-hebräischen beräkäh), während der Fluch (ebenso wie auch das Gebet) als äpä bezeichnet wird. Darüber hinaus können auch Verben wie ävazidTjßi und dviepöco, welche die Übereignung an eine Gottheit ausdrücken, die Bedeutung „verfluchen" annehmen. Einen fließenden Übergang von „schmähen, schelten" und „verfluchen" zeigt der Gebrauch der Verben KOLKÖIQ Xiyuj und maledico. In Mitteleuropa haben sich vorchristliche Segensformeln vor allem im althochdeutschen und altenglischen Schrifttum erhalten. Literatur Edward Evan Evans-Pritchard, Witchcraft, Oracles and Magic among the Azande, Oxford 1937; dt. (Teilausg.): Hexerei, Orakel u. Magie bei den Zande, Frankfurt a . M . 1978. - John G. Gager, Curse Tablets and Binding Spells from the Ancient World, New York 1992. - Irmgard
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Segen/Segen und Fluch II
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Bernhard Maier
II. Altes T e s t a m e n t 1. Definition 2. T e r m i n o l o g i e 3. Sinn u n d G e b r a u c h dungsbereiche ( Q u e l l e n / L i t e r a t u r S. 78)
1.
4. Theologisch zentrale A n w e n -
Definition
Segen und Fluch sind nach d e m alttestamentlichen Verständnis grundsätzlich performative S p r a c h h a n d l u n g e n , die das bewirken, was sie aussagen. Die Voraussetzung f ü r ihre Effizienz ist der von der G e m e i n s c h a f t geteilte Glaube an die M a c h t und W i r k samkeit der göttlichen A u t o r i t ä t , die hinter dem Segen und Fluch steht und über sie frei verfügt (vgl. N u m 22 —24). 2.
Terminologie
Terminologisch wird der Segen im Hebräischen gewöhnlich durch die verschiedenen S t a m m f o r m e n von brk ausgedrückt, das ein breites Bedeutungsspektrum besitzt: Es k a n n neben d e m Segnen im allgemeinen Sinne auch für das Loben Gottes (Dtn 8,10), euphemistisch sogar f ü r das Verfluchen (I Reg 21,10.13; Hi 1,5.11; 2,5.9), im alltäglichen G e b r a u c h f ü r das G r ü ß e n (Gen 47,7), Sich-Verabschieden (I Sam 2,20) und das Beglückwünschen (1 Reg 1,47) sowie als Substantiv b'räkäh f ü r das Geschenk (I Sam 25,27) verwendet w e r d e n . D a s Verbindende bei allen Bedeutungsnuancen ist die freundliche Z u w e n d u n g des Segnenden zu seinem Gegenüber. Die genaueste inhaltliche Umschreib u n g des Segens ist der Begriff salòtti ( N u m 6,26; D t n 29,18; Ps 29,11; -»Frieden II). Für „ F l u c h " und „ v e r f l u c h e n " stehen mehrere Termini zur Verfügung: Das Substantiv 'äläh (und das entsprechende Verb 'lh) bezeichnet ein legales Rechtsmittel, das als bedingte Selbst- oder Fremdverfluchung vor allem zur Sicherung von -»Eiden (Gen 24,41) und Verträgen (Ez 17,19), zur Klärung von Eigentumsdelikten durch u n b e k a n n t e T ä t e r (Jdc 17,2) sowie zum Fluchordal ( N u m 5 , 1 1 - 3 1 ) dient. D a s Verb Vr k o m m t meist in Gestalt der sog. 'Arür-Formel vor, die eine genaue semantische O p p o s i t i o n zur BärükFormel bildet (Gen 27,29). Sie wird dazu verwendet, den Betroffenen aus der unter d e m Segen stehenden G e m e i n s c h a f t auszuschließen (Gen 4,11 f.); als Eventualfluch h a t sie die F u n k t i o n , vor der Ü b e r t r e t u n g einer erlassenen A n o r d n u n g zu w a r n e n (Dtn 27, 1 5 - 2 6 ) . In den n o m i n a l e n Bärük- u n d Ä r a r - F o r m e l n fallen Sein und Sollen, die assertorische (Indikativ) u n d kreatorische (Jussiv) Funktion des performativen Sprechaktes, z u s a m m e n (Müller). D a s breiteste Bedeutungsfeld von allen Fluchtermini hat der S t a m m qli. W ä h r e n d das N o m e n qeläläb o f t auf die 'Ärür-Formel Bezug n i m m t (Dtn 28,15.45) und den Gegensatz zu b'räkäh bezeichnet (Dtn 1 1 , 2 6 - 2 9 ) , hat das Verb qll Piel ü b e r „ v e r f l u c h e n " (Dtn 23,5) hinaus gewöhnlich die allgemeinere Bedeutung „herabsetzen, beschimpfen, s c h m ä h e n " (Ex 21,17; II Sam 16,10f.). Gelegentlich wird das Verfluchen auch durch die Verba qbb/nqb ( N u m 23,11.25; 24,10) und z w ( N u m 2 3 , 7 f . ) ausgedrückt. Von Segen und Fluch k a n n aber auch o h n e die entsprechende Terminologie gesprochen werden, so vor allem in den Schilderungen des Segens und Fluches (vgl. Lev 26 mit D t n 28). D a s wichtigste außerbiblische Vergleichsmaterial bieten die althebräischen Inschriften von Silwan, Kuntillet 'Agrud, Khirbet e l - Q o m , En-Gedi, Arad, N i m r u d und Khirbet Bet Layy, die den alttestamentlichen ähnliche Segens- und Fluchformeln enthalten (Renz/
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Röllig H/1, 2 9 - 3 2 ) , sowie die 1979 im H i n n o m t a l (Ketef Hinnom) aufgefundenen Silberplättchen, die zwei kürzere Varianten - eventuell Vorformen - für den Aaronitischen Segen (Num 6 , 2 4 - 2 6 ; vgl. T R E 11,254,30-35) enthalten und die Sitte belegen, Segensformeln als Amulette zu tragen. 3. Sinn und
Gebrauch
Die freundliche Z u w e n d u n g des Segnenden zu seinem Gegenüber bedeutet dessen A u f n a h m e in eine Solidargemeinschaft bzw. die Bestätigung einer schon bestehenden Gemeinschaft, während das Verfluchen den Ausschluß des Betroffenen aus der Gemeinschaft und seine Auslieferung an die unheilvolle Sphäre der Beziehungslosigkeit beinhaltet. Ein elementarer Wirkungsbereich des Segens (und Fluches) war die Familie, deren innere Solidarität über den Tod des pater familias hinaus durch einen unwiderruflichen Segen gesichert werden k o n n t e (Gen 27). D a ß auch die Toten als des göttlichen Segens bedürftig angesehen wurden, beweisen die Silberplättchen aus Ketef H i n n o m , die einem Verstorbenen als Beigaben ins G r a b gelegt worden waren. Ein mit dem Tod Bestrafter, dessen Leichnam an einen Pfahl gehängt worden war, galt als qilelat 'xlohim (Dtn 21,22f.; vgl. Gal 3,13), welcher Ausdruck wohl nicht einen „von Gott Verfluchten" bezeichnet (so gewöhnlich), sondern vielmehr den „Fluch des Totengeistes" (vgl. Elohim in dieser Bedeutung auch in I Sam 28,13). Die Leiche des Verbrechers mußte noch an demselben Tag bestattet werden (vgl. Jos 8,29; 10,27), damit sein Totengeist kein Unheil unter den Lebenden in der N a c h t (vgl. Gen 32,27) stiften konnte (->Tod). Als menschliche Vermittler des Segens und Fluches kamen prinzipiell jede beliebige Person (Jdc 17,2) oder G r u p p e (Dtn 27,12f.) in Frage, mit Vorliebe jedoch solche, die eine besondere Beziehung zur Gottheit hatten, wie der heidnische Mantiker -»Bileam (Num 22,6), die charismatischen Führer —»Mose (Dtn 33) und ->Josua (Jos 14,13), die frommen Könige -»David (II Sam 6,18) und —>Salomo (I Reg 8,14.55) und in späterer Zeit vor allem die —»Priester (Lev 9,22; N u m 6,23). Das eigentliche Subjekt des Segens und Fluches war Jahwe ( N u m 6,27; 23,8.25f.), der in seiner Freiheit den Fluch in Segen (Dtn 23,5f.; Neh 13,2) und den Segen in Fluch (Mal 2,2) verwandeln konnte. Das Segnen durch Gott vollzieht sich durch sein unmittelbares Handeln als benefactio, nur in einigen jungen Ausnahmefällen durch das Wort als benedictio (Gen 1,22.28; 9,1; Jes 19,25), während der menschliche Segen in der Regel verbal vermittelt wird und damit einen abgeleiteten C h a r a k t e r hat. Bereits in der Septuaginta und Vulgata, die das Verb brk gewöhnlich mit evXoyEiv und benedicere wiedergeben, hat sich das Gewicht auf das Segenswort verlagert (->Benediktionen). Die Kraft des göttlichen Segens manifestiert sich als Fruchtbarkeit, Wachstum und Gedeihen bei Mensch (Gen 1,28; 9,1; 17,16.20; Dtn 7,14), Tier (Gen 1,22; 30,27.29f.; Dtn 7,13f.) und Acker (Gen 26,12; 27,27f.; Lev 25,21; Dtn 7,13; H a g 2,19; Ps 65,11), worin der Wille des transzendenten Gottes zur Immanenz zum Ausdruck k o m m t . Der vornehmste Wirkungsbereich des göttlichen Segens sind die bleibenden O r d n u n g e n der Schöpfung, aber er wird auch in den einmaligen Ereignissen der Geschichte erfahren (Gen 12,3; 24,60; 27,29; N u m 22,12; 23,22; 24,8; Dtn 7 , 1 6 - 2 4 ; 33,11 u.a.), weshalb eine Gegenüberstellung von Gottes segnendem und rettendem Handeln (Westermann) als unsachgemäß erscheint (—•Schöpfer/Schöpfung II; -*Geschichte/Geschichtsschreibung/Geschichtsphilosophie II). Die angemessene menschliche A n t w o r t auf den erfahrenen Segen ist das Loben Gottes, das vor allem in den Psalmen häufig durch den Stamm brk ausgedrückt wird (Ps 16,7; 26,12; 34,2; 63,5; 66,8 u.a.). Indem der Mensch Gott preist (eigentlich „segnet"), gibt er ihm die Ehre als dem Ursprung der heilvollen Kraft und Gegenwart und erfüllt damit die schöpfungsgemäße Bestimmung seines Lebens. Wer hingegen Gott verflucht, verwirkt sein Leben und liefert sich dem Tode aus (Ex 22,27; Lev 2 4 , 1 0 - 2 3 ; Hi 2,9). Segen und Fluch waren ursprünglich nicht im Kult beheimatet, wurden jedoch mit der Zeit zunehmend an ihn gebunden. Der Sinn des den Gottesdienst abschließenden
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Priestersegens (Lev 9,22f.; N u m 6,23-27; Ps 118,26; II Chr 30,27) bestand darin, die im Kult erfahrene heilsame Gegenwart Gottes in den Alltag der Teilnehmer als Gabe b'räkäh mitzugeben (-»Gottesdienst II). Die in Dtn 27 beschriebene Zeremonie mit zwölf Fluchsprüchen (V. 15-26), die den klassischen —»Dekalog (Dtn 5) präzisierend aufnehmen, dürfte in der Jetztgestalt in die späte Zeit der jüdisch-samaritanischen Auseinandersetzungen gehören (Fabry). 4. Theologisch
zentrale
Anwendungsbereiche
Eine theologisch zentrale Rolle spielen Segen und Fluch im Jahwistischen Geschichtswerk, im Deuteronomium sowie in der Rahmenerzählung des Hiobbuches. 4.1. Gegen die dunkle Folie des Fluches, der nach der jahwistischen -»Urgeschichte (Gen 2-11*) auf der Menschheit und der Schöpfung lastet (Gen 3,14.17; 4,11; 5,29; 9,25) und nur aus Gottes Gnade nicht zu einem vollkommenen Zusammenbruch führt (Gen 8,21f.), läßt der -»Jahwist in Gen 1 2 , 1 - 3 Gott in souveräner Freiheit einen Neuanfang durch -»Abraham machen, der zum Inbegriff und Mittler des göttlichen Segens werden soll. Im weiteren Verlauf seiner Geschichte schildert der Jahwist, wie der verheißene Segen im Leben Abrahams (Gen 13,2; 24,1.35), seiner Nachkommen (Gen 26, 12-14.16.28f.; 30,43; 32,6; 39,3) und der Völker (Gen 30,25-31; 39,1-5) wirksam wird. 4.2. Das —»Deuteronomium beleuchtet den Tatbestand, daß Gottes Solidarität im Segen insofern kritische Solidarität ist, als sie auch die Möglichkeit des Fluches enthält (Jörns). Eine bundestheologische Redaktion aus frühnachexilischer Zeit hat das Deuteronomium nach dem Vorbild altorientalischer Staatsverträge als ein Bundesdokument gestaltet (Veijola), in dem Segen und Fluch die alternativen Reaktionen Gottes auf Israels Verhalten gegenüber seinem im deuteronomischen Gesetz geäußerten Willen sind (Dtn 6,14f.l7f.; 7,12ff.; 8,19f.; 11,13-15.16f.26-28; 28,lff.l5ff.; 30,19). Segen und Fluch sind an das Verheißungsland gebunden (Dtn 7,13; 11,8-12.17; 15,4; 26,15; 28,8.20f.; 30,16), dessen Besitz durch die Exilskatastrophe in Frage gestellt worden war. 4.3. In der für die Hiobdichtung konstitutiven Rahmenerzählung (Hi lf.; 42,7-17; -•Hiob/Hiobbuch) kommt das Verb brk nicht zufällig siebenmal vor (1,5.10.11.21; 2,5.9; 42,12), davon viermal im Sinne von „verfluchen" (1,5.11; 2,5.9). Das Wort signalisiert das theologische Leitmotiv der Hiobnovelle (Spieckermann): Nach der herkömmlichen Weisheitstheologie mit ihrem Dogma vom Tun-Ergehen-Zusammenhang (vgl. Prov 3,33) könnte der fromme Hiob, dem Gott seinen Segen entzogen hatte, den Erwartungen Satans und seiner eigenen Frau entsprechend Gott „verfluchen" (Hi 1,11; 2,5.9). Wenn er aber im Gegenteil Gott „segnet" (1,21), zeigt er, daß er an Gottes Heilsgegenwart gegen die eigene Erfahrung, in der Gott zum Satan geworden war, glaubt. Damit sprengt er den Rahmen der gängigen alttestamentlichen Auffassungen von Segen und Fluch und antizipiert eine Vorstellungswelt, in der Segen grundsätzlich und auch etymologisch (vgl. signare > segnen) nicht ohne —»Leiden und -»Kreuz zu haben ist. Quellen J o h a n n e s Renz/Wolfgang Röllig, H b . der Althebräischen Epigraphik. I. Die althebräischen Inschr. Texte u. Komm. v. Johannes Renz, D a r m s t a d t 1995; II./l. Die althebräischen Inschr. Z u sammenfassende Erörterungen, Paläographie u. Glossar v. J o h a n n e s Renz, D a r m s t a d t 1995. Literatur H e r b e r t C h a n a n Brichto, T h e Problem of „ C u r s e " in the H e b r e w Bible, 1963 (JBL.MS 13). Heinz-Josef Fabry, N o c h ein Dekalog! Ein Versuch zu D e u t e r o n o m i u m 27: Im Gespräch mit d e m dreieinigen G o t t . FS Wilhelm Breuning, Düsseldorf 1 9 8 5 , 7 5 - 9 6 . - Christine Gottfriedsen, Beobachtungen zum atl. Segensverständnis: BZ 34 (1990) 1 - 1 5 . - Johannes Hempel, Die israelit. Anschauungen v. Segen u. Fluch im Lichte altorient. Parallelen: Z D M G 79 (1925) 2 0 - 1 1 0 . - Klaus-Peter Jörns, Segen - u. kein Fluch? Überlegungen zur Einheit Gottes im Vorfeld der Prakt. Theol.: B T h Z
S e g e n / S e g e n u n d F l u c h III
79
1 (1984) 2 5 5 - 2 7 3 . - Carl A . K e l l e r , Art. aläh Verfluchung: T H A T 1 (1971) 1 4 9 - 1 5 2 . - Ders./ Gerhard Wehmeier, Art. brk pi. segnen: ebd. 3 5 3 - 3 7 6 . - Ders., Art. qll leicht sein: ebd. 2 (1976) 6 4 1 - 6 4 7 . - Christopher Wright Mitchell, T h e Meaning of BRK „to Bless" in the O T , 1987 (SBL.DS 95) (Lit.). - Hans-Peter Müller, Segen im A T : Z T h K 87 (1990) 1 - 3 2 . - Helmer Ringgren, Art. qbb: T h W A T 6 (1989) 1138f. - J o s e f Scharbert, „ F l u c h e n " u. „ S e g n e n " im A T : Bib. 39 (1958) 1 - 2 6 . - Ders., Solidarität in Segen u. Fluch im A T u. in seiner Umwelt, 1958 (BBB 14). - Ders., Art. aläb: T h W A T 1 (1973) 2 7 9 - 2 8 5 . - Ders., Art. 'rr: ebd. 4 3 7 - 4 5 1 . - Ders., Art. brk: ebd. 8 0 8 - 8 4 1 . - Ders., Art. qll: ebd. 7 (1993) 4 0 - 4 9 . - Willy Schottroff, Der altisraelit. Fluchspruch, 1969 ( W M A N T 30). - Hermann Spieckermann, Die Satanisierung Gottes. Zur inneren Konkordanz v. Novelle, Dialog u. Gottesreden im Hiobbuch: „Wer ist wie du, Herr, unter den G ö t t e r n ? " FS O t t o Kaiser, Göttingen 1994, 4 3 1 - 4 4 4 . - Hans Ulrich Steymans, Deuteronomium 28 u. die ade zur Thronfolgeregelung Asarhaddons. Segen u. Fluch im Alten Orient u. in Israel, 1995 ( O B O 145) (Lit.). — T i m o Veijola, Bundestheol. Red. im Deuteronomium: Das Deuteronomium u. seine Querbeziehungen, hg. v. dems., 1996 (SESJ 62) 2 4 2 - 2 7 6 . - Claus Westermann, Der Segen in der Bibel u. im Handeln der Kirche, München 1968. - Bertil Wiklander, Art. zä 'am: T h W A T 2 (1977) 621—626. — Ada Yardeni, R e m a r k s on the Priestly Blessing on T w o Ancient Amulets from Jerusalem: V T 41 (1991) 1 7 6 - 1 8 5 . T i m o Veijola
III. N e u e s T e s t a m e n t 1. Segen
2. Segen und Fluch
3. Fluch
(Literatur S. 83)
Segen und F l u c h spielen i n n e r h a l b der frühchristlichen L i t e r a t u r im Vergleich zum a l t t e s t a m e n t l i c h - j ü d i s c h e n T r a d i t i o n s b e r e i c h e i n e g e r i n g e r e , a b e r n i c h t zu u n t e r s c h ä t zende R o l l e . D a b e i k o m m e n die P h ä n o m e n e von Segen und Fluch s o w o h l voneinander u n a b h ä n g i g als a u c h in b e w u ß t a n t i t h e t i s c h e r G e s t a l t z u r S p r a c h e . 1.
Segen
1.1.
D a ß d a s f r ü h e C h r i s t e n t u m an d a s a l t t e s t a m e n t l i c h - j ü d i s c h e
Segensverständ-
nis a n k n ü p f t , z e i g t s i c h k l a r b e i d e r T h e m a t i s i e r u n g d e s Vätersegens.
Insbesondere
der Abrahamssegen bar gemacht.
(—»Abraham) wird für das eigene theologische Anliegen
So hat sich
—»Paulus z u f o l g e a n d e n H e i d e n c h r i s t e n
frucht-
die d e m
„gläu-
b i g e n " A b r a h a m ( G a l 3 , 9 ; vgl. 3 , 6 ; R o m 4 , 3 ; G e n 1 5 , 6 L X X ) g e g e b e n e S e g e n s v e r h e i ßung
erfüllt,
nävza
daß
in
ihm
alle
Heiden
r d eOvrj, G a l 3 , 8 b ; vgl. G e n
gesegnet
12,3 L X X ;
werden
{¿VEU^oyrjOriaovTai
18,18 L X X ) .
E'V
D a b e i wird der
aoi
„Segen
A b r a h a m s " (Gal 3 , 1 4 a ) mit der G a b e des Geistes identifiziert und d a m i t zugleich als „ R e c h t f e r t i g u n g aus G l a u b e n "
(Gal 3 , 8 a ; vgl. 2 , 1 5 — 2 1 ) b e s t i m m t . G e m ä ß der luka-
nischen Petruspredigt gilt dieser Segen zuerst e i n m a l Israel und d a n n a u c h den a n d e r e n V ö l k e r n ( A c t 3 , 2 5 f . ) . „ P e t r u s " b e g r e i f t J e s u s als S e g e n s m i t t l e r ; s o l l e n d o c h d u r c h i h n als d e m „ S a m e n A b r a h a m s " a l l e M e n s c h e n g e s e g n e t w e r d e n . J e d o c h k a n n d i e s e r S e g e n nur w i r k s a m w e r d e n , w e n n die angeredeten J u d e n sich von ihren „ b ö s e n T a t e n "
(Act
3 , 1 3 - 1 5 . 1 7 ) a b k e h r e n . D i e in g e d u l d i g e m A u s h a r r e n v o n A b r a h a m e r l a n g t e E r f ü l l u n g der
ihm
durch
Schwur
2 2 , 1 6 f . ) f ü h r t d e r auctor
bekräftigten
Segensverheißung
ad
als E r w e i s der U n a b ä n d e r l i c h k e i t von
Hebraeos
(Hebr
6,13-15;
vgl.
Gen
Gottes
H e i l s r a t s c h l u ß an. D a r ü b e r hinaus bezieht sich der —»Hebräerbrief an mehreren Stellen a u f die M i t t e i l u n g d e s S e g e n s d u r c h w e i t e r e P a t r i a r c h e n g e s t a l t e n
(Hebr
7,1.6f.;
1 1 , 2 0 f.; 1 2 , 1 6 f . ) . 1.2.
I m n e u t e s t a m e n t l i c h e n S c h r i f t t u m w i r d v i e l f a c h d e r S e g e n m i t Christus
in V e r -
b i n d u n g g e b r a c h t . S o f u n g i e r t C h r i s t u s n i c h t n u r in G a l 3 , 1 4 u n d A c t 3 , 2 6 ( s . o . 1 . 1 . ) als S e g e n s m i t t l e r , s o n d e r n a u c h in d e r g r o ß e n E i n g a n g s e u l o g i e ( z u r E u l o g i e vgl. 5 , 5 6 2 , 4 0 - 5 6 3 , 2 ) d e s - > E p h e s e r b r i e f s : In E p h 1 , 3 - 1 4 w i r d G o t t „ g e s e g n e t "
TRE
(evAoytjTÖQ),
d . h . g e p r i e s e n , w e i l e r „ i n C h r i s t u s " d i e G l ä u b i g e n „ m i t a l l e m g e i s t l i c h e n S e g e n in den H i m m e l n gesegnet h a t " . Dieser „ p n e u m a t i s c h e " Segen meint G o t t e s umfassendes
80
Segen/Segen und Fluch III
Heilshandeln in Christus. Die „Christologisierung" des Segens tritt besonders in den als Segensworte aufzufassenden Gnadenwünschen (s.u. 1.4.) frühchristlicher Briefe hervor. Vom Segen Christi ist explizit in Rom 15,29 die Rede (ev Tibipcbßan eüXoyiag Xpiaxov). 1.3. Die Perikope von der Kindersegnung (Mlc 1 0 , 1 3 - 1 6 par. Mt 1 9 , 1 3 - 1 5 / L k 18, 1 5 - 1 7 ) ist die einzige Überlieferung im Neuen Testament, die von einer Segnung durch den irdischen Jesus erzählt. Danach werden Kinder zu Jesus gebracht, damit er sie berühre, d.h. segne. Jesus, zornig über das abweisende Verhalten seiner Jünger, spricht den Kindern - gleich den Armen (Lk 6,20) - das Reich Gottes zu, umarmt und segnet sie, indem er ihnen die Hände auflegt. Der Geschichte von der Kindersegnung kam vermutlich innerhalb der Jesusbewegung die Funktion zu, angesichts des afamiliären Ethos der Nachfolge (vgl. Mk 10,29f.; Lk 14,26 par. M t 10,37) die Zugehörigkeit der Kinder zum Reich Gottes zu unterstreichen. Möglicherweise diente diese Erzählung später zur Legitimation einer kirchlichen Kindersegnung, die dann vom 2./3. Jh. an „als selbständiger Akt aus der liturgischen Tradition verschwunden und mit der Kindertaufe verbunden worden ist" (Hahn 501). Als Segensgestus, der göttliche Kraft überträgt, kann die ->Handauflegung bei der Aussendung von Missionaren (Act 13,3) verstanden werden. Auch die Handauflegung im Zusammenhang der Taufe (Act 8,17; 19,6; Hebr 6,2) und der -»Ordination (I Tim 4,14; 5,22; II Tim 1,6) stellt eine Segenshandlung im weiteren Sinne dar. Vgl. auch Lk 2,34: Segnung ohne den Ritus der Handauflegung. 1.4. Innerhalb der Missionsinstruktion der Logienquelle wird den Boten beim Betreten eines Hauses der Segensgruß befohlen (Lk 10,5 par. Mt 10,12). Findet dieser Friedenswunsch Gehör, so wird seine segnende Macht über die Bewohner kommen und sie somit in den Heilsbereich der sich durchsetzenden eschatologischen Gottesherrschaft aufnehmen; anderenfalls wird der Friede auf die Boten zurückkehren (Lk 10,6 par. M t 10,13). Und wie der Auferstandene mit seinem eiprjvrj üfilv seinen Jüngern den Segensgruß entbietet (Lk 24,36; Joh 20,19.26), so nimmt er mit erhobenen Händen segnend von ihnen Abschied (Lk 24,50f.) - wie es der Hohepriester am Ende der Liturgie tut (Sir 50,20f.; vgl. Lev 9,22). Den Segensworten bei Begrüßung und Abschied entsprechen in vielen neutestamentlichen Briefen der einleitende und der abschließende Gnadenwunsch (vgl. T R E 5,563, 1 0 - 5 6 4 , 3 ; Brun 3 5 - 3 9 ; Berger, Apostelbrief 1 9 1 - 2 0 7 ) . Zu Recht hat der dreigliedrige und damit - neben Apk l , 4 b - 5 a - am stärksten ausgebaute neutestamentliche Gnadenwunsch II Kor 13,13 im kirchlichen Sprachgebrauch die Bezeichnung „apostolischer Segen" erhalten. 1.5. Dem Huldigungsruf süXoyrjßevoq („gepriesen", „gesegnet") eignet einerseits der Charakter der Preisung, die im Gruß laut wird, andererseits bedeutet er zugleich die Anerkennung des Gegenübers als von Gott gesegnet (Maria: Lk 1,42; Jesus: Mk 11,9 par. M t 21,9/Lk 19,38/Joh 12,13; Lk 13,35 par. M t 23,38). 1.6. Gemäß der jüdischen Vorschrift, daß in dieser Welt nichts ohne vorherigen Segensspruch genossen werden darf (bBer VI,1 [35a]; vgl. Bill. IV/2, 6 1 6 - 6 2 4 . 6 2 7 - 6 3 4 ) , spricht Jesus vor der Speisung der 5.000 bzw. der 4.000 das Lobgebet (Mk 6,41 par. M t 14,19/Lk 9,16; Joh 6,11 bzw. M k 8,7 par. Mt 15,36). Die Abfolge von Nehmen des Brotes, Lobgebet, Brechen (nicht in Joh 6,11) und Austeilung des Brotes verbindet die Speisungsgeschichten mit den Abendmahlsberichten (Mk 14,22 par. Mt 26,26/Lk 22,19; I Kor 11,23f.; s.a. Lk 24,30). Der jüdische Hintergrund zeigt sich deutlich in I Kor 10,16, wenn Paulus den Kelch beim Herrenmahl als „Segensbecher" (rö notrjpiov tfji; EÖÄoyiaq) bezeichnet, „über dem wir den Segen [d.h. das Lobgebet] sprechen" (o euAoyoßfiEv).
Segen/Segen und Fluch III
81
1.7. In II Kor 9,5 bezeichnet Paulus die Kollekte f ü r die G e m e i n d e in Jerusalem als Segensgabe (evXoyia), „weil sie die d a n k b a r e A n t w o r t der G l a u b e n d e n auf den Segen Gottes ist, den sie in Christus e m p f a n g e n h a b e n " (Friedrich Lang, Die Briefe an die Korinther, z 1994 [ N T D 7 1 7 ] 324). Das großzügige Spenden motiviert der Apostel mit der Z u s a g e , d a ß „der in Segensfülle Säende auch in Segensfülle e r n t e n " werde (II Kor 9,6b). 2. Segen und
Fluch
2.1. Im —>Galaterbrief erörtert Paulus das Verhältnis von Gesetz und Evangelium in der Perspektive von Segen und Fluch: W ä h r e n d alle Heiden, die wie A b r a h a m glauben, a u f g r u n d des G l a u b e n s gesegnet w e r d e n , stehen alle diejenigen, die sich f ü r ihr Heil auf die Werke der T o r a verlassen, unter d e m Fluch, da ihnen volle Gesetzeserfüllung unmöglich ist und bereits die geringste Ü b e r t r e t u n g den Fluch zur Folge hat (Gal 3 , 8 - 1 0 mit Z i t a t aus D t n 27,26). D a d u r c h , d a ß Christus als der Sündlose (vgl. II Kor 5,21) und d a m i t dem Fluch des Gesetzes nicht U n t e r w o r f e n e den auf Juden und Heiden lastenden Fluch d u r c h seinen Tod am Kreuz auf sich g e n o m m e n hat, k ö n n e n die zum G l a u b e n g e k o m m e n e n H e i d e n d u r c h Christus den dem A b r a h a m verheißenen Segen e m p f a n g e n , nämlich die G a b e des Geistes (Gal 3,13f.). O f f e n b a r in diesem Sinne wird Christus in Did 16,5 als d e r „Verfluchte" (Kazä0ep.a) bezeichnet. Spricht Paulus in Gal 3 vom Segen des Evangeliums und vom Fluch des Gesetzes, so schreibt er dagegen in II Kor 2,15 f. dem Evangelium als solchem eine zweifache W i r k u n g zu, eine zum Segen und eine zum Fluch: Der Apostel ist f ü r die, die verlorengehen, ein „ T o d e s d u f t " und f ü r die, die gerettet werden, ein „ L e b e n s d u f t " . 2.2. Im sog. Gleichnis vom Endgericht M t 2 5 , 3 1 - 4 6 scheidet der M e n s c h e n s o h n König zwischen der G r u p p e der „ G e s e g n e t e n " (euAoytjßsvoi) u n d der der „Verfluchten" (.Ka.TrjpafJ.evoi); vgl. auch I Clem 30,8 - hier jedoch o h n e T h e m a t i s i e r u n g des Gerichts. M i t der gleichnishaften Rede vom Acker (Hebr 6,7f.), bestimmt durch die Antithese von Segen und Fluch, wird verdeutlicht, d a ß es f ü r diejenigen, die einmal von G o t t erleuchtet w o r d e n sind, d a n n aber vom G l a u b e n abfielen, keine erneute U m k e h r mehr gibt (Hebr 6 , 4 - 6 ; vgl. 1 0 , 2 6 - 3 2 ) . 2.3. Die Verbindung von Seligpreisungen und Weherufen (Lk 6 , 2 0 b - 2 6 ; vgl. T o b 13,12; syrBar 10,6f.; slHen 5 2 , 1 - 1 4 ; Testisaak 2,5f.; s.a. ä t h H e n 9 9 , 1 0 - 1 5 ) w u r d e offenbar d a d u r c h ermöglicht, d a ß m a n „selig" (fiaKäpioq)/„wehe" (ouai) im Sinne von „ g e s e g n e t " / , , v e r f l u c h t " verstand (Berger, Formgeschichte 202); vgl. auch die „Seligpreisung des S a b b a t a r b e i t e r s " in Lk 6,4 D . 2.4. Innerhalb der frühchristlichen Paränese findet sich vielfach die Mahnung, zu segnen statt zu fluchen (als Jesuswort: Lk 6,28; Justin, I apol. 15,9; o h n e Bezug auf Jesus: Did 1,3b; s . a . I Kor 4,12b; I Petr 3,9; Polyk 2,2). Der traditionsgeschichtliche A u s g a n g s p u n k t d ü r f t e R o m 12,14 sein: euloysize zovq ömKovzaq, eoXoyeize Kai ßtj Kazapäade (Sauer, E r w ä g u n g e n ; ders., R ü c k k e h r 2 2 0 - 2 2 8 ) . „ M i t d e m Fluchverbot wird . . . zum Rechtsverzicht, zur Preisgabe eines Mittels sakraler Selbsthilfe a u f g e r u f e n " , w ä h r e n d die W a h r u n g des eigenen Rechts G o t t überlassen wird (Wiefel 222). Ebenfalls im Sinne eines Fluchverbots w e n d e t sich der Jakobusbrief gegen das zwiespältige Verhalten des M e n s c h e n , d a ß aus seinem M u n d Segen u n d Fluch gleichermaßen h e r v o r k o m m e n (Jak 3 , 9 - 1 2 ; vgl. slHen 52,1 f.5f.). D a ß den J ü n g e r n Jesu der Fluch untersagt ist, zeigt schließlich die Geschichte vom ungastlichen Samaritanerdorf (Lk 9,51-56). 3. Fluch Ein prinzipielles Fluchverbot jedoch gibt es im f r ü h e n C h r i s t e n t u m nicht. Im Bereich der Mission und der Gemeindedisziplin m a c h t e m a n vom Fluch G e b r a u c h , u m zum
82
Segen/Segen und Fluch III
einen die rechte Lehre und die sittliche Ordnung der Gemeinde zu schützen und zum anderen religiöse Gegner zu bekämpfen. 3.1. Auf dem Feld der —•Mission dient der Fluch als Mittel, Widerstände gegen die christliche Botschaft zu überwinden und dieser dadurch zum Durchbruch zu verhelfen (Act 8 , 2 0 - 2 3 ; 1 3 , 6 - 1 2 ) . 3.2. Innergemeindlich (-»Kirche) richtet sich in I Kor 16,22a der Fluch (fjTCO avä.6e^.a) gegen jedes Gemeindeglied, das „den Herrn nicht liebt", also sich seinem Willen nicht unterstellt (vgl. etwa I Kor 5 , 1 - 1 3 ; 1 0 , 6 - 2 2 ; 1 1 , 1 7 - 3 4 ) . Das Anathema überantwortet den Betreffenden dem Zorn Gottes ebenso wie die beiden Fluchsprüche in Gal 1,8f., die sich potentiell gegen jeden richten, der ein anderes Evangelium lehrt als das, welches Paulus den Galatern verkündigte. Die Verbindung des Fluches mit dem Ruf ßapäva da (I Kor 16,22b), der dem weltordnenden endgerichtlichen Einschreiten des Kyrios gilt, dient zu dessen Bekräftigung (vgl. T R E 1 2 , 4 7 2 , 1 2 - 5 0 ) . Dem bedingten Fluch zu Beginn des Galaterbriefs entspricht im Briefschluß ein bedingter Segen über die, die dem Evangelium des Paulus treu bleiben (Gal 6,16), wodurch „der Brief als Träger von Fluch und Segen ein ,magischer Brief' wird" (Betz 70). Um die Heiligkeit der Gemeinde in bezug auf Ethos und Lehre zu bewahren (vgl. I Kor 5 , 6 - 1 3 ; II Kor 6 , 1 6 - 1 8 ; Eph 2 , 2 0 - 2 2 ) , sprach man innerhalb des frühen Christentums den Fluch auch über ganz bestimmte Gemeindeglieder aus (Übergabe an den Satan in I Kor 5,1—5 als todbringender Fluch; in I T i m 1,20 nur als „Züchtigung"). Der Verfasser des 2. Petrusbriefs bezeichnet die bekämpften Irrlehrer als „Kinder des Fluches" (II Petr 2,14). Von einem Fluchgeschehen ist auch die Rede in der Strafwundererzählung (s.u. 3.3.) von Hananias und Saphira (Act 5 , 1 - 1 1 ) . Allerdings spricht Petrus gegenüber Hananias keinen Fluch aus, sondern bringt allein dessen Schuld zur Sprache (V. 3f.), dagegen kann sein letztes Wort gegenüber Saphira (V. 9c) als Fluch gedeutet werden. Schließlich hat der Verfasser der Johannesapokalypse die Integrität seines Buches durch einen Fluch abgesichert (Apk 2 2 , 1 8 b - 1 9 ) . 3.3. Neben den Strafwundern des Petrus und Paulus (Act 5 , 1 - 1 1 [s.o. 3.2.]; 8 , 1 8 - 2 4 und 1 3 , 6 - 1 2 [s.o. 3.1.]) findet sich im Neuen Testament nur noch eine weitere Strafwundererzählung: Jesu Verfluchung des Feigenbaums (Mk 11,12—14.20f. par. M t 21, 1 8 - 2 0 ) , dessen Verdorren das Ende der Heilsgeschichte Israels symbolisiert (vgl. Kollmann, Jesus 276). In Lk 9,51 — 56 wird dagegen von Jesus ein Strafwunder abgelehnt (s.o. 2.4.). Innerhalb der späteren apokryphen Überlieferung erfreuen sich dem Kind Jesus oder den Aposteln zugeschriebene Strafwunder wachsender Beliebtheit: Kindheitserzählung des T h o m a s 3; 4; 6 - 8 ; 14f.; A c t j o h 3 7 - 4 5 ; 84; 86; ActPaul p. 2 8 - 3 5 (Pap. Heid.); ActPetr (Actus Vercellenses) 2; 15; ActThom 6 - 9 (vgl. Brun 8 1 - 8 4 ) . 3.4. Mit einer bedingten Selbstverfluchung (Mk 14,71 par. M t 26,74; die Auslassung von Schwur und Selbstverfluchung in Lk 22,60 dient der Entlastung des Petrus) bekräftigt —»Petrus im H o f des Hohenpriesters seinen Schwur, Jesus nicht zu kennen. Offenbar aus Gehorsam gegenüber dem Schwurverbot (Mt 5 , 3 3 - 3 7 ; J a k 5,12) machte das frühe Christentum von dieser Form der Unschuldsbeteuerung keinen Gebrauch. Ebensowenig benutzte es das in Act 23,12.14.21 bezeugte „zeitlich beschränkte Gelübde unter der verschärften Bedingung des Fluches" (Becker 23). Selbstverfluchungen besonderer Art begegnen in R o m 9,3 und Gal 1,8 (s.o. 3.2.). 3.5. Bei dem Fluch über Jesus ('Avä6e/ua 'Irjaoui;) handelt es sich im Kontext von I Kor 12,3a weder um die von synagogalen Gerichten (vgl. Act 26,11; Justin, I apol. 31,6) oder heidnischen Gerichtsbehörden (vgl. Plinius d.J., ep. X , 9 6 , 5 ; MartPol 9,3) erzwungene Lästerung Christi noch um eine „gnostische Parole oder Homologie in Korinth" (so Brox 110 unter Berufung auf Origenes, Cels. VI,28 und comm. in I Kor 12,3;
S e g e n / S e g e n u n d F l u c h III
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I r e n a u s , h a e r . 1,24,4; ä h n l i c h S c h m i t h a l s 1 1 7 - 1 2 2 ) , s o n d e r n u m e i n e a n t i t h e t i s c h e A n a l o g i e b i l d u n g z u r c h r i s t l i c h e n A k k l a m a t i o n Kvpioq 'lr\aoüq, (I K o r 1 2 , 3 b ) , m i t w e l c h e r d i e c h r i s t u s f e i n d l i c h e G r u n d h a l t u n g v o n Seiten d e r H e i d e n (vgl. I K o r 12,2) u m s c h r i e b e n wird. 3.6. Christen w u r d e n zu Adressaten des Fluches i m Z u s a m m e n h a n g d e s S y n a g o g e n a u s s c h l u s s e s (vgl. L k 6 , 2 2 ; J o h 9 , 2 2 ; 12,42; 16,2), bei d e m sie S c h m ä h u n g (Lk 6,22) u n d o f f e n b a r a u c h V e r f l u c h u n g e r f a h r e n m u ß t e n (vgl. Bill. IV, 3 0 2 . 3 2 7 f . ) . S o r i c h t e t e sich a u c h d i e in d e n 8 0 e r J a h r e n d e s 1. J h . in d i e z w ö l f t e B i t t e d e s A c h t z e h n b i t t e n g e b e t s e i n g e f ü g t e V e r f l u c h u n g s f o r m e l h a u p t s ä c h l i c h g e g e n J u d e n c h r i s t e n (vgl. T R E 5 , 1 6 4 , 1 3 - 2 3 ) . W e n n in J o h 7 , 4 9 d i e s c h r i f t g e l e h r t e n - » P h a r i s ä e r ü b e r d a s g e s e t z e s u n k u n d i g e V o l k , d e n 'am hä-'ärxs, e i n e n F l u c h a u s s p r e c h e n (vgl. Bill. II, 4 9 4 - 5 1 9 ) , d a n n ist d i e s d a d u r c h veranlaßt, d a ß diese M e n s c h e n z u m G l a u b e n an Jesus g e k o m m e n sind (Joh 7,48). 3.7. N a c h d e m Z e u g n i s d e r J o h a n n e s a p o k a l y p s e w i r d es i m neuen Jerusalem, wie in S a c h 14,11 v e r h e i ß e n , „ n i c h t s V e r f l u c h t e s " m e h r g e b e n ( A p k 2 2 , 3 a ) ; d e n n n u r d i e , d i e in d a s „ L e b e n s b u c h d e s L a m m e s " e i n g e t r a g e n s i n d , d ü r f e n in d i e G o t t e s s t a d t a l s d e n e s c h a t o l o g i s c h e n H e i l s - u n d S e g e n s b e r e i c h e i n g e h e n ( A p k 2 1 , 2 7 ; vgl. 2 2 , 1 4 ) . A l l e a n d e r e n , d e m göttlichen Fluch Verfallenen m ü s s e n d r a u ß e n bleiben (Apk 21,27; 22,15). Literatur H u g o Aust/Dietrich Müller/Wilhelm M u n d l e / T h e o Sorg, Art. Fluchen: T B L N T 4 1 (1977) 3 4 8 - 3 5 3 . - Jürgen Becker, Der Brief an die Galater, 1998 ( N T D 8 / 1 " ) 2 3 - 2 5 . - Johannes Behrn, Art. dväOf.pa ktL: T h W N T 1 (1933) 356f. - M a r t i n Behnisch, Fluch u. Evangelium. 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Segen/Segen und Fluch IV
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Werner Zager
IV. Judentum 1. Zeit des Zweiten Tempels S. 88)
2. Talmudische Zeit
3. N a c h t a l m u d i s c h e Zeit
(Literatur
Der Glaube an die Wirkkraft des Wortes war in der Antike viel größer als beim modernen Menschen. W ö r t e r waren nicht nur abstrakte Begriffe, um Gedanken mitzuteilen, sondern auch „Waffen", die Gut und Böse bewirken konnten. 1. Zeit des Zweiten
Tempels
1.1. Qumran. Einmal jährlich (wohl zum ->Wochenfest) erneuerten die Mitglieder der Gemeinde von - > Q u m r a n den - » B u n d zwischen sich und Gott. In diesem Ritus, vergleichbar der Aufstellung Israels auf den Bergen - » G a r i z i m und Ebal (Dtn 27), segneten die Priester die Gemeinde und verfluchten die Leviten jene, die sich ihr nicht anschlössen (1QS 2 , 2 - 1 8 ) . Vorbild ist der Priestersegen (Num 6 , 2 4 - 2 7 ) , der Fluch als Gegenstück dazu formuliert. Doch gab es auch andere Formeln, z. B. einen Gebetstext ( l l Q B e r ) , in dem der Vorbeter, wohl einer der Führer der Gemeinde, die Beter segnet. 1.2. Tempel. Der Priestersegen ( - » F o r m e l n , Liturgische I. 5.) wurde im Tempel täglich rezitiert (mTam 5,1); auch außerhalb des Tempels segneten die Priester Israel, doch auf andere Art (tSot 7 , 7 f . ) . In der feierlichen Verlesung der T o r a (-»Schriftlesung II) einmal in sieben Jahren wurden auch die Segen und Flüche gelesen (mSot 7,8). Ein Mann konnte seine Frau, die er der Untreue verdächtigte, zum Tempel bringen und in einem Ordal schwören lassen (Num 5 , 1 1 - 3 1 ; mSot). Hatte sie gesündigt, kamen über sie die in der Tora geschriebenen Flüche, wenn nicht, wurde sie gesegnet (bSot 26a). Im Tempel w a r eine goldene Tafel angebracht, auf der diese Segen und Flüche aufgeschrieben waren (tYom 2,3; tSot 2,1). 2. Talmudische
Zeit
2.1. Alltag. M a n segnete jeden, den man traf, mit „Friede (sei über dir)" (bBer 3a; 6a u . ö . ) . M a n segnete den Nächsten oder fluchte ihm (bTaan 5b), und manchmal segnete auch ein Heide einen Juden mit den Worten „Gepriesen sei der Gott der J u d e n " (Dan
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3,28; yPea 3,7,17d; y B M 2,5,8c). N i c h t j u d e n w u ß t e n jüdische Segen zu schätzen, wie T a l m u d (bYom 54b) u n d kirchliche Beschlüsse b e z e u g e n : c a n . 49 v o n Elvira (300—303 n. C h r . ) verbietet einem C h r i s t e n , J u d e n zu b i t t e n , sein Feld zu segnen, w a s b e s t e h e n d e B r a u c h e belegt. M a n c h m a l b a t e n R a b b i n e n einen a n d e r e n R a b b i ( b T a a n 5b) o d e r einen Ältesten u m d e n Segen ( R u t R 6) o d e r segnete ein R a b b i n a c h biblischem B r a u c h (Gen 49,27) v o r d e m T o d seine Schüler (bBer 28b). W o h l aus s p ä t t a l m u d i s c h e r Z e i t s t a m m t der J e r u s a l e m e r B r a u c h , K i n d e r n a c h d e m Fasten des 9. A b v o n d e n Ältesten segnen zu lassen (Sof 18,7). D a s V e r b o t „ D u sollst einen T a u b e n nicht v e r f l u c h e n " (Lev 19,14) d e h n e n die R a b binen auf alle M e n s c h e n a u s (Sifra Q e d o s h i m 2; m S h e v u 4,13), b e s c h r ä n k e n a b e r a n dererseits das Verbot zu fluchen auf die V e r w e n d u n g des G o t t e s n a m e n s ( M e k h N e z i q i n 5; m S a n 7,8; t M a k 5,10; bShevu 3 5 a - b ) . Segensformeln sind z. B.: „Der Heilige, gepriesen sei er, sei N.N. gnädig. Heute sollen aus seinem Haus 100 Ochsen, 100 Schafe und 100 Ziegen kommen" (ARN A 11), oder im Fall eines Kranken, „Gott gedenke deiner zum Heil" (bShab 12b). Fluchformeln sind z.B.: „In deinem Haus seien kein Sauerteig und kein Salz" (ARN A 20). Eine Frau, die mit der Entscheidung eines Richters nicht zufrieden war, fluchte ihm: „Stürzt seinen Sessel u m " (bGit 35a). Eine Perserin verfluchte ihren Sohn nach einem alten Fluch (Hag 2,22) mit dem expliziten Gottesnamen, und er starb (yYom 7,3,40d). So wundert es nicht, wenn es bMeg 15a heißt: „Unterschätze nicht den Segen/Fluch eines einfachen Menschen". Denn offensichtlich konnten Worte Böses oder Gutes bewirken. Nach Ansicht eines Tannaiten wird eine Frau, die den Eltern ihres Mannes in seiner Gegenwart flucht, ohne Ketubba (Auszahlung des Ehevertrags) entlassen (mKet 7,6). Zwei rabbinische Erlasse werden mit „Verflucht" eingeleitet: „Verflucht sei, wer Schweine züchtet, und verflucht sei, wer seinen Sohn griechische Weisheit lehrt" (bSot 49b). Warum gerade diese Erlasse und nicht auch andere, die ebenso der Abwehr fremder Kultur galten, so formuliert wurden, ist unbekannt. R. Simeon ben Jochai soll jeden verflucht haben, der betie elohim mit „Göttersöhne" übersetzte (BerR 26,5). Von manchen Rabbinen heißt es, daß sie verfluchten, wer sich in Gesetzesfragen nicht an ihre Meinung hielt, so etwa Rab (bShab 120b) und Abaje (bBer 29a; bShab 120b usw.). R. Chijja bar Abba soll beim Anblick eines Haggadabuches (das Schreiben der mündlichen Tora war noch verboten) geflucht haben, dem Schreiber des Buches werde die Hand abgehauen (yShab 16,1,15c). Den Fluch fanden die Rabbinen durch Neh 13,25 gerechtfertigt (bMQ 16a). D e n n o c h w a n d t e m a n d e n Fluch h a l a c h i s c h n i c h t o f t a n , d a m a n seinen N u t z e n bezweifelte (bYom 75a), f ü r c h t e t e , er k e h r e auf d e n F l u c h e n d e n z u r ü c k (bSan 48b), o d e r d e n - » B a n n f ü r die w i r k s a m e r e Strafe hielt. Die rabbinische Literatur Palästinas fügt an die Namen der an der Zerstörung Jerusalems und des Tempels Schuldigen einen Fluch: Den Namen von Nebukadnezzar (yMeg 3,7,74c), Rufus (yTaan 4,5,69b), Trajan (Petichtot zu EstR) und Hadrian (BerR 10) folgt der Fluch „Seine Gebeine mögen zermalmt (und seiner nicht gedacht) werden". Dagegen fügt man dem Namen eines Verstorbenen hinzu: „sein Andenken sei zum Segen", gemäß Prov 10,7: „Das Andenken des Gerechten ist gesegnet, der Name der Frevler vermodert". In vielen spätantiken Synagogen finden sich Segensinschriften, z. B. „Friede über Israel" (Jericho, Ps 125,5), „Friede sei auf diesem Ort und an allen Orten Israels" (Bar'am), dazu Segen für einzelne, wie: „N.N. sei zum Guten und zum Segen gedacht, Friede" (Aschdod), „Der König der Welt segne sie für ihre Mühen, Amen, Amen, Sela" (Hammat Gader). In einem Fall enthält die Inschrift auch einen Segen „für die Rettung unserer Herren und Herrscher, der Kaiser . . . " (Qitsion in Galiläa), ähnlich dem traditionellen Gebet für das Heil der Herrscher in der Synagoge. Eine lange Inschrift in der Synagoge von En Gedi enthält u.a. diesen Fluch: „Jeder, der Zwietracht stiftet zwischen einem Mann und seinem Nächsten oder seinen Nächsten bei den Völkern verleumdet, der Dinge seines Nächsten stiehlt oder das Geheimnis der Stadt den Völkern offenbart er, dessen Augen über die ganze Welt schweifen und ihr Verborgenes sehen, er wende seinen Zorn gegen diesen Mann und seine Nachkommen und rotte ihn aus von unter dem Himmel. Und das ganze Volk sage: Amen, Amen, Sela" (Joseph Naveh, On Stone and Mosaic [hebräisch], Tel Aviv 1978,107). Dieser Fluch ist einzigartig; die Anklänge auf Bibelverse sollten den Eindruck verstärken und ein asoziales Verhalten verhindern. Segensinschriften findet man auch auf Grabsteinen, mit Formeln wie „Das Andenken des Gerechten sei zum Segen", „Schalom (über sein Grab; über Israel; über Israel und uns und unsere Söhne, Amen; gutes Ende usw.)". Nicht wenige Grabinschriften enthalten Flüche gegen jeden, der
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das Grab öffnen, zerstören oder verkaufen oder darin jemanden begraben will, der nicht zur Familie des Grabbesitzers gehört. Solche Flüche sind aus Kleinasien, aber auch aus Bet Shearim (z. B. auf Griechisch: „Wer dieses Grab über uns zu öffnen wagt, habe keinen Anteil am ewigen Leben") und Jerusalem bekannt. Dieser Brauch ist alt und war allen Völkern des Alten Orients gemeinsam. Juden Babyloniens (aber nicht nur dort) schrieben Flüche auf Zauberschalen und verbargen diese im Boden. Andere schrieben Gegenflüche, um Schaden durch diese Flüche zu verhindern. Auf diesen Schalen verwendete man gern biblische Flüche, wie z. B. „Der Herr schlage dich mit Wahnsinn" (Dtn 28,28).
Die Rabbinen wußten, daß der Mensch besser denen nicht antwortet, die ihm fluchen (bBer 17a; MTeh 16,11, ed. Shlomo Buber, Wilna 1891, 62a). 2.2. Liturgie. Berakhot (—>Benediktionen 1) sind Bekenntnis und Preis Gottes, Anerkennung, daß Gott gepriesen ist, nicht daß der Mensch ihn segnet. Eine Ausnahme ist, wenn Gott den Hohenpriester Jischmael bittet, ihn zu segnen (bBer 7a). Gewöhnlich bittet der Mensch Gott, daß er ihn segne. So bittet in vielen Berakhot, zumindest im späteren Text, der Beter Gott, daß er das Jahr oder die Beter segne, z. B. „El Schaddai segne euch". Die Rabbinen setzten fest, daß man zweimal täglich Dtn 11,13-21 rezitiert, das aus Segen für den, der die Tora hält, und Fluch für den, der sie nicht einhält, besteht. Der Priestersegen ist in der Synagoge der einzige Fall, wo die Beter durch Vertreter der Gemeinschaft gesegnet werden - die Priester. Der Brauch geht auf den Tempel zurück, und die Rabbinen setzten dafür besondere Halakhot fest (mMeg 4,10). Die biblischen Segen und Flüche (Lev 26; Dtn 28) werden vor dem Wochenfest und vor Neujahr gemäß der Esra zugeschriebenen Taqqana (bMeg 31b) in der Synagoge bis heute gelesen, doch sind sie nun Teil der laufenden Lesung und nicht mehr eine eigene Lesung außerhalb des Zyklus. Auch pflegte man diese Kapitel im Fastengottesdienst zu lesen (mMeg 3,6). Das Volk fürchtete die Flüche, weshalb die Rabbinen eigens lehren mußten, daß (Segen und) Flüche in der Synagoge gelesen und übersetzt werden (bMeg 25b). In talmudischer Zeit verschwand der Fluch weithin aus der Welt des Rituals. Flüche in der Synagoge sind selten. Bekanntestes Beispiel ist der „Ketzersegen", der in Jabne in das Achtzehngebet eingefügt wurde (bBer 28b). Dieser „Segen" ist ein Fluch, den der Beter dreimal täglich rezitiert: „Den Minim und den Verleumdern sei keine Hoffnung". In frühen (palästinischen) Fassungen werden auch die Christen explizit genannt: „Den Abtrünnigen sei keine Hoffnung, und die frevlerische Herrschaft werde schnell ausgerottet in unseren Tagen, und die Christen und die Minim sollen im Augenblick vergehen; sie seien ausgelöscht aus dem Buch des Lebens, und mit den Gerechten sollen sie nicht geschrieben werden". Andere Flüche wie „Verflucht sei Haman (und gesegnet Mordechai)" oder „Verflucht sei Seresch (die Frau Hamans) und gesegnet Ester" (bMeg 7b) gelten nicht als Pflicht und werden nicht explizit aktualisiert. Nach einem späten Midrasch klagte Haman die Juden vor Artaxerxes an, die Juden verfluchten mit der Torarolle in der Hand die Heiden (YalqEst §1054). In talmudischer Literatur gibt es keinen Hinweis auf einen solchen Brauch, auch wenn z. B. Pijjutim Jannais scharfe Flüche gegen die Heiden enthalten.
J. Nachtalmudische
Zeit
Das traditionelle Judentum ist weithin talmudisch geprägt. Doch gibt es wie in jeder lebendigen Kultur auch hier Neuerung und Änderung gegenüber früher. 3.1. Alltag. Der traditionelle Segen bei freudigen Anlässen wie Geburt oder Hochzeit ist mazal tob. Am Neujahrsabend segnet jeder seinen Nächsten mit den Worten „Für ein gutes Jahr sollt ihr eingeschrieben und gesiegelt sein", oder einfach „ein gutes J a h r " . Der seit über hundert Jahren verbreitete Brauch, Neujahrskarten zu versenden, entstand wohl in Europa unter christlichem Einfluß. Eltern segnen ihre Kinder am Vorabend von Sabbat und Versöhnungstag, wobei sie ihnen die Hände auflegen; ähnlich kommen die Chasidim jederzeit zu ihrem Rab um seinen Segen. Aus neuerer Zeit stammt der Brauch, im Haus den „Haussegen" aufzuhängen, ein kleines Schild mit den Worten „In dieses Haus komme keine Not" oder
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ähnlich. Verwandt ist der seit Ende des Mittelalters belegte Brauch, Segenstafeln in der Sukka (mit Texten wie Dtn 28,6) aufzuhängen. In modernen Synagogen kann man Gedenktafeln mit Segen für die Spender sehen. Auf Grabsteinen finden sich Worte wie „Sein Andenken sei gesegnet", was man auch anfügt, wenn man den Namen eines Toten erwähnt. Über dem Eingang öffentlicher Gebäude sieht man manchmal den Segen „Gesegnet seien, die da k o m m e n " . Haben sich auch Zahl und Form von Segen mit der Zeit vermehrt, so haben die von Flüchen dagegen abgenommen, wohl auch durch den Einfluß von Maimonides (—>Mose ben Maimon), der im Verbot des Fluchs eine der Wurzeln der Tora sieht. Der R. Jehuda ha-Chasid zugeschriebene Sefer Chasidim (12. Jh.) verbietet, zu fluchen (§1443) oder auch nur dort zu wohnen, wo man flucht (§129). §1438 gibt einen Rat, wie man eine Mutter davon abhält, ihren Kindern zu fluchen; nach § 1 4 3 9 fallen die Kinder dessen, der zu fluchen pflegt, ab, oder der Fluch kehrt auf einen zurück. Das Eifersuchtsordal (s.o. 1.2.) war einst auf den Tempel beschränkt, doch kennt man Fälle, wo ein ähnlicher Ritus in nachtalmudischer Zeit ausgeführt wurde. Gewisse D o k u m e n t e (etwa zur Steueraufteilung) enthalten Segens- und Fluchformeln zur Bekräftigung, z . B . : „ J e d e r , der sich von der G e m e i n d e absondert und diese Bedingungen übertritt, der sei in Bann, Verbannung und im Fluch, mit dem J o s u a ben Nun A c h a n ben Serach und J e r i c h o g e b a n n t hat, er habe keinen Anteil am G o t t Israels, und nicht sehe er den Aufbau J e r u s a l e m s " (vgl. S i m c h a Assaf, Me-sifrut h a - G e o n i m , J e r u s a l e m 1933, 2 1 3 - 2 1 6 ) .
Im 10. J h . verfaßte einer der großen Dichter Spaniens, R . Josef ben Isaak ibn Abitur (gest. ca. 1012), einen -»Pijjut, der einzig aus Flüchen besteht: „Klage und Wehgeschrei soll sie umgeben von ihren Häuptern her ..., und ihre Flüche sollen sie umgeben von ihren Häuptern bis zu ihren Fersen, Amen, Sela" (vgl. Ezra Fleischer, Bechinot beschirato schel Rabbi Josef ibn Abitur: Asufot 4 [1990] 1 2 7 - 1 8 8 , hier 163). Allem Anschein nach wurde der Pijjut im Mittelalter in Bannzeremonien rezitiert. Volkskundler haben ganze Sammlungen von Flüchen auf Jiddisch und Hebräisch zusammengetragen. 3.2. Liturgie. Wohl schon seit Raschi (-»-Salomo ben Isaak, zu bMeg 31b) pflegt man die Flüche in der Toralesung leise zu lesen, wohl, um ihre Wirksamkeit zu verhindern. Aus Vorsicht wehrt man sich dagegen, bei diesem Abschnitt zur Tora aufgerufen zu werden; manchmal las man die Flüche leise oder verpflichtete den Synagogendiener oder bezahlte Arme dafür, diesen Abschnitt zu lesen. Das Gebet „Errettung k o m m e " stammt wohl aus Babylonien. Es enthält einen Segen für die Leiter der Gemeinde und der Jeschibot. Dieses Gebet wird bis heute an Sabbaten verrichtet. Im Mittelalter entwickelte sich eine besondere Art von Segensgebeten für bestimmte Gruppen. Nach ihrer Einleitung heißen sie mi sche-berakh. Alle diese Gebete folgen der Form „Wer X gesegnet hat, segne auch Y " . Über 150 Berakhot dieser Art entstanden im Lauf der Jahre. Sie sind für verschiedene Gruppen bestimmt, für Kranke, solche, die Tora lernen usw. Heute verwendet man nur einen kleinen Teil dieser Gebete, nämlich jene, die rund um die Lesung der Tora rezitiert werden. Mit Entstehen des Staates Israel wurde ein Gebet zum Wohl des Staates verfaßt (wohl von Schmuel Josef Agnon [ 1 8 8 8 - 1 9 7 0 ] ) , das man in den meisten neueren Gebetbüchern findet. Man betet es an allen Sabbaten und Festen; charedisch-antizionistische Gruppen lehnen dieses Gebet ab. Im aschkenasischen Ritus war es in manchen Gemeinden üblich, am Versöhnungstag den Heiden zu fluchen. Ein Pijjut zählt die Namen vieler Völker auf und bittet Gott, sie zu vernichten. Heute wird der Text nicht mehr verwendet. Ähnlich enthält die PesachHaggada Verse mit Flüchen, so Ps 79,6: „Gieß deinen Zorn aus über die Heiden, die dich nicht kennen". Die späteren Tosafisten zitieren Beter zu Purim mit den Worten:
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„Verflucht seien alle Frevler, gesegnet seien alle J u d e n " , und natürlich g a b es auch andere F o r m e n , doch o h n e verbindliche H a l a c h a . I m 18. J h . pflegte m a n in J e r u s a l e m den B r a u c h der „Auflösung der F l ü c h e " , um alle gegen den „ A u f l ö s e r " gerichteten F l ü c h e und Z a u b e r , ähnlich der Auflösung der G e l ü b d e , für nichtig zu e r k l ä r e n . D e r T e x t beginnt mit den W o r t e n : „ G e l ö s t seien alle F l ü c h e und Verfluchungen, B a n n f l ü c h e und B a n n u n g e n . . . , Z a u b e r und alle bösen W o r t e " (s. B a r - I l a n ) . Spätestens seit 1 9 0 5 k e n n t m a n ein Fluchritual, worin man einen M e n s c h e n verflucht, um ihn zu T o d e zu bringen. D e r R i t u s heißt pulsa de-nura ( „ F e u e r s t ä b e " nach b Y o m 7 7 a ; b H a g 15a) und ist nach M e i n u n g der K a b b a l i s t e n alt. M a n rezitiert dabei Psalmen, verflucht unter N e n n u n g von E n g e l s n a m e n , bläst das S c h o f a r und löscht Kerzen aus. J e r u s a l e m e r C h a r e d i m verfluchten so David Jellin ( 1 8 6 4 - 1 9 4 1 ) , der einige M o n a t e später s t a r b , oder 1957 den J e r u s a l e m e r Bürgermeister G e r s h o n A g r o n ( 1 8 9 4 - 1 9 5 9 ) . 1996 vers a m m e l t e n sich T a u s e n d e C h a r e d i m in J e r u s a l e m , um A r c h ä o l o g e n zu verfluchen, die G r ä b e r öffnen. J u d e n pflegten einen B r i e f o d e r eine andere Sache mit einem Segen zu beenden, und so sagt m a n bis heute (im A n s c h l u ß an die P a j t a n i m ) zu N e u j a h r : „ E s ende das J a h r mit seinen Flüchen, es beginne das J a h r mit seinen S e g e n " . Literatur H.B. Auerbach, Ein sonderbarer Mischeberach (Segensspruch). Ein kulturhist. Dokument aus dem 17. Jh.: Z G J 9 (1972) 1 4 7 - 1 5 2 . - M e i r Bar-Ilan, Berakhot u-q!alot niqre'ot lifne Rosh ha-Shana: Sinai 110 (1992) 2 9 - 3 5 . - Aharon Demski, Hithafekh kisse malka. The Cultural Continuum of a Canaanite Curse (hebräisch): Les. 34 (1969/70) 85f. - Charles Duschinsky, The Yekum Purkan: Livre d'Hommage ä la memoire du Dr. Samuel Pomanski, Warschau 1927 (Nachdr. Jerusalem 1969) 1 8 2 - 1 9 8 . - John G. Gager, Curse Tablets and Binding Spells from the Ancient World, Oxford 1992. - Elliott Horowitz, „And it was reversed". Jews and their Enemies in the Festivities of Purim (hebräisch): Zion 59 (1994) 1 2 9 - 1 6 8 . - Reuven Kimelman, Birkat ha-Minim and the Lack of Evidence for an Anti-Christian Jewish Prayer in Late Antiquity: Ed P. Sanders (ed.), Jewish and Christian Seifdefinition, Philadelphia, Pa., II 1981, 2 2 6 - 2 4 4 . 3 9 1 - 4 0 3 . - Hayyim Merhavya, The Caustic Poetic Rebuke (Shamta) in Medieval Christian Polemic Literature (hebräisch): Tarb. 41 (1971/72) 9 5 - 1 1 5 . - Joseph Naveh/Shaul Shaked, Amulets and Magic Bowls, Jerusalem 1985, 1 3 4 - 1 4 5 . 1 7 2 - 1 7 9 . - Bilhah Nitzan, Qumran Prayer and Religious Poetry, 1994 (StTDJ 12) 1 1 9 - 1 4 3 . - Eileen Schuller, Some Observations on Blessings of God in Texts from Qumran: Harold W. Attridge/John J . Collins/Thomas H. Tobin (Hg.), Of Scribes and Scrolls. Studies . . . Presented to John Strugnell, New York 1990, 1 3 3 - 1 4 3 . - Joe Singer, How to curse in Yiddish, New York 1977. - Johan H . M . Strubbe, Curses Against Violation of the Grave in Jewish Epitaphs from Asia Minor: Jan Willem van Henten/Pieter W. van der Horst (Hg.), Studies in Early Jewish Epigraphy, 1994 (AGJU 21) 7 0 - 1 2 8 . - Pieter W. van der Horst, Ancient Jewish Epitaphs, Kampen 1991, 5 4 - 6 0 . - Adam S. van der Woude, Ein neuer Segensspruch aus Qumran (11Q Ber): Bibel u. Qumran. FS Hans Bardtke, Berlin 1968, 2 5 3 - 2 5 8 . - Abraham Yaari, The Mi she-berakh Prayers; History and Texts (hebräisch): QS 33 (1957/58) 1 1 8 - 1 3 0 . 2 3 3 - 2 5 0 . - Israel J . Yuval, Vengeance and Damnation, Blood and Defamation. From Jewish Martyrdom to Blood Libel Accusations (hebräisch): Zion 58 (1993) 3 3 - 9 0 . Meir Bar-Ilan
V. D o g m a t i s c h 1. Verstehenszugänge 2. Segen und Fluch als gegensätzliche Folgezusammenhänge 3. Segen als Vermittlung von Heil und Wohl 4. Segen als Antwort auf die Frage nach dem Sinn des Lebens 5. Segen als Wort und als Handlung (Literatur S. 92) 1.
Verstehenszugänge
Als religiöse U r w o r t e appellieren die Begriffe Segen und Fluch an G r u n d e r f a h r u n g e n des M e n s c h e n , die eine positivistische W i r k l i c h k e i t s a u f f a s s u n g sprengen. Sie stellen ein Verständnis von A u t o n o m i e in F r a g e , demzufolge der M e n s c h sowohl im Guten als
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auch im Bösen nur selbstbestimmt handeln würde. Ohne die Erkenntnis, daß der Mensch vor der Selbstbestimmung in geschichtliche Folgezusammenhänge gestellt ist, in denen er zugleich zu wirken hat und seine Situation als gewirkt erfährt, verlieren diese Begriffe ihren Sinn. So erinnert der Ausdruck „mit Gaben reich gesegnet" wie selbstverständlich an positive Vorgaben für ein Leben. Der Begriff Segen bewahrt das Wissen, daß unser Leben, wenn es gelingen soll, einer Kraft bedarf, über die wir nicht von uns aus verfügen, die uns vielmehr geschenkt werden muß. Segen verweist auf ein Verständnis des Menschen, das ihn im gnadenhaften Extra nos der -»Rechtfertigung begründet sieht - entgegen der (neuzeitlichen) Behauptung der Selbstkonstitution des Menschen. Die Kehrseite dessen ist allerdings die Einsicht in die Gefährdung des Menschen durch das —»Böse, die ebenfalls den Menschen nicht mit sich selbst beginnen läßt. —»Schillers Wort vom „Fluch der bösen Tat, daß sie fortzeugend Böses muß gebären" sieht die Menschheit einer Notwendigkeit ausgeliefert, wenn denn der Weg des bösen Tuns betreten worden ist. Eine phänomengerechte Beschreibung der Wirklichkeit erinnert daran, daß der Folgezusammenhang des Guten und des Bösen Machtcharakter besitzt und mit je eigener Tendenz wirkt. Die Verstehensvoraussetzung für die Begriffe Segen und Fluch und für ihr Gegensatzverhältnis ist also ein Bild der conditio humana, demzufolge der Mensch im geistigen Kraftfeld des Guten oder des Bösen zu existieren hat. Die Begriffe Segen und Fluch und ihre Deutung fordern somit zu einem Streit um die Wirklichkeit heraus. In einem solchen hat sich das biblisch-christliche Verständnis sowohl gegen eine positivistische Lebensauffassung und Weltsicht als auch gegen manche mit diesen Begriffen verbundene religiös-magische und abergläubische Vorstellungen zu bewähren. Realitätsfremd indes ist der Gedanke, diese dadurch abzuwehren, daß das Denotat der Termini Segen und Fluch bestritten wird, so daß sie nur noch als emphatisch geäußerte Wünsche ohne Folgen anzusehen wären. Allein schon das Wahrnehmen der performativen Funktion der -»Sprache, die gerade auch in diesem Zusammenhang, wie die Erfahrung lehrt, ihre Mächtigkeit erweist, müßte hier aufklärend wirken. 2. Segen und Fluch als gegensätzliche
Folgezusammenhänge
Die Eigenart des biblischen Denkens zeigt sich darin, daß es die religiösen Urworte Segen und Fluch an das souveräne Wirken Gottes bindet. Entgegen magischen Vorstellungen, die Segen und Fluch als aus sich selbst heraus wirksame Machtsphären behaupten, wird Gott als Quelle und Herr des Segens geglaubt und die Lebenskraft des Segens an Gott zurückgebunden. Der Segen kommt von Gott her und führt zu ihm. Er ist die Realität der kontinuierlichen göttlichen Begleitung des Menschen mit dem Ziel, daß dieser seine ewige Bestimmung ergreift und in der Gottesgewißheit sein Leben führt. Wie der Glaube an Gottes Schöpfermacht über alles Wirkliche diesen als ursprüngliches Subjekt des Segens weiß, so sieht er in entsprechender Weise auch den Fluch unter der Verfügungsgewalt Gottes. Damit wird der Fluch entmythologisiert. Ihm ist der Charakter wesenhaft-notwendiger —»Tragik im Lebensgeschick genommen. Seine Unausweichlichkeit erscheint als eine bedingte und ist geschichtlich zu verstehen als Impuls zum Bösen und als dessen Fortsetzung nach der Regelhaftigkeit der Wirklichkeit. Ebenso wie für den Folgezusammenhang des Guten ist das biblische Bild von Saat und Ernte auch für die Impulswirkung des Bösen besonders erhellend (vgl. Gal 6,7ff.). Wiederum bleibt Gottes Souveränität darin gewahrt, daß nichts zwangsläufig abläuft. So kann denn auch das Geschehen des Fluches, in welchem Gottes immanentes Gericht Gestalt gewinnt, seine Grenze an Gottes Barmherzigkeit finden. Gott gewährt neue Anfänge und unterbricht so die Folgen der Sünde. Und der Segen, der im Eröffnen und im Gelingen von Leben erfahren wird, ist nicht verdient, sondern bleibt unverfügbares Geschenk Gottes. Gleichwohl ist Gottes Verfügungsgewalt über Segen und Fluch nicht willkürlich. Sie konkretisiert sich darin, daß moralische Faktoren für das geschichtliche Geschehen wie für das Leben des einzelnen geltend gemacht werden (vgl. Lev 26). Mit diesen moralischen
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Segen/Segen und Fluch V
Faktoren bekommt das Tun des Guten durch den Menschen seinen Ort im Segenshandeln Gottes. Es wird nun sowohl Zeichen erfahrenen Segens als auch Faktor weitergehenden Segenswirkens Gottes. Umgekehrt wird der Fluch durch den Ungehorsam des Menschen Gott gegenüber ausgelöst. Daß für Gelingen und Scheitern des Lebens das Moralische relevant wird, bedeutet für die Ethik, daß sie am Gerichtsgedanken festzuhalten hat. Im Beschluß zu den Zehn Geboten im Kleinen Katechismus hat ->Luther diesen Aspekt herausgearbeitet. Hierbei entscheidet sich das Segensreiche oder Fluchbeladene des menschlichen Handelns am Gottesverhältnis des Menschen, wie es vom 1. Gebot gefordert ist. Und dies darum, weil alles menschliche Handeln im einzelnen grundlegend von einer Gewißheit über Bestimmung und Ziel des Menschen geleitet ist. So wird nach biblischem Verständnis die Erfüllung oder Nichterfüllung des 1. Gebotes zum Kriterium und Fundament dafür, ob menschliche Praxis im Zeichen des Segens oder seines Gegensatzes steht. Bedeutet der Fluch die Vergeblichkeit menschlichen Tuns und die Zerrüttung der Lebensverhältnisse, stellt sich demgegenüber der Segen als die Erfahrung des Schalom dar. Dieser ist ein Ganzes des Gottes- und des Menschenfriedens. Er integriert darum auch die Fülle der Schöpfungsgaben und die Wohlordnung der Lebensverhältnisse in das Ziel der gelebten Gottesbeziehung. In gesamtbiblischer Sicht ist das theologische Verhältnis von Segen und Fluch nicht eigentlich das eines statischen Nebeneinanders, angesichts dessen sich der Mensch, vergleichbar der Situation des Herkules am Scheidewege, allein auf sich selber gestellt, zu entscheiden hätte. Vielmehr wird das Nebeneinander zu einem heilsgeschichtlichen Nacheinander, wie solches schon mit der Verheißung zukünftigen Heils in Sach 8 , 1 0 - 1 5 in den Blick tritt (s. Fritzsche, Lehrbuch 2 0 0 ) . Es ist dann das Ereignis des Menschseins Jesu Christi einschließlich seines Kreuzestodes, welches die entscheidende geschichtliche Z ä s u r zwischen Einst und Jetzt darstellt. Der Kreuzestod offenbart dem Menschen die Tiefe seiner Sünde, die in seiner verkehrten Grundausrichtung, nämlich in der Begierde (concupiscentia) liegt, aus sich selbst heraus und auf sich selbst zentriert zu leben. In eins mit dem Gewahrwerden dieser Selbstverfehlung wird das Kreuz Jesu Christi dem Menschen zur Kraft einer grundlegenden Veränderung, die darin besteht, daß der Mensch nunmehr sein Leben aus geschenkter Gnade von Gott her empfängt und in der Liebe zu Gott und zum Nächsten lebt. Aus dem non posse non peccare wird so ein posse non peccare. Das ist Gottes Tat als Wende der Geschichte. Sie hat die Ausweglosigkeit des Fluches überwunden (Rom 5,12ff.) und steht als objektive Möglichkeit aller Entscheidung, die sie im Leben des Menschen zur Realität werden läßt, voran. Darum gilt: Weil das Reich Gottes gekommen ist, kann es ergriffen werden in Glauben und Buße (vgl. M k 1,15). Das Verhältnis von Fluch und Segen in diesem heilsgeschichtlichen N a c h einander ist das des Umschlages, ist doch der Fluch des Gesetzes gerade im Kreuzestod Jesu an sein Ende gekommen, aufgehoben (Gal 3 , 1 3 ) und gewendet in die Qualität des Segens für die vielen. Sich im Geschehen des Glaubens in das Kraftfeld dieses Segens hineinziehen lassen - der an sich überwundenen M a c h t des Bösen entgegen - gibt der Hoffnung R a u m , daß auch in weiterwirkender schwerer Erblast an -»Schuld Angebote und Chancen für ein Neues und Besseres ergriffen werden dürfen und können.
3. Segen als Vermittlung
von Heil und
Wohl
Mit dem Begriff und der Wirklichkeit des Segens verbindet sich vom Alten Testament her die Vorstellung äußeren Wohlergehens. Vertiefung und Verinnerlichung des Segens werden die Brücke zum Wohl nicht abbrechen lassen. Richtig ist, daß mit dem Begriff des Segens die geistliche Dimension zum Wohl hinzutritt und dieses interpretiert. Wohlergehen soll dem Menschen Zeichen und Weg des Segens werden, indem es auf seinen transzendenten Ursprung zurückbezogen wird. Das Wohlergehen zeigt dann an, daß es weder eigenes Verdienst noch zufällig oder die Laune eines blinden Schicksals ist, sondern Ausdruck der gnädigen Begleitung Gottes. Eine solche Gotteserfahrung konkretisiert sich auch im Umgang mit den Gütern, die ganz elementar auf das Wohl des Menschen bezogen sind. Sie sollen zum Anlaß und Ort der Freude darüber werden, Gottes Geschöpf zu sein, was das J a zu Erfolg, Gesundheit und Lebensglück und dann auch zu den Bemühungen darum einschließt. Aber eben diese Begleitung Gottes hat ein Ziel - das -•Heil des Menschen. Es besteht darin, daß der Mensch seiner ewigen Bestimmung
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Segen/Segen und Fluch V
inne wird und aus dieser heraus lebt - in der Liebe zu G o t t und zum Nächsten. Vom Heil her wird d a n n das Wohl auch relativiert bis d a h i n , d a ß wir a u f m e r k s a m werden auf ein Wohl, welches den Weg des M e n s c h e n hin zu seiner Bestimmung erschwert, wenn nicht gar verhindert (vgl. M t 19,24). Um so wichtiger wird für das Gelingen des Lebens die Frage des rechten Umgangs mit dem Wohl und der Einstellung zu diesem. Was am Wohl des Menschen im Licht dieser seiner ewigen Bestimmung aufleuchtet und in Dienst g e n o m m e n wird, hat schon teil am Heil. D a m i t wird einer a b s t r a k t e n T r e n n u n g von Heil u n d Wohl w i d e r s p r o c h e n und ein k o n k r e t e r V e r w e i s u n g s z u s a m m e n h a n g v o m Heil her auf d a s Wohl zur G e l t u n g g e b r a c h t (Krusche 177). Wied e r u m ist die Unterscheidung zwischen Heil u n d Wohl d a d u r c h nicht a u f g e h o b e n . Das Heil als ganzes verweist ins E s c h a t o n . Um so m e h r sollte der Begriff des Segens f ü r begrenzte Identifikationen des Heils, wie sie — in der F o r m der Liebe — in b e s t i m m t e n Situationen individuellen und sozialen Lebens p r ä s e n t sind, in A n s p r u c h g e n o m m e n w e r d e n d ü r f e n .
4. Segen als Antwort
auf die Frage nach dem Sinn des
Lebens
Ein „gesegnetes L e b e n " ist die von der Bibel her gewiesene p r ä g n a n t e s t e A n t w o r t auf die Frage nach dem —»Sinn des Lebens. Segen läßt den Gegensatz von A n t w o r t e n , die einerseits das Objektive eines N u t z e n s oder d a s Äußere eines Wohlergehenszustandes und andererseits das Subjektive eines Wohlbefindens favorisieren, hinter sich. Segen f ü h r t beides nicht einfach n u r zueinander, sondern qualifiziert es im Lichte der Zielbes t i m m u n g menschlichen Lebens auf eine bestimmte, den einzelnen und sein Bezogensein auf andere betreffende Weise. Die Worte „zu N u t z und F r o m m e n des M e n s c h e n " machen darauf a u f m e r k s a m , d a ß Segen mehr als äußeres Gelingen meint, nämlich eine innere Erfülltheit bedeutet, die zu L o b und D a n k Gottes f ü h r t , wie denn auch der N u t z e n für andere erst darin zum Ziel k o m m t , d a ß er von diesen a n g e n o m m e n wird und sie ebenfalls innerlich erfüllt (Fritzsche, H a u p t s t ü c k e 84). Diese Einheit des Objektiven und des Subjektiven weist d a r a u f hin, d a ß Segen Ereignischarakter besitzt - und zwar im Blick auf das Erleben von Zeit und auf den Menschen selbst. In je k o n k r e t e r Zeit gilt es, ein Sinnangebot zu ergreifen. Für die Frage nach d e m Sinn des Lebens heißt dies, d a ß sie u m z u f o r m u l i e r e n sein wird in die Frage nach d e m jeweils Sinnhaften zu b e s t i m m t e r Stunde. D a ß dieses S i n n h a f t e im einzelnen d a n n d o c h , o b w o h l es auf die Lebenss p a n n e insgesamt gesehen F r a g m e n t ist, qualitativ d a s G a n z e sein k a n n , spricht die Differenz zwischen einem gesegneten als einem erfüllten Leben u n d einem e t w a n u r erfolgreichen Leben an. F ü r das G e s a m t v e r s t ä n d n i s der T h e o l o g i e signalisiert dies die F o r d e r u n g , eine T h e o l o g i e der H o f f n u n g d u r c h eine solche der E r f ü l l u n g bzw. des Segens zu begrenzen. Ebenso wie an der S t u n d e h a f t e t der Segen - g e r a d e mit d e m Blick auf die ereignishafte Einheit objektiver Z u s t ä n d e u n d subjektiver B e z u g n a h m e auf sie — an der Person u n d d e m , was sie geistlich ausstrahlt (Fritzsche, L e h r b u c h 202). Wenngleich sie d a z u ihre C h a n c e n zu ergreifen u n d ihre G a b e n zu nutzen hat, ist es doch zuerst und vor allem die G e w i ß h e i t , d a s eigene Dasein als von G o t t her bestimmt u n d g e f ü h r t zu sehen u n d sich in diesem Dasein von G o t t geliebt u n d zu k o n k r e t e m Dienst b e a u f t r a g t zu verstehen, die solche geistliche A u s s t r a h l u n g b e w i r k t .
Wenn Segen an der Person haftet und diese in ihrer Innerlichkeit nicht Funktion des äußeren M e n s c h e n und seines Ergehens ist, d a n n hängt, o h n e das Wohl irgendwie zu bagatellisieren, das „Gesegnet-Sein" und „Ein-Segen-Sein" zuletzt nicht an der Erfahr u n g eigenen Glückes, sondern ist eine Frucht, welche auch aus der inneren Bewältigung von Leiden erwachsen k a n n . —>Bonhoeffers F o r d e r u n g , von G o t t „in der Mitte, nicht in den Schwächen, sondern in der Kraft, . . . im Leben und im G u t e n des M e n s c h e n " zu reden (Bonhoeffer 307 [Brief vom 30. April 1944]), hinderte ihn gleichwohl nicht, Kreuz und Segen, statt sie in einen ausschließenden Gegensatz zueinander zu bringen, z u s a m m e n z u d e n k e n (ebd. 407 [Brief vom 28. Juli 1944]). Insbesondere die Frage nach d e m W a r u m des Leidens des Gerechten erhält d a n n auch eine A n t w o r t , nämlich im G e d a n k e n des O p f e r s und der Frucht, die aus solchem O p f e r f ü r die vielen erwächst (Joh 12,24). So k a n n auch v o m Kreuz Jesu Christi her auch anderes Leiden Sinn bek o m m e n und also zum Segen werden.
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Segen/Segen u n d Fluch V 5. Segen als Wort und als
Handlung
In B e z i e h u n g auf d e n Segen als H a n d e l n G o t t e s z u g u n s t e n des m e n s c h l i c h e n (ja des k r e a t ü r l i c h e n ) W o h l s gibt es n u n a u c h ein m e n s c h l i c h e s Segnen, d a s E n t s c h e i d u n gen des M e n s c h e n u n d V e r ä n d e r u n g e n auf seinem L e b e n s w e g (insbesondere bei S c h w e l l e n s i t u a t i o n e n ) u n t e r G o t t e s Schutz u n d eben d a m i t u n t e r G o t t e s S e g e n s m a c h t stellt. Diese will im M e d i u m des W o r t e s mit- u n d ausgeteilt w e r d e n (Ebeling 77). Ist der Z u s p r u c h G o t t e s f ü r einen k o n k r e t e n L e b e n s w e g d e r A u s g a n g s p u n k t f ü r die Beu r t e i l u n g des Segensaktes, so k a n n dieser n i c h t e i n f a c h n u r als F ü r b i t t e o d e r Segensw u n s c h b e s c h r i e b e n w e r d e n , w i e w o h l i n s b e s o n d e r e dieser A s p e k t d a r a u f h i n w e i s t , d a ß d e r Segen der V e r f ü g u n g s m a c h t des M e n s c h e n e n t z o g e n ist. V i e l m e h r ist d a s k o n k r e t e S e g e n s w o r t auf G o t t e s G e h e i ß hin Z u s a g e von B e w a h r u n g u n d F ö r d e r u n g eines b e s t i m m t e s L e b e n s w e g e s u n d W e r k e s d u r c h G o t t . D a s S e g e n s w o r t w i r k t nicht ex opere operato, s o n d e r n n i m m t d e n G l a u b e n des M e n s c h e n in A n s p r u c h u n d m a c h t d a s Segnen zu e i n e m p e r s o n a l e n G e s c h e h e n . D a b e i r ü c k t die s p a n n u n g s v o l l e Einheit von göttlicher Freiheit einerseits u n d m e n s c h l i c h e r G e w i ß h e i t a n d e r e r s e i t s d a s S e g e n s h a n d e l n in die N ä h e des S a k r a m e n t a l e n . D a s S e g e n s w o r t h a t p e r f o r m a t i v e n C h a r a k t e r . Es ist W o r t g e s c h e h e n . In d e r E i n h e i t von Sprechen u n d a u f n e h m e n d e m H ö ren w i r d d a s k r a f t v o l l e u n d verläßliche M i t s e i n G o t t e s auf d e n Wegen des L e b e n s versprochen. Weil es a b e r u m n i c h t s a n d e r e s g e h e n k a n n als u m die V e r g e g e n w ä r t i g u n g d e r Z u s a g e G o t t e s , ist d a s Segnen hinsichtlich seiner A n l ä s s e u n d S i t u a t i o n e n an G o t t e s G e b o t geb u n d e n . In d e n a k t u e l l e n D i s k u s s i o n e n u m I n h a l t u n d Sinn v o n S e g e n s h a n d l u n g e n w i r d d a m i t f ü r diese eine G r e n z e g e z o g e n . D e n n Z u s a g e u n d A n s p r u c h d u r c h G o t t sind a u c h hinsichtlich des Segens nicht v o n e i n a n d e r zu t r e n n e n . So w e n i g wie „billige G n a d e " gibt es „billigen S e g e n " . An d e m R e s p e k t g e g e n ü b e r d e m H a n d e l n G o t t e s als S c h ö p f e r u n d V e r s ö h n e r e n t s c h e i d e n sich Segen u n d Fluch. D a ß es d a r a u f h i n d e m M e n s c h e n g e b o t e n sein k a n n , in A n a l o g i e z u m S e g e n s w o r t g e g e b e n e n f a l l s a u c h d a s N e i n G o t t e s im F l u c h w o r t in A n s p r u c h zu n e h m e n (s. G a l 1,8f.), w i r d m a n nicht a u s s c h l i e ß e n d ü r fen. F r e v e l h a f t e H e r a u s f o r d e r u n g G o t t e s u n d seines W i l l e n s f ü r die M e n s c h e n ist, weil es nichts a n d e r e s ist als d a s H e r a u f b e s c h w ö r e n eines Fluches im Sinne eines Folgez u s a m m e n h a n g s des Bösen, a u c h so zu b e n e n n e n u n d d e m damnamus g e m ä ß zu bekennen. W i e d a s S e g e n s h a n d e l n an Kriterien g e b u n d e n ist, so bleibt es auch a n der E r w a r t u n g a u s g e r i c h t e t , d a ß d e m E m p f a n g e n des Segens im eigenen H a n d e l n e n t s p r o c h e n w i r d . A u s diesen G r ü n d e n k a n n d a s Segnen seinen M a ß s t a b n i c h t a n d e n a k t u e l l e n religiösen B e d ü r f n i s s e n als solchen h a b e n , s o n d e r n ist in seiner t h e o l o g i s c h e n R e c h t m ä ß i g k e i t im Z u s a m m e n h a n g d e r biblischen B o t s c h a f t u n d d e r k i r c h l i c h - b e k e n n t n i s m ä ß i g e n T r a d i t i o n zu b e d e n k e n ( G o t t e s Segen 62). H i n s i c h t l i c h d e r F r a g e , zu welchen G e l e g e n h e i t e n u n d f ü r w e l c h e L e b e n s f o r m e n u n d L e b e n s e n t s c h e i d u n g e n jeweils b e s o n d e r e S e g e n s h a n d lungen d u r c h g e f ü h r t w e r d e n k ö n n e n u n d sollen, b e d a r f es des verbindlichen G e s p r ä c h e s in der K i r c h e mit d e m Ziel des magnus consensus. Literatur Christoph Barben-Müller, Segen u. Fluch. Überlegungen zu theol. wenig beachteten Weisen rel. Interaktion: EvTh 55 (1995) 3 5 1 - 3 7 3 . - Dietrich Bonhoeffer, Widerstand u. Ergebung. Briefe u. Aufzeichnungen aus der H a f t , hg. v. Eberhard Bethge, erw. Aufl. M ü n c h e n 1970 Berlin 3 1972. Peter Brunner, Der Segen als d o g m . u. liturg. Problem: ders., Pro Ecclesia. GAufs. zur d o g m . Theol., Berlin/Hamburg, II 1966, 3 3 9 - 3 5 1 . - Bernd-Jörg Diebner, Der sog. „Aaronitische Segen" ( N u m . 6 , 2 4 - 2 6 ) - bibl. Text u. liturg. Praxis: Freude am Gottesdienst. FS Frieder Schulz, hg. v. Heinrich Riehm, Heidelberg 1988, 2 0 1 - 2 1 8 . - G e r h a r d Ebeling, Die Wahrheit des Evangeliums. Eine Lesehilfe zum Galaterbrief, Tübingen 1981, 5 5 - 8 3 . - H e l m u t Echternach, Segnende Kirche, Dresden/Leipzig 1941 H a m b u r g 3 1968. - Christian Eyselein, Segnet G o t t , was Menschen schaffen? Kirchl. Einweihungshandlungen im Bereich des öffentlichen Lebens, 1993 ( C T h M . P T 20). - M a g dalene L. Frettlöh, G o t t segnen. Syst.-theol. Überlegungen zur Mitarbeit des Menschen an d e r
Segen/Segen und Fluch VI
93
Erlösung im A n s c h l u ß an Psalm 115: EvTh 56 (1996) 4 8 2 - 5 1 0 . - Dies., T h e o l . des Segens. Bibl. u. d o g m . W a h r n e h m u n g e n , G ü t e r s l o h 1998 (Lit.). - H a n s - G e o r g Fritzsche, Lb. der D o g m a t i k . T. III, Berlin 1975, 1 9 5 - 2 0 6 . - Ders., H a u p t s t ü c k e des christl. G l a u b e n s . G r u n d r i ß der christl. Glaubenslehre, Berlin 1977, 8 1 - 8 6 . - Kurt Fror, S a l u t a t i o n e n , Benediktionen, A m e n : Leit. 2 (1955) 5 6 9 - 5 9 6 . - Albert G e r h a r d s / H a n s j a k o b Becker, M i t allem Segen seines Geistes gesegnet. Z u r theol. B e s t i m m u n g der Benediktionen: H e u t e segnen (s.u.) 1 5 - 3 2 . — G o t t e s Segen u. die Segenshandlungen der Kirche. Ein Votum des T h e o l . Ausschusses der A r n o l d s h a i n e r Konferenz, N e u k i r c h e n - V l u y n 1995. — D o r o t h e a Greiner, Segen u. Segnen. Eine syst.-theol. G r u n d l e g u n g , Stuttgart/Berlin/Köln 1998. - H e i n z p e t e r H e m p e l m a n n , „ D u wirst ein Segen sein!" - Von der Kreuzessignatur des Segens: T h B e i t r 28 (1997) 1 2 9 - 1 4 1 . - H e u t e segnen. W e r k b u c h z u m Benediktionale, hg. v. A n d r e a s H e i n z / Heinrich Rennings, Freiburg/Basel/Wien 1987. — Friedrich H o r s t , Segen u. Segenshandlungen in der Bibel: EvTh 7 (1947) 23 - 37. - Klaus-Peter J ö r n s , Segen - u. kein Fluch? Überlegungen zur Einheit G o t t e s im Vorfeld der P r a k t . T h e o l . : B T h Z 1 (1984) 2 5 5 - 2 7 3 . - Werner Krusche, Heil heute: Z d Z 27 (1973) 1 7 2 - 1 8 1 . - Pinchas Lapide, Ich will dich segnen u. du sollst ein Segen sein. Der Segen im J u d e n t u m : Dt. Ev. Kirchentag Düsseldorf 1985. D o k u m e n t e , Stuttgart 1 9 8 6 , 1 7 4 - 1 8 2 . - M a r t i n Luther, Der Segen, so m a n nach der Messe spricht über d a s Volk, aus d e m 4. Buch M o s e im Kap. 6: W A 30 III, 5 7 4 - 5 8 2 . - M a c h t der Segnung - Segnung der M a c h t : T h e m e n h e f t C o n c . 21/2 (1985). - Frieder Schulz, Segnungen in ev. Sicht: H e u t e segnen (s.o.) 7 2 - 8 3 . - W o l f g a n g S c h u m a n n , Segen u. segnen: Missionarische Dienste, N r . 118, hg. v o m A m t f. missionarische Dienste der Ev. Landeskirche in W ü r t t e m b e r g , Stuttgart 1985. - Ethelbert Stauffer, Z u r s a k r a m e n t a l e n Bedeutung des kirchl. Segens: Viva vox Evangelii. FS Landesbischof D. H a n s Meiser, M ü n c h e n 1951, 3 2 4 - 3 3 4 . - Fulbert Steffensky, Segnen. G e d a n k e n zu einer Geste: M P T h 82 (1993) 2 - 1 1 . Rainer S t u h l m a n n , T r a u u n g u. Segnung. Bibl.-theol. G e s i c h t s p u n k t e f. die Diskussion aktueller Fragen: M P T h 84 (1995) 4 8 7 - 5 0 3 . - Claus W e s t e r m a n n , D e r Segen in der Bibel u. im H a n d e l n der Kirche, M ü n c h e n 1968 G ü t e r s l o h 2 1981. - Stephan Wyss, Fluchen. O h n m ä c h t i g e u. m ä c h t i g e Rede der O h n m a c h t , Freiburg i. Ue. 1984. — J ö r g Z i n k , Sinn u. Gestalt des Segens: Dt. Ev. Kirchentag Düsseldorf 1985. D o k u m e n t e , Stuttgart 1986, 1 8 3 - 1 9 6 .
Bernd Hildebrandt
VI. Praktisch-theologisch (Literatur S. 96)
Während dem Fluch in der Theorie und Praxis des deutschen Protestantismus gegenwärtig fast keine Bedeutung zukommt, stößt das Segenshandeln der Kirche auf ein erhebliches Interesse. Beides verlangt nach praktisch-theologischer Reflexion. Der Segen gestaltet in ritualisierter Form öffentlich den prekären Übergang aus dem Gottesdienst zurück in den Alltag der Welt: als Entlassung, ja Ausweisung der Gemeinde (Josuttis 313), aber auch als „Reintegration" (Schechner 100). Zudem ist er Schwellenritual im lebensgeschichtlichen Horizont: zu Beginn des Lebens und Zusammenlebens mit einem Kind (->Taufe, Segnung der Wöchnerin bzw. der Eltern, Patinnen und Paten), im Übergang zum Erwachsenenalter (—• Konfirmation bzw. Einsegnung), am Ende der Gemeinschaft mit der elterlichen Familie bzw. zu Beginn einer neuen Partnerschaft (Trauung [-•Ehe]), in Situationen, in denen gewachsene Gemeinschaften sich vergewissern wollen (Ehejubiläen), bei der Übernahme kirchlicher Ämter (-»Ordination, Einführung), bei religiöser Neuorientierung (Erwachsenentaufe), im Angesicht von Krankheit (Segnungsgottesdienste) und Tod (Aussegnung, Beerdigung [-»Bestattung]). Die Anlässe, zu denen Menschen (kirchliche) Segenshandlungen wünschen, nehmen zu: Schulanfängergottesdienste, Segnungsgottesdienste für Verzweifelte und Kranke, aber auch der Wunsch nach einer Segnung eheähnlicher Lebensgemeinschaften sind hier zu nennen. Die sprachliche Gestalt nimmt biographische und gesellschaftliche Bedürfnisse auf: in unserer mobilen Gesellschaft, in der Menschen real und mental, beruflich und in der Freizeit unterwegs sind, erfreuen sich die Reisesegen der irischen Wandermönche einer großen Beliebtheit, die den Aufbrechenden, denen, die sich verändern müssen oder von sich aus Veränderung suchen, Begleitung und Schutz zusagen. In den genannten Fällen geht es um Segnungen von Personen oder Personengruppen; ein wachsendes Bewußtsein für den „ökologischen Horizont" (vgl. Grethlein, Hand-
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Segen/Segen und Fluch VI
lungen 9 6 0 - 9 6 2 ) liturgischen Handelns hat jedoch den theologischen Sinn der Segnungen von Tieren oder Lebensmitteln (—»Benediktionen), letztlich von allem, was in das eucharistische Gebet aufgenommen werden kann (-»Sakramentalien), wiederentdeckt. Dem Segen der Schöpfungsgaben Gottes entspricht ein „eucharistischer Lebensstil", der sie dankbar empfängt, bewahrt und gestaltet, statt sie zu verbrauchen und zu vernutzen. Andererseits zwingt die Erinnerung an die Segnung von Fahnen und Waffen usw. im „Kult des Nationalen" und im Nationalsozialismus (-»Gottesdienst VIII) zu theologischer Konzentration und Kritik und zu einem hohen Maß an nüchterner Sachlichkeit und Konkretheit im Umgang mit dem Wunsch nach Segenshandlungen. Segenshandlungen haben stets einen öffentlichen C h a r a k t e r . Weil das „ganze H a u s " und die Haushaltsvorstände ihre öffentliche Bedeutung weitgehend eingebüßt h a b e n , verlieren die überlieferten Formen des Segnens in der Familie ( M o r g e n - und Abendsegen, Segnung der Kinder durch sterbende Eltern) ihre Bedeutung. Auch wenn der Segen für einzelne und ihre Familie erbeten und liturgisch als persönlicher Z u s p r u c h gestaltet wird, ja selbst wenn die Segnung im privaten Bereich (Haustaufe) geschieht, hat sie einen öffentlichen C h a r a k t e r . Er gewinnt im Ritus Gestalt und in der Person, die sich, wie früher auch der H a u s v a t e r , dadurch auszeichnet, daß sie ohne eigene Interessen und Bedingungen geben k a n n , weil sie in G o t t e s Kraft lebt: sie proklamiert öffentlich den Herrschaftsbereich G o t t e s , in dem das Individuum bzw. seine Familie den Beistand Gottes erfährt.
Das Verständnis von Segen und Fluch ist geprägt durch die Diskussion um ihren magischen Charakter (-»Magie): Eröffnen, weiten und begrenzen Fluch und Segen einen umfassenden, heilvollen, aber umstrittenen Lebensraum, der sich an erster Stelle durch die Nähe zu Gott und die Gewißheit seines Beistandes auszeichnet, der aber auch materiellen Wohlstand, Gesundheit, individuelles Glück, gelingende Gemeinschaft und Schutz vor der Bedrohung durch lebensfeindliche Mächte einschließt? Gehört zu ihm die Überwindung von Not und Leid, oder wie zeigt sich der Zuspruch der Lebensmacht des gekreuzigten Gottes z. B. in Gottesdiensten für unheilbar Kranke oder Behinderte? Läßt sich der Segen als „Lebenskraft" (Josuttis 314) verstehen, die Menschen aus der Gottesbegegnung in ihren Alltag mitnehmen können? Oder bringt er nur „zur Sprache ..., daß alles Leben empfangenes und geschenktes Leben ist" (Rössler 207)? Um den Segen deutlich von einem magischen Verständnis abzusetzen, wird er seit dem 17. Jh. vielfach als „Segenswunsch" verstanden, der Fürbitte und Zuspruch in einem ist (Brunner): die Segnenden können nicht mehr tun, als bei Gott für andere um Segen zu bitten, aber sie dürfen gewiß sein, daß Gott segnet. Historisch schlagen sich Versuche, zu einer „ v e r s t ä n d l i c h e n " und „ z e i t g e m ä ß e n " Sprache zu finden, in Formulierungen nieder wie: „ E s möge G o t t e s Segen auf euch ruhen, auch ohne meine Bitte ruhet er schon auf euch, wenn ihr durch F r ö m m i g k e i t und Tugend euch seines Segens würdig m a c h t . So geb es G o t t " (Albrecht 95) und - die Bedingtheit betonend - : „ E m p f a n g t den Segen des H e r r n , soweit euer desselben fähig s i n d " (Graff I, 3 7 6 A n m . 8). Ein Segenswunsch aber ist, wie B . - J . D i e b n e r in seiner Analyse zu N u m 6 , 2 4 - 2 6 gezeigt hat, kein Segen, denn er richtet sich nicht an andere, wird nicht gespendet, und es fehlt der Auftrag. Die W i r k u n g des Segens wird an die Rezeption der G e m e i n d e gebunden, die Bedeutung der Segnenden zurückgenommen und G o t t e s wirkmächtiges Wort auf einen „ w o h l t ä t i g e n E i n f l u ß " reduziert.
Grundlagen für frühe Segensformeln (-»Formeln, Liturgische) bilden Ps 28,9 (Const. app. [Apostolische -»Konstitutionen] II) und Ps 67,7f. Sie werden durch trinitarische Formulierungen erweitert; in der Messe heißt es: Benedicat vos omnipotens deus pater et filius + et spiritus sanctus. Amen. Der Aaronitische Segen (Num 6 , 2 4 - 2 6 ) , den die urchristliche Gemeinde zunächst nicht übernommen hat, wird durch -»Luther in der Formula missae von 1523 wiedereingeführt und ist seit dem II. -»Vatikanum auch im Katholizismus wieder möglich. Im evangelischen Bereich findet er sich zumeist in Norddeutschland, daneben kürzere (trinitarische) Formulierungen - zumeist im Süden, aber auch in Preußen, wie: „Unser Gott segne uns" (Graff I, 204). Während der -»Rationalismus den Aaronitischen Segen wegen der sprachlichen Nähe zum Judentum kritisiert,
Segen/Segen und Fluch VI
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ihn umformuliert oder durch wortreiche Umschreibungen ersetzt, die allerdings auch damals schon kritisiert wurden, setzt ihn der liturgische Konservatismus des 19. J h . allgemein durch (Fror 589f.). In der Agendenreform der fünfziger Jahre erhält er eine monopolartige Stellung, die erst mit den Gottesdienstreformen der sechziger Jahre des 20. Jh. aufgebrochen wird. E i n g e l e i t e t w i r d d e r S e g e n in A n l e h n u n g a n d e n a l t e n M a i l ä n d e r S c h l u ß s e g e n : „ G e h e t h i n i m Frieden des H e r r n " b z w . bei G o t t e s d i e n s t e n o h n e A b e n d m a h l : „ L a s s e t uns b e n e d e i e n d e m H e r r n " , w o r a n : d i e G e m e i n d e a n t w o r t e t : „ G o t t sei e w i g l i c h D a n k . " D e r A a r o n i t i s c h e S e g e n z e i c h n e t s i c h d u r c h s p r a c h l i c h e u n d b i l d h a f t e P r ä g n a n z a u s . In d e n d r e i z w e i g l i e d r i g e n S ä t z e n k o m m e n p e r s o n a l e r Zuspruch,
metaphorische
Rede und
theologische Sachaussage
in e i n e r W e i s e z u r S p r a c h e ,
S e g e n 11 s e i n d e n M e n s c h e n in all s e i n e n D i m e n s i o n e n e r g r e i f e n d e s u n d u m f a s s e n d e s
daß
Geschehen
präsen: wird (Seybold 3 8 f . ) . D i e für das Verständnis wesentliche R e d e v o m Angesicht ruft M ä c h t i g k e i t G o t t e s a l s e i n e a u s , d i e in e i n e r k o n f l i k t h a f t e n
Wirklichkeit
das basale
die
Vertrauen
v e r m i t t e l t , d a ß e i n e „ S c h u t z m a c h t d e n W e g in d i e A l l t a g s w e l t m i t F r i e d e n e r f ü l l t " ( J o s u t t i s 3 1 3 ) . D e r A s r o n i t i s c h e Segen m a c h t das I n e i n a n d e r des H a n d e l n s G o t t e s und des H a n d e l n s der Liturg e n e x p l i z i t : d e m „ i h r s o l l t s e g n e n " ( N u m 6 , 2 3 a b ) s t e h t d a s „ d a ß i c h s i e s e g n e " ( N u m 6 , 2 7 ) in einem spannungsvollen Verhältnis g e g e n ü b e r , das sich a u c h d u r c h t h e o l o g i s c h e
Differenzierungen
n i c h t in e i n e e i n d e u t i g e Z u o r d n u n g ü b e r s e t z e n l ä ß t . In d e r r ö m i s c h e n M e s s e h a t t e z u n ä c h s t
nur
d e r B i s c h o f d a s R e c h t , d e n S c h l u ß s e g e n zu s p r e c h e n , s p ä t e r d u r f t e n d i e s a u c h d i e P r i e s t e r .
Noch
b i s in die G e g e n w a r t k o n z e n t r i e r e n s i c h i m S t r e i t u m d e n S i n n d e r d i s t r i b u t i v e n F o r m i m
Aaro-
n i t i s c h e n S e g e n u n d u m d a s R e c h t , s i e zu b e n u t z e n , K o n f l i k t e u m d a s G e m e i n d e - u n d A m t s v e r ständnis.
Da seit der Reformation viele Gemeindeglieder die Kirche vor dem Abendmahl verlassen, der Gottesdienst jedoch für sie nicht ohne Segen schließen soll, finden wir seit Mitte des 17. J h . zunehmend häufiger einen Kanzelsegen. Um 1700 ist es der Aaronitische Segen, der jedoch von I Thess 5,23, II Kor 13,13 oder Phil 4,7 verdrängt wird (Graff I, 175f.). auch wenn er noch in der Preußischen Agende von 1822 begegnet. Ab Mitte des 19. Jh. wird er im Zuge der damaligen, an liturgiegeschichtlichen Erkenntnissen orientierter und auf Eindeutigkeit und Einheitlichkeit zielenden Bestrebungen nur noch als Schlußsegen verwendet und Phil 4,7 zum üblichen Kanzelsegen bzw. zum Segen nach Amtshandlungen im Gottesdienst. Der Fluch als liturgisch geformte Absage an das —>Böse hat bereits aufgrund der neutestamentlichen Kritik an ihm in der kirchlichen Praxis immer eine geringere Rolle als der Segen gespielt. I Kor 16,22 und Did 10,6 deuten auf einen Ausschluß der nicht zur Teilnahme am Abendmahl Zugelassenen durch äväOeßa r j T C ü hin. Diese liturgische Praxis hat wie —>Kirchenzucht und —»Bann als Mittel zur Bekämpfung von Häresien und zur Abwehr von Fehlverhalten in der verfaßten Kirche ihre Bedeutung heute weitgehend verloren. Am Beispiel der Taufe läßt sich zeigen, daß es seit der späten deutschen Aufklärung zur Abschaffung bzw. Ersetzung des -»Exorzismus, zum Verzicht auf eine Abrenuntiatio und damit auf die der Volksfrömmigkeit wichtige „Teufelsbannerei" (Graff II, 223) kommt. Jörns stellt die Frage, ob nicht „der Segen ,dumm' (vgl. M t 5,13) wird und also nicht mehr segnen kann, wenn seine Kehrseite, der Fluch, nicht mitgedacht und rr.itgesagt werden d a r f " (Jörns 257). Die Fokussierung auf den segnenden „lieben G o t t " und der Verzicht auf die gemeinsame und gestaltete Absage an das Böse nehmen die konflikthafte Verfaßtheit unserer Wirklichkeit nicht ernst und verdrängen die Realität des Ftaches, die Christus am Kreuz auf sich genommen hat (Gal 3,13). Beachtenswert ist in diesem Zusammenhang, daß ein „priesterlicher" Umgang mit dem Bösen und das Versprechen, „die bösen Geister" (Starhawk 9 6 - 9 9 ) bannen zu können, geradezu die Attraktivität mancher (aktuellen) religiösen Bestrebungen auszumachen scheint. Dem umfassenden Charakter von Segen und Fluch entspricht in der Praxis der Kirchen, daß der Segen ein akustisches Phänomen darstellt, sich aber mit bestimmten Verhaltensformen und Körperhaltungen verbindet (—»Gesten/Gebärden, Liturgische): weit verbreitet ist die —>Handauflegung (Gen 48,13ff.) bei Personensegnungen bzw. vor einer größeren Gruppe die erhobenen Hände des Segnenden (Lev 9,22), das Knien einzelner
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Sekten
b z w . d a s A u f s t e h e n d e r G e m e i n d e , seltener d a s K n i c k s e n d e r F r a u e n beim Segen, die - * S a l b u n g bei K r a n k e n s e g n u n g e n . D a s B e z e i c h n e n m i t d e m K r e u z (vgl. L k 2 4 , 5 0 und die e t y m o l o g i s c h e H e r k u n f t v o n Segen v o m l a t e i n i s c h e n signare
[Grethlein, Abriß 139])
p r ä g t n i c h t n u r d e n e i n z e l n e n b z w . der G e m e i n d e den G e k r e u z i g t e n als den ein, dessen P r ä s e n z der Segen seine L e b e n s m a c h t v e r d a n k t , s o n d e r n z e i c h n e t die u m f a s s e n d e horiz o n t a l e u n d v e r t i k a l e D i m e n s i o n seiner W i r k s a m k e i t in d e n R a u m ein. Ä h n l i c h e s gilt für d a s L ä u t e n bei d e r E i n s e g n u n g d e r K o n f i r m a n d i n n e n u n d K o n f i r m a n d e n . In Begeh u n g e n u n d U m g ä n g e n k o m m t die ö k o l o g i s c h e u n d leibliche D i m e n s i o n des Segens zur Darstellung. Literatur Christoph Albrecht, Schleiermachers Liturgik. T h e o r i e u. Praxis des Gottesdienstes bei Schleiermacher u. ihre geistesgesch. Zusammenhänge, Berlin 1962. - Christoph Barben-Müller, Segenshandlungen als Herausforderung f. Kirchen u. Theologien: E v T h 58 (1998) 3 5 1 - 3 7 0 . - Peter Brunner, Der Segen als dogm. u. liturg. Problem: ders., Pro ecclesia. GAufs. zur dogm. T h e o l . II, Berlin/ Hamburg 1966, 3 3 9 - 3 5 1 . - Bernd-Jörg Diebner, Der sog. ,Aaronitische Segen' (Num 6, 2 4 - 2 6 ) : Freude am Gottesdienst. FS Frieder Schulz, Heidelberg 1988, 2 0 1 - 2 1 8 . - Kurt Fror, Salutationen, Benediktionen, Amen: Leit. 2 (1955) 5 6 9 - 5 9 7 . - Gottes Segen u. die Segenshandlungen der Kirche. Ein Votum des Theol. Ausschusses der Arnoldshainer Konferenz, Neukirchen-Vluyn 1995. - Paul Graff, Gesch. der Auflösung der alten gottesdienstlichen Formen, Göttingen, I 2 1937 II 1939. Christian Grethlein, Abriß der Liturgik. Ein Studienbuch zur Gottesdienstgestaltung, Gütersloh 1989. - Ders., Andere Handlungen (Benediktionen u. Krankensegnung): Hb. der Liturgik. Liturgiewiss. in Theol. u. Praxis der Kirche, Leipzig/Göttingen 1995, 9 5 9 - 9 7 0 . - Klausjürgen Heinrich, Art. Segen: E K L 3 4 (1996) 1 9 0 - 1 9 4 . - Klaus-Peter J ö r n s , Segen - u. kein Fluch? Überlegungen zur Einheit Gottes im Vorfeld der Prakt. T h e o l . : B T h Z 1 (1984) 2 5 5 - 2 7 3 . - Manfred Josuttis, Der Weg in das Leben. Eine Einf. in den Gottesdienst auf verhaltenswiss. Grundlage, München 1991. - Dietrich Rössler, Grundriß der Prakt. T h e o l . , 1986 *1994 (GLB). - Richard Schechner, T h e a teranthropologie. Spiel u. Ritual im Kulturvergleich, Reinbek bei Hamburg 1990. - Klaus Seybold, Der aaronitische Segen. Stud. zu Numeri 6 , 2 2 - 2 7 , Neukirchen-Vluyn 1977. - Starhawk, T h e Spiral Dance. A Rebirth of the Ancient Religion of the Great Goddess, San Francisco/London 1979; dt.: Der Hexenkult als Ur-Religion der Großen Göttin. Magische Übungen, Rituale u. Anrufungen, Freiburg i.Br. 1983. - Rainer Volp, Liturgik, Gütersloh, 2 Bde., I 1992, 5 9 0 - 5 9 2 ; II 1994, 1180f. - Claus Westermann, Der Segen in der Bibel u. im Handeln der Kirche, 1968 2 1992 ( K T 122). Ders., Segen: Hans-Christoph Schmidt-Lauber/Manfred Seitz (Hg.), Der Gottesdienst. Grundlagen u. Predigthilfen zu den liturg. Stücken, Stuttgart 1992, 2 4 3 - 2 5 5 . Jochen
Cornelius-Bundschuh
Sekten 1. Vorbemerkung 2. Begriff 3. Entstehungsmotive 4. Typologie 6. Apologetik: Die Reaktion der Kirchen (Literatur S. 102)
1.
5. Staat und Sekten
Vorbemerkung
E s gibt w o h l n i c h t s e h r viele Begriffe, die in d e r d e u t s c h s p r a c h i g e n s ä k u l a r e n u n d kirchlichen Öffentlichkeit so undifferenziert v e r w e n d e t w e r d e n wie der T e r m i n u s „Sekt e " . A b e r a u c h die w i s s e n s c h a f t l i c h e D i s k u s s i o n weist U n s i c h e r h e i t e n a u f , o b u n d w i e im Hinblick auf problematische religiös-weltanschauliche Gemeinschaften von „ S e k t e n " g e s p r o c h e n w e r d e n sollte. R e l i g i o n s w i s s e n s c h a f t l e r m ö c h t e n diesen Begriff g e r n e g a n z v e r m e i d e n , d a er d i s k r i m i n i e r e n d klinge, w ä h r e n d k i r c h l i c h e A p o l o g e t e n ihn als w i c h tiges U n t e r s c h e i d u n g s m e r k m a l f e s t h a l t e n w o l l e n . I m W e l t m a ß s t a b w e r d e n die P r o b l e m e , selbst a u f ö k u m e n i s c h e r E b e n e in dieser F r a g e einen K o n s e n s zu e r r e i c h e n , n o c h g r ö ß e r . S o u n t e r s c h e i d e t sich die religiöse S i t u a t i o n in E u r o p a ( w o n o c h die t r a d i t i o n e l l e n V o l k s u n d S t a a t s k i r c h e n v o r h e r r s c h e n ) w e s e n t l i c h v o n d e r j e n i g e n e t w a in N o r d a m e r i k a . D o r t k e n n t m a n a u s h i s t o r i s c h e n u n d a n d e r e n G r ü n d e n kein „ G e f ä l l e " z w i s c h e n
Kirchen
a u f d e r einen u n d S e k t e n a u f d e r a n d e r e n Seite. Alle im c h r i s t l i c h e n B e r e i c h a n e r k a n n t e n religiösen G e m e i n s c h a f t e n g e l t e n als dénomination
u n d d a m i t u n t e r e i n a n d e r als g l e i c h -
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berechtigt. (Diese Vorgabe schließt jedoch theologische Auseinandersetzungen nicht aus, ebensowenig wie soziologische, psychologische oder juristische Untersuchungen staatlicher Einrichtungen, z.B. Universitäten, Parlamentsausschüsse u.a.) In verschiedenen anderen außereuropäischen Ländern, wie etwa —» Australien, -»Südafrika, Brasilien (—>Lateinamerika) oder —»Korea, in denen es eine überwiegend oder doch starke christliche Bevölkerung gibt, haben es die dortigen Kirchen mit wiederum ganz anderen, von den europäischen abweichenden religiösen Strukturen und „Sekten" zu tun, die jeweils einer eigenen Analyse bedürften. 2.
Begriff
2.1. Sprachlich. Die Ableitung des Begriffs „Sekte" ist nicht ganz eindeutig zu klären. Sehr wahrscheinlich geht er auf das lateinische secta ( = Richtschnur, Schulrichtung) zurück, gebildet von sectus, einem nicht erhalten gebliebenen Partizip Perfekt von sequi ( = jemandem folgen). Das Verbum secare ( = abschneiden, abspalten) scheint als Ursprung weniger in Betracht zu kommen, obwohl eine Verbindung zum Wortsinn von „Sekte" dies nahelegen könnte. Die ursprüngliche Bedeutung von secta, so auch in der Vulgata, entspricht dem griechischen aipeaiQ (—»Häresie I; vgl. auch —»Schisma), nach hellenistischem Sprachgebrauch verstanden als „Partei (Parteiung)", „Schule" oder „Richtung". In diesem Sinne spricht Paulus etwa in Gal 5,20 von aipeaeiQ, Vulgata: sectae. In ähnlicher Weise ist auch die Aussage in Act 24,5 (Vulgata: secta-, vgl. 24,14 und 28,22) zu interpretieren. Sprachlich ist der Begriff „Sekte" durch die Jahrhunderte bis heute beibehalten worden; er hat sich jedoch inhaltlich völlig gewandelt. 2.2. Phänomenologisch. Begriff und Inhalt von Sekte existieren nie losgelöst von ihrem jeweiligen religiösen Umfeld, sondern nur im Gegensatz dazu. Sie setzen im christlichen Kontext die Kirchen voraus. Erst im Verhältnis zu ihnen werden Entstehungsgeschichte einer Sekte und ihre Motive für die Separation deutlich (zur Sekten- und Ketzergeschichte vgl. -»Häresie II). Daraus ergibt sich, daß die Verwendung des Begriffs „Sekte" stets standortgebunden und damit subjektiv-wertend ist. Die heute von kirchlicher Seite her als „Sekten" definierten religiösen Gemeinschaften verstehen sich selbst natürlich nicht als solche, sondern bezeichnen im Gegenteil ihr Gegenüber als „sektiererisch". So sprechen etwa die -»Zeugen Jehovas von den „Sekten der Christenheit" und meinen damit die traditionellen Kirchen und —»Freikirchen. Die —»Mormonen sind davon überzeugt, daß alle religiösen Bekenntnisse (außer ihrem eigenen) „sektiererisch" und „in den Augen Gottes ein Greuel" seien. Inzwischen wird der Begriff auch im säkularen Bereich benutzt, um Splittergruppen von großen Organisationen oder Parteien bzw. Abweichler von vorgegebenen Meinungen abwertend zu charakterisieren (Polit-Sekten, Sektierertum in der Wissenschaft usw.). 2.3. Diskussion des Begriffs in der Gegenwart. Die Versuche, zu Beginn des 20. Jh. auf protestantischer Seite den Sekten-Begriff zu klären, waren u.a. von M. -»Weber und E. -»Troeltsch geprägt. Weber definierte „Sekte" als einen „voluntaristischen Verband ausschließlich religiös-ethisch Qualifizierter, in den man freiwillig eintritt, wenn man freiwillig kraft religiöser Bewährung Aufnahme findet", während er unter „Kirche" die religiöse Heilsgüter verwaltende „Gnadenanstalt" mit „obligatorischer Zugehörigkeit" verstand (M. Weber, GAufs. zur Religionssoziologie, Tübingen, 3 Bde., I 1947,211). Und Troeltsch kam zu dem Ergebnis: „Die Sekte ist die freie Vereinigung strenger und bewußter Christen, die als wahrhaft Wiedergeborene zusammentreten, von der Welt sich scheiden, auf kleine Kreise beschränkt bleiben, statt der Gnade das Gesetz betonen und in ihrem Kreise mit größerem oder geringerem Radikalismus die christliche Lebensordnung der Liebe aufrichten, alles zur Anbahnung und in der Erwartung des kommenden
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Gottesreiches" (Troeltsch, Die Soziallehren der christlichen Kirchen und Gruppen, Tübingen [1912] 1977, 967). Da sich viele der im Laufe der Zeit zusammengetragenen und bisweilen noch heute angeführten Kriterien für eine Sekte (kleine Zahl; Freiwilligkeitsprinzip; soziologische und psychologische Aspekte; besondere Lebensformen; autoritäre Strukturen; anti-ökumenische Einstellung; elitäres Selbstverständnis; religiöser Fanatismus u.a.) teilweise auch bei Freikirchen und Gemeinschaften innerhalb der Landeskirchen bzw. der katholischen Kirche (—»Opus Dei; Engelwerk) finden, sind sie für sich allein genommen nicht griffig und ausreichend (vgl. Hutten, Glaubenswelt 16ff.). Von Religionswissenschaftlern wurde deshalb vorgeschlagen, den Begriff „Sekte" ganz aufzugeben und statt dessen neutraler von „religiösen Gemeinschaften" oder „religiösen Sondergemeinschaften" zu sprechen (Paul Schwarzenau wollte für die traditionellen Kirchen den Terminus „Kirchentümer" und für Sekten denjenigen der „Sonderkirchen" einführen; vgl. P. Schwarzenau, Das Sektierertum als Frage an die Kirche: Ludwig Schmidt [Hg.], Gemeindeveranstaltungen. Arbeitshilfen und Entwürfe, Stuttgart, VII/2 1968, 175). Aus dem Raum der kirchlichen Sektenforschung hielt Hans-Diether Reimer (19261993) den Sektenbegriff aufgrund der neuen Entwicklungen im religiös-weltanschaulichen Bereich für „weitgehend untauglich". „Anstatt bestimmte Gemeinschaften mit dem Etikett ,Sekte' zu versehen, erscheint es sinnvoll, eine bestimmte Glaubens- und Lebenshaltung als ,sektiererisch' zu bezeichnen". Zu den „charakteristischen Elementen des Sektiererischen" sollten u.a. gezählt werden: eine negative Einstellung zu den traditionellen Kirchen und der Gesellschaft als ganzer; Gruppenegoismus und Elitebewußtsein; Überbetonung singulärer Glaubensaussagen; ethischer Rigorismus; Verengung des religiösen und geistigen Horizontes; Reduktion der Sprache zu einer Insider-Sprache; autoritäre Strukturen (Reimer, Kirche - Freikirche - Sekte ... und? Eine begriffliche Klärung: Materialdienst der E Z W 8/88, 233ff.). Die genannten Vorschläge zur Vermeidung des Sektenbegriffs haben sich jedoch bisher in Theologie, Konfessionskunde und kirchlicher Apologetik nicht durchsetzen können. Für eine zumindest inhaltlich-theologische Charakterisierung von religiösen Gemeinschaften außerhalb der Kirchen als „Sekten" scheint der Begriff noch unverzichtbar. Die Arbeitsgemeinschaft der Christlichen Kirchen in Deutschland (ACK) möchte den Terminus „Sekte" auf solche Gemeinschaften anwenden, die ,,a) die Heilige Schrift des Alten und Neuen Testamentes als wesentlich ergänzungsbedürftig ansehen und deshalb den biblischen Büchern weitere gleichwertige Offenbarungsquellen und daraus sich ergebende Sonderlehren an die Seite stellen, oder aber Teile der Bibel dadurch in den Hintergrund treten lassen, daß ganz bestimmte Aussagen in der Heiligen Schrift zum Schlüssel des Verständnisses der gesamten Bibel erklärt werden; b) verkünden, das ewige Heil werde nicht allein im Glauben an Jesus Christus empfangen, und die darum anderen Heilswegen oder Heilsvermittlern anstelle oder neben Jesus Christus das Wort reden; c) das Heil ausschließlich von der Mitgliedschaft in der eigenen Gemeinschaft abhängig machen und deshalb um Übertritt werben und eine Gemeinschaft der Kirchen darum ablehnen, weil sie auf einer strikten Trennung von anderen christlichen Gemeinschaften bestehen" (Die christlichen Kirchen und die Sekten. Eine Information der Ökumenischen Centrale Frankfurt/Main, Juni 1998, 8). 3.
Entstehungsmotive
Die Kirchengeschichte zeigt, daß keine der großen Konfessionen und keine Epoche vor Sektenbildung bewahrt geblieben ist (vgl. Hutten, Glaubenswelt 12ff.). Dabei spielten die jeweilige geistig-kulturelle Situation, aber auch revolutionäre Umbrüche und allgemeine Katastrophen eine wesentliche Rolle. Neu aufkommende Sekten verstanden und verstehen sich in erster Linie als Protest- und Erneuerungsbewegungen gegen wirkliche oder vermeintliche negative Entwicklungen und Defizite der bestehenden Kirchen.
Sekten
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Als Hauptmotive für Sektenbildung der Neuzeit lassen sich erkennen: a) die Sehnsucht nach der Urgemeinde, einer sündlosen „Gemeinde ohne Falten und Runzeln" (Beispiele: Horst Schaffranek [geb. 1923]; Witness Lee [geb. 1905]); b) individuelle Erlebnisse: Visionen und Offenbarungen (Joseph Smith [-»Mormonen]; Erika Bertschinger [geb. 1929]; Gabriele Wittek [geb. 1933]; David Berg [1919 — 1994];San MyungMun [geb. 1920]); wundersame Heilungen (Mary Baker Eddy [-»Christian Science]); Berufungen (Joseph Smith [s.o.]; Oskar Ernst Bernhardt [1875-1941]; Joseph Weißenberg [1855-1941]); innere Stimmen (E.-»Swedenborg; Jakob Lorber [1800-1864]; Bertha Dudde [1891-1965]); c) Endzeitspekulationen (William Miller [-»Adventisten]; Charles T. Russell [ 1 8 5 2 1916]); d) Erneuerung des Kultus (Friedrich Rittelmeyer [—»Christengemeinchaft]). 4.
Typologie
Die gegenwärtig im deutschsprachigen Raum aktiven Sekten gehören aufgrund ihrer Entstehung und lehrmäßigen Ausrichtung sowie sonstiger Eigenschaften unterschiedlichen Kategorien an. Da sich jedoch ähnliche oder gleiche Wesensmerkmale bei mehreren Sekten und Kulten ausgebildet haben, scheint eine scharfe Abgrenzung bzw. präzise Kategorisierung nicht immer möglich zu sein. Die Zuordnung zu einem bestimmten Typus kann deshalb nur im Hinblick auf die von der jeweiligen Gemeinschaft selbst gesetzten Schwerpunkte oder die von außen feststellbaren Charakteristika versucht werden. In eine solche Typologie gehören auch bestimmte Weltanschauungsgruppen, soweit sie biblisch-christliche Elemente aufgenommen und im Sinne ihres „Erkenntnissystems" umgedeutet haben. 4.1. Biblisch-apokalyptisch: Zeugen Jehovas und Bibelforscher-Sekten; „EndzeitPropheten 1 ' mit mehr oder weniger organisierter Gefolgschaft (—*Apokalyptik; —>Propheten/Prophetie; —»Eschatologie). Diese Gemeinschaften orientieren sich an apokalyptischen Bildern und Vorstellungen und richten ihr Alltagsleben ganz auf das von ihnen für die nahe Zukunft erwartete Ende der Welt aus. Den Zeitpunkt dieses Weltendes meinen sie anhand biblischer Zahlenangaben und prophetischer Texte errechnen sowie an der gegenwärtigen Weltlage ablesen zu können. Dabei werden die kommenden Ereignisse nach apokalyptischem Vorbild in düsteren Farben gezeichnet und grell-phantasievoll ausgemalt. Als Beispiel seien die Zeugen J e h o v a s angeführt: D a s wichtigste S t i c h w o r t , das ihr Leben und D e n k e n bestimmt, lautet „ H a r m a g e d o n " (Apk 16,16), worunter sie einen furchtbaren Krieg verstehen, den G o t t sehr bald gegen alles Böse der Welt (auch gegen die N i c h t - „ Z e u g e n " ) führen wird. „ J a , Blut wird in Strömen fließen, wenn G o t t e s Hinrichtungsstreitkräfte zur T a t schreiten. Die 69 Millionen T o t e n der zwei Weltkriege werden nichts sein im Vergleich zu den Opfern des Krieges Gottes von H a r m a g e d o n " (Wachtturm, 1. F e b r u a r 1985, 4).
Als Sonderfall des biblisch-apokalyptischen Typus hat die Gemeinschaft der Siebenten-Tags-Adventisten (-»Adventisten) zu gelten, die ebenfalls stark endzeitlich geprägt ist, jedoch konfessionskundlich nicht in die Kategorie der Sekten gehört. Die Entstehungsgeschichte (Endzeitberechnungen), die Heiligtumslehre und das exklusive Selbstverständnis der Siebenten-Tags-Adventisten (dreifache Engelbotschaft gemäß Apk 14) enthalten zwar erkennbar sektiererische Elemente. Da in ihrer Lehre aber die reformatorischen Prinzipien (solus Christus, sola scriptura, sola gratia) überwiegen, sind sie zu den Sondergemeinschaften zu rechnen. 4.2. Apostolisch-endzeitlich: -> Neuapostolische Kirche; Apostelamt Juda; Apostelamt Jesu Christi; Apostolische Gemeinschaft; Hersteld Apostolische Zendingsgemeente u.a. Geprägt werden diese Gemeinschaften von der Überzeugung, daß Gott am „Ende der Tage" das neutestamentliche „Apostelamt" wiederaufgerichtet habe, so daß Christus
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Sekten
bei seiner Wiederkunft Strukturen und „Ämter" vorfinden könne, wie sie angeblich zur Zeit seines Erdenlebens existierten. Die Apostel, besonders in der Neuapostolischen Kirche, sind nicht nur Amtsträger, sondern Vermittler des Heils und der Erlösung. „Die Neuapostolische Kirche ist das wiederaufgerichtete Erlösungswerk des Herrn" (Neuapostolischer Katechismus Fragen und Antworten über den neuapostolischen Glauben, Zürich/Frankfurt a.M. 1992, 77); „in ihr wird das von Jesus begonnene Erlösungswerk durch die von ihm gesandten Apostel vollendet" (ebd. 79). In der im 19. Jh. in England entstandenen „Mutter"-Gemeinschaft aller neuen apostolischen Gründungen, der -»Katholisch-apostolischen Gemeinde, waren die beiden Aspekte „Apostelamt" und „Endzeiterwartung" aufeinander bezogen. In den heute bestehenden Restgemeinden der Katholisch-apostolischen Gemeinde gibt es das Apostelamt aus historischen Gründen nicht mehr. An der endzeitlichen Ausrichtung wird dagegen festgehalten. 4.3. Neuoffenbarung: Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage (—•Mormonen); Fiat Lux; Universelles Leben (ehemals „Heimholungswerk Jesu Christi"); Johannische Kirche; die Mun-Bewegung des Koreaners San Myung Mun („Vereinigungskirche"); Jakob-Lorber-Leserkreise; einzelne „Neuoffenbarer" und „Träger des Inneren Wortes" mit mehr oder weniger organisierter Gefolgschaft (—»Offenbarung). Die zu diesem Typus gehörenden Sekten sind davon überzeugt, daß die Bibel, so wie sie uns überliefert ist, im besten Falle fehlerhaft übersetzt, im Grunde aber verfälscht, verstümmelt und unvollständig sei. Deshalb habe Gott besondere Menschen beauftragt und mit seinem prophetischen Geist ausgestattet, um den heutigen Menschen sein „Wort" richtig und vollständig zu übermitteln. Dieses geschehe durch die „neuen Offenbarungen". Als Beispiel sei Universelles Leben angeführt: „Durch die Lehrprophetin Gabriele Wittek offenbart Gott die tiefsten Weisheiten, wie sie der Menschheit nie zuvor gegeben wurden, . . . in einer nie dagewesenen Klarheit" (Der Christusstaat, Juni 1988, 1).
4.4. Spiritistisch-spiritualistisch: Quelle des Friedens; Geistige Loge Zürich; GreberFoundation; Verein für Tonbandstimmenforschung; spiritistische Medien mit mehr oder weniger organisierter Gefolgschaft (-»Spiritismus; -»Okkultismus). Die Anhänger spiritistischer Sekten postulieren eine „holistische Wirklichkeit", die aus einer „grobstofflichen" und einer „feinstofflichen" Ebene besteht. Mit dem in den feinstofflichen Bereich (Jenseits, Anderswelt) eingegangenen unsterblichen Teil eines Menschen (-»Seele, Persönlichkeitskern) könne man durch bestimmte Techniken (Toten-Mikrophone, Ouija-Board, Gläserrücken) bzw. Medien (Trance-Medium) in Verbindung treten, um Hilfe, Weisung und Trost für das Alltagsleben zu erhalten. Entsprechende „Kundgaben" aus dem „Jenseits" werden nur an „Geistfreunde" weitergegeben. 4.5. Esoterisch-neugnostisch: Theosophische Gesellschaft; theosophische Splittersekten (I AM-Bewegung; Fundament des Höheren Geistigen Lernens; Universale Kirche); -»Anthroposophie; -»Rosenkreutzer; Gralsbewegung (-»Theosophie; -»Esoterik; -»Gnosis; -»Synkretismus). Diese Gemeinschaften basieren auf der Weltdeutung sowie den Visionen und „Einsichten" ihrer jeweiligen Gründerpersonen. Hauptmerkmal ist ein stark synkretistisches Verständnis von Religion. Die aus dem christlichen Kontext übernommenen Bestandteile werden in Richtung Esoterik und Neu-Gnosis umgedeutet. Für Mitglieder („Schüler") werden okkulte Einweihungsrituale sowie Schulungs- und Erkenntniswege angeboten, an deren Ende die Selbsterlösung bzw. Vergöttlichung des Menschen stehen kann. Praxis und Lehre der höheren Stufen unterliegen der Geheimhaltung.
Sekten
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4.6. Heiler-Sekten: Bruno-Gröning-Freundeskreise (nach dem Wunderheiler Bruno G r ö n i n g [1906-1959]); Christian Science; kleine, m e h r oder weniger organisierte Gemeinschaften oder um Einzelpersonen gruppierte lose Anhängerkreise. Hier steht - » H e i l u n g , besser Wunderheilung, im M i t t e l p u n k t von Lehre und Praxis. Die biblisch bezeugte, zum Menschsein g e h ö r e n d e Realität von Krankheit und Leid wird nicht akzeptiert oder esoterisch-fernöstlich gedeutet (Krankheit als D i s h a r m o n i e der „ Y i n - Y a n g - K r ä f t e " im Körper). Aus J a p a n s t a m m e n Heiler-Bewegungen wie M a h i k a r i , Johrei und Reiki (mehr als 200000 Anhänger in Deutschland), die mit kosmisch-göttlichen Energien zu heilen versuchen. Dazu gehören o k k u l t e Einweihungen f ü r Praktizierende (u.a. das Ö f f n e n der C h a k r a s für die kosmischen Energien) sowie die Benutzung von geheimen Symbolen, Zeichen und M a n t r a s beim H a n d a u f l e g e n (strukturierte H a n d p o s i t i o n e n ) . M i t dem M i t t e der 70er J a h r e geprägten Begriff „Jugendreligio4.7. Jugend-Sekten. n e n " b z w . „ J u g e n d - S e k t e n " w u r d e n gerade entstandene oder in den deutschsprachigen R a u m vordringende, konfliktträchtige religiöse Gemeinschaften beschrieben, die sich vornehmlich an junge M e n s c h e n w a n d t e n . D a z u gehörten z. B. Kinder Gottes, H a r e Krishna-Bewegung, Scientology, T h e Way International, Divine Light Mission und die Mun-Bewegung/Vereinigungskirche ( - » N e u e Religionen). A u f g r u n d veränderter Alterss t r u k t u r e n , W e r b e m e t h o d e n und O r g a n i s a t i o n s f o r m e n werden diese G r u p p i e r u n g e n jetzt anderen Sekten-Typen zugeordnet (etwa den Guru-Bewegungen, Psycho-Kulten, Neuoffenbarungssekten u.a.). 5. Staat und
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5.1. Grundsätzliches. D a s Verhältnis zwischen dem Staat und den „Religionsgem e i n s c h a f t e n " (—»Religionsgesellschaften) in Deutschland wird vom Prinzip der -»Religionsfreiheit bestimmt, wie es in Art. 4 Grundgesetz festgelegt ist: „(1) Die Freiheit des G l a u b e n s , des Gewissens und die Freiheit des religiösen und weltanschaulichen Bekenntnisses sind unverletzlich. (2) Die ungestörte Religionsausübung wird gewährleistet". Das bedeutet, d a ß jede religiös o d e r weltanschaulich geprägte G e m e i n s c h a f t die von ihr entwickelten bzw. akzeptierten G r u n d l a g e n , Wertvorstellungen und Überzeugungen nach innen verwirklichen k a n n , sich d a m i t aber auch in der Öffentlichkeit darstellen und u m Anhänger w e r b e n k ö n n e n m u ß . Religionsfreiheit konkretisiert sich f ü r den einzelnen d a r i n , ein Bekenntnis zu h a b e n oder auch nicht ( = negative Religionsfreiheit; vgl. T h e o d o r M a u n z / R o m a n H e r z o g , K o m m e n t a r zum Grundgesetz, M ü n chen 1994, 23f.). Der Staat h a t sich zu strikter N e u t r a l i t ä t verpflichtet und enthält sich jeglicher E i n f l u ß n a h m e auf die Gestaltung des religiös-weltanschaulichen Lebens seiner Bürger. 5.2. Religiöser Extremismus bzw. Mißbrauch der Religionsfreiheit. Das Prinzip der Religionsfreiheit stößt jedoch an seine Grenzen und k a n n punktuell außer K r a f t gesetzt w e r d e n , wenn zur Religionsausübung Praktiken gehören, die mit den Wertvorstellungen zivilisierter Länder nicht übereinstimmen. Hier wären etwa M e n s c h e n o p f e r , Kannibalismus, W i t w e n v e r b r e n n u n g , Polygamie, Versklavung, Tempelprostitution u. a. zu nennen. D a s Grundgesetz will also nicht jede beliebige Betätigung des G l a u b e n s schützen, sondern n u r diejenige, die sich bei den heutigen Kulturvölkern auf dem Boden gewisser übereinstimmender G r u n d a n s c h a u u n g e n im Laufe der geschichtlichen Entwicklung herausgebildet hat. Im R a h m e n ihres Äußerungs- und Informationsrechtes sind Landesregierungen legitimiert, vor problematischen Sekten und Kulten zu w a r n e n (vgl. B a d e n - W ü r t t e m b e r gischer Verwaltungsgerichtshof M a n n h e i m ; Aktenzeichen 1 S 182/91). Auch die verfassungsrechtlichen Befugnisse der Bundesregierung zur I n f o r m a t i o n und A u f k l ä r u n g der Öffentlichkeit schließen das Recht zu öffentlichen W a r n u n g e n ein. Gegenstand einer
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solchen Warnung kann das Wirken einer Sekte oder eines Kultes sein, sofern hiervon Gefahren für die Menschenwürde, das Leben oder die Gesundheit betroffener Bürger ausgehen (vgl. Urteil des Bundesverwaltungsgerichtes Berlin zur „Transzendentalen Meditation" vom 23. Mai 1989; Aktenzeichen 7 C 2.87). 5.3. Organisationsformen der Sekten. Die meisten Sekten haben entweder die Form eines „eingetragenen Vereins" gewählt oder den Status einer „Körperschaft des öffentlichen Rechts" beantragt und in begründeten Fällen von den einzelnen Bundesländern auch verliehen bekommen. Körperschaftsrechte besitzen u.a. die Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage (Mormonen), die Neuapostolische Kirche, die Gemeinschaft der Siebenten-Tags-Adventisten, die Christengemeinschaft und die Johannische Kirche. Damit sind sie den ökumenischen Kirchen in allen Rechten und Pflichten gleichgestellt. 6. Apologetik:
Die Reaktion
der Kirchen
(-»Apologetik III)
Am 7. Juli 1960 beschloß der Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland die Errichtung einer Evangelischen Zentralstelle für Weltanschauungsfragen (EZW) mit Sitz in Stuttgart (1995 nach Berlin verlegt). Es sollte damit an die Arbeit der 1921 gegründeten und 1937 von der Gestapo geschlossenen Apologetischen Centrale Berlin-Spandau angeknüpft werden. Im November 1994 wurde die „Ordnung der E Z W " vom 3. Juli 1964 redigiert und dabei folgender „Auftrag" neu formuliert: „(§1) Die EZW ist die zentrale Dokumentations-, Auskunfts- und Beratungsstelle der EKD für die religiösen und weltanschaulichen Strömungen. Die E Z W hat den Auftrag, die Entwicklungen im religiös-weltanschaulichen Bereich zu beobachten und ihre Bedeutung für die EKD zu klären". 1968 berief die Bayerische Landeskirche den ersten hauptamtlichen „Beauftragten für Sekten und Weltanschauungsfragen" in der EKD. Mittlerweile hat jede der 24 deutschen Landeskirchen einen „Beauftragten", der seine Aufgabe haupt- oder nebenamtlich wahrnimmt, nämlich die Auseinandersetzung mit fremden religiösen, geistigen und weltanschaulichen Strömungen zu führen. Auch die 27 Diözesen der Römisch-katholischen Kirche in Deutschland haben inzwischen Sektenbeauftragte, deren Arbeit von dem entsprechenden Referat der „Katholischen Sozialethischen Arbeitsstelle Hamm" koordiniert wird. Literatur Maximilian Alexander, Die falschen Propheten. Schein u. Wirklichkeit der Sekten, Düsseldorf 1986. - Konrad Algermissen, Konfessionskunde, Paderborn 1930 8 1969. - Dave Breese, Sekten erkennen u. beurteilen, Asslar 1990. - Kurt-Helmuth Eimuth, Die Sekten-Kinder. Mißbraucht u. betrogen, Freiburg/Basel/Wien 1996. - Paul Engstfeld (Hg.), Jur. Probleme im Zusammenhang mit den sog. neuen Jugendreligionen, München 1981. - Hans Gasper/Joachim Müller/Friederike Valentin (Hg.), Lexikon der Sekten, Sondergruppen u. Weltanschauungen, Freiburg/Basel/Wien 1990 2 1994. - Rüdiger Hauth (Hg.), . . . neben den Kirchen. Gemeinschaften, die ihren Glauben auf besondere Weise leben wollen, Neukirchen-Vluyn 1979 1 0 1995 (BKG 12). - Ders., Kleiner Sekten-Katechismus, Wuppertal 1992 5 1 9 9 6 . - Ders., Hexen - Gurus - Seelenfänger, Wuppertal 1994 3 1999. - Ders. (Hg.), Kompaktlexikon Religionen, Wuppertal 1998. Hansjörg Hemminger, Was ist eine Sekte?, Mainz/Stuttgart 1995. - H R G e m 5 1999. - Kurt Hutten, Seher - Grübler - Enthusiasten. Das Buch der traditionellen Sekten u. rel. Sonderbewegungen, Stuttgart 1950 u 1 9 9 7 . - Ders., Die Glaubenswelt des Sektierers. Das Sektenwesen als antireformatorische Konfession, H a m b u r g 1957. - Bernhard Kosak/Wolfgang Schmieder/Reiner Kahuschke, Religionsgemeinschaften neben den Kirchen, Göttingen 1980. - Ferdinand Krenzer (s.u. Z . Renker). - Egon Larsen, Strange Sects and Cuits. A Study of Their Origins and Influence, London 1971. - Walter M a r t i n , T h e Kingdom of the Cults, Minneapolis, Minn. 1965 2 4 1977. - George A. M a t h e r / L a r r y A. Nichols, Dictionary of Cults, Sects, Religion and the Occult, Grand Rapids, M i c h . 1993. - Jean-François M a y e r , Les Sectes et vous, Paris/Freiburg i.Ue. 1989; dt. (erw. u. aktualisierte Fassung): M i t Sekten konfrontiert, Freiburg i.Ue. 1995. Helmut O b s t , Apostel u. Propheten. Gründer christl. Religionsgemeinschaften des 1 9 . / 2 0 . J h . ,
Selbständige Evangelisch-Lutherische Kirche
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Berlin 2 1 9 8 1 . - Z . R e n k e r [ F e r d i n a n d K r e n z e r ] , U n s e r e B r ü d e r in d e n S e k t e n , L i m b u r g 1964. H u g o S t a m m , S e k t e n . I m B a n n v. S u c h t u . M a c h t , Z ü r i c h 1995. - P a u l - G ü n t e r W e b e r , R e l i g i o s i t ä t u. s o z i a l e O r g a n i s a t i o n s f o r m e n in S e k t e n , K ö l n / W i e n 1975. - B r i a n W i l s o n , R e l i g i o u s Sects, L o n d o n 1970.
Rüdiger H a u t h
Selbständige Evangelisch-Lutherische Kirche I.Geschichte
1.
(SELK)
2. S e l b s t v e r s t ä n d n i s u n d S t r u k t u r
( L i t e r a t u r S. 105)
Geschichte
Die Selbständige Evangelisch-Lutherische Kirche ist eine lutherische Bekenntniskirche, 1972 hervorgegangen aus dem Z u s a m m e n s c h l u ß dreier lutherischer —»Freikirchen, deren Wurzeln im 19. Jh. lagen. In der ersten Phase f ü h r t e die A b l e h n u n g der staatlich sanktionierten - » U n i o n e n zum Schritt in die staatsfreie Existenz (Preußen 1817/1830, N a s s a u 1846, Baden 1850). Später k a m es auch im Bereich lutherischer Landeskirchen zur Bildung von konfessionell-lutherischen Gemeinden bzw. Synoden; sie resultierte aus der Kritik an der A u f w e i c h u n g des Bekenntnisstandes ( H a m b u r g 1841, Sachsen 1871/ 1876). Zuletzt k a m es zu konfessionellen Kirchenbildungen auf G r u n d der Ä n d e r u n g rechtlicher Strukturen, zum Teil infolge der preußischen Annexionen von 1866 (Kurhessen 1873, H e s s e n - D a r m s t a d t 1877, H a n n o v e r 1878). In Preußen und H a n n o v e r vor allem ist die Entstehung dieser Kirchentümer u n a b l ö s b a r von den vorlaufenden Erwekk u n g s b e w e g u n g e n , der nahezu alle maßgeblichen S t i m m f ü h r e r angehörten. F ü h r e n d e Gestalten waren in Preußen der T h e o l o g e J o h a n n G o t t f r i e d Scheibel (1783-1843) und der Jurist Georg Philipp E d u a r d H u s c h k e ( 1 8 0 1 - 1 8 8 6 ) , für Hessen die Brüder August F. Ch. - » V i l m a r und Wilhelm Vilmar (1804-1884), in H a n n o v e r der jüngere Bruder von L. —»Harms, T h e o d o r H a r m s (1819—1885), w ä h r e n d in Sachsen eine Laienbewegung a m A n f a n g stand, die erst später von Carl Ferdinand Wilhelm Walther (1811-1887) und der Missouri-Synode beeinflußt w u r d e . Alle diese lutherischen Konfessionskirchen hatten ihr eigenes theologisches Profil und unterschiedliche Verfassungen, so d a ß sie zeitweise nicht n u r neben-, sondern auch gegeneinander standen. Konsistorial-synodale Strukturen bestanden in Preußen, in Hessen und H a n n o v e r eher episkopale, in Sachsen stark an den Rechten der G e m e i n d e n ausgerichtete. G e m e i n s a m war ihnen aber das Ziel, die uneingeschränkte Geltung des Bekenntnisses der lutherischen R e f o r m a t i o n in kirchlicher Verbindlichkeit zu erhalten, die Bekenntnisbindung vor allem des Gottesdienstes zu sichern und die Eigenständigkeit ihrer Verfassung wiederherzustellen. Der kirchlich-konservative Ansatz führte sie gleichwohl zu m o d e r n e n Formen ihres Kirchenk a m p f e s und emanzipatorischen Verhaltensmustern, jedenfalls durch die Ü b e r n a h m e persönlicher V e r a n t w o r t u n g im religiös-kirchlichen Bereich. Sie sind dennoch allesamt als „Freikirchen wider W i l l e n " anzusprechen. Es b e d u r f t e eines langen Lernprozesses und völlig veränderter R a h m e n b e d i n g u n g e n , bis es nach dem Zweiten Weltkrieg zur A u f r i c h t u n g der Kirchengemeinschaft unter allen lutherischen Bekenntniskirchen k a m . Voraufgegangen w a r e n d e m verschiedene Ann ä h e r u n g e n (Delegiertenkonvent 1907, K o n f ö d e r a t i o n der hessischen Lutheraner 1910, dieser mit H a n n o v e r 1924); die G r ü n d u n g der -»Evangelischen Kirche in Deutschland ließ das Bewußtsein f ü r die Z u s a m m e n g e h ö r i g k e i t der konfessionellen lutherischen Kirchen wachsen. In der Bundesrepublik Deutschland k a m es 1947 zum Z u s a m m e n s c h l u ß der Selbständigen Evangelisch-Lutherischen Kirche in den hessischen Landen, der H a n noverschen evangelisch-lutherischen Freikirche und der Evangelisch-lutherischen Kirche in Baden zur Selbständigen Evangelisch-Lutherischen Kirche, der sich 1950 auch die Renitente Kirche ungeänderter Augsburger Confession anschloß; die Evangelisch-lutherische Kirche in Baden ging seit 1965 wieder eigene Wege.
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Selbständige Evangelisch-Lutherische Kirche
Nach langwierigen Verhandlungen erfolgte 1972 der Zusammenschluß der Evangelisch-lutherischen (altlutherischen) Kirche, der Evangelisch-lutherischen Freikirche (früher: in Sachsen und anderen Staaten) und der Selbständigen Evangelisch-Lutherischen Kirche. Ihr schloß sich 1976 die Evangelisch-lutherische Bekenntniskirche an, die 1924 unter Deutschen in Polen entstanden war. Ohne daß es zu einer engeren organisatorischen Verbindung kam, wurde 1983 das Bestehen der Kirchengemeinschaft mit der Evangelisch-lutherischen Kirche in Baden festgestellt. In der Deutschen Demokratischen Republik kam es nur zur Entstehung einer loseren Vereinigung Selbständiger Evangelisch-Lutherischer Kirchen (1972), die 1984 mit der Aufkündigung der Kirchengemeinschaft durch die Evangelisch-lutherische Freikirche wegen Differenzen in der Schriftlehre ihr Ende fand; 1989 kündigte sie aus ähnlichen Gründen auch die Kirchengemeinschaft mit der Selbständigen Evangelisch-Lutherischen Kirche auf. Die Evangelisch-lutherische (altlutherische) Kirche in der früheren DDR schloß sich 1991 der Selbständigen Evangelisch-Lutherischen Kirche an. Nach dem Verlust der schlesischen und pommerschen Kerngebiete der Evangelisch-lutherischen (altlutherischen) Kirche im Jahr 1945 liegen die meisten Gemeinden schwerpunktmäßig in Nordrhein-Westfalen, der Lüneburger Heide, Hessen und im Großraum Berlin. 2. Selbstverständnis
und
Struktur
Die Selbständige Evangelisch-Lutherische Kirche ist gebunden an die Heilige Schrift, die sie als das unfehlbare —>Wort Gottes versteht, und hat das —>Konkordienbuch von 1580 als Bekenntnisgrundlage. Der Gottesdienst in Form der lutherischen Messe als Mittelpunkt des kirchlichen Lebens ist geprägt von Predigt und Abendmahlsfeier bei Hervorhebung der Realpräsenz des Leibes und Blutes Christi. In ihrer Verfassung („Grundordnung" von 1972) sind die herkömmlichen synodalen, konsistorialen, episkopalen und gemeindlichen Verfassungselemente in einer neuen Struktur verschmolzen. Bei den 188 Gemeinden in 125 Pfarrbezirken (1998) sind 148 Pfarrer und Vikare tätig. Landesweit sind die Gemeinden in elf Kirchenbezirke mit je einem Superintendenten und vier Sprengel mit je einem Propst an der Spitze gegliedert; paritätisch besetzte Synoden sind Verfassungsorgane auf der Ebene der Kirchenbezirke und der Gesamtkirche. Der Kirchensynode ist bei Entscheidungen in Lehrfragen der Allgemeine Pfarrkonvent vorgeordnet. Leitender Geistlicher ist der Bischof, Sitz der Kirchenleitung ist Hannover. Nach der Grundordnung der Selbständigen Evangelisch-Lutherischen Kirche kann das geistliche Amt nur Männern übertragen werden, doch besteht neuerdings das Amt einer Pastoralreferentin. Mission und Diakonie werden als Lebensäußerungen der Kirche begriffen und haben in der Lutherischen Kirchenmission (Bleckmarer Mission) und im Diakonischen Werk der Selbständigen Evangelisch-Lutherischen Kirche eigene Arbeitsstrukturen. Zur Ausbildung ihres theologischen Nachwuchses unterhält sie in Oberursel (Taunus) die Lutherische Theologische Hochschule (-»Hochschulen, Kirchliche 2.6.) mit fünf Professuren in den klassischen theologischen Disziplinen. Bundesweit gehören ihr 39200 Mitglieder an (Stand: Dezember 1997). Sie ist Körperschaft des öffentlichen Rechts, finanziert sich aber ausschließlich aus Beiträgen, Kollekten und Spenden. Sie steht in Kirchengemeinschaft u. a. mit der Lutherischen Kirche (Missouri-Synode) und deren Tochterkirchen in Argentinien, Brasilien und Kanada, zudem mit der Lutherischen Kirche in Australien, sowie den lutherischen Bekenntniskirchen in Dänemark, England, Finnland, Frankreich und Belgien, Portugal, dazu der Lutherischen Kirche im Südlichen Afrika und der Freien Evangelisch-Lutherischen Synode in Südafrika. Sie ist Mitglied in der European Lutheran Conference und dem International Lutheran Council. Verhandlungen zur Feststellung der Kirchengemeinschaft mit der Evangelisch-lutherischen Wisconsin-Synode, zu der ein Teil der Vorgängerkirchen Verbindung hatte, scheiterten 1974/75 auf Grund von Meinungsverschiedenheiten in der Hermeneutik der Hei-
Seinecker
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ligcn Schrift; traditionelle Verbindungen eines Teils der europäischen Schwesterkirchen zur Wisconsin-Synode führten folglich zu Spannungen im Verhältnis zur Selbständigen Evangelisch-Lutherischen Kirche. Auf Grund ihrer konfessionellen Stellung ist die Selbständige Evangelisch-Lutherische Kirche weder Mitglied der Evangelischen Kirche in Deutschland noch des Ökumenischen Rats der Kirchen; auch der —»Vereinigten Evangelisch-Lutherischen Kirche in Deutschland und dem -»Lutherischen Weltbund gehört sie nicht an. Doch bestimmt sie ihre Existenz im Raum der einen Christenheit; ihrer ökumenischen Verpflichtung kommt sie durch Mitarbeit in der Arbeitsgemeinschaft Christlicher Kirchen in Deutschland und in verschiedenen ökumenischen Ausschüssen nach; sie steht in Arbeitsgemeinschaft mit dem Martin-Luther-Bund und dem Evangelisch-lutherischen Zentralverein für Zeugnis und Dienst unter Juden und Christen und ist Mitglied in der Deutschen Bibelgesellschaft. Literatur Klaus Engelbrecht, Um Kirchentum u. Kirche. Metropolitan Wilhelm Viimar ( 1 8 0 4 - 1 8 8 4 ) als Verfechter einer eigentümlichen Kirchengeschichtsdeutung u. einer betont hessischen Theol., Frankfurt a. M . u.a. 1984. - Peter Hauptmann (Hg.), Gerettete Kirche. Stud. zum Anliegen des Breslauer Lutheraners J o h a n n Gottfried Scheibel ( 1 7 8 3 - 1 8 4 3 ) , Göttingen 1987. - Martin Kiunke, J o h a n n Gottfried Scheibe! u. sein Ringen um die Kirche der luth. Reformation, Erlangen 1941 (Nachdr. Göttingen 1985). — Werner Klan, Die ev.-luth. Immanuelsynode in Preußen. Eine Kirchenbildung im Gefolge der ekklesiologischen Auseinandersetzungen im dt. Luthertum des 19. J h . , Frankfurt a . M . u . a . 1985. - M a n f r e d Roensch/Werner Klan (Hg.), Quellen zur Entstehung u. Entwicklung selbständiger ev.-luth. Kirchen in Deutschland, Frankfurt a . M . u . a . 1987. - J o b s t Schöne, Kirche u. Kirchenregiment im Wirken u. Denken Georg Philipp Eduard Huschkes, Berlin/Hamburg 1969. - Konrad Uecker (Hg.), Kirche auf festem Glaubensgrund. Fast alles über die S E L K , G r o ß Oesingen 2 1995.
Werner Klän
Selbstbewußtsein -* Mensch, —> Seele Selbsterfahrung —* Religionssoziologie Selbstmord -» Suizid Seligpreisungen —> Bergpredigt, —> Formgeschichte/Formenkritik Seinecker, Nikolaus 1. Leben
1.
(1530-1592)
2. Werk und Wirkung
(Quellen/Literatur S. 107)
Leben
Nikolaus Seinecker wurde am 5. oder 6. Dezember 1530 in dem im Nürnberger Landgebiet liegenden Hersbruck geboren. Er entstammte der zweiten Ehe seines Vaters, des später in Nürnberg tätigen Notars Georg Seinecker. Bereits 1543 Organist an der Burgkapelle in Nürnberg, genoß er gründliche Schulausbildung und wurde 1549 in -»Wittenberg immatrikuliert, wo —»Melanchthon sich ihm besonders zuwandte. Nach der Magisterpromotion (31. Juli 1554) entschied er sich gegen andere Wünsche des Vaters zum Studium der Theologie, hielt philosophische und theologisch-bibelexegetische Vorlesungen und erklärte Melanchthons Examen ordinandorum. Auf Empfehlung Melanchthons berief ihn Kurfürst August von Sachsen (1526-1586) im Winter 1557 nach Ordination in Wittenberg (1. Februar 1558) als dritten Hofprediger nach Dresden. 1559 übernahm er den Unterricht der Chorknaben der Hofkapelle. Im
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Seinecker
gleichen Jahr heiratete er Margarete Greiser, die Tochter des Dresdener Superintendenten Daniel Greiser. Anlaß für den Weggang aus Dresden zum Jahresende 1564 wurde eine Vertretungspredigt des Stadtpfarrers Martin Hofmann (1535-1575) in der Hofkirche, deren obrigkeitskritischer Tendenz Seinecker sich anschloß. Im März 1565 begann Seinecker eine Tätigkeit als Professor in -»Jena (erste Vorlesung am 2. April 1565), geriet aber bereits im Januar 1566 wegen seiner zusammen mit Johann Stössel (1524—1578) geübten Kritik an der Haltung des Herzogs Johann Friedrich II. des Mittleren (1529-1595) in der Grumbach-Affäre in Schwierigkeiten. Ein Entlassungsgesuch nach dem Regierungswechsel und der Umorientierung der ernestinischen Religionspolitik (Januar 1568) blieb ein halbes Jahr unbeantwortet, so daß Seinecker im Juli 1568 von sich aus Jena verließ und mit dem 16. August 1568 eine Professur in -»Leipzig antrat. Im Einverständnis mit dem Kurfürsten nahm er nach einer ersten, vom Kurfürsten nicht gebilligten Berufung (26. September 1568) am 24. April 1570 einen erneuten Ruf nach Braunschweig-Wolfenbüttel als Hofprediger, Generalsuperintendent und Kirchenrat auf zwei Jahre an. Eine christologische These, zu der er im Zusammenhang seines Doktorats am 11. Mai 1570 in Wittenberg Stellung zu nehmen hatte, verwickelte ihn noch vor der Übersiedlung in seine neue Stellung in einen schwierigen Konflikt, an dessen Beilegung Jakob -»Andreae beteiligt war (Mager, Konkordienformel 126-133). Ein Jahr nach seiner Berufung wurde er unbefristet angestellt. Zu Spannungen führte die möglicherweise vom Wolfenbütteler Hof kalkulierte Berufung von Timotheus Kirchner (1533-1587) als Generalsuperintendent in Wolfenbüttel (1. Dezember 1572). Selnekker übernahm ab Anfang 1573 die Generalsuperintendentur für die Sprengel Gandersheim und Alfeld mit Sitz in Gandersheim. Noch während der Visitation der Grafschaft Oldenburg im Frühsommer 1573, die mit der Erstellung der Kirchenordnung für die Grafschaft (vgl. TRE 18,684,37-48) verbunden war, fiel die Entscheidung für die Rückkehr nach Leipzig, die im Winter 1573/74 erfolgte und erhebliche Spannungen mit der Leipziger Fakultät zur Folge hatte (Hasse 94-96). Am 4. Juni 1576 wurde Seinecker zusätzlich als Superintendent, Pfarrer an St. Thomas in Leipzig und Assessor am kursächsischen Konsistorium berufen, am 20. Oktober 1576 als Kanonikus am Domstift Meißen. Mehrfach (Wintersemester 1579, 1580 und 1583) nahm er das Dekanat der Theologischen Fakultät wahr. Die Anordnung des Kurfürsten Christian I. (1560-1591) vom 20. September 1588, die Geistlichen hätten sich der Schmähungen gegen die Calvinisten zu enthalten, brachte Seinecker am 17. Mai 1589 seine Entlassung ein. Er bewohnte bis zum Oktober 1589 ein eigenes Haus in Leipzig, ging zum Winter über Halle nach Magdeburg und zum 12. August 1590 als Superintendent auf fünf Jahre nach Hildesheim. Mit der Wende der kursächsischen Politik nach dem Tode Christians I. erreichte ihn die Rückberufung nach Leipzig, wo er am 19. Mai 1592 todkrank ankam und am 24. Mai starb. Die Leichenpredigt hielt der Jenaer Theologieprofessor Georg Mylius (1548-1607). 2. Werk und
Wirkung
Zu den institutionellen Bedingungen der Wirkung Selneckers gehörte seine nach Abschluß der Universitätsstudien fast lebenslange, wenn auch von kurzen Unterbrechungen begleitete Zugehörigkeit zum akademischen bzw. kirchenleitenden Milieu. Das gilt auch für die Berufungen (Österreich 1568, Helmstedt 1575), denen er nicht folgte. Als Schüler Melanchthons, dem er lebenslang die Treue hielt, zeigte Seinecker frühzeitig ein vom Lehrer unabhängiges, an -»Luther orientiertes Profil in Christologie und Abendmahlslehre, was ihn 1570 zur Trennung vom Wittenberger Philippismus führte, während er genuin melanchthonische Positionen in der theologischen Anthropologie (Synergismus, gute Werke) bis in die Redaktionsarbeiten an der -»Konkordienformel hinein festhielt. Diese den Zeitgenossen verdächtige Zwischenstellung brachte dem persönlich sensiblen Mann immer wieder Angriffe von unterschiedlichsten Seiten, auch von Reformierten (Th. -»Beza, Z. -»Ursinus, Lambert Danaeus [1530-1595], Christoph Herdesianus
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Seinecker
[ 1 5 2 3 - 1 5 8 5 ] ) u n d F l a c i a n e r n e i n , g e g e n d i e e r s i c h v e r t e i d i g e n m u ß t e . N a c h d e m Sein e c k e r m i t s e i n e m E i n t r e t e n f ü r d a s Corpus
Doctrinae
Pbilippicum
1 5 7 0 / 7 1 in B r a u n -
s c h w e i g - W o l f e n b ü t t e l scheiterte, k o n z e n t r i e r t e er sich auf d e n N a c h w e i s der u n t r e n n b a r e n Z u s a m m e n g e h ö r i g k e i t v o n L u t h e r u n d M e l a n c h t h o n , in d e r L u t h e r d i e f ü h r e n d e R o l l e z u k a m , w a s i h n f ü r w e i t e r e n E i n s a t z in l e i t e n d e n S t e l l u n g e n in K u r s a c h s e n g e e i g n e t e r s c h e i n e n l i e ß . Sie b a n d i h n in d i e s e r w i r k u n g s g e s c h i c h t l i c h b e d e u t s a m s t e n P h a s e s e i n e s L e b e n s f ü r n e u n J a h r e ( 1 5 7 6 - 1 5 8 4 ) in K o n v e n t s - , K o m m i s s i o n s - u n d V i s i t a t i o n s a r b e i t e n ein, die das Ziel einer überterritorialen L e h r e i n i g u n g der der A u g s b u r g i s c h e n Konfession v e r p f l i c h t e t e n K i r c h e n M i t t e l - u n d N o r d e u r o p a s v e r f o l g t e n u n d in d e r E r s t e l l u n g d e s - > K o n k o r d i e n b u c h e s i h r Z i e l f a n d e n ( K o n v e n t e in L i c h t e n b u r g u n d T o r g a u 1 5 7 6 , T a n germünde, Herzberg und Langensalza
1578, E r f u r t , B r a u n s c h w e i g u n d
1581 — 1584, V i s i t a t i o n e n im a l b e r t i n i s c h e n u n d e r n e s t i n i s c h e n S a c h s e n
Quedlinburg 1576/77).
C h a r a k t e r i s t i s c h f ü r d i e l i t e r a r i s c h e A r b e i t s w e i s e S e l n e c k e r s in s e i n e n b i b e l e x e g e t i schen u n d p ä d a g o g i s c h e n W e r k e n w a r die o f t lose V e r b i n d u n g unterschiedlicher literarischer G e n e r a ( T h e s e n , selbst v e r f a ß t e poetische Texte, L i e d k o n t r a f a k t u r e n , explizier e n d e A b h a n d l u n g e n ) , in d e r s i c h d i e u n t e r s c h i e d l i c h e n A r b e i t s f e l d e r z u e r k e n n e n g a b e n , auf d e n e n er t ä t i g w a r . E i n e u m f a s s e n d e U n t e r s u c h u n g seines w e i t v e r s t r e u t e n d i c h t e risch-musikbezogenen Werkes steht noch aus. Quellen Primärbibliogr.: Verz. der im dt. Sprachbereich ersch. D r u c k e des XVI. Jh., hg. v. der Bayerischen Staatsbibliothek in M ü n c h e n , bearb. v. I r m g a r d Bezzel, S t u t t g a r t , XIX 1992, S 5 4 3 9 - 5 6 9 0 (ergänzungsfähig). M a r t i n A n d r e a e , In Libros, T i t v l o T h e o l o g i a e Calvinisticae a C o n r a d e Schlvsselbergio [...] recens editos. E p i g r a m m a [...] Accessit [...] O r a t i o recitata W i t e m b e r g a e in t e m p l o A c a d e m i a e , A n n o 1571 [...] In q u a querela est iustissima de falsis f r a t r i b u s , ac n o m i n a t i m Nicolai Selnecceri, o . O . 1592. - K O f. die G r a f s c h a f t O l d e n b u r g (1573): E K O 7,2, 9 5 7 - 1 1 6 2 . - Lebensbeschreibung M a r t i n Luthers v. N i k o l a u s Seinecker, hg. v. Alfred Eckert ( = R e p r . v.: N i k o l a u s Seinecker, Histórica O r a t i o . Vom Leben vnd Wandel [...] D . M a r t i n i Lutheri [...], Leipzig 1576), F ü r t h 1992. - G e o r g Mylius, Christi. Predigt / BEy der Leiche Des [...] H e r r n N I C O L A I S E L N E C C E R I / [ . . . ] , Leipzig 1592. - G e o r g Schröter, O r a t i o de Vita Clarissimi T h e o l o g i , D o c t o r i s Nicolai Selnecceri [...] P . M . [...], H i l d e s h e i m 1600. Unveröff. Briefwechsel u. N a c h l a ß weit verstreut, u . a . in Berlin, Dessau, D r e s d e n , G ö t t i n g e n , G o t h a , H a n n o v e r , W e i m a r , Wolfenbüttel. Literatur Erich Beyreuther, N i k o l a u s Seinecker u. die geistigen M ä c h t e seiner Zeit: N i k o l a u s Seinecker 1 5 3 0 - 1 5 9 2 (s.u.) 8 0 - 1 0 1 . - R o b e r t Calinich, Kampf u. U n t e r g a n g des M e l a n c h t h o n i s m u s in Kursachsen in den J a h r e n 1570 bis 1574 u. die Schicksale seiner v o r n e h m s t e n H ä u p t e r , Leipzig 1866. H e r m á n J. De Vries, N i c o l a u s Selnecker's Psalter C o m m . (1565). A D o c u m e n t a r y Study o n Psalm Versification, Diss. Univ. of Cincinnati 1995. - Ders., N i c o l a u s Seinecker and Visual Portrayal of the Psalmist: D a p h n i s 26 (1997) 3 3 - 5 1 . - F r a n z Dibelius, Z u r Gesch. u. C h a r a k t e r i s t i k N i k o l a u s Selneckers: BSKG 4 (1888) 1 - 1 0 . - Ders., Art. Seinecker, N i k o l a u s : RE 3 18 (1906) 1 8 4 - 1 9 1 . Irene Dingel, A b l e h n u n g u. A n e i g n u n g . Die B e w e r t u n g der A u t o r i t ä t M a r t i n L u t h e r s in den Auseinandersetzungen u m die K o n k o r d i e n f o r m e l : Z K G 105 (1994) 3 5 - 5 7 . - Dies., C o n c o r d i a c o n t r o versa. Die öffentlichen Diskussionen u m d a s luth. K o n k o r d i e n w e r k a m E n d e des 16. J h . , 1996 ( Q F R G 63). - J o b s t Ebel, Die H e r k u n f t des Konzeptes der K o n k o r d i e n f o r m e l . Die F u n k t i o n e n der fünf Vf. neben A n d r e a e beim Z u s t a n d e k o m m e n der Formel: Z K G 91 (1980) 2 3 7 - 2 8 2 . - Ders., W o r t u. Geist bei den Vf. der K o n k o r d i e n f o r m e l . Eine hist.-syst. Unters., 1981 (BEvTh 89). - Alfred Eckert, Aus d e m Leben u. Werk N i k o l a u s Selneckers: Z B K G 48 (1979) 1 9 - 2 7 . - Ders., Leben u. W i r k e n N i k o l a u s Selneckers: N i k o l a u s Seinecker 1 5 3 0 - 1 5 9 2 (s.u.) 3 6 - 6 1 . - Ders., Die Abendmahlslehre v. N i k o l a u s Seinecker: Z B K G 54 (1985) 5 5 - 6 6 . - Ders., N i k o l a u s Seinecker. Z u m 400. Todestag: DtPfrBl 92 (1992) 1 9 9 - 2 0 2 . - J o h a n n H e i n r i c h G e b a u e r , N i k o l a u s Seinecker als Hildesheimer Stadtsup.: J G N K G 47 (1949) 5 4 - 6 4 . - J o h a n n A n d r e a s Gleich, Annales Ecclesiastici, Dresden/Leipzig 1730. - G e o r g H e i n r i c h Goetze, C o m m e n t a t i o de Nicolai Selnecceri Pietate, M a r tino Luthero d e c l a r a t a [ . . . ] , Lübeck (1723). - Ders., C o m m e n t a t i o de Nicolai Selnecceri Vita literaria [...], Lübeck (1723). - Ders., C o m m e n t a t i o de Nicolai Selnecceri Pietate Philippo M e l a n c h t h o n i a p p r o b a t a [ . . . ] , Lübeck (1724). — Ders., C o m m e n t a t i o in u l t i m u m q v e m N i c o l a u s Selnec-
108
Semiotik I
cerus lecto ferali affixus pronuntiavit versiculum [...], Lübeck (1725). - Ders., Epistolarum ad Martinum Chemnitium a Nicolao Selneccero scriptarum Specimen, Lübeck 1725. - Ders., Recitaciones de Colloqviis Ecclesiasticis, qvibus interfuit Nicolaus Selneccerus [...], Lübeck 1725. Ders., Commentatio Historico-Theologica de Nicolai Selnecceri Exilio Lipsiensi [...], Lübeck (1726). - Ders., Dissertatio Sacra De Prudentia Theologica Nicolai Selnecceri cum Sacra publica in Electorali Dresda turbarentur [...], Lübeck (1726). - Hans-Peter Hasse, Die Lutherbiographie v. Nikolaus Seinecker. Selneckers Berufung auf die Autorität Luthers im Normenstreit der Konfessionalisierung in Kursachsen: A R G 86 (1995) 9 1 - 1 2 3 . - Theodore W. Jungkuntz, Formulators of the Formula of Concord. Four Architects of Lutheran Unity, St. Louis, M o . 1977. - Werner Klan, Der „vierte M a n n " . Auf den Spuren v. Nikolaus Selneckers ( 1 5 3 0 - 1 5 9 2 ) Beitr. zu Entstehung u. Verbreitung der Konkordienformel: LuThK 17 (1993) 1 4 5 - 1 7 4 . - Ders., „Doctrina, fides &c confessio". Konfessorische Formeln im Werk Nikolaus Selneckers ( 1 5 3 0 - 1 5 9 2 ) : LuThK 19 (1996) 2 - 2 8 . - Wolfdietrich v. Kloeden, Art. Seinecker: BBKL 9 (1995) 1 3 7 5 - 1 3 7 9 . - Robert Kolb, Art. Seinecker: T h e Oxford Encyclopedia of the Reformation, New York/Oxford, 6 (1996) 43. - Inge Mager, Nikolaus Selneckers Katechismusbereimung: J L H 34 (1992/93) 5 7 - 6 7 . - Dies., Die Konkordienformel im Fürstentum Braunschweig-Wolfenbüttel. Entstehungsbeitr. - Rezeption - Geltung, 1993 (SKGNS 33). - Theodor Mahlmann, Das neue Dogma der luth. Christologie. Problem u. Gesch. seiner Begründung, Gütersloh 1969. - Carl Niedner, Nikolaus Seinecker, 1530 bis 1592: Luth. 53 (1942) 1 5 0 - 1 5 7 . - Nikolaus Seinecker 1 5 3 0 - 1 5 9 2 , hg. v. Alfred Eckert/Helmut Süß, Hersbruck 1980. - Theodor Pressel, Die fünf Jahre des Dr. Jacob Andreae in Chursachsen: J D T h 22 (1877) 1 - 6 4 . 2 3 9 - 2 6 4 . - Heinz Seifert, „Vor-Sänger" der luth. Kirche: Nikolaus Seinecker 1 5 3 0 - 1 5 9 2 (s.o.) 6 3 - 7 7 . - Wolfgang Sommer, Gottesfurcht u. Fürstenherrschaft. Stud. zum Obrigkeitsverständnis Johann Arndts u. luth. Hofprediger z. Z . der altprot. Orthodoxie, 1988 (FKDG 41). - Helmut Süß, Familiengesch. Nikolaus Selneckers: Nikolaus Seinecker 1 5 3 0 - 1 5 9 2 (s.o.) 1 3 35. - Eberhard Winkler, Die Leichenpredigt im dt. Luthertum bis Spener, Berlin 1967. - Martin Wittenberg, Dein Stimm hör ich zu jeder Frist - Beitr. zum Bilde Nikolaus Selneckers ( 1 5 3 0 - 1 5 9 2 ) : L K W 29 (1982) 5 7 - 7 0 . Ernst Koch
Semantik - >
Sprache/Sprachwissenschaft/Sprachphilosophie
Semiotik I. R e l i g i o n s p h i l o s o p h i s c h und s y s t e m a t i s c h - t h e o l o g i s c h II. P h i l o s o p h i s c h - l i n g u i s t i s c h
S. 1 1 6
III. P r a k t i s c h - t h e o l o g i s c h
S. 1 3 4
I. Religionsphilosophisch und systematisch-theologisch 1. „Zeichen und Wunder" glauben" 4. Theosemiotik 1. „Zeichen 1.1.
und
2. Signum und res (Literatur S. 115)
3. „Das zeychen, die bedeutung unnd den
Wunder"
G o t t h e i t e n o d e r d a s N u m i n o s e sind n i c h t d i r e k t z u g ä n g l i c h , s o n d e r n treten z.ei-
c h e n v e r m i t t e l t in E r s c h e i n u n g . D a r i n liegen zugleich die B e d i n g u n g und d a s L e b e n s e l e m e n t v o n m a g i s c h e n P r a k t i k e n ( - » M a g i e ) , religiösen R i t e n ( - » R i t u s ) und K u l t e n , M y t h o l o g i e n ( - » M y t h o s ) und s c h l i e ß l i c h der r e l i g i o n s p h i l o s o p h i s c h e n und t h e o l o g i s c h e n T h e o r i e b i l d u n g . D a s G ö t t l i c h e zeigt
sich und wird bezeichnet.
Spezifische Zeichen
re-
p r ä s e n t i e r e n j e n e b e s t i m m e n d e W i r k l i c h k e i t , die selbst und als s o l c h e n i c h t im t r i v i a l e n S i n n e „ w i r k l i c h " , d . h . r a u m z e i t l i c h e i n g e s c h r ä n k t sein k a n n . C h a r a k t e r i s t i s c h für d i e P r ä s e n z des G ö t t l i c h e n ist folglich ein Zeichenereignis-.
B i b l i s c h o f f e n b a r t sich G o t t in
„ Z e i c h e n und W u n d e r n " , und die p r o p h e t i s c h e n Z e i c h e n h a n d l u n g e n g e b e n b e i s p i e l h a f t e I n t e r p r e t a t i o n e n des g e s c h i c h t l i c h k o n k r e t i s i e r t e n G o t t e s w i l l e n s (s. K r ü g e r Keller).
115-137;
Semiotik I
109
Es ist die wirksame Kraft Gottes, die in bestimmten Zeichen zu einem bestimmten Zweck zur Darstellung kommt, z . B . in „vielen Zeichen und Wundern im Lande Ägypten" (Ex 7,3) beim Exodus des Volkes Israel. Auch der Gottesname selbst ist ein Zeichen (Ex 3 , 1 2 - 1 4 ) , an dem in besonderer Weise sein zweifacher Bezug zu erkennen ist: auf die göttliche Kraft, von der her das Zeichen bestimmt ist, und auf den religiösen Lebenszusammenhang, in dem das Zeichen verstanden wird und der sich entsprechend bestimmen läßt. Dieser Relationalität des Gottesnamens entspricht alttestamentlich am umfassendsten die Gerechtigkeit des -»Bundes (Gen 15,6; 17,7; vgl. Helfmeyer 197ff.), neutestamentlich darüber hinaus der Glaube an Jesus als den -»Logos Gottes (Joh 1,1), der über „Zeichen und Wunder" (Joh 4,48) zum Inbegriff der Herrlichkeit (öo£a) Gottes wird (Joh 2,11; 20,30f.; vgl. Rengstorf 252).
1.2. Das Zeichenereignis - die Wirksamkeit und Interpretation von Zeichen: die Semiose (s. Baltzer; Krampen 247) - ist von Zeichentheorien zu unterscheiden. Kulturgeschichtlich gesehen sind an einem besonderen und thematischen Umgang mit Zeichen wesentlich die Religionen (s. Assmann 716ff.; Deuser, Zeichenkonzeptionen), die Medizin (z. B. in der Krankheitsdiagnose) und die Rhetorik (z. B. in der Deutung von Indizien für die Gerichtsrede) beteiligt (s. Assmann 715; Manetti; Meier-Oeser, Art. Semiotik). Die Übergänge vom Aberglauben zur kundigen Praxis und von dieser zur wissenschaftlichen Genauigkeit und theoretischen Kontrolle sind fließend und uneinheitlich. Die Haltung I. ->• Kants markiert hierzu nur die kritische Richtung: „Was die Wunderzeichen (Begebenheiten, in welchen die Natur der Dinge sich umkehre) betrifft, so sind außer denen, aus welchen man sich jetzt nichts macht (den Mißgeburten unter Menschen und Vieh), die Zeichen und Wunder am Himmel, die Kometen, in hoher Luft schießende Luftbälle, Nordlichter, ja selbst Sonnen- und Mondfinsternisse, wenn vornehmlich sich mehrere solcher Zeichen zusammenfinden und wohl gar von Krieg, Pest u.d.g. begleitet werden, Dinge, die dem erschrockenen großen Haufen den nicht weit mehr entfernten jüngsten Tag und das Ende der Welt vorher zu verkündigen dünken" (Anthropologie in pragmatischer Hinsicht [1798], A l l l f . : Kants Werke. Akademie Textausgabe, Berlin, VII 1907, 194,9-17).
Für die Entdeckung der konstitutiven Erkenntnisfunktion von Zeichen ist deshalb ein theoriegeschichtlicher Prozeß wachsender Klärung anzusetzen. Dem entspricht z. B. die Unterscheidung von semiotisch gesehen „impliziten" und „expliziten Religionstheorien" (Gay/Patte 801 ff.), und deren Abgrenzung hängt entscheidend von der begrifflichen Klarheit der zugrunde gelegten Zeichentheorie ab. Auch wenn die Terminologie einer wissenschaftlichen Semiotik jedenfalls im 17. Jh. vielfältig belegt ist (s. Meier-Oeser, Art. Semiotik; ders., Zeichenkonzeptionen II, 1 2 0 6 - 1 2 0 9 ) und philosophisch als Disziplinbezeichnung bei John Locke am Ende seines Essay Concerning Human Understanding (1690) selbständig auftritt, bedeutet dies keine Datierung für die Entdeckung des Faktums der Semiose. Antike und Scholastik gehen längst mit der Differenz von „Zeichen", „Sache" und „Bedeutung" um (s. Hülser; Meier-Oeser, Zeichenkonzeptionen I). Wie diese Zuordnung aber zu bestimmen ist, darin liegt die theoretisch entscheidende Frage. 1.3. Am weitesten und prinzipiellsten gefaßt ist das Phänomen der Semiose dann, wenn seine Dreigliedrigkeit als grundlegend erkannt wird: Daß die Unterscheidung in ein (a) auftretendes Zeichen, (b) seinen Objektbezug und (c) seinen dadurch bestimmten Wirkungszusammenhang oder Interpretanten irreduzierbar das Ganze des Zeichenereignisses ausmacht (-»Peirce 1.2.2.; vgl. Deely 26f.). Daß ein Zeichen überhaupt und nur dann als solches auftritt, wenn zugleich dieser doppelte Bezug vorliegt, nämlich zu seinem Objekt und zu einer das Zeichen eben als solches rezipierenden Instanz, ist vom Phänomen her unmittelbar plausibel. Zeichentheoretisch ist diese Einsicht aber erst durch Ch.S. Peirce auf den Begriff gebracht worden (zu seinem bisher kaum bekannten Vorgänger in dieser Sache, Joannes a Sancto Thoma [Joäo Poinsot (1589-1644)], und dessen Tractatus de signis [ed. Deely 1985] vgl. Deely 23ff.27). Von diesem semiotischen Grundbegriff aus gelingt dann einerseits die exemplarische Rekonstruktion von Stadien der (wissenschaftlichen) Bewußtwerdung im Umgang mit Zeichen, andererseits die sy-
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Semiotik I
stematische (theologische) Bestimmung von „Zeichen und Wundern" für die Prozesse von Natur und Kultur überhaupt. Wenn nicht nur alle Denkvorgänge als Zeichenfolgen aufzufassen sind, sondern wenn die Evolution der Natur selbst im Zusammenspiel von Spontaneität, empirischer Relation und Gesetzes- bzw. Verhaltensbildung in analoger Weise beschrieben werden muß (—»Peirce II.3.), dann hat die Semiotik einen hermeneutischen Vorrang noch vor der Unterscheidung von Natur- und Geisteswissenschaften: „Semiotics addresses what is first in the understanding" (Deely 108 [§ 254]). 1.4. Die Dreigliedrigkeit der Semiose oder die triadische Relation als semiotischer Grundbegriff ist z. B. in I Kor 14,7 erkennbar, wenn Paulus die Töne eines Musikinstrumentes (Zeichen) unterscheidet von der Melodie, die auf dem Instrument gespielt wird {Objekt), und von dem, was aufgrund der differenzierten Tongebung verstanden (.Interprétant) werden kann (Pöttner, Realität 183ff.). Dieselbe Struktur liegt im Verstehensprozeß des —»Glaubens vor: Der Glaube (Interprétant) ist aufgrund der „Werke" der Schöpfung (Zeichen) auf das „unsichtbare Wesen" Gottes (Objekt) bezogen (Rom 1,20; vgl. ebd. 185f.l97) und zugleich zu erneuern, indem das „Wort vom Kreuz" (I Kor 1,18) — als Zeichen Gottes — Gottes Wesen (Objekt) für die Glaubenden in realistischer Weise zugänglich werden läßt. Auch dieses Verstehen geschieht indirekt (ebd. 199f.), zeichenvermittelt, und genau so kommt religiöse Erfahrung kommunikativ und lebensorientierend zustande (vgl. Dokka, Gjenkjenne; zu Mk 5 , 2 1 - 4 3 vgl. ders., Fortolkning). Daß Gott interpretiert, d.h. in bestimmter Weise verstanden wird, geschieht nicht außerhalb des religiösen Zeichenereignisses, sondern ist ein unabdingbarer Bestandteil seiner triadischen Relation: „Zeichen und Wunder" bzw. das „Wort vom Kreuz" verweisen auf die alles andere gründende Wirklichkeit und zielen zusammen mit dieser auf das lebensorientierende Verstehen des religiösen Glaubens. Dieser ist historisch und kulturell gesehen von einer Vielfalt von Zeichenprozessen und Zeichenformen geprägt, und es ist die Aufgabe der Theologie — auf einer zweiten Ebene der Ausbildung von Interpretationen (vgl. Neville, Masks 46ff.) - , die triadischen Relationen des Verstehens von Gott, Welt und Menschen zu systematisieren und damit die religiöse Erfahrung kritisch zu begleiten. 2. Signum und res 2.1. Antike Rhetorikschulung (-»Rhetorik), Terminologie der stoischen Sprachphilosophie (-»Stoa/Stoizismus/Neustoizismus), Bibelallegorese (-»Schriftauslegung) und die neuplatonische (-»Neuplatonismus) Unterscheidung von unwandelbarem Sein (Gottes) und Wandelbarkeit der äußeren Welt stecken das Feld ab, in dem -»Augustin die erste systematische Verbindung von Zeichen- und Sprachtheorie entwirft. Sie ist als Theorie des menschlichen Geistes zugleich von enormem Einfluß auf die christliche Philosophie und Theologie seither gewesen. Die signa - und ihr besonderer Anwendungsfall als signa data: die verba (im Unterschied zu den signa naturalia) - verdienen aus drei Gründen besondere Beachtung. 2.1.1. Menschen verständigen sich — erkenntnistheoretisch gesehen - in der Sphäre der sinnlichen wie der geistigen Gegenstände durch Zeichen und Worte, und die eigentlich gemeinte Sache {res) wird bezeichnet {significare) bzw. durch Worte kommuniziert (Augustin, mag. 7,19f.). Augustins frühe Bedeutungslehre in dial. 5 nennt neben Signum/verbum und res noch die ausschlaggebenden Bedeutungsträger dicibile und dictio (vgl. Ruef, Kap. 3.5; Kreuzer, Et ecce est ante nos 36f.), d.h. was im ausgesprochenen Wort zum Bedeutungs-Ausdruck kommt {dictio), enthält den geistig rezipierten Wort-Sinn {dicibile). Die hier gewählte Terminologie signalisiert ein Schwanken zwischen der Objektrelation des Zeichens/Wortes und seinem Interpretanten-, ähnlich im Falle der res, die als äußeres Objekt oder als Bedeutungsintention aufgefaßt werden kann.
Semiotik I
111
2.1.2. Ontologisch und theologisch gesehen ist diese Erfassung (cognitio) einer Sache durch Bedeutungsträger (verba) zuletzt ein innerer, geistiger Vorgang (Augustin, mag. 11,36; vgl. Mayer, Kenntnis 727ff.), der sich der Erschließungsfähigkeit der Seele verd a n k t - die w i e d e r u m in der trinitarischen Relation von Geist {mens), Erkenntnis (notitia), Liebe [amor/Caritas) g r ü n d e t (Augustin, trin. IX,4,3f.). Die in Liebe erfaßte Erkenntnis der Wahrheit verhält sich zu ihrem schöpferischen G r u n d wie Gottes Wort zu seiner ewigen Wahrheit. Wahrheitserkenntnis ist also als I n k a r n a t i o n zu verstehen, und diese ist semiotisch doppelt besetzt: nach innen (christologisch) im verbum Dei, nach außen in den stimmlich artikulierten W ö r t e r n als signa ihrer inneren Bedeutung: atque inde conceptam rerum ueracem notitiam tamquam uerbum apud nos habemus et dicendo intus gignimus, nec a nobis nascendo discedit. cum autem ad alios loquimur, uerbo intus manenti mimsterium uocis adhibemus aut alicuius signi corporalis (Die von d o r t h e r e m p f a n g e n e w a h r h a f t e Kenntnis der Dinge tragen wir gleichsam als ein W o r t bei uns; indem wir sie innerlich sprechen, zeugen wir das W o r t ; da es g e b o r e n wird, e n t f e r n t es sich nicht von uns. Wenn wir aber mit anderen sprechen, d a n n schenken wir d e m Worte, das innen bleibt, den Dienst der Stimme o d e r eines sonstigen körperlichen Zeichens; Augustin, trin. IX,7,12).
2.1.3. Diese semiotische Doppelperspektive, d a ß einerseits das trinitarisch bestimmte verbum G o t t selbst in der Darstellung seiner Wahrheit vertritt, d a ß andererseits aber die verba der menschlichen Sprache wie andere signa dem eigentlich Bezeichneten äußerlich bleiben, h a t ontologische G r ü n d e : die e r k a n n t e res steht h ö h e r als die zu ihrer Erkenntnis gebrauchten signa, deren „ontologische S c h w ä c h e " (Mayer, Kenntnis 730; ders., Zeichen, Kap. VI.6) g r ü n d e t in ihrer Endlichkeit, Mehrdeutigkeit, Abgeleitetheit, Dienstbarkeit. Die ontologisch höchste res k a n n deshalb niemals signum werden - und doch ist diese höchste res im „inneren W o r t " (Augustin, trin. XV,11,20; 15,25), im Wort Gottes gegenwärtig. Augustins Zeichenlehre markiert ein theologisches G r u n d p r o b l e m : die Vermittlung zwischen Göttlichem und Menschlichem in Christus. 2.2. D a m i t Göttliches und Menschliches nicht vermischt werden, aber auch nicht dualistisch auseinandertreten, m u ß die signum-res-Relation so modifiziert werden, d a ß das göttliche Wort von den äußeren W ö r t e r n a b g e h o b e n werden k a n n ; trotzdem aber so, d a ß die W ö r t e r nun als signa auf Christus als das alles entscheidende verbum bezogen werden k ö n n e n , d.h. der „ h o m o C h r i s t u s " ist „ Z e i c h e n des Verbum C h r i s t u s " (Mayer, Zeichen 245): proinde uerbum quod foris sonat signum est uerbi quod intus lucet cui magis uerbi competit nomen (Das Wort, das d r a u ß e n erklingt, ist also Zeichen des Wortes, das drinnen leuchtet; diesem k o m m t mit g r ö ß e r e m Rechte die Bezeichnung Wort zu; Augustin, trin. XV,11,20). Die menschlichen Zeichen haben ihren relativen Wert bezogen auf das eine göttliche Zeichen, das verbum intimum. D a m i t ist auch der Begriff des Sakraments semiotisch b e s t i m m b a r : Die „ M e n s c h h e i t " Christi ist „sacram e n t u m seiner G o t t h e i t " (Mayer, Zeichen 244). 2.3. Wie überzeugend aber ist diese gestufte Zeichenlehre, w e n n die neuplatonische Ontologie nicht mehr regiert? Augustin h a t jedenfalls im Begriff des Zeichens b z w . des Wortes Schritte in philosophisches wie theologisches N e u l a n d getan, die auch die Vorschriften und Grenzen seiner eigenen O n t o l o g i e nicht u n b e r ü h r t lassen. Um die Inkarnation zu denken, müssen Göttliches und Menschliches unterschieden und zugleich in Beziehung gebracht w e r d e n . W i e k ö n n e n verba lediglich äußere Mittel und doch das verbum Dei G r u n d aller Wahrheit sein ? Das Gespräch mit der M u t t e r in Ostia (Augustin, conf. IX,10,24ff.; vgl. Kreuzer, Et ecce est ante nos 32ff.; ders., Pulchritudo 258ff.) zeigt exemplarisch die f ü r die T h e o l o g i e neue semiotische Problemlösung. Das Endliche, Bind e n d e zu verlassen, d.h. die Welt der bloßen W ö r t e r als strepitum oris, „ G e t ö n der R e d e " abzustempeln, geschieht unter der Bedingung, d a ß im Gespräch die gesuchte res, das esse solum augenblickshaft präsent werden k a n n : Die Weisheit des Schöpfers, „ w i r berührten sie gelassen mit einem vollen Schlag des H e r z e n s " (attigimus eam modice
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Semiotik I
toto ictu cordis). Damit liegen die beiden Zeichenarten im Augenblick, einen Herzschlag lang, ineinander: die gesprächsweisen Wortzeichen der menschlichen Lautsprache, die in der Zeit vergehen, Anfang und Ende haben müssen (verbum et incipitur et finitur) — und das göttliche Wort mit seiner Präsenz im Herzen {Et quid simile uerbo tuo, domino nostro, in se permanenti sine uetustate atque innouanti omnia [conf. IX,24]). Das Göttliche, das alles andere ursprünglich erschafft, ist doch „im Innersten" des Geistes präsent - als göttlich-menschliches signum-verbum. 2.4. Augustin hat die Dreigliedrigkeit des Zeichenereignisses strukturell und trinitarisch durchgeführt und doch immer wieder aus theologisch-ontologischen Gründen unterbrochen. Wird die neuplatonische Ontologie sozusagen ausgeklammert, geben Augustins Texte eine dreigliedrige semiotische Theologie frei, die dem Zeichen (als Dei verbum) die ursprüngliche Qualität zuspricht und trinitarisch mit Ob/ekirelation (als verbum Dei) und Interpretanten (als donum et Caritas Dei) zur vollen Darstellung kommt (s. trin. XV,19,37). Der theologische Gewinn dieser triadischen Relation liegt darin, daß die kreative Ursprünglichkeit Gottes sich in seiner Repräsentation im verbum Dei ebenso einheitlich durchhält wie in der Caritas Dei-, und doch liegen eine Unterscheidung und eine Reihenfolge in dem Sinne vor, daß vom Interpretanten aus gesehen Objektrelation und ursprüngliches Zeichen, von der Objektrelation aus gesehen die kreative Ursprünglichkeit des Zeichens vorausgesetzt werden müssen. Die christliche Metaphorik von Vater, Sohn und Geist hat ihre theologische wie semiotische Begründung. 2.5. Augustins philosophisch-theologische Semiotik ist zwar nicht allgemein schulbildend geworden, aber immer untergründig und punktuell wirksam geblieben. Nicht nur für die Sakramentstheologie war der Zeichenbegriff unentbehrlich, der Verweisungszusammenhang zwischen Kreatürlichem und Göttlichem, das verbum Dei selbst ist das semiotische Grundgeschehen: Darstellung über Anderes, Urbild-Abbild-Relation und Partizipation sind Zeichenprozesse. -»Petrus Lombardus wird im 12. Jh. sein Sentenzenwerk auf der Grundlage der Augustinischen sig««w-re5-Unterscheidung aufbauen; William von -»Ockham wird um die Wende zum 14. Jh. eine detaillierte Zeichen- und Erkenntnislehre im Sinne seiner nominalistischen Universalienauffassung (—»Universalienstreit) entwickeln (vgl. Meier-Oeser, Zeichenkonzeptionen I, 1006ff.); -»Nikolaus von Kues wird im 15. Jh. in seinem philosophisch-theologischen Compendium eine auf Augustin zurückgreifende Zeichenlehre vortragen, in der zuletzt das schöpferische Können, das posse des Vaters (s. Nikolaus von Cues, Kompendium, Epilog), alleiniger Grund und Zweck aller Zeichenzusammenhänge ist. 3. „Das zeychen,
die bedeutung
unnd den
glauben"
3.1. -»Luther steht einerseits schulmäßig in der augustinischen wie nominalistischen signum-res-Tradition, andererseits aber auch in deren platonisch-mystischem Zweig der Urbildlichkeit der Seele, wie er in der Traditionslinie von -»Dionysius Areopagita, —»Johannes Scottus Eriugena, Meister -»Eckhart, Johann -»Tauler und schließlich der —*Theologia deutsch präsent war. Hier dominieren nicht die aristotelischen Kategorien, sondern in Neuinterpretation von Augustins Entdeckung des „Abgrundes unseres Geistes" (des abditum mentis, s. trin. XIV,7,9; vgl. Kreuzer, Abgrund) die Vorstellung von der Gottesgeburt in der Seele. Der Abbau der Bilder der Außenwelt führt in die Kraft der dann - kreatürlich gesprochen - „nichtigen", bestimmungslosen, aber darin göttlichen, d.h. urbildlich kreativen Innenwelt: „Wan swer got suochet in wîse, der nimet die wîse und lât got, der in der wîse verborgen ist. Aber swer got suochet âne wîse, der nimet in, als er in im selber ist" (Denn wer Gott in einer [bestimmten] Weise sucht, der nimmt die Weise und verfehlt Gott, der in der Weise verborgen ist. Wer aber Gott ohne Weise sucht, der erfaßt ihn, wie er in sich selbst ist; Meister Eckhart, Predigt 5B, 70,24ff.).
Semiotik I
113
3.2. Die Zweischneidigkeit im Gebrauch der Bilder wird für Luther (—»Bilder VI.l.; vgl. Preul 116ff.; Stock 97ff.) dadurch hervorgetrieben, daß er einerseits (mit der mystischen Tradition) die religiöse Fixierung auf äußere Bilder — jetzt im Sinne der Gegenstellung von Glaubens- und Werkgerechtigkeit - strikt ablehnt, daß er andererseits aber die - auf der Basis des von Gott geschenkten Glaubens dann auch unproblematische - hermeneutisch-soteriologisch grundlegende Funktion der Bilder erkennt. Negativ gilt: „Denn wo sie [sc. die Bilder] aus dem hertzen [sc. herausgerissen] sind, thun sie für den äugen keynen schaden" (Wider die himmlischen Propheten [1525]: WA 18,67,12f.); positiv gilt: „Sondern weil wir ja müssen gedancken und bilde fassen des, das uns jnn worten fürgetragen wird, und nichts on bilde dencken noch verstehen können" (Die Dritte Predigt, auffden Ostertag [1533]: WA 37,63,25 f.). Anders als im Falle der äußeren Merk- und Erinnerungs-Ze/c^e« (vgl. z. B. WA 18,80,7) vertritt das Bild die ursprüngliche, wahre, unmittelbare, innere Einstellung zu einem Gegenstand. Deshalb muß wohl um die Bilder gestritten werden, sie können aber gerade nicht vermieden, sondern nur falsch oder richtig gebraucht (vgl. Weimer) werden. Die Kraft der Bilder betrifft das Innerste des Evangeliums: „denn ich wolle, odder wolle nicht, wenn ich Christum höre, so entwirfft sich ynn meym hertzen eyn mans bilde, das am creutze henget, gleich als sich meyn andlitz naturlich entwirfft yns wasser, wenn ich dreyn sehe" (WA 18,83,9ff.). 3.3. Die Verknüpfung von äußerlichen Zeichen, ihrer theologischen Bedeutung und innerlich überzeugenden Bildkraft, d.h. der Gewißheit des Glaubens, wird für Luther zwingend im reformatorischen Verständnis des Sakraments. Neu ist daran die Auszeichnung des Gewißheitsaspektes, ohne den der Gebrauch von Zeichen und die Rede von ihrer gegenständlichen Bedeutung gar nicht sinnvoll wäre. Das „Im-Innersten-UberzeugtSein" ist Teil des gelingenden Zeichenereignisses. Luther stößt konsequent auf diesen Zusammenhang, weil er signum und res aus der augustinischen Tradition in realer Wirksamkeit verstehen möchte, dafür aber keinen substanz-ontologischen Realismus mehr zur Verfügung hat. Wird in der Sakramentstheologie die aristotelisch-scholastisch gedachte Transsubstantiation (s. DH 1642) nicht mehr akzeptiert (s. De captivitate Babylonica: WA 6,508ff.), so kann eine reale Wirkung auch nicht aus der signum-res-Relation allein folgen, sondern nur aus dieser im Zusammenhang mit ihrer Rezeption: im Glauben. Im Sermon von dem heyligen Hochwirdigen Sacrament der Tauffe 1519 (WA 2,727ff.) hat Luther diese dreigliedrige Relation programmatisch formuliert: „Darumb müßen wir drey dingk yn dem heyligen Sacrament ansehen, das zeychen, die bedeutung unnd den glauben" (WA 2,727,23ff.). Das Zeichen ist im Beispiel der Taufe so zu verstehen, daß dem Wasserritus als solchem eine „prä-theologische" Kraft zuerkannt werden muß (vgl. Dokka, Life); das „ikonische" Zeichen im Untergehen und Auftauchen, Sterben und Auferstehen ist es, das die theologischen Bedeutungen des Rein- und Neuwerdens trägt. Dies alles aber bliebe wirkungslos ohne den Glauben, d.h. „das es auch gewißlich dasselb anhebe und wirck und unß mit gott vorpyndet" (WA 2,732,4f.). Dieser pragmatische Aspekt des Zeichenereignisses kann nicht fehlen, das elementare Zeichen und seine theologische Bedeutung kulminieren in der von innerer Gewißheit bestimmten Lebensführung: „Gleubstu, ßo hastu. Zweyffelstu, ßo bistu vorloren" (WA 2,733,35f.). 3.4. Luther selbst hat diesen semiotischen Fortschritt nicht als solchen thematisiert, sondern theologisch einfach praktiziert: darin, daß der Glaube, verstanden als innere Gewißheitsbedingung, alle theologische Bedeutung (der Menschwerdung Gottes und der Rechtfertigung des Sünders) in ihrer zeichen- bzw. wortvermittelten Präsenz angemessen zum Ausdruck bringt. Für dieses Gesamtgeschehen von Zeichen, Bedeutung und Glaube im erkenntnistheoretischen wie ontologischen Sinn als Prozeß der Semiose zu sprechen wird ermöglicht
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Semiotik I
durch einen universalen Zeichenbegriff (s.o. 1.3.), dessen Struktur eben das Auftreten jener drei Elemente erfaßt. Zeichen sind dann einerseits die äußeren Vermittlungen, die in unterschiedlichen Formen als natürliche oder sprachliche Zeichen, als Wahrnehmungsbilder oder vereinbarte Codierungen, als Ideen oder Texte auftreten; zugleich aber sind diese „äußeren" Zeichen eingebettet in das Zeichenereignis als strukturiertes Ganzes. Es umfaßt zugleich mit den Zeichen die gegenständlichen Bedeutungen und deren Rezeption. Die Theologie des Sakraments in reformatorischer Tradition ist nicht nur ein Beleg für diesen umfassenden Zeichenbegriff, sondern sie hat diesen mit auf den Weg gebracht. 4.
Theosemiotik
4.1. Eine Zeichentheorie, die derart umfassend alle Zeichenereignisse in ihrem Auftreten, in ihrer Struktur und ihrer Funktion beschreiben kann, ist nicht wie ein beliebig vorgegebenes Werkzeug dann auch auf religiöse, religionsgeschichtliche und theologische Sachverhalte zu beziehen, sondern das Göttliche selbst ist semiotisch aufzufassen. Semiotik — in dieser Konsequenz - wird zur metaphysisch und kosmologisch begründeten Theosemiotik (s. Raposa, Peirce's Philosophy 142ff.; ders., Theology). Sie beruht darauf, daß sich im Kontinuum von Erfahrung und Denken die lebenspraktisch wie theoretisch effektive Hypothese kreativer Schönheit und Zweckhaftigkeit des Universums, d.h. der schöpferischen Gottheit, geradezu unwiderstehlich aufdrängt (—»Peirce II.3.—4.). Die Bedeutung der Semiotik liegt dann in erster Linie in der Fundamentaltheologie, was alle anderen Anwendungen in exegetischen, historischen, dogmatischen und praktischen Disziplinen begründet und fördert. Auch für die christliche Theologie ist die Zuordnung von „Gott und Zeichen" umfassender als die von „Gott und Wort" (Herms 173 Anm. 61), und das gilt gerade auch neuzeitlich für die gegenüber der Aufklärung metakritische Berufung auf die poetisch-religiöse Kraft der Bilder und Symbole, wie sie exemplarisch von J . G . -»Hamann und J . G . -»Herder profiliert wurde (Haller 131 ff.). Die Kategorie des Schöpferischen im evolutionären Zusammenhang wie in dessen wissenschaftlicher Entdeckung und Präzisierung wird damit als die Nahtstelle zwischen Glaube und Wissen, Wissenschaft und Religion erkennbar. Es ist die metaphysisch genau in diesem Punkt nicht reduktionistische Semiotik von Ch.S. Peirce, die in ihrer Theorie der primären, kreativen Wahrnehmung dem religiösen Geheimnis entspricht (vgl. Pöttner, Metaphern 1 1 1 - 1 1 8 ) . Dessen Darstellung steht dann jeweils im allgemeinen Zusammenhang geschichtlicher Kontingenz und unterliegt als Interpretation und Lebenspraxis der Überprüfung durch Erfahrung. In diesem Sinne sind die religiösen Bilder, Geschichten und Symbole theosemiotisch unaufgebbar; absolut insofern, als sie die Vagheit, Unbestimmtheit und Unendlichkeit der vorreflexiven Primärwahrnehmung enthalten und verarbeiten (vgl. Raposa, Logic; ders., Poinsot); immer diskursiv und kontingent insofern, als in der zeichenhaft vermittelten, symbolischen Darstellung das Göttliche zugleich menschlich präsent wird. Auch der Gegenstandsbezug religiöser Symbole bedarf keiner Ausnahmeregelung, sondern bestimmt sich theosemiotisch in der primären Kreativität von Wahrnehmungen und ihren Bildern, überlieferten Geschichten und rituellen Vergegenwärtigungen. In jedem Fall handelt es sich um Erfahrungszusammenhänge, die zwar entsprechend den kulturell, historisch oder systematisch dominierenden Rahmentheorien in unterschiedlichen Interpretationen zugänglich werden (vgl. Heisig 203ff.), deren religionstheoretische Gemeinsamkeit aber in der unvermeidlichen Thematisierung der Grenze zwischen Endlichkeit und Unendlichkeit gesehen werden kann (Neville, Truth). 4.2. Jeder semiotisch-theologische Zusammenhang, z. B. die Aussage „Gott ist der Schöpfer der Welt", bezieht sich auf Gegenstände des Universums, die in Zeichen wahrgenommen wurden. Weil das Universum immer und überall von Zeichen durchsetzt ist (s. Peirce, Collected Papers V, 448 Anm. 1; 302), weil dadurch Objektbeziehungen über-
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Semiotik I
h a u p t e r s t e n t s t e h e n k ö n n e n und weil d e r e n I n t e r p r e t a t i o n s i n n v o l l e u n d k o n t r o l l i e r b a r e A b l ä u f e und Ideen e r k e n n e n läßt u n d p r o v o z i e r t , d e s h a l b k a n n t h e o s e m i o t i s c h g e s a g t w e r d e n , „ d a ß d e r G l a u b e an G o t t ein n a t ü r l i c h e r I n s t i n k t i s t " ( P e i r c e , S c h r i f t e n 3 9 1 ) . D a ß d i e s e r G l a u b e i n t e r p r e t a t i v z u r D a r s t e l l u n g k o m m t , g e g e n s t a n d s b e z o g e n ist u n d sich p r i m ä r e r W a h r n e h m u n g v e r d a n k t , e n t s p r i c h t d e r g ö t t l i c h e n - » T r i n i t ä t : in G o t t e s kreativer
Ursprünglichkeit
(Gott
der
Schöpfer),
in
seiner
Gegenständlichkeit
und
M e n s c h l i c h k e i t (im Z e i c h e n des K r e u z e s ; s . o . 1 . 4 . ) , in seiner V e r m i t t l u n g s k r a f t des G e i stes (in d e r T a u f e für d a s neue L e b e n im G l a u b e n ; s . o . 3 . 3 . ) . D i e religiösen
Bilder,
R i t u a l e / G e s c h i c h t e n u n d S y m b o l e v e r m i t t e l n jene g ö t t l i c h e U r s p r ü n g l i c h k e i t , o h n e ihrer h a b h a f t zu w e r d e n ; sie bleibt w i r k s a m und m a c h t sich z u g ä n g l i c h , o h n e ihre K r e a t i v i t ä t v o l l s t ä n d i g an ihre B e s t i m m u n g e n a b z u g e b e n . I n s o f e r n gilt a u c h t h e o s e m i o t i s c h :
„To
try t o peel off signs & get d o w n t o t h e real t h i n g is like t r y i n g t o peel a n o n i o n t o get d o w n t o o n i o n i t s e l f " (Peirce im Brief an F r a n c i s C . R u s s e l l v o m 3. Juli 1 9 0 5 ; zitiert nach Deely § 5 8 ) . Literatur Douglas R. Anderson, Strands of System. T h e Philosophy of Charles Peirce, West Lafayette 1995. - Aleida Assmann, Probleme der Erfassung v. Zeichenkonzeptionen im Abendland: Semiotik. Ein Hb. zu den zeichentheoretischen Grundlagen v. Natur u. Kultur, 2 Bde., Berlin/New York 1 9 9 7 - 1 9 9 8 , I, Art. 33. - Aurelius Augustinus, Über den dreieinigen Gott, ausgew. u. übertr. v. Michael Schmaus, München 1951. - Ders.: Corpus Augustinianum Gissense a Cornelio Mayer ed., Basel 1994. - Ulrich Baltzer, Art. Semiose: H W P 9 (1995) 5 9 9 - 6 0 1 . - R o b e r t S. Corrington, An Intr. to C . S . Peirce. Philosopher, Semiotician, and Ecstatic Naturalist, L a n h a m / L o n d o n 1993. J o h n Deely, T h e Human Use of Signs or: Elements of Anthroposemiosis, L a n h a m / L o n d o n 1994. Hermann Deuser, Gott. Geist u. Natur. Theol. Konsequenzen aus Charles S. Peirce' Religionsphil., Berlin/New York 1993. - Ders., Zeichenkonzeptionen in der Religion vom 19. J h . bis zur Gegenwart: Semiotik (s.o. bei Assmann) II, Art. 87. - Trond S. D o k k a , A gjenkjenne den ukjente. O m menneskers muiighet for a kjenr.e Gud - cn Studie basert pä Johannes-evangeliets tegnsloff, Diss. Oslo 1989. - Ders., En fortolkning av M k 5 , 2 1 - 4 3 med synoptisk sammenlikning: N T T 93 (1992) 1 4 9 - 1 6 2 . — Ders., Life Re-presented — an Approach to the Semiotics of Baptism, M s . Oslo 1992. — Meister Eckhart, Werke. I. Predigten, Texte u. Übers, v. J o s e f Quint, hg. v. Nikiaus Largier, Frankfurt a . M . 1993 (Bibliothek des M A 20). - Volmey P. Gay/Daniel Patte, Religious Studies: Encyclopedic Dictionary of Semiotics, hg. v. T h o m a s A. Sebeok, Berlin/New York 2 1 9 9 4 , 7 9 7 - 8 0 7 . - Rudolf Haller, Das .Zeichen' u. die ,Zeichenlehre' in der Phil, der Neuzeit: A B G 4 (1959) 1 1 3 - 1 5 7 . Carl R. Hausman, Charles S. Peirce's Evolutionary Philosophy, Cambridge 1993. - James W. Heisig, Art. Symbolism: EncRel(E) 14 (1987) 1 9 8 - 2 0 8 . - Franz-Joseph Helfmeyer, Art. ot- T h W A T 1 (1973) 1 8 2 - 2 0 5 . - Eilert Herms, Die Einf. des allg. Zeichenbegriffs. T h e o l . Aspekte der Begründung einer reinen Semiotik durch C h . W . Morris: ders., T h e o r i e f. die Praxis. Beitr. zur T h e o l . , München 1982, 1 6 4 - 1 8 8 . - Karlheinz Hülser, Zeichenkonzeptionen in der Phil, der griech. u. röm. Antike: Semiotik (s. o. bei Assmann) I, Art. 40. - Jorgen D. Johansen, Dialogic Semiosis. An Essay on Signs and Meaning, Bloomington/Indianapolis 1993. - Carl A. Keller, Das Wort O T H als „ O f fenbarungszeichen G o t t e s " . Eine philol.-theol. Begriffsunters, zum AT, Basel 1946. — Martin Krampen, Models of Semiosis: Semiotik (s.o. bei Assmann) I, Art. 5. - J o h a n n Kreuzer, Et ecce est ante nos. Zur Kritik der Sprache bei Augustinus: Zeit u. Zeichen, hg. v. T i l m a n Borsche u . a . , München 1993. - Ders., Vom Abgrund des Wissens. Denken u. Mystik bei Tauler: M M 22 (1994) 6 3 3 - 6 4 9 . - Ders., Pulchritudo. Vom Erkennen Gottes bei Augustin, München 1995. - T h o m a s Krüger, Geschichtskonzepte im Ezechielbuch, 1989 ( B Z A W 180). - Antti Laato, History and Ideology in the O T Prophetic Literature. A Semiotic Approach to the Reconstruction of the Proclamation of the Hist. Prophets, Jyväskyä 1996 ( C B . O T 41). - Gesche Linde, Peirce and the Classification of Signs (Ms. 1996). - Giovanni Manetti, Theories of the Sign in Classical Antiquity, Bloomington/ Indianapolis 1993. - R o b e r t A. Markus, Signs, C o m m u n i c a t i o n , and Communities in Augustine's De doctrina Christiana: De doctrina christiana. A Classic of Western Culture, hg. v. Duane W. H . Arnold/Pamela Bright, Notre Dame/London 1995, 9 7 - 1 0 8 . - Cornelius P. Mayer, Die Zeichen in der geistigen Entwicklung u. in der T h e o l . Augustins, hg. v. Adalbero Kunzelmann/Adolar Z u m keller, T. II. Die antimanichäische Epoche, 1974 (Cass. 24). - Ders., Kenntnis u. Bewertung der Zeichen als Voraussetzung der Bibelhermeneutik nach Augustinus: ders. u . a . (Hg.), Nach den Anfängen fragen. FS Gerhard Dautzenberg, Gießen 1994, 7 1 9 - 7 3 8 . - Stephan Meier-Oeser, Art. Semiotik, Semiologie II: H W P 9 (1995) 6 0 1 - 6 0 8 . - Ders., Art. Signifikation: ebd. 7 5 9 - 7 9 5 . - Ders., Zeichenkonzeptionen in der Phil, des lat. M A : Semiotik (s.o. bei Assmann) I, Art. 49. - Ders.,
116
Semiotik II
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II. Philosophisch-linguistisch 1. Semiotik als Zeichenwissenschaft 2. Zeichen-Konzeptionen wendungen und Perspektiven (Literatur S. 132) 1. Semiotik
als
1.1. Begriff
und
3. Zeichentypen
4. An-
Zeichenwissenschaft Geschichte
S e m i o t i k ist die W i s s e n s c h a f t v o n den Z e i c h e n aller A r t . D e r B e g r i f f leitet sich von d e m g r i e c h i s c h e n W o r t atjfieicoTiKij
( Z e i c h e n l e h r e ) her (zu g r i e c h i s c h afjfia,
arjfmov
„ Z e i c h e n " ) und f a n d zuerst in d e r g r i e c h i s c h e n M e d i z i n V e r w e n d u n g , w o er die diag n o s t i s c h e D e u t u n g von K r a n k h e i t s s y m p t o m e n
b e z e i c h n e t e (vgl. d a z u E c o , E i n f ü h -
rung 2 1 ; E s c h b a c h , S e m i o t i k 4 4 ; S e b e o k , T h e o r i e 1 0 1 ) . Als S y n o n y m zu logie
Symptomato-
ist der Begriff a u c h in der h e u t i g e n M e d i z i n n o c h geläufig (vgl. P s c h y r e m b e l ,
Klinisches W b . , Berlin/New York
2571994,
s . v . ) . D o c h bereits bei den S t o i k e r n w a r er
a u c h als u m f a s s e n d e r T e r m i n u s für L o g i k und E r k e n n t n i s t h e o r i e g e b r ä u c h l i c h L y o n s I, 1 1 2 ) . In der n e u e r e n P h i l o s o p h i e wird er zuerst von J . L o c k e
(vgl.
aufgegriffen.
F ü r ihn ist die S e m i o t i k [arißeicoziKr], „ d o c t r i n e o f s i g n s " ) die Basisdisziplin, die sich m i t der U n t e r s u c h u n g der Z e i c h e n zu b e s c h ä f t i g e n h a t , die ihrerseits v e r w e n d e t w e r d e n , um Ideen zu k o m m u n i z i e r e n o d e r im G e d ä c h t n i s zu speichern ( L o c k e , E s s a y II, 309). Unter ausdrücklicher Anbindung an Locke wird die Semiotik von J . H . L a m b e r t im Neuen Organon (1764) als „Lehre von der Bezeichnung der Gedanken und Dinge" bestimmt und neben „Dianoiologie" (Lehre von den Verstandesgesetzen), „Alethiologie" („Lehre von der Wahrheit, sofern sie dem Irrtum entgegengesetzt ist") und „Phänomenologie" („Lehre von dem Schein") als dritte in den Rahmen der vier von ihm unterschiedenen Verstandeswissenschaften eingefügt. Aufgabe der Semiotik ist die Angabe dessen, „was die Sprache und andere Zeichen für einen Einfluß in die Erkenntnis der Wahrheit haben, und wie sie dazu dienlich gemacht werden können" (Lambert I, XI). Indem Lambert (ebd. 467ff.) Regelhaftigkeit sowie kognitive und kommunikative Leistung der Sprache betont, die Willkürlichkeit der „Wurzelwörter" herausarbeitet und sogar auf grundlegende zeichentypologische Unterscheidungen zu sprechen kommt, die er an zahlreichen Beispielen erläutert, finden sich wichtige Einsichten der späteren Semiotik be-
Semiotik II
117
reits vorweggenommen. Im Gegensatz dazu wird der Begriff fast zeitgleich bei J . G . -»Herder im Sinne der medizinischen Symptomatologie verwendet. Im selben Sinne schreibt -»Goethe in Diderots Versuch über die Mahlerey: „Wahrscheinlich hätte ein Meister der Semiotik . . . die beiden [zuvor beschriebenen] Fälle [körperlicher Deformationen] besser dargestellt" (Goethe 216). Bei Herder treten jedoch zusätzlich die Leiden der Psyche in den Blick: „Wenn einst die Semiotik der Seele studirt werden wird, wie die Semiotik des Körpers, wird man in allen Krankheiten derselben ihre so eigne geistige Natur erkennen, daß die Schlüße der Materialisten wie Nebel vor der Sonne verschwinden werden" (Herder, SW XIII, 187). Da zu den Symptomen der Seelenzustände auch die Sprache gezählt wird, kommt Herder dem Lambertschen Begriff freilich zuweilen sehr nahe: „Das würde die Semiotik seyn: eine Entzieferung der Menschlichen Seele aus ihrer Sprache" (ebd. II, 13). In die heutige Wissenschaftssprache wurde der Terminus Semiotik im Sinne der Wissenschaft von den (sprachlichen und nichtsprachlichen) Zeichen, der Zeichentheorie, von Ch.S. -»Peirce (1907) eingeführt, der aber nur recht undeutlich davon spricht, „daß ich, soweit ich weiß, ein Pionier oder eher ein Hinterwäldler bei dem Unternehmen bin, das, was ich Semiotik nenne, d.h. die Lehre von der wesenhaften Natur und den fundamentalen Verschiedenartigkeiten möglicher Semiose, zu klären und zu erschließen" (Peirce, Schriften 524; ders., Collected Papers 5.488). Anstelle von Semiotik hat der Begründer des linguistischen -»Strukturalismus, Ferdinand de Saussure (1857-1913), in seinen 1916 postum als Cours de linguistique générale veröffentlichten Vorlesungen den Terminus Semiologie (in der deutschen Ubersetzung: Semeologie) verwendet, der seither - wie J . Lyons sich ausdrückt - „wohl vor allem von Gelehrten verwendet [wird], die einen typisch Saussureschen Standpunkt . . . vertreten" (Lyons I, 113). Für Saussure war die Linguistik ein Teil der als allgemeine Zeichenwissenschaft bestimmten Semiologie, die ihrerseits als Teil der Sozialpsychologie bestimmt wurde (Saussure, Grundfragen 18ff.). Trotz expliziter Rückbindung an den Begründer des linguistischen Strukturalismus bevorzugt hingegen K. Bühler (XXVII f. und 9 u.ö.) die Bezeichnung Sematologie. Als eigentlicher, nämlich ausdrücklicher Begründer der modernen Semiotik muß aber dennoch Ch.W. Morris (1938) gelten. Für Morris beschäftigt sich die Semiotik „nicht mit einem speziellen Gegenstandsbereich, sondern mit allen Gegenständen, insoweit (und nur insoweit) sie an einer Semiose beteiligt sind" (Morris, Grundlagen 21). Damit wird - wie bei Saussure - auch die Sprachwissenschaft als Teil der Semiotik begriffen, die „die Wissenschaft von den Zeichen [ist], ob sie nun tierisch oder menschlich, sprachlich oder nicht-sprachlich, wahr oder falsch, adäquat oder inadäquat, gesund oder pathisch sind" (Morris, Zeichen 332). Gegenstand der Semiotik sind demnach Zeichen aller Art, von den kausalen Anzeichen (Indizes) über (ihrem Gegenstand) analoge Zeichen (Ikonen) bis hin zu den zugleich konventionellen und arbiträren Zeichen (Symbole). R. Carnap (Einführung) nennt die gesamte in der Metasprache formulierte Theorie über eine Objektsprache die Semiotik der betreffenden Sprache. Für U. Eco (Einführung 38) untersucht die Semiotik „alle kulturellen Prozesse als Kommunikationsprozesse". Ihre Absicht sei es „zu zeigen, wie den kulturellen Prozessen Systeme zugrundeliegen" (ebd.). Wenig überzeugend ist demgegenüber J. Lyons' (I, 113) einschränkender Vorschlag, „daß man den Terminus ,Semiotik', wie er jetzt von den meisten repräsentativen Autoren verwendet wird, besser so verstehen sollte, daß er sich auf die Analyse von Signalsystemen bezieht". S e m i o t i k , so d a r f m a n z u s a m m e n f a s s e n d f o r m u l i e r e n , ist der wissenschaftlich und philosophisch begründete Versuch, den M e n s c h e n als animal symbolicum zu begreifen und die G e s t a l t u n g s m u s t e r und F u n k t i o n s w e i s e n der Z e i c h e n zu beschreiben, die seinen Ereignisdeutungen zugrunde liegen oder derer er sich in der K o m m u n i k a t i o n mit anderen als ein solches bedient. F ü r eine solche, mit Peirce als T h e o r i e der Z e i c h e n in A k t i o n b e s t i m m t e W i s s e n s c h a f t sieht A. E s c h b a c h (Semiotik 50) drei zentrale T h e m e n : „(1) die F r a g e nach den k e n n z e i c h n e n d e n M e r k m a l e n des Z e i c h e n s in A k t i o n oder der Semiosis; (2) die F r a g e nach dem Status von S e m i o t i k im H i n b l i c k auf L o g i k , E r k e n n t n i s theorie und H e r m e n e u t i k ; (3) die F r a g e nach der K o n s t i t u t i o n des Z e i c h e n - O b j e k t s als Frage nach der K o n s t i t u t i o n von Z e i c h e n und B e d e u t u n g . " Auch wenn sich die historischen Wurzeln der S e m i o t i k bis in die A n t i k e zurückverfolgen lassen, ist sie d o c h - ihrem eigenen Selbstverständnis nach - eine relativ junge Wissenschaftsdisziplin. N u r wenige E i n f ü h r u n g s b ü c h e r liegen vor ( B e n t e l e / B y s t r i n a ; T r a b a n t ; Keller). G l e i c h w o h l hat sie es inzwischen bis zur „ H a n d b u c h r e i f e " g e b r a c h t (vgl. P o s n e r / R o b e r i n g / S e b e o k ) . Eine Kurzdarstellung ihrer G e s c h i c h t e ist u . a . bei S e b e o k ( T h e o r i e 18ff.) n a c h zulesen.
Semiotik II
118 1.2.
Teildisziplitten
Die Teildisziplinen der Semiotik ergeben sich aus dem Beziehungsgeflecht, in dem Zeichen im Zeichenprozeß (Semiose) stehen. Diese Beziehungen sind zugleich die Dimensionen der Zeichenuntersuchung, wie sie im Semiotik-Modell dargestellt werden. Es liegen nur zwei grundlegende Modelle vor, nämlich die von C h . W . M o r r i s (1939) und G. Klaus (1963), die sich nicht sehr wesentlich voneinander unterscheiden. Schon in seinen Grundlagen der Zeichentheorie von 1938 war Morris auf die verschiedenen Dimensionen des Zeichenprozesses eingegangen. Noch klarer ist jedoch die Darstellung, die er den Zeichendimensionen in seinem zuerst 1939 erschienenen Aufsatz „Ästhetik und Zeichentheorie" gegeben hat. Dort unterscheidet Morris zunächst das „Designat" als die Klasse der durch bestimmte gemeinsame Eigenschaften definierten Objekte, die von einem Zeichenträger („sign vehicle") bezeichnet werden, vom „Den o t a t " als einem einzelnen Element aus einer solchen Klasse. Danach ist es dem Zeichen wesentlich zu designieren, d.h. klassenbildende Objekteigenschaften zu nennen, aber es braucht nicht unbedingt etwas zu denotieren, d. h. sich auf ein Objekt als Referenten zu beziehen. Aus den Relationen des Zeichens - als Zeichenträger - in der Zeichenverwendung leitet Morris die Teildisziplinen der Semiotik ab: „Die Beziehungen der Zeichenträger zu dem, was designiert oder denotiert wird, sollen semantische Dimensionen der Semiose heißen und die Untersuchung dieser Dimension Semantik; die Beziehungen der Zeichenträger zu den Interpreten wollen wir pragmatische Dimension der Semiose und die Untersuchung dieser Dimension Pragmatik nennen; die semiotisch relevanten Beziehungen der Zeichenträger zu anderen Zeichenträgern bezeichnen wir als syntaktische Dimension der Semiose und ihre Untersuchung als Syntaktik. Als allgemeine Wissenschaft von den Zeichen enthält die Semiotik also die Teildisziplinen Syntaktik, Semantik und Pragmatik" (Morris, Grundlagen 93). R . Carnap (Introduction 9) hat diesen Gedanken und die dazugehörigen terminologischen Unterscheidungen aufgenommen, aber zugleich eine wesentliche Überlegung hinzugefügt. Die semiotischen Teildisziplinen unterscheiden sich nämlich für ihn durch ihre unterschiedlichen Grade von Abstraktion. Weil sie die Beziehung des Zeichens zum Zeichenbenutzer ausdrücklich berücksichtigt und dabei die Betrachtung der Designate keineswegs ausklammern muß, ist die Pragmatik unter den Teildisziplinen der Semiotik die umfassendste. Demgegenüber untersucht die Semantik die Designate unter Abstraktion vom Sprachbenutzer. Die Syntax schließlich abstrahiert auch noch von den Designaten und untersucht allein die formalen Relationen der untereinander verknüpften Zeichen. Diese Aussagen hat Carnap in bezug auf logische, d.h. formale Sprachen gemacht, und es ist umstritten, ob es sinnvoll ist, Semantik ohne Einbeziehung der Relation zum Sprachbenutzer und Syntax ohne Rekurs auf Bedeutungen („Designate") zu betreiben. Trotz aller Einwände bleibt an Carnaps Gedanken richtig, daß die Pragmatik umfassender ist als die Semantik und die Semantik wiederum reicher als die Syntaktik. Schon Morris hat aus den Vorzügen und Schwächen der Carnapschen Definition einige Konsequenzen gezogen, als er in Zeichen, Sprache und Verhalten (326) einen neuen Versuch zur Bestimmung der semiotischen Teildisziplinen unternahm. Die Pragmatik ist hier die umfassendste Disziplin geblieben, die Semantik ist nun jedoch so definiert, daß sie nicht nur deskriptive („designative"), sondern auch subjektiv wertende („appreziative" und „präskriptive") Zeichenbedeutungen und -Verwendungen einschließt. Die Syntaktik hingegen bleibt auch beim späten Morris noch durch weitgehende Abstraktion von Sprecherbindung und Bedeutungen gekennzeichnet. Aus seinen Überlegungen und Unterscheidungen hat Morris schon in Ästhetik und Zeichentheorie das folgende Modell (s. gegenüberliegende Seite) von Semiotik und Semiose abgeleitet (Morris, Grundlagen 94). Auffällig ist, daß in diesem Modell sowohl das Verhältnis des Zeichens zum ausgedrückten Klassenbegriff („Designat") als auch seine Beziehung zum aktuellen Bezugsgegenstand („Denotat") der semantischen Dimension zugeordnet werden.
Semiotik II
119 Designat Denotat
Im Sinne der materialistischen Sprachauffassung hat G. Klaus in Semiotik und Erkenntnistheorie (56ff.) die Morrissche Unterscheidung zwischen „Denotat" und „Designat" eines Zeichenträgers in die Begriffe „Objekte der sprachlichen Widerspiegelung" und „gedankliche Abbilder" übersetzt. Der typisch marxistische Beitrag besteht in der zusätzlichen Einführung der Disziplin der „Sigmatik", die Klaus als die Behandlung der Beziehungen bestimmt, die „zwischen den Zeichen und den abgebildeten Objekten oder Sachverhalten bestehen" (ebd. 60). Insofern aber die Beziehung des Zeichens zu seinem Objekt von den Sprachbenutzern in historisch-gesellschaftlicher Perspektive allererst erfunden und auch in der konkreten Sprachverwendung jedesmal durch sie hergestellt wird, wäre der „sigmatische" Aspekt des Zeichens wohl am besten in der Pragmatik unterzubringen. Über die Unterscheidungen von Morris und Klaus hinaus wird Pragmatik heute im allgemeinen im Sinne der Untersuchung der aktuellen Zeichenverwendung, der Zeichenpraxis, verstanden. Danach gehört zu den Aufgaben der Pragmatik vor allem die Beschreibung dessen, was L.-»Wittgenstein (Untersuchungen § 7 ) die „Sprachspiele" nennt, d.h. der durch gesellschaftliche Tätigkeiten bestimmten Situationen (Kontexte), in denen Zeichen auftreten, der Handlungen und Wirkungen, die mit Hilfe von Zeichen vollzogen bzw. erreicht werden, sowie der Zugehörigkeit zu sozialen Gruppen, die die jeweils situationsspezifische Auswahl von Sprechern aus ihrem Gesamtrepertoire an Zeichen steuert. Während es Syntax und Semantik im wesentlichen mit der Erforschung des Sprachsystems („Langue") zu tun haben, widmet sich die Pragmatik den Phänomenen der Sprachverwendung („Parole") und fragt nach den kontext- und benutzerbezogenen Regeln, die diesen zugrunde liegen.
120 2.
Semiotik II Zeichen-Konzeptionen
2.1. Zeichenbegriffe
und
-modelte
Ein Zeichen ist irgendein materielles Gebilde, das mehr mitteilt als nur sich selbst und insofern auf etwas anderes verweist, oder, um es mit -»Augustins klassisch gewordener Definition zu sagen: Signum est quod se ipsum sensui et praeter se aliquid animo ostendit (Zeichen ist, was sich selbst der sinnlichen Wahrnehmung und über sich hinaus der denkenden Seele etwas zeigt; dial. 86). Das Allgemeinste, was sich über das Zeichen sagen läßt, ist, daß es Ausdruck und Resultat einer Relation ist, und zwar der Relation aliquid stat pro aliquo (etwas steht für etwas anderes). Zum Zeichen gehören danach also zumindest zwei Momente: irgendein physisch wahrnehmbares Etwas und etwas anderes, das es repräsentiert. Nach dieser zeichentheoretischen Vorstellung würde etwa Rauch ebenso für das ihn verursachende Feuer stehen wie gewisse Pusteln für die sie auslösende Krankheit Windpocken; und in vergleichbarer Weise würde ein Foto den abgebildeten Gegenstand, das Denkmal eines Dichters die tatsächliche Person, ein Staatswappen das zugehörige Land, ein Personenname das durch ihn bezeichnete Individuum oder der Name eines Fußballklubs dessen Mitglieder und Mannschaften repräsentieren. Nach einer solchen zweistelligen oder „dyadischen" Konzeption des Zeichens wäre die Sprache, wie Saussure (Grundfragen 76) formuliert, „im Grunde eine Nomenklatur, d.h. eine Liste von Ausdrücken, die ebensovielen Sachen entsprechen". Und jedes Einzelzeichen dieser Nomenklatur wäre nach dem Prinzip organisiert, gegen das auch der späte Wittgenstein - nicht zuletzt unter Rekurs auf Augustins Confessiones (1,8; vgl. Wittgenstein, Untersuchungen § 1) - heftig polemisiert: „Hier ist das Wort, hier die Bedeutung. Das Geld und die Kuh, die man dafür kaufen kann" (ebd. § 120). Der Begriff des Zeichens in einem solchen Modell ist „monolateral", weil unter Zeichen nur die Zeichengestalt als solche verstanden wird. Eine dyadische Zeichenkonzeption scheint besonders in den Fällen zur Beschreibung des Verhältnisses zwischen Bezeichnendem und Bezeichnetem gut geeignet, wo mit Hilfe von Zeichen auf individuelle Gegenstände, Personen oder Sachverhalte Bezug genommen wird, also bei Eigennamen (Personen-, Städte-, Ländernamen, Toponymen usw.), „definiten Kennzeichnungen" (vgl. Russell 243ff.) wie „der Schüler Piatos" oder „die Stadt an der Seine" und nichtsprachlichen Zeichen, die ähnlich wie Eigennamen funktionieren, wie etwa Wappen, Firmenlogos oder die Erkennungsmelodie eines Rundfunksenders. In solchen Fällen läßt sich behaupten, daß ein bestimmtes Zeichen ein bestimmtes Individuum bezeichnet, das per conventionem (z.B. über eine Taufzeremonie oder Eintragung beim Standesamt oder ins Handelsregister) als (alleiniger) Träger des betreffenden Zeichens festgelegt wurde. Aber so einfach ist es bei näherem Hinsehen nicht, denn bei der R e p r ä s e n t a t i o n (oder wie - • O c k h a m sagen würde: „ S u p p o s i t i o n " , vgl. S u m m a Logicae I, 6 3 f . ) ist zugleich eine A b s t r a k tionsleistung zu vollbringen. Selbst bei Eigennamen sind Bedeutung und T r ä g e r nicht identisch, sondern lediglich aufeinander bezogen. Wer einen N a m e n vernimmt, z . B . „ W i l l i a m " oder „Brun e l l u s " , m u ß den Träger als Mitglied einer bestimmten Klasse - z. B. M e n s c h oder Pferd - verstehen und sich diejenigen M e r k m a l e vergegenwärtigen, die für die Kategorie typisch sind, zu der der Träger gehört (also z . B . „ M e n s c h , m ä n n l i c h " und „ R e i t - und Z u g t i e r , u n p a a r h u f i g " ) , und er m u ß darüber hinaus über die Kenntnis weiterer Identifikationsmerkmale verfügen (zu denen natürlich auch das durch eine Konvention gestiftete Tragen des betreffenden N a m e n s gehört). Frege (Sinn 41) hat daher - wenngleich in „ s p r a c h w i d r i g e r " Weise (vgl. Wittgenstein, Untersuchungen § 40) - zwischen der „ B e d e u t u n g " (dem T r ä g e r , auf den referiert wird) und dem „ S i n n " („der Art des G e g e b e n s e i n s " des Referenten für den Zeichenverwender, d . h . dem Wissen über den N a m e n s t r ä g e r ) unterschieden. Hinzu k o m m t , daß es viele Zeichen gibt, die sich gar nicht auf Gegenständliches beziehen; dies gilt für die F u n k t i o n s w ö r t e r ( „ w e i l " , „ u n d " , „ a u f " ) , N e g a t i v p r o n o m i n a ( „ k e i n " , „ n i e m a n d " ) , Negationspartikeln ( „ n i c h t " , „weder ... n o c h " ) , Z a h l w ö r t e r ( „ f ü n f " ) und A b s t r a k t a ( „ L i e b e " , „ B r ü d e r l i c h k e i t " , „ M e n s c h e n w ü r d e " ) der Sprache ebenso wie für S y m b o l e (etwa für Nationalflaggen oder Religions- bzw. Ideologiesymbole wie R o s e , Kreuz, H a l b m o n d , Davidstern,
Semiotik II
121
Hammer und Sichel, Hakenkreuz oder die Rose in der Faust als Symbol der Sozialistischen Internationale). Und auch in den Fällen, wo ein Gegenstandsbezug vorliegt, steht die Zeichenform in den meisten Fällen nicht für ein bestimmtes Individuum, sondern allenfalls für eine Klasse, z.B. „Mensch" für die Klasse zweibeiniger, sprachbegabter und ungefiederter Lebewesen. Indem dergestalt zwischen Zeichenform und bezeichnetem Gegenstand als Mitglied einer Klasse eine Kategorie, ein Begriff, eine Idee, eine Vorstellung eingeschaltet wird, entsteht aus dem dyadischen, zweistelligen ein triadisches, dreistelliges Zeichenmodell. Angesichts der beschriebenen P r o b l e m l a g e ist das Z e i c h e n im Verlaufe der G e s c h i c h t e von R h e t o r i k , G r a m m a t i k / S p r a c h w i s s e n s c h a f t , (Sprach-)Philosophie und Z e i c h e n t h e o rie seltener als dyadische, zumeist hingegen als triadische R e l a t i o n a u f g e f a ß t w o r d e n . D i e E l e m e n t e dieses M o d e l l s bilden der bezeichnete G e g e n s t a n d / R e f e r e n t bzw. die Klasse der b e z e i c h e n b a r e n G e g e n s t ä n d e / R e f e r e n t e n , die Z e i c h e n g e s t a l t und die zu dieser gehörige B e d e u t u n g / V o r s t e l l u n g . Schon in -»Piatos Kratylos spricht -»Sokrates u.a. von der „Kundwerdung der Gedanken, indem wir sprechen" (Plato, Krat. 435a). Auch wenn es zutreffen mag, daß Plato „die Rede als eine Liste vom Typ des Inventars [versteht], die aus Namen besteht, aber nicht aus müßig daliegenden Namen, sondern aus Namen, die die Funktion des Anrufens, Ansprechens, Angebens von Vorliegendem haben" (Schmitz 1/2, 45), und also weder Aussagen und Benennungen noch Bezeichnungen und Begriffe klar zu unterscheiden vermag, wird hier doch zumindest auf indirektem Wege die Trichotomie von Ding, Benennung und Vorstellung in die abendländische sprachtheoretischsemiotische Diskussion eingeführt. Schon ein wenig deutlichere Konturen gewinnt das dreistellige Modell bei -»Aristoteles, der in Peri hermeneias (1,16a) die sich in Lautäußerungen (ipmvai) manifestierenden Zeichen (ar/psTa) der Sprache als Ausdruck (avpßoAov) von Vorgängen im innern Bewußtsein (y/vx^Q naOr/paza) bestimmt, die auf die Tatsachen (np&ypara) verweisen, deren Abbilder (öpoimpoxa) sie sind. Die Dreiteilung (als atjpaivdpEvov „Bezeichnetes", arjpaivov „Bezeichnendes" und wyxävov „Außerhalb-Seiendes") begegnet wieder in der stoischen Philosophie; sie findet sich in Augustins Unterscheidung des gesprochenen Worts als der vox articulata vom verbum mentis als dem inneren, geistigen Wort des Gedankens, das es signifiziert und ihm seine materielle Gestalt leiht, „um sc für die Sinne der Menschen wahrnehmbar zu werden" (trin. XV, 11,20; dazu s.o. I. 2.2.); sie spiegelt sich in -»Boethius' Konzeption der sprachlichen Ausdrücke (voces) als Mittel einer durch Begriffe (per intellectum) vermittelten secundaria significatio der Dinge (res) wider (herm. 33); sie liegt Ockhams Unterscheidung zwischen den intentiones animae bzw. nomina mentalia und den nomina vocalia bzw. voces zugrunde, die lediglich „zweitrangige Zeichen dafür [sind], wofür die Intentionen der Seele erstrangige Zeichen sind" (voces secundaria signa sunt illorum, quorum intentiones animae sunt signa primaria, Summa Logicae 1,12); sie erscheint in der bekannten scholastischen Formel vox significat (rem) mediantibus conceptibus (das Wort bezeichnet [das Ding] mit Hilfe von Begriffen/Vorstellungen); auch in J . Lockes (11,12) Bestimmung: „The use . . . of words is to be sensible marks of ideas, and the ideas they stand for are their proper and immediate signification" ist die Dreiteilung unübersehbar. Und wenn —»Humboldt (Verschiedenheit VII,46) von der Sprache als der „sich ewig wiederholenden Arbeit des Geistes, den articulirten Laut zum Ausdruck des Gedanken fähig zu machen", spricht oder wenn Frege zwischen dem „Zeichen (Name, Wortverbindung, Schriftzeichen)", der „Bedeutung" als dem Namensträger und dem „Sinn" als der „Art des Gegebenseins" des Bezeichneten unterscheidet (Frege, Sinn 41) und den „Sinn" des Satzes als den in ihm ausgedrückten „Gedanken" bestimmt (Frege, Gedanke 33), dann muß auch das diesen Sprachtheorien zugrundeliegende Zeichenkonzept dreistellig gewesen sein. W a r daher das dreistellige M o d e l l (mit wechselnden Bezeichnungen der Elemente) schon seit der A n t i k e , in der S c h o l a s t i k und weit über die F r ü h e Neuzeit hinaus bis ins 19. J h . geläufig, so wurde es doch erst von G . K . O g d e n / I . A . R i c h a r d s (1923) in ihrem B u c h The Meaning of Meaning als „ t r i a n g l e o f r e f e r e n c e " ausdrücklich in die neuere S p r a c h w i s s e n s c h a f t und - p h i l o s o p h i e eingeholt. Dieses M o d e l l ( O g d e n / R i c h a r d s , M e a ning 11) wird heute im allgemeinen als „ s e m i o t i s c h e s " oder „ s e m a n t i s c h e s D r e i e c k " bezeichnet (s. folgende Seite). Den früheren dreistelligen Konzeptionen entsprechend ist auch bei Ogden/Richards die Beziehung der Zeichengestalt („Symbol") zum bezeichneten Gegenstand („Referent") über die Vorstellung/den Begriff („Thought or Reference") vermittelt. Was durch das Zeichen festgehalten und kommuniziert wird, ist demnach der Gedanke. „Symbols", zu denen auch die Ausdrucksseiten
122
S e m i o t i k II T h o u g h t or Reference
Stands for
Symbol
Referent
(an i m p u t e d r e l a t i o n ) True
von W ö r t e r n gehören, sind „ I n s t r u m e n t e " der K o m m u n i k a t i o n , während der G e d a n k e oder die Bedeutung die psychische Instanz ist, die zwischen Zeichengestalt und Bezugsgegenstand vermittelt. D a m i t erweist sich das Z e i c h e n m o d e l l zwar als „ t r i a d i s c h " , ihm liegt jedoch ein „ m o n o l a t e r a l e r " , einseitiger Zeichenbegriff zugrunde. Weil die Auswahl des Z e i c h e n s beim Sprecher teils durch die intendierte Bedeutung, teils durch die K o m m u n i k a t i o n s a b s i c h t und das Verstehen beim H ö r e r durch die R e k o n s t r u k t i o n der intendierten Bedeutung und der K o m m u n i k a t i o n s a b s i c h t bestimmt sei, wird die Beziehung zwischen dem G e d a n k e n und dem S y m b o l von O g d e n / R i c h a r d s als „ k a u s a l " und damit als direkt bestimmt. Überwiegend direkt ist auch die Beziehung zwischen G e d a n k e und Gegenstand. Dagegen gibt es innerhalb dieses M o d e l l s keine direkte, sondern nur eine zugeschriebene ( „ i m p u t e d " ) , also abgeleitete und insofern arbiträre Beziehung zwischen Zeichengestalt und bezeichnetem Gegenstand. Im selben Sinne sind für den Detektiv und Semiotiker William von Baskerville die Hufspuren im Schnee zunächst „ n u r Zeichen der allgemeinen Idee des P f e r d e s " , ihr konkretes R e f e r e n z o b j e k t , das Pferd Brunellus, m u ß erst noch aufgrund weiterer Indizien wie schwarzer Schweifhaare im M a u l b e e r s t r a u c h oder personeller Z u s a m m e n s e t z u n g des Suchtrupps ermittelt werden, die über dieselbe Idee auf denselben Referenten verweisen. Im dreistelligen M o d e l l , wie es überlieferungsgerecht in E c o s R o m a n zum Ausdruck k o m m t , steht die Idee als G e d a n k e in einer doppelten R e l a t i o n : als Bedeutung des Z e i c h e n s und Bezeichnung des Referenten. „ D i e I d e e " , läßt E c o W i l l i a m an anderer Stelle sagen, „ist ein Zeichen der Dinge, und das Bild ist ein Zeichen der Idee, also das Zeichen eines Z e i c h e n s " (Eco, N a m e 4 0 6 ) . N a c h der triadischen Zeichenkonzeption,
für die d a s „ s e m i o t i s c h e D r e i e c k "
von
O g d e n / R i c h a r d s ein z e i t g e n ö s s i s c h e s B e i s p i e l ist, w ü r d e j e d e s Z e i c h e n P s y c h i s c h e s e i n schließen, das von der Zeichengestalt substantiell verschieden wäre. Der
außersemio-
t i s c h e G e g e n s t a n d b l e i b t j e d o c h B e s t a n d t e i l d e s M o d e l l s . A u f die Z e i c h e n d e r S p r a c h e a n g e w a n d t hieße dies: S p r e c h e n w ä r e , wie w i e d e r u m W i t t g e n s t e i n ( U n t e r s u c h u n g e n § 6) p o l e m i s c h f o r m u l i e r t , z u e r s t u n d v o r a l l e m als „ d a s A n s c h l a g e n e i n e r T a s t e a u f d e m V o r s t e l l u n g s k l a v i e r " zu b e s t i m m e n . A b e r A b s t r a k t a r e f e r i e r e n n i c h t a u f G e g e n s t ä n d e , u n d F u n k t i o n s w ö r t e r b r i n g e n w e d e r e i n e n „ G e d a n k e n " z u m A u s d r u c k , n o c h h a b e n sie G e g e n s t a n d s b e z u g . E s zeigt sich, d a ß a u c h d a s t r i a d i s c h e Z e i c h e n k o n z e p t ,
zumindest
in s e i n e r ü b e r l i e f e r t e n F o r m , v o r s o l c h e n Z e i c h e n v e r s a g t . D e r G e n f e r L i n g u i s t F. d e S a u s s u r e v e r t r a t d a g e g e n e i n e n „ b i l a t e r a l e n " Z e i c h e n b e g r i f f . O b w o h l i n z w i s c h e n b e k a n n t sein m ü ß t e , d a ß d e r S i n n s e i n e r b e r ü h m t e n G e n f e r V o r l e s u n g e n , d i e s p ä t e r a l s Cours
de
linguistique
générale
v e r ö f f e n t l i c h t w u r d e n , in e r s t e r
Linie darin bestand, einen Uberblick über den F o r s c h u n g s s t a n d der Allgemeinen S p r a c h -
Semiotik II
123
Wissenschaft zu geben (vgl. F e h r ; B u r k h a r d t , Saussure) und bereits bei den Philosophen der A n t i k e und den S p r a c h t h e o r e t i k e r n des 18. und 19. J h . v o r h a n d e n e Konzepte in die Linguistik seiner Zeit einzuholen, geht im B e w u ß t s e i n der meisten heutigen Sprachwissenschaftler alle m o d e r n e S p r a c h - und Z e i c h e n t h e o r i e auf Saussure zurück. Den Ausgangspunkt für die „semiologischen" Überlegungen Saussures (vgl. Grundfragen 14) bildet der „Kreislauf des Sprechens" („circuit de la parole"), bei dem es sich um ein idealisiertes Kommunikations- oder besser noch: Informationsübertragungsmodell handelt, das den Weg abbildet, den die Vorstellung des Senders zurücklegen muß, bis sie Vorstellung des Empfängers werden kann. Nach diesem Modell wird die „Vorstellung" des Senders innerpsychisch in das dem assoziierten „Lautbild" entsprechende „Bewegungsgefühl", einen Lautbildungsimpuls, übersetzt, der seinerseits mittels der Sprechwerkzeuge in Schallwellen umgeformt wird; diese Schallwellen werden im Empfänger in „Lautbilder" zurückübersetzt, denen wiederum per conventionem „Vorstellungen" zugeordnet werden. Allein auf dem Hinweg vom Sendergehirn zum Empfängergehirn sind hier also vier Zeichenrelationen zu beachten: „Vorstellungen" werden durch „Bewegungsgefühle" vertreten, die ihrerseits von Schallwellen vertreten werden; die Schallwellen ihrerseits vertreten „Lautbilder", die „Vorstellungen" vertreten. In Saussures Konzeption ist also die Kategorie „Vorstellung" enthalten, die das Modell implizit triadisch werden läßt. Zugleich wird das Zeichen selbst als die assoziative Verbindung von Form/Ausdrucksseite/Zeichengestalt („signifiant'VSignifikant/Bezeichnendes) einerseits und Bedeutung/Inhaltsseite/Vorstellung („signifie'VSignifikat/ Bezeichnetes) andererseits begriffen (vgl. ebd. 78). Die Sprache oder „langue" bildet für Saussure „ein System von Zeichen, in dem einzig die Verbindung von Sinn und Lautzeichen wesentlich ist und in dem die beiden Seiten des Zeichens gleichermaßen psychisch sind" (ebd. 18). Das „Lautbild" ist ein Typus und als solcher Bestandteil der „langue", des Sprachsystems als des allen Sprechern derselben Sprache gemeinsamen Kodes; die konkreten Schallwellen sind dagegen (auch wenn Saussure selbst diesen Begriff nicht verwendet) „tokens", empirische Vorkommen zu diesem Typus, und insofern Bestandteil der „parole" als der tatsächlichen Sprachverwendung. „Psychisch" sind daher die „Lautbilder"/„Bewegungsgefühle" und die „Vorstellungen", nicht aber die konkreten Äußerungen, die Schallwellen, zu nennen. „Es ist von entscheidender Wichtigkeit", sagt daher Saussure, „hervorzuheben, daß das Wortbild nicht mit dem Laut selbst zusammenfällt, und daß es in dem gleichen Maß psychisch ist wie die ihm assoziierte Vorstellung" (ebd. 15). „Vorstellung" und „Lautbild", „signifiant" und „signifié" (bzw. „Bezeichnendes" und „Bezeichnetes") sind für Saussure das Zeichen (als Zeichentypus der Langue-Ebene), und zwar als zwei aufeinander verweisende Seiten derselben Sache. Das Zeichen ist für ihn folglich „etwas Doppelseitiges . . . , das aus der Vereinigung zweier Bestandteile hervorgeht" (ebd. 77). Dagegen gehört der bezeichnete Gegenstand nicht zum Zeichen, denn: „Das sprachliche Zeichen vereinigt in sich nicht einen Namen und eine Sache, sondern eine Vorstellung und ein Lautbild" (ebd.). Insofern fällt er auch aus dem bilateralen Zeichenfcegn/f heraus, nicht jedoch aus dem auch Saussures Denken zugrunde liegenden triadischen Zeichenmode//, sind doch die Vorstellungen stets auf Gegenstände bezogen. Eine Besonderheit der Sprache liegt für Saussure darin, daß die meisten ihrer Zeichen (nämlich die nichtonomatopoetischen) insofern „beliebig" (arbiträr) sind, als ihre äußere Gestalt keinerlei Merkmale besitzt, die auf einen bestimmten Inhalt verweisen (vgl. ebd. 79 ff.). Indem für Saussure die Verbindung von „ B e z e i c h n e n d e m " und „ B e z e i c h n e t e m " das Z e i c h e n ist, wird die als „ V o r s t e l l u n g " konzipierte Bedeutung zum konstitutiven B e standteil des Z e i c h e n s selbst. D e r an Saussure anschließende e u r o p ä i s c h e Strukturalismus - von L o u i s H j e l m s l e v ( 1 8 9 9 - 1 9 6 5 ) über André M a r t i n e t (geb. 1 9 0 8 ) , Eric J e a n L o u i s Buyssens ( 1 9 0 0 - ? ) , Algirdas Julien G r e i m a s ( 1 9 1 7 - 1 9 9 2 ) , G e o r g e s M o u n i n ( 1 9 1 0 1 9 9 3 ) , Luis J o r g e Prieto ( 1 9 2 6 - 1 9 9 6 ) bis hin zu Kurt Baldinger (geb. 1 9 1 9 ) , K l a u s H e g e r ( 1 9 2 7 - 1 9 9 3 ) , H e l m u t H e n n e (geb. 1936) und H e r b e r t Ernst W i e g a n d (geb. 1936) hat dieses M o d e l l a u f g e n o m m e n und zum Konzept einer strukturellen S e m a n t i k ausgearbeitet. Eine Bedeutung ist danach eine „ T e / 7 b e d e u t u n g " als Teil einer G e s a m t b e deutung, die ihrerseits Teil des Z e i c h e n s ist. Inhalts- und Ausdrucksseite sind nicht m e h r nur die zwei Seiten eines B l a t t e s Papier, sondern bilden ihrerseits zugleich eine jeweils in kleine und kleinste Teileinheiten gegliederte - hie p h o n o l o g i s c h e , da s e m a n t i s c h e Substanz. M i t der dem M o d e l l letztlich zugrunde liegenden C o n t a i n e r - M e t a p h e r , die das Wort oder Z e i c h e n als strukturiertes G e f ä ß mit einem in sich gleichfalls strukturierten Inhalt vorstellt, hat man die strukturelle A n a l o g i e zwischen A u s d r u c k und Inhalt j e d o c h
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übertrieben. Denn aus der unbestreitbaren Tatsache, daß es dem Zeichen wesentlich ist, Bedeutung zu haben, folgt keineswegs, daß die Bedeutung, die es hat, Teil des Zeichens wäre. Auch wenn das Zeichen dadurch definiert ist, daß ihm Bedeutung zukommt, ist noch keineswegs vollkommen klar, daß es aus Vorstellung/Gedanke/Signifikat/Bezeichnetem/Bedeutung/Begriff und Lautbild/Signifikant/Bezeichnendem/Zeichengestalt besteht oder zusammengesetzt ist. Monolaterale Zeichentheorien sind daher keineswegs so abwegig, wie sie aus dem Blickwinkel einer an die bilaterale Konzeption Saussures gewöhnten strukturellen Linguistik vielleicht scheinen mögen. Immerhin finden sich solche monolateralen Konzepte an exponierter Stelle, so z.B. im Logischen Positivismus (-•Positivismus/Neopositivismus 3.2.): bei G. Frege, der das Zeichen auch mit „Name, Wortverbindung, Schriftzeichen" umschreibt (Frege, Sinn 41); bei R. Carnap (1934), der das Zeichen explizit als „Ausdruck" bestimmt, oder beim frühen Wittgenstein, der in seinem 1921 erschienenen Tractatus logico-philosophicus (3.32) unmißverständlich schreibt: „Das Zeichen ist das sinnlich Wahrnehmbare am Symbol". Auch Wittgensteins spätere Gleichsetzung der Bedeutung mit „Gebrauch" bzw. „Erklärung der Bedeutung" in den Philosophischen Untersuchungen (§ 7 bzw. 560) macht nur bei einer Trennung zwischen Zeichen und Bedeutung wirklich Sinn. Das triadische Modell stimmt letztlich in der Hinsicht mit dem dyadischen überein, daß in beiden nicht zum Ausdruck kommt, daß Zeichen (wie z.B. die der Sprache oder das Klingeln an der Haustür) nicht nur referieren und informieren, sondern auch dazu dienen, Handlungen wie Aufforderungen, Warnungen usw. zu vollziehen. Ist aber der in einem Museum ausgelöste Alarm N a m e eines bestimmten Kunstraubs, soll er in der Polizei die Vorstellung eines solchen Raubs auslösen, oder soll sie sich alarmiert fühlen und entsprechend reagieren? Ist das rote Ampelzeichen der N a m e eines bestimmten Haltevorgangs, soll durch es im Autofahrer der Gedanke des Anhaltens oder Anhaltenmüssens erzeugt werden, oder soll er einfach nur reagieren und anhalten - und zwar, um Reaktionszeit zu sparen, möglichst ohne Einschaltung von Vorstellungen? Doch trotz solcher Einwände aus der Sicht der Pragmatik ist nicht das triadische Zeichenmodell als solches falsch, sondern das Problem ist und bleibt, wie die drei Eckpunkte des Dreiecks theoretisch zu bestimmen sind. Der erfolgversprechendste Versuch findet sich beim Begründer der modernen Zeichentheorie, Ch. S. Peirce, der das Zeichen definiert als „something which stands to somebody for something in some respect or capacity" (Peirce, Collected Papers 2.228). Damit sind zugleich Pragmatik („to somebody") und Semantik („for something") als wesentliche Dimensionen des Zeichens mitgenannt. Peirces Zeichenbegriff ist monolateral; sein Zeichenmodell enthält die Momente „Repräsentamen", „ O b j e k t " und „Interprétant" (vgl. ebd. 2.300). Das Zeichen als Repräsentamen ist hier als irgendeine materielle Gestalt zu verstehen, die insofern über sich hinausweist, als sie durch funktionsgleiche andere materielle Gestalten, durch Synonyme oder Paraphrasen derselben oder einer anderen Sprache oder eines anderen Zeichensystems, ersetzt werden kann. Peirces revolutionäre Neuerung in der Zeichentheorie und der Semantik besteht darin, daß nach seinem Modell die Bedeutung eines Zeichens weder Gegenstände noch Vorstellungen, Ideen, Begriffe oder Gedanken, sondern seine möglichen Interpretanten sind (wobei der Interprétant eines Zeichens nicht die Person ist, die es interpretiert, sondern ein anderes Zeichen, das an die Stelle des ersten treten kann). Auch der Gedanke wird als möglicher Interprétant und damit als Zeichen aufgefaßt (vgl. ebd. 5.286). In Peirces Modell ist der Interprétant keine feste Größe mehr, sondern kann seinerseits wieder zum Zeichen werden, das ein anderer Interprétant interpretiert. Eco hat daher den Interpretanten „als eine weitere Repräsentation . . . , die sich auf dasselbe Objekt bezieht" (Eco, Einführung 77; ders., Semiotik [1987] 102), bestimmt und die Erläuterung hinzugesetzt: Um zu bestimmen, was der Interprétant sei, müsse man ihn mit Hilfe eines anderen Zeichens benennen, das seinerseits einen Interpretanten habe, der mit einem weiteren Zeichen benannt werden
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könne usw. (vgl. Eco, Einführung 77). So entsteht das dynamische Modell einer „unendlichen" oder „unbegrenzten Semiose" (Eco, Einführung 124; ders., Semiotik [1987] 102), wie sie gerade für die mannigfaltigen Formen menschlichen Zeichengebrauchs absolut charakteristisch ist. In solchem Lichte zeigt sich die Sprache als „ein System, das sich aus sich selbst heraus durch aufeinanderfolgende Systeme von Konventionen klärt, die sich gegenseitig erklären" (Eco, Einführung 77). Klarer als Peirce selbst hat Eco (Semiotik [1987] 103f.) mögliche Formen des Interpretanten beschrieben: „(a) Er kann der gleichbedeutende (oder scheinbar gleichbedeutende) Signifikant in einem anderen semiotischen System sein. Zum Beispiel kann ich die Zeichnung eines Hundes dem Wort /Hund/ korrespondieren lassen. (b) Er kann der Zeigefinger sein, der sich auf einen einzelnen Gegenstand richtet und dabei vielleicht ein Element universeller Quantifizierung impliziert (,alle Gegenstände wie dieser'). (c) Er kann eine wissenschaftliche (oder naive) Definition mit den Mitteln desselben semiotischen Systems sein, beispielsweise /Salz/ bedeutet ,Natriumchlorid'. (d) Er kann eine gefühlsmäßige Assoziation sein, die den Wert einer etablierten Konnotation annimmt: /Hund/ bezeichnet ,Treue' (und umgekehrt). (e) Er kann auch die Übersetzung eines Wortes in eine andere Sprache sein oder auch seine Substitution durch ein Synonym." Peirce-Ecos Interpretanten-Modell (das mehr oder weniger deutlich auch bei Wittgenstein anklingt; vgl. Wittgenstein, Untersuchungen § 560; Burkhardt, Wittgenstein 92ff.) ist zwar geeignet, den ontologischen Status der Bedeutung zu klären, doch erweist sich die zur Erklärung herangezogene Semiose als in unausweichlicher Weise zirkulär und wird zu dem Labyrinth semantischenzyklopädischer Beziehungen, als das sie Eco (Semiotik [1985] 125ff.) beschrieben und im Namen der Rose zur Klosterbibliothek materialisiert hat.
Schon für Peirce bestand die einzige „geistige W i r k u n g " , die man mit Hilfe von Zeichen hervorbringen kann und die nicht selber — als Gedanke - wiederum ein Zeichen ist, in der Änderung einer „Verhaltensgewohnheit" (Peirce, Schriften 513; ders., Collected Papers 5.476). An diesen Gedanken knüpft Ch. W. Morris an. Im Rahmen seiner behavioristischen Zeichenkonzeption werden Zeichen als Ersatzreize aufgefaßt, die im Prinzip die gleichen Reaktionen auslösen wie die Bezugsobjekte als unmittelbare Sinnesreize selbst (vgl. Morris, Zeichen 77ff.). Zeichengebräuche sind danach als „vorbereitende R e i z e " zu bestimmen, die die Disposition bewirken, direkte oder verkettete und damit verzögerte Reaktionen zu zeigen und dadurch Reaktionsfolgen zu schaffen, sobald weitere unterstützende Reize auftreten. Mit dem Peirceschen Begriff des Interpretanten bezeichnet Morris die „Disposition eines Interpreten, aufgrund eines Zeichens mit einer Reaktionsfolge einer Verhaltensfamilie zu reagieren" (ebd. 92). Gegen eine solche Verallgemeinerung spricht, daß die wohl meisten Zeichen in erster Linie informierend gebraucht werden und insofern häufig gar nicht zur Beeinflussung des Verhaltens oder der Verhaltensdispositionen ihrer Adressaten dienen. Trotzdem bleibt Morris' pragmatisch begründete These wichtig, daß nicht das Zeichen allein, sondern vielmehr sein Zusammenwirken mit der es umgebenden Situation die hervorgerufene Reaktion verursache. Indem der späte Morris neben dem „ Z e i c h e n " als dem vorbereitenden Reiz und dem „Interpretanten" als der an es geknüpften Verhaltensdisposition noch den Bezugsgegenstand als „ D e n o t a t " vom „Signifikat" als den Bedingungen, die erfüllt sein müssen, um die vom Zeichen ausgelöste Verhaltensdisposition am denotierten Reizobjekt verwirklichen zu können, unterscheidet, ist sein Modell im Grunde tetradisch. 2.2.
Zeichenfunktionen
Die prominenteste Bestimmung der Zeichenfunktionen stammt von K. Bühler. Den Ausgangspunkt bildet das „ O r g a n o n - M o d e l l " der Sprache (Bühler 28). Nach den drei Hauptbeteiligten des Kommunikationsprozesses: dem Sprecher, dem Hörer und den besprochenen Gegenständen, wird die Kommunikationsfunktion von Sprachzeichen un-
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tergliedert in: (a) die Ausdrucksi\inkt\on, (b) die Ap/?e//funktion und (c) die Darstellungsfunktion (vgl. ebd. 2 8 f . ) . D a s Z e i c h e n teilt d e m n a c h für Bühler erstens e t w a s mit, indem es etwas von der Gefühls- und Interessenlage des Sprechers zu erkennen gibt und daher Symptom für seine psychischen Z u s t ä n d e ist - das ist seine Ausdrucksfunktion-, es teilt zweitens etwas m i t , indem es H ö r e r r e a k t i o n e n steuert, a u f den H ö r e r einw i r k t und so für ihn als Signal fungiert - das ist seine Appellfunktion-, und es teilt drittens etwas m i t , indem es etwas über die G e g e n s t ä n d e und Sachverhalte aussagt und insofern als Symbol auftritt - das ist seine Darstellungsfunktion. Bühler benutzt für „ A u s d r u c k " und „ A p p e l l " auch die k o n k u r r i e r e n d e n Begriffe „ K u n d g a b e " und „Ausl ö s u n g " , die geeignet sind, etwas stärker zu verdeutlichen, d a ß der Sprecher durch seine Ä u ß e r u n g - b e w u ß t oder u n b e w u ß t - einerseits seine W ü n s c h e , Einstellungen und E m p findungen „ k u n d g i b t " und andererseits F o l g e r e a k t i o n e n des H ö r e r s „ a u s z u l ö s e n " trachtet. Was hier von Bühler z u n ä c h s t für die S p r a c h e b e a n s p r u c h t wird, gilt auch für Z e i c h e n ganz allgemein, von denen die sprachlichen nur einen Sonderfall darstellen. In Linguistik und Poetik h a t R . J a k o b s o n das auf der Figur des Dreiecks beruhende O r g a n o n - M o d e l l u m die E l e m e n t e „ N a c h r i c h t " , „ K o n t a k t m e d i u m " und „ K o d e " (das zur Verfügung stehende Zeichensystem) ergänzt und damit gewissermaßen zu einem Sechseck a u s g e b a u t . In J a k o b s o n s erweitertem M o d e l l gibt es also nicht drei, sondern sechs für den R e d e a k t konstitutive R e l a t i o n e n , denen wiederum sechs verschiedene Z e i c h e n f u n k t i o n e n entsprechen: (a) die emotive F u n k t i o n (Bühlers „ K u n d g a b e " / „ A u s d r u c k " ) , (b) die konative F u n k t i o n (Bühlers „ A u s l ö s u n g " / „ A p p e l l " ) , (c) die referentielle F u n k t i o n (Bühlers „ D a r s t e l l u n g " ) , (d) die phatische F u n k t i o n , (e) die metasprachliche F u n k t i o n und (f) die poetische Funktion. Die „phatische" Funktion bezieht sich auf das Kontaktmedium selbst, d.h. auf den verwendeten „Kanal". Bei etwas weiterer Auslegung, als dies Jakobsons eher technischer Betrachtungsweise entspricht, kann man darunter Zeichenverwendungen verstehen, deren Hauptaufgabe in der Herstellung, Definition und Stabilisierung des Beziehungsaspekts besteht. Das so bestimmte „phatische" Moment dominiert in mehr oder weniger rituellen Formeln, die ausschließlich der Kanalüberprüfung oder der Kontaktaufnahme bzw. -Stabilisierung gelten; dazu gehören: Grußformeln, das Anderen-Grüße-ausrichten-Lassen, rückmeldende „hm-m" oder „ j a " im Gespräch, einleitendes „hallo", aber auch das Telefonklingeln, Logos, das Schellen an der Haustür oder der Jingle einer Fernsehserie oder eines Werbespots. In „phatischer Funktion" verwendete Zeichen sind zu einem Großteil desemantisiert und ohne Aufrichtigkeitsanspruch. Die „metasprachliche" Funktion liegt vor, wenn der Kode selbst thematisiert wird, d.h. wenn man über das Medium Sprache spricht. So werden in der Alltagskommunikation entstehende Verständigungsprobleme häufig dadurch gelöst, daß man sich über die verwendeten Sprachzeichen verständigt, indem z.B. ihre Aussprache, Schreibung oder Bedeutung erläutert wird; in der Linguistik oder etwa auch in der Sprachphilosophie ist die Sprache hingegen der Untersuchungsgegenstand, über den gesprochen werden muß. Die „metasprachliche" Funktion ist im Grunde ein Sonderfall der Darstellung: Nicht außersprachliche Gegenstände und Sachverhalte, d.h. die dargestellten Bezugsobjekte, sind hier das Besprochene, sondern die Zeichen der Sprache bzw. die gesprochenen Worte selber. Der typische Fall, in dem die metasprachliche Funktion im Vordergrund steht, ist das Problematisieren und Definieren von Wortbedeutungen. D. Hymes, der in The Ethnography of Speaking (1970) eine derjenigen Jakobsons - bei aller terminologischen Divergenz inhaltlich extrem ähnliche Typologie vorgelegt hat, spricht hier semiotisch verallgemeinernd von der „metakommunikativen" Funktion. Im Anschluß an Hjelmslev hat Th. A. Sebeok (Theorie 51) die Verwendung des Begriffs „Metasemiotik" vorgeschlagen. Die letzte der Jakobsonschen Sprachfunktionen betrifft die Nachricht, genauer: deren Gestaltung. „Die Einstellung auf die Nachricht als solche", sagt Jakobson, „die Zentrierung auf die Nachricht um ihrer selbst willen, ist die poetische Funktion der Sprache" (Jakobson 151). Zur poetischen Funktion sind vor allem Metrum, Reimschema, Strophenform, Stilgebung im allgemeinen sowie die rhetorischen Figuren von Allegorie bis Zeugma zu rechnen. Zwar hat die „poetische" Funktion naturgemäß ihren eigentlichen Ort in der Literatur, dennoch dürfte klar sein, daß auch in der Alltagskommunikation, besonders in der schriftlichen, Regeln des guten Stils zu beachten sind (vgl. zu alledem auch Coseriu, Textlinguistik 56ff.). Unter textlinguistischen Aspekten hat K. Brinker in seiner Linguistischen Textanalyse versucht, sprechakttypologische Kategorien auf die Unterscheidung von Sprachfunktionen abzubilden, und
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dabei neben „ I n f o r m a t i o n s - " ( = „ D a r s t e l l u n g s f u n k t i o n " ) , „ A p p e l l - " und „ K o n t a k t f u n k t i o n " noch die F u n k t i o n e n v o n „ O b l i g a t i o n " u n d „ D e k l a r a t i o n " u n t e r s c h i e d e n . W ä h r e n d die „ O b l i g a t i o n " , im S i n n e d e r S e l b s t v e r p f l i c h t u n g , e t w a V e r t r a g s t e x t e u n d E i d e s f o r m e l n d o m i n i e r t , v e r l e i h t d i e D e k l a r a t i o n , d . h . die s o z i a l v e r b i n d l i c h e F a k t e n s c h a f f e n d e E r k l ä r u n g k r a f t A m t e s o d e r k r a f t s o z i a l e r R o l l e , T e s t a m e n t e n , U r k u n d e n , Bescheinigungen und dergleichen ihre u n m i t t e l b a r e W i r k s a m k e i t . D a h i e r j e d o c h k e i n e im e i g e n t l i c h e n S i n n e e i g e n s t ä n d i g e n Z e i c h e n f u n k t i o n e n v o r l i e g e n , s o n d e r n vielmehr m ö g l i c h e H a n d l u n g s r e s u l t a t e von T e x t e n , k ö n n e n „ O b l i g a t i o n " und „ D e k l a r a t i o n " dem B e r e i c h d e r S p r e c h h a n d l u n g e n z u g e r e c h n e t w e r d e n , d e r n o c h zu e r l ä u t e r n ist.
Den b i s h e r dargelegten S p r a c h f u n k t i o n e n , d e r e n B e s c h r e i b u n g sich im w e s e n t l i c h e n an U n t e r s c h e i d u n g e n von B ü h l e r und J a k o b s o n o r i e n t i e r t e , m ü s s e n m i n d e s t e n s n o c h zwei weitere hinzugefügt w e r d e n . H i e r w ä r e z u n ä c h s t die „ S c h i b b o l e t h " - F u n k t i o n zu n e n n e n , die als ein Spezialfall der A u s d r u c k s f u n k t i o n b e t r a c h t e t w e r d e n k a n n und ihren N a m e n e i n e m kurzen b i b l i s c h e n K r i e g s b e r i c h t zu v e r d a n k e n h a t ( J d c 12,4—6). D i e G i leaditer b e n u t z e n hier die A u s s p r a c h e des W o r t e s „ S c h i b b o l e t h " als K r i t e r i u m der E n t s c h e i d u n g d a r ü b e r , o b j e m a n d als M i t g l i e d des eigenen S t a m m e s a n z u s e h e n und d a h e r zu v e r s c h o n e n ist o d e r z u m feindlichen N a c h b a r s t a m m g e h ö r t und d a h e r g e t ö t e t wird. N a t ü r l i c h h a t ein s o l c h e s s p r a c h l i c h e s E r k e n n u n g s z e i c h e n n u r selten d e r a r t grausige K o n s e q u e n z e n , a b e r w e n n m a n an F a c h t e r m i n o l o g i e n , an d i a l e k t a l e A u s s p r a c h e v a r i a n ten b z w . D i a l e k t w ö r t e r , an s o z i o l e k t a l e E i g e n h e i t e n o d e r z . B . an G r u p p e n s p r a c h e n w i e die der J u g e n d d e n k t , so w i r d d e u t l i c h , d a ß s p r a c h l i c h e E r k e n n u n g s z e i c h e n a u c h in der S p r a c h e der G e g e n w a r t eine n i c h t zu u n t e r s c h ä t z e n d e R o l l e spielen. A u s s p r a c h e , L e x i k und zum Teil s o g a r M o r p h o l o g i e und S y n t a x g e b e n - v o m S p r e c h e r selbst in der R e g e l u n b e a b s i c h t i g t - A u f s c h l u ß ü b e r soziale und d i a l e k t a l e H e r k u n f t , erzeugen b e i m H ö r e r G e f ü h l e von V e r t r a u t h e i t o d e r F r e m d h e i t . D e r a r t i g e „ S c h i b b o l e t h s " sind S y m p t o m e für die G r u p p e n z u g e h ö r i g k e i t b z w . - n i c h t Z u g e h ö r i g k e i t des j e w e i l i g e n S p r e c h e r s . I n d e m sie einerseits die E i g e n g r u p p e gegen F r e m d g r u p p e n a b g r e n z e n und d a d u r c h
andererseits
dazu dienen, so e t w a s wie G r u p p e n i d e n t i t ä t und Z u s a m m e n g e h ö r i g k e i t zu erzeugen o d e r zu e r h a l t e n , h a b e n sie eine g r u p p e n i n t e g r a t i v e F u n k t i o n . Als n o n v e r b a l e S c h i b b o leths lassen sich z . B . H a u t - , H a a r - b z w . A u g e n f a r b e , A r t d e r K l e i d u n g o d e r k u l t u r t y pisches G r u ß v e r h a l t e n d e u t e n . Eine w e i t e r e F u n k t i o n v o n Z e i c h e n , d e r e n U n t e r s u c h u n g in der (analytischen) Phil o s o p h i e und der L i n g u i s t i k d e r letzten J a h r z e h n t e b r e i t e n R a u m e i n g e n o m m e n h a t , s t e h t g e w i s s e r m a ß e n quer zu den v o n B ü h l e r u n t e r s c h i e d e n e n , i n d e m sie an allen dreien partizipiert. Z e i c h e n , vor a l l e m d i e j e n i g e n d e r S p r a c h e , w e r d e n n ä m l i c h a u c h dazu verw e n d e t , sozial relevante F a k t e n zu s c h a f f e n , d . h . H a n d l u n g e n d e r v e r s c h i e d e n s t e n A r t e n zu vollziehen. W e n n z . B . - je n a c h a m b e t r e f f e n d e n O r t g e l t e n d e r g e s e t z l i c h e r R e g e l u n g - ein S t a n d e s b e a m t e r , ein G e i s t l i c h e r o d e r ein K a p i t ä n (falls m a n sich g e r a d e a u f e i n e m S c h i f f a u f h o h e r See befindet) im Beisein v o n Z e u g e n u n d z w e i e r v e r s c h i e d e n g e s c h l e c h t licher u n v e r h e i r a t e t e r P e r s o n e n gesagt h a t : „ H i e r m i t e r k l ä r e ich Sie für M a n n und F r a u ! " , s o ist das P a a r , w e n n beide z u v o r ihr E i n v e r s t ä n d n i s e r k l ä r t h a b e n , v o n nun an offiziell v e r h e i r a t e t - m i t allen d a r a u s resultierenden R e c h t e n und Pflichten. Es ist also m i t t e l s S p r a c h e eine - in diesem F a l l s o g a r r e c h t s k r ä f t i g e - H a n d l u n g , ein sog. „ S p r e c h a k t " , vollzogen w o r d e n , denn „ S p r e c h e n b e d e u t e t , in Ü b e r e i n s t i m m u n g mit R e g e l n A k t e zu v o l l z i e h e n " (Searle, S p r e c h a k t e 3 8 ) . Ä h n l i c h e F ä l l e sind T a u f e n , das E r ö f f n e n und S c h l i e ß e n einer S i t z u n g b z w . V e r a n s t a l t u n g o d e r a u c h die V e r k ü n d u n g eines G e r i c h t s u r t e i l s , die an die E x i s t e n z von I n s t i t u t i o n e n g e b u n d e n sind und in d e r F a c h l i t e r a t u r , a u f der G r u n d l a g e der S p r e c h a k t t y p o l o g i e von J . R . Searle (vgl. A u s d r u c k 1 7 f f . ) , als „ D e k l a r a t i o n e n " b e z e i c h n e t w e r d e n . A n d e r e S p r e c h h a n d l u n g e n sind e n t w e d e r „ a s s e r t i v " wie A u s s a g e n , B e h a u p t u n g e n o d e r V o r a u s s a g e n , in denen e i n e m a n d e r e n g e g e n ü b e r ein I n h a l t ( P r o p o s i t i o n ) als w a h r v e r b ü r g t w i r d , o d e r „ d i r e k t i v " w i e B i t t e n , B e f e h l e , F r a g e n o d e r A n t r ä g e , in denen sich der W u n s c h b z w . die F o r d e r u n g n a c h V e r w i r k l i c h u n g eines in der Ä u ß e r u n g b e s c h r i e b e n e n S a c h v e r h a l t s a r t i k u l i e r t , o d e r „ k o m m i s s i v " w i e das Vers p r e c h e n , mit d e m sich der S p r e c h e r v e r b i n d l i c h a u f eine k ü n f t i g e H a n d l u n g zugunsten
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des Adressaten festlegt, oder „expressiv" wie Entschuldigung, Danksagung oder Gratulation, die jeweils das Vorhandensein spezifischer akttypischer Gefühlszustände präsupponieren (für eine Darstellung alternativer Typologien vgl. Burkhardt, Akte 283 ff.). Alle diese Sprechhandlungen weisen eine je akttypische „Illokution" auf, die die Handlung ist, die vollzogen wird, indem die betreffende (Sprach-)Zeichenkette geäußert und vom Adressaten vernommen bzw. verstanden wird. Darüber hinaus bringen Assertiva, Direktiva und Kommissiva, im Gegensatz zu den Expressiva und Deklarationen, stets einen propositionalen Gehalt zum Ausdruck bzw. implizieren ihn. Zu jedem Sprechakttyp gehören zumindest der für ihn charakteristische „illocutionary point", d. h. der Sinn der betreffenden Handlung, und die „Aufrichtigkeitsbedingung", die die psychischen Zustände umfaßt, die typischerweise mit dem Akt verbunden sind: So ist der „illocutionary point" des Versprechens die Selbstverbindlichung, seine „Aufrichtigkeitsbedingung" der Wille zur Einhaltung und der Glaube, das Versprochene sei im Sinne des Adressaten, während die Entschuldigung als eine kompensatorische Selbstbezichtigung angesehen werden kann, die dem Ziel der Beziehungserhaltung dient und als „Aufrichtigkeitsbedingung" die Annahme einschließt, dem Adressaten einen Schaden zugefügt oder gegen gesellschaftliche Normen verstoßen zu haben, sowie ein Bereuen der eigenen Schuld. Hinzu kommen in den meisten Fällen akttypische Bedingungen des propositionalen Gehalts: So unterscheiden sich etwa Aussage, Versprechen und Befehl u.a. dadurch, daß sich der Inhalt der Aussage an der Welt „ausrichten" muß, während als Inhalt des Versprechens und des Befehls nur die Beschreibung einer vorzunehmenden Weltveränderung in Frage kommt; darüber hinaus kann, im Unterschied zur hinsichtlich ihrer möglichen Inhalte nicht eingeschränkten Aussage, Versprechensinhalt nur eine künftige Handlung des Sprechers und Befehlsinhalt nur eine künftige Handlung des Adressaten sein. Um Beziehungsgefährdungen zu vermeiden, die durch zu große Direktheit der Formulierung hervorgerufen werden könnten, bedient man sich in der sprachlichen Kommunikation häufig der Form eines Sprechakts, um einen anderen zu vollziehen bzw. beim Adressaten eine Deutung im Sinne eines anderen Sprechakts zu provozieren: So sagt man z.B. als höflicher Gastgeber eher „Ich muß morgen früh aufstehen" als „Die Party ist zu Ende, bitte verlassen Sie das Haus". Weil sie sich auf die Mitteilung eines propositionalen Gehalts beschränken, der eine der typischen Voraussetzungen für das Zustandekommen eines anderen Sprechakts thematisieren kann, werden assertive Sprechakte besonders häufig dazu verwendet, solche „indirekten Sprechakte" zu vollziehen bzw. entsprechende Interpretationen anzuregen (vgl. Searle, Ausdruck 51 ff.; Sökeland; Burkhardt, Akte 164ff.). Obwohl der Göttinger Rechtsphilosoph Adolf Reinach (1883-1917) die sprachliche Kommunikation bereits vor dem Ersten Weltkrieg als Form des Handelns beschrieben und dabei spätere Ansätze größtenteils vorweggenommen hatte (vgl. Burkhardt, Akte 10ff.), konnte sich die neue Denkweise erst im Anschluß an J . L . Austins William James Lectures von 1955, die später unter dem Titel How to Do Things with Words veröffentlicht wurden, als „Sprechakttheorie" in der Forschung etablieren. Auch wenn Illokutionen in der Regel in sprachlicher Gestalt erscheinen, sind sie doch nicht an sprachliche Formulierungen gebunden. Vielmehr lassen sie sich auch auf nonverbale Weise mit Hilfe von Zeichen aus anderen Zeichensystemen realisieren, wie etwa die Beispiele der gelben und roten Karte des Schiedsrichters, mimische oder gestische Zeichenhandlungen der verschiedensten Art oder die Ge- und Verbotsschilder des Straßenverkehrs zeigen. Auch das Konzept der indirekten Sprechhandlung ließe sich ohne weiteres auf nichtsprachliche Zeichengebräuche übertragen: So wären etwa eine bildliche Darstellung der Apokalypse als Warnung vor unmoralischem Lebenswandel oder das Symbol der Taube als Aufforderung zum Frieden zu interpretieren. Auf der Grundlage des sprechakttheoretischen Ansatzes hat J . T r a b a n t (86ff.) die Zeichen als auf gesellschaftlichen Konventionen beruhende „Zeigehandlungen" bestimmt und hier - dem Begriffspaar ,,type"/„token" (bei Peirce ,,Sin-Zeichen"/„Legi-
Semiotik II
129
Zeichen") entsprechend - zwischen „aktuell vorkommenden Handlungen" und „potentiellen Handlungsschemata" unterschieden (ebd. 94). Mit Kamlah/Lorenzen (59) hat Trabant vorgeschlagen, als Zeichen fungierende „bestandhafte Dinge wie Verkehrszeichen, Hinweisschilder, Abzeichen (z.B. beim Militär), Schriftzeichen (Buchstaben, Hieroglyphen, Ideogramme), Fahnen und Wimpel etc.", die als „erstarrte Zeigehandlungen" zu begreifen seien, terminologisch als „ M a r k e n " zu bezeichnen und von den eigentlichen Zeichen als zeitlich ablaufenden Zeigehandlungen abzuheben (Trabant l l l f . ) . Während die eigentlichen Zeichen stets den aktiven kommunikativen Einsatz von Menschen erfordern, werden die Zeichenbenutzer durch Marken von aktuellen Zeigehandlungen entlastet. 2.3. Zeichenprozeß:
Die Abduktion
als semiotisches
Prinzip
Die Semiose ist der unendliche Prozeß des Gebrauchs und damit auch der Deutung von Zeichen. Als das logische Prinzip solcher Deutung wird von neueren Semiotikern die von Peirce entdeckte „Abduktion" angesehen. Semiotik zeigt sich danach als „eine Theorie der Interpretation von Zeichen mittels des Verfahrens der Abduktion" (Trabant 33). Bei der „Abduktion", von Peirce (Schriften 231 ff.; ders., Collected Papers 2.623ff.) zunächst als „Hypothese" bezeichnet, handelt es sich um ein drittes Verfahren syllogistischen Schlußfolgere, das neben Deduktion und Induktion tritt und Merkmale von beiden aufweist: Während die Induktion die reine Umkehrung der Deduktion ist, d.h. der Schluß vom Fall über das Resultat auf die allgemeine Regel, beginnt die Abduktion mit der Verallgemeinerung einer als Resultat genommenen Einzelwahrnehmung zur hypothetischen Regel und schließt von dort über das Resultat auf den Fall. In der Semiose dient die Abduktion dazu, erstens ein Phänomen hypothetisch als „token" (Vorkommen) eines „type" (Typus) zu bestimmen, d.h. als Zeichen zu erkennen, und zweitens aus der Menge der an diesen Zeichentypus geknüpften „Konnotationen" (Bedeutungsvarianten) hypothetisch die gemeinte herauszufiltern. Insofern ist das Erkennen bzw. Deuten von Zeichen als die Subsumtion eines Zeichenvorkommens als Sinnesdatum unter eine hypothetisch aufgestellte allgemeine Regel zu erklären zu dem Zweck, daraus Aussagen über die Zeichen(be)deutung im vorliegenden Einzelfall ableiten zu können (vgl. dazu auch Keller 132ff.). Eco hat zwischen „übercodierten", „untercodierten" und „kreativen" Abduktionen unterschieden (Eco, Semiotik [1985] 66ff.). Später hat er diesen drei die „Meta-Abduktion" als vierten Typ hinzugefügt (Eco, Hörner 294ff.). Als semiotischer Schluß ist die Abduktion unverzichtbar; weil sie aber den Rekurs auf eine hypothetisch aufgestellte Regel einschließt, muß sie - wie nicht zuletzt Williams Scheitern im Namen der Rose (vgl. Burkhardt, Semiotik 83ff.) beweist - „eine sehr schwache Schlußart" (Peirce, Schriften 233; ders., Collected Papers 2.625) bleiben, die nur probeweise Erkenntnis im Sinne von Wahrscheinlichkeitsaussagen erlaubt. 3.
Zeichentypen
Die antiken Philosophen u n d R h e t o r i k e r h a b e n die Z e i c h e n , a u c h die der Sprache, weitgehend im Sinne von Indizien v e r s t a n d e n (vgl. H ü l s e r 838ff.). Ein erster A n s a t z zu einer - w e n n auch terminologisch noch nicht ausgearbeiteten - Typologie der Zeichen ist erst bei Augustin zu finden. Für ihn sind Zeichen e n t w e d e r deiktisch o d e r bezeichnend. Als deiktische Zeichen treten neben Zeigegesten wie d e m Ausstrecken des Fingers auch deiktische W ö r t e r wie ecce („siehe d a " ) in den Blick, die ipsius demonstrationis Signum ... potius quam rerum aliquarum, quae demonstrantur (eher Zeichen f ü r den Verweisungsvorgang als solchen d e n n f ü r irgendwelche Sachen, auf die verwiesen wird, mag. 10,34), zu sein scheinen. Die bezeichnenden Z e i c h e n unterteilen sich in die verba und sonstige Zeichen wie die Buchstaben u n d die nichtsprachlichen Zeichen, soweit ihnen bezeichnende F u n k t i o n z u k o m m t (ebd. 4,9). Die verba w i e d e r u m gliedern sich in Zeichen f ü r a n d e r e Z e i c h e n und Zeichen f ü r Sachen, die keine Zeichen sind (ebd. 4,7; vgl. zu alledem auch Coseriu, Geschichte 128f.). Deutlicher ausgearbeitete A n s ä t z e zur Z e i c h e n t y p o l o g i e finden sich bei verschied e n e n Autoren des 18. J h . So schied e t w a Ph. G a n g in seiner 1785 erschienenen Ästhetik (18f.) die
130
Semiotik II
Zeichen in „willkürliche" und „ n a t ü r l i c h e " , um auf dieser Grundlage die schönen Künste in die „redenden schönen Künste", „welche sich der willkürlichen Zeichen (der Sprache) bedienen, ihre Gegenstände darzustellen", und die „bildenden, zeichnenden Künste", „welche sich nothwendiger, natürlicher Zeichen . . . bedienen", unterteilen zu können. Dieselbe terminologische Differenzierung findet sich schon 1781 bei J . W . Meiner (lff.). Und indem er schreibt, „ d a ß alle Theile der Sprache . . . Begriffe bedeuten, deren Inhalt durch Festsetzung der Gewohnheit bestimmt i s t " , weist auch J . S . V a t e r (149) ausdrücklich auf das erst wieder von Saussure ins allgemeine semiotischlinguistische Bewußtsein gehobene M e r k m a l der Konventionalität und Arbitrarität von Sprachzeichen hin. Ähnliches läßt sich auch für seinen Zeitgenossen A. F. Bernhardi (41 f.) zeigen. Weil diese Unterscheidungen und Bestimmungen zum wissenschaftlichen C o m m o n sense der damaligen Zeit gehören (vgl. zu alledem Neumann), sind sie - unter dem Stichwort Zeichen — auch im 1800 erschienenen Bd. IV des Grammatischen Wörterbuchs der deutschen Sprache nachzulesen, das von K . P h . M o r i t z begonnen und von J . Ch. Vollbeding vollendet wurde: Hier werden zunächst „natürliche" („Anzeichen") und „künstliche" Zeichen unterschieden, wobei sich die letzteren in „ s i c h t b a r e " (z.B. Rauchsignale) und „ h ö r b a r e " (wie z.B. die menschliche Stimme) gliedern. Die hörbaren wiederum sind entweder „artikulirt" (wie die der Sprache) oder „inartikulirt".
Etwa ein Jahrhundert später formulierte Ch.S. Peirce seine für die heutige Semiotik immer noch grundlegende Unterscheidung des von ihm als „Repräsentamen" bestimmten Zeichens in „Ikon", „Index" und „Symbol" (Peirce, Schriften 362f.; ders., Collected Papers 5.73). Für Peirce ist das Ikon ein bildhaftes Zeichen, dessen Elemente seinem Bezeichneten analog gebildet sind; in diese Kategorie würden zwei- bzw. dreidimensionale Abbildungen wie Zeichnungen, Graphiken, Fotographien, Piktogramme, Landkarten und Skulpturen gehören. Ikonische Zeichen haben einen Großteil der konkreten Merkmale ihrer Bezeichneten als Ausdrucksseite an sich (aber nicht alle, denn sonst würde es sich um Duplikate und nicht um Zeichen handeln; vgl. dazu Plato, Krat. 4 3 2 b - e ) ; Eco (Einführung 213) hat gezeigt, daß die für das Ikon typische Analogiebeziehung zwischen Signifikant und Signifikat nicht einfach als objektive Ähnlichkeit zwischen Zeichengestalt und Gegenstand bestimmt werden kann, sondern vielmehr durch eine kulturell bedingte Ähnlichkeit zwischen den Modellen der Wahrnehmung beider durch die Zeichenbenutzer zu erklären ist. Demgegenüber ist der Index gestisch oder kausal mit dem Gegenstand verbunden, auf den er verweist, und zwar als Hinweispfeil, als Hinweisgeste, aber auch als Symptom (z.B. für eine Krankheit), als Fuß- bzw. Fingerabdruck oder ganz allgemein als ausdeutbare Spur. Das -»Symbol schließlich ist durch seine Arbitrarität gekennzeichnet; hierher gehören die weitaus meisten Zeichen der Sprache und davon abgeleiteter Signalcodes (z.B. Morsecode, logische oder mathematische Funktoren, Signaturen und Chiffriercodes), aber auch die Symbole im engeren Sinne, wie das Kreuz als Zeichen des Christentums, der Bundesadler als Staatswappen, schwarz als Farbe der Trauer oder die weiße Taube als Zeichen des Friedens. Eco hat Peirces Unterscheidungen zum Teil kritisiert und in II segno (Zeichen 60ff.) eine eigene, wesentlich detailliertere Zeichentypologie vorgelegt. Diese spiegelt zwar die grundlegende, schon in Moritz' Wörterbuch getroffene Unterscheidung zwischen natürlichen, nichtkonventionellen und künstlichen, konventionellen Zeichen wider. Doch auch die von Eco vorgelegte Einteilung ist noch keineswegs befriedigend, denn es erscheinen konventionalisierte Indizes, sprachliche „Symbole", durch Abstraktion verfremdete Ikonen (die Verkehrszeichen) sowie „Embleme und heraldische Symbole" unter derselben Kategorie, nämlich der der „substitutiven Zeichen". Ebenfalls an der Peirceschen Trias ausgerichtet ist die Zeichentypologie von Th.A. Sebeok (vgl. Theorie 62ff.97ff.), der insgesamt sechs Typen unterscheidet: Ikon, Symbol (inkl. „Embleme"), Name, Symptom, Index, Signal. Da es aber zwischen „Symptomen" und „Indizes" in der Bestimmung Sebeoks keinen wirklich prinzipiellen Unterschied gibt und sowohl die „Symbole" als auch die weitaus überwiegende Mehrzahl der „Signale" und „Namen" durch Arbitrarität gekennzeichnet sind, bleibt im Grunde die alte Dreiteilung übrig.
S e m i o t i k II
131
U m z u m i n d e s t e i n i g e d e r S c h w ä c h e n d e r T y p o l o g i e n v o n P e i r c e u n d S e b e o k zu v e r m e i d e n , e r s c h e i n t es v o r t e i l h a f t e r , die Welt der Z e i c h e n n a c h d e m K r i t e r i u m d e s V e r h ä l t n i s s e s v o n A u s d r u c k s - u n d I n h a l t s s e i t e in f ü n f T y p e n zu u n t e r s c h e i d e n , n ä m l i c h I k o n , I n d i z ( S y m p t o m ) , I n d e x , S i g n u m u n d S y m b o l . D a s „ I k o n " wird d a b e i im P e i r c e s c h e n S i n n e v e r s t a n d e n . Als „ I n d i z i e n " s i n d dagegen alle diejenigen ( A n - ) Z e i c h e n a n z u s p r e c h e n , die kausal mit ihren U r s a c h e n o d e r U r h e b e r n v e r b u n d e n s i n d ; d a s A u f t r e t e n r o t e r H a u t f l e c k e n ist d a n a c h e b e n s o ein I n d i z f ü r S c h a r l a c h w i e R a u c h ein I n d i z f ü r F e u e r o d e r w i e eine F u ß s p u r ein I n d i z für die f r ü h e r e A n w e s e n h e i t e i n e s b e s t i m m t e n L e b e w e s e n s . D e m g e g e n ü b e r ist ein „ I n d e x " ein Z e i c h e n , d e s s e n A u s d r u c k s s e i t e in n i c h t i k o n i s c h e r W e i s e a u f ihr B e z e i c h n e t e s v e r w e i s t ; zu d e n i n d e x a l i s c h e n Z e i c h e n g e h ö r e n z . B . P f e i l e , die e i n e R i c h t u n g , H i n w e i s g e s t e n , die a u f G e g e n s t ä n d e , o d e r die S p o t l i g h t s v o n S c h e i n w e r f e r n , die a u f w i c h t i g e P e r s o n e n o d e r R e q u i s i t e n a u f d e r B ü h n e z e i g e n . U n t e r d e m B e g r i f f „ S i g n a " s o l l e n alle d i e j e n i g e n Z e i c h e n z u s a m m e n g e f a ß t w e r d e n , die s o w o h l k o n v e n t i o n e l l als a u c h w i l l k ü r l i c h s i n d , a l s o M e r k m a l e d e s B e z e i c h n e t e n in i h r e r Z e i c h e n g e s t a l t n i c h t r e p r o d u z i e r e n ; h i e r z u g e h ö r e n elektrisch erzeugte T o n - und Blinksignale e b e n s o wie die weitaus meisten Z e i c h e n der S p r a c h e . S c h o n S e b e o k ( T h e o r i e 6 4 ) h a t d a r a u f h i n g e w i e s e n , d a ß die d e m n o r m a l e n S p r a c h g e b r a u c h geg e n l ä u f i g e E i n e n g u n g d e s B e g r i f f s „ S y m b o l " a u f a r b i t r ä r e Z e i c h e n i m m e r w i e d e r zu M i ß v e r s t ä n d n i s s e n A n l a ß g e g e b e n h a t . D a s e i g e n t l i c h e S y m b o l , s c h r e i b t S a u s s u r e ( G r u n d f r a g e n 8 0 ) , ist „ n i e m a l s g a n z b e l i e b i g ; es ist n i c h t i n h a l t l o s , s o n d e r n bei i h m b e s t e h t bis zu e i n e m g e w i s s e n G r a d e e i n e n a t ü r l i c h e B e z i e h u n g z w i s c h e n B e z e i c h n u n g u n d B e z e i c h n e t e m . D a s S y m b o l d e r G e r e c h t i g k e i t , die W a a g e , k ö n n t e n i c h t e t w a d u r c h irgend e t w a s a n d e r e s , z . B . e i n e n W a g e n , e r s e t z t w e r d e n " . A u c h die S y m b o l e i m e n g e r e n S i n n e bilden d a h e r e i n e n e i g e n e n Z e i c h e n t y p , d e r a l l e r d i n g s s o w o h l I k o n i s c h e s als a u c h S i g n u m h a f t e s a n sich h a t : Sie s i n d z w a r m e i s t e n s b i l d h a f t , j e d o c h n i c h t w i e d i e I k o n e n auf Einzelgegenstände oder Klassen von O b j e k t e n b e z o g e n , sondern verwenden ikonische Z e i c h e n , u m in e h e r a r b i t r ä r e r W e i s e a u f A b s t r a k t - A l l g e m e i n e s , z . B . a u f a b s t r a k t e B e g r i f f e w i e „ F r i e d e n " , „ L i e b e " , „ F r e i h e i t " , „ N a t i o n " o d e r a u f R e l i g i o n e n , M y t h e n , p o l i t i s c h e I d e o l o g i e n zu v e r w e i s e n (vgl. d a z u H e g e l , Ä s t h e t i k 3 9 3 F f . ; E c o , S e m i o t i k [ 1 9 8 5 ] 1 9 3 f f . ; B u r k h a r d t , Z e i c h e n ) ; sie sind k o n v e n t i o n e l l , s o w e i t sie z u m k u l t u r e l l e n G e d ä c h t n i s e i n e r G e m e i n s c h a f t g e h ö r e n u n d a n h i s t o r i s c h e o d e r m y t h o l o g i s c h e G e s c h i c h t e n e r i n n e r n ; i m L e b e n w i e in d e r L i t e r a t u r ist a b e r a u c h s p o n t a n e S y m b o l b i l d u n g m ö g l i c h , w e n n e t w a ein h e f t i g e s G e w i t t e r als s y m b o l i s c h e E r i n n e r u n g a n e i n e S c h u l d o d e r e i n e in v o l l e m L a u b s t e h e n d e E i c h e als S y m b o l d e s L e b e n s e r l e b t w i r d ( z u m S y m b o l b e g r i f f vgl. T o d o r o v ; - » S y m b o l I V ) . A l l g e m e i n ist d a s S y m b o l d a h e r als ein G e g e n s t a n d o d e r i k o n i s c h e s Z e i c h e n zu b e s t i m m e n , d e m e i n e i d e e l l e , ü b e r es als G e g e n s t a n d h i n a u s w e i s e n d e Deutung gegeben wird. H ä u f i g v e r m i s c h e n und überlappen sich die Z e i c h e n - G r u n d t y p e n
in d e r P r a x i s
und
t r e t e n d a h e r z u m e i n e n n i c h t i m m e r in R e i n f o r m in E r s c h e i n u n g . Z u m a n d e r n s i n d d i e meisten von ihnen den aus der Rhetorik bekannten semiotischen Verfahren der
Meta-
p h e r , M e t o n y m i e o d e r S y n e k d o c h e (zur U n t e r s c h e i d u n g vgl. B u r k h a r d t , Poesie)
unter-
w o r f e n , die als „ Z e i c h e n m o d i " terschiedenen
Grundtypen
bezeichnet und zur weiteren Untergliederung der
verwendet
werden
könnten.
Signa
u n d S y m b o l e in a l l e n d r e i M o d i e r s c h e i n e n k ö n n e n , l a s s e n I n d i z e s u n d I n d i z i e n
allein
4. Anwendungen
und
während
un-
Ikonen,
metonymische und synekdochische Deutungen
Doch
zu.
Perspektiven
W i e a n d e r e D i s z i p l i n e n l ä ß t s i c h a u c h d i e S e m i o t i k in e i n e n t h e o r e t i s c h e n
Zweig,
d e r sich d e m S t u d i u m der Prinzipien v o n Z e i c h e n k o n s t i t u t i o n u n d - g e b r a u c h und
einen
angewandten
chensysteme zwischen
und
unterteilen,
ihrer Verwendung
„reiner"
(theoretischer),
der
die empirische
umfaßt.
Während
„deskriptiver"
Erforschung
Morris
spezieller
(Zeichen
(empirischer)
und
Semiotik
die „ G r a m m a t i k "
eines bestimmten Z e i c h e n s y s t e m s zu beschreiben. Als
der
nennt
Semiotik
Eco
(vgl.
Einführung
20ff.)
u.a.
deren
tierische
Aufgabe
Kinesik
und
Proxemik,
musikalische
Codes,
formalisierte
relle u n d ä s t h e t i s c h e C o d e s , M a s s e n k o m m u n i k a t i o n u n d - last, b u t n o t least war damit
bereits eine Liste wichtiger
sei,
Symptomato-
Sprachen,
geschrie-
b e n e Sprachen, u n b e k a n n t e Alphabete, G e h e i m c o d e s , visuelle K o m m u n i k a t i o n , s c h o n vor drei J a h r z e h n t e n
es
Aufgabenfel-
Kommunikations-
systeme, Geruchssignale, Geschmackscodes, Paralinguistik, medizinische logie,
noch
„allgemeinen"
(philosophischen) der
gegenübergestellt,
Zei-
326f.)
„angewandter"
(praktischer) Semiotik unterschied, hat E c o (Semiotik [ 1 9 8 5 ] 15ff.) der eine „spezielle"
widmet,
kultu-
Rhetorik;
Betätigungsfelder
132
Semiotik II
insbesondere der Angewandten Semiotik zusammengestellt. Weil wissenschaftliche und kulturelle Aktivität des Menschen ohne Bildung und Gebrauch von Zeichen nicht auskommen kann, haben sich inzwischen zahlreiche Spezialsemiotiken herausgebildet (vgl. Posner/Robering/Sebeok III). Schon früh ist aber neben solchen auf die Formen menschlicher Kommunikation bezogenen Teildisziplinen eine „Zoosemiotik" (vgl. Sebeok, Perspectives) entstanden, die sich der Erforschung tierischer Zeichensysteme verschrieben hat. Im Rahmen der dominierenden Kultursemiotik haben vor allem Literatur-, Musik-, Kunst-, Film- und Architektursemiotik, aber auch z.B. kleidersemiotische Studien (vgl. Barthes) bemerkenswerte Einsichten in Struktur und Funktion ästhetischer Kodierungsformen hervorgebracht. Angesichts der gegenwärtigen Expansion visueller Medien verdienen vor allem neueste Anstrengungen zur Etablierung einer elaborierten Bildsemiotik Beachtung. Wenn der Mensch das animal symbolicum (oder besser: semioticum) und die Menschenwelt ein Universum von Zeichen ist (vgl. Peirce, Collected Papers 5.448f.), ja selbst der „Gedanke . . . in seinem Wesen von der Art eines Zeichens ist" (ebd. 5.594), dann ist die Semiotik als umfassendste und zugleich grundlegendste aller Wissenschaften zu bestimmen, die alle Bereiche des menschlichen Lebens betrifft. Erst recht muß dies in der globalen Mediengesellschaft der Gegenwart gelten: In einer Welt totaler Kommunikation, in der Rundfunk und Fernsehen in fast jeden Winkel dringen, in der Computer aus Forschung, Arbeit und Freizeit nicht mehr wegzudenken sind, in der Funktelefon, Fax und Email Kontakt und sekundenschnellen Informationsaustausch über Kontinente hinweg ermöglichen, in der das Internet fast alle Daten dieser Erde per Mausclick verfügbar macht, in der man im Computer virtuelle Realitäten erzeugen und in diese interaktiv eingreifen kann, ist der Anteil der Zeichen am Leben des einzelnen in ständigem Wachstum begriffen. Indem Wahrheit in einer solchen Welt, in der selbst die Politik tatsächliches Handeln immer öfter durch symbolisches ersetzt (vgl. Meyer), für den einzelnen immer weniger überprüfbar wird und schrittweise zu einer bloßen Funktion des Zeichenangebots degeneriert, droht sich das Reale in seiner Substitution durch Zeichen und damit in der „Simulation" (Baudrillard) zu verflüchtigen. Semiotische Reflexion unterstützt alle diese technischen und gesellschaftlichen Entwicklungen - und ist zugleich deren für die intellektuelle Selbstbehauptung des Menschen unverzichtbares Gegenmittel. Literatur 1. Literatur zur Semiotik: Aristoteles, Hermeneutik oder vom sprachlichen Ausdruck (De interpretatione): ders., Kategorien. Hermeneutik oder vom sprachlichen Ausdruck. Griech.-Dt. hg., übers., mit Einl. u. Anm. versehen v. Hans-Günter Zekl, Hamburg 1998 (PhB 493) 9 6 - 1 5 1 . Aurelius Augustinus, De dialéctica. Transi, with Intr. and Notes by B. Darrell Jackson, 1975 (SyHL 16). - Ders., De magistro. Über den Lehrer. Lat./Dt., Stuttgart 1998. - Ders, Fünfzehn Bücher über die Dreieinigkeit. Aus dem Lat. übers, u. mit Einl. versehen v. Michael Schmaus, München 1936. - Ders., Confessiones, hg. v. Martin Skutella, Leipzig 1934; 2., verb. Aufl. v. Heiko Jürgens/ Wiebke Schaub, Stuttgart 1969 (BiTeu). - John Langshaw Austin, How to do Things with Words, New York 1962 (The William James Lectures delivered at Harvard Univ. in 1955); dt.: Zur Theorie der Sprechakte, Stuttgart 1972. - Roland Barthes, Système de la mode, Paris 1967; dt.: Die Sprache der Mode, Frankfurt a . M . 1985. - Jean Baudrillard, Agonie des Realen, aus dem Franz. übers, v. Lothar Kurzawa/Volker Schaefer, Berlin 1978. - Günter Bentele/Ivan Bystrina, Semiotik, Stuttgart/Berlin/Köln/Mainz 1978. - August Ferdinand Bernhardi, Anfangsgründe der Sprachwiss., Berlin 1805 = Hildesheim 1981 = Stuttgart u.a. 1990. - Anicius Manlius Severinus Boethius, Commentarii in librum Aristotelis Peri hermeneias, recensuit Carolus Meiser, II 1880 (BSGRT). - Klaus Brinker, Linguistische Textanalyse. Eine Einf. in Grundbegriffe u. Methoden, Berlin 1985 1 1992. Karl Bühler, Sprachtheorie, Jena 1934. - Armin Burkhardt, Soziale Akte, Sprechakte u. Textillokutionen. A. Reinachs Rechtsphil. u. die moderne Linguistik, Tübingen 1986 (Reihe Germanistische Linguistik 69). - Ders., Wittgenstein u. die Grenzen der Sagbarkeit: Grazer Phil. Stud. 38 (1990) 6 5 - 9 8 . - Ders., Die Semiotik des Umberto „v. Baskerville": ders./Eberhard Rohse, Umberto Eco - Zw. Lit. u. Semiotik, Braunschweig 1991, 2 9 - 8 9 . - Ders., Zw. Poesie u. Ökonomie. Die Metonymie als semantisches Prinzip: Zs. f. germanistische Linguistik 24 (1996) 1 7 5 - 1 9 4 . - Ders.,
S e m i o t i k II
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Semiotik III
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III. Praktisch-theologisch 1. Zur Relevanz der semiotischen Perspektive für die Praktische Theologie Rezeption und Weiterentwicklung der Semiotik durch die Praktische Theologie Literatur S. 141)
1. Zur Relevanz der semiotischen
Perspektive für die Praktische
2. Ansätze der (Anmerkung/
Theologie
Semiotik ist für die Praktische Theologie vor allem als allgemeine Kommunikationstheorie relevant. Im Unterschied zu anderen, z . B . psychologischen, spiel- oder informationstheoretischen Modellen, die ihrerseits zur Erhellung konkreter Kommunikationszusammenhänge in die praktisch-theologische Forschung integriert wurden, kann für das semiotische Kommunikationsmodell, da es von der universalen Kategorie des Zeichens ausgeht, ein entsprechend universaler Anwendungsbereich unterstellt werden. Denn alles das gehört zur Welt der Zeichen, was Gestalt annehmen kann, alles, was w a h r g e n o m m e n , alles, was gehört, gelesen, gesehen, gerochen, gefühlt, geschmeckt werden - kurz, alles, w a s „signifikant" werden kann. Daher untersucht die Semiotik alle kulturellen Vorgänge und Phänomene als Kommunikationsprozesse, indem sie danach fragt, wie in einer Kultur „etwas" (ein Signifikant) zum Zeichen wird bzw. als Zeichen fungiert, d.h. inwiefern es zur Wahrnehmung bzw. zur Mitteilung von „etwas anderem" (einem Signifikat) taugt, was es selbst nicht ist, aber wofür es steht (vgl. Eco, Zeichen 15—26). Damit wird nicht unterstellt, „Kultur sei nur Kommunikation", sondern es wird behauptet, daß man sie gründlicher verstehen kann, wenn man sie unter semiotischen Gesichtspunkten betrachtet" (Eco, Semiotik 52; eine ausführliche praktisch-theologische Aufbereitung dieses Aspekts der kulturellen Kommunikation für theologische Fragen findet sich bei Engemann, Homiletik 8 - 4 0 ) . Zunächst war die Semiotik mit dem Interesse ins theologische Gespräch eingebracht worden, „Syntax, Semantik und Pragmatik des religiösen Sprachgebrauchs" zu analysieren, um auf dieser Basis zu einer Gestaltung religiöser Sprache für die religiöse Erfahrung des Lebens zu gelangen (vgl. Grabner-Haider 1.158; neuerdings auch Theißen [s.u. 2.2.]). Von dieser allgemeinen Prämisse her ergeben sich zwei grundsätzliche Perspektiven semiotischen Agierens in der Praktischen Theologie, (a) Z u m einen sind die vielfältigen F o r m e n des In-Erscheinung-Tretens von „ K i r c h e " u . a . auch selbst Teil jener als Kommunikation zu begreifenden „kulturellen Vorgänge und P h ä n o m e n e " . Von der Architektur und Ausstattung der Kirchen, dem Traditionsgut der Konfessionen einschließlich entsprechender theologischer Modelle, über Lieder, kirchliche Gewänder und Rituale bis hin zu Predigt, Gottesdienst, Unterricht usw. - der permanente Zeichengebrauch ist unabdingbar, aus dem Z u s a m m e n h a n g mit anderen Zeichen und Verweissystemen
S e m i o t i k III
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n i c h t h e r a u s z u l ö s e n s o w i e stets m i t d e r H e r a u s b i l d u n g n e u e r b z w . d e r
semantischen
„ A b n u t z u n g " geläufiger Zeichen verbunden ( E n g e m a n n , Semiotik 3 - 1 1 ) . Hinzuzufügen ist, d a ß d a s D a s e i n d e r K i r c h e von i h r e n A n f ä n g e n h e r ü b e r h a u p t m i t e i n e r g e r a d e z u p r o g r a m m a t i s c h e n M i t t e i l u n g s a b s i c h t , d e r Kommunikation den
i s t , die a l l e H a n d l u n g s f e l d e r
der
Kirche
des E v a n g e l i u m s , verbun-
in i h r e r G r u n d s t r u k t u r
mitbestimmt,
(b) Z u m a n d e r e n g e h ö r e n n a t ü r l i c h a u c h k u l t u r e l l e V o r g ä n g e u n d E r s c h e i n u n g e n engeren
im
Sinn z u m R e f l e x i o n s b e r e i c h P r a k t i s c h e r T h e o l o g i e : S i e h a t s i c h m i t d e r S p r a c h e
des M e n s c h e n , mit „ S y m p t o m e n " , „ S i g n a l e n " , „ S y m b o l e n " , „ T r e n d s " der G e s e l l s c h a f t , m i t M e d i e n , m i t P r ä s e n t a t i o n s f o r m e n b e s t i m m t e r L e b e n s m i l i e u s u n d a n d e r e m m e h r zu befassen - kurz: mit allem, was a u f g r u n d seiner Z e i c h e n h a f t i g k e i t z u m Verstehen ges e l l s c h a f t l i c h e r K o m m u n i k a t i o n s p r o z e s s e t a u g t . B e i d e R e f l e x i o n s p e r s p e k t i v e n sind une r l ä ß l i c h s o w o h l f ü r e i n e p r a x i s r e l e v a n t e p r a k t i s c h - t h e o l o g i s c h e T h e o r i e b i l d u n g als a u c h für d i e k o n k r e t e V e r o r t u n g k i r c h l i c h e n H a n d e l n s in d e r G e g e n w a r t . D e r Versuch, christliche T r a d i t i o n im S i n n e einer G l a u b e n s - , L e b e n s - und G o t t e s d i e n s t p r a x i s d e r K i r c h e s e m i o t i s c h zu a n a l y s i e r e n , l ä u f t z u n ä c h s t d a r a u f h i n a u s , die T r a d i t i o n s e l b s t als z e i c h e n g e n e r i e r e n d e n u n d z e i c h e n g e b r a u c h e n d e n P r o z e ß h e r v o r t r e t e n zu l a s s e n . E i n e T h e o r i e , die d i e s e n P r o z e ß n i c h t n u r b e s c h r e i b e n , s o n d e r n
auch
b e u r t e i l e n u n d a u f i h n E i n f l u ß n e h m e n w i l l , h a t d e m U m s t a n d R e c h n u n g zu t r a g e n , d a ß e s s i c h d a b e i u m e i n e n u n a b s c h l i e ß b a r e n P r o z e ß h a n d e l t . E r w i r d d a d u r c h in G a n g g e h a l t e n , d a ß d i e zu b e s t i m m t e n Z e i c h e n g e s t a l t e n g e r o n n e n e n r e l i g i ö s e n
Kommunika-
t i o n s i n h a l t e im jeweiligen Verstehens- bzw. M i t t e i l u n g s a k t a k t u a l i t e r r e f o r m u l i e r t werden müssen. Die christliche Religion verfügt nicht über magische Z e i c h e n , deren bloßer G e b r a u c h s c h o n die W i r k l i c h k e i t z i t i e r t e , f ü r d i e sie s t e h e n , o d e r d i e w e n i g s t e n s d e n Inhalt vermittelten, der ihnen einmal beigegeben wurde. D e n n keine auch noch so ang e m e s s e n e t h e o l o g i s c h e E i n s i c h t , die die h e u t i g e G e m e i n d e i h r e n V ä t e r n u n d M ü t t e r n i m G l a u b e n zu d a n k e n h a t , h a t d e n P r o z e ß d e r S e m i o s e j e a b s c h l i e ß e n k ö n n e n
oder
sollen, sondern hat ihn folgenden G e n e r a t i o n e n hilfreich neueröffnet. Praktisch-theologisches Zeichenhandeln kann nie zu einer adäquaten Abbildung des Wirklichkeitsverhältnisses zwischen „ G o t t und . . . " vordringen (vgl. Engemann, Semiotik 1 1 - 2 1 ) . Dies hieße, den Signifikanten der Signifikanten, das Zeichen der Zeichen für bestimmte ontologische Strukturen des Wesens Gottes oder für ein bestimmtes Segment seines Daseins zu finden - endgültig und ewig verständlich. Eine konsequente Unterscheidung zwischen „praktisch-theologischen" und „dogmatischen Signifikanten", wie M. Meyer-Blanck (Vom Symbol 36) sie vorschlägt, erscheint in diesem Zusammenhang kaum als geboten. Denn in der Praxis, z . B . in der Predigt, werden „dogmatische Signifikanten" wie Liebe Gottes oder Ewigkeit unversehens zu „praktisch-theologischen" und umgekehrt, so daß man immer wieder auf den konkreten signifikatorischen Diskurs verwiesen ist. Dies hat nichts mit einem Abschied von bewährten Signifikaten des Evangeliums (oder gar vom Evangelium selbst) zu tun; die für Predigt, Liturgie, Unterricht usw. unverzichtbaren christlichen Codierungen (jesuanische, paulinische, reformatorische u.a.) äußern sich in ihrer Relevanz ja gerade darin, daß z . B . eine Predigt paulinisch oder eine Liturgie reformatorisch sein kann, ohne daß die Gottesdienstbesucher expressis verbis mit „ T h e o l o g e n s p r a c h e " konfrontiert werden müssen. So sind z . B . auch die Gleichnisse Jesu („Das Himmelreich ist wie . . . " ) als Einführung verbindlicher Codes verstehbar, deren Kenntnis weit über die Beherrschung eines christlichen Begriffsrepertoires hinausgeht. Diese allgemeinen Verhältnisbestimmungen zwischen Praktischer T h e o l o g i e und Sem i o t i k bedürfen einiger Zuspitzungen: D a ß sich alle K o m m u n i k a t i o n s v o r g ä n g e a u f den Feldern k i r c h l i c h e n H a n d e l n s unter den B e d i n g u n g e n von Z e i c h e n p r o z e s s e n vollziehen, b e d e u t e t z u n ä c h s t , d a ß d a s j e w e i l s zu I n t e r p r e t i e r e n d e o d e r M i t z u t e i l e n d e i m m e r a n e i n e b e s o n d e r e ( Z e i c h e n - ) G e s t a l t g e b u n d e n ist: W e r i n t e r p r e t i e r e n , w e r v e r s t e h e n w i l l , m u ß über Regeln (Codes) verfügen, nach denen bestimmten Signifikanten entsprechende G e h a l t e z u z u o r d n e n s i n d . D a s s e l b e gilt f ü r d e n K o m m u n i k a t i o n s v o r g a n g . S e i n G e l i n g e n h ä n g t d a v o n a b , o b d e r j e w e i l i g e Inhalt d e r „ B o t s c h a f t " n u n a u c h in e i n e r e n t s p r e c h e n d e n Form
r e p r ä s e n t i e r t w i r d , d . h . e i n e n s i g n i f i k a n t e n Ausdruck
findet,
d e r es d e m
f ä n g e r " d e r B o t s c h a f t e r m ö g l i c h t ( b z w . ihn d a z u b e f ä h i g t ! ) , i h r e i n e Bedeutung
„Emp-
zuzuord-
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Semiotik III
nen, sie zu „ d e c o d i e r e n " . D a r a u s folgt: Sofern die Funktion jedes beliebigen Zeichens in einer Verbindung von Inhalt und F o r m , Gehalt und Gestalt, Bedeutung und Ausdruck, Signifikat und Signifikant usw. gründet, können auch in der praktisch-theologischen
Theoriebildung Inhaltsfragen
zureichend nur im Zusammenhang
von
Gestaltungsfragen
bedacht werden (vgl. Grözinger). Da wir nicht kommunizieren können, ohne auf Zeichen zurückzugreifen, kann diese Fragestellung von der Praktischen Theologie nicht als sekundäre Zusatzfrage betrachtet werden; sondern sofern Gottesdienst, Predigt, Unterricht usw. im Rückgriff auf ein immenses Zeichenrepertoire realisiert werden, wächst der Praktischen T h e o logie die Aufgabe zu, in den einzelnen Disziplinen geeignete Modelle für die jeweils intendierten Prozesse der Zeichenerzeugung bzw. des Zeichensetzens und -gebrauc h e n zu entwickeln, damit die „ e m p f a n g e n e " Botschaft gegenüber der „gesendeten" in einem angemessenen Verstehenszusammenhang steht. Dies ist aus semiotischer Sicht in um so stärkerem M a ß e gewährleistet, je gezielter der „ R e z i p i e n t " durch die ihm präsentierte Gestalt(ung) der Botschaft selbst an der zu ihrem Verstehen notwendigen Zeichenproduktion beteiligt, mithin für ihre hermeneutische Realisierung engagiert wird. In diesem Zusammenhang soll anhand zweier Beispiele aus dem Neuen Testament auf den auch (praktisch-)theologisch wichtigen Unterschied zwischen einem angemessenen und einem fehlgeleiteten Zeichenverständnis verwiesen werden. Zunächst die Worte des „Engels des Herrn", der in der lukanischen Weihnachtsgeschichte zu den Hirten tritt und sie mit dem Hinweis orientiert: „Und dies habt zum Zeichen: Ihr werdet finden das Kind in Windeln gewickelt und in einer Krippe liegen" (Lk 2,12). Hier werden signifikante Umstände benannt, die auch in jahrhundertelanger Auslegungsgeschichte nicht abschließend ausgedeutet werden konnten. Als zweites Beispiel die Forderung der „Pharisäer und Sadduzäer" nach Mt 1 6 , 1 - 4 . Sie erwarten ein „Zeichen vom Himmel" im Sinne einer nicht-deutungsbedürftigen Wirklichkeitsschau. Sie spekulieren auf ein Zeichen, das nicht nur signifikant wäre, sondern die Sache selbst darstellte, also für sich selbst spräche. Sie werden jedoch enttäuscht und auf die Relevanz alltäglicher Zeichenlektüre verwiesen, auf die Lesbarkeit der Zeichen der Zeit aufmerksam gemacht und schließlich an das „Zeichen des J o n a " erinnert, das wiederum auf ein anderes Zeichen verweist. Zeichen in Hülle und Fülle (Windeln, eine Krippe, die Geschichte eines schiffbrüchigen Propheten) - jedoch: keines „vom Himmel", d.h. keines, das seine Deutung bzw. seinen Gebrauch ersparte. Der Verweis auf Windeln, Krippe oder Jonas Geschick als auf Zeichen legt nahe, daß die Antwort auf die Frage, welche Ausdrucksformen jeweils für welche christlichen Gehalte stehen, nicht aus einer Art Lexikon der Weltzeichen entnommen werden kann, sondern einer unabschließbaren Enzyklopädie entstammt, in der an einer Stelle Windeln in einem Freßgestell „Heiland der Welt" signifizieren können. Dies schließt freilich die Möglichkeit ein, daß sich im Kommunikationsgeschehen Codierungen ändern können: Um unter den konkreten Umständen der Geburt Jesu (die Windeln, die Krippe, der Stall) dieses Kind mit den damals geläufigen Christus- und Heilandssignifikationen in Verbindung zu bringen, müssen die Hirten einen neuen Code lernen. Denn dieser Code konkurriert erheblich mit bestehenden Codes für „Herrschaft" und „ M a c h t " , „oben" und „unten". Verstanden, ja, dazugelernt zu haben heißt im Einzelfall also auch, die Bedrohung eigener Codes in Kauf genommen zu haben. Dies genau lehnen die „Zeichenforderer" in M t 16 (die fälschlicherweise so genannt werden) ab; ihr Welt-, Selbst- und Gottesbild steht auf dem Spiel. Die Zurückweisung ihrer Forderung durch Jesus ist jedoch keine pisteologische Erziehungsmaßnahme, sondern theologisch notwendig: Wir haben keine „Zeichen besonderer Art", d.h. keine anderen als jene, die mit dem ebenso signifikanten wie beliebig anmutenden Ins-Fleisch-Gehen Gottes gegeben sind. Von hier aus ergeben sich kritische Rückfragen u.a. an eine Theologie der Erfahrung, soweit diese postuliert, daß „erfahrungsweise" gewonnene Überzeugungen selbst wirklichkeitsgenerierte Zeichen seien (also nicht Resultat der Interpretation bestimmter Wahrnehmungen) und als Letztbegründung für ein bestimmtes Glaubens- oder Gottesverständnis gelten könnten. Ebenso stehen bestimmte offenbarungstheologische Argumentationsfiguren in der Gefahr erkenntnistheoretischer und theologischer Kurzschlüssigkeit, wenn sie unterstellen, daß das Offenbarungsgeschehen insofern kein zeichenhaftes Geschehen sei, als es die Sache selbst böte. Demgegenüber hat die Praktische Theologie kirchliches Handeln so zu instruieren, daß das Evangelium nicht nur als „Gute Nachricht" vernommen, sondern auch in seiner subversiven Umcodierung gängiger Welt-, Selbst- und Gottesbilder, mithin als „Gegenzeichen" (K.-H. Bieritz), gelesen und verstanden wird.
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D e m U m s t a n d , d a ß ein verstehender, mit e i n e m Erschließungsgeschehen verbundener Z e i c h e n g e b r a u c h i m m e r auf einer Auseinandersetzung mit k o n k r e t e n Zeichengestalten basiert, entspricht die besondere R e l e v a n z s e m i o t i s c h - ä s t h e t i s c h e r Argumentationsfiguren für die P r a k t i s c h e T h e o l o g i e , was sich besonders an der R e z e p t i o n s g e s c h i c h t e des M o d e l l s vom „offenen K u n s t w e r k " zeigt (vgl. E c o , K u n s t w e r k , bes. 2 7 - 5 5 ; rezipiert zuerst von M a r t i n ; den vorläufigen S c h l u ß p u n k t dieser E n t w i c k l u n g bildet der rezeptionsästhetisch konzipierte S a m m e l b a n d Predigt als offenes Kunstwerk). A n h a n d dieses M o d e l l s k a n n m a n erklären, inwiefern gelingende Verständigung durchaus mit „offen e n " , d . h . fortsetzungsbedürftigen und -fähigen K o m m u n i k a t i o n s s t r u k t u r e n einhergehen k a n n , o h n e d a ß das K o m m u n i k a t i o n s z i e l der Beliebigkeit preisgegeben w ä r e . Für die P r a k t i s c h e T h e o l o g i e ist d a m i t insofern ein m e t h o d i s c h e r S c h u b verbunden, als sich dieses M o d e l l s o w o h l in theologische A r g u m e n t a t i o n s s t r u k t u r e n übersetzen als auch in eine m e t h o d i s c h e D i a l e k t i k überführen und mit traditionellen T h e m e n der Praktischen T h e o l o g i e verbinden läßt (vgl. E n g e m a n n , H o m i l e t i k 1 5 1 - 1 7 9 u . ö . ) . Ein weiterer, nicht weniger komplexer Bereich der Integration semiotischer Arbeitsmethoden ist dadurch vorgegeben, daß Praktische Theologie elementar mit Theorien zur Interpretation und zum Gebrauch von Texten zu tun hat (vgl. Güttgemanns, Sensus; Stock, Textentfaltungen). Semiotik dient dabei nicht nur der Klärung der semantischen Strukturen eines Textes, indem sie seinen internen Verweiszusammenhang analysiert und danach fragt, inwieweit der Text auch selbst als Zeichen fungiert; sondern sie erklärt, wie ein Text sagt, was er sagt, wie er seine Bedeutung „produziert" (Eco, Semiotik 1 3 6 0 - 3 6 8 ) . Dementsprechend wird man einem Text mit der isolierten Frage nach einer ursprünglichen Autorintention allein nicht gerecht, sondern der Leser steht im Rezipieren eines Textes in einem dialektischen Wechselverhältnis mit der Textgestalt selbst und wird gewissermaßen Zeuge der sinngenerierenden Potenz dieses Textes (vgl. Eco, Streit 12f.). So vermag er den semantischen Möglichkeiten auf die Spur zu kommen, die sowohl auf den strukturalen „Vorkehrungen" des alten Textes beruhen als auch Resultat seiner (des Lesers) Initiative sind (vgl. Engemann, Text 4 6 9 - 4 7 6 ) . Dieser Modus der Textrezeption ist für nahezu alle Gebiete der Praktischen Theologie von Bedeutung, sofern sie sich durchweg mit Vermittlungsprozessen befassen, deren Ziele schon aus theologischen und hermeneutischen Gründen nur unter Inanspruchnahme des einzelnen ins Auge gefaßt werden können. D a m i t k o m m e n wir zu e i n e m weiteren, das G a n z e der P r a k t i s c h e n T h e o l o g i e betreffenden A s p e k t . G r u n d l e g e n d für die t h e o r e t i s c h e A u f b e r e i t u n g p r a k t i s c h - t h e o l o g i scher Fragen im allgemeinen wie im besonderen ist die hermeneutische Perspektive. Unter semiotischen G e s i c h t s p u n k t e n ist eine p r a k t i s c h - t h e o l o g i s c h e H e r m e n e u t i k so einzurichten, d a ß sie (unter B e r ü c k s i c h t i g u n g des prozessualen C h a r a k t e r s der Z e i c h e n k o m m u n i k a t i o n ) von einer reproduktiven zu einer operativen, von einer ontologisierenden zu einer semiosischen, von einer sender-orientierten zu einer werkorientierten ( w o m i t der G e s t a l t u n g s a s p e k t der k o n k r e t e n Liturgie, der Predigt, des Unterrichts usw. bezeichnet wird) Inszenierung p r a k t i s c h - t h e o l o g i s c h e n H a n d e l n s anleiten soll (Engemann, Nutzen). N a c h s t e h e n d sollen einige der o b e n angedeuteten P r o b l e m z u s a m m e n h ä n g e und R e flexionsrichtungen für einzelne G e b i e t e der P r a k t i s c h e n T h e o l o g i e k o n k r e t i s i e r t werden.
2. Ansätze der Rezeption Theologie
und Weiterentwicklung
der Semiotik
durch die
Praktische
2.1. Es ist kein Z u f a l l , d a ß die S e m i o t i k zunächst in der Liturgik rezipiert und für die Analyse und Gestaltung des gottesdienstlichen G e s c h e h e n s herangezogen wurde. N i c h t nur, weil die „ Z e i c h e n im G o t t e s d i e n s t " (vgl. das gleichnamige Arbeitsbuch) von besonderer A n s c h a u l i c h k e i t sind, sondern weil in einem G o t t e s d i e n s t nahezu alle Z e i c h e n s p r a c h e n einer Kultur z u m Z u g e k o m m e n . Z e i c h e n und Z e i c h e n s y s t e m e wie „ M u sik, B e w e g u n g , S p r a c h e , R a u m , Bild [sind] nicht nur B e i g a b e n , sondern e l e m e n t a r e D a r stellungsweisen der G o t t e s d i e n s t t e i l n e h m e r " ( Z e i c h e n im G o t t e s d i e n s t 10). Bei der konzeptuellen G r u n d l e g u n g einer an der Z e i c h e n h a f t i g k e i t des Gottesdienstes orientierten Liturgik hat man zu R e c h t und mit G e w i n n auf - » S c h l e i e r m a c h e r s T h e o r i e
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Semiotik III
der Darstellung zurückgegriffen (Volp, Semiotik) und dabei den Kunst-Begriff im praktisch-theologischen Denken neu etabliert (Volp, Liturgik II, 7 9 4 - 8 2 3 ) . Schleiermacher hat das „Wagnis der Kunst" in dem Sinne proklamiert, als der je konkrete Gottesdienst zu einer besonnenen Gestaltung herausfordert; durch sie soll einerseits nachvollziehbar zum Ausdruck gebracht werden, wie in einem Gottesdienst die Funktion der liturgischen Elemente, die Verweisungen auf das Kirchenjahr, die jeweilige Verortung der Sakramente und die Predigt zusammengehören. Die hierzu gegebenen Zeichen sollen aber so zusammengesetzt sein, daß in ihnen zugleich auch die individuelle Religiosität des einzelnen zum Ausdruck kommen kann (vgl. ebd. 819f.). Das gilt in besonderer Weise für die Partizipation der Gemeinde an der Feier von -+ Taufe und -»Abendmahl. Hier kommt es darauf an, durch eine zum Aufmerken führende Gestaltung der die Feier bestimmenden Zeichen und durch die Inszenierung der entsprechenden Liturgie eine Transparenz herzustellen, durch die die sakramentale Zeremonie einen insofern kommunikativen, Anteil gebenden Charakter erhält, daß sie selbst „spricht" und der Gemeinde nicht fortwährend vom liturgischen Fachmann kommentiert werden muß (Roosen 9 7 . 1 0 5 - 1 1 3 ; vgl. auch Meyer-Blanck, Inszenierung 16-19). Das Ziel dieser Bemühungen insgesamt ist darin zu sehen, den Gottesdienst als Semiose gelingen zu lassen, d.h. ihn insofern in einer „offenen Form" zu präsentieren, daß „der einzelne sich mit seinen Erfahrungen, Erwartungen und Deutungen hineingeben kann und doch mit den anderen in der gleichen Sinnrichtung verbunden bleibt" (Bieritz, Gottesdienst [1986] 373). Dazu gehören Zeichen, die durch ihre gegebenenfalls unkonventionelle Form in einem sowohl die Aufmerksamkeit der Gemeinde zu wecken als auch ihr Verständnis zu leiten vermögen. Ein solchermaßen lebendiger Zeichengebrauch ist für die „situative Geschmeidigkeit" des Gottesdienstes, d.h. zu seiner je aktualen Relevanz, unabdingbar; liturgische Anstiftung zur bloßen, quasi automatischen Zeichenproduktion bzw. -rezeption beraubt die Liturgie ihrer Möglichkeit, eine „kreative Kooperation" der Gott Feiernden „auszulösen" (Volp, Grenzmarkierung 186). 2.2. In Anbetracht der starken Entwicklung der Textsemiotik einerseits und der Bedeutung der Rezeption und Produktion von Texten für die Erarbeitung der Predigt und den Vorgang des Predigens selbst andererseits nimmt es nicht wunder, daß die Semiotik bald auch in die homiletische Theoriebildung einbezogen wurde. Sofern jegliche Zeichenbildung darauf beruht, daß einem bestimmten Signifikanten ein Signifikat zugeordnet wird (womit lediglich die Minimalstruktur eines für ein Zeichen existierenden Codes benannt ist), sofern also jegliche Verstehens- und Mitteilungsprozesse nur als kompositorische Akte zu denken sind, stand von Anfang an im Mittelpunkt des Interesses die Frage, wie eine quasi ergänzungsfähige, zeichentaugliche Predigt zu denken sei (vgl. didaktische Anregungen hierzu bei Hermelink/Müske, bes. 220f.). „Ergänzungsfähig" bedeutet hier, daß der homiletische Zeichenprozeß auf dem Wege „Vom Text zur Predigt" nicht abgeschlossen, sondern im Rezipieren der Botschaft fortgesetzt und „vollendet" wird (vgl. Engemann, Exzeß). Es lag nahe, bei der theoretischen Durchdringung dieser Perspektive zunächst am Modell des offenen Kunstwerks anzuknüpfen und über die Struktur einer Predigt nachzudenken, die „den Hörern selbst die Gelegenheit [einräumt], ihre Situation in das Predigtgeschehen einzubringen" (Martin 49). Dazu gehört es freilich, jene „faktische Ambiguität", die aus menschlichen Kommunikationsprozessen prinzipiell nicht herausdividiert werden kann, in Richtung einer „taktischen", inszenierten Mehrdeutigkeit zu gestalten. 1 Das setzt in homiletischer Hinsicht voraus, das Dazutun der Hörer nicht als Dilemma abzuwehren, sondern es vorzusehen, statt im „redundanten Exzeß" erübrigen zu wollen (vgl. Engemann, Nutzen; ders., Homiletik 153-198). Im einzelnen sind vom Verständnis der Predigt als Signifikations- und K o m m u n i k a t i o n s p r o z e ß insbesondere zwei Phasen betroffen, in denen es beide M a l e darum geht, von konkreten", vorge-
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g e h e n e n T c x t g e s t a l t e n d u r c h die A n w e n d u n g b z w . ( N e u - ) E n t d e c k u n g v o n C o d e s zu e i n e m w e i t e r e n , n e u e n T e x t zu g e l a n g e n , d e r A u s d r u c k e i n e s e i g e n e n , w i e d e r u m k o n k r e t e n u n d k o m m u n i z i e r b a r e n V e r s t e h e n s ist: (a) D a ist z u n ä c h s t d a s M a n u s k r i p t d e s P r e d i g e r s b z w . s e i n e K a n z e l r e d e ; sie k o r r e s p o n d i e r t d e m B i b e l t e x t i n s o f e r n , als sie R e s u l t a t d a v o n ist, d a ß d e r B i b e l t e x t in e i n e n Z e i c h e n p r o z e ß v e r w i c k e l t w u r d e . G . T h e i ß e n f o r d e r t u n t e r V e r w e i s a u f die B e d e u t u n g d e r „ b i b l i s c h e n Z e i c h e n s p r a c h e d e s G l a u b e n s " , bei d e r E r a r b e i t u n g d e r P r e d i g t n i c h t a l l e i n den T e x t zu b e r ü c k s i c h t i g e n , „ s o n d e r n d a s in i h m e n t h a l t e n e r e l i g i ö s e Z e i c h e n s y s t e m - d i e R e l i g i o n in den T i e f e n s t r u k t u r e n des T e x t e s " - z u r „ Ü b e r w i n d u n g d e r h i s t o r i s c h e n D i s t a n z " zu n u t z e n . D a z u g e h ö r e es, sich m i t den G r u n d c o d i e r u n g e n , m i t d e r M o t i v i e r t h e i t ( „ G r u n d m o t i v e n " ) b i b l i s c h e r Z e i c h e n s p r a c h e a u s e i n a n d e r z u s e t z e n (vgl. T h e i ß e n 2 3 - 2 6 ) . (b) W i e d i e P r e d i g t d e m T e x t , k o r r e s p o n d i e r t d e r P r e d i g t ein k o n k r e t e s V e r s t e h e n a u f Seiten d e s H ö r e r s , d a s w i e d e r u m n i c h t in e i n e r b l o ß e n W i e d e r h o l u n g d e s G e h ö r t e n , s o n d e r n d a r i n b e s t e h t , d a ß d e r H ö r e r e t w a s m i t ihr zu v e r b i n d e n v e r m a g , w a s er als d e r e n B e d e u t u n g für sich p e r s ö n l i c h „ v e r n o m m e n " h a t . D i e s e a m E n d e d e s Predigtgeschehens stehende Botschaft (sobald der H ö r e r davon „ Z e u g n i s " gibt, wird dieser Prozeß n a t ü r l i c h f o r t g e s e t z t ) , stellt als a k t u a l e S i n n k o n s t i t u t i o n ein e i g e n e s S y s t e m v o n Z e i c h e n , m i t h i n e i n e n e i g e n e n „ T e x t " d a r . S o f e r n d a s Z u s t a n d e k o m m e n d i e s e s „ T e x t e s " als P r o - m e - V e r s t ä n d n i s des E v a n g e l i u m s v o n e r h e b l i c h e r B e d e u t u n g ist, ist e r a u c h m i t e i n e r e i g e n e n B e z e i c h n u n g v e r s e hen w o r d e n , die sich in d e r h o m i l e t i s c h e n D e b a t t e d u r c h z u s e t z e n b e g i n n t . M a n s p r i c h t in A n a l o gie z u m „ M a n u s k r i p t " des P r e d i g e r s v o m „ A u r e d i t " d e s H ö r e r s ( W o r t b i l d u n g a u s d e m A b l a t i v v o n auris [ O h r ] u n d d e m P a s s i v - P a r t i z i p v o n audire [ h ö r e n ] in d e r B e d e u t u n g v o n „ m i t d e m O h r g e h ö r t " ; E n g e m a n n , Nutzen 7 8 8 f . u . ö . ; Bieritz, Offenheit 182; M e y e r - B l a n c k , V o m Symbol 41; u.a.).
Damit ist nicht der Beliebigkeit in der Predigt das Wort geredet, sondern es handelt sich in beiden Fällen um einen dialektischen Vorgang, der einerseits der sorgfältigen Wahrnehmung der Textstruktur, andererseits aber auch einer interpretatorischen Initiative bedarf, ohne die die Bedeutung des Textes weder semantisch „erfüllt" noch in theologischer Hinsicht relevant werden kann. Der Hörer versteht nur um den „Preis", daß er, durch die Predigt zur Zeichenbildung angeregt, beansprucht wird für das, was es zu verstehen gilt. Deshalb ist der Hörer auf seinen Part hin anzusprechen, von dem ihn die Kanzelrede gerade nicht suspendiert, sondern zu dem sie ihm verhilft (Engemann, Spielraum). Dies erfordert freilich eine Predigt, hinter der nicht nur ein Verkündigungsauftrag, nicht nur eine Predigtabsicht, sondern auch ein Gestaltungswille steht, der standardisierte Lösungen theologischer Stilistik zu umgehen bereit ist, um der Predigt durch eine - in rezeptionsästhetischer Hinsicht - abweichlerische Struktur, d.h. durch ihre Eigensprache (semiotisch: ihren Idiolekt) zu einer „Eigen-sinnigkeit" (vgl. Bieritz, Offenheit) zu verhelfen, die wiederum die Rezeptionsroutine, die Hör- und Denkgewohnheiten des Hörers zu durchbrechen imstande ist. D a s I n s i s t i e r e n a u f d e r L e b e n d i g k e i t d e r S e m i o s e g r ü n d e t in e i n e m - a u c h a u s t h e o l o g i s c h e r S i c h t n o t w e n d i g e n - h e r m e n e u t i s c h e n S u k z e s s i v , in e i n e m u n a u f h e b b a r e n , d e r B o t s c h a f t in j e d e r P h a s e ihrer V e r m i t t l u n g s e l b s t e i g n e n d e n Du-bist-Dran!, w o d u r c h der H ö r e r beteiligt wird an der k o m p e t e n t e n Interpretation und Ausgestaltung der christlichen T r a d i t i o n heute. Schließlich gründet d a s E r s c h l i e ß u n g s g e s c h e h e n P r e d i g t , in d a s d e r H ö r e r e i n b e z o g e n w e r d e n s o l l , in k e i n e r g e r i n g e r e n g e i s t l i c h e n K o m p e t e n z w i e die A u s a r b e i t u n g d e r P r e d i g t i m Z u s a m m e n h a n g d e r E r s c h l i e ß u n g des Textes.
2.3. Der oben angesprochene, den Signifikations- und Kommunikationsprozeß begleitende Umstand je aktualer Sinnkonstitutionen ist aufgrund seiner hermeneutischen und didaktischen Implikationen auch für die Religionspädagogik unmittelbar von Belang. Das dabei zu reflektierende Aufgabenspektrum beschränkt sich nicht nur darauf, das christliche Zeichenrepertoire (Begriffe, liturgische Handlungen, Einrichtungsgegenstände des Gottesdienstraums usw.) einschließlich der dazugehörigen kirchenlexikalischen Denotationen zu vermitteln. In stärkerem Maße kommt es darauf an, mit den zu Unterweisenden „den Gebrauch von Zeichen zu studieren, den Gebrauch von Zeichen zu probieren und . . . zu kritisieren" (Meyer-Blanck, Ertrag 203). Was immer im Christentum als —»Symbol oder Zeichen fungiert (zur Unterscheidung vgl. Engemann, H o miletik 9 9 - 1 0 6 ) , erst recht das, was sich im Laufe der Zeit noch als für den christlichen
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Semiocik III
Glauben zeichen- und symboltauglich erweisen wird, ist im Hinblick auf seine semantischen Funktionen zu erhellen, wozu die Einübung eines kompetenten, kommunikativen, im tieferen Wortsinn bezeichnenden Umgangs mit ihnen gehört. Dementsprechend hat der Religions- bzw. Konfirmandenunterricht kulturelle, religiöse und christliche Codierungen aufzudecken und voneinander unterscheiden zu lehren (vgl. Meyer-Blanck, Vom Symbol 115-126). Dieser Ansatz ist mit einer kritischen Auseinandersetzung mit der Symboldidaktik verbunden, sofern diese den Begriff „Symbol" bzw. „symbolisch" auch zur Erklärung von Signifikanten benutzt, die angeblich zu der jeweils zu vermittelnden Bedeutung eine formale Ähnlichkeit hätten oder gar einen originären Selbstbezug zur Wirklichkeit böten. Dabei wird übersehen, daß es bei allen Ausdrucksformen, die im Christentum als „Symbol" in Betracht kommen, um Zeichengestalten geht, die ihre Bedeutungen weder eo ipso evozieren noch originär oder indirekt der Wirklichkeit verbunden sind. Deshalb ist es unbegründet - selbst beim Symbol des Kreuzes (gegen Peter Biehl, „Symbole": H R E 2 [1987] 485f.) - , solche Symbole außerhalb von Zeichenfunktionen erklären zu wollen (vgl. Engemann, Semiotik 20). Diese semiotische Kritik an der Symboldidaktik ist in der Religionspädagogik aufgenommen und unter dem M o t t o „Vom Symbol zum Zeichen" mit der Forderung eines „didaktischen Perspektivenwechsels" verbunden worden, der u.a. darin bestünde, nicht länger auf einem „symbolischen E s t " zu beharren, sondern in eine Auseinandersetzung mit den „verschiedenen Signifikationen des , E s t ' " einzuführen (Meyer-Blanck, Vom Symbol 98).
Mittlerweile hat die Rezeption der Semiotik in die Religionspädagogik konkretere Gestalt angenommen und befaßt sich u. a. mit der Wirklichkeitsannahme und dem Wirklichkeitsanspruch von „Wundern" im Religionsunterricht, mit der Bedeutung der latenten Umcodierung christlicher Zeichen z. B. in der Pop-Kultur oder mit dem Problem der Vermittlung des Zeichensystems einer Abendmahlsfeier (vgl. Religion zeigen). Diese Zuspitzungen sollen deutlich machen, daß es in der Vermittlung von Religion letztlich nicht um Begriffe geht, sondern um konkurrierende Gottes- und Selbstverständnisse usw., darum also, (christliche) Codierungen auch in Kombination mit unkonventionellen Signifikanten wiedererkennen zu können, um schließlich auch die (Frohe) Botschaft von den Botschaften unterscheiden zu können. 2.4. Bislang sind nicht alle Handlungsfelder und Reflexionsperspektiven der Praktischen Theologie gleichermaßen semiotisch bearbeitet worden. Eine Rezeption semiotischer Modelle insbesondere in die Seelsorge könnte u.a. die theoretischen Voraussetzungen dafür schaffen, mit dem Ratsuchenden gemeinsam das Zustandekommen von Codierungen (die Genese seines Gottes-, Selbst- und Weltbildes usw.) zu erhellen. Dabei mögen ähnliche Probleme auftreten, wie sie sich aus einem fehlgeleiteten Symbolverständnis, mithin aus einem Nicht-Unterscheiden-Können zwischen Zeichen und Wirklichkeit ergeben. Dies äußert sich z.B. in der Fehleinschätzung seelischer Ängste, somatischer oder symptomatischer Erscheinungen usw. als unleugbaren „Beweisen" für eine vermeintlich feindliche Welt. Was ein Ratsuchender dem Seelsorger gegenüber äußert, ist in einem sowohl als ein Akt der Verrätselung wie der Spurenlegung zu betrachten, wobei entscheidende Signifikanten zur Fokussierung der jeweiligen Problemlage vom Ratsuchenden selbst geliefert werden. Semiotik in der Seelsorge wird nichts damit zu tun haben, das Deutungsmonopol des Seelsorgers als „Fachmann für Geheim-Codes" zu stärken, sondern bestenfalls zu Semiosen führen (vgl. Meyer-Blanck, Ertrag204- 207), durch die ein Ratsuchender aus eingefahrenen Codes (z.B. Lebensplänen im Sinne von „life-scripts"), aus destruktiven (Selbst-)Deutungsstrategien herausbegleitet wird und dabei zu neuer, heilvoller Lebenserfahrung kommen kann. Dabei wird die Konfrontation mit christlichem Zeichenrepertoire allein in Form verbaler Verkündigung wenig Erfolg haben, sofern auf die Beanspruchung des Ratsuchenden für die (Selbst-) Herstellung einer (christlichen) Zeichenrelation gerade in der Seelsorge nicht verzichtet werden kann. Deshalb ist in jedem Einzelfall nach einer (verbalen oder nonverbalen) Zeichensprache zu suchen, die an die für den Ratsuchenden bestehenden Codes anknüpft. Daß z.B. die allzu eilfertige Herstellung von „ N ä h e " keineswegs immer angemessen ist, ergibt sich aus der Beobachtung, daß Nah-Erfahrung durchaus nicht immer positiv gedeutet (in der semantische Kette von Nähe = Ge-
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borgenheit = Intimität = Vertrauen), sondern auch als unangenehmes Zeichen dechiffriert werden kann ( N ä h e = Unsicherheit = Fremdheit = Angst). 2 . 5 . Bei F r a g e n d e s Gemeindeaufbaus s c h l i e ß t sich d e r K r e i s s e m i o t i s c h e n U m s c h r e i t e n s d e s p r a k t i s c h - t h e o l o g i s c h e n A r b e i t s f e l d e s i n s o f e r n , als es h i e r w i e d e r u m u m d i e Analyse und G e s t a l t u n g k o m p l e x e r K o m m u n i k a t i o n s s t r u k t u r e n geht, die der O r g a n i s a t i o n d e r G e m e i n d e z u g u t e k o m m e n s o l l e n . W i e G e m e i n d e sich s e l b s t w a h r n i m m t u n d w i e sie sich „ d e r W e l t " zeigt, w i e i h r e G l i e d e r m i t e i n a n d e r u m g e h e n , w i e G e m e i n d e a r b e i t sich ä u ß e r t , a n w e l c h e n F u n k t i o n e n ( m i s s i o n a r i s c h e n , d i a k o n i s c h e n , s o z i a l e n u s w . ) leb e n d i g e G e m e i n d e z u e r k e n n e n ist u s w . - d i e s e F r a g e n k ö n n e n n u r u n t e r B e r ü c k s i c h t i g u n g aller f ü r die K o m m u n i k a t i o n der G e m e i n d e relevanten Situationen u n d O r t e z u r e i c h e n d b e d a c h t w e r d e n . D a ß d a b e i d i e E x i s t e n z v o n „ G e m e i n d e als P r o z e ß " (vgl. C h r i s t o f B ä u m l e r , K o m m u n i k a t i v e G e m e i n d e p r a x i s , M ü n c h e n 1 9 8 4 , 117) in d e n Blick k o m m t , ist a u s t h e o l o g i s c h e r w i e s e m i o t i s c h e r S i c h t e i n l e u c h t e n d : D e r p l u r i f o r m e U m g a n g m i t d e m G e s a m t r e p e r t o i r e c h r i s t l i c h e r Z e i c h e n in G o t t e s d i e n s t , U n t e r r i c h t , B i b e l s t u n d e , G e m e i n d e t a g u s w . ist m e h r als ein e i n z i g e r g r o ß e r R ü c k v e r w e i s a u f ein in d e r V e r g a n g e n h e i t l i e g e n d e s H e i l s g e s c h e h e n ; in s e i n e m g l e i c h e r m a ß e n e r i n n e r n d e n w i e a n t i z i p a t o r i s c h e n C h a r a k t e r (vgl. B i e r i t z , G o t t e s d i e n s t [ 1 9 8 4 / 1 9 9 5 ] 199) b i r g t er s t e t s d i e C h a n c e e i n e s E r s c h l i e ß u n g s g e s c h e h e n s , in d e m a l l t ä g l i c h e Z e i c h e n g e s t a l t e n u n v e r s e h e n s zu Signifikanten des Reiches G o t t e s w e r d e n u n d v o n einer Welt zeugen, f ü r die die S p r a c h e der T h e o l o g i e eigentlich die Kategorie „ n o c h n i c h t " reserviert hat. Anmerkung 1
Der Ausdruck „ T a k t i k " mag im Z u s a m m e n h a n g homiletischer Fragen als ungeeignet erscheinen, zumal, wenn er in dem Sinne mißverstanden wird, als werde mit solcher Begrifflichkeit der Anspruch erhoben, das Predigtgeschehen quasi als Offenbarungsgeschehen inszenieren zu können. Deshalb halten wir ausdrücklich fest, d a ß es für die „ O h r e n " und „ H e r z e n " der H ö r e r keinerlei Verfahren im Sinne eines homiletischen Sesam-Öffne-Dich gibt. Wir unterstellen aber, d a ß für die Predigt keine anderen Signifikations- und Kommunikationsregeln gelten als jene, unter denen sich Menschen auch sonst verständigen. So kann die semiotische Herangehensweise konzeptuell dazu verhelfen, die Bedingungen einer als Z e i c h e n k o m m u n i k a t i o n gelingenden Predigt zu beschreiben, deren Intention von den H ö r e r n a u f g e n o m m e n werden soll. Inwieweit der H ö r e r dieser Intention auch folgen wird, ist eine andere Frage, die u . a . im Kontext einer Pneumatologie der Predigt zu erörtern ist. Hier legen wir die kommunikationstheoretischen G r ü n d e und die theologische Relevanz semiotischen Argumentierens in der Praktischen Theologie dar. Literatur
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Semler
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Wilfried Engemann
Semipelagianismus —> Pelagius/Pelagianischer Streit
Semler, Johann
Salomo
1. Leben u n d Werk r a t u r S. 147)
1. Leben und
(1725 — 1791) 2. H i s t o r i s c h - k r i t i s c h e T h e o l o g i e
3. N a c h w i r k u n g e n
(Quellen/Lite-
Werk
Semler (geboren am 18. Dezember 1725 in Saalfeld, gestorben am 14. M ä r z 1791 in Halle) e n t s t a m m t e einem lutherischen Pfarrhaus. Er studierte von 1743 bis 1750 in —»Halle, w o Siegmund J a c o b Baumgarten (1706-1757) sein wichtigster Lehrer wurde. Ihm verdankt Semler die H i n w e n d u n g zur Geschichte und eine genauere Kenntnis der lutherischen Bekenntnisschriften. N a c h der Magisterdisputation (1750), die sich mit der englischen Textkritik beschäftigt hatte, und einer kurzen Zeit als Lehrer am Coburger
Semler
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Gymnasium wurde er 1751 zum Professor für Reichsgeschichte und lateinische Poesie an der Universität -»Altdorf ernannt. Dem durch Baumgarten veranlaßten Ruf an die Theologische Fakultät in Halle ist er 1753 gefolgt und hat dort mehrere Disziplinen in Forschung und Lehre vertreten. Seine zahlreichen Publikationen (insgesamt mehr als 280 Titel) erstrecken sich auf die neutestamentliche Exegese, Einleitungswissenschaft, Textkritik und Hermeneutik, umfassen ferner Kirchengeschichte, Dogmengeschichte, Dogmntik, Polemik und Symbolik. Er hat ein Reformprogramm für die Neugestaltung des -»Theologiestudiums (1757/58) vorgelegt und darin eine stärkere Berücksichtigung profanwissenschaftlicher Erkenntnisse und Methoden gefordert, was ihn in einen Gegensatz zum Hallenser -»Pietismus brachte. Als Direktor des Theologischen Seminars übernahm er nach Baumgartens Tod die Ausbildung und Förderung der besonders begabten Studenten. Semler ist für eine moderate Umgestaltung der lutherischen Lehrtradition und für die Verbindung der evangelischen Frömmigkeit und Theologie mit dem modernen kritischen Denken eingetreten. Beeinflußt von der zeitgenössischen Geschichtswissenschaft hat Semler die Geschichtlichkeit und Veränderlichkeit der Theologie hervorgehoben und diesen Aspekt in allen Disziplinen, vor allem im neuartigen Entwurf einer Dogmen- und Theologiegeschichte, zur Geltung gebracht. M a n kann daher von einer durch ihn ausgelösten Historisierung und Relativierung der Theologie sprechen. Trotz der Umformungen, die durch das historisch-kritische Denken bedingt sind, bleibt das reformatorische Erbe —>Melanchthons und -»Luthers in Semlers Theologie stärker wirksam, als man lange Zeit anzunehmen bereit war. Die partielle Aneignung dieses Erbes erfolgt auf dem Wege eigener Quellenstudien und zeigt sich in der am Wortsinn orientierten Bibelexegese, der Bevorzugung des paulinischen und johanneischen Schrifttums, der Auffassung vom „Wort G o t t e s " (Gesetz und Evangelium), der Zentralstellung der Versöhnungs- und Erlösungslehre sowie der Forderung nach zureichender Schriftbegründung für alle Glaubenslehren. Kritische Abgrenzungen vollzieht Semler gegenüber verschiedenen Richtungen der zeitgenössischen Theologie. Sie sind einerseits gegen die noch immer einflußreiche lutherische und reformierte -»Orthodoxie (Johann Melchior Goeze [ 1 7 1 7 - 1 7 8 6 ] ; Johann Rudolf Anton Piderit [ 1 7 2 0 - 1 7 9 1 ] ; Johann Ernst Schubert [ 1 7 1 7 - 1 7 7 4 ] u.a.), aber auch gegen Vertreter des Hallenser und süddeutschen Pietismus gerichtet. Eine deutliche Frontstellung hat der ältere Semler aber auch gegenüber der stärker werdenden radikalen Richtung der Aufklärungstheologie (H. S. —»Reimarus; C. F. —»Bahrdt; Johann Bernhard Basedow [ 1 7 2 4 - 1 7 9 0 ] ) eingenommen, weil diese bereit war, wesentliche Gehalte des Christusglaubens preiszugeben. Die Stellungnahme im Fragmentenstreit zeigt Semler als Apologeten des neutestamentlichen Christentums und als Gegner des englischen —»Deismus. 2. Historisch-kritische
Theologie
2.1. Schriftverständnis und Hermeneutik. Die Heilige —»Schrift hat Semler als menschlich-geschichtliches Offenbarungszeugnis betrachtet. Er hat die Forderung nach einer historischen Interpretation des Literalsinns erhoben, die auf der Kenntnis des individuellen Sprachgebrauchs, der Autorintention und der historischen Situation der angeredeten Gemeinde basiert. Um die zentrale Stellung der biblischen Heilsbotschaft hervorzuheben, aber auch aus textkritischen Gründen, ist er für die Unterscheidung von „Wort G o t t e s " und „Heiliger Schrift" eingetreten. Das Wort Gottes umfaßt Gesetz und Evangelium, die durch das testimonium spiritus saneti internum erkannt und angeeignet werden können. So ergibt sich die unumkehrbare Reihen- und Rangfolge: erst historische Interpretation, danach erbauliche Applikation der biblischen Heilsbotschaft. Legitim und unerläßlich sind nach Semler sowohl die Textkritik (-»Textgeschichte/Textkritik) in ihrem Versuch einer Rekonstruktion des ursprünglichen Wortlauts als auch eine begründete Sachkritik. Innerhalb der Bibel muß schon wegen der Nähe oder Ferne zur zentralen Heilsbotschaft,
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s o d a n n aber auch wegen der mythischen und legendären Vorstellungen differenziert w e r d e n . Die mythischen Vorstellungen (z. B. W i r k e n des —»Teufels u n d der -»Dämonen, - • H ö l l e n f a h r t Christi) g e h ö r e n in die „ Z e i t e n der Kindheit u n d U n m ü n d i g k e i t der Religion" u n d sollten in die aktuelle V e r k ü n d i g u n g nicht ü b e r n o m m e n w e r d e n . Semler h a t sie auch als „ A k k o m m o d a t i o n e n " an die religiöse U m w e l t eingestuft. Seine historisch-kritische Bibelexegese steht in einem scharfen Gegensatz zur d o g m a t i s c h e n Überi n t e r p r e t a t i o n u n d E i n t r a g u n g f r e m d e r G e d a n k e n , aber auch zur D o m i n a n z des Erbaulichen im zeitgenössischen Pietismus (Heß 153; Lüder 87f.). Die generelle Verpflichtung der Christen z u m Bibelstudium h a t Semler aufrechterhalten, f ü r den privaten G e b r a u c h jedoch Bibelauszüge gestattet. M i t besonderer Werts c h ä t z u n g h a t er sich über den G a l a t e r - und R ö m e r b r i e f , die beiden Korintherbriefe u n d das J o h a n n e s e v a n g e l i u m g e ä u ß e r t , weil sie mit ihrer C h r i s t u s b o t s c h a f t den „Glaub e n s g r u n d " bezeugen. Kritisch urteilt er dagegen über die Apokalypse. Unterschiedlich fallen auch die Urteile über die alttestamentlichen Schriften aus, wobei die prophetischen Schriften und die M e h r z a h l der Psalmen positiv beurteilt w e r d e n . Semler ist überzeugt, d a ß die Bibel ihre sachliche M i t t e und ihren festen „ K e r n " in der Christusbotschaft h a t , aber es widerstrebt ihm, die zwischen d e m Alten und N e u e n T e s t a m e n t bestehenden Sachdifferenzen d u r c h eine allegorische I n t e r p r e t a t i o n alttestamentlicher Texte einzuebnen. Der Respekt vor der Geschichtlichkeit, d e m W o r t l a u t und Sinngehalt der beiden T e s t a m e n t e f ü h r t zu der E r k e n n t n i s , d a ß das Alte T e s t a m e n t nicht als Quelle christlicher G l a u b e n s v o r s t e l l u n g e n angesehen w e r d e n k a n n (Lüder 202f.). Aus der Textkritik und den h e r m e n e u t i s c h e n G r u n d s ä t z e n einer historisch-kritischen I n t e r p r e t a t i o n ergeben sich G r ü n d e zu einer N e u g e s t a l t u n g der evangelischen —»Dogm a t i k , deren Schriftlehre obsolet g e w o r d e n ist. Diese E r k e n n t n i s h a t Semler schon im Streit mit J. M . Goeze ( 1 7 6 5 - 1 7 7 1 ) geltend g e m a c h t . Die Ü b e r p r ü f u n g der in der Dogm a t i k v e r w a n d t e n dicta probantia p r o b l e m a t i s i e r t ihren Beweischarakter u n d reduziert ihre Z a h l d u r c h den Verzicht auf ungeeignete neu- u n d alttestamentliche Stellen. M i t seiner K a n o n s a b h a n d l u n g ( A b h a n d l u n g von freier Untersuchung des Canon, 1771 - 1 7 7 5 ) h a t Semler die T h e s e n von der Verbalinspiriertheit, Göttlichkeit und Gleichrangigkeit der biblischen Schriften als u n h a l t b a r erwiesen. Der -> K a n o n darf als Sammlung maßgeblicher Verkündigungstexte beibehalten, aber keineswegs zu einem verpflichtenden G l a u b e n s - u n d Denkgesetz e r h o b e n w e r d e n . Der für alle Disziplinen fundamentalen —>Hermeneutik wird die Aufgabe zugewiesen, die Relation von sprachlichem Zeichen (Wort, Begriff, Satz) und bezeichneter historischer und geistlicher Wirklichkeit zu erfassen. Sie soll die Autorintention zur Geltung bringen. Die ursprüngliche A n n a h m e einer Eindeutigkeit des biblischen Wortsinns h a t Semler wegen der M e t a p h e r n aufgegeben. Aussagen über den Loskauf und die Erlösung durch Christi Blut k ö n n e n sowohl sensu proprio als auch sensu improprio, d. h. als „geistliche" Erlösung verstanden w e r d e n . Semler bevorzugt die letztgenannte Interpretationsmöglichkeit. 2.2. Erkenntnisquellen. Christologie und Soteriologie. Die Wahrheits- u n d Wirklichkeitserkenntnis speist sich aus zwei Quellen, weil f ü r den Bereich der Heilswahrheiten die biblisch bezeugte C h r i s t u s o f f e n b a r u n g , f ü r den Bereich der empirischen und historischen Wirklichkeit aber das lesbare „Buch der —•Natur" und d a s „Buch der —»Geschicht e " zuständig sind. G o t t e s G e s c h i c h t s h a n d e l n vollzieht sich mittels des eigenständigen und freien menschlichen H a n d e l n s , das stets mit Unzulänglichkeiten und Irrtümern behaftet bleibt. Keine Geschichtsepoche läßt sich als normativer Idealzustand von Kirche und Christenheit ausgeben. D o c h soll auf d e m Wege der - » R e f o r m a t i o n weiter vorangeschritten w e r d e n . Die D a n k b a r k e i t f ü r G o t t e s gnädiges H a n d e l n in Geschichte und Einzelschicksal verbindet sich bei Semler mit der H e r v o r h e b u n g der „ U n e n d l i c h k e i t " - » G o t t e s , welche das Eingeständnis seiner Unbegreiflichkeit u n d Unerforschlichkeit impliziert. Die Christologie behält den R ü c k b e z u g auf den irdischen Jesus, setzt jedoch als Präexistenzchristologie ein, so d a ß die Wesenseinheit des Sohnes mit d e m Vater ausgesagt
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werden kann. Der Nachdruck liegt auf der Heilsbedeutung von Kreuzestod (-»Kreuz) und —»Auferstehung. Daß Jesus Christus uns von Gott gemacht ist zur Weisheit, Gerechtigkeit, Heiligkeit und Erlösung (I Kor 1,30), ist in Semlers Werken die mit Abstand meistzitierte Schriftaussage. Trotz des Zugeständnisses, daß in der neutestamentlichen Überlieferung Irrtümer und Widersprüche vorliegen, hat Semler die Glaubwürdigkeit der Heilsbotschaft im Fragmentenstreit gegen H.S. Reimarus verteidigt. Die Predigt des irdischen Jesus stehe in sachlicher Ubereinstimmung mit der apostolischen Christusverkündigung. —»Versöhnung und Erlösung gehören nach Semlers Interpretation primär zur Heilsgegenwart. Sie werden als Bewußtsein der Sündenvergebung, als Zuversicht, Freude und Frieden mit Gott verstanden. Die im zeitgenössischen Pietismus vertretene Lehre von der Heilsordnung (ordo salutis) erfährt insofern eine Umgestaltung, als die Notwendigkeit eines „Bußkampfes" bestritten und die Vorstellung abgelehnt wird, mit den Begriffen Berufung, Bekehrung, Erleuchtung, Wiedergeburt, Rechtfertigung, Heiligung und mystische Vereinigung seien bestimmte Stadien oder Erlebniszustände gemeint, die jeder auf dem Wege zum Christwerden zu durchlaufen habe. Nach Semler sind sie vielmehr unterschiedliche Ausdrucksweisen für das göttliche Gnadenhandeln am Menschen. Nicht durch sorgsam registrierte Gefühlsempfindungen, sondern durch eigenes Nachdenken und persönliche Heilsaneignung wird man ein Christ und gewinnt eine eigene Glaubensüberzeugung (Hornig, Johann Salomo Semler [1996] 8 6 - 1 2 2 ) . 2.3. Wesensbestimmung und Perfektibilität des Christentums. Von seinem Lehrer S.J. Baumgarten hat Semler die Rede vom „Wesen des Christentums" übernommen und damit die Überzeugung, daß es im Christentum Gedanken und Vorstellungen gibt, die ihm nicht wesentlich sind. Maßgeblich für seine Wesensbestimmung sind zentrale neutestamentliche Texte und der religionsgeschichtliche Vergleich mit dem Judentum und Heidentum. Das Christentum wird als eine freiheitliche, geistbestimmte und universale, d.h. allen Menschen geltende Gnaden- und Erlösungsreligion verstanden. In einer Erweiterung des paulinischen Grußes von II Kor 13,13 lautet die trinitarisch strukturierte Wesensbestimmung: „die Gnade des Herrn Jesu ohne jüdische Gesetze, die Liebe Gottes ohne Unterschied der Nationen und die allen Christen gemeine Theilnehmung an dem heiligen Geiste" (Semler, Beantwortung der Fragmente eines Ungenannten, Halle 1779,147 = 2 1780, 139). Der Heilige Geist gilt als die Kraft, das Wesen des Christentums ins Unendliche weiterzuführen. Neben dieser objektiv-lehrhaften hat Semler auch eine subjektive Wesensbestimmung gegeben, welche den persönlichen Heilsglauben und die tätige Nächstenliebe als bleibende Kennzeichen herausstellt (Schulz 7 7 - 1 0 5 ) . Von dem zukünftigen Geschichtsverlauf erwartet Semler die Fortentwicklung und immer reinere Ausprägung zentraler und wesentlicher Erkenntnisse, welche das biblische Zeugnis über die Christusoffenbarung gebracht hat. Von einer Unvollkommenheit des Urchristentums muß gesprochen werden, weil in ihm noch weltanschauliche, kosmologische und religiöse Überzeugungen des Judentums und Heidentums nachwirken. Mit Hilfe der Akkommodationstheorie interpretiert Semler diese Elemente (z.B. die Naherwartung, das mythische Weltbild, den Teufels- und Dämonenglauben) und distanziert sich gleichzeitig von ihnen. Das historische Christentum ist nicht perfekt, wohl aber perfektibel. Seine Vervollkommnung zeigt sich im Fortgang von einer bildhaften und anthropomorphen zu einer geistigen Gottesvorstellung und Gottesverehrung (Joh 4,23f.), aber auch darin, daß an die Stelle kultischer Riten und strenger Gesetzlichkeit die durch Christus bewirkte Freiheit von dem Gesetz tritt. Die in der Geschichte fortgehende -»Offenbarung Gottes darf als Wirkung des Heiligen -»Geistes und als Vertiefung des Christusglaubens verstanden werden. 2.4. Unterscheidung von Religion und Theologie. Mit seiner Unterscheidung der christlichen „Religion" von der wissenschaftlichen „Theologie" erstrebt Semler die Befreiung der Religion von der Herrschaft der Dogmen und Kirchenlehren. Wenn die Theo-
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logie als Bezeichnung für eine veränderliche, korrekturbedürftige und entwicklungsfähige wissenschaftliche Fachangelegenheit verstanden wird, dann darf ihre Kenntnis nur den zukünftigen Lehrern und Geistlichen zur Aufgabe gemacht werden. An der Verbesserung der akademischen Theologie, ihren Argumentationen und Methoden soll jedoch gearbeitet werden, weil sie angesichts der Religionskritik auch eine Schutzfunktion für den Erhalt der christlichen Religion besitzt. Der Religionsbegriff bezeichnet primär die von allen Christen im Leben zu bewährende Glaubensüberzeugung, Frömmigkeit und Nächstenliebe. Weil die christliche Erlösungsreligion auf der Heilsbedeutung von Kreuz und Auferstehung Christi basiert, besitzt sie einen mitteilbaren Lehrgehalt, umfaßt aber keineswegs die Gesamtheit aller Dogmen und Kirchenlehren, sondern nur die Aussagen über den wesentlichen Grund und Inhalt des christlichen Glaubens. Als Folge des persönlichen Glaubens, der nur der göttlichen Offenbarung und dem eigenen Gewissen verpflichtet ist, gibt es vielgestaltige Formen einer christlichen „Privatreligion", die toleriert werden sollten, auch wenn sie sich gegenüber den konfessionell geprägten „Religionsparteien" mehr oder weniger distanziert verhalten. 2.5. Wahrheitsforschung, Gewissensfreiheit und Toleranz. An den Grundsätzen einer historisch-kritischen Exegese und Theologie hat Semler bis an sein Lebensende unbeirrt festgehalten, aber auch Elemente der religiösen Erfahrung (—»Kirchenlieder, —»Gebete) berücksichtigt, die sich in Aussagen über Gottes Erkennbarkeit und sein gnädiges Handeln im Einzelgeschick artikulieren. Verbunden mit der Bereitschaft zur Selbstkorrektur bleibt Semlers Verständnis der historisch-kritischen Theologie der Wahrheitsforschung verpflichtet. Denn der Mensch bedarf sowohl der vorgegebenen biblischen Wahrheiten, wie sie in Gesetz und Evangelium enthalten sind, als auch der in den Profanwissenschaften zu erforschenden Wahrheiten (Hornig, Johann Salomo Semler [1996] 2 7 9 - 2 9 1 ) . Dabei erweist sich die Vernunft als das geeignete Erkenntnisorgan. Sie ermöglicht die Zunahme an relevanter Erkenntnis in qualitativer und quantitativer Hinsicht sowie eine Glaubenserfahrung, die sich durch die persönliche Aneignung der Gnadenzusage Gottes vollzieht. Semler ist für die Grundsätze einer toleranten Religionspolitik, den Respekt vor den Andersglaubenden und die Erhaltung der Gewissens- und Religionsfreiheit in dem mehrkonfessionellen Preußen eingetreten, hat aber den zeitgenössischen Planen zur Kirchenvereinigung des Protestantismus mit dem Katholizismus eine entschiedene Absage erteilt. 3.
Nachwirkungen
Semlers Wirkung, die in Zustimmung und Kritik schon zu seinen Lebzeiten einsetzt, bezieht sich auf das geschichtliche Kanonverständnis und die Grundsätze einer historisch-kritischen Schriftforschung. Vielfach rezipiert wurde seine Unterscheidung von Religion und Theologie, weil sie der Wissenschaftlichkeit der Theologie Rechnung trug, zugleich aber die Religion von der Last der Dogmen und Lehrtraditionen befreite. Eine Hauptlinie der Wirkungs- und Rezeptionsgeschichte zeigt sich in den Bereichen von Exegese, Hermeneutik und Dogmatik und verläuft von Johann August Nösselt ( 1 7 3 4 1807) und August Hermann Niemeyer ( 1 7 5 4 - 1 8 2 8 ) , Johann August Ernesti ( 1 7 0 7 1781), Wilhelm Abraham Teller ( 1 7 3 4 - 1 8 0 4 ) , J . P h . -»Gabler, J . G . -»Eichhorn bis zu F.Ch. -»Baur und F . D . E . -»Schleiermacher. Da Semler zu Recht als ein Wegbereiter des —»Neuprotestantismus gilt, haben der Substanzverlust und die Umformungskrise, die mit dieser Richtung verbunden waren, bis auf unsere Gegenwart (K. —»Barth) auch eine negative Einschätzung der historisch-kritischen Theologie Semlers zur Folge gehabt. Eine andere, weniger beachtete Linie der Wirkungs- und Rezeptionsgeschichte zeigt sich auf dem Gebiete der Historiographie, besonders der Kirchen- und Theologiegeschichtsschreibung. Es sind neue Standards und Methoden der Quellenkritik, welche unabhängig von der Perspektivität des jeweiligen Autors eine größere Objektivität in der historischen Darstellung ermöglichen sollen. Neben evangelischen und römisch-ka-
Seniler
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t h o l i s c h e n K i r c h e n g e s c h i c h t l e r n s i n d es a u c h P r o f a n h i s t o r i k e r (z. B. J o h a n n C h r i s t o p h G a t t e r e r [ 1 7 2 7 - 1 7 9 9 ] u n d A u g u s t L u d w i g v o n S c h l ö z e r [ 1 7 3 5 - 1 8 0 9 ] ) g e w e s e n , d i e sich auf solche Erkenntnisse Semlers berufen h a b e n . Quellen Vier Semlerschriften sind ganz oder teilweise durch N a c h d r u c k e wieder verfügbar: J o h a n n Salomo Semler, Abh. v. freier Unters, des C a n o n , hg. v. Heinz Scheible, 1967 2 1980 ( T K T G 5). Ders., Christologie u. Soteriologie [Neudr. der ,,Vorb. auf die Kgl. Großbritannische Aufgabe v. der G o t t h e i t Christi", Halle 1787], Mit Einl., K o m m . u. Reg. hg. v. Gottfried H o r n i g u. H a r t m u t R. Schulz, W ü r z b u r g 1990. - Ders., Versuch den Gebrauch der Quellen in der Staats- u. KG der mitlern Zeiten zu erleichtern [1761], neu hg. u. eingel. v. Dirk Fleischer, Waltrop 1996 (Wissen u. Kritik. Texte u. Beitr. zur Methodologie des hist. u. theol. Denkens seit der A u f k l ä r u n g 5). - Anon. [Otto Justus Basilius Hesse], Versuch einer bibl. Dämonologie o d e r Unters, der Lehre der hl. Sehr, vom Teufel u. seiner M a c h t . Mit einer Vorr. u. einem Anh. v. J o h a n n Salomo Semler, neu hg. u. mit einer Kinl. versehen v. Dirk Fleischer, Waltrop 1998 (Wissen u. Kritik 15). Bibliographie der Semlerschriften: Gottfried Hornig, J o h a n n Salomo Semler, Tübingen 1996 (s.u. bei Lit.) 3 1 3 - 3 3 8 . Literatur
(in Auswahl)
Die Lit. über Semler ist für den Zeitraum v. 1 7 9 1 - 1 9 6 5 fast vollständig verzeichnet in dem o.g. N a c h d r . v. Heinz Scheible (s.o. bei Quellen) 9 - 1 2 . Die folgenden Titelangaben beschränken sich d a h e r auf Ergänzungen sowie auf die nach 1965 ersch. Lit. Botho Ahlers, Die Unterscheidung v. Theol. u. Religion. Ein Beitr. zur Vorgesch. der Prakt. Theol. im 18. Jh. (Diss. Tübingen 1977), Gütersloh 1980, 1 0 1 - 1 3 0 . - J o h a n n Bernhard Basedow, Eine U r k u n d e des Jahres 1780 v. der neuen G e f a h r des Christentums durch die scheinbare Semlersche Vertheidigung desselben wider den ungenannten Fragmentisten, Dessau 1780. - H o r s t Walter Blanke/Dirk Fleischer, Theoretiker der dt. Aufklärungshistorie, Stuttgart-Bad C a n n s t a t t , I — II 1990 (Fund a m e n t a Historica 1/1 - 2 ) . - Frank T h o m a s B r i n k m a n n , G l a u b h a f t e Wahrheit - erlebte Gewißheit. Z u r Bedeutung der E r f a h r u n g in der dt. prot. Aufklärungstheol., Rheinbach-Merzbach 1994 (Arbeiten zur Theologiegesch. 2) 2 5 3 - 2 8 7 . — Christian Ernst Benjamin Bulle, Sendschreiben an Se. H o c h w ü r d e n D o k t o r u. Prof. Semler in Halle, Schleiz 1781. - Christian Albrecht Döderlein, Schreiben an einen Freund über eine ihn betreffende Stelle in der Lebensbeschreibung des H e r r n D. Semlers, Bützow/Schwerin 1782. — Herbert D o n n e r , Gesichtspunkte zur Auflösung des klass. Kanonbegriffes bei Johann Salomo Semler: Fides et communicatio. FS M a r t i n Doerne, hg. v. Dietrich Rössler u . a . , Göttingen 1970, 5 6 - 6 8 . - Susanne Ehrhardt-Rein, Z w . Glaubenslehre u. Vernunftwahrheit. N a t u r u. Schöpfung bei Hallischen Theologen des 18. Jh., M ü n s t e r 1996, 1 2 9 - 1 5 4 . Friedrich Ehrenfeuchter, Christenthum u. moderne Weltanschauung, Göttingen 1876, 1 7 7 - 1 8 9 . — Dirk Fleischer, Johann Salomo Semler u. die Verwissenschaftlichung des hist. Denkens: J o h a n n Salomo Semler, Versuch (s.o. bei Quellen) I1I-XLI1I. - Christofer Frey, Semlers Glaubensbekenntnis: T h e o l . u. Aufklärung. FS Gottfried Hornig, hg. v. Wolfgang E. Müller u. H a r t m u t H . R . Schulz, W ü r z b u r g 1992, 1 6 5 - 1 7 8 . - Wolfgang Gericke, J o h a n n Salomo Semler: ders., Theol. u. Kirche im Zeitalter der Aufklärung. KG, 1989 (KGE III/2) 1 1 5 - 1 2 0 . - H a n s Eberhard Heß, Theol. u. Religion bei J o h a n n Salomo Semler. Ein Beitr. zur Theologiegesch. des 18. Jh. (Diss. Kirchl. H o c h schule Berlin 1974), Augsburg o . J . - Gottfried H o r n i g , Semlers Dogmengeschichtsschreibung u. Traditionskritik: Denkender Glaube. FS Carl Heinz Ratschow, hg. v. O t t o Kaiser, Berlin/New York 1967, 101 - 1 1 3 . - Ders., Der Perfektibilitätsgedanke bei J. S. Semler: Z T h K 72 (1975) 3 8 1 - 3 9 7 . - Ders., Die Freiheit der christl. Privatreligion. Semlers Begründung des rel. Individualismus in der prot. Aufklärungstheol.: N Z S T h 21 (1979) 1 9 8 - 2 1 1 . - Ders., J o h a n n Salomo Semler: Die Aufklärung, 1983 (GK 8) 2 6 7 - 2 7 9 . - Ders., Semlers Lehre v. der Heilsordnung. Eine Stud. zur Rezeption u. Kritik des halleschen Pietismus: P u N 10 (1984) 1 5 2 - 1 8 9 . - Ders., Schleiermacher u. Semler. Beobachtungen zur Erforschung ihres Beziehungsverhältnisses: Int. Schleiermacher-Kongreß 1984, hg. v. Kurt Victor Selge, 1985 (SchlAr 1/2) 875 - 897. - Ders., Hermeneutik u. Bibelkritik bei J o h a n n Salomo Semler: Hist. Kritik u. bibl. Kanon in der dt. A u f k l ä r u n g , hg. v. H e n n i n g Graf Reventlow u.a., Wiesbaden 1988 (Wolfenbütteler Forschungen 41) 2 1 9 - 2 3 6 . - Ders., O r t h o d o x i e u. Textkritik. Die Kontroverse zw. J o h a n n Melchior Goeze u. J o h a n n Salomo Semler: Verspätete O r t h o d o x i e . Über D. J o h a n n Melchior Goeze (1717-1786), hg. v. H e i m o Reinitzer u. Walter S p a m , Wiesbaden 1989 (Wolfenbütteler Forschungen 45) 1 5 9 - 1 7 7 . - Ders., Wahrheit u. Historisierung in Semlers krit. Theol.: T h L Z 116 (1991) 7 2 1 - 7 3 0 . - Ders., Über Semlers theol. Hermeneutik: Unzeitgemäße Hermeneutik. Verstehen u. Interpretation im Denken der Aufklärung, hg. v. Axel Bühler, Frankfurt a . M . 1994, 1 9 2 - 2 2 2 . - Ders., J o h a n n Salomo Semlers Stellung zu Glaubensfreiheit u. Toleranz: Aufklärung u. Erneuerung. Beitr. zur Gesch. der Univ. Halle im ersten Jh.
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Sensualismus
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Gottfried Hornig
Sendgericht
Kirchenverfassungen, —• Visitation
Sensualismus 1. Begriffsbestimmung 2. G r i e c h i s c h - r ö m i s c h e s Altertum 4 . Neuzeit 5. Gegenwärtiger Problemstand (Literatur S. 152)
1.
3. S p ä t a n t i k e und Mittelalter
Begriffsbestimmung
Die unter dem Begriff Sensualismus verstandene philosophische Einstellung ist sowohl sachlich wie geschichtlich ein Sekundär- oder N a c h f o l g e p h ä n o m e n : Sie bezeichnet einen, obgleich gewichtigen, Sonderaspekt, nämlich die Hervorhebung von Sinnenhaftigkeit als einer in ihrer Grundlegungsleistung mit M o n o p o l a n s p r u c h auftretenden Prinzipienebene. Dabei tritt gegenüber —»Materialismus, —»Empirismus und —•Positivismus ein gewisser Vorrang von Erkenntnisleistungen von seifen des menschlichen Subjekts zutage:
Sensualismus
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Die Sinneswahrnehmung gilt als alleinige Quelle von Wissen überhaupt, darüber hinaus auch letztlich von wahrem (?) Wissen. In einer auch ethische Grundfragen einbeziehenden Position kann sodann unter Sensualismus ein Standpunkt verstanden werden, für den das (moralisch) -»Höchste Gut im Sinnenvollzug, d.h. -genuß besteht. 2. Griechisch-römisches
Altertum
In seiner problemgeschichtlichen Herleitung kann der Sensualismus zur Zeit der griechischen Sophistik als (relative) Spätform des bisherigen Entwicklungsganges gedeutet werden: Waren so beispielsweise bei Thaies (Akme 585/584), Anaximenes (Akme 546/ 545) und Heraklit (Akme 504/501; -»Vorsokratik) Erscheinungs- und Prinzipienmomente innerhalb ihres Weltdeutungsentwurfs nur als einander impliziert unterscheidbar, so war mit der Parmenideischen, erst recht mit der sich darauf stützenden Abstraktion der Atomisten eine erste Stufe problemthematisch möglicher Differenzierung erreicht, die in einem nächsten Schritt das Thema einer Rettung der Erfahrungswelt (der Phänomene) aktuell werden ließ. Demokrit (ca. 470/460-380/370) beispielsweise hat sein Philosophieren mit höchster Wahrscheinlichkeit auch (!) so verstanden. Im Zuge des allgemeinen kulturellen Umbruchs nach den Perserkriegen, besonders aber vermöge der ungefähr zeitgleich damit inaugurierten ersten Aufklärung und der damit gesetzten philosophischen Kontrovers- bzw. Konfliktkonstellation (Ideendemokratie) wurde in einem zweiten Schritt die Verabsolutierung verschiedenartigster weltanschaulicher Positionen real-möglich; dies erstreckte sich auch auf die Einstellung zur Sinnenhaftigkeit bzw. Sinnlichkeit der menschlichen Natur. Ideengeschichtlich faßbar wird insbesondere die zuletzt genannte Einstellung erstmalig bei dem Sophisten Protagoras (ca. 485 - ca. 415). Bei ihm findet sich die Lehre vom grundsätzlichen und ständigen Wechsel der Sinnesempfindungen als der letzten Grundlage aller Erkenntnis. Diese ist ihrem Wahrheitssinn nach konsequenterweise ebenfalls eindrucksabhängig, somit gemäß der grundsätzlichen Verschiedenheit menschlicher Subjekte wesentlich subjektiv: So ist folgerichtig „der Mensch . . . der Maßstab aller Dinge, der seienden, daß sie sind, der nichtseienden, daß sie nicht sind" (Plato, Tht. 151e-152a). Entgegen der Tendenz ->Platos darf man der historischen Gerechtigkeit halber die aufklärerische Strategie hierbei nicht übersehen: In der Kritik an alter Zivilreligion, Naturphilosophie und staatstragendem Patriziertum etabliert sich hier zugleich ein Emanzipationspotential (unter Einbeziehung mancher Theoreme Heraklits wie Kratylos' u.a.) von enormem Fortschrittswert: Menschliche Subjektivität wird als diesseitig, d.h. als empirisch verschiedenartige Erkennens-, Wertens-, Entscheidens- und Handelnsinstanz neu entdeckt. Ohne diesen Sensualismus wäre auch die neue Rolle menschlicher Autonomie nicht möglich gewesen.
Andererseits darf die erkenntnistheoretische, später von -»Aristoteles kritisierte, sowie die zum Hedonismus führende Einseitigkeit nicht übersehen werden. Aristipp von Kyrene (ca. 435 - nach 366) kann dabei übrigens zum Teil schon als Vorläufer Epikurs (341—271) gelten. Als atomistischer Materialist, der zugleich eine Ethik des Common sense mit aristokratischen Zügen vertrat, ist für diesen die Rolle der Sinnlichkeit, ob im Erkennen oder Handeln, für das ganze menschliche Dasein primärkonstitutiv. So fällt einerseits in diesen Themenbereich die (in Grundzügen wohl bereits von Leukipp [5. Jh.] entworfene) Abbildtheorie, innerhalb welcher die menschlichen Sinnesvermögen als wesentlich rezeptive Vermittlungsinstanz äußerer Eindrücke fungieren; andererseits dient sinnenhafte Gegenständlichkeit umgekehrt auch als Wirkfeld menschlich-leiblicher Aktivitäten. Allerdings hat Epikur, in Weiterführung Demokritischer Gedanken, eine die Sensualität übersteigende Metatheorie, insbesondere über die teils physikalische, teils physiologische Natur-, genauer: Effizienzursächlichkeit entwickelt, die den Interessenkreis strenger Hedonisten überschreitet.
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Sensualismus
Vermöge seines m e t a t h e o r e t i s c h e n Unbestimmtheitsprinzips k a n n er im übrigen drei Probleme zugleich einer grundsätzlichen L ö s u n g z u f ü h r e n : das der Wahlfreiheit, das der Zufälligkeit im Naturgeschehen u n d , meist übersehen, d a s der Bereitstellung einer grundsätzlich d u r c h KonvenienzA r r a n g e m e n t s c h a r a k t e r i s i e r b a r e n Zwischenspbäre, in der Mensch und G e g e n s t a n d s w e l t je gemäß ihrem Eigenwesen interagieren k ö n n e n . Problematisch verbleibt schon hier, als typisch für eine jede sich einseitigerweise zu einem Sensual-Ismus steigernde Sensualitätstheorie bzw. -philosophie, der Fragebereich des Allgemeinen ausgeschlossen - so schon die Aristotelische Kritik (met. 11,4, 9 9 9 a 2 4 - b l 6 ) : sei es ( m o d e r n gesprochen) erkenntnis-, gegenstands- o d e r auch handelnstheoretisch bzw. (in älterer Begrifflichkeit) o n t o - und kosmologisch wie auch erst recht formallogisch: Gesetzhafte N o t w e n d i g k e i t o d e r auch Unmöglichkeit, ob trans- oder innerkategorial, ü b e r h a u p t jede Art strenger W i s s e n s c h a f t , fällt s t r e n g g e n o m m e n aus d e m philosophisch Fragenswerten heraus.
Auch f ü r die ->Stoa geht alle (materiale) Erkenntnis von der sinnlichen W a h r n e h m u n g aus: Die erkennende —»Seele ist wie Wachs, dem „von a u ß e n " Eindrücke eingeprägt werden (Diogenes Laertius VII,45f.). 3. Spätantike
und
Mittelalter
In der Spätantike wie auch in der mittelalterlichen —»Scholastik spielt der Sensualismus k a u m eine Rolle, es sei d e n n , m a n billige beispielsweise der K u r z a b h a n d l u n g -»Augustins über die Zeit (im 11. Buch der Confessiones, conf. X I , 1 5 , 1 8 - 2 0 ) mit der Analyse einer ausdehnungslosen, reinen G e g e n w a r t eine entfernte Beeinflußtheit durch kyrenäisches G e d a n k e n g u t zu; als R a n d s t r ö m u n g kann m a n auch den gegenstands-pantheistischen Sensualismus des —»Amalrich von Bena betrachten, wenngleich gewisse Einwirkungen auf die Lehre der - » K a t h a r e r , z.B. freie Erotik der Erleuchteten betreffend, nicht auszuschließen sind. 4.
Neuzeit
G r ö ß e r e Breitenwirkung erlangt der Sensualismus erst wieder mit d e m Beginn der Neuzeit. Doch gewinnt er hier noch wesentlich stärker als etwa in den betreffenden philosophischen Systemen des Altertums seine W i r k u n g als wichtiger Teilaspekt anderer, übergeordneter Systementwürfe. Indem das durch -»Galilei, -»Descartes u.a. begründete neue Wissenschaftsideal m a t h e m a t i s c h e r Exaktheit bei Pierre Gassendi (1592—1655) seinen zureichenden M e t a h o r i z o n t in Gestalt eines erneuerten A t o m i s m u s g e w o n n e n hatte, w a r ein philosophischer Extensionalismus als Grundlage für ein Weltbild gelegt, das bis zur G e g e n w a r t eine stets intensiver werdende W i r k u n g auf Gesellschaft, Staat und Weltverständnis entfaltet hat. Am reinsten zeigt sich das neue Epochenmuster bei T h . - » H o b b e s in dessen Auffassung des Hergangs von sinnlicher und aller übrigen darauf strukturell a u f b a u e n d e n Erkenntnis: Addition, S u b t r a k t i o n , Gleich- und Ungleichsetzung (De c o r p o r e [1655], cap. 1 §3). Geist, Vernunft und dergleichen sind infolgedessen Worte, denen nichts W i r k liches entspricht. Das Gesetz der E r h a l t u n g der (Bewegungs-)Energie gilt (wie bei Descartes u.a.) sowohl in der sichtbaren wie unsichtbaren Sphäre. Der Sensualismus von H o b b e s wird so zum S t a m m v a t e r der neuzeitlichen Assoziationspsychologie. So wie der kollektiv-mechanistische Staats- und Gesellschaftsgedanke des Leviatban nur die handlungstheoretische Konsequenz dieses Ansatzes auf dem Feld des Sozialen ist, so gilt dies auch f ü r den einzelnen: Sein H a n d e l n bestimmt sich deterministisch d u r c h ein G e s a m t wirkursächlich verschränkter Antriebe, die ihr F u n d a m e n t letztlich alle in der sinnlichen N a t u r des M e n s c h e n haben: Im Ur- bzw. N a t u r z u s t a n d verhalten sich die Menschen zueinander wie Tiere ( H o b b e s , De cive, cap. 1). Seine klassische F o r m gewinnt der Sensualismus als systematisches Basisphilosophem bei J o h n Locke (1632-1704) u n d D . —»Hume. Die Locke leitende Alternative w a r bekanntlich: E n t w e d e r s t a m m t alle unsere Elementarerkenntnis aus den Sinnen oder einiges Derartige nicht; letzteres wären sog. angeborene Vorstellungen. Ebenso b e k a n n t ist, d a ß er d a n n rein psychogenetisch (und z. B. mit Hilfe des Consensus gentium; vgl. d a z u
Sensualismus
151
Leibniz, N o u v e a u x Essais sur l ' e n t c n d e m e n t h u m a i n , hg. v. J. B r u n s c h w i g , Paris 1966, 1/1, § 4 ) a r g u m e n t i e r t . Auch sein G e g n e r —>Leibniz bleibt jedoch teilweise, o b w o h l er verschiedene P r ä d i k a t i o n s a r t e n (faktische, n o t w e n d i g e ; e b d . § 5 ) u n t e r s c h e i d e t u n d zu letzteren /.. B. f o r m a l l o g i s c h e und m a t h e m a t i s c h e G r u n d e i n s i c h t e n zählt, in d e r falschen F r a g e d i s p o s i t i o n b e f a n g e n . D a r a n ä n d e r t s o g a r seine Variation des von L o c k e zitierten scholastischen G r u n d s a t z e s : Nihil est in intellectu, quod non prius fuerit in sensu, n ä m lich: nisi intellectus ipse (ebd. I I / l , § 8 ) , letztlich nichts. A u s d i e s e r p r o b l e m a t i s c h e n V e r w e c h s l u n g e r g i b t sich in d e r g e s a m t e n F o l g e z e i t d a s f ü r e i n e n sensualismusgestützten Empirismus unlösbare Problem, Geltungen, vor allem formaler Art, psychog e n e t i s c h b z w . , d a v o n a b g e l e i t e t , im S i n n e e i n e r p h ä n o m e n a l i s t i s c h e n G e g e n s t a n d s t h e o r i e zu b e g r ü n d e n . ( S e l b s t v e r s t ä n d l i c h sind v o n e i n e m s o l c h e n B o d e n a u s a u c h F r a g e n w i e z . B . g e l t u n g s mälsiger L e t z t b e g r ü n d u n g apriori unlösbar.)
N a c h d e m s c h o n G . —»Berkeley gegen u n d ü b e r L o c k e h i n a u s die K o n s e q u e n z gezogen h a t t e , a u c h die sog. p r i m ä r e n S i n n e s q u a l i t ä t e n seien s u b j e k t i v , radikalisiert H u m e L o c k e s A n s a t z m e t h o d i s c h , w o r e i n auch die F o r m u n g des P r o b l e m b e w u ß t s e i n s (des F r a g e n d e n ) selbst m i t e i n b e z o g e n wird: D a s Subjekt ist in seinem O p e r a t i o n s m o d u s voll in den a t o mistischen I n d e t e r m i n i s m u s des Weltprozesses integriert. Die S i n n e s e r f a h r u n g f u n g i e r t d a m i t f o r m a l als (in t r a n s z e n d e n t a l p h i l o s o p h i s c h e r S p r a c h e [ - » T r a n s z e n d e n t a l p h i l o s o phie]) B e d i n g u n g d e r M ö g l i c h k e i t a p r i o r i - n ä m l i c h a u f g r u n d eines ( a n d e r s w o h e r gerechtfertigten) F r a g e v e r b o t s über sie h i n a u s - aller u n d jeder E r k e n n t n i s ü b e r h a u p t . D e m u r s p r ü n g l i c h zufallsbedingten V o r g a n g des „ Z u s a m m e n k l u m p e n s " (Koagulation) in d e r a t o m i s t i s c h e n M e t a p h y s i k e n t s p r i c h t hier s y s t e m - f u n k t i o n a l die A s s o z i a t i o n von E r k e n n t n i s s e n (vgl. H u m e , An E n q u i r y c o n c e r n i n g H u m a n U n d e r s t a n d i n g , L o n d o n 3 1758, I I . l l . 1 7 f f . ) ; ähnlich verhält es sich mit d e n S t r e b e a n l a g e n des M e n s c h e n : A u s Instinkten u n d Lust-/Unlustvergleich e n t s t e h t egoistisch v e r a l l g e m e i n e r b a r e r N u t z e n (ebd. 11.206). Von einer solchen Basis aus resultiert a x i o m a t i s c h n o t w e n d i g seine Kritik a m K a u salitäts- u n d Substanzbegriff sowie d e r g e s a m t e n Begrifflichkeit d e r n o t w e n d i g e n W a h r heiten (von Leibniz); Gewohnheit als L e t z t p r i n z i p (ebd. 11.29) ist so dezidiert a n t i m e taphysisch. W a s H u m e a l l e r d i n g s f o r s c h u n g s - p r a g m a t i s c h u n a n g e t a s t e t l ä ß t , ist d i e f a k t i z i t ä r u n b e s t r i t t e n e G e l t u n g g e w i s s e r m a t h e m a t i s c h e r u n d ( f o r m a l - ) l o g i s c h e r G r u n d n o r m e n , d i e freilich zu d e m ges a m t e n Welt- u n d E r k e n n t n i s m a t e r i a l k e i n e s a c h n o t w e n d i g e e i n s e h b a r e B e z i e h u n g h a b e n : H i e r h e r r s c h t f o r s c h u n g s - u n d w i s s e n s t h e o r e t i s c h e r - » P r a g m a t i s m u s ( e b d . 11.22).
Die ideengeschichtliche W i r k u n g H u m e s k a n n , t r o t z d e r von —»Kant, —»Hegel u . a . g e ü b t e n Kritik, bis h e u t e k a u m ü b e r s c h ä t z t w e r d e n . M i t H u m e teilt die g r u n d s ä t z l i c h e B e w e r t u n g d e r Sinnlichkeit L. - » F e u e r b a c h , o b gleich er als H e g e l s c h ü l e r z u m Teil a n d e r e K o n s e q u e n z e n f ü r seine e m a n z i p a t o r i s c h e A n t h r o p o l o g i e zieht. Im I d e a l z u s t a n d d e r —»Liebe, die sich wesentlich a u c h auf d e r Sinnlichkeitsebene als sich vollziehende Ich-Du-Begegnung a r t i k u l i e r t , ü b e r s c h r e i t e t er die G r e n z e n des H u m e s c h e n - » U t i l i t a r i s m u s auf ein K o n z e p t m e n s c h l i c h e r G a t t u n g s solidarität als G e m e i n s c h a f t s i n n l i c h - k o n k r e t e r S y m p a t h e t i k hin. Bei F. —»Nietzsche ist Sinnlichkeit d e r E r m ö g l i c h u n g s h o r i z o n t f ü r die geschichtlic h e n A r t i k u l a t i o n e n des Willens z u r M a c h t . I n s o f e r n ist dieser Wille zugleich a u c h i m m e r I n t e r p r e t a m e n t dessen, w a s i n n e r h a l b des Bereichs des Sinnlichen als Evolut i o n s - P o t e n t i a l auf d e n Ü b e r m e n s c h e n hin i m m a n e n t v o r g e g e b e n u n d a k t u i e r b a r erscheint. 5. Gegenwärtiger
Problemstand
In der weiteren E n t w i c k l u n g durchlief d e r sensualistische S t a n d p u n k t vor allem zwei U m f o r m u n g e n : I n n e r h a l b der m o d e r n e n n e o - e m p i r i s t i s c h e n W i s s e n s c h a f t s t h e o r i e ( - • W i s s e n s c h a f t / W i s s e n s c h a f t s t h e o r i e ) w i r d er in einen (durch stets subtilere M e t h o -
152
Sensualismus
denreflexion g e k e n n z e i c h n e t e n ) P h ä n o m e n a l i s m u s u m g e w a n d e l t : H i l a r y P u t n a m (geb. 1 9 2 6 ) sind hierfür zwei Beispiele.
N. Goodman
und
Nachdem der naive —»Realismus vor allem durch die moderne (Kern-)Physik und Sinnesphysiologie in eine Krise geriet, rücken so Gewißheitsfragen in den Vordergrund: Inwieweit können die Sinneserfahrung und eine darauf aufbauende Sprache trotz ihrer erwiesenen Relativität noch Grundlage strenger Wissenschaftlichkeit bleiben - wo doch ohne Sinnesdaten letztlich überhaupt keine Naturwissenschaft möglich ist? Und, wichtiger noch für das Alltagsbewußtsein: Was unterscheidet eigentlich eine wahre von geträumter u. ä. Wirklichkeit? (Eine Antwort könnte wohl lauten, daß hier nur das Kriterium der Totalität all unserer Erfahrungsdaten durch die gesamte Zeitdimension unseres Gedächtnisses hindurch zusamt all unseren gedanklichen Operationsregeln als ausnahmslos harmonisch-integrierter Einheit - nämlich dann: von Bewußtsein und Gegenstandswelt - eine Lösung bringen dürfte.) Hingegen gilt für die schon von Epikur aufgestellte These, Sinneswahrnehmung als solche sei stets und grundsätzlich unbezweifelbar korrekt, daß nicht nur die altbekannten neuronalen Phantomerscheinungen dem entgegenstehen, sondern auch Erkenntnisse der modernen -»Psychologie (z.B. von Jean Piaget [ 1 8 9 6 - 1 9 8 0 ] u.a.), daß Sinneswahrnehmungen grundsätzlich und niemals uninterpretiert, von einem bzw. durch ein schon gegebenes Bewußtsein, zu haben sind (ein Derivat u.a. auch von Karl Poppers [ 1 9 0 2 - 1 9 9 4 ] Position). In eine a n d e r e R i c h t u n g zielt die T h e m a t i k , w e n n e n t w e d e r in der K o n s e q u e n z des Z u f a l l s a n s a t z e s und bei gleichzeitiger Skepsis g e g e n ü b e r jeder systemkonfigurierten Met h o d i k das sinnlich G e g e b e n e als geeignetster P l a t z h a l t e r für M ö g l i c h k e i t e n des existenzialen D a s e i n s s i n n e s fungieren k a n n , i n s b e s o n d e r e falls m a n als zusätzliche Interpretation einen das Sinnliche e n t m ä c h t i g e n d e n M a c h t w i l l e n , a u f der F o l i e gesellschaftsevolutiver Prozesse, durch die G e s c h i c h t e h i n d u r c h mit ins Spiel bringt: D a n n w ü r d e metareflexiv als s t r u k t u r o l o g i s c h e F o l g e die „ p s y c h o a n a l y t i s c h e " Seite des f r a n z ö s i s c h e n postm o d e r n e n D e n k e n s ( J a c q u e s L a c a n [ 1 9 0 1 - 1 9 8 1 ; s. - » S p r a c h e / S p r a c h w i s s e n s c h a f t / S p r a c h p h i l o s o p h i e ] ; M . F o u c a u l t ) resultieren. O d e r a b e r m a n bleibt a u c h hier - bei grundsätzlich gleicher s k e p t i s c h e r Einstellung g e g e n ü b e r jeder ( p h i l o s o p h i s c h e n ) System a t i k (oder gar t r a n s z e n d e n t a l - p h i l o s o p h i s c h e n Fragestellungen) - a u f dem N i v e a u eines sensualistischen P h ä n o m e n a l i s m u s und k o n z e n t r i e r t sich a u f die dann b l o ß n o c h übrigb l e i b e n d e R e s t a n a l y s e von unter d e m T i t e l von Erzählungen allein n o c h m ö g l i c h e n Zeic h e n k o n t e x t e n (welcher Art a u c h i m m e r ) eigenen, n ä m l i c h n i c h t s u b j e k t i v e n , R e c h t s ( J . D e r r i d a ; J . - F . L y o t a r d ) : Sinnliches erhielte d a n n , mediatisiert, R a n g und Funktion einer E p i p h ä n o m e n - S p h ä r e . Stillschweigendes Postulat im Hintergrund all dieser Positionen ist, wie schon bei Hume, die Ansicht, daß nach Ermöglichungsgründen apriori, also nach aus dem „Wesen" bzw. der Kernstruktur eines (in sich identischen) Sachverhalts selbst: sei es der Elementarbestandteile, sei es von deren verbindenden Operationsregeln, apriori nicht gefragt werden dürfe. Insoweit genau dies nicht mehr reflektiert wird, erweist sich hier ein massiver Dogmatismus am Werk. Literatur S.a. die Lit. zu den Art. -»Empirismus, —»Materialismus, -»Positivismus/Neopositivismus und -•Pragmatismus. Georges Bataille, L'érotisme, Paris 1946; dt.: Der hl. Eros, Neuwied 1963. - Johanna Borek, Sensualismus u. Sensation, Wien 1983. — Etienne Bonnot de Condillac, Traité des sensations, Paris 1754 = ders., Oeuvres phil., hg. v. Georges Le Roy, Paris 1 9 4 7 - 1 9 5 1 ; dt.: Abh. über die Empfindungen, hg. v. Lothar Kreimendahl, Hamburg 1982 (PhB 25). - Victor Cousin, La phil. sensualiste au dix-huitième siècle, Paris 1856. - Heinrich Czolbe, Neue Darst. des Sensualismus, Leipzig 1855. Gilles Deleuze, Empirisme et subjectivité, Paris 1953. - Ders., Logique du sens, Paris 1969. - Jacques Derrida, La voix et le phénomène, Paris 1967; dt.: Die Stimme u. das Phänomen, Frankfurt a.M. 1 9 7 9 . - M i c h e l Foucault, Histoire de la sexualité, Paris 1976ff.; dt.: Sexualität u. Wahrheit, Frankfurt a . M . , I 1977 I I - I I I 1986. - Nelson Goodman, The Structure of Appearance, Cambridge, Mass. 1951 = Indianapolis, Ind. 2 1966 Dordrecht 3 1977. - Rodney J . Hirst, The Problem of Perception, London 1955. — Lucien Israël, Die unerhörte Botschaft der Hysterie, München 1983. — Friedrich Kambartel, Erfahrung u. Struktur. Bausteine zu einer Kritik des Empirismus u. Formalismus, Frankfurt a . M . 1968. - Lorenz Krüger, War John Locke ein Empirist?: StLeib 2 (1970) 2 6 1 - 2 8 3 . - Ders., Empirismus u. Sensualismus: ders., Der Begriff des Empirismus, Berlin/New York 1973, 5 6 - 6 8 . Jean-François Lyotard, Economie libidinale, Paris 1974; dt.: Ökonomie des Wunsches, Bremen
Separatisten/Separatismus
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1984. - Ernst Mach, Die Analyse der Empfindungen u. das Verhältnis des Physischen zum Psychischen, Jena 1886 '1922 = Darmstadt 1985. - Herbert Marcuse, Triebstruktur u. Gesellschaft, Frankfurt a.M. 1965. - Helmuth Plessner, Einheit der Sinne: ders., GS, hg. v. Günter Dux/Odo Marquard/Elisabeth Ströker, Frankfurt a. M., III 1980, 7 - 3 1 5 . - Alfred Schmidt, Emanzipatorische Sinnlichkeit, München 1973. - Hermann Schmitz, System der Phil. II/l. Der Leib, Bonn 1965. Rainer Specht, Sinnliches Wissen bei Locke: FS Carl Friedrich v. Weizsäcker, München 1982, 253 — 262. - Kathleen M. Squadrito, Locke's Theory of Sensitive Knowledge, Washington, D.C. 1978. Harald Holz
Sentenzen - * Petrus Lombardus,
Scholastik
Separatisten/Separatismus 1. Begriffsgeschichte Stellung der Separatisten
2. Motive der Separation 3. Historischer Überblick (Quellen/Literatur S. 158)
4. Rechtliche
Separatismus bezeichnet im deutschen und englischen Sprachgebrauch kirchliche oder politische Absonderungs- und Loslösungsbestrebungen. 1.
Begriffsgeschichte
Die Begriffsgeschichte ist noch unerforscht; die folgenden Beobachtungen haben daher notgedrungen vorläufigen Charakter. 1.1. Wesentlich älter als die heute gängige politische Verwendung der Begriffe „Separatisten, Separatismus" ist der kirchliche Sprachgebrauch zur Bezeichnung für die Absonderung einzelner Personen oder Gruppen von einer (Mutter-)Kirche oder von jeglicher Form von verfaßter Kirchlichkeit. Gegenüber den seit der Alten Kirche gebräuchlichen und bis zur Gegenwart im römisch-katholischen Kirchenrecht (can. 751 CIC) verwendeten Begriffen —»Schisma/Schismatiker sind die Bezeichnungen Separatisten/Separatismus erst in der frühen Neuzeit auf dem Boden des Protestantismus entstanden. Sie stellen gewissermaßen protestantische Varianten dar, obgleich der Terminus Schisma noch weiter verwendet wurde. Der Begriff „Separatist" kam Ende des 16. J h . in England auf als polemische Fremdbezeichnung (vgl. Bloomfield) für schon länger bestehende radikale Kreise im —•Puritanismus, die eine Trennung („Separation") von der anglikanischen Staatskirche vollzogen hatten und von ihr abgesondert („separat/ -ed") gottesdienstliche Versammlungen hielten. Auf dem Kontinent wurde die Bezeichnung seit der zweiten Hälfte des 17. J h . auf Gruppen übertragen, die sich von den reformatorischen Kirchen trennten. Die Brücke für den terminologischen Transfer bildeten die Niederlande, wo das Schlagwort durch emigrierte englische Separatisten seit langem bekannt war und offenbar im Zusammenhang mit der Absonderung J . de -»Labadies rezipiert wurde. In Deutschland bürgerte sich die Bezeichnung Separatisten in den Auseinandersetzungen um die Konventikel des —»Pietismus ein; so benannt wurden dessen radikale Vertreter, die sich von Gottesdienst und Sakramenten der lutherischen bzw. reformierten Landeskirchen fernhielten. Die Abstraktbildung Separatismus ist wie in vergleichbaren Fällen jünger als das Konkretum Separatist bzw. die lateinische Neubildung separatista. Seit dem 19. J h . blieben die Begriffe Separatisten/Separatismus nicht mehr auf ihre ursprünglichen historischen Haftpunkte beschränkt, sondern wurden verallgemeinernd auch für kirchengeschichtliche Erscheinungen älterer Epochen gebraucht sowie auf kirchliche Abspaltungen der jeweiligen Gegenwart angewandt. Das mittelalterliche Kirchenrecht verwendete separate/separatio u.a. für die Ausschließung der Gebannten. Anknüpfend an einschlägige Stellen (CIC[L] 2,912 und 374) resümierte z. B. J. ->Hus: Minor excommunicacio est separacio per peccatum mortale a participatione bonorum spiritualium ... Maior excommunicacio est separacio, quam prelati ecclesie publicant in hominem tamquam
154
Separatisten/Separatismus
publicum peccatorem, per quam secludunt eum a conversacione cbristianorum et a sacramentorum participacione (Der kleinere Bann ist die Absonderung durch eine Todsünde von der Teilhabe an den geistlichen Gütern ... Der größere Bann ist die Absonderung, den die Prälaten der Kirche gegen einen Menschen als öffentlichen Sünder verkünden, durch den sie ihn von dem Umgang der Christen und von der Teilhabe an den Sakramenten ausschließen; Tractatus de ecclesia, ed. Samuel Harrison Thomson, Cambridge 1956, 214). Demgegenüber trennen sich Schismatiker selbst von der kirchlichen Gemeinschaft: semetipsos segregantes (c. 34 C. X X I V q. 1; C1C[L] 2,979). In der Reformationszeit wehrten sich die Protestanten gegen den Vorwurf, durch die Trennung von der katholischen Hierarchie ein Schisma zu verursachen (BSLK 3 4 5 , 4 - 6 ) , mit dem Hinweis: Isti rationem schismati reddent, qui manifestam veritatem initio condamnaverunt et nunc summa crudelitate persequuntur (Diejenigen geben Grund zum Schisma, die anfangs die offenbare Wahrheit verdammt haben und sie nun mit höchster Grausamkeit verfolgen; BSLK 4 0 3 , 9 - 1 1 ) . Die Konkordienformel blickt zurück auf sckismata in negotiis fidei..., quae in nostra tempora inciderunt!„die Trennung in Glaubenssachen ..., zu unsern Zeiten eingefallen" (BSLK 7 6 8 , 2 3 - 2 5 ) . Gelegentlich begegnet das Stichwort separate zur Beschreibung des inkriminierten schismatischen Verhaltens; so lautete der Vorwurf der Delegation des Konstanzer Bischofs gegenüber den Zürcher Anhängern —•Zwingiis: ausos esse quosdam sese a reliquis Christianis separate et a Christiana ecclesia (daß einige es gewagt hätten, sich von den übrigen Christen und der christlichen Kirche zu trennen; CR 8 8 , 1 4 5 , 2 4 - 2 6 ) . Die Vertreter des „linken Flügels" der Reformation bezeichneten ihre Trennung von den Kirchen als „Absonderung, sich absondern"; —»Schwenckfeld verwendete dafür separate oder segregare (CSch IX,207,7 u.ö.) als lateinische Äquivalente. Die Reformatoren gebrauchten gegenüber den Täufern nicht den Begriff Schisma, sondern sprachen meist von „Rotten(geistern)" und Absonderung der „—»Sekten". Zwingli nennt die Trennung der Täufer eine secessio (CR 93/1,35,8f. 13) und übersetzt deren Begriffe „sich absondern/Absonderung" mit separari/separatio (ebd. 122f.). Der Erstbeleg für die englische Neubildung „Separatist" verbindet die Benennung mit dem herkömmlichen Begriff Schisma (Richard Bernard, The Separatists Schisme, 1608), und auch die folgende Polemik behielt neben dem neuen Namen die herkömmliche Klassifizierung „schism/ schismatical" bei, während die Separatisten selbst von ihrer berechtigten „Separation" sprachen (John Robinson, A Justification of Separation from the Church, 1610). Die englische Abstraktbildung „separatism" ist zuerst 1628 nachweisbar (Merriam-Webster's Collegiate Dictionary, Springfield, Mass. , 0 1988, s.v.). Aufschlußreich für die Begriffsgeschichte sind die Titelvarianten einer Schrift Labadies: die lateinischen Termini Schisma bzw. Secessio sind hier Äquivalente für den deutschen Begriff Absonderung. G. -»Voetius kannte 1669/1676 die lateinische Neubildung separatista (Voetius, Politica ecclesiastica III, 541), aber noch nicht den Abstraktbegriff Separatismus, der erst im letzten Viertel des 17. Jh. aufgekommen zu sein scheint. Bei Ph.J. —»Spener, der noch oft — auch im Blick auf pietistische Separationen — die herkömmliche Bezeichnung Schisma benutzte (Theol. Bedencken 2,72; 3,300f. u.ö.), erscheint er zuerst 1677 als noch nicht geläufige ( n o n d u m capio) Begriffsbildung (Consilia 3,150; vgl. Letzte Bedencken 3,241 f. u.ö.). Doch schnell bürgerte er sich als theologischkirchenpolitisches Kampfwort ein und wurde in theologischen Disputationen (zuerst Schomerus 1686) inhaltlich entfaltet. Die orthodoxe Polemik stellte „Separatist/Separatismus" gern mit traditionellen Sektiererbezeichnungen zusammen („die Schwärmer, Enthusiasten und Separatisten insgemein" [UnNachr 1712, 143 u.ö.]). Im 18. Jh. gehörten die Begriffe zu den geläufigen Schlagworten (reiche Belege: Hans Schulz/Otto Basler, Dt. Fremdwörterbuch, Berlin/New York, IV 1978, 136f. - hier freilich die irrige Angabe, daß die Begriffe erst seit dem 18. Jh. belegt seien). Die Entschränkung der Terminologie durch ihre Anwendung auf kirchengeschichtliche Erscheinungen älterer oder neuerer Zeiten (M. Schmidt, Art. Separatismus; ders., Art. Separatisten) setzt strukturelle Analogien voraus, die einen typisierenden Sprachgebrauch rechtfertigen. Freilich können auch aktuelle kirchenpolitische Interessen die Übertragung mitbestimmen (Friedrich Ribbeck, Donatus und Augustinus oder der erste und entscheidende Kampf zwischen Separatismus und Kirche, Elberfeld 1858). 1.2. D e r politische Begriff ist offensichtlich aus dem kirchlichen S p r a c h g e b r a u c h entlehnt. E r bezeichnet (wie der veraltete Begriff Sezession - z. B . Sezessionskrieg, der durch den Austritt der S ü d s t a a t e n aus der U n i o n ausgelöste n o r d a m e r i k a n i s c h e Bürgerkrieg 1861 — 1865) das B e s t r e b e n , Teile eines S t a a t e s o d e r S t a a t e n b u n d e s a b z u t r e n n e n und zu verselbständigen. Im 19. J h . wurden für politische A b l ö s u n g s t e n d e n z e n neben Ausdrükken wie „ S o n d e r b ü n d e l e i " gelegentlich auch s c h o n „ S e p a r a t i s m u s " und „ s e p a r a t i s t i s c h " g e b r a u c h t (Belege bei Schulz/Basler, D t . F r e m d w ö r t e r b u c h [s.o. 1.1.] IV, 1 3 6 f . ) , doch gingen die Begriffe S e p a r a t i s t e n / S e p a r a t i s m u s endgültig erst nach dem Ersten Weltkrieg
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in die politische Sprache ein. Damals wurden sie für die Bestrebungen verwendet, die Gebietszugehörigkeit der mittel- und niederrheinischen Gebiete neu zu bestimmen und deren staatsrechtliche Verselbständigung zu erreichen (rheinische Freistaatsbewegung 1 9 1 9 - 1924). Heute werden die Bezeichnungen allgemein für Bemühungen ethnischer und religiöser Minderheiten gebraucht, politische Selbstbestimmung und staatliche Eigenständigkeit zu erreichen. Seit den politischen Umbrüchen nach dem Zweiten Weltkrieg sind sie in fast allen Erdteilen anzutreffen; in jüngster Zeit entstanden nach dem Zusammenbruch des Kommunismus in Osteuropa separatistische Bewegungen, die zur Entstehung neuer bzw. Wiederherstellung ehemaliger Staaten führten. 1.3. In der französischen, italienischen und spanischen Rechtssprache ist „séparatisme" bzw. „separatismo" terminus technicus für die Trennung von —»Kirche und Staat (z.B. Graziani 1288f.). 2. Motive
der
Separation
Kirchlicher Separatismus erwächst als letzte Konsequenz aus der Kritik an der kirchlichen Gemeinschaft, von der sich die Separatisten trennen; in seiner extremsten Gestalt ist er die Absage an jede Art von verfaßtem Kirchenwesen überhaupt. Häufig wird die Kirchenkritik zunächst im Rahmen einer Reformbewegung vorgebracht, nach nicht erfüllten Reformforderungen dann die Separation vollzogen. Bot sich der mittelalterlichen Kirche in der Institution des - » M ö n c h t u m s die Möglichkeit, in vielen Fällen sogar radikale Reformforderungen zu kanalisieren und auf diese Weise kirchlich zu integrieren, so war dies dem Protestantismus, der einen vollkommeneren christlichen Sonderweg ablehnte, verwehrt. Die Motive, die im Protestantismus zu separatistischen Erscheinungen führten, sind vielfältiger Art: gemeinsam ist die Kritik an den Erscheinungsformen der Mutterkirche, sei es in ihren Verfassungs- und Lebensformen, ihrer Kompromißbereitschaft gegenüber der „ W e l t " und kirchlichen Traditionen („papistische" Reste) oder auch an ihrer Lehre. (Ebensowenig wie ein Schisma in jedem Falle —»Häresie impliziert, schließt auch der Separatismus nicht notwendig heterodoxe Abweichung von der Lehre der Mutterkirche ein, doch liegen den meisten Separationen abweichende ekklesiologische Konzeptionen zugrunde.) Die separatistischen Ziele können sich auf die Wiederherstellung der wahren, reinen, ursprünglichen Gestalt der Kirche (häufig Urchristentum als ideale Norm) richten, zu der unbußfertige, unbekehrte „Namenschristen" nicht gehören, die „ w a h r e n " Christen aber alle biblischen Weisungen (z. B. aus der Bergpredigt abgeleiteten Pazifismus) konsequent befolgen und die Gemeinden durch rigorose —>Kirchenzucht (—»Bann) rein bleiben sollen. Das Leitbild kann aber auch ein Geistchristentum sein, das keiner äußeren Verfassung, keiner dogmatischen Systeme, keines Kirchenrechts und Kultus bedarf. Die Tendenz zum Separatismus kann durch die Erwartung des nahen Weltendes oder des Tausendjährigen Reiches (apokalyptische Formen des Täufertums; radikalpietistischer Chiliasmus) verstärkt werden. Oft sammeln sich separatistische Gemeinden um faszinierende Leitfiguren, denen als göttliche Werkzeuge, Propheten oder ähnliches besondere Gaben beigemessen werden. Verbindende religiöse Erfahrungen (Bekehrung, Erleuchtung), gemeinsame religiöse Erlebnisse (Zungenrede, Wunderheilungen in Pfingstkirchen/Charismatischer Bewegung) können zu einem elitären Selbst- und Gruppenverständnis führen, das die separatistische Tendenz fördert. F.D.E. —»Schleiermachers Charakterisierung des Separatismus als derjenigen „Zustände, welche vornehmlich auf geschwächten Gemeinschaftstrieb deuten" (Kurze Darstellung des theologischen Studiums, Darmstadt *1961, §§ 5 7 - 6 1 , vgl. § 234), trifft nur für individuellen Separatismus zu, während in den meisten Separationsgemeinden gerade ein ausgeprägtes Bedürfnis nach enger Gemeinschaft besteht, das die Großkirchen nicht befriedigen können. E. -»Troeltschs Unterscheidung der sich von der Kirche separierenden Gruppen in die soziologischen Typen „ S e k t e " und „ M y s t i k " (Die Soziallehren
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der christlichen Kirchen und Gruppen, Tübingen 1912) ist zwar heuristisch hilfreich, wird aber der komplexen Vielfalt der geschichtlichen Erscheinungsformen (z. B. spiritualistische Täufer) schwerlich gerecht. 3. Historischer
Überblick
3.1. Die Gruppen der „radikalen Reformation" (-»Reformation 1.2.1.) verlangten eine über die reformatorischen Hauptströmungen hinausgehende, nach ihrer Meinung konsequente Reform der Kirche. Als diese Forderungen sich nicht als mehrheitsfähig erwiesen und sich vor allem die Obrigkeiten diesen Bestrebungen versagten, gingen die Radikalen in die Separation oder wurden dazu gedrängt. Das Täufertum (—»Täufer) vertrat programmatisch „die heyligkeit und absonderung von der weit gemeynschafft" (H. -»Denck, Schriften, hg. v. Georg Baring, 1 1955 [ Q G T 6] 82,37f.). Die Schleitheimer Artikel (1527; —»Sattler) zählten unter „dy grewel/welche wir meiden sollen und fliehen" auch „alle Bäpstliche vnd widerbäpstliche [reformatorische] werk vnnd Gottesdienste/ versammelung/kirchgang" (ed. Heinrich Böhmer, Urkunden zur Gesch. des Bauernkriegs und der Wiedertäufer, 1933 [KIT 50/51] 30). Einen Abschnitt „Von der Absonderung" enthielten alle täuferischen Lehrschriften (z. B. Peter Riedemann, Rechenschafft unserer Religion, Leer vnd Glaubens, von den Brüdern so man die Hutterischen nent aussgangen [verfaßt 1556], o.O. 1565 [Nachdr. Cayley, Alberta (Kanada) 1962 u.ö.; Birnbach 1992]). Die stetige Sorge um die strenge Trennung von der Welt führte im Täufertum des 16. und 17. Jh. wiederum zu einer Reihe von Abspaltungen. 3.2. Dem mystischen -»Spiritualismus stellte sich das Problem der Absonderung in anderer Weise. Grundlegend war die innere Distanz von aller äußeren Kirchlichkeit zugunsten eines inwendigen Gottesdienstes „im Geist und in der Wahrheit" (Joh 4,24), die Abwertung aller verfaßten Kirchen und auch der Täufergemeinden als „parteiischer Sekten" im Gegensatz zur Geistkirche. S. —»Franck betonte, daß die wahre Kirche Gottes niemals „ein fingerzaygen [sc. eine sichtbare, auf die man mit Fingern zeigen kann] sect ist/sonder er [Gott] allayn im Geist vnd glauben versammlet" (Das Verbüthschiert mit siben Sigeln Verschlossen Büch ..., Augsburg 1539 [Nachdr. Frankfurt a.M. 1975] 427r). V. —»Weigel stellte den Gegensatz zwischen der wahren unsichtbaren allgemeinen („catholischen") Kirche und den „Sekten" heraus und betonte: „Wer in Christo ist vnd Christus in ihme, der ... ist in der heiligen Kirchen, er sey gleich wo ehr wolle, vnter Luther, Papst oder Türcken etc." (Dialogus de christianismo [1584]: ders., Sämtl. Schriften, hg. v. Will-Erich Peuckert, Stuttgart-Bad Cannstatt, IV 1967, 66f.). Diese spiritualistische Konzeption bot für das praktische Verhalten zwei Optionen: Entweder konnte man sich von dem verachteten „Sektenwesen" der „Mauerkirchen" zurückziehen (individueller Separatismus) oder äußerlich - da dies doch als ganz irrelevant betrachtet wurde — angepaßt, doch in völliger Indifferenz im Rahmen einer Konfession leben (wie etwa Weigel, der bis zu seinem Tod als lutherischer Pfarrer wirkte). Die Ekklesiologie der Spiritualisten schloß jedenfalls verfaßte separatistische Gemeindegründungen aus; sie beabsichtigten, „kain aigne Sect/odder kirche ahnzurichten" (CSch V,29), sondern pflegten untereinander nur formlose Gemeinschaft. 3.3. In -»England entstanden erste Separationen während des unter —»Elisabeth I. (1558-1603) erreichten „settlement" der englischen Staatskirche. Eine radikale Minderheit der Puritaner sah ihre Hoffnungen auf eine konsequente schriftgemäße Reformation getäuscht, betrachtete die anglikanische Kirche wegen ihrer bischöflichen Verfassung und ihrer Verflechtung mit dem Staat als nicht reformfähig. Etliche Mitglieder von Separatistengemeinden, die vor allem in Ostengland entstanden, emigrierten unter dem Druck der Verfolgung in die Niederlande (Middelburg, Amsterdam, Leiden). Ihre Wortführer Robert Browne (ca. 1550 — ca. 1633; „Brownisten"), John Robinson (ca. 1 5 7 5 1625) u.a. veröffentlichten im Exil programmatische Manifeste (Browne, A Treatise of
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Reformation, 1582; R o b i n s o n , A Justification of Separation, 1610), deren ekklesiologische Prinzipien für den - » Kongregationalismus grundlegend wurden. Eine Gruppe aus R o b i n s o n s Leidener Gemeinde, die „Pilgerväter", wanderte 1620 nach Nordamerika aus. Im Separatismus liegen auch die Anfänge der englischen —»-Baptisten, deren erste Gemeinde sich 1609 aus einer Emigrantengemeinde unter Leitung von J o h n Smyth (ca. 1 5 6 5 - 1 6 1 2 ) im Amsterdamer Exil formierte. Später faßte man alle von der englischen Staatskirche separierten kirchlichen Gruppen, die das Uniformitätsgesetz von 1662 ablehnten, unter dem Begriff „Dissenters" zusammen. 3.4. In den -»Niederlanden führte die Separation J . de Labadies von der Reformierten Kirche zu einer intensiven Diskussion; ecclesiasticae separationes wurden in zwei Arten
unterteilt: vel licitae, immo et necessariae
vel illicitae et illegitimae,
quae sunt et dicuntur
schismata (entweder erlaubte, ja sogar notwendige oder unerlaubte und unrechtmäßige kirchliche Trennungen, welche Schismen sind und genannt werden); zur ersten Kategorie gehöre die Trennung der Reformation von der katholischen Kirche, zur zweiten die Abspaltung der (nicht namentlich genannten, aber deutlich gemeinten) Labadisten (G. Voetius, Politica ecclesiastica III, 488 [ - 5 8 7 ] ) . 3.5. Der Pietismus enthielt ein latentes separatistisches Potential. Die Analyse der kirchlichen Mißstände konnte zur Resignation an der Möglichkeit einer R e f o r m , die Aussonderung der Frommen in der Kirche (Speners ecclesiola in ecclesia) zur Absonderung von der Kirche, die Absage an die „ W e l t " zur Trennung von einer als weltlich erlebten Kirche führen. In allen Gebieten, die vom Pietismus erfaßt wurden, gab es separatistische Erscheinungen, und zwar sowohl individuellen Separatismus als auch separatistische Gemeinschaftsbildungen (-»Pietismus 8.). Der Schritt zur Separation war von verschiedenen (theologischen, kirchenpolitischen, gruppendynamischen) Konstellationen abhängig. Die separatistischen Gefahren traten schon in den Anfängen des reformierten wie des lutherischen Pietismus zutage. In T h . —»Undereycks Mülheimer Gemeinde kam es bald nach seinem Weggang unter labadistischem Einfluß zu einer separatistischen Krise, wie überhaupt im Rheinland die Anziehungskraft des Labadismus besonders groß blieb. In Frankfurt bildete sich sogar schon während Speners Wirken eine radikale Richtung, die den Weg in die Separation nahm. Die meisten pietistischen Separatisten standen in der Tradition des mystischen Spiritualismus. Als „Unparteiische" wollten sie „nimmermehr eigenen anhang, secten und hauffen, formen oder weisen des Gottesdiensts als neue babylonische türme m a c h e n " (Arnold § 19) und verwarfen nach ihrem Ausgang (II Kor 6,17: exite de medio eorum et separamini\) aus den „ B a b e l " Kirchen jede äußere Gemeindebildung als neue „Sektiererei" (Gruber 15). Sie schlössen sich zu formlosen Konventikeln und lockeren philadelphischen Sozietäten zusammen. Die auf die Jahrhundertwende gerichtete chiliastische Erwartung ließ den Separatismus anwachsen und die damit verbundenen sozialen Risiken gering achten. Einen chiliastischen Hintergrund haben auch die festen Organisationsformen, die sich in den —»Inspirationsgemeinden und in der Sozietät der E. von —»Buttlar ausbildeten. An älteres täuferisches Gedankengut knüpften die biblizistischen Neutäufer ( - » B r ü d e r [Church of the Brethren]) an, die „eine unumgängliche nothwendige Absonderung im neuen Bunde/ zwischen Glaubigen und Ungläubigen" ( M a c k 41) forderten und eine strenge Gemeindezucht einführten. 3.6. Im 19. J h . gaben in -»Deutschland die - » U n i o n e n oder eine unionistische Kirchenpolitik den Anlaß für die Separation altlutherischer Gemeinden von verschiedenen Landeskirchen (—»Selbständige Evangelisch-Lutherische Kirche), vor allem aber bildeten die Erweckungsbewegung (-»Erweckung/Erweckungsbewegungen) und ihre Nachwirkungen den Hintergrund für Separationen in verschiedenen Ländern und für den Zusammenschluß separierter Gruppen zu neuen Kirchen, -»Freikirchen und sonstigen religiösen Gemeinschaften (Gereformeerde Kerk in den -»Niederlanden und altreformierte
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Gemeinden in —»Ostfriesland, Free Church in —»Schottland [s. T R E 30,396,23-35; —»Presbyterianer 4.2.2.], Eglises libres in der französischen —»Schweiz, Svenska Missionsförbundet in —»Schweden, —»Katholisch-apostolische Gemeinde, —»Darbysten u.a.). Als Motive wirkten in unterschiedlicher Gewichtung und Verbindung der Widerspruch gegen die in Kirche und Theologie eingedrungene -»Aufklärung, die Erneuerung und Verstärkung des konfessionellen Bewußtseins (—»Konfessionalismus) und die Belebung geistlichen Selbständigkeitsstrebens gegenüber staatlicher Einflußnahme. 3.7. Der Neupietismus des 20. Jh. (-»Gemeinschaftsbewegung, —»Pfingstkirchen/ Charismatische Bewegung, —»Pietismus 14.) läßt bei seinen verschiedenen Erscheinungsformen und Gruppierungen eine erhebliche Variationsbreite im Kirchenverständnis mit der Spannung zwischen volkskirchlichen und freikirchlichen Konzeptionen erkennen. Die Tendenz zum Separatismus wird gefördert durch die Entwicklung alternativer Institutionen. Seit Beginn der 1980er Jahre mehrten sich Stimmen im evangelikalen Lager, die eine Trennung von den Landeskirchen forderten (F. Jung 4f.l50ff.217ff.). 4. Rechtliche
Stellung der
Separatisten
4.1. In Deutschland galten seit dem 16. Jh. alle von den im —»Augsburger Religionsfrieden und später im —»Westfälischen Frieden zugelassenen „Religionen" (Konfessionen) bzw. „Religionsparteien" sich separierenden Gemeinschaften als —»Sekten. Diese Klassifizierung implizierte nicht nur die theologische Wertung aus der Sicht der Konfessionskirchen, sondern war zugleich auch ein Rechtsbegriff. Sekten waren keine Rechtssubjekte und genossen keinen Rechtsschutz (—»Religionsfreiheit; —»Religionsgesellschaften), sondern galten als illegale Zusammenrottungen. Im Westfälischen Frieden wurde ausdrücklich festgelegt, daß außer Katholiken, Lutheranern und Reformierten nulla alia religio vel secta toleretur (keine andere Religion oder Sekte geduldet werden soll; Instrumentum Pacis Osnabrugensis [ed. Karl Müller, Instrumenta Pacis Westphalicae, 1949 (QNG 1 2 - 1 3 ) ] , Art. VII § 2; „Sektenverbot"). Gleichwohl haben einige Reichsstände zur „Repeuplierung" und wirtschaftlichen Sanierung ihrer Länder nach dem -»Dreißigjährigen Krieg vor allem Täufer geduldet. Erstmals verkündete 1712 der pietistisch geprägte Graf Ernst Casimir von Ysenburg-Büdingen (1687-1749) ein (gegen das Reichsrecht verstoßendes, daher beim Reichskammergericht inkriminiertes) Edikt, in dem er „vollkommene Gewissens-Freyheit" sogar für diejenigen proklamierte, die „entweder aus Gewissens-Scrupel/oder aus Überzeugung sich gar zu keiner äusserlichen Religion" hielten. Die Ysenburger und die gleichfalls toleranten Wittgensteiner Grafschaften wurden zu Eldorados für Separatisten. Im Laufe des 18. Jh. wurde das Sektenverbot in der politischen Praxis zunehmend gelockert. Vorreiter war das aufgeklärte Preußen, wo die schon seit dem 17. Jh. praktizierte Duldung von kleineren Religionsgemeinschaften im Wöllnerschen Religionsedikt 1788 bestätigt und diesen 1794 im Allgemeinen Preußischen Landrecht (§§ 20—26) die Rechtsstellung von privaten Vereinigungen zuerkannt wurde. 4.2. In den Niederlanden herrschte seit der Union von Utrecht 1579 weitgehende Toleranz (Freiheit der häuslichen Andacht für alle), die das Land zu einem Refugium von Personen und Gruppen verschiedenster religiöser Provenienz machte, die anderswo verfolgt wurden, und in niederländischen Städten Publikationszentren heterodoxer Literatur entstehen ließ. In England gewährte O. —»Cromwell den Dissenters freie Religionsausübung, durch die Toleranzakte von 1689 wurde ihnen das Recht auf öffentlichen Gottesdienst endgültig gesichert, selbst wenn sie die vollen bürgerlichen Rechte erst viel später erhielten. Quellen
(Auswahl)
Henry Ainsworth, Counterpoyson. Considerations touching the Points in Difference between the Godly Ministers & People of the Church of England, and the Seduced Brethren of the Separation ..., Amsterdam [?| 1608 London 2 1642. - [Anon.,] The Arraignement of Superstition; or, a Discourse
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b e t w e e n a P r o t e s t a n t , a G l a z i e r , a n d a S e p a r a t i s t ..., L o n d o n 1641 [Satire]. - G o t t f r i e d A r n o l d , E r k l ä r u n g / V o m g e m e i n e n S e c t e n - w e s e n / K i r c h e n - u. A b e n d m a h l - g e h e n ; W i e a u c h V o m recht-Ev. L e h r - A m t / u . r e c h t - C h r i s t l . F r e y h e i t . . . , L e i p z i g 1700. - R i c h a r d B e r n a r d , C h r i s t i a n A d u e r t i s s e m e n t s a n d C o u n s e l s o f P e a c e . A l s o D i s s w a s i o n s f r o m the S e p a r a t i s t s S c h i s m e , C o m m o n l y C a l l e d B r o w n isme, L o n d o n 1608. - D e r s . , Plaine E u i d e n c e s , the C h u r c h o f E n g l a n d is A p o s t o l i c a l l , the S e p a r a t i o n S c h i s m a t i c a l l ..., L o n d o n 1610. - R o b e r t B r o w n e , A T r e a t i s e o f R e f o r m a t i o n w i t h o u t T a r r y i n g for Anie, M i d d e l b u r g 1582. - T o b i a s Eisler, B e d e n c k e n v. d e r s o g . S e p a r a t i o n , o . O . 1728 2 1730. - Philip H e n r i c h G e y e r , G r ü n d l i c h e r Bericht v. der W a h r e n T a u f f ... W o r i n n e n er die U r s a c h seiner A b s o n d e r u n g Von der R e f . K i r c h e n an den T a g leget, O f f e n b a c h 1699. - J o h a n n A u g u s t G r e n t z e l , D e r g e p r ü f t e S e p a r a t i s t , o d e r d e r h ö c h s t n ö t h i g e n S e p a r a t i o n u. Freygeisterey e n t g e g e n s t e h e n d e reine Ev. Warheit, S o r a u 1752. - A n d r e a s G r o ß , D e r F e s t e G r u n d der w a h r e n A b s o n d e r u n g , w i d e r Den v o r g e g e b e n e n U n g r u n d der A b s o n d e r u n g der S e p a r a t i s t e n , Welchen d e r J ü n g e r e H e r r Pfr. S t a r c k in F r a n c k f u r t h e n t g e g e n gesetzt D e r VI. G e i s t l i c h e n F a m a e ..., o . O . 1734. - E b e r h a r d L u d w i g G r u b e r , G e s p r ä c h u. U n t e r r e d u n g Von der W a h r e n u. F a l s c h e n A b s o n d e r u n g . A u f f V e r a n l a s s u n g der heutigen S e p a r a t i s t e n ... z u m D r u c k ü b e r g e b e n , o . O . 1714. - J o h n G e n t H a r r i s , T h e P u r i t a n ' s I m p u r i t i e , o r the A n a t o m i e o f a P u r i t a n e or S e p a r a t i s t , by N a m e a n d P r o f e s s i o n ..., L o n d o n 1641. - J o h a n n W o l f g a n g J ä g e r , P r ü f u n g d e s e i n r e i s s e n d e n S e p a r a t i s m i ..., S t u t t g a r t 1707. — D e r s . , Sep a r a t i s m u s h o d i e r n u s s u b e x a m e n v o c a t u s ..., T ü b i n g e n 1715. - D e r s . ( p r a e s . ) / A l b e r t D a v i d M ü l l e r (resp.), A c t a E s l i n g e n s i a s e p a r a t i s t i c o - f a n a t i c a a n n o 1709, D i s p u t a t i o t h e o l o g i c a , T ü b i n g e n 1716. - J o h a n n K a y s e r , A b r i ß d e r f a l s c h e n K i r c h e / e n t w o r f f e n u. z u m G r u n d der w a h r e n A b s o n d e r u n g v. allen f a l s c h e n K i r c h e n u. Secten d a r g e l e g t , B ü d i n g e n 1712. - D e r s . , D i e w a h r e A b s o n d e r u n g v. allen f a l s c h e n K i r c h e n u. S e c t e n , o . O . 1716. - F r i e d r i c h E r n s t K e t t n e r , C h r i s t i . V e r m a h n u n g / S i c h v. der Q v a k e r u. B ö h m i s t e n S e p a r a t i s m o , A b s o n d e r u n g ... fleißig zu hüten ..., Q u e d l i n b u r g 1709. - J e a n de L a b a d i e , S a n c t u m a c n e c e s s a r i u m S c h i s m a ... a D a n i e l e J o n a B e d a [d.i. A n a g r a m m f. J o a n n e de L a b a d i e ] , A l t o n a 1673; d t . : R e c h t f e r t i g e s Urtheil v. R e c h t m ä ß i g e r A b s o n d e r u n g d e r F r o m m e n v. den G o t t l o s e n die K i r c h e n - G e m e i n s c h a f f t b e t r e f f e n d , A l t o n a 1673; weitere lat. A u s g . : J u s t u m J u d i c i u m d e J u s t a B o n o r u m a m a l i s ... S e c e s s i o n e ..., A m s t e r d a m 1675. - J o a c h i m L a n g e , D i e richtige M i t t e l - S t r a ß e / z w . den A b w e g e n der A b s o n d e r u n g v. der e u s e r l i c h e n G e m e i n s c h a f f t der Kirchen ... W i e a u c h d e r P ä b s t i s c h e n K e t z e r - M a c h e r e y ..., 4 B d e . , H a l l e 1 7 1 2 - 1 7 1 4 . - M i c h a e l v. L o e n , S e n d s c h r e i b e n an H e r r n v. Z . . . [ Z i n z e n d o r f ] . N e b s t e i n e m B e d e n c k e n v o m S e p a r a t i s m o g e d r . 1736: d e r s . , Kleine S c h r i f f t e n v. Kirchen- u. R e l i g i o n s - S a c h e n ..., hg. v. O s t e r l ä n d e r , F r a n k f u r t / L e i p z i g 1751, 9 5 - 1 1 4 . - T h o m a s L o n g , T h e C h a r a c t e r o f a S e p a r a t i s t , o r , S e n s u a l i t y the G r o u n d of S e p a r a t i o n ..., L o n d o n 1677. - A l e x a n d e r M a c k , K u r z e u. e i n f ä l t i g e V o r s t e l l u n g der ä u ß e r n / a b e r d o c h hl. R e c h t e n u. O r d n u n g e n d e ß H a u s e s G o t t e s ..., o . O . 1715. - Friedrich C h r i s t o p h O e t i n g e r , S c h r i f t m ä ß i g e E r w ä g u n g s g r ü n d e v o m S e p a r a t i s m u s u. v. der C o n d e s c e n d e n z : K a r l C h r i s t i a n E b e r h a r d E h m a n n ( H g . ) , D e s W i r t t e m b e r g i s c h e n P r ä l a t e n ... 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Sepulkralkunst
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In V e r b i n d u n g m i t d e n e n t s c h e i d e n d e n N e u e r u n g e n bei D o g m a (Passion C h r i s t i ) , Liturgie ( M ä r t y r e r v e r e h r u n g ; - > H e i l i g e / H e i l i g e n v e r e h r u n g ) u n d B r a u c h t u m (Reliquienk u l t ; —• R e l i q u i e n / R e l i q u i e n v e r e h r u n g ) r ü c k t e d a s C h r i s t e n t u m d e n G r a b b e r e i c h ins Z e n t r u m d e r religiösen P r a x i s , r ä u m l i c h wie spirituell. W a r e n im p a g a n e n P o l y t h e i s m u s
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Abb. 1
B r o n z e - G r a b p l a t t e R u d o l f s von S c h w a b e n , D o m , M e r s e b u r g (Ende 11. Jh.)
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Abb. 2
N i k o l a u s G e r h a e r t von Leyden, Epitaph des K o n r a d von Busang (?), M ü n s t e r , S t r a ß b u r g (um 1464)
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Abb. 3
A n t o n i o C a n o v a , G r a b m a l der Erzherzogin M a r i a Christina, Augustinerkirche, Wien (um 1805)
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-•Tempel (mit Götterbildern in der cella), Opferstätten und Nekropolen (außerhalb der Stadt) grundsätzlich voneinander getrennt, so vereinte die frühchristliche Basilika (—•Kirchenbau) in sich das Haus des Gottes mit dem der Gemeinde und den in räumlicher Nähe zum Altar {ad sanctos) plazierten sepulcra. Die konstitutive Durchdringung von Märtyrermemorie und Gemeindealtar (eine Umsetzung der in Apk 6,9 geschilderten Vision von den unter dem Altar des Lammes beigesetzten animae der getöteten Glaubenszeugen) bildete den legitimierenden Kontext für die Anlage der Grabstätten intra muros, eine Annäherung an den in der Antike nur den heroisierten Stadtgründern (und gelegentlich Herrschern) vorbehaltenen Status. In Abkehr von der in orientalisch-mediterranen Kulturen zuvor dominierenden Grundidee der Unreinheit der Toten wurde die christliche Leitvorstellung von einer Gemeinschaft der Lebenden und Toten zur Basis auch einer viele Medien, Gattungen und Techniken nutzenden Sepulkralkunst. Bestimmend dabei sind vornehmlich die ausschließlich kirchliche Zuständigkeit für die -»Bestattung sowie die enge Bindung der Grabgestaltung, in Funktion und Ikonographie, an die Liturgie. Abgesehen von den Katakomben der Verfolgungszeit mit ihren loculi in ColumbarienTradition, rezipiert das frühe Christentum (seit der Wende vom 3. zum 4. Jh.) zunächst überwiegend als Bestattungstypus den Sarkophag, das zumeist in Marmor ausgeführte Behältnis als auf der Erde freistehendes Einzel- bzw. Familiengrab. Mit vielfältigen morphologischen Varianten und Bezügen (Truhe, Kiste, Wanne, Tempel und Haus) wird der Sarkophag seit dem 4. Jh. v. Chr. im griechisch-orientalischen Kulturgebiet des frühen Hellenismus und dann vorherrschend in der römischen Kaiserzeit zur verbreitetsten Gattung, ein plastisches Äquivalent (und Modell) eines monumentalen Grabbaus, des nach der prototypischen Ausprägung in Halikarnass so genannten Mausoleums, auch in dem inhaltlichen Vergleichspunkt des „Ewigen Hauses" des Verstorbenen. Dieser leitmotivische Hauptaspekt der domus aeterna geht über die in vielen Beispielen abgewandelte Architektonisierung (Säuiensarkophage bis zu den frühchristlichen Stadttorsarkophagen; oft auch nach der scenae frons des Theaterbaus zu verstehen) hinaus und integrierte den im Kirchengebäude bzw. Umfeld aufgestellten Sarkophag (auch in Mausoleen wie dem der Galla Placidia an Santa Croce bzw. San Vitale in —>Ravenna) der analogen kollektiven Rahmenaufgabe. Nach dem Prinzip des pars pro toto konzentriert oft eine (halbgeöffnete) Tür als Schwellen- und Übergangsmotiv die Aussage. Das inhaltliche Darstellungsrepertoire der vorchristlichen Sarkophage umfaßt überwiegend allegorisch deutbare Szenen aus der Mythologie, weniger häufig biographische Themen. Schwerpunktmäßig sind die ältesten christlichen Sarkophage Bildträger heilsgeschichtlicher Rettungsprototypen aus dem Alten und Neuen Testament, wobei die typologische Lesbarkeit (von —»Daniel in der Löwengrube, -»Jona u.a.) mit dem Christusbezug neben der in der gleichzeitigen Totenliturgie (Paradigmengebete) formulierten Anwendung der zitierten Heilsexempla auf den Gläubigen steht. In der Übertragung mythologischer Bildtypen auf christliche Vorwürfe (z. B. vom schlafenden Endymion, einem in der Sarkophagskulptur sehr verbreiteten paganen Sujet, auf den vom Walfisch ausgespieenen, unter der Kürbislaube ruhenden Jona; oder von Helios mit der Quadriga auf die Himmelfahrt -•Elias oder -»Jesu Christi; aber auch das von gefangenen Gegnern symmetrisch flankierte Tropaion als Modell der crux invicta zwischen den schlafenden Wächtern des Grabes Christi auf römischen Passionssarkophagen) und in der Herleitung der oft als genuin christlich reklamierten Darstellungen des Schafträgers („Guter Hirte"), der orans und des Philosophen (Lesers) von oft durch Münztypen verbreiteten Tugendpersonifikationen einer zeitgenössisch populären stoischen Weltanschauung (Klauser) werden die engen Verflechtungen der christlichen mit der „heidnischen" Bildkultur der Spätantike greifbar. Neben der mythologischen Tradition erweist sich die imperiale Repräsentation als eine maßgebliche Inspirationsquelle für eine bedeutende Gruppe von Sarkophagen (etwa mit der über die ganze Front ausgebreiteten Traditio Legis) wie in den parallelen Adaptionen besonders in Apsisprogrammen zur propagandistischen Durch-
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Setzung der christianisierten Ideologie des Imperium Romanum. Die Anwendung solch ausgreifender Ansprüche auf Grablegen ist durch die politisch exponierte Stellung der Verstorbenen bei einzelnen Sarkophagen konkret vermittelt wie etwa bei dem berühmten Sarkophag des römischen Stadtpräfekten Junius Bassus von 359. Die Einfügung des Bildnisses begegnet vergleichsweise selten, wobei sowohl das tradierte Erhöhungsschema der imago clipeata übernommen wird (z. B. im bekannten Sarkophag der Adelphia und des Valerius in Syrakus) als auch zukunftsweisende Neuformulierungen des Stifter- bzw. Devotionsporträts einsetzen (in Proskynesehaltung etwa am Mailänder Stadttorsarkophag in S. Ambrogio). Die ausgesprochene Vorrangstellung des Sarkophags ist in der christlichen Option gegen die im Altertum zuvor auch sehr verbreitete Leichenverbrennung begründet. Die im Bekenntnis der Kirche sich ausdrückende Erwartung einer leiblichen —»-Auferstehung schloß damit von Anbeginn an die Aufnahme der in der griechisch-römischen Sepulkralpraxis geläufigen Gattung der Aschenurnen aus. Auch die Stele, der zur Kennzeichnung des Grabplatzes errichtete Stein, wie er besonders in der „klassischen" Kunst Athens im 5. und 4. Jh. v. Chr. als Bildträger berühmt gewordener Kompositionstypen vor allem des erinnernden Abschiednehmens bevorzugt wurde, tritt in christlicher Rezeption nur in wenigen Kulturregionen auf, im erhaltenen Bestand am häufigsten im Koptischen. Ihre Verwendung im merowingisch-fränkischen Kulturgebiet leitet zu der im Frühmittelalter nördlich der Alpen fortschreitenden Abkehr vom Sarkophag bzw. zu der hier endgültig dominierenden Erdbestattung über. Die Grabplatte als Verschluß über der ausgehobenen Erdgrube bezeichnet den Ausgangspunkt für das im Mittelalter breit entfaltete Typenspektrum der Tumba (eine von tumulus, „Erdhügel" herkommende Bezeichnung). Antike Sarkophage wurden insbesondere in Italien das Mittelalter hindurch auch weiterhin benutzt und zum Teil auch öffentlich aufgestellt (z. B. in Florenz am Baptisterium). Der in diesem Zusammenhang bekannteste Fall betrifft —»Karl den Großen und seine traditionell angenommene Beisetzung in dem spätrömischen Proserpina-Sarkophag der Aachener Pfalzkapelle. Verbindet man diese Annahme mit der von Einhard überlieferten Nachricht (arcus supra tumulum cum imagine et titulo exstructus), so läßt sich ein „Bogengrab" als (Ciborium-)Fassung des Prunksarkophags rekonstruieren. Ein wandgebundenes Bogengrab (Arcosolium in bezug auch zu Katakombenanlagen mit ausgiebiger mittelalterlicher Rezeption) stellte dabei ebenso eine gezielte Antikenreminiszenz dar wie der durch den Reliquiarkontext als Maastrichter Stiftung Einhards bezeugte arcus triumpkalis (der in einer Nachzeichnung aus dem 17. Jh. überlieferte „Einhardsbogen" ebenfalls mit imagines und Titulusl). Epochencharakteristisch ist demgegenüber jedoch die Ablösung des Sarkophags durch das Erdgrab, ein weitreichender Vorgang, der mit der zunehmenden Reservierung der Bestattung im Kirchengebäude (für soziale Führungsgruppen: Adel, Klerus und Stifter) und den im frühen Mittelalter begleitend einsetzenden funktionalen und raumorganisatorischen Veränderungen (wie Krypta, Narthex und Kreuzgang) zusammenhängt. Gegenüber dem Sarkophag betont die Beisetzung „unter der Erde" ein Devotionsmoment, zugleich die Integration des Einzelgrabs in den architektonischen Kultkomplex als kollektiv zeitübergreifendes „Ewiges Haus" (vgl. die an mittelalterlichen Schreinen geläufige Verschränkung von Haus- und Kirchenform) nach der im theologischen Selbstverständnis thematisierten Durchdringung von irdischer und himmlischer Liturgie. Bei der vielfältigen morphologischen Ausdifferenzierung geht es wesentlich (a) um die Erhöhung (über) der Verschlußplatte des Erdgrabes, eine scheinbare Ähnlichkeit zum Sarkophagtyp (mit Sockel, Stützen, Tisch- und Altarformen), als monumentum; (b) um dessen Heraushebung und Schutz durch Baldachinaufbau; (c) um variierende Verbindungen mit dem Baukontext (Nische, Kapelle, in Italien besonders der Kirchenwand als Schaufassade); (d) um die anschauliche Vergegenwärtigung des Verstorbenen, überwiegend durch eine plastisch gestaltete Grabfigur auf dem Tumbadeckel. Innerhalb des erhaltenen Werkbestandes figuriert die Merseburger Anlage für Rudolf von Schwaben als Inkunabel der
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G a t t u n g . Der 1080 in der Schlacht an der Unstrut tödlich verwundete Gegenkönig Kaiser Heinrichs IV., mit den beanspruchten Herrschaftszeichen auf dem k n a p p 30 cm hohen Sockel dargestellt und in der u m l a u f e n d e n Inschrift als sacra victima belli bezeichnet (ecclesiae cecidit), erhielt sein G r a b d e n k m a l in der Vierung vor d e m H o c h a l t a r der D o m k i r c h e . In Bronzeguß von hoher materialtechnischer Subtilität ausgeführt, eröffnet das M o n u m e n t die bis in das späte Mittelalter auch in anderen Werkstoffen anschließende Reihe repräsentativer G r ä b e r weltlicher und geistlicher Fürsten (Bischöfe in M a g d e b u r g , Mainz, W ü r z b u r g u.a.). Die Grabfigur R u d o l f s beginnt auch mit der auffälligen Durchdringung der sich „ n o r m a l " gegenseitig ausschließenden Steh- und Liegehaltung. D a s in der Forschung lange anachronistisch beurteilte P a r a d o x koppelt in attributiver Evokation die k o n t r ä r e n Aspekte von Leben und T o d als im Betrachterbezug spiegelbare M o d a l i t ä t e n . An den berühmten M a i n z e r Bischofsgräbern des 13. bis 14. Jh. dient die Beifügung der gekrönten Königsfiguren direkt der lokal- und zeitpolitischen Legitimation, wobei eben die „ Q u a l i t ä t " des zu „ewiger R u h e e n t s c h l a f e n e n " Kirchenfürsten (mit Kissen) seine exemplarische Rolle als coronator und D r a c h e n b e z w i n g e r (christusähnlich nach dem präfigurativ aufgefaßten Ps 90 über den zu seinen Füßen k a u e r n d e n Bestien) durchsichtig macht. Die gerade in M a i n z ab dem f r ü h e n 15. Jh. von vornherein (und nicht nachträglich bei Auflösung der T u m b a erst) vertikal plazierten G r a b p l a t t e n folgen eher dem Epitaph, als d a ß sie sich mit Panofsky i m m a n e n t auf die f o r m p r a g matische Lösung eines angeblichen D i l e m m a s (rationaler Konflikt zwischen Liegen und Stehen) reduzieren bzw. zurückführen ließen (der stärker betonte Bezug zum Kirchenportal in der r a h m e n d e n Architekur lesbar auch als „ D o o r of D e a t h " ; s.o. zum T ü r m o t i v auf antiken Sarkophagen). Die in der mitteleuropäischen Kunst b e s t i m m e n d e Typologie der T u m b a als Einzelanlage u m f a ß t eine Vielzahl thematischer wie gestalterischer Speziallösungen, z. B. die Ehepaardarstellung (prominent im Braunschweiger Stiftergrab des Weifenherzogs Heinrichs des Löwen mit Mathilde), die isolierten Wappenreliefs ohne Grabfigur o d e r die Einbeziehung der T u m b a w a n d u n g in symbolische oder narrative Bildsequenzen (am Bamberger G r a b von Papst Clemens II. [ 1 0 4 6 - 1 0 4 7 ] mit Tugenden; an Nicolas G e r h a e r t von Leydens [ 1 4 2 0 / 1 4 3 0 - 1 4 7 3 (?)] M o n u m e n t Kaiser Friedrichs III. im Wiener S t e p h a n s d o m mit u.a. auch biographisch-typisierten Szenen; sehr häufig zumal im Westen Pleurants). Einen h o c h b e d e u t e n d e n Sondertypus stellt das im späten Mittelalter entwickelte sog. „ D o p p e l d e c k e r g r a b m a l " dar: In einer zweigeschossigen T u m b a n i m m t der in Verwesung gezeigte Leichnam die Bodenplatte ein, der in seiner A m t s w ü r d e repräsentierte Lebende die Dachebene. Die besonders in England gut erhaltene Typik (Panofsky, Abb. 2 6 1 - 2 6 2 ) u m f a ß t wirkungsvolle M o n u m e n t a l k o m p l e x e wie die heute fragmentarisch ü b e r k o m mene W a n d g r a b a n l a g e f ü r Kardinal Jean de Lagrange in Avignon (gest. 1402; Panofsky, Abb. 263) oder Nicolas Gerhaert von Leydens G r a b m a l des Trierer Bischofs J a k o b von Si(e)rck (Erzbischof-Kurfürst 1439-1456). Die als Reaktion auf die satirische Ständerevue des - » T o t e n t a n z e s zeitgeschichtlich s y m p t o m a t i s c h e Integration des M a k a b r e n in die sepulkrale Bildglorifikation feudaler Amtsträger verbindet sich in den b e k a n n t e n französischen Königsgräbern des 16. Jh. ( - » F r a n z ' I., Heinrichs II. und Katharinas von Medici in St. Denis) mit einer an der italienischen Renaissance geschulten schönheitlichen Körperästhetik (in beiden Geschossen bzw. Zuständen!). In der italienischen Entwicklung bleibt die T u m b a , a u s n a h m s w e i s e direkt u n d explizit monumentalisiert in A n t o n i o del Pollaiuolos (1431-1498) G r a b m a l Papst -»Sixtus' IV., typenmäßig der Ausgangspunkt für oft sehr a u f w e n d i g e und k o m p l e x e W a n d a n l a g e n , die sich (wie ein Retabel) über dem E r d g r a b erheben. Hier wird z u n e h m e n d seit dem 14. J h . ein thematischer Glorifikationsapparat (Tugendpersonifikationen; Zeitallegorien; Artes Liberales; Vita Activa und Contemplativa) und bei P a p s t m o n u m e n t e n die von antik-römischen Imperatoren entlehnte öffentliche Ehrenstatue (seit Pollaiuolos G r a b Innocenz' VIII. [1484-1492] bis zu Berninis U r b a n VIII. [1623-1644]) in den Dienst einer biographisch pointierten R ü h m u n g s s t r a t e g i e humanistischer O b s e r v a n z einbezo-
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Sepulkralkunst
gen. Die Tumba-Prägung bestimmt dabei das differenzierte Ensemble, auch wenn oft (wie am bekanntesten in -»Michelangelos Medicikapelle mit den Gräbern der Magnifici in San Lorenzo, Florenz und deren außerordentlich intensiver Nachfolge) zentral ein dargestellter Sarkophag als Schauobjekt (zugleich Bildträger von Allegorien und Sockel für die Grabstatuen der Medici-Herzöge) fungiert (nach florentinischer Tradition des Quattrocento; vgl. Bruni-Grab in S. Croce und Kapelle des Kardinals von Portugal, S. Miniato al Monte). Als Wandgrab (in S. Pietro in Vincoli mit einer äußerst reduzierten Skulpturenäusstattung) endete rekonventionalisiert das primär in grandiosem Anspruch konzipierte Grabmal Papst Julius' II.: Michelangelo plante das über das Petrus-Martyrion plazierte Freigrab (mit elliptischer Kammer) nach antiken Mausoleen als Zentrum für den Neubau der römischen Peterskirche, eine beziehungsvolle Verbindung klassischer und moderner, paganer und christlicher Züge, wie sie zu gleicher Zeit das ähnlich hochzielende Projekt Kaiser -»Maximilians I. verfolgte: das nach komplikationsreicher Planungs- und Baugeschichte erst in der zweiten Hälfte des 16. Jh. in der Innsbrucker Hofkirche ausgeführte Ensemble versammelt (fiktive wie genealogisch ausgewiesene) Ahnen nach römischem Brauch (der imagines maiorum) im liturgisch perpetuierten Trauergeleit für den „Letzten Ritter". Die als Signum der Renaissance früh aus Italien übernommene Grabkapelle einer Familie bzw. Dynastie (beispielhaft die zu Beginn des 16. Jh. von A. -»Dürer konzipierte Fuggerkapelle an St. Anna in Augsburg mit einer ursprünglich vielgestaltigen umfassenden Ausstattung) macht den liturgisch vermittelten Grundgedanken „Ewiges Haus" von Tumba und Kirchenbau neu anschaulich. In dem sehr verbreiteten Darstellungsmotiv der betenden Grabfigur wird dieser Bezug szenisch gestaltet, als Ausgangspunkt der illusionistisch gesteigerten Inszenierungen der „Ewigen Anbetung" bis hin zu Gian Lorenzo Berninis ( 1 5 9 8 - 1 6 8 0 ) Innocenz X . (1644-1655; Rom, St. Peter) und vornehmlich seiner Cornaro-Kapelle in S. Maria della Vittoria (Rom, um 1650). Bei einer derart „unmittelbar" erscheinenden barocken Vergegenwärtigung erweist sich gerade die bewußt kombinierende Synthetisierung als Triebkraft. Denn Bernini greift hier das im späten Mittelalter eminent produktiv entfaltete Gattungsschema des Epitaphs auf (vgl. Panofsky, Abb. 4 3 4 - 4 3 6 für Berninis eigene Epitaph-Arbeiten). Das im 14. Jh. einsetzende Epitaph, als vom unmittelbaren Begräbnisplatz räumlich getrennte Memorie mit Namen und Lebensdaten des Verstorbenen und zumeist seiner Darstellung, oft im Bildtyp des Stifters als Adorant, begegnet spätmittelalterlicher Laienkultur in doppelter Weise: mit der wesentlich gesteigerten Anzahl der im Kultbau plazierbaren Gedenktafeln und mit dem aus dem gleichzeitigen Andachtsbild formulierten Themenspektrum der heilsverbürgenden Anbetung. Zugleich charakterisiert ein enger Gattungskonnex zwischen Relief und Malerei damit ein prototypisches Epitaph wie Nicolas Gerhaert van Leydens Gedächtnismal für den Straßburger Kanoniker Konrad von Busang (gest. 1464; vgl. Jan van Eycks [ca. 1 3 9 0 - 1 4 4 1 ] van der Paele-Madonna). Der aus religiöser Devotion (Mystik) gleichermaßen wie humanistischer Selbstreflektion vorreformatorisch etablierte Typus des Epitaphs wird zur maßgeblich bestimmenden Sepulkralform des Protestantismus, wobei Passionsthemen als Verehrungsziele der Stifterfrömmigkeit ikonographisch vorherrschen. Mit der Aufklärung und der Einrichtung kommunaler -»Friedhöfe ergeben sich allein schon aus der enormen zahlenmäßigen Vermehrung von Grabmälern und Typen bis in die Gegenwart strukturell neuartige Bedingungen der Sepulkralkunst. Panofsky resümierte (in einer Vorlesung von 1956) seinen Überblick der Grabplastik „von Alt-Ägypten bis Bernini" mit der Bemerkung: „Wer versucht, die Geschichte der Kunst des achtzehnten, neunzehnten und zwanzigsten Jahrhundert zu schreiben, muss sein Material ausserhalb der Kirchen und ausserhalb der Friedhöfe suchen" (Panofsky 106). Diese Beurteilung erscheint heute kaum mehr adäquat. Der Hinweis auf Klassizismus und Historismus mag am Beispiel Antonio Canovas (1757-1822) (dem Panofsky als Ausnahme „einen Hauch von Originalität, ja Größe" zugestand) genügen, um die dadurch vermittelte neue Sicht auf die kunst- und kulturgeschichtliche Universalüberlieferung
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zu beleuchten: das positive Verständnis von Rezeption als fundamentales Phänomen der Moderne. Canovas Grab der Erzherzogin Maria Christina (1798-1805; Wien, Augustinerkirche) präsentiert einen „veristisch" gegenwärtigen Trauerzug beim Betreten einer - flach auf die Wand „projizierten" - Pyramide (seit Cesare Ripa [ca. 1560 - ca. 1620] ikonologisches Attribut der Gloria deiPrincipi). Im Profilbildnis von Genien erhöht und mit Palmzweig siegergleich gefeiert, erscheint die Verstorbene im Schlangenkreis der Verewigung (Ouroboros). In spezifischer Verhältnisbestimmung stellen sich hier wie in der Geschichte der Sepulkralkunst insgesamt — das „prospektive" und das „retrospektive" Element gleichermaßen als Momente eines Werkes dar (nicht als sich ausschließende Gegensätze, wovon Panofsky im wesentlichen ausging) - an einem Grabdenkmal in einer Kirche, das keine christlichen Motive aufweist. Literatur Philippe Aries, Images de l'homme devant la mort, Paris 1983; dt.: Bilder zur Gesch. des Todes, München 1984. - Ausstellungskat. „Wie die Alten den Tod gebildet". Wandlungen der Sepulkralkultur 1 7 5 0 - 1 8 5 0 , Mainz 1979 (Kasseler Stud. zur Sepulkralkultur 1). - Kurt Bauch, Das ma. Grabbild. Figürliche Grabmäler des 11. bis 15. Jh. in Europa, Berlin/New York 1976. - Ralph E. Giesey, The Royal Funeral Ceremony in Renaissance France, 1960 ( T H R 37). - Barbara Happe, Die Entwicklung der dt. Friedhöfe v. der Reformation bis 1870, Tübingen 1 9 9 1 . - Henriette Eugenie s'Jacob, Idealism and Realism. A Study of Sepulchral Symbolism, Leiden 1954. - Horst W. Janson, 19th-Century Sculpture, New York 1985. - Jenseitsvorstellungen in Antike u. Christentum. Gedenkschrift f. Alfred Stuiber, 1982 (JAC.E 9). - Theodor Klauser, Stud. zur Entstehungsgesch. der christl. Kunst: J A C 1 (1958) 2 0 - 5 1 . - Ders. (Text)/Friedrich Wilhelm Deichmann (Ausw.), Frühchristi. Sarkophage in Bild u. Wort, Ölten 1966. - Guntram Koch/Hellmut Sichtermann, Rom. Sarkophage, München 1982 (Hb. der Archäologie). - Hans Körner, Grabmonumente des M A , Darmstadt 1997. - Bernhard Körting, Art. Grab: R A C 12 (1983) 3 6 6 - 3 9 7 . - Erwin Panofsky, Grabplastik. Vier Vorl. über ihren Bedeutungswandel v. Alt-Ägypten bis Bernini, Köln 1964. — Martin Papenheim, Erinnerung u. Unsterblichkeit. Semantische Stud. zum Totenkult in Frankreich ( 1 7 1 3 - 1 7 9 4 ) , Stuttgart 1992 (Sprache u. Gesch. 18). - Paul Schoenen, Art. Epitaph: RDK (1967) 8 7 2 - 9 2 1 . - Klaus Stähler, Art. Grabbau: R A C 12 (1983) 3 9 7 - 4 2 9 . - Ders., Art. Grabdenkmal: ebd. 4 4 5 - 4 5 5 . - Eduard Stommel, Art. Domus Aeterna: R A C 4 (1959) 1 0 9 - 1 2 8 . - Maria-Barbara V. Stritzky, Art. Grabbeigabe: R A C 12 (1983) 4 2 9 - 4 4 5 . - Alfred Weckwerth, Der Ursprung des Bildepitaphs: ZfKG 20 (1957) 1 4 7 - 1 8 5 .
Konrad Hoffmann
Serafim von Sarov 1. Leben
2. Werk
(1759-1833) 3. Wirkung
(Quellen/Literatur S. 168)
1. Leben Serafim von Sarov (weltlich Prochor Isidorovic Mosnin; vgl. —>Mystik II.5.1.2.), Priestermönch des Einödklosters von Sarov, Gouvernement Tambov, zu seinen Lebzeiten als Asket und Beter (Hesychast), Eremit und Rekluse, Visionär und Prophet, geistlicher Vater (Starez) und Wundertäter, Anfang des 20. Jh. als „größter russischer Heiliger" (Berdjaev) und Ideal spezifisch russischer Heiligkeit verehrt, wurde am 19. (31.) Juli 1759 in Kursk als Sohn eines Bauunternehmers geboren. Sein Vater starb, als er drei Jahre alt war. Seine Mutter übernahm Geschäft und Kathedralbau in Kursk und die familiäre Erziehung Prochors. Von einer Schulbildung ist nichts bekannt. Im Tropar an den rund 150 Jahre später Heiliggesprochenen wird einzig das Gedächtnis an seine frühe religiöse Prägung bewahrt: „Von Jugend auf liebtest du Christus, Seliger, und dem Einen zu dienen begehrtest du feurig" (Denisov 693). 1769 erscheint ihm zum ersten von insgesamt zwölf Malen die Gottesmutter und heilt ihn darauf von schwerer Krankheit. 17jährig erhält er vom Kiever Reklusen und Starez Dosifej den Rat, ins Sarover Einödkloster als herausragende Stätte des russischen —>Hesychasmus zu gehen und das immerwährende Jesusgebet zu praktizieren.
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Serafim von Sarov
Von 1778 bis 1786 ist er dort Novize und studiert neben den Gebeten die Heilige Schrift und die griechischen Kirchenväter intensiv. Von schwerer Hydropsie wird er nach eigenem Bericht durch die Gottesmutter geheilt, die ihm wieder erschienen war und ihm, begleitet von den Aposteln Petrus und Johannes, versichert: „Dieser ist einer von unserem Geschlecht". Nach seiner Mönchsprofeß wird er zum Diakon, 1793 zum Priester geweiht. Nach 16 Jahren Gemeinschaftsleben im Kloster wird Serafim mit Erlaubnis des Abtes 1794 Eremit sechs Werst entfernt im unzugänglichen Wald, der russischen Thebais (Wüste). Die folgenden 15 1/2 Jahre verbringt er erst als Stylit auf einem Felsen (1000 Tage), dann in einer selbstgebauten Einsiedelei, teilweise als Ratgeber der Mönche des Klosters Sarov sowie der Nonnen des naheliegenden Klosters Diveevo, seit 1807 in absolutem Schweigen. 1810 zwingt ihn ein neuer Abt, der seine Unabhängigkeit als Eremit und Starez nicht duldet, zur Rückkehr nach Sarov. Serafim lebt die nächsten 15 1/2 Jahre als Rekluse in Spannung zu Abt und Mitmönchen im Kloster, bis 1815 weiter schweigend, danach monastische und weltliche Besucher in seiner Zelle beratend, seit 1821 auch heilend. Nach 47 Jahren monastischer Zurückgezogenheit beginnt Serafim 1825 mit 66 Jahren, beauftragt durch die Gottesmutter in einer neuen Erscheinung, einen letzten achtjährigen Lebensabschnitt uneigennützigen Dienstes an allen zu ihm kommenden Menschen, vor allem an den ihm anvertrauten bäuerlichen Nonnen des Jungfrauenklosters von Diveevo. Den Besucherstrom empfängt er in einer Zelle zwei Werst außerhalb des Klosters, das er nur nachts und zur Liturgie aufsucht. Berichte von Heilungen und Dämonenaustreibungen, Levitations- und Bilokationserscheinungen, verblüffender Hellsicht und eingetroffenen Prophetien Serafims erregen den Neid, seine materielle Unterstützung und geistliche Führung der Nonnen von Diveevo den Verdacht der Mönche von Sarov. Erniedrigende klösterliche Untersuchungen wegen angeblichen Holzdiebstahls, unschicklicher Annäherung an Frauen und der von Serafim angeregten nächtlichen Lektorinnentätigkeit der Nonnen in ihrer Kirche stehen im Gegensatz zur landesweiten Verehrung, die Serafim als Starez genießt. Seinen Tod hat Serafim vorausgewußt. Am 2. (14.) Januar 1833 fand man ihn tot in seiner Klosterzelle in Sarov vor der Gottesmutterikone knieend. 2. Werk Serafim ist eher Zeuge der tatsächlichen Verklärung und Vergöttlichung des Menschen im transzendenten Licht des Heiligen Geistes denn theologischer Lehrer dieses Vorganges. Er ist Hesychast, der durch strengste Askese der Einsamkeit selbst ganz Gebet geworden ist (Gorai'noff 114) im Sinne der ständigen Gemeinschaft mit Gott und der dies in der Gemeinschaft mit den verschiedensten Menschen im Gespräch und mit Taten bezeugt. Dazu trug seine lebenslange intensive Lektüre der Heiligen Schrift bei, vor allem die jede Woche wiederholte Lektüre des gesamten Neuen Testaments. Theologie ist für Serafim Praxis des christlichen Lebens nach den Geboten und Seligpreisungen, vor allem Praxis des Gebets, Lehre über diese Praxis jedoch nur, insofern sie von eigener vorgängiger Erfahrung gedeckt ist. Über einen gut predigenden Theologen sagte Serafim: „Zu unterrichten ist so leicht, wie Steine von unserem Kirchturm zu werfen; selbst auszuführen, was man lehrt, ist so schwierig wie Steine auf die Kirchturmspitze zu tragen. Das ist der Unterschied zwischen Lehre und Praxis" (Gorainoff 59). Seine Gesprächsmethode mit Ratsuchenden ist vom Vorrang der Praxis geprägt und erinnert wie sein Leben in Einsamkeit und manche seiner überlieferten Aussprüche (Loerke 6 5 - 6 8 ) an die Wüstenväter des 4. und 5. Jh. Seine Erfahrung des Heiligen Geistes und seine Aussagen über das Erwerben des Heiligen Geistes entsprechen sehr genau den Schriften —»Symeons des Neuen Theologen (Florovskij 391 f.; Spidlik 631). Einzig in einem erst 1903 von S. Nilus veröffentlichten „Gespräch mit Motovilov" (über das Ziel des christlichen Lebens), das dessen Aufzeichnungen über sein Gespräch
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mit Serafim von 1831 wiederzugeben b e a n s p r u c h t (Nilus), kann von einer Theologie Serafims über den Heiligen Geist im Sinn eines Diskurses gesprochen werden. Allerdings w u r d e der 1903 veröffentlichte Text 1911 um Passagen gekürzt, die der Anthropologie des deutschen Idealismus sehr verwandt w a r e n (Rochcau 45f.), und es fragt sich, o b die Veröffentlichung 1903 nicht eine politisch motivierte Auftragsarbeit war. Die vermutlich weitgehende Bearbeitung durch S. Nilus ist bis heute ungeklärt, ein Original der Aufzeichnung N i k o l a j A. Motovilovs w a r und ist nicht aufweisbar (Hagemeister, Problema 167ff.; ders., Apokalypse 54f.). Dem „ G e s p r ä c h mit M o t o v i l o v " zufolge lehrt Serafim das Erwerben des Heiligen Geistes als das sinnlich f a ß b a r e E i n w o h n e n des Heiligen Geistes im Inneren des M e n schen, wie es schon Symeon lehrte. N e u gegenüber der Tradition ist die explizite Ausweitung dieser Zielsetzung von den Eremiten auf alle G e t a u f t e n , M ö n c h e und Laien, was im „ G e s p r ä c h " durch die Verklärung des Laien M o t o v i l o v z u s a m m e n mit Serafim sinnenfällig wird. Glaube, Gebet, eine strenge o d e r (für Laien) milde Askese der Trennung von irdischen Verbindungen sowie die Praxis der Werke der Barmherzigkeit bereiten das Erwerben des Heiligen Geistes vor. Als dessen Früchte sind bei Serafim u.a. markiert: Kontemplation Gottes und seiner Vorsehung bis hin zu den von Serafim vielfach erfahrenen Visionen der himmlischen Welt, Christi und der G o t t e s m u t t e r ; pneumatische Kenntnis der Geheimnisse der Seelen U n b e k a n n t e r (Kardiognosie); Krankenheilungen; Wiederherstellung des paradiesischen Friedens im U m g a n g mit der S c h ö p f u n g (Motiv des Bären, der friedlich neben Serafim lagert und von ihm gefüttert wird); sowie ein Leben in der Freiheit der G n a d e , das einem angestrengten M o r a l i s m u s entgegengesetzt ist und f ü r M ö n c h e wie Laien einen mittleren Weg als Königsweg zwischen strenger Askese und Laxheit bedeutet (Spidlik 6 2 5 - 6 4 3 ) . Z u s a m m e n g e n o m m e n bildet das ein großes Potential an Trost f ü r „Mühselige und Beladene", um die zu k ü m m e r n sich Serafim seit 1821 berufen w u ß t e . Dies scheint auch der ausschlaggebende G r u n d f ü r Serafims Popularität als Starez zu sein. Gütiges Verständnis und Nachsicht sind Kennzeichen des russischen Starzent u m s wie Serafims persönlich. Er ist Vorläufer der Starzen des Einödklosters von O p t y n a , die die russische Intelligenz des späteren 19. J h . beeinflußten. Wie andere Starzen förderte er die Bildung der individuellen christlichen Persönlichkeit im Kloster wie in der Welt und das Finden eines persönlichen geistlichen Weges, das auch Konflikte mit der starr an Traditionen festhaltenden Hierarchie nicht scheut. Dies ist wiederum an seinen Taten ablesbar. So trug er n u r selten das reguläre schwarze M ö n c h s g e w a n d mit Kappe, sondern vielmehr einen weißen Bauernkittel, er ging nicht so regelmäßig zu Liturgie und K o m m u n i o n wie von ihm gefordert, und er traf sich allein mit Frauen. Ihn aber auch in die russischen Narren in Christus einzureihen ist n u r mit Einschränk u n g möglich. Z w a r sprechen seine strenge Askese, seine Voraussagen der Z u k u n f t und seine Unbotmäßigkeit gegenüber den O b e r e n f ü r ein Selbstverständnis als N a r r in Christus. Andererseits traute sich Serafim nach eigener Aussage nicht zu, das schwere Joch eines Lebens als N a r r in Christus zu tragen. Er förderte jedoch Z ü g e des N a r r e n t u m s in Christus bei den N o n n e n in Diveevo. Seine angeblichen apokalyptischen Prophetien f ü r das 20. J h . erweisen sich als Fälschungen aus d e m f r ü h e n 20. Jh. (Hagemeister, Apokalypse 4 9 - 5 1 ) . 3.
Wirkung
Kein russischer Heiliger w u r d e so o f t auf Ikonen dargestellt und verehrt wie Serafim. Die Überlieferung seiner Vita und seiner Lehren ist aber auf G r u n d seines Konfliktes mit dem traditionellen M ö n c h t u m unzuverlässig und unvollständig. Nicht n u r verschwiegen die Sarover M ö n c h e seine Worte und Taten. D a s Werk seiner letzten Lebensjahre, das J u n g f r a u e n k l o s t e r Diveevo, w u r d e unter F ü h r u n g des von Serafim als Antichrist betrachteten späteren M ö n c h s J o s a p h a t (Ivan T i c h o n o v i c Tostoseev, 1 8 0 1 - 1 8 8 4 ) 1842 in ein weiteres Frauenkloster in Diveevo integriert und seiner Serafim zu verdan-
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Serafini von Sarov
kenden geistlichen Eigenart beraubt (Zander 1 5 0 - 1 6 9 ; Rochcau 2 5 - 3 1 ) . Derselbe Josaphat veröffentlichte 1849 eine der ersten Viten Serafims aus seiner eigenen Sicht. Die Verwirrung vollendeten populäre wunderhafte Berichte aus Serafims Leben. Eine Unterscheidung von Legendarischem und historisch zuverlässigen Berichten wurde begrenzt 70 Jahre nach Serafims Tod durch L . M . Cicagovs Veröffentlichung der Chronik des Serafim-Diveevo-Klosters möglich, die überarbeitete Augenzeugenberichte der Klosterschwestern enthält. Die Berichte selbst wie die Erinnerungen Motovilovs bleiben unzugänglich oder sind zerstört. Am 18. (30.) April 1903 kanonisierte der Heilige Synod der Russischen Orthodoxen Kirche Serafim als Heiligen, nach massiver Beeinflussung durch den Kaiserhof und gegen den Widerstand der Mehrheit der Hierarchen, die eine Kompromittierung ihrer verstorbenen Bischofskollegen als Gegner des Starzentums Serafims fürchteten (Rochcau 37). Die Öffnung seiner unversehrten Reliquien in Anwesenheit des Zarenpaares und einer Menge von rund 300.000 Gläubigen in Sarov am 19. (31.) Juli 1903 besiegelte die Heiligsprechung als staatstragenden Akt. Sein Gedächtnis feiert die russische Kirche seitdem am 2. (14.) Januar und am 19. (31.) Juli. Zeitgleich erschienene Biographien unterstreichen den echten Patriotismus der orthodox-russischen Seele Serafims (Vvedenskij 13), während Kritiker aus der russischen religiösen Intelligenz Serafim wenig später als Erzreaktionär charakterisierten und nicht nur sein Schweigen zum Übel der Leibeigenschaft anprangerten, sondern auch seine Propagierung der Abgeschiedenheit auf Kosten der christlichen Durchdringung der Welt und der Askese und Jungfräulichkeit auf Kosten der Leiblichkeit und der Ehe (Mereschkowski 79—121; R o s a n o w 37—73). Die Auffindung seiner verschollenen Gebeine im Leningrader Museum für Religion und Atheismus 1990 und deren feierliche Überführung ins Frauenkloster Diveevo 1991 gaben nicht nur seiner Verehrung als Starez, Beter und Wundertäter neuen Auftrieb, sondern auch der Verbreitung angeblicher Schriften Serafims über die apokalyptische Rolle Rußlands als einziger M a c h t , die sich dem Antichrist widersetzen wird (Hagemeister, Apokalypse 42—46). Bleibend scheint seine Wirkung als Erneuerer der Russischen Orthodoxie unabhängig von den politischen Wendungen der russischen Geschichte: seine Elementarisierung der Gebetsregel für M ö n c h e und Laien, sein Aufweis der Möglichkeit des Hesychasmus für jeden Christen und seine Betonung der gleichen Würde und Verantwortung von M ö n c h e n und Laien, Frauen und Männern in der Kirche. Quellen D u c h o v n y j a nastavlenija o t c a Serafima: S k a z a n i e o zizni i podvigach blazennyja p a m j a t i otca Serafima, M o s k a u 1844, 3 3 - 90. - L e t o p i s ' S e r a f i m o - D i v e e v s k a g o m o n a s t y r j a N i z e g o r o d s k o j gub. A r d a t o v s k a g o uezda, hg. v. A r c h i m a n d r i t Serafim (Leonid M . C i c a g o v ) , M o s k a u 1896 St. Petersburg 2 1 9 0 3 ( N a c h d r . Piatina, C a l i f . 1978; zweibändig: K r a s n o d a r 1991).
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Seripando
169
pravoslavnogo, M o s k a u 1903 Carskoe Selo 1905 Sergiev Posad 1911 [seit 1903 mit dem „ G e s p r ä c h über M o t o v i l o v " , seit 1905 mit den „ P r o t o k o l l e n der Weisen vom Z i o n " ] . - Vsévolod R o c h c a u , Saint Seraphim. Sarov et Divéyevo. Études et d o c u m e n t s , Bellefontaine 1987 ( S p O r 4 5 ) . - Wassili R o s a n o w , Z u stillen Klöstern (1904): Der letzte Heilige (s.o. bei M e r e s c h k o w s k i ) 2 3 - 7 7 . - T o m á s Spidlik, Serafino di Sarov: La mistica. F e n o m e n o l o g i a e riflessione teologica, hg. v. E r m a n n o Ancilli/ M a u r i z i o Paparozzi, R o m 1981, 6 2 1 - 6 4 4 . - D m i t r i j Vvedenskij, Divnyj starec, M o s k a u 1902. Vera Z a n d e r , Saint Seraphim de Sarov, Paris o . J . ; dt.: Seraphim v. S a r o w , Dusseldorf 1965.
Martin George
Serbien -» Jugoslawien Serdika, Synode von -» Arianismus, -» Papsttum, -» Synode Seripando, Girolamo
(1492-1563)
(Quellen/Literatur S. 171)
Trojanus (so sein Taufname), geboren wahrscheinlich am 6. Oktober 1492 in Neapel, entstammte dem neapolitanischen Amtsadel. Er genoß den Unterricht tüchtiger Humanisten. 1507 trat er in das Kloster der -»Augustiner-Eremiten S. Giovanni a Carbonara in Neapel ein. Seine philosophischen und theologischen Studien absolvierte er in Neapel, Viterbo, Rom, Siena und vor allem in Bologna. 1512 empfing er die Priesterweihe. Schon früh wurde er mit verschiedenen Ordensämtern betraut. Unter dem Einfluß des Ordensgenerals —»Egidio da Viterbo entwickelte sich Seripando zu einem christlichen Platoniker. Das bedeutete die Übernahme der platonischen Ideenlehre und der neuplatonischen Mystik des (Pseudo-) —»Dionysius Areopagita. In seinen theologischen Arbeiten ließ er sich von —»Thomas von Aquino und vor allem vom Ordenstheologen der Augustiner -»Agidius von Rom beeinflussen. Gegen Ende der dreißiger Jahre erfuhr die Theologie Seripandos eine neue Ausrichtung. Intensiv beschäftigten ihn nun die Fragen um Sündenvergebung, Gnade und Rechtfertigung. Seine regen Beziehungen zu Vertretern des italienischen Evangelismo führten ihn zur stärkeren Beschäftigung mit —»Paulus und —» Augustin und zur Auseinandersetzung mit gewissen Positionen der Reformatoren. Beeindruckt von manchen Gedankengängen der lutherischen Theologie, vor allem in der Rechtfertigungslehre, glaubte er, diese bei Augustin wiederzufinden. Er gelangte zu der Überzeugung, dem Glauben komme beim Rechtfertigungsgeschehen die entscheidende Bedeutung zu. Zugleich verstärkte sich bei ihm das Bewußtsein, die Kirche sei zutiefst reformbedürftigAm 12. Dezember 1538 ernannte -»Paul III. Seripando zum Generalvikar des Ordens, und an Pfingsten 1539 wurde er zum Ordensgeneral gewählt. Er bemühte sich um Reformen im Orden, aber auch um die Ausmerzung protestantischen Ideengutes, das im Orden -»Luthers Eingang gefunden hatte. Das Amt des Ordensgenerals in schwerer Zeit bedeutete für Seripando eine große Bürde. In Deutschland gelang es ihm nicht, den infolge der Reformation stark angeschlagenen Orden wieder zu stabilisieren. Zahlreiche Auseinandersetzungen mit französischen und italienischen Klöstern, besonders mit der lombardischen Kongregation, zehrten an Seripandos Gesundheit, so daß er im Mai 1551 das Generalat niederlegte. Es folgten stille Jahre in einem neapolitanischen Kloster. 1553 unternahm er auf Drängen des städtischen Adels eine Gesandtschaftsreise an den kaiserlichen Hof nach Brüssel. -»Karl V., der Seripando bereits vorher schätzte, bewog ihn, das Erzbistum Salerno zu übernehmen. Am 30. März 1554 wurde Seripando im Konsistorium präkonisiert; am 15. Mai empfing er die Bischofsweihe. Zur Neuord-
170
Seripando
nung seiner Diözese entwickelte Seripando ein festes Reformprogramm. Er war vor allem darauf bedacht, die Klerikerausbildung zu verbessern und allgemein das geistliche Niveau des Klerus zu heben. Eine Visitation der einzelnen Gemeinden 1557 bekräftigte die Reformen. Großen Nachdruck legte er auch auf die Unterweisung des Volkes, indem er häufig predigte. —»Pius IV. berief Seripando nach R o m in den Kreis seiner Ratgeber. Am 26. Februar 1561 wurde er zum Kardinal ernannt. Seripandos Wirken ist eng mit der Geschichte des Konzils von Trient (—>Tridentinum) verbunden. 1545/1547 bzw. 1548 hatte er als Ordensgeneral am Konzil teilgenommen. Dem Konzilslegaten M a r c e l l o Cervini (später Marcellus II. [9. A p r i l - 1 . Mai 1555]) diente er als theologischer Berater. Zu den meisten Verhandlungsgegenständen nahm Seripando eine sehr eigenständige Stellung ein. Bei den Diskussionen über das Verhältnis von Schrift und kirchlicher Tradition sprach er sich gegen eine völlige Gleichstellung der Tradition mit der Heiligen Schrift aus. Die wichtigsten Beiträge Seripandos auf dem Konzil betrafen die Erbsünden- und die Rechtfertigungslehre. Auf der einen Seite zeigte sich eine starke Abhängigkeit von Augustin, auf der anderen Seite grenzte er sich jedoch von Luther ab. Die Konkupiszenz kann nach Seripando auch beim Gerechtfertigten in einem gewissen Sinn als „ S ü n d e " bezeichnet werden, wenn auch nicht im vollen Umfang des Begriffs wie bei Luther. Sie ist Folge der Ursünde und Strafe und daher Wurzel und Ursache vieler Tatsünden. Sie hindert die vollkommene Erfüllung des Gottesgesetzes. Das wichtigste Heilmittel gegen die Erbsünde ist der Glaube. An der Fertigung des Rechtfertigungsdekretes war Seripando maßgeblich beteiligt. Durchdrungen von der Erfahrung der menschlichen Unzulänglichkeit, war er überzeugt, die Rechtfertigungsgnade (iustitia inhaerens) sei insofern unzulänglich, als der Mensch wegen der Schwächung durch die Konkupiszenz das göttliche Gesetz in diesem irdischen Leben nicht in seiner ganzen Strenge beobachten könne. Die Barmherzigkeit Gottes helfe ihm jedoch und lasse die Gerechtigkeit Christi ergänzend für die Mängel der menschlichen Gerechtigkeit eintreten. Es handelt sich hierbei um die sog. Lehre von der doppelten Gerechtigkeit, d . h . der eingegossenen Rechtfertigungsgnade und der dem Menschen zugerechneten Gerechtigkeit Christi. Sowohl mit seiner Erbsünden- wie mit seiner Rechtfertigungslehre drang Seripando auf dem Konzil nicht durch. Er mußte von einigen sogar den Vorwurf hinnehmen, er vertrete lutherische Meinungen. Dennoch hat er durch sein Einbringen der augustinischen Tradition die einschlägigen Diskussionen ungemein befruchtet. H. Jedin urteilt: „ D a s Trienter Rechtfertigungsdekret . . . ist ohne Seripando nicht denkbar; kein zweiter hat auf seine Entstehung, positiv wie negativ, einen solchen Einfluß ausgeübt wie e r " (Jedin, Seripando I, 426). Auf der dritten Trienter Konzilsperiode (1562/63) wurde Seripando zu einem der Konzilslegaten bestellt. Die großen Auseinandersetzungen um Ordo- und Residenzdekret stellten die Legaten vor schwierige Aufgaben. Seripando stand der Gruppe nahe, die der Meinung war, die bischöfliche Residenz sei iure divino verpflichtend. Die Gegenseite sah darin eine Beeinträchtigung der päpstlichen Autorität, da in diesem Fall eine päpstliche Dispens unmöglich war. Intrigen und Denunziationen vergifteten die Atmosphäre des Konzils. Seripando wurde verdächtigt, er übe sein Amt parteiisch aus. Er sah sich genötigt, seine Loyalität zum Papst, bei dem er in Ungnade gefallen war, zu verteidigen. Auch bei der erneuten Behandlung der Messe drang er mit seiner Auffassung, das letzte Abendmahl Christi sei kein eigentliches Opfer, nicht durch. Aber auch in diesem Fall trug der Legat wesentlich dazu bei, die ganze Frage zu vertiefen. Die zweite große Krise der dritten Trienter Periode brachte die Auseinandersetzung um das Verhältnis von Primat und Episkopat und das Wesen des Episkopats bei der Behandlung des Ordodekrets. Eine Allianz aus Spaniern, Franzosen, Kaiserlichen und einigen Italienern setzte sich dafür ein, im Ordodekret zu formulieren, der Episkopat sei iure divino vom Priesteramt verschieden. Die kurial Gesinnten lehnten das ab. Seripando stand zwischen den Parteien, bemühte sich allerdings vergeblich um einen Kompromiß. Den Ausgang dieser Streitig-
Serubbabel
171
keiten erlebte er nicht mehr. Am 17. M ä r z 1 5 6 3 s t a r b er in T r i e n t und wurde in der T r i e n t e r Kirche der Augustiner, San M a r c o , beigesetzt. S e r i p a n d o w a r geprägt vom —»Humanismus und beeinflußt von der mittelalterlichen - » S c h o l a s t i k in der F o r m der augustinischen O r d e n s t h e o l o g i e . Als Augustiner vertrat er die O b s e r v a n t e n b e w e g u n g innerhalb des O r d e n s . Aber S e r i p a n d o setzte sich auch intensiv mit der T h e o l o g i e der deutschen R e f o r m a t o r e n auseinander. Er w a r überzeugt, den r e f o r m a t o r i s c h e n Lehren müsse ein k a t h o l i s c h e s Paulusverständnis und eine k a t h o lische Deutung Augustins entgegengestellt werden. M i t seinen theologischen Überzeugungen, vor allem in der Erbsünden- und R e c h t f e r t i g u n g s l e h r e , k o n n t e er sich jedoch in Trient nicht durchsetzen. Seripando w a r einer der letzten Vertreter einer humanistischen R e f o r m b e w e g u n g in Italien, die in h o h e kirchliche Ä m t e r aufstiegen (wie G . - » C o n t a r m i ; R . - » P o l e u . a . ) . Diese M ä n n e r erstrebten eine religiöse Erneuerung auf der G r u n d l a g e der alten Kirche, verbunden mit der geistigen Weite des H u m a n i s m u s . D i e u n m i t t e l b a r e Z u k u n f t aber gehörte einer anderen R i c h t u n g , bei der eine A n k n ü p fung an die scholastische T h e o l o g i e und eine streng kurialistische Prägung b e s t i m m e n d waren. Quellen Girolamo Seripando, De iustitia et libertate Christiana, hg. v. Anselm Forster, 1969 (CCath 30). - Ders., Diarium de vita sua 1513-1562, hg. v. David Gutierrez: AAug 26 (1963) 5 - 1 9 3 . Hieronymi Seripando O.S.A. Registrum generalatus. I. 1 5 3 8 - 1 5 4 0 , hg. v. David Gutierrez, Rom 1982. - Komm, über das Trienter Konzil: C T 2 , 3 9 7 - 4 8 8 . - Zahlreiche Traktate: C T 12. Literatur Antonio Balducci, Girolamo Seripando, arcivescovo di Salerno (1554-1563), Cava 1963. - C T passim. - Anselm Forster, Gesetz u. Evangelium bei Girolamo Seripando, 1963 (KKTS 6). - Klaus Ganzer, Girolamo Seripando OESA: Kath. Theologen der Reformarionszeit, II 1985 (KLK 45) 1 1 5 - 1 2 3 . - Geronimo Seripando e la chiesa del suo tempo nel V centenario della nascita, hg. v. Antonio Cestaro, Rom 1997. - Vittorio Grossi, La giustificazione secondo Girolamo Seripando nel contesto dei dibattiti Tridentini: Miscellanea O.S.A. Historica in honorem R David Gutierrez O.S.A., 1978 (AAug 41) 9 - 2 4 . - Hubert Jedin, Girolamo Seripando. Sein Leben u. Denken im Geisteskampf des 16. Jh., 2 Bde., 1937 (Cass. 2 - 3 ) . - Ders., Gesch. des Konzils v. Trient, 4 Bde., Freiburg i. Br. 1951 - 1 9 7 5 . - Alfredo Marranzini, Dibattito Lutero Seripando su „Giustizia e libertà del cristiano", Brescia 1981. - Ders., Il ministero episcopale del cardinale Girolamo Seripando nell'arcidiocesi di Salerno, Salerno 1993. - Ders., Il cardinale Girolamo Seripando, arcivescovo di Salerno, legato pontificio al Concilio di Trento, Salerno 1994. Klaus G a n z e r
Serubbabel 1. Name und historische Einordnung schichtliche und theologische Bedeutung 1. Name
und historische
2. Quellenlage 3. Gestalt und Wirksamkeit (Literatur S. 172)
4. Ge-
Einordnung
D e r Enkel des deportierten judäischen K ö n i g s - » J o j a c h i n , unter D a r i u s I. in J e r u s a l e m aktiv (Hag 2 , 2 0 : 18. D e z e m b e r 5 2 0 v. C h r . ) , gilt H a g g a i ( 1 , 1 2 . 1 4 ; 2 , 2 . 2 3 ) und EsraN e h e m i a (Esr 3 , 2 . 8 ; 5 , 2 ; N e h 12,1) als S o h n Schealtiels, I C h r 3 , 1 9 a b e r als S o h n P e d a j a s , der h a r m o n i s i e r e n d als Ziehvater ( - » A b r a h a m ben M e i r ibn Ezra zu H a g 1,1: M i q r a ' o t g e d o l o t , W i e n , IV 1 8 5 9 , 2 4 6 a ) , vielleicht über eine Leviratsehe ( R u d o l p h 2 8 f . nach Keil 5 7 ) , verstanden wird. Davidische A b k u n f t scheint jedenfalls festzustehen, auch wenn die Zeugnisse (außer I C h r 3 , 1 9 ) keinen Wert d a r a u f legen. D e r E x i l j u d ä e r ist als S o h n „ d e s G e f a n g e n e n J o j a c h i n " (I C h r 3 , 1 7 [emendierter T e x t ] ) in B a b y l o n zur Welt gek o m m e n . D a r a u f weist auch sein N a m e , deutsch „ d e r S ä m l i n g B a b e l s " . „ Z e r + O r t s n a m e " ist ein a k k a d i s c h belegter N a m e n s t y p ( A H w 1 5 2 1 b ) .
172 2.
Serubbabel Quellenlage
Serubbabel wird im Masoretischen Text des Alten Testaments 22mal erwähnt (Septuaginta: 34mal, Neues Testament: 3mal als ZopoßaßsX). Die Quellen bestehen aus: 1. Zeilzeugnissen in Form von Prophetenworten (a) an Serubbabel allein: Sach 4 , 6 a / ? - 7 . 9 - 10as'; Hag 2 , 2 1 b - 2 3 , (b) an Serubbabel unter anderen: Hag 1 , 2 - 1 1 ; 2 , 3 - 9 , (c) fraglich ist der Bezug der zwei „sa?mah"-'Wone Sach 3,8; 6 , 1 2 b - 1 3 auf Serubbabel; 2. historiographischer Verarbeitung, wie sie in der Endredaktion des Buchs Haggai vorliegt (1,1.12.14; 2,2.4.21.23), in Esra-Nehemia (Esr 2,2//Neh 7,7; Esr 3,2.8; 4,2f.; 5,2; Neh 12,1.47) sowie in III Esr 4,13; 5f. passim; 3. der Genealogie I Chr 3,(1—)16—24 und der Aretalogie Sir 49,13.
3. Gestalt und
Wirksamkeit
Gestalt und Wirksamkeit sind primär aus den Zeitzeugnissen zu erschließen; sodann kommen die anderen Quellen kritisch in Betracht. Sach 4,6a/?-7 und 4 , 9 - 1 0 a * gehören zu den von den Nachtgesichten —»Sacharjas gerahmten Kernworten. Beide leben von der Gegenüberstellung von Gegenwart und Zukunft. Auch wenn sich Serubbabel nicht auf wirtschaftlich-militärische (hayil) und politisch-physische (ko"h: V. 6, vgl. Ps 33,16!) Macht stützen kann - sein Wirken ist zukunftsträchtig. Anlaß zu den Worten ist Serubbabels Beitrag (Initiative?) zum Tempelneubau (-»Tempel). Eine Entfaltung von damit implizierten Entwicklungen geschieht sowohl in der prophetischen wie später auch in der historiographischen Tradition, zuerst in den beiden „ s s w a ^ - W o r t e n Sach 3,8 und 6 , 1 2 b - 1 3 , die auf Jer 23,5 (33,13) und unter Umständen überbietend auf den Namen Serubbabels anspielen, wenn der „Same" zum „Sprießen" kommen soll. Steht hinter 6,13 das Modell einer Dyarchie mit dem Hauptpriester Josua? ruht das Interesse auf einer Weder in den Nachtgesichten noch in den „saemah"-Klotten „messianischen" Gestalt, sondern auf der neuen Geltung Jerusalems, für die Serubbabel allerdings Unterpfand, „Siegel" darstellt (Hag 2 , 2 1 b - 2 3 wohl nach Jer 22,24-27, so schon Sir 49,11 f.)- Der Redaktion des -»Haggai-Buchs gilt er als pxhäh („Statthalter"?) an der Seite Josuas (1,1.14; 2,2.21). „A leader without a title" (Japhet 69) ist er dagegen für das Buch Esra-Nehemia, das den Tempelbau der großköniglichen Initiative des Kyros entspringen läßt und Scheschbazzar als dessen Mandatar kennt. 4. Geschichtliche
und theologische
Bedeutung
Geschichtlich und theologisch gilt: Serubbabel hat durch seine Mitwirkung am Tempelbau die Grundlagen für Jerusalems neue Rolle gelegt. Er hat das als Diasporajudäer (vgl. die Pagenerzählung III Esr 4 , 5 5 - 6 3 ) bewerkstelligt und mag nach Babylon zurückgekehrt sein (SOZ VII,12; Esr 2,2//Neh 7,7 redaktionell). Die dem Tempel verbundene Diaspora (Sach 6 , 9 - 1 5 ; 7,2) blieb konstitutiv für Jerusalem. Auf Babel, wo Serubbabel, schon beschnitten (ARN 2), als Enkel Jojachins (PesK II, 368) geboren worden sei, legt auch die rabbinische Tradition Gewicht (bSan 38a: Identifikation mit Nehemia). In der Serubbabel-Apokalypse (7. Jh. n. Chr.?; vgl. Stemberger 320f.) wird Serubbabel zum Künder der messianischen Erlösung Jerusalems von (Ost-)Rom („Armilus") und der Restitution seines Heiligtums. Literatur Elias J . Bickermann, La seconde année de Darius: RB 88 (1981) 2 3 - 2 8 . - Richard S. Ellis, Foundation Deposits in Ancient Mesopotamia, 1968 (YNER 2). - Sara Japhet, Sheshbazzar and Zerubbabel. Against the Background of the Hist. and Religious Tendencies of Esra-Nehemiah: ZAW 94 (1982) 6 6 - 9 8 ; 95 (1983) 2 1 8 - 2 2 9 . - Arvid S. Kapelrud, Temple-Building, a Task for Gods and Kings: Or. 32 (1963) 5 2 - 6 2 . - Othmar Keel, Jahwe-Visionen u. Siegelkunst. Eine neue Deutung der Majestätsschilderungen in Jesaja 6, Ezechiel 1 u. Sacharja 4, 1977 (SBS 84/85). - Carl Friedrich Keil, Chronik, Esra, Nehemia u. Esther, 1870 (BC 5). - André Lemaire, Zorobabel et la Judée à la lumière de l'épigraphie: R B 103 (1996) 4 8 - 5 7 . - Othniel Margalith, The Politicai Background of Zerubbabel's Mission and the Samaritan Schism: V T 41 (1991) 3 1 2 - 3 2 3 . - Eric M. Meyers, The Shelomith Seal and the Judean Restoration. Some Additional Considérations: Erls 18 (1985) 3 3 - 3 8 . - David L. Petersen, Zechariah's Visions. A Theol. Perspective: V T 34 (1984)
Servet
173
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Thomas Willi Servet, Michael
(1509/1511-1553)
1. Leben
3. W i r k u n g
2. Werk
(Literatur S. 176)
1. Leben Michael Servet wurde 1509 oder 1511 in Villanueva de Sijena in der spanischen Provinz Huesca geboren. Kein halbes Jahrhundert später wurde er im katholischen Vienne zum Tode verurteilt und schließlich im protestantischen Genf auf dem Scheiterhaufen verbrannt (1553). Sein früher Werdegang bleibt größtenteils im dunkeln, doch nimmt man an, daß er dem niederen spanischen Adel entstammte und daß sein Bruder gelegentlich als Bevollmächtigter für spanische Inquisitionsgerichte tätig war. Seinen Schriften zufolge verließ Servet 1528 oder 1529 Spanien, um in Toulouse zu studieren. In den folgenden Jahren besuchte er außerdem Straßburg, wo er mit M. —»Bucer und W. —>Capito zusammentraf, und Basel, wo er zehn Monate lang bei J. —• Oekoiampad zu Gast war. Unter den Decknamen Michael Villanovanus und Michel de Villeneuve studierte er von 1533 bis 1538 Anatomie und Medizin in Paris und war ein Studienkollege des Begründers der modernen Anatomie Andreas Vesalius (1515-1564). Anschließend lebte er mehrere Jahre in Charlieu und ließ sich schließlich in Lyon und Vienne nieder, wo er Bibelausgaben und geographische Schriften redigierte und unter seinen Decknamen als Arzt praktizierte. Sein Tod im Jahre 1553 löste wie seine Schriften erhebliche Kontroversen aus. Irgendwie wurden die katholischen Behörden im französischen Vienne, möglicherweise mit J. -»Calvins Beteiligung, der wahren Identität von „Villanovanus" gewahr. Servet wurde wegen Häresie der Prozeß gemacht, seine Schriften wurden vernichtet, er selbst zum Tode verurteilt. Doch gelang ihm die Flucht aus dem Gefängnis, und er versuchte, doch wohl in Unkenntnis der möglichen Rolle, die Calvin zuvor bei seiner Verhaftung gespielt hatte, über Genf nach Italien zu entkommen. Obwohl er in der protestantischen Stadt inkognito bleiben wollte, wurde er entdeckt, wegen Häresie vor Gericht gestellt und wegen antitrinitarischer Ansichten auf dem Scheiterhaufen verbrannt. Calvins zentrale Rolle bei diesem Genfer Strafverfahren gegen Servet stand außer Zweifel, und er wurde (z.B. von S. ->Castellio) scharf kritisiert, das Todesurteil für einen Mann erwirkt zu haben, der in Genf weder in Predigten noch in Schriften häretische Ansichten verbreitet und auch sonst kein Verbrechen begangen hatte. 2. Werk Obwohl fast jeder Aspekt seines Lebens und seiner Schriften umstritten ist, machen seine verschiedenen Leistungen Servet zu einem der originellsten Denker des 16. Jh. Neben bedeutenden theologischen Werken schuf er erste Grundlagen einer modernen Bibelkritik. Er nahm aktiv an der medizinischen Debatte zwischen der griechischen und der arabischen Schulrichtung teil; außerdem wird ihm die Entdeckung des kleinen Blutkreislaufs zugeschrieben. Seine Veröffentlichung der Geographicae ennerationis libri octo
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Servet
v o n C l a u d i u s P t o l e m a e u s ( 1 5 3 5 ) s i c h e r t e i h m e i n e n P l a t z in d e r G e s c h i c h t e d e r m o d e r n e n G e o g r a p h i e . Seine e n t s c h i e d e n a n t i t r i n i t a r i s c h e n t h e o l o g i s c h e n S c h r i f t e n j e d o c h erwiesen s i c h als s e h r k o n t r o v e r s u n d b r a c h t e n i h m d e n R u f eines R a d i k a l e n ein. In seinen ersten E n t w ü r f e n , d a r u n t e r De nitate
Libri
duo
Trinitatis
( 1 5 3 2 ) u n d De
Erroribus Regno
Christi
Libri
Septem
( 1 5 3 1 ) , Dialogorum
de
Tri-
( 1 5 3 2 ) , griff er die T r i n i t ä t s v o r s t e l l u n g
s c h a r f a n ; d i e s e sei k a u m m e h r als e i n e c h r i s t l i c h e V a r i a n t e d e s a n t i k e n P o l y t h e i s m u s . Servet glaubte, das Alte Testament und die Apostel lehrten eine modalistische Auffassung des Vaters. Er legte dar, daß sich im Alten Testament den Menschen ein einziger G o t t unter verschiedenen Namen - wie El, Schaddai, Z e b a o t h , O z , J a h w e , Elohim und noch anderen - gezeigt habe. Jeder N a m e sei von G o t t mit Bedacht ausgewählt worden, um den Bedürfnissen und Ängsten der jeweiligen Generation zu entsprechen. Daher sei das Alte Testament keine Prophezeiung des Kommens Christi, sondern eine Abfolge fortschreitender Manifestationen des einen Gottes. In seinen Anmerkungen zur lateinischen Bibelübersetzung von Santes Pagninus (1470—1541) vertrat er (1542) die Vorstellung, daß die alttestamentlichen Propheten nicht das Kommen Christi vorhergesagt haben und daß sie vor ihrem eigenen geschichtlichen Hintergrund ausgelegt werden müßten. In ähnlicher Weise wie im Alten Testament erscheine derselbe G o t t im Neuen Testament als Sohn und Geist, um den Menschen zusätzliche geistige Wahrheiten zu offenbaren und so die Vergöttlichung des Menschen zu bewirken. Servet behauptete, die Apostel Jesu hätten die Tiefsinnigkeit dieser Lehre verstanden, für die Griechen und Heiden jedoch sei die Gottheit eher eine Art mathematische Gleichung gewesen, die eine innere Differenzierung Gottes anstatt eines Verständnisses der unterschiedlichen modalistischen Ausdrucksweisen des Vaters erfordert habe. Als Folge davon seien die verschiedenen göttlichen Audrucksweisen des Neuen Testaments bald in drei getrennte Kategorien der Göttlichkeit umgeformt worden. Die alttestamentliche Fülle von Namen für G o t t und das breite Spektrum prophetischer Botschaften seien alle darauf reduziert worden, lediglich Christus zu präfigurieren. Die zahlreichen Kritiker Servets legten ihm zur Last, sein M o d a l i s m u s reduziere Christus auf lediglich eine weitere Erscheinungsweise des Vaters. Neben anderen machte Calvin, mit dem Servet korrespondierte, geltend, ein solcher Christus sei nicht fähig, menschliche Sünden zu sühnen. Mit seinem Modalismus fiel Servet hinter die ausgebildete Trinitätslehre der Kirche zurück auf die modalistischen Überlegungen, die die Kirche bereits im 3. J h . als der biblischen Tradition nicht gerecht werdend erkannt und überwunden hatte. In s e i n e m z w e i J a h r z e h n t e s p ä t e r v e r f a ß t e n H a u p t w e r k
Cbristianismi
Restitutio
( 1 5 5 3 ) zeigt sich S e r v e t als w e i t a u s r e i f e r e r D e n k e r . E r w i e d e r h o l t e in d i e s e m W e r k seine f r ü h e r e n A n s i c h t e n ü b e r die G o t t h e i t , b o t a b e r a u c h e i n e s t i m m i g e , w e n n g l e i c h ä u ß e r s t radikale, alternative D e u t u n g der christlichen L e h r e . Diese „ W i e d e r h e r s t e l l u n g " des apos t o l i s c h e n G l a u b e n s d e r U r c h r i s t e n h e i t g e r i e t indes n i c h t zu g r ö ß e r e r Z u f r i e d e n h e i t der o r t h o d o x e n K r i t i k e r S e r v e t s , d a sie n o c h r a d i k a l e r als seine f r ü h e n W e r k e ausfiel. D a b e i s t a n d eine n e u g n o s t i s c h e , s c h r o f f d u a l i s t i s c h e S i c h t im V o r d e r g r u n d . Servet behauptete, daß G o t t und Satan sich in einem ewigen Wettstreit um die Herrschaft über den Kosmos befänden, wobei beide versuchten, die Verehrung der Menschheit auf sich zu ziehen. Tatsächlich sei die Geschichte seit der Zeit der gefallenen Engel bis hin zum kommenden Millennium ein Niederschlag der Z u s a m m e n s t ö ß e von G o t t und Satan. Im Garten Eden verlieh Adams und Evas Sünde unbeabsichtigt Satan die Herrschaft über die Erde, doch G o t t versuchte weiterhin, die Menschheit aus der Ferne zu beeinflussen. Es ist schon erwähnt worden, wie sich G o t t nach Servets Meinung der Menschheit im Alten Testament durch die Verwendung unterschiedlicher Namen zeigte. Ebenso erschien Satan den Menschen in unterschiedlichen Manifestationen und unter unterschiedlichen N a m e n wie Baal, Bei, Baal Peor, M o l o c h , Aschera usw., um sie auf seine Seite, die Seite des Bösen, zu ziehen. In jeder Generation stand der jeweilige göttliche N a m e einem gleichermaßen mächtigen satanischen N a m e n entgegen. Zuletzt trat Gottes Manifestation als Jesus der Manifestation des Satans als -»Antichrist entgegen. Während sich die Apostel für Christus entschieden, obsiegte Satan über die griechischen Christen, und das historische Christentum wurde durch zahlreiche unzutreffende Vorstellungen verfälscht. Satan gewann die völlige Herrschaft über die Kirche zur Zeit - » K o n s t a n t i n s und des Konzils von - » N i c ä a (325), als die Trinität zur christlichen Lehre wurde. Dennoch sei noch nicht alles verloren; 1260 J a h r e später, d.h. im J a h r e 1585, werde der Erzengel Michael erscheinen und das Tausendjährige Reich einleiten. Diesmal werde Gott Satan bezwingen, und das Reich der Heiligen werde beginnen. Servet verband diesen häretischen Dualismus mit einer Ablehnung der orthodoxen Vorstellung von der Erbsünde. Sünde resultierte aus dem Einfluß Satans, und es stand dem Menschen frei,
Servet
175
diesen zugunsten der göttlichen Botschaft zurückzuweisen. Servet betonte, daß der M e n s c h nach dem Bilde Gottes geschaffen sei und daß seine natürliche Verwandtschaft mit G o t t durch den Vorgang der Atmung vergrößert werde. Um G o t t e s freie G n a d e n g a b e zu erklären, m a c h t e sich Servet seine a n a t o m i s c h e Entdeckung des kleinen Blutkreislaufs zunutze: S o wie das Blut von der Lunge zum Herzen fließt, mit Sauerstoff angereichert wird und deshalb die Farbe wechselt, glaubte Servet, d a ß auch die G n a d e in der Luft sei und von G o t t her zur Lunge, zum Herzen und zur Seele des Menschen k o m m e . Darüber hinaus w a r die M e n s c h h e i t auch vor Christus nicht ohne ein geistliches Gottesverständnis. Die alttestamentlichen G o t t e s n a m e n vermittelten den H e b r ä e r n eine ganze Reihe von Einsichten, und das alte Gesetz w a r zu seiner Zeit für die Rechtfertigung der Juden genauso ausreichend, wie es für andere V ö l k e r deren Gesetzesaufzeichnungen waren. Völlige Vergöttlichung sei aber nur für den Christen möglich, der bereit ist, G o t t und nicht Satan anzuerkennen. Wenn der erwachsene Gläubige a b dem Alter von 3 0 J a h r e n sich freiwillig dem Vater zueigne, verleibten die Rituale der - » T a u f e und des - » A b e n d m a h l s dem Christen die Substanz des Geistes G o t t e s ein, sowohl in einem geistigen wie einem körperlichen Sinne, und bewirkten zusammen mit der bereits in der Luft befindlichen Gnade eine weitere Vergöttlichung des Menschen. Mit der Zeit werde die Menschheit ihr körperliches Äußeres ablegen und zum Vater zurückkehren, genauso wie der Vater in der Gestalt Christi menschliche Gestalt angenommen hatte, um als Mensch zu erscheinen. Immer wieder betonte Servet, daß „Er wurde, was wir sind, auf daß wir würden, was Er ist".
Damit leugnete Servet nicht nur die kirchliche Trinitätslehre, sondern im Grunde auch das Christentum als Erlösungsreligion. Doch war sein Denken durchaus am Heil des Menschen interessiert wie auch auf das Sein Gottes ausgerichtet. Seine hohe Einschätzung des nicht von einer Ursünde befleckten Menschen ließ die orthodoxe trinitarische Rede von dem unsichtbaren Vater, Christus mit zwei Naturen und einem davon gesonderten Geist völlig überflüssig werden. O h n e Zweifel war ein Teil von Servets radikaler Sicht auf seine ungewöhnliche Palette von Quellen zurückzuführen. Im Griechischen und Hebräischen sehr belesen, war Servet platonischen, mittel- und neuplatonischen Quellen (-»Plato/Platonismus; —»Neuplatonismus) sowie Hermes Trismegistos ( - » H e r m e t i c a ) verpflichtet. Er war außerdem durch die valentinianische und marcionitische Gnosis (- -» Valentin; -»Marcion) beeinflußt, auch wenn er dies immer wieder leugnete. Seine Theologie als ganze, eine Theologie eines fortschreitenden göttlichen Modalismus, war -»Paulus von Samosata und Sabellius wie auch verschiedenen vornicänischen Vätern, besonders -»Irenäus, verpflichtet. Servet zitierte außerdem mehr als ein Dutzend rabbinischer Quellen, die er zu R a t e zog, um den wörtlichen/historischen Sinn der Schrift darzulegen und das kulturelle Umfeld der ersten Christen zu erläutern. Von diesen jüdischen Quellen waren die Exegese R a b b i David Qimchis ( 1 1 6 0 - 1 2 3 5 ) und die theologischen Konzeptionen der aramäischen Targumim Onqelos und PseudoJ o n a t h a n (—»Bibelübersetzungen II. 6.4. und 6.5.) am wichtigsten. Das Ergebnis ihrer Kombination bei Servet war eine völlig häretische Deutung des Christentums und der christlichen Geschichte. Servets Schriften bieten in mancher Hinsicht geradezu ein Kompendium der zahlreichen häretischen Vorstellungen, die in der ersten Hälfte des 16. J h . in Umlauf waren. 3.
Wirkung
Obwohl keine unitarische Kirche nach ihm benannt ist, erwiesen sich Servets Vorstellungen und seine exegetische Methode als einflußreich für die Entfaltung des späteren Unitarismus (—»Unitarier). Neben anderen damals zeitweilig in der Schweiz lebenden Italienern brachten Giovanni Gentile ( 1 5 2 0 - 1 5 6 6 ) und G . —»Biandrata seine Schriften nach Polen, Litauen und Siebenbürgen, wo der Unitarismus sich einiger früher Erfolge erfreute. Desgleichen übersetzten Franz David(is) ( 1 5 1 0 - 1 5 7 9 ) und J a k o b Paläologus (ca. 1 5 2 0 - 1 5 8 9 ) große Teile von Servets Schriften ins Polnische und Ungarische und legten damit den Grund für eine stärker judaisierte Konzeption des Unitarismus. Ironischerweise spielten auch Calvins eigene Schriften, die Servets Ansichten deutlich beschrieben, um sie zu widerlegen, eine bedeutende Rolle bei der Verbreitung von Servets Vorstellungen. An das Martyrium des Spaniers erinnern Standbilder in Genf und Villanueva de Sijena.
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Seuse
Literatur Roland H . Bainton, T h e H u n t e d Heretic. T h e Life and Death of Michael Servetus, Boston 1953; dt.: Michael Server 1 5 1 1 - 1 5 3 3 , 1960 (SVRG 178, Jg. 6 6 - 6 7 / 1 ) (Lit.). - J. Fernandez Baron, Miguel Servet. Su vida y su obra, M a d r i d 1970. — Jerome Friedman, Michael Servetus. A Case Study in Total Heresy, Genf 1978. - J o h n F a r q u h a r Fulton, Michael Servetus, H u m a n i s t and M a r t y r . With a Bibliography of his Works and Census of Known Copies by Madeline E. Stanton, N e w York 1953. - M a r i a n Hillar, T h e Case of Michael Servetus (1511-1553). T h e Turning Point in the Struggle for Freedom of Conscience, Lewiston, N.Y. 1997 (TSR 74). - Arthur G o r d o n Kinder, Michael Servetus, Straßburg 1989. — Claudio M a n z o n i , Umanesimo ed eresia. Michele Serveto, Neapel 1974. - Georg Josef Erwin M a u t n e r M a r k h o f , Verschwörung der Inquisitoren. Kriminalprozeß Miguel Serveto 1553, Wien 1974 (Lit.). - Johann Lorenz v. M o s h e i m , Anderweitiger Versuch einer vollst, u. unparteiischen Ketzergesch., Helmstedt 1748. — Ders., Neue Nachrichten v. dem berühmten Span. Arzte Michael Serveto, der zu Geneve ist verbrannt worden, Helmstedt 1750. - Francisco Sanchez-Blanco, Michael Servets Kritik an der Trinitätslehre. Phil. Implikationen u. hist. Auswirkungen, 1977 (EHS R. 20 Phil. 28) (Lit.). - Henri Tollin, Das Lehrsystem Michael Servet's, genetisch darg., 3 Bde., Gütersloh 1876-1878. - Friedrich Trechsel, Die prot. Antitrinitarier vor Faustus Socinus. N a c h Quellen u. Urkunden gesch. darg. I. Michael Servet u. seine Vorgänger, Heidelberg 1844. - Earl M o r s e Wilbur, A History of Unitarianism. II. In Transylvania, England, and America, C a m b r i d g e , Mass. 1952. - Robert Willis, Calvin and Servetus, L o n d o n 1877.
Jerome Friedman
S e t h i a n e r —• G n o s i s / G n o s t i z i s m u s Seuse, Heinrich 1. Leben
1.
(um
1295/1297-1366)
2. Werke und Lehre
3. N a c h w i r k u n g
(Quellen/Literatur S. 182)
Leben
A m Fest des Heiligen B e n e d i k t (21. M ä r z ; vgl. Vita [s.u. 2.1.1.] K a p . 16) u m 1295/1297 als H e i n r i c h v o n Berg in K o n s t a n z o d e r U m g e b u n g g e b o r e n , t r a t H e i n r i c h , der sich aus V e r e h r u n g zu seiner M u t t e r n a c h d e r e n Geschlecht Sus o d e r Süs n a n n t e , als 13jähriger ca. 1308/1310 ins D o m i n i k a n e r k l o s t e r K o n s t a n z ein. Eine S c h e n k u n g der Eltern a n d a s Kloster aus A n l a ß seiner vorzeitigen A u f n a h m e m u ß ihn ü b e r zehn J a h r e hin b e u n r u h i g t h a b e n , bis ihn M e i s t e r —»Eckhart v o n dieser F u r c h t erlöste. Seuse b e k a m die ü b l i c h e A u s b i l d u n g : ein J a h r N o v i z i a t m i t a n s c h l i e ß e n d e r P r o f e ß (ca. 1309), ca. zwei bis drei J a h r e E l e m e n t a r u n t e r r i c h t in L a t e i n u n d O r d e n s s p i r i t u a l i t ä t (Heilige Schrift, O f f i z i u m , Regel u n d O r d e n s s a t z u n g e n , aszetische L i t e r a t u r u n d Praxis); es folgen einige J a h r e (ca. 1 3 1 3 / 1 4 - 1 3 1 8 / 1 9 ) p h i l o s o p h i s c h e r Studien: zwei bis drei J a h r e philosophia rationalis (aristotelische Logik in i h r e r g a n z e n Breite) in einem K o n v e n t d e r N a t i o Suebica o d e r Alsatia, zwei bis drei J a h r e S t u d i u m d e r philosophia realis (Physik, G e o m e t r i e , A s t r o n o m i e , aristotelische M e t a p h y s i k ) . Die sich d a r a n a n s c h l i e ß e n d e n zwei bis drei J a h r e T h e o l o g i e s t u d i u m (der Bibel u n d d e r Sentenzen des - > P e t r u s L o m b a r d u s ) m a g Seuse a n e i n e m Studium particulare in K o n s t a n z o d e r S t r a ß b u r g absolviert h a b e n ( 1 3 1 9 - 1 3 2 2 ) . D a n a c h w u r d e Seuse z u m W e i t e r s t u d i u m ans Studium generale in K ö l n verpflichtet ( 1 3 2 3 / 2 4 - 1 3 2 7 ) , w o er E c k h a r t als einflußreichen Lehrer g e h a b t h a t . 1326/27 k e h r t er f ü r die n ä c h s t e n 20 J a h r e als L e k t o r n a c h K o n s t a n z z u r ü c k , u m die B r ü d e r d e r K o m m u n i t ä t zu u n t e r r i c h t e n . Z w i s c h e n 1329 u n d 1334 m u ß er dieser A u f g a b e entsetzt w o r d e n sein, a m ehesten w o h l 1330 anläßlich des G e n e r a l - u n d P r o v i n z k a p i t e l s des O r d e n s in M a a s t r i c h t , w o Seuse auf H ä r e s i e v e r d a c h t hin zur R e c h e n s c h a f t g e z o g e n u n d m i t einem s c h w e r e n V o r w u r f b e d a c h t w o r d e n sein k ö n n t e (eine D e m ü t i g u n g , v o n d e r die Vita, Kap. 23 b e r i c h t e t ; vgl. Künzle [S. 30] in seinem V o r w o r t z u m Horologium Sapientiae).
Seuse
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Z u diesem Z e i t p u n k t - Seuse w a r um die 40 - m u ß jene W e n d u n g in Seuses Leben eingetreten sein, von der er in seiner Vita, Kap. 20 (Dt. Sehr. 58,3ff.; vgl. auch in den Briefen: ebd. 368,27ff.; 443,7ff.; dazu die Allusionen an die Fußtuchszene: ebd. 363,22f.; 421,23-422,3) in F o r m eines „ a u t o b i o g r a p h i s c h e n M o m e n t s " ( M a x Wehrli, F o r m e n mittelalterlicher Erzählung. Aufsätze, Zürich 1969, 16f.) berichtet, w o Seuse angesichts eines mit einem Fußtuch spielenden H u n d e s erkennt, d a ß er weiterhin nicht mehr über seinen Körper asketisch verfügen d a r f , sondern - will er sich nicht d a n k seinen asketischen Praktiken umbringen - in mystischer Gelassenheit die Leiden von außen als gottgesandte auf sich z u k o m m e n lassen soll. Die Stelle ist von den Altväterleben vorgeprägt, entbehrt aber deswegen nicht des inneren Gewichts f ü r die Lebensumstände Seuses. Die Strategie seines Lebens ändert sich nun vollkommen: Anstatt im Kloster ein einsiedlerisches Leben zu f ü h r e n , begibt sich Seuse in die G e f a h r e n z o n e aktiver Missions- und Predigttätigkeit. Er exponiert sich und n i m m t teil an den Ereignissen der Zeit. Vielleicht m e h r als bisher bedacht, mögen es Zeitereignisse gewesen sein, die ihn zu einer Änderung seiner H a l t u n g gegenüber seiner Askesepraxis b e w o g e n h a b e n . Die Z e i t s i t u a t i o n , wie sie sich in Konstanz spiegelte, w a r v e r w o r r e n und unübersichtlich: 1342 f a n d in Konstanz ein Aufstand der Z ü n f t e gegen das herrschende Patriziat statt; 1343 f ü h r t e eine M i ß e r n t e zu einer H u n g e r s n o t , ein H o c h w a s s e r b e d r o h t e die Stadt: Es m a g zu diesem Z e i t p u n k t gewesen sein, d a ß Seuse zum Prior des Konstanzer Konvents g e w ä h l t w u r d e (Vita, Kap. 43: Dt. Sehr. 145,1; 146,1 ff.; H o r o l o g i u m Sapientiae 1,5: ed. Künzle 415,26ff.). Allerdings wird er zu diesem Z e i t p u n k t - 1 3 4 2 o d e r 1343 - schon nicht m e h r in Konstanz geweilt h a b e n : Als entschiedener G e g n e r des Kaisers - » L u d w i g IV. des Bayern u n d papsttreuer D o m i n i k a n e r w i r d er mit den meisten M i t b r ü d e r n 1338 (Ende 1338/Anfang 1339 fand Heinrich von N ö r d l i n g e n [gest. nach 1379] Seuse schon nicht m e h r in Konstanz vor; s. Philipp Strauch [Hg.], M a r g a r e t h a E b n e r u n d H e i n r i c h von N ö r d l i n g e n , Freiburg i.Br. u.a. 1882 [ N e u d r . A m s t e r d a m 1966] 215f., Brief X X X I ) o d e r 1339 bis 1346 o d e r 1349 wegen des Interdikts ins Exil e n t w e d e r nach Diessenhofen zu d e n D o m i n i k a n e r i n n e n in K a t h a r i n e n t a l o d e r in d a s vor den Toren der Stadt gelegene Schottenkloster gegangen sein. Wahrscheinlich ist, d a ß Seuse schon 1346 nach Konstanz z u r ü c k k e h r t e , d e n n 1347 m u ß sich - einem Brief Heinrichs von Nördlingen an M a r g a r e t a - » E b n e r E n d e 1 3 4 7 / A n f a n g 1348 zufolge (ebd. 86f., Brief LI) - jene Affäre zugetragen h a b e n , in der Seuses g u t e r Ruf d u r c h die üble N a c h r e d e einer von ihm unterstützten Frau, die ihm die Vaterschaft f ü r ihr uneheliches Kind zuschiebt, massiv g e t r ü b t w u r d e . Seuse wird schon in ein anderes Kloster versetzt w o r d e n sein, als der O r d e n s g e n e r a l u n d der Provinzial der T e u t o n i a nach Konstanz k o m m e n , u m die Angelegenheit zu u n t e r s u c h e n . Seuses Unschuld stellt sich h e r a u s - zu einem Z e i t p u n k t w o h l (allenfalls w ä h r e n d des Provinzialkapitels von 1354, dzs in K o n s t a n z s t a t t f a n d ) , da Seuse längst in Ulm einen neuen W i r k u n g s k r e i s g e f u n d e n h a t t e .
W ä h r e n d der 20 J a h r e seines Wirkens in Konstanz w a r Seuse ein A n h ä n g e r der O r densreform. Er w i d m e t sich mit allem N a c h d r u c k der cura animarum im Hinblick auf eine Erneuerung im Geiste der ursprünglichen Satzungen ( - » D o m i n i k a n e r ) . Diesem Ziel dienen verschiedene Reisen in die Schweiz, ins Elsaß u n d in die Rheingegend. Die zwei erhaltenen Predigten sprechen nicht unbedingt f ü r eine Pastoration in einem breiten sozialen Umfeld, sondern vielmehr f ü r eine Betreuung kleiner G r u p p e n oder einzelner Individuen. Sicherlich waren es adlige D a m e n , die er zum Klostereintritt zu bewegen suchte, Beginen, deren H ä u s e r er als geistlicher Berater betrat, vor allem aber N o n n e n seines eigenen O r d e n s , die Seuse mit Sensibilität und Geschick geistlich betreute. Besuche Seuses in verschiedenen, zum Teil w e i t a b liegenden D o m i n i k a n e r i n n e n k o n v e n t e n sind bezeug:: St. Katharinental bei Diessenhofen, Ö t e n b a c h bei Z ü r i c h , Adelhausen bei Freiburg, Unterlinden bei Kolmar, die verschiedenen Klöster in den termini des Predigerk o n v e r t s zu Konstanz (Karl Bihlmeyer: Dt. Sehr. 114*), vor allem aber zu T ö ß bei Winterthur, w o Seuses Vertraute Elsbeth Stagel weilte, die er von ihrem Klostereintritt in d e r Mitte der 30er J a h r e bis zu ihrem Tod u m 1360 geistlich betreute und förderte. D a ß Seuse mit Ordensgenossen und a n d e r n an der mystischen R e f o r m b e w e g u n g der Zeit in:eressierten Gläubigen Kontakte pflegte, k a n n erschlossen werden: So h a t er mit Sicherheit J o h a n n e s den Fuoterer von Straßburg, J. - * T a u l e r und den Weltpriester Heinrich von N ö r d l i n g e n gekannt.
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Seuse
Seuses Lebensgestaltung in Ulm, w o er seit 1347/48 bis zu seinem Tod weilte, wird sich k a u m anders als in Konstanz g e f o r m t haben: Er u n t e r n i m m t Pastorations- und Missionsreisen, redigiert seine Vita und sein literarisches Vermächtnis in F o r m des Exemplars. Sonst ist wenig über sein Leben in Ulm bekannt. G l a u b w ü r d i g wird von seiner Freundschaft mit dem Benediktiner Walter von Bibra ( = Bibrach) aus dem Kloster Wiblingen berichtet. Seuse starb am 25. J a n u a r 1366 zu Ulm und w u r d e daselbst in der Predigerkirche beigesetzt. Schon die Art seiner Beisetzung in der Konventskirche verweist auf eine h o h e Wertschätzung im O r d e n und in der Kirche. Am 16. April 1831 wird Heinrich Seuse von Papst Gregor XVI. (1831-1846) selig gesprochen. 2. Werke und
Lehre
Seuse ist unter allen Vertretern der rheinländischen Mystik der eigentliche Literat. Seine Lehre ist gebunden an die Art ihrer literarischen Vermittlung. Diese geschieht in Form einer Werkausgabe letzter H a n d im sog. Exemplar. Es wurde 1362/63 z u s a m m e n gestellt und enthält Seuses Vita, das Büchlein der ewigen Weisheit (= Bdew, zwischen 1328 und 1330 entstanden), das Büchlein der Wahrheit (= Bdw, zwischen 1327 und 1329, wahrscheinlich aber erst 1329/30 abgefaßt; zu dieser Datierung vgl. H a a s , Nim 155, a u f g e n o m m e n von Sturlese im Vorwort zu BdW [p. XVIII]) und das Briefbüchlein (= Bfb, mit einer Auswahl von 11 aus den 28 von Elsbeth Stagel im GBfb [s.u.] gesammelten Briefen). In Einzelüberlieferungen liegen vor: das zwischen 1331 und 1334 verfaßte Horologium Sapientiae ( = HS), das Große Briefbuch ( = GBfb), vier Predigten und das Minnebüchlein. 2.1. Das Exemplar. Seuse hat „vier g u o t ü b u e c h l ü " (Dt. Sehr. 3,2) seines von ihm selbst redigierten „ M u s t e r b u c h e s " mit (meist zwölf) Bildern (diese bei Diethelm und Kersting; zum Kontext der Bildlichkeit Seuses vgl. H a m b u r g e r , Self-fashioning) und Sprüchen versehen, deren Anschaulichkeit den von der Welt niedergezogenen Menschen „ w i d e r uf zuo dem minneklichen got reizlich ziehe" (Dt. Sehr. 4,27f.). D a m i t ist ein darstellerisch-ästhetisches Problem gegeben, die Frage nämlich, wie sich „ m i t bildgebender wise" (ebd. 3,3) von d e m , „ d a z über alle sinne und über menschlich Vernunft ist" (ebd. 191,7), sprechen läßt, oder kurz: „ w i e kan man bildlos gebilden u n d e wiselos b e w i s e n " (ebd. 191,6f.)? Von „bildlos gebilden" ist ihm auch schon die L ö s u n g vorgegeben: D a s Bildlose m u ß über die A n w e n d u n g von Bildern vermittelt w e r d e n , derart, „daz m a n bild mit bilden us t r i b e " (ebd. 191,9). Dieses Vorgehen wird ihm zum schriftstellerischen P r o g r a m m . 2.1.1. Vita. Seuses Lebensbeschreibung — in erbaulicher Absicht verfaßt — zieht die meisten V o r b e m e r k u n g e n auf sich: Aus Furcht vor p o s t u m e r M i ß d e u t u n g oder Unterd r ü c k u n g gibt er seine Lebensbeschreibung zu Lebzeiten heraus, unterbreitet Proben davon aber zuvor dem Provinzial der Teutonia, B a r t h o l o m ä u s von Bolsenheim (gest. 1362); n a c h d e m dieser das Gelesene a p p r o b i e r t hat, stirbt er und m u ß so den Rest vom H i m m e l her in Form einer Vision beglaubigen. Sodann k n ü p f t Seuse die Entstehung der Vita an seine freundschaftliche Beziehung zu Elsbeth Stagel im Kloster T ö ß : Sie habe ihm A u s k ü n f t e über seinen geistlichen Werdegang vom a n f a n g e n d e n über den fortschreitenden zum v o l l k o m m e n e n M e n s c h e n entlockt, habe sie aufgeschrieben, bis Seuse von diesem geistlichen Diebstahl e r f a h r e n , die Texte herausgefordert und sie zum Teil v e r b r a n n t habe, durch eine himmlische Botschaft aber an der Vernichtung des Rests gehindert w o r d e n sei; dieser mache den Hauptteil der Vita aus; etwas an L e h r h a f t e m habe er noch hinzugefügt. Es ist bis heute die Frage, o b „die literarische Beteiligung der Stagel in den Bereich des fiktionalen R a h m e n s [gehöre], den das G a t t u n g s v o r b i l d des R i t t e r r o m a n s e r z w i n g t " ( G r u b m ü l l e r 196 im Rückgriff auf R u h , Altdeutsche Mystik 222; beide Autoren neigen dazu, die Beteiligung der Stagel an Seuses Verfasserschaft als r o m a n h a f t e Konstruktion Seuses zu betrachten. Mit nicht schlechten G r ü n d e n äußert sich gegen die Konstruktionsthese: Stoll 1 4 9 - 1 5 2 ; vgl. auch Blank).
Seuse
179
In der T a t knüpft Seuse in seiner Autobiographie an das Stilmuster des höfischen R o m a n s mit seinem doppelten Kursus an. Ein erster Teil (Kap. 1 - 2 0 ) schildert Seuse im Zustand einer aktiven Leidensnachfolge Jesu Christi. Begleitet von Visionen und Entrückungen tritt er in „ein cristfoermig liden" (Dt. Sehr. 134,5f.) ein: Er ritzt sich den N a m e n Jesu (IHS) auf die Brust und fügt sich aller Art M a r t e r n zu: Geißelungen, Schweigen, Anlegen eines härenen Nagelhemdes, Tragen eines mit Nägeln gespickten Holzkreuzes, Fesselung der Hände, W ä r m e e n t z u g im W i n t e r , Essens- und Trinkverzicht, Aufgabe der Körperpflege, eine T ü r als Bettstatt, unzählige „ v e n j e n " (Prostrationen) usw. In einer entscheidenden Schau wird ihm der Verzicht auf diese Bußübungen in N a c h f o l g e der Wüstenväter (vgl. Louise G n ä d i n g e r , Das Altväterzitat im Predigtwerk J o h a n n e s Taulers: Unterwegs zur Einheit. FS Heinrich S t i r n i m a n n , Freiburg i . U e . 1980, 2 5 3 - 2 6 7 , hier 258; M i c h e l , Seuse 363; vgl. zum Rezeptionsphänomen Konrad Kunze/Ulla Williams/Philipp Kaiser, I n f o r m a t i o n und innere F o r m u n g . Z u r Rezeption der , V i t a s p a t r u m ' : Wissensorganisierende und wissensvermittelnde Literatur im M A . Perspektiven ihrer Erforschung, hg. v. N o r b e r t R i c h a r d Wolf, Wiesbaden 1987 [Wissenslit. im M A 1] 1 2 3 - 1 4 2 ; Williams-Krapp) empfohlen: W i e ein Hund mit einem Fußtuch spielt, so wird ihm hinfort von andern M e n s c h e n mitgespielt werden (Kap. 20). Diese Wende im 40. Lebensjahr bringt ihm auch die Erhebung in den geistlichen Ritterstand (nach Hi 7 , 1 ) . Andere Menschen fügen ihm wie einem weltlichen Turnierritter Leiden zu: Verleumdungen, Gefahren an Leib und Leben, Treuebrüche ihm nahestehender M e n s c h e n begegnen ihm in einer Reihung, wie sie im höfischen R o m a n als Aventiurenkette geläufig ist. Neben Gefährdungen von außen treten solche von innen: Zweifel an der M e n s c h w e r d u n g G o t t e s , M e l a n c h o l i e , Angst vor Verdammnis. Visionen trösten ihn und geben ihm die Gewißheit, von G o t t auserwählt worden zu sein (unter anderen Gottesfreunden erscheint ihm auch Meister E c k h a r t ) . Im zweiten Teil (Kap. 3 3 - 5 3 ) setzen sich Seuses Leiden fort: Neid, M i ß g u n s t und Verzweiflungszustände werden geschildert; sie verweisen nicht mehr auf Seuses Aufstieg, sondern sind Exempel für Elsbeth Stagel, die zu voller Gelassenheit geführt werden soll. M i t Kap. 4 5 bricht der erzählende Teil mit dem Hinweis auf Elsbeths tätige Ü b e r n a h m e der Verehrung des N a m e n s Jesu a b , und es folgen acht theoretische Unterweisungen über die höchsten Fragen der mystischen Erfahrung: nach echter und falscher Vernunft, nach der Gelassenheit, nach der Dreieinigkeit G o t t e s . Quintcssenz ist: „Ein gelassener mensch muoss entbildet werden von der creatur, gebildet werden mit Cristo, und überbildet in der g o t h e i t " (Dt. Sehr. 1 6 8 , 9 f . ) . Der literarische Aufwand der Vita relativiert sich in dem eingangs genannten Grundgesetz Seusescher Darstellung, daß nämlich „disü ellü entworfnü bild und disü usgeleiten verbildete wort sind der bildlosen warheit als verr und als ungelich, als ein swarzer mor der schoenen s u n n e n " (ebd. 193,31 ff.). W e n n a u c h seit S c h w i e t e r i n g d a s B u c h , „ d a z d a h a i s s e t d e r S u s e " ( e b d . 7 , 1 ) ,
trotz
der allenfalls mystifizierenden P r o l o g e als a u t h e n t i s c h e - » A u t o b i o g r a p h i e G e l t u n g bea n s p r u c h e n d a r f , sind viele F r a g e n h i n s i c h t l i c h d e r g e n a u e r e n A u t o r s c h a f t d i e s e s W e r k e s n o c h o f f e n . S i c h e r ist, d a ß i h m m y s t a g o g i s c h e r C h a r a k t e r z u k o m m t , d a ß es a l s o v o r rangig „ m i t bildgebender w i s e " (ebd. 3,3) und mit „bildgebender g l i c h n u s " (ebd. 191,1) d a s c h r i s t l i c h e H e i l s g e s c h e h e n i m Spiegel e i n e s e i n z e l n e n M e n s c h e n l e b e n s w i e d e r g e b e n will. I n t r i k a t d a b e i ist u n d b l e i b t , d a ß d e r B e r i c h t g e b e r i d e n t i s c h ist m i t d e m G e g e n s t a n d , v o n d e m er b e r i c h t e t . D i e S e l b s t r e f e r e n z d e s H e i l i g e n in F o r m e i n e r
Autobiographie
e n t h ä l t alle T ü c k e n m ö g l i c h e r S e l b s t m i ß d e u t u n g o d e r S e l b s t ü b e r h ö h u n g . 2.1.2.
Büchlein
der
ewigen
Weisheit
(Bdew).
A u c h d a s Bdew
ist i m L e b e n
Seuses
b e g r ü n d e t . S e i n e M u t t e r ist i h m v o r b i l d l i c h f ü r ihr „ m i t l i d e n " ( D t . S e h r . 1 4 2 , 2 5 )
mit
d e r P a s s i o n C h r i s t i . S e i n e e i g e n e „ S c h w e r m ü t i g k e i t " ( H a a s , K u n s t 9 3 - 1 7 8 ) f ü h r t ihn zur B e t r a c h t u n g des Leidens Christi (Dt. Sehr. 2 5 6 , 2 4 f f . ) , e b e n s o die M ö g l i c h k e i t , darin A b l a ß für z e i t l i c h e S ü n d e n s t r a f e n zu g e w i n n e n ( e b d . 2 5 8 , 1 ff.). In e i n e r i n n e r l i c h e n S c h a u w e r d e n d e m D i e n e r d e r e w i g e n W e i s h e i t 1 0 0 B e t r a c h t u n g e n e i n g e g e b e n . Sie b i l d e n d e n G r u n d s t o c k d e s Bdew
u n d h a b e n i h r e n O r t i m d r i t t e n Teil g e f u n d e n . E s sind
kurze
A n r u f u n g e n a n J e s u s u n d M a r i a z u d e n e i n z e l n e n S t a t i o n e n d e s L e i d e n s C h r i s t i , die e r t ä g l i c h in K r e u z g a n g u n d C h o r d e r K i r c h e b e t e t . D e r erste Teil des Bdew enthält 2 0 Betrachtungen über das Leiden Christi. In D i a l o g f o r m abg e f a ß t , werden die Allegorie der ewigen Weisheit (mal weiblich, dann männlich als Jesus Christus) und deren Diener Seuse im fortlaufenden Gespräch miteinander gezeigt. Hauptlehre dieser sich auf das biblische Buch der Weisheit abstützenden dialogischen Erwägungen ist die Notwendigkeit des Durchgangs durch das Leiden Christi für den, der in die „ u n g e w o r d e n e " G o t t h e i t gelangen m ö c h t e : „wilt du mich schowen in miner ungewordenen gotheit, so solt du mich hie lernen erkennen
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Seuse
und minnen in miner gelitnen menscheit" (ebd. 203,8f.). Das ist die via regia (nach Num 21,22), um zur Gottheit zu gelangen (Bühlmann 197ff.). Der zweite Teil des Bdew handelt vom leiblichen und geistlichen Tod; der Einblick in die Verdammnis (die mors secunda nach Apk 20,14) ist dem Diener Anlaß, wiederum den Tod Christi zu meditieren und sich so angemessen auf den Tod vorzubereiten (vgl. Alois M . Haas, Todesbilder im MA. Fakten und Hinweise in der dt. Lit., Darmstadt 1989, 172f.; ders., Sermo mysticus. Stud. zu Theol. und Sprache der dt. Mystik, Freiburg i. Ue. 2 1989, 468ff.; ders., Geistliches MA, Freiburg i.Ue. 1984, 492f.; ders., Kunst 223ff.).
Sowohl der erste wie der dritte Teil des Bdew sind im Spätmittelalter einzeln als Andachts- und Betrachtungsbüchlein erfolgreich vertrieben worden. Aber auch das ganze Bdew gehört mit seinen erhaltenen 180 Handschriften zu den im 14. und 15. Jh. verbreitetsten Andachtsbüchern. 2.1.3. Büchlein der Wahrheit (Bdw). Eine Unterscheidung zwischen Menschen, die einerseits nach „ordenlicher einvaltikeit" und andererseits nach „ungeordenter friheit" (Dt. Sehr. 327,27f.) streben, ist Leitmotiv des Bdw. Gerichtet an ein Nonnenpublikum (Kuhlmann 294ff.) verfolgt es die didaktische Absicht, über Eckharts theologisch-mystische Positionen angesichts begardisch-freigeistiger Mißdeutungen angemessen zu orientieren. Die Wahrheit als Anwältin der Heiligen Schrift und guter Theologen (Dt. Sehr. 328,4f.) gibt Auskunft über neuralgische Punkte der Eckhartschen Mystik: über Gelassenheit und ihr Verfügtsein in den göttlichen Abgrund, über die Unterscheidung von einfacher Gottheit und dreifaltigem Gott, über das Verhältnis der Geschöpfe zu Gott, über die Inkarnation (Gott nimmt in der Menschwerdung eine menschliche Natur, aber keine menschliche Person an), über die Vereinigung des Menschen mit Gott im Diesseits und Jenseits (das menschliche Ich ist ein Nichts, es bleibt aber auch in der höchsten Versenkung erhalten, gefordert ist Selbstentäußerung in Gott hinein), schließlich über die Freiheit und die angemessene Lebensführung eines Christen (ein gelassenes Ich ist „ein kristfeermig ich" [ebd. 335,26], das immer Kreatur bleibt, selbst wenn es sich eins fühlt mit Gott). Im 6. Kapitel tritt das „namenlose Wilde" auf und fordert ungebändigte Freiheit, Leben aus eigenem Antrieb ohne Unterscheidung von Gott und Welt. Der Jünger warnt vor der freigeistigen Unvernünftigkeit des Nicht-Unterscheiden-Könnens zwischen Gott und Welt. Am Schluß werden praktische Fragen einer angemessenen Lebensführung zwischen Wahrheit und Diener besprochen. Im Ganzen ist das Bdw (das nie eine Sonderüberlieferung hatte) ein beredtes Zeugnis für die Aktualität der Eckhartschen Lehren, gleichzeitig aber auch eine intensive Selbstinszenierung Seuses in seiner Rollenfiktion als Diener der Wahrheit. Dabei kommen starke philosophische Denkformen zum Zuge, wie Sturlese und Blumrich kürzlich zeigen konnten. 2.1.4. Briefbüchlein (Bfb). Das Bfb stellt eine gekürzte Auswahl von 11 Briefen aus dem Großen Briefbuch (s.u. 2.3.) dar, die Muschgs Mißfallen erregt hat (Walter Muschg, Die Mystik in der Schweiz. 1 2 0 0 - 1 5 0 0 , Frauenfeld 1935, 258). Gleichwohl verwirklicht Seuse in dieser Komposition ein mystagogisches Anliegen, indem er die Briefe im Sinne eines mystischen Itinerars vom anfangenden Menschen bis zur höchsten Gottesfreundschaft „ze einer underlibi dines gemuetes" (Dt. Sehr. 360,8) reiht. 2.2. Horologium Sapientiae (HS). Aufgrund der Neuedition des HS durch P. Künzle ist klar, daß es die erweiterte Neuredaktion des Büchleins der ewigen Weisheit (s.o. 2.1.2.) in lateinischer Sprache darstellt und dessen Betrachtungen um Reflexionen über das Kloster- und Studienwesen und um aktuelle kirchenpolitische Stellungnahmen vermehrt. Weiterhin mag, wie Künzle vermutet, das persönliche Erlebnis der mystischen Vermählung mit der Ewigen Weisheit zu einer Steigerung der Emotionslage im HS beigetragen haben, denn es ist „kein Zweifel, daß das Ideal der geistlichen Gemahlschaft mit der ewigen Weisheit im HS ungleich stärker zur Geltung kommt als im Bdew" (HS: ed. Künzle 52).
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Auf drei Ebenen bringt das HS Neues: „Erstens selbstbiographische Aussagen (1,1; teilweise in 1,5 und 13; 11,1 und 7); zweitens, im Anschluß an Seuses persönliches mystisches Erlebnis, die vorrangige Bedeutung der geistlichen Vermählung, die dem Ziele dient, möglichst Viele zu neuer Gottesliebe zu erwecken (11,7—8); drittens Anregung einerseits zu heilsamer Verkündigung (11,6), anderseits zur R e f o r m des Ordenslebens (1,5), des Seelsorgseifers (1,12) und des Studiums (11,1) durch Gegenüberstellung von Zerfallserscheinungen und anzustrebendem Ideal" (ebd. 53). 2.3. Großes Briefbuch. Zentrales Anliegen der 28 Briefe, die an verschiedene Dominikanerinnen und an Elsbeth Stagel gerichtet sind, ist es, den Weg zur vollkommenen Liebe aufzuzeigen, die allein zur Einheit mit der Ewigen Weisheit führt. Das Hohelied, Psalmenstellen, Propheten, Kirchenväter, Heilige und antike Autoren - etwa Ovid, der „meister von m i n n e n " (Dt. Sehr. 434,1) - werden als Kronzeugen gegen die trügerische weltliche Liebe herangezogen. Um der Liebe Gottes willen ist Liebe zu sich selbst und zu allem Geschaffenen geboten. Die Kombination Liebe/Leid bestimmt den Tenor der Briefe, derart, daß eine Verteilung von Leid und Liebeserfüllung statthat: ,,ie betruebter hie umb got, ie froelicher dort mit g o t t e " (ebd. 490,23 f.). Genaue und praxisnahe Orientierungshinweise sollen zur wahren geistlichen Ritterschaft hinführen. Der letzte Brief - ,,testament[e] der m i n n e n " (ebd. 494,14) — faßt noch einmal alle Gedanken zusammen, die zum „luterlichen" Leben führen und den mystischen Weg vollenden. 2.4. Minnebüchlein. Als „ M o s a i k t r a k t a t " , der aus verschiedensten passionsmystischen Quellen schöpft (vgl. R u h , Altdt. Mystik 2 4 5 f . ) , ist seine Authentizität nicht erwiesen; B. Molinelli-Stein (Beitrag) vermutet dagegen, es handle sich um ein Frühwerk Seuses, um einen „ersten Entwurf zum Bdew".
3.
Nachwirkung
Seuse selbst hat ein ausgeprägtes Bewußtsein von seiner Autorschaft, und es ist deutlich, daß sein sprachlich-stilistisches Bemühen in einem breitesten Sinn nach Verlebendigung der Aussage tendiert. Sein geistliches Stilprinzip, Bilder mit Bildern auszutreiben, steht in einem umgekehrten Verhältnis zu einem ästhetischen Bewußtsein von der unrückführbaren Aktualität erklingender Musik oder eines aus Gnade empfangenen „und usser einem lebenden herzen dur einen lebenden munt us fliezen[den]" Wortes; dieses - wenn es „an daz tovt b e r m i t " k o m m t - erscheint ihm - „sunderliche in tütscher zungen" - wie verblichene, abgebrochene Rosen (Dt. Sehr. 199,14ff.). Gattungsmäßig dominiert der Dialog, stilistisch das genus dicendi sublime (Molinelli-Stein, Seuse 32ff.) mit seiner Strategie emotionaler und schmuckreicher Diktion (ohne daß die beiden andern Stilebenen - insbesondere in der Vita - ausgeblendet wären). Der stark narrative Zug (vor allem in der Vita), in dem sich eine Tendenz zu novellistisch-pointierten Kurzerzählungen (im Rückbezug auf die höfische aventiure) abzeichnet, verstärkt das M o ment der Aktualisierung von Gefühlsbezügen. Allerdings fehlt der belehrend-dozierende Tonfall (im Büchlein der Wahrheit und im Büchlein der ewigen Weisheit) keinesfalls, aber auch hier ist die Tendenz zur Verlebendigung im Rahmen des Dialogs spürbar. Die Neigung Seuses zu stilistisch überschaubaren Einheiten ist mit Recht beobachtet worden (Siegroth-Nellessen 280; Stirnimann); die einzelnen Abschnitte sind durchkomponiert und fügen sich als Teile zu einem wohlgeformten Ganzen, während in der Feinstruktur der Rede eine metaphern- und bildreiche Diktion vorherrscht mit zum Teil vom schwäbischen Dialekt herkommenden Einflüssen (Diminutive usw.). All das macht Seuses Werk zu einem Ensemble von Texten, das in der M i t t e des 14. J h . seinesgleichen sucht. Die Nachwirkung war denn auch entsprechend intensiv. Seuses Nachleben in bildender Kunst, Literatur und Kult ist außerordentlich, aber noch nicht angemessen erforscht. Das Horologium wurde früh in die europäischen Volkssprachen übersetzt: 1389 ins Französische (mit verschiedenen Druckausgaben), ins Niederländische (zwischen 1360 und 1380), ins Italienische (15. J h . ) , ins Englische (15. J h . ) ,
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ins Böhmische (Ende 14. Jh.), ins Dänische (15. Jh.) und ins Schwedische (um 1500). Alle diese Übersetzungen zogen verschiedene Druckausgaben nach sich (Paris 1470, 1479; Venedig 1492, 1536; Köln 1496, 1501, 1503, 1509 usw.), so daß das Seusesche Werk im Rahmen der verschiedenen nationalen Spiritualitäten starken Einfluß bekommen konnte. Bemerkenswert ist die Nachwirkung des Horologium in den Niederlanden, wo die Einflußnahme Seuses beispielsweise auf die —>Devotio Moderna und die lmitatio Christi greifbar ist. Die Windesheimer Kanoniker »Ludolf von Sachsen in seiner Vita Jesu Christi, Hugo von Balma (13. Jh.), -»Nikolaus von Kues, Johannes -»Gerson — und viele andere für die Spiritualitätsgeschichte bedeutsame Persönlichkeiten haben sich auf das Horologium bezogen. Seuses Rezeption beschränkte sich aber nicht auf das Horologium, sondern betraf früh auch schon sein deutschsprachiges Werk. Druckausgaben erfolgten in Augsburg 1482 und 1512. Zuvor aber schon war Seuse bei den Gottesfreunden in Straßburg, im Dominikanerorden und dessen Predigt (Otto von Passau [gest. nicht vor 1386]; Marqiiard von Lindau [1320/1330-1392]; Johannes Nider [ca. 1 3 8 0 - 1 4 3 8 ] ) , in Nonnenkonventen und Laienzirkeln, im 16. J h . bei den Jesuiten (Petrus —•Canisius, F. von ->Spee) und auch bei den Pietisten bekannt, geschätzt und ausgeschrieben. Selbst —»Herder bezieht sich noch wohlwollend auf Seuse. Auch Seuses Person hat eine spezielle Verehrung auf sich gezogen (Walz, Kult). Sein geistliches Schrifttum, das in einzigartiger Weise im späten Mittelalter und in der frühen Neuzeit verbreitet war, hielt die Erinnerung an einen „Heiligen" wach. Dazu kam eine Verehrung, die sich auch in Devotionsgegenständen dokumentierte. In all diesen ikonographischen und kultischen Dokumenten wird eine Spiritualität belegt, die in dem Sinne „ m o d e r n " ist, daß sich hier die Individualität eines Seliggesprochenen literarisch selbst verantwortet. Bis in die sechziger Jahre des 20. J h . befaßte sich die Seuse-Forschung einerseits mit der Frage der Authentizität der Vita (mit Schwieterings Aufsatz ein vorläufiges Ende findend), ihrer literarischen Struktur und Machart (Holenstein-Hasler) und ihrer Einzigartigkeit, andererseits mit Fragen der religiös-spirituellen Inhalte seines Werks (Bühlmann u.a.) und seiner Position im Rahmen zeitgenössischer Philosophie und Theologie. Immer hatte auch die konkrete Verehrung einen Platz im Umkreis der Beschäftigung mit Seuse. Die Festschrift 1966 (Heinrich Seuse. Studien zum 600. Todestag) bildet einen Wendepunkt: Breit wird hier die Nachwirkung Seuses, die Handschriftengeographie und -Soziologie, aber auch die thematische Problematik von Stil und Schreibweise Seuses abgehandelt. Im Gegensatz zu Seuses unbestreitbarer Geltung im Rahmen der Spiritualitätsgeschichte war und blieb die Forschung in ihrer Beschäftigung mit Seuse zögerlich. Bei dieser Zurückhaltung mag ein modern-psychologisches Verdikt über Seuses Askesepraxis und seine Emotionalität mitgespielt haben. Jetzt weisen alle Anzeichen aber auf eine intensivere Beschäftigung mit diesem Werk, das - zum Teil in Reaktion auf alte Positionen, die Seuse bloß unter dem Aspekt seiner literarisch-emotionalen Fähigkeiten sahen - hinsichtlich seiner spiritualitätsgeschichtlichen Hintergründe (philosophia spiritualis der Wüstenvätertradition) und seines philosophischen Gehalts (Sturlese) breit erforscht wird. Quellen H e i n r i c h Seuse. D t . S e h r . , hg. v. Karl B i h l m e y e r , S t u t t g a r t 1 9 0 7 = F r a n k f u r t a . M . 1 9 6 1 . - H e i n rich Seuses H o r o l o g i u m S a p i e n t i a e . E r s t e k r i t . A u s g . unter B e n ü t z u n g der V o r a r b e i t e n v. D o m i n i k u s P l a n z e r O P [hg. v.] Pius K ü n z l e , 1 9 7 7 (SpicFri 2 3 ) ; engl.: W i s d o m ' s W a t c h u p o n the H o u r s , t r a n s l . by E d m u n d C o l l e d g e , 1 9 9 4 ( F a C h . M 4 ) . - H e i n r i c h Seuse. D a s Buch der W a h r h e i t , krit. hg. v. L o r i s Sturlese/Rüdiger B l u m r i c h , H a m b u r g 1 9 9 3 .
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Seuse
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Alois M . Haas
184
Severus von Antiochien
Severus von Antiochien (ca. 1. Leben
2. Werk
456-538)
3. Wertung
(Quellen/Literatur S. 185)
1. Leben Es gibt drei alte Lebensbeschreibungen von Severus. Als Sohn einer wohlhabenden, möglicherweise heidnischen Familie (s. Garitte) wurde er ca. 456 in Sozopolis in Pisidien geboren. Er studierte Rhetorik und Grammatik in Alexandrien und Recht in Beirut. Nach seiner Taufe (im phönikischen Tripolis) wandte er sich zunehmend dem asketischen Leben zu, wurde Mönch und gründete ein Kloster bei Maiuma in Palästina. Dort schloß er sich der antichalkedonensischen Richtung (-»Chalkedon) an. Nach dem Vorgehen des Nephalios gegen die Antichalkedonenser begab er sich als deren Vertreter nach ->Konstantinopel (508-511). Dort gewann er die Zuneigung des Kaisers Anastasios I. (491-518) und schrieb seinen Philalethes gegen ein chalkedonensisches Florileg (-»Florilegien), das -»Cyrillus von Alexandrien auf dyophysitische Weise deutete. 511 trug er zum Sturz des Patriarchen Makedonios II. (495-511) bei. Nach der Synode von Sidon 512 wurde mit Hilfe von -»Philoxenus Flavian II. von Antiochien (498-512) abgesetzt und an seiner Stelle Severus geweiht. 5 1 2 - 5 1 8 war er Patriarch von -»Antiochien. Er verurteilte ausdrücklich das Chalkedonense sowie den Tomus Leonis (-»Leo I.), -»Nestorius, -»Eutyches, -»Diodor von Tarsus und -»Theodor von Mopsuestia. Das Henotikon (s. T R E 23,226,15-42) verstand er als Aufhebung des Chalkedonense. Nach dem Tod von Anastasios und dem Herrschaftsantritt Justins (Juli 518) wurde Severus vertrieben und floh nach Ägypten. Dort schrieb er ca. 518 seine große antichalkedonensische Schrift {Contra impium grammaticum). Er führte einen Briefwechsel mit dem Grammatiker Sergius und verfaßte ausführlichere Schriften gegen Julian von Halikarnaß (s. T R E 23,228,29 - 4 0 ) . 534 kehrte Severus auf Einladung -»Justinians nach Konstantinopel zurück. Dort fand er anfänglich Unterstützung, doch dann kehrte sich die politische Strömung unter dem Einfluß westlicher Interessen gegen ihn. 536 wurde er von einer Synodos endemusa verurteilt, und seine Bücher wurden verboten (sie sind in syrischer Übersetzung überliefert). Er wurde ausgewiesen und starb ca. 538 in Ägypten. 2. Werk Die Schriften von Severus sind aus bestimmten Auseinandersetzungen erwachsene Gelegenheitspublikationen und daher unsystematisch. Er war ein verantwortungsbewußter Leiter seiner Gemeinde, und seine Briefe und Homilien geben mancherlei Aufschlüsse über soziale (und wirtschaftliche) Verhältnisse. Die Homilien sind eine wertvolle Quelle für den antiochenischen liturgischen Kalender des 6. Jh. (s. Baumstark; Höhn; -»Kirchenjahr). Seine katechetische Unterweisung ist in den Homilien 21, 42, 70, 90, 109 und 123 enthalten. Erhebliche Bedeutung haben seine Streitschriften. Sie alle durchzieht ein Leitthema: Er war ein getreuer und entschiedener Schüler Cyrills von Alexandrien, von dem er die Redeweise der apollinaristischen Fälschungen (—»Apollinaris von Laodicea) von der einen Natur (/.lía 4>ÜOIC,) Christi ererbte. Damit war er letztendlich ein Traditionalist, ein defensiver Denker, kein Neuerer. Dem „nestorianischen" Dyophysitismus und dem ,,eutychianischen" Monophysitismus stand er gleichermaßen ablehnend gegenüber, und seine Schriften zeigen sein beständiges Bemühen, allein mit den Hilfsmitteln der Cyrillischen Begrifflichkeit einen Weg zwischen diesen beiden Extremen zu gehen. Seine Nähe zu Cyrillus (und sein Ausblenden von dessen dyophysitischen Zügen) wird im Philalethes deutlich sichtbar (s. Hespel). Er widersetzte sich gemäßigten chalkedonensischen Ausgleichsbemühungen (Orationes ad Nephalium; s. Moeller; Gray) und wies den von Johannes von Caesarea unternommenen Versuch einer Vermittlung (ca. 515) über eine Neufassung der christologischen Begrifflichkeit durch Aufnahme der von -»Basilius von Caesarea getroffenen Unterscheidung zwischen ovoia (Usie) und üKÓaxaaiQ (Hypostase)
Severus von Antiochien
185
zurück {Contra impium grammaticum; s. de Halleux). Auf die gleiche Weise (und wahrscheinlich aufgrund eines Mißverständnisses) trat er unerbittlich Julian von Halikarnaß (s. Draguet) und Sergius (s. Torrance, Christology) entgegen, die von der von ihm selbst verfochtenen Behauptung der einen Natur (/lia (j>vcnç) ausgingen und diese dann verschärften (->Monophysiten). Sergius wollte anstelle von ßia (pvaiç (einer Natur) von ßia ovaia (einer Usie) sprechen und sah in -»Jesus Christus auf aristotelische Weise eine neue, dritte Größe. Severus befürchtete, daß sich bei beiden die göttliche Initiative und KÉvcoaiç (Entäußerung) zu einer statischen, in sich selbst ruhenden Vergöttlichung wandele. 3.
Wertung
Das eigentliche Problem, vor das Severus stellt, ist die Frage, ob er in der Lage war, der Redeweise von der einen Natur ( ß i a (jfûcriç) Christi die nötige Elastizität zu geben, die es ihr erlaubte, auf befriedigende Weise mit den durch die theopaschitischen, agnotischen und monotheletischen Auseinandersetzungen aufgeworfenen Fragestellungen fertig zu werden (—»Jesus Christus; -»Neuchalkedonismus). Z u seinen Gunsten kann man anführen, daß es ihm durch Wahrung eines soteriologischen Zugangs - Gott das Wort ist nicht um seiner selbst, sondern um unseres Heils willen Mensch geworden — gelungen ist, gegenüber dem statischen Verständnis der Chalkedonenser eine dynamische Sicht der christologischen Einung zu entwerfen. A. Grillmeier macht geltend, daß dieser Dynamismus zu einseitig vom Wort her nach unten gerichtet ist und die Rolle des menschlichen Willens unterbewertet wird. Severus blieb allzu sehr der ihm überkommenen apollinaristischen Begrifflichkeit verhaftet, auch wenn er theologisch darüber hinausgestoßen ist. Dennoch war er der bedeutendste griechische Theologe zwischen Cyrillus von Alexandrien und M a x i m u s Confessor, und er ist immer noch der größte Kirchenvater der Orthodoxen Kirchen des Ostens. Eine weitere Beschäftigung mit ihm hat anhaltende ökumenische Relevanz. Quellen 1. Werke: Orationes ad Nephalium, ed. et trad. Joseph Lebon, 1949 (CSCO 119.120 [S 64.65]). Le Philalèthe, ed. et trad, par Robert Hespel, 1952 (CSCO 133.134 [S 68.69]). - Severi ac Sergii Grammatici Epistulae Mutuae, ed. et trad. Joseph Lebon, 1949 (CSCO 119.120 [S 64.65]). - A Collection of Letters from Numerous Syriac Manuscripts, ed. and transi, by Ernest Walter Brooks, 1 9 1 9 - 1 9 2 0 (PO 12,2; 14,1). - The Sixth Book of the Select Letters of Severus, Patriarch of Antioch, in the Syriac Version of Athanasius of Nisibis, ed. and transi, by Ernest Walter Brooks, 4 Bde., London 1 9 0 2 - 1 9 0 4 . - Severos' Letter to John the Soldier, ed. with Intr. and transi, by Sebastian Brock: GOF.S 17 (1978) 5 3 - 7 5 . - Les Homiliae cathedrales (trad, syriaque de Jacques d'Édesse) ed. et trad, par Maurice Brière/François Graffin/Christopher J . A. Lash/Rubens Duval/Marc-Antoine Kugener/E. Triffaux/Ignazio Guidi, 1 9 2 2 - 1 9 7 7 (PO 4; 8; 12; 16; 20; 22; 23; 25; 26; 29; 35; 36,1; 36,3; 36,4; 37,1; 38,2). - La Première Homélie cathedrale de Sevère d'Antioche, trad, de E. Porcher: R O C 19 (1914) 6 9 - 7 8 . 1 3 5 - 1 4 2 . - The Hymns of Severus and Others in the Syriac Version of Paul of Edessa, as revised by James of Edessa, ed. and transi, by Ernest Walter Brooks, 1911 (PO 6,1; 7,5). — Liber contra impium Grammaticum, ed. et trad. Joseph Lebon, 1929 — 1938 (CSCO 93.94; 101.102; 111.112 [S 45.46; 50.51; 58.59]). - La Polémique antijulianiste, ed. et trad, par Robert Hespel, 1964 (CSCO 244.245 [S 104.105], 2. Sonstige Quellen: Athanasius v. Antiochien: The Conflict of Severus Patriarch of Antioch. Ethiopie Text ed. and transi, by Edgar J. Goodspeed, 1903 = 1971 (PO 4,2). - Johannes v. Beth Aphthonia: Vie de Sévère, texte syriaque publié, trad, et annoté par Marc-Antoine Kugener, 1903 = 1971 (PO 2, 3). - Zacharias Rhetor: Vie de Sévère par Zacharie le Scolastique. Textes syriaques. Publiés, trad, et annotés par Marc-Antoine Kugener, 1903 = 1971 (PO 2,1). - Ders., The Syriac Chronicle Known as that of Zachariah of Mitylene, transi, by Frederick John Hamilton/ Ernest Walter Brooks, London 1899 = New York 1979.
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Sexualität I
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Sexualität I. R e l i g i o n s g e s c h i c h t l i c h II. K i r c h e n g e s c h i c h t l i c h u n d e t h i s c h
S. 195
III. P r a k t i s c h - t h e o l o g i s c h
S. 2 1 4
I. R e l i g i o n s g e s c h i c h t l i c h 1. Thematische Begrenzungen und methodische Zugänge 2. Prototypen der Fruchtbarkeitssymbolik 3. Die Ehe als Bild der Unio Mystica: Sexualität im Hinduismus 4. Zwischen den Extremen: Sexualität im Buddhismus 5. Patriarchale Vorrechte: Sexualität im Islam 6. Sexualität als ganzheitliche Erfüllung (Quellen und Literatur S. 194)
1. Thematische
Begrenzungen
und methodische
Zugänge
S e x u a l i t ä t ist ein r e l i g i o n s g e s c h i c h t l i c h e r S c h l ü s s e l b e g r i f f , d . h . sie s p i e l t in a l l e n rel i g i ö s e n Ü b e r l i e f e r u n g e n e i n e ü b e r r a g e n d e R o l l e , weil sie zu d e n v i t a l e n A n t r i e b s k r ä f t e n gehört, die das L e b e n und mithin die Religionen b e s t i m m e n . Indem der M e n s c h
nur
als M a n n o d e r F r a u , a l s o g e s c h l e c h t s b e s t i m m t u n d n i c h t als N e u t r u m , in E r s c h e i n u n g
Sexualität I
187
tritt, wird die Sexualität zu einem Phänomen, das Mythen und Riten immer zugleich durch Zeugung und Geburt, Fruchtbarkeit und Leben konkret werden läßt. Von diesem Schlüsselbegriff aus erschließen sich der Forschung wichtige Problemfelder, die zusammen einen Symbolkosmos ergeben, dessen man sich in der religiösen Praxis bedient, um eine bestimmte religiöse Wirklichkeit ganzheitlich auszudrücken. Insofern stellt die religionsgeschichtlich relevante Sexualität ein Symbol für die Erfahrung religiöser Phänomene dar, die sowohl kultisch-rituell als auch irrational und transzendent sein können, und es bewahrheitet sich J . J . Bachofens programmatischer Satz, daß „der Mythos die Exegese des Symbols" sei (Johann J a k o b Bachofen, Urreligion und antike Symbole, hg. v. Carl Albrecht Bernoulli, Leipzig, I 1926,281). Schon Parmenides schreibt der Sexualität eine kosmogonische Rolle zu, wenn er sagt: „Zuerst erschuf sie [rj öat/icov = Aphrodite, „die alles lenkt"?] von allen Göttern den E r o s " (De natura, frgm. 13). Allerdings kann diese Rolle durchaus auch negativ besetzt sein, so daß die Sexualität lediglich als ein rite de passage verstanden wird mit dem Ziel, die sexuellen Triebe zu sublimieren und sie in eine „asketische Kultur" zu transformieren. Das ist in solchen religiösen Systemen der Fall, die in Sexualität und Zeugung ein moralisches Problem (—•Sünde) sehen, das sich auf die Erlösung negativ auswirkt (Gnosis; Früher [zölibatärer] Buddhismus). Bezeichnenderweise sind aber gerade diese Systeme nicht von Dauer gewesen, sondern haben im Gegenteil libertinistische Tendenzen entwickelt, die einer positiven in der Religionsgeschichte verankerten Beurteilung der Sexualität Geltung verschafften, aber freilich auch Entartungen in Kauf genommen haben (Antitakten in der Gnosis; Linkshändiger Tantrismus). Das wirft für die Forschungsmethode eine Reihe von Fragen auf: Läßt sich das Thema religionsphänomenologisch universalisieren? Welche Rolle spielen dabei die kulturellen Kontexte? Lassen sich moderne Problemstellungen in der Ehe- und Familienethik auch von der Religionsgeschichte her beantworten, oder sind sie lediglich das Ergebnis von pragmatischen Entwicklungstendenzen ? Was kann davon in der gegenwärtigen religiösen Weltlage als religionsgeschichtlich relevant gelten? 2. Prototypen
der
Fruchtbarkeitssymbolik
2.1. Phallus und Vulva. Zeugnisse aus dem Paläolithikum beweisen, daß die Geschlechtsorgane von Mensch und Tier schon immer eine große Faszination ausgeübt haben, weil sie eine numinose Realität darstellten. Dem Phalluskult kam dabei höchste Priorität zu (vgl. die Höhlenmalereien von Les Trois Freres in Südfrankreich mit ihren theriomorphen ityphallischen Darstellungen; das „erotische Stonehenge" bei den Naga von Assam: Parrinder 95). Phallus und Vulva galten als Symbole der Fruchtbarkeit, der Vegetation und der Erneuerung des Lebens unter den Menschen, dem Vieh und auf den Feldern. In diesem Sinne wurde im Alten Ägypten der ityphallische Gott Min verehrt und sein Standbild in der Prozession mitgeführt, galt der Götterbote Hermes mit seinem obszönen phallischen Imponiergehabe als Vermehrer der Herden, (apotropäischer) Hüter der Grenzen und Wegekreuzungen und „Trickster", dessen Statue vor jedem athenischen Toreingang zu finden war (Burkert 244); sein göttlicher Phallus schützte die Bewohner und ihr Eigentum, segnete die Ehen und machte sie fruchtbar, leitete die Seelen der Toten sicher in die Unterwelt und konnte zugleich seine eigentliche Funktion abstrahieren und als 'Epßrjveuq, Gott der Rede (Plato, Crat. 408), und schließlich als Xöyoq anepßaTIKÖQ a u f t r e t e n .
Als Hermaphroditos genoß auch eine androgyne Gottheit im griechischen Haus Verehrung, verbunden mit der uralten Menschheitsfrage, ob die Gottheit nicht doppelgeschlechtlich sei und auch die Menschen folglich bisexuell veranlagt sein müßten. Seit dem 4. Jh. v. Chr. auf Zypern bezeugte Statuen zeigen einen bärtigen Gott mit weiblichen Körperformen und Kleidung, aber männlichen Geschlechtsteilen. Bei Festen zu Ehren der Gottheit trugen die Männer weibliche, die Frauen männliche Kleidung („Kleidertausch" beim Hybristikafest in Argos, Hochzeitsbräuche in Sparta). Ovid (met. I V , 3 2 7 -
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Sexualität I
3 8 8 ) ü b e r l i e f e r t u n s d i e S a g e v o n e i n e m s c h ö n e n K n a b e n , der e i n e Q u e l l n y m p h e l i e b t e , die i h n - g e g e n s e i n e n W i l l e n — ins W a s s e r g e l o c k t u n d zur s e x u e l l e n V e r e i n i g u n g g e z w u n g e n h a b e . D a m i t sie n i e w i e d e r v o n e i n a n d e r g e t r e n n t w ü r d e n , h ä t t e n d i e G ö t t e r d i e b e i d e n L i e b e n d e n zu e i n e m b i s e x u e l l e n W e s e n , d e m H e r m a p h r o d i t o s , v e r e i n i g t . D e r Q u e l l e k ä m e s e i t d e m d i e M a c h t z u , j e d e n M a n n , d e r in ihr b a d e t e , a n d r o g y n
werden
zu l a s s e n ( e b d . 3 8 6 ) . Kultische Verehrung auf G r u n d seiner unerschöpflichen Zeugungskraft g e n o ß
vor
a l l e m d e r t h e r i o m o r p h e P a n als G o t t d e r H e r d e n , d e r F r u c h t b a r k e i t u n d d e r V e g e t a t i o n und Verführer der B a c c h a n t e n . D e r griechische Phalluskult erreicht seinen
makabren
H ö h e p u n k t in d e n E k s t a s e n d e s M ä n n e r b u n d e s d e r K o r y b a n t e n ( a b 5 . J h . v. C h r . ) , die sich u m der M a g n a M a t e r K y b e l e willen - wie Attis - selbst e n t m a n n e n . Die p h r y g i s c h e G ö t t i n ist M u t t e r a l l e r G ö t t e r , M e n s c h e n u n d T i e r e ( H o m e r , h y m n . 1 4 ) ; ihr o p f e r t m a n seine Z e u g u n g s k r a f t , d.h. sich selbst, d a m i t ihre O m n i p o t e n z nicht a u f h ö r e ( H i n w e i s e auf einen Rollentausch der Korybanten?). P h a l l u s u n d V u l v a s p i e l e n v o r a l l e m in den W e l t s c h ö p f u n g s m y t h e n e i n e R o l l e : G o t t A t u m e r s c h a f f t die W e l t , i n d e m er in s e i n e n M u n d e j a k u l i e r t , sich s e l b s t b e g a t t e t , e r z ä h l t ein P y r a m i d e n t e x t ( N o . 5 2 7 ) . O f f e n b a r s t e l l t e m a n s i c h die S c h ö p f e r g o t t h e i t
androgyn
v o r , b e v o r m i t d e r S c h ö p f u n g e i n e T r e n n u n g in G e s c h l e c h t e r e r f o l g e n k o n n t e . D i e s y m b o l i s c h e V e r b i n d u n g v o n P h a l l u s u n d M u n d (vagina)
ist e v i d e n t ( E i d e r 2 6 6 ) . D e r S c h ö p -
f u n g d u r c h d e n P h a l l u s e n t s p r i c h t die U n s t e r b l i c h k e i t d e s G o t t e s b z w . s e i n e p e r i o d i s c h e W i e d e r g e b u r t , w i e d e r Isis- u n d O s i r i s m y t h o s z e i g t ( P l u t a r c h , De Iside
et Osiride).
Ein
ä h n l i c h e r , a l l e r d i n g s i n z e s t u ö s e r S c h ö p f u n g s m y t h o s w i r d uns v o n d e n a u s t r a l i s c h e n A b origines überliefert. Der indische Phalluskult, die Verehrung des Ungarn im Hinduismus, ist wesentlich stärker mit dem Kult der weiblichen Genitalien, yoni, verbunden und daher auf eine sexuelle Ganzheit ausgerichtet. Das mag einer der Gründe dafür sein, warum die arischen Einwanderer, die die indigenen Stämme als „Phallusverehrer" verspotteten (Rigveda 2,7,5: Karl Friedrich Geldner, Der Rig-Veda, London/Leipzig, II 1951 [ H O S 34] 201), wenig später aber den Hindugott Siva verehrten, dessen Attribut der Ungarn (Sanskrit lihga = Phallus) ist. Sein erigiertes männliches Glied fehlt bei keiner anthropomorphen Sivastatue. Der G o t t , der bezeichnenderweise zusammen mit dem Bullen und göttlichen Reittier Nandi abgebildet wird, wird als Schöpfer und Zerstörer des Universums angebetet. Brahmäpuräna 1,2,27 erzählt, wie selbst die Frauen der Asketen von Sivas Glied fasziniert sind; aber ihre M ä n n e r bewirken durch einen Zauber, daß es verschwindet bzw. kastriert wird. Die Folge ist, daß die Sonne ihren Schein verliert, die Manneskräfte versiegen und somit jegliche Energie zerstört wird. Ein Weltuntergangsmythos begleitet das Geschehen. Die Verehrung des Ungarn trägt dieser numinosen Ambivalenz Rechnung; denn der Phallus stellt für die Hindus beides dar: den Schöpfer der Welt und den Zerstörer. Es sind die zwei Gesichter ein und derselben Gottheit. Sie verweisen schließlich auf die Einheit in der Zweiheit oder auf eine Nichtzweiheit, advaita, den zentralen Lehrsatz indisch-hinduistischer Religionsphilosophie. Der symbolischen Bedeutung des Phallus/Lmgam entspricht die symbolische Bedeutung der Vulva/Yo« M a n a " a u f die F r a u ü b e r t r ä g t (vgl. V a n g g a a r d 6 0 f . ) . M i t a n d e r e n W o r t e n : D e r M a n n e m p f ä n g t d u r c h seine F r a u die G ö t t i n S a k t i selbst ( G o n d a 4 3 ) . „ S o w i e s i c h in d e r A c k e r f u r c h e d e r S a m e in die F r u c h t v e r w a n d e l t u n d im L e i b d e r E r d e d e r T o d z u m L e b e n w i r d , s o e n t s t e h t i m L e i b e i n e r F r a u a u s d e r m ä n n l i c h e n und d e r w e i b l i c h e n S e x u a l f l ü s s i g k e i t ein m e n s c h l i c h e s W e s e n " (vgl. M a r g l i n 533).
2.2. Die Heilige Hochzeit (kpÖQ yäfiOQ). Der Begriff bezeichnet zunächst die T h e o gamien (Götterhochzeiten), wie sie den Religionen Mesopotamiens zugrunde liegen und zentraler ritueller Aspekt des Neujahrsfestes ( a k l t u ) sind: Die heilige Hochzeit soll die Fruchtbarkeit der Herden und Felder garantieren, ist aber darüber hinaus auch rituelle Wiederholung des Schöpfungsvorgangs (vgl. die sexuelle Vereinigung von Himmel [An] und Erde [Ki]: Jacobsen 73ff.). In diesem Sinne ist z . B . die Hochzeit von Inanna und Dumuzi oder Marduk und Sarpanitu oder Ningirsu und Baba zur zentralen Institution der -»Sumerischen Religion geworden (vgl. Renger 255). Im Ritual wird Dumuzi durch den König und die Göttin durch eine Priesterin vertreten. Das Fest wird durch Musikanten angekündigt, dann folgen Opfer und Festmahl, Aufstellen des Thronsitzes und Lagers für Inanna, Bad und Salbung und schließlich das Beilager. In einem sumerischen Hymnus (nach 3 0 0 0 v. Chr.) heißt es: „ D e r König geht stolz erhobenen H a u p t e s zum heiligen S c h o ß , G e h t stolz e r h o b e n e n H a u p t e s z u m S c h ö ß e I n a n n a s . A m a - u s h u m g a l - a n n a liegt bei i h r , L i e b k o s t i h r e n heiligen L e i b ... I h r e n g e l i e b t e n G e m a h l u m a r m t sie, U m a r m t die h e i l i g e I n a n n a , Erstrahlt auf dem T h r o n , dem großen H o c h s i t z , wie der T a g " ( A d a m F a l k e n s t e i n / W o l f g a n g v o n S o d e n [ H g . ] , S u m e r i s c h e u n d a k k a d i s c h e H y m n e n und G e b e t e , 1 9 5 3 [ B A W . A O l N r . 18, 9 7 f . ) .
Nach dem Vollzug des Koitus teilt die Göttin durch den M u n d der Priesterin dem König das Geschick mit. „Sitz im L e b e n " ist nach den Texten die Schicksalsbestimmung für den König (Renger 256). Sie betrifft sowohl die Fruchtbarkeit von Mensch, T i e r und Feld als auch die Weisungen für das neue J a h r . Die heilige Hochzeit spielt auch in der griechischen Mythologie eine gewisse Rolle, wiewohl dort die Herkunft des Mythos verblaßt, einem Götterverhalten nach Menschenweise gewichen und daher allenfalls eine Art sympathetischer M a g i e übriggeblieben ist: Die Hochzeiten von Zeus und Hera, Dionysos und Basilinna, der Frau des Königs Archon, symbolisieren die Vereinigung von (Vater) Himmel und (Mutter) Erde (der König in der M a s k e des Gottes?). Zeus und seine göttliche Partnerin vollziehen - sehr anthropomorph - den Geschlechtsakt auf dem Berge Ida, gehüllt in eine goldene Wolke, von der aus die Erde befruchtet wird. Kein Ritus ist davon übriggeblieben außer dem Fest der T h e o g a m i a mit einem Brautumzug, bei dem man entsprechende Holzfiguren mit sich führte.
3. Die Ehe als Bild der Unio Mystica: Sexualität
im
Hinduismus
Die sexuelle Vereinigung von Siva und Sakti kann im indischen Kontext als „heilige H o c h z e i t " bezeichnet werden, die sich bei jeder sexuellen Vereinigung von M a n n und Frau virtuell vollzieht. In einem neuzeitlichen Eheritual sagt der Ehemann zu seiner Frau: „Mögen wir unsere Sinne vereinen, mit denselben Gelöbnissen und denselben Gedanken ... Ich bin der Himmel, du bist die Erde. Ich bin der Samen, du bist der Träger. Du handelst im Einklang mit mir, so daß wir einen Sohn erhalten mögen, Erfolg haben mögen und Nachkommen d a z u " (Carl-Martin Edsman, Die Hauptreligionen des heutigen Asien, Tübingen 1976, 62). Die Sexualität wird in den verschiedenen hinduistischen Entwicklungsperioden durch eine Art „Zeugungsethik" geregelt, der innerhalb der ethischen Bezugsfelder von dharma
Sexualität I
190
(Lebensführung), artha (wirtschaftliche Interessen, Lebensunterhalt), käma (Befriedigung der sexuellen Bedürfnisse) und moksa (Befreiung des Geistes) besondere Bedeutung zukommt. Offenbar wurde schon in vedischer Zeit die Praxis der Promiskuität von monogamen Strukturen abgelöst (Datta 173f.), die aber ihrerseits bis in die epische Periode Polygamie bzw. Polyandrie innerhalb der Familie zuließen. So waren z. B. sexuelle Beziehungen der Ehefrau zu ihrem Schwager, dem jüngeren Bruder des Mannes, devära, nicht nur geduldet (Kapadia 63), sondern erhielten mit dem Hinweis auf bestimmte Schriftstellen (Rig-Veda 1 0 , 1 6 2 , 3 - 6 ) sogar normative Kraft und erfuhren durch das sog. niyöga-System ihre Legitimation: Eine Frau durfte daher im Falle, daß ihr Mann verstorben oder impotent war, unter gewissen Bedingungen von ihrem Schwager geschwängert werden. In epischer Zeit (4. J h . v. Chr. bis 4. J h . n. Chr.) bildete sich auch das rtu-Verhalten als eine wichtige Norm innerhalb der Zeugungsethik heraus. Es bezog sich auf die Fruchtbarkeitsperiode nach der Menstruation der Frau, einen Zeitpunkt, der nach hinduistischer Vorstellung nicht „verpaßt" werden durfte (Datta 180—182). Die Wende erfolgte durch das maryädä-Prinzip, welches besagt, daß eine Frau nur einem Mann angehören darf, andernfalls sie eine Todsünde begehen würde. Frauen sind seitdem (3./4. J h . n. Chr.) einem strengen Sexualkodex unterworfen, den die Männer für sich selbst weithin großzügig auslegen. Die Neuzeit ist durch einschneidende Reformen gekennzeichnet: Abschaffung der Kinderheirat (Child Marriage Restraint Act X I X von 1929), der Polygamie (Bombay Prevention of Hindu Bigamous Marriage Act X X V von 1946), Zulassung der Scheidung (Hindu Marriage Act X X V von 1955) und das Verbot der Witwenverbrennung, satt, gegen die sich bereits der Reformhinduismus R ä m Mohan Roys (1772—1833) gewandt hatte. In der Praxis gelten jedoch nach wie vor patriarchale Strukturen, die sowohl die Ehe wie die Sexualmoral dominieren. 4. Zwischen
den Extremen:
Sexualität
im
Buddhismus
Der anfängliche asketische Rigorismus, wie ihn der Frühe Buddhismus von Mönchen und gelegentlich auch von Laien forderte, konnte auf die Dauer nicht durchgehalten werden, obwohl die Begründung dafür eindeutig war; denn der Buddha lehrte, daß das sinnliche Begehren (käma-tanhä) die Wurzel des Leidens und des nie endenden Kreislaufs der Wiedergeburten (samsära) sei. Erst das Wissen um diese Zusammenhänge führt zur Befreiung und zur Einsicht, daß das Begehren ausschließlich der Befriedigung der Triebe dient. So beruft sich Ananda, der Lieblingsjünger des Buddha, bei der Begegnung mit einer Frau auf ein Herrenwort: „Durch Begehren, o Schwester, ist dieser Körper geworden ... Durch Egoismus ist dieser Körper geworden ... Durch Begattung ist dieser Körper geworden; und die Begattung hat der Erhabene als Zerstörung der Grenze bezeichnet" (Anguttara-Nikäya IV, 159: ed. Nyanatiloka II, 123 f.)• Der Begriff „Grenze" kennzeichnet den Geschlechtsakt als eines der schweren Vergehen gegen die Ordenszucht. Die Begierde erwächst aus der Verführung. Träger, Verkörperung der Verführung ist die Frau. „In zwei Dingen unersättlich ... stirbt das Weib", heißt es (Anguttara-Nikäya II, 62: ed. Nyanatiloka I, 82). „Welches sind diese beiden Dinge? — Der Geschlechtsakt und das G e b ä r e n . " Geradezu feindselig äußert sich der Buddha Anguttara-Nikäya V, 55 (ed. Nyanatiloka III, 50) über die sexuellen Verführungskünste der Frauen: „keine andere Gestalt kenne ich, die so lusterregend, so begierdereizend, so berauschend, so bestrickend und betörend und so hinderlich wäre, die unvergleichliche Sicherheit zu erringen, als wie gerade die Gestalt des Weibes. Wegen der Gestalt des Weibes, ihr Mönche, sind die Wesen in Lust und Begierde entbrannt, gefesselt und betört ... O b das Weib geht oder steht, sitzt oder liegt, ob es lacht oder spricht, singt oder weint; selbst durch Krankheit entstellt, selbst als Leiche noch fesselt das Weib des Mannes H e r z " . Als Held wird darum der M ö n c h gepriesen, der während des Almosengangs dem Anblick einer Frau standzuhalten in der Lage ist, seine Begierde bezwingt und seinen Trieb besiegt.
Sexualität I
191
Zu einer Lockerung des asketischen Rigorismus kommt es erst bei der Beurteilung der Sexualität im Laienbuddhismus. Aber auch dort dient sie nur der Fortpflanzung, damit, wenn der Fromme einen Sohn (!) gezeugt hat, er in die Hauslosigkeit ziehen kann. Es wird auch eine Ehe-Ethik entworfen, die den patrizentrischen Strukturen der nordindischen Kultur Rechnung trägt; aber eine positive Beurteilung des „Lustprinzips" bleibt ausgeschlossen. Dennoch scheint es, als habe der Buddha gegen Ende seines Lebens, als er auch einen Nonnenorden zuließ, zumindest eine Gleichberechtigung der Ehepartner in Erwägung gezogen; vgl. Die schöne Erzählung von Nakulapitä und Nakulamätä: Anguttara-Nikäya IV,55 und VI,16: ed. Nyanatiloka II, 62f. und III, 176f.; der Ehemann ist deva (Gott), die Ehefrau devT (Göttin). Aber die Askese (Päli: tapo-, Sanskrit: tapas „brennen, seinen Leib durch Selbstbeherrschung läutern") hat gegenüber jedweder Form von Sexualität eindeutig Vorrang. Z u e i n e r R e f l e x i o n ü b e r d i e G a n z h e i t v o n G e i s t u n d K ö r p e r k o m m t es e r s t d u r c h d i e a n t i a s ketischen S t r ö m u n g e n des T a n t r i s m u s (Vajrayäna „ D i a m a n t f a h r z e u g " ) , die aus dem hinduistischen U m f e l d in d e n M a h a y ä n a - B u d d h i s m u s e i n g e d r u n g e n s i n d u n d e i n e p o s i t i v e B e u r t e i l u n g d e r Sexualität bewirkt h a b e n : Der Koitus, einst das H a u p t h i n d e r n i s auf dem Wege zur Erleuchtung, w i r d n u n i m s o g . „ L i n k s h ä n d i g e n T a n t r i s m u s " M e t a p h e r f ü r die m y s t i s c h e V e r e i n i g u n g m i t d e r G o t t h e i t ( - » U n i o m y s t i c a ) . „ M e d i t a t i o n u n d G e s c h l e c h t s v e r k e h r h a b e n ein g e m e i n s a m e s Z i e l u n d v e r w e n d e n die g l e i c h e n K r ä f t e , u m i h r Z i e l zu e r r e i c h e n " ( C o n z e , B u d d h i s m u s 1 5 5 ; vgl. P a r r i n d e r 101 zur c h i n e s i s c h e n S e x u a l s y m b o l i k v o n Y i n und Y a n g , d i e P a r r i n d e r als „ d i e d u a l e n k o s m i s c h e n K r ä f t e " b e z e i c h n e t , „ d i e d a s U n i v e r s u m in e i n e r K e t t e v o n W a n d l u n g e n e r h a l t e n " ) . D i e e k s t a t i s c h e n E r f a h r u n g e n w ä h r e n d d e s t a n t r i s c h e n R i t u a l s , des T a n t r a - A s a n a , f ü h r t e n z u r V e r w e n d u n g s e x u e l l e r G l e i c h n i s s e in S y m b o l e n , B i l d e r n , W o r t e n und H a n d l u n g e n . Es b l i e b n i c h t bei A n a l o g i e n : Tertium comparationis ist d a b e i die E n e r g i e , d i e w ä h r e n d d e r s e x u e l l e n V e r e i n i g u n g als a u c h w ä h r e n d d e r V e r e i n i g u n g im E r l e u c h t u n g s v o r g a n g die g l e i c h e ist: D e r K o i t u s z w i s c h e n d e r S a k t i u n d i h r e m göttlichen Partner symbolisiert diese k o s m i s c h e Energie, wie wir bereits gesehen h a b e n . D e r eks t a t i s c h e H ö h e p u n k t , n ä m l i c h d i e V e r s c h m e l z u n g des I n d i v i d u u m s m i t d e r a b s o l u t e n R e a l i t ä t , w i r d v o r a l l e m in d e r b i l d e n d e n K u n s t d a r g e s t e l l t ( „ V a t e r - M u t t e r - H a l t u n g " ; t i b e t i s c h yab-yum). Zum T a n t r a - A s a n a ( S a n s k r i t panca-makara = „ F ü n f M - R i t u s " ) gehört der G e n u ß der Speisen Wein (mada), F l e i s c h (mämsa), F i s c h (matsya), g e r ö s t e t e s K o r n (mudrä) u n d die r i t u e l l e V e r e i n i g u n g . Außerdem gehören dazu komplizierte Riten, O p f e r , symbolische Handlungen, Mantrarezitationen und e i n e i n t e n s i v e Y o g a p r a x i s , b e v o r es z u m G e s c h l e c h t s a k t k o m m e n d a r f . Z i e l ist d a b e i d i e N e u g e b u r t v o n S ä d h a k a m i t s e i n e r S a k t i , ein n e u e r S c h ö p f u n g s a k t a l s o , d e r z u g l e i c h d i e A u f h e b u n g der D u a l i t ä t bedeutet und d a m i t zur E r k e n n t n i s führt: „ I c h bin die G ö t t i n , nichts s o n s t " ( a h a m devl nänyäsmi-, n a c h M o o k e r j e e , T a n t r a A s a n a 15 — 6 5 , b e s . 6 2 f . ) . D i e s e x u e l l e V e r e i n i g u n g als P a r a d i g m a d e r U n i o M y s t i c a d a r f a u c h im „ L i n k s h ä n d i g e n T a n t r i s m u s " n u r s o g e s c h e h e n , d a ß S ä d h a k a u n d S a k t i , d i e b e i d e n P a r t n e r , sich v ö l l i g u n t e r K o n t r o l l e h a b e n bis hin z u m O r g a s m u s o h n e S a m e n e r g u ß ( k ä m a - k a l t ) . N a c h S . A . W a n g ( 1 4 3 ) s y m b o l i s i e r t d a s T a n t r a - A s a n a e i n e „ T r a n s m o r a l " , die a u f P a d m a s a m b h ä v a , d e n ( m o r a l i s c h ) u m s t r i t t e n e n B e g r ü n d e r d e s t i b e t i s c h e n B u d d h i s m u s b z w . S y n k r e t i s m u s , z u r ü c k g e h t ( 8 . / 9 . J h . n. C h r . ) . E r i d e n t i fizierte sich m i t S i v a u n d r e c h t f e r t i g t e seine s e x u e l l e n E x z e s s e d a m i t , d a ß e r in j e d e r F r a u , d i e i h m b e g e g n e t e , die G ö t t i n S a k t i s a h , m i t d e r er G e s c h l e c h t s v e r k e h r h a b e n m u ß t e , u m die e k s t a t i s c h e E i n h e i t v o n G o t t u n d M e n s c h s e l b s t zu e r f a h r e n . Die tantrische Spekulation und der m a h a y ä n a b u d d h i s t i s c h e M o d e r n i s m u s h a b e n neuerdings zu e i n e m D u r c h d e n k e n d e s T h e m a s S e x u a l i t ä t g e f ü h r t : E s e n t s t e h t d a m i t n i c h t n u r ein n e u e s V e r h ä l t n i s zur G a n z h e i t d e s M e n s c h e n b z w . zu s e i n e r g e i s t - l e i b l i c h e n E i n h e i t ( t a n t r i s c h e s E r b e ) , s o n d e r n es k o m m t a u c h zu e i n e r R e l a t i v i e r u n g des a s k e t i s c h e n R i g o r i s m u s a u s d e m F r ü h b u d d h i s m u s . N u r a n l ä ß l i c h des U p o s ä t h a , a n d e n F a s t t a g e n zu V o l l m o n d u n d N e u m o n d , u n d an den T a g e n des e r s t e n und l e t z t e n M o n d v i e r t e l s w i r d a u c h v o m L a i e n j ü n g e r b z w . v o n d e r L a i e n j ü n g e r i n d i e E n t h a l t u n g v o m G e s c h l e c h t s v e r k e h r verlangt. D i e S e x u a l i t ä t wird d a m i t im B u d d h i s m u s zum Prüfstein v o n S e l b s t b e h e r r s c h u n g und v e r a n t w o r t l i c h e m H a n d e l n .
5. Patriarchale
Vorrechte:
Sexualität
im
Islam
Es kann keinen Zweifel darüber geben, daß Muhammad eine Liberalisierung der Sexualmoral vorbereitet bzw. durchgesetzt hat. Das gilt insbesondere für die Stellung der Frau, die sich gegenüber der vorislamischen Zeit wesentlich verbesserte. Seine Reformen betrafen das Verbot der Aussetzung weiblicher Säuglinge aus Gründen der Armut (Sure 6,151; vgl. 81,8f.), die religiöse Gleichstellung von M a n n und Frau (Sure 3,195),
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Sexualität I
die im Glauben Freunde seien (Sure 9,71), die anteilige Verfügung über den erworbenen Besitz (Sure 4,32), die gleichmäßige Verteilung des Erbes (Sure 4,7) und schließlich die Neuordnung des Eherechts: Verbot der vorislamischen Polyandrie, der Ehe auf Zeit (mut'a; von den Shiiten nach wie vor praktiziert, vgl. Walther 395 [Lit.]), der Prostitution, Beschränkung der Polygamie bzw. der patrilokalen Polygynie auf vier Frauen (Sure 4,3; vgl. Timm/Aalami 18f.; M . Tworuschka, Sexualität 122); sogar die Scheidung wurde den Frauen unter gewissen Umständen erlaubt, blieb aber problematisch (Sure 4,35). Sexualität ist nur innerhalb der Ehe erlaubt und hat „einen gewissen sakralen Charakter" (Walther 393), selbst hinsichtlich der Libido (nach dem Verkehr wird ein Lobpreis Gottes empfohlen). Voreheliche und außereheliche Beziehungen sind streng verboten. Die Ehe gilt für jeden Muslim als selbstverständliche, von Gott geschaffene Einrichtung und Lebensform. Im Mittelpunkt stehen Zeugung und Fortpflanzung. Damit kanalisiert die Ehe als Institution den Geschlechtstrieb, bringt ihn unter Kontrolle, legt ihn auf einen bestimmten Zweck fest und schützt die Partner gegen widerrechtliche sexuelle Betätigung (M. Tworuschka, Sexualität 127) usw. Dadurch soll die Grundlage für ein harmonisches Familienleben gelegt werden. Andererseits wird der Sexualität im menschlichen Leben durchaus eine eigenständige religiöse Bedeutung zugebilligt. Die sexuelle Befriedigung, der Orgasmus, wird nicht nur in der islamischen —»Mystik (dort freilich in besonderer Weise als ekstatisches Einheitserlebnis, zum Teil in Metaphern ausgedrückt, die auf die Homosexualität der Mystiker schließen lassen; Parrinder 205f.209.216) als Vorgeschmack der Paradieseswonnen empfunden; ja, das Paradies ist selbst Urbild sexueller Erfüllung: Sure 5 5 , 4 6 - 6 1 ; 5 6 , 8 2 6 . 3 5 - 4 0 ; Parrinder 208.209). Zur Vorbereitung darauf gewinnt auch das —»Fasten im Monat Ramadan eine besondere Bedeutung; denn zum Fasten gehört auch die sexuelle Abstinenz als asketische Disziplin, mit der man sich auf das Paradies einstellt: Von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang darf der fromme Muslim keinen Geschlechtsverkehr mit seinen Frauen haben; Fasten (al-sawm) bedeutet Enthaltsamkeit in allen Dingen. Trotz der Reformen, die Muhammad im Eherecht vornahm, blieb die muslimische Einstellung gegenüber den Frauen ambivalent. Es blieb beim Primat des Mannes bzw. einer Benachteiligung oder Unterordnung der Frau gegenüber dem Mann in Ehe, Erziehung und Beruf. M . Tworuschka (Sexualität 136) spricht von einer „sexuellen Verfügungsgewalt des Mannes über die Frau", bei der es bis in die Gegenwart hinein geblieben sei. Einige Koranstellen bestätigen dieses Urteil. In Sure 4 , 3 4 heißt es: „ D i e M ä n n e r stehen über den Frauen, weil G o t t sie [von N a t u r vor diesen] ausgezeichnet hat ... Und wenn ihr fürchtet, daß [irgendwelche] Frauen sich auflehnen, dann vermahnt sie, meidet sie im Ehebett und schlagt sie! Wenn sie euch [daraufhin wieder] gehorchen, dann unternehmt [weiter] nichts gegen sie! G o t t ist erhaben und g r o ß . " Wenn auch eine solche Auffassung von modernen M u s l i m e n nicht mehr geteilt wird, so zeigt uns doch gerade dieser Vers, wie die sexuelle Verfügungsgewalt des (muslimischen) M a n n e s im Koran und in der Sünna (vgl. die Ehescheidungsmodalitäten des taläq) ihren Niederschlag gefunden hat. Auch der berühmte, in der islamischen T h e o l o g i e umstrittene Vers 223 der 2. Sure („Die Frauen sind euch ein Saatfeld. G e h t zu [diesem] eurem Saatfeld, w o i m m e r ihr w o l l t ! " ) bestätigt, daß die sexuelle Initiative ausschließlich vom M a n n ausgehen darf, der „ m i t der Eheschließung das R e c h t an der Sexualität und Gebärfähigkeit der Frau erworben h a t " ( M . T w o ruschka, Sexualität 138). Von der Frau hingegen wird erwartet, daß sie die Verweigerung ihres E h e m a n n e s als Schande auffaßt, die sie selber wiedergutzumachen hat. Die (aus vorislamischen Kulturen übernommene) M ä d c h e n b e s c h n e i d u n g in einigen islamischen Ländern ist ein weiteres Indiz dafür, die sexuelle Lust der Frau auszuschalten und sie nur dem M a n n e zuzubilligen.
Aus dem Gesagten ergeben sich eine Reihe von geschlechtsspezifischen Vorurteilen: Die Frau gilt dem Mann als Verkörperung der Sexualität, und sie bildet eine sexuelle Gefahr für den Mann. Sie sollte jungfräulich in die Ehe gehen (-»Keuschheit); jedenfalls bewerten spätere HadTte eine Jungfrau höher als eine Deflora (Walther 396). In der muslimischen Gesellschaft, zumal in orthodoxen Ländern, herrscht in Familie, Alltag und öffentlichem Leben strenge Geschlechtertrennung (Tragen des Schleiers, wofür aber
Sexualität I
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Sure 33,59 als Beleg noch nicht in Frage kommt; vgl. Walther 406). Verstöße werden hart bestraft. Da die muslimische Auffassung von Sexualität nur an Zeugung und Fortpflanzung orientiert ist, denen sich das Lustprinzip unterzuordnen hat, werden Probleme wie Empfängnisverhütung und —»Schwangerschaftsabbruch erst neuerdings ernsthaft diskutiert. Für beide gibt es keine kanonischen Texte. Zudem bedeuten beide Probleme einen Eingriff in die Schöpfungsordnung: Das Geschöpf begehrt gegen den Schöpfer auf, wenn es Leben verhindert bzw. zerstört. Der coitus interruptus (arabisch azl) wird deshalb mit Kindestötung gleichgesetzt. Andererseits erklärte schon al-GhazzälT (1058—1111) die Empfängnisverhütung für erlaubt, wenn das Leben der Schwangeren gefährdet sein sollte (Bauer 94). Die moderne islamische Rechtsprechung (Ägypten) billigt die Verhütung nur bei Duldung durch beide Partner (Gräf 213) oder überläßt sogar der Frau die Entscheidung (Algerien). Ähnlich verhält es sich mit dem Schwangerschaftsabbruch in den modernen islamischen Staaten. Die Gründe reichen von totaler Ablehnung (unter Berufung auf al-GhazzälT!) bis zu großzügiger Duldung in der Gegenwart. Das werdende Leben im Mutterleib ist zuallererst Geschöpf („Diener Gottes", Sure 19,93; vgl. 2 3 , 1 2 14; 3 2 , 7 - 9 ) und darum Eigentum des Schöpfers, der die Verfügungsgewalt der Eltern einschränkt und, nachdem dem Embryo die Seele eingehaucht ist (120 Tage nach der Zeugung), sogar aufhebt (so die Argumente der hanafitischen und der shafiitischen Rechtsschule [Türkei bzw. Ägypten, allerdings nicht einheitlich]). Die Shiiten im Iran verhängen für Abtreibungen vor dem 40. Tag Geldstrafen; nach dem 40. Tag erfolgt eine harte Bestrafung der Ekern des abgetriebenen Kindes. In Tunesien und Marokko ist die medizinische Indikation vor Ablauf des dritten Schwangerschaftsmonats erlaubt. Als Gründe für die Abtreibung werden in der Regel soziale Schwierigkeiten, Überbevölkerung oder Gefahr für Leben und Gesundheit der Mutter angeführt. Die medizinische Früherkennung führt heute immer häufiger zur Abtreibung weiblicher Foeten (besonders in Indien). 6. Sexualität
als ganzheitliche
Erfüllung
Die Sexualität mit ihren unterschiedlichen Facetten ist aus dem religionsgeschichtlichen Symbolkosmos nicht wegzudenken. Sie stellt einen vitalen Faktor für die Frömmigkeit dar. Aber sie bedarf immer wieder der Integration in diesen Symbolkosmos; andernfalls isoliert sie sich, verselbständigt sich und entwickelt einen eigenen, auf die Religion sich negativ auswirkenden und sie womöglich pervertierenden Mechanismus. Um das zu verhindern, haben die Religionen versucht, mit der Integration der Sexualität ein ganzheitliches Gottes- und Menschenbild zu entwerfen und es beispielsweise in kosmogonische Mythen und Riten umzusetzen: das heißt, sie versuchen, rituell darzustellen, was der Mythos in seiner Ganzheitlichkeit von Gott und der Schöpfung berichtet. Dazu kommt in der neueren Religionsgeschichte auch ein neues Weltwirklichkeitsverständnis, das die Gläubigen zwingt, Probleme der sexuellen Erfahrung von Grund auf neu zu durchdenken und auf ihre Tragfähigkeit hin zu überprüfen. Dabei zeigt es sich einmal mehr, daß nicht erst die Genese der Frömmigkeit oder deren Evolution zu „neuen" Erkenntnissen in der „Sexualkunde" geführt hat, sondern daß diese Erkenntnisse längst vorhanden gewesen sind, als sich der religiöse Symbolkosmos bildete oder aber bereits wieder auflöste, wenn derartig elementare Erkenntnisse aus ihm ausbrachen, um sich zu verselbständigen und ihre Eigendynamik zu entwickeln. In der gegenwärtigen Religionsgeschichte sind überall Ansätze einer Rückkehr zu den Ursprüngen zu beobachten. Die Sexualität und ihr religionswissenschaftlicher, symbolischer und kulturanthropologischer Deutungshorizont ist eines derjenigen Phänomene, die von ihren Ursprüngen her gedeutet und auf die gegenwärtige Weltwirklichkeit angewandt werden müssen. Die Religionsforschung zumal kann dazu beitragen, daß fundamentale Erkenntnisse dieser Art nicht verschüttet bleiben, sondern wieder ans Licht gehoben werden.
194 Quellen
Sexualität I und
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1. Biblischer
Hintergrund
und frühe patristische
Lehre
D a s V e r s t ä n d n i s v o n S e x u a l i t ä t als d e r G e s a m t h e i t v o n V e r h a l t e n s w e i s e n , T r i e b e n und Gefühlen, die auf sexuellen Bedürfnissen und Instinkten beruhen oder mit ihnen z u s a m m e n h ä n g e n , ist eine m o d e r n e S i c h t w e i s e , die zu e i n e m G r o ß t e i l a u f S. - » F r e u d
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zurückzuführen ist. Doch wenn auch der Begriff der Sexualität noch jung ist, so ist doch die implizite Frage nach einer angemessenen Ausdrucksweise menschlicher Sexualität und ihrer Stellung im menschlichen Leben nicht neu und wurde inner- und außerhalb der christlichen Tradition mit der Erörterung einer Sexualethik gestellt und beantwortet. Im Alten Testament ist das Verhältnis von Mann und Frau gleich in den ersten Kapiteln der Genesis von konstitutiver Bedeutung (-»Schöpfer/Schöpfung II). Wird im priesterschriftlichen Schöpfungsbericht (-•Priesterschrift) die Gattung Mensch sogleich als Mann und Frau geschaffen und mit dem Mehrungsgebot gesegnet (vgl. Gen l , 2 7 f . ) , so steht in der jahwistischen Erzählung von Schöpfung und Fall in Gen 2f. (—»Jahwist) die sukzessive Erschaffung von M a n n und Frau im Zeichen des Wunders der Liebe (vgl. Gen 2,23 f.), welche durch Fall und Fluch zum gespannten Verhältnis durch schmerzvolles Gebären, Triebstruktur und patriarchale Herrschaft wird (vgl. Gen 3,16). Im Neuen Testament fanden die Kirchenväter eine Aufreihung geschlechtlicher Sünden, die sich nur unwesentlich von ähnlichen Aufstellungen des Alten Testaments unterschieden. Im Einklang mit diesem (z.B. Lev 1 8 - 2 0 ) rechnet -»Paulus nöpvoi (Hurer oder Unzüchtige), ßoixoi (Ehebrecher), ¡ia.Xa.Koi (Weichlinge, Lustknaben) und apOEVOKOnai (Knabenschänder) zu denen, die nicht in das Königreich Gottes eingehen werden (I Kor 6,9; s.u. 8.). Die neutestamentliche Wertschätzung der -»Ehe - die nicht nur in den Worten Jesu in den Evangelien zum Ausdruck kommt, sondern darüber hinaus auch im Gebrauch von Ehemetaphern zur Erläuterung der Rolle Christi (vgl. M k 10,1 ff. par.; I Kor 7,1 ff.; Eph 5,25ff.) - weist ebenfalls auf Kontinuität zum Judentum hin, doch wird diese Hochschätzung bekanntlich entscheidend dadurch eingeschränkt, daß eine Berufung zur Ehelosigkeit ( - • Zölibat) anerkannt wird (z.B. M t 19,12). Es war diese Einschränkung, welche unmittelbar zum Auseinandergehen der alttestamentlich-jüdischen und der christlichen Tradition führte: In der Frühzeit der Alten Kirche befürwortete die asketische Bewegung (-»Askese) die Enthaltsamkeit als eine Form der Selbstverleugnung, und im Enkratismus (der sich insbesondere mit dem Namen -•Tatians verbindet) wurde die Empfehlung der Ehelosigkeit zur Pflicht, und Verheirateten wurde die Taufe verweigert. Zwar wurde der Enkratismus mit der Zeit als Fehlentwicklung angesehen, doch wurde die Einstellung seiner Gegner zur Ehe (wie z. B. bei —»Tertullian und —»Clemens von Alexandrien) gleichwohl entscheidend von der asketischen Bewegung beeinflußt: Zum einen wurde die Ehe, auch wenn sie anerkannt wurde, doch in eine Werteskala eingefügt, an deren höchster Stelle die Jungfräulichkeit stand; und zum anderen deuten die Erwartung, daß die Ehe nach den Jahren der Kinderzeugung enthaltsam geführt werde, und die Vorbehalte gegenüber der Wiederverheiratung von Verwitweten auf einen besonderen und begrenzten Rechtfertigungsgrund für die geschlechtliche Betätigung. 2. Der Beitrag
Augustins
-> Augustin war zwar keineswegs der erste mit dieser Thematik befaßte christliche Theologe, hat aber doch eine Schlüsselstellung für die Festlegung und Systematisierung der Grundzüge der sich herausbildenden sexualethischen Lehrnorm des abendländischen Christentums. Sie wertet Ehe und Ehelosigkeit als komplementäre, jeweils spezifische Berufungen des einzelnen und verlangt von allen eine dem jeweiligen Stand angemessene -•Keuschheit. Augustins weiterführender Beitrag liegt in seinem Versuch, Bedeutung und Stellenwert der menschlichen Sexualität innerhalb eines umfassenderen theologischen Sachzusammenhangs von Schöpfung, Versöhnung und Erlösung zu verstehen. Alles spätere, der westlichen Tradition folgende christliche Denken auf diesem Gebiet bezieht sich bewußt oder unbewußt auf Augustin, ob es nun einzelnen Zügen seiner Konzeption folgt, ihre Gewichte anders verteilt oder diese Konzeption in jüngerer Zeit - wenn auch oft unwissentlich - insgesamt verwirft. In seiner Auseinandersetzung mit dem biblischen und frühpatristischen Erbe entwikkelte Augustin drei wesentliche Argumentationsstränge:
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1) Zunächst bestand er auf der Ehe als einem Gut und wandte sich strikt gegen ihre Abwertung, wobei er sich insbesondere auf Mk 1 0 , 6 - 9 und ein zunehmend wörtliches Verständnis der Genesis berief. Dieses Verständnis der Genesis bewog ihn dazu, die geschlechtliche Vereinigung von Mann und Frau als etwas Natürliches anzusehen, das in ihrer Erschaffung als geschlechtlich unterschiedener Wesen vorgegeben war; daher verwarf er nicht nur die Ansichten der Manichäer (—»Manichäismus), die, wie er behauptete, abstritten, „daß Gott sowohl der Schöpfer der Menschen als auch derjenige ist, der die Ehepartner vereinigt" (Augustin, nupt. 11,9), sondern auch die Auffassung von Theologen wie —»Gregor von Nyssa, der (in De Hominis Opificio) lehrte, die sexuelle Vereinigung gehöre in die Zeit nach dem Sündenfall und sei durch göttliche Fügung zu dem Zweck ermöglicht worden, die harte Bestrafung der Menschheit mit dem Tod zu mildern. Gregor führte näher aus, der Mensch sei „zweifach" erschaffen: zunächst nach dem —»Bild Gottes, dann aber auch, als Mann und Frau, in der Teilhabe an der animalischen Natur. „Denn dergleichen deutet die Stelle (Gen 1,27) durch ihre Wortfolge an, indem sie zuerst sagt: ,Gott schuf den Menschen, zum Bilde Gottes schuf er ihn', und dann diesen Worten noch hinzufügt: ,Als Mann und Frau schuf er sie' (Gen 1,27), was doch dem Gottesbegriff fremd ist" (Gregor von Nyssa, hom. opif. XVI). Gegenüber einer solchen Auffassung betonte Augustin in De Civitate Dei, es sei „sicher, daß Mann und Frau anfänglich ebenso eingerichtet waren, wie wir auch jetzt zwei Menschen unterschiedlichen Geschlechts sehen und kennen" (Augustin, civ. XIV,22), und er behauptete darüber hinaus, die urzuständliche Ehe „sei, hätte es keine Sünde gegeben, der Glückseligkeit des Paradieses würdig gewesen und hätte liebenswerten Nachwuchs hervorgebracht" (ebd. 23). Diese Verankerung der traditionellen Rechtfertigung der Ehe in einem unzweideutigen Verständnis von Ehe und geschlechtlicher Vereinigung als Bestandteil des ursprünglichen, geschaffenen Gutseins des Menschen gab ihr eine durchgängig festere dogmatische Begründung, als sie bislang besessen hatte. Außerdem fand Augustin zu einem umfassenderen Verständnis der Güter der Ehe. In De Bono Conjugali behauptete er, als solche seien an erster Stelle nicht nur der Nachwuchs zu nennen, sondern auch die Treue und - nach Eph 5,32 - das Sakrament oder Zeichen der Unauflösbarkeit, durch das die Ehe ein Abbild der Einheit Christi mit der -»Kirche sei. Die Herausstellung dieser drei Elemente als Hauptgüter der Ehe ist eine bedeutende Weiterentwicklung gegenüber einem Eheverständnis, wie es etwa bei Clemens von Alexandrien zu finden ist, der als Reaktion auf ein radikales Asketentum die Ehe in einer nahezu ganz aus antiken Quellen entlehnten Weise vornehmlich als Mittel zur Erzeugung von Nachkommenschaft pries (s. bes. ström. 11,23; III, passim). 2) Sind menschliche Sexualität und Ehe auch Teil der -»Schöpfungsordnung, so heißt das keineswegs - wie der Pelagianismus lehrt (—»Pelagius/Pelagianischer Streit) - , daß sie nicht vom Sündenfall überschattet sind. Das ist der zweite Hauptbestandteil der Lehre Augustins, den er insbesondere in seiner Auseinandersetzung mit -»Julian von Aeclanum entwickelte. Der Umgang mit diesem Thema nötigte ihn zu einem beträchtlichen Maß an Fingerspitzengefühl, wenn er einen Mittelweg zwischen der manichäischen Verächtlichmachung der Ehe auf der einen Seite und dem pelagianischen Beharren auf ihrer wesentlichen Unschuld auf der andern finden wollte. In seinem Preis der Ehe und insbesondere bei seiner Rechtfertigung der frommen Gesinnung der alttestamentlichen Patriarchen gegenüber den Vorwürfen der Manichäer etwa in De Bono Conjugali war Augustin in manchen Formulierungen zumindest unvorsichtig gewesen (s. Augustin, bon. coniug. 1; ders., retract. 11,22). Nun versuchte er, folgenden Mittelweg einzuschlagen: Obschon ehelicher Geschlechtsverkehr zum Zweck der Fortpflanzung an sich nicht sündhaft ist (im Gegensatz zum Geschlechtsverkehr aus anderen Antrieben, der Sünde ist, wenn auch eine „läßliche" oder entschuldbare), so ist doch auch vernünftiger ehelicher Verkehr vom „Gebrechen" der geschlechtlichen Begierde (concupiscentia) betroffen, und das heißt, vom inneren Zwiespalt des Ich, dem Zwiespalt zwischen Fleisch
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und Geist, der sich in zuchtlosem geschlechtlichem Verlangen ausdrückt und seit dem Sündenfall „sowohl eine Folge als auch eine Ursache der Sünde" ist (vgl. Bonner 375). Laut Augustin haben —»Adam und Eva vor dem Sündenfall Geschlechtsverkehr einzig auf Veranlassung ihres Willens ausgeübt, unberührt von der zuchtlosen Lust, die heute selbst die eheliche Vereinigung antreibt und beeinträchtigt; in civ. XIV legt Augustin recht ausführlich dar, daß die Möglichkeit einer solchen rationalen Kontrolle der Geschlechtsorgane und des Geschlechtsaktes gegeben sei. Aus der Regung der nicht dem Willen unterworfenen, zuchtlosen Lust erklärt sich für Augustin die —>Scham, welche selbst den in allen Ehren vollzogenen ehelichen Geschlechtsverkehr unvermeidlich begleitet. In dieser Scham erkennen wir mittelbar die menschliche Sexualität als Kraft der Unvernunft, die uns davon abhält, dem summum bonum (—»Höchstes Gut) nachzustreben. Augustin besteht freilich darauf, daß nichts von alledem seine Rechtfertigung der Ehe gegenüber den Manichäern schwächt; denn die Ehe ist weder Ursache noch Wirkung der Begierde. „Diese von Schamlosen schamlos gepriesene, schamauslösende Begierde gäbe es gar nicht, hätte nicht der Mensch zuvor gesündigt; die Zeugung von Kindern ginge im Leibe jenes [sc. des urzuständlichen] Lebens ohne diese Krankheit vor sich, ohne die sie jetzt im Leibe dieses Todes [vgl. Rom 7,24] nicht vor sich gehen kann" (Augustin, nupt. 1,1). Außerdem spricht zugunsten der Ehe, daß der Geschlechtsverkehr, wo er zum Zweck der Fortpflanzung stattfindet, die Begierde auf eine gute Verwendung hin ausrichtet und selbst, wo ehelicher Verkehr um der Begierde willen stattfindet, die Ehe diese Ausschweifung verzeihlich macht (ebd. 1,16). Es muß hier festgehalten werden, daß Augustins Zeitgenosse Johannes —>Cassianus über die Probleme der menschlichen Sexualität ganz anders dachte und daß sich die Unterschiede zwischen beiden in den charakteristischen Einstellungen der Kirche des Westens und der des Ostens zu diesen Fragen erhielten. Cassians Gedanken waren vor allem von den spirituellen und monastischen Traditionen der Wüstenväter beeinflußt. Ziel des geistlichen Lebens war es, die Leidenschaften zu bändigen. Dadurch konnte man Versuchungen zum Laster überwinden und die Leiter der Vollendung emporsteigen; doch war die Unkeuschheit nur eine dieser Versuchungen, und Habgier wurde zumeist als wichtigste Versuchung angesehen. Dieses für die spätere östliche Theologie grundlegende Denkmuster faßte auch weiterhin den Gegensatz zwischen Leib und Geist als Gegensatz unterschiedlicher menschlicher Strebungen auf, den das Ich überwinden müsse, und folgte Augustin nicht in seiner radikaleren Sicht, nach der das Ich gebrochen und völlig unfähig ist, von sich aus Gott zu lieben und ihm zu dienen. Es folgte Augustin auch nicht in seinem Bestreben, die menschliche Sexualität ungeachtet seines Bestehens auf der umfassenden Bedeutung der Begierde als eine Gegebenheit zu betrachten, die in spezifischer Weise die Bedingungen des menschlichen Daseins sichtbar werden läßt. 3) Obwohl die Ehe ein Gut ist, sind Jungfräulichkeit und Enthaltsamkeit ihr vorzuziehen. Daher gilt: „Selbst die, die eine Ehe eingehen wollen, nur um Kinder zu haben, müssen dazu angehalten werden, das größere Gut der Enthaltsamkeit zu pflegen" (Augustin, bon. coniug. 9); und an anderer Stelle: „Nach geflissentlicher Untersuchung gibt die christliche Lehre die Antwort, daß auch eine erste Ehe schon in dieser Zeit geringzuschätzen ist, wenn dem nicht die Unkeuschheit im Wege stünde" (Augustin, vid. 8). Dieser dritte Hauptgedanke der Lehre Augustins ist in hohem Maß Paulus verpflichtet. Es ist deutlich, daß bei der Verfechtung dieser Vorstellung das Beharren auf dem Verständnis der Ehe als eines Gutes leicht ins Wanken kommen kann, und schon Tertullian (ganz bewußt in De Exhortatione Castitatis) wie auch -»Hieronymus (in seiner Wirkung, wenn auch nicht seiner Absicht nach) gingen in ihrer Befürwortung der Enthaltsamkeit so weit, daß sie anders als Augustin nicht zu einer Sicht fanden, in der die Jungfräulichkeit nur das bessere von zwei Gütern ist. In Adversus Jovinianum hatte Hieronymus die Ansichten eines Mönchs angegriffen, der behauptet hatte, es bestehe
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im G r u n d e kein Unterschied zwischen der Erlösung von Verheirateten und der von Ehelosen. Doch bei seiner A r g u m e n t a t i o n , d a ß die Ehelosigkeit ein höherer Stand a l s die Ehe sei lind d a h e r eine g r ö ß e r e Belohnung verdiene, hatte H i e r o n y m u s den Anschein e r w e c k t , d a s Gut d e r Ehe ü b e r h a u p t in F r a g e zu stellen. M a n c h e s von d e m , w a s er über d a s Verhältnis zwischen Ehe u n d Ehelosigkeit schrieb, focht z w a r eindeutig die Ehe nicht an. „ D e n n w i r s e l b e r " , insistierte er, „ f o l g e n nicht den Ansichten M a r c i o n s und M a n i s in ihrer V e r u n g l i m p f u n g d e r Ehe; w i r g l a u b e n a u c h nicht, d u r c h den Irrtum T a t i a n s , des H a u p t e s der Enkratiten, g e t ä u s c h t , d a ß aller geschlechtliche Verkehr unrein ist ... W i r k e n n e n sehr w o h l die W o r t e : ,Die Ehe sei e h r b a r bei allen u n d d a s Ehebett u n b e s c h m u t z t ' ( H e b r 13,4). W i r h a b e n Gottes erstes Gebot gelesen: ,Seid f r u c h t b a r und mehret euch und füllet die Erde' (Gen 1,28); d o c h w e n n w i r die Ehe a u c h h o c h s c h ä t z e n , so geben w i r doch der J u n g f r ä u l i c h k e i t den Vorzug, die der Ehe e n t s p r i n g t " (Hieronymus, J o v . 1,3). An a n d e r e n Stellen aber w a r er in seinen F o r m u l i e r u n g e n w e n i g e r vorsichtig. So k o m m e n t i e r t e er den Satz des P a u l u s „Es ist besser, zu h e i r a t e n als sich in Begierde zu v e r z e h r e n " (I Kor 7,9) f o l g e n d e r m a ß e n : „Es ist, als s a g t e er: ,Es ist besser, ein A u g e zu h a b e n a l s keines; es ist besser, auf einem Fuß zu stehen und den restlichen Körper mit e i n e m Stock zu stützen, als mit g e b r o c h e n e n Beinen zu k r i e c h e n ' " (Hiero n y m u s , J o v . 1,9). Seine apologetischen Briefe, in denen er sich gegen die A n s c h u l d i g u n g w e h r t , er h a b e die Ehe v e r u n g l i m p f t , m a c h t e n alles n u r noch s c h l i m m e r - er m u t m a ß t e n ä m l i c h , d a ß es im Bericht über den z w e i t e n S c h ö p f u n g s t a g in der Genesis d a r u m nicht heiße, „ d a ß es gut w a r " , weil „ e t w a s nicht gut an der Z a h l zwei ist, die uns von der Einheit trennt u n d i m v o r a u s auf den B u n d der Ehe v e r w e i s t . D e s h a l b sind a u c h bei der Arche N o a h alle T i e r e , die sie p a a r w e i s e betreten, u n r e i n " ( H i e r o n y m u s , ep. 48,19). D a r ü b e r h i n a u s b e m e r k t e er: „Ich m ö c h t e , d a ß jeder, der sich in der N a c h t ä n g s t i g t und nicht allein schlafen k a n n , sich eine F r a u n i m m t " (ebd. 50,5). Wenn A u g u s t i n die Überlegenheit von J u n g f r ä u l i c h k e i t und E n t h a l t s a m k e i t vertritt, so ist d a s g a n z und g a r nicht in solcher G e r i n g s c h ä t z u n g der Ehe b e g r ü n d e t , sondern in einer e s c h a t o l o g i s c h e n Sicht, die k e i n e s w e g s d a s Gut geschlechtlicher Vereinigung in Frage stellt. Die Ehe m u ß t e es einst in Israel geben, d a m i t der Erlöser v o r a u s g e s a g t und geboren w e r d e n k o n n t e . Doch hat „ d i e g e h e i m n i s v o l l e Verschiedenheit der Z e i t e n " (Augustin, b o n . c o n i u g . 17) dieses E r f o r d e r n i s beseitigt, u n d n u n , d a der Dienst an Gott nicht mehr die F o r t p f l a n z u n g benötigt, sind alle d a z u a n z u h a l t e n , E n t h a l t s a m k e i t zu üben, in der sich eine Aufgeschlossenheit f ü r die Sache Gottes a n g e m e s s e n e r a u s d r ü c k t und die im k ü n f t i g e n Leben mit „ a u ß e r o r d e n t l i c h e r H e r r l i c h k e i t " ( A u g u s t i n , virg. 14) belohnt w i r d . An diesen D a r l e g u n g e n ist h e r v o r z u h e b e n : O b w o h l die Ehelosigkeit den Vorrang vor der Ehe erhält, w i r d sie nicht a l s ein W i e d e r g e w i n n des Z u s t a n d s vor d e m S ü n d e n f a l l o d e r als Vermeiden von s ü n d h a f t e m oder b e s c h m u t z e n d e m Geschlechtsverkehr a u f g e f a ß t , sondern v i e l m e h r als „ e n g e l h a f t e s Los und V o r g e s c h m a c k i m verderblichen Fleisch auf d i e e w i g e U n v e r d e r b l i c h k e i t " (ebd. 13). So gesehen ist d a s Üben von E n t h a l t s a m k e i t kein A r g u m e n t gegen die Ehe, als sei sie ein Übel, sondern sie bezeugt, d a ß die Ehe z w a r ein Gut ist, jedoch ein Gut, d a s übertroffen w e r d e n w i r d - ein G e d a n k e , der implizit in d e m m i t t l e r w e i l e unstrittig g e w o r d e n e n ( w e n n a u c h e t w a s e i n g e s c h r ä n k ten) Z u g e s t ä n d n i s einer W i e d e r v e r h e i r a t u n g n a c h d e m Tod des E h e p a r t n e r s z u m A u s druck k o m m t . So brillant A u g u s t i n a u c h seinen S t a n d p u n k t gegen M a n i c h ä e r , P e l a g i a n e r u n d enthusiastische Verfechter der Ehelosigkeit v e r t r a t und so b e i s p i e l h a f t sein Versuch a u c h w a r , die a n s t e h e n d e n Fragen theologisch g r ü n d l i c h zu d u r c h d e n k e n , hat doch seine B e h a n d l u n g der S e x u a l i t ä t , w i e w i r noch sehen w e r d e n , der T r a d i t i o n a u c h eine R e i h e von Problemen hinterlassen. Entsprechend seiner B e h a n d l u n g der G e s a m t t h e m a t i k lassen sie sich unter drei Fragestellungen e r f a s s e n : 1. der F r a g e n a c h der A n g e m e s s e n h e i t seiner N ä h e r b e s t i m m u n g der Güter d e r Ehe und deren w e c h s e l s e i t i g e r Beziehung; 2. der Frage d e r A n g e m e s s e n h e i t einer A n t h r o p o l o g i e , die d a s Gefallensein der menschlichen S e x u a l i t ä t an der Ü b e r w ä l t i g u n g des W i l l e n s d u r c h die L e i d e n s c h a f t f e s t m a c h t ;
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Sexualität II
und 3. der Frage, wie weit seine Wertschätzung von Jungfräulichkeit und Enthaltsamkeit befriedigen kann. 3.
Frühmittelalter
Bei westlichen Theologen des Mittelalters und selbst der Reformation sollte sich das von Augustin entworfene Bild in den Grundzügen erhalten, aber zuweilen auf eine Art und Weise, die mit einem Ausgleich der in ihm liegenden Spannungen oder einer Auflösung der darin enthaltenen Gegensätze einiges von Augustins Differenziertheit und Ausgewogenheit verlor. Ein —»Gregor dem Großen zugeschriebener Text des 7. Jh. mag dafür als Beispiel dienen. In dem unter seinem Namen überlieferten, an Augustin von Canterbury (gest. ca. 604/609) gerichteten Resportsum Gregorii heißt es: „Da selbst der erlaubte Geschlechtsverkehr von Verheirateten nicht ohne Fleischeslust stattfinden kann, sollte davon abgesehen werden, eine heilige Stätte zu betreten, weil die Lust selbst keineswegs ohne Sünde sein kann" (MGH.Ep 2,340,29-31). Das Argument, jeder Geschlechtsakt sei aufgrund der mit ihm verbundenen Lust sündhaft, stellt eine erhebliche Vereinfachung von Augustins Standpunkt dar: Wie ausgeführt, hatte dieser behauptet, ehelicher Geschlechtsverkehr zum Zweck der Fortpflanzung sei sündlos, selbst wenn die Begierde, die ihn begleite und auslöse, eine Folge von Adams Sünde sei und manchmal selbst zur Sünde führe; Begierde werde demnach „darum Sünde genannt, weil sie zur Sünde führt, wenn sie den Willen übermannt" (Augustin, nupt. 1,23). Doch das schlichte Erleben von Lust sei nicht sündhaft an sich - und auch die Tatsache, daß das Gesetz nach dem Geschlechtsakt eine Reinigung vorschreibt, sei kein Gegenbeweis, denn dasselbe Gesetz schreibe auch eine Reinigung nach der Menstruation vor, die eindeutig keine Sünde sei (Augustin, bon. coniug. 20). Das Responsum ist sich über den Unterschied zwischen Lusterlebnis und Lustverfolgung durchaus im klaren - im Anschluß an die angeführte Regelung unterscheidet es doch zwischen Geschlechtsverkehr zum Zweck der Kinderzeugung und Geschlechtsverkehr aus bloßer Lust und gesteht zu, daß jemandem, der Geschlechtsverkehr aus dem erstgenannten Grund ausgeübt habe, nicht die Sakramentsgemeinschaft verweigert werden soll. Doch die getroffene Regelung selbst läßt diese Unterscheidung nicht gelten und verrät einen Vorbehalt gegenüber dem Geschlechtsverkehr, der auch in Gregors Liber Regulae Pastoralis (3, XXVII) begegnet; dort heißt es, daß Eheleute „das Ehegesetz gebrochen" haben, wenn dem Geschlechtsverkehr zwischen ihnen auch nur eine Spur von Lust „beigemischt" sei (admistis voluptatibus-, ebd.). In der Tat gibt Gregor denn auch gegenüber Augustin Hieronymus den Vorzug, der behauptet hatte, selbst wenn die römische Tradition den Empfang der Kommunion nicht verbiete, sei doch das Verbot eines Kirchenbesuchs unmittelbar nach dem Geschlechtsverkehr in dieser Frage eine bessere Leitlinie, da - und dabei beruft er sich auf Paulus (I Kor 7,5) - ehelicher Verkehr Gebet und Andacht im Weg stünde (Hieronymus, ep. 48,15). Und es war der Standpunkt Gregors, der Eingang in die Bußbücher fand, die vom 6. bis 11. Jh. verbreiteten Richtlinien für die Ablegung der Privatbuße. Zwar implizieren deren wiederholte Verbote des ehelichen Verkehrs selbst zum Zweck der Fortpflanzung während liturgisch hervorgehobener Tage und Zeiten nicht unbedingt die Ansicht, ehelicher Verkehr sei in jedem Fall sündhaft; doch wird ihr Verständnis in diesem Sinn von Gregors Lehre gestützt. 4. Hochmittelalter
(Bernhard
von Clairvaux
und Thomas
von
Aquino)
Dieser Begrenztheit des Augustinischen Eheverständnisses traten zwei bedeutende hochmittelalterliche Schulbildungen entgegen. Die erste verbindet sich mit den —»Zisterziensern des 12. Jh. und die zweite mit der Moraltheologie des —»Thomas von Aquino. 4.1. In der Reihe seiner Predigten über das Hohelied verteidigt -»Bernhard von Clairvaux die Ehe gegen die —»Katharer, die er als Erneuerer der Irrlehren der Manichäer
Sexualität II
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darstellt. In serm. 66 sieht er die Verächter der Ehe vor folgendes Dilemma gestellt: Entweder ist der Himmel leer, weil nur die Enthaltsamen erlöst werden, oder seine Bewohner müssen, wenn er bewohnt ist, solche sein, die außerehelichen Verkehr, Inzest, Onanie u.a. betrieben haben, denn dazu führt die Verdammung der Ehe. Geflissentlich umgeht Bernhard den Text, der die Grundlage für einen Großteil der patristischen Vorbehalte gegenüber der Ehe enthält (I Kor 7,6), und hält sich lieber an I Kor 7,39, wo Paulus nicht nur die Ehe gestattet, sondern sogar die Wiederverheiratung, die er laut Bernhard an anderer Stelle (I Tim 5,14) sogar eher empfiehlt als bloß gestattet (serm. 66,5). Daher entlarve auch die Enthaltung von bestimmten Nahrungsmitteln, die „das Ergebnis geschlechtlicher Paarung" sind, ihre Verfechter zwar nicht an sich, aber doch durch ihre Begründung als Ketzer. Die hier (und gleichermaßen bei -»Aelred von Rievaulx, De spiritali amicitia 1,65) ausdrücklich vorgetragene Wertschätzung der Ehe bestimmt natürlich auch das bei Bernhard und anderen, zumal bei zisterziensischen Ordensbrüdern wie -»Wilhelm von St. Thierry begegnende Verständnis des Hohenlieds, das in der Entfaltung dessen wirksam wird, was E. Gilson „mystische Theologie" genannt hat. Der affectus maritalis wird als affectus des für Gott entbrannten Herzens allegorisiert oder als affectus Christi für die Kirche, doch als Gegenstand der Allegorie und damit als Symbol der Vereinigung der Einzelseele mit Gott wird er auch selbst geachtet und in Ehren gehalten. 4.2. Thomas von Aquino behandelt die menschliche Sexualität hauptsächlich in seinen Erörterungen über die Mäßigung (im Rahmen der Tugendlehre, S.th. II-II) und über die Ehe (im Rahmen der Sakramentenlehre, d.h. in den Supplementa zur unvollendeten Summa, die Material aus seinem früher verfaßten Sentenzenkommentar enthalten). Er betrachtet die menschliche Sexualität unter den drei verschiedenen, aber miteinander zusammenhängenden Aspekten des Animalischen, des Menschlichen und des Religiösen. Zunächst ist geschlechtliche Lust an sich ganz und gar nicht problematisch; vielmehr ist sie als Begleiterscheinung des der Arterhaltung dienenden Fortpflanzungsaktes zu sehen. „Daher ist von Sünde nicht die Rede, wenn der Mensch kraft der Vernunft die Dinge entsprechend ihrer Zielhaftigkeit auf rechte Weise und in rechter Ordnung in Gebrauch nimmt, falls das Ziel nur ein echtes Gut ist. Wie aber die Erhaltung der körperlichen Einzelnatur ein wahrhaftes Gut ist, so ist es auch ein hervorragendes Gut, die menschliche Art zu erhalten. Wie nun für die Erhaltung des Einzellebens der Gebrauch der Speise bestimmt ist, so zur Erhaltung des ganzen Menschengeschlechts der Gebrauch der Geschlechtskraft" (S.th. II-II 153,2c). Das menschliche Gut erschöpft sich aber nicht im Gut der Selbsterhaltung, das der Mensch mit allen Geschöpfen teilt; daher kann uns, obwohl geschlechtliche Lust nicht an und für sich sündhaft ist, das Verlangen nach geschlechtlicher Lust ganz offensichtlich doch insofern zur Sünde führen, als es uns dazu verleitet, dem menschlichen Gut und somit der rechten Vernunft zuwiderzuhandeln. Daß die Begierde diese Macht hat, ist eine Folge des Sündenfalls und eine Bestrafung für unseren Ungehorsam und macht die Tugend der Keuschheit erforderlich, um das Verlangen nach geschlechtlicher Lust zu regulieren. Was ist aber dem menschlichen Gut oder der rechten Vernunft entgegengesetzt? Nicht der Geschlechtsakt selbst, etwa aufgrund der bloßen Tatsache, daß er der geistigen Betrachtung Gottes im Wege steht. Zwar tut er das, aber da, wo der Gebrauch des Verstandes gemäß der rechten Vernunft unterbrochen wird, ist keine Sünde — „sonst", stellt Thomas kurz und bündig fest, „wäre der Schlaf ja auch gegen die Tugend" (S.th. II-II 153,2 ad 2). Da jedoch der Gebrauch des Verstandes ein Gut ist, muß dem vorübergehenden Verlust der Fähigkeit, ihn zu gebrauchen, ein Gut korrespondieren, das den Verlust rechtfertigt (S.th. Suppl. 49). In wesentlichen Grundzügen folgt Thomas hier Augustin: Das oberste Gut der Ehe sind Nachkommen, das zweite ist Treue und das dritte das Sakrament - allerdings ist dieses dritte kein Gut der Ehe, soweit sie in
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ihrer Zugehörigkeit zum Gesetz der Natur in den Blick kommt, sondern nur insofern, als sie im Rahmen des Neuen Gesetzes gesehen wird, wodurch sie, wie Augustin gelehrt hat, sowohl zu einem Zeichen als auch zu einem Heilmittel wird. Jedoch ist sie kein Heilmittel in dem beschränkten Sinne der Vorstellung Augustins — d.h. indem sie einen dem Gesetz entsprechenden Geschlechtsverkehr erlaubt, der als solcher dazu dient, die Unzucht zu unterdrücken; „dann gäbe es keinen Grund, sie zu den Sakramenten des Neuen Gesetzes zu zählen, da sie gerade durch die Natur des Aktes sogar nach dem Alten Gesetz in der Lage war, ein Heilmittel gegen die Unzucht zu liefern, damit diese nicht ausufert, wenn sie allzu streng unterdrückt wird" (S.th. Suppl. 42,3). Vielmehr gilt: „ D a der Mann im Ehestand durch göttliche Einrichtung befähigt wird, seine Frau dazu zu benutzen, Kinder zu gebären, wird ihm auch die Gnade verliehen, ohne die er das nicht geziemend tun k a n n " (ebd.). (Diese Lehre wurde 1439 vom Konzil von Florenz [-•Basel-Ferrara-Florenz] aufgenommen und auf dem Konzil von Trient [->Tridentinum] mit Frontstellung gegen die Reformation weiter ausgebaut.) Wenn die Ehe unter dem Gesichtspunkt der Religion diese Eigenschaft hat, so tut das der Tatsache keinen Abbruch, daß die zum Zweck der geistigen Betrachtung der Wahrheit gewählte Jungfräulichkeit den größeren Wert besitzt, da sie nicht auf das menschliche, sondern auf das göttliche Gut gerichtet ist (S.th. II-II 152). Dennoch scheint T h o m a s der Ehe einen gesicherteren Platz einzuräumen, indem er etwas von ihrer radikalen eschatologischen Einschränkung durch Augustin abrückt: „Das Gesetz über die Zeugung ... ist der Gesamtheit auferlegt" (S.th. II-II 152,2 ad 1; s.a. Suppl. 41,2), und obwohl es für sie „nicht nur notwendig ist, sich körperlich fortzuzeugen, sondern auch geistige Fortschritte zu m a c h e n " , wird die erstere Pflicht damit nicht einfach zurückgenommen. Vielleicht, weil T h o m a s bei der Wirklichkeit der menschlichen Natur, wie er sie versteht, einsetzt und nicht bei der von der Gnade zur Vollkommenheit gebrachten Natur, enthält seine Behandlung der Sexualität ein gewisses M a ß an handfestem Realismus. So erklärt er z. B., daß nicht nur keiner der beiden Ehepartner ein Gelübde ablegen dürfe, die Erfüllung der ehelichen Pflicht zu verweigern, sondern auch, daß keiner von ihnen geloben dürfe, ihre Erfüllung vom andern nicht zu verlangen: „Wenn einer der beiden nie um die Erfüllung der ehelichen Pflicht bitten würde, so würde die Ehe zu einer zu großen Last für den andern, der dann immer die Scham auf sich nehmen müßte, um die Erfüllung der ehelichen Pflicht zu bitten" (Suppl. 64,4). Außerdem sollte der Ehemann ein Gespür dafür haben, daß die Ehefrau, auch wenn sie darum bittet, das vielleicht nicht „direkt" (expresse) tut, sondern „unausgesprochen" (interpretative; Suppl. 53,1). Er stellt freilich nicht die Behauptung in Frage, daß es „besser [ist], züchtig zu sein, als die Ehe auszuüben" (Suppl. 64,4 obi. 2), und scheint nicht über den Gedanken hinauszugehen, Geschlechtsbeziehungen seien zuweilen insoweit legitim, als sie durch die Güter der Ehe gefordert seien. Nach T h o m a s ' Verständnis dieser Güter fällt dieses Erfordernis freilich nicht sehr ins Gewicht, behauptet er doch im Anschluß an Augustin, daß die Ehe von Maria und ->Joseph alle drei ehelichen Güter in sich geschlossen habe, obwohl zwischen den Ehepartnern kein Geschlechtsverkehr stattgefunden habe. Daher haben für T h o m a s wie für Augustin die Güter der Treue und des Sakraments lediglich einen negativen Bezug zum Geschlechtsakt. Treue besteht dort, wo es keinen Ehebruch gibt (obwohl, wie wir gesehen haben, die Treue einem Partner auferlegen kann, „die eheliche Pflicht [zu] erfüllen" [I Kor 7,3]), und das Sakrament, wo es keine Scheidung gibt. Damit hat die Geschlechtsbeziehung zwischen Mann und Frau keine zentrale Stelle in T h o m a s ' Eheverständnis, obwohl er erkennt, daß die fleischliche Liebe die besondere Freundschaftsbindung der Ehe fördert, die er für ein großes Gut hält. Wenn der Preis der Vollkommenheit der Ehe zwischen Maria und Joseph - ein T h e m a , das seinen Höhepunkt bei ->Hugo von St. Viktor gefunden hatte - mittelbar deutlich werden läßt, daß selbst T h o m a s die Bereitschaft fehlt, den Geschlechtsbeziehungen die Bedeutung eines eigenständigen Gestaltungsfaktors eines ehelichen Gutes beizumessen,
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so wird die Vorstellung, geschlechtliches Verlangen und geschlechtliche Lust seien natürliche Güter, durch bestimmende Momente seines eigenen Denkens in Frage gestellt: seine im wesentlichen augustinischen Darlegungen über das Wesen der Jungfrauengeburt und ihre Notwendigkeit, um den Weg der Übertragung der Erbsünde auszuschalten; sein Eintreten für den -»Zölibat der Geistlichen als angemessen für die, die mit heiligem Gerät umgehen; sowie seine gänzlich traditionelle Bevorzugung der Jungfräulichkeit. Obwohl er wie Augustin darauf besteht, daß die Ehe das geringere von zwei Gütern ist, und wesentlich zur Ausformulierung der Vorstellung beigetragen hat, daß die Ehe ein Gnade vermittelndes Sakrament ist, kann doch das Eheverständnis, wie es Thomas verficht, der Sexualität wenig menschlichen oder theologischen Sinn abgewinnen, so sehr es auch ihrer Bedeutung als eines natürlichen Triebes gerecht wird. 5.
Reformation
Auch wenn die Reformatoren sich gegen die Vorbehalte gegenüber der Ehe wandten, die sie in der überkommenen kirchlichen Lehre vorfanden, kann man dennoch kaum behaupten, daß sie sich von den Problemen, die das augustinische Erbe barg, völlig freigemacht hätten. Allerdings kann kein Zweifel daran bestehen, daß -»Luther und —»Calvin die verschiedenen Teile des mittelalterlichen Bildes neu geordnet und dabei die Akzente verlagert haben, indem sie die Vorbehalte gegenüber der Ehe durch einen gewissen Vorbehalt gegenüber der Ehelosigkeit (wenn auch nicht durch ihre Verwerfung) ersetzten, die man nicht einmal von den Geistlichen verlangen könne, weil sie für fast alle Menschen eine zu schwere Bürde und, selbst wenn sie eingehalten würde, kein Mittel sei, um sich Gottes Gunst zu erwerben. Luthers Ansichten sind in der kurzen Abhandlung Vom ehelichen Leben aus dem Jahr 1522 zusammengefaßt. Sie werden im wesentlichen in Calvins Bekämpfung der monastischen Gelübde (Inst. IV,13) wiederholt. Nach Luther ist Gottes Wort „Seid fruchtbar und mehret euch" (Gen 1,28) kein Gebot, „ßondern mehr denn ein gepott, nemlich eyn gottlich werck, das nicht bey uns stehet tzuverhyndern odder noch tzulasßen" (WA 10 II,276,22f.). Anders gesprochen werden wir durch diese göttliche Weisung in unserer Natur festgelegt: „gleych wie gott niemandt gepeut, das er man sey oder weyb, ßondern schaffet, das sie ßo müssen seyn, Alßo gepeutt er auch nicht, sich mehren, sondern schafft, das sie sich müssen mehren" (ebd. 276,26-29). Wie Mt 19,12 bezeugt, sind einige Menschen von dieser Weisung ausgenommen, insbesondere diejenigen, die sich enthalten, weil sie „sich selbst dazu unfähig gemacht haben um des Himmelreiches willen". Aber solche Menschen sind selten - „es sind gottis besondere wunderwerck" (ebd. 279,20f.) - , und niemand sollte ohne eine besondere Berufung und Gabe Gottes das monastische Gelübde des Zölibats ablegen. Ohne eine solche Berufung ist ein solches Gelübde reine Torheit - nach Calvin (Inst. IV,13,3) eignet ihm eine „wahnwitzige Dreistigkeit" (vesana audacia) - : „Alßo, das Pfaffen, Münch und Nonnen schuldig sind yhr gelubd tzulassen, wo sie sich finden, das gottis geschöpfte, sich tzu samen und tzu mehren ynn yhn krefftig und tüchtig ist und keyn macht haben, durch eynigen gewallt, gesetz, gepott, gelubd solche gottis geschöpfte an yhn selbst hyndern. Hyndern sie es aber, ßo sey du gewiß, das sie nicht reyn bleyben und mit stummen sunden oder hurerey sich besuddeln müssen. Denn sie vermügen gotis wort und geschöpff an yhn nicht weren, es gehet, wie es gott gemacht hatt" (ebd. 277,21-28). Hier begegnet nicht nur ein Nachhall, sondern eine Verstärkung der bei Thomas ausgesprochenen Achtung vor den - von Luther auf eigene Weise verstandenen - Realitäten der menschlichen Natur; doch sie führt nicht zu einem Angriff auf die Ehelosigkeit an sich: „Denn ich will damit die jungferschafft nicht verwerffen, noch davon tzum ehlichen leben reytzen. Ein iglicher fare, wie er kan und sich fület, das yhm geben ist von gott" (ebd. 3 0 2 , 5 - 7 ) . Dennoch führt Luthers Lob der Ehe - nicht nur als im Grunde biologische Notwendigkeit, der man sich nur unter großer Gefahr für seine Moral (und Gesundheit) entzieht, sondern auch als höchst ehrenwerte Einrichtung (wenn auch nicht
Sexualität II
204
als Sakrament) - ihn dazu, die traditionelle Rangfolge der beiden Stände umzukehren: Wenn der ehelose Stand gut ist, dann, weil er dazu befähigt, Gottes Wort besser zu predigen und zu beachten. „An yhm selber aber ist er viel geringer" (ebd. 302,15) als die Ehe. Was die Ehe so auszeichnet, ist, daß sie eine Form der Lebensführung darstellt, die Gott wohlgefällt, ebenso wie all die Pflichten und Aufgaben, die mit ihr verbunden sind, von denen keine größer ist als die, Kinder großzuziehen: , , . . . gott [in ihm] frucht gibt unnd befilht auff tzuzihen tzu gottis dienst" (ebd. 301,17f.). Daher gibt Gott der Ehe „die Seelen ynn den schoß ... von eygenem leybe ertzeuget, an welchen sie können alle christliche werck üben. Denn gewißlich ist vater und mutter der kinder Apostel, Bischoff, pfarrer, ynn dem sie das Euangelion kundt machen. Und kurtzlich, keyn grosser, edler gewalt auff erden ist denn der elltern über yhre kinder, Syntemal sie geystliche und welltliche gewallt über sie haben" (ebd. 3 0 1 , 2 2 - 2 7 ) . In gewisser Hinsicht stellt dies einen Versuch dar, die Auffassung von der Ehe vornehmlich als „Heilmittel" zu überwinden, obwohl sie das zumindest auch ist; aber in Beziehung zum eigentlichen Geschlechtsverkehr scheint Luther uns von Thomas zu Gregor zurückzuführen: „Unnd das keyn ehepflicht on sund geschieht, aber gott verschonet yhr auß gnaden darumb, das der eheliche orden seyn werck ist und behellt auch mitten unnd durch die sund alle das gutt, das er dareyn gepflantzt und gesegnet hatt" (ebd. 3 0 4 , 9 - 1 2 ) . Das heißt: Luther hat das zweite Element in Augustins Entwurf (d.h. seine Darlegung dessen, was an der menschlichen Sexualität sündhaft ist), dessen Weiterentwicklung das mittelalterliche Bild aus dem Gleichgewicht gebracht hatte, nicht ernsthaft neu durchdacht. Außerdem bleibt sehr bedauerlich, daß Luther in seiner Hinterfragung des dritten Elements (des Vorzugs der Jungfräulichkeit) verständlicherweise die Jungfräulichkeit mit dem Mönchtum verbindet und daher mit dem Vertrauen auf Werke, worauf das Mönchtum seiner Meinung nach beruht. Das muß man zweifellos vor allem Augustin zur Last legen; sein Plädoyer für die Jungfräulichkeit hatte sich hauptsächlich auf ihre künftige Belohnung konzentriert anstatt auf ihre Bedeutung in der Gegenwart. Das führt dazu, daß Luther zwar die Möglichkeit einer Berufung zur Jungfräulichkeit nicht ausdrücklich leugnet, letztlich aber doch nur wenig Interesse an ihr zeigt; das ist der Grund dafür, warum sein Lob von Ehe und Familie so durch und durch weltlich erscheint und die eschatologische Zielrichtung der menschlichen Existenz zurücktreten läßt. Eben diesen Einwand erhob D. —>Bonhoeffer (in seiner Ethik) gegenüber dem späteren lutherischen Umgang mit der Vorstellung von den -»Schöpfungsordnungen überhaupt. Die Hochachtung, die die Reformatoren der Ehe und den Gegebenheiten des Ehelebens entgegenbrachten, ermutigte später ihre Anhänger, dem affektiven Element in partnerschaftlichen Beziehungen eine größere Bedeutung als früher zuzuweisen. So riet z.B. der englische Puritaner William Perkins (1558—1602) von der Ehe ab, wenn der Altersunterschied zwischen den Partnern zu groß ist, weil er fürchtete, das geschlechtliche Begehren könnte nicht angemessen befriedigt werden (Christian Oeconomie, Kingston 1618), während R. —>Baxters Gedenkschrift für seine verstorbene Frau (A Breviate of the Life of Margaret Baxter, London 1681) zwar die Standardargumente gegen die Ehe der Geistlichen wiederholt, aber dennoch ein Verständnis für die Ehe als eine Beziehung bekundet, die emotionale und geistliche Interessen in höchstem Maß und aufs innigste miteinander zu teilen erlaubt. 6. Kierkegaard,
Marx und
Tolstoj
Es sollte jedoch noch bis in die Gegenwart dauern, bis dieses Element der Lehre der Reformatoren weiter ausgeführt und entwickelt wurde. In der Zwischenzeit kam nicht nur in der theologischen Reflexion, sondern auch in der philosophischen und gesellschaftswissenschaftlichen Analyse auf neue und unterschiedliche Weise ein Empfinden für das problembehaftete Wesen der Geschlechtsbeziehung zur Sprache.
Sexualität II
205
6.1. S. —>Kierkegaards Entweder-Oder ist eine Untersuchung des Verhältnisses zwischen Ästhetik und Ethik, das durch A und B, die zwei Pseudonymen Haupt-Autoren, vermittels einer Erörterung von romantischer Liebe und Ehe dargestellt wird. Was diese beiden Ansichten zur Debatte stellen, wird vielleicht am besten in den Abhandlungen von B - er heißt Wilhelm und ist von Beruf Richter - ausgedrückt, der sich daran macht, auf die Argumente von A zu erwidern. Vom Standpunkt von B aus weigert sich A, das echte Entweder/Oder, mit dem uns das menschliche Leben und seine Möglichkeiten konfrontieren, wahrzunehmen, und versucht statt dessen, seine Freiheit dadurch zu bewahren, daß er seine tiefe und ernsthafte Wahl vermittels einer leidenschaftslosen und ironischen Gleichgültigkeit offen läßt, die ihm aber dennoch die Befriedigung seiner Wünsche erlaubt. Obwohl A z. B. behauptet, Das Tagebuch des Verführers, das seinen Abhandlungen beigelegt ist, entdeckt, aber nicht geschrieben zu haben (und sogar behauptet, es ziemlich abstoßend zu finden), ist es eine echte Ausarbeitung des Verständnisses von Erotik, wie A sie vertritt: daß die Erotik nur im Moment der Verführung bestehen und keine bleibende Form haben könne und durch jegliche ethische Erwägung völlig zerstört werde. Gegen die leichtfertige Erotik des Ästheten setzt nun B „die ästhetische Gültigkeit der Ehe"; das heißt nicht, daß das Ethische, die Ehe, zur ästhetischen Ansicht in Widerspruch stehe, sondern daß es in Wahrheit die notwendige Bedingung für wahrhaften Genuß und die Verwirklichung des Ästhetischen liefere. Die ironische Distanz des Ästheten, durch die er sich seine Freiheit zu erhalten sucht, hält ihn in Wahrheit davon ab, sich der Möglichkeiten bewußt zu werden, die jeweils nur durch eine eindeutige Wahl ergriffen werden können: ganz konkret im Fall der Liebe die Möglichkeit, daß ihre Unmittelbarkeit ein Dasein in der Zeit erhält durch die Eheschließung, die das Erotische nicht gefährdet, sondern verklärt. „Und laß uns denn ein für allemal die Rechnung aufmachen", schreibt B. „Ihr sprecht so viel von der erotischen Umarmung, was ist sie gegen die eheliche. Welch ein Reichtum der Modulation liegt nicht in dem ehelichen ,nein', verglichen mit dem erotischen; es tönt nicht allein wider in der Ewigkeit des verführerischen Augenblicks, nicht allein in der illusorischen Ewigkeit des Bewußtseins, der Ewigkeit der Ewigkeit" (Kierkegaard, Entweder/Oder: Samlede Vaerker 1 11,54; dt.: GW 2/3, 62). Das verwickelte Netz der Pseudonymität, das Kierkegaard in den Bau dieses Werkes webt, ermöglicht es ihm, seinen eigenen Standpunkt im dunkeln zu lassen; wenn man jedoch annehmen darf, daß Kierkegaard den ethischen Standpunkt dem ästhetischen vorzieht, dann ist es auch durchaus berechtigt zu folgern, daß er die etwas glatte Lösung des erotischen Problems, wie sie von Richter Wilhelm in seiner Ansicht nahegelegt wird, nämlich daß die Ehe als Ausdruck des Ethischen die erste Liebe historisiere, für unbefriedigend hielt. Wir sollten gleich eingangs erwähnen, daß die Predigt, die am Ende der Abhandlung von B abgedruckt ist und die B seinem jungen Freund empfiehlt, uns ebenso gewiß auf ein Problem im Standpunkt von B verweist, wie das Tagebuch des Verführers das Problematische im Standpunkt von A beispielhaft vor Augen führt. Die Predigt kreist um das Thema „des Erbaulichen, welches in dem Gedanken liegt, daß wir Gott gegenüber allzeit Unrecht haben" (Samlede Vaerker 1 11,305; dt.: GW 2/3, 361); in einer äußerst romantisierten (und sogar selbstgefälligen) Darstellung seiner eigenen Ehe nimmt B freilich einen solchen Vorbehalt nicht zur Kenntnis. (Daher bemerkt der Autor auch in der immer noch Pseudonymen Abschließenden unwissenschaftlichen Nachschrift: „Ich denke aber doch, daß der Gerichtsrat - vorausgesetzt, daß ich ihn zu fassen bekommen kann - wenn ich ihm ein kleines Geheimnis ins Ohr flüstere, mir einräumen wird, daß da noch Schwierigkeiten bestehen" [Samlede Vaerker VII,151; dt.: GW 16,172]). Überdies wissen wir aufgrund der qualvollen Geschichte von Kierkegaards Verlobung und ihrer Auflösung, daß er die Ehe nicht ganz so als absolute Antwort akzeptierte, als die B sie hinstellte. So lesen wir in seinen Papirer (X/4, A 324): „Was man eigentlich verliebt nennt, hat doch Luther gewiß nicht sein können" (Tagebücher V, 25). Der Zweck seiner Heirat, mutmaßte Kierkegaard, sei „dazu bestimmt [gewesen], zum Trotz zu geschehen gegen Satan, den Papst und die ganze Welt. ... Umgekehrt könnte jemand sagen: mein liebes Mädchen, daß ich dich nicht heirate, darf dich nicht betrüben, du bist und bleibst doch in meinen Augen die einzige Geliebte; aber es geschieht Satan, Publikum, den Zeitungen, dem ganzen 19. Jahrhundert zu Trotz, daß ich mich nicht verheiraten kann" (ebd. 25f.). Die Frage, die das Motto von Entweder-Oder stellt „Ist denn die Vernunft allein getauft, sind die Leidenschaften Heiden?" - , scheint also so beantwortet zu werden, daß die Leidenschaften gerade die Taufe benötigen, oder anders ausgedrückt, daß die Ehe nur dann richtig verstanden und gewertet wird, wenn die Kategorie des Religiösen mit ins Spiel gebracht wird, eine Kategorie, die die Grenzen des Ethischen aufzeigt, genauso, wie das Ethische die Grenzen des Ästhetischen aufgezeigt hat.
6.2. Die Vorbehalte gegenüber der bürgerlichen Ehe, die in Entweder-Oder
angedeutet
sind, werden in den Schriften von Kierkegaards jüngeren Zeitgenossen K. M a r x und F. Engels ( — » M a r x / M a r x i s m u s ) deutlicher ausgedrückt und in einen größeren theoretischen R a h m e n gefaßt.
206
S e x u a l i t ä t II
In Das Kapital stellt M a r x fest: „ D i e Bedingungen der Produktion sind zugleich die Bedingungen der R e p r o d u k t i o n " ( M a r x , Kapital 5 9 1 ) . M i t „ R e p r o d u k t i o n " will M a r x nicht den biologischen Vorgang der Fortpflanzung der M e n s c h h e i t verstanden wissen, sondern den Vorgang, durch den eine Gesellschaft einen Teil ihrer Produkte wieder in Produktionsmittel zurückverwandelt. Spätere K o m m e n t a t o r e n bemerkten freilich, daß, selbst wenn M a r x in diesem Z u s a m m e n h a n g nicht behaupten wollte, was der Satz zu bedeuten scheint, wenn man ihn aus dem Z u s a m m e n h a n g reißt - daß nämlich die menschliche R e p r o d u k t i o n eine geschichtlich bedingte spezifische Verfahrensweise und spezifische Eigenschaften hat und daß diese Verfahrensweise und diese Eigenschaften eine Abspiegelung oder Funktion des Standes der Produktionsmittel sind - , er anderswo eben doch genau das behaupten wollte. D a s heißt, daß das Konzept, das M a r x und Engels zum ersten M a l v o l l k o m m e n deutlich in Die deutsche Ideologie entwarfen, auch auf die Familie und das Sexualleben a n w e n d b a r sein muß. D o r t hatten sie behauptet: „ N i c h t das Bewußtsein bestimmt das Leben, sondern das Leben bestimmt das B e w u ß t s e i n " ( M a r x / E n g e l s , Ideologie 27) - wobei mit „ L e b e n " k o n k r e t das wirtschaftliche Leben gemeint w a r , wie es sich in der Organisation der Produktionsmittel ausdrückt. S o machten sie sich d a r a n , die verschiedenen Verhältnisse innerhalb des gesellschaftlichen Z u s a m m e n l e b e n s als etwas zu verstehen, was mit den verschiedenen Produktionsweisen zusammenhängt und von ihnen geschaffen wird. Sie stellten fest: „ E s ist überhaupt nicht von ,der' Familie zu s p r e c h e n " (ebd. 164), und verfolgten bei dieser Einsicht sowohl an dieser Stelle wie auch in späteren Werken (wie z . B . Engels' einflußreichem Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staats) das Wesen der Familie in ihren Erscheinungsweisen von K o m m u n e , feudaler und bürgerlicher Gesellschaft. Im Kommunistischen Manifest lesen wir: „ D i e Bourgeoisie kann nicht existieren, ohne die Produktionsinstrumente, also die Produktionsverhältnisse, also sämtliche gesellschaftlichen Verhältnisse fortwährend zu r e v o l u t i o n i e r e n " ( M a r x , M a n i f e s t 465). Für die soziale R e v o l u t i o n , die auf die Revolution der Produktion erfolgt, gelte: „ D i e Bourgeoisie hat dem Familienverhältnis seinen rührend-sentimentalen Schleier abgerissen und es auf ein reines Geldverhältnis zurückgef ü h r t " (ebd.). Unter den Bedingungen der bürgerlichen Wirtschaftsordnung, heißt es, werde die E h e zum Schauplatz menschlicher Entfremdung, in dem die Frau als „ein bloßes Produktionsins t r u m e n t " angesehen werde (ebd. 4 7 8 ) , und die Beziehung zwischen Ehegatten diene der Ausbeutung und der Unterdrückung. N u r mit der Freiheit und Gleichheit in den sozialen Verhältnissen, wie sie sich im K o m m u n i s m u s durchsetzen werden, werde die Beziehung zwischen den Geschlechtern eine freie und damit auch echte Liebesgemeinschaft ermöglichen. O b w o h l M a r x und Engels das Wesen der Familie und des Sexuallebens prinzipiell unter dem Gesichtspunkt seiner entscheidenden Prägung durch die wirtschaftlichen Verhältnisse untersuchten, so waren sie diesbezüglich doch nicht völlig konsequent. Kritiker haben mit R e c h t einen gewissen „ N a t u r a l i s m u s " in ihrem D e n k e n über Familie und die Beziehungen zwischen den Geschlechtern beanstandet, vermittels dessen einige G r u n d m u s t e r des gesellschaftlichen Lebens eher unkritisch als im wesentlichen von der N a t u r und nicht von der G e s c h i c h t e bestimmt behandelt werden. O b w o h l M a r x im Kapital beispielsweise behauptet: „ E s ist natürlich ebenso albern, die christlich germanische F o r m der Familie für absolut zu halten als die altrömische F o r m , oder die altgriechische, oder die o r i e n t a l i s c h e " ( M a r x , Kapital 5 1 4 ) , so scheint er an anderen Stellen ganz einfach anzunehmen, die M o n o g a m i e werde sich auch im K o m m u n i s m u s durchsetzen. Ähnlich behauptet Engels, daß „die Geschlechtsliebe ihrer N a t u r nach ausschließlich i s t " (Engels, Ursprung 82). M a n k ö n n t e nun argumentieren, daß es genau dieser Naturalismus in bezug auf sexuelle Beziehungen ist, in dem Engels' und M a r x ' O p t i m i s m u s hinsichtlich der sexuellen Beziehungen im K o m m u n i s m u s begründet ist, ein O p t i m i s m u s , den sie mit Sicherheit für utopisch und unwissenschaftlich halten würden, wenn sie ihn in denjenigen F o r m e n des Sozialismus anträfen, die sie an anderer Stelle kritisieren. Überdies haben feministische K o m m e n t a t o r e n sich nicht nur darüber beschwert, wie bereitwillig M a r x und Engels sich einem solchen Naturalismus hingaben, sondern auch darüber, wie unproblematisch sie Geschlechtsfragen als b l o ß sekundär im Vergleich mit Fragen der W i r t schaftsordnung ansahen. 6.3.
W ä h r e n d K i e r k e g a a r d , M a r x u n d E n g e l s d i e s e x u e l l e n B e z i e h u n g e n , w i e sie s i c h
i h n e n d a r s t e l l t e n , als h ö c h s t p r o b l e m a t i s c h b e t r a c h t e t e n , s o s u c h t e n sie d e n n o c h
auf
unterschiedliche Weise n a c h ihrer B e f r e i u n g ; - > T o l s t o j s völlig trostlose A n a l y s e d a g e g e n scheint eine s o l c h e M ö g l i c h k e i t n i c h t e i n z u r ä u m e n . Seine d ü s t e r e S c h l u ß f o l g e r u n g lautet: „ E i n e c h r i s t l i c h e E h e k a n n es n i c h t g e b e n u n d h a t es a u c h nie g e g e b e n ,
ebensowenig,
w i e es j e m a l s e i n e n c h r i s t l i c h e n G o t t e s d i e n s t ( M a t t h ä u s 6 , 5 - 1 2 ; J o h a n n e s 4 , 2 1 ) , c h r i s t liche L e h r e r u n d V ä t e r ( M a t t h ä u s 2 3 , 8 - 1 0 ) , christliches E i g e n t u m , eine christliche Streitm a c h t , ein c h r i s t l i c h e s G e r i c h t o d e r e i n e n c h r i s t l i c h e n S t a a t g e g e b e n h a t o d e r g e b e n k a n n . S o ist d i e s a u c h i m m e r v o n d e n w a h r e n C h r i s t e n d e r e r s t e n u n d
nachfolgenden
207
Sexualität II
Jahrhunderte verstanden worden" (Tolstoj, Nachwort 270). Das Evangelium verlangt von jedem absolute Keuschheit - womit er Enthaltsamkeit meint - , und wenn Geschlechtsverkehr in der Ehe überhaupt stattfinden soll, so nur zum Zweck der Kinderzeugung: Die Partner sollten „gemeinsam danach streben, sich von der Verführung zu befreien, sich zu läutern und von der Sünde abzulassen, die Beziehungen lösen, die dem allgemeinen und dem speziellen Dienst an Gott und den Menschen im Wege stehen, die sinnliche Liebe durch die reinen Beziehungen zwischen Schwester und Bruder ersetzen" (ebd. 274). Alles andere stehe im Widerspruch nicht nur zu den Geboten des Evangeliums, sondern auch zu unserem Verstand sowie zu Gesundheit und Wohlbefinden der Menschen. Wir sollten anmerken, daß Tolstojs Interpretation des Neuen Testaments nicht nur durch seine Kenntnis des Gedankenguts der Shaker untermauert wurde, sondern auch derjenigen verschiedener medizinischer Handbücher aus Amerika, die zur sexuellen Zurückhaltung rieten. Das Ausmaß seines tiefen Zweifels an der Ehe wird in zwei Kurzgeschichten deutlich, die seine Auffassung dramatisch umsetzen; in beiden mündet das, was für Tolstoj „eine Duldung der Unreinheit" war, in eine Tragödie, die sich unausweichlich zuspitzt. In seiner viel gelesenen Kreutzersonate führt die zügellose Sinnlichkeit in einer Ehe zunächst zur Untreue und dann zum M o r d . In Der Teufel übt die gesellschaftlich akzeptierte sexuelle Beziehung zwischen Herr und Magd vor der Ehe des ersteren - eine sexuelle Beziehung, die nach der Heirat ganz und gar nicht einfach vergessen wird - eine so starke und verunsichernde M a c h t auf den M a n n aus, daß er die Situation nur durch Selbstmord lösen kann.
Augustin wäre diese Wiederaufnahme des asketischen Zweifels an der Ehe durchaus bekannt vorgekommen. Um auf das dreifache Muster seiner Analyse zurückzukommen, so haben wir bei Tolstoj die Betonung der Überlegenheit der Jungfräulichkeit und der Sündhaftigkeit menschlicher Geschlechtsbeziehungen, wobei das zweite Thema der Ausführungen Augustins, nämlich die Ehe als Gut, völlig verworfen wird. Doch verhilft die Radikalität der Sicht Tolstojs dazu, das Gespür für das problembehaftete Wesen der Geschlechtsbeziehung zu schärfen, das bei Kierkegaard und M a r x weniger eindringlich zur Sprache kommt; dieses Gespür trug mit dazu bei, das im 20. J h . auf protestantischer wie auf römisch-katholischer Seite unternommene gründliche Überdenken des Augustinischen Entwurfs wachzurufen. 7. Neuere
römisch-katholische
und protestantische
Entwicklungen
7.1. Während bei Augustin und T h o m a s von Aquino allein die Fortpflanzung als legitimer Zweck ehelichen Geschlechtsverkehrs anerkannt wurde (wenn auch der Verkehr um der Befriedigung der sexuellen Begierde willen nur eine läßliche Sünde war), so haben römisch-katholische Moraltheologen in zunehmendem M a ß akzeptiert, daß Geschlechtsverkehr eigentlich der Förderung und dem Ausdruck ehelicher Liebe dient. In der Enzyklika Casti Connubii vom 31. Dezember 1930 spricht —»Pius X I . von der „Förderung der gegenseitigen Liebe" (mutuus fovendus amor) als einem der „Zwecke zweiter O r d n u n g " in der Ehe, während die Fortpflanzung der vornehmliche Zweck sei, dem die zweitrangigen untergeordnet sind (Pius X I . , Casti Connubii 561 = DH 3718). In der Pastoralkonstitution Gaudium et Spes des Zweiten Vatikanischen Konzils (->Vatikanum II) werden die hierarchisch geordneten vornehmlichen und zweitrangigen Güter bzw. Zwecke der Ehe nicht erwähnt; statt dessen wird - mit der Feststellung, daß die Liebe zwischen Ehemann und -frau „durch den eigentlichen Vollzug der Ehe in besonderer Weise ausgedrückt und verwirklicht" wird (Gaudium et spes 49: C O D 3 1102,22f.; dt.: Rahner/Vorgrimler 500) - von den dem Geschlechtsverkehr eigenen Bedeutungen des Vereinens und Fortpflanzens gesprochen und hervorgehoben, daß man beides nicht trennen könne (ebd. 4 8 - 5 0 ) . Diese Sichtweise wird aufgenommen und bekräftigt in -•Pauls VI. Enzyklika Humanae Vitae, in Johannes Pauls II. Apostolischem Mahnschreiben Familiaris Consortio, in Donum Vitae (einer Anweisung der Glaubenskongregation) und im Katechismus der katholischen Kirche, der feststellt: „Durch die Vereinigung der
208
Sexualität II
Gatten verwirklicht sich der doppelte Zweck der Ehe: das Wohl der Gatten selbst und die Weitergabe des Lebens. Man kann diese beiden Bedeutungen oder Werte der Ehe nicht voneinander trennen, ohne das geistliche Leben des Ehepaares zu beeinträchtigen und die Güter der Ehe und die Zukunft der Familie aufs Spiel zu setzen" (Katechismus der katholischen Kirche 597 [Nr. 2363]). Auf der einen Seite liefert die Auffassung, daß man die beiden Bedeutungen oder Werte der Ehe nicht voneinander trennen kann, die Grundlage für die Ablehnung von Verhütungsmitteln und auf der andern die für die Ablehnung künstlicher Befruchtung: Beide trennen auf unterschiedliche Art und Weise die Bedeutungen des Geschlechtsverkehrs, Vereinigung und Fortpflanzung, voneinander. Obwohl diese Entwicklung in der Vorstellung von vornehmlichen und zweitrangigen Zwecken nicht zu radikalen Änderungen in der Praxis der Römisch-katholischen Kirche geführt und sogar die Grundlage für die erneute Verurteilung von Verhütungsmitteln geliefert hat, so stellt sie doch eine Neubestimmung von Augustins Gut der Treue im Sinn von Liebesvereinigung dar. Diese wiederum erlaubt es, in Geschlechtsverkehr und geschlechtlicher Lust nicht so sehr Gegebenheiten zu verstehen, die durch das Gut Ehe gerechtfertigt werden, als vielmehr ihm fest zugehörige Elemente. 7.2. Eine eingehendere und stärker theologisch geprägte Neubewertung des Augustinischen Modells ist implizit in K. —»Barths Ausführungen über die Schöpfungslehre in Bd. III/2 der Kirchlichen Dogmatik enthalten. Von seinem Verständnis der Schöpfung im Licht des Bundes ausgehend, auf den hin sie ausgerichtet ist, stellt Barth fest, man müsse den Menschen als Mitmenschen verstehen: „Humanität, die besondere natürliche Art des menschlichen Seins ist in ihrer Wurzel eben Mitmenschlichkeit. Menschlichkeit, die nicht Mitmenschlichkeit wäre, wäre Unmenschlichkeit, Inhumanität. Wie sie denn auch der Bestimmung des Menschen zu Gottes Bundesgenossen nicht entsprechen, sondern nur widersprechen, wie denn auch Gott, der kein Deus solitarius, sondern der Deus triunus, Gott in Beziehung, ist, sich in einem homo solitarius nicht wiedererkennen könnte" (Barth, KD III/4, 128). Von diesem Menschenbild her gesehen läßt sich die geschlechtliche Differenzierung, die beide Schöpfungsberichte der Genesis betonen, als das geschöpfliche Pendant zur Bestimmung der Menschheit für Gott verstehen, die in Jesus Christus erkannt wird. Wenn der Mensch also wesentlich Mitmensch ist, so ist er das ganz spezifisch und konkret als Mann oder Frau oder, genauer ausgedrückt, als Mann und Frau. Nach Gottes Gebot sollen wir die Unterscheidung und Beziehung ausleben und bekräftigen, in der wir geschaffen worden sind und die auf die Vereinigung Christi mit der Kirche hin ausgerichtet ist, sie bezeugt und von ihr ihre Maßstäbe erhält: „Man muß Beides sagen: der Mensch ist notwendig und ganz Mann oder Frau - und er ist gerade damit und deshalb ebenso notwendig und ganz Mann und Frau. Er kann sich weder von der Unterscheidung emanzipieren und jenseits seiner Bestimmung als Mann oder Frau ,einfach Mensch' sein wollen: er wird nämlich auch in allem gemeinsam Menschlichen faktisch doch immer und überall der menschliche Mann oder die menschliche Frau sein. Noch kann er sich von der Beziehung emanzipieren und also ohne die Frau bloß Mann, ohne den Mann bloß Frau sein wollen: er wird nämlich gerade in und mit allem, was er als Mann für sich hat, auf die Frau und in und mit allem, was die Frau für sich hat, auf den Mann - sie werden beide auf ihre Begegnung, auf ihr Miteinander angewiesen und ausgerichtet sein" (ebd. 129). Ehe und Geschlechtsbeziehungen im Licht dieses Entwurfs zu verstehen bedeutet eine entscheidende Veränderung des von Augustin gezeichneten Bildes - eine Veränderung, die sich von der im neueren römisch-katholischen Denken vollzogenen grundsätzlich unterscheidet. Dieses denkt das Natürliche in personalistischer Begrifflichkeit um, d.h. es sieht die Bedeutung der Geschlechtsbeziehung nicht einfach in ihrer Fortpflanzungs-, sondern auch in ihrer vereinenden Kraft oder Eigenschaft und ist daher imstande, Geschlechtsbeziehungen als unproblematisch anzusehen, die für Augustin mit seinem weithin negativen Verständnis des Gutes der Treue wesenhaft fragwürdig waren.
Sexualität II
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Doch für Barth wird das Natürliche nicht sozusagen erweitert durch eine Inbeziehungsetzung zu einer personalistischen Anthropologie; vielmehr wird es radikal umgeformt durch die Behauptung, daß der Bund die Grundlage der Schöpfung ist, und das heißt, daß das natürliche oder geschaffene Gut nicht nur theologisch geortet wird, sondern in sich eschatologisch ausgerichtet ist. So könnte man sagen, daß für Barth das sacramentum der Geschlechtsbeziehung dieser nicht als etwas Zusätzliches anhaftet, sondern als Ureigenes und daß es wesenhaft nicht allein in der Unauflöslichkeit der Ehe besteht, sondern in der Einbindung der Geschlechtsbeziehung in ein Sein in Mitmenschlichkeit oder einen Bund, der auf ein Urbild verweist. Hier hat folglich die Frage einer Bejahung oder Verweigerung der Fortpflanzung nicht länger die zentrale Stelle inne, die sie in der Beschreibung und Näherbestimmung geschlechtlicher Sünde sowohl im Denken Augustins als auch in jüngeren römisch-katholischen Erklärungen hat, wenn sie auch durchaus noch ein Problem darstellt. 8. Gegenwärtige
Kritik
an der
Tradition
Doch wenn es auch Unterschiede zwischen dieser modernen protestantischen Auslegung der Augustinischen Tradition und ihrer Auslegung in der offiziellen Lehre der Römisch-katholischen Kirche gibt, so besteht dennoch Übereinstimmung über das erste Element der Auffassung Augustins, nämlich daß das Gut der Geschlechtsbeziehung als das Gut einer derartigen Beziehung innerhalb der ehelichen Gemeinschaft von Mann und Frau zu verstehen ist. Dieser Punkt wird in letzter Zeit von zwei Seiten kritisiert. Es gibt Stimmen, die zugestehen, daß die Geschlechtsbeziehung im Rahmen einer partnerschaftlichen Bindung stehen soll, dabei jedoch den Standpunkt vertreten, daß eine solche Beziehung nicht auf geschlechtlicher Differenzierung gründen muß, und damit das traditionelle Verständnis der Homosexualität in Frage stellen. Andere behaupten, oft zugleich mit dieser Neueinschätzung der Homosexualität, daß Geschlechtsbeziehungen auch außerhalb einer partnerschaftlichen Bindung gut sein können, und stellen damit die bislang bestehende Lehre in Frage, die auf der biblischen Einschätzung geschlechtlicher Sünden beruht und z. B. Unzucht, Ehebruch, -»Prostitution und Masturbation verbot. Die Infragestellung der Tradition in jüngster Zeit gründet zu einem gewissen Grad auf einem tieferen Verständnis der geschichtlichen Kräfte, die ihre Entwicklung und Umsetzung beeinflußt haben. In einigen Werken wird versucht, ein verständnisvolles Bild von den Einstellungen und Lehrmeinungen des Mittelalters und auch der älteren Zeit zu zeichnen. So versucht Ch. Brooke, etwas von dem zu vermitteln, was er die „Innigkeit und T i e f e " der Eheerfahrung im Mittelalter nennt, wie sie sowohl in der Literatur und Kunst als auch in Quellen des alltäglichen Lebens zur Sprache kommt, um damit den ehrenvollen Platz zu erklären, den mittelalterliche Denker, die gleichwohl in der Ehelosigkeit den besseren Weg sahen, der Ehe zuwiesen. Und P. Brown lädt zu einem einfühlenderen Verständnis für die Hochschätzung der Ehelosigkeit ein, indem er aufweist, wie sehr der von den frühen Christen vom apostolischen Zeitalter bis hin zur Zeit Augustins der geschlechtlichen Entsagung zugewiesene Sinngehalt eine radikale Herausforderung der fest verwurzelten Weltlichkeit ihrer heidnischen Zeitgenossen darstellt, die sich gegen die einlinige und abweisende Vorstellung sperrt, diese Enthaltsamkeit sei Ausdruck eines unbiblischen Dualismus. Was diese und andere Werke jedoch implizit ebenfalls nahelegen, ist, daß die Rede von „der Tradition" zu undifferenziert ist und daß auch da, wo sie gerechtfertigt ist, die Tradition sich auf eine Weise entwickelt hat, die einer einfachen theologischen Rationalisierung trotzt. Z u m ersten Fragenkreis vermitteln z. B. G. Dubys Schriften ein Gefühl für die Vielfalt der Verhaltensweisen und Einstellungen im Mittelalter. Es ist diese Vielfalt, die Theorien ermöglicht, die beanspruchen, überkommene Sichtweisen zu revidieren, wie z. B. die J . Boswells, der behauptet, vor der Mitte des 12. Jh. seien homosexuelle Beziehungen von der Kirche weithin toleriert und von einer reichen und blühenden homoerotischen Literatur besungen worden. Die Vielfalt der
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Belege, die Boswell a n f ü h r t , um die althergebrachten Ansichten in Frage zu stellen, ist beeind r u c k e n d , doch seine Behauptungen haben einer genauen Ü b e r p r ü f u n g durch Historiker, Sozialwissenschaftler u.a. nicht standgehalten. Z u m zweiten Fragenkreis heißt es bei J. Brundage: „ D i e christliche Sexualmoral ist eine komplexe A n s a m m l u n g heidnischer und jüdischer Reinheitsvorschriften, verbunden mit primitiven Ansichten über das Verhältnis zwischen Sexualität und dem Heiligen sowie stoischen Lehren zur Sexualethik und durch ein Flickengewebe aus dogmatischen T h e o r i e n z u s a m m e n g e h a l t e n , die größtenteils im 4. und 5. Jh. erdacht w o r d e n s i n d " (vgl. Brundage 3). Ähnlich liefert J. N o o n a n in seinem m a ß g e b e n d e n Werk eine detaillierte Beschreibung der Entstehung der römisch-katholischen Lehre über die G e b u r t e n k o n t r o l l e und zeigt sehr gut den verschlungenen Weg auf, den die Entwicklung der Ethik und D o g m a t i k zuweilen gegangen ist. Allerdings sollte der T h e o l o g e der Versuchung widerstehen, sich in einer Art von Verzweiflung von der Geschichte a b z u w e n d e n , weil er den Eindruck gewinnt, als hätte die Vielfalt der wirtschaftlichen, sozialen, psychologischen und politischen Kräfte die Ausgestaltung der christlichen Lehre stärker beeinflußt als die Theologie selbst, die das scheinbar nur gelegentlich und unsystematisch getan hat. Selbst wenn die eher skeptischen Historiker zu Recht auf die Vielzahl von Faktoren verweisen, die die ethische Tradition recht oder schlecht m i t g e f o r m t haben, so ist doch nicht zu leugnen, d a ß aus diesen Wurzeln ein theologisch k o h ä r e n t e r und schlüssiger U m g a n g mit den Fragen der Sexualethik entstanden ist. Die historische Forschung mag dazu beitragen, das Denkbild der christlichen Lehre besser zu verstehen und auch kritisch zu sehen; aber sie k a n n nicht davon entbinden, ihren Gehalt und Anspruch auch zu werten.
Die G r u n d l i n i e n d e r b r e i t e n g e g e n w ä r t i g e n D e b a t t e ü b e r die t r a d i t i o n e l l e n christlichen A u f f a s s u n g e n v o n H o m o s e x u a l i t ä t u n d h o m o s e x u e l l e m V e r h a l t e n ist zu einem G r o ß t e i l in d e n A r b e i t e n des A n g l i k a n e r s D.S. Bailey v o r g e z e i c h n e t . Bailey unterzieht eine D e n k t r a d i t i o n einer kritischen Durchsicht, die kennzeichnenderweise eine äußerst kritische H a l t u n g der H o m o s e x u a l i t ä t gegenüber zeigte und die seinerzeit vorherrschende Rechtsauffassung stützte, d a ß freiwillige homosexuelle Beziehungen zwischen Männern strafrechtlich zu verfolgen seien. N a c h Bailey hat diese Tradition in zweierlei Hinsicht ein grundsätzliches M a n k o : Z u m einen h a b e sie dazu tendiert, die Geschichte von Sodom und G o m o r r h a als eine so unzweideutige göttliche Verurteilung homosexuellen Verhaltens aufzufassen, d a ß wir der N o t w e n d i g k e i t einer weiteren ethischen N a c h f r a g e behoben seien; dagegen wendet er ein, daß die Perikope in Wirklichkeit nicht das geringste mit Fragen der Sexualität im allgemeinen oder mit dem Problem homosexuellen Verhaltens im besonderen zu tun habe. Z u m andern wisse die Tradition nichts vom P h ä n o m e n der „ I n v e r s i o n " , der Veranlagung zu gleichgeschlechtlichen sexuellen Neigungen, die biologische, psychologische oder genetische Ursachen haben k a n n . Laut Bailey stellt die E n t d e c k u n g dieser tiefsitzenden und wesenhaft irreversiblen Veranlagung durch die m o d e r n e wissenschaftliche Medizin nicht nur die Bedeutung der traditionellen moraltheologischen Lehre, sondern auch die der Aussagen des Paulus im Römerbrief f ü r die gegenwärtige ethische D e b a t t e in Frage. Bailey w a r natürlich nicht der erste, der sich fragte, ob nicht einige der Texte, die für die Fragestellungen der Sexualethik relevant sind oder zu sein scheinen, mißverstanden worden sind. —•Calvin z. B. e r k a n n t e , d a ß der hebräische Text, in dem davon die Rede ist, d a ß die M ä n n e r von Sodom Lots Gäste zu „ e r k e n n e n " suchten (Gen 19,5), nicht unbedingt eine sexuelle Konnotation haben müsse. Seit Bailey aber hat die kritische H i n t e r f r a g u n g der Texte z u g e n o m m e n und sich vorwiegend auf das C o r p u s Paulinum konzentriert. Laut Boswell, der einen G e d a n k e n Bailevs aufgreift, tragen die Worte des Paulus im Römerbrief (1,26f.) für die ethische Diskussion über homosexuelles Verhalten nichts aus, da „die M e n s c h e n , die Paulus verurteilt, augenscheinlich nicht homosexuell sind: was er a n p r a n g e r t , sind offensichtlich von Heterosexuellen begangene homosexuelle H a n d l u n g e n " (vgl. Boswell 109). A u ß e r d e m b e h a u p t e t er, die Ansicht, I Kor 6,9 und I T i m 1,10 bezögen sich auf homosexuelle Beziehungen, sei abwegig und widerspreche dem patristischen Verständnis der beiden Verse. R. Scroggs meint, Boswell irre sich in bezug auf die beiden genannten Stellen: sie bezögen sich tatsächlich auf homosexuelle Beziehungen, aber auf ganz spezielle. Denn wenn wir verstehen wollen, w a s die beiden Autoren ablehnen, wenn sie die H o m o sexualität ablehnen, müssen wir die kennzeichnende F o r m homosexueller Beziehungen in der seinerzeitigen Kultur kennen. Diese aber w a r die Päderastie; d.h. es handelte sich um Beziehungen mit einem im allgemeinen deutlichen Altersunterschied zwischen den Partnern und völlig verschiedener Rollenverteilung, wie K.J. Dover in seiner Beschreibung der Institution der Päderastie im klassischen Griechenland dargelegt hat. Scroggs argumentiert nun, d a ß päderastische Beziehungen d a m a l s ganz unterschiedlich w a r e n , vom platonischen (d.h. nichtsexuellen) Ideal, das das erzieherische M o m e n t der Verbindung betonte, bis hin zu völlig lustbetonten und unzüchtigen Bezie-
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Hungen, in denen der ältere Partner den jüngeren für seine sexuelle Lustbefriedigung benutzte und der jüngere mitspielte, um finanziellen Profit daraus zu schlagen oder weil er als Sklave keine andere Wahl hatte. Beziehungen der letztgenannten Art wurden zu ihrer Zeit häufig kritisiert, und Scroggs behauptet, es seien diese Beziehungen, gegen die sich die neutestamentlichen Passagen wendeten. Obwohl die Worte des Paulus im Römerbrief eine weitergreifende Deutung zulassen, zieht Scroggs den Schluß, daß Paulus nur die Päderastie gemeint haben könne — oder zumindest, daß wir kein Recht dazu haben anzunehmen, er hätte etwas anderes im Sinn gehabt. Da jedoch die heute zur kirchlichen Diskussion stehenden homosexuellen Beziehungen nicht päderastische Beziehungen seien, die durch Ungleichheit und Mangel an Gegenseitigkeit gekennzeichnet sind, seien die negativen Urteile der Bibel über die Homosexualität für die heutige Debatte belanglos. Während Boswell also die Ansicht vertritt, Paulus verurteile heterosexuelle Perversionen und nicht das, was für Homosexuelle etwas Natürliches ist, so behauptet Scroggs, Paulus lehne lediglich unzüchtige Päderastie ab; keine der beiden neuen Deutungen des Römerbriefs hat jedoch allgemeine Zustimmung gefunden. Gegen Scroggs läßt sich anführen, daß das Urteil des Paulus, homosexuelle Beziehungen seien unnatürlich, am einleuchtendsten und besten als eine allgemeine Beurteilung homosexueller Beziehungen aufzufassen ist, ob sie nun päderastischer oder anderer Natur sind, und nicht lediglich als Äußerung über die Widernatürlichkeit von Beziehungen, die nicht auf Gegenseitigkeit beruhen oder denen ein ausbeuterisches Moment innewohnt. Und gegen Boswell wurde eingewendet, daß Paulus seiner Argumentation im Römerbrief keine speziellen psychologischen Fallstudien zugrunde legt, sondern schreibt, was man eine mythische Geschichte der Sünde nennen könnte. Wenn Paulus herausfände (was er in den Augen Boswells nicht weiß), daß es Menschen gibt, die mit gleichgeschlechtlichen Partnern sexuell verkehren, ohne bewußt oder willentlich ein tatsächliches Verlangen nach dem anderen Geschlecht aufgegeben zu haben, so wäre es doch keineswegs einleuchtend, daß dies sein Urteil über homosexuelles Verhalten ändern würde, das von ihm auch so immer noch und durchaus verständlich als widernatürlich aufgefaßt werden könnte. Tatsächlich dürfte die „Entdeckung", daß manche Menschen gleichgeschlechtliche Beziehungen für vollkommen natürlich halten, sehr gut die von ihm geltend gemachte Vorstellung von einer tiefen moralischen Blindheit stützen, in die der Götzendienst die Nichtjuden geführt hatte. R.B. Hays rückt die von Boswell ausgelösten Irritierungen zurecht. Insbesondere stellt er klar, was der Gedanke des „Natürlichen" hier (und darüber hinaus in einem Großteil der daran anschließenden Diskussion) bedeutet - nämlich nicht einfach das, was tatsächlich in der Natur vorkommt, sondern das, was der Natur der gottgewollten Schöpfung entspricht. Man könnte durchaus den Schluß ziehen, die Intensität der Diskussion über das Verständnis des biblischen Befundes sei letzten Endes größer als ihre Bedeutung gewesen, und einer der einflußreichsten zeitgenössischen Paulusforscher, E.P. Sanders, stimmt einem traditionellen und konservativen Verständnis der in Frage stehenden Texte bei: Nicht nur sei die Wortwahl von I Kor 6,9 „ziemlich eindeutig" und zeige, daß Paulus „jegliche homosexuelle Aktivität mißbilligte", sondern Paulus verurteile in Rom l,26f. auch „männliche wie weibliche Homosexualität rundheraus und unterschiedslos" (Sanders, Paulus 147). Im übrigen wirft die Berufung auf neuere Einsichten, die in der Homosexualität eine nicht der freien Entscheidung unterliegende tiefsitzende Veranlagung sehen, ein weiteres Problem auf. Sie behauptet, daß diese Einsichten ein hermeneutisches Fragezeichen hinter die biblischen Texte setzten, die homosexuelle Beziehungen zu verurteilen scheinen, und daß sie darüber hinaus die diese Verurteilung begründende traditionelle Unterscheidung von natürlich und widernatürlich ins Wanken bringen. O b diese Einsichten so schlüssig sind, wie man annimmt, steht dahin - und auch, ob es wirklich Einsichten sind. So hat etwa M . Foucault behauptet, Homosexualität sei eine Erfindung - womit er meint, daß schon die Erfahrung geschlechtlichen Verlangens in einer bestimmten Erscheinungsweise historisch oder sozial bedingt sei. Im ersten Band seiner groß angelegten, aber unvollendet gebliebenen Geschichte der Sexualität schreibt er: „[Die Sexualität] ist nämlich nicht als eine Naturgegebenheit zu begreifen, welche niederzuzwingen die Macht sich bemüht, und auch nicht als ein Schattenreich, den das Wissen allmählich zu entschleiern sucht. ,Sexualität' ist der Name, den man einem geschichtlichen Dispositiv geben kann. Die Sexualität ist keine zugrundeliegende Realität, die nur schwer zu erfassen ist, sondern ein großes Oberflächennetz, auf dem sich die Stimulierung der Körper, die Intensivierung der Lüste, die Anreizung zum Diskurs, die Formierung der Erkenntnisse, die Verstärkung der Kontrollen und der Widerstände in einigen großen Wissens- und Machtstrategien miteinander verketten" (Foucault I, 127f.). (Es sei vermerkt, daß Foucault damit weitaus radikaler ist als Marx, dessen Glaube an die gesellschaftliche Bestimmtheit der Sexualität von einer Dialektik der Befreiung eingeschränkt wird.) Von dieser Warte aus gesehen ist der Versuch, die Homosexualität durch einen Verweis auf die Erfahrung als etwas Natürliches hinzustellen, ebenso abwegig wie der Versuch, irgendeine andere Konkretisierung von Verlangen durch ähnliche Verweise als natürlich zu erweisen - es gibt lediglich verschiedene Weisen, menschliches Verlangen zu organisieren und gestalten, von denen
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aus dieser Sicht keine eine Vorrangstellung in Anspruch nehmen kann. Wenn Foucault recht hat, können die von der christlichen Theologie verwendeten Kategorien des Natürlichen und Unnatürlichen, wie immer man sie auffassen mag, vernünftigerweise nicht nach einer empirischen Rechtfertigung verlangen: doch es ist beileibe nicht eindeutig, daß diese Kategorien bei Paulus auf diese Weise verwendet werden. W i e bereits gezeigt wurde, werden sie mit Sicherheit so nicht von Barth verwandt; für ihn bedeutet das Erkennen der Schöpfung in erster Linie Erkennen in Jesus Christus und damit die Erkenntnis, daß wir für den Bund erschaffen worden sind. Im Licht dieser Erkenntnis wird die symbolische Bedeutung, welche das Alte und Neue Testament der Verbindung zwischen M a n n und Frau beilegen, für uns verständlich: die Bestimmung des Mannes für die Frau und der Frau für den M a n n ist die geschöpfliche Entsprechung der Bestimmung der Menschheit für Gott. Damit ist die Frage, die sich für aktuelle Versuche einer Rechtfertigung homosexueller Beziehungen stellt, nicht, ob jemand homosexuelles Verlangen für natürlich hält, sondern vielmehr, ob es so auf der Grundlage einer theologischen Anthropologie oder Schöpfungslehre gewertet werden kann, die weder die Tatsache geschlechtlicher Differenzierung einfach außer acht läßt noch die Bedeutung, die die Bibel ihr offenbar beimißt. D e r implizite D u a l i s m u s vieler z e i t g e n ö s s i s c h e r R e c h t f e r t i g u n g e n h o m o s e x u e l l e n Verh a l t e n s d r ü c k t sich a u c h in d e r a l l g e m e i n e r e n T h e s e aus, d a ß j e d w e d e g e s c h l e c h t l i c h e Beziehung o d e r H a n d l u n g a n n e h m b a r ist, solange sie v o n Liebe b e s t i m m t ist o d e r , n o c h radik a l e r , n i e m a n d e m S c h a d e n z u f ü g t . E s ist s c h w e r einzusehen, w i e eine s o l c h e T h e s e den A n s p r u c h e r h e b e n k a n n , der S c h ö p f u n g s l e h r e R e c h n u n g zu t r a g e n , w e n n n i c h t d a s W e s e n u n s e r e r H a n d l u n g e n , s o n d e r n n u r u n s e r e A b s i c h t bei ihrer A u s f ü h r u n g o d e r die W i r k u n g e n , die sie zeitigen, als w e s e n t l i c h für eine m o r a l i s c h e B e w e r t u n g a n g e s e h e n w e r d e n . D i e s e S c h w i e r i g k e i t w o h n t d e r r a d i k a l e r e n T h e s e inne, a b e r a u c h eine z u s ä t z l i c h e , denn i r o n i s c h e r w e i s e sieht es s o a u s , als d r o h e sie — w e n n a u c h in v e r ä n d e r t e r W e i s e — g e n a u d a s M a n k o w i e d e r e i n z u f ü h r e n , d a s d e r A u g u s t i n i s c h e n T r a d i t i o n a n h a f t e t e , n ä m l i c h ihr U n v e r m ö g e n , die m e n s c h l i c h e B e d e u t u n g g e s c h l e c h t l i c h e n V e r l a n g e n s und g e s c h l e c h t l i c h e r L u s t a u s z u m a c h e n . D a s heißt, w e n n A u g u s t i n die m e n s c h l i c h e B e d e u t u n g dieses Verl a n g e n s u n d dieser L u s t n i c h t völlig v e r s t e h e n k o n n t e , so h a b e n sich einige s e i n e r m o d e r n e n K r i t i k e r d i e s e m P r o b l e m n i c h t m i t e i n e m F o r t s c h r e i t e n über A u g u s t i n h i n a u s gestellt, sondern haben erklärt, es sei g a r kein P r o b l e m . Geschlechtliches Verlangen u n d geschlechtliche L u s t sollen n i c h t in ein tieferes V e r s t ä n d n i s für d a s W o h l u n d G e d e i h e n d e s M e n s c h e n e i n g e b e t t e t , s o n d e r n s t a t t d e s s e n t a t s ä c h l i c h n u r als u n s c h u l d i g e k ö r p e r l i c h e F u n k t i o n e n b e h a n d e l t w e r d e n , die u n a n g e m e s s e n e r w e i s e einer b e s t i m m t e n m o r a l i s c h e n W e r tung u n t e r w o r f e n w e r d e n . D a s aber bedeutet - und Augustin hätte das k l a r e r k a n n t - , die m e n s c h l i c h e S e x u a l i t ä t v o l l k o m m e n a u s d e r H e i l s g e s c h i c h t e a u s z u k l a m m e r n , in die sie g e h ö r t u n d in b e z u g a u f die sie ihre B e d e u t u n g und ihren M a ß s t a b g e w i n n t . Quellen Aelred v. Rivaulx, De Spiritali Amicitia: C C h r . C M 1 (1971). - Augustinus v. H i p p o , Contra Faustum: C S E L 25,2 (1892). - Ders., D e bono conjugali: C S E L 41 (1900) 1 8 5 - 2 3 1 . - Ders., De bono viduitatis: ebd. 3 0 3 - 3 4 3 . - Ders., D e civitate Dei: CChr.SL 4 7 / 4 8 (1955). - Ders., De adulterinis conjugiis: C S E L 41 (1900) 3 4 5 - 4 1 0 . - Ders., De Genesi ad litteram: C S E L 2 8 , 1 (1894). Ders., De nuptiis et concupiscentia: C S E L 42 (1902). - Ders., Retractationes: C C h r . S L 57 (1974). - Ders., De sancta virginitate: C S E L 41 (1900) 2 3 3 - 3 0 2 . - Karl Barth, KD. III. Die Lehre v. der Schöpfung, 4. 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Sexualität III
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III. Praktisch-theologisch 1. Problemhorizont 2. Sexualität als Fruchtbarkeitsritus und dessen patriarchale Zerstörung 3. Die Frage nach dem wahren Geschlecht? 4. Wie homosexuell darf der Mensch sein? 5. Sexualität und Geschlechterdifferenz 6. Definitions-und Gestaltungsversuche (LiteraturS. 219) 1.
Problemhorizont
Sexualität spielt(e) in allen Kulturen und Religionen eine elementare Rolle und war „natürlicher" Bestandteil, indem mit ihren ekstatischen, ritualisierten, asketischen Formen Erfahrung von Transzendenz und Göttlich-Heiligem verbunden wird, angefangen bei entsprechenden Schöpfungserzählungen (-»Schöpfer/Schöpfung) bis zu endzeitlichen Paradiesvorstellungen, z. B. im Islam (Parrinder 186ff.; Das Hohelied 81ff.; Sexualität [1984]; Sexualität [1995]; vgl. Trible; Baudler; Mernissi). Der Islam schätzt einerseits Sexualität als Geschenk und Aufgabe Allahs hoch ein, andererseits werden in manchen Bewegungen/Schulen unter Berufung auf den Koran Frauen sexuell entmündigt und verstümmelt z. B. durch Beschneidung der Klitoris. Im Christentum überwogen bei aller Differenziertheit Leib- und Lustfeindlichkeit (in Anknüpfung an Gen 3 und Paulus; vgl. Tiedemann) bis hin zu klösterlichem Keuschheitsgelübde, Zölibat, Selbstkastration (z. B. des -»Origenes). Unterschwellig blieben Sexualität und Erotik als Schöpfungsteilhabe wach, tradiert durch z. B. Frauen im Mittelalter, in manchen mystischen Strömungen, durch —»Luther und überhaupt die Renaissance (z.B. der 1525 gedruckte und sofort verbrannte Erotik-Klassiker l Modi des Pietro Aretino [ 1 4 9 2 1556]), den Pietismus um Graf -»Zinzendorf (dazu Pfister) u.a., mit dem Anliegen, sexuelle Liebe und die Begegnung mit Gott/Göttin nicht zu trennen, sondern als Ineinander von heiliger und profaner Sexualität/Erotik darzustellen (Ringeling 133ff.; Josuttis 11 ff.; Schottroff; Solle). S e x u a l i t ä t als M ö g l i c h k e i t einer sexuellen Beziehung ist eine neuzeitliche E r f a h r u n g und K o n s t r u k t i o n des „westlichen M e n s c h e n " (so wie der M e n s c h als „ P e r s ö n l i c h k e i t " ein K o n s t r u k t der Neuzeit ist). Als der neuzeitliche M e n s c h aus seiner s c h ö p f u n g s - und erlösungstheologischen B e s t i m m u n g innerhalb des K o s m o s - R a u m e s und der Heilsgeschichte heraustrat, um eigenständig seine G o t t e b e n b i l d l i c h k e i t zu v e r w i r k l i c h e n , da wurde er sich e b e n s o seiner selbst als einer erotischen und sexuellen P e r s o n b e w u ß t (bes. R o m a n t i k ) (Laqueur; vgl. T a y l o r , Kulturgeschichte 32ff.). E r entzog seine S e x u a l i t ä t den öffentlich-gesellschaftlichen (bürgerlichen) N o r m e n und dem kirchlich verordneten R e p r o d u k t i o n s z w a n g i n n e r h a l b der —»Ehe ( - » F a m i l i e ) und k o n n t e als M a n n seine sexuellen Bedürfnisse als seine privaten Gestaltungsweisen von S e x u a l i t ä t in der Kleinfamilien-Ehe reklamieren. Theologen wie D. —»Bonhoeffer haben diese Trennung von Sexualität und Schwangerschaft innerhalb der Ehe ethisch legitimiert: „Die Geschlechtlichkeit ist nicht nur Mittel zur Fortpflanzung, sondern trägt innerhalb der Ehe ihre Freude unabhängig von dieser Zweckbestimmung in der Liebe zweier Menschen zueinander" (Bonhoeffer, Ethik, 1992 [DBW 6] 182; vgl. K. Barth, KD, III/4 1951, 127ff.). Man kann diese Herauslösung der Sexualität aus dem Schwangerschaftsdiktat lesen als theologische Formulierung der Kultur der Moderne in ihrer Transformation von Transzendenzerfahrung auf den Bereich der Erotik und Sexualität in einer „irdischen Nachreligion der Liebe zu zweit" (Beck/Beck-Gernsheim 222ff.). Allerdings ist die Überwindung des ehelichen Monopols auf gelebte Sexualität kirchlich wie theologisch umstritten, wobei AIDS zum Teil zur Restauration instrumentalisiert wird (Ringeling 133ff.; Josuttis 114ff.). Die von der 68er-Studentenbewegung propagierte sexuelle Freizügigkeit (Liberalisierung) wurde als „sexuelle Revolution" verstanden: das leibliche Begehren existierender Individuen wurde als Befreiungsträger thematisiert (Körperkunst, Performance usw.). Einerseits wurde darin zu Recht eine Lockerung des ehelichen Sexualmonopols auf vor- und außereheliche Sexualität hin gesehen;
S e x u a l i t ä t III
215
Selbstbefriedigung wurde als sexuelle Möglichkeit der Selbstentdeckung von M ä n n e r n wie auch von Frauen praktiziert; die verhütende Pille vermochte (neben Kondom, Spirale u.a.) Lusterfahrung ohne Folge einer Schwangerschaft zu bringen. Andererseits scheinen Frauen über diese Befreiung für M ä n n e r verfügbarer zu sein, und die körperlich-sexuelle Sozialisation für Frauen bleibt gerade weiterhin verdeckt. Fast zur selben Zeit trat ein eigenständiger feministischer Diskurs über das Subjektsein auf der Ebene der Gleichberechtigung (Menschenrechte) und entsprechender Sexualität in Erscheinung. Mit der „ E n t z a u b e r u n g " der Welt gerät ebenso die männliche Konstruktion von Sexualität und Geschlechterbeziehung in eine Orientierungskrise (z.B. bereits Wiener M o d e r n e mit R o b e r t Musil [1880-1942], Arthur Schnitzler [1862-1931], S. -«-Freud; vgl. Nitzschke). Das sexuell besetzte „ewig Weiblich-Mütterliche" wird zum „ v e r z a u b e r n d e n " Substitut religiöser Erfahrung: Frau als Heilige oder (und) H u r e , als säkularisierte Maria oder (und) Eva? I m Z u g e d e r n e u z e i t l i c h e n I n d i v i d u a l i s i e r u n g l ö s e n sich b i s l a n g f e s t e R o l l e n d e r E h e p a r t n e r und die D o m i n a n z der Ehe gegenüber anderen L e b e n s f o r m e n pluralisierend auf (Single, P a a r e o h n e T r a u s c h e i n , A l l e i n e r z i e h e n d e , W o c h e n e n d p a r t n e r s c h a f t u s w . ; vgl. M e y e r / S c h u l z e ; G e r n a n d t ) . Die Beteiligten m ü s s e n ihre Rollen einschließlich der Sexual i t ä t s t ä n d i g n e u a u s h a n d e l n . D a s „ g a n z n o r m a l e C h a o s d e r L i e b e " s c h l i e ß t in d e r R i s i k o und Erlebnisgesellschaft das gemeinsame Erfinden, Beleben, Wiederholen, Verändern sexuellen U m g a n g s ein. Die m u l t i o p t i o n e l l e Sexualität w i r d s o w o h l d u r c h M e d i e n f ü r alle v e r ö f f e n t l i c h t als a u c h d e r I n t i m s p h ä r e z u r e i g e n e n E n t s c h e i d u n g u n d R e a l i s i e r u n g ü b e r l a s s e n - e i n l a d e n d u n d zugleich z w a n g h a f t , Sex h a b e n u n d exhibitionistisch e t w a in T a l k s h o w s d a r ü b e r r e d e n zu m ü s s e n ( S c h m i d t / S t r a u ß 1 7 f f . 2 1 2 f f . ) . Solche Sexualität gerät in eine ständig zu vollziehende Ambivalenz von Zärtlichkeit und Gewalt, E n t h e m m u n g und Leistung, von Gegenseitigkeit und Hierarchie, von Lieben und Verstoßen, von Obszön-Obsessivem und A n g e p a ß t - N o r m a l e m , von experimenteller Sexualität und Pornographie, von gelebter Sexualität und Voyeurismus. Sexualität wird zur Chance der Selbstinszenierung und G e f a h r des Selbstverlustes, zur Lebenserfüllung und zum immer häufiger pornographisch-verbrecherischen G e w a l t a k t , zum Erlebnis von Eros und T h a n a t o s (so d a ß z. B. Grabstätten mit obszönen Figurationen versehen sein können). Mit sexuellen Ängsten und sadistisch-obsessiven Projektionen können heterosexuelle M ä n n e r immer weniger umgehen, je deutlicher sexuelle Selbstbestimmung besonders von heterosexuellen Frauen und Homosexuellen w a h r g e n o m m e n wird. Der Ruf nach Aphrodisiaka und Viagra läßt Sexualität eher unter Leistung und Tauschhandel erscheinen als unter schöpferischem Lebensexperiment der erotischen W a h r n e h m u n g des Anderen (Schmidt/ Strauß 8ff.; Sexuelle Störungen und ihre Behandlung 16ff.), wie auch die gesellschaftskritische Theorie von der kapitalistischen Bestimmtheit von Sexualität feststellt. Es b l e i b t d i e F r a g e n a c h d e m O r t d e r E r o t i k u n d S e x u a l i t ä t in d e r „ Z w e i t e n M o d e r n e " ( P o s t m o d e r n e ) , n e b e n der Kunst: vital, b e f r e i e n d , s c h ö p f e r i s c h , heilig u n d zugleich (oder) a n s t ö ß i g , s u b v e r s i v , v e r b o t e n , b ö s e , s ü n d h a f t - g e n a u in d e r s e l b e n A m b i v a l e n z w i e d a s H e i l i g e in s e i n e r N ä h e z u m A u s g e g r e n z t - V e r b o t e n e n u n d d e r T o d in s e i n e r N ä h e z u m Jungfräulichen. Wenn das männliche Heilige (Gott) tot ist (—»Nietzsche), kehrt dann das Heilige als Weibliches ein, oder fordert die (Post-)Moderne gegen jedes „essentialistische" Verständnis von Sexualität die völlige „konstruktivistische" T r a n s f o r m a t i o n des männlich wie weiblich Heiligen in eine „ N a c h religion der Liebe zu zweit", sogar über die „Geschlechterdifferenz" hinaus (List, Präsenz 182ff.)? Anläßlich des 14. Internationalen Soziologenkongresses in M o n t r e a l 1998 w u r d e die „klassische männliche Sexualität" (Leistung, Befriedigung, Koitus usw.) als „ A u s l a u f m o d e l l " bezeichnet gegenüber einer emanzipatorischen Mutter-Frauen-Sexualität der Zärtlichkeit. Statt „ h a r t e m " Sex oder „ Z w a n g zur sexuellen H ä r e s i e " eine neue „soft-Sexualität"? 2. Sexualität
als Fruchtbarkeitsritus
und
dessen
patriarchale
Zerstörung
Sehen wir einmal davon ab, o b es je M a t r i a r c h a t e gegeben hat, so können wir doch auf MythenVariationen der Heiligen Hochzeit einer dreigestaltigen M u t t e r - G ö t t i n zurückgreifen, die in jedem Frühjahr sich als Schwester-Geliebte mit ihrem Heros-Geliebten (Bruder) zur Z e u g u n g eines SohnKindes vermählt als Vollzug weltumspannender Fruchtbarkeit. Im H e r b s t / W i n t e r nimmt sie als Greisin Abschied, wobei der M y t h o s den Inzest (wie auch bei Ödipus) tabuisiert für alle Nachfolgenden (Göttner-Abendroth, Göttin [1980]; kritisch Ehrenberg). Diese feministische Interpretation zieht d a r a u s die Folgerung, d a ß (Hetero-)Sexualität nicht notwendig an die Geschlechterhierarchie und an eine entsprechende Arbeitsteilung gebunden sei. M i t der T r a n s f o r m a t i o n dieser
216
Sexualität III
Beziehung in die männlich dominierte Heros-Göttin-Beziehung und schließlich in die monotheistische Alleinherrschaft des Heros-Gottes geht Sexualität in die Männer-Göttin-Regie über (z. B. Zeus) und kann im Zuge der Entsexualisierung des Gottes (z.B Jahwe) sogar zum Stigma der Eva-Frau-Sünderin werden (Gen 3; Josuttis 17ff.). Verbirgt sich darin nicht eine typisch patriarchale Identifikation von Sexualität mit destruktiver Aggression, wie manche Feministinnen Freuds Libido- und Destruktio-Theorie als Sexualisierung von Aggression mittels einer naturalisierenden Trieb-Theorie kritisieren (und ebenso eine naturalisierende Theorie vom weiblichen Penis-Neid)? Es handle sich (auch in Gen 3) um den typischen „Männlichkeitswahn" mit seiner sexistischen Dominanz gegenüber Frauen, der in der frühen Kindheit durch die Einwirkung männerdominanter Gesellschaften entstehe und sowohl weibliche Sexualität durch Degradierung von Frauen zu Trieb-Objekten zerstöre als auch männliche Sexualität durch Ausblenden nichtzerstörerischer „Eroberung", Hingabe, Lust, Befriedigungeinschränke (Pagenstecher 371; zu Patriarchalismus und Matriarchat in Gen 3 vgl. auch Loh).
Läßt sich Sexualität in einer solchen feministischen „Großen Erzählung" fassen? Zeigt sich nicht eher bis in die M o d e hinein, sofern sie geschlechtsaufhebend sein will (und darin auch transvestitische Züge trägt), daß Frauen davon träumen, in der Sexualität beide Rollen zu spielen und Erfahrungen zu machen, nämlich die eher aktive und die eher passive, das Oben und das Unten? Drückt sich im kurzen R o c k und dem klobighohen Stiefelschuh, wie die Literaturwissenschaftlerin Elisabeth Bronfen meinte (Süddt. Zeitung vom 21. M ä r z 1997, Beilage, 8 0 - 8 3 ) , die Ambivalenz sexueller Phantasie und Gestaltung in Form von Lust und Unterwerfung und ebenso von Lust und Beherrschung aus? Möchten Männer beide Rollen wahrnehmen? Sexualität könnte für alle ein grenzgängerisches erotisches Kommunikationsspiel sein mit dem Bedürfnis, „auf andere Menschen zuzugehen und sie physisch und spirituell in die Arme zu schließen" (Solle 173f.), indem wir in solcher Begegnung aus jeder, auch sexuellen Ordnung herausgenommen und ganz auf unsere Antwort gestellt werden (Lévinas). Sexualität ist als Erfahrung des Schöpferisch-Heiligen die radikal andere Erfahrung des Anderen - oder sie bleibt in vorentworfenen Ordnungen und wird sogar zur strukturellen Sünde. Sexuelle Ketzerschaft oder Geschlechter-Ordnung? Diese Frage wird zwischen „Essentialisten" („Sexualität hat ein natürlich-biologisches Substrat im Geschlecht") und „Konstruktivisten" („Sexualität ist wie Geschlecht eine gesellschaftliche und individuelle Konstruktion") verhandelt (Tiedemann 15ff.). 3. Die Frage
nach dem wahren
Geschlecht?
Frühere Zeiten kannten die Fruchtbarkeits-Sexualität der Großen Mutter mit ihrem Heros-Geliebten als wahre Sexualität. In der patriarchalisierenden israelitisch-jüdischchristlichen Tradition herrschte männlich besetzte (Hetero-)Fortpflanzungssexualität vor (im Christentum mit dualistisch-asketischem Einschlag). In der griechischen Antike war Sexualität am freien M a n n orientiert und die Geschlechtszugehörigkeit des/der Geliebten nebensächlich (wobei —»Plato im Symposion den Urmenschen vier Arme, Beine, zwei Geschlechtsteile und einen Ianuskopf gab, also ein androgynes Menschsein zugrunde legte; vgl. Tiedemann 59ff. [Lit.]). M i t der neuzeitlichen Selbstentdeckung des Menschen kommt die Frage nach seinem wahren Geschlecht und seiner authentischen Sexualität auf (wie nach der wahren Religion, M o r a l , Kunst). Ist eine sexuelle Ordnung des Körpers, der Lüste, der erotischen Kommunikation notwendig? Das 18. J h . hat mit bürgerlich gelebter Sexualität und mit Transvestismus, das 19. J h . mit Hermaphrodismus geantwortet, und im 20. J h . reicht die Spanne von („essentialistischem") sexuellem Normen-Fundamentalismus aufgrund eines naturgegebenen Geschlecht-Seins bis zur „Differenzierung" oder gar („konstruktivistischen") Aufhebung von sex und gender in der sexuellen Selbstinszenierung als Antwort auf den ebenfalls begehrenden Anderen (Tiedemann 11 ff.). M. Foucault hat die Bekenntnishaftigkeit dieses Problems am Beispiel des Hermaphrodismus des/der Herculine Barbin diskutiert (Herculine Barbin. Michel Foucault: Über Hermaphrodismus, hg. v. Wolfgang Schäffner/Joseph Vogl, Frankfurt a.M. 1998; vgl. Sexuelle Störungen und ihre Behandlung 312ff.) mit dem Ergebnis, daß Experten (Mediziner, Juristen) und nicht das Individuum über das Geschlecht entscheiden. Jagd nach und Zwang zur Identität und das pseudo-religiöse
217
S e x u a l i t ä t III
Bekenntnis zum wahren Geschlecht bedingen sich ebenso wie die gegenteiligen Erfahrungen des Sich-Orientierens am Fremden und der dadurch geschehenden Herausnahme des Liebenden aus der sexuellen Ordnung um der eigenen sexuellen Antwort-Vielfalt willen. Z w a r brachte schon die Romantik die Option der „freien L i e b e " , aber eben in der Geschlechter-Ordnung, so daß erst im 20. Jh. sich das ewig Männlich-Weibliche aufzulösen vermag in kontingent gelebte, dialogisch gestaltete Sexualität. Erotisch-sexuelle Antwort geschieht auf Verdacht der Annahme oder der Verwerfung hin und nicht aufgrund sexueller N o r m e n , Muster, Erwartungen (Lévinas).
4. Wie homosexuell
darf der Mensch
sein?
Historisch gesehen trat mit der am Hermaphrodismus exemplifizierten Entkoppelung des genital-anatomischen vom psychologischen Typ die Homosexualität ins (psychiatrisch-pathologisch gemeinte) Blickfeld: Der homosexuelle Mensch ist die erste Figur jener Form von Sexualität, die seither als Sexualtrieb und geschlechtliches Identitätsprinzip verstanden wird. Das individuelle (konstruierte) Geschlechtsbewußtsein und nicht ein (natürliches) biologisch-anatomisches Kriterium bestimmen den Sexualitätsdiskurs über Empfindungen, Phantasmen, Lüste, Projektionen, Perversionen. Wahre Sexualität offenbart sich im Geständnis (sich outen) des „Sexualtriebes". M i t der Entdeckung der H o r m o n e um 1910 fällt die Definitionsmacht mindestens des physiologischen Geschlechts des uneindeutigen Körpers wieder in eindeutig definierende Expertenhände, bis - ausgelöst besonders durch die Frauen-Bewegung(en) - der Sexualitätsdiskurs auch diesen Sexual-Biologismus hinterfragt (Sexuelle Störungen und ihre Behandlung 57ff.77ff.), der sich mit dem Aufkommen der Gentechnologie (Genom-Analyse) als Theorie vom genetischen Bestimmtsein auch der Sexualität (Hamer/Copeland) hält. In K i r c h e n u n d T h e o l o g i e t u t m a n sich bis h e u t e s c h w e r , die E x k l u s i v i t ä t d e r p a t r i a r c h a l definierten k o i t a l e n S e x u a l i t ä t g l e i c h v a l e n t m i t a n d e r e n s e x u e l l e n L e b e n s f o r m e n zu sehen (z. B. D a v i d u n d J o n a t h a n ; R i n g e l i n g 1 6 3 f f . ) . Z w a r s t i m m e n v e r s c h i e d e n e S y n o d e n , e t w a d e r R h e i n i s c h e n L a n d e s k i r c h e u n d d e r E v a n g e l i s c h e n K i r c h e in H e s s e n u n d N a s s a u , der A n s t e l l u n g v o n s c h w u l e n P f a r r e r n u n d lesbischen P f a r r e r i n n e n u n d d e r D i s k u s s i o n a u f G e m e i n d e e b e n e ü b e r S e g n u n g s c h w u l e r u n d l e s b i s c h e r P a a r e zu; in a n d e r e n L a n d e s k i r c h e n , e t w a d e r H a n n o v e r s , stehen sich S y n o d e u n d a b l e h n e n d e K i r c h e n leitung
gegenüber;
in einigen
Landeskirchen,
seitens
der
Evangelischen
Kirche
in
D e u t s c h l a n d u n d d e r R ö m i s c h - k a t h o l i s c h e n K i r c h e w i r d beides a b g e l e h n t mit d e m t h e o logischen A r g u m e n t , d a ß H o m o s e x u a l i t ä t ( v o r a l l e m l a u t Bibel) s ü n d i g sei, u n d m i t d e m e t h i s c h e n A r g u m e n t , d a ß E h e / F a m i l i e v o r r a n g i g - e x k l u s i v sei, w o b e i die h e t e r o s e x u e l l e E h e u n d E h e l o s i g k e i t als u n b e f r a g t e r B e u r t e i l u n g s m a ß s t a b für jegliche S e x u a l i t ä t vorausgesetzt werden (Ehe, Familie, Sexualität, Jugend 139ff.; Katechismus der katholischen K i r c h e 5 9 4 f f . ; K . B a r t h , K D , I I I / 4 1 9 5 1 , 1 8 4 f . ; J o s u t t i s 9 4 f f . ) . W e n n R e l i g i o s i t ä t bzw. Glaube ordnungstheologisch bestimmt werden, dann wird auch Sexualität
vor
d e r A m b i v a l e n z v o n E r f ü l l u n g u n d A n g s t , v o n L i e b e u n d Z w e i f e l , v o n „ R e v o l u t i o n zu z w e i t " und P o c h e n a u f G e w o h n t e s b e w a h r t . D o c h k a n n a u c h c h r i s t l i c h e r s e i t s g e l t e n : D e r A n d e r e n i m m t m i c h in d e r B e g e g n u n g r a d i k a l a u s j e g l i c h e r O r d n u n g h e r a u s ; er f o r d e r t u n d e r m ä c h t i g t m i c h zu m e i n e r p e r s ö n l i c h - u n v e r t r e t b a r e n A n t w o r t einschließlich meiner (hetero-, h o m o - , bi-)sexuellen Begehrlichkeit und Bedürfnisse. „Unsere Ebenbildlichkeit mit G o t t wirkt sich in unserer eigenen Phantasie, Kreativität, Partnerschaftlichkeit, in unserer Fähigkeit zu Gegenseitigkeit und Herrschaftsfreiheit aus und nicht im ängstlichen und schuldbeladenen Nachmachen bestimmter Sexualpraktiken und der Dominanz der koital-heterosexuellen Sexualität. Z u r Schöpfung gehört sexuelle Liebe im weitesten Sinne von intimer körperlicher, seelischer, geistiger Begegnung als Lebensexperiment ohne Vorschrift" (Gerber, Homosexualität 208; vgl. Tiedemann 346ff. [Lit.]). Eine gründliche Aufarbeitung bietet M . Steinhäuser (Homosexualität) mit erfreulicher Offenheit für neue Einstellungen.
5. Sexualität und
Geschlechterdifferenz
D i e F r a u w a r in der a b e n d l ä n d i s c h e n G e s c h i c h t e d a s m a r g i n a l i s i e r t e A n d e r e g e g e n ü b e r d e m d a s G a n z e r e p r ä s e n t i e r e n d e n p o s i t i v e n Selbst des M a n n e s (de B e a u v o i r ) , w a s sich in D u a l i s m e n w i e G e i s t - G e f ü h l , o b j e k t i v - s u b j e k t i v u s w . u n d in d e r g e w a l t s a m e n A n e i g n u n g des K ö r p e r s w i e d e r N a t u r n i e d e r s c h l u g (Keller; M e r c h a n t ) . D e n n o c h w u r d e in d e n W i s s e n s c h a f t e n m e i s t e n s v o n e i n e m n e u t r a l e n M e n s c h s e i n a u s g e g a n g e n . I m U b e r -
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Sexualität III
gang zur „ p o s t m o d e r n e n " Geschlechterdifferenz werden sowohl die Dichotomien als auch deren Leugnung in Frage gestellt. De Beauvoirs Frage: „ G i b t es überhaupt F r a u e n ? " (Männer) wird entsprechend unterschiedlich beantwortet. M a n c h e schließen in ihre Konzeption des Weiblichen die Determinante N a t u r als eine Art geschlechtlich-sexuelles Substrat weiterhin ein. Hier wird entweder die Differenz betont, ihr aber kein höherer Wert beigemessen (Miller; Gilligan; Schaef), oder der Unterschied in eine H ö h e r w e r tigkeit des Weiblichen umgedeutet (Göttner-Abendroth, Göttin [1984]; Diotima) und für eine symbolische Ordnung der M u t t e r plädiert ( M u r a r o ) . Auch L. Irigaray strebt mit ihrer „Ethik der sexuellen Differenz" eine Umkehr der Wertigkeiten an. Für sie bleiben Frau und M a n n im geschlechtlichen Akt einander Transzendente, indem sich das Nicht-Anzueignende als Liebe ereignet. O b w o h l bei diesen Richtungen im Gefolge von J a c q u e s Lacan (1901 — 1981) die symbolische Ordnung (Sprache) zur Subjektkonstituierenden wird, durchstößt der Leib mit seiner „sexuierten M a t r i x " (List) die symbolische Ordnung des Vaters, und es wird nach den subversiven Möglichkeiten des Weiblich-Sexuellen gefragt (Kristeva). Sofern der gender-Begriff eine Ordnung symbolisiert, wird er in einen „dünnen Begriff des biologischen G e s c h l e c h t s " eingeschmolzen (Detel). Für sozialkonstruktivistische Denkerinnen wie J . Butler hingegen, die die Kategorie sex-gender (als Naturbegriff) aufgeben, wird auch das biologische Geschlecht (Frauen und M ä n n e r ) und damit die Sexualität stets neu konstruiert im erotisch-sexuellen Akt. W i r d aber diese „Geschlechterverwirrung" (Butler) nicht mit einer „Verdrängung des L e i b e s " und konkreter Sexualität erkauft (Duden; Lindemann u.a.)? Der Cyberfeminismus von D . J . H a r a w a y schließlich sieht uns als postgender Cyborgs, als Artefakte einer neuen Kultur-Natur-Technik-Symbiose, als Hybride, deren Sexualität nicht reproduktiv, sondern regenerativ geprägt sei aufgrund unserer tiefen Verletzungen. Die G e f a h r einer „ p o s t m o d e r n e n " Entsexualisierung wird angemahnt (Schmidt/Strauß 159ff.). Als „Spätfolge" der Frauenbewegung stellen die sog. Men- and Gay-Studies - begleitet durch Travestie und queerness — die Frage nach dem Individuell-Männlichen hinter dem patriarchaluniversellen Mann-Subjekt (Gilmore). Entwickelt sich männliche Sexualität nach Freud im ödipalen Konflikt, so laut nachfreudianischer -»Psychoanalyse im präödipalen Konflikt mit der Mutter. Die dabei gemachte Ohnmachtserfahrung wird in den sexual politics untersucht, in der profeministischen Männerbewegung als Integration der unmännlichen Anteile besonders in der sexuellen Kommunikation (z. B. anima laut C . G . —»Jung) verstanden und in der mytho-poetischen Männerbewegung der „Jäger und Krieger" kompensiert zur Neuen „wahren M ä n n l i c h k e i t " (Kühne; Erhart/ Herrmann; Kursbuch: Unsere Mütter, Berlin 1998). Wird sich das aus dem Patriarchat und dessen Konzept von naturgegebener Sexualität befreiende Männer-Bild in einer offen gehaltenen Geschlechter-Differenz ausgestalten oder sich auflösen in eine postgeschlechtliche Differenz von Personen (Kursbuch: Männer, Berlin 1997)?
6. Definitions-
und
Gestaltungsversuche
Definitionen von Sexualität: „streng organisierter Erfahrungsbereich körperlicher Beg e h r e n s f o r m e n " (Tiedemann 26), Sexuellem: ohne strenge Organisiertheit, Sex: spekulatives „universales Signifikat" laut Foucault, ohne eine Differenz in Sex = übergeschichtliche Instanz und Sexualität = deren historische Ausprägungen zu machen, Eros: laut —>Plato das Begehren nach dem Ideen-Himmel (—»Liebe VIII.2.2.), Liebe ( F r o m m 4 6 7 f f . : Nächstenliebe, mütterliche, erotische, Selbstliebe, Liebe zu G o t t ) , sex-gender als biologisches und vollzogenes Geschlecht u.a. sind jeweils interessengeleitet (vgl. L a u t mann; T i e d e m a n n 2 1 f f . 3 4 6 f f . ) . Kann eine „kernhafte biologische Disposition der Persönlichkeit" im Zuge einer Säkularisierung des sozialen Lebens angenommen werden, verstärkt durch genetische Argumentation, oder ist Sexualität als dialogisch-konstruktives Umgehen mit dem C h a o s des Sexuellen zu verstehen, bis hin zur radikal konstruktivistischen Auflösung, etwa auch im Cyborg? Versuche einer Vermittlung halten an einem „ D i s p o s i t i v " fest, ohne Definitionen wie z. B. ahistorisch-überkultureller Sex und kulturell-historische Ausprägung als Sexualität oder z. B. triebhafter Sex, objektfixierender Eros und übersexuelle Agape beizubehalten (Detel; Duden; Lindemann u.a.).
Sexualität III
219
C h r i s t l i c h e S e x u a l m o r a l u n d S e x u a l e t h i k t u n s i c h s c h w e r , in d i e s e r D e b a t t e e i n e n a n g e m e s s e n e n O r t zu
finden.
Es werden Triebverzicht, Lustangst, A b s p a l t u n g des S e x u s
vom E r o s zugunsten ehelicher Verschmelzungsphantasien und zugleich die M ö g l i c h k e i t ekstatischer Transzendenzerfahrungen und experimentell-schöpferischen Umgangs mit S e x u a l i t ä t vertreten ( B a c h m a n n 174ff.). E n t s p r e c h e n d e R i t u a l e und Liturgien, z . B . zur —•Trauung, - » T a u f e , - » K o n f i r m a t i o n , t h e m a t i s i e r e n vorsichtig d a m i t v e r b u n d e n e
Er-
fahrungen von Sexualität. N e u e R i t u a l e werden, besonders durch feministische Initiativen, e x p e r i m e n t i e r t , z . B . d a s O u t e n H o m o s e x u e l l e r , S e g n u n g h o m o s e x u e l l e r
Paare,
T r ö s t u n g b e i s e x u e l l e m M i ß b r a u c h , E i n t r i t t in d i e M e n o p a u s e . D a h i n t e r s t e h t e i n U m d e n k e n v o m A n t a g o n i s m u s v o n R e l i g i o n ( G l a u b e , E r f a h r u n g d e s H e i l i g e n G e i s t e s , —»Spiritualität u.a.) und Sexualität. Kirche und T h e o l o g i e n e h m e n Sexualität nicht mehr nur ethisch w a h r , s o n d e r n a u c h als r e l i g i ö s - l i b i d i n ö s e E r f a h r u n g (wie sie für m a n c h e ö s t l i c h e R e l i g i o n e n s e l b s t v e r s t ä n d l i c h ist, z . B . i m T a n t r i s m u s ; vgl. F e u e r s t e i n ) ; sie b e g i n n e n , im Z u g e einer W i e d e r e n t d e c k u n g des K ö r p e r s „ d e n Z u s a m m e n h a n g zwischen
Gottesliebe
u n d L e b e n s l u s t n e u zu e n t d e c k e n " ( J o s u t t i s 4 8 ) . N e u e I m p u l s e e r g e b e n s i c h i n s b e s o n d e r e für die S e x u a l p ä d a g o g i k , die m a n c h m a l S c h r i t t m a c h e r i n für eine e r o t i s c h e Kultur w a r ( H e r r m a n n ; B r o c h e r [Lexikon
der
Sexualerziehung}-,
B a r t h o l o m ä u s ) und hierzu Tradi-
tionen aufgearbeitet hat (Ziebertz). Es werden vermehrt entsprechende Unterrichtshilfen angeboten (Gaedt; Gerber/Zilleßen 60ff.; Handreichung Schulamt
Bozen).
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Uwe Gerber
Shaftesbury, Anthony 1. Leben
2. Werk
Ashley
Cooper,
3. W i r k u n g
Third
Earl of
(1671-1713)
( Q u e l l e n / L i t e r a t u r S. 225)
1. I.eben Die Erziehung Shaftesburys w u r d e von seinem G r o ß v a t e r beaufsichtigt, einem führenden Politiker, der 1683 im Exil in A m s t e r d a m starb. Auf die Bitte hin, sich der Ausbildung Shaftesburys a n z u n e h m e n , b e a u f t r a g t e J o h n Locke (-»Deismus) Elizabeth Birch mit seiner Unterweisung. Unter ihrer Anleitung hatte Shaftesbury mit elf Jahren bereits Latein und Griechisch erlernt. N a c h drei unglücklichen Jahren a m Winchester College u n t e r n a h m er von 1686 bis 1689 Reisen durch Frankreich, Italien und Deutschland, vertrat d a n n aber von 1695 bis 1698 die Stadt Poole (Dorsetshire) im House ofCommons, w o er aktiv Bestrebungen zur W a h r u n g der Freiheit unterstützte. Aus gesundheitlichen G r ü n d e n verbrachte er fast das gesamte J a h r 1699 in H o l l a n d , w o er sich mit P. —»Bayle anfreundete. N a c h dem Tode seines Vaters im N o v e m b e r desselben Jahres n a h m er als Mitglied des House of Lords erneut eine politische Tätigkeit auf. O b w o h l der König persönlich seinen R a t suchte und er selbst im allgemeinen Kandidaten der Whigs unterstützte, lehnte er unter Wilhelm III. von O r a n i e n (1689-1702) die Ü b e r n a h m e eines politischen Amtes ab. Nach der T h r o n f o l g e der Königin A n n a (1702-1714) und der Ü b e r n a h m e der M a c h t durch die Tories zog er sich weitgehend aus dem politischen Leben zurück und suchte sich forthin geistigen Tätigkeiten zu w i d m e n , wobei er von August 1703 bis August 1704 erneut in H o l l a n d lebte. 1709 heiratete er Jane, die Tochter von T h o m a s Ewer aus Bushey Hall (Hertfordshire), die ihm im Februar 1711 einen Sohn gebar. Im Juli desselben Jahres verließ er England aus gesundheitlichen G r ü n d e n und ging nach Neapel, w o er im F e b r u a r 1713 starb. 2. Werk Im J a h r 1698 veröffentlichte Shaftesbury einen Band von Select Sermons ofDr. Whichcot [sie], eine A u s w a h l aus zwei Bänden mit handschriftlichen Predigtnachschriften, die sich in seinem Besitz befanden. Diese Ausgabe von zwölf Predigten von Benjamin W h i c h cote aus dem Kreis der Platoniker von C a m b r i d g e ( - » C a m b r i d g e , Platoniker von), von denen sich die sechs ersten mit den natürlichen und geoffenbarten G r u n d l a g e n des Christentums befassen, enthält ein von Shaftesbury verfaßtes V o r w o r t . Darin erklärt er, die Veröffentlichung der Predigten ziele d a r a u f ab, s o w o h l gegenüber der Lehre von T h . —>Hobbes als auch gegenüber den Ansichten der T h e o l o g e n , die diese Lehre mit d e m Verweis auf d r o h e n d e jenseitige Strafen zu widerlegen suchten, aufzuzeigen, d a ß der wahre G l a u b e und die w a h r e Sittlichkeit sich letztlich nicht auf Furcht und M a c h t streben g r ü n d e n , sondern ein Ausdruck der Liebe seien. D e m e n t s p r e c h e n d tritt Shaftesbury f ü r W h i c h c o t e s B e h a u p t u n g einer d e m M e n s c h e n eigenen natürlichen G ü t e ein, in der sich G l a u b e u n d Sittlichkeit im Einklang m i t e i n a n d e r b e f ä n d e n u n d wirkliche T u g e n d h a f t i g k e i t (im Gegensatz zu rein äußerlichen „ g u t e n " T a t e n , die u m einer zukünftigen B e l o h n u n g willen vollbracht werden) w a h r h a f t i g e Freude h e r v o r b r i n g e . Der eigentliche Feind des G l a u b e n s (und der M o r a l ) sei nicht die G ü t e , s o n d e r n die Selbstsucht des M e n s c h e n . Diese G e d a n k e n arbeitete Shaftesbury später in seinen eigenen Schriften h e r a u s .
222
Shaftesbury, Third Earl of
Im Jahr 1711 veröffentlichte Shaftesbury Characteristics of Men, Manners, Opinions, Times. Obwohl diese drei Bände überarbeitete Ausgaben derjenigen seiner veröffentlichten Werke enthielten, die er mit seinem Namen verbunden sehen wollte (und deren Überarbeitung eine Entwicklung seines Denkens an bestimmten Punkten erkennen läßt), hatte er zu der Zeit, als diese Sammlung erschien, bereits mit weiteren Überarbeitungen für eine Ausgabe begonnen, die 1714 postum erschien. Die Titel der einzelnen Teile dieser Sammlung weisen auf den komplexen literarischen, der humanistischen Bildungstradition verbundenen und philosophischen Zugang zu ästhetischen, ethischen und religiösen Themen hin, den sich Shaftesbury zu eigen machte. Sie lauten (in Klammern das Jahr der Erstveröffentlichung): (1) A Letter concerning Enthusiasm (1708), (2) Sensus Communis; An Essay on the Freedom of Wit and Humour (1709), (3) Soliloquy or Advice to an Author (1710), (4) An Inquiry concerning Virtue, or Merit (1699 — eine erste unvollkommene Fassung war schon [laut Shaftesbury] ohne Genehmigung von John Toland [ 1 6 7 0 - 1 7 2 2 ] herausgebracht worden), (5) The Moralists, A Philosophical Rhapsody Being a Recital of certain Conversations on Natural and Moral Subjects (1709 — eine Fassung der Abhandlung The Sociable Enthusiast, A Philosophical Adventure Written to Palemon, die um 1704 im privaten Kreis verbreitet worden war) sowie (6) Miscellaneous Reflections on the preceding Treatises, etc. (die als dritter Band der Characteristics zum ersten Mal veröffentlicht wurden). Als Shaftesbury starb, war er noch damit beschäftigt, Abhandlungen für eine weitere Reihe von Untersuchungen zu schreiben, die den Titel Second Characters, or the Language of Forms tragen sollten, und sich um Stiche dafür zu kümmern. Lediglich zwei der vier dafür vorgesehenen Abhandlungen, nämlich A Letter concerning the Art, or Science of Design sowie A Notion of the Historical Draught or Tablature of the Judgement of Hercules, wurden vollendet. Sie sind in einigen Exemplaren der 1714 erschienenen Ausgabe der Characteristics sowie in späteren Ausgaben enthalten.
Im Jahr 1914 gab B. Rand unter dem Titel Second Characters einen Band heraus, der neben diesen beiden Abhandlungen auch die erhaltenen ausführlichen, von Rand in eine (als vorläufig anzusehende) Reihenfolge gebrachten Notizen für die dritte Abhandlung, Plastics or the Original Progress and Power of Designatory Art, beinhaltet, wie auch die aus dem Griechischen übersetzte und mit Anmerkungen versehene Schrift The Picture ofCebes Disciple of Socrates anstelle der von Shaftesbury geplanten vierten, ungeschrieben gebliebenen Abhandlung. Zuvor hatte Rand 1900 in eine Biographie Shaftesburys eine Ausgabe seiner AÜKHMATA oder Exercises aufgenommen. Der Titel, Philosophical Regimen, den er ihnen gab, ist jedoch etwas irreführend, da es sich weniger um eine in sich geschlossene Anweisung zum philosophischen Denken handelt, als vielmehr um persönliche Auseinandersetzungen mit religiösen und ethischen Themen, die etwa mit den Meditationen von Mark Aurel vergleichbar sind. Auch wenn Shaftesbury Locke gegenüber gleichermaßen Zuneigung wie Hochachtung empfand, stimmte er mit ihm in einer Reihe grundlegender Fragen ebenso wenig überein wie mit Hobbes' Auffassung von der menschlichen Natur. Lockes Zurückweisung dessen, was er unter dem Begriff der angeborenen Ideen versteht, wird in Frage gestellt. Zugleich wird seine Auffassung, Sittlichkeit beruhe allein auf Autorität und Wille, mit der Begründung kritisiert, daß dies der Aufforderung gleichkomme, „mit geschlossenen Augen zu sehen, ohne Maßstab zu messen und ohne Rechenregeln zu rechnen" (vgl. Advice to an Author III, i). Lockes diesbezügliche Ansichten gelten Shaftesbury als grundlegend falsch, auch wenn er die Autorität und den Willen Gottes als Grundlage der Sittlichkeit ansehe; denn er verkenne, in welcher Weise die wesenhaft soziale Art der menschlichen Existenz natürliche Neigungen hervorbringe, die bei allen gereiften Personen in einem sittlichen Bewußtsein zum Ausdruck kommen. Nach Shaftesburys Auffassung ist das „Gefühl für Recht und Unrecht" - das er später als „natürliches sittliches Gefühl" (natural moral sense) bezeichnet - für uns „so natürlich wie die natürliche Neigung selbst". Da dieses Gefühl „ein Grundprinzip unserer Konstitution und Wesensart ausmacht, gib es keine Mutmaßungen, Überzeugungen oder Glaubens-
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lehren, die in der Lage sind, es unmittelbar oder auf direktem Wege aufzuheben oder zu zerstören" (Inquiry concerning Virtue, Buch I, III, i; Buch I, III, ii). Dementsprechend „erwidert ein rechtschaffener M a n n von gewöhnlichem Schlage, der sich selbst überlassen und unbehelligt ist von der Philosophie und von spitzfindigen Gedanken über sein Interesse", auf den Vorschlag hin, er solle etwas Böses tun, „nichts anderes, als dais es ihm unmöglich sei, dies zu tun oder seine natürliche Abneigung dagegen zu überwinden". Diese Erwiderung beurteilt Shaftesbury als „natürlich und g u t " (Sensus Communis IV, i). Des weiteren sei das natürliche sittliche Gefühl grundlegend mit dem Sinn für das Ästhetische verbunden, denn die menschliche Tugend bestehe darin, im Einklang mit der natürlichen Ordnung zu handeln, in der alle Dinge als wahrhaft harmonisch vereint gesehen werden. Dementsprechend erklärt J . D a l m a n , daß weniger die Bedeutung des sittlichen Gefühls als vielmehr die Bedeutung der Schönheit den hauptsächlichen Schlüssel zum Verständnis der Denkweise Shaftesburys darstelle. Eine Folge der grundsätzlichen Bedeutsamkeit der Ästhetik für Shaftesbury besteht darin, daß er fest von der sittlichen Relevanz ästhetischer Erfahrung überzeugt war und versuchte, diese durch seine eigenen Werke zu fördern. So bewundernswert diese Absicht auch sein mag, so gehen seine Bemühungen, sich in seinen Schriften einer gepflegten Sprache zu bedienen, mitunter auf Kosten der Klarheit. Eine weitere wichtige Folgewirkung besteht darin, daß nach Shaftesburys Verständnis Eigenliebe und soziale Neigungen gemeinsam die Tugendhaftigkeit fördern; denn aufgrund des sozialen Wesens des Menschen finde der einzelne erst in einem Zustand harmonischer sozialer Beziehungen wahrhafte Zufriedenheit. D e m g e m ä ß behauptet Shaftesbury: „die Weisheit des Beherrschers und ersten und höchsten Wesens der Natur hat es so eingerichtet, daß das persönliche Interesse und Wohl jedes einzelnen auf das Allgemeinwohl gerichtet ist und daß ein Geschöpf, welches aufhört, letzteres zu fördern, . . . aufhört, sein eigenes Glück und Wohlergehen zu f ö r d e r n " (vgl. den Schluß von Inquiry concerning Virtue). Shaftesbury behauptet, das Gefühl für Recht und Unrecht gehe der Erkenntnis eines Gottesbegriffs voraus. Dennoch habe das in der Religion geltende Verständnis von G o t t möglicherweise einen Einfluß auf dieses Gefühl für Gut und Böse. Das wahre sittliche Gefühl solle aber nicht kritiklos religiöse Lehren und Verhaltensweisen widerspiegeln, sondern als kritischer M a ß s t a b für sie gelten. Shaftesbury unterscheidet zwischen T h e i s m u s , Atheismus, Polytheismus und D ä m o n i s m u s . Der T h e i s m u s g e h e d a v o n a u s , d a ß „ a l l e s d u r c h ein p l a n v o l l w i r k e n d e s P r i n z i p o d e r v e r s t ä n d i g e s W e s e n , d a s n o t w e n d i g e r w e i s e g u t u n d u n w a n d e l b a r ist, g e l e n k t w i r d " , w ä h r e n d d e r A t h e i s m u s d i e A u f f a s s u n g v e r t r e t e , d a ß die a l l e i n i g e „ U r s a c h e , R i c h t s c h n u r u n d R e g e l u n g d e r D i n g e " d e r „ Z u f a l l " sei (vgl. I n q u i r y c o n c e r n i n g V i r t u e , B u c h I, I, ii). P o l y t h e i s m u s sei die V o r s t e l l u n g , d a ß es m e h r als e i n e n L e n k e r d e r G e s c h i c k e g e b e , die j e d o c h alle g u t s i n d , w ä h r e n d im D ä m o n i s m u s „ d i e l e n k e n d e I n s t a n z o d e r die l e n k e n d e n I n s t a n z e n " n i c h t s c h l e c h t e r d i n g s u n d n o t w e n d i g e r w e i s e als g u t a n g e s e h e n w e r d e n , s o n d e r n i h n e n die F ä h i g k e i t z u g e s p r o c h e n w e r d e , „ n a c h b l o ß e r W i l l k ü r u n d L a u n e zu h a n d e l n " (vgl. e b d . ) . A u ß e r im F a l l e d e s r e i n e n A t h e i s m u s l i e ß e sich d i e R e l i g i o n d u r c h jede d i e s e r P o s i t i o n e n - e n t w e d e r f ü r s i c h g e n o m m e n o d e r in V e r b i n d u n g m i t e i n a n d e r c h a r a k t e r i s i e r e n . A u s d e r E i g e n a r t d e s T h e i s m u s e r g e b e sich w e i t e r h i n , d a ß im G e g e n s a t z z u m Verständnis einer geläufigen Apologetik der eigentliche N a c h w e i s der theistischen N a t u r der W i r k l i c h k e i t n i c h t in W u n d e r n u n d v e r m e i n t l i c h w u n d e r h a f t e n E i n g r i f f e n zu s u c h e n sei, s o n d e r n in d e r „ O r d n u n g , G l e i c h f ö r m i g k e i t u n d B e s t ä n d i g k e i t d e r D i n g e " ( T h e M o r a l i s t s II, v ) . W a s d a s S c h r e c k e n s b i l d d e s A t h e i s m u s a n g e h t , ist S h a f t e s b u r y im G e g e n s a t z z u r v o r h e r r s c h e n d e n M e i n u n g der A u f f a s s u n g , d a ß d i e s e r u n g e a c h t e t s e i n e r g r ü n d l i c h e n F e h l e i n s c h ä t z u n g d e r W i r k l i c h k e i t als e i n e s Z u f a l l s p r o d u k t s n i c h t p r i n z i p i e l l u n d u n b e d i n g t e r w e i s e zu U n s i t t l i c h k e i t f ü h r e n m ü s s e . E r w e i s t a u ß e r d e m d a r a u f h i n , d a ß die G e g n e r d e r A t h e i s t e n , w e n n sie i h n e n e i n a n d e r w i d e r s p r e c h e n d e n A r g u m e n t e e n t g e g e n h a l t e n , sich e h e r g e g e n s e i t i g w i d e r l e g e n , s t a t t d e n A t h e i s m u s w i r k s a m zurückzuweisen.
Verschiedentlich ist der Versuch gemacht worden, Shaftesburys eigenen religiösen Standpunkt zu bestimmen. O b w o h l R . Voitle Shaftesbury im wesentlichen als Vertreter einer stoischen Position versteht, ist es angemessener, ihn als einen frühen - eventuell den ersten - Verfechter einer Religion der Natur sowie einer universalen Vorsehung als
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Shaftesbury, Third Earl of
des Gottes der Natur anzusehen. In The Moralists ruft Theocles beispielsweise die Natur an: „ . . . herrliche Natur! Über alles schön und gut! Alliebend, alliebenswürdig, allgöttlich! . . . weise Statthalterin der Vorsehung! Bevollmächtigte Schöpferin! Oder Du, bevollmächtigende Gottheit, höchster Schöpfer! Dich rufe ich an, und dich allein bete ich a n " (The Moralists III, i). In dieser pantheistischen Sprache kommen Überzeugungen zum Ausdruck, die sein ganzes Werk durchdringen, nämlich die, daß die Natur gut sei und die Tugend darin bestehe, der natürlichen Ordnung und der universalen Harmonie der Dinge gemäß zu leben. Dabei handelt es sich allerdings um eine Religion, die keine Offenbarungen und Wunder bemüht. Ebenso wird sie nur für die aufgeklärten Mitglieder der gebildeten Gesellschaft, welche eine „gute Allgemeinbildung" genossen haben, als angemessen erachtet. Demgegenüber bedürfe „der bloße Pöbel der Menschheit" oft „eines solchen bessernden Gegenstandes, wie es der Galgen ist" - oder, als sein religiöses Pendant, der Androhung des göttlichen Gerichts und der Qualen der Hölle - , insofern er nicht in der Lage ist, den wahren Wert der Tugend zu erfassen (vgl. Sensus Communis III, iv). Abschließend ist anzumerken, daß Shaftesbury Spott, Satire und Lächerlich-Machen als viel wirkungsvollere Waffen gegen religiöse Anmaßungen ansah als triftige ernsthafte Gegenargumente oder gewaltsame Verfolgung. Er beteuert, daß „gute L a u n e " das beste Mittel gegen die Anmaßungen der Enthusiasten und „die beste Grundlage der F r ö m m i g k e i t und wahren R e l i g i o n " sei (vgl. Letter concerning Enthusiasm III) sowie daß G o t t nicht dadurch verleumdet werden dürfe, daß man das Göttliche für verbittert halte, und er behauptet: „unter der Voraussetzung, daß wir die Religion mit Anstand behandeln, können wir nie zu viel gute L a u n e haben oder sie mit zu viel Freiheit oder Vertrautheit untersuchen. Denn wenn sie echt und unverfälscht ist, wird sie nicht nur der Überprüfung standhalten, sondern gedeihen und Vorteil daraus ziehen; ist sie unecht und mit Betrug vermischt, so wird man sie enthüllen und b l o ß s t e l l e n " (vgl. ebd. IV).
Derlei Kommentare zu religiösem Denken und andere Bemerkungen über das Räsonnieren, wie z. B. die Erklärung, der Versuch, ein Gedankensystem zu errichten, sei „die geschickteste Methode, närrisch zu werden" (vgl. Advice to an Author III, 1), machten ihn bei den ernsthaften — oftmals erschreckend ernsthaften - Verfechtern des orthodoxen Glaubens und orthodoxer Lebensweise nicht beliebt, aber sie zeigten eine Schwachstelle in der Rüstung der Apologeten auf und fanden Anklang bei den Vertretern des modischen Zeitgeistes. 3.
Wirkung
Shaftesburys Characteristics beeinflußten während der Jahrzehnte nach ihrer Veröffentlichung eine Vielzahl von Denkern, von denen einige negativ auf seine Ansichten reagieren. In seiner Ausgabe von Fables of the Bees von 1723 schreibt Bernard Mandeville, Shaftesburys Überlegungen sprächen der menschlichen Natur zwar höchstes Lob aus, wiesen jedoch den Mangel auf, nicht mit unserer alltäglichen Erfahrung ihres Handelns übereinzustimmen. Seine Abhandlung vertritt eine entgegengesetzte Sichtweise. G. —»Berkeley führt in The third Dialogue seiner Schrift Alciphron, or The Minute Philosopher einen weiteren Angriff gegen Shaftesburys optimistische Sicht der menschlichen Natur, indem er seine Kritik an den Vorstellungen eines jenseitigen Lohns und jenseitiger Strafe als potentiell unheilvoll verurteilt, wenn sie von den führenden Mitgliedern der Gesellschaft übernommen werde. Des weiteren wurde Shaftesbury in den von Philip Skelton ( O p h i o m a c h e s , or Deism Revealed, 1749) und John Leland (A View ofthe Principal Deistical Writers, 1754) aufgestellten Kanon der sog. Deisten aufgenommen, und gemeinhin wird er von denen, die die Kennzeichnung „Deist" immer noch für hinreichend präzise halten, um sie auf Denker dieser Epoche anzuwenden, auch weiterhin so eingestuft. Skelton und Leland werten Shaftesbury als erhebliche Bedrohung für die guten Sitten, den wahrhaften christlichen Glauben und eine rechte christliche Lebensführung sowie für die Ernsthaftigkeit der Diskussion dieser wesentlichen Fragen.
Shaftesbury, T h i r d Earl of
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Im G e g e n s a t z dazu sind andere D e n k e r des 18. J h . den Auffassungen Shaftesburys zugetan. Insbesondere Francis H u t c h e s o n ( 1 6 9 4 - 1 7 4 6 ) steht unter dem Einfluß von Shaftesburys Urteil über das sittliche G e f ü h l und den Schönheitssinn und n i m m t es in seiner gedanklichen Entfaltung einer M o r a l p h i l o s o p h i e auf. Z w a r bestehen zwischen beiden D e n k e r n so große Unterschiede, d a ß H u t c h e s o n nicht einfach als Schüler Shaftesburys angesehen werden sollte; d o c h d a ß dieser bei der A u s f o r m u n g der späteren Philosophie des moral sense einschließlich der E n t w ü r f e von David H a r t l e y ( 1 7 0 5 - 1 7 5 7 ) , D . —»Hume und A d a m Smith ( 1 7 2 3 - 1 7 9 0 ; vgl. T R E 3 , 6 4 2 , 2 1 ff.; 1 0 , 4 9 5 , 2 4 f . ) eine bedeutende R o l l e spielte, beruht zu einem guten Teil a u f der A u f n a h m e seiner G e d a n k e n durch H u t c h e s o n und nicht allein auf einer unmittelbaren Kenntnis seiner Arbeiten. Shaftesburys D e n k e n erfreute sich - insbesondere aufgrund seiner Vorstellungen v o m ästhetischen G e f ü h l sowie aufgrund seiner Philosophie der N a t u r - w ä h r e n d des 18. J h . g r o ß e r Beliebtheit auf dem europäischen Festland, w o er eine breite Leserschaft fand und schließlich höheres Ansehen gewann als in seinem H e i m a t l a n d . Seine Vorstellung von der universellen H a r m o n i e der E l e m e n t e der W i r k l i c h k e i t ließen sich mit den Ansichten von —»Leibniz vereinbaren und finden sich in dem wieder, was - » M o n t e s q u i e u (der ihn mit - » P l a t o , - » M o n t a i g n e und N i c o l e M a l e b r a n c h e [—»Okkasionalismus] in eine R e i h e stellt) dazu äußert. Z u unterschiedlichen Z e i t e n und a u f unterschiedliche Weise zählten D e n i s Diderot ( 1 7 1 3 - 1 7 8 4 ) , M . - » M e n d e l s s o h n , I. - * K a n t , J . W . von - » G o e t h e und F. von - » S c h i l l e r zu der Vielzahl von D e n k e r n , die S h a f t e s b u r y durch das in seinen Schriften enthaltene optimistische ästhetische Verständnis der W i r k l i c h k e i t beeindruckte. J . G . - » H e r d e r sah von ihm einen positiven Einfluß a u f die nach W a h r h e i t , S c h ö n h e i t und G ü t e strebenden Zeitgenossen des 18. J h . ausgehen, und er verteidigte ihn gegen den V o r w u r f des A t h e i s m u s mit der B e g r ü n d u n g , d a ß seine B e h a u p t u n g des Weltgeistes, der die grundlegende O r d n u n g , H a r m o n i e und Weisheit der W i r k l i c h k e i t garantiert, von g r ö ß e r e r Bedeutung sei als die E i n w ü r f e engstirniger P h i l o s o p h e n . Quellen Anthony Ashley Cooper, Earl of Shaftesbury, Select Sermons of Dr Whichcot, In Two Parts, London 1698. — Characteristics of Men, Manners, Opinions, Times, 3 Bde., London 1711; Überarb. Ausg. London 1714; moderne Ausg. hg. v. John M . Robertson, London 1900 (Nachdr. Indianapolis/ New York 1964 [Library of Liberal Arts]). - Letters of the Earl of Shaftesbury, Collected into One Vol., London 1750. - The Life, Unpubl. Letters, and Philosophical Regimen of Anthony, Earl of Shaftesbury, hg. v. Benjamin Rand, London/New York 1900. - Second Characters or the Language of Forms, hg. v. Benjamin Rand, Cambridge 1914 (Nachdr. New York 1 9 6 9 ) . - Standardausg.-. SW, ausgew. Briefe u. nachgelassene Sehr., hg., übers, u. komm. v. Gerd Hemmerich/Wolfram Benda, 6 Bde., Stuttgart/Bad Canstatt, 1 9 8 1 - 1 9 9 3 . Literatur Wolfram Benda, Der Philosoph als literarischer Künstler. Esoterische u. satirische Elemente bei Lord Shaftesbury, Diss. Univ. Erlangen-Nürnberg 1982. - George Berkeley, Alciphron, or the Minute Philosopher, Dublin 1732. - Raymond L. Brett, The Third Earl of Shaftesbury. A Study in Eighteenth Century Literary Theory, Cambridge 1951. - Ernst Cassirer, Die platonische Renaissance in England u. die Schule v. Cambridge, 1932 (SBW 24). - Johan F. Dalman, Guds Tilltal I Det Sköna, Anthony Ashley Cooper den tredje earlens av Shaftesbury teologiska estetik, Uppsala 1989. - Thomas Fowler, Shaftesbury and Hutcheson, London 1882 = Ann Arbor, Mich. 1980. Thomas Fries, Dialog der Aufklärung (Shaftesbury, Rousseau, Solger), Tübingen 1993. - Stanley Grean, Shaftesbury's Philosophy of Religion and Ethics. A Study in Enthusiasm, Columbus, Oh. 1967. - Fritz-Peter Hager, Aufklärung, Piatonismus u. Bildung bei Shaftesbury, Bern/Stuttgart 1993. - Francis Hutcheson, An Inquiry into the Original of our Ideas of Beauty and Virtue, London 1725. - Ders., A System of Moral Philosophy, London 1755. - John Leland, A View of the Principal Deistical Writers that have Appeared in England, London 1754. - Rolf Raming, Skepsis als krit. Methode. Shaftesburys Konzept einer dialogischen Skepsis, Frankfurt a . M . 1996. - Dorothy B.Schlegel, Shaftesbury and the French Deists, Chapel Hill, N . 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226
Shaftesbury, Seventh Earl of
Shaftesbury, Anthony 1. Leben und Werk
1. Leben und
Ashley
Cooper,
2. W e r t u n g
Seventh
Earl of
(1801-1885)
( Q u e l l e n / L i t e r a t u r S. 228)
Werk
Der evangelikale Sozialreformer und P h i l a n t h r o p Anthony Ashley C o o p e r (Shaftesbury) w a r ein Verteidiger des Protestantismus und setzte sich für missionarisches Engagement und freiwillige Sozialarbeit ein. Er w u r d e am 18. April 1801 in L o n d o n geboren. Abgesehen von dem Einfluß der überzeugt evangelikalen Haushälterin der Familie, M a r i a Millis, hatte er keine glückliche Kindheit. 1822 schloß er in - » O x f o r d ein Studium der Klassischen Altertumswissenschaft mit h e r v o r r a g e n d e m Ergebnis ab und w u r d e 1826 als Tory Mitglied des Parlaments. A m 1. O k t o b e r 1885 ist er in Folkstone in Kent verstorben. Sein parlamentarischer Einsatz f ü r soziale Belange w a r umfassend und tiefgreifend. Bereits seit 1828 trat er f ü r eine R e f o r m der Heil- und Pflegeanstalten ein. Einen großen R a u m beanspruchte in seinem Leben auch die R e f o r m der Arbeitsbedingungen der Industriearbeiter. Dazu gehört sein langanhaltender Kampf f ü r eine geregelte Arbeitszeit. Er brachte das Bergwerks- und Zechengesetz ( M i n e s and Collieries Act) von 1843 auf den Weg, das eine Beschäftigung von Frauen und von Kindern unter zehn J a h r e n in Bergwerken untersagte, und das Schornsteinfegergesetz ( C h i m n e y Sweepers Act) von 1875, das M i ß s t ä n d e im U m g a n g mit dem älteren Verbot von Kinderarbeit im Schornsteinfegergewerbe u n t e r b a n d . Auch andere G r u p p e n der Arbeiterschaft wie N ä h e r i n n e n und Kattundrucker k a m e n in den G e n u ß von Gesetzen, f ü r die Shaftesbury eingetreten w a r . Ein weiteres Arbeitsfeld f a n d er im öffentlichen Gesundheitswesen. Dazu gehörte auch eine R e f o r m des Herbergswesens. Ebenfalls setzte er sich für Betroffene von Gesetzesvorlagen ein, die von Eisenbahngesellschaften betrieben wurden und eine R ä u m u n g von W o h n u n g e n vorsahen. N e b e n seinem Einsatz in der Gesetzgebung w i d m e t e sich Shaftesbury evangelikalen Vereinigungen mit missionarischen und sozialen Zielen. Die bedeutendsten d a r u n t e r waren die London Society for the Promotion of Christianity Among the Jews (vgl. T R E 17,329,4ff.), die Church Pastoral Aid Society, die Cburch Missionary Society, die British and Foreign Bible Society (vgl. T R E 6,300,32ff.), die Colonial and Continental Church Society, die London City Mission (LCM) and die Ragged School Union (RSU, „ L u m penschul"-Vereinigung zur Betreuung verwahrloster Kinder). Zugleich h a t t e er Beziehungen zu zahlreichen örtlichen Vereinigungen. Eng verbunden w a r er mit zwei aus der RSU hervorgegangenen G r u p p e n , den costermongers (Straßenhändlern), einer festen Vereinigung von fliegenden H ä n d l e r n und B l u m e n m ä d c h e n , und den Shoeblack Brigades (Schuhputzerbrigaden). Seine Verbindung zur L C M bestand hauptsächlich in Beziehungen zu einzelnen Stadtmissionaren. Die u n m i t t e l b a r e n Eindrücke von der verbreiteten A r m u t und Verelendung, die seine Parlamentsreden so wirkungsvoll werden ließen, gew a n n er häufig gemeinsam mit ihnen. Shaftesburys Verteidigung protestantischer Belange ließen ihn d e m Traktarianism u s (vgl. T R E 15,416,25ff.) und dem späteren Ritualismus der Hochkirchlichen Bewegung entgegentreten. Der —»Anglokatholizismus lief für ihn auf eine Verleugnung des biblischen Evangeliums hinaus. Er stellte sich gegen eine zeremonielle Ausgestaltung des Gottesdienstes und unterstützte das unglückliche Gesetz über die Regelung des öffentlichen Gottesdienstes (Public Worship Regulation Act) von 1874, das Bestimmungen gegen liturgische G e w ä n d e r und Z e r e m o n i e n traf. Ebenso stellte er sich 1870 gegen die geplante Bibelrevision (vgl. T R E 6,277,49ff.). Als 1855 der Stiefvater seiner Frau, Viscount H e n r y J o h n Temple Palmerston ( 1 7 8 4 - 1 8 6 5 ) , Premierminister w u r d e , erlangte Shaftesbury beträchtlichen Einfluß auf die E r n e n n u n g v o n Bischöfen, von denen viele Evangelikaie w a r e n . Seine protestantischen G r u n d s ä t z e veranlaßten ihn auch zu einer eingehenden Beteiligung an den Bestrebungen zur G r ü n d u n g eines protestantischen Bistums in Jerusalem (vgl. T R E 16,631,17ff.).
S h a f t e s b u r y , Seventh Earl of 2.
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Wertung
S h a f t e s b u r y w a r eine vielschichtige u n d zugleich fesselnde G e s t a l t . Seine B e d e u t u n g ist h ä u f i g u n t e r s c h ä t z t o d e r zu w e n i g b e a c h t e t w o r d e n , weil m a n sich a n seinem aris t o k r a t i s c h e n P a t e r n a l i s m u s u n d p r o t e s t a n t i s c h e n D o g m a t i s m u s stieß. D a s h a t d e n Blick f ü r die w i c h t i g e A u f g a b e einer s a c h g e m ä ß e n E i n s c h ä t z u n g d e r Stellung d e r S o z i a l r e f o r m i n n e r h a l b des E v a n g e l i k a i i s m u s b e e i n t r ä c h t i g t . S h a f t e s b u r y ist d a s Beispiel eines E v a n gelikaien, d e r seine Ü b e r z e u g u n g mit gleichem E i n s a t z in m i s s i o n a r i s c h e B e s t r e b u n g e n wie soziale R e f o r m umgesetzt h a t . Seine B i o g r a p h e n h a t die Frage b e s c h ä f t i g t , w a n n er z u m E v a n g e l i k a i e n g e w o r d e n ist. Es b e s t e h t o f f e n b a r E i n v e r n e h m e n , d a ß dies 1834 o d e r 1835 g e s c h e h e n sei. D a b e i ist j e d o c h v e r s ä u m t w o r d e n , d e m Wesen des E v a n g e l i k a i i s m u s h i n r e i c h e n d R e c h n u n g zu t r a g e n o d e r es in a n g e m e s s e n e r Weise verständlich zu m a c h e n . Es gibt H i n w e i s e , d a ß seine B e k e h r u n g u m 1826 erfolgt ist. In zwei T a g e b u c h e i n t r a g u n g e n a u s diesem J a h r spricht er d a v o n , d a ß ihm n a c h d e r L e k t ü r e des B i b e l k o m m e n t a r s v o n T h o m a s Scott ( T h e H o l y Bible, C o n t a i n i n g the O l d a n d N e w T e s t a m e n t s : w i t h O r i g i n a l N o t e s , Practica! O b s e r v a t i o n s , a n d C o p i o u s M a r g i n a l R e f e r e n c e s , 6 Bde., L o n d o n 1822) die Augen a u f g e g a n g e n seien u n d er b e g o n n e n h a b e , n a c h d e n k l i c h zu w e r d e n . Desgleichen spricht er d a v o n , e i n g e h e n d e Studien u n t e r n o m m e n zu h a b e n . 1829 traf auf ihn n a c h d e r M e i n u n g A u ß e n s t e h e n d e r die B e z e i c h n u n g „ H e i l i g e r " zu, die m a n ausschließlich evangelikalen P a r l a m e n t s m i t g l i e d e r n beilegte. Die J a h r e 1 8 3 4 - 1 8 3 5 sind f ü r S h a f t e s b u rys A u f n a h m e d e r p r ä m i l l e n a r i s t i s c h e n Vorstellung von E d w a r d Bickersteth ( 1 7 8 6 - 1 8 5 0 ) b e d e u t s a m e r als f ü r seine B e k e h r u n g , d . h . sie k e n n z e i c h n e n eher seine n ä h e r e S t a n d o r t b e s t i m m u n g i n n e r h a l b des E v a n g e l i k a i i s m u s als sein erstes Sich-Einlassen auf die evangelikale B e w e g u n g . D o c h ist auch seine spezifische F o r m e v a n g e l i k a l e r Ü b e r z e u g u n g nicht o h n e B e d e u t u n g f ü r die E i n s c h ä t z u n g seines L e b e n s u n d W i r k e n s . Die evangelikale Einstellung, die er sich zu eigen g e m a c h t h a t , w i r d g e m e i n h i n als P r ä m i l l e n a r i s m u s bezeichnet (vgl. T R E 7,742,14ff.). Diese Vorstellung b e r u h t auf d e r Ü b e r z e u g u n g , d a ß die W i e d e r k u n f t C h r i s t i eine Z e i t s p a n n e v o n t a u s e n d J a h r e n h e r a u f f ü h r e n w e r d e , w ä h r e n d d e r C h r i s t u s m i t d e n Heiligen auf E r d e n h e r r s c h t u n d n a c h d e r d a s J ü n g s t e G e r i c h t s t a t t f i n d e t . W ä h r e n d der u n r u h e v o l l e n Z e i t des industriellen W a n d e l s im v i k t o r i a n i s c h e n E n g l a n d w a r diese Vorstellung weit verbreitet. Sie sah d e r Z u k u n f t d e r M e n s c h h e i t mit e i n e m t i e f g r e i f e n d e n Pessimismus entgegen u n d k o n n t e eine W e n d u n g n u r d u r c h eine d r a m a t i s c h e D a z w i s c h e n k u n f t Christi e r w a r t e n . D e m g e g e n ü b e r v e r t r a t d e r Postmillen a r i s m u s (vgl. T R E 7,738,31 ff.) eine o p t i m i s t i s c h e Sicht des m e n s c h l i c h e n F o r t s c h r i t t s u n d legte w e n i g e r G e w i c h t auf ein Einschreiten G o t t e s . D e r P r ä m i l l e n a r i s m u s f ü h r t e g e g e n ü b e r d e m sozialen Verfall h ä u f i g zu Q u i e t i s m u s . D a s a b e r traf nicht auf S h a f t e s b u r y u n d a n d e r e wie Bickersteth zu. D i e F o r s c h u n g h a t zu o f t a u ß e r a c h t gelassen, d a ß z u r E i n s c h ä t z u n g dieser H a l t u n g ein weit a u s g r e i f e n d e s V e r s t ä n d n i s d e r millenaristischen T r a d i t i o n e r f o r d e r l i c h ist. S h a f t e s b u r y s t a n d in E i n k l a n g m i t einer f r ü h e n p u r i t a n i s c h e n ( - » P u r i t a n i s m u s ) p r o t e s t a n t i s c h e n E s c h a t o l o g i e , d e r es d a r u m ging, in b e s t ä n d i g e r Erw a r t u n g d e r W i e d e r k u n f t Christi zu leben, o h n e der F r a g e n a c h d e n Einzelheiten des endzeitlichen G e s c h e h e n s allzu g r o ß e A u f m e r k s a m k e i t z u z u w e n d e n . P r ä m i l l e n a r i s t e n des 19. J h . d a g e g e n setzten o f t feste D a t e n f ü r die e r w a r t e t e W i e d e r k u n f t C h r i s t i o d e r k a m e n d o c h einer Festsetzung solcher D a t e n sehr n a h e . D a s h a t S h a f t e s b u r y nie g e t a n . Seine e s c h a t o l o g i s c h e n Vorstellungen w a r e n d y n a m i s c h . G o t t schreitet jetzt e b e n s o mit seinem G e r i c h t wie m i t d e m E r w e i s seiner G n a d e ein. Es ist d a h e r C h r i s t e n p f l i c h t , sich im Interesse d e r A r m e n e i n z u s c h a l t e n . Z u g l e i c h w a r S h a f t e s b u r y ein t r a d i t i o n s v e r h a f t e t e r , a r i s t o k r a t i s c h e r P a t e r n a l i s t . Er g l a u b t e , d a ß G o t t e s O r d n u n g sich w e n i g e r in G e s e t z e n des w i r t s c h a f t l i c h e n L e b e n s als vielmehr in e i n e m hierarchischen G e f ü g e d e r G e s e l l s c h a f t widerspiegle. Es w a r eine Gesellschaft, die auf R e c h t e n u n d Pflichten b e s t a n d , auf d e r wechselseitigen V e r a n t w o r t lichkeit ihrer unterschiedlichen Schichten. M o d e r n e K r i t i k e r h a b e n diese Seite seiner
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Shaftesbury, Seventh Earl of
Überzeugung oft ü b e r b e t o n t und d a h e r die Bedeutung seiner evangelikalen Einstellung als der G r u n d l a g e seines L e b e n s w e r k e s u n t e r b e w e r t e t . Quellen Unveröffentlichtes: Tagebücher: Southampton Univ. Library, Broadlands Papers. — Archive der Church Pastoral Aid Society (bes. die Protokolle des General Committee, Jahresberichte u. die Zusammenfassung des Berichts u. der Reden auf der Jahresversammlung): Birmingham Univ. Library. — Archive der Church Missionary Society (bes. die Protokolle des General Committee u. die Proceedings der Church Missionary Society; enthält Jahresberichte, Predigten, Unterlagen unterschiedlichen Inhalts): Birmingham Univ. Library. — Archive der British and Foreign Bible Society (bes. die Protokolle des General Committee u. die Jahresberichte 1804-1886): Cambridge Univ. Library. - Archive der London City Mission (bes. Protokolle des General Committee, Jahresberichte, das London City Mission Magazine): London City Mission, London. - Archive der Ragged School Union (bes. die Protokolle der Ragged School Union 1844-1885, die Jahresberichte 1845 — 1886 u. das Ragged School Union Magazine 1849-1875): Shaftesbury Society, London. - Archive der London Society for the Promotion of Christianity Among the Jews (bes. die Protokolle des General Committee, Jubiläumspredigten u. Jahresberichte): Bodleian Library, Oxford. Beiträge zur Quarterly Review, die Shaftesbury zugeschrieben werden: The Factory System: QR(L) 57 (Dez. 1836) 3 9 6 - 4 4 3 . - Papal Conspiracy - Archbishop of Cologne ...: ebd. 63 (Jan. 1839) 8 8 - 1 2 0 . - Lord Lindsay's Travels - State and Prospects of the Jews: ebd. 63 (Jan. 1839) 1 6 6 - 1 9 2 . - Infant Labour: ebd. 67 (Dez. 1840) 1 7 1 - 1 8 1 . - The Ragged Schools: ebd. 79 (Dez. 1846) 1 2 7 - 1 4 1 . - Lodging-houses: ebd. 82 (Dez. 1847) 1 4 2 - 1 5 2 . Reden: The Factory Bill. Lord Ashley's Ten-hour Bill and the Scheme of the Factory Commissioners compared, o.O.u.J. (1833?). - Speech of Lord Ashley in the House of Commons, on Tuesday, August 4, 1840. On moving an Humble Address to Her Majesty, to appoint a Commission of Inquiry into the Employment of Children in Mines, Collieries, and Other Occupations not Regulated by the Factory Acts, London 1840. - Speech of Lord Ashley, in the House of Commons, on Tuesday, 7th June, 1842. On moving for Leave to bring in a Bill to make Regulations Respecting the Age and Sex of Children and Young Persons employed in the Mines and Collieries of the United Kingdom, London 1842. - Moral and Religious Education of the Working Classes. The Speech of Lord Ashley, M.P., in the House of Commons on Tuesday, February 28, 1843, London 1843. - Suppression of the Opium Trade. The Speech of the Right Hon. Lord Ashley, M.P., in the House of Commons, on Tuesday, April 4, 1843, London 1843. - Ten Hours' Factory Bill. The Speech of Lord Ashley, M.P., in the House of Commons, on Friday, March 15th, 1844, in moving that the Word „Night," in the Second Clause shall be taken to mean from Six o'clock in the Evening to Six o'clock on the following Morning, London 1844. - Speech of Lord Ashley, in the House of Commons, on July 23, 1844 on Treatment of Lunatics, London 1844. - Employment of Children in Calico Print Works. Corrected Report of the Speech of Lord Ashley, M.P., in the House of Commons on 18th Day of Feb. 1845, on Moving „that leave be given to bring in a bill to regulate the labour of children in the calico print-works of Great Britain and Ireland.", London 1845. - Speech of Lord Ashley, in the House of Commons, on April 16, 1845 on Maynooth College, London 1845. - Speech of Lord Ashley, in the House of Commons, on June 6, 1848 on the Public Health Bill, London 1848. - Speech of Lord Ashley, in the House of Commons, on July 24, 1849 on Ragged Schools, London 1849. - Speech of Lord Ashley, in the House of Commons, on March 18, 1851 on Ecclesiastical Titles Assumption Bill, London 1851. - Speech of Lord Ashley, in the House of Commons, on April 8, 1851 and, as Lord Shaftesbury, in the House of Lords, on July 8, 1851 on the Lodging-Houses Bill, London 1851. - Speech of Lord Shaftesbury, in the House of Lords, on April 4, 1854 on the Chimney Sweepers Bill, London 1854. - Speech of the Right Hon. the Earl of Shaftesbury, in the House of Lords, Feb. 24,1860, on the Holding of Special Religious Services in Theatres, London 1860. - Speech of Lord Shaftesbury, in the House of Lords, on March 3, 1863 on Dwellings for the Labouring Classes, London 1863. - Speeches of the Earl of Shaftesbury, upon Subjects having Relation Chiefly to the Claims and Interests of the Labouring Class. With a Preface, London 1868 Shannon 1971. - Speech of Lord Shaftesbury, in the House of Lords, on May 11,1874 on the Public Worship Regulation Bill, London 1874. - Speech of Lord Shaftesbury, in the House of Lords, on July 15,1879 on the Cruelty to Animals Bill, London 1879. - Speech of Lord Shaftesbury, in the House of Lords, on March 6, 1882 on Wages in Public Houses, London 1882. Literatur George Reginald Balleine, A History of the Evangelical Party in the Church of England, London 1908. - Georgina Battiscombe, Shaftesbury, London 1974. - David Bebbington, Evangelicalism in
Shakespeare
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Richard Turnbull
Shakers
Quäker
Shakespeare, William 1. Leben
1.
(1564-1616)
2. D a s T h e a t e r
3. Die Stücke
(Quellen/Literatur S. 236)
Leben
Der Dichter und Dramatiker William Shakespeare wurde 1564 in Stratford, einer Marktstadt am Fluß Avon in Warwickshire, als ältester Sohn und drittes von sieben überlebenden Kindern von John Shakespeare, einem Handschuhmacher, und Mary Arden, der Tochter eines Landbesitzers, geboren. Im Jahr 1568 war John Amtmann (Bürgermeister) von Stratford. Grundlage des Unterrichts an der Schule von Stratford waren lateinische Grammatik, Rhetorik und Stilübungen; englisch zu sprechen war in den oberen Klassen verboten. In der Holy Trinity Church, zu deren Besuch William mit seinem Vater gesetzlich verpflichtet war, pflegte er wohl den Gottesdiensten, Lesungen und Predigten zu folgen. Sein Vater spielte im Leben Stratfords eine führende Rolle. Sein Haus war von Wiesen, Obstgärten, Bauernhöfen und Parks umgeben. Schauspieler besuchten Stratford, und im nahen Coventry wurde am Fronleichnamsfest ein berühmter Mirakelspielzyklus aufgeführt (—>Mysterienspiele 6.). William verließ die Schule vermutlich im Alter von fünfzehn. Mit achtzehn heiratete er die acht Jahre ältere Anne Hathaway. Sieben Monate später kam die Tochter Susanna zur Welt und im Jahr 1585 die Zwillinge Hamnet und Judith. 1592 ist William in London und wird in einer an Schriftsteller gerichteten Streitschrift als ein Aufsteiger angegriffen, der „sich einbildet, er könne einen Blankvers so wie die besten von euch aus sich herausschwülsten" und sei „der einzige Bühnen-Erschütterer im L a n d " (Robert Greene [ 1 5 5 8 - 1 5 9 2 ] ) . Bühnen-Erschütterer („Shake-scene") ist Shakespeare, dessen N a m e sich in verschiedenen Variationen und Schreibweisen findet.
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O b w o h l Shakespeare seine Verbindungen mit Stratford aufrechterhielt, spielte sich sein berufliches Leben nun in L o n d o n ab, w o er schrieb und als Schauspieler a u f t r a t . Er war Teilhaber an der f ü h r e n d e n T r u p p e , den Lord Chamberlain's Men, die nach der Pest im J a h r 1594 gegründet w u r d e . Sie spielte am Hof und im - » T h e a t e r , dem Curtain sowie in ihrem eigenen, dem 1599 erbauten Globe Tbeatre. Shakespeare war am beträchtlichen G e w i n n der T r u p p e beteiligt, die 1603 die Kings Men w u r d e . Sie spielte sowohl a m Hof als auch im Globe und nach 1608 im W i n t e r im überdachten Blackfriars Tbeatre. Im J a h r 1596 starb Williams Sohn H a m n e t im Alter von elf J a h r e n . 1597 k a u f t e William N e w Place, das größte H a u s in Stratford. 1601 starb sein Vater. 1607 heiratete Susanna und brachte 1608 eine Tochter zur Welt. 1609 starb Williams M u t t e r . A b 1610 verbrachte William mehr Zeit in Stratford. 1616 heiratete Judith, und a m 23. April 1616 starb William und w u r d e in der H o l y Trinity Church begraben, w o sein D e n k m a l vor 1623 errichtet w u r d e . W i r wissen nichts d a r ü b e r , w a s William zwischen 1579 und 1592 tat. Diese „verlorenen J a h r e " laden zur Diskussion ein, e b e n s o wie die T r e u e der Familie Shakespeare z u m Katholizismus. J o h n Shakespeare verlor seine öffentlichen Ä m t e r in den 80er J a h r e n des 16. J h . und w u r d e 1592 wegen „ R e k u s a t i o n " (Verweigerung des Kirchenbesuchs) ebenso vor Gericht geladen wie Susanna im J a h r 1606. 1757 f a n d ein M a u r e r , der an J o h n Shakespeares H a u s arbeitete, u n t e r den Kacheln versteckt J o h n s handschriftliches „ S e e l e n v e r m ä c h t n i s " , ein förmliches G l a u b e n s b e k e n n t n i s , das an r ö m i s c h - k a t h o l i s c h e Christen, die voraussichtlich o h n e einen Priester sterben w ü r d e n , gerichtet w a r und heimlich u n t e r ihnen verteilt w u r d e . J o h n zeichnete den Beginn jedes Abschnitts dieses langen, freimütigen D o k u m e n t s ab. E d m o n d M a l o n e ( 1 7 4 1 - 1 8 1 2 ) , der erste m o d e r n e ShakespeareForscher, veröffentlichte es, d o c h ist es mittlerweile verlorengegangen. Im Stratford der 1580er J a h r e g a b es s t a r k e Sympathien für den Katholizismus. Die M u t t e r des Dichters, M a r y A r d e n , s t a m m t e a u s einer angesehenen Familie; ein Cousin w u r d e 1583 e r h ä n g t , gestreckt u n d gevierteilt. Einer Überlieferung zufolge w a r Shakespeare in seinen jüngeren J a h r e n Schulmeister auf d e m L a n d gewesen, u n d es gibt Hinweise, die das mit dem katholischen Lancashire verbinden. Es ist a u c h überliefert, d a ß S h a k e s p e a r e als Papist starb, und b e s t i m m t e Einzelheiten seines Lebens d e u t e n auf S y m p a t h i e n f ü r d e n Katholizismus hin. Nichts in den D o k u m e n t e n zu Williams Leben belegt freilich die Art von T r e u e zum alten G l a u b e n , die sein Vater an den T a g gelegt hatte. Und auch die G e s a m t h e i t seiner Schriften läßt nichts Konkreteres erkennen als ein n o r m a l e s , vom kritischen Geist der - » R e n a i s s a n c e und des - » H u m a n i s m u s geprägtes Verständnis des C h r i s t e n t u m s . Die Stücke enthalten jedoch eine reiche Symbolik, die keinerlei Spuren der reformatorischen Theologie aufweisen.
2. Das
Theater
Im J a h r 1623 brachten Shakespeares Schauspielerkollegen eine g r o ß e Folio-Ausgabe seiner gesammelten Stücke heraus, insgesamt 36, von denen nur 19 vorher im Q u a r t F o r m a t erschienen w a r e n . Die Folio-Ausgabe C o m e d i e s , Histories, and Tragedies hat als Vorwort ein Shakespeare gewidmetes Gedicht von Ben J o n s o n , in dem er als der größte aller antiken und m o d e r n e n europäischen D r a m a t i k e r dargestellt wird, als einer, der „keinem Zeitalter, s o n d e r n allen Zeiten a n g e h ö r t " , und d e m z u f o l g e der „ s ü ß e Schwan von A v o n " n u n zum H i m m e l aufgegangen sei als „Sternbild", der „Stern der D i c h t e r " . N a c h d e m S t r a t f o r d - J u b i l ä u m von 1769 begann man, Ben J o n s o n s geistreiche Beförderung Shakespeares zum H a l b g o t t in Deutschland und sogar in Frankreich ernst zu nehmen. Seit 200 Jahren ist Shakespeare der meistbekannte weltliche Schriftsteller ü b e r h a u p t , d a n k der G a t t u n g , der er sich verschrieben hatte, sowie seinen Verdiensten: seine Stücke werden Tag für Tag an T h e a t e r n innerhalb und a u ß e r h a l b der englischsprachigen Welt a u f g e f ü h r t . Shakespeare betrat das T h e a t e r in einem günstigen M o m e n t . Es w a r eine Zeit geistiger G ä r u n g , kulturellen Selbstvertrauens, sprachlichen Überschwangs und dichterischer Hochleistungen. Die R e f o r m a t i o n h a t t e einen Großteil des mittelalterlichen Fest- u n d Schauspiels aus der Kirche geholt und in den Bereich des Staatlichen getragen und d e m , w a s in der Kirche geschah, einiges an D r a m a t i k g e n o m m e n . Der Staat der Tudors w a r
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repressiv, aber die jüngst p o p u l ä r g e w o r d e n e n T h e a t e r waren die H a u p t s c h a u p l ä t z e , wo man brisante T h e m e n vorsichtig ausdrücken konnte. In Shakespeares Globe (das kürzlich wiederaufgebaut wurde) hatten mehr als 3 000 Z u s c h a u e r Platz. Es gab fünf weitere g r o ß e T h e a t e r in L o n d o n , einer Stadt von ca. 200000 E i n w o h n e r n . Vorführungen fanden tagsüber statt, ohne Pause, hatten k a u m Bühnenbilder und waren nicht überdacht; Frauenrollen wurden von Knaben gespielt. Der Schauspiel-Stil war d e k l a m a t o risch, nicht realistisch. Sozial und bildungsmäßig w a r das P u b l i k u m sehr gemischt; es war gierig nach Effekten, Sprache und Diskussionen. Das T h e a t e r w a r beliebt und hatte eine A t m o s p h ä r e wie heute bei einem Stierkampf, einer O p e r oder einem Fußballspiel. Seine Popularität gab dem T h e a t e r eine Zuschauerbasis, o h n e die die D e b a t t e unter den H u m a n i s t e n die öffentliche D r a m a t i s i e r u n g aktueller und zeitloser menschlicher Belange nicht hätte bereichern k ö n n e n . 3. Die
Stücke
Shakespeare schrieb zunächst Komödien und Historien. In den ersten zehn Jahren seines Schaffens verfaßte er neun nach englischen Königen b e n a n n t e Stücke, zehn Liebeskomödien und zwei nichthistorische Tragödien. In den nächsten zehn Jahren entstanden Tragödien, R ö m e r d r a m e n und eher kritische Komödien, a u ß e r d e m vier R o m a n zen, deren letzte The Tempest (Der Sturm) ist. Im R u h e s t a n d , zehn J a h r e nach —•Elisabeths I. Tod, arbeitete Shakespeare als Mitverfasser an einem Stück Henry VIII. Shakespeares D r a m e n s t o f f e sind weltlich, nicht geistlich. Er m u ß Mirakelspiele gesehen h a b e n , in denen Episoden aus der biblischen Geschichte f ü r die Z u s c h a u e r dramatisch umgesetzt w u r d e n , und M o r a l i t ä t e n wie Everyman, in dem das Leben des M e n schen allegorisch durch Laster und Tugenden sowie gute und böse Engel dargestellt wird. Der christliche H u m a n i s t Shakespeare e n t n a h m seine Stoffe nichtbiblischen Quellen: klassischer und moderner Literatur, Geschichte und R o m a n z e . Verglichen mit den puritanischen H u m a n i s t e n E d m u n d Spenser (1552—1599) und J. —»Milton ist Shakespeare u n d o k t r i n ä r ; verglichen mit C h r i s t o p h e r M a r l o w e (1564-1593) hat er ein G e f ü h l für das Heilige und die Vorsehung, ist er Christ, aber undogmatisch. Seine Figuren denken o f t über die M o r a l , V o r h e r b e s t i m m u n g usw. dessen nach, was um sie h e r u m geschieht, aber, wie S. J o h n s o n schrieb: „Er b e m ü h t sich so viel mehr d a r u m , zu gefallen als zu unterweisen, d a ß er ohne moralische Absicht zu schreiben scheint" (vgl. J o h n s o n 130). J o h n s o n kritisierte auch des Dichters Vorliebe f ü r Wortspiele. D a r a n , d a ß Shakespeare es unterließ, poetische Gerechtigkeit walten zu lassen und auf einfache Weise zu schreiben, sollten sich später L. - » T o l s t o j und L. -»Wittgenstein stören. Shakespeares moralischer Kosmos ist zweifellos b u n t und k o m p l e x . M a n hat ihn als Zeugen f ü r einander entgegengesetzte S t a n d p u n k t e aufgerufen - politische, soziale und religiöse - und geflügelte Worte aus seinen Stücken als Beweismittel zitiert. Doch wird das dem Wesen seiner Stücke nicht gerecht. John Keats (Jonathan Bäte [Hg.], T h e R o m a n t i c s on Shakespeare, H a r m o n d s w o r t h 1992, 198) lobte Shakespeares „negative Fähigkeit", seine Fähigkeit, nicht Partei zu ergreifen und unideologisch zu sein. Diese proteische Eigenschaft k o m m t nicht d a v o n , d a ß er strittige T h e m e n und zeitgenössische englische Schauplätze meidet, sondern ist eine Konsequenz der von ihm gewählten G a t t u n g . Ein Stück hat keinen S t a n d p u n k t , da es weder ein T r a k t a t noch ein A r g u m e n t ist und noch nicht einmal eine Diskussion, sondern eben ein Stück. Ein Schauspiel entwickelt sich aus einem Konflikt oder einer Verwicklung; der Autor läßt seine Einbildungskraft walten und verleiht den verschiedenen Figuren Wort und Stimme. Als Komponist und Dirigent h a t er keine einzelne Stimme oder einen einzelnen S t a n d p u n k t . (Selbst wenn der D r a m a t i k e r etwas mit seinem Publikum im Schilde führt, k a n n ihm das Wesen des D r a m a s ein Schnippchen schlagen. Zuschauer halten oft Bertolt Brechts Anti-Helden Galilei f ü r den Helden des Stückes.) Shikespeares S t a n d p u n k t m a g nicht eruierbar sein, aber aus seiner T h e m e n w a h l können wir schließen, was ihn beschäftigte. Er wählte alte Geschichten und erfand seine
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Handlungsabläufe selten selber. Zwei Ausnahmen, A Midsummer Night's Dream (s. u. 3.1.) und The Tempest, haben mit der Magie von Geistern zu tun. Ein Hinweis auf den Wandel in Shakespeares Interessen liegt in der Genreabfolge seiner Werke: Komödie und Historie; Tragödie; Tragikomödie. Doch hielt sich Shakespeare nicht strikt an die Genres und vermischte seine Tragödien mit Komödienelementen und seine Komödien mit tragischen Elementen, und er brachte die nichtklassische Gattung der Historie zur Vollendung. 3.1. Die
Komödie
Die Hälfte aller Shakespeare-Stücke sind Komödien, zumeist Liebeskomödien und festliche Komödien mit wenigen satirischen Elementen. Wir lachen eher mit Shakespeares komischen Figuren als über sie. Die Bedeutung des Begriffs der Komödie, einer Genrebezeichnung der Folio-Ausgabe (s.o. 2.), hat sich gewandelt: Sie stellte eine Art von Schauspiel dar, in dem eine Verwicklung einen glücklichen Ausgang findet, und nicht ein Stück, das zum Lachen bringen soll. Shakespeares ältestes erhaltenes Stück, Two Gentlemen of Verona (Zwei Herren von Verona), ist bereits meisterhaft. Es ist eine Liebeskomödie mit einem Herzog, jungen Rivalen, einem Vater namens Antonio, einer Tochter, die sich als Junge verkleidet, um ihrem Liebhaber zu folgen; einem Ring, einem Handschuh, einer Mönchszelle; komischen Dienern, einem Lied. Sein nächstes Stück war A Comedy of Errors (Komödie der Irrungen), dem eine römische Komödie von Plautus zugrunde lag und das von der Verwirrung handelt, die von zwei eineiigen Zwillingen mit demselben Namen hervorgerufen wird. Shakespeare, der das Stück in der Schule studiert haben muß, war selbstbewußt genug, um den Zwillingen namens Antipholus Zwillingsdiener namens Dromio zu geben und die daraus entstehenden Verwicklungen zu meistern. Die typischen Bestandteile von Verkleidung und Verwechslung sowie die einander gegenübergestellten Ansichten von Männern und Frauen, Eltern und Kindern, Herren und Dienern fügen sich zu einem Tanz, in dem der Geschlechtertausch der Romanze am Ende aufgedeckt wird und zur Hochzeit führt. In Love's Labour's Lost (Verlorene Liebesmüh) entsagen vier junge Edelmänner für drei Jahre weiblicher Gesellschaft, um in einer kleinen Schule die Weisheit zu lernen. Vier adlige Fräulein stoßen dazu; die Männer verlieben sich in sie; die Damen verkleiden sich und lassen die Männer dumm dastehen; ein komisches Zwischenspiel endet mit der plötzlichen Nachricht vom Tod des Vaters der Prinzessin. Zum Schluß finden nicht vier Hochzeiten statt, sondern ein Trauerjahr. Die Moral ist, daß weder Studium noch Liebe dem Tod trotzen können, doch ist der ganze Spaß zu witzig, um ernst zu sein. In ihm kommt die erste Shakespearesche Heldin vor, Rosaline, die weiser und praktischer ist als der Mann, der schwört, sie zu lieben. Der Weg zur Weisheit führt über Fehler; die Vorsehung läßt Torheit zum Glück führen. Das ist mehr in der Nachfolge des gemäßigten Humanismus von —»Erasmus und Th. —»Morus als eines Neuplatonismus, der auf die Verbesserung des einzelnen zielt. A Midsummer Night's Dream (Ein Sommernachtstraum) ist ein kühnes Werk der Verschmelzung verschiedener Standpunkte. Darin kommen vor: ein Feenkönig und die Feenkönigin, Oberon und Titania, sowie Puck, ein frecher Elf aus der englischen Volkssage; Herzog Theseus und seine Verlobte Hippolyta; vier edle junge Verliebte; sowie eine Gruppe von Handwerkern, die ein Stück für die Hochzeit des Herzogs proben. Eine nachgerade genial entworfene Handlung, dichterische Fülle und eine possenhafte Aufführung über die tragische Geschichte von Pyramus und Thisbe gehen drei Hochzeiten voraus. Der Feenkönig und die Feenkönigin versöhnen sich ebenfalls wieder miteinander, doch nicht, ehe Titania sich unfreiwillig in Zettel den Weber verliebt hat, der in einen Esel verwandelt worden ist. Das irrationale Wesen von erotischer Anziehung und sexuellem Besitzergreifen wird zum Thema, einem Thema, das mit Mummenschanz und Illusion zusammenhängt sowie dem Spiel im Spiel. Der Gedanke „Die ganze Welt ist eine Bühne, / Und alle Menschen nichts als Spieler", den Jacques in As You Like It
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(Wie es euch gefällt) äußert, zieht sich durch das Gesamtwerk Shakespeares. Bei der possenhaften Aufführung von Pyramus und Thisbe ruft Hippolyta aus: „Das ist das Albernste, was ich je gehört habe." Theseus erwidert: „Die besten dabei sind bloße Schatcen, und die schlechtesten nicht schlechter, wenn die Einbildungskraft ihnen hilft." Hippolyta: „Es muß wohl deine Einbildungskraft sein, nicht ihre" („Schatten" bedeutete „Schauspieler"). Das nächste Stück, Romeo and Juliet, endet mit einer Tragödie der Irrungen, die der von Pyramus und Thisbe durchaus ähnlich ist. In Shakespeares Liebeskomödien verkleidet sich die Heldin oft als Junge, z. B. Rosalind, die witzige Protagonistin von As You Like lt, und Viola, die eher passive Hauptfigur von Twelfth Night or What You Will (Was ihr wollt). Violas Liebe zu Orsino ist geduldig und ohne Besitzansprüche: „Sie drückte ihre Liebe nie aus." Ihre Liebe ist eine ideale, obschon der eitle Orsino ihrer eindeutig nicht wert ist. Orsino hat einen Narren, Feste: ein Mann mit Witz, ein Tänzer und Sänger trauriger Lieder. Twelfth Night (1601) ist die letzte geniale Liebeskomödie. In früheren Komödien wie z.B. The Merchant of Venice (Der Kaufmann von Venedig) und Much Ado About Nothing (Viel Lärm um nichts) wird die Tragödie nur knapp vermieden. Die späteren Stücke Measure for Measure (Maß für Maß) und All's Well that Ends Well (Ende gut, alles gut) sind bittersüß, und Troilus and Cressida ist eine scharfe satirische Entlarvung von Liebe und Heldentum. 3.2. Die
Historie
Die Historien stellen eine Dramatisierung der Chronicles (Chronik) der Tudors dar, und wenn diese Chronik auch von Moral und Vorsehung geformt ist, so ist sie doch nicht dramatisch. Shakespeares Historien handeln von der Geschichte Englands vor der Thronbesteigung Heinrichs VII. (reg. 1485-1509). Der Vorgänger Heinrichs VII., Richard III. (reg. 1483-1485) aus dem Hause York, stellt das Hauptthema von Shakespeares erster gelungener Historie dar, einer schauerlichen Analyse des Despotismus. Der große Wurf der Historien ist die „zweite Tetralogie", Richard U, Henry IV (Teile I und II) und Henry V. Sie setzt den Sturz des schwachen und unfähigen, aber legitimen Richard durch Heinrich IV. dramatisch um, den Vater Heinrichs V., des Siegers von Agincourt und Vorfahren Heinrichs VII., des Großvaters von Elisabeth I. Heinrich IV. muß die Rechnung für seine widerrechtliche Thronbesteigung und den Mord an Richard bezahlen. Seine Herrschaft ist von Rebellion und der Unverantwortlichkeit seines Sohnes, des Prinzen Hai, überschattet. Sobald es jedoch mit seinen Scherzen mit Falstaff ein Ende hat, erbt Hai ein vereintes Königreich und erweist sich mit Hilfe seiner Kenntnis des gewöhnlichen Mannes als fähiger Führer. Shakespeare ist es (wie Marlowe) an wirksamer Machtausübung gelegen, aber auch (im Unterschied zu Marlowe) an der gerechten Ausübung von Macht und ihrer Rechtmäßigkeit durch die Zustimmung des Volkes. Diese Stücke entwickeln auch einen Mythos von der organischen Einheit des englischen Volkes, das in einem breiten Querschnitt dargestellt wird, sowie derjenigen Englands unter seinem König. Auf die Rolle der britischen Krone als Imperium ist bereits ein Schatten vorausgeworfen. Während der ersten Hälfte von Shakespeares Laufbahn drehen sich seine Stücke hauptsächlich um die Art, wie Menschen miteinander umgehen, um konträre Einstellungen und Werte und um das Aufbauen von Handlungen, in deren Verlauf Fehler und Vergehen glücklich ausgemerzt werden können. In der zweiten Hälfte seines Schaffens entwickelt sich seine Meisterschaft der dramatischen Strukturierung und der Sprache weiter, doch schafft er ab Hamlet Protagonisten mit einem bis dahin unerhörten inneren Reichtum, der sich in einer Sprache von unübertroffener Kraft ausdrückt. Nebensächliche Personen gewinnen ebenfalls immer mehr an seelischer Tiefe. 3.3. Die
Tragödie
In jeder der vier großen Tragödien, Hamlet, Othello, King Lear und Macbeth, wird ein edler Protagonist den Wirren äußerer Umstände ausgesetzt; wir sehen zu, wie er
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sich mit ihnen abmüht und stirbt. Doch gehören die Tragödien nicht einem einzigen Typus an. Hamlet ist ein humanistischer Prinz in einer Mafiafamilie. Othello ist ein Krieger, der sich in einer Welt der Intrige verloren hat. Lear ist für die Übel in seinem Königreich mitverantwortlich, und M a c b e t h trägt fast die alleinige Verantwortung. Hamlet ist dazu beauftragt, den M o r d an seinem Vater zu rächen; sein Gewissen hält ihn davor zurück. Der H o f , seine Mutter, seine Ophelia und schließlich sein eigenes Bewußtsein haben sich gegen ihn gewendet. Er kann sich erst dazu überwinden, Claudius umzubringen, als ein zweiter Anschlag auf sein eigenes Leben stattfindet. Innerhalb einer spannend verwickelten Handlung werden wir in sechs langen Monologen ganz in Hamlets gequälte Seele hineinversetzt. Die grausige Schlächterei der letzten Szene k o m m t fast als Erleichterung. Othello und M a c b e t h werden zu ihren furchtbaren Taten angestachelt, doch König Lears Tragödie resultiert aus seiner eigenen Arroganz. King Lear ist ein Stück um Gut und Böse, eine Parabel ohne große Psychologie. Sie bringt den größten Schmerz und das schlimmste Übel zum Ausdruck, die Menschen empfinden und einander antun können. W i e üblich bei Shakespeare geschieht das innerhalb einer Familie. Die abgewiesene Cordelia rettet ihren in die Irre geführten Vater, doch in der Schlußszene finden wir die Bühnenanweisung: „Lear tritt mit der toten Cordelia in seinen Armen a u f " . Lear fragt: „ W a r u m s o l l t e n ein H u n d , ein P f e r d , e i n e R a t t e L e b e n h a b e n U n d du ü b e r h a u p t k e i n L e b e n ? D u w i r s t nie w i e d e r k e h r e n , Niemals, niemals, niemals, niemals, niemals."
Das Böse verfolgt das Gute fast durch das ganze Stück hindurch. Als Lear von seinen T ö c h t e r n dem Sturm ausgesetzt wird, treibt ihn sein Leiden in den Wahnsinn. Die Szenen mit Lear, dem Narren und Edgar auf der Heide, seine Zusammenkunft mit Gloucester und sein eigener T o d spielen sich in einem Reich des Erhabenen ab, das alles in der modernen säkularen Literatur überragt. King Lear stellt eine Welt vor, in der das Gute, wenn es überdauern will, ins Exil gehen, sich verkleiden oder wahnsinnig werden muß. Cordelia rettet Lear, pflegt ihn und ruft ihn wieder ins Leben zurück; er kniet nieder und bittet sie um Vergebung. Als sie von ihren Feinden verhaftet werden, sagt Lear: „Auf solche Opfer, o Cordelia, / Streuen die Götter selber W e i h r a u c h " . Aber Cordelia wird gehenkt. Die Tugend triumphiert in King Lear nicht, und einige moderne Inszenierungen machen aus Lear ein Stück der Verzweiflung. D o c h rettet Edgar, dem Unrecht widerfahren ist, seinen Vater zweimal vor der Verzweiflung. O b w o h l das Stück in vorchristlichen Zeiten spielt, ist sein Höhepunkt voller christlicher Verweise. Das Christentum behauptet nicht, das Gute werde in dieser Welt belohnt, und Lear ist ein Stück, in dem das Böse jämmerlich versagt. S. Johnson sagte, Cordelias Tugend werde in einer gerechten Sache vernichtet. Es wäre angemessener zu sagen, Cordelia werde vernichtet, aber nicht ihre Tugend. Dort wird es von Shakespeare belassen, im M o m e n t des Todes, zwischen dieser Welt und der kommenden. Macbeth und Coriolanus sind spätere, aber nicht dunklere Werke als King Lear. O b w o h l M a c b e t h s M o n o l o g e uns völlig in ihn hineinversetzen, ist das Böse in ihm viel schlimmer als das in Lear, und die dichterische Gerechtigkeit, die am Schluß von Lear verweigert wird, ist in Macbeth unausweichlich.
3.4. Die
Romanze
Shakespeare entschloß sich, seine Laufbahn mit der Romanze und der Tragikomödie zu beenden. In seinen letzten Stücken richtet er sein Augenmerk auf das Verhältnis zwischen Vater und Tochter. Die subversive Rolle, die sexuelle Anziehung in den So-
netten, im Hamlet, in Troilus and Cressida, Lear
spielt, nimmt nach Antony
and
Measure for Measure,
Cleopatra
Othello und King
eine neue Wendung. In jenen zerstört
Shakespeare
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die sexuelle Leidenschaft alle anderen Bande. In Lear macht die Lust, die Goneril und Regan f ü r E d m u n d empfinden, sie zu M o n s t e r n , w ä h r e n d Cordelias Liebe zu ihrem Vater beispielhaft, rein und heilig ist. Sie holt ihn, wie er sich ausdrückt, aus dem G r a b zurück. Die Rettung eines Vaters durch seine Tochter, die er so nicht verdient hat, ist das T h e m a von Pericles, Cymbeline, The Winter's Tale (Das Wintermärchen) und The Tempest (Der Sturm)-, die Eifersucht ist bloß im Wintermärchen ein T h e m a . Die N a m e n der T ö c h t e r sind symbolisch: Cordelia, M a r i n a , Innogen, Perdita, Miranda. Diese R o m a n z e n sind T h e a t e r m ä r c h e n und enthalten viele Lieder und T ä n z e . Die Tragödie wird durch providentielle o d e r göttliche Intervention abgewendet: Vater und Tochter werden nach einem Modell von Rettung, Heilung, Wiederherstellung und Vergebung, das o f t Musik und neue Kleider enthält, wiedervereint. Die W i e d e r h o l u n g dieses rituellen Modells scheint der Versuch einer E r w i d e r u n g auf Lears „ N i e m a l s , niemals, niemals, niemals, niemals" zu sein. Die Verlorenen werden g e f u n d e n , und der Tod bedeutet keine Trennung. Jedes H a p p y End ist in christlichem Sinne vorherbestimmt: Es tritt vermittels der G n a d e ein, die als Vergebung und liebevolle G ü t e auftritt. Die H a n d lungsebene ist natürlich, familiär und menschlich und enthält ausdrücklich übernatürliche Interventionen, die heidnisch klingen, aber ganz offensichtlich christliche Bedeutung haben. O b w o h l die heroische Tugend von Personen wie Kent, Edgar oder Paulina n o t w e n d i g ist, sind die Verwandlungen, die die T ö c h t e r und H e r m i o n e herbeiführen, eher eine Folge der G n a d e als eine Leistung des Vaters. Dieses C h r i s t e n t u m ist kein moralisches o d e r allegorisches, vielmehr ist es s a k r a m e n t a l und vom Vorsehungsgedanken bestimmt. The Tempest beginnt, n a c h d e m der tragische Teil der H a n d l u n g bereits vorüber ist. Der Z a u b e r e r Prospero und seine Tochter M i r a n d a sind seit zwölf J a h r e n die einzigen Menschen auf einer Wüsteninsel, auf die die Vorsehung Prosperos Feinde f ü h r t , die ihn aus seinem H e r z o g t u m von M a i l a n d vertrieben hatten: seinen Bruder A n t o n i o , Alonso, den König von Neapel, Alonsos Sohn Ferdinand sowie seinen Bruder Sebastian. D a s Stück dreht sich um die zentrale Frage des christlichen H u m a n i s m u s : inwieweit Bildung und Erziehung die natürlichen Anlagen verbessern k ö n n e n . Prospero hat seine Tochter erzogen, aber nicht Kaliban, einen wilden Kobold der Insel, den Prospero befreit hat, „einen Teufel . . . , bei dem die Umwelteinflüsse nie die natürlichen Anlagen ü b e r w i n d e n w e r d e n " . Kaliban hat versucht, M i r a n d a zu vergewaltigen, und m ö c h t e sich gegen Prospero auflehnen. Prospero n i m m t sich den Geist Ariel zu Hilfe, um die Edlen unter den Schiffbrüchigen zu überlisten und auf die Probe zu stellen. Ferdinand erweist sich Mirandas H a n d f ü r würdig; Alonso bereut sein Verbrechen; doch A n t o n i o und Sebastian wollen sich nicht bessern. Am E n d e des Stücks entschließt sich Kaliban, „von nun an weise zu sein / Und zu versuchen, G n a d e zu erlangen". Prospero entsagt der Magie und wird nach Neapel z u r ü c k k e h r e n , u m der Hochzeit Ferdinands und M i r a n d a s beizuwohnen und dort zu sterben. Seine Abschiedsreden sind Shakespeares Abschied von der Bühne. Wenn die Welt eine Bühne ist, so ist der A u t o r die Vorsehung der H a n d lung. Der Sturm hängt in g r ö ß t e m M a ß von der Kraft der Sprache ab, Bilder zu erschaffen, sowie von der verändernden W i r k u n g von Ariels M u s i k . Ariel erhält zum Schluß seine Freiheit, und Prosperos letzte Worte sind sein Wunsch an die Z u s c h a u e r , ihn zu befreien. Dem f r u c h t b a r e n Shakespeare fiel das Stückeschreiben leicht, aber er h a t sich nicht wiederholt. Jedes Stück ist anders, und das gilt besonders für seine Tragödien. Die 39 erhaltenen Stücke in der Reihenfolge ihrer Abfassung zu lesen bedeutet, mit einer zur Reife k o m m e n d e n Intelligenz eine g r o ß e Bandbreite menschlicher Lebenslagen zu teilen, sie aus allen Perspektiven zu betrachten und an menschlichem Verständnis zu gewinnen. Ebenso bedeutet es, sprachliche Allmacht zu erfahren: M a n k a n n alles ausdrücken, es gibt nichts, w a s nicht gesagt werden k ö n n t e . Die Sprache verhielt sich zu Shakespeare wie Ariel zu Prospero - er k o n n t e mit ihr t u n , w a s er wollte.
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Sibirische Religionen
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Michael J. Alexander Shintoismus
Japan
Sibirische Religionen 1. Seelenglaube stischen Glaubens
2. Weltbild 3. Bärenkult (Literatur S. 240)
4. Der S c h a m a n e
5. Schichtung des animi-
Sibirien stellt s o w o h l im geographischen wie im kulturgeschichtlichen Sinn ein Bindeglied zwischen N o r d e u r o p a , N o r d a m e r i k a u n d den Steppenregionen Asiens dar. Aus
Sibirische Religionen
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klimatischen Gründen ist es zugleich auch ein Rückzugsgebiet altertümlicher Erscheinungen. Es läßt sich grob in drei Regionen teilen, die nicht nur wirtschaftlich, sondern auch in Hinsicht der religiösen Vorstellungen bestimmend sind: (a) das nördliche Tundragebiet und die Küstenregion, wo die Samojeden, Tschuktschen, Korjaken, Kamtschadalen (Itelmenen), asiatischen Eskimos (—»Eskimo-Religion) und die von Süden in geschichtlichen Zeiten hergewanderten Jukagiren und Ewenen (Lamuten) von ihren großen Rentierherden und von Festlands- und Seejagd leben; (b) das Taigagebiet mit den Waldjägerstämmen der Ob-Ugrier (Chanti, d.h. Ostjaken, und Manschi, d.h. Wogulen), südsamojedischen Selkupen, Keten, Ewenki (Tungusen), den Amurvölkern wie Nanai (Gold), Udehe, Orok, Ultscha, Niwhen (Giljaken) und den vom Altai im 14. Jh. ins Lena-Tal gezogenen pferdezüchtenden Jakuten; (c) der Südstreifen der Taiga mit Einbuchtungen der Steppe, wo im Westen die Turkstämme der Schoren, Teleuten, Chakassen, Altaikischi, Tuwiner, im Osten die Buriaten neben Jagd die Großviehzucht betreiben. Die Grundlage der Religionen in allen drei Regionen bildet ein primärer, voll ausgebildeter Animismus. 1.
Seelenglaube
Alles, sowohl Lebloses als auch Lebendes, ist im Besitz von geistigen Substanzen bzw. hat eine oder mehrere -»Seelen. Das können Seelen von Arten von Lebewesen oder individuelle Seelen sein. Von großer Bedeutung sind die Herrengeister (Besitzergeister, Numina) der Naturerscheinungen. Der Geist des Himmels nimmt einen bevorzugten Platz ein, ist aber in der Regel ein deus otiosus ohne eigene Ikonographie. Alle Himmelskörper haben ihre Herrengeister, die Sonne meistens einen weiblichen, Mond und Morgenstern einen männlichen. Die Geisterherren und Herrinnen des Meeres und aller Flüsse, Seen und Berge bzw. Felsen erscheinen sowohl in menschlicher wie auch in tierischer Gestalt. Gemeinsam können sie zur Erdgottheit, Erdmutter abstrahiert werden, die mit dem Himmelsgeist im Gegensatz oder auch in ehelicher Bindung steht. Besonders verehrt ist das Feuermütterchen, zugleich Schutzgeist der Familie. Unter den Herrengeistern von Wolken, Regen und Wind wird letzterer für besonders mächtig gehalten. Die Bewohner der Meeresstrände verehren einen riesigen Sturmgeist in Vogelgestalt. Alles Lebende, Pflanzen, Tiere und Menschen, besitzt eine Lebenskraft- oder Wachstumsseele, die durch einen Faden mit einer Art Schicksalsgottheit, die im Himmel lebt, verbunden ist. Zerreißt der Faden, siecht das Lebewesen dahin. Außerdem haben alle Pflanzen und Tiere ihre artbezogenen Geister. Den Bären, Hunden und Pferden werden individuelle Seelen zugeeignet. Die Artsgeister der Bären oder der Tiger, letztere bei den Amurvölkern, werden oft zu Wald- und Wildgeistern, die in Menschengestalt mit ihrer Familie im Wald hausen und über das Jagdglück verfügen. Bekannt ist der Glaube an die Wiederentstehung des Wildes aus dem Skelett, dem Fell oder dem abgetrennten Schnauzenring. Jährlich wird den Artsgeistern der wichtigsten Beutetiere, die Seesäugetiere inbegriffen, ein Fest abgehalten, an dem in der Gestalt des erbeuteten Tieres der Artsgeist, als Gast reich bewirtet, mit Gesang und Tänzen geehrt wird. Der Mensch verfügt außer der Wachstumsseele auch über eine Körper- oder Knochenseele, die bis zum endgültigen Verwesen des Körpers ihr Beschützer bleibt. Weiter hat jeder eine Lebensseele, die nach dem ersten Lebensjahr aus der Kinderseele entsteht und nach dem Tod so lange am Sippenbaum in Vogelgestalt verharrt, bis sie durch einen Mutterschoß wiedergeboren werden kann. Letztere Vorstellung steht im Zusammenhang mit dem Sippenkult der Taigavölker. Mächtige Schamanen (—»Schamanismus) können Lebensseelen von anderen Sippen entwenden. Da die Lebensseele oft im Kopf oder in den Haaren sitzt, dient der alte und in ganz Sibirien einst verbreitete Brauch des Skalpierens der Feinde auch der Beschaffung ihrer Lebensseelen für die eigene Sippe. Bei den Tundravölkern gibt es auch den Glauben an die Wiedergeburt der verstorbenen
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Sibirische Religionen
Familienmitglieder, aber in weniger ausgearbeiteter Form. In den Sprachen der sibirischen V ö l k e r wird das individuelle Ich und das Andenken des Verstorbenen o f t mit demselben Wort bezeichnet. D a s ist das Prinzip, was man in der Ethnologie Schatten-, Bild- oder Freiseele nennt. Diese Seele macht im T r a u m Reisen, verursacht Krankheiten durch ihr zeitweiliges Sich-Entfernen, befindet sich nach dem Begräbnis eine Zeitlang in ihrem alten Lebensbereich. Für diese Seele werden sowohl bei den Ob-Ugriern als auch bei den A m u r - V ö l k e r n Leder- oder Stoffpuppen gemacht, in die Kleider des Verstorbenen gekleidet und von der Familie versorgt. N a c h einigen J a h r e n wird sie vom Schamanen ins Jenseits geleitet. Die Verstorbenen wurden auf B ä u m e n , unter Steinen oder in Totenhäuschen bestattet oder eingeäschert.
2. Weltbild Allgemein w a r die A n n a h m e der Dreischichtigkeit der Welt, deren mittlere Schicht die Welt der Menschen ist. Die O b e r w e l t , die mehrere Schichten haben kann, ist die Welt des Himmelsgeistes und der Geisterherren der H i m m e l s k ö r p e r und Sternbilder mit ihren Familien. In der dunklen und kalten Unterwelt wohnen bösartige Wesen aus Stein oder Eisen, mit nur einem A r m und Bein und halbem Kopf. Z w i s c h e n den Weltschichten g a b es Durchgänge, außerdem sind sie durch eine zentrale Weltachse verbunden, die entweder als O p f e r p f a h l oder als Sippen- bzw. S c h a m a n e n b a u m erscheint. Bei den T a i g a v ö l k e r n steht dieser B a u m auf dem heiligen Berg, aus dem der Lebensquell hervorsprudelt. D a s ist zugleich der Wohnort der E r d m u t t e r / A h n f r a u der Sippe. In den Vorstellungen der maritimen V ö l k e r sind die See und alle G e w ä s s e r eine Welt für sich, mit dem Meergeist und seinen Leuten, die nur in den Augen der Menschen T i e r e sind. Ursprünglich diente weder die Ober- noch die Unterwelt dem Aufenthalt der Verstorbenen, auch g a b es nach dem T o d e kein Vergelten des Guten und Bösen. Die Ertrunkenen lebten in der Welt der G e w ä s s e r weiter. Die auf Erden Gestorbenen kamen in eine parallel existierende, imaginäre Geisterwelt, die der einheimischen Terminologie zufolge die Welt der kollektiven Erinnerungen darstellt und in der sich auch die M y t h e n und epischen Erzählungen abspielen. Bei den südlichen Samojeden und den Tungusen fließt im Jenseits ein Fluß aus dem H i m m e l ins finstere M e e r des Nichts. Die Siedlungen der Verstorbenen, w o sie in Sippen dasselbe Leben führen wie einst auf Erden, befinden sich meistens an Nebenflüssen. Diese Welt kann nur v o m Schamanen betreten werden. Die Heiligtümer und Opferplätze der Familien, Sippen oder Ortsgemeinschaften symbolisieren meistens die dreischichtige Welt. D o r t sind durch grobgeschnittene Steine oder H o l z b l ö c k e die Ahnen- und Ortsgeister dargestellt. Die Familiengeister und Ahnendarstellungen werden in F o r m von kleinen Holz- oder Textiipuppen am heiligen Ort der Wohnung oder im heiligen Schlitten a u f b e w a h r t . Opferungen werden regelmäßig dargebracht: Speisung der Geisterabbildungen, der Felsen und der Flüsse. Ortsgeister wurden mit bunten Stoffstreifen beschenkt. Den Berg-, Wald- und Jagdgeistern, die meistens mit den Ahnengeistern identisch w a r e n , brachte man blutige O p f e r : Hunde, R e n tiere und früher auch Menschen, zumeist M ä d c h e n . D e m Himmelsgeist w u r d e ein schönes, lichtfarbenes Haustier, Pferd, Schaf oder Rentier, geweiht, das nicht geritten und getötet werden durfte. Als O p f e r g a b e n f ü r den J a g d g e i s t dienten auch nächtliche Epenvorträge.
3. Bärenkult D e r Bärenkult wird bei allen sibirischen Völkern ausgeübt. Die A b s t a m m u n g des Menschen v o m Bären wird allgemein angenommen. Die J a g d , das Abpelzen, Zerlegen w a r e n ebenso ritualisiert wie der Bärenschmaus, an dem Lieder und Schauspiele vorgetragen und Sportspiele veranstaltet wurden. Die Gebeine wurden unversehrt a u f b e w a h r t b z w . bestattet. D i e Keten a m Jenissei und die A m u r v ö l k e r zogen Bärenjungen in ihrem H e i m auf. D a s ausgewachsene T i e r w u r d e bei letzteren ebenso geopfert wie der erjagte Bär, w ä h r e n d die Keten es freiließen. Heilige Tiere waren noch Wolf, Fuchs, T i g e r ,
Sibirische Religionen
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Schwertwal, Walroß, Elch, Hirsch, Ren, Adler, Eule, Ente, Kuckuck, Kranich, Schwan, Schlange und Kröte. Ein regelrechter Totemismus kann aber nicht nachgewiesen werden. In den Mythen der Korjaken, Tschuktschen, Itelmen und Eskimos spielte der Rabe die Rolle eines tricksterischen Demiurgen und Ahnvaters. 4. Der
Schamane
Der Schamane (-• Schamanismus) ist eine zentrale Gestalt in der Glaubenswelt der Sibirier. Er ist Vermittler zwischen den Menschen und der Welt der Geister, Bewahrer der Tradition. Er kann heilen, wahrsagen und die Seinen vor bösen Einflüssen bewahren. Durch die sog. Schamanenkrankheit, ein Nervenleiden, wird er von den Sippen- oder Familiengeistern erwählt und verschiedenen schweren Proben unterworfen. Seine Einweihung erfolgt vor der Gemeinschaft, die auch für das Verfertigen seiner Requisiten verantwortlich ist. Mantel und Kopfputz sind nicht überall zu finden, nur die Rahmentrommel ist allgemein verbreitet. Im Westen und in der Mitte von Sibirien ist sie groß und oval, im Osten klein und rund. Im Westen Sibiriens sind die Schamanen Männer, in den mittleren Gebieten kommen Männer und Frauen in gleicher Zahl vor, doch die Frauen gelten als die Mächtigeren. Im Osten bei den Amurvölkern überwiegen die Frauen. Die Schamanen der Ob-Ugrier und die des fernen Nordostens gebrauchen getrocknete Fliegenpilze als Rauschmittel. Nach dem Tod werden die mächtigen Schamanen oft als Ortsgeister verehrt. Die Jukagiren machen aus dem Kopf und getrockneten Muskelstücken des Schamanen Amulette. Die Schmiede besitzen eine bevorzugte Rolle in Mythos und Ritus. Es werden ihnen übernatürliche Kräfte zugedacht. Im Pantheon der Burjaten gibt es neun Schmiedegötter, Söhne des Himmelsgeistes. 5. Schichtung
des animistischen
Glaubens
Im Animismus der Tundra- und der Taigaregion gibt es einige Unterschiede, besonders in Anbetracht der ethischen Werte. Bei den Völkern der Tundraregion ist das Heil und Überleben der Gemeinschaft der höchste Wert, ein abstraktes Gutes und Böses kennen sie nicht. Die Geisterwelt ist diffus und ohne Hierarchie. In der Taigaregion steht das Heil der Sippe und das Gleichgewicht der Natur im Mittelpunkt. Sünden gegen diese Werte werden von den zuständigen Herrengeistern streng geahndet, doch das allgemeingültige Gut und Böse ist auch ihnen ursprünglich fremd. Eine schwache Hierarchisierung der Geisterwelt zeigt sich schon. Der Himmelsgeist, obwohl er ein deus otiosus ist, wird hoch geehrt. Über andere Geister stehend hielten sie auch die Erdmutter, den Jagdgeist/ Berggeist und den Herrengeist der Meere. Sie alle verfügten über eine große Familie und Gesinde. Verehrung fand auch die Sonne mit ihren drei Töchtern. Die reinsten Züge des jägerischen Animismus bewahrten die Tungusen. Ihre Kultur kann bis ins Neolithikum zurückverfolgt werden. Bei den Ob-Ugriern sind die Familie, die dualistische Heiratsfratrie und die territorialen Gruppen die Kultträger. Darum gibt es Familienheiligtümer und weitbekannte, fratriale und territoriale Heiligtümer. Im Glauben der Ob-Ugrier und der Keten zeigen sich starke südliche Einflüsse, Andenken ihrer früheren Wohnorte. Bei den in der südlichen Übergangsregion wohnenden Buriaten, Südsibirischen Türken und den im 14. Jh. vom Altai nach Norden gewanderten Jakuten finden wir eine hierarchisierte, dualistische Geisterwelt. Die Oberwelt wird von guten Geistern, die dem Himmelsgeist unterstellt sind, bewohnt und die Unterwelt vom Khan der bösen Dämonen. Die Himmelsgötter der Buriaten teilen sich auf in gute und böse. Die Kämpfe der zwei Parteien spielen sich großenteils in der mittleren Welt ab. Dementsprechend gibt es bei ihnen weiße und schwarze Schamanen, erstere können in den Himmel steigen, letzteren steht die Unterwelt offen. Die Ortsgeister sind eher neutral. Wann und auf welchen Einfluß hin sich diese hierarchisierte und dualistische Geisterwelt ausbildete, ist nicht klar. Es könnten die im Altai im letzten vorchristlichen Jahrtausend lebenden iranischen (skythischen) Völker die Übermittler sein oder etwa viel später die Manichäer (-»Manichäismus) Innerasiens.
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Sibyllinen
Vom 17. Jh. an erschienen von Westen, mit dem Vordringen der Russen, die Missionare der Orthodoxen Kirche. Der Einfluß blieb aber höchst oberflächlich, besonders in den zwei nördlichen Regionen. Eigentlich integrierte sich nur der heilige Nikolaus in den Volksglauben. Aus der Mongolei drang vom 16. bis 17. Jh. an der —»Lamaismus zu den Tuwinern und Bujaten vor, mit viel größerer Effektivität als das Christentum. Die Ortsgeister und Artsgeister der Tiere wurden besiegt und in den Bann der Religion gebracht. Der Volksglauben wurde synkretistisch, es vermengten sich in ihm die Geister und Mächte des Lamaismus mit denen des alten animistischen Glaubens. Die amnestische Betrachtung der Welt blieb an der Basis unversehrt. In den ersten Jahren des 20. Jh. bildete sich bei den Altai-Turken durch das Eindringen christlicher Werte in den alten hierarchisierten Animismus eine messianistische, synkretistische Religion aus, der „Weiße Glauben" oder Burchanismus. Im Mittelpunkt des Kultes stand der Himmel als Gott und Spender allen Heils. In den sowjetischen Zeiten wurden sowohl die Schamanen wie andere religiöse Personen hart verfolgt. Nach Verfall der Sowjetherrschaft stellte sich eine neue Blüte der verschiedenen Glaubensformen und Riten ein. Literatur Nikolaj A. Alekseev, Schamanismus der T ü r k e n Sibiriens. Aus dem Russ. v. Reinhold Schletzer, Hamburg 1987 (Studia Eurasia 1) (Lit.). - Valentin Aleksandrovich Avrorin, Materialy po nanajskomu jazyku i fol'kloru, Leningrad 1986. - Woldemar Bogoras, Chukchee Mythology, Leiden/New York 1910 (Jesup North-Pacific Expedition VIII/1). - Ders., T h e Eskimo of Siberia, New York 1913 (Jesup North-Pacific Expedition VIII/3). - Matvej Nikolaevic Changalov, Sobranie socinenij, 3 Bde., Ulan-Udé 1 9 5 8 - 1 9 6 0 . - A. G. Danilin, Burchanizm, Gorno-Altajsk 1993. - Laurence Delaby, Chamanes toungouses, Paris 1976 (Études mongoles et sibériennes 7) (Lit.). - Boris O . Dolgich, Mifologiceskie skazki i istoriceskie predanija encev, 1961 ( T I E 66). - Ders., Skazki i predanija nganasan, M o s k a u 1976. - Albert Friedrich, Knochen u. Skelett in der Vorstellungswelt Nordasiens: W B K L 5 (1943) 1 8 9 - 2 4 7 . - Galina Rinchinovna Galdanova/Kseniia Maksimovna Gerasimova/ Dandar Bazarzapovic Dasiev, Lamaizm Buriatii X V I I I - n a c a l a X X veka, Novosibirsk 1983. - Waldemar Jochelson, T h e Koryak, Leiden/New York 1975 (Jesup North-Pacific Expedition V I / 1 ) . Ders., T h e Yukaghir and the Yukaghirized Tungus, Leiden/New York 1924 (Jesup North-Pacific Expedition I X / 2 ) . - Artturi Kannisto, Materialien zur Mythologie der Wogulen, bearb. u. hg. v. Erik A. Virtanen/Matti Liimola, 1958 ( M S F O 113). - Kustaa F. Karjalainen, Die Religion der JugraVölker, 3 Bde., 1 9 2 1 - 1 9 2 7 (FFC 41.44.63). - Eruchim A. Kreinovic, Nivchgu, M o s k a u 1973. - Toivo Lehtisalo, Entwurf einer Mythologie der Jurak-Samojeden, 1924 ( M S F O 53). - Eleazar Meletinskij, Typological Analysis of the Paleo-Asiatic Raven Myth: AEth 22 (1973) 1 0 7 - 1 5 5 . - Taras M a k s i movic Michailov, Mifologija narodov Jakutii, Jakutsk 1980. - Elizaveta Porfir'evna Orlova, Verovanija Kamcadalov-Itelmenov: Strany i narody vostoka 3 (1975) 1 2 7 - 1 3 7 . - H a n s - J o a c h i m Paproth, Stud. über das Bärenzeremoniell, Uppsala 1976. - Leonid P. Potapov, Altajskij samanizm (mit engl, summary), Leningrad 1991. - Elena D. Prokofjeva, Predstravlenija selkupskih samanov o mire: S M A É 2 0 (1960) 5 4 - 6 1 . - G a r m a Sandscheew, Weltanschauung u. Schamanismus der Alaren-Burjaten: Anthr. 22 (1927) 575 - 613.933 - 955; 23 (1928) 5 3 8 - 5 6 0 . 9 6 7 - 9 8 6 . - Éva Schmidt, Bear Cult and Mythology of the Northern Ob-Ugrians: Uralic Mythology and Folklore, ed. Michael H o p p a l / J u h a Penttikäinen, Budapest/Helsinki 1989, 1 8 7 - 2 3 2 . - Anna Smoljak, Saman, M o s k a u 1991. - Käthe Uray-Köhalmi, Der sibirische Hintergrund des Bärenfestes der Wogulen: Congressus Quartus Internationalis Fenno-Ugristarum P. 4, Budapest 1981, 1 3 4 - 1 4 8 . - Dies., Die Mythologie der Mandschu-Tungusischen Völker: W M Abt. I Bd. VII Lfg. 27 (1997) 1 - 1 7 0 (Lit.). - Edith Vertes, Die Mythologie der Uralier Sibiriens: W M Abt. I Bd. VII (im Druck).
Käthe Uray-Köhalmi Sibyllinen (Quellen/Literatur S. 244)
Von den in der Antike verbreiteten sibyllinischen Prophezeiungen einschließlich der in -»Rom aufbewahrten Sibyllinischen Bücher sind lediglich Fragmente überliefert. Erhalten ist dagegen eine umfangreiche, der Sibylle zugeschriebene, im Zuge ihrer christlichen Überlieferung zusammengewachsene Dichtung, die, häufig in dunkler und doppelsinniger Sprache, jüdische wie christliche (oder christianisierte) Texte und auch heid-
Sibyllinen
241
nische O r a k e l u m f a ß t . Diese S a m m l u n g d e r Sibyllinen b e s t e h t aus zwölf Büchern (Xôyoi) mit i n s g e s a m t 4 2 3 0 griechischen H e x a m e t e r n . Es h a n d e l t sich u m eine im M e t r u m d e r Orakelsprache abgefaßte Dichtung, der noch acht Fragmente zugeordnet werden müssen, d e r e n letztes in Prosa gehalten ist. D a s w ä h r e n d des b y z a n t i n i s c h e n M i t t e l a l t e r s n u r spärlich überlieferte Werk ist in e t w a einem D u t z e n d v o n H a n d s c h r i f t e n zumeist aus d e r Z e i t des H u m a n i s m u s e r h a l t e n , die sich auf drei T e x t f a m i l i e n (Rashdall zu wie auch für die beeindruckenden Schriften von A. Maclntyre. Für Bradley war es Sidgwicks Trennung des Individuums vom Allgemeinen, die in seiner Darlegung von der Begründung der Moralität eingestandenermaßen in eine Sackgasse geführt hat. Für Rashdall war es Sidgwick's Unfähigkeit zu erkennen, daß die Tugend immanent gut ist, was seinen Versuch, in der Moraltheorie eine Synthese zwischen Rationalität und Intuition herzustellen, zum Scheitern verurteilte. Die Kritik Maclntyres an Sidgwick und seinen Nachfolgern geht viel weiter. Für Maclntyre war Sidgwick nicht imstande, den jeweiligen historisch bedingten und unterschiedlichen Rahmen gerecht zu werden, innerhalb derer eine Moraltheorie entwickelt wurde. Er habe Moralität als ein zeitloses universelles Thema behandelt, das abgelöst von den besonderen Gemeinschaften und Traditionen, in denen moralisch Handelnde sich befinden, untersucht und analysiert
Siebenbürgen
250
werden k ö n n e ( M a c l n t y r e 192). A u f einer solchen G r u n d l a g e ließen sich die alten moralischen G e w i ß h e i t e n , die selber das P r o d u k t einer b e s t i m m t e n G e s c h i c h t e und in einen spezifischen G e i s t e s r a h m e n eingebettet sind, nicht m e h r a u f r e c h t e r h a l t e n . D e r Zerfall der m o d e r n e n M o r a l p h i l o s o p h i e in E m o t i v i s m u s und R e l a t i v i s m u s w a r unausweichlich. Allerdings w a r es ein M a ß s t a b für die B e d e u t u n g Sidgwicks in der G e s c h i c h t e der E t h i k , d a ß er die h e r r s c h e n d e M e t h o d e in der m o d e r n e n M o r a l p h i l o s o p h i e nicht nur mit e i n e m N a c h d r u c k und einer G r ü n d l i c h k e i t initiierte, die ihresgleichen suchen, sondern a u c h , d a ß er durch den von ihm selbst k o n s t a t i e r t e n W i d e r s p r u c h zwischen ihren G r u n d p r i n z i p i e n ihr letztendliches Scheitern v o r w e g g e n o m m e n h a t . Quellen
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Bevölkerung,
3. Reformationszeit-
Statistik
Der deutsche Name Siebenbürgen (erstmals erwähnt 1296) tritt neben dem urkundenlateinischen Septem urbium, Septemcastris (1241, 1248) und Ultrasilva/Transilvana (1190, 1250) - ungarisch
Siebenbürgen
251
Erdt'ly (11. Jh.) und rumänisch Ardeal (1444) — im 13. Jh. auf, die Vereinheitlichung zu urkundensprachlich Transsilvania ist erst 1461 belegt. Die Region ist durch Mehrsprachigkeit und Multikonfessionalität gekennzeichnet und hat eine vielfach ineinander verschränkte, meist aber nur unter (ethnischen oder konfessionellen) Einzelgruppenaspekten wahrgenommene Geschichte. Das Gebiet der historischen Provinz Siebenbürgen mit 56.880 km 2 und heute über 4 Millionen Einwohnern hatte seit der Völkerwanderung eine bewegte Geschichte, die in wesentlichen Zügen der Mitteleuropas folgte und vorübergehend eine gewisse Eigenständigkeit aufwies. Der Verwaltungsbegriff Transsilvanien (rumänisch Transilvania) bezeichnet erst seit 1919/1920 das historische Siebenbürgen und die ihm im Westen benachbarten Gebiete, die mit ihm durch die Friedensverträge von Trianon (1918/1919) an -»Rumänien kamen. Diese sind das Banat im Süden mit 18.400 km2 und 1,5 Millionen Einwohnern, das Kreischgebiet und Sathmar mit 18.700 km 2 sowie die Marmarosch im Nordwesten mit 8.300 km 2 und zusammen 1,7 Millionen Einwohnern. Alle fünf Gebiete gehörten seit der ungarischen Reichsgründung (um 990/1002) zu den Ländern der Stephanskrone (-»Ungarn), zwischen 1541 bzw. 1552 und 1690 zum Osmanischen Reich (Eyalets Timis/Temeswar und Buda sowie Fürstentum Siebenbürgen), seit 1690 zum Habsburger Reich, ab 1867 zu dessen Teilreich Ungarn und sind seit 1919 als Siebenbürgen, Westrumänien oder Transsilvanien ein Teil Rumäniens. Ethnisch und religiös zeigt Transsilvanien auch heute noch, trotz seit der Zwischenkriegszeit eingetretener markanter Verschiebungen auf eine Vereinheitlichung hin, eine bunte Vielfalt. Ein Vergleich der Volkszählungen von 1930 und 1992 macht die Veränderungen deutlich. Neun größere ethnische Gruppen (und weitere kleine, wie z. B. Armenier) sowie elf Konfessionsgruppen sind dabei statistisch erfaßt. 1992 wurden gezählt: 5.684.150 Rumänen ( = 7 3 , 8 % ; 1930: 3.207.900 = 5 7 , 8 % ) ; 1.604.000 Ungarn ( = 2 0 , 8 % ; 1930: 1.353.276 = 2 4 , 4 % ) ; 109.014 Deutsche ( = 1 , 4 % ; 1930: 543.852 = 9 , 8 % ; bis 1999 ist die Zahl infolge stetiger Auswanderung erheblich gesunken, es wird von weniger als 45.000 ausgegangen); 2.687 Juden (unter 0,1 % ; 1930: 178.699 = 3 , 2 % ) ; Zigeuner (Roma; die Eigenbezeichnung ist überwiegend „Zigeuner", Roma [-»Sinti und Roma] dagegen in Rumänien ein modischer Begriff mit politischen Konnotationen; die Zahl der Zigeuner dürfte höher sein als statistisch erfaßt): 202.665 ( = 2 , 6 % ; 1930: 109.156 = 2 , 0 % ) ; 24.015 Slovaken und Tschechen ( = 0 , 3 % ; 1930: 46.786 = 0 , 8 % ) ; 31.193 Serben und Kroaten ( = 0 , 3 % ; 1930: 43.342 = 0 , 8 % ) ; Ukrainer (Ruthenen) 50.372 ( = 0 , 7 % ; 1930: 29.620 = 0 , 5 % ) ; 7.885 Bulgaren ( = 0 , 1 % ; 1930: 11.400 = 0 , 2 % ) ; 7.260 andere ( 0 , 1 % ; 1930: 21.592 = 0 , 4 % ) . Die größte Konfessionsgruppe in Transsilvanien, 1992 rund 5,4 Millionen ( = 6 9 , 4 % ; 1930: 1,9 Millionen = 34,8%), bekennt sich zur Orthodoxen Kirche, der überwiegend Rumänen, aber auch Serben (im Banat), Zigeuner (Roma), Bulgaren, Ukrainer und Armenier angehören. Die zweitstärkste Konfessionsgruppe stellt mit über 802.500 ( = 1 0 , 1 % ; 1930: 697.000 = 12,6%) Gläubigen die Reformierte Kirche Helvetischen Bekenntnisses, zu der sich fast ausschließlich Ungarn (Magyaren und Szekler), aber auch ungarischsprachige Zigeuner bekennen. Gleiches gilt von der Unitarischen (Antitrinitarischen) Kirchengemeinschaft mit 76.708 ( = 1 , 2 % ; 1930: 68.300 = 1 , 2 % ) Ungarn. Der Katholischen Kirche gehören in Transsilvanien vier Gruppen an. Am stärksten ist die Römisch-Katholische Kirche mit 855.000 Anhängern ( = 11,1 % ; 1930: 947.400 = 17,1%) aus verschiedenen Volksgruppen vertreten; die Verkündigung erfolgt in rumänischer, ungarischer und deutscher Sprache. Es folgt die mehrheitlich von Rumänen gebildete Griechisch-Katholische (oder Unierte) Kirche mit derzeit über 207.000 Gläubigen ( = 2 , 7 % ; 1948: 1,6 Millionen = ca. 2 9 % ) . Es bestehen noch zwei unierte Vikariate für die Armenier und die Ruthenen, deren Anhängerzahl klein ist. Die evangelischen Kirchen unterscheiden sich auch sprachlich; gegenüber der ungarischen Reformierten Kirche (s.o.) zählte die Evangelische Kirche Augsburgischen Bekenntnisses bis 1990 fast ausschließlich die deutschsprachigen Siebenbürger Sachsen, hat heute aber auch anderssprachige Mitglieder (1992: 36.300 = 0 , 5 % ; 1930: 275.000 = 4 , 9 % ) , während die kleine Evangelische Synodal-Presbyterianische Kirche 1992 etwa 20.200 ( = 0 , 3 % ) ungarischsprachige Christen umfaßte. Die Zahl der Gläubigen evangelischer Freikirchen (Adventisten, Baptisten, Pfingstgemeinden und Evangeliumschristen) steigt: 1992: 296.000 ( = 3 , 8 % ; 1930: 42.400 = 0 , 7 % ) . Zum jüdischen Glauben bekannten sich 1930 193.000 Personen ( = 3 , 5 % ) , heute sind es nur mehr 2.770 Personen (weniger als 0,1 %); die eigene Zählung nennt 1995 demgegenüber allerdings 7.725 Juden, wobei nicht präzisiert wird, welche religiösen Bekenntnisse hierunter fallen. Ethnisch hat sich die Zusammensetzung der Bevölkerung Transsilvaniens seit der Zwischenkriegszeit deutlich zugunsten der Rumänen verschoben, während Deutsche und Juden kaum noch vertreten sind und die von ihnen gebildeten Konfessionsgemeinschaften sich entsprechend verringert haben. In der Konfessionsverteilung gibt es weitere Entwicklungen: Die 1948 vom kommunistischen Regime verbotene Griechisch-Katholische Kirche wurde 1990 wieder zugelassen. Als „Kirche der Rumänen" hatte sie 1948 in ganz Transsilvanien mehr Gläubige als die Rumänisch-Orthodoxe Staatskirche, die in der Landesverfassung von 1923 zur führenden Kirche der Rumänen bestimmt
252
Siebenbürgen
w o r d e n war. N a c h der Wende von 1990 n i m m t die Z a h l der Unierten langsam wieder zu. Um ihren von der O r t h o d o x e n K i r c h e nach 1948 eingezogenen Besitz — K i r c h e n , Schulen, liturgische G e r ä t e - wird noch heftig gestritten. Die kleinen Konfessionsgruppen wie z. B. die Armenier, die Bulgaren und K r o a t e n gehen durch Integration weiter zurück, die evangelischen Freikirchen verzeichnen weiterhin Z u g ä n g e .
2. Kirchengeschichte
im
Mittelalter
In den östlichen Gebieten der ungarischen Stephanskrone treten stabile Verhältnisse erst nach der Reichsgründungszeit ein. Vorher waren sie bevorzugtes Durchzugsgebiet für viele Völker und zuweilen auch Ort ephemerer Machtzentren. Politische und kirchliche Ordnungsvorstellungen gewinnen parallel zueinander allmählich Konturen. Siebenbürgen ist Ende des 12. J h . eine ungarische Wojwodschaft mit Grenzmarkcharakter, die seit dem 13. J h . territorial, rechtlich und verwaltungsmäßig aus drei Gebieten besteht: sieben Komitaten des ungarischen Adels, dem Land der Szekler Grenzwächter im Osten und dem Königsboden genannten Bereich der westlichen Gastsiedler (hospites) hauptsächlich im Süden. Die anderen Volksgruppen siedeln überall verstreut. Aus dieser Raumordnung entwickeln sich seit dem 14. J h . autonome Gebietskörperschaften, deren Vertreter die drei Landstände (nationes) Siebenbürgens bilden: Komitatsadel, Szekler und Siebenbürger Sachsen. Diese Stände wählen seit 1571 den Landesfürsten und spielen bei der protestantischen Konfessionalisierung der ganzen Region eine wichtige Rolle. Die Römisch-Katholische Kirche dominiert vom 11. J h . bis zur Mitte des 16. Jh., wird dann aber sehr rasch durch die Konfessionalisierung in unterschiedliche Reformationsgemeinschaften bis auf Restbestände von ca. 1 0 % verdrängt. Seit 1571 bilden die Reformationsgemeinschaften und die Katholische Kirche einen gesetzlich festgeschriebenen Konfessionenkonsens — ein frühes Modell für (weitgehende) religiöse Toleranz in Europa. Die Griechisch-Orthodoxe Kirche kann, trotz früher Präsenz in Teilen der Region, erst gegen Ende des 16. J h . klare hierarchische Strukturen entwickeln. Doch sie hat als „geduldete K i r c h e " in eingeschränkter Form am Konfessionenkonsens teil.
2.1. Die Zeit der Völkerwanderung
(bis zum 10.
Jahrhundert)
G e r m a n i s c h e W a n d e r v ö l k e r hinterließen in Siebenbürgen seit dem späten 4 . J h . in Bodenfunden auch Spuren ihres christlichen G l a u b e n s wie Kreuzzeichen auf G e f ä ß e n , C h r i s m o n s c h e i b e n u.ä. Die Funde mehren sich für die Z e i t , n a c h d e m die arianischen Gepiden ( 4 5 5 - 5 6 7 ) das R e i c h der heidnisch bleibenden H u n n e n im westlichen Siebenbürgen und an der T h e i ß ablösten. Seit dem 7. und 8. J h . wandern Slawen in die R e g i o n ein, assimilieren A w a r e n , C h a s a r e n und andere Wandervölker und nehmen allmählich das C h r i s t e n t u m an. Seit dem 9. J h . n i m m t die ostkirchlich geprägte, aus dem D o n a u g e b i e t k o m m e n d e r o m a n i s c h e Bevölkerung zu. K l ö s t e r im byzantinischen R i t u s entstehen, aber es bildet sich keine heute noch e r k e n n b a r e o r t h o d o x e K i r c h e n o r g a n i s a t i o n .
2.2. Die Römisch-Katholische
Kirche (11. bis 16.
Jahrhundert)
Für die Reichsgründungszeit Ungarns vermerkt die Tradition drei römisch-katholische Bistumsgründungen im transsilvanischen Raum: das auf die Umwidmung eines orthodoxen Klosters zurückgehende Bistum Csanäd/Tschanad/Cenad an der Marosch (1030; im 13. J h . maroschabwärts nach der Handelsstadt Szeged verlegt, 1683 nach Temeswar) im Banat, das König Stephan I. der Heilige ( 1 0 0 0 - 1 0 3 8 ) gegründet haben soll und das eng mit dem Wirken des heiligen Gerhard von Sagrado (ca. 9 8 0 - 1 0 4 6 ) verbunden ist, ferner das von König Ladislaus I. dem Heiligen ( 1 0 7 7 - 1 0 9 5 ) gegründete Värad/Wardein/Oradea an der Schnellen Kreisch (zunächst in Byhor 1077 [?] bzw. 1091; 1093 nach Värad transferiert) und schließlich das siebenbürgische, als lateinisches Bistum erstmals 1111 erwähnte Alba/Weißenburg/Gyulafehervär/Alba Iulia (Albensis, Transylvanensis). Urspünglich ist das Bistum Alba/Gyulafehervär allerdings auf Anregung des örtlichen ungarischen „ G y u l a " (Heerführer) im byzantinischen Ritus gegründet worden, und als erster bekannter Bischof begegnet 955 der Grieche Hierotheos. Eine Propsteigründung, die zu einem Bistum der hospites in Südsiebenbürgen hätte werden sollen (was am Widerstand des Bischofs von Alba scheiterte), erscheint in einer Papsturkunde
Siebenbürgen
253
von 1 191. Es ist die St.-Ladislaus-Propstei mit Sitz in H e r m a n n s t a d t / S z e b e n / S i b i u (1191 — 1424). Die römische Kirche n a h m Missionsaufgaben zunächst unter den Ungarn w a h r , w o von u.a. die sog. Legenda maior (14. Jh., s.a. Legenda minor aus dem 11. Jh.) über den heiligen G e r h a r d (ungarisch Geliert) berichtet. Dies unterstreicht 1083 auch die gemeinsame Heiligsprechung von König Stephan I., König Ladislaus und Bischof G e r h a r d von C s a n ä d . Die sog. Schismatikermissionen setzen erst im 13. Jh. ein. Eine besondere Rolle wird dabei von ungarischen Königen seit dem 13. Jh. den - » R i t t e r o r d e n zugedacht: Z w i schen 1211 und 1225 missioniert der Deutsche O r d e n im Burzenland um K r o n s t a d t / Brassö/Bra§ov sowie ab 1429 im Severiner Banat; von 1247 bis 1260 werden J o h a n n i t e r am D o n a u k n i e im Banat mit der Mission betraut. Jedes M a l haben die Ritter auch die Funktion von G r e n z w ä c h t e r n und Siedlungsgründern zu erfüllen. Eine Präskription f ü r römisch-katholische Pfarreien von 1 2 3 2 - 1 2 3 7 weist f ü r Siebenbürgen über 600 Pfarreien aus. N a c h den beiden Mongoleneinfällen (1241 und 1285) werden einige O r t e nicht wieder besiedelt. Weniger zahlreich als im Westen Ungarns werden im Osten katholische Klöster geg r ü n d e t . Die beiden wichtigsten Benediktinerniederlassungen sind die königliche Abtei Kolozsmonostor bei Klausenburg/Kolozsvär/Cluj (11. Jh.) sowie Wardein. Die Bettelorden hatten in allen hospites-St'adten ihre Klöster und Hospize, die Zisterzienser nur zwei Niederlassungen (Egres/Igri§ und Kerz/Cärfa). Zwei P r ä m o n s t r a t e n s e r k l ö s t e r in H e r m a n n s t a d t und Kronstadt hielten sich kurzfristig im 13. Jh. N a c h der R e f o r m a t i o n bleiben sehr bescheidene Franziskanerklöster im Szeklerland bestehen, und einige Missionsposten im Banat k o m m e n im 17. Jh. hinzu. Die Versuche des Fürstenhauses Bathory, mit Hilfe des 1579 erstmals nach Siebenbürgen berufenen Jesuitenordens die katholische Kirche wieder zu stärken, zerschlagen sich mehrere M a l e am Widerstand der Stände (1581, 1602). Für die drei Bischofssitze C s a n ä u , Värad und Alba w u r d e n nach 1556 keine Prälaten mehr entsandt. Es k a m über die Frage der Bischofswahl und A m t s b e f u g n i s f ü r die besetzten L ä n d e r der Stephanskrone zu langwierigen Streitigkeiten zwischen Wien und R o m , die der katholischen Kirche im gesamten T ü r k i s c h - U n g a r n zum Schaden gereichten. 2.3. Die Griechisch-Orthodoxe
Kirche
W ä h r e n d des Zweiten Bulgarenreichs (—»Bulgarien), insbesondere unter der H e r r schaft der Asseniden, verstärkt sich die Präsenz der R o m a n e n ( A r o m u n e n , Vlachen) an der unteren D o n a u . Ihre W a n d e r u n g über die D o n a u g r e n z e ins Banat und in den Karp a t e n r a u m beginnt zwischen 900 und 1100. D a s Banat gehörte d a m a l s wie die Kleine Walachei zum Bereich der bulgarischen Ostkirche. Hauptsächlich im Banat, aber auch in Siebenbürgen, in der M a r m a r o s c h und im südlichen Z e n t r a l u n g a r n sind noch bis zum 14. Jh. - trotz des G r o ß e n Schismas - Klöster des byzantinischen Ritus nachgewiesen. Die O s t k i r c h e wird in der Frühzeit des Ungarnreiches d u r c h a u s toleriert, wozu die meist guten Beziehungen zu Byzanz und Heiratsverbindungen der Könige beitragen. Im 13. und im 14. J h . setzen der Papst und die Krone wiederholt, aber mit geringem Erfolg D o m i n i k a n e r und Franziskaner zur Mission unter o r t h o d o x e n Slawen und Vlachen (in den Quellen auch „ G r i e c h e n " genannt) ein (—»Rumänien 2.1.). Im Mittelalter b e m ü h e n sich einzelne Fürsten aus den beiden rumänischen Fürstent ü m e r n Walachei und M o l d a u u m eine stabilere ostkirchliche Präsenz auf ihren Lehen in Siebenbürgen, die jedoch nur begrenzte Bedeutung gewinnt. Einzig das als Stauropigie 1391 bestätigte o r t h o d o x e St.-Michaels-Kloster Peri/Körtvelyes in der M a r m a r o s c h und das Kloster Prislop (14. Jh.) weisen Kontinuität auf. Die Weihe k ö n n e n die o r t h o d o x e n Priester aus der Karpatenregion außer in den genannten Klöstern n u r von auswärtigen Bischöfen, z. B. in den beiden F ü r s t e n t ü m e r n , erhalten. Von d o r t k o m m e n bis zur M i t t e des 16. Jh. auch die kirchenslawischen M e ß b ü c h e r . M i t Übersetzungen in die rumänische Volkssprache treten bereits gegen Ende des 15. Jh. M ö n c h e von Peri hervor (Psaltirea
254
Siebenbürgen
Scheianä). Ähnlich wirkt später auch das am Handelsweg in die Walachei Kirchenzentrum zum heiligen Nikolaus in Kronstadts Vorstadt Schei. Gegen Reformationszeit bestimmt Fürst Stefan Báthory schließlich 1572 bzw. 1579 thodoxen Bischof für Siebenbürgen mit Sitz in Alba Iulia (damals rumänisch 3. Reformationszeitalter
bis
gelegene Ende der einen orBälgrad).
1867
Nach der Teilung Ungarns (1526, 1541) entstand zwischen 1542 und 1556 mit der Wojwodschaft Siebenbürgen als Kerngebiet ein neuer, territorial ausgedehnterer Staat, das Fürstentum Siebenbürgen. Das ganze Banat, Komitate diesseits wie jenseits der Theiß, im Norden Sathmar, die Marmarosch usw. (die sog. Partes) gehörten zeitweilig dazu. Es war ein Staat mit „wandernden Grenzen" im Westen und Norden, der als Puffer zwischen den Imperien der Habsburger und der Osmanen die Region vorübergehend stabilisierte. Sein Autonomiestatus bemaß sich nach islamischem Recht. Die osmanische Schutzherrschaft nahm wenig Einfluß auf die Landesgesetze (die während der nächsten 160 Jahre für alle Komitate galten) und war an Religionsfragen uninteressiert. Mit dem Diploma Leopoldinum erkannte 1691 auch der Kaiser in Wien die Landesgesetze Siebenbürgens weitgehend an; sie wurden erst nach dem österreichischungarischen Ausgleich (1867) aufgehoben bzw. durch eine moderne, liberale Verfassung ersetzt. Auf dem gesamten Gebiet des Fürstentums Siebenbürgen machte die protestantische Konfessionalisierung, wie in ganz Ungarn, zunächst in der Wittenberger Form rasche Fortschritte. In den vierziger und fünfziger Jahren wurden allerorts „Bischöfe" bestellt, oft für nur sehr kleine Gebiete (Grundherrschaften). Seit 1542 galt der Landtagsbeschluß, daß auf jedem der drei Standesgebiete „die Religion" interne Angelegenheit sei. Das ins reformandi wurde bis 1571 besonders in den Komitaten eifrig ausgeübt. Trotz des erstmals 1572 vom (katholischen) Fürsten Stefan Báthory erlassenen „Neuerungsverb o t s " wurde die Mehrkonfessionalität zum Prinzip erhoben. Die Stände verhinderten seit 1542 die Nachbesetzung der drei katholischen Bischofssitze; ihr Vermögen wurde 1556 vom Staat umgewidmet. Auf einer vom letzten katholischen Bischof (Varad) 1554 einberufenen Synode erschienen nur wenige Geistliche. Zu den Förderern und Trägern der Reformation gehörten - wie im deutschen Reich oder im Königlich-Habsburgischen Ungarn - die Städte (Magistrate) und die Stände; der Landesherr bemühte sich, regelnd einzugreifen, ohne jedoch eine territoriale Konfessionalisierung durchsetzen zu können. Das Ergebnis der Reformationszeit stellt sich in Siebenbürgen auf lange Sicht anders dar als im Königlichen Ungarn: Sah es um 1557 noch so aus, als werde sich eine (zweisprachige) lutherische Landeskirche bilden, so blieb es schließlich nur bei einer einheitlich-lutherischen „Kirche der Deutschen in Sybembürgen" (Kirchenordnung 1547) auf dem Königsboden, deren Reformator J . —>Honter in Kronstadt war (1543: Reformationsbüchlein). Ihre Synode wählte 1553 einen Bischof (Paul Wiener [gest. 1554]) — auch für die deutschen Gemeinden auf Komitatsgebiet außer Klausenburg - und nahm 1572 das —> Augsburger Bekenntnis an. Daneben gab es nur eine winzige ungarische evangelische Gemeinde. Der letzte Consensus doctrinae zwischen den Lehrauffassungen der Siebenbürger Sachsen vom Königsboden einerseits, den Klausenburger Sachsen und Ungarn im Komitatsgebiet und denen der Szekler andererseits wurde 1557 festgehalten; die Neumarkter Synode (Marosvásárhely/Tárgu Murej) zementierte 1559 den Dissens und die lehrmäßige Trennung. In Klausenburg wurde wie u.a. in Debrecen vom ins reformandi Gebrauch gemacht, so daß 1564 sich hier die Richtung ->Calvins durchsetzte (Reformierte Kirche Helvetischen Bekenntnisses). D e r K a t h o l i z i s m u s w u r d e f a s t g a n z v e r d r ä n g t . T r e i b e n d e K r a f t w a r in K l a u s e n b u r g d e r d e u t s c h e Prediger, zeitweilige Stadtpfarrer und B i s c h o f F r a n z Hertel/David(is) (Ferenc David, 1 5 1 0 - 1 5 7 9 ) . In K l a u s e n b u r g w u r d e 1 5 7 7 die z w e i t e r e f o r m i e r t e S u p e r i n t e n d e n t u r ( D i s t r i k t ) O s t u n g a r n s e i n g e r i c h t e t , in D e b r e c e n w a r d a s b e r e i t s 1 5 6 7 g e s c h e h e n . H i e r w i r k t e v o r a l l e m P é t e r M e l i u s ( J u h á s z )
Siebenbürgen
255
( c a . 1 5 . 3 6 - 1572) f ü r d i e C a l v i n s c h e L e h r e (s. 1 5 6 2 u . a . Confessio catholica, ungarische Gesangbücher und K a t e c h i s m e n ) . 1 5 6 7 g a b sich die o s t u n g a r i s c h e R e f o r m i e r t e K i r c h e e i n e P r e s b y t e r i a l v e r f a s s u n g m i t D i s t r i k t - S t r u k t u r (Articuli maiores, D e b r e c e n 1 5 6 7 , für d a s G e b i e t d i e s s e i t s u n d j e n s e i t s d e r T h e i ß ; Canones Rubeniarti, 1 6 0 6 , für S i e b e n b ü r g e n ) . Sie w u r d e im 17. J h . ü b e r a l l z u r v o r h e r r s c h e n den K i r c h c d e r U n g a r n . D i e S e l b s t v e r w a l t u n g d e r R e f o r m i e r t e n K i r c h e k o n s t i t u i e r t e sich — a u c h u n t e r T e i l n a h m e d e s F ü r s t e n als L a n d e s h e r r - seit d e m s p ä t e n 17. J h . im Supremum Reformatorum
Consistorium
Ecclesiastico-Politicum,
mit Befugnissen in Kirchenverwaltung, Schulwesen und
G l a u b e n s f r a g e n . D i e Siebenbürger S a c h s e n regelten ihre G l a u b e n s a n g e l e g e n h e i t e n , die geistlichen, karitativen und schulischen Fragen a u f eigenen S y n o d e n und über das allgemeine Selbstverwalt u n g s o r g a n d e s K ö n i g s b o d e n s , die Universitas Saxonum, ebenfalls a u t o n o m . Alle protestantischen K i r c h e n und G e m e i n s c h a f t e n S i e b e n b ü r g e n s e n t f a l t e t e n e i n e rege p u b l i z i s t i s c h e u n d s c h u l i s c h e T ä t i g k e i t in d e r j e w e i l i g e n M u t t e r s p r a c h e - K a t e c h i s m e n w u r d e n n a c h d e m B e i s p i e l v o n - » L u t h e r und - » B r e n z v e r f a ß t , G e s a n g b ü c h e r z u s a m m e n g e s t e l l t , teils m i t E i g e n s c h ö p f u n g e n (für die U n g a r n , u . a . v o n K a s p a r H e l t h [ G ä s p ä r H e l t a i , c a . 1 5 0 0 - 1 5 7 4 ] und M e l i u s - es w a r e n d i e e r s t e n u n g a r i s c h s p r a c h i g e n B ü c h e r ü b e r h a u p t ) , B i b e l ü b e r s e t z u n g e n g e f e r t i g t u n d in d e n z a h l r e i c h e n D r u c k e r e i e n im F ü r s t e n t u m g e d r u c k t . In K l a u s e n b u r g s e t z t e n u m 1 5 8 0 die i t a l i e n i s c h e n J e s u i t e n b e r e i t s A n f ä n g e des s p ä t e r e n Studium Academicum; in W e i ß e n b u r g g r ü n d e t e F ü r s t G a b r i e l B e t h l e n 1 6 2 2 e i n e c a l v i n i s c h e H o c h s c h u l e , w o m i t er a u c h d e n G r u n d s t e i n z u m R e f o r m i e r t e n K o l l e g in K l a u s e n b u r g ( 1 8 9 5 ) legte. U m 1 5 7 1 f a n d a u c h die L e h r m e i n u n g d e r —> A n t i t r i n i t a r i e r ( U n i t a r i s m u s ) A n e r k e n n u n g , die sich b e r e i t s 1 5 6 8 a u f d e m L a n d t a g zu T h o r e n b u r g / T o r d a / T u r d a k o n s t i t u i e r t e n u n d 1 5 7 6 K l a u s e n b u r g z u m Sitz i h r e s O b e r h a u p t e s w ä h l e n ( S t a t u t v o n 1 5 7 9 ; Disciplina ecclesiastica 1626, mit Ref o r m e n 1 8 6 2 u n d 1 9 2 1 ) . D o c h b l i e b e n d i e —»Unitarier e i n e e l i t ä r e , k l e i n e G e m e i n s c h a f t .
Die k a t h o l i s c h e , die evangelische, die reformierte und die unitarische Konfession versicherten einander durch L a n d t a g s b e s c h l ü s s e gegenseitige A n e r k e n n u n g und G l e i c h stellung. In den Verfassungstexten S i e b e n b ü r g e n s findet sich 1595 erstmals das sog. R e ligionsgesetz in der F o r m e l der „vier rezipierten R e l i g i o n e n " . Bezüglich der alten Kirche w u r d e diese Regelung nur eingeschränkt a n g e w a n d t . Bischöfe durften nicht residieren, ihre V i k a r e nur selten visitieren, und die O r d e n blieben - a u s g e n o m m e n einzelne bosnische und ungarische F r a n z i s k a n e r - u n e r w ü n s c h t . D a s katholische B i s t u m Alba stellte Kaiser Karl VI. ( 1 7 1 1 - 1 7 4 0 ) erst 1715 wieder her (seit 1730: Karlsburg), die O r d e n wurden kurz d a n a c h wieder zugelassen (die Jesuiten erst 1743). D e n n o c h hatte die Katholische K i r c h e auch nach 1 6 9 0 keinen R ü c k h a l t in diesem von protestantischen Ständen d o m i n i e r t e n F ü r s t e n t u m , die G e g e n r e f o r m a t i o n blieb hier wenig w i r k s a m . Seelsorgliche wie schulische Angelegenheiten regelte der sog. Status romano-catholicus Transsilvaniensis, ein aus Laien und Geistlichen zunächst paritätisch besetztes S e l b s t v e r w a l t u n g s g r e m i u m . Für die O r t h o d o x e Kirche, die öffentliche Duldung hatte, bestellte der L a n d e s h e r r 1579 einen B i s c h o f mit Sitz in W e i ß e n b u r g (rumänisch Bälgrad). D a v o r hatte es öfter schon bescheidene Versuche einer o r t h o d o x e n H i e r a r c h i e b i l d u n g in Siebenbürgen gegeben. Für die R u m ä n e n wurden, a b 1 5 4 4 mit deutlicher r e f o r m a t o r i s c h e r Absicht, an mehreren O r t e n M e ß b ü c h e r aus d e m K i r c h e n s l a w i s c h e n übersetzt und gedruckt, teilweise in der Volkssprache (u.a. K a t e c h i s m u s 1 5 4 4 , Psalter 1571). G l e i c h e Z i e l e verfolgte die Bestellung reformierter B i s c h ö f e für die R u m ä n e n , eine e p h e m e r e , kulturell kurzfristig aber b e d e u t s a m e E n t w i c k l u n g . D i e W i r k u n g des kirchenslawischen und volkssprachlich-rumänischen B u c h d r u c k s w a r für die r u m ä n i s c h e Kultur beiderseits der Karpaten bald s c h o n von großer Bedeutung. I m 17. J h . entstanden besonders in den r u m ä nischen Fürstentümern zahlreiche D r u c k e r e i e n , die lange Z e i t die einzigen im o r t h o d o x e n Südosteuropa blieben. Zwischen 1 6 9 7 und 1701 gelang die K i r c h e n u n i o n eines Teils der R u m ä n e n Siebenbürgens mit R o m . Z u m Bischofssitz wurde zunächst W e i ß e n b u r g gewählt (1701), dann F o g a r a s c h / F ä g ä r a § (1716) und schließlich B l a s e n d o r f / B l a j ( 1 7 3 7 - 1 9 4 8 , ab 1990). Schulen des Basilianerordens und ausländische Studienplätze sorgten für ein großes Bildungsang e b o t . Die r u m ä n i s c h e N a t i o n a l b e w e g u n g ( § c o a l a ardeleanä) hat ihre A n f ä n g e im 18. J h . nicht zufällig im U m k r e i s der Linierten K i r c h e . Diese K i r c h e erhielt vor allem im 19. und in der ersten H ä l f t e des 2 0 . J h . starken Z u l a u f seitens der R u m ä n e n .
256
Siebenbürgen
Da man 1701 in Wien fälschlicherweise vom Übertritt aller Rumänen zur GriechischKatholischen Kirche ausging und das Bistum Bälgrad aufhob, wurden erst 1759 und 1762 wieder Toleranzdekrete für die Orthodoxe Kirche unterzeichnet. Die Eparchie Siebenbürgen (mit Sitz in Hermannstadt) wurde ab 1769 der serbischen Metropolie Karlowitz unterstellt, 1868 für Hermannstadt als eigenständig bestätigt. Im 19. Jh. gelang auch im Banat die Errichtung von orthodoxen Eparchien (Arad, Karansebesch/Caransebef/Karänsebes). 4. Neuzeit und
Gegenwart
Nachdem Siebenbürgen und die vier anderen ungarländischen Gebiete 1919 an Rumänien gekommen waren, galt für die Orthodoxe Staatskirche und die Unierte Kirche wie für die übrigen Kirchen und Konfessionen (als ,,Minderheiten"-Kirchen betrachtet, denen Bekenntnisfreiheit zugesichert wurde) die Verfassung von 1923. Nach 1920 ordnete der rumänische Staat die Kirchenverhältnisse. Die Orthodoxe Kirche sollte in den neuen Gebieten stärker zur Geltung kommen, die Katholische Kirche der Minderheiten dort organisatorisch schrumpfen und von den ungarischen Diözesen getrennt werden. In Transsilvanien wurden zunächst 1925/1930 zwei orthodoxe Metropolien eingerichtet, die die Titel Sibiu (mit den Eparchien Alba Iulia und Harghita), Vad/Feleac/Cluj (mit der Eparchie Oradea) und Timi$oara/Caransebe§ tragen. Die katholischen Bistümer Karlsburg/Alba Iulia, Temeswar (als Abtrennung von Csanad) und Sathmar (das mit dem traditionsreichen Värad zusammengelegt wird) wurden der Erzdiözese Bukarest unterstellt. Die Armenier erhielten einen Vikar in Gherla/Szamosüjvär/Armenierstadt. Die Griechisch-Katholische Kirche hat ihren Metropolitansitz in Blaj; die vier Bistümer sind Oradea, Gherla (ab 1930: Cluj), Lugoj/Lugosch/Logos sowie das neu geschaffene Marmarosch mit dem Sitz in Baia Mare/Nagy Bänya. Seit 1992 gilt die postkommunistische Verfassung, doch ist ein neues Kultusgesetz noch nicht erlassen worden (-»Rumänien). Die Kirchen geben sich heute ihrerseits, nach Jahrzehnten des mehr oder minder schwierigen Überlebens im Kommunismus, neue Statuten. Gegenwärtig bestehen in Transsilvanien sechs der traditionellen Kirchen, mehrere Freikirchen und Reste der Jüdischen Kultusgemeinde: 4.1. Die Orthodoxe
Kirche
4.1.1. Die Orthodoxe Kirche Siebenbürgens. Titel: Mitropolia Ardealului, seit 1761/1768 (exemtes) Bistum, 1864 Erzbistum, 1930 Kirchenprovinz. Seit 1990 gehören dazu zwei Erzbistümer (Sibiu; Vad-Feleac-Cluj) und vier Bistümer/Eparchien (Alba Iulia, Oradea, Maramurej, CovasnaHarghita). Die orthodoxen Protopopiate und Gemeinden sind über das ganze Transsilvanien verstreut. Sitz: seit 1864/1868 Sibiu/Hermannstadt (davor dem Erzbistum Karlowitz unterstellt). Eine Theologische Hochschule besteht in Hermannstadt. 4.1.2. Die Orthodoxe Kirche des Banats. Titel: Mitropolia Arad und Caransebej. Sitz: Temeswar.
Banatului, seit 1939 mit den Eparchien
4.2. Die Unierte Kirche Roma)
auch Biserica
(Biserica
Greco-Catolicä,
Romänä
Unitä cu
Titel: Alba Iulia-Fägäraj (1701: Alba Iulia); zunächst unter der Jurisdiktion der römischen Propaganda-Kongregation, dann Suffragan des ungarischen Erzbistums Gran (bis 1919); seit 1927/ 1930 dem Bukarester Erzbistum zugeordnet. Gründung: Bistum (1701, 1721 kanonisiert), Erzbistum/Kirchenprovinz (1853-1948; 1990). Sitz: Alba Iulia/Karlsburg (1701), Fägära§ (1716), Blaj (1737-1948; 1990). Seit 1990 unterstehen dem Erzbistum Blaj die vier Bistümer Oradea (1777 gegründet), Lugoj (1853 gegründet), Cluj-Napoca/Klausenburg (bis 1930: Gherla, 1853 gegründet), Baia Mare (1930 gegründet). Die beiden Theologischen Institute in Blaj und Cluj-Napoca sowie ein Gymnasium in Blaj sorgen heute für die Priesterausbildung.
4.3. Die Römisch-Katholische
Kirche in Transsilvanien
(Biserica
Romano-Catolicä)
Die drei Bistümer Alba /«//'a/Karlsburg/Gyulafehervär (11./12. J h . - 1 5 5 6 ; 1715 erneuert) mit dem Titel Albensis, Albae Iuliensis; Alba Iuliei/Erdely, Temeswar (1683: Csanäd, 1930 Timisva-
257
Siebenbürgen
rensis) und Sathmar (1804) sowie das Armeniervikariat (seit 1927 in Gherla) sind seit 1927/1930 dem Buknrester Erzbistum zugeordnet. Das ungarischsprachige Priesterseminar befindet sich in Alba lulia/Karlsburg/Gyulafehérvàr, die Theologische Hochschule in Bukarest.
4.4. Die Evangelischen
Kirchen
in Rumänien
(Biserica
evangelica)
4.4.1. Die Evangelische Landeskirche Augsburgischen Bekenntnisses in Rumänien (Titel seit 1927; davor öfter geändert). Die Gründung erfolgte 1547/1553; das einzige Bistum (1553 - Ecclesia Dei nationis Saxonicae) hatte seinen Sitz in Birthälm/Biertan (ab 1572), dann Hermannstadt (ab 1867). Die fünf Kirchenbezirke sind (heute noch in Restbeständen vorhanden): Hermannstadt, Mühlbach, Kronstadt, Mediasch, Schäßburg. Im Banat gibt es drei lutherische Gemeinden. Das deutschsprachige Theologische Institut (1949 Zweig des Klausenburger Vereinigten ProtestantischTheologischen Instituts, ab 1955 in Hermannstadt) ist seit 1989 eine eigenständige Hochschule. Konfessionsschulen gibt es seit 1948 keine mehr. 4.4.2. Die Evangelische Synodal-Presbyteriale Kirche Augsburgischen Bekenntnisses in Rumänien. Der Titel besteht seit 1921 und wurde davor mehrfach geändert. Die kleine Diözese wurde 1921 eingerichtet und hat insgesamt 38 Gemeinden (bei Klausenburg und Kronstadt). Sitz des Superintendenten ist Cluj/Klausenburg/Kolozsvär. Die Ausbildung findet am ungarischsprachigen Vereinigten Protestantisch-Theologischen Institut in Klausenburg statt, das seit 1990 autonom ist.
4.5. Die Reformierte
Kirche
C. H. in Rumänien
(Biserica
reformata)
Die Reformierte Kirche C.H. - auch Helvetische Konfessionsgenossen oder Ungarisch-Reformierte Landeskirche in Siebenbürgen (bis 1881 autonom; 1 8 8 1 - 1 9 1 9 der Reformierten Kirche Ungarns angegliedert) u.a. - besteht heute aus zwei Bistümern (Superintendenturen): Erdély/Siebenbürgen, mit Sitz in Cluj/Kolozsvär/Klausenburg (seit 1577), 16 Dekanaten, 467 Pfarrern in 503 Pfarreien und 404.066 Gläubigen, und Kiràlyhàgómelléki Reformàtus Egyhàzkeriilet/Am Königsstein, mit Sitz in Oradea/Värad (seit 1921, davor in Debrecen), acht Dekanaten, 271 Pfarreien und 232 Pfarrern sowie etwa 350.000 Gläubigen. Die weitaus geringere Zahl reformierter Ungarn lebt im Banat. Das 1949 gegründete ungarischsprachige Vereinigte Protestantisch-Theologische Institut Klausenburg ist seit 1990 autonom. Seit 1990 entstehen wieder Konfessionsschulen, u.a. acht Lyzeen.
4.6. Die Unitarische
Kirche
Rumäniens
(Biserica
unitariana)
Der Name für diese Gemeinde wurde seit 1576 mehrfach geändert: Antitrinitarier, Sozinianer, Sabbatarier (-»Sabbat IV.4.3.); seit 1851: Unitarische Kirche. Sitz der autonomen Superintendentur ist Cluj/Klausenburg/Kolozsvär. Es bestehen fünf Dekanate (Seniorate) mit 125 Gemeinden (in und um Klausenburg, im Szeklerland) und 103 Pfarrern für 75.000 bis 80.000 Gläubige (Eigenzählung). Die Anfänge des Unitarisch-Theologischen Instituts liegen im späten 16. Jh. in Klausenburg; ab 1949: Vereinigtes Protestantisch-Theologisches Institut Klausenburg; seit 1990 autonom (ungarischsprachig). Heute gibt es wieder zwei konfessionelle Lyzeen. Quellen 1. Zur Statistik: Anuarul statistic al Romäniei [Statistisches Jb. f. Rumänien], Bukarest 1994, 113. - Nicolae Beju/Keith Hitchins, Biserica ortodoxä romàna In sec. XVIII. Conscrip$ii statistice, Urbana, Sibiu 1991. - Recensämäntul general al populajiei Romäniei din 29 decemvrie 1930 [Allg. Volkszählung f. Rumänien vom 29. Dez. 1930], Bukarest, II 1938, X X X ; IX 1940,440f. - §ematism. Eparhia de Cluj-Gherla, Gherla 1947 (Nachdr. Cluj 1996). - Ernst Wagner, Hist.-statistisches Ortsnamenbuch f. Siebenbürgen, 1977 (StTr 4). - D e r s . , Ethnische u. rei. Minderheiten in Transsilvanien nach der rumänischen Volkszählung vom Jahre 1992: ZSL 18 (1995) 4 6 - 5 9 . 2. Bibliographien u. Handbücher: Ioan Bianu/Nerva Hodo§/Dan Simonescu, Bibliografia romäneascä veche 1 5 0 8 - 1 8 3 0 , Bukarest, I —IV 1 9 0 3 - 1 9 4 4 . - Bibliografia istoricä a Romäniei. Bibliografie selectivä, hg. v. Ioachim Craciun/Gheorghe Hristodol u.a., I. 1 9 4 4 - 1 9 6 9 ; I I . - I I I . Sec. X I X ; IV. 1969-1974; V. 1 9 7 5 - 1 9 8 0 , Bukarest 1970.1972.1974.1975. - Eduard Albert Bielz, Hb. der Landeskunde Siebenbürgens. Eine physikalisch-statistisch-topographische Beschreibung dieses Landes, Hermannstadt 1857; Nachdr. hg. v. Konrad Gündisch, 1996 (SLKS 19). - Hermann Hienz, Quellen zur Volks- u. Heimatkunde der Siebenbürger Sachsen, Leipzig 1940; 2. Aufl. u.d.T.: Bücherkunde zur Volks- u. Heimatforschung der Siebenbürger Sachsen, 1960 (BSHK 5). - Hist. Bücherkunde Südosteuropa, hg. v. Mathias Bernath u.a., 1/2. MA. T. 2, München 1980. - Kurze Gesch. Siebenbürgens, Red. Béla Köpeczi, Budapest 1990. - Mihai Morariu/Cätälina Velculescu, Bibliografia analitica a literaturii romane vechi, Bukarest, I 1976.
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Siebenbürgen
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Siger v o n Brabant
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Siger von Brabant (ca. 1240 - ca. 1284) 1. Leben tur S. 261)
2. Werk
3. Sigers Ort in der Geistesgeschichte
4. Wirkung
(Quellen/Litera-
1. l.eben Siger, Chorherr von St. Paul in Lüttich, wurde um 1240 in Brabant geboren. U m 1255/1257 begann er das aries-Studium an der Pariser Universität (-•Paris); hier hatte das Statut v o m 19. März 1255 freies Aristotelesstudium zugelassen. 1266 wird Siger als Magister erwähnt. D a ß er bei der Spaltung der Artistenfakultät 1272 bis 1275 über seine N o m i n i e r u n g z u m Rektor hinaus eine führende Rolle gespielt und im Hintergrund die von ihm, Boethius von Dacien (gest. vor 1284) u.a. vertretene Aristotelesauslegung gestanden habe, ist aus den Quellen nicht so zwingend zu belegen, wie man seit P. M a n donnet a n n a h m (Gauthier). Jedenfalls stand die Gruppe im Verdacht der Häresie: Schon 1267/68 predigte -> Bonaventura gegen sie, 1270 folgte ein massiver Angriff von -»-Tho-
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Siger von Brabant
mas von Aquino (De unitate intellectus) und am 10. Dezember 1270 eine erste Verurteilung durch den Pariser Bischof Stephan Tempier (gest. 1279; vgl. T R E 26,4,16-19). Am 23. November 1276 wurde Siger vom Inquisitor Simon du Val für den 18. Januar 1277 zu einer Gerichtsverhandlung vorgeladen, vermutlich entzog er sich durch Flucht. Am 7. März 1277 verurteilte Tempier 219 Thesen, welche die von der Gruppe um Siger ausgehenden Gefahren skizzierten, hier aber nicht durchweg nachweisbar sind (Hissette). Später befand Siger sich am päpstlichen Hof in Orvieto in Haft. Anfang der achtziger Jahre wurde er hier von seinem in Verwirrung geratenen Sekretär ermordet. 2. Werk Sigers Werke (zusammengestellt bei van Steenberghen, Maitre 184-221) sind Produkte seiner Lehrtätigkeit an der aries-Fakultät. Im Bemühen um eine philosophische Beweisführung ohne theologische Vorgaben kam er zu heterodoxen Ergebnissen, die er im allgemeinen nicht affirmativ behauptete, sondern lediglich referierte. So war für ihn, solange man im Rahmen des aristotelischen Denkmodells blieb, der Gedanke der Ewigkeit der Welt und der Arten unausweichlich. Und der Schöpfungsgedanke verblaßte in seinem Denken noch weiter durch die Annahme eines Kausalitätskontinuums, das ein Uberspringen der Zweitursachen durch die Erstursache, also einen unmittelbar verursachenden Eingriff Gottes in die kreatürliche Wirklichkeit, ausschloß. Die für den Glauben an individuelle Erlösung erforderliche Existenz von Einzelseelen gefährdete sein Vernunftverständnis: Um die Bindung der Erkenntnis an Materie zu vermeiden, vertrat er in den frühen Quaestiones in librum tertium de anima den Gedanken eines einzigen, ewigen menschlichen Intellekts, der sich in den vielen Einzelmenschen nicht durch substantielle Verbindung, sondern durch die jeweiligen Verstehensakte individuierte. Unter dem Eindruck der Kritik des Thomas modifizierte Siger diese Lehre allerdings und sprach in seinem letzten Werk, dem Kommentar zum Uber de causis, von einer substantiellen Verbindung der Vernunft mit der sensitiven menschlichen Seele. Diese Entwicklung, zu der es Parallelen in anderen Lehrpunkten gibt, zeigt die Ernsthaftigkeit seiner in dieser Zeit immer wiederkehrenden Beteuerung, daß allein die christliche Lehre wahr sei. Obwohl er letztlich der Einheit von philosophischer und theologischer Wahrheitserkenntnis keinen zureichenden Ausdruck geben konnte, hat er doch eine „doppelte Wahrheit", wie es Tempier ihm vorwarf, nie vertreten. 3. Sigers Ort in der
Geistesgeschichte
Die aufgrund ihrer schon von Thomas monierten sachlichen Nähe zu ->Averroes lange übliche Bezeichnung der Gruppe um Siger als „lateinische Averroisten" suggeriert eine autoritative Fixierung auf den ausgiebig, aber weder ausschließlich noch kritiklos benutzten arabischen Kommentator. F. van Steenberghen schlug daher die Rede von einem „radikalen" oder „heterodoxen Aristotelismus" vor. Am angemessensten ist die Einordnung als „konsequenter Aristotelismus" (Wilpert). Sie vermeidet nicht nur jede implizite Abwertung aufgrund normativer Orientierung an Thomas, sondern auch die anachronistische Stilisierung dieser Denker zu Repräsentanten einer „Aufklärung im Mittelalter" (Flasch). Ziel Sigers war es schlicht, die Aufgabe, die ihm die mittelalterliche Universität zuwies, möglichst gut zu erfüllen. 4.
Wirkung
Die Wirkung Sigers, den -»-Dante ins Paradies setzte, ist vor allem die der Lehrverurteilung von 1277. Diese in der Negation erfolgende Fixierung eines nichtchristlichen Weltbildes formte den Horizont theologischer Arbeit für die folgenden Generationen. Ohne sie ist das Ineinander präziser Aristotelesinterpretation und philosophiekritischer Äußerungen bei ->Duns Scotus ebensowenig wie die Betonung der Freiheit Gottes gegenüber jedem Determinismus bei ihm und ->Ockham erklärbar.
Sikarier
261
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Sikarier (Literatur S. 262) D i e Sikarier w a r e n eine G r u p p e von e x t r e m e n R e b e l l e n gegen die r ö m i s c h e O b r i g k e i t in der Spätzeit des Z w e i t e n T e m p e l s (1. J h . n. C h r . ) . Ihr r ö m i s c h e r S c h i m p f n a m e „Sik a r i e r " rührt von dem D o l c h ( s i c a ) her, den sie unter dem G e w a n d zu tragen pflegten, um ihre Feinde zu e r m o r d e n . Sie entwickelten einen unbändigen Freiheitsdrang, g e k o p pelt mit k o m p r o m i ß l o s e m Aktivismus und dem A u f r u f zu s o f o r t i g e m H a n d e l n , w o b e i sie davon überzeugt waren, d a ß waghalsiger Einsatz für die Freiheit mit göttlicher Unterstützung zu rechnen habe. Die Bereitschaft, lieber zu sterben als heidnische Kulthandlungen auszuüben, w a r auch sonst unter J u d e n verbreitet (—»Martyrium I I . l . ) ; aber die Sikarier erblickten in der bloßen A n e r k e n n u n g der römischen H e r r s c h a f t im L a n d e einen Verstoß gegen das K ö n i g t u m G o t t e s und s o m i t ein - » R e l i g i o n s v e r g e h e n . Sie predigten den Aufstand o h n e R ü c k s i c h t a u f die äußeren U m s t ä n d e und fühlten sich sogar berech-
262
Sikarier
tigt, andersdenkenden Juden ihre extremen Auffassungen aufzuzwingen. Ein zentrales M o m e n t ihrer Bewegung war ihr Bündnis mit den Armen gegen die Reichen. Im sozialen und politischen Umfeld während der ausgehenden Epoche des Zweiten Tempels fielen ihre Ideen auf fruchtbaren Boden, zumal da die Atmosphäre insgesamt vor eschatologischer Spannung vibrierte. Trotzdem blieben die Sikarier und ihre Sympathisanten eine Minderheit innerhalb der jüdischen Bevölkerung des Landes. Die Hauptquelle für die Geschichte der religiösen Strömungen im Judentum jener Zeit sind die Schriften des Flavius - » J o s e p h u s , der zunächst von der Existenz einer „vierten Philosophenschule" (nach —»Pharisäern, —»Sadduzäern und —»Essenern) berichtet und im Zusammenhang mit dem großen Aufstand ( 6 6 - 7 3 n. Chr.) - » Z e l o t e n und Sikarier erwähnt. Außerdem gibt es Informationssplitter in der talmudischen Literatur, im Neuen Testament sowie in den griechischen und römischen Quellen. Trotz Josephus' ideologischer Gegnerschaft gegenüber den extremen Aktivisten läßt sich aus seinen Schriften ein gewisses Bild von den Sikariern und ihren Vorstellungen gewinnen. Diese Bewegung entstand im Zuge der Volkszählung unter Quirinius bei der Etablierung der neuen Provinz „ J u d ä a " nach der Absetzung des Archelaos (6 n. Chr.); sie kristallisierte sich um einen gewissen J u d a mit dem Beinamen „der Galiläer" (vgl. Act 5,37), d . h . J u d a aus G a m l a auf der G o l a n h ö h e , laut Josephus das Haupt der vierten Philosophenschule. Wichtig war die Tätigkeit der Sikarier besonders vor Ausbruch der Kampfhandlungen im großen Aufstand. Sie vereitelten Agrippas Versuch, den Aufstand aufzuhalten, und ermordeten Häupter der Priesterschaft, Friedliebende und Hochgestellte, wodurch sie zur Anstachelung des Volks zum Aufstand erheblich beitrugen. Das soziale M o m e n t ihrer Weltanschauung äußerte sich darin, daß sie zusammen mit dem königlichen Palast und Archiv das Haus des Hohenpriesters Ananias in Brand steckten, den sie zuvor umgebracht hatten. Josephus betont, daß die Sikarier das Archiv verbrannten, um die dort deponierten Schuldscheine zu vernichten und so deren Einlösung zu verhindern (Bell 11,427). Bei Streitigkeiten unter rivalisierenden Gruppen von Sikariern kam Menachem, ihr bedeutendster Anführer, ums Leben; dadurch wurde ihr Einfluß auf den Aufstand in Jerusalem und dessen zentrale Führung erheblich reduziert. Eine fest konsolidierte Gruppe von Sikariern fand nach der Zerstörung Jerusalems und des Tempels im J a h r e 7 0 n. Chr. Zuflucht in M a s a d a , wo sie sich noch an die vier Jahre halten konnten. Als die R ö m e r den Belagerungsring um Masada geschlossen hatten und ihre Situation aussichtslos geworden war, faßten die Verteidiger mit Eleasar ben Jair an der Spitze den Beschluß, sich, ihre Frauen und Kinder eigenhändig zu töten, um den R ö m e r n nicht lebend in die H ä n d e zu fallen. Die Sikarier hatten als einzige Gruppe unter den Aufständischen über den Aufstand hinaus Bestand, was wohl mit daran lag, daß das soziale M o m e n t ihres Handelns weiterhin akut war. Einigen Sikariern gelang die Flucht aus Judäa nach Ägypten, wo sie die Juden am O r t aufhetzten und sich mit den jüdischen Gemeinde-Institutionen dermaßen überwarfen, daß diese beschlossen, sie an die R ö m e r auszuliefern. Josephus schildert voller Bewunderung den M u t , mit dem diese Sikarier der römischen Folter standhielten, durch die sie gezwungen werden sollten, den Kaiser als Herrn anzuerkennen. Andere Sikarier flüchteten nach Kyrene, und es ist nicht auszuschließen, daß ihre Anwesenheit sich über einen längeren Zeitraum hin bis auf den jüdischen Aufstand in Ägypten und Kyrene im Zuge des Diaspora-Aufstands unter Trajan ( 1 1 5 - 1 1 7 n. Chr.) auswirkte. Literatur G ü n t e r B a u m b a c h , Zeloten u. Sikarier: T h L Z 9 0 (1965) 7 2 7 - 7 4 0 . - M a r t i n Hengel, Die Z e l o t e n , 1 9 7 6 ( A G J U 1). - Sidney H o e n i g , T h e Sicarii in M a s a d a - Glory or Infamy: Trad. 11 (1970) 5 - 3 0 . - R i c h a r d Horsley, T h e Sicarii. Ancient Jewish Terrorists: J R 5 2 (1979) 4 3 5 - 4 3 8 . - D e r s . , Ancient Jewish Banditry and the R e v o l t against R o m e , A . D . 6 6 - 7 0 : C B Q 43 (1981) 4 0 9 - 4 3 2 . Valentin N i k i p r o w e t z k y , Sicaires et Zelotes - une reconsideration: Sem. 23 (1973) 5 1 - 6 4 . - Emil 2
Sikh-Religion
263
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Solomon
Zealots
1 - 1 9 = d e r s . , S t u d i e s in t h e C u l t
of
Stern,
Zeitlin, Z e a l o t s and Sicarii: J B L
81
(1962) 3 9 5 - 3 9 8 .
Aharon Oppenheimer
Sikh-Religion 1. A l l g e m e i n e s Praxis
1.
2. Stifter und G u r ü - S u k z e s s i o n
6. G e s c h i c h t e des S i k h i s m u s
3. Lehre
4. Heilige Schrift
5. Religiöse
( Q u e l l e n / L i t e r a t u r S. 266)
Allgemeines
Der Begriff Sikhismus leitet sich her von sikh, „Schüler, Jünger", nämlich von Gurü Nänak, dem Stifter. Die Eigenbezeichnung der Religion ist gewöhnlich gurmat, „Lehre des Gurüs (d.i. Nänak)". Der Sikhismus entstand im Panjab, dem Fünfstromland, welches sich über Teile Nordindiens und Pakistans erstreckt. Das Verbreitungsgebiet ist im wesentlichen Nordindien, aber ebenso außerindische Regionen mit indischen Minderheiten (Großbritannien, USA, Kanada usw.). Die geschätzte Zahl der Sikhs in Indien beträgt über 13 Millionen, im Ausland zwischen zwei und drei Millionen. Konversionen geschehen, sind jedoch im Falle nicht Indisch-Stämmiger vernachlässigenswert. Der Sikhismus entstand auf der Grundlage der nordindischen Bhakti (vgl. T R E 15,354,30-35), einer Gnadenreligiosität, die seit dem 14. Jh. große und mannigfaltige Verbreitung gefunden hat. Alle diese Bhakti-Richtungen stellen in den Mittelpunkt den nicht-gestalthaften einen Gott, der mit der Seele wesenseins ist (Bezeichnung auch „ B h a k ti der Sants", „Heiligen"), im Gegensatz zu Bhakti-Richtungen, in denen Gott gestalthaft in die Welt eingetreten ist und gerade diese Gestaltwerdung gnadenhafte Hinwendung zum Gläubigen bedeutet. Dabei jedoch entfaltete sich der Sikhismus in einem sozioreligiösen Umfeld, in dem auch der -*Islam Gewicht hatte, und zwar besonders durch den Sufismus, der mit der Bhakti in vielfacher Weise konvergierte. Neben Bhakti und Sufitum war bedeutsam für den Sikhismus, ebenso wie für die nordindische Bhakti insgesamt, der Näth-Yoga (oder Hathayoga), eine damals höchst einflußreiche Bewegung, gegenüber der sich der Sikhismus als Gegenentwurf verstand. Dies macht jedoch nicht etwa die Hauptsache des Sikhismus aus, ist jedoch wichtig, weil in der theologischen Terminologie Näth-Vorstellungen weiterwirken, wenn auch in Umwertung. Im Näth-Yoga versucht der Erlösungssuchende, durch seine yogische Praxis zur Vereinigung mit Gott, Siva Ädinäih, zu gelangen. Da die Lehre auf einer Identifikation von Makro- und Mikrokosmos basiert und der menschliche Körper als Entsprechung des Makrokosmos gilt, geschieht die yogische Vereinigung, die zur Erlösung führt, im Körper selbst. Das Konzept der inneren Erfahrung Gottes hat die Sant-Bhakti mit dem Näth-Yoga gemeinsam. Der Sikhismus ist entgegen der von K. Singh vertretenen Ansicht nicht als ein Versuch Nänaks anzusehen, eine synkretistische Einheit von Hinduismus und Islam zu schaffen. 2. Stifter und
Gurü-Sukzession
Der Stifter Nänak ( 1 4 6 9 - 1 5 3 9 ; geboren in TalvandT, heute Nankänä Sähib, Pakistan; gestorben in Kartärpur, Indien) war der Gurü, der geistliche Lehrer, einer Gemeinde, die sich anfangs lediglich Nänak-Panth, „Pfad Nänaks" nannte. Ihm folgten neun weitere Gurüs (2. Angad [1539-1552]; 3. Amar Däs [1552-1574]; 4. Räm Däs [1574-1581]; 5. Arjan [1581-1606]; 6. Har Gobind [ 1 6 0 6 - 1 6 4 4 ] ; 7. Hari Rai [1644-1661]; 8. Har Krisan [1661-1664]; 9. Tegh Bahädur [ 1 6 6 4 - 1 6 7 5 ] ; 10. Gobind Singh [1675-1708]). Alle G J T Ü S gehörten der Kaste der Khatris an, die besonders in Handel und Verwaltung hervortrat. Ab dem 5. Gurü vererbte sich das Amt in der Familie.
264 3.
Sikh-Religion Lehre
G o t t ist Einer, ewig ungeteilt und unveränderlich. Sein Wesen ist Wahrheit. Jenseits alles Gestalteten, ist er jedoch der Urheber alles Gestalteten und f ü r die Welt verantwortlich. Er lenkt sie durch seinen Befehl, der die kosmische O r d n u n g aufrechterhält. Die Welt ist d a m i t w a h r , aber auch falsch, und zwar d a n n , wenn sie als verschieden von G o t t begriffen wird. Diese falsche Ansicht jedoch wird durch G o t t selbst, nämlich durch seine bildende Kraft, mäyä, hervorgebracht. Er verhüllt d a m i t sein wahres Wesen, so d a ß der Mensch in die Pluralität der empirischen Welt verstrickt bleibt und damit in sein „ I c h g e f ü h l " , das ist der g e s a m t e psychisch-mentale A p p a r a t . Die Bestimmung des M e n s c h e n jedoch ist die Einheit mit G o t t , der alles ist und damit mit der menschlichen Seele wesensgleich. Um die Ureinheit herzustellen, bedarf es der radikal freien G n a d e Gottes. G o t t schenkt dem M e n s c h e n bhakti, „ H i n g a b e " zu G o t t . In der bhakti kehrt sich der M e n s c h fort von der Welt, d. i. der Vielheit und Kontingenz, und er gelangt zur Einheit. D a m i t tritt er hinaus aus dem Kreislauf der —»-Wiedergeburten. Die Vereinigung mit G o t t ist sahaj (lat. unigenitus; auch „ s p o n t a n , leicht"). J e d o c h ist sie erst mit dem T o d irreversibel, so d a ß die Bhakti N ä n a k s wie anderer nordindischer BhaktiG l a u b e n s f o r m e n geprägt ist v o m negativen Gottesbeweis. Der Gläubige sehnt sich lebenslang nach der Einheit mit G o t t , sein Leiden in der Gottgetrenntheit wird zum Beweis Gottes. Das Wesen Gottes zeigt sich in der Lehre der nordindischen Bhakti in reiner F o r m im geistlichen Lehrer, guru. D a h e r ist der „ W a h r e G u r u " auch G o t t selbst. G o t t trägt daher bei N ä n a k neben den N a m e n Hari und Räm und zahlreichen Epitheta auch die Bezeichnung satgurü, „ W a h r e r G u r ü " . N ä n a k s Lehre von der G n a d e n f r e i h e i t stellt sich d a m i t der Lehre des o r t h o d o x e n , b r a h m a n i s c h dominierten H i n d u i s m u s entgegen, nach der der Z u g a n g zum Heil je nach Stand und Geschlecht unterschiedlich ausgeprägt ist. In der Lehre des Sikhismus sind Heilsbedürftigkeit und Heilschancen f ü r alle M e n s c h e n gleich. Die religiöse Egalität wird im Kultus immer wieder symbolisch zum Ausdruck gebracht (z. B. in der religiösen Gemeinschaftsspeisung oder im Taufritus; auch in der Bausymbolik des H a u p t t e m p e l s in Amritsar). 4. Heilige
Schrift
Die heilige Schrift der Sikhs ist der Adi-Granth, „ d a s anfängliche [oder: originale] B u c h " . Es trat die N a c h f o l g e des letzten menschlichen G u r ü s an (s.u. 6.), weshalb es auch Adi Sri Gurü Gratith SähibjT heißt: „ d a s anfängliche Buch, welches der G u r ü ist", abgekürzt Gurü Granth. Die erste R e d a k t i o n des Adi Granth erfolgte 1 6 0 3 - 1 6 0 4 unter der Leitung G u r ü Arjans. Die G r u n d l a g e dabei bildete Material, das bereits von G u r ü A m a r D a s zusammengetragen w o r d e n w a r . Die Schlußredaktion w u r d e 1705 von G u r ü G o b i n d Singh veranstaltet, der hierbei noch die Werke G u r ü Tegh B a h ä d u r s einarbeitete. Diese Fassung ( D a m d a m ä - R e z e n s i o n ) bildet die Standardversion des Adi-Granth, die im Druck 1439 Seiten u m f a ß t und in identischer Form in allen gurdväräs, Sikh-Tempeln, im M i t t e l p u n k t des Kultus steht. Die S p r a c h f o r m e n des Adi-Granth sind, textschichtungsspezifisch, P a n j a b i und mehrere Varianten des West-Hindi. Der Adi-Granth inkorporiert neben den Werken der G u r ü s auch solche von Bhakti-Meistern, denen die Sikhs als geistliche Erben verpflichtet sind ( N ä m d e v , Ravidäs, Kablr), ferner Werke des SufiMeisters F a n d ud-DIn. D a m i t stellt der Adi-Granth eine ungewöhnlich stabile f r ü h e Quelle zu Bhakti-CEuvres des Mittelalters dar. N ä c h s t dem Adi-Granth gilt der Dasam Granth, „ d a s zehnte B u c h " b z w . „Buch des Z e h n t e n " , als heilige Schrift. Es wird dem zehnten G u r ü , Gobind Singh, zugeschrieben und ist in bestimmten Teilen in die Liturgie eingegangen. 5. Religiöse
Praxis
Der Sikhismus ist eine Laienreligion, in der v o r h a n d e n e monastisch-asketische Elemente nur in heute marginalen G r u p p e n b e w a h r t sind (UdäsTs, N i r m a l a s und Nihangs).
Sikh-Religion
265
Der religiöse Kultus ist der Ausdruck des menschlichen Bemühens um bhakti. Eine Rechtfertigung durch religiöse Werke kann er nicht begründen. Die Tagesliturgie besteht aus Texten, die im Adi-Granth (S. 1 - 1 3 ) zusammengefaßt sind, ferner aus solchen des Dasam Granth und einigen zusätzlichen Stücken (McLeod, Sources). Der Adi-Granth 5 stellt die Perpetuierung der Gurü-Kette dar. Er genießt daher Verehrung wie ein persönlich verehrter Gott, wovon das Tempelritual zeugt. Die Sikh-Bhakti ist, trotz der individuell zu erstrebenden Gnadenwürdigkeit, gemeindebezogen. Im persönlichen Gebet {jap) ist zentral das Gebet des Namens Gottes. Es soll vom Betenden zunehmend verinnerlicht gestaltet werden, bis schließlich in ihm selbst sich 10 Gott als der physikalisch nicht mehr bedingte Ton der Offenbarung ereignet. Gott wird daher auch als der „unangeschlagene Ton" verstanden. Die Lebensübergangsriten sind stark geprägt von den Normen der Khilsä-Sikhs (s. u. 6.), obwohl sie tief in der Geschichte der Gemeinschaft als ganzer wurzeln. Besondere Bedeutung kommt hierbei der Taufe zu. Eindrucksvoll zeigen die Lebensübergangsriten is die Hinordnung auf die Vereinigung mit Gott. Taufe, Ehe und Tod werden in diesem einen Ziel geeint. Die Taufe symbolisiert die Bluttaufe, d. h. die Treue des Sikhs (näherhin des Khälsä-Sikhs, s.u. 6.) zum Glauben und zur Gemeinde bis in den Tod; Ehe und Tod sind vorweggenommene bzw. endgültige ewige Hochzeit mit Gott, und dieser Tenor durchzieht auch alle Texte der Tagesliturgie. in
25
io
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6. Geschichte
des
Sikhismus
Die Sikh-Gemeinschaft war anfangs geprägt von den Khatris, der Kastengruppe, zu der Nänak und die weiteren Gurüs gehörten. Um die Wende zum 17. Jh. begann jedoch der Zustrom von Jäts, kriegerischen Bauern, die alsbald im Panjab dominant wurden. Dies führte zur Militarisierung der Sikhs. Der sechste Gurü machte sich die sog. miri-piriLehre zu eigen, die Lehre von der gleichzeitig „geistlichen und zeitlichen Macht" der Gemeinschaft. Symbol dessen ist, daß gegenüber dem Hauptheiligtum in Amritsar, dem Harimandir (sog. Goldener Tempel), der Akäl Takht, „Thron des Ewigen", als Zeichen der zeitlichen Macht aufgeführt wurde. Die zunehmende territoriale Dominanz der Sikhs führte zu Konflikten mit der Zentralmacht, den Moghuikaisern. Der zehnte Gurü hatte seine Nachkommen überlebt, so daß die Gurü-Sukzession nicht mehr in der Familie möglich war. Er gründete im Jahre 1699 den Khälsä, jene religiös-politische Bruderschaft, die im Laufe der Entwicklung Repräsentativität für alle Sikhs zu beanspruchen begann und hinsichtlich ihrer politischen Durchsetzungsfähigkeit auch wirklich gewonnen hat. Mit dem Khälsä verbunden sind bestimmte äußere Glaubenssymbole, nämlich das ungeschnittene Haar; der kleine Kamm, der meist unter dem Turban getragen wird; der stählerne Armreif; der Dolch; die kurzen Unterhosen (letztere Kampfbereitschaft signalisierend und im Gegensatz zum gewickelten Lendentuch stehend). Die Abzeichen des Khälsä empfängt der Sikh bei der Taufe (im allgemeinen vor dem 15. Lebensjahr). Die Zugehörigkeit zum Khälsä wird durch einheitliche Namensgebung dokumentiert; Männer empfangen den Namen Singh, „Löwe", Frauen den Namen Kaur, „Prinzessin". Ausdruck des Ringens um eine vor allem vom Hinduismus, aber auch von anderen Sikh-Gruppierungen distinkte Sikh-Identität ist der von der den Khälsä führenden Körperschaft (Shiromani Gurdwara Parbandhak Committee) nach jahrzehntelangen Beratungen verabschiedete Sikh Rahit Maryädä, der Sikh-Verhaltenskodex, der auch definiert, wer Sikh ist. Damit hat sich die Waagschale zugunsten der Khälsä-Dominanz weiter gesenkt, obwohl andere Gruppen, die z.B. die religiösen Lehren Nänaks in reiner Form behaupten wollen, weiterhin Wirkung entfalten. Politisch ist der Khälsä durch die ihm angehörende Partei AkälT Dal, „Ewigkeitspartei" und mit ihr besonders durch die teils gemäßigt, teils radikal vorgetragene Forderung nach einem theokratischen Sikh-Staat hervorgetreten.
266 Quellen
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Monika H o r s t m a n n
Silo (Literatur S. 267)
In außerbiblischen Quellen wird Silo nicht genannt, o b w o h l der O r t während des 2. Jahrtausends bereits bestanden hat. N a c h den biblischen Erwähnungen war Silo in vorstaatlicher Zeit besiedelt, während für die Königszeit (-»Geschichte Israels) die Belege spärlich sind, so d a ß mit dem Bestehen des Ortes während dieser Epoche nicht zwingend gerechnet werden muß. Auf G r u n d von I Sam 1,3.9.24; 3,21 ist für Silo ein Ortsheiligtum vorauszusetzen, das von dem Priestergeschlecht der Eliden (—»Samuel) versorgt wurde. Dort hat die Lade gestanden, die dann in der Schlacht von Eben-Eser an die Philister (—•Philister und Israel) verlorengegangen ist (I Sam 4 - 6 ) . Bei diesen kriegerischen Auseinandersetzungen mit den Philistern ist vermutlich auch Silo zerstört worden (vgl. Jer 7,14; Ps 78,60). Danach ist Silo weitgehend aus der Geschichte verschwunden, jedenfalls wird der O r t während der Königszeit nur noch am Rande erwähnt, so etwa im Zusammenhang mit der Designation -»Jerobeams zum König durch den Propheten -» Ahia von Silo, der durch die N e n n u n g des Herkunftsortes näher bestimmt wird (I Reg 11,29). Außerdem erscheint Silo noch in Jer 41,5 zusammen mit -»Sichern und -»Samaria in Z u s a m m e n h a n g mit der E r m o r d u n g des babylonischen Statthalters Gedalja. Alle weiteren Nennungen tragen f ü r die Geschichte des Ortes nichts aus. Die Lesung des Ortsnamens in Gen 49,10 ist sachlich unwahrscheinlich. In der Erzählung vom Frauenraub der Benjaminiten Jdc 21,15—23 w u r d e ein literarisches Motiv mit Silo in Verbindung gebracht, das sich außerhalb der Bibel in zahlreichen Varianten findet, von denen der R a u b der Sabinerinnen durch die R ö m e r bei Livius und Plutarch die bekannteste Version der Antike darstellt (vgl. Elisabeth Frenzel, Motive der Weltliteratur, 4 1992 [KTA 301] 170-185). Schließlich w u r d e in der nachpriesterschriftlichen Redaktion des Josuabuches (—»Josua/Josuabuch) die Stiftshütte nach Silo verlegt (Jos 18,1; 19,51; vgl. 21,2). Somit ist der O r t nie völlig in Vergessenheit geraten. Möglicherweise wurde nach der Zerstörung im 11. Jh. das Heiligtum während der Königszeit weiter benutzt, auch wenn es in der Bedeutung hinter -»Bethel und - » D a n zurückgetreten ist. Unwahrscheinlich ist dagegen die Annahme, d a ß die im Tempel von —»Jerusalem mit der Lade verbundenen Vorstellungen bereits in Silo ausgebildet und von dort übernommen worden sind (gegen O t t o Eißfeldt, Silo und Jerusalem: ders., KS, Tübingen, III 1966, 4 1 7 - 4 2 5 ) . Z w a r wirkt
Silvester II.
267
die Rolle, die Silo in vorstaatlicher Zeit gespielt hat, in der Überlieferung noch nach, eine wirkliche Bedeutung hat der Ort aber in staatlicher Zeit nicht besessen. Auf Cirund der Angaben von Jdc 21,19 und im Onomastikon des —»Eusebius von Caesarea ( 1 5 8 , 2 8 - 3 1 ) kann Silo auf der Hirbet Selün etwa 15 km nördlich von Bethel (Beim) lokalisiert werden. Diese Gleichsetzung wurde bereits von Edward Robinson (1794—1863) 1838 vorgeschlagen und ist seitdem nie ernsthaft bestritten worden. Nach ersten Ausgrabungen zwischen 1926 und 1932 unter der Leitung von H. Kjaer wurde die Ortslage von 1981 bis 1984 intensiv unter der Leitung von I. Finkelstein erforscht. Demnach können folgende Besiedlungen unterschieden werden, ohne daß es zu einer kontinuierlichen Siedlungsgeschichte gekommen ist. Eine erste Ansiedlung fand zu Beginn der Mittelbronzezeit I I B ( 1 7 5 0 - 1 5 5 0 v. Chr.) statt (Stratum VIII). Diese wurde durch eine Umwallung mit vorgelagertem Glacis abgelöst, die in der letzten Phase der Mittelbronzezeit II B bestanden hat (Stratum VII). Innerhalb dieser Befestigung wurden bisher nur geringe Siedlungsreste gefunden. Aus der folgenden Epoche der Spätbronzezeit I ( 1 5 5 0 - 1450 v. Chr.) stammen lediglich Schuttablagerungen, die nicht näher zu erklären sind (Stratum VI). Die früheisenzeitliche Siedlung, die etwa von 1150 bis 1050 v.Chr. bestanden hat, markiert mit ihren durch Steinpfeiler unterteilten Häusern und den in die vorangegangenen Siedlungsschichten eingetieften Silos einen Neueinsatz, der aber im 11. J h . abrupt zu Ende gekommen ist (Stratum V). Aus der Eisenzeit II ( 1 0 0 0 - 5 8 7 v. Chr.) finden sich nur geringe Reste des 8. und 7. J h . (Stratum IV). Erst in späthellenistischer/frührömischer sowie in byzantinischer Zeit hat wieder ein Dorf in Silo bestanden (Strata II und I). Am Südrand des byzantinischen Dorfes stand eine Basilika, eine weitere Kirche befand sich innerhalb eines als Pilgerherberge gedeuteten Gebäudes. Im Anschluß an die arabische Eroberung war das Dorf bis ins Mittelalter (14. Jh.) weiter bewohnt. Nach der bisherigen Forschung deckt sich der archäologische Befund mit den literarischen Belegen. Die frühisraelitische Kultstätte konnte allerdings bisher nicht nachgewiesen werden. Im Ruckgriff auf die biblische Tradition (vgl. I Sam 4 , 1 2 - 2 2 ) wird seit dem Mittelalter das Grab Elis in Silo verehrt; dieses wird heute in der Moschee Gami' el-Yattm als dem einzigen intakten Gebäude aus islamischer Zeit angesetzt. Literatur Flemming G o r m Andersen, Shiloh II. T h e Remains from the Hell, to the Mamluk Periods, Kopenhagen 1985. - Marie-Louise Buhl/Svend Holm-Nielsen, Shiloh. T h e Pre-Hell. Remains, Kopenhagen 1969. - Hans Kjaer, T h e Excavation of Shiloh, 1929. Preliminary Report: J P O S 10 (1930) 8 7 - 1 7 4 . - Donald G. Schley, Shiloh. A Biblical City in Tradition and History, 1989 ( J S O T . S 63) (Lit.). — Shiloh. T h e Archaeology of a Biblical Site, hg. v. Israel Finkelstein, Tel Aviv 1993 ( M o nograph Ser. of the Institute of Archaeology Tel Aviv Univ. 10).
Volkmar Fritz
Silvester
Feste und Feiertage
Silvester II., Papst (2. April 999-12. ¡.Werdegang
2. Pontifikat
Mai
1003)
3. Nachwirkung
(Literatur S. 269)
Gerbert von Aurillac, der erste französische Papst, ist durch Karriere und Gelehrsamkeit berühmter als durch kirchliches Wirken. Beste Informationen bieten (bis 998) die Historien seines Schülers Richer von Reims (ca. 9 4 0 / 9 5 0 - nach 998) (ed. Robert Latouche, 1 9 3 0 - 1 9 3 7 [ C H F M A ] [Nachdr. 1 9 6 4 - 1 9 6 9 ] ) , die über 2 0 0 Nummern zählende politisch und kulturgeschichtlich wichtige Briefsammlung Gerberts ( 9 8 3 - 9 9 7 ) (ed. Fritz Weigle, 1966 [ M G H . B 2]; engl.: Harriet Pratt Lattin, New York 1961; franz.: Pierre Riehe, 1993 [ C H F M A ] ) und knapp 40 Urkunden des Papstes (ed. Harald Z i m m e r m a n n , 1985 2 1 9 8 9 [ D Ö A W . P H 177] 7 1 2 - 7 7 7 ) sowie einige Gedichte (ed. Karl Strekker, 1979 [ M G H . P L 5] 4 7 2 - 4 7 6 ) und die wenigen überlieferten wissenschaftlichen Werke (ed. Alexandre O l l e n s , Oeuvres de Gerbert, Clermont-Ferrand/Paris 1867 und Nikolaus Bubnow, Gerberti opera mathematica, Berlin 1899 [Nachdr. Hildesheim 1963]).
268 1.
Silvester II. Werdegang
In Aquitanien obscuro loco natus, war Gerbert im Kloster Aurillac erzogen worden, von wo er ca. 967 mit dem Markgrafen Borell von Barcelona nach Katalonien ging. Bei Bischof Atto von Vieh (ca. 9 2 0 - 9 9 2 ) , eventuell auch durch Reisen, muß er mit der arabischen Wissenschaft in Berührung gekommen sein. Das erste sichere Lebensdatum ist der Rombesuch Anfang 971 bei Papst Johannes XIII. ( 9 6 5 - 9 7 2 ) im Gefolge Borells, als er auch Kaiser -»Otto d.Gr. vorgestellt wurde, der ihn für seine Hofschule behalten wollte. Gerbert reiste aber 972 zum Weiterstudium mit dem gelehrten Reimser Archidiakon Gerannus nach Reims und wurde dort bald Leiter der Domschule. Sowohl der spätere französische König Robert II. als auch der Frühscholastiker Fulbert von Chartres (ca. 9 6 0 - 1 0 2 8 ) zählten zu seinen Schülern. Im Januar 981 fand in Ravenna vor Kaiser Otto II. ein philosophisches Streitgespräch zwischen Gerbert und dem deutschen Scholaster Ohtrich von Magdeburg statt. Es brachte dem siegreichen Franzosen die Ernennung zum Abt des bedeutenden italischen Klosters Bobbio, doch konnte er sich gegen lokale Widerstände nicht behaupten und zog nach des Kaisers Tod 983 wieder nach Reims. Hier spielte er als Rat des Erzbischofs Adalbero ( 9 6 9 - 9 8 9 ) beim Übergang der Krone Frankreichs auf die Capetinger (987) eine große politische Rolle als Königsmacher und sollte 989 Adalberos Nachfolger werden, was aber erst nach Absetzung des zunächst zum Erzbischof bestellten Karolingers Arnulf auf dem Konzil von St-Basle de Verzy im Juni 991 gelang. Da Rom die ohne päpstlichen Konsens vollzogene Deposition trotz französischer Konzile, die Gerbert apologetisch darstellt (ed. G . H . Pertz, 1839 [MGH.SS 3] 6 5 8 - 6 9 3 ; Olleris, Oeuvres 1 7 3 - 2 5 6 ) , nicht anerkennen wollte, mußte er, vom König preisgegeben, vor seinen Gegnern im Herbst 996 ins Deutsche Reich fliehen, wo er Rat und Lehrer Kaiser —»Ottos III. wurde. Dieser hat ihn im April 998 zum Erzbischof von Ravenna gemacht, wohl gegen den Willen der bald opponierenden Ravennaten, und ein Jahr später, nach des deutschen Papstes Gregor V. ( 9 9 6 - 9 9 9 ) Tod, zum Papst befördert. Gerbert selbst soll scherzend seinen Aufstieg von R nach R zu R in einen Vers gefaßt haben. Eine seiner ersten päpstlichen Maßnahmen war die Anerkennung seines Reimser Rivalen Arnulf und die neuerliche Verleihung des erzbischöflichen Pallium an ihn. 2.
Pontifikat
Die Wahl des Papstnamens, eine damals noch junge Sitte, könnte programmatisch sein und an das laut Legende einvernehmliche Wirken von Silvester I. und -»Konstantin d. Gr. erinnern. Wie groß des Papstes Einfluß auf den jungen Kaiser war und ob politisch glücklich im Hinblick auf die geplante Renovatio Imperii samt Kaiserresidenz in Rom, ist strittig. Gerberts triumphierende Feststellung Nostrum est Romanum Imperium in der Widmung eines gelehrten Traktates an Otto III. datiert schon von 998 und hatte kaum politische Tendenz. Es scheint auch Spannungen gegeben zu haben, so wenn Otto eher unwillig erst 1001 Territorien bei Ravenna dem heiligen Petrus restituierte, nicht ohne Tadel an dem das Kirchengut verschleudernden Papsttum. Abgesehen vom gemeinsamen Synodalvorsitz und wechselseitiger Intervenienz in Urkunden findet man Kaiser und Papst im vollen Einvernehmen bei der Organisation der Kirche Polens und Ungarns, was zu einer spektakulären Pilgerfahrt Ottos III. nach Gnesen im März 1000 und zu einer später legendär ausgeschmückten Kronenschenkung an den ungarischen König Stephan den Heiligen im Frühjahr 1001 führte. Es waren auch Höhepunkte des Pontifikates. Als Anfang 1001 die Römer revoltierten, hat Silvester mit dem Kaiser die Stadt verlassen und ist erst nach dessen Tod 1002 zurückgekehrt, sich mit den Römern arrangierend. Dabei gibt es Aussagen, daß sich der Papst hier nie allzu wohl gefühlt und jedenfalls seinen in Frankreich zurückgelassenen Büchern nachgetrauert habe, die ihm beim weiter gepflegten Gedankenaustausch mit Gelehrten oder bei der Entscheidung von Problemen fehlten. Silvester hielt Kontakt zur Heimatabtei Aurillac, urkundete für
Silvester II.
269
B o b b i o und w a r mit A b t O d i l o von C l u n y (ca. 9 6 2 - 1 0 4 8 ) befreundet, o h n e sonst ein engeres Verhältnis zum M ö n c h t u m zu g e w i n n e n , aus dem seine R e i m s e r G e g n e r s t a m m ten, wie vor allem der ähnlich h o c h g e l e h r t e Abt A b b o von Fleury (ca. 9 4 0 - 1 0 0 4 ) . Immerhin war der Papst an m o n a s t i s c h e n R e f o r m e n in R o m und in der nahen R e i c h s a b t e i Farfa beteiligt. Eine auffällig h o h e Z a h l von Urkunden wurden für k a t a l o n i s c h e E m p fänger ausgestellt. Am 12. M a i 1003 ist der Papst in R o m g e s t o r b e n .
3.
Nachwirkung
K n a p p ein J a h r h u n d e r t später b e m ä c h t i g t e sich seiner die Sage und m a c h t e ihn (zuerst bei d e m antigregorianischen Kardinal B e n o [gest. nach August 1098]) zum Urbild des D r . Faust, weil sein Aufstieg und Wissen nur durch einen T e u f e l s p a k t erklärlich schien, unter der Bedingung a b g e s c h l o s s e n , nie in J e r u s a l e m M e s s e zu feiern, was Silvester das Leben kostete, als er in die r ö m i s c h e S t a t i o n s k i r c h e Sta. C r o c e in G e r u s a l e m m e nächst dem L a t e r a n eine Prozession führte ( - » P a p s t f a b e l n / P a p s t w e i s s a g u n g e n ) . G e r ü h m t wird G e r b e r t als Universalgenie, der als letzter alle klassischen W i s s e n schaften, alle sieben —»Artes liberales beherrscht habe. L a u t R i c h e r hat er sie auch alle in R e i m s gelehrt. Ein hier verfaßtes L e h r b u c h der R h e t o r i k ist nicht erhalten. Überliefert oder wenigstens aus Briefen b e k a n n t sind aber T r a k t a t e zum Q u a d r i v i u m , besonders über m a t h e m a t i s c h e und a s t r o n o m i s c h e P r o b l e m e . D i e sog. a r a b i s c h e n Ziffern samt der N u l l , A b a c u s , A s t r o l a b und Z i r k e l werden im Unterricht eingesetzt. Angeblich soll G e r b e r t auch imstande gewesen sein, eine O r g e l zu bauen. T h e o r e t i s c h e r Ausgangspunkt seines Wissens w a r das W e r k des - > B o e t h i u s , das weiter tradiert wurde. In der R h e t o r i k galten antike Autoren als Vorbild, in der D i a l e k t i k werden auch juridische Fragen angeschnitten. An medizinischen P r o b l e m e n zeigt sich G e r b e r t interessiert und hat entsprechende R a t s c h l ä g e erteilt. D i e R a v e n n a t e r D i s p u t a t i o n von 9 8 1 de divisione philosophiae und der für O t t o III. 9 9 8 verfaßte T r a k t a t de rationali et ratione uti weisen schon auf die neue scholastische M e t h o d e . T h e o l o g i s c h e R e f l e x i o n e n über das W i s s e n finden sich bei G e r b e r t freilich nicht. D e r E u c h a r i s t i e - T r a k t a t de corpore et sanguine Domini und die antisimonistische A b h a n d l u n g de informatione episcoporum über das B i s c h o f s a m t wurden ihm irrig zugeschrieben. In seinen apologetischen Berichten über den Streit um das E r z b i s t u m R e i m s begegnen frühgallikanische Tendenzen. Literatur Oscar G. Darlington, Gerbert, obscuro loco natus: Spec. 11 (1936) 5 0 9 - 5 2 0 . - Ders., Gerbert the Teacher: A H R 52 (1947) 4 5 5 - 4 7 6 . - Fritz Eichengrün, Gerbert (Silvester II.) als Persönlichkeit, Leipzig/Berlin 1928 (Nachdr. Hildesheim 1972). - Augustin Fliehe, Un précurseur. Le moine Gerbert. Quelques aspects de l'humanisme médiéval, Paris 1943. - Helene Gase, Gerbert et la pédagogie des artes libéraux à la fin du X e siècle: Journal of Medieval History 12 (1986) 111 — 121. - Gerberto. Szienza, Storia e M i t o . Atti del Gerberti Symposium B o b b i o 2 5 - 2 7 luglio 1983, hg. v. Michele Tosi, 1985 (ArBob Studia 2). - Olivier Guyotjeannin/Emanuel Poulie (Hg.), Autour de Gerbert d'Aurillac, le pape de l'an mil, Paris 1996. - Hans-Henning Kortüm/Ute Lindgren, Art. Gerbert v. Aurillac: L M A 4 (1989) 1 3 0 0 - 1 3 0 3 . - Felix La Salle de Rochemaure, Gerbert, Silvester II. Le Savant, le Faiseur de rois, le Pontife, R o m / P a r i s 1914. - J e a n Leflon, Gerbert. Humanisme et Chrétienté au X e siècle, St-Wandrille 1946. - Ute Lindgren, Gerbert v. Aurillac u. das Quadrivium, 1976 ( S A G M . B 18). - Cora E. Lutz, Schoolmasters of the Tenth Century, Hamden, Conn. 1977. A. Musac, Iconographie de Gerbert: Visages d'Aurillac dans le passé. Catalogue de l'exposition, Aurillac 1973, 4 0 7 - 4 2 3 . - Lluis Nicolau d'Olwer, Gerbert y la cultura catalana del siglo X : Estudis Univ. Catalans 4 (1910) 3 3 2 - 3 5 8 . - Françoise Picavet, Gerbert, un pape philosophe d'après l'histoire et d'après la légende, 1897 ( B E H E . R 9). - Pierre Riché, Gerbert et le Gallicanisme: R H E F 72 (1986) 5 - 1 7 . - Ders., La bibliothèque de Gerbert d'Aurillac: B S N A F 1987, 1 1 0 - 1 1 3 . - Ders., Gerbert d'Aurillac, le pape de l'an mil, Paris 1987 ' 1 9 9 0 . - Ders., Art. Silvestre II: Dictionnaire hist. de la papauté (1994) 1 5 8 0 - 1 5 8 2 . - Klaus Jürgen Sachs, Gerbertus cognomento musicus. Z u r musikgesch. Stellung des Gerbert v. Reims, nachmaligen Papstes Silvester II.: A f M w 29 (1972) 2 5 7 - 2 7 4 . - Karl Schultess, Die Sagen über Silvester IL, Hamburg 1893. - Kurt Vogel, Gerbert v. Aurillac als M a thematiker: Acta historica Leopoldiana 16 (1985) 9 - 2 3 . - Hermann Weissenborn, Zur Gesch. der Einf. der jetzigen Ziffern in Europa durch Gerbert. Ein Stud., Berlin 1892. - Kurt Zeillinger, O t t o
270
S i m o n ben K o s i b a
III. u. die Konstantinische Schenkung. Ein Beitr. zur Interpretation des Diploms Kaiser Ottos III. f. Papst Silvester II.: S M G H 33,11 (1988) 5 0 9 - 5 3 6 . - Harald Zimmermann, Papstregesten, Wien 1969 M998 (RI II/5). - Ders., Das dunkle J h . , Graz 1971. - Ders., Gerbert als kaiserlicher Rat: Gerberto (s.o.) 2 3 5 - 2 5 3 .
Harald Zimmermann
S i m o n ben K o s i b a (Literatur S. 272)
S i m o n ben K o s i b a führte den zweiten g r o ß e n Aufstand gegen R o m in der Provinz J u d ä a ( 1 3 2 - 1 3 5 n. C h r . ) , den einzigen unter den jüdischen Aufständen gegen Fremdherrschaft in der A n t i k e , der nach seinem Anführer benannt ist. D e r B a r - K o c h b a - A u f stand ist gleichzeitig H ö h e - und W e n d e p u n k t der W i d e r s t a n d s b e w e g u n g gegen das römische Weltreich im L a n d e Israel. E r zeichnet sich aus durch seine ungewöhnlichen D i m e n s i o n e n auf jüdischer wie auf r ö m i s c h e r Seite sowie durch das M a ß an jüdischpolitischem Eigenleben, das er zustande b r a c h t e . Laut Auskunft von Cassius Dio brach der Aufstand aus, weil Hadrian auf der Durchreise nach Ägypten im Jahre 129/130 beschlossen hatte, in -»Jerusalem eine Kolonie mit einem heidnischen Tempel zu errichten, die Aelia Capitolina heißen sollte (Aelia nach dem Gentilnamen des Kaisers, Capitolina nach Zeus/Jupiter, der auf dem Capitol in R o m verehrt wurde [Cassius Dio L X I X , 1 2 1 ] ) . Laut -»Eusebius (h.e. IV,6) wurde Jerusalem erst nach dem Aufstand in Aelia Capitolina verwandelt, was demnach nicht Anlaß, sondern Folge des Aufstands war. Vermutlich wurde mit der Errichtung von Aelia vorher begonnen, und die durch den Aufstand behinderten römischen Pläne gelangten erst danach zur völligen Durchführung. Bei den Scriptores Historiae Augustae steht, daß das römische Beschneidungsverbot den Anlaß zum Aufstand gebildet habe (vit. Hadr. 14,2). Vielleicht ist darin ein zusätzliches auslösendes M o m e n t zu sehen; allerdings nennen andere Quellen das Beschneidungsverbot als eine der Beschränkungen der Religionsfreiheit, die in der Folge des Aufstands verhängt wurden.
D e r Aufstand b r a c h nicht s p o n t a n aus, sondern w a r sorgfältig vorbereitet. D i o berichtet, Waffen seien b e w u ß t unter dem r ö m i s c h e n Standard hergestellt w o r d e n , so d a ß die Auftraggeber sie zurückgehen ließen, w o r a u f h i n sie den Aufständischen zur Verfügung standen; e b e n s o w e i ß er von Festungen und verzweigten unterirdischen G ä n g e n zu berichten, wie sie in der N i e d e r u n g von J u d ä a und andernorts tatsächlich gefunden wurden (ob diese Anlagen nur mit dem B a r - K o c h b a - A u f s t a n d z u s a m m e n h ä n g e n , ist umstritten). D e r Z e i t p u n k t des A u f s t a n d s w a r so g e w ä h l t , d a ß er erst a u s b r a c h , n a c h d e m H a d r i a n die R e g i o n verlassen h a t t e und im J a h r e 132 nach Athen gereist war. Die Leitung des Aufstands lag ausschließlich in den H ä n d e n von „ S i m o n ben K o s i b a " . S o lautet die F o r m seines N a m e n s in seinen Briefen; in der talmudischen Literatur heißt er ähnlich: ben K o s b a . M ö g l i c h e r w e i s e deutet dieser N a m e auf seine H e r k u n f t aus einem O r t n a m e n s K o s b a , der mit K h i r b e t Kuweizibe bei Bethlehem zu identifizieren wäre (was wiederum mit der ihm zugeschriebenen M e s s i a n i t ä t z u s a m m e n h ä n g e n k ö n n t e ) . R a b b i - » A k i b a , einer der g r ö ß t e n T a n n a i t e n , bezeichnete ihn als den messianischen König und legte den Vers N u m 2 4 , 1 7 v o m „Stern aus J a k o b " auf ihn aus (yTaan IV 6 8 d ) ; das ist zweifellos der U r s p r u n g seines B e i n a m e n s B a r - K o c h b a : „ S t e r n e n s o h n " . N a c h d e m Scheitern des Aufstands wurde sein N a m e wortspielerisch statt als „ S t e r n " (Kochab) als „ E n t t ä u s c h u n g " ( K o z a b ) gedeutet ( T h r e n i R a b b a II 4). Aus R a b b i Akibas Äußerungen geht h e r v o r , d a ß er in B a r - K o c h b a einen realen M e s s i a s erblickte, eine militärisch-irdische Führergestalt, keinen übernatürlichen Erlöser im Z u g e endzeitlichen G e s c h e h e n s . D i e Quelle im M i d r a s c h , die der Überlieferung im J e r u s a l e m e r T a l m u d parallel läuft, r ü h m t B a r - K o c h b a s R i e s e n k r ä f t e : Steine aus römischen W u r f m a s c h i n e n seien an seinem K n i e abgeprallt, a u f die Feinde zurückgeflogen und hätten etliche von ihnen getötet; d a r a u f folgt R a b b i A k i b a s b e r ü h m t e r Ausspruch. Die christlichen Quellen verwenden den N a m e n B a r - K o c h b a und b e h a u p t e n , damit sei er vor den M a s s e n als
Simon ben Kosiba
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ihr v o m H i m m e l gesandter Erlöser aufgetreten. Sie schildern ihn als R ä u b e r und M ö r d e r und verleihen ihm Z ü g e des Antichrists. B a r - K o c h b a s Briefe ermöglichen eine realistischere Beurteilung seiner Gestalt. In den Briefen wie auf seinen M ü n z e n lautet sein T i t e l : Nassi (Fürst). M a n c h e sehen darin die Bezeichnung eines niedrigeren R a n g e s als König, eine Art E t h n a r c h , was der T i t e l der ersten H a s m o n ä e r f ü r s t e n w a r , andere ein D e c k w o r t für den idealen König im Sinne des Fürsten aus den Endzeitvisionen bei Ezechiel. B a r - K o c h b a erscheint in den Briefen als ein tatkraftiger Feldherr und R e g e n t , der verschiedentlich in die alltäglichen Belange seiner Untergebenen eingreift. Sein F ü h r e r t u m war nicht auf den militärischen Bereich b e s c h r ä n k t , in einigen Briefen geht es um Verpachtung von Ländereien in seinem Auftrag. Seine M ü n z e n (überprägte römische) tragen Aufschriften wie „ F r e i h e i t " und „ E r l ö s u n g " . Aus den Briefen geht außerdem h e r v o r , d a ß B a r - K o c h b a a u f die E i n h a l t u n g verschiedener religiöser G e b o t e b e d a c h t war; so hielt er e t w a den S a b b a t s o w i e einige ans Land Israel gebundene G e b o t e . Die Quellen erlauben keine vollständige R e k o n s t r u k t i o n des Verlaufs des Aufstands. O f f e n b a r hatten die Aufständischen anfangs die O b e r h a n d . H ö c h s t w a h r s c h e i n l i c h gelang es ihnen, J e r u s a l e m einzunehmen. Dies erhellt aus dem zeitgenössischen Zeugnis des Appian (syr. L , 2 5 2 ) . Dagegen k ö n n t e n die M ü n z i n s c h r i f t e n „ f ü r J e r u s a l e m s F r e i h e i t " sowie das Bild der T e m p e l f r o n t a u f den M ü n z e n Ausdruck einer utopischen H o f f n u n g sein, nicht unbedingt einer historischen R e a l i t ä t . H a u p t s c h a u p l a t z des Aufstands w a r J u d ä a , eine etwaige Beteiligung von S a m a r i t a n e r n ist ungewiß. Fest steht, d a ß das B a n n e r des Aufstands in G a l i l ä a nicht so h o c h wehte wie in J u d ä a , o b w o h l mit vereinzelten Ausbrüchen auch dort zu rechnen ist. Z w e i im L a n d e stationierte r ö m i s c h e L e g i o n e n , die zehnte (Fretensis) in J e r u s a l e m und die sechste (Ferrata) bei M e g i d d o , v e r m o c h t e n der Aufständischen nicht H e r r zu werden. Auch Verstärkung durch r ö m i s c h e Truppen aus den N a c h b a r p r o v i n z e n (Syria, Arabia und Ägypten) reichte nicht aus. Die aus Ägypten zu Hilfe gerufene 2 2 . Legion (Deioteriana) erscheint nach dem A u f s t a n d nicht mehr im Verzeichnis der römischen Legionen; anscheinend war sie e n t w e d e r von den Aufständischen aufgerieben oder als unnütz aufgelöst w o r d e n . Schließlich sahen sich die R ö m e r genötigt, Truppen aus dem D o n a u - G e b i e t herbeizuholen und einen so erfahrenen Strategen wie Julius Severus, den Statthalter von Britannien, zum Feldherrn zu ernennen. Seine T a k t i k von Belagerung, Abschneiden der N a c h f u h r und schrittweiser Ergreifung der Aufständischen führte dann zu deren Niederlage. Die letzte Feste der Aufständischen w a r B e t h a r , c a . 1 1 k m südwestlich von J e r u s a l e m . Die t a l m u d i s c h e Literatur schildert den Fall von B e t h a r in düsteren F a r b e n . B a r - K o c h b a soll nicht durch M e n s c h e n h a n d gefallen sein, sondern durch die H a n d des H i m m e l s (an einem S c h l a n g e n b i ß ) , wie es einem c h a r i s m a t i s c h e n F ü h r e r geziemt. Die letzten Aufständischen fanden in den H ö h l e n der judäischen W ü s t e Z u flucht, wo die R ö m e r sie dann bis zum bitteren Ende belagerten. Cassius D i o b e t o n t die g r o ß e Anzahl von Gefallenen, fügt aber hinzu, d a ß auch die R ö m e r so beträchtliche Verluste erlitten h ä t t e n , d a ß H a d r i a n seinen Bericht an den r ö m i s c h e n Senat nicht mit der üblichen F o r m e l eröffnete: „ I c h und die A r m e e befinden uns w o h l " (Cassius D i o LXIX.14). Z u r Strafe erlegten die R ö m e r den J u d e n religiöse Verbote auf, die den Bestand der jüdischen N a t i o n im Lande untergraben sollten. D a r a u f g a b es verschiedene jüdische R e a k t i o n e n : Einige wenige wurden angesichts des Aufstands und seiner Folgen ihrer Religion untreu; der B e k a n n t e s t e unter diesen w a r der G e l e h r t e Elischa ben A b u j a , seit seinem Abfall Acher (der Andere) g e n a n n t . Andere übertraten die Verbote in aller Ö f fentlichkeit, zogen den M ä r t y r e r t o d (—»Martyrium I I . l . ) jeglicher Verletzung des Religionsgesetzes vor; der berühmteste unter diesen w a r R a b b i A k i b a , der hingerichtet wurde, weil er auf das laute Sprechen des Einheitsbekenntnisses „ H ö r e I s r a e l " nicht verzichten m o c h t e . D i e jüdischen M ä r t y r e r jener E p o c h e sollten im L a u f der J a h r h u n d e r t e n o c h vielen J u d e n zum Vorbild w e r d e n . D i e Berichte über die zehn M ä r t y r e r in der
Simon Magus
III
Hekhalot-Literatur und in der liturgischen Dichtung beziehen sich auf diesen Zei:raum, wenn auch nicht alle dort aufgeführten Gelehrten in diese Kategorie gehören. Der Großteil der Bevölkerung befolgte auf Anraten der geistigen Führung die jüdischen Gebote im Verborgenen und in veränderter Form, um weder das Judentum zu verraten noch den Römern in die Hände zu fallen. Infolge des Aufstands wurden ganze Landstriche in Judäa zur Wüste, zahlreiche Juden gerieten in Kriegsgefangenschaft und wurden über das ganze imperium Komanum hin als Sklaven verkauft, in Judäa selbst sank der Preis eines Sklaven unter den einer Portion Pferdefutter. Viele flüchteten aus Judäa nach Galiläa, wo der Aufstand weniger heftig gewesen war und entsprechend auch die Strafmaßnahmen. Andere verliefen das Land und zogen nach Babylonien, wo sich die einzige bedeutende jüdische DiasporaGemeinde außerhalb des römischen Weltreichs befand. Die meisten antijüdischen Verordnungen erloschen im Jahre 138 mit dem Tod Hadrians und dem Aufstieg der antoninischen Dynastie. Einige blieben allerdings in Kraft, wie etwa das Verbot jüdischer Niederlassung in Jerusalem. Die Institutionen dtr jüdischen Selbstverwaltung, das -»Patriarchat und der Hohe Rat (->Sanhedrin/Synhedrium), wurden in Galiläa erneuert, wohin sich das Zentrum des jüdischen Lebens im Lande während der römisch-byzantinischen Epoche und darüber hinaus verlagerte. Der Bar-Kochba-Aufstand war der letzte Versuch, ein eigenständiges jüdisches Gemeinwesen im Land Israel zu konstituieren, bis hin zum israelischen Unabhängigkeitskrieg 1948. Vereinzelte Rebellionen dazwischen waren lokal beschränkt, und die M a ß nahmen zu ihrer Unterdrückung waren eher Polizei- als militärische Aktionen. Die Beurteilung des Aufstands im Verlauf der Generationen war und ist ambivalent: einerseits überschattet durch seinen fatalen Ausgang und dessen verheerende Folgen, andererseits gekennzeichnet durch die Anerkennung von Bar-Kochbas Heldentum und das Streben nach unbehelligter Existenz von Juden und Judentum. Literatur Gedalia Alon, T h e J e w s in their Land in the T a l m u d i c Age, J e r u s a l e m , I 1980 II 1984. - S h i m o n A p p l e b a u m , Prolegomena to the Study o f the Second Jewish Revolt, O x f o r d 1976. - Der B a r K o k h b a Aufstand, hg. v. Aharon O p p e n h e i m e r / U r i e l R a p p a p o r t , Jerusalem 1984 (hebrtisch). G l e n B o w e r s o c k , A R o m a n Perspective on the B a r K o c h b a War: W i l l i a m S. Green (Hg.), Approaches to Ancient J u d a i s m , II 1980 ( B J S t 9) 1 3 1 - 1 4 1 . - T h e Expedition to the Judean Desert 1)60: I E J 11 (1961) 3 - 7 2 . - T h e Expedition to the J u d e a n Desert 1961: I E J 12 (1962) 1 6 7 - 2 6 2 . - B j n j a m i n Isaac, R o m a n C o l o n i e s in J u d a e a - T h e F o u n d a t i o n o f Aelia Capitolina: T a l a n t a 1 2 - 1 3 ( 1 9 8 0 - 8 1 ) 3 1 - 5 4 . - D e r s . / A h a r o n O p p e n h e i m e r , T h e Revolt of Bar K o k h b a , Ideology and M o d e m Scholarship: J J S 36 (1985) 3 3 - 6 0 . - L e o M i l d e n b e r g , T h e Coinage o f the B a r K o k h b a War, Aarau 1 9 8 4 (Typos 6). - J o z e f M i l i k , T e x t e s H e b r e u x et Arameens: Les grottes de M u r a b b a ' a t II, 1961 ( D J D 2) 6 7 - 8 1 . - M e n a c h e m M o r , D e r B a r K o k h b a Aufstand, Jerusalem 1992 (hebräisch) - Peter Schäfer, D e r B a r K o k h b a - A u f s t a n d , 1981 ( T S A J 1). - Ders., H a d r i a n ' s Policy in Judaea and the B a r - K o k h b a Revolt - a Reassessment: Philip R . D a v i e s / R i c h a r d T. W h i t e (Hg.), A Tribute to Geza Vermes, 1990 ( J S O T . S 100) 2 8 1 - 3 0 3 . - Emil Schürer, T h e History of the Jewish People in the Age o f J e s u s Christ. A N e w English Version ed. by Geza Vermes/Fergus M i l l a r / M a r t i n G c o d m a n , Edinburgh, I 1973.
Aharon Opperheimer
Simon Magus 1. Die frühesten Zeugnisse (1. und 2. J a h r h u n d e r t ) 2. D e r historische Simon und Jie Entwicklung des simonianischen M y t h o s 3. Die späteren Zeugnisse (3. und 4. Jahrhundert) 4 . Fazit (Literatur S. 276)
1. Die frühesten
Zeugnisse
(1. und 2.
Jahrhundert)
1.1. Simon Magus (fiäyoQ, ein persisches Lehnwort für „Weiser, Magier") eischeint erstmals in Act 8 , 9 - 2 4 als ein samaritanischer Magier. Erstaunt durch seine ->Magie
Simon Magus
273
und in großer Z a h l von ihm angezogen, nennen ihn seine Landsleute „die Kraft Gottes, die die große h e i ß t " (V. 10). Danach wird von Simons Bekehrung und Taufe durch Philippus erzählt, wobei Simon angesichts der Zeichen und großen Machttaten nun selbst in Erstaunen gerät (V. 13). Als —»Petrus und Johannes hinzukommen, um den Heiligen - » G e i s t zu verleihen, wird Simon wegen seines Versuchs, eine solche Kraft zu kaufen ( - » S i m o n i e ) , verdammt, und er bittet die Apostel um ihre Fürbitte, damit er dem Schicksal, das Petrus ihm angedroht hat, entgehen möge (V. 24). Die S i m o n - P e r i k o p e der -»Apostelgeschichte wird allgemein als redaktionell angesehen; sie stelle den Sieg des apostolischen Christentums über rivalisierende christliche Gruppen in S a m a r i a dar. Einzelheiten des Bildes mögen jedoch einen historischen Kern haben, da sie später in ganz verschiedenen und teilweise von der Apostelgeschichte unabhängigen christlichen, heidnischen und samaritanischen Quellen wiederkehren. Dazu gehört Simons Anspruch, ein M a g i e r zu sein, ja mehr als das, ein B o t e G o t t e s oder sogar G o t t selbst (die „ g r o ß e K r a f t " ) , der mit seiner M a g i e einen machtvollen Eindruck auf viele Samaritaner gemacht hat und mit dem Christentum in Berührung k a m . Die B e h a u p t u n g , er sei getauft w o r d e n , scheint lukanische Tendenz zu sein; andererseits kehrt die T r a d i t i o n , seine J ü n g e r hätten sich als Christen ausgegeben, in christlichen Quellen regelmäßig wieder, und jedenfalls Celsus hält die Simonianer für eine christliche Sekte (Origenes, Cels. V,62). - » O r i g e n e s selbst behauptet, sie erschienen nur in christlichen Diskussionen, die sich auf die Apostelgeschichte stützen (ebd. 1,57); wenn er aber betont, sie seien fast vollständig untergegangen, so haben wir dagegen das Zeugnis des - » E u s e b i u s von C a e s a r e a , daß sie nicht nur wie Simon die T a u f e empfangen haben, sondern d a ß sie selbst zu seiner Z e i t noch i m m e r entlarvt und aus christlichen G e m e i n d e n ausgeschlossen werden (h. e. 11,1,11). Schließlich berichtet im 14. J h . der samaritanische Chronist Abu'l Fath ( - » S a m a r i t a n e r 2.), daß S i m o n ein samaritanischer M a g i e r gewesen sei, der, als seine M a g i e von den Anhängern der samaritanischen Religion abgewiesen wurde, nach R o m gegangen sei und die Christen dort in der Z a u b e r e i besiegt habe (Eduard V i l m a r , A b u ' l - F a t h ' s Annales S a m a r i t a n i , G o t h a 1865, 157).
1.2. Offensichtlich unabhängig von der Apostelgeschichte bestätigt —»Justin der M ä r tyrer dieses Bild und fügt neue Züge hinzu (I apol. 26.56; II apol. 15; dial. 120). Er berichtet, wie Simon von G i t t a , einem D o r f in der N ä h e seiner eigenen Vaterstadt Flavia Neapolis (—»Samaria), in —»Rom zur Zeit des Kaisers Claudius (41—54 n. Chr.) derart erstaunliche Zaubereien vorgeführt habe, daß er als G o t t angesehen und durch eine Statue mit der Inschrift „Für Simon, den heiligen G o t t " ( S i m o n i Deo Sancto) geehrt worden sei. Fast alle Samaritaner und manch andere würden ihn als den „ersten G o t t " verehren. Justin erwähnt erstmals eine ehemalige Prostituierte namens Helena, die Simon auf seinen Reisen begleitete und von den Simonianern der „Erste G e d a n k e " (evvoia) genannt wurde, den Simon hervorgebracht habe. Justin teilt uns mit, daß Simons Anhänger sich Christen nennen; er selbst habe sie in seinem Syntagma behandelt. Die Entdeckung eines Statuensockels an der von Justin erwähnten Ö r t l i c h k e i t in R o m , die der sabinischen G o t t h e i t S e m o Sancus geweiht war, macht seine Mitteilung, die er vermutlich von einem römischen Ableger der S i m o n i a n e r erhielt, nicht unglaubwürdig. Die Identifizierung von S e m o mit J u p i t e r / Z e u s bestätigt die Behauptung, S i m o n sei mit Z e u s identifiziert und als Z e u s verehrt worden. O b aber S i m o n selbst Gegenstand eines lokalen samaritanischen Zeuskultes w a r , wie G. Lüdemann (Untersuchungen 54) behauptet, ist zweifelhaft.
1.3. Der detailliertere Bericht des —»Irenäus von Lyon (haer. 1,23) ist vermutlich von römischen häresiologischen Traditionen abhängig, in erster Linie von Justin und dessen Syntagma. Zu den Aussagen der Apostelgeschichte und der Apologien Justins fügt Irenäus die - erkennbar christlich beeinflußte - Vorstellung hinzu, daß Simon den Juden als Sohn erschienen sei, in Samaria als Vater und den übrigen Völkern als Heiliger Geist. Auf Justins Syntagma (vgl. Hippolyt, ref. VI,19; Epiphanius von Salamis, pan. X X I , 1 , 1 - 3 , 6 ) dürften wohl die Behauptung des Irenäus, Simon sei der Urheber aller -»Häresie, und das mythologische Schema von Simon und seinem Ersten Gedanken zurückgehen: Die Ennoia bringt die Schöpfung in G a n g , wird dann von den Engeln, die sie geschaffen hat, gefangengenommen und wandert von einem Frauenkörper zum anderen (unter ihnen Helena von T r o j a ) , bis Simon sie als Prostituierte aus einem Bordell
274
Simon Magus
in Tyrus rettet, indem er in Gestalten herabsteigt, die sich jeweils den feindlichen Mächten anpaßten, und seine Passion in Judäa vortäuscht. Ebenfalls auf Justin zurückgehen dürfte aller Wahrscheinlichkeit nach der Bericht über die mystisch-magischen Praktiken und den freizügigen Lebensstil der Simonianer sowie über deren Verehrung von Bildern, die Simon als Zeus und Helena als Athene darstellen (Irenäus, haer. 1,23,4), obwohl Justin eingestanden hatte, daß er nicht wisse, ob der gegen die Simonianer erhobene Vorwurf der Promiskuität zutreffe (Justin, I apol. 26,3). 2. Der historische
Simon und die Entwicklung
des simonianischen
Mythos
Obwohl solche Auskünfte weithin als häresiologische Propaganda abgetan werden sollten, die eher den Glauben und die Praktiken der Simonianer beschreiben will als die Simons selbst (z.B. Simon als Vater aller Häresien), so legen die im wesentlichen simple Grundstruktur des Simon-Ennoia-Helena-Mythos und die analogielose Rolle Simons als des höchsten Gottes die Annahme nahe, daß der Mythos gegenüber den komplizierteren, aber erkennbar verwandten Sophia-Mythen der Barbelognosis (-»Gnosis/ Gnostizismus; vgl. Irenäus, haer. 1,29; Apokryphon des Johannes) und der Valentinianer (—> Valentin/Valentinianer) vermutlich ursprünglich ist. Daß die höchste weibliche Gottheit (und nicht eine untergeordnete Gestalt wie in den späteren Systemen) fällt und vom höchsten Gott selbst gerettet wird, ist Zeichen der Einzigartigkeit und eines mutmaßlich frühen Entstehungsdatums des simonianischen Mythos. Aber läßt sich der Simon Magus der Apostelgeschichte und der Apologien Justins direkt mit dem gnostischen oder protognostischen Simon des simonianischen Mythos verknüpfen, der allenfalls auf das Ende des 1. oder den Beginn des 2. Jh. n. Chr. zurückzugehen scheint? Ist die Helena-Gestalt ursprünglich, oder ist sie Teil des späteren simonianischen Mythos? Lüdemanns Versuch, Spuren des Simon-Ennoia-Mythos in Act 8 wiederzufinden (Lüdemann, Acts), kann nicht überzeugen und hat seine entscheidende Schwäche darin, daß der Autor bzw. Redaktor, der die Apostelgeschichte gegen Ende des 1. Jh. vermutlich in Palästina niederschrieb, die Helena-Gestalt nicht erwähnt und auf den ausgearbeiteten Mythos nicht Bezug nimmt. Und wenn wir anzunehmen haben, daß dem Samaritaner Justin in seinem Syntagma der entwickelte simonianische Mythos bekannt war, so zeigt er in den Apologien keinerlei Anzeichen, daß er ihn mit Simon selbst in Verbindung bringt; tatsächlich spricht Justin davon, daß die Simonianer (und nicht Simon) Helena den „Ersten Gedanken" nannten. Umgekehrt ist W. Beyschlags Versuch, das gesamte Phänomen Simon und Simonianismus aus dem Christentum abzuleiten, letztlich auch nicht überzeugend. Er ignoriert die Bedeutung, die Simon in Samaria schon vor der christlichen —»Mission hatte, die synkretistischen Tendenzen, die sich aus dem Titel „große Kraft" ergeben, und den nichtchristlichen Charakter der Ennoia-Gestalt (falls sie ursprünglich zu Simon gehört) als Archetyp der Seele. Man hat behauptet, daß bestimmte Texte aus -»Nag Hammadi, die fast keine oder keine typisch christlichen Elemente aufweisen, auf Simon und Helena anspielen oder eine Nähe zum simonianischen Mythos von Ennoia-Helena, verstanden als Seele, aufweisen. Wiederum ist dem entgegenzuhalten, daß eine solche Hypothese davon ausgehen muß, daß der Mythos auf Simon selbst zurückgeht, und gerade das ist ja umstritten. M a n hat auch versucht, Simon mit einem samaritanischen Hintergrund in Verbindung zu bringen (Kippenberg; —•Samaritaner); a b e r L ü d e m a n n ist demgegenüber kritisch und verweist darauf, d a ß es keine Verbindung von Simonianismus und Samaritanern gebe (Lüdemann, Untersuchungen 4 5 - 4 7 ) . Jedenfalls fehlt jede Spur der H e l e n a - G e s t a l t oder des simonianischen M y t h o s bei den samaritanischen Chronisten. Und kaum überzeugender sind Verweise auf die vermutlich heidnische H e r k u n f t der H e l e n a - G e s t a l t , die mit dem historischen Simon z u s a m m e n g e b r a c h t worden sei, z. B. ihre Verbindung mit Athene, mit einer samaritanischen M o n d g o t t h e i t , mit Isis (die einige Zeit in Tyrus gefangen war) und mit der Helena des T r o j a n i s c h e n Krieges; in den ältesten Zeugnissen erscheint sie nicht, und die häresiologischen Berichte legen eher die Vermutung nahe, d a ß Helena
Simon Magus
275
ein späteres Stadium in der Entwicklung des simonianischen M y t h o s widerspiegelt, das die H ä resiologen noch in bezeichnender Weise ausgestaltet haben (Helenas R o l l e als Prostituierte, der T r o j a n i s c h e Krieg und die Stesichorus-Episode, die Rettung aus einem Bordell in Tyrus etc.).
3. Die späteren
Zeugnisse
(3. und 4.
Jahrhundert)
3.1. Was die späteren Zeugnisse betrifft, so übergehen die meisten Forscher die Berichte bei Eusebius, Epiphanius und -»Theodoret wegen ihrer Abhängigkeit von den häresiologischen Traditionen, die aus der Apostelgeschichte, Justin und Irenaus entwikkelt wurden. Allerdings könnte bei Eusebius ein bedeutsames Element des Simonianismus durchscheinen, das vielleicht auf Simon selbst zurückgeht: Diejenigen, die von den simonianischen Praktiken hörten, seien - „einem schriftlichen Orakel zufolge, das von ihnen benutzt wurde" (Eusebius, h.e. 11,13,7) - erstaunt (daßßöco, eine ungewöhnliche Verbform) und erschrocken gewesen. -»Clemens von Alexandrien (ström. 11,11,52,2) erwähnt, daß die Simonianer „den Stehenden" (o eatcbq) nachgeahmt und verehrt hätten, ein Titel, der auch bei -»Hippolyt (ref. VI,9; 13,1; 17,1 f.; 18,4) im Rahmen der „Großen Darstellung" (änöcpaaiq ßsyalrj: ref. VI,9,4-18,7) erscheint, die er Simon widmet. Ansonsten gibt Hippolyt die häresiologische Tradition wieder; darüber hinaus die Details, daß Petrus Simon in Rom widerstanden habe, daß er sich unter einer Platane niedergelassen habe, um zu lehren, und daß er, als er im Begriff war, widerlegt zu werden, gesagt habe, er würde im Falle seines Begräbnisses am dritten Tage wiederauferstehen. In der Folge begruben ihn seine Jünger, aber er stand nicht wieder auf, da er nicht der Messias war (Hippolyt, ref. VI,20,2f.). Derlei Traditionen scheinen häresiologische Ausschmükkung zu sein. Obwohl einige Forscher (z. B. Beyschlag; Lüdemann) in Abrede stellen, daß die Apophasis Megale überhaupt über die Simonianer handle, so stimmen doch die meisten darin überein, daß sie vermutlich eine spätere, stärker philosophische Überarbeitung des Simonianismus darstelle. Der Terminus „der Stehende" mag nicht authentisch sein, aber die Rede von der „großen Kraft", obwohl der Ausdruck hier neu interpretiert wird, und die messianische Polemik dürften letztlich auf den historischen Simon zurückgehen. -»Hieronymus (comm. Ev. Matth. 4,24 über Mt 24,5), der im Zusammenhang von Simons pseudomessianischem Anspruch (d.h. seiner Versicherung, die große Kraft Gottes zu sein) auf dessen Bücher (volumina) verweist, in denen ähnliche „Ich-bin"-Sprüche verzeichnet sind, bezieht sich vermutlich auf Werke von Simon-Jüngern. 3.2. Von dem heranzuziehenden Material in den -»Apokryphen (Petrusakten, besonders ActPetr 31 f.) und in den Pseudoclementinen (hom. 2,22ff. = rec. 2,7), das in der -»Tübinger Schule eine so herausragende Rolle bei der Rekonstruktion des frühen Christentums gespielt hat (Simon steht hier für —»Paulus), scheint - wenn überhaupt - nur weniges authentische Information über Simon bewahrt zu haben. In den Petrusakten wetteifert S i m o n , der sich „der S t e h e n d e " nennt, mit - » P e t r u s in R o m , und als er über die Stadt fliegt, wird er von Petrus heruntergeholt und bricht sich das Bein (vgl. Syr. Didaskalie 6,9). Die Pseudoclementinen erheben den Anspruch, I n f o r m a t i o n über S i m o n s H e r k u n f t zu geben: seine H e i m a t s t a d t G i t t a , sechs Meilen von S a m a r i a entfernt, seine Ausbildung als M a g i e r in Ägypten, seinen Anspruch, eine machtvolle Kraft Gottes, der Messias und „der Stehende" (im Sinne von „frei von Vergänglichkeit") zu sein, seine Zurückweisung des Schöpfergottes als des höchsten G o t tes und der Auferstehung, und seine Vorliebe für den - » G a r i z i m gegenüber Jerusalem (hom. 2 , 2 2 , 2 - 6 ) .
Wenn wir nicht annehmen wollen, daß die Pseudoclementinen auf eine unabhängige samaritanische Quelle zurückgehen, scheint lediglich authentisch zu sein, daß Simon aus Gitta stammt und den Titel „machtvolle Kraft" für sich beanspruchte. Die folgenden Details über Helena als eine aus den 30 Jüngern -»Johannes des Täufers, unvollständig wie der Monat des Mondjahres, später anerkannt als Mutter und Weisheit, sowie über Simon als den ersten Jünger des Johannes, der in seiner Abwesenheit von Dositheus in seiner Funktion als „der Stehende" verdrängt, später aber von Dositheus anerkannt wurde (oder Dositheus verdrängte) (hom. 2,23,1-25,3; rec. 2,8), mögen wiederum ältere Tra-
276
Simonie
dition widerspiegeln, obwohl die Information über Helena und der Titel „der Stehende" auf Hippolyt zurückgehen dürften. Gewiß ist Dositheus eine herausragende Gestalt in der samaritanischen Tradition, wirksam in der Zeit vor Simon, obgleich letzterer anscheinend nicht als sein Jünger dargestellt wurde. -»Hegesipp spricht von Simon, Kleobius und Dositheus als den ersten, die nach den sieben jüdischen Sekten den Glauben der Kirche zerstören wollten (Eusebius, h.e. IV,22,4); Hippolyts verlorenes Syntagma begann mit den Dositheanern, offenbar als jüdischen Häretikern, und Origenes präsentiert Dositheus als einen, der den Anspruch erhebt, der geweissagte Christus zu sein, und von dem seine Jünger behaupten, er sei noch am Leben (comm. in loh. 13,27). Aber Dositheus ist eine zu schemenhafte Gestalt, um irgendeinen angenommenen Zusammenhang mit Simon, sei es als dessen Lehrer oder Rivale, plausibel zu machen. 4. Fazit N a c h alledem kann Simon M a g u s vielleicht - fern von ausschließlich oder überwiegend heidnischer, samaritanischer, christlicher oder gnostischer Begrifflichkeit - am besten verstanden werden innerhalb des breiteren Kontextes der damaligen Debatte zwischen Juden, Samaritanern und Christen über den Messias und wahren Propheten. Als ein Wundertäter, der der höchste G o t t zu sein beanspruchte, wurde er von vielen Samaritanern verehrt und stieß dabei mit der sich ausbreitenden christlichen Mission zus a m m e n , die ihn als einen Rivalen betrachtete und versuchte, ihn zu „ t a u f e n " und so ins Christentum zu integrieren. Simon m a g R o m aufgesucht haben. Erst seine späteren Anhänger entwickelten einen prototypischen christlich-gnostischen M y t h o s und Kult des Simon und der Helena, der sich bis nach R o m und darüber hinaus ausbreitete und die frühen Häresiologen dazu brachte, Simon als den Vater aller christlichen Häresie zu brandmarken. Literatur Sasagu Arai, Zum „Simonianischen" in AuthLog u. Bronte: Gnosis and Gnosticism, hg. v. Martin Krause, 1981 (NHS 17) 3 - 1 5 . - Roland Bergmeier, Die Gestalt des Simon Magus in Apg 8 u. in der simonianischen Gnosis. Aporien einer Gesamtdeutung: Z N W 77 (1986) 2 6 7 - 2 7 5 . Karlmann Beyschlag, Simon Magus u. die christl. Gnosis, 1974 (WUNT 16). - John Bowman, Samaritan Documents Relating to their History, Religion and Life, Pittsburgh, Pa. 1977. - Lucien Cerfaux, La gnose simonienne: Recueil Cerfaux, I 1954 (BEThL 6) 1 9 1 - 2 5 8 . - Jarl Fossum, Samaritan Sects and Movements: The Samaritans, ed. Alan D. Crown, Tübingen 1989, 2 9 3 - 3 8 9 . Josef Frickel, Die Apophasis Megale in Hippolyt's Refutatio V I , 9 - 1 8 . Eine Paraphrase zur Apophasis Simon's, 1968 (OCA 182). - Ernst Haenchcn, Gab es eine vorchristl. Gnosis?: Z T h K 49 (1952) 3 1 6 - 3 4 9 = ders., Gott u. Mensch. GAufs., Tübingen 1965, 2 6 5 - 2 9 8 . - Ders., Simon Magus in der Apostelgesch.: Gnosis u. NT, hg. v. Karl-Wolfgang Tröger, Berlin/Gütersloh 1 9 7 3 , 2 6 7 - 2 7 9 . Hans Gerhard Kippenberg, Garizim u. Synagoge, 1971 (RVV 30). - Dietrich-Alex Koch, Geistbesitz, Geistverleihung u. Wundermacht. Erwägungen zur Tradition u. zur lukanischen Red. in Act 8 , 5 - 2 5 : Z N W 77 (1986) 6 4 - 8 2 . - Gerd Lüdemann, Unters, zur simonianischen Gnosis, 1975 (GTA 1). Ders., The Acts of the Apostles and the Beginnings of Simonian Gnosis: NTS 33 (1987) 4 2 0 - 4 2 6 . Wayne A. Meeks, Simon Magus in Recent Research: RStR 3 (1977) 1 3 7 - 1 4 2 . - Gilles Quispel, Simon en Helena: NedThT 5 (1951) 3 3 9 - 3 4 5 . - Kurt Rudolph, Simon - Magus oder Gnosticus?: T h R NF 42 (1977) 2 8 0 - 3 5 9 . - Jean-Marie A. Salles-Dabadie, Recherches sur Simon le Mage. I. ,L'Apophasis megale', Paris 1969. - Hans Waitz, Simon Magus in der altchristl. Lit.: Z N W 5 (1904) 1 2 1 - 1 4 3 . - Robert McLachlan Wilson, Simon and Gnostic Origins: Les Actes des Apotres, hg. v. Jacob Kremer, 1979 (BEThL 48) 4 8 5 - 4 9 1 . Alastair H . B . L o g a n Simonie zeit
1. Alte Kirche und Frühmittelalter (Literatur S. 280) 1. Alte Kirche
und
2. Reformzeit
3. Nach dem Investiturstreit
4. Neu-
Frühmittelalter
Als Bezeichnung für den verbotenen Handel mit geistlichen Sachen, besonders für materielle Leistungen beim E r w e r b kirchlicher Ämter, leitet sich Simonie von der Gestalt
Simonie
111
des —»Simon Magus her, der nach Act 8 , 1 8 - 2 5 die Wunderkraft des Heiligen Geistes käuflich erwerben wollte und von Petrus scharf zurechtgewiesen wurde. In diesem spezifischen Sinn wurde der Begriff im 6. Jh. üblich, nachdem zuvor mit Simons Namen auch andere (zumal gnostische) Inhalte und die Begründung einer eigenen Sekte verbunden worden waren. Neben ihm spielten bei der Bekämpfung der Simonie auch warnende Beispiele aus dem Alten Testament, vor allem Giezi (Gehasi), der habsüchtige Diener des Propheten -»Elisa (II Reg 5), eine Rolle. Widerstand gegen später als Simonie gebrandmarkte Praktiken regte sich schon seit etwa 300 n. Chr. und kam im 48. der sog. Kanones von Elvira zum Ausdruck, der untersagte, für den Empfang der —»Taufe Geld zu geben, und dabei bereits auf Mt 10,8 ('Gratis accepistis, gratis date) anspielte. Mit Berufung auf Simon Magus wurde im 28. (30.) Apostolischen Kanon aus dem 4. Jh. (-»Konstitutionen, [Pseud-]Apostolische) verboten, Geld für die höheren Weihen zu zahlen, und den Beteiligten der Ausschluß aus der Kirche angedroht. Bei -»Athanasius, -»Ambrosius, -»Basilius und -»Johannes Chrysostomus begegnen polemische Hinweise auf die Üblichkeit des Kaufs und Verkaufs kirchlicher Würden, was wiederholt mit dem Treiben der Geldhändler im Tempel nach Mt 21,12f.; Mk 11,15ff.; Lk 19,45f.; Joh 2,14ff. gleichgesetzt wurde. Für die Verbreitung des Übels spricht ferner die präzise Regelung des Konzils von -»Chalkedon, das auch nicht an eine Weihe gebundene Kirchenämter in das Verbot einbezog und zusätzlich die Vermittler eines solchen Handels unter Strafe stellte (can. 2). Dazu traten bald einschlägige Erlasse der Kaiser Leo und Anthemius (469), Glycerius (473) und -»Justinian I. (546). Während die Dekretalen der spätantiken Päpste dem Thema nur beiläufige Beachtung schenkten, ist im Liber Pontificalis eine Erklärung Pelagius' I. (556-561) von 556 überliefert, die anscheinend den Erstbeleg für Simoniacus in spezifischer Bedeutung bietet (LP 1,303). Geläufig gebrauchte das Stichwort -»Gregor der Große, der Simonie bereits als -»Häresie einstufte und auch auf Vorleistungen für Segnungen, für Begräbnisse oder für die Aufnahme ins Kloster bezog. Klassisch wurde seine differenzierende Beschreibung der verwerflichen Mittel, zu denen er außer Geld (munus a manu) auch Schmeichelei (munus a lingua) und Unterwürfigkeit (munus ab obsequio) zählte. Seinem Briefregister sind zudem konkrete Strafurteile wegen simonistischer Vergehen zu entnehmen. Trotz grundsätzlich fortwährender Ablehnung war Simonie auch in den Landeskirchen des Frühmittelalters vielfach üblich, bedingt durch die häufige laikale Verfügungsgewalt über Bischofssitze und Klöster ebenso wie über Niederkirchen (-»Eigenkirchenwesen), aber auch durch gesellschaftliche Konventionen wie die, kein Geschenk unerwidert zu lassen. Demgemäß finden sich hier auch in erzählenden Quellen (etwa bei -»Gregor von Tours) ganz unumwundene Berichte über zahlungsbereite Bewerber. Westgotische und fränkische Synoden faßten dagegen immer wieder Beschlüsse, die mit Amtsenthebung oder zumindest Bußen drohten, doch sind Konsequenzen im Einzelfall nirgends auszumachen. Bezeichnend ist, daß bei der Bestätigung der Pariser Synode von 614 (MGH.Conc I, 186 can. 2) durch König Chlothar II. (MGH.Cap 1,21 c. 1) deren Warnung vor der datio pecuniae wegfiel. Im Zuge der karolingischen Kirchenreform begegnet das Problem erstmals auf der Synode von Ver 755, die noch ohne Strafdrohung Geldzahlungen zur Erlangung kirchlicher Würden oder zur Beeinflussung geistlicher Richter verurteilte (can. 24, 25). Ausdrücklich auf Chalkedon und auf die Apostolischen Kanones griff -»Karl der Große in der programmatischen Admonitio generalis von 789 beim Verbot der Simonie zurück (c. 21, 22), was auch in den Capitula episcoporum der folgenden Jahrzehnte Widerhall fand. Durchweg den Gedanken Gregors I. verpflichtet waren die Bestimmungen der großen Reichssynoden zwischen 813 und 845/46, und in ähnlichen Bahnen bewegten sich auch die theologisch-kanonistischen Darlegungen maßgeblicher Autoren wie -»Alkuin, Paschasius Radbertus (ca. 790—856/859), -»Hinkmar von Reims, die zugleich die Häufigkeit des Übels widerspiegeln und faktisch eher gegen Überspitzungen (munera
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iniusta der Synode von M a i n z 813: M G H . C o n c 11/1,268 can. 30) Front m a c h t e n . Von tatsächlich durchgesetzten Sanktionen ist nur ganz vereinzelt die Rede. N a c h den Synoden von H o h e n a l t h e i m (916) und Trier (927) erlosch nördlich der Alpen vorerst die e r k e n n b a r e Beschäftigung mit d e m T h e m a . 2.
Reformzeit
Im 11. Jh. ist die B e k ä m p f u n g der Simonie zu einer wesentlichen Triebfeder f ü r die mit dem N a m e n Papst - » G r e g o r s VII. v e r b u n d e n e Umgestaltung der lateinischen Kirche g e w o r d e n . Der G r u n d lag wohl nicht in einer generellen Verschärfung der Mißstände, wenngleich es Indizien d a f ü r gibt, d a ß sich zumal im königsfernen West- und Südfrankreich sowie in Italien besonders ungenierte F o r m e n der Bezahlung geistlicher Ämter eingespielt hatten, die u . a . mit d e m A u f s c h w u n g der Geldwirtschaft zu erklären sind. Entscheidend w a r vielmehr die z u n e h m e n d e Bewußtheit, mit der Diskrepanzen zwischen der Lebenswirklichkeit und dem überlieferten Kirchenrecht w a h r g e n o m m e n wurden. D a h e r b e d u r f t e die E n t r ü s t u n g auch keines neuartigen Simoniebegriffs, sondern nährte sich aus der zuletzt noch im Decretum Burchards von W o r m s (um 1010) dokumentierten Tradition. Anzeichen f ü r eine gesteigerte Sensibilität w u r d e n bald nach der J a h r t a u s e n d w e n d e zumal in monastischen R e f o r m k r e i s e n Frankreichs und Italiens spürbar und k a m e n erstmals k o n k r e t in kritischen Bewertungen der Kirchenpolitik Kaiser Konrads II. ( 1 0 2 4 1039) zum A u s d r u c k . Eine nachhaltige Besserung w u r d e zum persönlichen Anliegen - • H e i n r i c h s III., der sich 1046 auf der Synode von Pavia entschieden gegen die Simonie w a n d t e und d a n n in Sutri mit diesem Delikt sein Einschreiten gegen Papst Gregor VI. (1045-1046) und dessen Vorgänger rechtfertigte. Seit Clemens II. (1046-1047) w a r d e r Kampf gegen die Simonie d a n n fester P r o g r a m m p u n k t päpstlicher Synoden und gewann seit —»Leo IX. zusätzliche Schärfe, weil der Papst ebenso wie seine Legaten sich auch auf Anklagen im Einzelfall einließ und vor der Absetzung ü b e r f ü h r t e r Simonisten nicht zurückschreckte. Nichts h a t im Vorfeld des -»• Investiturstreits so sehr zur Verdeutlichung des Jurisdiktionsprimats, aber auch zur Erbitterung weiter Teile des Episkopats beigetragen wie die Vielzahl derartiger Verfahren, bei denen die Angeschuldigten wegen der Unklarheit des Rechtsbegriffs Simonie stets im Nachteil w a r e n . Davon ausgehend entwickelte sich Simonie in den Polemiken des späteren 11. J h . z u m vielseitig verwendbaren Schlagwort, zum „ H a u p t v e r b r e c h e n des jeweiligen Feindes" (Tellenbach 143), was eine sachliche A u f k l ä r u n g der e r h o b e n e n V o r w ü r f e sehr erschwert. Gedanklich und taktisch v e r b a n d sich die W e n d u n g gegen die Simonie rasch mit dem Ringen um ein präziseres Verständnis von „ k a n o n i s c h e r W a h l " u n d um die als libertas ecclesiae begriffene A u t o n o m i e des Klerus. Zeittypisch war ferner, die überk o m m e n e Formel Simoniaca haeresis zur dogmatischen Leugnung der Göttlichkeit des Heiligen Geistes zuzuspitzen oder simonistisch erlangte Weihen nicht bloß f ü r unerlaubt, sondern für ungültig anzusehen. D a r a u s e r w u c h s der Streit um die W i r k s a m k e i t der von Simonisten getätigten geistlichen A m t s h a n d l u n g e n , in dem —»Petrus D a m i a n i (Liber grattssimus von 1052/1061: M G H . B IV/1 N r . 40) gegen Leo IX. und - > H u m b e r t von Silva C a n d i d a der Augustinischen Lehre von der objektiven Geltung der S a k r a m e n t e zum Siege verhalf und die geforderten R e o r d i n a t i o n e n zurückwies. H u m b e r t dagegen war es, der in seinen Ltbri tres adversus Simoniacos ( M G H . L L 1 , 9 5 - 2 5 3 ) auf der Suche nach den Verbreitungsbedingungen der Simonie als erster zur f u n d a m e n t a l e n Kritik an der D o m i n a n z der Laien in der frühmittelalterlichen Kirche vorstieß und das Kernproblem des späteren Investiturstreits formulierte, o h n e jedoch Laieninvestitur einfach mit Simonie gleichzusetzen. In der Publizistik der folgenden J a h r z e h n t e w u r d e Simonie im Prinzip nirgends verteidigt, blieb jedoch in ihren T a t b e s t a n d s m e r k m a l e n d u r c h a u s strittig, vor allem in der Auseinandersetzung mit der These, durch die Vorleistungen werde nicht das geistliche A m t , sondern n u r die d a m i t v e r k n ü p f t e weltliche M a c h t b e f u g n i s e r w o r b e n (was die gedankliche Differenzierung zwischen spiritualia und temporalia beförderte).
Simonie
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Parallel dazu befaßten sich die Synoden der Reformzeit unter den verschiedensten Aspekten, jedoch ohne u m f a s s e n d e Definition, mit der Simonie, w ä h r e n d die Verfasser systematischer R e c h t s s a m m l u n g e n (-*Kirchenrechtsquellen I) dazu immer weiteres Belegmaterial a u f h ä u f t e n . Die n o r m a t i v e Entwicklung gipfelt in - » G r a t i a n , der mit diesem T h e m a den zweiten Teil seines Dekrets eröffnete (C. 1 q. 1 - 7 ) und differenzierend simonistische Praktiken bei der S a k r a m e n t e n s p e n d u n g sowie im Ämter-, P f r ü n d e n - und Ordenswesen abhandelte. Seine Einschätzung des Vergehens läuft auf praktische Häresie bei sonstiger Rechtgläubigkeit hinaus (Dict. post c. 1 q. 1 can. 111). 3. Nach
dem
Investiturstreit
Die schon bei Gratian f ü h l b a r e Neigung, zumindest einige angefochtene Praktiken zu rechtfertigen, die den E i n n a h m e n der Kirche dienten, setzte sich vermehrt in der Dekretalengesetzgebung fort (X 5 . 3 - 5 ; Clem. 5.1; Extrav. c o m . 5.1), die zwar an der grundsätzlichen Verwerfung der Simonie festhielt, aber im einzelnen sorgsam zwischen Z w a n g oder vorheriger Verpflichtung und freiwilligen Geschenken unterschied. Gleichzeitig d r a n g die kanonistische Fachliteratur zur definitorischen Erfassung des P h ä n o m e n s vor (studiosa cupiditas emendi vel vendendi aliquod spirituale nach Rufinus), brachte aber auch mit Blick auf die Praxis einschränkende Differenzierungen hervor, die den Weg z . B . zu Meßstipendien und Stolgebühren ebneten (—»Abgaben, Kirchliche). Ein gesondertes Problem bildeten die von - » G e r h o c h von Reichersberg, Liber de Simoniacis ( M G H . L L III, 268f.), heftig befehdeten Z u w e n d u n g e n beim Klostereintritt, die d u r c h can. 64 des IV. Laterankonzils (-» Lateransynoden I) generell untersagt w u r d e n , wenn auch wohl n u r mit begrenzter W i r k u n g . Deutlich von der Kanonistik angeregt w a r die Behandlung des T h e m a s in der scholastischen Theologie (—»Scholastik). —»Petrus L o m b a r d u s griff auf G r a t i a n (und daneben auf - » H u g o von St. Viktor, De sacramentis 11,10) zurück, als er die Simonie im R a h m e n der Sakramentenlehre bei den irregulären F o r m e n der O r d i n a t i o n behandelte (Petrus L o m b a r d u s , Sent. IV, dist. 2 5 . 2 - 6 ) . D a m i t w a r die systematische Z u o r d n u n g auch f ü r - • T h o m a s von Aquino, - » B o n a v e n t u r a und - » A l b e r t den G r o ß e n in ihren Sentenzenk o m m e n t a r e n vorgegeben. T h o m a s (S.th. II/2 q. 100) ü b e r n a h m d a n e b e n die von H u guccio fortentwickelte Definition des Rufinus, um im speziellen Teil seiner M o r a l t h e o logie die Simonie als Laster der offenkundigen irreligiositas darzustellen. Was die Praxis angeht, so hatte die R e f o r m z e i t bestimmte F o r m e n von Simonie vornehmlich solche, die auf der Vergabe kirchlicher Ämter d u r c h Laien beruhten - dauerh a f t geächtet und einen auch weiterhin w i r k s a m e n prozeßrechtlichen Hebel f ü r Amtsenthebungen geschaffen, aber wenig an den strukturellen Bedingungen geändert, die auf allen Ebenen des kirchlichen Lebens eine anstößige Kommerzialisierung begünstigten. Vor allem die A u s d e h n u n g und Zentralisierung des P f r ü n d e n w e s e n s (-»Beneficium) samt d e m kurialen Fiskalismus zogen Gepflogenheiten nach sich, die zumindest d e m Geist der kanonischen Verbote von Simonie zuwiderliefen und die Frage a u f w a r f e n , inwieweit die Päpste selbst den in ihrem N a m e n verkündeten Bestimmungen u n t e r w o r f e n seien. Die Kritik an den Z u s t ä n d e n artikulierte sich vielstimmig und brachte u.a. eine Serie von T r a k t a t e n De simonia (o.ä.) hervor, w o r a n sich J o h n -»Wyclif, M a t t h ä u s von K r a k a u (ca. 1 3 3 5 - 1 4 1 0 ) , J. —»Hus, - » P e t r u s von Ailly, J. - » G e r s o n , - » D i o n y s i u s der Kartäuser, J u a n Gonzalez (gest. 1440) und J o h a n n e s C a r a f a (gest. 1486) beteiligten, doch die wirtschaftlich-sozialen Realitäten w a r e n stärker. Auch die Beratungen und Beschlüsse der Konzilien von - » K o n s t a n z und -»Basel (dort gipfelnd im globalen Verbot aller Z a h l u n g e n bei der Benefizienvergabe) blieben weitgehend folgenlos. 4.
Neuzeit
M i t neuem Elan ging das Konzil von Trient ( - » T r i d e n t i n u m ) d a r a n , die bekannten M i ß s t ä n d e zu unterbinden, u n d Verbot Gegenleistungen bei der Erteilung von Weihen (CT, Sess. X X I c. 1 De ref.), bei der P f r ü n d e n v e r g a b e und beim P f a r r k o n k u r s (Sess.
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Simultaneum
X X I V c. 14, 18 D e ref.) s o w i e bei d e r V e r ä u ß e r u n g von P a t r o n a t s r e c h t e n (Sess. X X V c. 9 D e ref.)- Verschiedene P ä p s t e d e r Folgezeit, z u m a l I n n o c e n z X I . ( 1 6 7 6 - 1 6 8 9 ) und - • B e n e d i k t XIV., erließen w e i t e r e B e s t i m m u n g e n , bei d e n e n z u n e h m e n d die als simonia confidentialis bezeichneten f o r m l o s e n V e r e i n b a r u n g e n ins Blickfeld r ü c k t e n . Entscheid e n d f ü r d e n B e d e u t u n g s v e r l u s t d e r S i m o n i e w u r d e n jedoch erst die v e r ä n d e r t e n materiellen L e b e n s b e d i n g u n g e n d e r K i r c h e seit d e m 19. J h . , die A b s c h a f f u n g d e r Ä m t e r k ä u f lichkeit u n d die R e f o r m des k u r i a l e n G e b ü h r e n w e s e n s d u r c h ->Pius IX. u n d - > L e o XIII. D e r Codex iuris canonici v o n 1917 ( - > K i r c h e n r e c h t s q u e l l e n I) zog in can. 7 2 7 - 7 3 0 letztmals eine Bilanz d e r in J a h r h u n d e r t e n e r w a c h s e n e n k a n o n i s t i s c h e n L e h r t r a d i t i o n . Im Codex v o n 1983 ist d a g e g e n n u r n o c h an drei Stellen von S i m o n i e die Rede: bei der A m t s ü b e r t r a g u n g (can. 149 § 3 ) , b e i m A m t s v e r z i c h t (can. 188) u n d bei d e r S a k r a m e n t e n s p e n d u n g (can. 1380). Literatur Friedrich de Boor, Wyclifs Simoniebegriff, Halle 1970. - A. Bride, Art. Simonie: D T h C 14,2 (1941) 2141-2160. - Arnold Esch, Simonie-Geschäft in Rom 1400. „Kein Papst wird das tun, was dieser tut": VSWG 61 (1974) 433-457. - Augustin Fliehe, La réforme grégorienne, 3 Bde., 19241937 (SSL 6.9.16). - John Gilchrist, „Simoniaca haeresis" and the Problem of Orders from Leo IX to Gratian: MIC.S 1 (1965) 209-235. - Wilfried Hartmann, Die Synoden der Karolingerzeit im Frankenreich u. in Italien, Paderborn u.a. 1989. - Johannes Helmrath, Reform als Thema der Konzilien des SpätMA: Christian Unity. The Council of Ferrara-Florence 1438/39-1989, ed. by Giuseppe Alberigo, 1991 (BEThL 97) 75-152. - Paul Hinschius, System des kath. Kirchenrechts mit besonderer Rücksicht auf Deutschland, Berlin, V 1895, 161-169.703 - 7 2 3 . - E. Hirsch, Der Simoniebegriff u. eine angebliche Erweiterung desselben im elften Jh.: AKathKR 86 (1906) 3 - 1 9 . - Hartmut Hoffmann, Mönchskönig u. rex idiota. Stud. zur Kirchenpolitik Heinrichs II. u. Konrads II., 1993 (MGH. Stud. u. Texte 8 ) 6 1 - 7 1 . - Hans-Jürgen Horn, Giezie u. Simonie: JAC 8/9 (1965/66) 189-202. - Hubert Jedin, Kann der Papst Simonie begehen?: ders., Kirche des Glaubens - Kirche der Gesch., Freiburg u.a., II 1966, 264-284. - Jean Leclercq, „Simoniaca heresis": SGSG 1 (1947) 523-530. - Anton Leinz, Die Simonie, Freiburg i.Br. 1902. - Joseph H. Lynch, Simoniacal Entry into Religious Life from 1000 to 1260, Columbus, Oh. 1976. - Hans Meier-Welcker, Die Simonie im frühen MA: ZKG 64 (1952/53) 6 1 - 9 3 . - Ilja Mieck (Hg.), Ämterhandel im SpätMA u. im 16. Jh., Berlin 1984 [darin Beitr. v. Bernhard Schimmelpfennig, Wolfgang Reinhard, Brigide Schwarz zur röm. Kurie]. - Paul Mikat, Art. Simonie: HDRG 4 (1990) 1664-1668. - Raoul Naz, Art. Simonie: DDC 7 (1965) 1019-1025. - Giorgio Picasso, Gregorio Magno e la condanna della simonia nel medio evo. A proposto della Causa I del „Decretum Gratiani": Società, istituzioni, spiritualità. Studi in onore di Cinzio Violante, Spoleto, II1994,667-676. - R u d o l f Schieffer, Spirituales Latrones. Zu den Hintergründen der Simonieprozesse in Deutschland zw. 1069 u. 1075: HJ 92 (1972) 19-60. Ders., Art. Simonie: LMA 7 (1995) 1922-1925. - Gerd Teilenbach, Die westliche Kirche vom 10. bis zum frühen 12. Jh., 1988 (KIG 2 F 1) 140-145. - Hanna Vollrath, L'accusa di simonia tra le fazioni contrapposte nella lotta per le investiture: Il secolo XI. Una svolta?, a cura di Cinzio Violante e Johannes Fried, Bologna 1993, 131-156. - Paul de Vooght, La „Simoniaca haeresis" de Saint Thomas d'Aquin à Jean Huss: ders., L'hérésie de Jean Huss, II 21975 (BRHE 35bis) 932-951. Joseph Weitzel, Begriff u. Erscheinungsformen der Simonie bei Gratian u. den Dekretisten, 1967 (MThS.K). R u d o l f Schieffer
Simultaneum (Literatur S. 283) U n t e r S i m u l t a n e u m versteht m a n d e n s i m u l t a n e n G e b r a u c h eines K i r c h e n g e b ä u d e s (eines F r i e d h o f e s o d e r einer a n d e r e n in d e n Z u s a m m e n h a n g des Kultes g e h ö r e n d e n Sache) d u r c h zwei o d e r a u c h m e h r e r e K o n f e s s i o n e n . In der Geschichte h a n d e l t es sich d a b e i weit ü b e r w i e g e n d u m K a t h o l i k e n u n d L u t h e r a n e r , m a n c h m a l K a t h o l i k e n u n d R e f o r m i e r t e u n d a b 1817 u m K a t h o l i k e n u n d Evangelisch-Unierte. N a c h 1870 gibt es in D e u t s c h l a n d a u c h die g e m e i n s a m e N u t z u n g von K i r c h e n g e b ä u d e n d u r c h A l t k a t h o liken u n d P r o t e s t a n t e n . D a n e b e n finden sich, aber relativ selten, S i m u l t a n e e n z w i s c h e n
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Lutheranern und Reformierten sowie, besonders im -»Elsaß, Trimultaneen, wenn ein Kirchengebäude von drei Konfessionen genutzt wird: von Katholiken, Lutheranern und Reformierten. Geographisch begegnen Simultaneen fast ausschließlich innerhalb des ehemaligen Deutschen Reiches, in Schlesien und besonders im Westen und Südwesten, in den Gebieten, die an Frankreich fielen wie das Elsaß und die G r a f s c h a f t M ö m p e l g a r d , sowie in der Schweiz. Die Simultaneen gehen üblicherweise auf obrigkeitliche A n o r d n u n g e n zurück. Sie konnten d e r Verpflichtung des Landesherrn zur D u l d u n g unterschiedlicher Konfessionen, aber auch der direkten und indirekten F ö r d e r u n g der eigenen landesherrlichen Konfession dienen. Vertragliche Regelungen zwischen kirchlichen G e m e i n d e n sind demgegenüber viel seltener. Auch darf die brüderlich-christliche G a s t f r e u n d s c h a f t , die in der N o t zeit nach 1945 viele Kirchengemeinden in der Bundesrepublik Deutschland den Flüchtlingen der jeweils anderen Konfession in ihren Kirchen g e w ä h r t e n , nicht zu den Simultaneen gezählt w e r d e n , da es sich dabei um kein rechtlich klar geregeltes und ausgearbeitetes Verhältnis handelte. Eine generelle rechtstheoretische G r u n d l e g u n g gab es zunächst nicht. Erst am Ende des 18. J h . e r f u h r das Simultaneum eine eingehendere rechtliche Regelung im Preußischen Allgemeinen L a n d r e c h t 1794 und nach der G r ü n d u n g des Königreiches Bayern im bayerischen Religionsedikt vom 26. M a i 1818. Seitdem w u r d e es ein o f t behandelter Gegenstand des -»Staatskirchenrechts. Doch blieb die rechtliche T h e o r i e des Simultangebrauches von Kirchengebäuden bis heute u n k l a r und umstritten. Nach d e m Kanonischen Recht (can. 823 § 1) ist der Simultangebrauch von Kirchen in der ->Römisch-katholischen Kirche grundsätzlich verboten. N a c h can. 5 sind allerdings bestehende Simultaneen bis zu ihrer wünschenswerten Auflösung zu dulden. Diese Auffassung spiegelt sich auch in den Organischen Artikeln, die N a p o l e o n B o n a p a r t e als Erster Consui in Erläuterung des K o n k o r d a t s a m 8. April 1802 veröffentlichte. N a c h Art. 46 sollte „ein Kirchengebäude nur einem Gottesdienst g e w i d m e t sein"; eine Kirche kann also nur d e m Gottesdienst einer einzigen Konfession dienen. In der Praxis gibt es ganz unterschiedliche rechtliche G r u n d f o r m e n . D a s G e b ä u d e kann M i t e i g e n t u m der beteiligten kirchlichen G e m e i n d e n sein, die d a n n auch ein gleiches Nutzungsrecht h a b e n . Der gottesdienstliche R a u m k a n n sich aber auch im Alleineigentum einer G e m e i n d e befinden, die einer anderen ein M i t b e n u t z u n g s r e c h t oder eine M i t benutzungserlaubnis zugesteht o d e r zugestehen m u ß . N e b e n einem ständigen Recht zur M i t b e n u t z u n g a u f g r u n d von M i t e i g e n t u m findet sich aber auch eine widerrufliche Einr ä u m u n g zur M i t b e n u t z u n g ( K o m m o d a t , Prekarium). Im einzelnen ist der tatsächliche Simultangebrauch je nach A b k o m m e n , staatlicher Gesetzgebung o d e r H e r k o m m e n örtlich und zeitlich sehr verschieden. N e b e n regelmäßigen wöchentlichen Gottesdiensten k a n n es sich f ü r den M i t b e n u t z e r um eine m o n a t liche, vierteljährliche oder jährliche (Patronsfest) Überlassung zur gottesdienstlichen N u t z u n g handeln. D a s Simultaneum k a n n sich aber auch auf Kasualhandlungen (Taufe, Hochzeit, Begräbnis) beschränken. Auch die H i n t e r g r ü n d e und Ursachen f ü r die Simultaneen sind höchst unterschiedlich, doch lassen sich bei ihrer Entstehung zwei Wellen deutlich unterscheiden. Die erste betrifft das konfessionelle Zeitalter von 1555 bis 1648. Wo die E i n f ü h r u n g der R e f o r m a t i o n auf starken W i d e r s t a n d von katholischer Seite stieß, m u ß t e sie sich gelegentlich mit d e m Simultaneum begnügen. W ä h r e n d des —»Dreißigjährigen Krieges vermehrten sich die Simultaneen d u r c h Ä n d e r u n g e n der rechtlichen Stellung der Religionsparteien in den einzelnen Territorien, d u r c h m e h r f a c h e Konversionen von Landesherren, durch militärische Besetzung eines T e r r i t o r i u m s durch die T r u p p e n einer anderen Konfession (so etwa in der Kurpfalz) sowie durch Restitution als Folge des Restitutionsediktes vom 6. M ä r z 1629, vereinzelt aber auch durch Vertrag und landesherrliche Verordnung. Diese Epoche endet mit d e m -»Westfälischen Frieden (Art. V §§ 31.32;
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Simultaneum
Art. VII §§ 1.2), ergänzt durch den Bergstraßer Rezeß von 1654, der den Konfessionsstand vom 1. Januar 1624 als Annus normalis mit den damals bestehenden Simultaneen verankerte. Eine zweite Welle von Einführungen wurde am Ende des 17. Jh. von Ludwig XIV. von Frankreich (1643-1715) im Rahmen seiner Reunionspolitik mit Gewalt durchgesetzt. Im Juli 1684 befahl der Minister François Michel Le Tellier Louvois (1641-1691) in einem Brief an den Vertreter des Königs im Elsaß, den Chorbereich der evangelischen Kirchen im Amt Germersheim und in der Provinz Elsaß überall dort in Besitz zu nehmen und dem katholischen Gottesdienst zuzuführen, wo man sieben katholische Familien zähle, ohne freilich diesen Beschluß rechtlich zu begründen. Um die Siebenzahl zu erreichen, förderten Jesuiten und Kapuziner die Einwanderung von katholischen Tagelöhnern, die dann von den königlichen Verwaltern als Familien gezählt wurden. Zwischen 1684 und 1697 wurden im Elsaß auf diese Weise mehr als 100 Simultaneen eingeführt. Im Ryswicker Frieden von 1697, durch den ein Teil der französischen Reunionen wieder an die rechtmäßigen Besitzer abgetreten wurden, ließ Ludwig XIV. ganz am Ende der Verhandlungen in Art. IV noch die Klausel einfügen: Religio tarnen catholica romana in locis sie restitutis in statu quo nunc est remanente (Dennoch soll die katholische Religion in den derart restituierten Orten in dem Stand verbleiben, in dem sie sich derzeit befindet.). Sie war in Geheimverhandlungen des katholischen Pfälzer Kurfürsten Johann Wilhelm (1690-1716) mit der Kurie und mit Frankreich vorbereitet worden. Der französische Gesandte Chamois legte eine Liste vor, in der alle Änderungen konfessioneller Rechte, also alle eingeführten Simultaneen, der Franzosen verzeichnet waren. Diese Liste betraf besonders die Kurpfalz und etliche kleinere linksrheinische Territorien, nicht aber das Territorium Pfalz-Zweibrücken. Doch konnten nicht alle Simultaneen mit Priestern versehen werden, so daß die Periodizität der katholischen Meßfeiern manchmal einen Monat oder sogar ein Vierteljahr erreichte. Im darauffolgenden Jahr führte Kurfürst Johann Wilhelm dann durch ein Edikt ein allgemeines Simultaneum in seinem Territorium ein: Er verlangte, daß alle herkömmlich reformierten Kirchen auch den Lutheranern und Katholiken zur Nutzung überlassen würden, ließ aber die Katholiken im Alleinbesitz ihrer Kirchen. Diese Maßnahme mußte er zwar unter preußischem Druck für alle die Orte zurücknehmen, in denen ein Simultaneum im Jahr 1673 (also vor dem Aussterben der Linie Pfalz-Simmern) nicht bestand, doch waren von dieser Rücknahme die Oberamtsstädte, in denen es nur eine Kirche gab, ebenso ausgenommen wie die Heiliggeist-Kirche in Heidelberg, die größte in der Hauptstadt des Kurfürstentums. Im Laufe des 18. Jh. ging die Zahl der Simultaneen im Deutschen Reich langsam zurück. Die bekanntesten Simultaneen waren damals die Dome zu Altenberg, Bautzen und Wetzlar. Im Elsaß hingegen nahm die Zahl der Simultaneen unter dem Druck der französischen Verwaltung weiter zu: Sie stieg von 101 (1697) auf 160 vor Ausbruch der Französischen Revolution. In die neugegründeten Pfarrstellen wurden von der Verwaltung unterhaltene „königliche Priester" eingesetzt. Sie blieben aber im allgemeinen nur eine kurze Zeit, oder es handelte sich um Mönchspriester — Zeichen dafür, daß diese Simultaneen keinem wirklichen Bedürfnis entsprachen. Besonders im 18. und 19. Jh. gaben viele Simultaneen immer wieder Anlaß zu Konflikten. Dabei ging es einmal um die gottesdienstlichen Zeiten. Zwar wurde, da gleichzeitige Gottesdienste beider Konfessionen nicht möglich waren, ein Abkommen über die zeitliche Nutzung getroffen. Doch kam es immer wieder vor, daß die Geistlichen bewußt oder unabsichtlich - die zugestandene Zeit durch längere Predigten überschritten, so daß die andere Gemeinde, den Unbilden der Witterung ausgesetzt, draußen warten mußte. Zum andern ging es um die Ausgestaltung der Kirchen. In manchen Kirchen installierten die Katholiken ein Chorgitter, um die Protestanten daran zu hindern, den Chor überhaupt zu betreten. Da die Bevölkerung seit 1750 stark zunahm, war aber nicht immer genug Platz im Kirchenschiff, so daß auch der Chor einbezogen werden
Sinai
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mußte, was die Katholiken höchst ungern sahen. In manchen Kirchen hatte man aus Platzmangel den unbeweglichen Altar durch einen beweglichen ersetzt, den man am Ende des Gottesdienstes auf die Seite rollte. Die Evangelischen empörte es andererseits, wenn die Katholiken aus Platzmangel die Prozessionsfahnen im Kirchenschiff aufbewahrten. Hinzu kamen noch die Probleme, die sich aus dem notwendigen Unterhalt der Kirchengebäude und der Orgeln ergaben. Immer waren beide Seiten bemüht, ihr Ansehen und ihre Rechte zu wahren. Das erklärt, warum während des ganzen 19. J h . das Simultaneum Anlaß zu konfessionellen Auseinandersetzungen bot, Abneigung gegen die jeweils andere Konfession und Angst vor ihr förderte und so konfessionelle Identität stärkte und der jeweils folgenden Generation überlieferte. Die ständigen Auseinandersetzungen hatten zur Folge, daß etliche kirchliche Behörden im Laufe des 19. J h . die Simultaneen abzuschaffen versuchten. So wurde im Elsaß auf katholischer Seite ein Werk der gemischten Kirchen gegründet, das allmählich die Zahl der Simultaneen auf die Hälfte verringern konnte. Heute finden sich die Simultaneen, die auch im 20. J h . weiter verringert wurden, vor allem im Elsaß (1998: 50 Simultaneen), in Baden, in der Pfalz und im Rheinland. Unter dem Einfluß des Ökumenismus sind aber die Beziehungen der beiden das gleiche Kirchengebäude nutzenden Konfessionen fast immer gut und der konfessionellen Zusammenarbeit eher förderlich. Literatur Der Friede v. Rijswijk 1697, hg. v. Heinz Duchhardt, Mainz 1998 (VIEG Beih. 47). - Franz Letzeiter, Die hist. Entwicklung der Rechtsgrundlagen der rheinpfälzischen Simultankirchen, Diss. jur. (masch.) Heidelberg 1954. — Octave Meyer, Le simultaneum en Alsace, Saverne 1961. — Claude Muller/Bernard Vogler, Catholiques et protestants en Alsace. Le simultaneum de 1802 á 1982, Straßburg 1983. - Dietrich Pirson, Art. Simultaneum: EStL 3 2 (1987) 3 1 3 8 f . - Siegfried Reicke, Art. Simultaneum: R G G 3 6 (1962) 4 3 f . - Kurt Rosendorn, Die rheinhessischen Simultankirchen bis zum Beginn des 18. J h . , Speyer 1958 ( Q M R K G 3). - Friedrich Sambeth, Art. Simultaneum: L T h K 9 (1937) 5 8 5 f . - J o s e f Schmitt, Simultankirchenrecht im Großherzogtum Baden unter der Herrschaft des bürgerlichen Gesetzbuchs. Ortsgesch., Rechtsgesch. u. Syst. T., Karlsruhe 1909. (Paul Hinschius)/Emil Sehling, Art. Simultaneum: R E 3 1 8 (1906) 3 7 4 - 3 7 9 . - Martin Wagner, Unters, über die Ryswijker Religions-Klausel, Diss. Jena 1889. - Joseph Wenner, Art. Simultaneum: L T h K 2 9 (1964) 7 8 0 f.
Bernard Vogler
Sinai (Quellen und Literatur S. 284)
Sinai, hebräisch Sinay, ist nur im Alten Testament (31mal im Pentateuch, sonst noch Jdc 5,5; Ps 68,9.18; Neh 9,13) und davon abhängigen Überlieferungen (vgl. Sir 48,7; Jub prol.; 1,2.5 u.ö.; äthHen 1,4; Jdt 5,14; Sib III, 256) bezeugt. Im Neuen Testament findet sich Sinay (Zivä) nur Act 7,30.38 und Gal 4,2, noch später ist Barn 11,3; 14,2; 15,1. Sinay allein steht in E x 16,1; Dtn 33,2; Jdc 5,5 und Ps 68,9.18 (vgl. Sir 48,7), meistens wird „Berg" oder „ W ü s t e " dem Namen vorangesetzt, was somit als erläuternde, jüngere Präzisierung erkennbar ist. Als Namensdeutung ist die früher oft versuchte Ableitung vom mesopotamischen Mondgott Sin unmöglich, denn der hätte hebräisch S'/yn oder $ ' geschrieben werden müssen. Die hieroglyphische Graphie Sjbjjrii, die bei Amenophis II. einmal bezeugt ist (Edel 32 [Transkription S 'bjn'.]), mit der späteren ägyptischen Graphie für - » Z y p e r n (Sbjjn3i/Sjjn3i [ = Sjn]) zusammenzustellen und als „ E r z - " oder „Kupferland" zu deuten bleibt eine mögliche Erwägung (Görg), bedarf aber weiterer Belege. Am ehesten ist Sinay Bildung einer Wurzel SNY, vergleichbar arabisch sanä, intransitiv sanija, „strahlen, leuchten" (Wellhausen 5 2 0 Anm. 33 u.a.). Das samaritanische Siniberuht auf innersamaritanischer Entwicklung; die Wiedergabe mit einfachem -ä in der Septuaginta (Zivä bzw. Itivä) wurde auch bei anderen hebräischen Namen angewandt, die auf -ay enden (Neh 12
284
Sinai
[ = III Esr 22],19 MaOOaviá; Neh 12 [ = III Esr 22],36 Mamá u . a . [Hinweis Robert Hanhart]; vgl. noch Philo, Her 251 TÖ ... öpot; XÖ ... Zivä). Griechisch Zivaí kam erst später auf, drang dann aber auch in Handschriften mit älterem £ivá bzw. £eivá ein; vgl. altlateinisch Syna, Vulgata aber Sinai.
Ob für Sinai auch Horeb (hebräisch Horeb u.a., L X X Xcopijß) gesagt werden konnte, ist seit alters umstritten (vgl. —»Eusebius, onomast. 172,9f., wonach der Gottesberg Horeb im Land Midian lag, dem Berg Sinai unmittelbar benachbart, während —»Hieronymus [ebd. 173,15f.] ihn für denselben Berg ansah, der unter einem Doppelnamen mal Sinai, mal Horeb genannt werde). Nachdem sich die Quellenscheidung im —»Pentateuch seit dem letzten Drittel des 19. Jh. durchgesetzt hatte, wurden die Belege für Sinai bzw. Horeb je einer der beiden älteren Quellen (-»Jahwist und -»Elohist) zugeschrieben, die für „Berg" bzw. „Wüste Sinai" der —»Priesterschrift. Blieben dabei schon grundsätzliche Entscheidungen kontrovers (Winnett), manche Zuordnungen offen (Ex 33,6) und einschlägige Stellen nur als Glossen übrig (Ex 3,1; 17,6), so wurde dennoch später versucht, auf dieser Linie eine Sinai- neben einer Gottes- bzw. Götterberg (Horeb)Tradition zu rekonstruieren (dagegen aber Schmidt 122-124). Schließlich sind alle Belege für Horeb (artifiziell [?] „Ödland") einer deuteronomistischen Überlieferung des 6. Jh. v. Chr. zugewiesen worden, die glossierend auf ältere Texte zurückgewirkt habe (Perlitt). Letztere These nötigt dazu, auch Ex 3,1 (LXX?) und I Reg 19,8 als deuteronomistisch zu deklarieren. Aus Abneigung gegenüber solcherart literarkritischer Entscheidungen wird neuerdings wieder für eine gleichzeitige Doppelnamigkeit Horeb/Sinai plädiert, ohne den wechselnden Sprachgebrauch erklären zu können (Van Seters; Houtman u. a.). Die poetischen Belege für Sinai (Dtn 33,2; Jdc 5,5; Ps 68,9.18) werden hier, trotz Kontroversen über ihre Entstehungszeit, für partiell älter angesehen als die Nennungen des Berges Horeb. In ihnen ist Sinai ein Begriff, der sich auf eine Region bezieht. Insofern sind sie zusammenstellbar mit t3 s3sw ]hw3 bei Amenophis III. (Giveon 2 6 - 2 8 ) . Auch in diesem ägyptischen Ausdruck, dem frühesten Beleg für den hebräischen Gottesnamen, ist -»Jahwe verknüpft mit einer Region (ägyptisch t3). Es war ein Irrweg, aufgrund der poetischen Belege für Sinai, die theophane Vorstellungen entfalten (vgl. auch Ex 19), einen Vulkan Sinai in Nordarabien zu suchen (zur sog. Vulkantheorie vgl. Zuber 1 8 - 5 9 ) . Traditionell wird Sinai mit dem Cabal Müsä (2244 m) im Süden der Sinai-Halbinsel identifiziert, wiederum supponierend, daß Sinai ein Berg war. Diese Gleichsetzung ist bis Julianos Sabas und Simeon Palaios zurückverfolgbar, die - vor 363 n. Chr. - bei Elias Grotte am Berg Horeb eine kleine Kirche errichteten (-»Theodoret von Kyrrhos, hist. rel. II, 13; VI, 7 - 1 2 ; [Ps.-] Ephraem, 14., 19. u. 20. Hymne auf Julian Sabas), die Etheria später dort vorfand und bis heute einen Nachfolgebau hat. Die Ehrung dieses Sinai ( = Horeb = Gabal Müsä) durch eine christliche Kirche bildete die Voraussetzung für die Gründung des „Klosters der Verklärung" (Transfiguration), im Abendland heute Katharinenkloster genannt, durch Kaiser -»Justinian (Prokopius von Cäsarea, aed. V, 8). Ein Ansatz für eine Region Sinai im Bereich von -»Kadesch(-Barnea) fand gegenüber den beiden vorgenannten kaum Beachtung (Grätz). Er ist aber neu zu erwägen, weil Kadesch(-Barnea) (Teil al-Qederät) und das ca. 50 km entfernte Kuntilet 'Agrüd die einzigen Orte im Süden Cis- (und Trans-)Jordaniens sind, an denen eine Schriftkultur existierte. Wenn in den Inschriften aus Kuntillat'Agrüd neben einem typisch theophanen Ausdruck auch ein Begriff wie Teman mehrfach erscheint, der eine Region bezeichnete, so korrespondiert das dem, was auch schon die ältesten alttestamentlichen poetischen Belege für Sinai prägt. In spätere alttestamentliche Texte wurde in historischer Rückprojektion all das in die Offenbarung am Berg Sinai eingeschrieben, was aus Jerusalemer Sicht als Weisung bedeutsam war (vgl. Ex 19,13.19). Quellen und Literatur E l m a r Edel, Die asiatischen Feldzüge A m e n o p h i s ' II. (7. u. 9. J a h r = 1436 u. 1434 v. C h r . ) : T G I J (1979) 2 8 - 3 4 . - Ps.-Ephraem: D e s hl. E p h r a e m des Syrers Hymnen auf A b r a h a m Kidunaya
Sinn/Sinnfrage I
285
u. Julianos Saba, hg. u. übers, v. Edmund Beck, 1972 ( C S C O . S 1 4 0 - 1 4 1 ) . - Etheria: Herbert Donner, Pilgerfahrt ins Hl. Land. Die ältesten Ber. christl. Palästinapilger ( 4 . - 7 . J h . ) , Stuttgart 1979, 6 9 - 137. - Eusebius, Das O n o m a s t i k o n der bibl. Ortsnamen, hg. v. Erich Klostermann, 1904 (CCS I I / l ) (Nachdr. Hildesheim 1966). - Raphael Giveon, Les Bédouins Shosou des documents égyptiens, 1971 ( D M O A 18). - Manfred Görg, Der Sinai. „(Der Berg) des Erzgebirges"?: B N 5 4 (1990) 1 2 - 1 8 . - Ders., Sinai u. Zypern als Regionen der Erzgewinnung: T h e Intellectual Heritage of Egypt. Studies Presented to Lâszlô Kâkosy by Friends and Colleagues on the Occasion of his 65th Birthday, hg. v. Ulrich Luft, Budapest 1992, 2 1 3 - 2 2 1 . - Heinrich Graetz, Die Lage des Sinai oder Horeb: M G W J 27 (1878) 3 3 7 - 3 6 0 . - Cornelis H o u t m a n , Exodus, 2 Bde., Kampen 1 9 9 3 - 1 9 9 6 (Hist. C o m m . on the O T ) (Lit.). - Ernst Axel Knauf, Midian. Unters, zur Gesch. Palästinas u. Nordarabiens am Ende des 2. J t . v. Chr., 1988 (ADPV 10). - Paul Maiberger, Art. Sînay: T h W A T 5 (1986) 8 1 9 - 8 3 8 . - Lothar Perlitt, Sinai u. Horeb: Beitr. zur atl. T h e o l . FS Walther Zimmerli, hg. v. Herbert Donner u.a., Göttingen 1977, 3 0 2 - 3 2 2 . - Werner Hugo Schmidt, Exodus, Sinai u. Mose. Erwägungen zu Ex l - 1 9 u . 24, 1983 2 1990 = 3 1995 (EdF 191). - Rudolf Solzbacher, M ö n c h e , Pilger u. Sarazenen. Stud, zum Frühchristentum auf der südlichen Sinaihalbinsel. Von den Anfängen bis zum Beginn islamischer Herrschaft, 1989 ( M T h A 3). - Theodoret v. Kyrrhos, Historia Religiosa seu Philothea: T h é o d o r e t de Cyr, Histoire des moines de Syrie „Histoire Philotée" I—XIII, ed. Pierre Canivet/Alice Leroy-Molinghen, I — II 1 9 7 7 - 1 9 7 9 (SC 234.257). - J o h n A. Van Seters, T h e Life of Moses. T h e Yahwist as Historian in Exodus - Numbers, Kampen 1994 (Contributions to Biblical Exegesis and Theology 10). - Julius Wellhausen, Prolegomena zur Gesch. Israels, Berlin 2 1883 (Neudr. Berlin/Leipzig ' 1 9 2 7 = Berlin u.a. 1981). - Frederick Victor Winnett, T h e M o s a i c Tradition, 1949 ( N M E S 1). - Beat Z u b e r , Vier Stud, zu den Ursprüngen Israels. Die Sinaifrage u. Probleme der Volks- u. Traditionsbildung, 1976 ( O B O 9). Stefan T i m m
Sinn/Sinnfrage I. P h i l o s o p h i s c h II. S y s t e m a t i s c h - t h e o l o g i s c h III. P r a k t i s c h - t h e o l o g i s c h
S. 2 9 3
.
S. 2 9 8
I. P h i l o s o p h i s c h 1. Sinn als Inbegriff der philosophischen Aufgaben 2. Die differenzierte Einheit des SinnBegriffs 3. Die existentiellen Sinnfragen 4. Probleme und Aufgaben einer sinnerforschenden Philosophie (Quellen und Literatur S. 292)
1. Sinn als Inbegriff der philosophischen
Aufgaben
D e r Begriff „ S i n n " stellt n i c h t i r g e n d e i n e n p h i l o s o p h i s c h e n Begriff u n t e r a n d e r e n d a r , s o n d e r n (seit d e r K a n t - Z e i t ) d e n Inbegriff aller p h i l o s o p h i s c h e n A u f g a b e n . V i e l l e i c h t e r s t m a l s w i r d er bei J . G . - » F i c h t e als s o l c h e r a u s d r ü c k l i c h : „ S o viel a u s allen P h i l o s o p h i e n bis a u f K a n t k l a r h e r v o r g e h t , w u r d e d a s A b s o l u t e g e s e t z t in d a s Sein,
in d a s t o d t e
D i n g , als D i n g ; d a s D i n g sollte sein d a s A n s i c h . . . . N u n a b e r k a n n d o c h jeder, w e n n er sich nur b e s i n n e n will, inne w e r d e n , d a ß s c h l e c h t h i n alles Sein ein Denken Bewußtsein
oder
d e s s e l b e n setzt: d a ß d a h e r d a s b l o ß e Sein i m m e r n u r die E i n e H ä l f t e zu
einer z w e i t e n , d e m D e n k e n d e s s e l b e n , s o n a c h Glied e i n e r u r s p r ü n g l i c h e n , u n d h ö h e r liegenden D i s j u n k t i o n i s t " ( F i c h t e , W i s s e n s c h a f t s l e h r e 1 0 ) . Dieses „ r e i n e W i s s e n " o d e r B e w u ß t - S e i n n e n n t F i c h t e a u c h Sinn: „ D a s g e r a d e ist die W u r z e l , u. d a s innigste W e s e n des O r g a n s z u r P h i l o s o p h i e , d a s I h n e n s c h l e c h t h i n a n g e m u t h e t w i r d , Sinn zu h a b e n für den Sinn, als s c h l e c h t h i n e t w a s a n d e r e s , d e n n alles M ö g l i c h e , w a s genommen
w i r d in
e i n e m S i n n e " ( F i c h t e , L o g i k 3 1 f . ) . D i e s e r die I c h - S u b j e k t i v i t ä t e i n s c h l i e ß e n d e , j e d o c h n i c h t auf sie b e g r e n z t e Sinn ist d u r c h i n n e r e G e g e n s a t z - E i n h e i t e n (wie d e r v o n Sein u n d D e n k e n ) g e p r ä g t - u n d e b e n d e s h a l b k a n n er v o n innen h e r w e i t e r e n t w i c k e l t , a n g e r e i c h e r t w e r d e n , freilich n i c h t rein d e d u k t i v , w a s F i c h t e s T e n d e n z w a r . E r h a t m i t seiner E i n s i c h t j e d o c h einen M a ß s t a b g e s e t z t : D e r G r u n d b e g r i f f d e r O n t o - l o g i e k a n n n i c h t s E i n f a c h e s u n d b l o ß g e g e n s t ä n d l i c h G e g e b e n e s sein, s o n d e r n m u ß v o n A n f a n g a n ein reflexives (den B e s i n n e n d e n i m p l i z i e r e n d e s ) R e l a t i o n s - G e f ü g e b e i n h a l t e n .
286
Sinn/Sinnfrage I
„Jeder geistige Akt ist ein Sinnakt; ganz gleich ob die realistische Erkenntnistheorie von einem sinnempfangenden oder die idealistische von einem sinngebenden oder die metalogische von einem sinnerfüllenden Akt spricht . . . Sinn ist das gemeinsame Merkmal und die letzte Einheit von theoretischer und praktischer Geistessphäre, von wissenschaftlichem und künstlerischem, von rechtlichem und sozialem Gestalten. . . . Darum ist die Lehre vom Aufbau der Sinnwirklichkeit, die Philosophie, Sinnprinzipienlehre und ihre erste Aufgabe eine Analyse des Sinnes selbst, eine Lehre von den Sinnelementen. Es ist nun freilich ein paradoxes Unterfangen, den Sinn des Sinnes erfassen zu wollen; und man kann nicht den Zweck verfolgen, den Begriff des Sinnes auf einen höheren Begriff zurückzuführen, da jeder höhere Begriff selbst wieder eine Setzung des Sinnes wäre, sondern man kann nur versuchen, die im Sinne enthaltenen, ihm untergeordneten, immer gegenwärtigen Elemente jedes Sinnvollzuges metalogisch zu entwickeln" (Tillich, GW I, 318).
Da „Sein" seit —»Plato und vor allem seit -»• Aristoteles aber das meint, „was allem Seienden zukommt", führt es zur Begriffsverwirrung, wenn dieser Inbegriff der Korrelate von Wissensakten mit der dialektischen Seins-Wissens-Einheit identifiziert wird, sei es auch aus dem Interesse heraus, den ehrwürdigen Seins-Begriff als den einstigen Inbegriff und Grundbegriff der Philosophie vor der Überholung durch den Sinn-Begriff zu bewahren. Wenn M. -»Heidegger nach dem „Sinn von Sein" fragt und die abendländische „Seinsvergessenheit" beklagt, so scheinen er selbst oder zumindest seine Interpreten zu übersehen, daß eben damit zutiefst nach dem Sinn (von Sein) gefragt ist und sie sich selbst einer „Logosvergessenheit" (Heintel, Einleitung) schuldig machen. Die frühen Griechen, allen voran Heraklit (der vermutlich das Wort „Philosophie" prägte; vgl. TRE 26,532,9-13), dachten vom -»Logos her, dem griechischen Wort für Sinn. Ebenso wie für die Ontologie und die gesamte Sprachphilosophie, gleich welcher Prägung, umfaßt die Frage nach Sinn alle anderen Disziplinen der Philosophie: als Erkenntnistheorie, als formale oder transzendentale Logik, als Wissenschaftsphilosophie (theoretischer Bedeutungs-Sinn) oder als Sprachphilosophie (Sinn in der Bezeichnungs-, Benennungs-, Handlungs- und Verbindungsdimension: sigmatischer, semantischer, pragmatischer und syntaktischer Sinn); als Naturphilosophie (Sinn einerseits als phänomenale Gegenständlichkeit, andererseits als Zielgerichtetheit, Teleologie oder systemische Funktionalität); als Handlungstheorie (Intentionalität und Kreativität des Handelns), als Individual- und Sozialethik (sittlicher Wert des Handelns); als Ästhetik sowohl im Sinne der Lehre von Sinneswahrnehmungen wie der Lehre vom Schönen (ästhetischer Wert); als Geschichtsphilosophie (Sinn der Geschichte) und Kulturphilosophie (Sinn als objektiver Geist); als philosophische Sozialtheorie (Schütz: „Der sinnhafte Aufbau der sozialen Welt", Luhmann: „Sinn als Grundbegriff der Soziologie"); schließlich als Religionsphilosophie, einschließlich einer philosophischen Theologie (Sinngebung des Lebens vom Absoluten her). Es gibt keine philosophische Disziplin, zumal keine ihrer moderneren Ausprägungen, für die der Sinn-Begriff nicht grundlegend und umfassend wäre - was man vom Seinsbegriff nicht behaupten kann. Philosophie konnte mit Recht einfachhin als die „Wissenschaft vom Sinn" (science du sens [Weil 220]) bezeichnet werden oder als „universale Sinn-Hermeneutik" (Heinrichs, Ort): Auslegung von Sinn als solchem, d.h. nicht bloß einzelner Sinngestalten wie etwa in den philologischen Wissenschaften sowie einer einzelwissenschaftlichen —»Semiotik (Zeichenlehre). 2. Die differenzierte
Einheit des
Sinn-Begriffs
2.1. Zwischen spezialistischer Verengung und vager Ganzheitlichkeit des Sinn-Begriffs. Zu der skizzierten universalen Bedeutung des Sinn-Begriffs steht allerdings das Defizit an begrifflicher Strukturierung der Einheit des Sinn-Begriffes in Kontrast. Entweder wird der Sinn-Begriff sehr speziell eingeführt, etwa in der Unterscheidung von (situationsbezogenem) Sinn und (allgemein-semantischer) Bedeutung bei G. Frege (vgl. Thürnau), oder er gewinnt leicht den Klang des Vagen und Erbaulichen, vor allem im Zusammenhang mit „Sinn des Lebens" (Gerhardt), weil die Verbindung zu einem methodisch eingeführten Begriff von Sinn nicht erkennbar wird. Es stellt sich das Problem,
Sinn/Sinnfrage I
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ob die vielen Bedeutungen von „ S i n n " eine innere Einheit bilden oder etwa nur durch sprachliche Zufälligkeiten zusammengebunden werden. Nun laßt sich aufzeigen, daß keine der Bedeutungen von „ S i n n " (engl, sense, franz. sens) so disparat ist, daß sie nicht ihren Platz in einem durchaus einheitlichen Bedeutungsgefüge hätte. Die vielen Wortnuancen von „ S i n n " bilden ein semantisches Strukturgefüge, das auf ein onto-logisches Strukturgefüge von Sinn verweist. Freilich ist keine hinreichende Spiegelung der Ontologie von Sinn durch die bloß semantische Sprachanalyse von „ S i n n " zu erwarten. Dennoch ist von etymologischem Interesse, daß das deutsche Wort „ S i n n " und andere indogermanische Variationen desselben Wortstammes sich von dem althochdeutschen sin und dem neuhochdeutschen sinnan = „reisen, streben, gehen" ableiten. „Entlehnung aus gleichbedeutendem] lat. sensus ist unmöglich, weil neben dem Subst[antiv] das st[arke] Ztw. [Zeitwort] sinnen steht" (Kluge 709). Dem liegen noch ältere germanische und vorgcrmanische Wurzeln voraus, die alle mit „ W e g " und „einer Richtung nachgeh e n " zusammenhängen. Davon leitet sich die romanische Wortsippe um ital. senno „Sinn, Verstand" her (ebd.). 2.2. Erste methodische Einführung: Vollzugs-Gehalt-Einheit. „ S i n n " kann anfänglich definiert werden als Bewußtseinsaktivität mit ihren Gehalten. An dieser ersten methodischen Einführung des Begriffs können und müssen von vornherein die Sinnmomente Aktivität (Vollzug) und Gehalt unterschieden werden. Semantische Bedeutung und Handlungsrichtung stellen nur oberflächlich zwei verschiedene Sinn-Begriffe dar. Die beiden Momente bilden vielmehr eine untrennbare Gegensatz-Einheit. Eine Wort-Bedeutung etwa hat nur Existenz in einem Bewußtseinsvollzug. Die materielle Existenz eines Wortes im Lexikon oder im Computer ist bloß physikalische Information im Sinne einer physikalischen Zuständlichkeit. Daß diese Information Träger oder Außenseite einer Information im bewußtseinsmäßigen Sinne sein kann, beruht auf einer erstaunlichen Analogie zwischen physischer Außenseite und bewußtseinsmäßiger Innenseite. Auf solcher Analogie von Außen und Innen, zwischen zwei zunächst gänzlich verschiedenen Informationsbegriffen (Heinrichs, Ökologik 6 3 66) beruhen sowohl die traditionelle Schrift wie die Computertechnik. Von Sinn kann erst die Rede sein im Hinblick auf die bewußtseinsmäßige Aktualisierung der physikalischen Zustände durch bewußte Entzifferung. (Zwischenformen zwischen beiden zunächst streng zu unterscheidenden Informationsbegriffen bilden die vielfältig gestuften biologischen Formen von Information, von einfachen Zellen über die Gene als Träger der Erbinformation bis hin zum menschlichen Gehirn.) Wenn wir etwa eingeritzte Zeichnungen auf einem alten Stein finden (vgl. Hengstenberg, Autonomismus 22f.), können wir leicht vermuten, daß sie nicht bloß eine wirkursächliche, sondern zugleich eine sinnhafte, d.h. form- oder informationsursächliche Herkunft haben: daß sie etwas bedeuten. Die Bedeutung dieser Zeichnungen bleibt jedoch latenter Sinn, solange er nicht von menschlichem Bewußtsein als solcher in seinem Daß wahrgenommen und womöglich in seinem Was, seinem besonderen Gehalt, verstanden wird. In allen Fällen gehört zu aktuellem Sinn Bewußtseinsaktivität. Völlig gehaltlose Bewußtseinsaktivität gibt es offenbar so wenig wie aktivitätslose Gehalte, es sei denn als jener bloß latente Sinn von materiellen Spuren einer Bewußtseinsaktivität, sei es auf primitiven Steinen, sei es in hochkomplexen Computern - oder als materielle Gedächtnis-Engramme im Gehirn, als Voraussetzung für Bewußtseinsaktivität. Der Doppelheit von Gehalt und Vollzug entspricht in der Physik die Unterscheidung von Information und Energie. Fragt man, ob es ein Analogon zum dritten, historisch der Information lange vorhergehenden Grundbegriff der Physik, zu Masse, im Bewußtsein gibt, kommt das Realitätsoder Seins-Moment des Bewußt-Seins selbst sowie seiner Korrelate in Betracht, welches dem „energetischen" Selbstvollzug des endlichen Bewußtseins vorausgesetzt ist. Dem Energie-Begriff entspricht auf der Bewußtseinsebene derjenige des Willens sowie das, was den Willensstrebungen objektiv (vom Willen mitkonstituiert) korrespondiert, die Werte. Die Triade von Masse, Energie
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Sinn/Sinnfrage I
und Information in der physischen Welt erweist sich als Analogon der umfassenderen, nichi auf die physische Welt beschränkten Triade von Sein (Realität), Bonität (Wert) und Sinn (Idea.ität, Intentionalität überhaupt). Dem Sinn k o m m t eine mittlere und vermittelnde Stellung zu, die für die philosophische Reflexion die umfassendste sein dürfte. „ D e r bloße Wert setzt nur, was doxisch gelten soll; das bloße F a k t u m ist nur. Beide Begriffe, rein als solche und für sich genommen, bestimmen nicht, in welches Verhältnis sie zueinander zu setzen sind. Dies leistet ein anderer eigentümlicher Stammbegriff der Vernunft: der Sinnbegriff" (Lauth, Ethik 55). Und dieser Stamm-Begriff ist, zumindest quoad nos, der umfassendste, da uns auch die anderen beiden in ihrer G a m h e i t nur begrifflich, d . h . als Sinngehalte, zugänglich sind.
Der Gehalt-Sinn ( - » H u s s e r l : n o e m a t i s c h e r Sinn) k a n n zwar aus dem Vollzugs-Sinn (Husserl: noetischer Sinn) herausgelöst w e r d e n , um sich in anderer Noesis neu zu aktualisieren, d o c h beide sind im Prinzip u n t r e n n b a r voneinander - wie die Bedeutung eines Wortes v o m Sprech- bzw. H ö r a k t . Ein Mangel in Husserls Analysen d ü r f t e darin bestehen, diese Dialektik von Vollzugs- und Gehaltsinn - im Unterschied zu seinen großen t r a n s z e n d e n t a l p h i l o s o p h i s c h e n Vorgängern - nicht als Leitfaden festgehalten zu haben, w e s h a l b seine vorzüglichen n o e m a t i s c h e n P h ä n o m e n - D e s k r i p t i o n e n ins Uferlose gingen u n d nicht zu P h ä n o m e n - E x p l i k a t i o n e n w u r d e n . Diesen M a n g e l erbte die soziologische V e r w e n d u n g des Sinn-Begriffs als bloßer Sinn-Objektivität im Gefolge Husserls (Schütz; B e r g e r / L u c k m a n n ; L u h m a n n ) . N i c h t von u n g e f ä h r v e r w a n d t e die scholastische Philosophie ebenfalls das eine Wort intentio f ü r B e d e u t u n g s - G e h a l t u n d H a n d l u n g s - A b s i c h t (Heinrichs, Intentio). Von einer bloßen Ä q u i v o k a t i o n zweier völlig verschiedener Intentions-Begriffe k a n n nicht die Rede sein. W a h r t m a n nicht deren dialektische Einheit, so gerät m a n e n t w e d e r in die formalen D e n k w i s s e n s c h a f t e n (Logik u n d M a t h e m a t i k ) oder in die empirischen Seinswissenschaften (wozu eine u n p h i l o s o p h i s c h e Sprachbestands-Analyse ebenso wie etwa empirischstatistische Arten von Psychologie gehören). Die Philosophie als grundlegende Geisteso d e r Sinnwissenschaft hat es stets mit der dialektischen Einheit von Vollzug und Gehalt zu tun u n d die Arten dieser Einheiten fortschreitend auszulegen (Tillich, G W 1 , 1 1 1 - 1 9 3 ) . 2.3. Höherstufige Vollzugs-Gehalt-Einheiten (Intentionalitäten). M a n k a n n die beiden aufgezeigten Seiten von Sinn auch „ t h e o r e t i s c h e n " und „ p r a k t i s c h e n " Sinn nennen. Menschliche Intentionalität, weit d a v o n e n t f e r n t , nur einseitig-zielgerichtet zu sein, wie eine zu schnelle Entgegensetzung zwischen intentionalem und dialogischem Denken vermeint (Theunissen, Der Andere), erweist sich im Beziehungsgefüge von (Ich-)Subjekt O b j e k t - a n d e r e m Subjekt (Du) als dialogisch intentional. D a s heißt, theoretisch-rezeptiver Gehalt-Sinn und praktisch-setzender H a n d l u n g s Sinn verschlingen sich in m e h r e r e n (grundsätzlich vier; Dialogik) Reflexionsstufen so, d a ß a n d e r e Sinn-Formen sich aus den elementaren Gegensatz-Einheiten von theoretischem u n d p r a k t i s c h e m Sinn ergeben: ästhetischer Sinn, k o m m u n i k a t i v e und metak o m m u n i k a t i v e (spirituelle) Sinn-Verbundenheit. M a n k a n n auf jeder Stufe auch von (theoretischen) Erfüllungs-Erlebnissen (Husserl) u n d , diesen analog, in praktisch-volitiver Hinsicht von Werten sprechen. So gibt es etwa die S t u f u n g von (a) sinnlichen G e n u ß w e r t e n b z w . i n n e r h a l b des Sinnbereichs Liebe von sexueller Liebe, (b) strategischpersonalen Interessenwerten bzw. in der Liebe die je einseitig erotisch-ästhetische Spiegelung, (c) k o m m u n i k a t i v e n Werten (Verständigungsorientierung, Verstehen, Vertrauen; Freundschaftsliebe) u n d (d) m e t a k o m m u n i k a t i v e n Letztwerten (wie Wahrheit, Gerechtigkeit; Unbedingtheit der spirituellen Liebe). Alle diese Werte sind zugleich Sinn-Erfüllungen. Was in h a n d l u n g s t h e o r e t i s c h e r Hinsicht Sinn-Bereiche, sind in sittlich-praktischer Hinsicht ethische Wert-Stufen. Von d a h e r k o m m t das W o r t „ S i n n " nicht bloß im Sinne des zweckgerichteten H a n d l u n g s - S i n n e s , auch nicht b l o ß f ü r die Z w e c k v e r k e t t u n g u n d systemische Funktionalität (Schaeffler) in N a t u r u n d Gesellschaft, sondern auch f ü r die Sinnerfüllung des Tätigseins u n d Erlebens insgesamt zur V e r w e n d u n g . N i c h t nur einzelne H a n d l u n g e n k ö n n e n sinnvoll ( z w e c k m ä ß i g u n d erfüllend) sein, sondern auch umgreifende H a n d -
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lungsfolgen. So wird die gedankliche Brücke zum „Sinn des Lebens" sowie zum Sinn der Geschichte sichtbar: zum existentiellen Sinnbegriff. Nur reduktivistische Arten von Sprach- und Begriffsanalyse, die nicht den genetischen, transzendentallogischen Zusammenhang dieser internen Abwandlungen des Sinn-Begriffs in den Blick bekommen, können Äquivokation und Willkür in diesen alltäglichen Verwendungen des Sinn-Begriffs behaupten. Für ein methodisches Vorgehen zeigt sich ein stringenter Zusammenhang zwischen der ersten methodisch elementaren Einführung der beiden Seiten von Gehaltund Vollzugs-Sinn bis zum existentiellen Sinn-Begriff, der sich auf menschliches Leben, Geschichte oder die Welt im ganzen bezieht. Ebenso wird der Zusammenhang zwischen höchstem spirituellem Sinn und Sinnlichkeit als der von verschiedenen Bewußtseins- oder Reflexionsstufen schon erkennbar, was durch die folgende Einführung des Logos als Sinn-Medium oder „Licht, das jeden Menschen erleuchtet" (Joh 1,9), vertieft wird. 2.4. Das Sinn-Medium: eine Kehre in der Fassung des Sinn-Begriffs. Mit P. -»Tillich läßt sich im Hinblick auf die drei oben genannten, phänomenologisch leicht aufweisbaren Beziehungspole (Relata) aller menschlichen Bewußtseinsvollzüge und Handlungen (Subjekt - Objekte - andere Subjekte) passend von „Sinnelementen" sprechen, wenngleich Tillich nur die Zweiheit von Denken und Sein unterscheidet (Tillich, G W I, 118ff.). Nun gibt es noch ein viertes Element, das den Namen „Sinn-Medium" verdient. Es handelt sich um das bei aller Weltbegegnung, insbesondere in der interpersonalen Begegnung, vorausgesetzte „Apriori der Kommunikationsgemeinschaft" (Apel, Transformation II, 3 5 8 - 4 3 6 ) . Im Unterschied zu Apel muß dieses Apriori jedoch nicht bloß als je-subjektiver Sinn-Horizont im Sinne Kants und Husserls, sondern gerade als vorgängiges Medium von Gemeinschaft mit eigenem ontologischem, nicht bloß subjektinternem Status verstanden werden. Prototypisch für das Sinn-Medium ist seine kulturelle Manifestation als Muttersprache sowie in vielen anderen kulturellen Produkten der symbolischen Interaktion. Es ist jedoch von fundamentaler Bedeutung, daß diesen kulturellen Aposfenon-Manifestationen als notwendige Bedingung ihrer Möglichkeit ein Medium a priori zugrunde liegen muß: Auch Interaktionsteilnehmer ohne gemeinsame Muttersprache können sich durch Zeichengestik verstehen und allmählich eine gemeinsame Sprache als ihr konkretes „Zwischen" aufbauen. Solche vorsprachliche Verständigung setzt gerade das hier gemeinte Sinn-Medium a priori, d.h. überkultureller Art, voraus. Umgekehrt könnte ohne das vorgängige Sinn-Medium keinerlei Gemeinschaft aufgebaut werden. Intersubjektivität wäre unmöglich. Es handelt sich darum, daß der Horizont menschlichen Bewußtseins (Kant, Kritik der reinen Vernunft B 686f.787f.) aus seiner Subjektivität als etwas bloß Gedachtem befreit und als eine intersubjektive oder, allgemeiner, interrelationale Realität erkannt wird: als Bedingung der Möglichkeit jeglicher Kommunikation. Die Hegeische Unterscheidung zwischen „absolutem" und „objektivem" Geist entspricht der von rein apriorischem Sinnmedium und seinen geschichtlichen Ausformungen in Sprachen und Kulturen (vgl. das Schema der vier Sinn-Elemente in T R E 8,699). Die Erkenntnis einer medialen Sinn-Wirklichkeit als Voraussetzung zwischenmenschlicher wie jedweder anderen Kommunikation könnte an die Platonische (und neuplatonische) Ideenlehre anknüpfen. Für Plato war die Erkenntnis einer allem geschichtlichen Wandel enthobenen Wirklichkeit des Logos (logischer Strukturen und Grundideen) fundamental. Das Verhältnis der Menschen zu diesem Ideenbereich verstand er als das einer Teilhabe: Der Mensch ist Logos-Träger. Unter Aristotelischem Einfluß ging diese wörtliche Bedeutung von (cpov Xöyov exov verloren. Es gab keinen systematischen Platz in der abendländischen Seinslehre für eine mediale Sinn-Wirklichkeit außer einem beiläufigen „intentionalen Sein". „Das Sein" wurde von Aristoteles und in seinem Gefolge von -> Thomas von Aquino nicht als Partizipation an einem medialen Bereich der Idee (des Logos) aufgefaßt, sondern als das, was jedem Seienden konstitutiv zukommt wie
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ein Urstoff in den vielen Formen der Einzeldinge. Es dürfte jedoch eine historisch unhaltbare und der Sacherkenntnis abträgliche Harmonisierung sein, den medial-partizipativ verstandenen Logos mit dem aristotelisch-thomanischen Sein als forma formarum der Seienden gleichzusetzen. Die außerhalb der katholischen Philosophie leichter zugegebene Spannung zwischen biblischer Theologie und aristotelischer Ontologie hat in der Liquidierung des medialen, partizipativen Logos-Begriffs ihren Hauptgrund. Allerdings ist mit der Einführung des Logos-Begriffs als „Sinn-Medium" eine Kehre von den sinnkonstitutiven Leistungen zu einer ontologischen Vorgabe von Sinn als medialer Realität sui generis vollzogen, vergleichbar der Heideggerschen Kehre von einer anthropologischen zu einer seinsgeschichtlichen Sichtweise. In diesem Fall bedeutet diese Kehre keinerlei Verzicht auf handlungstheoretische Rationalität. Wenn das Wesen von —»Mystik gerade darin besteht, daß der (göttliche) Sinn-selbst im menschlichen Bewußtsein eine Eigenaktivität entfaltet, darf das Sinn-Medium - bei philosophischem Anspruch - nicht von methodisch disziplinierten (transzendental-logischen) Bewußtseins-Analysen abgekoppelt und somit bloßer Erbaulichkeit und Irrationalität überantwortet werden. 3. Die existentiellen
Sinnfragen
„In jedem Sinnbewußtsein ist ein Dreifaches enthalten: erstens, das Bewußtein des Sinnzusammenhanges, in dem jeder einzelne Sinn steht und ohne den er sinnlos würde; zweitens, das Bewußtsein um die Sinnhaftigkeit des Sinnzusammenhanges und damit jedes einzelnen Sinnes, d.h. das Bewußtsein um einen unbedingten Sinn, der in allem Einzelsinn gegenwärtig ist; drittens, das Bewußtsein um eine Forderung, unter der jeder Einzelsinn steht, den unbedingten Sinn zu erfüllen. . . . Die unbedingte Sinnhaftigkeit alles Sinns beruht auf dem Bewußtsein um die Sinnunerschöpfliehkeit des Sinngrundes. . . . Richtet sich das Bewußtsein auf die einzelnen Sinnformen und ihre Einheit, so haben wir es mit Kultur zu tun; richtet es sich auf den unbedingten Sinn, den Sinngehalt, so liegt Religion vor. Religion ist Richtung auf das Unbedingte, Kultur ist Richtung auf die bedingten Formen und ihre Einheit" (Tillich, G W I, 318.319.320). Die letzten, die ganze menschliche Existenz und Geschichte umfassenden Sinnfragen sind daher religiöser Natur. Nun ist es zweierlei, die differenzierte Einheit des Sinn-Begriffs in transzendentallogischen Analysen aufzuzeigen und die existentiellen Sinnfragen nach dem Sinn des Lebens für den einzelnen, für Gemeinschaften und Kulturen und deren Geschichten zu beantworten. Paradoxerweise kommt die Philosophie als begrifflich-allgemeine Sinn-Hermeneutik in den existentiellen Fragen leicht an ihre Grenzen, weil das begriffliche Denken hierin, wie überall, grundsätzlich auf Erfahrung angewiesen ist, in diesem Fall auf Sinn-Erfahrungen im Sinne von tatsächlichen und möglichen Erfüllungs-Erlebnissen. Die Erfahrungen von Sinnleere und Sinnwidrigkeit bis hin zur erlebten oder gedachten Absurdität stehen einer harmonistischen Sinn-Deutung des Schicksals von einzelnen und Gemeinschaften wie des Menschseins überhaupt allzu offensichtlich im Wege. Zur Sinndeutung des Lebens gehört nicht zuletzt die Tatsache, daß es ein Leben zum Tode ist und daß der - » T o d nicht erst als angeblich unerfahrbarer am Ende des Lebens steht, sondern ein begleitendes Existential des ganzen Lebens als „Sein zum T o d e " ist (—»Kierkegaard; Heidegger). Allerdings bezeugen alle Erlebnisse von Sinnwidrigkeit, gar Absurdität, nochmals die Verwiesenheit des Menschen auf unbedingten Sinn. Auch der Tod gewinnt seine eigentliche Bedeutung nicht als bloßes Ende des Lebens, nicht einmal als Aussicht auf ein abstraktes „ N i c h t s " , sondern als Bedrohung durch etwaige bleibende Sinnwidrigkeit. Für die Beantwortung dieser existentiellen Sinnfragen bedarf es der eigenen spirituellen Erfahrung wie des glaubhaften Zeugnisses anderer. Insofern muß die Philosophie sich hier über ihre Aufgabe der strukturell-allgemeinen Begriffsklärung hinausbegeben und existentiell werden im Sinne von Kierkegaard, —»Nietzsche, —»Sartre, —>Jaspers
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u . a . Sie muß sich von sich her dialogisch öffnen, auch für die offenbarungstheologischen Zeugnisse und Lehren, und sich mit deren Glaubwürdigkeit als Arten von existentieller Philosophie auseinandersetzen. Der Philosophierende muß sich seiner eigenen Anfälligkeit für Vorurteile, z.B. aufgrund der Verwechslung von Erlebtem und Gedachtem, bewußt werden: Persönliche Erlebnisse von Sinnwidrigkeit können die denkbare Sinnerfüllung ebenso verdunkeln, wie gedankliche Kurzschlüsse die tatsächlichen und möglichen Erfahrungen selbst entstellen können. Der philosophisch Denkende kann auf der anderen Seite mit Recht eine vernünftige A n k n ü p f u n g theologischer Heils-, d . h . Sinnbotschaften an sein Denken, Beobachten und Erleben erwarten. Die Offenbarungstheologie kann zudem keinen M o n o p o l a n s p r u c h auf existentielle Sinndeutung erheben (Barnick). 4. Probleme
und Aufgaben
einer sinnerforschenden
Philosophie
4.1. Z u m ontologischen Fundamentalproblem um „Sein oder Sinn?" sei ergänzt, daß die ganzen Bereiche „intentionalen Seins" von Literatur, Kunst, Kultur und gesellschaftlichem „Sein" (objektiver Geist) mit einem irgendwie an dinglicher Realität orientierten Seinsbegriff nicht zu fassen sind. Der seit Jahrzehnten um eine Sinnphilosophie bemühte H.-E. Hengstenberg versuchte allerdings in einem seiner letzten Bücher, der traditionellen Seinsphilosophie - mit zweifelhaftem Erfolg - entgegenzukommen, indem er in deren Denkhorizont den Begriff „Transentitatives" für intentionale Sinnschöpfungen prägte (Hengstenberg, Seinsüberschreitung). 4.2. Die oben e r w ä h n t e Triade von Sein, Wert und Sinn kann auch nicht ohne Verlust auf die klassische Transzendentalienlehre der Seinsphilosophie (omne ens est bonum, verum usw.) reduziert werden (Beck). Die von Tillich und einigen Neukantianern in den zwanziger Jahren des 20. Jh. begonnene Lehre von den Sinnfunktionen (theoretische, praktische, ästhetische, ethische, religiöse) tritt funktional - anfänglich schon bei Kant in seiner Lehre von „transzendentalen Ideen" - an die Stelle der seinsphilosophischen Transzendentalienlehre und verdient eine Weiterführung in konkreten, handlungslogischen Analysen. Diese wären von großer sozial- und kulturtheoretischer, auch religionsphilosophischer Bedeutung. 4.3. Die Ubersetzung von „ L o g o s " mit „ W o r t " ist, wie schon —»Goethes Faust bei der Übersetzung des Prologs zum —• Johannesevangelium bemerkt, zu eng. Der sog. linguistic turn in der Philosophie des 20. Jh., die vorgebliche Abwendung von Bewußtseinsphilosophie zu Sprachphilosophie (Braun), scheint auf einer Verwechslung von übersprachlichem Sinn mit den kulturell gewachsenen Muttersprachen zu beruhen, sehr zum Nachteil einer R e k o n s t r u k t i o n der Einzelsprachen von grundlegenden universalsprachlichen Sinn-Strukturen her (Heinrichs, Semiotik II). 4.4. Leider hat die im 20. Jh. aufgeblühte Semiotik selten Tiefe und Fundierung als philosophische Sinnprozeßlehre gewonnen. Der Slogan „Alles ist Z e i c h e n " k o m m t ohne die Fundierung des Zeichenbegriffs im Sinnbegriff nicht aus, auch nicht in Gestalt einer „Philosophie des Zeichens" (Simon). 4.5. In der Ethik sollte der Gedanke des Sinn-Schöpferischen heimisch werden, der über eine bloße Pflichtenethik weit hinausführt (Hengstenberg, Grundlegung). Die Frage „Was soll ich t u n " enthält dann die Frage „Was kann ich tun zur optimalen Sinnschöpfung (in meinem persönlichen Leben wie in der Welt)?". 4.6. Darüber hinaus m u ß für eine philosophische Lebenslehre die bloß ethische Sollensfrage überschritten werden zu der Frage: „Wie kann ich sinnerfüllt leben" (Fellsches), die wiederum nicht identisch ist mit der religiösen Frage Kants „Was darf ich hoffen?". Die Sinnfrage ist nicht bloß „Seufzer der bedrängten K r e a t u r " (K. —»Marx), sondern zugleich ein Leitmotiv guten Lebens vor dem Tod. Sie ist von der hedonistischer getönten Frage nach dem unmittelbar erlebten Glück durchaus zu unterscheiden, wenngleich
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Sinn/Sinnfrage I
S i n n u n d G l ü c k „ e s c h a t o l o g i s c h " k o n v e r g i e r e n . S i n n e r f a h r u n g ist g e r a d e a u c h b e i a u f g e s c h o b e n e m G l ü c k s e r l e b e n (aus ethischen o d e r schicksalhaften G r ü n d e n o d e r solchen des persönlichen L e b e n s p l a n e s ) v o n p r i m ä r e r B e d e u t u n g . S i n n e r f a h r u n g e n aller A r t enth a l t e n z w a r ein G l ü c k s v e r s p r e c h e n , s t e l l e n j e d o c h , b e s o n d e r s i m V o r g r i f f a u f s u b t i l e re W e r t e , n i c h t b e r e i t s d a s v o l l p r ä s e n t i s c h e W e r t e r l e b e n d a r , d a s „ G l ü c k " h e i ß t . S i e sind u n a b d i n g b a r e G r u n d l a g e für das, w a s religiös „ G l a u b e " und „ H o f f n u n g " g e n a n n t wird. Quellen
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1. Das
2. Dogmatische Perspektiven
(Literatur S. 297)
Erfragte
1.1. Die S i n n f r a g e h a t eine a l l u m f a s s e n d e T r a g w e i t e ; sie k a n n sich auf die Welt als g a n z e b e z i e h e n , auf die T o t a l i t ä t d e r N a t u r u n d d e r G e s c h i c h t e . D o c h h a t sie ihre P o i n t e meistens in d e r Besorgnis des M e n s c h e n u m sich selbst u n d ist s o vor allem eine F r a g e nach d e m Sinn des - » L e b e n s , u n d z w a r w e n i g e r des L e b e n s d e r G a t t u n g als des Indiv i d u u m s , d a s m a n selbst ist. D a b e i zielt die S i n n f r a g e n i c h t n u r auf E r k e n n t n i s . Sie will auch b e u r t e i l e n . Sie impliziert eine „ F o r d e r u n g " (Schaeffler 1335ff.), d e r d a s Leben w i e d e r u m vor allem d a s eigene - zu g e n ü g e n h ä t t e , u m a n n e h m b a r zu sein. „ S i n n " heißt in dieser B e z i e h u n g also so viel wie „ N u t z e n " o d e r „ W e r t " o d e r „ B e d e u t s a m k e i t " . Die so v e r s t a n d e n e S i n n f r a g e g e h t auf Teile des L e b e n s , a b e r a u c h u n d v o r allem a u f s G a n z e . D e n n erst a u s d e m G a n z e n k a n n , so w i r d gesagt, d e r Sinn d e r Teile erhellen. Die a u s g e p r ä g t e s t e F o r m d e r S i n n f r a g e ist s o m i t : W o z u ist m e i n L e b e n gut? Was m a c h t es a u f s G a n z e g e s e h e n aus, d a ß ich da bin b z w . je d a g e w e s e n sein w e r d e ? 1.2. Es ist d o g m a t i s c h w i c h t i g zu b e d e n k e n , d a ß m i t dieser H a u p t b e d e u t u n g a n d e r e B e d e u t u n g s n u a n c e n v o n „ S i n n " , z u m Teil u n t e r s c h w e l l i g , e i n h e r g e h e n . E r s t e n s ist eine gleichsam t r a n s z e n d e n t a l e B e d e u t u n g zu v e r z e i c h n e n . Diese f a ß t d e n Sinn als „ n i c h t n e g i e r b a r e U n i v e r s a l f o r m " : die R e d e von Sinnleere, Sinnverlust u n d dergleichen impliziert d e m n a c h i m m e r n o c h „ K o n s t i t u t i o n von S i n n " : „ A u c h U n s i n n k a n n n u r als Sinn erzeugt w e r d e n " ( L u h m a n n , F u n k t i o n 21). Z w e i t e n s k a n n die g l e i c h s a m s p r a c h l i c h e B e d e u t u n g von „ S i n n " h e r v o r g e h o b e n w e r d e n . D a s L e b e n , o d e r a u c h die Welt im G a n zen, w ä r e d e m n a c h zu verstehen als ein b e d e u t u n g s v o l l e s M u s t e r , ein G e f ü g e v o n Z e i c h e n ( - • S e m i o t i k ) , d a s sich von e i n e m Kundigen wie ein T e x t lesen ließe. D r i t t e n s setzt die S i n n f r a g e in ihren n i c h t - b a n a l e n F o r m e n v o r a u s , d a ß m a n f ü r d e n f r a g l i c h e n Sinn ein G e s p ü r , eben einen Sinn h a b e . U m sie s a c h g e m ä ß a n z u g e h e n , m u ß m a n tatsächlich ein Kundiger sein. In d e r v e r w i r r e n d e n Vielfalt d e r D i n g e , S a c h v e r h a l t e u n d V o r g ä n g e m u ß m a n den r o t e n F a d e n g e w a h r e n k ö n n e n ; m a n m u ß w e n i g s t e n s die E m p f ä n g l i c h k e i t h a b e n , das, w a s sich d a r b i e t e t , zu erleben. „ S i n n " ist so f a s t , wie in —• S c h l e i e r m a c h e r s b e r ü h m t e r F o r m e l , im H e n d i a d y s m i t „ G e s c h m a c k " zu begreifen: g e f r a g t ist die persönliche Z u t a t , die d a s Leben s c h m a c k h a f t m a c h t . H i e r liegt d e r Z u s a m m e n h a n g v o n „ S i n n " mit d e n S i n n e n . Viertens ist Sinn als M e r k m a l i n t e n t i o n a l e n Verhaltens g e m e i n t . Diese B e d e u t u n g b e r ü h r t sich m i t d e r s p r a c h l i c h e n , d e n n a u c h d a s H a n d e l n läßt sich wie ein b e d e u t u n g s v o l l e s M u s t e r , w i e ein T e x t b e t r a c h t e n (vgl. R i c œ u r , Le m o d è l e ) . D e r U n t e r s c h i e d ist a b e r , d a ß d e r Sinn hier nicht b l o ß fertig vorliegt, s o n d e r n i m m e r a u c h teilweise (oder vielleicht ganz) in V e r w i r k l i c h u n g begriffen ist. D a s H a n d e l n k a n n d a h e r erst r e c h t s i n n s t i f t e n d o d e r s i n n g e b e n d g e n a n n t w e r d e n ; m i t d e r e m p h a t i s c h e n R e d e von „ S i n n g e b u n g " w i r d o f t ausschließlich auf d e n H a n d l u n g s s i n n abgezielt. Die I n t e n t i o n a l i t ä t k a n n a u c h als h a b i t u e l l e v e r s t a n d e n w e r d e n ; d a n n fällt im H a n d l u n g s s i n n d e r Akzent auf d a s M o m e n t d e r G e s i n n u n g . F ü n f t e n s klingt in d e m hier g e m e i n t e n W o r t „ S i n n " a u c h die ältere, a b e r n o c h keineswegs a b g e s t o r b e n e B e d e u t u n g „ R i c h t u n g " (vgl. T h ü r n a u 810) d u r c h . Die S i n n f r a g e geht a u c h auf die B e s t i m m u n g des Lebens, w e n n nicht g a r auf d a s Ziel aller D i n g e . Diese B e d e u t u n g ist wichtig, weil sie d e n Wegc h a r a k t e r des E r f r a g t e n h e r v o r h e b t . D a r i n liegt, d a ß sich die F r a g e g e m ä ß d e n Stadien auf diesem Wege jeweils a n d e r s stellen k a n n ; d a r i n liegt a u c h , d a ß alle u n d jede Fragestellung v o r l ä u f i g ist. Z u diesem R i c h t u n g s s i n n g e h ö r t a u c h die B e d e u t u n g des Ausd r u c k s „ B e s i n n u n g " . Sechstens u n d schließlich ist die S i n n f r a g e als eine L é g i t i m a t i o n s -
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Sinn/Sinnfrage II
frage zu verstehen; „ S i n n " heißt d e m n a c h so viel wie raison d'être, Daseinsberechtigung. Das Leben - oder gar das Ganze von N a t u r und G e s c h i c h t e - w i r d mit seinen Alternativen k o n f r o n t i e r t , d . h . mit Nichtsein oder Anderssein. W a r u m ü b e r h a u p t Leben bzw. Welt? Und w a r u m dieses Leben bzw. diese Welt? Gefragt wird nach G r ü n d e n , die d a r t u n , d a ß das Gegebene mindestens ebenso berechtigt ist wie seine Alternativen. Diese Bed e u t u n g b e r ü h r t sich sehr eng mit der H a u p t b e d e u t u n g . Entscheidend für die Legitimität ist der relative Wert oder N u t z e n des Gegebenen und der Alternativen. Die D o g m a t i k soll sich nicht dazu verleiten lassen, die Sinnfrage auf diese H a u p t b e d e u t u n g zu reduzieren. Vielmehr soll sie den ganzen Bedeutungskomplex gelten lassen. M e n s c h und Welt, Teil und Ganzes, Werden und Sein, Binnenansicht und Außenperspektive, quaestio iuris und quaestio facti verdienen Beachtung in der dogmatischen Besinnung. Vermag diese auch nicht die einzelnen Bedeutungsnuancen zu vereinheitlichen, so k a n n sie ihnen doch gerecht werden, indem sie sie über die verschiedenen dogmatischen Topoi verteilt. Deshalb empfiehlt sich eine aufgeschlüsselte Erörterung. 1.3. Vorab noch eine Bemerkung zur Aktualität der Sinnfrage. O f t wird betont, d a ß sie als solche ziemlich jungen D a t u m s ist. Sie sei sogar typisch neuzeitlich. In früheren Zeiten, da die symbolischen O r d n u n g s s y s t e m e samt der dazu gehörigen „ p o w e r f u l , pervasive, and long-lasting m o o d s and m o t i v a t i o n s " (Geertz 90) noch in Kraft standen, h a b e sie gar nicht a u f k o m m e n k ö n n e n . D u r c h die moderne Differenzierung und Pluralisierung sei erst die Sinnkrise entstanden, die die Sinnfrage hervorgerufen habe. Diese Sicht k a n n leicht übertrieben w e r d e n . Taedium vitae, Angst, Absurditätsgefühl, VanitasG e d a n k e n sind keineswegs auf die M o d e r n e beschränkt. H i n z u k o m m t , d a ß bis ins 20. J h . neben verzweifelten Epochen auch hoffnungsvolle Zeiten zu verzeichnen sind. Vielleicht wechseln Zuversicht und M i ß m u t sich in der Geschichte n u r ab (vgl. Zinervaring in de m o d e r n e cultuur 17f.). Der P o s t m o d e r n i s m u s (—•Postmoderne) k ö n n t e ein H i n w e i s sein, d a ß sich der S t i m m u n g s u m s c h l a g inzwischen sogar schon vollzogen hat. Derlei E i n w ä n d e heben die Aktualität der Sinnfrage allerdings nicht auf. Sie widerlegen nicht einmal die H y p o t h e s e von der m o d e r n e n Sinnkrise. Letztere k a n n zwar in zwei Fassungen formuliert werden, die sich auf den ersten Blick widersprechen. Einerseits k a n n die Krise in Sinnverlust g e f u n d e n werden; so wird Sinn „eine k n a p p e und i m m e r k n a p p e r w e r d e n d e R e s s o u r c e " ( H a b e r m a s 104) genannt. Andererseits k a n n angesichts der Tatsache, d a ß das Bedeutungsfeld von „ S i n n " sich in den letzten J a h r h u n d e r t e n ins Unermeßliche erweitert hat (Sauter 14), der G e d a n k e a u f k o m m e n , der Sinnbegriff h ä t t e eine ältere, angemessenere Begrifflichkeit in den Schatten gestellt (vgl. Ebeling 207f.). Also Sinn-Atrophie d o r t , S i n n - H y p e r t r o p h i e hier als Diagnose. Der W i d e r s p r u c h d ü r f t e indes nur ein scheinbarer sein. So oder so stößt man auf den F r a g e n k o m p l e x , den wir als Sinnfrage bezeichnet haben. 2. Dogmatische
Perspektiven
2.1. Sinn und Glaube. Besonders der transzendentale Sinnbegriff legt den G e d a n k e n nahe, d a ß radikale Verzweiflung eigentlich unmöglich ist. Verzweiflung ist nach P. - » T i l lich ein Lebensakt, der als solcher einen Sinn voraussetzt. Es ist das P a r a d o x aller radikalen Negativität, d a ß sie, um verneinen zu k ö n n e n , sich selbst bejahen m u ß . D a r i n verrät sich der „ M u t der Verzweiflung", der ein „absoluter G l a u b e " genannt w e r d e n k a n n (Tillich, M u t 130): absolut, weil bar jedes bestimmten Inhalts. Es ist n u r die „ M a c h t des Seins" (ebd. 131) selbst, die diesen G l a u b e n beseelt. In psychologischer Hinsicht trifft sich dieser G e d a n k e mit der Idee eines „Willens zum Sinn", die der sog. Logotherapie V. Frankls z u g r u n d e liegt. N a c h Frankl ist das menschliche Sein so sehr „ e i n Sein auf den Sinn h i n " , d a ß sogar der Selbstmörder (->Suizid) nicht a u s g e n o m m e n ist. Dieser glaubt wenigstens an den Sinn seines Sterbens. Wer wirklich an keinerlei Sinn glaubte, „ k ö n n t e eigentlich keinen Finger r ü h r e n und schon d a r u m nicht zum Selbstmord schreiten" (Frankl, Wille 118). So f r u c h t b a r die psychologische B e g r ü n d u n g und t h e r a -
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peutische Anwendung dieses Sinnglaubens sein mögen, die Dogmatik wird sich mit dem entsprechenden Glaubensbegriff kaum befreunden können. Der „Wille zum Sinn" hat, gerade weil er vom „Trieb zum Sinn" unterschieden wird (vgl. Frankl, Grenzfragen 402 Anm.), einen Entscheidungscharakter und setzt sich dadurch dem Einwand einer petitio principii aus. Auch Tillichs Begriff Lebensakt ist dadurch betroffen, und so wäre der absolute Glaube hinfällig, wenn er nicht bei aller Unbestimmtheit durch einige chiffrierte Glaubensinhalte, wie etwa eine Gottesidee und die Idee der Rechtfertigung des Sünders (Tillich, G W VIII, 91; vgl. Stoker 77f.), inhaltliche Kontur bekäme. 2.2. Sinn und Gott. Oft werden diese beiden Begriffe in einen sehr engen Zusammenhang gebracht. Es wird beispielsweise dargelegt, „daß der Bedeutungsgehalt jeder endlichen Erfahrung an einen Kontext von Erfahrungs- und Sachzusammenhängen gebunden ist" und „letztlich von einem umfassenden Sinnhorizont abhängt", der als „Einheitsgrund" einen „unbedingten Sinn" erfordert. Auf diesen richtet sich die Religion; er kann somit als Bezeichnung Gottes gelten. W. Pannenberg, der im Anschluß an Tillich diese Auffassung vertritt, hebt hervor, daß der „unbedingte Sinngrund" implizit, unthematisch in der Einzelerfahrung mitgegeben ist und „erst durch nachfolgende Interpretation ausdrücklich gemacht werden" kann. Auf diese Weise versucht er den Einwand F. Wagners zu umgehen, daß nur der Einzelsinn gegeben ist, nicht aber das Sinnganze (Pannenberg, Systematische Theologie I, 181 Anm.; vgl. Tillich, G W I, 318f.; Wagner 474). Dieser totalisierende oder „kontextualistische" Sinnbegriff hat große Vorteile. Er ermöglicht eine klare Verknüpfung zwischen Sinn und Sein, auch zwischen Sinn und Wahrheit. Der Gottesbegriff erhält so eine metaphysische Verankerung, die für die dogmatische Theologie unaufgebbar sein dürfte. Gleichwohl kommt in jenem Einwand ein Bedenken zum Ausdruck, das sich schwerlich zum Schweigen bringen läßt. In seiner ausgeprägtesten Form besagt es, daß Sinn nicht als Totalitäts- und Letztbegründungsbegriff zu fassen ist, sondern als bruchstückhaft und kontingent. Explizierende Interpretationen könnten daran nichts ändern; auch sie vermögen die radikale Endlichkeit nicht zu übersteigen. Läßt man sich auf dieses Bedenken ein, muß das Verhältnis zwischen Sinn und Gott anders bestimmt werden. Eine Möglichkeit ist, das Band einfach zu zerschneiden und den Sinnbegriff gegen den Gottesbegriff auszuspielen. Moderne säkularistische Denker folgen nicht selten diesem Kurs (beispielhaft Edwards), und ihnen ist wenigstens zuzugestehen, daß eine religionsfreie Sinngebung ganz gut möglich ist. Eine andere Möglichkeit ist aber, den Gottesbegriff umzudenken. Dazu wäre auch aus anderen Gründen Anlaß. Der totalisierende Sinnbegriff scheint für die Erfahrung radikaler Sinnlosigkeit wenig Raum zu lassen. Auch scheint er wesentliche Züge der biblischen Gottesvorstellung auszublenden. So wäre vielleicht auf das Fragmentarische und Nicht-Systematisierbare in der Bedeutung des Wortes „ G o t t " zu achten. Philosophischerseits gibt es zwar Versuche, die sich sehr weit in dieser Richtung vorwagen. So bezeichnet E. Lévinas Gott als Unendliches, das „vorübergeht" („se passer"; vgl. Ex 33,22); als eine Idee, die gelegentlich „ins Denken einfällt", oder als „Änigma", das die Sinnordnung stört. Derlei Gedanken haben allerdings mit einer positiven Theologie nichts zu tun (Lévinas, Autrement 188.192f. [vgl. dt.: Jenseits 323f.330—332]; ders., Dieu 252 [dt.: Gott 222]; ders., En découvrant 203ff. [dt.: Spur 236 - 240]) und werden daher in die Dogmatik vorerst wohl nicht leicht Eingang finden. 2.3. Sinn und Schöpfung. Auch hier kann das Verhältnis verschieden bestimmt werden. Einmal kann, auch und gerade im Angesicht der Drohung radikaler Sinnlosigkeit, die Schöpfung als Sinngebung, nämlich von Gottes wegen, ausgelegt werden. In sich selbs: sei die Welt schlechthin kontingent; sie habe aber ihren Sinn in der Ehre Gottes (Gollwitzer, Krummes Holz 224ff. mit Zitat von Quenstedts Aussage finis creationis ultirr.us est gloria Dei, wobei Gollwitzer finis mit „Sinn" übersetzt, ebd. 225). Andererseits kann die Welt als Schöpfung dem Sinnbegriff geradezu entgegengesetzt werden.
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Die biblische Schöpfungsgeschichte bringe Urteil und Gebot Gottes zum Ausdruck, die „durch die Frage nach ihrem Sinn nicht ergründet werden [können]" (Sauter 62). Deshalb müsse die Schöpfung auch nicht als ein immerwährender Prozeß vorgestellt werden, „wo Gott die Welt als ein Ensemble von Möglichkeiten dem Menschen zur Disposition stellt, damit sie zusammen das begonnene Werk vollenden" (ebd. 64). Die Schöpfungsordnung ist eben keine Sinnordnung; vielmehr sei umgekehrt der Sinn erst „zum Thema geworden, seitdem die gnadenhafte Konstitution der Welt als Schöpfung dem öffentlichen Bewußtsein verlorengegangen ist" (ebd. 69). Offenkundig wird der Sinnbegriff auf beiden Seiten verschieden gebraucht. Gemeinsam ist aber die Auffassung, daß die Schöpfung dem Handlungssinn vorausliegt und ihn erst freisetzt. So, als nachgeordneter, ist dieser allerdings unaufgebbar: Schöpfung meint immer auch ein Verhältnis, in dem der Mensch zur Verantwortung aufgefordert ist: eben durch seine Sinngebung. Eine andere Bedeutungsnuance von „Sinn" tritt zutage, wo die Schöpfung als Werk und somit als Sinnbild der Herrlichkeit Gottes aufgefaßt wird. Dann ist nicht so sehr an das Prinzip Verantwortung appelliert, sondern an das „Prinzip Besinnung": an die Sinnlichkeit und Sinnhaftigkeit, die zusammen die Wahrnehmung der Welt als von Gott gegebener Lebenswelt erwirken (vgl. Timm, Wahr-zeichen 158). 2.4. Sinn und Offenbarung. —»Offenbarung kann gänzlich im Sinne dieses Prinzips Besinnung verstanden werden: als die Geistesgegenwart, in der sich die Welt als Sinnbild erschließt. Doch ist der Begriff im dogmatischen Sprachgebrauch spezifischer gemeint: als Ankunft Gottes in Jesus Christus. So weist er hier auf die Inkarnation des Logos hin und, noch mehr zugespitzt, auf das Geschehen von Tod und Auferweckung. Darin wird „Menschen de[r] ihnen bestimmtet ] Sinn" (Sauter 152) mitgeteilt. Diese sinnbestimmende Funktion der Offenbarung beinhaltet, daß vage oder schlecht-abstrakte Vorstellungen berichtigt werden. Darunter sind nach G. Sauter u. a. auch gewisse dominante Formen der Sinnfrage selbst: deren Unsinnigkeit wird gerade in der Offenbarung, angesichts der Geschichte Jesu Christi, offenbar. 2.5. Sinn und Erlösung. Der Sinn, ob im ganzen oder im einzelnen, wird auf die härteste Probe gestellt, wenn dem Übel und dem -»Bösen Rechnung zu tragen ist. Hierher gehören Mißgeschick, Not, Unheil und dergleichen auf der einen Seite und Verdorbenheit, Gleichgültigkeit, —»Sünde, —»Schuld usw. auf der anderen. Beide Arten können begrifflich unterschieden, aber keineswegs getrennt werden: aus dem Übel kommt Böses hervor und aus dem Bösen Übel. Dieser Zusammenhang erschwert die Probe. Angesichts ihrer gestaltet die Sinnfrage sich oft als Theodizeeproblem (—»Theodizee), d.h. es wird erwogen, ob nicht für das Übel und vielleicht auch für das Böse letztlich Gott verantwortlich zu machen sei. Dieser Gedanke ist dogmatisch entschieden abzulehnen, aber nicht leicht zu widerlegen. Wichtig dürfte auch hier die Berichtigung oder Transformation der Fragestellung sein. Als quaestio iuris an Gott ist die Sinnfrage unbeantwortbar, wenigstens auf dem Boden des Glaubens. Sie kann hier nur die Form einer quaestio facti haben, d.h. nur nach Erlösung von dem faktisch geschehenden (und geschehenen) Übel und Bösen fragen. Einesteils wird mit der so gewendeten Frage der Blick auf die Zukunft gerichtet. Von der Zukunft wird die Beseitigung gegenwärtiger und vergangener Sinnwidrigkeit erhofft. Die Utopie der Zukunft macht die Gegenwart und Vergangenheit annehmbar. Hier häuft sich das ganze Potential eschatologischer Erwartung, das auch den in der Offenbarung bestimmten Sinn noch einmal verstärkt. Andernteils fällt nunmehr das Handeln ins Gewicht, also die menschliche Sinngebung. Der Mensch kann schon jetzt seine Kräfte dazu verwenden, das Sinnwidrige in Sinnvolles umzusetzen. Der Ausdruck „Handeln" ist hierbei im weitesten Sinne zu verstehen, so, daß auch das Erleiden eingeschlossen ist, und so, daß nicht nur das sinnenfällige Tun gemeint ist, sondern auch die innere Arbeit der geistigen Transformation, die aus dem Widersinn manchmal einen persönlichen Sinn gewinnt (vgl. Ricceur, Le mal 2 2 9 - 2 3 3 ) . In dieser
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T r a n s f o r m a t i o n sind a u c h die d o g m a t i s c h e n I n h a l t e b e t r o f f e n , u n d s o e r h ä l t d a s M o m e n t d e s G l a u b e n s als W i l l e z u m S i n n e i n e n e u e B e d e u t u n g .
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S i n n / S i n n f r a g e III
Art. Sinn/Bedeutung: H W P 9 (1995) 8 0 8 - 8 1 5 . - Paul Tiedemann, Über den Sinn des Lebens, Darmstadt 1993. - Paul Tillich, T h e Courage to be, London/Glasgow 1952 "1965; dt.: Der M u t zum Sein, Stuttgart 1953 = (Überarb.) G W (s. u.) X I , 1 3 - 1 3 9 . - Ders., GW, Stuttgart 1959ff. - Hermann T i m m , Diesseits des Himmels, Gütersloh 1988. - Ders., Das ästhetische Jahrzehnt, Gütersloh 1990. — Ders., Wahr-zeichen. Angebote zur Erneuerung rel. Symbolkultur, Stuttgart/Berlin/Köln 1993. - Vragen naar zin, hg. v. Goossen A. van der Wal/Frans J a c o b s , Baarn 1992. - Falk Wagner, Was ist Religion?, Gütersloh 1986, 4 5 5 - 4 7 7 . - Matthias Wanitschke/Guido Erbrich, ,Auf die innere Stimme hören'. Die Frage nach G o t t u. dem Sinn des Lebens im Werk v. Vaclav Havel, Leipzig 1994. - Wilhelm Weischedel, Der Gott der Philosophen, Darmstadt, II 1972, 1 5 3 - 1 8 3 . - Franz Joseph Wetz, Lebenswelt u. Weltall, Stuttgart 1994. - Richard Wollheim, T h e Thread o f Life, Cambridge 1984. - Zin tussen vraag en aanbod, hg. v. Ben Vedder, Tilburg 1992. - Zinervaring in de moderne cultuur, hg. v. Frans Haarsma, Baarn 1982. Hendrik Johan Adriaanse
III. P r a k t i s c h - t h e o l o g i s c h 1. Allgemein-theologisch 1.
2. Praktisch-theologisch
(Literatur S. 301)
Allgemein-theologisch
Sinn ist kein e i n d e u t i g e r , s o n d e r n „ e i n m e r k w ü r d i g s c h i l l e r n d e r Begriff"
(Schwartz
2 5 0 ) . E r w i r d l e b e n s w e l t l i c h in vielfältiger W e i s e b e n u t z t . W i s s e n s c h a f t l i c h g e b o t e n ist einerseits d a s O f f e n h a l t e n d e r S i n n f r a g e , a n d e r e r s e i t s d a s D e u t l i c h m a c h e n des Begriffsv e r s t ä n d n i s s e s u n d des B e z u g s r a h m e n s ( s . o . I.). E t y m o l o g i s c h ist d e r Begriff v o m a l t h o c h d e u t s c h e n sinnan
abzuleiten, das „reisen,
s t r e b e n , g e h e n " b e d e u t e t . Sinn t h e o l o g i s c h als w e g o r i e n t i e r t e Zielkategorie
oder Inten-
t i o n a l i t ä t zu v e r w e n d e n h a t p r a k t i s c h e B e d e u t u n g . D e m e n t s p r i c h t die t h e o l o g i s c h e R e d e v o m S i n n v e r s p r e c h e n , d e r S i n n z u s a g e als E n t s p r e c h u n g z u m biblischen V e r s t ä n d n i s v o n „ V e r h e i ß u n g " . „ D e r u n b i b l i s c h e Begriff des , S i n n e s ' ist ja n u r eine Ü b e r s e t z u n g d e s s e n , w a s die Bibel , V e r h e i ß u n g ' n e n n t " ( B o n h o e f f e r 5 7 3 ) . D e m Sinnbegriff h a f t e t e t w a s F r a g m e n t a r i s c h e s a n , d e m m a n sich t h e o l o g i s c h m i t d e n B o n h o e f f e r s c h e n G e d a n k e n ü b e r die letzten
u n d vorletzten
Dinge
(vgl. D B W 6 , 1 3 7 -
1 5 2 ) n ä h e r n k a n n . I m V o r l e t z t e n k a n n Sinn f r a g m e n t a r i s c h e r f a h r e n w e r d e n . D i e Volle n d u n g steht a u s , o h n e d a ß die i m m e r a u c h e r l e b t e F r a g l i c h k e i t des D a s e i n s d e n M u t z u m Sein (P. —»Tillich) l ä h m e n d ü r f t e . Sinn w i r d g e f u n d e n im E r g r e i f e n eines V o r g e gebenen, das auch früher nicht selbstverständlich und fraglos w a r . Sinn ist bereits ein biblisches T h e m a : in d e n - » P s a l m e n , bei - » H i o b , selbst i m V e r lassenheitswort Jesu a m Kreuz (Mk 15,34). Auch
—»Kohelet setzt sich in einer
Zeit
g e s e l l s c h a f t l i c h e r U m b r ü c h e m i t d e m Sinn d e s L e b e n s a u s e i n a n d e r . Z u R e c h t w e i s t G . S a u t e r d a r a u f hin, d a ß K o h e l e t j e d o c h m i t seinen F r a g e n in den G r e n z e n des s c h ö p f u n g s t h e o l o g i s c h e n u n d h e i l s g e s c h i c h t l i c h e n D e n k e n s bleibt (vgl. S a u t e r 2 7 - 3 8 ) . D a ß d a s Fragen
die d e m M e n s c h e n als G e s c h ö p f z u k o m m e n d e H a l t u n g v o r G o t t
ist ( B a s t i a n ) , heißt für d e n G l a u b e n d e n , d a ß er S i n n g e w i ß h e i t in d e r A n n a h m e d u r c h G o t t u n d im L e b e n in d e r G o t t e s g e m e i n s c h a f t h a t , a b e r m i t u n g e l ö s t e n F r a g e n leben m u ß . H . G o l l w i t z e r w e i s t d a r a u f hin, d a ß die biblische V e r h e i ß u n g s o g a r d a s F r a g e n initiiert. Das Ergreifen und Empfangen der Sinnzusage im Glauben ist „nicht Abschluß unseres Fragens, abschließende Auskunft über den Sinn alles Geschehens, Leidens und Tuns, sondern eher Initiation des Fragens, aber freilich nun eines hoffnungsvollen, nicht mehr ins Leere gehenden Fragens. D i e Fragen sind ja provoziert durch eine Verheißung, auf die sie nun zielen, und adressiert an einen Verheißenden, den sie beim Worte nehmen. Der neue Sinn ist also mehr Verheißung künftiger Antwort ... Glauben ist in Zuversicht getröstetes F r a g e n " (Gollwitzer 292f.). „Sünde heißt dann a) sich von dem Seienden den Sinn versprechen, das ihn nur scheinbar, nur begrenzt und also nicht wirklich geben kann und zwar deshalb nicht, weil es selbst als das Seiende vergötzt wird, b) ihn durch mich selbst erringen, leisten, sicherstellen wollen, also statt Sinnempfangender Sinngebender werden wollen ..., sich selbst vergötzen und damit an der eigenen Nichtigkeit dann schei-
Sinn/Sinnfrage III
299
t e r n , c) n a c h d e m S c h e i t e r n d i e s e r s ü n d i g e n S i n n g e b u n g s v e r s u c h e (der e r s t e ist d e r h e i d n i s c h e , d e r z w e i t e d e r m o r a l i s t i s c h - n o m i s t i s c h e ) a n a l l e m S i n n v e r z w e i f e l n u n d sich d e m N i c h t s ü b e r l i e f e r n (nihilistisch)" (ebd. 268f.).
Die durch die e m p f a n g e n e G n a d e gestiftete Sinnbeziehung beschreibt Gollwitzer als gegründet in der E r w ä h l u n g Israels, in Kreuz und Auferstehung Jesu Christi und in der Sendung der G e m e i n d e Jesu in die Welt. D e m stehen auch von Theologen vertretene Auffassungen entgegen, der Sinn des —•Lebens sei das Leben selbst, das Leben trage seinen Sinn in sich selbst. Die Frage m u ß a u f g e w o r f e n werden, was Leben ist. Ist der ganzheitliche Lebensbegriff der Bibel gemeint? Auch gilt es, gerade in unserer Zeit und mit Blick auf die u n a b s e h b a r e n Folgen neuerer biologischer Entwicklungen und Möglichkeiten, d a r a n zu erinnern, d a ß Leben u n v e r f ü g b a r und immer ein Geschenk ist. D. Solle betont zu Recht: „ D a s Leben ist nichts, was einfach da ist, sondern es wird g e s c h e n k t " (Solle 275). Sie fragt gegen Versuche der Setzung von Sinn nach den Voraussetzungen, auf die Sinnfrage zu a n t w o r t e n „ m i t der A n n a h m e einer guten Schöpfung, die in sich selbst sinnvoll ist, oder in der Sprache der Theologie gesagt, die G o t t l o b t " (ebd. 276). In A n l e h n u n g an Mystiker wie Meister - > E c k h a r t („Wo die Kreatur endet, da beginnt G o t t zu sein. N u n begehrt G o t t nichts mehr von dir, als d a ß du aus dir selbst ausgehest deiner kreatürlichen Seinsweise nach und G o t t G o t t in dir sein l ä ß t " ; zit. bei Solle 277) sucht Solle in der mystischen E r f a h r u n g Sinn. E r f a h r u n g e n in der Ö k o l o g i e b e w e g u n g und in der Friedensbewegung haben für sie durch „ i n n e r e Stärke des Im-Frieden-Seins" (ebd.) mystische Q u a l i t ä t . Hier m u ß sich jedoch zeigen, o b es G o t t in uns ist, der uns d u r c h das mit Gewaltlosigkeit und Machtlosigkeit immer auch v e r b u n d e n e Scheitern trägt, oder nur die Gemeinschaft Gleichgesinnter, die stets auch eine brüchige ist. Dies ist eine G r a t w a n d e r u n g , die A n t w o r t und G o t t e s l o b sein k a n n , aber auch abrutschen k a n n in die nur eigene Setzung von Sinn. 2.
Praktisch-theologisch
Tritt G o t t bei einem Ansatz wie dem von Solle noch in den Gegensatz zu unserer Welterfahrung (s. —»Dialektische Theologie), w e n n auch n u n nicht mehr unserer Selbsterfahrung, so fehlt in weiten Bereichen der Praktischen Theologie eine pneumatologische und eschatologische Perspektive. Das zeigt sich besonders deutlich in der Religionspädagogik. Der Sinnbegriff wird verbreitet für die Konstruktion der je eigenen Lebensgeschichte funktionalisiert, in der es um „Herstellung von S i n n " (Erhard Meueler, Erwachsene lernen, Stuttgart 1982, 47) geht. D a n n ist der M e n s c h „ n o t w e n d i g selbst Sinngeber seines Lebens" (Jürgen Lott, H a n d b u c h Religion. II. Erwachsenenbildung, 1984 [KTB 1033] 96). Demgegenüber spricht K.E. N i p k o w von Sinnerschließung durch „christliche Pädagogik und Seelsorge, die d e m M e n s c h e n das Evangelium als Befreiung von dem Leben, das sich selbst bedingen will", schuldet ( N i p k o w , G e m e i n s a m 125). Der gesamtbiblische Bogen, der sich vom „Ich bin, der ich bin - ich werde f ü r euch d a s e i n " zum „Siehe, ich bin bei euch alle Tage bis an der Welt E n d e " spannt, ist mit seiner D y n a m i k in der religionspädagogischen Praxis auszulegen. N i p k o w betont in seinem Konzept der „Sinnerschließung in Lebenslauf und Lebensalltag" den „trinitarisch sich verändernde[n] G o t t " (ebd. 137). Z u unterstreichen ist sein Plädoyer f ü r eine trinitarisch eingebundene christliche Pädagogik, die angesichts der gegenwärtigen Bedrohungen m i t d e n k t und mithandelt im N a m e n Gottes, eines Gottes, der in schöpfungstheologischem, christologischem und p n e u m a t o l o g i s c h e m H o r i z o n t vor Augen g e f ü h r t wird, „ d e r durch den Heiligen Geist seine S c h ö p f u n g in die Offenheit seiner Liebe z u r ü c k f ü h r e n will" (ebd. 159). Die Hilfe zur Sinnerschließung ist A u f g a b e kirchlicher pädagogischer T h e o r i e und Praxis für alle Lebensphasen und -Situationen nach Art eines G e s a m t k a t e c h u m e n a t s .
300
Sinn/Sinnfrage III
Besondere religionspädagogische Reflexion hat den Kindern und Jugendlichen zu gelten sowie dem Bereich der —»Schule, in der „für das Leben" gelernt werden soll. Bereits in der allgemeinen Pädagogik gilt Schule als unzulänglich, wenn sie nur auf die gesellschaftliche Realität der Produktion, Distribution, des Konsums, der Reproduktion, der Evaluation, Selektion und der Plazierung vorbereitet. Bildung ist mehr als bloße „Informationsabrufkompetenz" (Maurer 151) und darf nicht von einem verengten, positivistischen Wissensbegriff ausgehen. Schule muß Orientierung und Urteilskraft vermitteln, gerade auch angesichts des technologischen Wandels und der Verwissenschaftlichung des Alltags sowie der Krise des Nützlichkeitsdenkens und der Machbarkeitsideologien. Allgemeinpädagogische Tendenzen, die Bedeutung der Lehrerpersönlichkeit hervorzuheben, ihre Wirkung auch „durch Beispiel und Liebe" (ebd. 157) als Begleiter hinein in die Pilgerschaft des Lebens mit seinen Wegscheiden (ebd. 151) sind bedeutsam auch für die Religionspädagogik. Wenn Mut gemacht wird zur „Freude am Forschen und Entdecken, am weitergebenden Erzählen, Mitspielen und Ernstnehmen von Einwänden" (ebd. 157), entspricht das den neuen und wiederentdeckten Wegen im Religionsunterricht und dem erforderlichen Ernstnehmen der sich bei der Sinnfrage lebensweltlich zu Wort meldenden Theodizeefrage (—»Theodizee). Dieser Aufgabe hat H. Hollenstein eine vorzügliche, auf schülerorientierten Bibelunterricht ausgerichtete Studie gewidmet. Auch der profilierteste Vertreter einer sinnorientierten Pädagogik, der Schüler Viktor Emil Frankls (1905-1998) W.K. Kurz, geht diese neuen Wege für den Religionsunterricht: gestaltpädagogische, bibliodramatische und interaktionale Bibelarbeit, meditative Verfahren. Die schöpfungstheologischen, hamartiologischen, soteriologischen und eschatologischen Aspekte der biblischen Überlieferung sind als „sinnorientierte Traditionen und so an gelingendem Leben interessierte Uberlieferungen auszulegen ... Ziel der Begegnung mit ihnen ist die Begeisterung des Menschen für ein sinnvolles Verständnis seines Seins in der Welt vor G o t t " (Kurz, Suche 180). Im Begriff der Begeisterung klingt auch die oben gewürdigte pneumatologische Perspektive an, die der Dynamik der auf das Leben sich richtenden Sinnfrage gerecht wird. Kurz entwickelt sein Konzept von der Logotherapie her, die Frankl - in kritischer Ergänzung zu S. —»Freud und Alfred Adler (1870-1937) - bewährt an den Erfahrungen im Konzentrationslager entwickelte. Die von Frankl konzipierte, in dem Willen zum Sinn begründete existenzanalytische „ärztliche Seelsorge" hat breite Resonanz auch in der Theologie gefunden (—»Seelsorgelehre). Das erweisen neben den Beiträgen von Kurz, dem Leiter des Instituts für Logotherapie und Existenzanalyse (Tübingen/Wien), u.a. die Arbeiten von U. Böschemeyer und K.-H. Röhlin. Sinn ist dabei nach Frankl die Korrespondenz von Sinngegebenheit und Sinnfindung, nicht als globaler Sinn, sondern als Logos des Daseins in konkreter -•Situation. Praktisch-theologisch zielen die Erfahrungen von Religionspädagogik und Seelsorge auf die Grundlagen biblischer -»Hermeneutik, die sich in Sinnträgern wie Ritual (-»Ritus) und -»Symbol aktualisiert. Deshalb ist Symboldidaktik im Umgang mit der Arbeit der Sinn-Bilder in kreativer Wahrnehmung als wesentlicher Zugang zu Vergewisserungen in der Sinnfrage offenzuhalten. Sauters Warnung vor der Sinnfrage als „Götzenfrage" (Sauter 7.159—170) ist ernst zu nehmen, insofern sie gegen die totalen Antworten universaler Fragestellung gerichtet ist, aber die Sinnfrage ist theologisch doch auch ein lebendiges Indiz der Wahrnehmung der Richtung, in der der Glaube unterwegs ist. Bewähren wird sich dies an der Klärung dessen, was in der Bemühung um den Schrift-Sinn als biblische Erkenntnis (—»Schriftauslegung) verstehbar wird: die Rechtfertigung des Gottlosen als Sinn und Geist des Evangeliums. In diesem Sinn will verantwortliche Praxis in Schule und Kirche ermutigen und befähigen zu sinnerfülltem Leben, das - aus dem Glauben auf die verheißene Vollendung - die Fragmenthaftigkeit von Mensch und Welt aushält.
301
Sinti u n d R o m a Literatur
Hans-Dieter Bastian, T h e o l . der Frage, München 1969. - Peter L. Berger, A Far Glory. T h e Quest for Faith in an Age of Credulity, New York 1992; dt.: Sehnsucht nach Sinn, Frankfurt a. M . / N e w York 1994. - Uwe Böschemeyer, Die Sinnfrage in Psychotherapie u. T h e o l . Die Existenzanalyse u. Logotherapie Viktor E. Frankls aus theol. Sicht, 1977 ( T B T 32). - Fritz Bohnsack (Hg.), Sinnlosigkeit u. Sinnperspektive. Die Bedeutung gewandelter Lebens- u. Sinnstrukturen für die Schulkrise, Frankfurt a . M . 1984. - Dietrich Bonhoeffer, Widerstand u. Ergebung, 1998 ( D B W 8). - E m s t Feil, Z u m Sinn der Sinnfrage: S t Z 102 (1977) 3 - 1 6 . - Viktor Emil Frankl, Der Mensch vor der Frage nach dem Sinn, München 1977. - Helmut Gollwitzer, Krummes Holz - aufrechter Gang. Zur Frage nach dem Sinn des Lebens, München 1970 7 1976. - Helmut Hollenstein, Der schülerorientierte Bibelunterricht am Beispiel der Theodizeefrage, 1984 ( R P ä H 16). - Jutta KraußSiemann, Die Sinnfrage in der rel. Erwachsenenbildung: R P ä B 40 (1997) 1 2 3 - 1 3 5 . - Wolfram K. Kurz, Seelsorge als Sinn-Sorge. Z u r Analogie v. kirchl. Seelsorge u. Logotherapie: W z M 37 (1985) 225-237. - Ders., Ethische Erziehung als religionspädagogische Aufgabe, Göttingen 1987. - Ders., Suche nach Sinn, Würzburg 1991. - Ders./Franz Sedlach (Hg.), Kompendium der Logotherapie u. Existenzanalyse, Tübingen 1995. - Niklas Luhmann, Sinn als Grundbegriff der Soziologie: Jürgen Habermas/ders., T h e o r i e der Gesellschaft oder Sozialtechnologie - Was leistet die Systemforschung?, Frankfurt a . M . 1 9 7 1 , 2 5 - 1 0 0 . - F r i e d e m a n n Maurer, Lebenssinn u. Lernen, Langenau/Ulm 1990. - Reinhold M o k r o s c h , Art. Sinnfrage: T L R T h " 5 (1983) 5 8 - 6 1 . - Karl Ernst Nipkow, Die Kirche vor der Sinnfrage in Gesellschaft u. Erziehung: Hans Kratzert u.a. (Hg.), Leben u. Erziehen durch Glauben, Gütersloh 1978, 3 8 - 5 4 . - Ders., Gemeinsam leben u. glauben lernen. Grundfragen der Religionspädagogik III, Gütersloh 1983. - Alois Roder, Die Sinnfrage als pädagogisches Problem. Versuch einer kulturpädagogischen Besinnung, Diss. phil. Tübingen 1955. - Karl-Heinz R ö h lin, Sinnorientierte Seelsorge. Die Existenzanalyse u. Logotherapie V.E. Frankls im Vergleich mit den neueren ev. Seelsorgekonzeptionen u. als Impuls f. die kirchl. Seelsorge, 1986 = M988 (TuSt.R 3). - Gerhard Sauter, Was heißt: nach Sinn fragen? Eine theol.-phil. Orientierung, München 1982. - Henning Schröer, Didaktische Notizen zum T h e m a Leiden mit besonderer Aufmerksamkeit auf die Bedeutsamkeit bibl. Exegese: EvErz 36 (1984) 5 7 2 - 5 9 0 . - Alfred Schütz, Der sinnhafte Aufbau der sozialen Welt, Wien 1932 Frankfurt a . M . 1974 (stw 92). - Werner Schwartz, Art. Sinn: E K L 3 4 (1996) 2 5 0 - 2 5 4 . - Dorothee Solle, Die Ros ist ohn Warum. Eine mystische Annäherung an die Frage nach dem Sinn des Lebens: dies., Das Eis der Seele spalten, M a i n z 1996, 2 7 3 - 2 7 8 . - Heinz Sonnemann, Art. Sinn: W d C (1988) 1149f. - Paul Tillich, Sein u. Sinn, Stuttgart 1969. - Worin besteht der Sinn des Lebens?, hg. v. Horst Georg Pöhlmann, Gütersloh 1985. Jutta Siemann
Sintflut - + U r g e s c h i c h t e Sinti u n d R o m a 1. Bezeichnung und Herkunft 2. Kultur und Religion kriminierung und Menschenrechte (Literatur S. 306) 1. Bezeichnung
und
3. Verfolgung und Genozid
4. Dis-
Herkunft
Bis in die siebziger J a h r e des 2 0 . J h . w u r d e d a s W o r t „ Z i g e u n e r " , o b w o h l F r e m d b e z e i c h n u n g , z u g l e i c h p e j o r a t i v u n d n e u t r a l b e n u t z t . D i e N a m e n d e r beiden H a u p t v ö l k e r Sinti u n d R o m a s t e h e n , ihr S e l b s t v e r s t ä n d n i s e r n s t n e h m e n d , für eine Fülle v o n S t ä m m e n u n d G r o ß f a m i l i e n . D e r e n z a h l r e i c h e B e z e i c h n u n g e n w e i s e n , je n a c h R e g i o n , a u f H e r k u n f t ( z . B . U n g r i ) o d e r B e r u f e ( z . B . L u r i , p e r s i s c h „ K u p f e r s c h m i e d e " ) hin. D i e B e z e i c h n u n g „ Z i g e u n e r " s t a m m t a u s d e r b y z a n t i n i s c h e n T r a d i t i o n , w o eine G r u p p e U n b e r ü h r b a r e r als ¿(lyyävoi
v e r k e t z e r t w u r d e . A n d e r e E t y m o l o g i e n v e r w e i s e n a u f asinkar
„ S c h m i e d " ) o d e r cinganeh
(persisch „ M u s i k e r , T ä n z e r " ) . D a s W o r t gypsy
spielt a u f eine ä g y p t i s c h e H e r k u n f t an ( s . u . ) . D a s W o r t Rom
bedeutet
(persisch oder
gitan
„Menschen"
b z w . „ M a n n " . D e r N a m e Sinti ist m i t d e r P r o v i n z Sindh b z w . d e m F l u ß Sindu ( =
Indus)
v e r b u n d e n . A u f einigen V o r a r b e i t e n f u ß e n d wies P o t t 1 8 4 4 / 4 5 die i n d i s c h e A b s t a m m u n g d u r c h seine S a n s k r i t - F o r s c h u n g n a c h ; d e m a r a b i s c h e n C h r o n i s t e n E b u e l - F a d i l 1 3 1 1 ) w a r diese V e r b i n d u n g b e k a n n t .
(gest.
302
Sinti und Roma
Die Einzeichnung geschichtlicher Ereignisse und Völker in den Referenzrahmen biblischer Geschichte führte wahrscheinlich dazu, daß beim ersten Auftauchen der Sinti und R o m a in Südostund Mitteleuropa Ägypten als Herkunftsland angegeben wurde. Die damit verbundene Aitiologie war positiv wie die Aufnahme der als Pilger Begrüßten. Sie mußten, wie Jesu Familie vor Herodes, fliehen; sie lebten in Verbannung. Die früheste europäische Quelle hierfür ist Andreas von Regensburg (ab 1401 M ö n c h ) ; sie nennt kein Strafmotiv (wie spätere Quellen unter Bezug auf Ez 29,12) für die Verbannung ( e x u l a r e ) , analogisiert aber ihr bedrohtes Exildasein mit den biblischen Exilberichten. Bald schon erklärten z . B . die Basler Chronik von Christian Wurstisen (1577) wie auch die Baierische Chronik (1533) die Heimatlosigkeit mit einer Versündigung an der Heiligen Familie, der die „ Z i g e u n e r " — wie Ahasver gegenüber dem leidenden Jesus — ihre Hilfe versagt hätten.
Der ewig-wandernde Jude und die ewig-wandernden „Zigeuner" gerieten als anschauungskräftige Unheilsgeschichte in die christliche Heilsgeschichte. Ein angeblich nicht widerrufbarer Fluch begründete die Sündenbockfunktion der „Zigeuner" in der Mehrheitsgesellschaft. Die Abstammung von Kain oder das Schmieden der Nägel für Jesu Kreuz tauchen in anderen stigmatisierenden Erzählungen auf, die die Leidensgeschichte dieses Volkes legitimieren sollten. Dessen autochthone Eigenständigkeit wurde als Verstocktheit und Bedrohung durch Fremdes empfunden. Wie beim Judenhaß (vgl. -•Antisemitismus IV. und V.) fixierte ein angeblich ewiges Dekret unveränderliche Eigenschaften, die später als völkische oder rassische Merkmale interpretiert oder gebrandmarkt wurden. Die Erforschung der Legenden, Sagen und Berichte aus der Überlieferung der Sinti und R o m a selbst und über die „Zigeuner" steht noch am Anfang und vielfach im Banne überlieferter Fremdwahrnehmung (vgl. Köhler-Zülch). Lope de Vega ( 1 5 6 2 - 1 6 3 5 ) z.B. schildert die Begegnung der Familie Jesu mit Sinti und R o m a in La Vuelta de Egipto ebenso wie Clemens Brentano in Die Zigeuner. Hier beginnt - später mitgeprägt durch das romantisierende Bild des „Edlen W i l d e n " und seines naturgegebenen Freiheitstriebes - die Romantisierung des „Zigeuner"-Daseins (Nikolaus Lenau, Drei Zigeuner; Hermann Hesse, Narziss und Goldmund). 2. Kultur und
Religion
Die gemeinsame Sprache Romanes hat sich auf der über Jahrhunderte hinziehenden Westwanderung — wahrscheinlich ausgelöst durch das islamische Vordringen nach Afghanistan und Indien zwischen dem 8. und 12. J h . - früh durch armenische und griechische Wörter angereichert, ein Indiz für einen jeweils längeren Aufenthalt bei jenen Völkern. Romanes als Träger der gemeinsamen Kultur ist neben den überlebensnotwendigen Landessprachen das Mutterhaus, ein „portables Vaterland" des zerstreuten Volkes. Die handwerklichen Künste (Musikinstrumente, Haushaltsgeräte), der Kleinhandel, Artistenberufe und das Wahrsagen sind nie für alle Sinti und R o m a typisch, wohl aber für viele Großfamilien in verschiedenen Epochen und Regionen ihrer Völkerwanderungen. Wegen ihrer häufigen Diskriminierungen und Vertreibungen kamen nur ambulante Gewerbearten in Frage. Eine feste Ansiedlung wurde keineswegs aus „angeborenem Wandertrieb" ausgeschlossen. Es gab sie selten, aber immer wieder, kaum freiwillig, öfter erzwungen in vielen Regionen Europas (z.B. durch Katharina die Große, Maria Theresia, kommunistische Länder). Die eigene Kultur, Sprache und Lebensweise als Preis für eine assimilatorische Integration zu zahlen, dazu war man in der Regel nicht bereit. In den kommunistischen Ländern Osteuropas bewirkten Zwangsansiedlungen einerseits eine Alphabetisierung bis in akademische Berufe. Andererseits wurde die eigene lebendige Kultur und Sprachtradition zugunsten der jeweiligen Landessprache gebrochen oder ins Folkloristische abgedrängt. Nördlich der Alpen wanderten vor allem Sinti ein, R o m a auf den Balkan und die iberische Halbinsel. Wie viele Glaubens- und Armutsflüchtlinge hatten sie auch an der Westwanderung im 19. und 20. J h . bis nach Amerika teil. In Europa sind sie ab 1322 in Kreta bezeugt und an vielen Orten Griechenlands (das vielleicht den Namen KleinÄgypten trug). 1416 wird von ihnen in Siebenbürgen, 1417 in Zürich, Magdeburg und
Sinti und Roma
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Lübeck berichtet, hier wie in Holland begrüßt als „Grafen und Herren von Klein-Ägypt e n " nuf Pilger- und Bußfahrt. Nach wenigen Jahren beschuldigte man sie, Heiden zu sein, als asozial nicht zum - > C o r p u s Cbristianum zu gehören. Sie seien Spione der Türken, das Feindbild der Epoche, und sie betrieben - so das theologische wie das rassistische Argument - als „Schwarze" Aberglauben und Magie. In Frankreich kam es 1456 zu den ersten Hinrichtungen. Was 1498 der Reichstag beschlossen hatte, war vor- und nachher in fast allen europäischen Städten und Herrschaften beschlossen worden: „Zigeuner" sind vogelfrei. Sie zu töten wurde prämiert. Viele dieser Gesetze galten bis ins 18. J h . , wirkten gesetzlich oder gesetzlos aber bis ins 20. J h . Ein Feindbild verstellte den Blick auf eine andersartige Kultur, die Erziehung und Lebensstil dezentral durch und in Familien prägt, in denen auch die eigene Kultur mündlich weitergegeben wird, nicht in Kirchen oder Schulen, in Medien oder in der Öffentlichkeit. Nach innen sind die Frauen, nach außen die Männer die entscheidenden Gestalten. Bestimmte Tabus und Reinheitsgebote verdanken sich indischen Traditionen, wie Riten und Heiligkeitsvorstellungen sind sie aber auch christlich bzw. islamisch beeinflußt. Die Verehrung des „großen G o t t e s " schafft eine interreligiöse Verbindung. Die Mehrzahl der Sinti und R o m a sind katholisch. Bei vielen findet sich eine ausgeprägte Marienfrömmigkeit (->Maria/Marienfrömmigkeit), die z.B. in den jährlichen Wallfahrten nach Saintes-Maries-de-la-Mer Tausende von Pilgern zusammenführt. Andere Wallfahrtsorte sind Illingen, Altenberg, Metz, Grácanica (Serbien) oder Guadalupe Hidalgo (Mexiko). Lediglich in Norddeutschland gibt es einige evangelische Gruppen. In Südosteuropa zählen sich viele zur Orthodoxie (die sie zur Zeit des Genozids in Bulgarien und Griechenland schützte), in den Turkvölkern sind die meisten Muslime. Erst in den letzten Generationen wurde Romanes zu einer verbreiteten Schriftsprache. Die ersten Ansätze dazu kamen aus den eigenen Reihen. Wichtige Impulse entstammen auch der Sprachforschung - allerdings ohne lebendige Beziehung zu Sinti und Roma (Erstes Wörterbuch 1755) - und aus der Kriminalistik mit ihren oppressiven Kontakten. Die Wanderungen der Sinti und Roma hatten einen doppelten Effekt. Einmal brachten sie ihre eigenen Geschichten zu den Wirtsvölkern mit, zum anderen transferierten sie auch deren Tradition. Viele der „Zigeunermärchen", die seit dem 19. Jh. erschienen, oft in romantischer Deutung oder auf den Spuren der Herderschen „Volkspoesie" ( J . G . —»Herder), wurden völkerpsychologisch als Belege einer „Zigeunermentalität" mißbraucht. Erst heute erfolgt eine kritische Aufarbeitung ihrer Herkunft, Wanderungen oder Funktionalisierungen. Theatergruppen, z . B . im vorstalinistischen M o s k a u bis 1930, wo auch 1928 die erste Radiosendung in R o m a n e s ausgestrahlt wurde, in Kosice (Slowakei) und Skopje (Makedonien) verhalfen ebenso wie Schriftstellervereinigungen und Publikationen in einigen Ländern zu Ansätzen einer selbstbewußten, auch außerhalb wahrgenommenen Sprach- und Kulturrenaissance. Seit 1888 arbeitet in London die Gypsy Lore Society (mit der gleichnamigen Zeitschrift), zuerst Folkloreforschung, heute breiter angelegt; seit 1976 bemüht sich in Chandigarh (Indien) ein wissenschaftliches Institut, Ursprungsland und Diaspora zu erforschen. Das Heidelberger Dokumentationsund Kulturzentrum Deutscher Sinti und Roma bietet seit 1990 Bibliothek, Ausstellungen, Symposien und Publikationen.
3. Verfolgung
und
Genozid
Ende des 19. J h . erließen viele deutsche Länder Gesetze zur Bekämpfung der „Zigeunerplage", die z.B. als Bayerische Landfahrerordnung geringfügig geändert 1953 neu in Kraft gesetzt wurde, in Hessen bis 1957 galt. 1909 schlug eine internationale Konferenz in Budapest vor, „Zigeuner" mit einem Brandzeichen zu versehen. Der Genozid, das Trauma der Sinti und R o m a in der Neuzeit, ist lange vorbereitet. Er wurde zum Tiefpunkt in der langen Geschichte der Sinti und R o m a und ihrer sog. Wirtsvölker. Ein Rundschreiben an Polizei und Wehrmacht 1942 in Jugoslawien (das 1944 als ethnisch „rein von Juden und Zigeunern" gemeldet wird) bündelt die bekannten Ar-
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Sinti und Roma
gumente: „Zigeuner stellen allgemein ein Element der Unsicherheit dar und sind somit eine Gefahr für die öffentliche Ordnung und Sicherheit. Wegen seiner inneren und äußeren Anlagen kann der Zigeuner kein nützliches Mitglied der Gesellschaft sein." Das Fremde, das Angst macht, Stabilitäten bedroht, eine genetisch bedingte Amoralität besitzt und sich volkswirtschaftlich nicht rechnet - das sind die typischen Urteile der Mehrheitsgesellschaft, gleichgültig, ob sie sich wissenschaftlich, religiös, ordnungspolitisch oder alltäglich äußern. Die Folgen sind immer Demütigungen, Kontrollen, Vertreibungen und Verweigerung der Menschenrechte. Gab es gegen die Euthanasie-Aktion und Judenverfolgung kaum Proteste und helfende Solidarität (vgl. T R E 24,65,40-67,38), so gibt es in Deutschland keine Zeitzeugenberichte, daß Sinti und Roma Beistand erfuhren. Die von den Nationalsozialisten vorgefundenen und konsequent bewaffneten Vorurteile legitimierten die Verfolgung und delegitimierten jede Solidarität mit den Verfolgten. Medizin und Biologie begründeten und vollzogen Erfassungen, Menschenversuche und Sterilisationen. Sie arbeiteten bei Polizeiaktionen und in den Lagern, wo der Tod im Gas, Vernichtung durch Arbeit oder medizinische Experimente dazugehörten. Als 1933 Rassismus als Staatsdoktrin zur Herrschaft kam, wurde die Zerstörung der Einheit der Menschheit und der Menschlichkeit zur Alltagspraxis. Zum Tode bestimmt waren zwei Völker, die Juden sowie die Sinti und Roma, „nicht weil sie besonders verschworen sind, nur, weil sie halt geboren sind" (Alfred Kerr [1867-1948]). Die Entrechtung bis zum Mord geschah per Erlaß und Gesetz in Rechtsgestalt. Das „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses" (14. Juli 1933) ermöglichte Zwangsabtreibungen und -Sterilisationen von Behinderten und „Artfremden"; es wurde im November 1933 durch das „Gesetz gegen gefährliche Gewohnheitsverbrecher" verschärft. Die eines angeborenen asozialen Verhaltens beschuldigten Sinti und Roma konnten z.B. wegen des Verstoßes gegen das Meldegesetz in die schon 1933 errichteten ersten Konzentrationslager eingewiesen werden. 1934 erleichterte das „Gesetz über Reichsverweisungen" die Abschiebung derer, die sich nicht als deutsche Staatsangehörige ausweisen konnten. Die „Nürnberger Gesetze" von 1935 sowie das „Gesetz zum Schutz des deutschen Blutes und der deutschen Ehre" sprechen nur von den Juden, aber schon der Kommentar von Wilhelm Stuckart und Hans Globke (Reichsbürgergesetz vom 15. September 1935, Gesetz zum Schutze des deutschen Blutes und der deutschen Ehre vom 15. September 1935, Gesetz zum Schutze der Erbgesundheit des deutschen Volkes [Ehegesundheitsgesetzl vom 18. Oktober 1935, München u.a. 1936) hält fest: „Artfremden Blutes sind in Europa nur die Juden und die Zigeuner". Die genannten Gesetze vergrößerten sowohl die „Vogelfreiheit" wie die strangulierende Abtötung von Familien, Nachbarschaften und beruflichen Existenzen, ja einer ganzen Kultur, denn die tradierende Schicht der Alten wurde zuerst, weil „nutzlos", ins Gas geschickt. Am 8. Dezember 1938 hatte Heinrich Himmler (1900-1945) die „grundsätzliche Regelung der Zigeunerfrage aus dem Wesen der Rasse heraus" angeordnet. Die Feststellung der Rassezugehörigkeit wurde dem Rasse-HygieneInstitut unter Dr. med. Robert Ritter (1901-1951) übertragen. Sein Mitarbeiterstab erstellte 28 000 über Leben und Tod entscheidende Rassegutachten mit Hilfe von Polizei, Verwaltung und Universitäten. Die Deutsche Forschungsgemeinschaft wie die Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft gaben für Rasseforschung und Menschenversuche Zuschüsse. Von den erfaßten Sinti und Roma wurden in Deutschland 90% als Mischlinge eingestuft. Für „Viertel- und Achtelzigeuner" bedeutete das auch ein Todesurteil. Die starke Betonung des „unreinen" Mischlingscharakters hatte gewiß etwas mit der Verschleierung der Tatsache zu tun, daß die aus Indien stammenden Sinti und Roma eigentlich „Arier" waren. Im Januar 1940 wurde in Buchenwald zum ersten Mal Zyklon B-Gas für den Massenmord an 250 Roma-Kindern getestet. In den von deutschen Truppen besetzten Gebieten wurden die Deportationen und Morde fortgesetzt. Am 16. Dezember (heute Gedenktag) 1942 ordnete Himmlers „Auschwitz-Erlaß" die systematische Ausrottung an. Neben Auschwitz gehören Chelmno und Treblinka zu den großen Friedhöfen und Gedenkstätten auch der Sinti und Roma.
Sinti und R o m a 4. Diskriminierung
und
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Menschenrechte
De facto hat sich eine Art Hierarchie der Opfer in der Mehrheitsgesellschaft herausgebildet, die den Sinti und R o m a einen untersten Platz in der wissenschaftlichen und politischen Wahrnehmung anwies. Das hat nicht nur numerische Gründe, sondern unter vielen auch den Grund, daß mit der Judenemanzipation trotz bleibender Judenverachtung den Juden sich Bildungs- und Berufschancen öffneten, die den weitgehend anders lebenden Sinti und Roma verschlossen waren. Deren fehlende oder spät entstandene Selbstorganisationen fanden keine politische Unterstützung. Sie wurden mit ihren Ansprüchen auf „Wiedergutmachung" noch einmal dadurch geschädigt, daß sie für ihre Anträge wieder jenen Gutachtern ausgeliefert waren (Hermann Arnold [geb. 1912]; Eva Justin [ 1 9 0 9 - 1 9 6 6 ] ; Robert Ritter), die im Rasse-Hygiene-Institut sie und ihre Genealogien „erforscht" hatten. Alle drei Genannten waren mit anderen nach 1945 im öffentlichen Dienst oder (bis 1979) im „Zigeunerbeirat" des Bundesinnenministeriums tätig, wo kein Sinto oder R o m a saß. Sie erstellten jetzt ihre Gutachten mit jenen Karteien, mit denen sie früher Rassezugehörigkeiten festgestellt hatten. Jetzt dienten sie - zur Abwehr von Wiedergutmachungsansprüchen - dem Nachweis, daß Sinti und R o m a als „Arbeitsscheue" und „Asoziale" in die Lager gekommen seien. Ein diese These kodifizierendes Urteil hob der Bundesgerichtshof erst 1964 auf. Für viele, nach Jahrhunderten des „Erfaßtwerdens" mißtrauischen Sinti und R o m a , für viele Verstorbene kam die geringe Entschädigung zu spät. Die Minderheit (in Deutschland ca. 3 % ) der Wandernden und die in vielen Berufen Seßhaften erlebten auf Campingplätzen, in Schulen und Medien weiterhin Diskriminierung. Die inzwischen in allen Ländern aufgebauten Organisationen der Sinti und R o m a sehen ihre Hauptaufgabe in der Bewahrung der eigenen Kultur, die nach 1945 auch durch den raschen gesellschaftlichen Wandel wie die traditionellen Berufe, Sozialformen oder Werte gefährdet ist. Gleichberechtigt ist der Kampf um Menschen- und Minderheitsrechte und die Erinnerung an die Geschichte des Leidens und der Selbstbehauptung. Nach dem Genozid an etwa 500 000 Sinti und R o m a werden heute weltweit etwa 3 Millionen (so Colinon) oder bis zu 8 Millionen (so Puxon) geschätzt. Ihre europäischen Schwerpunkte liegen in Frankreich, Spanien, Ungarn, Tschechien, der Slowakei, im ehemaligen Jugoslawien sowie in Rumänien und Bulgarien. In Deutschland leben etwa 6 0 0 0 0 bis 80000 Sinti und Roma sowie eine größere, wachsende Zahl von Roma, die als Flüchtlinge oder Arbeitsmigranten aus Südosteuropa kommen und oft von Ausweisungen bedroht sind. Die internationalen Bemühungen um Selbstorganisation konnten nach 1945 auf manche Initiativen zurückgreifen. 1933 schon gab es z.B. in Bukarest eine Internationale Roma-Konferenz. 1971 schuf der Erste Internationale Roma-Kongreß in London die Internationale Romani-Union. Sie steht heute unter der Leitung des aus Jugoslawien stammenden Schriftstellers und Präsidenten des „Romani-PEN-Zentrums" Rajko Djuric (geb. 1947). Entscheidende Hilfe gab mit der Veranstaltung des Zweiten Roma-Kongresses in Genf 1978 der Ökumenische Rat der Kirchen, 1981 die Gesellschaft für Bedrohte Völker in Göttingen.
Die Politik in Osteuropa schwankte bis 1989 zwischen Repression und Förderung des „nationalen Kulturerbes", in Westeuropa zwischen Gleichgültigkeit und Bürgerrechtsarbeit. In beiden Hemisphären sind alte Vorurteile keineswegs überwunden. Hungerstreiks, z.B. in Dachau, und Öffentlichkeitsarbeit, Kultur- und Gedenkveranstaltungen sowie politische Aktionen sind die Mittel, die entscheidend durch die Gesellschaft für bedrohte Völker, durch Arbeitskreise in den evangelischen Kirchen von Hessen und Nassau und der Pfalz, den Deutschen Evangelischen Kirchentag sowie durch das Programm zur Bekämpfung des Rassismus des Ökumenischen Rates der Kirchen unterstützt wurden. In Deutschland hatte sich, hervorgegangen aus regionalen Initiativen und dem Deutschen Sinti-Verband (gegr. 1972), 1983 der Zentralrat Deutscher Sinti und Koma gebildet (Vorsitzender Romani Rose [geb. 1945]) mit einem Dokumentations- und Kulturzentrum in Heidelberg. Diskussionen zwischen verschiedenen Organisationen kreisen
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Sinti und R o m a
u m d i e F r a g e d e r Z i e l v o r s t e l l u n g : E i n g l i e d e r u n g in d i e j e w e i l i g e G e s e l l s c h a f t bei Bew a h r u n g e i g e n e r k u l t u r e l l e r T r a d i t i o n e n o d e r A u s b a u einer k o l l e k t i v e n A u t o n o m i e in der M e h r h e i t s g e s e l l s c h a f t ? D i e p ä d a g o g i s c h e n u n d rechtlichen K o n s e q u e n z e n s i n d jew e i l s v e r s c h i e d e n . M e h r h e i t l i c h f o r d e r n d i e Sinti die 1995 E U - w e i t z u g e s t a n d e n e n , a b e r n o c h nicht ratifizierten M i n d e r h e i t e n r e c h t e , w i e sie e t w a D ä n e n u n d S o r b e n in D e u t s c h l a n d h a b e n . D i e R o m a als A r b e i t s m i g r a n t e n o d e r F l ü c h t l i n g e f o r d e r n a l s „ n i c h t t e r r i t o r i a l e s V o l k " eher einen E u r o p a p a ß , eine F o r d e r u n g , d i e v o n d e r E K D - S t u d i e Sinti und Roma in A n a l o g i e z u m N a n s e n p a ß u n t e r s t ü t z t w i r d . Literatur „ D a wollten wir frei sein." Eine Sinti-Familie erzählt, hg. v. Michail Krausnick, Weinheim/Basel 1983. - R a j k o Djuric, Zigeunerische Elegien. Gedichte in Romani u. Dt., H a m b u r g 1989. - Ders., Auf der Suche nach der verlorenen Seele. Sinti u. R o m a - Herkunft, Kultur, Zukunft, Berlin 1999. Ders./Jörg Becken/A. Bertolt Bengsch, Ohne Heim - ohne Grab, Berlin 1996. - Jacqueline Giere (Hg.), Die gesellschaftliche Konstruktion des Zigeuners. Zur Genese eines Vorurteils, Frankfurt a . M . 1996. - Reimar Gilsenbach, Weltchronik der Zigeuner, Frankfurt a.M./Bern 1994 (Stud. zur Tsiganologie u. Folkloristik 10). - Reimer Gronemeyer, Zigeuner im Spiegel früher Chroniken u. Abh. Quellen vom 15. bis zum 18. Jh., Gießen 1987. - Ders./Georgia A. Rakelmann, Die Zigeuner. Reisende in Europa, Köln 1988. - Joachim S. Hohmann, Zigeuner u. Zigeunerwiss. Ein Beitr. zur Grundlagenforschung u. Dokumentation des Völkermords im „Dritten Reich", Marburg a . d . L . 1980. - Ders., Gesch. der Zigeunerverfolgung in Deutschland, Frankfurt a . M . / N e w York 1981. Donald Kenrick/Grattan Puxon, The Destiny of European Gypsies, London 1972; dt.: Sinti u. R o m a . Die Vernichtung eines Volkes im NS-Staat, Göttingen/Wien 1981. - Ines Köhler-Zülch, Die Hl. Familie in Ägypten, die verweigerte Herberge u. andere Geschichten v. „ Z i g e u n e r n " Selbstäußerung oder Außenbilder?: Die Sinti-Roma-Erzählkunst (s. u.) 35 — 84. — Michail Krausnick, Der nationalsozialistische Völkermord an R o m a u. Sinti: Täter - Opfer - Folgen. Der Holocaust in Gesch. u. Gegenwart, hg. v. Heiner Lichtenstein/Otto R. Romberg, Bonn 1997 (Schriftenreihe der Bundeszentrale f. politische Bildung 335). - Jean-Pierre Liegeois, Tsiganes et voyageurs, Straßburg 1985; engl.: Gypsies and Travellers, ebd. 1987. - Gilad Margalit, Sinti u. andere Deutsche - über ethnische Spiegelungen: Tel Aviv J b . f. Dt. Gesch. 1997, hg. vom Institut f. Dt. Gesch. Univ. Tel Aviv, Gerlingen 1997, 2 8 1 - 3 0 6 . - Minderheitsschutz f. Sinti u. R o m a im Rahmen des Europarates, der K S Z E u. der U N O , hg. vom Zentralrat Dt. Sinti u. R o m a , dt. u. engl., Heidelberg 1994. - HansDieter Niemandt, Die Zigeunerin in den romanischen Literaturen (Diss. Göttingen 1954), Frankfurt a . M . u.a. 1992 (Stud. zur Tsiganologie u. Folkloristik 6). - August Friedrich Pott, Die Zigeuner in Europa u. Asien, 2 Bde., Halle 1844-1845. - Katrin Reemtsma, Minderheit ohne Zukunft? R o m a in Jugoslawien, Göttingen 1990. — Dies., R o m a in Rumänien, Göttingen 1992. — Romani Rose, Bürgerrechte f. Sinti u. R o m a . Das Buch zum Rassismus in Deutschland, Heidelberg 1987. — Ders., Der nationalsozialistische Völkermord an Sinti u. R o m a , Heidelberg 1995. - Ders./Walter Weiss, Sinti u. R o m a im „Dritten Reich". Das Programm Vernichtung durch Arbeit, Göttingen 1991. - Martin Ruch, Zur Wissenschaftsgesch. der deutschsprachigen „Zigeunerforschung" v. den Anfängen bis 1900, Diss. Freiburg 1986. - Die Sinti-Roma-Erzählkunst im Kontext europ. Märchenkultur. Berichte u. Ergebnisse einer Tagung, hg. v. Daniel Strauß, Heidelberg 1992 (Schriftenreihe des Dokumentations- u. Kulturzentrums Dt. Sinti u. R o m a 1). - Sinti u. R o m a . Eine Stud. der E K D , Hannover 1991. — Rüdiger Vossen, Zigeuner. R o m a , Sinti, Gitanos, Gypsies. Zw. Verfolgung u. Romantisierung, Frankfurt a.M./Berlin 1983. - Wir sind Sintikinder u. keine Zigeuner. Ein Film v. Katrin Seybold u. Melanie Spitta, Freiburg i.Br. 1981. - Zigeunermärchen, hg. v. Walther Aichele unter Mitw. v. Martin Block u. Johannes Ipsen, Jena 1926 Düsseldorf/Köln 1977 (Reinbek 1993 u.d.T.: Märchen der Zigeuner). - Michael Zimmermann, Rassenutopie u. Genozid. Die nationalsozialistische „ L ö s u n g der Zigeunerfrage", H a m b u r g 1996. - Tilman Zülch, In Auschwitz vergast, bis heute verfolgt - Zur Situation der R o m a (Zigeuner) in Deutschland u. Europa, Reinbek 1979 = 1983. Martin Stöhr
Sirach/Sirachbuch
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Sirach/Sirachbuch 1. Textzeugen und Übersetzungen 2. Textgeschichte 3. ZurFrageder Kanonizität 4. Verfassername und Buchtitel 5. Person des Verfassers - Abfassungszeit - religiöser und kultureller Kontext 6. Literarische Fragen: Gattung(en) - Aufbau - Werden des Buches 7. Anliegen und theologische Schwerpunkte 8. Wirkungsgeschichte (Literatur S. 314) 1. Textzeugen
und
Übersetzungen
1.1. Hebräischer Text. Die Textüberlieferung des Sirachbuches (vgl. -»-Apokryphen 1.11.) ist äußerst k o m p l e x . Vom hebräischen T e x t wußte man bis 1896 nur durch einen Hinweis bei - » H i e r o n y m u s (Prologus in libris Salomonis), durch Zitate in der rabbinischen Literatur sowie bei - » S a a d j a G a o n ; bekannt waren nur die alten Übersetzungen (griechisch, syrisch, lateinisch). Die Entdeckung hebräischer Textzeugnisse aus der Geniza der Esrasynagoge der Karäer in Altkairo beginnt mit einem von Agnes Lewis and M a r g a r e t Gibson nach C a m b r i d g e gebrachten Blatt, das der Talmudgelehrte Solomon Schechter ( 1 8 5 0 - 1 9 1 5 ) als T e x t aus dem hebräischen Sirach identifizierte. Die Funde aus der Geniza zwischen 1896 und 1900 verteilen sich auf vier Handschriften (A, B, C, D), zu denen 1931 Ms. E kam, 1 9 5 8 - 1 9 6 0 weitere Teile von Mss. B und C. Eine 1974 erstmals von Israel Yeivin (vgl. Reif 19f.) identifizierte Handschrift wurde von A. Scheiber irrtümlich Ms. D zugeordnet, 1988 jedoch von A.A. Di Lella als Ms. F bezeichnet. Die Handschriften sind ins 10. (Ms. C) bzw. 11. Jh. zu datieren. Mss. B und E sind stichometrisch geschrieben; Ms. C stellt ein Florilegium dar. Nach einem Brief des nestorianischen Patriarchen Timotheus I. von Seleukia (um 800) waren damals in einer Höhle bei Jericho (Qumran?) biblische und außerbiblische hebräische Fragmente gefunden worden. Es spricht manches dafür, daß diese Funde auch hinter den Sirachtexten der Kairoer Geniza stehen. Auch in - > Q u m r a n kamen Teile des hebräischen Sirach zutage: 2 Q 1 8 mit zwei kleinen Fragmenten von Sir 1 , 1 9 f . (oder 6,14f.?) und 6 , 2 0 - 3 1 (vor 68 n. Chr.) und Teile des als Akrostichon erkennbaren Textes Sir 5 1 , 1 3 - 2 0 . 3 0 aus der Psalmenrolle von Höhle 11 (zwischen 1 0 0 - 5 0 v. C h r . ) . Im J a h r 1964 entdeckten die Ausgräber von M a s a d a in einer der Kasematten größere Teile von Sir 3 9 , 2 7 - 4 4 , 1 7 (Beginn des 1. Jh. v. Chr.) in stichometrischer Anordnung. ten:
So kennen wir derzeit ca. 6 8 % des hebräischen Sirachtextes, verteilt auf folgende Handschrif-
Genizamanuskripte (die von T R E 3,305,25ff. abweichende Aufzählung folgt der neuen Edition der Fragmente von Beentjes, Book 1 3 - 1 8 ; vgl. auch Reiterer, Text 2 6 - 3 8 ) : Ms. A (6 Bl.): 3 , 6 b - 1 6 , 2 6 ; 27,5f.; Ms. B (21 Bl.): 10,19-11,10; 15,1-16,7; 3 0 , 1 1 - 3 3 , 3 ; 3 5 , 1 1 - 3 8 , 2 7 ; 39,15c-51,30; Ms. C (6 Bl.): 3 , 1 4 - 1 8 . 2 1 f.; 4 , 2 1 - 2 3 . 3 0 f . ; 5 , 4 - 7 . 9 - 1 3 ; 6,18b-19.28.35; 7,1 f.4.6.17. 20f.23 - 25; 18,31b—33; 19,1 f.; 2 0 , 5 - 7 . 1 3 . 2 2 f . ; 25,8.13.17-24; 2 6 , 1 - 3 . 1 3 . 1 5 - 1 7 ; 3 6 , 2 4 a . 2 7 - 3 1 ; 37,19.22.24.26; 41,16; Ms. D (1 Bl.): 3 6 , 2 9 - 3 8 , l a ; Ms. E (1 Bl.): 3 2 , 1 6 - 2 2 . 2 4 ; 33,1.2.4-32; 34,1; Ms. F (1 Bl.): 3 1 , 2 4 - 3 2 , 7 ; 3 2 , 1 2 - 3 3 , 8 . Qumran: 2Q18 (2 Fragmente): l,19f. (6,14f.?); 6 , 2 0 - 3 1 ; llQPs 3 : 5 1 , 1 3 - 2 0 . 3 0 b . Masada:
39,27b-32; 40,10-19.26-43,20b.22-25.29f.; 4 4 , l - 1 5 . 1 7 a - d .
1.2. Übersetzungen. Der G e s a m t t e x t des Sirachbuches w a r v o m Verschwinden der hebräischen Texttradition um die Jahrtausendwende bis 1896 nur in Übersetzungen zugänglich. 1.2.1. Die älteste und bedeutsamste davon ist die griechische, die uns in den Unzialen BSA in einer kürzeren (Gr 1) und in den Minuskelhandschriften 253 sowie 248.493.637 in einer um 135 Stichen erweiterten Fassung (Gr II) bezeugt ist. Im griechischen Text ist für einen Teil die Anordnung der hebräischen Handschriften (Mss. D, E) vertauscht: Sir 3 0 , 2 5 - 3 3 , 1 6 a im hebräischen Text (H) entsprechen in der griechischen Zählung (Gr) 33,13bc-36,16a, und 3 3 , 1 6 b - 3 6 , 3 1 (H) sind in Gr
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Sirach/Sirachbuch
als 3 0 , 2 5 - 4 0 ; 3 1 , 1 - 3 3 , 1 3 a ; 3 6 , 1 6 b - 3 1 gezählt. Dringend zu wünschen im Interesse einer nachprüfbaren, einheitlichen Zitation ist die Angabe der verwendeten Texttradition (H oder Gr) sowie die Benützung der Edition von Gr durch J. Ziegler, der für die in Gr vertauschten Kapitel die Anordnung des hebräischen Textes in Klammer angibt (vgl. Skehan/Di Lella X ; Gilbert, Art. Siracide 1398). 1.2.2. In der lateinischen Textüberlieferung der Vulgata ist im wesentlichen die Vetus Latina bewahrt, da Hieronymus Sirach nicht übersetzt hat; die Vetus Latina, die ins 2. Jh. n. Chr. zurückreicht, basiert auf der erweiterten Textform von Gr II, ursprünglich ohne Sir 4 4 - 5 0 , aber mit der Anordnung von H. 1.2.3. Die syrische Peschitta (mit teilweisen Erweiterungen, aber noch größeren Auslassungen gegenüber Gr und H) beruht (auch in der Anordnung) auf einem hebräischen Text; wichtigste Handschrift ist der Codex Ambrosianus B.21.1nf. (7al) (Mailand, 7. Jh.?); Editionen gibt es erst seit dem 17. Jh. Die Übersetzung des hexaplarischen griechischen Textes ins Syrische (Syrohexapla) ist im Codex Ambrosianus C.313 inf. (Mailand) aus dem 9. Jh. überliefert. 2.
Textgeschichte
Auch wenn Q u m r a n und M a s a d a die m e h r f a c h bestrittene Ursprünglichkeit des hebräischen T e x t e s der G e n i z a f r a g m e n t e grundsätzlich bestätigen, legen die Unterschiede in der T e x t g e s t a l t eine E n t w i c k l u n g n a h e , die eine A n n ä h e r u n g an einen „ U r t e x t " nur in begrenztem A u s m a ß zuläßt. Nach dem gegenwärtigen Stand der Diskussion (vgl. die Studien von Kearns; Skehan/Di Lella; Rüger, Text; Reiterer, „Urtext") sind zwei hebräische Textformen zu unterscheiden (H I und H II), die sich auch im griechischen Text (Gr I, Gr II) spiegeln: Zeichen des älteren (ursprünglichen?), dem biblischen Hebräisch näherstehenden Textes von H I wäre die Übereinstimmung mit Gr I; der in späterem Hebräisch geschriebene Text von H II mit zum Teil in Gr II oder in der Peschitta bezeugten Dubletten bzw. Erweiterungen wird zum Teil bereits ins 1. Jh. v. Chr. datiert (Skehan/Di Lella). Das Milieu der Herkunft ist noch zu klären. Eine Umkehrung dieser Rekonstruktionen (vor allem von Rüger) vertritt L. Schräder: demnach wäre der ältere Text nicht in Ms. B, sondern in Masada, in Randlesarten von Ms. B sowie in Ms. A erhalten, Angleichungen an den biblischen Sprachgebrauch hingegen wären Zeichen eines jüngeren Textes. Gr I ist als Werk des Enkels Sirachs anzusehen, der nach dem Prolog ( 1 5 - 2 6 ) im 38. Jahr des Königs Euergetes (Ptolemaios VIII. Euergetes II. Physkon: 1 7 0 - 1 6 4 und 1 4 5 - 1 1 6 v. Chr.), also 132 v. Chr., nach Ägypten gekommen war und das Werk seines Großvaters ins Griechische übersetzt hatte. Studien zur Übersetzungstechnik bestätigen die Eigenständigkeit von Gr; B.G. Wright (Différence) betont das Interesse des Ubersetzers am Inhalt, nicht an der Sprache, so daß der griechische Sirachtext nicht als sichere Basis für Rückübersetzungen ins Hebräische dienen kann. A. Minissale (Versione) hat Anlehnungen an die Methoden von Targum und —»Midrasch aufgezeigt. Gr II ist von H II abhängig und reicht in die erste Hälfte des 2. Jh. n. Chr. zurück, da schon die Vetus Latina auf sie zurückgeht, wie typische Ergänzungen bei —»Cyprian von Karthago zeigen. Eine vollständige Rezension von Gr II ist nach Ziegler nicht erhalten, sondern eine Reihe von Erweiterungen zu Gr I bzw. eigene Lesarten, ähnlich wie bei H II. Bemerkenswert ist in Gr II die Weiterentwicklung der individuellen Eschatologie (vgl. Sir 2,9c; 12,22c; 1 9 , 1 8 - 1 9 ; 33,4). Die Peschitta ist um ca. 300 zu datieren und geht nach H.-P. Rüger auf einen Text von H II zurück, spiegelt aber in ihrer Überlieferung oft eine Mischung von H I und H II; M.D. Nelson siedelt die hebräische Vorlage in der Nähe von Masada und Ms. B an. Spuren eines ebionitischen Ursprungs (Winter) sind nach R . J . Owens nicht festzustellen. Abschließend k a n n derzeit festgehalten w e r d e n , d a ß wir dem kürzeren Original des hebräischen Sirach (H I) durch die F r a g m e n t e von M a s a d a und Q u m r a n , indirekt durch G r I n a h e k o m m e n , in je verschiedenem A u s m a ß auch durch einzelne G e n i z a t e x t e ; H II mit seinen E r w e i t e r u n g e n , D u b l e t t e n und Lesarten stellt ein frühes Z e u g n i s einer vielgestaltigen Relecture dar, vor allem in G e n i z a f r a g m e n t e n (vgl. auch G r II, Peschitta, Vetus L a t i n a ) . G r u n d p r o b l e m aufgrund der k o m p l e x e n G e s c h i c h t e der Bezeugung und Evolution des T e x t e s bleibt, w e l c h e m T e x t Übersetzungen Sirachs folgen sollen: einem kritisch erarbeiteten (hypothetischen!) M i s c h t e x t oder einer bezeugten Tradition der alten Übersetzungen? D a b e i bleibt n o c h m a l s zu fragen, o b nicht beide T e x t f o r m e n , die kürzere und die längere, ihr R e c h t und ihre A u t o r i t ä t h a b e n sollen (Gilbert, L'Ecclésiastique). Desiderate weiterer Arbeit a m T e x t neben einer kritischen Edition der he-
Sirach/Sirachbuch
309
b r ä i s c h c n F r a g m e n t e im Vergleich m i t d e n alten Ü b e r s e t z u n g e n w ä r e n eine u m f a s s e n d e S a m m l u n g u n d S i c h t u n g der Z i t a t e und A n s p i e l u n g e n a u f S i r a c h in d e n j ü d i s c h e n Q u e l l e n s o w i e d a s S t u d i u m v o n H e r k u n f t , Inhalt u n d Ü b e r l i e f e r u n g d e r E r w e i t e r u n g e n des S i r a c h t e x t e s s o w i e dessen B e z i e h u n g zu Q u m r a n . 3. Zur
Frage
der
Kanonizität
D i e s c h w i e r i g e T e x t ü b e r l i e f e r u n g steht zweifellos in Z u s a m m e n h a n g mit den verschied e n e n A u f f a s s u n g e n ü b e r die Z u g e h ö r i g k e i t z u r S a m m l u n g k a n o n i s c h e r biblischer Schriften ( - » K a n o n ) . W a r u m S i r a c h t r o t z seiner t r a d i t i o n e l l e n A u s r i c h t u n g n i c h t in die S a m m l u n g d e r Ketubim
a u f g e n o m m e n w u r d e , ist n i c h t g e k l ä r t ; die H y p o t h e s e v o n N . L o h f i n k
( K o h e l e t , 1 9 8 0 " 1 9 9 3 [ N E B . A T 1]), S i r a c h sei g e g e n ü b e r e i n f l u ß r e i c h e r e n P r o p o n e n t e n d e s „ m o d e r n e n " - » K o h e l e t b u c h e s als S c h u l b u c h u n t e r l e g e n , s c h e i n t b e d e n k e n s w e r t , dies u m s o m e h r , d a S i r a c h s h o c h v e r e h r t e r G ö n n e r , d e r H o h e p r i e s t e r S i m o n II., bereits v o r V o l l e n d u n g d e s B u c h e s g e s t o r b e n ist ( 1 9 6 v. C h r . ; vgl. Sir 5 0 , 1 f.). D e r S i r a z i d e w a r s c h l i e ß l i c h m i t seiner O p t i o n für die Z a d o k i d e n (Sir 4 5 , 2 3 f . ; 5 0 , 2 4 ) n a c h d e r U s u r p a t i o n d e r H o h e p r i e s t e r w ü r d e d u r c h M e n e l a u s ( 1 7 1 v. C h r . ) a u f d e r Seite d e r Verlierer. So sind Stellung und Geschichte des Buches bereits innerhalb des Judentums vielschichtig. M i t den abschließenden Worten in Sir 2 4 , 3 2 f . und 33 (36),16 scheint sich der Autor selber in die Linie autoritativer Tradition zu stellen; so mag auch der Enkel beabsichtigt haben, im Prolog das Werk des Großvaters in die noch nicht klar umschriebene Gruppe der Schriften einzureihen (vgl. Prol. 7 - 1 4 ) . Die bezeugte Präsenz des Buches in Q u m r a n ist von seiner Favorisierung der Zadokiden her verständlich (vgl. auch Sir 51,12i). Zeichen des Ansehens von Text und Buch schon in früher Zeit sind die stichometrische Schreibweise (Mas, 2 Q ) sowie die Entstehung verschiedener Rezensionen des Textes in H und G r . Eine talmudische Erzählung über Simon ben Schetach (1. J h . v. Chr.) läßt ihn eine Zitatenkombination von Prov 4,8 und Sir 11,1b (nicht wörtlich) mit der Formel einführen: „Im Buch des Ben Sira steht geschrieben" (yBer 7 , 2 , 1 1 b = yNaz 5,5,54b). Ein Wandel in der Stellungnahme begegnet in tYad 2,13, wo „die Bücher Ben Siras und alle Bücher, die von da an und später geschrieben wurden", wie die gîlyônim und die Bücher der mînîm, die Hände nicht verunreinigen. O b hier an Distanzierung von (juden-)christlicher Literatur (Dominique Barthélémy, L'Etat de la Bible juive depuis le début de notre ère jusqu'à la deuxième révolte contre R o m e : Le canon de l'Ancien Testament. Sa formation et son histoire, ed. Jean-Daniel Kaestli u . a . , G e n f 1984 [ M o B i ] 1 3 1 - 1 3 5 ; Rüger, Le Siracide) gedacht ist, ist fraglich (Günter Stemberger, J a b n e und der Kanon: J B T h 3 [1988] 1 6 3 - 1 7 4 , hier 168f.). In der Explikation eines Wortes von R . Akiba mSan 10,1 nennt ySan 10,1,28a „die Bücher des Ben Sira und die Bücher des Ben L a ' a n a " als Beispiel für die Bücher der Äußeren, deren Lektüre vom Anteil an der kommenden Welt ausschließt; bSan 100b hingegen bezeugt mit dem Hinweis auf die Auslegung wertvoller Worte Ben Siras am Ende einer Diskussion einen freieren Umgang mit diesem Buch. In b B Q 92b erklärt R a b b a bar M a r i einen Spruch mit einem Wort aus der T o r a (Gen 28,9), den Propheten (Jdc 11,3) und schließlich mit einer Verbindung von Sir 27,9a und 13,15 (nicht wörtlich) als Hinweis, daß die Sache „ein drittes M a l in den Schriften wiederholt wird, wie geschrieben s t e h t " (Sid Z . Leiman, T h e Canonization of Hebrew Scripture, Hamden 1976 [Transactions of the Connecticut Academy of Arts and Sciences 47] 9 7 . 1 7 9 Anm. 343). Nach Abschluß des Talmud begegnet das Buch wieder im 10. J h . in Zitaten bei Saadja G a o n (26 Hemistichen nach M s . A!) sowie in den Kairoer Genizafragmenten des 1 0 . / I I . Jh. (für die Zusammenstellung des rabbinischen Materials s. T h e Original Hebrew of a Portion of Ecclesiasticus, ed. Arthur E. Cowley u . a . , O x f o r d 1897, X I X - X X X ; Segai 3 6 - 4 6 ; Leiman [s. o.] 9 2 - 1 0 2 ; Wright, Considérations). Interessant ist auch der Hinweis auf die Bekanntheit des Buchs bei den Juden Chinas im Mittelalter (Roger Beckwith, T h e O T Canon of the N T Church and its Background in Early Judaism, London 1985, 379f.). A u c h L e h r e u n d P r a x i s d e r c h r i s t l i c h e n K i r c h e n spiegeln die P o s i t i o n S i r a c h s an der G r e n z e des K a n o n s . S o lassen sich im N e u e n T e s t a m e n t im J a k o b u s b r i e f z w a r Ä h n lichkeiten (vgl. Sir 2 , 1 - 1 8 ; 1 5 , 1 1 - 2 0 ) , a b e r k a u m A b h ä n g i g k e i t e n n a c h w e i s e n (vgl. a u c h M t 1 1 , 2 8 f f . u n d Sir 6 , 2 5 - 3 0 ; 5 1 , 2 6 ) ; e r n s t l i c h zu d i s k u t i e r e n bleibt ein E i n f l u ß d e r T e x t e Sir 1 , 1 - 1 0 ; 1 7 , 1 1 f.; 2 4 ü b e r d e n W e g d e r —»Weisheit a u f J o h 1. P r o b l e m e im U m g a n g m i t d e m B u c h gibt es in d e r P a t r i s t i k v o r a l l e m in P a l ä s t i n a b z w . b e n a c h b a r t e n G e b i e t e n durch das Gespräch
zwischen Juden
und
Christen
(vgl. G i l b e r t , A r t . J e s u s
Sirach
8 8 9 - 9 0 6 ) . So setzt sich —»Origenes n a c h a n f ä n g l i c h e r Z u r ü c k h a l t u n g g e g e n ü b e r d e n
310
Sirach/Sirachbuch
von den Juden abgelehnten Schriften schließlich ausdrücklich für deren Verwendung in der Kirche ein und zitiert auch Sirach als Heilige Schrift. Die sich im 4./5.Jh. vertiefenden Unterschiede in der Kanonauffassung zeigen sich z. B. im Eintreten für den jüdischen Kanon bei —»Cyrillus von Jerusalem, -»Athanasius und —»Rufinus, wobei jedoch nichtkanonische Bücher wie Sirach als Schriften für Anfänger im Glauben gelesen werden können (Athanasius, 39. Osterfestbrief: PG 26,1436—1440) oder als libri Ecclesiastici a majoribus appellati (Rufin: PL 21,374f.). Hieronymus, der Sirach zu den Apocrypha zählt und nicht übersetzt, bezeichnet 398 deren Lektüre als erbaulich (PL 28,1242) und beginnt ab 404, Sirach als Schrift zu zitieren. Die Wandlung steht wohl im Zusammenhang der Kanonliste der afrikanischen Konzilien von Hippo 393 und Karthago 397 (DH 186); Sirach ist dort unter die „fünf Bücher Salomos" eingeschlossen. —»Johannes Chrysostomus und —»Augustin sind die Höhepunkte der Sirachrezeption. Das Konzil von Trient (-»Tridentinum) nennt Sirach ausdrücklich im Kanondekret von 1546 (DH 1502) gegenüber —»Luthers Einordnung unter die Apokryphen. Die griechisch-orthodoxe Kirche akzeptiert mit dem Septuagintakanon de facto auch das Sirachbuch; auch für die Kopten, Äthiopier, Armenier sowie in der syrischen Kirche zählt es zur Heiligen Schrift. 4. Verfassername
und
Buchtitel
Die dreifache Überlieferung des Verfassernamens illustriert die Textprobleme apokrypher/deuterokanonischer Schriften. Am verbreitetsten ist die griechische Tradition 'Irjoovq viöq E(e)ipax EAea£ap o ItpoooAUßhrjq (50,27) oder 'IrjaovQ (Prolog 7) bzw. 'Irjaoöq uiog L(e)ipax (Über- und Unterschrift). Trotz der Bezeugung im lateinischen Text Hiesus filius Sirach (Eleazari) Hierosolymita ist keine eindeutige Entscheidung möglich, da im Hebräischen der Autor „Simon, Sohn des Jesus, Sohn Eleazars, Sohn Sirachs" (50,27: Ms. B) heißt bzw. „Simon, Sohn des Jesus, der Sohn Siras" genannt wird (51,30: erste Unterschrift). Auch Saadja bezeugt 50,27 Ms. B. In der Unterschrift der Peschitta findet sich Simon an zweiter Stelle: „Jesus, Sohn Simons, der Sohn des Asira genannt wird". Die rabbinische Tradition verwendet meist Ben Sira oder Bar Sira. Zum Buchtitel s. T R E 3 , 3 0 6 , 1 4 - 3 2 ; zuletzt Reiterer, Text 1 - 1 0 . 5. Person des Verfassers
- Abfassungszeit
- religiöser
und kultureller
Kontext
Nach dem Idealporträt Sir 38,24-39,11 mit Hinweisen auf Muße (38,24), Reisen (39,4; vgl. 3 4 , 9 - 1 2 ) , öffentliche Tätigkeit ist Sirach vielleicht Kreisen der Laienaristokratie zuzuordnen, näherhin einem sich etablierenden Stand von schriftgelehrten Weisen (-»Schriftgelehrte). Trotz aller Verehrung für das Priestertum (Sir 7,29—31; 45; 50) fehlen Hinweise, daß er selbst —»Priester war. Der literarische Kontext von 51,23 läßt auch offen, ob das Lehrhaus (byt mdrs) bereits eine institutionalisierte Einrichtung meint oder Sirach eher eine private weisheitliche Schule leitete (Wischmeyer 175f.). Weithin akzeptierter Anhaltspunkt für die Erschließung der Abfassungszeit des Buches (anders Diebner) ist das schon erwähnte (s.o. 2.) 38. Jahr des Königs Euergetes (Ptolemaios VIII.) im Prolog des Enkels als Zeitpunkt seiner Reise nach Ägypten: zwei Generationen zurück führen von 132 v. Chr. in das erste Viertel des 2. Jh. v. Chr. Die Bitte um Weisheit und Frieden für das Priestertum (45,26; 50,23) und um Bestand des Pinchasbundes für die Nachfolger Simons (50,24) mag bereits an die Zeit beginnender Konflikte zwischen Onias III. und den Seleukiden um 175 v. Chr. heranführen (vgl. auch das Gebet Sir 3 6 , 1 - 2 2 ) . Die Makkabäererhebung ist nicht vorausgesetzt. Sirach ist noch keiner der erst nach ihm ausgebildeten religiösen Gruppierungen des Judentums zuzuordnen. So ist er keineswegs als —»Essener zu bezeichnen, obwohl erst umfassend aufzuarbeitende Berührungspunkte zu Qumran bestehen (vgl. 2Q18; llQPs 2 Sir 5 1 , 1 3 - 3 0 ; 4Q525 und Sir 1 4 , 2 0 - 2 7 und die Danklitanei Sir 5 1 , 1 2 a - o ) . Sirachs Zurückhaltung in der Eschatologie, die Einstellung zu Kult und Priestertum sowie eine gewisse Weltoffenheit legen eher eine Tendenz in Richtung der späteren —»Sadduzäer nahe. B . G . Wright (Fear) konkretisiert die Stellung Ben Siras als Anhängers des Jeru-
Sirach/Sirachbuch
311
s a l e m e r H o h e n p r i e s t e r s in A u s e i n a n d e r s e t z u n g m i t der Kritik a n d e r e r , h i n t e r ä t h H e n 6 - 3 6 . 7 2 - 8 2 und a r a m L e v i stehender priesterlicher Kreise. D i s k u t i e r t e r n o c h ist B e n Siras Stellung a n g e s i c h t s der p o l i t i s c h - k u l t u r e l l e n u n d religiösen H e r a u s f o r d e r u n g Israels d u r c h d e n —»Hellenismus a n d e r W e n d e v o m 3 . z u m 2. J h . v . C h r . Gegenüber einseitigen Positionierungen durch Ablehnung (vgl. u.a. Smend; zuletzt Kieweier) oder Öffnung (u. a. Pautrel; Middendorp) trägt das Werk m. E. ein Janusantlitz zwischen maßvoller Öffnung, aber auch notwendiger Kritik (vgl. u . a . Hengel; Kaiser; Wischmeyer). Differenziert zu beurteilen ist die Verwendung griechischer Literatur (zu Theognis vgl. Kieweier); Auseinandersetzung mit damaliger Rechtspraxis zeigt Sir 3 , 1 - 1 6 (Bohlen), Aufgeschlossenheit zweifellos seine Integration des Arztes 3 8 , 1 - 1 5 , die Empfehlung des Reisens ( 3 4 , 9 - 1 2 ; 39,4) oder Anweisungen für das Symposion ( 3 1 , 3 1 - 3 2 , 1 3 ) . Auch Beziehungen zur Kultur Ägyptens zeigen die Offenheit des Weisen wie das Echo der Satire auf die Handwerker ( A N E T 3 4 3 2 - 4 3 4 ) in Sir 3 8 , 2 4 - 3 9 , 1 1 oder Analogien zur zeitgleichen demotischen Weisheit des Papyrus lnsinger ( T U A T III/2, 2 8 0 - 3 1 9 ) mit der Verbindung von Ethik der Vorsicht und Frömmigkeit. Die Beziehung zu den Isis-Aretalogien in Sir 24 wäre ebenfalls zu nennen.
6. Literarische Fragen: Gattung(en) - Aufbau — Werden des Buches D a s s p r a c h l i c h s o r g f ä l t i g g e s t a l t e t e W e r k ( S k e h a n / D i L e l l a 6 3 - 7 4 ) w e i s t die g r ö ß t e Vielfalt l i t e r a r i s c h e r G a t t u n g e n u n t e r d e n W e i s h e i t s b ü c h e r n a u f . N e b e n d e n
Formen
v o n W e i s h e i t s s p r u c h , M a h n r e d e u n d L e h r g e d i c h t gibt es h y m n i s c h e A b s c h n i t t e ( 4 2 , 1 5 4 3 , 3 3 ) s o w i e e r s t m a l s G e b e t e ( 2 2 , 2 7 - 2 3 , 6 ; 3 6 , 1 - 2 2 ) ; e i n z i g a r t i g u n d n e u ist die G e s c h i c h t s s c h a u Sir 4 4 - 4 9 . S i r a c h b e v o r z u g t g r ö ß e r e f o r m a l e u n d t h e m a t i s c h e E i n h e i t e n , neben den Weisheitsgedichten ( 1 , 1 - 1 0 ; 4 , 1 1 - 1 9 ; 6 , 1 8 - 3 7 ; 1 4 , 2 0 - 1 5 , 1 0 ; 1 9 , 2 0 - 3 0 ; 2 4 ; 32(35),14-33(36),6;
38,24-39,11;
51,13-30)
u.a.
3,1-16;
6,5-17;
15,11-18,14;
3 8 , 1 — 1 5 ; 3 9 , 1 2 - 3 5 , die w i e d e r u m in u m f a s s e n d e r e K o m p o s i t i o n e n e i n g e b u n d e n sind. A u c h w e n n s o l c h e T e x t e a u s d e r U n t e r w e i s u n g e r w a c h s e n sind u n d die H y p o t h e s e v o n S i r a c h als S c h u l b u c h d e r T r a d i t i o n n e b e n K o h e l e t b e d e n k e n s w e r t ist, w i r d „ S c h u l b u c h " als G e s a m t g a t t u n g m . E . d e r Fülle u n d Vielfalt k a u m g e r e c h t . Für die formal wie inhaltlich vielgestaltig und locker scheinende Sammlung der 51 Kapitel gibt es zwar keine allgemein akzeptierte Gliederung, wohl aber mehrere strukturierende Elemente (Roth; M a r b ö c k , Buch 2 8 6 - 2 8 8 ; Jüngling): Sir l f . ; 51 als programmatische Rahmentexte (vgl. Prov 1 - 9 ; 31,10—31); die schon genannten Weisheitstexte als Eröffnung größerer Texteinheiten; Akzente auf der Geschichte Israels in der Mitte und am Schluß (24; 4 4 - 4 9 ) sowie auf dem Lob der Weisheit und dem Lob Gottes in Schöpfung und Geschichte (24; 42,15—51,11); durchgehende T h e m e n : Weisheit, Gottesfurcht, Ordnung der Schöpfung (Theodizee). Als Makrostruktur scheint eine Dreigliederung 1 - 2 3 ; 2 4 - 4 2 , 1 4 ; 4 2 , 1 5 - 5 1 , 1 1 berechtigt (Jüngling: 1 , 1 - 2 4 , 2 9 ; 2 4 , 3 0 - 3 9 , 1 1 ; 3 9 , 1 2 - 5 0 , 2 6 ) ; größere Teilkompositionen mit noch zu erarbeitenden je spezifischen Strukturen sind 1,1—4,10; 4 , 1 1 - 6 , 1 7 ; 6 , 1 8 - 1 4 , 1 9 ; 1 4 , 2 0 - 1 9 , 1 9 ; 1 9 , 2 0 - 23,27; 2 4 , 1 - 3 2 ( 3 5 ) , 1 3 ; 3 2 ( 3 5 ) , 1 4 - 3 8 , 2 3 ; 3 8 , 2 4 - 4 2 , 1 4 ; 4 2 , 1 5 - 5 0 , 2 9 ; 51 (Jüngling: 1 , 1 - 1 6 , 2 3 ; 1 6 , 2 4 - 2 4 , 2 9 ; 2 4 , 3 0 - 3 3 , 1 5 ; 3 3 , 1 6 - 3 9 , 1 1 ; 3 9 , 1 2 - 4 3 , 3 3 ; 4 4 , 1 - 5 0 , 2 6 ; 5 0 , 2 7 - 2 9 ; 51). Die Texte von Kommen und Gegenwart der Weisheit bzw. der Begegnung mit ihr sowie über die Gottesfurcht (u.a. 1 , 1 1 - 2 , 1 8 ; 1 0 , 1 9 - 2 4 ; 4 0 , 1 8 - 2 7 ) stellen den theologischen, religiösen R a h m e n für die Lehreinheiten zu den konkreten T h e m e n des privaten und öffentlichen Lebens dar. Charakteristisch scheint eine Entwicklung der in Teil I nur angedeuteten (vgl. 1 6 , 2 4 - 1 7 , 1 4 ) , in Teil II in Sir 2 4 ausdrücklich formulierten Verbindung der in der Schöpfung gegenwärtigen Weisheit mit Israels Geschichte, die im Schlußdiptychon über Schöpfung und Geschichte ( 4 2 , 1 5 - 4 3 , 3 3 und 4 4 - 4 9 . 5 0 ) breit entfaltet wird. Für einen erst aufzuhellenden Entstehungsprozeß des Buches sprechen neben den verschiedenen Textfassungen vor allem die erwähnten, ursprünglich wohl selbständigen größeren thematischen Einheiten sowie Hinweise auf Abschluß, Fortsetzung und Verschriftung in einer Reihe autobiographischer Notizen (16,24f.; 2 4 , 3 0 - 34; 3 3 , 1 6 - 1 9 ; 39,12.32; 5 1 , 1 3 - 2 7 ; Liesen, Passages). Offen bleibt die Funktion der Lobrede der Weisheit Sir 24: war sie ursprünglich feierlicher Abschluß eines ersten Teiles ( 1 , 1 - 2 4 , 2 9 ) mit 24,8.12.16.20 als positivem Gegenstück zu 2 2 , 2 7 - 2 3 , 2 3 , der durch 2 4 , 3 0 - 3 4 zur Eröffnung von Teil II wurde? Sir 51 könnte mit Dankpsalm ( 5 1 , 1 - 1 2 ) und Rückblick auf die Weisheitssuche redaktioneller Abschluß des Buches als Klammer zu 1 , 1 - 2 , 1 8 sein (Gilbert, L'action). Neben der vielleicht in Kreisen von Q u m r a n entstandenen Danklitanei 5 1 , 1 2 a - o , die in G r fehlt, wird seit einigen Jahrzehnten die Authentizität von Sir 4 8 , 1 0 - 1 1 ; 4 9 , 1 4 -
312
Sirach/Sirachbuch
16, des Gebetes 36,1—22 sowie von Sir 51 diskutiert bzw. eine m a k k a b ä i s c h e Bearbeitung (Midd e n d o r p ) e r w o g e n (von Schräder n u r f ü r 48,10 und 3 6 , 1 - 2 2 ) .
7. Anliegen
und theologische
Schwerpunkte
Sirachs Werk erschöpft sich nicht in der Z u s a m m e n s t e l l u n g von Sprüchen und M a h n w o r t e n traditioneller Weisheit zu größeren thematischen Blöcken; es zeugt von kritischunterscheidender Begegnung mit seiner Zeit, von Ansätzen zu theologischer Reflexion und Systematik sowie von seiner pädagogisch-religiösen Zielsetzung. Positive theologische Integration von Errungenschaften hellenistischer Kultur versucht Sir 3 8 , 1 - 1 5 durch die Verbindung m o d e r n e r medizinischer Wissenschaft und traditioneller Frömmigkeit von Gottes S c h ö p f u n g s o r d n u n g her. Wieweit Aussagen über V e r a n t w o r t u n g und Freiheit des M e n s c h e n (15,11-17), über Selbstbeherrschung (22,27-23,6; 3 8 , 1 6 - 2 3 ) , das Übel in der S c h ö p f u n g s o r d n u n g ( 3 9 , 1 2 - 3 5 ) , über die Tora als G r u n d o r d n u n g der S c h ö p f u n g ( 2 4 , 1 - 2 3 ; 1 7 , 1 - 1 4 ) oder das Wort 43,27 „Er ist alles" stoischen Einfluß verraten, ist einer gründlicheren Studie wert. Zweifellos entspringt das Aufgreifen einer Reihe von T h e m e n den H e r a u s f o r d e r u n g e n der Stunde Sirachs: so der K o m m e n t a r zum Elterngebot 3 , 1 - 1 6 ; die vielen Perikopen über Freundschaft, über Ehre, Ehrgefühl und Schande (vgl. 1 0 , 1 9 - 2 4 ; 4 1 , 1 6 - 4 2 , 5 ; 4 4 , 1 - 1 5 etc.), M a h n u n g e n zur Vorsicht im U m g a n g mit Reichen und Mächtigen (9,17-11,6.9; 13), auch die f ü r einen Weisen u n g e w o h n t harte Kritik an Ungerechtigkeit in Verbindung mit Frömmigkeit u n d Kult (34,21-35,20), vor allem die W a r n u n g vor Abfall von der Weisung des Höchsten (vgl. 41,8f.; 42,1 f.). Grenzen innerhalb dieses H o r i z o n t s offenbaren Ratschläge zur Erziehung (30,1-11), über den U m g a n g des M a n n e s mit Söhnen, Sklaven, Frauen (33,20-26), vor allem Texte über die Rolle der Frau (vgl. 9 , 1 - 9 ; 2 3 , 2 2 - 2 6 ; 25 - 26; 41,21 f.; 4 2 , 9 - 1 4 ) , die vielfach Anlaß sind, Sirach als Frauenfeind zu bezeichnen. Auch w e n n Aussagen wie 25,24.25 f. oder 42,13 f. nicht zu retten sind, bleibt für ein sachkritisches Gesamturteil zur Stellung Sirachs zur Frau der jeweilige literarische (vgl. 9 , 1 - 9 und 9 , 1 0 - 1 6 ) und soziokulturelle Kontext zu beachten. Die androzentrische Sichtweise wird bei Sirach gewiß verstärkt durch das Vordringen hellenistischer Lebensformen auch im Bereich von Sexualität und Familie. Aussagen zu Lasten der Eigenpersönlichkeit und W ü r d e der Frau sind ein restriktiver Versuch, traditionelle gesellschaftlich-religiöse Werte, aber auch das im M i t t e l m e e r r a u m herrschende Wertsystem von Ehre u n d Ansehen des M a n n e s in diesem Bereich zu b e w a h r e n (vgl. Di Lella, Women, zur U m k e h r u n g im Buch - » J u d i t h sowie differenzierend und weiterführend Strotmann).
Ben Siras Eigenständigkeit innerhalb der Weisheit wird besonders in seinen großen Versuchen theologischer Reflexion und Synthese deutlich. D u r c h das ganze Buch hind u r c h greift er das Problem des Übels bzw. einer e r k e n n b a r e n , guten S c h ö p f u n g s o r d n u n g (vgl. 1 5 , 1 1 - 1 8 , 1 4 ; 3 3 , 7 - 1 5 ; 3 9 , 1 2 - 3 5 ; 4 0 , 1 - 1 1 ; 4 1 , 1 - 1 3 ; 4 2 , 1 5 - 4 3 , 3 3 ) auf. Der Versuch rationaler A r g u m e n t a t i o n f ü r die Z w e c k m ä ß i g k e i t der Werke Gottes (39,21-31) u n d das hymnische Bekenntnis ( 3 9 , 1 2 - 1 5 . 1 6 . 2 1 - 3 5 ) d ü r f t e n Sirachs Echo auf Koh 3 , l l a . b sein; ähnlich sind vielleicht die Aussagen über die d a u e r h a f t e Wirklichkeit des Guten Sir 4 0 , 1 2 - 1 7 oder 4 1 , 1 0 - 1 7 über den bleibenden R u f / R u h m der G ü t e Ergänzung der Thesen Kohelets v o m Tod als radikalem Ende von N a m e und Ruf. Auch weitere D e u tungsversuche zu e r f a h r e n e n D i s h a r m o n i e n ( E r p r o b u n g und P r ü f u n g : vgl. 4,11 — 18; 6 , 2 4 - 3 0 ; 2 , 1 - 1 8 ) zeigen Sirachs bleibendes Tasten und Reflektieren. Auch in den Weisheitsgedichten begegnet in poetischer Gestalt sein theologisches D e n k e n , das bisherige Aussagen über die Weisheit entscheidend w e i t e r f ü h r t . Weisheit ist nicht nur von G o t t ausgehende (1,1; 24,3), geschenkte, e n t g e g e n k o m m e n d e Wirklichkeit (vgl. l , 9 f . ; 6 , 2 8 - 3 1 ; 1 5 , 2 - 1 0 ) , die vom M e n s c h e n zu suchen ist (vgl. 6 , 1 8 - 2 7 ; 14,20-27); sie ist nach 1,1 — 10 und 24 als eine universale Kategorie, a m besten als O f f e n b a r u n g b z w . Wirken Gottes in verschiedenen Stufen zu umschreiben: Ihre G e g e n w a r t u m f a ß t den Kosmos ( 2 4 , 3 - 7 ) , die E r w ä h l u n g und Geschichte Israels ( 2 4 , 8 - 1 7 : Jakob/Israel, Heiligtum, Jerusalem, Land). 24,23 faßt „dies alles" z u s a m m e n in der Tora des M o s e , deren Fülle im Weisen weiterwirkt ( 2 4 , 2 5 - 3 4 ) . Der den Weg der Weisheit von 24,3—22 u m f a s s e n d e Vers 24,23 versteht T o r a über das Gesetz des M o s e hinaus wohl bereits als
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Gesamt der Offenbarung bzw. des von der Weisheit abgeschrittenen Kanons von T o r a , Propheten und Schriften. Auch in 1 7 , 1 - 1 4 gehen Schöpfungsordnung und Tora vom Sinai ineinander über. Nochmals in anderer F o r m begegnet die Verbindung von Schöpfung und Geschichte Israels durch das M o t i v der Herrlichkeit im Schlußdiptychon 4 2 , 1 5 - 4 3 , 3 3 und 4 4 - 4 9 . 5 0 . Die Darstellung großer Gestalten der Geschichte Sir 4 4 - 4 9 . 5 0 gründet die Existenz Israels zur Zeit Sirachs auf sieben Bundesschlüsse, von denen das Schwergewicht auf dem zweimal an hervorragender Stelle genannten Bund mit dem Priestertum für Aaron bzw. Pinchas liegt ( 4 5 , 2 3 - 2 5 ; 50,24), der offenbar den Davidsbund (45,25) überragt. O b Sirach über die Gegenwart hinaus eine neue Zuwendung Gottes in der Geschichte im Blick hat (positiv: Hildesheim 263), hängt an der Gesamtschau von 4 4 - 4 9 . 5 0 . Trotz der in der Weisheit Sirachs meist unterschätzten Bedeutung systematischer Reflexion im Dienst der Stärkung jüdischer Identität liegt das Zentrum des Buches im pädagogisch-religiösen Bereich. Ziel der Bildung einer eher elitären Schülerschaft ist „die Kultivierung der Seele", die Formung aller Kräfte der Person zum Weisen (vgl. Wischmeyer 1 7 4 - 2 0 0 , besonders 2 0 1 - 2 4 7 ) . Unmittelbarer M a ß s t a b ist der Lehrer selber mit seiner Lehre (vgl. 6 , 3 3 f . ; 51,28), die nach dem Idealbild des Weisen 3 8 , 3 4 - 3 9 , 3 (vgl. auch 15,1; 2 4 , 2 3 - 3 4 ) an den Überlieferungen Israels geformt ist. Anfang, Wurzel und Krone aller Weisheit (1,14.18.20; 19,20) ist die Gottesfurcht als umfassende religiöse Haltung, die in einer Reihe von Perikopen entfaltet wird, beginnend mit dem Programmtext 1 , 1 1 - 2 , 1 8 . Gottesfurcht steht vor und über aller Erfüllung des Gesetzes (vgl. 2,16; 3 2 , 1 5 f . 2 3 f . ; 33,1 f.) Als Horizont der Einzelmahnungen durchdringt sie alle menschlichen Beziehungen (vgl. 3,7; 6 , 1 5 f . ; 7 , 2 9 f . ; 1 0 , 1 9 - 2 4 ; 25,10; 26,3). Sie verleiht auch dem Geringsten Würde und befreit von unnötiger Furcht vor allem, was geringer ist als G o t t (vgl. 34,16). Sie ist in Versuchung erprobtes Vertrauen und Hingabe an den Herrn ( 2 , 1 - 1 8 ) , ja sie steht der Liebe zu Gott ganz nahe (2,15; 3 4 , 1 4 - 1 9 ) . Höchster Ausdruck von Gottesfurcht und Weisheit ist deshalb das Gebet (15,9f.; 1 7 , 6 - 1 0 ; 39,5; 3 9 , 1 4 - 1 6 . 3 2 - 3 5 ; 4 3 , 2 7 - 3 3 ) , wie es Gestalten der Geschichte illustrieren (vgl. neben David in 4 7 , 5 - 1 0 noch 46,5.16; 4 8 , 2 0 f . ) , aber auch eine Reihe von Gebeten wie 2 2 , 2 7 - 2 3 , 6 ; 3 6 , 1 - 2 2 ; 45,25ef.26; 5 0 , 2 2 f . ; 5 1 , 1 - 1 2 sowie die hymnischen Elemente in 39,12-16.32-35; 42,15-43,33. Zeugnis tiefer Wurzeln der Religiosität Sirachs ist trotz der genannten soziokulturellen Grenzen sein Ethos der Verantwortung für die Armen ( 2 9 , 8 - 1 3 ) , das den Reichtum als Testfall der Rechtschaffenheit betrachtet ( 3 1 , 8 - 1 1 ) , die Überzeugung von der Unabdingbarkeit mitmenschlicher Vergebung für die Vergebung Gottes ( 2 8 , 2 - 5 ) ; besonders beachtenswert ist die Betonung sühnender Wirkung ethischen Handelns (3,14f.: Elternehrung; 3,30; 35,4: Wohltun) angesichts der Hochschätzung des Kultes im Sirachbuch. Sirach wirbt für eine breite, literarische und theologische Synthese von Glaube, Kult und Ethos, von T o r a , Propheten und Schriften, vielleicht als nochmaliger Versuch einer Integration aller Gruppen Israels im Haus der Tradition, das ihn noch beherbergt. Er tut dies in der Bejahung der vom Schöpfer gewährten Erkenntnismöglichkeiten des M e n schen ( 1 7 , 1 - 1 4 ) , in der hymnischen Feier der guten, zweckmäßigen Werke Gottes, vor allem der kultisch-religiösen Ordnung seiner Tage. 8.
Wirkungsgeschichte
Bereits T e x t - und Kanongeschichte Sirachs (s.o. 1 . - 3 . ) haben die Sonderstellung des Buches im J u d e n t u m hervortreten lassen: O b w o h l nicht in die Sammlung der kanonischen Schriften rezipiert, begegnet es bis ins hohe Mittelalter als Zeugnis authentischer jüdischer Tradition. Aus der Wirkungsgeschichte im Christentum ist neben der seltenen Kommentierung (erstmals bei - » H r a b a n u s Maurus: PL 1 0 9 , 7 6 3 - 1 1 2 6 ) interessant, daß die Funktion des Buches für Anfänger im Glauben bei den Vätern des 3 . / 4 . J h . im 16./ 17. J h . neu auflebt, verständlicherweise im katholischen Bereich, wie Separatdrucke aus der Bibelübersetzung von J o h a n n Dietenberger zeigen (Uwe Köster, Studien zu den ka-
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tholischen deutschen Bibelübersetzungen im 16., 17. und 18. J a h r h u n d e r t , 1995 [ R G S T 134] 8 4 - 8 6 ) . Ü b e r r a s c h e n d ist trotz der E i n o r d n u n g unter die A p o k r y p h e n die H o c h schätzung im L u t h e r t u m des 1 6 . / 1 7 . J h . , die nicht nur in zahlreichen Ausgaben der Sirachübersetzung Luthers, in T e x t a u s g a b e n und Auslegungen bezeugt ist, sondern vor allem in der Verwendung für fortlaufende Predigten, für katechetische Unterweisungen bis hin zu Lied- und Reimfassungen („syrachische Lieder") (Koch). Ein weiteres Beispiel, wie die Kanontheorie von der Praxis relativiert wurde, sind zwei vom Luthertext Sir 50,24—26 (sonst 5 0 , 2 2 - 2 4 ) inspirierte Kirchenlieder: das eine ist „ N u n danket alle G o t t " (EG 3 2 1 ) , dessen T e x t von M a r t i n R i n c k a r t ( 1 5 8 6 - 1 6 4 9 ) vielleicht als T i s c h g e b e t um 1630 geschaffen wurde (oder nach dem -»Dreißigjährigen Krieg?); das andere ist die schöne geistliche Dichtung „ N u n danket all und bringet E h r " (EG 322) von P. - » G e r h a r d t , die in ihren neun Strophen viele Anspielungen auf Sir 5 0 , 2 4 - 2 6 enthält (Melodie von J o h a n n Crüger) (vgl. G n a n 1 2 0 - 1 2 8 ) . Beide Lieder zählen zum ökumenischen Liedgut. Viele andere Sirachverse begegnen in Vertonungen des gregorianischen Chorals. Sir 3 4 , 2 6 - 2 7 („Den N ä c h s t e n mordet, wer ihm den Unterhalt n i m m t , Blut vergießt, wer dem Arbeiter den L o h n v o r e n t h ä l t " ) bewirkte bereits bei B a r t o l o m é de - » L a s C a s a s eine Wandlung zum Anwalt für die R e c h t e der unterdrückten Indianer Lateinamerikas (Jüngling 89f.). Lateinamerikanische Bibelkurse haben diese Konkretheit der Spruchweisheit Sirachs neu entdeckt (Carlos Mesters, Vom Leben zur Bibel - von der Bibel zum Leben, M a i n z u . a . , I 1983, 4 0 - 61). Literatur Die folgenden Literaturangaben ergänzen die von Hans-Peter Rüger in T R E 3,314f. gebotene Bibliographie und führen sie vor allem durch eine Auswahl der wichtigsten seither erschienenen Literatur weiter. Eine umfassende Bibliographie zum Teil bis 1998 bietet: Bibliogr. zu Ben Sira, hg. v. Friedrich Vinzenz Reiterer, 1998 (BZA"W 266). 1. Textausgaben: Pancratius C. Beentjes, The Book of Ben Sira in Hebrew. A Text Ed. of All Extant Hebrew Manuscripts and a Synopsis of All Parallel Hebrew Ben Sira Texts, 1997 (VT.S 68). - Wolfgang Richter, Biblia Hebraica transcripta. BHt. 16. Sirach, 1993 (ATSAT 33/16). - Michael M . Winter, A Concordance to the Peshitta Version of Ben Sira, Leiden 1976 (Peshitta Institute Monographs 2). - Joseph Ziegler, Sapientia Iesu Filii Sirach, Göttingen 1965 (Septuaginta Vetus Testamentum Graecum XII/2). - Shemaryahu Talmon, Hebrew Fragments from Masada, Jerusalem 1999 (Masada. The Yigael Yadin Excavations 1963-1965. Final Reports 6). 2. Kommentare: James L. Crenshaw, The Book of Sirach: The New Interpreter's Bible, hg. v. Leander E. Keck, Nashville, Tenn. u.a., V 1997, 6 0 1 - 8 6 7 . - Otto F. 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Johannes Marböck
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Sitte/Sittlichkeit
Sitte/Sittlichkeit 1. Begriffsklärung 2. Quellen des neuzeitlichen Sittlichkeitsdiskurses 3. Moralität und Sittlichkeit 4. Sitte/Sittlichkeit als Gegenstand theologischer Ethik (Literatur S. 330)
1.
Begriffsklärung
1.1. Das deutsche Lexem „Sitte" (adjektivisch: „sittlich" = der Sitte entsprechend; Gegenbegriff „sittenlos"; vgl. —•Goethe, Werke IX, 168) bezeichnet wie die griechischen Lexeme rf9oq und '¿Ooq, wie das lateinische Lexem mos (bzw. mores maiorum; vgl. Hans Rech, Mos maiorum, Diss. Marburg 1936; Max Käser, Römisches Privatrecht, München u 1979, § 3), aber auch wie das hebräische Lexem hoq und dessen neutestamentliche Übersetzungen (vdßOQ; ivxokrf) die Ethosgestalt (Herms, Ethik), die das Zusammenleben individueller Personen in einer sozialen Formation, also ihre Interaktion, faktisch regelt. Es gehört zu einem sprachlichen Feld, das auch die Lexeme „Brauch", „—•Gewohnheit", „Üblichkeit", „Anstand", „Etikette", „Manieren", „Ritual" umfaßt. Alle diese Lexeme meinen Interaktionsregeln, die sich hinsichtlich ihres Geltungsbereichs, hinsichtlich ihrer Funktion und hinsichtlich ihrer Strenge oder Ausnahmslosigkeit unterscheiden lassen. Während Interaktionsregeln in primären und sekundären Sozialgebilden (Sippen und Stämmen) und Regeln der Höflichkeit bzw. der Statusanerkennung in sozialen Milieus (Knigge) innerhalb der gemeinsamen Ethosgestalt einer sozialen Formation fortgelten können, erheben deren Regeln den Anspruch, der Erreichung eines als gut erkannten Ziels zu dienen. Daher begegnet das Lexem „Sitte" wortgeschichtlich - im Alt- und Mittelhochdeutschen noch als Maskulinum verwendet (DWb 16,1238) — sowohl als Bezeichnung für individuelle oder soziale Bräuche, Gewohn- oder Gepflogenheiten (z.B. Luther, WA 6,300,31; Hegel, Ästhetik II, 185) als auch als Bezeichnung verpflichtender Handlungsregeln, die als gut bewertet werden und deren Befolgung Ausdruck einer Gesinnung (d.h. der verstehenden und bejahenden Aneignung) ist. Den Inbegriff der letzteren faßt die singularische Wendung „die Sitte" (Goethe, Werke IX, 377) bzw. die pluralische Wendung „die guten Sitten" (Wieland, SW XI, 6) zusammen; diese ist dann auch in die deutsche Rechtssprache im Rahmen der sog. Generalklauseln eingegangen (vgl. BGB [Bürgerliches Gesetzbuch] § 138: „Ein Rechtsgeschäft, das gegen die guten Sitten verstößt, ist nichtig"; vgl. ausführlich: Hermann Herzog, Z u m Begriffe der „guten Sitten" im bürgerlichen Gesetzbuch. Auf Grund einer Untersuchung des Verhältnisses von Sitte, Recht und Moral, Breslau 1910 [Stud. zur Erläuterung des bürgerlichen Rechts 33]; Jan Schapp, Grundlagen des bürgerlichen Rechts, München 1991, 210-217). In seiner deutschen Bibelübersetzung gebraucht -»Luther (s.u. 2.4.) das Wort „Sitte" als Übersetzung für das hebräische hoov noforiKÖv) sei (pol. I, 1252b28ff.). Deshalb gehört die politische Existenz in einer je besonderen Polis mit ihrer je besonderen Auslegung des Rechten (eth. Nie. X,10, 1180a23) zu dem mit der menschlichen Wesensnatur gegebenen Streben nach dem Guten, das im freundschaftlichen Wohlwollen zur Erfüllung gelangt (ebd. 1155b33; 1156a9; 1168b29—31). In der Zumutung, die geltende Sitte zur Handlungsgewohnheit werden zu lassen, liegt das normativ-präskriptive Moment dieser Konzeption (vgl. auch T R E 3,743ff.; 10,412-415; 24,136f.).
2.2. Die aristotelische Ethos-Konzeption erfuhr durch die Naturrechtslehre der —>Stoa einerseits, durch die Ansätze zu einer Theorie des christlichen Ethos in der Zeit der Alten Kirche und deren Stoa-Rezeption andererseits eine tiefgreifende Transformation. 2.2.1. Das stoische Naturrechtsdenken (—>Naturrecht 1.2.7.) hatte den Begriff des „von Natur aus" Guten als Inbegriff des Sittlich-Guten ( h o n e s t u m ) im Sinne eines Prinzips der Unterscheidung zwischen gutem und schlechtem Recht (iustum) entwickelt (Cicero, leg. 1,44.46). Dieses „Sittlich-Gute" ist als lex divina et humana (off. 111,23), d.h. als Manifestation der göttlichen Vernunft, der endlichen Vernunft als die die Welt lenkende Weisheit erschlossen (leg. 11,8.10), und es wird in der sittlichen Klugheit wirksam, die das Rechte zu tun befiehlt und es zu verletzen verbietet (leg. 1,18f.). Diese Begründung der Gültigkeit und der verpflichtenden Kraft des Sittlich-Guten in der Weltvernunft zieht dann ausdrücklich bei Ulpian (ca. 1 7 0 - 2 2 8 ) eine Relativierung der partikularen Ethosgestalten als Ausdruck bloßen Gewohnheitshandelns mit eingeschränkter, lediglich empirischdeskriptiv zu erhellender Geltung nach sich (vgl. auch T R E 10,416f.). Diese Relativierung wird in der frühen Neuzeit Anlaß zur Konzeption einer historisch interessierten „Sittendarstellung" (DWb 16,249) bzw. einer „Sittengeschichte" (Kant, Anthropologie in pragmatischer Hinsicht: ed. Weischedel VI, 3 9 5 - 6 9 0 ; ders., Metaphysik der Sitten: ebd. IV, 321) geben.
2.2.2. Die Ethos-Konzeptionen, die in den verschiedenen Theologien im Doppelkanon der Heiligen Schrift enthalten sind, thematisieren das in Israel bzw. das in der Gemeinschaft des christlichen Glaubens geltende Ethos. Sie werfen grundsätzlicher, als dies im Rahmen der aristotelischen Theorie einer durch Gewöhnung angeeigneten herrschenden Sitte geschieht, die Frage nach der Gültigkeit und damit nach dem Geltungsgrund des Ethos Israels bzw. der Kirche auf.
320
Sitte/Sittlichkeit
Die Gültigkeit des Ethos Israels ist demnach im erwählenden Willen Jahwes und in der damit gesetzten Bestimmung, also in deren Offenbar-Werden, begründet. Gerade als partikulares und perspektivisches Ethos, wie es vor allem in dem Gebot der Gottesliebe (Dtn 6,5) und in den Schutzbestimmungen formuliert wird, erhebt es einen universalen Geltungsanspruch, weil es den Inbegriff einer Interaktionsregel aufstellt, die auf eine in Jahwes Schöpferhandeln gesetzte Bestimmung des Menschen bezogen ist (vgl. Schmidt, Schöpfungsgeschichte). Darüber hinaus machen die biblischen Ethos-Konzeptionen in radikaler Weise auf das Problem der Gesinnung, d.h. auf die Frage des ermöglichenden Grundes eines freien Gehorsams gegenüber der Gültigkeit des Ethos aufmerksam (vgl. T R E 3,423ff.).
In den Trennungsprozessen zwischen dem Judentum und dem frühen Christentum, denen letztlich die Ursprungssituation des Glaubens an Jesus als den Christus Gottes in den Erscheinungen des Auferstandenen zugrunde liegt, erhebt sich alsbald die Frage nach der Gültigkeit des Ethos Israels, wie es in der Tora (-»Gesetz) verschriftlicht und in der —»Halacha fortgeschrieben worden ist, für die Lebenspraxis der christlichen Glaubensgemeinschaft (vgl. T R E 10,443ff.). Die Konzentration auf das Liebesgebot insbesondere in der Theologie des —»Paulus und der johanneischen Schriften hält an der Gültigkeit dieses Ethos als einer Objektivation des göttlichen Heilswillens entschieden fest (vgl. nur Rom 13,9f.), erklärt also die adäquate Wahrnehmung des Gottesverhältnisses der Person und die „barmherzige" (schützende und bewahrende) Wahrnehmung des Nächsten zu dessen essentiellem normativem Gehalt. Vor allem aber sieht das Neue Testament in der erscheinenden —•Gerechtigkeit Gottes (Rom 3,21) bzw. in der - » L i e b e Gottes (Joh 3,16) die hinreichende Bedingung der menschlichen Erfüllung des göttlichen Heilswillens (Rom 2,28f.; Gal 5 , 1 3 - 2 5 ) und entwickelt daher Figuren der —>Paränese, die zur Gewöhnung anleiten unter der Voraussetzung der Glaubensgewißheit (vgl. -»Ethik IV).
Die in den Theologien des Neuen Testaments enthaltenen ethischen Theorieansätze bestimmen die Entstehung von Sittlichkeit als ein in dem Offenbar-Werden der -*Gnade Gottes, im Wirken des - » Geistes Gottes begründetes Ereignis der Hingabe der Person an Gottes Heilswillen. Die anthropologischen Implikationen dieser allgemeinen Bestimmung werden aufgedeckt und kontrovers diskutiert im Pelagianischen Streit (—»Pelagius/ Pelagianischer Streit). Die kirchliche und theologische Rezeption seines Ertrages hat dann zu kontradiktorischen Beschreibungen von Sittlichkeit im römischen Katholizismus bzw. in den reformatorischen Theologien geführt. Demgegenüber wird der Sittlichkeitsdiskurs nach —»Hegel (s.u. 3.2.2.) die Gnadenlehre bzw. die Pneumatologie als Ort der sittlich-guten Erkenntnis und Lebenspraxis überhaupt preisgeben und sich an den teils aristotelischen, teils stoischen Konzeptionen einer Vernunftethik orientieren. 2.3. - » T h o m a s von Aquino, der die Nikomachische Ethik in Vorlesungen an der Pariser Artistenfakultät interpretiert hatte, hat im II. Teil der Summa theologica die erste und für römisch-katholisches Denken bis heute maßgebliche wissenschaftliche Darstellung einer —»Moraltheologie vorgelegt (Kluxen; vgl. T R E 10,475ff.; 2 4 , 1 4 2 , 4 7 145,11). Seine im /ex-Traktat (S.th. I—II q. 90—108) entwickelte Unterscheidung zwischen lex aeterna, lex naturalis, lex humana und lex divina berücksichtigt einerseits den fundamentalanthropologischen Sachverhalt praktischer Vernunft, dem Handeln die auf das Glück der menschlichen Gemeinschaft bezogenen (S.th. I-II q. 90 a 2 c) sittlichen und rechtlichen Regeln zu setzen; andererseits setzt sie der stoischen Identifizierung von lex naturae und lex divina die im Licht der Zuordnung von Natur und Übernatur, von Schöpfung und Erlösung konzipierte Inhaltlichkeit der durch Gottes Offenbarung im Alten und im Neuen Bund erschlossenen lex divina, der Ausrichtung des Menschen auf sein übernatürliches Ziel, entgegen (Korff).
2.4. Die grundlegende Bedeutung der —»Reformation und insbesondere des theologischen Denkens Luthers für den neuzeitlichen Sittlichkeitsdiskurs besteht in der Entfaltung der Erfahrung des Glaubens als der Erfahrung christlicher Freiheit (vgl. -»Erfahrung III/1.4.; —»Ethik VII.2.1.). Diese läßt sich mit ihrem Widerspruch gegen die scholastischen Formen der Gnadenlehre wie gegen die stoischen Traditionen in den humanistischen Ethos-Konzeptionen (vgl. T R E 15,639ff.645f.652) als Ansatz einer kon-
Sitte/Sittlichkeit
321
sistenten und kohärenten theologischen Theorie der Sittlichkeit interpretieren, die von der Besinnung auf das Geschehen der Offenbarung aus zu tiefgreifenden ontologischen und psychologischen Neubestimmungen des menschlichen In-der-Welt-Seins gelangt (-»Seele V). Aus exegetischen (vgl. T R E 6,510ff.), vor allem aber aus sachlogischen Gründen hebt Luther die Ausdifferenzierung von lex naturalis und lex divina auf und geht aus von der Verpflichtungskraft der lex naturalis, welche für die Selbstgewißheit aller personalen Geschöpfe erschlossen und im Dekalog bzw. im Doppelgebot der Liebe nur verschriftlicht ist (WA 16,390; 18,80,18; 39/1,454,4.10; s. T R E 21,548 f.; zu -»Calvin und -»Melanchthon s. dort) - einer Verpflichtungskraft, die in dessen Charakter gründet, „Lehre und Wort des Lebens" (WA 46,658,38; 661,11) zu sein. Aufgrund der im Offenbarungszeugnis eröffneten beiden Gestalten des Schöpferwillens kommt es zur Unterscheidung zwischen einem usus civilis und einem usus theologicus des Gesetzes, der partikulare Ethosgestalten (insbesondere die kultisch-zeremoniellen Elemente des Ethos Israels), aber auch positiv gesetzte Rechtsordnungen ebenso relativiert wie normiert.
Die reformatorischen Theologien intendieren eine Zuordnung des Sittlich-Guten und des Rechten, die auch die institutionellen Formen des sozialen Lebens in der Welt - also die Sphären von Ehe, Haus und Wirtschaft, Schule, Bildung und Herrschaft sowie insbesondere die geordnete Gestalt der Evangeliumspredigt - zum Gegenstand der menschlichen Verantwortung erklärt (vgl. T R E 21,557ff.), in deren Wahrnehmung sich die Person als cooperator Gottes in Gottes beiden Regierweisen erweist. Die ethische Pointe der Rechtfertigungslehre liegt daher in der Beschreibung des sittlichen Seins der Person (vgl. bes. Luthers Vorlesung über den Galaterbrief [1516/17]: W A 57,105). Dieser Fundierungszusammenhang von Glaubensgewißheit, Liebe und Recht, von „Religion", „Sittlichkeit" und Verfassung bildet dann geradezu die Isotopie des ethischen Diskurses innerhalb der protestantischen Theologie unter den Bedingungen der Geistesgeschichte im Rahmen der neuzeitlichen Modernisierungs- und Säkularisierungsprozesse. 3. Moralität
und
Sittlichkeit
Unter den Rahmenbedingungen des neuzeitlichen Diskurses über den Begriff der Erfahrung kommt es zu einschneidenden Neubestimmungen des Gegenstandes ethischer Theorie. Während die theologische Ethik ihren Gegenstand im Lichte eines vollständigen - das Gottes-, Welt- und Selbstverhältnis einschließenden - Begriffs von humaner Personalität erörtert, dominieren in den außertheologischen Diskursen Personkonzeptionen, die den Transzendenzbezug der Person für die Theorie der Genese und der Geltung von Sittlichkeit vernachlässigen. 3.1. Die Moralphilosophie Kants gebraucht das Lexem „Sittlichkeit" gleichbedeutend mit dem Lexem „ M o r a l i t ä t " (Kant, Metaphysik der Sitten: ed. Weischedel IV, 320) und deutet es im Sinne des inneren Prinzips, der Gesinnung der Person, dem kategorischen Imperativ der reinen praktischen Vernunft zu folgen (ebd. 518). Kants Bestimmung des ethischen Gegenstandes beruht auf seiner erkenntnisleitenden Intention, im Verfahren der transzendentalen Analyse die Gegenstandskonstitution sowohl des Naturgeschehens als auch des Freiheitsgeschehens aufzudecken. Er nimmt für diese Gegenstandskonstitution die synthetische Kraft der als Selbstbewußtsein verfaßten Vernunft in Anspruch, die in apriorisch gewissen Sätzen resultiert. Analog zur Gegenstandskonstitution des Naturgeschehens wird daher die Gegenstandskonstitution des Freiheitsgeschehens durch die „Selbstgesetzgebung der Vernunft" geleistet, die als „Kausalität in Ansehung ihrer Objekte" (Grundlegung zur Metaphysik der Sitten: ed. Weischedel IV, 83) zu denken ist, wie sie dann in den verschiedenen Aussageformen des kategorischen Imperativs zur Sprache kommt. Zugleich entwickelt Kant einen Begriff der Tugendpflicht (ebd. IV, 512f.), der sich ausdrücklich gegen das Moment der Gewöhnung an das Sittlich-Gute im Zuge eines Bildungsprozesses richtet (ebd. IV, 513), jedoch zu einer aporetischen Beantwortung der Frage führt, auf welchem Wege die Person sich moralische Grundsätze anzueignen vermag (ebd.). Schließlich etabliert Kant - der Aufbau der Metaphysik der Sitten zeigt es - die Diremtion von Recht und Moralität, von Handlungen der rechtlichen und Handlungen der moralischen Gesetzmäßigkeit (Metaphysik der Sitten: ebd. IV, 318); vgl. -»Ethik VII.4.2.5.; -»Kant/Neukantianismus 1.2.5.
322
Sitte/Sittlichkeit
3.2. Kants rein deontologische Deutung des Sittlich-Guten als des transzendentalen Bestimmungsgrundes des Handelns stößt bei den Kant-Nachfolgern im Rahmen ihrer Neubestimmung des Erfahrungsbegriffs auf grundsätzliche Kritik, deren Indiz die Beachtung der Geltung der geschichtlich tradierten Sitte und die ethische Relevanz der Institutionenwelt am Leitfaden konkreter oder substantieller Sittlichkeit ist (zu -»Fichtes Sittenlehre vgl. T R E 11,165f.; zu -»Schelling s.o.). 3.2.1. ED.E. -»Schleiermacher formuliert in den Entwürfen zu einer (philosophischen) Ethik: „In pflichtmäßigen Handlungen muß die ganze Idee der Sittlichkeit sein" (Ethik 1812/13: ed. Birkner 167). „Die ganze Idee der Sittlichkeit" umfaßt die beiden nach Schleiermacher zu unterscheidenden Hauptformen sozialer Interaktion und die dadurch konstituierten sittlichen Sphären (ebd.), wie Schleiermacher sie in der Skizze der vollkommenen ethischen Formen dargestellt hat. Die Idee der Sittlichkeit bezeichnet also den aus fundamentalanthropologischen bzw. sozialtheoretischen Grundannahmen entwickelten Begriff des „-»-Höchsten Gutes". Die fundamentalethische (spekulative) Reflexion zeigt auf, daß dessen - aus dem Begriff der christlichen Frömmigkeit gewonnene - inhaltliche Bestimmtheit für den Vollzug der einzelnen Handlung ebenso wie für die ethische Reflexion konstitutive Bedeutung hat. Das „Sittlich-Gute" ist demnach ein deskriptiv gemeinter Terminus insofern, als er das „sittlich Gewordene" (ebd. 16) innerhalb des Geschichtsprozesses bezeichnet. Gegenstand der Ethik ist daher „die Kraft, aus welcher die einzelnen Handlungen hervorgehen" (ebd. 6). Ihre Aufgabe ist es, die „Totalität" (ebd. 16) des Sittlichen als des Lebens der Vernunft in allen Interaktionsfeldern des leibhaften In-der-Welt-Seins zu erfassen. Im Widerspruch zu dem - jedenfalls die beiden ersten Kritiken bestimmenden - Kantschen Gegensatz zwischen Naturgeschehen und Freiheitsgeschehen stellt Schleiermacher hiermit einen Begriff der Sittenlehre auf, der die Sittlichkeit als das sowohl identische als auch individuelle vernunftgemäße Handeln „auf die Natur" (ebd. 7) bestimmt (vgl. Herms, Herkunft 224ff.; Nowak 252ff.); vgl. -»Ethik VII.5.2.
3.2.2. Hegels Kritik an Kants Deutung des Sittlichen und damit an der Diremtion von Legalität und Moralität, von Rechtspflichten und Tugendpflichten beruht auf der in der Wissenschaft der Logik entwickelten Form des spekulativen Wissens und damit auf dem absoluten Begriff selbstbewußter Freiheit (vgl. Hegel, Grundlinien, Vorrede 4f.; ebd. § 33 [48]). Hegel sieht darin die Momente des einzelnen, individuellen Begreifens und Gestaltens einerseits und des Gelten-Lassens und Anerkennens anderer Individualität andererseits vereint, so daß sich selbstbewußte Freiheit als „gegenseitiges Anerkennen" (Phänomenologie 471) und so als absoluter Geist realisiert. Von der Grundlegung des spekulativen Wissens der „Idee des an und für sich freien Willens" (Grundlinien § 33 [48]) her zielt Hegels Rechtsphilosophie daher darauf ab, die Sittlichkeit des Rechts nachzuweisen und den Verfassungsstaat als den Garanten eines Rechts zu deuten, das Freiheit einräumt. Hegel entwickelt denjenigen konkreten Begriff von Sittlichkeit, der die Vertragsverhältnisse und die je individuelle Sicht der Unbedingtheit des Sittlichen im Gedanken der Existenz der Freiheit vereint und deren „sittliche Substanz" auf dem Wege über die Familie und die rechtlich geregelte Wirtschaftsgesellschaft bis zu den Verfassungsprinzipien legitimer staatlicher Herrschaft verfolgt. Hegel kann daher behaupten, daß die „sittliche Idee" in der „sittlichen Welt" des Staates „wirklich und gegenwärtig" sei (ebd. 138), und vom Staat als von dem „sittlichen Universum" (ebd., Vorrede 15) sprechen, dessen „Grundlage" identisch ist mit dem, was Thema und Gegenstand der Religion ist (SW XV, 257); vgl. -»Ethik VII.5.1.; -»Hegel/Hegelianismus 1.6.
3.2.3. In vergleichbarer Weise war es das sachliche Anliegen R. -»Rothes, auf dem Boden eines Begriffs spekulativer Theologie (Rothe, Ethik I, § 1) im Ausgang von der „Urthatsache des Denkens" (ebd. § 5) die theologische Ethik als die Wissenschaft von der konkreten Sittlichkeit zu entfalten, die sich in der Verknüpfung güterethischer, tugendethischer und pflichtenethischer Aspekte zu vollziehen hat. Rothe bildet die Ansätze Schleiermachers zu einem einheitlichen Wirklichkeitsverständnis fort, „das Natur und
Sitte/Sittlichkeit
323
Sittlichkeit in einer Kontinuität sieht" (Heesch 17), und wirft explizit die Frage nach der „Wurzel der Moral" im evolutiven Prozeß der geschöpflichen Wirklichkeit auf (ebd. 18). Seine terminologische Klärung geht aus vom Begriff des moralischen, d.h. des persönlichen, des handlungsfähigen Geschöpfs, dessen gemeinsame Selbstbestimmung oder „absolute Selbstmacht oder Autexusie" (Rothe, Ethik § 95: I, 418) als das moralische Gut (das „aufgegebene moralische Product": ebd.) bestimmt wird. Die mit der Moralität der Person gesetzte Aufgabe ist die Voraussetzung der Wahrnehmung des Sittlichen im Verhältnis zur irdisch-materiellen Natur und der Wahrnehmung des Religiösen im Verhältnis zu Gott (§ 96: I, 4 1 8 - 4 2 0 ) . Ist es nach Rothe das „höchste sittliche Gut" (§ 104: I, 433), in der Interaktion innerhalb der verschiedenen moralischen Gemeinschaften das „Zugeeignetsein der (irdischen) materiellen Natur an die menschliche Persönlichkeit" (§ 102: I, 427) zu realisieren, so kennt er darüber hinaus das „religiöse höchste G u t " (§ 259: II, 170), das sich durch Gottes eigenes Wirken in der Realisierung eines Reiches Gottes auf Erden (§ 264: II, 173) bildet. Von dem zugrunde liegenden Begriff der Moralität her bilden Religion und Sittlichkeit eine Einheit (vgl. T R E 29,438f.).
3.2.4. Schleiermacher, Hegel und Rothe hatten somit in Auseinandersetzung mit Kants Moralitätskonzept unter differenten ontologischen Prämissen einen Begriff von Sittlichkeit entwickelt, der auf dem Boden eines Begriffs des Offenbar-Werdens des transzendenten Grundes oder des Absoluten den ethischen Prozeß als Realisierung der Freiheit in verschiedenen, keinesfalls ausschließlich politisch-rechtlichen Formen ihrer tatsächlichen Geregeltheit beschreibt. Am deutlichsten hob der theologische Ethiker Schleiermacher hervor, daß auch das Ensemble der sozialen Institutionen ein Gegenstand der sittlichen Gestaltungsaufgabe sei, die ihren Impuls in der regelmäßigen Vergewisserung des Glaubensgrundes erfährt. Im Fortgang des Diskurses wurde dieser konkrete Begriff von Sittlichkeit unter den theoretischen und den sozio-politischen Rahmenbedingungen des Zeitalters preisgegeben bzw. nur unzureichend rezipiert. Während der philosophische, rechts- und sozialtheoretische Diskurs im Banne eines sensualistisch, positivistisch und empiristisch reduzierten Erfahrungsbegriffs vom Dasein Gottes und damit vom Offenbar-Werden ontologischer Wahrheitsgewißheit als der Voraussetzung einer Theorie konkreter Sittlichkeit überhaupt Abstand nimmt, kehrt im Diskurs der positioneilen Theologien des deutschsprachigen Protestantismus jedenfalls die -»Liberale Theologie weithin - wenn auch mit gewissen glücklichen Inkonsequenzen - zum Moralitätskonzept Kants zurück. Dessen erneute Revision in einer umfassenden Darstellung zu vollenden blieb E. -»Troeltsch (s.u. 4.3.5.) auch aus theoretischen Gründen versagt. Demgegenüber wird die römisch-katholische Moraltheologie bei der Bestimmung des Gegenstandes der ethischen Theorie die dem kirchlichen Lehramt anvertraute Erkenntnis der lex divina in dem bei Thomas von Aquino betonten antisubjektivistischen Sinne ausarbeiten. 3.3. Protestantische
Schwierigkeiten
mit der Sozialität
des
Daseins
3.3.1. Sittlichkeit im erfahrungstheologischen Ansatz. F . H . R . von -»Frank läßt auch im System der christlichen Sittlichkeit die Leistungsfähigkeit des erfahrungstheologischen Ansatzes besonders klar erkennen. Durch A. von —»Harleß angestoßen, hatte Frank innerhalb des „Erlanger Kreises" die einzig konsequente und schlüssige Konzeption einer Erfahrungstheologie vorgetragen (Roth), indem er sowohl den Inhalt der Dogmatik als auch den Inhalt der Ethik aus „dem eigensten Wesen des Glaubens" (Frank, Sittlichkeit I, Vorwort) nach der Maßgabe seiner Gewißheitslehre (Frank, Gewissheit) entwickelte. Frank thematisiert von diesem Erkenntnisgrunde her als den Gegenstand der Ethik das christliche „Ethos" in seiner Differenz zu anderweitig geltendem Ethos (Sittlichkeit I, 90) und damit in seiner Perspektivität. Er bestimmt es ganz allgemein als die freie Selbstbestimmung des Menschen, der kraft der Glaubensgewißheit in der Gemeinschaft mit dem dreieinigen Gott existiert (ebd. I, 42). Franks Ethik stellt daher im wesentlichen eine Tugendlehre dar. Sie ist auf den „irdischen Beruf" (ebd. II, 273) als lebensweltlichen Ort der christlichen Existenz bezogen, macht aber die „ethischen Ordnungen dieser Welt" (ebd. II, 244) und ihre dem Werdeprozeß zu freier Selbstbestimmung entsprechende Gestaltung nicht zum Thema einer güterethischen Betrachtung und des-
324
Sitte/Sittlichkeit
halb auch nicht zum Gegenstand der sittlichen Verantwortung. Das zeigt, daß Frank den für seine Gestalt einer Erfahrungstheologie maßgeblichen Subjektivitätsbegriff im Unterschied zu den großen Theoretikern der Sittlichkeit ohne zureichende Beachtung der Sozialität des Daseins konzipiert.
3.3.2. Sittlichkeit in der „liberalen" Theologie. Unter dem Eindruck der öffentlichen Bildungsmacht der empirischen Naturwissenschaften und des sensualistischen bzw. materialistischen Erfahrungsbegriffs, an dem sie orientiert sind, lenkt die „liberale" Theologie zur Kantschen Grunddifferenz von Naturgesetzlichkeit und Freiheitsgeschehen zurück und favorisiert infolgedessen Kants Begriff der Moralität für die Interpretation des christlichen Ethos. Zugleich sind ihre maßgeblichen Sprecher von einem wachen Gespür für die Gefährdung der sittlichen Individualität in den Modernisierungsprozessen der Zeit beseelt, das sie zur Orientierung an der reformatorischen Zuordnung von Recht und Sittlichkeit bewegt, die jedoch gütertheoretisch nicht entfaltet wird. 3.3.2.1. A. -»Ritschl erhob gegen Schleiermacher den Einwand, er habe seinen Wesensbegriff des Christentums in der Durchführung der Glaubenslehre nicht zur Geltung gebracht (Ritsehl, Rechtfertigung I, 9). Diesen Mangel suchte Ritsehl zu überwinden, indem er das Christentum als die vollendete geistige und die vollendete sittliche Religion bestimmte (ebd. I, 10.13f.) und mit Hilfe des Bildes der „Ellipse, welche durch zwei Brennpunkte beherrscht ist" (ebd. I, 11), die Korrelation von „Erlösung" und „Reich Gottes" als den „gemeinsamen Selbstzweck" (ebd. I, 12) der christlichen Religionsgemeinschaft entwickelte. Im Anschluß an Kants Religionsphilosophie versteht Ritsehl unter dem „Reiche Gottes" (-»Herrschaft Gottes/Reich Gottes) den sittlichen, d.h. den dem Sittengesetz entsprechenden und daher unbedingt verpflichtenden „Zweck" des menschlichen Handelns (vgl. ebd. III, 630), ohne jedoch die besondere Perspektivität dieser Zielorientierung des Freiheitsgeschehens hervorzuheben. Indem nun Ritsehl das pflichtgemäße Handeln im Bewußtsein der Erlösung (-»Heil und Erlösung) und damit in der Gotteskindschaft begründet und daher aus dem Motiv bzw. der Gesinnung der Liebe hervorgehen sieht, beschreibt er das Konstitutionsgeschehen des Sittlich-Guten durchaus im Widerspruch zu Kants Moraltheorie innerhalb einer „religiösen Ordnung" (vgl. bes. ebd. III, 5 7 5 - 6 3 4 ) . Mit der moraltheoretischen Orientierung an Kant ist die an den reformatorischen Begriff der iustitia civilis und des primus usus legis anschließende theologische Deutung des —»Rechts und die stillschweigende Bezugnahme auf Gedanken von Hegels Rechtsphilosophie bei Ritsehl eigentümlich verschränkt (vgl. ebd. III, 299; von Scheliha, Interpretation). Dementsprechend entwickelt Ritsehl den Begriff des „sittlichen Berufs" (Ritsehl, Rechtfertigung III, Nr. 68; vgl. Kuhlmann 193ff.), der als solcher das „Feld" (Ritsehl, Rechtfertigung III, 630) sittlicher Autonomie und damit den Ort der Verantwortung für die kulturellen Voraussetzungen (Kuhlmann 202ff.) einer religiös begründeten Sittlichkeit darstellt (vgl. Ritsehl, Rechtfertigung III, 300), deren Funktionstüchtigkeit in den Zusammenhang des Glaubens an Gottes Vorsehung eingeordnet wird (von Scheliha, Kontingenzerfahrung). In Ritschis veröffentlichtem wissenschaftlichem Werk - die Vorlesung über Theologische Moral von 1882 existiert nur in Form einer Mitschrift von Otto Ritsehl - sind diese gütertheoretischen Ansätze jedoch nicht mit der wünschenswerten Deutlichkeit entfaltet worden (vgl. auch T R E 29,225.227ff.).
3.3.2.2. W. Herrmann hat den für ihn maßgeblichen Begriff von Sittlichkeit im Zusammenhange seiner Arbeit an einer „Grundlegung der systematischen Theologie" (Herrmann, Religion [1879], Untertitel) entwickelt. Für die Bestimmung dieses Begriffs und damit für die Bestimmung des inneren Zusammenhangs von Sittlichkeit und Religion (vgl. Herrmann, Ethik 3 77) kehrt Herrmann - unbeeindruckt von Schleiermachers und von Hegels Moralitätskritik - zur Kantschen Deutung der Sittlichkeit im Horizont der Dualität von theoretischer und praktischer Vernunft zurück. Damit geht eine scharfe Eudämoniepolemik und eine Destruktion des Begriffs des „höchsten Guts" (ebd. 1 2 - 2 9 ) , ja einer Güterethik überhaupt, einher. Jenseits der Sphäre naturgesetzlicher Geregeltheit ist Sittlichkeit sittliche -»Erkenntnis oder sittliches Denken, das „in die sittliche Tat
Sitte/Sittlichkeit
325
übergeht" (Ethik 3 76). Sittliche Erkenntnis aber ist die Erkenntnis eines unbedingten Sollens (ebd. 34), welche den Willen auf das „sittliche Gesetz" (ebd. § 11), nämlich auf einen allgemeingültigen Zweck, ausrichtet (ebd. 35), dessen Inhalt sich in der Form des kategorischen Imperativs formulieren läßt (ebd. 36f.). Allerdings hat Herrmann den formalen Inhalt dieses Imperativs gegen Kant nicht aus dem Begriff der reinen praktischen Vernunft gewonnen, sondern ihn entsprechend dem fundamentalen Begriff des Erlebens aus der Analyse des Vertrauens entwickelt (ebd. 31 ff.) und damit die Brücke zum Begriff der in der geschichtlichen Person Jesu uns begegnenden Offenbarung Gottes als der „persönlichen Macht des Guten" (ebd. 122) geschlagen, die den Eintritt in die „sittliche Gemeinschaft" (ebd. 172) ermöglicht. Herrmann war der Überzeugung, mit der Korrelation von Glaube und sittlicher Willensrichtung den Intentionen Luthers zu entsprechen (ebd. 122; insgesamt ebd. 1 1 8 - 1 3 1 ; ders., Verkehr 161-288). In den Grenzen dieser Grundlegung hat Herrmann durchaus die materiale Ethik (Ethik 3 1 5 2 202.202-215) als eine Theorie des „christlich sittlichen Lebens", des „Dienstes Gottes" in den Institutionen der sozialen Welt, vorgetragen. Sie beweist ein sachgerechtes Verständnis für die Zuordnung zwischen der Sozialität des Daseins und der höchsten sittlichen Aufgabe (ebd. 177.196), nämlich des Lebens in dem durch die Liebe wirksamen Glauben (Verkehr 257). Indem Herrmann das Interesse an der Rechtsstaatlichkeit des politischen Systems zum spezifischen Interesse christlicher Sittlichkeit erklärt (Ethik 3 196ff.), macht er faktisch von einer gütertheoretischen Argumentation Gebrauch, die innerhalb der moralitätsorientierten Grundlegung nicht vorbereitet ist.
3.3.3. In seinem systematischen Hauptwerk Die Wissenschaft der christlichen Lehre von dem evangelischen Grundartikel aus im Abrisse dargestellt hat M. —> Kähler eine sehr sorgfältig ausgearbeitete theologische Theorie der Sittlichkeit vorgetragen, die auf dem Boden einer „biblischen Theologie" den Anschluß an die Komplexität des Sittlichkeitsbegriffs bei Schleiermacher, Hegel und Rothe sucht, in der Kähler-Forschung aber wenig beachtet worden ist (vgl. z.B. die Darstellung von H.-J. Kraus: -»Kähler). Die im 3. Teil dieses Werkes entfaltete Theologische Ethik hat „die Betätigung des Rechtfertigungsglaubens" zum Gegenstand. Sie gliedert sich in einen pflichtentheoretischen, in einen tugendtheoretischen und in einen gütertheoretischen Gesichtspunkt, und diese Gliederung ist grundgelegt in dem ersten Lehrkreis des Werkes, der unter dem Titel einer „Christlichen Apologetik" die „Voraussetzungen des Rechtfertigungsglaubens" zum Gegenstand hat (Kähler 214). In offensichtlicher Vertrautheit mit Schleiermachers „philosophischer" und theologischer Ethik und seiner wissenstheoretischen Unterscheidung von Physischem und Ethischem entwickelt Kähler hier einen formalen Begriff des Sittlichen (ebd. Nr. 135 [S. 128]) in der Differenz von Sitte und von Sittlichkeit. Während der Inbegriff der Sitten, die „Gesittung", das „Verfahren" meint, das in geschichtlich variabler Weise die sozialen Formen der „Arbeit der Menschheit an der Bewältigung der Natur" (ebd. Nr. 138) in jeweils öffentlich gebilligter Art und Weise regelt, bezieht sich der Begriff des Sittlichen auf das „Allgemein-Menschliche", auf eine „Lebensäußerung", die der -»Mensch dem Menschen unter dem Gesichtspunkt der „Selbstzwecklichkeit" (ebd. Nr. 139) entgegenzubringen hat. So entwickelt Kähler auf seine Weise die Unterscheidung zwischen technischen (dem gemeinsamen Nutzen dienenden) und ethischen Regeln der Interaktion.
Eben diese Unterscheidung zwischen technischen, der gemeinsamen Naturbewältigung dienenden und ethischen, die Selbstzwecklichkeit der Person achtenden Regeln macht Kähler nun im -*•Gewissen als der sittlichen Bestimmtheit des Selbstbewußtseins fest (ebd. Nr. 145; vgl. Kählers Abhandlung Das Gewissen, Halle 1878 = Darmstadt 1967), das ihm auf dem Boden des sittlichen Seins die Erfahrung des sittlichen Sollens (des Gesetzes der Sittlichkeit [Wissenschaft Nr. 145 (S. 132)]) repräsentiert. Sie begründet eine fundamentalethisch gemeinte Skizze der Sozialnatur der Person, die zwischen den unmittelbaren gegenseitigen Beziehungen und den verschiedenen Teilklassen einer sachlich vermittelten Wechselbeziehung differenziert (ebd. Nr. 1 4 7 - 1 5 2 [S. 134ff.]). Und genau unter der Voraussetzung dieser apologetisch gemünzten fundamentalethischen Bestimmungen entfaltet Kählers Ethik die spezifische Auswirkung der Tugend der Liebe
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in den „Genossenschaften des natürlichen Lebens" (ebd. S. 614-634) als eine Individualethik des Handelns in sozialen Institutionen. Sie schöpft ihre inhaltliche Bestimmtheit aus dem durch Christi Urbildlichkeit bezeugten „Sittengesetz" oder „Gesetz der Sittlichkeit" (ebd. Nr. 563) als Inbegriff des göttlichen Schöpferwillens für die Realisierung im geschöpflichen Leben (ebd. S. 485), also aus der durch Christus für das Gewissen erschlossenen sittlichen Weltordnung (ebd.), bringt also deutlich die Perspektivität eines christlichen Ethos zur Geltung. Sie beschreibt sodann die Konstitution des sittlichen Subjekts, indem sie die durch Christus realisierte Liebe als das Bildungsgesetz des christlichen Charakters erklärt, das in den „Gesinnungstugenden" (ebd. Nr. 540) des Glaubens, der Hoffnung und der Liebe zur sittlichen Autonomie (ebd. Nr. 669) wird. Und sie möchte in der Form einer Nachfolgeethik (3. Hauptstück) zeigen, wie der „Gottesdienst" des Glaubens sich auf die „Gesittung" der Welt bezieht, die Kahler wiederum im Anschluß an Schleiermachers handlungstheoretische Grundbestimmungen als Interaktionsregeln der „Cultur" (ebd. Nr. 701) begreift. 3.3.4. In seinen bahnbrechenden Luther-Interpretationen war K. -»Holl daran gelegen, Luthers Lehre von der Sittlichkeit als einen „großartigen Entwurf einer streng auf das Religiöse gebauten Sittlichkeit" (Holl 1,287) zu erschließen. Darin arbeitet Holl mit Energie den Gegensatz heraus, in dem sich Luther nicht nur zur tradierten kirchlichen Unterscheidung zwischen „pflichtmäßigen" und „überpflichtmäßigen" Handlungen und damit zur „Aufrichtung einer doppelten Sittlichkeit" (ebd. 19), sondern vor allem auch zu dem in seinen Augen eudämonistischen Ansatz in Gegensatz stellt, durch den -»Augustin „zum Verderber der christlichen Sittlichkeit" (ebd. 165; vgl. 178) geworden sei. Holl sieht zunächst in der Pflichtenlehre - in der Lehre von Gottes Gebot als Doppelgebot der Liebe und dessen „Verpflichtungskraft" (ebd. 211) - die adäquate Darstellungsform des Sittlichen mit Ausschluß aller tugend- und güterethischen Erörterungen (vgl. ebd. 179). Zugleich hebt Holl als zweites wesentliches Merkmal in Luthers Verständnis des Sollens hervor, daß dieses in seiner Wirklichkeit „ein frei und gern Gewolltes" ist (ebd.). Diese „wahre Sittlichkeit" sieht Holl aus der Vergebungsgewißheit, und d.h. aus der geistgewirkten Freiheit von der Gesetzlichkeit, entstehen (ebd. 220f.222) und kann sie geradezu als „sittliche ,Autonomie' höchsten Stils" bezeichnen (ebd. 227), mit deren Beschreibung Luther das Verhältnis von Religion und Sittlichkeit umgedreht habe (ebd. 182). Darüber hinaus aber unternimmt es Holl - im Gegenzug zur Luther-Deutung von E. Troeltsch - zu zeigen, wie diese „Begründung des Sittlichen im Religiösen" (ebd. 187) - also die Darstellung der Konstitution des sittlichen Subjekts - sich in den „Ordnungen des Weltlebens" (ebd. 239; vgl. 468-543: Die Kulturbedeutung der Reformation) realisiert. Holl ist damit über seine eudämoniepolemische Festlegung der Ethik Luthers auf die Form der Pflichtenlehre faktisch hinausgegangen und hat ihre wohlverstandenen tugend- und güterethischen Implikationen deutlich gemacht. 3.3.5. In Auseinandersetzung mit Herrmann hat schließlich E. Troeltsch den Versuch unternommen, eine Theorie der Sittlichkeit zu konzipieren, die der Kant-Kritik Schleiermachers Rechnung trägt (vgl. GS II, 623). Troeltsch macht gegen Herrmann geltend, daß der Begriff des Sittlichen als des formal oder apriorisch Notwendigen die sittliche Wirklichkeit nicht vollständig erfassen kann; denn die sittliche Wirklichkeit umfaßt sowohl die „subjektiven Regeln" der Verhaltenswahl als auch die „objektiven sittlichen Werte" (bzw. die „objektiven Güter"; vgl. ebd. 619) der Familie, des Staates, der Gesellschaft, der Wissenschaft, der Kunst und der Religion (ebd. 618). Er fordert daher eine sowohl subjektive als auch objektive Ethik (ebd. 621), welche sowohl die „subjektive" als auch die „objektive" Sittlichkeit (ebd. 623f.) zum Gegenstande hat, also eine Art Kombination von Kants subjektiver und Schleiermachers objektiver Ethik (ebd. 623; berechtigte Kritik an diesem Argument bei Pannenberg, Begründung 73ff.). Im Gegensatz zu Schleiermacher will Troeltsch die Gliederung eines Systems der Güter „einfach empirisch aus der Geschichte" (ebd. 623) erheben. Eben die geschichtliche
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Betrachtung des Sittlichen nötigt aber zur religionsphilosophischen Aufmerksamkeit auf den fundamentalen Unterschied zwischen den „innerweltlichen Zwecken" und dem „religiösen" oder „ewigen" Zweck (ebd. 625) und damit zum Begriff einer religiösen Sittlichkeit (ebd. 670.671), die „durch die inhaltliche Wirkung des religiösen Zweckes auf die menschliche Seele zustande k o m m t " (ebd. 671). Die von Troeltsch ins Auge gefaßte (ebd. 668.669), jedoch nicht geleistete Darstellung der Ethik hätte demgemäß vor dem Hintergrund der religionsgeschichtlich zu erhebenden Variabilität der „überweltlich motivierten Lebensführung" (ebd. 672) den spezifischen Konstitutionszusammenhang der christlichen Sitte angesichts der „Gesamtlage der heutigen Kultur" (ebd. 668) beschreiben müssen. 3.4. Römisch-katholischer
Sittlichkeitsdiskurs
Über die Bestimmung des Gegenstandes ethischer Theorie in der Sicht römisch-katholischer Theologie unterrichtet K. Demmer (-»Moraltheologie [Lit.]). 3.5. Der außertheologische
Sittlichkeitsdiskurs
Während der theologische Diskurs aller Schulrichtungen im Lichte eines Begriffs der endlichen Personalität das Fundierungsverhältnis von Religion und Moralität bzw. Sittlichkeit zur Geltung zu bringen sucht, herrscht in der philosophischen, geschichts-, rechts- und sozialtheoretischen Debatte hinsichtlich des religiös-weltanschaulichen Rahmens einer Sicht von Sitte und Sittlichkeit beredtes Schweigen oder gar entschiedener Protest - Indiz nicht nur der konsequenten Verwissenschaftlichung in den Einzelfächern, sondern auch der Intention, die Ethik als eine geisteswissenschaftliche Grunddisziplin zu konzipieren, die ausschließlich das Verhältnis von Person und Gesellschaft thematisiert und die tatsächliche Geregeltheit menschlicher Interaktion im Horizont einer dezidiert nicht-theologischen Theoriebildung deutet (vgl. Wundt). Allerdings bleiben die faktisch geltenden religiös-weltanschaulichen Prämissen in dieser Debatte unkenntlich oder sie werden ohne eingehende Begründung unterstellt. Mit besonderer Drastik zeigt dies die Deutung von Sitte und Sittlichkeit, die F. -•Nietzsche im Rahmen seiner Ausarbeitung der Konzeption des „freien Geistes" vorgetragen hat. Ihr liegt eine Moralitätskritik zugrunde, die von den verschiedenen Beiträgen zur Theorie der substantiellen Sittlichkeit absieht und sich in judentums- und christentumskritischer Absicht am Moralitätsbegriff Kants und des frühen Fichte orientiert. Unter dem Eindruck einer Gegenwartsdiagnose, die Nietzsche auf den Nenner der Chiffre „Tod Gottes" bringt, entwickelt er in verschiedenen Ansätzen einen Leitbegriff von Leben als Kriterium tradierter Sitte. Er macht die Ambivalenz im Begriff der Sitte verständlich, der einerseits „Härte, Tyrannei, Stumpfsinn und Idiotismus" der Sitte als der „socialen Zwangsjacke" (Nietzsche, Morgenröthe § 18: ders., Werke V/1, 27) hervorhebt und andererseits die Korrektur tradierter Sitte durch neue Sitte fordert (Morgenröthe § 19: ebd. 28) und deshalb die „Sittlichkeit der Sitte" im Sinne ihres undiskutierbaren Geltens zu erschüttern sucht (ebd.). Nietzsches Gesamtwerk gibt allerdings keine befriedigende Antwort auf die Frage, welche personalen und institutionellen Gestaltungsmöglichkeiten im Verhältnis zum evolutiven Prozeß des physischen und biotischen Lebens vorzuziehen sind. Ebensowenig ist dies der Fall in der soziologischen Fassung des Begriffs der Sitte bei F. Tönnies, die dann in der Rechtssoziologie und ihrer Frage nach dem Verhältnis von Sitte und Recht aufgenommen und weitergeführt wurde (vgl. Ehrlich; Geiger; Weber; Hirsch). Nach Tönnies hat die Sitte (und die sie manifestierenden Bräuche) ihren Sitz in solchen sozialen Ordnungen, die als „Gemeinschaft" im Gegensatz zur „Gesellschaft" zu bezeichnen sind (Tönnies, Gemeinschaft 217) und in denen sie fraglose Anerkennung genießt (ebd. 218), ist also als Begriff einer spezifischen Ethosgestalt - wenn auch ohne zureichende Bestimmung ihrer impliziten Wirklichkeitsverständnisses - erfaßt. Demgegenüber schaut Tönnies mit Rücksicht auf die Modernisierungsprozesse und die durch
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sie ermöglichte Emanzipation des Individuums aus nach einer allgemeinen und vernünftigen Sittlichkeit, die sich kritisch von den spezifischen Ethosgestalten löst (Tönnies, Sitte 94), begründet aber keine perspektivische Sicht einer Bestimmung des Menschen und deshalb auch kein Kriterium für die institutionellen Gestaltungsmöglichkeiten im Sinne eines substantiellen Sittlichkeitsbegriffs. Zum Verhältnis von Sitte, Sittlichkeit und Recht im rechtstheoretischen Diskurs vgl. Binder; Radbruch; von Gierke.
Die Geschichte der außertheologischen Debatte über das Verhältnis von Moralität und Sittlichkeit nach Hegel (vgl. im einzelnen Kersting, Art. Sittlichkeit) wirft daher aus theologischer Sicht die Frage auf, ob sie nicht die beiden wesentlichen Momente des Begriffs der Sitte - die religiös bestimmte Perspektivität des Ethos und die spezifischen Formen der Gewöhnung innerhalb eines Bildungsprozesses - permanent unterbestimmt hat und vor allem die Bedeutung eines Kultes - einer institutionellen Form der religiösen Kommunikation - für die Aneignung der Ethosgestalt übersehen hat. Anders als die institutionelle Philosophie und Wissenschaftsgeschichtsschreibung wird die Theologie in den Aporien dieser Debatte - dem Schwanken zwischen „restaurativen" (Riehl) und „progressiven" (Welcker; von Stein) Tendenzen in der Theorie der Sittlichkeit einerseits, dem unaufgeklärten Widerspruch zwischen einer abstrakten Vernunft- und Diskursrationalität (Habermas; Apel) und der Hypothese einer den geschichtlichen Lebensformen immanenten sittlichen Rationalität (Fleischer; Marquard; Bubner; Honneth; Oelmüller) andererseits - das Symptom eines Denkens erkennen, das an der Aufgabe scheitert, die Bestimmung der endlichen Person zur Gestaltung des sozialen Lebens im Lichte einer ihr erschlossenen Idee eines höchsten Guten hinreichend deutlich zu erfassen. 4. Sitte/Sittlichkeit
als Gegenstand
theologischer
Ethik
Im Diskurs der deutschsprachigen protestantisch-theologischen Ethik nach Holl und Troeltsch sind die Termen „Sitte" und „Sittlichkeit" als Begriffe des Gegenstandes ethischer Theorie weithin zurückgetreten oder gar verschwunden, nachdem die -•Dialektische Theologie das Fundierungsverhältnis von „Religion" und „Sittlichkeit" heftig angegriffen hatte (exemplarisch: R. ->Bultmann). Während immerhin E. —»Brunner das erste Buch seiner Ethik dem „eristisch" bestimmten Verhältnis zwischen „natürlicher Sittlichkeit" und christlicher Botschaft widmet und in diesem Zusammenhang das Verhältnis von Religion und Ethos religionsgeschichtlich und religionstheoretisch erörtert (Brunner, Gebot 1 - 9 4 ) , fehlen die Termen in den ethischen Partien der Kirchlichen Dogmatik K. -»Barths, in der Ethik D. —»Bonhoeffers und weithin auch bei H. —»Thielicke (Theologische Ethik 1/2), T. Rendtorff und M. Honecker. Wo die Termen weiterhin Verwendung finden, wie z. B. in der deutschen Ubersetzung von P. —•Tillichs Systematic Theology, bei W. -»Trillhaas und bei I. Dalferth/E. Jüngel, ist eine Entscheidung zwischen den Konnotationen des Kantschen Moralitätsbegriffs und des Begriffs substantieller Sittlichkeit nicht zu erkennen. Demgegenüber ist dafür zu plädieren, diese Termen zur Bestimmung des ethischen Gegenstandes wieder aufzugreifen, und zwar nicht nur aus Gründen des apologetischen Gesprächs mit den Ethik-Konzeptionen der institutionellen Philosophie und des römischen Katholizismus, sondern vor allem im Interesse einer vollständigen Gegenstandsbestimmung der ethischen Theorie.
4.1. Theologische Ethik versteht sich als Theorie derjenigen Ethosgestalt, die sich im Anschluß an eine tiefgreifende Transformation des jüdischen Ethos in der Sozialgeschichte des Christentums ausgebildet hat. Ihr Gegenstand ist die christliche Sitte, die uns in mannigfachen konfessionellen und denominationeilen Variationen und in epochalen Besonderheiten gegeben ist (vgl. die prägnante Skizze von Trillhaas, Art. Sittlichkeit). Ist dieser Gegenstand der theologischen Ethik als Ereignis innerhalb der „Offenbarungsgeschichte" (Tillich) zu begreifen, so kann die Theorie dieses Gegenstandes auch nur im Zusammenhang mit der theologischen Dogmatik und der systematischen Prinzipienlehre vorgetragen werden, die nicht allein die materialen normativen Gehalte, sondern auch die spezifisch theologische Beschreibung der Gewöhnung, also der not-
Sitte/Sittlichkeit
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wendigen und hinreichenden Bedingungen der Genese von Sittlichkeit, zum Thema hat. 4.2. Ist die Kritik Schleiermachers, Hegels und Rothes an Kants Begriff des Selbstbewußtseins und damit an seiner Theorie von Erkenntnis (als apriorische - und d.h. den geschichtlichen Ort des theoretischen Subjekts vergleichgültigende - Gegenstandskonstitution) sachgerecht, so folgt aus ihr zwingend der Verzicht auf die Deduktion des Sittlichen aus dem „Faktum der Vernunft". Der Begriff „Sitte" bezeichnet dann vielmehr ein Gefüge von Regeln, die die Interaktion handlungsfähiger Wesen ordnen, insofern sie im Licht einer je besonderen Wahrheitsgewißheit (also aposteriorisch) in Geltung stehen. Das Dasein sittlicher Regeln bedarf daher einer fundamentalanthropologischen (im Begriff des Handelns fundierten [Herms, Gesellschaft; Höver; Maurer]) und einer religionstheoretischen Begründung, welche ihre Geltungsgründe und damit ihre Normativität (-»Normen), aber auch ihre Erkenntnis der Bedingungen sittlicher Bildung aus dem in einer jeweils besonderen Sicht der Wirklichkeit erschlossenen Begriff von Personalität und von deren Bestimmung entfalten. Eine protestantische Theorie des christlichen Ethos geht dabei von solchen fundamentalanthropologischen Bestimmungen aus, die im Anschluß an Luthers Theoriebildung den Sachverhalt der „Unfreiheit", d.h. der Abhängigkeit des bewußten Wollens von einer passiv erschlossenen Anziehungskraft des Guten ausarbeiten. Soll diese Begründung in einer einheitlichen Sicht der Erfahrungswirklichkeit als geschöpflicher Wirklichkeit verankert sein, so erfordert sie auch einen Begriff des Naturgeschehens als eines für uns geregelten und deshalb von uns anzuerkennenden Geschehens, in dessen Rahmen die Erkenntnisintention der „evolutionären Ethik" (Lorenz) aufzunehmen ist (Horstmann). 4.3. Es ist die Aufgabe jeder ethischen Theoriebildung, die bei Schleiermacher, Hegel, Rothe und Troeltsch mit der Wahl des Begriffs „Sittlichkeit" ausdrücklich intendierte Frage nach der Güte bzw. Vorzugswürdigkeit der institutionellen Gestalten der sozialen Interaktion - also der Wirtschaft, der politischen Verfassung, der Wissens- und Bildungsformen, der medialen Vermittlungen, der Kunst und der religiös-weltanschaulichen Kommunikation - systematisch zur Geltung zu bringen. Die Antwort auf diese Frage wird auf jeden Fall auf einer Theorie von Sozialität beruhen, die in Anknüpfung an die reformatorische Ständelehre und in Anlehnung an die reine Gesellschaftstheorie die „ethischen Formen" (Schleiermacher) des personalen In-der-Welt-Seins ausarbeitet (vgl. Herms, Gesellschaft). Als konkrete Theorie der Sittlichkeit setzt die Ethik daher fundamentalanthropologisch mit der Bestimmung einer Ordnung der Güter ein, in welcher sich die Perspektive eines definitiven Lebensziels, also eine Idee des höchsten Guten widerspiegeln wird. Aus dem sachlogischen Zusammenhang zwischen einer Sicht sozialer Ordnung und der Idee eines höchsten Guten folgt nicht nur die Notwendigkeit der Pflege eines Kultus, sondern auch das Gebot, Dialog-Institutionen einzurichten, die der wechselseitig nachvollziehbaren Begründung der Idee eines höchsten Guten zwischen den verschiedenen religiös-weltanschaulichen Uberzeugungsgemeinschaften dienen. Insofern ist nicht allein die rechtliche Gestalt der christlichen Kirchen (Rendtorff), sondern auch die Verfassung der religiös-weltanschaulichen Gemeinschaften überhaupt ein Problem der Sittlichkeit. 4.4. Die Sittlichkeit des Handelns in dem Ensemble der sozialen Institutionen besteht grundsätzlich in der Wahrnehmung von —•Pflichten. Im Anschluß an die Wort- und Begriffsgeschichte des Lexems „Pflicht" seit Cicero und —»Ambrosius bezeichnen wir damit den Inbegriff der Tätigkeiten, die sich in der Ausübung eines —'Berufs - also aus einer Funktion im differenzierten Gefüge einer sozialen Ordnung bzw. in der Verantwortung für den Schutz gefährdeten Lebens - ergeben. Sittlich-gute Handlungen sind pflichtmäßige Handlungen, deren normativer Gehalt in präskriptiven Sätzen zum Ausdruck kommt. Ist ihr Grundmuster das Ineinander von symbolischer Kommunikation
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Sitte/Sittlichkeit
und praktischer Interaktion, so besteht ihre Materie in der kritischen Fortbildung und in dem schonenden Umgang mit tradierter Sittlichkeit. Die in präskriptiven Sätzen aufgestellte Regel ist rechtlicher Natur, wenn ihre Geltung rein auf der Gesetzgebungskompetenz eines politischen Souveräns beruht; sie ist sittlicher Natur, wenn ihre Geltung und ihre Gültigkeit in einer ontologischen Wahrheitsgewißheit gründet und dementsprechend in die individuelle Maximenbildung eingeht. Der -»Widerstand gegen die sittlichschlechte Regelsetzung eines politischen Souveräns gehört im übrigen zum Begriff des pflichtmäßigen Handelns wesentlich hinzu (Bonhoeffer; Stock, Mut). 4.5. Pflichtmäßige Handlungen kommen im Rahmen und unter Anerkennung des Naturgeschehens nur unter der Bedingung zustande, daß die handlungsfähige Person sittlich, d.h. in Richtung auf das ihr erschlossene und als anziehend erlebte höchste Gut, zu handeln entschlossen ist. Dieses Moment innerhalb eines vollständigen Begriffs von Sittlichkeit erfaßt der Begriff ,,->Tugend" besser als der Begriff „Gesinnung", weil er sich von einer fundamentalanthropologischen Theorie des affektiven Lebens her aufbauen läßt, die auch das unbewußte Erleben einzubeziehen geeignet ist (Stock, Tugendlehre; -»Seele V) und die Kraft und die Beharrlichkeit in der Verfolgung des als gut erschlossenen Ziels verstehbar macht. Die reformatorischen Ansätze zum „Neubau der Sittlichkeit" (Holl) lassen sich tugendtheoretisch präzisieren, wenn man das Dasein geistgewirkter Glaubensgewißheit - und daher auch die Institutionen der Glaubenskommunikation - als notwendige und hinreichende Bedingung sittlicher Kraft und Beharrlichkeit inmitten der hic et nunc unaufgehobenen Widersprüchlichkeit personalen Lebens aufzeigt. Insofern ist der theologische Begriff der Sittlichkeit der eines „Lebens aus dem Geist" (so - allerdings ohne Beachtung der konfessionellen Differenz und daher unvollständig - Fischer), der gegen die Oppositionen von Neigung und Pflicht, Anmut und Würde, Trieb und Vernunft, Selbsthabe und Selbstlosigkeit die Eudaitnonia, das Glück des pflichtmäßigen Handelns zur Geltung bringt. Theologische Ethik macht an dieser Stelle auf das Moment der „Gewöhnung", der Einübung und des sittlichen Bildungsprozesses aufmerksam und richtet an die außertheologischen Ethik-Diskurse die Frage, wie sie dieses Moment einzuholen gedenken. 4.6. Nur pflichtmäßigen Handlungen kommt die Chance zu, im übergreifenden Zusammenhang der Generationen, Epochen und Kulturen ein Ziel zu erreichen, das als Realisierung einer Idee des höchsten Guten und so als Folge menschlicher Entscheidungen gelten kann. Eine theologische Theorie der Sittlichkeit wird das Wahrheitsmoment des „-»Kulturprotestantismus" im Widerspruch zu dessen „dialektischer", modernitätskritischer Bestreitung aufzunehmen haben, die sozio-kulturelle Gesamtlage der christlichen Gemeinde und deren technische Handlungsmöglichkeiten als Chance zur Realisierung des Guten verstehen. Sie wird aber auch im Anschluß an die Traditionen der christlichen Zeit- und Gesellschaftskritik (exemplarisch: Tillichs Frühwerk) die Realisierung des Guten nur in dem Maße als Folge menschlicher Entscheidungen verstehen, als sie bedingt ist durch die uns hic et nunc unerforschliche Weisheit Gottes. Die theologische Theorie der Sittlichkeit stellt auch das Resultat pflichtmäßigen Handelns unter den Vorbehalt, der in der Grundfigur der cooperatio cum Deo zur Sprache kommt. Literatur Zu 1.: DWb 16 (1905). - Theodor Fontane, Frau Jenny Treibel (1892): ders., GW, hg. v. Ernst Heilborn, Berlin, 1/3 1919. - Johann Wolfgang v. Goethe, Werke. Vollst. Ausg. letzter Hand, 57 Bde., Stuttgart/Tübingen 1 8 2 7 - 1 8 3 5 . - Georg Friedrich Wilhelm Hegel, Werke. XIV. Vorl. über die Ästhetik II, 1994 (stw 614). - Eilert Herms, Ethik u. Ökonomik (s.u. zu 5.). - Immanuel Kant (s.u. 4.1.). - Adolf Freiherr v. Knigge, Über den Umgang mit Menschen, Hannover 1788. - Martin Luther, WA. - Martin Rade, Art. Sitte, Sittlichkeit, Sittengesetz: RE 3 18 (1906) 4 0 0 - 4 1 0 . - Jan Röhls, Gesch. der Ethik, Tübingen 1991. - Richard Rothe, Theol. Ethik, Wittenberg, I 1845 2 1876, § 96. - Trübners Dt. Wb., Berlin/New York, 6 (1955). - Friedrich Wagner, Gesch. des Sittlichkeitsbegriffes, 3 Bde., 1 9 2 8 - 1 9 3 6 (MBTh 14.19.21). - Christoph Martin Wieland, SW, Leipzig 1794.
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Situation 1. Homiletische Bestimmungen des Situationsbegriffs des Situationsbegriffs (Literatur S. 336)
2. Praktisch-theologische
Akzente
Im Unterschied zu Philosophie und (theologischer) Ethik ( - • Situationsethik; vgl. Wetz) hat die Praktische Theologie den Begriff der Situation nur selten genauer bestimmt; zumeist wird er in der alltagssprachlichen Bedeutungsbreite gebraucht. Lediglich die -•Homiletik hat seit den 7 0 e r J a h r e n des 2 0 . Jh. ein präziseres Verständnis entwickelt. Die Rekonstruktion dieses Begriffs der „homiletischen S i t u a t i o n " (1.) vermag auch heuristische Impulse für ein praktisch-theologisches Verständnis von „ S i t u a t i o n " insgesamt zu geben (2.).
334 1. Homiletische
Situation Bestimmungen
des
Situationsbegriffs
Der Begriff der „homiletischen Situation" wurde von E. -»Lange geprägt (vgl. Hermelink, bes. 195ff.; Grab 151 ff.). In seiner Programmschrift Zur Theorie und Praxis der Predigtarbeit (1968) heißt es: „ U n t e r homiletischer Situation soll diejenige spezifische Situation des Hörers, bzw. der H ö rergruppe verstanden werden, durch die sich die Kirche, eingedenk ihres Auftrags, zur Predigt, d.h. zu einem konkreten, dieser Situation entsprechenden Predigtakt herausgefordert sieht. Und die Aufgabe des homiletischen Aktes ist, ... diese Situation zu klären dadurch, daß sie die Relevanz der christlichen Überlieferung für diese Situation und in ihr verständlich macht und bezeugt" (Lange, Predigen 2 2 - 2 4 ; vgl. ders., Thesen 324ff.).
Langes Begriffsbildung verdankt sich einem doppelten Interesse. Sie dient zum einen der praktischen Orientierung der „konkreten", je neu zu vollziehenden Predigttätigkeit: Die „homiletische Situation" soll die Aufgabe wie das Verfahren der pastoralen Predigtarbeit näher bestimmen. Die „Situation" wird stets unter einer kirchlich-pragmatischen Perspektive betrachtet. Zugleich insistiert Lange mit dem Begriff der Situation jedoch auf der Besonderheit der jeweiligen Lebensverhältnisse (vgl. Lange, Predigen 37ff.). Relevanzkriterium des einzelnen Predigtaktes ist die Verständigung über die „spezifische" Lebenserfahrung der Predigthörer. Die „homiletische Situation" muß vom Prediger darum immer wieder neu erschlossen werden. Diese Erschließungsbemühung trifft regelmäßig auf Widerstände; die „homiletische Situation" wird allererst durch ihre spezifische Widerständigkeit zum Anlaß der jeweiligen Predigtbemühung. Lange arbeitet zwei einander ergänzende Aspekte heraus. In empirischer, vor allem soziologischer Deutung ergibt sich der Widerstand der Situation aus den pluralen Lebensverhältnissen der „modernen Welt" (ebd. 58ff.l26ff. u.ö.). Gesellschaftliche Differenzierung und Traditionsabbrüche weisen den einzelnen die undelegierbare Verantwortung für ihre je eigene Lebensführung zu. Der Prediger kann die „Situation" darum nur „klären", wenn er zuvor durch die Hörer selbst in ihre unvergleichliche Lage eingewiesen wurde. Die homiletische Situation wird von Lange zugleich theologisch-existentiell gedeutet. Die „Sprache der Tatsachen" läßt die Überlieferung als „irrelevant" für den einzelnen erscheinen; die Lebenserfahrungen in der rational strukturierten Moderne stellen den persönlich angeeigneten Glauben in Frage. Es ist letztlich der „Anfechtungscharakter" der Situation, der die Kirche zu je neuen Predigtakten „herausfordert" (ebd. 25; vgl. Müller 242f.). Diese zielen darauf, auch den Verheißungscharakter der Situation zu verdeutlichen, sie „für Gott, für den Glauben und seinen Gehorsam" sprechen zu lassen (Lange, Predigen 27). Die Wahrnehmung der homiletischen Situation vollzieht sich in einer konfliktreichen Dynamik zwischen Anfechtung und Vergewisserung. Die theologische Dynamik der Situation bestimmt auch das von Lange skizzierte „homiletische Verfahren". Biblischer „Text und Situation bilden einen Verstehenszirkel, der im Verlauf der Predigtarbeit mehrfach abgeschritten wird" (ebd. 32; vgl. 35ff.; Lange, Thesen 330ff.). Indem der Prediger die Spannung von Tradition und Situation exemplarisch bearbeitet, zeigen sich die gegenwärtig relevanten Züge der Überlieferung; zugleich werden die „wirklichen Probleme sowohl des Verstehens als auch des" Glaubens in der Gegenwart deutlich (Lange, Predigen 33). Dabei prägt die besondere Situation die Predigt keineswegs nur in praktisch-methodischer Hinsicht. Als eine geistliche Herausforderung hat die Situation vielmehr eine homiletisch fundamentale Bedeutung, denn sie ist konstitutiv für die jeweilige inhaltliche Bestimmung des Evangeliums: Der „eigentliche Gegenstand christlicher Rede ist eben nicht ein biblischer Text..., sondern nichts anderes als die alltägliche Wirklichkeit des Hörers selbst - im Licht der Verheißung" (ebd. 58). 2. Praktisch-theologische
Akzente
des
Situationsbegriffs
Vor allem durch die Verbreitung der von Lange mit initiierten Predigtstudien (Stuttgart/Berlin 1968 ff.) ist die „homiletische Situation" zu einem feststehenden Begriff der
Situation
335
Predigtvorbereitungstheorie geworden (vgl. z.B. Dannowski 97f.; Müller 237ff.252ff.; Winkler 85ff.96f.); sie wird hier allerdings „nicht selten als eine bloß äußerliche Beschreibung psychischer oder sozialer oder politischer Zustände mißverstanden" (Rössler 397). In anderen Gebieten der Praktischen Theologie ist ein spezifisch geprägter Situationsbegriff kaum zu erkennen (Ausnahmen: Vierzig; Preul). „Situation" wird im Wechsel mit Begriffen wie „(gegenwärtige) Erfahrung", „(heutige) Wirklichkeit", „(individuelle) Lebensverhältnisse", „Praxis(-Fall)" oder „Alltag" verwendet. Gleichwohl läßt sich das differenzierte Situationsverständnis, das E. Lange skizziert hat, als eine Art heuristischer Hinweis lesen, in welcher Weise der mit jenen Vokabeln angezielte Bedeutungsbereich in der Praktischen Theologie besonders akzentuiert wird. Praxis. Gegenüber dem allgemeinen Sprachgebrauch erscheint 2.1. Ort kirchlicher die „Situation" in praktisch-theologischer Perspektive stets als der Ort, die Gelegenheit eines spezifischen kirchlichen Handelns. Diese pragmatisch-konkrete Akzentuierung wird nicht selten kritisch gegen ein normativ-deduktives Praxisverständnis ins Feld geführt. Exemplarisch sei das Gütersloher Handbuch der Praktischen Theologie genannt, das „pragmatisch-situativ" „auf dem Boden tagtäglich gelebter Kirche" bleiben will (Jürg Kleemann, Zum Verständnis und Gebrauch des HPTh: HPTh[G] 2 [1981] 7 - 9 , hier 7), damit der Benutzer „sich und seine Situation wiederzufinden" vermag (ebd. 9). Das Feld des kirchlichen Handelns wird darum durch eine Matrix verschiedener Handlungsziele und -ebenen strukturiert; dies dient „zur Rekonstruktion von Situationen, seien sie nun bereits realisiert oder nicht" (ebd. 7). In diesem Sinne setzen die einzelnen Artikel mit Fallbeschreibungen ein und versuchen, diese Praxis-Situationen zu verstehen und zu orientieren (vgl. T R E 27,212). Dieses Vorgehen wird auch grundsätzlich begründet: „Der situative Ausgangspunkt ist geradezu das Spezifikum der Praktischen Theologie. Ihre Probleme werden durch Handlungssituationen generiert, nicht durch die abgehobene Reflexion von Prinzipien, die sich aus tradierten christlichen Grundüberzeugungen ableiten" (Daiber 46; vgl. 33f.).
Auf der Linie dieses Situationsverständnisses liegt der Ruf nach einer „empirischen Wende" der Praktischen Theologie oder ihrer Teildisziplinen in einem bestimmten Sinn: Die konkreten kirchlichen Fallsituationen sollen erfahrungswissenschaftlich auf Bedingungen und Möglichkeiten zielgerichteten Handelns hin untersucht werden (exemplarisch: Wegenast; Zerfaß). Auf diese Weise kommt, wie das Handbuch der Praktischen Theologie zeigt, nicht zuletzt die reale Vielfalt der Praxis-Situationen in den Blick sowie die Notwendigkeit, die jeweiligen Adressaten und damit deren Lebenssituation eigens zu bedenken. 2.2. Besonderheit. Der Ort bzw. die Adressaten des kirchlichen Handelns werden praktisch-theologisch - im Gefolge des (existenz-)philosophischen und ethischen Sprachgebrauchs (vgl. Logstrup) - durch das Wort „Situation" vor allem in ihrer individuellen, nicht unter allgemeine Schemata und eingefahrene Betrachtungsweisen zu verrechnenden Besonderheit angesprochen. Angesichts der kirchlich-theologischen Vorannahmen über „den" Menschen bringt der Situationsbegriff kritisch zur Geltung, daß die Wirklichkeit des Pfarrers oder der Kerngemeinde eben nicht eo ipso die Wirklichkeit aller Christen ist. Eine ausdifferenzierte „religiöse Situationshermeneutik" erscheint darum als notwendige Voraussetzung kirchlicher Praxis (Gräb 158ff.). Im Zuge dieser hermeneutischen „Wende zur sozialkulturellen Lebenswelt" (Drehsen) sind in den 70er Jahren vor allem die vielschichtigen empirischen Bedingungen der „Situation" in den Vordergrund getreten. Um die je besonderen Lebensverhältnisse der Adressaten wahrzunehmen, werden politische, human- und kulturwissenschaftliche Einsichten herangezogen.
Paradigmatisch für dieses Situationsverständnis erscheint seit den 80er Jahren die Rede vom „Alltag" der religiösen Subjekte (H. Luther 184f¥.): Der je besondere Alltag ist sowohl Ort routinisierter Lebensführung als auch permanenter Brüche und Transzendenzen („Grenzsituationen"); in beiden Hinsichten vermag die alltägliche Situation das kirchliche Handeln „herauszufordern" (Lange).
336
Situation
2.3. Deutungsdynamik. Vor a l l e m die p h ä n o m e n o l o g i s c h e R e k o n s t r u k t i o n der „gelebten R e l i g i o n " (zuletzt: F a i l i n g / H e i m b r o c k ) h a t herausgestellt, d a ß auch diese „Sit u a t i o n " als ein Handlungszusammenhang gesehen werden m u ß : D i e alltäglichen Lebensverhältnisse sind als O r t subjektiv-religiöser Deutungs- und Gestaltungsprozesse zu sehen, die der kirchlichen P r a x i s vorausliegen. Diese Dynamik der individuellen Lebenssituation stellt den Ansatzpunkt für ihre (rechtfertigungs-) theologische Interpretation dar. Dabei wird gelegentlich, im Anschluß an Gerhard Ebeling (geb. 1912), der Begriff der „Grundsituation" herangezogen (vgl. Jetter 403 ff.; Müller 242ff.; Rössler 394.396f.): Die alltäglichen Erfahrungen lassen sich existentiell zuspitzen auf die Situation einer unbedingten, letztinstanzlichen Beanspruchung. Diese gewissensmäßige „Anfechtungssituation" ist auf ihre „Rechtfertigung" oder „Befreiung zum Glauben" durch ein religiöses Wort angewiesen. D i e Pointe dieser S i t u a t i o n s d e u t u n g im S c h e m a von Gesetz und Evangelium besteht n i c h t zuletzt darin, d a ß jene geistliche Konfliktdynamik sich einer vorgängigen Erfahrung des kirchlichen Handelns v e r d a n k t . Es ist eben die kirchliche Überlieferung, die in der A n f e c h t u n g als „ i r r e l e v a n t " erscheint (Lange), als ein abständig-fremder oder g a r als ein bedrohlicher A n s p r u c h , weil sie die jeweilige S i t u a t i o n nicht m e h r sinnvoll zu deuten vermag. D e r p r a k t i s c h - t h e o l o g i s c h e Begriff der individuellen Lebenssituation verweist s o m i t auf die k i r c h l i c h e Handlungssituation, in der sich jene t h e o l o g i s c h e D y n a m i k exemplarisch abbildet. 2.4. Veränderbarkeit. D i e P r a k t i s c h e T h e o l o g i e n i m m t die Grenzen einer kirchlichen „ S i t u a t i o n s b e w ä l t i g u n g " (Preul) w a h r , die durch deren vorgegebene, empirisch wie theologisch zu interpretierende Bedingungen gegeben sind, sowie vor allem durch die Erw a r t u n g eines nicht e r z w i n g b a r e n göttlichen H a n d e l n s . G l e i c h w o h l insistiert sie auf der M ö g l i c h k e i t methodisch gezielter Einwirkung auf die Situation und u m r e i ß t entsprechende W a h r n e h m u n g s - und G e s t a l t u n g s k o m p e t e n z e n (Drehsen 2 2 f f . ) . D a b e i herrscht inzwischen E i n i g k e i t , d a ß die kirchliche P r a x i s ihre „ S i t u a t i o n " gerade dadurch w i r k s a m beeinflußt, d a ß sie neue Deutungen präsentiert, die in die individuelle Situat i o n s d y n a m i k eingehen k ö n n e n ( G r ä b 6 2 f f . 2 2 3 f f . ) . Im Anschluß an E . L a n g e läßt sich diese p r a k t i s c h - t h e o l o g i s c h e Perspektive a m Beispiel der Predigt resümieren: „ D i e Predigt des E v a n g e l i u m s verändert a u c h i m m e r wieder S i t u a t i o n e n , indem sie M e n s c h e n ermutigt, N e u e s sehen lehrt, über die christliche L e b e n s p r a x i s aufklärt und zur Vergewisserung im G l a u b e n b e i t r ä g t " ( W i n t z e r 117). Literatur Karl-Fritz Daiber, Religion in Kirche u. Gesellschaft. Theol. u. soziologische Stud. zur Präsenz v. Religion in der gegenwärtigen Kultur, Stuttgart u.a. 1997. - Hans Werner Dannowski, Kompendium der Predigtlehre, Gütersloh 1985 = 2 1990. - Volker Drehsen, Neuzeitliche Konstitutionsbedingungen der Prakt. Theol. Aspekte der theol. Wende zur sozialkulturellen Lebenswelt christl. Religion, Gütersloh 1988. - Wolf-Eckart Failing/Hans-Günter Heimbrock, Gelebte Religion wahrnehmen. 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337
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Jan Hermelink
Situationsethik 1. Begriff 2. Theozentrischer Kontextualismus 3. Empirischer Situationismus licher Realismus 5. Einwände (Literatur S . 3 4 1 )
4. Schmerz-
1. Begriff Der Begriff „Situationsethik" bezeichnet Theorien, die beim Urteil über Richtigkeit oder Falschheit einer bestimmten menschlichen Handlung den spezifischen Merkmalen des einzelnen Falles das entscheidende moralische Gewicht beimessen. Statt unveränderliche moralische Absoluta aufzuerlegen, die überall bestimmte Klassen von Verhalten verbieten, sollten wir alle traditionellen Regeln, die bestimmte Arten von Handlungen verbieten, einer kritischen Prüfung unterziehen und niemals im voraus annehmen, daß es Dinge gibt, die zu tun stets schlecht ist, ganz gleich, wer sie tut. Nur Vorschriften von uneingeschränkt allgemeinem Charakter sind unveränderlich und verpflichten überall, z. B. die beiden großen Gebote, Gott zu lieben und den Nächsten zu lieben wie sich selbst. Vertreter dieser Auffassung berufen sich gelegentlich auf das berühmte Wort -•Augustins: Dilige et quod vis, fac (tr. in ep. loh. 7,8: PL 35,2033). Augustin wäre zweifellos beunruhigt über diese Verwendung seines Ausspruchs zur Stützung von Anschauungen, die er selbst verworfen hat. Für ihn war Liebe als Motiv eine notwendige, nicht aber eine hinreichende Bedingung einer guten Handlung. Er war vielmehr überzeugt, daß bestimmte Handlungen in sich selbst schlecht sind, also eine intrinsische moralische Qualität besitzen. Zu den absolut verbotenen Handlungen gehörten für ihn Götzendienst, Mord, Lüge und Ehebruch. Die Augustins Ausspruch übernahmen, aber seine absolutistischen Festsetzungen ablehnten, waren hinreichend klar als eine fest umrissene Bewegung erkennbar, um von Papst —»Pius XII. im Jahre 1952 verurteilt zu werden, der dabei abwechselnd die Begriffe „neue M o r a l " , „Situationsethik", „ethischer Existenzialismus", „ethischer Aktualismus" oder „ethischer Individualismus" gebrauchte. Pius XII. stellte ein striktes Entweder-Oder auf: Entweder erkennen wir universale moralische Gesetze an, oder wir erliegen einer Theorie der radikalen Diskontinuität isolierter Situationen. Situationsethiker, die sich selbst als solche verstanden, suchten diesen Gegensatz zu nuancieren. In der Theorie beanspruchten sie, zwischen den Exzessen des „Extemporismus" und des „Legalismus" zu vermitteln. Nach allgemeiner Überzeugung galt ihr Angriff jedoch vielmehr dem Moralismus des Kirchenvolks. Mit der selbstbewußten Formulierung ihrer Position lösten sie in Europa und Nordamerika eine breite Diskussion aus, bei der sie von der säkularen Öffentlichkeit manche Unterstützung erhielten. Existenzialistische Denker z. B. betonten die Bedeutung „authentischer" persönlicher Entscheidungen und wandten sich gegen Regeln, welche die Spontaneität und das Bewußtsein geschichtlicher Veränderung und Kontingenz unterdrücken (-»Existenzphilosophie/Existenzialismus). Die Debatte spielte sich indes vor allem in der christlichen Öffentlichkeit ab. Die eigentliche Diskussion über die Situationsethik kam um 1980 an ein Ende, doch bleibt die von Befürwortern wie Kritikern hervorgebrachte umfangreiche Literatur eine wertvolle Quelle, wie auch die gegenwärtige Kontroverse über moralische Absoluta manche Verbindung zu dieser früheren Diskussion aufweist.
338 2. Theozentrischer
Situationsethik Kontextualismus
Eine Begründung für den Ansatz bei der besonderen -»-Situation knüpft an S. -»Kierkegaards „teleologische Suspension des Ethischen" an, die von seinem Pseudonym Johannes de Silentio in Furcht und Zittern vertreten wird. Johannes untersucht die biblische Erzählung von Isaaks Opferung und findet in Abraham eine beispielhafte vorbehaltlose Offenheit für Gottes unmittelbares Gebot. Teleologische Suspension des Ethischen besagt, daß wir mit besten menschlichen Gründen eine gegebene Handlung für falsch halten können, für den Fall jedoch, daß Gott sie in einer bestimmten Situation gebietet, unsere Ansicht ändern müssen. Zwar behauptet Johannes auch, daß Gott die Prüfung nur unter der Bedingung auferlegen kann, daß Abraham Isaak nicht hassen kann (es handelt sich um eine Prüfung, nicht eine Versuchung), doch das Gravitationszentrum bleibt Abrahams Gehorsam gegenüber Gott. Zu den religiösen Denkern, die im 20. Jh. zumindest zu einer solchen Stimmung vorbehaltloser Offenheit für ein unmittelbares göttliches Handeln beigetragen haben, gehören K. -»Barth, M. Buber, E. Brunner, D. -»Bonhoeffer, H. Richard -»Niebuhr und Paul L. Lehmann (1906-1993). Die besondere Situation hat Vorrang gegenüber einer „Paragraphenethik", weil es Gott sein muß, der im gegenwärtigen Augenblick gebietet. Selbst der -•Dekalog oder die -»Bergpredigt gelten nicht als verallgemeinerte Fälle, die besondere Entscheidungen antizipieren können. Wir können die göttliche Souveränität antasten und von einer persönlichen Begegnung mit Gott abgelenkt werden, wenn wir uns anmaßen, im voraus zu wissen, was wir tun und lassen sollen, um dieses Wissen dann nur noch zu interpretieren, anzuwenden und auszuführen. Dem Unternehmen einer „Kasuistik", welche die einzelnen Fälle subsumiert, wird - mit fraglichem Recht - nachgesagt, daß es solcher Ablenkung Vorschub leiste. Es soll durch eine Art von theozentrisch begründeter Handlungsdeontologie ersetzt werden. Das unmittelbare, in der jeweiligen Situation sich selbst auslegende Gebot Gottes kann mitunter zur Aufhebung unserer vorausgegangenen moralischen Urteile führen. Andernfalls laufen wir Gefahr, Gott überflüssig zu machen; er würde, mit Johannes de Silentio zu reden, „ein unsichtbarer entschwindender Punkt, ein unmächtiger Gedanke" (Kierkegaard, Samlede Verker III, 117; dt.: Furcht und Zittern 84). 3. Empirischer
Situationismus
Eine zweite Begründung für den situationsbezogenen Ansatz verwirft jede Berufung auf unmittelbare göttliche Gebote. Statt dessen sollten wir auf jede Situation unmittelbar die allgemeine Verpflichtung, „den Nächsten zu lieben wie sich selbst" (Mt 22,39), anwenden. Der einflußreichste Vertreter des empirischen Situationismus war J. Fletcher (1905-1991), der in Situation Ethics die These vertrat, daß nur in der Konfrontation des von der -»Liebe bestimmten Willens mit den kontextuellen Details der Situation selbst eine Entscheidung darüber möglich ist, welche Handlung in einer besonderen Situation richtig ist. Fletcher bringt seine eigene Version von Situationsethik ausdrücklich mit einem modifizierten Handlungsutilitarismus (-»Utilitarismus) in Verbindung. Nächstenliebe ist das alleinige oberste Kriterium, das immer das Handeln leiten soll, ähnlich wie das Nutzenprinzip. Andere „subsidiäre" Vorschriften, einschließlich derjenigen, die Augustin traditionell als Absoluta betrachtet, kommen für Fletcher nur als „Maximen" in Frage, die „erhellen, aber nicht vorschreiben". Für ihn basieren diese Prinzipien auf früheren Fällen und kumulierter Erfahrung, der zu entnehmen ist, welche Arten von Handlungen in der Regel gute oder schlechte Folgen haben. Doch bleiben sie bestenfalls „statistisch ausgewiesene Verallgemeinerungen". Und sie verpflichten, wie gesagt, niemals absolut. Wir sollten solche Prinzipien suspendieren oder zurückweisen, wann immer wir durch ihre Übertretung mehr Gutes bewirken als durch ihre Beachtung. „Mehr Gutes bewirken" ist immer das Kennzeichen der Handlung, die mehr der Liebe entspricht. Bei allen gelegentlich zu beobachtenden Differenzen zwischen Fletcher und anderen Vertretern seiner Position läuft ihre Auffassung darauf hinaus, daß wir eine tra-
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ditionelle Maxime, falls sie in einer konkreten Situation der Liebe widerspricht, ohne schlechtes Gewissen und ohne das Gefühl eines Sollenskonflikts ignorieren sollen. 4. Schmerzlicher
Realismus
Eine letzte Rechtfertigung des Ansatzes bei der besonderen Situation verlagert den Akzent auf den moralischen Kompromiß, den eine besondere Situation mit sich bringen kann. Reinhold —»-Niebuhr beklagt in The Nature and Destiny of Man, daß eine bestimmte Situation uns vor unwillkommene und unerwünschte Entscheidungen stellen kann, bei denen wir erwägen müssen, Dinge zu tun, die wir abstoßend finden oder zumindest niemals um ihrer selbst tun würden. Aber nach seiner Auffassung treffen wir solche Entscheidungen, die wir nicht treffen möchten, zu Recht, wenn die Alternative wäre, daß wir korrupten Kräften erliegen, welche die Bedingungen für eine halbwegs gerecht zu nennende Gemeinschaft überhaupt bedrohen. Diese dritte Begründung bleibt „situational", sofern sie den kontextuellen Details den effektiven Vorrang bei der Bestimmung der angemessenen Handlungsweise einräumt. Nächstenliebe bleibt die höchste Norm, und keine subsidiäre Vorschrift verpflichtet absolut ohne Ansehung der Folgen. Außerdem gelten unmittelbare göttliche Gebote nicht als Möglichkeiten, die routinemäßig in Betracht zu ziehen wären. Dieser dritte Ansatz unterscheidet sich vom zweiten jedoch insofern, als Fletcher zu unangefochten wirkt, wenn er behauptet, das größte in einer Situation mögliche moralisch Gute sei das am meisten der Liebe entsprechende Tun. Für den dritten Begründungsversuch gehen Kompromisse niemals einfach in Ordnung. Als Irrtum Fletchers gilt auch, sämtliche Gesichtspunkte bei jeder zu treffenden Entscheidung von Grund auf abzuwägen. Sind subsidiäre Gebote auch nicht absolut oder stets ausschlaggebend, so sollten sie doch niemals in Situationen, wo sie relevant sind, außer Betracht bleiben. Manche führen eine Vermutung zu ihren Gunsten mit sich. Sie dürfen nicht ignoriert werden; höchstens kann man sich mit Bedauern und im Bewußtsein konkurrierender Verpflichtungen über sie hinwegsetzen. 5.
Einwände
Ein roter Faden zog sich durch viele der Einwände gegen Theorien, die den spezifischen Merkmalen der einzelnen Fälle das entscheidende moralische Gewicht beimessen. Die Kritiker behaupteten, bei solcher Konzentration auf die jeweilige Situation bleibe unsere moralische Existenz so unbestimmt und unberechenbar, daß sich keine eindeutigen Tugenden und dauerhaften Verhaltensmuster mehr ausmachen und empfehlen ließen. Doch dieser Faden war bei jeder der drei Begründungen anders gewirkt. Beim theozentrischen Kontextualismus betraf die Kritik die Vernachlässigung möglicher Konstanten in Gottes Geboten, die es schwierig macht, vorbehaltlose Offenheit für unmittelbare göttliche Gebote von Verbrechen im Namen eines heiligen Befehls zu unterscheiden. Aufgrund der Weigerung, sich überhaupt im voraus festzulegen, ließen sich willkürliche Urteile kaum vermeiden oder in Frage stellen, so daß sich ein kriterienloses Konzept von Nachfolge ergab. Während die Kritiker sich in diesem Einwand einig waren, unterschieden sie sich in den Heilmitteln, die sie vorschlugen. Zwei Heilungsvorschläge waren einflußreich: Einige Kritiker suchten wieder die religiöse Gemeinschaft zu etablieren als den Ort, wo alle göttlichen Gebote empfangen und in einer Auslegungsgeschichte interpretiert werden. Sie optierten für gemeinschaftliche „Prüfung der Geister" und für Gemeinschaftsdisziplin. Sie forderten die grundsätzliche Beachtung der christlichen Tradition, einschließlich ihrer moralischen Urteile, und stärkten so das Bewußtsein historischer Kontinuität (auch wenn sie einräumten, daß bestimmte spezifische Urteile zu kritisieren und in manchen Fällen umzustoßen seien). Das Paradigma religiöser und moralischer Existenz war für sie nicht vorbehaltlose Offenheit für unmittelbare göttliche Gebote, sondern fortgesetzte Treue zur Kirche als dem Ort, wo Wort und Geist niemals grundsätzlich auseinandertreten können. Sie waren bereit zu akzeptieren, daß diese Treue
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Konflikte zwischen den moralischen Urteilen der christlichen und der bürgerlichen Gemeinschaft nach sich ziehen kann, und bekannten sich bei Konflikten größtenteils zu den in der Kirche vertretenen Urteilen. Ein zweites Heilmittel bestand in der Rückwendung zu einer Version von „—•Naturrecht" als dem Zeugnis von Gottes ordnendem Handeln in der Schöpfung. Nach diesem Vorschlag besaßen „alle Menschen guten Willens" Zugang zur Erkenntnis bestimmter traditionsunabhängiger moralischer Einsichten. Diese Einsichten wurden nicht als das Ganze der christlichen Moral betrachtet. Doch sie bildeten den Hauptteil dessen, was Christen wie Nichtchristen vertreten sollten. Befinde sich unsere praktische Vernunft in der rechten Ordnung, so würden die naturrechtlich gewonnenen Urteile letztlich nicht von der besonderen Lebensweise divergieren, die in der christlichen Gemeinde verbindlich ist. Christen und Nichtchristen sollten also nicht nur akzeptieren, daß uneingeschränkt allgemeine Verpflichtungen wie das Gebot der Liebe und der Gerechtigkeit überall binden, sondern daß auch bestimmte eindeutige Arten von Handlungen als falsch zu bewerten sind, ganz gleich, wer sie vornimmt. Beim empirischen Situationismus wurde kritisiert, daß die erhellenden Maximen nicht einheitlich gekennzeichnet seien. Dieser Mangel wog schwer, hatten sich die Situationisten doch gerade durch ihre Interpretation der Prinzipien sowohl von den Legalisten wie von den Extemporisten unterscheiden wollen. Offiziell und weithin auch in der Ausführung suchten die Situationisten Liebe unmittelbar auf den besonderen Fall anzuwenden. Entsprach in dieser Situation ein bestimmter Grundsatz ebenso der Liebe wie in früheren Situationen, war es gut. Falls nicht, war er einfach zu ignorieren. Gelegentlich schrieben sie jedoch den Prinzipien eine größere Autorität zu. Sie räumten ein, daß zumindest einige Grundsätze in einer Situation, in der sie relevant waren, niemals ignoriert werden dürften und höchstens ein Zuwiderhandeln in Frage kam. Schließlich hatten einige dieser Grundsätze eine Vermutung zu ihren Gunsten auf ihrer Seite, und dies bedeutete, daß die Liebe noch vor der jeweiligen Situation über einen größeren Bestand an festen Urteilen verfügte, als Situationisten formell anerkannten. Gestand man solche Vorannahmen als Ausgangspunkt der Überlegung in spezifischen Fällen zu, dann hieß dies, daß nicht sämtliche Gesichtspunkte bei jeder Entscheidung von Grund auf abgewogen werden. Kurz, Situationisten schwankten zwischen zweierlei Deutungen der Prinzipien. Unter Druck waren sie bereit, von dem angekündigten radikalen Standpunkt abzurücken, den sie in den Augen der Kritiker nur halten konnten, weil sie sich auf untypische Fälle konzentrierten. Waren Situationisten herausgefordert, so trugen sie etwas Gemäßigteres vor, bei dem bestimmte Prinzipien wieder im voraus als relevant angenommen wurden. Die Kritiker schlössen daraus, daß die Situationsethik als Bewegung an einer inneren Unsicherheit krankte. Der schmerzliche Realismus kam bei den Kritikern besser weg als der empirische Situationismus, weil er anerkennt, daß man subsidiäre Normen niemals ignorieren, sondern allenfalls - mit Bedauern und im Bewußtsein konkurrierender Verpflichtungen — sich über sie hinwegsetzen darf. Aber man bezweifelte, ob die Realisten ihrerseits imstande seien, hinreichende Kriterien aufzustellen, nach denen irgendetwas jemals strikt verboten wäre, wenn eine Situation nur verzweifelt genug und die Taten der Übeltäter nur böse genug wären. Die Kritiker befürchteten also ein Abgleiten: von Dingen, die Realisten zu tun bereit wären, um unschuldige Dritte vor Schaden durch die Hand von Gewissenlosen zu bewahren, zu einem Verhalten, das die Realisten nicht mehr deutlich von den Gewissenlosen, die sie bekämpften, unterschied. Wo war die Notbremse, die Realisten befähigte, der Lehre zu widerstehen, daß wir stets, um Gutes zu erreichen, Böses tun dürften? Wenn Realisten so viele Kompromisse erlaubten, blieb dann noch irgendetwas, das die Lebensweise der Glieder der christlichen Gemeinschaft von anderen unterschied? Die Kritiker folgerten, daß Realisten keine Möglichkeit hätten, wenigstens deontologische „Randbedingungen" zu verteidigen, um der Tendenz, bei hinreichend ernsthafter Provokation jede Handlung zu erlauben, von außen Grenzen zu setzen. Ohne
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solche Randbedingungen hinterließen die Realisten aber ein Erbe, dessen Unbestimmtheit nicht hinnehmbar war. Obgleich die Situationsethik als selbstbewußte Bewegung mit eigenen inneren Kontroversen an Einfluß verloren hat, besteht die Dringlichkeit vieler der von ihr behandelten Probleme fort. Genauere Prüfung lohnt sich, denn sie hat noch immer einiges zu lehren. Eine dieser Lektionen dürfte sein, daß es verkehrt wäre, alle moralischen Verbote in eine einzige Kategorie fassen zu wollen. Statt dessen sollten wir eine gemischte Beschreibung anbieten, bei der von einigen Verboten a n g e n o m m e n wird, d a ß sie für mögliche Ausnahmen in der Zukunft keinen oder so gut w i e keinen R a u m lassen, und andere entsprechend einem oder mehreren der hier skizzierten Ansätze bewertet werden. H . - • T h i e l i c k e rang in einer lehrreichen Weise mit dieser Möglichkeit. Er wandte sich von der Situationsethik ab aus Sorge, daß Christen „grundsätzlich unberechenbar" werden könnten. Er war der Auffassung, daß z. B. Folter ausnahmslos verboten sei. U m ihrer eigenen Integrität willen, sei es als Gemeinschaft oder als einzelne, wie auch um nicht mitschuldig zu werden an der Bedrohung der Bedingungen einer annähernd gerechten Gemeinschaft, sollten Christen niemals in Folter einwilligen. Sie sollten sich weigern, auf diese Weise ihre Hände zu beschmutzen. D o c h Thielicke räumte auch der „Grenzsituation" ihren Platz ein, die in einem überindividuellen Schuldzusammenhang gründet und unsere O p t i o n e n manchmal in schmerzhafter Weise einengt. Es kann bestimmte Situationen geben, in denen jeder denkbare Weg des H a n d e l n s oder Unterlassens, der gewählt wird, uns zur Bitte um Gottes Vergebung nötigt. Aus solcher Vergebungsbedürftigkeit kann für uns eine bleibende Beunruhigung des Gewissens erwachsen. Aber das m u ß nichts Schlechtes sein, leben wir d o c h „in der Zeit zwischen den Zeiten", in der Pilgerschaft unser Los ist. Literatur Orlando Sydney Barr, The Christian New Morality. A Biblical Study of Situation Ethics, New York 1969. - Karl Barth, KD, II/2 1942 111/4 1951. - Harvey Cox (Hg.), The Situation Ethics Debate, Philadelphia, Pa. 1968. - Charles Curran (Hg.), Absolutes in Moral Theology?, Washington, D.C. 1968 = Westport, Conn. 1975. - Ders./Richard McCormick (Hg.), Readings in Moral Theology. I. Moral Norms and Catholic Tradition, New York 1979. - Walter Dirks, Wie erkenne ich, was Gott v. mir will?: FH 6 (1951) 229 - 244. - Richard Egenter, Von der Freiheit der Kinder Gottes, Freiburg i.Br. 1949. - Donald Evans, Love, Situations, and Rules: Norm and Context in Christian Ethics (s.u.) 367-414. - Ders., Faith, Authenticity and Morality, Toronto 1980, 160-196. - Joseph Fletcher, Situation Ethics. The New Morality, Philadelphia, Pa. 1966; dt.: Moral ohne Normen?, Gütersloh 1967. - Ders., Moral Responsibility, Situation Ethics at Work, Philadelphia, Pa. 1967; dt.: Leben ohne Moral?, Gütersloh 1969. - Ders., What's in a Rule? A Situationist's View: Norm and Context in Christian Ethics (s.u.) 325-349. - William K. Frankena, Love and Principle in Christian Ethics: Alvin Plantinga (Hg.), Faith and Philosophy, Grand Rapids, Mich. 1964, 203 - 225. - Joseph Fuchs, Situation u. Entscheidung, Frankfurt a.M. 1952. - Ders., Morale theologique et morale de situation: N R T h 76 (1954) 1073-1075. - James M. Gustafson, Christian Ethics and the Community, Philadelphia, Pa. 1971, 101-126. - Hans-Eduard Hengstenberg, Von der göttlichen Vorsehung, Münster 1940 31947. - Hans Hirschmann, „Herr was willst Du, daß ich tun soll?" Situationsethik u. Erfüllung des Willens Gottes: GuL 24 (1951) 300-304. - Soren Kierkegaard, Frygt og Baeven (Kopenhagen 1843): ders., Samlede Vaerker, hg. v. Anders B. Drachmann u.a., Kopenhagen, III 1901, 57-168; dt.: GW. IV. Furcht u. Zittern, übers, v. Emanuel Hirsch, Düsseldorf/Köln o.J. - Edward Leroy Long Jr., Soteriological Implications of Norm and Context: Norm and Context in Christian Ethics (s.u.) 205 - 295. - John Mahoney, The Making of Moral Theology. A Study of the Roman Catholic Tradition, Oxford 1983, 175-223. - Basil Mitchell, Ideals, Roles, and Rules: Norm and Context in Christian Ethics (s.u.) 351-365. - Max Müller, Exkurs über das Verhältnis der ,existenziellen Enscheidung' zur Idee einer Wesens-, Ordnungsu. Ziel-Ethik: ders., Existenzphil, im geistigen Leben der Gegenwart, Heidelberg 1949, 100-106. - Reinhold Niebuhr, The Nature and Destiny of Man, New York 1941 = 1943. - Norm and Context in Christian Ethics, hg. v. Gene Outka/Paul Ramsey, New York/London 1968. - Gene Outka, Agape. An Ethical Analysis, New Haven, Conn. 1972, 93-122.229-233. - Pius XII.: AAS 44 (1952) 413-419. - Karl Rahner, Sehr, zur Theol., Einsiedeln, II 1955. - Paul Ramsey, Deeds and Rules in Christian Ethics, New York 1967. - Ders., The Case of the Curious Exception: Norm and Context in Christian Ethics (s.o.) 67-135. - Marcel Reding, Die phil. Grundlegung der kath.
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Gene Outka Sitz im Leben -»• Formgeschichte/Formenkritik Sixtus IV., Papst
(1471-1484)
1. Leben und Wirken
1. Leben
und
2. Wertung
(Quellen/Literatur S. 345)
Wirken
Aus einfacher, nicht vermögender Handwerkerfamilie aus Albisola Superiore (Provinz Savona [Ligurien]) stammend - der Vater Leonardo war Tuchscherer, die Mutter Luchina Monleone gehörte zum Genueser Stadtbürgertum - , wurde Francesco della Rovere (da Savona), der spätere Papst Sixtus IV., am 21. Juli 1414 in Richetti, einem Ortsteil von Pecorile (Gemeinde Celle Ligure), geboren. Aufgrund eines bei seiner Geburt abgelegten Gelöbnisses der Mutter wurde er bereits im Alter von 9 Jahren der Obhut des Minoriten Giovanni da Pinerolo anvertraut. Von dessen Spiritualität und dem Frömmigkeitsstreben der -»Franziskaner beeindruckt, legte der seit frühester Kindheit die Ordenskutte Tragende mit 15 Jahren im Konvent von S. Francesco in Savona die Gelübde ab und schloß sich hier dem Flügel der Konventualen an. Daselbst und an den Ordensschulen in Chieri (bei Turin) sowie in Pavia genoß er erste Schulbildung, woran sich ab 1434 ein Philosophie- und Theologiestudium an den Universitäten von Bologna und Padua schloß, das mit der Erlangung des theologischen Magistergrades am 14. April 1444 endete. 1439 zum Priester geweiht, wirkte er bis 1441 als Lektor für Philosophie am Ordensstudium in Venedig. Aufgrund einer ausgedehnten Lehrtätigkeit an verschiedenen Hohen Schulen Italiens (Padua, Bologna, Florenz, Perugia und Siena [1444-1458]) gewann er nicht nur Hochachtung im Orden (1446/1448 erstmals socius des Generalministers) und des Kardinalprotektors —»-Bessarion, dessen Beichtvater er 1459 wurde, sondern konnte sich auch als wirkmächtiger Prediger profilieren. 1460 Provinzial der genuesischen Ordensprovinz, bald darauf Generalprokurator und Vikar für ganz Italien sowie römischer Provinzialminister, wurde er am 19. Mai 1464 auf dem in Perugia tagenden Generalkapitel zum 37. Generalminister des Franziskanerordens gewählt. Trotz Krankheit nahm er als solcher sogleich kraftvoll die Reform desselben in Angriff, begann mit der Visitation der Konvente und ordenseigenen Studienhäuser, entwarf Reformstatuten (Statuta Sixtina [1469]), erreichte vor allem aber 1467 eine zumindest zeitweilige Beruhigung im internen Streit zwischen Konventualen und Observanten (-*Franziskaner 4.). Bessarions Fürsprache bei Paul II. (1464-1471) verdankte er die am 18. September 1467 erfolgte Erhebung zum Kardinal (mit der Titelkirche S. Pietro in Vincoli), doch gab er die Ordensleitung erst am 19. Mai 1469 auf dem Generalkapitel von Venedig an Zanetto da Udine (gest. 1485) ab. Jahre intensiven theologischen Studiums folgten, in denen u.a. die einzigen drei für ihn gesicherten (1471/1473 im Druck veröffentlichten) Traktate De sanguine Christi (1463 erstmals disputiert), De potentia Dei (1467) und De futuris contingentibus (1467/1470) fertiggestellt wurden. Gerade in der Interpretation der Heilig-Blut-Reliquien erwies sich der scotistisch gebildete Theologe als Meister der allegorisierenden Bibelexegese. Aus dem dreitägigen Konklave nach Pauls II. Tod ging er am 9. August 1471 (mit 12 von 18 Voten) zwar als Überraschungskandidat hervor, doch verdankte er diesen
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Erfolg neben der Unterstützung durch Parteigänger des Herzogs von Mailand vor allem dem geschickten Taktieren seines Neffen und Konklavisten Pietro Riario (1445-1474). Diesen und Giuliano Deila Rovere (den späteren -»Julius II.) erhob er daher unter Mißachtung der Wahlkapitulation schon am 16. Dezember 1471 zu Kardinälen. Beider beherrschendem Einfluß war Sixtus IV. zeitlebens derart verfallen, daß sein mit einem „wahren Platzregen" (Joseph Schlecht [1857-1925]) von Vergünstigungen für Familienmitglieder (darunter allein zwölf Neffen) und Famiiiaren einsetzender Pontifikat einem bislang unbekannten, schrankenlosen Nepotismus Tür und Tor öffnete. Nach Pietros vorzeitigem Ableben (5. Januar 1474) nahm dessen älterer, (seit 1472) mit Caterina Sforza, der natürlichen Tochter des Herzogs Galeazzo Maria Sforza von Mailand (1444— 1476), vermählter und zum Herrn von Imola (später auch von Forli) sowie zum Generalkapitän der päpstlichen Truppen (seit 1480 Gonfaloniere der Kirche) aufgestiegener Bruder Girolamo (1443-1488) als weltlicher Nepot (und „böser Dämon") den ersten Platz unter den Beratern des Papstes ein. Nun wurden fast alle kurialen Schlüsselpositionen mit Angehörigen der eigenen oder verwandter Familien aus Ligurien besetzt. Mit diesem hemmungslosen Nepotismus, der indes dem wohldurchdachten politischen Kalkül der Hausmachtsicherung in einer Wahlmonarchie seitens einer Aufsteigersippe entsprang, verband sich ein übel beleumundeter Fiskalismus der Kurie, der vom Wunsch nach Erschließung neuer Finanzquellen (z. B. Verdoppelung der käuflichen Ämter, Ausweitung des Ablaßwesens und der Indulgenzen, Anhebung der Annaten) getragen wurde. Fortan wurde die für die außerordentliche Finanzverwaltung zuständige Datarie neben der apostolischen Kammer zur wichtigsten Behörde und ihr Inhaber (Datar) zum „mächtigsten Mann der Kurie" (Fink 657). Die massive, durch nichts zu rechtfertigende Ausweitung des Kardinalskollegs auf 34 Mitglieder (darunter sechs Nepoten), wobei politisch-finanzielle Erwägungen vor kirchlich-religiösen den Ausschlag gaben, hatte dessen bereits von den Zeitgenossen kritisierte Verweltlichung zur Folge. Den äußeren Höhepunkt des Pontifikats aber brachte die mit Kreuzzugsprojekten verbrämte, sorgfältig vorbereitete Feier eines -»Jubeljahres (1475). Damit in Verbindung steht eine unter dem Gesichtspunkt des praktischen Nutzens durchgeführte umfassende Stadterneuerung. Von dem Wunsch nach Aussöhnung mit der Orthodoxie (aufgrund der 1472 in Rom erfolgten Eheschließung der katholisch erzogenen Sophia Palaiologa [Zoé] [nach 1 4 4 6 1503] mit dem weißrussischen Großfürsten Ivan III. Vasil'evic [1440-1505]) erfüllt, erteilte der in Bedrängnis geratene Papst der Forderung nach Einberufung eines Reformkonzils durch Erneuerung des Verbots der Konzilsappellation (28. Oktober 1483) eine deutliche Abfuhr. Doch fällt durch die eigenmächtige Vorgehensweise des südslawischen Dominikaners und Titular-Erzbischofs von Krajina Andreas Jamometic (ca. 1420-1484) (Frühjahr 1482) gerade in seinen Pontifikat der erste wirkliche Konzilsversuch seit dem Ende der Baseler Synode (-»Basel-Ferrara-Florenz I). Das beweist ein Wiedererstarken der konziliaren Idee. Durch diplomatische Schachzüge und die Ausgestaltung der Lehre vom Primat des Papstes konnte Sixtus IV. jedoch sehr rasch die Oberhand gewinnen. Inquisitoren (darunter der Dominikaner Heinrich Institoris [1430-1505]) gingen nun gezielt gegen heterodoxe Gruppierungen vor. Dafür spricht auch das spanische Beispiel, wo seit der Bulle Etsi Romani Pontificis (2. August 1483) die (zunächst nur für Kastilien und León eingerichtete) -»Inquisition als straff zentralistische, hierarchisch strukturierte Behörde unter dem Vorsitz eines Großinquisitors (als erster der Dominikaner Tomás de Torquemada [1420-1498]) am Königshof amtierte. Der als Marienverehrer in der Tradition eines -»Duns Scotus stehende, persönlich tieffromme „Immakulist" und somit energische Verteidiger der Unbefleckten Empfängnis sprach sich daher in der apostolischen Konstitution Grave nimis (4. September 1483) unmißverständlich zugunsten der Freiheit Mariens von der Erbsünde im Augenblick ihrer Empfängnis aus (vgl. T R E 22,16,44ff.). Durch die Bullen Regimini universalis ecclesiae (sog. „Mare magnum" [31. August 1474]) und Sacri Praedicatorum et Minorum
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fratrum („Bulla aurea" [26. Juli 1479]) erweiterte er großzügig die Vorrechte der Bettelorden, wodurch er sich deren Wertschätzung bis heute bewahren konnte. Der Verbreitung franziskanischer Spiritualität sollten auch die Aufwertung des Festes des Ordensvaters ->Franciscus als gebotener Feiertag (3. Oktober 1472), vor allem aber die Kanonisation von Angehörigen aus den Reihen der Mendikanten (z. B. Bonaventura da Bagnoregio [ca. 1217-1274] [14. April 1482]) dienen. Als bedeutender Mäzen förderte Sixtus IV. zielstrebig Kunst und Wissenschaft (Einrichtung von Vatikanischem Archiv und Bibliothek, Bestellung des Humanisten Bartolomeo Sacchi [1421-1481], genannt il Piatina, zum Bibliothekar [15. Juni 1475] sowie Neubelebung des Studium Urbis). Seit der zu Anfang des Pontifikates erfolgten „Statuenstiftung" an die Stadt Rom (15. Dezember 1471) verbindet sich für immer mit seinem Namen jener gewaltige Bauboom, der das mittelalterliche Rom in die Stadt der -•Renaissance verwandeln sollte (-»-Rom IV.3.). Über Sixtus' IV. Romliebe gibt die Bulle Etsi universis Romanae Ecclesiae vom 1. Januar 1474 Auskunft. Denn durch den tüchtigen, lange jedoch verkannten Florentiner Architekten Baccio Ponteiii ( 1 4 5 0 - ca. 1492) gelang nicht nur die Erneuerung einer beide Stadtteile verbindenden Tiberbrücke (Ponte Sisto [1473/1475]) und die Anlage von heute noch funktionierenden Wasserleitungen (Acqua Vergine [aus Trevi]), sondern auch der ansehnliche Neubau des Spitals von Santo Spirito in Sassia (1474/1484) sowie die Errichtung der (alten) Vatikanischen Bibliothek und der für musikalische Feiern der Gottesdienste mit dem kurialen Hofstaat künstlerisch ausgestalteten Sixtinischen Kapelle (1473/1483). Hierbei stellten Florentiner und umbrische Maler (darunter Sandro Botticelli [1445-1510], Domenico Ghirlandaio [1449-1494] und Pietro Perugino [ca. 1448-1523]) Szenen aus dem Alten und Neuen Testament gegenüber. Durch zahlreiche Kirchen- und Palastbauten gedieh unter der engagierten Mitwirkung des Kardinalskollegs nicht bloß die intendierte Stadtverschönerung, sondern binnen weniger Jahre wurden damals auch am Tiber die Grundlagen für die Rezeption der Renaissance gelegt.
Diese Leistung einer Renovatio Urbis muß um so mehr erstaunen, als der Pontifikat Sixtus' IV. von zumeist durch päpstliche Verwandte angezettelten kriegerischen Auseinandersetzungen aufgrund von territorialem Machtstreben ausgefüllt war. Hierbei bildete die vom Papst dem Neffen Girolamo Riario 1473 zu Lehen gegebene Grafschaft Imola wohl das hauptsächlichste Streitobjekt. Bis 1478 standen sich deshalb zwei Bündnisblöcke unversöhnlich gegenüber, ehe es zu dem von diesem Nepoten vorbereiteten Mordanschlag auf die führenden Häupter der Medici im Florentiner Dom kam (26. April 1478). Durch den Fehlschlag dieser ganz dem Stil der Zeit entsprechenden „PazziVerschwörung" waren aber Ansehen und moralische Autorität des Heiligen Stuhles schwer angeschlagen. Ein umfassender italienischer Staatenkrieg konnte zwar um die Jahreswende 1479 beendet werden, doch beschleunigte erst der Überfall osmanischer Truppen auf den adriatischen Hafenplatz Otranto (11.-14. August 1480) die Aussöhnung der Kontrahenten. Der päpstliche Aufruf zu einem gemeinsamen Vorgehen gegen die „Ungläubigen" verhallte dagegen ungehört. Ein neuer, mit schwankendem Waffenglück ausgetragener Konflikt zwischen der mit dem Papst verbündeten Republik Venedig und dem König von Neapel stürzte nicht nur die Stadt Rom in bürgerkriegsähnliche Zustände, sondern mußte aufgrund der allgemeinen Erschöpfung erfolglos und ohne den von Sixtus IV. erhofften Landgewinn abgebrochen werden (Friede von Bagnolo [7. August 1484]). Fünf Tage später (12. August 1484) verstarb der bereits seit langem kränkelnde Papst - angeblich am Ärger über die für den Kirchenstaat schimpflichen Friedensbedingungen. Sein Leichnam wurde 1493 in der (1477/1479 errichteten) Chorkapelle von Alt-St. Peter in einem von Giuliano Deila Rovere bei Antonio del Pollaiuolo (1431-1498) in Auftrag gegebenen prächtigen Bronze-Grabmal (heute in den Vatikanischen Grotten), einem der schönsten Papstgräber, bestattet. 2. Wertung Trotz beachtlicher Gelehrsamkeit und eines zeitlebens demonstrierten einfachen Lebensstils darf nichts darüber hinwegtäuschen, daß mit dem für die Papstkirche auch
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a u s religiöser Sicht e h e r g l ü c k l o s e n P o n t i f i k a t Sixtus' IV. d a s Z e i t a l t e r ihres N i e d e r g a n g e s eingeleitet w u r d e . D e r a l l g e m e i n e V e r w e l t l i c h u n g s p r o z e ß , der n i c h t b l o ß in einem n a h e z u g r e n z e n l o s e n N e p o t i s m u s , s o n d e r n a u c h in e i n e m stets n a c h n e u e n F i n a n z q u e l l e n späh e n d e n F i s k a l i s m u s k u l m i n i e r t e , ließ R o m , w o d e r d a r a n H a u p t s c h u l d i g e allerdings m i t v o l l e m R e c h t als restitutor Urbis gefeiert w u r d e , b i n n e n k u r z e m zu e i n e m n e u e n Z e n t r u m des R e n a i s s a n c e - H u m a n i s m u s w e r d e n . U n g e a c h t e t dieses v o r d e r g r ü n d i g e n B e m ü h e n s b l i e b e n die zeitgleichen, auf Spiritualisierung u n d R e f o r m i e r u n g d e r P a p s t k i r c h e ausg e r i c h t e t e n T e n d e n z e n j e d o c h z u m e i s t in kläglichen A n s ä t z e n s t e c k e n . D a d u r c h u n d m e h r n o c h d u r c h die z a h l r e i c h e n , w e n i g e r f o l g r e i c h e n politischen A b e n t e u e r u n d S k a n d a l e w i r d d a s Bild dieses „ S t ö r e r s des italienischen G l e i c h g e w i c h t s " (Fink 657) ü b e r s c h a t t e t : D e n n dieser P a p s t a u s d e m F r a n z i s k a n e r o r d e n e r w e i s t sich in allem u n d j e d e m - p o s i t i v wie n e g a t i v - als t y p i s c h e r Vertreter des „ R e n a i s s a n c e p a p s t t u m s " , d a s in seiner P e r s o n u n d u n t e r seiner F ü h r u n g einen ersten, nicht glücklich zu w e r t e n d e n H ö h e p u n k t e r r e i c h t e . D a r ü b e r d ü r f e n a u c h zeitgenössische L o b e s h y m n e n (wie des E n g l ä n d e r s R o b e r t F l e m m i n g [gest. 1483] 1477 in R o m g e d r u c k t e Lucubratiunculae) nicht hinwegtäuschen. Quellen Anón. [B. Platina?], Vita Sixti IV: RIS 3,2, Mailand 1734, 1053-1068. - Vespasiano da Bisticci, Le vite, ed. Aulo Greco, Florenz, I 1970, 174f.; II 1976, 719 (ad indicem). - Cesare Cenci, Ad bullarium Sixti IV suppl.: AFH 83 (1990) 491-535; 84 (1991) 51-149. - Alessandro Cortese, Carmen in laudem pontificatus Sixti IV (1475). Tratto dal Vat. lat. 1133, ed. Dino Cortese, Padua 1971. H C M A 2 2 (1914) 15-20. - Bernardino Llorca, Bulario pontificio de la Inquisición española en suo período constitucional (1478-1525): M H P 15 (1949) 48-108. - Anneliese Maier, Alcuni autografi di Sisto IV: dies., Ausgehendes MA. GAufs. zur Geistesgesch. des 14. Jh., II 1967 (SeL 105) 135—140.498. - Platynae histor. Liber de vita Christi ac omnium Pontificum, ed. 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(1585-1590)
(Quellen und Literatur S. 3 4 9 )
Bei dem Konklave nach dem Tod -»Gregors XIII. nahmen die katholischen Mächte nur einen geringen Einfluß. Unter den 42 Wählern standen sich zwei Konkurrenten als Nebenbuhler gegenüber, die Kardinäle Ferdinando Medici (1549-1609), Bruder des Großherzogs von Toscana, und Alessandro Farnese d.J. (1520-1589), Enkel -»Pauls III. Beide machten sich Hoffnung auf die Tiara, kamen aber nicht zum Zug. Es gelang relativ rasch, die verschiedenen Parteiungen für den Kardinal Montalto zu gewinnen. Am 24. April 1585 erfolgte seine Wahl. Er gab sich als -»Franziskaner im Andenken an den Franziskaner-Papst -»Sixtus IV. den Namen Sixtus V. Feiice Peretti, so sein bürgerlicher Name, wurde am 13. Dezember 1521 in Grottamare in der Mark Ancona geboren. Zuvor war die Familie in dem Städtchen Montalto ansässig gewesen. Die Verhältnisse, aus denen Feiice stammte, waren ärmlich. Ein Onkel, der Franziskaner-Konventuale war, nahm sich des Jungen an und sorgte für seine schulische Bildung. Mit zwölf Jahren trat Feiice dann selbst in den Orden ein. 1534 legte er die Gelübde ab. Er studierte u.a. in Ferrara und Bologna. 1548 erwarb er in Fermo den Grad eines Magisters der Theologie. Schon bald tat er sich als gefragter Kanzelredner hervor. In seinem Orden-1556 wurde er Studienleiter des Klosters in Venedig - machte er sich wegen seiner Strenge nicht nur Freunde. Er erlangte die Protektion -»Pius' V., stieg zum Generalvikar der Franziskaner-Konventualen auf und wurde 1566 Bischof von Sant' Agata de'Goti. 1570 zum Kardinal erhoben, erhielt er 1571 auch das Bistum Fermo, auf das er 1577 verzichtete. Zwischen Gregor XIII. und dem Kardinal Montalto bestanden alte, tiefgehende Spannungen. Peretti wurde systematisch ausgeschaltet. Er zog sich zurück und widmete sich seinen Büchern. Nach seiner Wahl zum Papst aber kamen seine ungestüme Anlage und seine Energie voll zum Durchbruch. Mit eiserner Hand ging er daran, im -»Kirchenstaat Ordnung zu schaffen. Hier hatte das Banditenwesen unerträgliche Formen angenommen. Zahlreiche Räuber wurden verurteilt und hingerichtet, die Köpfe zur Abschreckung an der Engelsbrücke aufgesteckt. Sixtus bemühte sich aber auch allgemein um eine Verbesserung der Lebensverhältnisse im Kirchenstaat. Ein Teil der Pontinischen Sümpfe wurde entwässert und für die Bewirtschaftung erschlossen. Mit großem Erfolg nahm er sich der Ordnung der unter Gregor XIII. heruntergekommenen Finanzen an. Er hinterließ bei seinem Tod in der Engelsburg einen Staatsschatz von über 4 Millionen Scudi. Das wurde erreicht durch rigorose Einsparungen in der Hofhaltung, durch eine starke Vermehrung der käuflichen Ämter an der Kurie und durch Erhöhung von Abgaben und Steuern. Dank der vermehrten Finanzkraft konnte Sixtus sich als Mäzen von Wissenschaft und Kunst betätigen und eine rege Bautätigkeit in Rom entfalten. Er war der Wegbereiter der Entwicklung -»Roms zur Stadt des -»Barock. Einen gewissen Höhepunkt seiner Bautätigkeit bildete die Vollendung der Kuppel von St. Peter nach den Plänen -»Michelangelos. Von seinen innerkirchlichen Tätigkeiten war am weitreichendsten die Neuorganisation der -»Kurie (H.2.). Er gab dem Kardinalskollegium die Form, die es im wesentlichen bis um die Mitte des 20. Jh. hatte (vgl. -»Kardinal/Kardinalskollegium 9.). Die Zahl der Kardinäle wurde auf 70 festgelegt: sechs Kardinalbischöfe, 50 Kardinalpriester und 14 Kardinaldiakone (Bulle vom 3. Dezember 1586). Von einschneidender Wirkung war die Schaffung der Kardinalskongregationen. Seit dem hohen Mittelalter waren die wichtigeren kirchlichen Angelegenheiten (causae maiores) im regelmäßig stattfindenden Konsistorium von Papst und Kardinälen entschieden worden. Einige Behörden, wie die Apostolische Kammer, die Kanzlei, die Pönitentiarie und die Rota, hatten sich inzwischen für einzelne Bereiche herausgebildet. Mit der Einrichtung des Heiligen Offiziums hatte Paul III. den Anfang zur Schaffung weiterer Kardinalskongregationen gemacht. Sixtus V. errichtete mit Bulle vom 22. Januar 1588 15 Kardinalskongregationen, sechs für die
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Sixtus V.
Verwaltung und Justiz des Kirchenstaates, neun für die Angelegenheiten der Gesamtkirche. Die Kardinalskongregationen sind dem Papst direkt verantwortlich. Das bedeutet, daß die Kardinäle als Kollegium ihre kirchenpolitische Bedeutung (abgesehen von der -> Papstwahl) verloren, die Stellung des Papstes in Verwaltung und Justiz aber gestärkt wurde. Das Konsistorium büßte seine einstige Funktion ein. Das eigenmächtige Vorgehen Sixtus' V. bei der Neuausgabe der Vulgata bedeutete eine nicht geringe Blamage. Dem Auftrag des Trienter Konzils (-»Tridentinum), einen verbesserten Text der Vulgata herauszubringen, suchte Sixtus zu entsprechen und setzte dafür eine Kommission ein. Er schob jedoch die Arbeiten dieser Kommission beiseite und gestaltete höchstpersönlich den neuen Text, wobei er vor eigenmächtigen Textänderungen und willkürlichen Streichungen nicht zurückschreckte. Die neue, verschlimmbesserte Ausgabe wurde mit Bulle vom 1. März 1590 in Kraft gesetzt. Die negativen Reaktionen blieben nicht aus. Die Edition wurde unter dem Nachfolger Clemens VIII. (1592-1605) zurückgezogen und durch eine neue Ausgabe ersetzt. In seiner Politik war Sixtus von der Überzeugung getragen, die überragende Stellung des Papsttums verlange, daß die weltlichen Herrscher im Geistlichen und im Zeitlichen dem Papst unterworfen seien. Die Verhältnisse in Frankreich und Spanien stellten Sixtus vor äußerst schwierige Probleme. In Frankreich war mit der Thronbesteigung des dem Calvinismus anhängenden Heinrich von Navarra (1553—1610) zu rechnen. Um das zu verhindern, bildete sich ein Bündnis zwischen französischen katholischen Fürsten, unter ihnen die Guise sowie der Kardinal Karl von Bourbon (1523-1590), und König -»Philipp II. von Spanien. Der spanische König setzte Sixtus unter massiven Druck, dem Bündnis beizutreten. Er erklärte sich als Vorkämpfer der katholischen Sache in Frankreich. Der Papst jedoch suchte eine völlige Abhängigkeit von Spanien zu vermeiden. In seiner lavierenden Politik hatte Sixtus nicht immer eine glückliche Hand. Im September 1585 erklärte er Heinrich von Navarra als Häretiker der Thronansprüche für verlustig. König Heinrich III. (1551-1589) ließ Heinrich von Guise (1550-1588) und dessen Bruder, den Kardinal Ludwig von Lothringen (1555-1588), ermorden, andere Fürsten der Liga gefangensetzen. Darüber hinaus verbündete sich der König mit Heinrich von Navarra, fiel aber seinerseits einem Mordanschlag zum Opfer (1589). Auch als sich die Lage für Heinrich von Navarra immer günstiger entwickelte und Spanien seinen Druck auf Sixtus verstärkte, blieb dieser bei seiner zurückhaltenden Politik. Die Rückkehr Heinrichs IV. zur katholischen Kirche (1593) erlebte der Papst nicht mehr. Eine herbe Enttäuschung für Sixtus V. bedeutete das Scheitern der erhofften Wiedergewinnung Englands für die katholische Kirche. Nach der Hinrichtung Maria Stuarts 1587 schloß der Papst einen Bündnisvertrag mit Philipp II. und sicherte diesem unter bestimmten Bedingungen seine Unterstützung zu für ein von Spanien geplantes kriegerisches Unternehmen gegen die englische Königin -»Elisabeth I. Doch wurde die spanische Armada, die im Mai 1588 auslief, in den Kanalschlachten Ende Juli/Anfang August vernichtend geschlagen. Damit war der Traum einer Rekatholisierung Englands endgültig zerronnen. Spanien mußte einen peinlichen Prestigeverlust hinnehmen. Sixtus V. starb an einer Malaria-Erkrankung am 27. August 1590. Sein Grab befindet sich in einer Seitenkapelle der Basilika Santa Maria Maggiore. Sixtus V. war von überragenden Fähigkeiten. Er besaß großes Geschick in der Verwaltung und in der Handhabung der Finanzen. In seinem persönlichen Lebensstil war er bescheiden und sparsam. Seine Frömmigkeit war urwüchsig und einfach. Er war ein M a n n des Willens und der Tatkraft, doch besaß er einen leidenschaftlichen Charakter, war oft aufbrausend und zornig und konnte rücksichtslos sein in der Verfolgung seiner Ziele. Von seiner päpstlichen Würde hatte er eine übersteigerte Vorstellung. Er hatte keine Hemmungen, seine Familie zu begünstigen; einen Großneffen erhob er in jugendlichem Alter zum Kardinal. Trotz seines relativ kurzen Pontifikats gehört Sixtus V. zu den bedeutendsten Päpsten des 16. Jh.
Skepsis/Skeptizismus I
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Klaus Ganzer
Skandalon (Ärgernis) -»Kreuz, -»Paradox Skepsis/Skeptizismus I. Philosophisch II. Systematisch-theologisch
S.361
I. Philosophisch 1. N a m e , Begriff, antike Q u e l l e n 2. A n t i k e Skepsis 3. M i t t e l a l t e r l i c h e R e z e p t i o n e n 4. Skeptizismus der Neuzeit 5 . K a n t und Hegel über den Skeptizismus (Quellen/Literatur S. 3 5 9 )
1. Name,
Begriff,
antike
Quellen
Das zum griechischen Verbum oKETiTOßai (umherblicken) gehörige Substantiv OKÉij/iQ hat die Bedeutung „Betrachtung, Untersuchung, Überlegung", das Adjektiv OKETIUKÓQ bezeichnet dementsprechend den, der untersucht, prüft und erwägt, und ist dann, wie das erst seit dem 15. J h . verwendete lateinische scepticus, zum Namen für den Anhänger einer Philosophenschule geworden, die sich auf Pyrrhon von Elis (ca. 3 6 0 - 2 7 0 v. Chr.) berief. Nach Sextus Empiricus (2. Hälfte des 2. J h . n. Chr.) sind die Skeptiker diejenigen Philosophen, die weder wie die Dogmatiker (z. B. -»• Aristoteles, Epikur, die Stoiker [-•Stoa/Stoizismus/Neustoizismus]) behaupten, das Wahre gefunden zu haben, noch wie die Akademiker (z. B. Karneades [s.u. 2.2.]) es für unerkennbar erklärten, sondern es noch suchen. Daher wird die skeptische Schule auch „die suchende" {CrjrtjriKrj), „die zurückhaltende" (eaivdfievov) aufgestellt w e r d e n , nicht aber in d e m Sinne, daß die Sache selbst s o ist, w i e sie mir erscheint. D a s gilt nach T i m o n erst recht für gute u n d schlechte D i n g e , weil sie nicht an sich oder von N a t u r {voei) existieren, sondern nur v o n Seiten der M e n s c h e n durch K o n v e n t i o n (vöfiäj) so unterschieden w e r d e n . Pyrrhon steht in der Ethik auf der Seite der rigorosen älteren Stoiker, w e l c h e nur die - • T u g e n d selbst als g u t anerkennen. Außer dieser ist alles andere nicht mehr oder weniger gut oder schlecht, sondern gänzlich indifferent, ja der Weise empfindet diese D i n g e nicht einmal, w a s m a n Ungerührtheit (dnäOeia) nannte. W e n n also die Tugend einmal als das einzig Gute feststeht, bleibt nichts als w a h r h a f t erstrebenswert übrig, aber den Weisen hindert nichts daran, den Bräuchen seines Landes in seinem praktischen Verhalten zu folgen. T i m o n hat in seiner P o l e m i k gegen andere P h i l o s o p h e n vor und neben Pyrrhon insbesondere den Protagoras ( 4 8 5 - 4 1 5 v. Chr.) a u s g e n o m m e n , der in großer Ehrlichkeit erklärt hatte, d a ß er über Wesen und Existenz der Götter nichts w i s s e .
2.2. Neue Akademie. Cicero berichtet, daß die sog. Neue Akademie mit Arkesilaos begann, der sich nach seiner Meinung zu Recht auf -»Plato und die Alte Akademie
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berufen k o n n t e . W a s die N e u e A k a d e m i e bis K a r n e a d e s (213—128 v. Chr.) zur skeptischen m a c h t e , w a r ihre G e w o h n h e i t , sich in allen D i n g e n des Urteils zu enthalten, w o f ü r allerdings erst im späteren P y r r h o n i s m u s die Bezeichnung „ S k e p t i k e r " a u f k a m . Dies ist nach „ V a r r o " in C i c e r o s Academica gerade die Position des S o k r a t i s c h e n N i c h t w i s sens, das angeblich schon vor —>Sokrates bei fast allen alten P h i l o s o p h e n anzutreffen sei und das auch die Platonische Philosophie b e s t i m m e . A r k e s i l a o s bestritt d e m n a c h , d a ß es von irgendetwas ein W i s s e n geben k ö n n e , nicht einmal von dem, w o v o n allein S o k r a t e s für sich ein W i s s e n b e a n s p r u c h t h a b e , n ä m l i c h , d a ß er nichts wisse. D a nach seiner M e i n u n g alles so sehr im Verborgenen liege und es nichts gebe, w a s wir einsehen und erkennen k ö n n t e n , dürfe n i e m a n d etwas b e h a u p t e n oder versichern oder durch seine Z u s t i m m u n g billigen; vielmehr solle m a n i m m e r seine Z u s t i m m u n g zurückhalten und sich vor jedem Fehltritt aus übereiltem Urteil hüten, welches insbesondere darin besteht, d a ß m a n entweder Falsches oder Ungewisses billigt. W e n n nun in ein und derselben Sache auf entgegengesetzten Seiten gleich s t a r k e Vernunftgründe gefunden werden k ö n n e n , fällt es u m so leichter, die Z u s t i m m u n g zu jeder der beiden Seiten zurückzuhalten {assensio sustineretur). Diese M e t h o d e der N e u e n A k a d e m i e sei also dieselbe wie die der Alten, insofern m a n P l a t o zu dieser zähle, in dessen B ü c h e r n n ä m l i c h nichts fest b e h a u p t e t , sondern vielmehr nach beiden Seiten hin vielfältig a r g u m e n t i e r t werde, w o alles in F r a g e gestellt und nichts Gewisses ausgesagt werde (Ac. I, 4 6 ; vgl. D e or. 111,67). Diese Platoauslegung, die nach C i c e r o der D e n k w e i s e der A k a d e m i e bis hin zu K a r n e a d e s als G r u n d l a g e gedient hat, b e s t i m m t e also a u c h die Auseinandersetzung mit den anderen P h i l o s o p h e n s c h u l e n , insbesondere die mit der S t o a . T r o t z dieses Ausgangs v o m P l a t o nischen S o k r a t e s ist die Ü b e r e i n s t i m m u n g der A k a d e m i k e r m i t d e m älteren P y r r h o n i s m u s (und mit der D i a l e k t i k e r s c h u l e D i o d o r s ) zu g r o ß , u m zufällig zu sein. D a s unterstellte N a c h a h m u n g s v e r h ä l t n i s d r ü c k t sich in d e m zeitgenössischen Spottvers des Stoikers Ariston (um 2 5 0 v. Chr.) über A r k e s i l a o s aus: „ P i a t o n von v o r n , P y r r h o n von hinten, in der M i t t e D i o d o r o s " (bei D i o g e n e s Laertius IV,33). So e r k a n n t e n ihn die späteren Skeptiker als einen der ihren an (vgl. S e x t u s , P. I, 2 3 2 ) , zumal A r k e s i l a o s nicht nur wie sie selbst das W a h r e und F a l s c h e , sondern auch das G l a u b w ü r d i g e der Urteilsenthaltung unterwarf. G l e i c h w o h l spricht sich bei S e x t u s die Kritik der P y r r h o n e e r an der vorgeblich d o g m a t i s c h e n A r t der B e g r ü n d u n g für die Z u r ü c k h a l t u n g der Z u s t i m m u n g und der Verdacht aus, d a ß A r k e s i l a o s unter dem ä u ß e r e n Anschein eines Pyrrhoneers in W a h r h e i t einen d o g m a t i s c h e n P i a t o n i s m u s verbarg (ebd. 2 3 4 ) . Die von Arkesilaos praktizierte Methode des Argumentierens nach beiden Seiten erfordert nicht nur, über eine und dieselbe Sache These und Antithese zu begründen, sondern auch, jede beliebige vom Gesprächspartner aufgestellte These zu bestreiten. Das berühmteste Beispiel dieser rhetorischen Technik sind die beiden Reden, die Karneades 155 v. Chr. in Rom an einem Tage für und am nächsten Tage gegen die Gerechtigkeit gehalten hat. Ein solches Argumentieren pro und contra eine und dieselbe These auf dem Wege einer Widerlegung jeweils der Gegenthese durch Entkräftung der für sie sprechenden Argumente erfolgte bei Karneades indes nicht in der Absicht, seine rhetorische Virtuosität unter Beweis zu stellen. Auch war die Rede gegen die Gerechtigkeit nicht dazu bestimmt, diese herabzusetzen, sondern nur dazu aufzuzeigen, daß ihre Verteidiger nichts Gewisses und nichts Festes für sie vorzubringen wüßten (vgl. Lactantius, inst. V , 1 4 , 3 - 5 und epit. 50,8). Den nichtdogmatischen Charakter der akademischen Skepsis, der von Sextus bestritten wurde, erkennt man aus der Bemerkung des Karneades, daß derjenige, der wie der Akademiker verneint, daß es etwas Erkennbares gebe, nichts davon ausnehme. Also sei es notwendig, daß nicht einmal dieser Satz von der Unerkennbarkeit von allem in irgendeiner Weise ein Gegenstand des Erfassens und Wissens sei. Die Originalität der Position des Arkesilaos sieht Cicero darin, daß er als erster die These vertreten habe, ein Mensch könne sich des Meinens (opinari) enthalten, und ein Weiser müsse es sogar. Das folgt aus der Unmöglichkeit der Erkenntnis und des Wissens und aus der Größe der Schändlichkeit, die darin liegt, daß man der Erfassung von etwas durch Zustimmung und Billigung vorauseile. Die Skepsis des A r k e s i l a o s und seiner N a c h f o l g e r ist, e b e n s o wie die S t o a Z e n o n s von Kition, aus der P l a t o n i s c h e n A k a d e m i e hervorgegangen. Insofern ist sie u n a b h ä n g i g
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Skepsis/Skeptizismus I
vom älteren Pyrrhonismus, den die Akademiker nie als Vorläufer anerkannten. Auch wird von den Akademikern nie die Gemütsruhe als Folge der Urteilsenthaltung angesehen. Ferner hat Karneades beansprucht, nicht nur wie Arkesilaos die Stoiker immanent, d.h. ausgehend von deren eigenen Prämissen, widerlegt zu haben, sondern, jedenfalls in der Ethik, die Gesamtheit aller möglichen Standpunkte, einschließlich der einander entgegengesetzten, seiner Kritik unterzogen zu haben, ohne auf die Vorgabe einer bestimmten dogmatischen Position zur Widerlegung angewiesen zu sein. Die Zurückhaltung des Urteils und damit die Vermeidung jeglicher Meinung (Só£a) scheint nun (auch nach Ansicht des Aristoteles und Epikurs) den Menschen und vor allem den Weisen handlungsunfähig zu machen. Jedenfalls war dies der Vorwurf der Stoa. Aber die Akademiker replizierten, daß der Antrieb zum Handeln {ópfiij) nicht zur Zustimmung (aoyKazáOeav;) werden müsse, um zur Handlung zu führen, und daß es dazu der Zustimmung nicht bedürfe. Zwar werden Menschen nach den Akademikern durch einen Eindruck ((¡>avzaaia) und einen Antrieb auf natürliche Weise zu dem geführt, was ihnen als das ihnen Zugehörige erscheint (tö (paivópisvov OÍKSIOV), aber dies geschieht ohne Vermittlung des Meinens und der voreiligen Zustimmung, in welchen Falschheit und Täuschung allein erzeugt werden. Die Urteilsenthaltung ist allein gegen die Zustimmung gerichtet, nicht aber gegen Antrieb oder Eindruck und somit nicht gegen das zweckgerichtete Handeln selbst. Der Bestreitung von Erkenntnis und Wissen entspricht zwar die Bestreitung eines theoretischen Wahrheitskriteriums, nicht aber eines Kriteriums für das menschliche Handeln und der Lebensführung um der Glückseligkeit willen. Dafür zureichend ist nach Karneades der „glaubwürdige E i n d r u c k " (möavtj (pavraaia), sofern er zugleich ungehindert und gründlich geprüft ist. Glaubwürdig und überzeugend ist ein Eindruck, wenn er uns intensiv als wahr erscheint, wobei diese Glaubwürdigkeit mehrere Grade hat, die aber alle gelegentliche Falschheit nicht ausschließen. Gleichwohl wird der Weise nach ihm niemals seine Zustimmung zum noch so Glaubwürdigen geben, es sei denn in dem unverbindlichen Sinne von Zustimmung, in dem er es sich vorbehalten kann, je nach Vorliegen oder NichtVorliegen des Glaubwürdigen auf eine Frage mit J a oder Nein zu antworten. Dabei folgt er nur seinen Eindrücken, ohne damit seine Z u s t i m m u n g in dem Sinne zu geben, daß er etwas für wahr hält. Obwohl Karneades so die herkulische Arbeit auf sich nahm, Zustimmung und damit Meinung und Voreiligkeit „ a u s unseren Gemütern wie ein wildes und unbändiges Tier herauszureißen" (Cicero, Ac. II, 108), steht nach ihm doch nichts der Handlung eines Menschen im Wege, der dem Glaubwürdigen (probabile) folgt, sofern nichts anderes ihn daran hindert.
Die Argumente der Akademiker gegen ein Wahrheitskriterium bzw. dafür, daß alle von den bisherigen dogmatischen Philosophen vorgeschlagenen Wahrheitskriterien uns betrügen, werden insbesondere gegen die stoische Lehre vom zur Erkenntnis führenden Eindruck {(pavxaaía Kazakr¡miKri) vorgetragen. Denn erstens wird durch diesen Eindruck nicht immer das Objekt, das ihn verursachte, angezeigt, sondern wir werden oft durch ihn betrogen, sofern er sich von den Dingen unterscheidet, die ihn erzeugten. Es gibt aber zweitens keinen wahren Eindruck von solcher Art, daß er sich nicht als falsch herausstellen könnte, da für jeden anscheinend wahren Eindruck ein davon ununterscheidbarer falscher gefunden werden kann. Ein Eindruck, der aus Wahrem und Falschem in gleicher Weise entstehen könnte, führt aber nicht zur Erkenntnis, ist also auch kein Kriterium der Wahrheit. Neben diesen gegen den Wahrheitsanspruch der sinnlichen Wahrnehmung gerichteten Argumenten haben auch die Argumente des Karneades gegen die Existenz der Götter und gegen das Fatum der Stoiker (-»Schicksal) noch in der Philosophie der Neuzeit ihre Wirkung nicht verfehlt. 2.3. Späterer Pyrrhonismus. Der Neugründung einer Philosophenschule unter dem Namen Pyrrhons, die der dissidente Akademiker Ainesidemos im 1. Jh. v. Chr. in Alexandrien vollzogen zu haben scheint, mag dessen Kritik an den dogmatischen Tendenzen der Akademie unter Philon von Larisa, dem Lehrer Ciceros, und der Annäherung eines anderen von dessen Schülern, des Antiochos von Askalon (ca. 1 2 5 - 6 8 v. Chr.), an die Stoa zugrunde liegen. Dabei dient die Berufung auf Pyrrhon, der wegen der Entgegen-
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setzung der Argumente nichts dogmatisch entschieden habe und nur den Erscheinungen gefolgt sei, auch der Bestimmung des Zieles (réÁOQ) der neuen Schule. Es sei die Zurückhaltung des Urteils, der wie ein Schatten die Gemütsruhe folge. In seinem Hauptwerk Pyrrbonische Abhandlungen will Ainesidemos nachweisen, daß es weder in der sinnlichen Wahrnehmung noch im Denken eine Begründung für Erkenntnis gibt, so daß weder die Pyrrhoneer noch die anderen Philosophen ein Wissen von der Wahrheit in den Dingen haben. Die Charakterisierung des Verhältnisses Pyrrhons zu anderen Philosophen erinnert stark an den Platonischen Sokrates: Sie wissen nicht, daß sie keine Erkenntnis von dem haben, was sie erkannt zu haben meinen. Dagegen ist der Pyrrhoneer insbesondere in derjenigen Weisheit glücklich, die darin besteht zu wissen, daß er von nichts ein gesichertes Wissen hat. Dann folgt die Überbietung dieses sokratischen Nichtwissens gemäß Metrodoros: Auch bezüglich dessen, was er damit weiß, vermeidet es der Pyrrhoneer, seiner Bejahung mehr zuzustimmen als seiner Verneinung. Die Abgrenzung von den Akademikern enthält den Vorwurf des Dogmatismus; diese behaupten einiges unbezweifelt und bestreiten anderes unzweideutig. Die Akademiker seien auch darin Dogmatiker, daß sie Tugend und Torheit einführen, ein Gutes und ein Schlechtes ebenso annehmen wie Wahrheit und Falschheit, auch das Glaubwürdige und das Unglaubwürdige sowie das Seiende und das Nichtseiende und viele andere feste Bestimmungen. Indem die Pyrrhoneer hingegen an allem zweifeln (SianopElv), bleiben sie konsistent und in sich widerspruchsfrei auch hinsichtlich der Art, wie sie ihren Zweifel vertreten. Die Pyrrhoneer beanspruchen nicht, ein Wissen von der Zweifelhaftigkeit aller Dinge zu haben. Dem entspricht ihre Lebensführung, die sie an dem orientieren, was ihnen jeweils als Eindruck zufällt, nicht, weil sie ihn für wahr halten, sondern weil etwas ihnen jetzt so oder so erscheint.
Dieser radikale Skeptizismus einer uneingeschränkten Urteilsenthaltung wird begründet als Folge der Entgegensetzung von Dingen, nämlich von Erscheinungen der Sinne oder von gedachten Dingen oder von diesen untereinander. Erscheinungen werden Erscheinungen z. B. dann entgegengesetzt, wenn wir sagen: „Derselbe Turm erscheint aus der Ferne zwar rund, aus der Nähe aber viereckig." Gedachtes wird Gedachtem entgegengesetzt, wenn wir demjenigen, der die Existenz der Vorsehung aus der Ordnung der Himmelskörper beweisen will, entgegensetzen, daß es den Guten oft schlecht ergeht und den Schlechten gut, und daraus schließen, daß es keine Vorsehung gibt. Wir setzen Gedachtes den Erscheinungen entgegen in der Art des Anaxagoras, der dem Weißsein des Schnees den Schluß entgegensetzt, daß der Schnee gefrorenes Wasser ist, Wasser aber schwarz ist und deshalb der Schnee schwarz ist. Der rein subjektive Charakter der Entgegensetzung wird deutlich aus einem anderen Beispiel, das Sextus gibt: „Wenn uns jemand ein Argument vorlegt, das wir nicht entkräften können, dann entgegnen wir ihm: ,So, wie sich vor der Geburt des Stifters der Lehrmeinung, der du anhängst, das ihr entsprechende Argument noch nicht als richtig offenbart hatte, jedoch der Natur nach schon existierte, so ist es ebenso möglich, daß auch das Argument, das dem von dir jetzt vorgelegten entgegensteht, der Natur nach zwar schon existiert, sich uns aber noch nicht offenbart, so daß wir deinem Argument, das jetzt stichhaltig zu sein scheint, doch noch nicht zustimmen m ü s s e n ' " (Sextus, P. 1,33f.; dt.: Hossenfelder). Die Liste der Entgegensetzungen, welche die Urteilsenthaltungen zur Folge haben, die Sextus dann aufführt, stellt er ausdrücklich unter den Vorbehalt, nichts über ihre Anzahl und Beweiskraft entscheiden zu wollen. Die zehn Tropen, die wohl auf Ainesidemos zurückgehen und deren erste vier nach K. von Fritz (101) in ihrer älteren, bei Diogenes Laertius überlieferten Version eine große Ähnlichkeit mit Argumenten Demokrits aufweisen, sind: 1. der Tropus aus der Unterschiedlichkeit der Lebewesen, 2. der aus der Verschiedenheit der Menschen, 3. der aus dem verschiedenen Bau der Sinnesorgane, 4. der aus der Verschiedenheit der Situationen, 5. der aus den Stellungen, Entfernungen und Orten, 6. der aus den Beimischungen, 7. der aus den Größen und Zusammensetzungen der Gegenstände, 8. der aus der Relativität, 9. der aus dem regelmäßigen oder seltenen Vorkommen und 10. der aus den Lebensarten, den Sitten, den Gesetzen, dem mythischen Glauben und den Dogmen der Menschen. Obwohl die Anordnung der Tropen willkürlich sein soll, lassen sie sich doch so klassifizieren: Die Tropen 1 - 4 sind dem urteilenden
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Subjekt zugeordnet, denn dieses ist entweder ein Lebewesen, ein Einzelmensch, ein Sinn oder in einer gewissen Situation. Die Tropen 7 und 10 beziehen sich auf das beurteilte Objekt, und die Tropen 5, 6, 8 und 9 beziehen sich auf beide. Diese drei Arten lassen sich auf den Tropus der Relativität als Gattung zurückführen, der also sowohl Oberbegriff für alle Tropen wie auch einer derselben ist. Sextus Empiricus fügt den zehn Tropen der Urteilsenthaltung noch acht Tropen hinzu, durch die Ainesidemos jede kausale Erklärung der Dogmatiker widerlegen will. Die fünf Tropen des Agrippa schließlich umfassen, außer denen der Uneinigkeit (covia) der Menschen im gewöhnlichen Leben und der Philosophen sowie der schon erörterten Relativität, drei beweistechnische Tropen. Im ersten wird die Glaubwürdigkeit einer These von der einer anderen abhängig gemacht, welche ihrerseits einer Begründung bedarf, wodurch sich ein Regreß in infinitum ergibt. Zweitens wird die unbewiesene Annahme einer Hypothese durch die Dogmatiker genannt, welche den Regreß in infinitum vermeiden soll, aber gleichbedeutend mit der bloßen Behauptung der zu begründenden These ist. Schließlich ist die Diallele [ömXkrjXoq zpoitoq) derjenige Fehler in der Begründung eines Sachverhaltes, der dann entsteht, wenn das Begründende seinerseits der Begründung durch den gesuchten Sachverhalt bedarf. Da diese Argumentationsfehler sich sowohl bei Gegenständen der Sinne als auch bei Gegenständen des Denkens und auch schon in der Syllogistik einstellen, ist die Urteilsenthaltung in unbeschränkter Allgemeinheit notwendig. 3. Mittelalterliche
Rezeptionen
Der akademische und der pyrrhonische Skeptizismus, der uns insbesondere in Ciceros Academica und dem Handbuch des Sextus Empiricus erhalten ist, fand bei den Zeitgenossen keine Nachfolge. Erst bei -»Lactantius und —• Augustin werden die Academica und damit der Skeptizismus der Neuen Akademie wieder als Wirkungsmacht erkennbar. 3.1. Lactantius. Für Lactantius kommt alle Wahrheit von Gott und ist nur in der einzigen, wahren und himmlischen Weisheit der christlichen Religion zu finden, die den Philosophen unbekannt ist. Vielmehr kann die Wahrheit erst dann ans Licht gebracht werden, wenn gezeigt wurde, daß die —» Philosophie eine leere und falsche Weisheit beansprucht. Mit Hilfe von Ciceros Academica will er zeigen, daß die Philosophie es nicht zum Wissen der Wahrheit bringen kann, sondern nur zur Meinung und Vermutung (opinatio). Dafür beruft er sich auf Sokrates und die Akademiker, die gelehrt hätten, daß es Wissen (scientia) nur von dem gibt, was gewiß ist, Meinung aber von dem Ungewissen (Schmitt 27). Also ist das einzig mögliche philosophische Wissen das der von Sokrates begründeten Akademie, die lehrt, daß man nur dieses weiß, nichts zu wissen (ebd.). Die Weisheit (sapientia) besteht dann nur in der religiösen Erkenntnis und Verehrung Gottes, für die der akademische Skeptizismus und seine Zerstörung aller auf die Welt gerichteten Wissensansprüche ein solides Fundament und eine nützliche Einleitung darstellt. 3.2. Augustin. Eine entschiedene Verwerfung dieses bei Cicero überlieferten Skeptizismus findet sich dagegen in Augustins Contra Academicos. Seine immanente Widerlegung einer Philosophie, die vorgibt, nur ihr Nichtwissen zu wissen und an allem zweifeln zu müssen, stützt sich auf die Tatsache, daß sich die Argumente der Akademiker gegen die Stoiker richteten, die ein Wissen aufgrund sinnlicher Wahrnehmung für möglich hielten. Der wahre Platoniker kann die Unmöglichkeit, durch die Sinne zum Wissen und über das Meinen hinaus zu gelangen, mit dem Anspruch verbinden, durch reines Denken Wissen und unbezweifelbare Gewißheit zu finden. Augustins Berufung auf den Piatonismus -»Plotins und -»-Porphyrius' erweist seinen Streit mit den Skeptikern als Streit um das wahre Erbe Piatos. Erkenntnis der Wahrheit durch den sinnenfreien Intellekt, wie Plato lehrte, und durch den Glauben und seine heiligen Mysterien sind nach ihm vereinbar. Bevor dies geschieht, muß der Skeptizismus im wahren Geiste Piatos
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überwunden werden, nach welchem, in Übereinstimmung mit dem Christentum, die Wahrheit jenseits der Widersprüche der materiellen Welt in einem geistigen Reich zu suchen und auch zu finden ist. 4. Skeptizismus
der
Neuzeit
4.1. Montaigne. Auch das erste große Dokument des neuzeitlichen Skeptizismus, M.E. de —»Montaignes Essais (1580-1595), in denen sich die Apologie de Raimond Sebond findet, knüpft an das Sokratische Nichtwissen und dessen „Einfalt" an (vgl. Montaigne, Oeuvres 478; dt.: Tietz II, 138). Montaigne sieht darin eine Bestätigung der Heiligen Schrift, nach welcher diejenigen für „elend" zu halten sind, „die sich selbst hoch schätzen" (ebd.). Die Vereinigung der antiken Skepsis mit der christlichen Demut hinsichtlich des menschlichen Wissens ist das beherrschende Thema dieses Essai. Die Erkenntnis der Wahrheit durch eigene Vernunft ist dem Menschen verwehrt. Sie ist nur im Glauben möglich, und dieser Glaube ist keine menschliche Errungenschaft, sondern ein Geschenk der Freigebigkeit Gottes. „Wir haben unsere Religion nicht durch unser Nachdenken, oder durch unseren Verstand, sondern auf sein Gebot, und seinen Befehl. ... Wir gelangen eher vermittelst unserer Unwissenheit zu einer Erkenntnis göttlicher Dinge, als vermittelst unserer Wissenschaft" (Oeuvres 479; dt.: Tietz II, 141). Dieser sog. Fideismus, der in der skeptischen Selbstkritik der Vernunft die Basis für die Überzeugung durch einen irrationalen Glauben findet und als dessen erster Vertreter Lactantius gelten kann, wird in der nachfolgenden Philosophie auch von -»Pascal, Bayle (s.u. 3.4.), Hume (s.u. 3.5.), -»Hamann, -»Jacobi und -»Kierkegaard vertreten werden. Montaignes Verständnis des Sokratischen Nichtwissens ist deutlich durch Ciceros Academica (und andere seiner Schriften) geprägt (vgl. Oeuvres 481 f.; dt.: Tietz II, 143f.), aber die umfassende Darstellung aller Argumente der antiken Skepsis gegen die Möglichkeit des Wissens, die dieser Essai enthält, beruht überwiegend auf der Rezeption der Pyrrhonischen Hypotyposen des Sextus Empiricus, deren lateinische Übersetzung 1562 im Druck erschienen war. Montaigne macht vom radikalen Skeptizismus der Pyrrhoneer Gebrauch im Sinne des -»Paulus und der christlichen Überlieferung. Die Religion bewirkt, „daß [der Mensch] seine natürliche Schwäche erkennet, daß er eine fremde Kraft von oben herab zu empfangen bereit ist, daß er zwar aller menschlichen Weisheit beraubet, aber desto geschickter ist, die göttliche Weisheit zu fassen; daß er seine Vernunft („jugement") vernichtet, um dem Glauben desto mehr Raum zu geben" (Oeuvres 486; dt.: Tietz II, 158). Die Aufrichtigkeit solcher Bekundungen Montaignes ist vielfach bestritten worden, zumal sein Essai im übrigen einen kompromißlosen Pyrrhonismus, einschließlich der bei Diogenes Laertius überlieferten Selbstanwendung, und den Vergleich mit dem sich selbst abführenden Abführmittel dokumentiert. Die Pyrrhoneer enthalten sich so- sehr jeder Behauptung, daß auch die Sätze, in denen sie ihren Zweifel ausdrücken, nicht als Aussagesätze formuliert werden dürfen, woraus Montaigne die sprachlichen Konsequenzen zieht: „Wenn sie sprechen, ich weiß nicht, oder, ich zweifle: so sagen sie, dieser Satz schmisse sich selbst zugleich mit dem übrigen um; ebenso wie die Rhabarber, welche die bösen Säfte forttreibet, zugleich selbst mit weggeht. Dieser Gedanke („fantasie") läßt sich noch besser frageweise ausdrücken: Was weiß ichs? („Que s^ay-je?")" (Oeuvres 508; dt.: Tietz II, 214) Diese Frage entspricht der Ungewißheit selbst unseres Nichtwissens.
Montaignes Schüler und Freund Pierre Charron (1541-1603) hat durch sein Hauptwerk De la sagesse (1601) viel zur Verbreitung dieses „christlichen Pyrrhonismus" (vgl. Popkin, History 62) beigetragen. Auch er stand im Verdacht des heimlichen Atheismus. Unmittelbar nach der ersten Ausgabe der Essais Montaignes erschien das etwa gleichzeitig entstandene Buch Quod Nihil Scitur (1581) seines entfernten Verwandten, des Mediziners und Philosophen Francisco Sanchez (1551-1623). Der hier in einer vehementen Kritik an Aristoteles entwickelte radikale Skeptizismus ist ganz unabhängig von Sextus Empiricus. Die antiken Gewährsleute sind vielmehr Cicero, Plutarch von Chaironeia (ca. 45 - nach 120), Galen von Pergamon (129-199) und Diogenes Laertius, und der Autor nennt sich in einem Brief an den Mathematiker Christoph Clavius (1537-1612) einen zweiten Karneades. Das polemische Werk besteht aus Hunderten von Widerlegungen, insbesondere der Aristotelischen Logik, Beweistheorie und Metaphysik, und erstreckt sich auch auf die übrigen Teile dieser
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Philosophie. Im Mittelpunkt der Erörterungen steht der Begriff des Wissens (scientia), dessen Aristotelische Definition zum Ausgangspunkt immer neuer Anläufe zu einer vernichtenden Kritik genommen wird. Dabei werden insbesondere die Aristotelischen Lehren von der Definition, von Syllogismus und Beweis sowie die Ursachen- und Prinzipienlehre auf der Basis einer erkenntnistheoretischen Untersuchung des Subjekts und des Objekts allen Wissens als unhaltbar erwiesen. Das immer gleiche Ergebnis nihil scitur bedeutet gleichwohl nicht, daß Sanchez beansprucht, ein Wissen von seinem oder jedermanns Nichtwissen oder einen Beweis dafür zu haben. Vielmehr beginnt er seine Untersuchung mit der These des Metrodorus: „Ich weiß nicht einmal dieses, daß ich nichts weiß" (vgl. Sanchez: ed. Thomson 95), und er beschließt sie mit der Ankündigung einer neuen Untersuchung, in der er die dem Menschen mögliche, nämlich nominalistische und empiristische Methode des Wissens ( m e t h o d u m sciendi) darlegen will, durch die auch entschieden werden soll, ob und in welchem Sinne etwas gewußt werden kann. Obwohl ein solches Werk nicht überliefert ist, muß Sanchez als ein Vorläufer Descartes' angesehen werden.
4.2. Mersenne. Als Gegner des alten und neuen Skeptizismus, den er als Bedrohung von Wissenschaft und Religion ansieht, ist der Ordensgeistliche Marin Mersenne (15881648) durch sein Buch La vérité des Sciences contre les Sceptiques ou Pyrrhoniens (1625) hervorgetreten. Darin kommt zugleich ein neuer, nichtaristotelischer Wissenschaftsbegriff zum Ausdruck, der sich nicht, wie es bei Descartes in erstaunlich weitreichender Übereinstimmung mit Gedanken Augustins der Fall ist, auf die immanente Widerlegung des Skeptizismus selbst gründet und dadurch die Rolle eines unerschütterlich gewissen Fundaments für Metaphysik und mathematische Physik beansprucht, sondern nur das zuverlässige Erfahrungswissen von der Erscheinungswelt (historia) bedeutet. Mersenne nennt die Skeptiker „Libertins", die als Feinde der Wahrheit der Wissenschaften des Namens Mensch, den sie tragen, unwürdig sind, da sie alles menschliche Wissen auf die Reichweite der Sinne und auf die äußere Erscheinung der Dinge einschränken, uns so auf den Zustand der dümmsten Tiere reduzieren und uns des Vernunftgebrauches berauben. Die Pyrrhoneer, wie alle Skeptiker genannt werden, tragen damit zur Libertinage unter den jungen Leuten bei, da ein Verlust an Vertrauen zur Wahrheit in den Angelegenheiten der Wissenschaften und der Naturdinge, die uns als Stufen für den Aufstieg zu Gott dienen, auch die Religion in Mißkredit bringt. Auf den nachfolgenden tausend Seiten des Werkes werden u.a. die Meinungen der Skeptiker widerlegt, die mathematischen Wissenschaften im allgemeinen und insbesondere die Arithmetik abgehandelt, die praktische Arithmetik und die Algebra erklärt und schließlich die Wahrheit und Gewißheit der Geometrie gegen die Skeptiker bewiesen. Die zehn Tropen des Ainesidemos werden nach der Darstellung bei Sextus ausführlich erörtert und Punkt für Punkt widerlegt, ebenso wie die fünf Tropen des Agrippa. Diese skeptischen Argumente sollen beweisen, daß nichts gewußt werden kann. Aber von einigem haben wir gleichwohl ein Wissen, nämlich von den Akzidenzen und Wirkungen der Dinge, wenn wir auch ihre Natur oder ihr Wesen nicht kennen. Dieses eingeschränkte Wissen genügt, um die Dinge dieser Welt zu unterscheiden und unser Handeln zu leiten. Ebenso werden die pyrrhonischen Argumente gegen den Syllogismus und den Beweis geprüft und zurückgewiesen. Am Ende der Widerlegung des Skeptizismus werden die Pyrrhoneer gefragt, ob sie wissen, daß sie zweifeln. Da sie das zugeben, müssen sie auch zugeben, daß sie etwas wissen, also nicht an allem zweifeln, daß es also etwas Wahrhaftes gibt und daß man deshalb ihrem Pyrrhonismus auf ewig Adieu sagen muß. Der Pyrrhonismus behält recht auf dem Felde der Metaphysik, dennoch gibt es im Bereich der Wissenschaften unbezweifelbare Wahrheit. „Beginnend mit Mersenne ist ein neuer Typus von Wissenschaftsverständnis entstanden, eine Wissenschaft ohne Metaphysik, die letztlich zweifelhaft, aber für alle praktischen Zwecke überprüfbar wahr und nützlich ist" (vgl. Popkin, History 140). 4.3. Gassendi und Bayle. Bei Pierre Gassendi (1592-1655), dem Freund Mersennes und Wiederentdecker Epikurs, ist die Berufung auf die pyrrhonische und akademische Skepsis verbunden mit einer scharfen Kritik an der Aristotelischen Erkenntnislehre, Physik und Metaphysik. In seinen Exercitationes Paradoxicae adversus Aristoteleos (I 1624
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II 1 6 5 9 ) attackiert er den Wissenschaftsbegriff des Aristoteles, indem er das ganze Arsenal der bei Sextus Empiricus versammelten A r g u m e n t e gezielt gegen den Anspruch der Aristoteliker richtet, ein durch Beweis aus ihrem Wesen begründetes und d a r u m notwendiges Wissen von den Naturdingen zu haben. Quod nulla sit Scientia, et máxime Aristotelea ist die Überschrift der 6. E x e r c i t a t i o (Op. O m n i a III, 192). W a s allein dem Menschen möglich ist, ist eine scientia „experimentalis, et ut sie dicam apparentialis" (ebd. 2 0 7 ) , zu der auch die M a t h e m a t i k gehört, die ebensowenig wie das Erfahrungswissen auf einer Erkenntnis der nächsten Ursache, d.h. der N a t u r ihrer Gegenstände, beruht, sondern allenfalls auf ihrer geometrischen Figur. Insofern bleibt das Pyrrhonische nihil sciri auch unter den Bedingungen der neuzeitlichen Experimentalphysik und gegenüber der Cartesischen Metaphysik der N a t u r w a h r . An dieses skeptische Wissenschaftsverständnis Gassendis knüpft P. - » B a y l e an, wenn er im Artikel „ P y r r h o " seines Dictionnaire historique et critique ( 1 6 9 2 - 1 7 0 2 ) sagt, es sei die Ansicht der meisten Naturforscher seiner Zeit, d a ß wir uns damit begnügen müssen, bloß wahrscheinliche Aussagen über die N a t u r zu machen und Erfahrungen zu sammeln, während die N a t u r selbst für den Menschen ein unergründlicher Abgrund und nur für ihren Schöpfer und Regierer in ihrem Inneren erkennbar sei. N u r die Religion hat den Pyrrhonismus zu fürchten, denn sie kann nicht ohne Gewißheit in den Seelen der Menschen existieren, sie m u ß auf die feste Überzeugung von ihren Wahrheiten dringen. Die Religion der Gläubigen ist jedoch auf die G n a d e Gottes gegründet, die der übrigen auf die Stärke der Erziehung oder auch die Unwissenheit. Für die Theologie hingegen hat der Pyrrhonismus sogar einen N u t z e n , da er die Menschen durch die E m p findung ihres erwiesenen Nichtwissens dazu bewegen kann, „die Hülfe von oben herab anzuflehen, und sich dem Ausspruch des Glaubens zu u n t e r w e r f e n " (Bayle, W ö r t e r b u c h 111,745). Dieser auch von anderen Skeptikern des 16, und 17. Jh. vertretene Fideismus wurde von Bayle in neuer Weise radikalisiert. Gassendi war einer derjenigen Philosophen, die die zehn Tropen des Pyrrhonismus in die Philosophie wieder eingeführt haben, und der Cartesianismus hat seinerseits die Stärke des Skeptizismus dargetan, da auch nach ihm die Qualitäten der Körper, die unsere Sinne affizieren, bloße Erscheinungen sind, die den Dingen selbst nicht zukommen. Unter Berufung auf Simon Foucher (1644-1696) greift Bayle die seit -»Galilei, Descartes und John Locke ( 1 6 3 2 1704) übliche Unterscheidung der primären und sekundären Sinnesqualitäten an, deren erstere objektive Gültigkeit haben sollten, während letztere nur Modifikationen unserer Seele seien: „wenn uns die Gegenstände der Sinne, farbicht, warm, kalt, riechend scheinen, ob sie es gleich nicht sind; warum sollten sie nicht ausgedehnt und figuriert, in der Ruhe und in Bewegung zu seyn, scheinen können, ob sie gleich nichts dergleichen sind?" (ebd. 746). Die Kritik an dieser nach Locke allgemein anerkannten Unterscheidung wurde von G. -»Berkeley und Hume übernommen. Aber nicht nur die Qualität der Körper, auch ihre Existenz muí? bezweifelt werden, da ich Vorstellungen von Körpern haben kann, ohne daß sie selbst in der Welt existieren. Nach Nicole Malebranches ( 1 6 3 8 1715) Lehre jedenfalls ist es sehr schwer zu beweisen, daß es Körper gibt, und es kann uns nur der Glaube davon überzeugen. Schließlich zeigt Bayle, daß die Evidenz als das sicherste Wahrheitskriterium dadurch widerlegt werde, daß es Lehrsätze von der äußersten Evidenz gebe, die dennoch als falsch verworfen werden müssen. Das zeigt sich etwa daran, daß der Grundsatz aller Schlüsse „Dinge, die mit einem Dritten identisch sind, sind auch untereinander identisch" durch das Offenbarungsgeheimnis der Dreieinigkeit Lügen gestraft werde. Ebenso steht es mit der Identität von einem Individuum, einer Natur und einer Person, während die Menschwerdung Gottes, die Eucharistie und die Transsubstantiation anderen ontologischen Grundsätzen die Gültigkeit nehmen. Wichtiger noch sind die unaufhebbaren Konflikte, die zwischen den klaren und deutlichen Grundsätzen der Moral und der christlichen Schöpfungslehre bestehen. So muß der Mensch Böses verhindern, wenn er es kann, was nach der christlichen Theologie falsch sein muß, da Gott das Böse in der Welt zuläßt, dem er leicht hätte zuvorkommen können. Auch kann eine Kreatur, die nicht da ist, keiner bösen Tat schuldig sein, und es ist offensichtlich ungerecht, sie dafür zu bestrafen, während die christliche Erbsündenlehre die Falschheit dieser deutlichen Grundsätze zeigt etc. Wenn aber nicht einmal die evidentesten Prinzipien des menschlichen Erkennens und Handelns wahr sind, so gibt es überhaupt kein Wahrheitskriterium. Die Tropen der Urteilsenthaltung, die Sextus Empiricus dargelegt hat, gehören für Bayle zu einer Logik, die den höchsten Grad der Subtilität hat, den der menschliche Verstand erreichen konnte. Gleichwohl kann diese Subtilität dem Men-
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sehen nicht genügen. „Sie verwirret sich selbst; denn wenn sie gegründet wäre, so würde sie beweisen, daß es gewiß sey, daß man zweifeln müsse. Welch ein Chaos! Welch eine Folter für den Verstand!" (ebd. 749) Aber dieser unglückliche Zustand ist höchst geeignet, uns davon zu überzeugen, daß unsere Vernunft ein Weg zur Verwirrung ist, da sie uns in einen solchen Abgrund stürzt. Also muß man die Vernunft als Wegweiser verwerfen und vom Schöpfer einen anderen erbitten. Somit ist die Philosophie dann eine glückliche Vorbereitung zum Glauben, wenn man in ihr die Gebrechen der Vernunft erkennt. Dafür beruft sich Bayle auf Pascal und -»Calvin als Zeugen. Gegen die von Philosophen und Theologen gelehrte Vereinbarkeit von vernünftigem Wissen und christlichem -»Glauben gerichtet, fordert Bayle eine Entscheidung zwischen der Philosophie und dem Evangelium.
4.4. Hume. D. - » H u m e , der aufmerksame Leser Bayles, ist nach Kant „vielleicht der geistreichste unter allen Sceptikern" (Kant, Kritik der reinen Vernunft B 792). Im Abstract (1740) seines Tractats über die menschliche Natur (1739) nennt H u m e die dort vorgetragene Philosophie selbst „sehr skeptisch" (Treatise 657), insofern sie fast allen Vernunftgebrauch auf die Erfahrung zurückführt und den Glauben („belief"), d.h. das Fürwahrhalten unserer Erfahrungserkenntnisse, nur als eine besondere Art von Gefühl erklärt. Aber sogar der Glaube an die äußere Existenz eines Dinges oder die Annahme, daß ein Gegenstand fortexistiert, auch wenn er nicht mehr wahrgenommen wird, besteht in nichts als einem derartigen Gefühl. Das Gesamtergebnis seiner Untersuchungen der menschlichen Natur, die die Unvollkommenheiten und engen Grenzen unseres Verstandes aufdecken, besagt, daß wir auf unsere Gemütsvermögen nur vertrauen und unsere Vernunft nur gebrauchen, weil wir gar nicht anders können, also nicht, weil wir dazu durch rationale Gründe berechtigt wären. Das Ergebnis der philosophischen Prüfung unserer Vernunft müßte wie bei Bayle ein vollkommener Pyrrhonismus sein, wenn die N a t u r in uns dafür nicht zu mächtig wäre. Oder, wie H u m e später im ersten Enquiry (1748) sagt, der große Zerstörer des Pyrrhonismus ist die menschliche Tätigkeit, die Beschäftigung und die Verrichtungen der gewöhnlichen Lebensführung, die wir um unserer Selbsterhaltung willen ausführen müssen. An die Stelle des Bayleschen Glaubens an die christliche Offenbarung als Alternative zur Selbstzerstörung der Vernunft ist bei H u m e die Natur des Menschen als eines von Instinkten, Gefühlen und Leidenschaften beherrschten, aber gleichwohl vernünftigen Lebewesens getreten. Seine Kritik an der objektiven Bedeutung der im Begriff der Kausalität gedachten notwendigen Verknüpfung von Ereignissen ist folgenreich für die Geschichte der Philosophie geworden. 5. Kant und Hegel über den
Skeptizismus
I. -»Kant hat die Kritik der reinen Vernunft die vollständige „Auflösung des Humischen Problems" (Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik, Vorw. und § 30: Kants Werke. Akademie-Textausgabe, Berlin, IV 1903, 260,35f.; 313,9) genannt. Der Angriff auf die Metaphysik, den H u m e mit seinem Nachweis der mangelnden Berechtigung des objektiven Gebrauchs eines Begriffes führte, der eine notwendige Verknüpfung der Dinge enthält, war für ihn selbst ein hinreichender Grund, an der Möglichkeit der Metaphysik als objektiver Erkenntnis zu zweifeln oder vielmehr zu verzweifeln. In den Folgerungen, die H u m e aus seinen Untersuchungen zog, besteht sein metaphysischer Skeptizismus, dem Kant durch die Kritik des Vernunftvermögens selbst und seine neue Unterscheidung von Erscheinungen und Dingen an sich den Boden entziehen wollte. Wenn sich die Möglichkeit synthetischer Vernunfterkenntnisse aus Gründen a priori dartun ließ, so war damit der Humesche Empirismus und seine unausweichliche Konsequenz, sein Skeptizismus, gegenstandslos geworden. Kant hat den Kritizismus als den einzig gangbaren Mittelweg angesehen zwischen dem von Hume bekämpften Dogmatismus, den er vor allem durch Ch. -»Wolff repräsentiert sah, und Humes eigenem Skeptizismus, der alle Metaphysik und alle reine Vernunfterkenntnis für unmöglich erklärte. Von diesem Skeptizismus hat Kant die skeptische Methode unterschieden, deren Verfahren, das Gegenüberstellen von begründeter Thesis und Antithesis, von großem Nutzen für die Aufklärung des zugrundegelegten Sachverhaltes sein kann, wie die Kan-
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tische Antinomienlehre zeigt. Obwohl der Skeptizismus dem Dogmatismus gegenüber den berechtigten Einwand der Unbegründetheit seiner Annahme einer Korrespondenz von Denknotwendigkeiten und Sachgesetzlichkeiten der Dinge erhob, teilte er mit ihm doch die Voraussetzung, daß die in Rede stehenden Gegenstände der Erkenntnis als vom erkennenden Subjekt unabhängig anzusehen seien. Mit der subjektivistischen Raum- und Zeittheorie hebt Kant die gemeinsame Voraussetzung von Dogmatismus und Skeptizismus auf. Es war J.G. -»Fichte, der das Unternehmen des ÄnesidemusSchulze (Gottlob Ernst Schulze [1761-1833]), Kants Kritik und Karl Leonhard Reinholds (1758-1823) Elementarphilosophie in einen absoluten Skeptizismus zu überführen, zunichte machte. G.W.F. -»Hegels Auseinandersetzung mit dem Skeptizismus ist in der Rezension Verhältnis des Skeptizismus zur Philosophie von 1802 zugänglich, in welcher der neue Skeptizismus von Änesidemus-Schulze am antiken Skeptizismus, wie ihn Sextus darstellt, gemessen wird. Die Widersprüche, in denen die Skeptiker alter und neuer Zeit einen Beweis für die Unfähigkeit der Vernunft zur Erkenntnis der Wahrheit sehen wollten, sind nach Hegel notwendige Folgen des dogmatischen Absolutsetzens endlicher Bestimmungen, deren „Antinomie" ihre unaufhebbare Relativität erweist. Dieser Tropus des Verhältnisses, seit Sextus der wichtigste von allen, ist zugleich diejenige Denkbestimmung, die sich als vollkommen gegensatzlos erweisen läßt und darum zu einer philosophischen Erkenntnis des Absoluten von ihrer negativen Seite her dienen kann. Insofern der Skeptizismus die Widersprüche endlicher Bestimmungen behauptet und expliziert, kann er als die negative Seite aller wahren Philosophie, insbesondere der Platonischen, wie sich am (neuplatonisch interpretierten) Parmenides zeige, und der des -»Spinoza angesehen werden. Hegels eigene Philosophie, deren reifes System er mit der Phänomenologie des Geistes (1807) zu veröffentlichen beginnt, stellt den Weg des Bewußtseins als des erscheinenden Geistes zugleich als sich vollbringenden Skeptizismus dar, durch welchen insbesondere der Hauptgegensatz des Bewußtseins, der von Begriff und Gegenstand, in einer dialektischen Bewegung sukzessiv aufgehoben und in die Einheit des absoluten Wissens überführt wird. In Hegels letzter Darstellung seines Systems, der Enzyklopädie (1830), wird die Zusammengehörigkeit des Skeptizismus und der Dialektik, deren negative oder aufhebende Seite er zum Gegenstand hat, hervorgehoben, seine Tauglichkeit, zur Einleitung in die spekulative Erkenntnis zu dienen, erwähnt und der Entschluß, rein denken zu wollen, der am Beginn des Systems der Wissenschaft zu stehen hat, als Erfüllung der Forderung eines vollbrachten Skeptizismus bezeichnet. Quellen Augustinus, Against the Academics, hg. v. John J. O'Meara, Westminster, Md. 1950. - Ders., Contra Académicos [u.a.], hg. v. William MacAllen Green, 1970 (CChr.SL 29,2,2). - Pierre Bayle, Dictionnaire hist. et critique, Amsterdam u.a. 1740; dt.: Hist. u. critisches Wb., hg. v. Johann Christoph Gottsched, Leipzig 1 7 4 1 - 1 7 4 4 = Hildesheim 1974. - Pierre Charron, De la sagesse (1604), Paris 1783; dt.: Das Liecht der Weißheit, Ulm 1668. - Marcus Tullius Cicero, Académica, hg. v. James S. Reid, London 1885 = Hildesheim 1966. - Ders., Akademische Abh., Lucullus, Hamburg 1995. - Ders., Hortensius, Lucullus, Academici libri, hg. v. Laila Straume-Zimmermann u.a., München 1999. - Diogenes Laertius, Lives of Eminent Philosophers, 2 Bde., hg. v. Robert Drew Hicks, Cambridge, Mass. 1925 = 1 9 7 9 - 1 9 8 0 . - Pierre Gassendi, Op. omnia, Lyon, 11658 = Stuttgart-Bad Cannstatt 1964. - Georg Wilhelm Friedrich Hegel, GW, Hamburg, IV.IX.XX 1968-1992. - Ders., Vorl. über die Gesch. der Phil., T. 3, Hamburg 1996. - The Hell. Philosophers, 2 Bde., hg. v. Anthony Arthur Long/David N. Sedley, Cambridge 1 9 8 7 - 1 9 8 9 . - David Hume, Enquiries Concerning Human Understanding and Concerning the Principies of Moráis, hg. v. Lewis Amhurst Selby-Bigge/Peter H. Nidditch, Oxford 3 1996. - Ders., A Treatise of Human Nature, hg. v. dens., Oxford 2 1978. - Kants GS, hg. v. der Akademie der Wiss., Berlin 1902ff. - Marin Mersenne, La verité des sciences, Paris 1625 = Stuttgart 1969. - Hans Joachim Mette, Zwei Akademiker heute. Krantor v. Soloi u. Arkesilaos v. Pitane: Lustrum 26 (1984) 7 - 94. - Ders., Weitere Akademiker heute. Von Lakydes bis zu Kleitomachos: Lustrum 27 (1985) 3 9 - 1 4 8 . - Ders., Philon v. Larisa u. Antiochos v. Askalon: Lustrum 2 8 - 2 9 (1986-1987) 9 - 6 3 . - The Modes of Scepticism. Ancient Texts and Modern Interpretations, hg. v. Julia Annas/Jonathan Barnes, Cambridge 1985.
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II. Systematisch-theologisch 1. Theologisch
2. Luther und die Skepsis
3. Skeptische Theologie
(Literatur S. 365)
Die Aufgabe, über Skepsis/Skeptizismus dogmatisch zu handeln, erfordert als erstes eine deutliche Unterscheidung zwischen Skepsis und Skeptizismus. W ä h r e n d Skeptizismus aus dogmatischer Sicht immer e t w a s ist, w a s zum Leidwesen des D o g m a t i k e r s so sehr hinter den Minimalforderungen des Denkens zurückbleibt, d a ß dieser sich d a d u r c h
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Skepsis/Skeptizismus II
k e i n e r weiteren A n f e c h t u n g ausgesetzt sieht, führt der Versuch einer d o g m a t i s c h e n Rede ü b e r Skepsis zu T u r b u l e n z e n , die geeignet sind, den R e d n e r selbst zu ergreifen und ihn n i c h t zu entlassen, bis er eines M o m e n t e s inne g e w o r d e n ist, das m a n als theologisch bezeichnen d a r f . D i e s wird der A n l a ß sein, u m v o n „ s k e p t i s c h e r T h e o l o g i e " zu reden (s.u. 3 . ) . 1.
Theologisch
Skepsis aus d o g m a t i s c h e r S i c h t ist eine F r a g e s t e l l u n g , die einerseits g a n z unauffällig klingt, weil ü b e r h a u p t nichts s i c h t b a r ist, w a s sich d o g m a t i s c h e r B e t r a c h t u n g von vornherein e n t z ö g e ; andererseits a b e r befindet sie sich i m m e r m e h r o d e r weniger a u f dem W e g zu d e m P a r a d o x , d a ß die d o g m a t i s c h e S i c h t w e i s e , w a s i m m e r sie zu G e s i c h t bek o m m t , eines zuverlässig n i c h t zu G e s i c h t b e k o m m t , nie zu G e s i c h t b e k o m m e n wird und es d e n n o c h b e a n s p r u c h t zu sehen, n ä m l i c h die Skepsis. W ä h r e n d im ersten Fall (1) eine B e t r a c h t u n g s w e i s e vorausgesetzt w i r d , die v o n i h r e m G e g e n s t a n d g a n z unaffiziert b l e i b t , vielmehr g e w o h n t ist zu b e s t i m m e n , wie e t w a s zu sehen ist und als w a s , wird b e i m zweiten (2) v o r a u s g e s e t z t , d a ß der G e g e n s t a n d , die Skepsis, n i c h t o h n e W i r k u n g a u f die e i n z u n e h m e n d e S i c h t w e i s e bleiben k a n n , j a d a ß , bei E i n t r i t t der P a r a d o x i e , das B e t r a c h t e t e schließlich die a n g e s t r e n g t e B e t r a c h t u n g s w e i s e h i n w e g h e b t . D a n n w ä r e an die Stelle des U n a f f i z i e r t b l e i b e n k ö n n e n s ein Affiziertsein getreten. G e r a d e die Affizierb a r k e i t sollte u m der T h e o l o g i e willen n i c h t von v o r n h e r e i n ausgeschlossen sein. Beide Seiten lassen sich historisch illustrieren. 1) Dogmatische Auflösung der Skepsis: Gewiß ist Skepsis, wenn überhaupt, nur ein sehr marginales Thema der -»Dogmatik. Dogmatik als kirchliche Lehre bezieht sich auf Gegenstände, die zum Umfang kirchlicher Lehre gehören; Skepsis gehört dazu in keiner Weise. Nicht nur sind „Skepsis" und die stammverwandten Formen in der biblischen Überlieferung ungebräuchlich - weder in der Septuaginta noch im Novum Testamentum graece noch latinisiert in der Vulgata findet sich irgendetwas, was dazu gehörte sondern auch für die -»Theologiegeschichte gilt über weiteste Strecken dasselbe. Man darf sogar vermuten, daß mit aller Wahrscheinlichkeit Skepsis in Theologenmund bis zum Streit zwischen -»-Erasmus und -»Luther 1524/25 vergeblich gesucht würde. So gesehen kann man zweifeln, ob Skepsis überhaupt zu den Themen gehört, die in theologischer Absicht zu bearbeiten sind. Dies ändert sich schnell, wenn das Wort „Skepsis" preisgegeben wird und an seine Stelle dasjenige tritt, was man gemeinhin dafür hält: Zweifel, Ungläubigkeit allerlei Art, Distanz und Distanzierungssucht, Verweigerung, sich festlegen zu lassen usw. Im selben Moment, da man diese terminologische Erweichung zuläßt, beginnen biblische und theologische Quellen reichlich zu sprudeln. Die Lutherbibel übersetzt mit „zweifeln" so verschiedene Wörter wie diaKpiveadai (Mt 21,21; M k 11,23; Act 10,20; 11,12; Rom 4,20; 14,23; Jak 1,6 - „in dies[er] Bedeutung] erst seit d[em] N T nachweisbar": Walter Bauer/Kurt u. Barbara Aland, Wb zum NT, Berlin/New York '1988, 370 s.v. öiaxpiva) 2.b.) und SiaräCeiv (Mt 14,31; 28,17); „Zweifel" erscheint einmal für Siakoyiapöq (I Tim 2,8); „Zweifler" schließlich ist der dvtjp öhfivxog/vir duplex aus Jak 1,8. Das „nicht zweifeln" von Hebr 11,1 (eXeyxOQ/argumentum) stellt sprachlich wie sachlich wieder ein eigenes Problem dar. Alle diese Ausdrücke opponieren dem Glauben, und sofern Dogmatik eine Lehre vom Glauben ist, begegnen ihr die Phänomene des Zweifels allenfalls als Kontrast. Infolgedessen begegnet „Skepsis" in ihr überhaupt nicht. Somit dürfte Skepsis, terminologisch streng genommen, ohne alle herkömmliche Berührung mit der Dogmatik sein. Mit anderen Worten: In einer dogmatischen Betrachtung löst sich Skepsis buchstäblich auf, denn von den Haltungen der Glaubenslosigkeit, der Abgewandtheit und Nichtzugehörigkeit, die an ihre Stelle treten, ist leicht zu sehen, daß sie etwas anderes sind als Skepsis. 2) Skeptische Auflösung der Dogmatik: Nun war bisher das Dogmatische der Fixpunkt der Betrachtung, Skepsis dagegen erschien als ein erst mit dem 16. Jh. in die theologische Debatte gelangter Terminus. Das kehrt sich schnell um, und unter der Einwirkung skeptischer Kräfte beginnt der dogmatische Fixpunkt der Betrachtung sich aufzulösen. Zwar kann Dogmatik beanspruchen, daß ihre Äquivalente Sdy/xa, ÖOKEIV immer schon in der Sprache des Neuen Testaments zuhause waren, schwerlich aber in dogmatischem Sinn (Elze, Begriff). Aber das ändert nichts daran: Dogmatik im hier gebrauchten Sinn ist ein Kunstwort, das im Lauf des 17. Jh. in Gebrauch kam (s. T R E 9,41). Die ungeheuere Konjunktur und Selbstverständlichkeit, die es in der theologischen Sprache der Gegenwart gefunden hat, kann nicht darüber hinwegtäuschen, daß die Dogmatik faktisch noch später in die Theologie kam als die Skepsis.
Skepsis/Skeptizismus II
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Als Resultat ergibt sich: W ä h r e n d in der Theologie eine dogmatische Betrachtung von Skepsis dazu neigen muß, diese als ihren Gegenstand einfach dadurch aufzuheben, d a ß sie es mit anderem zu tun hat als mit ihr, nämlich mit Phänomenen des Unglaubens und der Opposition, ist die Skepsis sehr wohl in der Lage, diejenige Betrachtung, die sich d o g m a t i s c h nennt, in ihrem Nerv durch die einfache Anfrage zu treffen, w o D o g matik denn w a r , als sie, die Skepsis, in die Theologie k a m . Voraussetzung für eine solche Zuspitzung des Konflikts zwischen beiden ist aber, daß an der Identität der Terminologie festgehalten und durchaus nicht zugelassen wird, daß etwas anderes als Skepsis oder als D o g m a t i k erscheint, als was sich selbst so nennt. Es gibt terminologische Mittel, diesen Konflikt hervorzutreiben; es gibt wiederum Mittel, ihn abzuschwächen. Dabei ist präziseste Terminologie gefragt. 2 . Luther
und
die
Skepsis
F ü r die theologische Rede über Skepsis sind Luthers Äußerungen in De servo arbitrio maßgeblich g e w o r d e n . Nicht ohne Grund. Es dürfte überhaupt schwer sein, ein theologisches Werk zu finden, das sich vor der Kontroverse zwischen E r a s m u s und Luther dem T h e m a der Skepsis widmet. Das W o r t scepticus ist noch k a u m verbreitet. Und selbst w o es sich verbreitet, ist die damit gemeinte Sache nicht schon selbstverständlich im Blick. Die Wortgeschichte zeigt: In der Spätantike wurde rjKemiKoi mit quaesitores et consideratores wiedergegeben (Long 939). Dagegen das neulateinische Wort scepticus erscheint (nach den Forschungen von Ch.B. Schmitt, Cicero) überhaupt erst in der Renaissance, nämlich in Ambrogio Traversaris (1386-1439) Übersetzung des Diogenes Laertius, Buch IX: Vita Pyrrhoni (um 1430; Libri ed. princeps 1472; Albrecht 950; Laarmann); es erscheint dagegen nicht in Ciceros Academici oder —> Augustins Contra Academicos, die für das Mittelalter die maßgeblichen Texte für dasjenige Phänomen waren, das man aus gängiger, aber falscher philosophiegeschichtlicher Optik als Skepsis oder Skeptizismus zu bezeichnen pflegt. „Grundlage für die Auseinandersetzung mit den skeptischen Thesen blieb im lat. Westen ... Ciceros Abhandlung in den Academici libri, weshalb der Skeptizismus als Lehre der Mittleren oder Neuen Akademie verstanden bzw. der Begriff Academicus ... in der Literatur gleichbedeutend mit .Skeptiker' verwendet wurde" (Fuhrer 31). Gab es aber, wie die Wortgeschichte belegt, nicht einmal eine sprachliche Möglichkeit, die seit Augustin in Opposition zum christlichen Glauben betrachtete Philosophie der Akademiker mit der Skepsis zu verwechseln, so ist das Wort scepticus seit seinem ersten Erscheinen in der Renaissance erst recht dafür frei, einen Sinn zu tragen, der bisher in der christlichen Welt weder reflektiert wurde noch offenbar reflektiert werden mußte, nämlich den genuin skeptischen. Die Lutherinterpretation m u ß sich beim T h e m a „ L u t h e r und die Skepsis" entscheiden. E n t w e d e r sie versteht unter Skepsis unpräzis Zweifel, Nichtglaubenkönnen usw., dann klingt „ L u t h e r und die Skepsis" ganz gleich wie „Augustin und die Skepsis" oder „ T h o m a s von Aquino und die Skepsis", wobei am T a g ist, daß weder Augustin noch T h o m a s den Terminus Skepsis ( s c e p t i c u s ) je gebrauchen. O d e r sie berücksichtigt den einzigartigen U m s t a n d , daß Luther das W o r t scepticus kennt und gebraucht. Die erste Möglichkeit hat E. Wölfel in seinem Buch Luther und die Skepsis 1958 wahrgenommen. Faktisch findet sich aber der Begriff „Skepsis" über den Titel hinaus nur im Rahmen seines Buches (ebd. 8.239f.); vor allem findet er sich in der zugrundeliegenden Kohelet-Auslegung Luthers kein einziges Mal (1526: WA 2 0 , 1 - 2 0 3 ) . In Wahrheit schreibt Wölfel über „Luther und Kohelet". Aber auch R. Rosin, der einerseits Luthers Kohelet-Exegese als implizite Fortsetzung des Streits mit Erasmus identifiziert und andererseits den allgemeinen Skeptizismus der Renaissance als Zeugen für Luthers Gegnerschaft aufruft, kann sich nicht von der Identifizierung von Skepsis (skepticism) mit Kohelet lösen. Dagegen ist festzuhalten: Urkunde für Skepsis ist nicht Kohelet, sondern Sextus Empiricus (s.o. 1.2.3.). Dagegen - zweite Möglichkeit - kann man zuallererst von Luthers Sprachgebrauch ausgehen. Luther gebraucht scepticus seit der Auseinandersetzung mit Erasmus, d.h. seit De servo arbitrio (1525: WA 1 8 , 6 0 3 - 6 0 5 ; 613,24; 652,31; den ersten Beleg bietet signifikanterweise ein Erasmuszitat aus De libero arbitrio)-, danach mit Blick auf Erasmus (1531/32: WA 31 11,589; um 1533: WA 60,211,9), auf J . —»Campanus (1532: WA 30 111,531 f.) und auf Epikuräer, Skeptiker, Lukianer insgesamt (1533: WA 38,213,2). Auf dieses Material hat sich die Frage nach „Luther und die Skepsis"
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Skepsis/Skeptizismus II
in erster Linie zu stützen. Es zeigt sich: Luther kennt die Dreiheit, die für das Verständnis von Skepsis nach Sextus Empiricus fundamental ist; er kennt sie erstens in der richtigen Dreizahl und zweitens in der richtigen inneren Folge: Absint a nobis Christianis Sceptici et Academici, Assint vero vel ipsis Stoicis bis pertinaciores assertores (Weg mit den Skeptikern und Akademikern von uns Christen; willkommen dagegen Bekenner, die die Beharrlichkeit der Stoiker sogar noch verdoppeln!; WA 18,603,22f.). Aber sie ist gegenüber der Vorlage umgekehrt, weil erstens die Klimax auf die dogmatischen Stoiker zuläuft und darüber hinaus zweitens Skeptiker und Akademiker als Paar erscheinen (ebd. 603,22; 605,31; dagegen begriff Sextus Dogmatiker und Akademiker als paradoxes Dogmatistenpaar) und drittens eine dogmatistische Heftigkeit (Absint, Assint) die Dreiheit durchschneidet. Man muß daher vermuten, daß der Begriff scepticus für Luther wieder mit academicfts zusammenfällt, unter Preisgabe seiner Besonderheit.
Ergibt sich somit, daß Luther zwar den Terminus der Skepsis, kaum aber die damit bezeichnete Sache in ihrem ganzen Gewicht hinreichend zum Zuge gebracht hat, so dürfte man das Thema „Luther und die Skepsis" - immer unter der Voraussetzung, Skepsis solle nicht als Allerweltswort, sondern präzis verstanden werden - inskünftig vernachlässigen, wenn nicht mit Gründen darzulegen wäre, wie sich die Sache der Skepsis über Luthers Selbstverständnis hinaus unfehlbar Raum verschafft, und zwar erstens durch den in keiner Weise zur „Entscheidung" gebrachten Streit mit Erasmus, durch den erstmals die inzwischen eingetretene skeptische Grundsituation aller religiösen und kirchlichen Äußerungen mit äußerster Hellsichtigkeit formuliert wurde (Bader, Assertio), und zweitens dadurch, daß dieser Streit als Paradigma für die Situation der Neuzeit überhaupt gelesen werden muß, in der christliche Gewißheit nur unter Verzicht auf die herkömmlichen Gewißheitsbestände, d.h. gegen die Front einer ganz selbstverständlichen, unpathetischen Skepsis - und mit ihr - formuliert werden kann (Popkin, History). 3. Skeptische
Theologie
Beharrt man in dieser Weise auf der Identität von Wort und Sache der Skepsis, wie sie am Ende der antiken Welt erstmals von Sextus Empiricus in vollem Umfang formuliert, nach über tausendjähriger Latenz in der Florentiner Renaissance durch Ambrogio Traversari erstmals latinisiert und alsbald durch Luthers Berührung mit Erasmus zum ersten Mal in einen theologischen Text gelangt ist, der zugleich ein Fundamentaltext des Protestantismus ist, so wird dadurch eine präzisere Lesart dieses Textes nahegelegt. Skepsis ist nicht Zweifel. Ist dies einmal anerkannt, so besteht inskünftig keine Nötigung mehr, die Tatsache, daß in der Tat Theologie kein Geschäft des Zweifels oder der Zweifelsucht ist, in der Weise zum Ausdruck zu bringen, daß gegen skeptische Theologie polemisiert wird (tua ... moderata Sceptica Theologia-, WA 18,613,23f.). Ferner besteht auch kein Zwang mehr, dem Sachverhalt, daß in der Tat der Heilige Geist kein Zweifler ist, mit diesen Worten Ausdruck zu verleihen: Spiritus sanctus non est Scepticus (WA 18,605,22). Schon deshalb nicht, weil ja der Geist selbst nach I Kor 2,10 „alles erforscht, sogar die Tiefen der Gottheit" (zö ... nveofia nävra epavvä/Spiritus ... omnia scrutatur, Paulus gibt Anlaß, die Formel zu erwägen: Spiritus Sanctus est scrutator). Es scheint daher trotz der Denk- und Sprechgewohnheiten, die sich auf Luthers Wortlaut stützen, nicht ohne Sinn zu sein, weiterhin mit theologischer Absicht von skeptischer Theologie zu sprechen. Dabei muß sich zeigen, daß Skepsis nicht etwa den Verlust von Theologie nach sich zieht, sondern im Gegenteil: Unter den Bedingungen der Neuzeit scheint anders als durch Skepsis Theologie sogar unerschwinglich. Voraussetzung für diese erstaunliche Lizenz und Disziplin des Redens ist es immer, den wahren Sinn von Skepsis gegen seinen verbreiteten Mißbrauch erst zu gewinnen. Man muß sich in Erinnerung rufen: „Zweifel" als positiver Ausdruck für skeptische Tätigkeit ist - bei Vernachlässigung verstreuter älterer Belege (-»Spinoza, Körte Verhandeling [1661]: ders., Op. GA, hg. v. Carl Gebhardt, Heidelberg 1925 = 2 1973,1, 70: sceptici als „Twyffelaars") - erst „seit dem 18. jh. gebräuchlich" (DWb 16 [1954] 1002). K. Löwith moniert: „Das Wort Skepsis meint ursprünglich nicht Zweifelsucht" (27). In exemplarischer Weise haben -»Kant und -»Hegel der terminologischen Nivellierung entgegengewirkt. Kant, indem er die „skeptische Methode" von allem „Skeptizismus" grundsätzlich unterschieden haben will. In der transzendentalen Dialektik müßte man den Wider-
Skepsis/Skeptizismus II
365
streit der Behauptungen sogar „veranlassen", wenn er sich nicht von selbst einstellte. Während der Skeptizismus als ,,Grundsatz[.] einer kunstmäßigen und scientifischen Unwissenheit ... die Grundlagen aller Erkenntniß untergräbt, um wo möglich überall keine Zuverlässigkeit und Sicherheit derselben übrig zu lassen", wird von der „skeptischen Methode" beansprucht: sie „geht auf Gewißheit" (Kant, KrV, B 451: Kants Werke. Akademie Textausg., Berlin, III 1904/1911,291,7-10). Hegel schließt - allerdings äußerlich unter Einebnung der Kantischen Differenz zwischen Skepsis und Skeptizismus - daran an, indem er durch „Vergleichung des neuesten [Skeptizismus] mit dem alten" den wahren pyrrhonischen Sinn der Skepsis wiederzugewinnen sucht, und dies geht ganz parallel mit der sprachlichen Beobachtung: „der deutsche Ausdruck: Zweifel, vom Skepticismus gebraucht, ist immer schief und unpassend" (Hegel, GW IV, 104f.). Daran hält Hegel bis zu den Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie fest: „Das Geschäft des Skeptizismus ist unrecht als eine Lehre vom Zweifel ausgedrückt". Denn: „Der alte Skeptizismus zweifelt nicht, sondern er ist der Unwahrheit gewiß". Während Zweifel mit unglücklichen Zuständen wie Unentschlossenheit, Zerrissenheit des Gemüts und des Geistes zu tun hat, also Zweiheit und Unruhe bewirkt, schafft der genuine Skeptizismus „Ruhe, Festigkeit des Geistes in sich, - nicht mit einer Trauer" (Hegel, Werke in zwanzig Bänden, hg. v. Eva Moldenhauer/Karl Markus Michel, X I X 1986 [stw 619] 362). Resultat: „Skeptizismus ist nicht ein Zweifel" (ebd. 371). Hegels Pointe lautet: Der Geist zweifelt nicht, Geist ist skeptisch, oder, in Alteration des Luthersatzes aus De servo arbitrio: Spiritus scepticus est. Was heißt: Anders als auf skeptische Weise gäbe es nicht einmal Geist. Dies ist die Voraussetzung für so e t w a s wie skeptische Theologie. Skepsis k o m m t , um eines theologischen M o m e n t s ansichtig zu werden, weder von der Theologie immer schon her, noch nimmt sie sich vor, inskünftig auf sie zuzugehen. Beides w ä r e in ihren Augen pure Absichtlichkeit, dazu geeignet, die Theologie mit Sicherheit zu verfehlen. Sondern die Skepsis entwickelt T h e o l o g i e nur, weil sie sie nicht nicht entwickeln kann. Aber für die Durchführung einer solchen doppelten Negation bedarf es, schon aus Gründen der Ö k o n o m i e , eines Versuchs, mit der einfachen Negation d u r c h z u k o m m e n , d.h. es bedarf des Versuchs des Unterlassens, so etwas wie Theologie zu entwickeln. Die skeptische doppelte Negation ist Durchführung dieses Versuches - und sein negatives Resultat. Die klassische pyrrhonische Skepsis hat dies paradigmatisch in der Figur der Aphasie ans Licht gebracht (Ilepi à(f>aaiaç, Sextus, P. 1,20). Gewiß ist Aphasie zunächst die Behauptungsunfähigkeit, die ihrerseits nicht wieder behauptend vorgebracht werden amrjv [zrjv âcpaaiav], soll. Aber wir sprechen die Aphasie ohne Zweifel aus (npo(j>epôfJ£da 1,20,193; ai [aKenziKai] Heiligkeitsgesetz möchte die Institution der Schuldsklaverei eigentlich ganz abschaffen. Juden, die sich Ausländern „verkaufen" müssen, sollen nach Möglichkeit von ihrer Familie ausgelöst und dann als Tagelöhner beschäftigt werden (Lev 2 5 , 4 7 - 55). Jüdische Gläubiger sollen ihre in Not geratenen „Brüder" durch zinslose Natural- und Gelddarlehen stützen und, wenn das nicht hilft, sie nicht versklaven, sondern als Tagelöhner einstellen (Lev 25,35 - 4 0 a ) . Ihr Grund und Boden bleibt dem Gläubiger zu zeitlich befristetem Nießbrauch überlassen, wobei die Schuld in erwartbare Jahreserträge umgerechnet wird. Nach Ablauf der errechneten Zeit, spätestens aber im -»Jubeljahr, d.h. im regelmäßigen Turnus von 49 bzw. 50 Jahren, fällt das Land samt allen Nutzungsrechten an die regulären Besitzer bzw. deren Familien zurück (Lev 25,8-23.40b.41). Von der regulären, individuellen Entlassung zu unterscheiden ist die außergewöhnliche, generelle Freilassung aller Schuldsklavinnen und -sklaven bzw. die Aufhebung
Sklaverei I
371
von Zwängen, die in die Sklaverei treiben. Im alten Orient wie in Altisrael haben in unregelmäßigen Abständen Machthaber per Edikt umfassende Befreiungsaktionen angeordnet (hurritisch kirenzi, hethitisch parä tarnumar, akkadisch mt/esaru![artjduräru, hebräisch deror): sei es zum Erweis ihrer eigenen Leutseligkeit, sei es zur Belebung einer durch massenhafte Sklaverei oder durch Kriegsschäden kollabierenden Volkswirtschaft, sei es zum Abbau unerträglich gewordener sozialer Spannungen, sei es auch zur Erhöhung der Wehrkraft in einer militärisch schwierigen Lage (vgl. Kraus für den mesopotamischen, Neu für den hurritisch-hethitischen, Kippenberg, Seminar, für den attischen Bereich, sowie die alttestamentlichen Beispiele Jer 34,8ff. und Neh 5). In prophetischmetaphorischer Verwendung wird der Ausdruck deror auf die Befreiung auch (Kriegs-) Gefangener und überhaupt aller Elenden bezogen (Jes 61,1 f.; Lk 4 , 1 6 - 2 1 ) . Im Alten Testament läßt sich noch eine spezifische Wurzel der Idee der Freilassung erkennen: das Erlaßjahr (s'mittäh), das ursprünglich eine wohl umschichtig über die einzelnen Parzellen eines bäuerlichen Besitzes zu verteilende Landbrache jeweils im siebten Jahr meinte (Ex 23,10f.), sich dann zur Forderung nach Auflösung aller Schuldtitel in einem siebenjährigen Turnus wandelte (Dtn 1 5 , 1 - 1 1 ) und von dort wieder auf ein rhythmisch einzuhaltendes „Sabbatjahr" mit gleichzeitiger Brache aller Felder des gesamten Landes übertragen wurde (Lev 2 5 , 1 - 7 ; 26,34; II Chr 36,21).
5.
Fronsklaverei
Zu allen Zeiten haben Herrschende ihren Untertanen Frondienste abverlangt: sei es aus schlichtem Eigennutz, sei es zur Verwirklichung großer Gemeinschaftsaufgaben. Das Hebräische (und ähnlich das Akkadische) kennt für den Sachverhalt verschiedene Begriffe: die Nomina mas („Dienstpflicht"; akkadisch massü) und *bodäh (laut H A L A T neben „Arbeit, Dienst" in sieben Fällen spezifisch „Frondienst") sowie das Verb sbl mit Derivaten ( s a b b ä l , sebsd, sobxl, sibläh = „Last [schleppen]"; akkadisch zabälu). Überblickt man die entsprechenden Belege, so ergibt sich ein recht vielfältiges Bild. Schon im vorisraelitischen, von Ägypten dominierten Kanaan kannte man Fronpflichten. Der Pharao konnte von den Bewohnern bestimmter Orte verlangen, daß sie Krongut, das nach kriegerischen Auseinandersetzungen brachlag, für ihn bewirtschafteten (Alt, Neues über Palästina). Protoisraelitische Verbände hatten in Kanaan Fronlasten zu tragen. Im sog. Jakobsegen wird der Stamm Issachar als ein „knochiger Esel" bezeichnet, der „sah, wie schön die Ruhe ist und wie lieblich das Land, und [daraufhin] seine Schulter beugte zum Lastenschleppen (sbl) und zum frönenden Sklaven (mas- 'obed) wurde" (Gen 49,15). Andere Gruppen lernten in Ägypten den Pharao als Fronherrn — und den Gott Jhwh als Befreier aus der Sklaverei - kennen (Ex 1 - 5 ; vgl. auch Dtn 5,6.14f.; Ps 81,6f.). Später mußte im großen Stil den Assyrern (Jes 9,3; 10,27; 14,25), den Babyloniern (Thr 1,1, eventuell 5,7) und den Persern (Est 10,1) bzw. deren Bevollmächtigten im Land (Neh 4) Frondienst geleistet werden; gewiß hat sich diese Praxis unter griechischer und römischer Vorherrschaft fortgesetzt. Selten einmal kam Israel in die Lage, Angehörigen anderer Völker Frondienste aufzuerlegen. David soll die Moabiter, Aramäer und Edomiter besiegt und zu "bädim gemacht haben, was sich aber nur auf Tributpflichtigkeit zu beziehen scheint (II Sam 8,2.6.14). Die Ammoniter mußten an „Sägen, eisernen Pickeln und Äxten" sowie „bei der Ziegelherstellung" Zwangsarbeit leisten (II Sam 12,31). Später stellte man sich gern vor, wie Israel andere Völker zur Fron gezwungen habe (Dtn 20,11; Jos 16,10; 17,13; Jdc 1 , 2 8 - 3 5 ; I Reg 9,20f.; II Chr 2,17f.), doch dürfte es sich dabei eher um Wunschträume als um Wirklichkeit handeln.
Immer wieder mußten Herrschern in Israel und Juda Frondienste erbracht werden. In den Kabinettslisten Davids und Salomos figuriert ein eigener Minister für die Fron [mas) namens Ado(ni)ram (II Sam 20,24; I Reg 4,6). Er war offenbar zuständig für die Aushebung und den Einsatz der angeblich 30.000 Fronarbeiter, die Salomo „aus ganz Israel" zur Verwirklichung seiner Großbaumaßnahmen aufbieten ließ (I Reg 5,27). Nicht zuletzt diesem Zweck diente wohl das von Sahamo in Nordisrael - nicht in Juda! inaugurierte Provinzsystem: die Gouverneure hatten u.a. Fronkontingente zu stellen (vgl. I Reg 9,23 mit 4,7ff.). Nicht zufällig kam es zu einem Aufstand gegen Salomo just unter den Fronarbeitern des Stammes Ephraim (I Reg 11,26—28.40) und separierten sich die Nordstämme nach Salomos Tod gerade unter Verweis auf die Fron vom davidischen
372
Sklaverei I
Königshaus (I Reg 12, bes. V. 4.14.18). Von nun an konnten judäische Könige nur mehr auf eigene Landsleute zurückgreifen (I Reg 15,22; J e r 22,13). Verarmten Menschen mag solche Staatssklaverei sogar die Aussicht auf ein Dach über dem Kopf und ausreichende Ernährung geboten haben, doch fand das niemand erstrebenswert (Prov 12,24). Das sarkastische „Königsrecht" I Sam 8 , 1 1 - 1 7 warnt davor, der König werde sein Volk zu ,,(Fron-?)Sklaven" machen (I Sam 8,17), und das Deuteronomium untersagt es dem König, sein Volk „nach Ägypten zurückzuführen" (Dtn 17,16). Literatur Rainer Albertz, Die „Antrittspredigt" Jesu im Lukasevangelium auf ihrem atl. Hintergrund: ZNW 74 (1983) 182-206. - Albrecht Alt, Neues über Palästina aus dem Archiv Amenophis' IV. 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Sklaverei II
373
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Walter Dietrich
II. Neues Testament 1. Sprache und Begriff 2 . Z u r Sozialgeschichte der Sklaverei verei 4 . Das M e t a p h e r n f e l d „ S k l a v e r e i " (Literatur S. 376)
1. Sprache
und
3 . Der U m g a n g mit der Skla-
Begriff
Juristisch läßt sich Sklaverei grob abgrenzen als Status persönlicher, rechtlicher Unfreiheit durch Eigentumsrecht eines anderen, das Gewalt über Leben und Tod einschließt (ius vitae necisque: Gaius, inst. 1,52). Sie stellt eine neben anderen Formen der Abhängigkeit wie Klienteldienste von Freigelassenen, Tagelöhnerarbeit, Pacht, Bauernbindung an Königsland, Kolonat, Patrocinium dar, die sich - wirtschaftlich ähnlich drückend (Hi 7,1 f.) - von der Sklaverei in der Regel durch das Recht auf die eigene Person, Heirat und Nachkommenschaft unterscheiden. Die Sklaverei kann auch im Neuen Testament nur hilfsweise kategorial abgegrenzt werden. Unter den verwendeten Vokabeln Öi&kovoq, oiKSTtjq, vnrjpeiriQ, naiq-, depaneia usw. (Diener, Hausdiener, Gehilfe, „Junge"; Sklavendienst) ragt SoöAot; (Sklave) heraus. Das Wort bezeichnet in erster Linie die gewaltunterworfene Stellung zum Herrn (Mt 10,24f.), eine Herrin firguriert in I Kor 1,11. Darum können „Minister" (Mt 18,23), Verwalter (Mt 24,45), Hausdiener (Lk 15,22), Feldarbeiter und Hirten (Lk 17,7), Wachleute (Mk 14,47 par.) und Schuldsklaven (I Clem 55,2) mit dem gleichen Wort ohne Rücksicht auf die persönliche Freiheit beschrieben werden. Die Sklaverei gehört zu einer der drei Relationen des Hauses (Aristoteles, pol. 1,3 [ 1 2 5 3 b 2 - l l ] : Herr/Sklave, Mann/ Frau, Vater/Kinder), wobei die rechtliche Stellung der Gewaltunterworfenen verschieden ausfällt. Da auch die politische Verwaltung unter „oikonomischen" Gesichtspunkten gesehen wird (Plato, resp. 259c; Philo, Praem 113), können politische Funktionäre ebenfalls als „Sklaven" des Königs bezeichnet werden. Zugleich umfaßt der Begriff selbst ein ganzes Spektrum von Fallgruppen: Kaisersklaven (Phil 4,22), d.h. Verwaltungsmitarbeiter mit Einfluß je nach Stellung, relativ selbständige Unternehmer (Mt 25,14ff.), Handwerkssklaven in Korinth und Schuldsklaven (Mt 18,25). 2. Zur Sozialgeschichte
der
Sklaverei
2.1. Eine unüberwindliche Schwierigkeit bei der Beschreibung des Phänomens besteht darin, daß die für eine Quantifizierung und Systematisierung notwendigen Massendaten nicht zur Verfügung stehen, so daß die soziologische Zuordnung von juristischen, soziound prosopographischen Angaben wie von anderen Daten, die zu sozialgeschichtlichen Klassifizierungen dienen können, regelmäßig im Bereich der begründeten Vermutungen bleibt (Harrill 4 2 - 5 1 ) . Hohe Zahlenangaben des 19. Jh. werden heute vorsichtig auf ein Verhältnis von Sklaven zu Freien für Griechenland und Italien nicht höher als 1 : 3 korrigiert. Sklavenarbeit hat nie vollständig die Tätigkeit von freien Bauern oder Handwerkern ersetzt, sondern wurde vor allem für Dienstleistungen eingesetzt. Im Unterschied zur rassistischen, lebenslangen und generationsübergreifenden Sklaverei der Südstaaten der USA, aber in Analogie zu den weißen Kontraktsklaven (indentured slaves), die sich auf Zeit ( 3 - 5 Jahre) verkauften, um später eine eigene Existenz aufzubauen, waren römische Sklaven der Principatszeit an äußerlichen Merkmalen nicht erkennbar (Seneca, clem. 1,24,1; Plinius, ep. X,29f.), im Vergleich mit freien Handwerkern und Bauern nicht einseitig auf bestimmte Arbeitsfelder festgelegt und hatten die Chance der Freilassung (Joh 8,35) sowie des sozialen Aufstiegs für sich und die Nachkommen (zur Debatte: Alföldy; Wiedemann). Der allmähliche Übergang von der Skia-
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Sklaverei II
verei als Produktionssystem zu anderen Formen abhängiger Arbeit (Kolonat) ergab sich aus langfristigen Entwicklungen der römischen Gesellschaft (Finley, Wirtschaft 9 6 - 1 0 4 ) , ohne daß dem ein religiöses, philosophisches, gesellschafts- oder wirtschaftspolitisches Programm zugrunde lag. Vor allem in Ägypten und Palästina finden sich Wirtschaftsformen, in denen Königsbauern, Pächter und Tagelöhner überwiegen, während (Latifundien-)Sklaven eher selten sind. Welche Art der ökonomischen Abhängigkeit in einer Provinz vorherrschte, hing von der Tradition und den geographischen Gegebenheiten ab. 2.2. Das soziologische Bild, das die Evangelien und die Apostelgeschichte erkennen lassen, stimmt weithin mit talmudischen Angaben überein (Ben-David 58—72). Danach ist unbefristete Sklaverei in Palästina zwar nicht ausgeschlossen, aber nicht die vorherrschende Form abhängiger Arbeit, die in der Pacht, kleinbäuerlichen Betrieben oder der „freien" Lohnarbeit bestand (Mt 2 0 , 1 - 1 5 ) . Überschuldung konnte zur Versklavung führen (vgl. die Vernichtung der Schuldurkunden: Josephus, Bell 11,427). Die ländliche Hierarchie läßt sich an Lk 1 5 , 1 1 - 3 2 exemplarisch ablesen: Dem Hausherrn dient der Sohn (V. 29), beide befehligen wiederum die Sklaven ( S o ö l o i , naTÖEQ: „boys" V. 22.26), die zum Haus gehören; der gescheiterte Sohn strebt nur die niedrigste Position an, die des persönlich freien, aber ungesicherten Lohnarbeiters (V. 17.19; vgl. Mt 9,37f.; 13,27f.30; CD XI,12; Homer, Od. X I , 4 8 9 - 4 9 1 ) . Dem entsprechen mindestens 46 von 72 Belegen für SOÖXOQ in den Evangelien, die Beauftragte mit Weisungsbefugnissen schildern. Von Sklaven in christlichen Häusern Palästinas berichtet ausdrücklich nur Act 12,13; die Haustafel in Mk 10 par. enthält keine Regeln für den Umgang mit Sklaven. 2.3. Die frühen Gemeinden Kleinasiens, Griechenlands und Italiens setzen sich ganz oder zumindest größtenteils aus Angehörigen der plebs urbana und damit partiell aus Sklaven bzw. Freigelassenen zusammen (Stegemann/Stegemann 249—260). Sicher scheint, daß das Spektrum innerhalb der Unterschichten von wohlhabenderen Christen bis zu Mittellosen reicht (Apk 13,16 und Plinius, ep. X,96,8f.; Theißen). Ganze Gruppen (Phil 4,22; I Kor 1,11; Rom 16,10f.; Herrn mand VIII,10; Herrn sim 1,8) bestehen aus Sklaven bzw. Freigelassenen, die zum Teil in den Gemeinden aktiv werden, wie umgekehrt christliche Hausherren Sklaven besitzen (Philemonbrief; Pastoralbriefe; Kolosser-, 1. Petrus-, 1. Clemensbrief; Hermas u.a.). Weitere Angehörige der Gemeinden sind Freigelassene, wobei die Zuordnung für einzelne Personen nicht immer möglich ist (Lampe, Christen; Leutzsch). 3. Der Umgang mit der
Sklaverei
3.1. Die Beurteilung der Sklaverei - ambivalent durch den Doppelcharakter des Sklaven als Person und Sache - wechselt in der antiken Literatur je nach Textsorte und in Abhängigkeit vom Argumentationsziel. Ökonomisch wird der Sklave als KTtj/na (Besitz: Plato, leg. 777b), belebtes Werkzeug bzw. Ersatz für Automaten gewertet und Krieg zum Sklavenerwerb gerechtfertigt (Aristoteles, pol. 1,4 [1253b27-42]; 1,8 [1256b32-35]). Die sophistische Kritik u.a. des Hippias (Plato, Prot. 337c/d; vgl. Aristoteles, pol. 1,3 [1253b20-23]), die Sklaverei sei etwas Unnatürliches, wird abgewehrt (Aristoteles hält allerdings Freundschaft mit dem Menschen, der Sklave ist, für möglich: eth. Nie. VIII,13 [ 1 1 6 1 a 3 0 - b l l ] ) . Philosophisch-belletristisch findet sich bei dem Sophisten Alkidamas die Forderung nach Freilassung der versklavten messenischen Kriegsgefangenen, bei Iambulos die Utopie eines sklavenfreien Sonnenstaates und bei Seneca die Forderung nach humaner Behandlung (Gayer 2 6 - 5 3 ) . Entwürfe idealer Gesellschaften schließen auch im hellenistischen Judentum Sklaverei aus (Essener: Philo, Quod Omnis Probus Liber sit 79; Josephus, Ant XVIII,21; Therapeuten: Philo, VitCont 70); zugleich sind hausähnliche Hierarchien nicht aufgehoben. Ein sozialpolitisches Programm der Sklavenemanzipation (mit einer sozialökonomi-
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sehen Alternative) von antiken Autoren zu erwarten wäre jedoch ein Anachronismus (Finley, Sklaverei 18; Lührmann 69). 3.2. Während die Evangelientradition einschließlich der Apostelgeschichte sozialökonomische Abhängigkeiten „neutral" schildert und als Metaphernfeld nutzt, problematisiert sie Sklaverei - nur indirekt - durch eine Kritik an den Machtstrukturen des Hauses, die sich aus der Lebensform der radikalen Nachfolge ergibt (vgl. T R E 14,483). Solche Schranken zwischen Christen widersprechen dem früh und breit bezeugten Leitbild der geschwisterlichen Gemeinde, das gegenseitigen „Sklavendienst" einschließt (Mk 9,35; 10,43; Mt 2 3 , 8 - 1 2 ) . Die Aufnahme dieser radikalen Forderungen im frühen ->Mönchtum wird mit der prinzipiellen Abkehr von der Sklaverei verbunden. Die soziale Frage stellt sich jedoch eher bei Kranken, Bettelarmen, Witwen und Waisen. 3.3. Traditionell ist eine Tauftradition in Gal 3 , 2 6 - 2 8 ; I Kor 12,13; Kol 3,11. Die Geschlechterdifferenz, der religiöse und der soziale Unterschied sind durch die vorgegebene Einheit des Christusgeschehens relativiert, auch wenn sie als Teil der eigenen Natur bzw. Biographie erhalten bleiben. Sie begründen keine Wertigkeit unter Christen, aber eine kontrafaktische Hoffnung und eine Norm (Rom 14,13; Kol 3,9f.l2). Damit ist zwar kein gesellschaftsreformerisches Programm aufgestellt, aber ein Anspruch für das Gemeindeleben - zumal er sich einem Bewußtsein für die Brisanz dieser Differenzen verdankt. 3.4. Mindestens an zwei Stellen behandelt Paulus praktische Probleme, die sich aus der Zugehörigkeit von Sklaven zur Gemeinde ergeben: Im Nachdenken über das Verhältnis von Frau und Mann werden die beiden anderen Relationen aus Gal 3,28, Beschneidung/Unbeschnittenheit bzw. Sklaverei und Freiheit, exkursartig als Beispiele für den verantwortlichen Umgang mit dem eigenen biographischen Status verhandelt (I Kor 7 , 1 7 - 2 4 ) . Jedoch fehlt das Objekt in dem unvollständigen Satz 7,21 zu ¡i&kkov Xpfjoai (brauche lieber) und wird entgegengesetzt ergänzt durch: (a) die Sklaverei (seit den Kirchenvätern die meisten Neueren) oder (bl) die Freiheit (M. —»Luther) bzw. (b2) die Berufung (Bartchy). Für die Lösung (a) wird die Parallelität zur unaufhebbaren heidnischen bzw. jüdischen Herkunft angeführt. Gute philologische Gründe und der soziale Kontext in einer römischen Kolonie deuten dagegen auf den Rat (bl), die übliche Freilassung gemäß der Berufung zu nutzen (Schräge; Harrill 108-128), die durch das paradoxe Spiel mit den Metaphern Freiheit und Sklaverei als christliche Bindung an den einen Herrn (V. 23) charakterisiert wird, der selbst den Sklaventod erlitten hat. Durch seine Adresse richtet sich der —•Philemonbrief nicht nur an den zuständigen Sklavenhalter, sondern - analog zum kollektiven Absender - an eine ganze Hausgemeinde! Ob flüchtig oder angeklagt (Lampe, Sklavenflucht), der ursprünglich heidnische Sklave erwartet jedenfalls ein Eingreifen der christlichen Autorität. Paulus erkennt die Rechte des Herrn an (V. 12), empfiehlt nicht ausdrücklich die Freilassung, wohl aber einen brüderlichen Umgang (V. 16f.), der durch die Koivcovia (Gemeinschaft) den Sozialstatus des Sklaven „als Mensch und Christ" (V. 16) so verändert, daß der Sklave in der Hierarchie des Hauses vom Objekt zum Subjekt eines gleichrangigen neuen Verhältnisses wird. 3.5. Die von Luther sogenannten Haustafeln (Kol 3 , 1 8 - 4 , 1 ; Eph 5 , 2 1 - 6 , 9 ) sprechen - wohl zum ersten Mal - in den paarweisen reziproken Mahnungen auch Frauen, Kinder und Sklaven als Subjekte sozialethischen Handelns an. Inhaltlich bleibt es im -»Kolosserbrief bei einer gemäßigt konservativen Einweisung in die Rolle des Sklaven bzw. Hausherrn, die aber durch Gottesfurcht und endzeitlichen Erbanspruch (des Sklaven!) theologisch begründet und durch die Unterordnung des Herrn wie des Sklaven unter den eschatologisch richtenden Kyrios relativiert wird. Der —»Epheserbrief übernimmt wesentliche Momente wörtlich aus dem Kolosserbrief, verstärkt die Reziprozität (Eph 5,21) und verdeutlicht den christologisch-eschatologischen Vorbehalt.
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I Petr 2 , 1 8 - 3 , 7 nutzt nur Teile des Haustafelschemas und exemplifiziert in 2,19ff. für alle Christen am ungerechten Schicksal von Sklaven, daß das christusförmige Leiden den Kreislauf des Bösen durchbricht. „Gemeindetafeln" wie I Tim 5 , 3 - 6 , 2 ; Did 4 , 9 - 1 1 und IgnPol 4 , 1 - 5 , 2 reden dagegen wiederum nur den verantwortlichen Mann bzw. Gemeindeleiter an (vgl. Pseudo-Phokylides 1 7 5 - 2 2 2 ) und richten sich auf das werbende Verhalten der „Stände" in der Gemeinde. I Tim 6,2 und IgnPol 4,3 (Herrn mand VIII,10; Herrn sim 1,8) bezeugen wachsende reale Ansprüche von Sklaven an die Integrationsleistung und Fürsorge der Gemeinden und suchen ihr Maß zu bestimmen, während Did 4,11 (vgl. Barn 19,7) durch die Qualifizierung des Sklavenhalters als Typos Gottes (neben der ausgedehnten Sozialparänese) eine erste theologische Legitimierung der Sklaverei bietet. 4. Das Metaphernfeld
„Sklaverei"
In der —>Stoa qualifizieren „Sklaverei" und „Freiheit" Abhängigkeit und Selbstbestimmtheit bildlich so, daß die innere, wahre Freiheit beim autarken Sklaven und die eigentliche Sklaverei beim süchtigen Senator sein kann (Vollenweider 8 5 - 8 7 ) . Paulus benutzt in I Kor 7,22f. diese paradoxe Sicht, um die Relativität des Sozialstatus vorzuführen, begründet dies aber mit der Zugehörigkeit zu einem Kyrios (vgl. Kol 3 , 1 8 - 4 , 1 ; Eph 6,5). Besonders dort, wo ursprünglich im Hofzeremoniell beheimatete Vorstellungen einfließen, kann das Prädikat Knecht/Sklave ähnlich dem „Freund Gottes" auszeichnende Bedeutung gewinnen (II Reg 18,12; Ps 105,26; Am 3,7; Act 16,17; Apk 1,1). Die Selbstbezeichnung wird im Gebet eine Geste der angemessenen Demut (Ps 27,9 u.ö.); teilweise geht der „Titel" auch auf das Kollektiv des Gottesvolkes über (Rengstorf 2 6 9 272.276f.). Nach der Übertragung des Kyrios-Titels auf Jesus findet sich die Neubildung „Knecht/Sklave Jesu Christi" (Rom 1,1; vgl. Jak 1,1 u.ö.). Eine besondere Pointe ergibt sich durch die Nutzung des Bildfeldes zur Interpretation von Hoheit und Niedrigkeit Jesu Christi in Joh 13 oder in Phil 2,7, wo die Inkarnation des Christus in die Ohnmacht der Menschengestalt als Sklavenwerdung gedeutet wird, um die Kenosis des Gottessohnes auf den Begriff zu bringen. Literatur Für weiterführende bibliographische Angaben wird auf die einschlägigen Reihen (FASk u.a.), Bibliographien und wirtschaftsgeschichtlichen Darstellungen verwiesen. Geza Alföldy, Die Freilassung v. Sklaven u. die Struktur der Sklaverei in der röm. Kaiserzeit: Sozial- u. Wirtschaftsgesch. der röm. Kaiserzeit (s.u.) 3 3 6 - 3 7 1 = ders., Die röm. Gesellschaft, Stuttgart 1986 (Heidelberger althist. Beitr. u. epigraphische Stud. 1) 2 8 6 - 3 3 1 [mit Nachtr. v. 1985]. - S. Scott Bartchy, MAAAON XPHEAI. First Century Slavery and the Interpretation of 1. Corinthians7,21,1973 (SBL.DS). - Heinz Bellen, MäXXov XPVaal (1 Cor 7,21). Verzicht auf Freilassung als asketische Leistung?: J A C 6 (1963) 1 7 7 - 1 8 0 . - Ders., Stud. zur Sklavenflucht im röm. Kaiserreich, 1971 (FASk 4). - Arye Ben-David, Talmudische Ökonomie. Die Wirtschaft des jüd. Palästina z.Z. der Mischna u. des Talmud, Hildesheim, I 1974. - Keith Bradley, Slavery and Society at Rome, Cambridge 1994. - Norbert Brockmeyer, Antike Sklaverei, 1987 (EdF 116). - Werner Eck/Johannes Heinrichs, Sklaven u. Freigelassene in der Gesellschaft der röm. Kaiserzeit, 1993 (TzF 61). - Europ. Wirtschafts- u. Sozialgesch, in der röm. Kaiserzeit. Hb. der Europ. Wirtschaftsgesch. I, hg. v. Friedrich Vittinghoff, Stuttgart 1990. - Moses I. Finley, T h e Ancient Economy, London 1973; dt.: Die antike Wirtschaft, München 1977 (dtv 4277). - Ders., Ancient Slavery and Modern Ideology, London 1980; dt.: Die Sklaverei in der Antike. Gesch. u. Probleme, Frankfurt a.M. 1985 (Fischer-TB 4352). - Dieter Flach, Röm. Agrargesch., 1990 (HAW III/9). - Peter Garnsey, Ideas of Slavery from Aristotle to Augustine, Cambridge 1996. - Roland Gayer, Die Stellung des Sklaven in den paulinischen Gemeinden u. bei Paulus. Zugl. ein sozialgesch. vergleichender Beitr. zur Wertung der Sklaven in der Antike, 1976 (EHS.T 28). - Marlies Gielen, Tradition u. Theol. ntl. Haustafelethik, 1990 (BBB 75). - Henneke Gülzow, Christentum u. Sklaverei in den ersten drei Jahrhunderten, Bonn 1969. - J . Albert Harrill, T h e Manumission of Slaves in Early Christianity, 1995 (HUTh 32) (Lit.). - Elisabeth Herrmann/Norbert Brockmeyer, Bibliogr. zur antiken Sklaverei, Bochum 1983. - F. Stanley Jones, „Freiheit" in den Briefen des Apostels Paulus. Eine hist., exegetische u. religionsgesch. Stud., 1987 ( G T A 34). - Hans G. Kippenberg, Religion u. Klassenbildung im antiken Judäa. Eine religionssoziologische Stud. zum Verhältnis v. Tradition u. gesellschaftlicher
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Christoph Kahler IIU Judentum 1. D e r jüdische Sklave
2 . D e r nichtjüdische Sklave
(Literatur S. 379)
Im Judentum müssen Bestimmungen für den jüdischen und für den nichtjüdischen Sklaven unterschieden werden. 1. Der jüdische
Sklave
Die im Alten Testament genannten Möglichkeiten, nach denen Hebräer zu Sklaven werden können, werden von den Rabbinen folgendermaßen ausgelegt: 1.1. Diebe. Nach Ex 22,2 können Diebe (nach mSot 3,8 Frauen jedoch nicht) vom Gericht zur Wiedergutmachung des angerichteten Schadens verkauft werden. Die Rabbinen weiten die biblischen Bestimmungen vom Einbruchsdiebstahl auf alle Arten von Diebstahl aus, für die kein entsprechender Ersatz geleistet werden kann (mSot 3,8). (Josephus, Ant 111,28, tradiert eine ältere Variante der Halacha, nach der auch andere Gesetzesbrüche als Diebstahl durch Verkauf in die Sklaverei geahndet werden konnten.) Einschränkende Bestimmungen halten fest, daß ein Dieb nur einmal, und nur zur Erlangung des Gegenwertes des tatsächlichen Verlustes, den er verursacht hat, nicht aber zur Erlangung eines Vielfachen, als Kompensation, verkauft werden dürfe (MekhSh Mishpatim 22,2; bQid 18a; vgl. dagegen wiederum Josephus, Ant IV,271). Die spätere Halacha fügt dem Bestimmungen hinzu, die den Wert des gestohlenen Gutes und den des Sklaven derart miteinander verbinden (MekhY Mishpatim 13), daß ein Verkauf de facto kaum mehr stattfinden konnte. E.E. Urbach (23) schließt daraus, daß die Bestimmung obsolet geworden sei.
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1.2. Freie Hebräer. Nach Lev 25,39-42 kann ein verarmter Hebräer sich selbst in die Sklaverei verkaufen. Ein solches Vorgehen ist allerdings nur im Notfall erlaubt (Sifra Behar 7 , 1 - 2 ) . bQid 14b bestimmt, daß diese Sklaven sich für länger als sechs Jahre verkaufen und diese Zeit vor dem Verkauf aushandeln können. Im Gegensatz zu einem durch das Gericht Verkauften darf ihr Ohr, im Falle längeren Dienens, nicht durchbohrt werden, erhalten sie bei ihrer Freilassung keine Gratifikation und darf ihr Herr ihnen keine heidnische Sklavin zur Konkubine geben. (bQid 14b hält Gegenstimmen gegen diese unterschiedlichen Bestimmungen fest. E.E. Urbach [12] sieht die einschränkenden Bestimmungen für den ehemals Freien als die älteren an.) 1.3. Minderjährige Töchter. Zur Möglichkeit des Verkaufs der hebräischen Tochter nach Ex 21,7 stellen die Rabbinen fest (mSot 3,8; MekhY Mishpatim 3), daß nur der Vater, nicht aber die Mutter das Recht zum Verkauf hat. Der Verkauf darf nur in der Zeit vor ihrer Pubertät erfolgen. 1.4. Freilassung. mQid 1,2 nennt drei Möglichkeiten für einen hebräischen Sklaven, in Freiheit zu kommen: den Beginn des siebten Jahres nach Datum seines Verkaufes, das Eintreten des -»-Jubeljahres während seines Sklavendaseins und den Selbstfreikauf. In diesem Fall wird der Kaufpreis, abzüglich des Äquivalents für die bereits abgediente Zeit, erstattet. Diese Möglichkeiten schließen einen Widerspruch des Herrn aus. (Die hebräische Sklavin geht außerdem frei bei Eintritt der Pubertät, beim Tod ihres Herrn und wenn sie, auch gegen den Willen ihres Herrn, freigekauft wird [SifDev § 118; bQid 18a].) In Erweiterung von Ex 21,26f. bestimmen die Rabbinen außerdem, daß ein Sklave für jeden körperlichen Dauerschaden, den ihm sein Besitzer zufügt, freizugeben ist (MekhY Mishpatim 9; bQid 24b). Eine weitere Möglichkeit besteht im Tod des Herrn, im Falle dieser in die Zeit der weiteren, freiwilligen Verpflichtung des Sklaven fällt (yQid 1,2 59c). In bAr 29a wird allerdings darauf hingewiesen, daß die Versklavung von Hebräern durch Hebräer nur so lange erfolgen kann, wie die Bestimmungen betreffend das Jubeljahr eingehalten werden. Als Zeitpunkt der Einstellung des Jubeljahrzyklus wird die Zeit des ersten Tempels genannt (Sifra Behar 2,3; bAr 32b; yShevi 10,3 39c; yGit 4,3 45d). Mittelalterliche Kommentatoren sind sich dahingehend einig, daß das Jubeljahr zur Zeit des zweiten Tempels noch verkündet worden ist, nach dem Fall des Tempels jedoch endgültig nicht mehr eingehalten werden konnte (R. Tarn; —»Mose ben Nachman). Explizite Hinweise auf die Versklavung von Juden durch Juden liegen aus Babylonien noch aus dem 4. Jh. n. Chr. vor: Dort werden Juden, die ihre Steuern nicht bezahlen können und für die andere Geld dafür auslegen, zu Sklaven dieser Geldgeber. Aber auch für andere Vergehen kann man mit Sklaverei bestraft werden (bBM 73b). 2. Der nichtjüdische
Sklave
Der nichtjüdische Sklave wird nach Gen 9,25 kanaanitischer Sklave genannt. Von makkabäischer Zeit an werden verstärkt nichtjüdische Sklaven, zumeist Kriegsgefangene, eingesetzt. Die rigorosen Konversionsbestrebungen der Makkabäer führen zu der rabbinischen Bestimmung, daß jeder kanaanitische Sklave ohne Verzögerung sofort dem Tauchbad und, im Fall eines Mannes, der Beschneidung zu unterziehen sei. Unter Antoninus Pius (138-161 n. Chr.) wird die Beschneidung von Sklaven explizit verboten. Eine Neuregelung der Halacha wird notwendig. Als Kompromiß wird zunächst auf eine Probezeit von zwölf Monaten gedrungen. Bekehrt sich der Sklave innerhalb dieser Frist nicht zum Judentum, soll sein jüdischer Besitzer ihn verkaufen (doch weist der Verlauf der Debatte in bYev 48b darauf hin, daß die Notwendigkeit, nichtjüdische Sklaven auf Dauer zu behalten, ohne daß ihre Konversion jemals erfolgt, auch von den Rabbinen erkannt und akzeptiert worden ist). Theoretisch ist den Juden der Verkauf von Sklaven an Fremde oder nach außerhalb Palästinas verboten, weil der Sklave dadurch zwangsläufig von der Erfüllung der Gebote abgehalten werden würde (mGit 4,6). De
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facto ist diese Forderung nicht einzuhalten. Die Geonim sind gezwungen, nicht zuletzt aus ökonomischen Überlegungen, den Handel mit Sklaven zu ermöglichen, an dem Juden vom frühen Mittelalter an Anteil nehmen. (So gestattet Ludwig I. der Fromme [ 8 1 4 - 8 4 0 ] dem Juden Abraham von Saragossa explizit, Sklaven innerhalb seines Reiches zu verkaufen. Der arabische Geograph Ibn Khordadbeh [9. Jh.] berichtet von jüdischen Kaufleuten [Radaniten], die auf ihren Reisen von Westeuropa bis nach China u.a. auch Sklaven zum Verkauf mit sich führen. Rabbinische Quellen derselben Zeit berichten von jüdischen Händlern, die u.a. Eunuchen aus den slawischen in die moslemischen Gebiete verkaufen. Juden sind bis in die Neuzeit am Sklavenhandel beteiligt.) Die Versklavung eines kanaanitischen Sklaven dauert grundsätzlich ein Leben lang. Unter den folgenden Bedingungen kann aber auch er die Freiheit erlangen: durch den freien Willen seines Herrn oder indem ihm dieser testamentarisch seinen gesamten Besitz überläßt (bGit 8 b - 9 a ) , durch Freikauf (mQid 1,3), durch Heirat mit einer freien Hebräerin (bGit 3 9 b - 4 0 a ) , wenn sein Herr ihn als Volljuden annimmt (bGit 40a), wenn sein Herr ihm eine dauerhafte Verletzung zufügt (bQid 2 4 b - 2 5 a ) . M i t der Freilassung werden kanaanitische Sklaven zu freien Juden und verstärken die jüdischen Gemeinden um zahlreiche Mitglieder. (Ebenso bildeten Juden, die von Pompeius 63 v. Chr. als Gefangene nach R o m gebracht und dort als Sklaven verkauft worden waren, nach ihrer Freilassung den Grundstock für die - bis ins 3. J h . n. Chr. hauptsächlich in Trastevere ansässige - jüdische Gemeinde Roms.) Ab dem 2. und 3. J h . n. Chr. werden die Bedingungen für die Freilassung verschärft. Es wird ein zweites rituelles Tauchbad gefordert (bYev 47b) und die Ausstellung eines die Freilassung bestätigenden Dokumentes (bGit 42b; bQid 24b). Literatur Shalom Albeck, Slavery in Talmudic L a w : ders., Principles of Talmudic Private L a w , Jerusalem 1994, 1 0 7 - 1 8 6 (hebräisch). - Claude Cahen, Y a-t-il eu des Rahdanites?: R E J 3 (1964) 4 9 9 - 5 0 5 . - Olivia Remie Constable, Trade and Traders in Muslim Spain. T h e Commercial Realignment of the Iberian Peninsula 9 0 0 - 1 5 0 0 , Cambridge 1994. - Seymour Drescher, T h e Role of Jews in the Transatlantic Slave Trade: Immigrants and Minorities 12 (1993) 1 1 3 - 1 2 5 . - Eli Faber, Jews, Slaves, and the Slave Trade, New York 1998. - David Farbstein, Das Recht der unfreien u. der freien Arbeiter nach jüd.-talmudischem R e c h t verglichen mit dem antiken, speciell mit dem röm. Recht, Bern 1896. - Louis H . F e i d m a n ( / J o h n G. Gibbs), Josephus' Vocabulary for Slavery: ders., Studies in Hellenistic Judaism, 1996 ( A G J U 30) 8 3 - 1 1 0 . - M o s h e Gil, T h e Radhanite Merchants and the Land of Radhan: J E S H O 17 (1974) 2 9 9 - 3 2 8 . - Paul Virgil M c C r a c k e n Flesher, O x e n , W o m e n , or Citizens? Slaves in the System of the Mishnah, Atlanta 1988. - Ders., Slaves, Israelites and the System of the Mishnah: Alan J . Avery-Peck (Hg.), N e w Perspectives on Ancient Judaism, L o n d o n , IV 1 9 8 9 , 1 0 1 - 1 0 9 . - M a r y E. Smallwood, T h e J e w s under R o m a n Rule. F r o m Pompey to Diocletian, Leiden 1976. - E f r a i m Elimelech Urbach, T h e L a w s regarding Slavery as a Source for Social History of the Period of the Second Temple, the Mishnah and Talmud, Jerusalem 1964 = N e w York 1979. - Ben Zion Wacholder, T h e Halakhah and the Proselytizing of Slaves during the Gaonic E r a : Histjud 18 (1956) 8 9 - 1 0 6 . - Solomon Zeitlin, Slavery during the Second C o m m o n w e a l t h and the Tannaitic Period: J Q R 53 (1963) 1 8 5 - 2 1 8 .
Ursula Ragacs
IV. Alte Kirche und Mittelalter 1. Alte Kirche
1. Alte
2. Mittelalter
(Literatur S. 3 8 2 )
Kirche
Die Haltung der Alten Kirche zur Sklaverei ist im wesentlichen ausgerichtet an dem paulinischen Postulat, daß ein jeder in seinem Stand zu verbleiben habe, da die durch die Erlösungstat Christi gewonnene Freiheit im Glauben den wahren Wert eines Menschen begründe (I Kor 7,21). Unter Einbeziehung des stoischen Gleichheitsgedankens (-+Stoa/Stoizismus/Neustoizismus) meint -»Clemens von Alexandrien, daß Sklaven sich
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durch Tugend und äußeres Aussehen von ihren Herren in keiner Weise unterscheiden. Daraus leitet er die Forderung ab, daß die Christen die Anzahl ihrer Sklaven verringern und gewisse Arbeiten selbst verrichten sollten (Clemens, paed. 111,38,2 u.a.). Das auch von —»Lactantius (inst. V,10,14f.) formulierte Bekenntnis einer allgemeinen Gleichheit aller Menschen findet einen sichtbaren Ausdruck in der frühen Anerkennung der Sklavenehe in den christlichen Gemeinden. Der aus unfreiem Stand aufgestiegene römische Bischof -»Calixtus I. erkannte sogar Verbindungen zwischen hochgestellten christlichen Frauen mit Sklaven, Freigelassenen oder Freigeborenen aus den unteren Schichten als vollgültige Ehen an (Hippolyt, ref. IX,12,24). Auch Freilassungen aus christlicher Gesinnung gab es seit ältester Zeit, wie die Mahnung des -»Ignatius von Antiochien an die Sklaven belegt, die Freiheit nicht in unchristlicher Begierde anzustreben (IgnPol 4,3). Jedoch rüttelt man nicht an der rechtlichen und gesellschaftlichen Trennungslinie zwischen beiden Ständen, was z. B. aus der Forderung, einen Sklaven vor seiner Weihe als Priester freizulassen (Apostolische Kanones 81), oder an dem scharfen Tadel des Lactantius (inst. V,18,14) gegen entlaufene Sklaven erkennbar wird. Diese Trennung wurde auch von -»Konstantin I. nicht angetastet, wenngleich er die manumissio in ecclesia durch den Bischof zu einer staatlichen Einrichtung erhob (CodTheod IV,7,1) und in einer Reihe von Gesetzen über die Erleichterung des Sklavenloses einen christlichen Grundzug nicht verleugnet. Durch eigenen Sklavenbesitz und den Übertritt reicher Sklavenbesitzer, aber auch durch monastische Forderungen nach gänzlichem Verzicht auf Sklaven erklärt sich die vertiefte theologisch-naturrechtliche Auseinandersetzung der Kirchenväter mit dem Problem der Unfreiheit seit dem 4. Jh. So findet sich bei den Kappadokiern -»Basilius von Caesarea, -»Gregor von Nazianz und bei -»Johannes Chrysostomus nach biblischem Vorbild, aber auch unter dem Einfluß des stoischen Naturrechtsdenkens die Vorstellung von einem paradiesischen Urständ völliger Gleichheit, der jedoch durch die Ursünde -»Adams und die dadurch entstehenden Laster abgelöst wurde durch verschiedene Formen menschlicher Abhängigkeit. Sosehr sich diese sozial engagierten Bischöfe auch im praktischen Leben bemühten, das Schicksal der einzelnen Sklaven zu verbessern, so energisch wenden sie sich mit Rücksicht auf die Wirtschafts- und Gesellschaftsstruktur des Reiches gegen eine generelle Beseitigung der Sklaverei. -»Theodoret von Kyrrhos (or. 7) geht sogar so weit, den Sklaven ihre gesicherte Existenz im Vergleich zu dem Leben des um Familie, Dienerschaft und Besitz stets besorgten Hausvaters als Vorteil vor Augen zu stellen. Einzig -»Gregor von Nyssa (hom. 4 in Eccl.) wendet sich gegen jede Form menschlicher Untergebenheit, da diese nicht nur eine Anmaßung gegen die naturgegebene Freiheit aller Menschen, sondern ein Verbrechen gegen das Erlösungswerk des Gottessohnes sei. Konkrete Konsequenzen zieht jedoch auch er nicht. Im Westen rechtfertigt der Mailänder Bischof -»Ambrosius unter dem Einfluß des -»Aristoteles eine „rechtmäßige Versklavung" mit der intellektuellen Überlegenheit der Herren, während er den zu Unrecht, d.h. durch Zufall oder Krieg, der Unfreiheit Verfallenen nach stoischem Vorbild rät, ihre Situation als Prüfstein für Tugend und Gottvertrauen zu ertragen. Die neutestamentlichen Mahnungen an Herren und Sklaven zu brüderlicher Gesinnung sieht er hierfür als eine willkommene Bestätigung an (besonders Ambrosius, ep. 37). Ebenso ist -»Augustin weit davon entfernt, die Rechtmäßigkeit des Sklavenbesitzes in Frage zu stellen, da Gott nicht aus Sklaven Freie, sondern aus schlechten Sklaven gute gemacht habe (Augustin, en. in Ps. 124,7). Die biblisch-theologische Fundierung findet er in der persönlichen Sünde Hams gegen seinen Vater Noah, wodurch die Knechtschaft der gesamten Menschheit als heilsame Disziplinierung auferlegt sei. Damit verbindet er die paulinische Lehre von der -»Sünde, der jeder verfallen sei. So entwirft er im X I X . Buch seines Gottesstaates ein Idealbild menschlichen Zusammenlebens in Haus und Staat, wozu er die Sklaverei im Sinne der göttlichen Schöpfung, der irdischen Friedensordnung und der naturgegebenen Unterschiede der Menschen als selbstverständlichen Bestandteil rechnet. Freilich wird auch er mit Berufung auf die
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neutestamentlichen Haustafeln nicht müde, nicht nur die Sklaven zu treuem Dienst anzuhalten, sondern auch die Herren zu einer humanen Behandlung ihrer Untergebenen im Geiste christlicher Nächstenliebe zu ermahnen. Dieses Bild wird ergänzt durch zwei Schreiben aus dem Corpus der von Johannes Divjak neu gefundenen Briefe (CSEL 88 [1981]), wo Augustin nicht nur als unermüdlicher Helfer und Richter in gravierenden Fällen der Unfreiheit erscheint, sondern auch als leidenschaftlicher Ankläger gegen die Aktionen von Sklavenhändlern in seiner Diözese (ep. 10*; 24*). So läßt sich für die Alte Kirche zusammenfassen, daß ihre führenden Vertreter zwar keineswegs daran dachten, die Institution der Sklaverei ernsthaft in Frage zu stellen, wohl aber aufgrund des christlichen Liebesgebots in Verbindung mit dem stoischen Gleichheitsgedanken zu einer Humanisierung der Sklavenbehandlung wesentlich beigetragen haben. 2.
Mittelalter
Da die auf dem Boden des Römischen Reiches sich ansiedelnden germanischen Königreiche die auch in der germanischen Tradition geläufige Einrichtung der Sklaverei beibehielten, ist es selbstverständlich, daß auch die in der römischen Tradition stehenden Bischöfe die Rechts- und Gesellschaftsordnung, welche auf der Scheidung von Sklaven und Freien beruhte, in ihrer Synodalgesetzgebung voraussetzten. Erblichkeit, Kriegsrecht, Raub, schuldhaftes Verhalten und Selbstversklavung waren im Frühmittelalter weiterhin die Ursache für den Verlust der persönlichen Freiheit. Die sowohl in der Landarbeit (auch von Klöstern) wie in den städtischen Haushalten weiterhin gebrauchten Sklaven rekrutierten sich vor allem durch die großen Sklavenmärkte, die sich zunächst auch in Westeuropa finden, z. B. bei den Franken in den rheinischen Gebieten, in noch stärkerem M a ß e jedoch in den Mittelmeerstaaten Südeuropas. Während in der Folgezeit unfreie Arbeitskräfte weiterhin im Haus gebraucht wurden, traten im ländlich-agrarischen Bereich bereits im Frankenreich die persönlich unabhängigen, aber zu Zinszahlungen und Fronarbeit auf dem Herrenland verpflichteten servi casati („behauste Unfreie") an die Stelle der Sklaven, bald auch die in der Hörigkeit und Leibeigenschaft {servage) aufgehenden Landbewohner. Eine weitere Ursache für den Rückgang der Sklaverei in der Folgezeit waren die von der Kirche schon früh geförderten kollektiven Freilassungen, die einen solchen Umfang annahmen, daß sich ihnen einzelne Konzilien sogar entgegenstellten (Arles 538; Clichy 626). Auch der Loskauf christlicher Sklaven aus der Hand von Heiden und Juden wurde kirchlicherseits begünstigt, seit dem 13. Jh. durch eigene Orden. Trotzdem bestand die Sklaverei weiter fort, so auch in den skandinavischen Ländern, wohin die kriegerischen und stets auf Beute bedachten Wikinger viele Kriegsgefangene brachten, und in Osteuropa, wo Kriegsgefangenschaft, Armut und Bestrafung von Schuldnern und Verbrechern ein Absinken in die Unfreiheit begünstigten. Von den aus den slawischen Ländern bezogenen Unfreien leitet sich die moderne Bezeichnung „Sklaven" ab. Auch in Byzanz blieb die Einrichtung der Sklaven trotz eines steten Rückgangs bis zum Ende des Reiches erhalten, da der Bedarf in den Werkstätten und auf den Domänen begüterter Grundbesitzer noch immer sehr groß war. Das Wort GKÄ&ßoQ ist in der Bedeutung „Sklave" erstmals im Jahre 1061 in einer byzantinischen Quelle belegt (Codice Diplomatico Barese. IV. Le pergamene di S. Nicola di Bari. 1. Periodo Greco [939-1071], hg. v. Francesco Nitti di Vito, Bari u.a. 1900, Nr. 46). Klöster duldeten dort allerdings keine Sklaven mehr iuf ihren Gütern (seit dem 9. Jh.). Im späten Mittelalter gab es unfreie Bedienstete noch immer im städtischen Bereich, z. B. in den Häusern der Kaufleute, wo schwere Arbeiten zu verrichten waren. Der Nachschub auf gewerbsmäßigem Weg war damals allerdings beschränkt auf Juden und Araber, Süditaliener, Venezianer und Genuesen sowie provenfalische und katalanische Händler. Durch das Auftreten der Sarazenen, die ihrerseits Seefahrern die Freiheit raubten und sie nur gegen hohes Lösegeld freiließen, schwoll der Handel erneut an. Dagegen erlaubte Papst -> Nikolaus V. mit der Bulle Dum diversas vom Jahre 1452 Portugiesen,
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in „die Reiche der Sarazenen, der H e i d e n und anderer Feinde Christi" einzudringen und ihre „menschliche Beute" zu versklaven. Bereits die T h e o l o g e n der karolingischen Zeit (z.B. —»Hrabanus Maurus, —»Alkuin) entschieden sich bei der Diskussion zwischen dem bereits v o n der Stoa formulierten ius naturale, das die Freiheit und Gleichheit aller M e n s c h e n gebot, und dem ius gentium ( - • N a t u r r e c h t ) , welches die Versklavung aufgrund des Rechts des Stärkeren und der höheren Vernunft erlaubte, für das letztere. Durch den Rückgriff auf den wiederentdeckten Aristoteles und seine Sozialethik behandelt wird. Ausgewählte
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420
Soden
Soden, Hans Freiherr von 1. L e b e n
2. Werk
(1881-1945)
3. Würdigung
(Quellen/Literatur S. 4 2 2 )
1. Leben Hans von Soden wurde am 4. November 1881 als Sohn des nachmaligen Berliner Neutestamentiers Hermann von Soden (1852-1914) in Striesen bei Dresden geboren und wuchs seit 1887 in Berlin auf. Vom Sommersemester 1900 an studierte er Evangelische Theologie in -»Berlin, wo er im Dezember 1905 mit der bereits 1904 publizierten Arbeit Die Cyprianische Brief Sammlung. Geschichte ihrer Entstehung und Überlieferung zum Lic. Theol. promovierte. Als seine wichtigsten Lehrer nennt er später neben dem Vater A. von -»Harnack, Friedrich Paulsen (1846-1908) und Hans Delbrück (18481929) (Theol. u. Kirche 376f.). 1906-1910 arbeitete von Soden als Assistent am Preußischen Historischen Institut in Rom, welche Stelle er aufgab, um sich im Juli 1910 in Berlin zu habilitieren. Als Habilitationsschrift wurde die in den Jahren 1906-1908 in Rom entstandene Arbeit Das lateinische Neue Testament in Afrika zur Zeit Cyprians (Leipzig 1909) angenommen. Danach lehrte er als Privatdozent für Kirchengeschichte an der Berliner Universität sowie als Geschichts- und Religionslehrer am Elisabeth-Lyceum. Am Ersten Weltkrieg nahm von Soden, der wegen eines Herzfehlers für untauglich erklärt worden war, zunächst als freiwilliger Feldgeistlicher (1915-1916) und dann als Divisionspfarrer (1916-1918) teil. Vom Sommersemester 1919 an lehrte er als Professor für Kirchengeschichte an der Universität -»Breslau. Zum Sommersemester 1924 folgte er als Nachfolger Adolf Jülichers (1857-1938) einem Ruf auf den Lehrstuhl für Kirchengeschichte und Neutestamentliche Wissenschaft an der Theologischen Fakultät der Universität -»Marburg, wo er - wie bereits in Breslau - auch Christliche Archäologie und Kirchenrecht lehrte. 1931 begründete er zusammen mit R. -»Bultmann die Neue Folge der Theologischen Rundschau, die er bis zu seinem Tode mit herausgab. 1927/28 war von Soden Rektor der Marburger Universität und 1933/34 Dekan der Theologischen Fakultät. Während seines Dekanats wurde er am 4. August 1934 aufgrund von § 6 des Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums aus dem Jahre 1933 vorübergehend (bis zum 24. Oktober 1934) in den Ruhestand versetzt. In der Zeit der Weimarer Republik war von Soden Mitglied der nationalliberalen Deutschen Volkspartei (DVP). Darüber hinaus sind an dieser Stelle noch die Mitgliedschaften im -»Evangelisch-sozialen Kongreß (auch im Vorstand) sowie im Weltbund für Freundschaftsarbeit der Kirchen (-»Ökumene) zu nennen. Hans von Soden starb am 2. Oktober 1945 in Marburg. 2. Werk Nach von Sodens Verständnis stand Theologie als Universitätswissenschaft in einer unaufgebbaren Beziehung zur Kirche (vgl. seine Erwägungen zur Frage des Bestandes Theologischer Fakultäten an den deutschen staatlichen Hochschulen [Theol. u. Kirche 292—297; s.a. ebd. 124f.l36f.]), und er sah dementsprechend auch den Universitätstheologen in eine besondere Verantwortung für die kirchlichen Belange gestellt. Hierin liegt sein besonderes kirchliches Engagement begründet, das ihn sich bereits in der Breslauer Zeit als Mitglied der Verfassunggebenden Kirchenversammlung der Altpreußischen Union intensiv an der Erarbeitung ihrer im Jahre 1922 verabschiedeten Verfassung beteiligen ließ. In den im Jahre 1933 einsetzenden innerkirchlichen Auseinandersetzungen (-»Nationalsozialismus und Kirchen) gewann dieses Engagement dann eine neue und einzigartige Qualität. Noch als Dekan der Marburger Theologischen Fakultät initiierte und verfaßte er eine Fakultätserklärung zugunsten der Wahl F. von -»Bodelschwinghs d.J. zum Reichsbischof (vgl. Theol. u. Kirche 49f. Anm. 11), und ebenfalls aus seiner Feder stammte das von der Fakultät am 19. September 1933 verabschiedete Gutachten, das sich gegen die Einführung des Arierparagraphen in die Kirche wandte (ebd. 352-358; zum Hintergrund 52ff.). In den folgenden Jahren wurde von Soden innerhalb der Be-
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kennenden Kirche zur zentralen Figur im Bereich der Theologischen Fakultäten. Er nahm an allen vier Bekenntnissynoden teil, war Mitglied des Pfarrernotbundes sowie des Reichsbruderrates der Bekenntnis-Synode der DEK (ab Oktober 1934), und auf Grund seiner Initiative kam es am 5. Januar 1935 in Berlin zu einer Konferenz von 29 BK-nahen theologischen Hochschullehrern, die unter dem Vorsitz von Sodens einen Ausschuß theologischer Hochschullehrer in der Bekenntnissynode der DEK bildeten (vgl. dazu Theol. u. Kirche 126ff.). In der Folgezeit fungierte er als Vertrauensmann der der Bekennenden Kirche angehörenden theologischen Hochschullehrer. Kennzeichnend für von Sodens Wirken in diesen Jahren sind weiterhin eine Fülle von kirchen- und hochschulpolitischen Gutachten und Stellungnahmen, mit denen er in die aktuellen Auseinandersetzungen eingriff (vgl. die umfassende Dokumentation in Theologie und Kirche). Hiervon sind im einzelnen herauszuheben: zum einen die durch von Soden verfaßte und von 35 theologischen Hochschullehrern unterzeichnete Erklärung Bekenntnis und Verfassung in den evangelischen Kirchen vom 23. Mai 1934 (s. Theol. u. Kirche 81ff.364ff.), mit der gegen die von der Reichskirchenregierung betriebene und vom Staat unterstützte „Eingliederung" der einzelnen Landeskirchen in die Reichskirche protestiert wurde, und zum anderen mehrere Gutachten und Stellungnahmen zur Frage des Diensteides der Geistlichen (-»Eid), in denen er 1934 einerseits die von der Nationalsynode beschlossene eidliche Verpflichtung der Pfarrer auf die „Ordnungen" der DEK ablehnte (vgl. Theol. u. Kirche 108ff.), während er andererseits die Ablegung eines möglicherweise von staatlicher Seite verlangten Amtseides unter Hinweis auf den Status der Geistlichen als Beamte einer öffentlich-rechtlichen Körperschaft für „selbstverständlich" erachtet (ebd. 114); als dann 1938 u.a. auch der kurhessische Landeskirchenausschuß den Pfarrern seiner Landeskirche den Beamteneid (unter Einschluß der Verpflichtung auf Adolf Hitler) abverlangte, bezieht von Soden eine vermittelnde Position, indem er die Ablegung des Eides unter ausdrücklicher Bezugnahme auf das Ordinationsgelübde, und zwar vor der Eidesleistung, empfiehlt (vgl. Theol. u. Kirche 2 6 6 - 2 7 0 , bes. 268f.; s. dazu auch den Briefwechsel mit K. -»Barth: Karl Barth, GA. V/1. Karl Barth - Rudolf Bultmann, Briefwechsel 1922-1966, hg. v. Bernd Jaspert, Zürich 1971, 269 - 273).
Neben der bereits erwähnten vorübergehenden Zwangsemeritierung war von Soden zahlreichen Disziplinierungs- und Einschüchterungsversuchen von Seiten der vorgesetzten Dienststellen ausgesetzt (vgl. Theol. u. Kirche 101ff.l34ff.l78ff.l86ff.262ff.), die sich gegen sein Engagement für die Sache der Bekennenden Kirche richteten. Sie wurden von ihm als unrechtmäßige Übergriffe des Staates in die Autonomie von Theologie und Kirche bzw. als Versuch einer politischen Konfessionalisierung der Theologie, die mit einer ihre Wissenschaftlichkeit gleichermaßen zerstörenden Klerikalisierung vergleichbar sei (ebd. 295), zurückgewiesen. Literarisch trat von Soden in diesen Jahren weniger durch die Teilnahme am wissenschaftsinternen Diskurs hervor als durch mehrere auf eine größere Öffentlichkeit abzielende Arbeiten. In ihnen setzt er sich nicht nur mit Erich und Mathilde Ludendorffs Angriff auf die Rezeption der -»Bibel in den christlichen Kirchen (Das große Entsetzen - die Bibel nicht Gottes Wort [1936]) auseinander (Hat Ludendorff recht? [1936; abgedr.: Urchristentum u. Gesch. I, 128-149]), sondern tritt auch Versuchen entgegen, Jesus aus dem Judentum zu lösen und ein von jüdischen Einflüssen „gereinigtes" „Volkstestament" einzuführen, die von dem 1939 gegründeten Institut zur Erforschung und Beseitigung des jüdischen Einflusses auf das kirchliche Leben des deutschen Volkes ausgingen (Die synoptische Frage und der geschichtliche Jesus [1941; abgedr.: Urchristentum u. Gesch. I, 159-213]; Jesus der Galiläer und das Judentum [1942; ebd. 150-158]). In diesen Zusammenhang gehört auch seine Auseinandersetzung mit Erich Winkel ( 1 8 9 4 1973) in Ein erdichtetes Markusevangelium (1939; ebd. 2 1 4 - 2 3 8 ) . Innerhalb der Evangelischen Landeskirche von Kurhessen- Waldeck wurde von Soden zum Mitbegründer der Bekennenden Kirche und übernahm bis 1940 als Landesbruderratsvorsitzender auch ihre Leitung. Aus seiner Feder stammt auch der Entwurf eines Kirchengesetzes betreffend die Leitung und Verwaltung der Evangelischen Landeskirche von Kurhessen-Waldeck, der zusammen mit einer erläuternden Denkschrift
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(abgedr.: Z E v K R 6 [ 1 9 5 7 / 5 8 ] 1 8 3 - 1 9 1 ) a m 2 8 . S e p t e m b e r 1945 von der N o t s y n o d e in T r e y s a a n g e n o m m e n wurde; beide T e x t e fanden dann später Eingang in die kurhessische Kirchenverfassung (vgl. dazu Füllkrug 3 3 3 f f . ; - » B i s c h o f IV). 3.
Würdigung
Es ist zweifellos zu einem wesentlichen Teil dem Einsatz von Sodens in den Jahren n a c h 1 9 3 3 zu v e r d a n k e n , d a ß es n a c h 1 9 4 5 möglich w a r , an den T h e o l o g i s c h e n - » F a k u l t ä t e n in D e u t s c h l a n d eindeutig e r k e n n b a r e Spuren des W i d e r s t a n d s gegen die organ i s a t o r i s c h e und t h e o l o g i s c h e G l e i c h s c h a l t u n g der evangelischen Kirchen mit den politischen und ideologischen S t r u k t u r e n des - » N a t i o n a l s o z i a l i s m u s zu identifizieren. Die von ihm in diesen J a h r e n v e r f o c h t e n e Position speiste sich dabei z u m einen aus der E i n s i c h t in die Universalität der sich allein durch das B e k e n n t n i s zu Jesus Christus konstituierenden christlichen K i r c h e und z u m anderen aus dem E r b e des theologischen und politischen - » L i b e r a l i s m u s (anders als R . - » B u l t m a n n blieb er durch die - » D i a l e k t i s c h e T h e o l o g i e weitgehend unbeeinflußt). D i e s e r T r a d i t i o n w a r von Soden vor allem darin verpflichtet, d a ß er d e m S t a a t i m m e r wieder — und dieser G r u n d s a t z zieht sich wie ein r o t e r F a d e n durch alle seine einschlägigen S t e l l u n g n a h m e n - das R e c h t a b s p r a c h , Kirche und T h e o l o g i e an den in i h m in G e l t u n g stehenden N o r m e n auszurichten und sich in deren innere Angelegenheiten einzumischen. Z w a r hat von Soden selbst seinen Protest gegen solche G r e n z ü b e r s c h r e i t u n g i m m e r nur als einen im engeren Sinne kirchen-politischen verstanden wissen w o l l e n , d o c h m u ß t e ihm in einem totalitären S t a a t , der seinem Wesen nach A n s p r u c h a u f alle L e b e n s b e r e i c h e der in ihm lebenden M e n s c h e n erhebt und d a r u m auch nicht zulassen k a n n , d a ß es in ihm einen von seinen N o r m e n und W e r t e n u n b e r ü h r t e n a u t o n o m e n F r e i r a u m g i b t , zwangsläufig auch eine allgemein-politische Q u a l i t ä t z u w a c h s e n . D i e s e S p a n n u n g hat auch von Soden gesehen (vgl. Urchristentum u. G e s c h . II, 2 6 4 f f . ) , d o c h ergab sie sich für ihn zuallererst von einer Außenperspektive her und sah er durch sie nicht die t h e o l o g i s c h e M o t i v a t i o n seines eigenen H a n delns tangiert. D e m e n t s p r e c h e n d ist dann auch der verschiedentlich entfaltete theologische B e g r ü n d u n g s z u s a m m e n h a n g für die G e s t a l t u n g des Verhältnisses der Christen zum S t a a t (vgl. v o r allem U r c h r i s t e n t u m u. G e s c h . II, 2 1 9 f f . 2 4 8 f f . ) der seinerzeit innerhalb des n a t i o n a l l i b e r a l geprägten - » P r o t e s t a n t i s m u s weithin übliche (vgl. T R E 2 4 , 2 5 , 1 7 f f . ; 2 7 , 3 1 f f . ; - » K i r c h e und S t a a t ; - » O b r i g k e i t ) . Quellen Bibliographie: Bibliogr. Hans Freiherr v. Soden. Aufgrund v. Notizen, Handexemplaren u. Hinweisen zusammengestellt v. Erich Dinkler: ThR NF 46 (1981) 2 0 6 - 2 1 8 . Aufsatzsammlung: Urchristentum u. Gesch. GAufs. u. Vortr., hg. v. Hans v. Campenhausen, 2 Bde., Tübingen 1 9 5 1 - 1 9 5 6 . Dokumentation: Theol. u. Kirche im Wirken Hans v. Sodens. Briefe u. Dokumente aus der Zeit des Kirchenkampfes 1933-1945, hg. v. Erich Dinkler f/Erika Dinkler-v. Schubert, bearb. v. Michael Wolter, 1984 2 1988 (AKZ.A 2). Literatur Hans v. Campenhausen, Hans Freiherr v. Soden zum Gedächtnis: KiZ 11 (1956) 233 f. - Werner Dettmar, Theologe, Professor u. Kirchenrechtler. Hans v. Soden zum 100. Geburtstag: Hessisches Pfarrerbl. 1981, 4 5 2 - 4 5 6 . - Erich Dinkler, Hans v. Sodens VuA: T h L Z 82 (1957) 2 5 3 - 2 5 6 . - Ders., Art. v. Soden, Hans Freiherr: RGG 3 6 (1962) 114. - Ders., Hans Freiherr v. Soden (1881-1945): Marburger Gelehrte in der ersten Hälfte des 20. Jh., hg. v. Ingeborg Schnack, 1977 (VHKH 35/1) 5 0 1 - 5 2 2 ; Neudr.: Theol. u. Kirche (s.o. bei Quellen/Dokumentation) 1 5 - 3 5 . - Armin Füllkrug, Hans v. Sodens kirchenrechtliches Werk: Reformatio u. Confessio. FS Wilhelm Maurer, Berlin/ Hamburg 1965, 3 2 5 - 3 4 5 . - Martin Hein, Hans v. Soden u. die „Judenfrage": Erinnern - Verstehen - Versöhnen. Kirche u. Juden in Hessen 1 9 3 3 - 1 9 4 5 , hg. v. Bernd Jaspert, Kassel 1992, 3 3 - 5 8 . Andreas Lindemann, Neutestamentier in der Zeit des Nationalsozialismus. Hans v. Soden u. Rudolf Bultmann in Marburg: WuD NF 20 (1989) 2 5 - 5 2 . - Kurt Meier, Die Theol. Fakultäten im Dritten Reich, Berlin/New York 1996, bes. 2 7 8 - 2 8 7 . - Alfred Niebergall, Hans Freiherr v. Soden: Lebensbilder aus der Bekennenden Kirche, hg. v. Wilhelm Niemöller, Bielefeld 1949, 1 0 0 - 1 0 9 . - Ulrich
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Schneider, Bekennende Kirche zw. „freudigem J a " u. antifaschistischem Widerstand. Eine Unters, des christl. motivierten Widerstands gegen den Faschismus unter besonderer Berücksichtigung der Bekennenden Kirche in Kurhessen-Waldeck u. M a r b u r g , Kassel 1986. - H a n s Slenczka, Die ev. Kirche v. Kurhessen-Waldeck in den Jahren 1933 bis 1945, Göttingen 1977. - Theol. Fakultäten im Nationalsozialismus, hg. v. L e o n o r e Siegele-Wenschkewitz/Carsten Nicolaisen, 1993 ( A K Z . B 18).
Michael Wolter
Söderblom, Nathan
(1866-1931)
1. Leben und Persönlichkeit
1. Leben und
2. Werk und Wirkung
(Quellen/Literatur S . 4 2 6 )
Persönlichkeit
Lars Olof Jonathan Söderblom entstammt einer vom —•Pietismus geprägten Pastorenfamilie der mittelschwedischen Provinz Hälsingland. Von 1883 bis 1894 studierte er Sprachen und Theologie in Uppsala, wo er als Vorsitzender der Studentenschaft, in der Studentenmissionsgesellschaft und im Kristliga föreningen av unga män (KFUM = CVJM; -»Vereinswesen) aktiv war. Eine von der Begegnung mit der modernen Theologie (A. -»Ritsehl und J. -»Wellhausen) ausgelöste religiöse Krise soll Söderblom durch eine mystische Erfahrung überwunden haben. Als Repräsentant der schwedischen Studenten nahm Söderblom 1890 am ersten internationalen christlichen Jugendtreffen in Northfield (Massachusetts) und 1891 am CVJM-Treffen in Amsterdam teil. 1893 wurde er ordiniert und als Krankenhausseelsorger eingesetzt. 1894 heiratete er Anna Forsell; aus der Ehe gingen zwölf Kinder hervor. Von 1894 bis 1901 war er als Seemannsgeistlicher in Calais und als Pastor der schwedischen Gesandtschaft in Paris tätig, wo er sich u.a. um die Künstler, vor allem aber um Sozialfälle kümmerte. Gleichzeitig studierte er an der Protestantisch-Theologischen Fakultät der Sorbonne, wo Auguste Sabatier (1839-1901) großen Einfluß auf ihn ausübte. Im Anschluß an seine Promotion (1901) mit einer Arbeit zur vergleichenden Eschatologie wurde der mitunter als Liberaler bzw. „Ketzer" verschrieene Söderblom auf den Lehrstuhl für theologische Enzyklopädik und Propädeutik, die sog. „Professur für Heidentum", nach —»Uppsala berufen. Dort arbeitete er auch als Gemeindepastor an der Dreifaltigkeitskirche. 1912 übernahm er darüber hinaus den neu eingerichteten Lehrstuhl für Religionsgeschichte in -»Leipzig. 1914, kurz vor dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs, wurde er völlig überraschend — und zur Bestürzung der Konservativen - von der Regierung zum Erzbischof von Uppsala ernannt. Die Bischofsweihe erfolgte am 8. November 1914. Schon sein erster Hirtenbrief (10. November 1914), der II Kor 1,24 als Leitmotiv hatte, stieß auch über die Landesgrenzen hinweg auf Anklang. In der Folge mehrerer vorbereitender Konferenzen organisierte Söderblom mit hohem persönlichem finanziellem Risiko 1925 die Allgemeine Konferenz der Kirche Christi für Praktisches Christentum (The Universal Conference on Life and Work) in Stockholm (s.a. -»Schweden H.3.2.). 1926 hielt er die Eröffnungsgebet der Sitzung des Völkerbundes (—»Vereinte Nationen/Völkerbund). 1930 wurde Söderblom der Friedensnobelpreis verliehen. Kurz nachdem er die erste Serie der Gifford Lectures (-»Schottland 5.1.) in Edinburgh gehalten hatte, starb er am 12. Juli 1931 in Uppsala. Söderblom war Mitglied der Schwedischen Akademie und 14facher Ehrendoktor (u.a. der Universitäten Berl.n, Bonn und Greifswald). Als Persönlichkeit war Söderblom gleichermaßen traditionsverbunden wie innovations- und improvisationsfreudig, gleichermaßen „orthodox" wie „liberal". Er liebte die Musik, Pomp und Ritual, war ein mitreißender Redner, humorvoll, vielseitig interessiert, kontaktfreudig, ein vorzüglicher Organisator und charmanter Gastgeber. Söderblom beherrschte den Umgang mit Menschen aus unterschiedlichen sozialen Schichten und ideologischen Lagern. Seine Extrovertiertheit wurde durch ein intensives Gebetsleben ausgeglichen. Söderblom verfügte über einen starken Willen und eine rigorose
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asketische Selbstdisziplin. Nicht zuletzt der bislang nur ausschnittweise edierte und von der Forschung bloß spärlich verwendete Nachlaß (s.u. Quellen) bezeugt Söderbloms enorme Arbeitsleistung. 2. Werk und "Wirkung Söderbloms Wirken hatte unterschiedliche Facetten, und in fast allen Bereichen war er vielseitig tätig: Als Theologe etwa beschäftigte er sich mit -»Luther, der schwedischen Kirchengeschichte, aber auch mit exegetischen, christologischen, systematischen und ekklesiologischen Fragen. Weiterhin verfaßte er einige erfolgreiche erbauliche und katechetische Werke. Söderbloms theologische Arbeiten standen teilweise in direktem Zusammenhang mit seinem Episkopat: so etwa seine Annahme der ungebrochenen apostolischen Sukzession der schwedischen Kirche mit den von ihm im Ostseebereich [mare Lutheranum) durchgeführten Bischofsweihen. Seine Arbeit als Religionshistoriker, die er nach seiner Bischofsweihe nur noch sporadisch fortführen konnte, war weitgehend theologisch-apologetisch inspiriert. Das gilt nicht zuletzt für seine Spezialforschung auf dem Gebiet der altiranischen Religionsgeschichte, die vor allem auf die Frage nach iranischen Einflüssen auf das Judentum und einen Vergleich von Zarathustra und Jesus abzielte. Söderblom verfaßte mehrere Lehrund Handbücher. In seinen vergleichenden Studien arbeitete er gleichermaßen die Eigenarten der jeweiligen religiösen Traditionen und ihre Ähnlichkeiten mit dem Christentum heraus, um auf diese Weise ein besseres Verständnis des Spezifikums der (evangelisch-) christlichen Botschaft zu erlangen. Immer wieder - u.a. in seiner Antrittsvorlesung setzte Söderblom sich mit der Frage des Verhältnisses von Theologie und Religionsgeschichte bzw. -Wissenschaft auseinander: Er machte sich für die (methodische) Unabhängigkeit der Religionswissenschaft von der Theologie stark; von seriöser Religionswissenschaft habe die Theologie nichts zu befürchten, aber viel zu lernen. Die Tatsache, daß Söderblom nicht zur -»Religionsgeschichtlichen Schule zählte, scheint ein wichtiger Faktor seiner Berufung nach Leipzig gewesen zu sein. Wie R. - » O t t o war Söderblom von -»Schleiermacher beeinflußt, beschäftigte sich intensiv mit Mystik - bekannt ist seine Unterscheidung von Unendlichkeits- und Persönlichkeitsmystik - und betrachtete „-»Heiligkeit" als Grundkategorie von Religion. Neben dem Konzept des Heiligen, das laut Söderblom auf der Ebene des einzelnen (und nicht wie bei Emile Dürkheim [1858-1917] auf der Ebene der Gesellschaft!) den Kontakt zum Bereich des Göttlichen herstellt, steht bei Söderblom die Idee der Offenbarung, die die Einheit der Religionsgeschichte garantiert: Alle Religionen haben laut Söderblom Anteil am Prozeß göttlicher Selbsterschließung, der in Christus gipfelt. Das Offenbarungskonzept geht dabei eine Synthese mit evolutionistischen Theorieelementen ein. Religionsgeschichte war für Söderblom nie nur ein wissenschaftliches Studium, sondern auch eine unerschöpfliche Quelle der religiösen Erbauung. Auf dem Sterbebett soll Söderblom gesagt haben: „Gott lebt - ich kann es aus der Religionsgeschichte beweisen". Zeugnis für diesen „lebendigen G o t t " abzulegen war Söderbloms Heiligkeitsideal. Gerade in seinem Spätwerk dominiert die apologetische Tendenz, das (evangelische) Christentum als unüberbietbaren Höhepunkt der Religionsgeschichte herauszustellen; sein religionsgeschichtlicher Universalismus ist christozentrisch. Insbesondere in seinen frühen Schriften arbeitete Söderblom drei strukturelle Hauptkomponenten der Religionsgeschichte heraus: 1. das Genie ( = den Bezug auf einen Stifter, Kulturheros usw.), 2. die Haltung der Religionen zur -»Geschichte, 3. die geistliche Persönlichkeit (mit Ethik, Askese, Mystik usw.). In den späten Gifford Lectures unterschied Söderblom zwei Haupttypen von Religion: die Übungsreligion mit Schwergewicht auf der menschlichen Aktivität (z. B. in Askese) und die Offenbarungsreligion, bei der menschliche Aktivität ganz in der Aktivität des Gottes aufgeht (z.B. bei den Propheten). Dementsprechend differenzierte er zwei Haupttypen von Religiosität: die Ubungsmystik als eine für Söderblom letztlich zum Scheitern verurteilte Form psycho-
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logischer Selbsterlösungstechnik und die prophetische Frömmigkeit als überzeugte Hingabe an die Offenbarung des Gottes. Trotz und gerade wegen seines apologetischen Grundcharakters ist die Religionsgeschichte bzw. -Wissenschaft seit Söderblom eine feste Größe auf der akademischen Landkarte Schwedens. Söderbloms Studium der Religionsgeschichte ist nicht von seinem bis in die Studienzeit zurückreichenden Interesse für die -»Mission zu trennen. Er betonte, Missionare müßten über eine gute Kenntnis der Religionsgeschichte verfügen. Sein Episkopat - als Erzbischof war er zugleich Vorsitzender der Mission der Schwedischen Kirche - sah einen großen Zuwachs an Missionaren und ein statk steigendes Missionsbudget. Die Notwendigkeit der Mission hing bei Söderblom mit seiner in Christus kulminierenden Offenbarungstheologie zusammen; zugleich betonte er aber den rezeptiven Aspekt der Offenbarungsgeschichte: Offenbarung und Kirche nähmen notwendigerweise in verschiedenen historischen Kontexten unterschiedliche Gestalt an. Daraus folgte die Forderung nach der Unabhängigkeit der Missionskirchen. Zugleich betrachtete Söderblom die Mission als eine Form des „Wettstreits" der Religionen. Am bekanntesten sind sein Einsatz für die Ökumene, seine Appelle zur Beendigung des Krieges (1914-1918) und seine Bemühungen um die Versöhnung der Kriegsvölker in der Zeit nach dem Krieg; diese drei Tätigkeitsbereiche bildeten eine Einheit. Söderblom kritisierte die Kirchen für ihre Legitimation des Krieges, und 1923 verurteilte er den Einmarsch französischer und belgischer Truppen ins Ruhrgebiet. Eine notwendige Bedingung für die Versöhnung der Völker sah er in der Versöhnung der Kirchen. Er war eine treibende Kraft in der Entstehung der Life and Wort-Bewegung. Seine unter dem Leitmotiv der „evangelischen Katholizität" stehenden ökumenischen Bemühungen, die auch die orthodoxen Kirchen erfolgreich miteinbezogen, gipfelten in der Stockholmer Konferenz von 1925 (vgl. T R E 11,633,11-32), die er 1926 ausführlich dokumentierte und kommentierte. Auf der Stockholmer Konferenz wurde explicite auf den Versuch einer Einigung auf dogmatischem Gebiet verzichtet. Statt dessen bittet die auf der Konferenz mit vier Gegenstimmen angenommene Erklärung zunächst um Vergebung für die von allen Kirchen begangenen Sünden, um sich sodann auf die praktische Anwendung des Evangeliums in allen Lebensbereichen zu konzentrieren: in der industriellen Arbeits-, der sozialen Lebenswelt und der internationalen Politik. Kritik an sozialistisch-kommunistischen Gesellschaftsmodellen ging bei Söderblom schon früh mit der Betonung der sozialen Verantwortung der Kirche(n) einher. Die Kirche dürfe sich nicht mit einer einzigen gesellschaftlichen Schicht oder Gruppe identifizieren; ihr Aufgabenbereich beziehe sich auf die gesamte Gesellschaft, auf die Versöhnung ihrer verschiedenen Schichten bzw. Gruppierungen, wobei sie sich jedoch stets gegen Armut und soziale Not einzusetzen habe. Für Söderblom standen allerdings nicht soziale Fragen im Zentrum der -»Bergpredigt, sondern der „unendliche Wert der menschlichen Seele". Das entspricht nicht nur dem anti-soziologischen Grundzug seiner wissenschaftlichen Arbeit, sondern auch seiner Auseinandersetzung mit dem modernen Staat als Bischof: Im Zusammenhang der hitzigen Debatte um das Verhältnis von Kirche und Staat betonte er die seines Ermessens unaufhebbare Bedeutung der Religion als ethisch-spirituellen Gegengewichts und Repräsentation der Einzelseelen gegen den absoluten Anspruch und die materialistisch-quantitative Ideologie des modernen Staats und der Industriegesellschaft. Söderblom setzte sich für die Beibehaltung des christlichen -»Religionsunterrichts an staatlichen Schulen ein, der aber seines Ermessens stärker historisch orientiert sein sollte. In Söderbloms Episkopat fiel die Verabschiedung eines neues Gesangbuchs und einer neuen Gottesdienstordnung. Söderblom förderte das Mitwirken der Laien im Gemeindeleben und wertete die allgemeinen Kirchentreffen auf. Sein Episkopat gab der Modernisierung der schwedischen Kirche wichtige Impulse. Über seiner Bedeutung für die nationale und internationale Kirche darf seine Tätigkeit als Bischof vor Ort nicht unterschätzt werden, wo vor allem seine intensive Visitationstätigkeit Beachtung fand.
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Quellen Bibliographie: Sven Âgren, Bibliografi: Nathan Söderblom in memoriam (s.u. bei Lit.) 391-458 (669 Einträge, Reg.) (bis 1931 ). - Ergänzungen: Sixten Dahlquist, Ur ärkebiskop Nathan Söderbloms författarskap: SvTK 8 (1932) 162-172. - Syst. Überlegungen: Folke Holmström, Bidrag tili Nathan Söderbloms bibliografi: SvTK 13 (1937) 251-273. Archivalien/Nachlaß: Die Nathan Söderblom-Sammlung der Universitätsbibliothek Uppsala (UUB) enthält laut Dr. Staffan Runestam (Mitt. vom 19.1.1999) ca. 36.700 Briefe von und an Söderblom, 2.750 Manuskripte, Terminkalender, Tages- und Notizbücher, „Erinnerungen" (z. B. Einladungen, Visitenkarten usw.), Akten zu seiner Tätigkeit als Erzbischof (in ca. 100 Rubriken thematisch geordnet, z.B. zu Bischofsweihen, Auslandsreisen, Visitationen usw.), Unterlagen zur Vorlesungs- u. Vortragstätigkeit aus der Professorenzeit (Manuskripte, Entwürfe, Exzerpte usw.) sowie eine in den 1880er Jahren begonnene und von seiner Frau bis 1954 weitergeführte Sammlung von Zeitungsausschnitten. Die ökumenische Sammlung der UUB enthält darüber hinaus mehrere tausend Briefe und andere Dokumente im Zusammenhang mit der Stockholmer Konferenz von 1925. Schriften (Auswahl): Religionen och den sociala utvecklingen: Samuel A. Fries (Hg.), Religionsvetenskapliga Kongressen i Stockholm 1897, Stockholm/Berlin/Christiania 1898, 7 6 - 1 4 3 ; dt.: Die Religion u. die soziale Entwicklung, Freiburg i.Br. 1898 (SGV 10). - Betydelsen af Schleiermachers „Reden über die Religion". Ett hundraârsminne. Profföreläsning hallen i Uppsala den 11 Nov. 1899, Uppsala 1899. - Les Fravashis. Étude sur les traces dans le mazdéisme d'une ancienne conception surla survivance des morts. Thèse, Paris 1899; wiederabgedr.: R H R 3 9 (1899) 2 2 9 - 2 6 0 . 3 7 3 418. - La vie future d'après le mazdéisme à la lumière des croyances parallèles dans les autres religions. Étude d'eschatologie comparée. Thèse Paris, Angers 1901 = Paris 1901 (AMG Bibliothèque d'études 9). - (Bearb.) Tiele's Kompendium der Religionsgesch. Übers, v. Friedrich W. T. Weber, 3. dt. Aufl. durchg. u. umgearb. v. Nathan Söderblom, Breslau 1903 '1931 (franz. 1925). - Kristendomen och religionerna. En öfverblick, Stockholm 1904; dt.: Die Religionen der Erde, Halle 1905 (RV 3/3) (weiterhin dän., finn., franz. u. ital. Übers.). - Religionsproblemet inom katolicism och protestantism, 2 Bde., Stockholm 1910. - Art. Communion with Deity: ERE 3 (1910) 7 3 6 - 7 4 0 . - översikt av allmänna religionshistorien, Stockholm 1912 3 1919; dän. Übers. 1918; dt.: Einf. in die Religionsgesch., Leipzig 1920 (Wiss. u. Bildung) 2 1928. - Natürliche Theol. u. allg. Religionsgesch., 1913 (BRW 1) (erw. schwed. Ausg. 1914). - Art. Holiness: ERE 6 (1913) 731-741. - Gudstrons uppkomst. Studier, Stockholm 1914; dt. Bearb. hg. v. Rudolf Stübe: Das Werden des Gottesglaubens. Unters, über die Anfänge der Religion, Leipzig 1916 Neubearb. 2 1926 = Hildesheim 1979. - Herdabref tili prästerskapet och församlingarna i Uppsala ärkestift, Uppsala 1 _ 3 1914. Svenska kyrkans kropp och själ, Stockholm 1916. - Religionen och staten, Stockholm 1918. Humor och melankoli och andra Lutherstudier, Stockholm 1919 (Sveriges kristliga studentrörelses skriftserie 100); 2 1983 erg. u. hg. v. Hjalmar Sunden. - Jesu bergspredikan förklarad, Stockholm 1921. - Christian Fellowship or the United Life and Work of Christendom, New York/Chicago/ London/Edinburgh 1923; dt.: Einigung der Christenheit. Tatgemeinschaft der Kirchen aus dem Geist werktätiger Liebe, übers, u. eingel. v. Peter Katz, Halle o.J. ( 1 _ 2 1925 = 3 1937); niederl. 1925. - Kristenhetens möte i Stockholm augusti 1925. Historik, aktstycken, grundtankar, personligheter, eftermäle, skärskädade och ätergivna, Stockholm 1926. - Christi. Einheit!, übers, v. E. Ohly, Berlin 1928. - Kristi pinas historia. Vâr herres Jesu Kristi lidande. En passionsbok för stilla veckan och andra veckor, Stockholm 1928 4 1965 (niederl. 1930, finn. 1931, chin. 1952). - Art. Macht: RGG 2 3 (1929) 1811-1815. - Tal och skrifter, 6 T., Malmö 1929-1930; 5 Bde., ebd. 3 1933. - Uppenbarelsereligion, Stockholm 1930 (engl. 1933, 1966; schwed. NA hg. v. Erland Ehnmark 1963). - Den levande guden. Grundformer av personlig religion, Stockholm 1932 (engl. 1933 = 1979; franz. 1937) ; dt.: Der lebendige Gott im Zeugnis der Religionsgesch. Nachgelassene Gifford-Vorl., hg. v. Christel M. Schröder/Rudolf Hartner/Friedrich Heiler, München 1942 2 1966. - Ett âr. Ord för varje dag, hg. v. Anna Söderblom, Stockholm 1933 10 1953; dt.: Worte f. jeden Tag, übers, v. Tona Baur, Berlin 1940 2 1956. - Svenskars fromhet, Vorw. v. Anna Söderblom, 2 Bde., Stockholm 1933-1941. - Sommarminnen, hg. v. Anna Söderblom, Stockholm 1941. - Om studiet av religionen, hg. u. eingel. v. Erland Ehnmark, Lund 1951. - Briefe u. Botschaften an einen dt. Mitarbeiter. Gedächtnisschrift zum hundertsten Geburtstag des schwed. Erzbischofs, hg. v. Friedrich Siegmund-Schultze, Marburg 1966 [SÖA 2]. - Rus och religion, Uppsala 1968. - Tal och essayer. Eingel. u. hg. v. Sven Stolpe, Stockholm 1974. - Till mystikens belysning. Tvä skrifter med förnyad aktualitet, eingel. v. Hans Akerberg, Lund 1975 2 1980. - Paul Miesner (Hg.), Friedrich v. Hügel, Nathan Söderblom, Friedrich Heiler. Briefwechsel, Paderborn 1981. - Weitere Korrespondenz bei Friedrich Heiler (s.u. bei Lit.).
See Literatur
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(Auswahl)
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See, Niels Hansen 1. Leben
(1895-1978)
2. Werk und Nachwirkung
(Quellen/Literatur S. 429)
1. Leben Niels Hansen See wurde a m 29. November 1895 im dänischen Spettrup (Jütland) geboren. 1920 schloß er sein Studium der Theologie an der Universität -»Kopenhagen ab und unternahm in den J a h r e n 1 9 2 2 - 1 9 2 4 mehrere Studienreisen (u.a. nach Tübingen, London und Oxford). 1925 wurde er ordiniert und wirkte danach als Pastor in der lutherischen Kirche, zuerst als Gemeindepfarrer in - » D ä n e m a r k , dann ( 1 9 3 0 - 1 9 3 3 ) als dänischer Pfarrer in Shanghai. E r w a r dem konservativen Flügel der Kirche verbunden und hat als Vorsitzender der christlichen Studentenbewegung und als Mitarbeiter der Christlichen Tageszeitung bedeutenden Einfluß auf das kirchliche Leben Dänemarks ausgeübt.
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See
Sees akademische Laufbahn vollzog sich an der theologischen Fakultät der Universität Kopenhagen. Er wurde 1934 Dozent für Systematische Theologie und erhielt 1939 als Nachfolger Eduard Geismars (1871-1939) den Lehrstuhl für Ethik und Religionsphilosophie, von dem er 1965 emeritiert wurde. Am 10. Juni 1978 ist er gestorben. 2. Werk und
Nachwirkung
N . H . See ist theologisch stark durch die Dialektische Theologie, insbesondere in der Gestalt K. -»Barths, beeinflußt. Er ist als der „einzige eigentliche, selbständige Vertreter Barthscher Theologie" in Dänemark bezeichnet worden (vgl. Kyndal 280). Neben Barth war auch S. -> Kierkegaard eine entscheidende Gestalt für See. Für seine theologische Arbeit wichtig war ferner seine Kenntnis der Naturwissenschaft, wie schon eine frühe Arbeit bezeugt (1925). Sein theologisches Wirken war allgemein durch Kenntnisnahme nichttheologischer Problemkreise geprägt, so z. B. der damals einflußreichen marxistischen Weltanschauung (-»-Marx/Marxismus) und der Tiefenpsychologie C.G. -»•Jungs. See hat auch über theologische Fragestellungen außerhalb seiner eigenen Disziplin publiziert, z. B. Kommentare zu alt- und neutestamentlichen Schriften und eine dänische Theologiegeschichte des 20. Jh. Als theologische Hauptwerke muß man jedoch seine Lehrbücher über Ethik und Religionsphilosophie (in Dänemark eine Teildisziplin der Systematischen Theologie) betrachten. See sieht die Arbeit der Systematischen Theologie bedingt durch die „radikale Neubesinnung auf das Evangelium" (vgl. Religionsfilosofi 7). Die systematisch-theologische Umsetzung dieser Neubesinnung sei zuerst in der Dogmatik geschehen, dann (vor allem nach dem Zweiten Weltkrieg) in der Ethik. Die letzte und schwierigste Aufgabe sei die Ausformung einer Religionsphilosophie auf der neuen theologischen Grundlage. Im prinzipiellen Teil seiner theologischen Ethik kommt der Barthsche Einfluß auf See deutlich zum Ausdruck. Die Erkenntnis des Guten, d.h. der Forderung des göttlichen Willens an die Lebenseinstellung und das Handeln des Menschen, sei ausschließlich durch Gottes heilbringende Offenbarung in Christus möglich. Strenggenommen kann es kein allgemeinmenschliches sittliches Wissen geben. See wendet sich insbesondere gegen den „ethischen Idealismus", den Versuch, eine absolute ethische —»Pflicht nichtreligiös zu begründen wie z. B. bei —>Plato und -»Kant. Dem Idealismus zufolge sei der Mensch letztlich nur seinem eigenen Wesen, seiner autonomen Persönlichkeit gegenüber verpflichtet. Theologische Ethik muß nach See sowohl der Kritik des Empirismus als auch derjenigen der Existenzphilosophie am ethischen Idealismus zustimmen. Besonders letztere habe darin recht, die Forderung von seiten des „Ich-Fremden" zu betonen, allerdings sei festzuhalten, daß das „Ich-Fremde" letztendlich nicht der Nächste, sondern Gottes Offenbarung sei. Ein Anerkennen des idealistischen Gedankens von einem allgemeinmenschlichen absoluten Pflichtbewußtsein (des -»Gewissens) müsse theologisch abgelehnt werden, weil dabei Gesetz und Evangelium getrennt würden. Demgegenüber betont See, daß Christus Zentrum für Gesetz und Evangelium und daß das Gesetz vom Evangelium umschlossen sei. Er schließt sich folglich der Lehre vom tertius usus legis an. Die das Wissen um das Gute vermittelnde Offenbarung ist nach See in der Schrift gegeben, so daß christliche Ethik also biblische Ethik ist. Das bedeute kein legalistisches Gebundensein an äußere Vorschriften, sondern der im Schriftwort offenbare Wille Gottes werde nur durch die konkrete Anleitung des Heiligen Geistes dem Gläubigen deutlich. In jedem Fall sei das von Gott Gewollte eine Lebenseinstellung der Agape, der liebenden Selbsthingabe. Konkrete Forderungen der Agape in der Bibel seien für den heutigen Christen nicht bedeutungslos. Allerdings müsse er Zeitbedingtes in den biblischen Vorschriften berücksichtigen, und vor allem sei die Anleitung des Geistes immer zum rechten Verständnis des Geforderten notwendig. Auch die Verwirklichung des Guten im Handeln ist nach See als Werk des Geistes aufzufassen. Er muß sich in diesem Zusammenhang von der lutherischen -»Zweireiche-
See
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lehre distanzieren. Sie beinhalte eine Spannung zwischen zwei Formen des Gehorsams: dem Gehorsam gegen den in den Ordnungen begegnenden Gotteswillen und demjenigen gegen den geoffenbarten Liebeswillen Gottes. Insbesondere weist See die spätere Unterscheidung zwischen einer privaten christlichen Ethik und einer allgemeinen, natürlichen Sozialethik ab. Der christliche Glaube müsse das Menschenleben in seiner Ganzheit prägen. Der Christ ist deshalb berufen, seiner nichtchristlichen Umwelt gegenüber Forderungen und Ideale der christlichen Ethik geltend zu machen. Die Konsequenzen der letztgenannten Auffassung zeigen sich nicht zuletzt im speziellen Teil der Ethik. Diese teilt See ein nach Gottes Wille in bezug auf jeweils allgemeinmenschliche Grundfragen wie Leben, Eigentum und Arbeit - und soziale Gegebenheiten. Im Zusammenhang der ersteren Fragestellungen muß nach See ein Christ beispielsweise sowohl Selbstmord als auch Abtreibung abweisen. Religionsphilosophie kann nach See nicht Wegbereiterin für die Theologie sein, denn es gibt keine philosophische und generell keine natürliche Erkenntnis Gottes im Sinne des christlichen Glaubens. So setzt sich See kritisch mit vorgeschlagenen Möglichkeiten einer Gotteserkenntnis auf der Grundlage von Wert- oder Pflichtbewußtsein, Gottesbeweisen und religiöser Erfahrung auseinander. Es gebe nur einen Weg zum Wissen von Gott, den seiner eigenen freien Offenbarung. Allein in Christus sei Gott erkennbar, weshalb nichtchristliche Religionen als Ausdruck menschlicher Selbsterlösung und nicht wahrer Gotteserkenntnis zu beurteilen seien. In diesem Punkt schließt sich See der von Kierkegaard in den Philosophischen Brosamen vertretenen Position an. Das Verhältnis zu Gott sei nicht visio Dei, sondern Gehorsam, Existenz und „Subjektivität". Die Grundfrage von Sees Religionsphilosophie lautet, ob in einem solchen Gottesverhältnis das rationale Denken und damit die Philosophie überhaupt einen Platz hat. Er bejaht das mit dem Hinweis auf den Wortcharakter der Offenbarung. Der Glaube sei durch die Botschaft von Christus, also durch Rede, konstituiert und enthalte schon als solcher ein Verstehen. See macht sich hier die Formel fides quaerens intellectum in ihrer Barthschen Auslegung zu eigen. Die göttliche Offenbarung sei durch Menschenwort auf der Grundlage von Analogie vermittelbar, und zwar im Sinne der analogia fidei. Diese deutet See so, daß es auf Gottes freier Entscheidung beruhe, daß menschliche Wörter göttlichen Gegebenheiten ähnlich und somit zur Vermittlung der Offenbarung geeignet seien. Dank dieses Sachverhalts sei die Offenbarung einem rationalen Nachdenken zugänglich und somit eine theologische Religionsphilosophie möglich. Dieses Nachdenken hat einen systematischen Charakter, weil teils die Offenbarung gewisse Tatsachen enthalte (Inkarnation, Versöhnung, Auferstehung und Wiederkunft Christi), teils Gottes Handeln einen Zusammenhang ausmache. Die Behauptung „objektiver" transzendenter Tatsachen führt See zu dem klassischen Problem Glauben - Wissen, das sich bei ihm auf die Frage nach der Vereinbarkeit der Glaubenstatsachen mit gegenwärtiger Naturwissenschaft zuspitzt. Nach See hat die moderne Naturwissenschaft die Behauptung der Glaubenstatsachen, etwa derjenigen der Wiederkunft Christi, weder schwieriger noch einfacher gemacht. Entscheidend sei, daß die Naturwissenschaft und der durch diese beeinflußte logische Empirismus sich ihrer eigenen Begrenztheit bewußt seien. Als wissenschaftlicher Theologe hat N . H . See vor allem durch seine Forschung und Lehre an der Universität Kopenhagen Einfluß ausgeübt. Was eine darüber hinausgehende und über seinen Tod hinausreichende Wirkung betrifft, muß wohl festgestellt werden, daß See bislang im Schatten seines gleichzeitigen Aarhuser Kollegen K.E. -»Legstrup gestanden hat. Quellen Kristelig Gudstro og videnskabelig Verdensforklaring, Kopenhagen 1925. - Kristelig Etik, Kopenhagen 1 9 4 2 s 1 9 6 2 ; dt.: Christi. Ethik. Ein L b . , München 1949 2 1 9 5 7 . - F r a R e n a i s s a n c e n til vore Dage. Filosofisk Taenkning med sserligt Henblik paa de moralske og religiöse Problemer,
430
Sohm
Kopenhagen 1945 3 1964. - Karl Marx og Marxismen, Kopenhagen 1951. - Religionsfilosofi, Kopenhagen 1955 *1963; dt.: Religionsphil. Ein Studienbuch, München 1967. - C.G. Jung, Kopenhagen 1965. Literatur Festskrift til N.H. See 29. november 1965, Kopenhagen 1965. - Erik Kyndal, Art. Niels Hansen Sae: Dansk biografisk leksikon, Kopenhagen 1978.
Svend Andersen
Sohm, Rudolph 1. Leben
(1841-1917)
2. Die kirchenrechtshistorischen Thesen
3. Wirkung
(Werke/Literatur S.433)
1. Leben Gotthard Julius Rudolph Sohm wurde am 29. Oktober 1841 in Rostock geboren. Sein Vater war Anwalt, später mecklenburgischer Landesarchivar, seine Mutter stammte aus der mecklenburgischen Pfarrersfamilie Walter. Nach Absolvierung des Gymnasiums studierte Sohm Jurisprudenz, zunächst 1860 in seiner Geburtsstadt, dann 1861/62 in -»Berlin und -»Heidelberg und schließlich 1863/64 wieder in -»Rostock. Besonders geprägt haben ihn seine Lehrer Georg Wilhelm Wetzell (1815-1890), Paul Roth (18201892) und Karl Adolf von Vangerow (1808-1870). Seine von der Juristenfakultät Rostock preisgekrönte Doktorarbeit Die Lehre vom subpignus (Rostock 1861) zeigt Sohms Neigung für das römische Recht ebenso wie seine starke Beeinflussung durch die Begriffsjurisprudenz, welche ihn grundsätzlich historische Belege den theoretischen Begriffen unterordnen ließ. 1866 habilitierte er sich in -»Göttingen mit der Arbeit Über die Entstehung der Lex Ribuaria (Weimar 1866), mit welcher er sich der in dieser Zeit intensiv erforschten fränkischen Rechtsgeschichte zuwandte. 1870 wurde Sohm als ordentlicher Professor für deutsches Recht und Kirchenrecht nach -»Freiburg im Breisgau berufen, 1872 nach -»Straßburg, wo er den Theologen H.J. —»Holtzmann kennenlernte, der ihn in der Folge in seinen religiösen Anschauungen beeinflußte. Im Zeichen des -»Kulturkampfes stand die Arbeit Das Recht der Eheschliessung aus dem deutschen und canonischen Recht geschichtlich entwickelt (Weimar 1875), in der Sohm gleich wie in einer Reihe nachfolgender Schriften die Ansicht bekämpfte, die obligatorische Zivilehe fordere notwendig die Beseitigung der kirchlichen Trauung und deren Umwandlung in eine bloße kirchliche Segnung. Damit widersprach er den Thesen Emil Friedbergs (18371910), eines der führenden Kirchenrechtler dieser Zeit (-»Kirchenrecht II), der für eine unbedingte staatliche Oberhoheit über die Kirchen eintrat. Das mit den Jahren stark gewachsene Ansehen Sohms als Rechtshistoriker wird sichtbar im Faktum, daß er gebeten wurde, 1880 mit einem Beitrag den ersten Band der germanistischen Abteilung der Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte zu eröffnen. 1883 erschien, als Ergebnis einer Vorlesungsvertretung im römischen Recht, die erste Auflage der Institutionen. Geschichte und System des römischen Rechts (Leipzig 1883), ein Werk, das auch nach Inkrafttreten des Bürgerlichen Gesetzbuches populär blieb (1923: 17. Auflage). Nachdem Sohm 1884/85 das Rektorat der Universität Straßburg innegehabt hatte, folgte er 1887 einem Ruf nach -»Leipzig. Neben verschiedenen gewichtigen rechtshistorischen Forschungen (erwähnenswert besonders das monumentale Werk Die altdeutsche Reichsund Gerichtsverfassung. 1. Die fränkische Reichs- und Gerichtsverfassung, Weimar 1871) befaßte sich Sohm seit der Kulturkampfzeit zunehmend mit kirchenrechtlichen Fragen (s.u. 2.). Auch die Entstehung der Privatrechtseinheit im Deutschen Reich fand sein Interesse: Von 1891 bis 1896 wirkte Sohm als Mitglied der Zweiten Kommission zur Ausarbeitung des Bürgerlichen Gesetzbuches, wo er sich neben Otto von Gierke (18411921) um die Aufnahme deutschrechtlicher Rechtsfiguren in das Gesetzbuch bemühte. Politisch engagierte er sich als Freund und Berater F. -»Naumanns seit 1896 beim Aufbau
Sohm
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des Nationalsozialen Vereins. Nach dessen Auflösung setzte sich Sohm für die -•Sozialdemokratie ein, u.a. indem er das Klassenwahlrecht in —»Sachsen bekämpfte. Die Biographie Sohms macht ein ganz der Sache ergebenes Gelehrtenleben um die Wende zum 20. Jh. sichtbar, welches in der Hingabe an die Wissenschaft und im festen christlichen Glauben persönliche Schicksalsschläge zu überwinden suchte. Sohms erste Frau Clara Seidel starb 1879, seine zweite Frau Charlotte Kehrhahn 1914; seine beiden Söhne aus zweiter Ehe fielen im Ersten Weltkrieg. Ein Gehörleiden seit den achtziger Jahren führte zur gesellschaftlichen Isolation. Am 16. Mai 1917 starb Sohm in Leipzig. 2. Die kirchenrechtshistorischen
Thesen
2.1. Obwohl Rudolph Sohm ein juristischer Universalgelehrter war, der mit Leichtigkeit ganz unterschiedliche Disziplinen erfaßte und zur Darstellung brachte, sind es primär die in seinen kirchenrechtshistorischen Schriften entwickelten Thesen, welche seine Bedeutung für die Nachwelt (s.u. 3.) begründen. Im Zentrum steht dabei das Werk Kirchenrecht. Erster Band. Die geschichtlichen Grundlagen, 1892 als Ergebnis zehnjähriger Arbeit in Leipzig erschienen. Das zentrale Kirchenrecht I ist ein Durchgang durch die Kirchengeschichte vom Urchristentum bis zur Gegenwart mit dem Ziel, anhand der Ergebnisse der zeitgenössischen kirchengeschichtlichen Forschung aufzuzeigen, daß die „Welt des Geistlichen nicht mit juristischen Begriffen erfaßt werden" kann (Kirchenrecht I, Vorr. X). „Noch mehr, ihr Wesen steht zu dem Wesen des Rechtes im Gegensatz. Das geistliche Wesen der Kirche schließt jegliche kirchliche Rechtsordnung aus. In Widerspruch mit dem Wesen der Kirche ist es zur Ausbildung von Kirchenrecht gekommen" (ebd.). Von besonderer Bedeutung für diese Interpretation der Kirchengeschichte ist dabei namentlich Sohms Verständnis des Urchristentums, jener kirchenhistorischen Epoche, in der es „mit Juristenaugen nichts zu sehen und mit Juristenhänden nichts zu ergreifen" gibt (ebd.). Nach Sohm, der stark geprägt war durch das aktuale Kirchenverständnis -»Luthers, existierte die erste Christengemeinde der Urzeit nicht als konkret faßbare Gruppe an bestimmten Orten mit klar geregelten Strukturen, sondern sie bildete sich stets dort, wo sich Menschen im Glauben an Christus versammelten. Nach dem Verständnis der Urzeit war Ekklesia somit eine geistliche Größe mit rein charismatischer Organisation. Die eucharistische Gemeinde war der zentrale Ort, wo die freien Pneumatiker ihre geistliche Begabung ans Licht treten ließen. Mit dem 1. Clemensbrief, 93/97 n.Chr. von -»Clemens von Rom verfaßt, fand nach Sohm die urchristliche Verfassung in der Kirche indessen ein Ende: Der 1. Clemensbrief verteidigte, unter Rekurs auf die Apostel, deren Autorität auf Gottes Willen beruhe, die prinzipielle Unabsetzbarkeit der Presbyter. Die Gemeinde zu Korinth habe deshalb gegen das Gebot Gottes verstoßen, als sie die erwählten Ältesten von der Leitung der Eucharistie und der Verwaltung des Kirchengutes ausschloß. Auf diese Weise wurde nach Sohm eine hierarchische Gemeinde mit autoritären Befugnissen ausgestattet. Dies weil der sinkende Glaubensmut, der Kleinglaube, „Stützen, Hilfsmittel, Krücken, äußere Bürgschaften für die Erhaltung rechter Ordnung in der Ekklesia" brauchte (ebd. 162). Um überhaupt ihre Weiterexistenz zu sichern, gab sich also nach Sohm die Christengemeinschaft, entgegen ihrer ursprünglichen Intention, rechtliche Strukturen. Dieser Übergang von der charismatischen Ordnung zur Rechtskirche in einer Zeit des Kleinglaubens erfolgte unter Berufung auf göttliche Anordnung. Das sei der Moment gewesen, in dem der Katholizismus entstanden sei, der sich bis heute für seine hierarchische Verfassung auf göttliches Recht berufe und die Identität der durch -»Bischof und Papst regierten Kirche mit der Ekklesia behaupte. Ein ähnlicher Prozeß habe sich nach der Reformation ereignet: Habe Luther noch das Corpus Iuris Canonici verbrannt, so sei mit der Entstehung des Konsistoriums die lutherische Kirche unter die Herrschaft des Kirchenrechts und unter die landesherrliche Gewalt gelangt (ebd. 609). Auch hier habe der Kleinglaube christlichen Epigonentums mit „eiserner Notwendigkeit" zur Entstehung von Kirchenrecht geführt, um das Über-
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Sohm
leben der Kirche zu ermöglichen. Aber das Kirchenrecht steht, so die These Sohms, mit dem Wesen der Kirche in Widerspruch, denn die Kirche ist von ihrem geistigen Wesen her Ekklesia. Und das Wort Ekklesia meint „keine bestimmte empirische Größe, keinen sozialen Begriff (auch nicht den Begriff der Ortsgemeinde), sondern lediglich ein dogmatisches Werturteil... Ekklesia heißt jede Versammlung, welche dogmatisch, für den Glauben, ihrem geistigen Werte nach, eine Versammlung der Christenheit, eine Versammlung des neutestamentlichen Bundesvolkes vor und mit Gott (Christo) darstellt" (ebd. 19f.). Glaubensmäßig ist nach Sohm Kirche also etwas anderes als eine rechtlich verfaßte Organisation - und doch bedarf es, wie die Kirchengeschichte zeigt, rechtlicher Strukturen, um die Existenz der Kirche zu gewährleisten. Das ist das tragische Paradox des Kirchenrechts: Es geht am Wesen der Kirche vorbei, und doch ist es nötig. 2.2. Sohms Negation der Legitimität des Kirchenrechts war ein logischer Schluß angesichts seiner Prämissen: Sein Begriff der Ekklesia, seine Sicht der frühen Kirchengeschichte und sein Verständnis des Rechts führten mit begriffsjuristischer Folgerichtigkeit zu diesem Resultat. Die bald einsetzende Kritik von verschiedener Seite motivierten ihn nicht bloß zur Erklärung und Verteidigung seiner Prämissen, sondern auch zur Weiterentwicklung seiner Thesen. In Wesen und Ursprung des Katholizismus (ASAW.PH 27, Nr. 10 [1909 2 1912] 133-390) definierte er sein Verständnis der Ekklesia nicht mehr als die sichtbare Kirche, sondern als die unsichtbare Kirche im Glaubenssinn. Da seine Deutung des Urchristentums als Stütze für seine These in der Zwischenzeit angesichts der Erkenntnisse der kirchenhistorischen Forschung ins Wanken gekommen war, berief sich Sohm nun ausschließlich auf Luther. In Weltliches und geistliches Recht (1914) legte Sohm dar, von welchem Rechtsbegriff er ausging. In Anknüpfung an die Lehren des Neukantianers Rudolf Stammler (1856—1938) verstand er Recht als die selbstherrliche, notfalls mit Zwang durchgesetzte Ordnung einer sittlich notwendigen, überindividuellen, äußeren Gemeinschaft. Der Rechtsbegriff Sohms ist also ein etatistischer, bei dem das Zwangselement eine wichtige Rolle spielt. In Das altkatholische Kirchenrecht und das Dekret Gratians (Leipzig 1918) kam Sohm zur überraschenden Entdeckung, daß der altkatholische Kirchenbegriff bis zum Dekret Gratians (-• Kirchenrechtsquellen I) der gleiche geblieben sei wie im Urchristentum. Die altkatholische Kirche habe keine körperschaftliche, sondern eine rein soteriologische Ordnung gekannt, so Sohm ganz entgegen der kirchenhistorischen Forschung seiner Zeit. Und so wie die Kirchenverfassung der altkatholischen Kirche nur in einer Sakramentsverfassung bestanden habe, habe das altkatholische Kirchenrecht die Rechtsform des Sakramentenrechts gehabt. Ekklesia und Recht seien damit ein ganzes Jahrtausend vereinbar geblieben. Ganz am Ende seines Lebens kam Sohm hier zu einer ganz neuen Sicht der Kirchengeschichte, ein Faktum, das von einem Großteil der Literatur, welche sich nachfolgend mit ihm beschäftigt hat, nicht zur Kenntnis genommen worden ist. 3.
Wirkung
Schon den ersten Rezensenten von Kirchenrecht I war klar, daß die in diesem Buch formulierten Thesen eine sehr große Herausforderung darstellten. Sohm widersprach gleich auf den ersten Seiten dezidiert von Harnacks Verständnis des Urchristentums, was um die Jahrhundertwende zu einer weitherum wahrgenommenen Kontroverse führte. Sohm und Harnack stritten nicht bloß um die geschichtliche Form des Urchristentums, sondern auch um das Verhältnis von Kirche und Staat und um das Wesen des Rechts. Das motivierte in der Folgezeit viele Exegeten (u.a. R.->Bultmann, Hans von Campenhausen [1903-1989], Ernst Käsemann [1906-1998]), sich mit Sohms These einer rechtsfreien Urgemeinde zu befassen. Sohms Verständnis des lutherischen Kirchenbegriffs, seine ganz eigenwillige Interpretation der Ausbildung des landesherrlichen —•Kirchenregiments rief die Lutherforschung und die systematische Theologie auf den Plan (u.a. Bühler; Stoodt).
Sohm
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In besonderer Weise herausgefordert sah sich die Kirchenrechtswissenschaft. Mit seinen T h e s e n h a t t e S o h m recht eigentlich die K o n s e q u e n z e n gezogen aus der S i t u a t i o n , in der sich das K i r c h e n r e c h t im ausgehenden 19. J h . befand: M i t der fortschreitenden Säkularisierung des liberalen Staates w a r in der evangelischen Kirche das U n b e h a g e n an der landesherrlichen Kirchenverfassung i m m e r g r ö ß e r g e w o r d e n . Unbefriedigend w a r auch der von S o h m aufgegriffene monistische, etatistische R e c h t s b e g r i f f der Z e i t , der dem besonderen C h a r a k t e r des R e c h t s in der K i r c h e nicht gerecht wurde. S o h m hielt dem zeitgenössischen evangelischen K i r c h e n r e c h t einen Spiegel vor und m a c h t e den Kirchenrechtlern b e w u ß t , d a ß sich ihr B e t r a c h t u n g s g e g e n s t a n d weit von seiner theologischen G r u n d l a g e entfernt hatte. W a s nun einsetzte, w a r die Suche nach einem Begriff und einer Ausprägung des K i r c h e n r e c h t s in Ü b e r e i n s t i m m u n g mit seinem theologischen F u n d a m e n t . Diese fand ihren H ö h e p u n k t in den sog. G r u n d l a g e n e n t w ü r f e n der fünfziger und sechziger J a h r e des 2 0 . J h . (in Auseinandersetzung mit S o h m besonders J o h a n n e s H e c k e l [ 1 8 8 9 - 1 9 6 3 ] ; - » K i r c h e n r e c h t II), w e l c h e zusätzlich auch durch vorangegangene E r f a h r u n g e n im K i r c h e n k a m p f motiviert w a r e n . D i e katholische Kirchenrechtswissenschaft reagierte a u f die T h e s e n S o h m s z u n ä c h s t mit fast geschlossener A b w e h r ; ihre in R e a k t i o n auf den Verlust des K i r c h e n s t a a t e s e n t w i c k e l t e Begründung des K i r c h e n r e c h t s aus d e m Verständnis der K i r c h e als societas perfecta schien radikal in F r a g e gestellt. U n t e r H i n w e i s a u f sein evangelisches K i r c h e n v e r s t ä n d n i s wie auch a u f die Defizite in seiner Auswertung der kirchenhistorischen F o r s c h u n g trachtete m a n , seine T h e s e n pauschal zu verwerfen. In d e m M a ß e , wie sich, schon im Vorfeld des II. Vatikanischen Konzils ( - » V a t i k a n u m II), das societas-perfecta-ModeM abnützte, w u r d e j e d o c h auch hier das W e r k S o h m s zunehmend als eine k o n s t r u k t i v e Infragestellung und als Ausgangsp u n k t für eine t h e o l o g i s c h e N e u b e g r ü n d u n g des K i r c h e n r e c h t s verstanden (u.a. B a r i o n ; Böckenförde; Sebott). In der R ü c k s c h a u a u f eine über hundertjährige W i r k u n g s g e s c h i c h t e zeigt sich, d a ß R u d o l p h S o h m s Infragestellung des K i r c h e n r e c h t s bei aller Z e i t g e b u n d e n h e i t seiner begrifflichen Prämissen h ö c h s t f r u c h t b a r gewesen ist. Sie z w a n g und zwingt die K i r c h e n rechtler, sich stets ü b e r das rechtsphilosophische F u n d a m e n t ihres G e g e n s t a n d e s k l a r zu werden. D a r i n liegt die Bedeutung dieses insbesondere für die K i r c h e n r e c h t s w i s s e n schaft des 2 0 . J h . so wichtigen G e l e h r t e n . Werke (Auswahl) Eine vollständige Bibliographie der Schriften Sohms findet sich bei Bühler (s.u.) 3 4 7 - 3 5 1 . Zu nennen sind - neben den im vorstehenden Text erwähnten - insbesondere: Der Prozeß der Lex Salica, Weimar 1867 (franz. Ubers. 1873). - Das Verhältnis v. Staat u. Kirche aus dem Begriff v. Staat u. Kirche entwickelt, Tübingen 1873. - Trauung u. Verlobung. Eine Entgegnung auf Friedberg: Verlobung u. Trauung, Weimar 1876. - Die obligatorische Civilehe u. ihre Aufhebung. Ein Gutachten, Weimar 1880. - Fränkisches u. röm. Recht. Prolegomena zur dt. Rechtsgesch.: ZSRG.G 1 (1880) 1 - 8 4 . - Die Gegensätze unserer Zeit, Heidelberg 1883. - KG im Grundriß, Leipzig 1887 "1917 (franz. Übers.). - Die dt. Genossenschaft: Leipziger FS f. Bernhard Windscheid, Leipzig 1888. - Die Entstehung des dt. Städtewesens: FG f. Georg Wilhelm Wetzell, Leipzig 1890. - Über den Entwurf eines bürgerlichen Gesetzbuches f. das Dt. Reich in zweiter Lesung: Gruchots Beitr. zur Erläuterung des Dt. Rechts 39 (1895) 7 3 7 - 7 6 6 . - Die sozialen Pflichten der Gebildeten, Leipzig 1896. - Der Arbeiterstand u. die Sozialdemokratie (zusammen mit Max Lorenz), Leipzig 1896. - Die sozialen Aufgaben des modernen Staates, Leipzig 1898. - Die Liberti der altgerm. Zeit: ZSRG.G 21 (1900) 2 0 - 27. - Der dt. Mann u. die Sittlichkeit, Berlin 1901 2 1902. - Neue Pflichten der Kirche, Dresden 1906. - Weltliches u. geistliches Recht: FG der Leipziger Juristenfak. f. Karl Binding, München/Leipzig 1914, 5 - 6 9 . - Kirchenrecht. Zweiter Bd. Kath. Kirchenrecht, hg. v. Erwin Jacobi/Otto Mayer, München/Leipzig 1923 (Syst. Hb. der dt. Rechtswiss. 8. Abt. 2). Literatur
(Auswahl)
Ausführliche Literaturverzeichnisse finden sich bei Bühler 3 5 3 - 3 5 9 ; Sebott 2 2 1 - 2 2 6 ; Stoodt 131-137. James Luther Adam, Rudolph Sohm's Theology of Law and the Spirit: Religion and Culture, hg. v. Walter Leibrecht, London 1958, 2 1 9 - 2 3 5 . - Jan Nicolaas Bakhuizen van den Brink, Jus
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Sokrates
ecclesiasticum. Hist. beschouwingen over kerk en recht, Den Haag 1968 (MNAW). - Hans Barion, Rudolph Sohm u. die Grundlegung des Kirchenrechts: ders., Kirche u. Kirchenrecht. GAufs., hg. v. Werner Böckenförde, Paderborn 1984, 7 9 - 1 0 4 . - Ders., Der Rechtsbegriff Rudolf Sohms: ebd. 1 1 5 - 1 1 9 . - Werner Böckenförde, Das Rechtsverständnis der neueren Kanonistik u. die Kritik Rudolph Sohms, Münster i.W. 1969. - Andreas Bühler, Kirche u. Staat bei Rudolph Sohm (Diss. theol. Bern), Winterthur 1965. - Axel v. Campenhausen, Literaturber. zum Kirchenrecht (erster T.): T h R NF 38 (1973) 1 1 9 - 1 6 2 (Lit. zu R. Sohm 1 2 3 - 1 4 6 ) . - Hans v. Campenhausen, Kirchl. Amt u. geistliche Vollmacht in den ersten drei Jahrhunderten, 1953 2 1963 (BHTh 14). - Gerhard Ebeling, KG u. Kirchenrecht. Eine Auseinandersetzung mit Rudolph Sohm: ZEvKR 35 (1990) 4 0 6 420. - Vinzenz Fuchs, Der Ordinationstitel v. seiner Entstehung bis auf Innozenz III. Eine Unters, zur kirchl. Rechtsgesch. mit besonderer Berücksichtigung der Anschauungen Rudolph Sohms, 1930 (KStT 4). - Joseph de Ghellinck, L'œuvre de Gratien d'après Rodolphe Sohm: ders., Le mouvement théol. du X l l e siècle (1914 [EHD]), 2 1948 = 1969 (ML.H 10) 5 2 3 - 5 3 2 . - Siegfried Grundmann, Art. Sohm, Rudolph: R G G 3 6 (1962) 116f. - Ders., Das ev. Kirchenrecht v. Rudolph Sohm bis zur Gegenwart: ÖAKR 16 (1965) 2 7 6 - 3 0 9 . - Adolf v. Harnack, Lb. der DG, 3 Bde., 1 8 8 6 - 1 8 9 0 (SThL) Tübingen 3 1894. - Ders., Mission u. Ausbreitung des Christentums in den ersten drei Jahrhunderten, 2 Bde., Leipzig 1902 4 1925. - Ders., Entstehung u. Entwicklung der Kirchenverfassung u. des Kirchenrechts in den zwei ersten Jahrhunderten; nebst einer Kritik der Abh. R. Sohm's: „Wesen u. Ursprung des Katholizismus", Leipzig 1910 (Nachdr. Darmstadt 1980). - Joseph Hoffmann, Un canoniste dans la mêlée politique. Rudolph Sohm et l'Association pour le Socialisme national: R D C 16 (1966) 1 3 3 - 1 5 8 . - Uwe Kai Jacobs, Art. Sohm, Rudolph: HDRG 4 (1990) 1 6 8 7 1691. - Klaus Kienzier, Art. Sohm, Rudolph: BBKL 10 (1995) 743f. - Günther Krauss, Der Rechtsbegriff des Rechts. Eine Unters, des positivistischen Rechtsbegriffs im besonderen Hinblick auf das rechtswiss. Denken Rudolph Sohms, Hamburg 1936. - Gerhard Kuhlmann, Rudolph Sohm u. unsere gegenwärtige kirchenrechtliche Situation: AEvKR 5 (1941) 1 5 5 - 1 7 2 . - Peter Landau, Sakramentalität u. Jurisdiktion: Das Recht der Kirche, hg. v. Gerhard Rau/Hans-Richhard Reuter/ Klaus Schiaich, Gütersloh, II 1995, 5 8 - 9 5 . - Gary Lease, Der Nachlaß Rudolph Sohms: ZSRG.K 92 (1975) 3 4 8 - 3 7 6 . - Paul August Leder, Das Problem der Entstehung des Katholizismus. Krit. Äußerungen zu Harnack u. Sohm: ZSRG.K 1 (1911) 2 7 6 - 3 0 8 . - Dionisio Llamazares Fernandez, Sacramento, Iglesia, Derecho en el pensamiento de R. Sohm, Oviedo 1969. - Walter Lowrie, The Church and its Organisation in Primitive and Catholic Times. An Interpretation of Rudolph Sohm's Kirchenrecht, London 1904. - Wolf-Dieter Marsch, Ist das Recht eine notwendige Funktion der Kirche? Zur Auseinandersetzung mit Rud. Sohm: ZEvKR 5 (1956) 1 1 7 - 1 5 8 . - Wilhelm Maurer, Die Auseinandersetzung zw. Harnack u. Sohm u. die Begründung eines ev. Kirchenrechts: KuD 6 (1960) 1 9 4 - 2 1 3 . - Ders., R. Sohms Ringen um den Zusammenhang zw. Geist u. Recht in der Gesch. des kirchl. Rechts: ZEvKR 8 (1961/62) 2 6 - 6 0 . - Joachim Mehlhausen, Kirche zw. Staat u. Gesellschaft. Zur Gesch. des ev. Kirchenverfassungsrechts in Deutschland (19. Jh.): Das Recht der Kirche II (s.o. bei Landau) 270. - Klaus Mörsdorf, Altkanonisches „Sakramentsrecht"? Eine Auseinandersetzung mit den Anschauungen Rudolph Sohms über die inneren Grundlagen des Decretum Gratiani: StGra 1 (1953) 4 8 3 - 5 0 2 . - Ders., Art. Sohm, Rudolph: LThK 2 9 (1964) 849. - Antonio M . Ruoco-Varela, Die kath. Reaktion auf das „Kirchenrecht I " Rudolph Sohms: lus Sacrum. Klaus Mörsdorf zum 60. Geburtstag, hg. v. Audomar Scheuermann/Georg May, München 1969, 1 5 - 5 2 . - Johann Baptist Sägmüller, Rez. Kirchenrecht v. Rudolph Sohm. Erster Bd. Die gesch. Grundlagen: AKathKR 68 (1892) 4 4 5 - 4 6 1 . - Alfred Schebler, Die Reordinationen in der „altkath." Kirche unter besonderer Berücksichtigung der Anschauungen Rudolph Sohms, 1936 (KStT 10). - Hermann-Joseph Schmitz, Frühkatholizismus bei Adolf v. Harnack, Rudolph Sohm u. Ernst Käsemann, Düsseldorf 1977. - Reinhold Sebott, Fundamentalkanonistik. Grund u. Grenzen des Kirchenrechts, Frankfurt a.M. 1993. - Dieter Stoodt, Wert u. Recht. Rudolph Sohm u. das theol. Problem des Kirchenrechts (Diss. theol. Göttingen), München 1962. René Pahud de M o r t a n g e s Sohn Gottes - > Jesus Christus
Sokrates (470-399
v.
Chr.)
1. Zur Quellenlage und zum Problem des historischen Sokrates 4. Zur Nachwirkung (Quellen/Literatur S.444)
2. Leben
3. Philosophie
Sokrates von Athen ( 4 7 0 - 3 9 9 v . C h r . ) hat, wie schon die antike Philosophiegeschichtsschreibung hervorhebt (Diogenes Laertius 1,16), nichts geschrieben und hat d o c h
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Sokrates
in der Philosophiegeschichte Europas einen sehr nachhaltigen Einfluß als vorbildliche Gestalt eines philosophischen Lehrers ausgeübt. Seine lebendige Persönlichkeit und sein philosophisches Fragen und Forschen sind vor allem von Schülern des Sokrates und vom Schüler eines Schülers überliefert worden. Da diese ebenso wie weitere Quellen kein absolut übereinstimmendes Bild von der philosophischen Lehre des Sokrates zu vermitteln scheinen, stellt sich zunächst das Problem, wer der historische Sokrates gewesen ist und ob das Bild, welches Dritte von seinem Leben und seiner Lehre wiedergeben, der historischen Wirklichkeit entspricht, ja ob der historische Sokrates aus den zur Verfügung stehenden Quellen überhaupt adäquat rekonstruierbar ist (die „Somatische Frage"). 1. Zur Quellenlage
und zum Problem des historischen
Sokrates
Bereits die Antike kennt eine reiche Literatur über Sokrates, welche meistens von seinen Schülern ausgeht, seltener auch von Gegnern des Sokrates stammt. Die Schüler haben in dialogisch geformten Werken über den Meister und seine Philosophie berichtet und seine Lehre teils überliefert, teils weiterentwickelt. Von den Werken der unmittelbaren Sokrates-Schüler sind nur diejenigen Xenophons und -> Piatos in vollem Umfange erhalten, die Schriften der übrigen Sokratiker sind nur in Fragmenten überliefert oder in Berichten erwähnt. An die Literatur aus dem näheren oder weiteren Umkreis der Lebenszeit des Sokrates schließt sich die zeitlich spätere Sokratesliteratur an: Eine Sonderstellung nehmen die philosophiegeschichtlichen Berichte des -»Aristoteles ein, denen Äußerungen anderer Peripatetiker sowie (aus der kaiserzeitlichen Epoche der antiken Philosophiegeschichte) die gefälschten Sokratiker-Briefe und z. B. die Schriften der Platoniker Plutarch von Chaironeia (ca. 50—ca. 125) und Apuleius von Madaura (ca. 125— 161/180) über das „Daimonion" des Sokrates folgen. Der Quellenwert der gesamten antiken Sokratesliteratur ist (seit dem Beginn der historisch-kritischen und philologisch fundierten Philosophiegeschichtsschreibung im 18. und 19. Jh.) zweifelhaft oder, selbst was die Werke aus dem zeitlichen Umkreis der Lebenszeit des Sokrates betrifft, zumindest teilweise umstritten. Während die Antike und die philosophische Tradition Europas bis weit ins 18. und selbst ins 19. Jh. hinein nichts dabei fand, die vorhandenen Materialien über Sokrates ohne kritische Quellendiskussion für das Bild seines Lebens und seiner Lehre eklektisch zu benutzen, ist im Rahmen der historisch-kritischen Forschung seit dem 18. Jh. eine umfangreiche, teilweise mit subtilen Argumenten und komplizierten Gedankengängen operierende Diskussion darüber entstanden, wer der historische Sokrates gewesen sei und inwiefern sein Leben und Werk überhaupt aus den vorhandenen Quellen rekonstruierbar sei. D a s zeitlich früheste Zeugnis über die Gestalt des Sokrates ist ein karikierendes Bild, welches der Komödiendichter Aristophanes (ca. 4 4 5 - c a . 385) 423 v.Chr. in seiner Komödie Die Wolken von Sokrates zeichnet, indem er ihn als bramarbasierenden Sophisten darstellt, welcher von seiner Denkerklause herunter seine Schüler und Jünger durch naturphilosophische Spekulationen von ihrem angestammten Glauben abbringt und sie dazu verführt, mittels rhetorischer Künste gegen Recht und Gesetz zu handeln. Diese bewußt pejorative Kennzeichnung, welche Sokrates sogar des - • A t h e i s m u s bezichtigt, weicht von den Darstellungen der Sokratiker wesenhaft ab, stimmt aber in gewisser Weise mit der von Plato und X e n o p h o n berichteten offiziellen Anklage anläßlich des Prozesses gegen Sokrates überein, welche Sokrates vorwarf, neue Götter eingeführt, die alten Staatsgötter nicht anerkannt und die Jugend verdorben zu haben. Eines der wesentlichen Anliegen der meisten Sokrates-Schüler und Sokrates-Anhänger, welche (vermutlich erst nach dem Tod des Sokrates 399 v.Chr.) mit Schriften über Sokrates (Xöyoi ZutKpaxiKoi) hervorgetreten sind, ist es, diesen Verleumdungen und den Behauptungen der SokratesAnkläger entgegenzutreten und zu zeigen, daß Sokrates im Gegensatz dazu ein frommer und gesetzestreuer Bürger, ein Gegner der Sophistik und Naturphilosophie gewesen sei und stets in aller Öffentlichkeit und unentgeltlich für das Gute gewirkt habe. Die beiden bedeutendsten Sokrates-Schüler, deren Werke über Sokrates alle erhalten sind, nämlich X e n o p h o n und Plato, sind gleichzeitig auch die Autoren der wichtigsten Quellen über Persönlichkeit und Lehre des Sokrates. Der Historiker X e n o p h o n (ca. 425 - 350 v.Chr.), ein Offizier und
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Sokrates
Landedelmann, hat Erinnerungen an Sokrates {'Anofivrj/ioveù/iaza LwKpâxovç, die sog. Memorabilien) sowie eine Verteidigungsschrift für Sokrates gegen seine Richter {'AnoXoyia Lb)Kpâxovç itpàç TOÔÇ SiKaaxàç) verfaßt (nebst einer Reihe weiterer historischer, ökonomischer und pädagogischer Schriften). Er zeigt Sokrates vor allem als Verkünder praktischer Lebensweisheit, als Vertreter einer Ethik der Mäßigung und Selbstgenügsamkeit sowie als weisen Ratgeber in ökonomischen, landwirtschaftlichen und militärischen Fragen. Der Philosoph Plato, der berühmteste Schüler des Sokrates, hat seinem Lehrer ein imponierendes Denkmal gesetzt, indem er ihn in den meisten seiner über 30 erhaltenen Dialoge als Hauptgesprächsführer einsetzt. Für ihn ist Sokrates ein überragender philosophischer Lehrer, welcher seine Gesprächspartner, aber auch die Leser von Piatos Schriften auf eine einzigartige Weise in die tiefsten Probleme und Fragestellungen des Philosophierens vom Zweifel und vom Bewußtsein des Nichtwissens bis hin zu den Geheimnissen der Unsterblichkeit der Seele und der Ideenmetaphysik einführt. Die besondere Problematik der Dialoge Piatos als Quellen für Persönlichkeit und Lehre des Sokrates ergibt sich daraus, daß man sich fragen muß, wie weit Plato in seinen Dialogen (und in seiner Apologie des Sokrates) die Lehre des historischen Sokrates wiedergibt oder inwiefern er Sokrates bloß zum Sprachrohr seiner eigenen philosophischen Uberzeugungen macht. Die Schriften der übrigen Sokratiker sind nur in Fragmenten überliefert oder in Berichten Dritter erwähnt. Ihnen kommt deshalb als Quellen für die Persönlichkeit und Lehre des Sokrates bereits geringere Bedeutung zu, besonders da die meisten von ihnen die in der Philosophie des Sokrates vorliegenden Ansätze weiterentwickelt oder in vereinseitigter Form weiter gepflegt haben, so Aischines von Sphettos, der vor allem die Erzieherpersönlichkeit des Sokrates betonte, Eukleides von Megara (ca. 4 5 0 - c a . 380) und seine megarische oder eristische Schule sowie Phaidon von Elis (frühes 4. Jh.) und seine elische Schule, welche vor allem logisch-dialektische Untersuchungen entwickelten, sowie die in verschiedenem Sinne ethische Fragen behandelnden Richtungen der Sokratiker, nämlich die kynische Schule des Antisthenes (ca. 4 4 0 - 360), welcher auch Diogenes von Sinope (ca. 4 1 2 - 3 2 3 ) angehörte und welche eine Ethik der Selbstgenügsamkeit lehrte, und die hedonische oder kyrenaische Schule des Aristippos von Kyrene (ca. 4 3 5 - c a . 366), welche das Lustprinzip hochhielt. Von größter Bedeutung vor allem für die Rekonstruktion der Lehre des historischen Sokrates ist die philosophiegeschichtliche Berichterstattung des Aristoteles, und dies, obwohl Aristoteles bereits einige Zeit nach dem Tode des Sokrates geboren ist. Aristoteles ist nach Plato der erste bedeutende Philosoph Griechenlands, welcher sich auch für die Geschichte des philosophischen Denkens interessiert und für seine Darstellung der Philosophie der Vorsokratiker und der Alten Akademie bekannt (in der modernen Forschung allerdings auch umstritten) ist. Ihm verdanken wir wichtige Hinweise auf den Unterschied zwischen der Philosophie Piatos und derjenigen des Sokrates. Nur mehr am Rande erwähnen können wir hier die vom Sophisten Polykrates (ca. 4 4 0 - 3 7 0 ) in den späten neunziger Jahren des 4. Jh. v. Chr. (392) verfaßte fiktive Anklagerede gegen Sokrates, welche, soweit sie rekonstruierbar ist, Sokrates Mißachtung der Gesetze und Umsturz der demokratischen Verfassung sowie einen verderblichen Einfluß auf die Jugend vorgeworfen hat, und eine fiktive Verteidigungsrede für Sokrates, welche der Rhetor Lysias (ca. 4 4 5 - 3 8 0 v.Chr.) schrieb, um die Vorwürfe des Polykrates zu widerlegen. Ebenfalls eher marginale Bedeutung kommt der nur in fragmentarischen Resten erhaltenen Sokrates-Biographie des Aristoxenos (geb. 370) (welcher sich auf das Zeugnis seines Vaters Spintharos beruft) und den Sokrates-Apologien der Peripatetiker Theodektes (377-336) und Demetrios von Phaleron (ca. 3 5 0 - c a . 287) zu. Auch die Kaiserzeit hat sich von den Sokratikerbriefen über die Sokrates-Schriften Plutarchs und des Apuleius bis hin zu den Sokratesdeklamationen des spätantiken Rhetors Libanios ( 3 1 4 - c a . 393 n.Chr.), welcher sich in seiner Apologie des Sokrates auf Polykrates bezogen hat, ausführlich mit Leben und Lehre, Prozeß und Tod des Sokrates befaßt, ohne daß dies noch irgendeinen Quellenwert haben könnte. In der quellenkritischen Diskussion um die Rekonstruierbarkeit von Leben und L e h r e des historischen Sokrates, welche in der philologisch-historischen und philosophiegeschichtlichen Forschung seit der M i t t e des 18. Jh. (genauer mit J . Bruckers Historia critica philosophiae) eingesetzt hat, sind bis in die G e g e n w a r t hinein die verschiedensten Positionen eingenommen w o r d e n (vgl. Patzer, Einleitung). Im folgenden sei noch kurz d a r a u f verwiesen, welche Überlegungen zur Quellenlage uns bei unserer Darstellung der Persönlichkeit und der Philosophie des Sokrates leiten werden: Sokrates, d a r a u f weisen alle Zeugnisse übereinstimmend hin, ist primär und v o r allem als Philosoph, als „Liebhaber der Weisheit" und als philosophischer Lehrer, m a ß -
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gebend und wegweisend gewesen, und d a r u m müssen wir uns für den Kern dessen, was der historische Sokrates gewesen ist, auf jene Quelle a m meisten verlassen, aus welcher das überzeugendste Bild des Philosophen Sokrates sich ergibt. Das kann nur bei Plato der Fall sein, welcher gerade im Vergleich zu X e n o p h o n viele verschiedene systematische Aspekte der Philosophie des Sokrates auf einem besonders hohen Reflexionsniveau freilegt. Aristoteles, der 2 0 J a h r e in der Akademie Piatos verbracht hat, ist eine auf vertiefter Kenntnis (unter Umständen auch auf mündlichen Hinweisen seines Lehrers Plato) beruhende Beurteilung insbesondere des philosophiegeschichtlichen Verhältnisses zwischen Plato und Sokrates durchaus zuzutrauen. Das Zeugnis des Komödiendichters Aristophanes ist allenfalls der Beleg für die Existenz und den Bekanntheitsgrad des Sokrates als historischer Persönlichkeit in Athen, sagt aber nichts Adäquates über die tieferen Anliegen und die eigentlichen T h e m e n des Sokratischen Philosophierens aus, sondern gibt ein karikierendes und böswillig verzeichnendes Bild wieder. Plato selbst, der in den meisten Dialogen Sokrates als Hauptgesprächsteilnehmer, ja als Gesprächsführer auftreten läßt (mit Ausnahme der Gesetze), wobei in gewissen Spätschriften ( T i m a i o s , Kritias und Sophistes) Sokrates mehr nur am Rande erscheint, hat gewisse Hinweise auf den historischen Sokrates und seinen Charakter als Persönlichkeit gegeben. Diese Hinweise in Verbindung mit den Berichten des Aristoteles lassen es als wahrscheinlich erscheinen, daß Plato in seinen Frühdialogen (vom Laches, Charmides, Euthyphron bis hin zum Protagoras und Menon) und in der Apologie in erhöhtem Maße noch den historischen Sokrates und seine philosophischen Anliegen wiedergibt (an den auch andere Sokratiker in ihren sokratischen Dialogen erinnert haben), während in den Dialogen der mittleren und der späten Schaffensperiode (die relative Chronologie von Piatos Schriften steht auf Grund sprachstatistischer Untersuchungen mit hoher Wahrscheinlichkeit fest) Sokrates nur noch das Sprachrohr der eigentlichen metaphysisch-ontologischen Uberzeugungen Piatos selber ist, welche nicht mehr dem historischen Sokrates zuzuschreiben sind. Die von Plato im Menon (79eff.) und im Theaitetos (148dff.) gegebenen Charakteristiken des Sokrates als verwirrender Zitterrochen (vapKtj) und als Ausübender einer geistigen Hebammenkunst (Maieutik) weisen auf den aporetischen und den pädagogischen Charakter des Sokratischen Philosophierens hin. (Die meisten der erwähnten Frühdialoge enden in der Tat ohne festes Ergebnis, in der Aporie, und Sokrates wird gerade in diesen Werken immer als ein Denker gezeigt, der andere zu geistiger Zeugung anregt und selber keine positive, inhaltlich fixierte philosophische Lehre im Sinne eines geistigen Erzeugnisses hervorbringt.) Dieser aporetische und pädagogische Charakter des Sokratischen Philosophierens nach Plato paßt gut zusammen mit dem Bewußtsein von den Grenzen des Wissens und vom Nichtwissen, welches Plato in der Apologie (20cff.) dem Sokrates als dessen spezifische, vom delphischen Orakel anerkannte Weisheit zuweist. (Im Charmides wird diese Thematik auf vertiefte Weise weiterdiskutiert.) Des weiteren sind die Berichte des Aristoteles, wonach Sokrates sich vor allem mit ethischen Fragen (und nicht mit Naturphilosophie oder mit ontologischer Prinzipienlehre) befaßt haben soll (metaph. A, 6, 987blff.), wonach er die logischen Verfahren der Induktion und der Definition eingeführt und die Frage nach dem Wesen (der Tugend allgemein und der einzelnen Tugenden) gestellt haben soll (ebd.), ohne die dabei entwickelten und abstrahierend herausgelösten Allgemeinbegriffe zu metaphysischen Wesen zu hypostasieren (metaph. M , 4, 1 0 7 8 b l 7 f f ) , was dann erst Plato mit seiner Ideenlehre getan habe (ebd. 1078b30ff.), in Ubereinstimmung mit den Gegebenheiten in den Frühdialogen Piatos. In ihnen hat Sokrates die Fragen nach Wesen, Einheit, Wissenscharakter und Lehrbarkeit der Tugenden und der Tugend (nicht dagegen naturphilosophische Fragen) diskutiert, ohne dabei zu festen, endgültigen Ergebnissen zu gelangen und ohne daß die Ideenlehre Piatos in dessen Frühdialogen schon in ihrer metaphysisch-ontologischen Fassung in Erscheinung treten würde, wie sie dann Plato erst in den Dialogen der mittleren Schaffensperiode zusammen mit der Lehre von der Unsterblichkeit der Seele und anderen, z. B. politischen Doktrinen offenbart (so im Phaidon, in der Politeia, im Symposion und im Phaidros). Diese wenigen Hinweise mögen genügen, um zu zeigen, d a ß wir in unserer Darstellung der geistigen Persönlichkeit und der Philosophie des Sokrates uns vor allem auf die Frühwerke Piatos, ergänzt durch die Berichte des Aristoteles, stützen, X e n o p h o n aber, dem möglicherweise bereits Piatos frühe Schriften vorlagen, um der stärker praktischen, an der Oberfläche verharrenden Ausrichtung seines Interesses an Sokrates willen erst in zweiter Linie hinzuziehen und die übrigen kleineren Sokratiker, welche, wenn überhaupt, nur fragmentarisch faßbar sind, k a u m berücksichtigen, ganz zu schweigen
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von Aristophanes und anderen Gegnern des Sokrates, deren entstellende Behauptungen und Verleumdungen bereits von den Sokratikern widerlegt worden sind.
2.
Leben
Aus dem Leben des Sokrates seien nur die wenigen am besten gesicherten Fakten genannt. Außer den bereits genannten Quellen (von denen Plato und Xenophon für das Leben des Sokrates am wichtigsten sind) ist noch das Kapitel über Sokrates (11,5) aus Diogenes Laertius (Leben und Meinungen berühmter Philosophen) hinzuzuziehen, um die Grundzüge des Lebens dieses Denkers zu rekonstruieren. Sokrates von Athen wurde um 4 7 0 v . C h r . als Sohn des Steinmetzen Sophroniskos und der H e b a m m e Phainarete geboren und w a r Bürger des attischen D e m o s Alopeke. Das bekannteste (und sehr sicher bezeugte) Ereignis seines Lebens ist seine Verurteilung zum Tod durch Austrinken des Schierlingsbechers im J a h r e 3 9 9 v . C h r . W i e Sokrates in der Apologie Piatos sagt (17d), w a r er bei seiner Verurteilung 7 0 J a h r e alt. Die Angaben in Diogenes Laertius 11,5,18 werden durch Plato bestätigt: Die Herkunft aus Alopeke wird im Gorgias (495d) erwähnt, der Vater Sophroniskos in Piatos Euthydemos (297e) genannt und die M u t t e r Phainarete in Piatos Theaitetos (149a) ausdrücklich als Heba m m e bezeichnet, w o r a u s Sokrates an dieser Stelle die bereits genannten, seine eigene Tätigkeit kennzeichnenden Schlüsse zieht. Sokrates, über dessen Bildung und berufliche Tätigkeit wenig Sicheres bekannt ist (nach Piatos Kriton 50d soll er die gesetzlich vorgeschriebene Jugendbildung erhalten haben, nach Diogenes Laertius 11,5,19 w a r er auch als Bildhauer tätig), hat nach der glaubhaften Bekundung Piatos in der von ihm verfaßten Verteidigungsrede des Sokrates (apol. 2 8 a - 3 1 c ) sein ganzes erwachsenes Leben mit der Suche nach der Wahrheit über die sittliche Vortrefflichkeit (äpezr)) des Menschen verbracht, indem er sich mit seinen Mitbürgern in philosophischen Gesprächen darüber unterhielt und dabei insbesondere die Jugend in seine Dialoge mit einbezog. An äußeren Daten und Fakten seines Lebens ist zu erwähnen seine Ehe mit Xanthippe, aus der drei Söhne entstammten (Plato, apol. 34d). Plato erwähnt Xanthippe nur beiläufig, als sie den zum Tode verurteilten Sokrates im Gefängnis besuchte und von ihm weggeschickt wurde (Phd. 60a); der zänkische Charakter dieser Philosophengattin, deren Auseinandersetzungen mit Sokrates Gegenstand verschiedener Anekdoten waren (Plutarch, mor. 461d; Diogenes Laertius II,5,36f.), wird vor allem an einer bestimmten Stelle bei Xenophon angesprochen (smp. 11,10). Wichtiger ist die Teilnahme des Sokrates als Soldat (Hoplit) an verschiedenen Feldzügen des Peloponnesischen Krieges, so an den Kämpfen bei Poteidaia (zwischen 432 und 429, vgl. Plato, smp. 219e; Charm. 153aff.), Delion (424, vgl. Plato, smp. 221a; Lach. 181a f.) und Amphipolis (422, vgl. Diogenes Laertius 11,5,22). Seine Tapferkeit und Standfestigkeit in diesen Situationen wird vom Feldherren Laches (vgl. Plato, Lach. 181b) und vom jungen Politiker Alkibiades (Plato, smp. 220dff.) aufs höchste gelobt. Sokrates selbst spricht darüber in Piatos Apologie (28d-e). Die rechtliche Gesinnung des Bürgers Sokrates bewährte sich (nach Plato, apol. 3 2 a - c ) , als er 406 als Vorsitzender Prytane (Ratsherr) in der Ratsversammlung, die über das Schicksal der schuldig gewordenen Feldherrn nach dem Seesieg bei den Arginusen zu befinden hatte, als einziger gegen das illegale, von der Ratsversammlung ausgesprochene Todesurteil protestierte (vgl. auch Xenophon, mem. 1,1,17; IV,4,1-3; hell. 1,7,15). Sokrates, der sich offenbar nicht scheute, gegen die herrschende Meinung in der Demokratie Stellung zu nehmen, setzte sich andererseits auch wieder in Gegensatz gegen das von Sparta eingesetzte Regime der 30 Tyrannen (eine Oligarchie also), als er sich gegen den Befehl der 30 weigerte, an der Verhaftung des Leon von Salamis mitzuwirken (Plato, apol. 3 2 c - e ; vgl. Xenophon, hell. 11,3,39; Diogenes Laertius 11,5,24 und Sokratikerbriefe 7,1/2). In ganz besonderem Maße zeigte sich nach Plato die Loyalität des Sokrates gegenüber den Gesetzen seiner Vaterstadt Athen, als er es, im Gefängnis festgesetzt, ablehnte, das Angebot seiner Freunde, die ihm zur Flucht verhelfen wollten, anzunehmen (Plato, Krit. 44bff.). Die Ankläger beim Prozeß des Sokrates waren Anytos, Meietos und Lykon; der Wortlaut der Anklage wird der Sache nach übereinstimmend von Plato und Xenophon wiedergegeben: Sokrates wurde angeklagt, die Götter des Staatskults nicht anerkannt, neue Gottheiten eingeführt und die Jugend verführt zu haben (Plato, apol. 24d; Xenophon, mem. 1,1,1; vgl. Diogenes Laertius 11,5,40). Die näheren Umstände des Gefängnisaufenthalts, des Prozesses und der Verurteilung sowie des Todes des Sokrates werden von Plato (insbesondere in den Schriften Apologie, Kriton, Euthyphron und Phaidon)
Sokrates
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a u s f ü h r l i c h geschildert. A u s späterer Sicht w u r d e Sokrates der erste Philosoph, der d u r c h Todesurteil endete (Diogenes L a e r t i u s 11,5,20). Sein T o d w u r d e schon v o m antiken C h r i s t e n t u m mit d e m j e n i g e n Jesu von N a z a r e t h (—»Jesus Christus) verglichen (vgl. Benz). Auch die Q u e l l e n f r a g e bezüglich Leben und Lehre stellt sich bei beiden Persönlichkeiten in ähnlicher Weise.
3.
Philosophie
Zwei Grundzüge sind es, welche nach unserer Auffassung von der Quellenlage und nach unserer Interpretation der Quellen das Philosophieren des Sokrates kennzeichnen, einmal seine wesentliche inhaltliche Konzentration auf ethische (und in weiterem Sinne politische) Fragen und zum zweiten seine grundlegende Intention der Besinnung über die Methodik, die Bedingungen und die Grenzen des menschlichen Wissens auf diesem für den Menschen zentralen Gebiet philosophischer Forschung. Cicero (106-43 v.Chr.) hat Sokrates philosophiegeschichtlich zweifellos richtig eingeordnet, wenn er (in ac. post. 1,4,15, aber auch in tusc. V,4,10) schreibt, daß Sokrates die Philosophie vom Himmel auf die Erde herabgerufen, in die Städte und Häuser eingeführt und genötigt habe, über das Leben des Menschen, die Sitten und die Güter und Übel zu forschen. Andere antike Nachrichten bezeugen diese inhaltliche Ausrichtung der Philosophie des Sokrates auf ethische Fragen ebenfalls (vgl. Diogenes Laertius 11,5,21), aber noch wichtiger ist, daß die beiden Hauptquellen Plato und Xenophon in der Tat den Sokrates vorwiegend mit ethischen Fragen beschäftigt zeigen (beide weisen übrigens deutlich auf diese Konzentration des Sokrates auf die Ethik hin; vgl. Plato, apol. 18bff.; 20dff.; Xenophon, mem. 1,1,16). Mit Sokrates deutet sich ähnlich wie mit den Sophisten eine Abwendung von der primär kosmologischen Spekulation, wie sie für das Denken der meisten Vorsokratiker (—>Vorsokratik) kennzeichnend war, und eine Zuwendung zu anthropologischen, genauer zu ethischen und erkenntnistheoretischen Fragen an. Sokrates hat sich nicht damit begnügt, inhaltlich die Frage nach dem Wesen der menschlichen Vortrefflichkeit in sittlicher Hinsicht (aperr/), wie sie den guten Polis-Bürger auszeichnen sollte, zu stellen; ihm war vielmehr ebensosehr daran gelegen, über die Methoden zu reflektieren, mittels derer man zur Erkenntnis der Tugend oder des Wahren, Guten und Schönen im allgemeinen gelangen konnte, und sich durch Reflexion darüber bewußt zu werden, ob ein solches Wissen des Guten überhaupt möglich sei. Auch dies ist vielfach durch die beiden Hauptquellen Plato und Xenophon belegt und erhärtet, und auch Aristoteles in seiner Darstellung und Kennzeichnung der Philosophie des Sokrates betont deren ethische Thematik und deren Reflexion über erkenntnistheoretische und logische Fragen ausdrücklich (metaph. A, 6, 987b 1 ff.). 3.1. Erkenntnistheoretische Fragen. Den zentralen Grundsatz, den Sokrates bei all seinem Philosophieren über ethische Fragen befolgte, läßt Plato ihn im Kriton (46b) wörtlich formulieren: „Immer habe ich ja das an mir, daß ich nichts anderem von mir gehorche als dem Satz, der sich mir bei der Untersuchung als der beste zeigt." Indem Sokrates sich in seinen philosophischen Forschungen der äperr/, der für den Bürger der antiken Polis zentralen sittlichen Vortrefflichkeit, zuwendet und sie in ihrem Wesen zu ergründen und in allgemeine Begriffe zu fassen versucht, übernimmt er nicht einfach überlieferte Glaubensvorstellungen über die aperf), sondern unterzieht alle Behauptungen, die in Zusammenhang mit sittlicher Vortrefflichkeit aufgestellt werden, einer genauen Untersuchung auf ihre argumentative Fundiertheit, überprüft sie auf ihre logische Konsistenz und akzeptiert nur jene Sätze, welche sich ihm nach bestem Wissen und Gewissen als vertretbar, als begründet, als durch stichhaltige Argumente gestützt erweisen. Dieser sittliche Wille, nur das logisch Begründbare zu akzeptieren, steht am Anfang der Philosophie des Sokrates und nicht ein bestimmtes Dogma oder ein System von Dogmen über das Gute und die Tugend. Sokrates hat dieses Verfahren der Überprüfung und Verifikation von Meinungen und Behauptungen nicht nur auf seine eigenen Überzeugungen, sondern auch auf diejenigen seiner Mitbürger angewendet, welche er im philosophischen Gespräch auf die Wahrheit hinzulenken versuchte.
440
Sokrates
Sokrates ging es um die Erkenntnis des allgemeinen Wesens der Gesamttugend (der apzxr\) und der einzelnen Tugenden (der ápezaí). Folgerichtig hat er in allen Diskussionen um Einheit, Wissenscharakter und Lehrbarkeit der Tugend, welche er mit seinen Athener Mitbürgern führte, immer wieder die Frage nach dem Wesen der Tugend (ríéariv fj áperij) als grundlegend für alle weiteren Aussagen und Bestimmungen über die Tugend dargestellt: Exemplarisch fordert er beispielsweise in Piatos Menon (71b ff.), daß man zuerst wissen müsse, was die Tugend sei, bevor man wissenschaftlich philosophisch bestimmen könne, ob sie lehrbar sei oder angeboren oder einübbar. Beide Hauptquellen, Plato und Xenophon, bezeugen immer wieder diese Forderung nach einer Definition des Wesens der Tugend überhaupt und der einzelnen Tugenden, welche Sokrates zur Grundlage aller weiteren ethischen Forschung machen wollte (so Xenophon z. B. in mem. 1,1,16 und IV,6,1; und Plato hat in seinen Frühdialogen eindeutig die Frage nach dem Wesen der Tugend im allgemeinen - so im Protagoras und im Menon — und nach dem Wesen einzelner Tugenden - der Tapferkeit, der Besonnenheit, der Freundschaft, der Gerechtigkeit und der Frömmigkeit - in den Mittelpunkt seiner Darstellung der Philosophie des Sokrates gestellt). Aristoteles schließlich hat klar die Einführung des definitorischen Verfahrens als eine der erkenntnistheoretisch logischen Haupterrungenschaften der Philosophie des Sokrates bezeichnet (metaph. A, 6, 987b 1 ff.; M, 4, 1078b 17ff.). Das andere bedeutende Denkverfahren, welches Aristoteles dem Sokrates nach der Definition des Wesens durch allgemeine Begriffe zuschreibt, ist der Induktionsschluß (die énaycoyrj), das Heranführen der erkennenden Seele vom Einzelnen zum Allgemeinen (metaph. M, 4, 1078b 27ff.). Auch für dieses Verfahren, mittels dessen sie Sokrates in ethischen Fragen und Zusammenhängen argumentieren lassen, bieten Plato und Xenophon wieder verschiedene Beispiele (vgl. z. B. Xenophon, mem. 111,3,9 und Plato, Gorg. 460b). So hat etwa nach Plato Sokrates aus verschiedenen Einzelfällen (z. B. demjenigen des Arztes, des Musikers, des Architekten), in denen immer derjenige, der das jeweilige Fach gelernt hat, der wahre Repräsentant des Faches ist, geschlossen, daß derjenige, der sich das Wissen um die Gerechtigkeit angeeignet hat, auch der wahrhaft Gerechte ist (vgl. Plato, Gorg. 460b). Definition und Induktion werden nun von Sokrates vor allem in den von Plato und Xenophon berichteten philosophischen Gesprächen zu einer universellen Überprüfung (é^éraoiQ) der eigenen Meinungen und der Uberzeugungen von Mitmenschen eingesetzt (vgl. bes. Plato, apol. 20eff.). Immer wieder wird so Sokrates selbst, aber vor allem der Gesprächspartner falscher Behauptungen, ungenügender Definitionen, widersprüchlich behaupteter Zusammenhänge überführt (der technische Ausdruck für dieses Verfahren ist derjenige des eAey/og; Sokrates geht als Elenktiker vor), und alle Sätze werden so lange auf ihre Fundiertheit untersucht, bis man entweder zu einem unanfechtbaren Resultat gelangt oder bis das Gespräch ohne Ergebnis in einer Ausweglosigkeit (ánopía) endet. Charakteristisch für den Philosophen Sokrates scheint es gewesen zu sein, daß er lieber das Gespräch in einer solchen Aporie enden ließ, als sich mit logisch ungenügenden und anfechtbaren Lösungen zufrieden zu geben. Der aporetische Ausgang der meisten Platonischen Frühdialoge, in denen noch der historische Sokrates (deutlicher als in späteren Werken Piatos) zur Geltung kommt, legt dafür ein beredtes Zeugnis ab. Damit stellt sich nun aber auch die Frage, inwiefern der Philosoph Sokrates ein spezifisches Wissen (eine spezielle Weisheit) für sich in Anspruch genommen habe oder ob es nicht für ihn und seine Philosophie besonders kennzeichnend gewesen sei, daß er immer sein Nichtwissen eingestanden habe. Gewisse Anzeichen weisen darauf hin, daß Sokrates mit seinen methodologischen Forderungen und mit seiner philosophischen Gesprächsführung nicht nur auf Erkenntnis hinzielte, sondern sich auch von einer bestimmten Idee des Wissens leiten ließ; andere Anzeichen scheinen aber im Gegenteil darauf hinzudeuten, daß Sokrates eine Art Skeptiker gewesen ist, als den ihn die mittlere und neuere Akademie hinstellte, indem sie ihm den berühmten Satz „Ich weiß nur, daß ich nichts weiß!" zuschrieb (so Arkesilaos in Ciceros Académica posteriora [1,45]).
Sokrates
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In der Tat weist Sokrates in Piatos Apologie (20dff.) sich selber eine bestimmte -•Weisheit (cro(f>ia.) zu und beruft sich dabei sogar auf das Orakel von Delphi, welches Sokrates als den weisesten Mann Griechenlands bezeichnet habe (oder mit einer etwas vorsichtigeren Formulierung, daß die Pythia verneint habe, es gebe einen Weiseren als Sokrates: apol. 23b, vgl. 21a). Daraus leitet Piatos Sokrates den Auftrag des delphischen Gottes an ihn ab, er solle das ihm bekannte menschliche Wissen umfassend auf seinen Wissenscharakter, und das heißt auf seine logische Fundierung hin, prüfen. Nacheinander untersucht Sokrates das Wissen, welches gemeinhin den Politikern, den Dichtern und den Handwerkern zugeschrieben wird (von ihnen selbst und von anderen), und nachdem er all dieses Wissen als zweifelhaft bzw. auf einen ganz speziellen Sektor beschränkt nachgewiesen hat (ebd. 2 1 b - 2 2 e ) , zieht er den Schluß, daß er selber zwar wie alle übrigen Menschen in bezug auf Weisheit wenig oder gar nichts wert sei, daß er aber im Unterschied zu allen anderen Menschen sich dessen auch bewußt sei und darum vom Orakel zu Recht als der Weiseste unter den Menschen bezeichnet werde (ebd. 2 3 a - b ) . Die besondere Weisheit des Sokrates würde demnach in der ständigen Bereitschaft zur kritischen Überprüfung der logisch-erkenntnistheoretischen Grundlagen alles menschlichen Wissens bestehen, wobei durch diese Art von erkenntniskritischer Haltung der Mensch sich zu seinem Nutzen immer wieder der Grenzen und der Defizienz des menschlichen Wissens bewußt wird. Es spricht vieles dafür, daß dies in der Tat die grundsätzliche Einstellung des historischen Sokrates gewesen ist. Plato hat diese Art von Interpretation der delphischen Forderung nach Selbsterkenntnis im Charmides selbst wieder problematisiert und damit auf seine eigene Doktrin des metaphysischen Wissens hingewiesen. Sokrates aber ist, wie auch Aristoteles berichtet, auf der bloß erkenntnistheoretischen Ebene des methodischen Suchens nach dem Wesen mittels Allgemeinbegriffen verblieben, ohne das den Allgemeinbegriffen entsprechende (ewige) Wesen als transzendente Wirklichkeit anzuerkennen (Aristoteles, metaph. A, 6, 987b 1 ff. und M, 4, 1078b 17ff., bes. 1078b 30ff.). Allerdings bleibt (nach Plato) auch der Begriff des selbstkritischen, rein menschlichen Wissens bei Sokrates auf das Ideal des vollkommenen göttlichen Wissens bezogen (apol. 2 3 a - b ; vgl. smp. 2 0 4 a - b ) . Fragen. In der —»Ethik (II.2.), die, wie verschiedene 3.2. Ethische und pädagogische antike Historiker der Philosophiegeschichte berichten und auch die Hauptquellen Plato und Xenophon bezeugen, das Hauptarbeitsgebiet der philosophischen Forschung des Sokrates gewesen ist, hat er eine ganze Reihe von grundlegenden ethischen Fragen und Problemen aufgeworfen, die dann von Plato weiter bearbeitet und auf metaphysischer Grundlage einer Beantwortung entgegengeführt worden sind. Die wichtigste Frage des Sokrates ist diejenige nach dem Wesen der äpETtj, der zentralen sittlichen Vortrefflichkeit des Menschen. Dabei ergibt sich im Zusammenhang mit der Frage nach dem Wesen der äpetij (oder der Frage: Was ist die äpszri?) sogleich auch die Frage, ob die apexr), die Tugend des Menschen, eine sei oder ob sie sich in ein System von Einzeltugenden (dperai) aufgliedern lasse. In der Tat sehen wir in den Frühdialogen Piatos Sokrates auf verschiedenste Weise mit Fragen nach dem Wesen der Gesamttugend oder der Tugend schlechthin (so in den Dialogen Protagoras und Menori) sowie mit Fragen nach dem Wesen einzelner Tugenden wie der Tapferkeit (im Laches), der Besonnenheit (im Charmides), der Freundschaft (im Lysis), der Gerechtigkeit (in resp. I, vermutlich später in dieses Werk der mittleren Schaffensperiode eingearbeitet, ein ehemaliger Frühdialog mit dem Titel Thrasytnachos; vgl. T R E 26,679,30f.) und der Frömmigkeit (im Euthyphron) beschäftigt. Eine weitere wesentliche Frage im Zusammenhang mit der Tugend ist für Sokrates die, ob die sittliche Vortrefflichkeit, die äpeTr/, im Wissen des Guten bestehe, also wesentlich eine Art Erkenntnis sei. Verschiedene Indizien vor allem in den Dialogen Menon und Protagoras, in denen die Gesamttugend diskutiert wird, aber auch in anderen Frühdialogen Piatos, in denen Einzeltugenden erörtert werden, weisen darauf hin, daß die
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äpezri ihre Einheit letztlich in ihrem Wissenscharakter hat und d a ß alle Einzeltugenden bloß besondere Ausformungen der einen Gesamttugend sind, welche im Wissen des Guten besteht (vgl. H a g e r , Vernunft 15ff.). Xenophon hat diese Konzeption, wonach die Tugend ein Wissen sei, geradezu Sokrates selber zugesprochen (vgl. mem. III,9,4f.), während die Diskussionen in Piatos Frühdialogen zwar eindeutig ebenfalls auf dieses Ergebnis hinauslaufen (vgl. bes. Plato, Prot. 3 5 2 b - d ; Men. 87cff.; Euth. 2 7 8 e 282e), aber doch diese Grundüberzeugung des ethischen Intellektualismus nicht als eine Art Dogma aussprechen, sondern immer wieder durch Konfrontation mit anders laufenden Argumentationen (z. B. gewisser Sophisten) in Frage stellen, so daß man rein von der Quelle Plato her eher geneigt ist, diesem selbst die Lehrmeinung von der Einheit der Tugend und ihrem Wissenscharakter zuzuschreiben, zumal da Plato ja dann in der Politeia mit dem System der vier Kardinaltugenden, welche alle auf die Weisheit und Erkenntnis zurückgeführt werden können, ein metaphysisch und psychologisch untermauertes Konzept der Gesamttugend vorgelegt hat, welches eindeutig nicht mehr Sokrates gehört (vgl. Plato, resp. IV,427d-445e; dazu Hager, Vernunft 128ff.). Ähnlich verhält es sich mit einer weiteren Grundüberzeugung der Platonischen Ethik, welche bereits durch das Fragen des Sokrates nach dem Wesen der zentralen sittlichen Vortrefflichkeit (äpexrj) des Menschen vorbereitet worden ist, nämlich der These, daß die im Wissen begründete äpsxfj für die Glückseligkeit des Menschen unerläßlich ist, ja deren eigentliche Grundlage bildet: Das ethisch-politische Hauptwerk Piatos, die Politeia, ist als ganzes letztlich dem Nachweis gewidmet, daß der Gerechte der Glückliche und der Ungerechte der Unglückliche sei. Diese These vertritt Sokrates im ersten Buch des Staates, einem ehemaligen Frühdialog, gegenüber dem Sophisten Thrasymachos, der das Gegenteil behauptet. Man sieht hier sehr schön, wie eine bereits durch Sokrates angebahnte problematisierende Diskussion (resp. I) dann durch Plato in einer umfassenden metaphysischen, psychologischen, ethischen und politischen Erörterung (resp. II—X) wieder aufgenommen und einer Lösung entgegengeführt wird. Aus dem ethischen Intellektualismus des Sokrates, welcher bei ihm durch Forschen und Fragen vorbereitet und bei Plato voll realisiert ist, ergibt sich noch eine weitere Grundüberzeugung der Sokratisch-Platonischen Philosophie, nämlich diejenige, daß niemand freiwillig Unrecht tut (ooöeiQ EKCÜV äfiapxä\Ei)-. Jeder Mensch ist von Natur aus auf das Gute als das für ihn Nützliche (und letztlich allein Vorteilhafte) ausgerichtet, und nur aus Irrtum über das Gute begeht er Unrecht (vgl. dafür Plato, z.B. Men. 77bff.; Xenophon, mem. III,9,4f.; dazu Aristoteles, magn. mor. 1,9; eth. Nie. III, 7, 1113b 14ff. ; eth. Eud. II, 7, 1223b 3ff.). Auch bereits von Sokrates ist nach den zur Verfügung stehenden Quellen die große pädagogische Frage angeschnitten worden, welche letztlich in einem inneren Zusammenhang mit dem ethischen Intellektualismus steht: Ist die aptzr) lehrbar (SiSaKXÖv), oder ist sie auf Grund natürlicher Veranlagung angeboren (uaei), oder ist sie schließlich einübbar (dtJKrjzöv) (vgl. Men. 70a)? Gegenüber der alten Adelsethik, wie sie sowohl den homerischen Epen als auch den Epinikien Pindars zugrunde liegt und auch in den Poliskulturen (so auch in der attischen) noch einen gewissen, wenn auch nicht unbestrittenen Einfluß hatte, betonen sowohl die Sophisten als auch Sokrates, daß die äpexij nicht auf einer ausgesuchten, aristokratischen Veranlagung beruhe, sondern daß der Mensch vielmehr durch Erziehung (itaiSeia) und Unterweisung (SiSa/ij) auf sie hingeführt werden könne (vgl. für die Sophisten Plato, Men. 90eff.; für Sokrates 87b—89b): Plato läßt seinen Sokrates darauf hinweisen, daß die dpexij unter der Voraussetzung, daß sie ein Wissen oder eine Erkenntnis (eniaxijpri oder pövt]Olt;) sei, in jedem Falle lehrbar sein müsse, und er läßt dann Sokrates einen apriorischen Beweis führen, daß die Tugend tatsächlich ein Wissen sei (Men. 8 7 b - 8 9 b ) . Dieser Beweis scheint dann wieder dadurch erschüttert zu werden, daß man in der erfahrbaren Alltagswirklichkeit keine Lehrer findet, da weder die sich selbst als Tugendlehrer propagierenden Sophisten noch angeblich sittlich vortreffliche Athener Politiker diese Lehrer sind (Men. 8 9 b - 9 5 a ) . Mag allerdings auch der historische Sokrates nur auf den Wissenscharakter und die Lehrbarkeit der dpexrj hingewiesen und letztlich an ihnen gezweifelt haben: Plato hat in der Politeia einen systematischen Lehrgang für die Wächter seines Idealstaates entwickelt, durch den auch auf die vier Kardinaltugenden nachweislich pädagogisch hingeführt wird (vgl. resp. II—IV; dazu Jaeger II, 292ff.; die pädagogische Realisierung der Weisheit im Idealstaat wird behandelt in resp. V - V I I ) . Die Platonische (und ähnlich auch die Sokratische) Paideia unterscheidet sich allerdings grundsätzlich von der sophistischen Wissensvermittlung (resp. VII, 518cff.).
4. Zur
Nachwirkung
Die N a c h w i r k u n g der Gestalt des Sokrates, den seine Schüler (besonders natürlich Plato) als eine A r t U r p h ä n o m e n eines Philosophen dargestellt haben, in der europäischen Philosophiegeschichte ist unübersehbar. Auch der Ansatz seines Philosophierens, soweit
Sokrates
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er aus Xenophon, Plato und Aristoteles erfaßbar ist, hat immer wieder Bewunderung und Nachfolge, aber auch Ablehnung und Gegnerschaft gefunden. Beides gehört zur Nachwirkung des Sokrates. Wir greifen hier aus der Fülle der Beispiele nur einige wenige Phänomene von ganz grundsätzlicher Bedeutung heraus. Eine sehr deutliche, vielleicht die vielfältigste Wirkung hat Sokrates in der antiken Philosophie selbst ausgeübt, wie die verschiedenen Sokratikerschulen, Plato, Aristoteles und die mittlere Akademie, zeigen, welche vor allem als Belege für die Nachwirkung der ethischen und der logisch-erkenntnistheoretischen Fragestellungen des Sokrates aufgefaßt werden können. Über die Vermittlung der somatischen Schule des Kynismus ist wohl auch die stoische Richtung des Philosophierens (-»Stoa/Stoizismus/Neustoizismus) vom Denken des Sokrates beeinflußt (besonders wenn man bereits diesem und nicht erst Plato die Lehre, daß die Tugend ein Wissen sei, zuschreibt). Wollte man auch die metaphysisch-ontologische Komponente von Piatos Philosophie dem Sokrates zuweisen, so würde die Nachwirkung des Sokrates bis weit in die Spätantike und den -»Neuplatonismus hineinreichen. Insbesondere könnte dann alles Philosophieren, welches das delphische Gebot „Erkenne dich selbst!" mit Sokrates in Verbindung bringt und zugleich auch in einem religiös-theologischen Sinne auffaßt, als Nachwirkung des Sokrates begriffen werden. Die Wiederaufnahme der (von uns aus gesehen genuin Sokratischen) logisch-erkenntnistheoretischen und ethischen Motive des Philosophierens zeigt dann vor allem die europäische Aufklärungsphilosophie des ausgehenden 17. und des 18. Jh. von John Locke (1632-1704) bis hin zu I. -»Kant. Der Sokratische Wille, Umfang, Reichweite, Mittel und Möglichkeiten, aber auch und gerade die Grenzen des menschlichen Erkennens zu bestimmen und dieses Erkennen auf das zentrale Problem der Ethik zu konzentrieren (es dagegen von verstiegener religiös-theologischer und metaphysischer Spekulation abzuwenden), ist in den vielen Untersuchungen der Aufklärungsphilosophen über die menschliche Vernunft und ihre Erkenntnismittel und in ihren grundlegenden Bemühungen um eine menschgemäße Ethik noch immer wirksam. Die Persönlichkeit des Sokrates als Philosoph und Lehrer genoß bei den Denkern des 18. Jh. hohes Ansehen, und noch Kant äußert sich mit größter Achtung über das sokratische „Nichtwissen", das in Wirklichkeit ein Bewußtsein von den Grenzen und eine Rechenschaftsablegung über den Umfang des Wissens sei. Auf eine sehr tiefdringende Beschäftigung mit der Philosophie und der Person des Sokrates deuten die berühmten Äußerungen G.W.F. -»Hegels im Sokrates-Kapitel seiner Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie hin, wobei jetzt erstmals eine ganz grundsätzliche, philosophische Charakterisierung der Bedeutung und Position des Sokrates in der Geschichte der Philosophie erfolgt: Sokrates habe gegenüber dem Volk von Athen und gegenüber der politischen Gemeinschaft, der er angehörte, das moralische Prinzip seines individuellen Gewissens, seines subjektiven ethischen Standpunktes vertreten und habe deshalb im Namen des staatlichen Rechts notwendigerweise verurteilt werden müssen, selber aber auch wieder das Recht des seiner selbst gewissen Geistes, des sich entscheidenden Bewußtseins für sich gehabt. Diese Einschätzung Hegels hat gerade auch in der Philosophiegeschichte des 19. Jh., z. B. bei Eduard Zeller (1814-1908), weitergewirkt. Nach Hegel und neben F.D.E. -» Schleiermacher gehört S. -»Kierkegaard zu den großen Sokrates-Interpreten des 19. Jh. Für ihn war Sokrates - ständiges Gegenbild für Christus - Vorbild des „subjektiven Denkers" in existenzieller Leidenschaft und jener Vermittler von der Gräzität zum Christentum, der im Unernst ironischer Existenzeinstellung und im „sokratischen -»Paradox" (dem Vorrang des Einzelnen vor der Idee) die Unwahrheit menschlicher Existenz, die Sünde, nicht erreichte (vgl. Anz; Deuser). Das hat F. -»Nietzsche, der das lautere, schlichte Sterben des Sokrates ebenso gefeiert hat, wie er Jesu Leben und Tod verehrte, umgewendet. Nach ihm habe Sokrates eben die fröhliche Art des Ernstes vor dem Stifter des Christentums (-»Paulus!) voraus. Freilich
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Sokrates
wurde Sokrates für Nietzsche mehr und mehr z u m Problem und schließlich 1888 neben Paulus zum Hauptbeförderer der d e c a d e n c e - M o r a l (vgl. K a u f m a n n ; Salaquarda). D a ß Sokrates der erste gewesen sei, der auf ganz prinzipielle Weise das Prinzip der Wissenschaft und des wissenschaftlichen Denkens mit seiner M e t h o d i k vertreten habe, hat im 20. J h . besonders G. M a r t i n deutlich hervorgehoben (in Anlehnung an ein Diktum B. -»Russells über die Wissenschaft als spezifischen Beitrag der europäischen Zivilisation an die Kultur der Menschheit). Bereits Nietzsche h a t t e in seinem Frühwerk Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik Sokrates als den Ahnherrn aller Wissenschaft und als Ausdruck der Hoffnung des Menschen, alle Probleme des menschlichen Lebens in dieser Welt rational bewältigen zu können, der gesamten tragischen Kultur der Griechen und ihrem Lebensgefühl sowie ihrer dionysischen Urkraft entgegengesetzt. Mit Sokrates beginnt nach Nietzsche der Siegeszug der Wissenschaft in der europäischen Kulturgeschichte, der aber im 19. J h . bereits wieder seinem E n d e entgegengeht. Aus ähnlichen Gründen wie Nietzsche, aber letztlich noch fundamentaler wendet sich der späte - » H e i d e g g e r gegen die Allgewalt der Wissenschaft und des Rationalismus in der europäischen Zivilisation. Sowohl in ständig neuer Anregung als auch in Widerstand und Gegnerschaft reicht also die Nachwirkung des Sokrates bis weit ins 20. J h . hinein, w o ihn K. - » J a s p e r s als großen Begründer der Philosophie und maßgebenden Menschen besonders gewürdigt hat. Quellen Aristophanes: Aristophanis Comoediae, ed. Frederick W. Hall/W.M. Geldart, 2 Bde., 1900 (SCBO). - Ders., Les comedies, ed. Victor Coulon, griech. u. franz., Paris 1923-1930 (Collection Bude). - Ders., Komödien, übers., bzw. eingel. v. Ludwig Seeger/Otto Weinreich, I 1952 II 1953 (BAW) [vgl. v.a. Die Wolken, aber auch Die Vögel und Die Frösche], - Aristoteles: Aristotelis Op., ed. Immanuel Bekker, 5 Bde., Berlin 1831-1870 (Nachdr. Darmstadt 1960) [Hauptquelle ist die Metaphysik], - Aristotle's Metaphysics, ed. Walter David Ross, Oxford, I—II 1924 = 1958. - Aristoteles' Metaphysik, griech.-dt., übers, v. Hermann Bonitz, neu bearb., mit Einl. u. Komm. hg. v. Horst Seidl, 2 Bde., Hamburg, 1 2 1982 II 2 1984. - Diogenes Laertius: Vitae philosophorum, ed. Herbert S. Long, 2 Bde., 1964 (SCBO). - Ders., Leben u. Meinungen berühmter Philosophen, aus dem Griech. übers, v. Otto Apelt, Hamburg 2 1967. - Plato: Piatonis Op., ed. Ioannes Burnet, 5 Bde., Oxford 1906-1914. - Ders., SW in der Ubers, v. Friedrich Schleiermacher, bearb. v. Walter F. Otto u.a., neu hg. v. Ursula Wolf, 4 Bde., Reinbek bei Hamburg 1994 [zu beachten als Quelle für Sokrates v.a. die Apologie u. die Frühdialoge]. - Sokratiker: Gabriele Giannantoni (Hg.), Socratis et Socraticorum Reliquiae, 4 Bde., Neapel 1990. - Xenophon: Xenophontis Op. Omnia, ed. Edgar C. Marchant, 5 Bde., 1900-1920 (SCBO) [bes. Bd. II, welcher die für Sokrates wichtigsten Schriften des Xenophon, nämlich Memorabilien, Oikonomikos, Symposion u. die Apologie des Sokrates enthält]. - Ders., Erinnerungen an Sokrates, griech.-dt., ed. Peter Jaerisch, München 1962 *1987. Literatur Bibliographien: Andreas Patzer, Bibliographia Socratica, Freiburg/München 1985. - Der hist. Sokrates (s.u. bei Lit.) 453ff. - Auf den neuesten Stand gebracht ist jeweils: AnPh 1 (1924) ff., s.u. „Auteurs et Textes" das Stichwort „Socrates Philosophus" (bis zur Gegenwart weitergeführt). Wilhelm Anz, Die platonische Idee des Guten u. das sokratische Paradox bei Kierkegaard: Reiner Wiehl (Hg.), Die antike Phil, in ihrer Bedeutung f. die Gegenwart, 1981 (SHAW.PH 1/1981) 2 3 - 3 6 . - Ernst Benz, Christus u. Socrates in der alten Kirche. Ein Beitr. zum altkirchl. Verständnis des Märtyrers u. des Martyriums: Z N W 43 (1950/51) 195 - 224. - Hans Dieter Betz, Der Apostel Paulus u. die sokratische Tradition. Eine exegetische Unters, zu seiner „Apologie" 2 Korinther 1 0 - 1 3 , 1972 (BHTh 45). - Benno Boehm, Sokrates im 18. J h . , Leipzig 1929 = Neumünster 1966. - Gernot Böhme, Der Typ Sokrates, Frankfurt a.M. 1986. - Jakob Brucker, Historia critica philosophiae, Leipzig 1 7 4 2 - 1 7 4 4 2 1 7 6 6 - 1 7 6 7 = Hildesheim 1975, bes. II 2 1767, 5 2 2 - 5 8 3 . - Luciano De Crescenzo, Sokrates. Sein Leben u. Denken, Zürich 1995. - Hermann Deuser, Kierkegaard, Darmstadt 1985, 3 1 - 5 7 [Kierkegaards Sokratesmodell], — Erich Fascher, Sokrates u. Christus. Eine Stud. „zur aktuellen Aufgabe der Religionsphänomenologie": ders., Sokrates u. Christus. Beitr. zur Religionsgesch., Leipzig 1959, 3 6 - 9 4 . - Günter Figal, Sokrates, München 1995 H998. - Olof Gigon, Sokrates. Sein Bild in Dichtung u. Gesch., Bern 1947 *1979. - Andreas Graeser, Die Phil, der Antike. II. Sophistik u. Sokratik, Plato u. Aristoteles, München 2 1993, 8 8 - 1 1 0 . - Romano Guardini, Der Tod des Sokrates. Eine Interpretation der platonischen Sehr. Euthyphron,
Sonderpädagogik
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Fritz-Peter Hager f Sokrates Scholastikos —• Kirchengeschichtsschreibung Sonderpädagogik 1. Begriffliche Klärungen (Literatur S.449)
1. Begriffliche
2. Sonderpädagogik als Herausforderung für Theologie und Kirche
Klärungen
Die Begriffe -» Heilpädagogik, Sonderpädagogik und Behindertenpädagogik sind keineswegs eindeutig gegeneinander abgrenzbar (vgl. TRE 14,754,45ff.). Ursprünglich wur-
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Sonderpädagogik
de der Begriff der Heilpädagogik verwendet. Neben der pädagogischen und medizinischen gab es dabei auch explizit eine theologische Wurzel. Dies ist nicht verwunderlich, weil gerade auch christliche Persönlichkeiten und Gruppierungen sich im 19. Jh. besonders für behinderte Menschen engagierten. Die Spannweite der Begriffsverwendung reicht dabei von einem Verständnis als Pädagogik des Heils bis zum Verständnis, daß Heilpädagogik nichts anderes sei als Pädagogik (Moor). In den siebziger Jahren des 20. Jh. trat der Begriff der Heilpädagogik zunehmend zugunsten der Begriffe Sonderpädagogik und Behindertenpädagogik zurück. Diese wurden zum Teil geradezu als Kampfbegriffe gegen Heilpädagogik eingebracht. Der veränderte Sprachgebrauch setzte sich rasch durch. In der 19. Auflage der Brockhaus-Enzyklopädie ( G B " 9 [1989] 615) gab es z. B. unter dem Stichwort Heilpädagogik noch eine Information von zehn Zeilen Umfang sowie den Hinweis, daß man heute in der Regel den Begriff Sonderpädagogik bevorzuge. In der 20. Auflage (GB Z0 9 [1997] 627) findet man nur noch den Verweis auf das Stichwort Sonderpädagogik.
Mit der Wendung zur Sonderpädagogik war ein kritisch-emanzipatorischer Impuls verbunden. Die Ausweitung und Differenzierung der Sonderpädagogik in den 70er Jahren war ein deutliches Kennzeichen der wachsenden Wertschätzung und Zuwendung zu den Menschen mit Behinderungen. Aber auch hier ist festzuhalten, daß es keine allgemein anerkannte Definition von Behinderung(en) gibt. Die sonderpädagogische Theoriebildung hat seit 1970 differierende Ansätze hervorgebracht. Zum einen ist die personorientierte Theoriebildung zu nennen (z.B. Bleidick). Dabei wird die Sonderpädagogik in verschiedene sonderpädagogische Fachgebiete ausdifferenziert: Blinden- und Sehbehindertenpädagogik, Gehörlosen- und Hörbehindertenpädagogik, Lern- und Verhaltensgestörtenpädagogik, Sprach- und Körperbehindertenpädagogik, Geistigbehinderten- und Schwer(st)behindertenpädagogik. Es ist kritisch zu fragen, ob hier nicht die von Behinderung Betroffenen auf ihre Schädigung festgelegt und von daher definiert werden. Die Rezeption sozialwissenschaftlicher und gesellschaftstheoretischer Theorien führte seit Mitte der 70er Jahre des 20. Jh. zu einem Behindertenbegriff, der von den gesellschaftlichen Einstellungen gegenüber dem betroffenen Personenkreis ausgeht (z. B. Jantzen). Die gesellschaftlichen Zuschreibungsprozesse (z.B. Stigma-Theorie) zeigen, wie die Schädigungen/Behinderungen zu sozialen, psychischen und physischen Beeinträchtigungen bzw. Benachteiligungen führen. Diese Fassung des Begriffs hat vor allem im Bereich der Lern- und Verhaltensstörungen seine Plausibilität erwiesen. Freilich ist auch hier zu fragen, inwieweit es gelingt, die betroffene Person nicht auf ihre Behinderung festzulegen. Um der Komplexität von Behinderung gerecht zu werden, wurde weiterhin ein systemischer, offener Behinderungsbegriff eingeführt (z.B. Speck). Für einen solchen systemischen Ansatz erweist sich Behinderung als eine Variante der prinzipiellen Unzulänglichkeit, Gebrochenheit und Dialogbedürftigkeit des Menschen und „steht also ganz unmittelbar im Prozeß der Gegenseitigkeit menschlichen Zusammenlebens ... Behinderung ist also nicht reduzierbar auf den einzelnen Betroffenen. Betroffen sind ebenso die Anderen. Oder: es betrifft sie auch" (Speck 167). Seit Mitte der 70er Jahre wird auch die Forderung nach sozialer Integration behinderter Kinder deutlich artikuliert. Es kommt zunächst zu Integrationskindergärten, -klassen und seit Anfang der 80er Jahre zu Integrationsschulen. Das entsprechende Paradigma ist die Integrationspädagogik (vgl. Eberwein; Zwierlein). In Österreich wurde am 30. Juli 1993 die 15. Novelle zum Schulorganisationsgesetz verabschiedet, wodurch für alle „Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf" (so die neue Begrifflichkeit) ein Rechtsanspruch auf integrative Beschulung in der regulären Grundschule besteht. Zweifellos hat die Integrationsdiskussion die allgemein zu beobachtende Ausgrenzung der Menschen mit Behinderungen aus der Gesellschaft bewußter gemacht. Dabei taucht
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Sonderpädagogik
auch die F r a g e auf, inwieweit die bisherigen Sonderschulen selbst zu dieser Situation mit beigetragen h a b e n . Völlig neue, zum Teil überwunden g e g l a u b t e Problemstellungen ergaben sich im letzten J a h r z e h n t im Z u g e der neuen Behindertenfeindlichkeit und aufgrund der ö k o n o m i schen D e b a t t e um die volkswirtschaftlichen Kosten eines Kindes mit Behinderungen, das ausgetragen und zur Welt g e b r a c h t wird. In gleicher Weise beunruhigten in h o h e m M a ß e die „ S i n g e r - D e b a t t e " (s.u. 2 . 2 . ) , d . h . die Diskussion um die Frage, o b neugeborene Säuglinge mit b e s t i m m t e n Schädigungen ü b e r h a u p t am Leben bleiben sollen ( - • E u t h a nasie). In diesem Z u s a m m e n h a n g sind die Fragen der genetischen B e r a t u n g und der p r ä n a t a l e n D i a g n o s t i k h o c h b r i s a n t . A m A n f a n g des neuen J a h r t a u s e n d s sind in der b u n d e s r e p u b l i k a n i s c h e n Gesellschaft d u r c h a u s eugenische T e n d e n z e n zu k o n s t a t i e r e n . Von d a h e r ist die S o n d e r p ä d a g o g i k seit e t w a einem J a h r z e h n t wiederum mit alten und zugleich auch mit g a n z neuen ethischen Fragestellungen k o n f r o n t i e r t . D a s gilt auch für die Z u s a m m e n h ä n g e m i t dem Verständnis von - » R e h a b i l i t a t i o n .
2. Sonderpädagogik
als Herausforderung
für Theologie
und Kirche
Für T h e o l o g i e und K i r c h e stellt diese S i t u a t i o n eine g r o ß e H e r a u s f o r d e r u n g in verschiedener H i n s i c h t d a r : im B l i c k a u f die grundsätzliche F r a g e des M e n s c h e n b i l d e s , des R e c h t e s a u f Leben in der Gesellschaft, die k i r c h l i c h - d i a k o n i s c h e Arbeit, die integrative L e b e n s p r a x i s in den G e m e i n d e n und die Lebensbegleitung. 2.1. D i e Würde des Menschen ( - » M e n s c h e n r e c h t e / M e n s c h e n w ü r d e ) b e m i ß t sich nach biblischem Verständnis nicht nach dem W e r t seiner „ A u s s t a t t u n g " (z. B . S e l b s t b e w u ß t sein, S e l b s t k o n t r o l l e , Sinn für Z u k u n f t , K o m m u n i k a t i o n s f ä h i g k e i t , Neugier), sondern sie gründet in der bedingungslosen A n n a h m e und A n e r k e n n u n g , die einem M e n s c h e n s o w o h l als Glied der menschlichen G e m e i n s c h a f t wie der christlichen G e m e i n d e zuk o m m t . Die M e n s c h e n w ü r d e ist a u f den Z e i t p u n k t der physischen G e b u r t , ja schon auf die Z e i t vor der G e b u r t bezogen. M e n s c h e n w ü r d e ist d a m i t ein E h r e n p r ä d i k a t , das wir allen M e n s c h e n zusprechen. Sie b e m i ß t sich a l s o nicht d a n a c h , d a ß an ihm/ihr alle Glieder dran sind und er/sie alles v e r m a g , sondern sie beruht d a r a u f , d a ß - religiös formuliert - der M e n s c h seine W ü r d e darin h a t , d a ß er als Kind G o t t e s berufen und a n g e n o m m e n ist: „ G o t t liebt D i c h , so wie D u nun einmal b i s t . " D. -»Bonhoeffer hat in seiner postum herausgegebenen Ethik im Blick auf die Rede vom „lebensunwerten Leben" in der Zeit des Nationalsozialismus die spezielle theologische Perspektive deutlich formuliert: „Wo sollte auch, außer in Gott, der Maßstab für den letzten Wert eines Lebens liegen? In der subjektiven Lebensbejahung? Darin vermag manches Genie von einem Idioten übertroffen werden. In dem Urteil der Gemeinschaft? Hier würde sich alsbald zeigen, daß das Urteil über sozial wertvolles oder wertloses Leben dem Bedarf des Augenblicks und damit der Willkür ausgesetzt wäre und daß bald diese, bald jene Gruppe von Menschen von dem Vernichtungsurteil getroffen würde. Die Unterscheidung von lebenswertem und lebensunwertem Leben zerstört früher oder später das Leben selbst" (Bonhoeffer 174). 2.2. Anwalt des Rechtes auf Leben im gesellschaftlichen Horizont. Von daher ergibt sich als notwendige K o n s e q u e n z , d a ß T h e o l o g i e und K i r c h e den M u n d a u f m a c h e n für die, die selber nicht reden k ö n n e n , und A n w ä l t e des R e c h t e s a u f Leben sind für alle M e n s c h e n mit Behinderungen und die S o l i d a r i t ä t m i t diesen in ihren eigenen d i a k o n i schen Einrichtungen praktizieren und sie gesamtgesellschaftlich einzuklagen h a b e n , indem sie i m m e r wieder auch a u f das unbedingte L e b e n s r e c h t hinweisen. So wird etwa in der gemeinsamen Erklärung christlicher Kirchen Gott ist ein Freund des Lebens das unbedingte Lebensrecht jedes Menschen herausgestellt. Es wird deutlich der Anspruch abgewiesen, daß etwa jemand anders inhaltlich definieren und festlegen könnte, was das Leben, eigenes oder fremdes, ausmacht. „Und schon gar kein Recht kann es beanspruchen, an der eigenen Vorstellung vom Wert oder Unwert des Lebens andere messen zu wollen, um ihnen daraufhin gegebenenfalls den Lebenswert, die Qualität zu leben, also das Recht zu leben abzusprechen" (Gott ist ein Freund des Lebens 41). Es wird herausgestellt, daß in theologischer Sicht „die Anerkennung
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Sonderpädagogik
des M e n s c h e n durch G o t t den M e n s c h e n als Person [konstituiert]. D a s mitmenschliche und gesellschaftliche Verhalten macht und setzt darum nicht die personale W ü r d e des anderen; es anerkennt s i e " (ebd. 4 2 ) .
Von daher sind die Wertmaßstäbe unserer Gesellschaft, an denen wir gemessen werden, allen voran der Wert der Tüchtigkeit („der Richterstuhl des Leistungsprinzips"), zu hinterfragen. In einer Gesellschaft, in der weitgehend die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit als Kriterium von Lebensbewertung, Daseinsberechtigung und persönlicher Sinnerfüllung gilt, sieht sich der behinderte Mensch ständig in Frage gestellt. Er erlebt sich als nicht voll gesellschafts- und kommunikationsfähig und damit als menschlich diskriminiert. Hier ist offensichtlich ein Umdenken erforderlich, um Menschen mit Behinderungen eine unverkürzte Sicht ihrer selbst und eine größtmögliche Teilnahme am gesellschaftlichen Leben zu ermöglichen. Weitere Elemente der behindernden Gesellschaft sind die Gleichsetzung von Gesundheit mit Glück, von Leistung mit Wert, von Person mit Rationalität. Demgegenüber ist auf ein umfassenderes Menschenbild zuzugehen. Behinderte Menschen stellen durch ihr Dasein die Vergottung der Gesundheit grundsätzlich in Frage. Sie sind der lebende Widerspruch dagegen, daß Menschsein auf Rationalität und Produktivität reduziert wird. Sie öffnen den Blick für andere Dimensionen des Menschseins. Dem christlichen Religionsunterricht in den öffentlichen Schulen kommt ebenso wie anderen kirchlichen Bildungsinstitutionen (z. B. -»Erwachsenenbildung) die Aufgabe zu, hier bewußtseinsbildend zu wirken. Angesichts der Tendenzen zu einem Menschenbild jenes rationalen, zweckbestimmten Zuschnitts, das P. Singer formuliert hat und das das Menschsein von einem Höchstmaß an Lebensglück und einem Mindestmaß an Leiden und Schmerz abhängig machen will, ist es die Aufgabe, in das Gespräch der Zeit jenes Angebot eines Verständnisses menschlichen Lebensrechtes ohne jede Bedingung und ohne Auflagen von Leistungen einzubringen, um das es der Bibel geht. In diesem Sinne ist es für Theologie und Kirche eine auf die Gesellschaft bezogene Aufgabe, Anwalt und Lobby für Menschen mit Behinderungen zu sein (Szagun). 2.3. Integrative Lebenspraxis in Gemeinde und Kirche. Freilich gilt dies auch und in besonderem Maße für die eigenen religiösen Handlungsfelder, so daß die christlichen Gemeinden zunehmend „durchmischte" Gemeinden werden, für die nicht der Grundsatz des Philosophen -»Aristoteles gilt „Gleich und gleich gesellt sich gern", sondern wo das biblische Verständnis von Gemeinschaft praktiziert wird, daß gleich und ungleich unter dem Namen Christi zusammenkommen. Dies ist weithin noch eine einzulösende Aufgabe. Normal ist es, verschieden zu sein - von daher können Christen leben, weil alle Gottes Söhne und Töchter sind. Im Blick auf die Gottesdienste stellt sich diese Frage ebenso wie im Blick auf die vielfältigen Gemeindeveranstaltungen. Insbesondere aber sind auch Jugendarbeit und Konfirmandenarbeit an dieser Stelle gefordert. (Für all diese Fragen sei auf die von Adam u.a. herausgegebenen Bände verwiesen, die vielfältige grundsätzliche Beiträge und praktische Modelle bieten; vgl. auch -»Diakonie IV.) 2.4. Seelsorge/Lebensbewältigung verdienen noch besonders hervorgehoben zu werden, weil die Frage nach dem Umgang mit und die mögliche Annahme der eigenen, durch Behinderung erschwerten Lebenssituation und die damit oft verknüpfte Frage nach dem Lebenssinn zentrale Punkte sind. Die Auseinandersetzung mit der Behinderung stellt sich bei allen Menschen mit Behinderungen als ein zentrales Thema dar. Hier gibt es immer wieder Hoffnungen auf Überwindung und Heilung etc. Hier ist es Aufgabe christlicher —»Seelsorge und Lebensbegleitung, den Prozeß der Annahme des eigenen Leides zu begleiten. E. Schuchardt hat dazu das Modell der Spirale mit ihren acht Phasen des Annahmeprozesses entwickelt, das ausgesprochen hilfreich ist. Hat das Leben noch einen ->Sinn? Mit dieser Frage verbindet sich oft die Theodizeefrage (-»Theodizee). Sie ist Ausdruck des Aufbegehrens gegen das Leid, gehört aber selbst in den Prozeß der
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Sonntag
A n n a h m e des Leides hinein. Die F r a g e , wie sich B e h i n d e r u n g e n und Leid zueinander V e r h a l t e n , ist e i n e z e n t r a l e F r a g e . E s e r h e b t s i c h d i e F r a g e , i n w i e w e i t es ü b e r h a u p t e i n e t h e o r e t i s c h e A n t w o r t a u f d a s P r o b l e m d e s L e i d e n s g i b t . D i e e n t s c h e i d e n d e F r a g e ist wohl, wie wir d a s Leid miteinander tragen können. W e n n wir unser Leid vor
Gott
b r i n g e n , w i r d es n i c h t e i n f a c h e r k l ä r b a r , a b e r d o c h ein S t ü c k w e i t e r t r ä g l i c h e r .
Hier
g e h ö r t die K l a g e als d i e S p r a c h e d e s L e i d e n s h i n (vgl. die — » P s a l m e n ) . D a s K l a g e g e b e t als S p r a c h e d e s L e i d e n d e n ist e i n e l e g i t i m e u n d v o n J e s u s a u c h g e w ä h l t e F o r m ,
vor
G o t t zu t r e t e n . D e r C h r i s t k a n n i m G l a u b e n g e w i ß sein, d a ß d u r c h d a s L e i d d i e N ä h e G o t t e s n i c h t a u f g e h o b e n w i r d . I m K r e u z C h r i s t i s e h e n w i r ein S y m b o l f ü r d e n m i t l e i d e n d e n u n d „ g e k r e u z i g t e n G o t t " . F e r n e r ist d a s s o l i d a r i s c h e M i t l e i d e n d e r M e n s c h e n ein g a n z w e s e n t l i c h e r P u n k t , bei d e m g e r a d e a u c h d i e c h r i s t l i c h e n G e m e i n d e n u n d d i e Christen g e f o r d e r t sind. Leid läßt sich nur p r a k t i s c h verstehen, a b e r nicht theoretisch e r k l ä r e n u n d a u f l ö s e n . H i e r ist a u f - » H i o b z u v e r w e i s e n u n d a u f d a s - » K r e u z J e s u . Literatur Gottfried A d a m u.a. (Hg.), D o k u m e n t a t i o n s b d e . der Würzburger Religionspädagogischen Symposien, 6 B d e . , M ü n s t e r 1 9 8 8 - 1 9 9 8 ; I. Religionsunterricht an Sonderschulen, 1988; II. Wege rel. K o m m u n i k a t i o n , 1990; III. Integration als A u f g a b e religionspädagogischen u. pastoraltheol. H a n delns, 1993; IV. „ N o r m a l ist, verschieden zu s e i n " . D a s M e n s c h e n b i l d in seiner Bedeutung f. religionspädagogisches u. sonderpädagogisches H a n d e l n , 1994; V. „ B l i c k w e c h s e l " . D e r Alltag v. M e n schen mit Behinderungen als Ausgangspunkt f. T h e o l . u. Pädagogik, 1996; V I . M i t Leid umgehen, 1998 (mit Reg. zu Bd. I - V I ) . - Dietrich Bonhoeffer, E t h i k , M ü n c h e n 1949 " 1 9 9 5 . - Ulrich Bleidick, Pädagogik der Behinderten, Berlin 1972 s 1 9 8 4 . - H a n s Eberwein (Hg.), [ ' " ' B e h i n d e r t e u. N i c h t behinderte lernen g e m e i n s a m . ] H b . Integrationspädagogik, W e i n h e i m / B a s e l 1988 3 1 9 9 4 = 5 1 9 9 9 . - G o t t ist ein Freund des Lebens. Herausforderungen u. Aufgaben beim Schutz des Lebens. Gemeinsame E r k l ä r u n g des R a t e s der E K D u. der D t . Bischofskonferenz in Verbindung mit den übrigen Mitglieds- u. G a s t k i r c h e n der Arbeitsgemeinschaft christl. Kirchen in der B R D u. Berlin (West), hg. vom K i r c h e n a m t der E K D / S e k r e t a r i a t der D t . Bischofskonferenz, Gütersloh 1989. - Hilfe f. Behinderte: H P T h ( G ) 4 (1987) 3 8 2 - 4 2 8 . - Wolfgang J a n t z e n , Behindertenpädagogik, Persönlichkeitstheorie, T h e r a p i e , Köln 1978 (Stud. zur krit. Psychologie 10). - Paul M o o r , Heilpädagogik. Ein pädagogisches L b . , B e r n / S t u t t g a r t 1965 = 3 1 9 7 4 . - Anita Müller-Friese, M i t e i n a n d e r der Verschiedenen. T h e o l . Überlegungen zu einem integrativen Bildungsverständnis, Weinheim 1996. Erika Schuchardt, W a r u m gerade ich ...? Behinderung u. G l a u b e , Gelnhausen u.a. 1981 u.ö. - Peter Singer, Practical Ethics, C a m b r i d g e 1979 2 1 9 9 3 ; dt.: Prakt. E t h i k , Stuttgart 1984 "1994. - O t t o Speck, System H e i l p ä d a g o g i k , M ü n c h e n / B a s e l 1987. - A n n a - K a t h a r i n a Szagun, Partnerschaftliches Verhalten v. Behinderten u. N i c h t b e h i n d e r t e n . M ö g l i c h k e i t e n u. Grenzen religionspädagogischer Bemühungen in Schule u. K i r c h e zu seiner A n b a h n u n g , E r p r o b u n g u. E i n ü b u n g , M ü n s t e r 1991. - E d u a r d Zwierlein (Hg.), Integration u. Ausgrenzung. Behinderte M i t m e n s c h e n in der Gesellschaft, Neuwied u.a. 1 9 9 6 . Gottfried
Adam
Sonntag 1. Definition und N a m e 2 . Neues T e s t a m e n t und Alte K i r c h e 3. D a s M i t t e l a l t e r 4. Das Zeitalter der R e f o r m a t i o n 5 . Neuzeit bis 1789 6. Das 19. und 20. J a h r h u n d e r t 7. Theologisch (Literatur S . 4 6 9 ) 1. Definition
und
Name
D e r a b e n d l ä n d i s c h - c h r i s t l i c h e S o n n t a g ist d a s E r g e b n i s e i n e r w e c h s e l v o l l e n u n d z u m Teil i m m e r n o c h d u n k l e n G e s c h i c h t e . W i e n u r w e n i g e v e r g l e i c h b a r e Institutionen e n t h ä l t e r in sich e i n e g a n z e K u l t u r g e s c h i c h t e E u r o p a s u n d d e s M i t t e l m e e r r a u m e s u n d ist s o m i t in seiner G e s c h i c h t e E i n f l ü s s e n a u s d e n o r i e n t a l i s c h e n H o c h k u l t u r e n , d e r g r i e c h i s c h römischen Antike, dem J u d e n t u m und d e m Christentum ausgesetzt gewesen. N a c h der d e r z e i t g e s e t z l i c h g ü l t i g e n R e g e l u n g ist d e r S o n n t a g d e r l e t z t e T a g d e r
siebentägigen
Sonntag
450
Woche (so in Deutschland seit dem 1. J a n u a r 1976 nach D I N 1355 entsprechend der internationalen I S O - N o r m R 2015, die in den meisten westlichen Industriestaaten in Kraft ist). Ebenfalls ist der Sonntag in den meisten Staaten mit mehrheitlich christlicher Bevölkerung generell arbeitsfrei und mehr oder weniger deutlich gesetzlich geschützt. Davon abweichend ist der Sonntag nach christlichem Verständnis einerseits der erste Tag der Woche analog der jüdischen Wochentagszählung, andererseits nicht primär durch das Gebot der Sabbatruhe, sondern als Auferstehungstag Jesu gekennzeichnet. Der Sonn(en)tag (lat. dies solis, engl. Sunday) ist der zweite Tag der griechischrömischen Planetenwoche, deren Entstehung einerseits mit den vorderasiatischen Sternkulten und Astrologien, andererseits mit der jüdischen Sieben-Tage-Woche und dem -»Sabbat zusammenhängt. Sie hat sich im römischen Reich erst in relativ später Zeit allgemein durchgesetzt und dabei die römische Acht-Tage-Woche verdrängt, wahrscheinlich k a u m vor dem Jahr 200 n . C h r . (Dio Cassius XXXVII, 18f.). Ein wesentlicher Faktor ihrer Durchsetzung w a r die jüdische Diaspora, von der die heidnische Mitbevölkerung gewisse Sabbatbräuche einfach ü b e r n a h m (so Seneca, zitiert bei Augustin, civ. VI,11 und auch Josephus, Ap 11,39) und dem Kronos- bzw. Saturnstag (engl. Saturday) zuordnete, der allerdings lange als erster (und nicht als letzter) Wochentag gezählt wurde. Unter dem Einfluß des Mithraskultes (-»Mysterien/Mysterienreligionen 2.6.) und der wachsenden Bedeutung des Sol invictus in der -»Römischen Religion ab d e m 2. Jh. n. Chr. (Elagabal; Aurelian weihte a m 25. Dezember 274 dem Sol einen Altar als oberstem römischem Staatsgott) sowie der zunehmenden Verschmelzung dieser beiden Gestalten löste der Sonntag den Saturnstag als H a u p t t a g der Woche ab. Der Mithraskult hat die Reihenfolge der Planeten wahrscheinlich so angeordnet, d a ß der Sonntag als Symbol der aufsteigenden Einweihung und Erlösung ans Ende der Reihe rückt. W. Rordorf glaubt zeigen zu können, d a ß damit eine mithräische Sonntagsfeier frühestens a m Ende des 1. Jh. n. Chr. nachgewiesen werden k a n n , zu einer Zeit, als die christliche Sonntagsfeier schon eine lange Tradition hatte (vgl. R o r d o r f , Sonntag [1962] 38f.). Z u m Tag der wöchentlichen Z u s a m m e n k u n f t der ersten Gemeinden konnte der Sonntag einerseits wegen der schon bei Jesus vorhandenen Sabbatkritik, andererseits als Tag der Auferstehung Jesu werden (griech. KOpiaKt] 7 f i e p a , lat. dies dominicus, ital. dominica, franz. dimanche, span. dotningo, irisch dia domhnaigh, althochdeutsch frontag-. Herrentag). E. H a a g will nachweisen, d a ß der Entwurf der „markinischen Passionswoche" (-»Leidensgeschichte Jesu), die letztlich die Grundlage der neutestamentlichen Passionsberichte darstelle, die Übernahme der Sieben-Tage-Woche durch die ersten Gemeinden besonders forciert habe (vgl. H a a g 171f.). Schließlich sei noch kurz auf die übrigen Wochentagsnamen verwiesen, die in den romanischen und germanischen Sprachen immer noch die Namen der sieben Planetengötter bzw. ihrer nordischen Äquivalente tragen: dies lunae (ital. lunedi, franz. lundi, engl. Monday, dt. Montag); dies martis (ital. martedi, franz. mardi; Thingus > engl. Tuesday, dt. Dienstag); dies mercurii (ital. mercoledi, franz. mercredi; Wotan > engl. Wednesday); dies jovis (ital. giovedi, franz. jeudi; Donar/Thor > engl. Thursday, dt. Donnerstag); dies veneris (ital. venerdi, franz. vendredi; Freia > engl. Friday, dt. Freitag); dies saturni (engl. Saturday). Hier macht also lediglich der Samstag eine Ausnahme, der in den romanischen Sprachen und im Deutschen auf den Sabbat zurückgeht (ital. sabato, franz. samedi).
2. Neues
Testament
und Alte
Kirche
2.1. Jesus D a die Frage der Sonntagsruhe und -heiligung immer wieder in der Kirchengeschichte zum Streit bezüglich der christlichen Beachtung der Sabbatgebote geführt hat und etliche Abspaltungen und eine zum Teil rigorose kirchliche und staatliche Gesetzgebung hervorgebracht hat, m u ß an dieser Stelle explizit auf die Position Jesu zum -»Sabbat (III) hingewiesen werden. Weil der Sonntag im Laufe seiner Geschichte wiederholt und z u m Teil massiv mit alttestamentlichen Sabbatvorstellungen befrachtet wurde (s.u. 2.4.), hat
451
Sonntag
die G e s c h i c h t e d e s S a b b a t s u n d die S a b b a t k r i t i k J e s u a u c h für d e n c h r i s t l i c h e n S o n n t a g B e d e u t u n g . Jesus h a t , e b e n s o wie er prinzipiell d a s L e b e n eines gläubigen J u d e n führte, sicher a u c h grundsätzlich den Sabbat beachtet. Inwiefern und wie stark die Perikopen, in d e n e n J e s u s m i t d e m S a b b a t g e b o t in K o n f l i k t g e r ä t o d e r z u r S a b b a t o b s e r v a n z S t e l l u n g bezieht, d u r c h die F r a g e n der nachösterlichen G e m e i n d e b e s t i m m t o d e r ü b e r f o r m t sind, spielt d a b e i a u c h eine R o l l e . D a z u tritt die Ü b e r l e g u n g , inwiefern sich die Stellung J e s u z u m S a b b a t auf die Stellung der Kirche, der G e m e i n d e und der Gläubigen heute auswirkt. Letztlich steht dahinter die F r a g e n a c h der weiteren Gültigkeit b z w . A u f h e b u n g
der
a l t t e s t a m e n t l i c h e n G e s e t z e s v o r s c h r i f t e n i n s g e s a m t ; vgl. G a l 4 , 1 0 ; I K o r 7 , 1 8 ; 9 , 2 0 f . D i e s e grundsätzliche E n t s c h e i d u n g der christlichen T h e o l o g i e , die F r a g e der Position Jesu z u m S a b b a t u n t e r d e n G e s i c h t s p u n k t „ h e i d e n c h r i s t l i c h e F r e i h e i t v o m G e s e t z " z u s t e l l e n , ist nach J. M o l t m a n n jedoch falsch. Vielmehr müsse das Leben und H a n d e l n Jesu
ganz
unter der Ankündigung der Gottesherrschaft verstanden werden, also unter d e m
An-
b r u c h d e s e w i g e n S a b b a t s , d e r n u n W e r k - u n d R u h e t a g d o m i n i e r t (vgl. M o l t m a n n
2 . 2 . Die
apostolische
125f.).
Zeit
D i e S t e l l u n g d e r U r g e m e i n d e z u m S a b b a t u n d z u m S o n n t a g ist u n s i c h e r u n d u n e i n heitlich. - • P a u l u s h a t g e w i ß a u f seinen R e i s e n d e n S y n a g o g e n g o t t e s d i e n s t b e s u c h t und d o r t g e p r e d i g t (Act 1 3 , 1 4 f f . ) . D i e J e r u s a l e m e r U r g e m e i n d e h a t w e i t e r h i n a m T e m p e l k u l t t e i l g e n o m m e n ( A c t 5 , 4 2 ; 2 1 , 2 6 ) . D a ß beides a u c h e i n e S a b b a t o b s e r v a n z belegt, ist k e i n e s w e g s z w i n g e n d n o t w e n d i g , bei P a u l u s s o g a r e h e r u n w a h r s c h e i n l i c h (vgl. G a l 2 , 1 1 - 2 1 ) . D i e A u s f ü h r l i c h k e i t , m i t d e r die E v a n g e l i e n die S a b b a t p r o b l e m a t i k b e h a n d e l n ( M k 1 , 2 1 ; 2 , 2 3 f f . p a r . ; 6 , 2 ; M t 12; L k 1 3 , 1 0 f f . ; 1 4 , 1 - 6 ; J o h 5 , 9 f f . ; 7 , 2 2 f . ; 9 , 1 4 f f . ) , b e l e g t , d a ß und w i e d a r u m g e r u n g e n w u r d e ; und die L ö s u n g e n , die d u r c h den M u n d J e s u d e r G e m e i n d e n a h e g e l e g t w e r d e n , lassen a u f den t e i l w e i s e n V e r z i c h t d e r S a b b a t o b s e r v a n z s c h o n in d e r U r g e m e i n d e s c h l i e ß e n . O b die E r w ä h n u n g e n A c t 2 0 , 7 und I K o r 1 6 , 2 (vgl. A p k i , 1 0 ) s c h o n a u f d e n S o n n t a g als f e s t s t e h e n d e n G o t t e s d i e n s t t a g h i n w e i s e n , ist w i e d e r e i n e andere Frage. Die Aufforderung I K o r 16,2 meint wohl k a u m eine gottesdienstliche Kollekte, sondern e h e r die p r i v a t e S p a r b ü c h s e . A l l e r d i n g s e r s c h i e n e dies im A n s c h l u ß an e i n e n g e m e i n s a m e n G o t tesdienst d u r c h a u s s i n n v o l l . A u c h A c t 2 0 , 7 ist w o h l kein H i n w e i s a u f d e n S o n n t a g , s o n d e r n a u f den S a m s t a g a b e n d : „ A m e r s t e n T a g der W o c h e a b e r , als w i r v e r s a m m e l t w a r e n , d a s B r o t zu b r e c h e n , p r e d i g t e i h n e n P a u l u s , u n d da er a m n ä c h s t e n T a g Weiterreisen w o l l t e , zog er die R e d e hin b i s M i t t e r n a c h t . " D a s G e g e n a r g u m e n t , d a ß P a u l u s d a n n ja a m S o n n t a g zu reisen b e a b s i c h t i g e , besitzt k e i n e B e w e i s k r a f t , d e n n d e r S o n n t a g w a r j a n i c h t a r b e i t s f r e i . B e w e i s e n l ä ß t sich beides n i c h t . F ü r e i n e s e h r f r ü h e E n t s t e h u n g d e s S o n n t a g s als w ö c h e n t l i c h e n F e i e r t a g s d e r
Ge-
meinden spricht nur die T a t s a c h e , d a ß er s c h o n zu Beginn des 2. J h . v o l l k o m m e n selbstv e r s t ä n d l i c h , a l s o k e i n e N e u e r u n g m e h r ist. D a s belegen d i e vier ä l t e s t e n c h r i s t l i c h e n , a u ß e r b i b l i s c h e n B e l e g e im E i n k l a n g m i t Plinius d . J . , d e r ü b e r seine C h r i s t e n v e r h ö r e b e r i c h t e t : „ S i e b e t e u e r t e n a b e r , d a r i n h a b e i h r e g a n z e S c h u l d o d e r ihr g a n z e r I r r t u m b e s t a n d e n , d a ß sie g e w ö h n l i c h an e i n e m festgesetzten T a g v o r T a g e s a n b r u c h z u s a m m e n g e k o m m e n w a r e n , u m sich w e c h s e l s e i t i g ein L o b l i e d C h r i s t u s als e i n e m G o t t zu E h r e n zu sagen u n d sich m i t e i n e m G e l ü b d e zu k e i n e m V e r b r e c h e n zu v e r p f l i c h t e n , a u c h d a z u , k e i n e n D i e b s t a h l , k e i n e R ä u b e r e i , k e i n e n E h e b r u c h zu b e g e h e n , n i c h t d a s g e g e b e n e W o r t zu b r e c h e n , n i c h t ein z u r ü c k g e f o r d e r t e s G u t a b z u l e u g n e n . S o b a l d sie d a m i t fertig g e w e s e n seien, sei es bei i h n e n B r a u c h g e w e s e n , a u s e i n a n d e r z u g e h e n u n d sich erst s p ä t e r w i e d e r z u s a m m e n z u f i n d e n , u m ein M a h l e i n z u n e h m e n , a b e r ein h a r m l o s e s u n d u n s c h u l d i g e s " (Plinius, ep. X , 9 6 ; d t . : R o r d o r f , Sabbat, N r . 79). - • B a r n a b a s b r i e f : „ D e s h a l b b e g e h e n w i r a u c h den a c h t e n T a g uns zur F r e u d e , an d e m a u c h J e s u s v o n d e n T o t e n a u f e r s t a n d e n ist, u n d , n a c h d e m er e r s c h i e n e n w a r , in d e n H i m m e l aufgestiegen i s t " (Barn 15,9; dt.: Wengst 183). - • J u s t i n der M ä r t y r e r : „ U n d a m s o g e n a n n t e n S o n n t a g findet e i n e Z u s a m m e n k u n f t aller, die in den S t ä d t e n o d e r a u f d e m L a n d e w o h n e n , an e i n e m O r t s t a t t . U n d die D e n k w ü r d i g k e i t e n d e r A p o s t e l o d e r die S c h r i f t e n d e r P r o p h e t e n w e r d e n v o r g e l e s e n , s o l a n g e es a n g e h t . W e n n d e r , d e r vorliest, a u f g e h ö r t h a t , h ä l t d e r V o r s t e h e r e i n e A n s p r a c h e , w o r i n er e r m a h n t u n d zur N a c h a h m u n g dieser s c h ö n e n B e i s p i e l e a u f f o r d e r t . H e r n a c h s t e h e n w i r alle g e m e i n s a m a u f u n d v e r r i c h t e n G e b e t e , u n d - w i e w i r g e s a g t h a b e n - w e n n w i r m i t d e m G e b e t zu E n d e sind, w i r d B r o t , W e i n u n d W a s s e r
452
Sonntag
gebracht. Der Vorsteher verrichtet in gleicher Weise nach seinem Vermögen Gebete und Danksagungen, und das Volk stimmt ein, indem es das ,Amen' spricht. Dann findet die Austeilung statt; jeder erhält seinen Teil von dem, worüber die Danksagung gesprochen wurde, und den Abwesenden wird er durch die Diakonen gebracht. Wer aber die Mittel und den guten Willen hat, gibt nach seinem Ermessen, was er will ... Wir halten aber alle diese Gemeindeversammlungen am Sonntag ab, weil er der erste Wochentag ist, an welchem Gott durch Umwandlung der Finsternis und des Urstoffes die Welt schuf, und weil Jesus Christus, unser Erlöser, an diesem Tage von den Toten auferstanden ist. Denn am Tage vor dem Saturntage kreuzigte man ihn, und am Tage nach dem Saturntage - eben am Sonntag - erschien er seinen Aposteln und Jüngern und lehrte sie das, was wir zur Erwägung auch euch vorgelegt h a b e n " (Justin, I apol. 6 7 , 3 - 7 ; dt.: Rordorf, ebd., Nr. 80). —>Didache: „Wenn ihr aber am Herrentag zusammenkommt, dann brecht das Brot und sagt Dank, nachdem ihr zuvor eure Übertretungen bekannt habt, damit euer Opfer rein sei" (Did 14,1; dt.: Niederwimmer 234). -•Ignatius von Antiochien: „Wenn nun die in den alten Verhältnissen Wandelnden zu der neuen Hoffnung gekommen sind, nicht mehr den Sabbat feiernd, sondern unter Beobachtung des Herrentages leben ..." (IgnMagn 9,1; dt.: Rordorf, ebd., Nr. 78). Als s o l c h e r ist e r e i n z i g u n d allein d e r A u f e r s t e h u n g s t a g (russ. woskrosenje). Alle a n d e r e n B e d e u t u n g s i n h a l t e (wie z. B. als S c h ö p f u n g s t a g , s o z u e r s t bei J u s t i n ) u n d eben a u c h d e r S o n n t a g als c h r i s t l i c h e r S a b b a t s i n d d e m g e g e n ü b e r s e k u n d ä r . 2.3. Die vorkonstantiniscbe
Zeit
Eine allgemeine Arbeitsruhe der Christen an einem wiederkehrenden Wochentag war ja a u c h in d e n Z e i t e n d e r — • C h r i s t e n v e r f o l g u n g e n g a r n i c h t m ö g l i c h : J e d e r , d e r einen s o l c h e n T a g e i n g e h a l t e n h ä t t e , h ä t t e seine Z u g e h ö r i g k e i t z u m v e r b o t e n e n C h r i s t e n t u m o f f e n b a r t . So n i m m t es n i c h t w u n d e r , d a ß in d e r v o r k o n s t a n t i n i s c h e n Z e i t in d e n christl i c h e n S c h r i f t e n , z. B. d e r K i r c h e n v ä t e r , d i e P r o b l e m a t i k d e r a l t t e s t a m e n t l i c h e n S a b b a t g e b o t e p r a k t i s c h k e i n e R o l l e spielt. D e r S o n n t a g d e s N e u e n B u n d e s w i r d z w a r o f t g e n u g m i t d e m S a b b a t d e s A l t e n B u n d e s v e r g l i c h e n u n d n a t ü r l i c h als d e s s e n S t e i g e r u n g vers t a n d e n ; a b e r d i e s e r Vergleich b e t r i f f t n u r d i e t h e o l o g i s c h e B e d e u t u n g d e s T a g e s ; seine G e s t a l t u n g w i r d n u r i n s o f e r n r e l e v a n t , als sie d i e F e i e r d e s - » G o t t e s d i e n s t e s a n g e h t . 2.4. Die nachkonstantinische
Zeit
I m J a h r 3 2 1 e r k l ä r t e - » K o n s t a n t i n I. d e n S o n n t a g z u m a l l g e m e i n e n R u h e t a g aller S t a d t b e w o h n e r , an d e m keine Arbeit (außer Feldarbeit) u n d kein Rechtsgeschäft (außer Sklavenfreilassung) erfolgen darf. „Kaiser Konstantin an Helpidius. Alle Richter, die Stadtbevölkerung und die gesamte Gewerbetätigkeit sollen am verehrungswürdigen Tag der Sonne ruhen. Nichtsdestoweniger sollen die Landleute den Anbau der Felder frei und ungehindert betreiben, da es häufig vorkommt, daß kein Tag geeigneter ist, den Getreidesamen den Furchen und die Weinstocksetzlinge den dazu vorbereiteten Löchern anzuvertrauen; damit nicht etwa die Gunst der momentanen Gelegenheit, von himmlischer Vorsehung beschieden, verpaßt werde" (Codex Justinianus 111,12,2; dt.: Rordorf, Sabbat, Nr. 111). „Kaiser Konstantin an Helpidius. So wie es sehr unangebracht schien, an dem durch die ihm gezollte Verehrung ausgezeichneten Sonntag sich mit Gerichtsstreitigkeiten und sträflichen Parteihändeln zu befassen, so ist es schön und erfreulich, wenn an diesem Tage die Gelübde erfüllt werden, die am meisten zu erfüllen sind. Und darum sollen alle die Erlaubnis haben, am Feiertag Sklaven abzutreten und freizulassen, und diesbezügliche Verfügungen sollen nicht verboten sein" (CodTheod 11,8,1; dt.: Rordorf, ebd., N r . 112). Weitere Sonntagsgesetze folgten. 386 werden jegliche Gerichtsverhandlungen und Zwangseintreibungen verboten (CodTheod 11,8,12), 392 Zirkusspiele, 399 Theateraufführungen und Pferderennen (außer am Geburtstag des Kaisers; C o d T h e o d 11,8,20.23). 469 wurden diese Bestimmungen wiederholt und die Ausnahme am Geburtstag des Kaisers rückgängig gemacht (Codex Justinianus 111,12,9). D i e s e V e r s c h m e l z u n g v o n S a b b a t u n d S o n n t a g ist bis in d a s s ä k u l a r e a r b e i t s f r e i e W o c h e n e n d e d e r m o d e r n e n I n d u s t r i e g e s e l l s c h a f t e n v o n B e d e u t u n g u n d h a t a u c h die Theologie des Sonntags erheblich beeinflußt.
Sonntag
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W. Rordorf hebt mit Recht hervor, daß im konstantinischen Sonntagsgesetz gerade die Ausnahme der Feldarbeit nicht der alttestamentlichen Sabbatordnung entspricht (Rordorf, Sonntag [1962] 161; vgl. M t 12,lff.). Auch geht Konstantin mit keinem Wort auf christliche Inhalte ein. Im Grunde greift er lediglich auf die bereits etablierte Planetenwoche zurück und überträgt auf ihren Haupttag die römischen Ferialbestimmungen. Somit versucht er offensichtlich, nicht nur dem Christentum, sondern auch dem Mithraskult, dem Sonnenkult und den astrologischen Lehren zu entsprechen. Der Sonntag wurde sowohl für die Kirche als auch die anderen Religionen des römischen Reiches (s.o. 1.) als Feiertag akzeptabel. Dazu paßt, daß gleichzeitig die massive kirchliche Neuinterpretation der Sonnensymbolik einsetzt (z.B. Verlegung des Weihnachtsfestes [-•Weihnachten/Weihnachtsfest/Weihnachtspredigt]; Christus als Sonne etc.). Die seit -•Eusebius (v. Const. IV,18,2) übliche Deutung, hier einen Beweis der besonderen Christlichkeit des Kaisers zu sehen, ist wohl Wunschdenken. Die Kirchenväter wußten sehr wohl, daß das kaiserliche Sonntagsgesetz noch keinen Sieg des Christentums darstellte. Auch die Übertragung sabbataler Inhalte auf den Sonntag, die zuvor gar keine Rolle gespielt hatte, beginnt mit Konstantin nur zaghaft und als Folge der Ereignisse. Keines der zeitgenössischen Konzilien geht auf die staatliche Sonntagsgesetzgebung ein, und keiner der Kirchenväter stützt seine Argumentation auf eines der staatlichen Gesetze. Im Gegenteil wurde z. B. in Klöstern vor Müßiggang gewarnt und auch zur Sonntagsarbeit angehalten. Der Sonntag w a r seit der Zeit der Urgemeinde, zuallererst durch die Feier des Gottesdienstes, der „Herrentag". Die Sabbatgebote wurden vor und auch noch lange nach Konstantin im Rahmen der üblichen Schriftinterpretation vor allem allegorisch ausgelegt. Allererstes und bestes Beispiel dafür ist die Interpretation des Sabbats in Hebr 4 , 1 - 1 1 , w o die Sabbatruhe ganz auf die eschatologische Schöpferruhe Gottes bezogen wird. Hebr 4,4 zieht denn auch nur Gen 2,2 und nicht den Dekalog als Beleg heran. Aber auch die spätere Interpretation der Sabbatgebote aus Ex 20 und Dtn 5 fährt auf dieser Linie fort: Die Pflicht, den Sabbat zu halten, bedeute, Tag für Tag einen heiligen, sündlosen Wandel zu führen; und am Sonntag wird den Christen die wahre Sabbatruhe, nämlich die Vergebung, durch Gott im Gottesdienst geschenkt. Von diesem Ansatz aus breitet sich die sog. Substitutionslehre in der Kirche aus, die besagt, daß das alttestamentliche Zeremonialgesetz durch Christus aufgehoben sei, damit aber auch die Sabbatverpflichtung. An deren Stelle rückt der Sonntag, der aber mit ganz anderen Inhalten gefüllt wird, allerdings auch mit verpflichtendem Charakter. Als erster Beleg einer kirchlichen Verpflichtung zum sonntäglichen Gottesdienstbesuch gilt can. 21 der Synode von -»Elvira (ca. 305), der festlegt: Wer in der Stadt wohnt (also nur einen kurzen Weg zurückzulegen hat) und an drei aufeinanderfolgenden Sonntagen nicht zur Kirche kommt, soll eine kurze Zeit aus der Gemeinschaft ausgeschlossen sein (vgl. Mansi 11,9). Erst in der zweiten Hälfte des 4. Jh. erhalten wir als Resonanz auf das staatliche Sonntagsruhegesetz erste kirchliche Verordnungen, Nachrichten und Ermahnungen, die Sonntagsruhe einzuhalten. Nun wird die Substitutionslehre dahingehend erweitert, daß der Sonntag auch bezüglich der Arbeitsruhe den Sabbat ersetzt. Und im Zirkelschluß setzt dann auch die Übertragung sabbataler Begründungen auf den Sonntag ein. —»Ephraem Syrus predigt: „Das Gesetz verordnet, den Knechten und den Tieren sei Ruhe zu gönnen, damit die Knechte, Mägde und Tagelöhner die Arbeit einstellen können" (Sermo ad noct. dorn, resurr. IV; dt.: Rordorf, Sabbat, Nr. 116). Und bei -»Johannes Chrysostomus heißt es: „Und nicht einmal an diesem einen ganzen Tag bringst du es fertig, dich von den alltäglichen Geschäften freizumachen?" (hom. in bapt. Christi I; dt.: ebd., Nr. 124) „An diesem Tag hält jedes Werk inne" (hom. de eleemosyna III; dt.: ebd., Nr. 127). Einen Sonderfall stellen die (Pseud-)Apostolischen -»Konstitutionen dar, die nämlich zur Observanz von Sabbat und Sonntag auffordern: „Den Sabbat freilich und den Herrntag verbringt in Festfreude" (Const. Ap. VII,23,3; dt.: Rordorf, Sabbat, Nr. 58). „Die Sklaven sollen fünf Tage arbeiten, am Sabbat und Herrntag sollen sie aber Zeit haben wegen der Glaubensunterweisung in der Kirche" (Const. Ap. VIII,33,2; dt.: Rordorf, ebd.).
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Damit geht bei den kirchlichen Schriftstellern langsam, aber unaufhaltsam die geistige und geistliche Dimension der Sonntagsruhe verloren. Wurden zuvor z. B. die verbotenen opera servilia als die Werke des Bösen allegorisiert, setzt nun fast zwangsläufig eine materielle Sonntagskasuistik ein, die sich an ihren Höhepunkten kaum von der jüdischen Sabbatkasuistik unterscheiden wird. Nur die großen lateinischen Kirchenväter, allen voran —> Augustin, schweigen zuerst noch zur Sonntagsruhe und beharren auf der moralischen Deutung: „ D e r Christ beachtet den Sabbat geistlich, indem er sich des knechtlichen Werkes enthält. Was bedeutet nun, vom knechtlichen Werk lassen? Von der Sünde lassen. Woraus ersehen wir das? Frage den Herrn: Jeder der Sünde tut, ist der Sünde Knecht. Also wird uns die geistliche Beachtung des Sabbats g e b o t e n " (Augustin, in loh. 3,19).
3. Das 3.1.
Mittelalter Frühmittelalter
So nimmt es nicht wunder, daß im frühen Mittelalter der Sonntag in den neuchristianisierten Völkern eine ähnliche Position einnimmt wie der Sabbat im nachexilischen Judentum: Er wird zum Kennzeichen für die erfolgte Übernahme der Religion und mit strengen Gesetzesauflagen gesichert. —»Caesarius von Arles wendet nach dem quanto-magis-Grundsatz die alttestamentlichen Sabbatgebote auf den Sonntag an: „ D a diese Unglücklichen [sc. die Juden] also den Sabbat halten, daß sie es nicht wagen, an ihm irgendein irdisches Geschäft zu verrichten, wieviel mehr sollen dann jene, die nicht durch Silber und Gold, sondern durch das kostbare Blut Christi erkauft sind, ihres Lösepreises eingedenk sein und sich am Tag der Auferstehung Gott w i d m e n " (Caesarius, serm. 7 3 , 4 ; zitiert nach Huber 103). Z u r gleichen Zeit findet mit der 3. Synode von Orleans 5 3 8 erstmals die Sonntagsruhe Aufnahme in die kirchliche Gesetzgebung. Auffällig ist, daß can. 31 die Feldarbeit analog dem Alten Testament verbietet, während Konstantin gerade diese erlaubt hatte. Dahinter ist einerseits das Ansehen der Feldarbeit, die in R o m traditionsgemäß kein opus servile w a r , als auch der Wandel der gesamtwirtschaftlichen Verhältnisse zu vermuten. Zugleich versucht die Synode, sabbatistischen Strömungen, die jegliches öffentliche und private Leben zu unterbinden trachteten, zu wehren. Schließlich setzt sie den Gottesdienst mit 9 Uhr auf die damals beste Vormittagsstunde.
In der zweiten Hälfte des 6. Jh. nimmt die Strenge der Sonntagsgesetze weiter zu. -•Gregor von Tours berichtet mit pädagogischer Absicht von zahlreichen Strafwundern für Sonntagsschänder, und fast alle fränkischen Synoden beschäftigen sich mit dem Thema. 602 nimmt auch -»Gregor I. der Große Stellung. Auch er wehrt sich gegen sabbatistische Strömungen, befürwortet aber eine Sonntagsruhe: „Was vom Sabbat geschrieben steht, fassen wir infolgedessen geistig auf und halten es im geistigen Sinn. ... Am Herrntag soll man aber von der weltlichen Arbeit ruhen und sich ganz dem Gebet hingeben" (ep. 13,3; dt.: Rordorf, Sabbat, Nr. 149). Diese milde Auslegung zeigte jedoch wenig Wirkung. Ein deutliches Zeichen des schon frühen Verfalls dieses spirituellen Sonntagsverständnisses sind andere kirchliche Vorschriften, z. B. das Verbot des Konzils von Agde (506), die Messe vor Erteilung des Segens zu verlassen. Die Frage, welche Teile des Gottesdienstes zur minimalen Erfüllung der Sonntagspflicht genügen, beschäftigte das ganze Mittelalter und auch noch die Neuzeit. Im frühen Mittelalter wurde eher dazu ermahnt, den Wortgottesdienst nicht zu versäumen. Dies verschob sich mit dem allgemeinen Verfall der eucharistischen Kommunion und dem Entstehen der rein anbetenden Eucharistiefrömmigkeit im Hoch- und Spätmittelalter auf das Meßopfer. Erwähnt werden muß schließlich der sog. „—>Himmelsbrief", der erstmals in einem Brief des Bischofs Licinian von Cartagena (6. Jh.) an seinen Amtsbruder Vincentius von Ibiza ca. 584 belegt und verurteilt wird, weil er mit der Autorität Christi eine überstrenge sabbatale Sonntagsheiligung fordert. Obwohl er immer wieder von zahlreichen kirchlichen Instanzen verurteilt wurde, erfreute er sich bis in die beginnende Neuzeit großer Beliebtheit und weiter Verbreitung. In Kap. 81 der admonitio generalis —»Karls des Gro-
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ßen 789 werden alle gängigen Feld- und Handwerksarbeiten von Frauen und Männern als sämtlich sonntags verboten aufgezählt (allerdings verurteilt Kap. 77 auch den Himmelsbrief). Papst Eugen II. (824-827) trifft 826 ähnliche Anordnungen. Die Begründung ist in allen Fällen eine doppelte: zum einen das Sabbatgebot, das nun endgültig auf den Sonntag übertragen ist, zum anderen die Substitution des ersten Tages, der von der Schöpfung über besondere Ereignisse in der Geschichte Israels und der Kirche ausgezeichnet ist. Die opera servilia sind nun nur noch die täglichen Arbeiten der Bevölkerung. Immer wieder werden sie in kirchlichen und staatlichen Erlassen aufgezählt und verboten. Ihre Befolgung war also keineswegs selbstverständlich, sondern bedurfte ständiger Erinnerung. Z u m reinen Arbeitsverbot traten übrigens noch andere Ge- und Verbote hinzu: Friedenspflicht, Pflicht zur geschlechtlichen Enthaltung, Verbot von Hochzeiten und Totenmessen. Und der Besuch der Gottesdienste mußte ebenfalls immer wieder eingeschärft werden. 3.2.
Ostkirche
Die Entwicklung in der Ostkirche unterscheidet sich nicht wesentlich von der in der Westkirche, wenn sie auch nicht mit gleicher juristischer Konsequenz ausgearbeitet wird. 585 schreibt der „nestorianische" Patriarch Jeschuyab I. (Iso'yahb, 582-595) noch von einer gebotenen, nicht befohlenen Sonntagsruhe, die dazu diene, der Kultfeier beizuwohnen. Sündhaft sei nicht eigentlich die Sonntagsarbeit, sondern die unter Umständen dahinterstehende Haltung wie Gewinnsucht (vgl. Rordorf, Sabbat, Nr. 142). Die gottesdienstliche Feier des Sonntags aber kommt hier zu besonderer Blüte, weil der Sonntag weit mehr als im Westen unter dem Aspekt des wöchentlichen -»Ostern als unter kirchenjahreszeitlichen Aspekten betrachtet wird. 3.3. Hoch- und
Spätmittelalter
Die juristische und theologische Ordnung, der im Hochmittelalter ->Kirchenrecht und -»Theologie unterworfen wurden, umfaßt auch das Sonntagsgebot. Das Dekret -»Gratians und die Dekretalen -»Gregors IX. fassen zusammen: Der Sonntag, damit die Zeit der Feier und der Ruhe, dauert von Samstagabend bis Sonntagabend. Die Verpflichtung zur Sonntagsruhe ergibt sich aus der Heiligen Schrift, das konkrete Arbeitsverbot aus den Gesetzen der Kirche. (Diese Unterscheidung ist insofern wichtig, als die Kirche von Kirchengesetzen ohne weiteres dispensieren kann, von göttlichen Schriftgeboten aber nicht. Wenn die Sonntagsarbeit für den Lebensunterhalt notwendig ist, wird sie gestattet.) Sonntagsruhe und Arbeitsverbot dienen allein der Feier des Herrentages, an dem nicht gefastet und nicht knieend gebetet werden darf. Das hatte schon -»Tertullian (or. 23) zur besonderen Würde des Tages gerechnet. Die Frage der rechten physischen Haltung am Sonntag war ebenfalls das Ergebnis einer langen Diskussion, obwohl schon das Konzil von —»Nicäa 325 in can. 20 für den Sonntag das stehend verrichtete Gebet festgeschrieben hatte, was in der Folgezeit stets in Erinnerung gerufen werden mußte. Insgesamt bewegen sich die scholastischen Theologen innerhalb des überkommenen Spannungsfeldes zwischen geistlicher und materieller Deutung des Sonntags, allerdings tritt die Beachtung konkreter Gebote zurück. Beispielhaft - » H u g o von St. Viktor, der in seiner Auslegung des Dekalogs (Inst. Decal. leg. dorn. 1) von vier Sabbaten spricht: der erste Sabbat, an dem Gott von seinen Werken ruhte, der zweite, den die Kinder Israel fleischlich beachteten, der dritte, dem das Volk Gottes geistlich folgt, und der vierte ist jener verheißene Sabbat, für den Gott seinen Geliebten seine Ruhe verheißen hat. Kasuistiken über die sonntags erlaubten und verbotenen Arbeiten finden sich natürlich ebenso, z. B. bei Wilhelm von Rennes (erwähnt um 1250). - » T h o m a s von Aquino behandelt den Sonntag schließlich sowohl in der theologischen Summe (S.th. II-II q. 122 a4) als auch in dem späten Opusculum In duo praecepta caritatis et in decem legis praecepta expositio. Ziel und Zweck des Sonntags ist nicht die Ruhe, sondern die Hei-
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ligung, d.h. die Feier der Eucharistie (-*Abendmahlsfeier). Das Arbeitsverbot ist weder naturrechtliches Gebot noch göttliches Offenbarungsgesetz, weil im Neuen Bund der zeremoniale Inhalt des Alten Bundes aufgehoben ist. Somit ist das Sonntagsgebot reines Kirchengebot, dessen Sinn die Ermöglichung des Kultes ist. Das dritte Gebot bleibt zwar in Geltung, allerdings nicht weil von uns der Sabbat gefordert wäre, sondern weil es der Feier des Gottesdienstes dient. So gelingt es Thomas, den Eintrag sabbataler Argumentation auf ein Minimum zu beschränken und die Würde des Sonntags allein davon abzuleiten, was er zu Anbeginn der Kirche war - Herrentag. Den sozialen Aspekt der Arbeitsruhe läßt er nicht außer acht, die konkreten Verbote reiht er aber nicht kasuistisch aneinander, sondern leitet sie vom Begriff der opera servilia ab. Der Mensch steht in einer dreifachen Knechtschaft: gegenüber Gott - diesen Dienst erfüllt er, wenn er sich zum Gottesdienst frei macht; gegenüber der Sünde - wobei das Tun einer Sünde schwerer wiegt als der Vollzug körperlicher Arbeit; und drittens der Dienst am Menschen - dieser verletzt das Sonntagsgebot nur, insofern er den Dienst Gottes hindert. Diese Arbeiten aber lassen sich nicht in Listen fassen, denn sie sind orts- und zeitgebunden; die Sonntagsruhe ist nicht die totale Arbeitsruhe des jüdischen Sabbats. Daß Thomas eine theologisch herausragende Einordnung des Sonntags gelang, hinderte die Kirche nicht, die Durchsetzung eines sabbatalen Sonntagsgebotes weiterzubetreiben. Seit dem 13. Jh. werden die juridischen Bestrebungen der Theologie immer deutlicher. Die Verpflichtungen zur Arbeitsruhe und zum Besuch der Sonntagsmesse gehen Hand in Hand. Edmond Rieh von Canterbury (1180-1240) legt das 3. Gebot so aus, daß Gott befehle, alle kirchlichen Feiertage als Sabbate des Neuen Bundes durch Ruhe des Herzens und des Leibes zu heiligen. Zur gleichen Zeit erreichen die Bestimmungen zur Teilnahme des Kirchenvolkes an der ganzen Messe einen vorläufigen Abschluß. Die weitere Entwicklung ist in der nachscholastischen Zeit nur schwer literarisch greifbar, sie gipfelt aber im 15./16. Jh. darin, den Bruch des Sonntagsgebotes als Todsünde anzuprangern (Antonin von Florenz [gest. 1459]; P. -»Canisius: Cat. min. 27). Unversehens war aus dem Kirchengebot wieder ein Gebot Gottes geworden. 4. Das Zeitalter der
Reformation
Der Sonntag steht ab dem 16. Jh. unter einer doppelten Anfrage, weil zum einen die überkommenen staatlichen und kirchlichen Gesetze hinterfragt werden und zum anderen neue sabbatistische Strömungen in bisher ungekanntem Ausmaß auftreten (-»Sabbat IV). ->Luther und -»Zwingli werden ungefähr zur gleichen Zeit mit dem Problem konfrontiert, wenn auch aus unterschiedlichen Gründen. 4.1. Zwingli
und
Calvin
Zwingli kommt schon in der Schrift Auslegen und Gründe der Schlußreden vom 14. Juli 1523 in Art. 25 zu der Erkenntnis, daß die Freiheit Christi über den Sabbat auch die unsere sei; daraus folge, daß es besser wäre, am Sonntag nach dem Gottesdienst etwa notwendige Arbeiten zu erledigen als „liederlich mussiggon" (CR 89,247f.). Zwei Jahre später kommt er in der Antwort Valentin Cornpar gegeben zu der abschließenden Feststellung, daß der Sabbat nicht im Dekalog, sondern allein im Doppelgebot (Mt 22,37ff.) begründet sei und seine Berechtigung habe, um Gottes Wort zu hören und den Dienstleuten Ruhe und Erholung zu gewähren; er sei aber nicht an einen bestimmten Tag gebunden. Wenn es z. B. wegen der Ernte notwendig sei, könne man durchaus nach dem Gottesdienst arbeiten oder diesen ganz verlegen (CR 91,128f.). Diese doppelte Ausrichtung greift auch -»Calvin in seiner Institutio auf, wenn er sagt, daß das vierte Gebot einen Tag zum Vollzug des Gottesdienstes freihalten und den Unfreien Erholung geben wolle; auch er geht davon aus, daß beides nicht an einen bestimmten Tag gebunden sei. Dann allerdings greift er darüber hinaus: „So sollen wir denn erstens unser ganzes Leben lang nach der völligen sabbatlichen Ruhe von allen eigenen Werken trachten, damit der Herr in uns wirke durch seinen Geist. Zweitens
Sonntag
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soll sich jeder, sooft er Zeit hat, in f r o m m e r Erkenntnis der Werke Gottes üben; wir sollen aber auch alle miteinander die rechtmäßige O r d n u n g der Kirche wahren, die dazu eingerichtet ist, daß wir das W o r t hören, die Sakramente üben und öffentlich miteinander beten. Und zum dritten sollen wir unsere Untergebenen nicht unmenschlich b e d r ü c k e n " (Inst. 11,8,34). In Frage 103 des -»Heidelberger Katechismus ist dann dieser sozialethische Aspekt völlig ausgefallen und nur noch die Rede v o m Gottesdienstbesuch und d e m Beginn des ewigen Sabbats in dieser Zeit.
4.2. Luther und Melanchthon Anders als bei Zwingli ist bei Luthers Äußerungen zum Sabbatgebot nicht die Auseinandersetzung mit den Altgläubigen (im Gegenteil: bis in die 1 5 2 0 e r J a h r e bleibt er spätmittelalterlichen Sonntagsdeutungen verhaftet), sondern die mit dem sog. linken Flügel der R e f o r m a t i o n das auslösende M o m e n t . Im ersten Teil von Wider die himmlischen Propheten nimmt er 1525 u.a. auch auf —»Karlstadts Schrift Von dem sabbat und den gebotten feyertagen 1524 Bezug. Dort nimmt Karlstadt eine insgesamt sehr spätscholastische Position ein: „Gott hat dem menschen verpotten seyne werck am Sabbat zu thun und alles was wir unßere kinder und vihe thun könden das hat Gott auffgehaben und sol alles still ligen an dem tage da wir heylickeit von got bitten" (Karlstadt, Schriften 1,40 [ed. Hertzsch]). Auch seine Liste von Ausnahmen entspricht spätscholastischer Kasuistik. Luther wendet sich gegen diese Argumentation mit dem Alten Testament: Wenn man Karlstadt folge, ende man irgendwann bei der Feier des Sabbats und der Beschneidung (WA 18,77f.). Kol 2 und Gal 4 dagegen belegen, daß wir nicht an die alttestamentlichen Vorschriften gebunden sind und keinen Tag streng als Sabbat halten müssen. Wenn die Kirche den Sonntag feiert, dann darum, weil Mensch und Vieh Zeit für Erquickung und das Hören von Gottes Wort haben müssen. Im Großen Katechismus systematisiert er diese Anschauungen: Die strikten Sabbatgebote sind nur den Juden befohlen; für die Christen muß es natürlich auch einen Ruhe- und Gottesdiensttag geben; aus Gründen der althergebrachten Ordnung solle man deshalb beim Sonntag bleiben (BSLK 580f.). Im Kleinen Katechismus allerdings begegnen wir der gleichen inhaltlichen Verkürzung wie im Heidelberger Katechismus: „Wir sollen Gott fürchten und lieben, daß wir die Predigt und sein Wort nicht verachten, sondern dasselbige heilig halten, gerne hören und lernen" (BSLK 5 0 8 , 1 4 - 1 7 ) . Ein letztes Mal greift er das Thema 1538 in der Schrift Wider die Sabbather auf (-»Sabbat IV): „Gott spricht nicht: Du solt den Heiligen tag Feyren odder Sabbath machet (das findet sich wol selber), Sondern du solt den Feyertag odder Sabbath Heiligen ... Und wo eines solt odder kund nach bleiben, so were besser das Feiren, denn das Heiligen nach blieben" (WA 50,332f.; das entspricht ziemlich genau der Argumentation Thomas von Aquinos). „Darumb uns Heiden der Siebende Tag nichts angehet" (ebd.). Auch CA 28 nimmt zur Frage der Sonntagsheiligung Stellung, und zwar ausdrücklich gegen die strengen spätmittelalterlichen Sonntagsvorschriften: Die Bischöfe maßten sich an, göttliche Satzungen ausgehen zu lassen, „daß eine Todsunde sein soll, wenn man an Feiertagen eine Handarbeit tut, auch ohn Ärgernus der anderen" (BSLK 1 2 7 , 3 - 5 ) . Demgegenüber wird festgeschrieben, daß das Sonntagsgebot wie die anderen Kirchenordnungen nur dazu da ist, daß es ordentlich zugehe und keiner den anderen ärgere; sie dürfen aber nicht die Gewissen beschweren. „Dann die es dafür achten, daß die Ordnung vom Sonntag für den Sabbat als notig aufgericht sei, die irren sehr. Dann die heilig Schrift hat den Sabbat abgetan und lehret, daß alle Ceremonien des alten Gesetz nach Eröffnung des Evangeliums mögen nachgelassen werden. Und dannoch, weil vonnoten gewest ist, ein gewissen Tag zu verordnen, uf daß das Volk wußte, wann es zusammenkommen sollt, hat die christlich Kirch den Sonntag darzu verordent und zu dieser Veränderung desto mehr Gefallens und Willens gehabt, damit die Leute ein Exempel hätten der christlichen Freiheit, daß man wußte, daß weder die Haltung des Sabbats noch eins andern Tags vonnoten sei" (BSLK 1 3 0 , 9 - 2 5 ) .
4.3. Bucer Angesichts der milden H a l t u n g der drei sog. großen R e f o r m a t o r e n ist die Entwicklung des Sonntagsverständnisses in den reformierten Kirchen a b dem 17. J h . verwunderlich. R . Stupperich (Art. Bucer) hat hier auf den Einfluß M . - » B u c e r s verwiesen, der in der Z e i t seines Exils 1 5 4 8 bis zu seinem Tode 1 5 5 1 starken Einfluß auf die englische R e formation n a h m . Dabei w a r ihm in jenen letzten Lebensjahren die praktische Gestaltung
Sonntag
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des kirchlichen Lebens besonders wichtig, sowohl in seinen Katechismen als a u c h in seiner letzten Schrift De Regno Christi 1550. Insgesamt ist in den sehr ausführlichen Katechismen Bucers der Gang der Argumentation ein auffällig anderer als der Luthers oder Calvins. Bucer geht von der alttestamentlichen Begründung des Sabbatgebotes aus, zitiert vor allem auch die Strafandrohungen Ex 31,14f. und Num 15,32ff. (Bucer, Katechismen 120,7; 240,28), um dann die Verlagerung des Sabbats auf den Sonntag anzusprechen. Die christliche Freiheit im Umgang mit diesem Gebot nimmt bei ihm nur eine untergeordnete Stellung ein (ebd. 121). In De regno Christi geht er sowohl im 1. Buch, der biblisch-dogmatischen Grundlegung, als auch im 2. Teil, der konkreten kirchlichen Gesetzgebung, auf den Sonn- und Feiertag ein. Auch hier nimmt er seinen Ausgang von der alttestamentlichen Begründung der Sabbatgebote. Und obwohl er mit Gal 4,10 die Freiheit vom Gesetz zitiert, kommt er mit einer dialektischen Meisterleistung zu folgendem Schluß: „Denn obwohl wir von der ganzen Lehre Mose frei und nicht verpflichtet sind, die Sabbate und die anderen Feste, die er dem Alten Volk aufgetragen hat, so zu halten, daß wir Tage, Monate und Zeiten halten müßten (Gal 4,10; Kol 2,16), wie es für das alte Volk richtig war, sind wir nichtsdestotrotz verpflichtet, sie, die zur Mehrung unseres Glaubens an Christus dienen, mit größerem Eifer als jene Altvorderen bei uns einzusetzen und anzunehmen, da uns auch das Reich Christi in größerem Maße geoffenbart wurde; daher ist es auch unsere Pflicht, einen Tag der Woche öffentlich mit Werken der Religion zu heiligen" (De Regno Christi 1,11,81 f.). Des weiteren zieht er die Sonntagsgesetze der römischen Kaiser heran und lobt sie als gute Fürsten. Und schließlich wertet er gegenüber einem derart zu haltenden Sonntag die übrigen kirchlichen Feiertage weitgehend ab. In De Regno Christi 11,10 zieht er dann die Konsequenzen aus diesen Überlegungen und fordert ein königliches Gesetz, das analog den Vorschriften des Alten Testaments (Num 15,32ff.) strenge Strafen für die Entheiligung des Sonntags androhen soll: „Niemand bleibe unbestraft, der an diesem Tage Tätigkeiten verrichtet, die nicht notwendig sind, auch wenn sie, für sich genommen, nützlich sind; und noch viel mehr, wer den heiligen Versammlungen fernbleibt und sich fleischlichen Werken an diesen Tagen hingibt, wie etwa unehrenhaften Gewinn machen, die Religionsausübung] der Brüder stören, indem er Schulden eintreibt oder sie zu profanen Geschäften verleitet; auch sich liederlichen Spielen hingibt, unmäßigen Gelagen und anderen üblen Wollüstereien. ... Daher ist es grundsätzlich die Aufgabe Eurer Ehrenwertesten Majestät, gegen solch eine große Überheblichkeit gegen Gott, nämlich diese schreckliche Entweihung der heiligen Festtage, die Autorität des göttlichen Gesetzes wieder aufzurichten und auch jenen Beispielen frommer Fürsten zu folgen, deren Gesetze zu dieser Sache noch vorliegen, wie ich oben gesagt habe. ... Diese erlaubten an diesen Tagen weder Schauspiele noch Zirkusvorführungen noch die beklagenswerten Tiervorführungen, und sie verfügten, daß, wer am Festtag an solchen Spektakeln teilnimmt oder sich in obszöner Wollust befleckt, dem sollen die militärischen Ehren und der Besitz entzogen werden" (De Regno Christi 11,10,114.116). D a m i t hat Bucer sowohl die biblische Argumentation als auch die konkreten F o r derungen aufgestellt, die im 17. J h . den K a m p f um den sog. englischen Sonntag bestimmen sollten. 5. Neuzeit 5.1.
bis
1789
Mitteleuropa
Die Entwicklung der folgenden J a h r h u n d e r t e besticht durch erstaunliche Parallelen zur Alten Kirche: O b w o h l die führenden T h e o l o g e n die geistliche Deutung des Sabbatgebotes bezüglich des Sonntags betonen und vor judaisierenden Tendenzen w a r n e n , entwickelt sich die kirchliche Praxis genau dorthin. Schon 1 5 4 9 griff der Stralsunder Superintendent J o h a n n e s Freder ( 1 5 1 0 - 1 5 6 2 ) seinen Kollegen Alexander D u m e (gest. 1554) an, weil dieser sonntags Hochzeiten durchführte und dies mit Bezug auf die Heilige Schrift verteidigte ( A D B 5 , 4 5 9 ) . Die Auseinandersetzungen um den englischen Sonntag wirkten auf den theologischen Diskurs auch des Kontinents ein. Ein schönes Beispiel ist die Katechismusauslegung von Ph.J. ->Spener, die Einfältige Erklärung aus dem J a h r e 1677. In 2 0 Fragen und über 14 Seiten erläutert er die eine kurze F r a g e aus Luthers Katechismus. Dabei differenziert er die Sonntagsheiligung in den privaten und öffentlichen Gottesdienst, die Liebeswerke a m N ä c h s t e n und in das Arbeitsverbot. Verboten sind dann im einzelnen:
Sonntag
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alle Werke der Sünde, der täglichen Arbeit (außer den üblichen Notfällen) und jede A r t von „ E r g o e t z l i c h k e i t " und „leiblicher Erlustierung" (Einfältige Erklärung 1 5 9 , 3 [S. 103]). Die Bindung an das Gebot des Dekaloges erscheint ungleich stärker als bei Luther. Dagegen n a h m u.a. N . L . von - » Z i n z e n d o r f eine wesentlich freiere Haltung ein. Insgesamt aber w a r e n sowohl die katholische als auch die evangelischen Kirchen nicht dem Weg des englischen Sonntags gefolgt, wenngleich natürlich eine gewisse soziale und auch obrigkeitliche Kontrolle bestand und der Sonntag in der Regel dem vor- und nachmittäglichen Gottesdienst sowie, je nach Bildungs- und Vermögensstand, verschiedenen Arten von Rekreationen vorbehalten w a r . Von den reformierten Gebieten, z. B. von den Niederlanden und dem Niederrhein, gingen im 17. und 18. J h . wiederholt Bestrebungen aus, auch in Kontinentaleuropa den englischen Sonntag durchzusetzen; sie waren aber von keinem Erfolg gekrönt (vgl. Z a h n 2 0 6 ) . 5.2.
England
Eine A u s n a h m e stellt der angelsächsische Bereich dar, weil die Puritaner ( - » P u r i t a nismus) die allgemein übliche Substitutionslehre durch eine strenge Kontinuitätsvorstellung ersetzten. M . Levy sieht den englischen Sonntag als logische Folge der strengen calvinistischen Sittenlehre und Berufsethik, die in den politischen und religiösen Wirren des dritten Viertels des 16. Jh. in - » E n g l a n d Fuß faßten und sich in der ersten Hälfte des 17. J h . auf breiter Basis durchsetzten. Zahlreiche Gesetze und kirchliche Verordnungen schärften eine legalistische Sonntagsbeobachtung ein, wie sie auf dem Kontinent unvorstellbar gewesen wäre. 1603, beim T o d e -»Elisabeths, waren die Puritaner mit diesen Ideen noch eine kleine Minderheit, aber mit der T h r o n ü b e r n a h m e der Stuarts wurden sie eine der führenden Parteien Englands. Die Puritaner strebten nicht nur ein absolutes Verbot von Sonntagsarbeit an, sondern auch eines der weit verbreiteten Volksbelustigungen (Theater, Tierhetzen, Bogenschießen, Kegeln, Tanzen). Das erste konfessorische Dokument, das diese Entwicklung aufgreift und verbindlich erklärt, sind die Irischen Artikel von 1615: „56. The first day of the weeke, which is the Lords day, is wholly to be dedicated unto the service of God: and therefore we are bound therein to rest from our common and daily buysinesse, and to bestow that leasure upon holy exercises, both publike and private" (Der erste Tag der Woche, das ist der Tag des Herrn, ist allein dem Dienst Gottes geweiht: Deswegen sind wir verpflichtet, von unseren gewöhnlichen und täglichen Geschäften zu ruhen und unsere Muße mit heiligen Übungen zu verbringen, sowohl öffentliche als auch private; BSRK 533). Jakob I. (1603-1625) konnte die Vorstöße des puritanisch dominierten Parlaments noch abwehren, u.a. durch das berühmte Book of Sports 1616/1617, das althergebrachte und harmlose Volksbelustigungen außerhalb der Gottesdienstzeiten erlaubte (vgl. Levy 193). Aber unter seinem Nachfolger Karl I. (1625-1649) wird 1625 die Sunday Observance Act verabschiedet, die die absolute Sonntagsruhe zum Gesetz erhebt. 1627 wird noch einmal die Arbeitsruhe eingeschärft, die nicht nur Handwerk und Landwirtschaft, sondern auch Verkehr und Handel stillegt. 1644 wird die Sonntagsgesetzgebung vom Parlament nochmals verschärft und das Book of Sports aufgehoben. In den folgenden Jahren ging der Sonntagsrigorismus so weit, daß alle anderen Feiertage abgeschafft werden sollten. In der Westminsterconfession 1646/47 (-»Westminster/Westminsterconfession; T R E 13,425,31426,21), die nicht nur das grundlegende Dokument der Kirche von -»Schottland, sondern auch von -»Presbyterianern und anderen -»Reformierten Kirchen weltweit ist, wird festgehalten: „[God] hath particularly appointed one Day in seven for a Sabbath to be kept holy unto him: which from the Beginning of the World to the Resurrection of Christ was the lest [sic!] Day of the Week; and from the Resurrection of Christ, was changed into the first Day of the Week, which in Scripture is called the Lord's Day, and is to be continued to the End of the World, as the Christian Sabbath" (Gott hat einen Tag unter sieben als Sabbat bestimmt, der ihm geheiligt werden soll. Dieser war von Anbeginn der Welt bis zur Auferstehung Christi der letzte Tag der Woche; und von der Auferstehung Christi an wurde es der erste Tag der Woche, den die Schrift den Herrentag nennt, und dies muß fortbestehen bis zum Ende der Welt als der christliche Sabbat; BSRK 5 9 0 , 4 - 1 6 ) . 1657 wurden die Sonntagsgesetze neu zusammengefaßt. Verboten sind im einzelnen: „Alles Transport- und Reisegewerbe zu Wasser und zu Lande; den Wirten die Aufnahme und Beköstigung der Fuhrleute und Reisenden im Laufe des heiligen Tages, wenn sie nicht schon am Samstag ein-
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getroffen sind, wie erst recht jeder Gasthausbetrieb für Einheimische"; jeder Handel, geschäftlich oder privat, jedes Handwerk; jedes öffentliche Vergnügen „and vainly and prophanely Walking" (Levy 255f.). Ausgenommen sind nur die Zubereitung des Sonntagsmahles und der Milchverkauf. Knapp verhindern konnte das Parlament eine Zusatzbestimmung, die der Polizei erlaubt hätte, ohne richterlichen Auftrag in jedes Privathaus einzudringen, um die Befolgung des Gesetzes zu kontrollieren (ebd. 253f.). 1660, mit dem Wiederbeginn der Monarchie, war an eine Erneuerung des Book of Sports nicht mehr zu denken, obwohl die Gesetze aus der Zeit des Protektorates eigentlich aufgehoben wurden. Aber erst 1677 wurde ein neues Sonntagsgesetz erlassen, das im wesentlichen die Übertreibungen von 1657 abstellt. Mit den Erweckungsbewegungen des 18. Jh. breiteten sich private Überwachungsvereine aus, deren Aktivität aber immer auch Zeichen dafür ist, daß es bei der Befolgung der Sonntagsruhe zu Schwierigkeiten kam, und so kommt M . Levy zu dem Schluß, daß erst hier „das Zeitalter der eigentlichen Verankerung des strengen Sonntags im Leben des englischen Volkes" anbrach (Levy 272). Als dessen deutlichstes Merkmal kann die gleichzeitige Verbreitung der —• Sonntagsschule gelten (vgl. Whitaker 214ff.).
5.3.
Nordamerika
In den nordamerikanischen Kolonien wirkten die puritanischen Sonntagsvorstellungen ebenfalls weiter. In Virginia fordert ein Gesetz 1 6 1 0 unter schweren Strafen von allen Erwachsenen a m Sonntag zweimaligen Gottesdienstbesuch. A u c h aus den anderen Kolonien und späteren Bundesstaaten sind solche sog. „blue l a w s " erhalten, die alle Arten von Arbeit, H a n d e l , Verkehr und öffentlicher Unterhaltung verbieten. Die meisten wurden 1 7 7 6 ungültig, etliche sind aber bis heute nominell in den Verfassungen einiger Bundesstaaten enthalten, einige auch neu formuliert ohne religiöse Vorzeichen. Bis in die zweite Hälfte des 2 0 . J h . g a b es i m m e r wieder spektakuläre Prozesse, die sich mit den Folgen dieser Gesetze beschäftigen. D a s E n d e einer solcherart religiösen Vormundschaft der staatlichen Sonntagsgesetze liegt in der M i t t e des 19. J h . Schon 1 7 8 4 w a r z. B. Juden und Sabbatariern die begrenzte Sonntagsarbeit erlaubt. N a c h und nach setzten sich Sondergenehmigungen für bestimmte Arten von Handel und Dienstleistungen durch, was zu den heute vielerorts durchgehenden Ladenöffnungszeiten führte.
6. Das 19. und 20.
Jahrhundert
6.1. Die industrielle
Revolution
Auf dem europäischen Kontinent entwickelte sich die F r a g e der Sonntagsheiligung nach der Restauration nicht wesentlich anders als in den Jahrhunderten zuvor. I m m e r wieder wurde von kirchlichen Instanzen oder einzelnen Persönlichkeiten die strengere Durchführung bestehender oder der Erlaß neuer Gesetze a n g e m a h n t , aber O . Z ö c k l e r schreibt a m Ende des 19. J h . , „ d a ß die allgemeine Volkssitte statt einem Zuviel, allenthalben an einem bedauerlichen Z u w e n i g der Sonntagsstrenge leidet" (Zöckler 4 3 3 ) . Z ö c k l e r bezieht sich mit seiner Feststellung auf die allgemeine Einstellung der Bevölkerung, die gewiß keine Sonntagsruhe nach englischem Vorbild einhielt. Das Problem des Sonntags lag zu jener Zeit jedoch weniger in dieser „Volkssitte", wenn auch diese dem sozialen und ethischen M i ß b r a u c h in der ersten Hälfte des Jahrhunderts den Boden bereitet hatte. Vor 1800 wurde sowohl in der agrarischen als auch in der handwerklichen Produktion üblicherweise an sechs Wochentagen zehn bis zwölf Stunden täglich gearbeitet, mit jahreszeitlichen und beruflichen Schwankungen. Fahrende Handwerksgesellen hatten, zum Teil schon seit dem 16. Jh., in den Zünften den sog. „Blauen M o n t a g " durchgesetzt, wobei allerdings unklar ist, ob als Ersatz für häufig anfallende Sonntagsarbeit oder als zusätzlichen arbeitsfreien Tag. Als erstes nichtreligiöses, staatliches Gesetz im Deutschen Reich regelt das Allgemeine Preußische Landrecht 1794 deshalb das Sonntagsarbeitsverbot für Handwerksgesellen. Allerdings galt dieser § 358 Abs. 2 nicht für Fabrikarbeiter, und er wurde auch nicht durch Strafandrohungen geschützt. Mit dem Aufschwung der industriellen Fabrikation in den ersten Jahrzehnten des 19. Jh. (-»Industrialisierung) änderte sich die Lage dramatisch. Im Interesse optimaler Maschinenlaufzeiten trieben die Fabrikbesitzer die tägliche und wöchentliche Arbeitszeit für Männer, Frauen und Kinder konti-
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nuierlich nach o b e n . In der H o c h p h a s e des Frühkapitalismus zwischen 1830 und 1860 wurden in manchen Industriezweigen, z. B . der Textilindustrie, ununterbrochene tägliche Arbeitszeiten von bis zu 16 oder gar 18 Stunden an sechs oder sieben Wochentagen verlangt. Die gesundheitlichen und sozialen Folgen waren k a t a s t r o p h a l . 1839 erließ Preußen ein Regulativ, das die Arbeit von Kindern unter neun (später zwölf) J a h r e n an Sonntagen verbot und die wochentägliche Arbeitszeit für sie limitierte. Einer der G r ü n d e w a r übrigens der in m a n c h e n preußischen Provinzen prekäre M a n g e l an tauglichen Rekruten wegen des schlechten Gesundheitszustandes der Jugendlichen. Die milde H a l t u n g der kontinentaleuropäischen T h e o l o g i e , die sich bisher in der Regel gegen M i ß s t ä n d e der Freizeitgestaltung gewandt hatte, fand viel zu langsam A n t w o r t e n auf diese Situation, o b w o h l die Folgen in den G e m e i n d e n überdeutlich w a r e n . Einzelne Pfarrer ergriffen immer wieder das Wort zur gesamten sozialen Frage, aber die Existenz der evangelischen Kirchen unter dem landesherrlichen S u m m e p i s k o p a t erwies sich hier als verhängnisvoll. Im J a h r e 1840 richtete eine G r u p p e Berliner Pfarrer ein „ W o r t der L i e b e " an G e m e i n d e n und B e h ö r d e n , um wenigstens auf Einhaltung der bestehenden Gesetze zu drängen. Ähnlich äußerte sich 1844 auch Friedrich W i l h e l m IV.: „ d a ß die vorhandenen Bestimmungen in K r a f t bleiben und das D a w i d e r h a n d e l n endlich einmal bestraft werden s o l l e " (Treitschke 2 4 9 ) . Dieser Plan des Königs stieß a u f ebensolches M i ß t r a u e n und Ablehnung wie derjenige, zur Personal- und Hausseelsorge zusätzliche Hilfsgeistliche einzustellen („geheime S i t t e n p o l i z e i " : ebd.). Z u r gleichen Z e i t n a h m J . H . - » W i e h e r n die Sonntagsfrage in sein soziales P r o g r a m m auf und schenkte ihr später intensive B e a c h t u n g (Wichern, S W I, 2 4 3 , vor allem W i c h e r n s handschriftliche A n m e r k u n g ) . Die preußische G e w e r b e o r d n u n g von 1869, die nach 1870 Reichsrecht wurde und im Kern bis heute gilt, sah in der Urfassung von § 105 vor: „ Z u m Arbeiten an S o n n - und Feiertagen k ö n n e n die Gewerbetreibenden die Arbeiter nicht verpflichten." N a c h dem Sieg im deutsch-französischen Krieg 1 8 7 0 / 7 1 n a h m die industrielle E n t w i c k l u n g in Deutschland einen weiteren Aufschwung und mit ihr die traditionelle Sonntagsgestaltung einen A b s c h w u n g . Im J a h r e 1877 erließ der Evangelische O b e r k i r c h e n r a t in Berlin eine Zirkularverfügung zur Sonntagsfrage. O h n e k o n k r e t e gesellschaftspolitische Forderungen zu erheben (wie etwa eine tägliche oder w ö c h e n t l i c h e M a x i m a l a r b e i t s z e i t ) , werden hier der übersteigerte Industrialismus und der Werteverfall gegeißelt sowie sozialethische Mindeststandards a n g e m a h n t , etwa geordnete Pausen sowie eben die Sonntagsruhe (vgl. Brakelm a n n 51 ff.). Z u r gleichen Z e i t w a r eine Neufassung der G e w e r b e o r d n u n g schon in der Diskussion.
1887 ließen die preußische und die Reichsregierung zwei großangelegte Umfragen durchführen, die als generalisierbares Ergebnis aufwiesen, daß sonntags im Durchschnitt knapp 60 % der Betriebe aus allen Wirtschaftszweigen (Großindustrie, Handwerk, Handel und Verkehr) ganz- oder halbtags arbeiten ließen und dabei rund 4 2 % der Beschäftigten eingesetzt wurden. Die Reform des § 105 legte deshalb erstmals 1891 fest: Sonntagsarbeit ist grundsätzlich verboten; in solchen Betrieben, in denen mit einer behördlichen Ausnahmegenehmigung gearbeitet werden darf, muß jeder Arbeiter jeden zweiten Sonn- und Feiertag frei haben. 1895 wurde dem Gesetz eine Liste beigegeben, die die Ausnahmegewerbe auflistet. 6.2. Außerhalb
Deutschlands
Die industrielle Revolution brachte in England wie auf dem Kontinent die Sonntagsfrage neu ins Gespräch, aber dort unter gänzlich anderen Vorzeichen. Grundsätzlich w a r in England der S o n n t a g als arbeitsfreier T a g der Arbeiter weit weniger v o m Zugriff der U n t e r n e h m e r bedroht, denn nicht der kapitalistische Zugriff, sondern die „ungestaltete L e e r e " (Levy 2 8 1 ) w a r das P r o b l e m . Auch im 19. und 2 0 . J h . beschäftigte sich deshalb die öffentliche D e b a t t e vornehmlich um die Reglementierung von Freizeit- und Erholungsgelegenheiten. N o m i n e l l w a r e n weiterhin alle Veranstaltungen außer Gottesdienst und Sonntagsschule verboten, a b e r dennoch hatten sich nicht nur a u ß e r h a l b , sondern auch während der Gottesdienstzeiten G a s t s t ä t t e n und Geschäftsöffnungszeiten sowie Volksbelustigungen wie Cricketspiele, B o o t s p a r t i e n , Hundek ä m p f e u.a. etabliert (vgl. W h i t a k e r 2 3 4 f f . ) . In den J a h r e n 1 8 3 0 - 1 8 3 8 g a b es zahlreiche parlamentarische V o r s t ö ß e über ein neues, liberales Sonntagsgesetz. Ein solches wurde dann letztlich d o c h nicht beschlossen, aber die Sonntagsfrage blieb in der Öffentlichkeit präsent. D e m g e g e n ü b e r zeigten sich dann im viktorianischen Z e i t a l t e r auch in der Sonntagsfrage restaurative Tendenzen: 1 8 7 4 lehnte das P a r l a m e n t die sonntägliche Öffnung der M u s e e n a b . 1916 wurden z w a r den Filmtheatern vereinzelt Abendveranstaltungen am S o n n t a g genehmigt, a b e r die Gesetzeslage w a r zweideutig und wurde wiederholt erfolgreich angefochten. 1931 scheiterte ein liberales Sonntagsgesetz und passierte erst 1 9 3 2 in einer traditionsverbundenen Version das Unterhaus.
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N a c h 1945 sind dann aber diese Beschränkungen von Arbeitszeit, Sport, Unterhaltung sowie der Öffnungszeiten von Gaststätten und Geschäften in ganz Großbritannien schrittweise aufgehoben worden. A m Ende des 20. Jh. sind lediglich einige Ubereinkünfte über Lohnzuschläge für Wochenendarbeit übriggeblieben, die ein gewisses Mindestmaß an Sonntagsruhe aufrechterhalten.
Die Situation im übrigen Europa ist im Detail äußerst vielgestaltig, bewegt sich jedoch in ähnlichen Rahmenbedingungen. Die industrielle und gewerbliche Sonntagsarbeit wird im Laufe des 19. Jh. mehr oder weniger stark abgebaut; in Handel und Verkehr und auch mit den Ausnahmegenehmigungen ist insgesamt jedoch eine weniger strenge Haltung zu beobachten. Gesetze zum Schutz der Sonntagsruhe wurden erlassen: 1814 in Frankreich (1880 jedoch wieder aufgehoben), 1874 in Dänemark (ebenfalls wieder aufgehoben), 1877 in der Schweiz, 1885 in Österreich und Ungarn. In Belgien und Italien bestanden bis zum Ende des Jahrhunderts keine Regelungen, in Spanien, Portugal und Finnland gibt es heute keine allgemeinen Sonntagsgesetze. Im Grundsatz entsprechen die Bestimmungen denen der deutschen Gewerbeordnung, die in Notfällen, aus Gründen der technischen Natur eines Fabrikationsvorganges sowie wegen allgemeinen öffentlichen Interesses Sonntagsarbeit erlaubt. 6.3. Die rechtliche
Lage seit 1919
1919 tritt in Deutschland eine völlig neue und einmalige Lage ein: Der Schutz des Sonntags erhält Verfassungsrang. Art. 139 der Weimarer Reichsverfassung (WRV), der durch Art. 140 des Grundgesetzes (GG) fortgilt, bestimmt: „Der Sonntag und die staatlich anerkannten Feiertage bleiben als Tage der Arbeitsruhe und der seelischen Erhebung gesetzlich geschützt." Der Artikel ist zwar weltanschaulich neutral und begründet die Sonntagsruhe weder theologisch noch anthropologisch, aber durch seine Stellung im Abschnitt „Religion" erfahren seine sozialethischen Inhalte eine deutliche Ergänzung. Insofern stellt der Artikel eine Verschmelzung der inner- und außerkirchlichen Bestrebungen des 19. Jh. dar. Durch den Verfassungsrang, den z. B. der Schweizer Nationalrat ablehnte, wird klargestellt: Der Sonntag ist „keine beliebig zur Disposition des Bürgers oder der Behörden gestellte Einrichtung, [... sondern] er ist ein Grundelement sozialen Zusammenlebens" (Feller 23). Seine öffentliche Ruhe ist nicht nur eine „Dämpfung des Alltagslärms, sondern [soll] eine im öffentlichen Leben spürbare Unterbrechung" darstellen (Zmarzlik/Anzinger 241). Ausnahmen sollten deshalb echte Ausnahmen bleiben und deutlich den Zweck des Gemeinwohls erfüllen (Benda 90). In der Zeit vor und nach dem Zweiten Weltkrieg werden drei weitere Gesetze verabschiedet, die in den ersten zwei Dritteln des 20. Jh. dem Sonntag als allgemeinem Ruhetag eine derart breite gesellschaftliche Basis verschaffen, wie er sie in Deutschland weder vorher hatte noch je wieder erreichen sollte. Zu erwähnen sind 1934 das Feiertagsgesetz, das sonntags die öffentliche Ruhe und dabei besonders die Zeit des Gottesdienstes schützt, sowie die Arbeitszeitverordnung 1938, die bis 1994 galt. Sie regelte die wöchentliche Arbeitszeit. Und schließlich das restriktive deutsche Ladenschlußgesetz von 1956. So lag die Zahl der Beschäftigten, die regelmäßig Sonntagsarbeit leisteten, 1960 bei etwa 1 8 % . Schon in jener Zeit hat es Bestrebungen von Seiten der Wirtschaft gegeben, „die allgemeine Sonntagsruhe durch ein über alle Wochentage gleitendes System von wechselnden Ruhetagen zu ersetzen" (Verhandlungen der ersten rheinischen Landessynode 1948, 89). Die erste rheinische Landessynode 1948 verurteilte solche Pläne scharf. Seit 1960 aber hat sich unter internationalem wirtschaftlichem Druck und wegen des sich weiter verändernden Freizeitverhaltens die Lage wieder gewandelt. Immer mehr Industriezweigen wird die kontinuierliche Sonntagsarbeit zugestanden, und die Sonntagsarbeit steigt vor allem im Dienstleistungsbereich rapide an. Konsequenterweise wurde 1994 ein neues Arbeitszeitgesetz verabschiedet, das sowohl die Liste der Gewerbeordnung von 1895 als auch die Arbeitszeitverordnung von 1938 aufhebt und nun in Generalklauseln die erlaubten und verbotenen industriellen und gewerblichen Tätigkei-
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ten erfaßt, anstatt sie enumeratorisch aufzureihen. Mit § 15 ist in Deutschland erstmals auch die wirtschaftliche Konkurrenzfähigkeit und die Beschäftigungssicherung aufgenommen. Auch das deutsche Ladenschlußgesetz wurde 1996 stark liberalisiert. D a n e b e n haben die meisten deutschen Bundesländer Feiertagsgesetze verabschiedet, die im Detail ebenfalls stark divergieren, übereinstimmend jedoch dem christlichen Hauptgottesdienst am S o n n t a g v o r m i t t a g besonderen Schutz g e w ä h r e n . D a s saarländische Gesetz von 1976 bezieht auch die Vorabendgottesdienste in den Sonntagsschutz mit ein. Diese Gesetze gehen dabei einen grundsätzlichen Schritt über Art. 139 W R V hinaus, da sie nicht nur den A r b e i t n e h m e r von der Arbeitspflicht befreien, sondern jeden Bürger sowie Vereine und Verbände zur Einhaltung eines gewissen G r a d e s von R u h e verpflichten, indem sie bestimmte private, gemeinschaftliche und gewerbliche T ä t i g k e i t e n verbieten. D e r gesellschaftliche Konsens sowie die R e c h t s p r e c h u n g werden aber auch hier zunehmend liberaler. Insofern besteht dieser Aspekt des Konstantinischen Sonntagsgesetzes bis heute fort. Aber auch ein anderer G e d a n k e ist in die europäische Rechtstradition eingegangen: der sonntägliche R e c h t s frieden. In fast allen europäischen Staaten sind Zwangsvollstreckungen und Gerichtstermine sonntags ausgesetzt; gesetzliche Fristen, die an Sonntagen enden würden, verlängern sich automatisch bis zum nächsten Werktag.
6.4. Das kirchliche
Recht im 20.
6.4.1. Die Römisch-katholische
Jahrhundert Kirche
6.4.1.1. CIC 1917. Im J a h r 1517 hatte - » L e o X . verfügt, daß zur Erfüllung der Sonntagspflicht der Besuch einer M e s s e in jeder katholischen Kirche genüge. R e c h t l i c h verpflichtend in ein G e setzbuch der Kirche a u f g e n o m m e n wurde dieses Sonntagsgebot allerdings erst 1917 mit dem C o d e x Iuris C a n o n i c i . I m 2 . Teil des 3. Buches (De locis et temporibus sacris) befassen sich can. 1 2 4 7 - 1 2 4 9 mit den „für die gesamte Kirche gebotenen F e s t t a g e n " , zu denen die S o n n t a g e unterschiedslos hinzugenommen werden (can. 1247 § 1). C a n . 1248 legt dann fest, wie diese T a g e zu begehen sind, nämlich durch H ö r e n (!) der M e s s e an jedem O r t , w o sie nach k a t h o l i s c h e m Ritus gefeiert wird, Unterlassung von knechtlichen Werken, Gerichtsvorgängen, öffentlichem H a n d e l , Verkehr, M ä r k ten und anderen G e s c h ä f t e n . Die nach dem Konzil von Trient ( - » T r i d e n t i n u m ) in den katholischen Katechismen einsetzende Begründung des Sonntags aus göttlichem R e c h t wird nun relativiert. Der S a b b a t selbst ist als Teil des alttestamentlichen Zeremonialgesetzes a u f g e h o b e n , der wöchentliche R u h e t a g aber ist als Teil des - » N a t u r r e c h t s zwingend vorgeschrieben. Seine Festlegung und inhaltliche Füllung aber fällt in das R e c h t der K i r c h e , dessen Verletzung nun zwar keine Todsünde mehr, aber i m m e r noch eine „schwere S ü n d e " (Gasparri 146) darstellt.
6.4.1.2. Das II. Vatikanische Konzil. Die Grundlage für ein gewandeltes Bewußtsein vom Sonntag innerhalb der katholischen Kirche ist die liturgische Bewegung (-»Liturgische Bewegungen). Seinen Ausdruck fand es in der Liturgiekonstitution Sacrosanctum Concilium ( = SC; Vatikanum II). In SC 106 werden gewichtige Akzentverschiebungen vollzogen: (a) Der Sonntag ist der Ur-Feiertag der christlichen Kirche, (b) Die Begründung seiner Feier ist eine ausschließlich neutestamentlich-christli.che, die ihre Ursache allein im Ostergeschehen hat. (c) Deshalb ist er ein Tag der Freude und der Feier der Gemeinschaft. (d) Deutlich unterschieden wird nun zwischen der Verpflichtung, das Wort Gottes zu hören und an der Eucharistiefeier teilzunehmen, und der Ermahnung, ihn zu einem Tag der Muße zu erheben. Ferner bestimmt SC 56, daß zur Erfüllung der Sonntagspflicht die Teilnahme am ganzen Gottesdienst, also Wortgottesdienst und Eucharistiefeier, gehört. Das Dekret über die Ostkirchen Orientalium Ecclesiarum ( = OE) rezipiert darüber hinaus erstmals die abweichenden Traditionen jener Kirchen, die in der Regel für alle Ostkirchen, nicht nur für die mit Rom unierten, gelten: Eine strikte Verpflichtung zur Teilnahme an der Messe hat es hier nie gegeben, und schließlich gelten traditionell auch das Chorgebet sowie die Vorabendvesper als Sonntagsgottesdienste (OE 15). 6.4.1.3. CIC 1983. Der neue Codex übersetzt dann diese Konzilsbeschlüsse in geltendes Kirchenrecht. Die neuen Kanones 1 2 4 6 - 1 2 4 8 unterscheiden sich signifikant: can. 1246 § 1 nennt die Sonn- und Feiertage nun nicht mehr in einem Atemzug, sondern stellt jenen diesen deutlich voran. Can. 1247 verpflichtet die Gläubigen zur Teilnahme,
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nicht mehr nur zum Hören der Meßfeier an jedem Sonntag und an den gebotenen Feiertagen (-»-Feste und Feiertage), sowie zur Enthaltung von den Tätigkeiten, „die den Gottesdienst, die dem Sonntag eigene Freude oder die Geist und Körper geschuldete Erholung hindern". Damit fällt nach über 1600 Jahren zum einen der Begriff der opera servilia, zum anderen wird jeder Versuch einer Aufzählung zugunsten einer sinnvollen Generaldefinition aufgegeben. Can. 1248 bezieht die Vorabendmessen zur Erfüllung der Sonntagspflicht ein und läßt in schwerwiegenden Notfällen auch Wortgottesdienste oder das private oder familiäre Gebet gelten. 6.4.1.4. Der Katechismus 1993. Im Jahr 1993 promulgierte Johannes Paul II. einen Weltkatechismus, der sich selbst als Auslegung des Konzils und als N o r m zukünftiger regionaler -»Katechismen versteht. An wichtigen Punkten, so auch in der Beurteilung des Sonntags, geht er jedoch hinter die Konzilsbeschlüsse zurück. Z u m Sonntag nimmt er in den §§ 1166f. (im Teil „Die Feier des christlichen Mysteriums") und §§2168-2195 („Das Leben in Christus" - der Dekalog) Stellung. Das Konzil aber zog das 3. Gebot ausdrücklich nicht zur Sonntagsfrage heran. Der Abschnitt §§ 1166f. beruht im wesentlichen auf SC 106 und hebt die Vorrangstellung des Sonntags sowie die Feier des Gottesdienstes hervor. §§2168-2173 beschreiben den alttestamentlichen Sabbat sowie den Umgang Jesu mit ihm. §§2174ff. gehen dann zum Sonntag über. Inwieweit allerdings der Sonntag sich ausdrücklich vom Sabbat unterscheiden soll, wenn er „in Erfüllung des Sabbatgebotes von den Christen allwöchentlich" (§2175) begangen werden soll, bleibt rätselhaft. In § 2176 ist dann bezeichnenderweise wieder vom sittlichen Naturrecht die Rede, was doch schon T h o m a s von Aquino abgelehnt hatte. §§2180-2183 befassen sich mit den Regeln und Ausnahmen der Meßpflicht, §§ 2184-2188 mit der Arbeitsruhe. Dabei wird versucht, die Generalklausel von can. 1247/CIC mit Inhalten zu füllen.
6.4.2. Evangelisches
Kirchenrecht
Die Reformatoren und in ihrer Folge die Landeskirchen haben von einer derartigen Fixierung des Sonntags abgesehen, was mit der Stellung des Kirchenrechts insgesamt zu tun hat. In den Katechismen und in den —> Kirchenordnungen werden die Gemeinden und ihre Glieder zur Sonntagsheiligung aufgefordert, aber genauere Vorgaben fehlen. Die Worte F. Kalbs über den -»Gottesdienst gelten prinzipiell für den ganzen Bereich: „So wie der christliche Gottesdienst nicht an einen bestimmten Ort oder Raum gebunden ist, so ist er auch nicht an eine bestimmte Zeit gebunden. Die Christenheit weiß sich frei vom Gesetz (Gal 3 , 2 3 - 2 5 ) " (Kalb 63). Dennoch verpflichten die meisten Kirchenordnungen die Ortsgemeinden, Kirchenvorstände (Presbyterien), Pfarrerinnen und Pfarrer, dafür zu sorgen, daß die Sonntage ihre eigene Würde erhalten, d.h. vor allem, daß die -»Gemeinde sich zum Gottesdienst versammelt. Beispielhaft sei die Kirchenordnung der Evangelischen Kirche im Rheinland genannt, die 1996 eine signifikante Neuorientierung erhalten hat. Die alte Fassung des Art. 15 von 1953 besagte: „(1) Der vornehmste Dienst jeder Kirchengemeinde ist der Dienst am Worte Gottes. Die Kirchengemeinde hat dafür zu sorgen, daß sich die Gemeinde so oft wie möglich, besonders aber an jedem Sonn- und Feiertag, zum Gottesdienst versammelt, um die Predigt zu hören, den Herrn im Gebet und Lobpreis anzurufen, das Mahl des Herrn zu halten und ihr Dankopfer darzubringen. (2) Das Presbyterium hat dafür zu sorgen, daß möglichst in allen Gottesdienststätten der Gemeinde mindestens an jedem Sonn- und Feiertag ein Gottesdienst stattfindet. (3) Eine Verminderung der Zahl der regelmäßigen Gottesdienste bedarf der Zustimmung des Kreissynodalvorstandes. (4) Die Gemeinde und ihre Glieder sollen darauf achten, daß die Sonn- und Feiertage geheiligt werden und alles von ihnen ferngehalten wird, was die Teilnahme am Gottesdienst oder die W ü r d e dieser Tage hindert oder beeinträchtigt." Im Zuge der Experimente mit neuen Gottesdienstformen und -zeiten in vielen Gemeinden hatte die Kirchenleitung diese Bestimmungen dahingehend ausgelegt, daß es nicht zulässig sei, Sonntagsgottesdienste zugunsten von Samstagabendgottesdiensten ausfallen zu lassen. 1996 wurden die entsprechenden Artikel der Kirchenordnung grundlegend geändert. Das „Sonntagsgebot" wurde aus dem Abschnitt „Die Kirchengemeinde" herausgenommen und findet sich
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nun fast wörtlich in Art. 14 Abs. 2 im Abschnitt „ D i e R e c h t e und Pflichten der G e m e i n d e g l i e d e r " . D a m i t wird die Bedeutung der Sonntagsgestaltung für das Leben der einzelnen Gemeindeglieder betont, aber das Presbyterium wird faktisch aus der V e r a n t w o r t u n g entlassen. D a s der Kirchenordnung neu zur Seite gestellte „ L e b e n s o r d n u n g s g e s e t z " ( L O G ) untergräbt auch den neugefaßten Art. 16 K O ( „ D i e christliche Gemeinde versammelt sich im N a m e n G o t t e s des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes so oft wie möglich, besonders aber an jedem Sonntag und kirchlichen Feiertag, zum Gottesdienst und lädt dazu e i n " ) , indem es die Verlegung des Gottesdienstes vom S o n n t a g weg erheblich erleichtert.
7. 7.1.
Theologisch Dogmatisch
Bezeichnend für den Stellenwert und damit vielleicht auch für die Misere des Sonntags, und darüber können auch die diversen Denkschriften der vergangenen Jahre nicht hinwegtäuschen, ist wohl, daß es innerhalb der evangelischen Theologie und Dogmatik keine eigenständige, aus der Christologie (Auferstehungstag), Ekklesiologie (Tag der versammelten Gemeinde) oder Eschatologie (ewiger Sabbat) entwickelte Lehre vom Sonntag gibt, im Gegensatz etwa zum II. Vatikanischen Konzil, Sacrosanctum Concilium 106. In den großen Dogmatiken und Lehrbüchern des 20. Jh. ist er faktisch nicht vorhanden, oder die Argumentation folgt ausschließlich der Linie „Arbeit und Freizeit Werktag und Wochenende" (so symptomatisch Ev. Erwachsenenkatechismus 673ff.). Die große Ausnahme stellt K. -»Barth dar, der zwar den Sonn- und Feiertag auch „nur" innerhalb der Schöpfungsethik (KD III/4) behandelt, aber bezeichnenderweise nicht in der Arbeitsethik (ebd. §55,3), sondern als ersten Punkt der „Freiheit vor Gott" (ebd. §53,1), als Grundbestimmung jeden ethischen Handelns überhaupt, als durch das Doppelgebot der —»Liebe vor jedem anderen Dienst stehenden Gottes-Dienst (Barth, KD III/4, 52f.55). Barth sagt deutlich: D e r Feiertag ist nicht L o h n der —»Arbeit, den man a m E n d e der werktägigen W o c h e verstehen und empfangen k a n n , sondern er ist die „Bereitschaft für das E v a n g e l i u m " : „ K a n n man das Gesetz h ö r e n , b e v o r man das Evangelium gehört h a t ? " W a r der S a b b a t schon im Alten Testament der T a g der Z u w e n d u n g G o t t e s , Z e i c h e n der —»Freiheit G o t t e s und des M e n s c h e n , so hat die Christenheit sinn- und t e x t g e m ä ß gehandelt, ihn auf den ersten W o c h e n t a g zu verlegen, der als Tag der Auferstehung Zeichen der neuen Z u w e n d u n g und Freiheit ist (ebd. 5 7 ) . Vor allen anderen G e b o t e n und ethischen N o r m e n verweist der Feiertag die M e n s c h e n auf das Handeln dessen, der all unserem T u n vorangeht, der all unsere Arbeit ermöglicht und der dem G l a u b e n an unsere eigenen Werke eine Grenze setzt. Und er verweist als T a g der Auferstehung auf die Eschatologie, auf die W i e d e r k u n f t Christi, als deren Vorzeichen die Auferstehung schon seit je verstanden wurde, und somit auf die Auferstehung Aller, auch jenseits der engeren, aus dem Alten Testament ü b e r n o m m e n e n Vorstellungen v o m T a g J a h w e s und der ewigen S a b b a t r u h e (ebd. 6 1 ) . D e r ursprüngliche und letzte Inhalt des Herrentages ist somit der G l a u b e an den geoffenbarten G o t t und an seine verheißenen Wohltaten, zu denen er den M e n s c h e n frei m a c h t von sich selbst und seiner Arbeit (ebd. 6 4 f . ) . „ M a n k a n n also die Arbeitsruhe und den Gottesdienst nur insofern zum Inhalt des Feiertagsgebotes rechnen, als allerdings nicht abzusehen ist, wie es o h n e Arbeitsruhe und ohne Gottesdienst praktisch zu jenem besonderen, feiertäglichen A k t entsagenden G l a u b e n s k o m m e n könnte. M a n k a n n w o h l sagen, daß es o h n e Arbeitsruhe und T e i l n a h m e am Gottesdienst keinen G e h o r s a m gegen das Feiertagsgebot gibt. M a n k a n n a b e r nicht sagen, daß die Arbeitsruhe und die T e i l n a h m e am Gottesdienst den G e h o r s a m gegen das Feiertagsgebot a u s m a c h t " (ebd. 6 5 ) . Die h u m a n i t ä r e Begründung des Feiertages ist dagegen sekundär, o b w o h l M k 2 , 2 7 sie natürlich einschließt. Aber der rein h u m a n i t ä r e Versuch seiner Begründung wird dem M e n s c h e n keine Lasten a b n e h m e n , sondern nur neue Lasten auflegen (ebd. 67). D i e T e i l n a h m e a m G o t t e s d i e n s t , die Feier des gemeindlichen, sonntäglichen Festes ist übrigens auch kein zwingender Ausfluß des G e b o t e s , sondern lediglich der Versuch, die Arbeitsruhe sinnvoll zu füllen (ebd. 6 8 ) . Aber: wer frei von sich und von seiner Arbeit ist, wer frei für G o t t ist, der ist auch frei zum Gottesdienst (ebd. 69).
Zum Schluß stellt Barth vier Forderungen für eine Sonntagsethik auf: (a) Der Sonntag ist „ein für den Menschen von jedem Muß freier Tag" (ebd. 73), insofern kann er Arbeits-, Vergnügungs- oder Feiertag sein, (b) Der Sonntag ist ein fröhlicher Tag, die Feier eines Festes, der Tag des Evangeliums und nicht des Gesetzes (ebd. 74f.). (c) Der Sonntag
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ist der Tag der menschlichen Gemeinschaft, der um das Evangelium versammelten Gemeinde und der sozialen Mitmenschlichkeit (ebd. 7 6 f . ) . (d) Der Sonntag ist der erste Tag der W o c h e . Sein Licht strahlt in die W o c h e - wenn unser Leben nach - » G o e t h e s Diktum aus dem Schatzgräber „ S a u r e W o c h e n , frohe F e s t e " bringt, dann stimmt etwas nicht mit unseren Werk- und Sonntagen (ebd. 7 8 ) . 7.2.
Ethisch
7.2.1. Ausgewählte ethische Entwürfe: De Quervain, Thielicke, Trillhaas, Rendtorff. Wenn man die Stellung des Sonntags in Barths Dogmatik bedenkt, ist verständlich, daß sein Weggenosse A. de Quervain ihm ebenfalls breiten Raum einräumt. Im ersten Teil seiner Ethik, „Die Heiligung", geht er in einer spezifischen Engführung auf die Gemeinde am Dekalog entlang. Zum Sabbatgebot sagt er: Der Sabbat ist der Freudentag des Alten Bundes, das Geschenk der Liebe Gottes für sein Volk, das Evangelium des Alten Testaments. Und die christliche Gemeinde schützt vor einem gesetzlichen Verständnis die Freiheit vom Gesetz. Zugleich wehrt de Quervain sich gegen jede rein soziale oder naturrechtliche Herleitung: Der Sonntag ist allein der Tag der Gemeinde Jesu Christi. Im letzten Band, „Ruhe und Arbeit" (man beachte die Reihenfolge!), versucht er eine positive Füllung der Begriffe: „Freizeit bedeutet also zweierlei: eine andere Arbeit als die, die der Mensch tun muß, um zu leben oder die ihm als Mühe zu tun obliegt; es bedeutet dann auch ein Ausruhen von der Arbeit, ein Sichöffnen der Fülle des Lebens. Im Glauben an Jesus Christus empfängt der Mensch alles; in der Freude an Jesus Christus wird er dessen froh, was es nur Gutes für ihn gibt. Es wird also deutlich, daß wir nicht über Freizeit und ihren Inhalt, über die Gestaltung der Freizeit reden können, ohne auf das zurückzugreifen, was am Anfang unserer Besinnung über die Arbeit stand. Wir müssen der Ruhe gedenken, die Gott dem Menschen geschaffen hat, der Ruhe, deren Zeichen der Feiertag ist. Wir müssen des Feierns der Glieder der Gemeinde gedenken, jenes Feierns, zu dem jeder aufgerufen ist" (ebd. 81). Wenn, so fährt er fort, der Feiertag hauptsächlich sozialhygienische Gründe hätte, müßten die Arbeiter sich gegen ihn wehren, denn dann wäre er nur ein niederträchtiges Mittel der Arbeitgeber zur besseren Ausnutzung der Arbeitskraft. Der Feiertag aber ist ein Privileg der Gemeinde. Immerhin gibt de Quervain zu: „Der Ruhe bedarf jeder" (ebd. 85). H. -»Thielicke kommt ebenfalls im letzten Band seiner Theologischen Ethik auf den Sonntag zu sprechen. Soziale Desynchronisation, Freizeitindustrie und Fragmentierung der Zeit aus ökonomischen Gründen sind für ihn die großen Probleme unserer Zeit (Thielicke §914ff.). Gegenüber de Quervain geht er einen anderen Weg: Kirche und Theologie müssen in Wirtschaft und Politik auf das auch jenseits der Kirchenmauern liegende Humanum des einheitlichen Wochenrhythmus aufmerksam machen. Darüber hinaus muß Kirche flexibel und mobil den Menschen begegnen: Die Festlegung des Hauptgottesdienstes auf die Zeit zwischen der ersten und zweiten Stallfütterung ist ein Anachronismus. Und drittens gehört zur diakonischen Aufgabe auch die Anleitung und das Angebot der Kirche zu sinnvoller Freizeit- und Feiertagsgestaltung der Menschen. Auch W. -»Trillhaas mahnt angesichts steigender Entfremdung, zunehmender Freizeit und Sinnentleerung die Kirche, den Feiertag mit neuem Sinn zu füllen (Trillhaas 406). Er sieht dazu weder puritanische Gesetzlichkeit noch die traditionell laxe lutherische Haltung geeignet, sondern einerseits eine Besinnung auf den eschatologischen Gehalt des Tages und den ihm immanenten Protest gegen den Allmachtsanspruch der Ökonomie (ebd. 407). Dazu muß die Kirche sich ständig fragen, ob ihre Sonntagsfeier bzw. ihre Gottesdienste dies ausdrücken und die Menschen erreichen. T. Rendtorff schließlich geht von der schöpfungstheologischen Einsicht (-»Schöpfer/Schöpfung) aus, daß Gottes Werk aller menschlichen Arbeit vorangeht und so die Arbeit nicht den Wert des Menschen ausmacht (Rendtorff 56). Weil in den modernen Industriegesellschaften die Freizeit ständig zunimmt, darf der Feiertag „nicht einfach als Teil der arbeitsfreien Zeit verrechnet werden" (ebd. 57). Es besteht ein qualitativer Unterschied zwischen Sonntag und Wochenende, der auch z. B. in Art. 139 W R V anerkannt ist, wo zwischen „Arbeitsruhe" und „seelischer Erhebung" unterschieden wird. Der Feiertag ist ein Grundelement gemeinsamen Lebens, der gesellschaftlichen Kultur und ein Symbol für die Grenzen der Ökonomie, das die Kirche auch über ihr Eigeninteresse anzumahnen hat. 7 . 2 . 2 . Die Auflösung der sozialen und religiösen Synchronisation. Wenn die Sonntagsethik sich also auf die F r a g e beschränkt sieht, inwiefern das Sabbatgebot auf m o d e r n e Arbeitszeitprobleme anzuwenden sei, liegt eine Verkürzung der Sichtweise vor. Weit mehr als noch zu Luthers Zeit gilt heute: Es geht nicht zuerst um die Arbeitsruhe, sondern um die Heiligung. Die F r a g e der wöchentlichen Arbeitsruhe ist in der sog. ersten Welt längst gelöst. D a ß der M e n s c h neben der täglichen Ruhezeit auch eine kurz periodisierte Freizeit
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braucht, um seine physische und psychische Gesundheit zu erhalten, ist ein Allgemeinplatz. In der paganen Antike waren es die regelmäßigen Markttage und zahlreichen Feste, im mittelalterlichen christlichen Europa die Sonntage und Heiligenfeste, die die heutige Funktion von Wochenende und Jahresurlaub ausfüllten. Eine wesentliche Gemeinsamkeit all dieser Traditionen bis in die jüngste Vergangenheit war aber die (zumindest regionale) zeitliche Übereinstimmung, die den Familien und größeren sozialen Gruppen einen unabdingbaren Raum zum Kontakt und Zusammenhalt gab. Dieser Raum ist in den letzten Jahrzehnten zunehmend geschwunden - aus den verschiedensten Gründen. U. Altermatt belegt, daß noch 1950 in den ländlichen Gegenden der katholischen -•Schweiz (und das läßt sich sicher für das rurale Europa generalisieren) der Sonntagvormittag ganz und gar dem Kirchgang und der Nachmittag den sozialen und kommunikativen Kontakten in (Groß-)Familie und Dorfgemeinschaft vorbehalten war. Eine Abkehr von diesen Strukturen, die sich natürlich im städtischen und industriellen Milieu schon früher ankündigte, ist mit auf die Flut säkularer und höchst differenzierter Freizeitangebote zurückzuführen - die übrigens erhebliche Sonntagsarbeit verursachen. Die meisten am Sonntag arbeitenden Beschäftigten finden sich heute im Dienstleistungsgewerbe, wo nämlich fast 20% der Beschäftigten ständig oder regelmäßig Sonntagsarbeit verrichten, zu denen noch einmal die 10% der Beschäftigten aus Handel- und Gastgewerbe hinzugezählt werden müssen - insgesamt also fast ein Drittel der Beschäftigten in diesen Wirtschaftszweigen. Der Wirtschaftssektor mit dem nächsthöchsten Anteil regelmäßiger Sonntagsarbeit ist mit 18,9 % die Landwirtschaft. Die traditionelle Schwerindustrie (z.B. Bergbau, Bau, Industrie) folgt dann erst mit 6,2% auf de~i vorletzten Platz (vgl. Die Ruhe bewahren 3). Im Jahre 1999 gab es, ausgehend von einigen ostdeutschen Kommunen, einen weiteren starken Impuls, die generellen Ladenschlußzeiten für Samstage und Sonntage außer Kraft zu setzen. Dazu treten in den letzten Jahren vermehrt ökonomische Ansprüche, die auf kontinuierlichen Wochen- und Schichtbetrieb zielen. Alternative und gleitende Arbeitszeitmodelle werden die Lösung der persönlichen Arbeitszeit von den normalen Betriebszeiten weiter vorantreiben. Erwähnt werden muß hier der Vorstoß des Volkswagenkonzerns, der 1994 aus arbeitsmarktpolitischen Überlegungen (zur Rettung von rund 30.000 Beschäftigungsverhältnissen) mit seinen ca. 100.000 Beschäftigten in Deutschland ein neues Arbeitszeitmodell, die sog. „4-Tage-Woche", vereinbart hat (Hartz, Arbeitsplatz 64). Von dieser Regelung, die seither immer weiter modifiziert wurde, ist zwar nicht der arbeitsfreie Sonntag betroffen, aber die soziale Synchronisation in den Städten mit großen VW-Werken, allen voran die der „VW-Stadt" Wolfsburg: vom Familienleben über gemeinschaftliche Freizeitgestaltung (z. B. das Vereinsleben) bis hin zum gesamten Sozialgefüge der Stadt zeigten sich gravierende Fragmentierungserscheinungen, und auch die Folgen für den Arbeitsrhythmus (und somit die Arbeitsleistung) der Beschäftigten waren nicht durchweg positiv (Martens). Begleitende soziologische Studien belegen allerdings, daß attraktive Arbeitszeitmodelle von den meisten Arbeitnehmern begrüßt werden, der Gewinn an Freizeit also höher eingeschätzt wird als die damit verbundenen Lohneinbußen (Willeke/Kleine-Brockhoff 17ff.). Die neueste Entwicklung ist von der elektronischen Vernetzung der Gesellschaft zu erwarten. Die Grenzen zwischen Arbeitszeit und Freizeit werden für die Betroffenen wieder verwischt. Vielleicht wird damit ein Ende der mit der Industrialisierung eingesetzten Entfremdung eingeleitet, wenn Arbeit und Familienleben wieder unter einem Dach möglich werden, vielleicht wird aber auch unsere Zeit in immer inkompatiblere Fragmente zerteilt. Das Ziel des ethischen Handelns muß deshalb einerseits darin liegen, einer weiteren Fragmentierung der sozialen Zeitstruktur zu wehren, und andererseits Freizeit als sinnvoll zu nutzende Zeit erlebbar zu machen. Auch die Politik folgt diesen neuen Erkenntnissen, daß nicht nur die Arbeitsruhe, sondern auch eine gewisse soziale Synchronität
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eine unabdingbare Voraussetzung für jedes Gemeinwesen ist. So verpflichten sich in der revidierten Europäischen Sozialcharta von 1996 die Vertragsstaaten „ t o ensure a weekly rest period which shall, as far as possible, coincide with the day recognised by tradition or custom in the country or region concerned as a day of rest" (eine wöchentliche Ruhezeit sicherzustellen, die so weit als möglich mit dem Tag zusammenfallen soll, der durch Tradition oder Brauch im jeweiligen Land oder der Region als Ruhetag angesehen wird; European Social Charter T. 2 Art. 2,5). 7.3.
Praktisch-theologisch
Schon in der ersten Auflage seiner Liturgik 1965 stellte F. Kalb fest, daß seit 321 das christliche Sonntagsverständnis von einem gesetzlichen Denken beherrscht wird; dies sei zwar in der Theologie, keinesfalls jedoch in den Gemeinden überwunden (Kalb 64). Gemeinsam mit der Tradition und der neueren theologischen Erkenntnis weist er auf den Grundgehalt des Sonntags als des wöchentlichen Osterfestes der Gemeinde hin, der allen kirchenjahreszeitlichen, kasualen und aktuellen Aspekten vorgeordnet ist. Inwieweit das in unseren durchschnittlichen Sonntagsgottesdiensten, zumal meist ohne Abendmahlsfeier, deutlich wird, sei dahingestellt. O b aber hier ein weiterer Grund für die jahrhundertealten Schwierigkeiten der Kirchen mit der Sonntagsfeier liegt, ist jedenfalls der Überlegung wert. Denn die Verankerung der kasualen und kirchenjahreszeitlichen Aspekte unserer Gottesdienste ist innerhalb der -»Volkskirche ja weitaus höher. In diesem Zusammenhang weist M . Josuttis darauf hin, daß es als religionsphänomenologisch normal gelten müsse, daß sich eine Kultus- und Lebensgemeinschaft vollzählig nur zu großen (Jahres-)Festen versammle. Wenn mit dem nachexilischen Judentum in den drei monotheistischen Weltreligionen diese Grunderfahrung mißachtet werde, müsse auch in Kauf genommen werden, daß sich der Charakter der häufigen Zusammenkünfte verändere, „weil man nicht jede Woche ein Fest feiern k a n n " (Josuttis 62). Und die Klage über leere Sonntagsgottesdienste ist nur wenig jünger als das erste staatliche Sonntagsgesetz Kaiser Konstantins. Der Vorteil, der in der Entwicklung der Arbeitszeit der jüngeren Vergangenheit liegt, ist dabei noch gar nicht in den Blick geraten: Die Ausdehnung der Freizeit auf zwei oder gar drei Wochentage macht die jahrhundertealte Fehlinterpretation des Sonntags als des christlichen Sabbats endlich überflüssig. Und hier liegt wahrscheinlich die Chance der Kirche, den Sonntag aus der übrigen Freizeit herauszuheben. Ob dabei allerdings der Vorschlag J . Moltmanns dienlich ist, mag bezweifelt werden. Zutreffend beschreibt er zwar die weitergeltende Bedeutung des Sabbatgebotes als der ersten, ruhenden Offenbarung Gottes in der Vollendung seiner Schöpfung (Moltmann 121 f.). Insofern ist der Sabbat „Traum der Vollendung" (F. —•Rosenzweig), Spiegel des ewigen Sabbats. Der Sonntag ist dagegen das Fest des Anfangs: „Jede Woche wird in die Vision der neuen Schöpfung gestellt und mit der Hoffnung auf Auferstehung und ewiges Leben in Angriff genommen" (Moltmann 129). Die Beschreibung des Sonntags als des christlichen Sabbats hat den Sonntag dieses Wertes beraubt. „Will man diese Paganisierung wieder aufheben, dann muß man den Anschluß des christlichen ,Tag des Herrn' an den Sabbat Israels wieder suchen. Es ist eine christliche Form der Sabbatheiligung zu finden. Dafür wäre es in der Praxis sinnvoll, den ,Sonnabend' vor dem ,Sonntag' in eine Sabbatstille ausmünden zu lassen. Die Andachten am Sonnabendabend, die in vielen Gemeinden gefeiert und von vielen Christen gern besucht werden, haben immer schon unbewußt und ungewollt etwas von der Ruhe und dem Glück des Sabbat Israels in sich: Nach der Arbeit der Woche kommt man zur Ruhe in der Gegenwart Gottes. Man spürt an diesem Abend etwas vom göttlichen .Vollenden' der Schöpfung. Der Gottesdienst am Sonntagmorgen kann dann ganz in die Freiheit der Auferstehung Christi für die neue Schöpfung gestellt werden. In ihm soll jene messianische Hoffnung ausgebreitet werden, die das Leben erneuert. Der Sonntag wird dann wieder zum authentischen Tag des christlichen Auferstehungsfestes, wenn es gelingt, einen christlichen Sabbat am Abend zuvor zu feiern" (ebd. 129f.). Neben dem praktischen Argument, daß eine derart getrennte Feier nur dann sinnvoll wird, wenn beide Gottesdienste von den gleichen Gemeindegliedern besucht werden, und nicht wie bisher die Samstagabendgottesdienste als Ersatz des Sonntagmorgens dienen, müssen wir uns fragen, ob der Gedanke vom christlichen Sabbat überhaupt theologisch relevant ist (immerhin hat schon die
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Alte Kirche den obengenannten Vorschlag der Pseud-Apostolischen Konstitutionen, Sabbat und Sonntag zu feiern, verworfen) und ob er nicht durch seine Abtrennung vom Sonntag eine Aufwertung erführe, die ihm in der evangelischen Freiheit nicht zusteht. „ E i n e schöpferische Interpretation der Sonntage steht noch a u s " (Volp I, 5 0 7 ) . Die Kirche m u ß die Bedeutung des Sonntags für die Gemeinde klar und neu formulieren, damit er nicht einerseits als Teil der wachsenden Freizeit assimiliert und andererseits unter ö k o n o m i s c h e m D r u c k preisgegeben wird (vgl. Bieritz, Nächstes J a h r 4 9 f . ) . Z w e i Grundeinsichten sind festzuhalten: Der Sonntag ist der T a g des auferstandenen H e r r n , das wöchentliche Osterfest der Gemeinde. Der neue Bund, der a m T a g des Herrn besiegelt wurde, m a c h t die Christinnen und Christen frei von jedem M u ß . Aus ihnen ergeben sich auch ethische Prämissen für die Feier dieses Tages: Alle Geschöpfe sollen Gelegenheit haben, sich von den Z w ä n g e n der Welt freizumachen und sich zu erholen. Der Grundrhythmus von Arbeit und Erholung ist für die Existenz des Menschen genauso wichtig wie seine soziale Grundanlage. Beides steht a m Sonntag nicht zu unserer freien Disposition. Literatur Allgemeines: Jörg Auf der Maur, Feiern im Rhythmus der Zeit. I. Herrenfeste in Woche u. Jahr, 1983 (GDK [HLW] 5,1). - Reinhold Bärenz, Das Sonntagsgebot. Gewicht u. Anspruch eines kirchl. Leitbilds, München 1982. - Robert Beck, Histoire du Dimanche de 1700 ä nos jours, Paris 1997. - Karl-Heinrich Bieritz, Das Kirchenjahr (1987), München 1994. - Anton Dörrer, Art. Sonntag. III. Rel. Volkskunde: LThK 2 9 (1964) 882. - From Sabbath to Lord's Day, hg. v. Donald A. Carson, Grand Rapids, Mich. 1982. - Romano Guardini, Der Sonntag. Gestern, heute u. immer, Würzburg 1957. - Ferdinand Hahn, Schabbat u. 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Sonntag
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Sonntagsschule
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Thomas Bergholz
Sonntagsschule 1. Begriff S. 475)
2. Frühere Ansätze
3. Geschichtliche Entwicklung
4. Gegenwart
(Literatur
1. Begriff Mit „Sonntagsschule" (vgl. auch —»Sonntag 5.2.) wird eine Veranstaltung bezeichnet, in der in der Regel durch geschulte -»Laien anderen Laien innerhalb eines liturgisch geprägten Rahmens christliches Bewußtsein - häufig in Verbindung mit grundlegenden Kulturtechniken — vermittelt wird. Gemeinhin werden elementarpädagogische (Lesen und Schreiben) und katechetische Bemühungen im englischen Gloucester des Jahres 1780 als ihr Ursprung gesehen, doch gab es vereinzelte Bemühungen vergleichbarer Art dort auch früher schon in Form sog. Charity Schools (vgl. Hörnig 47). Voraussetzungen für das Entstehen der Sonntagsschule in England waren die Entdeckung der Kindheit (->Kind) in der -»Aufklärung, die sozialen Folgen der -»Industrialisierung sowie die diakonisch-missionarische Energie der Erweckungsbewegung. In Deutschland entwikkelte sich - zumindest im Bereich der Landeskirchen - Ende des 19. Jh. eine eigene Variante, der -»Kindergottesdienst. 2. Frühere
Ansätze
Der große Wert, den -»Luther der Schulbildung und besonders der religiösen Unterweisung beimaß (—»Religionsunterricht I), geht aus seinen pädagogischen Schriften hervor (vgl. Schweitzer 37ff.51f.). Auch sein Mitarbeiter Veit Dietrich (1506-1549) hielt Kinderpredigten. C. -»Borromeo sammelte in der zweiten Hälfte des 16. Jh. in Mailand Kinder, denen gruppenweise durch von Priestern beaufsichtigte Laien Unterricht in Lesen und Schreiben sowie in religiösen Fragen erteilt wurde. Ebenfalls bereits im 16. Jh. kamen in England an verschiedenen Orten Charity Schools auf, deren Verbreitung schließlich von der 1699 unter dem Einfluß A.H. —»Franckes gegründeten Society for Promoting Christian Knowledge gefördert wurde (Jones 37) und die als Anfänge des englischen Armenschulwesens zu sehen sind. Seit 1770 sammelte J.F. -»Oberlin die Kinder seiner Gemeinde und ließ sie sonntags von Laien unterweisen. Hieraus entwickelten sich die sog. „christlichen Kleinkinderschulen", die Ähnlichkeiten mit den späteren Kindergärten aufwiesen. F.D.E. —»Schleiermacher forderte 1804 eine Stunde pro Woche, in der im Rahmen der Schule „ein Prediger die Kinder auf eine ihrem Geist angemessene Art unterhielte" (Schleiermacher 126), da er den Gemeindegottesdienst als für die Kinder unangemessen betrachtete. 1790 eröffnete nach englischem Vorbild eine Sonntagsschule mit 58 Kindern in Hamburg. Sie wurde nach zehn Jahren wegen der verbesserten Effektivität der Armenwochenschulen zu einer auf den Wochenstoff bezogenen Wiederholungsveranstaltung umgewandelt und 1811 aus Geldgründen geschlossen. Die in Süddeutschland bestehende, erstmals 1739 erwähnte und ebenfalls „Sonntagsschule" genannte Einrichtung ist keine Sonntagsschule im hier behandelten Sinn. Anfänglich eine Paralleleinrichtung zur Volksschule, seit 1840 nur noch für schulentlassene Jugendliche, existierte diese „Fortbildungssonntagsschule" in Württemberg, Baden und Bayern wohl mindestens bis in die achtziger Jahre des 19. J h . (Berg 19), was wegen ihrer Unbeliebtheit die dortige Ausbreitung der Sonntagsschule seit der Mitte des Jahrhunderts erheblich beeinträchtigte.
3. Geschichtliche
Entwicklung
3.1. England (vgl. T R E 18,183,25-53). Die Abhaltung von Charity-Schools (s.o. 2.) speziell am Sonntag für die unter der Woche arbeitenden Kinder der Industriearbeite-
Sonntagsschule
473
rinnen und -arbeiter durch den Verleger und Philanthropen Robert Raikes (1735-1811) in Gloucester und den dortigen Pfarrer Thomas Stock im Jahre 1780 markieren den Beginn eines enormen Aufschwungs. Raikes, der dem Methodismus nahestand und sich anfänglich philanthropisch im Gefängniswesen engagiert hatte, bezahlte nun Frauen als Lehrkräfte, um gegen die Verwahrlosung und das Analphabetentum der Kinder vorzugehen und sie zugleich religiös zu unterweisen. Nach einer dreijährigen Probephase erregte Raikes mit Berichten über den erwiesenen Nutzen seiner Sonntagsschule in ganz England Aufsehen. 1785 gründete William Fox (1736-1826) in London die Society for the support and encouragement of Sunday-Schools in the different counties of England, die innerhalb von 27 Jahren mit 3.700 Charity-Schools etwa 300.000 Schülerinnen und Schüler erreichte. Die im selben Jahr in Wales, 1786 in Irland und 1799 in Schottland eingerichteten Sonntagsschulzweige wurden 1803 in der London Sunday-School-Union zusammengeführt. Mit der Durchsetzung des Freiwilligkeitsprinzips der Lehrkräfte wurde seit 1800 die Finanzierungsfrage gelöst. 1843 erfolgte mit der Gründung des Church of England Sunday School Institute die Anerkennung durch die bis etwa 1830 insgesamt eher ablehnende anglikanische Staatskirche. Das Wachstum der Mitgliederzahl von knapp einer halben Million im Jahre 1831 und dreieinhalb Millionen im Jahr 1870 (Cliff 129) auf sechs Millionen um die Jahrhundertwende blieb hinter dem der Gesamtbevölkerung zurück. Trotz der durch den Amerikaner George Hamilton Archibald seit 1903 in England initiierten Reform vor allem der Sonntagsschuldidaktik mit ihrer neuen Betonung des Kindgemäßen und einem neuen Family Church Concept gingen als Reaktion auf Erfahrungen der Moderne bis zum Ausbruch des Zweiten Weltkrieges die Mitgliederzahlen kontinuierlich um insgesamt fast 40% zurück. 1921 wurde die Sunday School Union mit dem Zusatz National versehen, um den Gedanken der Dezentralisierung zu stärken. Nach einer ruhigeren Phase der Konsolidierung wurde in den sechziger Jahren an Impulse der Zeit vor dem Krieg angeknüpft. 1966 erfolgte die Umbenennung in National Christian Education Council. Seit den siebziger Jahren gehen die Mitgliederzahlen weiterhin gleichmäßig zurück. Zu einem unmittelbaren Kirchenbeitritt führte der Besuch der Sonntagsschule zu allen Zeiten bei nur etwa 1% der Schülerschaft (Cliff 322). 3.2. Amerika (vgl. T R E 18,184,15-27). 1786 versuchte der methodistische Bischof Francis Asbury (1745-1816), in Philadelphia die englische Sonntagsschule einzuführen. Die Denominationen erkannten den Nutzen ihrer Anpassung an die amerikanischen Verhältnisse, konnten damit auf die Tatsache der damals noch fehlenden Schulen reagieren und gründeten am 26. Dezember 1790 die First Day Society. Die enorme Ausbreitung der Sonntagsschule seit dem Beginn des 19. Jh. führte am 13. Mai 1817 in Philadelphia zur Gründung der seit dem Folgejahr Sunday and Adult School Union genannten Dachorganisation kleinerer Sonntagsschulverbände. Diese wurden nun von ihr koordiniert und im Rahmen eines Systems mit Unterrichtsmaterialien versorgt, das im Jahre 1859 drei Fünftel sämtlicher amerikanischer Bücher vertrieb (!). Seit 1821 gründeten berittene Missionare Sonntagsschulen auch in kirchlich noch nicht erschlossenen Gebieten. 1823 gab es 723 Sonntagsschulen mit 7.300 Lehrerinnen und Lehrern und 49.619 Schülerinnen und Schülern (Rice 447ff.). Seit der Umbenennung der durch den großen Anteil von Presbyterianern und Kongregationalisten her calvinistisch geprägten Union am 25. Mai 1824 in American Sunday-School Union (ASSU) wurde die weltweite Organisation der Sonntagsschulbewegung gefordert. Bis 1825 schlössen sich der ASSU 321 einzelne Organisationen mit 1.150 Sonntagsschulen, 11.295 Lehrerinnen und Lehrern und 82.697 Schülerinnen und Schülern an. An ihrem Erfolg änderten auch die Gegengründungen verschiedener Denominationen nichts. 1850 gab es etwa eine halbe, 1878 6,5 und 1967 etwa 25 Millionen Schülerinnen und Schüler (Kwiran 252ff.). Der Katechismus, der zu Beginn des 19. Jh. im Mittelpunkt der „Lehrpläne" der Sonntagsschulbewegung gestanden hatte, wurde durch eine bald übertriebene Wertschät-
474
Sonntagsschule
zung von Bibelfestigkeit im Sinne reinen Auswendiglernens abgelöst. Die Erkenntnis der Nutzlosigkeit solchen Lernens ohne inneren Nachvollzug markierte den Beginn didaktischer Bemühungen um den Lehrstoff, der seit 1825 in Form von „selected lessons" portioniert und aufbereitet wurde. Dabei umfaßte die Textauswahl in ihrer Gesamtheit dennoch die ganze Bibel, blieb das Curriculum in seinem Fundamentalismus kinderfern. Seit 1872 wurde durch die „Uniform Lessons" die weltweit gleichzeitige Behandlung ein und desselben Bibeltextes für alle Altersstufen gewährleistet. Trotz wachsender Kritik an der mangelnden Aufnahme neuer pädagogischer und entwicklungspsychologischer Erkenntnisse führte die bestechende Vorstellung einer weltumspannenden Einheitlichkeit im ausgehenden 19. Jh. zu einer Blütezeit der amerikanischen Sonntagsschulbewegung. Im ersten Viertel des 20. Jh. mehrte sich die Kritik von religionspädagogisch-professioneller Seite am Laienwesen der Sonntagsschulbewegung und an ihren didaktischen Mängeln. Unter dem Einfluß der -»•Dialektischen Theologie und Reinhold -»Niebuhrs erlebte die Bibel dennoch eine neue Hochschätzung in der „Neo-Orthodoxie" der 50er Jahre. Seit den späten 60er Jahren wurde schließlich die Sonntagsschulbewegung von der Frage nach dem zulässigen Einfluß wissenschaftlicher Ansprüche dominiert (Lynn/Wright 95). Um 1970 waren etwa 42 Millionen Menschen in Nordamerika als Lernende oder Lehrende in ihr aktiv. 3.3. Deutschland (vgl. T R E 18,184,1-14.28-43). 1824 schlug Johann Gerhard Oncken (1800-1884), Mitglied der English Continental Society und der englisch-reformierten Gemeinde Hamburgs, dem dort tätigen lutherischen Pastor Johann Wilhelm Rautenberg (1791-1865) die Gründung einer Sonntagsschule nach englischem Muster vor, bot seine Mitarbeit an und stellte eine einmalige finanzielle Unterstützung durch die englische Sunday-School-Union in Aussicht. Rautenberg, dem das mangelhafte Bildungswesen der unteren Stände aufgefallen war, eröffnete am 9. Januar 1825 die Sonntagsschule mit 31 Jungen und 29 Mädchen im Hamburger Vorort St. Georg. Die Motive waren wie in England sowohl sozialer wie auch erweckungstheologischer Natur, was im rationalistischen Hamburg immer wieder zu Reibungen führte. 1830 wurde der Kandidatenverein zur Pflege und Förderung der Sonntagsschule gegründet, der die Mitarbeit von Theologiestudenten institutionalisierte. Johann Hartwig Brauer (1805-?) gründete mit anderen Studenten die erste Sonntagsschule im Hamburger Stadtgebiet. Auch entstand der Besuchsverein zur intensiveren Kontaktpflege mit den Elternhäusern der Kinder und diesen selbst. J.H. -»Wichern, seit dem 24. Juni 1832 Oberlehrer in der Sonntagsschule, führte in den 15 Monaten seiner Tätigkeit zahlreiche Verbesserungen durch und erhielt selbst entscheidende Impulse im Blick auf seinen anschließenden Einsatz für die -»Innere Mission. Das Beispiel Hamburg motivierte weitere (sehr unterschiedlich dauerhafte) Sonntagsschulgründungen in Bremen, Erlangen, Berlin, Elberfeld und Stuttgart, doch die dauerhafte Fortführung der Sonntagsschule nach englischem Vorbild blieb in Deutschland auf die Freikirchen, vor allem die Baptisten und Methodisten, beschränkt. Im Bereich der Landeskirchen setzte sich erst wesentlich später das Modell amerikanischen Ursprungs durch, das in seinem Herkunftsland den schulischen -»Religionsunterricht ersetzte und daher stärker katechetisch, weniger liturgisch orientiert war. Die „Konkurrenz" durch die erfolgreich um die Kinder werbenden Freikirchen war hierbei ein wirkungsvoller Antrieb: 1873 waren von den 1.218 Sonntagsschulen in Deutschland bereits 827 landeskirchlich. Der Erfolg dieses Modells ist auf den amerikanischen Presbyterianer Albert Woodruff (1807-?) und den Deutschen Wilhelm Bröckelmann zurückzuführen. Woodruff, Delegierter der American Sunday-School-Union, beschloß 1853 bei einer Europareise, die Sonntagsschulidee dort zu verbreiten, und kam 1863 nach Deutschland. Der Kontakt zum ehemaligen Kaufmann Bröckelmann in Heidelberg, der aus Überzeugung fortan als Woodruffs Dolmetscher arbeitete, führte nach großen Startschwierigkeiten im O k -
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tober 1863 in Frankfurt am Main zur Gründung der ersten Sonntagsschule amerikanischer Prägung. Vor allem auf die von der Sunday-School-Union finanzierte Reise- und Werbetätigkeit Bröckelmanns nach Woodruffs Abreise ist ihre weitere enorme Ausbreitung in Deutschland zurückzuführen. Widerstände erregte dabei immer wieder die Laienarbeit, durch die die Pfarrer ihre Stellung in der Gemeinde gefährdet sahen, sowie die Mitarbeit von Frauen und ein vermeintlicher Widerspruch zwischen Gruppenunterweisung und Heiligkeit des Kirchenraumes. Bereits 1838 hatte Brauer die Sonntagsschule als „Kinderkirche" bezeichnet, 1849 sprach Eduard Gleiß von „Kindergottesdienst" (Hennig 259f.). Im Laufe der zweiten Hälfte des 19. Jh. setzte sich dieser Begriff immer mehr durch, da denkbare katechetische Bestandteile vom schulischen Religionsunterricht abgedeckt wurden und in der Sonntagsschule liturgische Elemente zunehmend in den Vordergrund traten. Dieser Prozeß lief keineswegs vollkommen gleichmäßig ab, es gab Sonntagsschulen neben Kindergottesdiensten. Der Unterschied lag vor allem im Umfang der Liturgie. Die Kirchenleitungen erkannten zunehmend den Nutzen für die Gemeinde, vor allem im Blick auf die bislang vernachlässigte Zeit zwischen Kindertaufe und Konfirmandenunterricht. Der Wandel von der Bezeichnung „Sonntagsschule" zu „Kindergottesdienst", den der Dresdener Oberhofprediger Franz Wilhelm Dibelius (1847-1924) maßgeblich beeinflußte, indem er 1881 diese Umbenennung explizit forderte, steht für eine Entwicklung, die - neben der wesentlichen Verengung der Zielgruppe auf Kinder - einerseits zwar die Stellung des Pfarrers stärkte und im Gegenzug die Lehrerinnen und Lehrer der Sonntagsschule zu Helferinnen und Helfern des Kindergottesdienstes herabstufte, ohne die andererseits die heutige Einbindung der Kinder in die Kirchengemeinden aber nicht gelingen konnte. 4.
Gegenwart
Seit der ersten World Sunday School Convention 1889 in London hat sich die Sonntagsschulbewegung weltweit ausgebreitet. 1971 ging der Weltsonntagsschulverband im Erziehungsreferat des Ökumenischen Rates der Kirchen in Genf auf. Trotz fehlender internationaler und meist auch nationaler Statistiken kann neben den USA sehr wohl von einer insgesamt starken Verbreitung besonders in Teilen Asiens und in Afrika ausgegangen werden. Auch in Europa wird der Begriff vielfach verwendet, wobei Sonntagsschulen und Kindergottesdienste parallel bestehen können. Die Unterschiede sind vielfach gering geworden, und die „Sonntagsschule" etwa der methodistischen Gemeinden in Deutschland bezeichnet de facto einen Kindergottesdienst. Eine besondere Sonntagsschultradition besteht innerhalb der Landeskirchlichen Gemeinschaften. Zum 31. Dezember 1995 gab eine Statistik ihres Dachverbandes Evangelischer Gnadauer Gemeinschaftsverband 688 Sonntagsschulen mit etwa 9.400 Kindern an. Diese Sonntagsschule ist besonders im Siegerland südöstlich von Köln verbreitet. Literatur Carsten Berg, Gottesdienst mit Kindern. Von der Sonntagsschule zum Kindergottesdienst, M ü n ster 1987 (Lit.). - Frank Booth, Robert Raikes of Gloucester, Kent 1980. - Philip B. Cliff, T h e Rise and Development of the Sunday School M o v e m e n t in England 1 7 8 0 - 1 9 8 0 , Nutfield (England) 1986. - Martin Hennig, Quellenbuch zur Gesch. der Inneren Mission, H a m b u r g 1912. - Johannes T h o m a s Hörnig, Mission u. Einheit. Gesch. u. Theol. der amerik. Sonntagsschulbewegung im neunzehnten J h . unter besonderer Berücksichtigung ihrer ö k u m . Relevanz u. ihres Verhältnisses zur Erweckungsbewegung, Maulbronn 1991. - M a r y G. Jones, T h e Charity School M o v e m e n t , London/Edinburgh 1938 2 1 9 6 4 . - Manfred Kwiran, Religionsunterricht in USA - ein Vergleich. Edukative u. methodische Perspektiven amerik. Religionspädagogik - ein pragmatischer Ansatz, Frankfurt a . M . u.a. 1987. - Robert Lynn/Elliott Wright, T h e Big Little School. Sunday Child of American Protestantism, N e w York u.a. 1971. - Edwin W. Rice, T h e Sunday School M o v e m e n t 1 7 8 0 - 1 9 1 7 and the American Sunday School Union 1 8 1 7 - 1 9 1 7 , Philadelphia, Pa. 1917. - Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher, S W 1/5, Berlin 1846. - Friedrich Schweitzer, Die Religion des Kindes. Z u r Problemgesch. einer religionspädagogischen Grundfrage, Gütersloh 1992. - J a c k L. Seymour,
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Soto, Domingo
de
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Oliver Kliss
Soteriologie -»Heil und Erlösung, —» Jesus Christus
Soto, Domingo
de
(1494/95-1560)
1. Leben und Werk
2. Würdigung
(Quellen/Literatur S.477)
1. Leben und Werk Domingo (Taufname: Francisco) de Soto, neben F. de -» Vitoria die herausragende Gestalt am Beginn der Schule von -»Salamanca, wurde 1494 oder 1495 in Segovia geboren. Er begann spätestens 1513 das Studium der -»Artes in Alcalá, das mit seiner nominalistischen Ausrichtung (-»Nominalismus) in Soto Spuren für sein ganzes Leben hinterlassen hat. 1516 ging er nach Paris und muß Ende Dezember 1519 wieder in Alcalá gewesen sein. 1520 erhielt er einen Lehrstuhl der Artes, später der Metaphysik. 1524 trat er in den Dominikanerorden (-»Dominikaner) ein (ab jetzt nannte er sich „Domingo"). Schon im nächsten Jahr siedelte er nach Salamanca über, vertrat zeitweise Vitoria auf dessen Lehrstuhl und erhielt 1532 die Cátedra de Vísperas (Vesper-Lehrstuhl; s. -»Salamanca). In diesen Jahren (1529-1545) veröffentlichte Soto seine vier philosophischen Werke (Summulae; In Dialecticam Aristotelis; Super octo libros physicorum Commentarii; Super octo libros physicorum Quaestiones), die große Anerkennung fanden, die aber alle den nominalistischen Einfluß von Alcalá verraten. Am 19. März 1545 erhielt Soto von Kaiser -»Karl V. den Auftrag, als Theologe zum Konzil nach Trient (-»Tridentinum) zu gehen (vgl. Becker, Denken; Beltrán de Heredia, Domingo de Soto). Er nahm lebhaft an den Beratungen über das Bibelstudium und die scholastische Theologie teil. An der Erstellung des Rechtfertigungsdekretes wirkte er teils in den Diskussionen in der Aula, teils in kleinen Arbeitsgruppen mit. So ist sein Buch De Natura et Gratia, das in diesen Monaten entstand, zusammen mit dem Kommentar von Andrés de Vega (1498-1549) ein unersetzliches Hilfsmittel zum Verständnis des Dekretes. Aber schon vor dem Abschluß der Debatte mußte er im Januar 1547 nach Venedig, um den Druck seines Werkes persönlich zu überwachen. Gegen Ambrosius Catharinus (1484—1553) schrieb Soto seine Apología, die sehr oft mit den folgenden Ausgaben seines Werkes De Natura et Gratia gedruckt wurde. Anfang März 1548 wurde er vom Kaiser nach Augsburg gerufen und nahm an den Beratungen über das -»Interim teil. Am 15. August wurde er an Stelle von Pedro de -»Soto zum kaiserlichen Beichtvater ernannt, wurde aber während dieser seiner Tätigkeit auch zu politischen Aufgaben eingesetzt. Ende Januar 1550 kehrte er nach Spanien zurück. Dort veröffentlichte er seinen Kommentar über den Römerbrief. 1550 und 1551 mußte er an den Versammlungen von Valladolid teilnehmen, die die Thesen von B. de -»Las Casas und Juan Ginés de Sepúlveda (ca. 1490-1573) über die Frage, ob der spanische König ein Recht habe, gegen die Ungläubigen der neuen Länder Eroberungskriege zu führen, erörtern sollten (s. die Kurzfassung der beiden Meinungen im Sumario: Domingo de Soto, Relecciones y Opusculos I, 199-233). Soto stand dabei auf der Seite von Las Casas. In diese Zeit fällt die Ausarbeitung seines Buches De lustitia et Iure. 1552 übertrug ihm die Universität den Lehrstuhl der Prima, als Nachfolger von Vitoria und Melchior Cano (1509-1560). 1556 wurde er emeritiert. In diesen Jahren war er nebenher am Hof in Valladolid, in der Regelung der Beziehungen zwischen Spanien und dem Papst, in Angelegenheiten der Universität, in den Verhandlungen der spanischen Inquisition und mit der Gründung zweier Kollegien beschäftigt.
Soto, Domingo
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In all diesen Tätigkeiten fand er noch die Zeit, eines seiner wichtigsten Werke herauszugeben, den Commentarius in Quartum Sententiarum (I 1557 II 1560), der trotz seines Titels ein Kommentar zur Sakramentenlehre der Summa des -»Thomas von Aquino ist und mit seinen etwa 30 Auflagen einen großen Erfolg erzielte. Die letzten beiden Jahre seines Lebens waren vom Carranza-Prozeß überschattet, in dem er über seinen Freund und Begleiter zum Konzil von Trient, Bartolomé Carranza de Miranda (1503-1576), zwei Urteile abgeben mußte. Am 15. November 1560 starb Domingo de Soto. 2.
Würdigung
Soto hat einen beachtlichen Beitrag zur Reform der Logik im 16. Jh. geleistet. Er gibt dem Aristotelischen Organon jene zentrale Stellung im Unterricht dieser Disziplin zurück, die es zugunsten der sog. Summulae verloren hatte, unter denen das Werk des Petrus Hispanus (1226-1277) das wirkungsmächtigste war. Mit seiner Lehre von der Analogie übte Soto einen weitreichenden Einfluß aus. Nach P. Duhem hat er 60 Jahre vor -»Galilei das Gesetz vom freien Fall gekannt. Entscheidend wurde sein Wirken für die Entwicklung einer Rechts-, Wirtschaftsund Sozialethik seiner Zeit. Bedeutend ist aber auch sein Beitrag zur Entwicklung der Theologie. Mit Vitoria steht er am Anfang der Schule von Salamanca, die die in Norditalien begonnene Wiederbelebung des Thomismus (-»Thomas von Aquino/Thomismus/Neuthomismus) mit der vom Humanismus begünstigten Rückkehr zu Schrift und Vätern verbindet. Seine Gnadenlehre als Erklärung und Weiterführung des Konzils von Trient und seine Sakramentenlehre, die den Thomismus in die neuen Probleme des Zeitalters der Reformation hineinführt, haben großen Einfluß ausgeübt. In Domingo de Soto sind akademische Forschung und wissenschaftliche Produktion eine seltene und glückliche Verbindung eingegangen; er besaß die Fähigkeit, auf politischem Parkett und in kirchlicher Verwaltung, aber auch an einer Verbindung beider mitzuwirken, und griff andererseits auch geschickt in die an der Universität bestehenden Spannungen und in theologische Auseinandersetzungen ein. Er gehört ebenso in die Geschichte der Theologie im 16. Jh. - besonders in die Geschichte der ersten Periode des Konzils von Trient - wie in die der denkerischen Bewältigung der politischen und rechtlichen Probleme hinein, welche die Entdeckung und Eroberung Amerikas für Spanien mit sich brachten. Quellen 1. Handschriften: Zahlreiche Hand- oder Mitschriften seiner Vorlesungen sind in den Bibliotheken vor allem Roms und Spaniens erhalten. Vgl. dazu Karl Josef Becker, Tradición manuscrita de las Prelecciones de Domingo de Soto: ATG 29 (1966) 1 2 5 - 1 8 0 . - Vicente Beltrán de Heredia, Domingo de Soto, Salamanca 1960, 5 4 5 - 5 8 8 . - José Carlos Martín de la Hoz, Las relecciónes teológicas de Domingo de Soto. Cronología y ediciones: De la Iglesia y de Navarra. Estudio en honor del Prof. Goñi Gaztambide, Pamplona 1984, 1 9 3 - 2 0 1 = ScrTh 16 (1984) 4 3 3 - 4 4 1 . Einiges ist veröffentlicht: Domingo de Soto, Relección „De Dominio". Edición crítica, hg. v. Jaime Brufau Prats, Granada 1964; NA: Relecciones y Opusculos, hg. v. dems., Salamanca, I 1995, 9 8 - 1 9 1 (lat. u. span. Text). - Ders., Relectio „An liceat civitates infidelium seu gentilium expugnare ob idololatriam: ebd. 2 4 2 - 255 (lat. u. span. Text); frühere Ausg. (nur lat. Text): Vicente Beltrán de Heredia, Los Manuscritos del Maestro Fray Francisco de Vitoria, O.P., Madrid/Valencia 1928, 2 3 5 - 2 3 9 . - José Carlos Martín de la Hoz, La „Relectio de Sacro Canone et de eius Sensibus" de Domingo de Soto: ScrTh 14 (1982) 7 5 7 - 8 0 6 = ders., Estudio histórico-crítico de las relecciones escriturísticas inéditas de Domingo de Soto (extr. diss.), Pamplona 1983 (Excerpta e dissertationibus in sacra theologia VII). - Juan Belda Plans/José Carlos Martin de la Hoz, La ,Relectio de Catalogo librorum Sacrae Scripturae' de Domingo de Soto: Burg. 24 (1983) 263—314. - Cándido Pozo, De sacra doctrina, in 1 p., q. 1 de Domingo de Soto: ATG 21 (1958) 1 9 9 - 2 9 5 = Fuentes de la historia del método teológico en la Escuela de Salamanca, Granada, I 1962, 1 2 1 - 2 1 7 . - Ders., In 2.2, q. 1, art. 10, Ott. lat. 782: ATG 25 (1962) 283 - 289. - Ders., Relectio de haeresi de Domingo de Soto O.P.: ATG 26 (1963) 2 2 3 - 2 6 1 . - Domingo de Soto, De legibus. Ms. Ottob. lat. no. 782. Ed. critica
478
Soto, Domingo de
y trad., con estudio preliminar, notas e Índices, por Francisco Puy y Luis Núñez, I. Comentarios al tratado de la ley. 1. Tratado de la ley en general, Granada 1965. - José Ignacio Tellechea Idígoras, Declaración de Fray Domingo de Soto en el proceso de Carranza acerca de la recusación del Inquisidor General: HispSac 13 (I960) 423 - 442 = ders., El Arzobispo Carranza y su tiempo, Madrid, II 1968, 279-313. 2. Gedruckte Werke: Summulae, Burgos 1529 u.ö. (10 Aufl.). - De ratione tegendi et detegendi secretum relectio, Salamanca 1541. - In Dialecticam Aristotelis. Isagoge Porphyrii; Aristotelis Categoriae; De Demonstratione, Salamanca 1543 u.ö. (13 Aufl.). - Deliberatio in causa pauperum, Salamanca 1545 (7 Aufl.); span.: Deliberación de la causa de los pobres, Salamanca 1545. - De extremo iudicio. Concio habito ad patres Tridentinos dominica prima Adventus anno 1545, o.O. 1545. - Super octo libros Physicorum Commentarli, Salamanca [1545?] u.ö. (9 Aufl.). - Super octo libros Physicorum Quaestiones, Salamanca [1545?] u.ö. (10 Aufl.). - De Natura et Gratia, Venedig 1547 u.ö. (12 Aufl.). - Apologia qua rev. Patri Ambrosio Catharino, episcopo Minorensi, de certitudine gratiae respondet, Venedig 1547 u.ö. (11 Aufl.). - In Epistolam divi Pauli ad Romanos Commentarii, Antwerpen 1550. - De cavendo iuramentorum abusu, Salamanca 1551. - Suma de la Doctrina Christiana, Salamanca 1552 u.ö. (8 Aufl.). - De Justitia et Jure libri decem, Salamanca 1553 u.ö. (26 Aufl.); lat.-span. Ausg.: M. González Ordóñez, Domingo de Soto. De iustitia et iure I, Madrid 1967. - Adnotationes in Commentarium Joannis Feri super Evangelium Joannis, Salamanca 1554. - Commentarium in Quartum Sententiarum, Salamanca, I 1557 II 1560. - Tratado del amor de Dios, Madrid o.J. [1780] (wahrscheinlich von Soto). Lit. über die gedruckten Werke: Vicente Beltrán de Heredia, Domingo de Soto (s.u. bei Lit.) 515-545. Literatur (Auswahl) Karl Josef Becker, Das Denken Domingo de Sotos über Sehr. u. Tradition vor u. nach Trient (Ein theologiegesch. Beitr. zum Verständnis des Trienter Dekretes): Schol. 39 (1964) 343-373. Ders., Die Rechtfertigungslehre nach Domingo de Soto, 1967 (AnGr 156 = SFT B 49). - Vicente Beltrán de Heredia, Art. Soto (Dominique de): DThC 14/2 (1941) 2423 - 2431. - Ders., Domingo de Soto. Estudio Biográfico Documentado, Salamanca 1960 [Das Buch faßt die früher verfaßten, bisweilen in der Ciencia Tomista veröff. u. erw. Art. des Vf. zusammen u. fügt eine reichhaltige Dokumentation zu Leben u. Wirken Sotos sowie eine Liste der verschiedenen Aufl. seiner Werke u. der Hand- u. Mitschriften seiner Vorl. hinzu]. - Jaime Brufau Prats, El pensamiento político de Domingo de Soto y su concepción de poder, Salamanca 1960. - Venancio Diego Carro, Domingo de Soto y el Derecho de Gentes, Madrid 1930. - Ders., Domingo de Soto y su doctrina jurídica, Salamanca 1943 21944. - Ders., Introducción histórica y teológico-jurídica: M. González Ordóñez, Domingo de Soto, De iustitia et iure I (lat.-span. Ausg.), Madrid 1967, xiii-lxx. - Alejandro del Cura, Domingo de Soto, Maestro de Filosofía: EstFil 9 (1960) 391-440. - Pierre Maurice Marie Duhem, Études sur Léonard de Vinci. III. Les precurseurs Parisiens de Galilée, Paris 1913, XI, 290, bes. 556-562. - Leonardo González Vela, Personalidad de Domingo de Soto, Madrid 1944. - Bernice Hamilton, Politicai Thought in Sixteenth-Century Spain. A Study of the Politicai Ideas of Vitoria, De Soto, Suárez, and Molina, Oxford 1963. - Benigno Hernández Montes, Conflictos entre el obispo y cabildo salmantinos y mediación de Domingo de Soto. Un escrito desconocido del gran teólogo español: RET 43 (1983) 335-384. - Ignacio Jericó Bermejo, „Condere articulum fidei et condere Sacram Scripturam". El poder eclesial según Domingo de Soto: ATG 56 (1993) 63-130. - Enrique Marcano, Una visión renacentista del derecho a la vida. Domingo de Soto: CTom 113 (1986) 6 5 - 8 4 . - Vicente Muñoz Delgado, Domingo de Soto y la ordenación de la Enseñanza de la Lógica: CTom 87 (1960) 467-528. - Ders., Lógica formal y filosofía en Domingo de Soto (1494-1560), Madrid 1964. - Jesús Olazarán, La controversia Soto - Catarino - Vega sobre la certeza de la gracia: EE 16 (1942) 145-183. - Ders., Escritos de la controversia „Soto Catarino - Vega" sobre la certeza de la gracia: EE 39 (1964) 93-131. - Antonio Peinador, La ley penal en Domingo de Soto: Salm. 8 (1961) 627-656. - Cándido Pozo, La teoría del progreso dogmático en Domingo de Soto: RET 17 (1957) 325-355 = ders., La teoría del progreso dogmático en los teólogos de la escuela de Salamanca, Madrid 1959, 77-101. - Salomón Rahaim, Valor moral-vital del De Iustitia et Jure de Domingo de Soto: ATG 15 (1952) 2 - 2 1 3 = ders., El valor moral-vital del De Iustitia et Iure de Fray Domingo de Soto, Granada 1954. - Domingo RamosLissón, La ley según Domingo de Soto, Rom 1977. - Ders., En torno al influjo de las ideas de Domingo de Soto en la evangelización de América. El primer Catecismo de Santa Fe de Bogotá: Evangelización y Teología en América (Siglo XVI), Pamplona, II1990,1013 -1020. - Walter Senner, Art. Soto, Domingo de: BBKL 10 (1995) 831-836 (Lit.). - José Ignacio Tellechea Idígoras, Domingo de Soto ante la figura ideal del obispo en el siglo de la Reforma: REDC 16 (1961) 307-343. Karl Josef Becker
Soto, Pedro de Soto, Pedro de (ca.
1495-1563)
1. Leben und Wirken
1. Leben und
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2. Werk
(Quellen/Literatur S. 480)
Wirken
Pedro de Soto wurde in Alcalá de Henares geboren, wohl im Jahr 1495. Er begann seine philosophischen Studien in -»Salamanca und trat dort in San Esteban 1518 in den Dominikanerorden (-»Dominikaner) ein. Ein Jahr später legte er seine ersten Gelübde ab, schloß sich bald der Reformbewegung in seinem Orden an und wurde in deren Klöstern Subprior und Prior (Talavera, Ocaña). 1541 wurde er zum Magister der Theologie vorgeschlagen, 1543 in diesem Grad bestätigt. Am l . J u n i 1542 begann er sein Amt als Beichtvater Kaiser -»Karls V. In dieser Eigenschaft war er auch, den Gepflogenheiten der Zeit entsprechend, als Berater und Vermittler in vielen politischen Angelegenheiten tätig, vor allem beim Frieden von Crépy (18. September 1544), bei den Spannungen um den Kölner Erzbischof Hermann von Wied (1545/1546), bei den Überlegungen vor dem Krieg des Kaisers mit den Protestanten (-»Schmalkaldischer Krieg), bei der Entfremdung Karls V. von Papst -»Paul III. nach dem Rückzug von dessen Truppen und bei der Abfassung des -»Interims (1548). Gleichzeitig wurde er vom General zum Generalvikar seines Ordens für Deutschland ernannt. Zum 15. August 1548 legte er sein Amt als Beichtvater nieder, wahrscheinlich wegen unüberbrückbarer Gegensätze mit dem kaiserlichen Kanzler Nicolas Perrenot de Granvella (1484-1550), bei dem er mangelnde Beachtung katholischer Grundsätze in der Politik sah. Seitdem arbeitete er mit Kardinal Otto Truchseß von Waldburg (1514-1573), dem Bischof von Augsburg, zusammen an der Gründung der Universität -»Dillingen und hielt dort (1548-1555) theologische Vorlesungen. Am 18. (28.?) März 1555 ging er nach England, gerufen von -»Philipp II. und dem päpstlichen Legaten, Kardinal R. -»Pole, und wurde in —»Oxford inkorporiert. Er hat wohl nur ein Jahr dort gelesen. 1559, nach der Wahl von Melchior Cano (1509-1560) zum Provinzial von Spanien, die von Rom nicht bestätigt wurde, ernannte der General Soto dort zum Vicarius provincialis. Kurz danach wurde Cano rehabilitiert und trat an die Stelle Sotos. Papst -»Paul IV. berief 1561 Soto für die dritte Konzilsperiode von Trient (-»Tridentinum) zum päpstlichen Theologen. Soto nahm an den Verhandlungen über die Kommunion sub utraque specie, über das Meßopfer und das Weihesakrament sowie am Beginn der Beratungen über die Ehe teil. Während des Konzils starb er am 20. April 1563 in Trient. Wie kaum ein anderer verband Pedro de Soto die Gaben des großen Theologen mit der Fähigkeit, in Lebensvollzüge einzugreifen, zu verhandeln und zu vermitteln, zu reformieren und zu gründen. Sein Ruhmesblatt bleibt es, daß er Bartolomé Carranza de Miranda (1503-1576) immer verteidigt hat, selbst wenn schlimme Folgen bei dieser unbeugsamen Haltung zu befürchten waren. Soto war insgesamt ein kluger, geradliniger und furchtloser Charakter. 2. Werk In seiner vielfältigen Tätigkeit hatte Soto nie Zeit für eine geordnete Planung theologischer Arbeiten. Es waren die Umstände des Augenblicks, die ihn drängten zu schreiben. Zu Recht hat V. Carro seine Werke in drei Gruppen eingeteilt. 2.1. Die katechetischen Werke. Für die Söhne des Römischen Königs -»Ferdinand I. schrieb Soto einen Katechismus. Er wurde gedrängt, ihn herauszugeben. So entstanden seine lnstitutionis Christianae libri tres (Augsburg 1548). Später wollte Soto diesen Text weiteren und einfacheren Kreisen zugänglich machen. Er verfaßte einen Auszug, fügte geeignete Gebete und eine Erklärung des Gottesdienstes hinzu. So entstand das Compendium doctrinae catholicae (Ingolstadt 1549). In seiner Zeit in Dillingen kam ihm ein Büchlein in die Hand, das er für geeignet hielt, als Vorbereitung auf die Beichte zu
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Soto, Pedro de
dienen; er arbeitete es durch Streichungen und Zusätze um. So entstand, wie Soto selbst im Vorwort erklärt, sein Methodus Confessionis (Dillingen 1553). Ebenso verfaßte er in Dillingen zum praktischen Gebrauch seiner Studenten ein Gebetbuch, die Preces speciales (Dillingen 1558). 2.2. Die apologetischen Werke. Der Herzog von Württemberg reichte 1552 dem Konzil eine confessio ein, die von seinen Theologen, vor allem J. -»Brenz, verfaßt war. Soto antwortete mit seiner Assertio Catholicae Fidei (Köln 1555). Brenz nahm Stellung, und Soto erwiderte, diesmal von Oxford aus, mit seiner Defensio Catholicae Fidei (Antwerpen 1557). 2.3. Die dogmatischen Werke. Von Dillingen aus führte Soto 1551 mit Ruard Tapper ( 1 4 8 7 - 1 5 5 9 ) , dem Dekan der theologischen Fakultät in ->Löwen, einen Briefwechsel De conciliatione gratiae et liberi arbitrii, der erst lange nach Sotos Tod, 1706, veröffentlicht wurde. Im ersten, kurzen Brief gibt Soto die Grundlinien seiner Kritik an Tapper an, die er, nach einer Antwort des Löwener Dekans, im zweiten Brief ausführlich abhandelt: 1. Von der Gnade kommt nicht nur die Möglichkeit, sondern auch die Wirklichkeit der guten Handlung. 2. Der Mensch ist auch ohne Gnade vor den Geboten Gottes sittlich frei. Sein reifstes Werk sind aber die Tractatus de lnstitutione Sacerdotum. Es sind Vorlesungen, die Soto in Dillingen gehalten hat. Kardinal Otto Truchseß von Waldburg ließ sie 1558, als Soto schon in Spanien war, in Dillingen im Druck erscheinen. Aus dem Vorwort des Kardinals geht nicht eindeutig hervor, wieweit es sich um das persönliche Manuskript Sotos oder um Studentenmitschriften handelt. Der erste, weitaus größere Teil des Buches behandelt die sieben Sakramente, der zweite gibt eine knappe Sündenlehre. Die Methode stützt sich weithin auf Schrift, Väter und Theologen; das Werk will die Hörer auf die Seelsorge vorbereiten. Quellen 1. Gedruckte Ausgaben: Die katechetischen Werke: Institutionis Christiane Libri tres, Augsburg 1548; dt.: Ingolstadt 1550 u. 1551; flämisch: Inghelborch (Ingolstadt?) 1554. - Compendium Doctrinae catholicae, Ingolstadt 1549 (8 weitere Aufl.); dt.: Augsburg 1556. - Methodus Confessionis, Antwerpen 1550 (12 weitere Aufl.). - Preces speciales, Dillingen 1558. - Die apologetischen Werke: Assertio Fidei Catholicae, Köln 1555 (3 weitere Aufl.). - Defensio catholicae Fidei, Antwerpen 1557 (4 weitere Aufl.). - Die dogmatischen Werke: Die beiden Briefe Sotos an Ruard Tapper, geschrieben 1551 von Dillingen aus, sind zuerst veröff. als: Alternae epistolae Petri Soto ... de gratia et liberi arbitrii concordia: Antoninus Reginaldus (Regnault, Antoine Ravaille), De mente S. Concilii Tridentini circa gratiam se ipsa efficacem. Opus posthumum, Antwerpen 1706 [V. Carro hat eine krit. Ausgabe angekündigt, sie aber nicht mehr veröffentlicht]. - Tractatus de lnstitutione Sacerdotum, Dillingen 1558 (9 weitere Aufl.). 2. Handschriften: Propositiones ac Annotationes in Librum III Sententiarum, dictatae ... 1550, Dillingae, Staatsbibliothek München, Cod. lat. 5249.
Literatur Venancio Diego Carro, El Maestro Fr. Pedro de Soto, O.P., y las controversias politico-teológicas en el siglo X V I , 2 Bde., Salamanca; I. Actuación politico-religiosa de Soto, 1931; II. El maestro Soto, las controversias teológicas y el Concilio de Trento, 1950. - Ders., El maestro Fr. Pedro de Soto, O.P., y su intervención en Trento como Confesor del Emperador Carlos V y como Teólogo del Papa: R E T 6 (1946) 1 0 3 - 1 2 6 . - Constancio Gutiérrez, Españoles en Trento, 1951 ( C T H 1) 9 9 4 - 1 0 0 4 [kurze, wertvolle biographische (994f.) u. bibliographische (1002f.) Zusammenfassung]. - Ulrich G. Leinsle, Art. Soto, Pedro de: BBKL 10 (1995) 8 3 6 - 8 3 9 (Lit.). - Felix G. Olmedo, Testamento de Fray Pedro de Soto, O.P.: R F 126 (1942) 141 - 1 4 6 . - Vicente Proaño Gil, El Concepto de Tradición en la Teología de P. de Soto: Burg. 3 (1962) 215 - 237.
Karl Josef Becker
Sozialarbeit
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Sowjetunion -»Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken
Sozialarbeit 1. Definition
1.
2. Geschichte
3 . Studium und Wissenschaft
( Q u e l l e n / L i t e r a t u r S. 4 8 6 )
Definition
Sozialarbeit ist eine Sammelbezeichnung für eine Vielfalt beruflich ausgeübter M a ß nahmen, durch die aktuell oder potentiell ökonomisch benachteiligte, sozial schwache, gesundheitlich gefährdete oder gesellschaftlich ausgegrenzte Personen und Gruppen einerseits durch persönliche und strukturelle Unterstützung und -»Beratung zur angemessenen Teilhabe an der Gesellschaft befähigt, andererseits durch Kontrolle zur Anpassung an die Gesellschaft genötigt werden sollen. Entsprechend wird von einem nicht widerspruchsfreien doppelten M a n d a t der Sozialarbeit gesprochen: sie dient einerseits der Lebensführungsautonomie und -Verantwortung ihrer Klientinnen/Klienten, andererseits - zumindest, soweit sie staatlich finanziert bzw. alimentiert ist - der Aufrechterhaltung staatlicher Ordnung und der Durchsetzung gesetzlicher Normen. Sie gehört zunächst nicht als Beruf, sondern als Amt in Gestalt der -»Diakonie von Anfang an zum (zuerst für die eigenen Mitglieder, schon früh aber auch für andere wahrgenommenen [vgl. Act 6 , 1 - 7 ; Gal 6 , 1 - 1 0 ] ) Aufgabenfeld der christlichen Kirche und ist heute ein notwendiges Instrument moderner, durch Industrialisierung geprägter demokratischer Gesellschaften, in denen einerseits Familie und Gemeinwesen im engeren Sinne quasi selbstverständlich eine angemessene -»Sozialisation und Integration ihrer Angehörigen nicht mehr zu leisten in der Lage sind, andererseits mit guten Gründen eine mehr oder weniger gewaltsame Anpassung durch polizeiliche Maßnahmen obsolet erscheint. Die Widersprüchlichkeit staatlich geförderter beruflicher Sozialarbeit - einerseits Unterstützung und Beratung, andererseits subtile Kontrolle - hat teil an den allgemeinen gesellschaftlichen Widersprüchen zwischen Sozialstaatsanspruch (—»Wohlfahrtsstaat) und politisch-ökonomisch bedingter struktureller Gewalt, zwischen Dienstleistungswarenmarkt und eigenen Lebens- und Erfahrungsmöglichkeiten der Adressaten der Sozialarbeit. Das Verhältnis zwischen Sozialarbeit und -»Sozialpädagogik wird unterschiedlich bestimmt. Kann Sozialpädagogik einerseits als Teilaspekt von Sozialarbeit gesehen werden, so wird sie andererseits und inzwischen überwiegend als Teilgebiet eines Gesamtfeldes in einer Schrägstrichverbindung neben die Sozialarbeit gestellt oder mit ihr zusammen neuerdings in Entsprechung zur anglo-amerikanischen Fachterminologie unter dem Oberbegriff „Soziale Arbeit" (früher: „Sozialwesen") zusammengefaßt. Hinter diesen Definitionsfragen stehen auch unterschiedliche Sichtweisen der Geschichte (s.u. 2.) und des Wissenschaftsverständnisses (s.u. 3.). 2.
Geschichte
Eine Geschichte der Sozialarbeit läßt sich nur ansatzweise zusammenfassend darstellen, weil die sozialgeschichtliche Dimension der allgemeinen Geschichtsschreibung (-»Sozialgeschichtsschreibung) erst seit den siebziger Jahren und der Kirchengeschichtsschreibung bis heute nicht (vgl. Nowak) entwickelt, der Gegenstandsbereich sehr heterogen und die Quellenlage (Dokumente über Arme, Kranke, Waisen u.a.) sowie ihre theoretische Konzeptionalisierung schwierig sind, weil vor- und außerjüdische und -christliche Liebestätigkeit kaum erforscht ist und weil die Sozialgeschichtsschreibung des 19. und 20. J h . und die Geschichtsschreibung der Diakonie bis in die Gegenwart meist isoliert voneinander stattfinden. Dennoch lassen sich einige Grundlinien nachzeichnen.
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Sozialarbeit
2.1. In Anknüpfung an und Ergänzung zu Ch. Marzahn lassen sich systematisch unterscheiden: 1) Sozialpolitik und Sozialarbeit sind integraler Bestandteil des jüdischen und christlichen Bundesverständnisses (—••Bund) und also ihres Glaubens (vgl. Bundestheologie, prophetische Überlieferung, Exodustradition, liturgische Tradition [-»Psalmen] in der hebräischen sowie Charismen und Ämterlehre in der griechischen Bibel). In diesem Kontext gelten -»Armut und Unterdrückung als dem Bund mit Gott widersprechend und also im Sinne der Freiheit des ganzen Gottesvolkes bzw. der Gottebenbildlichkeit aller Menschen als zu überwindend (ab 10. Jh. v. Chr.). 2) Sozialarbeit wird caritativ verstanden und delegiert auf Klöster, Hospitäler, reiche Christen, die Arme, Alte, Kranke versorgen und sich damit einen (ewigen) Gotteslohn verdienen; in diesem Kontext gilt Armut als gottgewollt zur Ermöglichung guter -»Werke (ab 4. Jh. n. Chr.). 3) Sozialarbeit wird Teil einer Sozialdisziplinierung, als Bettler und Vagabunden seit dem Spätmittelalter zur Plage werden. Sie werden seit Ende des 15. Jh. verfolgt, verwaltet (fürsorgliche Unterstützung durch lokale Administrationen nur noch für ortsansässige Arme) und im Rahmen von Zucht-, Arbeits- und Werkhäusern, auch Correctionsanstalten, diszipliniert, zur Arbeit angehalten bzw. auf ihre Arbeitswilligkeit hin überprüft. Es bilden sich spezialisierte Personalstäbe, die das Problemdeutungs- und -lösungsmonopol im Blick auf das Armenwesen erhalten. Armut gilt als mögliche Form des Drückebergertums. 4) Mit der -»Industrialisierung sind in der Phase des Frühkapitalismus neue Formen von Massennot und Massenverelendung verbunden (Pauperismus). Sie zu bekämpfen, organisiert sich einerseits der neue vierte Stand, die Arbeiterschaft, andererseits versuchen private Initiativen des dritten Standes, und hier insbesondere des Kleinbürgertums, sowohl im sozialarbeiterischen (Rettungshäuser) als auch im sozialpädagogischen Feld (Einrichtung von Kindergärten, Jünglingsvereinen etc.), die neue Not durch pädagogisch ausgerichtete Organisationen aufzufangen. Armutsbekämpfung wird zur pädagogischen Aufgabe. 5) Seit Otto von Bismarcks (1815-1898) Sozialgesetzen reduziert sich soziale Arbeit auf Armenpolitik, die zusehends in hauptberuflicher Verantwortung wahrgenommen wird. Aus der Sammlung privater christlicher bürgerlicher Initiativen in der „-»Inneren Mission" unter Leitung des von J.H. -»Wiehern auf dem Wittenberger -»Kirchentag 1848 ins Leben gerufenen Centraiausschusses wird ein freier Wohlfahrtspflegeverband, neben dem sich weitere bilden (1863 —>Rotes Kreuz, 1880 Deutscher Verein für Armenpflege und Wohltätigkeit, 1897 Caritasverband, 1917 Zentrale Wohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland, 1919 Arbeiterwohlfahrt, 1920 Deutscher Paritätischer Wohlfahrtsverband), die in der Weimarer Republik im Rahmen der neuen Sozialgesetzgebung im Bereich der Jugendhilfe (Reichsjugendwohlfahrtsgesetz 1922, Jugendgerichtsgesetz 1923) und - nach weitgehender Gleichschaltung der Sozialarbeit durch die Nationalsozialistische Volkswohlfahrt im Dritten Reich - verstärkt seit 1961 (Bundessozialhilfegesetz) in Umsetzung des Subsidiaritätsprinzips sowie bedingt durch die wachsenden sozialen Risiken angesichts von zunehmender Arbeitslosigkeit und gesellschaftlichem Paradigmenwechsel zur „Risikogesellschaft" (Ulrich Beck, Frankfurt a.M. 1986) zu den größten Arbeitgebern in Deutschland werden. Armutsverwaltung wird zur Aufgabe der Wohlfahrtspflege eines Sozialstaates. 6) Im Prozeß der europäischen Vereinigung und angesichts der Zunahme privater Anbieter auf einem dem freien Wettbewerb zusehends ausgelieferten Markt des Sozialen ist die Sicherung und Entfaltung von Qualitätsstandards sozialer Arbeit heute als wichtigste Aufgabe anzusehen. In dieser Situation ist von großer Bedeutung, daß die Kirchen sich nicht selbst aus der Sozialarbeit zurückziehen. Die Neuansätze des Diakonats in der -»Römisch-katholischen Kirche nach dem II. -»Vatikanum und in der evangelischen Kirche mit der Diakoniedenkschrift (Herz und Mund und Tat und Leben, 1998), der
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Ausarbeitung zum Evangelischen Diakonat als geordnetem Amt der Kirche (1996) und mit der von einzelnen (vor allem lutherischen) Landeskirchen finanzierten Kirchenkreissozialarbeit sind dafür positive Anzeichen. Arme werden, wenn sie nicht im Kontext christlicher Überlieferung - also vor allem als wichtiger Teil des Gottesvolkes im obengenannten Sinne (s.o. Punkt 1 und 2) - gesehen werden, zu Konsumenten sozialer Dienstleistungen; ihre Attraktivität hängt dann von ihrer direkten oder indirekten Zahlungsfähigkeit ab. 2.2. Parallel zu dieser systematisierenden, vor allem auf die sozialen Probleme und ihre institutionelle Beantwortung hin ausgerichteten Darstellung der Geschichte läßt sich im Blick auf die Frage nach Haupt- und Ehrenamt und nach Trägerschaft sozialer Arbeit feststellen: Sozialarbeit im Sinne von beiläufigem, alltäglichem, selbstverständlichem helfendem Handeln als zwischenmenschlichem (Ur-)Phänomen (vgl. Scherpner und Lk 10) und innerhalb von Familien, Sippen, Kasten und Völkern im Sinne von Gruppensolidarität läßt sich auch außerhalb von Juden- und Christentum feststellen (gegen Uhlhorn). Als organisiertes Handeln „im Kraftfeld des Glaubens" (Noske 4 3 - 8 4 ) bzw. als „soziale Dimension kirchlicher Verantwortung" (vgl. Philippi) entwickelt sie sich in auffälliger und wirkungsvoller Weise aber erst mit dem Institut der jüdischen Armenpfleger und der christlichen Diakone (vgl. Schäfer/Strohm; Zedaka usw.). So können die historischen Wurzeln des Berufs im jüdischen und christlichen Liebesgebot gesehen werden. Zunächst üben Armenpfleger und Diakone im Frühjudentum und in der Alten Kirche ein (Ehren-)Amt aus, zu dem man ausgewählt und in das man eingeführt wird (christlich durch —»Ordination); das gilt auch für die spätmittelalterlichen Armenpfleger bis hin zu den ortsbezogenen Armenbesuchern im Rahmen des „Elberfelder Systems" im 19. Jh. Das kirchliche Amt wird mit dem Wachsen der christlichen Gemeinde schon bald zum Beruf, das seinen Träger ernährt, wobei dessen Profil sich seit der Zeit der frühchristlichen Kirche so weit verändert, daß J.H. Wichern 1857 in seinem Gutachten für den Berliner Evangelischen Oberkirchenrat schließlich die Erneuerung des (Gemeinde-)Diakonats fordern muß. Seit der Wende zum 20. Jh. wird auf Grund der wachsenden Anforderungen staatlicherseits der ehrenamtliche Armenpfleger durch den hauptberuflichen Armen- bzw. Wohlfahrtspfleger ersetzt („Straßburger System"). Parallel zu diesem Strang der Sozialarbeit als Nothilfe für den Einzelfall entwickelt sich zunächst in kirchlicher, später auch kommunaler Trägerschaft mit Erziehungsheimen und Kindergärten die Sozialpädagogik mit hauptberuflichen Sozialpädagogen/Sozialpädagoginnen und Erziehern/Erzieherinnen. Beide seit der u.a. durch die sich neu konstituierende Jugendhilfe in der Weimarer Republik sich einander annähernde Stränge erfahren durchgängig wesentliche Impulse durch soziale Bewegungen, die in der Vergangenheit von Kirchen, Klöstern und Orden, in der Neuzeit dann von einzelnen Christen und Philanthropen und von den durch sie gegründeten Vereinen getragen sind. Unter den vielfältigen und geschichtlichem Wandel unterworfenen Arbeitsfeldern haben in den neunziger Jahren in Deutschland besondere Bedeutung: Jugendhilfe, Gesundheitswesen, Behindertenarbeit, Suchtkrankenhilfe, Hilfe für Wohnungs- und Arbeitslose, Straffälligenhilfe, Arbeit in sozialen Brennpunkten und in der Altenhilfe. In ihnen geht es sowohl um die Beeinflussung des gesellschaftlichen Rahmens, der Menschen zu Klienten sozialer Arbeit werden läßt, als auch um die lebensweltliche Unterstützung der jeweiligen Klientel im Blick auf die Autonomie ihrer Lebensführung im Kontext von Menschenwürde. Zu sozialer Arbeit gehören Beratungs-, Behandlungs- und Betreuungsdienste, Erziehungs-, Bildungs- und Entwicklungsaufgaben, Planungs-, Organisations-, Verwaltungs- und Öffentlichkeitsarbeit. Ihre Träger sind in faktischer Arbeitsteilung lokale Selbsthilfegruppen, regionale private Wohlfahrtsvereine und -verbände und Ämter und Behörden auf Kreis- und Landesebene.
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Gehörte Sozialarbeit als beiläufige, selbstverständliche Tätigkeit schon immer zu sozialen Gruppen und Gemeinwesen, wurde ihre Ausübung erkennbar seit 2 0 0 0 Jahren mit einem (Ehren-)Amt verbunden und entwickelte sie sich seit der Industrialisierung zu einem immer weiter aufgefächerten und quantitativ bis heute expandierenden Beruf, so wird seit 3 0 J a h r e n diskutiert, inwieweit der Beruf Sozialarbeit auf dem Weg zur Profession ist. Entsprechend berufssoziologischen Kriterien sind Professionen gehobene Berufe mit besonderem gesellschaftlichem Status und Einfluß, die gekennzeichnet sind durch ein spezifisches Aufgabengebiet, hohe fachliche Qualifikation durch im Anschluß an den Erwerb angemessener Ausbildungsvoraussetzungen theoretisch erworbene längerfristige Spezialausbildung an einer Ausbildungsstätte, die nicht mit der Arbeitsorganisation identisch ist (Studium), entwickelte M e t h o d i k beruflichen Handelns, eigene Berufsethik und Organisation in einem Berufsverband mit möglichst weitgehender Selbstverwaltung (Disziplinargewalt, Einfluß auf Berufszulassung) (vgl. Otto/Utermann). Das bedeutet auch - wie bei Arzt, Rechtsanwalt und m.E. beim -»Pfarrer weitgehende Autonomie gegenüber Klienten und Institutionen. D a ß Sozialarbeit in diesem Sinn keine vollwertige Profession ist (und zum Teil auch ausdrücklich nicht sein will!), hat folgende Gründe: Der Gegenstandsbereich der Sozialarbeit ist nicht eindeutig abgrenzbar („diffuse Allzuständigkeit"). Ihr Schwerpunkt liegt im Bereich von M a ß n a h m e n , die gesellschaftlich benachteiligten, vernachlässigten und ausgegliederten M e n s c h e n , Gruppen, Regionen gelten. Sie hat sich aus dem Ehrenamt und überwiegend als Frauenberuf entwickelt. Sie ist eng verbunden mit der Lebenswelt ihrer Klienten und auf deren alltägliche persönliche und Umwelt-Ressourcen angewiesen. Sie kann bis heute den Berufszugang nicht selbständig regeln, eine eigene Berufsethik nur indirekt durchsetzen und sich bisher aus ihrer institutionellen Abhängigkeit von staatlicher Steuerung, von Behörden, Krankenhäusern, Kirchen u.a. nicht lösen, in denen sie oft berufsfremden Vorgesetzten (Verwaltungsfachleuten, Ärzten, Juristen, Soziologen, Psychologen, Theologen) untersteht. So gilt Sozialarbeit heute entweder als „unvollständige" oder „Semi"-Profession, oder sie wird als „alternative" Profession (Olk) mit eigener Handlungslogik bezeichnet. Als solche greift sie einerseits als „ V o r h u t " neue Probleme und Defizite auf, ehe sie definiert sind, andererseits fängt sie als „ N a c h h u t " Defizite aus nicht gelungenen Problemlösungen anderer auf (Bock). Sie distanziert sich bewußt von einer Expertenkultur, durch die sie sich vom Alltag der Nutzer und deren Lebensbezügen entfernen würde, und setzt statt dessen auf die Förderung einer allgemeinen „Kultur des Sozialen" (Rauschenbach). Für sie muß sich professionelles Handeln in der hermeneutischen Kompetenz des Fallverstehens (Oevermann; Schütze; B. Müller u.a.), im (individuellen und kollektiven) „Fallbeispiel" bewähren. Dabei zeigt sich, daß weder „Allzuständigkeit" noch Bindung an Organisationen noch Alltagsnähe ein „ F e h l e r " der Sozialarbeit sind, sondern vielmehr sie mit konstituieren (Gildemeister).
3. Studium und
Wissenschaft
Eigenart und Qualität der Professionalisierung der Sozialarbeit stehen u.a. in direkter Beziehung zur Entwicklung der Ausbildung, der Konstituierung einer eigenen Wissenschaft und der Etablierung einer spezifischen M e t h o d i k sozialarbeiterischen Handelns. Dabei lassen sich bis heute für Sozialarbeit und Sozialpädagogik unterschiedliche, zunächst parallel verlaufende Stränge feststellen, die - beginnend in der Zeit der Weimarer Republik - sich zusehends annähern, so daß für die Zukunft verstärkt gegenseitige Bezugnahmen bis hin zu gemeinsamer koordinierter Ausbildungs- und Forschungskonzeption zu erwarten sind. A m Anfang der Ausbildung zur Sozialarbeit stehen in der ersten Hälfte des 19. J h . die evangelischen Initiativen Wicherns ( G e h ü l f e n a n s t a l t des Rauhen Hauses in H a m b u r g 1839) und —»Fliedners (Pastoralgehülfenanstalt zur Bildung von „Hilfsdiakonen" in Kaiserswerth). Wurden hier nur M ä n n e r aufgenommen - Frauen waren zunächst auf die
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sozialpädagogische Arbeit mit Kindern und auf pflegerische Arbeit mit Kranken beschränkt und wurden z. B. in Fliedners Kleinkinderlehrerinnenseminaren ausgebildet - , so bildeten sich Ende des 19. Jh. in Berlin sozialarbeiterisch orientierte „Instruktionskurse für christliche weibliche Liebestätigkeit", dann 1905 in Hannover die erste christlich-soziale Frauenschule (Träger: Deutscher Evangelischer Frauenbund), schließlich 1908 durch Alice Salomon (1872-1948) in Berlin gegründet - die erste staatliche soziale Frauenschule, der 1917 bereits der Zusammenschluß mit weiteren Neugründungen zur Konferenz sozialer Frauenschulen Deutschlands folgte. Einer zweijährigen Ausbildung mit Abschlußprüfung schloß sich ein Berufsjahr mit anschließender staatlicher Anerkennung als Wohlfahrtspflegerin an. In Weimar kam es zu einer republikweiten Vereinheitlichung und Anerkennung dieser Ausbildung, an der nun auch Männer teilhatten (z.B. doppelte Qualifikation - staatlich und kirchlich - der Diakonenausbildung am Hamburger Rauhen Haus). Nach einer Unterbrechung im Dritten Reich ging die Entwicklung Anfang der fünfziger Jahre weiter: aus den Wohlfahrtspflegerschulen wurden Höhere Fachschulen, aus diesen 1971 Fachhochschulen. Die Zahl der Studierenden dieser Hochschulen wächst sprunghaft: sie betrug 1998 in Deutschland rund 40.000 an 60 Fachhochschulen, davon ca. 16.000 an 20 kirchlichen Fachhochschulen (ca. 7.500 an den elf evangelischen Fachhochschulen für Sozialarbeit/Sozialpädagogik). Ihre Absolventen sind nunmehr in der Regel zugleich Diplomsozialarbeiter/Diplomsozialpädagogen (FH) und staatlich anerkannt. Diese Verbindung ist möglich geworden, weil der sozialpädagogische Strang von der seit Ende des 19. Jh. durchgeführten Ausbildung zur Kindergärtnerin, zur Jugendleiterin und Gemeindehelferin ebenfalls bis zu einem achtsemestrigen Studium an Fachhochschulen ausgebaut wurde und die Ausbildungsgrundlagen sich so weit annäherten, daß zunehmend zunächst fachbereichsübergreifende Veranstaltungen, schließlich Vereinigungen der Fachbereiche Sozialarbeit und Sozialpädagogik stattfinden. Sozialpädagogik hatte sich außer an Fachhochschulen auch als Disziplin innerhalb der Erziehungswissenschaften an einzelnen Universitäten entwickeln können; diese Universitätsinstitute beziehen zusehends sozialarbeiterische Fragestellungen in ihre Curricula ein. Im Rahmen des selbstorganisierten Bundeskongresses für Soziale Arbeit und zwischen einzelnen Fachhochschulen und Universitätsinstituten gibt es bereits mehr oder weniger weit entwickelte Kooperationen im Bereich der Lehre, der Forschung und der Promotionsförderung. Erfolgte die wissenschaftliche Reflexion von Problemen sozialer Arbeit in der Vergangenheit von anderweitig universitär etablierten Fachwissenschaften her (insbesondere Pädagogik, Soziologie, Psychologie, Theologie), so haben sich im 20. Jh. einerseits die Sozialpädagogik als eigene Disziplin innerhalb der universitären Erziehungswissenschaften (Paul Natorp [1854-1924]; Hermann Nohl [1879-1960]; Gertrud Bäumer [18731954]; Mollenhauer; Gieseke; Thiersch; Rauschenbach), andererseits wissenschaftliche Sozialarbeit (ihr Forum waren die Jahrbücher der Sozialarbeit) und später die Sozialarbeitswissenschaften (zum Teil anknüpfend an Scherpner) als Programm an Fachhochschulen (Engelke; Mühlum; Silvia Staub-Bernasconi; Rainer Feth; Bernhard Haupert; Rainer Tillmann [die vier Letztgenannten z.B. bei Wendt bzw. Engelke (1996)]) bzw. an einer Berufsakademie (Wendt) etabliert. Dabei können die Fachhochschulen durch Einrichtung von Forschungsinstituten und Möglichkeiten der Promotion ihrer Absolventen erst in jüngster Zeit eigene Schritte gehen, die das wissenschaftsgeschichtlich und -organisatorisch nach wie vor bestehende Plus der Universitäten freilich nicht aufzuheben vermögen. Deshalb ist die Entwicklung gemeinsamer Forschungsvorhaben und Kooperationen zwischen sozialpädagogischen Instituten der Universitäten und Sozialarbeitsfachbereichen der Fachhochschulen zur Ausbildung einer spezifischen wissenschaftlichen Disziplin zu begrüßen. Dabei ist zu klären, ob es einen deutlich abgrenzbaren Gegenstandsbereich für eine integrierte Sozialarbeitswissenschaft/Sozialpädagogik oder spezifische Verfahren für sie als praxisbezogene —•Sozialwissenschaft gibt. Besondere
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A u f m e r k s a m k e i t verdient der A n s a t z , d a ß die W i s s e n s c h a f t von der Sozialen A r b e i t ihren G e g e n s t a n d jeweils a b h ä n g i g von der geschichtlichen Situation des Sozialarbeiters, seiner Klientel und der gesellschaftlichen E n t w i c k l u n g insgesamt in der I n t e r a k t i o n k o n stituiert. Ein Versuch, Sozialarbeit und S o z i a l p ä d a g o g i k zu integrieren, besteht darin, beide als institutionalisierte R e a k t i o n s f o r m e n a u f die psychosozialen F o l g e p r o b l e m e gesellschaftlicher Arbeitsteilung ( D e s i n t e g r a t i o n s p r o b l e m a t i k ) zu begreifen ( B ö h n i s c h , Normalität). Steht eine integrierte S o z i a l a r b e i t s w i s s e n s c h a f t / S o z i a l p ä d a g o g i k erst a m A n f a n g ihrer E n t w i c k l u n g , so gilt dies m e h r n o c h für die Diakoniewissenschaft. Sie versteht sich einerseits als Teildisziplin der (Praktischen) T h e o l o g i e (so das D i a k o n i e w i s s e n s c h a f t l i c h e Institut der T h e o l o g i s c h e n F a k u l t ä t der Universität Heidelberg; s. T R E 8 , 6 5 9 , 1 8 - 2 2 ) , andererseits als spezifische A u s p r ä g u n g der Sozialarbeitswissenschaft - nämlich als solche, die ausdrücklich die jüdisch-christlichen Wurzeln sozialer Arbeit im Blick a u f Ant h r o p o l o g i e , G e s e l l s c h a f t s t h e o r i e , M e t h o d i k , E t h i k , E s c h a t o l o g i e , ihre t h e o l o g i s c h e n und p h i l o s o p h i s c h e n I m p l i k a t i o n e n und die k i r c h l i c h e M i t t r ä g e r s c h a f t von Sozialarbeit reflektiert (so das K o n z e p t einzelner F a c h h o c h s c h u l e n wie Dresden) - oder zwischen beiden stehend ( M ü h l u m / W a l t e r ) . Quellen Quellen zur Gesch. der Diakonie, hg. v. Herbert Krimm, 3 Bde., Stuttgart 1 9 6 0 - 1 9 6 6 . 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Ulfrid Kleinen
Sozialdarwinismus —»Darwin, Charles/Darwinismus, -»Spencer, Herbert
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Sozialdemokratie
Sozialdemokratie 1. Gründungsphase 2. Im Kaiserreich 3. In der W e i m a r e r Republik 4 . In Widerstand und Exil 5. Wiedergründung nach 1 9 4 5 6. In der Bundesrepublik Deutschland 7. Internationale Sozialdemokratie (Quellen/Literatur S. 4 9 6 )
1.
Gründungsphase
Mit dem Aufkommen der „sozialen Frage" im Zuge der Industriellen Revolution (—•Industrialisierung) entwickelten sich politische Bewegungen und Parteien, die ihre Ziele mit den programmatischen Begriffen -»Demokratie und -»Sozialismus verbanden. Nach ersten Anfängen - z.B. die 1848 von Stephan Born (1824-1898) gegründete Allgemeine Arbeiterverbrüderung — wurden auf Betreiben von Ferdinand Lassalle (18251864) am 23. Mai 1863 in Leipzig der Allgemeine Deutsche Arbeiterverein (ADAV), der sich zu den Zielen der —»Sozialreform (durch staatlich unterstützte Produktivgenossenschaften) und der Demokratie (gleiches Wahlrecht) bekannte, und im August 1869 unter der Führung von August Bebel (1840-1913) und Wilhelm Liebknecht (18261900) in Eisenach die Sozialdemokratische Arbeiterpartei (SDAP) gegründet (vgl. -»Arbeiter/Arbeiterbewegung/Angestellte 4.). Die Unterschiede zwischen „Lassalleanern" und „Eisenachern" waren weniger programmatischer Natur; sie lagen vielmehr zum einen auf organisationspolitischem Feld und basierten zum anderen auf aktual-politischen Differenzen, insbesondere in der Frage der deutschen Einheit: Erstere bevorzugten eine kleindeutsche Einigung (mit starker'Stellung Preußens), letztere eine großdeutsche Lösung (unter Einschluß Österreichs). Bebel und Liebknecht hatten Kontakt zu K. - » M a r x und Friedrich Engels (1820— 1895) und engagierten sich in der 1864 in London gegründeten Internationalen ArbeiterAssoziation (IAA bzw. I. Internationale). Im Deutsch-Französischen Krieg (1870/71) stimmten Bebel und Liebknecht gegen die Bewilligung von Kriegskrediten und — zusammen mit den Lassalleanern - gegen die Annexion von Elsaß-Lothringen. 2. Im
Kaiserreich
2.1. Reichseinheit und Parteizusammenschluß. Mit der Gründung des Deutschen Reiches (1871) war ein zentraler Kontroverspunkt zwischen den beiden Richtungen der Sozialdemokratie entschieden, so daß der Weg zur Einigung frei war: Im Mai 1875, auf dem Gothaer Vereinigungsparteitag, schlössen sich ADAV und SDAP zur Sozialistischen Arbeiterpartei Deutschlands (SAPD) zusammen. Mit zunehmender organisatorischer und ideologischer Verfestigung der unterschiedlichen politischen „Lager" im Kaiserreich verschärfte sich ab den 1870er Jahren die Religions- und erst recht die Kirchenkritik der Sozialdemokratie. Im Eisenacher Programm (1869) wurde die „Trennung der Kirche vom Staat und [die] Trennung der Schule von der Kirche" gefordert (nach Dowe/Klotzbach 173). Am folgenschwersten war Bebels in immer neuen Auflagen verbreitete These aus dem Jahre 1874, nach der sich Christentum und Sozialismus gegenüberstünden „wie Feuer und Wasser" (A. Bebel, Christentum und Sozialismus, Agitationsausgabe, Berlin 1906, 16). 2.2. Unter dem „Sozialistengesetz". Wie die Römisch-katholische Kirche im „-»Kulturkampf" wurde auch die Sozialdemokratie durch rechtliche und politische Maßnahmen behindert: Im Oktober 1878 verabschiedete der Reichstag auf Betreiben Bismarcks (1815-1898) das „Gesetz gegen die gemeingefährlichen Bestrebungen der Sozialdemokratie" („Sozialistengesetz"), aufgrund dessen die Organisationen verboten, Hunderte von Partei- und Gewerkschaftsfunktionären zu Gefängnis- bzw. Zuchthausstrafen verurteilt oder aus ihrem Wohnort ausgewiesen wurden. Die Sozialdemokratie durfte aber ihre Parlamentsarbeit fortsetzen und zu den Reichstagswahlen Kandidaten aufstellen. Trotz der Behinderungen der Parteiarbeit konnte sie ihre Stimmenzahl von 1878 bis 1890 verdreifachen: Bei den Reichstagswahlen im Februar 1890 errang sie fast 1,5 Millionen Stimmen.
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Die Zeit des „Sozialistengesetzes" festigte zum einen das Vertrauen auf die parlamentarische Arbeit, durch die die Sozialdemokratie, wie es schien, trotz aller Behinderungen immer stärker geworden war. Zum anderen aber schienen die Erfahrungen der Unterdrückung die Thesen von Klassenkampf und Klassenstaat zu bestätigen, so daß die 1880er Jahre den Boden für die Aufnahme des Marxismus bereiteten; außerdem trat die Sozialdemokratische Partei der 1889 in Paris gegründeten IL Sozialistischen Internationale bei. 2.3. Programmatische Klärung und politische Flügelbildung. Nachdem sich die Partei auf dem Parteitag in Halle im Oktober 1890 den Namen Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD) gegeben hatte, verabschiedete sie im Oktober 1891 auf ihrem Parteitag das „Erfurter Programm". In seinem ersten, von Karl Kautsky (1854-1938) geschriebenen Teil wurde auf der Grundlage der Marxschen Klassenanalyse das Bild einer sich „naturnotwendig" vom -*Kapitalismus zum Sozialismus entwickelnden Gesellschaft entworfen. Im zweiten, von Eduard Bernstein (1850-1932) verfaßten Teil des Programms wurden die „Gegenwartsforderungen" aufgelistet, die auch auf dem Boden des kapitalistischen Staates erfüllt werden könnten. Wie schon im Gothaer Programm (1875) forderte die Sozialdemokratie auch im Erfurter Programm die „Erklärung der Religion zur Privatsache"; außerdem wurde die „Weltlichkeit der Schule" postuliert (Dowe/Klotzbach 179.188). Die zum Teil heftige antikirchliche Polemik jener Jahre trug dazu bei, daß sich religiös geprägte, vor allem katholische Arbeiter von der Sozialdemokratie abgestoßen fühlten und sich ihrerseits in Katholischen Arbeitervereinen bzw. (ab 1894) in Christlichen Gewerkschaften organisierten und im übrigen die Zentrums-Partei (-»Parteien 3.2.) unterstützten. Der im „Erfurter Programm" angelegte Widerspruch zwischen utopisch-revolutionärer und sozialreformerischer Strategie fand seinen Ausdruck im „RevisionismusStreit". Die von Bernstein angemahnte „Revision" der Marxschen Klassenanalyse wurde auf dem Dresdner Parteitag 1903 zurückgewiesen. Bernsteins Anschauungen vom Wert der praktischen Reformarbeit auf dem Boden der parlamentarischen Demokratie bestimmten dennoch immer deutlicher die Politik der SPD. Bis 1914 gelang der Sozialdemokratie der Durchbruch zur Massenbewegung: Die Mitgliederzahl wuchs auf über eine Million, der Frauenanteil stieg auf rund 18 % ; bei Reichstagswahlen - so bei der vom Januar 1912 - errang sie fast 35 % der Stimmen. Zur sozialdemokratischen Arbeiterbewegung gehörte ein breites Spektrum von „VorfeldOrganisationen". Vor allem Presseorgane, Genossenschaften und die Arbeitersport- und -kulturbewegung sowie die Freien -»Gewerkschaften trugen zur Herausbildung des sozialdemokratischen Arbeitermilieus bei, das Ausdruck der gesellschaftlichen Ausgrenzung war, aber auch die Ghetto-Bildung förderte. Der politische Einfluß der SPD blieb gering: Vor allem Mehrheitswahlrecht und Wahlkreiseinteilung sorgten dafür, daß sich die Wahlerfolge nicht voll in der Zahl der Reichstagsmandate niederschlugen. Die politischen Initiativen gegen die Rüstungs-, speziell gegen die Flotten- und gegen die Kolonialpolitik und für die Reform des Wahlrechts, vor allem des preußischen Dreiklassenwahlrechts, blieben erfolglos. Nach den Wahlrechtskämpfen in Belgien und Schweden (1905) wurde in der „Massenstreikdebatte" um die Strategie zur Abschaffung des Preußischen Dreiklassenwahlrechts gestritten: Die Gewerkschaften lehnten den politischen Massenstreik als offensives Mittel zur Durchsetzung politischer Forderungen ab, weil sie eine Gefährdung ihres inzwischen erreichten Organisationsstandes - die Freien Gewerkschaften zählten 1906 rund 1,8 Millionen Mitglieder - befürchteten. Nach einer Reihe kontroverser Parteitagsbzw. Gewerkschaftskongreß-Beschlüsse wurde der Streit mit dem Mannheimer Abkommen (1906) beigelegt, in dem die Parteiführung zusagte, einen Massenstreik nur im Einverständnis mit den Gewerkschaften auszurufen. 2.4. Im Ersten Weltkrieg. Trotz aller Ausgrenzungen und Behinderungen hatte sich die Sozialdemokratie weitgehend in der politischen Ordnung des Kaiserreichs eingerich-
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tet. Dies wurde deutlich bei der Zustimmung zu den Kriegskrediten in der Reichstagssitzung vom 4. August 1914. Maßgeblich für diese Entscheidung war die Annahme, Deutschland befinde sich vor einem Verteidigungskrieg. Um den Ruf als „vaterlandslose Gesellen" abzustreifen und zugleich zu einem gleichberechtigten politischen Faktor aufzusteigen, erklärten sich SPD und Freie Gewerkschaften überdies für die Dauer des Krieges zur Einhaltung eines „Burgfriedens" bereit. Diese Politik führte zu einer Verschärfung der innerparteilichen Flügelbildung und im April 1917 zur Gründung der Unabhängigen Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (USPD). Während die USPD die sich ab 1917 regenden Protest- und Streikbewegungen unterstützte und für einen sofortigen Friedensschluß eintrat, drängte die Mehrheitssozialdemokratie (MSPD) auf einen Verständigungsfrieden. Als sich die Kriegsniederlage als unvermeidbar abzeichnete, übertrugen Regierung und Oberste Heeresleitung die politische Verantwortung einer unter Prinz M a x von Baden (1867-1929) gebildeten Regierung, die sich auf Zentrum, (M)SPD und Liberale stützte. 2.5. Revolution 1918/19. Ausgehend vom Protest der Matrosen in Kiel, breitete sich im November 1918 binnen weniger Tage in ganz Deutschland eine Aufstandsbewegung aus, die mit dem Rat der Volksbeauftragten zur Bildung einer Revolutionsregierung von je drei Vertretern der MSPD und der USPD führte. Im Vordergrund der Politik standen die Rückführung der Soldaten, die Versorgung der Bevölkerung, die Umstellung der Produktion auf die Friedenswirtschaft und der Abschluß eines Friedensvertrages. Dabei war die MSPD unter der Führung von Friedrich Ebert (1871-1925) bereit, mit den Vertretern der „alten" Eliten in Militär, Verwaltung, Wirtschaft usw. zusammenzuarbeiten; die Entscheidung über grundsätzliche gesellschaftspolitische Reformen sollte einer bald zu wählenden Nationalversammlung vorbehalten bleiben. Mit der Mehrheit der MSPD-Vertreter gab der Groß-Berliner Arbeiter- und Soldatenrat Weihnachten 1918 sein Mandat an die zu wählende Nationalversammlung ab. Die mit dieser Entwicklung unzufriedenen USPD-Anhänger drängten ihre Partei zum Rückzug aus der Regierung. Auf einen der freiwerdenden Regierungsplätze rückte Gustav Noske (1868-1946) nach, der den Spartakus-Aufstand (Anfang Januar 1919) durch rechte Freikorps niederschlagen ließ. Dies trug zusammen mit der Ermordung von Rosa Luxemburg (1871-1919) und Karl Liebknecht (1871-1919) am 15. Januar 1919 durch Angehörige der Freikorps zur Vertiefung der Kluft in der Arbeiterbewegung bei. Bereits an der Jahreswende 1918/19 war die Kommunistische Partei Deutschlands (KPD) gegründet worden, die nach der Spaltung der USPD (1920) zur Massenpartei aufstieg. 3. In der Weimarer
Republik
Bei den Wahlen zur Nationalversammlung am 19. Januar 1919 erreichten MSPD (37,9%) und USPD (7,6 %) nicht einmal zusammen die absolute Mehrheit. Von den Parteien der „Weimarer Koalition", d.h. von MSPD, Zentrum und Deutscher Demokratischer Partei (DDP), wurde eine Regierung unter Philipp Scheidemann (1865-1939) gebildet. Ebert war bis zu seinem Tode im Februar 1925 Reichspräsident. Nachdem SPD und Gewerkschaften im März 1920 durch die Ausrufung eines Generalstreiks gegen den Kapp-Putsch die rechtmäßige Regierung gerettet hatten, die in den Reichstagswahlen vom Juni 1920 aber ihre Mehrheit verlor, gehörte die SPD bis 1928 keiner Reichsregierung mehr an. Dennoch verstand sie sich in zunehmendem Maße als „die" Staatspartei der Weimarer Republik. Insbesondere mit der Rede Rudolf Hilferdings (1877-1941) auf dem Kieler Parteitag der SPD (1927) bekannte sie sich zur parlamentarischen Demokratie Weimarer Prägung; und sie warb speziell um religiös gebundene, vor allem katholische Arbeiter. Große Einbrüche in neue Wählerschichten erzielte sie jedoch nicht. Nach den Wahlen vom Mai 1928 bildete Hermann Müller (1876-1931; SPD) eine Regierung der Großen Koalition, die im März 1930 am Streit um die Regelung der Beitragssätze der Arbeitslosenversicherung zerbrach. Durch den Wahlerfolg der Natio-
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nalsozialisten in den Septemberwahlen 1930 sah sich die SPD zur Tolerierung der Regierung Heinrich Brüning (1885-1970; Zentrum) genötigt, um die auf ein etwaiges Scheitern der Regierung folgenden Neuwahlen zu verhindern. In der Endphase der Weimarer Republik stand die SPD zwei Fronten gegenüber: auf der einen Seite den Kommunisten, die die Sozialdemokraten als „Sozialfaschisten" verunglimpften, auf der anderen Seite den Nationalsozialisten, die die SPD als „Systempartei" bekämpften. Von der Massenarbeitslosigkeit geschwächt, konnten sich Freie Gewerkschaften und SPD - anders als beim Kapp-Putsch 1920 - beim „Preußenschlag" vom 20. Juli 1932 nicht zur Ausrufung eines Generalstreiks entschließen. 4. In Widerstand
und Exil
Auf die Ernennung Hitlers zum Reichskanzler am 30. Januar 1933 reagierte die Sozialdemokratie mit einer Mischung aus Protest und Resignation - und mit der Hoffnung auf die nächsten Wahlen. Trotz des sofort einsetzenden Terrors gegen Kommunisten und Sozialdemokraten sowie der Behinderungen des Wahlkampfes erhielt die SPD bei den Wahlen vom 5. März 1933 über 7 Millionen Stimmen. Zwar stimmte die SPD am 23. März 1933 als einzige Partei - die KPD war schon zerschlagen - nach einer mutigen Rede des Parteivorsitzenden Otto Wels (1873-1939) gegen das „Ermächtigungsgesetz"; doch die Etablierung der nationalsozialistischen Diktatur konnte sie nicht aufhalten. Nach der Auflösung der Gewerkschaften am 2. Mai 1933 beschloß der Parteivorstand, einen Teil der Vorstandsmitglieder nach Prag zu schicken, um die weitere politische Arbeit von dort aus zu organisieren. Am 22. Juni 1933 wurde die SPD verboten. Sie lebte fort im aktiven Widerstand, der vom exilierten Parteivorstand in Prag, dann Paris und London unterstützt wurde; auch blieben die persönlichen Kontakte, gepflegt in nach außen unpolitischen Versammlungs- und Vereinigungsformen, erhalten. An den Widerstandsgruppen, die das Attentat auf Hitler vom 20. Juli 1944 vorbereiteten, waren u.a. mit Julius Leber (1891-1945) und Wilhelm Leuschner (1890-1944) auch führende Sozialdemokraten beteiligt. Beide wurden vom „Volksgerichtshof" verurteilt und hingerichtet. Im Exil bildeten sich sozialdemokratische Landesgruppen, denen sich vielfach auch die Angehörigen sozialistischer Splittergruppen anschlössen. Der Graben zwischen SPD und KPD blieb auch in Widerstand und Exil unüberwindlich, wobei sich in der jeweiligen Stellung zu Demokratie und gesellschaftlichem Pluralismus die zentralen Unterschiede zeigten. 5. Wiedergründung
nach 1945
Noch bevor die westlichen Besatzungsmächte die Wiedergründung von politischen Parteien zugelassen hatten, wurden in einzelnen Orten sozialdemokratische Ortsvereine ins Leben gerufen. Zentralisierung und politische Ausprägung wurden von Kurt Schumacher (1895-1952) bestimmt, der nach zehnjähriger H a f t in Konzentrationslagern und Gefängnissen die Führung übernahm. Im Mai 1946 wurde er zum Parteivorsitzenden gewählt; Erich Ollenhauer (1901-1963), zurückgekehrt aus dem Londoner Exil, wurde sein Stellvertreter und später - nach Schumachers Tod - Nachfolger an der Spitze der SPD. Kurz zuvor war auch der Konflikt mit dem Berliner Zentralausschuß der SPD, der unter der Führung von Otto Grotewohl (1894—1964) für den Zusammenschluß von KPD und SPD eintrat, entschieden worden. Nachdem sich im März 1946 in den Westsektoren Berlins - im Osten durfte nicht abgestimmt w e r d e n - 8 2 % der SPD-Mitglieder dagegen ausgesprochen hatten, wurde im Ostsektor die Sozialistische Einheitspartei Deutschlands (SED) gegründet, so daß die SPD für das Gebiet der Sowjetischen Besatzungszone (zunächst außer Ost-Berlin) „ausgeschaltet" war.
492 6. In der Bundesrepublik
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Im Zentrum der sozialdemokratischen Politik unter 6.1. Grundsatzentscheidungen. Schumacher stand das Ziel der Wiedervereinigung Deutschlands in Freiheit. Dementsprechend lehnte die SPD auch nach der Gründung der Bundesrepublik Deutschland (1949) alle Schritte ab, die - wie z.B. der Beitritt zur Montanunion oder die Wiederbewaffnung - ihrer Meinung nach zur Zementierung der Teilung Deutschlands beitragen würden. Die gesellschafts- und wirtschaftspolitischen Vorstellungen der SPD waren von planwirtschaftlichen Ideen geprägt; auch hielt sie am Ziel einer Sozialisierung der Grundstoffindustrien fest. Zwar hatte Schumacher immer wieder für weltanschaulichen Pluralismus in der SPD plädiert, doch im Streit um christliche Gemeinschafts- bzw. konfessionelle Bekenntnisschule (-»Schule/Schulwesen), der z. B. im Bundestagswahlkampf 1949 entflammte, lebten Feindbilder auf, die im Hinblick auf die Schul- und die Familienpolitik bis in die 1970er Jahre ihre Bedeutung behielten. Aus der breiten Akzeptanz, die die Regierung Konrad Adenauer (1876-1967) mit ihrer Politik der Westintegration und der „sozialen Marktwirtschaft" fand, und aus den entsprechenden Wahlniederlagen der SPD zog diese im Laufe der 1950er Jahre die Konsequenz. Ein Zeichen des Umdenkens war das „Godesberger Programm" (1959): Das Bekenntnis zum weltanschaulichen -»Pluralismus, zur parlamentarischen Demokratie und zur marktwirtschaftlichen Ordnung öffnete der SPD den Weg zu Mitgliederund Wählerschichten über die industrielle Arbeiterschaft hinaus. Glaubwürdig vertreten wurde der Prozeß der Parteierneuerung durch Willy Brandt (1913-1992), den Regierenden Bürgermeister von Berlin, der 1961 zum ersten Mal Kanzlerkandidat war und nach dem Tode Ollenhauers (1963) Parteivorsitzender wurde (1964). Die SPD verstand sich nicht mehr als grundsätzliche Opposition, sondern als „bessere Alternative", die im Zuge des „Gemeinsamkeitskurses" in wichtigen außen- und gesellschaftspolitischen Fragen zur Zusammenarbeit mit der Regierung bereit war. Um die Bedeutung der SPD für die Entwicklung der Bundesrepublik Deutschland einzuschätzen, darf man nicht nur auf die Bundesebene schauen, auf der sie die Politik auch aus der Opposition heraus mitgestaltete. Jahrelang trug die SPD überdies in zahlreichen Bundesländern und Großstädten die politische Verantwortung. 6.2. In der Regierung (1966-1982). So war die SPD keineswegs unerfahren im Umgang mit der politischen Macht, als sie im Dezember 1966 gegen den Widerstand weiter Kreise der eigenen Anhängerschaft mit der CDU/CSU eine Regierung der Großen Koalition bildete. Zentrale Aufgaben der Regierung waren die Überwindung der wirtschaftlichen Rezession sowie der außenpolitischen Stagnation. Kritik auch innerhalb der SPD fand die Verabschiedung der Notstandsgesetze im „heißen M a i " 1968. Dies zusammen mit dem vielfach als autoritär empfundenen Umgang mit der sich formierenden Studentenbewegung bzw. Außerparlamentarischen Opposition bot den Jungsozialisten Reibungsflächen, an denen sie ihr eigenes politisches Profil schärften. Mit der Wahl Gustav Heinemanns (1899-1976) zum ersten sozialdemokratischen Bundespräsidenten mit den Stimmen von SPD und Freier Demokratischer Partei (FDP) deutete sich im März 1969 eine neue - sozial-liberale - Koalitionsbildung an, die im Oktober 1969 von Brandt und Walter Scheel (geb. 1919; FDP) realisiert wurde. Die Regierung hatte sich eine Reihe innen- und außenpolitischer Reformen vorgenommen, von denen neben rechtspolitischen Liberalisierungen und sozialpolitischen Verbesserungen vor allem die Neue Ostpolitik zu erwähnen ist. Bei der Bundestagswahl 1972 konnte die SPD mit 45,8 % der Stimmen zum ersten Mal in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland zur stärksten Partei werden. Gerade die Ostpolitik gewann der SPD - 1971 hatte Brandt den Friedensnobelpreis erhalten — in breiten Kreisen der Bevölkerung Sympathien. In den 1970er Jahren schaffte die SPD den Durchbruch zur Volkspartei: Angestellte - vor allem des öffentlichen Dienstes - strömten in die SPD; auch der Anteil von Jugendlichen und von Frauen stieg deutlich an.
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Nach dem Rücktritt Brandts im Mai 1974 wurde die Ost- und Entspannungspolitik von Helmut Schmidt (geb. 1918; SPD) als Bundeskanzler fortgeführt. Wirtschaftliche Krisenerscheinungen und Verschiebungen der internationalen Handlungsbedingungen ließen die sozial-liberale Reformpolitik in eine Phase der Stagnation eintreten. Die „Nachrüstungs-Debatte" und die Probleme der Haushaltskonsolidierung wurden zu innerparteilichen Konfliktthemen und sprengten schließlich auch die Koalition (1982). 6.3. Erneut in der Opposition (1982-1998). In den folgenden Jahren stemmte sich die SPD einerseits gegen den wirtschaftsliberalen Kurs der neuen Bundesregierung unter Helmut Kohl (geb. 1930; CDU), dessen Politik sie als Abbau von Arbeitnehmerrechten und von sozialpolitischen Errungenschaften kritisierte; andererseits betrieb sie eine Öffnung in Richtung auf die „neuen sozialen Bewegungen", besonders die Friedens-, Umwelt- und Frauenbewegung. Das Aufkommen einer neuen Partei (Die Grünen) konnte die SPD freilich nicht verhindern. Der Wechsel der Kanzlerkandidaten von Wahl zu Wahl und auch der rasche Wechsel an der Spitze der Partei - auf Hans-Jochen Vogel (geb. 1926) folgten Björn Engholm (geb. 1939), Rudolf Scharping (geb. 1947), Oskar Lafontaine (geb. 1943) und Gerhard Schröder (geb. 1944) — zeigten die Schwierigkeiten, die durch den Rückzug und schließlich Tod Brandts (1992) gerissene Lücke zu füllen. In den 1980er Jahren unternahm die SPD den Versuch einer programmatischen Erneuerung, der seinen deutlichsten Ausdruck in den arbeits-, umweit-, frauen- und friedenspolitischen Aussagen des „Berliner Programms" (Dezember 1989) fand. Gerade als die SPD glaubte, mit ihrer Programmatik (wieder) auf der Höhe der Zeit zu sein, veränderte 1989/90 die „Wende" in der DDR und dann im ganzen Ostblock die politische Tagesordnung. Obgleich die Wiedervereinigung jahrzehntelang zu ihren zentralen politischen Forderungen gehört hatte, konnte die SPD nicht glaubwürdig den Wunsch nach einer raschen und konsequenten Überwindung der Teilung Deutschlands verkörpern. Die einzige in den letzten Monaten der DDR neugegründete Partei, die Sozialdemokratische Partei in der DDR (SDP), konnte bei den Volkskammerwahlen vom März 1990 gegen die CDU nicht aufkommen. Und auch bei den ersten gesamtdeutschen Wahlen vom Dezember 1990 erlitt die inzwischen vereinigte SPD eine Niederlage. In den neuen Bundesländern blieb die SPD organisatorisch schwach; 1997 gab es dort insgesamt so viele SPD-Mitglieder wie in Dortmund. Angesichts von allgemeiner „Parteienverdrossenheit" und zunehmendem Problemdruck ist die Entwicklung der Mitgliederzahlen in den 1980er Jahren zum Stillstand gekommen bzw. rückläufig. Auch die Bundestagswahlergebnisse lagen deutlich unter 40%. In der Debatte um den „Standort Deutschland" bzw. um die Folgen der „Globalisierung" galt die SPD vielfach als Verteidigerin von auf Dauer nicht bezahlbaren sozialpolitischen Leistungen und veralteten industriellen Strukturen. Nach sozialdemokratischen Vorstellungen soll die Arbeitsmarktkrise der 1990er Jahre vor allem durch Senkung der Arbeitskosten, Qualifizierungsoffensive und ökologische Steuerreform überwunden werden. 6.4. Erneut in der Regierung (seit 1998). Nach Klärung der Frage der Kanzlerkandidatur zugunsten von G. Schröder gelang es der SPD bei der Bundestagswahl vom September 1998, mit einem von den Parolen von „Modernisierung" und „sozialer Gerechtigkeit" geprägten Wahlkampf u.a. die als Zielgruppe anvisierte „Neue Mitte" zu mobilisieren und zur stärksten Partei zu werden. Die unter G. Schröder gebildete Koalitionsregierung von SPD und „Bündnis 90/Die Grünen" löste zunächst eine Reihe von Wahlversprechungen (z. B. Erhöhung des Kindergeldes, Lohnfortzahlung im Krankheitsfall) ein; doch Konfliktthemen (Doppelte Staatsbürgerschaft, Ausstieg aus der Kernenergie, Sozialversicherungspflicht für 630-Mark-Beschäftigungsverhältnisse) sowie das Umsteuern in der Finanzpolitik (Ökosteuer/Senkung der Lohnnebenkosten) verdunkelten das Bild der rot-grünen Regierung. Vor allem der nach dem Rücktritt O. Lafontaines von den Ämtern des Parteivorsitzenden (Nachfolger: G. Schröder) und des Bundesfi-
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nanzministers ab Sommer 1999 anvisierte „Sparkurs" zur Konsolidierung des Bundeshaushalts sowie die Pläne zur Rentenreform stießen vielfach auf Enttäuschung und Ablehnung, so daß die SPD bei den Landtags- und Kommunalwahlen des Herbstes 1999 schwere Stimmeneinbußen hinnehmen mußte. Zur Verunsicherung der SPD-Anhängerschaft trug zudem die Diskussion um Selbstverständnis und Kurs der SPD bei, die im Juni 1999 mit dem „Schröder-Blair-Papier" zur „Modernisierung" der europäischen Sozialdemokratie angestoßen wurde. Auskunft über den weiteren Weg der SPD soll ein neues Grundsatzprogramm geben, das 1999/2000 erarbeitet werden soll. 7. Internationale
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7.1. Sozialdemokratie in Europa vor dem Ersten Weltkrieg. Der Begriff der Sozialdemokratie erlaubt keine genaue inhaltliche Zuordnung von politischen Parteien. Sozialdemokratische unterscheiden sich von sozialistisch-kommunistischen Parteien vor allem dadurch, daß für sie die Demokratie Weg und Ziel zugleich ist. Das trifft mit graduellen Unterschieden auf alle Mitglieds-Parteien der IL Internationale bzw. der Sozialistischen Arbeiter-Internationale zu. Der deutschen Sozialdemokratie ähnliche oder verbundene Bewegungen entstanden in der zweiten Hälfte des 19. Jh. in zahlreichen Staaten Europas, wobei die deutsche Sozialdemokratie wegen ihrer Größe in der sozialistischen Bewegung vielfach als Vorbild galt. Die größten dieser Parteien seien hier kurz betrachtet. Die stärkste Nähe zur deutschen zeigte die Sozialdemokratie Österreichs, zumal beide bis 1871 miteinander verbunden waren. Unter dem Einfluß der Wirtschaftskrise spaltete sich die österreichische Sozialdemokratie 1873 in einen radikalen und einen gemäßigten Zweig, die sich jedoch an der Jahreswende 1888/89 auf dem Hainfelder Parteitag unter der Führung Viktor Adlers (1852-1918) in der - entsprechend den unterschiedlichen Nationalitäten föderativ gegliederten - Sozialdemokratischen Partei Österreichs zusammenfanden, als deren Nachfolgerin 1945 die Sozialistische Partei Österreichs gegründet wurde. Sozialdemokratische Parteien entwickelten sich auch in Skandinavien: Wichtigste Stationen waren die Gründung des Socialdemokratiet i Danmark (1876), der Norske Arbeiderparti (1887) und der Sveriges Socialdemokratiska Arbetarparti (1889). Während sich in Dänemark und Norwegen Partei und Gewerkschaften getrennt voneinander entwickelten, ging die Schwedische Sozialdemokratische Partei aus der Gewerkschaftsbewegung hervor. In Großbritannien verlief die Entwicklung, schaut man auf das Verhältnis Partei/ Gewerkschaften, ähnlich wie in Schweden: Nach mehreren Parteigründungen in den 1880er Jahren ebnete erst die 1893 von Keir Hardie (1846-1915) gegründete Independent Labour Party einer eigenständigen Parteibildung den Weg, der dann mit der von den Gewerkschaften vorangetriebenen Bildung des Labour Representation Committee (1906) und der Gründung der Labour Party dauerhafte Gestalt annahm. Nach einem ersten Versuch zur Bildung einer sozialdemokratischen Arbeiterbewegung - der 1873 gegründete Schweizer Arbeiterbund wurde in den Jahren der Depression 1879/80 aufgelöst - schlössen sich 1888 mehrere lokale und kantonale sozialdemokratische Gruppen zur Sozialdemokratischen Partei der Schweiz zusammen. Angesichts des großen Einflusses des Arbeitersekretariats und auch der christlichen Sozialisten um L. -»Ragaz einerseits, der Liberalität und Stabilität des gesellschaftlichen Umfeldes andererseits konzentrierte sich die Schweizer Sozialdemokratie ohne dramatische Flügelkämpfe auf Fragen der Sozialreform. In West- und Südeuropa hatte die Sozialdemokratie von Anfang an Schwierigkeiten, sich neben anarchistischen und syndikalistischen Bewegungen zu behaupten. Das gilt speziell für Frankreich, Spanien, Portugal und Italien. So vermochte sie sich z. B. in Frankreich vor dem Ersten Weltkrieg nicht zum dominierenden Faktor der Arbeiterbewegung zu entwickeln. Am stärksten war die 1879 gegründete Fédération du Parti des Travailleurs Socialistes de France, die sich jedoch nach einer Niederlage in den Municipalwahlen 1881
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spaltete, wobei die Marxisten die Minderheit, die sog. Possibilisten die Mehrheit bildeten. Daneben entwickelten sich aus liberalen Traditionen die Socialistes lndépendents, zu denen u.a. Jean Jaurès (1859-1914) und Alexandre Millerand (1859-1943) gehörten. 1905 schlössen sich die unterschiedlichen Gruppen zur Section Française de l'Internationale Ouvrière (S.F.I.O.) zusammen, aus der die Sozialistische Partei hervorging. Ganz anders verlief die Entwicklung in Rußland: Die 1898 gegründete Rossiskaja social-demokraticeskaja rabocaja partija spaltete sich vor dem Ersten Weltkrieg in Menschewiki und Bolschewiki. Während erstere mit ihren Vorstellungen von Sozialreform und Demokratie sozialdemokratischen Ideen nahestanden, entwickelten letztere unter dem Einfluß Wladimir Iljitsch Lenins (1870-1924) den Typ einer zentralistischen Kaderpartei, die aktiv die Revolution herbeiführte und den Einfluß der Menschewiki schließlich gewaltsam ausschaltete. 7.2. Wandel seit dem Ersten Weltkrieg. Schon vor dem Ersten Weltkrieg zeigte sich in fast allen sozialdemokratischen Parteien eine Flügelbildung zwischen eher reformorientierten bzw. radikaleren Kräften. Nachdem sich die sozialdemokratischen Parteien nicht in der Lage gesehen hatten, den Ersten Weltkrieg zu verhindern, sich vielmehr zumeist in die jeweiligen nationalen Kriegsanstrengungen hatten einbinden lassen, führten die Flügelbildungen vielfach zur Spaltung der Sozialdemokratie bzw. zur Gründung links-sozialistischer bzw. kommunistischer Parteien. Nicht zuletzt durch die im Zuge der Parteispaltung gewonnene Geschlossenheit der Rumpf- oder Mehrheitsparteien begann sich in der Zwischenkriegszeit der Typus der „modernen" Sozialdemokratie herauszubilden: Die zumeist primär proletarisch und marxistisch geprägten sozialdemokratischen Parteien entwickelten sich zu „Volksparteien". Eine zweite große Niederlage erlebten die sozialdemokratischen Parteien mit dem Heraufkommen des Nationalsozialismus bzw. Faschismus, dem sie weder in Italien noch in Deutschland und in Österreich sowie in Spanien den Weg zur Macht verlegen konnten. Zwar unterstützten die sozialdemokratischen Parteien der jeweiligen Aufnahmeländer die Sozialdemokraten im Exil, vor allem in der Tschechoslowakei, in Frankreich und in Großbritannien; doch zu einem international abgestimmten Vorgehen gegen die nationalsozialistischen bzw. faschistischen Diktaturen oder gegen den Krieg kam es nicht. Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges festigte sich der sozialreformerische und parlamentarisch-demokratische Charakter der Sozialdemokratie. Vor allem in Skandinavien (Schweden) und Österreich, auch in den Niederlanden und in Großbritannien nahmen Politiker sozialdemokratisch geprägter Parteien maßgeblichen Einfluß auf die Entwicklung zum Sozialstaat. Auch den Prozeß der Demokratie-Gründung nach dem Ende der Diktaturen in Spanien und Portugal sowie der Obristen-Herrschaft in Griechenland gestalteten sozialdemokratische Politiker an maßgeblicher Stelle mit. Auch wenn die größten sozialdemokratischen bzw. sozialistischen Mitgliedsparteien der Sozialistischen Internationale in Europa verwurzelt sind, sei nicht übersehen, daß es außer in Israel, Kanada, Australien, Neuseeland und Japan inzwischen auch in einer Reihe von Ländern Lateinamerikas (z. B. Argentinien, Chile, Mexiko) Parteien gibt, die zur Sozialdemokratie zählen. Angesichts der unübersehbaren Probleme, die aus dem ökonomischen und sozialen Wandel für Bestand oder Fortentwicklung des sozialdemokratischen Sozialstaats-Modells erwuchsen, sowie im Hinblick auf die Wahlsiege „konservativer" Parteien kam Ende der 1970er Jahre die These vom „Ende des sozialdemokratischen Jahrhunderts" auf. Wahlerfolge von Sozialdemokraten/Sozialisten Ende der 1990er Jahre - insbesondere in Frankreich (Lionel Jospin [geb. 1937]), Großbritannien (Tony Blair [geb. 1953]) und Deutschland (G. Schröder) - deuten jedoch darauf hin, daß reformierte sozialdemokratische Parteien nach wie vor Zulauf gewinnen können. Richtung und Tempo der vielfach angestrebten Parteireformen sind indessen umstritten, zeichnen sich doch zwischen den Wegen der französischen Sozialisten einerseits, der englischen und deutschen
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Sozialdemokraten („Schröder-Blair-Papier") andererseits durchaus Unterschiede ab. Der europäischen Sozialdemokratie ein übereinstimmendes Profil zu geben ist noch eine Zukunftsaufgabe. 7.3. Internationale Bünde. Die Sozialdemokratie war seit ihren Anfängen von internationalistischen Ideen geprägt, die ihren ersten Ausdruck 1864 in der Gründung der Internationalen Arbeiter-Assoziation (IAA) in London fanden. Vor allem der Konflikt zwischen Anarchismus und Marxismus trug dazu bei, daß die IAA 1876 aufgelöst wurde. Zum Gedenken an das 100jährige Jubiläum der -»Französischen Revolution wurde 1889 in Paris die II. Internationale gegründet. Angesichts der Einbindung der Mitgliedsparteien in die jeweiligen nationalen Kriegsanstrengungen verlor die II. Internationale nach 1914 ihren politischen Einfluß, bevor sie im Zuge der Spaltung der sozialdemokratischen bzw. sozialistischen Arbeiterbewegung 1919 durch die Gründung der III. (Kommunistischen) Internationale zerbrach. Daraufhin wurde 1923 in Hamburg die Sozialistische Arbeiter-Internationale (SAI) aus der Taufe gehoben, der 41 Parteien aus 30 Ländern angehörten. Die SAI wurde in der zweiten Hälfte der 1930er Jahre durch Konflikte über die Reaktion auf die Politik des „Dritten Reiches" politisch lahmgelegt und ging 1939/40 unter. Noch während des Zweiten Weltkriegs wurde die Bildung einer neuen Sozialistischen Internationale (SI) vorbereitet, an der jedoch die sozialdemokratischen bzw. sozialistischen Parteien der „Feindstaaten" (Deutschland, Österreich, Ungarn, Italien, auch Spanien und Finnland), so die ersten Überlegungen, nicht beteiligt sein sollten. Der erste Kongreß der SI fand dann jedoch 1951 in Frankfurt am Main statt und signalisierte damit die im Zuge der wachsenden Ost-West-Spannungen veränderten Konfliktlinien. Bereits in den 1950er Jahren richtete die SI ihr Augenmerk auf den Prozeß der Entkolonialisierung und auf die Probleme der „Dritten Welt". Nord-Süd-Fragen, Entspannungspolitik sowie die Probleme der Demokratisierung in Spanien und Portugal prägten die Politik der SI in den 1970er/80er Jahren, die unter der Präsidentschaft von Willy Brandt (ab 1976) eine Phase großer öffentlicher Präsenz erlebte. Quellen Dieter Dowe/Kurt Klotzbach f (Hg.), Programmatische Dokumente der dt. Sozialdemokratie, Bonn 1973 3 1991.
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Sozialethik
Die Wiedergründung der SPD 1 9 4 5 / 4 6 , Berlin/Bonn 1964 ' 1 9 9 0 . - Kurt Klotzbach, Der Weg zur Staatspartei. P r o g r a m m a t i k , prakt. Politik u. Organisation der dt. Sozialdemokratie 1945 bis 1965, Bonn 1 9 8 2 = 2 1996. Z « 7.1.-2.:
T h o m a s Meyer u.a. (Hg.), Lexikon des Sozialismus, Köln 1986, 571 ff.
Zu 7.3.: Julius Braunthal, Gesch. der Internationale, 3 Bde., H a n n o v e r 1 9 6 1 - 1 9 6 3 . 1 9 7 0 ; Berlin/ Bonn-Bad Godesberg, I—II 2 1974. - Karl-Ludwig Günsche/Klaus L a n t e r m a n n , Kleine Gesch. der Sozialistischen Internationale, Bonn 1977.
Michael Schneider
Sozialethik 1. Definition 2. Geschichte 3. Die römisch-katholische Soziallehre 4 . Evangelische Sozialethik 5. Ökumenische Sozialethik 6. Internationale Ethik (Literatur S. 523)
1.
Definition
Der Begriff Sozialethik kann in einem weiteren und in einem engeren Sinne verstanden werden. Der weitere umschließt alle Formen, in denen Menschen sich zueinander verhalten; der engere begrenzt sich auf den institutionellen, d.h. sozialen, politischen und ökonomischen Kontext, in dem menschliches Leben gelebt wird. Im folgenden ist die engere Definition des Begriffs zugrunde gelegt. Darüber hinaus wird hier ausschließlich die christliche Sozialethik behandelt, zumeist wie sie sich in den Soziallehren der christlichen Kirchen im 19. und 20. Jh. niedergeschlagen hat (zum biblischen und historischen Hintergrund s.u. 2.). Legt man die engere Definition zugrunde, so ist der Gegenstand christlich-theologischer Ethik, um die Unterscheidung Ferdinand Tönnies' (1855-1936) aufzunehmen, die Gesellschaft und nicht die —• Gemeinschaft. Die aktuelle Debatte über „Kommunitarismus" jedoch verpflichtet außerdem zu fragen, inwieweit die christliche Gemeinde selbst als ein Modell oder als eine Herausforderung für die menschliche Gesellschaft insgesamt gedacht worden ist bzw. noch zu denken ist. Schließlich sollen die sozialethischen Positionen der Kirchen sowohl unter ökumenischen als auch unter internationalen Gesichtspunkten reflektiert werden. 2.
Geschichte
2.1. Die
Bibel
2.1.1. Die biblischen Wurzeln der christlichen Sozialethik liegen in den alttestamentlichen Visionen eines gerechten, heiligen und friedliebenden Königtums, in dem Gott über alles und alle herrscht. Jeder Aspekt der sozialen Verhältnisse innerhalb des Volkes Israel wurde durch die Gesetzessammlungen der Tora geregelt. Deren Impetus fand in der weisheitlichen Literatur und in der Prophetie noch einmal verstärkt Aufnahme: durch konkrete Anordnungen zur Sorge für die Armen, Witwen und Waisen oder zusammenfassend in der Aufforderung, das Gerechte zu tun (Mi 6,8). Eine weltweite Dimension erlangten diese Visionen in der Aufforderung der späten Propheten, Israel solle das „Licht der Heiden" (vgl. Jes 49,6) sein, und in der Beteuerung der universalen Herrschaft Gottes durch die Psalmisten (vgl. Ps 103,19). Gerade aufgrund des Mißverhältnisses von Vision und Realität wurden die von den Propheten eingeforderten Ideale, besonders der Friedenswunsch (Jes 65,17—25), zum Gegenstand eschatologischer Hoffnung. Die eschatologische Hoffnung zeigte sich auch in den Forderungen der Propheten nach Umkehr, Buße und Erneuerung in der Gegenwart und der unmittelbaren Zukunft. Auch unter den nachexilischen Bedingungen der Fremdherrschaft prägten die am göttlichen Gebot ausgerichteten sozialen Ordnungen des ganzen Volkes den Glauben Israels. 2.1.2. Das neutestamentliche Fundament christlicher Sozialethik bildet erstens die übernommene, wenn auch verschärfte Predigt Jesu von der Königsherrschaft Gottes
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Sozialethik
(vgl. z . B . M k 1,15), zweitens das G e b o t der N ä c h s t e n l i e b e (vgl. M t 2 2 , 3 9 par.) und drittens das P a r a d i g m a der I n k a r n a t i o n . Es ist umstritten, wieweit die sozialen und politischen I m p l i k a t i o n e n dieser drei F a k t o r e n im B e w u ß t s e i n J e s u oder dem seiner ersten A n h ä n g e r , auch n a c h der A u f e r s t e h u n g , präsent w a r e n . D a sich Jesus in erster Linie, wenn auch nicht ausschließlich, an die w a n d t e , die von der Gesellschaft seiner Z e i t marginalisiert w u r d e n , fanden seine W o r t e und T a t e n zunächst bei einzelnen oder kleinen G r u p p e n von J ü n g e r n A n k l a n g . D i e ersten christlichen G e m e i n s c h a f t e n , die sich als R e a k t i o n a u f die a p o s t o l i s c h e Predigt von der Auferstehung bildeten, waren zunächst nicht viel m e h r als eine jüdische S e k t e . Weder die daraus e r w a c h s e n d e judenchristliche n o c h die d a r a u f folgende heidenchristliche K i r c h e waren zunächst in der L a g e , die sozialen und politischen Institutionen des R ö m i s c h e n R e i c h e s , in dessen Kont e x t sich das C h r i s t e n t u m e n t w i c k e l t e , zu beeinflußen, geschweige denn zu verändern. Doch schon in apostolischer Zeit finden sich Bemühungen, die Botschaft von der Königsherrschaft Gottes in praktische, sozialethische Begriffe umzusetzen. So schildert Act 4 , 3 2 - 3 7 , wie in der Jerusalemer Urgemeinde das frühe Experiment eines gleichsam kommunistischen Lebens gewagt wurde. In Act 6 , 1 - 6 wird von den Fürsorgemaßnahmen für Arme und Bedürftige, speziell für Witwen und Waisen, berichtet. Trotz oder gerade wegen dieser Form sozialen Engagements ist der frühen Kirche vorgeworfen worden, sie habe die Nächsten- oder gar die Feindesliebe durch die Bruderliebe ersetzt. Mag diese Kritik berechtigt sein oder nicht, ist die frühe Christenheit ihrer soziologischen Beschaffenheit nach dem Typus der Gemeinschaft und kaum dem der Gesellschaft zuzuordnen. Doch die Logik des Evangeliums sprengte die Grenzen derartiger Beschränkungen. Die kompromißlosen Gebote der Bergpredigt konnten dagegen weder in der christlichen Gemeinschaft und schon gar nicht in der sie umgebenden Gesellschaft direkt angewendet werden. Innerhalb des Neuen Testaments zeigt sich in der paulinischen -»Paränese und den einschlägigen Stellen der —»Pastoralbriefe eine pragmatischere Sozialethik, die darauf drängte, die Beziehungen zwischen den Geschlechtern, zwischen den Generationen und zwischen den Leitern und den Geleiteten in der Gemeinde zu regeln, gerade wenn die Priorität der Früchte des Heiligen Geistes, als deren vornehmste die -»Liebe angesehen wurde, als spezifische Norm christlichen Lebens angeführt und angesehen wurde. Die Qualität der zwischenmenschlichen Beziehungen und die Sorge um den Nächsten, die sich in den frühchristlichen Gemeinschaften manifestierte, war ohne Zweifel einer der Faktoren, die diese rasch wachsende Religion aus ihrer Umwelt heraushob und für Menschen unterschiedlichster Herkunft anziehend werden ließ. R o m 13,1 und I Petr 2 , 1 3 ff. belegen deutlich, d a ß sich die Kirche der neutestamentlichen Z e i t m i t dem Stellenwert der umfassenderen politischen O r d n u n g innerhalb der Vorsehung G o t t e s beschäftigt h a t , o h n e den G r u n d g e d a n k e n der späteren Prophetie aufzugeben, d a ß G o t t der H e r r der ganzen E r d e ist. In diesem Z u s a m m e n h a n g soll nicht u n e r w ä h n t bleiben, d a ß die S t a b i l i t ä t und O r d n u n g des R ö m i s c h e n R e i c h e s es - • P a u l u s e r m ö g l i c h t e , das E v a n g e l i u m von J e r u s a l e m nach R o m zu tragen. D a m i t sind die G r u n d l a g e n für eine zweiteilige Sozialethik geschaffen: einerseits die A n w e n d u n g der L e h r e J e s u in der christlichen G e m e i n d e , wenn auch im L i c h t e praktischer N o t w e n d i g k e i t e n in a b g e m i l d e r t e r F o r m , andererseits die sich aus alttestamentlichen Quellen speisende, eher universelle K o n z e p t i o n einer göttlichen O r d n u n g für den ganzen Weltkreis. Letztere ließ sich in Z e i t e n der Verfolgung nur schwer a u f r e c h t e r h a l t e n . D i e - * A p o k a l y p s e des J o h a n n e s e n t w i r f t d a h e r ein negatives Bild der weltlichen politischen M ä c h t e , die dazu ausersehen sind, in einer letzten g r o ß e n S c h l a c h t zerstört zu werden.
2.2. Alte Kirche Bis zur B e k e h r u n g - » K o n s t a n t i n s im J a h r e 3 1 2 blieb in der n a c h a p o s t o l i s c h e n Z e i t das Verhältnis der Alten K i r c h e zur p a g a n e n U m w e l t des R ö m i s c h e n R e i c h e s weitgehend von Z u r ü c k h a l t u n g geprägt, denn die K i r c h e w a r zunächst u m die R e i n h e i t ihrer eigenen G e m e i n s c h a f t b e m ü h t . D e n n o c h fehlte es nicht an Versuchen, wie z . B . bei - » C l e m e n s von A l e x a n d r i e n , in der E t h i k der S t o a und der M e t a p h y s i k der P l a t o n i k e r S a m e n der W a h r h e i t zu sehen. C l e m e n s sah in deren Schriften eine N ä h e zur jüdisch-christlichen Schöpfungslehre, die ihm a u c h der A n k n ü p f u n g s p u n k t für das G e s p r ä c h m i t der Phi-
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losophie seiner Zeit war. In ähnlicher Form entwickelte er eine nuancierte Besitzethik, in der die Verantwortung für die Bedürfnisse der Armen eine zentrale Stellung einnahm. Weitaus charakteristischer für das 3. und 4. Jh. war jedoch die monastische Bewegung ( - • M ö n c h t u m ) , die einen Lebenstil entwarf, der bis heute für viele Christen als das Ideal g e m e i n s a m e n christlichen Lebens gilt: ein Gott geweihtes Leben in Abgeschiedenheit v o n der äußeren Welt. D i e Bekehrung Konstantins zum christlichen Glauben beseitigte durch die Abschaffung des Kaiserkults das Haupthindernis für ein umfassendes christliches Engagement innerhalb der politischen Verhältnisse der Gesellschaft des R ö m i s c h e n Reiches. Der Kirche fiel es nun entschieden leichter, in der kaiserlichen Fürsorge für Frieden und Rechtsordnung die göttliche Führung anzuerkennen, o b w o h l sie selbst weiterhin einen besseren und höheren Weg lehrte und vorlebte. Es ist bemerkenswert, wie schnell sich spätantik-pagane und christliche Werte vermischten. Zwei dafür bemerkenswerte Illustrationen bieten zum einen die Lobeshymnen des -»Eusebius von Caesarea auf den Kaiser und zum anderen, am Ende des 4. Jh., die Bereitwilligkeit -»Augustins, weltliche Gewalt zur Unterdrückung von Häresien zu nutzen. Die Verfolgung der Donatisten durch den Bischof von Hippo war nur ein Beispiel für die leidenschaftlichen Reaktionen innerhalb der Kirche auf die Assimilationsvorgänge, die unter Konstantin und seinen Nachfolgern stattfanden. Die sich im 4. Jh. ausbreitende asketische Bewegung (-•Askese) exemplifizierte ebenfalls den weitreichenden Versuch, die distinkte und radikale Natur des christlichen Menschenbildes und der damit verbundenen sozialen Vision zu bewahren. In seinem Gottesstaat bemühte sich Augustin, das Verhältnis zwischen dem christlichen Hauptanliegen des eschatologischen Friedens und der relativen Anerkennung der politischen Verhältnisse als göttliche Notordnung für die sündige Menschheit ausgewogen zu beschreiben. Im Kontext der Eroberung Roms durch die Goten im Jahre 410 und des Zusammenbruchs des politischen Systems bestätigte sich für Augustin seine eher negative Bewertung der „irdischen Stadt". Auf dem Wege zum Frieden der „himmlischen Stadt" dürfe die christliche Gemeinde den Frieden der „irdischen Stadt" nutzen, ohne ihr jedoch tieferes Vertrauen entgegenzubringen. Das Kennzeichen der „irdischen Stadt" sei nämlich die korrumpierte Macht, die dem verdienten Urteil, der Vernichtung, anheimfalle (vgl. civ. XIX,14-28). Der Beginn des sog. „dunklen Zeitalters" führte schließlich zur Christianisierung Westeuropas, die auf ihre Art die vorangegangene Christianisierung des Römischen Reiches an Bedeutung noch übertreffen dürfte. Der Einfluß des keltischen Christentums, der weitgefächerten monastischen Bewegung, der in einer sich zunehmend organisierenden Kirche an Bedeutung und Macht gewinnenden Bischöfe machte das Hervorkommen christlicher Regenten möglich, die sich zumindest teilweise der Christianisierung der Gesellschaft, insbesondere der Bildung, widmeten. Mit der Herrschaft -»Karls des Großen, der als christlicher Kaiser das alttestamentliche Vorbild des Königs David nachzuahmen suchte, war der Höhepunkt dieser Entwicklung erreicht. Andere Einflüße verstärkten eher entgegengesetzte Entwicklungen. Die feudale Gesellschaft des frühen Mittelalters ( - • Lehnswesen) entsprang keineswegs dem Geist des Christentums, gleichwohl infiltrierte der Feudalismus die kirchliche Praxis und die Theologie zu einem nicht unerheblichen Grad. Andererseits beeinflußten natürlich auch die Werte des römischen, keltischen und byzantinischen Christentums auf ihre je eigene Weise, nicht zuletzt als Reaktion auf den nach Europa übergreifenden Islam, die Sitten und Gebräuche des feudalen Europa, weshalb die christliche Zivilisation das europäische Mittelalter entscheidend prägte. 2.3.
Mittelalter
Die mittelalterliche Christenheit erweist sich aus heutiger Sicht als ein höchst ambivalentes Phänomen: Einerseits besaß sie eine bemerkenswerte D y n a m i k , die sich in päpstlichen und monastischen Reformen, in der Ausformulierung und Exekution des Kanonischen Rechts, in den erfolgreichen Universitätsgründungen, in der schnellen Ausbreitung des Franziskaner- und des Dominikanerordens, im Bau der großen Kathedralen und natürlich auch in der lebendigen Volksfrömmigkeit niederschlug. Andererseits bestanden große Spannungen zwischen weltlicher und geistlicher M a c h t . Spirituelle Energien wurden für die -*• Kreuzzüge mißbraucht, Häresien g e w a l t s a m unterdrückt, Aberglauben breitete sich im Glauben des Volkes aus, manchmal sogar begünstigt durch die Kirche.
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W i e auch auf anderen G e b i e t e n christlichen Denkens, erreichte die mittelalterliche Sozialethik in der T h e o l o g i e des —• T h o m a s v o n A q u i n o ihren H ö h e p u n k t . T h o m a s ' Synthese der aristotelischen und der christlichen T r a d i t i o n führte zu einer positiveren B e w e r t u n g der weltlichen H e r r s c h a f t und G e s e t z g e b u n g , als es bei A u g u s t i n der Fall w a r . In De regimine
principium
und in S.th. I - I I 9 0 - 97 setzte T h o m a s v o n A q u i n o die
gute H e r r s c h a f t einschließlich des Z i v i l - und V ö l k e r r e c h t s unter die Ä g i d e des
Na-
turrechts, das selbst w i e d e r u m G o t t e s e w i g e s Gesetz reflektiert und die Angelegenheiten der W e l t t e l e o l o g i s c h auf das A l l g e m e i n w o h l
der M e n s c h h e i t und schließlich
zum
- • H ö c h s t e n G u t selber v e r w e i s t . D a f ü r T h o m a s die G n a d e die N a t u r nicht zerstört, sondern v o l l e n d e t , w a r er in der L a g e , der „ i r d i s c h e n S t a d t " einen besseren P l a t z in der Vorsehung G o t t e s zuzugestehen, als dies der Bischof v o n H i p p o getan hatte. T h o m a s w a r z u d e m in der L a g e , aus V e r n u n f t g r ü n d e n eine T h e o r i e des gerechten Krieges ebenso w i e eine T h e o r i e des W i d e r s t a n d s r e c h t s zu e n t w i c k e l n , deren Bezugsrahmen die Ausrichtung der „ i r d i s c h e n S t a d t " auf das A l l g e m e i n w o h l w a r . Im Spätmittelalter entwickelte Wilhelm von —»Ockham eine eher voluntaristisch orientierte Ethik. Obwohl Ockham mit dem Hinweis auf den Willen Gottes natürliche Rechte gegen Ubergriffe des Staates sowie Rechte des Staates gegen Ubergriffe der Kirche verteidigte, war sein Verständnis einer gottgegebenen moralischen Ordnung, die durch die Vernunft wahrnehmbar sei, der Moraltheorie des Thomas verwandt - mit Ausnahme der voluntaristischen Annahme, daß Gott aus anderem Anlaß auch anders wollen könne. 2.4.
Reformation
In der Z e i t des Bruchs mit R o m intensivierten sich die der augustinischen und thomistischen Sozialethik i n n e w o h n e n d e n A m b i v a l e n z e n . A u c h - » L u t h e r s Sozialethik ist v o n z w e i gegensätzlichen T e n d e n z e n gekennzeichnet: (a) D u r c h seine Z w e i - R e i c h e - L e h r e und durch sein Verständnis des primus
usus legis e r w e i t e r t e und rationalisierte Luther
das Vertrauen z u m „ w e l t l i c h e n R e g i m e n t " . W ä h r e n d G o t t e s spirituelle R e g e n t s c h a f t durch die P r e d i g t des E v a n g e l i u m s ausgeübt w e r d e , solle seine zeitliche durch die H e r r schaft der Fürsten, denen auch der G e b r a u c h des Schwertes zu konzedieren sei, v o l l z o g e n w e r d e n , (b) D i e V e r w e r f u n g des monastischen Ideals durch Luther fußte auf der Einsicht der Z u s a m m e n g e h ö r i g k e i t v o n christlicher Freiheit und christlicher V e r a n t w o r t u n g . D e r V o r r a n g des E v a n g e l i u m s v o r d e m G e s e t z hatte für Luther zur F o l g e , daß der z w e i t e G e b r a u c h des Gesetzes den M e n s c h e n die U n e r f ü l l b a r k e i t des G e b o t e s , in christlicher G e m e i n s c h a f t miteinander zu leben, zeigen sollte - und sie so auf die G n a d e zurückverwies. Der pragmatischere -»Melanchthon erweiterte dagegen Luthers Gesetzesverständnis um den tertius usus legis, durch den die Gerechtfertigten „mit erneuertem Sinn" dem sie leitenden Gesetz unterstellt werden. Bei -•Calvin fand dieser Gedanke praktische Anwendung, indem er ihn auf die Gesamtheit des sozialen Lebens im annähernd theokratisch verfaßten Stadtstaat Genf übertrug. Dennoch benötigte er den von „ L a i e n " geführten Magistrat für die Aufgabe, die Rahmenbedingungen für Frieden und Ordnung zu sichern, in dem sich die christliche Gesellschaft entfalten konnte. So wurde die rechtmäßige staatliche Unterstützung der Religion zu einer der Pflichten protestantischer Regierungstätigkeit. D i e Kennzeichen der protestantischen Sozialethik lassen sich bereits in Luthers Ä m terlehre entdecken. D i e irdischen Institutionen o d e r Ä m t e r w i e Beruf, Ehe, F a m i l i e , staatliches Gesetz und H e r r s c h a f t h a b e n ihren Ursprung in der göttlichen Vorsehung. O b g l e i c h alle M e n s c h e n v o r G o t t g l e i c h e D i g n i t ä t besitzen, ist ihre B e r u f u n g b z w . ihr A m t in der W e l t t r o t z d e m unterschiedlich. Ihre irdischen V e r a n t w o r t u n g s b e r e i c h e sind unter d e m Gesichtspunkt der Providentia
Dei v o n gleicher W i c h t i g k e i t w i e die Verpflich-
tung, d e m E v a n g e l i u m g e m ä ß zu leben. Diese L e h r e f ö r d e r t e in der protestantischen F r ö m m i g k e i t s k u l t u r das Bemühen u m die -*• H e i l i g u n g des alltäglichen Lebens, mit d e m sich auch ein S t ä n d e m o d e l l der L e b e n s s t a t i o n e n v e r b a n d ( - » - B e r u f ) .
Sozialethik 2.5. Frühe
501
Neuzeit
Durch die Reformation, die Gegenreformation (-»Katholische Reform und Gegenreformation) und die -»Religionskriege verlor Europa seine konfessionelle Homogenität. Was sich im ganzen zeigte, spiegelte sich auch in der historischen Entwicklung einzelner Länder wider. Zum Beispiel scheiterte in England der von R. -» Hooker in seinen Laws of Ecclesiastical Polity gegen die Dissenters einerseits und die -»Säkularisierung andererseits gerichtete Versuch, kirchliches und ziviles Recht auf die gemeinsame Basis eines universalen, gottgegebenen Naturrechts zu stellen. Im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation, wo sich nach dem -»Augsburger Religionsfrieden von 1555 eine regionale Religionspolitik gemäß der Formel Cuius regio, eius religio durchsetzte, gewannen mystische und pietistische religiöse Bewegungen die Oberhand. In England ging die Kultivierung der persönlichen Frömmigkeit, der individuellen Moralität, des Familiensinns und des sozialen Engagements ebenfalls einher mit einer allgemein anerkannten Sozialphilosophie, die einem jeden seinen gesellschaftlichen Platz und die damit verbundenen Pflichten zuwies. Ein derartiges hierarchisches Wertesystem stand seinem Wesen nach dem Feudalismus näher als dem Christentum. Sogar die -»Sklaverei wurde für lange Zeit von den Kirchen akzeptiert. Im 19. Jh. bewirkte allein der deutliche Protest einer kleinen Gruppe moralisch hochstehender christlicher Reformer eine Gesinnungsänderung. Erst der Druck der industriellen Revolution samt den damit verbundenen, einschneidenden sozialen Konsequenzen brachte schließlich die Kirchen dazu, ihre Soziallehren zu überdenken. So erscheint die Bemerkung E. -»Troeltschs als zu weitgehend, das Christentum habe „überhaupt keine an sich und wesenhaft aus der christlichen Religiosität entspringende, sozusagen normale christliche Sozialtheorie" (Troeltsch, Sozialphilosophie 13). Wie die im folgenden darzulegende Entwicklung der christlichen Sozialethik in den letzten zwei Jahrhunderten zeigen dürfte, sind ihre Wurzeln in der biblischen Lehre von der Königsherrschaft Gottes, von Christi Herrschaft über die Gewalten, im Gebot der Nächstenliebe sowie der Schöpfungslehre und der Inkarnation verankert. 3. Die römisch-katholische 3.1. Die päpstlichen
Soziallehre
Enzykliken
Die moderne katholische Soziallehre läßt sich am besten und authentischsten den wichtigsten päpstlichen Enzykliken von Kerum Novarum (1891) bis Centesimus Annus (1991) entnehmen. Damit soll nicht gesagt werden, daß die nachtridentinische katholische Kirche sich vor den Umwälzungen der industriellen Revolution nicht ebenfalls sozialethischen Fragen gewidmet hätte. Der säkulare politische Druck in den katholischen Ländern Europas hatte jedoch dazu geführt, daß die Kirche ihren primären sozialen Einfluß - neben ihren weitreichenden erzieherischen und karitativen Aufgaben - eher in den Familien oder durch die Beichte individuell ausübte. Zwar hatte der französische Klerus im Juni 1788 durch seinen Protest gegenüber König Ludwig XVI. (reg. 1 7 7 4 - 1 7 9 2 ) zur Einberufung der Etats généraux beigetragen, um so dem Volk zu Steuererleichterungen zu verhelfen. Der Radikalismus der -»Französischen Revolution, insbesondere der wachsende Antiklerikalismus, brachte die Kirche jedoch noch stärker in die Defensive, als es bereits durch die Säkularisierungstendenzen der -»Aufklärung geschehen war. Uber weite Strecken des 19. Jh. war der Katholizismus in sozialen Fragen reaktionär. Liberale und sozialistische Ideen stießen auf entschiedene Ablehnung (vgl. z. B. den -*Syllabus errorum -»Pius' IX. von 1864). Zeitweilig argumentierte die Kirche sogar nostalgisch im Sinne des Kooperationsmodells der mittelalterlichen Gilden (vgl. Preston, Confusions 42).
Die Enzyklika -»Leos XIII. Kerum novarum (1891; DH 3265-3271) markiert den Anfang der aktiven Auseinandersetzung der katholischen Kirche mit den sozialen Folgen der -»Industrialisierung. Die Schrift beschäftigt sich vornehmlich mit den Rechten und
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Sozialethik
Pflichten von Arbeit und Kapital. Liberalismus und Sozialismus werden weiterhin als materialistisch verdammt, das Recht der Arbeiter auf einen gerechten Lohn und die Gründung von Gewerkschaften dagegen bejaht. Privateigentum wird aus naturrechtlichen Gründen verteidigt, überzogene Steuern werden verurteilt. Aber die Hauptaufgabe bestehe darin, „ a r m e Arbeiter vor der Brutalität derer zu schützen, die Menschen einzig als Instrumente für ungehemmtes Profitstreben gebrauchen" (vgl. Preston, Confusions 43). Hinter dieser Lehre steht die Inanspruchnahme des Naturrechts und der W ü r d e des Menschen. Da die N o r m e n der Enzyklika dem entnommen sind, was als das Wesen des Menschen und des Staates in Gottes Schöpfungsordnung gesehen wird, fehlen Hinweise auf die Ethik des Evangeliums sowie ein reflektiertes, kritisches Geschichtsbewußtsein. In der 40 Jahre später erschienenen Sozialenzyklika -»Pius' XI. Quadragesimo anno (1931; DH 3725 - 3 7 4 4 ) finden sich erneut ähnliche Prinzipien. Der Papst beschäftigt sich mit dem Wiederaufbau der sozialen Ordnung. Indem er die Auswirkungen des freien, unkontrollierten Wettbewerbs verurteilt, unterscheidet er erstmals zwischen einem gemäßigten Sozialismus und dem Kommunismus. Das Gegenmodell einer hierarchisch aufgebauten sozialen Ständeordnung kooperierender Gruppen hing zu sehr überkommenem Gedankengut an, um eine wirklich fruchtbare Alternative zu sein. Der in der Enzyklika erstmals präsentierte Gedanke der Subsidiarität sollte sich jedoch als weitreichende Innovation erweisen, der explizit z. B. im Maastrichtvertrag der Europäischen Union auch säkulare Verwendung gefunden hat. Subsidiarität besagt, daß Entscheidungen, soweit es möglich und sachlich angebracht ist, nicht zentral, sondern auf dezentralen, unteren, unmittelbar betroffenen Ebenen getroffen werden sollen. Die Enzyklika von 1931 bemühte sich um einen Weg zwischen der Skylla kollektivistischen und der Charybdis individualistischen Denkens, indem es auf die Prinzipien der Menschenwürde und des Gemeinwohls rekurriert. Summi pontificatus (1939; DH 3 7 8 0 - 3 7 8 6 ) , erschienen kurz nach Ausbruch des Zweiten Weltkrieges im ersten Jahr des Pontifikats -»Pius' XII., behandelt u.a. das Wesen des modernen Staates. Mit der erneuten Bestätigung der Bedeutung des Naturrechts für nationales Recht und Völkerrecht geht eine, wenn auch sehr allgemein gehaltene, Verurteilung der Willkür unbegrenzter staatlicher Gewalt sowie der von ihr erlassenen ungerechten Gesetze einher. Z u m 7 0 . Jahrestag von Kerum novarum faßte - » J o h a n n e s X X I I I . in Mater et Magistra ( 1 9 6 1 ; D H 3 9 3 5 - 3 9 5 3 ) kurz vor Beginn des II. Vatikanischen Konzils ( - » V a t i k a num II) die Soziallehre seiner Vorgänger z u s a m m e n und entwickelte sie im Hinblick auf die neuen gesellschaftlichen Entwicklungen nach dem Zweiten Weltkrieg weiter. Ausgehend von der bleibenden Bedeutung der M e n s c h e n w ü r d e , griff erstmals ein Papst T h e m e n wie weltweite Ungerechtigkeit, unterentwickelte Länder und die schwierige L a g e der Landarbeiter auf. Besondere Aufmerksamkeit widmete J o h a n n e s der Bedeutung einer stärkeren staatlichen Intervention in einer immer k o m p l e x e r werdenden Welt sozialer Interaktionen. In der im Verlauf des II. Vatikanischen Konzils von J o h a n n e s X X I I I . erlassenen E n zyklika Pacem in Terris ( 1 9 6 3 ; D H 3 9 5 5 - 3 9 9 7 ) findet sich zum ersten M a l eine päpstliche Anerkennung der M e n s c h e n r e c h t e aus naturrechtlich begründeten christlichen Prinzipien. Z u d e m bemühte sich der Papst, das N a t u r r e c h t auf internationale Probleme anzuwenden, denn das G e m e i n w o h l aller N a t i o n e n bedürfe gegenseitiger staatlicher Abmachungen. In der Enzyklika werden erstmals, wenn auch mit großer Z u r ü c k h a l t u n g , positive Aspekte des M a r x i s m u s ( - » M a r x / M a r x i s m u s ) hervorgehoben, was den W e g zu einer neuen Ostpolitik des Vatikan gegenüber der Sowjetunion ebnete. In Populorum progressio (1967; DH 4 4 4 0 - 4469) betonte -»Paul VI. ebenfalls die universale Dimension der sozialen Fragen und die Dringlichkeit ökonomischer Entwicklungen in der Dritten Welt. Offenkundig seien die Ungerechtigkeiten der freien Marktwirtschaft besonders dann, „wenn die materiellen Voraussetzungen zwischen den Völkern allzu ungleich werden: denn Preise, die zwischen Handelspartnern in freier Übereinkunft zustande kommen, können ganz ungerechte Folgen haben" (§ 58: DH 4463). Das Einverständnis solcher ungleicher Partner genüge auch keineswegs, „um die Billigkeit von Verträgen zu gewährleisten"; vielmehr sei „das Gesetz des freien Einverständnisses am Naturrecht auszurichten" (§ 59: DH 4464). Derselbe Papst behandelte in seinem Apostolischen Schreiben Octogésima adveniens (1971; DH 4 5 0 0 - 4 5 1 2 ) , das in einem weniger dogmatischen Ton gehalten ist, das Thema „Kirche und
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politische Tätigkeit". Einige der neueren sozialen Problemfelder wie Urbanisierung, Arbeitslosigkeit, Diskriminierung, Immigration, Medien und Umweltschutz werden aufgegriffen. Während der Marxismus weiterhin wegen seines methodischen Atheismus und Materialismus sowie seiner Klassenkampf-Doktrin abgelehnt wird, erhält das sozialistische Bemühen um soziale Gerechtigkeit eine positive Bewertung. Deshalb sei es den Christen, die zu einer differenzierten Bewertung des Sozialismus fähig seien, erlaubt, ihn zu einer Analyse der sozialen und ökonomischen Bedingungen zu nutzen. Es ist daher kaum überraschend, daß sich Befreiungstheologen gerne auf Octogesima adveniens berufen.
Aus der Reihe der von Papst Johannes Paul II. initiierten Sozialenzykliken seien drei hervorgehoben: Laborem exercens (1981; D H 4690-4699), Sollicitudo rei socialis (1987; DH 4810-4819; VApS 82) und Centesimus annus (1991; VApS 101). Laborem exercens, gegenüber den späteren Enzykliken in radikalerem Duktus verfaßt, ist der Bedeutung der Arbeit für den Menschen gewidmet. Das erste Prinzip jeder Wirtschaftsordnung solle das allgemeine Verlangen nach Gütern und das Recht ihres allgemeinen Gebrauches sein. Deshalb bewertet der Papst die Eigentumsbeteiligung der Arbeiterschaft an Industriebetrieben positiv. Sollicitudo rei socialis, aktuellen sozialen Fragen gewidmet, verurteilt den übermäßigen Konsum und die Gier nach Macht. „Dieser doppelten sündhaften Haltung verfallen offensichtlich nicht nur Einzelpersonen, sondern auch Nationen und Blöcke. Das begünstigt noch mehr das Entstehen von S t r u k t u r e n der S ü n d e ' " (Sollicitudo rei socialis § 37). Die Betonung der „Strukturen der Sünde", die dem Allgemeinwohl entgegenwirken, ist ein bemerkenswertes Kennzeichen dieser Enzyklika. Centesimus annus, mit der an den 100. Jahrestag von Kerum novarum erinnert wird, ist die erste päpstliche Enzyklika, die die außergewöhnlichen Veränderungen der politischen und wirtschaftlichen Lage Europas seit dem Zusammenbruch des Kommunismus 1989 bedenkt. In einem zentralen Abschnitt reflektiert der Papst die Rolle der Kirche in den verhältnismäßig friedvoll verlaufenden Umstürzen der totalitären marxistischen Regime, aber auch die Gefahren, die triumphalistischer Marktwirtschafts-Kapitalismus in den ehemaligen Ostblockländern hervorrufe. Der Papst fordert die Notwendigkeit eines auf Gerechtigkeit und Wahrheit aufbauenden Rahmensystems. In ihm sollen menschliche Werte und Bedürfnisse, auch wenn sie unter Markt-Gesichtspunkten eliminierbar würden, berücksichtigt und bewahrt werden. Auch die Umweltproblematik wird breit thematisiert. Darüber hinaus wird das Subsidiaritätsprinzip als Gegengewicht zu negativen Entwicklungen in den westlichen -»Wohlfahrtsstaaten anempfohlen, in denen es nach Ansicht des Papstes zu einem Verlust von menschlicher Wärme und nachbarschaftlicher Gemeinschaft gekommen sei, zu der die Kirche durch ihre Wohltätigkeitsarbeit immer aufgerufen habe. In diesem Zusammenhang wird auf die Solidarität verwiesen. Dieser andere Zentralgedanke der katholischen Soziallehre wird zur Ausbalancierung der beiden entgegengesetzten Übel - des exzessiven Individualismus und des Staatsmonopolismus - empfohlen. Damit verbunden fährt der Papst fort, von den Werten zu sprechen, die zur Formierung der Kultur und der Rolle der Kirche in ihr beitragen. 3.2. Das Zweite
Vatikanische
Konzil
Die wichtigste Quelle des Zweiten Vatikanischen Konzils zur Soziallehre ist die Pastoralkonstitution Gaudium et Spes (1965; D H 4301-4345) über die Kirche in der Welt von heute. Das Dokument bezieht sich zwar auf die ihm vorausgegangenen Sozialenzykliken, doch sein deutlich unterschiedener Ansatz bereitet eine erkennbare Neuorientierung der katholischen Soziallehre vor, die sich auch in den ihm folgenden Sozialenzykliken niederschlägt. Gaudium et Spes ist ein positiver, vielleicht allzu optimistischer Versuch, zu allen Menschen guten Willens zu sprechen, indem das beständige, aber sich auch fortwährend entwickelnde kirchliche Verständnis des Allgemeinwohls der Menschheit verdeutlicht wird. Dem Willen, die Zeichen der Zeit zu erkennen, wird in diesem Fall der Verweis auf die Naturrechtslehre bzw. die Essenz des H u m a n u m s untergeordnet.
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Die christlichen Grundprinzipien der Menschenwürde und der Gemeinschaftsbezug des Individuums werden expliziter als sonst in der Christologie verankert. Die Pastoralkonstitution fährt damit fort, die grundsätzliche Gleichheit aller nach dem Ebenbild Gottes geschaffenen Menschen und die daraus resultierende soziale Gerechtigkeit zu reflektieren, was zu einer Hochschätzung der Menschenrechte und des Dienstes am Nächsten bzw. der gegenseitigen Verantwortung führt. Der zweite Teil des Dokuments ist einigen akuten Problemen gewidmet. Zunächst geht es um Ehe und Familie, dann um die angemessene Entwicklung der Kultur, des sozio-ökonomischen sowie des politischen Lebens. Im Abschnitt über die Kultur spricht das Konzil, wenn auch in sehr allgemeiner F o r m , der Wissenschaft, der Literatur und den Künsten eine wichtige Funktion für das Allgemeinwohl zu. Im Kapitel über Wirtschaft und Soziales finden sich Gedanken zur Überwindung der großen wirtschaftlichen Ungleichheiten. Das Konzil plädiert für das Recht der Arbeiter auf Arbeit und auf Freizeit, auf Mitgliedschaft und Betätigung in Gewerkschaften sowie für die friedliche Beilegung von Konflikten. Dahinter steckt folgender Grundgedanke: „ G o t t hat die Erde mit allem, was sie enthält, zum Nutzen aller Menschen und Völker bestimmt ... Zudem steht allen das Recht zu, einen für sich selbst und ihre Familien ausreichenden Anteil an den Erdengütern zu h a b e n " (§ 69: Karl R a h n e r / H e r b e r t Vorgrimler [Hg.], Kleines Konzilskompendium. Sämtliche Texte des Zweiten Vatikanums, Freiburg i.Br. " 1 9 9 1 , 5 2 5 ) . Der Abschnitt über das Leben in politischer Gemeinschaft rekurriert auf die moralischen Grenzen, innerhalb derer politische M a c h t ausgeübt werden solle, auf die Rechte und Pflichten der Staatsbürgerschaft und auf die Verwirklichung des alles überragenden, „aber dynamisch verstandenen" (§ 74: ebd. 531) Allgemeinwohls, das das Ziel aller politischen Gemeinschaft sei.
3.3. Regionale
bischöfliche
Stellungnahmen
Nach dem II. Vatikanischen Konzil haben in Ergänzung der offiziellen römischen kirchenamtlichen Lehrdokumente regionale Konferenzen und Bischofssynoden sowie internationale Synoden einen zumeist differenziert formulierten Beitrag zur Fortschreibung der katholischen Soziallehre geleistet. Die Unterschiede zwischen den Verlautbarungen des Heiligen Stuhls bzw. des Konzils und den regionalen bischöflichen Hirtenbriefen werfen die Frage nach dem Status und der Autorität der kirchlichen Lehrdokumente auf, die sich in ähnlicher Weise für die erkennbaren Entwicklungen und Akzentverschiebungen in den Sozialenzykliken seit Kerum novarum stellt. Das wohl bemerkenswerteste regionale Dokument Gerechtigkeit und Frieden (1968; DH 4 4 8 0 - 4 4 9 6 ) entstand auf der zweiten Generalversammlung des lateinamerikanischen Episkopats in Medellin (Kolumbien). Es verdeutlichte, wie sehr das Plädoyer für soziale Gerechtigkeit erst durch den jeweiligen politischen Kontext Brisanz gewinnt. Angesichts des neuen nachkonziliaren Geistes und der Unterstützung Pauls VI. beschlossen die Bischöfe, sich für eine praktische Solidarität der Kirchen mit den Armen und Unterdrückten einzusetzen und die Unterprivilegierten zu ermutigen, Selbsthilfeorganisationen zu gründen und öffentlichen Druck zur Verbesserung ihrer Lebensverhältnisse auf die Regierenden auszuüben. Medellin förderte auch die sich dynamisch entwickelnde lateinamerikanischen Befreiungstheologie (-•Marx/Marxismus III). Die dritte Generalversammlung der Bischöfe Lateinamerikas tagte 1979 in Puebla (Mexiko). Der Wechsel im Pontifikat machte sich bemerkbar, denn Johannes Paul II. brachte erkennbare Vorbehalte gegenüber den marxistischen Elementen in der Gesellschaftsanalyse der Befreiungstheologie zur Sprache. Nichtsdestotrotz bekräftigten die Dokumente von Puebla die „Option für die Armen" - ein Stichwort, das in den vergangenen Jahrzehnten weite Bereiche der katholischen Soziallehre, aber auch der evangelischen Sozialethik kennzeichnete. Bereits 1971 hatte sich eine internationale Bischofssynode in Rom mit diesem Thema beschäftigt. In ihrem Abschlußkommunique Gerechtigkeit in der Welt gingen die Bischöfe sogar so weit zu sagen, daß „Aktionen für Gerechtigkeit und die Teilnahme an der Transformation der Welt als konstitutive Dimension der Verkündigung des Evangeliums" angesehen werden müssen (vgl. Gremillion 514).
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Ein anderes Beispiel für Stellungnahmen regionaler Bischofskonferenzen sind die Hirtenbriefe der US-amerikanischen Bischöfe The Challenge of Peace (1983) und Economic Justice for All (1986). Auffallend sind das weitgefaßte, offene Suchen nach Lösungen und der erkennbare Wille, auch auf noch unfertige Diskussionsbeiträge einzugehen. Ihrer Methode nach unterscheiden sich die amerikanischen Dokumente also sehr stark von denen des kirchlichen Lehramts. Ein anderer, im offenen und ökumenischen Geist geschriebener Text ist der Hirtenbrief der katholischen Bischofskonferenz von England und Wales The Common Good and the Catholic Church's Social Teaching (1996). Die britischen Bischöfe legen zunächst die Grundsätze der katholischen Gesellschaftsvision dar. Nach der Betonung der Würde des Menschen und der Ausrichtung auf die bevorrechtigte „Option für die Armen" betont das Dokument die soziale Dimension des Glaubens und der „ways of structuring society which facilitate true human development and correspond to moral principles and demands" (The Common Good and the Catholic Church's Social Teaching. A Statement by the Catholic Bishops' Conference of England and Wales, London 1996, 8). Auch hier findet sich eine besondere Hervorhebung der Prinzipien Subsidiarität und Solidarität, auf die Kardinal David Konstant (geb. 1930) in seiner Einleitung eingeht: „The common good cannot exist without them [d.h. Subsidiarität und Solidarität], nor without human rights and the option for the poor. These ideas are the basic building blocks of Catholic Social Teaching. Leave out any one of them and the balance is upset" (ebd. 3). Der britische Hirtenbrief skizziert die Entwicklung der päpstlichen Sozialenzykliken, verweist auf die stärkere Christus- und Personen-Zentrierung seit dem Zweiten Vatikanischen Konzil, ohne jedoch von der Naturrechts-Tradition abzugehen, denn gerade durch die enge Verbindung von Naturrecht und Offenbarung ergebe sich der universale Anspruch der katholischen Soziallehre. Die Befreiung von den die Menschheit bedrückenden Kräften und Strukturen stünde in unmittelbarster Beziehung zum Evangelium, was für das Großbritannien der Gegenwart die Wertschätzung der Demokratie und der Menschenrechte als Rahmenbedingungen des Allgemeinwohls einschließe. Im zweiten Teil bemüht sich der britische Episkopat um eine Anwendung dieser allgemeinen Prinzipien auf einige aktuelle Problembereiche: vom Respekt gegenüber dem menschlichen Leben bis hin zu Regulierungen des Systems der freien Marktwirtschaft. Das Echo auf die päpstlichen Verlautbarungen zum Arbeitsmarkt, zu Löhnen und Gewerkschaften ist ebenso vernehmbar wie Besorgnis über Entwicklungen im Bereich der Massenmedien und der Umwelt.
3.4. Einige Positionen ausgewählter römisch-katholischer
Sozialethiker
Die bisher referierten offiziellen D o k u m e n t e , die aus der Diskussion und den Vorarbeiten zahlreicher Bischöfe und Berater erwachsen sind, decken natürlich nicht die katholische Soziallehre als ganze ab. Aus der römisch-katholischen Kirche ist gerade auch im 2 0 . Jh. eine Reihe origineller Denker hervorgegangen, die sich sozialethischen Fragen gewidmet hat. Einige von ihnen sollen im folgenden genannt werden. 3.4.1. Der wichtigste französische Sozialethiker war der thomistische Philosoph J . -»Maritain, ein Laie, dessen Schriften zur politischen Ethik einen enormen Einfluß auf die Gründung christlichdemokratischer Parteien in Europa nach dem Zweiten Weltkrieg ausübten. Das galt besonders für Italien. Maritain schrieb über ein neues Christentum, durch das die autonomen Institutionen der Gesellschaft mit christlichem Geist durchdrungen und alle Menschen guten Willens zur gemeinsamen Arbeit für die Realisierung der zwischenmenschlichen Werte einer wahrhaften Demokratie motiviert wurden. Maritain, ein persönlicher Freund des späteren Papstes Paul VI., war eine Zeitlang französischer Botschafter beim Heiligen Stuhl. Später in den USA entwickelte er eine Sympathie für die amerikanische Form eines demokratischen Kapitalismus. In seinen Arbeiten zur Sozialethik propagierte Maritain, daß das Christentum dank der Vorsehung Gottes die umfassende menschliche Gesellschaft verändern und gestalten könne. 3.4.2. Für Deutschland sei auf die höchst gegensätzlichen Ansätze O. von -»Neil-Breunings und Johann-Baptist Metz' (geb. 1928) verwiesen. Nell-Breuning hat an der Ausarbeitung von Quadragesimo anno mitgewirkt; später bedauerte er allerdings, daß Pius XI. es verabsäumt hatte, eine internationale Gruppe anerkannter Spezialisten zur Ausarbeitung der Enzyklika heranzuziehen, die in den Augen mancher den Staat Mussolinis gutzuheißen schien. Neil-Breunings eigene Arbeit zu den Prinzipien der katholischen Soziallehre fand praktische Anwendung in seiner starken Parteinahme für Arbeiter-Mitbestimmung und das Streikrecht. Als einflußreiche Person des öffentlichen Lebens im Nachkriegsdeutschland plädierte er in zunehmendem Maße auch für die Notwendigkeit einer globalen Sozialethik. Der politisch weitaus radikalere Metz gilt mittlerweile als Doyen der politischen Theologie und als einer der einflußreichsten Denker der Befreiungstheologie. Seine Kritik richtet sich gegen
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eine individualisierte und privatisierte bürgerliche Religion, der er die Kirche als Institution der Sozialkritik entgegensetzen will. Befreiungstheologen bemängeln jedoch, daß Metz' Theologie zu abstrakt und eurozentriert bleibe (vgl. Gustavo Gutierrez, Teologia de la liberacion, Perspectivas, Lima 1971, Kap. 11; dt.: Theologie der Befreiung, 1973 [GT.S 11]). 3.4.3. Aus den USA sollen zwei Moraltheologen nicht unerwähnt bleiben: John Courtney Murray (1904-1967) und Michael Novak (geb. 1933). Murray, dessen Verständnis von Religionsfreiheit entschieden von der dazu maßgeblichen Pastoralkonstitution des II. Vatikanums Dignitatis Humanae Personae (1965; DH 4240 - 4245) geprägt ist, gilt als der führende amerikanische Autor zum Verhältnis von -»Kirche und Staat. Murray wies der Kirche eine spirituelle Rolle zu, um den Menschen die Transzendenz nahezubringen. Einen katholischen Staat könne es nicht geben. Die Aufgaben des Staates seien auf die Herstellung und Bewahrung der öffentlichen Ordnung begrenzt, in der sich die Zivilgesellschaft um das Allgemeinwohl bemühen solle. Die Macht der Kirche sei dagegen nur eine indirekte, indem sie durch die Teilhabe der Christen am gesellschaftlichen Leben dessen Teilbereiche durchdringt. Die wesentliche Voraussetzung dafür sei die Religionsfreiheit. Da Murray eine komplexe Theorie der Entwicklung des Dogmas ausgearbeitet hat, war es ihm möglich, die modernen demokratischen Verfassungen als den angemessensten Kontext für die Anwendung der eine Gesellschaft verändernden Prinzipien der katholischen Soziallehre anzusehen. Nach Novaks Ansicht ist der Kapitalismus durch die ihm innewohnenden innovativen Energien und durch seine Abhängigkeit von einer freiheitlichen, demokratischen Ordnung die Wirtschaftsordnung, die am wahrscheinlichsten zur Armutsbekämpfung beitragen kann. Novaks Argumentation gilt auch reziprok: der Kapitalismus ist seiner Ansicht nach das notwendige Wirtschaftssystem für den Erfolg der Demokratie. Nach Novak argumentieren die Kritiker des Kapitalismus, und damit meint er auch den Vatikan, mit einer zu engen, abstrakten Definition eines reinen Marktwirtschafts-Kapitalismus. Der Geist einer demokratischen, sozialen Marktwirtschaft ist für den amerikanischen Sozialethiker zutiefst moralisch, da er die Gott eigentümliche innovative Kreativität spiegele. Respektiert man die Gottebenbildlichkeit in allen Menschen und die Freiheit aller, stehe eine solche Theorie nicht im Widerspruch zum Wohlfahrtsstaat und zur Hilfe für die Bedürftigen. Auch unter internationalen Gesichtspunkten ist für Novak allein die soziale Marktwirtschaft in der Lage, Unterprivilegierten und Armen zu helfen. 3.4.4. Zu den bedeutendsten katholischen Moraltheologen der Dritten Welt zählt der Jesuit Aloysius Pieris (geb. 1934) aus Sri Lanka. Er wirft der lateinamerikanischen Befreiungstheologie Versagen vor, weil sie sich durch die enge Verschwisterung mit der marxistischen Gesellschaftsanalyse nicht von ihren europäischen Wurzeln gelöst habe. Die asiatischen Religionen, insbesondere der -»Buddhismus, besäßen ein viel tiefsinnigeres Konzept als der Marxismus, um Armut zu deuten. Die kirchliche Solidarität mit den Armen müsse sowohl zu einem Verzicht auf Macht führen als auch zur Teilnahme an dem Verlangen der asiatischen Völker nach spiritueller und sozialer Emanzipation. 3.5.
Zusammenfassung
Die katholische Soziallehre der G e g e n w a r t zeigt sich in einer bemerkenswerten Vielfalt. Die v o m Vatikan herausgegebenen offiziellen D o k u m e n t e sind durch ein solides Lehrgerüst gekennzeichnet, das auf T h e m e n der M e n s c h e n w ü r d e und des Allgemeinwohls konzentriert ist sowie auf Schlüsselgedanken wie Solidarität, Subsidiarität, M e n schenrechte und gegenseitige Verantwortung aufbaut. Die offiziellen Verlautbarungen lassen im Verlauf ihrer mehr als hundertjährigen Geschichte deutliche Veränderungen erkennen. Der Variantenreichtum ihrer Interpretation und ihrer Anwendung durch verschiedene lokale Bischofskonferenzen oder gar einzelne katholische M o r a l t h e o l o g e n ist genauso groß. 4. Evangelische
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4.1. Deutschland,
Schweiz,
Niederlande
Die radikale A n t w o r t evangelischer Sozialethik in der Schweiz und in Deutschland auf die Auswirkungen der industriellen Revolution ist ausführlich in den Artikeln - » S o zialismus und -»Religiöser Sozialismus dargelegt. Aber die Schriften von H . - » K u t t e r , L. - » R a g a z und J . C h . - » B l u m h a r d t , die entscheidenden Einfluß auf den jungen K. - » B a r t h ausübten, w a r e n nicht allein eine Reaktion auf die zeitgenössischen sozialen
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Probleme, sondern auch eine Verschärfung der liberalen deutschen evangelischen T h e o logie des 19. J h . ( - » L i b e r a l e Theologie). 4.1.1. Der theologische Liberalismus hat seine Wurzeln in der Arbeit F.D.E. - » Schleie r m a c h e r s , dessen Sozialethik sich aus seiner Kulturphilosophie und weniger aus seiner T h e o l o g i e entwickelte. F ü r Schleiermacher w a r das - » H ö c h s t e Gut ein weltimmanentes Ideal, das sich durch die vernunftgemäße Strukturierung des menschlichen Lebens in Familie, Staat, Kultur und Religion realisieren lasse. Christliche Ethik füge diesem Ideal keinen neuen Inhalt, höchstens den Gedanken der Erlösung hinzu, der die Realisierung der Königsherrschaft Gottes ermögliche und garantiere (Schleiermacher, Sitte § 24). Eine Generation später war es R. -»Rothe, der eine noch weltimmanentere christliche Sozialethik lehrte. Die Kirche sei einzig ein Instrument zur Christianisierung des Staates. Die Verwirklichung der Königsherrschaft Gottes auf Erden lasse der Kirche das Schicksal zuteil werden, sich nach und nach selber überflüssig zu machen. Wenn die Christen in ihren Lebenswelten sich Gott vollständig unterstellten, würde dies andererseits auch eine entscheidende Veränderung der Zivilgesellschaft bedeuten. Rothes Arbeiten prägten das Denken A. -»Ritschis, dessen sozialethische Konzeptionen der Königsherrschaft Gottes nicht etwa, wie K. Barth ungerechterweise kommentierte, einen anthropologischen Ethizismus in der Art von I. -»Kants Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft in das Evangelium hineininterpretierte. Ritsehl war vielmehr um eine gründliche theologische Interpretation der sozialethischen Konsequenzen der lutherischen Rechtfertigungslehre bemüht. Christen seien nicht zu überweltlichem Mystizismus und Askese gerufen, sondern zur Arbeit für die Vereinigung der Menschheit durch die von Liebe getragene gegenseitige gesellschaftliche Hilfe. Möglich wird ihnen das allein durch die Teilhabe an der Gemeinschaft mit Christus, der die Offenbarung und der Kanal der göttlichen Liebe in die Welt hinein ist (vgl. Ritsehl, Die christliche Lehre von der Rechtfertigung und Versöhnung, Bonn, III 1874, 549f.). Ritsehl war sich im klaren, daß die Königsherrschaft Gottes zwar alle menschlichen Motive transzendiere, die eschatologische Botschaft aber durch die besondere Berufung der Christen hier auf Erden realisiert werden könne (vgl. Ritsehl, Geschichte des Pietismus, Bonn, I 1880, 40). Ritschis Konzeption hatte jedoch erhebliche Schwächen. Zum einen, weil er sein ethisches Ideal im historischen Jesus unüberbietbar realisiert sah, zum anderen, weil er es unterließ, auf die historischen und sozialen Rahmenbedingungen gesellschaftlicher Verhältnisse und sozialen Engagements einzugehen. Es war jedoch keineswegs der Fall, daß die radikaleren sozialethischen Ansätze des frühen 20. Jh. eine Verwerfung des Ritschlianismus zur Folge gehabt hätten. Unter Ritschis Zeitgenossen war es Alexander von Oettingen (1827-1906), der am schärfsten sah, daß alle Ethik Sozialethik ist. Er war es auch, der den Begriff Sozialethik in die Wissenschaften einführte. Von Oettingen verwarf alle individualistischen Konzeptionen - von Schleiermacher bis zu den Pietisten - zur Rechtfertigungslehre. Für von Oettingen sind gute und böse Handlungen Produkte bzw. Symptome gesellschaftlicher Ordnung bzw. Unordnung. Es ist die erlöste Gemeinschaft, die alles erlöste Leben bestimmt (vgl. von Oettingen, Christi. Sittenlehre, Erlangen 1873,258). Nicht unerwähnt bleiben soll der holländische Theologe und Staatsmann Abraham Kuyper (1837-1920) als ein Beispiel für eine engagierte christliche Persönlichkeit, die durch christliche Organisationen die Strukturen der weltlichen Gesellschaft zu verändern suchte. Die R ü c k k e h r zu einem stärker individualistischen bzw. subjektivistischen Ethikverständnis durch den führenden Ritschlianer der J a h r h u n d e r t w e n d e , W. - » H e r r m a n n , wurde von E. - » T r o e l t s c h kritisiert, weil d a m i t dieser den in den gesellschaftlichen Einrichtungen verkörperten Werten nicht Gerechtigkeit widerfahren lasse (vgl. Troeltsch 85). D a m i t bezog sich Troeltsch auf Schleiermacher. W i e W. Pannenberg jedoch dargelegt hat, ist Troeltschs soziales Verständnis des höchsten Gutes sehr viel stärker theologisch und zukunftsorientiert als das Schleiermachers (Pannenberg, Ethik 7 8 f . ) . F ü r Troeltsch w a r das höchste Gut die eschatologische Königsherrschaft Gottes, eine Vorstellung, die der futurischen Eschatologie des Neutestamentiers J . - » W e i ß entlehnt ist. D o c h die C h a rakterisierung des zukünftigen Ziels menschlichen Lebens bleibt bei Troeltsch in verhältnismäßig vager, idealistischer Terminologie. Die Antizipierung dieses Ziels in der Geschichte resultiert aus dem K o m p r o m i ß zwischen dem Ideal und den weltlichen Kulturgütern, die aus der Geschichte der Welt hervorgegangen sind (vgl. ebd. 92ff.)- Von daher erklärt sich der schon erwähnte Ausspruch Troeltschs, d a ß aus der religiösen Idee des Christentums keine Sozialtheorie entsprungen sei (s.o. 2 . 5 . ) .
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4.1.2. Bei den Vertretern des -»Religiösen Sozialismus, den christlichen Sozialisten (vgl. Sozialismus III) und der Bewegung des - » S o c i a l Gospel wäre eine solche These auf entschiedenen W i d e r s t a n d gestoßen. Tatsächlich verstand K. Barth in seinen frühen Safenwiler Tagen die Schriften von R a g a z als eine Radikalisierung des liberalen Protestantismus. Unter dem Eindruck der Lebensverhältnisse der Schweizer Industriearbeiter zählte sich auch Barth eine Zeitlang zu den religiösen Sozialisten. In seinem 1911 gehaltenen Vortrag „Jesus Christus und die soziale B e w e g u n g " sprach er davon, daß „realer Sozialismus reales Christentum in unserer Z e i t " sei (vgl. George Hunsinger [Hg.], Karl Barth and Radical Politics, Philadelphia, Pa. 1976, 36). Als aber wenige J a h r e später Barths liberale theologische Lehrer den Eintritt Deutschlands in den Ersten Weltkrieg rechtfertigten und alle optimistischen Vorstellungen des menschlichen Fortschritts durch die Katastrophen des Krieges in sich zusammenstürzten, brach Barth mit dem liberalen Protestantismus. In der ersten Auflage seines Römerbriefes wandte er sich ausdrücklich gegen den religiösen Sozialismus und namentlich gegen Ragaz. Barth behauptete nun, daß Politik und der Staat ihrer N a t u r nach hoffnungslos der Sünde teilhaftig seien. Da sich Christen nicht aus der Politik zurückziehen könnten, setzte sich Barth für einen demokratischen Sozialismus ein, ohne der Gefahr zu erliegen, diesen mit der Königsherrschaft Gottes zu identifizieren oder ihn christianisieren zu wollen. F ü r Barth realisiert allein G o t t selber seine Königsherrschaft, und alles, was Christen als Christen tun könnten, sei das H ö r e n und der G e h o r s a m gegenüber dem göttlichen Gebot. Dieser höchst negative Blick auf die Möglichkeiten christlicher Sozialethik w a r selbst bei Barth nur von kurzer Dauer. W i e B . L . M c C o r m a c k gezeigt hat, entwickelte der spätere Barth mit einer christologischen Blickrichtung ein ausgewogeneres Verständnis der ethischen Implikationen christlicher Hoffnung ( M c C o r m a c k 1 7 3 - 1 8 3 ) . 4.1.3. Die als -»Dialektische Theologie bekannte Bewegung, inspiriert durch die zweite Auflage von Barths Römerbrief, war sich zwar in ihrer Opposition gegen die einfache Ableitung sozialethischer Positionen aus der Botschaft von der Königsherrschaft Gottes einig. Ihre Gegenentwürfe zum Verhältnis zwischen einer dem Evangelium gemäßen Ethik und dem gesellschaftlichen bzw. politischen Leben sind jedoch von großen Divergenzen gekennzeichnet. E. —»Brunner argumentierte, daß für die Erlösten und für die Kirche als Gemeinschaft der Erlösten eine am göttlichen Gebot orientierte Ethik von Bedeutung sei. Er beteuerte damit - gegen Barth - eine allgemeine Sozialethik, die auf dem lutherischen Konzept der Schöpfungsordnungen basiere. Die Familie, die Wirtschaftsordnung, der Staat, die Kultur und die institutionalisierte Kirche sind die (vor-)gegebenen Formen sozialen Lebens, in denen sich Gottes Schöpfungswille ausdrücke. „Diese Gemeinschaftsgebilde ... werden nach ihrem Wesen und Bestand durch die Vernunft erkannt, nicht durch den Glauben, durch das rein natürliche Erkenntnisvermögen, das jedem Menschen, weil und sofern er ein Mensch ist, gegeben ist" (Brunner, Gebot 319). Trotz der Verzerrungen durch die Sünde bewahren diese Ordnungen dennoch die gottgegebenen Rahmenbedingungen für die Werke der Nächstenliebe. In seinem späteren Buch über Gerechtigkeit argumentierte Brunner, daß Gerechtigkeit die rationale Voraussetzung der Liebe darstelle, die Liebe aber über die Gerechtigkeit hinausgehe: „Die Pflichten der Gerechtigkeit kann man erfüllen, eben darum, weil sie einzelne sind; die Liebe aber ist nie erfüllt, sie bleibt man immer schuldig" (Brunner, Gerechtigkeit 154). Diese dualistische Ethik entgeht der Gefahr, die gegenwärtigen gesellschaftlichen Verhältnisse mit der Königsherrschaft Gottes zu vermischen. Die These, daß Gottes Schöpfungswille in der sozialen und politischen Ordnung erkennbar sei, arbeitet jedoch einem konservativen Gesellschaftsverständnis entgegen, wie es sich gerade im Werk von P. -»Althaus niederschlägt. Althaus insistiert auf der christlichen Pflicht, innerhalb der Schöpfungsordnungen gegen die Sünde anzukämpfen, das aber nur in den gottgegebenen Strukturen (Althaus 2 65ff.). Die Problematik einer solchen Konzeption wurde in den 1930er Jahren deutlich, als Althaus, für den auch Volkstum zu den Schöpfungsordnungen zählt, sich mit einer klaren Abgrenzung vom Nationalsozialismus schwer tat. F. -»Gogarten, der sich ebenfalls von der Dialektischen Theologie fortentwickelte, entwarf ein sehr viel umfassenderes Konzept der Verantwortung des Christen - unter Gottes Führung - für die Welt. In seinen nach dem Zweiten Weltkrieg erschienenen späteren Arbeiten spiegelt sich eine positive Bewertung der -»Säkularisierung als Teil der Vorsehung Gottes wider, die den Ausführungen D. —»Bonhoeffers zu dieser Problematik ähneln.
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4.1.4. Bonhoeffers fragmentarische, postum veröffentlichte Ethik stellt einen reifen und ausgewogenen Versuch dar, die Implikationen der Herrschaft Christi über die ganze Welt zu denken. „Der Wille Gottes, wie er in Jesus Christus offenbar und erfüllt wurde, umfaßt das Ganze der Wirklichkeit" (Bonhoeffer, Ethik 226). Kennzeichnend für Bonhoeffers Entwurf ist die Unterscheidung von vorletzten und letzten Dingen. Zu den erstgenannten gehören die vier „Mandate" Arbeit, Ehe, Obrigkeit und Kirche. Bonhoeffer zieht den Begriff „Mandat" dem der „Ordnung" deshalb vor, weil er die Identifizierung - oder gar Hypostasierung - der zeitgenössischen gesellschaftlichen Strukturen vermeide. „Mandat" erschließe die konkreten Forderungen des inkarnierten Christus, die sich den Christen durch diese vier Aspekte weltlicher Existenz erschließen, indem sie jedes für sich zu menschlichen und christlichen Handlungen aufrufen. Bonhoeffers Behandlung der „Strukturen verantwortlichen Lebens" blieb unvollendet. Seine Gedanken zur politischen Ethik lassen sich aber folgendermaßen zusammenfassen: „Die Obrigkeit hat den göttlichen Auftrag, die Welt mit ihren von Gott gegebenen Ordnungen auf Christus hin zu erhalten" (ebd. 365). 4.1.5. K. -»Barth hat in der Behandlung des Gebotes Gottes des Schöpfers sein wachsendes Mißfallen über Bonhoeffers Entwurf der göttlichen Mandate geäußert, auch wenn er es einer Schöpfungsordnungs-Konzeption vorzog (vgl. KD III/4, 21 ff.). Doch auch Bonhoeffers Mandate erschienen Barth als eine willkürliche Setzung, die der Art, wie Gottes Gebot auch in anderen, von Bonhoeffer nicht genannten Lebensbereichen immer wieder Ausdruck finde, nicht genüge. Gottes Gebot habe auch die Macht, zu besonderen, nicht der Norm entsprechenden Aufgaben zu berufen. Die Überlegungen des späten Barth zum Gebot Gottes des Versöhners finden sich in den postum veröffentlichten Vorlesungsfragmenten der KD IV/4 unter dem Titel „Das christliche Leben". Im Zusammenhang seiner Auslegung der zweiten Bitte des Vaterunsers „Dein Reich komme" spricht Barth vom Kampf für menschliche Gerechtigkeit in Bereichen wie Politik, Geld, Sport, Transport und anderen öffentlichen Aktionsfeldern (KD IV/4, § 78,3), die alle der Gefahr unterliegen, „herrenlose Mächte" zu werden. Die Christen seien gerufen, gegen diese Tyranneien zu „revoltieren". Obwohl sie im Gebet auf das Kommen des Reiches Gottes warten, sollten sich die Christen eiligst daran machen, vorläufige, menschliche Analogien zur eigentlichen göttlichen Ordnung, die nur Gott selber bringen könne, zu verwirklichen. Barths letzte Worte waren fiat iustitia. Aber auch an seinem Lebensende weigerte er sich, die menschliche Gerechtigkeit mit der göttlichen gleichzusetzen. 4.1.6. Die sozialethische Forschung nach dem Zweiten Weltkrieg brachte in Deutschland und der Schweiz sowohl konservative als auch radikale Entwürfe hervor. H. —»Thielickes Theologische Ethik enthält eine Verteidigung einer Theologie „dieser Welt und ihrer Ordnungen". Der Staat, das Recht, die Wirtschaftsordnung werden jedoch nicht als Ausdruck der Schöpfungsordnung bewertet, sondern als die „Strukturform des gefallenen Daseins" (Thielicke I, 707), die allein der Bewahrung der Welt dienten. Diese minimalistische Konzeption erlaubte es Thielicke, für Grenzsituationen wie z. B. den Widerstand gegen den Staat flexible Handlungsvorschläge zu entwickeln. Eine sehr viel positivere Konzeption der Wirtschaftsethik als integralen Bestandteils der Sozialethik wurde von Arthur Rieh (1910-1992) entwickelt. Darauf wird im Artikel -»Wirtschaft näher eingegangen. Eine ebenfalls positivere Behandlung der -»Institutionen der Gesellschaft findet sich bei Hans Dombois (geb. 1907; vgl. Recht und Institution) und Ernst Wolf (1902-1971). Nach Wolf sind Institutionen „die sozialen Daseinsstrukturen der geschaffenen Welt, Einladung Gottes zu ordnender und gestaltender Tat in der Freiheit des vertrauensvollen Glaubensgehorsams gegen sein Gebot" (Wolf 173). W. Pannenberg hat diese ihrem Wesen nach unhistorischen Zugänge in Frage gestellt: „Ob man nun von Mandaten, Institutionen oder Ordnungen spricht: Die Hauptschwierigkeit bleibt, wie aus dem sozialen Prozeß bestimmte Grundstrukturen, die von allem geschichtlichen Wandel unberührt bleiben, herausgeschält werden können" (Pannenberg, Ethik 16). Pannenberg vermeidet jedoch einen Rückfall in eine subjektivistische Entscheidungstheorie im Sinne der -»Situationsethik. Er entwickelt vielmehr eine objektive eschatologische Ethik, die eine universale und ganzheitliche Vision der kommenden Königsherrschaft Gottes umschließt (vgl. Pannenberg, Theology). Die Folge
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ist für Pannenberg eher R e f o r m als Revolution, denn die Doppeldeutigkeiten gegenwärtiger Antizipation des künftigen Gottesreichs führt für ihn zu ideologischer Einseitigkeit. Einen wesentlich radikaleren E n t w u r f einer an der Zukunft orientierten Auferstehungs-Ethik hat Jürgen M o l t m a n n (geb. 1 9 2 6 ) , speziell in seinen Arbeiten der 1960er J a h r e , vorgelegt. Eine eschatologisch inspirierte Hoffnung „fordere eher revolutionäre denn evolutionäre Veränderungen" (vgl. B a u c k h a m 4 3 ) . M o l t m a n n s Annäherung an die „politische T h e o l o g i e " seines römisch-katholischen Tübinger Kollegen J . B . M e t z (s.o. 3 . 4 . 2 . ) kann ebensowenig verneint werden wie das in seinen späteren Schriften offensichtliche, weit gespannte, kreuzestheologisch begründete Eintreten für die gesellschaftlich und politisch Benachteiligten. Die antizipierte Gottesherrschaft hat bei M o l t m a n n ihren O r t im K a m p f für die Menschenrechte und in der Befreiungsbewegung, in der der Heilige Geist erkennbar wirke, sei es innerhalb oder außerhalb der Kirche, überall dort, w o die M e n s c h e n w ü r d e geehrt und bewahrt werde. Ein weiterer Vertreter eines radikalen politischen Standpunktes ist Ulrich D u c h r o w (geb. 1935). E r betrachtet die Verurteilung des wegen seiner negativen sozialen Auswirkungen sich selbst diskreditierenden westlichen Kapitalismus als status confessionis der Kirchen (s.u. 5 . 3 . ) .
4.1.7. Die Spannbreite der sozialethischen Diskussionen innerhalb des deutschen Protestantismus läßt sich auch in den Denkschriften der Evangelischen Kirche in Deutschland ablesen, die sich mit Themen wie Demokratie, Allgemeinwohl, Eigennutz beschäftigten. Von speziellem Interesse ist die Denkschrift Aufgaben und Grenzen kirchlicher Äußerungen zu gesellschaftlichen Fragen aus dem Jahre 1970. 4.1.8. Der Beitrag des Holländers Hendrikus Berkhof (geb. 1914) illustriert besonders gut die theologische Fundierung des Anliegens der christlichen Sozialethik. Ausgehend von einer Behandlung der Rechtfertigung und Heiligung des Individuums fährt Berkhof mit Thesen zur „Erneuerung der Welt" (vgl. Berkhof, Faith 5 2 - 5 5 ) fort. Es gehöre zu den Implikationen des Neuen und des Alten Testaments, daß die Welt samt ihren sozialen und kulturellen Strukturen erneuert und transformiert werden müsse, was nicht allein durch die Heiligung der Individuen geschehen könne. „Die Heiligung der Welt" (vgl. ebd. 53) müsse in Analogie zur Heiligung des Menschen geschehen. Das sei dann der Fall, wenn Strukturen so verändert würden, daß sie die Vermittlung der heiligen Liebe Gottes erlaubten. Das Werk des Heiligen Geistes sei dort wahrnehmbar, wo sich Strukturen und durch die veränderten Strukturen auch Völker, ganz gleich ob christlich oder nicht, veränderten. Berkhof ist so kühn zu behaupten, daß das Wirken des Heiligen Geistes in den aus dem christlichen Westen stammenden Bewegungen für Demokratie und soziale Gerechtigkeit erkennbar sei. Das erkennbare Fortschreiten zu einer größeren Humanisierung der Welt gehöre zu den Zeichen der heilschaffenden Aktivitäten des Heiligen Geistes. Ein Merkmal für den ökumenischen Geist von Berkhofs Arbeiten ist seine Hochschätzung der konziliaren Pastoralkonstitution Gaudium et Spes (s.o. 3.2.), in der er eine seinem Denken verwandte Sicht des menschlichen Fortschritts unter göttlicher Führung erkennt. 4.2. Vereinigte Staaten von
Amerika
In der ersten Phase ihrer Entwicklung ist die Sozialethik des modernen amerikanischen Protestantismus als Reaktion auf die durch die Industrialisierung bewirkte schwierige Lage der Arbeiter und ihrer Familien zu verstehen. Diese Problematik führte zum Entstehen der Social-Gospel-Bewegung (—• Social Gospel). Es war das bleibende Verdienst des Engagements des Kreises um Walter Rauschenbusch (1861-1918), das soziale Gewissen der Kirchen zu wecken. Die Social-Gospel-Bewegung scheiterte jedoch an ihrer relativen Naivität, die Ethik des Evangeliums direkt in eine soziale Wirtschaftspolitik des modernen Amerika umsetzen zu wollen. Als einer der schärfsten und kenntnisreichsten Kritiker dieser Bewegung kann Reinhold —»-Niebuhr angesehen werden. Der Einfluß des wohl bedeutendsten amerikanischen Sozialethikers seiner Generation reichte weit über die Grenzen der Kirchen hinaus. Führende Politiker und die Medien griffen seine Gedanken, vor allem in den zwei Jahrzehnten nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges, auf.
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4.2.1. Niebuhrs Position ist als Christian Realism bekannt geworden. Im Laufe seines Lebens entwickelte sich sein Denken von einer quasi-marxistischen Analyse der Klasseninteressen, die ihn in Moral Man and Immoral Society dazu verleitete, selbst die besten Intentionen der Philanthropie verzerrt darzustellen, hin zu einer sehr pragmatischen Hochschätzung der Demokratie und der offenen Gesellschaft (vgl. The Children of Light and the Children of Darkness). Ein gleichbleibendes Prinzip seiner Arbeiten ist die Einsicht in die Komplexität gesellschaftlichen und politischen Lebens und in die Schwierigkeit, einen Ausgleich zwischen Gerechtigkeit, Ordnung und Freiheit zu finden. Typisch für die scharfsinnigen Formulierungen seiner Spätphase ist folgender Satz: „Des Menschen Sinn für Gerechtigkeit macht Demokratie möglich, seine Neigung zur Ungerechtigkeit aber macht Demokratie notwendig" (Reinhold Niebuhr, Kinder 8). Hinter diesem scheinbar völlig säkularen politischen Realismus steht jedoch ein profunder theologischer Realismus. Indem Niebuhr die menschliche Situation im Sinne von Sünde - speziell im Sinne von sozialer Sünde - interpretiert, greift seine Analyse sehr viel tiefer als die der an der Gleichsetzung von Sünde und Selbstbezogenheit orientierten Social-Gospel-Bewegung. Die „Neigung zur Ungerechtigkeit" ist für Niebuhr tief in den Partikularinteressen verschiedener gesellschaftlicher Gruppen bzw. - auf internationaler Ebene - der Staaten verwurzelt. Der Mißbrauch der Macht sei ein großes Risiko, auch in einer Weltanschauung, die der Theorie nach auf Hilfsbereitschaft angelegt wäre. In seiner Interpretation der Rechtfertigungslehre und ihrer Anwendung auf die Heiligung der Gesellschaft und des Individuums nennt er die christliche Liebesethik eine „unmögliche Möglichkeit". Dennoch inspiriere sie das Bemühen um eine gerechte Gesellschaft und stelle ein kritisches Meßinstrument für aktuelle gesellschaftliche Entwicklungen zur Verfügung. Dabei ist sich Niebuhr der Grenzen des Christian Realism durchaus bewußt: „Heiligung innerhalb gesellschaftlicher Verhältnisse verlangt die Anerkennung der Unmöglichkeit perfekter Heiligung" (vgl. Reinhold Niebuhr, Nature II, 247). Sein theologischer Ansatz brachte Niebuhr nicht nur dazu, die Vorteile der Demokratie mit ihrer Ausrichtung auf wechselseitige politische Kontrolle zu bejahen, sondern auch den Pazifismus abzulehnen. Damit verband sich für ihn eine Unterstützung der Politik der nuklearen Abschreckung in der Zeit des Kalten Krieges. Niebuhr unterstützte zudem nur graduell die Forderungen nach voller Integration und Gleichberechtigung der diskriminierten Rassen in den USA und kritisierte auch nur zurückhaltend den Vietnamkrieg. Niebuhr galt im Amerika der Nachkriegszeit wegen seines ausgewogenen und kritischen Urteils als „prophetische Stimme". Prophetisch bezieht sich in diesem Zusammenhang nicht auf die Begabung, die Zukunft vorauszusehen. Gemeint ist vielmehr seine Fähigkeit, gesellschaftliche Kräfte und Entwicklungen klar zu analysieren und die Wechselwirkungen von Macht und Interessenssphären bloßzulegen. Jüngere, radikalere Kritiker, speziell aus dem Bereich der Befreiungs- und der feministischen Theologie, haben seinen wachsenden Konservativismus kritisiert. Eine originelle theologische Kritik am Christian Realism stammt aus der Feder des englischen Theologen John Milbank (geb. 1952). Er schreibt, daß jegliche Beanspruchung von Realismus ideologisch motiviert sei, in Niebuhrs Fall speise sie sich aus einem nach-aufklärerischen Liberalismus (vgl. Milbank 236). So korrespondiere die Interpretation der Liebesethik des Evangeliums als unmögliches Ideal unmittelbar mit Niebuhrs stoischem Idealismus (vgl. ebd. 239). Doch Milbanks Kritik weist selber jeglichen quasi-barthianischen Versuch, jeder säkularen Weltdeutung theologische Signifikanz zu geben, zurück. Die sozialethische Konzeption H . Richard - » N i e b u h r s w a r stärker theo- und ekklesiozentrisch ausgerichtet als die seines Bruders. Richard Niebuhr ist jedoch keineswegs geneigt, die Aufgabe der christlichen Gemeinde im Sinne einer sich zurückziehenden, sektiererischen Lebensweise zu interpretieren, denn Christus ist für ihn der Veränderer der Kultur (vgl. Richard Niebuhr, Christ 1 9 0 - 2 2 9 ) . Auf Grund des Glaubens beziehe sich christliche Verantwortung in sachgemäßer F o r m
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auf alle persönlichen, öffentlichen und sozialen Lebensbereiche, zu denen Kirche selbst in Beziehung steht. Christliche Sozialethik bedinge Verantwortung vor Gott für die Gesellschaft. Die Kirche könne aber nur auf die Erlösung der Gesellschaft hinwirken, wenn sie selbst die Gemeinde der Erlösten sei. Die Erlösung der Gesellschaft erfolge durch eine kontinuierlich fortschreitende Transformation, deren provisorische Errungenschaften, wie soziale Gerechtigkeit und demokratische Staatsverfassung, immer wieder von der Ethik der Königsherrschaft Gottes herausgefordert werden müssen. Letztlich sind sich die sozialethischen Positionen der Niebuhr-Brüder nicht unähnlich, denn beide kritisieren die Selbstüberschätzungen der Social-Gospel-hewegurig, und beide entwickelten ein kritisches theologisches Instrumentarium, um aktuelle gesellschaftliche Veränderungen zu analysieren. Ein jüngerer Zeitgenosse der beiden Niebuhrs, John Coleman Bennett (1902-1995), führte die Tradition des Christian Kealism fort, wenn auch in sehr viel radikalerer Weise als der späte Reinhold Niebuhr. Da Bennett zu den einflußreichsten Persönlichkeiten innerhalb der ökumenischen Bewegung gehörte, wird im Rahmen der ökumenischen Ethik (s.u. 5.) auf seine Beiträge eingegangen. Seine kritische Würdigung der Demokratie und der sozialen Marktwirtschaft als Kontext für die Förderung sowohl sozialer Fürsorge als auch persönlicher Freiheit übte einen ganz entscheidenden Einfluß auf die protestantische amerikanische Sozialethik der 1960er und 1970er Jahre aus. Das gilt auch für seine überaus kritische Haltung zur Politk der nuklearen Abschreckung. Zwei Schüler H. Richard Niebuhrs standen an der Spitze der auf die Niebuhrs folgenden Generation amerikanischer Sozialethiker: Paul Ramsey (1913-1988) und James Gustafson (geb. 1925). Ramseys Arbeiten prägt das Bemühen, dem christlichen Liebes-Prinzip eine spezifische Gestalt für die Anwendung auf alle Sphären des Lebens zu geben. Der christozentrische Charakter seiner ethischen Schriften zeigt sich in seinem Insistieren, daß „Jesus Christus der Maßstab der Herrschaft Gottes unter den Menschen ist" (vgl. Ramsey 44). Daß für ihn die christliche Liebe stets „auf der Suche nach einer sozialen Politik" (vgl. ebd. 326) sei, begründete er damit, daß gewisse Grundprinzipien für eine soziale Politik schon in der christlichen Ethik enthalten seien. Ramsey dachte einerseits an das negative Prinzip der Beherrschung und Heilung der Sünde, andererseits an das positive Prinzip gehorsamer Liebe. Doch diese Prinzipien führten nicht sofort zu einem spezifischen, für alle Zeiten unanfechtbaren Aktionsprogramm. Das habe damit zu tun, daß es auch andere Quellen für eine soziale Politik gäbe, wie z. B. die menschliche Vernunft. Da das menschliche Leben sich stets in Gemeinschaftsbezügen vollziehe, die sich auch im Lichte dieser anderen Prinzipien zeigten, bedürfe es dennoch einer kritischen Revaluierung unter dem Gesichtspunkt gehorsamer Liebe: „Das Verhältnis von christlicher Liebe zu den bestehenden gesellschaftlichen Institutionen läßt sich folgendermaßen darstellen: Es ist der Versuch einer beständigen Kritik an ihnen und das Bemühen, sie im täglichen Handeln zu verändern" (vgl. ebd. 349). Damit bleibt Ramsey in offensichtlich Niebuhrschen Bahnen. J . Gustafson entwickelte eine distinkt theozentrische Form der Personal- wie der Sozialethik. Damit unterscheidet er sich sowohl von dem Anthropozentrismus der katholischen Soziallehre als auch von einer christozentrischen Ethik eines Zeitgenossen wie Ramsey. Für Gustafson soll Ethik die Frage beantworten, auf welche Weise „wir uns zu uns selbst und zu allen Dingen so verhalten, daß es deren Verhältnis zu Gott angemessen ist" (vgl. Gustafson, Ethics I, 327). Gustafsons Theozentrismus ist der Form nach von einer Theorie göttlicher Gebote, wie sie Barth entwickelt hat, zu unterscheiden. Gustafson meint auch nicht, daß die Liebe Gottes die leitende Norm aller menschlichen Handlungen sei. Vielmehr geht es ihm darum, Gott als Ordnungsmacht in der Welt zu erkennen, weshalb sich christliche Ethik allen Bereichen der Schöpfung, und nicht ausschließlich dem Menschen und der Gesellschaft, zuwenden müsse. Deshalb wendet er sich auch Themen wie der Ökologie und der Bevölkerungskontrolle zu (vgl. ebd. II, 219 - 250). Gustafson macht die Ergebnisse der Natur- und Sozialwissenschaften für seine Arbeit fruchtbar. Christliche Ethik müsse sich mit den sich verändernden Kenntnissen der Welt entwickeln, um zu erkennen, was Verwaltung der göttlichen Schöpfung bedeute. Alle sektiererischen Formen des Christentums lehnt Gustafson entschieden ab. Begrenzt ist seine Sozialethik jedoch darin, daß sie eine ausschließlich christliche Ethik ist, die die christliche Kirche und die christliche Jüngerschaft als Kontext einer sich entwickelnden Urteilskraft betrachtet für das, „was Gott uns ermöglicht und von uns verlangt zu sein und zu tun" (vgl. ebd. I, 327). 4 . 2 . 2 . Ein H a u p t s t r a n g der nordamerikanischen protestantischen Sozialethik in den 1960er und 7 0 e r J a h r e n w a r der Kontextualismus. Paul L e h m a n n ( 1 9 0 6 - 1 9 9 4 ) beschreibt in Ethics in a Christian Context die christlichen Kirchen als die „Koinonia-Gemeinschaft", in deren K o n t e x t das Gewissen geschult werde, um so auf Gottes Handeln in der Geschichte zu a n t w o r t e n und zu einer menschlicheren Welt beizutragen. Später, in The Transfiguration ofPolitics, versucht L e h m a n n , diese T h e s e auf die revolutionären Bewegungen unserer Zeit zu übertragen, denn „the pertinence of Jesus Christ t o an
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age o f revolution is the p o w e r of his presence to shape the passion for humanization that generates revolution and thus t o preserve revolution from its o w n u n d o i n g " (Lehm a n n , Transfiguration xiii). D a ß L e h m a n n den Begriff „ K o n t e x t " zum einen im Sinne des Glaubens als K o n t e x t einer spezifisch christlichen Ethik, zum anderen im Sinne der objektiven R a h m e n b e dingungen, der Situation, die die angemessene A n t w o r t determiniere, verwendet, hat J o s e p h Fletcher ( 1 9 0 5 - 1 9 9 1 ) kritisiert (Situation Ethics 14). Fletcher bezeichnet eine kontextuelle Ethik in letztgenannter F o r m als -»Situationsethik. F ü r ihn gibt es außer dem Grundprinzip der Liebe keine festen ethischen Regeln. W i e die Liebe ihre Aufgabe erfülle, hänge von der Situation ab. Einen Konflikt zwischen Liebe und Gerechtigkeit gebe es deshalb nicht, weil „ G e r e c h t i g k e i t . . . angewandte und ausgeteilte Liebe ist, sonst n i c h t s " (Fletcher, M o r a l 7 6 ) . Ein Beispiel für die Applikation dieses Prinzips ist Fletchers Insistieren, daß es unter den gegebenen wirtschaftlichen Bedingungen in Amerika der christliche Auftrag sei, sich für eine korrektive Besteuerung als Heilmittel für die sozialen Folgen des Überflusses einzusetzen (Fletcher, Leben 90). Eine eher konservative Position innerhalb der nordamerikanischen sozialethischen Diskussion vertritt Robert Benne (geb. 1937). In T h e Ethics of Democratic Capitalism verteidigt er vehement die Marktwirtschaft als beste Möglichkeit, den Lebensstandard anzuheben, menschliche Freiheiten zu fördern und den Mißbrauch der Macht aufzudecken. Bennes Ansatz ist dem des römisch-katholischen Moraltheologen M . Novak (s.o. 3.) vergleichbar und basiert auf dem eher konservativen Spätwerk Reinhold Niebuhrs. Sehr viel radikalere sozialethische Konzeptionen haben die Befreiungstheologie, die „Schwarze Theologie" und die Feministische Theologie entwickelt. Für die Befreiungstheologie sei stellvertretend auf Richard Shaull (geb. 1919) hingewiesen. Er ist ein Schüler P. Lehmanns und war lange Jahre Missionar in Lateinamerika. Mitte der 1960er Jahre kehrte er in die USA zurück, wurde Professor am Princeton Theological Seminary (-»Princeton) und übte einen starken Einfluß auf den ökumenischen Rat der Kirchen aus (s.u. 5.). Shaull entwickelte eine Theologie der -»Revolution. Die Mitarbeit an Gottes Handeln in der Geschichte bedeutet für ihn die Ablehnung einer auf dem statischen Naturrecht beruhenden Sozialethik. Er wendet sich gegen die liberale Vorstellung, daß Reformen der existierenden Strukturen ausreichend für die Entwicklung einer verantwortungsbewußten Gesellschaft seien. Shaull geht es vielmehr darum, daß soziale Veränderungen, die in Übereinstimmung mit dem Willen Gottes geschehen sollen, strukturelle, d.h. politische und wirtschaftliche Veränderungen zur Folge haben müssen, um das Ziel einer gerechten internationalen Wirtschaftsordnung (s.u. 6.) zu erreichen. Da ein solches Fernziel für Shaull nur in einer Art sozialistischer Gesellschaft zu verwirklichen ist, plädiert er für eine „permanente Revolution" in Form einer „kontinuierlichen sozialen Veränderung, die eine kontinuierliche Transformation zu einer zukünftigen sozialistischen Gesellschaft einschließt" (vgl. Grenholm 245). Zu den wichtigsten Vertretern der Schwarzen Theologie zählen James Hai Cone (geb. 1938) und seine Schüler. Die Schwarze Theologie entstand aus der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung. Ihr ursprüngliches Ziel war die Bekämpfung von -»Rassismus in Kirche und Gesellschaft. Durch den Kontakt mit anderen Formen der Befreiungstheologie und durch die spätere Verbindung mit der ambivalenten Black-Power-Bewegung kamen auch der weltwirtschaftliche und politische Imperialismus in den Blick. Durch diese Verbindung steuerte das schwarze Selbstbewußtsein, das die afroamerikanische Perspektive, gefiltert durch die historische Erfahrung der Befreiung von der Sklaverei, wiederentdeckte, einen weiteren Kontext für die Befreiungstheologie bei. Innerhalb der Feministischen Theologie ist Beverly Wildung Harrisons (geb. 1932) Werk ein wichtiges Beispiel für die neueren Entwicklungen. Beeinflußt von H. Richard Niebuhr, appelliert sie an die Kirchen, menschliche Interdependenzen und soziale Verpflichtungen aus der Perspektive der Unterdrückten und Entrechteten wahrzunehmen. Dazu gehört nicht zuletzt die Perspektive weiblicher Erfahrungen. Nur auf diese Weise könne die Kirche sich für die Schaffung einer Gemeinschaft bzw. einer Gesellschaft gegenseitiger Anerkennung einsetzen. In der zeitgenössischen amerikanischen Theologie gibt es eine starke Tendenz, Sozialethik aus der Sicht einzelner gesellschaftlicher Unter-Gruppierungen zu entwickeln. So wurde die Feministische Theologie speziell von farbigen Theologinnen, wie z. B. Delores S. Williams, kritisiert. Das führte zur Entwicklung einer „Womanist Theology"; das Beiwort entstammt einem speziellen afro-amerikanischen Verständnis des distinkten Wesens der Frau. 4.2.3. Der Postliberalismus ist die möglicherweise bemerkenswerteste Bewegung der eher konventionellen zeitgenössischen protestantischen Sozialethik in Amerika. Seine
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führenden Exponenten, der Mennonit John H o w a r d Yoder (geb. 1927), der Neo-Calvinist Nicholas Wolterstorff (geb. 1932), der Täufer James William McClendon Jr. (geb. 1924) und der Methodist Stanley Hauerwas (geb. 1940), kommen vom radikalen Flügel des Protestantismus. Allen ist das verbindliche Eintreten für das gottesdienstliche Leben der christlichen Kirchen gemeinsam, die so Zeugen eines anderen Weges der Aktualisierung der menschlichen Gemeinschaft unter Gott sind. Alle eint, daß dieser alternative Weg seinem Wesen nach der des Friedens sein kann, was im folgenden am Werk Hauerwas' gezeigt werden soll. Hauerwas ist von der Tugendethik des Philosophen Alasdair Chalmers Maclntyre (geb. 1929) beeinflußt, der sich darauf konzentriert hat, den Weg zu einem guten Leben zu erklären, das durch eingeprägte Tugenden seine Gestalt empfängt. Hauerwas betont die Rolle der christlichen Kirche als Gemeinde, in der der christliche Charakter geformt und entwickelt wird. Als einer der maßgebenden Exponenten der „narrative ethics" vertritt er die Ansicht, daß die Kirche eine ,,story-shaped"-Gemeinde ist: Christen leben durch und mit den biblischen Geschichten; ihre Lebenswege bilden aber ebenfalls Geschichten und tragen damit zur Gestaltung der Gemeinde bei. Hauerwas bemängelt an Barths Ansatz, daß dieser nicht erklärt habe, wie spezifisch christliche Tugenden durch die Teilhabe und das Wachstum im oder am Leben der Kirche entwickelt werden könnten (vgl. Hauerwas, Dispatches 5 8 - 7 9 ) . Für Hauerwas ist der Frieden das hervorstechende Kennzeichen christlicher Gemeinschaft. Das Leben der Kirche soll Zeugnis von Gottes friedliebender Königsherrschaft ablegen und damit die Werte und Praktiken der Welt in Frage stellen. Christliche Sozialethik bedeute zuerst und hauptsächlich das Sein der Kirche. „Als solche hat die Kirche keine Sozialethik; die Kirche ,ist' eine Sozialethik" (Hauerwas, Selig 159). Es ist kaum überraschend, daß seine Kritiker, wie z. B. Gustafson, Hauerwas Sektiererei vorwerfen (vgl. Gustafson, Temptation) oder einen rein innerlichen Kommunitarismus, der sich vom Staat, von der Welt und der Gestaltung des menschlichen Lebens im allgemeinen nicht betroffen zeigt, unterstellen. Hauerwas wendet sich sowohl gegen jeden direkten Versuch, die Welt zu christianisieren, als auch gegen den Versuch, kooperative Aktionen durch eine Naturrechtsethik zu begründen. Wie Milbank wirft er Reinhold Niebuhr vor, das Evangelium in seiner gleichwohl kritischen Zustimmung zur Demokratie aufzugeben (vgl. Hauerwas, Dispatches 98-104). A fortiori verwirft er die Niebuhrsche Verteidigung einer Theorie des gerechten Krieges sowie der „realistischen" Notwendigkeit von Zwang und Gewaltanwendung. Hauerwas' christliche Sozialethik bedeutet jedoch nicht, daß die Kirche an einen Ort außerhalb der Welt verwiesen wird. Vielmehr sind die Christen als Kirche Zeugen der göttlichen Pläne mit der Welt, und die Hoffnung ist berechtigt, daß die Werte der friedfertigen Gottesherrschaft einen indirekten, langfristigen Effekt auf die Welt ausüben - und das nicht nur, um die Welt herauszufordern, sondern auch, um sie zu verändern. Die Debatte zwischen den variantenreichen konservativen, liberalen und radikalen Formen des christlichen Realismus, den verschiedenen Arten der Theologie der Revolution und dem christlichen Kommunitarismus beweisen, daß sich die evangelische Sozialethik im heutigen Amerika in einer äußerst lebendigen Phase befindet. 4.3.
Großbritannien
4.3.1. Während des 19. Jh. vertraten die etablierten Kirchen Großbritanniens, insbesondere die Kirche von Schottland und die —»Kirche von England, in politischen und wirtschaftlichen Fragen konservative Positionen, auch wenn ihnen keineswegs sozialethische Einsichten fehlten. Auf unterschiedliche Weise inspirierten der Evangelical Revival (-»Erweckung/Erweckungsbewegungen 1/2.) und die anglokatholische Oxfordbewegung (-»Anglokatholizismus 3.) hingebungsvolle -»Sozialarbeit auf den Gebieten Erziehung und Armenhilfe. Das Engagement einzelner Kirchenmänner wie W. ->Wilberforce und dem siebten Earl of —»Shaftesbury trug entscheidend zur Abschaffung der
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-•Sklaverei und zur Verringerung der Arbeitszeiten in den Fabriken bei. Doch von zwei Ausnahmen abgesehen finden sich praktisch keine spezifisch theologischen Arbeiten zu sozialethischen Fragen. Die zwei Ausnahmen lieferten zum einen zu Beginn des 19. Jh. der Schriftsteller und Philosoph S.T. -»Coleridge, zum anderen die Christian-SocialistBewegung, die von 1848 bis zum Ende des Jahrhunderts ihre Aktivitäten entfaltete. Coleridge entwarf in seinem 1830 erschienenen Buch Ott the Constitution of the Church and State eine zweiteilige Konzeption der etablierten Kirche: Es gibt eine nationale „Kirche", deren „Klerus" aus allen Gebildeten und allen Lehrern besteht, die sich für Moral und intellektuelles Leben der Nation einsetzen, und die Kirche Christi, die das Schlechte bekämpft und das Leben in spiritueller Freiheit fördert. Das kurze Buch enthält in nuce viele spätere Reflexionen zu Theologie und Kultur sowie den Weg, auf dem christliche Werte das gesellschaftliche Gefüge durchdringen können. Da die Christian Socialists im Artikel -»Sozialismus (III) eingehend dargestellt werden, sollen hier lediglich F.D. -»Maurice', selbst stark von Coleridge beeinflußt, Charles Kingsleys (1819-1875) und John Malcom Forbes Ludlows (1821-1911) Reaktionen auf die sozialen Ungerechtigkeiten der industriellen Revolutionen genannt werden. Diese christlichen Denker gehörten zu den ersten, die für eine christliche Form des Sozialismus eintraten. Trotz Maurice' Abkehr von politischen Aktionen und seiner zunehmenden Vorliebe für erzieherische Maßnahmen wuchs der Einfluß der frühen Christian Socialists erheblich, dem sich auch die Pioniere der Social-Gospel-Bewegung in Amerika nicht entziehen konnten. Später entstanden englische Gruppen wie die radikalere, von Stewart Headlam (1847-1924) 1877 gegründete Guild of St. Matthew und die auf breiterer Basis 1889 ins Leben gerufene Christian Social Union, die diese Gedanken aufgriffen. In der Christian Social Union spielten führende anglikanische Theologen wie Henry Scott Holland (1847-1918), Ch. -»Gore und B.F. -»Westcott eine wichtige Rolle. Das soziale Anliegen dieser Gesellschaft, der zeitweise 10.000 Mitglieder angehörten, entsprang der anglikanischen bzw. anglokatholischen Inkarnationstheologie. Trotz der Schwäche des Christian Socialism, zu der besonders die mangelnde Präzisierung des Begriffs „Sozialismus", die Naivität der ökonomischen Analyse sowie der theologische Utopismus einer Verwirklichung der Gottesherrschaft auf Erden gehörten, ist diese Bewegung bis auf den heutigen Tag ein wichtiger Faktor des britischen Christentums geblieben. (Es soll nicht unerwähnt bleiben, daß nur in den 1930er und 1960er Jahren ernsthafte Bemühungen angestellt wurden, die marxistische Analyse in die christliche Sozialethik Großbritanniens einzuführen.)
4.3.2. Die führenden Persönlichkeiten der britischen Sozialethik der ersten Hälfte des 20. Jh. waren Richard Henry Tawney (1880-1962) und W. —»Temple. Tawney war Professor für Wirtschaftsgeschichte an der Universität London. Dem leidenschaftlichen anglokatholischen Laien gelang es, mit seinen Büchern The Acquisitive Society und Religion and the Rise of Capitalism sowohl in der Labour Party als auch in der Kirche von England Einfluß zu gewinnen. Tawneys Egalitarismus und seine Feindschaft gegenüber dem Kapitalismus prägten den christlichen Sozialismus der Zwischenkriegszeit. Temple war eine wichtige Figur der ökumenischen Bewegung (s.u. 5.). Durch seine Position als Bischof von Manchester, Erzbischof von York und - bis zu seinem frühen Tod 1944 - als Erzbischof von Canterbury gehörte er zu den Schlüsselfiguren der englischen Kirche. Er saß der interkonfessionellen Conference on Christian Politics, Economics and Citizenship (COPEC) in Birmingham im Jahre 1924 vor und war einer der führenden Köpfe der 1937 in Oxford veranstalteten Conference on Church, Community and State (s.u. 5.). 1941 leitete er die von der anglikanischen „Christendom Group" (s.u. 4.3.3.) geplante Malvern Conference, die sich mit der Krise der Zivilisation und der Nachkriegssituation beschäftigte. Zu diesem Zeitpunkt hatte sich Temple von früheren, idealistischen zu sehr viel realistischeren Positionen bewegt, was u.a. auf den Einfluß Reinhold Niebuhrs zurückzuführen ist. Niebuhr gehörte auch zu den Teilnehmern der Oxford-Konferenz von 1937. 1942 erschien Temples kurzes, aber höchst einflußreiches Buch Christianity and Social Order. Mit Referenz auf die Naturrechtstradition und die Inkarnationstheologie votierte Temple für das Recht der Kirche auf politische Einmischung, weil die Sünde die Strukturen beschädigt habe, die menschliches Leben gestalten. Dabei sei es nicht Aufgabe der Kirche, eine konkrete, detaillierte Politik zu entwerfen, sondern christliche Prinzipien zu vertreten und sich für deren Anwendung
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zu engagieren. Zu diesen Prinzipien zählten vor allem die Liebe als Gottes Hauptabsicht sowie die Menschenwürde und das menschliche Schicksal und - davon abgeleitet Freiheit, soziale Verbundenheit und Diakonie. Im Lichte dieser Prinzipien legte Temple weitreichende Operationsziele dar, die der Politik Gestalt geben sollten, z. B. Sicherheit für die Familie, schulische Möglichkeiten, gerechte Löhne, Teilhabe am Allgemeinwohl, ausreichende Freizeit sowie Religions-, Rede- und Versammlungsfreiheit. (Diese Beispiele gehören zu den „mittleren Axiomen", die als ein Kennzeichen der ökumenischen Ethik unter 5.4. diskutiert werden.) In einem Nachruf schrieb Niebuhr über Temple, daß er „mit einer Vitalität und Kreativität wie kein anderer zeitgenössischer christlicher Kirchenführer befähigt war, die letzten Einsichten der Religion über die Situation des Menschen in ein Verhältnis zu den direkten Notwendigkeiten politischer Gerechtigkeit und den unmittelbaren Möglichkeiten einer gerechten Sozialordnung zu setzen" (vgl. Reinhold Niebuhr in: The Nation, New York, 11. November 1944). Eine ähnliche Rolle wie Temple in England spielte in Schottland der Theologe John Baillie ( 1 8 8 6 - 1 9 6 0 ) , der maßgebend von J.H. Oldham (s.u. 5.1.) und Reinhold Niebuhr geprägt worden war, nicht zuletzt durch die gemeinsame Zeit mit Niebuhr am Union Theological Seminary in New York in den 1930er Jahren. Baillie leitete die von der Generalversammlung der Kirche von Schottland 1940 eingesetzte Commission for the Interpretation of God's Will in the Present Crisis, die fünf einflußreiche Berichte erarbeitete, darunter auch die als zweite publizierte Stellungnahme „The Nature and Extent of the Church's Concern in the Civil Order". Kennzeichnend für diese Berichte ist, daß die Theologie von Christi Herrschaft über das ganze menschliche Leben nicht allein den Gebrauch von „mittleren Axiomen" kontrollierte, sondern auch entscheidenden Einfluß auf konkrete Empfehlungen zu Mitbestimmung und Wohlfahrt ausübte. Baillie war auch eines der prominenten Mitglieder der als „The M o o t " bekannten Gruppe, die von Oldham ins Leben gerufen worden war und der so bedeutende Persönlichkeiten wie T.S. Eliot ( 1 8 8 8 - 1 9 6 5 ) , Sir Walter Moberly ( 1 8 8 1 - 1 9 7 4 ) und Karl Mannheim ( 1 8 9 3 - 1 9 4 7 ) angehörten, die die Frage diskutierten, wie die Gesellschaft christlicher werden könnte. Eliots The Idea of a Christian Society und Baillies What is Christian Civilisation? reflektieren das Anliegen der Gruppe. Baillie argumentierte für die Durchdringung der irdischen Zivilisation mit christlichem Geist: „by allowing the political and economic order to take care of itself, the Church of Christ will tragically fall short of its duty of bringing the light of the Christian Gospel to bear upon every activity of the common life" (Baillie, Civilisation 64f.).
4.3.3. Das Engagement für eine christliche Gesellschaft war auch kennzeichnend für eine andere Gruppe anglikanischer Denker, die von den 1930er bis in die 1950er Jahre am wirksamsten waren und unter dem Namen „Christendom Group" in Erscheinung traten. Zu den führenden Mitgliedern zählten Maurice Reckitt (1888-1971) und Vigo August Demant (1893-1983); T.S. Eliot war ebenfalls mit dieser Gruppe assoziiert. Reckitt war ein wohlhabender Mann, der Christendom, die zwischen 1931 und 1950 erschienene Zeitschrift der Gruppe, finanzierte und redaktionell betreute. Kurz vor seinem Tod gründete er die Stiftung „The Christendom Trust", die bis heute sozialethische Forschung finanziell fördert. Demant war zunächst Canon an St. Paul's Cathedral, dann Professor der Moral und Pastoraltheologie in Oxford; bis in die 1960er Jahre publizierte er und hielt Vorlesungen über Sozialethik. In der Zwischenkriegszeit bemühte sich die Gruppe, eine christliche „Soziologie" zu etablieren, worunter die christliche Theorie einer wahrhaft menschlichen Gesellschaft zu verstehen ist. Diese Sozialtheorie ähnelt der Naturrechtstradition und bemühte sich um einen Mittelweg zwischen Kapitalismus und Sozialismus. Der Schwachpunkt ihrer Position war ihre ökonomische Theorie und ihr Eintreten für einen „Sozialismus der Zünfte". Spott brachte der „Christendom Group" ein kurzlebiges Projekt ein, das als „social credit" bekannt war. Demants Sozialethik steht und fällt aber nicht mit solchem unangebrachtem Enthusiasmus. Seine Analyse und Kritik eines nachaufklärerischen säkularen Liberalismus kann mit der gegenwärtigen Position Alasdair Maclntyres verglichen werden. Demants Untersuchung des „Halbschattens der Ethik" („Penumbra of Ethics" war der Titel seiner bisher unveröffentlichten Gifford Lectures von 1957/58), nämlich die verborgenen Voraussetzun-
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gen von unterschiedlichen Weltbildern, ist treffend und überzeugend (vgl. Markham, Kap. 3 - 4 ) . Der Hauptfehler dieser unterschiedlichen Versuche, die Idee einer christlichen Gesellschaft wiederzuerlangen und zu verkündigen, ist die mangelnde Vorwegnahme des religiösen und kulturellen Pluralismus der modernen westlichen Gesellschaften. Überraschenderweise basiert eines der meistdiskutierten sozialethischen Werke der 1990er Jahre, J . Milbanks Theology and Social Theory, auf einer der „Christendom Group" nicht unähnlichen Position, wenn auch ohne Naturrechtsverankerung, nämlich auf einer Präsentation einer christlichen „metanarrative", die alle anderen „narratives" übertrifft. 4.3.4. Das Vermächtnis von Tawney, Temple und vor allem Reinhold Niebuhr wurde im letzten Viertel des 20. Jh. in Großbritannien von Ronald Haydn Preston (geb. 1913) und seinen Schülern fortgeführt. Der gelernte Wirtschaftswissenschaftler Preston, von 1 9 7 0 - 1 9 8 0 Professor für Soziale und Pastoraltheologie in Manchester, beweist in seinen Arbeiten eine sehr viel souveränere Handhabung empirischen Datenmaterials, als es bei der „Christendom Group" der Fall gewesen war. Er bemüht sich, ein entwickeltes christliches Verständnis des Allgemeinwohls mit allen irgendwie vergleichbaren Ressourcen anderer Glaubensformen und Philosophien zu verbinden. Prestons Verteidigung der „mittleren Axiome" auf dem Gebiet der Wirtschaftsethik wird unten (5.4.) dargestellt. Sein eigener Ökumenismus macht nicht bei den christlichen Kirchen halt, sondern wendet sich auch dem zeitgenössischen Pluralismus zu. Preston bleibt der führende Vertreter des christlichen Realismus dieser Periode. Prestons früherer Schüler John Atherton (geb. 1939), ein Direktor der William Temple Foundation in Manchester, hat den Versuch unternommen, einen neuen Weg christlicher Sozialethik zu beschreiten. Ein praktisches Urteil erwächst seiner Ansicht nach aus der Interaktion der Wertschätzung der Marktwirtschaft einerseits und der Würdigung der ethischen Kraft seiner Kritik andererseits (vgl. Atherton, Christianity, Kap. 9). Wie Atherton geht es auch dem Direktor des Centre for Theology and Public Issues in Edinburgh, dem schottischen Theologen Duncan B. Forrester (geb. 1933), darum, die Bedeutung der christlichen Sozialethik für ein pluralistisches und säkulares Zeitalter auszuloten. Dabei vertraut Forrester stärker als Atherton darauf, daß die Sprache der Transzendenz sich sowohl kritisch als auch konstruktiv auf Fragen der sozialen Gerechtigkeit und des Allgemeinwohls beziehen läßt (vgl. Forrester, Kap. 6). Der zeitgenössischen britischen Sozialethik ist ein Variantenreichtum von radikalen bis zu konservativen Positionen zu eigen. Der Anglokatholik Kenneth Leech (geb. 1939) exemplifiziert in Theorie und Praxis die fortwährenden Impulse des Christian Socialism. Sein soziales Anliegen wurzelt in einer eucharistischen Spiritualität: „A theology which places the transformation of material structures and of human relations at the heart of its liturgy and life should be a theology which is open to the need for such transformation in the economic and political life of society" (Leech, Eye 129). Zu den konservativen Stimmen der britischen Sozialethiker gehört Oliver O'Donovan (geb. 1945), Regius Professor für Moral und Pastoraltheologie in Oxford. In seinem Bemühen, die Wurzeln der politischen Theologie wiederzuentdecken, beschäftigt sich O'Donovan mit der Rolle der Kirche für die Erlösung der Gesellschaft. In ihrem geistlichen Leben lege die Kirche von der Auferstehung als Schicksal aller Menschen Zeugnis ab. „The Church will frame its political witness with authenticity when it stands self-consciously before that horizon and confesses that it looks for the resurrection of the dead and the life of the world to come" (O'Donovan 288).
4.3.5. Sozialethische Themen wurden in den britischen Kirchen in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg sehr intensiv behandelt. Das geschah durch nationale bzw. lokale Sozialausschüsse oder durch Kommissionen, die öffentliche Stellungnahmen zu zentralen sozialen und politischen Fragen ausgearbeitet haben. Zu ihnen gehören das Committee on Church and Nation der Kirche von Schottland, die Declaration on Social Questions der Methodistenkonferenz und das Board for Social Responsibility der Kirche von England. Das letztgenannte Gremium hat eine Reihe von Berichten veröffentlicht, wie z. B. Work and the Future (1979), Perspectives on Economics (1984) und Not Just for the
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Poor: Christian Perspectives on the Weifare State (1986), deren hohes wissenschaftliches Niveau allgemein anerkannt wird. Ähnliche, wenn auch ökumenische Stellungnahmen haben Arbeitsgruppen des British Council of Churches, z. B. mit World Poverty and British Responsibility (1966), bzw. sein Nachfolger, der Council of Churches for Britain and Ireland, mit der Studie Unemployment and the Future of Work (1997) vorgelegt. Am meisten Aufmerksamkeit zog der Bericht Faith in the City: A Call for Action by Church and Nation (1985) der vom damaligen Erzbischof von Canterbury Robert Runcie (geb. 1921) eingesetzten Commission on Urban Priority Areas auf sich. Die Schilderungen der Situation der englischen Innenstädte und der Aufruf zum Handeln führte zu einer deutlichen Resonanz - in erster Linie innerhalb der Kirche. Der zu diesem Zwecke errichtete „Church Urban Fund" hat bis 1998 insgesamt 55 Millionen Pfund für innerstädtische Projekte gesammelt. Dennoch mußten sich Stellungnahmen dieser Art Kritik gefallen lassen, da die theologische Begründung praktischer Handlungsempfehlungen häufig schwach war und das Verhältnis von Kirche und Staat nur unzureichend reflektiert wurde. In diesem Sinne fällt auch Athertons Kommentar zu Faith in the City aus: „Eine fehlerhafte theologische Methode, die äußerst restriktive politische Bindungen fördert, wird keine einschneidenden Veränderungen in einer sich ausdehnenden Wohlstands-Demokratie bewirken" (vgl. Atherton, Faith 143). 5. Ökumenische
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5.1. Sozialethische Fragestellungen gehörten zu den Hauptanliegen der ökumenischen Bewegung des 20. Jh. Life and Work war eine der beiden wichtigsten ökumenischen Gruppierungen der Zwischenkriegsjahre. Unter dem Vorsitz von N. —•Söderblom hatte Life and Work 1925 zu einer Studienkonferenz nach Stockholm eingeladen. Sie beschäftigte sich mit einer Reihe sozialer Fehlentwicklungen, deren sich die Kirche annehmen sollte. Ihre positiven Empfehlungen erscheinen heute jedoch allzu idealistisch. Eine zweite, weitaus wichtigere Studienkonferenz wurde 1937 in Oxford zum Thema „Church, Community and State" abgehalten. Ihr zeitgeschichtlicher Kontext war die hohe Arbeitslosigkeit in Europa und der sich ausbreitende Faschismus. Geprägt wurde die Oxfordkonferenz von Joseph Houldsworth Oldham (1874-1969), der für eine gründliche Vorbereitung der Delegierten sorgte und dessen Konzeption der „mittleren Axiome" (s.u. 5.4.) das sozialethische Denken der Ökumenischen Bewegung mehr als zwei Jahrzehnte prägen sollte. Die Teilnahme von William Temple, Reinhold Niebuhr und anderen führenden Kirchenmänner der westlichen Welt war dafür konstitutiv, daß „die Arbeit der Oxfordkonferenz sowohl dem kirchlichen als auch dem säkularen Denken der 1930er Jahre weit voraus w a r " (vgl. Preston, Confusions 86). Durch die Gründung des Ökumenischen Rats der Kirchen in Amsterdam 1948 und nach seinem Zusammenschluß mit dem International Missionary Council in Neu Delhi 1961 gewann die ökumenische Bewegung eine wahrhaft globale Ausrichtung. Unter diesen neuartigen Rahmenbedingungen wurde 1966 in Genf die dritte Studienkonferenz zum Thema „Christians in the Technical and Social Revolutions of Our T i m e " abgehalten. Da zum ersten Mal die Befreiungstheologie auf einer derartigen Konferenz ihre Stimme erhob, gewannen die Konferenzbeschlüsse einen bis dato unbekannten radikalen Zug. Im Kielwasser dieser Konferenz fand sich die nachkonziliare römisch-katholische Kirche dazu bereit, eine gemeinsame Arbeitsgruppe mit dem Ökumenischen Rat der Kirchen einzusetzen, die als S O D E P A X (Society, Development and Peace) eine Reihe von Konsultationen über Fragen der Entwicklungshilfe, der Wirtschaftsordnungen und der Friedenspolitik abhielt. Da dieses Gremium dem Vatikan wegen seines Radikalismus und Aktivismus zunehmend suspekt erschien, wurde es 1980 aufgelöst. Die vierte und letzte Studienkonferenz, diesmal zu „Faith, Science and the Future", wurde vom Weltkirchenrat 1979 am Massachusetts Institute of Technology abgehalten, an der auch viele Naturwissenschaftler teilnahmen. Die Konferenz war von einer ne-
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gativen Grundstimmung geprägt, mit der eine deutliche Kritik der Verknüpfung von Wissenschaft, Militarismus und politischer Unterdrückung einherging. Die behauptete Objektivität westlicher Wissenschaft wurde in Frage gestellt, und ökologische Fragen wurden erstmals ausführlich auf einer ökumenischen Studienkonferenz diskutiert (-•Ökologie). 5.2. Die zunehmende Politisierung des Weltkirchenrats wurde während der jeweiligen Generalversammlungen immer deutlicher. Während der ersten Zusammenkünfte, 1948 in Amsterdam und 1955 in Evanston (-»Ökumene 3.3.2.1.-2.), wurde zunächst die Idee einer auf Demokratie und Wohlfahrtsstaat verpflichteten „verantwortlichen Gesellschaft" propagiert. Seit den 1960er Jahren kritisierten Repräsentanten der „Dritten Welt" und Vertreter der Befreiungstheologie diese Konzeption als zu einseitig westlich, da sie selber für eine radikalere politische Position eintraten. Nachdem die Generalversammlung in Uppsala 1968 (vgl. -»Ökumene 3.3.2.4.) das Thema Versöhnung faktisch mit politischer Befreiung identifiziert hatte, wurde im folgenden Jahr das Programm zur Bekämpfung des Rassismus in Gang gesetzt, das zu den einflußreichsten praktischen, aber auch umstrittensten Resultaten ökumenischer Aktivität zählte (-»Rassismus II). Trotz der Kritik an seiner vorgeblichen Unterstützung gewalttätiger Revolutionen wurde diesem Programm dennoch von der 1975 in Nairobi abgehaltenen Generalversammlung (vgl. -»Ökumene 3.3.2.5.) die Unterstützung zugesagt, die sich insgesamt durch eine höhere theologische Sensibilität als die in Uppsala auszeichnete. Den Themen Armut und soziale Gerechtigkeit wird im Abschlußkommunique von Nairobi viel Raum zugesprochen. „Armut wird, wie wir sehen, durch ungerechte Strukturen verursacht, die die Rohstoffe und die Entscheidung über deren Nutzung einigen wenigen in und unter den Staaten überlassen. Deshalb gehört es zu den wichtigen Aufgaben der Kirche, in ihrer Solidarität mit den Armen diese Strukturen auf allen Ebenen zu bekämpfen" (Bericht aus Nairobi 100). In Nairobi wurde die Idee einer „gerechten, partizipatorischen und lebensfähigen Gesellschaft" eingehend diskutiert. „Partizipatorisch" meint in diesem Zusammenhang die Rücksichtnahme auf die Bedürftigen, Entrechteten und Marginalisierten, „lebensfähig" bezieht sich auf die damals neuen umweltpolitischen Fragestellungen für die ökumenische Bewegung. Der sechsten Generalversammlung des Weltkirchenrates in Vancouver 1983 (-»Ökumene 3.3.2.6.) wurde von verschiedenen Seiten vorgeworfen, sie habe als Quelle eines kreativen sozialethischen Denkens an Glaubwürdigkeit verloren. Das neue Motto, das die nun folgenden Jahre prägen sollte, lautete „Frieden, Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung". Es blieb bei wohlklingenden Worten, denn die Vorbereitung dieser Generalversammlung war auf einem zu niedrigen Niveau verlaufen, so daß den Resolutionen ein Mangel an Dialog, Analyse und wissenschaftlicher Reflexion anzumerken war. Eine diesbezügliche Kritik artikulierte eine vom Erzbischof von York, John Habgood (geb. 1927), angeführte Gruppe, die zu einer Reihe von Sitzungen zusammengekommen war, um den Weltkirchenrat zu beraten, wie er besser informierte, realistischere soziale Visionen wiederentdecken solle (vgl. Preston, Confusions 7 0 - 7 2 ) . Daß eine solche konstruktive Kritik angebracht war, bestätigten auch die internationale Versammlung zu Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung in Seoul 1990 und die Generalversammlung in Canberra 1991. 5.3. Z u den führenden Sozialethikern, die für den Weltkirchenrat arbeiteten, gehörten J o h n C . Bennett, Hans-Dietrich Wendland ( 1 9 0 0 - 1 9 9 2 ) , Richard Shaull, Paulo Freire (geb. 1921), R o g e r Mehl (geb. 1912) und Ulrich D u c h r o w . Bennett, bekanntlich einer der führenden Repräsentanten des Christian Realism in den Vereinigten Staaten (s.o. 4 . 2 . 1 . ) , w a r einer der wichtigsten Weltkirchenrats-Exponenten der T h e o r i e der „verantwortlichen Gesellschaft". F ü r ihn zielen sowohl das N a turrechtsdenken als auch die christliche Liebesethik in die Richtung eines demokratischen Staates mit einer sozialen M a r k t w i r t s c h a f t . Auch wenn sich eine solche Staats- und W i r t s c h a f t s f o r m nicht als sofort zu realisierendes Ziel der sich in einem raschen U m b a u befindlichen Staaten, besonders der Dritten Welt, anstreben läßt, betont Bennett dennoch: „ D i e Erfahrung der Völker, in denen es eine kontinuierliche Entwicklung der Institutionen der politischen Mitbestimmung aller Bürger und der Institutionen, die die Personenrechte schützen, gegeben hat, besitzt eine Bedeutung für die politischen Ziele der sich schnell verändernden Gesellschaften" (vgl. Bennett, Ethics 3 8 1 ) . Wendland, wie Bennett Mitglied des Studienausschusses der Weltkirchenratsabteilung für Kirche und Gesellschaft, e n t w a r f eine Konzeption der verantwortlichen Gesellschaft für die Genfer Konferenz von 1966. Seiner Überzeugung nach ist eine kontinuierliche Reform der sozialen Institutionen aus der Theologie der Königsherrschaft Christi ab-
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zuleiten, auch wenn er dafür, ähnlich wie Bennett, eine naturrechtliche Begründung in Kauf nehmen müßte. Nach Wendland umfaßt die christliche Ethik eine Ethik der Menschlichkeit, geht aber über sie hinaus. Eine verantwortliche Gesellschaft ist Wendland zufolge eine Gesellschaft, in der die Forderungen nach Gerechtigkeit, Freiheit und Frieden alle Individuen zur Arbeit an allen gesellschaftlichen Institutionen bewegen, um diese so zu verändern, daß sie jedem ermöglichen, verantwortlich in ihnen leben und handeln zu können (vgl. Grenholm 135). Eine naturrechtlich begründete Theologie der verantwortlichen Gesellschaft mußte auf den Widerstand der Barthianer im Ökumenischen Rat der Kirchen stoßen, zu denen auch der französische Theologe Roger Mehl zählte. Mehl verteidigte zwar die Idee der verantwortlichen Gesellschaft; er sah sie aber als Parabel oder Analogie für die Liebesordnung an, die das Gesetz der Königsherrschaft Gottes ist (Mehl 61). Shaulls Ablehnung der Naturrechtstheorie und der Idee einer verantwortlichen Gesellschaft wurde bereits erwähnt (s.o. 4.2.). Die späteren Entwicklungen des sozialethischen Denkens des Weltkirchenrats hat er dadurch beeinflußt, daß er für eine Theologie der Revolution eintrat und eine reformistische Strategie sozialer Veränderungen ablehnte. Seiner Ansicht nach sind die Strukturen des Kapitalismus in ihrer Negativität nicht auflösbar. Nur permanente Revolution bedeute soziale Veränderung - bis hin zum Ziel einer zukünftigen sozialistischen Gesellschaft. Die christliche Perspektive eschatologischer Transzendenz solle dazu einen Beitrag leisten. Für Shaull steht jedoch fest, daß ein derartiger Einfluß nur von neuen, revolutionären Kongregationen, nicht aber von den etablierten Kirchen zu erwarten sei. Charakteristisch für die lateinamerikanische Befreiungstheologie ist der Gedanke, daß christliche Ortsgruppen zum Katalysator sozialer Veränderungen werden können. Als Vertreter dieser theologischen Richtung gelang es P. Freire während seiner Arbeit in Genf von 1969 bis 1975, das ökumenische, sozialethische Vokabular durch einen Begriff wie „Basisgemeinden" zu erweitern. In den Basisgemeinden können sich die Marginalisierten der Gesellschaft ihrer Unterdrückung, aber auch der Möglichkeiten zu gemeinsamem Handeln „bewußt werden". Eine ganz andere, aber nicht weniger prononcierte Position der ökumenischen Sozialethik hat U. Duchrow entwickelt. Für ihn sind die negativen Folgen des westlichen Kapitalismus und des Weltmarktes derart weitreichend, daß die Ablehnung dieses Wirtschaftssystems für die Kirchen zum status confessionis werden müßte (vgl. Duchrow). Dieser extremen Ansicht hat Preston entgegnet, daß zwar die entschiedene Zurückweisung des Apartheid-Systems als Bekenntnisakt betrachtet werden könne, wesentlich dann, wenn die Kirche Kirche sein will. Das Weltwirtschaftssystem sei jedoch schlicht zu komplex, um es mit derart simplizistischen Argumenten abzutun (vgl. Preston, Confusions 69f.). Nicht unerwähnt soll bleiben, daß der Ökumenische Rat der Kirchen sich die Vorstellung Duchrows nicht zu eigen gemacht hat. 5.4. Eine der weitreichendsten Entwicklungen der ökumenischen Sozialethik ist das Konzept der „mittleren Axiome" (vgl. Kosmahl), das J . H . Oldham in seinem Vorbereitungsbuch für die Oxford-Konferenz von 1937 erstmals dargelegt hatte: „Zwischen den völlig allgemeinen Aussagen zu den ethischen Forderungen des Evangeliums und den Entscheidungen, die in konkreten Situationen getroffen werden sollen, ist die Notwendigkeit für das gegeben, das man .mittlere Axiome' nennen kann. Sie geben der christlichen Ethik Relevanz und Sachbezug. Sie sind Versuche, die Art und Weise zu definieren, in der sich der christliche Glaube in einer bestimmten Gesellschaftsform ausdrücken muß. Sie sind nicht für alle Zeiten bindend; vielmehr handelt es sich um provisorische Definitionen für den Typus eines christlichen Verhaltens zu einer bestimmten Zeit, unter bestimmten Umständen" (vgl. Visser't Hooft/Oldham 210). Unübersehbar ist dieser Entwurf in den Ideen des Christian Realism verwurzelt. Die Konzeption der mittleren Axiome sollte zweierlei vermeiden: Zum einen den naiven Utopismus der Social-Gospel-bewegung, die davon ausging, christliche Prinzipien direkt in ein spezifisches politisches Programm umzusetzen; zum anderen den Pessimismus der Kommunitaristen, die die Anwendbarkeit der Ethik des Evangeliums allein auf den Kreis der Gläubigen für möglich hielten. Temples sechs Grundsätze einer Regierungsführung sind (s.o. 2.3.),
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auch w e n n der T e r m i n u s „ m i t t l e r e A x i o m e " nicht fällt, ein Beispiel für seine Anwendung. Andere Beispiele finden sich bei B e n n e t t , der die Konzeption der mittleren A x i o m e a m gründlichsten durchdacht und fortentwickelt hat. Bennett applizierte dieses S c h e m a auf Problemfelder wie die Verhinderung des N u k l e a r k r i e g e s , die Rassenintegration in Schulen und die Selbstverwaltung von V ö l k e r n unter F r e m d h e r r s c h a f t (vgl. Bennett, Citizen 4 0 - 4 2 ) . W i e diese Handlungsziele unter den jeweiligen Z e i t u m s t ä n d e n in die T a t umgesetzt würden, k ö n n e von christlichen Sozialethikern nicht beschrieben werden, denn das sei Sache der Politik. D o c h schon die Formulierung der mittleren A x i o m e bedinge Konsultationen und idealerweise einen informierten Konsens. G e r a d e Bennett plädierte explizit dafür, d a ß Christen und Nichtchristen in der Formulierung mittlerer A x i o m e bemüht sein sollten, sich über menschliche und realisierbare Werte und Ziele einig zu werden. Dabei gehe die christliche Liebe über derartige in Übereinstimmung gefundene menschliche N o r m e n hinaus, o h n e diese jedoch zu beseitigen - ein A r g u m e n t , mit dem Bennett im R a h m e n einer N a turrechtsethik verbleibt. Eine der jüngsten Verteidigungen der Konzeption mittlerer A x i o m e s t a m m t aus Prestons Feder (vgl. C h u r c h 1 4 1 - 1 5 6 ) . Er w a n d t e sich gegen die Kritik Forresters (vgl. Beliefs 1 6 - 3 5 ) , der behauptet hatte, d a ß sich christliche Sozialethik nicht auf das begrenzen lasse, was für die M e h r h e i t vernünftiger M e n s c h e n akzeptabel sei, denn dann bliebe kein R a u m für christliche Prophetie. D o c h der Z u s t a n d der der Sünde verfallenen Welt sei derart, d a ß sich christliche E t h i k von Zeit zu Zeit spezifischen P r o b l e m e n zuwenden, manifeste Übel entlarven und eine bestimmte Politik fordern müsse. Preston sieht die Berechtigung einer solchen Position nur für ethische Grenzsituationen gegeben; dazu gehören Faschismus und Apartheid. E r geht jedoch davon aus, d a ß „wir meistens nicht in Grenzsituationen leben, und ohne sie behält die M e t h o d e der mittleren A x i o m e ihre Ber e c h t i g u n g " (vgl. Preston 156). Diese Auseinandersetzung veranschaulicht die Dissonanzen, die die E n t w i c k l u n g der ö k u m e n i s c h e n Sozialethik bisher begleitet haben.
6. Internationale
Ethik
6.1. Die katholische und die ökumenische Sozialethik sind ihrem Wesen nach internationale Ethiken, wie sich sowohl den päpstlichen Sozialenzykliken als auch den Stellungnahmen des Ökumenischen Rats der Kirchen entnehmen läßt. So schließt die Pastoralkonstitution des II. Vatikanischen Konzils Gaudium et Spes mit einem Abschnitt über „Die Förderung des Friedens und den Aufbau der Völkergemeinschaft". Dieses Schlußkapitel fordert die Christen auf, „mit allen Menschen zusammenzuarbeiten, um untereinander in Gerechtigkeit und Liebe den Frieden zu festigen und all das bereitzustellen, was dem Frieden dient" (§ 77: Rahner/Vorgrimler [s.o. 3.2.] 536). Im letzten Absatz geht es um die Stärkung internationaler Institutionen, die sich für Nahrung, Gesundheit, Erziehung und Arbeitsbeschaffung einsetzen: „Die Kirche freut sich über den Geist wahrer Brüderlichkeit zwischen Christen und Nichtchristen, der auf allen diesen Gebieten zu immer größeren Anstrengungen drängt, um die ungeheure Not zu lindern" (§ 84). Überdies plädiert das Konzil für eine internationale Kooperation in ökonomischen und - wenn auch auf graduell anderem Niveau - in demographischen Fragen. In vergleichbarer Weise sehen auch die katholischen Bischöfe von England und Wales in Solidarität und Subsidiarität Wege der Vermittlung zwischen einzelnen Staaten bzw. für die weitere internationale Gemeinschaft. Das gilt sowohl im Hinblick auf die Europäische Union als auch im Sinne eines weltweiten Allgemeinguts. „Die katholische Kirche hat wiederholt betont, daß eine internationale Wirtschaftsordnung, die einen Großteil der Weltbevölkerung dem permanenten Zustand äußerster Armut überläßt, zutiefst ungerecht ist" (§ 103). Die öffentliche Meinung wird ermutigt, Maßnahmen zur Linderung der internationalen Schuldenkrise zu unterstützen und „das ökologische Allgemeingut" (SS 1 0 6 - 1 0 8 ) zu fördern. Die Besorgnis über weltweite Mißstände hat sich in den Stellungnahmen des Weltkirchenrates in radikaler Weise herausgestellt. Zwar ist der Weltkirchenrat nicht so weit gegangen, die Ablehnung des Kapitalismus und der Marktwirtschaft im Sinne Duchrows zum status confessionis zu erklären. Doch seit der Generalversammlung von Nairobi 1975 ist der Ruf - sei es in Form mitreißender Verurteilungen und Polemik, sei es mit manchmal recht vagen Empfehlungen - nach einer neuen internationalen politischen
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und wirtschaftlichen O r d n u n g nicht mehr verstummt. Eine geradezu feindselige Haltung w u r d e gegenüber internationalen Unternehmen an den Tag gelegt. Einig ist man sich, daß auch derartige „ G l o b a l P l a y e r s " einem C o d e praktischer Ethik unterworfen werden müßten, doch das Bemühen um eine objektive Sicht der Vor- wie Nachteile derartiger Betriebe w a r k a u m zu vernehmen. „ D e r O R K erstellte von 1978 bis 1982 eine Studie zu internationalen Unternehmen, die ihrer Intention nach gegen diese gerichtet war, aber von einigen ausgearbeitet w o r d e n w a r , die nicht den geringsten Einblick in derartige Unternehmen b e s a ß e n " (vgl. Preston, Confusions 36). 6.2. Eines der virulentesten Themen der aktuellen sozialethischen Diskussion ist der -»Nationalismus. Unbestritten ist, daß das Christentum in der Vergangenheit oft dazu beigetragen hat, Nationalismus anzuregen und zu verschärfen. In Polen hat sich kirchlich-nationales Engagement in teilweise positiven, in Irland in ambivalenten und in Serbien in verheerenden Resultaten niedergeschlagen. Noch deutlicher wird dieses Problem, wenn man mit A. Hastings die Ursachen des Nationalismus über die von den Modernisten propagierten Ansätze des 18. Jh. hinaus ins Mittelalter bzw. in die Renaissance-Zeit in England, Frankreich und Spanien zurückverfolgt. Hastings hat aber auch auf die andere Seite des Christentums verwiesen. Es transzendiere die nationalen Grenzen, was sich schon in der gemeinsamen christlichen Kultur des europäischen Mittelalters niedergeschlagen habe und in der Ökumenischen Bewegung sowie der Römisch-Katholischen Kirche der Gegenwart wiederentdecken lasse (Hastings 1 9 8 - 2 0 9 ) . Offen bleibt die Diskussion über die Bewertung des Nationalismus zwischen denen, die in ihm einen positiven Beitrag der verschiedenen Nationen und Ethnien zur Volkskultur und -identität sehen, und der Gegenseite, die die letztliche Relativität aller Nationalismen im Lichte der eschatologischen Gottesherrschaft in den Vordergrund stellen. Auch hier könnte die Komplementarität des Solidaritäts- und des Subsidiaritätsprinzips eine umfassende Verbindung herstellen. 6.3. Die Entwicklung der Europäischen Union ist ein bemerkenswertes Beispiel dafür, wie die Trennung der Nationen, wenn auch nicht ohne Schwierigkeiten, überwunden werden kann. Gerade vor dem Hintergrund der bitteren Konfliktgeschichte Europas ist das Bemühen um Frieden und Prosperität durch eine wirtschaftliche, und wenn auch erst in Ansätzen verwirklichte, politische Integration von allen zu begrüßen, denen eine internationale christliche Sozialethik ein Anliegen ist. Sozialethische Vorbedingungen, wie eine demokratische Verfassung und die Respektierung der Menschenrechte, müssen für einen Beitritt zur Europäischen Union erfüllt sein. Der MaastrichtVertrag enthält, wenn auch in allgemeineren Ausführungen, ein Sozialkapitel. Als Herausforderung an das Christentum bleibt die Frage nach dem Ort der Kirchen und der christlichen Werte im neuen Europa. 1993 beschäftigte sich ein von der Organisation „Christianity and the Future of Europe" (C.A.F.E.) in Canterbury abgehaltenes Kolloquium mit dieser Thematik. Einerseits wurde herausgestellt, daß das Wertkonzept der Demokratie und der sozialen Gerechtigkeit selbst aus der christlichen Tradition erwachsen sei. Andererseits, gerade auf Grund der fehlenden Einheit der Kirchen und durch die kirchliche Einflußnahme in vergangenen politischen Konflikten, machte sich wenig Hoffnung breit, daß christlicher Einfluß für die Zukunft Europas entscheidend sein dürfte - zumindest solange die Kirchenspaltung bestehen bleibe - oder, um W. Pannenberg zu zitieren: „Um seine christlichen Wurzeln wiederzuentdecken braucht Europa das Wiederentstehen der christlichen Einheit ... Könnte ein wiedervereinigtes Christentum nicht auch demonstrieren, daß es die geschichtlichen Lektionen der Toleranz und die provisorische Natur der menschlichen Erkenntnis über die Wahrheit der Offenbarung gelernt habe? Solch eine Erneuerung einer ökumenischen und deshalb wahrhaften katholischen christlichen Kirche könnte vielleicht schmerzliche Erinnerungen der europäischen Nationen an die vergangenen Leiden und traurigen Konflikte heilen. Sie könnte ein neues Vertrauen in die kulturelle Einheit Europas und die Aussicht und die Vitalität dieser Erneuerung inspirieren" (Christian Values in Europe 44f.). 6.4. Kritiker dieser Vision verweisen darauf, daß in E u r o p a viele nicht-christliche Minderheiten lebten und sich eine w a h r h a f t internationale Ethik auf alle Fälle über E u r o p a hinaus auf den globalen K o n t e x t zu beziehen habe. Frieden und Wohlstand weltweit müßten in mehr als nur in christlichen Werten bzw. in einer weiteren Ö k u m e n e als nur der der christlichen Kirchen verwurzelt sein. Es ist gerade dieser Z u s a m m e n h a n g , der H . Küng für ein „Projekt W e l t e t h o s " eintreten läßt, das die Kooperation und Interaktion der Weltreligionen intendiert. Die Verbindung der Suche nach einer Weltethik und der Suche nach Weltfrieden hat bereits R. Weiler (Wien) in seiner Internationalen Ethik thematisiert. Weiler gehörte zu den maßgeblichen
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Denkern der Friedensbewegung, die sich in den letzten Jahren der Sowjetunion bemühte, Brücken zwischen Ost und West zu bauen. Unter mittlerweile veränderten Bedingungen betont Küng - geradezu thetisch - die Notwendigkeit der interreligiösen Kooperation: „Kein Uberleben ohne Weltethos. Kein Weltfrieden ohne Religionsfrieden. Kein Religionsfrieden ohne Religionsdialog" (Küng, Projekt 13). Während der Tagung des Parlaments der Weltreligionen in Chicago 1993 wurde eine von Küng entworfene Weltethik-Erklärung diskutiert und verabschiedet (vgl. Erklärung zum Weltethos). In seiner 1996 abgegebenen Erklärung In Search of Global Ethical Standards würdigte auch der „Interaction Council of former Presidents and Prime Ministers" die Chicagoer Erklärung. Diese Stellungnahmen entfalten natürlich nicht mehr als einen Minimalkonsens für ein gemeinsames Leben auf diesem Planeten, nämlich die humane Behandlung aller Menschen und die Befolgung der -»Goldenen Regel. Auf dieser Grundlage wurden vier weitere Direktiven vom „Interaction Council" befürwortet: (a) die Verpflichtung zu Gewaltfreiheit und Respekt gegenüber dem Leben, (b) die Verpflichtung zu einer gerechten Sozialordnung, (c) die Verpflichtung zu einer Kultur der Toleranz und der Wahrhaftigkeit und (d) die Verpflichtung zu gegenseitigem Respekt und Gleichberechtigung zwischen Mann und Frau. Diese „Menschenpflichten" hinterlassen den Eindruck, sehr allgemeine und grundsätzliche Prinzipien zu sein, die alle schwerfällige Detailarbeit samt ihrer Anwendung geflissentlich übergeht. Eine Weltethik benötigt mehr als nur eine schriftliche Übereinkunft auf Grundprinzipien; sie braucht tatsächlich mehr als nur einen Konsens in zu präzisierenden „mittleren A x i o m e n " , wenn der Weltfrieden und globale Prosperität wirklich gesichert werden sollen. Küng hält einer solchen Kritik entgegen, d a ß schon viel für die weltweite Erziehung der Menschheit erreicht w o r d e n sei, wenn eine weltweite Z u s t i m m u n g zumindest auf dieser grundsätzlichen Basis erreicht werden könne - wie sie sich auch in der Genfer Konvention, der Menschenrechtsdeklaration der Vereinten N a t i o n e n und der Schlußakte von Helsinki aus dem J a h r 1 9 7 5 wiederfindet. In den 1 9 9 0 e r J a h r e n ist zudem das Interesse und Verlangen nach einer Weltethik sowohl im Bereich der Friedens- als auch der Wirtschaftsforschung unübersehbar. 6.5. Die heutige Sozialethik läßt sich g r o b in zwei H a u p t s t r ä n g e teilen: Z u m einen gibt es Kommunitaristen wie z. B. Yoder, H a u e r w a s und Milbank, die die Ansicht vertreten, das Gottesreich des Friedens gewinne allein in einer abgegrenzten Gemeinschaft R a u m , die in Übereinstimmung mit ihrer eigenen Geschichte lebt und weiterreichenden Einfluß nur durch beispielhaftes Leben ausübt. Auf der anderen Seite stehen die Vertreter einer globalen Ethik, wie z. B. Küng, die einen Grundkonsens bzw. gemeinsame Werte zwischen Christentum und anderen Religionen bzw. dem säkularen H u m a n i s m u s suchen, um so eine Übereinstimmung für einen ethischen Bezugsrahmen für weltweites politisches und wirtschaftliches Handeln zu erreichen. Literatur Allgemeines: Martin Honecker, Sozialethik zw. Tradition u. Vernunft, Tübingen 1977. - Ders., Grundriß der Sozialethik, 1995 (GLB). - Walter Kerber, Sozialethik, 1998 (UB 397). - Alexander v. Oeningen, Die Moralstatistik in ihrer Bedeutung f. eine Socialethik, Erlangen 1868 2 1874 3 1882. - Ronald Haydn Preston, The Scene in Christian Social Ethics: ders., Religion and the Persistence of Capitalism (s.u. zu 4.3.) 1 1 3 - 1 3 4 . - Wolfgang Schweitzer, Art. Sozialethik: R G G 3 6 (1962) 1 5 9 - 1 6 7 . - Ernst Troeltsch, Die Soziallehren der Christi. Kirchen u. Gruppen. GS I, Tübingen 1912. - Ders., Die Sozialphil, des Christentums. Vortr., gehalten im Gross-Rats-Saale vor der freien Studentenschaft in Bern, Zürich 1922. - Gibson Winter, Elements for a Social Ethic. Scientific and Ethical Perspectives on Social Process, New York 1966; dt.: Grundlegung einer Ethik der Gesellschaft. Sozialwiss., Ethik u. Gesellschaftspolitik, 1970 (GT.SW 3). - Ernst Wolf, Sozialethik. Theol. Grundfragen, Göttingen 1975 = 3 1988. Zu 2.: Ronald Clements, Poverty and the Kingdom of God: Robert Alexander Stewart Barbour (Hg.), The Kingdom of God and Human Society, Edinburgh 1993, 1 3 - 2 7 . - Charles Harold Dodd, Gospel and Law. The Relation of Faith and Ethics in Early Christianity, New York 1951 = 4 1957 (BLA 1950/3); dt.: Das Gesetz der Freiheit. Glaube u. Gehorsam nach dem Zeugnis des NT, München 1960. - John Finnis, Aquinas. Moral, Political and Legal Theory, Oxford 1998. - Jesus and the Politics of his Day, hg. v. Ernst Bammel/Charles Francis Digby Moule, Cambridge 1984. -
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Sozialgeschichtsschreibung I. Allgemeines II. Biblisch III. Kirchengeschichtlich
S. 531 S. 535
I. Allgemeines 1. Definitionsprobleme ratur S.530) 1.
2. Die Herausbildung des sozialgeschichtlichen Paradigmas
(Lite-
Definitionsprobleme
Die Geschichtsschreibung ( - • Geschichte/Geschichtsschreibung/Geschichtsphilosophie) neigt dazu, Begriffe zu besetzen oder neu zu definieren mit d e m Anspruch auf umfassende Sicherung und D e u t u n g der Vergangenheit. D a s ist psychologisch wie fachimmanent verständlich, weil Historiographie auf Synthese zielt und sich letztlich d e m Ideal einer „histoire totale" verpflichtet weiß, die allein d e m G e w e s e n e n Gerechtigkeit zuteil werden läßt. D o c h ist das Ganze der Geschichte aus prinzipiellen Erwägungen und wegen der Begrenztheit menschlicher Forscherleistungen nicht rekonstruierbar. Gleichwohl macht es einen Unterschied, o b man sich ausdrücklich mit Teil- und Spezialgeschichten begnügt oder d e m Anspruch folgt, ein möglichst vollständiges Bild von der Vergangenheit zu zeichnen. Sozial-, Gesellschaftsund neuerdings Kulturgeschichtsschreibung heißen die Schlüsselworte der letzten drei Jahrzehnte, mit denen weniger die Praxis, w o h l aber die Intention einer gesamtgeschichtlichen Perspektive idealtypisch beschrieben wird. Ihre Vertreter w e n d e n sich dezidiert gegen die bis dahin vor-
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Sozialgeschichtsschreibung I
herrschende politikgeschichtliche Tradition des Faches, der sie Vernachlässigung historischer Strukturen vorwerfen. Solche Kritik bezieht sich in erster Linie auf die letzten beiden Jahrhunderte, während sie auf die Erforschung von Früher Neuzeit und Mittelalter weniger zutrifft, weil hier das für das 19. Jh. signifikante Auseinandertreten von Staat und Gesellschaft nur in Ansätzen auszumachen ist. Die Sozialgeschichtsschreibung nach 1945 beschäftigte sich in erster Linie mit den Auswirkungen des Modernisierungsprozesses auf die Gesellschaft und gestand erst nach der Erweiterung der Sozial- 2ur Gesellschaftsgeschichtsschreibung zu, daß die Festlegung auf die „Sattelzeit" (17701830) angesichts des wesentlich älteren okzidentalen Kulturkreises obsolet geworden sei (Wehler: Sozialgeschichte in Deutschland 1, 41). Der Aufstieg der Sozialgeschichtsschreibung in den letzten Jahrzehnten verdankte sich der Einsicht, „daß die Geschichte nicht in dem aufgeht, was die Menschen wechselseitig intendieren (J. Habermas), daß die Umstände mindestens ebenso die Menschen wie die Menschen die Umstände machen (K. Marx) und daß sich Geschichte nicht zureichend als Zusammenhang von Ereignissen, Entscheidungen, Erfahrungen und Handlungen begreifen läßt" (Kocka: Sozialgeschichte im internationalen Überblick 6). Die ursprüngliche Beschränkung der Sozialgeschichtsschreibung auf die Epochen seit Ende des Ancien Régime ist auch für das Verhältnis von Sozial- und —> Kirchengeschichtsschreibung von großer Bedeutung. Auseinandersetzungen darüber, wem die Kirchengeschichtsschreibung mehr verpflichtet sei: spezifisch theologischen Fragestellungen oder dem gesamten Instrumentarium historisch-kritischer Forschung unter Einbeziehung der Sozialgeschichtsschreibung, entzündeten sich bislang vornehmlich an Themen der Kirchengeschichte des 19. und 20. Jh. Wissenschaftspolitische Schlagworte sind wie allgemeinpolitische stets auch Kampfbegriffe. Tatsächlich wurde die Sozialgeschichtsschreibung seit Anfang der 1960er Jahre in Deutschland zur Bezeichnung für alles, was nicht Politikgeschichte war. Weil man ihr eine „ideologiekritisch-revisionistische Funktion" zuerkannte, fungierte sie innerhalb der in ihrer Mehrheit noch traditionellen methodischen Standards verhafteten historischen Zunft als „Oppositionswissenschaft" vor allem dann, wenn sie über ihre bisherige Rolle als Zweigdisziplin hinaus umfassendere Interpretationsmodelle bereitstellte. Doch höhlt der „polemische" Gebrauch die analytische Kraft jedes Begriffs auf Dauer aus. Auch der Terminus „Sozialgeschichte" wurde, wie Hans Rosenberg schon 1969 rügte, schließlich zum „nebulösen Sammelnamen" für alles, was man innerhalb der westdeutschen Geschichtswissenschaft für „progressiv" und wünschenswert hielt (zit. nach: Sozialgeschichte im internationalen Überblick lf.). Zur Definition dessen, was wir heute unter Sozialgeschichtsschreibung verstehen, ist folgende Unterscheidung von zentraler Bedeutung: Sozialgeschichtsschreibung bedeutet einmal sektorale Wissenschaft und Zweigdisziplin der Geschichtsschreibung, meist im traditionellen Verbund mit der Wirtschaftsgeschichtsschreibung; zum zweiten kann Sozialgeschichtsschreibung als Integrationswissenschaft und Geschichtsschreibung ganzer Gesellschaften unter Einschluß der Faktoren Ökonomie, Kultur und Politik begriffen werden. Im ersten Fall untersucht Sozialgeschichtsschreibung in Abgrenzung von anderen historischen Fächern primär soziale Formationen (gesellschaftliche Gruppen, Institutionen, Familienbeziehungen). Diese werden dann zu größeren epochenbezogenen Prozessen wie Industrialisierung, Urbanisierung und Modernisierung in Beziehung gesetzt. Versteht man dagegen Sozialgeschichtsschreibung als den Versuch, die Geschichte ganzer Gesellschaften mit Hilfe eines auf Synthese zielenden und deshalb Wirtschaft, Politik und Kultur einbeziehenden Modells zu untersuchen, entfällt die Spezialperspektive zugunsten einer alle historischen Fächer bzw. Gesichtspunkte integrierenden Vorgehensweise. Zwei letzte Aspekte seien noch genannt, die für Bedeutungsvielfalt und Ausdifferenzierung des Terminus Sozialgeschichte gerade in der historiographischen Praxis wichtig geworden sind. Häufig faßt man als Gegenstand der Sozialgeschichtsschreibung die „kleinen Leute", die Unterschichten im Gegensatz zu den Herrschaftseliten, die Arbeiter-
Sozialgeschichtsschreibung I
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schaft und nicht das Wirtschaftsbürgertum. In diesem Zusammenhang erhält Sozialgeschichtsschreibung als „Oppositionswissenschaft" einen neuen Akzent. Sie ergreift Partei gegen „die da o b e n " und damit implizit für eine Geschichtsschreibung, die vor allem das Schicksal der Unterprivilegierten erforscht (Proletariat). Weniger scharf, aber letztlich auf verwandter Ebene haben andere Historiker die Sozialgeschichtsschreibung in erster Linie als Ergänzung bzw. Alternative zu einer lediglich an Ereignissen und Akteuren interessierten Geschichtswissenschaft gesehen. Für sie war Sozialgeschichte in Anlehnung an E. -»Brunner im wesentlichen Strukturgeschichte, was Mediävisten und Frühneuzeithistorikern entgegenkam, die ohnehin zwischen Politik, Wirtschaft, Sozialem und Kultur nicht in gleicher Weise unterschieden wie die Neuere und Neueste Geschichte.
2. Die Herausbildung
des sozialgeschichtlichen
Paradigmas
Die Geschichtswissenschaft hat auf die Krise des Historismus erst mit Verspätung reagiert. In den 1920er J a h r e n , als andere geisteswissenschaftliche Disziplinen und auch die T h e o l o g i e von der „antihistoristischen R e v o l u t i o n " (Nowak) erfaßt wurden, schienen Fragen wie die nach der Kriegsschuld Deutschlands und der Revision des Versailler Vertrags wichtiger als selbstkritische Reflexionen über Zielsetzungen und Methoden des eigenen Faches. So dominierte die klassische Politikgeschichtsschreibung auch weiterhin. M i t ihr korrespondierte auf der anderen Seite eine - gerade auch im theologischen Kontext weit verbreitete - exklusive Geschichte der Ideen, die politische, soziale und ö k o n o m i s c h e , überhaupt strukturelle Rahmenbedingungen historischer Prozesse weitgehend außer acht ließ. Erst nach dem Zweiten Weltkrieg änderte sich dieses Bild. Der Einfluß der nordamerikanischen Soziologie und ihr Rekurs auf den sozialen Wandel wirkten auf die deutsche Geschichtswissenschaft ebenso zurück wie die französische Schule der Annales, die mit neuartig-quantitativen Methoden bisher kaum beachtete serielle Quellen erschloß. Wichtiger als diese Impulse dürften jedoch innovative Überlegungen einer Minderheit jüngerer deutschsprachiger Historiker gewesen sein, die seit dem Ausgang der 1920er Jahre in engem Kontakt mit der Soziologie neue Fragestellungen und damit korrespondierende, ebenfalls quantitative Quellen berücksichtigende Interpretationsverfahren entwickelten (Schulze 294ff. gegen Oberkrome 228f.). Die sog. Volksgeschichte entstand offenbar nicht in Abhängigkeit von der wegen methodischer Mängel heftig umstrittenen integrativen Kulturgeschichte, wie sie der Leipziger Historiker Karl Lamprecht (s.u. III.) seit 1891 vorgestellt hatte, sondern unter dem Eindruck des Ersten Weltkriegs und der territorialen Neuordnung Europas auf Kosten der Mittelmächte. Das „Grenz- und Auslandsdeutscht u m " sollte historisch aufgearbeitet und seine Selbstbehauptung in fremder Umgebung gestützt werden. Zu den neuen Gegenständen der „Volksgeschichte" gehörten u.a. Familien- bzw. Sippenverbände, Brauchtum, Lebensweisen, Volkskultur und Alltag. Auf diese Weise wurde „ V o l k " zum inhaltlich zwar oszillierenden, wissenschaftspolitisch aber willkommenen Begriff, der die Dichotomie von Staat und Gesellschaft zu einer Zeit wissenschaftlich überwinden sollte, in der die Volksgemeinschaft als Bestandteil der nationalsozialistischen Ideologie bereits politische Wirklichkeit geworden schien. Problematisch an dieser Konzentration auf den Volksbegriff war die Ausblendung von konfliktträchtigen Kategorien wie „Interessen" oder „ K l a s s e n " , die höchstens in der Auseinandersetzung zwischen unterschiedlichen Völkern eine Rolle spielten, aber zugunsten eines harmonisierenden Gesamtbildes sonst nicht thematisiert wurden. Z u den besonderen Kennzeichen der „Volksgeschichte" gehörte ihre Interdisziplinarität. Hier arbeiteten Historiker, Bevölkerungswissenschaftler, Geographen, Volkskundler, Ethnologen und Soziologen eng zusammen; letztere prägten in den 1930er Jahren dann die „Deutsche Soziologie" aus, die der „Volksgeschichte" in vielem ähnelte. Z u den Leistungen der „Volksgeschichte" zählte die Öffnung der Untersuchungsperspektive für kollektive Identitäten und die Schaffung bzw. Verfeinerung des dafür notwendigen Instrumentariums. Der Blick richtete sich nicht mehr allein auf die Handlungseliten,
530
Sozialgeschichtsschreibung I
sondern genauso auf das „einfache Volk" und seine alltäglichen Schicksale. Dazu wurde der Heimatbegriff fern seiner romantisierenden Verklärung in wissenschaftlicher Hinsicht diskursfähig, und schließlich förderte die „Volksgeschichte" das wachsende Verständnis für die Macht der Verhältnisse. Gleichwohl haben die Betonung der Höherwertigkeit des eigenen Ethnos, die Bindung an Vorgaben völkischen Denkens und ihre willig geleisteten Dienste für die Raumordnungspolitik des Nationalsozialismus im Osten die „Volksgeschichte" nach 1945 als Begriff diskreditiert, nicht jedoch einen Teil ihrer Methoden und Fragen. Wenn in neueren Untersuchungen über die Wurzeln der Sozialgeschichtsschreibung darauf hingewiesen wird, daß die Rezeption M. -»Webers und die Anregungen des Historischen Materialismus sowie die angloamerikanischen Theorien des sozialen Wandels für die deutsche Sozialgeschichtsschreibung nach 1945 bedeutsamer gewesen seien als die Einflüsse der „Volksgeschichte", leuchtet das zunächst ein. Andererseits läßt sich dagegen einwenden, daß die Begründer der sozialgeschichtlichen Schule nach dem Krieg sich darauf berufen konnten, 1945 habe keinen Neuanfang, sondern die Fortsetzung eines bewährten Forschungskonzepts markiert (Conze, Weg 78). Selbst erklärte Gegner des Nationalsozialismus wie G. Ritter, die eher politikgeschichtlichen Ansätzen verbunden blieben, äußerten sich in der frühen Nachkriegszeit positiv über das innovative Potential der „Volksgeschichte"(Ritter 133), das auch den Modernisierungsleistungen des Nationalsozialismus zugerechnet wird (Schulze 300). Um dem facettenreichen Begriff der Sozialgeschichtsschreibung, die in den 1950er und 1960er Jahren vielfach mit „Strukturgeschichtsschreibung" gleichgesetzt wurde und zwischen den Bedeutungen einer Sektoralwissenschaft und einer umfassenderen Integrationswissenschaft schwankt, diese Unschärfe zu nehmen, hat sich vielfach der Terminus „Gesellschaftsgeschichtsschreibung" durchgesetzt. Auch rückte die sozialgeschichtliche Forschung seit Ende der 1970er Jahre von der Annahme wieder ab, „daß sozialökonomischen Prozessen und Strukturen ein ,Plus' an historischer Wirkungsmacht im Vergleich mit anderen Potenzen zugebilligt werden dürfe" (Wehler: Sozialgeschichte in Deutschland I, 38). Die von Wehler proklamierten drei gleichberechtigten und kontinuierlich durchlaufenden Dimensionen von Gesellschaft, nämlich „Herrschaft, Wirtschaft und Kultur", gelten seitdem als nicht hierarchisierbare, untrennbare und sich vielfach überschneidende Grundkategorien der Gesellschaftsgeschichte (Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte I, 7). Erst mit ihnen, die durch zahlreiche „Achsen" und „Dimensionen" weiter ausdifferenziert werden können, schien die Integration der unterschiedlichen historischen Zugriffe gelungen - vor allem aber ihre Parität gewahrt. Gleichwohl ist in den letzten Jahren die Kritik nicht verstummt, daß die zur Gesellschaftsgeschichtsschreibung erweiterte Sozialgeschichtsschreibung den selbstgesetzten Anspruch nicht eingelöst habe, auch dem kulturellen Sektor ein seiner Bedeutung angemessenes Eigenrecht neben Ökonomie und Herrschaft zu geben. Kultur werde bisher lediglich unter ihren institutionellen Rahmenbedingungen betrachtet. Den Stellenwert von Mentalitäten in der Geschichte, von Erinnerungskultur, Wertideen, Mythen, Sprache, Riten, Symbolen etc. betont im Rahmen konkreter Handlungsorientierungen von einzelnen wie Gruppen dagegen die neue „Synthese" einer umfassend verstandenen Kulturgeschichtsschreibung. Da sie auch das Feld des Religiösen ausdrücklich in den Blick nimmt, könnte dieser Ansatz auch für die Kirchen- und Christentumsgeschichte in Zukunft bedeutungsvoll werden. Literatur Werner Conze, Die Stellung der Sozialgesch, in Forschung u. Unterricht: G W U 3 (1952) 6 4 8 - 6 5 7 . - Ders., Strukturgesch. des technisch-industriellen Zeitalters als Aufgabe f. Forschung u. Unterricht, Köln 1957. - Ders., Art. Sozialgesch.: R G G 3 6 (1962) 1 6 9 - 1 7 4 . - Ders., Mein Weg zur Sozialgesch, nach 1945: Christoph Schneider (Hg.), Forschung in der B R D . Beispiele, Kritik, Vorschläge, Weinheim 1983, 7 3 - 8 1 . - Ute Daniel, ,Kultur' u. Gesellschaft'. Überlegungen zum Gegenstandsbereich der Sozialgesch.: GeGe 19 (1993) 6 9 - 9 9 . - Gesch. zw. Kultur u. Gesellschaft. Beitr. zur Theoriedebatte, hg. v. T h o m a s M e r g e l / T h o m a s Welskopp, München 1997. - Jürgen Kocka, Geschichtswiss.
S o z i a l g e s c h i c h t s s c h r e i b u n g II
531
u. Sozialwiss. Wandlungen ihres Verhältnisses in Deutschland seit den 1930er J a h r e n : Konrad H . J a r a u s c h / J ö r n R ü s e n / H a n s Schleier (Hg.), Geschichtswiss. vor 2 0 0 0 . Perspektiven der H i s t o r i o graphiegesch., G e s c h i c h t s t h e o r i e , Sozial- u. Kulturgesch. FS G e o r g G . Iggers, H a g e n 1 9 9 1 , 3 4 5 - 3 5 9 . - F r a n k - M i c h a e l K u h l e m a n n , D i e neue Kulturgesch. u. die kirchl. Archive (erscheint in: Aus ev. Archiven 4 0 [2000]). - Kulturgesch. heute, hg. v. Wolfgang H a r d t w i g / H a n s - U l r i c h Wehler, 1996 ( G e G e , S o n d e r h . 16). - M o d e r n e dt. Sozialgesch., hg. v. Hans-Ulrich Wehler, Köln 1966 5 1 9 7 6 . J o s e f M o o s e r , Art. W i r t s c h a f t s - u. Sozialgesch., Hist. Sozialwiss., Gesellschaftsgesch.: R i c h a r d van Dülmen (Hg.), Fischer L e x i k o n G e s c h . , Frankfurt a . M . 1990, 8 6 - 1 0 1 . - T h o m a s Nipperdey, Kulturgesch., Sozialgesch., hist. Anthropologie: V S W G 5 5 (1968) 1 4 5 - 1 6 4 . - Kurt N o w a k , Die ,antihistoristische R e v o l u t i o n ' . S y m p t o m e u. Folgen der Krise hist. Weltorientierung nach dem Ersten Weltkrieg: H o r s t R e n z / F r i e d r i c h W i l h e l m G r a f (Hg.), Umstrittene M o d e r n e . Die Z u k u n f t der N e u zeit im Urteil der E p o c h e Ernst T r o e l t s c h s , G ü t e r s l o h 1987, 1 3 3 - 1 7 1 . - D e r s . , W i e theol. ist die K G ? Über die Verbindung u. die Differenz v. Kirchengeschichtsschreibung u. T h e o l . : T h L Z 122 (1997) 3 - 1 2 . - Willi O b e r k r o m e , Volksgesch. M e t h o d i s c h e Innovation u. völkische Ideologisierung in der dt. Geschichtswiss. 1 9 1 8 - 1 9 4 5 , 1993 ( K S G W 101). - Otthein R a m m s t e d t , D t . Soziologie 1 9 3 3 - 1 9 4 5 . Die N o r m a l i t ä t einer Anpassung, Frankfurt a . M . 1986. - G e r h a r d Ritter, D t . G e schichtswiss. im 2 0 . J h . : G W U 1 (1950) 8 1 - 9 6 . 1 2 9 - 1 3 7 . - W i n f r i e d Schulze, D t . Geschichtswiss. nach 1945, 1989 ( H Z . B N F 10). - Volker Sellin, Art. Sozialgesch.: E K L 3 4 (1996) 3 4 5 - 3 4 9 . - G e o r g Simmel, Die P r o b l e m e der Geschichtsphil., Leipzig 1892 M ü n c h e n 5 1 9 2 3 . - Sozialgesch., Alltagsgesch., M i k r o - H i s t o r i e . Eine Diskussion, hg. v. Winfried Schulze, 1994 ( K V R 1569). - Sozialgesch, im int. U b e r b l i c k . Ergebnisse u. Tendenzen der Forschung, hg. v. Jürgen K o c k a , D a r m s t a d t 1989. - Sozialgesch, in D e u t s c h l a n d . Entwicklungen u. Perspektiven im int. Z u s a m m e n h a n g , hg. v. Wolfgang Schieder/Volker Sellin, 4 B d e . , 1 9 8 6 - 1 9 8 7 ( K V R 1 5 1 7 . 1 5 1 8 . 1 5 2 3 . 1 5 3 1 ) . - Wege zu einer neuen Kulturgesch. M i t Beitr. v. R u d o l f Vierhaus u. R o g e r C h a r t i e r , Göttingen 1995. - Hans-Ulrich Wehler, Sozialgesch. u. Gesellschaftsgesch.: Sozialgesch, in Deutschland (s.o.) I, 3 3 - 5 2 . - Ders., D t . Gesellschaftsgesch. I. V o m Feudalismus des Alten Reiches bis zur Defensiven Modernisierung der R e f o r m ä r a 1 7 0 0 - 1 8 1 5 , M ü n c h e n 1987 = 3 1 9 9 6 . - Ders., Bibliogr. zur neueren d: Sozialgesch., M ü n c h e n 1993. - T h o m a s W e l s k o p p , Die Sozialgesch, der V ä t e r . Grenzen u. Perspektiven der Hist. Sozialwiss.: G e G e 2 4 (1998) 1 7 3 - 1 9 8 . Jochen-Christoph Kaiser II. B i b l i s c h 1. Definition und (kurze) Forschungsgeschichte 2. Perspektiven und M e t h o d e n 3. Einige Erkenntnisse und Ergebnisse für das N e u e T e s t a m e n t 4. Einige T h e m e n und T h e s e n der Sozialgeschichtsschreibung des Alten T e s t a m e n t s (Literatur S. 5 3 4 ) 1. Definition
und
(kurze)
Forschungsgeschichte
Biblische Sozialgeschichtsschreibung analysiert die sozialen u n d kulturellen D i m e n s i o n e n b i b l i s c h e r T e x t e i m g e s e l l s c h a f t l i c h e n K o n t e x t i h r e r E n t s t e h u n g . Sie g r e i f t a u f Theorien und Modelle der -»SozialWissenschaften D i e E n d e d e s 1 9 . J h . s i c h e n t w i c k e l n d e ältere
zurück.
S o z i a l g e s c h i c h t s s c h r e i b u n g v e r l o r in-
f o l g e d e s S i e g e s z u g e s d e r - » D i a l e k t i s c h e n T h e o l o g i e z u n ä c h s t a n B e d e u t u n g . E r s t in d e n 7 0 e r J a h r e n d e s 2 0 . J h . k o n n t e sie s i c h in d e r B i b e l w i s s e n s c h a f t e t a b l i e r e n . F ü r d i e N e u e n t d e c k u n g der biblischen R e a l i e n spielten u.a. die Ö f f n u n g für die z u n e h m e n d e B e d e u t u n g der Sozialwissenschaften, die w a c h s e n d e n E r k e n n t n i s s e über die antiken G e sellschaften, a b e r auch befreiungstheologische und gesellschaftspolitische H e r a u s f o r d e rungen eine R o l l e . U n t e r d e n a n f a n g s vielfältigen A n s ä t z e n setzten sich die „ S o z i o l o g i e " und die „ S o z i a l g e s c h i c h t e " des Alten und N e u e n T e s t a m e n t s d u r c h . Beide T y p e n sind d u r c h die E i n b e z i e h u n g sozialwissenschaftlicher T h e o r i e n und M o d e l l e (aus Soziologie und Sozialpsychologie, A n t h r o p o l o g i e [ - » M e n s c h ] , Ö k o n o m i e und politischer Wissenschaft) weiterentwickelt und einander angeglichen w o r d e n . D e r englische social-scientific
criticism
egese a n d e r E n t w i c k l u n g d e r s o z i a l w i s s e n s c h a f t l i c h e n B i b e l k r i t i k 2. Perspektiven
und
Oberbegriff
m a c h t a u f die h e r a u s r a g e n d e Beteiligung a m e r i k a n i s c h e r
Ex-
aufmerksam.
Methoden
Die m o d e r n e biblische Sozialgeschichtsschreibung vollzieht g e g e n ü b e r der historischp h i l o l o g i s c h e n B i b e l k r i t i k e i n e n P a r a d i g m e n w e c h s e l , i n s o f e r n sie s i c h ( m e h r o d e r m i n d e r
532
Sozialgeschichtsschreibung II
explizit) im Kontext der Sozialwissenschaften versteht. Sie bleibt allerdings historisch orientiert, da ihr Gegenstandsbereich die Beziehung zwischen der biblischen Literatur und den antiken Gesellschaften der mediterranen Welt bzw. des Alten Orients ist. Zwei prinzipielle Perspektiven lassen sich unterscheiden: eine sozial-historische, die nach den äußeren Lebensbedingungen (Politik, Ökonomie, soziale Organisation, Schichtung und Institutionen) der antiken Gesellschaften fragt, und eine (sozial- oder kultur-)anthropologische, die innere Einstellungen, Werte und Verhaltensweisen der antiken Kultur(en) in ihrem sozialen Kontext analysiert und dafür auch die biblischen Texte auswertet. Ursprünglich favorisierte Methoden und Modelle M . -> Webers (Charisma, Sekte, Idealtypen) oder auch Emile Dürkheims (1858-1917) (bes. für das Alte Testament) werden durch moderne Soziologie (z. B. Devianzsoziologie, Wissenssoziologie) und Anthropologie ergänzt und, u.a. verbunden mit sozialpsychologischen Untersuchungen (etwa zum „Millenarismus"), für die Interpretation biblischer Texte fruchtbar gemacht. Z u r Bestimmung der antiken Gesellschaftsformen und ihres sozialen Schichtaufbaus (Stratifikation, Status) wird auf makrosoziologische Theorien, für die Analyse der antiken Wirtschaft u.a. auf wirtschafts-anthropologische Studien zurückgegriffen. Die anthropologische bzw. ethnologische Forschung, die zunächst für das Alte Testament herangezogen wurde (etwa hinsichtlich der tribalen Ursprünge Israels und seiner Staatswerdung, der Opferpraxis, des Reinheit-Unreinheit-Systems), gewinnt zunehmend auch für das Neue Testament an Bedeutung (z. B. für dessen Partizipation an der mediterranen Wertewelt, der kulturell bedingten sozialen Bedeutung der Geschlechtertrennung, der sozialen Bedeutung von Mahlzeiten). Die verstärkte Einbeziehung ritologischer Forschung (Passageriten, Liminalität) und die Anwendung des genealogischen Ansatzes von Michel Foucault (1926—1984) (Sexualität, Macht und Körper) kennzeichnen eine sich gegenwärtig methodisch weiter ausdifferenzierende biblische Sozialgeschichtsschreibung. 3. Einige Erkenntnisse
und Ergebnisse für das Neue
Testament
Aus der Fülle der diskutierten Themen und erzielten Ergebnisse werden hier nur einige Erkenntnisse genannt. 3.1. Grundsätzliches
zum Urchristentum
im Kontext
der mediterranen
Welt
Das Neue Testament legt eine Unterscheidung in die Jesus nachfolgenden Gruppen in Israel selbst (genuine Jesusbewegung, Gruppen von wandernden Jesusanhängern und -anhängerinnen nach -»Ostern, ortsstabile messianische Gemeinden) und christusgläubige Gemeinden in Urbanen Zentren des römischen Reichs außerhalb von Palästina nahe. Alle Gruppen des Urchristentums gehören zur mediterranen Welt, einem geographischen Raum rund um das Mittelmeer, der durch eine charakteristische Gesellschaftsform geprägt war, die vergleichbare politische, ökonomische und soziale Institutionen bzw. eine (in Grenzen variable) gemeinsame Kultur besaß. Der spezifische Typ der mediterranen Gesellschaften wird meistens als „hochentwickelte Agrargesellschaft" bestimmt. Die Wirtschaft war „eingebettet" in soziale und politische Institutionen. Der soziale Aufbau dieser Gesellschaften läßt sich in einem Zwei-Schichten-Modell (Elite, Masse) abbilden, wobei sowohl Ober- wie auch vor allem Unterschicht in sich noch einmal differenziert sind. Die Grenzen zwischen arm und reich verlaufen im wesentlichen entlang der Schichtzugehörigkeit. Es gab aber auch Reiche ohne politische Macht oder Sklaven, die trotz ihres inferioren Status als retainer (Vasallen) der Oberschicht unter Umständen hohen politischen Einfluß besaßen (Statusinkonsistenz). Die große bäuerliche Mehrheit der Bevölkerung (geschätzt: über 90%) lebte auf und vom Land und machte mit der Masse der Stadtbevölkerung die Unterschicht aus, die in relativer (oberhalb des Existenzminimums; nevtjtSQ) oder absoluter - » A r m u t (am Rande oder unterhalb des Existenzminimums; nrco/oi) lebte. Die Städte waren Nucleus der sie umgebenden ländlichen Regionen, Zentren der Konsumtion (nicht der Produktion) und der politischen, ökonomischen, religiösen und intellektuellen Führung.
Sozialgeschichtsschreibung II 3.2.
533
Jesusbewegung
Die um Jesus versammelte Nachfolgegruppe war ein ländliches Phänomen, dessen Entstehung (meistens) im Kontext einer allgemeinen Krisensituation in Israel verstanden wird. Ihre Mitglieder, zu denen von Anfang an auch Frauen gehörten (Mk 15,40f.), rekrutierten sich aus der Unterschicht (-»Jesus war TEKTCOV [Zimmermann, Bauhandwerker], -»Petrus Fischer). Umstritten ist einerseits, ob sie eher nrcoxoi (vgl. Mk 2,23ff.; Lk 6,20ff.; Mt 6,25ff. par.) oder nevrjrEQ waren (der Begriff kommt bezeichnenderweise nicht vor) und ähnlich wie kynische Wanderphilosophen freiwillig (im Zuge eines radikalen Ethos) auf Besitz und Ehe verzichteten („Wanderradikalismus") - so deutet das Lukasevangelium (5,11; 18,28: Aufgabe allen Besitzes; 14,26; 18,29: Verlassen der Ehefrauen); andererseits, ob sie aus einer ökonomisch ausweglosen Lage ihre Arbeit, damit ihre Familien verlassen haben (so Mk 1,18.20; 3,20f.31ff.) und im Zuge ihrer Erwartung des Gottesreiches die heimatlose Existenz (Mt 8,18ff. par.) wählten. Das Verlassen der Familien allein war angesichts der jüdischen, überhaupt mediterranen Hochschätzung familiärer Werte ein gravierender Bruch mit sozialen Konventionen (der sich etwa Mt 10,34ff. par. reflektiert). Die Jesusbewegung wird überwiegend (in Aufnahme und Fortentwicklung von M. Weber) als „charismatische" Bewegung gedeutet, deren Kriterium der „Außeralltäglichkeit" sich u.a. in Wirtschafts- und Familienfremdheit, der Hingabe an den Charismatiker und bestimmten Heilungserfahrungen zeigt. Die Wirtschaftsfremdheit wird durch das mäzenatische Umfeld von ortsstabilen Sympathisanten kompensiert. In seiner charismatischen Heilungspraxis zeigt Jesus eher Züge eines Volksheilers (folk healer) als eines Magiers. Die signifikante Anzahl von Exorzismen könnte auf psychische Rückwirkungen der römischen Fremdherrschaft in der Bevölkerung Palästinas deuten. Die Botschaft der Jesusbewegung (Erwartung der ßamXeia rov deoo [-•Herrschaft Gottes/Reich Gottes]) und ihr positives Verhältnis zu gemeinsamen Grundüberzeugungen des Judentums ( c o m m o n Judaism) bei gleichzeitiger Devianz (der Begriff „Sekte" wird neuerdings problematisiert, s.u. 3.3.) in Einzelfragen kennzeichnen sie als eine innerjüdische Erneuerungsbewegung mit „millenaristischen" (apokalyptischen) Zügen. 3.3. Städtische
Christusgemeinden
Nach der Jerusalemer Urgemeinde entstanden schon früh christusgläubige Gemeinden in Städten außerhalb Palästinas (erstmals in -»Antiochien), schon zur Zeit des —»Paulus bis hin nach -»Rom. Ihre soziale Zusammensetzung zeigt gegenüber der jüdischen Jesusbewegung (auch der Jerusalemer Urgemeinde; Gal 2,10: nrcoxoi) bemerkenswerte Veränderungen. Konsens herrscht darüber, daß die Gemeinden Mitglieder aus allen Gruppen des städtischen Milieus umfaßten (außer der politischen Elite und den absolut Armen; signifikant ist der Anteil von Frauen und Sklaven und von Statusinkonsistenten). Umstritten ist u.a. der soziale Status des Paulus, der einen handwerklichen Beruf ausübte (erKtjvonoiöt; [Zeltmacher]: Act 18,3), aber (wegen Act 22,25 u.ö.: civis Romanus) häufig zur städtischen Elite gerechnet wird. Das soziale Gefälle innerhalb der zu den Christusgemeinden zählenden Unterschichtgruppen war beachtlich und führte auch zu innergemeindlichen Konflikten (exemplarisch: I Kor ll,17ff.). Konflikte ergaben sich (jedenfalls anfangs) auch aus der Tatsache, daß zu den Gemeinden neben Juden auch und vor allem Nichtjuden („Heiden") gehörten, die bald schon zum dominierenden Element wurden. Wegen der grenzziehenden Funktion von Speisevorschriften entluden sich die ethnisch-religiös bedingten Spannungen bei gemeinsamen Mahlzeiten (Gal 2,11 ff.; vgl. auch Speisevorschriften: I Kor 8; Rom 14/15). Nahezu alle urchristlichen Gruppen und Phänomene (soziale Zusammensetzung, innergemeindliche Spannungen, Auseinandersetzungen mit Synagogen und paganer Obrigkeit) wurden zunächst in einem breiten Diskurs mit Hilfe der Typik der Sozialform „Sekte" (M. Weber; E. -»Troeltsch, ergänzt durch moderne Sektensoziologie) interpretiert. Dieses Modell verliert, da es auf alle
534
S o z i a l g e s c h i c h t s s c h r e i b u n g II
urchristlichen G r u p p e n a n g e w e n d e t wird und anachronistisch ist (an P h ä n o m e n e n des christlichen M i t t e l a l t e r s g e w o n n e n ) , an Erklärungsrelevanz. Statt dessen werden soziologische Devianz- und K o n f l i k t t h e o r i e n (für das Verhältnis zu den Synagogen b z w . zur p a g a n e n Welt) h e r a n g e z o g e n . B e s o n d e r e A u f m e r k s a m k e i t wurde der Bedeutung der „ H a u s g e m e i n d e n " g e w i d m e t , denen auch F r a u e n vorstanden (Act 1 6 , 1 4 f f . ; R o m 1 6 , 1 f.; I K o r 1,11), die a u c h F u n k t i o n e n in der M i s s i o n innehatten ( R o m 16,3.7). D a s N e u e T e s t a m e n t zeigt a b e r auch T e n d e n z e n , die gleichberechtigte Partizipation von Frauen an der EKKXr]aia (Gemeinde) zurückzudrängen und einzuschränken (I Kor l l , 2 f f . ; 1 4 , 3 4 f f . ; E p h 5 , 2 2 f f . ; Kol 3 , 1 8 f f . ; I Petr 3,1 ff.).
4. Einige Themen und Thesen der Sozialgeschichtsschreibung
des Alten
Testaments
Aus der Vielfalt a l t t e s t a m e n t l i c h e r Sozialgeschichtsschreibung (ein Überblick über die F o r s c h u n g fehlt) k ö n n e n hier n u r einige T h e m e n und T h e s e n angedeutet werden. Breiten R a u m n e h m e n Studien zur v o r s t a a t l i c h e n Z e i t Israels und seiner Staatswerdung bzw. zu der E n t s t e h u n g des K ö n i g t u m s und d e m W i d e r s t a n d dagegen ein. Entgegen der traditionellen „ i d e a l t y p i s c h e n " C h a r a k t e r i s i e r u n g ( M . Weber) der vorstaatlichen Gesellschaft Israels ( B a u e r n , N o m a d e n , Bürger) wird diese als agrarisch (über 9 0 % B a u e r n , u.a. 5 % V i e h z ü c h t e r , d a r u n t e r N o m a d e n ) b e s t i m m t . D i e F o r m i e r u n g Israels wird u.a. a u f den D r u c k k a n a a n ä i s c h e r S t a d t s t a a t e n a u f die israelitische L a n d b e v ö l k e r u n g zurückgeführt, die sich als egalitäre E i n h e i t e n und El-Verehrer mit den befreiten hebräischen Sklaven Ägyptens v e r b a n d e n , deren J H W H - K u l t zum zentralen Aspekt der israelitischen K o a l i t i o n wurde. G r ö ß e r e n Einfluß g e w a n n der R ü c k g r i f f auf a n t h r o p o l o g i s c h e Studien a f r i k a n i s c h e r S t a m m e s g e s e l l s c h a f t e n und politischer H e r r s c h a f t s s y s t e m e , deren LineageSystem b e m e r k e n s w e r t e Ä h n l i c h k e i t e n zur frühisraelitischen Stammesgesellschaft aufweist und u.a. L i c h t a u f das p r ä m o n a r c h i s c h e R e c h t s s y s t e m Israels ( J o s 7 ; J d c 1 9 - 2 1 ) und die E n t s t e h u n g zentraler H e r r s c h a f t und den W i d e r s t a n d dagegen wirft. F ü r das P h ä n o m e n der - » P r o p h e t e n als Vermittler (intermediary) zwischen der menschlichen und göttlichen Welt werden sozialpsychologische T h e o r i e n und M o d e l l e ( T r a n c e , E k stase) herangezogen und mit der sozialen L o k a l i s i e r u n g der Propheten (ihrem Verhältnis zu den M a c h t i n s t i t u t i o n e n , zentral o d e r peripher) verbunden, die auch für deren soziale F u n k t i o n von Bedeutung ist. Periphere P r o p h e t e n k o m m e n von den gesellschaftlichen R ä n d e r n , zielen a u f gesellschaftlichen W a n d e l , u m etwa U n t e r d r ü c k u n g zu beenden; zentrale P r o p h e t e n stehen den Eliten n a h e , treten eher für langsamen sozialen Wandel ein. D e r Konflikt zwischen w a h r e n und falschen Propheten (etwa J e r 2 7 - 2 9 ) wird nicht nur a u f t h e o l o g i s c h e , sondern a u c h a u f soziale Differenzen (der sozialen Lokalisierung und Unterstützung) zurückgeführt. Literatur
(in Auswahl)
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Sozialgeschichtsschreibung III
535
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Wolfgang Stegemann
III. Kirchengeschichtlich (Literatur S . 5 3 7 )
Kirchengeschichte als Fach an den theologischen Fakultäten hat sich ebenso wie die aus der Nationalökonomie hervorgegangene klassische Wirtschafts- und Sozialgeschichte frühzeitig auch mit sozialen Fragestellungen im Sinne einer Berücksichtigung soziologischer Denkmuster beschäftigt. Das geschah jedoch eher am Rande der Disziplin; denn theologie- und dogmengeschichtliche Themen bildeten hier - ähnlich wie die Politik- und Ideengeschichte bei den Allgemeinhistorikern - die klassischen Forschungsschwerpunkte. Das dürfte - wie bereits angedeutet (s.o. 1.1.) - u.a. damit zu tun gehabt haben, daß Sozialgeschichte ein methodisches wie inhaltliches Feld absteckte, welches sich an den tiefgreifenden gesellschaftlichen Umbrüchen der sog. Moderne orientierte, mithin per defirtitionem als spezifische Zugriffsmöglichkeit auf die Geschichte ab 1789 erschien. Es war die Religionsgeschichtliche Schule, welche die jüdischen wie hellenistischen Wurzeln bzw. Umfeldfaktoren der frühen Christentumsgeschichte Ende des 19. Jh. hervorhob und methodische Forderungen programmatisch anmeldete, die sozialwissenschaftliche und sozialgeschichtliche Kategorien bei der Interpretation der neutestamentlichen und altkirchlichen Quellen berücksichtigt wissen wollte. Dieses Programm brachten ihre Vertreter aber selbst noch nicht stringent zur Durchführung - das geschah in den Bibelwissenschaften erst Jahrzehnte später, zunächst in den USA (Chicago) und später auch in Deutschland, wo sozialgeschichtliche Deutungsraster inzwischen allgemein anerkannt sind (vgl. Kee; Zur Soziologie des Urchristentums; Stegemann/Stegemann; Schöllgen und vor allem Theißen; s.o. II.). Die Kirchengeschichte in engerem Sinne und ihre Fachvertreter entwickelten ein zwiespältiges Verhältnis zur Religionsgeschichtlichen Schule, deren Impulse sie im Grundsatz gleichwohl aufnahmen, wie die Beispiele A. von —»Harnack und A. Jülicher zeigen. Die Kritik letzterer richtete sich primär auf die spekulative Verarbeitung der gewonnenen Ergebnisse und ist auch auf dem Hintergrund der Debatte der 1890er Jahre zu sehen, in der man darüber stritt, ob die theologischen Fakultäten in religionswissenschaftliche Abteilungen umgewandelt werden sollten. Die starke Akzentuierung der historisch-kritischen Methode innerhalb der liberalen Kirchengeschichtsforschung bedeutete den Verzicht auf die Zugrundelegung religiöser Prämissen, die nur als Glaubenszeugnis, nicht als Resultat wissenschaftlicher Bemühungen um das „Wesen" von Christentum und Kirche anerkannt wurden. Dieses Selbstverständnis öffnete die Annäherung an neuartige kirchengeschichtliche Zugangsweisen, die implizit sozialwissenschaftliche Standards mit berücksichtigten. So fanden die - ansonsten heftig umstrittenen - Vorschläge des Leipziger Allgemeinhistorikers Karl Lamprecht (1856-1915) für eine „Kulturgeschichte" als
536
Sozialgeschichtsschreibung III
breite Synthese sozialer, kultureller und ökonomischer Entwicklungen auch unter Kirchenhistorikern Beachtung. Es scheint, als seien einigen von ihnen um die Jahrhundertwende die Defizite der klassisch-historistischen Arbeitsfelder „Theologie- und Ideengeschichte - Institutionenkunde - Biographik" so deutlich geworden, daß sie im Interesse eines breiteren Ansatzes neue Untersuchungsgegenstände erschließen wollten. Die Kritik eines bisher vorherrschenden „aristokratischen Ansatzes" in der Kirchengeschichtsschreibung, d.h. die Konzentration auf religiöses Virtuosentum zu Lasten der Erforschung sozialer, kirchlicher und religiöser „Stimmungen" in breiteren Schichten einer Epoche (Tischhauser IV), traf vereinzelt auf Zustimmung, so bei A. Jülicher, der diesen Gedanken a u f n a h m und eine verstärkte „Demokratisierung" der Kirchengeschichtsschreibung vorschlug. Das Christentum „zweiter und dritter O r d n u n g " müsse künftig stärker in den Blick kommen, weil es oft authentischer über eine Zeit berichte als deren religiöse Wortführer (Jülicher 16ff.). Die vorsichtige Öffnung der Kirchengeschichtsschreibung in Richtung sozialgeschichtlicher Methoden setzte sich in den 1920er Jahren kaum fort. Auch die Ansätze der sog. Volksgeschichte wurden von der engeren Z u n f t der Kirchenhistoriker nicht aufgegriffen - es waren eher theologiegeschichtlich interessierte Systematiker wie E. - • H i r s c h oder P. —•Althaus, die hier indirekt anknüpften und jene Theologie der -•Schöpfungsordnungen und des „Volksnomos" entfalteten, die innerhalb der -»Dialektischen Theologie auf härteste Kritik stieß. Weniger die Geringschätzung der Dialektiker für das kirchengeschichtliche Fach als die Diskreditierung der VolksnomosAuffassungen durch die praktische Kirchenpolitik der Deutschen Christen im Schatten des nationalsozialistischen Systems dürfte nach 1945 mit dazu beigetragen haben, daß sich innerhalb der Kirchengeschichtsschreibung sozialgeschichtliche Methoden vorerst nicht durchsetzen konnten. Auch entwickelte sich in der Kirchengeschichtsschreibung auf Grund des ideologischen Ost-West-Gegensatzes mit der Vorrangstellung des Historischen Materialismus in der D D R und der geringen Aufmerksamkeit, die Strukturund Sozialgeschichte in der BRD christentumsgeschichtlichen Fragen zunächst widmeten, eine gewisse Lager- und Abgrenzungsmentalität gegenüber von außen kommenden methodischen Herausforderungen, die einen fruchtbaren Austausch zunächst bis Anfang der 1970er Jahre verhinderten. Das galt - wie gesagt - weniger für die Epochen von der Patristik bis zum Ende des Alten Reiches als für die Kirchengeschichte der neuesten Zeit. Gleichwohl sollte die relative Offenheit der älteren Kirchengeschichtsschreibung nicht darüber hinwegtäuschen, daß auch hier die Impulse der modernen Sozialgeschichtsschreibung nur zögerlich und nur von einem Teil der Fachvertreter aufgenommen wurden. Seit den 1960er Jahren wird die Anwendung sozialgeschichtlicher Methoden innerhalb der gesamten Kirchengeschichtsschreibung grundsätzlich bejaht. Freilich bestehen unterschiedliche Auffassungen über die Abgrenzung und die Wertigkeit von genuin theologischen und sozialwissenschaftlichen Fragestellungen, die seitens besorgter Kritiker um die Befürchtung kreisen, eine auf Sozialgeschichte fixierte Kirchengeschichtsschreibung könne ihre Identität als theologische Disziplin verlieren. Das tangiert allerdings ganz generell das Problem des Selbstverständnisses von Theologie und Kirchengeschichte im Kontext der Wissenschaften, das hier nicht zu behandeln ist (vgl. dazu u.a. Selge; N o w a k , Kirchengeschichte; —•Kirchengeschichtsschreibung). Als die beiden Pole einmal eines primär theologischen Zugriffs auf Kirchengeschichte der neuesten Zeit und dann einer dem „Pluralismus der Lesarten" (Habermas 118) verpflichteten Methodensynthese unter ausdrücklicher Wahrung des theologischen Anliegens lassen sich die Herausgeber der Zeitschrift Kirchliche Zeitgeschichte und der Reihe Konfession und Gesellschaft bezeichnen, die beide 1988 ihre Arbeit aufgenommen haben. Es könnte freilich sein, daß die - bei gelegentlicher Polemik - letztlich fruchtbaren Auseinandersetzungen um das proprium der Theologie im Schatten sozialwissenschaftlicher und gesellschaftsbezogener Untersuchungsansätze bald von einem neuen Paradig-
S o z i a l g e s c h i c h t s s c h r e i b u n g III m a ü b e r l a g e r t w e r d e n : d e r Kulturgeschichtsschreibung
537
als n e u e r
Orientierungswissen-
schaft auch für Kirchenhistoriker. S c h o n werden theologische Lehrstühle für eine „ K u l turgeschichte des C h r i s t e n t u m s " ausgeschrieben
( E r f u r t 1 9 9 8 / 9 9 ) , u n d in
Übernahme
ä l t e r e r , v e r g e s s e n e r A n s ä t z e d e r K i r c h e n g e s c h i c h t e , w i e sie T i s c h h a u s e r , K a r l
August
von H a s e ( 1 8 0 0 - 1 8 9 0 ) und dessen Nachfolger Friedrich Nippold ( 1 8 3 8 - 1 9 1 8 ) vertraten, plädieren jüngere Historiker dafür, Religions- und Kirchengeschichte heute an neue Kulturgeschichte anzukoppeln Ganz
ohne
Zweifel
sind
diese
(Kuhlemann).
Kirchengeschichtsschreibung
und
Allgemeingeschichts-
s c h r e i b u n g aufs engste m i t e i n a n d e r v e r k n ü p f t . D e s h a l b w i r d sich erstere auch
nicht
m e t h o d i s c h e n I n n o v a t i o n e n u n d F r a g e s t e l l u n g e n v e r s c h l i e ß e n k ö n n e n , w e n n sie a m int e r d i s z i p l i n ä r e n w i s s e n s c h a f t l i c h e n D i s k u r s t e i l n e h m e n m ö c h t e . In w e l c h e r W e i s e t h e o l o g i s c h - c h r i s t e n t u m s g e s c h i c h t l i c h e B e z u g s p u n k t e d a b e i b e t o n t w e r d e n o d e r in d e n H i n t e r g r u n d treten, h ä n g t seit jeher nicht v o m G e g e n s t a n d der K i r c h e n g e s c h i c h t e a b , s o n d e r n v o n den v o r w i s s e n s c h a f t l i c h e n p e r s ö n l i c h e n Ü b e r z e u g u n g e n der M e n s c h e n , die sich m i t ihr beschäftigen. Literatur Urs A l t e r m a t t , Katholizismus u. M o d e r n e . Z u r Sozial- u. Mentalitätsgesch. der Schweizer Katholiken im 19. u. 2 0 . J h . , Z ü r i c h 1989 = "1991. - G e r h a r d Besier, Kirche, Politik u. Gesellschaft im 19. 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Sozialisation
538
1900. - Z u r Soziologie des Urchristentums. Ausgew. Beitr. zum frühchristl. Gemeinschaftsleben in seiner gesellschaftlichen Umwelt, hg. v. Wayne A. Meeks, 1979 (TB 62).
Jochen-Christoph Kaiser Sozialisation 1. Begriff und Aufgabenstellung 2. Forschungsgeschichte und kontroverse 3. Sozialisationstheorien 4. Religiöse Sozialisation (Literatur S . 5 4 1 )
1. Begriff und
Diskussionen
Aufgabenstellung
Sozialisation (zuerst bei Emile Dürkheim [1858-1917] 1907), in den sechziger Jahren zum Modewort avanciert, bezeichnet den Prozeß, in dem der Mensch, in Kompensation seiner Instinktverunsicherung, im „Prozeß der aktiven Auseinandersetzung mit der sozialen und dinglichen Umwelt" „zu einem gesellschaftlich handlungsfähigen Subjekt wird" (Neues Handbuch 3f.). An seiner Erforschung beteiligen sich Soziologie, Psychologie, Ethnologie bzw. Kulturanthropologie. Die Sozialisationsagenturen (Familie einschließlich ihrer Außenbeziehungen, Kindergarten, Schule, Beruf; Medien, Nachbarschaften; organisierte Kinder- oder Jugendgruppen usw.) greifen ineinander. Unterschieden werden primäre und sekundäre Sozialisation (Ciaessens: Soziabilisation und Enkulturation). 2. Forschungsgeschichte
und kontroverse
Diskussionen
2.1. In den 60er Jahren wurde die Frage nach dem Verhältnis von Gesellschaft und Persönlichkeit in der Bundesrepublik Deutschland heftig diskutiert. Angesichts der in der bürgerlichen Gesellschaft ausgeprägten individualistischen Persönlichkeitsstruktur stellt sich die Frage, wie sich das Ichbewußtsein innerhalb der Gesellschaft konstituiert, wobei sich materialistische (die Person als Funktion der Gesellschaft) und idealistische Lösung (das intelligible Ich als autonom vorgegeben; Dahrendorf) gegenüberstehen. Angesichts der Tendenz, Sozialisation als Vergesellschaftung des Menschen zu konzipieren, fragten J. Habermas, L. Krappmann u.a. seit 1968 in ideologiekritischer Betrachtung der herrschenden Begrifflichkeit nach den Bedingungen von Mündigkeit. Die Weiterführung von S. -•Freuds Ansatz zur Ichpsychologie und neue empirische Untersuchungen (vgl. Dornes) erbrachten die Einsicht, daß dem Individuum von vornherein eine Spontaneität des Handelns und der Bedürfnisartikulation eignet, die unter entsprechenden Sozialisationsbedingungen gefördert werden kann (Hoefnagels/Klaassen). Einseitige Anpassungsmodelle wurden damit ausgeschlossen; zur Entwicklung im einzelnen vgl. Dieter Geulen: Neues Handbuch 2 1 - 5 4 . 2.2. Seit Ende der fünfziger Jahre wurde unter der Erkenntnis, daß nicht alles Lernen geplant sei, in der deutschen Pädagogik von Sozialisierung gesprochen (Brezinka; Fend, Sozialisierung) und Erziehung als spezielle Variante von Sozialisation (Kob 9) dieser untergeordnet. Die Frage nach der Dominanz von Anlage (Reifungstheorien) oder Umwelt (Sozialisation) ist durch die Ergebnisse der (Zwillings-)Forschung überholt. 2.3. Die anfängliche Beschränkung von Sozialisation auf die frühe Kindheit (Psychoanalyse; Neurophysiologie; vgl. Vester; Lebenserfahrung: „was Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmermehr") wird durch die Auffassung von einem lebenslangen Prozeß (Brim/Wheeler) ersetzt - letzter „socializer" ist der Tod (Elton B. McNeil [1924-1974]). 3.
Sozialisationstheorien
3.1. Psychologische
Theorien
3.1.1. Der Behaviorismus interpretiert das (soziale) Verhalten des Menschen als Ergebnis von Reiz-Reaktions-Verbindungen (Iwan Petrowitsch Pawlow [1849-1936]; John Broadus Watson [1878-1958]) bzw. als Erfolgs- oder Verstärkungslernen (Burrhus Fre-
Sozialisation
539
deric Skinner [1904-1990]). Das legt die lückenlose Anpassung an die Umwelt nahe (die „intervenierenden Variablen" bei Skinner machen individuelles Verhalten erklärlich). Damit ist die Gewinnung bestimmter sozialer Verhaltensmuster (Gefühlseinstellungen, Werthaltungen, Vorurteile) interpretierbar, aber nicht menschliches Verhalten in seiner Komplexität. Das Modell-Lernen (Albert Bandura [geb. 1925]) verbindet die Verhaltenstheorie mit dem Kognitivismus. 3.1.2. Die —>Psychoanalyse (Freud) geht von der Anpassung der Triebgestalt/des Es an die Gesellschaft/die Kultur aus, wobei sich das Überich bildet. Identifikation mit dem Aggressor (später ergänzt durch die Liebes-Identifikation) gilt als zentraler Lernmodus. Die Ichfunktion bleibt weitgehend ungeklärt. E.H. Erikson entschränkt den Ansatz Freuds auf die weitere soziale Umwelt und den gesamten Lebenslauf hin. Indem er die Gefahr der Identitätsdiffusion, nicht aber die der Identitätserstarrung sieht, kann seine Theorie einseitig gesellschaftsstabilisierend wirken. Die Ichpsychologie (seit Margaret S. Mahler [1897-1985]; Heinz Hartmann [18941970]; Heinz Kohut [1913-1981]) arbeitet die frühen Eigenaktivitäten des Kindes heraus (Dornes). Die Narzißmusforschung (Ziehe; Fend, Sozialgeschichte) unterscheidet zwischen ödipalem und narzißtischem Sozialisationstyp, in denen sich die Interdependenz von Familienstruktur, gesellschaftlich-ökonomischen Lebensbedingungen, dem Erziehungsstil und der werdenden Persönlichkeit spiegelt. 3.1.3. Die kognitivistische Theorie (Jean Piaget [1896-1980]) stellt die Aktivität des Subjektes im Erkenntnisprozeß in den Mittelpunkt. Die Umwelt fungiert lediglich als „Medium der Persönlichkeitsentwicklung", während die soziale Interaktion vernachlässigt wird (Hurrelmann 32). 3.2. Soziologische
bzw. interaktionistische
Theorien
3.2.1. T. Parsons verbindet mit der strukturfunktionalen Systemtheorie Sozialisations- und Gesellschaftstheorie. Er unterscheidet personale, soziale und kulturelle Systeme. Das personale System besteht im Beziehungsmuster von Rollen, das soziale in der Interaktion personaler Systeme. Das Hineinwachsen in die Gesellschaft geschieht durch das Erlernen von Rollen, womit die sozialen Erwartungen und Anforderungen der Umwelt in das eigene Verhaltenspotential systemstabilisierend integriert werden (Hurrelmann 45). 3.2.2. Der symbolische Interaktionismus (George Herbert Mead [1863-1931]) nimmt die Perspektive der Teilnehmer in Alltagsinteraktionen ein. Rollen sind hier nicht (wie bei Parsons) festgelegte Verhaltensmuster, das Ich („I") übernimmt nicht nur seine Rolle („Me", als verinnerlichte Rollenerwartung der Anderen) passiv („role-taking"), sondern gestaltet in der Synthese von beiden („Seif") diese selbst aus („role-making"). Aus der Balance zwischen beiden (Victor Witter Turner [1920-1983]) bzw. der Fähigkeit zur Rollendistanz (Erving Goffman [1922-1982]) ergibt sich die Basis für Autonomie. 3.2.3. Wissenssoziologische Ansätze (Peter L. Berger [geb. 1929]; Thomas Luckmann [geb. 1927]) stellen die Konstruktion der sozialen Wirklichkeit in den Vordergrund: Der instinktverunsicherte Mensch bedarf der Konstruktion einer gesellschaftlich-kulturellen Umwelt. Diese geschieht durch Externalisierung, Objektivation und Internalisierung: Der Mensch entäußert sich selbst, indem er die gesellschaftliche Welt produziert, die sich vergegenständlicht und im Prozeß der Sozialisation ins Bewußtsein zurückgeholt wird. 3.3. Ethnologische
(kulturanthropologische)
Ansätze
Die ökologische Sozialisationsforschung (Urie Bronfenbrenner [geb. 1917]) bildet einen Übergang von Piaget zu den soziologischen Theorien unter Betonung der Wechselbeziehung zwischen Ich und Lebensraum (Hurrelmann 35). Sie untersucht die Vielzahl
Sozialisation
540
der Faktoren in N a h r a u m (Familie) und Umwelt als das Milieu, von dem die Person Besitz ergreift, indem sie es zugleich u m f o r m t . Neuere Forschungen liegen auf dem Gebiet der Lebenslauf-Theorie, der geschlechtsspezifischen Sozialisation, der Gesundheitswissenschaft und anderen Detailbereichen. 4. Religiöse
Sozialisation
-•Religion ist ein gesellschaftliches Phänomen und gehört in ihrer sozialen Gestalt der -»Kultur an. Sie wird sozial vermittelt, ist alltagsweltlich verflochten, korrespondiert mit dem Aufbau der Persönlichkeit. Insofern unterliegt sie (im Gegensatz zum Glauben als Akt) dem Sozialisationsprozeß. Individuelle Religiosität (theologische Entwürfe) bzw. überindividuelle religiöse Systeme (Frömmigkeitsformen, institutionelle Strukturen) sind immer auch beeinflußt durch die jeweiligen Sozialisationsbedingungen. Die -»Praktische Theologie reflektiert den Z u s a m m e n h a n g zwischen Religion, Gesellschaft und Individ u u m ; d a f ü r ist die Kenntnis der Sozialisationsforschung unabdingbar. 4.1. Die
Theorie
Die Theoriebildung ist vom jeweils vorausgesetzten gesellschafts- und religionstheoretischen Ansatz bestimmt. Religion kann substanziell (z. B. als Glaube an G o t t , eine höhere M a c h t usw.) definiert werden, was weithin mit einem Verständnis von religiöser Sozialisation als kirchlich geprägter Rollenübernahme verbunden ist (Vaskovics). Das funktionale Verständnis fragt nach der Bedeutung der Religion für die Gesellschaft oder den einzelnen. G e m ä ß der Integrationstheorie (Dürkheim; Parsons; Robert Neelly Bellah [geb. 1927]) hat Religion die Einheit der Gesellschaft zu garantieren. Das heutige Christentum erscheint d a n n als dysfunktional, indem es die Gesellschaft eher spaltet, während die Konsumhaltung religiöse Klischees produziert, die ihrerseits einigend auf die Gesellschaft wirken (vgl. das N i k o l a u s b r a u c h t u m im Weihnachtsgeschäft der Kaufhäuser), aber dem Selbstverständnis von Religion nicht entsprechen (Stoodt 221 nennt das im Anschluß an T h e o d o r W. A d o r n o [1903-1969] „neutralisierte Religion"). Im Anschluß an die Kompensationstheorie (L. -»Feuerbach; K. - » M a r x ) wird der Religion die Aufgabe von Kontingenzbewältigung (Berger; Luckmann; L u h m a n n u.a.) zugeschrieben: Sie hat die Brüchigkeit des Alltags zu deuten und zu bearbeiten: In kommunikativem H a n d e l n werden -»Symbole vermittelt, die die transzendentalen Voraussetzungen des Handelns vergegenwärtigen (vgl. die E r w ä h n u n g Gottes in der Präambel des Grundgesetzes oder das Gebet im Z u s a m m e n h a n g des Abendrituals zwischen M u t t e r und Kind). Religiöse Sozialisation ist in diesem Sinn ein Aspekt der Enkulturation. Alltagsriten der Frömmigkeit (Abendgebet, Kirchenbesuch), Jahreskreis-Gestaltung, Brauchtum, —»Kasualien als Übergangsrituale sind Formen, in deren Praktizierung sinnstiftende Elemente sozialisiert werden. Die Säkularisierungstheorie (M. -»Weber; -»Säkularisierung), die von der fortschreitenden Entsakralisierung der Welt ausgeht, gilt heute als widerlegt: N u r die Form der Religion hat sich gewandelt; ein Sozialisationsdefizit der Familie ist nur auf kirchensoziologischem Hintergrund plausibel - auch moderne Formen von Religiosität sind Produkt einer spezifischen Sozialisation. Hier ist vom neuen, narzißtischen Sozialisationstyp (Ziehe; Fend, Sozialgeschichte; Heimbrock) zu sprechen, der möglicherweise andere Religionsformen als die theistische nahelegt. Die Ichtheorie (Arndt) fragt nach der (hemmenden oder fördernden) Bedeutung der religiösen Sozialisation f ü r die Entwicklung eines gesunden Ichbewußtseins des einzelnen. Intrinsische Religiosität bewirkt konfliktfähige Selbstidentität und stabilisiert gegen Depressionen, w ä h r e n d extrinsische, d.h. nur äußerlich angeeignete, eher Persönlichkeitsstörungen nach sich zieht (Dörr). Der funktionale Religionsbegriff e n t n i m m t seine Kriterien einem der Religion fremden Z u s a m m e n h a n g ; die der Religion eigentümliche Wahrheitsfrage bleibt unreflektiert.
Sozialisation
541
Die Theorie des neuzeitlichen Christentums (Trutz Rendtorff [geb. 1931]) bzw. die Differenzierung in kirchliches, gesellschaftliches und privates Christentum (Rössler) vermag beide Ansätze zu verbinden (vgl. Bergers Begriff des „heiligen Kosmos"). Die spezifische Theoriebildung zur religiösen Sozialisation spiegelt die Unterschiedlichkeit der sozialisationstheoretischen Ansätze (vgl. Morgenthaler; Bukow). 4.2. Die
Praxis
Sozialisation geschieht in sozialen Beziehungen durch gemeinsames Handeln (Mitvollzug, Partizipation). Im kirchlichen Sinn fällt den sekundären Sozialisationsinstanzen heute vielfach die Aufgabe der Alphabetisierung zu: Elemente der christlichen Tradition, nicht mehr selbstverständlich im (familiären) Alltag integriert, müssen nachträglich eingeführt werden. Im funktionalen Sinn sind die Sinn- und Wertvorstellungen bzw. die Kontingenzbewältigungsmuster, die faktisch in Geltung stehen, und die entsprechenden Sozial isationspraktiken zu erforschen. Im vermittelnden Sinn ist nach den Wirkungen der christlichen Tradition über den direkten kirchlichen Wirkungsbereich hinaus zu fragen. Der Aufbau gewünschter (aber auch ungewünschter) kulturspezifischer Verhaltensdispositionen verläuft über drei Komponenten, die pragmatische, die affektive und die kognitive (Oerter). Die erste folgt dem Prinzip des „learning by doing" (Ritualisierungen, Gewöhnungen), die zweite geht davon aus, daß alle Handlungs- bzw. Begriffselemente affektiv durch Lust oder Unlust assoziativ besetzt sind; mit der entsprechenden Gefühlsnuance werden Werthaltungen vorrational vermittelt. Die dritte verweist auf die Zwangsläufigkeit kognitiver Verarbeitung, die zur Begründung und Systematisierung, zur kritischen Reflexion, aber auch zur nachträglichen Rechtfertigung des angeeigneten Verhaltens eingesetzt wird (vgl. Leon Festingers „Theorie der kognitiven Dissonanz" [Bern 1978], Vorurteilsforschung usw.). Literatur Manfred Arndt (Hg.), Rel. Sozialisation, Stuttgart 1975. - Peter Ludwig Berger/Thomas Luckmann, Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit, Frankfurt a . M . 1969. - Wolfgang Brezinka, Erziehung als Lebenshilfe, W i e n / M ü n c h e n 1957 Stuttgart 2 1961 3 1 9 6 3 = »1971. - Orville Gilbert Brim J r . / S t a n t o n Wheeler, Socialization after Childhood, New York 1966; dt.: Erwachsenensozialisation nach Abschluß der Kindheit, Stuttgart 1979. - Wolf-Dieter Bukow, Kritik der Alltagsreligion, Frankfurt a . M . 1984. - Dieter Ciaessens, Familie u. Wertsystem, Berlin 1962. R a l f Dahrendorf, H o m o sociologicus: K Z S S (1958) 1 7 8 - 2 0 8 . - Anette D ö r r , Religiosität u. Depression: Edgar Schmitz (Hg.), Religionspsychologie, Göttingen u.a. 1 9 9 2 , 1 5 9 - 1 8 0 . - Martin Dornes, Der kompetente Säugling, Frankfurt a . M . 1993. - Erik Homburger Erikson, Identity and the Life Cycle, 1959 (PI 1/1); dt.: Identität u. Lebenszyklus, Frankfurt a . M . 1973. - Wolf-Eckart Failing/ Hans-Günter Heimbrock, Gelebte Religion wahrnehmen. Lebenswelt - Alltagskultur - Religionspraxis, Stuttgart u.a. 1998. - Helmut Fend, Sozialisierung u. Erziehung, Weinheim 1969. - Ders., Sozialgesch, des Aufwachsens, Frankfurt a . M . 1988 2 1990. - Wolfgang Fischer/Wolfgang Marhold, Religionssoziologie als Wissenssoziologie, Stuttgart 1978. - Hans-Jürgen Fraas, Rel. Erziehung u. Sozialisation im Kindesalter, Göttingen 1973 3 1978. - Ders., Glaube u. Identität, Göttingen 1983. - Jürgen Habermas, Stichworte zu einer Theorie der Sozialisation (1968): ders., Kultur u. Kritik, Frankfurt a . M . 1973, 1 1 8 - 1 9 4 . - H b . der Sozialisationsforschung, hg. v. Klaus Hurrelmann/Dieter Ulich, Weinheim/Basel 1980 2 1982. - Hans-Günther H e i m b r o c k , Phantasie u. christl. Glaube, M a i n z 1977. - Harry Hoefnagels/Cees Klaassen, Sozialisation u. sozialer Wandel: K Z S S (1975) 1 6 1 - 1 7 0 . - Klaus Hurrelmann, Einf. in die Sozialisationstheorie, Weinheim 1986. - Janpeter K o b , Soziologische Theorie der Erziehung, Stuttgart 1976. - Lothar Krappmann, Soziale Dimensionen der Identität, Stuttgart 1971. - Niklas Luhmann, Funktion der Religion, Frankfurt a . M . 1977. - Christoph Morgenthaler, Sozialisation u. Religion, Gütersloh 1976. - Friedhelm Neidhardt, Frühkindliche Sozialisation. Theorien u. Analyse, Stuttgart 1978. - Neues H b . der Sozialisationsforschung, hg. v. Klaus Hurrelmann/Dieter Ulich, Weinheim/Basel *1991. - R o l f Oerter, M o d e r n e Entwicklungspsychologie, Donauwörth 1967 " 1 9 8 7 . - Talcott Parsons, Social Structure and Personality, London 1964; dt.: Sozialstruktur u. Persönlichkeit, Frankfurt a . M . 1968. - Reiner Preul, Religion - Bildung - Sozialisation, Gütersloh 1980. - Ders., Art. Sozialisation: E K L 3 4 (1996) 3 5 3 - 3 5 5 . - Dietrich Rössler, Grundriß der Prakt. T h e o l . , 1986 2 1994 (GLB). - Gerhard Schmidtchen, Die gesellschaft-
542
Sozialismus I
liehen Folgen der Entchristlichung: Wilhelm Kasch (Hg.), Entchristlichung u. rel. Desozialisation, Paderborn 1978, 1 7 - 2 8 . - Dieter Stoodt, Rel. Sozialisation u. emanzipiertes Ich: Karl Wilhelm D a h m / N i k l a s Luhmann/ders., Religion, System u. Sozialisation, 1 9 7 2 ( R T h P 2) 1 8 9 - 2 3 7 . - Laszlo A. Vaskovics, Religionssoziologische Aspekte der Sozialisation wertorientierter Verhaltensformen: IJRS 1967 (Nachdr. Königstein 1991), 1 1 5 - 1 4 6 . - Frederic Vester, Denken, Lernen, Vergessen, Stuttgart 1975. - T h o m a s Ziehe, Pubertät u. Narzißmus, Frankfurt a . M . 1976.
Hans-Jürgen Fraas
Sozialismus I. Begriff II. Geschichte III. Sozialismus und
Christentum
S. 545 S. 550
I. Begriff (Literatur S . 5 4 9 )
Die Termini „Sozialismus" und „ S o z i a l i s t " gehören zur Kategorie „zukunftsorientierter Bewegungsbegriffe", wie W. Schieder (Art. Sozialismus 923) in seiner profunden begriffsgeschichtlichen Untersuchung einleitend feststellt. Es existieren jedoch zahlreiche, sich häufig genug widersprechende Deutungen, so daß die Geschichte des Begriffs nur als Geschichte seiner Auslegungen geschrieben werden kann. Eine idealtypische Trennung der Begriffsgeschichte von der Schilderung der historischen Entwicklung sozialistischen Denkens (s.u. II.) - sowohl im theoretischen als auch im Bereich seiner konkreten politischen Ausgestaltung — ist nur schwer möglich; beides muß zusammengesehen werden. In diesem Sinne bezeichnet Sozialismus drei unterschiedliche Komplexe, nämlich erstens eine politisch-soziale Bewegung, zweitens eine theoretische Deutung dieser Bewegung und drittens eine neue Sozialordnung (Weber 290). Das Wort entwickelte sich aus dem aristotelischen (äiov noXniKÖv, das Seneca als atiimal sociale ins Lateinische übertrug. Diese Charakterisierung menschlicher Existenz in ihrer gesellschaftlichen Dimension wurde im Hochmittelalter durch - » T h o m a s von Aquino und —»Albert den G r o ß e n christlich umgedeutet als die aus der Offenbarung abzuleitende Vernünftigkeit der vita socialis. Die Frühaufklärung (H. -»Grotius) stellte die Vernunft dann neben die Offenbarung und konstruierte ein ius naturale sociale, das zwar die Verbindung zu letzterer nicht leugnete, der Vernunft aber Eigenständigkeit einräumte. So entsprang für Grotius die societas civilis nicht mehr göttlicher Stiftung, sondern einem appetitus societatis bzw. einem affectum sociale. S. —»Pufendorf führte anders als Grotius und unter Einfluß von T h . - » H o b b e s die Sozialität des Menschen auf dessen ureigenstes Interesse an seiner Selbsterhaltung als Individuum zurück. 100 J a h r e nach ihm entstand aus dem Gedanken dieser „individuellen Interessenorientier u n g " - vermutlich durch Ch. - » W o l f f mitbewirkt - der philosophische Schulbegriff socialistae bzw. Sozialisten, womit man Grotius und Pufendorf im Unterschied zu anderen Richtungen des - » Naturrechts kennzeichnete. Es waren besonders orthodoxe theologische Gegner beider Philosophen, die den Terminus in polemisch-kritischer Absicht verbreiteten, weil sie den Genannten vorwarfen, das summutn bonum aus dem Naturrecht entfernt und dieses damit seines göttlichen Wesenskerns beraubt zu haben. Wahrscheinlich war der Kampfbegriff socialistae eine Analogiebildung zu naturalistae, womit die deistischen Anhänger einer natürlichen Religion aus der gleichen Richtung attackiert wurden. Vom philosophischen Fachdiskurs weitgehend unabhängig entwickelte sich an der Wende vom 18. zum 19. J h . eine neuartige Bedeutung des Wortes, die auf umstürzende politische Zeitereignisse zielte, wie sie im Kontext der -»-Französischen Revolution in Erscheinung traten. Diejenigen, die das neue Element in den Begriff hineinnahmen, waren
Sozialismus I
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sichtlich darum bemüht, beide Deutungen logisch miteinander zu verbinden, d.h. die als „Socialisten" bezeichneten Naturrechtsphilosophen für die vermeintliche praktische Umsetzung ihrer Auffassungen in Gestalt der Umsturzpläne „sozialistischer" Revolutionäre verantwortlich zu machen. Eigentliche Heimat des modernen Sozialismusbegriffs wurde England, wo der Terminus als Neuschöpfung ohne Zusammenhang mit älteren philosophischen Schulen benutzt wurde. So nannte man seit den 1820er Jahren die Anhänger Robert Owens (1771 — 1858) „Socialisten". In Frankreich setzte sich die Bezeichnung „Sozialismus" durch, nachdem der Schriftsteller Louis Reybaud (1799-1879) 1836 eine Artikelserie unter dem Titel „Socialistes modernes" publiziert hatte, die später auch als Buch erschien. Darin rechnete er vor allem Claude Henri de Rouvroy de Saint-Simon (1760-1825), Charles Fourier (1772-1837) und Owen zu diesen „modernen Sozialisten" (-»Frühsozialisten). Korrespondenten deutscher Blätter in England brachten den Sozialismusbegriff mit in ihre Heimat und verbreiteten ihn dort, wandten ihn aber zunächst nur auf die Owenisten an; erst der Staatsrechtler Franz Joseph (Ritter von) Buss (1803-1878) bezog auch die zeitgenössischen französischen Gesellschaftsreformer in diese Terminologie mit ein. Als Konversationslexika wie der Brockhaus von 1839 den Sprachgebrauch übernahmen, setzte sich „Sozialismus" als Sammelname für das Anliegen radikaler Gesellschaftsreformer rasch durch. Zur weiteren Ausbreitung in der gebildeten Welt trug Lorenz (von) Stein (1815-1890) bei, mit dem in Deutschland die öffentliche Auseinandersetzung mit dem Sozialismusbegriff begann und der mit seinen Schriften auch —»Marx beeinflußte. Stein wies darauf hin, daß sozialistische Vorstellungen zwar mit älteren utopischen Ideen verwandt seien, sich von diesen jedoch durch ihre enge Bindung an die Gesellschaft unterschieden. Der Sozialismus seiner Zeit war für ihn „Wissenschaft", nicht nur ein ökonomisches System oder Mittel zur Verbesserung der Lage der Unterschichten: Als „Wissenschaft von der Gesellschaft" besaß Sozialismus für Stein einen positiven Wertakzent. Und um seinen Gegnern erfolgreich zu begegnen, die jede Form des Sozialismus als fundamentale Bedrohung der bestehenden Gesellschaftsordnung perhorreszierten, differenzierte Stein zwischen Sozialismus und -»-Kommunismus: Nur letzterer habe unbestreitbar revolutionäre Ziele im Blick. Die Debatte um den Sozialismus griff über den engeren akademischen Diskurs in Deutschland hinaus und erfaßte einen breiteren publizistischen Bereich, als sich hier die ersten Gesellschaftskritiker zu ihm bekannten. Zu ihnen zählten Moses Hess (1812— 1875) und Karl Theodor Ferdinand Grün (1817-1887), die einen eigenständigen deutschen vom älteren französischen Sozialismus abgrenzten und ersteren als Ausdruck philanthropischer Zuwendung zum bedrängten Mitmenschen und nicht als „bloße Magenfrage" implizit ethisch höher qualifizierten (Hess 304). Den Anspruch, der philosophisch begründete deutsche Sozialismus sei dem eher „praktisch" orientierten französischen Pendant überlegen, verspotteten Marx und Engels im Kommunistischen Manifest von 1848 als typischen Ausdruck eines „deutschen" oder „wahren" Sozialismus, der alle bewegungsrelevanten revolutionären, d.h. „praktischen" Bezüge verloren habe und zur bloßen Gesinnung verkommen sei (Marx/Engels 485ff.). Zugleich nahmen sie damit für sich in Anspruch, die „richtigen" Interpreten des Begriffs zu sein, eine Vorwegnahme des später vor allem von Engels propagierten wissenschaftlichen Sozialismus, der allein dieses Attribut verdiene. Wie angedeutet, wurde der Terminus Sozialismus schon im -»Vormärz mit dem Komplementärbegriff „Kommunismus" in Verbindung gebracht. Auch Marx und Engels bedienten sich seiner und betonten die enge Verbindung beider Bezugsgrößen, ja zogen im Umfeld der Märzrevolution „Communismus" dem unschärferen Sozialismusbegriff vor. Dafür war damals in erster Linie das revolutionäre Pathos verantwortlich, das im Wort „Kommunismus" in radikaler Weise zum Ausdruck kam, weniger die prozeßhafte Abfolge unterschiedlicher Phasen der als geschichtlich notwendig bezeichneten Entwicklungsstufen vom —»Kapitalismus über den Sozialismus zum Kommunismus. Neue Po-
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pularität erlangte der Sozialismusbegriff in der Verbindung mit dem Attribut „demokratisch", für das die Traditionen der Radikaldemokraten von 1848 und der Lassalleaner (nach Ferdinand Lassalle [1825-1864]) standen. Mit Rücksicht auf sie nannten August Bebel und Wilhelm Liebknecht (s.u. II. 1.) ihre Parteigründung von 1869 „sozialdemokratisch" (-»Sozialdemokratie), während die Vereinigung der konkurrierenden Arbeitergruppierungen 1875 in Gotha unter dem Rubrum „sozialistisch" fungierte. Nach Aufhebung des Sozialistengesetzes 1890 legte man sich 1891 in Erfurt auf den Namen Sozialdemokratische Partei Deutschlands fest. Dies konnte um so leichter geschehen, als sich der Einfluß der Marxisten innerhalb der Bewegung inzwischen so konsolidiert hatte, daß die Bezeichnung „sozialdemokratisch" nun weitgehend mit jenem „wissenschaftlichen Sozialismus" gleichgesetzt wurde, den Engels in der Auseinandersetzung mit der Kritik Eugen Dührings (1833-1921) in den 1870er Jahren endgültig als Systembegriff durchsetzen konnte. Darunter faßte er die Entdeckung der materialistischen Geschichtsauffassung durch Marx und dessen Analyse der kapitalistischen Produktionsweise. Welchen Sprengstoff die Verbindung von Sozialismus und Wissenschaft per verordneter Definition nach wie vor in sich barg, wird an den Angriffen auf Eduard Bernstein ( 1 8 5 0 1932) deutlich, der 1901 die provokante Frage stellte: „Wie ist wissenschaftlicher Sozialismus möglich?" Seine Antwort ging von der Feststellung aus, daß Sozialismus als politische Bewegung niemals allein reine Wissenschaft an sich sein könne, weil er nicht allein um Erkenntnis ringe, sondern dezidiert interessegeleitet sei. Das Wesen des Sozialismus sei anders zu bestimmen: nämlich als Erkenntnis und Interesse (Bernstein 20). Deshalb regte er an, künftig den Begriff „kritischer Sozialismus" zu verwenden, ein Vorschlag, der sich allerdings nicht durchsetzte. Seit der Spaltung der europäischen Arbeiterbewegung 1917 bestritten die Kommunisten den Sozialdemokraten, wissenschaftliche Sozialisten zu sein, ersetzten den Terminus aber selbst zunehmend durch den Begriff „wissenschaftlicher Kommunismus", aus dem später das in gleicher Bedeutung gebrauchte Schlagwort vom „MarxismusLeninismus" wurde. Die andere Seite betonte dagegen mehr und mehr den demokratischen Namensbestandteil und grenzte sich vom „real existierenden Sozialismus" in den Ländern des kommunistischen Herrschaftsbereichs ab. Wurden die Inhalte des demokratischen Sozialismus zunächst nicht näher bestimmt, so gingen einzelnen Autoren seit den 1980er Jahren dazu über, diesen als „konsequente Weiterentwicklung der liberalen Freiheitsbewegung der Neuzeit" zu beschreiben (Meyer 11). Daran anknüpfend kommt W. Schieder zu dem resümierenden Urteil: „Die dt. Sozialdemokratie scheint damit ihr marxistisch-sozialistisches Begriffserbe endgültig aufgegeben zu haben zu Gunsten einer liberal-demokratischen Werttradition. Aufgrund der pluralistischen Sozialismusdefinition, die seit dem ,Godesberger Programm' für die Sozialdemokratie gültig ist, ist das durchaus eine konsequente Entwicklung. Es bleibt abzuwarten, ob dieser Veränderungsprozeß den Sozialismusbegriff im sozialdemokratischen Umfeld auf Dauer festgelegt hat" (Schieder, Art. Sozialismus 991). Nachzutragen ist, daß der Sozialismusbegriff auch von ganz anderen politisch-gesellschaftlichen und religiösen Strömungen in Anspruch genommen wurde — darunter von christlichen (s.u. II. und III.) und linksliberalen Gruppierungen wie dem Nationalsozialen Verein (F. -»Naumann) und nach dem Ersten Weltkrieg von den Jungkonservativen und der völkisch-nationalistischen Rechten in Gestalt des -»Nationalsozialismus. (Literatur s.u.S. S49) Jochen-Christoph Kaiser
Sozialismus II
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II. Geschichte 1. D e r Sozialismus und seine O r g a n i s a t i o n s f o r m e n licher Sozialismus (Literatur S . 5 4 9 )
1. Der Sozialismus
und seine
2. Internationaler Sozialismus
3. Christ-
Organisationsformen
Nicht allein die verspätete industrielle Entwicklung im Bereich des Deutschen Bundes verhinderte lange die Entstehung sozialistischer Organisationsformen - dies lag auch an der restriktiven Gesetzgebung, die von den Karlsbader Beschlüssen 1819 bis zur Märzrevolution alle politischen Vereinsformen unter Polizeiaufsicht stellte und politische Publikationen einer strengen Zensur unterwarf. Deshalb formierten sich die ersten sozialistischen Gruppierungen unter Beteiligung deutscher Handwerker und intellektueller Emigranten im liberaleren Ausland, vor allem in der Schweiz, in Frankreich und in England. Zwar entstanden auch in Deutschland Handwerker-Selbsthilfevereinigungen bereits im -•Vormärz in Form von Kranken-, Hilfs- und Sterbekassen - gleichsam als Vorläufer gewerkschaftlicher Initiativen —, aber die erste politische sozialistische Gruppierung bildete sich 1834 als Geheimbund Neues bzw. Junges Deutschland in Bern. In Paris konstituierte sich wenig später der ebenfalls geheime Bund der Geächteten aus Mitgliedern des inzwischen verbotenen, von deutschen Flüchtlingen begründeten Deutschen Volksvereins. Der Bund wollte für ein freiheitliches Deutschland und die Verwirklichung der Menschenund Bürgerrechte kämpfen. Zwei Jahre später spaltete sich von ihm der Bund der Gerechten ab, in dem zeitweise Wilhelm Weitling (1808-1871) eine wichtige Rolle spielte, der im Auftrag des Bundes 1838 seine programmatische Schrift Die Menschheit wie sie ist und wie sie sein sollte herausgab. Ab 1840 verlagerte sich der Schwerpunkt des Bundes nach England, nachdem seine Existenz durch Beteiligung an einem mißlungenen Aufstand unter der Führung von Louis Auguste Blanqui (1805-1881) in Frankreich unhaltbar geworden war. In London gewannen K. -»Marx und Friedrich Engels dann mehr und mehr Einfluß auf die R.este der Vereinigung, die sich 1847 in Bund der Kommunisten umbenannte. Dessen radikale Programmatik zielte auf den „Sturz der Bourgeoisie, die Herrschaft des Proletariats, die Aufhebung der alten, auf Klassengegensätzen beruhenden bürgerlichen Gesellschaft ohne Klassen und ohne Privilegien" - so hieß es im ersten Artikel der Statuten (nach Grebing, Geschichte 41). Als sich Wirkungslosigkeit und Praxisferne des Bundes, in dessen Namen Marx und Engels ein Jahr später das Kommunistische Manifest (s.o. I.) veröffentlichten, im Umfeld der 48er Revolution herausstellten, verlor er rasch an Bedeutung und wurde 1852 aufgelöst. Den ersten sozialistischen Verein in Deutschland gründete der mit Marx und Engels bekannte Buchdruckergeselle Stephan Born (1824-1898): Aus dem von ihm im August 1848 nach Berlin einberufenen Allgemeinen deutschen Arbeiterkongreß wurde wenig später die Allgemeine deutsche Arbeiterverbrüderung, die bald mehr als 170 Ortskomitees unter einem „Zentralkomitee" in Leipzig umfaßte. Angesichts der sich ihm bietenden praktisch-politischen Möglichkeiten ging Born zu seinem „Lehrmeister" Marx auf Distanz: Statt der sozialistischen Revolution forderte die Arbeiterverbrüderung soziale Reformen und Demokratie. Insofern geht der Dualismus von Revolution und Reform innerhalb der sozialistischen Arbeiterbewegung auf die Märzereignisse und ihre Folgen in Gestalt der Herausbildung einer neuen Klasse zurück (-+Arbeiter/Arbeiterbewegung/Angestellte); sie sollte den Weg der sozialistischen Idee in ihrer konkret-politischen Umsetzung bis weit in das 20. Jh. hinein begleiten. Soziale Reform über den Weg demokratischer Wahlen und nicht den gewaltsamen Umsturz der Gesellschaftsordnung forderte auch der Allgemeine Deutsche Arbeiterverein (ADAV), den Ferdinand Lassalle 1863 ins Leben rief. War er sich mit Marx und Engels weitgehend in der Analyse der Lage der Arbeiterschaft, in der Auffassung über die geschichtliche Rolle des Proletariats und in der „kommunistischen" Zielperspektive einig, so unterschied er sich von beiden grundlegend in seinem Urteil über den Staat. Diesen begriff er nicht primär als Klassenstaat, sondern setzte auf dessen Hilfe bei der
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Emanzipation der Arbeiterschaft. Dahinter stand das Ideal eines Kultur- und Erziehungsstaates, der im Vollzug des notwendig voranschreitenden Fortschritts der Geschichte alle Bevölkerungsgruppen an diesem Fortschritt beteiligen werde. Es ist offenkundig, daß Lassalle damit an den Assoziationsgedanken anknüpfte und ihn mit staatssozialistischen Elementen verband - Auffassungen, die in der Sicht von Marx und Engels im Lager der utopischen oder „wahren" Sozialisten beheimatet waren und ihrer Theorie eines „wissenschaftlichen Sozialismus" zuwiderliefen, nach der dem Staat lediglich eine subsidiäre Funktion zukam, um nach Herstellung sozialistischer Verhältnisse eines Tages abzusterben. Die vielversprechenden Ansätze einer sozialistischen Organisationsbildung auf breiterer Basis wurden durch den frühen Tod Lassalles (1864) wieder zunichte gemacht, zumal seine Nachfolger an der Spitze des ADAV ihm kaum ebenbürtig waren. Inzwischen hatte sich in Leipzig mit Gründung der Sächsischen Volkspartei 1866 unter Führung von August Bebel (1840-1913) und Wilhelm Liebknecht (1826-1900) eine Partei konstituiert, die sich auf regionale Arbeiterbildungsvereine stützte und eng mit liberalen Gruppierungen zusammenarbeitete. Bebel wurde auf der Liste der Sächsischen Volkspartei 1867 in den Norddeutschen Reichstag gewählt. Indessen war diese Symbiose zwischen Liberalen und Sozialisten nicht von Dauer - die unterschiedlichen ökonomischsozialen Interessen, die kurzfristig durch das gemeinsame demokratisch-freiheitliche Anliegen und die großdeutsche Option beider Partner überbrückt werden konnten, ließen das nicht zu. Gestützt auf den Arbeiterflügel der Partei gelang es Bebel und W. Liebknecht aber 1869, zusammen mit Dissidenten aus dem ADAV in Eisenach eine zweite Arbeiterpartei ins Leben zu rufen: die Sozialdemokratische Arbeiterpartei. Der grundlegende Unterschied zwischen der alten und der neuen Partei lag nicht in politisch-ökonomischen Divergenzen, sondern in der Stellung zu Preußen und zur deutschen Frage: Waren die Lassalleaner des ADAV kleindeutsch-preußenfreundlich orientiert, dachten die Eisenacher antipreußisch und votierten für die großdeutsche Option. Beide erstrebten die Macht durch freie Wahlen und politische Aufklärung ihrer Klienten; trotz nomineller Mitgliedschaft in der sog. I. Internationale (s.u. 2.) verfolgten sie ihre sozialistischen Ziele also nicht mit Hilfe einer revolutionären Programmatik, sondern im Rahmen einer zu errichtenden bürgerlichen Demokratie. Auch wenn M a r x zu dieser Zeit als Sprecher der deutschen Sektion der Internationale fungierte, hatten er, Engels und ihr engerer Kreis mit dieser zweiten Parteigründung wiederum wenig zu tun. Das galt ebenso f ü r die Vereinigung beider sozialistischen Gruppen auf dem Gothaer Parteitag 1875 zur Sozialistischen Arbeiterpartei Deutschlands. Das dort beschlossene Grundsatzprogramm erhob klassische sozialistische Forderungen wie die Überführung der Produktionsmittel in Allgemeinbesitz, Abschaffung der Lohnarbeit und Aufbau der sozialistischen Gesellschaft, betonte gleichzeitig jedoch, diese Ziele nur auf gesetzlichem Wege sowie mit Staatshilfe erreichen zu wollen. Dieses nun stand in schroffem Gegensatz zur Auffassung von Marx, dessen „Kritik des Gothaer Programms" denn auch unerbittlich ausfiel und den offenen Widerspruch zwischen sozialistischem Anspruch und demokratisch-parlamentarischen Mitteln geißelte, mit dem man ersteren durchsetzen wollte (Marx, Randglossen zum Programm der deutschen Arbeiterpartei: Marx/Engels, Werke, Berlin, XIX 1962, 15-32). Erst in den Jahren zwischen Gotha und Erfurt (1891) - mithin unter dem Sozialistengesetz - erhielt der deutsche Sozialismus eine marxistische Prägung bei anhaltendem Einfluß der inzwischen zum Mythos stilisierten charismatischen Gestalt Lassalles u n d seiner Ideen. Und selbst das marxistische Gedankengut fand nur vermittelt durch einzelne Männer wie W. Liebknecht und dann Karl Kautsky (1854-1938) Eingang in die Partei. Der schon 1848 offenkundig gewordene ideologische Dualismus zwischen revolutionären Zielen und einem faktisch evolutionären Weg dorthin prägte die sozialistische Ideologie bis zur Spaltung von 1917 und schrieb einen letztlich eklektizistischen Kurs fest, der radikale Rhetorik mit der Orientierung an praktischen Reformen innerhalb der b ü r gerlichen Gesellschaft verband.
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Während sich die „Revolutionäre" 1917 in der Bolschewiki-Fraktion der russischen Sozialdemokratie sammelten und von hier aus nach dem Ersten Weltkrieg kommunistische Bruderparteien in ganz Europa gründeten, setzte sich innerhalb der sozialistischen Mehrheit das reformistische, auf demokratische Legitimation verpflichtete Modell durch. Auch wenn die sozialistische Revolution hier nicht mehr auf der Tagesordnung stand, gab man den grundsätzlichen Umbau der Gesellschaft im Sinne sozialistischer bzw. marxistischer Zielvorgaben nicht auf. Erst die Erfahrungen mit den europäischen Faschismen bzw. dem deutschen Nationalsozialismus und nach 1945 die Konfrontation mit dem gewaltsamen Gesellschaftsumbau in Osteuropa im Schatten des Machtbereichs der sowjetischen Bajonette führten zu einer entscheidenden Kurskorrektur, die von der deutschen Sozialdemokratie durch das Godesberger Programm von 1959 vollzogen wurde. Die allmähliche Uminterpretation des Sozialismusbegriffs weg von einer teleologischen Weltanschauung mit deutlich utopischen Zügen hin zur Pragmatik des Sozialstaats (Fetscher 231) fand mit Godesberg sein vorläufiges Ende. Die Kommunistische Partei der Sowjetunion und in ihrem Gefolge die Staatsparteien Osteuropas hielten freilich an den alten Zielen fest, wenn auch nicht ohne verdeckte Zugeständnisse an die gesellschaftlichen Realitäten: Die permanente Prolongierung des Sozialismus als Phase vor Erreichung des kommunistischen Endzustandes ist dafür ein Beleg. Daß der ökonomische Zusammenbruch und die politische „Wende" von 1989/90 den Sozialismus als politische Zukunftsbewegung deutlich schwächten, wenn nicht sein vorläufiges Ende besiegelten, scheint sicher. Gleichwohl dürften seine Visionen von einer gerechten Gesellschaft und angemessenem Wohlstand für alle mindestens in jenen Staaten nach wie vor Anhänger finden, in denen soziale Gerechtigkeit und demokratische Partizipation noch auf ihre Verwirklichung warten. 2. Internationaler
Sozialismus
Der Name Sozialistische Internationale verbindet sich mit der 1864 in London gegründeten Internationalen Arbeiter-Assoziation (IAA), eines anfangs nur lockeren Zusammenschlusses uneinheitlicher sozialistischer Richtungen. Unter Einfluß von Marx übernahm die IAA die Parole „Proletarier aller Länder, vereinigt Euch!", es gelang ihr indessen nicht, die inneren Widersprüche zwischen ihren divergierenden Flügeln zu überwinden. Im Konflikt zwischen den anarchistischen Gruppierungen um Michael Bakunin (1814-1876) und den sog. Proudhonisten (nach Pierre-Joseph Proudhon [1809-1865]) zerfiel die IAA rasch wieder. Der Prozeß wurde auch dadurch gefördert, daß die französische Regierung unter Adolphe Thiers (1797-1877) sie mit der Aufstandsbewegung der Pariser Commune identifizierte und insonderheit Karl Marx als ihre vermeintliche Führungsfigur an den Pranger stellte. Unabhängig von der historischen Entwicklung der IAA, die keineswegs eine Erfolgsgeschichte war, setzte sich der Terminus „Internationale" durch — gefördert gleichzeitig durch die Gegner der sozialistischen Bewegung wie durch ihre Anhänger, für die der Internationalismus zum Symbol der Klassensolidarität und des sozialistischen Endziels wurde. Nicht zuletzt trug die kämpferische Hymne Wacht auf, Verdammte dieser Erde! (Text: Eugène Pottier [1816-1887], Melodie: Pierre-Chrétien Degeyter [1848-1932]) zu dieser „Verklärung" bei. 1876 lösten sich die Reste der IAA selbst auf; an ihre Stelle trat mehr als ein Jahrzehnt später die II. Internationale, gegründet anläßlich des Centenaire der Französischen Revolution mit dem als dem Beginn des Emanzipationskampfs des Proletariats verstandenen Sturm auf die Bastille am 14. Juli 1789. Auch die II. Internationale blieb organisatorisch ein improvisiertes, schwaches Gebilde, dessen Zusammenkünfte (Kongresse) alle zwei Jahre stattfanden. Nach der Jahrhundertwende konstituierte sich das Internationale Sozialistische Büro, das für die II. Internationale Koordinierungsaufgaben wahrnahm, jedoch keinerlei exekutive Befugnisse im Hinblick auf die angeschlossenen sozialistischen Parteien besaß.
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Sozialismus II
Der Erste Weltkrieg zerstörte endgültig die Illusion, daß der proletarische Internationalismus ein Gegengewicht zur Kriegsbereitschaft der Nationalstaaten und ihrer imperialistischen Ideologie würde bilden können. Freilich kam es zu einem förmlichen Ende der II. Internationale erst im Zeichen der russischen Oktoberrevolution 1917 und der Spaltung der deutschen Arbeiterbewegung im gleichen Jahr. Die sozialdemokratischen Parteien Europas schufen 1918 eine neue länderübergreifende Organisation, die sich ab 1923 Sozialistische Arbeiter-Internationale (SAI) nannte. Gleichzeitig gründeten die Sowjetkommunisten die III. Internationale oder Komintern, die unter straffer Führung der Bolschewiki die Weltrevolution vorantreiben sollte. Beide Internationalen bekämpften sich scharf, wobei es in erster Linie um die „richtige" Deutung des Geschichtsprozesses, hier bezogen auf die historische Entfaltung der sozialistischen Bewegung, ging. Während die SAI von einer kontinuierlichen Entwicklung seit Gründung der IAA sprach, behaupteten die Kommunisten und auch Wladimir Iljitsch Lenin (1870-1924) selbst, sie allein hätten die revolutionären Traditionen der Arbeiterklasse gewahrt, die in Gestalt der Komintern das sozialistische Erbe fortführe. Trotz vielfältiger Interventionsversuche der von Moskau aus operierenden Komintern, nicht zuletzt in Deutschland, von wo man angesichts des hohen Industrialisierungsgrads und der starken Arbeiterbewegung den Fortgang der sozialistischen Revolution erwartete, blieben die politischen Erfolge der III. Internationale begrenzt. Vor allem gegenüber dem italienischen Faschismus und deutschen -»Nationalsozialismus war die Komintern weitgehend machtlos. Allerdings organisierte sie die Schulung zahlreicher KP-Führer Europas im sowjetischen Exil, wo diese für die Etablierung kommunistischer Herrschaft nach Kriegsende ausgebildet wurden. Da die Kommunisten hierfür bürgerliche Bundesgenossen benötigten, die Komintern aber für die revolutionäre Politik der Bolschewiki stand, löste Jossif Wissarionowitsch Stalin (1879-1953) aus taktischen Gründen „seine" Internationale 1943 auf; an ihre Stelle trat das kommunistische Informationsbüro ( K o m i n f o r m ) , das aber in Propaganda und praktischer Wirkung die Bedeutung der Komintern nicht mehr erreichte. Auf Seiten der sozialdemokratischen Parteien entstand 1947 aus Resten der SAI die Internationale Sozialistische Konferenz, aber 1953 in Sozialistische Internationale umbenannt, die bis heute das gemeinsame Form sozialdemokratischer Parteien in Europa bildet. 3. Christlicher
Sozialismus
Wenn Begriff und Inhalt des Sozialismus seit jeher unterschiedlichsten Interpretationen zugänglich waren, muß diese Vielfalt auch für seine historischen Entfaltungspotentiale zutreffen. Es erscheint deshalb problematisch, die Bezeichnung „christlicher Sozialismus" erst für den -»Religiösen Sozialismus am Ende des 19. Jh. gelten zu lassen (s.u. III.). Dabei wird übersehen, daß Sozialismus als Ausdruck und in einer bestimmten inhaltlichen Definition auch von den deutschen Katheder- und Staatssozialisten gebraucht wurde, die teilweise in engstem Kontakt zu sozial engagierten Gruppierungen der christlichen Konfessionen agierten und auf diese einwirkten. Ferner ist der Hinweis auf die bewußte Instrumentalisierung des „christlichen Sozialismus" als Gegenbegriff zum Selbstverständnis der Theoretiker und Praktiker der sozialistischen Bewegung kein Argument, um diesen Terminus zeitlich nicht schon vor seinen religiös-sozialistischen Varianten zu verwenden. Dem steht nicht entgegen, daß ein positiv gewendeter christlicher Sozialismus im 19. Jh. nur von wenigen Gruppen in beiden Konfessionen bejaht wurde, die sich dazu gegen zahlreiche Kritiker aus dem kirchlichen Lager zur Wehr setzen mußten. Diese argwöhnten, Sozialismus als neue Begrifflichkeit zur Analyse der sozialen Verhältnisse werde selbst in christlicher Deutung noch zum Einfallstor der gefürchteten radikalen Veränderung des gesellschaftlichen Status quo - eine Parallele zu der zeitgleichen kritischen Zusammenschau von Synodalprinzip und innerkirchlicher Demokratie im deutschen Protestantismus.
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Der bekannteste Vertreter eines „christlichen Sozialismus" um die Mitte des 19. Jh. war sicherlich J.H. -»Wichern. Er kannte den französischen Sozialismus aus den Schriften Lorenz Steins (s.o. I.) und kam durch Senator Karl Sieveking (1787-1847) auch mit dem Werk Robert Owens (s.o. I.) in Berührung. Überhaupt war er mit den englischen Verhältnissen durch die einschlägigen Publikationen von Th. —>Chalmers, Friedrich Engels und Otto von Gerlach (1801-1849) vertraut und baute auf diesen Erfahrungen vermischt mit eigener Anschauung seine Vorstellung von der Inneren Mission als Modell eines christlichen Sozialismus aus (Gerhardt I, 50f.). In Anlehnung an F. von -»Baader benutzte er synonym dazu häufig auch das Doppelattribut „christlich-sozial" (Kuhn 63), das allerdings erst mit der gleichnamigen Berliner Bewegung des Hofpredigers A. -•Stoecker und dessen Freunden aus dem Umfeld der Staats- und Kathedersozialisten ab 1878 jenen politischen Bekanntheitsgrad erhielt, der für den sozialreformerischen Flügel konfessionell bzw. christlich-konservativ geprägter Parteien beider Konfessionen später bedeutsam werden sollte. - Wiehern kam mit dem Ausdruck „christlicher Sozialismus" durch die Lektüre eines Aufsatzes des Berliner Pfarrers Heinrich Alt (geb. 1811) von 1844 in Berührung, der darunter die gesamte Praxis des Christentums einschließlich der Äußeren Mission faßte (Gerhardt I, 50f.). Wichern übernahm diese Sicht, wenn er ausdrücklich betonte, daß der christliche Sozialismus keine Teilbereiche von Gesellschaft und Kirche repräsentiere, sondern „eine höhere Einheit", in der die „Kräfte der rettenden Liebe" zum Ausdruck kämen (Wichern, SW I, 91). Im gleichen Sinne sprach er auch im April 1848 in dem bekannt gewordenen Beitrag über „Die Revolution und die innere Mission" von der umfassenden Wirkungsmächtigkeit des christlichen Sozialismus, gegenüber dem der französische nur eine „Karikatur" sei (ebd. 130; s.a. 271). - Wicherns Gedanken zum christlichen Sozialismus wurden von dem Schwäbisch Haller Stadtpfarrer und nachmaligen Dekan von Marbach, Heinrich (von) Merz (18161893), aufgegriffen, der in mehreren Beiträgen zwischen 1849 und 1854 ebenfalls einen christlichen Sozialismus propagierte und innerhalb des lutherischen Pietismus Württembergs erfolgreich dafür warb. In einer zweiten Phase des sozialen Protestantismus griffen Rudolf Todt (vgl. u. III.) und Stoecker den Terminus wieder auf, veränderten ihn jedoch kennzeichnend in der Forderung nach öffentlicher Intervention und damit in Richtung der Teilhabe am werdenden Sozialstaat. Gewiß haben Wichern, seine Vorgänger und Nachfolger den christlichen Sozialismus nicht zu einer machtvollen politischen Bewegung machen können; aber das war auch nicht ihre Absicht. Sie sahen in dem Begriff vielmehr das Symbol einer erstrebenswerten Symbiose zwischen sozialer Gerechtigkeit und der Rechristianisierung der Gesellschaft, wobei letztere für sie Priorität vor jeder —>Sozialreform besaß. Als die religiösen Sozialisten Jahrzehnte später Religion und Kirche für den politischen Sozialismus der Arbeiterbewegung zu gewinnen suchten, scheiterten sie damit — wohl auch deshalb, weil sie bewußt auf eine Anknüpfung an den christlichen Sozialismus des 19. Jh. verzichteten und weil der praktische und theoretische Atheismus der Linksparteien inzwischen Katholiken wie Protestanten gegenüber sozialistischen Fernzielen immunisiert hatte. Literatur Frolinde Baiser, Sozialdemokratie 1 8 4 8 / 4 9 - 1 8 6 3 . Die erste dt. Arbeiterorganisation „Allg. Arbeiterverbrüderung" nach der Revolution, 2 Bde., Stuttgart 1962 2 1 9 6 5 . - Eduard Bernstein, W i e ist wiss. Sozialismus möglich? (1901): ders., Ein revisionistisches Sozialismusbild. Drei Vortr., hg. u. eingel. v. Helmut Hirsch, H a n n o v e r 1966. - Günter Brakelmann, Kirche u. Sozialismus im 19. Jh. Die Analyse des Sozialismus u. Kommunismus bei Johann Hinrich Wiehern u. bei Rudolf Todt, Witten 1964. - Julius Braunthal, Gesch. der Internationale, 3 Bde., Berlin/Bonn, I 1961 2 1 9 7 4 = J 1 9 7 8 II 1963 2 1 9 7 4 = 3 1 9 7 8 III 1 9 7 1 2 1 9 7 8 . - Christian Fenner, Demokratischer Sozialismus u. Sozialdemokratie. Realität u. Rhetorik der Sozialismusdiskussion in Deutschland, Frankfurt a . M . / N e w York 1977. - Iring Fetscher, Art. Sozialismus: Claus Dieter Kernig (Hg.), M a r x i s m u s im Systemvergleich. Grundbegriffe, 3 Bde., Frankfurt a . M . , 3 (1973) 2 1 8 - 2 3 8 . - M a r t i n Gerhardt, Ein Jh. Innere Mission, 2 Bde., Gütersloh 1948. - Gesch. der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands. I. Von den Anfängen bis 1917, hg. vom Institut f. Marxismus-Leninismus beim Z K
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Sozialismus III
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Jochen-Christoph Kaiser
III. Sozialismus und Christentum 1. D e r Christliche Sozialismus in England 2 . C h r i s t e n t u m und Sozialismus in D e u t s c h l a n d 3 . Sozialethische Überlegungen (Literatur S . 5 5 5 )
„Sozialismus" im weiteren und im engeren Sinn (s.o. I. und II) ist mehr als ein politisches Konzept. Die ethische Stärke, die vom Sozialismus als Ideal, Programm und Ideologie ausgeht, wurde außerhalb und innerhalb der christlichen Kirchen weithin spürbar. Obwohl in den großen Kirchen zuerst abgelehnt oder mit Mißtrauen betrachtet (vgl. den —>Syllabus Errorum —»Pius' IX. und E. -»Troeltschs Die Sozialphilosophie des Christentums), wurde der Sozialismus von den Christlichen Sozialisten in England, den Vertretern des —»Social Gospel in Amerika und des —»Religiösen Sozialismus in der Schweiz und Deutschland begrüßt und, wenn auch in mehr oder minder abgeschwächter Form, in ihre Konzepte einbezogen. Erst viel später erfuhr der Sozialismus im engeren Sinn (einschließlich des Marxismus) seine weltweite Verbreitung innerhalb der Kirchen in Gestalt der politischen Theologie und der Befreiungstheologie ( - » M a r x / Marxismus III; —»Theologie).
S o z i a l i s m u s III 1. Der 1.1.
Christliche
Sozialismus
in
551
England
D i e c h r i s t l i c h e n S o z i a l i s t e n d e r v i k t o r i a n i s c h e n E p o c h e in d e r M i t t e d e s 19. J h .
stellten einen der ersten Versuche d a r , die sozialistischen L ö s u n g s a n s ä t z e f ü r das Elend d e r A r b e i t e r k l a s s e in E n g l a n d z u v e r c h r i s t l i c h e n . Sie w a r e n k e i n e
Massenbewegung,
repräsentierten a b e r den Idealismus u n d die praktische A n t e i l n a h m e einer sehr heterogenen G r u p p e christlicher Intellektueller der Mittelklasse. Die englischen
christlichen
Sozialisten setzten in ihrer A r b e i t e h e r m o r a l i s c h e u n d e r z i e h e r i s c h e als politische S c h w e r p u n k t e , u n d z u m i n d e s t in d i e s e r a n f ä n g l i c h e n F o r m w a r d i e B e w e g u n g n u r k u r z l e b i g . D e m g e g e n ü b e r w a r ihr E i n f l u ß d u r c h d i e E r w e c k u n g eines sozialen B e w u ß t s e i n s in d e n christlichen Kirchen Großbritanniens und Amerikas allerdings immens. Die führenden S p r e c h e r d e r c h r i s t l i c h e n S o z i a l i s t e n in E n g l a n d in d e r M i t t e d e s 19. J h . w a r e n M a l c o l m L u d l o w ( 1 8 2 1 - 1 9 1 1 ) , F.D. - » M a u r i c e u n d C h a r l e s Kingsley
John
(1819-1875).
L u d l o w wird als Begründer des christlichen Sozialismus angesehen. Er w u r d e in Indien g e b o r e n , in F r a n k r e i c h ausgebildet und siedelte 1838 nach England über, u m A n w a l t zu w e r d e n . Wegen seiner Kenntnis des französischen Sozialismus w a r er der politisch Geschulteste einer G r u p p e , die sich im April 1848 bildete, u m auf die chartistische B e d r o h u n g , die von den B e m ü h u n g e n der C h a r t i s t e n u m eine p a r l a m e n t a r i s c h e R e f o r m u n d in diesem Z u s a m m e n h a n g von einer geplanten D e m o n s t r a t i o n ausging, eine p r a x i s o r i e n t i e r t e christliche A n t w o r t a u s z u a r b e i t e n . Der „ C h a r t i s m u s " w a r eine P a r l a m e n t s r e f o r m b e w e g u n g (die Bezeichnung s t a m m t von ihrem M a n i f e s t People's Charter), u n d im April 1848 p l a n t e n die C h a r t i s t e n eine M a s s e n d e m o n s t r a t i o n . Z u Beginn des J a h r e s 1848 h a t t e L u d l o w aus Paris an M a u r i c e geschrieben, d a ß der neue Sozialismus der Feb r u a r r e v o l u t i o n „christianisiert w e r d e n m ü s s e " . In England beschlossen L u d l o w , M a u r i c e u n d Kingsley, unverzüglich ein M a n i f e s t zu verfassen, in d e m sie f ü r einen sittlichen, gewaltlosen Protest p l ä d i e r t e n , und eine T r a k t a t r e i h e , die Politics for the People, zu e r ö f f n e n , die g e m e i n s a m von L u d l o w u n d M a u r i c e herausgegeben w e r d e n sollte. In diesen T r a k t a t e n , von d e n e n zwischen M a i und Juli 1848 17 H e f t e erschienen, ü b e r w o g tendenziell M a u r i c e ' p r o p h e t i s c h e r Idealismus gegenüber L u d l o w s realistischer Sozialismusauffassung. Aktuelle soziale und politische P r o b l e m e w u r d e n z w a r a u f g e w o r f e n u n d diskutiert, aber im H i n b l i c k auf die politische Analyse o d e r politische Praxis besaßen die T r a k t a t e wenig S u b s t a n z . Die B e t o n u n g lag auf der P r o p a g i e r u n g der allgemeinen Prinzipien der Brüderlichkeit u n d Z u s a m m e n a r b e i t . L u d l o w s eigene spätere Zeitschrift Christian Socialist (1850 u n d 1851) w a r m i t ihrer B e f ü r w o r t u n g sozialer V e r ä n d e r u n g e n praxisorientierter ausgerichtet. Er selbst stand als treibende K r a f t hinter der G r ü n d u n g einer Anzahl von Arbeitervereinen und verlieh der B e w e g u n g der Working Mens Associations (Arbeitergenossenschaften) ihren p r a k t i s c h e n A u s d r u c k . Allerdings w a r keine dieser Initiativen von D a u e r : g e m e i n s a m mit der ersten Phase des christlichen Sozialismus in E n g l a n d klangen sie u m 1854 aus. D a s w a r teilweise darauf z u r ü c k z u f ü h r e n , d a ß es nicht gelungen w a r , die U n t e r s t ü t z u n g der Basis zu g e w i n n e n , aber auch auf die E n t s c h e i d u n g von M a u r i c e , sich aus der christlich-sozialen B e w e g u n g zurückzuziehen u n d seine A u f m e r k s a m k e i t statt dessen auf d a s P r o b l e m der A r b e i t e r b i l d u n g zu richten. 1854 g r ü n dete er d a s Working Mens College, d e m eine viel längere, wenngleich unpolitische W i r k u n g s d a u e r beschieden w a r . L u d l o w , der d a s Alter von 90 J a h r e n erreichte, blieb auf d e m Gebiet der sozialen R e f o r m e n , einschließlich der G e w e r k s c h a f t s b e w e g u n g , aktiv. Er w a r H a u p t v e r f a s s e r von Progress ofthe Working Class 1832-1867 ( L o n d o n 1867), einem K o m p e n d i u m der rechtlichen, sittlichen u n d bildungspolitischen Verbesserungen seit d e m R e f o r m g e s e t z von 1832. C h a r l e s Kingsley w a r möglicherweise d e r b e k a n n t e s t e Vertreter der f r ü h e n christlic h e n S o z i a l i s t e n . E r w u r d e in D e v o n s h i r e g e b o r e n u n d s e t z t e n a c h d e m B e s u c h
der
ö r t l i c h e n S c h u l e s e i n e A u s b i l d u n g in L o n d o n u n d C a m b r i d g e f o r t . K i n g s l e y v e r b r a c h t e d e n g r ö ß t e n T e i l s e i n e s L e b e n s a l s L a n d g e i s t l i c h e r in E v e r s l e y ( H a m p s h i r e ) . D u r c h s e i n p h i l a n t h r o p i s c h e s W i r k e n u n d seine ü b e r a u s zahlreichen P u b l i k a t i o n e n a v a n c i e r t e er zu einem der b e d e u t e n d s t e n M ä n n e r der viktorianischen Zeit. Er w u r d e 1860 Professor Canon
f ü r G e s c h i c h t e in C a m b r i d g e , 1 8 6 9 Canon
Kegius-
an ehester Cathedral und
1873
an Westminster A b b e y , o h n e jemals Eversley verlassen zu h a b e n . Kingsleys En-
t h u s i a s m u s b e s t ä r k t e L u d l o w u n d M a u r i c e 1848 b e i m A u f b a u d e r christlichen sozial i s t i s c h e n B e w e g u n g . S e i n e R o m a n e , b e s o n d e r s Yeast Magazine
e r s c h i e n e n ) u n d Alton
Locke
( a l s R o m a n s e r i e 1 8 4 8 in
Fraser's
(1850), s o w i e zahllose a n d e r e Schriften f ö r d e r t e n
in E n g l a n d d i e a l l g e m e i n e W a h r n e h m u n g d e s E l e n d s s t ä d t i s c h e r S l u m b e w o h n e r
und
552
Sozialismus III
der in Armut lebenden Landbevölkerung. Obwohl Kingsley ein konservativer Monarchist war, behauptete er von sich selbst, Christ und Chartist zu sein. Seine Intention war, die Lage der Armen durch Bildungs- und Gesundheitsreform zu verbessern, weniger durch radikale politische Veränderungen. Kingsley war bekannt als Gegner des Traktarianismus (-»Anglokatholizismus) und als Verfechter des sog. muscular Christianity. Eine weitere führende Persönlichkeit der frühen christlichen sozialistischen Bewegung in England war Thomas Hughes (1822-1896), Schriftsteller und späterer liberaler Unterhausabgeordneter. Er absolvierte sein Studium an der Rugby School, die von Thomas Arnold (1795-1842) geleitet wurde, und am Oriel College in Oxford. Hughes engagierte sich für die Sozialreform und unterstützte die Arbeitergenossenschaften in einer Zeit, als die erste Phase des christlichen Sozialismus bereits lange vorüber war. Ähnlich wie bei Kingsley erreichten vor allem seine Romane, besonders Tom Browns Schooldays (1857; dt.: Tom Brown's Schuljahre. Von einem alten Rugby-Jungen. Zur Darlegung des gegenwärtigen Standes der Erziehung in den oberen Classen Englands, bearb. v. Ernst Wagner, Gotha 1867; u.d.T.: Tom Browns Schulzeit, Schönau 1997) und Tom Brown at Oxford (1861), eine sehr große Leserschaft und leisteten damit einen herausragenden Beitrag zum Erwachen des sozialen Gewissens in der viktorianischen Epoche. 1.2. Die zweite Phase der christlich-sozialen Bewegung in England, die nach 1877 begann, ist eng verbunden mit dem Namen Stewart Headlam (1847-1924). Headlam studierte in Eton und Cambridge und war später anglikanischer Priester in Bethnal Green (London). 1877 gründete er zusammen mit einigen jungen Geistlichen die Guild of St. Matthew. Eines der drei Hauptziele dieser Vereinigung war „die Förderung des Studiums sozialer und politischer Fragen im Lichte der Menschwerdung Christi" (vgl. Norman 105). Im Gegensatz zu Maurice, der ihn als Student stark beeinflußt hatte, war Headlam zweifelsohne ein Sozialist im politischen Sinn, der den Staatsinterventionismus befürwortete und vertrat. Er war Mitglied der Fabian Society, die sich für eine stufenweise Einführung sozialistischer Grundsätze engagierte, und befürwortete radikale wirtschaftlich-strukturelle Änderungen, besonders die Bodenreform. Die Guild of St. Matthew bestand bis 1910, wobei allerdings ihr Niedergang bereits vor der Jahrhundertwende begann. Die von ihr herausgegebene Zeitschrift The Church Reformer konnte eine beträchtliche Wirkung verzeichnen. So beeinflußte sie z. B. den Begründer der Church Socialist League, Conrad Noel (1869-1942). Noel, anglo-katholischer Pfarrer von Thaxted (Essex), war eine beeindruckende Persönlichkeit und Organisator der 1906 gegründeten Church Socialist League. Er verließ diese Vereinigung 1916 und gründete die Catholic Crusade, die wegen ihrer unkritischen Haltung gegenüber der Sowjetunion in Verruf geriet. Die Church Socialist League wiederum beschäftigte sich zunehmend mit dem Guild Socialism, einer mittelalterlichen Genossenschaftstheorie. Die Spaltung der Church Socialist League führte 1924 zur Gründung der nichtsozialistischen Christendom Group (-»Sozialethik 4.3.3.). Die radikaleren Mitglieder der Church Socialist League organisierten sich neu als die Society for Socialist Christians, die 1931 in Socialist Christian League umbenannt wurde und intentional eine eher ökumenische als anglikanische Ausrichtung bekam. In dieser Form bestand die Socialist Christian League bis 1960, als sie im Zuge des Zusammenschlusses einiger ähnlicher Organisationen in die Christian Socialist Movement einging, die heute noch besteht. In der Folgezeit entstanden verschiedene konfessionelle Interessengruppen des christlichen Sozialismus, z. B. die 1975 gegründete anglo-katholische Jubilee Group. 1.3. Die nichtanglikanischen Christen in England entwickelten bereits in den letzten Jahrzehnten des 19. Jh. eine gewisse Affinität zum christlichen Sozialismus. Die 1884 gegründete Christian Socialist League präsentierte sich als größtenteils nonkonformistischer Zusammenschluß, deren erster Vorsitzender ein baptistischer Pfarrer aus der Arbeiterschicht, John Clifford (1836-1923), war. Einer der bekanntesten christlichen Sozialisten der viktorianischen Zeit, Hugh Price Hughes (1841 1907), war methodistischer Pfarrer und 1898 Vorsitzender der Methodistenkonferenz. Als Superintendent der West London Mission setzte er sich von der Kanzel herab für soziale Reformen ein,
Sozialismus III
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die er für die notwendige Bedingung einer moralischen Veränderung hielt und die teilweise kollektivistisch akzentuiert waren: weniger im Sinne einer Arbeitergenossenschaftsbewegung, sondern zugunsten legaler und staatlicher Intervention auf Gebieten wie Räumung der Slums, Bau von Häusern und öffentlichen Bädern sowie der Verteilung von Ressourcen. Der Einfluß des Methodismus in der ersten Führungsphase der Labour Party in Großbritannien wurde schon in vielen Untersuchungen hervorgehoben. 1.4. Die Christian Social Union, eine d e r g r ö ß t e n u n d b e d e u t e n d s t e n Vereinigungen, die d e n A n s p r u c h des „christlichen S o z i a l i s m u s " e r h o b , w u r d e 1889 v o n C h . - » G o r e , Prinzipal des Pusey House ( O x f o r d ) , u n d H e n r y Scott H o l l a n d ( 1 8 4 7 - 1 9 1 8 ) , Canon an St. P a u l ' s C a t h e d r a l ( L o n d o n ) , g e g r ü n d e t . D e r erste V o r s i t z e n d e w a r Bischof B.F. - » W e s t c o t t . Die Christian Social Union, eine rein a n g l i k a n i s c h e Vereinigung u n t e r s t a r k e r Beeinflussung v o n M a u r i c e ' Schriften, t r a t d a f ü r ein, die L e h r e v o n d e r M e n s c h w e r d u n g G o t t e s in d e n sozialen, w i r t s c h a f t l i c h e n u n d politischen P r o b l e m e n d e r G e g e n w a r t z u r G e l t u n g zu b r i n g e n . Allerdings erwies sich die Christian Social Union nicht im e r n s t h a f ten politischen Sinn als sozialistisch. So w ä r e z. B. W e s t c o t t s D e f i n i t i o n des Sozialismus 1890 auf d e m Church Congress in H u l l in d e n Begriffen v o n K o o p e r a t i o n u n d D i e n s t anstelle von I n d i v i d u a l i s m u s u n d K o n k u r r e n z k a m p f w o h l f ü r M i t g l i e d e r jeder politischen Partei a k z e p t a b e l gewesen. A u ß e r d e m w a r die Christian Social Union keine Vere i n i g u n g d e r A r b e i t e r k l a s s e ; eher f ü h l t e n sich in g r o ß e m M a ß e Kirchenleitungsmitglied e r , d a r u n t e r viele Bischöfe, u n d K i r c h g ä n g e r v o n d e n I n h a l t e n d e r Christian Social Union a n g e s p r o c h e n . Auf d e m Pan Anglican Congress 1908 u n d d e r —»Lambethkonferenz im selben J a h r w u r d e die soziale P r o b l e m a t i k d a n k d e r Christian Social Union als zentrales Anliegen e r ö r t e r t . Auf d e r L a m b e t h k o n f e r e n z b e t o n t e G o r e , i n z w i s c h e n Bischof v o n B i r m i n g h a m , d a ß sich die C h r i s t e n m i t d e m positiven ethischen Ideal des Sozialismus identifizieren m ü ß t e n . D i e Christian Social Union löste sich b a l d n a c h d e m E r s t e n W e l t k r i e g a u f , d o c h ihr I d e a l i s m u s u n d ihre p r a x i s o r i e n t i e r t e L e b e n s e i n s t e l l u n g lebten im christlichen Sozialism u s v o n R i c h a r d H e n r y T a w n e y ( 1 8 8 0 - 1 9 6 2 ) u n d W. - » T e m p l e ( - » S o z i a l e t h i k 4.3.2.) weiter. 1.5. Es w a r bis v o r k u r z e m nicht m ö g l i c h , v o n einer V e r b i n d u n g z w i s c h e n d e m christlichen Sozialismus u n d d e r r ö m i s c h - k a t h o l i s c h e n Kirche zu s p r e c h e n . D i e E n z y k l i k a - • L e o s XIII., Kerum Novarum (1891), e r ö f f n e t e z w a r d u r c h a u s eine n e u e P h a s e des r ö m i s c h - k a t h o l i s c h e n Interesses a n F r a g e n des A r b e i t e r r e c h t s u n d d e r W o h l f a h r t ( - • S o zialethik 3.), a b e r sie verurteilte d e n S o z i a l i s m u s n o c h als m a t e r i a l i s t i s c h . In eben dieser Weise k a n n z w a r die Catholic Social Guild, g e g r ü n d e t 1909, m i t d e r Christian Social Union verglichen w e r d e n , allerdings verzichtet sie gänzlich auf jegliche „ s o z i a l i s t i s c h e " R h e t o r i k . E r s t n a c h d e m Erscheinen v o n - » J o h a n n e s ' X X I I I . Mater et Magistra (1961) u n d Pacem in Terris (1963) k o n n t e n linksgerichtete K a t h o l i k e n in E n g l a n d die sog. SlantBewegung initiieren, in d e r e n M a n i f e s t die „sozialistische R e v o l u t i o n ... als die z e n t r a l e P e r s p e k t i v e d e r h e u t i g e n Z e i t " bezeichnet w i r d , „ i n d e r die r e v o l u t i o n ä r e B o t s c h a f t des E v a n g e l i u m s A u s d r u c k findet" (vgl. Terry E a g l e t o n / B r i a n W i c k e r [Hg.], F r o m C u l t u r e t o R e v o l u t i o n . T h e Slant S y m p o s i u m , 1967, L o n d o n 1968,3). Diese k u r z l e b i g e B e w e g u n g erzielte in E n g l a n d n u r geringe W i r k u n g , weil ihr die V e r a n k e r u n g in d e n G e m e i n d e n fehlte. D a g e g e n w a r die V e r w u r z e l u n g in d e n G e m e i n d e n z. B. in L a t e i n a m e r i k a gegeben, so d a ß die l a t e i n a m e r i k a n i s c h e B e f r e i u n g s t h e o l o g i e ( - » T h e o l o g i e , Christliche) zu einer m a c h t v o l l e n B e w e g u n g d e r m o d e r n e n Welt a v a n c i e r t e . 2. Christentum
und Sozialismus
in
Deutschland
2.1. Von e i n e m e u r o p ä i s c h e n christlichen Sozialismus a u ß e r h a l b E n g l a n d s k a n n realistischerweise erst im s p ä t e n 19. J h . u n d m i t d e m A u f t r e t e n des - » R e l i g i ö s e n Sozialismus in D e u t s c h l a n d u n d d e r Schweiz g e s p r o c h e n w e r d e n . Z w a r h a t t e J . H . - » W i c h e r n 1848 a u f d e m —»Kirchentag in W i t t e n b e r g d e n T e r m i n u s „ c h r i s t l i c h e r S o z i a l i s m u s " v e r w e n d e t , u n d d e r relativ isolierte Victor A i m é H u b e r ( 1 8 0 0 - 1 8 6 9 ) v e r s u c h t e , die a r b e i t e r -
554
S o z i a l i s m u s III
g e n o s s e n s c h a f t l i c h e n Ideale der englischen christlichen Sozialisten in D e u t s c h l a n d einz u f ü h r e n , a b e r g r ö ß t e n t e i l s e n t w i c k e l t e n sich die christlich-sozialen B e w e g u n g e n im frühen 19. J h . in D e u t s c h l a n d eher als A l t e r n a t i v e n zu den r a d i k a l e r e n F o r m e n des sich a u f d e m e u r o p ä i s c h e n K o n t i n e n t e n t w i c k e l n d e n S o z i a l i s m u s , wie z. B . d e m Kommunism u s . D a s b e t r a f s o w o h l die evangelische als a u c h die r ö m i s c h - k a t h o l i s c h e R e a k t i o n auf das Elend der A r b e i t e r und ihrer F a m i l i e n infolge der industriellen R e v o l u t i o n . 2.2. Der Gedanke der christlich-sozialen Bewegung als Alternative zum revolutionären Sozialismus geht auf die Denkschrift des römisch-katholischen Religionsphilosophen F. von -»Baader Über die Proletairs von 1834 zurück. Durch die Ereignisse von 1848 sahen sich allerdings die römisch-katholische und die protestantische Kirche veranlaßt, den Nöten der Arbeiter und ihrer Familien mit konkreteren Bemühungen entgegenzuwirken. Als Ausdruck christlicher Nächstenliebe wurde dies von Wichern auf protestantischer Seite in Verbindung mit der -»Inneren Mission und von W.E. von -»Ketteier und A. —»Kolping auf römisch-katholischer Seite propagiert. Bei Ketteier und Kolping spielt die Überlegung, daß es notwendig sei, kommunistischen Organisationen durch die Gründung christlicher Arbeitervereine entgegenzuwirken, eine größere Rolle als bei Wichern (-»Arbeiter/Arbeiterbewegung/Angestellte). Aber es gab nur wenige Bemühungen, diesen praktischen sozialen Bestrebungen einen konkreten politischen Rahmen zu verleihen. 2.3. Im Jahr 1877 wurde das Buch Der radikale deutsche Socialismus und die christliche Gesellschaft von Rudolf Todt (1839-1877) veröffentlicht, in dem Todt den als solchen unausgesprochenen, aber implizierten Sozialismus des Neuen Testaments nachzuweisen versuchte. Seine These fand nur geringen Anklang in protestantischen Kreisen, ging aber in das Programm der 1878 von A. -»Stoecker gegründeten Christlich-Sozialen Arbeiterpartei ein. Dieser Partei war keine lange Wirkungsdauer beschieden, und Stoecker selbst, der eine immer stärker konservative politische Haltung einnahm, beteiligte sich nur kurze Zeit an ihrer Arbeit. 1890 gründete Stoecker mit anderen den -»Evangelisch-sozialen Kongreß (ESK), dessen jährliche Treffen Theologen, Historikern, Sozialund Wirtschaftswissenschaftlern dazu diente, aktuelle soziale und wirtschaftliche Probleme zu diskutieren und nach Lösungen zu suchen. Zu den Mitgliedern gehörten M . -»Weber, A. von -»Harnack und F. -»Naumann. Durch Naumann wurde der ESK in eine liberale Richtung gelenkt. Das führte 1896 zu einer Spaltung, in deren Folge Stoecker die Bewegung verließ, u.a. um die eher konservative Freie Kirchlich-soziale Konferenz mitzubegründen. 2 . 4 . Paul G ö h r e ( 1 8 6 4 - 1 9 2 6 ) , der erste G e n e r a l s e k r e t ä r des E S K , schrieb 1891 ein B u c h über seine E r f a h r u n g e n als F a b r i k a r b e i t e r w ä h r e n d der Z e i t seiner theologischen A u s b i l d u n g , das eine weite Verbreitung erlebte. Als P f a r r e r in einer Arbeitergemeinde in F r a n k f u r t an der O d e r w a r er sehr in die S o z i a l a r b e i t e i n g e b u n d e n . 1 8 9 6 gründete G ö h r e z u s a m m e n m i t N a u m a n n den N a t i o n a l - s o z i a l e n Verein. D o c h G ö h r e fühlte sich s c h o n b a l d zu k o n k r e t e r p o l i t i s c h e r A r b e i t h i n g e z o g e n : er trat in die S P D ein, erhielt einen Sitz im R e i c h s t a g , legte sein A m t als P f a r r e r nieder und b r a c h 1 9 0 6 gänzlich mit der K i r c h e . G ö h r e s L a u f b a h n v e r a n s c h a u l i c h t die P r o b l e m e dieser Z e i t , die im B e m ü h e n u m die Verchristlichung des S o z i a l i s m u s in D e u t s c h l a n d a u f t r a t e n . 2 . 5 . D i e E n t w i c k l u n g von F o r m e n des christlichen S o z i a l i s m u s in der S c h w e i z und in D e u t s c h l a n d in den ersten J a h r e n des 2 0 . J h . ist im A r t i k e l —»Religiöser Sozialismus dargestellt. D i e R e z e p t i o n des M a r x i s m u s in der zweiten H ä l f t e des 2 0 . J h . in der röm i s c h - k a t h o l i s c h e n und p r o t e s t a n t i s c h e n K i r c h e ist im Artikel - » M a r x / M a r x i s m u s III.3. ausgeführt (vgl. a u c h —»Frühsozialisten, - » E v a n g e l i s c h - s o z i a l e r K o n g r e ß , —»Social G o s pel, —»Sozialethik). 3. Sozialethische
Überlegungen
Ä u ß e r s t skeptisch i m H i n b l i c k a u f die Perspektiven aller d e n k b a r e n Varianten des christlichen S o z i a l i s m u s s c h r e i b t E . —»Troeltsch 1 9 2 2 in Die Sozialphilosophie des Christentums-. „ D i e H i n ü b e r b i l d u n g des A r b e i t e r - S o z i a l i s m u s in einen christlichen und die d a r a u s sich e r g e b e n d e neue W e l t e r l ö s u n g und A u f r i c h t u n g des G o t t e s r e i c h e s ist eine u n g e h e u e r l i c h e D i l e t t a n t e n i d e e , der g e g e n ü b e r das alte christliche N a t u r r e c h t ein Ausb u n d von Weisheit ist. D a s g r o ß e unserer G e n e r a t i o n v e r o r d n e t e P r o b l e m des Sozialism u s , d.h. die E i n d ä m m u n g zügelloser individueller und n a t i o n a l e r Freiheit und die S c h a f fung einer G e s a m t - P l a n w i r t s c h a f t der K u l t u r v ö l k e r k a n n ü b e r h a u p t n i c h t von religiösen
Sozialismus III
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Ideen gelöst w e r d e n , sondern ist ein wissenschaftliches und praktisch-politisches Problem zugleich, das n u r äußerste S a c h k u n d e und überlegene politische F ü h r u n g lösen k a n n " (Troeltsch 3 2 ) . A m S c h l u ß seiner Studie schreibt T r o e l t s c h : „ A b e r auf der andern Seite bleibt es freilich w a h r , d a ß so ungeheure Aufgaben d o c h auch nicht o h n e sittliche Erneuerung und Vertiefung, o h n e Sinn für G ü t e und G e r e c h t i g k e i t , o h n e Bereitwilligkeit zu O p f e r und S o l i d a r i t ä t , o h n e grundsätzlich gläubige Welt- und L e b e n s a n s c h a u u n g zu lösen sind. ... A b e r es ist eine A u f g a b e , die m a n a m besten von jener ersten getrennt hält und mit den religiös ethischen Kräften der verschiedenen Konfessionen und G r u p p e n , Philosophien und W e l t a n s c h a u u n g e n betreibt, wie sie vorhanden sind und durch die Verhältnisse selbst zu gegenseitiger A n n ä h e r u n g getrieben werden. Es gilt die rücksichtslose Selbstvergötterung und den als H e r r e n t u m o d e r U n t e r n e h m e r k ü h n h e i t o d e r N a t i o n a l g e f ü h l verkleideten s c h r a n k e n l o s e n Selbstdurchsetzungstrieb zu d ä m p f e n , Selbstbegrenzung, R ü c k s i c h t , V ö l k e r s o l i d a r i t ä t und M e n s c h e n a c h t u n g in die Seelen zu pflanzen und den Geist der Verpflichtung gegen eine ü b e r m e n s c h l i c h e W a h r h e i t und G e r e c h t i g k e i t zu wekken. D a s ist A u f g a b e genug für sich allein, o h n e d a ß die Religion in sozialphilosophische oder sozialpolitische Dilettantismen sich hinein zu stürzen b r a u c h t " (ebd. 3 3 f . ) . K o n f r o n t i e r t mit diesen beiden Absätzen bleibt der Leser mit einem G e f ü h l des W i derspruchs zurück: insofern der Sozialismus als E r s c h e i n u n g verstanden wird, die „die E i n d ä m m u n g zügelloser individueller und n a t i o n a l e r F r e i h e i t " b e i n h a l t e t , k a n n m a n von ihr nicht m e h r als von einer lediglich realpolitischen A u f g a b e sprechen. Diese E i n d ä m m u n g hat offensichtlich ethische K o n s e q u e n z e n , und wie die E r f a h r u n g e n des 2 0 . J h . gezeigt h a b e n , b e d a r f es einer Überprüfung durch eben die ethischen W e r t e , die T r o e l t s c h in seinen a b s c h l i e ß e n d e n Sätzen b e t o n t hat. D a r ü b e r hinaus h a b e n die genannten Werte - S o l i d a r i t ä t , G e r e c h t i g k e i t , S e l b s t b e h e r r s c h u n g , R e s p e k t i e r u n g der M e n s c h e n r e c h t e wiederum selbst p r a k t i s c h e politische Aspekte. Es ist schlicht u n m ö g l i c h , die beiden A u f g a b e n - die der politischen R e f o r m und die der m o r a l i s c h e n E r n e u e r u n g - auseinanderzuhalten und die kirchliche Soziallehre a u f letztere zu b e s c h r ä n k e n . Z w a r kennzeichnet ein gewisses M a ß an N a i v i t ä t , U t o p i s m u s und m a n g e l n d e m R e a l i t ä t s s i n n bei der U m s e t z u n g der F r o h e n B o t s c h a f t v o m Königreich G o t t e s in k o n k r e t e politische und ö k o n o m i s c h e P r o g r a m m e das W e r k vieler Verfechter des christlichen Sozialismus. A u ß e r d e m ist es d u r c h a u s m ö g l i c h , d a ß die christliche Sozialethik mit z u n e h m e n d e r Kenntnis politischer und ö k o n o m i s c h e r Verhältnisse sich eher für den „ W o h l f a h r t s k a p i t a l i s m u s " ( - > W o h l f a h r t s s t a a t ) engagiert als für den Sozialismus. A b e r zumindest bis zu einem gewissen G r a d k a n n d e m staatlichen Sozialismus zugute gehalten werden, die praktische politische U m s e t z u n g von Werten wie soziale G e r e c h t i g k e i t und Solidarität zu sein, welche selbst ein integraler Bestandteil der christlichen L e h r e von der M e n s c h w e r d u n g G o t tes und der T r i n i t ä t s l e h r e sind. Literatur Zu 1.: Philip Nathanae! Backstrom, Christian Socialism and Co-operation in Victorian England. Edward Vansittart Neale and the Co-operative Movement, London 1974. - Gilbert Clive Binyon, The Christian Socialist Movement in England. An Intr. to the Study of its History, London 1931. - Torben Christensen, Origin and History of Christian Socialism 1 8 4 8 - 5 4 , Aarhus 1962. - Stewart Headlam, Christian Socialism, London 1892 (Fabian Tract 42). - Peter d'Alroy Jones, The Christian Socialist Revival 1 8 7 7 - 1 9 1 4 . 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Sozialpädagogik
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Brian Hebblethwaite
Sozialpädagogik 1. G e s c h i c h t e bis 1 9 4 5
1. Geschichte
bis
2 . Entwicklungslinien nach 1 9 4 5
(Literatur S. 561)
1945
1.1. Begriff. Das Problem, das in der Verknüpfung von -»Pädagogik mit dem Aspekt des „Sozialen" zum Ausdruck kommt, ist der Sache nach älter als der Begriff „Sozialpädagogik". Dieser wurde im 19. J h . zunächst von Karl Wilhelm Ernst Mager ( 1 8 1 0 1858; vgl. Mager 170ff.) und A. -»Diesterweg formuliert, in seiner Bedeutungstiefe jedoch erst um 1900 in einem breiten Diskussionszusammenhang fachwissenschaftlich etabliert (vgl. Timmen; Konrad). „Sozialpädagogik" bezeichnet formal die pädagogische Thematisierung des Sozialen und besitzt darin im Kontext der pädagogischen Teildisziplinen ihr spezifisches Proprium. Gleichzeitig stellt sie einen Teilaspekt innerhalb der vielfältigen Gestaltungsmöglichkeiten sozialer Hilfestellungen zwischen Reaktion und Utopie dar, die zusammenfassend als „ - » S o z i a l a r b e i t " bezeichnet werden können. Als „pädagogisch" kann hierbei die Initiierung und Inszenierung von Lernprozessen gelten. Das „Soziale" qualifiziert diese Prozesse durch (a) die Kennzeichnung des Weges bzw. der Mittel, (b) das zu erreichende Ziel oder (c) die Verflechtung von beidem. Zu un-
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terscheiden ist ferner die konzeptionelle Entwicklung der sozialpädagogischen Programmatik einerseits und der alltagsleitenden Praxis andererseits, wobei gerade für diesen pädagogischen Teilbereich die enge Verflechtung von -»Theorie und Praxis konstitutiv ist. 1.2. Ausgangskonstellation in der Antike. Die Bedeutungsgehalte von „Sozialpädagogik" resultieren im abendländischen Kontext aus den Spannungen innerhalb und zwischen dem griechischen und hebräischen Paradigma der Pädagogik. In der Bildungstheorie der griechischen Antike wurde als Ausdruck der Möglichkeiten des Menschen in sozialer Hinsicht die Gestaltung und Weiterentwicklung des stadtstaatlichen Gemeinwesens betont. Dies galt sowohl für den rhetorischen Pragmatismus, den die Sophisten und vor allem Isokrates (436-338 v. Chr.) als Leitbild des Lernens entfalteten (vgl. —•Rhetorik), als auch für die maßgeblichen philosophischen Lehr-Lern-Konzeptionen bei -»Plato, - • Aristoteles, Epikur (341-271 v. Chr.) und in der -»Stoa. Gemeinsam war die Ausrichtung auf die menschliche Bildsamkeit (-»Bildung) und damit verbundene Vorstellungen von Identität, von der aus die Eingliederung in das Sozialsystem für möglich erachtet und als maßgebliches Ziel des Lernens propagiert wurde (vgl. Marrou). In Spannung hierzu stand das hebräische Erbe der Pädagogik. Im Kontext der jüdischen Antike lag der anthropologische Ausgangspunkt der maßgebenden Tora-Überlieferung in der Darstellung menschlicher Entfremdung zwischen Brudermord, Sintflut und Turmbau zu Babel (Koerrenz, Bild). Auf dem Hintergrund dieser skeptischen Auffassung vom Menschen rückten zwei zum griechischen Bildsamkeits-Ideal gegenläufige Aspekte bei der Verknüpfung von Lernen und Sozialem in den Vordergrund. Z u m einen wurde auf dem Hintergrund des Ersten Gebotes eine generelle ideologiekritische Skepsis zur Unterscheidung zwischen Gott und den „Göttern" gerade hinsichtlich des Geltungsanspruchs sozialer Selbstverständlichkeiten maßgebend. Dies wurde zum anderen inhaltlich konkretisiert durch eine advokatorische Haltung, die sich in Verhaltensregeln des Erbarmens und Forderungen nach Rechtssicherheit äußern sollte (vgl. Welker). Diese Haltung wurde bundestheologisch zunächst gegenüber dem eigenen Volk eingenommen, darüber hinaus jedoch auch schöpfungstheologisch auf alle Menschen bezogen (vgl. Koerrenz, Paradigma). 1.3. Spätantike und Mittelalter. Im Spannungsgefüge zwischen auf soziale Einfügung ausgerichtetem Bildsamkeitsideal (integrative Sozialpädagogik) und auf Konflikt basierender Verantwortung sozialer Elementarstandards für das Menschliche (advokatorische Sozialpädagogik) hat sich zunächst auch das Verhältnis des Christentums zum Sozialen entwickelt (Leipoldt). Einen besonderen Einschnitt bildete im abendländischen Kontext sowohl für die Eingliederung in den staatlichen Sozialverband als auch im Hinblick auf die Begründung von Herrschaft und Eigentum die konstantinische Wende im 4. Jh. (vgl. Berkhof). Das Mönchtum (vgl. Hawel) kann in seinen Entstehungskontexten des 4 . - 6 . Jh. (auch) als ein Protest gegen die daraus resultierende theologische Legitimation von Herrschaft und Eigentum verstanden werden, dem ein auf Selbstbescheidung basierendes Regelsystem als wahrer christlicher Maßstab des Sozialen gegenübergestellt wurde. Die advokatorische Haltung der Ideologiekritik, des Erbarmens und der Rechtssicherheit kann in der Folgezeit im Rahmen des Christentums eher in einer Geschichte der „Ketzer" rekonstruiert werden: Petrus Valdes (12. Jh.), J. —»Hus,Th. -»Müntzer und Th. -»Morus sind dabei die vielleicht markantesten Beispiele für eine religiös motivierte Haltung, die die Inszenierung von Lernen in sozialer Hinsicht nicht in der nahtlosen Eingliederung in das vorfindliche Sozialsystem sah, sondern insbesondere Maßstäbe des Erbarmens und der Gleichheit vor Gott gegenüber den herrschenden Sozialstrukturen zur Geltung brachte. Die Motivation zu karitativem Handeln im Kontext der mittelalterlichen Ständegesellschaft bewegte sich im Spektrum zwischen habitueller Selbstverständlichkeit des Christseins einerseits und einer über Barmherzigkeit abzusichernden Heilserwartung andererseits.
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1.4. Aufklärung - Industrielle Revolution. Im Gefolge der -»Aufklärung entstand ein weitgehender Wandel der integrativen Sozialpädagogik: nicht mehr die standesbedingte Herkunft war der M a ß s t a b , sondern die über -»Erziehung zu vermittelnde M o ralität sollte den Menschen zum Bürger qualifizieren und so ein neues, auf Leistung basierendes Sozialgefüge etablieren (Koselleck). Auf dem Hintergrund der politisch-militärischen Auseinandersetzungen mit dem napoleonischen Frankreich gewannen neben unmittelbaren Kompensationsversuchen der Kriegsfolgen (-»Pestalozzi; Falk) nach 1800 im deutschen Sprachraum Konzeptionen der Nationalpädagogik als Konkretion der Erziehung zu einem ideal gedachten Sozialgefüge an Bedeutung (Flitner). Dieser Akzent der Sozialpädagogik wurde im Zuge der industriellen Revolution (—»Industrialisierung) in der M i t t e des 19. J h . mit anderen Aspekten sozialer Erziehung konfrontiert. Die Herausforderung bestand nun in der politischen Bewertung und pädagogischen Reaktion auf die Phänomene der Unterdrückung, Armut und Ausgrenzung. Die vor allem in den Städten verschiedentlich bereits seit dem ausgehenden Mittelalter etablierten Einrichtungen der -»Armenfürsorge (vgl. Sachße/Tennstedt) mußten jetzt auf ihre politische Begründung, Organisation und Leistungsfähigkeit hin überprüft werden. Insbesondere die Frage, ob Lernangebote der Integration in die vorfindliche, nunmehr weitgehend von bürgerlichen Wertmaßstäben bestimmte Herrschaftsstruktur dienen (J.H. —»Wiehern; A. -»Kolping) oder aber die pädagogische Vorbereitung eines neuen, von der „arbeitenden K l a s s e " beherrschten Sozialgefüges (Fourier; O w e n ; - » M a r x ) unterstützen sollten, wurde kontrovers diskutiert und institutionell konkretisiert. Die Konflikte bezogen sich dabei auch auf die Rolle der Kirche, die in diesem Kontext von beiden Seiten (mit unterschiedlichen Wertungen) weitgehend als stabilisierender Faktor des Bestehenden verstanden wurde. Nur von wenigen Ausnahmen (Ch. - » B l u m h a r d t ; L. - » R a g a z ) wurde in dieser Situation die advokatorische Verpflichtung des Christentums gegenüber der Lage der Arbeiterschaft ohne primär sozialintegrative Intentionen zur Geltung gebracht. Faktisch fand um die M i t t e des 19. J h . durch kirchliche Einrichtungen (—»Innere Mission; —»Diakonie; Caritas) und sozialistische Initiativen (Arbeiterbildungsvereine) einerseits sowie vorschulische Erziehungseinrichtungen (Fröbel) andererseits die Etablierung jener Institutionen statt, innerhalb derer sich die Profilierung sozialpädagogischer Professionen vollziehen sollte. 1.5. Kaiserreich — Weimarer Republik - NS-Diktatur. Die maßgebliche theoretische Aufarbeitung des Begriffs und der sachlichen Alternativen von Sozialpädagogik fand um 1900 in einer breiten Diskussion um die soziale Dimension der Erziehung statt (vgl. Konrad). Auf dem Hintergrund der Konstituierung des Deutschen Kaiserreichs 1871 bei gleichzeitiger Verschärfung der sozialen Frage verschmolzen integrative und advokatorische Aspekte. Erstens wurde im Anschluß an Plato und - » K a n t die sozialintegrative Funktion des Pädagogischen bei der Prägung des menschlichen Willens, allerdings im Hinblick auf einen ideal gedachten Staat, zur Geltung gebracht (Natorp, Sozialpädagogik). Dabei wurde das Soziale sowohl als Mittel als auch als Ziel pädagogischen Handelns begründet. Zweitens wurde vor allem von sozialistischer Seite soziale Erziehung mit der Veränderung der politischen Strukturen - auch im Bildungsbereich - verknüpft (Liebknecht; Zetkin). Im internationalen Zusammenhang wurde drittens die prägende pädagogische Dominanz des Sozialen hervorgehoben (Dürkheim) oder die soziale Bedeutung modellhafter Strukturen z. B. in pädagogischen Institutionen wie der Schule herausgearbeitet (Dewey). Viertens wurde gegenüber der einseitigen Betonung des Sozialen als Mittel und als Ziel der Erziehung das Primat des Individuellen in Konzepten der Persönlichkeitsbildung zur Geltung gebracht (Rein; Willmann). Diskutiert wurde der Gesamtzusammenhang weitgehend unter der Alternative „Individual- oder Sozialpädagogik". Eine Verlagerung des Bedeutungsgehalts von „Sozialpädagogik" fand nach dem Ersten Weltkrieg auf dem Hintergrund der Neudefinition von Kindheit und Jugend, im
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Zuge der Etablierung eines Reichsjugendwohlfahrtsgesetzes (Hasenclever) und im Rahmen der Debatte um die Autonomie der Pädagogik statt. Eine eigenständige Bedeutung kam dabei im deutschsprachigen Raum neben den christlich und politisch begründeten Einrichtungen der jüdischen Sozialpädagogik zu (Baeck). Von H. Nohl und seiner Schule wurde in der Weimarer Republik eine theoretische Präzisierung und Konkretion zu etablieren versucht, nach der Sozialpädagogik jenen Bereich umschreibt, der alles das umfaßt, was nicht die Erziehung in Familie und Schule beschreibt (Bäumer). Dieser Ansatz stellte eine Reaktion sowohl auf die faktische Ausdifferenzierung pädagogischen Handelns als auch auf die damit verbundenen Entwicklungen sozialpädagogischer Professionalisierung dar. In diesem partiellen Verständnis von „Sozialpädagogik" mischten sich auf dem Hintergrund der Jugendfürsorge und der von dort aus entwickelten Lehre vom pädagogischen Bezug wiederum advokatorische und sozialintegrative Aspekte. Nach der Machtübertragung auf Hitler wurde in der NS-Diktatur im Hinblick auf die Maßstäbe des Menschlichen vor allem der faktische Verlust der advokatorischen Haltung offensichtlich, der sich im weitgehenden Schweigen gegenüber der Definition sog. „unwerten Lebens" einerseits und sog. „minderwertiger Rassen" andererseits zeigte. Dies galt über weite Strecken auch für das Lehren und Lernen im kirchlichen Bereich, in dem gerade nicht die Folgen der Verantwortung für alle Menschen in ihrer Geschöpflichkeit im allgemeinen und das jüdische Volk als Bundesgefährten Gottes im besonderen diskutiert und praktiziert wurden. Statt dessen wurde auch von den Kirchen faktisch die soziale Dimension der Erziehung weitgehend in der sozialintegrativen Einfügung in das vorfindliche Unrechtssystem gesehen. Sozialpädagogische Institutionen wie z. B. Behindertenheime praktizierten allerdings zumindest teilweise einen passiven Widerstand durch eine Verweigerung der aktiven Förderung der Menschenvernichtung (vgl. für den Bereich der Diakonischen Einrichtungen Strohm/Thierfelder; Jenner/Klieme). 2. Entwicklungslinien
nach 1945
Nach 1945 lassen sich mindestens drei maßgebliche Entwicklungslinien der Sozialpädagogik unterscheiden. In der Nachkriegszeit kommt es (1) innerhalb der akademischen Disziplin der Pädagogik zu einer skeptischen Vergewisserung ihrer geisteswissenschaftlichen Tradition sowie zu einer Neubestimmung sozialpädagogischer Professionen, deren Einrichtungen teils sozialen Bewegungen gegen Ende des 19. bzw. Anfang des 20. Jh. (Arbeiter-, Diakonie-, Frauen- und Jugendbewegung) entstammen, teils erst neu gegründet werden (vgl. Nohl, Bewegung; Mollenhauer, Ursprünge). Ab Mitte der fünfziger Jahre läßt sich (2) - auch vor dem Hintergrund des von der katholischen Soziallehre entwickelten Subsidiaritätsprinzips (Nell-Breuning) - eine Ausweitung sozialer Arbeit in vielfältige Arbeitsfelder und eine sich differenzierende Professionalisierung verzeichnen. Im Kontext sozialpolitischer Maßnahmen wohlfahrtsstaatlicher Sicherung werden öffentliche Träger (Kommunen) und Freie Wohlfahrtsverbände für die Aufgaben sozialer Arbeit erneut zuständig (vgl. Rauschenbach/Sachße/Olk). Sozialpädagogisches Handeln wird in der Hauptsache als „Hilfe zur Selbsthilfe" und als Unterstützung bei der Bewältigung belasteter Lebenssituationen in allen Phasen des Lebenslaufs verstanden. Entsprechende, nach und nach einsetzende gesetzliche Reformen (Kinder- und Jugendhilfegesetz, Pflegegesetz, andere Sozialgesetze) flankieren den Wandel. (3) Unterschiedliche Ausbildungsprofile korrespondieren diesem Prozeß. Sie werden zunächst auf Fachschul-, dann auf Fachhochschul- und schließlich auf Universitätsebene etabliert. Seit Ende der sechziger Jahre wird Sozialpädagogik durch einen umfangreichen Akademisierungs- und Verwissenschaftlichungsschub geprägt. Dies geht einher mit einer erheblichen Erweiterung der Tradition durch sozialwissenschaftliche Forschungsmethoden, aber auch mit einer Kritik an überlieferter sozial- und gesellschaftspolitischer Theoriebildung, an überlieferten Praktiken sozialer Arbeit (Heimerziehung), an psychologisch-therapeutischen Paradigmen (z. B. Therapie, Gesundheit) und an sozialadministrativen Rationalitätsstandards (Organisation, Dienstleistung). Dieser Prozeß führte zur Formulierung und teil-
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weise zur Durchsetzung von Reformen im Bereich des Kinder- und Jugendhilfe- sowie des übrigen Sozialhilfesystems. 2.1. Skeptische Vergewisserung und sozialwissenschaftliche Erweiterung. Jene Vergewisserung der geisteswissenschaftlich-philosophischen Grundlagen sozialpädagogischen Denkens der Nachkriegszeit allein reicht schon bald nicht mehr aus, den Anforderungen an eine Beschreibung und Gestaltung des außerschulischen Bezugsrahmens sozialpädagogischen Handelns gerecht zu werden, wie er sich im Wandel des Wiederaufbaus der fünfziger und sechziger Jahre abzuzeichnen beginnt. Die bereits von P. Natorp vorgenommene Bestimmung, Sozialpädagogik habe sich insgesamt mit der Aufhellung der „sozialen Bedingungen der Bildung" und den „Bildungsbedingungen des sozialen Lebens" zu befassen (Natorp, Pädagogik 24), wird vor dem Hintergrund der Diskussionen um Grenzen und Reichweite sozialwissenschaftlicher Methodologie und Empirie (Positivismusstreit; vgl. Adorno u.a.) ausgeweitet. Der Entwicklung der Disziplin korrespondiert die der Profession in ungleichzeitiger Weise. Zwischen den Handlungsfeldern der Jugendhilfe (Kindergarten, Familienhilfe, Jugendarbeit, Jugendgerichtshilfe u.a.), den sozialen Hilfen in der mittleren Lebensspanne (Familienbildung, Straffälligenhilfe u.a.) und im Seniorenalter (soziale Altenarbeit) expandiert ein differenziertes Feld sozialer „Einrichtungen" (Mollenhauer, Ursprünge) und sozialer Berufe. Im Verlauf gesellschaftlicher Modernisierungs- und Pluralisierungsprozesse (Veränderung der Lebensstile, Erosion familialer und nachbarschaftlicher Solidargemeinschaften, Kritik an sozialer und wirtschaftlicher Benachteiligung) wächst die Z a h l der Forschungen zur Frage der Bedingungen individueller Identität in sozialen Kontexten ( - • Sozialisation), zu lebensweltlichen F o r m e n sozialer Unterstützung (Netzwerkforschung) und zu Leistungsprofilen öffentlicher und privater Wohlfahrtsinstitutionen (Qualitätsforschung).
Sozialpädagogik thematisiert ihren Gegenstandsbereich nun keineswegs nur noch mit Blick auf die Bedingungen helfenden Handelns in belasteten Lebenslagen - diese Akzentuierung findet sich besonders in der karitativ-diakonischen und dienstleistungsorientierten Tradition - , sondern auch in einem allgemeineren Sinne als ethische Fragestellung nach den Bewältigungsformen der Menschen selbst, ihrer advokatorischen Deutung (Brumlik) sowie nach problematisch werdenden Beziehungen zwischen Individuum und Gemeinschaften in der nachindustriellen Risikogesellschaft. Jeweiligen Gemeinschaften und Milieus wird zwar eine wichtige, jedoch nicht eine alles entscheidende Rolle für die Entwicklung der Persönlichkeit zugerechnet. Statt dessen wird von einer Wechselwirkung ausgegangen, die ihren theoretischen Bezugsrahmen in starkem Maße einer durch empirische Forschung flankierten „Alltagsorientierung" bzw. „Lebensweltorientierung" entnimmt (Thiersch). 2.2. Differenzierung sozialpädagogischer Methoden. Theoretische Anstrengungen richten sich sowohl auf die Frage nach den Strukturen institutionalisierter Hilfe, die angesichts des Zerfalls überlieferter Vergemeinschaftsformen von vorgegebenen Institutionen des -»Wohlfahrtsstaates bereitgestellt werden, als auch auf die Frage nach den lebensweltlichen, den nachbarschaftlichen und ehrenamtlichen Ressourcen, die zu aktivieren auch zu einer Frage der Kompetenz, der Wissensverwendung und der Methoden sozialpädagogischen Handelns wird (S. Müller u.a.; Olk). Unter dem Einfluß amerikanischer Methodenlehren orientiert sich Sozialpädagogik nicht nur an der deutschsprachigen Tradition sozialpädagogischen Denkens, das zwischen den Konzepten psychoanalytischer Sozialarbeit (Bernfeld; Aichhorn), der Jugendfürsorge (Scherpner) und der Tradition einer insbesondere von der Frauenbewegung vorangebrachten Wohlfahrtsarbeit (Salomon) angesiedelt ist. War diese deutschsprachige Tradition bereits vor dem Zweiten Weltkrieg durch die Rezeption US-amerikanischer Konzepte geprägt (C.W. Müller), so weitet sich die klassische Dreiteilung der sozialpädagogischen Methoden (Einzelfallhilfe, soziale Gruppenarbeit und Gemeinwesenarbeit) aus.
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Konzepte wie „Case-Management", das der jeweilig vorliegenden Besonderheit der „Lebenslage" des Einzelfalls gerecht zu werden versucht, „flexible Hilfen", die soziale Dienstleistungen an den Optionen ausrichtet, die den Lebenslagen von Adressaten und nicht nur der Routine von Verwaltungen entsprechen, und „empowerment", das sowohl die Stärkung individueller Kompetenzen als auch die der lebensweltlichen sozialen Netzwerke intendiert, ergänzen den Methodenkanon erheblich (Galuske).
2.3. Sozialpädagogik zwischen Risikogesellschaft, Dienstleistung und Internationalisierung. Mit dem Bedeutungszuwachs sozialer Dienste in der „Risikogesellschaft" (Beck) stellt sich auf der Seite der Profession die Aufgabe, an die Stelle überlieferter sozialmoralischer Milieus reflexive Formen der Inszenierung von Solidarität zu setzen, um Hilfe und Unterstützung bereitzuhalten. Die Nachfrage nach sozialpädagogischen Dienstleistungen steigt generell - eine Tendenz, die über die überlieferten Adressatengruppen der wirtschaftlich Schwächeren hinausreicht. Leistungen der Sozialpädagogik als berufliches Handeln werden in zunehmendem Maße von allen Schichten in Anspruch genommen. Die Angebote haben sich also von der Nothilfe für Bedürftige in ein Dienstleistungsangebot für alle gewandelt. Parallel dazu zeichnet sich auf der Seite der Disziplin die Aufgabe ab, Theorien und Formen einer sozialpädagogischen Forschung weiterzuentwickeln, die zum einen eine „zweite" Neuvergewisserung, nämlich der Klassiker sozialer Arbeit (Niemeyer), betreibt, die zum anderen der Normalisierung sozialpädagogischer Dienstleistung gerecht wird (Dewe/Otto) und die schließlich auch auf den Prozeß der Internationalisierung und Globalisierung reagiert und ihn mitgestaltet (Treptow, Vergleich). Entsprechend bildet sich im Zuge der weiteren Verwissenschaftlichung und der Entwicklung akademischer Ausbildungsprofile eine verstärkte Diskussion theoretischer Konzepte zur Rolle der Dienstleistung und der Non-Profit-Organisationen in der Zivilgesellschaft heraus. Sie wird begleitet von der Auseinandersetzung mit überlieferten Paradigmen der „Handlungskompetenz", die noch der Begründung von Diplom-Studiengängen Ende der siebziger Jahre gedient hatten, um neue Herausforderungen durch Mediatisierung und Ökonomisierung sozialer Arbeit thematisieren und gestalten zu können (vgl. Soziale Arbeit in der Konkurrenzgesellschaft). Insgesamt hat sich im Zuge der Diskussion um lebensweltorientierte soziale Arbeit auch eine neue Verortung der Spannung zwischen Laienwissen und Ehrenamtlichkeit auf der einen Seite und Expertenwissen und Professionalismus auf der anderen Seite abgezeichnet. Eher generalistische Ausbildungskonzepte bestehen fort, die den akademischen Unterricht an der Perspektivenvielfalt kultur-, sozialwissenschaftlichen und sozialphilosophischen Wissens orientieren. Verschränkt hiermit werden eher spezialistisch-vertiefende Konzepte kasuistischer Analyse, des Sozialmanagements und der qualitativen und quantitativen Sozialberichterstattung (Jugendhilfestatistik, Jugendberichte der Bundes- und Länderregierungen). Ethische Fragen stellen sich mit Blick auf die Grenzen und Reichweiten „stellvertretender Deutung", der Interventionsformen und der ökonomisierung sozialer Arbeit, mit Blick auf Fragen der Gerechtigkeit, die auf der Ebene alltäglicher Entscheidungsprozesse und auf der Ebene der Verteilung wirtschaftlichen Reichtums in der Konkurrenzgesellschaft angesiedelt sind (Armut) und schließlich mit Blick auf die Bedingungen einer Humanisierung gesellschaftlicher Beziehungen generell, in der weder dauerhafte Abhängigkeiten von wohlfahrtsstaatlichen Leistungen geschaffen noch neoliberalistische Auffassungen durchgesetzt werden, welche Hilfe und die sozialen Bedingungen der Bildung der Logik des Marktes überlassen. Literatur Zu 1.: Leo Baeck, Wege im Judentum, Berlin 1933. - Gertrud Bäumer, Die hist. u. sozialen Voraussetzungen der Sozialpädagogik u. ihrer Theorie: HPäd 5 (1933) 3 - 1 7 . - Hendrik Berkhof, Kirche u. Kaiser, Zürich 1947. - Erich Beyreuther, Gesch. der Diakonie u. Inneren Mission in der Neuzeit, Berlin 1962. - Ernst Bornemann, Art. Sozialpädagogik: LThK 2 9 (1964) 9 2 3 - 9 2 5 . - Micha Brumlik (s.u. zu 2.). - John Dewey, The School and Society (1899); dt.: Schule u. öffentliches
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Sozialreform
563
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R a l f Koerrenz (Abschnitt 1.) Rainer Treptow (Abschnitt 2.)
Sozialphilosophie -»Gesellschaft/Gesellschaft und Christentum, - » K r i t i s c h e T h e o r i e , -•Sozialwissenschaften
Sozialreform 1. Z u m Begriff 2. Institutionen bürgerlicher Sozialreform zialreform 4. N a c h 1945 (Quellen/Literatur S. 5 7 0 )
3. Institutionen christlicher So-
1. Zum Begriff Obgleich Sozialreform eines der politischen Hauptthemen des 19. J h . repräsentiert, ist bislang noch nicht abschließend geklärt, wer den Begriff im Kollektivsingular eingeführt hat. Z u Beginn des 19. J h . hatte eine Gruppe hoher preußischer Beamter um Reichsfreiherr vom und zum —»Stein und Karl August von Hardenberg (1750—1822) eine konsequente Reformpolitik verfolgt. Dennoch ist es wenig wahrscheinlich, daß vor 1830 in Deutschland bereits von Sozialreform die Rede war. Das schließt nicht aus, daß der Gebrauch des Begriffs etwa in Frankreich bei den Saint-Simonisten (—»Frühsozialisten 2.2.) nachgewiesen werden kann. Der Begriff Sozialreform tritt auf, sobald die Soziale Frage gestellt ist, und meint ihre Lösung durch Staatsintervention. In den Lehrbüchern der Politik und des Staatsrechts der ersten Jahrzehnte des 19. J h . wurde die R e f o r m als Gegenbegriff zur - » R e volution konzipiert. Konservative Publizisten nahmen die Argumentation des britischen Unterhausabgeordneten Edmund Burke ( 1 7 2 9 - 1 7 9 7 ) auf, derzufolge eine langsame reformerische Entwicklung durch die -»Französische Revolution gewaltsam unterbrochen worden sei. Der deutsche Politiker und Übersetzer Burkes, Friedrich von Gentz ( 1 7 6 4 1832), übertrug diesen Gedanken auf das Preußen des ausgehenden 18. J h . D i e Erhaltung des Bestehenden sollte durch die R e f o r m gewährleistet sein. Als präventive M a ß n a h m e wird sie durch die Staatsgewalt innerhalb des geltenden Rechts durchgeführt und steht folglich im Gegensatz zu revolutionärer Gewaltsamkeit. „Die R e f o r m ist immer ein Gut; jeder wirkliche Staatsmann liebt die R e f o r m . Sie ist das gesunde Staatsleben selbst. Die Revolution, auch die beste und fruchtbarste, ist immer ein Uebel, welches der Staatsmann zu vermeiden sich bemüht. Sie ist jederzeit eine gefährliche Lebenskrisis. ... Das einzig sichere Mittel, die Revolution zu vermeiden, ist die rechtzeitige und gründliche R e f o r m " (Bluntschli 6 0 6 f . ) .
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Sozialreform
Mit der Massenarmut im -* Vormärz erreichte der Gebrauch des Begriffs Sozialreform seinen Höhepunkt. Der Aufstand der schlesischen Weber Anfang Juni 1844 (-»Schlesien 1.3.3.) und die am 25. Juni der Öffentlichkeit mitgeteilte Kabinettsordre Friedrich Wilhelms IV. (reg. 1840-1861), in der dieser die Säumigkeit der Behörden tadelte und künftig alle Wohlfahrtsmaßnahmen als Amtspflicht zu erkennen forderte, lösten eine Debatte aus. Arnold Rüge (1802-1880) reagierte in Paris mit einem Zeitungsartikel vom Juli 1844 Der König von Preußen und die Socialreform. Der Erlaß sei „nichts anders, als die entschiedenste Ratlosigkeit des Politikers". Die „Socialrevolution" sei unvermeidlich (Vorwärts! vom 27. Juli 1844). K. -»Marx argumentierte in seinem Kommentar, Rüge verkenne die gesellschaftlichen Verhältnisse, obgleich „in Folge der Arbeiterbewegungen" „alle liberalen deutschen Zeitungen, die Organe der liberalen Bourgeoisie ... von Organisation der Arbeit, Reform der Gesellschaft, Kritik der Monopole und der Konkurrenz etc." überströmten. Die Revolution sei nur insofern sozial, als sie die alte Gesellschaft auflöse. Sie sei ein politischer Akt und unabdingbar für den -»Sozialismus (Marx, Randglossen 458.463). Friedrich Engels (1820—1895) hingegen setzte darauf, „daß die zukünftige sociale Revolution auch auf die wirklichen Ursachen der Noth und Armuth, der Unwissenheit und des Verbrechens eingehen, daß sie also eine wirkliche sociale Reform durchsetzen werde". Dies geschehe durch „die Proclamation des communistischen Princips" (Engels, 2. Elberfelder Rede vom 15.2.1844, 80). Ein Widerspruch bestand jedoch für Marx und Engels in der Erwartung an eine Sozialreform einerseits und im Kommen des Sozialismus andererseits. Der Begriff Sozialreform wurde daher seit 1847 nur noch unter taktischen Gesichtspunkten benutzt. Im Entwurf eines Kommunistischen Glaubensbekenntnisses diente er noch zur Verständigung mit bürgerlichen Demokraten. Man vertrat die Ansicht, der „niederen Bourgeoisie" könne plausibel gemacht werden, „daß sie ihrem Ruin nur durch eine Sozialreform vorbeugen" könne (Engels, Entwurf 331). Ins Kommunistische Manifest fand der Begriff Sozialreform aufgrund seiner Verdrängung durch den Terminus Sociale Revolution schließlich nicht mehr Eingang. Eine differenzierte Begriffsbestimmung des Sozialismus legte zum ersten Mal auf deutschem Boden 1846 der liberale Publizist Karl Biedermann (1812-1901) vor. Er unterschied zwischen einem „praktischen Sozialismus", der die „wirkliche Abhilfe der gesellschaftlichen Mißverhältnisse" anstrebe, und einem „filosofischen Sozialismus", dem die Bekämpfung der Not „nur eine Nebensache" sei, weil er „durch die politische Reform zur sozialen" vorstoßen wolle. Die „radikale Sozialreform" beabsichtige, mittels Organisation der Arbeit, Aufhebung der Konkurrenz und Beseitigung des Eigentums an Produktionsmitteln ebenfalls die Systemgrenze zu überspringen. Hierbei sollten nicht die gesellschaftlichen, sondern die politischen Verhältnisse bestimmen, wie weit Sozialreform gehen konnte, ohne radikal zu sein. Die „ N o t w e n d i g k e i t durchgreifender sozialer Reformen (neben den bloßen Palliativmitteln)" stand für Biedermann außer Frage (Biedermann, Bestrebungen, 3. Art. 268); das Problem einer Verfassungsreform wurde in behutsamer Zurückhaltung nicht aufgeworfen. Für seine spätere Verwendung durch die Bildungseliten wurde der Begriff Sozialreform vornehmlich durch Lorenz von Stein (1815-1890) geprägt, wie er in der Schrift Der Sozialismus und Kommunismus des heutigen Frankreich (1842), insbesondere in seiner dritten Bearbeitung unter dem Titel Geschichte der sozialen Bewegung in Frankreich von 1789 bis auf unsere Tage (1850), entfaltet wurde. Seine Untersuchung über Staat und Gesellschaft entwickelte er aus einem in der Tradition -»Hegels stehenden Staatsverständnis. Sozialreform bestimmt nach Stein das Verhältnis von Kapital und Arbeit in Hinblick auf die arbeitende und die besitzende Klasse. Das Interesse der Gesellschaft fordere die Sozialreform, um der sonst unausbleiblichen sozialen Revolution zu entgehen. Stein stellte den „Begriff der politischen R e f o r m " dem „Begriff und Gesetz der politischen Revolution" (Stein I, 93-104) sowie die „soziale R e f o r m " der „sozialen Revolution" (ebd. 1 3 1 138) gegenüber. Die politische Reform ziele auf gesellschaftliche Gleichstellung der abhängigen mit der herrschenden Klasse. Die Revolution hingegen stelle den Versuch dar, die politische Herrschaft der bisher abhängigen Klasse aufzurichten, ohne daß diese Besitz erworben hätte. Sie bewirke daher letztlich die entschiedenere Unterwerfung der abhängigen Klasse. Praktisch wurde die Sozialreform durch Stein nicht vorangetrieben; das Ziel lag in der Stärkung des Königtums, denn: „Alles Königtum wird fortan entweder ein leerer Schatten, oder eine Despotie werden, oder untergehen in Republik, wenn es nicht den hohen sittlichen M u t hat, ein Königtum der sozialen Reform zu werden" (ebd. III, 41).
Sozialreform
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D e r s ü d d e u t s c h e L i b e r a l e A u g u s t L u d w i g von R o c h a u ( 1 8 1 0 - 1 8 7 3 ) , ein K r i t i k e r dieser v o n S t e i n p r o p a g i e r t e n S t a a t s h i l f e , b e z e i c h n e t e d e n „ r e v o l u t i o n ä r e n S o z i a l i s m u s " als einen , , r ü s t i g e [ n ] B u n d e s g e n o s s e [ n ] d e r c o n s e r v a t i v e n P o l i t i k " und wies a u f die W e c h s e l w i r k u n g s o z i a l i s t i s c h e r und k o n s e r v a t i v e r P o l i t i k in B e z i e h u n g a u f S o z i a l r e f o r m h i n : „ W e r d a s E i g e n t h u m b e d r o h t u n d gef ä h r d e t , d e r t r e i b t n i c h t n u r d a s E i g e n t h u m s o n d e r n a u c h die Intelligenz in die A r m e jeder G e w a l t w e l c h e gegen s o l c h e A n g r i f f e S c h u t z v e r h e i ß t " ( R o c h a u 1 6 3 ) . D i e N o t w e n d i g k e i t von „ s o c i a l e n R e f o r m h a n d l u n g e n d u r c h d e n S t a a t " stellt R o c h a u n i c h t in A b r e d e . D e r S p i e l r a u m s t a a t l i c h e r M a ß n a h m e n w e r d e j e d o c h d u r c h d a s E i g e n t u m s r e c h t b e g r e n z t . „ W i l l m a n die i n n e r h a l b j e n e r G r ä n z e liegende w i r t h s c h a f t l i c h e A u f g a b e des S t a a t s die d e r s o c i a l e n R e f o r m n e n n e n , so ist gegen e i n e s o l c h e B e z e i c h n u n g n i c h t s e i n z u w e n d e n . " S o z i a l r e f o r m k ö n n e v o n Seiten des S t a a t e s k ü n f t i g nur d u r c h „ E r s p a r n i ß im S t a a t s h a u s h a l t e " und die E r m ö g l i c h u n g v o n „ F r e i h e i t d e r w i r t s c h a f t l i c h e n K r a f t ü b u n g " (ebd. 164) w i r k s a m g e f ö r d e r t w e r d e n . D i e V o l l e n d u n g von S o z i a l r e f o r m sei j e d o c h nur d u r c h „ S t e i g e r u n g d e r P r o d u k t i o n " ( e b d . 165) zu e r w a r t e n . M i t dieser E n t w i c k l u n g sind d i e drei sich w i d e r s t r e i t e n d e n A u f f a s s u n g e n v o n S o z i a l r e f o r m a u s g e b i l d e t . D e n S o z i a l i s t e n g i n g d e r B e g r i f f n i c h t weit g e n u g , d e n K o n s e r v a t i v e n zu w e i t , und für die L i b e r a l e n h a t t e er sich d u r c h den e i n s e t z e n d e n w i r t s c h a f t l i c h e n A u f s c h w u n g u n d die s c h e i n b a r e L ö s u n g der S o z i a l e n F r a g e e r l e d i g t . D a m i t ist die e i g e n t l i c h e E n t f a l t u n g des Begriffs b e r e i t s i m V o r m ä r z zu i h r e m A b s c h l u ß g e k o m m e n ( D i p p e r 3 3 3 ) .
2. Institutionen
bürgerlicher
Sozialreform
2.1. Die Geschichte bürgerlicher Sozialreform vom Vormärz bis zum Ersten Weltkrieg gliedert sich in die Geschichte ihrer Organisationen. In Absetzung von staatlicher Sozialpolitik und zahlreicher karitativer Bestrebungen bemühten sich aufgeschlossene Beamte, Gelehrte, Unternehmer und Theologen um soziale Reformkonzepte. Die Organisationsbildung von Sozialreform entsprach der zeittypischen bürgerlichen Vereinskultur. Bereits im Kontext der Kabinettsordre Friedrich Wilhelms IV. konstituierte sich der Centraiverein für das Wohl der arbeitenden Klassen als Reaktion auf den Pauperismus und die soziale Problematik der Frühindustrialisierung (-»Industrialisierung). Selbständige Lokal-Vereine waren zunächst für Preußen konzipiert (Revidirtes Statut 1). Nach der Reichsgründung wurde 1872 der Verein für Socialpolitik als Antwort auf die Arbeiterfrage und Arbeiterbewegung gegründet und bezog sich auf das ganze Deutsche Reich. Für die sozialreformerische Kraft im Wilhelminischen Deutschland steht die 1901 ins Leben gerufene Gesellschaft für Soziale Reform. Sie verstand sich als deutsche Sektion der Internationalen Vereinigung für gesetzlichen Arbeiterschutz. 2.2. Am 9. Oktober 1844 schlössen sich während der Gewerbeausstellung des Deutschen Zollvereins in Berlin Fabrikanten, Beamte, Gelehrte und Theologen im Centraiverein für das "Wohl der arbeitenden Klassen (CWAK) zusammen, um für die „Verbesserung des sittlichen und wirthschaftlichen Zustandes der Hand- und Fabrikarbeiter" (Aufruf 7) und gegen einen uneingeschränkten Manchesterliberalismus zu wirken. Friedrich Wilhelm IV. unterstützte zunächst den Verein mit einer Stiftungssumme, übergab aber bald darauf die Zuständigkeit dem Ministerium des Innern, was den sozialreformerischen Handlungsspielraum des CWAK erheblich verringerte. Durch die Märzrevolution 1848 erschien es dem Centraiverein möglich, Sozialreform zu verwirklichen und jeglichen Umsturz zu vermeiden. Etliche Mitglieder waren in der Frankfurter Paulskirche vertreten und gehörten dem Volkswirtschaftlichen Ausschuß der Nationalversammlung an, dessen Arbeit wegen der Niederschlagung 1849 ohne konkrete Ergebnisse blieb. Unter der Leitung von Wilhelm Adolf Lette (1849-1868) gelang es dem CWAK, die örtlichen Vereine weiter auszubauen und Fortbildungsschulen zu errichten; das Engagement im Bereich der Altersversorgung und der Einsatz für die Einrichtung von Fabrikvereinen innerhalb einer Gewerbeordnung ließen sich jedoch nicht durchsetzen. Nach einer Phase der Erlahmung der Vereinsaktivitäten setzte Ende der 50er Jahre das Wirken von Hermann Schulze-Delitzsch (1808-1883) neue Impulse, so daß führende Mitglieder den Volkswirtschaftlichen Kongreß mitbegründeten. Der Begriff Sozialreform war zu dieser Zeit nicht mehr gebräuchlich; sein paternalistischer Klang widersprach der Idee der Selbsthilfe. Nach der Reichsgründung 1871 verlor der
566
Sozialreform
C W A K an Bedeutung einerseits durch seinen elitären Anspruch und andererseits durch die vielfältige Konkurrenz von Vereinen und Verbänden, die ähnliche Ziele verfolgten. Die dichte Vernetzung der Institutionen bürgerlicher Sozialreform zeigte sich am deutlichsten an der Zentralstelle für Arbeiterwohlfahrtseinrichtungen. Ihre Gründung ging auf die durch die Februarerlasse Wilhelms II. (reg. 1888-1918) eingeleitete Sozialreformpolitik zurück und wurde durch den CWAK 1891 gemeinsam mit nahestehenden Organisationen, z. B. mit dem Gesamtverband evangelischer Arbeitervereine Deutschlands und dem katholischen Verband Arbeiterwohl, ins Leben gerufen. Die halbstaatliche Institution hatte die Funktion, die angeschlossenen Verbände und Vereine zu koordinieren. Enge Kontakte bestanden zu dem Institut für Gemeinwohl, das von dem Industriellen Wilhelm Merton (1848-1916) als „eine Art Seminar für jüngere Sozialpolitiker" (Handbuch der Sozialen Wohlfahrtspflege in Deutschland 17) finanziert wurde. Die Verflochtenheit der Verbände setzte sich in dem 1903 durch das Institut errichteten Bureau für Sozialpolitik fort. Das Sekretariat war die Geschäftsstelle des CWAK und diente darüber hinaus der Interessenvertretung der Gesellschaft für Soziale Reform, dem Verein für Sozialpolitik und der Zeitschrift Soziale Praxis. Sein Schriftleiter, Ernst Francke (1852-1921), war der Leiter des Bureaus und fungierte als stellvertretender Vorsitzender des CWAK. Trotz des sorgfältig redigierten CWAK-Organs Der Arbeiterfreund und der viel beachteten politischen Kommentierung Franckes in der Sozialen Praxis war der CWAK von der finanziellen Unterstützung des Instituts für Gemeinwohl abhängig. Mit Tagungen zur Frage der Massenspeisungen 1915 und 1916 trat der CWAK zum letzten Mal an die Öffentlichkeit. (VfS) schlössen sich im Jahr 1872 Hochschullehrer, 2.3. Im Verein für Socialpolitik die sich vom Wirtschaftsliberalismus abgewandt hatten, und Beamte in Führungspositionen zusammen. E r wurde durch Nationalökonomen der jüngeren historischen Schule, den sog. Kathedersozialisten, geprägt, die sich mit der Verschärfung der sozialen Gegensätze nach der Reichsgründung, dem Wiederaufschwung der Gründerjahre und der anschließenden Depression auseinandersetzten. Der erste Vorsitzende, Rudolf von Gneist ( 1 8 1 6 - 1 8 9 5 ) , befürwortete den N a m e n Verein für Sozialreform, der jedoch keine Mehrheit fand. Assoziativ verband sich mit dieser Bezeichnung das „Königtum der sozialen R e f o r m " Steins. Inhaltlich wurde der Begriff Sozialpolitik als der passendere empfunden. Der Mitbegründer des Vereins, Gustav Schmoller ( 1 8 3 8 - 1 9 1 7 ) , bezeichnete diesen als „Stoßtrupp der Sozialreform". Er propagierte „die E p o c h e der sozialen R e f o r m " und dachte Sozialreform als eine „ R e f o r m im Sinne der Gerechtigkeit, der Durchdringung des wirtschaftlichen Lebens mit sittlichen, mit ethischen G e d a n k e n " (Schmoller 133.157). M i t Schmoller und Lujo Brentano ( 1 8 4 4 - 1 9 3 1 ) zählten Fachleute zum Verein, die mit ethischem Reformwillen auf die Wirtschaftswissenschaft einwirkten. Dieser Geist ließ auch Sozialwissenschaftler und Sozialreformer miteinander in hohem M a ß e identisch werden. Grundsätzliche Differenzen der Vereinsmitglieder in ökonomischen Fragen gingen in der Forderung nach Sozialreform nicht auf. Brentano jedoch gelang es, daß Hermann Wageners (1815-1889) sozialkonservative Bestrebungen und Adolph Wagners (1835-1917) Staatssozialismus nicht bestimmend wurden. Schmollers Eintreten für Schutzzölle als notwendige Bedingung für soziale Reformen entsprach der Politik Otto von Bismarcks (1815-1898) und wurde von Brentano und dem Vorsitzenden des Vereins, Erwin Nasse (1829-1890), abgelehnt. Zur Beilegung der Schutzzolldebatte wurde beschlossen, die Tätigkeiten auf wissenschaftliche Erörterungen sozial- und wirtschaftspolitischer Fragen zu beschränken. In der Ära der sozialpolitischen Erlasse Wilhelms II. vom 4. Februar 1890 hatte Schmoller, der einen beherrschenden Einfluß auf die Hochschulpolitik ausübte, den Vorsitz des VfS inne, so daß der Kathedersozialismus zunehmend die polemische Kritik des Unternehmers und Reichstagsabgeordneten Karl Ferdinand Freiherr von Stumm-Halberg (1836-1901) herausforderte. Für ihn bestand in erster Linie das Ziel von Sozialpolitik in der Eindämmung der -»Sozialdemokratie. Die auf die Emanzipation der Arbeiter gerichteten Bestrebungen der Kathedersozialisten diffamierte Stumm als sozialistische Gefährdung des Staates. Der Rücktritt des preußischen Handelsministers Hans Hermann Freiherr von Berlepsch (1843-1926) im Jahre 1896, der mit seiner Sozialpolitik zwischen Sozialdemokratie und Staat zu vermitteln suchte, hatte den Rückzug der preußischen Reformbeamtenschaft wie z.B. Theodor Lohmann (1831-1905) und Franz von Rottenburg (1845-1907) zur Folge. Dadurch wurde der politische Druck auf den VfS verstärkt. Seit Mitte der 9 0 e r J a h r e fand die jüngere Generation, repräsentiert durch Werner Sombart ( 1 8 6 3 - 1 9 4 1 ) , M . Weber und Ferdinand Toennies ( 1 8 5 5 - 1 9 3 6 ) , mehr G e h ö r .
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1897 polemisierte Sombart gegen die älteren Kathedersozialisten, ihre Konzeption sei lediglich auf die Beseitigung sozialer Mißstände und wirtschaftlichen Fortschritt ausgelegt. Gleichzeitig versuchte er, die bürgerliche Sozialreform in die sozialistische Arbeiterbewegung hineinzutragen. Wegen gegensätzlicher Parteien um F. - » N a u m a n n und Schmoller in der Kartelldebatte drohte dem Verein auf der Mannheimer Generalversammlung 1905 die Spaltung. Mit der Beilegung des Streites waren auch die Grenzen des VfS als „Sprechsaal" verschiedener politischer Richtungen deutlich. Durch die erneute Konzentration und Beschränkung des Vereins auf wissenschaftliche Publikationstätigkeit ging die Resonanz in der Öffentlichkeit deutlich zurück. 2.4. In Ergänzung zu dem wissenschaftlich geprägten VfS wurde am 6. Januar 1901 die weitgehend personell und konzeptionell identische Gesellschaft für Soziale Reform (GfSR) gegründet, um durch sie die praktischen Ziele von Sozialreform und Sozialpolitik zu verfolgen. Nach ihren Satzungen beabsichtigte sie, durch „Aufklärung in Wort und Schrift die soziale Reform auf dem Gebiete der Lohnarbeiterfrage in Deutschland zu fördern. Als wesentliche Bestandteile dieser Reform erachtet sie: (a) den weiteren Ausbau der Gesetzgebung im Interesse der Arbeiterklasse; (b) die Förderung der Bestrebungen der Arbeiter, in Berufsvereinen und Genossenschaften ihre Lage zu verbessern" (Satzungen der „Gesellschaft für Soziale R e f o r m " 17). Die GfSR griff direkt in die Debatten um den Arbeiterschutz, in Tarifkonflikte und in Fragen der Fortführung staatlicher Sozialreform ein. Als Adressaten und Träger bürgerlicher Sozialreform waren in der GfSR auch die Organisationen der Arbeiterschaft mit den Hirsch-Dunckerschen Gewerkvereinen, den evangelischen Arbeitervereinen, den katholischen Arbeitervereinen und den christlichen —•Gewerkschaften vertreten. Nach anfänglichem Zögern schlössen sich schließlich die sozialdemokratisch geprägten freien Gewerkschaften an. Die Beschränkung auf die Bildungselite konnte überwunden und die bürgerliche Sozialreform in maßgeblichen Sozialgruppen verankert werden. Durch diese Voraussetzungen war ein Weiterwirken der GfSR nach dem Ersten Weitkrieg möglich. Die Soziale Praxis, seit 1897 der publizistische Mittelpunkt der Sozialreformer, spiegelte auch in der Weimarer Republik alle sozialpolitischen Kontroversen wider. Der Schriftleiter Francke, der bereits im CWAK engagiert war, repräsentierte als Generalsekretär 1901-1913 und als Vorsitzender der GfSR 1920-1921 nun auch diese Kontinuität. M i t der Weltwirtschaftskrise war der Gesellschaft weitgehend ihre Grundlage entzogen. Der Beitritt der Vereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände im Jahre 1926 markierte nach Jahrzehnten des Widerparts nun den Konsens von G f S R und Unternehmertum der Großindustrie. Dies machte deutlich, in welch hohem M a ß e sich Bürgerliche Sozialreform bereits überlebt hatte. Sombart empfahl 1935 die freiwillige Selbstauflösung der G f S R , die im J a h r darauf unter dem Druck der NSDAP vollzogen wurde. Am 22. Januar 1949 wurde in Bonn die GfSR neu gegründet und 1952 wegen enger Beziehung zur Internationalen Vereinigung für Sozialen Fortschritt (progress sozial) in Gesellschaft für Sozialen Fortschritt umbenannt (Sozialer Fortschritt, Berlin, 42 [1993] H. 6/7). Nach einer Selbstdarstellung aus jüngster Zeit verfolgt sie das Ziel, „die soziale Sicherung, den Arbeitsmarkt, die Arbeitsbeziehungen, Frauenfragen, Familienpolitik, Sozialhilfe und alle anderen Fragen der Gesellschaftspolitik wissenschaftlich und vorausschauend zu untersuchen und offensiv und unabhängig darzustellen" (Gesellschaft für Sozialen Fortschritt e.V.). 3. Institutionen
christlicher
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3.1. Die christlich-soziale Bewegung suchte ähnlich der bürgerlichen Ansätze zur Lösung der Sozialen Frage einen Weg zwischen Liberalismus und Sozialismus, Individualismus und Kollektivismus. Nachdem sich Rudolf Todt ( 1 8 3 7 - 1 8 8 7 ) vergeblich um die Einrichtung einer Immediatbehörde für soziale Reformen bemüht hatte, gründete er zusammen mit dem damaligen Leiter der Berliner Stadtmission A. ->Stoecker und anderen Gründungsmitgliedern (Seils 236 Anm. 48) am 5. Dezember 1877 den CentraiVerein für Socialreform auf religiöser und constitutionell-monarchischer Grundlage
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(CfS). Ein ausführliches Gründungsprogramm fehlte; eine „provisorische Satzung" wiederholte im wesentlichen Formulierungen einer Zeitungsanzeige Todts. Der CfS sollte den hier versammelten Sozialreformern als Diskussionsforum dienen, wo das Programm einer „später ins Leben zu rufenden wirklichen Reformpartei" (StSoc 1 [1877/78] lt.) vorbereitet werden solle. Hauptorgan des CfS war Der Staats-Socialist. Wochenschrift für Socialreform, den A. Wagner mit einem Beitrag „Was ist Socialismus?" eröffnete, ohne jedoch Vereinsmitglied zu sein. Diese distanzierte Haltung Wagners traf sich mit der Stoeckers, der mittlerweile Parteipolitiker geworden war und am 28. Mai 1878 aus dem Zentralverein austrat. Todt ließ sich dadurch nicht entmutigen und brachte den Zentralverein bis Ende 1879 auf 900 Mitglieder: Der Staats-Socialist hatte zeitweilig immerhin 1500 Abonnenten. Dem CfS schadete jedoch, daß die Abgrenzung zu Stoeckers Christlich-Sozialer Partei nicht eindeutig war. Es ist Todt nicht gelungen, dem CfS größeren Einfluß auf die preußische Landeskirche, die organisierte Arbeiterschaft sowie die konservativen oder liberalen -»Parteien zu verschaffen. Der CfS verlor immer mehr seine Existenzfähigkeit und vereinigte sich am 1. Dezember 1879 mit Stoeckers Arbeiterpartei. Todts wichtigste These, daß einige Hauptforderungen der damaligen Sozialdemokratie auch im Neuen Testament begründet seien und daher in einer christlichen Sozialethik Geltung haben müßten, fand zu seiner Zeit keine Beachtung; erst im —»Religiösen Sozialismus wurden daraus Konsequenzen gezogen. 3.2. Der 1890 gegründete -*Evangelisch-Soziale Kongreß (ESK), dessen erste Einladung sich „an bekannte Freunde sozialer Reform" (Bericht 3) richtete, wurde nach heftigen theologischen und kulturpolitischen Richtungskämpfen zum sozialtheoretischen Forum des —• Kulturprotestantismus. Die enge Kooperation mit dem VfS und später der GfSR war durch Doppelmitgliedschaften gewährleistet. Die vielfältigen sozialpolitischen Themen der Kongresse wurden z. B. durch den nationalliberalen Reichstagsabgeordneten und Arbeitsrechtler Wilhelm Kulemann (1851-1926), der 1894 über die Gewerkschaftsbewegung sprach, und 1896 durch Hans Delbrück (1848—1922), der in seinem Vortrag über die „Arbeitslosigkeit und das Recht auf Arbeit" Zwangssparkassen, Arbeitsnachweise und Arbeitslosenversicherung forderte, repräsentiert. Unter dem Einfluß des Bodenreformers Adolf Damaschke (1865-1935) sprach man sich auf dem Karlsruher Kongreß 1900 in einer Resolution für eine gesetzliche Regelung der Wohnungsnot und eine Bekämpfung der Bodenspekulation aus (VESK 1900, 116-126). Im darauffolgenden Jahr erwog der Vorsitzende Moritz August Nobbe (1834-1910) die Frage, ob der ESK „wirklich schwierige soziale Probleme geklärt" habe, und vertrat die Ansicht, daß dieser „in einer Zeit sozialen Stillstandes ... fast allein vor der Öffentlichkeit die Uberzeugung von der Notwendigkeit fortschreitender Sozialreformen vertreten" habe (VESK 1901, 2.5). Für die Zukunft forderte Berlepsch die „wirksame Sozialreform", die in „Gerechtigkeiten, nicht Wohltaten" bestehe und mit der die weitere Stärkung des Arbeiters gegen einen patriarchalischen Arbeitgeber einhergehen müsse (ebd. 114f.). 1904 wurde diese Forderung in den Vorträgen des jungen Staatswissenschaftlers Ludwig Bernhard (1875-1935) über „das moderne Lohnsystem und die Sozialreform" und des Industriellen Heinrich Freese (1853-1944) über die „Gewinnbeteiligung der Arbeiter" wieder aufgenommen. Im Jahr darauf benannte A. —»Harnack die Grenzen der Sozialreform, wenn „die Tatkraft und die Selbstverantwortlichkeit geschädigt, ja gelähmt werden, daß sozusagen eine zweite Vorsehung über die Menschen gespannt wird, die sie erschlaffen läßt" (VESK 1905, 2). In der Gegenüberstellung von „Materialismus" als Folge von Trägheit und anspornendem „Individualismus" brachte Harnack die weitverbreitete Stimmung unter den älteren Sozialreformern zum Ausdruck. Unter dem Vorsitz von Otto Baumgarten (1858-1934; vgl. T R E 10,648, 2 4 - 4 4 ) lehnte sich der ESK in seinen sozialpolitischen Kommentaren an die GfSR an. Nach dem Ausscheiden Stoeckers aus dem ESK ( T R E 10,648, 8 - 2 2 ) sammelten sich die sozialkonservativen Theologen in der Freien Kirchlich-Sozialen Konferenz (FKSK). Im Gegensatz zum
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„akademischen Sprechsaal, von dem wohl ... wertvolle theoretische Anregungen ausgingen, der aber praktisch nichts erreichte" (Oertzen 158), sollte hier - in Anknüpfung an die Ziele der christlich-sozialen Bewegung ohne deren politische Parteianbindung - die durch den ESK aufgebrochene Verbindung von positivem christlichem Bekenntnis und sozialer Arbeit wiederhergestellt werden. Sozialreform wurde primär pragmatisch als Umsetzung sozialer Reformen verstanden. Für die Abwehr von Materialismus und Atheismus wurde ihr jedoch wenig zugetraut, wie es der Mitbegründer Martin von Nathusius (1843-1906) formulierte: „Die soziale Reform, die wirtschaftliche Gesetzgebung, an der wir heute arbeiten, ist zweifellos von der größten praktischen Bedeutung. Aber ebenso zweifellos liegt hier die letzte Entscheidung nicht. Die letzte Entscheidung liegt vielmehr in den Ideen, welche uns selbst beherrschen" (Nathusius 949). Nach der Jahrhundertwende weiteten sich unter dem Generalsekretär Reinhard Mumm (1873-1932) die sozialpolitischen Aktivitäten der FKSK aus, die in bezug auf Mitgliederzahl und Effizienz der Organisation den ESK phasenweise überflügelte. Der Vorsitzende R. ->Seeberg öffnete die FKSK für einen wissenschaftlichen Diskurs, durch den die Thematiken der Konferenzen eine deutliche Säkularisierung erfuhren. Durch die partielle Modernisierung der FKSK war die Voraussetzung für die Verfolgung einer christlich-nationalen Sozialpolitik geschaffen. Nach 1918 bestand die Konferenz unter der Bezeichnung Kirchlich-Sozialer Bund bis 1934. 3.3. In den 1846 von A. —»Kolping ins Leben gerufenen Katholischen Gesellenvereinen und den von W . E . F r h r . von Ketteier angestoßenen Christlich-sozialen Vereinen wurden sozialreformerische Ideen bereits M i t t e des 19. J h . entwickelt. Auch die Katholikentage hatten sich 1848 laut ihrer Satzungen die Aufgabe gestellt, „zur Hebung der herrschenden sozialen Mißverhältnisse und Übelstände nach Kräften beizutragen", und hielten es sich zugute, wie Ludwig W i n d t h o r s t ( 1 8 1 2 - 1 8 9 1 ) in Düsseldorf 1883 formulierte, „das Banner der sozialen R e f o r m zuerst entfaltet und mit mutiger H a n d weiterg e t r a g e n " zu haben (Filthaut 1 5 . 8 9 ) . In der Zeit des Kulturkampfes (20. M a i 1880) gründete der Industrielle F r a n z Brandts ( 1 8 3 4 - 1 9 1 4 ) in Z u s a m m e n a r b e i t mit G e o r g F r h r . von Hertling ( 1 8 4 3 - 1 9 1 9 ) und dem Mainzer D o m k a p i t u l a r Christoph M o u f a n g ( 1 8 1 7 - 1 8 9 0 ) in Aachen den Verband Arbeiterwohl., Verband kaiholischer Industrieller und Arbeiterfreunde (Aw). M i t dem Generalsekretär F r a n z Hitze ( T R E 1 6 , 1 5 0 ) als Mitglied des Preußischen Abgeordnetenhauses und des Reichstags sowie Hertling als Sozialreferent der Zentrumsfraktion w a r die politische Verknüpfung deutlich. Der Verband A w erarbeitete für das Z e n t r u m Stellungnahmen zu sozialpolitischen T h e m e n und beeinflußte die Stellung zur Arbeiterschutzgesetzgebung. W i n d t h o r s t , Vorsitzender der Zentrumsfraktion, n a h m regelmäßig an den bis 1890 in Verbindung mit den Katholikentagen durchgeführten Generalversammlungen des Aw teil. N a c h dem Fall des Sozialistengesetzes begann für den politischen Katholizismus eine neue Phase in der Auseinandersetzung mit der sozialistischen Arbeiterbewegung. Ihr sollte neben dem A w mit dem a m 2 4 . O k t o b e r 1 8 9 0 gegründeten Volksverein für das katholische Deutschland (VkD) eine Basisorganisation entgegengestellt werden, die bis 1914 über 8 0 0 . 0 0 0 Mitglieder zählte. Neben Hitze und Windthorst engagierte sich besonders Brandts, der zusätzlich zu seiner Tätigkeit im Aw auch hier den Vorsitz übernahm. Als Ziel des VkD wurde bezeichnet, „einerseits den Umsturzbestrebungen der Sozialdemokraten entgegenzutreten, andererseits die Gedanken und Anregungen einer christlichen Sozialreform in immer weitere Kreise zu tragen" (Was will der Volksverein 2). Dies gelang dem VkD insbesondere durch die umfassende Unterstützung der 1881 errichteten Katholischen Arbeitervereine und der Mitte der 90er Jahre entstandenen Christlichen Gewerkschaften. Wesentliche Aufgabe katholischer Vereinsarbeit bestand in der Bildungsarbeit, die zu eigenem sozialreformerischem Handeln befähigen sollte, wie z. B. die zwischen 1901 und 1914 vom VkD durchgeführten zehnwöchigen Volkswirtschaftlichen Kurse. Die Ausrichtung des V k D auf eine „christliche S o z i a l r e f o r m " orientierte sich zunächst an der Enzyklika Rerum novarum (1891) und wurde wissenschaftlich durch den Kathedersozialismus fundiert. Der V k D gehörte als Mitglied dem VfS an; Brandts, Hitze und August Pieper ( 1 8 6 6 — 1 9 4 2 ) , der Geschäftsführer des V k D , waren Gründungsmitglieder der GfSR. Seit der J a h r h u n d e r t w e n d e gelang es dem mitgliederstarken V k D zu-
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nehmend, sich aus seiner defensiven Haltung der Sozialismusbekämpfung zu lösen und gezielt durch seine im Zentrum engagierten Mitglieder und eine geschickte Medienpolitik Druck auf Parteien und Regierungen auszuüben. In der Weimarer Republik erlitt der VkD einen erheblichen Bedeutungsverlust. Die fortschreitende parteipolitische Zersplitterung des deutschen Katholizismus durch den Reichsausschuß der Katholiken der Deutschnationalen Volkspartei (DNVP) und der Bayerischen Volkspartei erschwerten es dem VkD, weiterhin als Gesamtverein der deutschen Katholiken zu fungieren. Auch seinen sozialreformerischen Idealen konnte er in den letzten Jahren vor seiner Auflösung 1934 nicht mehr gerecht werden. 4. Nach
1945
Nach 1945 war Sozialreform von der katholischen Soziallehre bestimmt. Während die bürgerliche Sozialreform im 20. Jh. an Bedeutung verlor, erhob der Vatikan die Sozialreform durch die Sozialenzykliken (Rerum novarum 1891; Quadragesimo anno 1931) zur offiziellen Lehrmeinung der Kirche. In der katholischen Soziallehre ging es nicht nur um die Frage sittlicher Gebote in der Wirtschaftsordnung als einem Konflikt zwischen Kapital und Arbeit, sondern sie bezog sich auf das Naturrecht, um von hier aus „die Berechtigung oder Unzulässigkeit der sozialistischen oder sozialreformatorischen Forderungen zu erkennen" (von Hertling 7). Sozialreform war nun nicht mehr am Lohnarbeitsverhältnis, sondern an der Gesamtgesellschaft orientiert und wurde zu deren Fundamentalziel. Durch diese neue Dimension unterschied sie sich von Sozialpolitik, denn: „Sozialpolitik begnügt sich mit Flickwerk an der Gesellschaftsordnung, Sozialreform dagegen erstrebt deren Neubau" (Jostock 147f.). So war sie nicht länger an Systemgrenzen gebunden und unterlag dennoch nicht dem Verdacht der Revolution. Durch O. von -»Nell-Breuning, der die Sozialreform als „Gehilfin der Gesellschaftspolitik" bezeichnete (Nell-Breuning 87), wurde die Sozialreform auf ein Spektrum moderner und noch zu entwickelnder Systeme bezogen. In den 50er Jahren wurde vom Bundesministerium für Finanzen eine Arbeitsgemeinschaft Sozialreform eingerichtet, um die Renten an die Leistungsfähigkeit der Volkswirtschaft anzupassen. Die vom Sozialkatholizismus ursprünglich beeinflußte Sozialreform wurde in der Adenauerära zum Schlagwort zur Kennzeichnung von Reorganisationsproblemen der sozialen Sicherung und bestimmte als solches die politische Auseinandersetzung dieser Jahre. Im Bereich des Protestantismus spielte der Begriff Sozialreform in der Nachkriegszeit keine Rolle, auch wenn die Themen der Sozialreform durchaus präsent waren. Quellen 1. Zeitschriften und Reihen (in Auswahl): Archiv f. die Gesch. des Sozialismus u. der Arbeiterbewegung. In Verbindung mit einer Reihe namhafter Fachmänner aller Länder hg. v. Carl Grünberg, Leipzig, 1 (1911) —15 (1930). - Der Staats-Socialist. Wochenschr. f. Socialreform, Berlin, 1 (1877/ 78)—5 (1882). - EvSoz 1 (1904) - [48] (1943). - Mittheilungen des Centraivereins f. das Wohl der arbeitenden Klassen, Berlin, 1 ( 1 8 4 8 / 4 9 ) - 3 (1851/52); NF, Red. C. Schneitier, Berlin, 1 (1853/54) - 2/2 (1859); danach: Zs. des Centrai-Vereins in Preussen f. das Wohl der arbeitenden Klassen, hg. v. Guido Weiß, Leipzig, 1 ( 1 8 5 8 / 5 9 ) - 4 (1862); danach: Der Arbeiterfreund. Zs. f. die Arbeiterfrage, Halle, 1 ( 1 8 6 3 ) - 5 2 (1914). - Rheinische Jb. zur gesellschaftlichen Reform, hg. v. Hermann Püttmann, Darmstadt, 1 ( 1 8 4 5 ) - 2 (1846). - Schriften der Gesellschaft f. Soziale Reform, Jena, 1 (1901)-84/85 (1931). - Sozialpolitisches Centralbl., hg. v. Heinrich Braun, Berlin, 1 ( 1 8 9 2 ) - 3 (1893/94); danach: Soziale Praxis. Zentralbl. f. Sozialpolitik, Organ des Verbandes Dt. Gewerbegerichte, hg. v. Ignaz Jastrow, Berlin u.a., 4 ( 1 8 9 4 / 9 5 ) - 6 (1896/97); danach: Soziale Praxis. Centralbl. f. Sozialpolitik, hg. v. Ernst Francke, Leipzig, 7 (1897/98) —18 (1908/9); danach: Soziale Praxis u. Archiv f. Volkswohlfahrt, hg. v. Ernst Francke, Berlin, 19 (1909/10)-36 (1927); danach: Soziale Praxis. Zentralbl. f. Sozialpolitik u. Wohlfahrtspflege, Berlin,37 (1928)-52 (1943).-Sozialer Fortschritt. Hefte u. Flugschr. f. Volkswirtschaft u. Sozialpolitik, Leipzig, 1 (1904)-100 (1907); danach: Kultur u. Fortschritt. Hefte f. Volkswirtschaft, Sozialpolitik, Frauenfrage, Rechtspflege u. Kulturinteresse, Leipzig, 1 ( 1 9 0 7 ) - 5 6 0 (1920). - Sozialer Fortschritt. Unabhängige Zs. f. Sozialpolitik, hg. v. der Gesellschaft f. sozialen Fortschritt e.V. Bonn, Berlin, 1 (1952) ff. - Sozial-Korrespondenz, Dresden 1912-1919. - Unsere Gegenwart u. Zukunft, hg. v. Karl Biedermann, Leipzig,
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1 ( 1 8 4 6 ) - 1 0 ( 1 8 4 8 ) . - V E S K 8 ( 1 8 9 7 ) - 4 0 ( 1 9 3 3 ) ; d a v o r : B V E S K l ( 1 8 9 0 ) - 7 ( 1 8 9 6 ) . - D e r Volksverein f. das Kath. Deutschland, München-Gladbach, 1 ( 1 8 9 1 ) - 4 3 (1933). - Volkswohl. Monatsschr. f. sociale u. politische Reform, Frankfurt a.M., 1 (1849). - Vorwärts! Pariser Signale aus Kunst, Wiss., Theater, Musik u. geselligem Leben, hg. v. Heinrich Börnstein. Unter Mitarb. v. L.F.C. Bernays/Arnold Ruge/Heinrich Heine/Karl Marx/Friedrich Engels, Paris, 1 (1844); danach: Vorwärts! Pariser Dt. Zs., Paris, 53 ( 1 8 4 4 ) - 1 0 4 (1845) [unveränd. Neudr. Leipzig 1975], 2. Schriften!Artikel-, Aufruf zur Bildung eines Vereins f. das Wohl der Hand- u. Fabrikarbeiter vom 7. Oktober 1844: Mittheilungen des Centraivereins (s.o. 1.) 1 (1848) 7 - 9 . - Bericht über die Verhandlungen des Ersten Ev.-sozialen Kongresses, Berlin 1890. - Karl Biedermann, Sozialistische Bestrebungen in Deutschland, 1. Art. Der filosofische Sozialismus: Unsere Gegenwart u. Zukunft 1 (1846) 1 9 4 - 2 6 4 ; 2. Art. Der prakt. Sozialismus: ebd. 2 (1846) 2 0 6 - 2 6 7 ; 3. Art. Die drei Zielpunkte einer radikalen Sozialreform: ebd. 4 (1846) 2 6 8 - 3 3 2 . - Johann Caspar Bluntschli, Art. Revolution u. Reform: ders./Karl Brater, Dt. Staats-Wb., Stuttgart/Leipzig, VIII 1864, 6 0 5 - 6 1 0 . - Edmund Burke, Reflections on the Revolution in France, and on the Proceedings in Certain Societies in London Relative to that Event, London 1790 Harmondsworth 1978; dt.: Betrachtungen über die Franz. Revolution. In der dt. Übertragung v. Friedrich Gentz. Bearb. u. mit einem Nachw. v. Lore Iser, Frankfurt a . M . 1967. - Adolf Damaschke, Die Bodenreform. Grundsätzliches u. Geschichtliches zur Erkenntnis u. 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572
Sozialwissenschaften I
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Sozialstaat ->Staat/Staatsphilosophie, -»Wohlfahrtsstaat Sozialwissenschaften I. Philosophisch-wissenschaftsgeschichtlich II. Ethisch III. Praktisch-theologisch
S. 5 8 1 S. 5 8 6
I. Philosophisch-wissenschaftsgeschichtlich 1. Allgemeine Charakteristik 2. Zur Geschichte der Sozialwissenschaften 3. Zu Gegenstand und Grundproblemen sozialwissenschaftlicher Hauptdisziplinen 4. Methodologische Probleme (Literatur S. 580)
Sozialwissenschaften I 1. Allgemeine
573
Charakteristik
Die Sozialwissenschaften, die sich mit der Struktur, der Genese und den Wirkungen des menschlichen Verhaltens insbesondere in seinen Wechselbeziehungen zu kulturellen, sozialen, wirtschaftlichen und politischen Institutionen befassen, schließen folgende Hauptdisziplinen ein: die Ethnologie (samt der Kultur- und Sozialanthropologie), die Soziologie (samt der Demographie, Sozialgeographie und Sozialpsychologie; -»Gesellschaft/Gesellschaft und Christentum), die Wirtschaftswissenschaften (insbesondere die Volkswirtschaftslehre und Volkswirtschaftspolitik, einschließlich einer als MikroÖkonomik verstandenen Betriebswirtschaftslehre) und die Politikwissenschaft (einschließlich der Rechts- und Staatswissenschaften; ->Politik/Politologie). Selbstverständlich werden den Sozialwissenschaften auch jüngere Fächer zugerechnet, die oft durch ein entsprechendes Präfix als Subdisziplin einer etablierten sozialwissenschaftlichen Disziplin erkennbar sind, so z. B. die Wirtschaftsgeographie, die Sozialökologie, die Sozial- und Wirtschaftsgeschichte oder die -»Sozialpädagogik. Vertreter der sog. strukturalistischen Geschichtswissenschaft verstehen die Sozialgeschichte sogar explizit als historische Sozialwissenschaft. Die Grenze zwischen den Geistes- und den Sozialwissenschaften ist nicht scharf und eher eine solche des Grades als eine der kategorialen Unterschiedlichkeit; nicht immer ist die idiographisch-narrative Darstellung eindeutig den Geisteswissenschaften und die nomothetisch-erklärende den Sozialwissenschaften zuzuordnen. Wie in den Geisteswissenschaften auch, so hat sich in den Sozialwissenschaften eine Dreiteilung durchgesetzt: die jeweilige Disziplin erscheint einmal in historischer, dann in vergleichender, schließlich in systematischer Perspektive. Nicht selten ist mit der vergleichenden Betrachtung ein auch verschiedene Nachbardisziplinen des jeweiligen sozialwissenschaftlichen Faches integrierendes Bestreben nach wissenschaftlichen Synthesen verknüpft. In historischer Perspektive begegnet uns einmal der Gegenstand der jeweiligen Sozialwissenschaft selbst (z.B. in den Wirtschaftswissenschaften), dann aber auch die im Wandel der Zeit erfolgende wissenschaftliche Erschließung dieses Gegenstandes (z. B. in der ökonomischen Dogmengeschichte). Um zu begreifen, was eine Sache ist, rekonstruiert man, wie sie geworden ist und - parallel dazu - wie sich die Wissenschaft von dieser Sache entwickelt hat. Oftmals wird dabei deutlich, wie sehr einerseits die Sache ganz bestimmte wissenschaftliche Fragen aus sich hervortreibt, wie aber andererseits Antworten darauf die ursprünglich als Gegebenheit angesehene Sache oft in einem völlig neuen Licht erscheinen lassen. Der Gegenstand der vergleichenden sozialwissenschaftlichen Betrachtung kann abermals das Forschungsobjekt selbst oder aber die mit ihm befaßte Forschung, auch jene aus anderen Disziplinen, sein. Bei der systematischen Betrachtung geht es in den einzelnen Sozialwissenschaften um die exakte Gegenstandsbestimmung (Ontologie), um die Entwicklung der fachspezifischen Forschungstechniken und Rechtfertigungsmethoden (Methodologie) sowie um den Fächerkanon, den die jeweilige Disziplin ausbildet. Gegenstandsbestimmung, Methoden und Fächerkanon stehen naturgemäß zueinander in einer engen logischen, nicht selten auch in einer empirischgenetischen Beziehung. 2. Zur Geschichte
der
Sozialwissenschaften
Die mittelalterliche Theologie, wie sie uns insbesondere durch -»Thomas von Aquinos Summa theologiae überliefert ist, enthielt eine Zusammenschau von Ideen über die Natur, die Gesellschaft und den Menschen, die aus Elementen der griechisch-römischen Philosophie, der jüdisch-christlichen Religion und gewisser nicht unmittelbar religiöser Inhalte der romanisch-germanischen Lebensformen bestanden. Es ist der engen Beziehung zwischen der mittelalterlichen Theologie und den Ideen über Mensch und Gesellschaft zuzuschreiben, daß diese Ideen - etwa im Vergleich zu den Ideen über die Natur - so lange Zeit benötigten, um auch nur in Ansätzen wissenschaftlichen Charakter er-
574
Sozialwissenschaften I
langen zu können. Trotz all der Innovationen im Denken -»Alberts des Großen, Roger Bacons (ca. 1 2 1 4 - ca. 1292) oder - » D u n s Scotus' blieb das auf die Natur bezogene experimentelle Denken von den Bereichen der Anthropologie und Gesellschaftsanalyse im selben M a ß e abgesondert wie das wissenschaftliche Denken insgesamt vom theologischen. Aber mit der Emanzipation des Politischen vom Religiösen im 16. und 17. J h . , die vor allem im Werk N . - » M a c h i a v e l l i s , J e a n Bodins ( 1 5 2 9 / 3 0 - 1 5 9 6 ) und T h . - » H o b bes' ihren Niederschlag gefunden hat, begann ein Prozeß der Ablösung sozialer Subsysteme aus dem ursprünglich sie alle umfassenden religiös-politischen Zusammenhang. Im 18. J h . trat die Wirtschaft als eigene Organisationsstruktur aus dem Staatsganzen heraus, und ihr korrespondierten - im Anschluß an die zum Teil schon aus dem 17. J h . stammenden Studien von William Petty ( 1 6 2 3 - 1 6 8 7 ) , T h o m a s M u n ( 1 5 7 1 - 1 6 4 1 ) und Richard Cantillon ( 1 6 8 0 - 1 7 3 4 ) - die wirtschaftswissenschaftlichen Erörterungen von Anne R o b e r t Jacques Turgot ( 1 7 2 7 - 1 7 8 1 ) , Adam Smith ( 1 7 2 3 - 1 7 9 0 ) , Jean-Baptiste Say ( 1 7 6 7 - 1 8 3 2 ) und David R i c a r d o ( 1 7 7 2 - 1 8 2 3 ) . Schließlich erfolgte - parallel zu den sozialen Emanzipations- und Revolutionsbestrebungen - seit ca. 1800 eine begriffliche Ausgliederung des gesellschaftlichen Systems im engeren Sinn aus der Ordnung des Staates, wobei von Seiten der Rechts- und Moralphilosophen zunächst dem Staat die Legalität, der Gesellschaft jedoch die M o r a l i t ä t zugeordnet wurde. N a c h den einschlägigen Vorarbeiten der schottischen Moralphilosophen (vor allem von D. - » H u m e , Adam Ferguson [ 1 7 2 3 - 1 8 1 6 ] , J o h n Miliar [ 1 7 3 5 - 1 8 0 1 ] ) sowie seiner französischen Landsleute Antoine de Condorcet ( 1 7 4 3 - 1 7 9 4 ) und Claude Henri de Rouvroy Saint-Simon ( 1 7 6 0 1825) war es Auguste C o m t e ( 1 7 9 8 - 1 8 5 7 ) , der der Soziologie nicht nur zu ihrem N a m e n verhalf, sondern sie auch als wissenschaftliche Disziplin systematisch darzustellen suchte. L a m b e r t Adolphe Jacques Quételet ( 1 7 9 6 - 1 8 7 4 ) und Frédéric Le Play ( 1 8 0 6 - 1 8 8 2 ) wurden deren erste namhafte Forschungstechniker. Die schon von den schottischen Moralphilosophen, aber insbesondere im Umkreis der Philosophie des Deutschen -»Idealismus thematisierten Fragen nach den F o r m e n und Inhalten der Ethik und Ästhetik provozierten sozialwissenschaftliche Forschungen einer anderen Art. Insbesondere die Inhalte der M o r a l und der Kunst erschienen als in hohem M a ß e durch die bestehenden kulturellen Gegebenheiten - vor allem die religiösen Glaubensinhalte und die traditionellen Lebensformen - bedingte Sachverhalte. Z u m Teil in Anlehnung an die kulturvergleichenden Betrachtungen von - » M o n t e s q u i e u , -»Voltaire und - » R o u s s e a u aus dem 18. J h . entwickelte sich - initiiert und repräsentiert vor allem von Lewis Henry M o r g a n ( 1 8 1 8 - 1 8 8 1 ) , Edward Burnett Tylor ( 1 8 3 2 - 1 9 1 7 ) , Heyman(n) Steinthal ( 1 8 2 3 - 1 8 9 9 ) , M o r i t z Lazarus ( 1 8 2 4 - 1 9 0 3 ) und Wilhelm Wundt ( 1 8 3 2 - 1 9 2 0 ) - in der zweiten Hälfte des 19. J h . die Völkerpsychologie und Völkerkunde (Ethnologie) als akademische Disziplin. Damit sind um 1900 alle vier Hauptdisziplinen der Sozialwissenschaften - wenn auch oft noch unter anderer Bezeichnung (z. B. G e sellschaftslehre statt Soziologie, Staatswissenschaften statt Politikwissenschaft) - an vielen Universitäten Europas und der USA, aber auch an manchen Japans und lateinamerikanischer Länder institutionalisiert. D i e w e i t e r e A u s d i f f e r e n z i e r u n g d e r s o e b e n g e n a n n t e n s o z i a l w i s s e n s c h a f t l i c h e n Disziplinen ist n i c h t n u r als eine w i s s e n s c h a f t s e n d o g e n sich v o l l z i e h e n d e E n t w i c k l u n g zu v e r s t e h e n , s o n d e r n w e i t g e h e n d a u c h als eine R e a k t i o n d e r w i s s e n s c h a f t l i c h e n F o r s c h u n g s e i n r i c h t u n g e n a u f die p o l i t i s c h e u n d s o z i a l e s o w i e a u f die industrielle R e v o l u t i o n seit d e m letzten Drittel des 18. J h . , w o m i t n e u e I d e o l o g i e n u n d S i t u a t i o n s d e f i n i t i o n e n v e r k n ü p f t w a r e n . W i e die M e n s c h e n a u f die o b j e k t i v e n G e g e b e n h e i t e n ihrer Z e i t - e t w a die w a c h s e n d e n T e n d e n z e n zur Industrialisierung und D e m o k r a t i s i e r u n g - r e a g i e r e n , sollte sie als V e r t r e t e r des K o n s e r v a t i v i s m u s , des - » L i b e r a l i s m u s o d e r des - » S o z i a l i s m u s a u s w e i s e n . E s sind diese drei G r o ß i d e o l o g i e n , die u n g e a c h t e t ihrer jeweils i n t e r n g e g e b e n e n U n t e r s c h i e d l i c h k e i t d a s p o l i t i s c h - s o z i a l e s o w i e d a s intellektuelle L e b e n im 1 9 . und 2 0 . J h . n a c h h a l t i g beeinflussen s o l l t e n . G r o b g e s p r o c h e n , w a r die A u f f a s s u n g der L i b e r a l e n ü b e r w i e g e n d d e m o k r a t i s c h , k a p i t a l i s t i s c h , industrialistisch u n d i n d i v i d u a l i s t i s c h ; die d e r K o n s e r v a t i v e n w a r ü b e r w i e g e n d d e m o k r a t i e k r i t i s c h , i n d u s t r i a l i s i e r u n g s f e i n d l i c h u n d w e i t g e h e n d s t ä n d i s c h o r i e n t i e r t , w o b e i sie sich den v o r r e v o l u t i o -
Sozialwissenschaften I
575
nären Traditionen und Autoritätsverhältnissen verbunden zeigten; die radikal antikapitalistischen Sozialisten akzeptierten im Unterschied zu den Konservativen die D e m o k r a t i e , und dies vor allem im Sinne einer langfristig erfolgenden völligen Abschaffung aller Autoritätsbeziehungen, die nicht unmittelbar als funktionale Erfordernisse im technisch-industriellen und im ö k o n o m i s c h e n Bereich gebilligt werden k ö n n e n . (Anarchistische Sozialisten wandten sich allerdings auch gegen technokratische Eliten.) Diese politisch-ideologischen Folgen der sog. Doppelrevolution haben sich als außerordentlich bedeutsam für die E n t w i c k l u n g der Sozialwissenschaften im 19. J h . erwiesen. Es ist schwierig, seither Sozialwissenschaftler zu finden, die nicht entweder in einem bestimmten U m fang in die ideologischen Streitigkeiten ihrer Zeit verwickelt waren oder aber doch explizit zu ihnen Stellung bezogen haben. Q u e r zu den drei Großideologien k a m e n bereits im 19. J h . drei mächtige geistige Strömungen zu liegen, denen mehr oder minder alle Vertreter der Sozialwissenschaften - positiv oder negativ - R e c h n u n g getragen haben: der -»Positivismus, die Evolutionstheorie ( - > E v o l u t i o n i s m u s ) und der Historismus. Gleich den politischen Ideologien sind auch diese intellektuellen Strömungen nicht h o m o g e n e geistige Gebilde. So wie es unter den Konservativen Struktur- und Wertkonservative gibt, unter den Liberalen Vertreter des politischen und des wirtschaftlichen Liberalismus und unter den Sozialisten Vertreter einer zentralistischen und einer anarchistischen O r d n u n g sowie solche eines revolutionären und eines reformistischen Weges zur klassenlosen Gesellschaft, so sind auch die drei genannten intellektuellen Strömungen des 19. J h . nicht jeweils in sich geschlossen. Die Vertreter des Positivismus unterscheiden sich sonach maßgeblich darin, o b sie der D o k t r i n des methodologischen Holismus anhängen, w o n a c h in der Betrachtung sozialer P h ä n o m e n e die Priorität einer Ganzheit gegenüber jenen Teilen z u k o m m e , aus denen sie besteht (so z. B. A. C o m t e ) , oder aber der D o k t r i n des methodologischen Individualismus, dem zufolge soziale T a t s a c h e n nur unter Bezugnahme auf die Handlungen und Absichten der sie konstituierenden Individuen erklärbar sind (so z . B . J o h n Stuart Mill [ 1 8 0 6 - 1 8 7 3 ] ) . Was andererseits die Vertreter der Evolutionstheorie anlangt, so gibt es Anwälte der T h e s e , w o n a c h kulturelles Handeln nur eine Hochstilisierung oder Sublimierung der biologischen Anpassung eines O r g a n i s m u s oder einer ganzen G a t t u n g sei (z. B. H . - » S p e n c e r ) , aber auch Anwälte eines kategorialen Unterschiedes zwischen biologischer und kultureller Evolution ( z . B . Ludwig G u m p l o w i c z [ 1 8 3 8 - 1 9 0 9 ] ) bzw. yeveait; und zeXeoit; (Lester F r a n k Ward [ 1 8 4 1 - 1 9 1 3 ] ) ; insbesondere in der jüngeren Soziobiologie bestehen zudem grundlegende Unterschiede in der Auffassung des Eigeninteresses als der bestimmenden Kraft bei der Anpassung eines O r g a n i s m u s an seine Umwelt sowie bezüglich der Entwicklung und R o l l e altruistischer Verhaltensweisen (vgl. E d w a r d O s b o r n e Wilson [geb. 1929]; R i c h a r d D a w k i n s [geb. 1941]; Wolfgang W i c k l e r [geb. 1931]). Die Vertreter des Historismus wiederum, die sich allesamt vom Evolutionismus der N a t u r w i s senschaften unterscheiden wollen und auf die Variabilität spontaner O r d n u n g e n verweisen, sind dennoch unterschiedlicher Ansicht bezüglich der M ö g l i c h k e i t oder Unmöglichkeit eines Nachweises sozialer oder kultureller Universalien in der G e s c h i c h t e (z. B . W. - » D i l t h e y ; E . —»Troeltsch; G e o r g Simmel [ 1 8 5 8 - 1 9 1 8 ] ) . Es waren insbesondere Vertreter der E t h n o l o g i e und Kulturanthropologie, die sich in der Folge um einen entsprechenden N a c h w e i s bemühten (s.u. 3.1.). W a s die E n t w i c k l u n g sozialwissenschaftlicher Einzeldisziplinen a n g e h t , s o w a r dieser D i f f e r e n z i e r u n g s p r o z e ß bis h e r a u f ins 2 0 . J h . v o n D e k l a r a t i o n e n b e g l e i t e t , w o n a c h e i n e b e s t i m m t e D i s z i p l i n als „ G r u n d w i s s e n s c h a f t " a n z u s e h e n sei; es l e u c h t e t e i n , d a ß m i t d e r a r t i g e n B e h a u p t u n g e n - s c h o n w e g e n der A u s z e i c h n u n g g e w i s s e r Variablen als der g r u n d l e g e n d e n F a k t o r e n in s o z i a l w i s s e n s c h a f t l i c h e n E r k l ä r u n g e n - a u c h e i n e T e n d e n z z u r V e r e i n h e i t l i c h u n g e i n h e r g i n g (z. B . A . C o m t e ; H e n r y T h o m a s B u c k l e
[1821-1862];
J o h n B r o a d u s W a t s o n [ 1 8 7 8 - 1 9 5 8 ] ) . A n d e r e r s e i t s g a b es seit j e h e r S o z i a l w i s s e n s c h a f t l e r , denen das Konzept der Einheit der Sozialwissenschaften nur unter d e m
Gesichtspunkt
einer interdisziplinären K o o p e r a t i o n v o n v e r w a n d t e n Einzeldisziplinen sinnvoll erschien (z.B. A. Smith; M . -»Weber; Wieser; Schumpeter). 3. Zu 3.1.
Gegenstand
Ethnologie
und und
Grundproblemen
sozialwissenschaftlicher
Hauptdisziplinen
Kulturanthropologie
D i e s e o f t i n h a l t l i c h m i t e i n a n d e r i d e n t i f i z i e r t e n D i s z i p l i n e n leiten s i c h v o n d e n R e i seberichten des Kolonialzeitalters, insbesondere aber v o n der vergleichenden Kulturges c h i c h t s s c h r e i b u n g V o l t a i r e s u n d R o u s s e a u s i m 1 8 . J h . h e r . Sie n e h m e n bei d e n L e b e n s f o r m e n von Ethnien oder Völkern ihren A u s g a n g , w o b e i diese L e b e n s f o r m e n z u n ä c h s t B r ä u c h e und Sitten, Werthaltungen und G l a u b e n s ü b e r z e u g u n g e n , Kunstfertigkeiten und
576
Sozialwissenschaften I
T e c h n i k e n u m f a s s e n , s o d a n n a b e r auch A n n a h m e n und W i s s e n s b e s t ä n d e , die sich auf die N a t u r , die G e s e l l s c h a f t und den M e n s c h e n beziehen. E t h n o l o g i e und Kulturanthropologie sind s o n a c h mit Lebens- und mit D e n k f o r m e n befaßt. Die Frage, in welchem Maße bestimmte Elemente in den Lebensformen unterschiedlicher Kulturen gleich, ähnlich oder aber ganz verschieden sind, beherrschte den für die Ethnologie konstitutiven Grundkonflikt zwischen Vertretern des Partikularismus und des Universalismus. Franz Boas (1858-1942) ist ein exemplarischer Vertreter des Partikularismus, der seine Wurzeln im historistischen Denken der deutschen Hermeneutik um 1900 hat. Er, der vor allen vorschnellen Verallgemeinerungen und Identifikationen warnte, erblickte allerdings im Bereich der Linguistik die Möglichkeit, Einsichten in die universelle Gebundenheit der menschlichen Denk- und Handlungsweisen zu gewinnen und dadurch eine gewisse Struktur in das Chaos der historischen und kulturellen Variabilität zu bringen. Im Unterschied dazu war Lucien Levy-Bruhl (1857-1939) in seinen jüngeren Jahren als ein Vertreter der sog. Inkommensurabilitätsthese am Werk, derzufolge keine Möglichkeit der Übersetzung von Denk-, Gefühls- und Willenshaltungen zwischen Kulturen oder Gesellschaften möglich sei. In der universalistischen Gegenbewegung formten sich im Verlauf der Suche nach einem Halt inmitten aller historisch-kulturellen Variabilität drei Bereiche heraus, von wo aus man die kulturelle Beliebigkeit eingrenzen zu können hoffte: der Mensch in seiner weltweit gleichartigen Bedürfnisstruktur; die Eigengesetzlichkeit der natürlichen Umwelt; die Eigenlogik des sozialen Systems und die auf dessen Ziele hin funktional abgestimmten Institutionen. Diesen drei Orientierungen entsprechen beispielhaft der sozialanthropologische Zugang Bronislaw Malinowskis (1884-1942), der sozialökologische Zugang Karl August Wittfogels (1896-1988) und der ethnosoziologische Zugang von George P. Murdock (1897-1985). 3.2.
Soziologie
D e r für die Soziologie k o n s t i t u t i v e G r u n d b e g r i f f der Gesellschaft bezieht sich in seiner weitesten Fassung a u f eine G r u p p e von P e r s o n e n , w e l c h e durch eine unterscheidbare und systematisch f a ß b a r e M e n g e n o r m a t i v e r Beziehungen vereint sind, w o b e i das Denk e n , Fühlen und W o l l e n s o w i e die H a n d l u n g e n einzelner Personen nicht von den Erw a r t u n g e n der anderen isoliert werden k ö n n e n . Teil derselben Gesellschaft zu sein besagt d a h e r , S u b j e k t der g e m e i n s a m e n , in den sozialen Wechselbeziehungen w i r k s a m e n Werte u n d N o r m e n zu sein. D a s „ S o z i a l e " und die „ G e s e l l s c h a f t " wurden zu Beginn des 19. J h . ganzheitlich, und z w a r als K a m p f b e g r i f f e s o w o h l von der r o m a n t i s c h e n (z. B . von A d a m Heinrich M ü l l e r [ 1 7 7 9 - 1 8 2 9 ] ) als a u c h von der positivistischen und sozialistischen Gesellschaftslehre (z. B . von A . C o m t e und K . - » M a r x ) gegen das bürgerliche S u b j e k t ausgespielt. D e r holistische U r s p r u n g der S o z i o l o g i e liegt d a h e r g l e i c h e r m a ß e n im Geist der R e s t a u r a t i o n wie in d e m der restaurationsfeindlichen sozialistischen Liberalismuskritik begründet. W ä h r e n d in der N a c h f o l g e C o m t e s E m i l e D ü r k h e i m ( 1 8 5 8 - 1 9 1 7 ) die Gesellschaft ganz holistisch n o c h als G e g e n s t a n d sui generis auffaßte, dem er eine „Hyperspiritual i t ä t " zuschrieb, w a r e n G . S i m m e l und M . W e b e r bestrebt, Gesellschaftsanalyse mit B l i c k auf k o n k r e t e R e a l i t ä t e n und a u f die in ihnen und zwischen ihnen bestehenden Beziehungen zu b e t r e i b e n : im H i n b l i c k a u f S t a a t e n , N a t i o n e n , S t ä m m e , V ö l k e r , Kulturen, R e l i g i o n e n , Ideologien, P a r t e i e n , V e r b ä n d e usw. sowie a u f die jeweils für sie charakteristischen F o r m e n der Vergesellschaftung. D i e s e r Betrachtungsweise verwandt ist die Position von J o s e p h Alois S c h u m p e t e r ( 1 8 8 3 - 1 9 5 0 ) , dessen „ m e t h o d o l o g i s c h e r Ind i v i d u a l i s m u s " n i c h t als eine E r k l ä r u n g des Verhaltens einzelner Individuen zu verstehen ist, sondern als Versuch der E r k l ä r u n g des „ t y p i s c h e n " , durchschnittlichen Verhaltens, wie es sich als soziales R e s u l t a t darstellt. I m R a h m e n dieses s o z i a l ö k o n o m i s c h e n A n satzes sind für das H a n d e l n der Individuen weniger ihre Intentionen ausschlaggebend als vielmehr die R e s t r i k t i o n e n und V e r h a l t e n s k a n a l i s i e r u n g e n , denen sie sich gegenübersehen. Insofern gesellschaftliche Veränderungen hier v o r n e h m l i c h aus Veränderungen dieser R e s t r i k t i o n e n erklärt w e r d e n , a l s o aus Veränderungen des H a n d l u n g s s p i e l r a u m s , erscheint eine a u f die strukturellen A s p e k t e einer H a n d l u n g s s i t u a t i o n B e d a c h t n e h m e n d e E r k l ä r u n g , also ein in gewisser H i n s i c h t holistischer A n s a t z , mit einer individualistischen G e s e l l s c h a f t s a n a l y s e durchaus verträglich. D e n n kollektive Entscheidungen ergeben sich
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demnach aus der Aggregation individueller Entscheidungen und nicht aus dem eigenständigen Handeln von Kollektiven. Kollektive können so als Einschränkungen, aber auch als Anreize individuellen Handelns verstanden werden, was vor allem durch sozialpsychologische Einsichten bekräftigt wird, wonach Individuen sich innerhalb eines Kollektivs anders verhalten, als wenn sie allein sind. Zweifellos bestand das fundamentale Postulat soziologischer Forschung in der Annahme, daß menschliches Handeln und Verhalten durch verschiedene Umstände, insbesondere durch das umgebende soziale Milieu, limitiert oder gar determiniert sei. Viele soziologische Forschungen sind dabei mit einem makrosoziologischen oder holistischen Erklärungsansatz verknüpft, der die vor allem in den Analysen sozialer Unterschichten zum Gegenstand erwählten Individuen sowohl als Produkte als auch als Opfer der Gesellschaft, in welcher sie leben, auffaßt. Erst wenn der einzelne - nicht zuletzt mit Hilfe der soziologischen Aufklärung — Einsicht in die Struktur dieser Determinationsbeziehungen gewinnt, könne er sich von den unbewußt ablaufenden Wirkungszusammenhängen befreien und in der Folge seine Lage gemäß dem Eigeninteresse gestalten und verbessern. Mit der soziologischen Aufklärung in diesem Verständnis einer emanzipatorischen Sozialwissenschaft (vgl. Habermas [geb. 1929]; Howard Saul Becker [geb. 1928]) ist der Übergang von einem holistischen zu einem individualistischen Ansatz in der Sozialtheorie verknüpft. Die Vorläufer der Soziologie, die philosopbes des 18. Jh., wiesen bereits darauf hin, daß die herrschenden Ideale die Ideale der Herrschenden seien, weswegen sie solche Beweise soziogenetisch zu relativieren bestrebt waren, die auf die universelle Gültigkeit von Wertauffassungen hinausliefen. Sie waren zu zeigen bemüht, daß es keine ewige und universelle Menschennatur gibt, sondern daß sich diese Natur und die damit verknüpften Ideale mit dem Wandel der Umstände selbst ändern. Auch den Vertretern der Wissenssoziologie im 20. Jh. war es um die Feststellung zu tun, in welchem Ausmaß die Variationen in der sozialen Umwelt die moralischen Vorstellungen und die Erkenntnisinhalte beeinflussen und inwiefern alle Geltungsansprüche nur eine Funktion jener Umstände sind. Nun aber war es schwer, für die These des wissenssoziologischen Relativismus selbst einen Wahrheitsanspruch geltend zu machen, wenn doch der Historismus und Soziologismus der Wissenssoziologie alles in den Strudel des moralischen und kognitiven Relativismus zu zerren schien. Auch Karl Mannheim (1893-1947), der mitunter sogar die logisch-noologischen Erkenntnisstrukturen als sozial determiniert aufzufassen geneigt war, sah sich schließlich veranlaßt, einen wissenssoziologischen „Relationismus" gegenüber dem aporetischen Relativismus zu vertreten. In Gestalt der Wissenschaftssoziologie von Stanislaw Ossowski (1897-1963), Ludwik Fleck (1896-1961), Thomas Samuel Kuhn (1922-1996) und Robert King Merton (geb. 1910) hat die Wissenssoziologie eine bedeutsame Transformation erfahren. Durch jene soll erforscht werden, wie tiefliegende Überzeugungen auf Seiten der Vertreter verschiedener Wissenschaftsdisziplinen durch den Wechsel in der Akzeptierung verschiedenartiger Erklärungsparadigmen eine andere Gestalt annehmen, wobei dieser Wechsel nicht selten mit dem Wandel von bestimmten Gegebenheiten in der sozialen Umwelt der Forscher in Zusammenhang stehe. 3.3.
Wirtschaftswissenschaften
Es war die Volkswirtschaftslehre, die sich unter den Sozialwissenschaften als erste dem Status einer exakten Wissenschaft annäherte. Seit der Abwehr protektionistischer Praktiken, welche für die Epoche des Merkantilismus charakteristisch waren, wurde durch den Wirtschaftsliberalismus mehr oder weniger emphatisch eine Abkoppelung der sich selbst organisierenden wohlstandsoptimierenden Prozesse von den Aktivitäten der Regierungen und gruppenegoistischer gesellschaftlicher Kräfte vertreten. Dies war die allgemeine Orientierung, die von den Klassikern (vor allem von A. Smith und D. Ricardo) bis zu den liberalen Ökonomen des 20. Jh. (z. B. von Ludwig von Mises [ 1 8 8 1 -
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1973], Friedrich August von H a y e k [ 1 8 9 9 - 1 9 9 2 ] und Milton Friedman [geb. 1912]) vertreten wurde. Von Beginn an w a r e n jedoch dagegen Richtungen der Volkswirtschaftslehre aufgetreten, die sich scharf von der Laissez-faire-Ökonomik abwandten. Dies geschah einmal unter sozialistischem Vorzeichen, wie im Falle von K. M a r x und seinen Nachfolgern (z. B. Nikolaj Iwanowitsch Bucharin [ 1 8 8 8 - 1 9 3 8 ] und Oskar Lange [ 1 9 0 4 1965]), dann jedoch mehr unter dem Gesichtspunkt einer symbiotischen Beziehung von Marktaktivitäten und staatlichen Steuerungsmaßnahmen im Sinne der sich seit dem 19. Jh. herausentwickelnden sozialen M a r k t w i r t s c h a f t ; deren Grundideen lassen sich bereits im Denken von L o r e n z J a c o b von Stein ( 1 8 1 5 - 1 8 9 0 ) und Adolph Wagner ( 1 8 3 5 1917) nachweisen, gelangten aber nach dem Zweiten Weltkrieg vor allem durch Wilhelm R ö p k e ( 1 8 9 9 - 1 9 6 6 ) , Walter Eucken ( 1 8 9 1 - 1 9 5 0 ) , Franz B ö h m ( 1 8 9 5 - 1 9 7 7 ) und Alfred M ü l l e r - A r m a c k ( 1 9 0 1 - 1 9 7 8 ) zur Entfaltung. Die liberale Präferenz für Märkte als Instanzen der Vermittlung von wechselseitiger sozialer Abhängigkeit sowie für die verschiedenen Praktiken einer Politik der negativen Freiheit stützt sich im wesentlichen auf einen ethischen Individualismus, der mit dem Postulat der Beschränkung des Staates verknüpft ist, sowie auf den methodologischen Individualismus. Es ist ein Mißverständnis, dem methodologischen Individualismus generelle Ignoranz in bezug auf Institutionen, Normen, sozialstrukturelle Gegebenheiten, Traditionen und sozialkulturelle Milieus vorzuwerfen. Sie alle können als Daten in mikroökonomische Analysen integriert werden, und dies gestattet es, gesellschaftliche Veränderungen aus Veränderungen dieser Restriktionen zu erklären, also aus Veränderungen des Handlungsspielraums von Individuen. So ist auch mit dem Ansatz der RationalChoice-Theone als der jüngsten Variante des ökonomischen Erklärungsansatzes auf der Grundlage des methodologischen Individualismus nichts anderes gemeint, als daß einzelne Individuen eine rationale Auswahl unter sich bietenden Handlungsalternativen treffen und damit eine Nutzenmaximierung betreiben, die noch dazu keineswegs allein materiell verstanden werden muß; sie kann vom Hedonismus bis zum Altruismus reichen, da der „Nutzen" für alle Werte offen ist. Die Ökonomik des 19. Jh. entlehnte den Diskussionen der utilitaristischen Ethik den Begriff des „Nutzens", um mit seiner Hilfe das Niveau der Bedürfnisbefriedigung oder des Wohlbefindens von Haushalten oder Konsumenten darzustellen oder auch zu messen. Dabei hat man insbesondere Anleihen bei Jeremy Benthams (1748-1832) „ f e l i c i f i c calculus" gemacht und zugleich damit häufig unterstellt, daß sich eine einfache soziale Wohlfahrtsfunktion ermitteln lasse. Einer sozialen Wohlfahrtsfunktion liegt ein Schluß von einer Menge von Präferenzen oder Voten von Individuen in einer Gesellschaft auf eine Präferenz oder ein Votum der Gesellschaft als ganzer zugrunde. Die Schwierigkeiten, die mit einem derartigen Schluß vom Teil auf das Ganze verknüpft sind, von dem man fälschlich vermutete, daß er logisch notwendig mit dem Prinzip des methodologischen Individualismus verknüpft sei, wurden vor allem von Kenneth J. Arrow (geb. 1921) mit seinem „Möglichkeitstheorem" (welches eher ein Unmöglichkeitstheorem darstellt) aufgewiesen. Dieses wohl bekannteste Theorem in der Logik sozialer Wahlhandlungen („social-choice theory") zeigt die Unmöglichkeit einer sozialen Wohlfahrtsfunktion auf, die das Pareto-Prinzip (nach V. Pareto [s.u. 4.]) nicht erfüllt; diesem zufolge zieht eine Gesellschaft einen Wert X gegenüber einem Wert Y vor, wenn gilt, daß jede Person X gegenüber Y präferiert. Eine derartige gesamtgesellschaftliche Normierung wäre zwar auf der Grundlage politischer Gewaltanwendung oder durchgängiger individueller Konditionierung prinzipiell möglich, stünde allerdings zur Idee eines autonomen Menschen und einer freien Gesellschaft in scharfem Gegensatz. 4. Methodologische
Probleme
U m 1900 verstanden verschiedene Proponenten in der damals aktuellen wissenschaftstheoretischen Diskussion - so e t w a W. -»Dilthey - die Sozialwissenschaften entweder als naturalistisch betriebene Sparten der Wissenschaften von der gesellschaftlich-geschichtlichen Welt oder aber als Geisteswissenschaften. Im ersten Fall konstituierte die naturwissenschaftliche (physiologische, physikalische) M e t h o d e gewissermaßen den Gegenstand, im letzteren Falle w a r für die Rekonstruktion sozialen Handelns die M e t h o d e des Verstehens bestimmend, w o d u r c h individuelles Handeln sinnhaft auf das Handeln und die E r w a r t u n g e n anderer M e n s c h e n bezogen wurde. N a c h Heinrich Rickert ( 1 8 6 3 1936) und M . Weber sind es besondere „Wertbeziehungen" oder „Kulturbedeutungen", welche die verstehenden Sozialwissenschaften charakterisieren. Von anderen Voraussetzungen ging die zur selben Z e i t geführte methodologische Diskussion in Frankreich
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aus. Im Bestreben, die Soziologie von einer individualistisch vorgehenden Psychologie als der vermeintlichen „ G r u n d w i s s e n s c h a f t " der Sozialwissenschaften abzusondern, m a c h t e sich beispielsweise Dürkheim für einen makrosoziologischen Z u g a n g zu den „sozialen T a t s a c h e n " stark. Einer der Schüler Dürkheims, M a u r i c e H a l b w a c h s (1877— 1945), hat sich später bemüht, das Konzept des „kollektiven Gedächtnisses" als ein einigendes Band der Sozialwissenschaften herauszuarbeiten. Kulturgemeinschaften werden ihm zufolge in entscheidendem M a ß e geprägt durch das kulturelle Gedächtnis, welches die Kohärenz einer größeren sozialen Gruppe über die Zeit hinweg sichert. D a d u r c h werde das Welt-, Gesellschafts- und Menschenbild namentlich auf den Gebieten der Religion, des Rechtswesens, der Sozialisation, der Ö k o n o m i e , der politischen und sozialen Organisation, der Lebensstile, der Fremd- und Selbstwahrnehmung, der künstlerischen Manifestationen sowie der gesprochenen und geschriebenen Sprache geschaffen. Die Ideen von H a l b w a c h s wurden vor allem durch den französischen - » S t r u k t u ralismus in die Richtung der komparativen Ethnologie und einer allgemeinen Strukturwissenschaft gelenkt. In gewisser Weise lassen sich daran anknüpfende jüngere Analyseformen des kulturellen Gedächtnisses ( z . B . von J a n Assmann [geb. 1938]) auch als Versuche deuten, mit den M e t h o d e n einer komparativen Mentalitätsgeschichte gewissen realen Gegebenheiten des demographisch induzierten Multikulturalismus durch seine intellektuelle Rekonstruktion R e c h n u n g zu tragen. Wenn man die systematischen Sozialwissenschaften allgemein einer wissenschaftstheoretischen Betrachtung unterzieht, so stellen sich von Beginn an einige grundlegende Fragen: Besteht deren theoretische Orientierung in der Bildung überzeitlicher, allgemeingültiger Gesetze (theoretischer Generalisierungen)? Macht es nicht einen wesentlichen Unterschied aus, ob sich die Generalisierungen auf makroskopische oder mikroskopische Tatbestände der sozialen Welt beziehen, welche als erklärende Variablen fungieren? Ist nicht die Kontroverse zwischen Vertretern der Intentionalund der Kausalanalyse insofern unverändert aktuell, als das eine Mal auf subjektive und mentalsprachÜche, das andere Mal auf objektive, raumzeitsprachlich erfaßbare Sachverhalte Bezug genommen wird? Die Fragen indizieren mehrheitlich Probleme eines logischen oder eines kausalen Reduktionismus, so z. B. die Zurückführung von Institutionen auf Eigenschaften von Individuen bzw. von subjektiven „Situationsdefinitionen" (William Isaac Thomas [1863-1947]) auf raumzeitsprachliche Merkmale biologischer Dispositionen und objektiver Lagen. In vielen Fällen müssen diese Versuche als gescheitert angesehen werden, da sie das Prinzip der Bedeutungsäquivalenz des Zurückgeführten auf das Zurückzuführende verletzen. Insbesondere sind die Versuche, phänomenologisch-hermeneutische Analysen auf „monistische" Kausalerklärungen zu reduzieren, als gescheitert anzusehen. Denn die bei den Kontroversen über „wahre" oder „in letzter Instanz entscheidende" Faktoren auftretenden monistischen Kausalerklärungen entbehren des logischen Gehalts, wenn sie ohne nähere Bedingungen und damit aprioristisch formuliert sind. Man übersieht nämlich in solchen Fällen, daß es sich hierbei um eine Verkürzung handelt. Eine rationale Interpretation der These, die sozialen Phänomene seien in „letzter Instanz" kausal durch ökonomische Faktoren bestimmt, kann so etwa eine forschungstechnische Direktive sein, wie S. Ossowski gezeigt hat. Demnach würde man sagen, daß bei der Erklärung sozialer Phänomene die Untersuchung ökonomischer Ursachen deshalb besonders fruchtbar ist, weil dort am häufigsten sog. verborgene Funktionen auftreten, die sich nicht so leicht feststellen lassen, oder weil dieser Gesichtspunkt von den Historikern und Soziologen vernachlässigt wurde. Aber dies rechtfertigt nicht einen theoretischen Monismus in der sozialwissenschaftlichen Erklärung. Zieht man — im Unterschied zu den in den Einzelwissenschaften entwickelten Theorien - allgemeine gesellschaftstheoretische Perspektivierungen in Betracht, so zeigt sich, daß diese in verschiedenen sozialwissenschaftlichen Disziplinen eine Rolle spielen. Sie sind nicht mit Theorien im engeren Sinne zu identifizieren, also etwa mit der Firmentheorie in der MikroÖkonomik, mit der Theorie der Devianz in der Soziologie, mit der Kommunikationstheorie in den politischen Wissenschaften usw. Gesellschaftstheoretische Perspektivierungen bilden eher eine Art Aggregierungsoder Fokussierungsprinzip verschiedenartiger und miteinander verwandter Annahmen und Generalisierungen, wobei vor allem etwas über die ontologische Beschaffenheit des in Betracht stehenden Gegenstandes ausgesagt wird. Diese „Ansätze" oder Perspektivierungen sind häufig um bestimmte Einzelwissenschaften herum gruppiert, wobei gewissermaßen von diesen aus ein Zugang zu den jeweiligen Nachbardisziplinen erfolgt. So hat der Evolutionismus seinen Ausgang von der Biologie genommen und gelangte u.a. in die Soziologie und die Wirtschaftswissenschaften. Seit H. Spencer bildete die Idee der sozialen Evolution einen Grundgedanken in der soziologischen Theorie. Die
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dezidierteste Kritik an der Idee der sozialen Evolution wurde von Vertretern der Kulturanthropologie vorgetragen, wobei man vor allem die zahlreichen Darstellungen unilinearer Entwicklungsverläufe, die mit jener Idee verbunden waren, für inadäquat hielt. Dennoch hat das Entwicklungsprinzip in zahlreichen Studien des Wirtschaftswachstums und der politischen und gesellschaftlichen Entwicklung eine gewisse Lebenskraft beibehalten. Im Unterschied zu den naturalistischen Ursprüngen des Entwicklungsprinzips in den Sozialwissenschaften gilt für die gesellschaftstheoretische Perspektive des ¡nteraktionismus, daß sie vor allem in geisteswissenschaftlichen Disziplinen ihren Ursprung hat, in denen es vornehmlich um Manifestationen des ethisch oder ästhetisch belangvollen Wertgeschehens geht. Soziale oder symbolische Interaktion bezieht sich auf die Tatsache, daß die Beziehungen zwischen zwei oder mehreren Menschengruppen nie rein physikalischer oder unmittelbarer Natur sind. Stets liegt hier ein reziproker Einfluß und ein wechselseitiges Aufeinander-Bezogensein vor, wie es sich aus der Interferenz von eigener und fremder Erwartung, Zielorientierung und Verhaltensbereitschaft ergibt. Sog. kulturalistische, aber auch tausch- und verhaltenstheoretische sowie konflikttheoretische Ansätze sind mit der interaktionistischen Gesellschaftstheorie eng verknüpft. Die systemtheoretische Perspektive stellt in den Sozialwissenschaften eine andere, vorübergehend sogar dominierende Tendenz dar, die nach dem Zweiten Weltkrieg in den Sozialwissenschaften in Erscheinung getreten ist. Das Verhalten von Individuen und Gruppen wird dabei als Resultat multipler Interdependenzen aufgefaßt; diese Interdependenzen werden als hinreichend vereinheitlicht angesehen, um den auf sie zur Anwendung kommenden Ausdruck „System" gerechtfertigt erscheinen zu lassen. Wenn man die moderne Gesellschaft im Unterschied zu älteren Gesellschaftsformationen als funktional differenziertes System beschreibt, das nicht mehr nach sozialen Rangordnungen, sondern nach Funktionsbereichen wie Politik, Wirtschaft, Recht, Erziehung, Religion, Wissenschaft usw. gegliedert ist, dann gehören die Sozialwissenschaften selbst nur einem dieser Subsysteme an. Für Niklas Luhmann (1927-1998), der auf den systemtheoretischen Analysen Talcott Parsons' (1902-1979) aufbaut, ist durch den systemtheoretischen Ansatz jede monokausale Analyse obsolet geworden. Denn alle Beobachtung von sozialen Systemen ab einer gewissen Komplexitätsstufe setzt die rekursive Operationsweise des beobachtenden Systems voraus, kann sich also vom eigenen Beobachtungsinstrument nicht distanzieren. So können die Sozialwissenschaften durchaus ein Konzept für die Einheit der Gesellschaft ausarbeiten, aber eben nur vom Standpunkt der Sozialwissenschaften aus. Es waren insbesondere formalistische und strukturalistische Perspektiven in der Gesellschaftstheorie, welchen gemäß seit Ende des 19. Jh., so wie dies z. B. im Werk von Ferdinand Tönnies (1855-1936) sichtbar wird, auf das Gleichförmige im Wandel der sozialen Beziehungen geachtet wurde. In der Soziologie, der Politikwissenschaft und der Ethnologie bezog sich die Idee der Struktur auf repetitive Verhaltensmuster, die sich im Studium der sozialen, ökonomischen, politischen und kulturellen Welt nachweisen lassen. Es sind dabei die formalen Beziehungen zwischen interagierenden Individuen, nicht das Individuum selbst, die hier den Gegenstand der Forschung bilden (z.B. bei Simmel und Leopold von Wiese und Kaiserswaldau [1876-1969]). In seiner mehr funktionalistischen Ausprägung wurde der Strukturalismus weitgehend synonym mit einem holistischen Ansatz, da er die Habitualisierung des Individualverhaltens unter bestimmten sozialen Rahmenbedingungen in den Vordergrund der Betrachtung rückte (z.B. bei Louis Althusser [1918-1990]). Gelegentlich wurde zwar versucht, die Genese der sozialen Rahmenstruktur nachzuzeichnen (z. B. bei Michel Foucault [1926-1984]), meist dominierte jedoch eine sozialisationstheoretische Grundüberzeugung, die das Individuelle als soziale Wirkkraft vernachlässigte. Literatur Karl Acham, Phil, der Sozialwiss., Freiburg i.Br./München 1983. - D e r s . , Gesch. u. Sozialtheorie, Freiburg i.Br./München 1995. - Brian Barry, Political Argument, Berkeley/Los Angeles, Calif. 1990. - Paul Barth, Die Phil, der Gesch. als Soziologie. Erster [u. einziger] T. Grundlegung u. krit. Übersicht, Leipzig 1915. - Rodger Beehler/Alan R. 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2. Ethische Implikationen: Utilitarismus und deontologische (Literatur S. 585)
Hintergrund
Die Soziallehre in Europa geht auf verschiedene nachreformatorische und nachaufklärerische Versuche zurück, nach d e m Z u s a m m e n b r u c h der für das Christentum charakteristischen Vermittlung göttlichen Rechts und göttlicher Ordnung an die Gesellschaft diese nach staatlichen und weltlichen Richtlinien wiederaufzubauen. Diese Versuche waren mit einem wechselnden M a ß an G e w a l t und sozialer U m w ä l z u n g verbunden, u.a. der Massenmigration von ländlichen in städtische Gebiete, die häufig durch Großgrundbesitzer, im Fall Großbritanniens durch Parlamentsgesetze verursacht wurde. Gesellschaftstheoretiker bemühten sich, die Änderung im Wesen menschlicher Gruppen und sozialer Beziehungen zu erklären, die die Folge der Wendung der Menschen v o n den organischen Beziehungen in solidarischen Dorfgemeinschaften auf d e m Land hin zu Individualismus und Anonymität der industriellen und städtischen Gesellschaft w a ren. Britische Philosophen wie T h . - > H o b b e s , A d a m Smith ( 1 7 2 3 - 1 7 9 0 ) und D . - » H u m e entwickelten Vorstellungen einer sich daraus ergebenden sozialen Ordnung, die einerseits charakterisiert w a r durch innere Konkurrenz zwischen den Individuen im Bereich der bürgerlichen Gesellschaft und ihrer Wirtschaftsbeziehungen, andererseits durch die Ordnung schaffende und Z w a n g ausübende M a c h t des Staates. So ist für A. Smith das Mittel, durch welches die indviduellen Entscheidungen, zu kaufen und zu verkaufen, d e m kollektiven Wohl dienen, eine „unsichtbare H a n d " , die einem Naturgesetz gleicht; andererseits, s o Smith, ist die Gesellschaft w i e ein menschliches Kunstgebilde konstruiert, eine Sphäre der Aktivität, die von Bürokratie, Gesetz und Politik umfaßt wird und die dem Bereich der Familienverbände und der natürlichen Ordnung der Wirtschaft gegenübersteht, den menschlichen Funktionsgebieten und Interaktionen, in denen Freiheit und Naturrecht verankert sind und die ein Areal darstellen, das immer in Gefahr stand, d e m Einfluß des Staates unterworfen zu werden.
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Im Gegensatz dazu beschäftigte sich die kontinental-europäische Tradition der Soziallehre, besonders die neu in Erscheinung tretende Soziologie, mit einem Modell der Gesellschaft als der Sphäre von Beziehungen und Praktiken, die Individuen und Gruppen gegenüber dem Staat konstituieren. In seinem klassischen Werk Gemeinschaft und Gesellschaft sah Ferdinand Tönnies (1855-1936) die Entwicklung der Gesellschaft voraus, die von kleinen privaten Gemeinschaften hin zu Städten verlaufen und letztlich vielleicht bedauerlicherweise in einer großen Stadt, die gleichzeitig Weltrepublik und Weltmarkt wäre, münden würde. Auguste Comte (1798-1857) und K. - » M a r x betrachteten die Entwicklung der nachfeudalen Gesellschaft als Phase einer unvermeidlichen Evolution der menschlichen Gesellschaft; das unpersönliche und zweckorientierte Charakteristikum der Produktionsmittel und des Handels in kapitalistischen Gesellschaften stellte für sie jedoch lediglich eine Stufe in der Evolution von Gesellschaften dar, deren letztliche Entwicklung eine Restitution von kommunistischen und sozialistischen zwischenmenschlichen Beziehungen zeigen würde. Emile Dürkheim (1858-1917) und seine Schule mit ihrem funktionalistischen Ansatz stellten einen Mittelweg zwischen der romantischen Vorstellung Tönnies' und der progressiven Anschauung M a r x ' dar. 2. Ethische Implikationen:
Utilitarismus und deontologische
Pflichtethik
Die ethischen Grundstellungen dieser gegenläufigen Varianten von Gesellschaftstheorien und ihrer jeweiligen Akzentuierung von Agens und System divergieren. In der angelsächsischen politisch-ökonomischen Soziallehre werden offenkundig in den Aktionen der Individuen, die ihre eigenen Interessen und die ihrer Familien oder Volksgruppen verfolgen, die grundlegenden moralischen Impulse der Gesellschaft gesehen. Aus dieser Vorstellung einer Beziehung zwischen dem einzelnen und der Gesellschaft entstand die Philosophie des ->Utilitarismus, die erstmals von dem englischen Philosophen Jeremy Bentham (1748 -1832) formuliert wurde. Utilitarismus ist eine statistisch-empirische Methode der gemeinschaftlichen Urteilsfindung, die vom Prinzip der Maximierung des Lustgewinns (oder der Minimierung der Leidenserfahrungen) einer Höchstzahl von Individuen geleitet wird. Beim Utilitarismus steht im Fokus der Aufmerksamkeit weniger die moralische Maxime einzelner Maßnahmen oder wirkender Kräfte, sondern eher die Ergebnisse oder Konsequenzen von Handlungen. Dabei ist jenes Ergebnis zu favorisieren, das die Schaffung des größtmöglichen Glücks der größtmöglichen Zahl zur Folge hat. Die utilitaristische Ethik ging konform mit den ökonomischen und den aufkommenden staatlichen Strukturen industrieller Gesellschaften, sie bot eine moralische Legitimation des laissez faire, die den ökonomischen und sozialen Bedingungen des 19. Jh. nahekam: die Gesetze von Angebot und Nachfrage wurden als ein natürliches Mittel dargestellt, das dem Markt die Maximierung des Nutzens den Arbeitern und Kapitalbesitzern gleichermaßen ermöglichte. Als Folge davon wurden die jeweiligen Löhne und Gewinne festgesetzt, das Angebot, der Preis und die Qualität von Lebensmitteln, Kleidung, Wohnungen und Haushaltswaren. Im späten 19. Jh. bis zur Mitte des 20. Jh. fanden religiös und humanistisch initiierte Bestrebungen, durch staatliche Regulierung die schlimmsten Exzesse des industriellen Kapitalismus zu vermeiden, ihre Rechtfertigung u.a. in der utilitaristischen Ethik. Die Sozialreformer argumentierten, z. B. bei einer Intervention zur Verbesserung der Arbeitsbedingungen im Gegensatz zu den Profiten der Kapitalbesitzer, beim Limitieren von Arbeitsstunden oder der Regulierung von Preisen und Qualität essentieller Dinge wie Lebensmittel, Häuser und Kanalisation, das Wohlergehen vieler über die Interessen und Profite weniger gestellt zu haben. Kritik am Utilitarismus verweist darauf, daß, trotz des utilitaristischen Ursprungs in der Philosophie des Individualismus, in der Praxis die Neigung dazu besteht, soziale Strukturen zu erzeugen, die die Gruppe über den Einzelnen stellen und das Individuum eher als Mittel denn als Selbstzweck behandeln. Diese Tendenz ist gegeben, w o der Utilitarismus seinen Ausdruck in der Vorherrschaft
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der W i r t s c h a f t oder der staatlichen Regelung und Planung findet. In beiden Systemen stehen die Interessen von Individuen oder spezieller Gruppen von Individuen gegen das bedeutsamere Wohl der Gesellschaft, das als die S u m m e aller individuellen Interessen begriffen wird.
Die Konzeption einer Gesellschaft, verstanden als Collage, zusammengesetzt aus Gemeinschaften, in denen sich die einzelnen beständig in Interessengeflechten aufgefangen wissen, erfordert eine moralische Sichtweise, die vorrangig auf die Pflichten von und gegenüber dem einzelnen oder der Gruppe gerichtet ist und weniger auf persönliche moralische Empfindungen, Anschauungen oder naturgegebene Rechte der Menschen, ebensowenig wie auf die Macht der Wirtschaft und des Staates, die individuellen Empfindungen oder die natürlichen Rechte von Menschen, in das Handeln der Gemeinschaft einzustimmen. I. -»Kant lieferte die deutlichste Vorstellung der ethischen Verflechtungen einer solchen Gesellschaftsidee. Er trennte jedoch in seinen Darlegungen die ethischen Gebote oder Regeln von dem sozialen Rollen- und Beziehungsgefüge und den damit verbundenen persönlichen Empfindungen und Gefühlen. Er versuchte, eine universal gültige und rationale Grundlage moralischer Obliegenheiten und Verpflichtungen zu entwickeln, die unabhängig ist von den speziellen sozialen Rollen oder der verschiedenen inneren Verfassung von Menschen unterschiedlicher gesellschaftlicher Zusammenhänge. Kants Grundsatz war durchaus, Menschen als Ziel, nicht nur als Mittel zu behandeln: das Sittengesetz gilt als ein rationales, selbstverständliches Prinzip und ist als solches unter allen Umständen universell gültig. Damit vernachlässigte Kant aber den speziellen Aspekt von Kontext, Beziehung und der jeweiligen Rolle oder dem Interesse an einer moralischen Handlung: wenn die Regel befolgt wird, tritt das Gute als Folge ein. 3. Kritische
Analyse
3.1. Systematische Einwände. Wie beim konsequenten Utilitarismus oder, mehr ironisch, in der eben erläuterten Kantschen Morallehre, legitimiert die moderne Variante deontologischer Ethik Vorgänge in neuzeitlichen gesellschaftlichen Systemen und Organisationen, die die Sensibilität individuellen Handelns zugunsten dieser Systeme und Organisationen effektiv übergehen und negieren. Die deontologische Ethik gründet ebenso wie die utilitaristische darauf, daß Handlungsverläufe eine Ausrichtung auf Pflicht und Verpflichtung einzig auf dem Grund und Boden der Vernunft erfahren. Diese beiden Ethikauffassungen gehen einher mit Prinzipien, die, mit gesellschaftlichen Normen übereinstimmend, dem Erreichen kollektiven Glücks dienen und die, indem sie als einzig legitime Grundlage moralischen Handelns gelten, alle, teilweise mutmaßlichen, partiellen Ansprüche von Volksgruppen, Familien oder Religionen zu eliminieren suchen. Zum Beispiel ist für Bentham social engineering - eine soziale Technik, die das gewünschte verbesserte Wohlergehen für die größte Zahl bewirkt - eine Voraussetzung seiner Ethik. Die Rolle von Gesetzgebern, Herrschern und Moralphilosophen besteht darin, soziale Verhältnisse zu schaffen, in denen sich der Mensch dem Druck des Staates unterwirft, da dieser die Schmerz- und Lusterfahrungen zwischen den im Wettbewerb miteinander stehenden Individuen und Personengruppen gerecht entscheidet und verteilt. Ähnlich der deontologischen Kantschen Verfahrensweise sind hier die Moralregeln unabhängig vom Wohl des einzelnen, statt dessen sind sie als rationale Verfahren bestimmt von der gesellschaftlichen Autorität. Eine solche Ethik hat zum Inhalt, daß Menschen gesagt werden könnte, sie seien moralisch gerechtfertigt, wenn sie ihre Gefühle und Anschauungen ignorierten und lediglich den die Regeln vorgebenden Entwürfen der Gesellschaft folgten, deren Glieder sie sind, und zwar sogar dann, wenn diese Entwürfe die systematische Außerkraftsetzung des Wohls von Individuen beinhalten. 3.2. Postmoderne, theologische und feministische Kritik. Die ethischen Implikationen dieser modernen Sozialtheorien werden von einer Reihe postmoderner, feministischer und kommunitaristischer Forscher erkannt und kritisiert, die eine Korrelation zwischen den Strukturen moderner Gesellschaftssysteme und der Depersonalisierung und sogar
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Versklavung e r k e n n e n , die im m o d e r n e n System sozialer Kontrolle militärischer, industrieller, b ü r o k r a t i s c h e r , strafrechtlicher, f a m i l i ä r e r , pädagogischer und gesetzlicher Art impliziert sind. D i e K r i t i k e r der fehlenden ethischen Eindeutigkeit, die den Sozialtheorien i n n e w o h n t , verweisen auf die g e w a l t s a m e n g l o b a l e n Konflikte und V ö l k e r m o r d e , die durch m o d e r n e t e c h n o l o g i s c h e G e s e l l s c h a f t s s y s t e m e eher begünstigt als behindert zu werden scheinen ( B a u m a n ; F o u c a u l t ) . D e r k o m m u n i t a r i s t i s c h e Philosoph Alasdair Chalmers M a c l n t y r e (geb. 1929) b e h a u p t e t , die ethische M e h r d e u t i g k e i t der M o d e r n e sei leitenden Systemen und Kulturen inhärent und n e h m e zu durch den von den Philosophen und S o z i a l t h e o r e t i k e r n der A u f k l ä r u n g v o r g e n o m m e n e n fact-value-split, der T r e n n u n g zwischen T a t s a c h e und W e r t ( M a c l n t y r e 8 0 - 8 3 ) . In der Folge dieser T r e n n u n g bauen Versuche, G e s e l l s c h a f t s s y s t e m e zu b e s c h r e i b e n und zu leiten, a u f der L o g i k präziser B e o b a c h t u n g und effizienter A r b e i t s w e i s e a u f , die m o r a l i s c h e Fragestellungen und ethische R e s u l t a t e u n t e r b i n d e n . In der P r a x i s k a n n die E t h i k aber nicht derartig von Sozialtheorien a b g e t r e n n t werden. Alle sozialen A r r a n g e m e n t s bedürfen der narrativen Leg i t i m a t i o n , die ihrerseits ethische Urteile und Werte bereits v o r w e g n i m m t . In den berichtenden Erzählungen der neuzeitlichen Gesellschaftssysteme wird z . B . die G e w a l t gegenüber d e m K l e i n b a u e r n t u m und seine E n t e i g n u n g in E u r o p a zu Beginn der M o d e r n e verdeckt. D e r a r t i g e Übergriffe der G e w a l t dehnen sich jedoch mit der R e i c h w e i t e industrieller, b ü r o k r a t i s c h e r G e s e l l s c h a f t s s y s t e m e a u f andere Erdteile aus (ebd.). Und wie der Soziologe A . G i d d e n s k o n s t a t i e r t , wird diese G e w a l t t ä t i g k e i t von e i n e m militärischindustriellem K o m p l e x getragen, der d u r c h b e t r ä c h t l i c h e öffentliche und gesellschaftliche M i t t e l und E n e r g i e a u f w a n d der A u f r e c h t e r h a l t u n g des Konfliktstatus i n n e r h a l b und zwischen den V ö l k e r n dient. D i e s e r Konflikt basiert auf dem vermeintlichen R e c h t der reichen N a t i o n e n , privilegierten Z u g r i f f a u f die begrenzten B o d e n s c h ä t z e und a u f den begrenzten L e b e n s r a u m a u f der Erde zu h a b e n (Giddens). T h e o l o g i s c h e K r i t i k der m o d e r n e n Sozialwissenschaft legt nahe, d a ß die Ursache ihrer mangelnden ethischen R e s u l t a t e a u f der Fehldeutung des wahren W e s e n s von Sein und M e n s c h l i c h k e i t b e r u h t ( C a v a n a u g h ) . D i e m o d e r n e Staatsidee basiert a u f einer staatlichen U s u r p a t i o n der S o u v e r ä n i t ä t k o m m u n a l e r , relationaler und religiöser G r u n d l a g e n m o r a l i s c h e r A u t o r i t ä t . D i e s e widerrechtliche V e r e i n n a h m u n g wird durch das historische Urteil begründet, l o k a l e Konflikte und K r i e g e würden gefördert, wenn die M a c h t in den H ä n d e n l o k a l e r , familiärer und religiöser G e m e i n s c h a f t e n liege. I m G e g e n s a t z dazu unterstütze die O b e r h o h e i t des S t a a t e s die allgemeine W o h l f a h r t und den Frieden zwischen allen M e n s c h e n . D i e Ü b e r t r a g u n g der M a c h t an den - » S t a a t , w e g f ü h r e n d von diversen kollektiven und g e m e i n s c h a f t l i c h e n F o r m e n des Z u s a m m e n l e b e n s , w u r d e p r a k tisch von der E x p a n s i o n des industriellen - » K a p i t a l i s m u s begleitet. Beide E n t w i c k l u n g e n fanden w i e d e r u m ihre Unterstützung und L e g i t i m a t i o n in der C h a r a k t e r i s i e r u n g des individuellen Seins als vorsozial und k o n k u r r i e r e n d und der Vorstellung, Individuen stünden auf der G r u n d l a g e von Verträgen und Gesetzen in Beziehung und weniger auf der Basis natürlicher o d e r religiöser V e r b i n d u n g e n . D i e Soziologie e n t w i c k e l t e eine Alternative zu diesem vorherrschenden T r e n d , a b e r letztlich w a r es u n m ö g l i c h , die E x p a n s i o n von S t a a t und Kapitalismus aufzuhalten. Statt dessen wurde der D i s k u r s bei der Prüfung und K o n t r o l l e von E n t f r e m d u n g und A b w e i c h u n g i n n e r h a l b der Gesellschaftssysteme angesiedelt. Die der Soziologie als Moraltheorie gesetzten Grenzen und die moralische Korruption des dominanten staatlichen Kapitalismus und kapitalistischen Staates in modernen gesellschaftlichen Organisationen entstehen durch den fact-value-split, die Tatsache-Wert-Trennung, und durch die Preisgabe der Ontologie. In enger Beziehung zu einer Ontologie, die sich in den heutigen Sozialtheorien und in der Praxis nicht finden läßt, steht der Gedanke der Partizipation. Partizipation ist ein Modus des menschlichen Seins, der notwendig zur wahren Entfaltung der menschlichen Persönlichkeit gehört: Teilhabe am Sein Gottes und dem der Mitmenschen. Die Vorstellung der Partizipation ist eine ontologische Implikation der neuen Ordnung zwischenmenschlicher Beziehungen, die durch die Inkarnation Jesu Christi gegeben ist und die in der christlichen Tradition bisher verschieden ausgesagt wurde wie in der Rede vom Königreich Gottes oder dem Leib Christi. In der Darstellung
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der wahren menschlichen Natur und der Quellen ihres Gedeihens versagt die moderne Sozialtheorie, insbesondere die Theoriebildung zum ökonomischen Austausch und zur politischen Leitung, da ihr die wahrhaft soziale, relationale und spirituelle oder transzendentale Ontologie fehlt. Die Menschen in modernen Gesellschaftssystemen sind in erster Linie durch vertraglich, gesetzlich und marktwirtschaftlich geprägte Mechanismen verbunden, ihre Interessen finden ihren Ausdruck und ihre Legitimation primär durch die Sprache von Effizienz, Management und Recht. Durch das beständige Reduzieren menschlichen Wohlergehens auf ein partikulares soziales Verfahren oder eine Sprachregelung oder auf das Rationalitätsprinzip ist die moderne politische Ökonomie unfähig, einen adäquaten Wert des wahren menschlichen Wesens und des telos menschlichen Glücks zu bieten (Maclntyre). Feministische E t h i k e r i n n e n wie C . Gilligan b e t o n e n gleichfalls, d a ß M e n s c h e n grundlegend relationale Wesen sind und die Persönlichkeit durch elterliche F ö r d e r u n g und Beziehungen zu wichtigen anderen Personen gebildet wird (vgl. auch Held). In bezug a u f soziale Abläufe, Regeln o d e r R e c h t e ist die D a r s t e l l u n g m o d e r n e r E t h i k modelle unpassend, da sie der fließenden und interaktiven O n t o l o g i e der Person nicht gerecht wird. D u r c h den M o d u s dieser F e h l d e u t u n g - staatliche Unterstützung oder Förderung kapitalistischer P r o d u k t i o n und das Hineinzwingen aller außenstehenden Gruppen oder V o l k s s t ä m m e in ein globales kapitalistisches System - wird eine T y r a n n e i der Gesellschaft ü b e r familiäre, l o k a l e , relationale und religiöse N e t z w e r k e menschlicher Fürsorge und Gegenseitigkeit e n t w i c k e l t , die letztlich die w a h r e n Ursprünge menschlichen Gedeihens in diesen N e t z w e r k e n zu eliminieren sucht. D e r ö k o n o m i s c h e Konflikt, mit anderen N a t i o n e n und mit der Erde selbst, wird folglich die b e s t i m m e n d e Existenzweise des N a t i o n a l s t a a t e s und der „ g l o b a l e n M e t r o p o l e " , die T ö n n i e s v o r h e r s a h , werden. O h n e jegliche R e a k t i o n auf die G r e n z e n des K o n t r a k t u a l i s m u s und Kapitalismus, die von abwechslungsreichen und relationalen F o r m e n m e n s c h l i c h e n und ö k o l o g i s c h e n Gedeihens repräsentiert werden, k ö n n e n die m o d e r n e n F o r m e n der Soziallehre die M e chanismen sozialer und ö k o l o g i s c h e r D y s f u n k t i o n z w a r e r k l ä r e n , sind a b e r unfähig, eine Ethik oder O n t o l o g i e zu e n t w i c k e l n , die diese iranszendieren. Literatur Zygmunt Bauman, Postmodern Ethics, Oxford 1993; dt.: Postmoderne Ethik, Hamburg 1995. - William Cavanaugh, Torture and Eucharist, Oxford 1998. - Auguste Comte, Cours de Phil. Positive (11803), Paris 1975; dt.: Die Soziologie. Die positive Phil, im Ausz., hg. v. Friedrich Blaschke, 2 1974 (KTA 107). - Alan Dawe, Theories of Social Action: Tom Bottomore/Robert Nisbet (Hg.), A History of Sociological Analysis, London 1979, 3 6 2 - 4 1 7 . - Émile Dürkheim, Leçons de Sociologie. Physique des Moeurs et du Droit, Paris 1950; dt.: Physik der Sitten u. des Rechts. Vorl. zur Soziologie der Moral, Frankfurt a.M. 1991. - Michel Foucault, Power/Knowledge. Selected Interviews and Other Writings 1972-1977, hg. u. übers, v. Colin Gordon, Brighton 1980. - Anthony Giddens, The Nation-State and Violence, Cambridge 1985. - Carol Gilligan, In a Different Voice. Psychological Theory and Women's Development, Cambridge, Mass. 1982; dt.: Die andere Stimme. Lebenskonflikte u. Moral der Frau, München u.a. 1984. - Peter Lauchlan Heath/Jerome B. Schneewind (Hg.), Immanuel Kant. Lectures on Ethics, Cambridge 1997. - Virginia Held, Feminist Morality. Transforming Culture, Society and Politics, Chicago 1993. - Christopher Lasch, The True and Only Heaven. Progress and its Critics, New York 1991. - Alasdair Maclntyre, After Virtue. A Study in Moral Theory, London 1981; dt.: Der Verlust der Tugend. Zur moralischen Krise der Gegenwart, Frankfurt a.M. u.a. 1987. - Paul Menzer (Hg.), Eine Vorl. Kants über Ethik, Berlin 1924. - John Milbank, Theology and Social Theory. Beyond Secular Reason, Oxford 1990. - Robert Nisbet, The Sociological Tradition, London 1967. - Charles Taylor, The Sources of the Self. The Making of the Modern Identity, Cambridge 1989; dt.: Quellen des Selbst. Die Entstehung der neuzeitlichen Identität, Frankfurt a.M. 1994. - Ferdinand Tönnies, Gemeinschaft u. Gesellschaft (1887), Darmstadt 1979. - Bernard Arthur Owen Williams, Ethics and the Limits of Philosophy, London 1985. M i c h a e l S. N o r t h c o t t
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III. Praktisch-theologisch 1. Sozialwissenschaften, praktisch-theologisch: Eine historische und systematische Verortung dieser Begriffskombination 2. Die praktisch-theologischen Teilfächer und die historische Reihenfolge ihrer wissenschaftsgeschichtlichen D o m i n a n z (Literatur S. 594)
1. Sozialwissenschaften, praktisch-theologisch: Verortung dieser Begriffskombination
Eine historische
und
systematische
Der inflationäre M i ß b r a u c h beider Disziplin-Begriffe macht von vornherein eine Definition im Sinne einer Ein- und Abgrenzung nötig. Im Bereich von Theologie und Kirche wird nämlich mit „Sozialwissenschaften" all das konnotiert, was im weiteren Sinne auch unter dem Titel „empirische H u m a n w i s s e n s c h a f t e n " firmieren könnte. Dazu zählt sogar das in sich selbst ziemlich ausdifferenzierte Fach der -»Psychologie, denn schließlich konstituiert sich die Psyche ebenfalls in hohem M a ß e als Beziehungsschicksal. Als harter Kern bei dem Terminus Sozialwissenschaften schält sich derzeit zweierlei heraus: 1. das mit dem Stichwort „ s o z i a l " angezeigte Phänomen von Relationalität, die Struktureinbindung allen Lebens; und 2. eine mit der neueren Wissenschaftsgeschichte verbundene, vornehmlich empirisch-induktive Orientierung der Argumentation. 1.1. Die Sozialwissenschaften und speziell die Soziologie erschienen auf der Wissenschaftsbühne, als ihr Gegenstand, das Soziale, das Kollektive, das den Individuen Vorund Übergeordnete, gerade nicht mehr selbstverständlich und daher axiomatisch vorgegeben war. Die organisatorische Ausdifferenzierung der ehemals klassischen mittelalterlichen Norm-Disziplinen wie der Theologie, der Rechtswissenschaft oder auch der Philosophie als Logik, Sprachschule und deskriptiver Naturkunde setzt mithin einen in der frühen M o d e r n e beginnenden Emanzipationsprozeß voraus, und zwar aus der Ganzheitsvorstellung des Corpus-Christianum-Denkens ( - » C o r p u s Christianum), wie es sich in der hochmittelalterlichen Scholastik als Kombination griechisch-römisch antiker, jüdisch-christlicher und germanischer Elemente spiegelt. Insofern ist gerade die reformatorische Theologie Mit-Geburtshelferin für eine neue, scheinbar normfreiere, im späteren Verlauf ausgesprochen rationale Analyse und Rekonstruktion von Sozialbeziehungen, Kulturformen, Lebensstrukturen, die somit nicht als offenbarungsmäßig-konstitutiv, sondern für den christlichen Glauben eher als konsekutiv zu deuten wären. Die Ausbildung einer ständegesellschaftlichen Vision im frühen Luthertum (status ecclesiasticus, status politicus, status oeconomicus) wie schon die Vorstellung von den Z w e i Regimenten (-»Zweireichelehre) oder jene einer funktional-gegliederten Ekklesiologie mit verschiedenen Ämtern als Führungsrollen im westeuropäisch-reformierten Bereich sind bereits „sozialwissenschaftliche" Leistungen, mit deren „formalisierender W i r k u n g " die Fortentwicklung von einem bis dahin sich über Jahrhunderte selbststeuernden feudalgesellschaftlichen System gelingen sollte. Auch als Korrektiv zu der theologisch-philosophischen Vorstellung von einer scheinbar monistisch erfaßbaren Einheitswelt waren diese Vorformen einer modernen Sozialwissenschaft nützlich. Die geistes- und sozialgeschichtlichen Bedingungen für die Emanzipation der Sozialwissenschaften aus ihrer nicht „selbstverschuldeten Unmündigkeit" hin zu einem allein von der Vernunft kontrollierten Selbstverständnis über die Stationen Renaissance, R e formation, Aufklärung ist bereits dargestellt (s.o. I.). Im Zusammenhang mit einer praktisch-theologischen Rekapitulation dieser G e schichte ist es wichtig, einige positionelle Fakten festzuhalten: Die reformatorische Glaubensbewegung war eine Bewegung „in die Welt hinein". Den Glauben in der Welt bewähren zu können und zu dürfen, weil G o t t als der Schöpfer diese Welt liebt, ist ein Herzensanliegen im neuen Glaubensverständnis. Auf Kosten sakramentaler Aus- und Abgrenzungen k o m m t es so zu einer erneuerten Heiligung der Profanität. Von daher gesehen ist reformatorisches Christentum für die irdische Existenz nicht heillos, sondern, auf die Geschöpflichkeit der Welt verwiesen, heil-versprechend. Und damit sind die sog. Sozialwissenschaften als solche theologisch virulent, sie sind latent offenbarungshaltig.
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Nicht zufällig kam es daher in der protestantischen Theologie- und Kirchengeschichte auch immer wieder zu der Perversion einer Identifikation von „geglaubter Anwesenheit Gottes in der Welt" einerseits mit konkreten Ausformungen des sozialen Lebens andererseits, sei es über ethische Positionen oder über institutionelle Formen des Staates oder bildungsbürgerlicher Kultur. Nachdem das elegante Stufenmodell von Natur und Gnade (gratia perficit naturam) der thomistischen Theologie (-»-Thomas von Aquino/Thomismus/Neuthomismus) nicht mehr akzeptabel war, da dieses immer anfällig blieb für einen klerikalistischen Mißbrauch seitens des Autoritätsanspruchs der römisch-katholischen Weihe-Hierarchie, mußte sich die evangelische Theologie zu einem Balanceakt zwischen einer platten Identifikation von „-»Kirche und Welt" und einer rigiden Nicht-Identifikation beider in je neuartigen Konstellationen ermutigen. Denn zum reformatorischen Pathos vom „In-derWelt-Sein der Gläubigen" gehörte dazu dialektisch das „Nicht-von-der-Welt-Sein". Da sich eine solche Dialektik von Zustimmung und Widerspruch zwischen Gott und Welt letztlich im Glauben des einzelnen ereignet, wofür der articulus stantis et cadentis ecclesiae, die Rechtfertigungslehre, ausgebildet worden ist, droht aller Sozialtheologie die Abwertung zum Epiphänomen, zur epigonalen Sekundärreflexion. Aus dem Einblick in diese Neuformierung der Faktoren von Natur und Gnade (katholisch formuliert), von „Gerechter und Sünder" (evangelisch formuliert), von Heil und Unheil, von Weltgeschichte und Heilsgeschichte wird unschwer ersichtlich, daß sich im Laufe der protestantischen Theologie- und Kirchengeschichte stets neue Konstellationen herausbilden mußten, die allenfalls über eine Typisierung analytisch zu ordnen sind: dem Modell einer nahezu perfekten Identifikation von Kirche und Welt steht jenes einer strikten Opposition, d.h. Nicht-Identifikation beider gegenüber. Da protestantische Theologie zudem, bedingt durch die Zentralstellung des Rechtfertigungsglaubens, immer eine gewisse antiontologische Tendenz aufweist zugunsten eines geschichtlichen Wahrneits- und Wirklichkeitsverständnisses, konnte die einfache Antithetik von Identifikation und Nicht-Identifikation vielfach dynamisiert werden. Im 19. Jh. sind dafür die Entwürfe von - » H e g e l wie von -»Schleiermacher, aber auch von -•Kant „typisch": das geistontologische Modell, das organologisch-erfahrungsorientierte sowie der am ethisch zu bestimmenden objektiven Guten orientierte Lebensentwurf sind zu bleibenden Strukturtypen der protestantischen Theologie und Philosophie geworden, die seit -»Kierkegaard zusätzlich mit einem existentialistischen Modell angereichert wurden.
Was ergibt sich aus diesem historischen Abriß? Die Erkenntnis, daß evangelisch-protestantische Theologie und Kirche stets, von ihrem wesenhaften Selbstverständnis her, sozialwissenschaftliche Implikate enthalten, die immer wieder neu elaboriert werden müssen. Besondere Schwierigkeiten macht Protestanten eine solche formalisierende Festlegung im Zusammenhang mit der Ekklesiologie, weil es sich bei der Kirche augenscheinlich um ein Phänomen handelt, bei dem ein „soziales Prae", ein Kollektiv, vor aller individuellen Christenexistenz rangiert. Zugleich wird aus dieser Historie erkennbar, daß es eine evangelische Theologie ohne sozialwissenschaftliche Perspektive gar nicht geben kann; das gilt auch für die sog. -»Dialektische Theologie bzw. die WortGottes- oder Offenbarungstheologie im 20. Jh. Auch sie, die das „Nicht-von-der-WeltSein" zum Kernthema ihres prophetischen Anspruchs machte, enthält sozialwissenschaftlich zu definierende Prämissen in ihrem Selbstverständnis, und sei es nur jene, daß man mit einem theologischen Nein auf ein wie auch immer geartetes vorhandenes Ja, d.h. eine Position reagiert. Spätestens durch die Verflüssigung solcher Gegenpositionen wird aber eine dialektisch-theologische Antihaltung selbst zur Position und damit als solche von den Sozialwissenschaften aus kategoriell beschreibbar als Institution, als Ideologie, als Praxis von Verhaltens- und Handlungsnormen, als Schicht- oder Klassenphänomen, als Daseinsentwurf und was immer man an modernem empirischem Instrumentarium dafür einsetzen mag.
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1.2. Damit sind wir bei dem zweiten Definitionsmerkmal für ein modernes Selbstverständnis der Sozialwissenschaften im Bereich von Theologie und Kultur angelangt: es ist eminent empirisch, d.h. anti-spekulativ, anti-dogmatisch, zum Teil leider auch anti-theoretisch. Die bewußte Unterscheidung in den Sozialwissenschaften zwischen Erlebnis und Erfahrung macht von Anfang an klar, daß es sich bei der empirischen Orientierung nicht um einen unkontrollierten Sensualismus handelt, der eine exzessive subjektive Wahrnehmung der Wirklichkeit zur N o r m erheben würde, vielmehr ist mit diesem empirischwissenschaftlichen Erfahrungsbegriff eine Übernahme des naturwissenschaftlichen Wissenschaftsverständnisses auf die Sozial- und Kulturphänomene intendiert. Mit anderen Worten, man suggeriert den Formen menschlichen Zusammenlebens eine Quasi-Naturgesetzlichkeit. Die Naturvorstellung absorbiert die Kulturvorstellung zu Lasten von Freiheitspotentialen. Die hohe Ambivalenz dieser Methoden wurde bei den anfänglich nahezu naiven Hoffnungen, die man in die empirisch-wissenschaftlichen Verfahren setzte, weithin verdrängt. Allerdings behielt diese Schein-Normativität des Sozialen nur teilweise die Oberhand: als regelrechte Gegenströmungen entwickelten sich utopistische Phantasien und ein kruder Freiheitsanspruch der einzelnen Individuen. Daß solcher Pluralismus nur vordergründig betrachtet die erwünschte aktuelle Ausformung demokratischer Tugenden sein kann, ja, daß ein Freiheitsdrang, der sittlich nicht geformt wird, in sein Gegenteil, die Unfreiheit und die Anarchie, führt, wird mehr und mehr erkennbar. Die Hinwendung zu empirisch-wissenschaftlichen Verfahren im Sinne einer induktiven Elaboration von Handlungsnormen muß eine Gegengröße in deduktiven Ableitungen aus gesamtgesellschaftlichen Theorien haben - eben im Stile der Praxis-TheorieDialektik, wie sie in der -»-Kritischen Theorie der Frankfurter Schule in den 1960er Jahren intendiert w a r - , auch das leuchtet inzwischen unmittelbar ein. Allerdings taugen theologische Gesamtentwürfe, wohl zu Recht, nicht dazu, einer christlichen und kirchlichen Lebenspraxis dialektisch-kritisch konfrontiert zu werden, da sich systematischtheologische Gesamtentwürfe nicht in dieses formale Dialektikverständnis problemlos einpassen können. Letztlich darf sich ein solcher dogmatischer Entwurf niemals als reine Theorie gegenüber der Praxis verstehen. Er wird, treu der theologischen Tradition, wohl stets - » T h e o r i e und Praxis gleichermaßen enthalten. Die Frage nach den Prinzipien der Verwertung von empirisch-wissenschaftlichen Daten, um daraus zu Erkenntnissen hinsichtlich des kausalen Zusammenhangs und der teleologischen Handlungs- und Entwicklungsrichtung zu kommen, stellt sich nun durch diese innertheologische Prärogative um so dringlicher. Läßt man die Anwendungsbeispiele von sozialwissenschaftlicher Forschung auf Theologie- und Kirchenpraxis Revue passieren, so zeigt sich ein Sammelsurium von Theorieelementen, die verhältnismäßig pragmatisch und oftmals nur additiv benützt werden oder die, diachron betrachtet, wie z. B. bei den großen Mitgliedererhebungen in der Evangelischen Kirche in Deutschland seit den 1970er Jahren, eben nacheinander ausprobiert werden, ohne daß ihre eigene Zeitbedingtheit ernsthaft problematisiert worden wäre. Was sich folglich als recht beschwerlich herausstellt, ist das noch immer vorherrschende Nebeneinander von konzeptionell-dogmatischen Entwürfen und empirischen Erhebungsdaten, was mit dazu eingesetzten „Theorien mittlerer Reichweite" zu zwangsläufig beschränktem Geltungsanspruch führt. D a ß das Phänomen von Methoden- und Theoriepluralismus auch in der sog. profanen empirischen Humanwissenschaft in den letzten zwei Jahrzehnten für die Praktische Theologie den Dialog mit dieser erschwert - bei aller Erleichterung, daß der WahrheitsSelbstanspruch dieser Fächer im interdisziplinären Gespräch eher gesunken ist - , dürfte einsichtig sein. Schließlich sei auf die Evidenz einer Verknüpfung des historischen mit dem methodologischen Definitionselement verwiesen: die Korrespondenz, insbesondere der -»Prak-
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tischen Theologie, die sich jeweils der gegenwärtigen Lebenspraxis von Christen wissenschaftlich verpflichtet weiß, mußte zwangsläufig beginnen oder wieder forciert werden in dem Augenblick, in dem sich die kurzzeitige Parallelexistenz von Kirche und Gesellschaft in der unmittelbaren Nachkriegszeit, also bis Mitte der 50er Jahre, „abgelebt" hatte. Die Selbstwahrnehmung der Kirchen als Teil der Gesellschaft, unter den Bedingungen des demokratischen Rechtsstaates und in der wachsenden Bedeutung des zivilgesellschaftlichen Sozialverständnisses auf Kosten einer Dominanz von Staatsbewußtsein, hat dann in den 60er Jahren die offénbarungs- und dialektisch-geprägte WortGottes-Theologie in der Selbstwahrnehmung der Theologie mehr und mehr ineffizient, d.h. irrelevant werden lassen. Den Ausfall an Wirklichkeitserfahrung, an Bedeutsamkeit für das Leben, suchte man fortan im Dialog mit jenen, die unbelastet von theologischen Prämissen der „nackten Wirklichkeit" anscheinend unvermittelter zu begegnen wagten und die im Sinne eines ideologisch-moralischen Neutralitätsgebotes dem Faktischen als solchem Respekt zu zollen vermochten. Im Übergang und zur Ablösung von den eigenen ideologischen Prämissen einer Doppelwelt von „kommunaler und christlicher Gemeinde", von Weltkind und Gotteskind, von Bekenntniswahrheit und empirischem Befund, waren die Beiträge der weltanschaulich hochbesetzten Kritischen Sozialphilosophie außerordentlich nützlich. Mit Hilfe einer „ideologiekritischen Ideologie", nämlich der der herrschaftsfreien Kommunikation, entkam man den Fängen einer offenbarungsautoritären Ideologie eher, als wenn man sich gleich der klassischen „verstehenden Soziologie" eines M. -»Weber oder der moderaten Wissenssoziologie eines Georg Simmel (1858-1918) bis Thomas Luckmann (geb. 1927) und Peter Ludwig Berger (geb. 1929) anvertraut hätte. Es ist nicht ohne historische Ironie, daß auf dem Umweg über ihre Emigration sozialwissenschaftliche wie auch psychoanalytische Konzeptionen in den frühen 60er Jahren aus Amerika nach Kerneuropa zurückkehrten, nachdem sie die Züge des angelsächsischen -»Pragmatismus und -»Empirismus angenommen hatten. So war der Import der strukturell-funktionalen Theorie Talcott Parsons' (1902-1972) durch Ralf Dahrendorf (geb. 1929) und deren spätere Weiterverarbeitung in Gestalt der Systemtheorie bei Niklas Luhmann (1927-1998) vor allem für protestantische Theologie hoch attraktiv. Zugle;ch war solcher Empirismus ein Vehikel für das historisch weiterentwickelte reformierte Erbe, nunmehr in Regionen des klassischen Luthertums in Mittel- und Nordeuropa einzuwandern. Das Seelsorge-Buch von H. Faber und E. van der Schoot, das die Wende zur Seelsorgebewegung (Clirtical Pastoral Education [ -» Clinical Pastoral Training]) einleitete, ist ebenso exemplarisch für diese Korrektur bzw. Ergänzung der konfessionellen Einflußsphären, wie überhaupt manches zur -»Sozialarbeit als solcher über die Niederlande aus den USA nach Deutschland gekommen ist. Später hatten diese Funktion z. B. J.W. Fowlers vom Methodismus herkommende religiöse Sozialisationsmodelle oder die Beiträge von D.S. Browning in einer Re-Verknüpfung von Ethik mit Praktischer Theologie (vgl. jetzt Schweitzer, Nordamerika; s.a. unten 2.). 2. Die praktisch-theologischen Teilfächer senschaftsgeschichtlichen Dominanz
und die historische
Reihenfolge
ihrer wis-
Nachdem sich in jüngster Zeit die Praktische Theologie ihrer knapp 200jährigen Disziplingeschichte mit einem ausgesprochen strukturell-theoretischen Interesse zugewandt hat (so durch H. Schröer [-»Praktische Theologie] sowie die Autoren des Bandes Geschichte der Praktischen Theologie), kann die von vielen mit großer Zustimmung aufgenommene Periodisierung der Disziplingeschichte durch Schröer (ekklesiales, empirisches, kerygmatisches, handlungswissenschaftliches Paradigma) zu folgenden Feststellungen führen. Die Überleitung der -»Pastoraltheologie in eine wissenschaftliche Praktische Theologie (endgültig seit Schleiermacher) läßt sich bereits als solche interpretieren als eine Hinwendung zur Empirie, also zur erfahrungsmäßigen Wahrnehmung der Glaubens-
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Wirklichkeit. Die weisheitliche Form der Traditionsvermittlung wie auch die dogmatische wurden zunächst durch das Kriterium der Wissenschaftlichkeit problematisiert, dann aber durch die im 19. Jh. im Protestantismus erstmals ernsthaft thematisierte „ekklesiale Wirklichkeit". Der methodologische Schritt zum ausgesprochen „empirischen Paradigma" bei den Vertretern der -»Liberalen Theologie und deren Forderung nach einer Kirchenkunde als Frömmigkeitskunde (P.G. -»-Drews; Otto Baumgarten [1858-1934]; F. -»Niebergall) war sodann - auf dem Hintergrund historistischer, religiös-sozialer wie kulturprotestantischer Theologie - geradezu zwangsläufig. Unterschieden werden muß diese Frühform einer Zuwendung zur Empirie allerdings von jener späteren, von der wir als „empirischer Wendung in den 60er Jahren des 20. J h . " sprechen. Dazwischen war das kerygmatische Paradigma im Zuge der Dialektischen Theologie leitend. Diese erneute, nunmehr handlungswissenschaftlich orientierte Hinwendung zur Empirie läßt sich wissenschaftstheoretisch differenzieren durch eine Unterscheidung der Theorie-ReflexionsEbene von den daraus abgeleiteten pragmatischen Untersuchungsmethoden und Handlungsanweisungen für die Praxis. 1) Die Auseinandersetzungen zwischen der Kritischen Theorie der Frankfurter Schule (Theodor Adorno [1903-1969]; Jürgen Habermas [geb. 1929] u.a.) und den Kritischen Rationalisten (Karl Popper [1902-1994]; Hans Albert [geb. 1921]) wiederholen sich in der Praktischen Theologie zwischen G. Otto und B. Päschke einerseits und H.-D. Bastian, bedingt auch K.-F. Daiber andererseits. Die Gründung der Zeitschrift THEOLOGIA PRACTICA 1966 sowie die Teilpublikation eines handlungswissenschaftlich orientierten Handbuchs (HPTh[G], 1981ff.) sind dafür typisch. Die meisten Praktischen Theologen laborieren eher mit Mischmodellen dieser idealtypischen Konzepte, zumal deren philosophische Prämissen in der Regel neutralisiert werden. Ch. Bäumler und K.-F. Daiber sowie die meisten der pastoral- und kirchensoziologisch Engagierten übernehmen zwar Kategorien aus diesem Theorie- und Metatheorie-Diskurs, pragmatisieren diese jedoch in praktisch-theologischer Operationalisierung. 2) Zu den Methoden: Die im Bereich der empirischen Sozialwissenschaften angestrebte induktive Theorieformulierung über eine fortwährende Verfeinerung der Untersuchungsinstrumente (computerunterstützte Faktoranalyse!) mit einer nachträglichen Versprachlichung der statistisch gewonnenen Ergebnisse und deren Zusammenhängen (z. B. bei Contentanalysen, Massenumfragen) schien anfänglich die Suchbewegung der Theologie zu unterstützen, erfüllte jedoch am Ende nicht deren Erwartungen. Daraus ergab sich wiederum eine doppelte Einsicht: die Theologie ist als solche nicht umdeutbar zu einer Kritischen Theorie, genausowenig wie die „gegenwärtige Wirklichkeit" hypothesenfrei, quasiobjektiv erhoben und nachträglich zu einer induktiv gewonnenen Theorie/Theologie abstrahierbar wäre. Die Folge aus dieser ernüchternden Wissenschaftserfahrung: Theoreme für die Praktische Theologie als ganze werden immer seltener bis unmöglich, d.h. die Differenzierung und Pluralisierung des Fachs nimmt weiter zu. Und die Rede von den „Theorien mittlerer Reichweite" wie z. B. die vom „gemeinde- und kirchenkonkreten Referenzrahmen" (Daiber, Grundriß 142 und passim) öffnet die Teilfächer einer praktisch-theologischen Handlungswissenschaft für alle neuen außertheologischen Methoden, Techniken, Wahrnehmungsformen. Die Zunahme „qualitativer" gegenüber „quantitativen" Methoden ist ebenfalls ein Anzeichen für den Verzicht auf eine universale Theoriebildung wie auf eine ausschließlich rational-induktive Erkenntnismethodik. Die Einsicht, daß die empirische Ausrichtung der Praktischen Theologie die Eigenentwicklung von deren Teilfächern verstärkte, verlängert zunächst nur die additive Auflistung der diesen jeweils entsprechenden Profandisziplinen. Das viel deutlichere Indiz für den Zusammenhang von Praktischer Theologie und Sozialwissenschaften erbrachte indes die Geschichte selbst, d.h. eine geschichtlich notwendige, gesellschaftlich bedingte Reihenfolge in der Dominanz dieser Teilfächer in bezug auf das Gesamtfach.
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D i e folgende D a r s t e l l u n g der Einzelfächer in dieser H i n s i c h t soll das belegen. Sie bestätigt d a m i t indirekt a u c h die kultursoziologische M e t h o d e von D . R ö s s l e r und V. D r e h s e n , mit welcher der G e g e n s t a n d der P r a k t i s c h e n T h e o l o g i e in der Dreiheit von „ e i n z e l n e m C h r i s t e n " , „ o r g a n i s i e r t e r Religion als K i r c h e " und „ C h r i s t e n t u m als Kult u r f o r m " e r f a ß t wird. B e s c h r ä n k t m a n sich sinnvollerweise a u f den Z e i t r a u m nach d e m Z w e i t e n Weltkrieg und r ä u m l i c h m e h r oder weniger auf D e u t s c h l a n d (insbesondere Westdeutschland). J.nnn ergibt sich ein auffälliges D e k a d e n s c h e m a bei der D o m i n a n z von praktisch-theologischen U n t e r f ä c h e r n . Z w i s c h e n 1 9 4 5 und 1 9 5 5 w a r e n es die homiletischen F r a g e n , von denen die Szene b e h e r r s c h t wurde, zwischen 1 9 5 5 und 1 9 6 5 die der - » R e l i g i o n s p ä d a g o g i k , von M i t t e der 6 0 e r bis M i t t e der 7 0 e r J a h r e Fragen der Institution K i r c h e , der Pfarrerrolle, der k i r c h e n s o z i o l o g i s c h beschriebenen V o l k s k i r c h e n r e f o r m und daraus abgeleitet auch bereits F r a g e n des G e m e i n d e a u f b a u s . Von M i t t e der 7 0 e r bis M i t t e der 80er J a h r e k ö n n t e m a n von einer H i n w e n d u n g zur - » S e e l s o r g e sprechen, die vermutlich z u s a m m e n h ä n g t mit der w a c h s e n d e n Vereinzelung des M e n s c h e n und dessen persönlich schwer lösbaren P r o b l e m e n in einer sich f o r t w ä h r e n d spezialisierenden und technisch formalisierenden G e s e l l s c h a f t ; a b M i t t e der 8 0 e r J a h r e werden ästhetische T h e m e n interessant, die vor allem der liturgischen, also der gottesdienstlichen Besinnung, a b e r auch dem K i r c h e n gesang, der - » K i r c h e n m u s i k zugute k o m m e n . Es ist nicht zufällig, d a ß w ä h r e n d dieser Z e i t die s y m b o l i s c h e K o m m u n i k a t i o n (—»Symbol) und der - » R i t u s endgültig rehabilitiert werden. S o s c h e m a t i s c h dieses K o n s t r u k t einer A b f o l g e von B e d e u t s a m k e i t hinsichtlich der p r a k t i s c h - t h e o l o g i s c h e n Teildisziplinen auch erscheinen m a g , ist es d o c h zugleich ein Beleg d a f ü r , wie sich der soziale Wandel a u f K i r c h e und T h e o l o g i e ausgewirkt hat. (Dieses D e k a d e n s c h e m a b e h ä l t selbst d a n n Gültigkeit, wenn einige wichtige Veröffentlichungen erst viel später zu datieren sind!) In der angeblich restaurativen Nachkriegszeit mit einer paradoxerweise verspäteten Theologie der Abgrenzung zwischen Kirche und Staat, Kirche und Gesellschaft mußte das prophetische Amt der -»Verkündigung, in institutionalisierter Weise die -»Predigt, eine Zusammenarbeit mit Profanwissenschaften perhorreszieren. Alles andere hätte ja die Wiederkehr der mit dem Kirchenkampf und der Barmer Theologischen Erklärung verabschiedeten natürlichen bzw. kultürlichen Theologie bedeutet. Die spürbare Normalisierung und das wachsende Selbstverständnis der Nachkriegsgesellschaft im Westen als Demokratie machte auf ganz natürliche Weise auch die Kirche zu einem Teil der Gesellschaft, und dies mit öffentlicher Wirkungsmöglichkeit, jetzt allerdings in Konkurrenz mit vielen anderen gesellschaftlichen Gruppen. Die Arbeiten von G. Otto und M. Stallmann mit dem Versuch eines kulturhermeneutischen -»Religionsunterrichts im Referenzbereich der Schule ist auch eine exemplarisch-sozial wissenschaftliche Reaktion auf diesen Wandel, nicht nur eine hermeneutische. Die Geschichte der Nachkriegs-Religionspädagogik ist wie ein Musterfall für ein sehr sensibles Reagieren auf den Wechsel der sog. Referenzsysteme zu analysieren (von der Kirche über die Schule, das Lernprogramm, den Schüler, bis hin zur Bibel als eigener religiöser Sprachwelt), so daß innerhalb der Religionspädagogik der Paradigmenwechsel des Gesamtfachs der Praktischen Theologie noch einmal in nuce nachgebildet worden ist (beim Lernprogramm sind es vor allem die Didaktiken des curricularen Lernens, weithin angestoßen durch US-amerikanische Literatur; bei der Schülerorientierung [Stoodt u.a.] lerntheoretische bis hin zu individualpsychologischen Erkenntnissen; s. dazu die Publikationen von Nipkow; Schmidt; Schweitzer). Erst für die Phase ab Mitte der 60er Jahre wird üblicherweise mit dem Schlagwort „empirische Wendung" das registriert, was man als die Wechselwirkung im Erkenntnisprozeß zwischen empirischer Sozialwissenschaft einerseits und Theologie als Bewahrerin der historischen Tradition andererseits bezeichnen kann. Diese Wendung wird, wie ich meine, etwas zu spät angesetzt. Immerhin wurden schon im Vorlauf der Studentenrevolte von 1968, dann aber natürlich in deren unmittelbarem Zusammenhang Forschungsergebnisse der empirischen Sozialwissenschaften (René König [geb. 1906]; Renate Mayntz [geb. 1929]; Internationales Jahrbuch für Religionssoziologie [IJRS]; Joachim Matthes [geb. 1930]; Kehrer), vor allem solche der Kritischen Sozialphilosophie (Max Horkheimer [1895-1973]; Adorno; Habermas), und schließlich am nachhaltigsten, weil am längsten fortwirkend, des Kritischen Rationalismus eines Popper und Albert mit einer normativen Erwartung in die Praktische Theologie übernommen. Das war auch die Phase, in der die Soziologie im engeren Sinne als Beschreibung und Erklärung von Sozialbeziehungen und -formen auf allen Ebenen theo-
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logisch aktualisiert wurde: sozialpsychologisch beschriebene Gruppenkommunikation (Moreno; Hofstätter), Funktionsrollenbestimmung (Dahm), Ideologiekritik, Institutionenkritik, besonders an der Volkskirche. Als praktisch-theologischer Vermittlungsbegriff dafür gilt vornehmlich der Begriff „-»Kommunikation". Mit Hilfe Luhmannscher Systembestimmungen versuchte man sodann, die Kirche als partikulares System, als sog. gesellschaftliches Teilsystem, zu rehabilitieren und mit präzisen Funktionsund Strukturmerkmalen auszustatten (s.a. Spiegel, Kirche [1969]; ders., Pfarrer im Amt; ders., Pfarrer ohne Ortsgemeinde; ders., Kirche [1974]). Das Gesamtprojekt „Kirchenreform", von einem optimistischen Willen zur Reform und damit zur Vermeidung einer revolutionären Beseitigung kirchlicher Strukturen getragen, löste zumindest innerhalb der Landeskirchen - gestützt auf eine solide Finanzierungsmöglichkeit durch noch sprudelnde Kirchensteuern - einen gewaltigen Prozeß der funktionalen Arbeitsteilung aus, des Ausbaus demokratischer Gremienstrukturen, der Differenzierung von Ebenen und entsprechender Leistungsanforderungen bzw. -erwartungen sowie damit einer Vermehrung der nicht-parochialen Dienste um ein Mehrfaches. Die kirchliche Organisation wurde idealtypisch als Pendant zu einer hochdifferenzierten Gesellschaftsorganisation entworfen und ausgebaut. Diese Assimilation an die industriegesellschaftlich-mobilen Strukturen war sicherlich eine beachtliche Modernisierungsleistung. Wie die Massenbefragungen in den EKD-Erhebungen allerdings zeigen, wurde diese Veränderung der kirchlichen Strukturen ins Bewußtsein der Gläubigen so gut wie nicht integriert, allenfalls bei der Mitarbeit der Kirche im Bildungsbereich und bei diakonischen Aufgaben ist es gelungen, diese Organisationskirche als genuinen Teil der Kirche zu begreifen. Das rührt daher, daß das religiöse Bewußtsein retardiert reagiert und daß die Grundformen des religiösen Erlebens sich zu einer Organisationskirche eher disfunktional verhalten. Die negative Resonanz im Kirchenvolk hat die akzelerierte Anpassung der kirchlichen Institution an moderne Gesellschaftsformen in jüngster Zeit daher eher verlangsamt. Hinzu kommt, daß die organisierten Kirchen sich mit ihren Finanzierungsverpflichtungen im Bereich des Personals wie der Betriebsunterhaltung ihrer Einrichtungen schlicht übernommen haben. Das Schicksal der sog. volkskirchlichen Flächenorganisation ist zudem zu einer Abhängigen der demographischen Entwicklung geworden, zusätzlich problembeladen durch eine negative Mitgliederbewegung. In der Dekade der Betonung der seelsorgerlichen Aufgabe kam es zu einer Verbreiterung der bis in die 60er Jahre zurückreichenden intensiven Beziehung zwischen der Theologie und der Psychologie, zunächst mit der von S. -»Freud (vgl. Scharfenberg, Seelsorge), später auch mit den Entwürfen von C.G. -»Jung (s. bereits Haendler) und besonders von Victor E. Frankl (1905-1998; vgl. Kurz), aber auch verhaltenspsychologische Ansätze fanden ein theologisches Echo wie überhaupt alle gesprächstherapeutischen Ansätze (Stollberg, Wahrnehmen; Nicol), neuerdings auch systemische (Held). Die letzte Phase dieses Zeitraums, in den 90er Jahren, ist ausgesprochen freundlich gestimmt gegenüber wahrnehmungstheoretischen, und d.h. ästhetischen Methodologien, damit naturgemäß offener und weniger dogmatisch festgelegt, allerdings auch weniger stringent bei einer Aufnahme von Elementen des Spielerischen, des Kreativen. Von der Ritus- und Symbolfreundlichkeit war bereits die Rede. Alles, was neues Leben eher einholt, als es abzuwehren, hat derzeit Konjunktur. Bei einer solchen Theologie sind auch die Kontakte mit fremden Religionen und sogar Anleihen aus diesen nicht mehr tabuisiert. Das Arrangement von Zitaten, liturgische Collagen, die Pluralität von Predigtformen und anderes mehr läßt manches an diesen neuesten praktisch-theologischen Vermittlungsangeboten „spätmodern" erscheinen (s. Grözinger, Kirche). Währenddessen, d.h. während des ganzen Zeitraums der letzten fünf Jahrzehnte, hat die praktisch-theologische Königsdisziplin, die -»Homiletik, ebenfalls eine „empirische Wissenschaftsgeschichte" hinter sich gebracht, seit sie sich von einer rein deduktiv normierenden Theologie befreit hat. Im Übergang versuchte Bohren - von der „Theologie der Offenbarung" herkommend und daher negativ gegen alle „empirische Humanwissenschaft" innerhalb der Theologie eingestellt - , mit der Logik der von van Ruler stammenden Formel der „theonomen Reziprozität" (vgl. Bohren 65.76) und dem Versuch einer Wiederbelebung der Pneumatologie das Interesse am Hörer zu wekken. Josuttis operiert sodann mit der Formel des Zwischen, des offenen Dialogs (Josuttis, Praxis). Doch erst E. -»Lange war es, dem der Durchbruch zugebilligt wird, in der Tradition D. -»Bonhoeffers und letztlich der lutherischen Theologie als solcher die „Wirklichkeit des Menschen" so ernst genommen zu haben, daß er sie nicht mehr vorweg dogmatisch formulieren mußte. Das Predigtvorbereitungsmodell der Predigtstudien steht ebenso dafür wie die Konzeption der Calwer Predigthilfen mit einer Transferierung des „Sitzes im Leben" aus der Bibel in die Gegenwart, ein besonderes Anliegen des Exegeten Claus Westermann (geb. 1909). Fragen des Gemeindeaufbaus sowie die Diskussion von Strategien zur sozialen Wiederbelebung der Ortsgemeinden sind in den letzten 30 Jahren stets, wenn auch mit wechselnder Aktualität,
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praktisch-theologisch bearbeitet worden. Sie laufen direkt parallel zum sog. E r o s i o n s p r o z e ß bei der Gottesdienstteilnahme wie bei der Mitgliederbewegung der Kirchen im allgemeinen. Aber ebenso gehören dazu die reflektierten B e o b a c h t u n g e n einer wachsenden G e m e i n d e in Gestalt von sog. Paragemeinden wie zur gleichbleibenden Attraktivität des Deutschen Evangelischen - » K i r c h e n t a g e s bei jüngeren Christen. Ch. B ä u m l e r hat sich a u f diesem Gebiete mit mehreren Arbeiten qualifiziert, ihm ging es von Anfang an um einen konstruktiven Dialog zwischen T h e o l o g i e und Sozialwissenschaften. Auch Ch. M ö l l e r profilierte sich in diesem Bereich, o b w o h l er von einer im Luthertum begründeten, gottesdienstlich zu feiernden C h a r i s m e n - T h e o l o g i e h e r k o m m t . Er grenzt sich sowohl von U S - a m e r i k a n i s c h e n G e m e i n d e a u f b a u t e c h n o l o g i e n a b wie von pietistisch-fundamentalistischen Distanzierungsversuchen gegenüber den G r o ß k i r c h e n . D a ß sich währenddessen die Praktische T h e o l o g i e als Disziplin durch diese Entwicklung fortwährend herausgefordert sah, ihr eigenes wissenschaftliches Selbstverständnis kritisch zu reflektieren, zeigt sich an Arbeiten von K . - E D a i b e r und seinem handlungstheoretischen Ansatz, ebenso an H . Luthers Forcierung der Subjektivitätsthematik (s. dazu auch Drehsen; Feige; H ü b n e r ; Knuth). Als ein gewisses D a c h - T h e m a figuriert das K i r c h e n p r o b l e m als solches, auf Deutschland bezogen als V o l k s k i r c h e n p r o b l e m . N e b e n den ekklesiologischen Versuchen der Auseinandersetzung mit der Systemtheorie (s. die von R . Schloz betreuten E K D - E r h e b u n g e n ) und einer am M y t h o s orientierten Skizze (Welker) sind dabei vor allem das Institutionenthema, das Öffentlichkeitsthema und somit auch die Frage nach der politischen W i r k u n g s k r a f t von Kirche angesprochen (Huber; Leipold; R a u ) . M a g die M e h r h e i t dieser Arbeiten auch im Bereich der ehemals westdeutschen Kirchen auf dem Boden der alten Bundesrepublik Deutschland geschrieben worden sein, im Osten versuchte man vor 1990 ebenfalls einen Beitrag zum D i a l o g zwischen T h e o l o g i e und Sozialwissenschaften zu leisten (s. E n g e m a n n ; H e n k y s ; W i n k l e r ) , allerdings mit einem deutlichen Distanz- bzw. Unterscheidungsbestreben zwischen K i r c h e und Gesellschaft, was verständlich w a r in einem totalitären S t a a t , der eine G r ö ß e „ G e s e l l s c h a f t " neben sich gar nicht dulden konnte. N a c h der Wende zeigte es sich, d a ß das, was in der alten D D R funktional gewesen sein m a g , für die offene Gesellschaftssituation der neuen Bundesrepublik Deutschland keine Gültigkeit mehr haben konnte. Durch die selbstverständliche Partizipation, wenn auch zahlenmäßig sehr reduziert, haben auch die ostdeutschen Landeskirchen wieder ihren A n t e i l - C h a r a k t e r an der allgemeinen Gesellschaft akzeptiert, wobei sie den Verlust einer gewissen Vorbildfunktion für die Ö k u m e n e , die sie früher hatten, nur schmerzlich hinnehmen. U n s e r e spezifische F r a g e n a c h der Ö f f n u n g d e r P r a k t i s c h e n T h e o l o g i e für eine h a n d l u n g s w i s s e n s c h a f t l i c h e E m p i r i k , n u n m e h r a n d i e römisch-katholische logie
g e r i c h t e t , h a t w i s s e n s c h a f t l i c h insofern Brisanz, als das
D e n k e n ( g r a t i a perficit
naturam)
Praktische
Theo-
aristotelisch-thomistische
die E r f a h r u n g als t h e o l o g i s c h e E r k e n n t n i s m e t h o d e z w a r
legitimiert, diese aber i m m e r w i e d e r (neu) scholastisch und kirchenrechtlich domestiziert h a t . E i n e F o l g e d a v o n : d i e k a t h o l i s c h e P r a k t i s c h e T h e o l o g i e h a t t e es s c h w e r e r a l s d i e evangelische, sich v o m A m t s p a r a d i g m a d e r P a s t o r a l t h e o l o g i e zu e m a n z i p i e r e n , e i n d r ü c k lich g e s c h i l d e r t v o n N . M e t t e . D a h e r w u r d e a u c h d i e e k k l e s i o l o g i s c h e D e f i n i t i o n d e r P r a k t i s c h e n T h e o l o g i e d u r c h K . - > R a h n e r g e f e i e r t , die E r g e b n i s s e d e s - > V a t i k a n u m II b e r e i t s v o r w e g n a h m u n d s o z u r k o n z e p t i o n e l l e n B a s i s d e s f ü n f b ä n d i g e n Handbuchs Pastoraltheologie
( H P T h , 1964ff.)
der
wurde:
„Praktische T h e o l o g i e ist jene theologische Disziplin, die sich mit dem tatsächlichen und seinsollenden, je hier und jetzt sich ereignenden Selbstvollzug der K i r c h e beschäftigt, mittels der theologischen Erhellung der jeweils gegebenen Situation, in der die Kirche sich selbst in all ihren Dimensionen vollziehen m u ß " ( R a h n e r , Praktische T h e o l o g i e 134). W i d e r s t ä n d e g e g e n d i e s e D e f i n i t i o n R a h n e r s als z u k i r c h e n z e n t r i e r t d u r c h V e r t r e t e r der Kritischen T h e o r i e ( N o r b e r t G r e i n a c h e r [geb. 1 9 3 1 ] ) , der Befreiungstheologie ( M e t z ) o d e r a n d e r e r k o n t e x t u e l l e r T h e o l o g i e n revidierten diese A b k e h r v o n zu einseitig d o g m a t i s c h e n b z w . k i r c h e n r e c h t l i c h p o s i t i v i s t i s c h e n B e g r ü n d u n g e n d e r D i s z i p l i n k a u m , sie v e r s t ä r k t e n deren E m p i r i e o r i e n t i e r u n g s o g a r d a d u r c h , d a ß die „ K o n t e x t u a l i t ä t der Kirc h e in j e w e i l i g e r G e g e n w a r t " m e t h o d i s c h w e i t e r e l a b o r i e r t w u r d e m i t t e l s
methodolo-
gischer Zirkularmodelle von hermeneutisch-empirischen Z u g ä n g e n (Zulehner, Pastoralt h e o l o g i e I), g i p f e l n d i m E n t w u r f e i n e r a u s g e s p r o c h e n „ e m p i r i s c h e n T h e o l o g i e "
der
Nijmegener F o r s c h u n g s g r u p p e (van der Ven), von der R a h n e r s Definition weiterentwikk e l t w u r d e z u e i n e m M o d e l l h e r m e n e u t i s c h - k o m m u n i k a t i v e r P r a x i s , b e i d e r es u m d e n „ P r o z e ß e i n e r h e r m e n e u t i s c h e n S e l b s t v e r s t ä n d i g u n g d e r B e t r o f f e n e n in k o m m u n i k a t i v e r
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Praxis" (Mette, Praktische Theologie 558) geht. Letztlich suchte man in all diesen konzeptionellen Innovationen nach einer Neubalancierung des Duals von Schrift und Tradition, Offenbarung und Erfahrung. Die neuerliche internationale Kooperation der Praktischen Theologie Europas mit der von Nordamerika macht noch einen Blick auf die dortige Entwicklung nötig (bündig dargestellt von Schweitzer, Nordamerika). Auf dem Hintergrund der Disziplingeschichte des Fachs in den USA, im Vergleich zu Europa noch nicht lange als Eigengeschichte zu bezeichnen, haben die jüngsten religiösen und denominationeilen Verwerfungen und Veränderungen in der US-amerikanischen Gesellschaft zwingend zu einer konzeptionellen Selbstreflexion der Fachvertreter geführt, vor allem in Chicago und Princeton. Die stark erfahrungsorientierte philosophische Tradition von Empirismus und Pragmatismus in der US-amerikanischen Geistesgeschichte hat in der Praktischen Theologie neuerdings vier Varianten erbracht bei der Verhältnisbestimmung von dogmatisch/historischer Theologie einerseits und Erfahrungswirklichkeit andererseits: 1. Von einem in der systematischen Theologie entwickelten Modell der kritischen Korrelation (Tracy) herkommend: das situationshermeneutische Paradigma von D.S. Browning, das insbesondere Fragen der ethischen Normativität einschließt; 2. das christliche Sozialisationsmodell von J.W. Fowler, in dem die Glaubensentwicklung innerhalb einer Glaubensgemeinschaft nachgezeichnet wird; 3. der von R.S. Chopp eingebrachte Entwurf einer gesellschaftskritischen Praktischen Theologie; 4. ein im Anschluß an Stanley Hauerwas (geb. 1940) u.a. konzipiertes Modell einer „gemeinschaftsbezogenen kirchlichen Praktischen Theologie". Eine verstärkte internationale Kooperation im Fach, wie sie sich bereits abzeichnet, verbunden mit einer weiteren konfessionellen Öffnung, wird zwangsläufig zu einer Begegnung mit geistes- und sozialgeschichtlichen Traditionen führen, die - außerhalb des kontinentaleuropäischen Protestantismus - ziemlich empiriefreundlich sind insofern, als sie kaum durch Phasen einer „dialektischen Verneinung" der Kirchen- und Frömmigkeitspraxis hindurchgingen. Kritik der Empirie setzt dort in der Regel eine „essentielle Bejahung" derselben voraus. Mit anderen Worten: Die Empiriekritik mittels einer theologia crucis ist bei diesen Abkömmlingen des europäischen Protestantismus kaum mehr relevant. Literatur 1. Allgemeines: Christof Bäumler u.a., Methoden der empirischen Sozialforschung in der Prakt. Theol., München/Mainz 1976. - Anton A. Bucher, Einf. in die empirische Sozialwiss. Ein Arbeitsbuch f. Theologinnen, Stuttgart 1994. - Arnd Hollweg, Theol. u. Empirie, Stuttgart 1 9 7 1 . - H P T h . HPTh(B). - HPTh(G). - Eberhard Hübner, Theol. u. Empirie der Kirche. Prolegomena zur Prakt. Theol., Neukirchen-Vluyn 1985. - IJRS. - Hans Christian Knuth, Verstehen u. Erfahrung. Hermeneutische Beitr. zur empirischen Theol., Hannover 1986. - Norbert Mette/Hermann Steinkamp, Sozialwiss. u. Prakt. Theol., Düsseldorf 1983. - Prakt. Theol. heute, hg. v. Ferdinand Klostermann/ Rolf Zerfaß, München/Mainz 1974. - PThH. - Gerhard Rau/Hans-Richard Reuter/Klaus Schiaich (Hg.), Das Recht der Kirche, 3 Bde., München/Gütersloh 1989ff. 2. Einzelnes: Jay Edward Adams, Competent to counsel, Grand Rapids, Mich. 1970; dt.: Befreiende Seelsorge, Gießen 1972 '1988 [krit. gegenüber Humanwiss.!]. - Christof Bäumler, Prakt. Theol. - ein notwendiges Element der wiss. Theol.: ThPr 9 (1974) 7 2 - 8 4 . - Ders., Kommunikative Gemeindepraxis, München 1984. - Ders., Menschlich leben in der verstädterten Gesellschaft. Kirchl. Praxis zw. Öffentlichkeit u. Privatheit, Gütersloh 1993. - Hasko v. Bassi, Otto Baumgarten. Ein „moderner Theologe" im Kaiserreich u. in der Weimarer Republik, 1988 (EHS.T 345). - HansDieter Bastian, Vom Wort zu den Wörtern. Karl Barth u. die Aufgaben Prakt. Theol.: EvTh 28 (1968) 2 5 - 3 6 . - Ders., Prakt. Theol. u. Theorie: ThPr 9 (1974) 8 5 - 9 6 . - Otto Baumgarten, Die persönlichen Erfordernisse des geistlichen Berufs, Tübingen 1910. - Ders., Prot. Seelsorge, Tübingen 1931. - Robert N. Bellah/Phillip E. Hammond, Varieties of Civil Religion, San Francisco 1980. Robert N. Bellah u.a., Habits of the Heart. Individualism and Commitment in American Life, Berkeley, Cal. 1985 2 1996, dt.: Gewohnheiten des Herzens. Individualismus u. Gemeinsinn in der
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Sozzini/Sozinianer
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Kirchengeschichtsschreibung
Sozzini/Sozinianer 1. Lelio Sozzini
1. Lelio 1.1.
2. Fausto Sozzini
3. Der polnische Sozinianismus
(Quellen/Literatur S. 603)
Sozzini
Leben
Lelio Sozzini (Socinus, 1525-1562) entstammte einer Patrizierfamilie aus Siena; sein Vater Mariano d.J. (1482-1556) war ein bekannter Jurist. Lelio begann ein Jurastudium in Padua, interessierte sich aber mehr für Sprachen (Griechisch, Hebräisch) und Theologie. Er stand den -»Täufern nahe. 1546 soll er an geheimen Versammlungen der Reformanhänger in Vicenza teilgenommen haben; danach verließ er Italien. 1547-1552 reiste er quer durch Europa: durch die Schweiz, wo er sich mit Celio Secondo Curione (1503-1569) und S. -»Castellio anfreundete, durch Frankreich, England, Belgien, Deutschland, wo er Argwohn bei Ph. -»Melanchthon erregte, und durch Polen, wo er Jan M^czynski (1520-1570) und Stanislaw Kokoszka (ca. 1540- ca. 1566, späterer -»Antitrinitarier) beeinflußte. Er knüpfte Kontakte zu bedeutenden Calvinisten, Lutheranern, Täufern und zu religiösen Freidenkern aus Basel. 1553 protestierte er gegen die von J . -»Calvin betriebene Hinrichtung M. —»Servets, zu dem er sich öffentlich bekannte. Zwei Jahre später schwor er formell der Häresie ab. Im Jahre 1556 reiste er in Erbschaftsangelegenheiten nach Venedig und 1558/59 erneut nach Deutschland und Polen. Gegen Ende seines Lebens wohnte Lelio Sozzini hauptsächlich in Zürich, wo er am 14. Mai 1562 im Hause Konrad Pellikans (1478-1556) starb. 1.2. Werk und
Wirkung
Lelio stellte das Trinitätsdogma, die Rechtfertigungs- und die Prädestinationslehre sowie die Sakramente in Frage, ausgenommen Taufe und Abendmahl. Zweifel hegte er zudem an der leiblichen Auferstehung der Toten. Er verband Theologie mit Philologie und Philosophie im Geiste des stoischen Humanismus (-»Stoa/Stoizismus/Neustoizismus) und legte selbständig das Johannesevangelium und den Propheten Jesaja aus. Vor allem aber wies er - wie Servet — die Trinitätslehre zurück. Lelios literarischer Nachlaß ist nicht groß, enthält aber viele rationalistische Elemente, was sich auch in der Vorordnung der Ethik vor den Dogmen zeigt. Sein bekanntestes Werk ist die Brevis explicatio in primum lobannis caput (ca. 1561). Viele andere Schriften werden Lelio zugeschrieben, es ist jedoch unklar, ob sie wirklich von ihm stammen. Lelio beeinflußte hauptsächlich seinen Neffen Fausto sowie unmittelbar und mittelbar die Entwicklung des Antitrinitarismus in Polen. 2. Fausto 2.1.
Sozzini
Leben
Fausto Sozzini (Socinus, 1539-1604; unter seinen vielen Pseudonymen ist Turpilio das bekannteste), der Neffe Lelios, wurde in Siena als Sohn von Alexander und als Enkel des bedeutenden Juristen Mariano d.Ä. geboren. Ein Studium hat er wohl nicht
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absolviert, sondern er war ein Autodidakt, der sich durch das Studium von Lelios Schriften, durch Reisen (er war oft in Lyon und Basel) und den Aufenthalt am Hofe der Medici in Florenz (1563-1574) eine geisteswissenschaftliche Allgemeinbildung aneignete. Wie viele italienische Intellektuelle war er schon damals der Ansicht, daß die Religion mit Hilfe der Vernunft erklärt werden und ihr entsprechen müsse. Seine erste Schrift war die Explicatio initii primi capitis Evangelii lohannis von 1562. Im Jahre 1574 ging er in die Schweiz, wo er Streitgespräche zur Verteidigung seiner Ansichten führte. 1578 wurde er von den Antitrinitariern aus -»Siebenbürgen nach Kolosvar (Cluj, Klausenburg) eingeladen, um sie bei ihrem Streit mit einem radikalen Mitglied ihrer Sekte, Franz Davidis (1510-1579), der die Anbetung Christi ablehnte, zu unterstützen. In dieser Zeit schrieb er die Abhandlung De Iesu Christo servatore. Seit 1579 lebte er in Polen (genauer: in Kleinpolen) und knüpfte Kontakte mit gleichgesinnten polnischen Brüdern. Seit den 80er Jahren war er für sie eine Autorität und stieg um 1596 zu ihrem Führer und Begründer einer neuen antitrinitarischen Orthodoxie auf, die nach ihm Sozinianismus genannt wurde. Um 1580 führte er im Namen seiner polnischen Brüder ein Streitgespräch mit dem Griechen Jakob Paläologus (ca. 1520-1585), der für eine volle Teilnahme der Antitrinitarier am politischen Leben plädierte. In dieser Zeit schrieb Fausto auch das wichtige Werk De S. Scripturae auctoritate. 1586 heiratete er Elzbieta, eine Tochter des kleinpolnischen Adligen Krzysztof Morsztyn. Er lebte in Krakau (bei Niccolö Buccelli [gest. 1599], der aus Italien verbannt worden war), wo er 1598 fast von der gegenreformatorischen Menge erschlagen worden wäre, in den Dörfern Pawlikowice (Eigentum seines Schwiegervaters), Igoiomia und Luslawice in der Nähe von Krakau sowie in der kleinen Stadt Raköw in der Nähe von Sandomir (Sandomierz). Fausto schrieb zahlreiche Streitschriften gegen Katholiken (z. B. Refutatio libelli, quem Jacobus Vuiecus Jesuita anno 1590 polonice edidit, de divinitate Filii Dei et Spiritus Sancti, 1594), Protestanten (Quod Regni Poloniae et magni ducatus Lithuaniae homines, vulgo Evangelici dicti ..., 1600) und Spiritualisten (Contra Chiliastas de regno Christi terreno, um 1600). Zu seinem Nachlaß gehören die theologischen Vorträge Praelectiones theologicae (Raköw 1609) sowie eine umfangreiche Korrespondenz. Er starb am 3. März 1604 in Luslawice am Fluß Dunajec, wo sich bis heute sein Denkmal mit Überresten des Grabsteines befindet. 2.2. Werk Der Grundsatz des jungen Fausto Sozzini lautete: Deum colere, studere, gaudere, neminem laedere, non temere credere, de mundo non curare. Sein Antitrinitarismus stützte sich auf eine buchstäblich deutende Bibelauslegung sowie auf die gesunde Vernunft. Er wies die Gottheit Christi und des Heiligen Geistes zurück, war also Antitrinitarier und -»Unitarier. Er war der Meinung, daß Christus seinem Wesen nach nur Mensch war, andere Menschen allerdings durch seine übernatürliche Empfängnis, vollkommene Heiligkeit und seine Mittlerrolle zwischen Gott und Menschen überragte. Deswegen sei er anbetungswürdig, obwohl man ihn nicht als Gott anbeten solle. Fausto wies traditionelle Ansichten zur Erbsünde, zur Auferstehung der Toten sowie die calvinistische Prädestinationslehre zurück. Er behauptete, ein sittliches Leben trage mehr zur Erlösung bei als Gottes Gnade. Er lehnte dementsprechend die Kindertaufe ab und hielt Sakramente für nicht notwendige Bräuche, für Adiaphora. Gegenüber anderen Konfessionen war er weitgehend tolerant. Fausto negierte alle gesellschaftlichen Extreme, der Teilnahme von Christen am politischen Leben stand er, der im Grundsatz Pazifist war, ablehnend gegenüber. Er war natürlich auch Ikonokiast. Hervorgehoben werden müssen der moralische Optimismus Sozzinis (im Gegensatz zum Luthertum), der Naturalismus seines Denkens und sein praktischer Realismus. Wie aus seinem Briefwechsel hervorgeht, suchte er die Berichte der Heiligen Schrift nach
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dem seinerzeitigen Kenntnisstand zu erklären, war aber gelegentlich auch bereit, seine Anschauungen den Lebensverhältnissen anzupassen. 2.3.
Wirkung
Trotz des Widerstandes der Traditionalisten (sichtbar vor allem in der Lubliner Gemeinde) konnten die polnischen Antitrinitarier in den Jahren um 1600-1660 in der sog. sozinianischen Kirche leben und ihre Ansichten auch im Ausland verbreiten. Sie gaben vor 1638 in Rakow und um 1668 in Amsterdam die meisten Werke von Fausto Sozzini heraus. Der polnische Sozinianer Samuel Przypkowski (ca. 1592-1670, geb. bei Krakau, gest. in Ostpreußen) schrieb um 1630 die erste Biographie Fausto Sozzinis. Die Gedanken Sozzinis trugen zur Rationalisierung der Religion bei, weswegen häufig geschrieben wurde: Tota mit Babylon: tecta destruxit Lutherus, muros Calvinus, sed fundamenta Socinus. 3. Der polnische 3.1.
Sozinianismus
Vorgeschichte
Die polnischen Sozinianer wurden mit vielen und höchst unterschiedlichen Bezeichnungen belegt: Polnische Brüder, Polnische Arianer, Ecclesia minor (vgl. u. Z. 33), Antitrinitarier, Unitarier, Rakower, Pinczower kleiner Glaube, Christen, Untertaucher (vgl. u. S. 602, Z. 40), Photinianer, Ebioniten, Samosatener (nach -»Paulus von Samosata), Sabellianer (nach Sabellius [frühes 3. Jh.]; -»Trinität), Servetianer (nach M. Server). Die ersten Nachrichten über den Antitrinitarismus (-»Antitrinitarier) gelangten gegen Ende der ersten Hälfte des 16. Jh. nach Polen (durch den Deutschen Andreas Fischer [ca. 1480-1540] und sein Belga Spiritus). Seine ersten polnischen Anhänger waren Piotr Giezek aus Goni^dz (Petrus Gonesius, ca. 1528-1573) und Lukasz Delfin (ca. 15201570), der erste polnische Unitarier. Gonesius ist bereits auf der ersten evangelischen Synode in Secemin (nördliches Kleinpolen) 1556 im Geiste von Servets Lehre aufgetreten, womit er nur Mißbilligung erntete. Die Bewegung hat drei Wurzeln: 1. den italienischen religiösen Rationalismus (hauptsächlich das Gedankengut des Spaniers Servet und Lelio Sozzinis); 2. das deutsche Täufertum (in erster Linie freilich dessen Ethik; -»Täufer); 3. den Calvinismus (hauptsächlich die Unzufriedenen aus der niederen Geistlichkeit, die mit dem Einfluß der polnischen Adligen innerhalb der calvinistischen Kirche in Polen nicht einverstanden waren). Von der calvinischen Ecclesia maior spaltete sich nach den Diskussionen in der Zeit zwischen 1562 und 1565 eine kleine Kirche - die sog. Ecclesia minor — ab, die sich zum Antitrinitarismus bekannte. Die meisten protestantischen Prediger aus Kleinpolen, jedoch nur eine Minderheit der Gläubigen (vor allem Adlige), traten ihr bei. In der ersten Generation der polnischen Brüder gab es nur einen Magnaten, den litauischen Schüler der Basler Freidenker Jan Kiszka (1547-1592). Die wichtigsten Arianer im polnischen Adel waren Jan Niemojewski (gest. 1598) aus Kujawy, Hieronim Filipowski (gest. ca. 1574), einer der Gründer des Kreuzzugs gegen die Trunksucht, und Stanislaw Cikowski d.Ä. (gest. 1576), die beiden letzteren aus Kleinpolen. Die Bewegung der polnischen Brüder war anfangs eine Art Vereinigung religiöser Freidenker. Ihre vier wichtigsten dogmatischen Strömungen waren: der Tritheismus (vertreten durch den Italiener B. -»Ochino), der Ditheismus (vertreten durch Gonesius; Stanislaw Farnowski [ca. 1530-1615]), der Unitarismus (vertreten durch Grzegorz Pawel Zagrobelny [Gregor Pauli, ca. 1 5 2 5 - 1 5 9 1 ] aus Brzeziny und durch Marcin Czechowic [1532-1613]) und schließlich ein Judaismus, der mit dem Mosaismus verbunden war und das Neue Testament insgesamt ablehnte (vertreten durch den Russen Fieodosij Kosoj [gest. ca. 1575] und Hieronim Piekarski [gest. nach 1585]). Einige Brüder befürworteten die Wiedertaufe, manche die Kindertaufe; einige hielten sich an den Wortsinn der Heiligen Schrift, andere dagegen waren Spiritualisten. Viele der nichtadligen Arianer
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verurteilten die Feudalherrschaft, die Erbuntertänigkeit der Bauern, die Lehensabgaben, den Krieg, das Gerichtswesen, die Ungleichheit der Menschen und sogar den Staat insgesamt. Ihre Bestrebungen gipfelten 1569 in dem Versuch, in einer Übereinkunft mit den -»Hutterischen Brüdern ein apostolisch-kommunistisches Jerusalem in der Stadt Rakow (im mittleren Kleinpolen) zu errichten. Der Versuch scheiterte jedoch völlig. Diese Auswüchse verschwanden aber bald, und der Arianismus wurde zu einer unitarischen und täuferischen, gesellschaftlich gemäßigten, dem Rationalismus zustrebenden Bewegung. Der in Ungarn und Polen wirkende Italiener G. -»Biandrata, Fausto Sozzini und Szymon Budny (ca. 1535-1593), ein sehr geistreicher polnischer Denker, der in Weißrußland wirkte, hatten den größten Einfluß auf diese Entwicklung. 3.2.
Geschichte
Manchmal wird der gesamte neuzeitliche Antitrinitarismus Sozinianismus genannt, was aber unzutreffend ist. M a n sollte diesen Begriff nur auf den Antitrinitarismus in Polen und in anderen Ländern Mitteleuropas im 17. Jh. anwenden, der sich hauptsächlich aus dem Gedankengut Fausto Sozzinis speiste. Mit den Synoden in Raköw 1601 und 1602 begann die Blütezeit eines gesellschaftlich gemäßigten, aber dogmatisch ziemlich radikalen sozinianischen Arianismus. Die Bewegung verfügte damals über eigene Schulen (z. B. in Raköw, Luslawice, Kisielin in Wolhynien) und eine Druckerei in Raköw. Auf der Grundlage sozinianischen Gedankengutes wurde 1603-1605 der berühmte Rakower Katechismus erarbeitet, der kurz darauf in mehreren Sprachen erschien. In den folgenden 20 Jahren bemühte man sich um eine systematische Ausarbeitung der sozinianischen Lehre: De vera religione (hg. 1630) ist großenteils ein Werk von Johann Völkel (gest. 1618), einem Deutschen aus Grimma, der seinen Namen jedoch schon polnisch schrieb. Der wichtigste Geistliche in der Hauptstadt der polnischen Brüder war ebenfalls ein Deutscher, Valentin Schmalz aus Gotha (gest. 1622), dessen Nachkommen vielleicht bis heute in der Kielcer Region leben. Die größten Verdienste um die Rakower Schule hatte jedoch ein weiterer Deutscher, nämlich der Rektor Johann Crell aus Hellmitzheim bei Würzburg (gest. 1631), der zudem ein hervorragender Ethiker war. Die Zahl der Sozinianer erreichte ihren Höhepunkt um 1620. Sie machten damals zwar nicht mehr als 1% der polnisch-litauischen Bevölkerung der Adelsrepublik aus, aber von den Intellektuellen (besonders viele stammten aus der Familie Morsztyn) war jeder zehnte oder sogar jeder fünfte mit ihnen verbunden. Viele lebten im Karpatenvorland, in der Lubliner Region und in Wolhynien. Die Bewegung unterstützten einige Magnaten wie der Gutsherr von Raköw, Jakub Sienienski (1568-1639), die Ukrainer Gabriel (ca. 1555 - ca. 1632) und Roman Hojski (Hoscki, ca. 1585-1635) oder Jerzy Niemirycz (1612-1659). Auch die mächtige litauische calvinistische Familie Radziwill aus Birsen und Kedahnen war den Sozinianern wohlgesonnen. Von den adligen sozinianischen Intellektuellen sind Stanislaw Budzynski (ca. 1520—1599), Erazm Otwinowski (ca. 1525-1614) und Hieronim Moskorzowski (ca. 1560-1625) erwähnenswert. Zu den sozinianischen Anhängern eines gesellschaftlichen Radikalismus gehörten vor allem deutsche Einwanderer: Christoph Ostorodt aus Goslar (gest. 1611), der österreichische Aristokrat Johann Ludwig von Wolzogen (gest. 1661) und der Danziger Daniel Zwicker (1612-1678). Sie waren es, die wegen der praktizierten Gütergemeinschaft die Kontakte zu den mährischen Hutterischen Brüdern pflegten. Die sozinianische Bewegung beschränkte sich nicht auf Polen, sondern erreichte auch zahlreiche Deutsche, Ukrainer, Weißrussen, Slovaken (z. B. Daniel Lehocky [gest. ca. 1663], der Mitbegründer der öffentlichen Bibliothek in Raköw), Tschechen u.a. Die polnischen Brüder missionierten auch im Ausland, wobei die arianische Unterwanderung der Universität ->Altdorf 1615 die bekannteste Mission war. Darüber hinaus pflegte man enge Kontakte zu den siebenbürgischen Unitariern, den niederländischen Remonstranten und früher zu den mit dem Judentum sympathisierenden Moskauern.
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Als 1638 das Rakower Zentrum aufgelöst wurde, begann in der Adelsrepublik eine intensive Verfolgung der Arianer. Ihre um Duldung und Toleranz kämpfenden Vertreter waren damals neben Wolzogen und Niemirycz der deutschstämmige polnische Adlige Jonasz Schlichting (gest. 1661), der Denker und Politiker Samuel Przypkowski, der Philosoph und Enkel Fausto Sozzinis Andrzej Wiszowaty (1608-1678; geb. in Litauen, gest. in Amsterdam) und der Gelehrte Stanislaw Lubieniecki (1623—1675; geb. in Raköw, gest. in Altona bei Hamburg). Lubieniecki war - neben dem Ostpreußen Christoph Sand d.J. (1632-1680) - der bedeutendste sozinianische Historiker, Wiszowaty wurde mit seiner Religio rationalis (1685) zum radikalsten unter den Sozinianern. In der Hoffnung auf Duldung hatte sich ein Großteil der Sozinianer 1655 während des polnisch-schwedischen Krieges auf die Seite der schwedischen Invasoren gestellt. Das führte zu einem Sejmbeschluß von 1658, durch den sie - durchgeführt bis 1661 - des Landes verwiesen wurden. Den damaligen Exodus der polnischen Brüder nach Siebenbürgen führte ein Kleinadliger aus der Kieker Region, Andrzej Lachowski (1627-1691), an. Ein Teil der Sozinianer blieb in Polen und trat äußerlich zum Katholizismus oder zum Protestantismus über, was zum sog. Kryptoarianismus führte. Andere gingen ins Ausland, vor allem nach Ostpreußen, Siebenbürgen sowie in die Niederlande, wo sie ca. 1668 die Bibliotheca Fratrum Polonorum (11 Bände) als Zusammenfassung ihres Denkens herausbrachten. Die Nachkommen der Vertriebenen haben sich Ende des 18. und Anfang des 19. Jh. völlig an die dortigen Gesellschaften assimiliert. Der Versuch Karol Grycz-Smitowskis (1885—1959), die polnischen Brüder in der Heimat noch einmal zu reaktivieren, scheiterte. 3.3.
Lehre
Die Sozinianer stützten ihre Lehre auf den Antitrinitarismus und auf den Glauben an einen einzigen Gott. Gleichzeitig kämpften sie gegen radikale Erscheinungen wie die Judaisten und die Nonadoranten, die jede Anbetung Jesu ablehnten. Ursprünglich von M. Servet beeinflußt, wandten sie sich allmählich davon ab und entwickelten einen deutlicheren Rationalismus. Christus war für sie aufgrund seiner übernatürlichen Empfängnis Teilhaber an der Göttlichkeit des Vaters, Mittler und Prophet. Ein stellvertretend erlösendes Leiden Christi lehnten sie ab; die Christen sollten ihre Rechtfertigung durch die Nachfolge Christi erlangen. Die Grundlage der sozinianischen Anschauungen bildete ein spezifischer Biblizismus, der alles ablehnte, was der gesunden Vernunft (ratio sana) und der Heiligen Schrift zuwider war. In der Liturgie vertraten sie den Grundsatz größter Einfachheit (Piotr Morzkowski [gest. nach 1646]) und vernichteten als radikale Ikonoklasten selbst Kreuze und Kreuzabbildungen. Das Abendmahl feierten sie als reines Gedächtnis, wobei es keinen knieenden oder stehenden Empfang gab. Die Kindertaufe lehnten sie ab und hielten auch die Taufe der Erwachsenen nicht für heilsnotwendig. Trotzdem ließen sie sich oft - dem Beispiel von -»Johannes dem Täufer folgend - in Flüssen oder Teichen taufen, was ihnen die Namen „Taucher" oder „Untertaucher" eintrug. Im Blick auf die Ablehnung von tradierten Glaubenssätzen und religiösen Bräuchen wurden sie allmählich radikaler. Johannes Crell vertrat in den zwanziger Jahren des 17. Jh. den Sozianismus als natürliche Religion. Ein bedeutender Rakower Mathematiker, der aus Brandenburg stammende Joachim Stegmann d.Ä. (gest. 1633), verlangte nach strikter Trennung von theologischen und philosophischen Wahrheiten. A. Wiszowaty vertrat strikt den Grundsatz der Existenz nur eines Gottes. Die Kirche war nach Meinung der Sozinianer eine Gemeinschaft der Gläubigen, die sich an die Gebote Christi halten. Schon Fausto Sozzini stellte die Ethik der Dogmatik gleich. 3.4.
Bedeutung
Als Mitbegründer deistischer Gedanken gehören die Sozinianer in die Vorgeschichte der westlichen Aufklärung. Bedeutende Engländer wie John Locke (1632-1704), I.
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- » N e w t o n o d e r J o s e p h Priestley ( 1 7 3 3 - 1 8 0 4 ) k n ü p f t e n d a r a n a n . A u c h - » V o l t a i r e bew u n d e r t e d a s G e d a n k e n g u t d e r S o z i n i a n e r . U n d alle t h e o l o g i s c h - l i b e r a l e n u n d a n t i t r i n i t a r i s c h e n B e w e g u n g e n v e r d a n k t e n i h n e n viel. D a s Interesse f ü r d e n S o z i n i a n i s m u s e r w a c h t e in Polen A n f a n g des 19. J h . n e u . Seit dieser Z e i t sind sie zu e i n e m S y m b o l des F o r t s c h r i t t s im 16. u n d 17. J h . g e w o r d e n . Einige G e b ä u d e ihrer G e m e i n d e n sind e r h a l t e n geblieben. I m p o l n i s c h e n A l l g e m e i n b e w u ß t s e i n w i r d die B e d e u t u n g d e r p o l n i s c h e n B r ü d e r allerdings weit ü b e r s c h ä t z t . M a n b e t r a c h t e t sie als g e h e i m n i s v o l l e , m ä c h t i g e u n d gütige Vertreter einer a n d e r e n Religion u n d ü b e r s i e h t d a b e i d e n f ü r P o l e n viel b e d e u t e n d e r e n E i n f l u ß d e r a u c h viel w e i t e r verbreiteten r e f o r m i e r t e n Ecclesia maior. Quellen Aggiunte all'epistolario di Fausto Sozzini 1561 -1568, hg. v. Valerio Marchetti/Giampaolo Zucchini, Warschau/Lodz 1982. - Akta synodów róznowierczych w Polsce. II. 1560-1570, hg. v. Maria Sipaytlo, Warschau 1972. - Arianie polscy w swietle wlsnej poezji, hg. v. Jan Diirr-Durski, Warschau 1948. - BFPU. XI. Irenopoli post 1656, o.J. (ca. 1668). - Colloquia ministrorum (1619), hg. v. Grzegorz Blachowicz/Lech Szczucki: ORP 27 (1982) 149-191. - Johannes Crell, Vindiciae pro religionis libertate, hg. v. Ludwik Chmaj/Daniela Gromska/Wiktor W^sik, Warschau 1957. - Cztery broszury polityczne z pocz^tku XVII wieku, hg. v. 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Waclaw Urban
Spalatiti
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Spätjudentum -»Frühjudentum (Begriff) Spalatin, Georg 1. Leben
(1484-1545)
2. W i r k u n g s b e r e i c h e
( Q u e l l e n / L i t e r a t u r S. 607)
1. Leben Spalatin wurde am 17. Januar 1484 im fränkischen Städtchen Spalt als Sohn des Rotgerbers Georg Burckhardt (gest. 1484) geboren, besuchte seit 1497 die Lateinschule zu St. Sebald in Nürnberg und nahm im Sommersemester 1498 sein Studium in -»Erfurt auf, wo er sich dem Humanisten Nikolaus Marschalk (um 1470-1525) anschloß. Dieser verband die Förderung humanistischer Philologie und Rhetorik mit einem Angriff auf die Scholastik und forderte Beschäftigung mit der Geschichte und für das Studium der Heiligen Schrift Kenntnisse des Griechischen und des Hebräischen. 1502 folgte er ihm nach -»Wittenberg, wo er am 2. Februar 1503 als Georgius Spalatinus zum Magister artium promoviert wurde. Er wandte sich dem Rechtsstudium zu, das er - ab Wintersemester 1504/05? - in Erfurt fortsetzte. Im Herbst 1505 vermittelte ihm der Humanist Conradus Mutianus Rufus (1470-1526) — dem er als Siegelbild einen Storch mit Schlange im Schnabel (Kindesliebe) verdankte - im Zisterzienserkloster Georgenthal die Anstellung als Präzeptor und Bibliothekar. 1507 wurde er zum Notar ernannt. 1508 erhielt Spalatin die Priesterweihe und das Pfarramt Hohenkirchen bei Georgenthal. Im November 1508 berief ihn Kurfürst -»Friedrich der Weise zum Lehrer des Kurprinzen -»Johann Friedrich von Sachsen. 1511 wurde er Stiftsherr des St. Georgenstifts in Altenburg. Im Herbst 1511 ernannte der Kurfürst Spalatin zum Mentor seiner Neffen Otto (1495 1549) und Ernst (1497-1546), Herzöge von Braunschweig und Lüneburg, während ihres Studiums in Wittenberg. Nachdem diese - nach dem Wintersemester 1513/14? - Wittenberg verlassen hatten, betreute er dort den illegitimen Sohn des Kurfürsten Sebastian von Jessen (gest. 1535). Während dieser Zeit nahm er Verbindung zu -»Luther auf, die für beide folgenreich wurde. Im September 1516 berief Friedrich der Weise Spalatin als seinen Sekretär in die kursächsische Kanzlei. Im September 1517 übertrug er ihm noch die Kirchen- und Universitätsangelegenheiten. Er wurde nicht nur sein Reisebegleiter in Reichsgeschäften1518 Augsburg, 1519 Frankfurt am Main, 1520 Köln, 1521 Worms, 1522 sowie 1523/24 Nürnberg - , sondern auch sein Seelsorger und Vertrauter. Im März 1518 erteilte Papst -»Leo X. Spalatin Beichtvollmachten. Im Frühjahr 1522 wurde er Hofkaplan und Hofprediger, womit sich der kursächsische Hof zur lutherischen Predigt bekannte. Nach Friedrichs des Weisen Tod schied Spalatin auf eigenen Wunsch aus dem Hofdienst. Am 6. August 1525 hielt er in Altenburg St. Bartholomaei seine Antrittspredigt als Pfarrer. Am 19. November heiratete er Katharina Heidenreich oder Streubel, Tochter eines Sängers am Georgenstift. Dem Ehepaar wurden 1532 Hanna und 1533 Katharina geboren. Am 22. Dezember 1528 wurde Spalatin Superintendent des Amtes Altenburg. Obgleich er nicht mehr zum kursächsischen Hof gehörte, zogen ihn die Kurfürsten weiterhin zu einzelnen Aufgaben - besonders zum Aufbau einer evangelischen Kirche - heran. -»Johann von Sachsen nahm ihn als Prediger 1526 mit auf den Reichstag zu Speyer und 1530 auf den zu Augsburg, wo Spalatin an der Ausarbeitung des -»Augsburger Bekenntnisses und seiner Apologie beteiligt war. Er begleitete Johann Friedrich von Sachsen als Ratgeber 1530 zur Königswahl -»Ferdinands I. nach Köln und 1532 auf die Tagung des -»Schmalkaldischen Bundes in Schweinfurt, wo er der Reformation in dieser Reichsstadt durch seine Predigten zum Durchbruch verhalf. 1534 mußte er Johann Friedrich als Prediger zu den Verhandlungen nach Kaden begleiten, 1535 nach Wien und nach Schmalkalden, um dort als Dolmetscher mit der französischen Gesandtschaft zu dienen. Im selben Jahr gehörte er zur kursächsischen Delegation in Nürnberg und verhandelte mit Th. -»Cranmer. 1537 nahm er als Prediger am Bundestag in Schmal-
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Spalatili
kalden teil. Spalatin nutzte die Reisen zu zeitgeschichtlichen Aufzeichnungen und fertigte mehrfach Gutachten an. 1539 endete auf seinen Wunsch seine Tätigkeit für den karfürstlichen Hof. Er wandte sich verstärkt seinen Altenburger Aufgaben und der Geschichtsschreibung zu. Am 16. Januar 1545 verstarb er. 2.
Wirkungsbereiche
Seit 1509 hatte Spalatin für den kursächsischen Hof lateinische Texte zu verdeutschen. Daneben übersetzte er Schriften von Luther (1520-1538), -»Erasmus von Rotterdam (1520-1522), Ph. -»Melanchthon (1521/22-1538), Kirchenvätern und Humanisten. Zum Überarbeiten von Luthers Bibelübersetzung wurde er hinzugezogen. 1510 beauftragte ihn Friedrich der Weise, eine sächsische Chronik und Annalen abzufassen, was zu einer umfangreichen Materialsammlung historischer Quellen, Reisetagebüchern sowie zeitgeschichtlichen Aufzeichnungen führte und ihn mit Unterbrechungen bis zu seinem Lebensende als humanistischen Geschichtsschreiber beschäftigte. 1512 gründete Friedrich der Weise die Schloß- und Universitätsbibliothek Wittenberg, die er Spalatin anvertraute. Dieser beschaffte vorrangig von Humanisten bevorzugte Werke, einschließlich Ausgaben von Kirchenvätern. Später sammelte er reformatorische, besonders Luthers Schriften. Er verwaltete diese Bibliothek bis zu seinem Lebensende. Energisch bemühte er sich um Mittel zur Buchbeschaffung. 1536 erreichte er die Anstellung eines ständigen Verwalters. Als Sequestor ließ er aus den Bibliotheken der Klöster Grimma und Buch geeignete Bestände nach Wittenberg schaffen. Die Wittenberger Bibliothek bildete später den Grundstock der Universitätsbibliothek -»Jena. Um die Jahreswende 1513/14 erkundete Spalatin brieflich Luthers Haltung zum Streit um J . -»Reuchlin. Daraus erwuchs ein Gedankenaustausch über exegetische und theologische Fragen, die Spalatin zum Lutherschüler werden ließ und zu einer lebenslangen Freundschaft führte, von der über 400 Lutherbriefe zeugen. Als Luthers 95 Thesen zum Ablaß 1517 eine Bewegung auslösten, die politische Dimensionen besaß, war für den Verlauf der Reformation von entscheidender Bedeutung, daß Spalatin einerseits den Kurfürsten dafür gewann, Luther gegen Rom und Kaiser Schutz zu gewähren, und andererseits Luther in einigen Fällen bewegte, in seiner Polemik auf den Kurfürsten Rücksicht zu nehmen. Er förderte Lutherschriften, indem er einige anregte, einige zum Druck brachte und einige übersetzte. Während Luther auf der Wartburg verborgen wurde, ging der gesamte Briefverkehr durch Spalatins Hände, was Luther nicht immer begrüßte. 1523 brach Spalatin mit der römischen Kirche. Er war 1536/37 an der Überarbeitung der -»Schmalkaldischen Artikel beteiligt. Während Spalatin weitgehend mit Luther übereinstimmte, hielt er die Neuordnung der Kirche unmittelbarer als Luther für eine Aufgabe der Landesherrschaft, befürchtete aber später mehr als dieser, daß das 1539 errichtete Wittenberger -»Konsistorium kirchliche Aufgaben an sich ziehe. Im Herbst 1517 beauftragte Friedrich der Weise Spalatin mit einer Universitätsreform. Luther hatte seine Theologie und Kirchenkritik unter Verwendung bibelhumanistischer Methoden und Veröffentlichungen ausgebildet. So flössen die Interessen beider zu einer Reform zusammen, die 1518 zur Einrichtung von sieben neuen, vorwiegend humanistischen Lehrstühlen führte, darunter je einen für -»Griechisch, -»Hebräisch und -»Rhetorik nach Quintilian (um 3 0 - 96). Die Griechischprofessur erhielt Melanchthon, der wesentlich zur Neugestaltung der Leucorea und der Reformation beitrug. Etwa 200 Melanchthonbriefe an Spalatin dokumentieren ihre enge Zusammenarbeit. Da infolge der Reformation die Finanzierung der Professoren aus geistlichen Pfründen aufhörte, ersuchte Spalatin seit 1523 die Kurfürsten anhaltend um eine Neufinanzierung der Leucorea, die er nach Teilerfolgen mit der Fundation von 1536 erreichte. Nachdem Spalatin Luthers Drängen auf eine Neuordnung der kirchlichen Besoldung mehrfach bei Kurfürst Johann vorgebracht hatte, erhielt er seit 1526 Visitationsaufträge. Er wurde beauftragt, an der Überarbeitung des von Melanchthon entworfenen Unterrichts der Visitatoren an die Pfarrherrn im Kurfürstentum Sachsen mitzuwirken. Er
Spalding
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trug z u m A u f b a u der evangelischen Kirche mit Verwaltungserfahrungen, Rechtskenntnissen u n d Pfarrpraxis w e s e n t l i c h bei. L. - » C r a n a c h d . Ä . schuf 1509 ein Porträt, 1515 einen H o l z s c h n i t t v o n Spalatin, L. - » C r a n a c h d.J. 1537 ebenfalls ein Porträt. Quellen Der Abendmahltraktat Spalatins v. 1525, hg. v. Ernst Otto Reichert: N Z S T h 1 (1959) 110-124. - E i n t r a g u n g e n in kursächsischen Rechnungsbüchern zu Wittenberger Reformatoren u. Georg Spalatin v. 1519 bis 1553, hg. v. Rainer Hambrecht, kommentiert v. Helmar Junghans: LuJ 55 (1988) 102-117; 56 (1989) 6 8 - 1 2 9 . - Johann Erhard Kapp, Kleine Nachlese einiger, größten Theils noch ungedruckter u. sonderlich zur Erläuterung der Reformations-Gesch. nützlicher Urkunden, 4 T., Leipzig, I—II 1727 III 1730 IV 1733. - Alfred Kleeberg, Georg Spalatins Chronik f. die Jahre 1513 bis 1520 (Diss. phil. Jena 1914), Jena 1919. - Johann Burkhard Mencken, Scriptores rerum Germanicarum, praecipue Saxonicarum, Leipzig, II 1728, 589-664.1067-1150.2123-2174. - Georg Spalatin, Chronica vnd Herkomen der Churfürst / vnd Fürsten / des löblichen Haus zu Sachssen, o.O. [Wittenberg] 1541. - Ders., Friedrichs des Weisen Leben u. Zeitgesch., aus den Originalhss. hg. v. Christian Gotthold Neudecker/Ludwig Preller, Jena 1851. - Ders., Das man das Heylige Hochwyrdig Sacrament des waren Leybs vnnd Bluts Chrsti[!] vnsers lieben Herren u. Heylandts nicht anders denn nach seiner einsetzung / das ist gantz vnnd gar / vnter bayder gestalt nemen soll / ..., Nürnberg [1543]. - Ders., Annales Reformationis oder Jahr-Bücher v. der Reformation Lutheri, aus dessen Autographo ans Licht gestellet v. Ernst Salomon Cyprian, Leipzig 1718. Spalatiniana, hg. v. Georg Berbig, Leipzig 1908 (QDGR 5). - Spalatiniana, hg. v. dems.: ThStKr 77 (1904) 3 - 1 3 ; 80 (1907) 5 1 3 - 5 3 4 ; 81 (1908) 2 7 - 6 1 . 2 4 5 - 2 7 1 ; N K Z 21 (1910) 156-168.330-335; 23 (1912) 2 5 0 - 2 6 0 . 3 3 1 - 3 4 0 . 4 9 2 - 5 0 6 . 5 7 5 - 5 8 7 . 6 6 9 - 6 7 3 . - Spalatiniana, hg. v. Paul Drews: ZKG 19 (1898/99) 6 9 - 9 8 . 4 8 6 - 5 1 4 ; 20 (1899/1900) 467-499. Bibliographien: Bibliogr. der im 16. Jh. ersch. Sehr. Georg Spalatins, zusammengestellt v. Hans Volz: ZfBB 5 (1958) 8 3 - 1 1 9 [49 Titel]. - Verz. der im dt. Sprachbereich ersch. Drucke des XVI. Jh. (VD 16), hg. v. der Bayerischen Staatsbibliothek in München, bearb. v. Irmgard Bezzel, Stuttgart, XIX 1992, 3 4 9 - 3 5 5 (S 7401-7446). Literatur Zur Lit. bis 1989 s. Irmgard H ö ß , Spalatin ( 2 1989 [s.u.]). Christiane Andersson, Die Spalatin-Chronik u. ihre Illustrationen aus der Cranach-Werkstatt: Lucas Cranach, ein Maler-Unternehmer aus Franken. Kat. zur Landesausstellung in der Festung Rosenberg, Kronach 17. M a i - 2 1 . August 1994, hg. v. Claus Grimm u.a., Augsburg 1994, 208-217. - Irmgard H ö ß , Georg Spalatin, 1484-1545, ein Leben in der Zeit des Humanismus u. der Reformation, Weimar 1956 J 1989 (Quellen u. Lit.). - Dies., Georg Spalatins Beziehungen zu Schweinfurt: Streiflichter auf die KG in Schweinfurt, hg. v. Johannes Strauß/Kathi Petersen, Schweinfurt 1992, 1 9 - 2 7 . - Dies., Das Jugendbildnis Georg Spalatins v. Lucas Cranach d.Ä. 1509: ARG 87 (1996) 4 0 0 - 4 0 4 . - Martin Treu, Die dt. Ubers, der „Querela pacis" des Erasmus durch Georg Spalatin, ein Beispiel f. die volkssprachliche Rezeption des humanistischen Friedensgedankens: „Der Buchstab tödt - der Geist macht lebendig". FS zum 60. Geburtstag v. Hans-Gert Roloff v. Freunden, Schülern u. Kollegen, hg. v. James Hardin/Jörg Jungmayr, Bern u.a. 1992, 519-532. H e l m a r Junghans
Spalding, Johann
Joachim
(1714-1804)
(Quellen/Literatur S. 609) J o h a n n J o a c h i m Spalding ist a m 1. N o v e m b e r 1714 in Tribsees im d a m a l s s c h w e dischen V o r p o m m e r n g e b o r e n und a m 22. M a i 1804 in Berlin verstorben. Er gehört zu den führenden Persönlichkeiten der deutschen lutherischen Kirche des 18. Jh. Von - • K a n t , mit d e m er in Briefwechsel stand, zitiert, v o n M . - » M e n d e l s s o h n gelesen u n d meditiert, v o n - » H e r d e r diskutiert u n d v o n - » S c h l e i e r m a c h e r b e w u n d e r t war er einer der bekanntesten T h e o l o g e n seiner Z e i t u n d ist heute m ö g l i c h e r w e i s e einer der a m meisten in Vergessenheit geratenen. Seine e i n g e h e n d v o n J.J. Schollmeier untersuchte A u t o biographie ist eine w e r t v o l l e H i l f e für die N a c h z e i c h n u n g seines Lebens. Ein empfindliches Desiderat sind neben w i s s e n s c h a f t l i c h e n N e u a u s g a b e n seiner H a u p t s c h r i f t e n ein
608
Spalding
Verzeichnis seines Briefwechsels und eine Bestandsaufnahme seines handschriftlichen Nachlasses (Hinweise auf neues Material bei Luginbühl-Weber). Spalding studierte an den Universitäten -»Rostock (1731-1733) und -»Greifswald, war Hauslehrer in verschiedenen Adelsfamilien und danach Sekretär bei der schwedischen Gesandtschaft in Berlin (1745-1746). Sein Werdegang war einigermaßen untypisch. Nach einer philosophischen Abhandlung (1736) im Sinne des Wolffianismus (Ch. -»Wolff) veröffentlichte er Übersetzungen. Er wirkte unauffällig als Pfarrer in Lassahn (1749-1757) und Barth (1757-1764) und war zugleich Verfasser eines theologischen Bestsellers, Betrachtung über die Bestimmung des Menschen (1748). Das Buch wurde sehr schnell unter dem Titel Bestimmung des Menschen bekannt, erlebte bis 1794 dreizehn Auflagen und wurde in eine Reihe von Sprachen übersetzt, darunter allein viermal ins Französische. 1763 hatte Spalding für neun Monate J.K. -»Lavater zu Gast, eine Begegnung, die für Lavater entscheidende Bedeutung gewinnen sollte. 1764 wurde Spalding Propst und Oberkonsistorialrat sowie erster Pfarrer an der Nikolai- und Marienkirche in Berlin. Propst blieb er bis 1788 - am 9. Juli 1788 wurde das Wöllnersche Religionsedikt (vgl. T R E 27,368,48 ff.) veröffentlicht - und Oberkonsistorialrat bis 1791. Weniger gelehrt als manche seiner Kollegen, lehnte er einen Ruf auf eine Professur an der Universität Greifswald ab. Andererseits aber war er ein geschätzter Prediger und machte sich in weitem Umfang den kulturellen Aufschwung der preußischen Hauptstadt zunutze, in der er großes Ansehen genoß. Zusammen mit so unterschiedlichen Persönlichkeiten wie August Friedrich Wilhelm Sack (1703-1786), Johann Friedrich Wilhelm Jerusalem (1709-1789), Johann Gottlieb Toellner (1724-1774), Gotthelf Samuel Steinbart (1738-1809) und Wilhelm Abraham Teller (1734-1804) trat er als einer der führenden Vertreter der Neologie (-»Aufklärung) in Erscheinung. Er stand im Zentrum der geistlichen Bürokratie und wurde von der Königin Elisabeth Christine (1715-1797), die seine Bestimmung des Menschen ins Französische übertrug, hoch geschätzt, war anfangs aber auch ein wichtiges Bindeglied für die Übertragung des englischen -»Deismus nach Deutschland. Bevor er nach Berlin ging, hat er Werke von Anthony Ashley Cooper, Third Earl of -»Shaftesbury, James Foster (1697-1753), Francis Gastrell (16621725) und J . -»-Butler übersetzt. Desgleichen hat er Schriften von Etienne de Silhouette (1709-1767) und Jean Le Clerc (Johannes Clericus, 1657-1736) übertragen. In der Folgezeit stand er vornehmlich in einer dreifachen Frontstellung: gegen die im Verfall begriffene, verknöcherte -»Orthodoxie, gegen den -»Pietismus, der sich nicht immer gegen einen Irrationalismus absicherte - dies ist das Thema von Gedanken über den Werth der Gefühle in dem Christenthum (Leipzig 1761) - , und vor allem gegen den französischen Materialismus und die Voltairesche Ironie (-»Voltaire), die am preußischen Hof sehr gepflegt wurden. Die Bestimmung des Menschen legt eine Betrachtungsweise an den Tag, die von der Sinnlichkeit zur Unsterblichkeit führt, eine Art Phänomenologie des Bewußtseins, das die Stufen Vergnügen des Geistes, Tugend und Religion durchläuft. Jede Stufe des Daseins bezeugt eine Gegenwärtigkeit und eine überlegene Harmonie, die nicht Sache der Beweisführung, sondern der Evidenz ist. Das Christentum führt eindeutig über die natürliche Religion hinaus und wird durch eine Abfolge von Mal zu Mal sublimerer Welten bezeugt. „Hiebey erkenne ich denn nun auch ungezweifelt, daß diese alles regierende Weisheit keine andere Absicht haben könne, als daß alle Dinge in ihrer Art und Ganzen seyn mögen. Dazu sind alle Gesetze eingerichtet, die sie in dieselben gelegt hat. Dahin zielen die Bewegungen der Körper, und die ursprünglichen Triebe der verständigen Wesen. Die große Empfindung des Guten und Bösen, des Rechts und Unrechts, die ich in mir erkannt habe, rührt nicht weniger von demjenigen her, der seine mächtigen Einflüsse überall ausbreitet. Es ist also eine göttliche Stimme, es ist eine Stimme der ewigen Wahrheit, die dadurch in mir redet" (Bestimmung [1789] 41). Das gesamte Werk Spaldings ist bestimmt durch den kosmologischen Gottesbeweis und „den allgemeinen Begriff von einer durch die Natur uns eingepfla[n]zten Neigung zur Vollkommenheit, Schick-
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lichkeit, Ordnung" (Brief an Kant vom 8. Februar 1788: Religion, eine Angelegenheit des Menschen [ 2 1798] 341). Spaldings Predigten bestechen durch ihre Klarheit, ihr moralisches Anliegen und den Willen, eine Gemeinde anzusprechen, die - bereits vor der -»Französischen Revolution - der Beunruhigung durch atheistische Zweifel und deistische Dürftigkeit ausgesetzt war. Von ihren Gegnern herabgesetzt und von ihren Kommentatoren schlecht verstanden, hatte die Neologie an vielen Fronten gleichzeitig zu kämpfen, ohne dazu über die nötige Ausrüstung zu verfügen. Es blieb allein die - allerdings isolierte, weil von einer hier sich versagenden Bibel wissenschaft kaum gestützte - Gestalt des Heilandes Christus. In seinem theologischen Vermächtnis, der Schrift Religion, eine Angelegenheit des Menschen, legt Spalding dar, daß die Religion für die Moral unentbehrlich ist und diese daher die Aufgabe einer gerade auch elementaren Offenbarung erfüllen kann. Der durchschlagendste -»Gottesbeweis ist für ihn der moralische: „Es gibt Fähigkeiten in uns selbst, deren wir uns, wenn wir gehörig darauf achten, nicht anders als mit einer hohen feierlichen Befremdung bewußt werden und deren möglichen Ursprung wir uns vergebens zu erklären suchen, wenn wir ihn nicht außer der Welt zu finden glauben. Dahin gehöret in Sonderheit die große Empfindung von Recht und Unrecht, von dem, was wir sollen und nicht sollen; ein durchaus geistiges Gesetz, welches unstreitig eines ähnlich gesinnten Gesetzgebers bedarf, der uns also auch darin gewissermaßen das auszeichnendste Gepräge seines Bildes hat aufdrücken wollen" (Religion, eine Angelegenheit des Menschen [ 2 1798] 131). Spalding war Urheber von Reformen auf dem Gebiet der Liturgie und der Homiletik; Zeugnis dafür ist sein Werk Über die Nutzbarkeit des Predigtamtes und deren Beförderung, das von Herder in An die Prediger. Fünfzehn Provinzialblätter (Leipzig 1775; vgl. T R E 15,74,46 - 7 5 , 3 ) heftig angefochten wurde. Für Spalding ist der Prediger „Depositär der öffentlichen Moral", d.h. „der Prediger wird damit zum Lehrer der Andacht und zum Lehrer der Bürgerpflichten zugleich" (Sparn 41). Seine Bindung an die optimistische Anthropologie der Aufklärung ließ ihn die Lehre von der Erbsünde verwerfen. Doch auch das christologische und trinitarische Dogma fanden bei ihm wenig Beifall. Seine Kenntnis des Fortschritts der Exegese veranlaßte ihn, die Lehre von der Verbalinspiration der Schrift in Frage stellen. Im 19. Jh. führten einmal der Einfluß Kants und des deutschen Idealismus auf die Theologie und zum anderen die Erneuerung des Pietismus dazu, daß Spalding und seine Freunde fast ungelesen blieben. In einem geistigen Umfeld, das den Konflikt zwischen Vernunft und einer Offenbarung, nach der Gott die Welt erschaffen hat und durch die Natur- und Sittengesetze lenkt, nicht kannte, ist Spalding keiner Auseinandersetzung mit einer Vielzahl von Gegnern ausgewichen, die auch heute noch schwer zu überwinden oder zu überzeugen sind. Quellen 1. Spaldings Werke (vollst. Bibliogr. bei Schollmeier [s.u. Lit.] 2 3 3 - 2 4 7 ) : Bestimmung des Menschen (1748). Wert der Andacht (1755). Mit Einl. hg. v. Horst Stephan, 1908 (SGNP.Q). - Die Bestimmung des Menschen. Die Erstausg. v. 1748 u. die letzte Aufl. v. 1794, hg. v. Wolfgang Erich Müller, Waltrop 1997 (Theol. Stud.-Texte 1). - Die Bestimmung des Menschen, Reutlingen 1789. - Über die Nutzbarkeit des Predigtamtes u. deren Beförderung, Berlin 1772. - Religion, eine Angelegenheit des Menschen, Berlin 2 1798; hg. v. Wolfgang Erich Müller (Neudr. d. 3. Aufl. der Orig.-Ausg. 1799), Darmstadt 1997. - Lebensbeschreibung, v. ihm selbst aufgesetzt u. hg. mit einem Zusätze v. dessen Sohn Georg Ludwig Spalding, Halle 1804. 2. Spaldings Übersetzungen: Joseph Butler, The Analogy of Religion, Natural and Revealed, to the Constitution and Course of Nature, London 1736; dt.: D. Joseph Butlers, Bischofs zu Durham, Bestätigung der natürlichen u. geoffenbarten Religion aus ihrer Gleichförmigkeit mit der Einrichtung u. dem ordentlichen Laufe der Natur. Nebst zwo kurzen Abh. v. der persönlichen Identität u. v. der Natur der Tugend, Leipzig 1756. - James Foster, Discourses on all the Principal Branches of Natural Religion and Social Virtue, 2 Bde., London 1 7 4 9 - 1 7 5 2 ; dt.: D. Jacob Fosters Betrachtungen über die vornehmsten Stücke der natürlichen Religion und der gesellschaftlichen Tugend.
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Aus dem Engl, übers., 3 Bde., Leipzig 1751-1753. - Francis Gastrell, The Principles of Deism Truly Represented and Set in a Clear Light. In Two Dialogues Between a Sceptick and a Deist. The First Concerning the Christian Révélation. The Second Concerning Natural Religion, London 1708; dt.: Richtige Vorstellung der deistischen Grundsätze in zwo Unterredungen zw. einem Zweifler u. einem Deisten, Leipzig 1755. - Jean Le Clerc, De l'incrédulité. Où l'on examine les motifs & les raisons générales qui portent les incrédules à rejetter la religion chrétienne. Avec deux lettres, où l'on en prouve directement la vérité, Amsterdam 1696; dt.: Johann Leclercs Unters, des Unglaubens, nach seinen allg. Quellen u. Veranlassungen. Nebst zwei Briefen v. der Wahrheit der christl. Religion, Halle 1747. - Anthony Ashley Cooper Earl of Shaftesbury, The Moralists, London 1709; dt.: Die Sitten-Lehrer oder Erzehlung phil. Gespräche, welche die Natur u. die Tugend betreffen. Nebst einem Schreiben an den Ubersetzer, aus dem Engl, des Grafen v. Schaftesbury übers., Berlin 1745. - Ders., An Inquiry concerning Virtue, London 1699; dt.: Unters, über die Tugend, aus dem Engl, des Grafen v. Schaftesbury übers., Berlin 1747. - Etienne de Silhouette: Des Herrn v. Silhouette Schreiben v. der Stärke u. Schwäche der menschlichen Vernunft u. v. der Nutzbarkeit einer geoffenbarten Religion, Greifswald 1746. 3. Sonstiges: Briefe v. Herrn Spalding an Herrn Gleim, Frankfurt/Leipzig 1771. - Johann Kaspar Lavater, Reisetagebücher, 2 Bde., hg. v. Horst Weigelt u.a., Göttingen 1997 (TGP Abt. 8 Bde. 3 - 4 ) . Literatur Kurt Beckmann, Berührungen Johann Joachim Spaldings mit Immanuel Kant in der Fassung seines Religionsbegriffes, Diss. Göttingen 1913. - Die Bestimmung des Menschen, hg. v. Norbert Hinske, Hamburg 1999 (Aufklärung 11/1). - Albrecht Beutel, Aufklärer höherer Ordnung? Die Bestimmung der Religion bei Schleiermacher (1799) u. Spalding (1797): ZThK 96 (1999) 351-383. - Bruno Bianco, „Vernünftiges Christentum". Aspects et problèmes d'interprétation de la néologie allemande du XVIIIe siècle: ArPh 46 (1983) 179-218. - Dominique Bourel, La Vie de Johann Joachim Spalding. Problèmes de la théologie allemande au XVIIIe siècle, 2 Bde., Sorbonne 1980 (École Pratique des Hautes Études des Sciences Religieuses, Ve section). - Thomas K. Kuhn, Art. Spalding: BBKL 10 (1995) 8 6 8 - 8 7 0 . - Gisela Luginbühl-Weber, Johann Kaspar Lavater - Charles Bonnet - Jacob Bennelle. Briefe 1768-1790. Ein Forschungsbeitr. zur Aufklärung in der Schweiz, 2 Bde., Bern 1997. - Henri Plard, Un ,Père conscrit du luthéranisme éclairé'. J . J . Spalding: Études sur le XVIIIe siècle 10 (1983) 4 3 - 6 0 . - Dieter Pötschke, Johann Joachim Spalding: Wolfgang Ribbe (Hg.), Berlinische Lebensbilder. V. Theologen, Berlin 1990, 147-159. - Joseph Schollmeier, Johann Joachim Spalding. Ein Beitr. zur Theol. der Aufklärung, Gütersloh 1967. - Walter Spam, Vernünftiges Christentum. Uber die gesch. Aufgabe der theol. Aufklärung im 18. Jh. in Deutschland: Rudolf Vierhaus (Hg.), Wiss. im Zeitalter der Aufklärung, Göttingen 1985, 1 8 - 7 5 . Dominique Bourel Spangenberg, August Gottlieb —»Brüderunität/Brüdergemeine Spanien 1. Alte Kirche 2. Kirche und geistliches Leben im westgotischen Spanien 3. Mittelalter 4. Kirchliche Reformen und goldenes Zeitalter 5. Die Bourbonen: Reformmonarchie des 18. Jahrhunderts 6. Neuzeit und Gegenwart (19. und 20. Jahrhundert) (Quellen und Literatur S.632) 1. Alte
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1.1. Die Frage der Anfänge des Christentums in Spanien. —»Paulus äußert in seinem um 5 6 n. Chr. entstandenen - > R ö m e r b r i e f ( 1 5 , 2 1 - 2 8 ) die Absicht, sich nach Spanien zu wenden. Einige Jahrzehnte später heißt es im I. Clemensbrief ( - » C l e m e n s von R o m 1.), er sei bis an die „Grenzen des Westens" — eine seinerzeit für die Iberische Halbinsel gebräuchliche Wendung - gelangt (I Clem 5,7). O b er seine Absicht aber tatsächlich ausgeführt hat, ist nicht bekannt. Möglicherweise haben sein Prozeß und seine Haft die Ausführung verhindert. Jedenfalls gibt es keine Hinweise dafür: Keine spanische Gemeinde betrachtet sich als unmittelbar paulinische Gründung, und es gibt keine Überlieferungen oder Spuren seiner Verkündigung. Große Bedeutung für das spätere religiöse Bewußtsein Spaniens hat eigenartigerweise eine Überlieferung gewonnen, deren Anfänge in das 7. Jh. zurückweisen. Sie schreibt die Evangelisierung Spaniens dem Apostel Jakobus d.Ä. zu. Noch jüngeren Ursprungs sind die Überlieferungen von
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einer Erscheinung der Jungfrau Maria vor Jakobus in Saragossa und von der Entdeckung seines Grabes an dem danach Santiago de Compostela benannten Ort. Gleichfalls fragwürdig und spät ist auch die Überlieferung, nach der sieben von -»Petrus und Paulus entsandte „apostolische Männer" (Torquatus, Ktesiphon, Indaletius, Euphrasius, Caecilius, Hesychius und Secundus) die ersten Boten des Evangeliums in Spanien gewesen seien. Die ältesten Belege für diese Überlieferung stammen aus dem 8. Jh. Ihr zufolge haben diese Sendboten in römischen Städten gepredigt, die dadurch zu den ersten christlichen Bistümern des Landes wurden. Die mozarabischen Kaiendarien der Zeit seit dem 8. J h . verzeichnen ihr Fest unter dem 1. Mai. Tragfähige Gründe oder Anzeichen, die diese Überlieferung stützen könnten, gibt es jedoch nicht (José Vives, Varones apostólicos: D H E E 4 [1975] 2715; Garns I, 7 6 - 2 2 7 ) . Die literarischen Zeugnisse bei -»Irenaus von Lyon (haer. 1,10,2) und -»Tertullian (lud. 7), die herkömmlicherweise als erste Bezugnahmen auf christliche Gemeinden in Spanien gewertet werden, sind heute sehr umstritten: das Zeugnis Tertullians wegen seines rhetorischen Charakters und des Fehlens eines unmittelbaren Hinweises auf die Iberische Halbinsel, das des Irenäus, weil seine Erwähnung der Iberer statt auf die spanischen auch auf die kaukasischen Iberer (-»Georgien) bezogen werden kann.
Das erste sichere Zeugnis für christliche Gemeinden in Spanien stammt aus dem Jahr 254. -»Cyprian von Karthago und 36 weitere Bischöfe antworten auf einen Brief des Presbyters Felix und der Gläubigen von León und Astorga über den Abfall der Bischöfe Basilides und Martialis anläßlich der Decischen Christen Verfolgung (Cyprian, ep. 67). Dieses karthagische Schreiben bietet das erste ausdrückliche Zeugnis für die christlichen Gemeinden von Saragossa, León-Astorga und Mérida und enthält darüber hinaus Hinweise auf Gemeinden in Cartagena, Valencia und Tarragona. Es unterrichtet zudem über die Existenz von Bischöfen, Presbytern und Diakonen, mithin einer festen kirchlichen Ämterordnung in großen Teilen der Halbinsel, sowie über die Beziehungen zu auswärtigen Kirchen. Wesentliche Belege für die Existenz früher Gemeinden liefern auch die Märtyrerakten. Eine Reihe archäologischer, liturgischer und sprachlicher Hinweise scheint die Annahme zu stützen, daß das spanische Christentum afrikanischen Ursprungs ist, ohne daß sich daraus allerdings eine Abhängigkeit von der afrikanischen Kirche folgern läßt (Diaz y Diaz, Orígenes). Anhand von Sarkophagen und Kirchengrundrissen lassen sich ebenso vielfältige Beziehungen zwischen dem christlichen -»Afrika und den frühen spanischen Gemeinden aufweisen wie aufgrund von Lehraussagen und liturgischen Bräuchen, die vor allem in einzelnen Märtyrerakten ihren Niederschlag gefunden haben. Dieser Einfluß kann seinen Grund in der Teilnahme der in León stationierten Legio Gemina an afrikanischen Feldzügen gehabt haben. Tatsächlich findet sich eine Reihe der aus der Mitte des 3. Jh. bekannten Gemeinden in Städten, die in enger Beziehung zu dieser Legion gestanden haben. Dieser Auffassung steht die Meinung gegenüber, die christliche Mission und ihre Botschaft seien über die Pyrenäen und über die bestehenden Seeverbindungen zwischen Rom und den spanischen Häfen ins Land gekommen. Schlüssig beweisbar ist weder die eine noch die andere Auffassung. Es ist daher sinnvoll anzunehmen, daß die Romanisierung mit ihren vielfältigen kulturellen Bezügen wie anderwärts, so auch in Spanien der ersten Begegnung mit christlichen Vorstellungen und Sitten den Weg gebahnt hat. In den erst spät romanisierten Norden des Landes drang auch das Christentum erst später vor. 1.2. Die spanische Kirche im heidnischen Römerreich. Für die Zeit der Decischen und der Diokletianischen Christenverfolgung (s. T R E 8,23,43 ff.) ist die spanische Kirche sicher bezeugt. Wir kennen die betroffenen Gemeinden, einige der zwischen ihnen bestehenden Unterschiede und die Namen ihrer Märtyrer. Es handelt sich um eine zahlenmäßig noch wenig umfangreiche christliche Gemeinschaft, die kaum schon über die Grenzen der großen Städte hinausgegriffen hat. Hauptquelle für die spanischen Märtyrer ist das Peristephanon des —»Prudentius. Es rühmt Emeritus und Celedonius, die das Martyrium in Calahorra erlitten haben, sowie Eulalia von Mérida und die 18 Märtyrer von Saragossa (Allard; Custodio Vega). Weiterhin werden Justa und Rufina
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von Sevilla, Justus und Pastor von Alcalá, C u c u p h a t von Barcelona, Felix von G e r o n a und Zoilus von C ó r d o b a genannt. Die Diokletianische Verfolgung w a r besonders blutig, v o r allem in der Tarraconensis, und betraf in g r o ß e m Umfang Laien. Der Kult und die Verehrung ihrer Märtyrer verbreiteten sich rasch; über ihren G r ä b e r n wurden Basiliken errichtet, und in einigen Fällen sind auch alte Akten und Passionen überliefert.
Zuweilen sammelten Grundeigner wie Paulinus und Melania auf ihren Gütern Christen, die nach einer strengeren, zurückgezogenen Lebensweise strebten. Auf diese Weise entstanden Formen des —>Mönchtums, die bald an Gewicht gewinnen und beachtliche Bedeutung in der Kirche erhalten sollten. 1.3. Die Synode von Elvira. Zwischen 295 und 314, am ehesten wohl zwischen 300 und 302, trat in Elvira an der Stelle des heutigen Granada eine Synode zusammen, von der 81 Kanones überliefert sind. Sie gehören zu den ältesten und interessantesten schriftlichen Zeugnissen der altkirchlichen Zeit Spaniens (Harnack II, 451 f.; Duchesne; Reichert; La colección canónica hispana IV, 233—268) und sind vielfach erörtert worden. Dabei wurde gefragt, ob sie einem einzigen Konzil zuzuschreiben sind oder möglicherweise mehreren, zu unterschiedlichen Daten an verschiedenen Orten tagenden Synoden (Sotomayor, Actas). Heute ist die überwiegende Meinung, daß sie eine geschlossene Reihe von Bestimmungen eines einzigen Konzils bilden, an dem 19 Bischöfe und 24 Presbyter teilnahmen. Seine Kanones sind die ältesten Akten der kirchlichen Synodalüberlieferung überhaupt. Für die Kenntnis der kirchlichen Disziplin und der Lage des Christentums in Spanien während der ersten Hälfte des 3. Jh. haben sie überragende Bedeutung, und ihre Bestimmungen haben sich auch auf die späteren —• Synoden von Arles (314), Serdika (342) und -»Nicäa ausgewirkt. Auf dem Konzil waren die fünf Provinzen der Iberischen Halbinsel vertreten, am stärksten allerdings die Baetica, die wohl am weitesten romanisierte Provinz mit der größten christlichen Verbreitungsdichte. Aus den Akten ergibt sich die Existenz von 37 Gemeinden, von denen einige allerdings nicht lokalisierbar sind. Ihre Bestimmungen lassen erkennen, daß die Christen allen Schichten der Gesellschaft angehörten, sich in ihrem unvermeidlichen Zusammenleben mit der heidnischen Kultur vor mancherlei Schwierigkeiten gestellt sahen und daß die Einverleibung des Christentums in die lokale Kultur ein beschwerlicher Prozeß war. Daher laufen sie auf eine Aufreihung von Fehlern und Mängeln hinaus, zu deren Besserung die Gläubigen angehalten werden. Erstmals wird in den Kanones von Elvira das paulinische Verständnis der E h e auf die Frage von Verbindungen mit Häretikern und Schismatikern angewandt. Z u m ersten M a l ist in ihnen v o m kirchlichen - » Z ö l i b a t die Rede. W o h l erstmals wird darin mit der Anweisung, die Herren sollten die Verehrung von Idolen durch ihre Sklaven unterbinden, ein aktives christliches Einschreiten gegen heidnischen Kult angeordnet. Vier Kanones zeigen mit Vorschriften zur Abgrenzung von Juden eine antijüdische Haltung. Unmißverständlich wird die Z i n s n a h m e (—»Zins) durch Geistliche wie Laien verurteilt. Eine ausgeprägte rigoristische Einstellung der Synode äußert sich darin, daß sie in einigen Fällen selbst Sterbenden die Gewährung der Sakramentsgemeinschaft versagt. Dieser Rigorismus und ein Verbot der Bilderverehrung haben C a e s a r Baronius ( 1 5 3 8 - 1 6 0 7 ) , R. Bellarmini und Melchior C a n o ( 1 5 0 9 - 1 5 6 0 ) veranlaßt, das Konzil als h e t e r o d o x anzusehen; heute wird diese Ansicht aufgrund eines vertieften geschichtlichen Verständnisses nicht mehr vertreten. Im Mittelpunkt des geistlichen Lebens der Gemeinden stand der Gottesdienst. Daher enthalten die Kanones von Elvira eine Bestimmung über den wöchentlichen Kirchenbesuch und schließen diejenigen von der Gemeinschaft aus, die drei Sonntage hintereinander nicht a m Gottesdienst teilnehmen. Sie treffen eine Bestimmung zur Feier des Pfingstfestes (—»Pfingsten/Pfingstfest/Pfingstpredigt) und schreiben vor, jeden Samstag - außer während der M o n a t e Juli und August - zu fasten. Das Konzil w a r um eine Hebung des sittlichen Verhaltens der Geistlichen bemüht, die als „Vorbild guter Lebensführung" (can. 6 4 ) hingestellt werden. C a n . 3 3 ist der erste bekannte T e x t , der z w a r nicht den Zölibat der Geistlichkeit, aber d o c h ihre Enthaltung von der Ehe verfügt. Aus can. 2 7 ergibt sich, daß die Z a h l der Jungfrauen erheblich war.
Die Christen sahen sich einem feindseligen, ihren Idealen entgegenstehenden Umfeld ausgesetzt. Ihr Glaube war durch ihre heidnische Umgebung bedroht. Ihr Ehe- und Familienleben stieß auf eine leichthin gehandhabte Praxis von Scheidung und Ehebruch.
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Ihre Forderung der Keuschheit war tagtäglich mit freizügigen Sitten und einer sich ungebunden auslebenden Sexualität konfrontiert. Beachtung verdient die Härte der Bußen, mit denen die Bischöfe Fehlverhalten ahndeten. Die Kanones von Elvira lassen erkennen, daß das Heidentum eine starke und beherrschende Stellung in der Gesellschaft behauptete (Schlunk, Denkmäler). 1.4. Die spanische Kirche im 4. Jahrhundert. Ungeachtet der noch bestehenden Stärke des Heidentums war die Kirche im 4. Jh. gut organisiert. Ihre Bischöfe nahmen aktiv an Konzilien anderer Kirchen teil, so Ossius von Córdoba (257-357/58) 314 am Konzil von Arles und 325 an der Synode von -»Nicäa. Zusammen mit anderen spanischen Bischöfen - Anianus von Cástulo, Florentius von Mérida, Domitian von Astorga, Castus von Saragossa und Praetextatus von Barcelona - war er auch auf dem Konzil von Serdika (342) zugegen. Papst Damasus I. (366-384), der sein alleiniges Wirkungsfeld allerdings in R o m fand, stammte ebenso aus Spanien wie Kaiser -»Theodosius I. der Große, der dem Christentum die Stellung einer Staatsreligion gab. Bedeutung gewannen auch die Bischöfe Gregor von Elvira und Potamius von Lissabon (Domínguez del Val; De Clercq; Chadwick, Ossius; Montes Moreira). Aus dem 4. Jh. liegen auch zahlreiche archäologische Zeugnisse vor, vor allem frühchristliche Basiliken auf den Balearen, in Barcelona und in verschiedenen Orten der Baetica sowie Sarkophage, die sowohl aus Rom wie aus Nordafrika importiert wurden (Schlunk, Sarcófago) und von denen einige das Vordringen des Christentums unter den hohen Amtsträgern der römischen Reichsverwaltung erkennen lassen. Der erste literarische christliche Text spanischer Herkunft ist die Passio des Fructuosus von Tarragona (gest. 259). Zu nennen sind ferner die wohl bekanntesten christlichen Dichter des 4. Jh. Juvencus und Prudentius sowie der Bischof Pacian von Barcelona (gest. vor 392), ein eifriger literarischer Bestreiter der Novatianer (-»Novatian/Novatianer). J.5. Der Priszillianismus. Der Priszillianismus ist die bedeutendste asketisch-häretische Bewegung des 4. Jh. in Spanien und ihr Auslöser eine der anziehendsten Persönlichkeiten der Zeit (—•Priszillian/Priszillianismus). In der Forschung ist verschiedentlich angenommen worden, den größten Widerspruch hätten Priszillians Ablehnung einer Eingliederung der Kirche in die politische Ordnung und die dahinter stehenden wirtschaftlichen und sozialen Vorstellungen geweckt (Chadwick, Priscillian; Paret; Escribano). Sein asketischer und fordernder Lebensstil gewann ihm vornehmlich in der Nobilität, aber auch in der breiten Unterschicht und vor allem unter den Frauen Anhänger. Priszillian entstammt höchstwahrscheinlich einem kultivierten und vornehmen Umfeld Galiciens. In seinen Schriften begegnet ein ausgeprägter asketischer Radikalismus, der zum Rückzug aus der Welt, zur Abkehr von irdischem Wirken und zur Nahrungsaskese, insbesondere der Enthaltung von Fleisch und Wein, aufruft. Die größte Besorgnis erregte wohl die wachsende Tätigkeit der neuen Bewegung außerhalb der Hierarchie. 384/385 appellierte Priszillian an Kaiser Maximus (383-388), der beschloß, in Trier über ihn und eine Reihe seiner Anhänger, darunter die ebenfalls angeklagten lusitanischen Bischöfe Instantius und Salvian, Gericht zu halten. In diesem Verfahren wurden sie verurteilt; die dogmatische Begründung dafür läßt sich nicht mehr erkennen. Einige der Verurteilten, unter ihnen Priszillian, wurden hingerichtet. Das rief scharfe Proteste von -»Martin von Tours und —> Ambrosius von Mailand hervor, die darin eine untragbare Einmischung der weltlichen Macht in das kirchliche Leben sahen. Tatsächlich liegt hier der erste Fall der Hinrichtung eines Irrlehrers durch die weltliche Macht vor. Priszillians Tod brachte indessen keine Beruhigung. Der größte Teil des galicischen Episkopats hielt an seinen Lebensregeln und Lehren fest. Im Jahre 400 versammelten sich 19 Bischöfe zum I. Konzil von Toledo (Florez; La colección canónica hispana IV, 323-384), um die Lehreinheit und geistliche Eintracht wiederherzustellen (Ramos y Loscertales). Mit Priszillian als Irrlehrer haben sich u.a.
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auch Ambrosius, -»Hieronymus, -»Augustin, -»Orosius, Innocenz I. (402-417), -» Vinzenz von Lerins, -»Prosper von Aquitanien, Turibius von Astorga (gest. um 460), -»Gregor der Große und -»Isidor von Sevilla auseinandergesetzt. Der Priszillianismus löste in Spanien eine in diesem Umfang bislang ungekannte literarische Tätigkeit aus. Orosius, Avitus und Bachiarius, die ihm gegenüber auf Rechtgläubigkeit bedacht waren, sahen sich genötigt, das Gebiet von Braga zu verlassen. Dictinius, der priszillianistische Bischof von Astorga, die galicischen Bischöfe Pastor und Syagrius, deren Sitze unbekannt sind, und Bischof Agrestius von Lugo sowie der Laie Consentius verfaßten eine Reihe von Abhandlungen, deren Anschauungen von den bedeutendsten zeitgenössischen Kirchenschriftstellern und Theologen wie etwa Augustin erörtert und kommentiert wurden. In den Schriften von -»Paulinus von N o l a , im Schreiben des Papstes Siricius ( 3 8 4 - 3 9 9 ) an Himerius von T a r r a g o n a und in einigen Briefen von Hieronymus finden sich Hinweise auf laikale und monastische Armutsbewegungen und auf Neigungen zur Enthaltung von der Ehe, die das Vorhandensein weiterer asketischer Strömungen in Spanien erkennen lassen.
1.6. Die spanische Kirche in der Zeit des Übergangs. Zu Beginn des 4. Jh. vollzog sich eine Reihe von gesellschaftlichen Wandlungen, mit denen sich der Anbruch eines neuen Zeitabschnitts ankündigte: In der Produktion verlor die Ausnutzung der Sklavenarbeit an Bedeutung, die Widerstandskraft gegenüber dem Druck der Barbaren ließ nach, und es wandelten sich die Beziehungen von Stadt und Land. Die politisch-soziale Führungsrolle der Bischöfe, das Mönchtum und seine Entfaltung und die Lehrstreitigkeiten innerhalb des Christentums trugen das Ihre zu den Umgestaltungen bei, die in ihrer Bündelung das Ende der römischen Welt heraufführten. Allein die Kirche vermochte eigene institutionelle Formen der Schutzherrschaft im Gegenüber zu dem von Einzelpersonen ausgeübten Patronat auszubilden und so kirchliche Bindungsverhältnisse als Alternative zu den personalen zu schaffen, die ausreichten, ein neues gesellschaftliches Ordnungsgefüge aufzubauen. Während dieser Ubergangszeit begegnet eine Reihe hispanoromanischer Kirchenschriftsteller, deren Werk eine fortdauernde Verbundenheit mit der römischen Kultur erkennen läßt: Orosius, Prudentius und Hydatius. Sie verstanden sich als Spanier, verteidigten aber gegenüber den neuen, die politische Macht ausübenden Völkern die Romanitas. Orosius schrieb seine Weltgeschichte (Historia adversus paganos), als die Barbaren sich auf der Iberischen Halbinsel niederließen. Seine Aufarbeitung der Vergangenheit und der selbst erlebten Geschehnisse seiner Gegenwart ließ ihn eine eigene Vorstellung vom Römischen Reich und seiner Bedeutung innerhalb der Heilsgeschichte entwickeln. Pessimistischer zeigt sich Hydatius von Aquae Flaviae in seiner Chronik. Er steht unter dem Eindruck der Erschütterung aller Ordnungen, die von der Anwesenheit der Sueven in seiner galicischen Heimat wie auch von den Barbaren überhaupt in einem tagtäglich mehr der Auflösung verfallenden Römischen Reich ausging. Diese Verhältnisse führten ihn zu Überlegungen über die Unvermeidlichkeit einer neuen politischen Ordnung, die sich auf die Goten als die tatsächlichen Inhaber der Macht stützte. Die Einfälle zunächst der Alanen, Vandalen und Sueven und dann der Westgoten bereiteten auf der Iberischen Halbinsel der römischen Organisation ein Ende. Außer den Sueven waren sie alle Arianer (-»Germanenmission, arianische), die allerdings im allgemeinen die Katholiken nicht verfolgten. Die Anwesenheit dieser germanischen Invasorenvölker brachte Unruhe in das religiöse Leben, war aber für die spanische Kirche während des 5. und 6. Jh. auch eine Herausforderung zu missionarischem Einsatz. Die Sueven und die einheimische Bevölkerung Galiciens waren zwei Volksgruppen, deren wechselseitige Beziehungen gespannt waren, Hydatius zufolge aber zuweilen auch durch bischöfliche Vermittlung geglättet wurden. Gegen 448 trat der Suevenkönig Rechiar zum katholischen Christentum über. Er war somit der erste katholische Herrscher eines westlichen Barbarenvolks, ein halbes Jahrhundert vor dem Frankenkönig -»Chlodwig. Es ist allerdings nicht bekannt, ob mit ihm auch sein Volk übertrat. Bald darauf, gegen
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465, wandten sich die Sueven dem -»Arianismus zu, und danach verliert sich ihre Geschichte für ein Jahrhundert im Schweigen der Quellen (Reinhart; Schäferdiek, Kirche 105-136). Ihre schließliche Bekehrung zum katholischen Bekenntnis erfolgte um 560, und dabei hat einer der großen zeitgenössischen Missionare eine ausschlaggebende Rolle gespielt, -»-Martin von Braga. Er stammte aus Pannonien, hatte seine Bildung im Osten erhalten und kam schließlich nach Galicien; dort gründete er das Kloster Dumio und wurde danach Metropolit von Braga. Braga war die kirchliche Metropole des Nordwestens der Iberischen Halbinsel. Dort traten 561 und 572 zwei Konzilien zusammen, die beide unter Martins Einfluß standen und deren zweites er auch geleitet hat. Mit einer gründlichen Lehrunterweisung und einer umfassenden kirchenrechtlichen und liturgischen Neuordnung leiteten sie eine kirchliche Erneuerung in die Wege und wiesen ihr die Richtung. Die Schrift De correctione rusticorum, das interessanteste und bedeutendste Stück aus dem literarischen Schaffen Martins, ist eine wichtige Quelle für die den Zeitverhältnissen entsprechende christliche Unterweisung und zugleich für den Fortbestand abergläubischer und heidnischer Bräuche, die entschieden bekämpft werden. Sie und die Konzilsbeschlüsse bekunden eindringlich ein erneuertes Bewußtsein der katholischen Hierarchie für den Ernst ihrer Verpflichtung zur religiösen Unterweisung des Kirchenvolks. Archäologisch sind aus diesem Zeitraum die als dreischiffige Basiliken ( - • Kirchenbau) angelegten Bischofskirchen von Barcelona und Tarragona zu nennen. Die Basilika von Tarragona ist möglicherweise wie die von Segóbriga eine bischöfliche Grablegekirche, die entweder in der zweiten Hälfte des 4. Jh. (so Schlunk) oder im 5. Jh. an der Stelle der Gräber der Märtyrer Fructuosus, Augurius und Eulogius errichtet wurde. 2. Kirche und geistliches Leben im westgotischen
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2.1. Die Bekehrung der Westgoten zum katholischen Bekenntnis. Fast während des gesamten 6. Jh. erlaubte das Zusammenleben von katholischen Hispanoromanen und arianischen Westgoten wechselseitige Beziehungen und Missionsbestrebungen unter verschiedenen Vorzeichen. König Leovigild (568-586) bemühte sich gegen 580 um die Herstellung einer religiösen Einheit der Gesamtbevölkerung; dazu räumte er in der arianischen liturgischen Praxis liegende Hindernisse aus dem Weg und machte zumindest ein terminologisches Zugeständnis in der Lehre (Schäferdiek, Kirche). Nach -»Gregor von Tours und Isidor von Sevilla war diese Religionspolitik von Verfolgungsmaßnahmen wie der Verbannung von Bischöfen und der Einziehung von Kirchengut begleitet, und die hagiographische Überlieferung der Vitas sanctorum patrum Emeritensium bestätigt das. Zur Zeit der Ankunft der Barbaren war die Masse der spanischen Bevölkerung katholisch, auch wenn drei Einschränkungen zu machen sind: Zum einen bewies der Priszillianismus nach den Mitteilungen von Orosius an Augustin und Turibius von Astorga an -»Leo I. den Großen im galicischen Raum noch einige Beharrungskraft; doch war seine Bedeutung zur Zeit des Erscheinens der Westgoten gering; zum anderen bestand eine zweifellos bedeutende jüdische Minderheit; und schließlich gab es immer noch nachhaltig heidnisch geprägte Gebiete; das Heidentum der Basken und Kantabrier ist das am besten bekannte Beispiel dafür; es gab aber auch noch andere heidnische Stammesgruppen, zumal in den wenig oder gar nicht romanisierten Hochlagen des kantabrischen Gebirges.
Der Übertritt des Königs Rekkared (586-601) zum katholischen Bekenntnis erfolgte nach der Chronik des Johannes von Biclaro im zehnten M o n a t seiner Herrschaft, d.h. im Februar oder März 587. Durch ihn wurde damit das Einigungsbestreben Leovigilds, wenn auch unter ganz anderem Vorzeichen, verwirklicht (Hillgarth; Thompson 92-152; Orlandis, España visigótica 9 3 - 1 3 0 ; Claude 6 6 - 7 1 ) . Die Mehrzahl der gotischen Bischöfe und Großen folgte dem Beispiel des Königs. Der arianische Widerstand löste zwar drei Erhebungsversuche aus, blieb aber ein Zwischenspiel und war im Frühjahr 589, als das dritte Konzil von Toledo zusammentrat, bereits überwunden. Auf diesem
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Konzil, einem Werk des Metropoliten Leander von Sevilla (579-600/601), zu dem sich 62 Bischöfe und fünf Bischofsvertreter zusammenfanden, wurde das katholische Bekenntnis Rekkareds verlesen. Beachtenswert ist der Aufruf des Königs: „Zunächst aber mahne ich und rufe dazu auf, euch unter Fasten, Wachen und Beten zu bemühen, daß die kanonische Ordnung, die ein langes und anhaltendes Vergessen aus dem Bewußtsein der Bischöfe hat schwinden lassen und deren Unkenntnis unsere Zeit geduldet hat, euch durch Gottes Gewähr wieder sichtbar wird" (La colección canónica hispana V, 51). Die arianischen Westgoten wurden durch die -»Firmung und eine bischöfliche —»Benediktion oder ->Handauflegung in die katholische Kirche aufgenommen. In der Geschichtsschreibung gilt der Übertritt Rekkareds wegen der darin beschlossenen politischen und religiösen Folgewirkungen als eines der bedeutsamsten Ereignisse der spanischen Geschichte. Er führte die politisch-religiöse Einheit von Invasoren und Hispanoromanen herbei. Gregor der Große beglückwünschte Rekkared überschwenglich und eröffnete damit enge Beziehungen zwischen Rom und dem Westgotenreich (Epistula ad Recaredum regem gothorum [Reg. ep. IX,229]: CChr.SL 140A, 8 0 5 - 8 1 1 ) . Der Übertritt der Westgoten stärkte das spanische National- und Einheitsbewußtsein und bildete die Grundlage des spanischen Volkstums und der spanischen Monarchie (Calpena y Avila 39). Die Kirche war einer der konstitutiven Faktoren des Lebens der Monarchie (Romero 62). Die Glaubenseinheit zog die rechtliche, sprachliche und ethnische Einheit nach sich. Die Kirche hatte wesentlichen Einfluß auf die Verfassung und die geschichtliche Entfaltung der westgotischen Monarchie und schuf gemeinsam mit ihr die Grundlagen der spanischen Nation. 2.2. Katholizismus und öffentliches Bekenntnis. Das spanisch-westgotische Königtum war keine Theokratie, aber doch ein sakrales -»Königtum. -»Isidor von Sevilla entwickelte in seinen Etymologien und Sentenzen eine politische Theorie, die im europäischen Westen beträchtlichen Widerhall fand (Romero 62; King). Isidor von Sevilla hat ein umfangreiches schriftstellerisches Werk hinterlassen, das schon die Bewunderung seiner Zeitgenossen fand. Es umfaßt historiographische, exegetische, dogmatische und ethische Schriften, doch Isidors größtes Verdienst besteht in seiner Weitervermittlung antiken Bildungsgutes hauptsächlich durch seine Etymologiae, ein Handbuch des Wissens seiner Zeit auf den Gebieten der Grammatik, Rhetorik, Mathematik, Medizin, des Rechtes, der Religion, Geographie und anderer Bereiche.
Das geistige Leben der Zeit war durch und durch von religiösem Gedankengut erfüllt, das alle Ausformungen der Kultur beherrschte und seine wegweisenden Vertreter in den Männern der Kirche fand. Einer der kennzeichnendsten Beiträge der westgotischen Kirche zur abendländischen Theologie ist die Lehre vom Ausgang des Heiligen Geistes vom Vater und vom Sohn (-»Trinität); sie fand Eingang in die theologischen Darlegungen auf dem dritten Konzil von Toledo. 2.3. Die Konzilien von Toledo. Die Reihe der spanisch-westgotischen Generalkonzilien setzt mit dem dritten Konzil von Toledo ein, doch erst can. 3 des vierten toletanischen Konzils von 633 regelt ihre Durchführung. Dabei werden sie von den Provinzialkonzilien unterschieden, und es wird festgestellt, daß sie zur Behandlung von Fragen zusammentreten sollten, die den Glauben oder Angelegenheiten der gesamten spanischen Kirche betreffen. Die politische Bedeutung dieser Konzilien zeigt sich auch darin, daß die Beschlüsse einer Reihe von ihnen durch ein königliches Gesetz (lex in confirmatione concilii) bestätigt wurden, das ihre Geltung auf den staatlichen Bereich ausweitete. Diese Konzilien waren die kennzeichnendste Institution der westgotischen Kirche, der Angelpunkt, an dem sich das gesamte religiöse Leben ausrichtete. Auf ihnen wurde die Lehre festgelegt, es wurden die Beziehungen zum Staat geregelt, die Regeln aufgestellt und fortentwickelt, die das innerkirchliche Leben bestimmten, die Disziplin der Geistlichen, die Moral der Gläubigen und die liturgischen Normen.
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633 forderte das vierte toletanische Konzil die Einheitlichkeit der Riten und Agenden für die Sakramentsspendung, die Feier der Messe und der Offizien (can. 2: La colección hispana V, 183f.). Auf demselben Konzil wurde unmißverständlich der Grundsatz festgelegt, daß die Kirche ein konstitutives Element im politischen Leben des Königreichs sei. Über ihre Konzilien hat sie dem westgotischen Reich in weitem Umfang die Werte der römischen und katholischen Kultur und ihres Rechts vermittelt und damit seine Gesetzgebung und sein politisch-soziales Leben wesentlich mitgestaltet. Zwischen 5 8 9 und 711 traten 26 stets durch den König einberufene Generalkonzilien zusammen. Ihre Teilnehmer waren die Bischöfe, einige Äbte, Priester als Bischofsvertreter und einzelne Laien. Ihre Beschlüsse wurden durch königliche Bestätigung zu Reichsgesetzen. In dem M a ß e , in dem sie an politischem Gewicht gewannen, nahm auch die Beteiligung des Adels zu. Die Könige bestimmten die Tagesordnungen, deren T h e m e n sich mit den dringlichsten Problemen des Reiches befaßten.
2.4. Organisation und inneres Leben der westgotischen Kirche. Der Bischof der Königsstadt Toledo wurde zum Primas der spanisch-westgotischen Kirche. 681 räumte ihm das 12. toletanische Konzil das Recht ein, im Einvernehmen mit dem König alle spanischen Bischöfe zu nominieren, doch sollten sie dabei die Wünsche des Kirchenvolks und der Geistlichkeit des jeweiligen Bistums berücksichtigen. Großes Gewicht für die kirchliche Organisation fiel auch den Metropoliten von Tarragona, Braga, Sevilla und Mérida zu. In ihren Provinzen übten sie die geistliche Leitung aus, weihten die Bischöfe, beriefen die Provinzialkonzilien ein und hatten die oberste Gerichtsbarkeit inne. Seit Rekkared wurden die Bischöfe zugleich zu Richtern, in deren Zuständigkeit sowohl religiöse als auch gemischte Angelegenheiten - Götzendienst, Beziehungen zu den Juden, Kindestötung und Zauberei - fielen (Andres Marcos 78). Sie unterwiesen die Richter und beaufsichtigten die weltlichen Behörden. In Isidors Etymologien (VII,12,6f.) heißt es: „DerErzbischof... hat den Vorsitz sowohl über die Metropoliten als auch über die anderen Bischöfe. Die Metropoliten führen den Vorsitz über die einzelnen Provinzen, und ihrer Autorität und Lehrhoheit sind die übrigen Bischöfe unterworfen; und ohne sie dürfen die übrigen Bischöfe nicht handeln; denn ihnen ist die Aufsicht über die gesamte Provinz übertragen". Die kirchliche Leitung einer Provinz liegt bei der Gesamtheit der ihr zugehörenden Bischöfe in Gemeinschaft mit dem Metropoliten. In diesem Sinn liefern die Generalkonzilien den besten Beweis ihres Bewußtseins bischöflicher Kollegialität. Die als Hispana (s. T R E 19,6,56ff.) bezeichnete kanonistische Sammlung enthält die Akten der griechischen, afrikanischen, gallischen und die der spanischen Konzilien, deren Reihe mit dem Konzil von Elvira beginnt. Dazu kommt eine Zusammenstellung päpstlicher Dekretalen, deren Bestand bis zum Ende des 4. Jh. zurückreicht und bis zu Gregor dem Großen führt. Die Ausformung und Weiterentwicklung der westgotischen Liturgie erfolgte durch Beiträge der Kirchenschriftsteller, die Gebete und Hymnen für die verschiedenen Offizien und Feste schrieben, und durch Bestimmungen von Konzilien. Das beflügelnde dichterische Vorbild war Prudentius, aus dessen eigenem Schaffen ebenfalls einiges Eingang in die Liturgie comicus). der westgotischen Zeit fand (vgl. Oracional visigótico; Fábrega Grau; Liber Das Konzil von Saragossa von 380 bezeugt erstmals die Existenz von Mönchen in Spanien. Die Klöster unterstanden der Autorität des Bischofs, der jedoch nicht in die Verwaltung ihres Besitzes eingreifen sollte. 3.
Mittelalter
3.1. Arabereinfall und Reconquista. Der Einfall der Araber nach Spanien 711 setzte dem bereits zuvor durch anhaltende innere Wirren geschwächten Westgotenreich ein Ende und führte in nahezu gleitendem Übergang zur Reconquista, der schrittweisen, über 700 Jahre sich hinziehenden Wiedereroberung des unter arabische Herrschaft gefallenen Landes durch kastilische und aragonesische Könige und Heere.
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Viele moderne Historiker geben zu bedenken, daß es die Vorstellung der Reconquista während der ersten J a h r h u n d e r t e nicht gegeben habe und man vielmehr daran gedacht habe, zu einem Einvernehmen mit den arabischen Herrschern zu k o m m e n . Die damit angesprochene Problematik ist vielschichtig, und die Zielvorstellungen der ersten asturischen Könige lassen sich daher nicht o h n e weiteres genau a u s m a c h e n . A u f jeden Fall steht außer Z w e i f e l , d a ß die Reconquista im ganzen gesehen die bestimmende Leitlinie der spanischen G e s c h i c h t e des 8. bis 15. J h . gewesen ist. In ihr vollzog sich in einem von der Kirche moralisch und wirtschaftlich mitgetragenen, lang anhaltenden Kreuzzug gegen die M a u r e n die Bildung der spanischen N a t i o n (vgl. Pons Boigues; Sánchez Alonso, H i s t o r i a I; G o ñ i G a z t a m b i d e ) .
Die neuen Herren der Iberischen Halbinsel setzten zwar die Bevölkerung zugunsten des Islam unter Druck, behinderten jedoch im allgemeinen zumindest bis ins 11. Jh. nicht den Fortbestand der christlichen Religionsausübung und der kirchlichen Organisation. Sie sahen nämlich in den Christen ein „Volk des Buches", dem als Nichtmuslim eine Kopf- und Grundsteuer auferlegt war (-»Islam II). Denen, die sich ihnen regulär unterwarfen, gestanden sie die Freiheit der Religionsausübung zu; doch wurde diese Freiheit unter den verschiedenen Machthabern oder auch Volksgruppen, die im Lauf der Jahrhunderte die Herrschaft innehatten, oft begrenzt oder unterdrückt (Chronica Adefonsi Imperatoris, n. 101: zit. bei Simonet 766). Spanien. Die im muslimischen 3.2. Kirche und religiöses Leben im muslimischen Gebiet verbleibenden Christen wurden Mozaraber („Arabisierte") genannt. Ihr Zusammenleben mit den Arabern verschlechterte sich im Lauf der Zeit in dem Maße, in dem ihre Zahl abnahm und die Überheblichkeit und Unduldsamkeit der Araber wuchs. Zwei Jahrhunderte lang hielten sie mit einiger Stärke ihre Bistumsorganisation, ihr gottesdienstliches Leben, ihre Klöster und Bildungseinrichtungen aufrecht; doch der fortschreitende Verfall ihrer sog. isidorianischen Kultur und der kirchlich-religiösen Sitten und Ordnungen wie auch eine anhaltende Isolierung von der abendländischen Kirche erwiesen sich als unaufhaltbar und führten zum Niedergang des christlichen Lebens (vgl. González Palencia; Cagigas). In Córdoba reagierte um 851 eine Reihe von Christen unter Führung des Abtes Speraindeo darauf mit einem öffentlichen Angriff auf Muhammed mit dem Zweck, den Märtyrertod zu erleiden. Diese innerhalb der mozarabischen Gemeinschaft nicht immer gerne gesehenen freiwilligen Märtyrer verkörperten eine radikale Protesthaltung gegenüber einem häufig brüchig gewordenen Christentum (Quentin; Franke; Colbert). Ihre Reliquien wurden sowohl in den spanischen Reichen wie im Frankenreich nachgefragt und verehrt. Zahlreiche Mozaraber wanderten, vor allem zwischen 910 und 940, in dem Maße in die christlich beherrschten Gebiete aus, in dem diese an Ausdehnung und Bedeutung gewannen, und vermittelten ihnen damit auch ihre in weitem Umfang von arabischen Sitten und arabischer Wissenschaft beeinflußte Kultur. Zu Beginn des 12. Jh. bestanden noch einige wenige mozarabische Gemeinden in Andalusien. 3.3. Die Kirche in den christlichen Herrschaftsgebieten. Die Araber stießen von Anfang an auf einen organisierten Widerstand von kantabrisch-asturischer Seite im Norden der Halbinsel unter der Führung von Pelayo (gest. 737), der bis heute als Abkömmling aus westgotischem Königsgeschlecht angesehen wird, aber wahrscheinlich nur ein junger Kantabrier war. Aus dieser Widerstandsbewegung erwuchs sehr bald das christliche Königreich Asturien, das die westgotische Tradition für sich beanspruchte. Bald darauf bildete sich mit der Unterstützung -»Karls des Großen in Katalonien ein der muslimischen Herrschaft entnommener Bereich, der sich allmählich zu einem eigenen christlichen Herrschaftsgebiet wandelte. Im baskisch-navarrischen Raum schließlich gewann das Königreich Navarra Gestalt. Die asturisch-leonesische Herrschaft erhob den Anspruch, sowohl im kirchlichen wie im politischen Bereich die westgotischen Ordnungen wiederherzustellen, wie sie in Toledo bestanden hatten. Die Reconquista zeigte nicht immer den Charakter eines Kreuzzugs im Sinne der -»Kreuzzüge im östlichen Mittelmeerraum, speiste sich aber doch
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aus religiösen Triebkräften, die ihr den Antrieb zu einer dauerhaften Rückgewinnung der den Arabern entrissenen Gebiete und ihrer Wiederbevölkerung ebenso durch Ansiedler aus dem Norden wie durch Mozaraber gab. Die in den zeitgenössischen Texten begegnende hohe Zahl von Kirchen und Klöstern läßt ein blühendes religiöses Leben erkennen, dessen Mittelpunkt das neue Bistum Oviedo war. Der Fortgang der Reconquista und die Notwendigkeit, die zurückgewonnenen Gebiete wieder zu besiedeln, zogen die Gründung von Bischofssitzen in der Königsstadt León sowie in Zamora und Astorga nach sich. Zum Königreich León gehörte auch der galicische Raum. Hier ließ die Entdeckung des Grabes des Apostels Jakobus des Älteren (813) Compostela zum Mittelpunkt des religiösen Lebens Galiciens mit gesamtspanischer Ausstrahlung werden. Am 31. Oktober 1104 wurde es zum Erzbistum ohne Suffragane erhoben, und 1120 erhielt es den Metropolitanrang. Die Könige wandten den Kirchen, die tatsächlich wie rechtlich ihrer Gewalt unterstellt blieben, umfangreiche Güter zu (van Herwaarden; Vázquez de Parga/Lacarra; Kendrick). Zugleich mit der Kirche Kastiliens gewann das kastilianische Königreich Gestalt. Wandernde Bischöfe ohne Sitz begleiteten die neuen Ansiedler, und Zug um Zug bildete sich um einige nur kurzzeitig bestehende Diözesen und vor allem um die 1085 eroberten Städte Burgos und Toledo eine kirchliche Bistumsorganisation. Seit dieser Zeit kam es auch zu festen Beziehungen zwischen Rom und Kastilien, die bis zur Mitte des 11. Jh. faktisch nicht bestanden hatten (Sánchez Albornoz, Asturias; Serrano; Pérez de Urbel; Mansilla). Auf der anderen Seite entsprach die Bildung des Königreichs Navarra und der Grafschaft Barcelona Uberlebensnotwendigkeiten christlicher Bevölkerungsgruppen in den Pyrenäen. Sie erhielten immer wieder fränkische Unterstützung, insbesondere durch Karl den Großen, und führten die karolingische Verbindung von Politik und Religion fort. In der Geschichte dieser neu sich bildenden Reiche begegnet eine bedeutende fränkische Präsenz mit einem entsprechenden fränkischen Einfluß, der im Laufe der Zeit auf der gesamten Iberischen Halbinsel zur Geltung kommen sollte (Leroy; Sánchez Albornoz, Pamplona; Ledesma). Barcelona und die Gebiete, die später Katalonien bildeten, intensivierten in dem Maße, in dem sie sich vom Frankenreich lösten, zunehmend ihre Beziehungen zu Rom. Grafen von Barcelona, Urgel, der Cerdagne, von Besalú und dem Roussillon, Bischöfe aller katalanischen Bistümer, Äbte von Ripoll, Cuixá und Sant Pere de Roda traten die Reise nach Rom an, um dort Privilegien zu erwerben und in strittigen Fragen um eine römische Entscheidung nachzusuchen oder Klöster dem päpstlichen Schutz zu unterstellen (Miliares Carlo; Lacarra). 3.4. Ursprünge einer eigenständigen Frömmigkeit. Das Mönchtum erfuhr einen beträchtlichen Aufschwung. In dem M a ß , in dem die christlichen Reiche ihre Grenzen ausweiteten, bevölkerte sich ihr Gebiet mit Klöstern. Ihre Gemeinschaften machten Ödland fruchtbar, besiedelten wüst gefallenes Land und erweckten verlassene Gebiete wieder zum Leben (Pallares; Sánchez Albornoz, Despoblación; Linage Conde; Pérez-Embid Wamba). Die Könige statteten sie mit Grundbesitz, Knechten, Kolonen und Exemtionen aus. Es bestand auch eine große Zahl von Doppelklöstern mit getrennten, aber unter gemeinsamer Leitung stehenden Männer- und Frauengemeinschaften. Die —»Benediktusregel gewann nur langsam an Boden, da sich noch die Tradition des altspanischen Mönchtums behauptete, die zudem im Unterschied zur benediktinischen der bischöflichen Autorität entgegenkam. In den klösterlichen Skriptorien wurden, zunächst noch in westgotischer, dann in karolingischer Schrift, historiographische, patristische und liturgische Schriften vervielfältigt; es entstanden, zumal im Zusammenhang des adoptianischen Streites, theologische Werke, und es wurden arabische und orientalische Handschriften gesammelt. Bis ins 11. Jh. gab es im Königreich Asturien-León keine Bilderverehrung, da im Einklang mit dem Konzil von Elvira Symbole, Tafelbilder, Statuen, Reliefs und Wand-
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bilder untersagt waren. Die Liturgie wurde nach gotischem oder mozarabischem Ritus begangen bis zu der nicht ohne Protest aus dem Kirchenvolk erfolgenden Zulassung des römischen Ritus durch Alfons VI. von Kastilien (1072-1109) in der zweiten Hälfte des 11. Jh. Bekannt ist der Widerhall, den die um 780 auf muslimischem Gebiet aufgekommene adoptianische christologische Formel auf der Iberischen Halbinsel fand (s. T R E 16,745,50ff.). Es ist vermutet worden, daß sie als Ausgleich zwischen der christlichen Lehre und muslimischen und jüdischen Auffassungen aufgekommen ist und dazu die alte Vorstellung wieder aufgenommen habe, Jesus Christus sei Adoptivsohn Gottes. Sie fand zunächst innerhalb der Geistlichkeit von Córdoba Verbreitung, wurde dann aber durch den Metropoliten Elipandus von Toledo (717 - nach 800) und den Bischof Felix von Urgel (gest. 818) aufgenommen. Ihr entschiedener Bestreiter war der Mönch Beatus von Liébana. Ihm galt Elipandus als Nestorianer, und dieser wiederum sah in Beatus einen Monophysiten. —• Alkuin trat Beatus zur Seite, und Karl der Große sowie die Päpste -»Hadrian I. und Leo III. (795-816) schalteten sich aktiv in die Auseinandersetzungen ein. Diese Konfrontation zerschnitt alle Bindungen zwischen den Kirchen im Norden der Halbinsel und dem Primatialsitz Toledo und markiert deren Annäherung an die fränkische Kirche jenseits der Pyrenäen (Rivera Recio, Elipando; Abadal y de Vinyals; Schäferdiek, Streit). Wenige Jahre später erfolgte die vermeintliche Entdeckung des Grabes des Apostels Jakobus in Compostela. Dessen Verehrung steht in einer deutlichen Beziehung zum Fortgang der Reconquista und diente als Symbol der Einheit zwischen den christlichen Königreichen. Alfons II. der Keusche von Asturien (791-842) ließ an der Stelle des Grabes eine kleine Kirche errichten, die bald zum Ziel von Pilgern aus ganz Europa wurde. Seit dem 11. Jh. stand die -»Wallfahrt nach Compostela auf gleicher Stufe mit den großen Wallfahrten nach Rom und Jerusalem. Der Pilgerweg wurde zu einer Straße des Handels und des kulturellen und künstlerischen Austauschs und damit auch zu einem Medium andauernder Wechselbeziehungen zwischen der abendländischen und der spanisch-muslimischen Kultur. Die christliche Ausbreitung beruhte auf einer Reihe verschiedener, einander nicht widersprechender Leitvorstellungen, der Wiederherstellung des Gotenreichs, des Wiedergewinns verlorenen Landes und dem während des 11. Jh. auf der Iberischen Halbinsel erwachsenen Kreuzzugsgedanken. Wie in Europa war auch in Spanien der Kreuzzug ein gesuchtes und nie erreichtes Wunschbild, das bis in den Beginn der Neuzeit fortlebte und noch bei den afrikanischen Unternehmungen während der Zeit der Katholischen Könige wirksam war. 3.5. Kirche und Staat vom 11. bis 15. Jahrhundert. Seit der zweiten Hälfte des 11. Jh. wurde das Mönchtum in Kastilien und León im benediktinischen Sinn (-»Benediktiner) umgestaltet: Die kleinen Klöster und die zahlreichen Eigenkirchen (-»EigenkirchenWesen) wurden in große Klöster eingegliedert und an die bischöflichen Domkirchen gebunden. Die Verbindung zwischen dem Papsttum und —»Cluny stärkte die päpstliche Stellung in Spanien. Die Päpste trugen keine Bedenken, französischen Cluniazensern wichtige Legationen wie auch die Leitung zahlreicher spanischer Bistümer zu übertragen. Dieses Wirksamwerden cluniazensischer Kräfte förderte die Frankisierung und Europäisierung eines Gebiets, das mehr als zwei Jahrhunderte ein isoliertes Leben geführt hatte. Allerdings ist sich die Forschung über das tatsächliche Ausmaß des cluniazensischen Einflusses nicht einig. Deutlich zu sein scheint, daß die unmittelbare Präsenz und der direkte Einfluß von Cluny in Kastilien-León differenzierter zu sehen ist als früher üblich; unzweifelhaft ist, daß König Ferdinand I. (1035-1065) sich in die Gebetsgemeinschaft von Cluny aufnehmen ließ und die kastilisch-leonesischen Könige seitdem zeitweilig eine erhebliche jährliche Zahlung an die Abtei leisteten (Segl, Königtum; ders., Art. Cluny. B. II.: LMA 2 [1983] 2 1 7 8 - 2 1 8 1 ) .
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Die Gregorianische Reform hatte für die Kirchen der Iberischen Halbinsel drei wesentliche Folgen: die Abschaffung des mozarabischen und die Einführung des römischen Ritus, die Ersetzung der in der Hispana (s. T R E 19,6,56ff.) gesammelten kirchenrechtlichen Überlieferung durch die neuen Dekretalen (s. T R E 19,16,6ff.) und eine Neuordnung der Bistumsgliederung. -»Gregor VII. entsandte zur Durchführung von Konzilien Legaten in die spanischen Königreiche und richtete häufig Schreiben an die Könige und Bischöfe. 1086 erklärte König Sancho Ramírez von Aragón (1063-1094) sein Reich zum Lehen des Heiligen Stuhls und sich selbst zum Lehnsmann des heiligen Petrus. Auf der Iberischen Halbinsel wuchs die von den Päpsten bereitwillig aufgenommene Vorstellung des Kreuzzuges, der Legitimität eines „heiligen Krieges", heran. 1088 erklärte Papst -»Urban II., daß das 1085 eroberte Toledo der westgotischen Tradition entsprechend Primatialsitz für die gesamte spanische Kirche sei (Rivera Recio, Primacía; ders., Iglesia). Erster Erzbischof wurde der Cluniazenser Bernhard (gest. 1126), der auch den Rang eines päpstlichen Legaten innehatte und einen großen Teil der zeitgenössischen, einen neuen Amtsstil an den Tag legenden Bischöfe ausgewählt hat. Zu seinen Zeitgenossen zählten zwei der hervorragendsten Gestalten des Jahrhunderts, die Erzbischöfe Diego Gelmirez von Compostela (1098/1101-1140) und Ollegar von Tarragona (1118-1137). Die kirchenpolitischen Schlüsselstellungen im zeitgenössischen Spanien waren so mit gleichermaßen herausragenden wie tatkräftigen Persönlichkeiten besetzt. Zu Beginn des 13. Jh. fanden die Metropolitansitze Compostela, Braga, Tarragona und Toledo unter erheblichen Mühen zu einer klaren Abgrenzung ihrer Jurisdiktionsbereiche. Die größte kirchenpolitische Unruhe erregte die Auseinandersetzung, die von den Erzbischöfen von Toledo und Tarragona durch den Versuch heraufbeschworen wurde, das Bistum Valencia nach seiner Eroberung durch Jaime (Jakob) I. von Aragón (1213—1276) dem jeweils eigenen Metropolitansprengel einzugliedern. Während des 12. Jh. entstanden in Spanien vier geistliche -»Ritterorden, die in den Folgejahrhunderten erhebliche Bedeutung gewannen: die Orden von Calatrava, Santiago, Alcántara und Montesa. Sie waren militärisch aktiv, entfalteten aber auch eine kolonisatorische Wirksamkeit, aufgrund deren sie in den Grenzgebieten beträchtlichen Besitz gewannen, und sie waren zugleich immer auch geistlich tätig. Dem Orden von Santiago gehörten Geistliche und Laien an. Diese konnten - das ist in der Kirchengeschichte einmalig — verheiratet sein; in diesem Fall trat an die Stelle des Keuschheitsgelübdes das Gelöbnis ehelicher Treue, das Armutsgelübde war gemildert, und die vita communis war für sie freiwillig und wurde selten geübt (Martín; Lomax, Órdenes). Die Reconquista trat zuweilen in Konflikt zu den Kreuzzügen, insbesondere im Blick auf die Finanzierung und die Rekrutierung der Teilnehmer. In geistlicher Hinsicht stellten die Päpste den spanischen Kreuzzug mit dem Kreuzzug im Osten gleich; doch in wirtschaftlicher Hinsicht und im Blick auf die persönliche Teilnahme zeigten sie sich zurückhaltender. Die spanischen Könige, Adligen und Kirchenmänner wiederum sahen sich von der Zurückgewinnung des spanischen Südens in Anspruch g e n o m m e n und zeigten wenig Interesse an Zügen ins Heilige Land und nach Konstantinopel (Goñi Gaztambide; Linehan). A u f der anderen Seite benötigten und verwendeten die Könige die kirchlichen Mittel nicht allein für die Feldzüge gegen die Muslime, sondern auch für die unersättlichen internen Bedürfnisse ihrer Herrschaft. Es ist interessant zu sehen, wie sie seit Ferdinand III. dem Heiligen ( 1 2 1 7 - 1 2 5 2 ) und Alfons X . von Kastilien ( 1 2 5 2 - 1 2 8 4 ) für ihren Finanzbedarf auf die Mittel der Kirche zurückgriffen. Papst - » J o h a n n e s X X I I . bewilligte von Avignon aus alle möglichen Subsidien für die Eroberung von G r a n a d a , die jedoch nicht zweckentsprechend verwendet wurden.
Während des Großen Abendländischen Schismas erkannten die spanischen Kirchen den avignonesischen Papst Benedikt XIII. (1394-1417), den Spanier Pedro de Luna, an, bis seine hartnäckige Haltung gegenüber den Versuchen zur Beilegung des Schismas sie die Seiten wechseln ließ (Suarez Fernandez). Während des 14. und 15. Jh. war die Kirche in Kastilien und Aragón gut organisiert, sie verfügte über eine zahlreiche, wenn auch in ihrer Lebensführung nicht immer vorbildliche Geistlichkeit, und ihre Institutionen und Klöster bildeten ein eindrucksvolles Netz. —»Franciscus von Assisi führte 1213 selbst die —»Franziskaner in Spanien ein. Die Spanier -»Dominicus und Petrus Nolascus (ca.
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1182-1249/1256) gründeten die Orden der -»Dominikaner und der Mercedarier. Petrus von Alcántara (1499-1562) reformierte die Franziskaner. Der 1373 bestätigte Orden der Hieronymiten wurde zum mächtigsten, am stärksten mit der Geschichte des Landes verbundenen spanischen Orden. Er und der Orden der -»Kartäuser erfuhren während des 14. und 15. Jh. die stärkste Förderung durch die Könige. Beide brachten eine tiefgehende kontemplative und liturgische Spiritualität anachoretischer Prägung mit dem Bestreben nach Zurückgezogenheit abseits von jedem aktiven Wirken in Kirche und Gesellschaft und fern von intellektuellen Ambitionen zum Tragen. Raimund von Peñafort (1175/1180-1275) und V. -»Ferrer stellten sich als Prediger häretischen Bestrebungen entgegen und traten für Inquisitionsgerichte (-»Inquisition) ein, die sich in Kastilien nur sehr langsam durchsetzten (vgl. Cátedra). Seit dem 12. Jh. gewannen die Domschulen von Compostela, León, Salamanca, Palencia, Toledo, Gerona und Tortosa besondere Bedeutung. Dabei wuchs das Gewicht der Schule von Compostela in dem Maße, in dem der Pilgerweg nach Santiago de Compostela zu einem wirksamen Medium kulturellen Austauschs wurde. Im 13. Jh. entstanden auf der Iberischen Halbinsel Generalstudien und -»Universitäten. Den Anfang machte 1208-1214 Palencia; es folgte die Universität von -»Salamanca, die eine feste Organisation erst 1254 erhielt, als Alfons X . der Weise (1252-1284) ihr Statuten gab, die ihren Lehrbetrieb neu ordneten. Keine der spanischen Hochschulen verfügte über eine theologische Fakultät, da Rom das nicht zugestand. Salamanca erhielt eine solche Fakultät im 14. Jh. Das führte zu einer gewissen Verzögerung einer theologischen Erneuerung. Allerdings dürfen dabei die Namen von Alonso von Cartagena (1386-1456) und Alonso de Madrigal (1401-1455) („El Tostado") nicht vergessen werden oder die europäische Wirkung der 1453 geschriebenen Summa de Ecclesia von Johannes von Torquemada (1388-1468) und der ihr sachlich entgegengesetzten Ekklesiologie von Johannes von Segovia (Ende 14. Jh. - nach 1456), in denen sich das zeitgenössische Gegenüber papalistischer und konziliaristischer (-»Konziliarismus) Auffassungen spiegelt (Madrigal). Zu nennen sind weiterhin Raimund von Peñafort, Raymundus —»Lullus, Arnaldo von Vilanova (ca. 1240—1311), V. Ferrer, Francesc Eiximenis (ca. 1340-1409), Nicolaus Eymericus (ca. 1320-1399) und Rodrigo Ximenes de Rada (1170/1180-1247). Sie alle sind durch von ihnen geschaffene Institutionen, durch ihre Schriften und aufgrund von ihnen verfolgter, häufig gesamtkirchlich aufgenommener Zielvorstellungen über die Grenzen Spaniens hinaus bekannt geworden. 4. Kirchliche
Reformen
und goldenes
Zeitalter
4.1. Die Katholischen Könige und das Haus Habsburg. Die Bezeichnung „Katholische Könige" ist 1496 dem Herrscherpaar Ferdinand von Aragón (1479-1516) und Isabella von Kastilien (1474-1504) von Papst -»Alexander VI. in Entsprechung zu dem von den französischen Königen geführten Titel „Allerchristlichster König" verliehen worden. In den diplomatischen Beziehungen der christlichen Herrscher gewannen diese Titel politische und sogar rechtliche Bedeutung. Die während der Herrschaft von Isabella und Ferdinand erfolgte Vereinigung von Kastilien, Aragón und Navarra zum Königreich Spanien gab der Kirche neue Anstöße und neue Ziele. Die spanische Inquisition mit der Zuständigkeit für Verfahren gegen Irrlehrer und Judaisierende (-»Marranen) entstand im Einklang mit der Vorstellung, eine einheitliche Herrschaft auf eine Gesellschaft zu gründen, deren kennzeichnendes Merkmal ihre religiöse Geschlossenheit sein sollte. Die sich mit der spanischen Inquisition verbindende Vorstellung besonderer Grausamkeit wurzelt in der übersteigerten Strenge und Härte der Amtsführung ihres bekanntesten Großinquisitors Tomás de Torquemada (1420-1498, Großinquisitor seit 1483) und beruht zudem auch auf dem verzerrten Bild, das ihr erster Geschichtsschreiber, Juan Antonio Llórente (1756-1823), von ihr gegeben hat (vgl. Bethencourt). Die Einrichtung der Inquisition zog als im Grunde zwangsläufige Folge die Vertreibung der Juden nach sich, die trotz der Aufrufe und des Drucks der Katholischen Könige
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nicht zum Christentum übertreten wollten (1492). Ihre Vertreibung, die sich zugleich in den Zusammenhang einer langen antijüdischen Tradition einordnen läßt, ist ein kennzeichnendes Moment der Geschichte dieser Epoche. Es hat in der jüngeren Geschichtsschreibung erhöhte Aufmerksamkeit gefunden und wirft auch die Fragen nach einem jüdischen Beitrag zur spanischen Kirchengeschichte auf. Der Kulturhistoriker A. Castro hat ihn als wesentlich eingeschätzt; andere Autoren dagegen schränken seine Bedeutung ein (Asensio; Sánchez Albornoz, España; Benito Ruano, Orígenes; Cantera Montenegro; Monsalvo Anton). Kurze Zeit später erwies sich das Zusammenleben mit den Mauren in dem neu eroberten Königreich Granada, vor allem im Küstengebiet, als schwierig und konfliktträchtig. -»Ximenes de Cisneros war der Auffassung, daß die auf der Iberischen Halbinsel ansässigen Araber entweder das Christentum annehmen oder das Land verlassen müßten, während der Erzbischof Hernando de Talavera von Granada (14281507) meinte, man müsse sie mit Wohlwollen für eine ernsthafte Konversion gewinnen (vgl. Fernández de Madrid). Tatsächlich kam es zur Ausweisung. Hinter diesem gewaltsamen und unduldsamen Vorgehen stand das Verlangen nach einem durch das Band einer einzigen Religion zusammengeschlossenen einheitlichen Land. Es erklärt auch die ein Jahrhundert später erfolgende Vertreibung von 300.000 Moriscos, der als Scheinchristen verdächtigten, zum Christentum übergetretenen Muslime; allerdings dürfen dabei auch die Gründe der Sicherheit für ein Land nicht übersehen werden, dessen langgezogene Küste nur wenige Meilen von den Basen der berberischen Korsaren und Piraten entfernt war. Die zweite Hälfte des 15. Jh. brachte eine wirksamere Läuterung und Lenkung des religiösen Lebens. Voraussetzungen dafür waren die Reformbeschlüsse der Provinzialkonzilien von Aranda (1473; dazu Villalba Ruiz), Alcalá (1497), Talavera (1498) und des Nationalkonzils von Sevilla (1478) sowie die theologische Bildung, die an der Universität Salamanca - hier lehrten in der ersten Hälfte des 16. Jh. F. Vitoria, Melchior Cario und D. de -+Soto - und in den Kollegien vermittelt wurde; denn eine besser gebildete Geistlichkeit mit einwandfreierer sittlich-geistlicher Lebensführung und größerer Hingabe an ihre berufliche Sendung war gefordert. Es kam zu einer langsamen, aber tiefgreifenden moralischen Erneuerung. Die Dominikaner Soto und Vitoria in Salamanca entfalteten eine Moral auf der Grundlage des Dogmas und stellten auf dieser Basis Erwägungen über das - • N a t u r r e c h t an. Die wichtigsten Diskussionsthemen bezogen sich auf Fragen der -»Menschenrechte und werfen ein Licht auf eine im Wandel begriffene Welt. Auch die Reformkongregationen der Orden erhielten wirksame Anstöße, so daß die Ordensgeistlichkeit zu Beginn des 16. Jh. in guter Verfassung war. Die Bistümer wurden von den Königen den Maßstäben der Reform entsprechend besetzt. Vorausgegangen war eine heftige Auseinandersetzung mit dem Papsttum, das zunächst das königliche Patronat für das Erzbistum Granada (1493) und danach für alle spanischen Bistümer (1523) einräumte. Die Bischöfe entstammten der Mittelschicht, waren Spanier und unterlagen der Residenzpflicht. Im allgemeinen waren sie gebildet und führten ein ehrbares Leben (Sínodos burgaleses del s. XV; Sánchez Herrero; de Azcona). Selbstverständlich spielten bei den Bischofsernennungen aber auch politische Interessen und Vorentscheidungen mit. 4.2. Das Tridentinum und die Katholische Reform in Spanien. Der - • H u m a n i s m u s und die paulinischen und erasmianischen Strömungen der Zeit fanden nachdrücklich Eingang in eine Gesellschaft, zu der J.L. -> Vives, Juan (ca. 1500—1541) und Alfonso Valdés (ca. 1500-1532), Alonso Manrique (gest. 1538), Alfonso Fonseca (1476-1534) oder Juan Maldonado (1534-1583) zählten (vgl. Bataillon; García Villoslada, Reforma; Llorca; Tellechea Idigoras, Formulario; Wright). Die neu gegründete Universität von Alcalá (Complutum), an der die Complutensische Polyglotte (s. T R E 27,22,26ff.) erarbeitet wurde, hätte gerne -»Erasmus zu ihren Professoren gezählt und trat mit ihren Theologen und mit der Herausgabe zahlreicher geistlicher Schriften für eine tiefgreifende
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christliche Erneuerung in einem humanistischen und paulinischen Geist ein. M a n kann behaupten, daß in Spanien vor dem Konzil von Trient (-»Tridentinum) unübersehbar eine kirchliche Reform Gestalt gewann, die sich, allerdings in einer weniger aufgeschlossenen und unduldsameren Weise, nach dem Konzil weiter fortsetzte. Daraus erklärt sich auch die gewichtige Präsenz und Wirksamkeit der spanischen Bischöfe und Theologen auf den Trienter Konzilssitzungen. Neben einer raschen Umsetzung der tridentinischen Beschlüsse in der spanischen Kirche sind als wirksame Faktoren zudem noch die Förderung der observanten Ordenszweige gegenüber den Konventualen durch —•Philipp II. und das Wirken von -»Ignatius von Loyola, Johannes von Gott (1495-1550) und Joseph von Calasanza (1556/57-1648) für eine Erneuerung des Ordenslebens mit der Gründung der Ordensgemeinschaften der -»Jesuiten, der Barmherzigen Brüder und der Piaristen zu nennen. Erwähnt werden müssen auch Luís de Granada (1504-1588), Luis de la Puente (1554-1624), T h o m a s von Villanueva (ca. 1487-1555) und Luis de León (1527-1591). Auch von der kirchlichen N o r m abweichende Strömungen begegnen im 16. Jh., vor allem in Valladolid und Sevilla (1557-1558). Doch die Wirksamkeit der Theologie der vornehmlich salmantizensischen Dominikaner, Augustiner und Jesuiten und die Tätigkeit der Inquisition als zugleich geistlicher wie staatlicher Institution unterbanden protestantische Regungen schon an der Wurzel. Der Kreis der spanischen Protestanten war nicht nur begrenzt, sondern auch in sich wenig einheitlich. Einen Sonderfall bildete M. -»Servet, der mit seinen antitrinitarischen Vorstellungen isoliert dastand. Die übrigen vertraten Auffassungen, die denen —»Luthers verwandt waren; doch es fällt schwer, einen von ihnen als lutherisch im engeren Sinn zu bezeichnen. Ihre Aussagen über den Vorrang des Glaubens vor den Werken, ihr Evangelismus, ihre Kritik an den Sakramenten und an der Kirche als Heilsanstalt finden ein deutliches Vorbild bei Erasmus. Es mag zwar lutherische Einflüsse gegeben haben, insgesamt aber handelt es sich wohl eher um eine Parallelbewegung zur lutherischen Reformation als um eine unmittelbare Ableitung aus ihr. In der Geschichtsschreibung ist erhebliches Gewicht auf das gegenreformatorische Bemühen des spanischen Katholizismus gelegt worden. Man darf jedoch nicht die in der spanischen Kirche wirksamen umfassenden Bemühungen um eine geistliche und kirchliche Reform übersehen (-»Katholische Reform und Gegenreformation). Der sog. Gnadenstreit der Wende vom 16. zum 17. Jh., der die europäische Geisteswelt nachhaltig beschäftigte, kreiste um zwei Pole, die Vorstellungen des Dominikaners Domingo Bañez (1528-1604) und die des Jesuiten L. de -»Molina, die beide Spanier waren. Die zeitgenössische Hochblüte der -»Mystik fand ihre überragenden Vertreter in -»Teresa von Avila und -»Johannes vom Kreuz, doch gehören in diese hohe Zeit der Mystik auch Hernando de Talavera, Francisco de Osuna (ca. 1492-1540/41), Johannes von Avila (1499-1569), Luis de León, Luis de la Puente, Arias Montano (1527-1598), Maria de Agreda (1602-1665) u.a. Spanischen Ursprungs waren auch die weniger orthodoxen Zeitströmungen der Alumbrados und des -»Quietismus. Der bekannteste Vertreter dieser Frömmigkeitshaltung ist M . de -»Molinos, dessen Verurteilung anhaltendes historiographisches Interesse findet (vgl. Reusch II, 610-628; Pacho; Tellechea Idigoras, Molinosiana; Huerga; Peñalver). 4.3. Die Missionierung Amerikas. Die Missionsarbeit der spanischen Kirche in Amerika ist eines der eindrucksvollsten Kapitel der seinerzeitigen Kirchengeschichte (s. T R E 23,41,45ff.). Infolge der Theorie des königlichen Vikariates lagen alle Zuständigkeiten für die Mission in den neu entdeckten Ländern in der Hand des Königs. Er entschied über die Zahl der Bistümer, wählte die Bischöfe aus, bestimmte, welche Orden in Amerika tätig werden sollten, und entschied über die Errichtung von Seminaren und die Gründung von Universitäten (vgl. de Egaña; Garcia Gallo). Auch wirtschaftlich war die Kirche in den amerikanischen Ländern vom königlichen Finanzwesen abhängig. Die Nachteile dieses Systems lagen auf der Hand: Die Religion erschien der eingesessenen
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Bevölkerung allzu sehr mit den Spaniern, der Macht und der Conquista verbunden. Doch die Vorteile überwogen: Dank der staatlichen Infrastruktur und Unterstützung leistete die Mission in einem riesigen Gebiet mit wenigen Mitarbeitern eine erstaunliche Arbeit. Es begegnen dabei alle Grausamkeiten und der ganze Egoismus eines dynamisch ausgreifenden Kolonialunternehmens, zugleich aber auch die Einsatz- und Aufopferungsbereitschaft und die schöpferische Tatkraft von vielen Missionaren, die nicht nur den christlichen Glauben und christliche Lebensregeln verkündeten, sondern zugleich auch Kulturträger und Mittler sozialer Gestaltung waren. Die in jeder Missionsbasis sich findenden Schulen und Hospitäler sind ein Abbild dieser Wirklichkeit. Die für die neugewonnenen Gebiete erlassenen Gesetze waren mustergültig, wurden aber sicher nicht in vollem Umfang durchgeführt. B. de las -»Casas, Antonio de Montesinos (gest. 1545), F. de -»Vitoria und viele andere warfen das Thema einer Ethik der Conquista auf und forderten größere Gerechtigkeit. -»Karl V. berief - und das ist in der Geschichte des -»Kolonialismus singulär - einen Kreis aus weltlichen und kirchlichen Autoritäten nach Valladolid, um über die ethischen Probleme der spanischen Anwesenheit und Wirksamkeit in Amerika zu beraten. Nicht umsonst wurde den Bischöfen und Missionaren der Titel „Verteidiger der Indios" beigelegt (vgl. Borges; Ybot León; Dussel). Die Reducciones in Paraguay (s. TRE 16,664,53 ff.) sind ein einzigartiges geschichtliches Beispiel der Umsetzung der Missionsmethode der tabula rasa und der Einführung eines christlichen sozialistischen Gemeinwesens ohne Eigentum und Erbrecht (Lugon; Haubert). Auch wenn das Hauptarbeitsfeld der spanischen Mission die Evangelisierung Amerikas war, darf doch die Tätigkeit der spanischen Kirche in Asien, hauptsächlich auf den -»Philippinen, nicht übersehen werden. Der bekannteste zeitgenössische Missionar war F. -»Xavier. 4.4. Eine Staatskirche. Die Grenzen der rechtlichen Zuständigkeiten im Verhältnis der Kirche zum Staat waren nicht scharf gezogen. Der spanische König hatte, auch wenn er nicht wie der französische gesalbt wurde, zweifellos einen religiösen Charakter. Er verstand sich als Stellvertreter Gottes, der für sein Volk nicht nur in weltlicher, sondern, soweit nicht Fragen der Lehre berührt waren, auch in religiöser Hinsicht verantwortlich war. Zu Reibungen zwischen Kirche und Staat kam es in drei Bereichen: in Fragen der rechtlichen Zuständigkeiten, im wirtschaftlichen Bereich und auf der Ebene der Politik. Der Staat lebte zum Teil von kirchlichen Zuwendungen, deren Billigung von Rom abhing; andererseits aber war die Kirche wiederum bei der Stellenbesetzung, in Organisationsfragen und hinsichtlich der Gesetzgebung dem Staat untergeordnet. Die Theorie des königlichen Patronats und der Kirche des Patronats ist eine notwendige Voraussetzung für das Verständnis der wechselseitigen Durchdringung beider Institutionen. 4.5. Kulturelle Erscheinungen. Eine so sehr vom Christentum durchdrungene Gesellschaft findet notwendigerweise auch zu entsprechenden kulturellen Ausdrucksformen. -»Calderón de la Barca stellt in seinen Autos sacramentales die politische und kirchliche Wirklichkeit Spaniens aus einer theologischen Sicht dar, die wahrscheinlich die eindringlichste seiner Zeit war. Alonso Berruguete (ca. 1490-1561), Juan de Juni (ca. 15071577), Gregorio Fernández (ca. 1576-1636), Juan Martínez Montañés (1568-1649), El Greco (ca. 1541-1614), Diego Velazquez (1599-1660), José de Ribera (ca. 1590-1662), Francisco de Zurbarán (1598-1664), Bartolomé Murillo (1617-1682), Francisco Salzillo y Alcaraz (1707-1783) und viele andere bildende Künstler haben in Gemälden und Plastiken ihre Sicht der triumphierenden und streitenden Kirche zur Anschauung gebracht (vgl. Brownlee/Gumbrecht; Parker). Es besteht kein Zweifel, daß viele der bedeutendsten Schöpfungen der spanischen Kultur des 16. und 17. und auch des 18. Jh. Ausdrucksfindungen der besonderen Religiosität des spanischen Volkes sind. Die sieht-
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barsten sind die Kirchenbauten und die Schöpfungen der religiösen Kunst; man muß aber auch an die Ordensbrüder, Klosterfrauen und Geistlichen denken, die als Vertreter des spanischen Geisteslebens universalen Rang gewonnen haben, wie Johannes von Avila, Johannes vom Kreuz, Teresa von Avila, Luis de Granada, Luis de León, F. -»Suarez, Juan de Mariana (1536-1634), Lope de Vega (1562-1635), Calderón, Tirso de Molina (1584-1648), Baltasar Gracián (1601-1658), Juana Inés de la Cruz (1651-1695) u.a. 5. Die Bourbonen:
Reformmonarchie
des 18.
Jahrhunderts
Die Bourbonen kamen durch den Spanischen Erbfolgekrieg (1701-1714), in dem Papst Clemens XI. (1700-1721) ungeachtet einer deutlichen Unterstützung des österreichischen Erzherzogs Karl (1685-1740) eine schwankende Haltung einnahm, auf den spanischen Thron. Einige Historiker sehen auch in dieser Auseinandersetzung Momente eines -»Religionskrieges. Auf jeden Fall dienten der Altar, die Kanzel und selbst der Beichtstuhl auf beiden Seiten als Propagandawerkzeuge. 5.1. Der bourbonische Regalismus. Die Haltung des Papstes während des Erbfolgekrieges führte zu längerfristig spannungsgeladenen Beziehungen zwischen Philipp V. (1700-1746) und Rom. Zudem war der keinesfalls mit dem Jansenismus (-»Jansen/ Jansenismus) zusammenzubringende (vgl. Saugnieux; Miguélez) bourbonische Regalismus im Vergleich zur voraufgehenden Zeit schärfer ausgeprägt und fand seinen sinnenfälligsten Ausdruck in der Vertreibung der Jesuiten aus Spanien und den spanischen Kolonien (1767). Ihre Gründe werden anhaltend diskutiert. Die politischen Motive, die mit der zum Madrider Esquilache-Aufstand (1766) führenden Zerrissenheit der politischen Führungsschicht zusammenhängen, dürfen nicht übersehen werden. Selbstverständlich sind aber auch die allgemeinen Gründe in Rechnung zu stellen, die die Vertreibung der Jesuiten in allen katholischen Ländern bestimmten, die Vorstellung, der Staat müsse von einer für die Monarchie gefährlichen, weil Rom sehr nahestehenden Körperschaft gesäubert werden, die von einigen für eine die absolute Macht der Monarchie beschränkende Kraft gehalten wurde. Das destruktive und tendenziöse Dictamen des Wirtschaftstheoretikers und einflußreichen politischen Beraters Karls III. ( 1 7 5 9 1788) Pedro Rodríguez Conde de Campomanes (1723-1802) bildete den Kern der Argumentation, die den Kastilienrat von der Angemessenheit der Maßnahme überzeugen sollte. Durch die Ausweisung der Jesuiten verlor das Land einen Personenkreis, dessen Qualifikation diesen Verlust besonders spürbar werden ließ. Insgesamt verließen etwa 5.700 Ordensleute Spanien und Spanisch Amerika (vgl. Cejudo/Egido). Die Auseinandersetzungen mit dem Königtum berührten keinen geistlichen Bereich. Es standen dabei keine Fragen der Lehre zur Diskussion, sondern ordnungsrechtliche Fragen, Fragen der weltlichen Zuständigkeitsrechte des Königtums, konkret fast immer wirtschaftliche Fragen. Das Problem erwuchs aus der von der regalistischen Auffassung der Bourbonen verfochtenen ausschließlichen Zuständigkeit des Königtums für alle weltlichen Belange der Kirche innerhalb seines Herrschaftsgebietes. Daraus ergab sich ein für den spanischen Regalismus charakteristisches nationalkirchliches Denken, das in schroffem Gegensatz zum römischen Zentralismus stand (vgl. Ricard 190; Domínguez Ortiz, Sociedad). Diesem Regalismus gegenüber widersetzte sich der Bischof von Cartagena, Kardinal Luis Antonio Beiluga (1662-1718), und leugnete auch jede Zuständigkeit der Königsmacht in Sachen Kirchenreform. Doch die Mehrheit der Geistlichen (ca. 150.000) und der Bischöfe (die Leiter von 59 Diözesen) verstand es, eine aufrichtige Bindung an die Kirche und den Papst bei gleichzeitiger sichtlicher Empfänglichkeit für den Gedanken der Autonomie und einem erneuerten bischöflichen Amtsbewußtsein zu wahren, ohne aber episkopalistische Bestrebungen (->Episkopalismus) zu zeigen, wie sie in anderen europäischen Ländern begegneten. In Spanisch Amerika war der eigentliche Papst der König, doch auch in Spanien war es geläufig, unabhängig von Rom zu handeln. Das Konkordat von 1753 erkannte faktisch diese Situation an.
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5.2. Ordensgeistliche und Aufklärer. Statistisch zeigt sich im 18. Jh. ein starker Rückgang der Zahl der Geistlichen, näherhin der Ordensleute. Auch wenn dieser Rückgang erst während der zweiten Jahrhunderthälfte wirksam wurde, gab doch die verbreitete Vorstellung, die übergroße Zahl der Ordensgeistlichen sei einer der Gründe für einen in Spanien um sich greifenden Niedergang, den Ausschlag dafür, daß auf diesem Gebiet von Anfang an Reformpläne auftauchten und sich beständig fortsetzten. Die spanischen Aufklärer wiederum wahrten eine strikte Rechtgläubigkeit innerhalb eines Rahmens, den man als erasmianisch bezeichnen kann. Der Benediktiner Benito Jerónimo Feijóo (1676—1764) zeigt in seinem im allgemeinen kritischen Werk diese gemäßigte Haltung. Neben ihm sind Andrés Marcos Burriel (1719-1762), der Verfasser der monumentalen España Sagrada, Enrique Flórez (1702-1773), Gregorio Mayans y Sisear (1699-1781), Gaspar Melchor de Jovellanos (1744-1811), Félix Amat ( 1 7 5 0 1824), Antonio Tavira y Almazán (1737—1807) oder Leandro Fernández de Moratín (1760-1828) zu nennen. Sie alle waren imstande, für die modernen Ideen einzutreten, ohne sich gänzlich von der Tradition abzuwenden. Sie waren Nonkonformisten und bemüht, die Kultur des —»-Barock zu durchbrechen (vgl. Sarrailh). Karl III. und seine Minister Conde de Floridabianca (1728-1808), Campomanes, Jovellanos oder Conde de Aranda (1719-1798) erhoben den Anspruch, das Land in eben diesem Sinn zu reformieren (vgl. Callahan; Ferrer Benimeli) und die päpstliche Macht in die ihr eigenen Grenzen zu verweisen. Das 18. Jh. erlebte die Bildung der Geheimgesellschaft der - » F r e i m a u r e r . Ihre päpstliche Verurteilung 1738 durch Clemens X I I . und 1751 durch -»Benedikt XIV. veranlaßte auch ihr Verbot in Spanien und seinen überseeischen Besitzungen. Erhebliche Bedeutung hatte in diesem Z u s a m menhang die Tätigkeit der Inquisition. Sie sollte nicht nur ein mögliches Fußfassen des Freimaurertums verhindern, sondern auch Ermittlungen über die Eigenart dieser fremdartigen Gesellschaft anstellen. Sie hatte damit Erfolg; denn bis 1789 kann nur von einem sporadischen, wenig bedeutenden Vorkommen einzelner Logen oder v o m gelegentlichen Auftreten einzelner ausländischer Freimaurer die Rede sein, die der Aufmerksamkeit der Inquisition nicht entgingen.
5.3. Volksfrömmigkeit und Kräfte der Erneuerung. Die volksmissionarischen Bemühungen, die eine weite volkstümliche Resonanz, aber im allgemeinen nur eine vorübergehende Wirkung hatten, und die Predigten, die eine beachtliche Erneuerung erreichten und außerordentliche gesellschaftliche und selbst politische Bedeutung gewannen, waren ohne besonders großen Erfolg um eine religiöse Erneuerung der breiten Bevölkerung bemüht, die allzu sehr äußerlichen Bräuchen und abergläubischen Vorstellungen nachging (vgl. Herrero Salgado; Olmedo; Carnero; García de la Concha). Die bekanntesten Prediger waren zu Beginn des Jahrhunderts Tirso Gonzalez (1624-1705) und an seinem Ende Bruder Diego von Cádiz (1743-1801). Neben dieser volksmissionarischen Bewegung erwies sich ein stärker verinnerlichtes, auf persönliche Frömmigkeit gerichtetes geistliches Bemühen als fruchtbar. Es entsprach Bestrebungen nach einer vertieften Frömmigkeit, die während der zweiten Jahrhunderthälfte gesteigerte Bedeutung gewannen. Zahlreiche höhere Geistliche wie der Bischof José Climent von Barcelona (1706-1781) förderten sie. Sie wandten sich gegen unnützen Prunk und eine übersteigerte Veräußerlichung der Frömmigkeit und waren um eine Reform zahlreicher Ausdrucksformen der Volksfrömmigkeit bemüht. Auch die Ordensgeistlichkeit wurde von diesem die spanische Gesellschaft beherrschenden Reformstreben erreicht, obgleich sie mit großer Beharrlichkeit ihren Regeln, Konstitutionen und vor allem Bräuchen verhaftet blieb. Die Regierung suchte mit ihrer Gesetzgebung das Bestreben nach einer Reform der religiösen Sitten und Überlieferungen zu fördern, doch zogen ein bedachtsames Vorgehen und die Inquisition dabei enge Grenzen. Die Bischöfe des Jahrhunderts waren würdige Vertreter ihres Amtes und für seine Wahrnehmung geistig gerüstet. Aus dem Bestreben, angesichts zweier überlegener Mächte - der römischen Kurie und des regalistischen Zentralismus - ihre eigene Autorität wiederzugewinnen, suchten sie eine durchgängige Reform der Geistlichkeit durchzufüh-
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ren; unter den dieses Bemühen hemmenden Kräften hob sich der exemte Status der Ordensgeistlichen heraus (Martínez Albiach; Mestre, Despotismo; Infantes; Saugnieux; Corts). Oft wurden Bischöfe als Jansenisten verdächtigt, die lediglich eine aufgeklärtere, weniger von abergläubischen Bräuchen durchsetzte Frömmigkeit und eine eigenständigere bischöfliche Autorität forderten. 6. Neuzeit
und Gegenwart
(19. und 20.
Jahrhundert)
6.1. Die liberale Epoche und ihre Bestreiter. Der Krieg gegen Napoleon galt als Religionskrieg gegen Atheisten und Verfolger der Kirche. Dazu fügt sich die Feststellung Arthur Wellesley Wellingtons (1769-1852), in Spanien übe die Geistlichkeit die eigentliche Macht aus. Die Verfassung von Cádiz von 1812 brachte es fertig, eine traditionelle Religionspolitik mit einem entschieden liberalen politischen Konzept zu verbinden. In ihr begegnen schroffe konfessionalistische Aussagen, wie sie sich in keinem anderen Verfassungsdokument finden. Sie beginnt mit der Formel: „Im Namen Gottes, des Allmächtigen, des Vaters, Sohnes und Heiligen Geistes, des Urhebers und höchsten Gesetzgebers der Gesellschaft", und gelobt für die Gegenwart und Zukunft: „Die Religion der spanischen Nation ist und wird beständig sein die katholische, apostolische und römische, allein wahre" (vgl. Clavero 35ff.). Zugleich aber verficht und verkündet sie eine bemerkenswerte Auflistung von Menschenrechten. Diese Synthese von religiösem Traditionalismus und politischem Liberalismus konnte sich nicht behaupten, da nach dem Ende des Exils Ferdinands VII. (1808-1833; im Exil 1808-1813) eine umfassende politische Wende einsetzte. Dabei wurde eine ausgeprägt reaktionäre politische Ausrichtung von einem mehr und mehr zur Vorherrschaft kommenden Teil der Kirche gestützt, während sich die Liberalen im Bewußtsein, daß mit einer so mächtigen und zunehmend auf die Reaktion einschwenkenden Kirche kein tiefgreifender gesellschaftlicher Wandel möglich war, gegen sie stellten und darauf ausgingen, ihre wirtschaftliche und gesellschaftliche Macht zu beschränken. Die unterschiedlichen Verfassungen des 19. Jh. spiegeln dieses doppelte Spanien, ein klerikales und integralistisches und ein antiklerikales und progressistisches, von denen das eine für den Thronprätendenten Don Carlos (1818-1861), das andere für Isabella II. (reg. 1833-1868) eintrat. Die Karlistenkriege (1834-1839; 1872-1876), regelrechte Bürgerkriege, die das 19. Jh. begleiteten, wurden in erheblichem Umfang durch das Eintreten der Geistlichkeit für die Verfechter der als Antiguo Régimen verstandenen Tradition ermöglicht. Die Enteignung des Kirchengutes (-»Säkularisation) durch den Minister Juan Alvarez Mendizábal (1790-1853) im Jahr 1836 verstaatlichte den Besitz der Orden und einen beträchtlichen Teil des Besitzes der Bistümer. Die Ordensgemeinschaften verschwanden, die Ordensgeistlichen wurden säkularisiert, eine große Zahl von Kunst- und Bauwerken und Klosterbibliotheken ging verloren, und die Kirche war ohne eigene wirtschaftliche Mittel auf die Zuwendungen der jeweiligen Regierung verwiesen. Nach dem Verschwinden der Inquisition, dem Verlust ihres wirtschaftlichen Besitzes und der Vertreibung der Theologie aus der Universität erweckte die spanische Kirche des 19. Jh. mit der in ihr herrschenden integralistischen Einstellung, die dem liberalen Katholizismus keine Bewegungsfreiheit einräumte und auch ihr selbst keine wegweisende Wirksamkeit im kulturellen Bereich ermöglichte, den Eindruck fehlender Lebendigkeit und mangelnder schöpferischer Kraft. Das 1851 mit der konservativen Regierung unter Bravo Murillo (1803-1873) geschlossene Konkordat, das die Kirche für ihren durch die Verstaatlichung verlorenen Besitz durch eine jährlich im Staatshaushalt ausgewiesene wirtschaftliche Zuwendung entschädigte, brachte keine wirkliche Lösung ihrer Probleme. Seine Folge war eine allzu große Abhängigkeit von der Politik. Tatsächlich hatte die das Jahrhundert hindurch anhaltende tiefe Spaltung der Katholiken, die sie an eine m geschlossenen Auftreten in der Gesellschaft hinderte, im wesentlichen politische Beweggründe. Ungeachtet der eindringlichen Mahnungen Papst -»Leos XIII. am Ende dOpus Dei (1928) und der Institución Teresiana (1917) vermerkt werden, dreier spanischer Laiengemeinschaften, die sich zu einer entschiedenen aktiven Wirksamkeit im akademischen und politischen Bereich gerufen sahen. Sie haben im öffentlichen Leben einen beträchtlichen Einfluß ausgeübt, doch ihre Fähigkeit zu einer Modernisierung des spanischen Katholizismus ist bescheiden geblieben. 6.3. Bürgerkrieg und Franco-Regime. Die zweite Republik (1931-1939) zeigte eine zutiefst gespaltene Gesellschaft und eine Kirche, die nicht in der Lage war, Brücken zu schlagen und eine wirksame Versöhnungsbotschaft anzubieten. Das Ergebnis war eine antireligiöse Gesetzgebung und eine an den Rand gedrängte Kirche. Ein Brückenschlag für einen Dialog war sicher keine leichte Aufgabe, er wurde aber im kirchlichen Raum auch nicht ernsthaft versucht. Der blutige Bürgerkrieg (1936-1939) war die zwar nicht notwendige, aber doch auch nicht unlogische Folge dieses nicht nur sozialen, sondern auch politischen und vor allem kulturellen Konfliktes. Einige Zehntausend Priester, Ordensmänner und -frauen wurden allein ihres geistlichen Standes wegen ermordet, nach -•Pius XI. „Märtyrer im strengen Sinn des Wortes". Es war die wohl blutigste und massivste Verfolgung in der Geschichte der spanischen Kirche. Gewiß ging es auch um eine Sozialrevolution, doch darf das Moment der religiösen Verfolgung nicht übersehen werden. Das gemeinsame Schreiben der spanischen Bischöfe von 1937 bezeichnete den Bürgerkrieg als einen Religionskrieg zur Verteidigung von Kirche und Religion angesichts eines brutalen und undifferenzierten Angriffs; doch haben J . -»Maritain, Georges Bernanos (1888-1948) und andere europäische Intellektuelle auch anders geurteilt, und zwar mit Gründen, die Beachtung verdienen (vgl. Laboa, Iglesia; Marquina Barrio; Arbeloa; Pala; Tusell). Auf der anderen Seite verrückte die Beteiligung der Basken auf republikanischer Seite die Urteilsmaßstäbe. Ein traditionell katholisches Volk, die den katholischen Glauben am meisten praktizierende Volksgruppe der Iberischen Halbinsel, mit einem Musterseminar und einer nach den zeitgenössischen Maßstäben sehr guten religiösen Bildung, stellte sich nicht auf die Seite derer, die zumindest dem Anschein nach zur Verteidigung der Kirche unter dem Leitbild einer christlichen Gesellschaft antraten. Die Vorstellung eines Kreuzzuges, eines Religionskrieges blieb von Zweifeln jedenfalls nicht unangefochten. 1971 erhoben sich Stimmen, die eine Vergebungsbitte der Kirche für notwendig hielten, weil sie keine verbindende Stätte des Austauschs zwischen den Konfliktparteien gewesen sei; und tatsächlich ist es in den Jahren vor wie nach diesem Zeitpunkt der
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spanischen Kirche gelungen, erfolgreich auf eine Versöhnung innerhalb der spanischen Gesellschaft hinzuwirken. Infolge des Sieges von General Francisco Franco (1892-1975) bildete sich ein autoritäres, in seiner Gesetzgebung und politischen Praxis konfessionell katholisches Herrschaftssystem. Darin kam ein anachronistischer, aber wirksamer politischer -»Gallikanismus zum Tragen, der eine feste Grundlage im Konkordat von 1953 fand, das den Katholizismus zur Staatsreligion erklärte und von Seiten Roms als ein vollkommenes Konkordat angesehen wurde, durch das die Kirche im Gegenzug zum Fortbestand des staatlichen Präsentationsrechts für die Anwärter auf das Bischofsamt alle gewünschten Privilegien erhielt. Alle staatlichen Einrichtungen waren vom Katholizismus durchdrungen, und die Kirche übte eine wirksame Zensur über alle Äußerungen des kulturellen und gesellschaftlichen Lebens aus (vgl. Hermet; Botti, Nazionalcattolicesimo; Iribarren). Diese Situation dauerte bis zum Zweiten Vatikanischen Konzil (—»Vatikanum II), das ein regelrechtes politisches und kirchliches Erdbeben bedeutete: Das ideologische Gerüst des Staates, der politische Katholizismus, hatte keinen Rückhalt mehr. Der spanische Katholizismus erfuhr einen spektakulären Wandel und ging vom Integralismus des 19. Jh. über zur nachkonziliaren Erneuerung, ohne den liberalen Katholizismus oder eine christlich-demokratische Bewegung der Art durchlaufen zu haben, wie sie in anderen europäischen Ländern geschichtlich wirksam geworden ist. Es vollzog sich ein Übergang von einer unbeweglich der Vergangenheit verhafteten zu einer dynamischen und für eine tiefgreifende Erneuerung offenen Kirche. Der Preis für diese kirchliche Revolution, einen regelrechten religiösen Umbruch, war ein beträchtlicher Schock sowohl für die Geistlichkeit, die freilich nicht einhellig reagierte, als auch für das oft verwirrte Kirchenvolk (vgl. Laboa, Postconcilio; Iglesia y sociedad en España). Für manche war dieser Umbruch eine Brücke zwischen dem voraufgegangenen wirtschaftlichen und dem folgenden politischen Umschwung. Die Wiedereinsetzung der Monarchie und der Aufbau einer demokratischen Ordnung nach dem Tode Francos fällt mit einem spektakulären Wandel der spanischen Gesellschaft und Kirche zusammen. Es ist wie anderwärts im westlichen Europa eine pluralistische und laikale Gesellschaft, die unter Schwierigkeiten eine neue Beziehung zu einer Kirche sucht, die sehr viel schwächer und weniger straff organisiert, aber in den unterschiedlichen gesellschaftlichen Bereichen immer noch sehr präsent ist. Ein gewaltsamer Antiklerikalismus wie früher ist jetzt nicht mehr denkbar, doch es ist deutlich, daß die Gesellschaft sich in der gleichen Weise laisiert hat, in der die Kirche aufgehört hat, die überkommene Bezugs- und Orientierungsgröße zu sein. Nichtsdestoweniger ist es trotz der Schwierigkeiten eine Kirche, die genügend geistliche Berufungen, eine dynamische Laienschaft und zahlreiche Bildungs- und Sozialeinrichtungen aufzuweisen hat. Die Organisation der katholischen Kirche in Spanien umfaßt zwölf Kirchenprovinzen, das exemte Erzbistum Barcelona und das Militärerzbistum sowie 67 Bistümer bei einer Gesamtbevölkerung von 40 Millionen, von denen etwa 90% sich als katholisch bezeichnen. Eine kleine Minderheit - knapp 108.000 - bilden die Mitglieder einer Reihe protestantischer Kirchen und Glaubensgemeinschaften (Reformierte, Baptisten, Adventisten, Pfingstler) einschließlich einer zur anglikanischen Gemeinschaft gehörenden Kirche. Sie sind seit der zweiten Hälfte des 19. Jh. herangewachsen und haben sich in jüngster Zeit in der Federación de Entidades Religiosas Evangélicas de España zur Wahrung gemeinsamer Anliegen zusammengeschlossen. Nicht dazu zählen die ebenfalls präsenten Zeugen Jehovas und Mormonen. Nichtchristliche religiöse Minderheiten stellen die Juden (etwa 12.000), die eine Kontinuität zum altspanischen Judentum beanspruchen, und die Muslime (etwa 250.000), die sich hauptsächlich aus Einwanderern rekrutieren, dar. Die Verfassung von 1978 kennt keinen Konfessionsstaat, wie er für die Mehrzahl der früheren Verfassungen geläufig war, spricht aber vom Nutzen von „Beziehungen der Zusammenarbeit mit der katholischen Kirche und den übrigen Konfessionen" (Art. 24,2).
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2 . Werk
Friedrich 3. Wirkung
(1591-1635) ( Q u e l l e n / B i b l i o g r a p h i e n / L i t e r a t u r S. 6 3 9 )
1. Leben Am 25. Februar 1591 wurde Friedrich Spee von Langenfeld als Sohn eines kurkölnischen Ministerialen in Kaiserswerth bei Düsseldorf geboren. Nachdem er in Köln seine gymnasiale Bildung erhalten und das philosophische Grundstudium durchlaufen hatte, wurde er 1610 Mitglied des Jesuitenordens (-»Jesuiten), legte 1612 die ersten Gelübde ab und absolvierte in den Folgejahren das Ordensstudium der Philosophie in Würzburg, um ab 1615 als Lehrer an den Jesuitengymnasien in Speyer, Worms und Mainz zu wirken. Spees inbrünstiger Wunsch (Brief an den Ordensgeneral vom November 1617: Duhr, Daten 348f.) nach einer Verwendung in der Indienmission (—»Mission VI) wurde nicht erfüllt; statt dessen sollte er als theologischer Lehrer im Dienst der Gegenreformation in Deutschland wirken (-»Katholische Reform und Gegenreformation). Der Vorbereitung darauf diente das Theologiestudium in Mainz (1619-1623), währenddessen er 1622 zum Priester geweiht wurde. Als Philosophieprofessor in Paderborn (1623—1626) und neben verschiedenen seelsorgerischen Aufgaben in den Jahren darauf betrieb Spee eine intensive Konversionspropaganda unter dem evangelischen Adel (Briefe: Diel). Dabei verband er menschliches Einfühlungsvermögen mit Sicherheit in
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der kontroverstheologischen Argumentation und einem auf die Weckung von Gerichtsund Höllenangst zielenden rhetorischen Geschick, offenbar nicht ohne Erfolg. Wohl deshalb wurde er dazu ausersehen, in den Jahren 1628/29 die Rekatholisierung des zum weltlichen Herrschaftsgebiet des Bistums Hildesheim gehörigen Amtes Peine zu leiten, wobei er sich der üblichen Zwangsmaßnahmen bediente und die Anwendung des salubris terror (der heilsamen Einschüchterung) befürwortete. Als Exponent einer aggressiven Gegenreformation, die durch das siegreiche Vordringen der katholischen Mächte im ersten Drittel des -»Dreißigjährigen Krieges zusätzlich angespornt wurde, wurde er im April 1629 Ziel eines Attentats und kam nur knapp mit dem Leben davon. Die im gleichen Jahr mit der Bestimmung zum Professor für -»Moraltheologie in Paderborn fortgeführte Karriere Spees als Ordenslehrer wurde 1630 infolge von Konflikten mit seinen Ordensvorgesetzten unterbrochen und stagnierte nach der nicht genehmigten Veröffentlichung der Cautio Criminalis (1631/32) weiter. Obwohl der Ordensgeneral mit Nachdruck Spees Entlassung aus dem Orden forderte, konnte dieser dank der Protektion durch seinen neuen Provinzial seit 1632 in Trier wieder als Professor der Moraltheologie und schließlich der biblischen Theologie wirken. Infolge einer Infektion, die er sich bei der seelsorgerischen Betreuung der bei den Kämpfen um Trier im Frühjahr 1635 verwundeten Soldaten zugezogen hatte, starb Friedrich Spee am 7. August 1635, ohne jemals zu den abschließenden Gelübden des Jesuitenordens zugelassen worden zu sein. Spees Lebensgang ist bestimmt vom Bildungsauftrag seines Ordens im Kontext einer gegenreformatorisch intensivierten, selbstbewußten römisch-katholischen Konfessionsidentität. Er weist aber auch Brüche auf, die aus Spees eigengeprägter Verbindung von Rationalität und Affektivität resultieren, wie sie sich in seinem literarischen Werk zeigt. 2. Werk 2.1. Theologe und religiöser Lehrer. Als professioneller Theologe hat Spee nichts Greifbares hinterlassen. Grundgedanken eines Kölner Vorlesungsmanuskriptes zur Moraltheologie (Theologia moralis explicata, hg. v. H. Weber) lassen sich möglicherweise auf ihn zurückführen, bewegen sich aber ganz auf den im Jesuitenorden des 17. Jh. konventionellen Bahnen probabilistischer Kasuistik (-»Probabilismus). Um so deutlicher zeigt sich Spees unverwechselbares theologisches und religiöses Profil in der Methodik der Seelenführung, die er in seinem erst 1649 postum gedruckten Güldenen Tugend-Buch entwickelt. Zunächst an eine Kölner Devotessengemeinschaft gerichtet (Arens, Frauengemeinschaft), hat das Werk einen weiteren Adressatenkreis im Blick. Spee stellt in der Tradition der ignatianischen Exerzitien (-»Ignatius von Loyola) Übungen zusammen, die auf die Habitualisierung der „göttlichen Tugenden" Glaube, Hoffnung und Liebe abzielen. Diesen religiösen Leitbegriffen werden in deutlich konfessioneller Akzentuierung als Katechismusstücke das Glaubensbekenntnis in Gestalt der -»Professio fidei Tridentina, das Vaterunser und die Meßfeier zugeordnet, so daß sich das Güldene Tugend-Buch als „Ergänzungs- und Begleitbuch für den jährlichen Katechismusunterricht" für Fortgeschrittene (Eicheldinger 270) eignete. Die literarisch gestalteten Übungen verwickeln die Benutzer in einen Dialog, der eine sowohl rationale wie affektive Aneignung des Lehrgehalts und die Hinführung zu willentlichen religiösen Tugendakten bewirken soll. Durch Aufspaltung der Frömmigkeit in kleine Einzelakte wird eine quantitative und qualitative Steigerung intendiert, z. B. indem natürliche und mechanische Vorgänge in emblematischer Weise (-»Emblem/Emblematik) geistlich gedeutet werden und etwa dem Pulsschlag oder einem Uhrwerk der Gedanke des immerwährenden Gebetes unterlegt wird. So führen Spees geistliche Übungen in der Weise der bildhaften Imagination von Lebenssituationen und religiösen Inhalten zu einer intensivierten Erlebnisreligiosität, die als „entscheidendes Kriterium des Tugendaktes" (van Oorschot, Friedrich Spee 49) im Blick ist. Indem am Ende des Güldenen TugendBuches das religiös bewußt erlebte Mitfeiern der Messe als denkbar höchste Betätigung der Gottesliebe und damit als „Konzentrat des Exerzitienprozesses" (Eicheldinger 342)
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erscheint, verknüpfen Spees Übungen eindrücklich die subjektive Gottesunmittelbarkeit mit der konfessionellen Kirchenbindung. Möglicherweise geht auch eine unter dem Titel Industria spiritualis 1634 erschienene, von jesuitischer Exerzitienfrömmigkeit geprägte Beichtunterweisung, die bis ins 18. Jh. häufig nachgedruckt wurde, auf Spee zurück (van Oorschot, Beichtspiegel). 2.2. Dichter. Seit den Jahren 1621/22 erschien anonym eine große Anzahl von Kirchenliedern (-»Kirchenlied I), die wegen ihrer poetischen Qualitäten mit großer Sicherheit Friedrich Spee zuzuschreiben sind (frühe Lieder hg. v. Härting; Edition aller Kirchenlieder Spees in den Sämtlichen Schriften in Vorbereitung; vgl. van Oorschot, Lieder), darunter später auch im Protestantismus rezipierte Gesänge wie „O Heiland, reiß die Himmel auf" und „Zu Bethlehem geboren". Diese Lieder sind in Zusammenhang mit der jesuitischen Erneuerung der Kinderkatechese entstanden, gehen in ihrer poetischen Affektsteigerung aber über eine konventionelle Didaktisierung des Katechismusstoffes hinaus (van Oorschot, Katechismuslied). Mehr als qualitätvolle kirchliche Gebrauchsdichtung zu sein, beanspruchen die 51 Kunstlieder (ein 52. Lied ist erst in der Druckfassung hinzugekommen) der ebenfalls 1649 postum publizierten Trutz-Nachtigall. Spees poetische Ambition, die er unabhängig von der Programmatik eines Martin Opitz (1597-1639) entwickelte, richtet sich auf eine künstlerisch hochwertige Dichtung in deutscher Sprache, die zugleich der gegenreformatorischen Religiosität angemessenen Ausdruck verleihen soll. Im Anschluß an die religiösen Intentionen des Güldenen Tugend-Buches dient in den Gedichten der TrutzNachtigall sowohl die einfühlsame Betrachtung der Naturphänomene wie die Aufnahme von Elementen barocker Hirtendichtung der Erzeugung und Intensivierung religiösen Erlebens besonders im Hinblick auf die Begegnung mit dem leidenden Christus. Eindrückliche Beispiele einer affektgeladenen Steigerung im N a c h e r l e b e n biblischer Erzählungen bieten etwa „ D i e gespons J E S V sucht, vnd findet J h n auff dem C r e u t z w e e g " (Spee, Samt!. Sehr. I, 5 0 - 5 5 ) , w o die schließliche Vereinigung mit dem leidenden Herrn als Erfüllung einer rastlosen Suche dargeboten wird, oder das lange G e d i c h t „Spiegel der L i e b e " (ebd. 5 5 - 7 0 ) , in dem M a r i a M a g d a l e n a s Entsetzen angesichts des leeren G r a b e s J e s u bis zum Wahnsinn gesteigert erscheint, um dann die Wahrheit der Auferstehung um so intensiver nacherleben zu lassen. In dem Gedicht „Ein trawriges Gespräch so Christus an dem Creutz f ü h r e t " (ebd. 2 0 5 - 2 1 6 ) ü b e r n i m m t Spee das traditionelle M o t i v der Suche Christi nach dem Schuldigen an seiner Kreuzigung, führt es aber durch die Gestaltung als R i n g d i c h t u n g (Lüthi) zu dem gewagten G e d a n k e n einer innertrinitarischen Schuldzuweisung des Vaters an den S o h n : „ D u die M e n s c h e n hast geliebet / O h n e massen vil, zu vil. / ... / Deinen M e n s c h e n , deiner Liebe, D i r es selber schreibe zu; / Keine schulden M i r nitt gibe, / S o man dirs bezahlet n u " (Spee, Sämtl. Sehr. I, 215). A m E n d e ergibt sich als Vermächtnis des dergestalt imaginierten sterbenden Jesus eine massive Verstärkung des poetischen Appells zur Christusliebe: „ L i e b e t , Liebet; E u c h e r m a h n e n / M e i n e Wunden, meine Pein. / Liebet, Liebet, J c h zur Letzen / Euch zuletzt ersuchen thu, / Lieb mitt Liebe thut ersetzen / M i r die Lefftzen fallen z u " (ebd. 216).
Ähnlich wie die Übungstexte des Güldenen Tugend-Buches (in dem 24 Gedichte der Trutz-Nachtigall enthalten sind) sind Spees Kunstlieder nicht Abglanz persönlicher mystischer Erfahrung, sondern poetische Gestaltung des Willens zu erlebnishafter Gottesbzw. Christusbegegnung, die im Rahmen des sprachlich-literarisch Wahrnehmbaren und Ausdrückbaren bleibt. Darin ist das kirchlich-sakramentale religiöse Erleben ausdrücklich eingeschlossen, wenn das - ganz analog zur Betrachtung der Messe am Ende des Güldenen Tugend-Buches — die ursprüngliche Sammlung abschließende Gedicht „Am Heyligen Fronleichnams Fest" (Spee, Sämtl. Sehr. I, 2 6 1 - 2 6 6 ) das Transsubstantiationsdogma und die gegenreformatorisch neu belebten Formen eucharistischer Frömmigkeit zum Gegenstand höchsten religiösen Affekts erhebt. 2.3. Kritiker der Hexenprozesse. Anonym und ohne Imprimatur erschien 1631 (zweite, teilweise verschärfte Auflage 1632) Spees wohl berühmtestes Werk, die Cautio Criminalis ( = „Rechtliches Bedenken" oder „Rechtsgarantie"), mit der er heftige Kritik
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an den in der ersten Hälfte des 17. Jh. grassierenden Hexenverfolgungen (-+ Hexen) übte und auf dem Wege der Schärfung der Gewissen der Obrigkeiten eine Reform und letztlich eine Einstellung der Prozesse erreichen wollte. Spee setzt sich nicht mit der herrschenden theologischen Hexentheorie auseinander, sondern argumentiert ausdrücklich auf dem Boden der Annahme der Existenz von Zauberern und Hexen und der Möglichkeit eines leiblichen Einwirkens des Teufels (Spee, Sämtl. Sehr. III, 19). Seine Erfahrungen als Seelsorger von Verurteilten begründen aber Skepsis angesichts der Menge der angeblich Schuldigen (ebd. 39); grundsätzliche Zweifel am Hexenwesen, wie sie vorsichtig am Ende der Schrift anklingen (ebd. 175: nunquam mihi hactenus in mentem venit dubitare quin in mundo Sagae multae essent: nunc cum publica ludicia penitius examino, eo sensim me duci video, ut dubitem, an sint rix ullae [bislang ist mir nie in den Sinn gekommen, daran zu zweifeln, daß es auf der Welt viele Hexen gibt; nachdem ich aber das Prozeßwesen eingehender untersucht habe, sehe ich mich allmählich dazu gebracht zu zweifeln, ob es überhaupt welche gibt]), wagt Spee noch nicht konsequent zu denken. Er beschränkt sich daher programmatisch auf den Aufweis der Unrechtlichkeit der Praxis der Hexenprozesse und geißelt die Anwendung der Folter in Verbindung mit erpreßten Denunziationen, die automatisch zu einer Verurteilung führen. Spee beruft sich auf das Naturrecht (ius naturale) und die christliche Liebe (charitas Christiana-, ebd. 57) bzw. auf die natürliche Vernunft (ratio naturalis) in Verbindung mit dem Gesetz Christi (legifer noster Christus) und der dieses auslegenden Kirche (illiusque verborum in Ecclesia Catholica legitimi interpretes; alle Stichworte ebd. 101), wenn er das Prinzip der Unschuldsvermutung und das Recht auf ordentliche Verteidigung der gängigen Verzerrung des Rechts entgegenstellt. Von einer Reform auf dieser Grundlage erwartet er einen beträchtlichen Rückgang der Hexenprozesse und damit zugleich eine Befreiung des religiösen Bewußtseins von dämonologischen Obsessionen, mithin eine wirksame Schwächung der Macht des Teufels in der Welt. Spees Kritik an den Hexenprozessen gründet in der gesteigerten affektiven Zuwendung zu den leidenden Mitmenschen. In diesem Kontext erscheint die Imagination der Qualen der Gefolterten und Verurteilten auch im Güldenen Tugend-Buch als Anstoß zu Hilfe und Beistand (Spee, Sämtl. Sehr. II, 354f.), so daß im Gesamtwerk Spees die Cautio Criminalis verstanden werden kann als „exercitium der Nächstenliebe, das den Affekt des Erbarmens und des tätigen Einsatzes für die geschundene Kreatur ... hervorrufen und ,antrainieren' möchte" (Kemper, Dämonie 63f.). Eine häufig mit der Cautio Criminalis zusammen gedruckte und Spee immer wieder zugeschriebene Anleitung für den seelsorgerischen Trost an verurteilten „Hexen" mit dem Titel Theologischer Prozeß (Text: Rosenfeld, II „Theologischer Proceß" 8 5 0 - 8 8 0 ) stammt nicht von Spee, sondern ist protestantischer Provenienz (van Oorschot, Nachwort zur Edition der Cautio Criminalis: Spee, Sämtl. Sehr. III, 641-646). 2.4. Die Einheit des Werkes. Spees Lebenswerk vereint Gegensätze, wie kontemplative Versenkung und scharfe Logik, zarte Poesie und rigide Rekatholisierung, die nach einer verbindenden Struktur fragen lassen. Sucht man die Einheit von Spees Werk nicht nur in der diffusen Vorstellung „der begnadeten Gottesliebe, ja Gottestrunkenheit dieses Mannes" (Rosenfeld, Friedrich Spee 2), wird man am ehesten das Motiv der Einbildungskraft (Kemper, passim) geltend machen können: Sowohl die Poesie der TrutzNachtigall wie die Rationalität der juristisch-ethischen Argumentation der Cautio Criminalis ergeben sich aus der im Güldenen Tugend-Buch eingeübten religiösen Imagination, die sich auf Natur und menschliche Erfahrung bezieht, um zum ganzheitlichen Erleben der Gottheit zu gelangen. Weil die Institution der römisch-katholischen Konfessionskirche den konkreten Raum einer solchen Erlebnisreligiosität darstellt, läßt sich Spee im Kontext der Geschichte des Christentums in der frühen Neuzeit als herausragender Vertreter einer charakteristisch gegenreformatorischen Religiosität verstehen. Seine mit dem Anspruch auf sozialethische Relevanz und kulturelle Zeitgenossenschaft
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verbundene Einübung in die religiöse Erfahrung stellt der Konzentration auf die w o r t hafte Z u s a g e in der protestantischen Frömmigkeit ein profiliertes Konkurrenzmodell entgegen. Spees Werk ist insofern ein besonders eindrückliches Beispiel für das erfolgreiche Bemühen des gegenreformatorischen Katholizismus, gerade auch des Jesuitenordens, um neue Attraktivität und Plausibilität für ein Christentumsverständnis, das zentriert ist um das religiöse Erleben in der Bindung an die Institution der römisch-katholischen Konfessionskirche und an ihren Gottesdienst. 3.
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Eine breitere Wirkung Spees setzte charakteristischerweise erst im Gefolge der Auflösung der konfessionalisierten Kultur ein, so daß es in der Aufklärung und in der R o mantik zu zwei markanten Schüben der Speerezeption k a m . Zunächst machte —»Leibniz den Verfasser des Güldenen Tugend-Buches und der Cautio Criminalis bekannt, besonders durch sein Elogium Patris Friderici Spee S.J. vom Mai 1677 (weitere Belege bei van Oorschot, „Güldenes Tugend-Buch" 1 3 0 - 1 3 9 ) . Er verstand ihn als einen geistesverwandten „Ökumeniker" und als Vorkämpfer aufgeklärter Humanität, nahm hingegen Spees konfessionelle Gebundenheit nicht wahr. Die Cautio Criminalis war vereinzelt schon zur Zeit ihrer Erstveröffentlichung in der Rechtspflege berücksichtigt worden (Lorenz), entfaltete ihre volle Wirkung aber erst infolge der Aufnahme von Spees Gedanken durch Christian -»Thomasius (Wollgast 495f.). Während Leibniz Spees poetische Werke ausdrücklich von seiner Hochschätzung des Autors ausnahm, schätzte die -»Romantik Spee gerade als „Dichter mehr als manche[n] Minnesänger", als den ihn Clemens Brentano (1778-1842) 1805 pries (Schaub, Spee-Rezeption). Die 1802 mit einer Ausgabe von Stücken aus der Trutz-Nachtigall durch Ignaz Heinrich von -»Wessenberg einsetzende romantische Rezeption Spees konzentrierte sich freilich auf dessen der Romantik vermeintlich seelenverwandte „Naturlyrik" und klammerte deren Bezug auf das die Natur transzendierende religiöse Erleben weitgehend aus. Erst im 20. J h . hat sich eine breite und vielseitige wissenschaftliche Forschung zu Spees Leben und Werk etabliert. Die zahlreichen speziellen Beiträge der theologischen und historischen, germanistischen und juristischen Speeforschung werden künftig einzuordnen sein in ein allgemeines Bild der frühen Neuzeit, das Spee erkennbar werden läßt als Repräsentanten der vielschichtigen, konfessionell geprägten christlichen Religionskultur des Barockzeitalters. Quellen Friedrich (v.) Spee, Sämtl. Sehr. Hist.-krit. Ausg., bisher 3 Bde., hg. v. Theo G.M. van Oorschot; I. Trutz-Nachtigall, Bern 1985; II. Güldenes Tugend-Buch, München 1968; III. Cautio Criminalis, mit einem Beitr. [zur Druckgesch.] v. Gunther Franz, Tübingen/Basel 1992. - Ders., Die anon. geistlichen Lieder vor 1623, hg. v. Michael Härting, 1979 (PStQ 63). - Ders., Cautio Criminalis oder Rechtliches Bedenken wegen der Hexenprozesse, übertr. u. eingel. v. Joachim-Friedrich Ritter, Weimar 1939 (Nachdr. München 1982 s 1987). - Theologia moralis explicata. Ein Friedrich Spee zugeschriebenes Werk aus der Zeit des Dreißigjährigen Krieges, hg. v. Helmut Weber, Trier 1996. Bibliographien AHSJ. - George Richard Dimler, Friedrich Spee v. Langenfeld. Eine beschreibende Bibliogr.: Daphnis 13 (1984) 6 3 7 - 7 2 2 ; 15 (1986) 6 4 9 - 7 0 3 . - Franz Rudolf Reichert, Friedrich-Spee-Bibliogr.: Friedrich Spee im Licht der Wiss. (s.u. bei Lit.) 2 4 3 - 2 8 1 . - Ders./Michael Embach, Die SpeeDokumentation in der Bibliothek des Trierer Priesterseminars. Ein Zwischenber. mit Nachtr. zur Friedrich-Spee-Bibliogr. v. 1984: Friedrich Spee. Dichter, Seelsorger, Bekämpfer des Hexenwahns [ 2 1991] (s.u. bei Lit.) 2 7 1 - 2 9 7 . - Michael Embach, Neuersch. Spee-Lit. Eine Auswahlbibliogr. der Erscheinungsjahre 1991-1993: Friedrich Spee zum 400. Geburtstag (s.u. bei Lit.) 3 7 7 - 3 8 5 . Organ der wiss. Speeforschung ist das seit 1994 in Trier erscheinende Spee-Jb. Literatur
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Hellmut Zschoch
Spekulative Theologie 1. Überblick 2. Thematische Schwerpunkte spekulativer 3. Fortwirkungen und Ausblick (Quellen/Literatur S . 6 4 7 )
i.
Theologie
im
19. Jahrhundert
Überblick
Begriffsinhalt und -umfang von „spekulativer Theologie" sind nicht eindeutig bestimmt. Zum einen ist schon der Spekulationsterminus unter neuzeitlichen Bedingungen verschieden besetzt. Mit Sicherheit läßt sich ihm daher zunächst nur entnehmen, daß es sich um eine Gestalt philosophischer —»Theologie handelt, die im Kern eine positive Verhältnisbestimmung von Theologie und Philosophie voraussetzt. Zugleich geht es aber, aller Nähe zu philosophisch von -»Schelling und -»Hegel inspirierten Theoremen zum Trotz, um eine eigenständige Erscheinungsform vornehmlich moderner protestantischer Theologie. Der Spekulationsterminus weist vor allem zwei relevante Lesarten auf: Zum einen wird er in der von —»Kant gegebenen, restriktiven Form verwendet, wonach der „speculative Gebrauch" der reinen Vernunft zu keiner haltbaren Erkenntnis führt, sondern sich in die ihr eigene Dialektik als „Logik des Scheins" verstrickt (Kant, Kritik der reinen Vernunft, B 797, 804f.). In diesem Sinn erhält die „Spekulation" oder auch „Reflexion" (so zunächst auch bei Schelling) einen nur regulativen (ebd., B 699), wenn nicht sogar pejorativen Charakter. Zum anderen wird bei Hegel seit der Differenzschrift (1801) und seit Schellings Naturphilosophie ( 2 1803) ein positiv besetzter Begriff von Spekulation als emphatischem Wissen des Absoluten greifbar. Während aber Schelling diese Spekulation als ein „Schauen" („Contemplation Gottes wie er ist") auffaßt, wendet Hegel die dritte, spekulativ-vernünftige Stufe zur dezidiert begrifflichen Uberwindung negativer Dialektik der endlichen Verstandesbestimmungen (Hegel, Enzyklopädie [ 3 1830] § 82). Gegenüber den Entzweiungen des endlichen Verstandesdenkens hält die spekulative Theologie daran fest, daß eine prinzipielle Ubereinstimmung von Vernunft und Unendlichkeit (Absolutem) möglich sei. Insofern setzt sie auf die dezidierte Einheit von Vernunft (Philosophie) und Offenbarung (Theologie). Das wird auch daraus ersichtlich, daß Theologen und Philosophen gleichermaßen Beiträge zur spekulativen Theologie geleistet haben. Der Bedarf nach spekulativer Theologie resultiert aus den Verwerfungen der neuzeitlichen Transformationsprozesse hin zum „ - » Neuprotestantismus" (-»Troeltsch). Ein Resultat der durch die Aufklärung indizierten Veränderungen protestantischer Theologie ist das feindliche „Zwillingspaar" von -»Rationalismus (moralischer Funktion der Religion) und -»Supranaturalismus (konstitutiver Bedeutung der -»Offenbarung), das dann noch durch die dritte Position -»Schleiermachers ergänzt wird. Insbesondere der Antagonismus vieler Spielarten rationalistischer und supranaturalistischer Theologien löst die Suche nach einer Überwindung des positionellen Gegeneinanders aus. Die spekulative Theologie wird daher als derjenige Theorieort konzipiert, der die „Selbstsucht" (Daub, Theologie) dieser pluralen Theologien überwindet. Mit Kant wird zwar an der prinzipiellen Bedeutung der „kopernikanischen Wende" hinsichtlich Erkenntnis und Moral festgehalten, die nur moralische Funktionalisierung christlicher Religion aber abgewehrt. Mit dem Supranaturalismus wird die Geltung der christlichen Wahrheit an ihr selbst bejaht, aber in der ausdrücklich vernünftigen Rekonstruktion der überlieferten Dogmen
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über das bloße Gegebensein der Offenbarung (qua Bibel und/oder Dogmen) weit hinausgeschritten. Der Gegensatz von Rationalismus und Supranaturalismus soll durch Negation von deren Einseitigkeiten auf vernünftige Weise aufgehoben werden. Die Transformationen ereilen den gesamten überlieferten Bestand bis ins Innerste. Angefangen von der Rekonstruktion der Offenbarung jetzt als strikter Selbstoffenbarung Gottes (Daub) über die Modelle zum Begreifen des Trinitätsdogmas bis hin zur Neukonzeption der Christologie bleibt kein dogmatisches und übrigens auch kein ethisches Bestandsstück unberührt. Der überpositionelle Standpunkt der spekulativen Theologie wird dann allerdings historisch dadurch dementiert, daß deren Verfechter selber in den positioneilen Wettstreit mit anderen Theologien hineingezogen werden. So wird gerade dem Anspruch, zu einem unumstrittenen Ort aller Örter gelangt zu sein, je länger je mehr die Gefolgschaft verweigert. Insofern erreicht auch diese spekulative Variante moderner protestantischer Theologie ihr Ziel nicht, den modernen Pluralismus der Theologien zu überwinden. Historisch lassen sich die verschiedenen und vielfältigen Gestalten spekulativer Theologie und ihre wechselseitigen Beeinflussungen hier nicht erschöpfend darstellen. Grundsätzlich kann eine Formierungsphase spekulativer Theologie bei den theologischen Zeitgenossen Schellings und Hegels und parallel zu ihnen beobachtet werden: bei Marheineke und Daub (s.u. 2.1. und 2.2.). Diese werden selber zunehmend in den gesamten Streit um die Hegeische Philosophie und ihre „Schulen" hineinverwickelt. Eine zweifellos neue Phase setzt dann mit dem Streit um die Gattungschristologie von D.F. -»Strauß und seiner schier unerschöpflichen Kontroversliteratur ein (2.3.). Zugleich verschiebt sich damit das inhaltliche Interesse von der Trinitätslehre zur Christologie. Schließlich ist als eigenständige Erscheinung die Neukonzeption einer Freiheitsethik im Umfeld des spekulativen Theismus zu beachten (2.4.). 2. Thematische 2.1.
Schwerpunkte
spekulativer
Theologie
im 19.
Jahrhundert
Offenbarung
C. - » D a u b , der als „Vater" der spekulativen Theologie gelten kann, führt den überpositionellen Anspruch in seiner Dogmatischen Theologie jetziger Zeit (1833) analog zu Hegels Phänomenologie des Geistes im Stil einer kritischen Phänomenologie des theologischen Bewußtseins durch. Im Durchgang durch kirchliche Orthodoxie, Supranaturalismus und Rationalismus wird sie als religionsbegründende und das theologische Bewußtsein aufklärende Krisenwissenschaft entwickelt (Wagner, Spekulative Theologie 53ff.). Demnach ist Theologie im strikten Sinne als Denken der Selbstoffenbarung Gottes zu verstehen. Bevor sich Gott gegenüber externen Instanzen mitteilt, muß er sich selbst durchsichtig sein. „Gott ist seinem Wesen und Dasein nach sich selbst in dem Unterschiede seiner von sich selbst offenbar als der eine und derselbe G o t t " (Daub, System II, 214). Denn darin besteht ja die Prämisse, daß, „wer sich selbst nicht offenbar ist, einem andern sich nicht offenbaren k ö n n e " (ebd. 142). Das spekulative Denken ist dabei nicht rein passivisch aufzufassen, sondern als „Thätigkeit und Energie des Geistes, kraft deren ... das Princip des Glaubens und der Wissenschaft zu entdecken steht" (Daub, Prolegomena 238). Dieses Denken entspricht also der göttlichen Selbstoffenbarung exakt, die Idee Gottes gründet in Gott selber. „Die Erkenntnis Gottes als Erkenntnis des Grundes der Wahrheit der christlichen Religion ... bildet folglich den Ausgangspunkt der spekulativen Theologie" (Wagner, Spekulative Theologie 51). Der Selbstexplikation Gottes folgend exponiert Daub eine trinitarische Architektonik des dogmatischen Stoffes. Im Gegensatz zu Hegel faßt er aber das Verhältnis von christlicher Religion und spekulativer Dogmatik nicht als Aufhebungsvorgang (der Vorstellung in den Begriff), sondern als ein Implikations-Explikationsverhältnis (Stübinger, Theologie 134ff.). Die schon vorausgesetzte Vernünftigkeit der Inhalte wird durch die Dogmatik expliziert.
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Aus dieser Tendenz zur Entschärfung der (Hegeischen) Negation resultiert dann bei Ph.K. -»Marheineke deren gänzliche Einziehung. Die spekulative Theologie wird dann auf ein rezeptives „Nach-Denken" der schon vorgegebenen, geoffenbarten Inhalte reduziert (Marheineke, Grundlehren [ 2 1827] §§ 24f. 117). Vernunft und Offenbarung sind dann nur noch äußerlich auf ein und derselben Ebene ausgeglichen. Die spekulative Wissenschaft hebt an Bibel und kirchlicher Lehre nur heraus, was grundsätzlich dort schon enthalten ist. 2.2.
Trinitätslehre
Inder Durchführung der materialen Dogmatik wird Marheinekes trinitarische (->Trinität) Gliederung seiner Grundlehren ( 2 1827 im Gefolge Hegels) leitend, die auch den späteren Dogmatikvorlesungen Daubs zugrunde liegen. Marheineke unterscheidet Gottes Ansichsein (Wesen, Sein und Eigenschaften), den Unterschied Gottes von sich selbst (Gott, Sohn: als Offenbarung in Gott und Offenbarung an die Welt: Schöpfungslehre und Christologie!) und die Aufhebung beider in Gott als Geist (Trinitätslehre, Soteriologie, Ekklesiologie, Eschatologie). Dabei addiert bzw. koordiniert Marheineke lediglich die Ausgangsbestimmung Gottes als (unbezogener) Substanz (causa sui) mit dem christologisch vermittelten „Subjekt", so daß der Geist nur als die äußerliche Einheit von Vater und Sohn fungiert, in der „beide ... andere gegen einander" bleiben (Marheineke, Grundlehren [ 2 1827] § 422). Demnach handelt es sich bloß um eine negative Einheit von Vater und Sohn (Wagner, Marheineke 70). Die trinitarischen Momente treten schon durch die dogmatische Architektonik bedingt abstrakt isoliert auf, so daß sachlich der Ausfall der Negation letztlich zur Repristination eines vorkritischen Theismus unter dem Titel „Geist" tendiert. Daubs eigene Dogmatikvorlesungen reagieren vermutlich schon auf diese Problematik. Die ebenfalls trinitarisch angelegte Dogmatik ist freilich Fragment geblieben (die Pneumatologie fehlt völlig). Nach der Darstellung von Wesen, Dasein und Eigenschaften Gottes („Vater") differenziert Daub im zweiten Teil („Sohn") die Lehre vom Sichselbstoffenbarsein Gottes (immanente Trinität) von derjenigen von der Offenbarung Gottes an die Welt (Schöpfung, Christologie). Die besondere Bedeutung der Trinitätslehre besteht nach Daub darin, daß sie „die alle anderen Glaubenslehren enthaltende, umfassende und erschöpfende Lehre" sei (Daub, Prolegomena 186), woraus der Schwerpunkt in der Behandlung dieser Lehre resultiert. Hier unterscheidet sich Daub deutlich von Hegels rein funktionalem Umgang mit dem Dogma. Der spekulative Standpunkt begreift Gott als absoluten Geist, und das heißt notwendig als trinitarisch. Daub versucht damit, die Bedingung der Möglichkeit des Offenseins Gottes für externes Anderssein (Welt und Mensch) zu zeigen (Stübinger, Theologie 166). Der entscheidende Gesichtspunkt besteht darin, daß Daub im Ansatz das Verhältnis von Vater und Sohn als ein reziprokes Konstitutionsverhältnis zu entwickeln sucht. Der traditionelle „Vater" und „Sohn" sind nichts anderes als der „Gott, der sich verhält", und der „Gott, zu dem er sich verhält" (Daub, System II, 216). In der Durchführung folgt D a u b allerdings wieder der traditionellen Festlegung auf die Allmacht (Schöpfung) Gottes, so daß gegen den Ausgangspunkt des Gedankens das Verhältnis von Vater und Sohn dann doch asymmetrisch und einseitig vergegenständlicht wird (ebd. 221 f.). Denn die schöpferische Allmacht soll durch die innertrinitarische Selbstmacht grundgelegt werden (ebd. 255ff.). 2.3.
Christologie
Schon der Lehrer von D.F. Strauß, F.Ch. -»Baur, übernimmt für die historische Rekonstruktion der Kirchen- und Dogmengeschichte wesentliche Theoreme der Hegeischen Philosophie. In seiner Christlichen Lehre von der Versöhnung (1838) deutet sich die von Strauß radikal vertretene These an, daß nämlich die Menschwerdung Gottes nicht eine einmalige historische, sondern die ewige Bestimmung des Wesens Gottes sei (ebd.
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Spekulative Theologie
622). Mit dem Versuch einer spekulativen Geschichtsdeutung zeigt sich die entscheidende Verschiebung in den Debatten seit 1830: Der Streit um die Christologie (-»Jesus Christus) und um das Verhältnis von Historischem und Spekulativem überlagert das bisherige Interesse an der Trinitätslehre. Die Entbindung der historisch-kritischen Forschung seit Baur und Strauß entfaltet dann eine forschungsgeschichtliche Eigendynamik im ganzen 19. und 20. Jh., der hier nicht nachgegangen werden kann. Auch für Strauß bietet Marheinekes Position den Ausgangspunkt seiner Kritik: die nicht nur bei Marheineke, sondern auch bei Isaak Rust (1796-1862), Carl Friedrich Göschel (1784-1861) und Karl Rosenkranz (1805-1879) vorhandene Tendenz zur Einziehung der Differenz von Glaube und Wissen, zum Ausfall bestimmter Negation, wird durchgängig kritisiert und dagegen Hegels Differenz von Vorstellung und Begriff erneut revitalisiert. Gleichwohl hält auch Strauß zunächst am Programm spekulativer Theologie fest. Dieses bekommt eine unerhörte Brisanz durch den schon genannten Historisierungsschub: Die Kritik der Evangelienüberlieferung und Dogmen verhält sich komplementär zur spekulativen Rekonstruktion christlicher Wahrheit. Insofern müssen das nur kritische Leben Jesu (1835/1836) und die positive Glaubenslehre (1840/1841) zusammengehalten werden (Graf 49-424). Mit der Annahme des mythischen Standpunktes aus dem Kollektivgeist der christlichen Gemeinde bricht die Möglichkeit, die Evangelien als historisch valide Geschichte aufzufassen, insgesamt weg. Dieses negative Resultat muß aber Strauß insofern nicht beunruhigen, als er mit Hegel und Baur darauf hinzielt, ins Zentrum seiner spekulativen Christologie den Gottmenschen als die Idee der Einheit von Unendlichkeit und Endlichkeit zu stellen, die von historischen Einwänden unberührt bleibt. Insofern vermag Strauß in all den (einschließlich der von ihm als „rechtshegelianisch" qualifizierten) Beschränkungen der göttlichen Idee auf die historische Person Jesu nur eine inadäquate Restriktion zu erkennen, einen Rückfall in Schleiermachers Urbildchristologie. Aber es ist „ja gar nicht die Art, wie die Idee sich realisirt, in Ein Exemplar ihre ganze Fülle auszuschütten und gegen alle anderen zu geizen; in jenem Einen sich vollständig, in allen übrigen aber immer nur unvollständig abzudrücken; sondern in einer Manchfaltigkeit von Exemplaren, die sich gegenseitig ergänzen, im Wechsel sich setzender und wiederaufhebender Individuen, liebt sie ihren Reichthum auszubreiten" (Strauß, Leben Jesu II [ 3 1839] 766f.). Da folglich die gesamte Menschheit die Realisierung dieser Idee der Gottmenschheit ausmacht, heißt diese Konzeption zu Recht Gattungschristologie: Die Menschheitsgattung insgesamt ist das Subjekt aller christologischen Prädikate. Insofern ist diese Idee nur noch äußerlich (rein historisch) an die Person und besondere Geschichte des Individuums Jesus geknüpft, und diese äußere Form kann abgestreift werden. Der damit angezettelte Streit um die Gattungschristologie kann hier nicht verfolgt werden (-»Jesus Christus VI). Summarisch ist festzustellen, daß fast alle theologischen Positionen gegenüber Strauß heftige Kritik äußern, insofern ihnen die Individualität Jesu unaufgebbar erscheint: vom alten Rationalismus (Johann Friedrich Röhr [17771848], Wilhelm Traugott Krug [1770-1842], Heinrich Eberhard Gottlob Paulus [17611851]) und Supranaturalismus (Johann Christian Friedrich Steudel [1779-1837], J.T. —•Beck) über Konfessionalismus (E.W. —• Hengstenberg) und Erweckungstheologie (F.A.G. ->Tholuck, A. ->Neander), die Schleiermacher-Schule (Alexander Schweizer [1808-1888]) bis hin zu den Strauß zunächst nahestehenden „Rechtshegelianern" (B. -•Bauer, Rosenkranz, Julius Schaller [1810-1868], Göschel) und seinem eigenen Lehrer Baur (Röhls I, 512ff.). Schaller versucht, gegenüber dieser Auflösung in die menschliche Gattung auf die Realisierung der Idee der Gottmenschheit in der Bildung der christlichen Gemeinde hinzuweisen, so daß Christentums- und allgemeine Menschheitsgeschichte auseinandertreten (Schaller, Christus 127ff.). I.A. -»Dorners These von Jesus als dem Zentralindividuum will festhalten, d a ß der sonst nur fragmentarisch realisierte Gattungsbegriff in Jesus ganz verwirklicht worden sei.
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In seiner spekulativen Dogmatik folgt Strauß der Grundthese, d a ß es zu Gottes Wesen gehöre, sich durch die Vermittlung der Menschheit seiner selbst bewußt zu werden. Im materialen Teil hält er hinsichtlich der -»Gottesbeweise fest, d a ß ihr Sinn darin besteht, Gottes Sein in allem Dasein (in der Immanenz) zu zeigen. Der Gottesgedanke als Substanz wird von ihm so gefaßt, daß dieser Gott vorab auf externes Anderssein (Welt und Mensch) angewiesen ist. Gott als „Allpersönlichkeit" ist auf Anderssein so angelegt, daß Strauß den immanenttrinitarischen Hervorgang des Sohnes aus dem Vater mit der Schöpfung der Welt notwendig verknüpft. (Der an Hegels Religionsphilosophie gerichtete Vorwurf einer Identifikation des immanenten Hervorgehens des Sohnes mit der Weltschöpfung ist für Strauß triftig!) Die christologisch gedachte Versöhnung zielt auf die Vereinigung des mit Gott entzweiten Menschen, so daß diese Einheit in der Menschheitsgattung (in der Kulturgeschichte) hergestellt wird. Taufe und Abendmahl werden so zu Symbolen der wahren Humanität, die Religion sei in Sittlichkeit und die Kirche in den Staat zu transformieren. An der Grenze der spekulativen Dogmatik zeichnet sich schon ihre Auflösung und Strauß' späterer Ubergang zu einer postchristlichen, bürgerlichen Religiosität auf dem Boden eines naturwissenschaftlich bedingten Materialismus ab (Strauß, Glaube). 2.4.
Ethik
Der Ausgangspunkt des spekulativen -»-Theismus (Immanuel H e r m a n n Fichte [1796— 1879], Christian H e r m a n n Weisse [1801-1866], Karl Philipp Fischer [1807-1885]) besteht in bestimmten Vorwürfen an die Hegeische Philosophie, deren Rechtsgrund hier nicht entschieden zu werden braucht. D e m n a c h sei Hegels System „pantheistisch" und ebne so die Differenz von Gott und Mensch ein. Dagegen wendet sich die Leitthese, Gott sei „Persönlichkeit". Der Sinn der Trinitätslehre liegt gerade darin, diese absolute Persönlichkeit aufzuweisen. Dies gelingt allerdings nur zum Preis der Depotenzierung der immanent-trinitarischen Hypostasen zu M o m e n t e n des einen göttlichen „Selbstbewußtseins". Auf diesem Wege will man der Konsequenz von Strauß entgehen, Schöpfung und immanente Trinität zu identifizieren, da die immanente Trinität die Selbstverwirklichung Gottes als „Persönlichkeit" noch vor aller Schöpfung ist. Mit dieser Behauptung meint man zugleich, die kontingente Weltschöpfung als „freie T a t " Gottes garantiert zu haben. Das Ziel besteht dabei darin, die ethische Persönlichkeit des Menschen durch die absolute „Persönlichkeit" zu sichern. Darin kündet sich die Verschiebung auf „Sittlichkeit" und das Freiheitsthema an. Der ethische Sinn der Religion besteht in der Vollendung der menschlichen Persönlichkeit zur Gottebenbildlichkeit (Chalybaeus, Philosophie). Vor allem Johann Ulrich Wirth (1810-1879) und Heinrich Moritz Chalybaeus ( 1 7 9 6 1862) widmen sich dieser Aufgabe einer spekulativen Ethik, allerdings bereits in einem historischen Kontext des Siegeszuges von Naturwissenschaften, Materialismus und Religionskritik eines -»• Feuerbach und —»Marx, der die bisherige Frontstellung gegenüber Hegel ablöst. Gegen Weisse und Wirth hält Chalybaeus zu Recht fest, d a ß die bisherige Orientierung an der Metaphysik (an einer aristotelisch gedachten „ N a t u r " ) den Forderungen einer Ethik der Freiheit nicht entspricht. Deshalb sucht er im Gefolge Kants nach den eigenen Kategorien der Freiheit. Seine spekulative Ethik ist mithin die Metaphysik des Willens oder der Freiheit. Gegenüber einem Freiheitsverständnis, das Freiheit mit individueller Willkür identifiziert, besteht die w a h r e (positive) Freiheit durch Überwindung dieser egoistischen Selbstmacht in der Liebe: Die ethische Kategorie sui generis ist also die Liebe, die aus der traditionellen Metaphysik ausgeschlossen war. Die ethisch qualifizierte Freiheit als Liebe ist gerade als Überwindung unmittelbarer, titanischer Freiheit konzipiert. Diese positive Freiheit ist der göttlichen Freiheit kompatibel: „Wer Freiheit will, muß Freiheit gestatten" (Chalybaeus, Ethik § 21). Daraus resultiert ferner, d a ß die ethisch-menschliche Persönlichkeit zentral auf Rechtsverhältnisse festgelegt wird. Die Rechtsperson mit ihren Grundrechten (Gleichheit, Meinungsfreiheit, staatsbürgerliche Anerkennung) stellt die Realisierung der Freiheit dar (Kobusch 207ff.).
Spekulative Theologie
646 3. Fortwirkungen
und
Ausblick
Obwohl es die spekulative Theologie als eine einheitliche Formation - dies gilt i m ehesten noch für das gemeinsame Zusammenwirken von Marheineke und D a u b - ersichtlich nicht gibt, lassen sich doch gemeinsame Grundzüge festhalten: Leitend ist der Versuch, den Wahrheitsgehalt der christlichen Religion auf vernünftige Weise zu „rekonstruieren", wobei die damit implizierten Transformationen des Traditionsbestandes unterschiedlich stark eingeschätzt werden. Die Spannbreite reicht vom bloß rezeptiven „Nach-Denken" der schon verborgen vernünftigen Inhalte (Marheineke) bis zur explizit spekulativen Konstruktionsgestalt (Strauß), die weit über den Traditionsbestand hinausgeht. Daub führt den strikten Gedanken der Selbstoffenbarung Gottes ein, demzufolge Gott zunächst sich selbst offenbar und sich selbst durchsichtig sein muß, ehe er sich anderen Instanzen als Gott offenbaren kann. Die (insbesondere immanente) Trinitätslehre wird in unterschiedlicher Ausformung als die prinzipielle Binnendifferenzierung Gottes verstanden, in der sich Gott sich selbst unterscheidend zuallererst erfaßt. Die Trinitätslehre wird so zugleich zum Garanten dafür, daß Gott sich überhaupt als offen für externes Anderssein (Welt und Mensch) selbst bestimmen kann. Die Christologie wird spekulativ als universal gesetzte Idee der Gottmenschheit verstanden, so daß das Verhältnis von historischem Jesus und spekulativem Christus zum Dauerproblem avanciert. Insofern mit der Universalisierung der Idee des Gottmenschen die historische Individualität der Person Jesu abgestreift werden kann, ist die Realisierung von vornherein auf sittliche Vollzüge (Kulturgeschichte der Menschheit) abgestellt. Daraus resultiert das Interesse an einer genuinen Freiheitsethik, die die positiven Freiheitsvollzüge als Liebe in Übereinstimmung mit dem Gott, der sich selbst als Liebe erwiesen hat, exponiert. Damit haben die Theologen und Philosophen gewichtige Argumente erarbeitet, die für eine gedankliche Durchdringung der christlichen Symbole und Tradition unentbehrlich sind, wenn man auch die Durchführung im einzelnen kritisieren mag. Nachwirkungen solcher spekulativen Elemente lassen sich vielfältig in den protestantischen Theologien seit 1850 diagnostizieren, die aber in der Regel durch andere Ansätze gebrochen erscheinen. So läßt sich an der spekulativen Ethik des Daub-Schülers R. - • R o t h e zeigen, wie ein spekulativ-nachdenkender Ansatz mit der Schleiermacherschen Theologie positioneil verknüpft wird. Die dialektische Methode mit ihrer apriorischen Gedankenentfaltung wird inhaltlich durch den Schleiermacherschen Ausgangspunkt beim frommen Ichgefühl restringiert, so daß die Vernunft gerade nicht als eigenständige Produktionsquelle von Inhalten (Hegel) auftritt, sondern zum Instrument der Verarbeitung des „im religiösen Gefühl gegebene[n] Gehalt[s] des Gottesbewußtseins" (Wagner, Rothe 217) depraviert. Damit wird sie zugleich auf eine bestimmte, nämlich die protestantische Frömmigkeitsart festgelegt. Der Gedanke der absoluten „Persönlichkeit" bestimmt viele Theologien in der Mitte des 19. Jh. Diese Leitfigur kann ebenso durchaus verschieden ausgelegt werden. Während die Rothesche Ethik auf den ihr eigenen Systemgedanken der Teleologie setzt, wird z. B. bei I.A. Dorner für deren Genese die Trinitätslehre revitalisiert. Angesichts der schon skizzierten Debattenlage entfaltet er physische (Sein Gottes), logische (Wissen Gottes) und ethische (Wille Gottes) Trinitätslehre. In der für ihn entscheidenden ethischen Trinität werden Vater (göttliche Notwendigkeit) und Sohn (göttliche Freiheit) durch den Geist zur Einheit (Liebe) zusammengeschlossen (Dorner, Glaubenslehre 409ff.). Mit diesem Gott als Geist bzw. „Persönlichkeit" soll dann wiederum das menschlich-sittliche Subjekt theonom begründet werden. Das von Dorner und vielen anderen vertretene Modell der Trinität depotenziert aber die innergöttlichen Hypostasen zu bloßen Momenten des einen „Selbstbewußtseins", was durch die dann von K. -»Barth beerbte Dornersche Formel von den drei „Seinsweisen" (ebd. 399.416ff.) offenkundig wird. Im 20. Jh. tauchen spekulative Elemente im Anschluß an Schelling insbesondere in P. Tillichs philosophischer Theologie unter anderen Bedingungen wieder auf. Hier
Spekulative Theologie
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spannt sich der Bogen von Tillichs Lehre von der (ekstatischen) Vernunft in der O f fenbarung über das innere Leben Gottes als Geist (als der Einheit von M a c h t und Logos, vgl. Schellings Potenzenlehre; Tillich 1 , 1 7 5 f f . 2 8 9 f . ) , die träumende Unschuld der Freiheit vor dem Sündenfall und eine gegenüber —> Kierkegaard ermäßigte Paradoxchristologie des Neuen Seins (ebd. II, 3 7 f f . l 2 9 - 1 5 0 ) bis hin zur (fragmentarischen) Gegenwart des Neuen Seins durch den selbsttranszendierenden Geist und der schließlichen Vollendung des göttlichen Lebens im Durchgang durch Welt und Mensch („Essentifikation" im Gefolge Schellings, ebd. III, 453.474ff.). Dagegen hat Falk Wagner ( 1 9 3 9 - 1 9 9 8 ) die spekulative Theologie ausdrücklich im Anschluß an Hegel und D a u b zu erneuern gesucht. Auf den Entdeckungszusammenhang mit seiner vielfältigen Beschreibung des Religionsthemas und der Religionskritik folgt die Aufhebung der Aporie des religiösen Bewußtseins, das in der einseitigen Abhängigkeit des göttlichen Grundes vom menschlich-religiösen Bewußtsein besteht. Daher ist für den trinitarisch-christologischen Begründungszusammenhang die Umkehr der Stellung des religiösen Bewußtseins vonnöten, die Erhebung des Gottesbewußtseins zum G o t tesgedanken, der einer spekulativen Rekonstruktion zugänglich ist (Wagner, Religion 572ff.). Dafür bedient sich Wagner, nicht zuletzt auch in kritischer Abgrenzung von der transzendentalen Ontologie und spekulativen T h e o r i e des Absoluten des Philosophen Wolfgang Cramer ( 1 9 0 1 - 1 9 7 4 ) , der ganzen Möglichkeiten der Hegeischen „Wissenschaft der L o g i k " , so daß im Gegensatz zu Hegels Religionsphilosophie selbst die gesamte Begriffslogik herangezogen werden muß. Demnach ist die Trinitätslehre in der Logik der Subjektivität insgesamt als Begriff: Allgemeinheit, Besonderheit und Einzelheit, Urteile und Schlüsse, zu rekonstruieren (Wagner, T h e o l o g i e 1 8 1 - 2 0 3 . 2 5 6 - 2 8 5 ) . Am O r t des externen Andersseins G o t t gegenüber ist sodann in einem zweiten Schritt der Aufbau dieser Subjektivitätsstruktur zu leisten: die traditionelle Christologie wird mit den M i t teln der Objektivität strukturiert (ebd. 3 0 9 - 3 4 2 . 3 7 3 - 3 9 3 ) . Schließlich ist die Präsenz des Geistes als der in sich gegenläufigen Einheit von Subjektivität und Objektivität im gesamten menschlichen, individuellen und sozialen Weltumgang nachzuweisen (Realisierungszusammenhang; Wagner, Gottesgedanke 83ff.). Quellen S. die Quellenverzeichnisse zu den Art. - » B a u e r , - » B a u r , - » D a u b , - » M a r h e i n e k e , - » R a t i o n a lismus II, - » R o t h e . Z s . f. spekulative T h e o l . , hg. v. B r u n o B a u e r , Berlin, 1 (1836) - 3 (1838). - Z P S T h , hg. v. Immanuel H e r m a n n Fichte, 1 ( 1 8 3 7 ) - 1 6 (1846). Ferdinand Christian Baur, Die christl. Lehre v. der Versöhnung in ihrer gesch. E n t w i c k l u n g v. der ältesten Z e i t bis a u f die neueste, T ü b i n g e n 1838. - Ders., Die christl. Lehre v. der Dreieinigkeit u. M e n s c h w e r d u n g G o t t e s in ihrer gesch. E n t w i c k l u n g , 3 Bde., T ü b i n g e n 1 8 4 1 - 1 8 4 3 . - Heinrich M o r i t z Chalybaeus, Ueber die ethischen Kategorien der M e t a p h y s i k : Z P S T h 8 (1841) 1 5 5 - 2 1 1 . D e r s . , Hist. E n t w i c k l u n g der speculativen Phil. v. Kant bis Hegel, Dresden/Leipzig 1843. - D e r s . , Ueber das Verhältniß der M e t a p h y s i k u. E t h i k : Z P S T h 13 (1844) 1 6 1 - 1 8 6 . - Ders., System der speculativen E t h i k oder Phil, der F a m i l i e , des Staates u. der rel. Sitte, 2 B d e . , Leipzig 1850. - D e r s . , Phil. u. 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Spekulative Theologie
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Spencer
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Michael Murrmann-Kahl
Spencer, Herbert 1. Leben
1.
2. Werk
(1820-1903) 3. Wirkung
(Quellen/Literatur S. 651)
Leben
Herbert Spencer, Philosoph des Liberalismus und der Evolutionstheorie, wurde am 27. April 1820 in Derby (England) geboren und starb am 8. Dezember 1903 in Brighton. Er entstammte einer religiösen Familie, brach aber schon früh mit dem christlichen Glauben und wurde zu einem typischen Vertreter des viktorianischen Agnostizismus. Seine Bildung erwarb er über weite Strecken seines Lebens durch Privatunterricht sowie als Autodidakt vor und während der Zeit seiner ersten beruflichen Tätigkeit. Spencer arbeitete zunächst als Lehrer, dann als Bauingenieur. 1841 wechselte er in ein ganz anderes Arbeitsfeld, in den politischen Journalismus. 1848 wurde er Redakteur beim Economist. Diese Position hatte er bis 1853 inne, ehe eine kleine Erbschaft es ihm ermöglichte, sich stärker der Philosophie zu widmen. In dieser Phase war er bereits mit führenden Freidenkern seiner Generation bekannt: mit George Henry Lewes (1817— 1848), der Schriftstellerin Marian Evans (1806-1880), die unter dem Pseudonym George Eliot bekannt wurde, John Stuart Mill (1806-1873) und Thomas Henry Huxley (18251895). Bereits 1850 veröffentlichte er sein erstes Buch Social Statics. Danach ist die Geschichte von Spencers Leben die Geschichte seiner Veröffentlichungen (s.u. 2.). Trotz wiederholter gesundheitlicher Probleme und wiederkehrender Schwierigkeiten, seine Projekte durch Spenden zu finanzieren, gelang es ihm doch, sein zehnbändiges Werk System of Synthetic Philosopby zu vollenden. Durch dieses und seine anderen Werke wurde er einer der führenden Intellektuellen der viktorianischen Zeit, ein Prophet des Naturalismus, des Individualismus und der Evolutionstheorie sowie der evolutionistischen Ethik. Spencer war zeitlebens unverheiratet. 2. Werk Social Statics ist ein klassisches Werk des La/'ssez-/ize-Liberalismus. Auf der Basis dessen, was er als das „Gesetz gleicher Freiheit" bezeichnete, trug Spencer eine extreme Theorie der individuellen Freiheit vor. Staatliche Interventionen sollten auf ein absolutes Minimum reduziert werden und würden allein zum Schutz persönlicher Freiheit benötigt. Die Idee, daß sich Gesellschaften graduell in Richtung Liberalismus entwickeln, arbeitete Spencer in den 1850er Jahren, also im Jahrzehnt vor Ch. -»Darwins The Origin of Species (1859), aus. Kurze Zeit nach der Veröffentlichung seines zweiten Buches, The Principles of Psychology (1855), beschloß Spencer, sich der Ausarbeitung eines umfassenden philosophischen Systems zu widmen. Das System of Synthetic Philosophy, wie es später genannt wurde, begann er 1862 mit den First Principles, denen das zweibändige Werk The Principles of Biology, die ebenfalls zweibändige Überarbeitung von The Principles of Psychology, The Principles of Sociology in drei und schließlich The Principles of Ethics in zwei Bänden folgten. 1896 schloß Spencer das gesamte System ab. In den First Principles bemühte sich Spencer um die Versöhnung von Naturwissenschaft und Religion, indem er einen absolut unerkennbaren metaphysischen Grund hinter beiden postulierte.
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Spencer
Philosophie müsse sich deshalb notwendigerweise auf die Aufgabe beschränken, die Gesetze aufzudecken, die der Entwicklung der Materie in immer differenziertere Formen zugrunde liegen. Für die grundsätzlichsten dieser Gesetze hielt Spencer die Energieerhaltung, die Unzerstörbarkeit der Materie und das Beharrungsvermögen. Spencer hatte tatsächlich ein zyklisches Weltbild. Über die Evolutionsprinzipien der Aggregation, Integration und Differentiation hinaus hatte er auch Phasen der Desintegration und des Zerfalls im Blick. Aber er konzentriert sich in den First Prittciples wie auch in späteren Werken auf die positiven Prinzipien der Integration und anschließenden Differentiation. Darauf basiert sein Ruf als ein „Philosoph der Evolution". In T h e Prittciples of Biology werden diese Prinzipien auf Lebewesen und ihre Anpassung an die Umwelt übertragen. Spencer nimmt hier die Theorie Jean Baptiste Antoine Pierre de Monet Lamarcks (1744-1829) auf, derzufolge die von der Gattung erworbenen intellektuellen und emotionalen Gewohnheiten als zweckmäßig bewahrt werden. In diesem Zusammenhang prägte Spencer (und nicht Darwin) den Ausdruck „the survival of the fittest" (das Überleben der Tauglicheren; vgl. T. 3, Kap. 12, § 164). In The Prittciples of Psychology wird die Anwendung der Spencerschen Theorie auf die Entwicklung der geistigen Fähigkeiten wie Gedächtnis und Intelligenz ausgeweitet. The Prittciples of Sociology handelt zum einen von der gesellschaftlichen Funktion der Religion und ihrer Fortentwicklung aus den Bindungen an primitive Mythologien. Andererseits geht es um die Entwicklung der Gesellschaft von organischen „militanten" zu differenzierteren „industriellen" Formen, in denen ein höheres Maß an individueller Freiheit gewährt wird. Der staatliche Einfluß auf gesellschaftliche Entwicklungen wird auch hier auf die Sicherung des inneren und äußeren Friedens beschränkt. In The Prittciples of Ethics zeigt Spencer, daß eine allgemeingültige utilitaristische Ethik den Individuen einen sehr hohen Uberlebenswert in der Gesellschaft gewährt. In seiner vollkommensten Form würde dieses „größere" Glück - ohne jeden Konflikt - Egoismus und Altruismus ausgleichen und zu einem Verständnis von Gerechtigkeit im Sinne von gleicher Freiheit führen. Spencers Theorien basieren methodisch weitestgehend auf empirischen Erhebungen. 1 8 6 7 stellte er Mitarbeiter an, die einführendes, vorbereitendes Material für The Prittciples of Sociology sammelten und unter dem Titel Descriptive Sociology veröffentlichten. In seinem Testament stellte Spencer Gelder zur Verfügung, um dieses Projekt fortzuführen. Acht B ä n d e wurden unter seiner eigenen Herausgeberschaft veröffentlicht und weitere acht nach seinem Tode. Unter Spencers weiteren Werken ragt besonders sein höchst einflußreiches Buch Education (1861) heraus, in dem er sich für eine naturwissenschaftliche Schulbildung einsetzt, die auf die Entwicklung natürlicher Intelligenz und Neugier abzielt und Kindern erlaubt, aus ihren eigenen Fehlern zu lernen. Breite R e s o n a n z erhielt auch The Man versus the State, in dem er die Eingriffe des Staates in die Freiheit des Individuums b r a n d m a r k t e . Religiösen Fragen stand Spencer nicht völlig ablehnend gegenüber. Das „Unerkennbare" spielt in seinem System eine genuin ontologische Rolle. Aus seiner Autobiography geht deutlich hervor, daß er im Laufe seines Lebens in zunehmendem Maße Sympathie für Mythologien entwickelte. Auch die Glaubensbekenntnisse, in denen die Religionen die unzugänglichen Mysterien des Lebens und der menschlichen Existenz in Worte faßten, fanden zunehmend sein Interesse. Seiner Auseinandersetzung mit dem Positivisten Frederic Harrison (1831-1923) über diesen Fragenkomplex wurde 1885 ein eigenwilliges Schicksal zuteil: Die unter dem Titel The Nature and Reality of Religion geplante Publikation des Streits gelangte wegen Harrisons Veto nicht an die Öffentlichkeit. (Unter dem Titel The Insuppressible Book erschien jedoch noch im gleichen Jahr in Boston eine von Gail Hamilton herausgegebene amerikanische Ausgabe, ohne daß Spencer diese zuvor autorisiert hatte.) Spencers Ethik gehört ohne Zweifel zu den exponiertesten Werken des Sozialdarwinismus. M i t „ t h e survival o f the fittest" meinte er jedoch nicht das Überleben der Stärkeren. Seiner Ansicht nach fördern gerade die höchsten W e r t e wie Freiheit, Glückseligkeit und Z u s a m m e n a r b e i t das Wohlergehen und Überleben des Menschen. 3.
Wirkung
Im ausgehenden 19. J h . breitete sich Spencers Einfluß über ganz E u r o p a und A m e r i k a , w o m a n ihn als Philosophen des Kapitalismus bejubelte, bis nach Indien und J a p a n aus. Die Bedeutung seiner pädagogischen Vorstellungen wurde bereits genannt. Seine
Spencer
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Ideen schlugen sich auch im religiösen Denken seiner Zeit nieder, wie man an den Bampton Lectures von 1884 erkennen kann, die der spätere Erzbischof von Canterbury, Frederick Temple (1821-1902; vgl. Hinchliff 174-184), über das Verhältnis von Religion und Nauturwissenschaft hielt. Während der ersten Jahrzehnte des 20. Jh. nahm die Rezeption der Spencerschen Ideen jedoch rapide ab. Das lag zum einen daran, daß sich seine lamarckianische Überzeugung von der Vererbung erworbener Eigenschaften als falsch erwiesen hatte, zum anderen an der wachsenden Bedeutung des -»Sozialismus, der staatlichen Interventionspolitik und natürlich auch an einem veränderten philosophischen Klima. G.E. Moore hat Spencer in seinen Principia Ethica von 1903 als einen extremen Vertreter des „naturalistischen Fehlschlusses" (-»Naturalistische Ethik) dargestellt, der die am höchsten Entwickelten mit den ethisch Wertvollsten gleichsetze. In mancherlei Hinsicht war dieser Angriff ungerecht. Spencer leitet seine ethischen Prinzipien der individuellen Freiheit, der Gleichberechtigung und der wahren Glückseligkeit weder ausschließlich aus einer naturalistisch gedachten Evolutionstheorie noch allein aus empirischem Datenmaterial ab. Für Spencer ging es im Gegenteil darum, daß die Tauglicheren, die überleben, genau die sind, in denen sich die genannten Werte am weitesten entwickelt haben. Das erneuerte Interesse an Spencers Werk beruht weniger auf einer Wiederentdeckung und Anwendung seiner synthetischen Philosophie auf die Probleme der modernen Welt als vielmehr auf der Erkenntnis von Parallelen zwischen Spencers wichtigsten Ideen und der Ideologie der freien Marktwirtschaft bzw. des Kapitalismus einerseits und dem neu erwachten Interesse an der Reichweite der Evolutionstheorie andererseits (vgl. Gray; Taylor). Quellen Social Statics. Or the Conditions Essential to Human Happiness Specified and the First of T h e m Developed, London 1851 (richtig: 1850). - T h e Principles of Psychology, London 1855; 2. Aufl. in zwei Bänden, ebd., I 1870 II 1872 "1899. - Education. Intellectual, M o r a l , and Physical, London 1861; dt.: Die Erziehung in intellektueller, moralischer u. physischer Hinsicht, Leipzig 1910 u.ö. ( K T A 9); hg. u. eingel. v. Paul E. M a x h e i m e r nach einer Übers, v. Karl Heinz R o n d e , Wiesbaden 1947. - First Principles, London 1862 ' 1 9 0 4 ; dt.: Grundlagen der Phil. Autorisirte dt. Ausg. Nach der 4. engl. Aufl. übers, v. B. Vetter, Stuttgart 1875; 2 1901 u.d.T.: Grundsätze einer synthetischen Auffassung der Dinge. Nach der 6. Ausg. der „First Principles" neu übers, v. J . Victor Carus. - T h e Principles of Biology, 2 Bde., London 1 8 6 4 - 1 8 6 7 . - Descriptive Sociology. O r , Groups of Sociological Facts. Classified and Arranged by Herbert Spencer, Nrn. 1 - 8 , London 1 8 7 3 - 1 8 8 1 . - T h e Principles of Sociology, 3 Bde., London, I 1876 II 1 8 7 9 - 1 8 8 2 III 1896. - T h e Principles of Ethics, 2 Bde., London 1 8 7 9 - 1 8 9 3 . - T h e M a n Versus the State, London 1884. Essays. Scientific, Political and Speculative ( 1 8 5 8 - 1 8 7 4 ) , letzte Ausg. in 3 Bänden, London 1891 = 1996. - Facts and C o m m e n t s , London 1902. - An Autobiography, 2 Bde., London 1904. Eine umfassende Bibliographie hat R o b e r t G. Perrin, Herbert Spencer. A Primary and Secondary Bibliography, N e w York/London 1993 erstellt. Literatur Emile B o u t r o u x , Religion According to Herbert Spencer, Edinburgh 1907. - Borden Parker B o w n e , T h e Philosophy of Herbert Spencer. Being an Examination of the First Principles of his System, New York 1874. - Elias Diaconide, Etude critique sur la sociologie de Herbert Spencer, Paris 1938. - David Duncan, Life and Letters of Herbert Spencer, London 1908 (Nachdr. ebd. 1996). - Hugh Samuel R o g e r Elliot, Art. Spencer, Herbert: D N B 2 Suppl. 3 (1912) 3 6 0 - 3 6 9 . - Ders., Herbert Spencer, London 1917. - Antony Garrard Newton Flew, Evolutionary Ethics, London 1967 = 1970. - Winfried G e b h a r d t / F r a n k Quiner, Art. Spencer, Herbert: B B K L 10 (1995) 8 9 8 - 9 0 9 (Lit.). - T i m S. Gray, Is Herbert Spencer's Law of Equal Freedom a Utilitarian or a Rights-Based T h e o r y of Justice?: Journal o f the History of Philosophy, St. Louis, M o . , 2 6 / 2 (1988) 2 5 9 - 2 7 8 . - Ders., T h e Political Philosophy o f Herbert Spencer. Individualism and Organicism, Aldershot 1996. - Ders., Art. Spencer, Herbert: Routledge Encyclopedia of Philosophy, London, 9 (1998) 8 7 - 8 9 . - Ernst Grosse, Herbert Spencer's Lehre v. dem Unerkennbaren, Leipzig 1890. - Herbert Spencer. Contemporary Assessments, hg. u. eingel. v. Michael W. Taylor, London 1996. - Peter Hinchliff, Frederick Temple, Archbishop of Canterbury. A Life, O x f o r d 1998. - William Henry
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Brian Hebblethwaite
Spener, Philipp Jakob 1. Leben
1.
2. Schriften
(1635-1705) 3 . Bedeutung und W i r k u n g
(Quellen/Literatur S. 664)
Leben
1.1. Jugend und Studienzeit. Freiprediger in Straßburg. Philipp Jakob Spener wurde am 13. Januar (alter Stil) 1635 im oberelsässischen Rappertsweiler (heute Ribeauvillé) geboren. Er entstammt einer angesehenen, in Straßburg und Colmar ansässigen Familie. Der Vater Johann Philipp Spener, Sohn eines Straßburger Goldschmiedes, war Jurist und Rat der Herren von Rappoltstein. Die Mutter Agatha kam aus der bekannten Straßburger Familie Saltzmann. Der Erziehung des frühreifen, durch seine außerordentliche Gedächtniskraft seinen Hauslehrern bald überlegenen jungen Spener widmete sich zunächst seine Patin, die mit J.V. -»Andreae befreundete Agatha von Rappoltstein, geb. Gräfin von Solms-Laubach-Wildenfels. Ihr Tod stürzte den Dreizehnjährigen, der aus englischen Erbauungsbüchern (L. —»Bayly, Praxis pietatis-, Emanuel Sonthom, Güldenes Kleinod der Kinder Gottes, Frankfurt a. M. 1612) eine schwärmerische Jenseitsfrömmigkeit entnommen hatte, in eine langanhaltende Todessehnsucht. Der Hofprediger Joachim Stoll (1615-1678), der die Erziehung des Heranwachsenden übernahm und ihn zum Selbststudium der philosophischen Disziplinen aus Kompendien anleitete, öffnete ihm den Zugang zu J. ->Arndts Wahrem Christentum, dessen mehr dem Diesseits zugewandte, ethisch ausgerichtete Innerlichkeitsfrömmigkeit für Spener bestimmend wurde. Er hat das Wahre Christentum zeitlebens als das wichtigste Buch nach der Bibel angesehen und noch in seinen späten Berliner Jahren in Predigten behandelt. Nach einjähriger privater Schulzeit in Colmar bezog Spener 1651 die Universität -»Straßburg. Durch die englischen Erbauungsbücher und durch Arndts Wahres Christentum bereits Pietist in einem weiteren Sinne hielt sich Spener von allen weltlichen Vergnügungen fern, mied Tanz, Alkohol und den Umgang mit dem weiblichen Geschlecht. Um den -»Sonntag zu heiligen, traf er sich mit Freunden zum Gesang geistlicher Lieder und gemeinsamer Lektüre erbaulicher Schriften. Durch Daniel Dykes (gest. 1614) Das Geheimnis des Selbstbetrugs zur Selbstbeobachtung angeleitet, übte er sich sonntags im Abfassen von Betrachtungen und Meditationen. Diese postum zum Druck gekommenen lateinischsprachigen Soliloquia et Meditationes Sacrae (1715) bezeugen den Einfluß der - mehr in der lutherischen —»Orthodoxie als im -»Pietismus verbreiteten pseudoaugustinisch-bernhardinischen Jesusfrömmigkeit (dulcissime Jesu), deren aus der Braut- und Passionsmystik (-»Passionsfrömmigkeit) entnommene Sprachformen beim reifen Spener kaum noch begegnen. Bereits 1653 erwarb er den philosophischen Magistergrad mit einer Dissertatio de Conformitate creaturae rationalis ad creatorem, die auf dem Boden der melanchtho-
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nisch-orthodoxen -•Natürlichen Theologie eine der ersten deutschen Auseinandersetzungen mit Th. ->Hobbes enthält. Am 14. Juni 1654 begann er das Studium der Theologie. Um seinen Lebensunterhalt zu verdienen, nahm Spener im gleichen Jahr eine Informatorenstelle bei zwei jungen Pfalzgrafen bei Rhein an. Hierfür, aber auch aus eigener Neigung trieb er intensive historische Studien, die ihn zeitweilig an eine Geschichtsprofessur als Berufsziel denken ließen. Spener ist früh durch heraldische und genealogische Arbeiten bekannt geworden, an denen er noch bis in seine Frankfurter und Dresdner Zeit gearbeitet hat (Opus heraldicum, 1680/1690). Noch heute gilt Spener als der bedeutendste deutsche Genealoge des 17. Jh. Die Heraldik ist als historische Spezialdisziplin durch ihn in Deutschland eingeführt worden. Bei einem Mann vom Fleiß und der Gedächtniskraft Speners kam das Theologiestudium nicht zu kurz, auch wenn er sich ihm nur mit halber Kraft zuwenden konnte. Die Straßburger lutherische Orthodoxie erlebte in den Jahrzehnten nach dem -»-Dreißigjährigem Krieg ihre Blütezeit. Aus allen Teilen Deutschlands strömten die Studenten in die vom Krieg unzerstörte Stadt. Viele seiner späteren Freunde und Gegner haben mit Spener zusammen studiert. Bei dem Exegeten Sebastian Schmidt (1617-1696) erhielt er eine gründliche Ausbildung in der -»BibelWissenschaft. Wenn er später über die Vernachlässigung der biblischen Exegese in der orthodoxen Universitätstheologie klagte, hat er Straßburg ausgenommen. Zu Johann Schmidt (1594-1658), zugleich Straßburger Kirchenpräsident, Verehrer J. Arndts und Förderer der englischen Erbauungsliteratur, kam Spener in ein enges persönliches Verhältnis. Als einzigen unter seinen Straßburger Lehrern nennt er ihn seinen „geistlichen Vater". Johann Conrad Dannhauer (1603-1666; vgl. T R E 25,471,29-39), der führende Kopf der Straßburger Orthodoxie, ein universaler, sämtliche philosophischen und - bis auf die Exegese - theologischen Disziplinen beherrschender Theologe, dazu ein glänzender Prediger, verdankt Spener eine gründliche Vertrautheit mit dem Lehrsystem der Konkordienformelorthodoxie, das Dannhauer in kompendienhafter Kürze in der Hodosophia christiana (1649) mit den formalen Denkmitteln der aristotelischen Schulphilosophie auf dem Fundament des durch die Verbalinspirationslehre abgestützten Schriftprinzips dargestellt und in der Hodomoria Spiritus Papaei (1653) und der Hodomoria Spiritus Calviniam (1654) gegen die konfessionellen Hauptgegner polemisch legitimiert hatte. Spener hat zeitlebens alle dogmatischen Fragen auf die seinem Gedächtnis wörtlich eingeprägte Hodosophia christiana bezogen. Vor seinem Tod hat er bekannt, bis auf einen einzigen Punkt (Eschatologie) nicht von derjenigen Lehre abgewichen zu sein, die er von seinem Straßburger „Präzeptor" gelernt habe. Spener beendete sein Straßburger Theologiestudium am 23. Juni 1659 mit einer Disputation über den Bindeschlüssel (Idea clavis ligantis, verfaßt von Dannhauer; eine gleichzeitig von Joachim Hesterberg [geb. 1631] verteidigte Disputatio De Ecclesia Waldensiutn orthodoxiae lutheranae testis et socia ist von Spener verfaßt). Ein Studienaufenthalt in der Schweiz und mehrere Reisen schlössen sich an. In Basel bildete sich Spener 1659/60 bei Johann Buxtorf d.J. (1599-1664) in der Hebraistik weiter, hielt daneben historische und geographische Disputationen. Daß er in einer historischen Disputation die ursprüngliche Rechtgläubigkeit der -»Waldenser vor ihrem Anschluß an die -•Reformierte Kirche behauptete, führte zur Vorladung vor den Basler Kirchenkonvent, der ihm Änderung auferlegte. Eine geplante Reise nach Paris endete krankheitshalber in Genf. Hier lernte Spener 1661 den eine Reformation der Kirche nach dem Modell des Urchristentums propagierenden J. de —»Labadie als Prediger und auch persönlich kennen, las seine von quietistischer Frömmigkeit (-+Quietismus) erfüllten Traktate, von denen er einen ins Deutsche übersetzte und später zum Druck gab (Kurzer Unterricht von andächtiger Betrachtung, Frankfurt a.M. 1667). Daß er von Labadie in Genf gehaltene Konventikel besuchte und sich dadurch zu den Collegia pietatis anregen ließ, ist eine von der lutherischen Spätorthodoxie aufgebrachte Legende ohne jeden historischen Anhalt.
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Wissenschaftlichem Interesse galt ein Abstecher nach L y o n , w o ihn Claude-François Menestrier ( 1 6 3 1 - 1 7 0 5 ) ermutigte, die heraldische Wissenschaft in Deutschland einzuführen.
Im Anschluß an eine mit seinem rappoltsteinschen Landesherren unternommene Reise an den Stuttgarter Hof weilte Spener von Juni bis Oktober 1661 in —» Tübingen, wo er zwei Kollegs über Genealogie und Heraldik hielt. Gemeinsam mit dem Alttestamentler Balthasar Raith (1616-1683) las er hier die erst kürzlich erschienene Wächterstimme aus dem verwüsteten Zion (1660) des Rostocker Theologen Theophil Großgebauer (1627-1661), das radikalste Kirchenreformprogramm der lutherischen Orthodoxie, das ihm die Augen für den Verfall der Frömmigkeit und die Reformbedürftigkeit der lutherischen Kirche öffnete. Seitdem lassen die Gedanken über eine Reform der lutherischen Kirche Spener nicht los, bis er in den Pia Desideria ein eigenes, in der Diagnose mit Großgebauer übereinstimmendes, aber in den Vorschlägen zur Besserung von dessen Ausrichtung auf die Reform der gesamten Volkskirche recht unterschiedenes Kirchenreformprogramm formulieren kann. Einem zu erwartenden Ruf auf eine historische Professur am Collegium illustre in Tübingen kam man in Straßburg durch die Berufung auf eine Freipredigerstelle zuvor. Sie verlangte nur gelegentlichen Predigtdienst und ließ Zeit zur wissenschaftlichen Weiterqualifizierung. Mit einer Dissertation über die Apokalypse des Johannes Muhammedismus in Angelis Euphrateis S. Johanni Apoc. IX, 13 ad 21 praemonstratus erwarb Spener am 23. Juni 1664 den theologischen Doktorgrad. Das durch den Türkeneinfall von 1664 veranlaßte Dissertationsthema nötigte Spener zum gründlichen Studium aller erreichbaren Apokalypsekommentare. In der gedruckten Dissertation mit -» Luther und Dannhauer noch der Auffassung, daß, wie fast alle biblischen Prophezeiungen, so auch diejenigen über den Islam bereits erfüllt seien und nur noch der Jüngste Tag bevorstehe, kam Spener bei der Nacharbeit zu einem geplanten, aber nie beendeten größeren Werk über die Johannesoffenbarung, zu der er sich u.a. den Apokalypsekommentar des -»Joachim von Fiore zusenden ließ, in immer stärkere Unsicherheit und Zweifel an der Richtigkeit der orthodoxen Interpretation des letzten biblischen Buchs. Er entfernte sich dadurch von seinem Lehrer Dannhauer, der die während des Dreißigjährigen Krieges neubelebte Erwartung des nahen Jüngsten Tages nach dem - von ihm als Scheinfrieden und Vorboten des Jüngsten Tages deklarierten •Westfälischen Frieden geradezu zum Glaubenspunkt gemacht hatte. Doch ist in der letzten Straßburger Zeit nur Zweifel an der lutherisch-orthodoxen Eschatologie festzustellen, noch nichts von Ansätzen zu der späteren pietistischen Hoffnung besserer Zeiten vor dem Jüngsten Tag. Am gleichen Tag, an dem er den Doktorgrad erwarb, trat Spener mit Susanne Ehrhardt (1644-1705), Tochter eines angesehenen Straßburger Patriziers, in den Ehestand. Aus der auf Drängen der Familie geschlossenen Ehe, die noch wenig von jener im Pietismus häufigen Seelengemeinschaft zeigt, ihm aber eine tüchtige, dem zusehends größer werdenden Hausstand souverän vorstehende und ihn ganz für die Arbeit im Amt und am Schreibtisch freistellende Gefährtin zur Seite gab, gingen elf Kinder hervor, von denen ihn sechs überlebt haben. Der erst Einunddreißigjährige erhielt im Sommer 1666 überraschend den Ruf auf die Stelle des Seniors des lutherischen Predigerministeriums der Freien Reichsstadt Frankfurt am Main. Nur zögernd, weil den Plan einer akademischen Karriere ungern aufgebend und auch in Furcht vor den ihm ungewohnten Seelsorgepflichten, nahm er an. Die Straßburger Theologische Fakultät hatte sich - anders als einzelne Patrizier - nicht dafür verwandt, Spener zu halten. In seiner Abschiedspredigt verwahrte sich Spener gegen den Verdacht des Hinneigens zu den Reformierten. Daß er auf seine Pia Desideria nirgends so scharfe Kritik erhielt wie von den Straßburger Theologen, dürfte auf frühe Spannungen zurückgehen. 1.2. Senior in Frankfurt am Main 1666—1686. Die 20jährige Amtszeit in Frankfurt am Main 1 6 6 6 - 1 6 8 6 bildet die entscheidende Phase im Leben Speners, auch wenn er
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den Gipfel seines kirchlichen Einflusses erst in den späten Berliner Jahren erreicht. In die Frankfurter Zeit fallen die drei wichtigsten Ereignisse aus der Entstehungszeit des Spenerschen Pietismus: die Einrichtung des Collegium pietatis (1670), die Veröffentlichung der Pia Desideria (1675), der Ausbruch der Separation unter seinen Anhängern, d. h. die Aufspaltung des Pietismus in eine kirchliche und eine radikal-separatistische Richtung. Was Spener nach seiner Frankfurter Zeit in Dresden und in Berlin noch zu wirken vergönnt war, geht über das im ersten Frankfurter Jahrzehnt gelegte Fundament seiner pietistischen Gedankenwelt an keiner Stelle hinaus. Zu Recht konnte der alte Spener sagen, daß in den Pia Desideria von 1675 „wirklich bereits alles enthalten ist / was ich nachmal gelehrt oder getrieben" habe (Wahrhaftige Erzählung [s.u. 2.2.] 52). In den ersten Frankfurter Jahren hat Spener im Sinne der Reformbestrebungen der lutherischen Orthodoxie für kirchliche und gesellschaftliche Besserung gewirkt. Zusammen mit den Amtsbrüdern im Predigerministerium, deren Empfindlichkeit gegenüber Neuerungen er respektierte und deren eigene Initiativen, wie z. B. die Einführung der Konfirmation, er aufgriff, drängte er den Magistrat erfolgreich zu Maßnahmen genauer Einhaltung der Sonntagsruhe, fand aber für die Verschärfung der Zucht- und Sittenordnung nur laue Unterstützung. Gegen die Selbstsicherheit der Durchschnittschristen, die sich auf das bloße Hören der Predigt und den Sakramentsempfang verlassen, ging Spener in Bußpredigten vor. Eine im Sommer 1669 gehaltene Predigt „Von der falschen Gerechtigkeit der Pharisäer" prangerte in teilweise wörtlicher Anlehnung an J. Arndt das Kirchgängerchristentum der Frankfurter Bürger als ein nur äußerliches, unwahres Christentum an, als zur Verdammnis führenden toten Glauben. Statt einer (von Spener erhofften?) allgemeinen Bußstimmung spaltete sich die Gemeinde. Während sich ein kleiner Teil der Zuhörer enger an ihn anschloß (hierin hat Spener später die Anfänge des Pietismus erblickt), empörte sich die Mehrheit. Spener mußte sich am nächsten Sonntag dagegen wehren, „papistisch" gepredigt zu haben. Dabei berief er sich auf Luthers Rede vom „wahren, lebendigen Glauben" in der Römerbriefvorrede, seitdem eine Kernstelle für das pietistische Glaubensverständnis. Ein zu dieser Zeit einsetzendes, langjähriges intensives Lutherstudium, veranlaßt durch den Auftrag, zusammen mit anderen Theologen einen Bibelkommentar aus den Schriften Luthers zu erstellen, verschaffte ihm eine einzigartige Lutherkenntnis und machte ihm den tiefen Gegensatz bewußt zwischen dem, was von der Reformation gewollt, und was nach anderthalb Jahrhunderten daraus geworden war. Spener berief sich seitdem — anders als sein orthodoxer Lehrer Dannhauer, der Luther gegen Arndt ausgespielt hatte - stets neben Arndt auf Luther und sah in beiden seine maßgeblichen Vorbilder. In seinen Predigten hat er außer biblischen Texten selten andere Autoritäten zitiert als Luther. In den späteren Auseinandersetzungen (s. u. 1.4.) zeigte er sich seinen orthodoxen Gegnern in der Lutherkenntnis überlegen. Anders als Dannhauer, der aus den späten Schriften Luthers schöpfte, hat Spener dem frühen Luther den Vorzug gegeben. 1.2.1. Das Collegium pietatis. Im Herbst 1669 gab Spener von der Kanzel herab den Rat, gute Freunde möchten sonntags zusammenkommen und anstelle von Kartenspiel oder Weintrinken ein Erbauungsbuch lesen oder die gehörte Predigt miteinander besprechen. Das sei eine gute Weise, den Sonntag zu heiligen. Im Sommer darauf, als diesem Rat in manchen Häusern gefolgt war, überraschten ihn einige gute Freunde, darunter der Jurist Johann Jakob Schütz (1640-1690) und der Theologiestudent Anton Tieffenbach (1641-1671), mit dem viel weitergehenden Vorschlag, eine Vereinigung zu gründen, in der man Gelegenheit zu erbaulichen Gesprächen habe und unter den Teilnehmern eine engere Freundschaft und Liebe stiften könne. Man sei der weltlichen Geselligkeiten überdrüssig, ja habe einen Ekel vor ihnen. Daß Spener im gleichen Jahr öffentlich vor einer Trennung von der Kirche warnt, legt nahe, daß kirchenkritische Ideen des -»• Spiritualismus unter seinen Frankfurter Predigthörern verbreitet waren. Der Keim der späteren Separation liegt wohl bereits in den Anfängen des Frankfurter Pietismus.
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Spener stellte sein Pfarrhaus zur Verfügung, wo sich seit August 1670 ein kleiner, bald wachsender Kreis Frankfurter Bürger, anfangs nur Patrizier und Akademiker, zweimal wöchentlich versammelte. Nach gemeinsamem Gesang sprach Spener ein Gebet, las einige Seiten aus einem religiösen Buch - in den ersten Jahren las man nacheinander L. Bayly, Joachim Lütkemann (1608-1655) und N. ->Hunnius - und legte sie aus, worauf die Aussprache begann. Ohne jede feste Ordnung konnte jeder das Wort ergreifen, nur unnütze Gelehrsamkeit und Polemik mußten vermieden werden. Ziel war die wechselseitige Erbauung, die Einübung ins allgemeine Priestertum (->Priester/Priestertum II). Spener hielt den Kreis offen, so daß die Teilnehmerzahl im Laufe der Jahre wuchs, auf im Jahre 1675 ca. 50 Personen, die das Pfarrhaus über Treppen und Flure füllten, wobei Kaufleute, Handwerker und Bedienstete die Mehrheit bildeten. Das Ziel, eine engere Freundschaft unter den Mitgliedern zu stiften, mußte aufgegeben werden. Auch Frauen wurden zugelassen und durften in einem besonderen Raum zuhören. Dies sind die Anfänge der sog. Collegia pietatis, Erbauungsversammlungen neben dem öffentlichen Gottesdienst auf Freiwilligkeitsbasis, die bald zum äußeren Kennzeichen des Pietismus wurden. Um die Wende 1674/75 wandelte sich der Charakter des Collegiutn pietatis. Das Montagskolleg wurde auf den Sonntag verlegt und diente der Predigtbesprechung. Die „menschlichen Bücher" legte man beiseite und beschäftigte sich nur noch mit der Bibel. Das Collegium nahm jetzt diejenige Gestalt an, in der es Spener in den Pia Desideria als Mittel der Kirchenreform vorschlägt: Gemeindeversammlungen zum Zwecke gemeinsamer Aussprache über die Bibel nach dem Muster von I Kor 14, um das sonst nur von den Kanzeln verkündete Wort Gottes reichlicher unter uns zu bringen. Enge Kontakte der Frankfurter Kollegianten zur Gemeinde von Labadie legen es nahe, daß man sich an Labadies L'exercice prophétique selon St. Paul au Chapitre 14 de sa 1 Lettre aux Corinthiens (Amsterdam 1668) orientiert hat, das von den Labadisten zu ebendieser Zeit nach Frankfurt gesandt und im Kreis um Spener (J.J. Schütz) eifrig studiert wurde. 1.2.2. Die Pia Desideria. Spener konnte also auf Erfahrung mit Gruppenbildung zurückblicken, als er 1675 mit dem Kirchenreformprogramm seiner Pia Desideria hervortrat. Im ersten Jahrzehnt seiner Frankfurter Amtstätigkeit war Spener literarisch - außer genealogischen und heraldischen Werken - nur mit einigen kleinen Predigtbänden und mit der Herausgabe von erbaulichen Schriften anderer (Labadie; Andreas Cramer [15821640]; J. Arndt; Narcissus Rauner [1631-1714] u.a.) hervorgetreten. Auch sein Kirchenreformprogramm veröffentlichte er im Frühjahr 1675 zunächst als Vorrede zu einer Neuausgabe der Evangelienpostille J. Arndts, gab es aber noch im Herbst 1675, vermehrt durch die Stellungnahmen seiner beiden Schwäger Johann Heinrich H o r b (1645-1695) und J. Stoll, als selbständiges Buch heraus unter dem Titel Pia Desideria oder Hertzliches Verlangen nach gottgefälliger Besserung der wahren evangelischen Kirchen. Die Pia Desideria zeigen eine klare Dreiteilung. Der Diagnose des verderbten Zustands der Kirche folgt die Prognose künftiger Besserung, woran sich die Therapie, also das Reformprogramm mit sechs Mitteln zur Besserung, anschließt. Im ersten Teil konstatiert Spener, von einem Blick auf den betrübten Zustand der gesamten Christenheit ausgehend, daß es der lutherischen Kirche zwar nicht an der Lehre, wohl aber am Leben mangele. In allen drei Ständen fehle es an lebendigem Glauben und wahrem Christentum. Der Obrigkeitsstand mißachte das ihm nach Jes 49,23 zukommende Amt der Kirchenfürsorge. Er mißbrauche sein Kirchenregiment zu einer „unverantwortlichen Cäsaropapie". Der Predigerstand sei untüchtig, weil er nur an Fortkommen und äußeres Ansehen denke, nichts davon wisse, daß das Predigtamt nicht wie andere menschliche Berufe mit menschlichem Fleiß, sondern nur mit der Hilfe des Heiligen Geistes recht erlernt und ausgeübt werden kann. Schuld sei die defizitäre Ausbildung durch eine von der Einfalt der reformatorischen Theologie sich entfernende neue scholastische Theologie, die sich in menschlicher Gelehrsamkeit und einem Übermaß von Kontroversen
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ergehe. Dem Laienstand fehle es an christlicher Bruderliebe und einem über eine äußere Ehrbarkeit hinausgehenden frommen Leben. Schuld sei, daß man nichts wisse von der Natur des wahren, lebendigen Glaubens, wie ihn Luther in der Römerbriefvorrede beschreibt, und sich in falscher Sicherheit auf den Gebrauch der Gnadenmittel -»Predigt und —> Sakrament als ein opus operatum verlasse. Bevor Spener die Mittel zur Besserung nennt, verwehrt er sich gegen Utopieverdacht mit dem Hinweis auf die frühe Christenheit, die von Mängeln zwar nicht frei, aber doch in einem sehr viel besseren Stand als die gegenwärtige sich befunden habe. Vor allem aber sei der Kirche vor dem Jüngsten Tag noch ein besserer Zustand auf Erden verheißen. Spener begründet dies mit den noch ausstehenden Verheißungen von der Bekehrung Israels (Rom 11,25f.) und dem Fall Babels (Apk 18 und 19), d.h. des römischen -•Papsttums. Hier ist die später vielfach weiterwirkende chiliastische Zukunftshoffnung (Hoffnung besserer Zeiten), zu der sich Spener um die Wende 1674/75 hingewandt hat, in das Ideengut des Pietismus integriert. An die Spitze seines Reformprogramms setzt Spener (a) den Vorschlag, „das Wort Gottes reichlicher unter uns zu bringen". Er empfiehlt häusliche Bibellese, Bibellesestunden für Analphabeten, sodann Gemeindeversammlungen zum Zwecke der erbaulichen Auslegung der Bibel nach dem Muster von I Kor 14, bei denen neben dem Pfarrer auch geistbegabte Laien Rederecht haben. Dies ist der im Pietismus epochemachende Vorschlag der Konventikel (vgl. TRE 3 0 , 5 3 8 , 3 9 - 5 3 9 , 8 ) . Spener schlägt weiter vor (b) die Praktizierung des allgemeinen Priestertums (in Speners Worten des „geistlichen Priestertums"), die Aktivierung der Laien zu Gebet, Bibellesen, Erbauung der Mitmenschen, (c) eine Schwerpunktverlagerung vom Wissen auf die Praxis im Christentum, (d) eine Minderung der theologischen Streitigkeiten, (e) eine Reform des Theologiestudiums im Sinne der praxis pietatis, wobei er zur Ergänzung der wissenschaftlichen Ausbildung die Einrichtung von Collegia pietatis mit Theologiestudenten und die Lektüre J. Taulers und anderer mystischer Autoren empfiehlt, schließlich (f) die Befreiung der Predigten von barocker Rhetorik und Prangen mit Gelehrsamkeit und ihre Ausrichtung auf die Erbauung des inneren Menschen (dazu TRE 27,303,30 - 47).
Speners Reformprogramm, das sich in seinen ersten beiden Vorschlägen vornehmlich auf Luther, in den übrigen auf Arndt beruft, steht in der Tradition der Reformbestrebungen der lutherischen Orthodoxie, verzichtet aber auf deren Hauptbesserungsmittel, die -> Kirchenzucht, wie auch auf die Mitwirkung der Obrigkeit bei der Kirchenreform und geht mit der chiliastischen Zukunftshoffnung und dem Konventikelvorschlag deutlich über dessen Rahmen hinaus. In der Vorrede zu den Pia Desideria vom Herbst 1675 wird erstmals der Kurswechsel markiert, der das Spenersche Programm auf die Schiene des Pietismus schiebt: alle seine Vorschläge liefen darauf hinaus, nicht zuerst die Bösen und Unwilligen zu bessern, sondern sich der Willigen und Frommen anzunehmen, damit sie „mehr und mehr mögen wachsen zu dem Maß der Gottseligkeit" (Pia Desideria: ed. Aland 8,27f.). Ihr Beispiel werde den anderen vorleuchten, bei denen es noch zur Zeit verloren scheint. Einstweiliges Zurückstellen der Versuche, die Kirche in ihrer volkskirchlichen Breite zu bessern, dafür Förderung und Sammlung der Frommen, das ist die Quintessenz des Spenerschen Kirchenreformprogramms. Er hat dafür - seit dem Sommer 1675 zunächst in Briefen, später auch öffentlich in Schriften und sich dabei auf Luthers Vorrede zur Deutschen Messe berufend - die Formel von der ecclesiola in ecclesia geprägt. Spener sandte die Postillenvorrede bzw. seine Via Desideria an nahezu alle, mit denen er in Korrespondenz stand, mit der Bitte um Stellungnahme. Innerhalb von zwei Jahren erhielt er über 90 Zuschriften. Mit seiner Klage über den Verfall der Kirche und den Mangel an wahrer, innerlicher Frömmigkeit fand er durchweg Zustimmung. Auf Kritik stießen der Vorschlag der Collegia pietatis, die mit der Erwartung einer Bekehrung der Juden begründete Hoffnung auf eine bessere Zeit für die Kirche, zuweilen auch seine Empfehlung der mystischen Theologie. Umfassende Bedenken äußerte der Studienfreund Balthasar Bebel (1632-1686) namens der Straßburger Theologischen Fakultät. Öffentliche Gegenschriften erschienen nicht. Dagegen ergoß sich in den nächsten Jahren eine Flut von Reformschriften über den deutschen Büchermarkt (Verfasser: Christian
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Kortholt [1633-1694]; Anton Reiser [1628-1686]; Elias Veiel [1635-1706; vgl. TRE 28,127,19f.]; Johann Ludwig Hartmann [1640-1680]; dazu Neudrucke älterer Reformschriften von Sigismund Evenius [1585-1639]; J.V. -»Andreae; Balthasar Meisner [15871626]; Ludwig Dunte [1597-1639]). Doch blieb das Echo auf die Pia Desideria literarisch. Spener klagt Ende 1676: „was meine einfältige pia desideria anlangt... so bleibets bei den meisten ... bei dem approbiren: aber an dem hand anlegen mangelts fast aller orten" (Brief an Johann Winckler [s.u. 1.2.3.] vom 15. Dezember 1676: Briefe aus der Frankfurter Zeit, II 1996, 552). In den anderthalb Jahrzehnten bis zu den Leipziger Unruhen um A.H. -»Francke bildet sich eine pietistische Bewegung außerhalb von Frankfurt nur vereinzelt, weniger durch die Pia Desideria als durch persönliche Verbindungen zu Spener und den Frankfurter Pietisten veranlaßt, vor allem in süddeutschen Reichsstädten (Schweinfurt, Rothenburg ob der Tauber, Augsburg, Windsheim) und Residenzstädten (Darmstadt, Wertheim), dazu an Grafenhöfen (Solms-Laubach, Stolberg-Gedern, Reuß-Lobenstein, Waldeck). Durch Johann Fischer (1636-1705), livländischer Superintendent in Riga, und Johann Gezelius d.J. (1647-1718), Professor in Abo, beide nach Besuchen in Frankfurt mit Spener und J.J. Schütz in Verbindung, wurden die Pia Desideria früh im baltisch-skandinavischen Raum bekannt. 1.2.3. Die Separation. Neben dem Spenerschen Collegium pietatis bildeten sich in Frankfurt seit 1675 weitere Konventikel. Johanna Eleonore von Merlau (verheiratete -•Petersen) und Maria Juliana Baur von Eyseneck (1641-1684) bildeten zusammen mit Schütz und einigen Theologiestudenten den Kern eines Kreises, der sich im Saalhof am Mainufer traf und in dem der ursprüngliche Gedanke des Stiftens einer engeren Freundschaft unter den Mitgliedern, den das Spenersche Collegium hatte aufgeben müssen, weiterverfolgt wurde. Hier suchte man die Verbindung mit Gleichgesinnten über die Konfessionsgrenzen hinaus, z.B. mit den reformierten Pietisten um Theodor ->Undereyck und Cornelis de Haase (1653-1710) in Bremen, mit den Labadisten in Altona und Wiewerd, mit kirchenkritischen Spiritualisten wie Ludwig Brunnquell (1631 -1689), auch mit den ->Quäkern. Als William Penn (1644-1718) 1677 Deutschland bereiste, kam er nach Frankfurt und hielt eine Andacht im Saalhof. Als Penn zur Besiedelung Pennsylvaniens aufrief, gründete Schütz mit einigen Freunden die Frankfurter Landkompagnie und erwarb umfangreichen Grundbesitz. Man plante den Auszug aus Babel. Spener hielt, als im Magistrat wegen der zunehmenden Konventikel und der Studentenpredigten Klage geführt wurde, schützend seine Hand über die Saalhofpietisten, verteidigte sie auch öffentlich in seinem Sendschreiben an einen christeifrigen ausländischen Theologum (1677), in welchem er den Vorwurf der Heterodoxie und des Separatismus für die pietistische Bewegung in Frankfurt generell zurückwies. Eine vom Magistrat verfügte Ausweisung von J.E. von Merlau aus der Stadt konnte er zusammen mit Schütz verhindern. Doch entfernten sich die Saalhofpietisten, die die lutherische Volkskirche wie alle großen Konfessionskirchen für verderbt hielten und mit Babel identifizierten, von dem sich die wahren Christen zu trennen hätten, immer mehr von der kirchlichen Linie Speners. Seit Ende 1682 zog sich Schütz, der seit 1676 wegen der großen Zahl der Unwürdigen nicht mehr das -»Abendmahl besucht hatte, mit seinen Freunden vom öffentlichen Gottesdienst zurück. Das Bekanntwerden eines bereits drei Jahre alten Briefes von Christian Fende (1651-1746), in dem das lutherische Abendmahl ein Götzendienst genannt wurde, führte zum offenen Bruch Speners mit den Saalhofpietisten. Während Schütz die Separation rechtfertigte in einem anonym erschienenen Diskurs, ob die Auserwählten verpflichtet seien, sich notwendig zu einer heutigen großen Gemeinde und Religion zu halten (1684), zog Spener in seiner Schrift Der Klagen über das verdorbene Christentum Mißbrauch und rechter Brauch (1685) einen deutlichen Trennungsstrich zwischen einem Pietismus als innerkirchlicher Reformbewegung und einem sich auf einen Standpunkt der „Unparteilichkeit" zurückziehenden radikalen separatistischen Pietismus.
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Die Separation eines Teils seiner engsten Freunde und Anhänger hat den Spenerschen Pietismus in seiner ersten Gestalt zerschlagen. Das Collegium pietatis hatte Spener schon 1682 von seinem Haus in die Barfüßerkirche verlegen lassen, wo neben ihm nur noch Theologiestudenten das Wort ergriffen. Über der letzten Frankfurter Zeit liegt tiefe Resignation. Mangelndes Entgegenkommen des Magistrats bei der Durchführung von Reformen, z.B einer Verbesserung des Beichtwesens, die zu einem persönlicheren Verhältnis der Prediger zu den Gemeindegliedern führen sollte, ließen ihm ein weiteres Bleiben nutzlos erscheinen. Das Frankfurter Armen-, Waisen- und Arbeitshaus, das auf Vorschlag und Drängen Speners 1679 eröffnet, aber - anders als später A.H. Franckes Anstalten — nicht unter die Direktion des Predigtamtes, sondern der städtischen Obrigkeit gestellt worden war, konnte auch ohne ihn existieren. So folgte er nicht ungern dem Ruf auf die Stelle eines Oberhofpredigers und Oberkonsistorialrats in Dresden, nachdem er sich von fünf befreundeten Theologen (Ch. Kortholt in Kiel; Christian Scriver [1629—1693] in Magdeburg; Johann Philipp Seipp [1650-1715] in Pyrmont; Theophil Spizel [ 1 6 3 9 1691] in Augsburg; Johann Winckler [1642-1705] in Hamburg) die Göttlichkeit der Berufung hatte versichern lassen. 1.3. Oberhofprediger in Dresden 1686—1691. Das Amt des kursächsischen Oberhofpredigers galt als die höchste geistliche Stelle im lutherischen Deutschland. An das bedeutende Wirken seiner Vorgänger hat Spener während seiner fünfjährigen Amtszeit jedoch nicht anknüpfen können. Der Kurfürst Johann Georg III. (gest. 1691) und sein Gefolge besuchten kaum den Gottesdienst. Als Spener als Beichtvater schriftlich dem Kurfürsten seine Verfehlungen vorhielt, kam es 1689 zum Zerwürfnis, das eine gedeihliche Amtsführung unmöglich machte. Allein mit den Frauen bei Hofe, der Kurfürstinmutter, die 1687 starb, und besonders der Kurfürstin Anna Sophia, einer dänischen Prinzessin, kam Spener in ein enges Vertrauensverhältnis, das sein Dresdner Wirken überdauerte und ihn noch in seinen späten Berliner Jahren zu jährlichen Predigtreisen an ihren Witwensitz Lichtenburg bei Prettin veranlaßte. Verglichen mit Frankfurt (und später Berlin) hatte Spener in der Schloßkapelle nur eine kleine Gemeinde unter der Kanzel, so daß er froh war, bei gelegentlichen Besuchen in Leipzig vor einer volkreichen Gemeinde predigen zu können. Neben seiner Predigttätigkeit nahm er sich besonders des Katechismusunterrichts an, unbeirrt durch das Gespött, der Kurfürst hätte statt eines Hofpredigers einen Schullehrer erhalten. Durch eigene Schriften (Kurtze Catechismuspredigten, 1689; vgl. T R E 17,764,4-23) wie durch Herausgabe katechetischer Werke anderer sorgte er für die Verbesserung des kirchlichen Unterrichts. Auf Speners Betreiben wurden 1688 durch Landtagsbeschluß Katechismusübungen in Kursachsen eingeführt. Spezifisch pietistische Aktivitäten wie die Einrichtung eines Collegium pietatis hat Spener in Dresden nicht verfolgt, jedoch durch einen regen Briefwechsel Verbindung mit den sich vielerorts bildenden pietistischen Kreisen gehalten. Als es um 1690 in Hamburg und Leipzig zur Auseinandersetzung pietistischer Gruppen mit der Orthodoxie kam, blieb er im Hintergrund, stand aber seinen Freunden und Anhängern mit Rat, Fürsprachen und öffentlichen Stellungnahmen zur Seite. In Die Freiheit der Gläubigen (1690) wandte er sich, den reformatorischen Freiheitsbegriff gegen das neue Papsttum der orthodoxen Geistlichkeit ausspielend, gegen den zur Unterdrückung des Pietismus geforderten Religionseid in Hamburg. Engen Kontakt durch Briefe und Besuche hielt er zu der in Leipzig um A.H. Francke sich formierenden pietistischen Bewegung, konnte aber ihre Unterdrückung und Vertreibung aus Kursachsen nicht hindern. Jahrelange Verhandlungen zwischen dem Dresdner und dem Berliner Hof führten endlich dazu, daß Spener im Sommer 1691 einen Ruf nach -»Berlin erhielt, dem er, diesmal ohne vorherige Befragung von Amtsbrüdern, ohne langes Besinnen folgte. 1.4. Propst an St. Nikolai und Konsistorialrat in Berlin 1691-1705. Der Übergang auf die gering besoldete, aber mit vermehrten Predigtpflichten verbundene Stelle eines
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Propstes an St. Nikolai in Berlin und eines brandenburgischen Konsistorialrats bedeutete äußerlich einen Abstieg; die in Berlin zahlreich übernommenen Leichpredigten dienten wohl der nötigen Aufbesserung seiner Bezüge. Doch die von den reformierten Hohenzollern verfolgte Politik der Toleranz und des konfessionellen Kirchenfriedens gab Spener die Chance, das Patronat über die in vielen Territorien und Städten verfolgte pietistische Bewegung wahrzunehmen, so daß er von Berlin aus eine viel fruchtbarere Wirksamkeit ausüben konnte als zuvor in Frankfurt und Dresden. Mit Hilfe des Ministers Paul von Fuchs (1640-1704) konnte er vertriebenen Gesinnungsfreunden in Brandenburg-Preußen Ämter und Anstellungen verschaffen. Spener ist es zu verdanken, daß die 1695 gegründete Universität -»Halle an der Saale weithin pietistisches Gepräge erhielt, A.H. Francke und seine Freunde dort Lehrstühle erhielten. Mit Francke seit 1689 in enger brieflicher Verbindung, beriet er ihn in den Jahren des Aufbaus des Waisenhauses und sorgte für Unterstützung am Berliner Hof. Die knapp anderthalb Jahrzehnte seiner Berliner Zeit bringen ihn auf den Gipfel seines Ansehens und kirchlichen Einflusses. In den seit 1690 ausbrechenden, jahrzehntelangen Streitigkeiten zwischen Orthodoxie und Pietismus, die auf beiden Seiten eine beispiellose Flut von Streitschriften und Pamphleten hervorbrachten, erwies sich Spener als überlegener Wortführer der neuen Bewegung. In BrandenburgPreußen um Ausgleich mit den schwachen Resten der Orthodoxie bedacht und in dem durch Johann Caspar Schade (1666—1698) ausgelösten Berliner Beichtstuhlstreit eine vermittelnde Position einnehmend, kreuzte Spener mit den Theologen Kursachsens (Johann Benedict Carpzov [1639-1699] und Valentin Alberti [1635-1697] in Leipzig, Johann Georg Neumann [1661-1709] in Wittenberg) und der norddeutschen Hansestädte (Johann Friedrich Mayer [1650-1712] in Hamburg, August Pfeiffer [1640-1698] in Lübeck, Samuel Schelwig [1643—1715] in Danzig), um nur die wichtigsten seiner Gegner zu nennen, in insgesamt 17 teils kleineren, teils größeren Streitschriften (ihre Titel bei Grünberg III, 2 5 7 - 259) die Klingen scharfer Polemik. In seiner Aufrichtigen Übereinstimmung mit der Augspurgischen Konfession (1695) verteidigte er sich souverän gegenüber dem Vorwurf der Wittenberger Theologen, in 263 Fällen gegen die Lehrartikel des -»Augsburger Bekenntnisses verstoßen zu haben. Andererseits ging er selbst zum Angriff über in seiner Behauptung der Hoffnung künftiger besserer Zeiten (1693), mit der er sich in den durch J.W. -»Petersen ausgelösten Streit um den -»Chiliasmus einmischte, bemüht, den pietistischen Chiliasmus, der mit dem in der Confessio Augustana verworfenen gewaltsamen Chiliasmus nichts zu tun habe, vor der Verketzerung zu retten. Spener zog sich 1698 vom Schauplatz der pietistischen Streitigkeiten zurück, die Feder Freunden und Schülern überlassend, um sich dem Sammeln und Bewahren seiner literarischen Hinterlassenschaft zu widmen. Er besorgte eine Ausgabe kleiner Predigtsammlungen und Schriften aus frühen Jahren, dazu Vorreden zu Werken anderer (Erste Geistliche Schriften, 1699). Eine Auswahl seiner meist seelsorglichen Briefe und Bedenken, die er seit seiner Frankfurter Zeit an Amtsbrüder, Obrigkeiten, aber auch an Laien (auffällig viele an Frauen) geschrieben hatte, komponierte er zu einem mehrbändigen pastoraltheologischen Handbuch (Theologische Bedenken und andere briefliche Antworten, 4 Bde., 1700-1702). C.H. von -»Canstein, enger Mitarbeiter seiner letzten Jahre, gab aus dem Nachlaß weitere Bände heraus (Letzte Theologische Bedenken, 3 Bde., 1711; Consilia et Iudicia theologica latina, 1709). Spener ließ sich 1699 in eine ständige Kommission für das Armenwesen wählen, die das von ihm schon bald nach seiner Ankunft vorgeschlagene Armen- und Waisenhaus errichtete (Großes Friedrichs-Hospital 1702). Dagegen ließ sich Spener für das 1703 vom König berufene Collegium charitativum, das die -»Union zwischen Reformierten und Lutheranern vorantreiben sollte, nicht gewinnen. So sehr er eine Union der beiden protestantischen Konfessionen für wünschbar und theologisch vertretbar hielt, so zurückhaltend war er gegenüber den von -»Leibniz und dem Hofprediger D.E. -»Jablonski betriebenen Plänen, die, da die Gemüter noch nicht reif und willig, nur zu weiteren Spaltungen führen würden. Zuletzt widmete sich Spener der Widerlegung der sozinianischen Irrlehren (-»Sozzini/Sozinia-
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ner), die er für bedrohlicher hielt als die römisch-katholischen und die calvinistischen (postum: Von der ewigen Gottheit Jesu Christi, 1706). Im S o m m e r 1 7 0 4 schwer erkrankt, k o n n t e ärztliche Hilfe für einige M o n a t e Besserung bringen. A m 5. F e b r u a r 1 7 0 5 starb Spener. Sein erbauliches Kranken- und Sterbelager hat der B a r o n von Canstein als Augenzeuge beschrieben (Vorrede zu Letzte Theologische Bedenken). 2.
Schriften
Zu den Pia Desideria s.o. 1.2.2. Speners literarische Hinterlassenschaft ist von einem Umfang, der eine - im 18. Jh. einmal erwogene - Gesamtausgabe gar nicht in Erwägung ziehen läßt. Eine solche Ausgabe, die zahlreiche Predigtbände von 1.000 oder 2.000 Seiten Umfang sowie 13 stattliche Quartbände mit Leichpredigten umfassen müßte, würde die Dimension der Weimarer Lutherausgabe weit hinter sich lassen. Möglich ist lediglich eine Auswahlausgabe, wie sie nach einem noch nicht endgültig festgelegten Editionsplan seit 1982 als Reprintausgabe im Erscheinen begriffen ist. Eine Ausgabe der Briefe Speners erscheint seit 1992. Möglich, aber noch nicht in Erwägung gezogen ist eine Edition des handschriftlichen Nachlasses (Archiv der Franckeschen Stiftungen Halle a. S.), z. B. der von Spener während seiner Straßburger Zeit angefertigten Tabellen zur Auslegung der Johannesapokalypse oder ungedruckter Ansprachen und Predigten. Einen Vollständigkeit anstrebenden, aber nicht ganz erreichenden Uberblick gibt P. Grünbergs Systematisches Verzeichnis von Speners Schriften (P. Grünberg, Philipp Jakob Spener, III 1906 [Nachdr. 1988], 2 1 1 - 2 6 8 ) . Dieses ca. 350 Nummern umfassende Verzeichnis, das außer den gedruckten Schriften auch eine Rubrik „Handschriftliches" enthält mit Angaben der seinerzeit bekannten Fundorte von Spenerhandschriften (meist Briefen und Gutachten), bleibt vorerst der Ausgangspunkt für die Spenerforschung, auch wenn Grünberg nicht wenige kleinere Texte (Leichpredigten, Kasualgedichte, Vorreden u.a.) sowie viele Neuauflagen und manche Ubersetzungen in andere Sprachen entgingen und das Verzeichnis der Fundorte für das handschriftliche Material durch Kriegsverluste oder -Verlagerungen sowie durch neue Funde nur noch begrenzt benutzbar ist. 2.1. Predigten und katechetische Schriften. L ä ß t m a n die Spener zuerst berühmt m a chenden historischen Arbeiten, die neben seinen religiös-theologischen Schriften merkwürdig unverbunden einherlaufen, mit einer genealogischen Schrift fürstlicher Ahnenerweisungen (1659, nicht bei Grünberg) des Straßburger Studenten beginnen und erst in der Dresdner Zeit mit dem zweiten Teil seines Opus heraldicum (1690) abgeschlossen werden, beiseite, so dominieren unter den Veröffentlichungen die Predigten. Spener hat, abgesehen von einer zweijährigen Unterbrechung 1 6 7 5 / 7 6 , seine Predigten wörtlich ausgearbeitet. Auf der Kanzel spontan zugefügte Passagen hat er als v o m Heiligen Geist eingegeben angesehen und unmittelbar nach d e m Gottesdienst in sein Manuskript eingetragen. Es gibt keinen zweiten deutschen protestantischen Theologen von ähnlicher Bedeutung, von dem so viele Predigten bekannt und zu großen Teilen gedruckt überliefert sind. Ein Vollständiger Catalogus, von Spener selbst aufgesetzt (gedruckt 1715), führt 3 . 0 0 5 Predigten auf. Eine Entwicklung, e t w a gar ein Bruch in Speners Predigtweise, der den Übergang von der O r t h o d o x i e zum Pietismus markieren würde, läßt sich nicht feststellen. „Die Eigenart der Spenerschen Predigtweise, die in einer gründlichen Erklärung des Wortsinnes des Textes und in der bedachtsamen Deduzierung dogmatischer, ethischer und seelsorgerlicher Wahrheiten besteht, die sich von allem rhetorischen Schwulst und gelehrtem Beiwerk freihält und auf das sonst übliche Zitieren von Autoritäten fast ganz verzichtet, die immer aus der Sache zu argumentieren sucht und in oft umständlicher, immer aber folgerechter Gedankenführung den Weg von der biblischen Wahrheit zur inneren Erbauung und zum tätigen Leben sucht - diese von der barocken Kunstpredigt der Orthodoxie deutlich unterschiedene, hingegen der Predigt Johann Arndts wie dem Stil der englischen Erbauungsbücher verwandte und deshalb nicht grundlegend neue Predigtart steht von allem Anfang an fest und hat nirgendwann wesentliche Veränderungen erfahren" (Wallmann, Spener [ 2 1986] 207). Spener hat bereits in der frühen Frankfurter Zeit kleinere Gruppen von zwei bis vier Predigten unter ein T h e m a gestellt (z. B. Von der Pharisäer ungültigen und frommer Kinder Gottes wahren Gerechtigkeit, 1 6 7 2 ; Drey christliche Predigten von Versuchungen, 1 6 7 3 ) und in d e m für Erbauungsschriften gängigen, für Predigtbände ungewöhnlichen
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Taschenformat (Duodez oder 24°) zum Druck gebracht. Neben diese kleinen Predigtsammlungen sowie auch Gelegenheitspredigten (Abschieds- und Antrittspredigten, Investiturpredigten, Landtagspredigten, Leichpredigten u.a.), von denen viele teils von ihm selbst in die Sammlung der Ersten Geistlichen Schriften (1699) aufgenommen worden sind, teils in die von Johann Adam Steinmetz (1689-1762) veranstaltete Sammlung Kleine Geistliche Schriften (2 Bde., 1741/42) Eingang fanden, hat Spener eine Reihe von Predigtjahrgängen über die sonntäglichen Perikopentexte herausgegeben. Den Titel „Postille" hat er gemieden (bei der Reisepostille, 1715, handelt es sich um eine postume Komposition aus nachgelassenen Manuskripten), dafür das -»Kirchenjahr unter ein Leitthema gestellt. In der Frankfurter Zeit erscheinen die Predigten des Kirchenjahrs 1676/77 unter dem Leitthema Des tätigen Christentums Notwendigkeit und Möglichkeit (1680). Mit dem Kirchenjahr 1679/80 hat er, die in der Hauptlehre der frühen Predigten stets wiederkehrende Trias „Lehre, Vermahnung, Trost" zu einem seinen Predigthörern zuvor angekündigten dreijährigen Predigtkurs umwandelnd, nacheinander die Glaubenslehren, die sittlichen Mahnungen und die Trostgründe behandelt. Er hat diesen Turnus in Dresden wiederholt und nacheinander die drei Predigtbände Die evangelische Glaubens-Lehre (1688), Die evangelischen Lebens-Pflichten (1692), Der evangelische Glaubens-Trost (1695) zum Druck gegeben, von denen der erste als die Dogmatik, der zweite als die Ethik Speners angesehen werden kann. Um der Gemeinde neben den Perikopen die „ganze Schrift" bekannt zu machen, hat Spener, der den Perikopenzwang kritisierte, aber nicht abschaffen konnte, die Predigtexordien zu Nebenpredigten über freie Texte umfunktionalisiert, sich dabei meist der Form der Lectio continua der neutestamentlichen Briefe bedienend. Aus diesen Predigtexordien ist eine Reihe von Predigtbänden über nahezu das gesamte paulinische Briefkorpus erwachsen: Divi Pauli Apostoli Epistolae ad Romanos et Corinthios (die Exordien des Tätigen Christentums, von V.L. von -*• Seckendorf? ins Lateinische übersetzt, mit Vorrede Speners, 1691), Erklärung der Epistel an die Galater (1697), Erklärung der Episteln an die Ephesier und Colosser wie auch einige Pastoralpredigten (1706). Neben diese im sonntäglichen Hauptgottesdienst gehaltenen Predigten treten Wochenpredigten aus der Berliner Zeit, die deutlicher an einen kleineren Kreis ernster Christen gerichtet sind und dadurch stärker pietistisches Gepräge haben: Der hochwichtige Articul (1696), Speners neutestamentliche Lieblingsschrift behandelnd von der Wiedergeburt Des hocherleuchteten Apostels und Evangelisten Johannis Erste Epistel (1699) und zuletzt Predigten über des sei. Johann Arnds Geistreiche Bücher vom Wahren Christenthum (postum 1706, Text sind die von Arndt den einzelnen Kapiteln seines Werks vorangestellten Bibelsprüche). Die Reihe der größeren Spenerschen Predigtbände ist damit nicht abgeschlossen. Es gibt Sammlungen von Katechismuspredigten (1689), Passionspredigten (1709), Bußpredigten (3 Bde., 1678-1710), Trausermonen (1691), Leichpredigten (13 Bde., 1677-1707). Katechetische Schriften. Speners Katechismus, die Einfältige Erklärung der christlichen Lehre nach der Ordnung des kleinen Catechismi Lutheri (1677), ist seine verbreitetste Schrift, häufig nachgedruckt (mindestens 13mal bis zur Mitte des 18. Jh.), übersetzt ins Dänische, Schwedische, Niederländische, Slowakische und Tamulische. In 1.283 Fragen und Anworten, die nicht zum Auswendiglernen, sondern zum Meditieren bestimmt sind, wird die christliche Lehre in einer Form dargeboten, die Verständlichkeit (Einfalt) und Praxisbezug (praxis pietatis) miteinander verbindet, dabei zum selbständigen Studium der Schrift Anleitung gibt. Es folgten die ebenfalls häufig nachgedruckten Tabulae catecheticae (1683), eine für die Pfarrer bestimmte tabellarische Aufteilung des Katechismusstoffs auf 95 Pensa, schließlich Kurtze Catechismuspredigten (1689; s.o. 1.3.). 2.2. Neben diese aus der Erfüllung seiner unmittelbaren Amtspflichten herrührenden Schriften tritt die zweite Gruppe, in der Spener - teils aus eigener Initiative, teils von anderen gebeten oder herausgefordert - als pietistischer Schriftsteller hervortritt. Hierher
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gehören zunächst die - nicht sehr zahlreichen - Erbauungsschriften-. Die lautere Milch des Lvangelii (1685), Der innerliche oder geistliche Friede (1686) und Natur und Gnade Ode' der Unterscheid der Wercke, So aus natürlichen kräfften und aus den gnadenwünkungen des Heiligen Geistes herkommen (1687), letztere aus den nachgeschriebenen Unterredungen des Frankfurter Collegium pietatis hervorgegangen. Gebetbücher hat Spener nicht verfaßt, doch haben andere aus seinen Predigtbänden - Spener pflegte jede Predgt mit einem sorgfältig formulierten Gebet zu beenden - kleinere Sammlungen zusammengestellt, z.B Zwei gottselige Gebete zum Gebrauch gottseliger Haushaltungen, 1694. Spezifisch pietistische Anliegen vertrat Spener in seiner oft nachgedruckten und in andere Sprachen übersetzten Schrift Das geistliche Priestertum, 1677. Aus Anlaß einer frühen orthodoxen Kritik an seinen Pia Desideria begründete er die pietistische -»Hermeneutik, nach der es kein wahres Verstehen der Bibel ohne Erleuchtung durch den Heiligen Geist gebe, in Die allgemeine Gottesgelehrtheit aller gläubigen Christen und rechtschaffenen Theologen, 1680. Speners sozialreformerische Ideen enthält der - durch einer. Bericht A.H. Franckes vermehrte - Predigtdruck Christliche Verpflegung der Armen, 1697. Zahlreich sind Speners Vorreden zu Schriften anderer (davon 30 bis zum Jahr 1698 gedruckt in: Erste Geistliche Schriften, 1699). Bis zu den Pia Desideria von 1675 ist die Vorrede die einzige, später immer noch die bevorzugte Form zur Äußerung eigener Gedanken. Zu den größeren und bedeutenderen gehören neben den Pia Desideria die Vorrede zu der von Spener in Tabellenform gebrachten Hodosophia christiana Dannhauers De impedimentis studii theologici (1690, dt. in: Kleine Geistliche Schriften, 1740), die seine Gedanken von der Reform des Theologiestudiums enthält, die Vorrede zu einer Bibelausgabe von 1694, separat gedruckt unter dem Titel Das nötige und nützliche Lesen der Heiligen Schrift (1695), sowie die Vorrede zu V.L. von Seckendorf^ Bericht und Erinnerung auf die Imago Pietismi, 1692, leicht verändert separat gedruckt als Wahrhaftige Erzählung dessen, was wegen des sogenannten Pietismi in Deutschland seit einiger Zeit vorgegangen, 1697. 2.3. Polemische Schriften. Eine eigene Gattung bilden die polemischen Schriften. Was die herkömmliche konfessionelle Polemik angeht, so hat sich Spener, abgesehen von der frühen Frankfurter Predigt Von Vorsehung vor den falschen Propheten (1667), die er später aus dem Katalog seiner Schriften gestrichen hat, an der Polemik gegen die Reformierten nicht beteiligt. Dagegen hat er die Konfessionspolemik gegen den römischen Katholizismus weitergeführt, gegen dessen Lehre (Rechtfertigungslehre) besonders in Schriften (Die evangelische Glaubens-Gerechtigkeit, 1684) und gegen das Papsttum vornehmlich in Predigten (Gerechter Eifer wider das Antichristische Papstthum, hg. v. Georg Pritius, 1714). Dazu kommt die ihm am Lebensende vordringliche Auseinandersetzung mit den Sozinianern (Verteidigung des Zeugnisses von der ewigen Gottheit Jesu Chriiti, hg. v. Paul Anton, 1706); zu der innerprotestantischen Auseinandersetzung zwischen Spener und der lutherischen Orthodoxie s.o. 1.4. 3. Bedeutung
und
Wirkung
„Die Bedeutung, welche Spener in der Kirchengeschichte einnimmt, knüpft sich nicht an seine Theologie. In ihr bewegte er sich auf vorgeschriebenen Bahnen; und worin er sich ton denselben entfernte, ist ziemlich versteckt" (Ritsehl II, 125). Der Versuch, entgegen diesem Urteil Speners Bedeutung gerade in seiner Theologie zu sehen, in der die refornatorische Rechtfertigungslehre in ihrer melanchthonisch-orthodoxen Ausprägung durch eine mystisch-spiritualistische Wiedergeburtslehre verdrängt worden sei (M. Schmidt, Wiedergeburt und neuer Mensch), hat sich in der Forschung nicht als konsensfihig erwiesen. Eher ist festzustellen, daß Spener einer sich weithin mystisch-spiritualiitischen Wiedergeburtsanschauungen öffnenden und damit von der reformatori-
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sehen Rechtfertigungslehre entfernenden pietistischen Frömmigkeitsbewegung den Stempel der reformatorischen Rechtfertigungslehre (-»-Rechtfertigung IV), an der er in ihrer forensischen Form festhielt, aufgeprägt hat. Allerdings hat er die Rechtfertigung, enger als die lutherische Orthodoxie es tat, unmittelbar mit der —»Wiedergeburt verknüpft, um aus beiden die Erneuerung als die eigentliche christliche Lebensaufgabe herzuleiten (in späterer Terminologie: Rechtfertigung und -»Heiligung). Spener hat damit den Pietismus, jedenfalls in seiner kirchlichen Form (A.H. Francke und der hallische Pietismus; Nikolaus Ludwig Graf von -»Zinzendorf und die Herrnhuter -»Brüdergemeine; J . A . -»Bengel; F.Ch. -»Oetinger und der württembergische Pietismus), auf dem Boden des lutherischen Bekenntnisses gehalten und ihn vor Separation und Heterodoxie, denen ein nicht auf den Bahnen Speners bleibender radikaler Pietismus zufiel, bewahrt. So gab Spener dem Pietismus das Selbstbewußtsein, in der Tradition -»Luthers zu stehen und seine -»Reformation der Lehre'durch eine zweite Reformation des Lebens zu vollenden. Wieweit die von der augustinisch-reformatorischen Eschatologie sich entfernende Hoffnung besserer Zeiten, mit der Spener dem bis dahin verketzerten Chiliasmus Eingangsrecht in Theologie und Frömmigkeit der lutherischen Kirche gewährte, das Urteil -»Ritschis zu korrigieren zwingt, bleibt vorderhand eine offene Frage. Speners eigentliche Bedeutung liegt darin, daß er aus einer seit dem Anfang des 17. J h . (J. Arndt) verbreiteten Frömmigkeitsbewegung eine kirchliche Reformbewegung mit einem klar umrissenen Erneuerungsprogramm gebildet hat, das kirchliche Aktivität von den Zwängen eines obrigkeitlich regulierten absolutistischen Staatskirchentums löste, die Theologie von Aristotelismus, Scholastik und einem Übermaß von Polemik befreite und auf die biblische Grundlage und auf die individuelle Erfahrung verwies und das, nicht zuletzt durch die Aktivierung der Laien (allgemeines Priestertum), eine langanhaltende individualisierende Neubelebung der Frömmigkeit und des Gemeindelebens bewirkt hat, was den deutschen -»Protestantismus befähigt hat, in der durch den Individualisierungsschub der -»Aufklärung geprägten -»Neuzeit als eine eigenständige neue Gestalt protestantischen Christentums zu bestehen. So mag es berechtigt sein, in Spener nicht nur den Vater des Pietismus, sondern den Begründer des -»Neuprotestantismus zu sehen. Quellen Bibliogr. bei Paul Grünberg (s.u. bei Lit.) III, 2 1 1 - 2 6 8 . - Hauptschr., hg. v. Paul Grünberg, Gotha 1889. - Pia Desideria, hg. v. Kurt Aland, 1940 '1964 (KIT 170). - Sehr., hg. v. Erich Beyreuther, Hildesheim 1979ff. [umfangreiche Reprintausg.]. - Die Werke Philipp Jakob Speners. StA, hg. v. Kurt Aland, Gießen 1996ff. - Briefe aus der Frankfurter Zeit 1666-1686, hg. v. Johannes Wallmann, Tübingen 1992ff. - Briefe aus der Dresdner Zeit 1 6 8 6 - 1 6 9 1 , hg. v. dems., Tübingen [im Erscheinen]. - Briefwechsel mit A.H. Francke, Tübingen [im Erscheinen].
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666
Spengler
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Spengler, Lazarus
(1479-1534)
1. Rolle und Einfluß des Ratsschreibers 2. Bildung und Frömmigkeit vor der Reformation 3. Schwerpunkte des reformatorischen Wirkens 4. Gesamtprofil (Quellen/Literatur S.669) 1. Rolle und Einfluß des
Ratsschreibers
Spengler gehörte zu den allerersten und erfolgreichsten reformatorischen Flugschriftenverfassern (-»Flugschriften der Reformationszeit). Er w a r der erste Laie, der sich publizistisch für die R e f o r m a t i o n einsetzte. M i t seiner Verbindung von humanistischer, theologischer, juristischer und politischer Kompetenz kann er als der T h e o l o g e unter den Politikern der frühen R e f o r m a t i o n und insbesondere als deren Apologet und Advokat gelten. Er wurde am 13. März 1479 als Sohn eines ebenfalls bedeutenden Ratsschreibers in Nürnberg geboren. Nach dem Besuch der Lateinschule und einem dreisemestrigen Studium an der ArtesFakultät der Universität -»Leipzig trat er 1496 in den Schreiberdienst seiner Heimatstadt. 1506 übernahm er die Leitung der Ratskanzlei, zunächst kommissarisch, ab 1507 bis zu seinem Tode am 7. September 1534 als einer der beiden Ratsschreiber. In dieser Funktion trug Spengler die Verantwortung für den gesamten Schriftverkehr des Stadtregiments; er hat den politischen und rechtssetzenden Ratswillen beeinflußt, dokumentiert und ausgeführt; die Organisation der reichsstädtischen Verwaltung lag in seinen Händen, und ihm wurden wichtige diplomatische Missionen anvertraut (z.B. auf den -»Reichstagen Augsburg 1518 und Worms 1521). Die Möglichkeiten der Steuerung, die ihm seine amtliche Stellung und das enge Vertrauensverhältnis zu vielen Ratsherren bot, hat er zugunsten der Reformation ausgeschöpft. Er gewann daher großen Einfluß auf den kirchlichen Kurs der Reichsstadt und der fränkisch-hohenzollernschen Fürstentümer und wurde in den zwanziger Jahren, begünstigt durch die ausstrahlende Bedeutung Nürnbergs und die besonders engen Kontakte zu Wittenberg, ein bedeutender Religionspolitiker auf Reichsebene. Seine Impulse, Entwürfe und Formulierungen fanden Eingang in die Dokumente der Städtetage und der Städteeingaben auf den Reichstagen, so z. B. auch in jenen von ihm konzipierten Brief mehrerer Reichsstädte vom 15. Juli 1524, der als erstes öffentliches Reformationsbekenntnis einer Gruppe von Reichsständen gelten kann (Hamm, Rechtsdenker 243). —•Luther wußte, w a s er einem Ratsschreiber wie Spengler verdankte. In einer Tischrede von 1542 bemerkt er: „Es liget mechtig viel an einem gutten stadtschreyber in
Spengler
667
einer Stadt, wenn etwas sol ausgerichtet werden. Ich halte, wenn Lazarus Spengeler zu Nurmbergk gethan [es darauf angelegt] hette, das euangelion were so bald nicht auff gangen. Die stadtschreiber thun, wie es die propheten vorzceitten thetten bey den konigen" (WA.TR 5,132,30-133,2 [Nr.5426]).
2. Bildung und Frömmigkeit
vor der
Reformation
Die Bedeutung, die Spengler für die R e f o r m a t i o n gewann, hing unmittelbar damit zusammen, daß er schon vor der R e f o r m a t i o n von einer persönlichen Gewissensfrömmigkeit, einem kirchlichen Reformeifer und rastlosen Bildungsstreben bewegt war, die weit über die Grenzen des Amtlichen hinausgriffen und sich in vielerlei persönlichen Aufzeichnungen und privat publizierten Schriften niederschlugen. Schon vor dem Bekanntwerden mit Luther tritt uns Spengler als humanistisch gelehrter Laientheologe und Rechtsdenker entgegen. Der k o m m u n a l e Bezug des Ratsschreibers ist dabei stets präsent: Es geht ihm um die entscheidende Frage, welche Quellen der Bildung und Religiosität städtische Werte wie Gerechtigkeit und Frieden, Gemeinsinn und Gehorsam normativ begründen und so das Gemeinwesen zusammenhalten. Spengler öffnet sich zu Beginn des J a h r h u n d e r t s zunächst einem stark stoisch geprägten - » H u manismus, an dem ihm besonders die orientierende G r u n d n o r m der Vernunft wichtig ist; in seiner (doch wohl erst um 1 5 1 9 / 2 0 gedruckten, inhaltlich aber auf seinen frühen Lesefrüchten beruhenden) humanistischen Tugendschrift nennt er sie „ein meisterin und regulirerin alles menschlichen l e b e n s " (Schriften 1,12,4 [Nr. 2]). Eine dominierend religiöse Ausrichtung - besonders im Blick auf B u ß e , willige Kreuzesnachfolge und Sterbetrost - gewinnen die humanistischen Studien in den J a h r e n 1510 bis 1515 durch seine Hieronymus-Begeisterung, die er mit seinem Freund und N a c h b a r n A. - > D ü r e r teilt. Es folgt 1 5 1 6 / 1 7 unter dem packenden Eindruck der Predigten des J . von —• Staupitz (Nachschriften Spenglers) die Wendung zu einem gnadentheologischen Augustinismus, durch den die Leitbegriffe Liebe und Vertrauen, verstanden als W i r k u n g e n des göttlichen E r b a r m e n s , zentrale Bedeutung für ihn erhalten. D a m i t war der Boden bereitet für die Faszinationskraft, die seit 1518 T h e o l o g i e und Person des Staupitzschülers Luther auf Spengler ausübten. Die früheren N o r m e n wurden dadurch für ihn nicht außer Kraft gesetzt. Vernunft und Liebe bleiben als Strebepfeiler des bürgerlichen Z u s a m m e n l e b e n s n o r m a t i v , nur d a ß Spengler nun in Luthers Verständnis von Wort und G l a u b e jene T h e o l o g i e findet, die seiner Vernunft völlig einleuchtet, weil sie sich - wie keine andere - auf die Autorität der Heiligen Schrift gründe und eine selbstlose, von der N ö t i g u n g zum Heilserwerb befreite Liebe ermögliche.
3. Schwerpunkte 3.1. Der Apologet
des reformatorischen der
Wirkens
Reformation
Es entsprach dem prinzipienorientierten Fragen Spenglers nach dem Legitimationsgrund kirchlichen Rechts und christlicher Ordnung, zugleich aber auch dem Rechtfertigungsdruck, in den seine Heimatstadt durch ihre exponierte Lage als Zentralort des Reichs und reichsstädtischer Vorposten Wittenbergs geriet, daß Spengler literarisch vor allem als Apologet und Advokat der R e f o r m a t i o n hervortrat. Den Anfang bildete die Schutzrede für Luthers Lehre von 1519, Spenglers Programmschrift des reformatorischen sola scriptura, die bewirkte, daß sein N a m e in den T e x t der päpstlichen Bannbulle gegen Luther aufgenommen wurde. Sie war die erste deutschsprachige Reformationsflugschrift außerhalb des Wittenberger Theologenkreises und der Auftakt einer ganzen Kette Spenglerscher Reformationsapologien in den zwanziger J a h r e n . Diese teils anonym oder pseudonym publizierten, teils unveröffentlichten Schriften stellten das göttliche R e c h t Luthers wider das schreiende Unrecht seiner Gegner ins Z e n t r u m , nahmen die Nürnberger Pröpste und Prediger in Schutz, verteidigten die Nichtbefolgung des - » W o r m s e r Edikts, gaben den Vorwurf, Unfrieden und Aufruhr zu verursachen, an die Gegenseite zurück und rechtfertigten die reformatorischen Änderungen in Nürnberg und andernorts. Den Religionsartikel des Reichstagsabschieds von Speyer 1526 legte Spengler als einer der ersten evangelischen Publizisten programmatisch im Sinne eines Reformationsrechts der Reichsstände aus (Nr. 4 5 ) .
668
Spengler
Zur Reihe der Apologien ist auch die Publikation Ein kurzer Auszug aus den päpstlichen Rechten (1529/1530) zu rechnen, in der Spengler Sätze aus dem Kanonischen Recht zusammenstellt, die in seinen Augen wichtige Neuordnungen der städtischen und territorialen Reformation, z. B. die Abschaffung der Zölibatspflicht, bestätigen. Je mehr die Reformation Nürnbergs und der fränkischen Fürstentümer institutionelle Züge gewann, besonders seit dem Nürnberger Religionsgespräch im März 1525 und den sich anschließenden Maßnahmen gegen die Klöster, desto deutlicher verlagerte sich die Reformationsapologetik Spenglers von der theologischen auf die kirchenpolitische und -juristische Ebene. Er wird dabei stärker im Dienste des Rats, gelegentlich auch auf Anfrage anderer Obrigkeiten apologetisch tätig, einerseits als geheimer Berater durch eine Fülle von Gutachten, durch Instruktionen an Ratsgesandte auf den Reichs-, Städte- und Bundestagen und Briefe an verbündete Reichsstädte und Fürsten, andererseits als Verfasser öffentlich argumentierender Rechtfertigungsschreiben des Rats an auswärtige Reformationsgegner. Der unverkennbare Denk- und Sprachduktus Spenglers ist in dieser immens umfangreichen Ratskorrespondenz auf Schritt und Tritt greifbar, auch wenn seine Autorschaft durch die amtlichen Vorgaben eingeschränkt war.
3.2. Lehre
und
Bekenntnis
Einige Flugschriften Spenglers (Schriften N r . 16, 17, 26), aber auch sein berühmt gewordenes, in der - » K o n k o r d i e n f o r m e l wiederholt zitiertes Lied Durch Adams Fall (Nr. 22) und die drei Versionen seines (von Luther besonders geschätzten und herausgegebenen) Glaubensbekenntnisses (Nr. 48) zeigen das Bemühen des Ratsschreibers, den theologischen Lehrertrag der frühen R e f o r m a t i o n summierend zu bündeln und auf den „Begriff" zu bringen (vgl. z . B . den Titel einer Flugschrift von 1525 [ N r . 2 6 ] : Ein kurzer Begriff, wie sich ein wahrhafter Christ in allem seinem Wesen und Wandel gegen Gott und seinen Nächsten halten soll). M i t ihrer Konzentration auf Glaube und Liebe als G r u n d n o r m e n „aines gantzen warhafften christenlichen w e s e n s " ( N r . 16) gehören sie zu den reformatorischen P r o g r a m m s c h r i f t e n der zwanziger J a h r e und sind zugleich ein Beitrag zur evangelischen Bekenntnisbildung. In der Weise, wie sich Spengler an Luther orientiert, vor allem dessen Rechtfertigungslehre prägnant aufnimmt, zugleich aber auch Gedanken und Formulierungen -»-Melanchthons, - > O s i a n d e r s und Zwingiis einfließen läßt, tritt deutlich hervor, wie er das Rezipierte souverän verarbeitet und seiner Vision einer verchristlichten Reichsstadt dienstbar m a c h t . Der innerreformatorische Abendmahlsstreit (vgl. T R E l,107,26ff.) machte Spengler zu einem erbitterten Gegner Zwingiis und seiner Anhänger in den oberdeutschen Kommunen. Spenglers Kritik an den Schweizern und Oberdeutschen richtete sich nicht nur gegen die symbolische Abendmahlslehre, sondern auch gegen die Verquickung der Reformation mit den (dem kaisertreuen Nürnberg unsympathischen) Zielen einer antihabsburgischen Opposition. Nach der Protestation der evangelischen Reichsstände auf dem Speyerer Reichstag 1529 entwarf Spengler die Instruktion für die Gesandtschaft der Protestierenden zum Kaiser, die ihre religiösen Gewissensgründe darlegen sollte. Die Religionsverhandlungen des Augsburger Reichstags 1530 bereitete er für die Nürnberger Seite koordinierend vor. Er begrüßte vorbehaltlos die C o n f e s s i o Augustana {-*Augsburger Bekenntnis, Confutatio und Apologie), während er die der kaiserlichen Confutatio folgenden Ausgleichsverhandlungen zur Wiedergewinnung der kirchlichen Einheit mit größter Skepsis beobachtete. Es waren vor allem prinzipielle theologische Gründe, die ihn Kompromisse in Fragen der Lehre und des Gottesdienstes ablehnen ließen. Für einen Abbruch der Ausgleichsverhandlungen setzte er sich direkt bei Luther ein. 3.3.
Trostschriften
„ T r o s t " hat für den Ratsschreiber nicht nur eine individuelle Dimension. Da er v o n der wurzelhaften Sündhaftigkeit und Labilität des Menschen her das gesamte Leben als Leiden, Anfechtung und Kreuz versteht, bezieht er in seinen vier Trostschriften (aufgeführt bei H a m m , Rechtsdenker 2 4 6 A n m . 57) die tröstende Wirkung des Evangeliums sowohl auf die persönliche Gewissensnot als auch auf die religionspolitische Bedrängnis der Obrigkeiten. Vom inneren Getröstetsein der glaubenden Seele ausgehend soll „ T r o s t " zur umfassenden Lebensgrundlage des Gemeinwesens werden.
Spengler 3.4.
Kirchliche
669
Ordnung
„ O r d n u n g " ist e i n e r d e r w i c h t i g s t e n r e l i g i ö s e n u n d p o l i t i s c h e n L e i t b e g r i f f e S p e n g l e r s . A l s L a i e n t h e o l o g e u n d R e l i g i o n s p o l i t i k e r t r e i b t er d e s h a l b a l l e B e m ü h u n g e n v o r a n , d e n reformatorischen Veränderungsimpulsen eine institutionell und rechtlich gesicherte Ordn u n g zu g e b e n . O r g a n i s a t o r i s c h u n d l i t e r a r i s c h w a r er a n d e r N ü r n b e r g e r A r m e n o r d n u n g ( 1 5 2 2 ) u n d - in e n g e r Z u s a m m e n a r b e i t m i t d e r m a r k g r ä f l i c h e n K a n z l e i ( G e o r g V o g l e r [ 1 4 8 6 - 1 5 5 0 ] ) - s o w o h l an der V i s i t a t i o n s o r d n u n g (1528) als a u c h an der BrandenburgN ü r n b e r g i s c h e n -»• K i r c h e n o r d n u n g ( I I / 1 . 5 . 1 2 . ) v o n 1 5 3 3 b e t e i l i g t . D e r e n E r s c h e i n e n bedeutete den k r ö n e n d e n A b s c h l u ß seiner jahrelangen Anstrengungen. Spengler k ä m p f t e dabei an verschiedenen F r o n t e n : Gegen die W i d e r s t ä n d e des R a t s d r ä n g t e er — o h n e Erfolg — z u s a m m e n mit den P r ä d i k a n t e n auf eine christliche Z u c h t - u n d B a n n o r d n u n g . H a t d o c h für ihn die V e r k ü n d i g u n g des Evangeliums s o w o h l die D i m e n s i o n des verzeihenden Erb a r m e n s als a u c h die einer neuen Strenge im städtischen Z u s a m m e n l e b e n . G e g e n ü b e r O s i a n d e r s A n s p r u c h auf eine kirchlich-geistliche F ü h r u n g s r o l l e der P r ä d i k a n t e n h o b er die kirchenregimentliche Z u s t ä n d i g k e i t der Laienobrigkeit h e r v o r , so wie er die K i r c h e n o r d n u n g im Unterschied zu O s i a n d e r auch nicht unter der Leitperspektive der christlichen Freiheit, s o n d e r n der des obrigkeitlich e i n z u s c h ä r f e n d e n Gesetzes s a h . Gegen die Vorstellungen eines A n o n y m u s (wohl des N ü r n b e r g e r Schreibers G e o r g Frölich [um 1 5 0 0 - 1 5 7 5 ] ) , der R a t solle in der Stadt unterschiedliche (friedliche) G l a u b e n s - und Kultweisen d u l d e n , v e r t r a t Spengler v e h e m e n t die traditionelle A u f f a s s u n g von der einheitlichen R e l i g i o n s a u s ü b u n g in einem H e r r s c h a f t s g e b i e t . 4.
Gesamtprofil
Für S p e n g l e r s S t e l l u n g in d e r R e f o r m a t i o n s g e s c h i c h t e ist e i n e V e r m i t t l e r r o l l e c h a r a k t e r i s t i s c h , w i e s i e a u c h bei a n d e r e n g e l e h r t e n B e a m t e n d i e s e r Z e i t z u b e o b a c h t e n ist. A l s R a t s s c h r e i b e r , L a i e n t h e o l o g e , F l u g s c h r i f t e n a u t o r , B e r a t e r d e r O b r i g k e i t u n d O r d n u n g s p o l i t i k e r s t e h t er z w i s c h e n O b r i g k e i t u n d G e m e i n d e , R a t s h e r r e n ( o d e r J u r i s t e n ) und Prädikanten, F a c h t h e o l o g e n und Laien, Politik und T h e o l o g i e , Kaisertreue und E i n s a t z f ü r d i e R e f o r m a t i o n , T a k t i k u n d B e k e n n t n i s . I m E n t s c h e i d u n g s f a l l g i b t er d e m o f f e n e n B e k e n n t n i s d e n V o r r a n g v o r d e r d i s s i m u l i e r e n d e n T a k t i k - in d e r Ü b e r z e u g u n g , d a ß die Förderung des G o t t e s w o r t e s letztlich auch d e m irdischen G e d e i h e n des G e m e i n w e s e n s d i e n l i c h ist. D i e A n z i e h u n g s k r a f t d e r B o t s c h a f t L u t h e r s u n d s t ä d t i s c h e r R e f o r m a t i o n s p r e d i g e r w i e Z w i n g l i u n d O s i a n d e r l i e g t f ü r i h n v o r a l l e m d a r i n , d a ß d u r c h sie d a s biblische W o r t als Befreiungs-, Trost- u n d O r d n u n g s p r i n z i p zur u m f a s s e n d e n Orie n t i e r u n g s n o r m f ü r a l l e L e b e n s b e r e i c h e g e m a c h t w i r d u n d d a m i t - i m Z u g e d e r Verchristlichung k o m m u n a l e r Werte -
eine neue religiös-politische Geschlossenheit
des
christlichen G e m e i n w e s e n s erreichbar erscheint. Wesentlich ist dabei für Spengler, d a ß die Heilige Schrift als einfache, klare, fraglos gültige u n d in sich verständliche N o r m q u e l l e f ü r jeden Christen zugänglich u n d plausibel ist (weshalb er im A b e n d m a h l s s t r e i t die Position Luthers stereotyp mit d e m A r g u m e n t verteidigt, d a ß es a m w ö r t lichen Sinn der klaren E i n s e t z u n g s w o r t e nichts zu deuteln gibt). Die O b r i g k e i t e n h a b e n sich der Direktive der Heiligen Schrift u n t e r z u o r d n e n u n d G l a u b e wie Liebe zu f ö r d e r n . W o die Bibel w e d e r e t w a s gebietet n o c h verbietet, spricht er den A n o r d n u n g e n der O b r i g k e i t göttliche D i g n i t ä t zu („alls hett es G o t g e p o t t e n " , „ d a s solchs gottliche g e p o t t und bevelch s e i n " [Schriften 11,354,6; 355,4]). Wenn die O b r i g k e i t , wie im Falle des Kaisers, gegen G o t t e s W o r t u n d seine A n h ä n g e r vorgeht, tritt die U n t e r s c h e i d u n g der beiden Reiche in K r a f t , d.h. es g e b ü h r t ihr n u r G e h o r s a m in zeitlichen Dingen. Ein R e c h t auf g e w a l t s a m e n W i d e r s t a n d aber k a n n n a c h Spenglers Verständnis n u r gegen die a u s d r ü c k l i c h e I n t e n t i o n der Heiligen Schrift geltend g e m a c h t w e r d e n . D a m i t unterstützt er in der f ü r ihn charakteristischen V e r b i n d u n g von rational k a l k u l i e r e n d e m Realitätssinn u n d eifernder E v a n g e l i u m s t r e u e die politischen K r ä f t e , die N ü r n b e r g u n d die fränkischen Fürstent ü m e r aus d e m - » S c h m a l k a l d i s c h e n Bund h e r a u s h a l t e n . Quellen Werkausgabe: L a z a r u s Spengler Sehr., hg. v. Berndt H a m m / W o l f g a n g H u b e r / G u d r u n Litz, G ü tersloh 1995ff., bislang ersch. I 1995 II 1999 ( Q F R G 61.70) [Diese kritische Edition berücksichtigt alle Schriften, die Spengler als selbständiger A u t o r v e r f a ß t h a t , w ä h r e n d sie amtliche Schriften, die er nach Vorgaben a n d e r e r konzipierte u n d f o r m u l i e r t e , beiseite läßt.].
670
Spiel I
Teileditionen, die in Einzelstücken die Werkausgabe ergänzen: Lazarus Spengler als Übersetzer. (Ps.-)Eusebius De morte Hieronymi Nürnberg 1514, eingel. u. hg. v. Erika Bauer, Heidelberg 1997 (Germanische Bibliothek 3. R. NF 28). - DRTA.JR 2.3.7.8. - Andreas Osiander d.Ä., GA, hg. v. Gerhard Müller/Gottfried Seebaß, 10 Bde., Gütersloh, I - V 1975-1983. - Willibald Pirckheimers Briefwechsel, München, II — IV 1940-1997. - Quellen zur Nürnberger Reformationsgesch. Von der Duldung liturg. Änderungen bis zur Ausübung des Kirchenregiments durch den Rat (Juni 1524 - Juni 1525), hg. v. Gerhard Pfeiffer, 1968 (EKGB 45). Literatur Helene Burger, Ein reformationsgesch. Handakt Lazarus Spenglers: ZBKG 31 (1962) 30-39. - Harold J. Grimm, Lazarus Spengler. A Lay Leader of the Reformation, Columbus, Oh. 1978 [unzuverlässig], - Berndt Hamm, Stadt u. Kirche unter dem Wort Gottes. Das reformatorische Einheitsmodell des Nürnberger Ratsschreibers Lazarus Spengler: Lit. u. Laienbildung im SpätMA u. in der Reformationszeit, hg. v. Ludger Grenzmann/Karl Stackmann, Stuttgart 1984, 710-731. - Ders., Lazarus Spengler u. Martin Luthers Theol.: Martin Luther. Probleme seiner Zeit, hg. v. Volker Press/Dieter Stievermann, Stuttgart 1986, 124-136. - Ders., Humanistische Ethik u. reichsstädtische Ehrbarkeit in Nürnberg: Mitt. des Vereins f. Gesch. der Stadt Nürnberg 76 (1989) 65-147. - Ders., Hieronymus-Begeisterung u. Augustinismus vor der Reformation. Beobachtungen zur Beziehung zw. Humanismus u. Frömmigkeitstheol. (am Beispiel Nürnbergs): Augustine, the Harvest, and Theology (1300-1650). FS Heiko A. Oberman, hg. v. Kenneth Hagen, Leiden 1990, 127-230. - D e r s . , Ein Stadtschreiber als Theologe. Bürgerliche Religion u. christl. Glaube bei Lazarus Spengler (1479-1534): ders., Bürgertum u. Glaube. Konturen der städtischen Reformation, Göttingen 1996, 141-178. - Ders., Der Nürnberger Ratsschreiber Lazarus Spengler als Rechtsdenker u. Advokat der Reformation: Recht u. Verfassung im Übergang vom MA zur Neuzeit. I. T., hg. v. Hartmut Boockmann u.a., Göttingen 1998, 230-257. - Urban Gottlieb Haußdorff, Lebens-Beschreibung eines christl. Politici, vornehmlich Lazari Spenglers [...], Nürnberg 1740. - Wolfgang Huber, Der Nürnberger Ratsschreiber Lazarus Spengler als Apologet der Reformation: ZBKG 66 (1997) 1 - 1 1 . - Gerhard Müller, Lazarus Spengler als Theologe: ders., Causa Reformationis, hg. v. Gottfried Maron/Gottfried Seebaß, Gütersloh 1989, 354-370. - Jürgen Uwe Ohlau, Neue Quellen zur Familiengesch. der Spengler. Lazarus Spengler u. seine Söhne: Mitt. des Vereins f. Gesch. der Stadt Nürnberg 52 (1964) 232-255. - Gerhard Pfeiffer, Albrecht Dürer u. Lazarus Spengler: FS Max Spindler, hg. v. Dieter Albrecht u.a., München 1969,379-400. - Ders., Lazarus Spengler: Fränkische Lebensbilder 11, hg. v. Alfred Wendehorst/dems., Neustadt a.d. Aisch 1984 (Veröff. der Gesellschaft f. Fränkische Gesch. R. 7A/11) 6 1 - 7 9 . - Hans v. Schubert, Lazarus Spengler u. die Reformation in Nürnberg, hg. v. Hajo Holborn, Leipzig 1934 (QFRG 17) (Nachdr. New York/London 1971) [bis April 1524 grundlegend], - Gottfried Seebaß, Apologia Reformationis. Eine bisher unbekannte Verteidigungsschr. Nürnbergs aus dem Jahre 1528: ZBKG 39 (1970) 20-74. - Oskar Tyszko, Beitr. zu den Flugschr. Lazarus Spenglers, Diss. phil. Gießen 1939 (Gießener Beitr. zur dt. Philologie 71) (Nachdr. Amsterdam 1968). Berndt H a m m
Speyerer Reichstage 1526, 1529, 1542, 1544 -»Protestation von Speyer, -»Reichstage der Reformationszeit
Spiel I. Philosophisch II. Praktisch-theologisch III. Religionsgeschichtlich
S. 677 S. 683
I. Philosophisch 1. Spieltheorien der Einzelwissenschaften 2. Piatos Umwertungen von Ernst und Spiel 3. Christliche Abschätzungen von ludus, divertissement, ästhetischer Existenz 4. Entdeckung des Spiels als ästhetischer Freiheit und Bedingung der Humanität 5. Weltspiel - Spiel des Seins 6. Zur Struktur und vom Glück menschlichen Spielens (Quellen/Literatur S. 676)
Spiel I 1. Spieltheorien
der
671
Einzelwissenschaften
Im Erkenntnisstadium positiver Wissenschaftlichkeit herrschen Theorien des Spiels vor, die sich in den Gebieten der Einzelwissenschaften ausgebildet haben. So erklärt biogenetische Forschung, im Spielen des Kindes wiederhole die N a t u r F r ü h f o r m e n der menschlichen Stammesgeschichte bzw. Kulturentwicklung (Adama van Scheltema). Umg e k e h r t erscheint das (frühkindliche) Spielen - aus biologischen Z u s a m m e n h ä n g e n mit d e m Verhalten der Tiere - als Vorübung, absichtslose Selbstausbildung, Funktionsausü b u n g des Lebewesens, Darstellung der Lebendigkeit als solcher in ihrem elementaren Ü b e r s c h u ß c h a r a k t e r (Groos), als L o c k e r u n g des Instinktverhaltens und Befreiung von instinktbedingter D e t e r m i n a t i o n in einem „ e n t s p a n n t e n Feld", da der M e n s c h mit seinen Triebzielen spielt (Bally). Z u d e m sucht eine verstehende Psychologie im Blick auf Urp h ä n o m e n e des spielenden Menschen- und Tierkindes in seinem ungerichteten, „ p a t h i s c h e n " Bewegungsdrang innerhalb einer Spielsphäre von Bildern den unbändigen Spieltrieb zu erklären: aus einer Ambivalenz zwischen Bindung und Selbstmächtigkeit, Vereinigungs- und Befreiungstrieb (Buytendijk). (Einen Überblick über die bedeutendsten Spieltheorien seit G r o o s bietet Allemann 7 - 7 0 . ) Dagegen m a c h t die - • P ä d a g o g i k im Rückgriff auf J.-J. - » R o u s s e a u und F. Fröbel das Eigenrecht des Kinderspiels geltend und n i m m t das in E r k u n d u n g s - , Bau-, Geschicklichkeits- und Rollenspiel vierfach typisierte Spiel der Kinder (Sutton-Smith) in Rücksicht „ k ö n n e n s p e z i f i s c h e r " Spieltätigkeiten und -gehalte in H u t (Flitner; Scheuerl). Dabei analysiert die Entwicklungs- und Intelligenzpsychologie vorzüglich die Übergänge vom a k k o m o d i e r e n d e n Übungs- über das assimilierende Symbol- bis zum Rollenspiel (Piaget). Ebenso beziehungsreich sucht die A n t h r o p o l o g i e (von H . ->Spencer bis Arnold Gehlen [1904-1976]) das Spiel zu fassen: von der Funktionslust der Bewegungen her, als k o m m u n i k a t i v e Weltbemächtigung, als Selbsterschließung eigenen Könnens, als ein das Gemeinschaftsleben f ö r d e r n d e s Rollenspiel, als Quelle des Jubeins und Lachens, z. B. beim Schaukeln oder N a c h l a u f e n , und grundlegend als integrales M o m e n t der exzentrischen Positionalität des M e n s c h e n (Plessner). Einflußreich ist das klassische Werk J. Huizingas Homo ludens g e w o r d e n . Material- und geistvoll erklärt es die F o r m e n des Darstellungsspiels und des W e t t k a m p f e s f ü r älter als alle Kultur (Kunst, Recht, Sprache, M u s i k , Kultus, Ritus) und erhebt sie zum kulturschaffenden F a k t o r , wobei die Figur des homo ludens, des W e t t k ä m p f e r s und Spielers, den archaischen M e n s c h e n verkörpert (zu E i n w ä n d e n vgl. P a n n e n b e r g 320ff.). Und im Z u g e solcher Forschungsrichtung leitet eine vom Spiel ausgehende Soziologie in V e r k n ü p f u n g der Kategorien Kampf und Wettstreit, Ekstase und Panik, V e r w a n d l u n g u n d A n p a s s u n g , Verstellung und Rausch die Erscheinungsformen der f r ü h e n H o c h k u l t u r e n aus Rollenspiel u n d M a s k e , die der „prim i t i v e n " Gesellschaften aus magischer Besessenheit von Tanz u n d Rausch her (Caillois). Auf den ganz anderen Wegen der Wahrscheinlichkeitsrechnung und Kybernetik entwickelt die „ g a m e theory" (von N e u m a n n / M o r g e n s t e r n ) unter Einberechnung von agonalen und aleatorischen K o m p o n e n t e n , von Risikobereitschaft, Wettbewerbssituation und Erfolgswahrscheinlichkeit rationale Strategien, um m a x i m a l e n G e w i n n und minimalen Verlust nicht nur f ü r Schach oder Poker, sondern auch f ü r M a r k t m o d e l l e und Sozialprobleme zu erreichen (über Tragweite und Grenzen der A n w e n d u n g von Strukturen „strategischer Spiele" auf wirtschaftlich-gesellschaftliche Prozesse vgl. Brandt). Und nicht zuletzt gehen vielfältige Impulse von L. - • W i t t g e n s t e i n s Einfall der „Sprachspiele" aus (Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen §§ 23.65.66.71.116 u.ö.). D a nach verbindet sich die Spielhandlung in einem ein- und ausgeübten Regelverhalten mit dem Sprechen im alltäglichen G e b r a u c h der Sprache und herrscht in vielfältigen Sprachspielen wie Befehlen, Berichten, Theaterspielen, Reigensingen, Bitten, Fluchen, Beten. Deren lediglich beschreibbare Familienähnlichkeit lasse alle (metaphysisch-sinnlosen) Definitionsversuche des Spiels an sich scheitern. - Also bieten die Einzelwissenschaften spannungs-, material-, beziehungs-, einfalls- u n d aufschlußreiche Beobachtungen und
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Spiel I
Erklärungen im Hinblick auf das Spielverhalten der Tiere, Kinder, Kulturen, der Gesellschaft, Wirtschaft, der Sprache und liefern Beschreibungen aller Arten von Regel-, Phantasie-, Bewegungs-, Darstellungs-, Rollenspielen. Wo sie aber losgelöst von der Philosophie verfahren, da verstummen die Grundfragen nach dem Sein des Spiels und dem Spiel des Seins. 2. Piatos Umwertungen
von Ernst und Spiel
-•Piatos Denken ist es ernst mit der Bildung (naiösia) des Menschen durch Umkehr der ganzen Seele: vom verderblichen Scheinwesen der naiöiä (dem Kinderspiel und unernsten Scherz) zur wahren Würde eines musisch gebildeten, feierlichen Spiels in Annäherung an Gott. So eröffnet Plato das Spannungsfeld der Spieltheorie ontologisch im Eingehen auf Sein und Schein, Wesen und Unwesen des Spiels und auf das göttliche und sterbliche Dasein der Spielenden und Mitspielenden. Epochal ist die heiß umstrittene „Dichterkritik" im 2.-3. und 10. Buch des Staates: Die mimetische Kunst, zumal die aus der nichtsnutzigen Erfinderkraft Homers und den Unwahrheiten des poetischen Mythos geborene Tragödiendichtung, sei unwürdige JiaiSiä (resp. 602b), verderbliches, mit der begierdenhaften Lust befreundetes Schauspiel im bloß scheinbar harmlosen Medium von Nachahmung und Spiel: dreifach von der Wahrheit und der -»Idee des Guten entfernt. (Entsprechend wird das Schattenbild der Schrift gegenüber der lebendigen Rede und dem die Sache ernsthaft prüfenden Dialog als bloßes Spiel herabgesetzt; Phdr. 277e.) Eine äußerste Gegenwendung aber vollzieht Plato selber in seinem Alterswerk, den Gesetzen: Der Mensch sei Spielzeug, eine Marionette der Götter (leg. 644d-645c), und er solle sich spielend, heilige Feste mit Dichtung, Musik und Tanz im gebildeten Sinn für Rhythmus und Harmonie feiernd (leg. 644d-645c), dem wahren Seinsverhältnis von Spiel und Ernst einfügen (leg. 803-804). Das, was wir Sterblichen ernst nehmen, Krieg und Streit, Arbeit und Lebenssorge, sei nichts Ernstes vor Gott. Indem wir aber das melodisch-rhythmische Fest-Spiel „begehen", kehren wir uns dem Göttlichen zu. „Was in dieser Umkehr im Medium des Spiels zum Vorschein kommt, ist die eigentliche Wahrheit des Menschen, sein Doppelwesen: gering vor Gott, solange er sich ernst nimmt, den Göttern ähnlich, sobald er feiert und spielt" (Gundert 18). 3. Christliche
Abschätzungen
von ludus, divertissement,
ästhetischer
Existenz
Wie Plato das Homerisch-tragische Weltalter dadurch beendet, daß seine „Dichterkritik" im Namen der Ideenwahrheit die Magie des Spiels entzaubert und die Macht des Darstellungs- und Maskenspiels bricht, so hat -»Tertullian das Spiel (ludus) als Element der vita romana im Namen christlichen Glaubens folgenreich verurteilt. Seine rhetorische Streitschrift De spectaculis verdammt alle vier Arten der spectacula - Wagenrennen, Gladiatorenkampf und Tierhetze, den sportlichen Wettkampf der Athleten (certamina graeca), Mimus und Pantomimus - als unvereinbar mit einer christlichen Lebensführung im Stande gewissenhaften Glaubens. Die Raserei der mitspielenden Massen (nach S. -»Freud: Abfuhr von Triebenergien), die Grausamkeit der Tier- und Menschenschlachterei, die Unsinnigkeit und Gewaltsamkeit des sportlichen Agon und die zur Schau gestellten Verbrechen und Unkeuschheiten in -»Tragödie und Komödie vertragen sich schlecht mit der christlich gebotenen Stille, Friedfertigkeit, Milde und Ruhe der Seele. Zirkus, Amphitheater, Stadion und -»Theater sind keineswegs Orte harmloser Zerstreuung, sondern Stätten perverser Leidenschaften. Sie sind doppelt verderblich, weil die dortigen Spiele ihrem Ursprung zufolge heidnischem Götzendienst und Totenopfer frönen. All diese unsittlichen und idolatorischen Scheinvergnügen werden einst im erhabenen Schauspiel des Jüngsten Gerichts von einem einzigen Feuer verzehrt werden. Niemals ist die Lust der Welt am Spiel glühender verurteilt worden. Aus anderen Motiven christlichen Existierens hat B. —»Pascal das Spiel demaskiert: als Flucht vor der Langeweile, in der sich der Abgrund menschlicher Existenz zeigt
67 3
Spiel I
(Pascal, Pensées 131.139.140.164.171 u.ö.). Das geschieht im Blick auf das Treiben der „Großen der Welt". Zu deren Zerstreuung (divertissement) werden pausenlos Ballspiele, Billard, Glücksspiele, Maskenbälle, Tänze, Opernaufführungen, Liebes-, Jagd- und Kriegsspiele arrangiert. Der Reiz daran ist nicht ein äußerer Zweck - geschenkt ist der Gewinn dem Glücksspieler gleichgültig - , sondern die atemlose, selbstvergessene Konzentration auf das geschickte Spielen selbst. Das nämlich lenkt davon ab, sich mit dem Elend der eigenen Endlichkeit beschäftigen zu müssen. Der zerstreuende Zeitvertreib des Spiels vertreibt jene tiefe Langeweile (ennui), die aus der eigenen Leere aufsteigt und unsere Nichtigkeit und Todverfallenheit fühlbar macht. Niemals wieder ist das verzweifelte Amusement des Spiels schärfer mit dem bitteren Ernst religiösen Existierens zwischen Zeit und Ewigkeit konfrontiert worden. Im Zuge entschlossener Innerlichkeit hat endlich S. ->• Kierkegaard den Ernst ethischreligiösen Existierens gegen alle Gestalten der ästhetischen Existenz - gegen eine Dialektik des Angenehmen und Unangenehmen, wider das interesselose, der Wirklichkeit gegenüber gleichgültige Wohlgefallen - geltend gemacht. Das richtet sich schon früh gegen das freie, nicht einmal an die eigenen Spielregeln gebundene Spiel der dichterischen Willkür in der -»-Romantik (Kierkegaard, Ironie 308). Dem Spiel der Dichterexistenz - und der Sorglosigkeit der Griechen - stehe der Ernst des Christentums gegenüber. „Das Christentum ist der fürchterliche Ernst: in diesem Leben wird deine Ewigkeit entschieden" (Kierkegaard, Pap. XI, 1 A91). Solch radikale Abwertungen hat freilich schon die aristotelische Hochscholastik gemildert. So unterscheidet -»Thomas von Aquino in Antwort auf das Gebot des —• Ambrosius, nach Lk 6,25 seien alle Spiele und Lustbarkeiten aus der Welt zu schaffen, zwischen der Sünde maßlos leidenschaftlichen Spiels und der Tugend heiterer Entspannung, welche weder den Ernst des Lebens noch die Freude der Gottesliebe beschädigt (Thomas, S.th. II-II 1 6 8 , 2 - 4 ) . Aus dem Geiste des Thomas und im Aufsuchen griechischchristlicher Weisheiten wird H. Rahner 1948 behutsam eine das Spiel bejahende theologia ludens entwerfen: vom Urbild des Deus vere ludens, von dessen Bilde, dem homo ludens, vom Raum und liturgischen Tun einer „spielenden Kirche" und vom Wort des „himmlischen Reigens". 4. Entdeckung
des Spiels als ästhetischer
Freiheit
und Bedingung
der
Humanität
Die transzendentale Kritik des reinen Spiels gipfelt in F. Schillers Gebot: „Der Mensch soll mit dem Schönen nur spielen, und er soll nur mit dem Schönen spielen" (Schiller, Nationalausgabe X X , 359). Einzig im Reiche des schönen Scheins, der sorglosen Muße und der idealen Kunst, nicht aber im Leben und der auferlegten Arbeit dürfe „der doppelte Ernst der Pflicht und des Schicksals" (ebd.) außer Kraft gesetzt werden. Und der Mensch soll nicht in nichtigem Vergnügen und gedankenloser Zerstreuung vulgärer Spiele, wohl aber in jener Versammeltheit spielen, in welcher Schönes allererst als lebende Gestalt erscheint. I. -»-Kants „Analytik des Schönen" (Kritik der Urteilskraft S S 6 - 9 ) hat solches Spiel als eigentümlichen Zustand menschlicher Freiheit analysiert. Es kommt zustande, wenn alle Kräfte von Sinnlichkeit und Verstand einander regelrecht beleben ohne den Zweck theoretischer Erkenntnis oder praktischen Begehrens. Dieses zweckmäßig geregelte Spiel des Gemütes ohne Zweck bildet den Zustand einer inneren Freiheit, welche frei von Interessen an der Wirklichkeit und frei für den aufrichtigen Schein des Schönen und der Kunst macht. Das ist eine Gunst, welche einzig dem Menschen - gleichsam als Ausgleich für seine Zerrissenheit in Sinnlichkeit und Vernunft, Pflicht und Neigung - gegönnt und dem Künstler-Genie, dem „Günstling der Natur", geschenkt ist. Schillers Briefe Über die ästhetische Erziehung des Menschen haben das Spiel mit dem Schönen als Bedingung vollendeter Humanität deduziert (zu Ansatz und Aufbau, Wirkungsgeschichte und ontologischer Problematik vgl. Janke; Sdun; Strube, Schiller; Kowatzki; Gadamer). Sie bahnen einen langen transzendentalen Weg zur Schönheit als
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Spiel I
letzter notwendiger Bedingung der Menschheit. Dieser führt über den ernsten Antagonismus von Stofftrieb und Formtrieb (und durch die politischen Gefahren der Wildheit und Barbarei) zu einer ausgesöhnten Harmonie des Spieltriebs, in welcher die Pflicht leicht, das Schicksal der Lebenssorge und Arbeit klein wird und alles Wirkliche seinen Ernst verliert. Dessen zwanglose Freudigkeit deckt nicht nur die völlige Übereinstimmung des Einzelnen mit sich selbst auf - „Der Mensch spielt nur, wo er in voller Bedeutung des Wortes Mensch ist, und er ist nur da ganz Mensch, wo er spielt" (Schiller, Nationalausgabe X X , 359) - , sie durchstimmt auch die Gemeinschaft eines „ästhetischen Staates", in welchem Menschen einander nur als „Objekt freien Spiels gegenüber stehen" (ebd. 410). Das schafft mitten im furchtbaren Reich physischer Kräfte und im heiligen Reich moralischer Gesetze eine Oase des Friedens und der Freiheit. (Bei -»Sartre [759ff.] erscheint noch einmal das Spielen und engagierte Mitspielen als Manifestation der Freiheit und Freiheit als Manifestation des echten, nicht etwa unwahrhaftigen Spiels.) Nirgendwo aber ist das Spiel als Erfüllung humanen Selbst- und Sozialverhaltens stringenter abgeleitet worden als auf Schillers „transzendentalem Weg" im 10.-12. Brief Über die ästhetische Erziehung. Am Ende ist Schillers Warnung, die Humanität gehe da zugrunde, wo die Freiheit des Spiels in Kunst und Gesellschaft (Kultus und Liturgie) verboten und instrumentalisiert werde, im Zeitalter machtergreifender Ideologien verheerend ignoriert worden. Aus geschichtlicher Erfahrung barbarischer Tyrannei ist Schillers Synthese von Spieltrieb und Schönheit nicht mehr ästhetizistisch, sondern politisch begriffen worden, und zwar von ihrem Endziel her: der Befreiung des Menschen von der inhumanen Wirklichkeit der Not und des Mangels und der Errichtung einer nicht-repressiven Kultur und Gesellschaft (Marcuse, Triebstruktur 179-194). Und im Gegenentwurf zu einer inhumanen „Welt ohne Spiel", das ist der Umformung des Menschen in einen Mechanismus, ist die „Welt des Spiels", das ist die (mythisch-religiöse) Vereinigung von imperium und libertas, bedacht worden. Da würde Christus wieder erkannt werden als der Christus der Kinder, des Himmelreichs der Spiele in uns, das von Gott geschaffen wurde (Jünger 235). 5. Weltspiel — Spiel des Seins Es ist F. -»-Nietzsches Künstlerblick, welcher eine heraklitische Sicht auf das Spiel der Welt eröffnet. Damit kommt ein uralter Sinn von Spiel und Sein wieder zum Austrag. Sonach bilden das Spielen und der immer wieder erwachende Spieltrieb gar keine autonome, versöhnende Lebensform des Menschen als dem freien Spielsubjekt. Das Weltspiel zieht den Menschen ganz in sich hinein. Dabei greift Nietzsche schon früh auf das „erhabene Gleichnis" des Heraklit - „Der Aeon ist ein Kind beim Brettspiel; eines Kindes ist die Herrschaft" (Heraklits Frgm. B 52 nach Heidegger) - zurück. So wie das Kind (und der Künstler) in unschuldiger Laune ohne moralische Zurechnung aufbaut und zerstört, so spielen der Aeon und das „lebendige Feuer" (der Logos) mit sich (Nietzsche, Philosophie 830; darüber Held 4 3 8 - 4 4 0 ; Picht; Wohlfart). Das entsetzt mit einem Schlage alle Prämissen, aus denen der platonisch-christliche Streit um Wesen und Unwesen des Spiels folgen: den Ernst der göttlichen Idee des Guten, die Differenz von Leben und Idee, die Freiheit des Menschen und das Prinzip der Subjektivität. Und es eröffnet vom Weltspiel aus postmetaphysische Einblicke in den Sinn des Seins. Der Aeon Heraklits bedeutet nichts Geringeres als das Seinsgeschick, das sich im Geheimnis des Spiels ohne Warum als das Höchste und Tiefste ereignet (Heidegger 188; zur kategorialen, hermeneutischen und existenzialen Funktion des Spielbegriffs im Denken Heideggers überhaupt sowie über das „Endspiel" metaphysischen Denkens in Besinnung auf den Zeit-Spiel-Raum der Welt vgl. Heidemann 278 - 3 7 2 ) . - Das Spiel als spekulativer Spiegel ernsthaften Lebens lasse Arbeit, Kampf, Liebe und Tod in eine magische Freiheitswelt zurückscheinen und bilde jenen Seinsgrund, in welchem alles Seiende zum Spielzeug des Weltspiels werde (Fink, Oase). So gewinnt das Spiel kosmische Transzendenz, nicht etwa als das große Spiel der Evolution, sondern als der spekulative Gedanke vom
Spiel I
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grundlosen Verhältnis zwischen Seinsverbergung und Seinslichtung im tragischen und komischen Welttheater. Im Menschenspiel scheine das Walten der Welt (ludus mundi) zurück, dessen All-Macht eben spielt, ohne Ziel, Zweck, Plan und Sinn (Fink, Spiel 238). 6. Zur Struktur
und vom Glück menschlichen
Spielens
Spiel ist kein illusionäres Randphänomen, sondern eine eigenständige Wirklichkeit des Menschenlebens und seiner Glückserfüllung. Darum läßt es sich aus dem Gegensatz zu Arbeit, Kampf, Pflicht, Ernst, Sein zum Tode nur negativ - als Arbeitsunterbrechung, Unernst, Zeitvertreib, kindisches Vergnügen - und im Erwarten von Seinsgeschick und Weltlauf nur sinnbildhaft - als Seinsmetapher und Weltsymbol - fassen. Zwar ist es dem Sterblichen nicht gegeben, wie die olympischen Götter ewig not-, tod-, sorg- und schicksallos zu spielen, gleichwohl halten Spielen und Mitspielen sinnstiftend einen genuinen Zeit-, Raum-, Welt-, Gemeinschafts- und Gottesbezug und eine Möglichkeit geglückten Daseins offen. (Dadurch - und nicht nur durch das weltbemächtigende Symbol- und welterschaffende mundane Regelspiel; vgl. Allemann 7 1 - 1 2 4 - unterscheidet es sich fundamental vom vielartigen Spielen in der Welt der Tiere. So bleiben die Tonspiele im Amsellied, das „Glasperlenspiel der Grasmücken", die Freiflüge der Kolkraben u. a. zeitgestaltendes Appetenzverhalten; vgl. Bally; Portmann.) Freilich hat die abendländische ->Ethik das Glück, das ist das höchste Gut und letzte Worum-willen menschlichen Strebens, in die Lebensführung unter dem Geleit der Tugend (äperrj) verlegt - in Abwertung jenes vermeintlichen Glücks, das in der Lebensweise des Spiels an Königshöfen gepflegt wird. Unmöglich könne kindhaftes Spielen Sinn und Ziel all unserer Anstrengungen und Bemühungen sein; denn das Spiel sei eine dem Menschen nötige Ruhepause und so Mittel zum Zweck und vom Endzweck, der geglückten, trefflichen Lebenstätigkeit, entfernt (Aristoteles, eth. Nie. X , 6 ) . Aber entzieht sich nicht der Eigensinn des Spiels aller Zweck-Mittel-Relation? So ernsthaft und zielgerichtet ein Brett- und Schachspiel in seinem regelhaft-schöpferischen Gesamtablauf auch vollzogen wird, sein Endzweck ist nichts als das gute Spielen selber und die Freude daran. Wo dem Spiel und Sport äußere Ziele gesetzt werden - Ruhm, Geld, sozialer Aufstieg, Gesundheit, Leibesübung oder gar Wehrertüchtigung - , da ist es mit der reinen Spielfreude aus. Nun wächst unleugbar im Zeitalter eines ökonomischen Eudämonismus auch die Verwüstung des Spielbetriebs und Sportgeistes, so daß sich die Bindungen der Spielregeln und die Ursprünge festlichen Spiels auflösen. Um so nötiger scheint es, wieder auf die ursprünglichen Strukturen von Spielzeit, Spielraum, Spielzeug, Spielregel, Spielgemeinschaft wenigstens hinzuweisen. Im geglückten Spielen geht unser ganzes Dasein völlig in wiederholbarer Gegenwärtigkeit auf und blendet so die Ängste vor Zukünftigem und lastender Erinnerung ab; denn die Zeit des Spiels ist wie der zu begehende Feier-Tag aus dem Kalender des Alltags und dem Zeitfluß des Jetzt-Kontinuums herausgehoben. Ebenso privilegiert ist das Spielfeld. Es ist (temenoshaft wie der Tempelbezirk) aus dem Kontinuum des „realen" Raums herausgeschnitten und räumt wirkliches Spielen schützend ein. Entsprechend gehört das Spielzeug, z. B. Puppe und Ball, nicht in eine unwirkliche Welt, es verwandelt die Welt des Kindes, des Spielenden auf wundersame Weise wirklich; denn Spiel-Zeug ist seinsdifferent zu allem handwerklichen Zeug. Es baut keinen teleologischen, sondern einen magischen Verweisungszusammenhang auf. Schließlich stiften Spielregeln Mitwelten, welche die Härte des Zwanges, die Nötigung des Sittengesetzes, die Brutalität des Stärkeren nicht kennen. So verwandeln sich im rechten Agon Rivalität, Kampf, Konkurrenz, Krieg zum friedlichen und fairen Wettstreit. Im heiligen Fest-Spiel endlich erscheinen die Toten, Heroen und der Gott. Ausgespart aus profaner Weltbemächtigung, bewahrt das Spiel in erfüllter Zeit die Nähe zum Numinosen. Ursprüngliches Spielgeschehen ist epiphanes Wahrheitsgeschehen. Und dieser tiefste Zusammenhang kann nicht zertrennt werden, ohne Sein und Glück menschlichen Spiels in der Wurzel zu zerstören.
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Spiel I
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Spiel II
677
II. Praktisch-theologisch 1. Spiel in der Bibel 2. Spiel als T h e m a in Kirchengeschichte und Theologiegeschichte 3. Wissenschaftliche Spielhorizonte im 2 0 . Jahrhundert 4. Theologie des Spiels 5. Das Spiel als T h e m a der Praktischen Theologie 6. Religionspädagogik: Spiel im Unterricht - Impulse für die Didaktik 7. Spiel ohne Grenzen - ein Ausblick (Literatur S. 681)
1. Spiel in der
Bibel
Vom Spiel lassen sich beeindruckende Spuren in den biblischen Schriften finden. Im Alten Testament ist Spiel für die Schöpfungs- und die Weisheitstradition von Belang. Die Bedeutungsvarianten der Wurzel shq im Piel stehen „in der Nähe zum spontanen wilden Tanz und zur Ausgelassenheit zumeist regelfreien Spielens von Kindern" (Martin, Spiel 23). Konstitutive Komponenten sind mit Spontaneität, Ekstase, Übermut die exzessiven Elemente der jeweiligen Interaktionssituation. Anhand der Situation läßt sich das Spiel im Alten Testament in weltliches und religiöses Spiel differenzieren (vgl. Mann). Das weltliche Spiel (Gen 21,9; 26,8; Jdc 16,23f.; II Sam 2,14f.) umfaßt viele Varianten (vgl. Keel 29). Das religiöse Spiel (II Sam 6,12f.; Sach 8,5) präsentiert sich in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft (nach Mann). Die theologisch dichteste Stelle, in der shq gebraucht wird, hebt Spiel als eine Urfunktion schöpferischen Lebens hervor (Prov 8 , 2 2 - 3 1 ) . Die Weisheit Gottes verkörpert das Spiel als Quelle kreativer Freude. Im Bereich des Neuen Testaments begründen drei Aspekte Spiel als Element des Glaubens (vgl. Haas/Viktor 7f.). Zum einen befreit die Verkündigung der Gnade den Menschen vom Selbstrechtfertigungszwang. Zum anderen kommt dem Spiel durch den exemplarischen Charakter, den Jesus dem —>Kind für das Menschsein gibt (Mt 1 8 , 1 - 5 ) , christologische Qualität zu. Schließlich haben wir die Erlaubnis zu spielen, weil der nächste Tag unserer Sorge entnommen ist (Mt 6,34). „Jesus, der Spieler" (Bieritz, Freiheit) schafft die Voraussetzung für diese Nahtstellen zwischen Spiel und Glaube. In seinem Wirken (Mt 2 1 , 1 - 1 1 . 1 2 - 1 7 ) zeigt sich das Werk der spielenden Weisheit (vgl. Bieritz, Freiheit; Cox, Fest; vgl. auch das (bq ¡ltf aus I Kor 7 , 2 9 - 3 1 ) . Die Gattung der Gleichnisse mit ihrer besonderen Nähe zum Spiel (vgl. Eichholz) führen als „Gegenspiele Jesu" (Bieritz, Freiheit 164) in die Wunder des kommenden Gottesreiches ein. Gerade in ihnen offenbart sich der transitorische, der metaphysische und der ontologische Charakter des Spiels. 2. Spiel als Thema
in Kirchengeschichte
und
Theologiegeschichte
Die Übernahme der Platonischen Metaphysik ohne Piatos spätere Umwertung (s.o. 1.2.) im abendländischen Denken und die Abwertung des Spiels in der christlichen Praxis (s.o. 1.3.) sind zwei Gründe für die geringe Bedeutung des Spiels in der Theologie (vgl. Maurer 291 f.). Dennoch läßt sich die Aufnahme des Phänomens in mannigfacher Gestalt in der Alten Kirche, im Mittelalter und in der christlichen Theologie erkennen. Spiel erlangt in besonderer Nähe zur Oster- und —•Passionsfrömmigkeit und in zahlreichen geistlichen Spielen des Mittelalters Bedeutung. Diese Rückblicke auf die Heilsgeschichte stehen mit ihrem hohen Gesangsanteil in Nähe zur Liturgie (—•Mysterienspiele). H. Rahner setzt im Rückgriff auf die Kirchenväter der einseitigen Vorstellung vom biblischen Willens-, Arbeits- und Schöpfergott das Bild eines spielenden Gottes und einer spielenden Kirche entgegen: „Weil Gott ein Deus vere ludens ist, muß der Mensch ein homo ludens sein" (Rahner 26). Die kulturhistorische Theorie hat dank J. Huizinga, nach dem alle Kultur, primär Religion und Kunst, dem Spiel entstammt, Einfluß auf die Aufnahme des Spiels in die Theologie ausgeübt. Die Betonung der schöpferischen Subjektivität des Menschen, durch die alle Kultur auf spontanen Energien und nicht auf Planung oder auf -•Arbeit als solcher gründet, wird in der Theologie aufgenommen (vgl. Pannenberg 328; s.a. 4). Auch H.-G. Gadamers Hermeneutik, seine Analyse der anthropologischen Basis unserer Erfahrung von Kunst und seine Sicht vom Spiel als „Seinsweise des Kunstwerkes selbst", hat hohe theologische Relevanz (vgl. Gadamer, Wahrheit 108; ders., Aktualität).
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Spiel II
3. Wissenschaftliche
Spielhorizonte
im 20.
Jahrhundert
Eine Aufnahme des Spielbegriffs ist in vielen Disziplinen der H u m a n - und Naturwissenschaften zu beobachten (vgl. Miller, bes. 1 7 - 9 1 ) . So verdeutlicht u.a. die Erfindung des sog. Rubixwürfels die Integration des Spiels in die Mathematik. In der - » P ä d a g o g i k wurde Spiel nicht mehr nur als Freizeitaktivität der privilegierten Klasse, sondern als unvermeidbare Phase in der Entwicklung eines Organismus betrachtet (vgl. die Übersicht bei Krondorfer 10f.). Das Institut für Spielforschung und -pädagogik an der Hochschule Mozarteum in Salzburg, mit eigener Zeitschriftenreihe (vgl. Homo Ludens), verdeutlicht das Interesse der Historie am Spiel. Diese Forschungstendenz wird durch das erste Symposium zur Geschichte und Gegenwart des Kulturgutes Spiel bestätigt, das vom 9 . - 1 0 . Oktober 1998 im Haus der Geschichte in Bonn stattfand. Spiel hielt ebenfalls in die Fachdiskussionen der Ethnologie (durch Adolf Ellegard Jensen, Mythos und Kult bei Naturvölkern, Wiesbaden 1951 2 1960) und der Soziologie (vgl. George Herbert Mead, Mind, Seif and Society, Chicago 1934; dt.: Geist, Identität und Gesellschaft, Frankfurt a.M. 1968) Einzug. Auch in der Ökologie wurde das Phänomen umgesetzt (Institut für Ökologische Forschung und Bildung, Das Umwelt-Spiel-Buch, Münster 2 1985). Für die Ökonomie haben Nigel Calder (Eden was no Garden, New York 1967) und Adam Smith (The Money Game, New York 1968; dt.: Das große Spiel ums Geld, Düsseldorf u.a. 1969) die Spielmetapher nutzbar gemacht, während das Phänomen auch im Bereich des -»Sports in seiner Bedeutung erkannt wurde. Im R a h m e n dieser Inflation des Spielbegriffs in die Wissenschaften vollzieht sich auch die Neuinterpretation in der Theologie. Durch die Möglichkeit, religiöse - » E r fahrung mit phänomenologischen Kriterien zu sehen (vgl. R . —»Otto und W. - » J a m e s ) , w a r denjenigen der Weg geebnet, die willens waren, das gespannte Verhältnis zwischen T e x t und Erfahrung, D o g m a und Ritual, Theologie und Spiel neu zu würdigen. 4. Theologie
des
Spiels
Die Entwürfe zu einer Theologie des Spiels, die ihren Ursprung in einer kulturanthropologischen Diskussion amerikanischer Wissenschaftler Ende der 6 0 e r / A n f a n g der 7 0 e r J a h r e haben, markieren einen innertheologischen Wendepunkt nach der Gott-isttot-Theologie (vgl. H a r t m a n n 1 0 - 3 2 ) . Kennzeichen der T h e o r i e n ist eine Selbstöffnung der Theologie hin zu den P h ä n o m e n e n der Religion, zur Soziologie und zur - » K u l t u r . So zeugen sie von der Wiederentdeckung ästhetischer und religiöser Dimensionen in Kirche und Welt (vgl. A d a m 19). Deshalb m u ß der Zentralbegriff keineswegs Spiel allein sein, vielmehr können Freude, Freiheit, Wohlgefallen, Glück, Festlichkeit und --»Phantasie entsprechende Leitbegriffe darstellen (vgl. M a r t i n , Genitiv-Theologie 5 1 8 ) . Die Theologien des Spiels haben einen Bezug zu Kulturphilosophien des Spiels, schöpfen aber ihre Quellen auch aus den religiösen Traditionen des Christentums. D a r u m sind die Entwürfe der T h e o l o g i e des Spiels als eigenständige Versuche zu werten. D e n n o c h w a r die Theologie des Spiels sowohl Kritik von innen (so die Warnungen von M a r t i n und M o l t m a n n ; vgl. Spiegier 1 2 5 f . ) als auch von außen (vgl. Daecke) ausgesetzt. Gegen alle Einwände k o m m t D a e c k e immerhin zu dem Schluß, daß in der T h e o l o g i e des Spiels die Gottesfrage so sehr im Mittelpunkt steht wie seit der -»Dialektischen Theologie nicht mehr (vgl. D a e c k e 6 9 2 ) . Die kräftigsten Impulse gegen den Ausschließlichkeitsanspruch von -»Ethik und Aktionismus gingen von H. Cox und J . Moltmann aus. Cox provoziert als Vertreter einer Theologie der Kultur mit der These, Transzendenz sei heute nur noch glaubhaft in Spiel und Phantasie erfahrbar (vgl. Cox, Fest). Das theologische Grundprinzip der Juxtaposition bildet den Mittelpunkt seiner christozentrischen Harlekin-Theologie, die Gewicht auf den Aspekt der Befreiung zum schöpferischen Spiel legt (ebd. 171). Moltmann fokussiert den theologischen Horizont, von dem her das ethische und zugleich ästhetisch-religiöse Leben gelebt werden kann (Moltmann 26). Für ihn versagen Spielkategorien angesichts menschlichen Leidens, so daß das -»Kreuz Christi, obwohl es das neue Spiel der Freiheit ermöglicht, nicht in das Spiel selbst gehört (vgl. ebd. 38). Besonders die amerikanischen Spieltheologen haben einer solchen Einschränkung des Spielbegriffs widersprochen. So versucht R.E. Neale mit der religionswissenschaftlichen und -psychologischen Kategorie des reinen Spiels (füll play) das Bild eines erwachsenen, religiösen Menschen zu entwerfen (vgl. Neale, Praise 82f.).
Spiel II
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Spiel ist ein Abenteuer, das durch Frieden, Freiheit, Genuß und Illusion charakterisiert ist (ebd. 42—57). S. Keen bringt Spiel in Form des Wunders, als Voraussetzung authentischen Menschseins, zur Geltung (vgl. Keen, Apology 17). Er will die Erfahrung des Heiligen, der Tiefe und des Sinnes sowohl im herkömmlich religiösen als auch im nicht mehr religiösen Menschen erwecken (Keen, Dancing 9 9 - 1 0 4 ) . In D.L. Millers radikalerem Ansatz hingegen ist Spiel eine Art des Seins. Echte Religion ist ein Mythos des Spiels, in der man alle Dinge sub specie ludi betrachtet (vgl. Miller 154). In Konsequenz lebt für ihn Theologie nur, wo sie aus dem Spiel entspringt, im und als Spiel geschieht. Sie ist nicht länger Theologie, sondern Theopoiesis oder Tbeography (vgl. ebd. 175).
In der deutschen Debatte waren es neben Moltmann vor allem G.M. Martin und D. Solle, die das Phänomen Spiel in ihre theologischen Gedanken integrierten. Martin versucht der Problematik der personalen Identität als der Voraussetzung jeder Glückserfahrung auf die Spur zu kommen (vgl. Martin, Erden 15ff.). Es geht ihm um die konkrete Integration ästhetischer und ethischer Elemente (ebd. 7 2 - 7 7 ) . Solle macht deutlich, daß Christus uns zur Spontaneität befreit (vgl. Solle, Stellvertretung 25). Es gibt keine Spontaneität ohne Phantasie, und es gibt keine Phantasie ohne den Mut, sich zur Subjektivität befreien zu lassen (vgl. Solle, Phantasie 37ff.). „Auch wenn die Wellen einer ,Theologie des S[piel]s' (G.M. Martin) inzwischen wieder verebbt sind, kann an der praktisch-theol[ogischen] Bedeutung des Phänomens doch kein Zweifel bestehen" (Bieritz, Art. Spiel 391 f.). In anderen theologischen Disziplinen, wie in der Systematischen Theologie (vgl. Christian Link in seiner Schöpfungslehre: Schöpfung, 1991 [HST VII/2]), findet Spiel ebenso Beachtung. Die Ausführungen von U.H.J. Körtner, der sich mit der Legitimität und den Grenzen des dramatischen Denkens in der Theologie auseinandersetzt, sowie die Thesen M. Beintkers, der mit Hilfe eines kritischen Spielbegriffs einen ekklesiologischen Ansatz vorlegt, unterstreichen diese Tendenz. 5. Das Spiel als Thema
der Praktischen
Theologie
Das Phänomen Spiel wird bereits 1847 von C.I. -»Nitzsch in seinem Lehrbuch Praktische Theologie (Bonn, I 1847, 3 4 8 - 3 5 1 ) als eine vom geistlichen Feiertag nicht wegzurückende, ernst zu nehmende Form des Kulturlebens erwähnt. 5.1. Liturgie als Spiel. Auf den evidenten Zusammenhang von Spiel und Kult verwies schon R. —»Guardini, der Spiel als das „innerste Wesen der Liturgie" bezeichnete (Guardini 56; vgl. auch Reifenberg). Der -»Gottesdienst als Prolepsis der neuen Welt ist das eigentliche Spiel von Gott und Mensch, denn in ihm sind echte Begegnung und Erfahrung möglich (so bereits 1970 Leuenberger 253; vgl. auch Heimbrock). Das in diesem Zusammenhang wichtige Verhältnis von Spiel und Ritual, welches in der Theologie kontrovers diskutiert wird, läßt sich, der Ritualtheorie Turners folgend, nicht als Diastase bestimmen. Beide sind gerade in ihrer Dialektik von Offenheit und Unbestimmtheit sowie Form und Ordnung Leben ermöglichende Gebilde (vgl. Seydel). Eine dem Spiel eigene Verbindung von Kreativität und rituellem Vollzug sollte also stets in ein Plädoyer für offene Rituale münden. Die Integration von Spiel in die liturgische Diskussion zog eine bewußte Wahrnehmung von Körperlichkeit wie Gestik, Mimik, Stimme (vgl. Sequeira) sowie die Entdeckung der didaktischen Kategorie der sog. Liturgischen Präsenz (vgl. Schilson/Hake 75) mit sich. Dementsprechend kann sich der Gottesdienst nach den Spielregeln und -räumen der Erneuerten Agende ausrichten (vgl. Schulz). Gewisse Gottesdienstexperimente, die sog. Gottesdienste in neuer Gestalt oder die lebendige Liturgie überhaupt, sind ein Spielfeld, auf welchem moderne Menschen das Wagnis mit Gott eingehen (vgl. Fritsch-Oppermann). In Konsequenz fordert die Reflexion des Spiels in der Liturgik eine theologische und ästhetisch durchdachte Gottesdienstlehre (vgl. Rainer Volp, Liturgik, Gütersloh, II 1994, 925.932). 5.2. Spielfeld Homiletik. „Wer predigt, läßt sich auf ein Spiel ein. Und wer einer Predigt zuhört, spielt mit" (Bieritz, Predigt 112). K.-H. Bieritz illustriert -»Predigt als
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Spiel II
Spiel und Gegen-Spiel zugleich, welches Phantasie freisetzt, statt sie in ständiger Regression zu verbrauchen (vgl. ebd. 127). Konsequenterweise gleicht so der Prediger einem Dramaturgen und Regisseur. Ähnlich hat auch H. Luther Predigt als monologes Drama beschrieben, das den Text inszeniert, damit er in unserer Gegenwart neu lebendig werden kann (vgl. Luther 97; Meyer-Blanck). Voraussetzung eines solchen spielerischen Homiletikverständnisses ist, daß der Precjiger seinen Text - ganz im Sinne einer theologia eventualis — als ein Reservoir möglicher Wirklichkeiten begreift. In diesem Sinne schafft die Predigt dem Hörer Raum, verschafft ihm Distanz zur Welt, die er braucht, um der Welt recht zu begegnen. Die Reflexion dieses Zusammenhangs klassifiziert das Spiel der Predigt als Bewegungsraum. In Anlehnung an H. Luther skizziert W. Engemann, wie Texte über eine Raumstruktur verfügen, die Hörern und Lesern einen Ort bereitstellen, an dem Reformen stattfinden können (vgl. Engemann 184-187). Auch im hochschuldidaktischen Bereich hat das Phänomen Spiel die Homiletik befruchtet. Ein neues homiletisch-didaktisches Konzept soll den Studierenden durch spielerischen Umgang mit biblischen Texten in dem Lernschritt „Homiletisch Wahrnehmen, Reflektieren, Gestalten und Darstellen" einen neuen Zugang zur -»Homiletik vermitteln (Grözinger 188). 5.3. Die Dynamik des Spiels in der Seelsorge. S. -»Freud erkannte den psychotherapeutischen Wert von Spiel. Spiel fördert Ich-Funktionen, dient der Sozialisierung und wirkt kathartisch, weil phantasierte Lösungen für Frustrationen gefunden werden (vgl. Kos-Robes 877; vgl. auch Oerter). E. Berne, der Begründer der Transaktionsanalyse, verdeutlicht, wie Spiele unbewußt in Komplementärtransaktionen zur Geltung kommen (vgl. Berne, Spiele 63). Sie haben stabilisierende Funktion und dienen dem Wiedergewinn dreier Fähigkeiten: der Bewußtheit, der Spontaneität und der Intimität (ebd. 81). Es ist das Verdienst von J. Scharfenberg, diese Erkenntnisse über das Spiel für die seelsorgerliche Diskussion fruchtbar gemacht zu haben. Seine Illustration des Spiels von biblischen Geschichten in Selbsterfahrungsgruppen der Pastoralpsychologen mündet in ein Plädoyer für die Lösung der Bibel aus der intellektuell-verbalen Umklammerung (vgl. Scharfenberg 94). Spielerischer Umgang mit der Bibel als Exegese und Seelsorge ermöglicht ein Sich-Hineingeben in die Grunderfahrungen der Texte (vgl. Martin, Bibliodrama [1979]). In beiden Bereichen, im Spiel wie in der Seelsorge, soll die Kunst der Wahrnehmung eingeübt werden (vgl. Passauer 138). 5.4. Spiel als Gewinn für die Gemeindepädagogik. Die Wahrnehmung des Spiels befreit die Gemeindepädagogik aus der alleinigen Perspektive des -»Pfarrers/der Pfarrerin. Dies zeigt sich ganz elementar darin, daß in Gemeinde nicht nur Amtspersonen, sondern auch Jugendmitarbeiter (vgl. Spiegier), Kirchenmusiker und viele mehr dem Spiel Raum geben. Auch die -»Laien finden im Spiel Zugang zu kirchlichen Strukturen, was einer integrativen Kasualpraxis sowie neueren Gemeindeaufbaukonzepten Rechnung trägt. So kann Spiel die Gemeindepädagogik durch elementare und verfremdende ästhetische Strukturen zugleich im Sinne einer Kulturpädagogik bereichern. Eine Variante von Formen des Spiels wie Performances, Kabaretts (vgl. Kleiner Kabarettistischer Katechismus) u.a. lassen die Kunst als Lebenskunst zur gemeindepädagogischen Aufgabe werden. Zugleich sind Formen einer biblischen Didaktik zu nennen. Aneignungsformen wie Aufführungen von Texten, Verklanglichung, -»Tanz oder das beliebte Bibelquiz in der Konfirmandenarbeit (vgl. Ku-Praxis) sind auf dem Vormarsch. Das Bibliodrama als kreativer Umgang mit der Bibel hat sich als Praxisfeld in vielen Gemeinden etabliert. Zahlreiche Veröffentlichungen klassifizieren es als fundierte, gut analysierte Zugangsweise zur Bibel (vgl. Das Buch Gottes-, Andriessen; Bobrowski; Kiehn [vgl. den von ihr mitherausgegebenen Band Bibliodrama]-, Krondorfer; Panitz). Diese und andere Formen des Spiels (vgl. Schwalbacher Spielkartei) rechnen mit dem Spiel als Gemeinschaftsmacht (vgl. Thilo). Sie beschreiben energetische und kreative Prozesse. Auf Gemeindeebene können hierdurch Projekte verwirklicht werden, die keineswegs immer auf hohe künstlerische Perfektion aus sind (vgl. Schröer 512).
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Spiel II 6. Religionspädagogik:
Spiel im Unterricht
— Impulse
für die
Didaktik
H . Scheuerl hat seine Erkenntnis, d a ß Spiel eine Bewegungsform darstellt, für die - • R e f o r m p ä d a g o g i k ausgewertet (vgl. Scheuerl 203). In der Folge gab es bereits frühe Vorschläge, Spiel zu einem Bestandteil des Curriculums werden zu lassen (vgl. D a u b lebsky). Dabei sind es nicht nur die abgeschlossenen Spiele wie katechetische Spiele, Entscheidungs- oder Planspiele, die, im Unterricht eingesetzt, Wirkung zeigen. Gerade die Integration der offenen Spiele vermag die Lernmotivation zu steigern, das kognitive Lernen zu fördern und soziale Lernprozesse w i e Konfliktbearbeitung zu wecken (vgl. H a a s / V i k t o r 9). So ist die ->Religionspädagogik stets bemüht, kommunikative Spiele zu erfinden (vgl. EvErz 27 [1975]). D a s A b s c h w ä c h e n des Konkurrenzgedankens führte zu solchen Spielen, bei denen alle g e w i n n e n k ö n n e n (zu vergleichen ist I Kor 9,23—25 wie auch das Konzept v o n „ M u s i k als Friedensspiel zwischen Gott und Welt": D e m b o w ski 3 7 2 f . ) . Die A u f n a h m e von Spiel in die Unterrichtslehre fordert eine -»Didaktik als Anleitung und Begleitung eigenständiger Lernprozesse (vgl. Beuscher/Zilleßen 1 4 9 - 1 5 6 ) . Die Grundprämisse für jeden Lernprozeß ist dann seine Offenheit (vgl. Lähnemann 150). Es wird daher eine Spieldidaktik (Zilleßen/Gerber 37) verlangt, in der Kreativität und Experiment wichtige Bestandteile sind. 7. Spiel ohne Grenzen
- ein
Ausblick
„Suche also die Gesellschaft, spiele Karten oder irgend etwas anderes, was Dir Spaß macht. Das sollst du mit gutem Gewissen tun - denn Depressionen k o m m e n nicht v o n Gott, sondern v o m Teufel" (vgl. ->Luther: W A . B 5 , 3 7 4 , 3 5 - 4 3 ; 19. Juni 1530). Die T h e o logie hat demnach allen Grund, diesen Weg zu bahnen, damit Kirche als Spiel-Raum (vgl. Donner 205) offen und lebendig werden kann. Besonders die Praktische T h e o l o g i e sollte an ihrer Vision von einer ecclesia ludens (Schroeter) spielerisch weiterarbeiten. Literatur Armin Adam, Aus Schwäche werde Spiel. Die Theol. in der Postmoderne: LM 32 (1993) 18-22. - Hermán Andriessen/Nicolaas Derksen, Bibliodrama en pastoraat, Den Haag 1985; dt.: Lebendige Glaubensvermittlung im Bibliodrama. Eine Einf., Mainz 1989 = 1 1991. - Elliott M. Avedon/Brian Sutton-Smith, The Study of Games, New York 1971. — Michael Beintker, „Kirche spielen - Kirche sein". Zum Kirchenverständnis heute: ZThK 93 (1996) 243-256. - Eric Berne, Games People play, New York 1964; dt.: Spiele der Erwachsenen. Psychologie der menschlichen Beziehungen, Reinbek bei Hamburg 1967. - Bernd Beuscher/Dietrich Zilleßen, Religion u. Profanität. Entwurf einer profanen Religionspädagogik, 1998 (FPDR 16). - Bibliodrama, hg. v. Antje Kiehn u.a., Stuttgart 1987 4 1991. - Karl-Heinrich Bieritz, Die Predigt im Gottesdienst: HPTh(G) 3 (1983) 112-134. - Ders., „Freiheit im Spiel". Aspekte einer prakt.-theol. Spieltheorie: BThZ 10 (1993) 164-174. - Ders., Art. Spiel: EKL 3 4 (1996) 390-393. - Jürgen Bobrowski, Bibliodramapraxis. Bibl. Symbole im Spiel erfahren, Rissen 1991 (Lit.). - Das Buch Gottes. Elf Zugänge zur Bibel. Ein Votum des Theol. Ausschusses der Arnoldshainer Konferenz, Neukirchen-Vluyn 1992 (Veröff. aus der Arnoldshainer Konferenz). - Harvey Cox, The Feast of Fools. A Theol. Essay on Festivity and Fantasy, Cambridge, Mass. 1970; dt.: Das Fest der Narren. Das Gelächter ist der Hoffnung letzte Waffe, Stuttgart 1970 = Gütersloh 1977 (GTBS 216). - Sigurd Martin Daecke, Theol. des Genitivs: EK 2 (1969) 690-692. - Hans Werner Dannowski, Mit der Bibel spielen. Die Bibel u. das Verkündigungsspiel: ZGP 10 (1992) 14-16. - Benita Daublebsky, Spielen in der Schule. Vorschläge u. Begründungen f. ein Spielcurriculum, Stuttgart 1973. - Hermann Dembowski, Musik als Friedensspiel. Theol. Aspekte der Musik: Heino Falcke/Henning Schröer (Hg.), Wahrer Gott u. wahrer Frieden. Aufs, u. Vortr. zw. Ost u. West, Leipzig 1995, 360-377. - Helmut Donner (Hg.), Kirche u. Kultur in der Gegenwart. Beitr. aus der ev. Kirche, Hannover 1996. - Georg Eichholz, Das Gleichnis als Spiel: EvTh 21 (1961) 2 1 - 3 8 . - Wilfried Engemann, Der Spielraum der Predigt u. der Ernst der Verkündigung: Erich Garhammer/Heinz-Günther Schöttler (Hg.), Predigt als offenes Kunstwerk. Homiletik u. Rezeptionsästhetik, München 1998, 180-200. - Sybille Fritsch-Oppermann, Theologia ludens - eine spielerische Einübung in Gottes Reich: dies. (Hg.), Lebendige Liturgie. II. Vom Kirchentag zum Kirchenalltag, Gütersloh 1992, 7 2 - 7 9 . - Hans Fror, Spiel u. Wechselspiel. Kommunikationsspiele f. Gruppen. Material u. Methodik, München 1974. - Hans-Georg Gadamer, Wahrheit u. Methode. Grundzüge einer phil. Hermeneutik, Tübingen, I 1960 '1990. - Ders., Die Aktualität des Schönen. Kunst als Spiel, Symbol u. Fest, Stuttgart 1977. - Albrecht Grözinger,
682
Spiel II
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Susanne Wolf-Withöft
III. Religionsgeschichtlich 1. Allgemeines
1.
2. Religionsgeschichtliche Beispiele
(Literatur S . 6 8 6 )
Allgemeines
In den Religionen und in religiös bestimmten Situationen begegnen, zumal im Bereich des -»Ritus, Verhaltensweisen und Handlungsabläufe, die es nahelegen, sie als „Spiel" zu bezeichnen. In erster Linie sind dies Handlungen, die auch außerhalb religiöser Zusammenhänge in ähnlicher und vergleichbarer Form zu beobachten sind, z. B. agonistische Veranstaltungen (-»Sport) mit dem Ziel, Kraft, Geschicklichkeit und Ausdauer unter Beweis zu stellen, oder die unter Bedingungen stattfinden, die eher vom Zufall abhängen; ferner —»Tänze und insgesamt von Regeln geleitetes Verhalten, dessen Ziel nur innerhalb des Spielzusammenhangs einen Sinn ergibt. Wenn es auch schwierig sein dürfte, alles, was als Spiel bezeichnet wird, aufgrund eindeutiger Kriterien unter diesen Begriff zu subsumieren, eignet doch allen konkreten Spielen eine „Familienähnlichkeit" (L. -»Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen § 1, 66f.): Während Arbeit, Pflicht, Zwang, Ernst, Mühsal und Notwendigkeit das Alltagsleben bestimmen, konstituieren Spiele eigene Welten mit nur in ihnen geltenden Verhaltensweisen, Regeln und Zielen. Spiele werden dann verdorben, wenn die Grenze zwischen Spiel- und Alltagswelt überschritten, im Spiei nicht vorgesehene Haltungen oder Verhaltensweisen eingenommen werden. Da Religionen die Realität in umfassender, letztgültiger und in nicht ableitbarer und erklärbarer Weise in Sinnzusammenhänge stellen, die jedenfalls alles Beliebige und das für das Spielerische konstitutive Unernste ausschließen, überrascht das Vorkommen spielerischer Elemente in Religionen. Zur Erklärung wurden verschiedene Versuche unternommen. In genetischer Betrachtungsweise sollen Spiele ursprünglich religiöse Unternehmungen gewesen sein, die im Zuge schwindender Bedeutung von Religion zu Vorstellungen mit reinem Unterhaltungscharakter verflacht oder herabgesunken seien; so meint etwa Bertholet (691), „daß sich mannigfach die Tendenz beobachten läßt, wie ursprünglich Religiöses oder Magisches mit der Zeit zu etwas rein Profanem herabsinkt"; ähnlich Hartland oder auch van der Leeuw (§ 55, s.v. Dienst), der den Unterschied zwischen dem religiös motivierten Spiel und dem spielerischen, unterhaltsamen Geschehen dadurch betonte, daß er ersteres durch den Zusatz sacer qualifizierte, durch den sich der reine ludus vom sacer ludus abhebe. Unter umgekehrten Vorzeichen hat J. Huizinga die enge Beziehung von Spiel und Religion herausgearbeitet, wenn er Spiel in einer Weise definiert, mit der auch das Ritual beschrieben werden könnte: „Der F o r m nach betrachtet, kann man das Spiel also zusammenfassend eine freie Handlung nennen, die als .nicht so gemeint' und außerhalb des gewöhnlichen Lebens stehend empfunden wird und trotzdem den Spieler völlig in Beschlag nehmen kann, an die kein materielles Interesse geknüpft ist und mit der kein Nutzen erworben wird, die sich innerhalb einer eigens bestimmten Zeit und eines eigens bestimmten R a u m s vollzieht, die nach bestimmten Regeln ordnungsgemäß verläuft und Gemeinschaftsverbände ins Leben ruft, die ihrerseits sich gern mit einem Geheimnis umgeben oder durch Verkleidung als anders von der gewöhnlichen Welt a b h e b e n " (Huizinga 22).
R. Caillois (Mensch 2 0 2 - 2 1 6 ) wendet ein, die weitgehende Gleichsetzung von Spiel und Ritual bzw. Religion insgesamt sei nur möglich, wenn sowohl die Inhalte als auch die unterschiedlichen inneren Einstellungen dem Spiel und der Gegenstandswelt von
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Religion gegenüber vernachlässigt würden. Es bleibt jedoch zu fragen, ob der Blick auf den religionsgeschichtlichen Befund tatsächlich nur den Schluß zuläßt, man befinde sich beim Vollzug religiöser Handlungen „inmitten des Heiligen ... denkbar weit vom Spielerischen entfernt" (ebd. 214). Spielerische Momente innerhalb und außerhalb von Religion legen vielmehr den Gedanken nahe, daß Menschen sich der die alltägliche Welt in letztgültiger und unverfügbarer Weise übersteigenden Gegenstandswelt der Religionen nur in der Weise nähern können, als ob mit ihr kommuniziert werden könnte, als ob Gott oder Götter, das kosmische Geschehen, das mehr ist als die wahrnehmbare Welt, oder letztlich alles, was als transzendent nur geglaubt werden kann, sinnenfällig real wären. Die bekannte Unterscheidung —• Piatos zwischen „heilbringendem Ernst" einerseits und dem Spiel andererseits mit der Konsequenz, daß den Menschen als den „Spielzeugen der Götter" nur das Spiel zukomme, den Göttern aber der Ernst (leg. VII,803; s.o. I.2.), ist auch vor diesem Hintergrund zu verstehen. Dieser Gegensatz zwischen dem Leben der Menschen als Spiel und dem Leben übernatürlicher Wesen ist auch unter anderer Perspektive reflektiert worden: Eine in Form einer Buddha-Legende literarisch verarbeitete Beschreibung des irdischen Lebens und Wirkens des im Mahäyäna-Buddhismus zu göttlichen Ehren gelangten Buddha trägt bezeichnenderweise den Titel Lalitavistara, „die ausführliche [Erzählung] vom Spiel [sc. des Buddha]": Das Leben und Wirken des übernatürlichen Wesens Buddha auf Erden, unter den Menschen, ist aus göttlicher Sicht ein Spiel, nicht sein eigentliches Leben, ist ein Leben als ob - wie das der Menschen. Oder: Entstehung, Leben und Ende des Kosmos ist Tanz des im Sivaismus als Universalgott verehrten Siva, der als „König des Tanzes" (Nataräja) mit dieser (spielerischen) Bewegung den Kosmos und die Menschen erschafft, bewahrt und durch Feuer auslöscht.
2. Religionsgeschichtliche
Beispiele
Wie im profanen Bereich wird auch in religiösen Zusammenhängen auf unterschiedlichste Weise gespielt. R. Caillois hatte die folgende Klassifikation nach vier Hauptgesichtspunkten vorgeschlagen, die in den Spielen erkannt werden können: agoti („Wettstreit"), alea („Zufall"), mimikry („Maskierung") und ilinx („Rausch ..., um in sich selbst einen organischen Zustand der Verwirrung und des Außersichseins hervorzurufen"; Caillois, Spiele 19). Wenn auch bei Betrachtung einzelner Spiele deutlich wird, daß häufig mehrere dieser Gesichtspunkte in unterschiedlicher Ausprägung erkannt werden können (ein Wettkampf - áycbv - wird z. B. häufig mit Wetten - alea - verbunden, in Wettkämpfen kann kosmisches Geschehen mimetisch realisiert werden mimikry-), so scheinen sich doch die Spiele vollständig nach dem in ihnen vorherrschenden Moment einer dieser Klassen zuordnen zu lassen: (a) agonistische, (b) aleatorische, (c) imitative Spiele, (d) Spiele zur Erzeugung von Trance und Bewußtseinsveränderung. 2.3. Eines der bekanntesten religiös motivierten agonistischen Spiele war das im ganzen präkolumbischen Mesoamerika verbreitete Ballspiel (aztekisch ollama). Dessen religiöse Sinngebung ist den frühen spanischen Augenzeugen zwar bewußt gewesen, wenn sie es als „scheußlichen Aberglauben" (detestable superstición) verteufelten, die Regeln und das Ziel des Spiels scheinen sie doch nicht recht durchschaut zu haben. So wissen wir nur, daß zwei Gegner einen massiven Kautschukball (den Europäern unbekannt, die sich darum über dessen enorme Abprallgeschwindigkeit wunderten) mit - gepanzerten - Gesäß und Hüften hin- und herstießen, wobei (dem Volleyball vergleichbar) der Ball anscheinend weder den Boden berühren, noch mit Füßen oder Händen bewegt werden durfte. Dieses Spiel fand auf einem von Steinmauern umgebenen ebenen Platz (aztekisch tlacbtli oder tlaxtli zu aztekisch tlaza „werfen") statt, dessen Grundriß dem eines Doppel-T glich. An beiden Längsseiten waren Steinringe befestigt, durch die - als Haupttreffer? - der Ball hindurchfliegen sollte. Die Bedeutung dieses Spiels erschöpfte sich keineswegs im spielerischen Antagonismus zweier Spieler mit geradezu artistischen Fertigkeiten, sondern war zugleich eine kultische Handlung, die einen kosmischen Antagonismus, und zwar den zwischen Licht und Finsternis, nachahmend realisierte (Krickeberg, Ballspiel 153). Bei diesem Spiel gehen also die Cailloisschen Kategorien agon und mimikry eine innige Verbindung ein. Der Spielplatz war ein Abbild des Himmels, an dem die Lichtgötter (in erster Linie die für alle Völker Mesoamerikas zentrale Gestalt des Sonnengottes) ihren ewigen Kampf gegen die Mächte der Dun-
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kelheit ausfochten und dabei das eine M a l g e w i n n e n , das andere M a l unterliegen konnten. In dem fliegenden Ball selbst wurde das sich bewegende Lichtgestirn gesehen, das seinen Weg über den H i m m e l zieht und von seinen Gegenspielern ständig bedroht wurde.
Wie viele andere kultische Handlungen Mesoamerikas stand auch das Ballspiel in engem Zusammenhang mit dem Menschenopfer, wie die häufige enge Verbindung der entsprechenden Symbole in den Bilderhandschriften zeigen. Unklar ist jedoch, ob und in welcher Weise die sakrale Menschentötung mit dem Spielergebnis in Verbindung stand. Das Durchdringen eines Ringes stand auch im Mittelpunkt des in ganz Nordamerika gespielten „Ring- und Stabspiels" (englisch hoop and pole), das möglicherweise eine direkte Beziehung zum mesoamerikanischen Ballspiel aufweist (Krickeberg, Ballspiel 180). D a b e i wurde ein Holzring über den Boden gerollt, wobei die a m Spiel Teilnehmenden versuchten, ihn mit geworfenen Speeren zu durchdringen. D e r R i n g galt einerseits als ein kosmisches S y m b o l , andererseits ist die sexuelle S y m b o l i k deutlich, und das Spiel erweist sich als ein G e s c h e h e n , das einen kosmisierten Z e u g u n g s a k t realisiert (Culin 4 2 2 - 4 4 1 ; Krickeberg, Ballspiel 1 8 0 f . ) .
Ein inniger Zusammenhang von agonistischen mit aleatorischen Elementen ist beim balinesischen Hahnenkampf beobachtet worden (Geertz). B e m e r k e n s w e r t an diesem blutigen Kampfspiel ist, d a ß hier gleichsam Stellvertreter in T ö t u n g s absicht aufeinander losgehen, wobei die am H a h n e n k a m p f Teilnehmenden sich mit den kämpfenden T i e r e n in einer im einzelnen komplizierten Weise identifizieren. D e r religiöse Sinn dieses in Stellvertretung durchgeführten Kampfspiels liegt darin, schädlichen M ä c h t e n , etwa D ä m o n e n , ein Blutopfer darzubringen, „ u m ihren riesigen kannibalischen H u n g e r zu stillen" (Geertz 2 1 3 ) , der alle religiösen Handlungen, z. B . Tempelfeste, aufs h ö c h s t e gefährden würde. Begleitet werden H a h n e n k ä m p f e von einem ausgeklügelten Wettsystem, bei dem auf die kämpfenden H ä h n e zumeist erhebliche Einsätze verwettet werden. D a zumindest bei bedeutenderen K ä m p f e n die Protagonisten einander ebenbürtig sind, erhält dieses Kampfgeschehen einen deutlich aleatorischen Z u g . Unklar bleibt dabei, o b auch hier, wie bei anderen aleatorischen Vorgängen, ein (ursprünglich?) divinatorischer Sinn unterstellt werden k a n n .
2.2. Aleatorische Spiele finden sich weltweit, ihre formale Identität mit divinatorischen Praktiken wie Loswerfen oder Würfeln hat zu der Vermutung Anlaß gegeben, daß alle Glücksspiele, bei denen der „Zufall" entscheidend ist, einen religiösen Ursprung haben (Hartland 170). Während die Divination ein bewußt herbeigeführtes Omen von häufig binärer Struktur ist (auf eine Frage antworten die Würfel oder Lose mit Ja oder Nein), weist das nicht mehr ominöse Ergebnis beim Spiel ohne religiöse Motivation den Spielern Sieg oder Niederlage zu. Auf der Grenze zwischen Spiel mit und ohne divinatorischen Charakter steht die nur mit halbem Ernst betriebene Sitte des Bleigießens beim Jahreswechsel: Schon mehr als Spiel zur Unterhaltung bleibt der Gewinn von Kenntnissen über künftiges Geschick hier deutlich sichtbar. Umgekehrt kann der in Sieg und Niederlage konkretisierte Ausgang des aleatorischen Spiels schicksalsbestimmend werden, man denke an die beiden berühmten Würfelspiele im zweiten Buch des indischen Nationalepos Mahäbhärata, mit denen die verhängnisvolle und tödliche Feindschaft zwischen den Bharata-Nachkommen der Kauravas und der Pändavas ihren Anfang nimmt (vgl. auch Rigveda X , 34, da ein Spieler sein zerstörerisches Suchtverhalten beklagt). 2.3. Wie schon beim mesoamerikanischen Ballspiel deutlich geworden, können Spielhandlungen als Vergegenwärtigungen kosmologischer oder allgemein religiöser Anschauungen durchgeführt und interpretiert werden. Auch das andere über ganz Mesoamerika verbreitete Spiel, das Fliegerspiel (Juego de volador), hat sich bis heute erhalten. Sein religiöser C h a r a k t e r k o m m t zum einen dadurch zum A u s d r u c k , d a ß es nur an S o n n - oder kirchlichen Feiertagen gespielt wird, zum anderen durch bestimmte a p o t r o p ä i s c h e Verhaltensweisen (z. B. Fasten, sexuelle Abstinenz) vor dem Herbeischaffen der zum Spiel benötigten Gegenstände (etwa des Z e n t r a l b a u m s ) . D a s Fliegerspiel besteht darin, d a ß Seile um die Spitze eines hohen M a s t e s
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gewickelt und über ein an der Spitze drehbar befestigtes Drehgestell in der Weise abgespult werden, daß mehrere Personen („Tänzer", „Flieger"), an je ein Seilende geknüpft, in Drehbewegungen an den sich abwickelnden und dadurch immer länger werdenden Seilen den Mast in immer größer werdenden Kreisen umschweben, bis sie zur Erde gelangen. Ursprünglich stand dieser Handlungsablauf in enger Verbindung zu einem Kampf- oder Pfeilopfer, das die Empfängnis der Nahrungspflanzen kultisch repristinierte, während im Herabschweben der Flieger die Herabkunft der Pflanzen, vor allem des Maises, vom Himmel sichtbar wurde (Krickeberg, Kulturen 231f.243).
Bei den Pipil El Salvadors erhielt dieser Brauch eine andere Deutung. Der auf dem Drehkreuz hockende Spieler, der das Abwickeln der Seile überwacht, repräsentiert den Himmel, der die vier uranischen Gestalten Blitz, Donner, Regen und Wind auf die Erde sendet. - Dramatische Vergegenwärtigung mythischen (Urzeit-)Geschehens findet ihren Ausdruck häufig in Tänzen. Durch die Art der Bewegung, deren Rhythmus und deren Wiederholung sind die Tänzer in einer „anderen Wirklichkeit", sei es, daß diese die Wirklichkeit des im Mythos aufgehobenen Geschehens sinnenfällig und erlebbar werden läßt, sei es, daß sie die Teilhabe an sakraler Realität ermöglicht, der das Erreichen unmittelbarer Wirkung, z. B. auf das Jagdglück, auf die Fruchtbarkeit des Landes oder auf die Heilung von Krankheiten zugetraut wird („sie [sc. die Tänze] stellen das erwünschte Ergebnis ... in actu d a r " ; van der Leeuw § 53,2 [S. 423]). 2.4. Die im Tanz ermöglichte Teilhabe an einer anderen Wirklichkeit kann auch als Trance (-»Ekstase) erlebt werden. Gerade die im Mittelpunkt des Tanzes stehende Wiederholung kann zur Steigerung von Emotionen oder zu einer als rauschhaft wahrgenommenen Veränderung des Bewußtseins führen, die durch Konzentration und Ausschaltung irrelevanter Bewußtseinsinhalte als Erweiterung erlebt wird. Diese vor allem vom Tanz erwartete Tranceinduktion ist bei vielen Völkern Nordamerikas oder beim Tanz des nordeurasischen Schamanen gesucht worden, um eine höhere oder von der profanen Sphäre geschiedene Wirklichkeit zu erreichen. So läßt sich schließlich auch der am Ende der eschatologisch motivierten Wanderungen der Tupi-Guarani begangene Tanz interpretieren: Verschiedene Stämme der Tupi-Guarani brachen aus dem Landesinnern (vom südlichen Amazonasgebiet bis zum Rio de la Plata) auf (zuletzt 1912), um in beschwerlicher Wanderung das ihnen völlig unbekannte Meer zu erreichen. Durch tage- und nächtelanges Tanzen am Strand des Meeres versuchten sie, so leicht zu werden, daß sie in das Haus des Himmelsgottes Nanderuvu9u gelangen würden, um so dem drohenden Untergang der Erde zu entkommen (Nimuendajü Unkel). Literatur Vgl. auch die Lit. zu -»Sport I. Alfred Bertholet, Art. Spiel. Religionsgesch.: RGG 2 5 (1931) 691 f. - Roger Caillois, L'homme et le sacre, Paris 1939 3 1950; dt.: Der Mensch u. das Hl., München/Wien 1988. - Ders., Les jeux et les hommes (Le Masque et le vertige), Paris 1958; dt.: Die Spiele u. die Menschen. Maske u. Rausch, Frankfurt a.M. u.a. 1982. - Stewart Culin, Games of the North American Indians, Washington, D.C. 1907 (24th Annual Report of the Bureau of American Ethnology) (Nachdr. Washington, D.C. 1975; Lincoln, Nebr. u.a. 1992). - Harry Falk, Bruderschaft u. Würfelspiel. Unters, zur Entwicklungsgesch. des vedischen Opfers, Freiburg i.Br. 1986. - Clifford Geertz, Deep Play. Notes on the Balinese Cockfight: Daed. 101 (1972) 1 - 3 7 ; dt.: „Deep Play". Bemerkungen zum balinesischen Hahnenkampf: ders., Dichte Beschreibung. Bemerkungen zu einer deutenden Theorie v. Kultur, Frankfurt a.M. «1999, 9 6 - 1 3 2 . - E. Sidney Hartland, Art. Games: E R E 6 (1913) 1 6 7 - 1 7 1 . - Johan Huizinga, Homo ludens. Proeve eener bepaling van het spel-element der cultuur, Haarlem 1938; dt.: Homo Ludens. Vom Ursprung der Kultur im Spiel, Hamburg 1958 u.ö. - Walter Krickeberg, Das mittelamerik. Ballspiel u. seine rel. Bedeutung: Paid. 3 (1948) 1 1 8 - 1 9 0 . - Ders., Altmexikanische Kulturen, Berlin 1956. - Gerardus van der Leeuw, Phänomenologie der Religion, 1933 (NTG) z 1956 = 3 1970 = "1977. - Heinrich Lüders, Das Würfelspiel im alten Indien, Berlin 1907 (AGWG.PH NF 9,2) = Nendeln 1970. - Curt Nimuendajü Unkel, Die Sagen v. der Erschaffung u. Vernichtung der Welt als Grundlagen der Religion der Apapocüva-Guarani: ZE 46 (1914) 2 8 4 403. - Christoph Ulf, Sport bei den Naturvölkern: Weiler (s.u.) 1 4 - 5 2 . - Ingomar Weiler, Der Sport bei den Völkern der Alten Welt, Darmstadt 1981 = 2 1988.
Hans Wißmann
Spinoza/Spinozismus
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Spinoza/Spinozismus 1. Leben
1.
2. Lehre
3. W i r k u n g
( B i b l i o g r a p h i e n / Q u e l l e n / L i t e r a t u r S. 693)
Leben
Benedictas (hebräisch: Baruch) de Spinoza wurde am 24. November 1632 als Sohn portugiesisch-jüdischer Eltern in Amsterdam geboren, wohin diese wegen der Religionsfreiheit in den Niederlanden ausgewandert waren (vgl. Dunin Borkowski; Revah). Er wurde zunächst in einer Talmud-Schule, Ets Haim, d.h. „Baum des Lebens", unterrichtet, welche die jüdische Gemeinde, die erst wieder zum Glauben ihrer Väter zurückfinden mußte, bei der Synagoge eingerichtet hatte. Seine lateinische und klassische Bildung verdankte er einem Exjesuiten, Franziskus van den Ende (1600-1672) (vgl. Spinoza, Merchant & Autodidact 1 1 3 - 1 1 5 sowie 105-108). Spinoza trat mit 17 Jahren in das Geschäft des Vaters ein, das er nach dessen Tod 1654 mit seinem Bruder Gabriel übernahm, bildete sich aber gleichzeitig in regem Austausch mit den gebildeten Kaufleuten der Amsterdamer Börse und in gelehrten und literarischen Zirkeln weiter. Sein Leben erhält einen dramatischen Akzent durch die Verbannung aus der Synagoge vom 27. Juli 1656 (vgl. Gebhardt, Bann; zur Revision des Bannes vgl. Hessing). Das ist deshalb so beachtenswert, weil die ansonsten aufgeschlossene, hochkultivierte jüdische Gemeinde hier eine ungewöhnliche Starrheit zeigte, wohl weil sie auf eine kompromißlose philosophische Haltung stieß, wie sie nur ganz wenige Denker seit -»-Sokrates gezeigt haben (zur Literatur hierzu s. die Bibliographie von Walther, Leben). Die Unversöhnlichkeit der Standpunkte gründet sachlich wohl darin, daß Spinoza Religion nicht als Gotteserkenntnis anerkannte, sondern nur als sittliche Haltung in Frömmigkeit und Gehorsam, wie man noch aus seinem Theologisch-Politischen Traktat entnehmen kann, in den er Gedanken aus seiner verschollenen Apologie gegen die Verbannung aufnahm (vgl. Tak). Infolge letzterer mußte er das väterliche Geschäft aufgeben und verdiente sich nun seinen Lebensunterhalt hauptsächlich durch Linsenschleifen, was damals freilich noch als hochgeschätzte Kunstfertigkeit im Dienste wissenschaftlicher Geräteherstellung galt (s. Spinoza and the Sciences). Der Bann machte ihn für die Juden „vogelfrei", und es wird berichtet, daß auch ein Mordanschlag auf ihn ausgeübt worden sein soll (vgl. SchmidtBiggemann, Nr. 22). Er blieb trotzdem zunächst noch in Amsterdam und verkehrte nach neuentdeckten Dokumenten - weiter in freisinnigen Häusern jüdischer Kaufleute (vgl. van Suchtelen; s.a. SW 6 [PhB 96a] Teil E.c.). Wohl auf Drängen der Rabbiner bei den Behörden mußte er schließlich Amsterdam verlassen. 1661 finden wir ihn in Rijnsburg. Dort trägt er erstmals in einem Kreis von Freunden seine eigene Lehre vor. Dieser erste Systementwurf ist in einer holländischen Ubersetzung überliefert: Körte Verhandeling van God, de Mensch en deszelfs Welstand (Tractatus Brevis = TB; die Übersetzung tauchte erst 1852 wieder auf; zur Textüberlieferung vgl. die Akademie-Ausgabe von Gebhardt I, 4 0 7 - 5 2 5 , der Text ebd. 1 - 1 2 2 . 5 2 6 - 6 0 9 ) . Er erläutert auch für einen Schüler die cartesianische Philosophie, woraus die einzige Schrift hervorgeht, die zu seinen Lebzeiten unter seinem Namen erschienen ist: Renati des Cartes Principiorum Philosophiae Pars I & II (1663). Rijnsburg war ein Zentrum der sog. Collegianten, einer freien christlichen Glaubensgemeinschaft, deren Versammlungen Spinoza besuchte und deren Auffassungen von Toleranz und Gesinnungsfreiheit er nahestand, wie ebenfalls noch der Theologisch-Politische Traktat erkennen läßt. Dessen Grundsätze waren in vielen Punkten zur Orientierung in den religiösen und politischen Wirren gedacht, die in den Niederlanden hauptsächlich zwischen der streng calvinistischen Partei, deren theokratisches Verständnis des Staates Spinoza zu hochoriginellen Überlegungen veranlaßte, und der gemäßigten Partei der Reformierten, die, verbunden mit anderen christlichen Gemeinschaften, den „Regenten" stellten. Mit Jan de Witt (1625-1672), dem „Ratspensionär" und mächtigen Führer dieser Partei, stand Spinoza wahrscheinlich in persönlichem Austausch. Bei dessen Ermordung soll Spinoza nur durch energisches Entgegentreten von seinem Hausbesitzer davon abgehalten worden sein,
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einen Zettel mit der Aufschrift ultimi barbarorum dem rasenden Pöbel entgegenzuhalten. (Diese Geschichte ist durch Leibniz überliefert, dem sie Spinoza selbst erzählt hat; s. Die Lebensgeschichte Spinoza's 201.) Aber schon früher hat er zu politischen Ereignissen, insbesondere in seiner Umwelt, Stellung genommen. In Voorberg, wohin er 1663 zog, setzte er sich mit einigen Bürgern für einen freigesinnten reformierten Geistlichen ein. Nach de Witts Tod wurde sein 1670 anonym erschienener Theologisch-Politischer Traktat (Tractatus Theologico-Politicus = TTP) von den kirchlichen Synoden verurteilt und verboten, aber Spinoza selbst nicht direkt verfolgt. Wohl aber ereilte ihn beinahe das gleiche Schicksal wie de Witt, als er 1673 von einer Einladung des französischen Feldherrn Louis II., Prinz von Condé (1621-1686), nach Utrecht zurückkehrte, weil man ihn der Spionage verdächtigte. Seine immer wieder bezeugte aufrechte Haltung läßt jedoch als sicher erscheinen, daß er sich, wie er selbst äußert, als Republikaner und Philosoph verhalten hat. Aus solcher Haltung heraus hatte er auch den 1673 an ihn ergangenen Ruf auf einen philosophischen Lehrstuhl an der Universität -»Heidelberg abgelehnt. Er lebte in den letzten Jahren in Den Haag meist zurückgezogen und so vorbildlich, daß ihm selbst seine Gegner keine zweifelhaften Handlungen nachweisen konnten. Seit 1663 arbeitete er an seinem Hauptwerk, der Ethik, von der aber schon vor ihrer Veröffentlichung gleich nach seinem Tode (1677) einzelne Teilstücke und Lehrsätze in der gelehrten Welt kursierten und diskutiert wurden. Auch besuchten ihn bedeutende Gelehrte und Philosophen wie Christiaan Huygens (1629-1695), Heinrich Oldenbourg (ca. 1615-1677), der Sekretär der Royal Society in London, Ehrenfried Walter von Tschirnhaus (1651-1708) und -»Leibniz. Am 21. September 1677 ist er an der Schwindsucht gestorben. Er hinterließ die vollendete Ethik (Ethica = E), die unvollendete Abhandlung über die Verbesserung des Verstandes (Tractatus de Intellectus Emendatione = TIE), eine Reihe wichtiger philosophischer Briefe und einen zweiten unvollendeten Politischen Traktat (Tractatus Politicus = TP), an dem er bis unmittelbar vor seinem Tode gearbeitet hatte (zur Biographie vgl. de Vries; Hubbeling, Spinoza [1978]; Die Lebensgeschichte Spinoza's; Spinoza - Lebensbeschreibungen und Dokumente; weitere Literatur in der Bibliographie von Walther, Leben). 2. Lehre Das, was mit „Spinozismus" gemeint ist, ist etwas anderes als die ursprüngliche Philosophie des großen niederländischen Philosophen jüdischer Herkunft. Spinozismus bezeichnet eine religiöse Haltung, die in jedem Fall heterodox (vgl. Petry; Hutton; L'hérésie spinoziste), meist pantheistisch verstanden wurde, oft auch „atheistisch" im engeren Sinne einer Ablehnung des christlichen trinitarischen Gottesbegriffs (vgl. Hubbeling, Spinozarezeption), andererseits aber auch theistisch im Sinne einer christlichen Lehre schon in Spinozas unmittelbarer Umgebung (Ludovicus Meyer [1638-1681], Jarig Jelles [1619/20-1683] und Nachfolge, Abraham Johan Cuffeler [ca. 1637-1694]) interpretiert wurde. Die eigentliche Lehre Spinozas hingegen ist nicht pantheistisch zu nennen, da sich Spinoza ausdrücklich gegen eine Gleichsetzung Gottes mit der sinnlich wahrnehmbaren Welt gewehrt hat. Man hat sie deshalb seit Karl Christian Friedrich Krause (1781 — 1832) „panentheistisch" genannt (—•Panentheismus), was dem Wortsinn nach sowohl „Alles in Gott", als auch „Gott in Allem" bedeuten kann, welche erstere Bedeutung freilich auf die religiöse Anschauung vieler christlicher Denker und Mystiker, insbesonders unmittelbar nach Spinoza, zutrifft, die deshalb auch oft dem Spinozismus nahegerückt worden sind und sich gegen diesen Verdacht wehren mußten (Christoph Wittichius [1625-1687], Nicole Malebranche [1638-1715], F. -»Fénelon; s.u. 3.). Wir müssen also das wirkliche System Spinozas unterscheiden von dem, was seine Zeitgenossen davon fassen konnten und was die folgenden Zeiten in ihrer Art als Spinozismus auslegten, weshalb sein eigentliches System auch erst wieder in unserer heutigen Denkweise vergegenwärtigt werden muß.
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Trotz der methodisch gesicherten Definitionen: Substanz (substantia), causa sui, causa imtnanens, Deus sive Natura (erst ab Ethik IV gebraucht), bleibt dieser Gott Spinozas außerbegrifflich schwer zu fassen. Als immanente Ursache (causa immanens) faßt Spinoza Gott als we/iimmanent und Grund für alles, was in der Welt existiert und auch warum es existiert (E1P11S; zur Zitation der Werke Spinozas s.u. bei Quellen). Diese Formulierung wendet sich eigentlich primär gegen die „übergehende Ursache" (causa transiens, E1P18; vgl. Schottländer), wie sie das aristotelische Modell der Wirkursache (causa efficiens) aus der Vorstellung handwerklichen Bewirkens enthielt. Das hat bereits der Spinozismus im -»Pietismus erkannt (zur Buddeus-Wächter-Kontroverse s.u. 3.). Das bedeutet aber nicht, daß Gott als ihre Ursache das gleiche Wesen (essentia) wie die Dinge der Welt hat. Um einen geometrischen Vergleich Spinozas aufzunehmen: Sowenig ein Kreis die gleichen Eigenschaften hat wie die aus seinen sich schneidenden Sekanten gebildeten Vierecke, denen er durch sein „Wesen" dennoch ihre Eigenschaften (Attribute), so etwa die Flächengleichheit, vorschreibt (E2P8; vgl. dazu Hammacher, Nachbericht), so wenig kann Gott als causa sui mit der in seinem Wesen (essentia) vorausgesetzten Existenz (existentia) aus der grammatikalischen Subjektstruktur erkannt werden. Hingegen kann die Substanz nur als einzige widerspruchsfrei gedacht werden, wenn man unendlich viele Attribute in ihr enthalten denkt (vgl. K. Cramer, Voraussetzungen; ders., Absolute), d.h. so denkt, daß diese nicht aus Prädikaten der ihr untergeordneten Funktionen, welche das Wesen der Attribute gemäß der reflexiven Subjektstruktur (essentia formalis, E2P40S2) als Denken des Gedankens (idea ideae) ausdrücken (TIE G II, 14/15; E2P43), hinsichtlich ihrer Existenz abgeleitet werden kann (dies Mißverständnis von Spinoza hat erst Ch. ->Wolff [§ 671 f.] eingeleitet; s.u. 3.). Daher muß jedes Attribut nur gemäß seinem Wesen (essentia), nicht aber seiner Existenz nach in sich objektiv begründet gedacht werden (ElDef.6Ex). Das bedeutet für die zwei uns allein zugänglichen Attribute: „Der Körper kann den Geist nicht zum Denken, noch der Geist den Körper zur Bewegung oder Ruhe noch zu etwas Anderem (wenn es ein solches gibt) bestimmen" (E3P2), aber auch den „Identismus": „Die Ordnung und Verknüpfung der Ideen ist gleich der Ordnung und Verknüpfung der Dinge" (E2P7). Die äußere Natur (Natura naturata) mit ihren unendlichen, aufeinander verweisenden Kausalketten macht nicht die Natura naturans aus (E1P28S; E1P15S), das zeigt sich für Spinoza indirekt etwa an der unendlichen Teilbarkeit (Ep. 12), sondern die Ausdehnung als ein Attribut Gottes, das ihn positiv kennzeichnet, kommt in dem allem Ausgedehnten zukommenden Gemeinsamen zum Ausdruck. Das Gemeinsame führt unser Denken überhaupt durch die gemeinsamen Merkmale aller Einzelwesen zu Gemein-Begriffen (notiones communes), durch welche - im Unterschied zur Bildung von Verallgemeinerung im Sinne von Universalien (E2P40) - unser Geist (mens) die Dinge in ihrer wahren Ordnung als Ideen auffassen kann. Die Definitionen und Beweise Spinozas arbeiten die Erkenntnis neben cartesianischen Bestimmungen mit scholastischen, und zwar aus der jüdischen Scholastik stammenden Begriffen heraus und lassen Gott sowohl als durch sich selbst begründetes (causa sui) und existierendes Wesen erscheinen (E1P7; vgl. Levy), das zunächst nur in gedanklicher Folgerung begriffen wird, dann aber nach dem 5. Buch der Ethik sich zugleich als Ergriffensein intuitiv im amor Dei intellectualis und der Glückseligkeit (beatitudo) sowie im Rühmen Gottes (gloria, E5P36S) nach jüdisch-mystischen Traditionen darstellt (vgl. Hammacher, Liebe; Scholem 119-127). Unwahrheit und Unwissen hingegen gehen zusammen und haben ihre Entsprechung immer in Zuständen unseres Körpers, die wir assoziativ aus zufällig uns Begegnendem miteinander verbinden. Dabei wirkt der Selbsterhaltungstrieb (conatus in suo esse perseverandi, eingeführt E3P7) in uns so, daß wir - scheinbar mit Willen, in Wahrheit aber durch verworrene Vorstellungen - Wahrnehmungen, die uns eine Verbesserung unseres Zustandes anzeigen, mittels der Einbildungskraft (imaginatio) mit Erinnerungen und Wünschen, die wir einmal gehabt haben, verbinden. Erkenntnis wirkt immer auch als Affekt (E4P14), freilich positiv nur in der intuitiven Erkenntnis (cognitio intuitiva), die auch Affekte enthält, die - wie die obengenannte Liebe Gottes - aus der Vernunft selbst entspringen (qui a ratione oriuntur, E5P10), während die demonstrative Erkenntnis (cognitio demonstrativa) zwar schon dazu hinleiten soll (E5P28), indem sie unter dem Gesichtspunkt der Zeitlosigkeit (sub specie aeternitatis) von der Sklaverei der begehrlichen Affekte, die aus assoziativen
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E r r e g u n g e n d e r V e r g a n g e n h e i t und s e l b s t h e r r l i c h e n P r o j e k t i o n e n von W u n s c h Vorstellungen in die Z u k u n f t e n t s t e h e n , b e f r e i e n k a n n . A u f d e r u n t e r s t e n (ersten) Stufe des b l o ß e n W i s s e n s v o m H ö r e n s a g e n und aus d e n individuellen E r f a h r u n g e n ä u ß e r l i c h a b s t r a h i e r t e r U n i v e r s a l i e n b l e i b t m a n h i n g e g e n ein S p i e l b a l l des Z u f a l l s . W e n n auch der M e n s c h v o n S p i n o z a als ein h o c h o r g a n i s i e r t e s L e b e w e s e n v e r s t a n d e n w i r d , so ist er d o c h in so viele B e w e g u n g s z u s a m m e n h ä n g e d e r ihn u m g e b e n d e n W e l t v e r f l o c h t e n , von d e n e n er nur ü b e r seine K ö r p e r w a h r n e h m u n g e n wissen k a n n ( E 2 P 1 9 ) , d a ß er a u f diese W e i s e nie zu e i n e m v o l l s t ä n d i g e n Ü b e r b l i c k des W i r k e n s d e r K r ä f t e k o m m e n k a n n . D a z u k o m m t die E i g e n t ü m l i c h k e i t des m e n s c h l i c h e n B e w u ß t s e i n s in d e r E i n b i l d u n g s k r a f t ( i m a g i n a t i o ) , V o r s t e l l u n g e n o h n e D e n k e n zu bilden ( E 2 A x 3 ) , w o z u a u c h affektiv a u f g e f a ß t e W a h r n e h m u n g e n (ideae idearum affectionum, E 2 P 2 2 ; E 2 P 2 8 S ) g e h ö r e n , s o d a ß w i r v o n d e m , w a s uns w a h r h a f t zur E r h a l t u n g d i e n t , i m m e r d u r c h w i l l k ü r l i c h e V o r s t e l l u n g e n a b g e l e n k t w e r d e n . D e r - » W i l l e ist n i c h t frei, s o n d e r n nur A u s d r u c k der B e g i e r d e ( c u p i d i t a s ) , die sich s o w o h l a u f die assoziativ geleiteten k ö r p e r l i c h e n V o r stellungen r i c h t e n k a n n als a u c h a u f d i e d a r i n g e s u c h t e geistige S e l b s t e r h a l t u n g , w e s h a l b d e r W i l l e e i g e n t l i c h W i l l e n u r d a n n ist, w e n n er m i t d e m B e j a h e n der w a h r e n Ideen in d e r E r k e n n t n i s identisch ist ( E 2 P 4 9 ) , w o b e i w i r v o n d e r M a c h t der G e d a n k e n ergriffen w e r d e n , w e l c h e nicht d u r c h die k ö r p e r l i c h e n Z u s t ä n d e erregt w e r d e n ( E 3 P 5 9 ) , s o n d e r n wie diese n a c h ihren eigenen O r d n u n g s gesetzen w i r k e n ( E 5 P 1 0 ) .
Spinoza hat sein System ausdrücklich unter dem Gesichtspunkt der -»Ethik konzipiert (E2 [Praef.]) und deshalb aus einer genauen Beschreibung der Entstehung der Affekte eine Ethik als Regelung aus der Erkenntnis ihrer Gründe entwickelt (E5P10S). Wie das geschehen soll, bleibt freilich etwas unklar. Auf der einen Seite wird nämlich eine Entwicklung und Differenzierung der körperlichen Fähigkeiten als größere geistige Wahrnehmungsfähigkeit hervorrufend (E2P13,14; E4P38 cap. 27; E5P26) gefaßt, wie wir auch allein über den Körper Erkenntnisse gewinnen können ( E 2 P 1 2 - 1 4 ) , auf der anderen Seite wird ausdrücklich die Auffassung gemeinsamer Eigenschaften dem Geist allein zugesprochen (E2P40S2; E5P7D). Jedenfalls bleibt der Selbsterhaltungstrieb (conatus in suo esse perseverandi, E3P7 passim) selbst in den höchsten Äußerungen geistigen Strebens wirksam (E5P25). Naturalistische Bestimmungen, die alle Tugenden aus der Selbsterhaltung ableiten (E4P22) - denn wer weiß, was der Körper vermag (E3P2S) - , stehen neben intellektualistischen (E4P23), wie auch die Idee des Guten und -»Bösen einerseits aus der bloßen Lust, die sich im Übergang zu einer Vermehrung der Tätigkeit zeigt (E4P8), hervorgehen soll, so andererseits die -»Tugend um ihrer selbst willen begehrt werden muß (E4P18S); und dem wiederum entsprechend wird auch ausdrücklich eine geistige Lust von der körperlichen unterschieden (E3P30S). Spinoza sucht diese scheinbar gegensätzlichen Bestimmungen zusammenzudenken in dem Begriff des „wahren Nutzens", der das dem eigenen Wesen Entsprechende von der Vernunft geleitet erkennt ( E 4 P 2 1 - 2 4 ) . Insofern ist die Lehre vom rechten -»Staat, die zwar auch eigens im Theologisch-Politischen Traktat und im Politischen Traktat entwickelt wird, in die Ethik eingebaut, da der nach der Vernunft Handelnde weiß, daß er seinen Selbsterhaltungstrieb am besten aus dem gemeinsamen Nutzen wahrzunehmen weiß, wobei sich die Selbsterhaltung im Geltungstrieb (ambitio) zeigt, aber vernunftgemäß nur in einem ehrerbietigen Bemühen (honestas) durchsetzt, die anderen nach seiner Überzeugung leben zu sehen (E4P37; s. Hammacher, Ambition). Die Entwicklung zum Staat selbst sieht Spinoza bewirkt durch Aufgeben des natürlichen Rechts auf alles, dem eben keine Möglichkeit entspricht, es durchzusetzen, während der Z u sammenschluß mit anderen wirkliche M a c h t verleiht (TP cap. 2 § 3). Die Bildung des Staates vollzieht sich zunächst über gemeinsame Affekte (TP cap. 6 § 1) wie -»Furcht (TP cap. 3 § 6) und -»Hoffnung (TP cap. 5 § 6), den Geltungstrieb (E4P37S1; T P cap. 7 § 10), sofern er auf den gemeinsamen Nutzen gewendet ist, was nur durch die altrömische Tugend der pietas gegen Überheblichkeit von Spinoza gesichert werden kann (E4 § 25). Aber er sieht auch ganz realistisch, daß die Grenzen des Staatswesens immer durch das Naturgesetz bestimmt werden und eine Regierungsform nur so lange hält, als dem Recht durch die gemeinsame Billigung aller auch eine Macht entspricht (E4P18S; T P cap. 2 § 3f.).
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Spinozas Theologisch-Politischer Traktat (TTP), anonym erschienen 1670, ist bahnbrechend sowohl für die Bibelkritik als auch für das moderne Staatsverständnis geworden. Wenn es auch schon in der Nachfolge -»Descartes' einige allein an der Vernunft orientierte kritische Auslegungen der Bibel gab (Ludovicus Meyer [s.u. 3.]; Ch. Wittichius) und die Kombination beider Themen bei -»Hobbes vorgebildet war (Leviathan, 1651), so schafft es jedoch erst Spinoza, die Rolle von Vernunft und Religion in der Religionsvermittlung zu bestimmen, indem er der Prophetie und Offenbarung die bloße Vermittlung der religiösen Tugenden Frömmigkeit (pietas) und Gehorsam (oboedientia) zuweist, der Philosophie jedoch die wahre Gotteserkenntnis vorbehält. Beide kommen dennoch in der oben angeführten Liebe Gottes überein. Hier wirkte wohl noch die jüdische Scholastik nach, die auch die Vollendung der religiösen Haltung nicht im Glauben, sondern in der Erkenntnis gefunden hatte (vgl. Levy), was zwar auch mit dem credo ut intelligam der Ansatz -»Augustins gewesen war. Jedoch nimmt Spinoza Frömmigkeit (pietas) und Gehorsam (oboedientia) als für alle verbindliche, den Staat tragende Tugenden an, denen sich auch der Weise zu unterwerfen hat und in deren Befestigung Spinoza die alleinige Aufgabe der Theologie sieht (TTP cap. 15; dazu Krämer). Die Bibelkritik (Kap. 1 - 7 ) wird hermeneutisch im Sinne eines historischen Verständnisses vorgenommen. Das führt zu einer „moralischen Vergewisserung" der Heilsbotschaft (15. Kap. G 111,185). Darauf baut auch die im Schlußkapitel (Kap. 20) entwickelte Toleranzidee (-»Toleranz) auf, die erstmals Gedanken- und Gesinnungsfreiheit ausspricht, während die öffentliche Religionsausübung nach Spinoza wie nach Hobbes dem Staat zusteht. Die dazwischen geschaltete Politische Theorie des T T P interpretiert den Staat der Hebräer nach dem vereinfachten aristotelischen Modell der Herrschaftsformen Monarchie, Aristokratie, -•Demokratie. Diese werden aber in neuartiger Weise begründet. Während Spinoza im T T P die innere Verwandtschaft von Demokratie und Theokratie herausarbeitet: „Denn in Wirklichkeit hatten die Hebräer [in der Theokratie] das Recht der Regierung ohne Einschränkung sich vorbehalten" (TTP cap. 17, 111,206,230), hat er darauf aufbauend im Politischen Traktat (TP) aus dem unveräußerlichen Recht der Selbsterhaltung (vgl. TP cap. 2 § 5) eine doppelte Funktion der Demokratie festgestellt: einmal ist sie Grundlage aller Regierungsformen, wir sagen heute in der Volkssouveränität (vgl. TP cap. 2 § 17), zudem aber auch „unbeschränkteste Herrschaft" ( i m p e r i u m absolutum), in der jeder aus diesem Grundrecht an der Herrschaft teilhat. Die Gründung des Staates wird aber im TP nicht mehr auf einen Gesellschaftsvertrag zurückgeführt, sondern unmittelbar auf das Naturgesetz, da die Menschen schließlich aus der Erfahrung entnehmen müssen, daß sie nur zusammen etwas zu bewirken vermögen, während sie allein machtlos sind (TP cap. 2 §§ 13.15). Das führt auch zu dem berühmten Satz, daß das Recht gleich der Macht ist, es aufrechtzuerhalten (TP cap. 2 §§ 4.9; cap. 3 § 7). Das heißt konkret, daß es in der Macht der Menge fundiert ist, die „wie von einem Geist geleitet" wird (una veluti mente ducitur). Dieser kann jedoch genauso in einem gemeinsamen Affekt, Furcht oder Hoffnung, Vaterlandsliebe oder Geltungsdrang (ambitio), wie in der Vernunft gegeben sein (TP cap. 5 § 2; cap. 6 § 1; cap. 10 § 10). Mit diesen Gedanken hat Spinoza noch auf -»Montesquieus Theorie vom Geist der verschiedenen Verfassungen eingewirkt. Der Weise findet diese Gemeinsamkeit in der Vernunft, zu der er alle wohlwollend und ohne Leidenschaft bringen will (E4P37S).
Der äußerst gehaltreiche Briefwechsel Spinozas, der in den Opera posthuma mitherausgegeben wurde, diskutiert zentrale Fragen des Systems anhand der früheren Formulierungen der Ethik, gibt aber auch Erläuterungen zu religiösen Fragen. Auch finden wir dort allein Ausführungen zu naturwissenschaftlichen Problemen (vgl. Spinoza and the Sciences; Hammacher, Nachbericht), nachdem sich die Abhandlung über den Regenbogen schließlich doch als nicht echt herausgestellt hat. 3.
Wirkung
Die Wirkungsgeschichte der Ethik ist zwar äußerst intensiv, aber meist negativ belegt. Sie ist aber auch von erstaunlichen Mißverständnissen geprägt. Obwohl auch einige Freunde Spinozas mit Publikationen hervortraten, haben nur wenige seine Ethik als System voll begriffen. Ludovicus Meyer (zu seiner Philosophia S. Scripturae interpres
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s. jetzt Walther, M e y e r ) und J . Jelles e t w a blieben im Cartesianismus befangen, allein A . J . Cuffeler g a b aus seinem Freundeskreis in seiner Pantosophia ausführlich, ja teilweise kongenial aufgefaßt, Spinozas w a h r e L e h r e wieder, deutete sie aber zugleich im Sinne eines transzendenten Gottesbegriffs und überhaupt übereinstimmend mit dem Christent u m (vgl. H a m m a c h e r , Kabbalismus). C h . Wittichius' Anti-Spinoza hingegen ist keineswegs spinozistisch, sondern n i m m t eine grundlegende Stellung in der T h e o l o g i e des Cartesianismus ein, ja, m a n kann sagen, d a ß er die Vereinbarkeit des Cartesianismus mit d e m Christentum nachwies, die Offenbarungswahrheiten mit den Vernunftwahrheiten in Übereinstimmung bringen kann, w a s ja Spinozas Denken genau entgegenlief. Die eigentliche Wirkungsgeschichte Spinozas ging v o m Theologisch-Politischen Traktat aus, nicht nur, weil d o r t erstmals Gedankenfreiheit verkündet wurde und die U n m ö g lichkeit einer Gesinnungsüberwachung, sondern a u c h , weil Spinoza hier eine radikale Bibelkritik entwickelte. N i c h t m e h r H e r m e n e u t i k , Auslegung der Bibel w u r d e hier vollzogen, sondern eine sprach- und quellenkritische Untersuchung der heiligen Schriften aus p r a g m a t i s c h e m , ja oft sogar naturalistischem Gesichtspunkt. Spinozas Deutung der Geschichte des jüdischen Volkes als Deutung einer Erziehung d u r c h G o t t bzw. das N a turgesetz ( T T P c a p . 17; G III 2 1 6 , 1 8 f ) wirkt noch in —»Lessings Erziehung des Menschengeschlechtes ( 1 7 8 0 ) nach. Der Begriff „Spinozismus" wurde in der ersten Phase der Rezeption hauptsächlich über den Einfluß des T T P auf bestimmte heterodoxe Gruppen geprägt (vgl. Yovel). Diese waren aber keineswegs Anhänger des metaphysischen Systems der Ethik, sondern griffen nur bestimmte bibelkritische, politisch-utopische Thesen unter dem religiösen Erweckungsgedanken aus dem T T P auf. Sachlich waren es meist philosophisch und auch religiös ganz verschieden fundierte religiöse Gruppen, die dann als Spinozisten galten und sich auch selbst so nannten, wie die Collegianten, die -•Böhmischen Brüder usw. Auch politisch radikale und materialistische Theorien tauchen erstmals im Spektrum der sog. Spinozisten auf (vgl. Hubbeling, Spinozarezeption; ders., Philopater). Die kirchliche Philosophie in Frankreich wandte sich mit Fenelon und -»Poiret gegen Spinozas System als pantheistisch und atheistisch, wohl auch unter dem Eindruck von -»Berkeleys Verdacht einer Nähe Malebranches zum Spinozismus aus systematischen, in dessen Raumbegriff liegenden Gründen (dazu Luce). Im 18. Jh. überschneiden sich dann in der französischen Aufklärung beide Linien des sog. Spinozismus, die aus dem Werk Spinozas hervorgingen, d.h. die theologisch-politische und die philosophische, indem man jetzt das System überwiegend materialistisch und zugleich atheistisch interpretiert (grundlegend Verniere). Demgegenüber steht die deutsche Spinozarezeption im 18. Jh. unter vorwiegend religiösem Aspekt. Johann Georg Wächter (1663-1757) stellt Spinoza in seinen beiden Schriften, der ersten gegen Spinoza gerichteten Der Spinozismus im Judenthumb von 1699 und der für ihn Stellung nehmenden zweiten Elucidarius Cabalisticus von 1706, in die Nachfolge der (lurianischen) -»Kabbala der Renaissance und interpretierte ihn von daher pantheistisch, aber nicht atheistisch. Er ging zurück auf Christian Knorr von Rosenroths (1636-1689) Kabbala denudata (1684). Hier schaltete sich dann die pietistische Religionsphilosophie ein, vornehmlich J.F. -»Buddeus, und stellte die neupythagoräisch und an -»Philo von Alexandrien anknüpfende kabbalistische Tradition als jüdisch-christliche der an der klassischen griechischen Philosophie orientierten Theologie entgegen, wohingegen er Spinoza als atheistisch ablehnte (dazu Spam). Jacobus Wittichius (1677-1739), der Neffe des obengenannten Ch. Wittichius, wurde mit seiner Schrift De natura Dei (1711), nur weil er Spinoza gegen die Verwandtschaft seiner Lehre mit dem Kabbalismus verteidigte, in seinem Streit mit den niederländischen Theologen selbst des Spinozismus geziehen, von Buddeus jedoch gegen diesen Vorwurf verteidigt. Freilich hat seine Verwendung geometrischer Symbole als Metaphern Analogie zu Spinozas Gott, jedoch ist dieser streng transzendent gedacht (vgl. Hammacher, Kabbalismus). Mißverstanden hat hingegen Ch. Wolff, ebenfalls selbst von Johann Joachim Lange (1670-1744) des Spinozismus verdächtigt, in seiner Theologia naturalis (II 1737) Spinozas Unendlichkeitsbegriff und damit auch seinen Gottesbegriff, ein Standpunkt, der sich in der deutschen Philosophie dann festsetzte, wenn auch M . -»Mendelssohn in seiner Frühzeit mutig mit der (zwar unzutreffenden) Behauptung, wenn er - in Unkenntnis der okkasionalistischen Vorstellung von der Körper-Geist-Beziehung - die prästabilierte Harmonie von Leibniz auf Spinozas Attributenlehre zurückführte (Mendelssohn, Gespräche), richtig jedoch Spinozas Affektenlehre aufgriff (ders., Empfindungen). Die entscheidende, dann nicht mehr bis in die Gegenwart abreißende Spinozarezeption beginnt mit F.H. -»Jacobis Buch Über die Lehre des Spinoza von 1785. Spinoza wird dort zwar in der
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über P. —»Bayles Spinoza-Artikel im Dictionnaire historique et critique ( 3 1720) übermittelten Tradition der Spinoza-Gegner als atheistisch und fatalistisch interpretiert (vgl. Olivetti), zugleich aber als unüberbietbares philosophisches System und Prototyp modernen Philosophierens überhaupt gefeiert. Zugleich gibt Jacobi eine reich belegte, teilweise genial-produktive Interpretation vieler Lehrsätze und initiiert damit eine Spinozarenaissance, die dann die verschiedenen Spinozabilder der klassischen deutschen Literatur wie auch der Philosophie des Deutschen Idealismus prägt (vgl. jetzt die kritische Ausgabe von Jacobis Schriften zum Spinozastreit). -»Goethe und -»Herder entwickeln daraus, nicht rational argumentierend, sondern erlebnishaft, in der Produktivität der Natur erfahrenen -»Pantheismus (vgl. Hammacher, Confronto); -»Fichte sieht Spinozas System nach den gleichen Denkgesetzen wie seine Wissenschaftslehre gebildet, nur daß Spinoza sich als Erkennender in diesem System vergessen habe (vgl. Ivaldo; Hammacher, Fichte); -»Schelling findet in dem psycho-physischen Parallelismus sein Grundkonzept der Entsprechung von Natur und Geist in der Identität; -»Hegel schließlich sieht im Substanzbegriff Spinozas den „spekulativen Satz" begründet (Hegel, Logik: SW IV,305-307.475f.) und stellt deshalb fest, jeder wahrhaft Denkende müsse in seinem Leben einmal Spinozist gewesen sein (Hegel, Geschichte der Philosophie: SW XIX,376). Mit der „Akosmismos"-Deutung (Hegel, System der Philosophie: SW VIII,148; X,469; ders., Geschichte der Philosophie: SW XIX,390.404.408) verfehlt er freilich den Identismus der spinozistischen Gott-Natur, hingegen verwandelt er mit der Hinzufügung des omnis zu determinatio negatio est (EP 50 G IV,240 ]3/14 ) das ontologische Prinzip Spinozas in ein logisches (Hegel, JacobiRez. 13; ders., Logik: SW IV,127f.; in der Geschichte der Philosophie heißt es: Spinoza sehe nicht, „daß die Negation der Negation ... Affirmation ist" [SW XIX,375]; zum Satz vom ausgeschlossenen Dritten und zur ganzen Spinozarezeption im Deutschen Idealismus s. den Band Spinoza und der Deutsche Idealismus). D a m i t ist die Geschichte des Spinozismus jedoch keineswegs zu Ende. Das 19. J h . hat zunächst die Spinoza-Philologie hervorgebracht, beginnend mit Heinrich Eberhard G o t t l o b Paulus' ( 1 7 6 1 - 1 8 5 1 ) Ausgabe bis zu Carl Gebhardts ( 1 8 8 1 - 1 9 3 4 ) Akademieausgabe, und die philosophiegeschichtliche Einordnung seines Denkens, beginnend mit Dietrich T i e d e m a n n ( 1 7 4 8 - 1 8 0 3 ) bis zu Kuno Fischer ( 1 8 2 4 - 1 9 0 7 ) (vgl. zu dieser Entwicklung im Ganzen jetzt Walther, Heidelberg). Daneben entdeckten jedoch die sich aus der hegelschen Linken entwickelnden Sozialisten, besonders M o s e s H e ß ( 1 8 1 2 - 1 8 7 5 ) , und noch später die Zionisten in Spinoza den Vorkämpfer eines demokratischen G o t tesstaats, nicht jedoch auf metaphysischer Basis, sondern in voll säkularisiertem Sinne (Überblick über die Spinozarezeption bei Walther, Spinozissimus): D a s 20. J h . hat dann Spinoza unter die problemgeschichtlichen Grundpositionen aufgenommen, die auch der systematische Philosophierende einnehmen kann. Bibliographien Adolph S. Oko, The Spinoza Bibliography, Boston, Mass. 1964 (umfassender Bibliothekskat.). - Jon Wetlesen, A Spinoza Bibliography. Particularly on the Period 1 9 4 0 - 1 9 6 7 , Oslo 1968; 2. Aufl. 1940-1970, ebd. 1971. - Jean Preposiet, Bibliogr. spinoziste, Paris 1973. - Theo van der Werf/Heine Siebrand/Coen Westerveen, A Spinoza Bibliography 1 9 7 1 - 1 9 8 3 , Leiden 1984. - Manfred Walther, Das Leben Spinozas. Eine Bibliogr.: Studia spinozana 10 (1994) 2 5 3 - 2 7 8 = Hannover 1996. Quellen Spinozas Werke werden im Text - wie in der neueren Spinoza-Literatur üblich - folgendermaßen zitiert: die Ethik mit dem Buchstaben E, darauf folgt die Ziffer des Buches, dann P = Propositio mit der Ziffer u. ggf. S = Scholium, D = Demonstratio, Def. = Definitio, Ex = Expositio, L = Lemma, Post = Postulat, Paragraph in Anhang zu E4 für Capitula. Der Tractatus Politicus wird zitiert mit Angabe des Kapitels = cap. und Paragraph. Die Briefe werden mit Ep zitiert. Die weiteren Kürzel richten sich nach der Akademieausgabe. 1. Spinozas Werke: Benedicti de Spinoza Op. quae supersunt omnia. Iterum edenda curavit, praefationes, vitam auctoris, nec non notitias, quae ad historiam scriptorum pertinent addidit Henr. Eberh. Gottlob Paulus, 2 Bde., Jena 1 8 0 2 - 1 8 0 3 . - Spinoza, Op., im Auftrag der Heidelberger Akademie der Wiss. hg. v. Carl Gebhardt, 4 Bde., Heidelberg 1925; 5 Bde., ebd. 2 1972. - SW, 7 Bde. u. 1 ErgBd., Hamburg 1976ff. (PhB 9 1 - 9 6 . 3 5 0 ) . 2. Sonstige Quellen: Johann Franz Buddeus, Dissertatio philosophica de spinozismo ante Spinozam, Halle 1706. - Abraham Johan Cuffeler, Specimen artis ratiocinandi naturalis et artificialis
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Spinoza/Spinozismus
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Spiritismus
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Klaus Hammacher
Spiritismus 1. Der Spiritismus als okkultes P h ä n o m e n 2. Z u r Entstehungsgeschichte 3. Glaubensinhalte 4 . Die spiritistische Praxis 5 . Weltweite G r u n d m o d e l l e (Quellen/Literatur S.700)
1. Der Spiritismus
als okkultes
Phänomen
Grundsätzlich ist der Spiritismus als okkultes Phänomen in die Religionsgeschichte einzuordnen (-»Okkultismus) und gehört damit zu jenen Geheimlehren und Praktiken, die esoterisches Wissen (-»Esoterik) voraussetzen und der -»Parapsychologie zuzurechnen sind. Innerhalb des okkulten Spektrums nimmt der Spiritismus aber insofern eine Sonderstellung ein, als ihm das „Privileg" zukommt, mit Hilfe und durch Vermittlung von dafür besonders begabten Menschen, den „Medien", Kontakte zu den Verstorbenen herzustellen und die Totengeister zu beschwören. „Spiritismus" ist demnach die Lehre von der Manifestation der Geister, die sich durch bestimmte Codes oder Medien iden-
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Spiritismus
tifizieren und vor den lebenden Angehörigen ihre Existenz beweisen, indem sie ihnen Selbstmitteilungen, Anweisungen, Drohungen hinterlassen, welche das Medium interpretiert. Insofern haben wir es beim Spiritismus immer mit einer Grenzüberschreitung der Immanenz und damit der Aufhebung der Todeswirklichkeit zu tun. Die Einteilung in psychische und physische Phänomene, wie sie in der spiritistischen Praxis auftreten, ist berechtigt (vgl. schon Schiller 806). Danach können der psychischen Gruppe die verschiedenen Formen von Automatismus, Obsessionen, Trancen, Apparitionen, Halluzinationen, Clairvoyance, Clairaudience, Prophetie, T r ä u m e , übernatürliche Fähigkeiten usw. zugerechnet werden. Z u r physischen Gruppe gehören dann Phänomene, die während der Séancen auftreten: Bewegung von Gegenständen oder menschlichen Körpern, T ö n e , Lichterscheinungen, Materialisationen, Levitationen, Herbeischaffen von entfernten Gegenständen, Immunität gegenüber dem Feuer usw. Oft verlaufen aber die Grenzen zwischen den beiden Gruppen fließend.
Als „wissenschaftlich" bezeichnet sich der Spiritismus, weil er die Trennung von (sterblichem) Körper und (unsterblicher) Seele und damit die Echtheit von spirituellen Erfahrungen mit den Toten empirisch zu beweisen sucht. Die anderen okkulten Phänomene dienen dabei der wissenschaftlichen Unterstützung. D a ß sich der Spiritismus zur Zeit seiner Entstehung als Gegenbewegung zur Aufklärung verstand, verstärkt diesen Anspruch. Als Alternative zum Christentum entwickelte er eine spirituelle Anderswelt, die inmitten einer dogmatisch-rationalistischen Erstarrung als Ort des Trostes und der Hoffnung verstanden wird.
2. Zur
Entstehungsgeschichte
2.1. Anfänge. Ideengeschichtlich läßt sich der Spiritismus auf die kosmologisch-theosophische Sphärenspekulation (arcana coelestis) Emanuel —»Swedenborgs, die Theorie vom Fluidum der Planeten („animalischer Magnetismus") Franz Anton Mesmers ( 1 7 3 3 1815), Justinus Kerners ( 1 7 8 6 - 1 8 6 2 ) Magikon. Archiv für Beobachtungen aus dem Gebiete der Geisterkunde ( 1 8 4 0 - 1 8 5 3 ) und sein Porträt Die Seherin von Prevorst (1829) zurückführen. Vor allem muß aber hier der amerikanische Visionär Andrew Jackson Davis ( 1 8 2 6 - 1 9 1 0 ) , der „Seher von Poughkeepsie", genannt werden, weil er bereits als einer der führenden Theoretiker des Spiritismus zu gelten hat. Sein philosophisches
Hauptwerk Nature's
Divine Revelations.
The Principle's of Nature, her Divine
Reve-
lations, and a Voice to Mankind, 2 Bde., London 1847 (dt.: Die Prinzipien der Natur, Leipzig 1889), ist zur Grundlage zahlreicher spiritistischer Jenseitsschilderungen und einer spezifisch spiritistischen Anthropologie (materieller Körper, immaterieller Geist, der einem Seelenkörper innewohnt) geworden. Zu Davis' wichtigsten Nachfolgern und Interpreten gehört George Lawton (geb. 1900) mit seinem Buch The Drama of Life
after Death. A Study of Spiritualist
Religion,
New York 1932.
Die Geburtsstunde der spiritistischen Praxis ist also keineswegs erst mit dem Auftreten der sog. „Klopfgeister" (raps) verbunden, wie in der Forschung allgemein angenommen (z.B. auch Wulfhorst 21f.), sondern läßt sich in der westlichen SpiritismusTradition weit früher ansetzen. Dennoch ist dieses Ereignis, das sich im M ä r z 1848 im Hause des methodistischen Farmers J o h n F o x in Hydesville bei Rochester (USA) zutrug, als „Manifestation(en) einer bisher unbekannten Wirklichkeit" (Wulfhorst 22) verstanden worden und zum Ausgangspunkt für die sich nun rasch ausbreitende spiritistische Bewegung geworden. Überall im Westen entstanden daraufhin spiritistische Zirkel, in denen das spirit rapping in Séancen erlebt und die Kommunikation mit den Totengeistern als eine neue Wirklichkeit erfahren wurde. Zugleich wurde dabei immer auf die wissenschaftliche Evidenz dieser Erfahrungen hingewiesen. Erstmalig setzte sich daraufhin die Society for Psychic Research in London (gegründet 1882) kritisch mit den spiritistischen Phänomenen auseinander und erklärte sie mit den ungewöhnlichen Fähigkeiten der anima (daher „animistische Interpretation"). Allerdings wurden einige Vertreter dieser kritischen Schule bald selbst zum Spiritismus bekehrt, darunter der Physiker Oliver J . Lodge (1851 - 1 9 4 0 ) , der Philologe Frederic William
Spiritismus
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H. Myers (1843-1901), der mit seinem Buch über Human Personality and its Survival on ihe Death (London 1903) hervortrat, und der Philosoph Gustav Theodor Fechner (18C1-1887; Das Büchlein vom Leben nach dem Tod, Diessen 1950) sowie der französische Physiologe und Nobelpreisträger Charles Robert Richet (1850-1935), der durch sein Werk Traité de Métapsychique (Paris 2 1923) zum Begründer der Paraphysik und der Parapsychologie wurde. 2.2. Kardec und die Umbanda-Religion. Religionsgeschichtlich relevant wurde der Spiritismus allerdings erst durch die sog. „spiritualistische Interpretation" von Allan Kardec und dessen Wirkung auf die afro-amerikanischen Religionen Lateinamerikas, insbssondere Brasiliens. Kardec - mit bürgerlichem Namen Léon Hippolyte Dénizard Rivail (1804-1869), ein engagierter Schüler —»Pestalozzis, Gymnasiallehrer für naturwissenschaftliche Fächer — war vom Mesmerismus beeinflußt (vgl. seine Fluidenlehre) und gehörte der Französischen Gesellschaft für Magnetismus an, durch die er mit dem Spir.tismus in Berührung kam (sein Pseudonym kam unter Geisteinwirkung zustande). Er untersuchte die parapsychologischen Phänomene bei somnambulen Trancezuständen und der Clairvoyance, Aufzeichnungen von Nachrichten, die die Geister Verstorbener über die Medien an die Angehörigen weitergaben, sowie die Reinkarnationslehre und führe dabei z. B. die Krankheit auf Sünde und diese auf eine Störung der Harmonie in der Natur bzw. die Heilung auf die Wiederherstellung eben dieser Harmonie zurück (vgl. Ernst Benz, Franz Anton Mesmer und seine Ausstrahlung in Europa und Amerika, Mür.chen 1976, 77.93). Seine Untersuchungen fanden ihren Niederschlag in seinem Livre des tsprits, in dem er an 501 (in der 22. Ausgabe an 1019) Fragen eine Klassifizierung der Welt der Geister und ihrer Funktionen (Unsterblichkeit der Seele, die Natur der Geisrer, ihre Beziehung zu den Lebenden, über das diesseitige und das jenseitige Leben usw.) zu geben versucht. Das Buch gilt als Wegbereiter für den brasilianischen Kardecismus und dessen erstmalige Veröffentlichung am 18. April 1857 in Paris als Gründungsdatum der Bewegung. Dann folgten weitere Veröffentlichungen (s. Quellenverzeichnis) sowie die 1858 gegründete Revue Spirite, die nach wie vor von der Société Pariiienne des Études Spirites herausgegeben wird und den Spiritismus weltweit verbreitet. Nachdem das kardecistische Schrifttum in Spanien 1861 einem Autodafé zum Opfer fiel, kam es in Brasilien zwischen 1865 und 1883 zu einer wahren Flut von Publikationen (Kardec' L'Evangile selon le Spiritisme erschien 1978 in 78. Auflage, und Francisco Candido Xavier [geb. 1910] veröffentlichte bis 1971 über 100 Buchtitel mit einer Gesamtauflage von 3 Millionen Exemplaren!). Zentren der Bewegung wurden und sind Bahia, Rio de Janeiro, Säo Paulo. Hier ist es vor allem die Mittelschicht, die von dem mystischen und therapeutischen Charakter (Wulfhorst 25) diesei „Neureligion" angezogen wird. Der Spiritismus wurde in Brasilien zur drittgrößten religiösen Kraft, die sich vom Katholizismus und Protestantismus durch gelebte Nächstenliebe unterscheiden
will. Durch die Sociedade de Estudos Espiritas Deus, Cristo e Caridade bzw. die Federaçào Espirita Brasiieira
3.
ist sie sowohl wissenschaftlich wie gesellschaftlich vertreten.
Glaubensinhalte
Nach Kardec gibt es eine unsichtbare, nicht-materielle Welt, die Teil der sichtbaren Welt ist und der wissenschaftlichen Erfahrung zugänglich, aber im Gegensatz zur sichtbaren natürlichen Welt ewig und präexistent ist und von daher mit Wertvorstellungen wie Güte, Reinheit und Weisheit identifiziert werden kann. In dieser Welt gibt es Seelen oder Totengeister, welche in der Lage sind, mit den Lebenden durch mediumistische Phänomene in Verbindung zu treten (Negräo 260). Gott gilt als Erste Ursache; er hat sowohl die materielle wie die spirituelle Welt hervorgebracht, desgleichen die Geister, welche zwar keine Gottwesen, aber mit einem freien Willen ausgestattet sind und sich unaufhörlich weiterentwickeln und vervollkommnen, was durch eine Aufeinanderfolge
698
Spiritismus
von Reinkarnationen geschieht, die sich auf Erden wie in anderen Welten vollziehen (ebd.). Weltbild, Gottes- und Seelenvorstellungen sind also u.a. durch die indische Karma- und Reinkarnationslehre geprägt, die das menschliche Schicksal durch ein strenges Vergeltungsgesetz regeln: Menschliches Glück und Unglück, Gesundheit und Krankheit sind die Folgen von guten bzw. bösen Taten (—»Sünde), die während einer früheren Inkarnation produziert worden sind. Dementsprechend bedarf es eines immerwährenden Läuterungsprozesses, bis die Seele schließlich zum reinen Geist in Gottesnähe emporsteigt, um von dort aus ihren Missionsauftrag (missäo divina) auszuführen, den auf Erden Lebenden Weisungen zu geben und die Menschheit auf eine höhere Entwicklungsstufe zu führen. Der brasilianische Spiritismus kardecistischer Prägung versteht sich als „dritte Offenbarung" neben der Mose- und der Christus-Offenbarung, beruft sich dabei auf Joh 16,12f., identifiziert sich mit dem dort verheißenen „Geist der Wahrheit" und bezeichnet sich als „spirituelle Erneuerung des göttlichen Gesetzes" (Kardec, Buch der Geister 304f.) bzw. die „einzige wahre Religion" (ebd. 246f.305), die Universalreligion, die in allen Religionen angelegt ist. 4. Die spiritistische
Praxis
Offiziell kommt der Spiritismus ohne Riten, Liturgie und Priester aus. Für den Gläubigen gelten jedoch die Medien als „Priester" und die spiritistischen Grundsätze als Dogmen (Wulfhorst 40f.). Den Totengeistern begegnet man im Centro Esptrita, meist einem privaten Wohnraum, wo man sich unter dem M o t t o „Deus, Cristo e Caridade" zur Seance (portugiesisch sessäo) trifft. Kardec hatte die Seancen in vier Stufen eingeteilt: Mitteilungen der Geister aus den vorangegangenen Sitzungen, Berichte über außerhalb der Sitzungen empfangene Geistmitteilungen, Kommunikation mit den Geistern durch Fragestellungen (die Geister geben Ratschläge), kritische („wissenschaftliche") Überprüfung der Vorgänge (Kardec, Buch der Medien 280ff.). Bei den Seancen stehen ethisch-therapeutische Probleme im Vordergrund: Der leidende Geist (espirito sofredor), der sich im Körper eines physisch oder psychisch Kranken befindet, wird aufgefordert, seine während früherer Inkarnationen begangenen Vergehen zu erkennen und sich dem Evangelium Jesu anzuschließen, damit sein Evolutionsweg in der Nächstenliebe beginnen kann. Dabei streifen Medien die negativen Fluide von den Kranken ab und entfernen auf diese Weise die leidenden Geister aus seinem Körper. Dieser Vorgang heißt portugiesisch desobsessäo, „Rückgängigmachung der Besessenheit". In einigen Zirkeln wird positiv fluidisiertes Wasser verabreicht, in anderen werden sog. operaföes espirituais, „spirituelle operative Eingriffe", vorgenommen. Im Laufe der Zeit bildeten sich aus spiritistischen Therapiezentren regelrechte Wallfahrtsorte (Uberaba; Palmelo), an denen die Gläubigen Heilung suchen. Zur „Ausübung der Nächstenliebe" findet allwöchentlich eine „Entwicklungssitzung" (sessäo de desenvolvimento) statt, in der die Medien weitergebildet und die durch sie erfolgten Geistermitteilungen kritisch überprüft werden. Damit wird der Anspruch auf wissenschaftliche Überprüfbarkeit erhoben. 5. Weltweite
Grundmodelle
5.1. Erst an der Verschmelzung mit den afro-amerikanischen Kulten -»Umbanda und Voodoo wird deutlich, wie sehr die pseudowissenschaftlichen Phänomene des kardecistischen Spiritismus und die magischen Inhalte der afrikanischen Stammesreligionen miteinander übereinstimmen und sich ergänzen. Man könnte hier von einem „agglomerativen Synkretismus" (Ulrich Berner [geb. 1948]) sprechen, einer Anhäufung von Elementen, die auf gemeinsame Modelle in ihren religionsgeschichtlichen Traditionen schließen lassen. Dazu gehört das Phänomen der Geistbesessenheit, jener ungewöhnliche Bewußtseins- und Verhaltenszustand, der in tribalen Gesellschaften als „Beweis dafür
Spiritismus
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angesehen wird, daß ein Geist die Handlungen der besessenen Person kontrolliert und wahrscheinlich auch ihren Körper bewohnt" (vgl. Raymond Firth, Tikopia. Ritual and Belief, London 1967, 296). Ekstatische Gesänge und Tänze sowie die Anrufung des Gottes oder Geistes beschleunigen die Besessenheit und führen zu ekstatischen Reaktionen (Trancen, Katalepsien). Beispiele dafür gibt es in den afrikanischen Religionen ebenso wie in den japanischen und koreanischen Neureligionen (-»Neue Religionen) und im vietnamesischen Caodaismus. Hier werden Offenbarungen häufig durch Geistbesessenheit ausgelöst und religiöse Neuschöpfungen auf die parapsychologischen Fähigkeiten von bestimmten parapsychisch begabten Medien (Miki Nakayama von Tenrikyö [1798-1887], Nao Deguchi von Omotokyö [1837-1918]) zurückgeführt. Wird der Besessene von einem bösen oder unzufriedenen Geist heimgesucht, dann wird er krank und muß mit Hilfe eines -»Exorzismus von diesem Geist befreit werden. Die Umbanda-Religion kennt z. B. die exus und die pomba giras, männliche bzw. weibliche Dämonen, welche negative Fluiden verbreiten und daher Unglück bringen. Das ist die Stunde der Medien. Sie sind dazu da, durch Kontaktaufnahme mit den Geistern Diagnosen zu stellen und durch den Exorzismus des Abstreifens und Fortschleuderns (d.i. der Vollzug der passes) die Therapie von Krankheiten einzuleiten. Dabei dient die Fluidallehre als wichtiges Übertragungsmittel (vgl. Goodman, Ekstase 86). Wenn die Geister durch bestimmte Opfer zufriedengestellt sind bzw. der Ratsuchende von bösen Fluiden gereinigt ist, verordnen sie Kräuter und andere Heilmittel oder nehmen die operaföes espirituais vor. 5.2. Totenbeschwörung. Das Grundmodell aller spiritistischen Bewegungen aber ist die Nekromantik, die Totenbeschwörung, die sich von anderen Divinationen (Magie, Zauberei) kaum unterscheidet, vielmehr nur eine von vielen divinatorischen Techniken ist. Dieses universale religionsgeschichtliche Phänomen, das sich in nahezu allen Kulturen nachweisen läßt, setzt den Glauben an ein Weiterleben nach dem Tode voraus und damit verbunden — das fortgesetzte Interesse der Toten, an den Angelegenheiten der Lebenden teilzunehmen (vgl. Bourguignon 345). Insofern gehört die Nekromantik sowohl zu den Bestattungsriten als auch zur Ahnenverehrung. Die dabei erfolgende Kommunikation mit den Toten hat sie mit dem Spiritismus gemeinsam, so daß Nekromantik und Spiritismus zu Synonymen werden. Nekromantik ist eine Technik, die nur von spiritistisch befähigten Personen (Medien, Zauberern, Medizinmännern/-frauen, Schamanen und Schamaninnen) ausgeübt werden kann. Im alten Peru gab es eine besondere Klasse von Wahrsagern, die sich ausschließlich mit der rituellen Behandlung von Mumien beschäftigte, während andere auf die Befragung der Geister spezialisiert waren. Auf Neu Guinea bannt der Zauberer die Totengeister in bestimmte numinose Objekte, die als Fetische fungieren und der Beschwörung dienen. Die Zulu-Zauberer identifizieren sich mit den Totengeistern und versetzen sich in den Körper von bestimmten Unpersonen, um diese krank zu machen oder ihren baldigen Tod zu verursachen. Bei den Bestattungsriten im afro-amerikanischen Voodoo-Kult auf Haiti trennt der Kult-Chef die beiden Seelen, mit denen jeder Mensch ausgestattet ist, und schreint sie in den Familienaltar ein, wo sie von den Familienangehörigen zu bestimmten Fragen konsultiert werden. 6. Der Spiritismus
als Brücke zum
Jenseits
Ziel des Spiritismus ist die Überwindung bzw. Bewältigung des Todes durch die Unsterblichkeit des Geistes, wobei das Erdenleben nur eine Station auf dem Wege des Geistes zu seiner Vollendung darstellt (HRGem 4 [1993] 518f.). Reinkarnationen tragen zum Gelingen dieses evolutionären Prozesses bei. Der Welt jenseits des Todes korrespondiert das Diesseits, in dem sich der Gläubige in der Praxis der Nächstenliebe als der einzig wahren Religion zu bewähren hat. Die Brücke zwischen den beiden Sphären bildet die Kommunikation mit den Geistern, die durch das Medium vermittelt wird.
700
Spiritismus
D a s M e d i u m ist also k u l t i s c h e r M i t t e l p u n k t u n d Ü b e r m i t t l e r von B o t s c h a f t e n , die die T o t e n g e i s t e r f ü r die L e b e n d e n h a b e n ; es gibt W e i s u n g e n u n d t h e r a p e u t i s c h e Ratschläge. D e r S p i r i t i s m u s füllt d a m i t eine L ü c k e aus, die die christlichen K i r c h e n w e g e n ihrer d o g m a t i s c h e n V o r b e h a l t e n i c h t a u s f ü l l e n k ö n n e n : U n g e a c h t e t des S y n k r e t i s m u s v o r w u r f s b e d i e n t er sich v e r s c h i e d e n e r religiöser G r u n d m o d e l l e u n d e n t w i c k e l t an ihnen eine „parapsychologische Spiritualität" mit magischen Heilungsmethoden. 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Spiritualismus
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Peter Gerlitz
Spiritualen -»Franziskaner Spiritualien und Temporalien -»Investiturstreit, - » I v o von Chartres Spiritualismus 1. Mittelalter 2. R e f o r m a t i o n und Literatur S. 7 0 5 )
3 . D a s konfessionelle Zeitalter
4. Neuere Zeit
(Quellen
Der Begriff Spiritualismus bezeichnet eine theologische Haltung, die eine unmittelbare Beziehung zu - » G o t t durch den -»Geist in den Vordergrund stellt und eine äußere, dingliche Vermittlung etwa durch -»Sakramente, die -»Bibel oder das geistliche - » A m t abwertet oder ausschließt. Diese Haltung hat Wurzeln in der Schrift und im platonischen Denken (-»Plato/Platonismus; -»Neuplatonismus), spielte im Spätmittelalter eine be-
702
Spiritualismus
deutende Rolle und zeigt sich bis in die Gegenwart immer wieder lebendig, erreichte ihren H ö h e p u n k t aber während des 16. und 17. J h . 1.
Mittelalter
Das biblische Verständnis des Geistes (ruah, nvEüfia) unterscheidet sich deutlich vom platonischen Geistbegriff (voo?). Ruah, nveöpa ist eine machtvolle Kraft, die Wunder wirkt, die natürliche Welt erschüttert und Menschen dazu drängt, Gottes Willen zu tun; sie ist auch keineswegs unstofflich gedacht. Der platonische unstoffliche voo? ist bestrebt, sich aus der dem Wandel unterliegenden äußeren Welt zurückzuziehen und in den inneren, unwandelbaren geistigen Bereich zurückzukehren, von dem er ausgegangen ist. Der daraus erwachsende -»Dualismus fördert eine geistige Einkehr, durch die der menschliche vow; dem Guten oder Einen nachstrebt, das im Unterschied zum tätigen biblischen Geist ein unbewegtes, ersehntes Ziel ist. Die Zusammenführung von platonischem und biblischem Geistverständnis vollzog sich auf zweierlei Weise. Die eine schließt nachdrücklich jede stoffliche Vermittlung aus, die andere, sakramentale bedient sich äußerer Mittel, um dann über sie hinauszuführen. Der frühe -»Augustin folgte teilweise der ersten, Pseudo- -»Dionysius Areopagita und -»Ambrosius der zweiten, sakramentalen Weise. Der frühmittelalterliche Spiritualismus zeigte sich in der Bestreitung der Bilderverehrung (-•Bilder) und im Abendmahlsstreit der Karolingerzeit (-»Abendmahl). Claudius von Turin (gest. um 827), die Frankfurter Synode (794) und die Libri Carolini nahmen die im byzantinischen Bilderstreit erhobenen Einwände gegen die Bilderverehrung auf, das Papsttum aber verteidigte die Entscheidungen der bilderfreundlichen zweiten Synode von -»Nicäa. Ratramnus (gest. um 868) verwarf die Vorstellung einer eucharistischen Realpräsenz, Paschasius Radbertus (um 785 - um 860) trat für sie ein, beide unter Berufung auf Augustin. Die Karolingerzeit steckte die Umrisse des mittelalterlichen Spiritualismus ab. Sowohl Abweichler (—»Häresie) wie etwa die -»Waldenser als auch rechtgläubige Denker wie etwa -»Bernhard von Clairvaux verwarfen die religiöse Kunst oder schränkten ihre Verwendung ein. In Verbindung mit der Forderung nach apostolischer -»Armut führte das zu einer Hochschätzung künstlerischer und liturgischer Schlichtheit. Dualistische Gruppierungen (-»Katharer) gaben die Sakramente auf. Spiritualistische Elemente bewahrte auch die scholastische Sakramentslehre (-»Scholastik). Zwar wurde -»Berengar von Tours zum Widerruf genötigt, doch seine Gegner nahmen seine augustinische Unterscheidung von res und Signum/ sacramentum auf. Ein Verständnis des Sakraments als -»Symbol konnte auch bei Festhalten an der es begleitenden dinglichen Wirklichkeit dazu führen, beides voneinander zu trennen und das Signum/sacramentum für unwesentlich zu erklären, eine Konsequenz, der sich einige Scholastiker durch gleichzeitigen Rückgriff auf Pseudo-Dionysius und -»Aristoteles widersetzten. —»Thomas von Aquino, -»Albert der Große und -»Bonaventura ließen jedoch eine rein „geistliche Kommunion" gelten, die sich in der Schau des Sakraments oder im Erheben des Herzens im Augenblick der Konsekration verwirklichte. -»Petrus Lombardus vergeistigte die sakramentale -»Buße durch die Auffassung, daß die -»Reue zur Vergebung genüge, eine Sicht, die in Gefahr stand, -»Beichte und Absolution zurücktreten zu lassen. Die Vorstellung einer Geist- oder Bluttaufe (-»Taufe) war seit frühchristlicher Zeit anerkannt. Spätmittelalterliche Andachtsübungen wie etwa der -»Rosenkranz boten ebenfalls eine Alternative zur Sakramentsfrömmigkeit, auch wenn sie auf das -»Andachtsbild als Hilfsmittel zurückgriffen. Meister -»Eckhart, Johannes -»Tauler, Heinrich -»Seuse und andere Vertreter einer spekulativen -»Mystik förderten eine Wendung nach innen, die alles Geschöpfliche hinter sich läßt und zur Vereinung mit der Gottheit im Abgrund der Seele führt. Mystikerinnen konzentrierten sich häufig auf die leibliche Gestalt Christi, sein Leiden (-»Passionsfrömmigkeit), ein innerliches eucharistisches Mahl und Bilder einer Brautsymbolik. Eine innerliche eucharistische Schau kennzeichnet auch die Imitatio Christi von -»Thomas von Kempen. Die -»Devotio moderna (-»Brüder vom gemeinsamen Leben) eröffnete breiten Kreisen eine schlichte, verinnerlichte Frömmigkeit. Die Ankündigung eines neuen Zeitalters des Heiligen Geistes, einer neuen Geistkirche und eines neuen geistlichen Mönchtums durch -»Joachim von Fiore wirkte vielfach anregend. „Geistlich" bedeutete-etwa im Selbstverständnis der Franziskaner-Spiritualen (-»Franziskaner) - eine gegenüber der weltlich-hierarchischen Kirche höher entwickelte Form des Christentums. Der Bewegung des Freien Geistes (-»Brüder des freien Geistes) schienen Kirche und Sakramente ganz überflüssig. Die im 13. Jh. in Straßburg auftretenden deutschen Ortlieber waren entschiedene Spiritualisten. Die englischen Lollarden verwarfen religiöse Bilder und die sakramentale Ordnung der Kirche. Bei den radikalhussitischen Taboriten (-»Hus/Hussiten) verband sich die völlige Verwerfung der dinglichen Erscheinungsformen katholischer Frömmigkeit mit apokalyptischen Vorstellungen (-»Apokalyptik/ Apokalypsen). In den Niederlanden fand ein spirituelles Verständnis der Eucharistie Verbreitung, dem Wessel -»Gansfort und Cornelis Hoen (1460-1524) begriffliche Form gaben.
Spiritualismus
703
Der N e u p l a t o n i s m u s der —»Renaissance verstärkte die T e n d e n z zur Spiritualisierung. In Florenz erarbeitete M a r s i l i o -»Ficino eine vollständige Ü b e r s e t z u n g Piatos und verhalf den Werken von —»Plotin und —»Proclus zu neuer W i r k u n g . D u r c h ihn u n d seine Platonische A k a d e m i e (G. —»Pico della M i r a n d o l a ) ü b t e der N e u p l a t o n i s m u s einen tiefgreifenden Einfluß auf d a s a b e n d l ä n d i s c h e Geistesleben aus. D e r n o r d a l p i n e - » H u m a n i s m u s , insbesondere - » E r a s m u s , u n d Vertreter der Ref o r m a t i o n übermittelten ihn den r a d i k a l e n Spiritualisten, von denen einige aber auch u n m i t t e l b a r mit ihm vertraut w a r e n .
2.
Reformation
M i t A u s n a h m e d e r s p a n i s c h e n Alumbrados
w a r d e r r a d i k a l e S p i r i t u a l i s m u s i m 16. Jh.
e i n e p r o t e s t a n t i s c h e E r s c h e i n u n g . I n s b e s o n d e r e d e r S c h w e i z e r P r o t e s t a n t i s m u s (—•Calv i n ; —»Zwingli) v e r g e i s t i g t e m i t s e i n e r N e u b e s t i m m u n g d e r S a k r a m e n t e d i e m i t t e l a l t e r l i c h e k a t h o l i s c h e D e n k w e i s e . D e r r a d i k a l e S p i r i t u a l i s m u s g i n g d a r ü b e r h i n a u s u n d verg e i s t i g t e d i e t h e o l o g i s c h e T r a d i t i o n a u f z w e i f a c h e W e i s e . E i n m a l v e r w a r f er d i e ä u ß e r e n Sakramente
und
die
sichtbare
Kirche.
Innerer
Abendmahlsgenuß
(—»Abendmahl;
— » A b e n d m a h l s f e i e r ) u n d i n n e r e T a u f e g e n ü g t e n . Z u m a n d e r e n b e z o g er a u c h d i e H e i l i g e S c h r i f t ein. D a s i n n e r e W o r t e r s e t z t e d a s g e s c h r i e b e n e ä u ß e r e W o r t a l s G r u n d d e s G l a u bens. Mittelalterliche Spiritualisten hatten sich auf die Schrift berufen, u m die Kirche u n d d i e S a k r a m e n t e zu u m g e h e n . D i e n e u e n p r o t e s t a n t i s c h e n K i r c h e n w i e s e n d e r S c h r i f t u n m i t t e l b a r n o r m a t i v e G e l t u n g z u , b a n d e n sie a b e r a n d i e A u s l e g u n g d u r c h ein d a f ü r z u g e r ü s t e t e s A m t . D e m g e g e n ü b e r b e d i e n t e n s i c h d i e S p i r i t u a l i s t e n d e s 16. Jh. der E n t gegensetzung v o n innerem und äußerem Wort oder Geist und Buchstaben, u m sich den n e u e n Territorial- oder N a t i o n a l k i r c h e n ( - » K i r c h e und Staat) zu entziehen. T h . - » M ü n t z e r griff auf die M y s t i k von J. Tauler u n d möglicherweise auf die taboritische T h e o l o g i e (vgl. - » C h i l i a s m u s III. 4.; - » H u s / H u s s i t e n 4.) z u r ü c k , dagegen sehr viel weniger auf J o a c h i m von Fiore. Geist w a r f ü r ihn ganz wesentlich biblischer, p r o p h e t i s c h e r Geist. Als überw ä l t i g e n d e M a c h t f o r m t e er im Seelengrund d u r c h Leiden den —»Glauben, f ü h r t e - » V i s i o n e n , - » T r ä u m e und p r o p h e t i s c h e Ä u ß e r u n g e n herauf u n d d r ä n g t e M ü n t z e r d a z u , sich geistlichem wie weltlichem D r u c k zu widersetzen. M ü n t z e r f o r d e r t e , d a ß der Christ alle „ G e s c h ö p f e " hinter sich lassen müsse, v e r f o c h t aber keinen k o n s e q u e n t e n p l a t o n i s c h e n D u a l i s m u s . Der Geist w a r n o t w e n d i g z u m G l a u b e n , d e n er o h n e die Schrift wirken k o n n t e . D o c h M ü n t z e r verwarf die Schrift nicht, verlangte aber ihre Ö f f n u n g d u r c h den Geist. T a u f e u n d A b e n d m a h l w u r d e n von ihm in der herk ö m m l i c h e n Gestalt kritisiert, a b e r nicht abgeschafft, s o n d e r n k o n s e q u e n t spiritualistisch gedeutet. Sein Ziel w a r nicht die Beseitigung der sichtbaren Kirche, s o n d e r n ihre R ü c k k e h r zu apostolischer Gestalt. A. - » K a r l s t a d t lehnte sich an T a u l e r und die spätmittelalterliche M y s t i k an u n d sah der d u r c h Entselbstung u n d Gelassenheit gerechtfertigten menschlichen Seele eine imago dei (-»Bild Gottes) eingepflanzt. Er w a r der erste p r o t e s t a n t i s c h e T h e o l o g e , der die R e a l p r ä s e n z bestritt. O b w o h l er die K i n d e r t a u f e v e r w a r f , e m p f a h l er doch keine e r n e u t e T a u f e . Auch seine A b l e h n u n g der Bilder w a r spiritualistisch bestimmt. Karlstadts spätere W i r k u n g in lutherischen Kreisen u n d im f r ü h e n - » P i e t i s m u s b e r u h t e vor allem auf seinen Schriften der J a h r e 1522 bis 1524. S. - » F r a n c k v e r w a r f sichtbare Kirche u n d dingliche S a k r a m e n t e als T a n d , ü b e r den die Christen h i n a u s g e w a c h s e n seien. Z u n e h m e n d stellte er a u c h den Wert der Schrift in Frage. Sie sei voller W i d e r s p r ü c h e , in sich d u n k e l , übersteige o f t menschliches A u f f a s s u n g s v e r m ö g e n und verweise die Christen so auf d a s innere W o r t , das - » E r f a h r u n g u n d nicht Quelle a b s t r a k t e r Einsichten u n d Lehren sei. Alle Lehrsysteme u n d die Kirche bezeichnete F r a n c k als von vornherein unchristlich. U n t e r den Spiritualisten des 16. J h . w a r er der entschiedenste u n d entfaltete die breiteste W i r k u n g . K. - » S c h w e n c k f e l d blieb a m engsten d e m spätmittelalterlichen k a t h o l i s c h e n D e n k e n u n d der eher s a k r a m e n t a l ausgerichteten n e u p l a t o n i s c h e n T r a d i t i o n v e r b u n d e n . Er setzte bei einer vergeistigten spätmittelalterlichen A b e n d m a h l s f r ö m m i g k e i t ein, w a n d t e sich aber z u n e h m e n d d e n griechischen V ä t e r n zu. D a s A b e n d m a h l blieb im M i t t e l p u n k t seiner T h e o l o g i e , u n d die Teilhabe an d e r Gerechtigkeit Christi ( - » R e c h t f e r t i g u n g ) w a r f ü r ihn s u b s t a n z h a f t u n d nicht forensisch. D a s innere Wort w a r C h r i s t u s als d e r verherrlichte, fleischgewordene —»Logos, dessen vergöttlichtes Fleisch sowohl S a m e wie N a h r u n g des neuen M e n s c h e n ist. Schwenckfeld vergeistigte u n d verinnerlichte die k a t h o l i s c h e Eucharistie, hielt aber an ihrer s a k r a m e n t a l e n u n d heilsmittelnden Bed e u t u n g fest. D o c h sollten die als bloße Z e i c h e n a u f g e f a ß t e n S a k r a m e n t e nicht m e h r vollzogen w e r d e n , bis sie C h r i s t u s a m E n d e mit der apostolischen Kirche wieder einsetzen werde. A u c h sein Schriftverständnis unterschied sich von d e m F r a n c k s . Z w a r h a t t e d a s ä u ß e r e W o r t keine B e d e u t u n g
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für die -»Wiedergeburt und die Hervorbringung des heilbringenden Glaubens; doch für die vom Geist Erfaßten war die Schrift klar und lehrreich. Sie blieb der Mittelpunkt der Schwenckfeldischen Gruppen, die sich als Schulen Christi verstanden, in denen die Christen bis zu seiner Wiedererrichtung der Kirche unmittelbar von Christus unterwiesen wurden und Trost empfingen. Der platonische Dualismus ließ Franck und Schwenckfeld im Unterschied zu Müntzer zu Befürwortern religiöser -»Toleranz werden. Der Humanist Valentin Krautwald (1465—1545), ein augustinischer und erasmischer Spiritualist, wurde als Mitarbeiter Schwenckfelds bekannt, dessen Infragestellung der Realpräsenz ihn zu einem Spiritualismus geführt hatte, der wie bei Schwenckfeld Schrift, Sakramente und Kirche radikal entwertete. Später gab Schwenckfeld den Anstoß zu der beide kennzeichnenden Christologie (-»Jesus Christus) des himmlischen Fleisches, die den verherrlichten Christus herausstellte und seine Geschöpflichkeit bestritt. Vielfältige Beziehungen bestanden zwischen den frühen Spiritualisten und den -»Täufern, so daß es während des ganzen 16. Jh. auch einen spiritualistischen Flügel der Täuferbewegung gab. H. -»Denck griff auf Tauler und die -»Theologia Deutsch zurück und stand gleichermaßen unter dem Einfluß Müntzers wie Karlstadts. Auch er behauptete einen inneren Samen oder ein Bild Gottes in der Seele und maß allen äußeren Institutionen eine nur nachgeordnete Bedeutung bei. Schrift und Sakramente sind lediglich Zeugen einer inneren Wirklichkeit. Von der Heftigkeit und Unduldsamkeit selbst seiner täuferischen Glaubensbrüder zeigte er sich tief beunruhigt und nahm die Auffassung Francks vorweg, daß alle äußeren Zeichen einschließlich der Taufe entbehrlich seien. Unter dem Einfluß von Müntzer, Karlstadt und Denck stand H. -»Hut, dessen Schriften grundlegende Bedeutung für das mystiscfi-spiritualistische Täufertum gewannen. Johann Bünderlin (ca. 1498-1533) wirkte als täuferischer Prediger in Mähren und leitete die Täufer in -»Straßburg bis zum Auftreten von P. -»Marpeck, der sein spiritualisierendes Kirchenverständnis zurückwies. Er stand unter dem Einfluß von Tauler, Erasmus und Denck und kannte wohl auch Schwenckfeld. Marpeck trat in einer anhaltenden Auseinandersetzung mit Schwenckfeld der spiritualistischen Bedrohung der Ordnungsgestalt des oberdeutschen Täufertums entgegen. Auch Christian Entfelder (gest. nach 1547) dürfte mit Schwenckfeld bekannt gewesen sein. Er war Leiter einer Täufergemeinde in -»Böhmen und traf in Straßburg mit Bünderlin zusammen. Seine Kreuzesmystik erinnert an Denck und Müntzer, greift aber auch auf Tauler und die Theologia Deutsch zurück. Von den Täufern hat er sich letztlich getrennt, stand ihnen innerlich aber doch weiterhin nahe. In den -»Niederlanden ging Obbe Philips (ca. 1500-1568) zum Spiritualismus über. Er zählte zu den frühen holländischen Anhängern von M . -»Hoffman und war von Jan Matthijs (gest. 1534) ordiniert worden, begann aber nach der Katastrophe des Täuferreichs von Münster zu zweifeln und stellte schließlich seine Berufung wie auch die gesamte Bewegung in Frage. Der von Philips ordinierte D. -»Joris gab dem Melchioritischen Täufertum nach den Ereignissen von Münster eine spiritualistische Prägung. Wie Müntzer beanspruchte er, Offenbarungen zu empfangen, und vertrat eine Art von Kreuzesmystik, doch schob er die Abrechnung mit den Gottlosen hinaus, bis die Erwählten einer inneren Läuterung unterzogen seien. Die Zeichen dieser Vollendung der Erwählten allerdings werden bei ihm nirgends klargelegt. Seinen Anhängern empfahl er den Nikodemismus - und lebte selbst unangefochten unter einem angenommenen Namen als wohlhabender und angesehener Bürger in Basel. Ermöglicht wurde das durch eine dualistische Scheidung von Geist und Fleisch. Alle äußeren Zeichen einschließlich der Taufe besaßen für ihn nur geringe Bedeutung. Wesentlich waren allein eine innere -»Askese und eine in Nächstenliebe einmündende geistige Wiedergeburt. Joris hat wohl Heinrich Niclaes (1502 - ca. 1580) beeinflußt, dessen Familie der Liebe in mancher Beziehung an die Schwenckfelder erinnert und später in der Gemeinschaft der -»Quäker aufging. D a sowohl die evangelische wie die katholische Kirche den Spiritualismus verurteilten, läßt sich seine Ausgreifsweite nicht genau bestimmen. Immerhin bildeten die Schwenckfelder im Herzogtum Liegnitz nahezu eine Landeskirche und stellten in anderen Teilen -»Schlesiens eine Mehrheit. Die süddeutschen Schwenckfelder bildeten ein Netz von Kleingruppen und untereinander verwandten Familien vornehmlich aus der Mittel- und Oberschicht. Schwenckfelds zahlreiche Schriften zogen aber auch einzelne und Familien in ihren Bann, die sich keiner größeren Gruppierung anschlössen. Gleiches gilt für den Einfluß Karlstadts und Francks. Franck gewann neben Schwenckfeld insbesondere in den Niederlanden Einfluß, während Karlstadts Wirkung zahlreiche frühe Vertreter der Radikalreformation und später Pietisten erfaßte. Auch Joris behielt in den Niederlanden eine ihm ergebene Anhängerschaft, und in den Jahrzehnten nach seinem Tod fanden seine Schriften weite Verbreitung.
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Über solche Gruppen und Einzelpersönlichkeiten hinaus fand der Spiritualismus auch Anhänger, die als Nikodemiten ihre eigentlichen Überzeugungen verheimlichten, sich äußerlich in den Rahmen der herrschenden Orthodoxie fügten oder als Libertiner die Freiheit beanspruchten, sich keiner Gruppierung oder Kirche anzuschließen. 3. Das konfessionelle
Zeitalter
Im 16. und 17. Jh. förderten die Konfessionalisierung, die protestantische --•Orthodoxie und hemmungslose theologische Auseinandersetzungen den Spiritualismus. Ein Zentrum waren die Niederlande. Aggaeus van Albada (ca. 1527-1587) und Dirk Volkertszoon Coornhert (1522-1590) traten unter Rückgriff auf Schwenckfeld für religiöse Toleranz ein. Coornhert war auch mit Schriften Francks vertraut, und von seinen Gedanken ließen sich die Kollegianten anregen, nach deren Überzeugung der heilige Geist seit dem christlichen Altertum zwar die Erlösung einzelner gewirkt, jedoch keine wahre Kirche mehr bestanden hat. Den Schwenckfeldischen Konventikeln ähnliche Collegia übten eine freie Prophetie und entwickelten sich zum —»-Rationalismus hin. Auch J. de -»Labadie hat in den Niederlanden gewirkt. Die Mehrheit der niederländischen Bevölkerung, die zu keiner kirchlichen Bindung fand, hing spiritualistischen Überzeugungen an, auch wenn ihnen eine bewußte theologische Ausfofmung abging. Im lutherischen Deutschland vermittelte V. -»Weigel ohne Namensnennung den Spiritualismus Francks und Schwenckfelds weiter. Haupterbe des Spiritualismus wurde der Pietismus. Spiritualistisches Denken hat J. -» Arndt geprägt und war für radikale Pietisten wieG. -»Arnold, Johann Georg Gichtel (1638-1710) oder Ch. -»Hoburg kennzeichnend. Aber auch der Mystiker J. -»Boehme, J.V. -»Andreae und die Gesellschaft der -»Rosenkreutzer verschafften dem Spiritualismus Weigels, Francks und Schwenckfelds breiteres Gehör. England brachte die Ranter und Quäker hervor. John Locke (-»Empirismus) war mit den Kollegianten vertraut und nahm ebenso wie auch G.E. -»Lessing spiritualistisches Gedankengut auf, um für die religiöse Toleranz einzutreten. Auch der rationalistische -»Deismus kann als ein säkularisierter Ableger des Spiritualismus betrachtet werden. Doch traten ihm traditionsgebundene Spiritualisten wie die Quäker und Louis Claude de SaintMartin (1743-1803) entgegen. Saint-Martin und E. -»Swedenborg öffneten den Weg für neue Formen des Spiritualismus als Alternative zur Dürre, fehlenden persönlichen Wärme und rationalistischen Nüchternheit eines großen Teils des aufgeklärten Geisteslebens. 4. Neuere
Zeit
Angesichts des verbreiteten Individualismus (-»Individuum/Individualismus) und Subjektivismus der neueren Zeit gewinnt der Spiritualismus eine bestimmende Kraft und läßt sich nicht mehr in eine isolierte Stellung verweisen. Im Wechselspiel mit der geistigen Haltung der Neuzeit entfaltet er zumal in Amerika neue Ausdrucksformen. Der Swedenborgianismus setzte einen neuen Spiritualismus frei, der sowohl religiöse wie paranormale Erfahrungen (—»Spiritismus; -»Okkultismus) pflegte. Die moderne -•Theosophie und das Rosenkreutzertum schlössen sich an. Der Pietismus brachte Heiligungsbewegungen (-»Gemeinschaftsbewegung) hervor, die wiederum den -»Pfingstkirchen und der charismatischen Bewegung den Weg bahnten. Die Pfingstbewegung mit ihrer Geisttaufe ist weltweit die am schnellsten wachsende Form des Christentums. Wie der ältere Spiritualismus versucht sie, den herkömmlichen Protestantismus mit neuer geistlicher Zündkraft zu erfüllen. Auf neuplatonische, mystische und esoterische Quellen greifen schließlich auch die Spiritualismen des -»New Age zurück. Quellen
und
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Spiritualität
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Spiritualität 1. Begriff 2. Biblische Wurzeln, kirchliches Wachstum, konfessionelle Verzweigung 3. Spezifische Ausprägungen, außerchristlich-religiöse Berührungen, ästhetischer Zuwachs 4. Praktische Übungen, spirituelle Glaubenszugänge, Spiritualität der Theologie (Literatur S. 713) 1.
Begriff
M i t d e m A d j e k t i v spiritualis (spiritalis) w i r d d a s n e u t e s t a m e n t l i c h e nvEOfiaziKÔç (z. B. I Kor 2 , 1 4 - 3 , 3 ) ü b e r s e t z t . - » I r e n a u s v o n L y o n gibt die k i r c h l i c h e B e s t i m m u n g : „ D i e a b e r i m m e r G o t t f ü r c h t e n u n d a n d i e A n k u n f t seines S o h n e s g l a u b e n u n d d u r c h d e n G l a u b e n in ihre H e r z e n d e n G e i s t G o t t e s e i n s e n k e n , die w e r d e n m i t R e c h t M e n s c h e n g e n a n n t , rein u n d geistig u n d f ü r G o t t lebend (et mundi et spiritales et viventes Deo), weil sie d e n Geist des Vaters h a b e n , d e r d e n M e n s c h e n reinigt u n d z u m g ö t t l i c h e n L e b e n e r h e b t " (haer. V,9,2). D a s S u b s t a n t i v spiritualitas t a u c h t erst im 5. J h . a u f . D e r m o d e r n e Begriff „ S p i r i t u a l i t ä t " s t a m m t a u s d e r k a t h o l i s c h e n O r d e n s t h e o l o g i e F r a n k r e i c h s (vgl. Dictionnaire de spiritualité ascétique et mystique, doctrine et histoire [DSp], 17 Bde., 1 9 3 7 - 1 9 9 5 ) . D i e Z e i t s c h r i f t Geist und Leben ( G u L ; b e g r ü n d e t 1925 als Zeitschrift für Aszese und Mystik) t r ä g t seit 1990 d e n U n t e r t i t e l Zeitschrift für christliche Spiritualität.
709
Spiritualität
Bei dem Begriff „Spiritualität" zielt H.U. von Balthasar auf römisch-katholische (kirchliche) Bestimmbarkeit: „die subjektive Seite der Dogmatik" (von Balthasar, Spiritualität 341). Die von einer Arbeitsgruppe der Evangelischen Kirche in Deutschland 1979 vorgelegte Schrift Evangelische Spiritualität betont protestantische (personale) Erfahrung: „das wahrnehmbare geistgewirkte Verhalten des Christen vor Gott" (Ev. Spiritualität 12). Allgemein ist der Begriffsinhalt zu bezeichnen als „praktische und existentielle Grundhaltung eines Menschen, die Folge und Ausdruck seines religiösen — oder allgemeiner: ethisch-engagierten Daseinsverständnisses ist: eine akthafte und zuständliche (habituelle) Durchstimmtheit seines Lebens von seinen objektiven Letzteinsichten und Letztentscheidungen her" (von Balthasar, Evangelium 715). Spiritualität verbindet vita contemplativa und vita activa. Das Werk World Spirituality (WoSp; seit 1985; 15 Bände bis 1999) berücksichtigt auch außerchristliche religiöse und esoterische (-»Esoterik) Ausprägungen. In jüngster Zeit wird der Begriff aus diesen Bereichen herausgeführt; kulturelle und gesellschaftspolitische Prägungen lassen z. B. von einer Spiritualität des Films und von emanzipatorischer Spiritualität, sogar von Erlebnisspiritualität sprechen. Der postmoderne Begriff „Spiritualität" gibt oft noch dem flachsten Bestreben den „Heiligen"-Schein des Bedeutsamen. Christliche Spiritualität begegnet allen Ausweitungen nicht vorschnell integrativ, sondern nüchtern unterscheidend. Sie ist Entfaltung des gelebten christlichen Glaubens, bestimmter erfahrbar als christlich beeinflußte Formen des Lebensgefühls bzw. der Mentalität. Christliche Spiritualität entsteht, wenn Glaubensbewegungen Gestalt annehmen. Berücksichtigt werden müssen in ihr auch Entfaltungen des angefochtenen Glaubens, der geistlichen Resignation, sogar noch des Irr-, Aber- und Unglaubens bzw. anderen Glaubens sowie menschliche Versuche, das Unermeßliche zur Darstellung zu bringen. Spiritualität ist oft einordnungsresistent, hält aber stets die Frage nach ihrem Woher wach. Der Begriff „—»-Frömmigkeit" hat umgangssprachlich oft einen weltflüchtigen Sinn, aber theologisch ist der Weltbezug der Glaubenden zu betonen. -» Volksfrömmigkeit hat sich zu allen Zeiten neben den offiziellen Ausdrucksformen in den Kirchen entwickelt, z. B. in neuerer Zeit in Lateinamerika als „Religion der Armen" im politischen Wirken. 2. Biblische
Wurzeln, kirchliches
Wachstum,
konfessionelle
Verzweigung
Die Spiritualität der alttestamentlichen Gottesgemeinde ist land- und erdverbunden, weiß sich jedoch in der ganzen Schöpfung geborgen, da Gott, der seinem Volk das Land verheißen und die ganze Welt geschaffen hat, vom Menschen an seine Treue erinnert, ja in und mit seiner Schöpfung gelobt wird (vgl. Ps 8). Die alttestamentliche Spiritualität ist Erinnerungs- und Geschöpflichkeitsspiritualität, die in doxologische Spiritualität mündet. Der Unterschied zwischen Schöpfer und Geschöpf drückt sich im Gebet aus, dessen Vielfalt der vielfältigen menschlichen Existenz entspricht (vgl. die Gattungen der -»Psalmen). - » M a g i e und - » M y t h o s , die diesen Unterschied nivellieren, werden im Laufe der Glaubensgeschichte ausgeschieden. Kultische Spiritualität verdrängt okkulte Praktiken. Besondere spirituelle Menschen sind auf der einen Seite die Erzeitern Israels sowie M o s e und dessen Schwester M i r j a m , dazu Richter und einige Könige, auf der anderen Seite Nasiräer (auf Zeit) und Propheten. In ihrer Spiritualität stehen alle Israeliten in der Heilsgeschichte unmittelbar zu G o t t (vgl. Dtn 6,21). Eine solche allgemeine spirituelle Unmittelbarkeit ist nur noch abgeleitet an heilige Stätten und O r t e gebunden. Geheiligt werden soll allein der N a m e Gottes.
Die Spiritualität der neutestamentlichen Christusgemeinde nimmt die Heiligung des Namens Gottes im -»Vaterunser auf (vgl. Mt 6,9) und ist - in der Bindung an den gekommenen, gegenwärtig wirkenden und wiederkommenden Christus - Nachfolgeund Erwartungsspiritualität, die in adventliche Spiritualität mündet. Gelegentliche Spiritualisierungen (z. B. beim Opferbegriff) bleiben durch alttestamentliche Spiritualität
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Spiritualität
verbunden. Die Gefahr der Gnosis wird durch Betonung der (Heils-)Geschichte und der (Schöpfungs-)Verantwortung überwunden. Besondere spirituelle M e n s c h e n sind auf der einen Seite - » J o h a n n e s der T ä u f e r und - » M a r i a , die M u t t e r J e s u , dazu seine Jüngerinnen und J ü n g e r , auf der anderen Seite die - » A p o s t e l , Stephanus und der Apokalyptiker J o h a n n e s . Die Spiritualität bringt keinen besonderen Stand hervor. Für alle Christen gilt das dem göttlichen Geist entsprechende Prüfen: nvEUfiaxiKax; ävaxpivETai (spiritualiter examinatur; I K o r 2 , 1 4 ) ; sie sollen sich zu einem OIKOQ nvevfiariKOQ (domus spiritualis) aufbauen lassen (I Petr 2 , 5 a ; vgl. V. 5 b ) .
Auf dem allgemeinen Weg der Kirche in der Zeit der Christenverfolgung gingen die Märtyrer den besonderen Weg; sie verließen die Welt durch ihre Lebenshingabe. Nach der Anerkennung des Christentums wurde dieser besondere Weg der Martyriumsspiritualität fortgesetzt durch Mönche, die die Welt (im übertragenen Sinne) verließen, indem sie in die Wüste gingen. Die monastische Wüstenspiritualität wußte sich nicht bloß aus der Welt, sondern auch aus der „Normal"-Gemeinde herausgerufen. Asketische Mönche wurden zur kirchlichen Elite. Es entwickelten sich christliche Sonderspiritualitäten. Sie gipfeln im Osten im Werk Kltfia£ rov napaöeiaoü des Johannes Klimakos (7. Jh.), der als Einsiedler und als Abt auf dem Sinai höchst wirksam die Spiritualität der östlichen, aber auch der westlichen Kirchen beeinflußte. Der Mönch wurde zum vorbildlichen Christen; seine Vorbildspiritualität machte ihn zum Seelenführer (vgl. Apophthegmata Patrum). Er kämpfte gegen das Böse bzw. gegen die Dämonen und gegen alle Begierden, die die Verbindung zu Gott störten. Die Spiritualität der östlichen Kirchen ist in ihrer Spitze asketische Mönchsspiritualität; sie soll aber nicht auf Verzicht fixieren, sondern Freiheit einüben. Die Philokalie, eine im 18. Jh. von dem Athosmönch Nikodemos Hagioreites (1748-1809) zusammengestellte Sammlung geistlicher Väterschriften, beeinflußt orthodoxe Spiritualität bis heute. Sie mündet in die gottesdienstliche Feier - wie die Spiritualität des Westens; diese zielt jedoch in starkem Maße auf geistliche Ordnungen (Ordensleute). -»Benedikt von Nursia initiierte durch das - in seiner Regel (-»Benediktusregel) nicht wörtlich erwähnte - Doppelgebot ora et labora die Kulturbedeutung westlicher Klosterspiritualität. Die kirchliche Elite organisierte sich in Orden, die eigene Ordensspiritualitäten entwickelten, z. B. die liturgische Spiritualität der —»Benediktiner, die Armenspiritualität der —»Franziskaner und die beschauliche Spiritualität der -»Karmeliter. -»Ignatius von Loyola löste die -»Jesuiten vom Kloster und führte zu einer Weltbewährungsspiritualität, die Exerzitien und Leben in der Welt verband. Das katholische Ordensleben gründet in spezifischer Gehorsamsspiritualität. Gehorsam ohne Spiritualität führt jedoch zu spirituellen Abweichungen (z.B. im -»Opus Dei). Die Fokolarbewegung (vgl. Hemmerle) ist ökumenisch gesinnt. Evangelische Spiritualität ist bei —»Luther aus einer Verwerfung der „Anrechenbarkeit" geistlicher Leistungen entstanden und hat die kirchliche Elite aus dem Kloster herausgeführt und sich bis ins 20. Jh. wirkungsvoll im -»Pfarrhaus bzw. allgemein in der Ortsgemeinde etabliert. Geprägt ist sie von geistlicher Bibellektüre; sie nahm, geistlich zum Teil unter Anschauungsarmut leidend, -»Bildung und Wissenschaft auf, die — säkularisiert - neue Formen „weltlicher" Spiritualität im Bildungsbürgertum bilden konnten (z.B. in den Künsten). Eine wirksame Form evangelischer Spiritualität sind Die täglichen Losungen und Lehrtexte der Brüdergemeine (seit 1730; in Deutschland über eine Million Exemplare; weltweit in über 40 Sprachen). Neben der Tageslosung gibt es den Wochen- und Monatsspruch und die Jahreslosung und neuerdings auch Breviere (Loccum [vgl. Loccumer Brevier}-, Rummelsberg [vgl. Millauer]; -»Stundengebet). Eine Bibelspruchspiritualität drückt sich auch im Tauf-, Konfirmations- und Trauspruch sowie in den optisch hervorgehobenen „Kernstellen" der Lutherbibel aus. Der (oft selbst ausgesuchte) Konfirmationsspruch nimmt zum Teil die Stelle des Namenspatrons im Katholizismus ein. Die im 20. Jh. entstandenen Kommunitäten (—»Bruder-
Spiritualität
711
schaften/Schwesternschaften/Kommunitäten) wollen eine evangelische Form kommunitärer Spiritualität leben. Die großen konfessionellen Spiritualitäten im ganzen sind bestimmt durch die heilstransparente (heilige) Ikone in den Orthodoxen Kirchen, die heilsverwaltende (exklusive) Hierarchie im römischen Katholizismus und die heilszusagende (assertorische) Verkündigung im Protestantismus. Meditation und Mystik haben in den drei großen christlichen Konfessionen einen ökumenischen, ja interreligiösen Zug, ermangeln aber oft theologischer Bestimmtheit. 3. Spezifische wachs
Ausprägungen,
außerchristlich-religiöse
Berührungen,
ästhetischer
Zu-
Alte spirituelle Motive werden zum Teil heute revitalisiert bzw. als Lebensinterpretamente aufgenommen: z. B. die Spiritualität der Wüste (in der Erfahrung eines ausgesonderten „Wüstentages" oder in der „Wüste des Internet"), der „dunklen N a c h t " (im Sinne der Mystik des - » J o h a n n e s vom Kreuz oder in der Deutung der Schoah), des Weges (in Pilgerfahrten oder in spiritueller Durchdringung der „Odyssee" des Lebens). Solche Motive bestimmen auch gegenständliche Meditation. Eine historische, systematische oder praktische Darstellung der Spiritualität im ganzen kann sich jeweils an einem spirituellen Leitmotiv orientieren. Ortsspezifische Spiritualitäten (im Westen besonders mit -»Jerusalem, -»Rom und Santiago de Compostela verbunden) betonen in einer Spiritualität des Pilgerns oft den Weg als Ziel. Wegkreuze und ähnliches bestimmen eine spirituelle Landschaft. Zeitspezifische Spiritualitäten betreffen die geistliche Gestaltung des Tages (z. B. durch Glockengeläut und Stundengebet), der Woche, des (Kirchen-)Jahres (-»Kirchenjahr). Die Spiritualität des -»Sonntags und der kirchlichen -»Feste als strukturierter Zeiten (besonders der Karwoche) werden in neuerer Zeit durch die „weltliche" Spiritualität des (verlängerten) Wochenendes und des Jahresurlaubs überlagert. Altersspezifische Spiritualitäten sind durch unterschiedliche (geistliche) Erfahrung (z. B. des Leibes) sowie der Bewertung von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft (vgl. z. B. jetzt. Das Jugendmagazin der Süddeutschen Zeitung) geprägt, dürfen sich aber in der Gemeinde nicht isolieren. Personenspezifische Spiritualitäten - im Blick auf Heilige und auf religiöse Vorbilder - können (z. B. in marianischer Spiritualität) leicht ein Eigenleben führen. In neuerer Zeit werden geschlechtsspezifische Spiritualitäten (der Frau und des Mannes, aber auch eines Paares) hervorgehoben. Umstritten ist weibliche bzw. männliche Spiritualität, wenn sie - z. B. im Blick auf den Umgang mit Macht - den Unterschied zwischen Frau und Mann stärker betont als den zwischen dem Christentum und anderen Religionen. Die berufsspezifische Spiritualität der in pastoralen Diensten Tätigen lebt von Zeiten der Stille und biblischen Besinnung. Hilfen für kirchliche Mitarbeiter in (geistlichen) Krisen bietet z. B. das evangelische Haus Kespiratio auf dem Schwanberg, ein Ort mit spezifischen Formen spirituellen Lebens der Frauen-Communität Casteller Ring (CCR; vgl. T R E 7,210,52-211,3). Mentalitäts- und kulturspezifische Spiritualitäten (z. B. die - auch hinsichtlich der Ahnen - „wir"-betonte afrikanische Spiritualität) müssen sich sowohl der Kulturgebundenheit als auch der Kulturdistanz christlicher Spiritualität bewußt werden (u.a. in Fragen spiritueller Inkulturation).
Die jüdische Spiritualität (-»Judentum) ist Heiligungsspiritualität; geheiligt wird allein der Name Gottes. Diese Heiligung fährt nicht wie in asketischen Sonderspiritualitäten aus der Welt heraus, sondern in sie hinein. Der Jude lebt und der jüdische Märtyrer stirbt in dem Bewußtsein der „Heiligung des Namens G o t t e s " (Kiddusch haschem). Die Schoah hat als neue Spiritualität, die dem Erdulden den „spirituellen", passiven und aktiven Widerstand entgegensetzte, die „Heiligung des Lebens" ( K i d d u s c h haHayyim) hervorgebracht (vgl. Münz 2 1 1 - 2 1 9 ) . Christliche Begegnung mit Juden wird heute beide Heiligungsspiritualitäten beachten. Der —»Islam ist geprägt von Rezeptionsspiritualität (Rezitation des arabischen Koran) und bekommt zum Teil einen mystischen Akzent. Gegenwärtige Formen einer durch indische oder japanische („unverbrauchte") Quellen beeinflußten synkretistischen Spiritualität sind oft durch unkritische Totalhingabe an einen Meister bestimmt ( - » N e u e Religionen). Eine solche Spiritualität kann rauschhafte Züge haben, die - auch in säkularen Formen durch -»Drogen - zur Selbstzerstörung
712
Spiritualität
führen können. Selbsterlösungsspiritualitäten sollten im Christentum nicht Platz greifen. Es zeigt sich, daß Yoga und Zen christliche Spiritualität bereichern, aber auch ersetzen können. In modernem ästhetischem Bewußtsein entfalten sich Spiritualitäten im Sinne ganzheitlicher ästhetischer Lebenserfahrungen. Krzysztof Kieslowski (geb. 1941) zeigt in seiner zehnteiligen Filmserie Dekalog die Gegenwart der Zehn Gebote in der „ W ü s t e " modernen (Stadt-)Lebens. Eine kirchenkritische Spiritualität bietet das Filmwerk von Luis Bunuel ( 1 9 0 0 - 1 9 8 3 ; vgl. z . B . den Film Viridiana). Spiritualität der großen konfessionellen Kontexte wird in erzählender Literatur aufgenommen — für die Orthodoxie z. B. bei Iwan S. Schmeljow ( 1 8 7 3 - 1 9 5 0 ) und (kritisch) bei Nikos Kazantzakis ( 1 8 8 3 - 1 9 5 7 ) , für den Katholizismus bei Georges Bernanos ( 1 8 8 8 1948) und (distanzierend) bei Roger Peyrefitte (geb. 1907), für den Protestantismus bei Willy Kramp ( 1 9 0 9 - 1 9 8 6 ) und (ironisch) bei T h . - » M a n n .
4. Praktische
Übungen, spirituelle
Glaubenszugänge,
Spiritualität
der
Theologie
Christliche Spiritualität lebt von reflektierender Unmittelbarkeit und von kontinuierlicher Übung. Ihre Primärform ist das (private und gottesdienstliche) Beten. Kurzformen wie das ostkirchliche Jesusgebet prägen in ihrer Wiederholbarkeit (mit und ohne Atemübungen) spirituelles Leben. Im Gottesdienst können an etlichen Stellen der Liturgie Zeiten der (Gebets-)Stille sein. Deshalb ist es im Religions- und im kirchlichen Unterricht wichtig, in Stilleübungen die Offenheit des Menschen vor und zu Gott zu entfalten. Solche Übungen zielen auf den Gemeindegottesdienst, dürfen also in ihrer Verwechselbarkeit und Mehrdeutigkeit religiös nicht autark werden. In Deutschland gibt es in evangelischen Landeskirchen - in Aufnahme anglikanischer Retraitetraditionen - zahlreiche „Häuser der Stille", wo einzelne Menschen und Gruppen „auf Z e i t " in vielfältiger Weise geistlich leben können. In der Ortsgemeinde geht es darum, nicht nur besonders übende (meditative) Gruppen einzurichten, sondern allen Gemeindegliedern christliches (Gebets-)Leben nahezubringen. Gruppen werden immer nur eine Minderzahl prädisponierter Gemeindeglieder erreichen. Exerzitien (außerhalb der Ortsgemeinde) sind von einem geistlichen Vortrags- zu einem geistlichen Dialogstil übergegangen. Gebärden und - » T a n z (zum Teil als wortlose Gebete verstanden) artikulieren Leibspiritualität. Gestaltete Bewegung - gleichermaßen in Entspannung und Konzentration - soll in kontemplativer Raum- und Zeiterfahrung ganzheitliches Fühlen zu Gott hin ermöglichen. Es kann die Gefahr bestehen, daß sich Spontaneität und Inszenierung in Trance verlieren. Christliche Spiritualität muß die Wildwuchsentwicklung der Körperübungen auf wenige (Grund-)Haltungen reduzieren und wird in einer Zeit der Sprachlosigkeit des Glaubens und mangelnder Hörfähigkeit der Christen nicht nur das „ H ö r e n " auf Leib- und Weltsprache, sondern das Hören auf das allein inspirierende Wort Gottes schärfen. Evangelische —»Kirchentage und -»Akademien ermöglichen eine Fülle spiritueller Erfahrungen auch für solche Menschen, die in Ortsgemeinden kaum verwurzelt sind. Modisches Bewußtsein, das jede Form körperlichen Übens (und Trainings) spirituell überhöht, führt zu naturreligiösen Fehlformen. Wichtig in heutiger Zeit ist nicht eine Zerdehnung, sondern eine Elementarisierung der Spiritualität gegen eine spirituelle Ubersättigung, die sich in immer neuen Formen geistlich erschöpfen muß. Spirituelle Elementarisierung zielt auflebbare (im Protestantismus besonders auch auf lesbare) Formen unverkrampfter Alltagsspiritualität. Sie kann z. B. von philosophisch bestimmter Gelassenheit (vgl. u.a. M . -»Heidegger) lernen. Christen brauchen spirituelle Glaubenszugänge, die lebensgeschichtliche Tiefe erreichen. Sie sind wahrnehmbar in Gottesdienst, Frömmigkeit, Übung, Lebensgestaltung und elementarisierter Theologie, am besten in einem Geflecht dieser fünf Zusammenhänge, das einer bloßen „patchwork"-Spiritualität entgegentreten kann. Spirituelle Glaubenszugänge zielen primär nicht auf moralische Gebote und Verbote, sondern auf
Spiritualität
713
die verbindliche Zusage des Heiligen Geistes; sie verharmlosen nicht Anfechtungen und Zweifel, sondern nehmen sie als Phänomene in ihrer Zeit ernst. Aber christliche Spiritualität verhindert, daß Zweifel zur Verzweiflung wird (vgl. II Kor 4,8: dnopoopevoi dXX'ovK e^anopoö/xevoi), und wird stark in Widerstand und Ergebung (vgl. D. ->Bonhoeffer). Gerade in kleinen (Dienst-)Gemeinschaften - auch „auf Zeit" - kann sich lebendige Spiritualität entfalten. In der katholischen Kirche werden von franziskanischer und jesuitischer Seite Fernkurse zur Spiritualität angeboten. Spiritualität schafft religiöse Beheimatung. Diese wiederum setzt einen weltoffenen und weitherzigen Glauben frei, der sich in einem scheinbar alles zersetzenden Agnostizismus und Relativismus nicht auflöst, sondern auch in solchen Bedrohungen spirituelle Glaubenszugänge schafft. So kann in der modernen —»Stadt geistliche Urbanität einer lähmenden Vereinzelung des Menschen wehren, in der die Suche nach dem „eigenen Paradies" das „Heimweh" des Gebets verdrängt. In Innenstadtkirchen entwickeln sich neue (Kurz-)Formen spiritueller Praxis „auf Zeit"; es sind kommunitäre Zellen „in der Wüste der Großstadt" entstanden. Im 20. Jh., das als das Jahrhundert des Lagers (in Auschwitz und im GULAG, im Internierungs-, Kriegsgefangenen- und Flüchtlingslager) bezeichnet werden kann, wird vielfältig bezeugt, daß Juden und Christen auch in Erniedrigungen biblische Spiritualität gelebt haben (vgl. Elie Wiesel [geb. 1928]). In einer Zeit virtueller Welten sagt christliche Spiritualität die reale Herrschaft Gottes an. Sie schafft nicht eine Kryptokratie von Mysten, verzaubert Menschen nicht in einem Telesterion von Mysterien, sondern ist eine aufklärend-helle Spiritualität der Hoffnung über den Tod hinaus. Sie erfährt Segen gegen den Fluch (vgl. Wester). Weder läßt sie sich versachlichen noch im Denkmal oder Museum verorten, sondern sie lebt in der todesüberwindenden Macht des Geistes (non vi, sed verbo). Sie verbindet Innerlichkeit und Weltoffenheit (vgl. Eurich), Verbindlichkeit und Weite, Tradition und Inspiration. Theologie ohne Spiritualität wird trocken und hyperkritisch, Spiritualität ohne Theologie wird weich und unkritisch. Spiritualität ermöglicht geistliche Unterscheidungen und Entscheidungen in Theologie und Kirchenleitung; letztere dürfen sich nicht in geistiger und geistlicher Verwaltung erschöpfen. An den evangelisch-theologischen Fakultäten und Hochschulen fehlt das Angebot geistlicher Begleitung durch einen Spiritual, der das Thema der Entfaltung und Gestaltung des Glaubens in kritischer theologischer Existenz wachhält und betont - nicht zuletzt in Gesprächen und Andachten. Ob sich Spiritualität als eigenes theologisches Fach etabliert (wie z. B. an der -»Philosophisch-Theologischen Hochschule Münster, wo auch ein Institut für Spiritualität besteht) oder ob sie - begleitend - als Fundamentalspiritualität auf das Ganze der Theologie ausgerichtet ist, kann noch nicht entschieden werden. Auf jeden Fall zielt eine Theologie der Spiritualität auf eine (neue) Spiritualität der Theologie bzw. auf eine spirituelle Theologie, wie sie - in Ansätzen - in der Orthodoxie von Pavel A. Florenskij (1882-1937), im Katholizismus von Charles de Foucauld (1858-1916) und im Protestantismus von D. Bonhoeffer gelebt und gelehrt worden ist. Alle drei sind zu Märtyrern des Glaubens geworden. In der Folge einer spirituellen Theologie wird sich der Gemeindepfarrer auch als Spiritual, als geistlicher Begleiter der Gemeinde, verstehen, nicht bloß als Moderator oder ähnliches; so kann er einerseits Letzteinsichten menschlichen Lebens aufnehmen, andererseits die geistliche Verwahrlosung einer Risiko-, Erlebnis-, Beschleunigungs- und Multioptionsgesellschaft überwinden. Er verbindet, liturgische Spiritualität anstrebend, geistliche Diagnose und Therapie. In einer Gesellschaft des „Tuns" betont er das „Lassen" (als asketisch-therapeutische Tugend). Literatur Advent u. Weihnachten, hg. v. Johannes Haikenhäuser, Rödelsee 1983 (Schwanberger R . 11). - L ' Afrique et ses formes de vie spirituelle, hg. v. Vincent M u l a g o gwa Cikala M u s h a r h a m i n a , 1983 (CRA 17); dt.: Afrikanische Spiritualität u. christl. Glaube. Erfahrungen der Inkulturation,
714
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I. Religionsgeschichtlich 1. Religiöse Motivationen (Literatur S. 720)
1. Religiöse
2. Sport als Opfer „zu Ehren der G ö t t e r "
3. Rituelle Entartungen
Motivationen
D e r mythische und kultische Ursprung des S p o r t s dürfte unbestritten sein. Seine Wurzeln lassen sich a u f eine Vielzahl religionsgeschichtlicher P h ä n o m e n e z u r ü c k f ü h r e n , und es stellt sich die F r a g e nach dem jeweiligen K o n t e x t dieser P h ä n o m e n e . Ähnlich wie bei - » S p i e l und - » T a n z ( J a g d z a u b e r , R e g e n z a u b e r ) ist dabei die A n w e s e n h e i t , unter U m s t ä n d e n gar die T e i l n a h m e der G ö t t e r erforderlich, von deren Wohlwollen der sportliche Erfolg a b h ä n g t . S o lassen sich selbst im N i e d e r g a n g der g r o ß e n Sportkulturen n o c h Anzeichen dieses kultischen Ursprungs, wie z. B . R e s t e von Initiations- und O p ferriten, e r k e n n e n : D e r W e t t k ä m p f e r k ä m p f t um sein L e b e n und bringt sich den G ö t t e r n als O p f e r d a r (homo necans). H ö c h s t e k ö r p e r l i c h e und geistige K o n z e n t r a t i o n ( - » Y o g a ) , Askesen und F a s t e n , sind dabei die sichtbaren Z e i c h e n dieses O p f e r s . O p f e r bringen sie und sind sie selbst auch d a d u r c h , d a ß sie nachvollziehen, w a s einst die A h n e n im blutigen K a m p f e geleistet h a b e n und w o f ü r sie starben (aytbvEQ ¿nirä(f>ioi). Allerdings d a r f m a n diesen A s p e k t nicht ü b e r b e w e r t e n (wie O t t o K e r n , D i e R e l i g i o n der G r i e c h e n , Berlin, I J 1 9 6 3 , 166); denn die W e t t k ä m p f e wurden zu allererst zu Ehren der G ö t t e r und Geister a u s g e t r a g e n , die an den betreffenden heiligen O r t e n verehrt w u r d e n : in O l y m p i a und N e m e a zu E h r e n des Z e u s , a u f dem I s t h m u s für P o s e i d o n , in A t h e n für A t h e n a , in Eleusis für D e m e t e r und K o r e , in Ephesus und M a g n e s i a für A r t e m i s , in E p i d a u r o s für A s k l e p i o s usw.
718
Sport I
2 . Sport
als Opfer
„zu
Ehren
der
Götter"
V o r b e h a l t l i c h d e r u n t e r s c h i e d l i c h e n K o n t e x t e lassen sich z u m i n d e s t drei H a u p t k r i t e r i e n für d i e r e l i g i o n s g e s c h i c h t l i c h e B e g r ü n d u n g des S p o r t s feststellen: die rituelle (und z u g l e i c h n a t i o n a l - r e l i g i ö s e ) , die m y t h i s c h e u n d die m e d i t a t i v - s p i r i t u e l l e B e g r ü n d u n g . 2.1.
Ritual
und Rekord
(Vorbemerkung).
W i e e n g R i t u a l ( - » R i t u s ) u n d S p o r t in der
A n t i k e m i t e i n a n d e r v e r k n ü p f t sind, zeigt d a s ä g y p t i s c h e K ö n i g s d o g m a seit der 1 8 . D y n a s t i e , n a c h d e m eine s p o r t l i c h e L e i s t u n g des g ö t t l i c h e n P h a r a o (z. B . d a s B o g e n s c h i e ß e n T h u t m o s i s ' III., d a s s o n s t n u r d e m S o n n e n g o t t A t u m v o r b e h a l t e n w a r ; vgl. B a r t e l s 8 4 9 7 ) v o n n i e m a n d e m ü b e r t r o f f e n w e r d e n d u r f t e ( „ e i n e T a t , die n o c h nie g e t a n w o r d e n w a r " ; vgl. D e c k e r , S p o r t [ 1 9 8 7 ] 6 6 ) . 2 . 2 . Die rituelle
Begründung
am Beispiel
der Olympischen
Spiele.
Wettkampf, Kampf-
spiel z u E h r e n d e r G ö t t e r u n d H e r o e n (z. B . a n l ä ß l i c h d e r L e i c h e n f e s t s p i e l e des P a t r o k l o s ; H o m e r , II. X X I I I , 2 5 8 . 2 7 3 . 4 4 8 . 4 5 1 . 4 9 5 u . ö . ; vgl. W e i l e r 2 3 - 4 2 ) w i r d als dycöv (von äyeiv) b e z e i c h n e t , ist a b e r gleichzeitig a u c h K a m p f s t ä t t e im w e i t e s t e n Sinne. D e r
Terminus
trifft b e s o n d e r s a u f die O l y m p i s c h e n Spiele z u ( A r i s t o p h a n e s , P l u t u s , hg. v. J a n v a n L e e u w e n , L e i d e n 1 9 0 4 = 1 9 6 8 , 5 8 3 ) . Ihr K e n n z e i c h e n ist d e r s t r i k t e , m y t h i s c h b e g r ü n d e t e , v i e r j ä h r i g e Z y k l u s , d e r m i t d e m J a h r e 7 7 6 v. C h r . (Sieg d e s K o r o i b o s , Siegerlisten h i s t o r i s c h belegt) b e g i n n t u n d d e n W e t t k ä m p f e n s o w i e i h r e n V e r a n s t a l t e r n eine b e s o n d e r e D i g n i t ä t verleiht (Blütezeit A n f a n g 6 . bis E n d e 5 . J h . v . C h r . ) . Die wahrscheinlich älteste schriftliche Tradition dafür bietet Pindar, der den thebanischen Herakles als Stifter und höchsten Kampfrichter nennt (Ol. 111,11 ff.; vgl. 11,5; VI,67ff.; dt.: Wolfgang Schadewaldt, Olympische Oden, Frankfurt a . M . 1972), eine jüngere gibt den idaeischen Herakles als den Initiator dieses Agon an (Pausanias V,7,4ff., bes. 10). Die Durchführung im August/September zur Zeit des Vollmonds (ursprünglich nur ein Tag, ab 4 7 2 v. Chr. fünf Tage) setzte den olympischen Gottesfrieden voraus, der seit der panhellenischen Verbreitung des Festes für ganz Griechenland angesagt war. Eine sakrale Feier zu Ehren des Zeus Olympios mit Reinigungszeremonien (Pausanias V,16,8) und Uberprüfung der Integrität der Sportler leitete die Agone mit Wettlauf (SpöfiOQ), Ringkampf (näXrj), Faustkampf {niy/xij), Wagenrennen (xeOpinnov) usw. ein und schloß sie auch ab (zunächst Fünfkampf, später auch Dauerlauf und Wagenrennen). Die Wettkämpfer stellten sich vor Beginn des Agon auf einen Altar, der sich am Eingang zum Stadion befand, aber bezeichnenderweise nicht als Opferstein verwendet wurde (Pausanias V,22,l), wo sie von Trompetern begrüßt und ihre N a m e n aufgerufen wurden (möglicherweise ein Hinweis auf die Selbstdarbringung?). Kultischer Höhepunkt war die große Prozession mit Opfertieren, die auf dem Zeusaltar geopfert wurden (Ziehen, Art. Olympia 17). Bezeichnenderweise fand die Schmükkung der Olympioniken mit dem Kranz aus Zweigen des heiligen wilden Ö l b a u m s vor dem Zeustempel und unmittelbar nach dem Dankopfer statt. Der Ölbaum wurde vom delphischen Orakel bestimmt und fungierte als Medium zwischen der Gottheit und den mit höchsten Attributen und Privilegien ausgestatteten Siegern. Der Siegeskranz hatte eine segnende Wirkung und stellte die Olympioniken samt ihrer Heimatorte unter den Schutz der betreffenden Gottheit, die bei dem Agon zugeschaut hatte. Die Auszeichnung mit dem Siegeskranz besaß also über die Siegerehrung hinaus eine das hellenische Nationalbewußtsein einigende Kraft, die sich gleichsam rituell von einer olympischen Periode zur anderen erneuerte. 2.3. Kulturen.
Die
mythische
Begründung
am
Beispiel
des
Ballspiels
in
meso-amerikanischen
D i e s e v o n K . V i n c k e ( 1 7 4 ) als „ p a n m e s o a m e r i k a n i s c h e s P h ä n o m e n " b e z e i c h -
nete S p o r t a r t bestand darin, d a ß zwei M a n n s c h a f t e n versuchten, einen schweren K a u t s c h u k b a l l ( k ' i k ' ) d u r c h e i n e n a n d e n S t e i n w ä n d e n d e s P l a t z e s befestigten R i n g zu w e r f e n . Dabei durften nur Hüften, Knie und Ellenbogen, nicht aber die Hände benutzt werden. Nach den Forschungen von W. Krickeberg stellt das Ballspiel eine kultische Imitation des Kampfes zwischen den M ä c h t e n des Lichts und denen der Finsternis dar. Dabei symbolisierten der Flug des Balles den Lauf der Sonne und die Zielringe die Ein- und Ausgänge der Unterwelt, an denen die Sonne auf ihrer täglichen Reise vorüberwandert. Die nach dem Spiel vollzogene Opferung {k'ik' heißt auch „ B l u t " ) der Verlierer vollzieht nach Krickeberg ( 1 3 5 - 1 3 7 ) die T ö t u n g der Mondgöttin Coyolxauhqui und ihrer Brüder, der Sterne, durch den Sonnengott Huitzilopochtli. Auch wenn diese Interpretation Lücken aufweist, so stellt das Ballspiel jedenfalls ein mythologisch begründetes
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Mittel zur Weltbeherrschung dar. Überdies symbolisiert das im Anschluß an das Ballspiel vollzogene Enthauptungsritual sowie das Blut der Geopferten L e b e n s k r a f t und Entstehen der Vegetation, wie aus d e m Popol Vuh ( „ B u c h des R a t e s " ) , dem heiligen Buch des Q u i c h e - S t a m m e s der M a y a (entstanden zwischen 1554 und 1558 im H o c h l a n d von G u a t e m a l a ) , hervorgeht (vgl. Günter Lanczk o w s k i , Die Religionen der Azteken, M a y a und Inka, D a r m s t a d t 1989, 18 A n m . 3 9 ; 8 8 - 9 6 ) . Vom Ball geht eine magische Kraft aus, die in der S y m b o l i k von T o d und Fruchtbarkeit sichtbar wird (.kik'el steht auch für männlichen S a m e n ) . Ungeklärt bleibt nach wie vor die Frage, o b nach dem Spiel die M a n n s c h a f t der Verlierer oder der G e w i n n e r geopfert wurde oder o b man dazu besondere O p f e r aussuchte, die dieser Symbolik entsprachen.
2.4. Die spirituell-meditative Begründung am Beispiel des tibetischen „Traditionssports". Sport und Spiele (Reiten, Steine heben, Speerwerfen, Ringen, Bogenschießen; unter Beteiligung der Frauen?) haben als Bestandteil der tibetischen Festtagskultur immer einen kultisch-religiösen Aspekt: Man ehrt dadurch die Toten (Bezug zur Bon-Religion) und übt sich im Loslassen des Ich (Bezug zum Buddhismus). Besonders in den Wettkämpfen, die zwischen den Klöstern ausgetragen werden, legt man auf den (von Sportwissenschaftlern leider so genannten) „ T r a d i t i o n s s p o r t " (vgl. Günter/Klautzer/Loseries-Leik) großen Wert. Dazu zählen neun Sportarten, darunter die Disziplinen Pfeilschießen ( m d a ' ) , Steinheben ( r d o ) , Weitsprung ( m c h o n g ) , Laufen ( b a n k ) , Schwimmen (!) ( r k y a l ) und Ringen ( s b e ) . Das Vinäya-Pitäka scheint aber auch eine Teilnahme der M ö n c h e an sportlichen Veranstaltungen zu verbieten, weil sie nicht unmittelbar der Geistesschulung dienen. W i r besitzen jedoch andererseits Zeugnisse über M ö n c h e , die sich als Kampfsportler ( t h u b t h o b ) hervorgetan haben (ebd. 113f.).
Als Bestandteil tantrischer Praxis und als Medium zwischen Körper und Geist gelten im religiösen Leben der Tibeter der Yoga, das „Laufen in Trance", lung-gom (der Läufer heißt lung-gom-pa und wird von einem gom-tschen ausgebildet; vgl. Alexandra DavidNeel, Heilige und Hexer, Leipzig 1936, 197-212), und vor allem das phyag'tsal, die Prostration vor dem Heiligtum, die sowohl von Mönchen wie von Laien praktiziert wird. Sie gilt als Kombination von Körper, Rede bzw. Gebet und Geist bzw. Meditation. D a s phyag'tsal ist eine bis zu 4 . 5 0 0 Niederwerfungen täglich umfassende rigorose Yogapraxis, die sowohl als M e d i t a t i o n s s p o r t wie als körperliches Heilmittel angesehen wird. D o c h sind die Yogapraktiken im wesentlichen spirituelle Körperübungen, die letztlich die Erleuchtungserfahrung, samadht, zum Ziel h a b e n . Daisetz T. Suzuki bezeichnete z. B . die Kunst des Bogenschießens und andere Disziplinen als charakteristische M e r k m a l e buddhistisch orientierter Sportarten, weil sie der Schulung des Bewußtseins dienen: „ S o wird Bogenschießen nicht allein geübt, um die Scheibe zu treffen, das Schwert nicht geschwungen, um den Gegner niederzuwerfen; der T ä n z e r tanzt nicht nur, um rhythmische Bewegungen auszuführen, sondern vor allem soll das Bewußtsein dem Unbewußten h a r m o n i s c h angeglichen w e r d e n " (Suzuki, Einleitung: Herrigel 7). D a s gilt sowohl für die Disziplinen des Z e n J a p a n s als auch für den tantrischen Yoga T i b e t s .
3. Rituelle
Entartungen
Die hier genannten religionsgeschichtlich besetzten Typen des Sports unterlagen und unterliegen alle der Gefahr der Kommerzialisierung bzw. Korrumpierung wie andererseits der Ideologisierung: Der Sport stand schon in klassischer Zeit nicht mehr ausschließlich im Dienste des Kults bzw. verstand sich zuweilen nicht mehr als ein Teilphänomen des Kults, das zu dessen spiritueller Vertiefung beizutragen hatte, sondern ideologisierte und nationalisierte sich in zunehmendem Maße. In ihrer Spätzeit (4. Jh. n. Chr.; Ziehen, Art. Olympia 37; Regner 235.241) wurden die Olympischen Spiele z. B. von der römischen Besatzungsmacht korrumpiert, womit eine eindeutig „utilitaristische Orientierung" verbunden war (vgl. Weiler 264ff.), bis schließlich das Verbot durch Kaiser -•Theodosius (393) erfolgte (vgl. Ziehen, Art. Olympia 40). Der sportliche Wettkampf gab auf diese Weise seinen streng religionsgeschichtlichen Kontext auf, entwickelte eine Eigendynamik und verselbständigte sich schließlich zur „Sportreligion" (vgl. das Motto „Fußball ist unsere Religion"), ein Vorgang, der - die Olympischen Spiele betreffend - bereits im nachklassischen Griechenland einsetzte, als der „Sieg an sich" zum Ziel erklärt wurde (Jakob Burckhardt, GW. VIII. Griechische Kulturgeschichte IV [1902], Darmstadt 1962, Kap. 3. Der koloniale und der agonale Mensch, 100).
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II. Historisch und ethisch 1. Ursprünge 2. Englischer Sport 3 . T u r n e n und G y m n a s t i k 4. Turnen und Sport im 20. J a h r h u n d e r t 5. O r g a n i s a t i o n und Verwaltung des Sports 6. S p o r t m o d e l l e 7 . M e r k m a l e des modernen Sports (Literatur S. 7 2 5 )
1.
Ursprünge
Sport gilt heute als Überbegriff für alle Formen und Inhalte organisierter und nichtorganisierter Leibesübungen. Historisch gesehen wird auch vom „Sport" in der Antike und im Mittelalter gesprochen, weil es zu allen Zeiten und in allen Kulturen Leibesübungen, Spiele und körperorientierte Wettkämpfe gegeben hat. Gymnastik und Agonistik der griechischen Antike sind häufig als Vorbild und Ideal neuzeitlicher Sportund Körperkultur angesehen worden. Dies trifft insbesondere auf die Olympischen Spiele zu. Die klassischen Olympischen Spiele bestanden rund 1000 Jahre, von 776 v. Chr. bis zum Verbot heidnischer Kulte und damit dem Ende der Spiele unter dem christlichen Kaiser -»Theodosius I. dem Großen im Jahr 393 n. Chr., obwohl sie auch danach noch weiterhin durchgeführt wurden. Sie fanden alle vier Jahre statt und waren Teil des Zeus-Kults in Olympia. Athletische Wettkämpfe im Rahmen von Götterfesten wurden in zahlreichen Städten des antiken Griechenlands abgehalten. Die bekanntesten panhellenischen Agone waren außer den Panathenäen in Athen die nemeischen (in Nemea), die pythischen (in Delphi) und die isthmischen Spiele (in Korinth). Neben Sprache und Religion waren gemeinsame Spiele und Wettkämpfe im Laufen, Springen, Werfen, Ringen, Boxen sowie hippische Agone (Pferderennen und Wagenrennen) Ausdruck panhellenischer Identität. Das Prinzip der Agonalität, das nach Jakob Burckhardt (1818-1897) die griechische Antike insgesamt prägte, objektivierte sich in besonderer Weise in Körperkultur und Sport. Körperpflege und Übungen zur Erhaltung der Gesundheit wurden als Gymnastik bezeichnet. Flavius Philostratos' Über Gymnastik ist jedoch das einzige vollständig überlieferte Werk zur antiken griechischen Gymnastik. Er sprach von Gymnastik als einer „Wissenschaft". Mit der Durchsetzung des Christentums schwand das Interesse an antiker Gymnastik und Athletik; aus der Sicht der Christen handelte es sich um heidnische Kulte. Erst als Folge des Humanismus und Neuhumanismus im 18. und 19. Jh. erfolgte eine Anknüpfung an das antike Erbe. Deutsche Altertumswissenschaftler und Archäologen wie Ernst Curtius (1814-1896), Johann Heinrich Krause (1802-1882) oder Julius Jüthner ( 1 8 6 6 1945) hatten wesentlichen Anteil daran, daß das antike Olympia ausgegraben werden konnte und das Wissen um die griechische Gymnastik und Athletik neu entdeckt wurde. Die modernen Olympischen Spiele haben nach dem Willen und der Absicht ihres Gründers Pierre de Coubertin (1863-1937) das Ziel, den Geist der Antike mit neuen Formen und Inhalten wiederzubeleben. Neuere Forschungen haben gezeigt, daß auch andere frühe Hochkulturen über eine entwickelte Körper- und Bewegungskultur verfügten; dies trifft insbesondere auf das alte Ägypten zu (vgl. Decker). 2. Englischer
Sport
Der moderne Sport steht so gesehen in der Tradition der antiken griechischen Gymnastik und Athletik. In der Neuzeit läßt er sich auf zwei Wurzeln zurückführen: erstens auf Spiele und Wettkämpfe in England, die als sports bezeichnet wurden, und zweitens auf „Systeme" körperlicher und erzieherischer Übungen, die unter dem Namen „Gymnastik" und „Turnen" zu Beginn des 19. Jh. in Deutschland und Schweden entstanden. Die englischen sports gehen auf regionale und lokale Spiele und Wettkämpfe des Mittelalters und der frühen Neuzeit in England zurück, die oft in Verbindung mit Festen durchgeführt wurden - von ball games wie dem fußballähnlichen hurling (Dunning/ Sheard) oder frühen Formen des cricket bis hin zu verschiedenen Box-, Ring- und Prügelspielen, stone-throwing und horse-racing oder auch Tierspielen wie cock-fighting
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und bull-baiting (vgl. Holt 12ff.). Einige solcher Feste mit sportlichem Programm wurden ausdrücklich unter Berufung auf das Vorbild der antiken Olympischen Spiele durchgeführt, z. B. Robert Dovers (1582-1652) „Cotswold Games", die bereits 1612 gegründet wurden, oder im 19. Jh. die „Olympian Games" in Much Wenlock, die 1850 zum ersten Mal von Penny Brookes (1809-1895) organisiert wurden (Rühl). In der ersten Hälfte des 19. Jh. fanden einige sports and games Eingang in die Erziehung an den Public Schools (vgl. Mangan). Von diesen aus verbreitete sich der Sport als britisch-englische Art des Spielens, Wettkämpfens und der Freizeitverbringung in alle Teile des Landes und über alle Schichten und Klassen der Bevölkerung hinweg. Die Entstehung und Entwicklung der Arbeiterklasse im Zuge der -»Industrialisierung führte u.a. zum Massenund Zuschauersport. Der Aufstieg Englands zur Weltmacht ließ den englischen Sport schließlich zu einem universalen Modell von Leibesübungen werden (vgl. Eisenberg). Der englische Sport bildet den Kern des Sports bei den modernen Olympischen Spielen. 3. Turnen und
Gymnastik
Turnen und Gymnastik bezeichnen eher erzieherische Formen und Inhalte von Leibesübungen. Johann Christoph Friedrich GutsMuths' (1759-1839) Gymnastik für die Jugend (1793) bildet sowohl die Grundlage des „deutschen Turnens" als auch anderer „Systeme" körperlicher Erziehung, besonders der „schwedischen Gymnastik" nach Per Henrik Ling (1776-1839). Körperliche Spiele und Übungen, die GutsMuths in Anlehnung an das Vorbild der griechischen Antike „Gymnastik" nannte, waren im Sinne der ganz auf Nützlichkeit ausgerichteten philanthropischen Pädagogik (-• Philanthropismus) Teil ganzheitlicher Bildung und Erziehung. Ling, der seit 1814 das „Gymnastische Zentralinstitut" in Stockholm leitete, hat diese Gymnastik weiterentwickelt und in vier Bereiche unterteilt: neben der pädagogischen die militärische, ästhetische und gesundheitlich-medizinische Gymnastik. Das Turnen nach Friedrich Ludwig Jahn (1778-1852) war in der ersten Hälfte des 19. Jh. Teil der bürgerlichen Freiheits- und Nationalbewegung in Deutschland (vgl. Düding). Der Jahnsche Turnplatz - der erste wurde 1811 auf der Hasenheide in Berlin eröffnet - sollte das Modell einer Nation freier und gleicher Bürger deutscher Nation symbolisieren, die sich mit dem brüderlichen „ D u " anredeten, in der gleichen altdeutschen Turntracht, ohne Ansehen des Standes, gekleidet waren, sich eigene Regeln („Turngesetze") gaben und ihre Angelegenheiten demokratisch auf dem „ T i e " , dem Versammlungsplatz, besprachen. Seit der zweiten Hälfte des 19. Jh. erfolgte der Aufstieg des Turnens zu einer Form nationaler Leibesübungen in Deutschland. Dies geschah durch den Aufbau einer nationalen Organisation des Turnens in bürgerlichen Vereinen und Verbänden und durch die Einführung des Schulturnens nach einem weitgehend einheitlichen „System" turnerischer Übungen, das sich überwiegend an Adolf Spieß (18101858) orientierte. Turnen wurde damit schul- und unterrichtsfähig. 4. Turnen und Sport im 20.
Jahrhundert
In der ersten Hälfte des 20. Jh. verbreitete sich der Sport nicht nur in Deutschland, sondern in allen modernen Industriegesellschaften. Turnen und Sport gerieten dabei auch in ideologische und politische Auseinandersetzungen zwischen „Arbeiterklasse" und „Bourgeoisie", wie der marxistische Sprachgebrauch lautete. In Deutschland, aber auch in anderen Ländern bildeten sich eigene sozialistische und kommunistische Arbeitersportorganisationen, denen die „bürgerlichen" Turner und Sportler gegenüberstanden. Nach 1933 wurden die Turn- und Sportorganisationen, die in der Weimarer Zeit bestanden hatten, gleichgeschaltet und der Arbeitersport und die konfessionellen Sportverbände verboten. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden in Deutschland keine eigenen Arbeiterturn- und Sportvereine und auch keine bürgerlichen Vereine mehr gebildet; statt dessen entstand eine Einheitssportbewegung in Gestalt des Deutschen Sportbundes und seiner Mitgliedsverbände. Der internationale Wettkampfsport in dieser Zeit entwickelte
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sich zu einem Schauplatz des „Kalten Krieges" zwischen westlich-,,kapitalistischen" Staaten auf der einen und dem „sozialistischen" und „kommunistischen" Ostblock auf der anderen Seite. Über die von Coubertin begründeten Olympischen Spiele, die seit 1896 alle vier Jahre veranstaltet werden, ist der Sport mit einer besonderen Philosophie, der Olympischen Idee, in Verbindung gebracht worden. Sie besteht in dem Anspruch, einen spezifischen Beitrag zur Erziehung, zum Frieden, zur Demokratie und zur internationalen Verständigung durch sportliche Spiele und Wettkämpfe leisten zu wollen (vgl. Lenk; Höfer). Turnen und Gymnastik sind über Deutschland und Schweden hinaus in vielen Ländern der Welt zum Vorbild für den Aufbau einer geregelten, systematischen körperlichen Bildung und Erziehung in den Schulen, in der Armee und im Gesundheitswesen geworden. Gymnastik hat sich im 20. J h . in vielfältigen Formen der gesundheitlichen und ästhetischen Gymnastik sowie des -»Tanzes zur spezifischen Leibesübung und „Körperkultur der F r a u " (Bess Mensendieck, München 1920) entwickelt. 5. Organisation
und Verwaltung
des
Sports
Der Sport ist heute in einem Geflecht von Sport- und Erziehungseinrichtungen auf regionaler, nationaler und internationaler Ebene organisiert. In Deutschland haben Vereine und Clubs sowohl den Zweck, Wettkämpfe und sportliche Begegnungen zu veranstalten, als auch die Interessen ihrer Mitglieder gegenüber Politik und Öffentlichkeit zu vertreten, z. B. im Hinblick auf den Bau von Sportstätten. Im Deutschen Sportbund als Dachorganisation des Sports in Deutschland sind neben den 16 Landessportbünden 56 Sportarten in Form von Spitzenverbänden organisiert. Regierungen und Verwaltungen sind mit Sport befaßt, sei es mit der Organisation des Sports an Schulen, Hochschulen und anderen Erziehungseinrichtungen oder auch mit Sport in Gesundheitseinrichtungen oder in der Armee sowie mit der Unterstützung des Leistungs- und Hochleistungssports. In der Schule ist der Sport anerkanntes Unterrichtsfach und Teil des Schullebens. Das Verhältnis von Staat und Sport ist international unterschiedlich geregelt. In den meisten demokratisch verfaßten Ländern ist der Sport selbständig und unabhängig von staatlichen Organisationen. Die Sport-Fachverbände sind für alle Entscheidungen, die ihren Sport betreffen, selbst verantwortlich. Die Unabhängigkeit des Sports von Organen der Politik ist auch ein Prinzip der internationalen Sportorganisationen; dies gilt sowohl für die internationalen Fachverbände als auch für das Internationale Olympische Komitee. Neben dem Schulsport und dem in Vereinen und Verbänden organisierten Sport gibt es heute zahlreiche gewerbliche Sportanbieter in Gestalt von Fitneß- und Gesundheitsstudios, Sportangebote von Volkshochschulen und anderen Erwachsenenbildungseinrichtungen sowie umfangreiche individuelle Sportaktivitäten wie z. B. Surfen, Skilaufen, Wandern, Drachenfliegen oder Radfahren. 6.
Sportmodelle
Der Sport stellt sich heute nicht mehr als ein einheitliches Gebilde dar. Formen und Inhalte des Sports sowie Motive, Zugangsweisen und Sinnmuster, die mit ihm verbunden werden, haben sich geändert und ausdifferenziert. Es wird deshalb nach folgenden Sportmodellen unterschieden: 1) Am ältesten ist die Differenzierung zwischen Amateursport und Profisport. Sie bezog sich sowohl auf die materiellen Grundlagen des Sporttreibens als auch auf die Einstellung und Haltung zum Sport. Bis in die achtziger Jahre waren bei Olympischen Spielen nur Amateursportler zugelassen, d.h. solche Sportlerinnen und Sportler, die kein Geld für ihren Sport bekamen und Sport nur aus Freude an der Sache betrieben, wie die Begründung lautete. Historisch gesehen handelte es sich beim Amateursport um das englische Konzept des „Gentlemansports". Die vornehmen englischen Gentlemen wollten beim Sporttreiben unter sich bleiben und „erfanden" deshalb die Idee des Amateursports, mit deren Hilfe sie Handwerker, Arbeiter, Trainer und Sportlehrer, die häufig
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sportlich leistungsfähiger waren als sie selbst, ausschließen konnten. Beim Olympischen Kongreß 1981 in Baden-Baden wurde der Amateurparagraph aus den Statuten des IOC gestrichen. Der Amateurismus war seit den 60er und 70er Jahren auch wegen der Staatsamateure des Ostblocks zum Anachronismus geworden. 2) Eine andere Gliederung geht von Sportarten aus und versteht Sport als deren Summe. Als problematisch an diesem „Sportmodell" wird allerdings die Abgrenzung der Sportarten voneinander angesehen. „Turnen" und „Gymnastik", aber auch „Schwimmen" und „Leichtathletik" sind mehr als Sportarten, nämlich für sich gesehen Sammelbegriffe für sportlich-körperliche Aktivitäten und Disziplinen, die nicht ohne weiteres als „Sportarten" bezeichnet werden können, z. B. auch das Krafttraining im Sportstudio, Jogging, Stretching oder Baden im „Erlebnisbad". 3) Nach dem Pyramidenmodell des Sports baut sich eine Leistungsspitze auf einer breiten Basis von Sportlerinnen und Sportlern mit durchschnittlichem Leistungs- und Könnensniveau auf. Alle sind jedoch von der grundsätzlich gleichen Motivation geleitet, bessere sportliche Leistungen und ein höheres Könnensniveau erreichen zu wollen. 4) Um die unterschiedlichen Leistungsebenen und -bereiche besser berücksichtigen zu können, wird Sport häufig nach Leistungs- und Hochleistungssport, Wettkampfsport, Breitensport, Freizeitsport und Gesundheitssport unterschieden (vgl. Heinemann; Digel). Diese Einteilung soll auch deutlich machen, daß den einzelnen Sportbereichen verschiedene Interessen, Motive und Sinnmuster zugrunde liegen. Das Modell der Differenzierung nach leistungs- und motivationsbezogenen Sportbereichen bedeutet auch eine Abkehr vom „Pyramidenmodell" des Sports. Als Schwäche des Sportbereichs-Modells gilt allerdings, daß die Unterscheidungsmerkmale auf verschiedenen Ebenen liegen. Leistung und Wettkampf sind Grundprinzipien des Sports, die in jeder Art des Sports zum Tragen kommen, wenn auch mit unterschiedlichem Gewicht; „Freizeitsport" bezieht sich dagegen auf den Zeitraum, der Menschen zur Verfügung steht, um ihren Sport zu betreiben. 5) Die neuere Sportentwicklung hat gezeigt, daß die Komplexität der Sportformen und Sportmotive nicht ohne ausreichende Differenzierung nach Alter, Geschlecht, sozialer Schicht, regionaler Herkunft und kulturellem Kontext erfaßt werden kann. Diese in der sportsoziologischen Forschung (vgl. Heinemann) üblichen Kategorien bestimmen letztlich den Sport und seine unterschiedlichen Formen und Inhalte. Auch aktuelle Entwicklungen des Sports sind in den dargestellten Sportmodellen wenig berücksichtigt worden, z. B. die Kommerzialisierung und Professionalisierung des Sports, aber auch der Sport in den Medien, der Zuschauersport, der Sport in Bildung, Erziehung und Wissenschaft. 7. Merkmale
des modernen
Sports
Ein besonderes Kennzeichen des modernen Sports besteht darin, daß Sport heute nicht mehr als einheitliches Teilgebilde wahrgenommen wird. Es ist zwar von Sportkultur die Rede, diese zerfällt aber in eigene sportliche Teil- oder Subkulturen, z. B. die des Hochleistungssports, des Fußballs, der Sportstudios, der Surfer und Snowboarder; und zum anderen stellen Sport oder Sportlichkeit eher ein Kulturmuster dar, das alle Bereiche des kulturellen Alltagslebens durchdringt, auch wenn sie mit Sport wenig zu tun haben (vgl. Grupe, Sport). Sportlich zu sein steht dann eher für Jung-, Dynamisch-, Fit-, Beweglich-, Schnell-, Schlank-, Gutaussehend- und Fair-Sein. Deshalb scheint auch das gemeinsame Ethos oder Sinnverständnis des Sports, das z. B. den Amateursport oder den Vereinssport insgesamt getragen hat, weniger deutlich erkennbar zu sein, und die traditionellen Werte des Sports scheinen ihre Gültigkeit für einzelne sportliche Teilkulturen zu verlieren. Dies zeigt sich besonders in der Frage des pädagogischen Anspruchs des Sports. Während das traditionelle, amateursportliche Ethos davon ausging, daß der Sport insgesamt, wenn er um seiner selbst willen betrieben wird, zur Erziehung und Persönlichkeitsbildung positiv beiträgt, wird dieser pädagogische Anspruch zwar noch für den
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Schulsport und den allgemeinen Vereinssport vertreten, aber k a u m noch für den Leistungs- und Hochleistungssport, obwohl die persönlichkeitsbildenden Wirkungen des Sporttreibens ursprünglich besonders für diese A r t des Sporttreibens behauptet wurden. Ähnliches läßt sich für andere Elemente des Sportverständnisses feststellen, z. B. für das Gesundheitsmotiv, das auf den Gesundheitssport reduziert wird, aber weniger für den Sport insgesamt Gültigkeit zu haben scheint, oder für das Prinzip der Gemeinschaft, das z w a r auf kleine Sportgruppen und M a n n s c h a f t e n zutrifft, aber k a u m noch für den Sport als Ganzen. Fair play ist dagegen ein aus dem Sport hervorgegangenes und im Sport kultiviertes ethisches Prinzip, das in allen Bereichen des Sports und über den Sport hinaus Anerkennung findet, auch wenn nicht immer d a n a c h gehandelt wird ( M c l n t o s h ; G e r h a r d t / Lämmer; Herms). Auffallendste M e r k m a l e des modernen Sports sind seine Internationalität und Universalität. Diese M e r k m a l e unterscheiden ihn von vormodernen, lokalen und regionalen Traditionen von Leibesübungen und Spielen. Der m o d e r n e Sport wird deshalb sowohl als Teil von Modernisierungsprozessen als auch als F a k t o r im Prozeß der Globalisierung und Universalisierung angesehen (vgl. M a g u i r e ; Bausinger). Seine Ausbreitung hängt auch mit der Entwicklung der modernen Medien, der Verkehrs- und der K o m m u n i k a tionstechniken z u s a m m e n . Darüber hinaus symbolisiert er elementare und universale Bedürfnisse wie das Bedürfnis nach Freude, Vergnügen und Spiel, Spannung, Aufregung, Befriedigung kämpferischer Leidenschaft, Wohlbefinden und Gesundheit. Diese drei M o tivgruppen - Spiel, W e t t k a m p f und Leistung sowie Gesundheit und Wohlbefinden - sind aus unterschiedlichen Perspektiven als Gehalte bzw. als „ W e s e n " (Diem, Wesen) der Leibesübungen und des Sports bezeichnet w o r d e n . Literatur Hermann Bausinger, Moderner Sport f. die ganze Welt?: Olympisches Feuer 2 (1993) 9 - 1 2 . Wolfgang Decker, Sport u. Spiel im Alten Ägypten, München 1987. - Carl Diem, Wesen u. Lehre des Sports u. der Leibeserziehung, Stuttgart 1949 2 1960. - Ders., Weltgesch. des Sports, 2 Bde., Stuttgart 1971. - Helmut Digel, Uber den Wandel der Werte in Gesellschaft, Freizeit u. Sport: Die Zukunft des Sports, hg. vom Dt. Sportbund, Schorndorf 1986, 1 4 - 4 3 . - Dieter Düding, Organisierter gesellschaftlicher Nationalismus in Deutschland (1808-1847), München 1984. - Eric Dunning/Kenneth Sheard, Barbarians, Gentlemen and Players. A Sociological Study of the Development of Rugby Football, Oxford 1979. - Christiane Eisenberg, „English Sports" u. dt. Bürger. Eine Gesellschaftsgesch. 1 8 0 0 - 1 9 3 9 , Paderborn u.a. 1999. - Volker Gerhardt/Manfred Lämmer (Hg.), Fairneß u. Fair play, St. Augustin 1993 z 1995. - Ommo Grupe, Grundlagen der Sportpädagogik. Körperlichkeit, Bewegung u. Erfahrung im Sport, Schorndorf 1969 3 1984. - Ders., Sport als Kultur, Zürich/Osnabrück 1987. - Klaus Heinemann, Einf. in die Soziologie des Sports, Schorndorf 1980 4 1998. - Eilert Herms, Fairneß u. Menschenverständnis. Zum Ethos des Sports u. seinen Fundamenten: Ommo Grupe (Hg.) im Auftrag des N O K , Einblicke. Aspekte olympischer Sportentwicklung, Schorndorf 1999,32 - 42. - Albert Hirn, Ursprung u. Wesen des Sports, Berlin 1936. - Andreas Höfer, Der Olympische Friede. Anspruch u. Wirklichkeit einer Idee, St. Augustin 1994. - Richard Holt, Sport and the British. A Modern History, Oxford 1989. - Rudolf Kircher, Fair Play. Sport, Spiel u. Geist in England, Frankfurt a.M. 1927. - Michael Krüger, Einf. in die Gesch. der Leibeserziehung u. des Sports, 2 Bde., Schorndorf 1993. - Ders., Körperkultur u. Nationsbildung. Die Gesch. des Turnens in der Reichsgründungsära, Schorndorf 1996. - Dietrich Kurz, Elemente des Schulsports. Grundlagen einer pragmatischen Fachdidaktik, Schorndorf 1977 3 1990. - Ders., Vom Sinn des Sports: Die Zukunft des Sports (s.o. bei Digel) 4 4 - 6 8 . - Hans Lenk, Werte, Ziele, Wirklichkeit der modernen Olympischen Spiele, Schorndorf 1964 2 1972. - Joseph Maguire, Globalisation, Sport and National Identities. „The Empires Strike Back?": Society and Leisure 16 (1993) 2 9 2 - 3 2 2 . - James Anthony Mangan, Athleticism in the Victorian and Edwardian Public School, Cambridge 1981. - Peter Chisholm Mclntosh, Fair Play. Ethics in Sport and Education, London 1979. - Nobert Müller, Von Paris bis Baden-Baden. Die Olympischen Kongresse 1 8 9 4 - 1 9 8 1 , Niederhausen 1981 3 1983. - Joachim K. Rühl, Fünf Serien Olympischer Spiele in England: Karl Lennartz u. Mitarb., Die Olympischen Spiele 1896 in Athen, Kassel o.J. [1996], 1 4 - 1 6 . O m m o G r u p e / M i c h a e l Krüger
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III. Praktisch-theologisch 1. Historische Aspekte 2. O r g a n i s a t i o n s f o r m e n 3. Sport und Kirche 4. Sport als T h e m a in Seelsorge, Religionsunterricht und Predigt 5 . Unterwegs zu einer theologischen T h e o r i e des Sports (Literatur S. 7 2 9 )
1. Historische
Aspekte
Als Teil der antiken Kultur ist die sportliche Betätigung immer schon ein - wenn auch untergeordneter - Bezugspunkt des Christentums gewesen. Schon -»Paulus konnte die Sportthematik aufgreifen (vgl. bes. I Kor 9 , 2 4 - 2 7 ) . Der Sport zählt für ihn zu den menschlichen Werten, die Bezugspunkt für den Dialog mit den Menschen seiner Zeit sind (vgl. Schwank). Zeigte die Alte Kirche kein spezifisches Interesse an Leibesübungen und sportlichen Wettkämpfen, so stand sie ihnen aber auch nicht gänzlich ablehnend gegenüber. Dabei zeigt sich, daß bei den Kirchenvätern die Wertung der Leibesübung bestimmt ist von der je individuellen Bewertung des menschlichen Leibes (vgl. Schwank). Im Mittelalter erlangt in dem Erziehungsprogramm des Ritterstandes (-»Rittertum) die Leibesertüchtigung eine zentrale Bedeutung. Der geistliche Stand beurteilt die sportlichen Übungen positiv, da sie der „Zucht des Fleisches" sowie der Hygiene und Gesunderhaltung dienen. Unter den Renaissancepäpsten finden sogar Turniere im Theaterhof des Vatikans statt. So wird keltisches und germanisches Spielbrauchtum von der christlichen Kirche übernommen und in ihrer Sinngebung umgedeutet (vgl. Schwank). Auch die Reformatoren haben die Leibesübungen keinesfalls grundsätzlich abgelehnt. Ist bei -»Luther nur eine Stelle in den Tischreden überliefert, die beiläufig die Leibesübungen (positiv) erwähnt (WA.TR 3,3470), so hat sich -»Zwingli in seinem Lehrbüchlein ausführlicher geäußert (CR 92,442ff.): Als Leibesübungen zur Erholung des Körpers empfiehlt Zwingli Laufen, Springen, Steinstoßen, Fechten, Ringen und Schwimmen (vgl. Geldbach, Protestantismus 206f.). Im Blick auf das 17. und 18. Jh. zeigt sich, daß die großen Förderer der sportlichen Betätigung im Bereich des Protestantismus anzusiedeln waren (vgl. ebd. 15). So hat J.A. —»Comenius die große Bedeutung der Leibesübungen für die Gesamtentwicklung des Menschen in der menschlichen Gemeinschaft entdeckt (vgl. ebd. 17ff.). Unterschiedlich stellt, sich dagegen die Bewertung der sportlichen Aktivität im -»Pietismus und seinen Erziehungsanstalten dar: Für A.H. -»Francke sind kindliche Spiele und Leibesübungen von vornherein sündlich und daher abzulehnen. Die körperliche Bewegung muß mit Nützlichem verbunden werden (z. B. muß der Spaziergang mit Botanikunterricht verbunden werden, damit nicht Müßiggang daraus wird; vgl. ebd. 69). Demgegenüber stehen N.L. von -»Zinzendorf und der Herrenhutsche Pietismus wie der -»Freude, so auch dem -»Spiel und der spielerischen körperlichen Betätigung offener gegenüber: So werden schon früh in Nieski zwei große Erholungsplätze angelegt, wo mit den Lehrern das Ballschlagen gespielt, Wettläufe geübt und sogar „Olympische Spiele" veranstaltet wurden (vgl. ebd. 89). Erstmals in der Geschichte der neueren Pädagogik hat die pädagogische Erneuerungsbewegung der Philanthropisten (-»Philanthropismus) die Leibesübung methodisch-systematisch in den Gesamterziehungsplan aufgenommen. ,,[I]hre Forderung nach ebenmäßiger Bildung von Leib und Seele ... schließt die eng aufeinander bezogene religiöse und physische Erziehung ein" (ebd. 124). So kann Geldbach urteilen: „Die Entdecker des Schulsports sind ... evangelische Theologen" (ebd. 94). Das mit dem Namen Friedrich Ludwig Jahn (1778-1852) verknüpfte Turnen stellt im 19. Jh. eine Fortsetzung der unter den Philanthropisten begonnenen Betonung der physischen Bildung dar (s.o. II.). 2.
Organisationsformen
Das Entstehen einer evangelischen Sportarbeit im 20. Jh. ist ohne die freien evangelischen Jugendbewegungen und Verbände nicht denkbar.
S p o r t III
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In besonderem Maße ist die evangelische Sportarbeit durch den Christlichen Verein Junger Männer (CVJM) geprägt. So erbaute der erste, 1883 in Berlin gegründete C V J M schon 1893 eine eigene Turnhalle und führte ab 1905 eigene Turngaue und Turnfeste durch. Beim 1. Reichsturnertreffen in Hannover wurde 1925 der Ausschuß für Turnen und Sport in Eichenkreuz-Verband für Leibesübungen der evangelischen Jungmännerbünde Deutschlands umbenannt. Nach der freiwilligen Unterwerfung unter Hitler und der Auflösung 1934 wurde nach dem Zweiten Weltkrieg die Eichenkreuzarbeit neu aufgenommen. Vertreter des C V J M waren maßgeblich an der Ausbreitung des Volleyballs und an der Gründung des Deutschen Volleyballverbandes 1955 beteiligt. Seit 1968 ist das Eichenkreuz als kirchliche Sportorganisation außerordentliches Mitglied im Deutschen Sportbund (DSB) (vgl. Kupisch; Stursberg). Auch in der 1947 gegründeten sozialpädagogischen Einrichtung Christliches Jugenddorfwerk Deutschland (Mitglied des C V J M Dachverbandes) nimmt innerhalb der Freizeitpädagogik der Sport einen breiten Raum ein (vgl. Dannenmann). Der missionarischen Tätigkeit unter Sportlern und der seelsorgerlichen Betreuung von Sportlern widmen sich die 1971 gegründete Organisation Sportler ruft Sportler (vgl. Meyer) und die 1966 in den USA als Sportarbeit von Campus Crusade for Christ gegründete Organisation Athletes in Action (vgl. Sternberg 261 ff.; Geldbach, Protestantismus 176ff.). 3. Sport
und
Kirche
M i t dem a m 2 0 . N o v e m b e r 1 9 6 4 in M o s b a c h konstituierten Arbeitskreis Kirche und Sport der - » E v a n g e l i s c h e n K i r c h e in D e u t s c h l a n d beginnt die Z e i t einer intensiven Partnerschaft zwischen den V o l k s k i r c h e n und d e m organisierten S p o r t . E s folgte die G r ü n dung von L a n d e s a r b e i t s k r e i s e n in den L a n d e s k i r c h e n und die B e r u f u n g von S p o r t b e auftragten der L a n d e s k i r c h e . Seit 1 9 7 0 veranstaltet der Arbeitskreis Kirche und Sport regelmäßige S t u d i e n k u r s e in Sils M a r i a im E n g a d i n . D i e Intensivierung der P a r t n e r s c h a f t von Sport und K i r c h e w u r d e gerade durch den S p o r t selbst e r m ö g l i c h t und verlangt: S o rief der D S B in der 1 9 6 6 v o m deutschen S p o r t b e i r a t e n t w o r f e n e n Charta des Deutschen Sports alle gesellschaftlich relevanten G r u p p e n zur Z u s a m m e n a r b e i t auf und veränderte 1970 in seiner S a t z u n g die F o r d e r u n g n a c h religiöser N e u t r a l i t ä t in den G r u n d s a t z religiöser und w e l t a n s c h a u l i c h e r T o l e r a n z . D a r ü b e r hinaus b e t o n t e er die A c h t u n g der kulturellen und religiösen Werte im D e u t s c h e n Volk ( D S B , Satzung § 3 ; vgl. D ö r i n g 4 ) . S o k o n n t e 1971 das Programm einer Partnerschaft zwischen K i r c h e und S p o r t von der E K D , der K a t h o l i s c h e n K i r c h e D e u t s c h l a n d s ( K K D ) und d e m D S B verabschiedet w e r d e n . 1 9 7 2 erschien die d e m e n t s p r e c h e n d e E K D - S t u d i e Sport, Mensch und Gesellschaft. Auf einem Spitzengespräch zwischen den m a ß g e b l i c h e n Vertretern der E K D , der K K D und des D S B w u r d e 1 9 7 5 die Bildung einer paritätisch besetzten K o n t a k t k o m m i s s i o n von D S B , E K D und K K D beschlossen (vgl. S t r i t t m a t t e r 5 9 f . ) und auf ihrer ersten Sitzung 1976 die Grundlagen der Zusammenarbeit zwischen Kirche und Sport. Erklärung der Partner des gemeinsamen Programmes verabschiedet. E b e n f a l l s wurden die Anregungen aus dem ersten Spitzengespräch in der P r a x i s b r o s c h ü r e Miteinander für alle veröffentlicht. Der DSB betont seine weltanschauliche Toleranz und seinen aktiven Konsensus über die sittlichen und moralischen Werte in der Gesellschaft. Aufgrund der im Sport wie im christlichen Glauben bejahten Leiblichkeit des Menschen sehen sich die Vertreter des Sports und der Kirche vor die gemeinsame Aufgabe gestellt, die einseitige intellektuelle Bildung des Menschen zu überwinden. Betonen die Vertreter des Sports, daß sie für kirchliche Ratschläge offen sind, da sie um die Grenzen, Hindernisse und Vorbehalte des Sports wissen, so erklären sich die Vertreter der Kirche bereit, dem Sport auch kritisch zur Seite zu stehen, indem sie ihn auf einzelne Gefährdungen aufmerksam machen, die ihm von innen (Gruppenegoismus) und außen (kommerzielle und politische Abhängigkeit) erwachsen (vgl. Dokumente zu Sport, Sporterziehung und Sportwissenschaft 14ff.). Von g r o ß e r B e d e u t u n g für die Z u s a m m e n a r b e i t von K i r c h e und S p o r t ist schließlich die 1990 von der D e u t s c h e n B i s c h o f s k o n f e r e n z und v o m R a t der E K D herausgegebene E r k l ä r u n g Sport und christliches Ethos. Gemeinsame Erklärung der Kirchen zum Sport. Die zunehmende Bedeutung des Sports in der heutigen Gesellschaft wird betont, aber auch vor Gefahren des Sports gewarnt (Kommerzialisierung, Leistungsmanipulation, Gewalt, Politisierung, Sport als Ersatzreligion). Aufgabe des kirchlichen Handelns ist es daher, Sorge dafür zu
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tragen, d a ß die personale W ü r d e des M e n s c h e n auch im Sport gewahrt wird. Ein christliches Verständnis v o m M e n s c h e n wird als G a r a n t für eine Verwirklichung von Ethik im Sport angesehen, und es werden Forderungen an einen ethisch verantworteten Sport gestellt (Fairneß, Betonung der Vorbildfunktion von Sportlern, A b e h n u n g von ungezügeltem Hochleistungssport für Kinder und Jugendliche sowie Ablehnung von D o p i n g ) . Schließlich werden auch k o n k r e t e Bereiche namhaft g e m a c h t , in denen der Sport nach ethischen M a ß s t ä b e n gestaltet werden k a n n .
4. Sport als Thema
in Seelsorge,
Religionsunterricht
und
Predigt
Neben den Arbeitskreisen, Akademietagungen und Studienkursen (s.o. 3.) sind die Kirchen auch ander „Basis" in der seelsorgerlichen Betreuung der Athleten in sportlichen Wettkämpfen (wie der Olympiade) und Gottesdiensten bei sportlichen Veranstaltungen aktiv. Zahlreiche kirchlich orientierte Sportverbände sind Mitgliedsorganisationen des DSB, engagierte Christen arbeiten in den Gremien des DSB mit (vgl. Haag 164ff.; Paas/ Weinhold 291 f.). Schließlich hat das Thema Sport auch Eingang in den Religionsunterricht gefunden (vgl. Sternberg 312ff.). Die umfassendste religionspädagogische Bearbeitung des Themas Sport stellt das Heft Menschen im Sport. Menschen vor Gott dar: Ziel der Behandlung der Sportthematik im Religionsunterricht ist es, den Schüler sowohl die leibhafte Dimension seines Personseins begreifen zu lehren als auch ihn zur Selbstannahme zu befähigen. Gerade dadurch soll im Religionsunterricht der Leistungsgedanke im Sport relativiert werden. Dem Schüler soll darüber hinaus gezeigt werden, daß gerade der Sport eine Möglichkeit der Kommunikation eröffnet (vgl. Menschen im Sport. Lehrerheft 7ff.). Sport in Predigten ist ein noch wenig erörtertes, aber wichtiges Thema (Beispiele bei Kunze; Heidland; ZGDP 11/4 [1993] 2 5 - 3 5 ) . 5. Unterwegs
zu einer theologischen
Theorie
des
Sports
Ein angemessenes kirchliches Handeln auf dem Gebiet des Sports verlangt eine die kirchliche Praxis leitende theologische Theorie des Sports. Fehlt es zwar noch an einer umfassenden theologischen Sporttheorie, so finden sich die weitreichendsten Bemühungen in dieser Richtung bei E. Herms, der die Bedeutung des Sports gerade in der leibhaften Dimension des menschlichen Lebens begründet sieht. In Aufnahme der phänomenologischen Anthropologie (Marcel; Merleau-Ponty) intendiert E. Herms, mit dem Begriff „Leib" die existentielle Einheit des körperlichen und geistigen Lebens zu umfassen, so daß der Begriff Leib nicht nur den „Körper" des Menschen meint, sondern zugleich mitbedenkt, daß unser körperliches Verhalten zur Welt umfaßt ist von einem Verhalten zu uns selbst und zum Grunde unseres Lebens (vgl. Herms, Leib). Insofern alle menschliche Kultur ihr Fundament im Leib hat, ist sie „Leibeskultur" (Herms, Sport 495). Das Besondere des Sports liegt darin, daß die Fähigkeiten des Leibes um ihrer selbst willen ausgebildet werden. So ist der Sport geradezu die „Demonstration leibhafter Fähigkeiten, leibhafter Kraft und Geschicklichkeit in ihr selbst, und zwar die öffentliche Demonstration solchen Könnens vor Zuschauern im Wettkampf" (ebd.). Als Leibeskultur besitzt der Sport notwendig eine religiöse Dimension; denn als Demonstration der Leibhaftigkeit des Menschen ist er immer auch Demonstration des Verhaltens des Menschen zum Grund seiner leibhaften Existenz. Besonders im Sport kommt damit die Alternative zum Vorschein, unter der alle Lebensvollzüge stehen: der Anerkennung oder der Verachtung der ursprünglichen Verfassung leibhaften Daseins. Aus der Perspektive des christlichen Daseinsverständnisses ergeben sich nach H e r m s für d a s Verständnis des Sports folgende Aspekte: (1) Sportliche Leistungen entscheiden nicht über den Wert und den Sinn im L e b e n . (2) Abzulehnen ist, d a ß der Sinn des Wettkampfes in sich selbst liegt. (3) Z u fördern ist der S p o r t , wenn in ihm Leib als G a b e des Schöpfers anerkannt und geehrt wird (Herms, Sport).
Die Sportthematik hat für die Theologie eine nicht zu unterschätzende Bedeutung; denn sie nötigt nicht nur dazu, der unveräußerlichen Leiblichkeit menschlichen Lebens
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Rechnung zu tragen, sondern auch die Bedeutung von Spiel und Leistung zu bedenken. Nicht zuletzt aber ist die Theologie durch weitere wesentliche Elemente des Sporttreibens herausgefordert: die Freude und die Geselligkeit. Literatur Arbeitskreis Kirche u. Sport in der EKD (Hg.), Dokumentation Kirche u. Sport (Bücher, Tagungsberichte, Aufs.), Göttingen o.J. - Ders./Arbeitskreis Kirche u. Sport in der Kath. Kirche Deutschlands/Dt. Sportbund (Hg.), Kirche u. Sport. Programm einer Partnerschaft, Frankfurt a.M. 1971. - Hartmut Becker, Für einen humanen Sport. Ges. Beitr. zum Sportethos u. zur Gesch. des Sports, Schondorf 1995. - Christopher Dannenmann, Keiner darf verlorengehen. Das Christi. Jugenddorfwerk Deutschlands, Stuttgart/Bonn 1988. - Martin Brändle, Art. Sport u. Kirche: Ev. Lexikon f. Theol. u. Gemeinde 3 (1994) 1885-1887. - Willi Daume/Kurt Scharf/Julius Kardinal Döpfner, Kirche u. Sport. Ein Briefwechsel des Dt. Sportbundes: Sportbeirat des Dt. Sportbundes (Hg.), Kirche u. 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Sprache/Sprachwissenschaft/Sprachphilosophie I
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Michael Roth
Sprache/Sprachwissenschaft/Sprachphilosophie I. II. III. IV. V. VI. VII.
Sprachphilosophie Religionsgeschichtlich . Altes Testament . . . . Neues Testament . . . Judentum Systematisch-theologisch Praktisch-theologisch
S. 745 S. 748 S. 752 S.760 S. 765 S. 781
I. Sprachphilosophie 1. Sprache als „ V e r m i t t l u n g " 2. Kants transzendentaler A n s a t z und seine P r o b l e m a t i k 3 . Bedeutende Ausprägungen der Sprachphilosophie 4 . Epilog: Z u m Begriff des M e n s c h e n in seiner Sprachlichkeit (Quellen und Literatur S. 7 4 4 )
1. Sprache als
„Vermittlung"
M a n m u ß sich von der Idee l o s m a c h e n , d a ß S p r a c h e „sich so von demjenigen, w a s sie bezeichnet, absondern lasse, wie z. B . der N a m e eines M e n s c h e n von seiner Person, und d a ß sie gleich einer verabredeten Chiffre, ein Erzeugniß der Reflexion und der Übereinkunft oder überhaupt das Werk der M e n s c h e n (wie man den Begriff in der E r f a h r u n g nimmt) oder g a r des Einzelnen [des einzelnen menschlichen Individuums] sei. Als wahres unerklärliches Wunder bricht sie aus dem M u n d e einer N a t i o n , und als ein nicht minder staunenswertes, wenngleich täglich unter uns wiederholtes, und mit Gleichgültigkeit übersehenes, aus dem Lallen jedes Kindes hervor . . . " ( H u m b o l d t , D i e sprachphilosophischen W e r k e 18).
Ganz im Sinne des vorangestellten Mottos unterscheidet sich Sprache als Vermittlung zunächst von allen analytischen Sprachtheorien, die durchgehend dadurch gekennzeichnet sind, daß sie notwendig Sprache von demjenigen, was sie bezeichnet, absondern müssen und in der Weise von Einzelwissenschaft Sprache zum Gegenstand ihrer jeweiligen Untersuchungen ansetzen. Auf diese grundsätzliche Weise unterscheidet sich alle Linguistik und Sprachpsychologie von dem, was im eigentlichen Sinne Sprachphilosophie als Grundlagenforschung im Rahmen philosophischer Systematik zu erfassen sucht. M a n kann in diesem Sinne von einer bekannten Stelle der Phänomenologie des Geistes (III,82ff.) -»Hegels ausgehen. Wenn er an dieser Stelle „sinnliche Gewißheit" und „Sprache" einander gegenüberstellt und die Sprache als das „Wahrhaftere" bezeichnet, dann geht es ihm darum, Sprachphilosophie zunächst im Rahmen ihrer Möglichkeit und ihres Anspruches zu bestimmen. Er führt in diesen Zusammenhängen aus, daß das, was unmittelbar „ b e k a n n t " ist, deshalb noch nicht „ e r k a n n t " ist. Insofern aber geht alles „ A n a l y s i e r e n " immer schon über das unmittelbar Bekannte hinaus: „Das Analysieren einer Vorstellung, wie es sonst getrieben worden, war schon nichts anderes als das Aufheben der Form ihres Bekanntseins [in der Gewißheit unmittelbaren Gegebenseins in unreflektiertem Sprechen und Verlautbaren]" (ebd. 111,35ff-)- Alles unmittelbar Gegebene hat die Vermittlung außer sich und ist insofern nicht erkannt ohne jenes „Subjekt [bei —>Kant primär das „transzendentale I c h " ] , das die Vermittlung nicht außer sich hat, sondern diese selbst i s t " . Hegel kommt auf die vermittelnde Funktion des Erkennens und damit auch der im formulierten Erkennen immer schon vorausgesetzten Sprache an einer anderen aufschlußreichen Stelle seiner Phänomenologie zu sprechen, an der er zeigt, daß alles Er-
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kennen als sprachlich vermittelt nicht als „Werkzeug" gedacht werden kann: Wird nämlich das Erkennen in dieser Weise als Werkzeug verstanden, „so fällt sogleich auf, daß die Anwendung eines Werkzeugs auf eine Sache sie vielmehr nicht läßt, wie sie für sich ist, sondern eine Formierung und Veränderung mit ihr vornimmt" (ebd. 111,68). Er hat damit klar erkannt, daß wir damit, wenn von „Vermittlung" selbst die Rede ist, von einem Mittel Gebrauch machen, „welches unmittelbar das Gegenteil seines Zwecks hervorbringt" (ebd. 111,68f.). Denn es ist für ihn „widersinnig", daß wir in äußerlicher Gegenüberstellung Vermittlung als bloßes „ M i t t e l " betrachten. „Es scheint zwar, daß diesem Übelstande durch Kenntnis der Wirkungsweise des Werkzeugs abzuhelfen steht; denn sie macht es möglich, den Teil, welcher in der Vorstellung, die wir durch das Werkzeug ... erhalten, dem Werkzeuge angehört, im Resultate abzuziehen und so das Wahre rein zu erhalten. Allein diese Verbesserung würde uns in der Tat nur dahin zurückbringen, wo wir vorher waren, ... so ist uns das Ding ... gerade wieder soviel als vor dieser, somit überflüssigen Bemühung" (ebd. 111,69). Sofern nun Sprache mit Vermittlung zu tun hat, sind die sprachphilosophischen Konsequenzen dieser Ausführungen Hegels ohne weiteres ersichtlich. Sie wurden in der einschlägigen Sekundärliteratur auch durchaus berücksichtigt und herausgestellt, so z. B. durch Formulierungen bei T h . Bodammer (20f.). Wenn nämlich bei Hegel Sprache als Vermittlung begriffen ist, dann jedenfalls nicht „in dem Sinn, als seien ,Mensch' und ,Welt' je für sich wesentlich selbständige Größen, zwischen denen dann durch die,Mittel' der Sprache zudem auch noch eine Beziehung hergestellt werden kann. Vielmehr steht das menschliche Bewußtsein in seiner ersten sprachlichen Organisiertheit noch gar nicht der Welt ausdrücklich ... gegenüber', sondern das Bewußtsein gestaltet sich in der Sprache allererst zur Welt. Die Sprache ist primär für Hegel gerade nicht lediglich ein Instrument, das dem Menschen dazu dient, sich mit einer irgendwie bereits vorgegebenen ,stummen' Welt oder Natur theoretisch auseinanderzusetzen. Die namenlosen ,Dinge' der Welt werden mit den Mitteln der Sprache nicht einfach theoretisch ... ,behandelt'; sie sind vielmehr ohne Sprache ebenso wenig überhaupt als ,Dinge' für den Menschen da, wie die Welt als eine ,Welt'. Die Sprache vermittelt', wenn man so sagen will, zunächst nur in dem Sinn zwischen dem Menschen und seiner Welt, daß sie diese seine Welt überhaupt erst als eine solche für ihn erstehen läßt. In diesem Sinne ist die ,Welt' immer schon sprachlich vermittelte Welt. Erst auf einer zweiten Betrachtungsebene läßt sich von der Sprache auch noch behaupten, sie ,vermittle' den Menschen auch in der Weise mit der Welt, daß sie ihm theoretisches Werkzeug in der Auseinandersetzung mit der - allerdings selbst immer schon sprachlich konstituierten - Welt ist" (ebd. 20f.). In den Schlußwendungen der zitierten Stelle kommen sehr schön die verschiedenen Sinnebenen (Sprache als Konstitution von Welt im Gegensatz zur Sprache als Werkzeug in der schon sprachlich konstituierten Welt) zum Ausdruck. Doch führen alle diese Einsichten auf das Problem der Sprache in ihrem Ursprung. Nach der Genesis hat Gott durch das -*Wort die Welt geschaffen: Dieses Wort im „Anfang" ist als der Ursprung alles in R a u m und Zeit Seienden anzusehen. Im Unterschied zu anderen Weltschöpfungsmythen und auch zur griechischen Naturphilosophie hat Gott die Welt aus dem „ N i c h t s " , d.h. aus keinem innerzeitlich vorausgegangenen (vorgegebenen) wie immer gedachten Seinszustand geschaffen. Das schöpferische Wort als solches kann man nicht hinterfragen: „ W i e kann das Wort Gottes geschaffen sein, da ja Gott durch das Wort Alles geschaffen h a t ? " , fragt ->Augustin (BKV V, 16). Unter allem Geschaffenen nimmt der Mensch eine Sonderstellung ein. Das kommt ebenfalls schon in der Genesis zum Ausdruck, nämlich insofern als Gott mit dem Menschen spricht: „ G o t t ... schuf den Menschen, indem er zu ihm sprach ... Er sprach ihn schaffend zu i h m " (Ebner I,96f.). G ä b e es den Menschen nicht, dann müßte Gottes Wort (-*Offenbarung) in der Schöpfung unverstanden verhallen. Der Mensch als Mensch ist immer schon in Sprachlichkeit da und läßt sich in der Besonderheit seiner Geschöpf-
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lichkeit nicht anders denken. Gott kann daher weiterhin den Menschen beauftragen, sich seinerseits alles Seiende sprachlich anzueignen. J.G. von -»Herder sagt in dieser Hinsicht mit Recht: „Schon als Tier hat der Mensch Sprache." Mit diesem Satz eröffnet Herder seine Abhandlung über den Ursprung der Sprache, 1772. Unter allen vorhandenen Relationen in der Welt ist die Sprache von einzigartiger Beschaffenheit: „Zwischen einer Idee unserer Seele und einem Schall, der durch den Mund hervorgebracht wird, ist eben die Entfernung als zwischen Geist und Leib, Himmel und Erde", so meint J.G. -»Hamann (Nadler 437), und W. von -»Humboldt sagt bezüglich dieses Bandes, bezüglich dieser Relation, daß es - mit ihr verglichen - „eigentlich nichts Gleiches im ganzen Gebiete des Denkbaren gibt" (Humboldt, Die sprachphilosophischen Werke 51 f.). Das ungeschaffene göttliche Wort ist LJrschöpfung von Sein und Voraussetzung für das menschliche Wort als Urschöpfung von -*Sinn im Bereich des Geschaffenen. Jedes Gespräch vereinigt die Sprechenden im Sinnapriori verstehender Rede. Alles Bedenken der Sprache ersteht aus dem „Staunen" (—»Plato/Platonismus) der beginnenden Reflexion auf die Unmittelbarkeit der fraglos gesprochenen Sprache (vorrangig der „Muttersprache"; Weisgerber; Gipper), wie es uns sehr schön H. Gomperz an jenem französischen Kind aufzeigt, das bemerkt haben soll: „Wie seltsam ist die deutsche Sprache: im Französischen ist das Brot pain und heißt auch pain: dagegen im Deutschen ist's doch auch pain, heißt aber Brot" (Gomperz 205). In der Unmittelbarkeit unreflektierten Sprachvollzugs leben wir eben tatsächlich (obwohl diese Unmittelbarkeit als artikuliertes Sprechen immer schon Vermittlung ist) in den „Dingen der Welt" und nicht in einem bestimmten sprachlichen „Weltbild", das etwa an „Welt an sich" relativiert und damit als solches gleichzeitig (uno actu) durchschaut, reflektiert und in seiner Eigenart bestimmt werden könnte. Hegel hat schon von den Grundlagen seiner „Logik" her mit einem an Plato erinnernden Pathos ausgeführt, „daß es nichts gibt, nichts im Himmel oder in der Natur oder im Geiste oder wo es sey, was nicht ebenso die Unmittelbarkeit enthält als die Vermittlung, so daß sich diese beyden Bestimmungen als ungetrennt und untrennbar und jener Gegensatz sich als ein nichtiger zeigt" (Hegel V,65f.). Wirklich ist Vermittlung aber nur in der Sprachlichkeit des Menschen als „existierender Begriff", d.h. als jenes schon erwähnte „Subjekt", das die „seiende Unmittelbarkeit aufhebt und dadurch die wahrhafte Substanz [!] ist, das Sein oder die Unmittelbarkeit, welche nicht die Vermittlung außer sich hat, sondern diese selbst ist" (Hegel 111,36). Auch im Wahrheitsproblem gelangen wir von hier aus notwendig zu dem Thema „Sprache": Es gibt keine unmittelbare -»Wahrheit, wie immer sie auch gedacht wird. Zwar kann man z. B. im Räume sinnlicher Realität auf das hinzeigen, worum es geht, doch bleibt dieses „Begaffen" der Realität ohne Sinn, wenn es nicht vermittelt, d.h. in Sätzen artikulierter Sprache angeeignet wird. Das Mißtrauen in die Sprache läßt sich nur in seiner kritischen Tendenz bejahen, ist aber grundsätzlich (in totalitärem Anspruch) überhaupt nicht durchzuhalten. Bei Jonathan Swift ( 1 6 6 7 1745) gelangen wir im dritten Teil der Reisen des Gulliver an die Universität der Insel Laputa, deren „Weise" die Sprache in ihrer stets fraglichen Bedeutung für den Anspruch der „Wahrheit" ablehnen. Sie rücken einander näher mit einem Rucksack voll der Dinge, die sie „erkennen" wollen: sie zeigen einander diese Dinge, ohne etwas zu sagen. Weit werden sie mit diesem Disput nicht gekommen sein. Es ist hier noch anzumerken, daß im Räume der theoretischen Vernunft zuletzt Sprachphilosophie und Sprachkritik zusammenfallen. Es bedarf dabei freilich des richtigen Begriffs von Sprachkritik. Diese ist häufig positionel) begründet und dann überzeugt, daß die Voraussetzungen ihrer Art Wissenschaftlichkeit maßgebend für alle wissenschaftliche Rede sein muß. Eine derartige Haltung leidet daran, daß sie die so getroffene Vorentscheidung als solche nicht kritisch befragt und daher ihre These nur aufzustellen, nicht aber zu fundieren vermag. Diesen Versuchen gegenüber ist es notwendig, Sprachkritik als universales Vorgehen zu verstehen. Diese Auffassung finden wir bei G.Ch. Lichtenberg, der den Satz prägt, daß alle Philosophie überhaupt und uneingeschränkt „Berichtigung des Sprachgebrauchs" ist (Lichtenberg, Vermischte Schriften 1,79). In „universaler Sprachkritik" werden alle Wörter und Sätze artikulierter Rede überhaupt und ausnahmslos im
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Gesamtraum philosophischer Systematik beim Wort genommen, wobei universale Sprachkritik auch vor sich selbst nicht haltmacht. Auf das Problem der „ P r ä d i k a t i o n " (formulierter Aussage) werden wir im folgenden noch öfter stoßen, doch sei schon hier gesagt, daß auch in Sprachbausystemen, die nicht über den „indoeuropäischen Satz" verfügen, diesem Problem der Prädikation äquivalente Möglichkeiten gegeben sein müssen, um Sprache zu artikulieren und im je besonderen Fall auf ihren Wissenschaftsanspruch hin zu beurteilen. Es können daher der Korrespondenz- und der Kohärenzaspekt in der so von der Sprachlichkeit des Menschen her formulierten transzendentalen Frage nach der Wahrheit nicht voneinander getrennt werden, da nur in dieser Ungetrenntheit Wahrheit in ihrem Gegenstandsbezug vermittelt (ausgesagt) zu werden vermag: Es müssen die beiden Aspekte in „ursprünglicher Einheit" immer schon vorausgesetzt sein, da es sonst nicht einzusehen wäre, wie „Denken (Erkennen) und Sein" überhaupt „zusammenkommen" sollten. Diese knappen allgemeinen Hinweise sind notwendig, weil sie den Raum angeben, in dem alle sprachphilosophischen Bemühungen im besonderen sich näher charakterisieren lassen, da es sich hier um den verbindlichen Rahmen alles Sprachdenkens überhaupt (auf allen Vermittlungsebenen zwischen theologischen und bis zu analytischen Ausprägungen hin) handelt. Das gilt sowohl für Positionen, die in Gegnerschaft zu Kant den transzendentalen Ansatz nicht anerkennen oder so modifizieren, daß eine Absetzung von dieser Position nötig wird. Dies gilt auch für alle, die in ihrer Gesamtheit unter dem Namen hermeneutischer (-»Hermeneutik) oder existentieller (->Existenzphilosophie/Existentialismus) Ausprägungen der Sprachphilosophie zusammengefaßt sind. Sprache ist freilich, wie alles, was den Menschen kennzeichnet, ein „zweideutiges" Geschenk. In der Sprache allein gibt es „Wahrheit", aber auch „Irrtum". Noch wesentlicher für unser Dasein ist indessen die Einsicht, daß im Räume der Mitmenschlichkeit über Wahrheit und Irrtum hinaus von „ W a h r h a f t i g k e i t " die Rede ist. Im Gegensatz zu ihr stehen „Lüge", „Betrug" und „Selbstbetrug". Nur in der Sprache ist „Heuchelei" möglich, die um so schrecklicher ist, je höher der Sinnbezug und der aus ihm folgende Motivationshorizont steht: daher ist „Scheinheiligkeit" das Ärgste, was im Raum der Sprache sich ereignen mag. Bevor wir uns jedoch den einzelnen Ausprägungen der Sprachphilosophie zuwenden, muß schon an dieser Stelle noch ein allgemeiner Hinweis auf J . G . Hamann vorweggenommen werden. Dieser betont, daß Gott dem Menschen die Sprache im -»Paradies noch vor seiner Ausweisung aus dem wohlbehüteten Gehege dieses „Gartens" in die Weltoffenheit gegeben habe. Doch hätte Gott um im Geiste Hamanns weiterzusprechen - den Menschen als sein Geschöpf endgültig im Stiche gelassen, wenn er ihn ohne die ursprüngliche Weltförmigkeit der Sprachlichkeit (in —»Mythos und -•Logos) in die Welt entlassen hätte. Für das in diesen Sätzen immer schon miteinbezogene Verhältnis des Menschen zu Gott ist dieses Geschöpf im Ganzen seiner Sprachlichkeit auch in das Heilshandeln Gottes und in die Geschichte des Glaubens gestellt und so befähigt, das Wort zu vernehmen und anzueignen, das ebenso als Ursprung {&PXV-, J ° h 1,1 —4) allen „Seins" wie allen „Sinns" sich geoffenbart hat. Wir haben diese Problemsituation bereits bei Augustin kennengelernt. Auch -»Aristoteles hat sich schon sprachphilosophisch mit dieser Thematik beschäftigt. Er spricht bezüglich der Sprache in ihrem ursprünglichen Sein von dem „Ersten" (npmxov), demgegenüber kein innersprachlicher Gegensatz (evavxiov) bestehen kann (Aristoteles, metaph. 1075, 24). Damit ist der Vorrang der Sprache über alle Prädikation hinaus betont: „Der Ursprung der Sprache ist nicht die Sprache selbst, sondern etwas Größeres, Mächtigeres (Xöyoo 6' dp/ij oö XdyOQ, dXXä n Kpehxov)" (eth. Eudem. 1248a27f.). Im Christentum geht es in dieser Sache um Gottes Wort als Urschöpfung von Sein, und zwar verbunden mit der Einsicht, daß wir - bei stets ausstehendem Eschaton - im irdischen Dasein ebensowenig zur vollkommenen Erkenntnis Gottes wie zur vollkommenen Erkenntnis unserer selbst zu gelangen vermögen (I Kor 13,9.12). Bei der Erörterung des Begriffs des Menschen stellt sich - wie wir eben wiederum gehört haben - mit einer gewissen Notwendigkeit die Frage nach dem Unterschied von Mensch und Tier. Dazu an dieser Stelle nur ein aufschlußreiches, auch sprachphilosophisch bedeutsames Zitat aus der Ästhetik Hegels (XIII,112): „Der Mensch ist Tier, doch selbst in seinen tierischen Funktionen bleibt er nicht in einem Ansich unmittelbar stehen wie das Tier, sondern wird ihrer bewußt, erkennt sie und erhebt sie, wie z. B. den Prozeß der Verdauung, zu selbstbewußter Wissenschaft. Dadurch löst der Mensch die Schranke seiner ansichseienden Unmittelbarkeit auf, sodaß er deshalb gerade, weil er weiß, daß er Tier ist, aufhört Tier zu sein und sich das Wissen seiner als Geist [seiner geistigen Existenz] gibt." Hegels Sätze besagen, daß der Mensch geschöpflich durchaus als Tier zu betrachten ist. Er stellt eine bestimmte Tierart dar, die anderen Tieren näher oder ferner „verwandt" ist. Mit den Primaten und den Allesfressern (z. B. den Schweinen, die nicht zufällig in der Farm der Tiere von George Orwell [ 1 9 0 3 - 1 9 5 0 ] eine so menschlich-allzumenschliche Rolle spielen) hat er in seinen Lebensvollzügen das Verdauungssystem weitgehend gemeinsam. Aber nur der Mensch reflektiert den von Hegel zur Illustration angeführten Prozeß und erhebt ihn zur Wissenschaft.
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An dieser Stelle sei zu dem Problem des Verhältnisses von Sprachlichkeit und TemporalitJt eine Bemerkung gestattet, nämlich im Zusammenhang mit der Zeitlichkeit (—»Zeit) des sterblichen Menschen und der Uneinholbarkeit Gottes im Unterschied des -»Schöpfers zu allem Geschöpflichen. Wir ziehen zur Auflösung dieses Problems die diesbezüglichen Ausführungen des -»Thomas von Aquino heran: „Gewisse Namen [Prädikate], die eine Beziehung zu den Geschöpfen einschließen, gelten von Gott erst [!] in der Zeit ..., insofern die Geschöpfe zu ihm eine Beziehung habeil. So steht also nichts im Wege, daß solche Namen, die eine Beziehung zu den Geschöpfen enthalten, von Gott zeitlich ausgesagt werden, nicht als ob er sich änderte, weil die Geschöpfe [und ihre Motivationshorizonte] sich ändern" (S.th. I 13,7). Doch bleibt bei dieser Lösung der Frage die grundsätzliche Einsicht bestehen, daß Gott und nur Gott selbst die „absolute Differenz" zwischen Schöpfer und allem Geschöpflichen aufhebt, so wenn er über das „Ich bin, der Ich bin" (Ex 3,13-15) hinaus sich in die -»Geschichte und in der Geschichte offenbart. In diesem Zusammenhang ergeben sich auch von der Offenbarung Gottes her Konsequenzen für den Begriff des Menschen, nämlich für ihn als „gottsetzendes Bewußtsein" (Schelling VI,247). Der Mensch erhält von diesen Einsichten her als einziges von Gott angesprochenes Geschöpf in gewissem Sinne insofern eine transzendentale Bedeutung, ohne die das Heilshandeln Gottes nicht als möglich gedacht werden kann. Es geht in allen diesen Bezügen um die „bestimmte Negation" in ihren Erkenntniszusammenhängen, z. B. in der Analogielehre (via negationis et eminentiae-, -•Analogie) oder im Verständnis geschichtlicher Ereignisse auf deren jeweiliges Ziel („Erfüllung") hin (E. Heintel, Transzendenz und Analogie. Ein Beitrag zur Frage der bestimmten Negation bei Thomas von Aquin: ders., Ges. Abh. II,242ff.; ders., Zur Frage der analogen Rede von Gott: ebd. IV,380ff.; Dupre/Dupre [Hg.]). Im Zusammenhang mit den schon behandelten Themen der Sprachlichkeit, der Vernünftigkeit und der Freiheitlichkeit (-»Freiheit) des Menschen (auch als gottsetzendes Bewußtsein) ist an dieser Stelle abschließend ein nicht unbedeutender Hinweis anzubringen. Mit dem in der Sprache begründeten Gegenseitigkeitsverhältnis ist grundsätzlich in Anrede und Antwort eine Verständnisgemeinschaft gegeben, mit der sich auf beiden Seiten die „Anerkennung" des Gesprächspartners als „Persönlichkeit" (d.h. in deren Freiheitlichkeit) in den Möglichkeiten sich eröffnender Zuwendung bzw. verschließender Abwendung verbindet: Nur und allein im Geiste der Sprache kann ein derartiges von ihr her begründetes „geistiges" Verhältnis gedacht werden und wirklich sein - umgekehrt kann Sprachbezug als solcher nur in der Einzigartigkeit eines geistigen Verhältnisses zum Unterschied von allen übrigen Seinsrelationen gedacht werden und wirklich sein. Insofern stehen „Ich" und „ D u " im Gespräch immer schon in einem in Sprachlichkeit, Vernünftigkeit und Freiheitlichkeit begründeten Sinnapriori personaler Begegnung: Das gilt ebenso für alle Mitmenschlichkeit wie auch für das „Zusammenkommen" Gottes mit dem Menschen und des Menschen mit Gott. Von hier aus eröffnet sich für die Frage nach der Möglichkeit von -»Theologie ein nicht unwesentlicher Aspekt. Auch die Einsicht in die Frage nach dem —»Gewissen gehört in diesen Zusammenhang (vgl. E. Heintel, Zum Begriff des Gewissens im Gesamtraum der Humanität mit besonderer Berücksichtigung seiner Ursprünge in der Antike und bei Kant: WJP 27 [1995] 7 - 4 4 ) . Von Sprachlichkeit, Vernünftigkeit und Freiheitlichkeit her begründet sich im Sprechen der Menschen miteinander das schon erwähnte Gegenseitigkeitsverhältnis in Anrede und Antwort, das die Anerkennung des Gesprächspartners als Persönlichkeit (—»Person) voraussetzt. In Anerkennung aus Freiheitlichkeit bestehen für den Menschen dem Mitmenschen gegenüber die Möglichkeiten ebenso sich eröffnender Zuwendung („Achtung", Anerkennung, -»Liebe) wie verschließender Abwendung („Mißachtung", Verachtung, Haß). Allein im Geiste der Sprache können derartige von ihr getragene geistige Verhältnisse gedacht werden und wirklich sein. Insofern stehen „Ich" und „ D u " in Sprachlichkeit, Vernünftigkeit und Freiheitlichkeit immer in dem ebenfalls schon erwähnten Sinnapriori personaler Begegnung. Auch das Zusammenkommen Gottes mit dem Menschen und des Menschen mit Gott ist nur in diesem Sinnapriori (im Hören des „Wortes" Gottes durch den Menschen und in der Rede des Menschen zu Gott und von Gott) als möglich zu denken. Der Mensch ist also bestimmt durch Mitsein (mit allem anderen Seienden in der Welt); durch Mitgeschöpflichkeit (mit allem lebenden, organischen Seienden, mit Pflanze und Tier und speziell mit den ihm nahestehenden „verwandten" Tierarten); durch Mitmenschlichkeit (mit allem Seienden, zu dem er in personaler Begegnung „ D u " sagt); schließlich durch Mitgöttlichkeit (Gottähnlichkeit in „ebenbildlicher" [-»Bild Gottes] Geschaffenheit von Gott, Gottferne in ebenbildlicher Differenz zu Gott). 2. Kants transzendentaler
Ansatz
und seine
Problematik
Zunächst ist hier an die revolutionäre Veränderung in der Auffassung dessen, w a s Wissenschaft heißt, durch Francis Bacon ( 1 5 6 1 - 1 6 2 6 ) und R. —»Descartes zu erinnern.
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Die genannten Denker folgen im Grunde alle insofern dem Programm G. -»Galileis im Bezug auf die Distanzierung der vergangenen europäischen ->Tradition und damit auch des Aristoteles und des Aristotelismus des Mittelalters. Bacon und Descartes versuchen (trotz ihrer unterschiedlichen Ausgangspositionen), einem fundamentalphilosophischen Neuansatz des Denkens den Boden zu bereiten. Für die Sprachphilosophie ist besonders die angelsächsische Entwicklung des -*Empirismus von F. Bacon bis D. -»Hume wichtig (vgl. E. Heintel, Stellung 9ff.). Bezüglich der Religionsphilosophie Bacons sei noch erwähnt, daß er sich mit einer gewissen (ironischen) Konsequenz dem credo quia absurdum annähert: gerade weil der Glaube der Vernunft widerspreche, soll die göttliche Offenbarung geglaubt werden (differenzierte Interpretationen bei Fischer, Kap. 1 2 - 1 4 ; E. Heintel, Art. -»Neuzeit I I . 2 . - 4 . ; ders., Art. Gotteslehre. 3. Philosophisch: EKL 3 2 [1988] 2 9 0 - 2 9 6 ; ders., Art. Philosophie 1 . - 4 . : EKL 3 3 [1991] 1195-1202; ders., Begriff 7 - 3 1 ) . Wie für die Philosophie als solche, besonders auch für die Sprachphilosophie, ist die Diskussion um das „Ich" (nämlich was das Ich sei, wenn es dieses überhaupt gibt) in entscheidender Weise von Einfluß gewesen. Im Sinne des sensualistischen Reduktionismus (-»Sensualismus) seiner Vorgänger möchte D. Hume die „innere" (seelische oder geistige) Substanz wie irgendein anderes gegebenes Ding vorfinden, d.h. aber durch „Impressionen" fundiert sehen. Indem er aber auch das Ich als Impression finden möchte, hebt er den Sinn von Impression auf. Denn mit dem Fallen des Ich sind die Impressionen ohne jede Bezugsmöglichkeit und somit keine „Impressionen" mehr, sondern einfache, letzte (qualitative) Seinselemente, die von selbst alles, was sie nicht unmittelbar sind, durch ,,Zusammensetzung" („Assoziation") aufbauen sollen. Jedenfalls leugnet er von dieser Ausgangsposition das, was er im Leugnen ununterbrochen voraussetzt, nämlich das Ich in der Identität seiner selbst und des ihm Bewußten bei allem Wechsel der Perzeptionen und Aussagen. Bei der daseienden Transzendentalität Mensch geht es aber trotz der Berechtigung der Lehre Kants vom zweifachen Ich immer um den ganzen Menschen als Persönlichkeit. Kant unterscheidet vom „transzendentalen Ich", von dem keine weitere sprachlich formulierte Aussage gemacht werden kann, das „empirische Ich" als Grundlage aller anthropologischen Bestimmungen und gerät auf diese Weise in eine Sackgasse. Denn es ist klar, daß es bezüglich des Gesamtraumes der Humanität immer gilt, den Begriff des Menschen und für uns insbesondere des handelnden Menschen ebenso als daseiende Transzendentalität wie im Rahmen aller seiner jeweils sich ergebenden Differenzierungen dieses Handelns zu berücksichtigen. Aus diesen Voraussetzungen folgt die Forderung nach einer ganzheitlichen Methodenlehre (vgl. Spann), die in ihrem Gesamtbau sich der „Rückverbundenheit" bis zur letzten sinngebenden Instanz bewußt ist und bewußt bleibt. Außerdem ist vorausgesetzt, daß über das transzendentale Ich Kants hinaus die Gesamtheit aller Bezüge der Mitmenschlichkeit und Mitgeschöpflichkeit in ihrer Möglichkeit und Notwendigkeit zu bedenken ist. Besonders deutlich werden die Schwierigkeiten Kants in seiner Religionsphilosophie. Er folgt in ihr weitgehend G.E. ->Lessing, wobei man freilich nicht vergessen darf, daß seine Auffassung als die bedeutendste Ausprägung der -»Aufklärung im Zeichen des „Heraustretens des Menschen aus selbstverschuldeter Unmündigkeit" von größtem geschichtlichem und systematischem Einfluß gewesen ist. Trotz seiner Uberzeugung, daß zum Begriff des Menschen auch sein Gottesverhältnis gehört, erfährt bei Lessing und Kant Religion in ihrer Positivität eine deutliche Ablehnung. Ein Transzendieren über die sinnliche Realität hinaus ist für Kant nur von der ,,—• Autonomie der Moral" (des „Gewissens") her möglich: „Alles Beginnen in Religionssachen, wenn man es nicht blos moralisch nimmt und doch für ein an sich Gott wohlgefällig machendes, mithin durch ihn alle unsere Wünsche befriedigendes Mittel ergreift, ist ein Fetischglaube, welcher eine Überredung ist: daß, was weder nach Natur- noch nach moralischen Vernunftgesetzen irgend etwas wirken kann, doch dadurch allein schon das Gewünschte wirken werde, wenn man nur festiglich glaubt [!], es werde dergleichen wirken, und dann mit diesem Glauben gewisse Förmlichkeiten verbindet. Selbst, wo die Überzeugung, daß alles hier auf das Sittlich-Gute, welches nur aus dem Thun entspringen kann, ankomme, schon durchgedrungen ist, sucht sich der sinnliche Mensch doch noch
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einen Schleichweg [!], jene beschwerliche Bedingung zu umgehen, nämlich daß, wenn er nur die Weise (die Förmlichkeit) begeht, Gott das wohl für die That selbst annehmen würde; welches denn freilich eine überschwengliche Gnade desselben genannt werden müßte, wenn es nicht vielmehr eine im faulen Vertrauen erträumte Gnade, oder wohl gar ein erheucheltes Vertrauen selbst wäre. Und so hat sich der Mensch in allen öffentlichen Glaubensarten gewisse Gebräuche als Gnadenmittel ausgedacht, ob sie gleich sich nicht in allen, so wie in der christlichen auf praktische Vernunftbegriffe und ihnen gemäße Gesinnungen beziehen ..." (Kant, Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft: Kants Werke. Akademie-Textausgabe VI,193,18-36). Es ist hier nicht der Ort, die differenzierte theologische Gesamtposition Kants einer näheren Untersuchung, auch in ihrer Terminologie (Sprachlichkeit), zu unterziehen. Für uns ist wichtig, daß sein zuletzt unhaltbarer Gedanke, alles Transzendieren der sinnlichen Realität geschehe durch den Glauben, nicht bedeuten kann, daß Moralität (sittliche Gesinnung) allein dieses Transzendieren ermöglicht, sondern daß eben Moral und Sittlichkeit eine eigenständige Bedeutung auch unabhängig von Glaube und Religion haben müssen. Man bedenke diese Seite der Sache lediglich in der Richtung, daß moralisches Gewissen sich niemals heteronom verstehen kann, soll es wirklich Gewissen sein. Kant befreit uns damit von einer nur religiösen Interpretation des Gewissensbegriffs in einer Befreiung, die viele Scheinprobleme vermeiden läßt. Daß auch im Bereich des Glaubens und der von ihm gesetzten Autoritäten von Gewissen die Rede sein kann, ist durch Kants Ansatz keineswegs ausgeschlossen, doch wird eben nur durch den Gläubigen der Begriff des Gewissens in moralischer Hinsicht überhöht, dabei aber nicht eliminiert. In diesem Falle könnte Atheisten (-»Atheismus) keine Möglichkeit eines sittlichen Handelns zugeschrieben werden, was im Grunde blanker Unsinn wäre und außerdem - bei umgekehrter Richtungnahme - Christus und den Glauben nur moralisch beurteilen ließe. Das geschieht z. B. in B. -»Russells reichlich primitiver Stellungnahme in seinem Büchlein Warum ich kein Christ bin.
3. Bedeutende
Ausprägungen
der
Sprachphilosophie
Eine mißverständliche und doch sprachphilosophisch bedeutsame Stellungnahme läßt sich z. B. an dem schon erwähnten „Magus in Norden", J.G. Hamann, aufzeigen. Die „reine" Vernunft Kants ist für ihn das Resultat einer Reihenfolge von Purismen, deren letzter und entscheidender der „Purismus der Sprache" ist: „Die erste Reinigung der Philosophie bestand nämlich in dem teils misverstandenen, teils mislungenen Versuch, die Vernunft von aller Überlieferung, Tradition und Glauben daran unabhängig zu machen. Die zweite ist noch transcendenter [!] und läuft auf nichts weniger als eine Unabhängigkeit von der Erfahrung und ihrer alltäglichen Induktion [Einfluß Humes] hinaus ... Der dritte höchste ... Purismus betrifft ... die Sprache, das einzige, erste und letzte Organon und Kriterion der Vernunft, ohne ein ander Creditiv als Überlieferung [!] und Usum [!]" (Hamann, Metakritik über den Purismus der Vernunft: SW 111,284). Doch sei an dieser Stelle gleich noch S. -» Kierkegaard angeführt, der einen systematisch differenzierten radikalen Purismus auf der Grundlage eines biblischen „Creditivs" wie kein anderer entwickelt hat. In seinen kritischen Stellungnahmen wendet er sich gegen Hegel und das Kirchenchristentum seiner Zeit. Er hat in der Entwicklung seiner Position verschiedene Stadien durchlaufen, in denen er schließlich in schwermütigen Betrachtungen darauf ausging, über Verzweiflung und -»Zweifel hinaus die Menschwerdung Gottes (des Wortes Gottes) in Jesus Christus als einzige Grundlage des wahren Glaubens zu erreichen. Er bezeichnet diesen Glauben an die Auferstehung als „Paradoxon". Schon diese Wortwahl ist sprachphilosophisch bedeutsam: Sie führt zu einem christlichen -»Fundamentalismus, der ebenso existentialistisch wie zuletzt auch (trotz der Gegnerschaft zu Hegel) dialektisch (-»Dialektik) interpretiert werden müßte. Kierkegaard ist sich der Sachlage sehr wohl bewußt und bringt diese in seinem Lob der Größe Abrahams (Kierkegaard, Furcht und Zittern, hg. v. Hermann Diem, Frankfurt a.M. 1959, 112-115) ausdrücklich in der Konfrontation von Ethik und Glaube zur Entscheidung. Es kommt dabei zuletzt zur Negation des eigenständigen Sinns des moralischen Gewissens überhaupt. Abrahams Bewährung im Glauben und sein Gehorsam gegen Gott beruhen dann nämlich auf der Überwindung der -»Versuchung durch das Ethische (!) selbst. Denn was ist eine Versuchung? „Was sonst einen Menschen versucht, ist ja das, was ihn abhalten will, seine Pflicht [Kant] zu tun; aber hier ist die Versuchung
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das Ethische selber, das ihn abhalten will, Gottes Willen zu tun. Aber was ist denn die Pflicht? Die Pflicht ist ja gerade der Ausdruck für Gottes Willen" (ebd. 149). Hätte nicht Kant, den Kierkegaard auf seine Art beachtet hat (Hayo Gerdes, Soren Kierkegaards Einübung im Christentum. Einführung und Erläuterung, Darmstadt 1982,44.54), zu diesem Pflichtbegriff (-»Pflicht) einiges Kritische zu bedenken gegeben? Für Kierkegaard aber soll sich aus seinen Argumentationen ergeben, „daß man Abraham zwar verstehen kann, aber nur so verstehen, wie man das Paradoxon versteht" (Kierkegaard, Furcht und Zittern [s.o.] 196). Wir sind wieder am Anfang des zuletzt sprachphilosophischen Problems bei Kierkegaard angelangt. Zum Verhältnis von Kant und Herder gehen wir am besten von Herders Bindung an die Tradition im Sinne seines Begriffs der Humanität aus. Es läßt sich dann bezüglich seiner Sprachphilosophie das anführen, was er von sich selbst sagt: „Kein Mensch hat mehr Anlage zur Philosophie der Sprache als ich" (Heintel: Herder LVII). Auch wenn Herder im Sinne der Tradition zuletzt die Existenz des Menschen in seine göttliche Bestimmung setzt, hat er doch (gewissermaßen in naiver Weise) den Menschen unbedenklich in das Ganze der Welt gestellt. Damit ergeben sich für ihn drei Hauptproblemkreise: (a) Sprache und Philosophie (Logos, Weltschöpfung, Ursprung der Sprache); (b) Sprache und Betrachtung des Menschen in seiner besonderen Geschöpflichkeit (im Unterschied zum Tier); (c) Sprache als Ursprung und „Aktualität aller Kultur". In diesem Zusammenhang sei nur noch erwähnt, daß A. Gehlen Herders Behandlung des Problems von Mensch und Tier in den Zusammenhang diesbezüglicher neuerer Forschungen stellt. Bei alledem ist jedoch nicht zu übersehen, daß Herder auch diese Betrachtungen in das Ganze der Humanität einschließlich ihres Gottesverhältnisses stellt, was A. Gehlen in seiner Bedeutung nicht genügend ernst genommen hat (zu Gehlen vgl. Heintel, Einführung [ 4 1991], 192f.l99ff.; Kainz: ebd. 1 9 4 - 1 9 8 ) . Jedenfalls betrachtet Herder den Menschen als ein „Mängelwesen", das den Tieren in der Intensität und Tüchtigkeit der Sinneswahrnehmung unterlegen ist. Es ist bewundernswert, wie Herder aus der biologischen Hilflosigkeit des Menschen im Unterschied seiner Stellung zur Umwelt der Tiere bezüglich der „Schadloshaltung" des Mängelwesens Mensch zu sprechen kommt und in diesem Zusammenhang die Sprache (Vernunft, Besonnenheit) ableitet als einen aus der „Mitte dieser Mängel" entstehenden Ersatz. Der Unterschied von Mensch und Tier kann nicht in Stufen oder Zugabe von Kräften, sondern nur in einer ganz verschiedenartigen Richtung und Auswickelung aller Kräfte liegen: es ist die ganze Einrichtung aller menschlichen Kräfte; die ganze Haushaltung seiner sinnlichen und erkennenden, seiner erkennenden und wollenden Natur, die bei den Menschen so Vernunft heißt, wie sie bei den Tieren Kunstfähigkeit wird: die bei ihm Freiheit heißt und bei den Tieren Instinkt wird. Die Stellung der Geschöpfe in der Natur besteht also grundsätzlich in der besonderen Weltstellung des Menschen und seiner geistigen Natur (zu alledem Näheres, auch bezüglich der eingearbeiteten Zitate, bei Heintel: Herder X L V I I - L I I ) . W. von Humboldt hat die Sprache als Vermittlung verstanden, und das in einer gewissen Analogie zur Transzendentalphilosophie (vgl. das Motto eingangs zu 1.). In diesem Sinne schreibt er ganz allgemein: „Wie man es immer anfangen möge, so kann das Gebiet der Erscheinungen nur von einem Punkte außer demselben begriffen werden, und das besonnene Heraustreten ist ebenso gefahrlos als der Irrtum gewiss bei blindem Verschliessen in demselben." Denn „was wie ein Wunder [d.h. was weder empirisch genetisch noch in logischer Ableitung „erklärbar"] entsteht, sich wohl mit mechanischen, physiologischen [und überhaupt einzelwissenschaftlich empirischen] Erklärungen begleiten, aber aus keiner solchen wirklich ableiten lässt, das bleibt innerhalb jenes Kreises auch nicht bloss unerklärt, sondern unerkannt" (Humboldt, Über die Aufgabe des Geschichtsschreibers [Berlin 1821]: ders., GS IV,50f.). Von seinem Grundansatz, der Vermittlung, her bestimmt Humboldt Sprache als Vermittlerin zwischen Ich (Geist) und Welt einerseits, Ich und Du andererseits. Sie „ist (wie
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überall dasjenige, bei dem wahre Vermittlung Statt findet) etwas Eignes, Unbegreifliches, aber durch die Idee der Vereinigung des, für uns und unsre Vorstellungsart, durchaus Geschiedenen Gegebenes ... Man muss sich nur durchaus von der Idee losmachen, dass sie ... ein Erzeugniss der Reflexion und der Übereinkunft, oder überhaupt das Werk des Menschen (wie man den Begriff in der Erfahrung nimmt) oder gar des Einzelnen sey. Als ein wahres, unerklärliches Wunder [!] bricht sie aus dem Munde einer Nation, und als ein nicht minder staunenswerthes, wenn gleich täglich wiederholtes, und mit Gleichgültigkeit übersehenes, aus dem Lallen jedes Kindes hervor..." (Humboldt, Ankündigung einer Schrift über die Vaskische Sprache und Nation [Berlin 1812]: ders., GS 111,296f.). Sprache als Vermittlung hat also bei Humboldt sowohl mit der Welt wie auch mit der Sprachgemeinschaft zu tun: In herkömmlicher Terminologie läßt sich sagen, sie ist dabei Vermittlerin zwischen Subjekt und Subjekt (Du) und zwischen Subjekt und Objekt (Gegenstand) in einem, was gar nichts anderes heißt, als daß das spezifische In-der-Welt-Sein des Menschen in Sprachgemeinschaft vermittelte Weltbegegnung ist. Mit alledem zielt Humboldt auf die immer schon vorausgesetzte Aktualität wirklichen Sprechens in seiner Unableitbarkeit. Er hat in vielzitierten Sätzen von der „Sprache als Energeia" gesprochen. Er führt aus, man müsse „die Sprache nicht sowohl wie ein todtes Erzeugtes, sondern weit mehr wie eine Erzeugung ansehen, mehr von demjenigen abstrahieren, was sie als Bezeichnung der Gegenstände und Vermittlung des Verständnisses wirkt, und dagegen sorgfältiger auf ihren mit der innren Geistesthätigkeit eng verwebten Ursprung und ihrem gegenseitigen Einfluß zurückgehen" (Humboldt, Die sprachphilosophischen Werke 260). In diesem Sinne soll Sprache nicht nur als ein „Werk (Ergon)" bzw. eine psychische „Anlage (Dynamis)", sondern als eine „Thätigkeit (Energeia)" begriffen werden (Humboldt, Uber die Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaues [Berlin 1 8 3 0 1835]: ders., GS VII,44.46). Auf der Grundlage dieser Unterscheidungen läßt sich Sprache als Ergon (Sprachwissenschaft), Sprache als Dynamis (Sprachpsychologie) und Sprache als Energeia (Sprachphilosophie im eigentlichen Sinne, als Vermittlung) bestimmen. An dieser Stelle sei darauf hingewiesen, daß wir Werke der Sprachpsychologie besitzen, die für viele der hier anstehenden Fragen interessante Bezüge aufweisen (Bühler; Kainz, Psychologie; ders., Sprache). F. Kainz ergänzt das Organonmodell der Sprache K. Bühlers (als Kundgabe, Appell und Bericht) durch die interrogative Funktion, hat aber gegen das genannte Modell allgemein sprachtheoretische Einwendungen. Er weist darauf hin, daß die Funktionen der Sprache mehrere sind, „ihr Wesen dagegen ist einheitlich: hinter der Mehrheit der Leistungen steht die Identität des Wesens" (Kainz: Heintel, Einführung 98). Bezüglich der Sprache der Tiere kommt er zu dem Resultat, daß alle Befunde dafür sprechen, daß Sprache nur dem Menschen im Vollsinn des Wortes zukommt (Kainz: ebd. 186).
Bei M. -»Heidegger (vgl. Heintel, Einführung, Kap. 2, 23ff.) führt das Bedenken des („metasprachlichen") Redens mit der Sprache über die Sprache zur Aufgabe der Sprachphilosophie als Philosophie im traditionellen Sinn, aber in gewisser Weise auch zur Ablösung von der -»Phänomenologie E. -»Husserls (Apel, Phasen). Heidegger möchte das Denken zu einer „neuen Erfahrung" dessen, was Sprache ist, führen, für die vorausgesetzt wird, daß Sprache in der Ursprünglichkeit ihrer „Sage" nicht selbst ausgesagt werden kann. Daher ist für ihn mit der Sprache eine Erfahrung zu machen „etwas anderes als sich Kenntnisse über die Sprache beschaffen" (Heidegger, Unterwegs 160f.). Solche Kenntnisse werden nach Heidegger nicht nur durch alle Arten von Einzelwissenschaften, die sich mit der Sprache beschäftigen, vermittelt, sondern auch durch die Sprachphilosophie im herkömmlichen Sinn (z.B. bei Humboldt), die Heidegger als „Metalinguistik" in eine Analogie zur -»Metaphysik stellt: „Die Metalinguistik ist die Metaphysik der durchgängigen Technifizierung aller Sprachen zum alleinfunktionierenden interplanetarischen Informationsinstrument. Metasprache und Sputnik, Metalinguistik und Raketentechnik sind das Selbe" (ebd. 160). Wie gut ist es, daß Heidegger nicht die weitere Entwicklung zum „Internet" in der heutigen Mediengesellschaft erlebt hat; im übrigen sind seine Gegenüberstellungen wohl als reichlich pauschal zu betrachten.
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Heidegger spricht von der Sprache als dem „Haus des Seins", und zwar zu einem japanischen Gesprächspartner, der meint, daß diese Wendung „an das Wesen der Sprache rührt, ohne es zu verletzen" (ebd. 112-114). Das ist eine sehr schöne Interpretation, die jedenfalls auch insofern zu Recht besteht, als Heidegger in gleicher Behutsamkeit von der Sprache wie vom Sein redet: „Das Walten des Wortes blitzt auf als die Bedingnis des Dinges zum Ding. Das Wort hebt an zu leuchten als die Versammlung, die Anwesendes erst in sein Anwesen bringt. Das älteste Wort für das so gedachte Walten des Wortes, für das Sagen, heißt AöyoQ: die Sage, die zeigend Seiendes in sein es ist erscheinen läßt. Dasselbe Wort Aöyog ist aber als Wort für das Sagen zugleich das Wort für das Sein, d.h. für das Anwesen des Anwesenden. Sage und Sein, Wort und Ding gehören in einer verhüllten, kaum bedachten und unausdenkbaren Weise zueinander" (ebd. 237). Die Erfahrung mit der Sprache läßt sich daher nicht eigentlich zur Rede bringen, sondern ist am ehesten in einer Weise beredten „Schweigens" zu erreichen. Es gilt, dem „Geheimnis" der Sprache auf diese Weise gerecht zu werden. Dem Japaner gegenüber ergibt sich im Wechselgespräch folgendes Resultat, daß nämlich in einem derartigen Gespräch „mehr geschwiegen als geredet würde ... geschwiegen vor allem über das Schweigen ... weil das Reden und Schweigen über das Schweigen das verderblichste Gerede veranlaßt ... Wer vermöchte es, einfach vom Schweigen zu schweigen? ... Dies müßte das eigentliche Sagen sein ... und das stete Vorspiel zum eigentlichen Gespräch von der Sprache bleiben ... Ob wir so nicht das Unmögliche versuchen?" (ebd. 148.152; vgl. Hornstein; Bock; Apel, Radikalisierung; Anz). Doch ist diese Antwort Heideggers an den Japaner noch näher zu bedenken: Von Schweigen kann ohne Zweifel nur im Rahmen der Sprachlichkeit des Menschen sinnvoll geredet werden. Der Mensch verstummt im Schweigen, das Tier ist stumm. Es muß daher in aller Rede vom Schweigen noch eine „Vermittlung" vorliegen, wenn in ihm überhaupt (also stets in bestimmter Negation) etwas gesagt werden soll. Den späteren Heidegger beschäftigt in diesen Zusammenhängen auch das Verhältnis von Dichtung und Denken. Auf dem Wege der denkenden Erfahrung der Sprache ist stets auch dieses Verhältnis von Dichten und Denken zu berücksichtigen, da das Denken „in der Nachbarschaft zum Dichten seine Wege geht. Darum ist es gut, an den Nachbarn, an den, der in derselben Nähe wohnt, zu denken ... In welcher Gegend die Nachbarschaft selbst ihren Bereich hat, werden Dichten und Denken zwar auf verschiedene Weise, jedoch so bestimmen, daß sie sich im selben Bereich finden. Weil man aber von dem durch Jahrhunderte genährten Vorurteil benommen ist, das Denken sei eine Sache der ratio, d.h. des Rechnens im weitesten Sinne, mißtraut man schon der Rede von einer Nachbarschaft des Denkens zum Dichten" (Heidegger, Unterwegs 173; zum Wesen der Kunst im Sinne der klassischen Tradition ist immer noch aktuell Vischer). Die Nähe zur Dichtung kommt bei Heidegger besonders in Bezugnahmen auf F. -•Hölderlin, aber auch auf Georg Trakl (1887-1914) und Stefan George (1868-1933) zum Ausdruck. Man möge in allen diesen Zusammenhängen auch an Jean Paul denken, der bei dem ungeheuren Reichtum seiner sprachlichen Metaphorik in sprachphilosophischen Bereichen immer zu nennen wäre (hier sei nur verwiesen auf seine Vorschule der Ästhetik). Der Grundposition nach steht K. Jaspers Heidegger recht nahe. Er hat in seinem umfangreichen Buch VOM der Wahrheit ein eigenes Kapitel der Sprache (Jaspers 395ff.) gewidmet, in dem er Sprachwissenschaft und Sprachphilosophie in Beziehung setzt. Es mag genügen, zum Nachweis seiner Position zunächst folgende Absätze aus dem genannten Werk zu zitieren (ebd. 440f.): „Sprache ist in ihrer Objektivität - im faktischen Sprechen, in Texten aus den Jahrtausenden ein Gegenstand, der in der Welt vorkommt. Er hat seine Wirklichkeit in der Mannigfaltigkeit der empirischen Sprachen, hat eine Handgreiflichkeit seines Bestandes, wie alles Empirische. Die Sprachen sind Gegenstand einer Fachwissenschaft, die sich wieder in viele spezielle Fachwissenschaften aufteilt.
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Aber Sprache ist nicht nur Forschungsobjekt, sondern auch Grenze. Wie die Sprache nicht loszulösen ist von unserem Denken, so ist sie auch im Erforschen ihrer selbst als eines Gegenstandes immer schon gebraucht und allgegenwärtig. Sprache ist als Forschungsobjekt nie mehr in ihrem ganzen Wesen da. Denn was Sprache ist, ist mehr als das, als was sie zum Gegenstand wird. Daher geht Sprachphilosophie nicht wie Sprachwissenschaft auf die Sprache als einen besonderen Gegenstand neben anderen, sondern ist gerichtet auf den Grund unseres Seins, wo im Ursprung Sein und Denken und Wahrheit mit der Sprache in Einem gegenwärtig sind. Kurz: Sprachwissenschaft hat zum Objekt einen empirisch zu erforschenden Gegenstand. Sprachphilosophie aber sucht in der Sprache den Grund der Transzendenz" (des „ U m g r e i f e n d e n " nach Jaspers, ebd. 41-44).
Jaspers läßt „unsere geistige Bewußtheit in der Sprache beschlossen" (ebd. 416) sein. Ihre „Grenze" aber wird nicht nur dem „Vorsprachlichen und immer Sprachlosen" (Schweigen als Mangel) gegenüber, sondern auch gegenüber dem „alle Sprache in sich bergenden Übersprachlichen des Seins selbst im erfüllenden Schweigen" (ebd.) betont. Jaspers faßt von dieser seiner Position her die Sprache ebenso auf als das „unerläßliche Medium der Mitteilung" wie als die „Unentrinnbarkeit des Irrens" (ebd. 395). Das Wissen um die Sprache gehört für ihn zu den Grundlagen des philosophischen Bewußtseins. Nur die Philosophie vermag ein adäquates Wissen von der Sprache zu erwerben, denn „so mannigfach das empirische Wissen von Sprachen ist, so endlos ihre besonderen Erscheinungen sind, mit diesem Wissen ist kein Wissen vom Wesen der Sprache gegeben ... Sprache ist nicht nur empirischer Tatbestand, sondern ein Umgreifendes, aus dem wir nicht heraustreten, wenn wir es in seiner. Erscheinung im Besonderen untersuchen (sie ist die Erscheinung des Umgreifenden des Bewußtseins überhaupt, in dem alles andere Umgreifende hell wird). Dieses Umgreifende ist nur zu charakterisieren durch Umschreibungen und durch Betonen der Grundphänomene der Sprache" (ebd. 396; s.a. 340f.). Diese Charakterisierung erfolgt durch den Hinweis, daß Sprache mühelos verbunden ist mit dem „Offenbarwerden des Seins", das „in Bedeutung geschieht ... Bedeutung ist ein Grundbezug, der das Sein in einer Spaltung zeigt. Dieser Grundbezug, ein unzurückführbares Urphänomen, ist nicht eine Beziehung wie die des Verursachtseins im Realen oder des Begründetseins im Denkzusammenhang; er ist nicht Gegensatz und nicht Identität von zweien, sondern dieses durch nichts anderes zu erhellende Ineinandersein zweier im Bedeuten ... Bedeutung verstehen ist der Beginn des Bewußtseins" (ebd. 396). Bedeutung wird bei Jaspers von dem „Ausdruck" als unabsichtlich geschehender (sprachlich unmittelbarer) Bedeutung unterschieden. Im Rahmen absichtlich hervorgebrachter Bedeutung, einem Bereich, der bei Jaspers mit dem Gesamtraum geistiger Hervorbringung zusammenfällt, „steht die Sprache im Mittelpunkt. Sie allein ist universal, sie vermittelt zwischen allen Bedeutungen, bezieht sich auf alle anderen, schließt alle anderen dadurch in sich ein, ist für sie unentbehrlich. Von allen Weisen des Bedeutens sagt man gleichnisweise, daß sie eine Sprache seien" (ebd.). Das Grundphänomen des sprachlichen Bedeutens versteht Jaspers so, „daß ich im Laut auf einen distanzierten Inhalt meinend gerichtet bin ... die Laute sind nicht mehr nur Laute, sondern Lautbilder. Die Gestaltung der Lautbilder ist die Kunst der Sprache, welche in unvordenklichen Zeiten [!] mit dem Werden des Menschen das hervorgebracht hat, von dessen Verwandlung die Sprachen aller historischen Zeiten leben. Sprache ist das im Sprechen erzeugte, in menschlicher Gemeinschaft sich konstituierende Werk von Lautbildern. Sie ist nach Humboldt ,eine Welt, welche der Geist zwischen sich und die Gegenstände durch die innere Arbeit seiner Kraft setzen m u ß ' " (ebd. 397). In ihrem Ursprung ist freilich auch die Sprache eine unabsichtliche Hervorbringung des Menschen: „Während die Sprache unser Bewußtsein hell werden läßt, geschieht sie selber unbewußt [!]. In den Bedeutungen der Lautbilder ergreifen wir die Bedeutungen des Offenbarwerdens des Seins. Aber während wir den Sachen zugewandt sind, wird die Sprache, ohne an sie zu denken, mithervorgebracht. Sie ist da, indem Bedeutungen verstanden werden. Erst spät wird die Aufmerksamkeit auf die Sprache als solche gelenkt und die Sprache planmäßig gestaltet, sie selber bewußt als ein Werk behandelt. Das
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hat entgegengesetzte Folgen. Die Sprache wird gereinigt, ihre Möglichkeiten werden unter Regeln gebracht, das in ihr Verborgene herausgeholt. Z u r ursprünglichen Kunst der Sprache tritt eine sekundäre Sprachkunst; ein Bilden von Worten, Sätzen, Wortstellungen, Sprachgestalten. Aber diese Absichtlichkeit wirkt sogleich störend und fälschend. Die sekundäre Sprachkunst tritt an die Stelle der ursprünglichen Kunst der Sprache. Die Sprache verträgt die Absichtlichkeit fast immer nur zum Schaden des sprechenden M e n s c h e n " (ebd. 3 9 7 f . ) . Jedenfalls kritisiert Jaspers mit der Z u w e n d u n g zur sekundären Sprache auch die analytische Sprachphilosophie, in der „in moderner positivistisch gegründeter Weise die Sprache als solche zum Gegenstand der A n a l y s e " (ebd. 4 4 4 f . ) gew o r d e n ist. Die dann erfolgende Betrachtung der Sprache „unter formallogischen Gesichtspunkten erkennt die Sprache nur als Z e i c h e n s p r a c h e und hat die Tendenz, die Sprache zu reinigen, bis sie - im Verlust ihres Lebens - nur noch Zeichensprache i s t " (ebd. 4 4 7 ) . Z u d e m gilt in derartigen Positionen - wie gesagt - „die Sprache fast als die Sache selbst" (ebd.). Als ein „ e x t r e m e s Beispiel, in dem der Standpunkt bis zur Absurdität getrieben i s t " (ebd.), zitiert Jaspers Rudolf C a r n a p s ( 1 8 9 1 - 1 9 7 0 ) Äußerung, daß eine philosophische, d.h. logische Unterscheidung Analyse der Sprache sei. Es ist bei diesen - in sich oft widersprüchlichen - Äußerungen zur Sprachphilosophie nicht zu übersehen, daß - wie wir schon feststellen mußten - vor allem die Rolle der Tradition von der Antike bis auf die gegenwärtige Diskussion zu vielfältigen Interpretationen geführt hat. Insbesondere ist zu bedenken, daß die großen Werke des Deutschen Idealismus in der kritischen Nachfolge Kants in der Regel keine genaue Berücksichtigung erfahren haben. Von den Ausnahmen in dieser Situation sind jedoch zwei Denker zu nennen, die diese Problematik in vollem Ernst beachtet haben, nämlich Wolfgang Janke und Bruno Liebrucks. W. Janke (geb. 1928) konfrontiert Nietzsche und Kierkegaard und betont, daß für unser positivistisches Zeitalter doch nur existiert, „was unzweifelbar erfahrbar, präzise protokollierbar und intersubjektiv kontrollierbar ist. Wir haben uns die erklärbaren Dinge unter einer regulativen Weltidee nach Maßgabe der Ratio auf das vom Verstände Verstehbare zugeschnitten. Dabei bildet keineswegs etwa die methodische Ausforschung des noetisch Zugänglichen die Gefahr, wohl aber die Verdächtigung des Nicht-Rationalen als des Irrationalen: denn zufolge des Methodenanspruchs auf absolute Gewißheit wird alles, was der Ratio suspekt ist, als unmöglich, fiktiv, imaginär weggestellt. Friedrich Nietzsche hat... mit maßlosen Schmähungen und Verdächtigungen des Religiösen die drei Unwirklichkeiten numinos-christlicher Welt vorgerechnet: lauter imaginäre Ursachen (Gott, Seele, Geist), lauter imaginäre Wirkungen (Sünde, Erlösung, Strafe, Gnade), lauter imaginäre Wesen in imaginärem Verkehr (Gott, Geister, Seelen); nichts davon berühre sich mit irgendeinem Punkte der Wirklichkeit, d.i. dem Willen zur Macht. So wird die dreiheitliche Wurzel der Sprache (Mythos, Epos, Logos) positivistisch-nihilistisch zerschnitten. Andererseits wächst zugleich seit Kierkegaard die Einsicht, daß die einseitige noetisch-wissenschaftliche Erfassung von Welt, Wahrheit und sprachlicher Mitteilung vergessen hat, was es je für uns selbst bedeutet, zwischen Zeit und Ewigkeit, Leib und Geist, Möglichkeit und Notwendigkeit, Verzweiflung und Glaube, Gerede und Schweigen dazusein" (Janke, Praecisio mundi 50f.). W. Janke ist hier vor allem wegen seines Buches von 1970 über J.G. -»Fichte zu erwähnen, weil in ihm der Versuch vorliegt, Fichtes in der Nachfolge Kants vertretenen Transzendentalismus ausführlich und systematisch zu würdigen. Janke hat auch die Eigenart der Sprachphilosophie Fichtes gegenüber Herder und Humboldt sichtbar gemacht (vgl. Janke, Vom Bilde 1 3 7 - 1 8 6 ; ders., Logos). Zentraler sucht sich B. Liebrucks (geb. 1911) in seinem ebenso umfangreichen wie bedeutenden Werk Sprache und Bewußtsein an Hegels Logik zu orientieren und die damit aufgegebenen Probleme in vollem Umfang zu lösen (dazu auch Liebrucks, Philosophie). Für Liebrucks ist die Sprachlichkeit des Menschen das zentrale Thema seiner Weltstellung überhaupt in allen Bereichen seiner Humanität, auch bezüglich der Politik und des heutigen Weltzustands in seiner „Entsprachlichung" mit ihren schwerwiegenden Folgen für unsere Gegenwart. Er verbindet auf diese Weise die Prüfung der ganzen europäischen Tradition, wenn er auch von Kants Kritiken her keine Möglichkeit sieht, ihre ontologischen Züge, insbesondere bezüglich des Aristoteles selbst und des Aristotelismus des Mittelalters, für diese Aufgaben heranzuziehen. Diese Grundeinstellung kommt besonders in Band IV seines Hauptwerks und in Band VI/2, der der Wesenslogik Hegels gewidmet ist, zum Ausdruck. In seiner Gesamtstellungnahme zur Sprachphilosophie betont er die Notwendigkeit der „Dialektik": „Gibt es keine Dialektik, dann bleiben nur noch Wissenschaften, die ,effektiv' sind, während alles übrige am Menschen Scharlatanen und Gesundbetern überlassen wird. Die Folge ist die Schizophrenie, in der wir heute leben" (Liebrucks, Sprache 1,11).
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Doch spielt in seiner Sprachphilosophie neben Hegel auch Hölderlin eine zentrale Rolle. Ihm ist Band VII seines Hauptwerkes gewidmet, der den Titel trägt: ,Vnd'. Die Sprache Hölderlins in der Spannweite von Mythos und Logos, Realität und Wirklichkeit. Der Obertitel Und ist in der Richtung auf einen notwendigen Zusammenhang zur Sprachlichkeit des Menschen überhaupt zu verstehen: „Der Gang vom Mythos zum Logos wird nicht einfach umgekehrt. Er muß im Logos stattfinden. Friedrich Hölderlin hat einen modernen Mythos vorgetragen, der den europäischen Gang vom Mythos zum Logos begreifbar macht, sobald wir die formallogische Folgerichtigkeitsforderung als selbst noch mythisch einzusehen vermögen" (1,2: ebd. VII,12). Zusammenfassend ergibt sich für Liebrucks: „Meine These über Hölderlins Werk lautet, daß in ihm dichterisch ausgesprochen ist, wohin auch die Logik Hegels führt" (Liebrucks, Logos 222). Kehren wir noch einmal zu Heidegger zurück. Man hat ihm und seinen Schülern u.a. den Vorwurf gemacht, daß man sich - vor allem in der Überbewertung der Vorsokratiker - „mythischer Rede" ausliefere. Dazu meint Eugen Fink (1905-1975), es seien „die ältesten Mythen der abendländischen Philosophie, die immer wiederkehren, trotz des unablässigen rationalistischen Verfalls im Geschichtsgang des Denkens. Die Philosophie ist nicht mythisch wie eine Religion oder wie die Dichtung. Was man bei ihr mit dem Verlegenheitswort des Mythischen benennt, ist die Anwesenheit des Unausdenklichen, dessen Nähe allem Denken die letzte und äußerste Schärfe abverlangt ... Nur wo die Philosophie unter die Botmäßigkeit der aus ihr selbst erst hervorgegangenen, aber nunmehr emanzipierten Wissenschaft gerät, ereignet sich ein Vergessen des Ursprungs" (Fink 131). Es kann daher für Fink „keine künstliche Erneuerung des Mythos durch welche Mythologien unserer Zeit auch immer geben" (ebd. 221; vgl. Heintel, Phänomenologie 19ff.).
4. Epilog: Zum Begriff des Menschen
in seiner
Sprachlichkeit
Wir können mit den folgenden Ausführungen an den Abschnitt über die Schwierigkeiten Kants (s.o. 2.) im Zusammenhang mit einem von ihm nicht eigentlich durchschauten „Nominalismus" anknüpfen. Sprachphilosophisch stellt sich damit das Universalienproblem, wie sich noch näher ergeben wird, in dem Sinne nämlich, ob sich die Frage der daseienden Transzendentalität Mensch ohne Berücksichtigung dieser Problemstellung überhaupt fassen lasse. Wir setzen in der ganzen Thematik noch einmal neu an: Gegen die gewissermaßen naive vorsokratische Naturphilosophie begründet Plato in kritischer Reflexion, auf „zweiter Fahrt" (Phd. 9 9 d - 1 0 0 a ) die traditionelle Ontotogie der ,,-*Idee". Nur mit diesem (als immer schon besonders bedachten) Allgemeinen vermag das Denken über die Welt der Natur (als Inbegriff des sinnlich Gegebenen) hinaus zu der Verantwortlichkeit von nach Wahrheit und Irrtum zu beurteilendem Wissen zu gelangen. In der Weiterführung dieses Ansatzes ergibt sich mit Plato und Aristoteles in der ontologischen Tradition der philosophia perennis eine zweifache Fragestellung, was nämlich erstens das eigentliche Seiende in seinem durch die Idee bestimmten „Wesen" sei und zweitens, welche Bedeutung dem so verstandenen Wesensallgemeinen für alle in artikulierter Sprache vermittelte Seinserfassung der Erscheinung als Erscheinung (in der „Rettung der Phänomene") zukomme. Bei Aristoteles ist in diesem Zusammenhang die „unterste Art" (äioßov elSoq als „unteilbares", nicht weiter zu spezifizierendes Allgemeines, im Lateinischen infima species) für die Bestimmung dessen vorausgesetzt, was bei ihm das eigentlich Seiende ausmacht, nämlich das erscheinende Individuelle als „erste Substanz" (ovaia aiadrjxij als npdnrj oöoia). Logisch beurteilt ist das unterste Allgemeine bloß extensional interpretierbar, d.h. daß unter dieses so erreichte jeweils unterste Allgemeine die unter seinen Umfang fallenden und nicht (intensional) weiter bestimmten Gegebenheiten aufgezählt und eingereiht werden. Eigentlich Seiendes als das jeweils seine Art (als ontologisch relevante unterste Art) repräsentierende Individuelle ist in formal-beliebiger Bestimmung über bloß nominalistisch verstandene abstrakte Allgemeinheiten überhaupt nicht ansprechbar und grundsätzlich nicht erreichbar. Man muß dabei freilich auf den Unterschied von Einzelnem und Individuellem achten, was häufig nicht geschieht. Im Zeichen der „Idee" als „wesenserschließendem Anblick" („Sicht", „Schau") vermittelt, erhält einzelnes Daseiendes (als ein Dieses hier und jetzt) nicht nur einen Namen, sondern jene „Bestimmung" als Individuelles, die für alle Prädikation in Sätzen mit der copula „ist" vorausgesetzt wird. Nun kann ich das wesenerschließende unterste Allgemeine selbst und als solches - wie schon Aristoteles festgestellt hat - nicht eigentlich, sondern nur insofern als Prädikat „aussagen", als ich es etwa in Sätzen wie „Dieses hier ist ein Pferd" formuliere: Dieses Pferd wäre dann aber nur in seiner „Pferdheit" geschaut, angesichts derer und als solcher alle weitere Rede aufgegeben werden müßte. Gerade damit aber wäre „Pferdheit" selbst nur als Prädikat, nicht aber als Voraussetzung für die Möglichkeit weiterer prädikativer Bestimmungen über „dieses Pferd" angesetzt. Erst das in seiner Pferdheit weiter bestimmte Pferd (z. B. als Reitpferd) ermöglicht Wissen mit dem Anspruch auf Wahrheit: Die als solche an die Prädikatstelle gerückte Pferdheit in dem Satz „Dies ist ein Pferd" hat deshalb keinen eigentlichen Aussagewert, weil sich dieser Satz entweder nur als die
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Tautologie „Pferd(heit) ist Pferd(heit)" oder als die Tautologie „Dieses hier ist Dieses hier" interpretieren ließe. Erst wenn ich in der Tat die „Idee Pferdheit" voraussetze, kann ich unter dieser Voraussetzung weitere Bestimmungen dessen, was ein Pferd als dieses Pferd ist, der Prädikation in Sätzen artikulierter Sprache mit der copula „ist" zuführen. Der späte -»Leibniz hat sich in seinem Neuen System der Natur der Terminologie des mittelalterlichen Aristotelismus bedient. Trotz seiner Begeisterung für „die schöne [!] Weise, die Natur mechanisch zu erklären", genügt ihm für die „Prinzipien der Mechanik" nicht das „alleinige Inbetrachtziehen einer ausgedehnten Masse" (der res extensa des Descartes), da es „unmöglich ist, die Prinzipien einer wahrhaften Einheit (veritable unité) bloß in der [so verstandenen] Materie ... zu finden, weil hier alles nur eine Ansammlung und Anhäufung von Teilen bis ins Unendliche ist. Die Vielheit kann nämlich ihre Realität nur von wahrhaften Einheiten haben, ... daher war ich, um diese wirklichen Einheiten zu finden, genötigt, auf ein formales Atom [!] zurückzugreifen, da ein materielles Etwas nicht gleichzeitig materiell und völlig unteilbar sein kann bzw. ausgestattet mit einer wahrhaften Einheit. Ich mußte also die substanzialen Formen [!], die heutzutage so verschrien sind, zurückrufen und gleichsam rehabilitieren" (Leibniz, System: ders., Hauptschriften II,259f.; vgl. ders., Theodizee § 87, 151). Diese Rehabilitation ist fundamentalphilosophisch gemeint. Leibniz sagt im gleichen Zusammenhang ausdrücklich, d a ß man „diese Formen nicht zur Lösung der Einzelprobleme der Natur [im Sinne des neuzeitlichen Forschungsprogramms] verwenden dürfe, obwohl sie notwendig sind, um wahre allgemeine Prinzipien festzustellen" (Leibniz, Hauptschriften 11,260). Die formalen Atome nennt Leibniz auch „substanziale Atome". Von diesen Einsichten her läßt sich Leibniz' „ M o n a d e " als individuelle Repräsentation ihrer „Idee" (ihres ontologisch relevanten Allgemeinen) betrachten. In dieser Repräsentation ist die Monade jeweils als „Spiegel" (Mikrokosmos) des Alls (Makrokosmos) auszuweisen und zu bestimmen. Es läßt sich sagen, daß die so verstandene „Repräsentation" der systembildende Grundgedanke Leibniz' gewesen ist. Dem menschlichen Vorstellen kommt in seiner Sprachlichkeit eine andere Stellung im Gesamtbereich der Monaden zu, wobei freilich nicht vergessen werden darf, d a ß auch dieses Geschöpf sterblich ist. Im Tod wird der Mensch trotz seiner Sonderstellung in der Welt von dem Schicksal alles lebendigen Daseins (Pflanze, Tier) gewissermaßen eingeholt, obwohl nur er diesen Tod in seinem lebendigen Dasein vorwegnimmt und dadurch schon in diesem Dasein eine nur ihm zukommende Möglichkeit besitzt. F.W.J. Schelling hat in seiner Spätphilosophie alle diese Fragen in derjenigen nach dem Begriff des Menschen vereinigt. In der Art eines Bekenntnisses über den Gang seiner Studien berichtet er in der ersten Vorlesung seiner Einleitung in die Philosophie der Offenbarung folgendes (Schelling, ErgBd. VI,3ff.): Er geht davon aus, daß „alle Wissenschaften ... auf Voraussetzungen beruhen, die in ihnen selbst nicht gerechtfertigt werden" (ebd. 3). Wir erwarten die Lösung der so formulierten Aufgabe von der Philosophie. Indem er dann alle Bereiche des Wissens durchgeht, gelangt er schließlich zur Frage der Stellung des Menschen und derjenigen nach dem Sinn eines Daseins in geistiger und sich freiheitlich bestimmender Existenz. Gerade der Mensch aber, er selbst ist für Schelling das „Unbegreiflichste ... Gerade Er, der Mensch treibt mich zur letzten verzweiflungsvollen Frage: warum ist überhaupt etwas? warum ist nicht nichts?" (ebd. 7). Nur geistige Existenz, und d.h. der Mensch in seiner Sprachlichkeit, kann derartig fragen und denken. Schelling bezeichnet daher den Menschen als das „herumwandernde Problem der Philosophie" (Schelling 1,704). Nur der in irdischer Existenz den Tod vorwegnehmende Mensch ist vor die Frage von „Sein oder Nichtsein" gestellt und erhebt sich in der Welt über sie hinaus fragend zu einer letzten sinngebenden Instanz, die nicht in die Verfügbarkeit seines Handelns gegeben ist. Ganz anders stellt sich für T h . Adorno (II,180f.) diese Frage. Er weist in seiner Auffassung des Materialismus verschiedentlich darauf hin, daß dieser Materialismus den „Leichnam" bedenkt. Für ihn liegt darin eine Widerlegung des transzendentalen Idealismus, da hier das innerzeitliche Ende, das „Ich" daseiender Transzendentalität, gewissermaßen augenscheinlich „daliegt". Freilich bleibt das „Bedenk e n " des Todes und des Leichnams als eine Sache der Sterblichen „ i n " ihrem Leben deshalb trotzdem als eine Frage bestehen, die nur „daseiende Transzendentalität" sich stellen kann. Nur als solche nehme ich den Tod vorweg, nur „daseiend" kann ich sterben und bin (für andere) gestorben. Daher kann ich auch „ m e i n e n " Leichnam als in der Zeit gegebene Erscheinung nicht mehr bedenken, schon deshalb, weil ich den Satz „ich sterbe" selbst niemals als Vergangenheit („ich bin" gestorben) aussprechen kann, außer wenn man wie bei Johann Nepomuk Nestroy (1801-1862) als Gestorbener wieder auf die Erde zurückkehrt und dann selbst unsichtbar allerhand erlebt, so daß es schließlich bei einer Aufführung des Wiener Burgtheaters zu dem Ausruf kam: „ D a s ist zum Hinwerden, das Gestorbensein!" (J. Nestroy, Müller, Kohlenbrenner und Sesselträger oder Die Träume von Schale und Kern: ders., SW. II. Die Zauberspiele, T. 2, Wien 1924 = New York 1973, 277ff.). Die Prüfung der beiden Haupttraditionen europäischen Denkens hat ergeben, daß auf jeden Fall durchschaubare Scheinprobleme entstehen, wenn wir die Welt der Erscheinung mit dem gleich-
744
Sprache/Sprachwissenschaft/Sprachphilosophie I
setzen, was als sinnliche Realität in Raum und Zeit gegeben ist. Es läßt sich dann nämlich Erscheinung nicht als das denken, was im Grunde schon mit dem bloßen Wort gemeint ist. Es gilt das Wort wörtlich zu nehmen, d.h. aber „Erscheinung als Erscheinung" zu bedenken. In dieser Wendung ist nicht mehr und nicht weniger gesagt, als daß die als Erscheinung begriffene Erscheinung eben vermittelte Erscheinung ist, die - so begriffen - niemals die Vermittlung als ein Jenseits „schlechter Metaphysik" außer sich haben und natürlich auch nicht aus einer diesseitigen und einer jenseitigen Komponente „zusammengesetzt" werden kann. Dieser kritische Begriff der Erscheinung bei Hegel (SW III, 118ff.) entspricht der These -»Goethes, daß „alles Faktische schon Theorie", d.h. sprachlich vermittelt ist.
Nur auf der Basis einer universalen Sprachkritik werden sich in ihrer systematischen Durchführung im Raum der theoretischen Vernunft die unterschiedlichen Bereiche von Einzelwissenschaft, Philosophie und Theologie an ihren richtigen Ort stellen lassen. Auf diese Weise auch wird es allein möglich sein, dem erreichten Bewußtseins- und Motivationshorizont des perennen Denkens unserer Tradition und der Sonderstellung des Menschen in seiner Sprachlichkeit entsprechend die Sinnfrage geistiger Existenz im Gesamtraum der Humanität, einschließlich ihres Gottesverhältnisses, richtig zu stellen und einer Lösung näher zu bringen. Quellen
und
Literatur
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II. Religionsgeschichtlich 1. Sprache als Begleiterscheinung von Religion 2. Sprache als Thema der Religionen 3. Sprachliche Voraussetzungen religionsgeschichtlicher Forschung 4. Analogie von Sprache und Religion 5. Analogie von Sprachwissenschaft und Religionswissenschaft (Literatur S.747) Betrachtet m a n die -»Religionsphilosophie nicht als Teil der -»Religionswissenschaft, sondern der —»-Philosophie (so d a ß sprachphilosophische Probleme hier außer Betracht bleiben können; dazu s.o. I.), dann lassen sich die meisten Beziehungen zwischen Sprache/Sprachwissenschaft und Religionswissenschaft unter fünf Gesichtspunkten zusammenfassen: 1. Sprache als Begleiterscheinung von Religion, 2. Sprache als T h e m a der Religionen, 3. sprachliche Voraussetzungen religionsgeschichtlicher Forschung, 4. Analogie von Sprache und Religion, 5. Analogie von Sprachwissenschaft und Religionswissenschaft. 1. Sprache
als Begleiterscheinung
von
Religion
F ü r den Religionswissenschaftler ist „ S p r a c h e " eine der a m häufigsten zu beobachtenden Begleiterscheinungen von „ R e l i g i o n " . Dies bezeugen die oftmals zentrale Funktion der Sprache für den Kult (vgl. - » G e b e t , -»Gottesdienst), für die M a n t i k (Orakel),
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für mündlich tradierte, identitäts- und gemeinschaftsstiftende religiöse Erzählungen (vgl. -•Mythos/Mythologie), für weite Bereiche des religiösen Rechts (vgl. —»Eid, -»Segen/ Segen und Fluch), für die lehrhafte Ausformulierung von Glaubensvorstellungen zu Zwecken der Abgrenzung von rivalisierenden religiösen Gemeinschaften, der Werbung und Unterweisung (vgl. -»Glaubensbekenntnisse], -»Mission) sowie für die Mitteilung persönlicher religiöser Erfahrungen (vgl. -»Mystik). 2. Sprache
als Thema
der
Religionen
In einem engen Zusammenhang mit solchen mehr impliziten und oft unreflektierten Funktionen der Sprache für „Religion" steht die Thematisierung und Problematisierung des Phänomens „Sprache" im Rahmen der einzelnen religiösen Traditionen. Erwähnt seien hier insbesondere Vorstellungen von der religiösen oder magischen Wirksamkeit des gesprochenen, gesungenen oder niedergeschriebenen Wortes (vgl. französisch charme „Zauber" aus lateinisch Carmen [entstanden aus älterem *can-men zu canere „singen"] oder althochdeutsch galdar „Zauberspruch" zu neuhochdeutsch gellen und Nachtigall), von der Sprache als Medium göttlicher Mitteilungen (vgl. -»Offenbarung), von einer besonderen religiösen Qualität bestimmter Wörter, Formeln und Namen (z. B. des alttestamentlichen J H W H oder der vielen Namen Allahs), von der absoluten Verbindlichkeit und Unveränderlichkeit bestimmter religiöser Texte (etwa des Koran im -»Islam, des -»Veda im -»Hinduismus oder der Gathas des Zarathustra im Zoroastrismus/Parsismus [-»Iranische Religionen]), von der Notwendigkeit des Gebrauchs bestimmter Sakralsprachen (etwa des Sumerischen in der -»Babylonisch-assyrischen Religion), von der schöpferischen Kraft der Sprache (in der biblischen Schöpfungsgeschichte, aber auch im altägyptischen „Denkmal memphitischer Theologie") und von der kultischen und rituellen Bedeutung des Gegensatzes von Sprechen und Schweigen, etwa bei heiligen Handlungen oder in der Askese. Eine wichtige Rolle spielt die „Sprachlosigkeit" oder das „Versagen der Sprache" in den antiken Mysterienkulten (-»Mysterien/Mysterienreligionen) sowie in der Mystik. (Einen Sonderfall stellt in diesem Zusammenhang der kultische, rituelle oder magische Gebrauch der Schrift dar.) 3. Sprachliche
Voraussetzungen
religionsgeschichtlicher
Forschung
Ausschlaggebend für die Abhängigkeit des Religionswissenschaftlers von sprachlichen Voraussetzungen ist der Umstand, daß auch die Ergebnisse seiner eigenen Forschungen in der Regel über das Medium der Sprache vermittelt werden, was eine Reihe bedeutsamer Folgen nach sich zieht. An erster Stelle ist dabei auf das noch immer nicht befriedigend gelöste Problem der Etablierung einer universal anwendbaren religionswissenschaftlichen Metasprache zur Benennung und Klassifizierung religiöser Phänomene hinzuweisen. Beachtung verdient ferner die chronologische und geographische Fixierung des Religionswissenschaftlers auf den von Sprachzeugnissen erhellten Bereich der Religionsgeschichte. Für Zeiträume, aus denen keine sprachlichen Äußerungen vorliegen, d.h. für den gesamten Bereich der vorgeschichtlichen Kulturen und Religionen, läßt das traditionelle begriffliche und methodische Instrumentarium des Religionswissenschaftlers kaum differenzierte Aussagen zu. Ebenso erschließen sich Eigenart, Reichtum und Vielfalt der traditionellen oralen Kulturen Afrikas, Amerikas, Australiens und Asiens erst dem, der über eine profunde Kenntnis der betreffenden Sprachen verfügt (was für den einzelnen Forscher praktisch nur im Hinblick auf einen winzigen Bruchteil der betreffenden Überlieferungen zu bewältigen ist). Darüber hinaus ist innerhalb der Religionsgeschickte eine deutliche Vorrangstellung der sprachlichen Quellen zuungunsten anderer Formen der Uberlieferung zu beobachten. So etwa beruht das herkömmliche Verständnis der altmesopotamischen Religion in sehr viel stärkerem Maße auf den Texten der großen Keilschriftarchive als auf der zwar sehr viel umfangreicheren, dafür aber schwieriger zu deutenden bildlichen Überlieferung. Ebenso fußt das traditionelle Bild etwa des keltischen Pantheons in erster Linie auf vergleichsweise wenigen gallorömischen
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747
Weihinschriften, die weder über die Religion der weniger romanisierten Schichten der gallorömischen Bevölkerung noch über die der vorrömischen Zeit etwas aussagen und überdies nur einen Bruchteil der (zum größeren Teil sprachlich undurchsichtigen) Götternamen enthalten. Zweifellos verstärkt wurde die Tendenz der Religionswissenschaft zur Bevorzugung sprachlicher Zeugnisse durch die zentrale Rolle der spekulativen Theologie in der abendländisch-christlichen Kultur. Daraus resultierende Einseitigkeiten der religionswissenschaftlichen Interpretation können zwar reflektiert, jedoch aufgrund der Abhängigkeit des Religionswissenschaftlers von seinen Quellen nicht völlig eliminiert werden. Hinzuweisen ist im H i n b l i c k auf die sprachlichen Voraussetzungen religionswissenschaftlicher Forschung aber auch auf die N o t w e n d i g k e i t , den Forschungsstand b e n a c h b a r t e r Disziplinen, d.h. in erster Linie der Allgemeinen und Vergleichenden Sprachwissenschaft und der zahlreichen Einzelphilologien, in vollem U m f a n g in die religionswissenschaftliche Deutung einzubeziehen. Die Einsicht, daß der einzelne F o r s c h e r auch hier sehr schnell an die Grenzen seiner M ö g l i c h k e i t e n stößt, gilt es, gerade im H i n b l i c k auf die Tragfähigkeit interkultureller Vergleiche und weitreichender Generalisierungen in R e c h n u n g zu stellen.
4. Analogie
von Sprache
und
Religion
Von zentraler Bedeutung für den religionswissenschaftlichen Umgang mit Religion ist die Möglichkeit, Religionen ebenso wie Sprachen als Zeichensysteme aufzufassen und zu erforschen. „Zeichen in diesem Sinne sind nicht nur oder vorrangig Wörter und Sätze, sondern natürlich auch optische Zeichen, Ornamente etwa und ,Bilder', nicht zuletzt aber auch konventionalisierte Bewegungsabläufe (Gesten, ritualisierte' Bewegungen, Tänze). Von Bedeutung ist, daß diese Zeichen kognitive, emotionale, normative, soziale und kulturelle Prozesse auslösen, steuern und in Relationen zueinander setzen können. ... Von anderen Deutungssystemen lassen sich religiöse Deutungssysteme vor allem dadurch unterscheiden, daß ihr Geltungsgrund von den ,Benutzern' auf unbezweifelbare, kollektiv verbindliche und autoritativ vorgegebene Prinzipien zurückgeführt wird" (Gladigow 16f.). 5. Analogie
von Sprachwissenschaft
und
Religionswissenschaft
Im Hinblick auf diese Analogie von Sprache und Religion kann man dementsprechend auch das Vorgehen des Religionswissenschaftlers anolog zu dem des Sprachwissenschaftlers sehen (vgl. Waardenburg, Religionen 114): Am Anfang steht die Erforschung der Tatsachen einer einzelnen religiösen Tradition, gefolgt von Untersuchungen verwandtschaftlicher Beziehungen und typologischer Ubereinstimmungen sowie der Aufstellung allgemeiner Regeln (Universalien). Dabei entspricht der Semantik (Bedeutungslehre) als sprachwissenschaftlicher Teildisziplin auf religionswissenschaftlichem Gebiet die -»Hermeneutik, welche die einzelnen Religionen als religiös gedeutete Zeichensysteme mit dem Anspruch einer Gesamtdeutung der Wirklichkeit auffaßt: „Der Begriff der Religion als eines religiös gedeuteten Zeichensystems unterscheidet sich von den herkömmlichen Religionsbegriffen vor allem dadurch, daß hier nicht die Faktizität, sondern der Sinnund Bedeutungsaspekt der Religionen als entscheidend hervorgehoben wird. ... Damit wird nicht negiert, daß Religionen geschichtliche Größen sind und daß sie institutionalisierte Sozialgebilde darstellen. Das für den hermeneutischen Ansatz Entscheidende ist jedoch die Tatsache, daß Religionen für bestimmte Gruppen sinnvermittelnd wirken und sich auf ihr Denken, Fühlen und Handeln auswirken" (Waardenburg, Religionen 240). Literatur Burkhard G l a d i g o w , Religionsgesch. des Gegenstandes - Gegenstände der Religionsgesch.: H a r t m u t Zinser (Hg.), Religionswiss. Eine E i n f . , Berlin 1988, 6 - 3 7 . - H R W G . - H u b e r t Seiwert, , R e l . Bedeutung' als wiss. Kategorie: A R S S R 5 (1981) 5 7 - 9 9 . - Fritz Stolz, Grundzüge der Religionswiss., 1988 ( K V R 1527). - J a c q u e s Waardenburg, T h e L a n g u a g e o f Religion and the Study
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Bernhard Maier III. Altes Testament 1. Forschungsgegenstand S. 750)
1.
2. Bezeichnungen
3. Ursprache
4. Gottes Reden
(Literatur
Forschungsgegenstand
„Die Gesamtheit der Sätze ist die Sprache" (Wittgenstein, Tractatus 4.001) gilt natürlich auch für die drei Teile der Sammlung des ->Tanach (der „Hebräischen Bibel") mit seinen ca. 306.000 graphischen Worteinheiten („Signifikanten" - mit präfigierten Partikeln ca. 421.000, H . T h . Willers: T H A T II, S. 539f.), die sich auf Tora/Chumasch 26%, Nebiim 48% und Ketubim 26% verteilen. Obwohl das Wort „Sprache" als ein wissenschaftlicher und philosophischer Terminus keine so lange Geschichte hat, ist die Sprache als Problem, das Nachdenken und Sprechen über Sprache (Metasprache), so alt wie menschliche Sprache überhaupt. Die Sprachwissenschaft als empirische Wissenschaft befaßt sich mit der Sprache als Gegenstand (Lexika: Bußmann; Lewandowski; Ducrot/Todorov; vgl. Crystal); die Sprache als reflektierter Begriff ist die Domäne der Sprachphilosophie (s.o. I.). Die „linguistische Wende" von der „Philologie" des 19. zur „Linguistik" des 20. Jh. (Ch.S. —»Peirce; L. -»Wittgenstein; Martinet; von Kutschera; Lyons) hat endgültig das Paradigma des reinen Ich verabschiedet, indem sie die Unmöglichkeit einer Privatsprache betonte (Wittgenstein, Untersuchungen §§ 248.265-272). „Der Jurist G. Vico (1668-1744) dürfte der erste gewesen sein, der das Denken von der gemeinschaftsbildenden Funktion der Sprache her zu deuten versuchte. Nach ihm ist es der Theologe Herder (1744-1803), der bis an die Schwelle einer sprachphilosophischen Erneuerung der Ersten Philosophie gelangt. Dem Erkenntnisoptimismus einer mathematischen Weltweisheit hält er entgegen: ,eine reine Vernunft ohne Sprache ist auf Erden ein utopisches Land', denn ,Sprache ist der Charakter unserer Vernunft, durch welchen sie allein Gestalt gewinnt und sich fortpflanzet'. Doch auf der Schwelle zur sprachlich verfaßten Wirklichkeit der Welt macht er kehrt und schaut voll Trauer zurück in das Traumland einer paradiesischen, d.h. sprachfreien Vernunft. Der Sache nach fügt der Sprachdenker Humboldt (1767-1835) jenem Gedanken nichts Neues hinzu, aber er wertet ihn um, und darin liegt das Neue: Worte allein erschließen uns das Denken und die Dinge ... ,Die Sprache', so schreibt Humboldt in einem berühmten Brief an Schiller vom September 1800, ist ,das Mittel, durch welches der Mensch zugleich sich selbst und die Welt bildet oder vielmehr seiner dadurch bewußt wird, dass er eine Welt von sich abscheidet'. Man kann diese Worte als die Geburtsurkunde der Humboldtschen und als programmatische Grundthese einer neuen Traditionslinie der Sprachphilosophie ansehen" (Borsche 11).
Während das philologisch für die hebräische Sprache seit W. -»Gesenius zum Tragen kam, ist die neue „linguistische Wende" seit J. Barr und W. Richter bestimmend geworden und hat ihre Früchte ansatzweise nicht zuletzt in den beiden Wörterbüchern T H A T und T h W A T (jetzt auch The Dictionary of Classical Hebrew) getragen. Die semantische Wichtigkeit der makrotextuellen Bezüge ist angesichts des begrenzten Volumens hebräischer Wortstämme immer deutlicher geworden (vgl. Biblical Hebrew and Discourse Linguistics). So ist es jetzt auf der Basis einer sprachwissenschaftlich begründeten Methodik möglich und rechnergestützt in Angriff genommen, Text und Sprache des Tanach grammatisch und lexikalisch vollständig zu erschließen. Das Projektprogramm ist übertragbar und hat so Modellcharakter für andere Sprachen und Textcorpora (Riepl). Textlinguistische Ansätze (vgl. Discourse Analysis of Biblical Literature-, Studies in Ancient Hebrew Semantics) einer funktionalen Grammatik (Buth) wie einer Diskursgrammatik (Lowery) harren der Entfaltung.
2.
Bezeichnungen
Für keine menschliche Tätigkeit gibt es so viele metonymische Organbezeichnungen wie für die kommunikative Kundgabe eines Senders sprachlicher Signale (vgl. Wolff;
Sprache/Sprachwissenschaft/Sprachphilosophie III
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Weinberg): „Mund" (als ganzer: vgl. Labuschagne, Art. pxh; Garcia Lopez, Art. pxh) wie die Teile „Mundhöhle/Gaumen", „Zähne" (vgl. Kapelrud), wobei „Lippen" (Dual) und „Zunge" (vgl. Kedar-Kopfstein, Art. läsött) nicht nur die konkrete Redeperformanz (parole) oder universale Sprachfähigkeit (faculté de langage), sondern auch das Sprachsystem (langue) als spezifisches Symbolsystem einer Sprachgemeinschaft bezeichnen können. Mit dem häufigsten (ca. 5300mal) Redeverb ' ä m a r „sagen" (nie bei „Mund") ist „immer der Vorgang der vernünftigen, von einem Gegenüber wahrzunehmenden und verstehenden Äußerung eines Subjekts gemeint, wobei niemals die Technik des Sprechens umschrieben sein will, sondern ein Inhalt zur Aussprache kommen soll. ' ä m a r steht darum immer in einer Subjekt-Objekt-Beziehung" (Wagner, Art. 'ämar 354; Schmid). Dagegen wird mit dbr pi. (1084mal) „zunächst die Tätigkeit des Sprechens, das Hervorbringen von Worten und Sätzen bezeichnet" (Gerleman, Art. däbär 435; vgl. Schmidt, Art. däbär; Substantiv „Äußerung", 1440mal). Das akustische Medium wird durch qôl, „der Laut", „die Stimme", ausgedrückt (vgl. Labuschagne, Art. qôl; Kedar-Kopfstein, Art. qôl), was metonymisch auch von der Lautgestalt auf den Aussageinhalt übertragen wurde. Da alle Texte die westsemitische Erfindung der Alphabetschrift voraussetzen (vgl. Bemal; Driver; Naveh; Puech; Warner; Yeivin; gegen die Spätdatierung bei Lemaire), die uns überhaupt erst ermöglicht, die konkrete Gestalt einer mündlichen Sprache zu erfassen (vgl. Assmann/Assmann; Ehrlich; Holenstein), so ist es (bei den als Wiedergebrauchsreden zum mündlichen Vortrag verschriftlichten Texten) nicht verwunderlich, daß man in der schriftgestützten Kommunikation auch auf das Geschriebene „hört" (1159mal; vgl. Rüterswörden, Art. säma' 272f.; Schult). Für das Organ der akustischen Perzeption, das Ohr, gibt es nur eine Bezeichnung (vgl. Liedke). Das Schreiben der Konsonantenschrift heißt im ganzen westsemitischen Bereich kätab „einritzen", was im Bereich der Keilschriftsprachen noch völlig fehlt und sich auch vom ägyptischen „malen", „Linien ziehen" {resultandum-, „Schrift, Zeichnung") grundlegend unterscheidet (vgl. Haag). Auch das Unterrichten und Erlernen betont dieses Spezifikum: Während pädagogisch-didaktisches lämad „gewöhnen" auch das Abrichten von Haustieren, das Training der Krieger oder das Einüben von Liedern bezeichnet (vgl. Jenni), ist bei yäräh (dazu Liedke/Petersen; Wagner, Art. järäh) faktiv und kausativ immer die sprachliche Kommunikation durch Zeichen vorausgesetzt. So wird auf allen Ebenen eine semiotische Sensibilität deutlich: „Die verbale Kommunikation bezweckt die Mitteilung einer Botschaft. Diese Operation impliziert einen Referenzbezug, einen Verbindungskanal und natürlich einen Sender und Empfänger" (Garcia Lopez, Art. ngd 189; vgl. Schenk, Sprache 3 - 6 ; Webber). Poetisch hochgestimmt wird das ganze All semiotisch strukturiert gesehen und verbale mit nicht-verbaler Kommunikation verschränkt: „ D i e H i m m e l s r ä u m e listen die Gewichtigkeit G o t t e s auf, und die Himmelskuppel informiert über das Werk seiner H ä n d e . Ein T a g sprudelt dem nächsten Worte zu, und eine N a c h t tut der nächsten Wissen kund - o h n e Wort und ohne R e d e mit nicht h ö r b a r e m L a u t . In alle Länder geht ihr Schall aus und ihre S p r a c h e an das E n d e der W e l t " (Ps 1 9 , 2 - 5 ) .
Räumliche wie zeitliche Größen erscheinen als universale Wissensvermittler; Tage und Nächte agieren wie Generationen im Lehrer/Schüler-Verhältnis. 3.
Ursprache
Die wirkungsstärkste Erzählung für das Nachdenken über Sprache ist zweifellos die ätiologische Legende vom Turmbau zu Babel (Gen 1 1 , 1 - 9 J; dazu Uehlinger) und von der Zerstreuung der Völker in die Vielsprachigkeit gewesen. Das Postulat einer hebräischen Ursprache, das von hier aus dominierend war (Sib 111,97-109; Philo, Conf; Josephus, Ant 1,118; LibAnt 7), wurde erst von —»Leibniz überwunden (vgl. Borst; Gessinger/von Rahden I, 2 0 4 - 2 4 0 ) . Historisch war Mesopotamien ohnehin nicht der Ort der Sprachverwirrung, als der er Gen 11 erscheint, sondern der Ort der Zweisprachigkeit,
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der Übersetzung und damit des Anfangs sprachwissenschaftlicher Arbeit (vgl. Kulturgeschichte des Alten Orient 1 7 7 - 1 8 0 ; Hallo). Beachtenswert ist auch, daß schon die Rezeption in der einzigartig hebräischsprachigen Apokalypse J u b 10 die Prämisse der Einsprachigkeit wegließ, da Hebräisch als die Sprache der Engel schon beim Fall Adams „ v e r s t u m m t " (Jub 3 , 2 8 ) und erst A b r a h a m wieder gelehrt wurde (Jub 12,25 - 2 7 ) . W ä h rend noch Philo ( C o n f 9) deutlich die planifikatorische Funktion der Sprachverwirrung betont (vgl. O t t e ; Schenk, Bibel 9), engt LibAnt 7 , 5 den Akzent auf die Bezeichnungsfunktion der N o m i n a ein („wenn die Bauleute ihren Gehilfen befahlen, Steine herzubringen, jene Wasser brachten, und wenn sie Wasser anforderten, jene Stroh b r a c h t e n " ) . Ein Dank-Bekenntnis für die G a b e der (hebräischen) Sprache als Erkenntnisgrund enthält 1 Q H 9 ( 1 * ) , 2 1 - 3 1 (Bergmeier/Papst). 4. Gottes
Reden
Der T a n a c h beginnt p r o g r a m m a t i s c h mit der Urgeschichte (Gen 1 , 1 - 2 , 4 a P), in der nicht nur das für Gottes analogieloses Schaffen als Entstehenlassen von N e u e m verwendete, genuin hebräische Verb bärä' (vgl. Schmidt, Art. br'; Bernhardt/Botterweck) dominiert, sondern dazu auch die zehnmalige Redeankündigung „und G o t t s a g t e " ohne einen Adressaten und ohne daß ein Imperativ folgt, wobei ein solcher ja hebräisch sogar in der unpersönlichen F o r m (Faur) g r a m m a t i s c h möglich gewesen w ä r e . Vielmehr haben die so eingeleiteten Sätze die Jussiv-Form, die in Aufforderungssätzen den Wunsch und die Absicht beschreibt. Leitend ist also hier nicht die kognitive Funktion der Sprachzeichen, sondern deren planifikatorische Funktion der Planung und Steuerung von H a n d lungen (Schenk, Bibel 1 0 - 1 2 ) . „ L a n g u a g e in the first biblical creation a c c o u n t represents a kind of logocentric ideal: it is the stuff ... of supreme plentitude and self identity, undistortedly denoting reality to the extent that each signifier is a signified" (Rutledge 2 7 8 ; gegen J . H o c h e r m a n n ist Ps 8,3 k a u m zur Grundlage einer „biblischen Philosophie der S p r a c h e " zu machen). Literatur Aleida u. Jan Assmann, Sehr. - Kognition - Evolution: Eric A. Havelock, Schriftlichkeit, Weinheim 1 9 9 0 , 1 - 3 5 . - J a m e s Barr, The Semantics of Biblical Language, Oxford 1961; dt.: Bibelexegese u. moderne Semantik, München 1965. - Walter Benjamin, Über die Sprache überhaupt u. über die Sprache des Menschen: ders., Ausgew. Sehr., Frankfurt a.M., II 1 9 6 6 , 9 - 2 2 . - Roland Bergmeier/ Hartmut Papst, Ein Lied v. der Erschaffung der Sprache: RdQ 5 (1966) 4 3 5 - 4 3 9 . - Martin Bernal, On the Transmission of the Alphabet to the Aegean Before 1400 BC: BASOR 267 (1987) 1 - 1 9 . - Karl-Heinz Bernhardt/G. Johannes Botterweck, Art. bara' IL: T h W A T 1 (1973) Ili-111. Biblical Hebrew and Discourse Linguistics, hg. v. Robert D. Bergen, Winona Lake, Ind. 1994. Tilman Borsche, Sprachphil. Überlegungen zu einer Gesch. der Sprachphil.: ders. (Hg.), Klassiker der Sprachphil. Von Plato bis Noam Chomsky, München 1996, 7 - 1 3 . - Arno Borst, Der Turmbau v. Babel. Gesch. der Meinungen über Ursprung u. Vielfalt der Sprachen u. Völker, 4 Bde., Stuttgart 1 9 5 7 - 1 9 6 3 . - Martin Buber/Franz Rosenzweig, Die Sehr. u. ihre Verdeutschung, Berlin 1936. Hadumod Bußmann, Lexikon der Sprachwiss., Stuttgart 2 1990. - Randall Buth, Functional Grammar, Hebrew and Aramaic. An Integrated Textlinguistic Approach: Discourse Analysis (s.u.) 7 7 102. - George B. Caird, The Language and Imagery of the Bible, London 1980 (Rez. Maurice Wiles: J T h S NS 33 [1982] 1 9 7 - 1 9 9 ; D.R. de Lacey: J S N T 17 [1983] 1 1 0 - 1 1 3 ) . - David Crystal, The Cambridge Encyclopedia of Language, Cambridge 1987; dt.: Die Cambridge-Enzyklopädie der Sprache, Darmstadt 1995. - The Dictionary of Classical Hebrew, hg. v. David J.A. Clines, Sheffield, I (1993) ff. (Rez. William Horbury: Biblical Interpretation 5 [1997] llOf.; Johann Maier: BZ NF 41 [1997] 1 1 0 - 1 1 2 ) . - Discourse Analysis of Biblical Literature, hg. v. Walter R. Bodine, 1995 (SBL Semeia Studies). - George R. Driver, Semitic Writing. From Pictograph to Alphabet, London 3 1976. - Oswald Ducrot/Tzvan Todorov, Dictionnaire encyclopédique des sciences du langage, Paris 1972; dt.: Enzyklopädisches Wb. der Sprachwiss., Frankfurt a.M. 1975. - Konrad Ehrlich, Schriftentwicklung als gesellschaftliches Problem: Zs. f. Soziologie 2 (1980) 3 3 5 - 3 5 9 . Gillian R. Evans, The Language and Logic of the Bible, Cambridge 1985 (Rez. Desmond P. Henry: J T h S NS 38 [1987] 237f.). - José Faur, The Hebrew Personal Pronoun. Perspectives on Jews and Judaism, New York 1978, 5 2 - 5 8 . - Ders., The Third Person in Semitic Grammatical Theory and General Linguistics: LingBibl 46 (1979) 1 0 6 - 1 1 3 . - Fiorentino Garcia Lopez, Art. ngd: T h W A T
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Sprache/Sprachwissenschaft/Sprachphilosophie IV
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IV. Neues T e s t a m e n t 1. „Faculté de langage": Die universale Sprachfähigkeit 2. „Langue": Das konkrete Sprach(Literatur S. 756) system 3. „Parole": Die realisierten Texte 1. „Faculté
de langage":
Die universale
Sprachfähigkeit
1.1. „ D e r Strukturalismus schuf erstmals seit den Programmschriften der Philologien im 19. Jh. (Stierle) wieder einen alle Geistes- und Sozialwissenschaften verbindenden Forschungshorizont (Frühwald) ... E r kulminierte in der These, daß alle diese Wissenschaften Teildisziplinen einer umfassenden zeichenbezogenen Kulturwissenschaft seien, der Semiotik" (Posner 2 1 4 ; - » S e m i o t i k ; -»Strukturalismus). Grundlegend sind die vier empirischen Axiompaare (Schenk, Saussure): (a) Signifikant (Ausdrucksform) versus Signifikat (Inhaltsform) gegen das materialistische Modell; (b) Syntagma (Textkonfiguration als Achse der Kombination) versus Paradigma (Achse der Selektion als Konfigurationsbedingungen, -register, Grammatiken, Codes) gegen den Atomismus; (c) Synchronie versus Diachronie gegen Historismus wie Achronie; (d) langue (Zeichensystem) versus parole (Text, Diskurs) gegen den Naturalismus. Die von der universalen „faculté de l a n g a g e " bestimmte Sprachwissenschaft heißt „Allgemeine Linguistik" ( B u ß m a n n ; Coseriu; Holenstein, Hintergehbarkeit; Black; Güttgemanns; Silva, G o d ) . Sie schärfte den Blick für die Priorität von nichtprädikativen sprachlichen Äußerungen (Vokativ, Imperativ, Modifikation) gegenüber eigentlich p r ä dikativen Äußerungen (Holenstein, Hintergehbarkeit 2 6 - 3 5 ) : Sprachzeichen fungieren im Verkehr von Menschen als Steuerungsmittel menschlichen Verhaltens, so daß der Ursprung der Sprache nicht beim Individuum, sondern bei der Sprachgemeinschaft liegt (Bühler; E c o ; M o r r i s ) . Dieser k o m m u n i k a t i v e Aspekt, die „ P r a g m a t i k " (Relation: Z e i chen/Benutzer), analysiert die Beeinflussungsabsicht des Senders und die Rezeption eines Empfängers (Cotterell/Turner). In k o m p l e x e n Sprachzeichen (Texten) der intentional kommunikativen Prozesse treten dabei drei Grundfunktionen in wechselnden D o m i nanzverhältnissen z u s a m m e n (Bühler wie schon Aristoteles, rhet. 11,3,1): Die Ausdrucksfunktion (Symptom, Anzeichen, Indiz) lenkt die Aufmerksamkeit auf den Autor (Schenk, Verwünschung), die Appellfunktion (Signal) auf den E m p f ä n g e r (Schenk, Präsens hi-
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storicum; ders., Signalfunktion), die Darstellungsfunktion (-»Symbol) auf Sachverhalte/ Gegenstände. Die Intersubjektivität der Geltung (Code-Konventionen) gilt nicht nur für die letztere, sondern für alle Funktionen. Da die Subjekte der Semiose (Sender/Empfänger) nicht zu bloßen Schnittpunkten von Codes reduziert werden dürfen, sondern auch kreativ agieren, sind Texte nie nur bloße Zeichenkomplexe, sondern kommunikative Handlungen. Darum muß der Gefahr widerstanden werden, durch Vermischung der Ebenen pragmatische gegen semantische Kategorien auszuspielen und diese damit zu relativieren (Schenk, ,Wort Gottes'; Carson, Fallacies). Die „Kommunikationssemiotik" umgreift also bei allen Texten die „Bezeichnungssemantik": Die jeder Pragmatik eingebettete Semantik (Hellholm) ist die Erforschung der Zeichen als Signifikate (Relation: Zeichen/Bezeichnetes in der Lexik), also der Kommunikationsinhalte. 1.2. Das hermeneutische Axiom der prinzipiell objektiven Interpretierbarkeit (-»Hermeneutik) ist möglich durch die semiotische Leitfrage: Wie vollzieht sich die Sinnkonstitution der betreffenden Texte (Bai, Meaning-Making; Malbon, Narrative Criticism)? P. Szondi erreichte 1962 mit dem Traktat Über philologische Erkenntnis eine grundlegende Revision unseres hermeneutischen Leitmodells, mittels Parallelstellen-Methode Begriffs- und Textgleichungen herzustellen, durch die Einsicht, daß punktuelle Parallelstellen nicht Beweise, sondern bestenfalls Hinweise sein können (Rusterholz). Eindeutigkeit des Sinns ist auch bei vieldeutig erscheinenden Textstrukturen objektiv erhebbar (z. B. „Unbestimmtheit" als Ironie: Booth; CameryHoggatt; Duke; Forbes; zu II Kor 1 0 - 1 3 : Betz, Apostel; Zmijewski), sofern eine textadäquate Wahl der Bedeutungs- und Interpretationskonzepte begründet werden kann (z. B. „Widersprüchlichkeit" als Appell bei markinischen Schweigegeboten und Versagen bis M k 16,8: Malbon, Importance). Vor, neben und über der Darstellungsebene der Texte (story) ist die Rezeptionsdisposition (discurs), wie sie etwa in den Prologen der Evangelien vorliegt, auf ihre argumentative Kraft und kommunikative Qualität hin zu analysieren, da die semantische Funktion der Form auch in der „Erzählperspektive" (Bai, Narratology; Ludwig) wie der Dialogstruktur gegeben ist. Auch bei stärker literarisch geformten Texten lösen sich Schwierigkeiten der Sinnanalyse bei Beachtung der semantischen Qualität der Form (Bibliographien: Minor; Powell/'Gray).
2. „Langue":
Das konkrete
Sprachsystem
Das Sprachsystem (langue) aller neutestamentlichen Schriften (paroles) ist das normale hellenistische -»Griechisch ihrer Zeit (Bauer; Voelz; The Language of the New Testament-, Strecker, Wörterbuch). Dieses ist von Anbeginn seiner Entwicklung als Weltsprache an vom (Reichs-)-»Aramäisch, das es in dieser Funktion ablöste, semitisch beeinflußt (Horsley; Mussies), was somit nicht auf die Septuaginta einzuschränken ist. Ein direkter Einfluß einer semitischen Sprache läßt sich von Markus (Reiser gegen Maloney; Dschulnigg 2 7 4 - 2 7 6 ; Rüger) bis zur -»Apokalypse des Johannes (Porter, Language [1989]; Schmidt, Semitisms, gegen Thompson) nicht feststellen (Strecker, Literaturgeschichte 5 1 - 5 5 ) . Die häufigen Septuagintismen (Lust) sind in erster Instanz aus den möglichen „Semitismen" auszuschließen (Wilcox 9 7 9 - 9 8 6 ; Tov; Olofsson). Auch beabsichtigte Solözismen wollen einen „biblischen Effekt" beim Leser erzeugen (bzw. als absichtlich universalisierender Mischname Bap-TifiaiOQ [vgl. „Timotheus"], „einer, der Gott ehrt", Mk 10,46; vgl. 7,6, den idealen Leser des Buches kennzeichnen). Die Gnome, daß ein Autor zwar „griechisch schreibe, aber hebräisch denke", ist eine linguistisch nicht haltbare Relationsbestimmung. Die auf die Lexik konzentrierte Behauptung von „griechischen Wörtern mit hebräischer Bedeutung" sieht die dabei vorliegenden semantischen Rezeptionen und Codewechsel zu statisch und achronisch (Barr; Hanhart; Carson/Williamson; Stanley). Die Suche nach aramäischen Jesusworten (auch Palästina war zweisprachig: Meyers/Strange 6 2 - 8 1 ; Rosen; Silva, Bilingualism) vernachlässigt oft sowohl die Rolle der Semantik hinsichtlich der Polysemie des Vokabulars wie die Einsichten der Übersetzungstheorie (Hurst). Wird über die Lexik hinaus noch die Syntax mehr als üblich beachtet (Martin; Porter/Reed), reduzieren sich die vermeintlichen Semitismen (Porter; Schmidt), während sich dabei für Markus (vgl. neben den Erklärungen 12,42; 15,16 noch 7,3) das Gewicht der „Latinismen" (Dschulnigg 2 7 6 -
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278), also des „Roman Greek" (Bubenik), über die Lehnwörter hinaus verstärkt: Der Autor zeichnet sich pseudonym in der Gestalt des Centurio (Mk 15,39.44f.; Kümmel 1129: „Lateinisch war nur Heeressprache") - analog zum Q-Redaktor (Q Lk 7 , 1 - 1 0 ; Schenk, Verwünschung). Elemente griechischer Hochsprache (Lee) sind ebenso wie aramäische Ausdrücke (vor allem für Gebete: Burchard 9 f.) rhetorisch bewußt in Reden des markinischen Jesus (als hoheitlichem Zweisprachler) eingesetzt. Welche Trugschlüsse aramaistische Rekonstruktionen bedrohen, zeigt die frühhellenistische bilingue AsokaInschrift (Rydbeck). 3. „Parole":
Die realisierten
Texte
Das linguistische Manifest des Paulus I Kor 1 4 , 6 - 1 2 (Schenk, Aufgaben; ders., Rez. Classen), das Syntaktik (Relation: Signifikant/Signifikant), Semantik und Pragmatik in den Blick rückt (Morris), zeigt eine deutliche Vertrautheit mit der aristotelisch-stoischen Sprachtheorie (Ax; Brekle; Coseriu; Schmitter): Die „—»Logik" besteht aus allgemeiner „—•Dialektik" und angewandter „ - » R h e t o r i k " (Sprachverwendung aristotelisch: Sandvoss 87—112; Weidemann; stoisch zusammenfassend [Diogenes Laertius VII,41-83]: Barwick; Hülser; Baratin). „Making Christian Sense" (Holmer) geschieht nie primär durch isolierte Wörter („Begriffe", „theologische Grundgedanken"), sondern durch Texte: Die logischen Sprachregeln gelten (I Kor 1 5 , 1 2 - 2 0 ) auch für das Reich Gottes (äXrjdEia Tov evayysliov, Gal 2,5.14; 4,16; 5,7; Holmer: „The Grammar of Faith"). Die Frage „Did the Spirit inspire Rhetoric?" (Levison) ist auf jeden Fall zu bejahen. Es kann kein Gegensatz zwischen „Christian preaching as proclamation" und „Christian preaching as reasoned persuasion" konstruiert werden: „Radical Christian Rhetoric claimed to be proclamation inspired by the Spirit" (ebd. 40; Siegert, Argumentation 248 - 254; Kinneavy). Schon Robert Boyle (1621-1691) dünkte: „St. Paul reasons as solidly, and as acutely, as Aristotle" (zitiert nach Siegert, Argumentation 9; vgl. Botha; zu Lukas: Kurz; Meynet; Tannehill; Darr; Morgenthaler; York; zu Matthäus: Howell; zum Hebräerbrief: Guthrie; Siegert, Makrosyntax; zur Apokalypse: Kirby; Pippin; Schüssler Fiorenza). Die rhetorische Spitze dürfte im Neuen Testament der Judasbrief darstellen (Watson, Invention 104), gefolgt vom 2. Petrus- und dem Jakobusbrief (Watson, James; Wuellner, Jakobusbrief), die diesbezüglich über dem Hebräerbrief stehen. 3.1. Der „Stil" (Ideolekt, auch von Kollektiven) bezeichnet die individuell bevorzugte Auswahl eines Autors (Kenny; Turner) oder Werkes. Die Beiträge zur Sprachcharacteristik der Schriftsteller des Neuen Testaments (Gersdorf) haben die Homogenität der einzelnen Autorenstile nach Vokabular und Syntax zunehmend deutlich gemacht (Markus: Dschulnigg; Peabody; Neirynck; The Language and Style of the Gospel of Mark-, van Iersel; van Oyen; Kolosserbrief: Bujard; Kiley; Matthäus: Schenk, Sprache; Lukas/Apostelgeschichte: Cadbury; Radi, Paulus 396—435; ders., Lukasevangelium 16—20; Fitzmyer 107— 127; Johannesevangelium: Ruckstuhl; Schenk, Lexikon). „Computers in New Testament Research" (Mealand; Miller; Palmer; Robinson) werden über Konkordanzen und Lexika (Schwarze/Wunderlich) hinaus auch präziseren Aufschluß über die Häufigkeit (nicht auf „Wortstatistik" begrenzt: Muller; Sprachstatistik; Friedrich), Verteilung und Verbindung von Satzlängen, -mustern, -anfangen und -enden bringen („grammatical, syntactical, and positional stylometry": Kenny). Dabei geht es bei den jeweiligen Spezifika nicht nur um rein morphologische Registrierungen, sondern ganz wesentlich um die Bestimmung ihrer konkreten textpragmatischen Funktionen (Textkonstituenten) als argumentative und kompositioneile Rezeptionsdispositionen für den intendierten Leser. Auch die Beachtung der Verb-Strukturen (Handlungs-, Zustands-, Bewegungs-, Redeverben und ihrer Valenzen) wie des „Aspekt"-Charakters der Zeitstufen (McKay; Fanning; Biblical Greek Language and Linguistics) lassen die subjektiven und objektiven Perspektiven der Erzählpersonen deutlicher funktional unterscheiden (z. B. praesens historicum als Signal der Perspektive der betreffenden Erzählfigur: Schenk, Präsens historicum; ders., Signalfunktion).
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3.2. Die -»Rhetorik (Classen; Fuhrmann; Kennedy; Mack; Mack/Robbins; Bibliographie: Watson, New Testament) ist die antike Form der „Sprachverwendung" (Despordes), also der Textpragmatik (Wuellner; Lambrecht). Rhetorik ist in der zusammenhängenden Rede auf die konkrete Argumentation bezogene Praxis der „Dialektik" (Urteilsanalyse). Im Prinzip sind „alle M e n s c h e n R h e t o r i k e r und Dialektiker; denn alle bemühen sich bis zu einem gewissen G r a d e d a r u m , Ansichten (Argumente) anderer zu prüfen wie eigene geltend zu m a c h e n , sowie sich gegen Anklagen zu verteidigen und selbst andere a n z u k l a g e n " (Aristoteles, rhet. 1,1,1; C i c e r o , or. 3 2 , 1 1 4 ) .
Die Auswahl (eupt]aiQ, inventio) der Überzeugungsmittel (niaretQ) für die Beweisführung (d.nööei£,iq, demonstratio-, I Kor 2,4) bezieht von der „Dialektik" vor allem die Syllogismen (Deduktionen) als stärkste Beweismittel (¿vOvfir/ßa-, Enthymeme = zusammengesetzt angewandte Syllogismen: Aristoteles, rhet. 1,1,11; 1,2,13, ausführlich 11,2224; ders., top. 1 - 8 ; vgl. Vinson), deren negative Form die Entkräftung ([anö]Xüoiq, refutatio) darstellt (Aristoteles, top. 9; ders., rhet. 11,25; Grimaldi), während die der Rhetorik eigenen Bereiche der sprachlichen Ausformulierung (ke^iQ, elocutio; Aristoteles, rhet. 111,1-12) und des Aufbaus (rä^ig, dispositio; ebd. 111,13-19) von nachgeordneter Bedeutung sind (wiewohl sie in den Handbüchern wie Rhetorica ad Herennium [Nüßlein] dominieren; neutestamentliche Anwendung der „Figuren" bei Nida u.a. 1 6 2 191; Snyman; Wuellner, Jakobusbrief). Die designative Substitutionsfigur der Metapher, die parasitär von ikonischen Ähnlichkeitsbeziehungen in Form oder Funktion lebt, ist nicht nur in der Gleichnisforschung oft überschätzt worden (sondern auch im panmetaphorischen Konzept bei Davies 1 1 2 - 240). Unterschätzt wird hingegen die Häufigkeit der designativen Substitutionsfigur des Metonyms, das durch eine indexikalische Kontiguitätsbeziehung der Form, des Inhalts oder der Funktion mit dem Bezeichneten verbunden ist (z. B. wenn niaziQ oder XpiozÖQ für Eoayyekiov steht). Während die deduktiven Enthymeme in der Gerichtsrede (SiKavixöv, tudiciale; Aristoteles, rhet. 1,10-15) ihren primären Platz haben (Siegert, Argumentation; Vinson; Poythress), dominiert in der Beratungsrede {av/xßoüXeoriKÖv, deliberativum; Aristoteles, rhet. 1,4-8) das Beispiel (napäöeiy/ia einschließlich der Gleichnisse, die immer stark kontextgebunden sind) als logische Induktion (ebd. 1,2,8.13.19). Prunk- (bzw. Schmäh-)Rede (enideiKZiKÖv, demonstrativum; ebd. 1,9) lobt oder tadelt nach den Maximen des Schönen (Tugend) oder Häßlichen (Laster). Diese drei Arten der Beredsamkeit sind primär vom Adressaten her nach Zweck und Aufgabe (also textpragmatisch) definiert (ebd. 1,3,1-6). Da alle drei rhetorischen Funktionsgattungen multifunktional sind (Downing), garantiert eine rhetorische Einheit noch keine literarische Einheit (Seilew). Strategien der Rhetorik wie der mündlichen Komposition sind hellenistisch in die Erzählliteratur eingegangen (Morgenthaler), da sie generell zum Vorlesen bestimmt und auf ein zuhörendes Auditorium ausgerichtet waren (Darr; Dewey; Müller). Mittel der „Mündlichkeit" sind primär eine Rezeptionsdisposition der Erzähltexte (authorial audience) und darum kein primärer Indikator für mündliche Tradition. 3.3. Die symbuleutische Rede erfolgt in einer paränetischen Redesituation als zum Handeln motivierende Mahnrede (Appell), wenn eine prinzipielle Übereinstimmung im Urteil über die betreffende Handlung schon vorausgesetzt ist. Die Sekundärgattung ,,->Paränese" (Gammie) wird meist zu weit definiert und so mit der von ihr vorausgesetzten ersten Grundform ethischer Rede, der „normativen Ethik" (Begründung der Erlaubtheit einer Handlungsweise: Phil l,9f.; Rom 12,2), verwechselt (Wolbert 1 3 - 7 1 ) . 3.4. Auch neutestamentliche Erzählsegmente haben primär eine argumentative Funktion. Die von hellenistischen Schülerübungen an vertraute Form der Chreia (Berger, Formgeschichte 8 0 - 9 3 ; ders., Gattungen 1092-1110; Hock/O'Neil; Mack/Robbins; Robbins; Vouga, Chrien) bezeichnet die rhetorische Form der anekdotisch eingeleiteten
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W o r t e (Pointe) o d e r H a n d l u n g e n , die eine P e r s o n charakterisieren (Ailios T h e o n 2 , 2 0 2 2 0 6 ) und deren H ä u f u n g die G r u n d l a g e der antiken B i o g r a p h i e bilden (Aune 3 4 f . ; Strekker, L i t e r a t u r g e s c h i c h t e 2 0 1 - 2 0 5 ) . 3 . 5 . D e r E r w e i t e r u n g der A r g u m e n t a t i o n dient a u c h die Diatribe.
Die rhetorisch
dialogisierende S a m m e l f o r m Diatribe (Stowers) bezeichnet den a r g u m e n t a t i v e n Stil (sok r a t i s c h e M e t h o d e ) des philosophischen L e h r e r v o r t r a g s und - g e s p r ä c h s (mit abgewiesenen E i n w ä n d e n ; M a l h e r b e , M H T E N O I T O ) vor und mit ihren Schülern (Stowers, D i a t r i b e [ 1 9 8 1 ] 1 7 - 7 8 ; A u n e 2 0 0 - 2 0 2 ; gegen B u l t m a n n nicht „ V o l k s p r e d i g t " ) , wie er öfter bei Paulus (Stowers; Schmeller; S c h o o n - J a n ß e n ) und J a k o b u s ( W a t s o n , J a m e s ) zu finden ist (Strecker, L i t e r a t u r g e s c h i c h t e 8 2 - 8 4 ) . 3.6.
Die je unterschiedliche „ r h e t o r i s c h e S i t u a t i o n " b e s t i m m t die A u s w a h l und An-
o r d n u n g der A r g u m e n t a t i o n (die Differenz v o n R ö m e r - und G a l a t e r b r i e f in der Wahl der A r g u m e n t e ist so e r k l ä r b a r ohne das P o s t u l a t einer E n t w i c k l u n g des paulinischen „Gesetzesbegriffs": Wuellner, T o p o s f o r s c h u n g ) . Literatur R . Dean Anderson, Ancient Rhetorical Theory and Paul, Kampen 1996. - Aristoteles, Rhetorik, übers, mit einer Bibliogr., erl. u. einem Nachw. v. Franz G. Sieveke, München 4 1993 (UTB 159). - David Edward Aune, T h e N T in its Literary Environment, 1987 (LEC 8). - Wolfram Ax, Laut, Stimme u. Sprache. Stud, zu drei Grundbegriffen der antiken Sprachtheorie, Göttingen 1986. Mieke Bai, Narratology, Toronto 1985. - Dies., On Story-Telling, Sonoma, Cal. 1991. - Dies., On Meaning-Making, Sonoma, Cal. 1994. - M a r c Baratin, Aperçu de la linguistique stoïcienne: Sprachtheorien der abendländischen Antike (s.u.) 1 9 3 - 2 1 6 . - James Barr, Paul and the L X X : J T h S NS 45 (1994) 593 - 601. - Karl Barwick, Probleme der stoischen Sprachlehre u. Rhetorik, 1957 (ASAW.PH 49,3). - Walter Bauer, Zur Einf. in das W b . zum N T : ders., Aufs., Göttingen 1967, 6 1 - 9 0 . - Johannes Behm, Art. yXäaaa: T h W N T 1 (1933) 7 1 9 - 7 2 6 . - Klaus Berger, Formgesch. des NT, Heidelberg 1984. - Ders., Hell. Gattungen im N T : A N R W II.25.2 (1984) 1031 - 1 4 3 2 . - Hans Dieter Betz, Der Apostel Paulus u. die sokratische Tradition, 1972 (BHTh 45). - Ders., Galatians, 1979 (Hermeneia); dt.: Der Galaterbrief, Gütersloh 1988. - Ders., 2 Corinthians 8 and 9, 1985 (Hermeneia); dt.: 2. Korinther 8 u. 9, Gütersloh 1993. - Ders., T h e Problem of Rhetoric and Theology according to the Apostle Paul: B E T h L 73 (1986) 1 6 - 4 8 . - Biblical Greek Language and Linguistics, hg. v. Stanley E. Porter/Donald A. Carson, 1993 (JSNT.S 80). - David A. Black, Linguistics for Students of N T Greek, Grand Rapids, Mich. 1988. - Wayne C. Booth, A Rhetoric of Irony, Chicago, 111. 2 1983. - Pieter J . J . Botha, T h e Verbal Art of the Pauline Letters. Rhetoric, Performance and Presence: Rhetoric and the N T (s.u.) 409 - 4 2 8 . - Herbert E. Brekle, Einf. in die Gesch. der Sprachwiss., Darmstadt 1985. - Vit Bubenik, Hell, and Roman Greece as a Sociolinguistic Area, Amsterdam 1989 (Amsterdam Studies in the Theory and History of Linguistic Science, Ser. 4, 57). - Karl Bühler, Die Axiomatik der Sprachwiss., Frankfurt a . M . 2 1976. - Ders., Sprachtheorie, Frankfurt a.M. 3 1978. - Bühler-Stud., hg. v. Armin Eschbach, 2 Bde., Frankfurt a.M. 1984. - Michael Bünker, Briefformular u. rhetorische Disposition im 1. Korintherbrief, 1984 (GTA 28). - Walter Bujard, Stilanalytische Unters, zum Kolosserbrief als Beitr. zur Methodik v. Sprachvergleichen, 1973 (StUNT 11). - Rudolf Bultmann, Der Stil der paulinischen Predigt u. die kynisch-stoische Diatribe, 1910 = 1984 ( F R L A N T 13). - Christoph Burchard, M k 15,34: Z N W 74 (1983) 1 - 1 1 . Hadumod Bußmann, Lexikon der Sprachwiss., Stuttgart 2 1990. - Henry Joel Cadbury, T h e Style and Literary Method of Luke, 2 1969 (HThSt 6). - Jerry A. Camery-Hoggatt, Irony in Mark's Gospel, 1992 ( M S S N T S 72). - Donald A. Carson, Exegetical Fallacies, Grand Rapids, Mich. 1984. - Carl J . Classen, Recht, Rhetorik, Politik, Darmstadt 1985. - Ders., Paulus u. die antike Rhetorik: Z N W 82 (1991) 1 - 3 3 . - Eugenio Coseriu, Die Gesch. der Sprachphil. v. der Antike bis zur Gegenwart, Tübingen, I 2 1975. - Ders., Einf. in die allg. Sprachwiss., Tübingen 1988 2 1992 (UTB 1372). - Peter Cotterell/Max Turner, Linguistics and Biblical Interpretation, London 1989. - David Crystal, The Cambridge Encyclopedia of Language, Cambridge u.a. 1987; dt.: Die Cambridge Enzyklopädie der Sprache, Frankfurt a.M. 1995. - John A. Darr, On Character Building. T h e Reader and the Rhetoric of Characterization in Luke-Acts, Louisville, Ky. 1992. - Ders., Narrator as Character: Semeia 63 (1993) 4 3 - 6 0 . - Ders., ,Watch How You listen' (Lk 8,18): T h e New Literary Criticism and the N T (s.u.) 8 7 - 1 0 7 . - Gerhard Dautzenberg, Sprache u. Gestalt der ntl. Sehr.: Josef Schreiner/ders. (Hg.), Gestalt u. Anspruch des NT, Würzburg 1969, 3 0 - 4 0 . - Ders., Art. yXcöaaa: E W N T 2 1 (1992) 6 0 4 - 6 1 4 . - Margaret Davies, Rhetoric and Reference in the Fourth Gospel, 1992 (JSNT.S 69). - Françoise Despordes, Agir par la parole. La rhétorique: Sprachtheorien
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versums widerspiegle; aus diesem Grund sei Bezalel als ihr Werkmeister auserwählt worden (Ex 36,1 f.; 37,1), der „die Buchstaben zu kombinieren wußte, durch die der Himmel und die Erde geschaffen wurden" (bBer 55a). Das Alphabet als Quelle der Schöpfermacht Gottes ist auch in einigen alten hebräischen mystischen Texten der Hekhalot-Literatur vorzufinden, wie z. B. im 3. Henochbuch, nach dessen Beschreibung auf der Krone Gottes - und der Metatrons, des Fürsten des Angesichts - „die Buchstaben, mit denen Himmel und Erde erschaffen wurden", eingraviert sind (hebrHen 13: ed. Hugo Odeberg, Third Enoch, Cambridge 1928,18 [hebräisch]; dt.: Übers, der HekhalotLit., hg. v. Peter Schäfer/Klaus Herrmann, I 1995 [TSAJ 46] 38). Die Identifizierung von Sprache und göttlicher Schöpfermacht und damit auch göttlicher -»Weisheit trennt das eigentliche Wesen der Sprache von ihrer Auffassung als menschliches Kommunikationsmittel. Die Sprache existierte schon vor der Erschaffung der Menschheit und ist von menschlichen Bedürfnissen unabhängig. Daraus resultiert in erster Linie, daß die Sprache als Aspekt der göttlichen Weisheit vom Menschen nicht vollständig begriffen werden kann; sie ist ihrem Wesen nach unendlich, denn Gottes Weisheit ist unendlich. Die Bedeutung einer sprachlichen Aussage kann daher vom menschlichen Verstand nicht vollständig erfaßt werden; wir mögen verschiedene Aspekte und Schichten in ihr aufdecken, können sie aber nie vollständig begreifen. Da die Sprache ein göttliches Instrument ist, ist es unmöglich, die „wichtigeren" von den „weniger wichtigen" Komponenten zu unterscheiden. Als Gott sagte: „Es werde Licht" (yhy 'wr [yfhi or], Gen 1,3), und das Licht entstand, was war der Hauptfaktor, der das zustande brachte? War es die Bedeutung der Worte (die semantische Ebene) oder ihr Klang oder das Bild der sechs Buchstaben, aus dem diese Aussage zusammengesetzt ist? Könnte es der Zahlenwert dieser sechs Buchstaben sein (—•Zahlenspekulation/Zahlensymbolik)? Könnte es die Form der Buchstaben sein? Oder sind es vielleicht die Namen der Buchstaben, für die die beiden Wörter Akronyme sind (Yod He Yod/Aleph Vav Resch)? Es könnte eine Kombination aus verschiedenen oder allen diesen Elementen sein, vvelchc nur die göttliche Weisheit kennt. Die semantische Äußerung, die wir als „Es werde Licht" interpretieren, kann auch so verstanden werden, daß sie nachträgliches Ergebnis der göttlichen Aussage und nicht ihr Ursprung ist: Weil das Licht entstand, als Gott „Es werde Licht" sagte, deshalb behaupten wir, daß dieser Satz „Es werde Licht" bedeutet; ursprünglich jedoch war es keine semantische Äußerung, sondern ein Klang, ein Bild, eine Zahl oder irgendeine Kombination verschiedener Elemente. Dieser Begriff von der göttlichen Sprache führt zu einer Auffassung, die sich radikal von Sprachvorstellungen der Griechen und Römer unterscheidet: eine sprachliche Aussage enthält demzufolge eine unendliche Anzahl möglicher Bedeutungen; die eine „wahre", „ursprüngliche" Bedeutung kann es nicht geben, da sich uns die göttliche Weisheit nicht erschließt. Das ist der Grundgedanke, der zur Entstehung des Begriffs -»Midrasch führte, zu dem es in der griechisch-römischen Kultur keine Parallele gibt (weshalb er der christlich-westlichen Kultur völlig fremd ist). Der Midrasch setzt voraus, daß eine göttlich inspirierte sprachliche Äußerung eine unendliche Anzahl von wahren Bedeutungen enthält. Diese Bedeutungen mögen voneinander unterschieden sein oder sich sogar widersprechen, dennoch ist jede von ihnen gleichermaßen wahr. Der Schlüsselbegriff der Midrasch-Exegese ist davar ah er (wörtlich „ein weiteres Wort"); das bedeutet, daß derselbe Vers auf eine noch andere Weise interpretiert werden kann, zusätzlich zu den vorhergehenden Interpretationen, die - aufgrund der inneren Möglichkeit einer unendlichen Menge gleichermaßen richtiger Bedeutungen - nicht mit ihnen in Widerspruch stehen. Das Wort von den „siebzig Gesichtern der Tora" enthält eine runde Zahl; tatsächlich sind der Anzahl der Auslegungen keine Grenzen gesetzt. Diese Vorstellung von der göttlichen Sprache bestimmte die Rolle der -*Tradition im rabbinischen Judentum. Aufgrund der unendlichen Anzahl von Bedeutungen jedes Bibelverses kann die Schrift keine normative, endgültige Bedeutung haben, der man folgen muß (—>Schriftauslegung); Gesetzesvorschriften, ethische Anforderungen und Ri-
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tualvorschriften können angesichts der Vieldeutigkeit der Schrift nicht allein mittels Schriftauslegung festgelegt werden. Erst der Glaube an die mündliche Tora, die von den Ältesten, Propheten und Weisen von Generation zu Generation auf nicht rein sprachliche Weise vermittelte Tradition, liefert die Grundlage für normative Urteile. Dieses sollte sich natürlich auf einen Toravers stützen, doch leitet es seine Vollmacht nicht aus der Exegese ab; die Hauptquelle der Autorität ist die mündliche Tradition, die die richtige Verhaltensweise bestimmt. Deshalb kann es im Judentum kein Dogma geben: der Begriff des Dogmas setzt den Glauben an die unzweideutige, endgültige Autorität einer sprachlichen Aussage als Ausdruck einer unveränderlichen —»Wahrheit voraus. Im Judentum gab es keinen solchen Glauben. Es ist bezeichnend, daß der einzige ernsthafte Versuch, eine jüdische Dogmatik aufzustellen - die 13 Iqqarim - , von Maimonides (—•Mose ben Maimon) in der zweiten Hälfte des 12. Jh. unternommen wurde. Maimonides, ein rationalistischer Philosoph, der jüdische Begrifflichkeit mit aristotelischen Inhalten füllte, glaubte nicht an die Schöpfung durch Sprache (und bezweifelte vielleicht sogar die Auffassung von der Schöpfung insgesamt, indem er dem aristotelischen Postulat von einem ewigen Universum folgte). Einige weitere mittelalterliche Rationalisten gingen in die gleiche Richtung, doch befanden sie sich mit ihren Ansichten stets am Rand der jüdischen Kultur. Wird die Schöpfungsmacht als innerhalb der Sprache und des Alphabets liegend angesehen, so verringert sich der semantische Gehalt der Sprache, und ihre semiotischen Eigenschaften (—• Semiotik) treten in den Vordergrund. Die Form der Buchstaben erlangt Bedeutung, da sie, ebenso wie alle anderen Aspekte der Sprache, Teil der göttlichen Weisheit ist. Alte jüdische Weise widmeten sich der Exegese der Buchstabenformen; ein Großteil davon wurde im Band Alphabet des Rabbi Akiba gesammelt (ed. Shlomo Aharon Wertheimer, Batet Midrashot, Jerusalem, II 1953, 343—418). Der Zahlenwert der Buchstaben (Gematrie) wird zu einem integralen Aspekt ihrer Bedeutung, denn was Teil der göttlichen Weisheit ist, dem kann man nicht primäre oder sekundäre Bedeutung zuschreiben: Alles ist göttlich und gleichermaßen bedeutungsvoll. Die Buchstaben kann man auf unterschiedliche Weise miteinander austauschen (temurah), Akronyme und Wortendungen werden verwendet (notaricon) sowie viele weitere nichtsemantische Aspekte der Sprache. Wörter wurden in ihre Bestandteile zerlegt, neu zusammengefügt und anders gelesen. In allgemeinerer Form hat der klassische Midrasch über die Genesis, Bereshit Rabba, die Schöpfung als einen Prozeß beschrieben, in dem „ G o t t die Tora beobachtete und die Welt erschuf". Nicht nur die Sprache ist göttlichen Ursprungs und älter als das Universum, sondern auch ihre besondere Anwendung in der Formulierung von Gesetzen, N a m e n und Erzählungen in der Tora. Das bedeutet z. B., daß, als Adam geheißen wurde, den Tieren N a m e n zu geben (Gen 2,19), seine Aufgabe darin bestand, den ursprünglichen N a m e n zu finden, den es in der Tora für das bestimmte Tier bereits gab; die Namen der Dinge sind also älter als ihre physische Existenz und hängen nicht von dieser ab. Der sprachliche Ausdruck einer jeden Erscheinung ist älter und göttlicher als ihre tatsächliche Anwesenheit im Universum. Damit wird die Sprache zur idealen Vorabbildung der Existenz und zur Quelle des Wesens der Erscheinungen (eine Vorstellung, die einigen platonischen Gedanken erstaunlich nahekommt). Als diese Sprache galt das Hebräische, während andere Sprachen mit der Sprachverwirrung identifiziert wurden, die durch die Sünde der Erbauer des Turms von Babel entstand (Gen 11,6-9). Diese Vorstellung von Sprache öffnet ihrer Verwendung in der —»Magie T ü r und Tor, denn durch die Beschwörung der N a m e n von Dingen rührt man an die Quelle ihres Seins und das Geheimnis ihrer Macht. Der N a m e Gottes erhielt in diesem Gefüge eine Sonderstellung. Die hebräischen Gottesnamen in der hebräischen Bibel unterscheiden sich von denen in der christlichen Tradition, die der Septuaginta darin folgte, daß sie den N a m e n semantische Bedeutungen zuschrieb. Im Hebräischen sind die Namen Silben, die vielfältig interpretiert werden können, und ihre Macht liegt nicht in ihrer
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Bedeutung, sondern in den Silben selber. Diese wurden zur Quelle von nahezu 2 0 0 0 Jahren jüdischer Exegese bei der Entzifferung und dem unterschiedlichen Gebrauch der vielen nichtsemantischen Namen Gottes. M a n betrachtete die Buchstaben des Alphabets als einen Namen Gottes („der N a m e der 2 2 Buchstaben"), und Namen aus 12 und 4 2 Buchstaben und besonders der aus 7 2 Buchstaben bestehende N a m e rückten ins Zentrum esoterischer und mystischer Spekulationen (s.u.). Der als „ 7 2 B u c h s t a b e n " b e k a n n t e N a m e ist ein e x t r e m e s Beispiel dafür, wie der semantische Gehalt der Schrift zerlegt wird. Dieser N a m e basiert auf dem merkwürdigen P h ä n o m e n , daß drei aufeinanderfolgende Verse, E x 1 4 , 1 9 - 2 1 , aus je genau 7 2 Buchstaben bestehen. Er wird zusammengesetzt, indem V. 19 in eine Zeile geschrieben wird und V. 2 0 darunter, in entgegengesetzter R i c h t u n g , d.h. der letzte B u c h s t a b e k o m m t zuerst. D a r u n t e r , in die dritte Zeile, wird V. 21 wieder in n o r m a l e r R i c h t u n g geschrieben (Bustrophedon). D a n n wird der N a m e von oben nach unten gelesen, so d a ß 7 2 G r u p p e n von je drei Buchstaben entstehen (der N a m e besteht tatsächlich aus 2 1 6 Buchstaben). Diese 7 2 G r u p p e n haben keinen semantischen Inhalt, und sie werden so interpretiert, daß sie jegliche Aussage enthalten, die der Ausleger in ihnen sehen mag. Dieser N a m e wurde vermutlich in der S p ä t a n t i k e formuliert. Mittelalterliche Kabbalisten allerdings warfen die Frage auf, warum nur diese Verse den geheimen N a m e n G o t t e s enthalten sollten. - > M o s e ben N a c h m a n zufolge ist die gesamte T o r a N a m e n G o t t e s , und spätere M y s t i k e r behaupteten, die gesamte T o r a sei ein einziger G o t t e s n a m e . Die wörtliche, allegorische und jegliche weitere semantische Aussage der Schrift wird somit als äußerlich und nebensächlich angesehen, während die eigentliche Bedeutung der esoterische, nichtsemantische G o t t e s n a m e ist. In seinem De Arte Kabbalistica zitierte und e r k l ä r t e J . —»Reuchlin diesen und weitere N a m e n ; er führte seine hebräischen Quellen an und m a c h t e so die christlichen H u m a n i s t e n in Italien und Deutschland mit der nichtsemantischen Auffassung von S p r a c h e b e k a n n t .
Ein höchst bedeutsames Beispiel - einzigartig in seinen Vorstellungen wie in seiner Terminologie - bietet der Sefer Jesira (vermutlich 3. Jh.). Der Autor ließ die Genesisauslegungen der Midraschim seiner Zeit außer acht und entwickelte seine eigene, völlig originelle Auffassung von der Schöpfung durch Sprache. Dem ersten Satz des Buches Jesira zufolge wurde das Universum durch die „ 3 2 geheimnisvollen Pfade der Weisheit" erschaffen, welche die zehn Grundzahlen und die 22 Buchstaben sind. Das erste Kapitel des Werkes behandelt die Eigenschaften der Zahlen (sefirot), die mit den Richtungen gleichgesetzt werden, in die das Universum sich ausdehnt, mit den Tieren, die den Gotteswagen umgeben, mit der Entstehung der Elemente und vielen weiteren Erscheinungen der Welt. Der Großteil des Buches widmet sich der Formulierung einer hebräischen Grammatik (der erste Versuch dieser Art überhaupt) und drückt die Ansicht aus, daß, wenn die Welt durch Sprache erschaffen wurde, die Gesetze des Universums die der Sprache sind; die Untersuchung der Grammatik enthüllt die Gesetze, die den Kosmos bestimmen und alles, was darin ist. Diese Methode ist, um modernem Sprachgebrauch zu folgen, eher wissenschaftlich als mystisch. Die drei G r u n d b u c h s t a b e n dieses Systems sind A M S ; sie stehen für die E l e m e n t e , die Jahreszeiten und die wichtigsten Körperglieder. Die sieben „ D o p p e l b u c h s t a b e n " - die auf zwei unterschiedliche Arten und Weisen ausgesprochen werden können ( B G D K P R T ) - stehen für die sieben Planeten, die sieben T a g e der W o c h e und die sieben Körperglieder, deren Ursprung sie auch sind; die zwölf „ e i n f a c h e n " B u c h s t a b e n stehen für die Sternbilder, die M o n a t e und die menschlichen Eigenschaften. Alles hat eine doppelte, m ä n n l i c h - w e i b l i c h e F o r m (wie das Geschlecht in der Sprache); alle W ö r t e r sind aus Wurzeln von je zwei B u c h s t a b e n a b l e i t b a r , die durch Präfixe und Suffixe verändert werden. Diesem einzigartigen System zufolge sind G u t und B ö s e g r a m m a t i k a l i s c h e P h ä n o m e n e : W ö r t e r verwandeln sich von gut in böse und umgekehrt dadurch, daß B u c h s t a b e n vor oder hinter der Wurzel angefügt werden ( z . B . 'tig, „ g r o ß e s V e r g n ü g e n " ; ng', „ W u n d e , L e i d e n " ) .
Obwohl das Buch Jesira nicht von den herkömmlichen nichtsemantischen exegetischen Methoden Gebrauch machte, wurde dieses System im Mittelalter als Grundlage dafür verwendet, das Wesen des Seins mit den Attributen der Sprache gleichzusetzen. Es gab auch einige jüdische Rationalisten zwischen dem 10. und 13. Jh., die die Vorstellung von der göttlichen Sprache nicht entwickelten (obwohl viele von ihnen Kommentare zum Buch Jesira verfaßten). Maimonides scheint seine Zweifel an dem T h e m a
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sowie an der Erschaffung der Welt ingesamt gehabt zu haben. Doch begannen in der zweiten Hälfte des 12. Jh. mehrere esoterische und mystische jüdische Kreise, unter Rückgriff auf die nichtsemantischen Methoden des Midrasch und des Buches Jesira radikale Theologien und mystische Systeme zu entwickeln. Das Buch Bahir, der früheste Text der mittelalterlichen Kabbala, der gegen Ende des 12. Jh. verfaßt wurde, ist als ein Pseudo-Midrasch konzipiert, und viele seiner Abschnitte sind der Untersuchung der Buchstabenformen gewidmet, der Vokalzeichen (nekudot) und der musikalischen Zeichen (teamim) im traditionellen Hebräisch. Rabbi Eleazar ben Judah ben Kalonymus schrieb (um 1220) in Worms eine Abhandlung mit dem Titel Sefer ha-Chokhma (Das Buch der Weisheit), in dem er 73 „Tore der Weisheit" aufzeigte, Methoden, mit deren Hilfe jeder Vers der Bibel untersucht werden sollte und dabei einen neuen geheimen Sinn eröffnet. Davon sind 55 Methoden nichtsemantisch, weniger als 20 sind thematisch und semantisch. Der Autor erläuterte dies am Beispiel einer Auslegung von Gen 1,1 mit Hilfe dieser „Tore". Derselbe Autor schrieb den ersten monographischen Kommentar über das Tetragrammaton (—»Jahwe), den Sefer ha-Shem. Darin wurden solche Methoden angewandt, um eine Vielzahl von Bedeutungen aus den heiligen Namen Gottes herauszulesen. Eine der wichtigsten Darstellungen der Sprachmystik ist der Sefer ba-Tetnunah, ein anonymes Werk aus dem frühen 14. Jh., dessen Schwerpunkt ein Kommentar über die Form der Buchstaben des Alphabets ist. Diese Richtung verstärkte sich in der lurianischen Kabbala, die in Safed im späten 16. Jh. zur Blüte kam, und insbesondere in einigen vom modernen Chasidismus eingeführten Riten, der von Rabbi Israel Ba'al Schern Tov (unter dem Akronym „Beseht" bekannt) in der Mitte des 18. Jh. in Osteuropa gegründet wurde. Kabbalistischen Traditionen folgend bestand der Beseht darauf, daß jeder Buchstabe und jedes Wort in den Gebeten und Schriften in sich die gesamte Struktur der göttlichen Welt in sichtbarer Form enthalte; beim Gebet werden die Wörter in göttliche Bilder der anthropomorphen Struktur der Sefirot verwandelt, der göttlichen Attribute der Kabbala. Der heilige Name, das Tetragrammaton, wurde als optische Erfahrung angesehen, wobei die Buchstaben ein Bild formen, das zum Kernpunkt mystischer Betrachtung und Erfahrung wird. Zuweilen wird dieses Eintauchen in die Buchstaben und Wörter als erotische Erfahrung beschrieben, die die Herstellung der Einheit innerhalb der göttlichen Welt und zwischen dem einzelnen und Gott in äußerst emotionalen und oft erotischen Begriffen widerspiegelt. Die nichtsemantischen Auffassungen von Exegese bei diesen esoterischen jüdischen Gruppen wurden durch die Werke der christlichen Kabbalisten dem Zentrum der europäischen Kultur vermittelt. Dieser Prozeß begann im späten 15. Jh. und setzte sich auf unterschiedliche Weise bis ins 18. Jh. hinein fort. Die wichtigsten Vertreter waren -»Pico della Mirandola und J. Reuchlin. Diese Gelehrten waren von der jüdischen nichtsemantischen Exegese fasziniert, die sie mit der Kabbala assoziierten, selbst wenn diese Methodik unabhängig von ihr war. Tatsächlich war viel von dem Material, das für die christlichen Kabbalisten übersetzt und in ihre Schriften übernommen wurde, nicht kabbalistisch; Werke von Rabbi Judah dem Frommen von Regensburg und Rabbi Eleazar von Worms beeinflußten ihre Schriften sehr. Zusammen mit dem kabbalistischen Stoff enthält Reuchlins De Arte Cabbalistica lange Abhandlungen über vorkabbalistische Auslegungen der heiligen Namen. Viele Aussagen des Talmuds und der Midraschim sind innerhalb der Texte der christlichen Kabbala zitiert. Spätere christliche Kabbalisten benutzten im 17. Jh. die lurianische Kabbala und stellten ihren europäischen Lesern die Spekulationen über das Tetragrammaton und die Gebetsintentionen vor, die in lurianischen Schriften zu finden sind. Die Loslösung von der Semantik, die in der christlichen Kabbala zum Ausdruck kommt, förderte sowohl die Konzentration wie auch die magischen Elemente der Sprache, was schließlich zur Entwicklung der europäischen experimentellen Wissenschaft führte (eine Entwicklung, die in den Untersuchungen von Frances A. Yates [z. B. T h e Rosicrucian Enlightenment, London u.a. 1972; dt.: Aufklä-
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rung im Zeichen des Rosenkreuzes, Stuttgart 1975 = 2 1997; ders., The Occult Philosophy in the Elizabethan Age, London u.a. 1979; dt.: Die okkulte Philosophie im elisabethanischen Zeitalter, Amsterdam 1991] klar aufgezeigt wird). Daß das Hebräische im späten 19. Jh. eine Wiederbelebung erfuhr und zur Nationalsprache des Staates Israel wurde, bedeutete keine Rückkehr zur Vorstellung von einer göttlichen Sprache. Hebräisch wird heute von denen, die es sprechen, als gewöhnliches Kommunikationsmittel menschlichen Ursprungs erachtet wie alle anderen europäischen Sprachen auch. Gewissermaßen wurde das Hebräische somit als Konsequenz des erfolgreich verwirklichten Zionismus letzten Endes vollständig verchristlicht. So wie die hebräische Bibel heute an nichtreligiösen Schulen in Israel gelehrt wird, wird sie als semantische Botschaft interpretiert, und sehr oft sind die Bedeutungen, die Wörtern und Versen zugeschrieben werden, diejenigen, die ihnen die Übersetzer der Septuaginta und der Vulgata gaben, während die nichtsemantischen Aspekte als „kabbalistisch" betrachtet werden; die Bedeutung von „Kabbala" im modernen hebräischen Sprachgebrauch ist enger mit der christlichen als mit der eigentlichen hebräischen Kabbala verwandt. Die „Normalisierung" des jüdischen Volkes, die der Zionismus anstrebte und auch erreichte, hat sich, was die Vorstellung von der Sprache anbelangt, als Verchristlichung herausgestellt. Es ist bemerkenswert, daß das erste sprachliche Beispiel, das Avram Noam Chomsky (geb. 1928) die Grundlage seiner Analyse lieferte, als er seine linguistische Arbeit in den späten vierziger Jahren begann, das moderne Hebräisch war. Literatur Joseph Dan, The Emergence of the Mystical Prayer: ders./Frank Talmage (Hg.), Studies in Jewish Mysticism, Cambridge, Mass. 1979, 8 5 - 1 2 0 ; Wiederabdruck: ders., Jewish Mysticism, 4 Bde., Northvale, N.J. 1 9 9 8 - 1 9 9 9 , II, 2 2 1 - 2 5 8 . - Ders., Prayer as Text and Prayer as Mystical Experience, in Torah and Wisdom: Ruth Link-Salinger (Hg.), Studies in Philosophy, Kabbala and Halachah in Honor of Arthur Hyman, New York 1992, 3 3 - 4 7 ; Wiederabdruck: ebd. II, 2 5 9 - 2 7 6 . - Ders., The Language of Creation and Its Grammar: Christoph Elsas u.a. (Hg.), Tradition and Translation. FS Carsten Colpe, Berlin/New York 1994, 4 2 - 6 3 ; Wiederabdruck: ebd. I, 1 2 9 - 1 5 4 . - Ders., The Concept of Language in Jewish Mysticism in Medieval Germany: Karl Erich Groezinger/ders. (Hg.), Mysticism, Magic and Kabbala in Ashkenazi Judaism, 1995 (SJ 13) 6 - 2 7 ; Wiederabdruck: ebd. III, 161 - 1 9 0 . - Ders., The Language of the Mystical Prayer: Studies in Spirituality 5 (1995) 4 0 - 6 0 ; Wiederabdruck: ebd. III, 9 9 - 1 3 0 . - Ders., The Name of God, the Name of the Rose and the Concept of Language in Jewish Mysticism: Medieval Encounters 2,3 (1996) 2 2 8 - 2 4 8 ; Wiederabdr.: ebd. III, 1 3 1 - 1 6 0 . - Steven T. Katz (Hg.), Mysticism and Language, Oxford 1992. - Gershom Scholem, Der Name Gottes u. die Sprachtheorie der Kabbala: EJB 39 (1970) 2 4 3 - 2 9 9 .
Joseph Dan VI. Systematisch-theologisch 1. Sprache als Thema der Theologie Gottes 4. Sprache Gottes/Wort Gottes
1. Sprache
als Thema
der
2. Epochen einer Theologie der Sprache (Literatur S. 777)
3. Sprache
Theologie
Zwei Pole theologischer Reflexion sind zu unterscheiden: Wort und Sprache. Obgleich hier nur das Stichwort „Sprache" thematisch sein wird, gilt uneingeschränkt: Beide Pole sind auf keine Weise zu trennen. Es gibt sie nur in wechselseitigem Bezug und in gegenseitiger Konkurrenz. Dies zeigt bereits der Blick auf das Neue Testament. 1.1. Wort. Auf den ersten Blick ist nicht Sprache, sondern „Wort" ( d ä b ä r / o Xöyoq-, TÖ prjfj.a/verbum-, -»Wort Gottes) das Thema der Theologie, und zwar ausschließlich. Deshalb handelt die große theologische Tradition vom Wort: Wort Gottes, Wort und Glaube, Wort und Sakrament, Offenbarungswort, verkündigtes Wort. In der Tat geht es im Neuen Testament von Anfang an um das Wort Gottes (ö Xöyoi; zov Oeou/verbum dei), das verkündigtes (Lk 8,11.21; 11,28), missionarisches (Act 4,31), verheißendes (Rom 9,6), gebietendes (Mk 7,13), lehrendes (Hebr 13,7), schöpferisches (II Petr 3,5.7), lebendiges
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(Hebr 4,12), von allem Menschenwort zu unterscheidendes Gotteswort (I Thess 2,13) ist, wahr und unverfälscht (II Kor 2,17; 4,2). Es geht ferner um Christi Wort (6 Xöyoq wß Kol 3,16), das lehrend (Lk 5,1), heilend (Mt 8,8.16), ermahnend (Kol 3,16) wirksam ist. geht in Christi Wort um Christus selbst (Mk 8,38 par. Lk 9,26), d.h. um Jesus Christus Wort Gottes (Joh 1,1.14, vgl. I Joh 1,1; Apk 19,13).
deshalb Xpiozov, Und es als das
D a h e r klingt die R e d e v o m „ W o r t " in der Theologie allenthalben vertraut, diejenige von Sprache dagegen kalt und fremd. W i e Sprache überhaupt theologisches T h e m a sein soll, ist nichts weniger als klar. Binnenperspektivisch gibt es die T h e o l o g i e des Wortes, bevor es eine Theologie der Sprache gibt. Theologie des Wortes gibt es aus dieser Perspektive sogar unabhängig von der fraglichen Theologie der Sprache, und sie tritt jederzeit mit dem Anspruch auf, sie - sie allein - v e r m ö c h t e die menschliche Sprache zu Stand und Wesen zu bringen, was diese von sich aus nicht vermag. Theologie der Sprache ist somit entweder müßig, oder sie ist ornamentale Spätfolge einer Theologie des Wortes. Wie fremd das Auftauchen von „Sprache" im theologischen Kontext ist, kann man sich leicht klarmachen, indem man die gewohnte Rede vom „Wort Gottes" probeweise durch „Sprache Gottes" ersetzt. Während die damit vollzogene Vertauschung für die Wort-Gottes-Theologie den Verlust ihres Themas zur Folge hätte, beginnt eben hier die Theologie der Sprache (s.u. 3.). 1.2. Sprache. Aber nun zeigt sich auch das Umgekehrte. N i c h t bloß W o r t , auch „ S p r a c h e " (läson/fi yXüJOoa/hngua) ist von allem Anfang an T h e m a der Theologie. Der Ansprüchlichkeit der T h e o l o g i e des W o r t e s ist entgegenzuhalten, daß es bereits im Neuen Testament eine Theologie der Sprache gibt, unabhängig von jener. Es gibt sie schon deshalb, weil es Theologie - OeoXoyia — vor und außerhalb christlicher oder kirchlicher Theologie gibt. T h e o l o g i e in des Wortes frühestem, d.h. griechischem Sinn w ä r e viel eher Sprache Gottes als W o r t Gottes. Genau dies ist der Punkt, an dem das selbständige Interesse an einer T h e o l o g i e der Sprache allererst entsteht. S t a m m t die T h e o logie des Wortes, wie zu sehen w a r , primär aus alttestamentlich-jüdischer, d.h. prophetischer Überlieferung, so entsteht Theologie der Sprache vornehmlich aus griechischhellenistischer, d.h. poetischer Tradition. D a h e r k o m m t es, daß die T h e o l o g i e des Wortes Gottes ihre Stelle nie erreicht, o h n e daß diese bereits besetzt ist von einer T h e o l o g i e der Sprache Gottes. T h e o l o g i e hat Theologie nicht für sich; es gibt T h e o l o g i e nur in der spannungsreichen Umstrittenheit von Theologien und offenbar vor allem diesen beiden. D a ß nicht erst das prophetische W o r t , sondern bereits die poetische N a t u r der Sprache Anlaß zu T h e o l o g i e ist: das ist das fruchtbare Ärgernis, das der theologischen Betrachtung der Sprache zugrunde liegt. Gewiß richtet sich das Interesse des Neuen Testaments, sobald es vom Organ der „Zunge" als einem Instrument des Redens (yXmoaa z.B. M k 7,33; Lk 1,68; Jak 3,5f.) abstrahiert, auf die Sprache des Menschen, wie sie vorzufinden ist. Dabei gilt der instrumentelle Sinn: Sprache ist Organon des Sprechens. Ein Mensch bedient sich seiner bestimmten Sprache wie einer Zunge, mit der und durch die er spricht, variierend von Volk zu Volk (Apk 5,9 u.ö.). Aber darauf liegt nicht das Schwergewicht der neutestamentlichen Aussagen. Bereits in Phil 2,11 ( n ä a a yXöioaa) dürfte die Beschränkung auf menschliche Sprache zu kurz greifen, weil nach 2,10 nicht nur die Sprache der Menschen, sondern auch die der himmlischen und unterirdischen Mächte die Akklamation des KÖpiOQ Jijaoöt; Xpiaxöt; zu vollbringen hat. Ferner beim terminus technicus für menschliches Sprechen (yXmaaai ZOJV ävOpcbnwv/Linguae hominum, I Kor 13,1) ist es ganz unwahrscheinlich, daß er nur im instrumentalen und nicht - wie der Kontext nahelegt - zugleich auch und vorwiegend im medialen Sinn zu verstehen sei. Der mediale Sinn ist der glossolalische (-• Zungenrede). Er herrscht im Neuen Testament vor. Die Wendung „eine Sprache sprechen" (XaXsiv yXcbaffrj, yXmaaaig/loqui lingua, Unguis Mk 16,17; Act 2 , 4 . 6 [ D ] . l l ; 10,46; 19,6; I Kor 12,30; 13,1; 14,2) begegnet sogar ausschließlich im glossolalischen Sinn. Hiermit ist nicht gemeint, daß sich jemand zum Sprechen einer bestimmten Sprache bedient, sondern daß er beim Sprechen einer bestimmten Sprache in Sprache(n) spricht {¿v yXwaarj XaXeiv, I Kor 14,19). Dies gipfelt in der Behauptung, daß im Grunde nichts (I Kor 14,10) und niemand (I Kor 12,30; 14,5.23.26) nicht „spricht", d.h. nichts und niemand ohne diese Art Sprache und Glossolalie ist. Aber bei „Sprache" gilt wie bei „Wort": Ziel ist das Bekenntnis KvpiOQ IrjaoÖQ (I Kor 12,3; Phil 2,11).
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Von einer S p r a c h e ohne W o r t e , die bei Ausfall der W o r t s p r a c h e einspringt und stärkere M a c h t als diese übt, berichten Lk 1 9 , 4 0 (oi Xidoi KpâÇovaiv, vgl. H a b 2 , 1 1 ) und I Petr 3 , 1 f. (im Fall von âneiOeîv xœ Xôycp geschieht subsidiäres ävev Xôyov ... ênonxeûeiv).
Von vornherein sind somit bei „Sprache" zwei Sinnschichten im Spiel. Es war zunächst von Sprache in einem direkten Sinn die Rede, der erster Sinn genannt sei. Dabei handelt es sich um einen gänzlich unmetaphorischen Gebrauch von Sprache, Sprache in strengem Sinn. Man sollte durchaus erwarten, daß menschliches Sprechen in eben diesem einfachen und strengen Sinn vonstatten geht. Denn jeder bedient sich der Sprache als eines Mittels und Organums, indem er mittels ihrer oder durch sie spricht. Nun findet sich aber darüber hinaus — im Neuen Testament sogar überwiegend - ein indirekter Sinn von Sprache. Dieser sei zweiter Sinn genannt. Er kommt dadurch zustande, daß, während sich jemand der Sprache in instrumentellem Sinn bedient — und nur dann —, zugleich ein mediales Geschehen mitspielt, wie es in hervorragender Weise bei der Glossolalie der Fall ist. Aber Sprache als Medium, in dem sich ein schwer faßbares ekstatisch Sprechendes äußert, impliziert ein metaphorisches Verständnis von Sprache. Dabei handelt es sich nicht um Sprache in strengem Sinn, sondern um eine Art Sprache, wie sie offenbar alle Sprache in strengem Sinn ständig umgibt. Aber eben dies, daß Sprache durchaus nicht einfach ist, sondern zumindest zweifach, direkt und indirekt, instrumental und medial, ersten und zweiten Sinnes: das ist die Voraussetzung, die so etwas wie eine Theologie der Sprache ermöglicht, aber auch erfordert. 2. Epochen
einer Theologie
der
Sprache
Aus drei Epochen lassen sich Ansätze hierzu namhaft machen: Alte Welt, Mittelalter und Moderne. 2.1. Antike: Mantik. In der Situation der Moderne kann nach Mantik nur so gefragt werden, wie überhaupt nach Alter Welt gefragt wird, nämlich als Frage nach allerlei gerade noch anzutreffenden Restbeständen an Ruinösem, Vergangenem, Verschwundenem. Mantik wird zugänglich, wenn die Vorgeschichte einer Geschichte rekonstruiert wird, die im wesentlichen als fortschreitende Löschung der Erinnerung an ihre Vorgeschichte verläuft. Dabei entsteht eine Theologie der ältesten Sprache (in der Renaissance prisca theologia genannt: Walker; Wind). Aber weil es faktisch die erste und älteste Sprache nicht gibt, handelt es sich dabei immer nur um die Suche nach der älteren Sprache, d.h. nach einer solchen, die sich selbst aus dem zu empfangen vermeint, was noch nie Sprache war. D a ß die ersten und ältesten mantischen R e d e n die einer E i c h e im Heiligtum von D o d o n a gewesen sein sollen (ôpoôç Xôyovç ër;aav fiavxiKoùç npcoxovç ysvéadai, P l a t o , P h d r . 2 7 5 b ) , m u ß ausgerechnet derselbe —»Sokrates berichten, den n a c h seinen vorschnellen W o r t e n L a n d s c h a f t e n und B ä u m e nichts lehren wollen (ebd. 2 3 0 d ) . W ä h r e n d die s p r i c h w ö r t l i c h e W e n d u n g , die Alten hätten es verm o c h t , auf „ E i c h e und S t e i n " zu hören {ôpvàç Kai néxpaç AKODEIV, ebd. 2 7 5 b ; vgl. II. X X I I , 1 2 6 ; O d . X I X , 1 6 3 ; H e s i o d , theog. 3 5 ; P l a t o , a p o l . 3 4 d ; resp. 5 4 4 d ; W i l l e m J a c o b Verdenius, H e s i o d T h e o g o n y 3 5 : M n . 11 [ 1 9 5 8 ] 2 0 - 2 4 ; M a r t i n L . West [ H g . ] , H e s i o d , T h e o g o n y , O x f o r d 1 9 6 6 = 1 9 7 8 , 1 6 7 - 1 6 9 ) , E i c h e und Stein in ihrer Eigenschaft als N a t u r p h ä n o m e n e für m a n t i s c h hält, signalisiert die Variation „ H o l z und Stein" (ÇôXa ze Kai Xidoi) bereits deren B e a r b e i t u n g d u r c h menschliche Kunst. N e g a t i v w i r d dieser T o p o s g e b r a u c h t v o n der christlichen P o l e m i k gegen heidnische M a n t i k , die als A b b r e v i a t u r der orphischen T h e o l o g i e gilt ( - » C l e m e n s v o n A l e x a n d r i e n , p r o t r . 1,3,1; 4 , 1 [ed. O t t o S t ä h l i n / U r s u l a T r e u , I 3 1 9 7 2 ( G C S ) ] : XiOoi ôè Kai £t3Aa; G r e g o r v o n N a z i a n z , o r . V,32: P G 3 5 , 7 0 3 f . ) . Positive A u f n a h m e dagegen findet er im - » N e u p l a t o n i s m u s . Bei B e t r a c h t u n g v o n Götterbildern zeige sich jedem Einsichtigen, d a ß H o l z und Stein, weit entfernt d a v o n , bloß H o l z und bloß Stein zu sein, m e h r bedeuten (Porphyrius, Péri a g a l m . , f r g m . 1 [ed. J o s e p h Bidez, Vie de P o r p h y r e , le philosophe neo-platonicien. A v e c les f r a g m e n t s des traités Péri a g a l m a t o n et D e regressu a n i m a e , 1 9 1 3 ( R T F P L 4 3 ) = Hildesheim 1 9 6 4 ] : Oaopaaxàv ô' ovSèv ÇûXa Kai XiOouç ijyEÏaûai xà £,ôava zooç àpaOeaxâxooç [Es v e r w u n d e r t nicht, w e n n die g a n z und g a r Ungebildeten die Standbilder der G ö t t e r für H o l z und Stein halten]). G.W.F. - > H e g e l w u r d e u . a . d a d u r c h inspiriert zu seiner K l a g e über den Protestantismus als „ P r i n c i p des N o r d e n s " , d a s den „ H a y n zu H ö l z e r n "
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gemacht hat und infolgedessen in die Lage gerät, „Ideale ... als Klötze und Steine" mißzuverstehen (Hegel, Glauben und Wissen: ders., GW. IV. Jenaer krit. Sehr., hg. v. Hartmut Buchner/Otto Pöggeler, Hamburg 1968, 316,33ff.; 317,20ff.). Einen Nachhall des Naturmantischen bietet -»Bernhard von Clairvaux. Experto crede: aliquid amplius inverties in silvis quam in libris. Ligna et lapides docebunt te, quod a magistris audire non possis (Glaube einem Erfahrenen: Einiges mehr wirst du in Wäldern finden als in Büchern. Holz und Stein werden dich lehren, was du bei Lehrern nicht zu hören bekommst; ep. 106,2 [ca. 1131]: Op., ed. Jean Leclercq/Henri Rochais, Rom, VII 1974, 267f.). -»Wilhelm von St. Thierry knüpft daran an in seiner Bernhards-Vita (1,4: PL 185,240CD): Nam usque hodie quidquid in Scripturis valet ..., maxime in silvis et in agris meditando et orando se confitetur aeeepisse; et in hoc nullos aliquando se magistros babuisse, nisi quercus et fagos, joco illo suo gratioso inter amicos dicere solet (Denn bis heute sei ihm, wie er bekennt, was in der Schrift steht, am stärksten durch Meditation und Gebet in Wald und Flur zuteil geworden, ja er habe darin nie andere Lehrer als Eichen und Buchen gehabt, wie er unter Freunden mit dem anmutigen Scherz, der ihm eigen ist, zu sagen pflegt). J. —»Gerson berichtet davon nicht ohne Sympathie (Bernardus ... dicens magistros suos fuisse quercus et fagos-, De laude scriptorum [1423]: Jean Gerson, Œuvres Complètes, ed. Palémon Glorieux, Paris, IX 1973, 424f.; quod quercus et fagus docuerunt eum-, ep. 50 [1423]: ebd., II 1960, 246). Jedoch F. -»Petrarca klagt, er habe eben diese Erfahrung nie machen können (De vita solitaria: Prose, a cura di Guido Martellotti u.a., Mailand/Neapel 1955, 462). M a n t i k ist somit Aufsuchung einer ersten oder wenigstens früheren Sprache, indem Sprache ständig auf Nicht-Sprache und Bedeutung auf Unbedeutendes zurückbezogen wird, und zwar so, als ob entweder dieses selbst den bedeutungsverleihenden Akt herbeirufe oder umgekehrt der bedeutungsverleihende Akt ohne alles Drängen zuwege brächte, was bereits im Bedeutungslosen lag. Einerseits verfällt die Mantik einer schnellen Kritik, weil in direktem Sinn aus dieser Suche nichts werden kann. Nicht das Mantische, sondern das Semantische ist das Feld, in dem sich alles Sprechen und Deuten bewegt, das deshalb von allem Divinieren und Ahnen klar und deutlich zu unterscheiden ist. Wegen seiner außergewöhnlichen Exzentrizität wird das Mantische gern mit dem Manischen in Verbindung gebracht (Plato, Phdr. 244c; Tim. 72a; vgl. I Kor 14,23). Aber andererseits kann Mantik kaum sinnvoll vermieden werden. Denn der „Deutungskultur" des Menschen geht seine „Deutungsnatur" voran, die „einen Bedeutungsvorsprung sichert, ohne den wir auch auf der Ebene unserer Deutungskultur orientierungslos wären" (Hogrebe, Metaphysik 15). 2.2. Mittelalter: Allegorie. Der Beitrag des Mittelalters zu einer Theologie der Sprache entsteht aus der Reflexion über den Umstand, daß unter den vielerlei schriftlichen Corpora kultureller Überlieferung sich eines befindet, dem nach seiner unvergleichlichen Rolle in Liturgie, Lehre und Leben die Bezeichnung „Heilige - » S c h r i f t " beigemessen wird. Was zeichnet die sacra scriptura vor anderen scripturae (-»Schriften, Heilige) aus? Was bringt es hervor, daß sacra scriptura geradezu als Synonym und Vorläufer von „ T h e o l o g i e " fungieren konnte? Die Antwort liegt in dem sprachtheologischen Grundsatz, eine Schrift sei desto heiliger, je mehr sie die bloße Einsinnigkeit übersteigt (—»Schriftauslegung). Heilige Schriften einsinnig lesen zu wollen hieße, sie widersinnigerweise zu profanen zu machen. Es sind profane Schriften, die sich mit Einsinnigkeit begnügen müssen. Heilig dagegen ist diejenige Schrift, der über den ersten buchstäblichen Sinn hinaus noch mindestens ein zweiter Sinn innewohnt. Und dieser, wenn er sich nur als fruchtbar erweist, kann gar nicht einer bleiben, sondern vervielfältigt sich ganz von selbst, geradezu spielend, „hundertfältig". Das ist offenbar der Fall bei der Heiligen Schrift. Sie tut, wie sie geheißen wird. Der zweite Sinn ist der allegorische Schriftsinn. Er entsteht dadurch, daß der Sprache der Schrift über die significatio vocum hinaus auch noch eine significatio rerum zukommt. In klassischer Weise hat -»Hugo von St. Viktor formuliert: Sciendum est etiam, quod in divino eloquio non tantum verba, sed etiam res significare habent, qui modus non adeo in aliis scripturis inveniri solet. Philosopbus solam vocum novit significationem, sed excellentior valde est rerum significatio quam vocum, quia banc usus instituit, illam natura dictavit. Haec bominum vox est, illa vox Dei ad bomines. Haec prolata perit, illa creata subsistit (Man muß weiterhin wissen, daß
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in der Rede Gottes nicht nur die Worte, sondern auch die Dinge eine Bedeutung haben, eine Besonderheit, die man in anderen Schriften nicht in dieser Weise findet. Der Philosoph kennt lediglich die Bedeutung der Wörter, doch ist die Bedeutung der Dinge weit wichtiger als die der Wörter, denn während diese durch den Gebrauch bestimmt wird, ist jene durch die Natur festgesetzt worden. Diese ist die Stimme von Menschen, jene ist die Stimme Gottes, der zu den Menschen spricht. Diese verschwindet, nachdem sie ausgesprochen worden ist, jene aber, einmal geschaffen, besteht fort; Didascalicon de studio legendi V,3: übers, u. eingel. v. Thilo Offergeid, 1997 [FC] 322f.). Selbst -»Thomas von Aquino hat den allegorischen Schriftsinn, aller Einschränkung zum Trotz, mit der er aus der Theologie, sofern sie argumentierend ist, ausgeschlossen wird, mit genau denselben Worten beschrieben: auctor sacrae Scripturae est Deus, in cuius potestate est ut non solum voces ad significandum accommodet (quod etiam homo facere potest), sed etiam res ipsas (Verfasser der Heiligen Schrift ist Gott, in dessen Macht es steht, nicht nur den Wörtern Bedeutung zuzumessen - das kann auch ein Mensch - , sondern auch den Dingen; S.th. I 1,10c). Die allegorische Dingbedeutung der Schrift eröffnet Aussichten a u f eine „pfingstliche S p r a c h e " jenseits der babylonischen Verwirrung der Literalsprachen (Ohly). J e d o c h ist die Verwirrung auch ihr eigener Teil. Was heißt significatio rerum? Bereits in den scholastischen Schulen zeichnet sich die Differenz ab, daß darunter sowohl Schriftdinge wie Weltdinge verstanden werden können, daß also ein imaginärer Punkt in den Blick tritt, an dem liber scripturae und Uber creaturarum sich berühren sollten. Aber weil dieser Punkt immer nur imaginär bleiben kann, m u ß er faktisch mit einseitiger Neigung zur einen oder zur anderen Seite konstruiert werden. Während sich die von der interpretatio naturae gelöste interpretatio scripturae mit ihrem allegorischen Mehrwert in die Provinz der -»Frömmigkeit zurückzieht, eröffnet die von der interpretatio scripturae gelöste interpretatio naturae das „emblematische Zeitalter" (J.G. -»Herder). Andreas Alciatus (1492-1550) findet hierfür die treffliche Formel: tacitis scribere ... rebus/„On gschrift redt doch ein solich bildt" (Emblematum libellus, Paris 1542 = Darmstadt 1975, 16 f.). 2.3. Moderne: Sprache als Metapher. Die einzelnen sprachtheologischen M o t i v e aus Antike und Mittelalter bündeln sich in der M o d e r n e zu einem einzigen Vorgang, der sich als Umkehrung der herkömmlichen Lehre von der M e t a p h e r erst langsam vorbereitet, dann mit M a c h t vollzieht und der an Fundamentalität k a u m überschätzt werden kann. Jetzt sind alter und neuer Begriff der M e t a p h e r zu unterscheiden. Die Schulrhetorik beschreibt die M e t a p h e r im R a h m e n der Lehre von den Figuren oder Tropen als Abweichung v o m normalen Sprachgebrauch, m a n c h m a l als eine unter anderen, m a n c h m a l als hervorragendste unter allen. Dagegen fängt in der M o d e r n e der Begriff des M e t a phorischen an, seine Schulgrenzen zu sprengen und so lange zu wuchern, bis er geradezu alles umfaßt, w a s Sprache ist. Aus der M e t a p h e r als einem bestimmten P h ä n o m e n in den rhetorischen oder poetischen Regionen der Sprache wird Sprache überhaupt zur Metapher. „Sprache als Metapher ist von der sprachlichen Metapher zu unterscheiden" (Liebrucks, Sprache I, 481). Die Anfänge hierfür dürften in der anticartesianischen Tradition zu suchen sein, die durch Giambattista Vico (1670-1744) initiiert wird. Sein Satz Unguis ingenia, non linguas ingeniis formari (daß durch die Sprachen die Geister, nicht die Sprache durch die Geister gebildet werden; De nostri temporis studiorum ratione [1708], c. 7), wieder aufgenommen in J . G . -»Hamanns These über die „Sprache, das einzige erste und letzte Organon und Kriterion der Vernunft" (SW, ed. Josef Nadler, Wien, III 1951, 284; „Vernunft ist Sprache Aoyog": Briefwechsel, hg. v. Walther Ziesemer, Wiesbaden, V 1965, 177), findet bei J . G . Herder ein reiches Echo, wenngleich ohne handliche Formel. „Sprache als Metapher": In dieser Formulierung handelt es sich um ein Lehrstück des 19. Jh. Daher kann erst im Rückblick auf Herders Sprachphilosophie kurz und bündig formuliert werden: „Der Mechanismus der Sprache ist Metapher" (Schmidt 534; vgl. Fürst 16.287ff.). Womöglich war es August Wilhelm Schlegel (1767-1845), der erstmals das Herdersche Erbe in die knappe Wendung gefaßt hat, die Metapher, zunächst traditionell die „schönste und für die Poesie wichtigste Art von Tropen", habe sich jetzt verdichtet zu „der einen großen Metapher", „welche schon in der ursprünglichen Bildung der Sprachen liegt" (A.W. Schlegel, Die Kunstlehre [1801]. Krit. Sehr. u. Briefe II, hg. v. Edgar Lohner, Stuttgart 1963, 250f.). Jean Paul (1763-1825) knüpft daran an, indem er die Metapher als „das frühere Wort" bezeichnet, „welches sich erst allmählich zum eigentlichen Ausdruck entfärben mußte. ... Daher ist jede Sprache in Rücksicht geistiger Beziehungen ein Wörterbuch erblasseter Metaphern" (Vorschule der Ästhetik [1804] § 50: ders., SW,
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hg. v. Norbert Miller, München, V 4 1980, 184). Daß „sich ohne Sprache ... überhaupt kein menschliches Bewußtsein denken läßt", d a ß folglich auch „der Grund der Sprache nicht mit Bewußtsein gelegt" wurde und daher „die Sprache selbst... nur ... verblichene Mythologie sei", dies hat F.W.J. -•Schelling nur deshalb nicht unter dem Begriff des Metaphorischen gefaßt, weil das, was „ m a n " so „zu nennen pflegt", als uneigentlich mißverstanden werden könne (Historisch-kritische Einleitung in die Philosophie der Mythologie [konzipiert um 1830, letztmals vorgetragen 1842; veröffentlicht 1856]: ders., SW, hg. v. Karl Friedrich August Schelling, Stuttgart, XI 1856, 52). Gustav Gerber (1820-1901) bewegt sich in dieser Tradition; er stellt deshalb „folgenden Satz an die Spitze: Alle Wörter sind Lautbilder und sind in Bezug auf ihre Bedeutung an sich und von Anfang an Tropen. (Eigentliche Worte' d.h. Prosa giebt es in der Sprache nicht" (Die Sprache als Kunst, Bromberg, I 1871,333; vgl. Meijers/Stingelin 353). In Rezeption von Gerber gelangt F. -»Nietzsche nach den Vorarbeiten seiner Rhetorik-Vorlesung (1872; Krit. GA, hg. v. Giorgio Colli/Mazzino Montinari, Berlin u.a., II/4 1995, 426,24 -427,24: „Alle Wörter ... sind an sich u. von Anfang [an], in Bezug auf ihre Bedeutung Tropen. ... In summa: die Tropen treten nicht dann u. wann an die Wörter heran, sondern sind deren eigenste Natur. Von einer eigentlichen Bedeutung', die nur in speziellen Fällen übertragen würde, kann gar nicht die Rede sein.") zu seinem an Wirksamkeit kaum zu überschätzenden Satz: „Was ist also Wahrheit? Ein bewegliches Heer von M e t a p h e r n " (Nietzsche, Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne [1872]: Krit. GA, III/2 1973, 374,30). Am Ende des 19. Jh. bezeichnet Hugo von Hofmannsthal (1874-1929) im Rückblick die bei Alfred Biese (Die Philosophie des Metaphorischen, H a m b u r g 1893) gemachte Voraussetzung, „es gebe in Deutschland Leute, die den metaphorischen Ausdruck für einen willkürlich gewählten Schmuck der Rede hielten", als „sonderbar": es gibt solche Leute fast nicht mehr, und es muß daher k a u m noch eigens bewiesen werden, daß „das Metaphorische eine primäre Anschauung ..., und die Metapher die wahre Wurzel alles Denkens und Redens" sei (H. von Hofmannsthal, Philosophie des Metaphorischen [1894]: ders., Reden - Aufsätze I. GW [VIII], Frankfurt a.M. 1979, 190). Daß „wirklich die Metapher oder das dichterische Bild der Ursprung und das Wesen aller Sprache ist", wiederholt auch Fritz Mauthner (Wb. der Phil. Neue Beitr. zu einer Kritik der Sprache, München, II 1911 [Nachdr. Zürich 1980] 14b).
3. Sprache
Gottes
Es g e s c h i e h t w e d e r z u m L u x u s n o c h z u r b l o ß e n A b w e c h s l u n g , w e n n a u ß e r v o m W o r t G o t t e s a u c h v o n S p r a c h e G o t t e s g e r e d e t w i r d . Ist dies a u c h in j e d e m e i n z e l n e n Fall n i c h t v o n v o r n h e r e i n a u s z u s c h l i e ß e n , so f i n d e t sich d o c h d i e R e d e v o n d e r S p r a c h e G o t t e s m e i s t in b e s t i m m t e n , c h a r a k t e r i s t i s c h e n K o n t e x t e n . Z w e i Weisen d e r A n n ä h e r u n g an die Sprache G o t t e s sind d e n k b a r , e n t w e d e r über die „Sprache der G ö t t e r " o d e r ü b e r die „Sprache der Sprache". 3.1. Sprache der Götter. W i e m a n sich d e m T h e m a d e r S p r a c h e G o t t e s n i c h t n ä h e r n k a n n , o h n e s o e t w a s w i e S p r a c h e d e r G ö t t e r g e d a c h t zu h a b e n , so k a n n m a n w o h l d i e S p r a c h e d e r G ö t t e r n i c h t d e n k e n , o h n e d i e u n e n d l i c h e Welt d e r j e n i g e n S p r a c h e n z u z u lassen o d e r h e r b e i z u r u f e n , d i e ihr C h a r a k t e r i s t i k u m d a r i n h a b e n , d a ß sie g e n a u d i e B e d i n g u n g n i c h t e r f ü l l e n , d i e a n sich s t i l l s c h w e i g e n d z u m Begriff einer S p r a c h e g e h ö r t , n ä m l i c h d a ß es sich u m e i n e S p r a c h e d e r M e n s c h e n h a n d e l t . W e n n s o m i t e i n e r s e i t s v o n S p r a c h e d i e R e d e ist, a b e r a n d e r e r s e i t s n e g i e r t w i r d , d a ß es sich u m eine S p r a c h e d e r M e n s c h e n h a n d e l t , s o f o l g t , d a ß d e r Begriff d e r S p r a c h e m e t a p h o r i s c h w i r d (s.o. 2 . 3 . ) . A b e r a n d e r s , als d a ß d i e s e l b s t v e r s t ä n d l i c h e u n d a u s s c h l i e ß l i c h e Z u g e h ö r i g k e i t d e r S p r a c h e z u m M e n s c h e n n e g i e r t u n d folglich d e r Begriff d e r S p r a c h e m e t a p h o r i s c h w i r d , w i r d d e r W e g z u s o e t w a s w i e S p r a c h e G o t t e s o d e r T h e o l o g i e d e r S p r a c h e nie b e t r e t e n . W i r d er a b e r b e t r e t e n , s o h a t m a n a l s b a l d n i c h t n u r d i e S p r a c h e G o t t e s , w i e e r w ü n s c h t , s o n d e r n m a n h a t d i e G e s a m t h e i t aller m e t a p h o r i s c h e n S p r a c h e n , e r w ü n s c h t e r u n d u n e r w ü n s c h t e r . N i c h t n u r w i r s p r e c h e n : Alles s p r i c h t . G e n a u e r : G e b e n w i r a u f , u n s a l s einzige S p r e c h e r d e r S p r a c h e z u b e h a u p t e n , so s p r i c h t a l s b a l d alles. „Der Mensch spricht nicht allein - auch das Universum spricht - alles spricht - unendliche Sprachen" (-»Novalis, Allg. Brouillon 1798/99, Nr. 143: ders., Schriften, ed. Richard Samuel, Stuttgart, III 3 1983, 267f.; „Alles spricht" ferner bei Adalbert Stifter [1805-1868], SW I, 245 [nach Sibylle Penkert (Hg.), Emblem und Emblematikrezeption, Darmstadt 1978, 472]; Marcel Mauss, Essai sur le Don [1925]: ders., Sociologie et Anthropologie, Paris '1966, 143 - 279, hier 220; dt.:
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Die G a b e , F r a n k f u r t a . M . 1968, 110). D e n Einspruch gegen eine solche m e t a p h o r i s c h e Ausweitung des Begriffs „ S p r a c h e " kann man sich nicht streng genug vorstellen: Kai Asysi 6 Xsycov dXX' oü Xp&ßO. oööe npäyßo. (es redet der Redende, aber nicht F a r b e oder Ding; Aristoteles, G o r g . 6 , 9 8 0 b 2 f . ) . Dagegen -> Paulus formuliert sein „Alles s p r i c h t " z w a r unter den Bedingungen hellenistischen Pneum a t i k e r t u m s , aber mit einer um so treffenderen doppelten N e g a t i o n : oudev äwvov (I Kor 14,10). Die M a c h t dieses Nicht-nicht öffnet das menschliche G e h ö r für die unermeßlichen Intermundien von allerlei engelischen oder dämonischen Sprachen und wiederum für Unterscheidungen innerhalb ihrer (das wird mit yevij yXwaoöbv gemeint sein, I K o r 1 2 , 1 0 . 2 8 ; vgl. 14,10). Sprache der Engel (jubilatio) und S p r a c h e der Unerlösten (ululatio) haben ihren O r t in der T h e o l o g i e und noch viel m e h r in der —»Liturgie. Hier seien nur wenige - nicht p r i m ä r liturgische - Beispiele genannt.
3.1.1. Sprache der Dinge. Ohne Zweifel eröffnet „Sprache der Dinge" den weitesten Horizont für eine Sprache, die beansprucht, nicht des Menschen Sprache zu sein, und daher die Vermutung auf sich zieht, sie dürfe womöglich als Sprache Gottes verstanden werden. In „Sprache der Dinge" sind sowohl Dinge der Kunst wie der Natur umfaßt. Zwar zeigt sich leicht die einseitige Neigung, an Dinge der Natur eher als an solche der Kunst zu denken. Dies mag damit zusammenhängen, daß Sprache der Dinge in hohem Maß vormoderne Vorstellungen aufruft: Erfahrungsweisen der Welt, in der diese fundamental anders begegnet oder begegnete, nicht gegenständlich als zu verbrauchende, sondern so, daß sie zum Menschen allererst spricht. Dinge werden — wurden - erfahren als Wort. H . von H o f m a n n s t h a l vermutet in der Gestalt des L o r d s C h a n d o s , d a ß „die Sprache, in welcher nicht nur zu schreiben, sondern auch zu denken mir vielleicht gegeben wäre, weder die lateinische noch die englische noch die italienische und spanische ist, sondern eine S p r a c h e , von deren W o r t e n mir auch nicht eines bekannt ist, eine S p r a c h e , in welcher die stummen Dinge zu mir sprechen, und in welcher ich einst im G r a b e vor einem u n b e k a n n t e n R i c h t e r mich verantworten w e r d e " (Ein Brief [1902]: ders., G W [VII], 4 7 2 ) . In diesem Sinne fragt H . - G . G a d a m e r , „ o b Sprache, wenn man sie w a h r h a f t denken will, nicht a m E n d e .Sprache der Dinge' heißen m u ß " , und reformuliert diese Frage in der folgenden Fassung: „Ist nicht die Sprache weniger die Sprache des M e n s c h e n als die Sprache der D i n g e ? " ( G a d a m e r , N a t u r 6 4 f . )
Aber die Neigung zur Regression ist mit der Sprache der Dinge nicht zwangsläufig verbunden. Daß Dinge, einerlei ob natürlich oder artifiziell, sprechen, beschreibt zunächst und präzis nur dies, daß in jedem eigentlichen Sprechakt auch Träger des Sprechens zugegen sind und also auch Unbedeutendes, dessen Aufgabe sich darauf beschränkt, die Bedeutung zu tragen und im übrigen hinter dem Bedeuteten zu verschwinden. Während im Normalfall die Aufmerksamkeit vom Unbedeutenden ganz selbstverständlich und ohne weitere Umstände weggewiesen wird auf das Bedeutete, um dessentwillen es gesetzt ist, kann plötzlich das Außerordentliche eintreten, daß umgekehrt das Unbedeutende alle Aufmerksamkeit auf sich zieht, ja geradezu absorbiert, indem es seine Art der Rede jenseits der Rede vollführt. A. Assmann hat dies als „wilde S e m i o s e " beschrieben, die als U m k e h r u n g der elementarsten semiotischen Gesetze vonstatten geht. W ä h r e n d gewöhnlich die Regel gilt, „ d a ß ein Z e i c h e n , um semantisch erscheinen zu können, materiell verschwinden m u ß " , bringt die wilde Semiose „die Grundpfeiler der etablierten Z e i c h e n o r d n u n g zum Einsturz, indem sie ... die M a t e r i a l i t ä t des Zeic h e n s ... und die Präsenz der Welt wiederherstellt". D i e „ S p r a c h e der D i n g e " , die damit in p a r a d o x e r Weise laut w i r d , betätigt sich „als s t u m m e G e g e n s p r a c h e " ( A s s m a n n , S p r a c h e 2 3 8 f . 2 4 6 ) .
Im gewöhnlichen Geschehen eines loqui vocibus ist immer zugleich ein außergewöhnliches loqui rebus zugegen. Als Rebus präsentiert sich durchweg die Sprache der Dinge. 3.1.2. Sprache der Natur. Historisch gesehen ist die „Sprache der Natur" nicht die älteste der göttlichen Sprachen, sie wird nur als solche postuliert. Terminologisch tritt sie sogar erst in der frühen Neuzeit auf. Das „Buch der Natur" ist älter. Dieses hat sich mit der Überlieferung vom großen Anachoreten Antonius ausgebreitet. Man darf vermuten, daß die Rede von der Sprache der Natur erst auf dem Weg über das Buch der Natur gebräuchlich wurde, und zwar in dem Moment, da die Lehre von der Heiligen Schrift und den von ihr ausgehenden Schriftmetaphern unter den Druck der Modernität geriet.
III
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Gewiß sagt Hugo von St. Viktor: Omnis natura deum loquitur (Didascalicon VI,5: ed. Thilo Offergeid, 1997 [FC 27] 384), aber dies darf aus dem Zusammenhang mit der Heiligen Schrift nicht isoliert werden. „Sprache der Natur" scheint sich erst bei J. -»Böhme zu finden („Sprache der Natur" ist „Wurtzel oder Mutter aller Sprachen, die in dieser Welt sind, und stehet die gantze vollkömmliche Erkenntniß aller Dinge hierinnen"; Böhme, Aurora X X , 90: ders., Sämtl. Sehr. I [1730], Faks.-Neudr. Stuttgart 1955, 296; „Natur-Sprache": ebd. III, 109; VI, 7). J.G. Hamann (Aesthetica in nuce: ders., SW, ed. Nadler, II 1950, 211,5: „die ausgestorbene Sprache der Natur"), J . G . Herder (Ursprung der Sprache: SW, ed. Bernhard Suphan, Berlin, V 1891,7.9.15f.: Empfindung als „Sprache der Natur"), Georg Christoph Tobler (Die Natur [1783]: Goethes Werke. Hamburger Ausg. in 14 Bänden, hg. v. Erich Trunz, Hamburg u.a., XIII 1955 = '1971, 4 5 - 4 7 , hier 47: „Sie hat keine Sprache noch Rede, aber sie schafft Zungen und Herzen durch die sie fühlt und spricht"), I. -»Kant (KdU, B 172: „gleichsam eine Sprache, die die Natur zu uns führt") und Novalis (Allg. Brouillon [1804]: ders., Schriften III, 427: „Vielleicht ist alle mechanische Bewegung nur Sprache der Natur") schließen in unterschiedlicher Weise daran an. Wenn aber Johann Wilhelm Ritter (1776-1810) formuliert: „Pflanzen, die ganze Vegetation, sind die Sprache der Natur. In der Pflanze ist Alles ausgesprochen" (Fragmente aus dem Nachlasse eines jungen Physikers, Heidelberg, II 1810,41 Nr. 430), so ist spätestens damit deutlich: Die Natur hat endlich gelernt, ihre eigene Sprache zu sprechen, und diese ist unvergleichbar mit der Sprache der Menschen. 3.1.3. Sprache der Künste/Sprache des Bildes/Sprache der Musik. D a ß in den Künsten - Bildende Kunst, M u s i k , Dichtung - eine Art Sprache gepflegt werde, ist womöglich unter den Wendungen, die bevorstehen, noch die zugänglichste. Allerdings ist die Reihe, die sich hieran anschließt, unabsehbar. N i c h t nur die „Sprache der A r c h i t e k t u r " gilt als geläufige Wendung, sondern auch Wendungen wie „ S p r a c h e des Bildes", „Sprache der M u s i k " oder sogar „ S p r a c h e des G e d i c h t s " werden häufig gepflegt. In dieser Weise nebeneinandergestellt erwecken die Ausdrücke die E r w a r t u n g , als seien sie Rubriken einer Ästhetik aus einem G u ß , der Ästhetik aus dem Geist der -•Hermeneutik. Aber davon kann keine R e d e sein. J e d e „ S p r a c h e " stellt wiederum ein unverwechselbar eigenes Problem dar. Auf welche Weise spricht Architektur eine Sprache? Als F o r m e n s p r a c h e oder als Materialsprache? Ähnlich beim Bild: W a r u m Sprache des Bildes? Als Sprache der Farben oder Sprache der Linien? W ä h r e n d Sprache der Architektur oder Sprache der Bilder auf ihre Weise solide Fügungen darstellen, beginnt bei der Sprache der Musik (—•Musik und Religion) bereits der Konflikt, daß m a n bei zunehmender Annäherung an wirkliche Sprache (Musik umfaßt Vokalmusik, ja ist ehemals - als fiovaiKfj - im Kern Vokalmusik gewesen) in desto größere Entfernung zur Sprache der Musik gerät. Jetzt steht geradezu Sprache „ S p r a c h e " im Wege. Bei der Sprache des Gedichts d r o h t schließlich die metaphorische Spannung zwischen Sprache und Sprache sogleich ganz in sich zusammenzufallen. D a ist sie ja! Im Gedicht scheint der Fall eingetreten, d a ß die Sprache sich selbst z u v o r g e k o m m e n ist. D a h e r m u ß das Poetische aus der jetzigen Reihe herausgenommen und der zweiten (s.u. 3 . 2 . ) zugeordnet werden. „Sprache des Bildes" begleitet das Bild nicht einfach immer und überall, sondern gehört an einen in der Hermeneutik des Bildes näher zu bestimmenden historischen Ort. Zunächst schweigt das Bild. Oder genauer: Es schweigt nicht, sondern es schweige aus antiidololatrischen Gründen. So darf man Paulus verstehen: xä eiScoXa xä äiova (I Kor 12,2; vgl. Ps 113,13 L X X ; 134,16 L X X : azona Exovaiv Kai oö XaXr/ffOvaiv). Oder es finden sich Aussagen über das Schweigen des Bildes, die in ihrem Rücken, d.h. indirekt, etwas über das redende Bild mitteilen. So der traditionelle (Simonides-) Spruch: £(oypaiav ftev slvai Qe.yyopi.vr\v xijv noirjaiv, noirjaiv Sc oiyßtaav xrjv Ccoypaiav (Dichtung sei sprechende Malerei, Malerei dagegen schweigende Dichtung; Plutarch, aud. poet. 17f.; vgl. Lange 15ff.). Daß Bilder beginnen zu reden, scheint überraschenderweise erst nach Beendigung aller philosophischen und theologischen Bilderkritik, d.h. erst in der christlichen Welt formuliert worden zu sein. Das redende Bild wurde begünstigt durch die hervorragende Stellung des Buches. Die Lesbarkeit scheint es gewesen zu sein, die dem Bild Sprachartigkeit zuführt. So wird das Bild sprechend auf dem Umweg über das sprechende Buch (Gregor von Nyssa, De S. Theod., Opp.: Gregorii Nysseni Op., begr. v. Werner Jaeger, Leiden, X/l 1990, 6 3 , 9 - 1 3 : [o (coypaipoi;] navxa rjpiv WQ ev ßißXicp xivi yXcoxxo6pcp Siä xpco/iäxcov xexvoopy^adfievoQ ... OISE yäp Kai ypatj mcon&aa ev xoi/qj Xa.Xe.Tv Kai xd (teyiaxa (b(j>eXeiv [Maler stellen uns alle Dinge durch das Mittel der Farbe wie in einem sprachhaltigen Buche dar ... Denn auch die stumme Schrift an der Wand kann reden und dadurch überaus nützlich sein]; vgl. Lange 33). Die Geschichte
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des sprechenden Bildes hat H . Belting (43.51 f.292ff.) skizziert. Wenn H . - G . G a d a m e r im Blick auf m o d e r n e Kunst vom „Verstummen des B i l d e s " spricht, dann markiert er damit den Punkt, an dem das Bild aus jeder Ähnlichkeit zur Sprache des M e n s c h e n ausbricht ( G a d a m e r , Verstummen). Der von M . Imdahl geprägte Begriff der Ikonik läßt die T r a d i t i o n des redenden Bildes hinter sich. Er p o c h t auf „Identität des B i l d e s " und hält als Kernsatz der I k o n i k fest, „ d a ß die M a l e r e i selbst eine durch nichts anderes zu substituierende , S p r a c h e ' ist, d a ß sie eine durch nichts anderes zu substituierende Erfahrung e r ö f f n e t " (Imdahl 14). Ist sie in diesem präzisen Sinn „ S p r a c h e " , so ist dies gerade keine „Sprache des B i l d e s " mehr im hergebrachten Sinn. „Sprache der M u s i k " ist eine Wendung, die noch viel stärker als „Sprache des Bildes" auf ihre eigene Auflösung hinarbeitet. Sie tut es einfach deshalb, weil Sprache mit M u s i k - wenigstens sofern es sich um Vokalmusik handelt - immer schon verknüpft ist. Altgriechische fiovaiKrj ist ja „ M u s i k und Dichtung in e i n e m " . Aber: „Aus der ursprünglichen Einheit ist eine Zweiheit g e w o r d e n " . D a n n ist es prinzipiell möglich, „ M u s i k und Sprache streng voneinander zu t r e n n e n " (Georgiades, M u s i k 6 f . ) . Dies geschieht nicht ohne nachtrauerndes Bedürfnis, zur Einheit doch noch zurückzukehren. Die Entstehung des Recitativo, die barocken Fragestellungen R h e t o r i k und M u s i k , Affekte und M u s i k , ferner die Spekulationen über Ursprache samt Evokation sprachsingender Zeiten ( J . J . —»Rousseau; J . G . Herder): das alles ist in diesem Z u s a m m e n h a n g zu begreifen. Aber gerade diese S p r a c h e - Sprache im wörtlichen Verständnis - meint „Sprache der M u s i k " nicht. Erst im 18. J h . , erst indem eine sich ausbreitende Instrumentalmusik die Loslösung der M u s i k von der Sprache bewirkt und M u s i k in neuer Weise als Tonkunst bezeichnet wird, kann die Wendung von der „Sprache der M u s i k " beginnen zu greifen ( R e c k o w , Art. Tonsprache). Sprache der M u s i k ist die der M u s i k eigene Sprache bei Abwesenheit aller Sprache. Das meint Novalis, wenn er „ S p r a c h e der M u s i k " als ,,Vers[uch,] bestimmt durch die M u s i k zu sprechen", bezeichnet (Schriften III, 283). Also Versuch, die Einheit von M u s i k und Sprache einzuholen nicht auf dem Weg der Ähnlichkeit, sondern der vollendeten Unähnlichkeit beider. Wenn E Nietzsche M u s i k „eine Art S p r a c h e " nennen will (Unzeitgemäße Betrachtungen IV,5: Krit. G A , I V / 1 1967, 28,23), so riskiert er die ungebremste Kollision mit Eduard Hanslick (Vom Musikalisch-Schönen, Leipzig 1854), der davor warnte, „die M u s i k als eine Art Sprache aufzufassen" (ebd. 49). „In der M u s i k ist Sinn und Folge, aber musikalische-, sie ist eine Sprache, die wir sprechen und verstehen, jedoch zu übersetzen nicht im Stande sind" (ebd. 35). T h . W . Adorno faßt dies in den ebenso gnomischen wie elliptischen Satz: „Gegenüber der meinenden Sprache ist M u s i k eine von ganz anderem T y p u s " (Adorno 252). 3.1.4.
Sprache
der
Götter.
N u n s t e h e n Bild u n d M u s i k einerseits u n d S p r a c h e a n d e -
rerseits in V e r h ä l t n i s s e n , die s i c h g e g e n s e i t i g b e r ü h r e n . Z w a r finden sich a n t i k e E r z ä h l u n g e n v o n d e n G ö t t e r n , die u n t e r e i n a n d e r i h r e e i g e n e , g ö t t e r s p r a c h l i c h e S p r a c h e s p r e c h e n . A b e r die n i c h t e r s t n e u z e i t l i c h e , v i e l m e h r b e r e i t s a n t i k e K r i t i k s o l c h e r
Mythologumena
läuft a u f d i e P o i n t e h i n a u s : E s g i b t k e i n e S p r a c h e d e r G ö t t e r ; es g i b t sie n i c h t , w i e es a u c h keinerlei G ö t t e r b i l d u n d k e i n e n G ö t t e r h y m n u s g i b t . H i e r ist die e p i k u r e i s c h e K r i t i k v o n p a r a d i g m a t i s c h e m S c h a r f s i n n ( G l a d i g o w ) . Sie h ä l t als R e s u l t a t fest: E s gibt k e i n e G ö t t e r . A b e r selbst n a c h v o l l e n d e t e r G ö t t e r k r i t i k g i b t es o h n e Z w e i f e l i m m e r n o c h B i l d e r , g i b t es M u s i k . U n d o b g l e i c h G ö t t e r , v o n d e n e n A n - s i c h - S e i n a u s z u s a g e n ist, d u r c h sie n i c h t m e h r ins Bild g e s e t z t u n d n i c h t m e h r in T ö n e g e b r a c h t w e r d e n , ist d o c h
bereits
d a s p u r e D a s e i n v o n B i l d e r n u n d v o n M u s i k d e r l e b e n d i g e B e w e i s d a f ü r , d a ß es i m m e r n o c h s o e t w a s w i e G ö t t e r g i b t , ja, es ist d e r einzige. U m diese e p i k u r e i s c h e F i g u r z u generalisieren: J e m e h r Dinge, N a t u r , Bilder u n d K l ä n g e zu sprechen beginnen, u n f e h l b a r e r w i r d in i h n e n s o e t w a s w i e e i n e S p r a c h e d e r G ö t t e r v e r n o m m e n .
desto
Ästhetik
wird somit zur W a h r n e h m u n g der Sprache der Götter. U n d ebenso auch mit der Sprache (s.u. 3 . 2 . ) . N i c h t e t w a k ü n d e t sie v o n G ö t t e r n , die es a n s i c h i m m e r s c h o n g i b t , u n d n i c h t h a t sie s o l c h e z u ihren S p r e c h e r n . E s g i b t k e i n e a n s i c h s e i e n d e n g ö t t l i c h e n S u b j e k t e , die s i c h d e r S p r a c h e b e d i e n t e n . E s g i b t a b e r d i e S p r a c h e , die m e n s c h l i c h e o f f e n b a r , u n d sie ist d e r l e b e n d i g e B e w e i s f ü r d i e S p r a c h e d e r G ö t t e r u n d ist d e r einzige. S p r a c h e d e r G ö t t e r g i b t es s o m i t n u r in u n d d u r c h S p r a c h e , s o f e r n diese d u r c h i h r e P o e t i z i t ä t A n h a l t d a f ü r b i e t e t . D a ß d a h e r die S p r a c h e d e r G ö t t e r , s c h o n d e s h a l b , weil sie g l e i c h e r m a ß e n z u Bild, M u s i k u n d S p r a c h e (Poesie) g e h ö r t , i m m e r g e n a u a u f d e r G r e n z e z w i s c h e n S p r a c h e u n d N i c h t s p r a c h e ihren eigentümlichen O r t hat, b e d a r f keiner weiteren E r w ä h n u n g . G ö t t e r s p r a c h e wird von H o m e r erwähnt (II. 1,403; X I V , 2 9 1 ; vgl. G ü n t e r t , Sprache; H e u b e c k ) . Plato zitiert göttersprachliche G ö t t e r n a m e n ( C r a t . 4 0 0 d e ; Phdr. 2 5 2 b ) . Dagegen „ S p r a c h e der G ö t t e r " scheint erst in der Neuzeit durch G i a m b a t t i s t a V i c o terminologisch geworden zu sein: „lingua
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Sprache/Sprachwissenschaft/Sprachphilosophie V I
degli dèi" (La Scienza nuova [1744], Rom 1978, §§ 174.437; vgl. Trabant, Wissenschaft 64f.). Die göttliche Sprache ist wesentlich stumm (Wohlfart, Punkt). Daher ist Göttersprache nicht die von Göttern, sondern die von Menschen, nämlich von poetae tbeologi gesprochene Sprache, in der Götter als solche erscheinen. 3.2. Sprache der Sprache. N i c h t nur in H i n s i c h t auf nicht- oder vorsprachliche Sprachen ist von der S p r a c h e G o t t e s zu reden, sondern auch in H i n s i c h t a u f die sprachliche S p r a c h e selbst, d.h. in H i n s i c h t a u f die n o r m a l e r w e i s e von M e n s c h e n gesprochene. Und erst im Z u s a m m e n s p i e l beider, d . h . im Z u s a m m e n s p i e l zwischen der S p r a c h e der G ö t t e r und der Sprache der S p r a c h e , wird sich so etwas wie eine S p r a c h e G o t t e s denken lassen. 3.2.1. Sprache als Mittel/als Medium. Z w a r k a n n es nur m ü ß i g sein, zwischen M i t t e l und M e d i u m zu unterscheiden, s o l a n g e m a n darin dasselbe e r k e n n t , b l o ß einmal deutsch, einmal lateinisch. A b e r nun zeigt sich - in geschickter Ausnützung des Umstandes, d a ß ein M e d i u m zugleich auch M i t t e l ist, oder s c h ä r f e r , d a ß jedes M e d i u m , das begehrte, nichts als M e d i u m zu sein, augenblicklich a u f h ö r e n m ü ß t e zu sein - , d a ß zwischen M i t t e l und M e d i u m zu unterscheiden ist nicht wie zwischen zwei S p r a c h e n , sondern wie zwischen zwei A r t e n einer und derselben S p r a c h e . M a n spitzt dies gern terminologisch dadurch zu, d a ß die A u s d r ü c k e aus einer S p r a c h e - d e m Lateinischen — g e n o m men werden. D a d u r c h schärft sich erst recht die unterscheidende K r a f t . D i e Unterscheidung lautet dann z w e c k m ä ß i g e r w e i s e : S p r a c h e als Instrument oder als M e d i u m . G.W.F. Hegel hat in der Einleitung zur Phänomenologie des Geistes in klassischer Weise unterschieden: Mittel entweder als „Werkzeug unserer Thätigkeit" oder als „passives Medium"; im ersten Fall bedienen wir uns des Mittels, im zweiten bedient sich seiner etwa das Licht, das auf dem Weg zu uns seine Strahlen in ihm bricht. Es ist „in beyden Fällen ein Mittel", aber einmal dient es zu „Formirung und Veränderung", das andere Mal ist es einfach nur zugegen, „ohne etwas ... zu verändern", wie eine „Leimruthe" (GW. IX. Phänomenologie des Geistes, hg. v. Wolfgang Bonsiepen/ Reinhard Heede, Hamburg 1980, 53f.). Auf die von Hegel gepflegte terminologische Eleganz, mit der aus dem Einsinn des Wortes „Mittel" der Doppelsinn der Instrumentalität und Medialität hervorgetrieben wird, trifft man selten. Man trifft aber unfehlbar darauf bei Walter Benjamin (1892— 1940), der von Sprache fordert, sie sei im Sinn „nicht ... des Mittels, sondern des Mediums" zu verstehen (GS, hg. v. Rolf Tiedemann/Hermann Schweppenhäuser, II/l 1991 [stw 932] 144f.; übernommen von G. —»Scholem, 95 Thesen über Judentum und Zionismus, Th. 27f. [1918]: ders., Zw. den Disziplinen, hg. v. Peter Schäfer/Gary Smith, Frankfurt a.M. 1989, 2 8 7 - 2 9 5 , hier 290; ders., Briefe, hg. v. Itta Shedletzky, München, I 1994, 469f. [1932]). Später kann Benjamin sich selbst wiederentdecken bei der Lektüre des Aphasietheoretikers Kurt Goldstein (1878-1965): „Sobald der Mensch sich der Sprache bedient..., ist die Sprache nicht mehr ein Instrument, nicht mehr ein Mittel, sondern eine Manifestation, eine Offenbarung unseres innersten Wesens" (zit. GS III, 480 [1935]). M . Merleau-Ponty macht sich Goldsteins Satz zu eigen (Phänomenologie 232; vgl. 216: „Sprache nicht bloß Mittel zur Bezeichnung von Gegenständen oder Gedanken, sondern die Weise der Gegenwart des Gedankens selbst in der sinnlichen Welt,... Wahrzeichen oder Leib des Denkens"). Teils begegnen einseitige Stellungnahmen für („Die Sprache ist ein Instrument"; L. -»Wittgenstein, Phil. Unters. § 569: ders., Schriften, Frankfurt a.M., 11960,1953) oder gegen die instrumentelle Auffassung der Sprache (Wohlfart, Denken 9.31 f.). Teils findet sich die zur Ungenauigkeit neigende Rede von „Sprache als Medium hermeneutischer Erfahrung" (Gadamer, Wahrheit 361; ders., „Mitte" 360f.432ff.) oder die generalisierende Aussage „The medium is the message" (McLuhan, eh. 1). Wiederum J . Anderegg unterscheidet zwar in ansprechenden Analysen zwischen „instrumentellem und medialem Sprachgebrauch", verzichtet aber darauf, seine Terminologie auf den energischen Doppelsinn von „Mittel" zuzuspitzen, wozu seine Poetologie allen Anlaß geboten hätte (Anderegg 70ff.). W. Pannenberg macht - trotz K.-O. Apels transzendentalhermeneutischer Grundfigur - von der Unterschiedung zwischen Sprache als Instrument und als Medium keinen Gebrauch (328f.). 3.2.2. Durch/In. D e r G e s i c h t s p u n k t von I n s t r u m e n t a l i t ä t und M e d i a l i t ä t der Sprache wird auch in pointierter Weise d u r c h eine nahezu g e n o r m t e D i s t i n k t i o n von Präpositionen zum A u s d r u c k g e b r a c h t , w o b e i „ D u r c h " das aktive M i t t e l und Werkzeug, „ I n " das passive M i t t e l u n d M e d i u m signalisiert. D a g e g e n das H e b r ä i s c h e k e n n t nur ein W o r t für den D o p p e l s i n n (die P r ä p o s i t i o n be steht für „ d u r c h " und „ i n " ) . Fast zeitgleich, aber unbemerkt voneinander haben sich W. Benjamin und L. Wittgenstein dieser Unterscheidung bedient. Benjamin stellt die Frage: „Was teilt die Sprache mit?" und antwortet: „Sie teilt das ihr entsprechende geistige Wesen mit. Es ist fundamental zu wissen, daß dieses geistige
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Wesen sich in der Sprache mitteilt und nicht durch die Sprache" (GS II/l, 142 [1916]). G. Scholem schließt sich diesem Vorschlag an: „Die Lehre wird im Schweigen - nicht durch Schweigen - tradiert" (95 Thesen [s.o. 3.2.1.] Th. 58; vgl. 27f. [1918]). Ebenso hat Wittgenstein festgestellt: „Was sich in der Sprache ausdrückt, können wir nicht durch sie ausdrücken" (Tractatus 4.121: ders., Schriften I, 1918). Er entfaltet dies durch die Differenz zwischen Sagen und Zeigen (4.1212; Brief an B. Russell, Cassino 19.8.1919: Max Black, A Companion to Wittgenstein^ „Tractatus", Cambridge 1964, 188). Daß in Wittgensteins Satz die Aufmerksamkeit von „Durch" auf „Wir" und von „In" auf „Sich" weitergelenkt wird, ist Benjamin nicht fremd: Wesentlich sei nicht, „was wir durch sie [die Sprache] ... ausdrücken können, sondern ... was sich in ihr mitteilt" (GS II/l, 141). 3.2.3. Die Sprache selbst/Die Sprache spricht/Die Sprache spricht sich selbst. W i e schon angeklungen ist, übernimmt die Sprache leicht die Rolle des agierenden Subjekts. Sie wird dabei zum Quasi-Subjekt. In poetischen T e x t e n wird m a n dies hinnehmen. Geschieht es aber in wissenschaftlichen T e x t e n , so ist kritisch zu fragen, o b nur eine etwas gravitätische professorale Diktion vorliegt oder ob es tatsächlich die Sprache ist, die das alles tut, was von ihr ausgesagt wird. Die Neigung jedoch, sich in unserem sprachlichen Tun v o m Tun der Sprache überraschen, wenn nicht gar überlisten zu lassen, w ä c h s t mit dem oben (s.o. 2.3.) geschilderten Prozeß. Das Tun der Sprache ist aber durchweg sprachlicher Art. Daher kann es nur als Reflexivum sinnvoll ausgesagt werden. Den Anfang macht Novalis mit seinem Hinweis auf „das Eigenthümliche der Sprache, daß sie sich blos um sich selbst bekümmert" (Monolog: ders., Schriften, II 3 1981, 672). Die Substantivierung der Sprache beginnt damit, daß in pointierter Weise von der „Sprache selbst" gesprochen wird. Sie wird zur Mit- oder Gegenspielerin, zur - ambivalenten - Mutter und Gebärmutter, zur Freundin oder Feindin. So heißt es bei Georg Friedrich Creuzer (1771-1858): „Die Sprache selbst wird eine fruchtbare Mutter von Göttern und Helden" (Symbolik und Mythologie alter Völker, Leipzig u.a., 1 2 1819, 84; IV/3 '1843,553). Eine mythopoietische Fruchtbarkeit ohne Zweifel, die aber andererseits als „disease of language" (Friedrich Max Müller, Lectures on the Science of Language, London, I 1861 [Nachdr. ebd. 1994] 11) oder als „Verhexung unsres Verstandes durch die Mittel unserer Sprache" denunziert wird (L. Wittgenstein, Phil. Unters. § 109). Aber solche Kritik kann das transzendentale Prae der Sprache nur bestätigen. „Die Sprache ... ist die treueste Urkunde der Völker" (Creuzer [s.o.] I 2 , 11; IV/3 3 , 487). „Nur eine urkunde ist uns ... geblieben, so schweigsam dem unkundigen, wie beredt dem kundigen: die spräche" (Hermann Usener, Götternamen, Bonn 1896, 5). Bei Usener bleibt teils die kategoriale Differenz zwischen unserem Sprechen und der Sprache in korrekter Weise gewahrt: „Es ist als ob die spräche selbst Zeugnis ablegen wollte" (ebd. 314); teils aber wird das Tun der Sprache unmittelbar zur mythopoietischen Voraussetzung unseres eigenen Sprechens: Es ist die „spräche, die für uns denkt'"; der Mensch könnte nicht denken und sprechen, „wenn nicht die spräche selbst, dem menschen unbewußt", ihn in Stand gesetzt hätte (ebd. 321). Es dürfte Ernst Cassirer (Sprache und Mythos, Berlin 1925, 10.13) gewesen sein, der die Kenntnis dieses Usener-Diktums seinem Leser Ludwig Binswanger (Brief Binswangers an Aby Warburg vom 21. März 1925: Aby Warburg, hg. v. Horst Bredekamp u.a., Weinheim 1991, 57) weitergegeben hat: „die Sprache ist es, die für uns alle ,dichtet und d e n k t ' " (L. Binswanger, Traum und Existenz [1930]: ders., Ausgew. Werke, hg. v. M a x Herzog, Heidelberg, III 1994, 95). Endlich aber konzentriert sich das Tun der Sprache darauf, daß sie nicht sowohl dichtet oder denkt als spricht: „die ... Sprache spricht" (W. Benjamin, GS I I / l , 144 [1916]); „Die Sprache spricht" (Heidegger, Unterwegs 12); „Schließlich spricht die Sprache" (Merleau-Ponty, Prosa 121 [1951]); „Kurz, die Sprache spricht" (Ders., Auge 111 [1951/52]). Damit ist das Reflexivum zugegen. „Jede Sprache teilt sich selbst mit", sagt W. Benjamin (GS II/l, 142); wollte das Wort aber „etwas mitteilen (außer sich selbst)" (ebd. 153), so wäre dies der Sündenfall des Sprachgeistes. Dementsprechend formuliert M . Merleau-Ponty, „daß ... die Sprache nichts sagt als sich selbst" (Phänomenologie 223), und K. Rahner hält in transzendentaltheologischer Absicht fest: „Redend von etwas, redet die Sprache auch sich selbst" (Rahner 59). 3.2.4. Sprache der Sprache. Das Zeitalter der kritischen Transzendentalität hat, mit Beginn in der F r ü h r o m a n t i k und in W a h r n e h m u n g der von Friedrich Schlegel ( 1 7 7 2 1829) ausgerufenen „ T e n d e n z " (Athenäum I, 1798, 2 3 2 ) , die Z a h l der selbstreflexiven Ausdrücke potentiell bis ins Unendliche vermehrt. Die Figuren der Reduplikation und der Selbstrückbezüglichkeit überstellen das ihnen unterworfene P h ä n o m e n aus der ersten in die zweite Potenz, in der es gleichsam sich selbst die Sporen gibt. In Hinsicht auf die Sprache geschieht dies so: Ist erst einmal das weite Feld der Pluralität der Sprachen
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singularisiert („die S p r a c h e " ) , ist ferner S p r a c h e in gewisser Weise zu einem Subjekt ihrer selbst g e w o r d e n und also quasi-personifiziert („die S p r a c h e selbst ist es, die dichtet, d e n k t , s p r i c h t " ) , so b e d a r f es schließlich zur R e f l e x i o n - i n - s i c h nur n o c h eines minimalen Schrittes. Dieser wird mit den Ausdrücken „ L o g o l o g i e " und „ S p r a c h e der S p r a c h e ' ' vollzogen. Novalis redet, unter Anwendung der „romantischen Potenzierungsformel", von der „Sprache in der 2ten Potenz" (Schriften II, 509.588). Diese sei „Logologie" (ebd. 535). F. Schlegel hat unter ähnlichen Formeln den Ausdruck „Sprache in der Sprache" geprägt (Athenäum II, 1799, 36), den W. Benjamin seinen Zwecken adaptiert: „Man kann den Namen als die Sprache der Sprache bezeichnen" (GS I I / l , 144). Es kündigt sich aber eine nicht geringe Verschiebung an, wenn H. Güntert - poetisierend? - davon spricht, das Verstehen der „Sprache der Sprache" sei Aufgabe von Sprachwissenschaft (Güntert, Grundfragen 67). M a n wird sich, u m bei der R e z e p t i o n solcher im G r u n d e nur l o k a l , um nicht zu sagen: singulär, begegnender F o r m e l n nicht zu kurz zu greifen, vor Augen halten müssen, d a ß die W e n d u n g von der S p r a c h e der S p r a c h e unvermutete R e s o n a n z findet, und zwar in ganz verschiedenen G r a d e n der D i c h t i g k e i t . D e m e n t s p r e c h e n d ist sie a u f unterschiedliche P h ä n o m e n e a n w e n d b a r . Einerseits ist S p r a c h e der S p r a c h e in ihrem M i n i m u m nichts anderes als eine a n g e m e s s e n e B e s c h r e i b u n g der lebendigen M e t a p h e r . D i e neuere M e t a p h e r n t h e o r i e , die die M e t a p h e r als P h ä n o m e n i n n e r h a l b eines Satzes analysiert, läuft d a r a u f hinaus: D i e M e t a p h e r , als F o k u s i n n e r h a l b eines R a h m e n s , ruft im Sprechen des Satzes eine G e g e n s p r a c h e auf. S o l a n g e dies so ist, ist die S p r a c h e in der Sprache ein durch und durch sprachliches P h ä n o m e n . „Die Metapher Sprache I, 482).
ist die Reflexion
des Tuns der Sprache
innerhalb
der Sprache"
(Liebrucks,
N ä h e r t sich j e d o c h andererseits die durch die S p r a c h e der S p r a c h e vollzogene R e flexion-in-sich ihrem M a x i m u m , so wird liminal ein P u n k t erreicht, an d e m die Wendung nichts Sprachliches m e h r a u s d r ü c k t . D a n n wird m a n sich d a r a n erinnern, d a ß der neut e s t a m e n t l i c h e A u s d r u c k XaAsTv yAdxraait;, von dem eingangs die R e d e war (s.o. 1.2.), bereits h ö r b a r seiner F o r m n a c h , und d . h . wesentlich, mit unter die R u b r i k der Sprache der S p r a c h e g e h ö r t . D a s ist eine erstaunliche B e r ü h r u n g von E n t f e r n t e s t e m . G l o s s o l a lisches „ S p r a c h e n S p r e c h e n " w ä r e ja mit „ S p r e c h e n einer S p r a c h e " oder „ S p r e c h e n von S p r a c h e n " nur irreführend, ja geradezu falsch übersetzt. H a n d e l t es sich dabei aber um ein mediales „ S p r e c h e n in S p r a c h e n " , so wird deutlich, d a ß „ S p r a c h e der S p r a c h e " auf ihrem Gipfel anders als G l o s s o l a l i e nicht zu h a b e n ist, und dies ist der P u n k t , an dem die S p r a c h e der S p r a c h e d a m i t b e g i n n t , in N i c h t - S p r a c h e auszugehen. Genau hier fixiert Paulus einen gewissen Wendepunkt durch Setzung eines Kolon: ev/apiazdi Xq> Bern, navzcov V/XÖJV fiäXXov yXmaaatQ XaXcö- äXXä ev ¿KKXrjoiq 6sXu> nevxe Xöyovt; zä> vor" ¡iov XaXifoai, ... rj pupiovq XöyovQ sv yXmaay (I Kor 14,18f.). 4. Sprache
Gottes/Wort
Gottes
Es w ä r e für eine T h e o l o g i e n i c h t genügend, wenn sie sich a u f die T h e m a t i s i e r u n g des W o r t e s G o t t e s b e s c h r ä n k t e . G a n z abgesehen d a v o n , d a ß es schon ungenügend wäre in H i n s i c h t a u f ihre Überlieferung und deren H a u p t u r k u n d e , das N e u e T e s t a m e n t (s.o. 1.), so ist es a u c h in der S a c h e ungenügend. D i e h e r m e n e u t i s c h e A u f g a b e b e s c h r ä n k t sich nicht d a r a u f , gesetzte W o r t e z u m Verständnis zu bringen. Bereits n a c h der ältesten T h e o r i e , die Plato im D i a l o g Ion vorgelegt h a t , sind H e r m e n e u t e n ja nicht nur epßrjvecov epfirjvrjQ ( H e r m e n e u t e n der H e r m e n e u t e n , 5 3 5 a ) , sondern sie sind eputjvfji; rcöv ßecöv ( H e r m e n e u t e n der G ö t t e r , 5 3 4 e ; vgl. H o r a z , art. p o e t . 3 9 1 : interpres deorum) und k ö n n ten o h n e dies d u r c h a u s a u c h keine Prediger sein. D a h e r genügt es z u m Z w e c k von T h e o l o g i e n i c h t , das W o r i G o t t e s zu t h e m a t i s i e r e n , sondern erst die d a v o n zu unterscheidende T h e m a t i s i e r u n g der Sprache G o t t e s führt an den präzisen systematischen O r t von T h e o l o g i e . D i e s e r ist p r i m ä r - , n i c h t s e k u n d ä r h e r m e n e u t i s c h .
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A b e r n u n w ä r e es f ü r e i n e T h e o l o g i e g a n z u n d g a r n i c h t g e n ü g e n d , w e n n sie s i c h auf die Thematisierung der Sprache G o t t e s beschränkte. G a n z abgesehen davon, d a ß a u c h d i e s d e m U m f a n g i h r e r Ü b e r l i e f e r u n g n i c h t g e r e c h t w ü r d e , w ä r e es s o g a r s a c h l i c h u n m ö g l i c h . D e r unter der R u b r i k „ S p r a c h e G o t t e s " (s.o. 3.) d u r c h l a u f e n e W e g belehrt d a r ü b e r , d a ß er von der wirklichen S p r a c h e , d e m W o r t , so wenig separiert werden k a n n w i e S p r a c h e in m e t a p h o r i s c h e m V e r s t ä n d n i s v o n d e r in u n m e t a p h o r i s c h e m V e r s t ä n d n i s . W i e Ä s t h e t i k u n d P o e t i k i h r e s W i d e r p a r t s , d e r E t h i k , u m i h r e r s e l b s t w i l l e n in u n v e r m i n d e r t e r G l e i c h s t ä r k e bedürfen, so k a n n auch das E v a n g e l i u m u m seiner selbst willen n i c h t s e p a r i e r t w e r d e n v o m G e s e t z . D a ß a b e r Sprache
u n d E v a n g e l i u m in e n g s t e r B e -
r ü h r u n g stehen, geht schon daraus hervor, wie die T h e o l o g i e der S p r a c h e das im gesetzten W o r t G e g e b e n e zu e m p f a n g e n l e h r t e . T h e o l o g i e d e r S p r a c h e w e i s t in d i e R i c h t u n g , d i e d u r c h M k 1 6 , 1 7 ylwooaiQ
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KaivaiQ e r ö f f n e t ist.
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Günter Bader
VII. Praktisch-theologisch 1. Sprache als Mittel für praktisch-theologische Z w e c k e 2. Praktische Theologie von der Sprache her 3. Prozesse dekonstruktiver Semiotik als praktisch-theologisches Paradigma (Literatur S . 7 8 6 )
1. Sprache
als Mittel für praktisch-theologische
Zwecke
Praktisch-theologische Thematisierung von Sprache zeigte sich bisher überwiegend in verschiedenen Ansätzen zweckdienlicher Funktionalisierung eher pragmalinguistischsemiotischer als formallogisch-analytischer Prägung. Hermeneutik, Kommunikation, Erzählen, Didaktik und Symbolik sowie homiletische, liturgische, rhetorische und phonetische Stil- und Artikulationsübungen (—•Rhetorik) gehören zur Obligatorik praktischtheologischen Interesses im Sinne rational-zentrierter „Sprache innerhalb der Objektwelt des religiösen Glaubens" (Mensching 11). Schon früh lassen sich religionspädagogische Bemühungen um „Sprachbesinnung versus Sprachverfall" (Weidmann 1 3 - 1 8 ) , „sprachliche Befreiung" (Halbfas, Auge 49) und biblische Sprachlehre als Propädeutik nachweisen (Kittel; Baldermann, Didaktik; Grosch; Lindbeck; Ulrich; Pirner), die ein Erbe profanfeindlicher klerikaler Sprachkonservierungsbemühungen (unser „Amt am kirchlichen Wortschatz": das „Wächteramt am Wort" - das „Pflegeamt am Wort", Melzer 4 2 - 4 4 ) zu realisieren versuchen. Wovon man nicht schweigen kann, darüber muß man sprechen (vgl. Wittgenstein, Tracta tus, Satz 7). Die in verschiedenen Favorisierungen des Erzählens (Neidhart; Grözinger, Erzählen; Halbfas, Fundamentalkatechetik; -»Erzählung) implizite bewahrte Performance der Sprachlichkeit des menschlichen Weltumgangs (faculté de langage = humanes Talent, Begabtheit, Befähigung zu sprachlichem Weltumgang als übergreifender Aspekt von langue = konkrete Einzelsprache, parole = Sprechakt und parier = individueller Sprachstil) kommt aber selbst trotz vorhandenen sprachphilosophischen Horizonts bis auf wenige Ausnahmen nicht ausdrücklich zur Sprache (Zilleßen, Überlegungen). „Wir wissen, daß die Sprache das eigentlich Menschliche am Menschen ist; aber wenn wir den Vorgang des Sprechens beschreiben sollen, müssen technische Metaphern wie ,Kanal', ,Sender' und .Empfänger' herhalten" (Baldermann, Bibel 21). Was hier noch mit scharfem Problembewußtsein als Mangel empfunden wird, soll dann Tugend sein. Während der idealistische Bluff-Effekt dezisionistischer -»Semiotik in der Linguistik längst verpufft ist, wird damit begonnen, „Code (als Regelsystem zur Verknüpfung von Zeichen)" (Meyer-Blanck, Symbol 42) für Praktische Theologie und Religionspädagogik in Anschlag zu bringen. „Es gibt keinen Ausstieg aus der Sprache" (Zilleßen, Elementarisierung 32; Beutel), auch Schweigen ist beredt (—»Mystik; Mensching 23f.). Ebenfalls beredtes Zeugnis idealsprachlicher und normalsprachlicher Ansätze gleichermaßen gibt das Motiv, hinter bzw. vor die Sprache kommen zu wollen und damit an ihr vorbei. Idealsprachlich-analytische Logistiken (Mathematik < Logik) gleichen „dem Vermögen der Taube, zu glauben, sie könne im luftleeren Raum besser fliegen als in der Luft" (Liebrucks, Sprache IV, 92). „Das linguistische Manifest des Paulus I Kor 1 4 , 6 - 1 2 " (s.o. IV. 3.) ist näherhin Ver-
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Sprache/Sprachwissenschaft/Sprachphilosophie VII
mahnung hypertropher „Linguisterie" (Lacan, Encore 20). Die Rücksicht normal- oder alltagssprachlicher Pragmatiken (Logik < Semiotik) auf „Benutzer" verfehlt aber ebenfalls die Provokation der Sprache: was sich als „Benutzer" ausgibt, ist stets auch sprachgenährtes, sprachvermitteltes, versprochenes und (buchstäblich sich) versprechendes Medium. Mit der Frage nach dem Gebrauch soll die zentrale Frage nach dem Woher des Sprechens „im Banne der sogenannten ,Teilhabemetapher'" erledigt sein (nihil extra usum: Meyer-Blanck, Symbol 85.86.89.125). „Wir aber bleiben auf dem Gebetsteppich unserer Terminologie" (Weißenfels 284), und es bleibt bei einer Mischung säkularer und sakraler Sprachschätze. Alle Optionen auf Ideologiekritik haben in der Dezentriertheit der Sprache ihre conditio sine qua non als katholisches „Protestantisches Prinzip" (P. -»-Tillich [s.a. -»Protestantismus 1.2.5.]). Ansonsten läuft es auf Sprachverfügung im Namen der Unverfügbarkeit von Wahrheit hinaus (Logozentrismus versus dezentraler Logos). Jüngel äußerte Verständnis für „das Verlangen der Theologen seiner Generation, die Operationalität des Glaubens wieder zu entdecken, über den man in positiven Begriffen Rechenschaft ablegen kann ... [Aber] für uns ist die Welt durch und durch Sprache" (Jüngel 92). M. -»-Luthers Rat, dem Volk aufs Maul zu schauen, wird nicht als Theologumenon, sondern als Motivations-Zeichentrick verstanden: Die „allgemein-säkulare, kommunikationstheoretische Sicht dürfte Jugendlichen gerade helfen, sich theologischen Inhalten ohne Angst vor institutionellem Dogmatismus zu nähern" (Meyer-Blanck, Symbol 118). „Dem Volk aufs Maul schauen" bedeutet mehr und anderes als „dem Volk nach dem Munde reden". M. Meyer-Blanck sieht in der Sprachmischung, die „alle Katzen grau" werden läßt, das Risiko von Semiose (Meyer-Blanck, Symbol 104). „Das semiologische Abenteuer" (Barthes) der Praktischen Theologie besteht jedoch nicht in der Vermischung säkularer und sakraler Sprachsphären, die allemal profan (imaginär) bleiben, sondern darin, daß nie feststeht, wer je und je spricht. Ist Sprachlichkeit der point of no return, so ergab der linguistic turn das Verstummen der Sprache angesichts ihrer Zurichtung. Die „Verhexung unsres Verstandes durch die Mittel unserer Sprache" (Wittgenstein, Untersuchungen 342 Satz 110) zeigt sich als Verhexung, die dadurch bewirkt wird, daß Sprache als Mittel angesehen wird. Einer dezentral-konstruktiven Semiotik der Lücke und entsprechender theopoetischer Praxis, die Mangel als Chance sieht und Bemühungen um klareres Sprechen und weiteres, anderes Verstehen erst sinnfähig macht, steht „Wuth des Verstehens" (F.D.E. -»Schleiermacher, Religion 144: ed. Meckenstock 120,16) auch in Form einer dezisionistischen Semiotik der Fülle entgegen. Bereits 1984 forderte G.M. Martin entsprechend „ein neues Paradigma" für die Homiletik (Martin 4 6 - 5 8 ) . „Eine ... integrative Sprachkonzeption ist freilich bislang nur Postulat" (Dalferth 159). 2. Praktische
Theologie
von der Sprache
her
„Nach der Hermeneutik kam die Kommunikationswissenschaft, was kommt jetzt?" (Schröer, Eco 59) In jüngster Zeit zeigen sich praktisch-theologische Bemühungen, die semiotisch gebildet sprachphilosophische und sprachtheologische Ansätze aufgreifen und an bisher vernachlässigte und häufig auch diskreditierte Theorieansätze dezentraler konstruktivistischer Provenienz theologisch anknüpfen (Praktisch-theologische Hermeneutik; Timm, Angesicht; Beuscher, Paradox; Theopoesie; Prozesse postmoderner Wahrnehmung; Zilleßen, Religionspädagogik). Noch gilt jedoch: „Sprache nicht als Mittel von Propaganda zu verwenden, sondern als etwas zu respektieren, das dem Sprechenden widerfährt, ist nicht besonders populär" (Kirchhoff 211). „Sprache ist eine absolute Wahrheitsbedingung des Denkens, da sie die überkommenen Formen des verdinglichten Bewußtseins überwindet (W. Benjamin, Th.W. Adorno), die Denkgewohnheiten der onto-theologisch grundverfaßten europäischen Metaphysik in ihren Grund destruiert (M. Heidegger), alles Denken und Handeln auf die Bedingungen von ,Sprachlichkeit' verpflichtet (B. Liebrucks) oder auf eine sprachanaloge
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,Grammatik' des Wirklichkeitsverhaltens überhaupt verweist (Strukturalismus)" (Rekkermann 8f.). Eröffneten sich schon Schleiermacher „von Seiten der Sprache angesehen" Phänomene wie „Oszillation der Persönlichkeit" oder „Einheit durch Pluralität" (Schleiermacher, Ethik 383f.), so probiert heute Praktische Theologie Sprache (langage) neu als das ihr von woanders bestimmte Paradigma. „Wir Menschen sind sprachlich, bevor wir sprechen lernen" (Liebrucks, Logos 318). „,Der Mensch spricht also, aber er tut es, weil das Symbol ihn zum Menschen gemacht hat', formuliert Lacan und betont damit, daß das Werden und Sein des Menschen fundamental in einem symbolischen Universum verankert ist" (Pagel 44). Es ist von entscheidender Bedeutung, „daß man Sprache nicht mit den verschiedenen somatischen und psychischen Funktionen verwechselt, von denen sie beim sprechenden Subjekt eher schlecht als recht begleitet wird. In erster Linie deswegen, weil die Sprache samt ihrer Struktur existiert, bevor ein beliebiges Subjekt in einem bestimmten Moment seiner geistigen Entwicklung in sie eintritt" (Lacan, Schriften II, 19).
Gründete bisher praktisch-theologisches Interesse an Sprache in dem Schluß, daß Sprache ein subjektgeleitetes Tun und Handeln ist, so liegt neues Interesse darin, daß jedes Tun und Handeln und jede Praxis eigensinnig spricht und sprechen läßt und auch alles Denken immer schon eigensinnige Sprachpraxis ist. Bedeutet Verdrängung nach J . Habermas (274), etwas von Sprache fernzuhalten, so kann als Aufgabe Praktischer Theologie bezeichnet werden, den Menschen und „das, was ihn unbedingt angeht" (P. Tillich, GW, Stuttgart, VIII 1970, 111), von der Sprache her vielfältig buchstäblich zu Worte(n) kommen zu lassen, was im üblichen theologischen Sprachspiel umgekehrt klingt (vom Wort her zur Sprache bringen: Ebeling 80). Es geht darum, „den Menschen auf den Stand der Sprachlichkeit seines Bewußtseins zu bringen ... Verhalte dich sprachlich ... Nimm deine Sprachlichkeit in dein Bewußtsein auf, vor allem dort, wo du handelst" (Liebrucks, Sprache II, 4). „Der Imperativ, den wir aufstellen, heißt: ,Handle sprachlich'. Nicht heißt er: ,Sprich handlungsförmig'" (Liebrucks, Logos 347). Für die Praktische Theologie bedeutet dies eine Akzentverschiebung weg von Verfügungsrationalität („sprich handlungsförmig") hin zu Performance, Inszenierung und Drama („handle sprachlich"). Dabei kommt es aber als alles entscheidender Punkt darauf an, daß Bezugsgröße nicht der Reflex aufs Selbst bleibt, um „denkerisch neben seine eigenen liturgischen Vollzüge" zu treten und „mit dem eigenen Unbewußten umzugehen" (Meyer-Blanck, Inszenierung 44.155, gegen Buchmotto und Beteuerung ebd. 93). Sondern es ist die zentrale Frage, ob und wie die Passion des Störenden, Ärgerlichen, Verunsichernden, Unbequemen, Fremden, Sperrigen, Anderen, des Abgespaltenen und nicht Approbierten gegen Selbstinstinkte Asyl bekommen kann. „Daß das Unbewußte radikal die Struktur von Sprache hat" (Lacan, Schriften I, 182), nannte Lacan „symbolische Ordnung". Das hier häufig verwendete analogisierende „wie" verführt über das Vergleichen zu alten Dualismen, die im Realidealcharakter von Sprachlichkeit (langage) aufgehoben sind. So präzisiert Lacan: „Mein Sagen, daß das Unbewußte strukturiert ist wie eine Sprache, ist nicht vom Feld der Linguistik" (Lacan, Encore 20). „Das Unbewußte ist strukturiert als eine Sprache. Ich sage als, um nicht zu sagen ... daß das Unbewußte strukturiert ist durch eine Sprache" (ebd. 52f.).
„Ist die Struktur der Sprache im Unbewußten erkannt, stellt sich die Frage nach ihrem Subjekt" (Lacan, Schriften II, 173). Das Symbol ist „jenes Sprechen, das im Subjekt ist, ohne das Sprechen des Subjekts zu sein" (Lacan, Ich 219). „Eine richtige Antwort zu finden auf die Frage: Wer spricht? wenn es um das Subjekt des Unbewußten g e h t " (Lacan, Schriften II, 174), ist der Punkt, an dem die Geister sich scheiden: „Wen kümmert's, wer spricht?" (Samuel Beckett [ 1 9 0 6 - 1 9 8 9 ] ) Wird einem magischen Symbolverständnis mit semiotischem Gegenzauber begegnet, so kämpfen doch nur zwei Modelle zentrierter Verfügungssprache gegeneinander, welcher Kampf sich erst mit der Einsicht in die anteilige Dezentralität der Sinninstanzen erübrigt. D a ß Symbole zeichenhaft wirken und Zeichen symbolisch, liegt an einem unverfügbaren, dezentralen, nichtfeststellbaren Faktor, der je und je von woanders zufällt. Dieser Zufall ist nicht R a u m einer
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Willkür, sondern Feld einer x-Beliebigkeit (agape), die eher mich beherrscht als ich sie. Bisher sind jedoch das symbolische und das semiotische Paradigma gleichermaßen meist durch „eine Trägheit des Imaginären" beeinträchtigt: „Es geht darum, ob das Symbolische als solches existiert oder ob das Symbolische bloß das zweitgradige Phantasma imaginärer Koaptationen ist" (Lacan, Ich 389). 3. Prozesse
dekonstruktiver
Semiotik
als praktisch-theologisches
Paradigma
Nach Lacan bedürfen „die Grundlagen des Sprechens gerade auf den Gebieten ..., wo dessen Gebrauch ... an Unaussprechliches grenzt, mehr denn je der Untersuchung: dem der pädagogischen Bemutterung, dem der wohlwollenden Samariterdienste und dem der Herrschaft durch Dialektik" (Lacan, Schriften I, 79). F. de Saussures formale Überordnung von Synchronie über Diachronie führte als strukturales Prinzip zu systemimmanenter bzw. -relativer Wertrelevanz: ein Zeichen ist nur durch Unterscheiden von anderen Zeichen im System identifizierbar und nicht durch Referieren auf Objekte oder Sachverhalte. Lacan radikalisierte de Saussures revolutionäre symmetrische Polarität von Signifikat (Bezeichnetes/Verfolgtes) und Signifikant (Bezeichnendes/Besiwimbares/ Lautbild), indem er dem Signifikanten relativen Vorrang gab. Der Symmetrie der synchronen Strukturen widerfährt so eine Dezentrierung. Außerdem soll eine neue Achtung der Materialität buchstäblicher Ordnungen (im ->Judentum/Midrasch) den üblichen Dualismen wehren, als deren Scharnier sich das Subjekt ausgibt. Strukturalismus unter dem Vorrang des Signifikanten als „das Drängen des Buchstabens im Unbewußten" (Lacan, Schriften II, 15) bedeutet dessen dezentrale Durchführung. Galt der Begriff „Struktur" als Anzeichen für die Konzentration auf Zusammensetzungsprozesse und Beziehungsgeschehen, so nahm (phänomenologischer) Neostrukturalismus bzw. (erkenntnistheoretischer) Dekonstruktivismus darüber hinaus noch das Imaginäre aller strukturorganisierenden Zentren - sei es als Ich-Identität, als System, als Natur oder Gott - in den Blick (Beuscher, Paradox). ,Rekonstruktion" kommt von „dezentral" und nicht von „destruktiv". Als Aufgabe bleiben - analog zu Theonomie (Beuscher/ Zilleßen 6 9 - 7 8 ) - die Beobachtung und Förderung von Gestaltungsprozessen ohne greifbaren Veranstalter, Spielräume (bei Gelegenheit, aus Versehen, Verhören, Versprechen, Versagen, impulsiv-zufallend, intervenierend-aufschnappend), in denen mir Glaube wie Lachen zugespielt werden kann (Weder 1 3 7 - 1 4 5 ; —• Spiel). Nach Derrida wird jedoch die Dynamik der Struktur durch imaginäre Zentrierungen menschlicherseits immer wieder reduziert und neutralisiert („Trägheit des Imaginären", s.o.; Derrida, Struktur 114— 139). Im Gegensatz zu formallogischen Schematismen, die suggerieren, Wahrheitswertetafeln seien Wahrheitstafeln (Liebrucks, Logos 119), ließ Lacan zur Sprache kommen, indem er u.a. Matheme und Grapheme zu inszenieren pflegte. Den Vorrang des Signifikanten vor dem Signifikat skizziert er als f („Signifikant über Signifikat"), wobei sich im Bruchstrich „der Einschnitt zeigt, mit dem die moderne Linguistik beginnt" (Lacan, Schriften II, 21). Das, was zählt, spielt sich im Zähler durch Verlautbarungen, Bemerkungen, Nennprozesse und Notizen ab. „Das Signifikat, das sind nicht die ganz rohen Dinge, schon da gegeben in einer auf die Bedeutung hin offenen Ordnung. Die Bedeutung, das ist der menschliche Diskurs, sofern er immer auf eine andere Bedeutung verweist" (Lacan, Psychosen 142). Das benennbare Andere, meine neuen Erfahrungen, verdeckt zugleich die in jeder Benennung namenlose Erfahrung (Beuscher/Zilleßen 68). Im Blick auf diesen Verweisungskontext spricht Lacan von einer „Kette" mit einem bedeutungsschwangeren Gleiten: „Man kann also sagen, daß der Sinn in der Signifikantenkette insistiert, daß aber nicht ein Element der Kette seine Konsistenz hat in der Bedeutung, deren es im Augenblick gerade fähig ist. Es drängt sich also der Gedanke auf, daß das Signifizierte unaufhörlich unter dem Signifikanten gleitet" (Lacan, Schriften II, 27). „Signifikat" ist der Bedeutungseffekt, der als fließender blinder Fleck in den metonymischen Lücken und Löchern des assoziativ-unbewußten Gleitstroms von Signifikant zu Signi-
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fikant zwischenzündet. „Das Signifikat, das ist der Effekt des Signifikanten" (Lacan, Encore 38). Alles ist Schiebung, und aufgeschoben ist aufgehoben im vierfachen Wortsinne (auflesen, verwahren, hoch in die Höhe heben, auflösen). Weil Gespräch stets zugleich Selbstgespräch ist, gilt das auch für den Selbstbezug. Idealistische Ich-Identität generierte phono- bzw. logozentrisch (Derrida, Stimme) nach dem Tetragrammvorbild von Ex 3,14 ein autopoietisches System: den Automat eines Signifikats, das zugleich sein eigener Signifikant ist („Herr Selbstverständlich": Lacan, Schriften I, 104; „Seine Majestät, das Ich": Freud X , 176 bzw. III, 57). Die Option des Selbstbewußtseins, kurz und schmerzlos zu sich selbst zu kommen, ist aber ein Versprechen, das nur unter Narkose gehalten werden kann. Das Subjekt ist sub-iectum, sujet. Es herrscht also auch die „Dominanz des Signifikanten über das Subjekt" (Lacan, Schriften I, 60): „Ich ist ein Anderer" (Rimbaud, Prosa 276). Anstatt „Dialog" und „Kommunikation" soziolinguistischer Engführung zu unterwerfen, ergibt sich Ich als Effekt eines Gesprächs, weniger eines, das wir führen, sondern eines, das wir sind „mit allem, was geschieht, vom ersten Atemzug und den Lallübungen des Kleinkindes an bis zum letzten Gedicht" (Liebrucks, Sprache II, 246). „Das Subjekt ist in Bezug auf das Individuum dezentriert. Das ist es, was ,Ich ist ein anderer' meint" (Lacan, Ich 16). Sprache als „Haus des Seins" (Heidegger 5) hat also ihre Heimtücke: Prozesse dekonstruktiver Semiotik sind praktisch-theologisches „Abenteuer, das heißt, etwas, was mir zustößt (was mir vom Signifikanten widerfährt) ... ein persönliches, aber nicht subjektives Abenteuer, da in ihm die Verschiebung des Subjekts inszeniert wird, und nicht sein Ausdruck" (Barthes, Abenteuer 8). Lacan erkennt diesen Mangel als Chance, wenn er feststellt, daß das „Subjekt ab Ursprung von Teilung markiert sei, woraus die Linguistik jenseits der Scherze der Kommunikation Kraft nimmt" (Lacan, Radiophonie 9). „Heilung" und „Evangelium" werden entsprechend als Fremd-Ressourcen vorgestellt, die Akkommodationschancen bieten, jedoch ihrer ideologischen Assimilation harren: Heilung als „Verwirklichung des Subjekts durch ein Sprechen, das von woanders kommt und es durchquert" (Lacan, Ich 296). Hier macht Neostrukturalismus Geschichte: „Es ist etwas anderes, was ich ein Evangelium nennen würde. Es ist die Ankündigung, daß die Geschichte eine andere Diskursdimension aufrichtet und die Möglichkeit eröffnet, vollständig die Funktion des Diskurses als solchen zu unterwandern" (Lacan, Encore 35). Scriptura sacra est practica (Schröer). Sicher kann man auch das Gleiten feststellen: aus Ausrutschern Surfen machen, aus Taumel und Starre Tanz oder, theologisch formuliert, den „quergestrichenen Christus" (Güttgemanns 232) reinstallieren als letztinstanzlichen Inbegriff des freischwebenden Signifikanten. Aber man kann nicht ständig tanzen, und „die Mythe log" (Gottfried Benn [1886-1956]) vielleicht doch nicht. „Zu retten ist das Subjekt einzig, wenn es sich weder konstitutionstheoretisch überfordert und so zum Gegenstand seiner eigenen Zurichtung macht, noch Identifikation mit den Prinzipien seiner Abschaffung betreibt" (Hörisch, Sein 44). „Die fröhliche Wissenschaft der Poesie" (Hörisch) auf der Basis begrifflich-grammatikalisch-syntaktischer Konventionen ist somit auch praktisch-theologisch als Theopoesie (vgl. den gleichnamigen Band) überfällig. Es geht nicht darum, sich selbst auszutricksen, sondern „im Engpass der Worte" (Sturm) interventionsfähig, hinreichend störanfällig zu werden. „Kürzeste Definition von Religion: Unterbrechung" (Metz 86). „Es scheint mir schwierig, nicht blöde von der Sprache zu sprechen" (Lacan, Encore 19). Auch der vorliegende Versuch, möglichst klar eine dekonstruktive Semiotik Praktischer Theologie zu formulieren, legitimiert sich daraus, daß sich Texte in Kontexten unausweichlich selbst destabilisieren (Barthes, Abenteuer 11). Da ich mich selbst nicht unterbrechen und zurücknehmen muß, weil dies schon von woanders in und zwischen den Zeichen ununterbrochen passiert, kann ich gerade thetisch-entschieden-konfessorisch, jedoch nicht unumstößlich auftreten (Zilleßen/Gerber). Der entsprechende terminus technicus in der Theologie P. Tillichs lautet „Entschlossenheit" (GW III, 69).
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Sprache/Sprachwissenschaft/Sprachphilosophie VII
D a es keine W a h r n e h m u n g o h n e vertraute N o r m e n gibt, muß geübt werden, nicht zu tief, zu e x a k t und zu genau w a h r z u n e h m e n . Was paßt nicht in mein Bild? Welche Nebensächlichkeiten sind unberücksichtigt geblieben? Was war mir weniger wichtig, anderen vielleicht wichtig? Was wird verneint? Es bedarf einer flachen, oberflächlichen, ungenauen, schrägen Wahrnehmung. Entsprechende Lockerungsübungen k ö n n e n gemeinschaftliche Spiegelungen, Übertreibungen, S a m m lungen, wiederholende Übersetzungen (mehrfach einen T e x t lesen, m e h r f a c h eine Szene spielen) sowie M e t h o d e n - und T e m p o w e c h s e l sein. Störungen werden nicht durch eine Vorrangstellung zum Verstummen gebracht, sondern als S y m p t o m e h ö r b a r .
Praktische Theologie mit dezentralem Symbolhorizont hört aufs Symptom, was die Alternative von „symbolisch" und „diabolisch" (öiaßäXXeiv = durcheinanderwerfen) sprengt (Heinrich 256f.). Einer auf Kontinuität fixierten Praktischen Theologie könnten symptomatische Kontiguitäten zusagen. Praktische Theologie würde dann „Sprachkritik als universales Vorgehen verstehen" (s.o. I. 1.). Sie wird weniger selbsthermeneutisierend zu „ G o t t " , „ L e b e n " , „Werten", „ G l ü c k " reproduzieren, sondern mehr den Anführungszeichen, in denen diese zur Sprache kommen, durch Inszenierungen entsprechen (Huizing/Körtner/Müller). Literatur Ingo B a l d e r m a n n , Bibl. D i d a k t i k . Die sprachliche F o r m als Leitfaden unterrichtlicher T e x t e r schließung am Beispiel synopt. Erzählungen, H a m b u r g 1963. - Ders., Die Bibel - Buch des Lernens. Grundzüge bibl. 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Bernd Beuscher Sprüche Salomos -»Proverbia Sprüche der Väter —»Avot (Sprüche der Väter)/Avotkommentare
Anhang 1. Register 1.1. Bibelstellen 1.2. Namen/Orte/Sachen 2. Mitarbeiter 2.1. 2.2. Übersetzer 2.3. Registerbearbeiter 3. Artikel- und Verweisstichwörter 4. Karte quellen 6. Corrigenda
Autoren 5. Bild-
1. Register 1.1. Bibelstellen (bearbeitet von Hannelore Hollstein) Es werden nur die Bibelstellen aufgeführt, zu denen sich im Text nähere Ausführungen finden. Z u r Vororientierung wird zunächst der Artikel genannt, in dem die registrierte Bibelstelle vorkommt. Nach der Seitenangabe wird (durch Komma getrennt) in der Regel die Zeile genannt, in welcher eine Bibelstelle vorkommt bzw. ein Bibelzitat beginnt, in Einzelfällen die Zeile, in welcher Darlegungen über eine Bibelstelle einsetzen.
1,1-2,4 1,3 1,22.28 1,22 1,27 f. 1,27 1,28 1,28 2,19 2,23 f. 3 3,14.17 3,16 4,llf. 8,21 f. 9,25-27 9,25 11,1-9 11,6-9 12,1-3 12,3 12,5 f. 13,2 15,2 15,6 16,1-4 16,6 17,13.27 19,5 21,9 24,41 26,12-14. 16.28 f. 26,12 27,29 28,9 30,25-31 34
Sprache Sprache Segen Segen Sexualität Sexualität Segen Sexualität Sprache Sexualität Sexualität Segen Sexualität Segen Segen Sklaverei Sklaverei Sprache Sprache Segen Segen Sichern Segen Sklaverei Semiotik Sklaverei Sklaverei Sklaverei Sexualität Spiel Segen Segen
750,13 761,21 77,30 77,36 196,8 197,14.16 77,36 199,11; 203,26 762,38 196,11 216,4.8.12 78,11 196,12 76,34 78,13 385,6 378,38 749,46.51 762,46 78,13 77,41 246,18 78,16 368,5 109,8 368,25 368,19 368,33 210,43 677,14 76,29 78,16
Segen Segen Sirach Segen Sichern
77,37 76,33 309,37 78,17 246,26
Ex
Lev
35,17-20 37,28.36 39,17.19 47,7 47,13-26 48,13 ff. 49,10 49,15 49,27 1-5 3,12-14 3,13-15 3,14 7,3 14,19-21 15,26 16,1 20,10 20,17 21,2 21,3f. 21,5 f. 21,7-11 21,17 21,20 21,26 f. 21,32 22,2
Sichern Sklaverei Sklaverei Segen Sklaverei Segen Silo Sklaverei Segen Sklaverei Semiotik Sprache Sprache Semiotik Sprache Seelsorge Sinai Sklaverei Sklaverei Sklaverei Sklaverei Sklaverei Sklaverei Segen Sklaverei Sklaverei Sklaverei Sklaverei
22,16 22,27 23,10f. 33,22 36,1 f. 9,22 f. 9,22 19,14 25,1-7
Sklaverei Segen Sklaverei Sinn Sprache Segen Segen Segen Sklaverei
246,19 369,17 368,4 76,22 367,39 95,53 266,39 371,32 85,5 371,33 109,4 734,11 785,7 109,2 763,9 7,10; 9,18 283,40 368,34 368,12 369,23.40 370,32 370,35 370,23 76,42 368,20.21 378,21 368,13 369,20; 377,41 369,18 77,49 371,14 295,40 761,2 78,1 77,26; 95,54 85,9 371,17
Bibelstellen
Num
25,8-23. 40.41 25,35 - 40 2 5 , 3 9 - 42 25,39 25,47-55 27,2-8 5,11-31 6.23-27 6.24-27 6,24-26 6.26 6.27 21,22 22.6 23.7 f. 23,11.25 24,17
Dtn
Jos
Jdc
Sklaverei
370,55
Sklaverei Sklaverei Sklaverei Sklaverei Sklaverei Segen Segen Segen Segen
370,51 378,1 370,27 370,49 368,14 76,31; 84,44 78,1; 95,16 84,36 77,3; 94,40.47 76,26 77,27 180,1 77,24 76,43 76,43 270,41
7,13 8,10 11,13-21 11,26 - 29 12,12.18 15,1-11 15,12.16f. 15,13f. 15,15.18 17,16 20,11 20,13 f. 21,10-14
Segen Segen Seuse Segen Segen Segen Simon ben Kosiba Sitte Segen Spiritualitat Segen Segen Segen Segen Sklaverei Sklaverei Sklaverei Sklaverei Sklaverei Sklaverei Sklaverei Sklaverei Sklaverei
21,22f. 23,5 f. 23.5 23,15 f. 27,12f. 27,15-26
Segen Segen Segen Sklaverei Segen Segen
28.6 28,15.45 28,28 33 33.2
Segen Segen Segen Segen Sinai
14,13 18.1 20.7 24 24,26 f. 24,32 5,5
Segen Silo Sichern Sichern Sichern Sichern Sinai
5,30 9 9,34-41 11.3 12,4f. 16,21 17.2
Sklaverei Sichern Sichern Sirach Semiotik Sklaverei Segen
6,5 6,14f.l7f. 6,21
I Sam
II Sam
I Reg
320,3 78,23 709,45 78,25 76,20 86,17 76,40 368,35 371,16 370,41 370,43 370,46 372,7 371,43 368,46 368,48; 369,29 77,15 77,28 76,41 368,28 77,22 76,35; 78,4; 81,13 87,2 76,39 86,9 77,24 283,40; 284,22 77,24 266,45 246,17 246,21 246,22 246,24 283,37.40; 284,22 368,52 246,4.9 246,3 309,37 127,13 369,1 76,31; 77,2
II Reg
Jes
Jer Ez Joel Am Hag
Sach
Mal Ps
21,15-23 21,19 1,3.9.24 4-6 4,12-22 8,11-17 8,17 15 25,24 28,13 30,1-20 6,12f. 6,18 8,2.6.14 9,2 12,31 20,24 1,47 4,6 5,27 8,14.55 11,2628.40 11,29 12 12,1.25 15,22 21,10.13 4,1-7 5 16,7 18,12 2,4 9,3 11,6-8 17,7 28,19
Silo Silo Silo Silo Silo Sklaverei Sklaverei Sklaverei Sklaverei Segen Sklaverei Spiel Segen Sklaverei Sklaverei Sklaverei Sklaverei Segen Sklaverei Sklaverei Segen Sklaverei
266,40 267,3 266,27 266,30 267,27 372,5 372,6 368,44 368,8 77,18 369,3 677,15 77,25 371,40 368,5 371,41 371,47 76,23 371,47 371,49 77,25 371,53
Silo Sklaverei Sichern Sklaverei Segen Sklaverei Simonie Sklaverei Sklaverei Seelsorge Sklaverei Sibyllinen Sichern Seelsorge
38,5 ff. 40,11 49,6 61, l f . 65,17-25 7,14 34,8 ff. 41,5 17,19 34 43,11 3,2 2,6
Seelsorge Seelsorge Sozialethik Sklaverei Sozialethik Silo Sklaverei Silo Segen Seelsorge Sitte Sklaverei Sklaverei
1,1.14 1,12.14 2,20 2,21b-23 2,22 3,8 4,6 f. 4,9 f. 6,9-15 6,12f. 8,10-15 2,2 8 16,7
Serubbabel Serubbabel Serubbabel Serubbabel Segen Serubbabel Serubbabel Serubbabel Serubbabel Serubbabel Segen Segen Spiritualität Segen
266,35 372,1 246,14 372,2 76,21 370,19 277,7 368,9 376,20 18,4 371,34 241,48 246,16 7,36; 13,5 7,18 7,18 497,39 371,11 497,42 266,31 371,9 266,36 76,30 10,36 318,34 368,36 369,31 370,20 172,27 171,41 171,41 172,25 85,18 172,20 172,12 172,12 172,35 172,20 90,23 77,28 709,36 77,46
790
Hi
Prov
Cant Koh Thr Est Dan Esr Neh
Bibelstellen
Sirach Sirach Sirach Sirach Sirach Sirach Sirach Sirach Sirach Sirach Sirach Sirach
749,41 409,29 376,21 94,44 10,2 94,45 283,37.40; 284,22 87,51 85,42 78,29 78,33 78,34 373,14 309,24 677,17 85,39 372,4 11,4 312,38 371,35 371,35 84,51 241,53 171,42 371,36 370,21 369,32; 370,12 283,37 85,31 171,47 750,5 750,5 311,36 309,52; 311,23; 312,48 313,19 309,50; 313,26 313,26 313,21 312,16 313,23 313,36 313,37 312,42 312,47 313,17 310,33 312,24.26 312,18
Sirach Sirach Sirach Sirach
309,24 309,38 313,27 312,36
Sirach Sirach Sirach Sirach
312,11 313,2.42 309,52 311,21; 312,12 311,36
19,2-5 25,14 27,9 28,9 40,5 67,7 f. 68,9.18
Sprache Social Gospel Sklaverei Segen Seelsorge Segen Sinai
79,6 125,5 1,5.11 1,11 1,21 7,1 f. 4,8 8,22-31 10,7 12,24 2,14 3,11 1,1 10,1 3,28 7,27 3,2.8 4 5,2.5 5,8
Segen Segen Segen Segen Segen Sklaverei Sirach Spiel Segen Sklaverei Seelsorge Sirach Sklaverei Sklaverei Segen Sibyllinen Serubbabel Sklaverei Sklaverei Sklaverei
9,13 13,25 I Chr 3,17 Jub 3,28 12,25-27 Sir 1-23 1,1-10
Sinai Segen Serubbabel Sprache Sprache Sirach Sirach
1,14.18.20 Sirach 2,1-18 Sirach 2,15 2,16 3,1-16 3,7 3,14f. 3,30 4,11-18 6,18-27 6,33 f. 7,29-31 9,1-9 9,1711,6.9 11,1 13,15 15,9 f. 15,IIIS,14 15,11-17 17,1-14 17,11 f. 22,2723,6 24,142,14
Sirach
24
Sirach
24,1-23 24,3-22 24,3-7 24,8-17 24,23 24,25-34 24,32 f. 25,24.25 f. 27,9 28,2-5 29,8-31 30,1-11 31,8-11 31,18 33,20-26 34,2135,20 34,21 f. 34,26 f. 36,1-22
Sirach Sirach Sirach Sirach Sirach Sirach Sirach Sirach Sirach Sirach Sirach Sirach Sirach Seelsorge Sirach Sirach
38,1-15 38,2439,11 38,3439,3 39,12-35 39,21-31 40,12-17 42,13 f. 42,1551,11 42,1543,33 43,27 44-49
Sirach Sirach
385,20 314,15 310,44; 311,21; 312,1.2 312,9 310,30
Sirach
313,17
Sirach Sirach Sirach Sirach Sirach
312,12.38 312,37 312,40 312,25 311,36
Sirach
45,23-25 45,23 f. 45,25 45,26 48,7 50,1 f. 50,20 f. 50,24 - 26 50,24
Sirach Sirach Sirach Sirach Sinai Sirach Segen Sirach Sirach
50,27 51,12
Sirach Sirach
5,13 5,33-37 6,5-12 6,9 6,34 8,8.16 8,18ff. par.
Segen Segen Sexualität Spiritualität Spiel Sprache SozialgeschichtsSchreibung Sprache Seelsorge
311,20.46; 313,5 312,13 311,22.33; 313,5.11 313,8 309,14 313,9 310,41 283,37.40 309,13 80,29 314,7.12 309,14; 310,42; 313,8 310,20.24.25 309,21; 310,48; 311,56 95,41 82,41 206,57 709,49 677,24 766,3 533,13
8,38 par. 9,12
Sklaverei Sirach Sirach
Sirach Sirach
309,52; 311,33.34.51; 312,48 312,13 312,52 312,50 312,50 312,51.53 312,52 309,17 312,25 309,38 313,35 313,33 312,22 313,34 11,47 312,23 312,20
766,4 9,18
Bibelstellen 10,1 10,8 10,24f. 10,34 ff. par. 11,28 14,31 16,1-4 18,1-5 18,23 18,25 19,12 19,19 19,24 20,1-15 21,1-11. 12-17 21,12f. 21,21 22,39 22,39 p a r . 23,8-10 24,45 25,14ff. 25,31-46 25,36.40 25,36 1,15 1,15 1,18.20 1,21 2,23 ff. 2,27 5,21-43 6,41 par. 7,13 7,33 9,35 10,1 ff. par. 10,6-9 10,13-16 par. 10,29 f. 10,46 11,9 par. 11,12-14. 20 f. p a r 12,42 14,22 par. 14,47 p a r . 14,71 par. 15,34 15,39.44f. 15,40 f. 16,8 16,17
Seelsorge Simonie Sklaverei Sozialgeschichtsschreibung Seelsorge Skepsis Semiotik Spiel Sklaverei Sklaverei Sexualität Seelsorge Segen Sklaverei Spiel
64,48 277,10 373,19 533,15
Lk
14,24 362,38 136,25 677,22 373,20 373,31 196,23; 203,31 23,36 91,4 374,13 677,26
Simonie Skepsis Situationsethik Sozialethik Sexualität Sklaverei Sklaverei Segen Seelsorge Seelsorge Segen Sozialethik Sozialgeschichtsschieibung Sonntag Sozialgeschichtsschreibung Sonntag Semiotik Segen Sprache Sprache Sklaverei Sexualität
277,17 362,35 338,33 498,1 206,58 373,21 373,30 81,23 10,23 41,43 90,35 498,1 533,12
465,46 110,19 80,43 765,51 766,36 375,8 196,21
Sexualität Segen
197,2 80,5
Segen Sprache Segen Segen
80,12 753,42 80,39 82,31
Sprache Segen Sklaverei Segen Sinn Sprache Sozialgeschichtsschreibung Sprache Sprache
753,53 80,46 373,22 82,38 298,34 754,2 533,4
Joh
451,22 533,6
753,22 766,48; 777,12
Act
1,42 2,12 4,16-21 5,1 5,11
Segen Semiotik Sklaverei Sprache Sozialgeschichtsschreibung 6,4 Segen 6,20 Segen 6 , 2 0 b - 2 6 Segen 6,22 Segen 6,28 Segen 7,1-10 Sprache 8,11.21 Sprache 9,51-56 Segen 10,5 par. 10,6 par. 15,11-32 15,22 17,7 19,40 22,60 24,36 24,50 f. 1,1-4 1,1.14 1,1 1,9 1,14 2,11 3,16 4,21 4,48 7,48 7,49 8,35 10,11 10,14
Segen Segen Sklaverei Sklaverei Sklaverei Sprache Segen Segen Segen Sprache Sprache Semiotik Sinn Seelsorge Semiotik Sitte Sexualität Semiotik Segen Segen Sklaverei Seelsorge Seelsorge
12,24 13 14,16.2 6 15,5 16,12f. 21,15ff. 3,13-15. 17 3,25 f. 4,31 4,32-37 5,1-11 5,42 6,1-7 6,1-6 7,30.38 8,9-24 8,17 8,18-25 8,20-23 12,13 13,3 13,14ff. 16,3.7
Segen Sklaverei Seelsorge Seelsorge Spiritismus Seelsorge Segen Segen Sprache Sozialethik Segen Sonntag Sozialarbeit Sozialethik Sinai Simon M a g u s Segen Simonie Segen Sklaverei Segen Sonntag Sozialgeschichtsschreibung
80,39 136,23 371,11 766,3 533,10 81,34 80,9 81,30 83,6 81,36 754,3 765,50 81,45; 82,33 80,23 80,26 374,15 373,21 373,21 767,2 82,39 80,28 80,29 733,37 766,5 109,9 289,12 7,14 109,10 320,21 206,57 109,10 83,12 83,10 373,48 19,25 7,16; 10,20 91,52 376,26 7,21 24,21 698,12 7,25 79,38 79,36.46 765,50 498,14 82,24.29 451,19 481,17 498,16 283,39 272,51 80,19 277,1 82,5 374,21 80,18 451,19 534,6
792
Bibelstellen 16,14ff. 17,28 18,3 20,7 22,25 23,12.14.
21
Rom
24,5
1,1 1,20
1,26 f. 2,28 f. 3,21 5,12ff. 7,24 8,2 8,26 8,34 9,6 10,17 12,14 13,1 13,9f. 14,13 14,21 15,4 15,21-28 15,29 I Kor 1,18 1,30 2,4
2,10
2,14-3,3 2,14 5,1-5 6,9
7,Iff. 7,3 7.5 7.6 7,9 7,17-24 7.21 7.22 f. 7,29-31 7,39 9.23-25 9.24-27 10,16 11,2 ff. ll,17ff.
12,2 12,2
Sozialgeschichtsschreibung Seelsorge Sozialgeschichtsschreibung Sonntag Sozialgeschichtsschreibung Segen
534,5
Sekten Sklaverei Semiotik Sexualität
97,20 376.24 110.14 210,46; 211,38 320,22 320,21 90,32 198.17 7.21 7.22 7.23 765,51 7,35 81,38 498,33 320.18 375,16 13,36 7,38 610,43 80,3 110,16 145,3 755,11 364,38 708,43 710.7 82,20 196,18; 210,49; 211.36 196,21 202,46 200.37 200,6 199.15 375.25 379,50 376.16 677,27
Sitte Sitte Segen Sexualität Seelsorge Seelsorge Seelsorge Sprache Seelsorge Segen Sozialethik Sitte Sklaverei Seelsorge Seelsorge Spanien Segen Semiotik Semler Sprache Skepsis Spiritualität Spiritualität Segen Sexualität Sexualität Sexualität Sexualität Sexualität Sexualität Sklaverei Sklaverei Sklaverei Spiel Sexualität Spiel Sport Segen Sozialgeschichtsschreibung Sozialgeschichtsschreibung Segen Sprache
12,3 12,3 12,3a 12,3b 12,10.28 12,25 12,30 13,1 13,9.12 14,6-12 14,7 14,10
7,11 533,39 451,25.29 533,39 82,43
14,19 14,23 15,12-20 15,33 16,2 16,22 16,22a 16,22b II Kor 1,3 f. 2,15f. 2,17 4,8 6,17 9,5 9,6b 10-13 11,28 13,13 13,13 Gal 1,8 f. 2,5.14 2,10
681,11 726.8 80,47 534,8
Eph
533,42 83,3 772,43
3,8-10 3,8a 3,8b 3,9 3,13f. 3,13
Sprache Sprache Sprache Sitte Sonntag Segen Segen Segen Seelsorge Segen Sprache Spiritualität Separatisten Segen Segen Sprache Seelsorge Segen Semler Segen Sprache Sozia lgeschichtsschreibung Sozialgeschichtsschreibung Segen Segen Segen Segen Segen Segen
3,14a 3,23-25 3,26-28 4,2 4,10
Segen Sonntag Sklaverei Sinai Sonntag
5,13-25 5,20 6,1 f. 6,7 ff. 6,10 6,16 1,3-14 4,12f. 5,21-6,9 5,25 ff. 5,32 1,9 f. 2,7
Sitte Sekten Seelsorge Segen Seelsorge Segen Segen Seelsorge Sklaverei Sexualität Sexualität Sprache Sklaverei
2,llff.
200,6
Phil
Segen Sprache Segen Segen Sprache Seelsorge Sprache Sprache Sprache Sprache Semiotik Sprache
82,50 766,54 82,47 83,2 771,8 8,6 766,52 766,44 733,47 754,10 110,9 766,52; 771,5.8 766,51 768,30 754,18 318,35 451,25.27 95,34 82,4 82,12 7,14; 14,12 81,20 766,2 713,3 157,34 81,1 81,5 753,20 8,4.19 80,35; 95,26 145,28 82,9; 92,28 754,19 533,34 533,46 81,12 79,34 79,32 79,30 81,17 77,16; 90,37; 95,46 79,33.46 464,33 375,12 283,39 451,9; 458,12.15 320,23 97,19 7,30 89,44 23,36 82,15 79,48 7,39 375,43.50 196,21 197,30 755,47 376,26
Namen/Orte/Sachen 2,10 2,11 4,7 4,22 Kol
3,16 3,18-4,1 I Thess 2,13 5,23 II Thess2,17 I Tim 1,10 1,20 4,14 5,3-6,2 5,14 6,2 II Tim 2,15 Phlm 12 16f. Hebr 4,1-11 4,4 4,12 4,15 6,4-6 6,7 f.
1.2.
Sprache Sprache Segen Sklaverei Sprache Sklaverei Sprache Segen Seelsorge Sexualität Segen Segen Sklaverei Sexualität Sklaverei Seelsorge Sklaverei Sklaverei Sonntag Sonntag Sprache Seelsorge Segen Segen
766,41 766,40.54 95,26.30 373,29; 374,28 766,3 375,43 766,1 95,26 7,41 210,50 82,20 80,20 376,3 201,8 376,7 24,27 375,38 375,39 453,24 453,25 766,1 7,19 81,29 81,26
6,13-15 Segen Segen 7,1.6f. 13,4 Sexualität 13,7 Sprache Jak 1,8 Skepsis 3,9-12 Segen Seelsorge 5,14 I Petr 2,5 Spiritualität Sozialethik 2,13 ff. 2,18-3,7 Sklaverei Seelsorge 2,25 3,1 f. Sprache 5,7 Seelsorge Segen II Petr 2,14 3,5.7 Sprache Apk 5,9 Sprache 6,9 Sepulkralkunst 13,16 Sklaverei 14 Sekten 16,16 Sekten 20,14 Seuse 21,27 Segen 22,3a Segen 22,18b-19Segen
793 79,40 79,43 199,10 765,51 362,39 81,44 41,45 710,8 498,33 376,1 7,20; 14,45 767,2 7,12 82,22 • 765,51 766,39 161,5 374,27 99,43 99,34 180,4 83,17.18 83,15 82,28
Namen/Orte/Sachen
(bearbeitet v. Klaus Breuer und David Trobisch) Das TRE-Register enthält alle Sachbegriffe, Personen- und Ortsnamen, zu denen sich an den angegebenen Stellen registrierwürdige Informationen finden. - Fettdruck v. Registerwörtern und Seitenzahlen weisen auf einen eigenen Artikel hin. - Die Verweisung nennt zur Vororientierung durchgängig zuerst den Artikel, in dem das registrierte Wort vorkommt, danach Seite und Zeile. Mit f f . ist ein für das Registerwort relevanter längerer Zusammenhang gekennzeichnet. Auf systematische Zu- und Unterordnungen ist verzichtet; man findet daher systematische Unterbegriffe an ihrem alphabetischen Ort. - Sammelregistrierungen sind vorgenommen für Bibelgesellschaften; Hochschulen, Kirchliche; Kirchenordnungen; Klöster und Stifte; Konkordate; Missionsgesellschaften/Missionswerke; Ökumenische Versammlungen und Konferenzen; Päpste; Päpstliche Bullen, Enzykliken und Breven; Philosophisch-Theologische Hochschulen; Reichstage der Reformationszeit; Synoden; Universitäten. Die gesuchten Bibelgesellschaften, Hochschulen usw. findet man bei diesen Registerwörtern im allgemeinen nach alphabetischer (bei Konkordaten nach chronologischer) Ordnung. Abbo v. Fleury: Silvester II. 269,3 Abendmahl: Servet 175,13; Sozzini/Sozinianer 602,36; Spener 658,42; Spiritualismus 702,18 Abendmahlsstreit, Erster der Reformationszeit: Spengler 668,32 Abraham a Sancta Clara: Seelsorge 19,27 Abraham v. Saragossa: Sklaverei 379,4 Absolution: Seelsorge 15,27 Abstinenzregel: Seelsorge 37,11.27f. Abu'l Fath: Simon Magus 273,23 Achelis, Ernst Christian: Seelsorgelehre 58,29 Adalbero v. Reims: Silvester II. 268,16 Adler, Alfred: Sinn/Sinnfrage 300,30 Adler, Viktor: Sozialdemokratie 494,24 Adoptianismus/Adoptianischer Streit: Spanien 620,6 Adorno, Theodor W.: Sozialwissenschaften 590,18; Sprache/Sprachwissenschaft/ Sprachphilosophie 743,47; 773,29
Adventisten: Sekten 98,39 Ägidius v. Rom: Seripando 169,23 Aelred v. Rievaulx: Sexualität 201,12 Ästhetik: Shaftesbury, Third Earl of 223,14 Affekt: Spee 637,25 Affemann, Rudolf: Seelsorgelehre 61,46 Afrika: Sklaverei 383,29f.; 386,43; 392,10f.; Spanien 611,32 Agnon, Shmuel Josef: Segen/Segen und Fluch 87,45 Agnostizismus: Spencer 649,14 Agron, Gershon: Segen/Segen und Fluch 88,13 Ainesidemos (Akademiker): Skepsis/ Skeptizismus 350,10; 352,49f.; 353,44; 354,7 Akiba ben Josef: Simon ben Kosiba 270,40f.; 271,50; Sprache/Sprachwissenschaft/ Sprachphilosophie 762,24 Alba Julia: Siebenbürgen 254,4; 255,31 Albada, Aggaeus van: Spiritualismus 705,8
794
Namen/Orte/Sachen
Albert d . G r . : Simonie 279,28; Sklaverei 382,12; Sozialismus 542,28; Sozialwissenschaften 574,1; Spiritualismus 702,35 Albert, H a n s : Sozialwissenschaften 590,19 Alberti, Valentin: Spener 660,21 Albertinus, Aegidius: Seelsorge 19,6 Albrecht, Bernhard: Seelsorge 17,49 Alciatus, Andreas: Sprache/Sprachwissenschaft/Sprachphilosophie 769,25 Alfons II. der Keusche v. Asturien: Spanien 620.23 _ al-Ghazali: Sexualität 193,9 Alkibiades (athenischer Politiker): Sokrates 438,36 Alkuin: Simonie 277,51; Sklaverei 382,3; Spanien 620,14 Allgemeines Landrecht f. die preußischen Staaten: Simultaneum 281,18; Sonntag 460,48 Alltag: Seelsorgelehre 69,9 Alonso de Cartagena: Spanien 622,22 Alonso de Madrigal: Spanien 622,23 Alt, Heinrich: Sozialismus 549,15 Altenberg: Simultaneum 282,37 Althaus, Paul: Sozialethik 508,46; Sozialgeschichtsschreibung 536,18 Althusser, Ferdinand: Sozialwissenschaften 580,42 Amalrich v. Beda: Sensualismus 150,22 A m a t , Felix: Spanien 627,12 Amberger, J o s e p h : Seelsorge 24,20; Seelsorgelehre 59,11 A m b r o s i u s Catharinus: Soto, D o m i n g o de 476,30 Ambrosius v. M a i l a n d : Seelsorge9,37f.; Simonie 277,14; Sklaverei 380,38; Spanien 613,45; Spiel 673,22; Spiritualismus 702,15 American Sunday-School Union: Sonntagsschule 473,45 Amerika: Spanien 624,44f. Amsee: Slawische Religion 398,24 Amsterdam: Spinoza/Spinozismus 687,5 Amt/Ämter/Amtsverständnis: Seelsorge 8,52 Amtsgeheimnis: Seelsorge 34,22 Anachoreten/Anachoresis: Seelsorge 9,1 Analogie: Soto, D o m i n g o de 477,14 Anan ben David: Seelenwanderung 4,39 A n a x a r c h o s v. Abdera: Skepsis/Skeptizismus 350,19 f. Anaximenes (Vorsokratiker): Sensualismus 149,9 Andachtsbücher: Seuse 180,10 Andreas v. Regensburg: Sinti und R o m a 302,5 Anglokatholizismus: Shaftesbury, Seventh Earl of 226,41 Animismus: Sibirische Religionen 237,16 Annales (Schule): Sozialgeschichtsschreibung 529.24 Anstaltsseelsorge: Seelsorge 43,27f. Anthemius, weström. Kaiser: Simonie 277,21 Antike: Sozialpädagogik 557,5 f. Antiochien: Severus von Antiochien 184,16 Antiochos v. Askalon: Skepsis/Skeptizismus 352,52 Antisthenes (Sokratiker): Sokrates 436,25 Antitrinitarier: Servet 173,40f.; Siebenbürgen 255,20; Sozzini/Sozinianer 599,35 f.; 600,20ff.
Antonin v. Florenz: Sonntag 456,27 Antoninus Pius, röm. Kaiser: Sklaverei 378,42 Apel, Karl-Otto: Sprache/Sprachwissenschaft/ Sprachphilosophie 774,48 A p o k a l y p s e des J o h a n n e s : Spener 654,18f. Apokryphen: Simon M a g u s 275,33 Apophthegmata Patrum: Seelsorge 9,6 Apostelamt Jesu Christi (Sekte): Sekten 99,47 Apostelamt J u d a (Sekte): Sekten 99,47 Apostelgeschichte: Simon M a g u s 273,8 Apostolische Gemeinschaft (Sekte): Sekten 99,48 Apostolische Männer: Spanien 611,3 Araber: Spanien 6 1 7 , 4 7 - 6 1 8 , 3 9 Arbeit: Sonntag 465,26 Arbeiter/Arbeiterbewegung/Angestellte: Social Gospel 410,15; Sozialismus 545,36ff. Arboleya, M a x i m i l i a n o : Spanien 629,24 Archelaos (Sohn des Herodes): Sikarier 262,16 Archibald, G e o r g e Hamilton: Sonntagsschule 473,19 Aristoxenos v. Tarent: Sokrates 436,43 Arianismus: Sozzini/Sozinianer 601,17; Spanien 614,44 Aristippos v. Kyrene: Sensualismus 149,39f.; Sokrates 436,27 Ariston v. Chios: Skepsis/Skeptizismus 351,25 Aristophanes: Sokrates 435,37 Aristoteles/Aristotelismus: Sensualismus 149,38; Sinn/Sinnfrage 286,12; Sitte/Sittlichkeit 319,16; Sklaverei 382,8; 384,17; Sokrates 435,20; 440,19; Sozialismus 542,25; Spiritualismus 702,34; Sprache/ Sprachwissenschaft/Sprachphilosophie 733,39; 742,39 Arkesilaos aus Pitane: Skepsis/Skeptizismus 350,8.53 ff. A r k o n a : Slawische Religion 396,42 Armenfürsorge: Sozialpädagogik 558,15 Armenordnungen: Spengler 669,5 Armenwesen: Spener 660,45 Armut: Spiritualismus 702,26 Arnaldo v. Vilanova: Spanien 622,28 Arndt, J o h a n n : Seelsorge 17,5; Spener 652,33; 657,29; Spiritualismus 705,20 Arnold v. Brescia: Seelsorge 11,40 A r r o w , Kenneth J . : Sozialwissenschaften 578,36 Artes liberales: Silvester II. 269,15 Asbury, Francis: Sonntagsschule 473,32 Askese: Seuse 177,7; Spanien 613,36 Asmussen, H a n s : Seelsorgelehre 61,23 A s s m a n n , Aleida: Sprache/Sprachwissenschaft/ Sprachphilosophie 771,40 Asturien: Spanien 618,45 Athanasius v. Alexandrien: Simonie 277,14; Sirach/Sirachbuch 310,4 Atheismus: Shaftesbury, Third Earl of 223,34 Attis: Sexualität 188,11 Atto v. Vieh: Silvester II. 268,4 Auferstehung: Sepulkralkunst 162,12; S o n n t a g 450,29; 465,34 Aufklärung: Seelsorge 2 1 , 2 7 - 2 3 , 4 3 ; Sozialpädagogik 558,1; Sozzini/Sozinianer 602,51; Spalding 609,28; Spanien 627,7; Spinoza/Spinozismus 692,31
Namen/Orte/Sachen Augsburger Bekenntnis, C o n f u t a d o u. Apologie: Siebenbürgen 2 5 4 , 4 0 ; S o n n t a g 4 5 7 , 3 7 ; Spalatin 6 0 5 , 4 2 ; Spengler 6 6 8 , 4 1 Augsburger Religionsfriede: Separatisten/ Separatismus 1 5 8 , 1 6 Augustin/Augustinismus: Seelsorge 8 , 2 4 ; 9 , 4 7 - 1 0 , 1 5 ; Semiotik 1 1 0 , 3 4 f f . ; 120,4; Sensualismus 1 5 0 , 1 9 ; Seripando 169,30; 1 7 0 , 1 5 ; Sexualität 1 9 6 , 3 8 - 2 0 0 , 2 ; 2 0 9 , 1 6 f . ; S i r a c h / S i r a c h b u c h 3 1 0 , 1 2 ; Sitte/Sittlichkeit 3 2 6 , 2 1 ; Situationsethik 3 3 7 , 2 2 ; Skepsis/Skeptizismus 3 5 4 , 4 0 ; Sklaverei 3 8 0 , 4 4 f . ; S o n n t a g 4 5 4 , 6 ; Sozialethik 4 9 9 , 2 2 f . ; Spengler 6 6 7 , 2 4 ; Spiritualismus 7 0 2 , 1 4 ; Sprache/Sprachwissenschaft/Sprachphilosophie 7 3 1 , 4 7 Augustiner-Eremiten: Seripando 169,15ff. Austin, J o h n L a n g s h a w : Semiotik 1 2 8 , 3 9 Averroes/Averroismus: Siger von B r a b a n t 260,34 Azcárate, G u m e r s i n d o de: Spanien 6 3 0 , 3 Aznar, Severino: Spanien 6 2 9 , 2 4 B a a d e r , Franz v.: Sozialismus 5 4 9 , 8 ; 5 5 4 , 8 B a b y l o n : S e r u b b a b e l 171,47 B a c h , J o h a n n Sebastian: Seelsorge 18,23 B a c o n , Francis: S p r a c h e / S p r a c h w i s s e n s c h a f t / Sprachphilosophie 734,60 B a c o n , R o g e r : Sozialwissenschaften 5 7 4 , 1 B ä u m e r , G e r t r u d : Sozialarbeit 4 8 5 , 3 8 B ä u m l e r , C h r i s t o f : Sozialwissenschaften 5 9 0 , 2 6 ; 593,5 Bailey, Derrick: Sexualität 2 1 0 , 2 4 f. Baillie, J o h n : Sozialethik 5 1 6 , 1 4 B a k u n i n , M i c h a e l : Sozialismus 5 4 7 , 3 1 Balduin, Friedrich: Seelsorge 17,41 B a l i n t , M i c h a e l : Seelsorge 4 8 , 3 3 Balintgruppen: Seesorge 4 8 , 3 4 Ballspiel: Spiel 6 8 4 , 3 8 f f . B a l t h a s a r , H a n s Urs v.: Spiritualität 7 0 9 , 1 B a n a t : Siebenbürgen 2 5 1 , 1 0 B a ñ e z , D o m i n g o : Spanien 6 2 4 , 3 3 B a n n : Seelsorge 15,9 Baptisten: S e p a r a t i s t e n / S e p a r a t i s m u s 1 5 7 , 4 B a r c e l o n a (Bistum): Spanien 6 1 5 , 2 0 B a r c e l o n a (Grafschaft): Spanien 6 1 9 , 2 2 Barmherzige B r ü d e r : Spanien 6 2 4 , 1 1 Barnabasbrief: Sonntag 451,47 B a r o c k : Sixtus V. 3 4 7 , 3 8 Barr, James: Sprache/Sprachwissenschaft/ Sprachphilosophie 748,38 B a r t h , Karl: S e x u a l i t ä t 2 0 8 , 1 8 ; Social Gospel 4 1 7 , 1 3 ; Soden 4 2 1 , 2 7 ; S a e 4 2 8 , 7 ; S o n n t a g 4 6 5 , 2 0 - 4 6 6 , 5 ; Sozialethik 5 0 8 , 1 - 2 4 ; 509,16-34 Basilika: Sepulkralkunst 1 6 1 , 2 Basilius v. C a e s a r e a : Seelsorge 8 , 1 6 ; S i m o n i e 2 7 7 , 1 4 ; Sklaverei 3 8 0 , 2 3 Basken: Spanien 6 3 0 , 4 2 B a u m g a r t e n , O t t o : Sozialreform 5 6 8 , 4 9 ; Sozialwissenschaften 5 9 0 , 7 B a u m g a r t e n , Siegmund J a c o b : Seelsorge 17,44; Semler 1 4 2 , 5 0 ; 1 4 5 , 2 2 Baur, Ferdinand Christian: Spekulative Theologie 643,47 B a u r v. E y s e n e c k , M a r i a J u l i a n e : Spener 6 5 8 , 2 0
795
Bautzen: Simultaneum 2 8 2 , 3 7 B a x t e r , R i c h a r d : Seelsorge 2 1 , 9 ; Sexualität 204,41 B a y e r n : Simultaneum 2 8 1 , 1 9 Bayle, Pierre: Shaftesbury, T h i r d Earl o f 2 2 1 , 2 0 ; Skepsis/Skeptizismus 3 5 7 , 1 2 - 3 5 8 , 1 0 ; Spinoza/Spinozismus 6 9 3 , 1 Bayly, Lewis: Spener 6 5 6 , 5 Beatus v. Liebana: Spanien 6 2 0 , 1 2 B e a u v o i r , S i m o n e de: Sexualität 2 1 7 , 5 1 f. Bebel, August: Sozialdemokratie 4 8 8 , 1 4 ; Sozialismus 5 4 4 , 3 ; 5 4 6 , 1 3 B e b e l , Balthasar: Spener 6 5 7 , 5 2 B e c k e r , R u d o l f Z a c h a r i a s : Seelsorge 2 2 , 1 3 Befreiungstheologie: Sozialismus 5 5 3 , 4 5 Beginen/Begarden: Seuse 177,44 Behaviorismus: Sozialisation 5 3 8 , 4 5 Behindertenpädagogik: Sonderpädagogik 4 4 5 , 5 6 Behindertenseelsorge: Seelsorge 4 4 , 2 3 Beichte: Seelsorge 11,23; Seelsorgelehre 6 5 , 1 1 Beichtspiegel: Seelsorge 12,35 B e k e n n e n d e Kirche: Soden 4 2 0 , 5 0 Bekenntnis: Selbständige EvangelischLutherische Kirche 103,31 B e l l a h , R o b e r t Neelly: Sozialisation 5 4 0 , 2 1 Beiluga, Luis A n t o n i o : Spanien 6 2 6 , 4 3 Belting, H a n s : S p r a c h e / S p r a c h w i s s e n s c h a f t / Sprachphilosophie 7 7 3 , 1 Benedikt v. Nursia: Spiritualität 7 1 0 , 2 7 Benediktusregel: Seelsorge 10,19; Spanien 619,43; 620,38 Beneficium: S i m o n i e 2 7 9 , 3 7 Benger, M i c h a e l : Seelsorge 2 4 , 2 4 Kenn, Gottfried: Sprache/Sprachwissenschaft/ Sprachphilosophie 7 8 5 , 3 7 B e n n e , R o b e r t : Sozialethik 5 1 3 , 1 7 B e n n e t t , J o h n C o l e m a n : Sozialethik 5 1 2 , 1 0 ; 519,43 B e n t h a m , J e r e m y : Sozialwissenschaften 5 7 8 , 3 0 ; 582,26 B e r a k h o t : Segen/Segen und Fluch 8 6 , 1 2 B e r d j a j e w , N i k o l a i A l e x a n d r o w i t s c h : Sklaverei 395,35 Berengar v. T o u r s : Spiritualismus 7 0 2 , 2 9 Berger, Peter Ludwig: Sozialwissenschaften 589,23 Bergpredigt: S ö d e r b l o m 4 2 5 , 3 8 Bergstraßer R e z e ß : Simultaneum 2 8 2 , 1 Berkeley, G e o r g e : Shaftesbury, T h i r d Earl o f 2 2 4 , 4 1 ; Spinoza/Spinozismus 6 9 2 , 2 8 B e r k h o f , Hendrikus: Sozialethik 5 1 0 , 2 1 Berlepsch, H a n s H e r m a n n Frhr. v.: Sozialreform 566,51 Berlin: Spalding 6 0 8 , 1 5 ; Spener 6 5 9 , 5 0 f f . B e r n a n o s , Georges: Spanien 6 3 0 , 3 9 ; Spiritualität 712,11 Bernhard v. C l a i r v a u x : Seelsorge 10,45; Sexualität 2 0 0 , 4 9 - 2 0 1 , 1 9 ; Spiritualismus 702,25; Sprache/Sprachwissenschaft/ Sprachphilosophie 7 6 8 , 4 B e r n h a r d v. T o l e d o : Spanien 6 2 1 , 1 3 B e r n h a r d , Ludwig: Sozialreform 5 6 8 , 4 1 Bernhardi, August Ferdinand: Semiotik 130,9 Bernini, G i a n L o r e n z o : Sepulkralkunst 1 6 4 , 2 4 Bernstein, Eduard: S o z i a l d e m o k r a t i e 4 8 9 , 1 3 ; Sozialismus 5 4 4 , 1 6
796
Namen/Orte/Sachen
Berruguete, Alonso: Spanien 625,43 Bertholet, Alfred: Spiel 683,33 Bessarion: Sixtus IV. 342,31 Bestattung: Sepulkralkunst 161,13 ff. Bethar: Simon ben Kosiba 271,34 Bettelorden: Sixtus IV. 344,1 Bewußtsein: Spalding 608,39 Beza, Theodor: Seelsorge 18,36 Bhakti: Sikh-Religion 263,20 Biandrata, Giovanni Giorgio: Servet 175,46 Bibel: Smith 408,30; Soden 421,40; Sae 428,42 Bibelgesellschaften: Internationale Bibelgesellschaft: Slowakei 406,33 Slowakische Bibelgesellschaft: Slowakei 406,33 Bibelkritik: Spinoza/Spinozismus 691,17 Bibelübersetzungen: Smith 408,23 Bickersteth, Edward: Shaftesbury, Seventh Earl of 227,21 Biedermann, Karl: Sozialreform 564,29 Bieritz, Karl-Heinrich: Spiel 679,51 Biese, Alfred: Sprache/Sprachwissenschaft/ Sprachphilosophie 770,20 Bilder: Seuse 178,23; Spanien 619,51; Spiritualismus 702,17; 703,38 Bildung: Seelsorge 13,55; Sozialpädagogik 557,7 Binswanger, Ludwig: Seelsorge 35,29 Birch, Elizabeth: Shaftesbury, Third Earl of 221,14 Bischof: Seripando 170,49 Bismarck, Otto v.: Sozialarbeit 482,30; Sozialreform 566,41 Blanqui, Louis Auguste: Sozialismus 545,24 Bleidick, Ulrich: Sonderpädagogik 446,21 Bliss, William Dwight Porter: Social Gospel 411,31 Blumhardt, Christoph: Sozialpädagogik 558,24 Blumhardt, Johann Christoph: Seelsorge 24,13 Blutkreislauf: Servet 173,50; 175,4 Boas, Franz: Sozialwissenschaften 576,6 Bodammer, Theodor: Sprache/Sprachwissenschaft/Sprachphilosophie 731,19 Bodelschwingh, Friedrich v., d.J.: Soden 420,46 Bodin, Jean: Sozialwissenschaften 574,6 Böhme, Jacob: Sprache/Sprachwissenschaft/ Sprachphilosophie 772,3 Böse, Das: Shakespeare 234,23 Boethius: Silvester II. 269,21 Bogengrab: Sepulkralkunst 162,30 Bohren, Rudolf: Seelsorgelehre 62,4 Boisen, Anton T.: Seelsorge 25,4 Bonaventura: Seelsorge 11,43; Siger v. Brabant 259,55; Simonie 279,28; Spiritualismus 702,35 Bonhoeffer, Dietrich: Seelsorgelehre 61,27; Sexualität 204,32; 214,41; Sklaverei 395,10; Sonderpädagogik 447,31; Sozialethik 509,1-15; Spiritualität 713,39 Book of Sports: Sonntag 459,35 Boreil v. Barcelona: Silvester II. 268,3 Born, Stephan: Sozialdemokratie 488,9; Sozialismus 545,35 Borromeo, Carlo: Sonntagsschule 472,24 Boswell, John: Sexualität 209,50; 210,45 f. Bourbonen: Spanien 626,8 Bovet, Theodor: Seelsorgelehre 61,40
Bradley, Francis Herbert: Sidgwick 249,41 Braga (Bistum): Spanien 617,18 Brandenburg: Spener 660,1 ff. Brandt, Willy: Sozialdemokratie 493,1; 496,27 Brandts, Franz: Sozialreform 569,26 Brasilien: Sklaverei 383,51; 387,22f.; 391,32.50; Spiritismus 697,lOf. Brauer, Johann Hartwig: Sonntagsschule 474,30; 475,8 Brentano, Clemens: Sinti und Roma 302,25; Spee 639,21 Brentano, Lujo: Sozialreform 566,34 Brenz, Johannes: Soto, Pedro de 480,6 Brevier: Spiritualität 710,48 Briefseelsorge: Seelsorge 19,9; 20,9; 45,12.29 Broad, Charlie Dunbar: Sidgwick 249,22 Bröckelmann, Wilhelm: Sonntagsschule 474,48 Bronfen, Elisabeth: Sexualität 216,18 Brooke, Christopher Nugent Lawrence: Sexualität 209,34 Brookes, Penny: Sport 722,5 Brown, Peter R.: Sexualität 209,38 Browne, Robert: Separatisten/Separatismus 156,49 Browning, Don S.: Sozialwissenschaften 589,39; 594,17 Bruderschaften/Schwesternschaften/ Kommunitäten: Spiritualität 710,52 Brückner, Alexander: Slawische Religion 401,21 Brüder (Church of the Brethren): Separatisten/Separatismus 157,41 Brüder des freien Geistes: Spiritualismus 702,54 Brüder vom gemeinsamen Leben: Seelsorge 12,28 Brüderunität/Brüdergemeine: Seelsorge 20,36f. Brüninger, Heinrich: Sozialdemokratie 491,2 Brundage, James Arthur: Sexualität 210,4 Brunner, Emil: Sitte/Sittlichkeit 328,30; Sklaverei 394,9; Sozialethik 508,29 Brunnquell, Ludwig: Spener 658,27 Bruno v. Querfurt: Slawische Religion 398,44 Bruno, Vincenzo: Seelsorge 19,14 Buccelli, Niccolö: Sozzini/Sozinianer 599,20 Bucer, Martin: Seelsorge 14,32-15,3; Seelsorgelehre 55,52; Sonntag 457,54-458,41 Buddeus, Johann Franz: Spinoza/Spinozismus 692,40 Buddha: Spiel 684,15 Buddhismus: Sexualität 190,26; Sport 719,14 Budny, Szymon: Sozzini/Sozinianer 601,9 Budzynski, Stanislaw: Sozzini/Sozinianer 601,39 Bühler, Karl: Semiotik 125,50ff.; Sprache/ Sprachwissenschaft/Sprachphilosophie 738,30 Bünderlin, Johann: Spiritualismus 704,22 Bürgerliches Gesetzbuch: Sohm 430,47 Bulgarien: Siebenbürgen 253,34 Bultmann, Rudolf: Soden 420,24 Bundesbuch: Sklaverei 370,30 Bunuel, Luis: Spiritualität 712,8 Burchanismus: Sibirische Religionen 240,12 Burchard v. Worms: Simonie 278,15 Burckhardt, Jakob: Sport 721,22 Burke, Edmund: Sozialreform 563,38 Burriel, Andres Marcos: Spanien 627,10 Bushnell, Horace: Social Gospel 410,20
Namen/Orte/Sachen B u s s , F r a n z J o s e p h ( R i t t e r v.): S o z i a l i s m u s 543,15 B u ß e : S e e l s o r g e 1 4 , 5 0 ; S o c i a l G o s p e l 4 1 7 , 5 f.; Spiritualismus 702,37 Butler, Joseph: Sidgwick 2 4 8 , 2 2 ; Spalding 6 0 8 , 3 0 Butler, Judith: Sexualität 218,17 B u t t l a r , E v a v.: S e p a r a t i s t e n / S e p a r a t i s m u s 157,40 Buxtorf, J o h a n n d.J.: Spener 653,41 C a e s a r i u s v. A r l e s : S o n n t a g 4 5 4 , 1 8 C a i l l o i s , R o g e r : Spiel 6 8 3 , 4 8 ; 6 8 4 , 2 6 C a l d e r , N i g e l : Spiel 6 7 8 , 1 6 C a l d e r ó n de la B a r c a , P e d r o : S p a n i e n 6 2 5 , 4 1 ; 626,5 C a l v i n , J o h a n n e s : S e e l s o r g e 1 5 , 1 5 - 4 1 ; Servet 173,34; Sexualität 2 0 3 , 1 7 ; Sklaverei 384,47; S o n n t a g 4 5 6 , 4 6 f.; S o z i a l e t h i k 5 0 0 , 3 7 C a m p e , J o a c h i m Heinrich: Seelsorge 21,46 C a m p e n h a u s e n , H a n s v.: S o h m 4 3 2 , 4 6 C a m p o m a n e s , P e d r o R o d r í g u e z C o n d e de: Spanien 626,29 C a n i s i u s , Petrus: Seelsorge 1 6 , 3 8 ; S o n n t a g 456,27 C a n o , M e l c h i o r : S o t o , D o m i n g o de 4 7 6 , 4 4 ; S o t o , P e d r o de 4 7 9 , 2 6 ; S p a n i e n 6 2 3 , 2 6 Canova, Antonio: Sepulkralkunst 164,51 C a n s t e i n , Karl H i l d e b r a n d v.: S p e n e r 6 6 0 , 4 2 Caodaismus: Spiritismus 6 9 9 , 7 Carafa, Johannes: Simonie 279,44 Carnap, Rudolf: Semiotik 117,36; 1 1 8 , 2 5 - 3 8 ; 124,11; Sprache/Sprachwissenschaft/ Sprachphilosophie 741,15 Carpzov, Johann Benedikt: Spener 660,20 Cassirer, Ernst: Sprache/Sprachwissenschaft/ Sprachphilosophie 775,37 C a s s i u s D i o : S i m o n ben K o s i b a 2 7 0 , 1 5 C a s t r o , F e r n a n d o de: S p a n i e n 6 3 0 , 3 Chalmers, T h o m a s : Sozialismus 549,5 Chalybaeus, Heinrich Moritz: Spekulative Theologie 645,35.39f. Charity School: Sonntagsschule 472,14.27.47f. C h a r l e s , R o d g e r : Sklaverei 3 9 4 , 3 6 C h a r r o n , Pierre: S k e p s i s / S k e p t i z i s m u s 3 5 5 , 4 2 Chartismus: Sozialismus 5 5 1 , 1 8 f . Chija bar A b b a : Segen/Segen und Fluch 85,28 Chiliasmus: Spener 657,12; 660,31; 664,15 C h o p p , R e b e c c a S.: S o z i a l Wissenschaften 594.21 C h r i s t e n t u m : S e m l e r 1 4 5 , 2 1 f.; S k l a v e r e i 3 8 6 , 5 4 ; 3 8 7 , 3 4 f. Christentumstheorie: Sozialisation 541,1 Christenverfolgungen: Seelsorge 9,9; Sonntag 452,22; Spanien 611,47 C h r i s t i a n S o c i a l U n i o n : S o z i a l i s m u s 5 5 3 , 7 f. Christian Socialist M o v e m e n t : Sozialismus 552,44 C h r i s t l i c h e r Verein J u n g e r M ä n n e r ( C V J M ) : Sport 727,1 Christlich-Soziale Arbeiterpartei: Sozialismus 554.22 Christlich-soziale Bewegung: Social Gospel 412,26; Sozialismus 549,1 Christologie: Semler 144,51 Cicero, M . Tullius: Skepsis/Skeptizismus 354,22; Sokrates 439,12
797
Cikowski, Stanislaw d.Ä.: Sozzini/Sozinianer 600,39 C l a u d i u s v. T u r i n : S p i r i t u a l i s m u s 7 0 2 , 1 8 Claudius, M a t t h i a s : Seelsorge 23,8 C l e m e n s v. A l e x a n d r i e n : S e x u a l i t ä t 1 9 6 , 3 1 ; S i m o n M a g u s 275,12; Sklaverei 379,51; Sozialethik 498,51; Sprache/Sprachwissenschaft/Sprachphilosophie 767,45 C l e m e n s v. R o m : S o h m 4 3 1 , 3 3 Clericus, Johannes: Spalding 608,31 Clifford, J o h n : Sozialismus 5 5 2 , 5 0 Clinebell, H o w a r d J o h n : Seelsorge 25,5 Clinical Pastoral Training: Seelsorge 25,10; 47,28 C o d e x H a m m u r a p i : Sklaverei 369,41 C o d e x Iuris C a n o n i c i : (1917:) Simonie 280,8; Sonntag 4 6 3 , 2 0 (1983:) Simonie 280,10; Sonntag 463,51 C ö r b e r , J o h a n n e s : Seelsorge 17,54 C o h n , R u t h C.: Seelsorge 25,8; 3 6 , 1 0 Coleridge, Samuel Taylor: Sozialethik 515,4f. Collectio Hispana canonum: Spanien 617,33 Collegium pietatis: Spener 6 5 5 , 4 0 - 6 5 6 , 2 7 C o m e n i u s , J o h a n Arnos: Sport 7 2 6 , 2 8 Compostela (Erzbistum): Spanien 619,9; 620,21; 622,14 C o m t e , Auguste: Sozialwissenschaften 5 8 2 , 9 C o n e , J a m e s Hai: Sozialethik 513,38 Confessio Belgica (1561): Seelsorge 18,42 Conquista: Spanien 625,1 C o o p e r , Anthony Ashley: Spalding 608,28 C o o r n h e r t , Dirk Volkertszoon: Spiritualismus 705,8 C ö r d o b a : Spanien 618,28 C o u b e r t i n , Pierre de: S p o r t 7 2 1 , 3 6 ; 7 2 3 , 4 C o x , H a r v e y : Spiel 6 7 8 , 4 4 Crell, J o h a n n : Sozzini/Sozinianer 601,28; 602,41 Creuzer, G e o r g Friedrich: Sprache/ Sprachwissenschaft/Sprachphilosophie 775,23 C r u z , J o h a n n a Ines de la: S p a n i e n 6 2 6 , 6 Cuffeler, A b r a h a m J o h a n : Spinoza/Spinozismus 688,39; 692,2 Curione, Celio Secondo: Sozzini/Sozinianer 598,17 Curtius, Ernst: Sport 721,31 C y p r i a n v. K a r t h a g o : S i r a c h / S i r a c h b u c h 3 0 8 , 3 8 ; Spanien 611,18 C y r i l l u s v. A l e x a n d r i e n : Severus v o n A n t i o c h i e n 184,13.38f. C y r i l l u s v. J e r u s a l e m : S i r a c h / S i r a c h b u c h 3 1 0 , 4 C y r i l l u s u. M e t h o d i u s : S l o w a k e i 4 0 3 , 1 8 Dämonismus: Shaftesbury, Third Earl o f 223,37 Dänemark: Soe 427,52 Dahrendorf, Ralf: Sozialwissenschaften 589,28 Daiber, Karl-Fritz: Sozialwissenschaften 590,26; 593,13 Damaschke, Adolf: Sozialreform 568,30 Danaeus, Lambert: Seinecker 106,52 Dannhauer, J o h a n n Conrad: Spener 6 5 3 , 2 2 f . D a r i u s I.: S e r u b b a b e l 1 7 1 , 4 0 D a u b , Karl: Spekulative Theologie 6 4 2 , 2 8 - 5 1 ; 643,24-45 David Q i m c h i : Servet 175,35
798
Namen/Orte/Sachen
D a v i d , Franz: Servet 175,48; Sozzini/Sozinianer 599,10 D a v i d s o n , Andrew Bruce: Smith 4 0 7 , 4 4 Davis, Andrew J a c k s o n : Spiritismus 6 9 6 , 2 7 D a z b o g : Slawische Religion 3 9 9 , 3 D e c r e t u m Gratiani: S o n n t a g 4 5 5 , 2 6 D e i s m u s : Shaftesbury, T h i r d Earl o f 2 2 4 , 4 7 ; Spalding 6 0 8 , 2 7 ; Spiritualismus 7 0 5 , 2 8 Dekretalen/Dekretalensammlungen: Simonie 279,12 D e l b r ü c k , H a n s : Soden 4 2 0 , 1 0 ; Sozialreform 567,27 Delfin, t u k a s z : Sozzini/Sozinianer 6 0 0 , 2 3 D e m a n t , Vigo August: Sozialethik 5 1 6 , 3 7 D e m e t r i o s v. Phaleron: S o k r a t e s 4 3 6 , 4 5 D e m o k r a t i e : Spinoza/Spinozismus 6 9 1 , 2 6 D e m o k r i t : Sensualismus 1 4 9 , 1 5 D e n c k , H a n s : Spiritualismus 7 0 4 , 1 5 D e s c a r t e s , R e n é : Spinoza/Spinozismus 6 9 1 , 3 ; Sprache/Sprachwissenschaft/Sprachphilosophie 7 3 4 , 6 0 D e u t e r o n o m i u m : Segen/Segen und Fluch 7 8 , 1 8 ; Sklaverei 3 7 0 , 3 7 D e u t s c h e Christen: Sozialgeschichtsschreibung 536.22 Deutsche Gesellschaft f. Pastoralpsychologie: Seelsorge 2 5 , 1 2 Deutscher O r d e n : Siebenbürgen 2 5 3 , 9 Dever, W i l l i a m G . : Sichern 2 4 6 , 3 3 D e v o t i o moderna: Seelsorge 12,28; Spiritualismus 7 0 2 , 4 8 Dialektische T h e o l o g i e : Sozialgeschichtsschreibung 5 3 1 , 4 0 ; 5 3 6 , 1 9 Dibelius, Franz W i l h e l m : Sonntagsschule 4 7 5 , 1 8 Didache: Sonntag 4 5 2 , 1 1 D i e b n e r , B e r n d - J ö r g : Segen/Segen und Fluch 94,40; Sirach/Sirachbuch 310,38 D i e g o v. Cadiz: Spanien 6 2 7 , 1 7 D i e g o Gelmirez v. C o m p o s t e l a : Spanien 6 2 1 , 1 7 Diesterweg, Adolph: Sozialpädagogik 5 5 6 , 4 5 Dietenberger, J o h a n n : S i r a c h / S i r a c h b u c h 3 1 3 , 5 2 Dietrich, Veit: Seelsorge 14,9; Sonntagsschule 472.23 Dilthey, W i l h e l m : Sozialwissenschaften 5 7 8 , 4 7 Diogenes Laertius: Skepsis/Skeptizismus 3 5 3 , 4 5 D i o g e n e s v. Sinope: Sokrates 4 3 6 , 2 5 Dionysius Areopagita: Seripando 1 6 9 , 2 1 ; Spiritualismus 7 0 2 , 1 5 . 3 4 Dionysius der Kartäuser: Simonie 2 7 9 , 4 3 D i p l o m a L e o p o l d i n u m : Siebenbürgen 2 5 4 , 1 5 D i t t u s , Gottliebin: Seelsorge 2 4 , 1 0 Divine Light M i s s i o n (Sekte): Sekten 1 0 1 , 1 7 D j u r i c , R a j k o : Sinti und R o m a 3 0 5 , 3 8 D o g m a t i k : Semler 1 4 4 , 2 3 D o m b o i s , H a n s : Sozialethik 5 0 9 , 4 5 D o m i n i c u s : Spanien 6 2 1 , 5 4 D o m i n i k a n e r : Seuse 1 7 6 , 2 9 f . ; 1 7 7 , 3 7 ; S o t o , D o m i n g o de 4 7 6 , 1 4 ; S o t o , Pedro de 4 7 9 , 6 ; Spanien 6 2 2 , 1 D o r n e r , Isaak August: Spekulative T h e o l o g i e 646,41 Dositheus: S i m o n M a g u s 2 7 5 , 5 0 f . D o v e r , Kenneth J . : Sexualität 2 1 0 , 5 7 D o v e r , R o b e r t : Sport 7 2 2 , 3 D r a m a : Shakespeare 2 3 1 , 1 4 f f . D r e h s e n , Volker: Sozialwissenschaften 5 9 1 , 2
Dreißigjähriger Krieg: Seelsorge 1 7 , 5 0 f . ; Simultaneum 2 8 1 , 4 7 Dresden: Seinecker 105,45; Spener 6 5 9 , 1 7 - 4 9 D r e w s , Paul Gottfried: Sozialwissenschaften 590,7 D r e x e l , Jeremias: Seelsorge 19,16 Dualismus: Spiritualismus 7 0 2 , 9 D u b c e k , Alexander: Slowakei 4 0 4 , 4 1 D u b y , Georges: Sexualität 2 0 9 , 4 8 D u c h r o w , Ulrich: Sozialethik 5 1 0 , 1 3 ; 5 2 0 , 3 1 D ü h r i n g , Eugen: Sozialismus 5 4 4 , 1 2 D ü r e r , Albrecht: Sepulkralkunst 164,18 D u m e , Alexander: S o n n t a g 4 5 8 , 4 8 D u n s Scotus/Scotismus: Siger von B r a b a n t 2 6 0 , 4 9 ; Sixtus IV. 3 4 3 , 4 8 ; Sozialwissenschaften 5 7 4 , 2 D u n t e , Ludwig: Spener 6 5 8 , 4 D ü r k h e i m , Emile: S ö d e r b l o m 4 2 4 , 3 2 ; Sozialwissenschaften 5 7 6 , 3 8 ; 5 8 2 , 1 6 D y k e , Daniel: Spener 6 5 2 , 4 2 E b e r t , Friedrich: Sozialdemokratie 4 9 0 , 2 1 . 4 0 E b n e r , M a r g a r e t a : Seuse 1 7 7 , 3 0 E b o : Slawische Religion 3 9 8 , 1 E c k a r t , Dietrich: Seelenwanderung 3 , 4 2 E c k h a r t , Meister: Seelsorge 12,2; Semiotik 112,49; Seuse 176,31; Sinn/Sinnfrage 2 9 9 , 1 8 E c o , U m b e r t o : Semiotik 117,37; 1 2 5 , 7 f . ; 1 3 1 , 4 8 Eden, R i c h a r d : Sklaverei 3 8 5 , 3 3 E d m o n d Rich v. Canterbury: Sonntag 4 5 6 , 2 1 Egidio da Viterbo: Seripando 169,19 Ehe: Spanien 6 1 2 , 3 3 ff. Eid: Soden 4 2 1 , 1 8 Eleazar ben J a i r : Sikarier 2 6 2 , 3 4 Eleazar ben J u d a h ben Kalonymus: Sprache/ Sprachwissenschaft/Sprachphilosophie 7 6 4 , 8 Eleazar v. Worms: Sprache/Sprachwissenschaft/ Sprachphilosophie 7 6 4 , 4 2 Eliot, T h o m a s Stearns: Sozialethik 5 1 6 , 2 6 . 3 7 Elipandus v. Toledo: Spanien 6 2 0 , 1 1 Elisa ben A b u j a : Simon ben Kosiba 2 7 1 , 4 7 Elisabeth I. v. England: Shakespeare 2 3 1 , 1 8 ; Sixtus V. 3 4 8 , 3 8 Ellis, Albert: Seelsorge 3 8 , 1 Elsaß: Simultaneum 2 8 2 , 7 f f . Ely, R i c h a r d T h e o d o r e : Social Gospel 4 1 1 , 5 f . ; 414,36 Encyclopaedia Britannica: Smith 4 0 8 , 1 9 f . Ende, Franziskus van den: Spinoza/Spinozismus 687,10 Engels, Friedrich: Sexualität 2 0 5 , 6 0 f . ; Sozialdemokratie 4 8 8 , 2 2 ; Sozialismus 5 4 3 , 3 9 ; 5 4 5 , 2 5 f.; 5 4 9 , 5 ; Sozialreform 5 6 4 , 1 5 England: Separatisten/Separatismus 153,27; 154,26; 158,43; Shakespeare 2 3 3 , 2 2 ; Sixtus V. 3 4 8 , 3 5 ; Sklaverei 3 8 5 , 2 9 ; S o n n t a g 459,14-460,14; 461,41-462,4; Sonntagsschule 4 7 2 , 4 7 - 4 7 3 , 3 0 ; Sozialismus 543,5; 5 5 1 , 2 - 5 5 3 , 2 9 Entfelder, Christian: Spiritualismus 7 0 4 , 2 8 f. Epheserbrief: Segen/Segen und Fluch 7 9 , 4 8 E p h r a e m Syrus: Sonntag 4 5 3 , 4 4 Epikur: Sensualismus 149,40; Sozialpädagogik 557,13 Epiphanius v. Salamis: S i m o n M a g u s 2 7 5 , 6 Epitaph: Sepulkralkunst 1 6 4 , 2 9 f.
Namen/Orte/Sachen Erasmus v. Rotterdam: Skepsis/Skeptizismus 363,15f. Erbauung: Spener 656,8 Erbauungsliteratur: Spener 652,28; 663,1 Erbsünde: Seripando 170,14 Erdgrab: Sepulkralkunst 162,37 Erlösung: Social Gospel 415,18; s.a. Heil u. Erlösung Ernesti, Johann August: Semler 146,41 Erweckung/Erweckungsbewegung: Separatisten/Separatismus 157,48; Sklaverei 387,54; Spekulative Theologie 644,44 Erziehung: Sozialpädagogik 558,3 Eschatologie: Shaftesbury, Seventh Earl of 227,40 Eschbach, Achim: Semiotik 117,48 Esoterik: Seelenwanderung 3,26; Spiritismus 695,50; Spiritualität 709,13 Ethik: Sidgwick 248,7ff.; Sklaverei 394,4ff.; Social Gospel 418,10; See 428,25 ff.; Sonntag 466,9ff.; Soto, Domingo de 477,17; Spekulative Theologie 645,36f.; Spencer 650,24ff.; Spinoza/Spinozismus 690,19ff. Ethnographie: Seelenwanderung 1,34 Euklides v. Megara: Sokrates 436,21 Europäische Sozialcharta: Sonntag 468,2 Eusebius v. Caesarea: Silo 267,3; Simon ben Kosiba 270,19; 273,20; Simon Magus 275,6; Sonntag 453,12 Evangelikaiismus: Shaftesbury, Seventh Earl of 226,25; 227,6 f. Evangelische Allianz: Slowakei 406,34 Evangelische Kirche: Siebenbürgen 251,47 Evangelische Zentralstelle für Weltanschauungsfragen: Sekten 102,15 Evangelisch-Lutherische Kirche in Baden: Selbständige Evangelisch-Lutherische Kirche 103,48; 104,6 Evangelisch-sozialer Kongreß: Sozialismus 554,25 f. Evans, Marian: Spencer 649,22 Evenius, Sigismund: Spener 658,3 Evolutionstheorie: Spencer 649,11 Ewald, Johann Ludwig: Seelsorge 23,2 Exerzitien: Seelsorge 16,32; Spee 636,34; Spiritualität 712,28 Exorzismus: Spiritismus 699,12 Faber, Heije: Sozialwissenschaften 589,33 Fakultäten, Theologische: Soden 420,37; 422,6; Spiritualität 713,29 Farnowski, Stanislaw: Sozzini/Sozinianer 600,44 Fechner, Gustav Theodor: Spiritismus 697,2 Feijoo, Benito Jerönimo: Spanien 627,8 Felix v. Urgel: Spanien 620,11 Fende, Christian: Spener 658,44 Fendt, Leonhard: Seelsorgelehre 61,33 Fénelon, François de: Spinoza/Spinozismus 692,27 Ferdinand I., Kg. v. Aragon: Spanien 622,36 Ferdinand I., Kg. v. Kastilien-Léon: Spanien 620,49 Fernändez, Gregorio: Spanien 625,44 Fernsehseelsorge: Seelsorge 45,36 f. Ferrer, Vinzenz: Spanien 622,9.29 Feuerbach, Ludwig: Sensualismus 151,37
799
Fiat Lux: Sekten 100,15 Fichte, Immanuel Hermann: Spekulative Theologie 645,18 Fichte, Johann Gottlieb: Sinn/Sinnfrage 285,36; Skepsis/Skeptizismus 359,7; Spinoza/ Spinozismus 693,9 Fichtner, Horst: Seelsorgelehre 63,29 Ficino, Marsilio: Spiritualismus 703,2 Filipowski, Hieronim: Sozzini/Sozinianer 600,38 Fingerlos, Matthäus: Seelsorge 22,43 Finkelstein, Israel: Silo 267,8 Fischer, Andreas: Sozzini/Sozinianer 600,21 Fischer, Johann: Spener 658,14 Fischer, Karl Philipp: Spekulative Theologie 645,19 Fischer, Kuno: Spinoza/Spinozismus 693,28 Fiskalismus: Sixtus IV. 343,18 Fleck, Ludwik: Sozialwissenschaften 577,36 Fletcher, Joseph: Situationsethik 338,34; Sozialethik 513,7 Fliege, Jürgen: Seelsorge 45,48 Florenskij, Pavel A.: Spiritualität 713,38 Flörez, Enrique: Spanien 627,11 Flugschriften der Reformationszeit: Spengler 666,30 Folklore: Seelenwanderung 1,43 Fonseca, Alfonso: Spanien 623,47 Fortbildungssonntagsschule: Sonntagsschule 472,43 Fortschritt: Social Gospel 414,27 Foster, James: Spalding 608,29 Foucauld, Charles de: Spiritualität 713,39 Foucauit, Michel: Seelsorgelehre 67,40; Sensualismus 152,26; Sexualität 219,49; Sozialgeschichtsschreibung 532,23; Sozialwissenschaften 580,44 Foucher, Simon: Skepsis/Skeptizismus 357,31 Fourier, Charles: Sozialismus 543,11; Sozialpädagogik 558,20 Fowler, James W.: Sozialwissenschaften 589,38; 594,19 Fox, William: Sonntagsschule 473,8 Francesc Eiximenis: Spanien 622,29 Francisco de Osuna: Spanien 624,37 Franciscus v. Assisi: Sixtus IV. 344,4; Spanien 621,53 Franck, Sebastian: Separatisten/Separatismus 156,25; Spiritualismus 703,41 f. Francke, August Hermann: Seelsorge 2 0 , 2 2 - 3 3 ; Sonntagsschule 472,28; Spener 659,45; 660,10; Sport 726,31 Francke, Ernst: Sozialreform 566,15 Frank, Franz Hermann Reinhold v.: Sitte/Sittlichkeit 3 2 3 , 3 8 - 3 2 4 , 3 Franken: Spanien 619,25 Frankfurt am Main: Spener 654,43 ff. Frankl, Viktor Emil: Seelsorge 35,31; Sinn/Sinnfrage 300,21 Franklin, Benjamin: Sklaverei 389,42 Frankreich: Sixtus V. 348,18 Franziskaner: Seelsorge 11,37; Sixtus IV. 342,21 f.; Sixtus V. 347,14; Spanien 621,54; Spiritualität 710,31 Französische Revolution: Sozialismus 542,48 Frassinetti, Giuseppe: Seelsorge 24,24
800
Namen/Orte/Sachen
Frau: Sozialgeschichtsschreibung 533,37; 534,5 f. Freder, Johannes: Sonntag 458,48 Free Church of Scotland: Smith 408,41 Freese, Heinrich: Sozialreform 568,42 Frege, Gottlob: Semiotik 124,10 Freiheit: Sonntag 465,29 Freikirche: Separatisten/Separatismus 157,50; Siebenbürgen 251,51; Sonntagsschule 474,40 Freimaurer: Spanien 627,21 f. Fresenius, Johann Philipp: Seelsorge 20,56 Freud, Sigmund: Sexualität 195,57; Sinn/Sinnfrage 300,30; Spiel 680,17 Friedberg, Emil: Sohm 430,31 Friedhof: Sepulkralkunst 164,43 Friedrich der Weise: Spalatin 605,19ff. Friedrich Wilhelm IV., Kg. v. Preußen: Sonntag 461,14; Sozialreform 564,3; 565,25 Fritz, Kurt v.: Skepsis/Skeptizismus 353,45 Fröbel, Friedrich: Spiel 671,17 Frömmigkeit: Spinoza/Spinozismus 691,8f. Fructuosus v. Tarragona: Spanien 613,22 Frühsozialisten: Sozialismus 543,12 Fuchs, Paul v.: Spener 660,7 Fumo, Bartolomeo: Seelsorge 17,40 Gabriel, Jerzy: Sozzini/Sozinianer 601,35 Gadamer, Hans-Georg: Spiel 677,49; Sprache/ Sprachwissenschaft/Sprachphilosophie 771,26; 773,1 Gafo, Jose: Spanien 629,24 Galicien: Spanien 613,36 Galilei, Galileo: Sprache/Sprachwissenschaft/ Sprachphilosophie 735,1 Galja Raza: Seelenwanderung 6,15 Gansfort, Wessel: Spiritualismus 702,60 Garz: Slawische Religion 396,48 Gassendi, Pierre: Sensualismus 150,30; Skepsis/Skeptizismus 356,51 - 3 5 7 , 1 1 Gastrell, Francis: Spalding 608,29 Gatterer, Johann Christoph: Semler 147,1 Gebet: Spiritualität 709,39; 712,16 Gebetbücher: Seelsorge 14,18; Spener 663,5 Gebhardt, Carl: Spinoza/Spinozismus 693,26 Gebsattel, Victor-Emil v.: Seelsorge 35,30 Gegenübertragung: Seelsorge 37,11 f. Gehlen, Arnold: Spiel 671,23 Gehorsam: Spinoza/Spinozismus 691,8 Geiler v. Kaysersberg, Johannes: Seelsorge 8,28 Geist/Heiliger Geist/Geistesgaben: Serafim von Sarov 167,10; Soe 428,45; Spiritualismus 702,4 Geistkirche: Spiritualismus 702,50 Gemeinde: Sonntag 464,36; Spiritualität 712,25 Gemeinschaftsbewegung: Sonntagsschule 475,34 Genf: Servet 173,38 Gentile, Giovanni: Servet 175,46 Gentz, Friedrich v.: Sozialreform 563,40 Geographie: Servet 173,51 George, Stefan: Sprache/Sprachwissenschaft/ Sprachphilosophie 739,39 Gerard, Pedro: Spanien 629,25 Gerber, Gustav: Sprache/Sprachwissenschaft/ Sprachphilosophie 770,8 Gerbert v. Aurillac: s. Päpste: Silvester II. Gerhard v. Sagrado: Siebenbürgen 252,43 Gerhard, Johann: Seelsorge 1 7 , 1 5 - 3 7
Gerhardt, Paul: Sirach/Sirachbuch 314,11 Gerhoch v. Reichersberg: Simonie 279,19 Gerlach, Otto v.: Sozialismus 549,6 Gerson, Johannes: Seelsorge 12,17; Simonie 279,43; Sprache/Sprachwissenschaft/ Sprachphilosophie 768,15 Gesangbuch: Siebenbürgen 255,13 Geschichte/Geschichtsschreibung/ Geschichtsphilosophie: Sozialgeschichtsschreibung 527,39ff.; Spalatin 606,10 Gesellschaft: Sozialgeschichtsschreibung 528,7; 530,29; Spencer 650,18 Gesellschaftsgeschichtsschreibung: Sozialgeschichtsschreibung 530,24 Gesenius, Wilhelm: Sprache/Sprachwissenschaft/Sprachphilosophie 748,37 Gespräch: Seelsorge 3 2 , 4 3 - 4 1 , 7 Gesprächsdynamik: Seelsorge 36,46f. Gesprächsebenen: Seelsorge 38,40f. Gesprächsseelsorge: Seelsorge 3 2 , 4 7 - 4 1 , 7 Gesprächstypen: Seelsorge 39,22f. Gestrich, Reinhold: Seelsorgelehre 69,14 Gezelius, Johann d.J.: Spener 658,15 Gibson, Margaret: Sirach/Sirachbuch 307,13 Gichtel, Johann Georg: Spiritualismus 705,21 Gierke, Otto v.: Sohm 430,47 Giftschütz, Franz: Seelsorge 22,41.46; Seelsorgelehre 56,55 Gilligan, Carol: Sozialwissenschaften 585,11 Gimbutas, Marijaa: Slawische Religion 398,6.32; 401,16 Gladden, Washington: Social Gospel 410,27f. Glaube: Sonntag 465,38 Glaube u. Wissen: Spekulative Theologie 644,10 Gleiß, Eduard: Sonntagsschule 475,9 Globke, Hans: Sinti und R o m a 304,30 Glyzerius, Kaiser: Simonie 277,21 Gnadenstreit: Spanien 624,32 Gneist, Rudolf v.: Sozialreform 566,26 Gnosis/Gnostizismus: Simon Magus 274,14 Göhre, Paul: Sozialismus 554,31 f. Göschel, Carl Friedrich: Spekulative Theologie 644,8.47 Goethe, Johann Wolfgang v.: Spinoza/ Spinozismus 693,7; Sprache/Sprachwissenschaft/Sprachphilosophie 744,8 Goeze, Johann Michael: Semler 144,25 Gogarten, Friedrich: Sozialethik 508,52 Gollowitz, Dominikus: Seelsorge 23,29 Gollwitzer, Helmut: Sinn/Sinnfrage 298,41 f. Gomperz, Heinrich: Sprache/Sprachwissenschaft/Sprachphilosophie 732,17 Gonesius, Petrus: Sozzini/Sozinianer 600,23 f. Gonzalez, Juan: Simonie 279,44 Gonzalez, Tirso: Spanien 627,36 Goodman, Nelson: Sensualismus 152,1 Gore, Charles: Sozialethik 515,24; Sozialismus 553,8 Gott: Seelsorge 7,9; Servet 174,8ff.; Shaftesbury, Third Earl of 223,28 f.; See 429,14; Spekulative Theologie 642,34f.; 643,27f.; Spinoza/Spinozismus 689,2ff.; Spiritualität 709,34f. Gottesbeweis: Spalding 608,52; 609,13 Gottesdienst: Sonntag 452,29; 453,21; 464,30; Spanien 612,44; Spiritualität 712,18
Namen/Orte/Sachen Grabkapelle: Sepulkralkunst 164,18 Graciän, Baltasar: Spanien 626,6 Grab, Wilhelm: Seelsorgelehre 61,16 Graf, Anton: Seelsorge 24,23; Seelsorgelehre 59,5 Granth: Sikh-Religion 264,30 Granvella, Nicolas Perrenot de: Soto, Pedro de 479,19 Gratian v. Bologna: Simonie 279,4 Greco, El: Spanien 625,44 Greene, Robert: Shakespeare 229,47 Gregor v. Elvira: Spanien 613,15 Gregor v. Nazianz: Seelsorge 8,16; 9,25; Sklaverei 380,24 Gregor v. Nyssa: Sklaverei 380,34 Gregor v. Tours: Simonie 277,37; Sonntag 454,32; Spanien 615,31 Gregorianische Reform: Spanien 621,1 Greinacher, Norbert: Sozialwissenschaften 593,48 Griechische Religion: Seelenwanderung 2,34 Griechisch-katholische Kirche: Slowakei 405,36 Großgebauer, Theophil: Seelsorge 19,43; Spener 654,7 Groß-Raden: Slawische Religion 396,49 Grotewohl, Otto: Sozialdemokratie 491,44 Grotius, Hugo: Sozialismus 542,29 Grün, Karl Theodor Ferdinand: Sozialismus 543,34 Grünberg, Paul: Spener 661,18 Gruppendynamik: Seelsorge 36,3 Gruppenseelsorge: Seelsorge 35,52 Grycz-Smilowski, Karol: Sozzini/Sozinianer 602,21 Guardini, Romano: Spiel 679,31 Gurü Nänak: Sikh-Religion 263,12ff. Gustafson, James M.: Sozialethik 512,36 Gut u. Böse: Spinoza/Spinozismus 690,31 GutsMuths, Johann Christoph Friedrich: Sport 722,16 Haase, Cornelius de: Spener 658,26 Habermas, Jürgen: Sozialwissenschaften 590,18; Sprache/Sprachwissenschaft/Sprachphilosophie 783,18 Hadrian, röm. Kaiser: Sibyllinen 243,18; Simon ben Kosiba 270,15f. Haendler, Otto: Seelsorgelehre 63,31 Häresie: Simon Magus 273,51 ff.; Simonie 277,27; Spiritualismus 702,24 Häring, Bernhard: Sklaverei 394,23 Haiti: Sklaverei 391,40 Halbwachs, Maurice: Sozialwissenschaften 579,4 Hamann, Johann Georg: Semiotik 114,26; Sprache/Sprachwissenschaft/Sprachphilosophie 732,8; 733,29; 736,27; 769,43; 772,6 Handauflegung: Segen/Segen und Fluch 80,17 Hannover: Selbständige EvangelischLutherische Kirche 103,18 Haraway, Donna Jeanne: Sexualität 218,22 Hardenberg, Karl August v.: Sozialreform 563,9 Hardie, Keir: Sozialdemokratie 494,35 Hare-Krishna-Bewegung: Sekten 101,17 Harleß, Adolf Gottlieb Christoph v.: Sitte/Sittlichkeit 323,40
801
Harms, Theodor: Selbständige EvangelischLutherische Kirche 103,24 Harnack, Adolf v.: Soden 420,10; Sohm 432,42; Sozialgeschichtsschreibung 535,41; Sozialismus 554,27; Sozialreform 568,43 Harrison, Beverly Wildung: Sozialethik 513,46 Harrison, Frederic: Spencer 650,44 Hartland, E. Sidney: Spiel 683,35 Hartley, David: Shaftesbury, Third Earl of 225,7 Hartmann, Johann Ludwig: Seelsorge 20,12; Spener 658,2 Hase, Karl August v.: Sozialgeschichtsschreibung 537,4 Hastings, Adrian: Sozialethik 522,13 Hauerwas, Stanley: Sozialethik 514,3f.; Sozialwissenschaften 594,23 Hauschildt, Eberhard: Seelsorgelehre 69,21 Hausseelsorge: Seelsorge 41,30f. Headlam, Stewart: Sozialethik 515,21;
Sozialismus 552,19t.
Hebel, Johann Peter: Seelsorge 23,7 Hebräerbrief: Segen/Segen und Fluch 79,42 Heckel, Johannes: Sohm 433,13 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich/ Hegelianismus: Sitte/Sittlichkeit 323,15; Skepsis/Skeptizismus 3 5 9 , 1 1 - 3 4 ; Sklaverei 395,34; Sokrates 443,34; Sozialreform 564,44; Sozialwissenschaften 587,29; Spekulative Theologie 641,16f.; Spinoza/Spinozismus 693,13; Sprache/Sprachwissenschaft/ Sprachphilosophie 730,35; 731,17; 732,26; 733,51; 767,53; 774,20 Hegesipp: Simon Magus 276,4 Heidegger, Martin: Sinn/Sinnfrage 286,17; 290,44; Sokrates 444,15; Sprache/ Sprachwissenschaft/Sprachphilosophie 738,37ff.; 742,11 Heidelberger Katechismus: Sonntag 457,6 Heidentum: Sklaverei 384,50 Heil u. Erlösung: Servet 175,20 Heiligkeit: Söderblom 424,30 Heiligkeitsgesetz: Sklaverei 370,47 Heiligung: Spener 664,6 Heilkunde/Medizin: Seelsorge 9,15; 17,46 Heilpädagogik: Sonderpädagogik 445,56 Heilsordnung: Semler 145,11 Heinrich III., Kaiser: Simonie 278,21 Heinrich III., Kg. v. Frankreich: Sixtus V. 348,27 Heinrich IV., Kg. v. Frankreich: Sixtus V. 348,19 Heinrich v. Guise: Sixtus V. 348,27 Heinrich v. Nördlingen: Seuse 177,24.54 Helth, Kaspar: Siebenbürgen 255,14 Hemmingsen, Niels: Seelsorge 14,15 Hengstenberg, Hans-Eduard: Sinn/Sinnfrage 291,17 Henke, Thomas: Seelsorgelehre 68,30 Henochgestalt/Henochliteratur: Sprache/ Sprachwissenschaft/Sprachphilosophie 761,5 Heraklit: Sensualismus 149,10 Heraldik: Spener 653,6 Herberger, Valerius: Seelsorge 17,51 Herder, Johann Gottfried v.: Semiotik 114,26; Spalding 609,24; Spinoza/Spinozismus 693,7; Sprache/Sprachwissenschaft/Sprachphilosophie 732,2; 737,10ff.; 748,24; 769,24.46; 772,8; 773,17
802
Namen/Orte/Sachen
Herdesianus, Christoph: Seinecker 106,52 Hermann v. Wied: Soto, Pedro de 479,13 Hermeneutik: Spener 663,12 Herms, Eilert: Sport 728,28 f. Hernando de Talavera v. Granada: Spanien 623,12; 624,37 Herrmann, Wilhelm: Sitte/Sittlichkeit 324,44; Sozialethik 507,44 Herron, George Davis: Social Gospel 411,42 Herrschaft Gottes/Reich Gottes: Spiritualität 713,19 Hersteld Apostolische Zendingsgemeente: Sekten 99,48 Hertel, Franz: s. David, Franz Hertling, Georg Frhr. v.: Sozialreform 569,27 Heß, Johann Jacob: Seelsorge 23,2 Heß, Moses: Sozialismus 543,33; Spinoza/Spinozismus 693,30 Hesterberg, Joachim: Spener 653,38 Hesychasmus: Serafim von Sarov 166,34 Hexen: Spee 6 3 8 , 1 - 3 3 Hieronymiten: Spanien 622,3 Hieronymus: Simon Magus 275,28; Sirach/Sirachbuch 308,7; Spanien 614,13 Hildegard v. Bingen: Seelsorge 10,31 Hilferding, Rudolf: Sozialdemokratie 490,45 Hiltner, Seward: Seelsorge 25,4 Himmelsbrief: Sonntag 454,47 Himmler, Heinrich: Seelenwanderung 3,43; Sinti und Roma 304,37 Hinduismus: Sexualität 188,24; Slawische Religion 400,6 Hinkmar v. Reims: Simonie 277,52 Hinnom, Ketef: Segen/Segen und Fluch 77,1 Hiob/Hiobbuch: Segen/Segen und Fluch 78,9ff. Hippolyt v. Rom: Simon Magus 275,14 Hirsch, Emanuel: Sozialgeschichtsschreibung 536,17 Historischer Materialismus: Sozialgeschichtsschreibung 536,26 Historismus: Sozialgeschichtsschreibung 529,12 Hitler, Adolf: Seelenwanderung 3,43; Sozialdemokratie 491,11 Hitze, Franz: Sozialreform 569,30 Hobbes, Thomas: Sensualismus 1 5 0 , 3 5 - 4 7 ; Sozialismus 542,34; Sozialwissenschaften 581,42; Spener 653,2; Spinoza/Spinozismus 691,5 Hochschulen, Kirchliche: Spiritualität 713,29 Oberursel: Selbständige EvangelischLutherische Kirche 104,39 Hodza, Michal Miloslav: Slowakei 404,6 Hölderlin, Friedrich: Sprache/Sprachwissenschaft/Sprachphilosophie 739,38; 742,1 Hoen, Cornelius: Spiritualismus 702,60 Hofmannsthal, Hugo v.: Sprache/ Sprachwissenschaft/Sprachphilosophie 770,19; 771,21 Holl, Karl: Sitte/Sittlichkeit 326,15 Holland, Henry Scott: Sozialethik 515,23; Sozialismus 553,9 Hollenstein, Helmut: Sinn/Sinnfrage 300,17 Holtzmann, Heinrich Julius: Sohm 430,25 Homer: Sprache/Sprachwissenschaft/ Sprachphilosophie 773,55 Honter, Johannes: Siebenbürgen 254,37
Hooker, Richard: Sozialethik 501,5 Horb, Johann Heinrich: Spener 656,36 Horeb: Sinai 284,4 Hoscki, Roman: Sozzini/Sozinianer 601,36 Hrabanus Maurus: Sirach/Sirachbuch 313,49; Sklaverei 382,3 Huber, Victor Aimé: Sozialismus 553,52 Huberinus, Caspar: Seelsorge 14,11 Hugenotten: Seelsorge 15,35 Hughes, Hugh Price: Sozialismus 552,51 Hughes, Thomas: Sozialismus 552,7f. Hugo v. Balma: Seuse 182,8 Hugo v. St. Viktor: Sexualität 202,51; Simonie 279,25; Sonntag 455,42; Sprache/ Sprachwissenschaft/Sprachphilosophie 768,51; 772,1 Huizinga, Johan: Spiel 671,28; 677,44; 683,38 Humanismus: Shakespeare 230,33; Spanien 623,44; Spengler 667,16f. Humbert v. Silva Candida: Simonie 278,41 f. Humboldt, Wilhelm v.: Sprache/ Sprachwissenschaft/Sprachphilosophie 730,25; 732,8; 737,41 ff.; 748,30 Hume, David: Sensualismus 1 5 1 , 1 4 - 3 4 ; Skepsis/Skeptizismus 3 5 8 , 1 1 - 3 3 ; Sozialwissenschaften 581,42; Sprache/ Sprachwissenschaft/Sprachphilosophie 735,7.17 Hunnius, Nikolaus: Spener 656,5 Hurban, Jozef Miloslav: Slowakei 404,5 Hus, Johann/Hussiten: Separatisten/ Separatismus 153,45; Simonie 279,43 Huschke, Georg Philipp Eduard: Selbständige Evangelisch-Lutherische Kirche 103,22 Husserl, Edmund: Sinn/Sinnfrage 288,10; Sprache/Sprachwissenschaft/Sprachphilosophie 738,40 Hut, Hans: Spiritualismus 704,21 Hutcheson, Francis: Shaftesbury, Third Earl of 225,2; Sklaverei 390,19 Hutterische Brüder: Sozzini/Sozinianer 601,4 Huxley, Thomas Henry: Spencer 649,23 Huygens, Christiaan: Spinoza/Spinozismus 688,21 Hydatius v. Aquae Flaviae: Spanien 614,36.49 Ibn Khordabeh: Sklaverei 379,5 Ibn Mansur al-Baghadi: Seelenwanderung 4,43 Ichpsychologie: Sozialisation 539,14 Idealismus: See 428,31; Spinoza/Spinozismus 693,6 Ignatius v. Antiochien: Sklaverei 380,10; Sonntag 452,14 Ignatius v. Loyola: Seelsorge 16,26 Imdahl, M a x : Sprache/Sprachwissenschaft/ Sprachphilosophie 773,4 Indien: Seelenwanderung 2,1; Sexualität 193,27 Indios: Sklaverei 385,48 Industrialisierung: Social Gospel 409,51 ff.; Sonntag 460,51 ff.; Sozialpädagogik 558,10; Spanien 629,10 Innere Mission: Sonntagsschule 474,37; Sozialismus 549,7 Inquisition: Sixtus IV. 343,42; Spanien 622,10.42f.
Namen/Orte/Sachen Inspirationsgemeinden: Separatisten/ Separatismus 157,39 Institoris (Kramer), Heinrich: Sixtus IV. 343,42 Interaktion: Seelsorgelehre 69,36 Interaktionismus, symbolischer: Sozialisation 539,32 Interim: Soto, Pedro de 479,16 Internationale Romani-Union: Sinti und R o m a 305,36 Internetseelsorge: Seelsorge 46,15 f. Investiturstreit: Simonie 278,27 Iranische Religionen: Söderblom 424,15 Irenaus v. Lyon: Simon M a g u s 273,44; Spanien 611,11; Spiritualität 708,44 Irigaray, Luce: Sexualität 218,8 Irische Artikel: Sonntag 459,27 Isaak der Blinde: Seelenwanderung 5,12 Isaak Luria: Seelenwanderung 5,40; 6,7 Isabella I., Königin v. Kastilien u. Léon: Spanien 622,36 Isidor v. Sevilla: Seelsorge 10,30; Spanien 615,32; 616,24; 617,25 Islam: Siebenbürgen 254,12; Spanien 618,11 f.; Spiritualität 711,49 Isokrates: Sozialpädagogik 557,11 Israel: Sozialgeschichtsschreibung 534,13 lus reformandi: Siebenbürgen 254,24f. Jablonski, Daniel Ernst: Spener 660,51 J a c o b i , Friedrich Heinrich: Spinoza/ Spinozismus 692,58 J a h n , Friedrich Ludwig: Sport 722,26 J a i s , Ägidius: Seelsorge 23,30 J a k o b I., Kg. v. England (Jakob VI. v. Schottland): Sonntag 459,34 J a k o b al-Qirqisani: Seelenwanderung 4,39 Jakob-Lorber-Lesekreis: Sekten 100,17 J a k o b s o n , R o m a n : Semiotik 126,15 f. J a k o b u s (Herrenbruder): Spanien 610,53; 619,9; 620,21 Jamometic, Andreas: Sixtus IV. 343,37 J a n k e , Wolfgang: Sprache/Sprachwissenschaft/ Sprachphilosophie 7 4 1 , 2 4 - 4 0 Jantzen, Wolfgang: Sonderpädagogik 446,31 Jaspers, Karl: Sokrates 444,18; Sprache/ Sprachwissenschaft/Sprachphilosophie 739,44 f. Jaurès, Jean: Sozialdemokratie 495,3 Jean Paul: Sprache/Sprachwissenschaft/ Sprachphilosophie 769,54 Jehuda he-Chasid: Seelenwanderung 5,34; Segen/Segen und Fluch 87,10; Sprache/ Sprachwissenschaft/Sprachphilosophie 764,42 Jelles, Jarig: Spinoza/Spinozismus 688,38; 692,1 Jellin, David: Segen/Segen und Fluch 88,12 Jentsch, Werner: Seelsorgelehre 62,16 Jerobeam I.: Sichern 246,10 Jerusalem: Serubbabel 172,32; Sikarier 262,31; Silo 266,49 Jerusalem (Bistum): Shaftesbury, Seventh Earl of 226,51 Jerusalem, Johann Friedrich Wilhelm: Spalding 608,21 Jeschuyab I. (Patriarch): Sonntag 455,17
803
Jesuiten: Siebenbürgen 253,25; 255,16; Spanien 624,11; 626,19f.; Spee 635,44; Spiritualität 710,33 Jesus Christus: Seelsorge 7,15; 13,39; Severus von Antiochien 185,6f.; Sonntag 450,50f.; Sozzini/Sozinianer 602,28; Spekulative Theologie 644,2 ff. Jesusbewegung: Sozialgeschichtsschreibung 533,2-29 Jesusfrömmigkeit: Spener 652,47 Joachim v. Fiore: Spiritualismus 702,51 Joannes a Sancto T h o m a : Semiotik 109,51 Johann Friedrich v. Sachsen: Spalatin 605,19ff. Johann v. Dambach: Seelsorge 12,9 J o h a n n v. Sachsen: Spalatin 605,41 Johann Wilhelm v. Kurpfalz: Simultaneum 282,20f. Johannes v. Avila: Spanien 624,37; 626,3 Johannes v. Caesarea: Severus von Antiochien 184,47 Johannes Chrysostomus: Seelsorge 8,18; 9,17.31 f.; Simonie 277,14; Sirach/Sirachbuch 310,11; Sklaverei 380,24; Sonntag 453,46 Johannes der Fuoterer v. Straßburg: Seuse 177,54 Johannes v. Gott: Spanien 624,9 Johannes Klimakos: Spiritualität 710,16 Johannes vom Kreuz: Spanien 626,4 Johannes Malalas: Slawische Religion 398,43 Johannes v. Segovia: Spanien 622,25 Johannes v. Torquemada: Spanien 622,24 Johannische Kirche (Sekte): Sekten 100,15 Johanniter: Siebenbürgen 253,10 Jojachin: Serubbabel 171,40 J o n s o n , Ben: Shakespeare 230,40 Joris, David: Spiritualismus 704,36 f. J o s a p h a t (Ivan Tichonovic Tostoseev): Serafim von Sarov 167,51 J o s é Climent v. Barcelona: Spanien 627,41 Josef v. Calasanza: Spanien 624,10 Josef v. H a m a d a n : Seelenwanderung 5,43 Josef ben Isaak ibn Abitur: Segen/Segen und Fluch 87,22 Josef ben Schalom Aschkenazi: Seelenwanderung 5,35.43 Josephus Flavius: Sikarier 262,8 Josuttis, Manfred: Seelsorgelehre 66,37; Sonntag 468,20 Jovellanos, G a s p a r Melchor de: Spanien 627,12 Jubeljahr: Sixtus IV. 343,28 J u d ä a : Simon ben Kosiba 270,9; 271,21 Juden: Spanien 612,38; 622,52f. Judentum: Slowakei 406,18; Spinoza/ Spinozismus 687,5; Spiritualität 711,41 Jülicher, Adolf: Sozialgeschichtsschreibung 535,41; 536,9 Jüthner, Julius: Sport 721,32 Jugendseelsorge: Seelsorge 44,18 Julianos Sabas: Sinai 284,32 Julius Severus: Simon ben Kosiba 271,31 Jung, Carl Gustav: Seelsorge 35,36 Junges Deutschland: Sozialismus 545,15 Juni, J u a n de: Spanien 625,43 Justin der Märtyrer: Simon M a g u s 273,27; Sonntag 451,50
804
Namen/Orte/Sachen
J u s t i n i a n I., K a i s e r : S e e l e n w a n d e r u n g 3 , 1 ; Simonie 277,21; Sinai 284,38 Juvencus: Spanien 6 1 3 , 2 4 Kabbala: Seelenwanderung 4,34ff.; Spinoza/ S p i n o z i s m u s 6 9 2 , 3 8 f.; S p r a c h e / Sprachwissenschaft/Sprachphilosophie 764,47; 765,14 Kadesch(-Barnea): Sinai 2 8 4 , 4 0 Kahler, Martin: Sitte/Sittlichkeit 325,22 Käsemann, Ernst: S o h m 432,47 Kainz, Friedrich: Sprache/Sprachwissenschaft/ Sprachphilosophie 738,30 Kalb, Friedrich: Sonntag 4 6 8 , 9 Kanon: Semler 144,28 Kanonistik: Simultaneum 281,23 Kant, Immanuel: Semiotik 109,19; Sidgwick 2 4 8 , 2 2 ; S i t t e / S i t t l i c h k e i t 3 1 8 , 4 2 ; 3 2 1 , 3 5 f.; Skepsis/Skeptizismus 3 5 8 , 3 5 - 3 5 9 , 1 0 ; Sokrates 443,22; Sozialethik 507,18; Sozialwissenschaften 583,11; 587,30; S p e k u l a t i v e T h e o l o g i e 6 4 1 , 2 0 ; Spiel 6 7 3 , 3 9 ; Sprache/Sprachwissenschaft/Sprachphilosophie 730,45; 7 3 5 , 4 6 f . ; 7 3 7 , l O f . Kardec, Allan (Léon Hippolyte Dénizard Rivail): Seelenwanderung 3 , 3 5 ; Spiritismus 697,8-698,16 K a r d i n a l / K a r d i n a l s k o l l e g i u m : S i x t u s V. 3 4 7 , 4 1 Karl d.Gr.: Sepulkralkunst 162,27; Simonie 277,46; Sonntag 454,52; Sozialethik 499,37; Spanien 618,46; 619,23 Karl V., K a i s e r : S e r i p a n d o 1 6 9 , 4 4 ; S o t o , D o m i n g o de 4 7 6 , 2 1 ; S o t o , P e d r o d e 4 7 9 , 1 0 ; Spanien 625,13 K a r l I., K g . v. E n g l a n d : S o n n t a g 4 5 9 , 3 7 K a r l e , Isolde: S e e l s o r g e l e h r e 6 8 , 7 K a r l s t a d t , A n d r e a s R u d o l f B o d e n s t e i n v.: S e e l s o r g e 1 3 , 3 5 ; S p i r i t u a l i s m u s 7 0 3 , 3 5 f. K a r m a : Seelen W a n d e r u n g 2 , 5 Karmeliter: Spiritualität 7 1 0 , 3 2 Karneades: Skepsis/Skeptizismus 351,1; 352,22 Kartäuser: Spanien 622,4 Kastilien: Spanien 619,15; 6 2 0 , 3 8 Kasualien: Seelsorge 4 1 , 3 6 Katalonien: Spanien 618,46 Katechismus: Seelsorge 13,20; 18,17; Siebenbürgen 255,12; Sonntag 464,9.28; S o n n t a g s s c h u l e 4 7 3 , 5 1 ; S o t o , P e d r o de 4 7 9 , 4 5 ; Sozzini/Sozinianer 601,20; Spee 636,37; Spener 659,31; 6 6 2 , 4 0 Katharer: Seelenwanderung 3,13; 5,8; Sensualismus 150,23; Spiritualismus 702,28 Katholische Könige: Spanien 622,35 K a t h o l i s c h e R e f o r m u. G e g e n r e f o r m a t i o n : S p e e 635,50ff. K a u t s k y , Karl: S o z i a l d e m o k r a t i e 4 8 9 , 1 0 ; Sozialismus 546,48 Kazantzakis, Nikos: Spiritualität 712,11 Kerner, Justinus: Spiritismus 696,25 K e t t e i e r , W i l h e l m E m a n u e l F r h r . v.: S o z i a l i s m u s 554,13; Sozialreform 569,19 Keuschheit: Spanien 613,1 K h ä l s ä : S i k h - R e l i g i o n 2 6 5 , 3 1 f. Kierkegaard, Soren Aabye: Sexualität 2 0 5 , 1 - 5 7 ; Sinn/Sinnfrage 290,43; Situationsethik 338,2; S e e 4 2 8 , 9 ; S o k r a t e s 4 4 3 , 4 5 ; Spiel 6 7 3 , 1 2 ;
Sprache/Sprachwissenschaft/Sprachphilosophie 7 3 6 , 3 7 Kieslowski, Krzysztof: Spiritualität 7 1 2 , 5 Kiew: Slawische Religion 3 9 8 , 9 Kind: Seelsorge 4 4 , 7 K i n d e r G o t t e s (Sekte): S e k t e n 1 0 0 , 1 6 Kindergottesdienst: Sonntagsschule 4 7 5 , 9 King, M a r t i n Luther: Social Gospel 4 1 6 , 1 1 Kingsley, Charles: Social G o s p e l 4 1 0 , 2 4 ; Sozialethik 515,14; Sozialismus 5 5 1 , 4 5 - 5 5 2 , 5 Kirche: Separatisten/Separatismus 1 5 5 , 2 4 f . ; Soden 420,36; Sohm 431,47f¥.; Spiritualismus 7 0 3 . 1 4 f. K i r c h e v. E n g l a n d : S e p a r a t i s t e n / S e p a r a t i s m u s 156,42f. K i r c h e u. S t a a t : S e p a r a t i s t e n / S e p a r a t i s m u s 155,11; Siebenbürgen 256,12; Slowakei 405,6; Soden 422,15; Spanien 6 2 5 , 2 7 Kirchengeschichtsschreibung: Semler 146,48; Sozialgeschichtsschreibung 528,18; 535,17-537,15 Kirchenjahr: Spener 662,9 Kirchenkritik: Separatisten/Separatismus 155,17 Kirchenleitung: Seelsorge 14,37 Kirchenlied: Seelsorge 14,18; 18,12; Spee 637,6 Kirchenordnungen: Seelsorge 8,51; 14,6; Sonntag 464,28 Brandenburg-Nürnberg (1533): Spengler 669,7 Debrecen (1567): Siebenbürgen 255,3 Rheinland (1996): Sonntag 4 6 4 , 3 7 - 4 6 5 , 8 Siebenbürgen (1547): Siebenbürgen 2 5 4 , 3 7 Kirchenrecht: Seelsorge 8,21; Separatisten/ Separatismus 153,44; Sohm 430,24ff. Kirchenrechtsquellen: Simonie 279,3 Kirchenreform: Spener 6 5 4 , 8 f . ; 6 5 6 , 3 3 f . ; 6 5 7 . 1 5 f. Kirchenregiment, Landesherrliches: S o h m 432,49 K i r c h e n s t a a t : S i x t u s V. 3 4 7 , 2 6 f. Kirchenverfassungen: Soden 420,41 Kirchenzucht: Seelsorge 14,36; 18,42 Kirchner, Timotheus: Seinecker 106,20 Kiszka, J a n : Sozzini/Sozinianer 6 0 0 , 3 7 Kjaer, Hans: Silo 267,7 K l a u s , G e o r g : S e m i o t i k 1 1 8 , 6 ; 1 1 9 , 1 f. Klausenburg: Siebenbürgen 2 5 4 , 4 9 Kleopatra VII.: Sibyllinen 2 4 1 , 4 4 K l ö s t e r u. S t i f t e : A u r i l l a c : Silvester II. 2 6 8 , 2 B o b b i o : Silvester II. 2 6 8 , 1 5 C l u n y : S p a n i e n 6 2 0 , 4 1 f. Diveevo: Serafim von Sarov 166,10; 167,50 Georgenthal: Spalatin 6 0 5 , 1 6 Kolozsmonostor: Siebenbürgen 253,18 Peri (St. M i c h a e l ) : S i e b e n b ü r g e n 2 5 3 , 4 7 Prislop: Siebenbürgen 253,48 S a r o v : S e r a f i m von S a r o v 1 6 5 , 3 8 Wardein: Siebenbürgen 253,18 Kloster/Klosteranlage: Siebenbürgen 253,16 Knippenberg, T j e u van: Seelsorgelehre 66,52 K n o w l e s , J o s e p h W.: S e e l s o r g e 2 5 , 8 König, Georg: Seelsorge 17,41 K ö s t l i n , H e i n r i c h A.: S e e l s o r g e l e h r e 5 8 , 2 9 Kognitivismus: Sozialisation 5 3 9 , 2 0
Namen/Orte/Sachen Kohl, Helmut: Sozialdemokratie 4 9 3 , 9 K o k o s z k a , Stanislaw: Sozzini/Sozinianer 5 9 8 , 2 0 Kolonialismus: Sklaverei 3 8 5 , 9 f f . Kolping, Adolf: Sozialismus 5 5 4 , 1 3 K o m i n t e r n : Sozialismus 5 4 8 , 8 f . K o m m u n i s m u s : Sozialismus 5 4 3 , 2 9 f f . K o m ö d i e : Shakespeare 2 3 2 , 9 - 2 3 3 , 1 8 Konfessionalismus: Spekulative T h e o l o g i e 6 4 4 , 4 4 Konfirmation: Spener 6 5 5 , 1 5 Kongregationalismus: Separatisten/ Separatismus 1 5 7 , 2 Konkordate: 1851 (Spanien): Spanien 6 2 8 , 4 6 ; 6 2 9 , 3 3 1953 (Spanien): Spanien 6 3 1 , 6 K o n k o r d i e n b u c h : Seinecker 1 0 7 , 1 0 K o n k o r d i e n f o r m e l : Separatisten/Separatismus 154,12 Konrad II., Kaiser: Simonie 2 7 8 , 1 9 K o n s t a n t , David: Sozialethik 5 0 5 , 1 5 Konstantin I. d . G r . : Sklaverei 3 8 0 , 1 6 ; S o n n t a g 4 5 2 , 3 1 f. Konstantinopel: Severus von Antiochien 184,11 Konstanz: Seuse 177,17 Konstitutionen, (Pseud-)Apostolische: S i m o n i e 277,12; Sonntag 453,50 Konventikel: Spener 6 5 7 , 1 9 ; 6 5 8 , 1 9 Konziliarismus: Sixtus IV. 3 4 3 , 3 5 Kortholt, Christian: Spener 6 5 7 , 5 4 Korybanten: Sexualität 188,10 Kosoj, Fieodosij: Sozzini/Sozinianer 6 0 0 , 4 8 K r a m p , Willy: Spiritualität 7 1 2 , 1 3 K r a n k e n b e s u c h : Seelsorge 4 1 , 4 2 Kraus, Franz X a v e r : Spanien 6 3 0 , 2 Krause, J o h a n n Heinrich: Sport 7 2 1 , 3 2 Krause, Karl Christian Friedrich: Spinoza/Spinozismus 6 8 8 , 4 2 Krautwald, Valentin: Spiritualismus 7 0 4 , 7 Kreischgebiet: Siebenbürgen 2 5 1 , 1 1 Kreuz: Sozzini/Sozinianer 6 0 2 , 3 5 Kreuzzüge: Spanien 6 2 0 , 3 3 ; 6 2 1 , 3 5 Krickeberg, Walter: Sport 7 1 8 , 4 8 Krug, W i l h e l m T r a u g o t t : Spekulative T h e o l o g i e 644,42 Kuba: Sklaverei 3 9 1 , 3 2 f . Küng, H a n s : Sozialethik 5 2 2 , 5 4 f . Kuhn, T h o m a s Samuel: Sozialwissenschaften 577,37 Kulemann, W i l h e l m : Sozialreform 5 6 7 , 2 6 Kulturgeschichtsschreibung: Sozialgeschichtsschreibung 5 3 0 , 4 3 ; 5 3 7 , 1 Kulturkampf: S o h m 4 3 0 , 2 7 Kurhessen-Waldeck: Soden 4 2 1 , 5 0 Kurie: Sixtus V. 3 4 7 , 4 1 Kurpfalz: Simultaneum 2 8 2 , 2 3 f. Kurz, W o l f r a m K . : Sinn/Sinnfrage 3 0 0 , 2 1 Kuyper, A b r a h a m : Sozialethik 5 0 7 , 4 0 Kybele: Sexualität 188,11 Labadie, J e a n de: Separatisten/Separatismus 153,34; 1 5 4 , 3 3 ; 1 5 7 , 9 f . ; Spener 6 5 3 , 4 7 ; 6 5 6 , 2 4 Lacan, J a c q u e s : Sensualismus 152,25; Sexualität 218,12; Sprache/Sprachwissenschaft/ Sprachphilosophie 7 8 3 , 3 6 f f . L a c h o w s k i , Andrzej: Sozzini/Sozinianer 6 0 2 , 1 4 Lactantius: Skepsis/Skeptizismus 3 5 4 , 2 6 ; Sklaverei 3 8 0 , 4
805
Ladislaus I. v. Ungarn: Siebenbürgen 2 5 2 , 4 4 Lagrange, J e a n de: Sepulkralkunst 163,37 Laie: Seelsorge 14,16; S i m o n i e 2 7 8 , 4 6 ; Sonntagsschule 4 7 2 , 9 ; Spener 6 5 7 , 1 Laienseelsorge: Seelsorge 19,35 L a m a i s m u s : Sibirische Religionen 2 4 0 , 4 L a m a r c k , J e a n Baptiste de: Spencer 6 5 0 , 1 1 L a m p r e c h t , Karl: Sozialgeschichtsschreibung 529,32; 535,52 L a n g e , Ernst: Situation 3 3 4 , 2 f . ; Sozialwissenschaften 5 9 1 , 5 5 Las C a s a s , B a r t o l o m e de: S i r a c h / S i r a c h b u c h 3 1 4 , 1 6 ; Sklaverei 3 8 5 , 1 6 1 . ; S o t o , D o m i n g o de 476,37 Lassalle, Ferdinand: S o z i a l d e m o k r a t i e 4 8 8 , 1 0 ; Sozialismus 5 4 4 , 3 ; 5 4 5 , 4 8 L a u b e r , J o s e p h : Seelsorge 2 2 , 4 2 L a v a t e r , J o h a n n Kaspar: Spalding 6 0 8 , 1 2 Lavigerie, C h a r l e s M a r t i a l Allemand: Sklaverei 392,20 L a w t o n , G e o r g e : Spiritismus 6 9 6 , 3 4 Leander v. Sevilla: Spanien 6 1 6 , 1 L e b e r , Julius: S o z i a l d e m o k r a t i e 4 9 1 , 2 6 L e e c h , Kenneth: Sozialethik 5 1 7 , 3 4 Leeuw, G e r a r d u s van der: Spiel 6 8 3 , 3 5 L e h m a n n , A b r a h a m : Seelsorge 1 7 , 5 4 L e h m a n n , Paul: Sozialethik 5 1 2 , 5 5 L e h o c k y , Daniel: Sozzini/Sozinianer 6 0 1 , 5 0 Leibniz, G o t t f r i e d W i l h e l m : Sensualismus 151,2; Spee 6 3 9 , 1 2 ; Spener 6 6 0 , 5 1 ; Sprache/ Sprachwissenschaft/Sprachphilosophie 743,5; 749,49 Leichenpredigten: Seelsorge 1 8 , 1 4 Leiden: Seuse 1 7 9 , 4 6 f . Leland, J o h n : Shaftesbury, T h i r d Earl of 2 2 4 , 4 6 Lenin, W l a d i m i r Iljitsch U l j a n o v / L e n i n i s m u s : S o z i a l d e m o k r a t i e 4 9 5 , 1 0 ; Sozialismus 5 4 8 , 1 3 L e o n : Spanien 6 1 9 , 8 ; 6 2 0 , 3 8 L e o n I., byz. Kaiser: Simonie 2 7 7 , 2 1 Leovigild, Kg. der Westgoten: Spanien 6 1 5 , 2 8 . 4 7 Lessing, G o t t h o l d E p h r a i m : Sprache/ Sprachwissenschaft/Sprachphilosophie 735,42 Lette, W i l h e l m Adolf: Sozialreform 5 6 5 , 4 6 Leuschner, W i l h e l m : Sozialdemokratie 4 9 1 , 2 6 Lévinas, E m m a n u e l : Sinn/Sinnfrage 2 9 5 , 3 9 Lewes, G e o r g e H e n r y : Spencer 6 4 9 , 2 1 Lewis, Agnes: S i r a c h / S i r a c h b u c h 3 0 7 , 1 2 Libanios: S o k r a t e s 4 3 6 , 4 7 Liberaler Katholizismus: Spanien 6 2 9 , 4 8 Liberalismus: Soden 4 2 2 , 1 3 ; Spanien 6 2 8 , 1 9 ; Spencer 6 4 9 , 1 1 . 3 4 Libertiner: Spiritualismus 7 0 5 , 3 Libri Carolini: Spiritualismus 7 0 2 , 1 9 Lichtenberg, G e o r g Christoph: Sprache/ Sprachwissenschaft/Sprachphilosophie 732,53 Licinian v. C a r t a g e n a : S o n n t a g 4 5 4 , 4 8 Liebe: Sensualismus 151,39; Seuse 1 8 1 , 1 0 f . ; Spee 638,18 L i e b k n e c h t , Karl: S o z i a l d e m o k r a t i e 4 9 0 , 3 1 Liebknecht, Wilhelm: Sozialdemokratie 488,14; Sozialismus 5 4 4 , 4 ; 5 4 6 , 1 3 . 4 8 Liebrucks, B r u n o : S p r a c h e / S p r a c h w i s s e n s c h a f t / Sprachphilosophie 7 4 1 , 4 6 - 7 4 2 , 1 0 Liegnitz: Spiritualismus 7 0 4 , 5 0
806
Namen/Orte/Sachen
L i n c k , Wenzeslaus: Seelsorge 14,9 Ling, Henrik: Sport 7 2 2 , 1 9 Liturgie: Smith 4 0 8 , 1 0 ; Spalding 6 0 9 , 2 2 Livingstone, David: Sklaverei 3 9 2 , 2 0 Llórente, J u a n A n t o n i o : Spanien 6 2 2 , 4 9 L o c k e , J o h n : S e m i o t i k 109,36; 1 1 6 , 3 8 ; Sensualismus 1 5 0 , 4 9 ; Shaftesbury, T h i r d Earl o f 2 2 2 , 3 9 ; S o k r a t e s 4 4 3 , 2 1 ; Sozzini/Sozinianer 6 0 2 , 5 1 ; Spiritualismus 7 0 5 , 2 5 L o d g e , Oliver J . : Spiritismus 6 9 6 , 5 2 L ö h e , W i l h e l m : Seelsorge 2 4 , 2 L ö s c h e r , Valentin E r n s t : Seelsorge 18,25 L o g i k : S o t o , D o m i n g o de 4 7 7 , 1 0 Lohfink, Norbert: Sirach/Sirachbuch 309,9 L o h m a n n , T h e o d o r : Sozialreform 5 6 6 , 5 3 Lollarden: Spiritualismus 7 0 2 , 5 6 L o n d o n S u n d a y - S c h o o l Union: Sonntagsschule 473,12 L ó p e z , Ludovico: Seelsorge 1 7 , 4 0 Losungen: Spiritualität 7 1 0 , 4 5 Lubieniecki, Stanislaw: Sozzini/Sozinianer 6 0 2 , 6 L u c k m a n n , T h o m a s : Sozialwissenschaften 589.22 L u d l o w , J o h n M a l c o l m : Sozialismus 5 5 1 , 1 1 - 4 4 L u d w i g I. der F r o m m e , Kaiser: Sklaverei 3 7 9 , 3 L u d w i g X I V . , Kg. v. F r a n k r e i c h : Simultaneum 282,4f. Ludwig X V I . , Kg. v. F r a n k r e i c h : Sozialethik 501,40 Ludwig v. Lothringen (Kardinal): Sixtus V. 348,28 L ü t k e m a n n , J o a c h i m : Spener 6 5 6 , 5 L u h m a n n , Niklas: Seelsorgelehre 6 8 , 8 ; Sozialwissenschaften 5 8 0 , 2 5 ; 5 8 9 , 3 0 Luis de G r a n a d a : Seelsorge 16,19; Spanien 624,12; 626,4 Luis de la Puente: Spanien 6 2 4 , 1 3 . 3 8 Luis de L e ó n : Spanien 6 2 4 , 1 3 . 3 8 ; 6 2 6 , 4 Luther, Henning: Seelsorgelehre 6 7 , 4 3 ; 6 9 , 1 4 ; Spiel 6 8 0 , 3 L u t h e r , M a r t i n : Seelsorge 8 , 2 9 ; 1 2 , 4 4 - 1 4 , 4 ; Seelsorgelehre 5 5 , 4 6 ; Segen/Segen und Fluch 9 0 , 7 ; Semiotik 1 1 2 , 3 5 - 1 1 4 , 9 ; Sexualität 203.23 - 204,32; Sirach/Sirachbuch 310,14; Sitte/Sittlichkeit 3 1 8 , 3 3 ; 3 2 0 , 5 0 ; 3 2 6 , 3 0 ; Skepsis/Skeptizismus 3 6 3 , 1 2 - 3 6 4 , 2 4 ; Sklaverei 3 7 5 , 4 3 ; 3 8 4 , 4 7 ; S o n n t a g 4 5 7 , 1 0 - 3 6 ; Sozialethik 5 0 0 , 1 5 ; Spalatin 6 0 5 , 2 5 ; 6 0 6 , 2 2 f . ; Spener 6 5 5 , 2 5 f.; 6 5 7 , 2 9 ; 6 6 4 , 1 2 ; Spengler 6 6 6 , 5 3 ; Spiritualität 7 1 0 , 3 8 ; Sport 7 2 6 , 2 1 ; Sprache/Sprachwissenschaft/Sprachphilosophie 7 8 2 , 1 7 Lutherische Kirchen: Selbständige Evangelisch-Lutherische K i r c h e 1 0 3 , 6 - 1 0 5 , 2 7 ; Siebenbürgen 2 5 4 , 3 6 f . ; 2 5 6 , 5 ; Slowakei 4 0 5 , 2 7 ; Spener 6 5 6 , 4 3 Luxemburg, Rosa: Sozialdemokratie 490,30 L y o n , J o h n : Semiotik 1 1 7 , 4 0 M a c h e r , M a t t h i a s : Seelsorge 2 4 , 1 8 M j c z y n s k i , J a n : Sozzini/Sozinianer 5 9 8 , 2 0 M ä r t y r e r : Spanien 6 1 8 , 3 0 ; Spiritualität 7 1 0 , 1 0 M a g e r , Karl W i l h e l m Ernst: Sozialpädagogik 556,44 M a g i e : Simon M a g u s 2 7 2 , 5 1 ff.; Sprache/Sprachwissenschaft/Sprachphilosophie 7 6 2 , 4 7
M a i n z : Sepulkralkunst 1 6 3 , 1 2 M a l d o n a d o , J u a n : Spanien 6 2 3 , 4 8 M a l e b r a n c h e , Nicole: Skepsis/Skeptizismus 3 5 7 , 3 9 ; Spinoza/Spinozismus 6 8 8 , 4 8 M a n d e v i l l e , Bernard: Shaftesbury, T h i r d Earl o f 224,37 M a n i c h ä i s m u s : Sibirische Religionen 2 3 9 , 5 1 M a n j ö m , Andres: Spanien 6 2 9 , 1 2 M a n n h e i m , Karl: Sozialethik 5 1 6 , 2 6 ; Sozialwissenschaften 5 7 7 , 3 2 M a n r i q u e , Alonso: Spanien 6 2 3 , 4 7 M a r h e i n e k e , Philipp K o n r a d : Spekulative Theologie 643,2f. M a r i a / M a r i e n f r ö m m i g k e i t : Sinti und R o m a 3 0 3 , 1 8 ; Sixtus IV. 3 4 3 , 4 8 M a r i a de Agreda: Spanien 6 2 4 , 3 8 M a r i a n a , J u a n de: Spanien 6 2 6 , 5 M a r i t a i n , J a c q u e s : Sozialethik 5 0 5 , 3 7 ; Spanien 630,39 M a r l o w e , Christopher: Shakespeare 2 3 1 , 2 7 M a r m a r o s c h : Siebenbürgen 2 5 1 , 1 2 M a r p e c k , Pilgram: Spiritualismus 7 0 4 , 2 4 M a r s c h a l k , Nikolaus: Spalatin 6 0 5 , 8 M a r t i n v. B r a g a : Spanien 6 1 5 , 5 f . M a r t i n v. C o c h e m : Seelsorge 19,27 M a r t i n v. T o u r s : Spanien 6 1 3 , 4 5 M a r t i n , Gerhard M a r c e l : Spiel 6 7 9 , 9 M a r t i n , G o t t f r i e d : Sokrates 4 4 4 , 5 M a r t y r i u m : S i m o n ben Kosiba 2 7 1 , 4 9 M a r x , Karl: Sexualität 2 0 5 , 5 8 - 2 0 6 , 5 1 ; Sinn/Sinnfrage 2 9 1 , 4 8 ; Sozialdemokratie 4 8 8 , 2 2 ; Sozialismus 5 4 3 , 2 1 f f . ; 5 4 5 , 2 5 f . ; 5 4 7 , 2 8 f . ; Sozialreform 5 6 4 , 9 ; Sozialwissenschaften 5 8 2 , 9 M a r z a h n , Christian: Sozialarbeit 4 8 2 , 1 M a s a d a : Sikarier 2 6 2 , 3 2 ; S i r a c h / S i r a c h b u c h 307,27; 308,16 M a t e r i a l i s m u s : Spalding 6 0 8 , 3 6 M a t h e s i u s , J o h a n n e s : Seelsorge 16,47; 17,1.51 M a t t h ä u s v. K r a k a u : Simonie 2 7 9 , 4 2 M a t t h e w s , Shailer: Social G o s p e l 4 1 8 , 2 0 M a t t h i j s , J a n : Spiritualismus 7 0 4 , 3 3 M a u r i c e , Frederick D e n n i s o n : Social Gospel 4 1 0 , 2 4 ; Sozialethik 5 1 5 , 1 4 ; Sozialismus 551,12f. M a x v. Baden: Sozialdemokratie 4 9 0 , 1 3 M a x i m i l i a n I., Kaiser: Sepulkralkunst 164,13 M a y a n s y Siscar, Gregorio: Spanien 6 2 7 , 1 1 M a y e r , J o h a n n Friedrich: Spener 6 6 0 , 2 3 M c C l e n d o n , J a m e s W i l l i a m , J r . : Sozialethik 514,2 M c C o r m a c k , B r u c e L.: Sozialethik 5 0 8 , 2 2 M c l n t y r e , Alasdair Chalmers: Sozialethik 514,9 M c T a g g a r t , J o h n : Sidgwick 2 4 9 , 1 8 Medellin: Sozialethik 5 0 4 , 3 4 M e h l , R o g e r : Sozialethik 5 2 0 , 1 0 M e i n e r , J o h a n n Werner: Semiotik 130,5 M e i s n e r , B a l t h a s a r : Spener 6 5 8 , 3 M e l a n c h t h o n , Philipp: Sozialethik 5 0 0 , 3 5 ; Spalatin 6 0 6 , 4 3 M e l i u s , Péter: Siebenbürgen 2 5 4 , 5 2 ; 2 5 5 , 1 4 M e n d e l s s o h n , M o s e s : Spinoza/Spinozismus 692,52 M e n e s t r i e r , Claude-François: Spener 654,1 M e n g e r i n g , A r n o l d : Seelsorge 1 7 , 2 9
Namen/Orte/Sachen M e n s c h : Spinoza/Spinozismus 6 9 0 , 5 M e n s c h e n r e c h t e / M e n s c h e n w ü r d e : Sklaverei 3 9 4 , 1 6 ; Spanien 6 2 3 , 3 3 M e r c e d a r i e r : Spanien 6 2 2 , 1 M é r i d a (Bistum): Spanien 6 1 7 , 1 9 M e r s e n n e , M a r i n : Skepsis/Skeptizismus 356,14-50 M e r t o n , R o b e r t King: Sozialwissenschaften 577,37 M e r t o n , W i l h e l m : Sozialreform 5 6 6 , 1 0 M e r z , Heinrich: Sozialismus 5 4 9 , 2 5 M e s m e r , Franz A n t o n : Seelsorge 2 3 , 1 5 ; Spiritismus 6 9 6 , 2 4 M e s s e : Seripando 170,45; S o n n t a g 4 5 4 , 4 1 M e t a p h y s i k : Sidgwick 2 4 9 , 3 M e t h o d i s t i s c h e Kirchen: Sozialismus 5 5 2 , 5 2 M e t r o d o r o s v. C h i o s : Skepsis/Skeptizismus 350,27 M e t z , J o h a n n Baptist: Sozialethik 5 0 5 , 4 9 ; Sozialwissenschaften 5 9 3 , 4 8 M e y e r , Ludovicus: Spinoza/Spinozismus 688,38; 691,54 M e y e r - B l a n k , M i c h a e l : Sprache/ Sprachwissenschaft/Sprachphilosophie 782,23 M i c h e l a n g e l o B u o n a r r o t i : Sepulkralkunst 1 6 4 , 2 M i l b a n k , J o h n : Sozialethik 5 1 7 , 7 Militärseelsorge: Seelsorge 17,53 M i l l , J o h n Stuart: Sidgwick 2 4 8 , 1 9 ; Spencer 649,23 M i l l e r , J o h a n n Peter: Seelsorge 2 2 , 4 6 Millerand, Alexandre: Sozialdemokratie 495,3 M i l t o n , J o h n : Shakespeare 2 3 1 , 2 6 Minissaie, A n t o n i n o : S i r a c h / S i r a c h b u c h 3 0 8 , 3 5 Mirakelspiele: Shakespeare 2 3 1 , 2 0 M i r a n d a , B a r t o l o m é C a r r a n z a de: S o t o , Pedro de 4 7 9 , 3 6 M i s s i o n : Segen/Segen und Fluch 8 2 , 3 ; Shaftesbury, Seventh Earl o f 2 2 6 , 5 ; Siebenbürgen 2 5 3 , 3 ; Sklaverei 3 8 7 , 4 2 ; 3 9 2 , 2 1 ; S ö d e r b l o m 4 2 5 , 6 ; Spanien 6 1 5 , 2 7 f.; 6 2 4 , 4 4 f. Missionsgesellschaften/Missionswerke: Gesellschaft der Weißen V ä t e r : Sklaverei 392,21 Society for P r o m o t i n g Christian Knowledge: Sonntagsschule 4 7 2 , 2 8 Mithraskult: Sonntag 450,18 Mithridates V I . E u p a t o r : Sibyllinen 2 4 1 , 4 3 M o b e r l y , W a l t e r , Sir: Sozialethik 5 1 6 , 2 6 M ö l l e r , Christian: Sozialwissenschaften 5 9 3 , 7 M ö n c h t u m : Seelsorge 10,18; Sozialpädagogik 5 5 7 , 3 8 ; Spanien 6 1 7 , 4 3 ; 6 1 9 , 3 6 ; 6 2 0 , 3 8 ; Spiritualität 7 1 0 , 1 4 f . M o l a n u s , J o h a n n e s : Seelsorge 16,10 M o l i n a , T i r s o de: Spanien 6 2 6 , 5 M o l t m a n n , J ü r g e n : S o n n t a g 4 6 8 , 3 3 f.; Sozialethik 5 1 0 , 4 ; Spiel 6 7 8 , 4 4 M o n o p h y s i t e n : Severus von Antiochien 1 8 5 , 5 M o n t a i g n e , M i c h e l E y q u e m de: Skepsis/ Skeptizismus 3 5 5 , 5 - 4 1 M o n t a ñ é s , J u a n M a r t í n e z : Spanien 6 2 5 , 4 4 M o n t a n o , Arias: Spanien 6 2 4 , 3 8 M o n t e s i n o s , A n t o n i o de: Spanien 6 2 5 , 1 1 M o n t e s q u i e u , Charles-Louis de Secondat: Sklaverei 3 9 0 , 1 8 M o o r e , G e o g e E d w a r d : Sidgwick 2 4 9 , 1 9
807
M o r a l p h i l o s o p h i e : Sidgwick 2 4 8 , 9 f f . M o r a t i n , L e a n d r o Fernández de: Spanien 6 2 7 , 1 3 M o r i t z , Karl Philipp: Semiotik 130,13 M o r m o n e n : Sekten 9 7 , 3 2 ; 100,14 M o r r i s , Charles W.: Semiotik 117,28; 1 1 8 , 5 f . ; 125,44; 1 3 1 , 4 6 M o r z k o w s k i , Piotr: Sozzini/Sozinianer 6 0 2 , 3 4 M o s e ben M a i m ó n : Segen/Segen und Fluch 8 7 , 9 M o s e ben N a c h m a n : Seelenwanderung 5 , 1 5 M o s k o r z o w s k i , H i e r o n i m : Sozzini/Sozinianer 601,40 M o s z y n s k i , Leszek: Slawische Religion 4 0 1 , 2 2 M o u f a n g , C h r i s t o p h : Sozialreform 5 6 9 , 2 8 M o z a r a b e r : Spanien 6 1 8 , 2 0 f . M u c h W e n l o c k : Sport 7 2 2 , 4 M u e h l m a n n , J o h a n n : Seelsorge 17,48 M ü l l e r , Heinrich: Seelsorge 1 8 , 1 0 Müller, Hermann: Sozialdemokratie 490,49 M ü n t z e r , T h o m a s : Spiritualismus 7 0 3 , 2 3 f. M u h a m m a d : Sexualität 191,53 M u m m , R e i n h a r d : Sozialreform 5 6 9 , 1 1 M u r i l l o , B a r t o l o m é : Spanien 6 2 5 , 4 6 M u r r a y , J o h n C o u r t n e y : Sozialethik 5 0 6 , 5 - 1 7 M u s ä u s , S i m o n : Seelsorge 16,46 M y c o n i u s , Friedrich: Seelsorge 14,9 M y e r s , Frederic W i l l i a m H . : Spiritismus 6 9 6 , 5 2 M y n s i n g e r , J o a c h i m : Seelsorge 17,1 M y s t i k : Seuse 1 7 7 , 5 2 f . ; 178,11; Spanien 6 2 4 , 3 5 ; Spiritualismus 7 0 2 , 4 4 M y t h o l o g i e : Spencer 6 5 0 , 1 9 . 4 1 N a c h f o l g e J e s u : Seuse 179,3 N a d a l , J e r ó n i m o : Seelsorge 19,14 Nag Hammadi: Simon Magus 274,38 N a p o l e o n B o n a p a r t e : Spanien 6 2 8 , 7 N a r r e n in Christus: Serafim von Sarov 1 6 7 , 3 7 N a s s e , E r w i n : Sozialreform 5 6 6 , 4 2 Nathusius, M a r t i n v.: Sozialreform 5 6 9 , 7 Nationalsozialismus: Sinti und R o m a 3 0 4 , l l f f . ; Sozialpädagogik 5 5 9 , 1 3 N a t i o n a l s o z i a l i s m u s u. Kirchen: Soden 4 2 0 , 4 3 ff. N a t o r p , Paul: Sozialarbeit 4 8 5 , 3 8 N a t ü r l i c h e T h e o l o g i e : Spener 6 5 3 , 1 Naturalistische E t h i k : Spencer 6 5 1 , 1 1 N a t u r r e c h t : Sklaverei 3 8 2 , 6 ; Sozialismus 5 4 2 , 3 9 ; Spee 6 3 8 , 1 8 N a t u r w i s s e n s c h a f t : Spencer 6 4 9 , 4 8 N a u m a n n , Friedrich: S o h m 4 3 0 , 4 9 ; Sozialismus 5 5 4 , 2 8 ; Sozialreform 5 6 6 , 4 N a v a r r a : Spanien 6 1 8 , 4 9 ; 6 1 9 , 2 1 N e k r o m a n t i k : Spiritismus 6 9 9 , 2 3 f. Nell-Breuning, O s w a l d v.: Sozialethik 5 0 5 , 4 8 ; Sozialreform 5 7 0 , 2 4 Nelson, Milward D.: Sirach/Sirachbuch 308,43 Neologie: Spalding 6 0 8 , 2 4 N e p o t i s m u s : Sixtus IV. 3 4 3 , 8 f. N e r o , r ö m . Kaiser: Sibyllinen 2 4 3 , 4 ; 2 4 4 , 9 N e u e Religionen: Spiritismus 6 9 9 , 6 ; Spiritualität 711,53 N e u m a n n , J o h a n n G e o r g : Spener 6 6 0 , 2 1 N e u p l a t o n i s m u s : Seripando 169,20; Spiritualismus 7 0 3 , 4 N e u p r o t e s t a n t i s m u s : Semler 1 4 6 , 4 4 Nevares, Sisinio: Spanien 6 2 9 , 2 5 N e w Age: Spiritualismus 7 0 5 , 4 7 N e w t o n , R i c h a r d H e b e r : Social G o s p e l 4 1 0 , 5 2
808
Namen/Orte/Sachen
Niclaes, Heinrich: Spiritualismus 7 0 4 , 4 5 Nicol, M a r t i n : Seelsorgelehre 67,33 Nicolai, Philipp: Seelsorge 18,9 Nicolas Gerhaert v. Leyden: Sepulkralkunst 163,29; 164,37 Nicolaus Eymericus: Spanien 6 2 2 , 2 9 Niebergall, Friedrich: Sozialwissenschaften 590,7 Niebuhr, Reinhold: Situationsethik 339,6; Social Gospel 413,46; 416,48; 4 1 7 , 7 . 2 2 ; Sonntagsschule 474,13; Sozialethik 5 1 0 , 4 9 ; 5 1 1 , 1 - 4 8 ; 518,33 Niebuhr, Helmut Richard: Social Gospel 4 1 7 , 4 8 ; Sozialethik 5 1 1 , 4 9 Niederlande: Separatisten/Separatismus 157,9; 158,39; Sklaverei 386,23; Spiritualismus 705,8 Niemeyer, August Hermann: Semler 146,41 Niemirycz, Jerzy: Sozzini/Sozinianer 6 0 1 , 3 6 Niemojewski, J a n : Sozzini/Sozinianer 600,38 Nietzsche, Friedrich: Sensualismus 151,43; Sitte/Sittlichkeit 327,27; Sokrates 443,51; Spiel 674,29; Sprache/Sprachwissenschaft/ Sprachphilosophie 770,11 Nikiprowetzky, Valentin: Sibyllinen 2 4 1 , 3 7 Nikodemiten: Spiritualismus 7 0 5 , 2 Nikodemus Hagiorites: Spiritualität 710,23 Nikolaus v. Kues: Semiotik 112,30 Nilus, Sergej: Serafim von Sarov 166,51 Ninive: Sklaverei 369,6 N i p k o w , Karl Ernst: Sinn/Sinnfrage 2 9 9 , 3 9 Nippold, Friedrich: Sozialgeschichtsschreibung 537,5 Nitzsch, Carl Immanuel: Seelsorge 24,26; Seelsorgelehre 5 7 , 5 - 5 4 ; Spiel 679,27 N o b b e , M o r i t z August: Sozialreform 5 6 8 , 3 3 Noel, Conrad: Sozialismus 5 5 2 , 3 2 Nösselt, J o h a n n August: Semler 146,40 N o h l , Hermann: Sozialarbeit 485,38; Sozialpädagogik 559,4 N o o n a n , J o h n T h o m a s : Sexualität 210,8 N o s k e , Gustav: Sozialdemokratie 490,28 Nouwen, Henri J . M . : Seelsorgelehre 6 6 , 4 9 Novak, Michael: Sozialethik 5 0 6 , 6 . 1 8 - 2 9 ; 513,20 Novalis: Sprache/Sprachwissenschaft/ Sprachphilosophie 7 7 2 , 1 2 ; 7 7 6 , 6 Novgorod: Slawische Religion 3 9 8 , 2 6 Nürnberg: Spengler 666,35 ff. O a t e s , Wayne Edward: Seelsorge 25,4 Oberlin, J o h a n n Friedrich: Sonntagsschule 472,30 Obrigkeit: Spengler 669,241. O c k h a m , Wilhelm v./Ockhamismus: Semiotik 112,27; 120,38; Siger von Brabant 2 6 0 , 5 0 ; Sozialethik 500,15 Odilo v. Cluny: Silvester II. 269,1 O ' D o n o v a n , Oliver: Sklaverei 395,3; Sozialethik 517,40 Ö k u m e n e : Slowakei 406,25; Söderblom 4 2 5 , 1 6 f. Ökumenische Versammlungen u. Konferenzen: Stockholm 1925: Söderblom 4 2 5 , 2 4 Oettingen, Alexander v.: Sozialethik 5 0 7 , 3 4 Offenbarung: Spekulative Theologie 6 4 2 , 3 4 Ogden, Charles Kay: Semiotik 121,49 f. Ohtrich v. Magdeburg: Silvester II. 2 6 8 , 1 3
Okkultismus: Spiritismus 6 9 5 , 4 9 Oldenbourg, Heinrich: Spinoza/Spinozismus 688,21 O l d h a m , Joseph Houldsworth: Sozialethik 518,30; 520,41 Olearius, Johann: Seelsorge 17,43 Ollegar v. Tarragona: Spanien 621,17 Ollenhauer, Erich: Sozialdemokratie 4 9 1 , 4 0 Oncken, Johann Gerhard: Sonntagsschule 474,19 Onias III.: Sirach/Sirachbuch 310,43 Opfer: Smith 409,21 Opitz, Martin: Spee 637,18 Oppeln: Slawische Religion 3 9 8 , 2 5 Opus Dei: Spanien 630,19 Organische Artikel (1802): Simultaneum 2 8 1 , 2 6 Orientalium Ecclesiarum: Sonntag 463,46 Origenes/Origenismus: Seelenwanderung 3,9; Simon Magus 273,18 Orosius: Spanien 614,32; 6 1 5 , 3 8 O r t h o d o x e Kirchen: Siebenbürgen 251,34; 2 5 3 , 3 2 f . ; 255,38f.; 256,31; Slowakei 405,45 Orthodoxie, Altprotestantische: Spiritualismus 705,6 Orthodoxie, Altlutherische: Spener 652,46; 653,13ff.; 657,30 Ortlieber: Spiritualismus 7 0 2 , 5 5 Osiander, Andreas: Spengler 669,13 Osiander, Lucas II.: Seelsorge 17,10 Ossius v. Cordoba: Spanien 613,8 Ossowski, Stanislaw: Sozialwissenschaften 577,36 Ostern/Osterfest/Osterpredigt: Sonntag 4 5 5 , 2 2 Ostorodt, Christoph: Sozzini/Sozinianer 6 0 1 , 4 2 O t m a r v. St. Gallen: Seelsorge 10,30 O t t o II., Kaiser: Silvester II. 2 6 8 , 1 2 O t t o III., Kaiser: Silvester II. 268,24ff. O t t o v. Bamberg: Slawische Religion 399,37 O t t o , Gert: Sozialwissenschaften 591,35 Otwinowski, Erazm: Sozzini/Sozinianer 6 0 1 , 3 9 Oviedo (Bistum): Spanien 619,5 O w e n , Robert: Sozialismus 5 4 3 , 7 ; 549,4; Sozialpädagogik 558,20 Owens, Robert J . : Sirach/Sirachbuch 308,45 Pacian v. Barcelona: Spanien 6 1 3 , 2 4 Pädagogik: Sozialpädagogik 556,42ff. Päpste: Alexander VI.: Spanien 622,37 Benedikt XIII.: Spanien 621,48 Benedikt XIV.: Simonie 2 8 0 , 3 Calixtus I.: Sklaverei 380,7 Calixtus II.: Slawische Religion 399,38 Clemens II.: Simonie 278,23 Damasus I.: Spanien 6 1 3 , 1 2 Eugen II.: Sonntag 455,3 Gregor I. d.Gr.: Seelsorge 8,25; 10,33; Seelsorgelehre 55,17; Sexualität 200,8; Simonie 277,26.49; Sonntag 454,34; Spanien 616,13 Gregor VI.: Simonie 278,22 Gregor VII.: Simonie 278,7; Spanien 621,5 Gregor I X . : Sonntag 455,27 Hadrian I.: Spanien 620,15 Innocenz X I . : Simonie 2 8 0 , 2 Johannes X X I I I . : Sozialethik 5 0 2 , 2 9 ; Sozialismus 553,37
Namen/Orte/Sachen J o h a n n e s Paul II.: Sexualität 207,50; S o n n t a g 464,9; Sozialethik 503,9 L e o III.: Spanien 620,15 Leo I X . : Simonie 278,25.41 Leo X . : Sonntag 463,20; Spalatin 605,32 L e o XIII.: Simonie 280,7; Sozialethik 501,49; Sozialismus 553,32; Spanien 628,52 N i k o l a u s V.: Sklaverei 381,52 Paul III.: Seripando 169,34; Sixtus V. 347,50; Soto, Pedro de 479,15 Paul IV.: Soto, Pedro de 479,29 Paul VI.: Sexualität 207,50; Sozialethik 502,46; 505,43 Pelagius I.: Simonie 277,24 Pius II.: Slawische Religion 400,8 Pius IV.: Seripando 170,5 Pius I X . : Simonie 280,7; Sozialethik 501,46; Sozialismus 550,48 Pius X I . : Sexualität 207,38; Sozialethik 502,11 Pius XII.: Situationsethik 337,31 Silvester II.: 2 6 7 - 2 7 0 Sixtus IV.: 3 4 2 - 3 4 6 Sixtus V.: 347 - 349 Urban II.: Spanien 621,11 Päpstliche Bullen, Enzykliken u. Breven: Aeternus ille 1590: Sixtus V. 348,12 C u m M u l t a 1882: Spanien 629,1 D u m diversas 1452: Sklaverei 381,52 Etsi R o m a n i Pontificis 1483: Sixtus IV. 343,44 Etsi universis R o m a n a e Ecclesiae 1474: Sixtus IV. 344,14 Immensa aeterni Dei 1588: Sixtus V. 347,51 M a t e r et M a g i s t r a 1961: Sozialismus 553,37 Pacem in Terris 1963: Sozialismus 553,38 P o s t q u a m verus 1586: Sixtus V. 347,44 Regimini universalis ecclesiae 1474: Sixtus IV. 343,52 R e r u m N o v a r u m 1891: Sozialismus 553,32 Sacri Praedicatorum et M i n o r u m fratrum 1479: Sixtus IV. 343,53 Syllabus Errorum 1864: Sozialismus 550,48 Pagninus, Santes: Servet 174,13 Paine, T h o m a s : Sklaverei 390,8 Paläologus, J a k o b : Servet 175,48; Sozzini/Sozinianer 599,17 Palmares: Sklaverei 389,13 Palmer, Christian: Seelsorge 24,38 Pan: Sexualität 188,8 Panentheismus: S p i n o z a / S p i n o z i s m u s 688,43 Pannenberg, Wolfhart: Sinn/Sinnfrage 295,14; Sozialethik 507,47; 509,49 Pantheismus: S p i n o z a / S p i n o z i s m u s 693,9 Papstfabeln/Papstweissagungen: Silvester II. 269,8 Papsttum: Sixtus IV. 344,53 Parapsychologie: Spiritismus 695,50 Parsons, Talcott: Sozialisation 5 3 9 , 2 5 - 3 1 ; 540,21; Sozialwissenschaften 580,25; 589,28 Pascal, Blaise: Spiel 672,50 Paschasius R a d b e r t u s : Simonie 277,52; Spiritualismus 702,22 Passionsfrömmigkeit: Spener 652,48 Pastoralpsychologie: Seelsorge 47,43; Seelsorgelehre 54,34ff. Pastoraltheologie: Seelsorge 22,38; Seelsorgelehre 54,33; 56,50
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Pauli, G r e g o r : Sozzini/Sozinianer 600,45 Paulinus v. N o l a : Spanien 614,12 Paulsen, Friedrich: Soden 420,10 Paulus, Apostel: Sitte/Sittlichkeit 320,16; Sklaverei 375,20; Sozialethik 498,18; Spanien 610,42; Sprache/Sprachwissenschaft/ Sprachphilosophie 754,10; 771,4 Paulus, Heinrich Eberhard Gottlob: Spekulative T h e o l o g i e 644,42; S p i n o z a / S p i n o z i s m u s 693,25 Peirce, Charles Sanders: Semiotik 109,50; 117,13; 124,32; 125,26; 129,17; 130,18 Pelagius/Pelagianischer Streit: Sitte/Sittlichkeit 320,29 Pelayo: Spanien 618,42 Pellikan, K o n r a d : Sozzini/Sozinianer 598,27 Penn, William: Spener 658,28 Penuel: Sichern 246,12 Peretti, Feiice: s. Päpste: Sixtus V. Perikopen/Perikopenbücher: Spener 662,7 Perikopenzwang: Spener 662,21 Perkins, William: Sexualität 204,38 Perun: Slawische Religion 399,16 Peryn: Slawische Religion 398,4 Petersen, J o h a n n Wilhelm: Spener 660,31 Petersen, J o h a n n a Eleonore: Spener 658,19.37 Petrarca, Francesco: Sprache/Sprachwissenschaft/Sprachphilosophie 768,18 Petrus v. Ailly: Simonie 279,43 Petrus D a m i a n i : Simonie 278,40 Petrus H i s p a n u s : S o t o , D o m i n g o de 477,13 Petrus L o m b a r d u s : Semiotik 112,26; Simonie 279,24; Spiritualismus 702,37 Petrus N o l a s c u s : Spanien 621,54 Peyrefitte, R o g e r : Spiritualität 712,12 Pfarrei: Seelsorge 11,33 Pfarrhaus: Seelsorge 42,16; Spiritualität 710,40 Pfeffinger, J o h a n n e s : Seelsorge 14,10 Pfeiffer, August: Seelsorge 17,49; Spener 660,23 Pfingsten/Pfingstfest/Pfingstpredigt: Spanien 612,47 Pfister, O s k a r : Seelsorge 24,47; Seelsorgelehre 63,7 f. Phallus: Sexualität 187,30 Philipp II. v. Spanien: Sixtus V. 348,21; S o t o , Pedro de 479,24 Philippinen: Spanien 625,23 Philipsz, O b b e : Spiritualismus 704,32 Philon v. L a r i s a : Skepsis/Skeptizismus 350,9; 352,51 Philosophie: Sidgwick 248,9ff.; Siger von Brabant 260,11 f.; Spencer 649,42; S p i n o z a / S p i n o z i s m u s 687,39; 688,33 Philosophie u. Theologie: Spekulative T h e o l o g i e 641,15 Philosophisch-Theologische Hochschulen: Münster: Spiritualität 713,33 Piaristen: Spanien 624,12 Pico della M i r a n d o l a , Giovanni: Sprache/ Sprachwissenschaft/Sprachphilosophie 764,37 Piekarski, Hieronim: Sozzini/Sozinianer 600,48 Pieper, August: Sozialreform 569,54 Pieris, Aloysius: Sozialethik 506,31 Pietismus: Seelsorge 1 9 , 3 7 - 2 1 , 2 4 ; Semler 145,11; Separatisten/Separatismus 153,36;
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Namen/Orte/Sachen
157,17f.; Spalding 608,33; Spener 652,46ff.; Spiritualismus 705,20.41 Pindar: Sport 718,20 Pinelli, Luca: Seelsorge 19,15 Pinerolo, Giovanni da: Sixtus IV. 342,20 Pittroff, Franz Christian: Seelsorgelehre 56,54 Plato/Platonismus: Seelenwanderung 2,38; Seelsorge 8,7; Semiotilc 121,14; Sensualismus 149,31; Sexualität 216,38; 218,43; Sinn/Sinnfrage 286,12; Skepsis/Skeptizismus 350,54; Sokrates 435,16ff.; Spiel 6 7 2 , 6 - 3 0 ; 684,10; Spiritualismus 702,4; 703,2; Sprache/ Sprachwissenschaft/Sprachphilosophie 732,26; 760,31 Plinius d.Ä.: Slawische Religion 396,8 Plinius d.J.: Sonntag 451,37 Poesie: Smith 408,9 Pohl-Patalong, Uta: Seelsorgelehre 68,16 Poiret, Pierre: Spinoza/Spinozismus 692,27 Pole, Reginald: Soto, Pedro de 479,24 Polemik: Spener 663,31 Polen: Silvester II. 268,42; Sozzini/Sozinianer 599,12; 6 0 0 , 1 5 - 6 0 2 , 2 2 Politik: Sidgwick 248,36 Politikgeschichte: Sozialgeschichtsschreibung 528,26 Polizeiseelsorge: Seelsorge 43,38 Pollaiulo, Antonio del: Sepulkralkunst 163,46 Polykrates (Sophist): Sokrates 436,37 Polytheismus: Shaftesbury, Third Earl of 223,36 Ponteiii, Baccio: Sixtus IV. 344,15 Popper, Karl: Sozialwissenschaften 590,19 Portugal: Sklaverei 385,48 Potamius v. Lissabon: Spanien 613,15 Poveda, Pedro: Spanien 629,13 Prädestination: Seelsorge 18,30 Prämillenarismus: Shaftesbury, Seventh Earl of 227,26 Prätorius, Stephan: Seelsorge 16,46; 18,7 Praktische Theologie: Seelsorge 31,27ff. Predigt: Seelsorge 18,15; Seelsorgelehre 60,19; Spalding 609,3f.; Spener 6 6 1 , 3 2 - 6 6 2 , 3 9 Predigtamt: Spener 656,48 Preston, R o n a l d H a y d n : Sozialethik 517,11 f. Preußen: Selbständige Evangelisch-Lutherische Kirche 103,18; Separatisten/Separatismus 158,35 Priestertum, allgemeines: Spener 656,8 Priestley, J o s e p h : Sozzini/Sozinianer 603,1 Primat: Sixtus IV. 343,41 Priszillian/Priszillianismus: Spanien 6 1 3 , 2 7 - 6 1 4 , 1 5 ; 615,37 Prokop v. C a e s a r e a : Slawische Religion 399,17 Propheten/Prophetie: Sozialgeschichtsschreibung 534,26 Protagoras: Sensualismus 149,24; Skepsis/Skeptizismus 350,51 Protestantismus: Shaftesbury, Seventh Earl of 226,5; Spanien 631,41 Proudhon, Pierre-Joseph: Sozialismus 547,32 Prudentius (Aurelius Prudentius Clemens): Spanien 611,52; 613,24; 617,41 Przypkowski, Samuel: Sozzini/Sozinianer 600,8; 602,4 Pseudo-Dionysius Areopagita: s. Dionysius Areopagita
Psychoanalyse: Sozialisation 539,7 Psycholepsie: Seelenwanderung 1,27 Psychologie: Seelsorge 22,18; Sensualismus 152,15; Sidgwick 249,3 Ptolemaios VIII.: Sirach/Sirachbuch 308,31 Puebla: Sozialethik 504,42 Pufendorf, Samuel Frhr. v.: Sozialismus 542,33 Puritanismus: Seelsorge 21,9; Separatisten/ Separatismus 153,28; 156,44; Sonntag 459,14 Putnam, Hilary: Sensualismus 152,2 Pyrrhon v. Elis: Skepsis/Skeptizismus 349,42; 350,18 f.31 f. Q u ä k e r : Sklaverei 390,24; Spener 658,28; Spiritualismus 705,25 Q u e r v a i n , Alfred de: Sonntag 466,9f. Q u i e t i s m u s : Spanien 624,40; Spener 653,48 Quirinius, Publius Sulpicius: Sikarier 262,15 Q u m r a n : Segen/Segen und Fluch 8 4 , 3 2 - 3 8 ; Sirach/Sirachbuch 307,24; 308,16 Radioseelsorge: Seelsorge 45,36f. R a g a z , Leonhard: Sozialpädagogik 558,25 Rahner, H u g o : Spiel 677,40 Rahner, Karl: Sozialwissenschaften 593,40 R a i k e s , Robert: Sonntagsschule 473,1 R a i m u n d v. Penaforte: Spanien 622,8.28 Rainy, Robert: Smith 407,44 Raith, Balthasar: Spener 654,6 R a m s e y , Paul: Sozialethik 512,19 Ranter: Spiritualismus 705,25 Rashdall, Hastings: Sidgwick 249,42 Rastislav, Fürst: Slowakei 403,28 Rationalismus: Sozzini/Sozinianer 600,27; Spekulative Theologie 641,40f.; 644,41 R a t r a m n u s : Spiritualismus 702,21 Rauschenbusch, Walter: Social Gospel 4 1 2 , 2 - 4 1 5 , 3 4 ; Sozialethik 510,45 Rautenberg, J o h a n n Wilhelm: Sonntagsschule 474,21 Rautenstrauch, Franz Stephan: Seelsorge 22,39; Seelsorgelehre 56,52 Ravenna: Silvester II. 268,25 Realpräsenz: Spiritualismus 703,37 Rechiar, Suevenkönig: Spanien 614,50 Recht, Römisches: Sohm 430,37 Rechtfertigung: Seripando 169,29; 170,14; Spener 664,2 Rechtsgeschichte: Sohm 430,23 f. Reckitt, Maurice: Sozialethik 516,36 Reconquista: Spanien 617,49f.; 618,52f. R e f o r m a t i o n : Separatisten/Separatismus 154,8f.; 156,5; Siebenbürgen 254,20f.; Sklaverei 384,37; Slowakei 403,41; S o h m 431,48; Spanien 624,15 f.; Spener 664,13; Spengler 667,39ff. Reformierte Kirchen: Siebenbürgen 251,37; 254,51 f.; 256,20; Slowakei 405,41; Sozzini/Sozinianer 600,31; Spinoza/ Spinozismus 687,46 Regalismus: Spanien 626,17ff. Reichstage der Reformationszeit: Augsburg 1530: Spengler 668,39 Speyer 1526: Spengler 667,50 Speyer 1529: Spengler 668,37 Reimarus, H e r m a n n Samuel: Seelsorge 21,34
Namen/Orte/Sachen R e i m e r , H a n s - D i e t h e r : Sekten 98,16 Reims: Silvester II. 268,9 R e i n a c h , Adolf: Semiotik 128,35 Reiser, A n t o n : Spener 658,1 Reiter, N o r b e r t : Slawische Religion 398,6 R e k k a r e d , Kg. der Westgoten: Spanien 6 1 5 , 4 5 - 6 1 6 , 1 5 ; 617,21 Religiöser Sozialismus: Sozialismus 548,36; 550,50; 553,49 Religion: Semler 145,51 f.; Spinoza/Spinozismus 687,21 Religionsfreiheit: Sekten 101,25f.; Slowakei 403,47 Religionsgeschichte: Söderblom 423,30; 424,13 ff. Religionsgeschichtliche Schule: Sozialgeschichtsschreibung 535,29 Religionsphilosophie: Soe 429,13 ff. Religionsunterricht: Söderblom 425,46 Religiosität: Sozialisation 540,47 Renaissance: Shakespeare 230,33; Sixtus IV. 344,12; Sklaverei 384,16 R e n d t o r f f , Trutz: S o n n t a g 466,43 f. Renovat'io Imperii: Silvester II. 268,35 Residenzpflicht: S e r i p a n d o 170,38 R e t h r a : Slawische Religion 396,51 Reuchlin, J o h a n n e s : Sprache/Sprachwissens c h a f t / S p r a c h p h i l o s o p h i e 763,22 Reue: Spiritualismus 702,38 R e y b a u d , Louis: Sozialismus 543,9 Rhegius, U r b a n u s : Seelsorge 14,10 Riario, G i r o l a m o : Sixtus IV. 343,13; 344,30 Riario, Pietro: Sixtus IV. 343,2 Ribera, José de: Spanien 625,45 Rieh, A r t h u r : Sozialethik 509,43 Richards, Ivor A.: Semiotik 121,49f. Richer v. Reims: Silvester II. 267,43 Richet, C h a r l e s R o b e r t : Spiritismus 697,4 Richter, W o l f g a n g : Sprache/Sprachwissens c h a f t / S p r a c h p h i l o s o p h i e 748,38 Rickert, Heinrich: Sozialwissenschaften 578,53 Ricoeur, Paul: Sinn/Sinnfrage 296,51 R i n c k a r t , M a r t i n : Sirach/Sirachbuch 314,9 Rios, Francisco G i n e r de los: Spanien 630,2 R i p a , Cesare: Sepulkralkunst 165,4 Ritsehl, Albrecht: Sitte/Sittlichkeit 324,13; Smith 407,41; Social Gospel 410,25; 416,16; Sozialethik 507,16; Spener 663,45 Ritter, G e r h a r d : Sozialgeschichtsschreibung 530,16 Ritter, J o h a n n Wilhelm: Sprache/Sprachwissens c h a f t / S p r a c h p h i l o s o p h i e 772,14 Ritter, R o b e r t : Sinti und R o m a 304,40 R i t t e r o r d e n , Geistliche: Siebenbürgen 253,8; Spanien 621,26 Rivius, J o h a n n e s : Seelsorge 14,14 R o b i n s o n , E d w a r d : Silo 267,5 Robinson, John: Separatisten/Separatismus 156,49 R o c h a u , A u g u s t L u d w i g v.: Sozialreform 565,1 R ö h r , J o h a n n Friedrich: Spekulative T h e o l o g i e 644,41 Römische Religion: S o n n t a g 450,19 R ö m i s c h - k a t h o l i s c h e Kirche: Shakespeare 230,16f.; Siebenbürgen 251,41; 252,38;
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255,28; 256,49; S i m u l t a n e u m 281,24; Slowakei 405,22; S o n n t a g 4 6 3 , 2 0 - 4 6 4 , 2 4 ; Sozialismus 553,31 Rössler, Dietrich: Seelsorgelehre 66,22; 69,18; Sozialwissenschaften 591,2 Rogers, Carl R a n s o m : Seelsorge 25,7; 34,47f. R o m : Sibyllinen 240,51; 244,8; Simon M a g u s 273,30; Sixtus IV. 344,11 f.; Sixtus V. 347,37; Spanien 619,30 R o m (Imperium R o m a n u m ) : Simon ben Kosiba 270,8 R o m a n t i k : Spee 639,20 Romanze: Shakespeare 234,47-235,45 R o s e n k r a n z : Spiritualismus 702,40 R o s e n k r a n z , Karl: Spekulative T h e o l o g i e 644,47 R o s e n z w e i g , F r a n z : S o n n t a g 468,36 R o t h , Paul: S o h m 430,16 R o t h e , R i c h a r d : Sitte/Sittlichkeit 3 2 2 , 4 7 - 3 2 3 , 1 4 ; Sozialethik 5 0 7 , 1 0 - 1 5 ; Spekulative T h e o l o g i e 646,29f. R o t t e n b u r g , F r a n z v.: Sozialreform 566,53 R o u s s e a u , J e a n - J a c q u e s : Spiel 671,17; Sprache/ Sprachwissenschaft/Sprachphilosophie 773,16 R o v e r e , G i u l i a n o della: Sixtus IV. 343,3 R o v e r e da S a v o n a , Francesco della: s. Päpste: Sixtus IV. R u d o l f v. S c h w a b e n : S e p u l k r a l k u n s t 162,53 R ü g e r , H a n s - P e t e r : Sirach/Sirachbuch 308,42 R u f i n u s v. Aquileja: S i r a c h / S i r a c h b u c h 310,4 R u f u s , C o n r a d u s M u t i a n u s : Spalatin 605,15 R ü g e , A r n o l d : S o z i a l r e f o r m 564,6 R u m ä n i e n : Siebenbürgen 251,10ff.; 255,38f.; 256,9ff. R u s k i n , J o h n : Social G o s p e l 410,26 Russell, Bertrand: Sokrates 444,6; S p r a c h e / Sprachwissenschaft/Sprachphilosophie 736,23 R u s t , Isaak: Spekulative T h e o l o g i e 644,8 S a a d j a ben Josef (Gaon): Seelen Wanderung 4,38; S i r a c h / S i r a c h b u c h 307,10; 309,42 S a a l h o f p i e t i s m u s : Spener 658,21 S a b b a t : S o n n t a g 450,11.50ff. Sacchi, B a r t o l o m e o : Sixtus IV. 344,8 Sack, August Friedrich Wilhelm: Spalding 608,21 Säkularisation: Spanien 628,34 Säkularisierung: Sozialisation 540,38 Sailer, J o h a n n M i c h a e l : Seelsorge 2 3 , 2 1 - 4 3 S a i n t - M a r t i n , Louis C l a u d e de: Spiritualismus 705,29 Saint-Simon, C l a u d e H e n r i d e R o u v r o y : Sozialismus 543,11 S a k r a m e n t e : Sozzini/Sozinianer 599,45; Spiritualismus 702,28 f.; 703,11 S a l a m a n c a , Schule v.: Soto, D o m i n g o de 476,9; 477,19 Salerno (Bistum): S e r i p a n d o 169,45 Sales, François de: Seelsorge 19,9 Salomo: Sklaverei 371,50 S a l o m o ben Isaak (Raschi): Segen/Segen u n d Fluch 87,30 Salzillo y Alcaraz, Francisco: Spanien 625,46 S a m a r i a : Simon M a g u s 273,30 S a m a r i t a n e r : S i m o n M a g u s 274,44
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Namen/Orte/Sachen
Sanchez, Francisco: Skepsis/Skeptizismus 355,47 Sanchez, T o m a s : Seelsorge 17,40 Sancho Ramirez, Kg. v. A r a g o n : Spanien 621,7 Sand, Christoph d.J.: Sozzini/Sozinianer 602,7 Sapur I.: Sibyllinen 241,31 Sarcerius, Erasmus: Seelsorge 17,1 Sarcerius, Wilhelm: Seelsorge 16,47 S a r k o p h a g : Sepulkralkunst 161,18ff. Satan: Servet 174,39f. Sathmar: Siebenbürgen 251,11 Saussure, Ferdinand de: Semiotik 117,18; 122,30-123,45 S a x o G r a m m a t i c u s : Slawische Religion 396,45 Schade, J o h a n n C a s p a r : Spener 660,19 Schaller, Julius: Spekulative Theologie 644,47f. Scharfenberg, J o a c h i m : Seelsorgelehre 63,40-64,20 Schechter, Solomon: Sirach/Sirachbuch 307,13 Scheffler, J o h a n n (Angelus Silesius): Seelsorge 19,17 Scheibel, J o h a n n Gottfried: Selbständige Evangelisch-Lutherische Kirche 103,21 Schelling, Friedrich Wilhelm J o s e p h : Spekulative Theologie 641,16 f.; Spinoza/Spinozismus 693,11; Sprache/ Sprachwissenschaft/Sprachphilosophie 743,32; 770,4 Schelwig, Samuel: Spener 660,24 Schenkl, M a u r u s : Seelsorge 23,29 Schererz, Sigismund: Seelsorge 17,49.54 Scheuerl, H a n s : Spiel 681,2 Schian, Martin: Seelsorgelehre 58,29.35 Schieder, Rolf: Seelsorgelehre 68,28 Schiller, Friedrich: Spiel 673,32f. Schindler, R a o u l : Seelsorge 25,7 Schisma/Schismatiker: Separatisten/ Separatismus 153,23; Spanien 621,47 Schismatikermission: Siebenbürgen 253,7 Schlegel, August Wilhelm: Sprache/ Sprachwissenschaft/Sprachphilosophie 769,50; 775,52 Schleiermacher, Friedrich Daniel Ernst: Seelsorge 23,46; Seelsorgelehre 5 6 , 1 4 - 4 9 ; Semiotik 137,53; Separatisten/Separatismus 155,45; Sitte/Sittlichkeit 3 2 2 , 7 - 26; 323,15f.; Social Gospel 415,16; Söderblom 424,28; Sokrates 443,45; Sonntagsschule 472,33; Sozialethik 507,3; Sozialwissenschaften 587,29; Spekulative Theologie 641,42; Sprache/Sprachwissenschaft/Sprachphilosophie 782,34 Schleitheimer Artikel: Separatisten/ Separatismus 156,11 Schlichting, J o n a s z : Sozzini/Sozinianer 602,4 Schlözer, August L u d w i g v.: Semler 147,2 Schmalkaldische Artikel: Spalatin 606,34 Schmalz, Valentin: Sozzini/Sozinianer 601,25 Schmeljow, Iwan S.: Spiritualität 712,10 Schmidt, Helmut: Sozialdemokratie 493,2 Schmidt, J o h a n n : Spener 653,19 Schmidt, Martin: Spener 663,48 Schmidt, Nathaniel: Social Gospel 412,9 Schmidt, Sebastian: Spener 653,16 Schmidt-Rost, Reinhard: Seelsorgelehre 67,43 Schmoller, Gustav: Sozialreform 566,30
Schöpfer/Schöpfung: Sonntag 466,43; Spiritualität 709,34f. Schöpfungsordnung: Sozialgeschichtsschreibung 536,19 Scholastik: Sonntag 455,40 Scholem, G e r s h o m : Sprache/Sprachwissenschaft/Sprachphilosophie 775,1 Schoot, Ebel van der: Sozialwissenschaften 589,33 Schottland: Smith 407,20 Schrift, Heilige: Seelsorge 13,50; Semler 143,39; Spiritualismus 703,15 Schriftauslegung: Sixtus IV. 342,48 Schröder, Gerhard: Sozialdemokratie 493,42f. Schröer, Henning: Sozialwissenschaften 589,45; Sprache/Sprachwissenschaft/Sprachphilosophie 785,33 Schüch, Ignaz: Seelsorgelehre 59,9 Schütz, J o h a n n J a k o b : Spener 655,45 Schütz, Werner: Seelsorgelehre 62,10 Schuldt, Ewald: Slawische Religion 396,50 Schule/Schulwesen: Spencer 650,35 Schulseelsorge: Seelsorge 43,46 Schumacher, Kurt: Sozialdemokratie 491,37 Schumpeter, J o s e p h Alois: Sozialwissenschaften 576,45 Schwangerschaftsabbruch: Sexualität 193,5 Schwarzel, Carl: Seelsorge 22,42 Schweiz: Sonntag 467,12 Schweizer, Alexander: Spekulative Theologie 644,45 Schwenckfeld, K a s p a r v./Schwenckfelder: Seelsorge 15,43; Separatisten/Separatismus 154,21; Spiritualismus 703,47f. Scientology: Sekten 101,17 Scriver, Christian: Seelsorge 18,10 Scroggs, Robin: Sexualität 210,51 Seboek, T h o m a s A.: Semiotik 130,50 Sedow, Valentin V.: Slawische Religion 398,5 Seeberg, Reinhold: Sozialreform 569,13 Seele: Seelenwanderung l , 9 f . ; Seelsorge 7,10ff.; Sensualismus 150,14; Simon M a g u s 274,38 Seelenwanderung: 1—6 Seelsorge: 7 - 5 4 ; Seelsorgelehre 54,16ff. Seelsorgebewegung: Seelsorge 47,31 Seelsorgelehre: 5 4 - 7 4 ; Seelsorge 46,42 f. Sefer ha-Bahir: Seelenwanderung 4,51 Sefer ha-Temunah: Sprache/Sprachwissenschaft/Sprachphilosophie 764,18 Segen/Segen und Fluch: 7 5 - 9 6 Segobriga: Spanien 615,21 Sekten: 9 6 - 1 0 3 ; Separatisten/Separatismus 158,18 Selbständige Evangelisch-Lutherische Kirche: 103-105 Sellin, Ernst: Sichern 246,30 Seinecker, N i k o l a u s : 1 0 5 - 1 0 8 Semiose: Semiotik 109,13ff. Semiotik: 1 0 8 - 1 4 2 Semitische Religion: Smith 409,14 Semler, J o h a n n S a l o m o : 1 4 2 - 1 4 8 Seneca, Lucius Annaeus d.J.: Sozialismus 542,25 Sensualismus: 1 4 8 - 1 5 3 Separatisten/Separatismus: 1 5 3 - 1 6 0 ; Spener 658,35 Sepulkralkunst: 1 6 0 - 1 6 5
Namen/Orte/Sachen Scpülveda, J u a n Gines de: S o t o , D o m i n g o de 476,38 Serafim von S a r o v : 1 6 5 - 1 6 9 Seripando, G i r o l a m o : 1 6 9 - 1 7 1 Serubbabel: 1 7 1 - 1 7 3 Servet, M i c h a e l : 1 7 3 - 1 7 6 ; Seelsorge 15,41; Sozzini/Sozinianer 5 9 8 , 2 3 Seuse, Heinrich: 1 7 6 - 1 8 3 Severus von A n t i o c h i e n : 1 8 4 - 1 8 6 Sevilla (Bistum): Spanien 6 1 7 , 1 8 Sextros, Heinrich Philipp: Seelsorge 2 2 , 1 9 Sextus Empiricus: Skepsis/Skeptizismus 3 5 0 , 1 1 ; 354,6.23; 364,27 Sexualität: 1 8 6 - 2 2 1 Sezession: Separatisten/Separatismus 1 5 4 , 5 4 Shaftesbury, A n t h o n y Ashley C o o p e r , T h i r d Earl o f : 2 2 1 - 2 2 5 ; Spalding 6 0 8 , 2 9 Shaftesbury, A n t h o n y Ashley C o o p e r , Seventh Earl o f : 2 2 6 - 2 2 9 Shakespeare, W i l l i a m : 2 2 9 - 2 3 6 Shaull, R i c h a r d : Sozialethik 5 1 3 , 2 4 ; 5 2 0 , 1 3 Sibirische Religionen: 2 3 6 - 2 4 0 Sibyllinen: 2 4 0 - 2 4 5 Sichern: 2 4 5 - 2 4 7 Sidgwick, H e n r y : 2 4 7 - 2 5 0 Siebenbürgen: 2 5 0 - 2 5 9 ; Sozzini/Sozinianer 602,13 Sienienski, J a k u b : Sozzini/Sozinianer 6 0 1 , 3 5 Sieveking, Karl: Sozialismus 5 4 9 , 3 Siger von B r a b a n t : 2 5 9 - 2 6 1 Sigmatik: Semiotik 1 1 9 , 4 f . Sikarier: 2 6 1 - 2 6 3 Sikh-Religion: 2 6 3 - 2 6 6 Silhouette, Etienne de: Spalding 6 0 8 , 3 0 Silo: 2 6 6 - 2 6 7 Silvester II., Papst: 2 6 7 - 2 7 0 Simeon Palaios: Sinai 2 8 4 , 3 2 S i m n e l , G e o r g : Sozialwissenschaften 5 7 6 , 4 0 ; 589,22 Simon II. (Hoherpriester): S i r a c h / S i r a c h b u c h 309,12 Simon ben J o c h a i : Segen/Segen und Fluch 8 5 , 2 6 Simon ben K o s i b a : 2 7 0 - 2 7 2 Simon M a g u s : 2 7 2 - 2 7 6 ; S i m o n i e 2 7 7 , 1 Simon-Ennoia-Mythos: Simon Magus 274,12ff. Simonie: 2 7 6 - 2 8 0 ; S i m o n M a g u s 2 7 3 , 6 Simultaneum: 2 8 0 - 2 8 3 Sinai: 2 8 3 - 2 8 5 Sinn'Sinnfrage: 2 8 5 - 3 0 1 Sinti und R o m a : 3 0 1 - 3 0 6 Sirach/Sirachbuch: 3 0 6 - 3 1 7 Sitte'Sittlichkeit: 3 1 8 - 3 3 3 ; Shaftesbury, T h i r d E ; r l of 2 2 2 , 4 3 f. Situation: 3 3 3 - 3 3 7 Situitionsethik: 3 3 7 - 3 4 2 Sixtmische Kapelle: Sixtus IV. 3 4 4 , 2 0 S i x t i s IV., Papst: 3 4 2 - 3 4 6 S i x t i s V., Papst: 3 4 7 - 3 4 9 Skel:on, Philip: S h a f t e s b u r y , T h i r d Earl o f 224,46 Skepsis/Skeptizismus: 3 4 9 - 3 6 7 Sklafenaufstände: Sklaverei 3 8 8 , 4 4 f . Sklaverei: 3 6 7 - 3 9 6 Slawen: Slowakei 4 0 3 , 2 4 Slawische R e l i g i o n : 3 9 6 - 4 0 3 Slowakei: 4 0 3 - 4 0 7
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S m i t h , A d a m : Shaftesbury, T h i r d Earl of 2 2 5 , 8 ; Sklaverei 3 8 9 , 4 2 ; Sozialwissenschaften 5 8 1 , 4 2 ; Spiel 6 7 8 , 1 6 Smith, William Robertson: 4 0 7 - 4 0 9 S m y t h , J o h n : Separatisten/Separatismus 157,5 Social G o s p e l : 4 0 9 - 4 1 9 ; Sozialethik 5 1 0 , 4 4 f . ; Sozialismus 5 5 0 , 5 0 S o d e n , H a n s Freiherr v o n : 4 2 0 - 4 2 3 S ö d e r b l o m , N a t h a n : 4 2 3 - 4 2 7 ; Sozialethik 518,23 S e e , Niels H a n s e n : 4 2 7 - 4 3 0 Solle, D o r o t h e e : Spiel 6 7 9 , 1 0 Sohm, Rudolph: 4 3 0 - 4 3 4 S o k r a t e s : 4 3 4 - 4 4 5 ; Seelsorge 8,7; Semiotik 121,14; Skepsis/Skeptizismus 3 5 1 , 5 ; Sprache/ Sprachwissenschaft/Sprachphilosophie 767,36 Sol invictus: S o n n t a g 4 5 0 , 1 9 S o m b a r t , Werner: Sozialreform 5 6 6 , 5 5 Sonderpädagogik: 445 - 4 4 9 Sonnensymbolik: Sonntag 453,10 Sonntag: 449 - 472 Sonntagsgottesdienst: S o n n t a g 4 6 8 , 1 5 Sonntagsschule: 4 7 2 - 4 7 6 S o p e n a , D o l o r e s : Spanien 6 2 9 , 1 4 S o t o , D o m i n g o de: 4 7 6 - 4 7 8 S o t o , Pedro de: 4 7 9 - 4 8 0 Sozialarbeit: 4 8 1 - 4 8 7 Sozialdemokratie: 488 - 4 9 7 ; Sohm 431,1; Sozialismus 5 4 4 , 5 f. Soziale Frage: Shaftesbury, Seventh Earl o f 2 2 6 , 6 f . ; Social G o s p e l 4 1 0 , 1 ff.; S ö d e r b l o m 425,33 Sozialethik: 4 9 7 - 5 2 7 ; Sklaverei 3 9 4 , 4 Sozialgeschichtsschreibung: 5 2 7 - 5 3 8 Sozialisation: 5 3 8 - 5 4 2 Sozialisation, religiöse: Sozialisation 540,5 - 5 4 1 , 2 5 Sozialismus: 5 4 2 - 5 5 6 ; Social Gospel 4 1 1 , 2 3 ; Spencer 6 5 1 , 7 Sozialistische Internationale: Sozialismus 547,26-548,31 Sozialpädagogik: 5 5 6 - 5 6 3 Sozialreform: 5 6 3 - 5 7 2 Sozialwissenschaften: 5 7 2 - 5 9 8 ; Sozialgeschichtsschreibung 5 3 1 , 3 8 Soziologie: Sozialgeschichtsschreibung 5 2 9 , 2 3 f. Sozzini, Fausto: Sozzini/Sozinianer 5 9 8 , 4 3 - 6 0 0 , 1 2 ; 601,8 Sozzini, Lelio: Sozzini/Sozinianer 5 9 8 , 1 2 - 4 0 Sozzini/Sozinianer: 5 9 8 - 6 0 4 ; Spener 6 6 0 , 5 3 Spalatin, G e o r g : 6 0 5 - 6 0 7 Spalding, J o h a n n J o a c h i m : 6 0 7 - 6 1 0 Spanien: 6 1 0 - 6 3 5 ; Sixtus V. 3 4 8 , 2 2 ; Sklaverei 385,48 Speck, O t t o : Sonderpädagogik 4 4 6 , 3 8 Spee v o n Langenfeld, Friedrich: 6 3 5 - 6 4 1 ; Seelsorge 1 9 , 1 9 Spekulative T h e o l o g i e : 6 4 1 - 6 4 9 Spencer, H e r b e r t : 6 4 9 - 6 5 2 ; Sozialwissenschaften 5 7 9 , 5 7 ; Spiel 6 7 1 , 2 3 Spener, Philipp J a k o b : 6 5 2 — 6 6 6 ; Seelsorge 1 9 , 3 7 - 2 0 , 1 3 ; Separatisten/Separatismus 154,37; S o n n t a g 4 5 8 , 5 3 Spengler, Lazarus: 6 6 6 - 6 7 0 Spenser, E d m u n d : Shakespeare 2 3 1 , 2 6
814
Namen/Orte/Sachen
Speraindeo (Abt): Spanien 618,29 Spiel: 6 7 0 - 686 Spinoza/Spinozismus: 687 - 6 9 5 Spiritismus: 695 - 701 Spiritualismus: 7 0 1 - 7 0 8 ; Separatisten/ Separatismus 156,21 f.; Spener 655,50; 663,48 Spiritualität: 7 0 8 - 7 1 7 Sport: 7 1 7 - 7 3 0 Sprache/Sprachwissenschaft/Sprachphilosophie: 7 3 0 - 7 8 7 Staat: Sekten 101,23; Spinoza/Spinozismus 690,38f.; 691,2.23f. Staatskirchenrecht: Simultaneum 281,21 Staatskirchenverträge: Seelsorge 43,25 Stadt: Sozialgeschichtsschreibung 533,32; Spiritualität 713,11 Stagel, Elsbeth: Seuse 177,50; 179,25 Stalin, Josef Wissarionowitsch: Sozialismus 548,25 Stallmann, Martin: Sozialwissenschaften 591,35 Stammler, Rudolf: Sohm 432,24 Starzentum: Serafim von Sarov 167,28 Staupitz, Johannes v.: Spengler 667,23 Steck, Wolfgang: Seelsorgelehre 69,20 Stegmann, J o a c h i m d.Ä.: Sozzini/Sozinianer 602,43 Stein, Karl Reichsfreiherr v o m u. zum: Sozialreform 563,9 Stein, Lorenz J a c o b v.: Sozialismus 543,19; 549,3; Sozialreform 564,40; Sozialwissenschaften 578,9 Steinbart, Gotthelf Samuel: Spalding 608,22 Steinmetz, J o h a n n A d a m : Spener 662,5 Stele: Sepulkralkunst 162,15 Stephan I. der Heilige, Kg. v. Ungarn: Siebenbürgen 252,42; 253,6 Sterbe-Seelsorge: Seelsorge 13,21 Steudel, J o h a n n Christian Friedrich: Spekulative Theologie 644,43 Stifter, Adalbert: Sprache/Sprachwissenschaft/ Sprachphilosophie 770,53 Stoa/Stoizismus/Neustoizismus: Sensualismus 150,13; Sozialpädagogik 557,13 Stock, T h o m a s : Sonntagsschule 473,2 Stoecker, Adolf: Sozialismus 549,10; 554,22; Sozialreform 567,50 Stössel, J o h a n n : Seinecker 106,6 Stoll, J o a c h i m : Spener 652,31; 656,37 Stollberg, Dietrich: Seelsorgelehre 64,21 Straßburg: Seelsorge 14,42 Strauß, David Friedrich: Spekulative Theologie 644,7 - 645,16 Strong, Josiah: Social Gospel 411,27 Stuckart, Wilhelm: Sinti und R o m a 304,30 Stumm-Halberg, Karl Ferdinand Frhr. v.: Sozialreform 566,47 Stur, L'udovit: Slowakei 404,5 Subsidiaritätsprinzip: Sozialpädagogik 559,35 Sünde: Social Gospel 415,9; 417,5 f. Sueven: Spanien 614,42f. Sülze, Emil: Seelsorgelehre 58,33 Sumerische Religion: Sexualität 189,15 Sunday and Adult School Union: Sonntagsschule 473,37 Sunday-School Union: Sonntagsschule 474,24; 475,2
Supranaturalismus: Spekulative Theologie 641,41 f.; 644,43 Svantovit: Slawische Religion 396,42; 398,18; 399,5.11 Svarog: Slawische Religion 399,3.11 Swedenborg, Emanuel/Swedenborgianer: Spiritismus 696,23; Spiritualismus 705,30f. Swift, J o n a t h a n : Sprache/Sprachwissenschaft/ Sprachphilosophie 732,40 Symbol: Spiritualismus 702,31 Symeon der Neue Theologe: Serafim von Sarov 166,49 Synoden: Agde 506: Sonntag 454,40 Arles 314: Spanien 612,23; 613,9 Arles 538: Sklaverei 381,32 Basel-Ferrara-Florenz 1 4 3 1 - 1 4 4 9 : Simonie 279,46 Chalkedon 451: Severus von Antiochien 184,9f.; Simonie 277,18 Clichy 626: Sklaverei 381,32 Dordrecht 1618/1619: Seelsorge 18,54 Elvira ca. 300 - ca. 313: Simonie 277,9; Sonntag 453,35; Spanien 6 1 2 , 1 1 - 6 1 3 , 5 ; 617,35 Frankfurt a . M . 794: Spiritualismus 702,19 Hohenaltheim 916: Simonie 278,3 Konstanz 1 4 1 4 - 1 4 1 8 : Simonie 279,46 Lateran IV 1215: Seelsorge 11,23; Simonie 279,21 M a i n z 813: Simonie 278,1 N i c ä a 325: Sonntag 455,37; Spanien 612,23; 613,9 N i c ä a 787: Spiritualismus 702,21 Orleans 538: Sonntag 454,26 Paris 614: Simonie 277,40 Pavia 1046: Simonie 278,21 Serdika 342: Spanien 612,23 Sutri 1046: Simonie 278,22 Toledo 400: Spanien 613,50 Toledo 589: Spanien 615,52; 616,38 Toledo 633: Spanien 616,40f. Toledo 681: Spanien 617,15 Treysa 1945: Soden 422,1 Tridentinum 1 5 4 5 - 1 5 6 3 : Seelsorge 15,54; Seripando 170,7ff.; Simonie 279,49; Sirach/Sirachbuch 310,13; Sixtus V. 348,7; Sonntag 463,28; Soto, D o m i n g o de 476,22; Soto, Pedro de 479,29; Spanien 624,2 Trier 927: Simonie 278,3 Vatikanum II 1 9 6 2 - 1 9 6 5 : Sklaverei 394,4; Sohm 433,21; Sonntag 463,34; Sozialarbeit 482,52; Sozialethik 502,30; 503,43; 521,29; Sozialwissenschaften 593,40; Spanien 631,13f. Ver 755: Simonie 277,44 Szondi, Peter: Sprache/Sprachwissenschaft/ Sprachphilosophie 753,15 Taboriten: Spiritualismus 702,57 Tacitus: Slawische Religion 396,9 Tacke, Helmut: Seelsorgelehre 61,53 T ä u f e r : Seelsorge 14,42; Separatisten/ Separatismus 154,23; 156,9f.; Sozzini/ Sozinianer 598,15; 600,28f.; Spiritualismus 704,13
Namen/Orte/Sachen Tait, Peter Guthrie: Smith 407,34 Talmud: Sprache/Sprachwissenschaft/ Sprachphilosophie 760,52 Tantrismus: Sexualität 188,54 Tapper, Ruard: Soto, Pedro de 480,10 Tarragona (Bistum): Spanien 615,20; 617,18 Tatian: Sexualität 196,28 Taufe: Segen/Segen und Fluch 80,19; Servet 175,13; Sozzini/Sozinianer 599,44; 602,37; Spiritualismus 702,39 Tauler, J o h a n n e s : Seelsorge 12,13; Spener 65 7 ,25 Tavira y Almazän, Antonio: Spanien 627,13 Tawney, Richard Henry: Sozialethik 515,34f.; Sozialismus 553,28 Teellinck, Willem: Seelsorge 18,50 Teller, Wilhelm A b r a h a m : Semler 146,42; Spalding 608,23 Tempel: Segen/Segen und Fluch 84,39ff. Tempier, Stephan: Siger von Brabant 260,2 Temple, Frederick: Spencer 651,3 Temple, William: Sozialethik 5 1 5 , 3 4 . 4 0 - 5 1 6 , 1 3 ; 513,33; Sozialismus 553,28 Teresa v. Avila: Spanien 626,4 Tersieegen, Gerhard: Seelsorge 20,52 Tertullian: Sexualität 196,31; Sonntag 455,33; Spanien 611,11; Spiel 672,34 Textgeschichte/Textkritik: Semler 143,50-144,21 Thaies: Sensualismus 149,9 Theater: Shakespeare 230,4.37 ff. Theismus: Shaftesbury, Third Earl of 223,33; Spekulative Theologie 645,18 T h e t e n , Gerd: Semiotik 139,4 Thecdektes (Peripatetiker): Sokrates 436,45 Thecdoret v. Kyrrhos: Simon M a g u s 275,6; Sinai 284,34; Sklaverei 380,31 Thecdosius I. d . G r . , röm. Kaiser: Spanien 615,13; Sport 721,14 Theokratie: Spinoza/Spinozismus 691,26 Theologie: Semler 145,51 f.; Spekulative Theologie 641,14 Theologiestudium: Semler 143,8; Spener 657,23 Thieiicke, Helmut: Situationsethik 341,10; Sklaverei 394,47; Sonntag 466,28f.; Sczialethik 509,36 Thiers, Adolphe: Sozialismus 547,34 Thiermar v. Merseburg: Slawische Religion 395,52; 398,44 T h o m a s v. A q u i n o / T h o m i s m u s / Ntuthomismus: Seelsorge l l , 1 2 f . ; Sexualität 200,47; 201,20 - 2 0 3 , 1 1 ; Siger von Brabant 259,55; Simonie 279,28; Sinn/Sinnfrage 289,51; Sklaverei 382,12; Sonntag 455,48-456,16; Soto, D o m i n g o de 477,20; Sczialethik 500,2; Sozialismus 542,27; Sczialwissenschaften 573,44; 587,7; Spiel 673,22; Spiritualismus 702,34; Sprache/Sprach wissenschaft/Sprachph ilosop h e 734,5; 769,8 T h o n a s v. Kempen: Seelsorge 12,19; Spiritualismus 702,48 T h o n a s v. T o r q u e m a d a : Sixtus IV. 343,46; Spanien 622,48 T h o n a s v. Villanueva: Spanien 624,13
815
T h o m a s , William Isaac: Sozialwissenschaften 579,30 T h o m a s i u s , Christian: Sitte/Sittlichkeit 318,51; Spee 639,18 Thurneysen, Eduard: Seelsorgelehre 6 0 , 3 0 - 6 1 , 9 T i e d e m a n n , Dietrich: Spinoza/Spinozismus 693.27 Tieffenbach, Anton: Spener 655,45 Tillich, Paul: Sinn/Sinnfrage 286,11; 289,14; 295,5; 298,31; Social Gospel 415,17; Spekulative Theologie 646,52f.; Sprache/ Sprachwissenschaft/Sprachphilosophie 785,53 T i m o n aus Phleius: Skepsis/Skeptizismus 350,31 T i m o t h e u s I. v. Seleukia: Sirach/Sirachbuch 307,20 Tischhauser, Christian: Sozialgeschichtsschreibung 537,4 Tobler, G e o r g Christoph: Sprache/ Sprachwissenschaft/Sprachphilosophie 772,9 T o d : Seuse 180,3; Spiritismus 699,45 Todt, Rudolf: Sozialismus 549,29; 554,19; Sozialreform 567,48 Toellner, J o h a n n Gottlieb: Spalding 608,22 T ö n n i e s , Ferdinand: Sozialethik 497,22; Sozialreform 566,56; Sozialwissenschaften 580,33; 582,5 Toledo (Bistum): Spanien 617,14 Toleranz: Semler 146,28; Siebenbürgen 252,24; Spinoza/Spinozismus 687,43; 691,20 Tolstoj, Lew: Sexualität 2 0 6 , 5 2 - 207,31 Totengeister: Spiritismus 698,21; 699,36 Totentanz: Sepulkralkunst 163,40 Trabant, Jürgen: Semiotik 128,51 Tragödie: Shakespeare 233,50 - 234,45 Trajan, röm. Kaiser: Sikarier 262,46 Trakl, G e o r g : Sprache/Sprachwissenschaft/ Sprachphilosophie 739,39 Transsilvanien: Siebenbürgen 251,8ff. Travesari, A m b r o g i o : Skepsis/Skeptizismus 364.28 Trillhaas, Wolfgang: Seelsorgelehre 61,35; Sonntag 466,37 f. Trimultaneum: Simultaneum 281,1 Trinität: Servet 174,5; Sozzini/Sozinianer 598,34; Spanien 616,36; Spekulative Theologie 6 4 3 , 9 - 4 5 ; 645,23 Troeltsch, Ernst: Sekten 97,46; Separatisten/ Separatismus 155,50; Sitte/Sittlichkeit 323,33; 3 2 6 , 3 2 . 3 9 - 3 2 7 , 1 0 ; Sozialethik 501,22; 507,45; Sozialismus 550,48; 5 5 4 , 4 8 - 5 5 5 , 1 7 Trostschriften: Spengler 668,49 Truchseß v. Waldburg, O t t o Kardinal: Soto, Pedro de 479,21; 480,19 Tschechoslowakei: Slowakei 404,25 Tschirnhaus, Ehrenfried Walter v.: Spinoza/Spinozismus 688,22 Tübinger Schule, Ev. (jüngere): Simon M a g u s 275,35 T ü r k e n : Slowakei 403,41 T u m b a : Sepulkralkunst 162,23f. Turibius v. Astorga: Spanien 615,38 Turner, N a t : Sklaverei 389,5 U d e m a n s , Godefridus: Seelsorge 18,51 Übertragung: Seelsorge 37,11 f.
816
Namen/Orte/Sachen
Uhsadel, Walter: Seelsorgelehre 61,40 Ulm: Seuse 178,1 Ulpian: Sitte/Sittlichkeit 319,40 Umbanda-Kult: Spiritismus 698,44 Undereyck, Theodor: Separatisten/ Separatismus 157,26; Spener 658,25 Unfreie: Sklaverei 381,27 Ungarn: Siebenbürgen 251,13; 252,7ff.; Silvester II. 268,42; Slowakei 403,34ff. Unierte Kirche Siebenbürgens (Biserica Greco-Catolicä): Siebenbürgen 256,39 Unionen, Kirchliche: Selbständige Evangelisch-Lutherische Kirche 103,12; Separatisten/Separatismus 157,45; Spener 660,48 Unitarier: Servet 175,43; Siebenbürgen 251,39; 257,30 Universitäten: Spanien 622,16 Alcalá: Spanien 623,50 Altdorf: Sozzini/Sozinianer 601,50 Berlin: Soden 420,7 Breslau: Soden 420,20 Cambridge: Sidgwick 247,17ff.; Smith 409,6 Comillas: Spanien 629,15 Deusto: Spanien 629,15 Dillingen: Soto, Pedro de 479,22 Edinburgh: Smith 407,29 Halle: Semler 143,3; Spener 660,10 Jena: Spalatin 605,21 Kopenhagen: S e e 428,2 Leipzig: Seinecker 106,26 M a r b u r g : Soden 420,23 Palencia: Spanien 622,17 Paris: Siger von Brabant 259,48 Rostock: Sohm 430,15 S a l a m a n c a : Soto, Domingo de 476,15; Soto, Pedro de 479,5; Spanien 622,17; 623,26 Straßburg: Spener 652,38 f. Tübingen: Spener 654,4 Uppsala: Söderblom 423,28 Wittenberg: Spalatin 605,12; 606,14.38; Spener 660,28 Uppsala (Erzbistum): Söderblom 423,32 Urbach, Efraim Elimelech: Sklaverei 377,53; 378,8 Urchristentum: Sohm 431,24f.; Sonntag 451,16f.; Sozialgeschichtsschreibung 532,34ff. Usener, Hermann: Sprache/Sprachwissenschaft/Sprachphilosophie 775,32 Utilitarismus: Sidgwick 248,17f. Valdés, Alfonso: Spanien 623,46 Valdés, J u a n : Spanien 623,46 Valdes, Petrus: Sozialpädagogik 557,44 Valentin/Valentinianer: Simon M a g u s 274,16 Vána, Zdenëk: Slawische Religion 398,6.32 Vangerow, Karl Adolf v.: Sohm 430,17 Vatikanische Bibliothek: Sixtus IV. 344,8.19 Vatikanisches Archiv: Sixtus IV. 344,8 Vega, Andrés de: Soto, Domingo de 476,27 Vega, Lope Félix de: Sinti und R o m a 302,23; Spanien 626,5 Vehlin: Slawische Religion 396,54 Veiel, Elias: Spener 658,1 Velazquez, Diego: Spanien 625,45
Vereinigte Staaten v. Amerika: Sklaverei 3 8 7 , l f f . ; Social Gospel 410,4; Sonntag 460,16; Sonntagsschule 4 7 3 , 3 1 - 4 7 4 , 1 8 Vereinigungskirche: Sekten 100,16 Verhaltenstherapie: Seelsorge 38,15 f. Vernunft: Semler 146,25; Sozzini/Sozinianer 599,5; Spee 638,19; Spinoza/Spinozismus 691,6 Verstärkung: Seelsorge 37,48 f. Vesalius, Andreas: Servet 173,29 Vesey, Denmark: Sklaverei 389,1 Vico, Giambattista: Sprache/Sprachwissenschaft/Sprachphilosophie 748,22; 769,41 Vilmar, Wilhelm: Selbständige EvangelischLutherische Kirche 103,23 Vincentius v. Ibiza: Sonntag 454,48 Vincke, Karin: Sport 718,44 Visitation: Spalatin 606,50; Spengler 669,7 Vital, Chajjim: Seelenwanderung 6,10 Vitoria, Francisco de: Soto, Domingo de 476,8 Vladimir I. v. Kiev, Großfürst: Slawische Religion 398,10 Vladimir M o n o m a c h , Fürst: Slawische Religion 398,26 Völkel, Johann: Sozzini/Sozinianer 601,23 Völkerwanderung: Siebenbürgen 252,29; Spanien 614,42f. Voetius, Gisbert: Seelsorge 18,49; Separatisten/Separatismus 154,35 Volk: Sozialgeschichtsschreibung 529,38 Volksgeschichte: Sozialgeschichtsschreibung 529,30f. ; 536,15 Volksmission: Spanien 627,29 Vollbeding, J o h a n n Christoph: Semiotik 130,13 Voltaire: Spalding 608,36 Voodoo-Kult: Spiritismus 698,45; 699,40 Vormärz: Sozialismus 543,46; 545,13 Vulgata: Sixtus V. 348,6 Vulva: Sexualität 187,30 Wächter, J o h a n n Georg: Spinoza/Spinozismus 692,35 Wagner, Adolf: Sozialreform 566,39; 568,6; Sozialwissenschaften 578,9 Wagner, Falk: Sinn/Sinnfrage 295,18; Spekulative Theologie 647,9 f. Wagner, H e r m a n n : Sozialreform 566,38 Wahrheit: Semler 146,21; Seuse 180,18 Waldenser: Spener 653,43 Wallfahrt: Spanien 620,25 Walther, Carl Ferdinand Wilhelm: Selbständige Evangelisch-Lutherische Kirche 103,25 Wandgrab: Sepulkralkunst 164,7 Weber, M a x : Sekten 97,40; Sozialgeschichtsschreibung 530,9; 532,9; Sozialismus 554,27; Sozialreform 566,56; Sozialwissenschaften 576,40; 589,21 Weigel, Valentin: Separatisten/Separatismus 156,29; Spiritualismus 705,18 Weiler, Rudolf: Sozialethik 522,57 Weisheit: Seuse 179,48 f. Weiß, Johannes: Sozialethik 507,51 Weisse, Christian Hermann: Spekulative Theologie 645,19 Weißenburg (Bistum): Siebenbürgen 252,47 Weitling, W i l h e l m : Sozialismus 545,20
Namen/Orte/Sachen Weller, H i e r o n y m u s : Seelsorge 14,10 Wellhausen, Julius: Smith 408,49 Wellington, Arthur Wellesley: Spanien 628,9 Wels, Otto: S o z i a l d e m o k r a t i e 491,17 Wendland, Hans-Dietrich: Sozialethik 519,54 Wesley, J o h n : Seelsorge 20,46 Wessenberg, Ignaz Heinrich v.: Spee 639,22 Westcott, B r o o k e Foss: Sozialethik 515,24; Sozialismus 553,10 Westermann, C l a u s : Sozialwissenschaften 592,60 Westfälischer Friede: S e p a r a t i s t e n / S e p a r a t i s m u s 158,22; Simultaneum 281,53 Westgoten: Spanien 6 1 5 , 2 7 - 6 1 6 , 2 2 Westminster/Westminsterconfession: S o n n t a g 459,43 Wetzell, G e o r g Wilhelm: S o h m 430,16 Wetzlar: Simultaneum 282,38 Whewells, William: Sidgwick 248,21 Whichcote, Benjamin: Shaftesbury, T h i r d Earl of 221,35 f. Wichern, J o h a n n Hinrich: Seelsorge 24,5; Sonntag 461,18; Sonntagsschule 474,34; Sozialismus 549,2f.; 553,50 Widerstand: Seelsorge 37,41 Wiedergeburt: Spener 663,48; 664,4 Wilberforce, William: Sklaverei 390,29 Wilhelm II., K g . v. Preußen: Sozialreform 566,5 Wilhelm v. St. Thierry: Sexualität 201,14; Sprache/Sprachwissenschaft/Sprachphilosophie 768,8 Wille: S p i n o z a / S p i n o z i s m u s 690,12 Williams, Leighton: Social G o s p e l 412,9 Wilson, E d m u n d : Social Gospel 416,29 Windthorst, L u d w i g : Sozialreform 569,23 Winkel, Erich: Soden 421,48 Winkler, K l a u s : Seelsorgelehre 6 5 , 1 9 - 5 1 Wirth, J o h a n n Ulrich: Spekulative T h e o l o g i e 645,35 Wirtschaftsgeschichtsschreibung: Sozialgeschichtsschreibung 528,39 Wischmeyer, O d a : Sirach/Sirachbuch 310,36 Wissenssoziologie: Sozialisation 539,39 Wiszowaty, Andrzej: Sozzini/Sozinianer 602,5.45 Witt, J a n de: S p i n o z a / S p i n o z i s m u s 687,49 Wittgenstein (Grafschaften): Separatisten/ S e p a r a t i s m u s 158,32 Wittgenstein, L u d w i g : Semiotik 122,24; 124,12; Spiel 671,45; Sprache/Sprachwissenschaft/ Sprachphilosophie 775,3 Wittichius, Christoph: S p i n o z a / S p i n o z i s m u s 688,47; 692,5 Wittichius, J a c o b u s : S p i n o z a / S p i n o z i s m u s 692,43
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Wochentagsnamen: S o n n t a g 450,36f. Wölfel, Eberhard: Skepsis/Skeptizismus 363,41 Wolf, Ernst: Sozialethik 509,45 Wolff, Christian: Skepsis/Skeptizismus 358,49; Sozialismus 542,37; Spalding 608,6; S p i n o z a / S p i n o z i s m u s 692,49 Wolgast: Slawische Religion 396,54 Wollin: Slawische Religion 398,24 Wolterstorff, N i c h o l a s : Sozialethik 514,2 Wolzogen, J o h a n n L u d w i g v.: Sozzini/ Sozinianer 601,43 Woodruff, Albert: Sonntagsschule 474,47 Wort Gottes: Semler 143,45 Wright, Benjamin G . : Sirach/Sirachbuch 308,33 Wright, G . Ernest: Sichern 246,31 Wright, William: Smith 409,11 Wurstisen, Christian: Sinti und R o m a 302,8 Wyclif, J o h n : Simonie 279,42 X e n o p h o n : Sokrates 435,16.53ff.; 442,4ff. X i m e n e s de Cisneros, Francisco: Spanien 623,10 X i m e n e s de R a d a , R o d r i g o : Spanien 622,30 Yoder, J o h n H o w a r d : Sozialethik 514,1 Ysenburg-Büdingen, Ernst C a s i m i r G r a f v.: Separatisten/Separatismus 158,29 Z a n c h i , G i r o l a m o : Seelsorge 18,31 Zeller, E d u a r d : Sokrates 443,43 Z e n o n v. Kition: Skepsis/Skeptizismus 351,53 Zentralrat Deutscher Sinti u. R o m a : Sinti und R o m a 305,50 Zeugen J e h o v a s : Sekten 97,31; 98,24f.; Slowakei 406,22 Zezschwitz, Carl Adolf G e r h a r d v.: Seelsorge 24,33 Ziegler, J o s e p h : Sirach/Sirachbuch 308,3 Zigeuner: Sinti und R o m a 301,40f. Zins: Spanien 612,38 Zinzendorf, N i k o l a u s L u d w i g G r a f v.: Seelsorge 20,36; S o n n t a g 459,4; Sport 726,35 Zivilehe: S o h m 430,29 Zivilisation: Sklaverei 386,54 Z ö c k l e r , O t t o : S o n n t a g 460,35 Z ö l i b a t : Spanien 612,35.51 Z o h a r : Seelenwanderung 5,22 Zufallsseelsorge: Seelsorge 41,19f. Z u r b a r ä n , Francisco de: Spanien 625,46 Zweireichelehre: S o e 428,52 Zwicher, Daniel: Sozzini/Sozinianer 601,43 Zwingli, Ulrich: Seelsorge 14,20f.; Seelsorgelehre 55,49; Separatisten/ S e p a r a t i s m u s 154,17; S o n n t a g 456,36f.; Sport 726,22
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2. Mitarbeiter 2.1. Autoren
Prof. Dr. Karl Acham, Graz/Österreich (Sozialwissenschaften I) Prof. Dr. Dr. h.c. Gottfried A d a m , Wien/Österreich (Sonderpädagogik) Prof. Dr. Hendrik J o h a n Adriaanse, Leiden/Niederlande (Sinn/Sinnfrage II) Prof. Michael J. Alexander, St. Andrews/Großbritannien (Shakespeare, William) Prof. Svend Andersen, A a r h u s / D ä n e m a r k (Soe, Niels Hansen) Prof. Dr. Günter Bader, Bonn (Skepsis/Skeptizismus II; Sprache/Sprachwissenschaft/ Sprachphilosophie VI) T h e Rev. Prof. Dr. Michael Banner, Strand, L o n d o n / G r o ß b r i t a n n i e n (Sexualität II) Prof. Dr. Meir Bar-Ilan, Ramat-Gan/Israel (Segen/Segen und Fluch IV) Prof. Dr. M a n f r e d Baum, Wuppertal (Skepsis/Skeptizismus I) Prof. Dr. Karl Josef Becker, Rom/Italien (Soto, D o m i n g o de; Soto, Pedro de) Dr. T h o m a s Bergholz, Saarbrücken (Sonntag) Dr. Bernd Beuscher, Duisburg (Sprache/Sprachwissenschaft/Sprachphilosophie VII) Prof. Dr. M o n i k a Boehm-Tettelbach (d.i. M o n i k a H o r s t m a n n ) , Heidelberg (Sikh-Religion) Prof. Dominique Bourel, Jerusalem/Israel (Spalding, J o h a n n Joachim) Prof. Dr. Armin Burkhardt, M a g d e b u r g (Semiotik II) Dr. Jochen Cornelius-Bundschuh, Fuldabrück (Segen/Segen und Fluch VI) Prof. Dr. Peter William C o x o n , St. A n d r e w s / G r o ß b r i t a n n i e n (Smith, William Robertson) Prof. Dr. Joseph D a n , Jerusalem/Israel (Sprache/Sprachwissenschaft/Sprachphilosophie V) Prof. Dr. H e r m a n n Deuser, F r a n k f u r t a. M . (Semiotik I) Prof. Dr. Walter Dietrich, Bern/Schweiz (Sklaverei I) Daniela Dunkel, Tübingen (Sozialreform) Prof. Dr. Wilfried Engemann, M ü n s t e r (Semiotik III) Generalbischof Dr. Julius Filo, Bratislava/Slowakische Republik (Slowakei) Prof. Dr. Hans-Jürgen Fraas, M ü n c h e n (Sozialisation) Prof. Dr. Jerome Friedman, Bowling Green, Oh./USA (Servet, Michael) Prof. Dr. Volkmar Fritz, Gießen (Sichern; Silo) Prof. Dr. Klaus Ganzer, W ü r z b u r g (Seripando, Girolamo; Sixtus V., Papst) Prof. Dr. M a r t i n George, Bern/Schweiz (Serafim von Sarov) Prof. Dr. Uwe Gerber, D a r m s t a d t (Sexualität III) Prof. Dr. Dr. Peter Gerlitz, Bremen (Sexualität I; Slawische Religion; Spiritismus; Sport I) Prof. Dr. O m m o Grupe, Tübingen (Sport II) Prof. Dr. Alois M . H a a s , Zürich/Schweiz (Seuse, Heinrich) Prof. Dr. Fritz-Peter Hager f (Sokrates) Prof. Dr. Berndt H a m m , Erlangen (Spengler, Lazarus) Prof. Dr. Klaus H a m m a c h e r , Aachen (Spinoza/Spinozismus) Prof. Dr. Hans-Peter H a s e n f r a t z , Bochum (Seelenwanderung I) Prof. Dr. Eberhard Hauschildt, Bonn (Seelsorge II; Seelsorgelehre) Dr. Rüdiger H a u t h , D o r t m u n d (Sekten) T h e Rev. Canon Brian Hebblethwaite, C a m b r i d g e / G r o ß b r i t a n n i e n (Sidgwick, Henry; Sklaverei VI; Social Gospel; Sozialethik; Sozialismus III; Spencer, Herbert) Dr. habil. Johannes Heinrichs, Berlin (Sinn/Sinnfrage I) Prof. Dr. Dr. h.c. Erich Heintel, Wien/Österreich (Sprache/Sprachwissenschaft/ Sprachphilosophie I) PDoz. Dr. Jan Hermelink, Berlin (Situation)
Mitarbeiter
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Prof. Dr. Bernd Hildebrandt, Greifswald (Segen/Segen und Fluch V) Prof. Dr. Konrad Hoffmann, Berlin (Sepulkralkunst) Prof. Dr. Harald Holz, Bochum (Sensualismus) Prof. Dr. Gottfried Hornig, Bochum (Semler, Johann Salomo) Monika Horstmann (s. Prof. Dr. Monika Boehm-Tettelbach) Dr. Boaz Huss, Omer/Israel (Seelenwanderung II) Prof. Dr. Wolfgang Janke, Wuppertal (Spiel I) Prof. Dr. Helmar Junghans, Leipzig (Spalatin, Georg) Prof. Dr. Christoph Kahler, Leipzig (Sklaverei II) Prof. Dr. Jochen-Christoph Kaiser, Marburg (Sozialgeschichtsschreibung I; III; Sozialismus I; II) Prof. Dr. Werner Klan, Oberursel (Selbständige Evangelisch-Lutherische Kirche) Prof. Dr. Richard Klein, Wendelstein (Sklaverei IV) Prof. Ulfrid Kleinert, Dresden (Sozialarbeit) Oliver Kliss, Tübingen (Sonntagsschule) Dr. Ernst Koch, Leipzig (Seinecker, Nikolaus) Prof. Dr. Dr. Ralf Koerrenz, Jena (Sozialpädagogik 1.) Prof. Dr. Michael Krüger, Münster (Sport II) Prof. Dr. Juan Maria Laboa, Madrid/Spanien (Spanien) PDoz. Dr. Volker Leppin, Jena (Siger von Brabant) The Rev. Dr. Alastair H. B. Logan, Exeter/Großbritannien (Simon Magus) PDoz. Dr. Bernhard Maier, Bonn (Segen/Segen und Fluch I; Sprache/Sprachwissenschaft/Sprachphilosophie II) Prof. Dr. Johannes Marböck, Graz/Österreich (Sirach/Sirachbuch) Prof. Robert Emmet McLaughlin, Villanova, Pa./USA (Spiritualismus) PDoz. Dr. Michael Murrmann-Kahl, Tutzing (Spekulative Theologie) Dr. Michael S. Northcott, Edinburgh/Großbritannien (Sozialwissenschaften II) Prof. Dr. Aharon Oppenheimer, Tel Aviv/Israel (Sikarier; Simon ben Kosiba) Prof. Dr. Gene Outka, New Häven, Conn./USA (Situationsethik) Prof. Dr. René Pahud de Mortanges, Freiburg i. Ue./Schweiz (Sohm, Rudolph) Prof. Dr. David A. Pailin, Manchester/Großbritannien (Shaftesbury, Anthony Ashley Cooper, Third Earl of) Dr. Ursula Ragacs, Wien/Österreich (Sklaverei III) Prof. Dr. Gerhard Rau, Heidelberg (Sozialwissenschaften III) Dr. Liliana Rosso Ubigli, Turin/Italien (Sibyllinen) Dr. Michael Roth, Köln (Sport III) Prof. Dr. Wolfgang Schenk, Saarbrücken (Sprache/Sprachwissenschaft/Sprachphilosophie III; IV) Prof. Dr. Rudolf Schieffer, München (Simonie) Prof. Dr. Hans Schneider, Marburg (Separatisten/Separatismus) Prof. Dr. Michael Schneider, Rheinbach (Sozialdemokratie) PDoz. Dr. Jutta Siemann, Essen (Sinn/Sinnfrage III) Dr. Michael Stausberg, Uppsala/Schweden (Söderblom, Nathan) Prof. Dr. Wolfgang Stegemann, Neuendettelsau (Sozialgeschichtsschreibung II) PDoz. Dr. Johann Anselm Steiger, Heidelberg (Seelsorge I) Prof. Dr. Konrad Stock, Bonn/Köln (Sitte/Sittlichkeit) Prof. Dr. Martin Stöhr, Siegen (Sinti und Roma) Prof. Dr. Alfred A. Strnad, Innsbruck/Österreich (Sixtus IV., Papst) Prof. Dr. Stefan T i m m , Hamburg (Sinai) Prof. Dr. Iain Torrance, Aberdeen/Großbritannien (Severus von Antiochien) Prof. Dr. Rainer Treptow, Jena (Sozialpädagogik 2.) Dr. David Turley, Canterbury/Großbritannien (Sklaverei V)
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Mitarbeiter
T h e Rev. Dr. Richard Turnbull, Southampton/Großbritannien (Shaftesbury, Anthony Ashley Cooper, Seventh Earl of) D r . Käthe Uray-Köhalmi, Budapest/Ungarn (Sibirische Religionen) Prof. Dr. Waclaw Urban, Krakau/Polen (Sozzini/Sozinianer) Prof. D r . T i m o Veijola, Hyvinkää/Finnland (Segen/Segen und Fluch II) Prof. D r . Bernard Vogler, Straßburg/Frankreich (Simultaneum) Prof. Dr. Johannes Wallmann, Bochum (Spener, Philipp J a k o b ) D r . Karl-Friedrich Wiggermann, M ü n s t e r (Spiritualität) Prof. D r . T h o m a s Willi, Greifswald (Serubbabel) Prof. Dr. Hans W i ß m a n n , M a i n z (Spiel III) Susanne Wolf-Withöft, Wuppertal (Spiel II) Prof. D r . Michael Wolter, Bonn (Soden, Hans Freiherr von) D r . Krista Z a c h , M ü n c h e n (Siebenbürgen) D r . Werner Zager, B o c h u m (Segen/Segen und Fluch III) Prof. M a g . Dr. Dr. D r . h.c. mult. Harald Z i m m e r m a n n , Tübingen (Silvester II., Papst) Prof. D r . Hellmut Z s c h o c h , Wuppertal (Spee von Langenfeld, Friedrich)
2.2.
Übersetzer
Aus dem
Englischen:
Gisa Bauer, Leipzig (Sozialismus III; Sozialwissenschaften II) T i l m a n Kiersch, Greifswald (Servet, Michael) R o l a n d Löffler, H o m b e r g , Efze (Social Gospel; Sozialethik; Spencer, Herbert) Birgit Ohmstede, Oldenburg (Smith, William Robertson) Barbara Schäferdiek, Hückelhoven (Shaftesbury, Anthony Ashley Cooper, T h i r d Earl of) Prof. D r . Knut Schäferdiek, Bonn (Severus von Antiochien; Shaftesbury, Anthony Ashley Cooper, Seventh Earl of; Sklaverei V ; VI; Spiritualismus) D r . Walter Schöpsdau, Bensheim (Situationsethik) Prof. Dr. Günter Stemberger, Wien/Österreich (Seelenwanderung II) D r . T h o m a s T h o r n t o n , N e w York, N.Y./USA (Sexualität II; Shakespeare, William; Sidgwick, Henry; Simon M a g u s ; Sprache/Sprachwissenschaft/Sprachphilosophie V )
Aus dem
Französischen:
Prof. D r . Knut Schäferdiek, Bonn (Spalding, J o h a n n J o a c h i m )
Aus dem
Hebräischen:
Dafna M a c h , Jerusalem/Israel (Sikarier; Simon ben Kosiba) Prof. Dr. Günter Stemberger, Wien/Österreich (Segen/Segen und Fluch IV)
Aus dem
Italienischen:
Prof. Dr. Knut Schäferdiek, Bonn (Sibyllinen)
Aus dem
Polnischen:
J o a n n a Barelkowska, Berlin (Sozzini/Sozinianer)
Aus dem
Spanischen:
Prof. Dr. Knut Schäferdiek, Bonn (Spanien)
2.3.
Registerbearbeiter
D r . Klaus Breuer, Heidelberg (Namen, Orte, Sachen) Pfarrerin Hannelore Hollstein, Unna (Bibelstellen) Prof. Dr. David Trobisch, Bangor, Me./USA (Namen, O r t e , Sachen)
Artikel- und Verweisstichwörter
821
3. Artikel- und Verweisstichwörter Seelenwanderung (H.-P. H a s e n f r a t z / B . Huss) 1 Seelsorge (J. A. Steiger/E. Hauschildt) 7 Seelsorgelehre (E. Hauschildt) 54 Segen/Segen und Fluch (B. M a i e r / T . Veijola/W. Z a g e r / M . Bar-Ilan/B. H i l d e b r a n d t / J. Cornelius-Bundschuh) 75 Sekten (R. H a u t h ) 96 Selbständige Evangelisch-Lutherische Kirche (W. Klan) 103 Selbstbewußtsein - » M e n s c h -»Seele Selbsterfahrung -» Religionssoziologie Selbstmord -»-Suizid Seligpreisungen -»Bergpredigt, —» Formgeschichte/Formenkritik Seinecker, N i k o l a u s (E. Koch) 105 Semantik - * S p r a c h e / S p r a c h w i s s e n s c h a f t / S p r a c h p h i l o s o p h i e Semiotik (H. D e u s e r / A . B u r k h a r d t / W . E n g e m a n n ) 108 Semipelagianismus —»Pelagius/Pelagianischer Streit Semler, J o h a n n S a l o m o (G. Hornig) 142 Sendgericht -»KirchenVerfassungen, —»Visitation Sensualismus (H. Holz) 148 Sentenzen - » P e t r u s L o m b a r d u s , -»Scholastik Separatisten/Separatismus (H. Schneider) 153 Septuaginta -»Bibelübersetzungen Sepulkralkunst (K. H o f f m a n n ) 160 Serafim von Sarov (M. George) 165 Serbien - » J u g o s l a w i e n Serdika, Synode von —»Arianismus, - » P a p s t t u m , - » S y n o d e Seripando, G i r o l a m o (K. Ganzer) 169 Serubbabel (Th. Willi) 171 Server, Michael (J. Friedman) 173 Sethianer - » G n o s i s / G n o s t i z i s m u s Seuse, Heinrich (A. M . Haas) 176 Severus von Antiochien (I. R. Torrance) 184 Sexualität (P. G e r l i t z / M . B a n n e r / U . Gerber) 186 Shaftesbury, A n t h o n y Ashley C o o p e r , T h i r d Earl of (D. A. Pailin) 221 Shaftesbury, A n t h o n y Ashley C o o p e r , Seventh Earl of (R. Turnbull) 226 Shakers - » Q u ä k e r Shakespeare, William (M. J. Alexander) 229 Shintoismus —»Japan Sibirische Religionen (K. Uray-Köhalmi) 236 Sibyllinen (L. R o s s o Ubigli) 240 Sichern (V. Fritz) 245 Sidgwick, H e n r y (B. H e b b l e t h w a i t e ) 247 Siebenbürgen (K. Z a c h ) 250 Siger von B r a b a n t (V. Leppin) 259 Sikarier (A. O p p e n h e i m e r ) 261 Sikh-Religion (M. H o r s t m a n n ) 263 Silo (V. Fritz) 266 Silvester -»Feste u n d Feiertage Silvester II., Papst (H. Z i m m e r m a n n ) 267 Simon ben Kosiba (A. O p p e n h e i m e r ) 270 Simon M a g u s (A. H . B. Logan) 272 Simonie (R. Schieffer) 276
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Artikel- und Verweisstichwörter
Simultaneum (B. Vogler) Sinai (S. Timm) Sinn/Sinnfrage (J. Heinrichs/H. J . Adriaanse/J. Siemann) Sintflut -»Urgeschichte Sinti und R o m a (M. Stöhr) Sirach/Sirachbuch (J. Marböck) Sitte/Sittlichkeit (K. Stock) Situation (J. Hermelink) Situationsethik (G. Outka) Sitz im Leben -»Formgeschichte/Formenkritik Sixtus IV., Papst (A. A. Strnad) Sixtus V., Papst (K. Ganzer) Skandalon (Ärgernis) -»Kreuz, -»Paradox Skepsis/Skeptizismus (M. B a u m / G . Bader) Sklaverei (W. Dietrich/Ch. Kähler/U. R a g a c s / R . Klein/D. Turley/ B. Hebblethwaite) Slawische Religion (P. Gerlitz) Slowakei (J. Filo) Slowenien -»Jugoslawien Smith, William Robertson (P. W. Coxon) Social Gospel (B. Hebblethwaite) Soden, Hans Freiherr von (M. Wolter) Söderblom, Nathan (M. Stausberg) See, Niels Hansen (S. Andersen) Sohm, Rudolph (R. Pahud de Mortanges) Sohn Gottes -»Jesus Christus Sokrates (F.-P. Hager f ) Sokrates Scholastikos —»Kirchengeschichtsschreibung Sonderpädagogik (G. Adam) Sonntag (Th. Bergholz) Sonntagsschule (O. Kliss) Soteriologie -»Heil und Erlösung, -»Jesus Christus Soto, Domingo de (K. J . Becker) Soto, Pedro de (K. J . Becker) Sowjetunion —»Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken Sozialarbeit (U. Kleinert) Sozialdarwinismus - » D a r w i n , Charles/Darwinismus, -»Spencer, Herbert Sozialdemokratie (M. Schneider) Sozialethik (B. Hebblethwaite) Sozialgeschichtsschreibung (J.-Ch. Kaiser/W. Stegemann) Sozialisation (H.-J. Fraas) Sozialismus (J.-Ch. Kaiser/B. Hebblethwaite) Sozialpädagogik (R. Koerrenz/R. Treptow) Sozialphilosophie -»Gesellschaft/Gesellschaft und Christentum, —»Kritische Theorie, -»Sozialwissenschaften Sozialreform (D. Dunkel) Sozialstaat -»Staat/Staatsphilosophie, -»Wohlfahrtsstaat Sozialwissenschaften (K. A c h a m / M . S. N o r t h c o t t / G . Rau) Soziologie -»Kirchensoziologie, -»Pastoralsoziologie, -»Religionssoziologie, -»Sozial Wissenschaften Sozomenos -»Kirchengeschichtsschreibung Sozzini/Sozinianer (W. Urban)
280 283 285 301 307 318 333 337 342 347 349 367 396 403 407 409 420 423 427 430 434 445 449 472 476 479 481 488 497 527 538 542 556
563 572
598
Karte
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S p ä t j u d e n t u m —•Frühjudentum (Begriff) Spalatin, G e o r g (H. Junghans) Spalding, J o h a n n J o a c h i m (D. Bourel) Spangenberg, August Gottlieb - » B r ü d e r u n i t ä t / B r ü d e r g e m e i n e Spanien (J. M . Laboa) Spee von Langenfeld, Friedrich (H. Zschoch) Spekulative Theologie (M. M u r r m a n n - K a h l ) Spencer, H e r b e r t (B. Hebblethwaite) Spener, Philipp J a k o b (J. Wallmann) Spengler, Lazarus (B. H a m m ) Speyerer Reichstage 1526, 1529, 1542, 1544 - » P r o t e s t a t i o n von Speyer, —•Reichstage der Reformationszeit Spiel (W. J a n k e / S . W o l f - W i t h ö f t / H . W i ß m a n n ) Spinoza/Spinozismus (K. H a m m a c h e r ) Spiritismus (P. Gerlitz) Spiritualen - » F r a n z i s k a n e r Spiritualien und Temporalien -»Investiturstreit, - » I v o von C h a r t r e s Spiritualismus (R. E. McLaughlin) Spiritualität (K.-F. W i g g e r m a n n ) Spital - » H o s p i t a l , - » K r a n k e n p f l e g e Sport (P. G e r l i t z / O . G r u p e / M . K r ü g e r / M . Roth) Sprache/Sprachwissenschaft/Sprachphilosophie (E. Heintel/B. M a i e r / W . Schenk/ J. D a n / G . Bader/B. Beuscher) Sprüche Salomos —»Proverbia Sprüche der Väter - » A v o t (Sprüche der V ä t e r ) / A v o t k o m m e n t a r e
605 607 610 635 641 649 652 666
670 687 695
701 708 717 730
4. Karte Erste Ausbreitung der Slaven (nach N . Reiter) (aus: W ö r t e r b u c h der Mythologie, hg. v. H a n s W. Haussig/Egidius Schmalzriedt, Erste Abteilung. Die alten Kulturvölker. Bd. II. G ö t t e r und M y t h e n im Alten E u r o p a , Klett-Cotta: Stuttgart, 1973
S. 397
5. Bildquellen Art. Sepulkralkunst: A b b . 1: © Bildarchiv F o t o M a r b u r g , M a r b u r g 1999 - Abb. 2: © Œ u v r e N o t r e - D a m e , Strasbourg, S t r a ß b u r g 1999 - A b b . 3: © B u n d e s d e n k m a l a m t Wien, Wien 1999 6. C o r r i g e n d a Bd. 28, S. 659,17: lies Granvelle, 1 4 8 4 / 1 4 8 6 - 1 5 5 0 statt: Granvelle, 1 5 1 7 - 1 5 8 6 Bd. 30, S. 682,1 lies: Hans-Peter Müller, Albert Schweitzer statt: ders., Albert Schweitzer
Kierkegaard Studies • Yearbook Edited on behalf of the Soren Kierkegaard Research Centre by Niels Jergen Cappelorn and Hermann Deuser in cooperation with C. Stephen Evans, Alastair Hannay, and Bruce H. Kirmmse
Kierkegaard Studies • Yearbook 1999 Edited by Niels Jorgen Cappelarn and Hermann Deuser together with Alastair Hannay and Christian Tolstrup 1999. 23 x 15,5 cm. VIII, 340 pages. Cloth. DM 198.-/6S 1445,-/sFr 176,-/approx. US$ 124.00 •ISBN 3-11-016651-8 The theme of the Kierkegaard Studies • Yearbook 1999 is Kierkegaard's A Literary Review (1846). This text has been often ignored by much of Kierkegaard research since it purports merely to be a book review of Thomasine Gyllembourg's novel, Two Ages, but yet in the context of discussing the novel, Kierkegaard comes to treat a number of issues of social criticism as well as social-political philosophy. Thus, this work represents an important source for our understanding of Kierkegaard's little recognized views on these subjects. The articles in this volume examine A Literary Review from several different perspectives: some treat it quite straightforwardly as a book review and explain it in reference to Gyllembourg's novel; others treat it as a diagnostic piece of social criticism which represents Kierkegaard's assessment of his own age; yet others treat it as an incipient theory of political philosophy. Many of the articles treat the work from the perspective of established Kierkegaard topics such as ethics, aesthetics, and religion. In this way A Literary Review is examined from various points of view and with the use of various methodologies. The Kierkegaard Studies • Yearbook 1999 also features two of the papers given at the Kierkegaard Symposium at the Humboldt University on the occasion of the exhibition of Kierkegaard's manuscripts at the Staatsbibliothek in Berlin from November 25 to December 13, 1997. Finally two articles are also included on other topics, which represent the latest work of scholars at the Seren Kierkegaard Research Centre.
Price is subject co change
HANS GEORG THÜMMEL
Die Memorien für Petrus und Paulus in Rom Die archäologischen Denkmäler und die literarische Tradition 1999. 23 x 15,5 cm. X, 102 Seiten und 66 Tafeln. Leinen. DM 9 8 , - /EUR 50,11 /öS 715,- IsFr 8 9 , - /approx. US$ 61.00 • ISBN 3-11-016642-9 (Arbeiten zur Kirchengeschichte 76) Der Autor untersucht die Memorien, die Gedächtnismale, für die christ liehen Apostelfürsten Petrus und Paulus, wie sie sich in Rom in den archäologischen Denkmälern und in der literarischen Tradition zeigen. Dazu werden verschiedene archäologische Ausgrabungsberichte vorgestellt und kritisch aufgearbeitet. Im Mittelpunkt stehen die seit 1915 erfolgten Ausgrabungen unter S. Sebastiano und seit 1939 unter S. Pietro, die weltweites Interesse gefunden, aber zugleich viele Unklarheiten hinterlassen haben. Der Autor war Professor fiir Kirchengeschichte, Christliche Archäologie und Geschichte der kirchlichen Kunst an der Universität Greifswald.
The author here examines the memoria, the monuments in memory of the Christian apostolic princes Peter and Paul as they are found in Rome in archaeological monuments and in literary tradition. In this connection various archaeological excavation reports are presented and critically analyzed. At the center lie the excavations under S. Sebastiano which have proceeded since 1915, and those under S. Pietro since 1939, which have been of worldwide interest yet at the same time have left many unclarities.
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